Johannes Kessler · Christian Steiner (Hrsg.) Facetten der Globalisierung
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Johannes Kessler Christian Steiner (Hrsg.)
Facetten der Globalisierung Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur
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Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie des Wilhelm Merton-Zentrums für europäische Integration und internationale Wirtschaftsordnung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Wir widmen diesen Band Herbert Dittgen.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Kurten VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16261-4
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Für Herbert Dittgen
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Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis .......................................................................................................11 Tabellenverzeichnis............................................................................................................13 Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................14 Vorwort ...............................................................................................................................17 Facetten der Globalisierung: Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur........................19 1
Homogenisierung oder Ausdifferenzierung als Entwicklungstendenz einer sich globalisierenden Welt? .............................................................................................19
2
Theoretische Ansätze und empirische Diagnosen: Die Beiträge in diesem Band .........................................................................................................................20
3
Globalisierungsforschung und Interdisziplinarität ...................................................25
Der Mythos vom globalen Dorf: Zur räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus ......................................................................................................28 1
Einleitung .................................................................................................................28
2
Homogenität versus räumliche Differenzierung.......................................................30 2.1 Thesen einer homogenen Globalisierung ......................................................30 2.2 Thesen einer räumlichen Differenzierung .....................................................33
3
Theoretische Konzeptualisierung das Phänomens Globalisierung...........................35 3.1 Definition von Globalisierung .......................................................................35 3.2 Konzeptionelle Gliederung ............................................................................36 3.3 Theoretische Konzepte zur Erklärung von Globalisierungsprozessen ..........39 3.4 Ableitung der Thesen .....................................................................................41
4
Räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus..........................................43 4.1 Zur empirischen Erfassung des Globalisierungsniveaus...............................43 4.2 Räumliche Differenzierung anhand von Beispielindikatoren ........................45 4.2.1 Auslandsdirektinvestitionen...........................................................................45 4.2.2 Außenhandel ..................................................................................................48 4.2.3 Internationaler Telefonverkehr......................................................................51 4.2.4 Internetnutzer.................................................................................................54 4.2.5 Internationale Luftfahrtpassagiere ................................................................57 4.2.6 Internationaler Tourismus .............................................................................60 4.3 Fazit...............................................................................................................63
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8
Inhalt 5
Prüfung der Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Wohlstand/ Entwicklung sowie zwischen Globalisierung und Freiheit ......................................65
6
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.............................................................71
Der Beitrag der komparativen Kostenvorteile zur Globalisierungsdebatte: Müssen sich die Lohnkosten in Deutschland dem internationalen Niveau anpassen? ............................................................................................................................80 1
Globalisierung als wirtschaftliches und gesellschaftliches Phänomen.....................80
2
Die Theorie der komparativen Kostenvorteile .........................................................81
3
Grundannahmen und kritische Betrachtung des Modells.........................................82
4
Die Relevanz von RICARDOS Theorie in der Außenhandelstheorie .........................85
5
RICARDOS Modell und die deutsche Volkswirtschaft...............................................90
6
Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen................................................................91
7
Zusammenfassung....................................................................................................94
Die Ausbreitung der Demokratie eine Komponente der Globalisierung? .................96 1
Entwicklung der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung .................................96
2
Entstehungsbedingungen von Demokratie Innerstaatliche Einflüsse ....................97
3
Entstehungsbedingungen von Demokratie im Zeitalter der Globalisierung.............98 3.1 Ist Demokratie ansteckend? Diffusion von Demokratie.................................99 3.2 Freier Handel, freie Bürger? Ökonomische Globalisierung und Demokratie..................................................................................................101 3.3 Installation von Demokratie? Mechanismen und Agenten der Demokratieförderung..................................................................................106
4
Perspektiven der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung ...............................112
Globalisierung und Umweltregieren: Die Konvergenz von Politiken in der OECD-Welt.......................................................................................................................117 1
Einleitung ...............................................................................................................117
2
Theoretischer Rahmen............................................................................................117
3
Forschungsfragen und Forschungsdesign...............................................................119 3.1 Politikauswahl und Datengrundlage ...........................................................120 3.2 Länderauswahl und Zeitrahmen ..................................................................122
4
Empirische Analyse nationaler Umweltpolitiken...................................................123 4.1 Zu Forschungsfrage 1: Konvergenz nationaler Politiken............................123 4.2 Zu Forschungsfrage 2: Aufwärtsbewegung bei den Umweltstandards .......130 4.3 Zu Forschungsfrage 3: Aufholprozesse zwischen Staaten ...........................133
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Inhalt
9 4.4
5
Zu Forschungsfrage 4: Internationale Zusammenarbeit erhöht das Regulierungsniveau.....................................................................................135
Zusammenfassung der Ergebnisse .........................................................................137
Globalisierung und Tourismus: Paradiese unter Palmen auf Kosten der Armen?....141 1
Tourismus zum Vor- oder Nachteil der Dritten Welt? ...........................................141
2
Globalisierung des Tourismus................................................................................142 2.1 Einbindung der Entwicklungsländer in den internationalen Tourismus .....145 2.2 Wirtschaftliche Relevanz des internationalen Tourismus für die Entwicklungsländer.....................................................................................148
3
Wirtschaftliche Auswirkungen des Entwicklungsländertourismus: Ausbeutung und Neokolonialismus? ..........................................................................................148
4
Wirtschaftliche Auswirkungen des Entwicklungsländertourismus: Wohlstandstransfer in den Süden? .........................................................................150 4.1 Struktur der ägyptischen Tourismuswirtschaft ............................................151 4.2 Volkswirtschaftliche Verteilung der Tourismuseinnahmen .........................153 4.3 Arbeitsplatzpotenzial des Tourismus ...........................................................153 4.4 Nachteile der Arbeitssituation im Tourismussektor und Maßstäbe ihrer Kritik ...........................................................................................................154 4.5 Einkommenspotenzial im Tourismus und Lebensstandard in Ägypten ........155 4.6 Einkommenstransfers als Teil der Armutsverringerung? ............................155
5
Fazit........................................................................................................................156
Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats .....................................................160 1
Einleitung ...............................................................................................................160
2
Die These vom Ende des Nationalstaats ................................................................161
3
Zur Funktion von Grenzen .....................................................................................162 3.1 Die militärische Funktion von Grenzen.......................................................163 3.2 Die rechtliche Funktion von Grenzen ..........................................................163 3.3 Die wirtschaftliche Funktion von Grenzen ..................................................164 3.4 Die ideologische Funktion von Grenzen......................................................165 3.5 Die sozialpsychologische Funktion von Grenzen ........................................166
4
Neue ideologische Grenzziehungen .......................................................................167
5
Europäische Integration und Nationalstaat.............................................................168
6
Schlussfolgerungen: Autonomieverlust und Souveränitätswahrung des Nationalstaats .........................................................................................................169
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10
Inhalt
Globalisierung und politische Identität: Die Weltkriege als mythologischer Ursprung eines vereinten Europas? ...............................................................................172 1
Begriffe und Konzepte: Identitäten, Nationen, Rituale ..........................................172
2
Gedenkrituale an die Schlacht von Verdun ............................................................173
3
Gedenkrituale als Konstrukteure von politischen Identitäten.................................178 3.1 Vom patriotischen zum europäischen Gedenken .........................................178 3.2 Die Mythen der Grande Nation und der größten Schlacht der Geschichte..................................................................................................182 3.3 Trikolore und Marseillaise ..........................................................................182
4
Fazit........................................................................................................................183
Das Konzept der kulturellen Vielfalt: Protektionismus oder Schutz vor kultureller Homogenisierung? ........................................................................................186 1
Einleitung: Globalisierung versus kulturelle Vielfalt?........................................186
2
Die Welt: Ein Mosaik von Kulturen bedroht durch Homogenisierung? Eine Kritik an der Vorstellung von Kulturräumen .........................................................187
3
Das politische Konzept kulturelle Vielfalt..........................................................190 3.1 Zur Dominanz der internationalen Kulturindustrien: das Beispiel Film und (national-) staatliche Kulturpolitik ......................................................190 3.2 Zur Liberalisierung des Kulturbereichs in internationalen Handelsabkommen und zur Etablierung des Konzepts kultureller Vielfalt ..................192
4
Fazit: Kulturelle Vielfalt als Thema der Geographie..........................................195
Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen (k)ein Sündenbock sozioökonomischer Realitäten .........................................................................................198 1
Das negative Image der Globalisierung, mögliche Fehlschlüsse und die Sündenbockfunktion ...........................................................................................198
2
Globalisierungsforschung jenseits dichotomer Logiken ........................................202
3
Zukünftige Herausforderungen an die Analyse von Globalisierungsprozessen .....205
Autorenverzeichnis ..........................................................................................................209
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16:
Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26:
Das Schrumpfen der Welt als Folge der Entwicklung neuer Transporttechnologien...........................................................................32 Konzeptionelle Gliederung....................................................................38 Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) im Jahr 2000 ...............................................................................................47 Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) im Jahr 2000 ...............................................................................................48 Außenhandelsvolumen / Kopf in US$ (Exporte + Importe von Gütern und Dienstleistungen) im Jahr 2000 ..........................................50 Außenhandelsvolumen / Kopf in US$ (Exporte + Importe von Gütern und Dienstleistungen) im Jahr 2000 ..........................................51 Internationaler Telefonverkehr (ankommende + abgehende Gespräche) in Minuten / Kopf im Jahr 2000 .........................................53 Internationaler Telefonverkehr (ankommende + abgehende Gespräche) in Minuten / Kopf im Jahr 2000 .........................................54 Internet-Nutzer pro 1000 Einwohner im Jahr 2000 ...............................56 Internetnutzer / 1000 Einwohner im Jahr 2000 .....................................57 Internationale Luftfahrtpassagiere / 100 Einwohner im Jahr 1999........59 Internationale Luftfahrtpassagiere / 100 Einwohner im Jahr 1999........60 Internationale Touristen (Ankünfte und Abreisen) / 100 Einwohner im Jahr 2000 ..........................................................................................61 Internationale Touristen (Ankünfte und Abreisen) / 100 Einwohner im Jahr 2000 ..........................................................................................62 Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem BIP / Kopf in $ (KKP) ...............65 Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem BIP / Kopf in $ (KKP); logarithm. Darstellung...........................................................................66 Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem Index bürgerlicher Freiheit ........68 Zentrale Determinanten des Globalisierungsniveaus ............................70 Lohnstückkostenniveau (2004) .............................................................86 Anteil am Weltexport nach Regionen (2005)........................................87 Arbeitslosenquote gering Qualifizierter1) (2005) in Prozent .................89 Ökonomische Globalisierung und Demokratisierung (19722002) ....102 Adaptionsraten nationaler Politiken von 19702000...........................124 Die räumliche Ausbreitung nationaler Ökolabels 19802000.............125 Regulierung des Zinkgehalts industrieller Abwässer ..........................129 Regulierung von Elektrizitätsgewinnung aus erneuerbaren Energien ..............................................................................................129
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12 Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35: Abbildung 36: Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41: Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46:
Abbildungen Maximale Kohlenmonoxid-Emissionen von Fahrzeugen 19702000...........................................................................................131 Maximaler Schwefelgehalt Heizöl in Vol.-%, Boxplot.......................131 Entwicklung des globalen Tourismus von 19502020........................142 Karte der globalen Struktur des internationalen Tourismus nach Ziel- und Herkunftsregionen im Jahr 2000..........................................144 TOP-10 der touristischen Quellmärkte 2005.......................................145 TOP-10 der touristischen Destinationen 2005.....................................146 TOP-10 der touristischen Zielmärkte in Entwicklungsländern 2005........................................................................................146 Anteile der Entwicklungsländer am internationalen Tourismus 1973 und 2000.....................................................................................147 Entwicklung der Touristenankünfte in Ägypten von 19602005........150 Zusammensetzung der Deviseneinnahmequellen Ägyptens 2004/05................................................................................................151 Programm der ersten Gedenkfeier der Schlacht um Verdun (1920)....174 Kranzniederlegung durch offizielle Amtsträger ..................................175 Militärparade vom Kriegerdenkmal zum Rathaus...............................175 Ablösungsritual am Beinhaus und Soldatenfriedhof von Douaumont ..........................................................................................176 Fackelzug auf den Soldatenfriedhof von Douaumont .........................177 Betreten des Beinhauses zur abschließenden Gedenkmesse ...............177 Innen- und außenpolitische Themen der Ansprachen im Gedenken an die Schlacht von Verdun.................................................................179 E. BANSE: Die Geographische Gliederung der Erdoberfläche.............188 Anwendung des Kulturerdraumkonzepts nach HUNTINGTON im Schulbuch GEOS, Klasse 7/8 ..............................................................189 Marktanteile der Filmproduktionen in den großen EU-Staaten (2002) ..................................................................................................191
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: 2003 Tabelle 13:
Zusammenhänge zwischen den Globalisierungsindikatoren und dem BIP sowie dem Index Bürgerlicher Freiheit .................................................69 Komparative Kostenvorteile und Wohlfahrtseffekte bei zwei Volkswirtschaften.........................................................................................82 Mittleres Demokratieniveau nach Weltregionen ..........................................97 Liste der Umweltschutzmaßnahmen ..........................................................121 Zahl der Regulierungen in den einzelnen Ländern.....................................126 Politikähnlichkeit (Skala von 0 bis 1).........................................................128 Beschreibung des Politikwandels bei zwölf Standards: Mittelwerte..........132 Regression der Veränderung auf das Ausgangsniveau von zwölf Umweltstandards ........................................................................................134 Rangordnung der Länder nach Strenge der zwölf Umweltstandards .........135 Regression der Regulierungshöhe ..............................................................136 Arbeitsplatzpotenzial ausgewählter Wirtschaftssektoren in Ägypten ........153 Einkommenstransfers der in Sharm el-Sheik Beschäftigten im Jahr 156 Befragung zu Globalisierungsfolgen ..........................................................201
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Abkürzungsverzeichnis
ADI BIP BSP CBE CD DFID EL ENVIPOLCON EU FES FFA FNS GAFI GATS GATT HDI ICAO IGU IL International IDEA IPCC IRI ITU IWF KAS KKP LDCs MOE-Staaten NDI OAS OECD OSZE
Ausländische Direktinvestitionen Bruttoinlandsprodukt Bruttosozialprodukt Central Bank of Egypt Community of Democracies Department for International Development Entwicklungsländer Environmental Governance in Europe: The Impact of International Institutions and Trade on Policy Convergence Europäische Union Friedrich-Ebert-Stiftung Filmförderungsanstalt Friedrich-Naumann-Stiftung General Authority for Investment General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Human Development Index International Civil Aviation Organization Internationale Geographische Union Industrieländer International Institute for Democracy and Electoral Assistance Intergovernmental Panel on Climate Change International Republican Institute International Telecommunication Union Internationaler Währungsfonds Konrad-Adenauer-Stiftung Kaufkraftparitäten Least Developed Countries Mittel- und Osteuropäische Staaten National Democratic Institute Organisation Amerikanischer Staaten Organization for Economic Co-operation and Development Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
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Abkürzungen UN UNCTAD UNDP UNESCO WTO WTO WTTC
15 United Nations United Nations Conference on Trade and Development United Nations Development Program United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization World Tourism Organization World Trade Organization World Travel and Tourism Council
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Vorwort Johannes Kessler & Christian Steiner
Das Schlagwort Globalisierung ist seit vielen Jahren in aller Munde. Nach wie vor besteht jedoch ein erheblicher Forschungs- und Informationsbedarf bezüglich dieses Phänomens und seiner Auswirkungen. Der wissenschaftliche Bereich ist gefragt, die mit Globalisierung einhergehenden komplexen Prozesse zu analysieren und fundierte Informationen über die Globalisierung und ihre Folgen zur Verfügung zu stellen. Das vorliegende Buch versammelt zu diesem Zweck die Beiträge einer gleichnamigen interdisziplinären Tagung, die im November 2006 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Die Tagung wurde von uns in Kooperation des Geographischen Instituts und des Instituts für Politikwissenschaft mit Unterstützung des Zentrums für Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Mainz organisiert. Die Ziele der Tagung waren, den wissenschaftlichen Austausch zum Thema Globalisierung über die Grenzen universitärer Disziplinen hinweg zu fördern, den aktuellen Stand wissenschaftlicher Debatten an eine interessierte (Fach-)Öffentlichkeit zu vermitteln und als Weiterbildungsveranstaltung für Lehrkräfte an Gymnasien zu dienen. Der interdisziplinäre Austausch war uns dabei ein besonderes Anliegen, da sich im wissenschaftlichen Kontext zahlreiche Fachdisziplinen mit Fragen der Globalisierung beschäftigen. Die thematische Konzeptionierung legte nahe, volkswirtschaftliche, wirtschafts- und kulturgeographische sowie politikwissenschaftliche und soziologische Perspektiven zusammenzuführen. Die zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die wir für dieses Projekt gewinnen konnten, weisen diese Perspektiven auf und haben sich im Rahmen ihrer Forschungstätigkeiten teilweise selbst interdisziplinär arbeitend mit den unterschiedlichsten Facetten der Globalisierung auseinandergesetzt. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns als Herausgeber, dass es mit den Beiträgen in diesem Band gelungen ist, ein breites Themenspektrum zu erschließen, das den Facettenreichtum des Phänomens Globalisierung sowie der zugehörigen Forschung widerspiegelt. Die hier zusammengestellten Beiträge greifen unterschiedliche Fragen zum Thema Globalisierung auf, die in wissenschaftlichen wie auch in gesellschaftlichen Debatten intensiv und kontrovers diskutiert werden. Der vorliegende Band versteht sich nicht nur als wissenschaftlicher Beitrag, sondern stellt angeregt durch die zahlreichen Nachfragen der nichtwissenschaftlichen Tagungsteilnehmer auch den Versuch dar, Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse in die wissenschaftsexterne Gesellschaft zu kommunizieren. Die Inhalte der Beiträge sind daher unter Beibehaltung der Standards wissenschaftlicher Publikationen soweit möglich und sinnvoll in einer allgemein verständlichen Form artikuliert und mittels zahlreicher Abbildungen und Grafiken veranschaulicht. Wir hoffen, dass die versammelten Beiträge den Lesern einige Denkanstöße in Bezug auf Globalisierungsprozesse bieten und als Anker ebenso spannender wie fruchtbarer Diskussionen dienen können, wie wir sie während der Tagung im November des Jahres 2006 erlebt haben. Deren inhaltlicher Erfolg war uns schließlich Ansporn, die Tagungsbeiträge zu publizieren und den vorliegenden Band herauszugeben.
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Johannes Kessler & Christian Steiner
Gerade in Zeiten knapper Mittel und der strukturellen Unterfinanzierung von Wissenschaft und Hochschulen stellt die Herausgeberschaft eines Buches auch eine finanzielle Herausforderung dar. Unser besonderer Dank gilt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und dem Wilhelm Merton-Zentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main für die großzügige finanzielle Unterstützung. Ein besonders herzlicher Dank geht zudem an Regina Kipper für ihre Unterstützung bei der Formatierung und dem Layout sowie an Katrin Kurten für die redaktionelle Überarbeitung des Rohmanuskriptes. Ebenso herzlich bedanken wir uns bei unserem Lektor Frank Schindler und dem VS Verlag für Sozialwissenschaften für die angenehme Zusammenarbeit und die Publikation des vorliegenden Bandes. Mainz im Oktober 2008
Johannes Kessler und Christian Steiner
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Facetten der Globalisierung: Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur Johannes Kessler & Christian Steiner
Das Bild des Phänomens Globalisierung wird in den öffentlichen Debatten, nicht nur in Deutschland, häufig in einem negativen Licht gezeichnet. Es besteht ein erhebliches Unbehagen gegen die Globalisierung, das insbesondere auf vermeintliche negative Auswirkungen der wirtschaftlichen Dimension der Globalisierung Bezug nimmt. Mit einer thematisch solch engen Perspektive wird jedoch ohnehin nur ein kleiner Ausschnitt der mannigfaltigen Facetten des Phänomens Globalisierung beleuchtet. Wir gehen davon aus, dass sich das Phänomen Globalisierung nicht auf eine ökonomische Dimension reduzieren lässt (HELD et al. 1999; ROSENAU 2004). Vielmehr besitzt es neben der ökonomischen zumindest auch eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Dimension und tangiert auf vielfältige Weise die unterschiedlichsten Bereiche der menschlichen Lebenswelt. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel des vorliegenden Bandes, ein breites Spektrum der Facetten von Globalisierungsprozessen kritisch zu beleuchten und dabei sowohl gesellschaftspolitisch hochgradig kontrovers diskutierte Bereiche zu erörtern wie auch den Blick auf eher versteckte Aspekte der Globalisierung zu lenken.
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Homogenisierung oder Ausdifferenzierung als Entwicklungstendenz einer sich globalisierenden Welt?
Obwohl die folgenden Beiträge unterschiedlichste Aspekte von Globalisierung diskutieren, verbinden sie doch sehr ähnliche Fragestellungen, die zwischen zwei Polen oszillieren. Der erste Pol kann als Homogenisierungs- oder Anpassungsthese bezeichnet werden (OHMAE 1990; PERLMUTTER 1991; FRIEDMANN 2000). Hier wird davon ausgegangen, dass Globalisierung mit Homogenisierungsprozessen einhergeht. Der von MCLUHAN (1962) geprägte Begriff der Entstehung eines globalen Dorfs ist dafür eine treffende Metapher. Dabei wird auf der einen Seite eine durch die Globalisierung hervorgerufene negativ bewertete Homogenisierung von zahlreichen Autoren postuliert, beispielsweise die McDonaldisierung des weltweiten Konsums (RITZER 2000). Das Gleiche gilt für die Angst vor sinkenden Löhnen und einer Ausbreitung der Armut, vor sinkenden Umweltstandards oder einer Gefährdung des Wohlfahrtsstaates und der Demokratie (GUÉHENNO 1996; MARTIN & SCHUMANN 1996; RODRIK 1997; AFHELDT 2003). Diesen Thesen einer Konvergenz auf einem unerwünscht niedrigen Niveau, gleichsam eines race to the bottom, stehen Thesen gegenüber, die ebenfalls eine Homogenisierung postulieren, allerdings auf hohem Niveau. Beispielsweise wurde die zunehmende Konvergenz der politischen Systeme im Sinne einer globalen Ausbreitung der Demokratie festgestellt (DIAMOND 1993). Ebenso gehen Vertreter der klassischen politischen Ökonomie (SMITH 1978; RICARDO 1821) und der Neoklassik (BALASSA 1982; KRUEGER 1990) davon aus, dass mit zunehmendem Freihandel eine An-
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Johannes Kessler & Christian Steiner
gleichung der (globalen) Wohlstandsniveaus einhergeht. Die neoklassische Variante dieser Überzeugungen ist heute integraler Bestandteil der Politik von WTO, IWF und Weltbank (WILLIAMSON 1990; World Bank 1991 und 1996) und gestaltet dadurch in erheblichem Maße unsere globale Wirklichkeit. So widersprüchlich die angeführten Thesen auch sein mögen, handelt es sich doch immer um Facetten der gleichen theoretischen Perspektive einer durch Globalisierungsprozesse bedingten Konvergenz. Den zweiten Pol bilden Thesen, die Globalisierung als einen Prozess fortschreitender Ausdifferenzierung, Fragmentierung oder Auflösung diskutieren wollen (bspw. CASTELLS 2003; CHOMSKY 2000; SCHOLZ 2000) und deren Vertreter oftmals entweder eine marxistisch inspirierte (bspw. BRITTON 1991; HARVEY 2007) oder eine (plural orientierte) postmoderne Perspektive (LYOTARD 1982 und 1999) einnehmen. Fragen des Bedeutungsverlustes von Grenzen oder der globalen wirtschaftlichen Ungleichheit, wie sie beispielsweise im Bereich des internationalen Tourismus offenbar werden, beschäftigen immer mehr Menschen, die die Strukturen ihrer Lebenswelt kritisch reflektieren. Das Spannungsfeld zwischen Homogenisierungs- und Ausdifferenzierungsthesen ist als wirkmächtiges Interpretationsschema für die gesellschaftlichen Debatten relevant. Die Homogenisierungs- und die Ausdifferenzierungsthese sind als dualistische Antithesen jedoch untrennbar miteinander verbunden. Sie einer kritischen und empirisch fundierten Bewertung zu unterwerfen und gleichzeitig eine vorsichtige Einschätzung über die Angemessenheit der überwiegend negativen Wahrnehmung des Phänomens Globalisierung zu erlangen, sind daher neben der Sensibilisierung für den Facettenreichtum der Globalisierung und der zugehörigen wissenschaftlichen Forschung übergeordnete Ziele des vorliegenden Buches.
2
Theoretische Ansätze und empirische Diagnosen: Die Beiträge in diesem Band
Im ersten Beitrag des Bandes von JOHANNES KESSLER Der Mythos vom globalen Dorf: Zur räumlichen Differenzierung von Globalisierungsprozessen geht es um die Frage nach der Globalität der Globalisierung. Betrifft das Phänomen die gesamte Welt in gleicher Weise, wie es die impliziten oder expliziten Homogenitätsthesen zahlreicher Autoren unterschiedlicher Disziplinen ebenso wie die Metapher von einem global village suggerieren? Oder gibt es eine räumliche Differenzierung der Globalisierung und wenn ja, wie sieht diese auf globalem Maßstabsniveau aus und was sind ihre wesentlichen Determinanten? Diesen Fragen geht der Autor nach einer Darstellung der Kontroverse Homogenität versus räumliche Differenzierung in drei Schritten nach, wobei erstens erörtert wird, wie Globalisierung definiert und konzeptionell erfasst werden kann. Eine theoretische Globalisierungskonzeption wird vorgestellt. Zweitens geht es um die Frage, wie sich Globalisierung operationalisieren lässt und wie die räumliche Differenzierung auf globaler Maßstabsebene aussieht. Dazu werden mehrere Indikatoren verschiedener Teildimensionen der Globalisierung vorgestellt. Anhand der ausgewählten Indikatoren erfolgt eine deskriptive Darstellung der räumlichen Differenzierung für das Jahr 2000. Im dritten und letzten Schritt wird untersucht, womit die ermittelte räumliche Differenzierung zusammenhängt. Folgende zwei theoretisch abgeleitete Thesen werden geprüft: Erstens ist anzunehmen, dass das Globalisierungsniveau erheblich variiert, und zweitens ist zu erwarten, dass die Höhe des Globalisierungsniveaus im Zusammenhang mit dem Entwicklungsniveau und den
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von politischer Seite gewährleisteten Freiheiten steht. Beide Thesen lassen sich empirisch bestätigen: Im Jahr 2000 zeigen sich dramatische Unterschiede des Globalisierungsniveaus im globalen Maßstab und das Globalisierungsniveau steht in einem starken positiven Zusammenhang mit dem Entwicklungsniveau und den von politischer Seite bestehenden Freiheiten. Die Homogenitätsthesen und die Metapher eines global village werden vom Autor im Sinne einer Zustandsbeschreibung zurückgewiesen, da diese die tatsächliche exorbitante räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus unterschlagen und damit ein wirklichkeitsfernes Bild gezeichnet wird. Eine der gesellschaftspolitisch am heftigsten diskutierten Debatten um Globalisierung greift LARS PILZ mit seinem Artikel Der Beitrag der komparativen Kostenvorteile zur Globalisierungsdebatte: Müssen sich die Lohnkosten in Deutschland dem internationalen Niveau anpassen? auf. Die Diskussion, ob die Produktion in Deutschland zu teuer und nur mit Löhnen unterhalb des Existenzminimums zu halten ist, erweist sich aus volkswirtschaftlicher Perspektive als zu stark vereinfacht. PILZ greift zur Beantwortung dieser Frage auf die klassischen Theorien DAVID RICARDOS zurück. RICARDO zeigt in seinem Modell, dass Spezialisierung und internationaler Handel auch bei demjenigen Akteur zu einer Ausweitung des Wohlstandsniveaus führen, der aufgrund höherer Kosten bei der Produktion von Gütern absolute Preisnachteile besitzt. Entscheidend für das Zustandekommen eines allseits gewinnbringenden Handels sind daher nicht die absoluten Produktionskosten, sondern die Spezialisierung der beiden Handelspartner auf diejenigen Güter, die im Vergleich zu anderen Gütern relativ billiger produziert werden können. Die Theorie der komparativen Kostenvorteile RICARDOS liefert hiermit einen wichtigen Beitrag zur Analyse der sich stetig vertiefenden Integration der Weltwirtschaft. Die öffentliche wirtschaftspolitische Debatte beschränkt sich hingegen häufig auf den Verweis absoluter Kostenvorteile, insbesondere auf den Vergleich der stark unterschiedlichen Lohnkosten zwischen einzelnen Volkswirtschaften. Wie PILZ mithilfe der Theorie RICARDOS zeigt, stellen unterschiedliche absolute Lohnkosten zwar einen wichtigen Aspekt der ökonomischen Analyse von Volkswirtschaften dar, müssen jedoch in Verbindung mit spezifischen Produktionsstrukturen und differenziert nach unterschiedlichen wirtschaftlichen Sektoren betrachtet werden, um eine Einschätzung der jeweiligen Wettbewerbsposition von Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt geben zu können. Die für die deutsche Wirtschaft mit dem Hinweis auf die hohen Lohnkosten häufig geäußerte Einschätzung der mangelhaften internationalen Wettbewerbsfähigkeit erscheint somit als eine allzu vereinfachende Verkürzung der notwendigen Analyse der Marktposition deutscher Unternehmen. PILZ demonstriert, dass eine internationale Angleichung der Lohnstruktur und eine damit einhergehende Verringerung des deutschen Lohnniveaus kein zwingendes Ergebnis wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse sein muss, sondern dass eine Umsteuerung in der Produktionsstruktur sowie eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik durchaus die Möglichkeiten bieten, das Wohlstandsniveau in Deutschland zu erhalten oder gar auszubauen. BRIGITTE WEIFFEN untersucht in ihrem Beitrag Die Ausbreitung der Demokratie eine Komponente der Globalisierung? die Demokratieentwicklung vor dem Hintergrund der zeitgleich stattfindenden Globalisierung. Während zur Erklärung des weltweiten Trends der Demokratisierung in den letzten Jahrzehnten überwiegend innerstaatliche Erklärungsfaktoren herangezogen werden, präsentiert die Autorin mehrere Annahmen, auf welche Weise die verschiedenen Dimensionen der Globalisierung zur Demokratieentwicklung beitragen
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können. Zusätzlich wirft sie die Frage auf, ob die weltweite Ausbreitung der Demokratie selbst eine Facette der Globalisierung darstellt. Nach einer kurzen Präsentation der innerstaatlichen Einflüsse der Entstehung von Demokratie als Herrschaftsform geht es um die Entwicklungsbedingungen von Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. Zunächst geht WEIFFEN der These nach, dass Demokratie ansteckend sei, es also durch die Globalisierung zu einer Diffusion von Demokratie komme. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse aktueller Studien schließt sie, dass sich im Kontext grenzüberschreitender Ansteckungs- oder Verbreitungseffekte sowohl globale Vernetzung als auch räumliche Nähe förderlich auf Demokratisierungsprozesse auswirken. Im nächsten Schritt wird diskutiert, ob und auf welche Weise ökonomische Globalisierung die Demokratisierung beeinflusst. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind allerdings widersprüchlich, was auch an dem uneinheitlichen Verständnis des Begriffs Globalisierung und der empirischen Messung derselben liegen kann. Anschließend wird die Bedeutung direkter Eingriffe externer wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Akteure mit dem Ziel der Veränderung des politischen Systems erörtert. Hier argumentiert die Autorin, dass externe Interventionen mit dem Ziel der Demokratieförderung erfolgreich sein können, wenn die internen Bedingungen für eine Demokratisierung ebenfalls günstig sind. Nachdem die Auswirkungen verschiedener Facetten der Globalisierung auf die Demokratieentwicklung beleuchtet wurden, wirft die Autorin die Frage auf, ob die Ausbreitung der Demokratie selbst eine Komponente der Globalisierung darstellt. Sie kommt zu dem Schluss, dass die weltweite Demokratisierung mit Einschränkungen hinsichtlich des Demokratieniveaus eine Komponente der (politischen) Globalisierung darstellt. Diese Ergebnisse sind insbesondere vor dem Hintergrund der auch in öffentlichen Diskursen etablierten These interessant, dass die Globalisierung zu einem Niedergang der Demokratie führe. THOMAS SOMMERER und STEPHAN HEICHEL untersuchen in ihrem Beitrag Globalisierung und Umweltregieren: Die Konvergenz von Politiken in der OECD-Welt die Auswirkungen der Globalisierung auf nationalstaatliches Handeln in der Umweltpolitik. Allgemein besteht die Vermutung, dass ganze Politikbereiche, politische Programme bzw. Instrumente sich über Grenzen hinweg zunehmend ähnlicher werden. Im Gegensatz zu der häufig geäußerten Vermutung, dass die Konvergenz auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner stattfindet (race to the bottom), geht aus Fallstudien zu einzelnen Umweltmaßnahmen hervor, dass es vielfach die Ideen, Konzepte und Problemlösungen der umweltpolitischen Vorreiterstaaten sind, die sich durchsetzen. Allerdings zeigt die Forschung trotz dieser Beobachtung häufiger Konvergenz, dass selbige keine einheitliche Tendenz ist, sondern je nach betrachteter Umweltmaßnahme durchaus eine beträchtliche Varianz besteht und auch bezüglich des Einflusses möglicher erklärender Faktoren kein Konsens existiert. Vor diesem Hintergrund präsentiert der Beitrag Resultate eines Forschungsprojekts mit dem Ziel, im ersten Schritt den Umfang der Konvergenz von Umweltpolitiken festzustellen, um dann im zweiten Schritt die entscheidenden Antriebskräfte für diesen Prozess zu identifizieren. Der Fokus liegt dabei auf den globalisierungsbedingten Ursachen der Konvergenz: Welchen Beitrag zur (möglichen) Konvergenz leisten Handelsverflechtung und Regulierungskonkurrenz? Welchen Einfluss haben die Kooperation und das Lernen in internationalen Institutionen? Die statistische Analyse umfasst 24 Staaten, wobei 40 umweltpolitische Maßnahmen in Zehn-Jahres-Schritten von 1970 bis 2000 verglichen werden. Der Artikel zeigt, dass Konvergenz im Bereich der Umweltpolitik vorliegt, wenn auch nicht gleichmäßig, sondern variierend über die Staaten und die verschiedenen Politiken hinweg.
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Konträr zur verbreiteten Vermutung eines Abwärtsrennens bei den Umweltstandards weisen die empirischen Resultate klar eine Entwicklung zu mehr und strikteren Umweltschutzpolitiken auf. Als Erklärung für diese Konvergenz identifiziert der Beitrag neben dem Wohlstandsniveau hauptsächlich den Einfluss der Kooperation in internationalen Organisationen und Regimes. Die Integration im Bereich des Außenhandels und die in dem Zusammenhang vermutete Regulierungskonkurrenz der Nationalstaaten erklären die Entwicklung dagegen nicht. Der Beitrag von CHRISTIAN STEINER Globalisierung und Tourismus: Paradiese unter Palmen auf Kosten der Armen? befasst sich explizit mit der verbreiteten Fragmentierungsthese. Der internationale Tourismus ist als Phänomen, das Wanderungsbewegungen, interkulturelle Begegnungen und erhebliche wirtschaftliche Effekte mit sich bringt, eines der prominentesten Beispiele der zunehmenden Globalisierung. Der internationale Tourismus ist zudem eine der unmittelbarsten lebensweltlichen Erfahrungen von Menschen mit dem Phänomen Globalisierung. Inwiefern das starke Anwachsen des internationalen Tourismus als Phänomen eines neuen Ausbeutungsmusters im Zuge der Herausbildung einer neokolonialen Weltordnung gedeutet werden muss, oder ob es im Gegenteil als Mittel zur globalen Armutsreduktion geeignet erscheint, ist daher immer wieder Gegenstand zahlreicher globalisierungskritischer Debatten. STEINER greift diese Debatten auf und zeigt, inwiefern die Entwicklungsländer in den internationalen Tourismus eingebunden sind und welche Entwicklungspotenziale dies mit sich bringt. Anhand des ägyptischen Beispiels demonstriert der Autor, dass der internationale Tourismus nicht nur enorme volkswirtschaftliche Potenziale besitzt, sondern dass die Struktur der internationalen Tourismuswirtschaft eher auf interdependente als auf dependente Wirtschaftsbeziehungen zwischen Entwicklungs- und Industrieländern schließen lässt. Der kritische Punkt für die Frage nach den armutsmildernden Effekten des Tourismus scheint daher nicht so sehr in der Struktur des Tourismussektors selbst zu liegen, sondern in der Verteilung der im Tourismus erzielten Gewinne über Lohnquoten, Sickereffekte und staatliche Verteilungspolitiken. Die Analyse des ägyptischen Beispiels legt den Schluss nahe, dass die Frage, ob der internationale Tourismus armutsmildernde Effekte mit sich bringt, nicht aus einer rein tourismuswirtschaftlichen und globalisierungstheoretischen Perspektive heraus zu beantworten ist, sondern dass vielmehr der nationale Regulationsrahmen von entscheidender Bedeutung ist. Angesichts dieser Ergebnisse kann von einem neuen neokolonialen Ausbeutungsmuster im Sinne der Fragmentierungsthese keine Rede sein vielmehr scheint es, als wäre der Tourismus ein Beispiel dafür, dass dem Nationalstaat eine größere Bedeutung zukommt, als es im Rahmen der Globalisierungsdebatte oftmals den Anschein hat. Der Bedeutungswandel der Grenzen des Nationalstaats zum einen sowie zum anderen die Grenzen der Handlungsfähigkeit des Nationalstaats vor dem Hintergrund der Globalisierung sind Gegenstand des Beitrags Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats von HERBERT DITTGEN. Anhand von Funktionsveränderungen der Grenzen zeigt DITTGEN ambivalente Auswirkungen der Globalisierung auf den Nationalstaat auf. Globalisierung führt nicht einfach zum Bedeutungsverlust von Grenzen, zu einer fragmentierten, grenzenlosen oder entgrenzten Welt, und auch nicht zu einem Verlust der Kontrolle der Grenzen durch den Nationalstaat. Während manche Sozialwissenschaftler bereits das Ende des Nationalstaats und den Übergang zur transnationalen Demokratie konstatieren, weist DITTGEN auf die Gleichzeitigkeit von Prozessen grenzüberschreitender Integration und Prozessen der sicherheitspolitischen Aufwertung von Grenzen oder auch neuen Grenzzie-
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hungen hin und diskutiert den widersprüchlichen Funktions- und Bedeutungswandel von Grenzen unter den Bedingungen der Globalisierung. Nach einer kurzen Darstellung der verbreiteten Thesen von der Entgrenzung und dem Bedeutungsverlust des Nationalstaats prüft der Autor die Plausibilität derselben und damit die Auswirkungen der Globalisierung auf den Nationalstaat anhand von fünf verschiedenen Funktionen seiner Grenzen. Die Betrachtungen der traditionellen militärischen (Schutz-)Funktion, der rechtlichen, wirtschaftlichen, ideologischen und der sozialpsychologischen Funktionen zeigen Funktionsverluste ebenso wie einen Funktionswandel und auch neue Grenzziehungen, aber keinen generellen Funktionsverlust von Grenzen oder dem Nationalstaat selbst. DITTGEN weist nicht nur auf neue (insbesondere ideologische) Grenzziehungen hin, er beleuchtet auch das Verhältnis von europäischer Integration und Nationalstaat. Keine dieser Entwicklungen macht den Nationalstaat obsolet. Zwar konstatiert DITTGEN durch zunehmende Interdependenz bedingte Autonomieverluste, die aber durch einen Zugewinn an Kontrollmöglichkeiten insbesondere in Bezug auf die Migration flankiert werden. Ein Ende staatlicher Souveränität, also des Gewaltmonopols und der Territorialität des Staats, kann nicht festgestellt werden, was zudem positiv bewertet wird, da (noch) kein alternativer Rahmen für eine Demokratie im Sinne verantwortlicher Politik (responsible government) und für die politische Integration existiert. Der Beitrag von SANDRA PETERMANN Globalisierung und politische Identität: Die Weltkriege als mythologischer Ursprung eines vereinten Europas? geht der Frage nach, ob sich im Zuge der Globalisierung auch unsere gesellschaftlichen Identitäten und damit die Bedeutungsinhalte und Wertigkeiten nationaler Ideen verändern bzw. anpassen. Die Autorin zeigt, dass nationale Identitäten auf einem Mythos der inneren Gleichheit und der äußeren Differenz beruhen und insbesondere über kriegerische Auseinandersetzungen (re-)konstruiert werden. Die militärische Globalisierung des 20. Jahrhunderts ist daher sowohl legitimierende Grundlage wie Ergebnis des Nationalstaatsverständnisses der Europäischen Staaten. Gleichzeitig hatte die militärische Globalisierung des 20. Jahrhunderts jedoch so verheerende Folgen, dass mit ihr die Idee des Nationalismus in der Retrospektive zunehmend desavouiert wird. Mit der Neubewertung der Nationalstaatsidee und der damit verbundenen Auflösung der Differenz des Eigenen und des Fremden werden politische Identitäten instabil, was zugleich die Voraussetzung für die Herausbildung einer sich globalisierenden supranationalen Identität ist. Wenn politische Identitäten jedoch immer an einen Mythos der inneren Gleichheit gekoppelt sind, müsste ein neuer Mythos an die Stelle des alten treten, wenn politische Identitäten zunehmend Globalisierungsprozessen unterworfen wären. Am Beispiel empirischer Untersuchungen des Gedenkens an den ersten Weltkrieg anlässlich der Schlacht von Verdun analysiert PETERMANN, wie der militärische Konflikt im Zuge des Gedenkprozesses mit sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen versehen wird. Stehen am Anfang der Abwehrkampf und der Triumph Frankreichs über Deutschland und damit die Legitimation der nationalen französischen Identität im Vordergrund, so wird später zunehmend die Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen und das Leid auf beiden Seiten betont. Aus der Identifikation dieser Gemeinsamkeit im traumatischen Erleben des Krieges entsteht eine Geschichtsreinterpretation, die aus der gemeinsamen Vergangenheit eine Verpflichtung für den Aufbau eines gemeinsamen Europas ableitet und damit die europäische Einigung legitimiert. Ob diese neue Sichtweise hinreicht, einen europäi-
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schen (Gründungs-)Mythos anstelle des Nationalstaatsgedankens zu etablieren, ist dabei eine Frage, die PETERMANN zur zukünftigen Beantwortung aufwirft. Die Debatte um Homogenisierungstendenzen im Zuge der Globalisierung greifen GEORG GLASZE und AIKA MEYER in ihrem Beitrag Das Konzept der kulturellen Vielfalt: Protektionismus oder Schutz vor kultureller Homogenisierung? auf. Sie zeigen, dass beiden Vorstellungen tendenziell ein essentialistisches Kulturverständnis zugrunde liegt, das durch den geographischen Schulunterricht gefestigt wird. Dieses Kulturverständnis homogenisiert und naturalisiert Kultur und lokalisiert sie als Legitimationsbasis des Nationalstaatskonzepts in klar abgrenzbaren räumlichen Einheiten. Mit der wirtschaftlichen Globalisierung und den damit verbundenen Aktivitäten der WTO sowie der Liberalisierung der Kulturwirtschaft im Zuge des General Agreement on Trade in Services (GATS) entstehen neue Ängste vor einer kulturellen Homogenisierung der Welt nach nordamerikanischem Vorbild. Vor diesem Hintergrund wurde das Konzept der kulturellen Vielfalt entwickelt, das als Gegenstand einer UNESCO-Konvention als Legitimationsbasis für staatliche Kulturpolitik und Förderung dient. Diese wird dazu genutzt, um die kulturwirtschaftliche Produktion des eigenen Landes dem internationalen Markt zu entziehen und somit einer Homogenisierung entgegen zu wirken. Vor einem nicht essentialistischen und räumlich lokalisierbaren Kulturkonzept erscheint eine solche Politik jedoch fragwürdig. Es muss durchaus infrage gestellt werden, inwieweit gerade die im inneren homogenisierend wirkenden Nationalstaaten als Anwälte kultureller Vielfalt geeignet sind. Muss die neue UNESCO-Konvention nicht eher als Legitimation protektionistischer Handelspolitiken interpretiert werden, die nach innen dazu dienen, die sich aus einem essentialistischen Kulturkonzept ableitende Legitimation des Nationalstaats zu verteidigen?
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Globalisierungsforschung und Interdisziplinarität
Das Phänomen Globalisierung wird erst seit vergleichsweise kurzer Zeit wissenschaftlich untersucht. Die Forschung erstreckt sich im Wesentlichen auf weniger als zwei Jahrzehnte. Auch wenn der Umfang des wissenschaftlichen Outputs in dieser Zeitspanne enorm und kaum zu überschauen ist, so ist es schon fast ein Allgemeinplatz darauf zu verweisen, dass es bisher nicht einmal gelungen ist, einen Konsens über die Bedeutung des Begriffes zu erzielen (BUSCH 1999; GRANDE & RISSE 2000; MAYNTZ 2005; KESSLER 2007). Der allgemeine Forschungsstand kann als heterogen und diffus bezeichnet werden. Despite a vast and expanding literature there is, somewhat surprisingly, no cogent theory of globalization nor even a systematic analysis of its primary features (HELD u. a. 1999: 1). Obwohl diese Einschätzung bereits vor einigen Jahren vorgenommen wurde und sich die Forschung seitdem weiterentwickelt hat, so bleibt ihre grundsätzliche Aktualität dennoch bestehen. Die Globalisierungsforschung ist ein sich dynamisch entwickelndes Feld, das sich im Wesentlichen über die universitären Disziplinen Ökonomie, Politikwissenschaft, Geographie und Soziologie erstreckt. Nicht selten jedoch beschränkt sich die in wissenschaftlichen Publikationen herangezogene Literatur weitgehend auf Veröffentlichungen der eigenen Disziplin oder gar eines bestimmten Bereichs innerhalb dieser Disziplin. Für eine stärker interdisziplinäre Vorgehensweise spricht nicht nur, dass in den unterschiedlichen Fächern häufig ähnliche und manchmal sogar identische Fragestellungen bearbeitet werden, so dass sich eine Beschränkung auf die Kenntnisnahme der Publikationen des eigenen Fachs
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ohnehin kaum sinnvoll rechtfertigen lässt. Angesichts des oben skizzierten Forschungsstandes erscheint eine interdisziplinäre Vorgehensweise auch geboten, um die in anderen Disziplinen bereits entwickelten theoretischen Ansätze ebenso wie die dort gewonnenen empirischen Erkenntnisse für die eigene Forschung gewinnbringend nutzen zu können und unnötige Wiederholungen innerhalb undurchlässiger Fächergrenzen zu vermeiden. Weiterhin stellt es sicher eine zu begrüßende Erweiterung des fachlichen Horizonts dar, Fragestellungen und Ansätze zum Thema Globalisierung aus den Nachbardisziplinen und die teilweise damit verbundenen unterschiedlichen Blickwinkel kennen zu lernen. Bei allen Schwierigkeiten, die mit interdisziplinärem Arbeiten verbunden sind, nicht zuletzt angesichts einer selbst in den einzelnen Fächern schier unübersehbaren Fülle von Publikationen zum Thema Globalisierung, ist es eine sinnvolle, teilweise gar unerlässliche Erweiterung, Globalisierungsforschung über den Horizont der einzelnen Fachdisziplinen hinaus interdisziplinär zu betreiben. In diesem Sinne versammeln die Beiträge in diesem Band Forschungsansätze zum Thema Globalisierung mit ökonomischem, politikwissenschaftlichem, geographischem und soziologischem Hintergrund, den Facettenreichtum ihres Untersuchungsgegenstandes reflektierend.
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Der Mythos vom globalen Dorf: Zur räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus Johannes Kessler
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Einleitung
Die Vorstellung von der Globalisierung als einem Phänomen, das die ganze Welt gleichermaßen betrifft, ist in öffentlichen Debatten, populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen wie auch in der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitet. Dies erscheint auch nahe liegend, ist doch der Begriff Globalisierung abgeleitet von dem Wort global, also den gesamten Globus betreffend. Die ganze Welt scheint gleichermaßen geschrumpft zu sein, räumliche Entfernung keine Rolle mehr zu spielen und Grenzen bedeutungslos geworden zu sein. Dafür stehen die Metaphern einer shrinking world und des global village, die sich in unzähligen Veröffentlichungen und Lehrbüchern zum Thema Globalisierung finden. Die Welt, ehemals durch eine ausgeprägte räumliche Differenzierung und die bedeutenden Interaktionshemmnisse räumliche Distanz und nationalstaatliche Grenzen gekennzeichnet, scheint auf die Größe eines Dorfes zusammengeschrumpft zu sein, in dem die Dorfbewohner gleichermaßen miteinander interagieren können und die ehemals vorhandenen Interaktionshemmnisse bedeutungslos geworden sind. Globalisierung wird häufig als homogenes oder Homogenität herstellendes Phänomen angesehen, als ein quasi exogener, die ganze Welt gleichermaßen betreffender und zudem außerordentlich wirkungsmächtiger Einflussfaktor. Dementsprechend ist es in den Medien und in der Literatur weit verbreitet, Entwicklungen verschiedener sozialwissenschaftlich relevanter Merkmale (beispielsweise den globalen Trend einer zunehmenden Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen, die wachsende Armut in vielen afrikanischen Staaten oder auch den weltweiten Anstieg der Inflation) auf die Globalisierung zurückzuführen, ohne dass das Ausmaß der Globalisierung empirisch erhoben würde und als unabhängige Variable Verwendung fände. Es hat den Anschein, als vermag die Globalisierung, in ihrer vermuteten Eigenschaft als globaler Einflussfaktor, jeden nationalen, regionalen oder globalen Trend per se zu erklären. Als empirischer Beleg genügt vielen Autoren bereits das Aufzeigen eines Trends des zu erklärenden Merkmals auf der einen Seite sowie des meist globalen, gleichzeitigen Aufwärtstrends von einem oder mehreren Globalisierungsindikatoren auf der anderen Seite. Abgesehen von der Berücksichtigung alternativer Einflussfaktoren und dem Problem, dass eine zeitgleiche Entwicklung alleine noch nicht auf eine Kausalbeziehung schließen lässt, setzt eine solche Vorgehensweise voraus, dass es sich bei der Globalisierung tatsächlich um einen homogenen Einflussfaktor handelt, der die ganze Welt gleichermaßen betrifft. Zahlreiche andere Autoren artikulieren hingegen die Frage, ob und inwieweit das Phänomen Globalisierung tatsächlich global ist. Sie konstatieren, dass die Akteure in verschiedenen Staaten oder Teilen der Welt unterschiedlich stark an Globalisierungsprozessen partizipieren und weisen damit die Annahme zurück, dass es sich bei der Globalisierung um ein homogenes, die ganze Welt gleichermaßen betreffendes Phänomen handelt. Folgerich-
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Der Mythos vom globalen Dorf
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tig wird Globalisierung nicht mehr nur als globale Aggregatgröße (beispielsweise des Außenhandels) erfasst, sondern das Globalisierungsniveau auf nationalstaatlicher Ebene gemessen, was einen zwischenstaatlichen Vergleich des Globalisierungsniveaus ermöglichen soll. Außerdem werden solche Daten in der Regel eines einzigen oder weniger, meist ausschließlich ökonomischer Globalisierungsindikatoren als unabhängige Variable zur Analyse der Folgen von Globalisierung auf verschiedene abhängige Variablen, wie die Verteilung von Einkommen oder wohlfahrtsstaatliche Leistungen, herangezogen. Da sich ein Konsens etabliert, dass es sich bei der Globalisierung nicht um ein rein ökonomisches Phänomen handelt, gibt es zunehmend Ansätze, Globalisierung mittels mehrerer Indikatoren verschiedener Dimensionen zu erfassen, die teilweise auch zu einem Index verdichtet werden. Allerdings besteht bisher weder Klarheit darüber, um welche Dimensionen es sich genau handeln soll, noch wie diese konsistent empirisch erfasst werden können. Auf der einen Seite wird Globalisierung also als ein weitgehend homogenes, die gesamte Welt gleichermaßen betreffendes Phänomen angesehen, auf der anderen Seite wird eine räumliche Differenzierung angenommen. Diese beiden divergierenden Vorstellungen werden im folgenden Abschnitt Homogenität versus räumliche Differenzierung überblicksartig dargestellt, um anschließend der Frage nachzugehen, welche der beiden Positionen zutreffender und inwieweit die Vorstellung von der Welt als Dorf angemessen ist. Das Ziel dieses Beitrags ist es zu klären, ob es eine bedeutsame räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene gibt und wenn ja, wie diese beschaffen ist. Darüber hinaus stellt sich dann die Frage, wie die räumliche Differenzierung zustande kommt. Zentrale Determinanten der räumlichen Differenzierung werden identifiziert und es wird empirisch geprüft, womit das Globalisierungsniveau zusammenhängt. Dazu gilt es im dritten Abschnitt zunächst zu klären, was unter Globalisierung verstanden wird. Der Begriff wird in Anlehnung an die theoretische Literatur definiert. Nach erfolgter Definition und systematischer Konzeptualisierung werden folgende zwei Thesen theoretisch abgeleitet: 1. Das Globalisierungsniveau weist eine ausgeprägte, mit der Vorstellung von einem global village kaum zu vereinbarende räumliche Differenzierung auf. Es handelt sich aber auch nicht um die Dichotomie aus einem globalisierten Teil der Welt (beispielsweise der aus den USA, Westeuropa und Japan bestehenden Triade) und einem weitestgehend von Globalisierungsprozessen ausgeschlossenen Rest, wie zahlreiche Autoren behaupten, sondern vielmehr um eine kontinuierliche Verteilung von Staaten mit einem mehr oder weniger hohen Globalisierungsniveau. 2. Das Globalisierungsniveau steht in einem starken positiven Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau sowie den von politischer Seite bestehenden Freiheiten. Um die erste der genannten Thesen zu prüfen, wird das Globalisierungsniveau im vierten Abschnitt auf globaler Maßstabsebene empirisch erfasst. Dass dies nur näherungsweise erfolgen kann und die Operationalisierung dennoch keine leichte Aufgabe ist, versteht sich angesichts der theoretischen Unklarheiten in Bezug auf das Konzept Globalisierung, der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes sowie der eingeschränkten Verfügbarkeit entsprechender Daten von selbst. Bisherige Ansätze, Globalisierung empirisch zu erfassen, beschränkten sich meist auf Staatengruppen oder einzelne Industrieländer und nicht selten auf einen oder wenige ökonomische Indikatoren. Nur wenige neuere Studien umfassen die Mehrzahl der Nationalstaaten als Untersuchungseinheiten und verschiedene Dimensionen der Globalisierung zugleich. Zudem finden Indikatoren Verwendung, die unterschiedliche theoretische Konstrukte repräsentieren, so dass bestehende Ansätze nicht ausreichend kon-
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sistent sind. Eine Darstellung der räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene anhand von mehrdimensionalen konsistenten Globalisierungsindikatoren ist bisher nicht erfolgt. Die hier vorgenommene deskriptive Analyse hingegen berücksichtigt für einen Großteil aller Staaten anhand von sechs Indikatoren verschiedene Aspekte der Globalisierung, die konsistent das zuvor spezifizierte theoretische Konstrukt erfassen, und erlaubt damit näherungsweise, die räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene aufzuzeigen. Das Erhebungsjahr ist das Jahr 2000. Die Prüfung der zweiten These, die einen starken positiven Zusammenhang zwischen dem Globalisierungsniveau und dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau sowie den von politischer Seite bestehenden Freiheiten unterstellt, ist Gegenstand des fünften Abschnitts. Da die deskriptive Analyse der räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus Mittelpunkt dieses Beitrags ist, und eine multivariate Analyse zur Bestimmung des relativen Erklärungsanteils verschiedener Einflussfaktoren ebenso wie eine Untersuchung der zeitlichen Entwicklung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, wird die artikulierte These anhand von bivariaten Zusammenhangsanalysen geprüft. Die in Abschnitt vier verwendeten Globalisierungsindikatoren, der Untersuchungsumfang beziehungsweise die Anzahl der Nationalstaaten sowie das Erhebungsjahr bleiben unverändert. Im letzten, sechsten Abschnitt werden die Ergebnisse zusammengefasst und sich daraus ergebende Schlussfolgerungen abgeleitet.
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Homogenität versus räumliche Differenzierung
2.1 Thesen einer homogenen Globalisierung Zahlreiche Autoren vertreten die These, dass räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen ihre Eigenschaft als Hindernis menschlicher Interaktion bereits weitgehend verloren haben oder dass sie in absehbarer Zeit bedeutungslos sein werden. Die dadurch ermöglichte Globalisierung wird als globales Phänomen angenommen. Eine räumliche Differenzierung des Ausmaßes der Verflechtung und Ausdehnung menschlicher Aktivität wird dabei nicht thematisiert. Eine homogene Verteilung des Globalisierungsniveaus wird postuliert oder ein globaler Homogenisierungstrend identifiziert. Bezüglich der Entwicklung der Telekommunikation schreibt beispielsweise SCHREMPP (1999), dass jeder von jedem Ort der Welt und zu jeder Zeit auf das gesamte weltweit verfügbare Wissen Zugriff habe. FRIEDMAN (2000) konstatiert, dass alle Menschen durch das World Wide Web, das zum Symbol der Globalisierung geworden ist, verbunden würden. Laut CAIRNCROSS (1997) werden arme Länder Zugang zu Informationen erhalten, die zuvor nur in den Industrieländern verfügbar waren, was zu einem begrüßenswerten Abbau der Ungleichgewichte zwischen Arm und Reich führen werde. Er identifiziert einen weltweiten Trend hin zu grenzenlosen und nahezu kostenfreien elektronischen Kommunikationskapazitäten. Mit den Worten OHMAES (1990: 20) ausgedrückt: We all share the same information. WERLEN (1997) postuliert in ähnlicher Weise, dass Wissen und Information unter entankerten Bedingungen in räumlicher Hinsicht ubiquitär seien. Handelnde lösten demnach, an beinahe beliebigen Standorten, Segmente aus globalen Informationsströmen heraus. Das global village werde Wirklichkeit durch die elektronischen Medien, die es ermög-
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lichen, dass alles was geschieht von allen gleichzeitig erfahren und gewusst werden könne. WERLEN (2000b) bedient sich der von MCLUHAN (1962) eingeführten Metapher eines global village und stellt fest, dass die Welt zum globalen Dorf, zur globalen Stadt geworden sei, wobei globale Lebenszusammenhänge eine ehemals vorhandene räumliche Kammerung ersetzten. Für den wirtschaftlichen Bereich schreibt LEVITT, der als einer der ersten Wissenschaftler zum Thema Globalisierung publiziert, bereits 1983: Die technologische Entwicklung in den Bereichen Transport und Kommunikation und damit verbunden die Globalisierung hätten die Welt auf eine Weise homogenisiert, die nationalstaatliche Unterschiede bedeutungslos werden ließen. Vergleichbar äußert sich OHMAE (1990: 16): We are all part of the same interlinked economy. Durch den freien Informationsfluss würden geographische Barrieren irrelevant, globale Bedürfnisse würden durch globale Produkte befriedigt, eine grenzenlose Welt entstehe. In ähnlicher Form konstatiert REICH (1991), dass es, infolge der aktuellen Transformationen, im 21. Jahrhundert keine nationalen Produkte oder Technologien, keine nationalen Unternehmen oder Industrien und auch keine nationalen Volkswirtschaften im herkömmlichen Sinne mehr geben werde. THUROW (1996: 114) wiederum schreibt: For the first time in human history, anything can be made anywhere and sold everywhere. O BRIEN (1992) sagt eine globale Integration der Finanzmärkte voraus, die geographische Standorte unbedeutend werden lässt. Bereits der Titel seines Buches Global Financial Integration: The End of Geography spiegelt seine Feststellung wider, dass sich mit der weltweit zunehmenden Integration auch das Ende der Geographie nähere. Begriffe wie national, grenzüberschreitend, international oder global ließen sich demnach immer schwerer definieren und verlören schließlich ihre Bedeutung. Diesen Aussagen ähnlich behauptet CAIRNCROSS (1997), dass räumliche Entfernung kein Hindernis mehr sein werde und eine Welt ohne räumliche Entfernung auch eine Welt ohne Grenzen sei. Durch sinkende Telekommunikationskosten würden die Vorteile der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern abgebaut, Länder mit guten Kommunikationsmöglichkeiten wären nicht mehr voneinander unterscheidbar, die Geographie verlöre ihre Bedeutung. FRIEDMANs internationaler Bestseller übernimmt nicht nur die These von der durch die Globalisierung bewirkten Homogenisierung der Welt sondern macht eine Überschrift aus LEVITTs mehr als zweieinhalb Jahrzehnte zuvor veröffentlichtem Artikel sogar zum Titel seines Buches: The World is Flat (FRIEDMAN 2006). Solchen Thesen sowie den Metaphern eines global village oder einer shrinking world liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Welt auf eine homogene Weise geschrumpft ist, wie Abbildung 1 suggeriert.1 MCLUHAN (1962), von dem die Metapher des global village stammt, spricht von der Aufhebung von Raum und Zeit bezüglich unseres Planeten und von einer Implosion der westlichen Welt. WERLEN übernimmt nicht nur den Begriff des global village, sondern auch den einer Implosion der Welt (1997). In kommunikativer Hinsicht habe der raumzeitliche Schrumpfungsprozess bereits zu einer Nadel-Kopf-Existenz geführt (WERLEN 2000b). VIRILIO wie MCLUHAN populärer Autor von Essays, spricht vom Verschwinden des Raums (VIRILIO 1992) und dem Ende der Geographie (VIRILIO 1997). HELD et al. (1999), deren Untersuchung der globalen Transformationen ansonsten als differenziert bezeichnet werden kann, übernehmen den Begriff einer Auslöschung des Raums. 1 Diese Abbildung wurde beispielsweise von HARVEY (1989), DICKEN (1998) und WERLEN (2000a) übernommen, wobei lediglich DICKEN im Text explizit darauf hinweist, dass die Schrumpfung, entgegen der Aussage der Abbildung, in hohem Masse ungleich erfolgt.
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Metaphern aus eher populärwissenschaftlichen Essays, die eine räumliche Differenzierung des Phänomens außer Acht lassen, finden weit verbreitet Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs. Abbildung 1:
Das Schrumpfen der Welt als Folge der Entwicklung neuer Transporttechnologien
Quelle: DICKEN (1998: 152), nach MCHALE (1969).
Die oben angeführten Thesen werden allerdings bereits von einigen der Autoren selbst eingeschränkt. So verweist beispielsweise CAIRNCROSS (1997) darauf, dass die Wirkung des death of distance geringer ausfalle, wenn ein Produkt nur physisch-räumlich verteilt werden könne. O BRIEN (1992), dessen Buchtitel das Ende der Geographie verkündet, schreibt selbst, dass die Geographie als wichtige und offensichtliche Bezugsgröße erhalten bleibe und dass Standorte ihre Bedeutung nicht verlören, solange physische Barrieren existieren, das Reisen Zeit in Anspruch nimmt und kulturelle und soziale Unterschiede beste-
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hen bleiben. WERLENS Aussagen wiederum gelten nur für einen Idealtypus spät-moderne Lebensform. Er unterscheidet traditionelle, lokal verankerte Lebensformen und spätmoderne, entankerte, globalisierte Lebensformen, die nebeneinander existieren (1997; 2000b). OHMAE (1990: 211) stellt im Epilog seines Buches The borderless world fest, dass Grenzen durchaus noch von Bedeutung sind und schränkt die zuvor gemachten Aussagen mit den Worten ein: We are not there yet. Trotz dieser Einschränkungen sind es aber gerade die zuvor angeführten plakativen Formulierungen, die aufgrund einer fehlenden räumlichen Differenzierung eine bezüglich der Globalisierungsprozesse homogene Welt feststellen oder voraussagen. Solche vereinfachten Thesen von führenden Managern, Journalisten sowie Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen bilden nicht nur die Basis eines populären Verständnisses von Globalisierung (KELLY 1999). Die Vorstellung von einer die gesamte Welt gleichermaßen betreffenden Globalisierung ist gleichzeitig die Legitimitätsgrundlage dafür, dass die verschiedensten nationalen, regionalen oder globalen Trends in den Medien und populärwissenschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Publikationen auf die Globalisierung zurückgeführt werden, ohne dass das Ausmaß der Globalisierung differenziert empirisch erhoben würde und als unabhängige Variable in einer entsprechenden Analyse Verwendung fände. Als Beispiele lassen sich die zunehmende Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen (STERNBERG 1997; MILANOVIC 2003), generelle Effektivitätsverluste nationalstaatlicher Politiken und ein Rückgang nationalstaatlicher Performanz in verschiedenen Bereichen innerhalb der OECD-Staaten (MENZEL 1998; ZÜRN 1998), die wachsende Armut in Afrika südlich der Sahara (SCHOLZ 2003) oder auch der weltweite Anstieg der Inflation anführen (HIRN & MÜLLER 2008).
2.2 Thesen einer räumlichen Differenzierung Die Vertreter der im vorangegangenen Abschnitt angeführten Homogenitätsthesen erfahren allerdings starken Widerspruch. Zahlreiche Autoren stellen fest, dass bisher kaum überzeugend dargelegt werden konnte, was an der Globalisierung wirklich global ist (ZÜRN 1998; HELD et al. 1999). VESETH (1998: 44) beispielsweise schreibt: Geography still counts; it really is a barrier. The gap between the borderless virtuel world of our imaginations and the border-defined world of our daily experience has shrunk, but not so much as you might think. WERLENS These von der unter entankerten Bedingungen ubiquitären Verfügbarkeit von Wissen und Information wird beispielsweise von WEICHHART (1999) und SCHEINER (2002) infrage gestellt. THRIFT (1995) betont, dass nicht jeder in Telekommunikationsnetzwerke eingebunden sei. Die neuen Telekommunikationsnetzwerke produzierten electronic ghettoes, neue Formen der Verbindung produzierten gleichzeitig neue Formen des Ausschlusses. Neue Peripherien würden fortwährend kreiert, eine vollständig verbundene Welt werde niemals erreicht. Für SCHOLZ (2000; 2002) ist Globalisierung eher durch eine chaotische Fragmentierung gekennzeichnet, wobei ein kleiner Teil der Menschheit an der Globalisierung partizipiert, der größere Teil jedoch ausgeschlossen ist. Auch AGNEW (2001) sieht eine Polarisierung der Welt, die mit den im vorangegangenen Abschnitt angeführten Homogenitäts- oder Homogenisierungsthesen kaum vereinbar ist. DICKEN (1998: 6) wiederum weist mit folgenden Worten auf eine räumliche Differenzierung hin: Change does not occur everywhere in the same way and at the same rate; the processes of globaliza-
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tion are not geographically uniform. Eine derartige Einschätzung wird von zahlreichen anderen Autoren geteilt (beispielsweise BAYLIS & SMITH 1997; SCHOLTE 1997; KELLY 1999). Für den wirtschaftlichen Bereich stellt beispielsweise die Europäische Kommission (European Commission 2002) fest, dass eine Gruppe sehr armer Länder vornehmlich in südlich der Sahara gelegenen Regionen Afrikas und in Südasien weiterhin wenig in die Weltwirtschaft integriert ist. Diese Länder blieben von den Vorteilen der Globalisierung weitgehend ausgeschlossen. Eine ähnliche Aussage findet sich in einer Studie der Weltbank (DOLLAR & COLLIER 2002), wobei die Anzahl der von den Globalisierungsprozessen ausgeschlossen Menschen mit etwa 2 Mrd. beziffert wird. HIRST & THOMPSON (1999) wiederum betonen die Konzentration sowohl des Welthandels als auch der ausländischen Direktinvestitionen auf die Industrieländer. Sie konstatieren, dass die wirtschaftliche Globalisierung weitestgehend auf die Triade (USA, Japan und (West-) Europa) beschränkt sei, der Anteil der Dritten Welt bleibe marginal, von einer Minderheit der seit Kurzem industrialisierten Ländern abgesehen. Vergleichbare Aussagen finden sich auch bei zahlreichen anderen Autoren (bspw. NUHN 1997; SCHAMP 1997; ALTENBURG 2001; Enquete-Kommission 2002). Andere Autoren weisen das Modell der Triade zurück als unzulässige Vereinfachung der in Wahrheit komplexeren räumlichen Differnzierung (POON, THOMPSON & KELLY 2000; WIESE 2001). Auf eine ungleiche Verteilung sowohl im wirtschaftlichen als auch im telekommunikativen Bereich verweist auch ZÜRN (1998), ebenso wie BEISHEIM et al. (1999), die darüber hinaus auch eine räumliche Differenzierung des internationalen Reiseverkehrs feststellen. KELLY (1999) führt an, dass für Akademiker und andere Eliten, die über die Möglichkeit der Internetnutzung und die Möglichkeit des Reisens verfügen, Globalisierung eher Wirklichkeit wird, als für viele andere. Mit den Worten von HELD et al. (1999: 28) ausgedrückt: Political and economic elites in the worlds major metropolitan areas are much more tightly integrated into, and have much greater control over, global networks than do the subsistence farmers of Burundi. Im Einklang mit der Vorstellung, dass es bedeutende Unterschiede in Bezug auf das Globalisierungsniveau zwischen verschiedenen Staaten und Regionen gibt, findet Globalisierung in zahlreichen Studien als unabhängige Variable Verwendung. In der Regel werden einzelne oder wenige, meist ausschließlich ökonomische Globalisierungsindikatoren als unabhängige Variable zur Analyse der Folgen von Globalisierung auf verschiedene abhängige Variablen wie wohlfahrtsstaatliche Leistungen (bspw. GARRETT & MITCHELL 2001; RUDRA 2002), genereller die Performanz von Demokratien (ROLLER 2005) oder auch auf die Demokratie selbst (bspw. LI & REUVENY 2003; RUDRA 2005) herangezogen. Da sich immer mehr ein Konsens etabliert, dass es sich bei der Globalisierung nicht um ein rein ökonomisches Phänomen handelt, gibt es zunehmend Ansätze, Globalisierung mittels mehrerer Indikatoren verschiedener Dimensionen zu erfassen, die teilweise auch zu einem Index verdichtet werden (bspw. Kearney & Foreign Policy 2005; DREHER 2005). Auf der einen Seite konstatieren also die im vorangegangenen Abschnitt angeführten Autoren, die Globalisierung betreffe die gesamte Welt gleichermaßen oder nähere sich einem Zustand der Homogenität rasch an. Eine räumliche Differenzierung wird nicht thematisiert und erscheint vernachlässigbar oder gar überholt. Auf der anderen Seite stellen die in diesem Abschnitt aufgeführten Autoren fest, dass es eine ausgeprägte räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus gebe, wobei eine große Unsicherheit darüber besteht, wie diese räumliche Differenzierung beschaffen ist. Bevor die räumliche Differenzie-
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rung des Globalisierungsniveaus im empirischen Teil dieses Beitrags untersucht wird, erfolgt im nächsten Abschnitt eine Definition und Konzeptualisierung des Begriffs Globalisierung als Grundlage der nachfolgenden Operationalisierung sowie eine theoretische Ableitung der Thesen.
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Theoretische Konzeptualisierung das Phänomens Globalisierung
3.1 Definition von Globalisierung Der Begriff Globalisierung wird für unterschiedliche Bedeutungsgehalte herangezogen und in der wissenschaftlichen Literatur wird häufig darauf verwiesen, dass es bisher nicht gelungen ist, einen Konsens über seine Bedeutung zu erzielen (BEISHEIM & WALTER 1997; BUSCH 1999; GRANDE & RISSE 2000; MAYNTZ 2005). Die verbreitete unscharfe, undifferenzierte Verwendung des Begriffes als catch-all-term ist für wissenschaftliche Zwecke allerdings nicht zufrieden stellend (WEBBER 2000; SCHOLTE 2005). Da eine präzise Definition geboten ist, aber im Rahmen dieses Beitrags nicht alle Bedeutungsgehalte und Definitionen des Begriffs Globalisierung diskutiert werden können, gilt es zunächst einen Bedeutungsgehalt zu identifizieren, der auf weite Akzeptanz stößt und damit als vergleichsweise konsensfähig erachtet werden kann. Der wissenschaftliche Globalisierungsdiskurs begann im Wesentlichen zu Beginn der 1990er Jahre, wenn auch einzelne Vorreiter den Begriff meist eher etwas uneindeutig oder bezogen auf einzelne eng umrissene Bereiche schon vorher verwendeten (bspw. LEVITT 1983; ROBERTSON & LECHNER 1985). Ein früher und außerordentlich einflussreicher Versuch, Globalisierung vergleichsweise präzise zu definieren, der sich zudem nicht auf ökonomische Prozesse beschränkt, stammt von GIDDENS. Er definiert Globalisierung als soziale Interaktionszunahme über wachsende Entfernung hinweg, eine intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa (GIDDENS 1990: 64). Eine Interaktionszunahme über wachsende räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen hinweg ist trotz bestehender Unterschiede im Detail in variierenden Formulierungen Gegenstand zahlreicher weiterer Definitionen von Globalisierung, so beispielsweise bei MCGREW (1992), WERLEN (1997), ZÜRN (1998), HELD et al. (1999), KELLY (1999), TOMLINSON (1999) und ROSENAU (2004). Abgeleitet aus den theoretischen Charakterisierungen bedeutender Autoren aus den Disziplinen Politikwissenschaft, Geographie, Soziologie und Ökonomie, wird Globalisierung hier folgendermaßen definiert:2 Globalisierung bezeichnet Prozesse der Zunahme sowie der geographischen Ausdehnung grenzüberschreitender anthropogener Interaktion. Diese Definition entspricht den zentralen Kriterien der Präzision und Eindeutigkeit relativ gut, gibt ein vergleichsweise konsensfähiges Verständnis des Begriffs Globalisierung wieder und erscheint in Bezug auf den bereits existierenden Bedeutungsgehalt des Begriffs im Sprachgebrauch adäquat (Kessler 2007, 2009).
2 Für eine ausführliche Ableitung der angeführten Definition und die Unterscheidung zwischen Interaktion / Globalisierung und Integration, einem Konzept das ebenfalls häufig als Globalisierung bezeichnet wird, siehe KESSLER (2007).
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3.2 Konzeptionelle Gliederung Den Kern des Konzepts Globalisierung stellen dieser Definition zufolge die Zunahme und die Ausweitung grenzüberschreitender Interaktion dar. Im Sinne einer konzeptionellen Gliederung wird im Folgenden darüber hinaus unterschieden zwischen den Voraussetzungen, welche die Interaktion ermöglichen, der Interaktion selbst und den durch die Interaktion hervorgerufenen Folgen. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen den Voraussetzungen einer Zunahme grenzüberschreitender Interaktion und der stattfindenden Interaktion selbst.3 Dabei ist ein Abbau von Interaktionshemmnissen gleichbedeutend mit der Zunahme der erfüllten Voraussetzungen, die Globalisierungsprozesse erst ermöglichen. Solche Interaktionshemmnisse sind beispielsweise Grenzbarrieren wie staatliche Zölle oder Kapitalverkehrsbeschränkungen (BRAHMBHATT 1998). Andere politische Faktoren sind Einreise-, Aufenthalts- oder Arbeitsbeschränkungen ebenso wie eine die grenzüberschreitende Interaktion erleichternde Regulierung zum Beispiel bei der Errichtung internationaler Standards oder Normen. Aufgrund der Körperlichkeit von Lebewesen und Gegenständen ist allerdings bereits die räumliche Entfernung an sich eine Barriere, deren Überwindung aufwendig ist (SCHEINER 2002). Der Aufwand, den eine Interaktion über räumliche Entfernung hinweg bedeutet, kann durch die Anwendung technischer Mittel verringert werden. Derartige technische Mittel sind Kraftfahrzeuge, Flugzeuge und Schiffe ebenso wie Telefone oder Internet. Die Verfügbarkeit solcher technischen Mittel ist demnach ebenfalls eine ermöglichende Bedingung. Eine weitere Voraussetzung ist das Vorhandensein einer entsprechenden Infrastruktur (ZÜRN 1998; HELD et al. 1999). So ist der Luftverkehr an Flugplätze gebunden, der eines Hochseeschiffes an geeignete Häfen. Nicht minder bedeutsam sind leistungsfähige Straßenverkehrs- und Telekommunikationsnetze. Doch selbst fehlende Grenzbarrieren, die Verfügbarkeit von technischen Mitteln und das Vorhandensein der dazugehörigen Infrastruktur reichen nicht aus, um Interaktion in jedem Fall zu ermöglichen. Die Verfügbarkeit von Telefonen und eine funktionierende Infrastruktur genügen nicht, um ein Gespräch mit einer weit entfernten Person durchzuführen, wenn keine gemeinsame Kommunikationsbasis vorhanden ist. Eine Barriere können auch fehlende Sprachkenntnisse oder fehlende Möglichkeiten der Informationsspeicherung wie im Falle von Analphabetismus sein (GIDDENS 1984). Es gibt demnach zahlreiche unterschiedliche Voraussetzungen, wobei den technischen Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation sowie dem Niveau der von politischer Seite bestehenden Freiheit bzw. Maßnahmen der Liberalisierung in der Literatur die größte Bedeutung zukommt (bspw. ROSENAU 1990; THRIFT 1995, 1996; GARRETT 2000; DOLLAR & COLLIER 2002; vgl. Abbildung 2). Die Interaktion über räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen hinweg, welche durch die Erfüllung von Voraussetzungen ermöglicht wird und die tatsächlich stattfindet, bildet den Kern des Globalisierungsphänomens. Sie umfasst Ströme von Gütern, 3 Diese Voraussetzungen werden meistens als Ursachen der Globalisierung bezeichnet. Die Ursache ist allerdings letztlich die Motivation der Akteure bspw. ökonomisches Gewinnstreben oder touristisches Interesse , da deren Interaktion nicht durch die Verfügbarkeit technischer Innovationen determiniert ist. Auch wenn die Individuen bisher weitgehend Gebrauch von den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gemacht haben, ist es durchaus vorstellbar, dass eine Globalisierung konstituierende Interaktion trotz gegebener Voraussetzungen unterbleibt. Man denke beispielsweise an den Rückgang des internationalen Luftverkehrs sowie des Tourismus infolge der Anschläge vom 11. September 2001.
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Dienstleistungen und Kapital ebenso wie von Informationen und Personen. Bei der Mobilität von Personen kann es sich beispielsweise um Geschäftsreisende, Touristen, oder Migranten handeln, wie auch um Wissenschaftler, Sportler oder Politiker. Die hier angeführten sowie der Abbildung 2 zu entnehmenden Beispiele verdeutlichen, dass es verschiedene Dimensionen der Globalisierung konstituierenden Interaktion gibt. Die Interaktion beeinflusst wiederum zahlreiche andere Größen und hat Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche (SCHWAAB 1997; HELD et al. 1999). Solche Auswirkungen der Interaktion werden hier unter dem Begriff Folgen subsumiert. Die Folgen bilden neben den Voraussetzungen und der Interaktion den dritten Teil der Systematisierung. Sie sind außerordentlich vielfältig. Die zunehmenden Fernreisen von Touristen stellen eine Globalisierung konstituierende Interaktion dar. Die indirekten Wirkungen und Folgen können möglicherweise ein Gefühl der Überfremdung und eine verstärkte Betonung lokaler Tradition und Kultur der einheimischen Bevölkerung sein. In ähnlicher Form hat die Verbreitung kultureller Erzeugnisse wie Film und Musik möglicherweise Auswirkungen auf emotionale Bezüge zu lokalen Lebenskontexten wie Heimatgefühl oder Regionalbewusstsein (vgl. HELD et al. 1999; WERLEN 2000b). Durch Satellitenfernsehen oder Internet werden Gesellschaften mit den kulturellen und moralischen Standards anderer Gesellschaften konfrontiert (vgl. CAIRNCROSS 1997), was Veränderungen der herrschenden Standards ebenso bedingen könnte wie auch deren rigorose Betonung. GIDDENS (2001) behauptet sogar, dass Fundamentalismus im Sinne einer Betonung und Verteidigung der Tradition erst infolge der Einflüsse der Globalisierung entsteht. Die zunehmende kulturelle Durchdringung (ESCHER 2001) kann aber auch eine Bereicherung darstellen. CAIRNCROSS (1997) verweist wiederum darauf, dass ein verstärkter kommunikativer Austausch auch eine friedensfördernde Wirkung zur Folge haben kann. Die verstärkte Nutzung von Transportmitteln über immer größere Entfernungen trägt einerseits dazu bei, das menschliche Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen. Andererseits erhöht sich die Gefahr einer raschen und weiträumigen Ausbreitung von Schädlingen und Krankheiten (World Bank 2000a). Auch ökologische Probleme können eine Folge der Interaktion sein. So tragen die beim Einsatz von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Transportmitteln freigesetzten Gase vermutlich zu einer anthropogen bedingten Änderung des Klimas bei. Auswirkungen, wie ein steigendes Wohlstandsniveau und ungeahnte Wahlmöglichkeiten für Konsumenten, ergeben sich als Folge der wachsenden Handels- und Kapitalströme sowie aus einer Intensivierung des Wettbewerbs. Unproduktive oder nicht wettbewerbsfähige Wirtschaftszweige oder Unternehmen werden allerdings in ihrer Existenz bedroht (Monopolkommission 1998; WEIZSÄCKER 2000), und aus der Zunahme der Kapitalströme ergeben sich Gefahren für die finanzielle Stabilität (World Bank 2000a). Gleichzeitig eröffnet der Zugang zu Kapital neue Möglichkeiten und beinhaltet Entwicklungsimpulse für weniger entwickelte Länder. So kann der Zugang zu Kapitalmärkten, ebenso wie der Handel, zu einer Reduzierung von Armut und zur Überwindung von Unterentwicklung beitragen (MALLAMPALLY & SAUVANT 1999; DOLLAR & COLLIER 2002).
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Wachstum und Vernetzung internat. Organisationen / Austausch der scientific community
Zunahme von Touristenströmen, des Personenverkehrs
Zunahme des Gütertransports...
Zunahme der übermittelten Informationen in Form von Datenströmen
Zunahme der empfangenen Fernseh- oder Radiosendungen, der Telefongespräche...
Liberale politische Systeme Fremdsprachenkenntnisse
Abbau von Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen
Verfügbarkeit von Transportmitteln, Infrastruktur und Know-how
Verfügbarkeit von Computer-Hard- und Software, Internet, PC-Kenntnissen
Verfügbarkeit von Telefon, Telefax, Fernsehen, Radio
Quelle: KESSLER (2009).
Bedeutungszuwachs transnationaler Akteure, internat. Organisationen
Zunahme der Direkt- und Portfolioinvestitionen...
Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen
...über nationalstaatliche Grenzen und wachsende Entfernung hinweg.
Entwicklungsimpulse Höhere externe Verwundbarkeit
Zunahme der Handelsströme...
Abbau von Handelsbeschränkungen
Kulturelle Durchdringung / Gewachsenes Bedrohungspotenzial durch Kriminalität und Terrorismus
Zugang zu Informationen / Verbreitung extremistischer und krimineller Informationen
Ökologische Probleme
Beschleunigte Ausbreitung von Krankheiten Zunahme kultureller Konflikte
Wettbewerbsintensivierung
Abbildung 2:
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Mögliche Folgen der Globalisierung
Grenzüberschreitende Interaktion als Kern der Globalisierung
Voraussetzungen der Globalisierung
Abbildung 2: Konzeptionelle Gliederung
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Konzeptionelle Gliederung
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Die angeführten Beispiele veranschaulichen die erhebliche Komplexität des Themenbereichs Globalisierung. Die vorgenommene Systematisierung trägt dieser Komplexität Rechnung. Auch wenn zwischen den Voraussetzungen, der Interaktion beziehungsweise Globalisierung und deren Folgen vielfältige Interdependenzen bestehen, so kann anhand der dargestellten konzeptionellen Gliederung eine differenzierte Betrachtung und damit eine Komplexitätsreduktion erfolgen, die der wissenschaftlichen Analyse dienlich ist. In der Literatur hingegen wird häufig weder theoretisch noch empirisch zwischen den Voraussetzungen, der Globalisierung konstituierenden Interaktion und den durch die Globalisierung entstehenden Folgen differenziert. Zum Beispiel wird eine von politischer Seite erfolgende Liberalisierung nicht als Voraussetzung, sondern als alternatives Globalisierungskonzept verstanden (SCHOLTE 2005). Oder die Umweltbelastung, welche infolge des Verbrauchs fossiler Energieträger beim Transport von Personen oder Gütern entsteht, wird ebenso als Teil der Globalisierung angesehen, wie der Außenhandel (bspw. ZÜRN 1998; HELD et al. 1999). Voraussetzungen oder Folgen der Globalisierung sind gelegentlich direkt oder indirekt Bestandteil von Globalisierungsdefinitionen (bspw. GIDDENS 1990; HELD et al. 1999) und Indikatoren, welche Voraussetzungen oder gar vermutete Folgen der Globalisierung erfassen, werden gleichberechtigt mit Indikatoren der grenzüberschreitenden Interaktion zur Messung das Globalisierungsniveaus herangezogen (bspw. BEISHEIM et al. 1999; HELD et al. 1999; DREHER 2005; vgl. dazu auch KESSLER 2009). Verzichtet man allerdings auf die Unterscheidung zwischen der Globalisierung und deren Voraussetzungen sowie den durch die Globalisierung hervorgerufenen Folgen, so lassen sich weder das Zustandekommen von Globalisierungsprozessen noch die Auswirkungen der Globalisierung untersuchen. Die vielfältigen in der Literatur anzutreffenden Hypothesen lassen sich dann nicht überprüfen, so dass das Konzept Globalisierung an wissenschaftlichem Wert verliert.4 Die vorgenommene konzeptionelle Gliederung ist demnach von grundlegender Bedeutung, auch für die hier vorzunehmende empirische Erfassung das Globalisierungsniveaus mittels eines Sets konsistenter Indikatoren.
3.3 Theoretische Konzepte zur Erklärung von Globalisierungsprozessen Die Welt scheint zu einem globalen Dorf geschrumpft zu sein, dafür stehen die Metaphern global village und shrinking world. Die Vorstellung von der immer kleiner werdenden Welt (siehe Abbildung 1) und die Metapher der shrinking world finden eine seit Jahrzehnten zunehmende, Disziplinen übergreifende Verbreitung in unzähligen Veröffentlichungen und Lehrbüchern (bspw. MCLUHAN 1962; ABLER 1975; HARVEY 1989; GIDDENS 1990; WATERS 1995; DICKEN 1998; HELD et al. 1999; KRUGMAN & OBSTFELD 2006). MÜLLERMAHN (2002) bezeichnet das Moment der Distanzüberwindung, das Schrumpfen des Raumes als zentral für die Globalisierungsprozesse. Angesichts des Erfolgs der Metapher der shrinking world droht allerdings aus dem Blick zu geraten, dass es sich eben lediglich um eine Metapher handelt. Nicht die Welt schrumpft, sondern die Bedeutung von Interaktionshemmnissen wie räumlicher Distanz verringert sich, wodurch die Globalisierung konstituierende Zunahme und Ausbreitung grenzüberschreitender Interaktion ermöglicht wird. Zur Erklärung einer solchen Interaktionszunahme (oder bildlich gesprochen Schrumpfung der Welt) können verschiedene theo4
Vgl. dazu auch NASSEHIS (1999) Kritik an der mangelnden Konturenschärfe der Definition von GIDDENS (1990).
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retische Konzepte herangezogen werden: Die schon in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten Konzepte einer time-space-convergence (JANELLE 1969) beziehungsweise cost-space-convergence (ABLER 1975) erklären die Interaktionszunahme über wachsende räumliche Entfernung durch Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation, welche die für die Interaktion erforderliche Zeit oder die erforderlichen Kosten reduzieren. Die Innovationen führen zu einem Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung. Die Folge ist eine Ausdehnung der potentiellen und tatsächlichen anthropogenen Interaktionsreichweiten. HARVEY (1989) übernimmt dieses Erklärungsmodell weitgehend unverändert, nennt es aber time-space-compression (THRIFT 1996). GIDDENS (1984; 1990), dessen Konzept sich ebenfalls eng an die zuvor genannten älteren geographischen Konzepte anlehnt, führt den Begriff time-space-distanciation ein. Immer sind es in erster Linie Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation, welche der Zunahme und räumlichen Ausdehnung der Interaktionsreichweite zugrunde liegen. Aufgrund der Reduktion des Distanzwiderstandes in Form einer Reduktion des Zeit- oder Kostenaufwands, findet Interaktion über immer größere Distanz statt (DICKEN & LLOYD 1999), was einer Verringerung der Transaktionskosten entspricht. Die angeführten Erklärungsansätze überschneiden sich mit dem Transaktionskostenansatz und sind mit diesem kompatibel (bspw. NORTH 1992). Die angeführten Konzepte bilden die Grundlage für die Erklärung der Globalisierungsprozesse und liefern damit einen wertvollen Beitrag zu deren Verständnis. Die Bedeutung der Konzepte spiegelt sich auch darin wider, wie häufig sie in der Literatur implizit oder explizit zur Erklärung des Phänomens Globalisierung herangezogen werden (bspw. ROSENAU 1990; WATERS 1995; BAYLIS & SMITH 1997; HELD et al. 1999; SCHOLTE 2005; European Commission 2002). ALTVATER & MAHNKOPF (2002) stellen fest, dass das Konzept der time-space compression in der gesamten Debatte über Globalisierung rezipiert worden ist.5 Sie schlagen sogar vor, time-space compression einer verschiedene Diskurse übergreifenden Definition von Globalisierung zugrunde zu legen. Die vorgestellten Konzepte lassen sich allerdings auch kritisieren, weshalb sie hier nicht ohne Modifikation übernommen werden. So versinnbildlichen die Konzepte timespace convergence und time-space compression anders als die Begriffe Konvergenz und Kompression vermuten lassen würden den stattfindenden reziproken Ausdehnungsprozess. Tatsächlich kommt es nicht zu einer Annäherung voneinander entfernter Orte oder einer Kompression von Raum und Zeit, sondern vielmehr zu einer Verringerung des Aufwandes der Distanzüberwindung zwischen entfernten Orten und dadurch zu einer räumlichen Ausdehnung menschlicher Interaktion.6 Die zahlreichen Wortschöpfungen sowie teilweise unscharfe Definitionen behindern die Nachvollziehbarkeit der Konzepte und damit die Intersubjektivität. Der Begriff time-space distanciation beispielsweise suggeriert eine Ausdehnung von Zeit und Raum, wohingegen GIDDENS darunter eine zeitliche und räumliche Ausdehnung sozialer Beziehungen versteht (WATERS 1995). Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass überwiegend unzureichend berücksichtigt wird, dass die Innovationen als solche kaum von Bedeutung sind. Vielmehr ist es die Verfügbarkeit der Innovationen. Nicht die Erfindung des Düsenflugzeugs, des Containerschiffs, des Telefons oder des Internets ermöglichen oder erleichtern die Ausweitung der Interaktion, son5
Die häufige Verwendung des Begriffs time-space compression und der Bekanntheitsgrad dieses Konzeptes erklärt sich aus dem Verbreitungsgrad von HARVEYS (1989) Buch The Condition of Postmodernity. 6 JANELLE ersetzte deshalb den Begriff time-space convergence durch human extensibility (JANELLE 1973; ADAMS 1995).
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dern die breite Verfügbarkeit dieser Innovationen und das Vorhandensein der zugehörigen Infrastruktur. Hinzu kommt, dass die angeführten Konzepte weitgehend auf technische Innovationen zur Erklärung einer Ausweitung und Intensivierung anthropogener Interaktion fixiert sind und eine angemessene Berücksichtigung anderer Einflussfaktoren unterbleibt.7 Die im vorangegangenen Abschnitt angeführten Einflussfaktoren bzw. Voraussetzungen sind jedoch vielfältiger. Sie umfassen neben der Verfügbarkeit von Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation beispielsweise auch die Schreib- und Lesefähigkeit, da ohne diese Fähigkeiten die Nutzung von Fax oder Internet kaum möglich ist. Ein Abbau von sprachlichen oder kulturellen Barrieren erleichtert Globalisierungsprozesse, da auch diese Interaktionshemmnisse darstellen. Auch politische Faktoren beeinflussen die Bedeutung, welche Distanz und vor allem nationalstaatliche Grenzen als Interaktionshindernis besitzen (bspw. SCHWAAB 1997; ZÜRN 1998; AGNEW 2001). Maßnahmen der Liberalisierung, sei es in Form des Abbaus von Handelsschranken, von Erleichterungen im Bereich des Kapitalverkehrs oder der Gewährung der Reisefreiheit ermöglichen oder erleichtern die Interaktion über räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen hinweg. Solchen politischen Faktoren wird von manchen Autoren eine den technischen Innovationen ebenbürtige Rolle zugewiesen (World Bank 2000a; STIGLITZ 2002; European Commission 2002), einzelne erachten die politischen Faktoren sogar für wichtiger (VESETH 1998). Alles, was die Interaktion über räumliche Entfernung und Grenzen hinweg einfacher, schneller, billiger, sicherer, komfortabler und attraktiver macht, generiert einen Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen in ihren Eigenschaften als trennende Elemente oder Hindernisse. Dabei kommt es zu einer Minderung der Bedeutung, relativ zu der vorher vorhandenen Bedeutung, ohne dass räumliche Entfernung oder Grenzen dadurch bedeutungslos werden. Dieser Bedeutungsverlust ermöglicht eine Zunahme und Ausweitung der grenzüberschreitenden anthropogenen Interaktion. Dem Phänomen Globalisierung liegt demnach ein Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen zugrunde. Der Begriff des Bedeutungsverlustes räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen mutet im Vergleich zu den Wortschöpfungen zur Bezeichnung der zuvor angeführten Konzepte einfach und nüchtern, ja geradezu unelegant an. Im Gegensatz zu diesen ist der Begriff jedoch unmissverständlich und das Konzept präzise und umfassend.
3.4 Ableitung der Thesen Die Bedeutung, die räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen als Interaktionshemmnisse besitzen, ist nicht für alle Menschen gleich, sondern weist gravierende Unterschiede auf. Die technischen Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation zum Beispiel sind in der Regel nur begrenzt verfügbar. Ihre Anwendung ist mit Kosten verbunden, weshalb die Innovationen nicht von allen Akteuren gleichermaßen genutzt werden können. Auf diese einfache Tatsache und darauf, dass sie nicht selten übersehen wird, wies bereits JANELLE (1973: 10 f.) am Beispiel des Automobils hin: Against the backdrop of glib forecasts about the emergent utopia, it is easy to trap ourselves into the belief that all 7 Auf die Bedeutung der Verfügbarkeit der Innovationen sowie auf alternative, bspw. politische Einflussfaktoren wies JANELLE bereits 1973 hin (JANELLE 1973); GIDDENS (1984) auf die Bedeutung von Sprache, Schrift und Geld zur Speicherung und Übermittlung von Information.
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men benefit equally from transport and communications improvements. Such is hardly the case. The flexible mobility and speed of the automobile are limited to those who can afford them certainly a small fraction of the human community (vgl. Abschnitt 2.2). Limitiert wird die Anwendung von Technologie aber nicht nur durch die für den einzelnen Akteur entstehenden Kosten. Von Bedeutung sind beispielsweise auch das für die Anwendung von Technologie erforderliche Wissen sowie eine leistungsfähige Infrastruktur. Es genügt beispielsweise nicht, einen Computer mit Internetanschluss zu erwerben, wenn das für die Bedienung des PC erforderliche Know-how fehlt, die Schreib- und Lesefähigkeit oder erforderliche Sprachkenntnisse nicht vorhanden sind. Darüber hinaus muss die Stromversorgung gewährleistet und das Telekommunikationsnetz funktionstüchtig sein. Der reibungslose Betrieb von Verkehrsflugzeugen und Hochseeschiffen ist nicht nur an die Fähigkeiten von Piloten und Kapitänen gebunden, sondern auch an die erforderliche Infrastruktur in Form von Flughäfen, Flugsicherungseinrichtungen, Häfen und vielem mehr. Entscheidend für die Möglichkeit, Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation zu nutzen, sind demnach finanzielle Ressourcen sowie weitere Faktoren, die sich insgesamt unter dem Begriff Entwicklungsniveau subsumieren lassen. Auch die von politischer Seite bestehenden Freiheiten grenzüberschreitend zu interagieren unterscheiden sich stark. So können beispielsweise der Außenhandel oder die Direktinvestitionen zwischen manchen Staaten nahezu ungehindert, ohne Zölle oder Kapitalverkehrsbeschränkungen erfolgen. Zwischen manchen Staaten besteht Reisefreiheit und ein von politischer Seite ungehinderter kommunikativer Austausch mittels Telefon oder Internet. In der Regel wird der grenzüberschreitende Austausch jedoch mehr oder weniger stark durch politische Faktoren beschränkt oder behindert und im Falle Nordkoreas wird die grenzüberschreitende Interaktion aufgrund der politischen Entscheidung der herrschenden Elite in nahezu allen Bereichen fast vollständig unterbunden. Die entscheidenden Voraussetzungen, die Globalisierungsprozesse ermöglichen, sind dem Stand der Literatur und den hier angestellten Überlegungen folgend die Verfügbarkeit von Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation sowie die von politischer Seite bestehenden Freiheiten. Die Verfügbarkeit von Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation hängt wiederum vom Wohlstands- und Entwicklungsniveau ab. Dieses weist auf globaler Maßstabsebene große Unterschiede auf und ist weder homogen noch dichotom, sondern vielmehr kontinuierlich verteilt. Ebenfalls große Unterschiede und eine kontinuierliche Verteilung finden sich bei dem Niveau der von politischer Seite bestehenden Freiheiten. Daraus folgt, dass das Ausmaß der grenzüberschreitenden Interaktion nicht homogen sein kann. Folgende zwei Thesen lassen sich aus den angestellten Überlegungen ableiten: 1. Das Globalisierungsniveau weist eine ausgeprägte, mit der Vorstellung von einem global village kaum zu vereinbarende räumliche Differenzierung auf. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Globalisierungsniveaus zeigen allerdings keine Dichotomie im Sinne von in Globalisierungsprozesse eingebundene Teile der Welt (wie der Triade) und einem ausgeschlossenen Rest, sondern folgen einer kontinuierlichen Verteilung. 2. Das Globalisierungsniveau steht in einem starken positiven Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau sowie den von politischer Seite bestehenden Freiheiten. Die empirische Prüfung dieser beiden theoretisch abgeleiteten Thesen ist Gegenstand der folgenden beiden Abschnitte.
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Räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus
4.1 Zur empirischen Erfassung des Globalisierungsniveaus Zur Prüfung der genannten Thesen gilt es, das Globalisierungsniveau empirisch zu erfassen. Gemäß der vorgenommenen Definition geht es also um die Messung der über räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen hinweg stattfindenden anthropogenen Interaktion. Dieses theoretische Konstrukt soll von mehreren Indikatoren, die unterschiedliche Aspekte grenzüberschreitender Interaktion repräsentieren, konsistent erfasst werden. Als Merkmalsträger werden Nationalstaaten herangezogen, wobei die Daten nicht nur für eine möglichst große Zahl von Staaten zur Verfügung stehen, sondern auch möglichst vergleichbar sein sollen. Darüber hinaus ist eine geringe Volatilität für die hier vorgenommene Querschnittsbetrachtung wünschenswert. Dass eine solche Operationalisierung kein leichtes Unterfangen ist und immer nur näherungsweise gelingen kann, lässt sich mit den Worten BRAHMBHATTS (1998: 3) vorwegnehmen: As will become apparent, no one measure or group of measures has been found to provide a perfect or unambiguous indicator of globalization (
). Trotz vielfältiger Schwierigkeiten gibt es neben zahlreichen Veröffentlichungen, in denen meist ein einzelner ökonomischer Globalisierungsindikator als unabhängige Variable Verwendung findet (vgl. Abschnitt 2.2) eine rasch wachsende Zahl von Publikationen, in denen die empirische Erfassung des Phänomens Globalisierung explizit thematisiert wird (bspw. BEISHEIM et al. 1999, HELD et al. 1999, OECD 2005). Die meisten Ansätze, das Globalisierungsniveau empirisch zu erfassen, beschränken sich auf Staatengruppen oder eine Auswahl einzelner Staaten, überwiegend aus der Gruppe der OECD-Staaten. Um das Phänomen Globalisierung seiner Komplexität und Mehrdimensionalität angemessen zu erfassen, werden zunehmend Indizes gebildet, die aus mehreren, unterschiedlichen Dimensionen zugeordneten, Indikatoren bestehen (bspw. Kearney & Foreign Policy 2005; LOCKWOOD & REDOANO 2005; DREHER 2005; ANDERSEN & HERBERTSON 2005; HESHMATI 2006). Eine konsistente, mehrdimensionale Betrachtung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene unter Einbeziehung der Mehrzahl der Nationalstaaten ist damit allerdings noch nicht erfolgt. Die angeführten Indizes sind, auch wenn die Datenverfügbarkeit zufrieden stellend wäre, aus mehreren Gründen unzureichend konsistent und damit nicht ausreichend valide (KESSLER 2007, 2009): Von besonderer Bedeutung ist diesbezüglich, dass die verwendeten Indikatoren uneinheitlich standardisiert werden. Relevant ist insbesondere die Unterscheidung zwischen Integrationsindikatoren, welche die grenzüberschreitende Interaktion in Relation zur Binneninteraktion erfassen und Globalisierungsindikatoren, welche die grenzüberschreitende Interaktion der Akteure eines Staates erfassen. Weitere Inkonsistenzen bestehen darin, dass in der Literatur häufig nicht zwischen Indikatoren der Voraussetzungen, der Interaktion und der Folgen differenziert wird. Als Globalisierungsindikatoren sollten aber idealerweise nur Indikatoren der tatsächlich stattfindenden Interaktion verwendet werden. Inkonsistenzen können zudem dadurch zustande kommen, dass einzelne Indikatoren nicht vollständig valide sind, weil sie das durchschnittliche Ausmaß grenzüberschreitender Interaktion der Akteure eines Staates entweder räumlich oder zeitlich nicht adäquat erfassen. Diese Inkonsistenzen sind nicht nur theoretisch relevant, sondern auch empirisch bedeutsam, und die in der Literatur Verwendung findenden Indizes damit unzureichend valide
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(KESSLER 2009). Um dem Kriterium der Validität möglichst gerecht zu werden, werden hier sechs verschiedene Beispielindikatoren herangezogen, die das Globalisierungsniveau vergleichsweise konsistent erfassen. Für die ökonomische Dimension sind das die Auslandsdirektinvestitionen und der Außenhandel. Aus dem Bereich der Kommunikation finden der internationale Telefonverkehr und die Anzahl der Internetnutzer, aus dem Bereich des Transports die Anzahl internationaler Touristen und Luftfahrtpassagiere Verwendung. Die letztgenannten vier Indikatoren erfassen sowohl ökonomische als auch gesellschaftlichkulturelle oder politische Interaktion, so dass die Messung nicht auf die ökonomische Dimension der Globalisierung beschränkt ist. Eine theoretisch und methodisch reflektierte Aggregation zu einem Globalisierungsindex kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Die hier vorgenommene Analyse von verschiedenen Einzelindikatoren hat allerdings den Vorteil, dass mögliche Unterschiede zwischen den Indikatoren identifiziert werden können, die im Aggregat nicht mehr sichtbar wären. Die Direktinvestitionen, der Außenhandel, die Anzahl der Internetnutzer, der internationale Telefonverkehr sowie die Anzahl internationaler Luftfahrtpassagiere und Touristen sind zur Messung des Globalisierungsniveaus gebräuchlich. Die hier für alle Indikatoren einheitlich verwendete Pro-Kopf-Standardisierung ist allerdings lediglich für die nichtökonomischen Indikatoren gängig, die ökonomischen Indikatoren werden in der Regel mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) standardisiert. Schließlich wird hier anstatt der Anzahl der von den in einem Land registrierten Airlines irgendwo auf der Welt beförderten Luftfahrtpassagiere, die Anzahl internationaler Luftfahrtpassagiere an den Verkehrsflughäfen des betreffenden Landes verwendet. Die Indikatoren erfassen so konsistent verschiedene Aspekte der Globalisierung, beziehungsweise die gemittelte grenzüberschreitende Interaktion der Akteure eines Nationalstaates (KESSLER 2009). Die Vergleichbarkeit von Nationalstaaten unterschiedlicher Größe ist per se nicht gegeben (LOCKWOOD 2004), wird jedoch durch die Pro-Kopf-Standardisierung bereits näherungsweise ermöglicht. Insbesondere Stadt- und Zwergstaaten nehmen allerdings in Bezug auf das Ausmaß grenzüberschreitender Interaktion aufgrund ihrer Kleinräumigkeit eine Sonderstellung ein, die sich auch empirisch zeigen lässt. Um dem Kriterium der Vergleichbarkeit möglichst gerecht zu werden, werden aus diesem Grund die Stadt- und Zwergstaaten mit weniger als einer Million Einwohnern oder weniger als 3000 km² Fläche nicht in die Analyse aufgenommen. Die verbleibenden 148 Staaten weisen keinen starken Zusammenhang zwischen ihrer Größe und dem Globalisierungsniveau auf und können daher als ausreichend vergleichbar angesehen werden. Der Einfluss der Staatengröße bleibt bei (multivariaten) Kausalanalysen sowie bei der Interpretation der Daten im Einzelfall zu berücksichtigen. Die räumliche Ausweitung der Interaktion wird, wie in den oben angeführten Ansätzen zur Globalisierungsmessung auch, lediglich indirekt über das grenzüberschreitende Element berücksichtigt. Eine direkte Berücksichtigung der Distanz, über welche die Interaktion hinweg erfolgt, wäre aus verschiedenen Gründen schwer operationalisierbar, nicht zuletzt, weil für kaum einen Indikator entsprechende Daten verfügbar sind. Da die geographische Reichweite der grenzüberschreitenden Interaktion aber gemäß der gewählten Definition neben der Intensität Teil des theoretischen Konstrukts Globalisierung ist, stellt das Volumen der grenzüberschreitenden Interaktion lediglich eine näherungsweise Messung dar.
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Der Begriff Globalisierung mit seiner Endung auf -ung weist auf eine zeitliche Veränderung hin. In der Regel versteht man darunter eine Zunahme grenzüberschreitender Interaktion, was in der hier gewählten Definition ebenfalls berücksichtigt ist. Der Begriff hat sich allerdings ebenso für das durch Globalisierungsprozesse hervorgebrachte Niveau der Globalisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt eingebürgert, auch wenn von manchen Autoren zwischen den Begriffen Globalität (globalism) und Globalisierung differenziert wird (KEOHANE & NYE 2000). Globalität wird dann zur Bezeichnung eines Zustands, Globalisierung hingegen zur Bezeichnung eines Prozesses verwendet. Folgt man dieser Differenzierung, dann erfassen die hier zur Anwendung kommenden Globalisierungsindikatoren, die dann eigentlich als Globalitätsindikatoren bezeichnet werden müssten, den durch Globalisierungsprozesse bzw. De- oder Entglobalisierungsprozesse hervorgerufenen Zustand der Globalität. Zur Erfassung des Prozesscharakters des Phänomens Globalisierung müsste eine Längsschnittbetrachtung erfolgen bzw. eine zeitliche Veränderung Gegenstand der Analyse sein. Dies wäre nicht minder interessant, liegt jedoch außerhalb des Rahmens dieses Beitrags, weshalb sich die hier vorgenommene Analyse auf die Frage nach der Homogenität bzw. der räumlichen Differenzierung des Globalisierungs- oder Globalitätsniveaus im Jahr 2000 beschränkt.8
4.2 Räumliche Differenzierung anhand von Beispielindikatoren 4.2.1 Auslandsdirektinvestitionen Das Phänomen Globalisierung lässt sich zwar nicht auf den Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen reduzieren, ökonomische Prozesse besitzen aber eine herausragende Bedeutung. Dabei wird den internationalen Kapitalströmen und insbesondere den grenzüberschreitenden Investitionen eine besonders wichtige Rolle zugewiesen (bspw. VESETH 1998; Deutsche Bundesbank 2002). Die Auslandsdirektinvestitionen (ADI), die den Ende der 90er Jahre etwa 54.000 multinationalen Unternehmen zuzuschreiben sind, nehmen also in Bezug auf die ökonomische Globalisierung eine zentrale Rolle ein. Sie wuchsen weltweit zwischen 1980 und 1997 durchschnittlich um 13 % pro Jahr (MALLAMPALLY & SAUVANT 1999; HELD et al. 1999). Der Gesamtbetrag der weltweiten ADI stieg von etwa 200 Mrd. US$ im Jahr 1993 auf etwa 1500 Mrd. US$ im Jahr 2000 an (UNCTAD 2005). Den Auslandsdirektinvestitionen wird nicht nur eine besondere Bedeutung beigemessen, sie eignen sich aufgrund der vergleichsweise guten Datenverfügbarkeit und niedrigeren Volatilität auch besser für einen Vergleich zu einem Zeitpunkt als andere Formen des internationalen Kapitalverkehrs wie Portfolioinvestitionen (World Bank 2000b; DOLLAR & COLLIER 2002).9 Ebenfalls aufgrund der niedrigeren Volatilität werden hier die Bestandsdaten der ADI (stocks) den Stromgrößen (flows) vorgezogen (NUHN 1997; SCHULZE & UR8
Für die Luftfahrtindikatoren wurden die aktuellsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 1999 (bei einzelnen Staaten aus 1998) verwendet (ICAO 2001). Das Jahr 2000 wurde gewählt, um sowohl dem Kriterium der Aktualität als auch den Kriterien einer breiten Datenbasis und eines einheitlichen Erhebungszeitraums möglichst gerecht zu werden. Für das Jahr 2000 spricht weiterhin die gelegentlich geäußerte Vermutung eines Rückgangs des Globalisierungsniveaus als Folge der Terroranschläge am 11. September 2001 (HELD & MCGREW 2003). Das Jahr 2000 erfasst Globalisierung ohne einen solchen Einfluss. 9 Zu beachten ist jedoch, dass auch bei den ADI die Vergleichbarkeit aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Erhebungstechniken nicht in jedem Fall vollständig gegeben ist (UNCTAD 2005; World Bank 2005).
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SPRUNG 1999). Zur Anwendung kommen die ADI (instock + outstock) in US$ pro Kopf der Bevölkerung des jeweiligen Landes (UNCTAD 2005). 10 Betrachtet man die beiden Abbildung 3 und 4, so zeigen sich eine ausgeprägte räumliche Differenzierung und enorme Unterschiede. Auf der Karte fallen die hohen Werte in Nordamerika, Westeuropa sowie Australien und Neuseeland ins Auge. Mittlere Werte finden sich insbesondere in den restlichen Teilen Amerikas, im südlichen Afrika sowie Teilen des Nahen Ostens und in Asien insbesondere in Japan, Südkorea und Malaysia. Besonders niedrige Werte finden sich in großen Teilen Afrikas und Asiens. China und Indien weisen zwar in Bezug auf die absoluten Werte der Direktinvestitionen hohe Werte auf, gemessen an ihrer Größe jedoch und der hier zur Vergleichbarkeit von Staaten unterschiedlicher Größe vorgenommenen Pro-Kopf-Standardisierung, liegen sie in der großen Gruppe der Staaten, deren Bestand an Auslandsdirektinvestitionen unterhalb von 500 US-Dollar pro Kopf liegt. Von den 122 Staaten, deren Werte Verwendung finden, weisen 62 Staaten einen Wert von weniger als 500 US$ pro Kopf, aber 14 Staaten einen Wert von mehr als 8000 US$ pro Kopf auf. Bei 14 Staaten liegt der Wert sogar unter 50 US$ pro Einwohner. Den niedrigsten Wert erreicht Burundi mit 7 US$ pro Kopf, die Schweiz mit 43.169 US$ pro Kopf den höchsten Wert. Der Mittelwert der Verteilung liegt bei 3013 US$/Kopf, der Median bei 419 US$/Kopf. Es handelt sich also um eine sehr ungleiche Verteilung, da die Akteure eines großen Teils der Staaten nur marginal an den Auslandsdirektinvestitionen partizipieren. Allerdings handelt es sich auch nicht um eine Dichotomie von Staaten mit niedrigen Werten auf der einen und hohen Werten auf der anderen Seite, da alle der sich in Bezug auf ihre Größe jeweils verdoppelnden Klassen ausreichend besetzt sind. Insgesamt zeigen sich also auf globaler Maßstabsebene exorbitante Unterschiede bei den Auslandsdirektinvestitionen sowie eine komplexe räumliche Differenzierung, welche die Charakterisierung als Dichotomie angesichts der vorhandenen Abstufungen als unzulässige Vereinfachung erscheinen lässt.
10 Die zur Standardisierung mit der Bevölkerungsgröße verwendeten sowie zur Abgrenzung der Größe von Nationalstaaten herangezogenen Daten stammen hier und im Folgenden von der Weltbank (World Bank 2005). Die Staaten Liberia und Costa Rica wurden wegen eines extremen Ausreißerwerts aus der Analyse ausgeschlossen. Die Daten für China beinhalten nicht die Daten für Hongkong, Taiwan sowie Macao. Jugoslawien beinhaltet die Teilrepubliken Serbien und Montenegro.
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Abbildung 4:
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Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) im Jahr 2000 62
60
Anzahl Staaten
50 40 30 20
15
16
10
8
7
7
7
2001-4000
4001-8000
8001-16000
> 16000
0 0-500
5 01-100 0
1001-2000
Auslandsdirektin vestitionen / Kopf i n US$ Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: UNCTAD (2005); World Bank (2005).
4.2.2 Außenhandel Neben den Auslandsdirektinvestitionen wird für den ökonomischen Bereich der Indikator Außenhandel verwendet, da diese beiden Indikatoren als die wichtigsten und statistisch greifbarsten Indikatoren internationaler Wirtschaftsaktivität gelten (POON, THOMPSON & KELLY 2000; WIESE 2001). Der internationale Handel hat innerhalb der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zugenommen und hat heute wohl eine nie zuvor erreichte Bedeutung für die Volkswirtschaften erlangt. Der Warenhandel nahm zwischen 1948 und 2000 real jährlich im Durchschnitt um 6,1 % zu und weitete sich damit deutlich schneller aus als die Produktion. Die Exporte vervierfachten sich annährend zwischen 1970 und 2000. Im Zeitraum von 1990 bis 2000 kam es fast zu einer Verdoppelung. Noch dynamischer wuchs der Handel mit Dienstleistungen, der sich von 1992 bis 2000 mehr als verdoppelte.11 Dieses Wachstum wurde unter anderem durch massive Zollsenkungen ermöglicht. So wurden beispielsweise die durchschnittlichen Zölle auf Industrieprodukte in den Industrieländern von 40 % im Jahr 1950 auf 6 % im Jahr 1984 gesenkt (European Commission 2002; Enquete-Kommission 2002). Hier werden sowohl der Güterhandel als auch der Handel mit Dienstleistungen berücksichtigt. Als Indikator kommt die Summe der Werte der Importe und der Exporte von Gütern und Dienstleistungen in US$ in Relation zur Einwohnerzahl des jeweiligen Staates
11
Zu beachten ist, dass etwa zwei Drittel des Welthandels auf multinationale Unternehmen entfallen und nach Schätzungen bis zu einem Drittel des Welthandels zwischen verschiedenen Sparten innerhalb desselben Unternehmens abgewickelt wird (HELD et al. 1999).
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zur Anwendung (World Bank 2005).12 Der Indikator erfasst direkt das Ausmaß grenzüberschreitender Interaktion und zeichnet sich durch eine vergleichsweise geringe Volatilität aus, was der hier vorgenommenen Betrachtung der Werte eines einzelnen Jahres entgegenkommt. Auch beim Niveau der Außenhandelverflechtungen zeigen sich eine starke räumliche Differenzierung und bedeutende Unterschiede (Abbildung 5 und 6). Die Karte zeigt ein ähnliches Bild wie zuvor bei den Direktinvestitionen. Auch hier weisen Nordamerika, Westeuropa sowie Australien und Neuseeland besonders hohe Werte auf. Hohe Außenhandelsverflechtungen finden sich aber beispielsweise auch in Japan, Südkorea, Malaysia, Israel, Saudi-Arabien, Kuwait und Oman. In der Mitte liegen wieder beispielsweise die meisten Staaten Mittel- und Lateinamerikas, Nord- und Südafrikas, Mittel- und Osteuropas sowie Russland und weitere Staaten Südostasiens. Marginal in Bezug auf die Außenhandelsverflechtungen der Bevölkerung sind insbesondere zahlreiche Staaten Zentralafrikas sowie wiederum China und Indien. Deren absolutes Außenhandelsvolumen ist zwar global sehr bedeutsam, gemessen an ihrer Größe und der Anzahl der Akteure weisen sie jedoch auch im Bereich des Außenhandelsvolumens ein niedriges Globalisierungsniveau auf. Von den 138 Staaten, für die Daten verfügbar sind, liegt das Außenhandelsvolumen in 46 Staaten unterhalb von 500 US$/Kopf, wohingegen 25 Staaten einen Wert oberhalb von 8000 und 10 Staaten gar einen Wert oberhalb von 16.000 US$/Kopf aufweisen. Die dazwischen liegenden Klassen sind ebenfalls gut besetzt und die Verteilung ist etwas weniger ungleich als bei den Direktinvestitionen. Der Mittelwert der Verteilung liegt bei 4329 US$/Kopf, der Median bei 994 US$/Kopf. Burundi erreicht mit 29 US$/Kopf den niedrigsten und Irland mit 41.746 US$/Kopf den höchsten Wert. Von einer Homogenität in Bezug auf das Globalisierungsniveau kann auch bei dem Außenhandelsindikator keine Rede sein. Die Unterschiede zwischen den Nationalstaaten sind gravierend. Während in manchen Staaten das Außenhandelsvolumen/Kopf in der Größenordnung des BIP/Kopf liegt, findet in anderen Staaten fast kein Außenhandel statt. Anstatt einer Dichotomie zwischen in die Globalisierung eingebundenen Staaten und einem ausgeschlossenen Rest zeigt sich allerdings hier noch stärker als bei den Direktinvestitionen eine komplexere räumliche Differenzierung.
12
Sowohl für die Importe als auch für die Exporte geht der f.o.b-Wert der Waren und Dienstleistungen in die Berechnung ein (f.o.b = frei an Bord). c.i.f.-Werte kommen nicht zur Anwendung (c.i.f = Kosten, Versicherung, Fracht).
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Abbildung 6:
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Außenhandelsvolumen / Kopf in US$ (Exporte + Importe von Gütern und Dienstleistungen) im Jahr 2000 46
Anzahl Staaten
40 30 20
19
20
15 12
10
10
10 0 0-500
501-1000
1001-2000 2001-4000 4001-8000 8001-16000
> 16000
Außenhandelsvolumen / Kopf in US$ Quelle: eigene Darstellung. Datenquelle: World Bank (2005).
4.2.3 Internationaler Telefonverkehr Ein weiteres zentrales Element grenzüberschreitender Interaktion und damit von Globalisierungsprozessen ist die durch Informationstechnologien ermöglichte Kommunikation. Aufgrund technischer Innovationen haben sich die Möglichkeiten der Kommunikation in den letzten Jahrzehnten sehr stark ausgeweitet. Als Beispiele sind hier das Internet sowie die Entwicklung und Anwendung des Glasfaserkabels, der Satellitentechnologie oder des Mobiltelefons zu nennen. Bezüglich dieser Entwicklung formulieren HELD et al. (1999: 342 f.): ...for anyone linked into the system the concept of time-space compression is a lived reality. What else can so dramatically indicate the eradication of space than the ability to conduct a conversation across the oceans (with almost instant connection) or to receive visual images through satellite technology from anywhere on the planet. Der statistisch greifbarste Indikator ist der internationale Telefonverkehr, der sich in den letzten Jahrzehnten sehr dynamisch entwickelt hat. Durch technische Innovationen wie die Satellitenübertragung und das Glasfaserkabel kam es zu weitreichenden Verbesserungen der Übertragungsmöglichkeiten, sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Im Jahr 1986 betrug die Gesamtkapazität der Überseekabel und der Satellitenübertragung für simultan durchführbare transatlantische Gespräche noch 100.000 und für transpazifische Verbindungen 41.000. Bis 1996 hat sich die Kapazität für transatlantische Verbindungen bereits auf annährend 2 Mio. und für transpazifische Verbindungen auf nahezu 1,1 Mio. erhöht, was mit einem drastischen Kostenrückgang für die Gesprächseinheit einherging. Das Gesamtaufkommen des internationalen Telefonverkehrs stieg von 12,7 Mrd. Gesprächsminuten im Jahr 1982 auf 42,7 Mrd. Gesprächsminuten im Jahr 1992 und er-
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reichte 1996 den Wert von 67,5 Mrd. Gesprächsminuten (HELD et al. 1999). Innerhalb von 14 Jahren ist das Gesamtvolumen des internationalen Telefonverkehrs demnach um mehr als 400 % gestiegen. Zahlreiche Autoren verweisen zu Recht darauf, dass die Verfügbarkeit und die Nutzung von Kommunikationsmitteln wie dem Telefon ausgesprochen ungleich verteilt ist (bspw. CAIRNCROSS 1997; HELD et al. 1999). Abbildung 7 zeigt die räumliche Differenzierung des internationalen Telefonverkehrs ausgedrückt in der Summe der Gesprächsminuten sowohl der ankommenden als auch der abgehenden Gespräche pro Einwohner auf der Basis von Nationalstaaten für das Jahr 2000 (ITU 2003). Besonders hohe Werte finden sich wieder in Nordamerika, insbesondere Kanada, in Westeuropa, Australien und Neuseeland sowie in Israel oder Saudi-Arabien. Mittlere Werte zeigen sich erneut in Mittel- und Südamerika, im nördlichen und südlichen Afrika, in Mittel- und Osteuropa sowie in verschiedenen Ländern Südostasiens und vielleicht etwas überraschend in Japan. Durch besonders niedrige Werte zeichnen sich wieder zahlreiche afrikanische und asiatische Staaten aus, darunter erneut China und Indien. Von den 113 Staaten, für die Daten vorliegen, beträgt der Wert für 21 Staaten weniger als 5 Minuten pro Einwohner, für 4 Staaten hingegen mehr als 320 Minuten pro Einwohner (Abbildung 8). Der Mittelwert der Verteilung liegt bei 76, der Median bei 29. Tschad weist mit 0,9 den niedrigsten Wert auf, Irland mit 712 Minuten/Kopf den höchsten. Auch bei diesem Indikator zeigen sich dramatische Unterschiede und eine ausgeprägte räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene. Während in manchen Staaten nahezu kein grenzüberschreitender Telefonverkehr stattfindet, summiert sich dieser in anderen auf mehrere Stunden/Kopf im Jahr. Von einer Dichotomie kann dennoch keine Rede sein, da auch alle dazwischen liegenden Klassen gut besetzt sind.
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Abbildung 8:
Internationaler Telefonverkehr (ankommende + abgehende Gespräche) in Minuten / Kopf im Jahr 2000
25 21
Anzahl Staaten
20
18
18
15 15
13
13 11
10 4
5 0 0-5
5,1-10
10,1-20
20,1-40
40,1-80
80,1-160
160,1-320
> 320
Internationaler Telefonverkehr in Minuten / Kopf Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: ITU (2003); World Bank (2005).
4.2.4 Internetnutzer Die Entwicklung und Verbreitung des Internets erfolgte in den letzten Jahrzehnten außerordentlich rasant. Gab es im August 1981 weltweit nur 213 Internet-Hosts, so stieg ihre Zahl bis zum Januar 1999 auf über 43 Mio. an. Die Zahl der weltweiten Internet-Nutzer ist zwar mit einem Unsicherheitsfaktor belastet, die Zunahme ist aber ohne Zweifel exorbitant. Schätzungen zufolge stieg die Zahl der weltweiten Internet-Nutzer von etwa 16 Mio. im Dezember 1995 auf etwa 400 Mio. im Dezember 2000 an, eine Vervielfachung um den Faktor 25 innerhalb von nur 5 Jahren (DIETZ 2001; ITU 2003). Das Internet erlaubt ebenso wie das Telefon eine zweiseitige Übermittlung von Information und besitzt in Bezug auf das Phänomen Globalisierung zweifelsohne eine außerordentliche Bedeutung. CAIRNCROSS (1997: 117) beispielsweise stellt diesbezüglich fest: No other innovation has ever had such earth-shrinking potential. Die Internetnutzung erscheint daher als Indikator zur Quantifizierung des Globalisierungsniveaus nahe liegend und ist dementsprechend Bestandteil aller bisherigen mehrdimensionalen Quantifizierungsversuche. Aufgrund der Struktur des Internets ist es allerdings kaum möglich, die Datenströme direkt zu beobachten und in nationale und grenzüberschreitende Kommunikationsflüsse zu unterscheiden. Die Messung der Kommunikation kann daher nur indirekt erfolgen. Von den Zugangsmöglichkeiten, bzw. der Anzahl der Internet-Nutzer kann näherungsweise auf die grenzüberschreitende Interaktion geschlossen werden, da angenommen werden kann, dass die vorhandenen Möglichkeiten nicht einfach brach liegen, sondern auch genutzt werden (soweit die Sprachbarriere überwunden werden kann). Dies gilt insbesondere auch deshalb,
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weil anders als bei Briefpost oder Telefonverkehr kein Kostenunterschied zwischen nationaler und internationaler Kommunikation besteht (BEISHEIM et al. 1999). Infrage kommen dann die Anzahl der Internetnutzer sowie die Anzahl der InternetHosts. Letztere gilt als vergleichsweise verlässlicher Indikator für die Durchdringung eines Landes mit dem Medium Internet und für entsprechende Zugangsmöglichkeiten (DIETZ 2001; UNCTAD 2003). Die Statistik basiert allerdings auf dem Ländercode in der HostAdresse, die nicht mit dem Standort des Computers übereinstimmen muss (ITU 2003).13 Außerdem lässt die Anzahl der Hosts keine Rückschlüsse auf die Anzahl der Nutzer zu, da ein Host die Zugangsmöglichkeit für einen einzelnen oder auch für mehrere tausend Nutzer darstellen kann (CAIRNCROSS 1997; DIETZ 2001). Im Folgenden wird daher die geschätzte Anzahl aller Internet-Nutzer eines Staates als Indikator verwendet, wie sie von der ITU (2003) publiziert wird. Dieser Indikator beruht zwar auf einer Schätzung und besitzt eine Unschärfe bezüglich der Qualität der Nutzung.14 Für die vorliegende Untersuchung erscheint die Anzahl der Internet-Nutzer jedoch als der am besten geeignete Indikator.15 Von zahlreichen Autoren wird darauf hingewiesen, dass die Nutzung des Internet ungleich verteilt ist, ein Sachverhalt für den der Begriff digital divide steht (DIETZ 2001; NORRIS 2001). Die Abbildung 9 zeigt die räumliche Differenzierung der Internetnutzung kartographisch. Die Anzahl der Internetnutzer ist in Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland aber beispielsweise auch in Chile, Israel, den vereinigten Arabischen Emiraten, sowie Südkorea, Japan und Malaysia besonders hoch. Mittlere und geringere Werte finden sich in zahlreichen Ländern in verschiedenen Teilen der Welt, von Lateinamerika über Südafrika bis hin zu Russland. Extrem niedrige Werte weisen beispielsweise Kambodscha, Vietnam, Laos, Burma, Bangladesch, Pakistan und Jemen sowie die ganz überwiegende Mehrheit der afrikanischen Staaten auf. Die Unterschiede sind exorbitant (Abbildung 10). Von den 145 der 148 Staaten, für die Daten vorliegen, ist für den Zeitpunkt der Untersuchung in 17 Staaten pro 1000 Einwohner nicht einmal ein Internetnutzer zu verzeichnen, während der Wert in den 24 Spitzenländern über 160 liegt. Den geringsten Wert weist mit 0,1 Internet-Nutzer pro 1000 Einwohner Somalia auf, die höchste Anzahl erreicht Schweden mit 456. Der Mittelwert liegt bei 71, der Median bei 12. Damit gibt es auch im Bereich der Internetnutzung eine schiefe Verteilung und exorbitante Unterschiede zwischen den Nationalstaaten auf globaler Maßstabsebene sowie eine komplexe räumliche Differenzierung.
13 Internet-Hosts unter den Domain-Bezeichnungen edu, org, net, com und int können ihren Standort überall haben, wodurch beispielsweise eine erhebliche Verzerrung zuungunsten der USA entsteht, weil dort vergleichsweise wenige Hosts den Ländercode us verwenden (UNCTAD 2003). 14 Die Datenkapazität der Verbindung bzw. die Übertragungsgeschwindigkeit werden nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie die teilweise auf das Versenden und Empfangen von E-Mails beschränkte Nutzung (UNCTAD 2003). 15 Die für die Variable Internet-Nutzer dargestellten Ergebnisse entsprechen weitestgehend den Ergebnissen, die bei gleicher Vorgehensweise mit der Variable Internet-Hosts erzielt würden.
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Abbildung 10: Internetnutzer / 1000 Einwohner im Jahr 2000 60 51
Anzahl Staaten
50 40 30 18
20
18 14
13
12 8
10
11
0 0-5
5, 1-10
10, 1-20
20,1-40
40,1-80
80,1-160
160,1-320
> 3 20
Inernetnutzer / 1000 Einwohn er Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: ITU (2003); World Bank (2005).
4.2.5 Internationale Luftfahrtpassagiere Der gewerbliche internationale Luftverkehr existiert in einem nennenswerten Umfang seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und hat sich in den letzten Jahrzehnten außerordentlich dynamisch entwickelt. Die Gesamtleistung an beförderten Passagieren, Fracht und Post im internationalen Linienflugverkehr stieg beispielsweise von ca. 90.000 Mio. TonnenKilometern im Jahr 1986 auf ca. 270.000 Mio. Tonnen-Kilometer im Jahr 2000 an.16 Das entspricht einer Steigerung um 200 % innerhalb einer Zeitspanne von 14 Jahren. Das Gesamtpassagieraufkommen im Linienflugverkehr stieg von 1288 Mio. Passagieren im Jahr 1995 auf 1647 Mio. Passagiere im Jahr 2000, eine Steigerung von annährend 28 % innerhalb von 5 Jahren (ICAO 1995; ICAO 2000). Besonders charakteristisch für den Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und das Phänomen Globalisierung ist die durch den Linienflugverkehr ermöglichte Mobilität von Individuen (DICKEN 1998). Die physische Anwesenheit von Personen erlaubt eine unmittelbare Interaktion, die für soziale Beziehungen aufgrund der besonderen Bedeutung von Face-to-face-Situationen zentral ist (WERLEN 1997). Sinnvoll erscheint daher ein Indikator, der die Anzahl internationaler Flugpassagiere erfasst. Ein solcher Indikator wird dem Kriterium der Vergleichbarkeit von Nationalstaaten gerecht, da (anders als bspw. bei Hochseeschiffen) in jedem der erfassten Länder der Betrieb von Passagierflugzeugen grundsätzlich möglich ist. Darüber hinaus berücksichtigt ein solcher Indikator ansatzweise die Interaktionsreichweite: Eine Beschränkung der grenzüberschreitenden Interaktion auf das Grenzgebiet zwischen Staaten schließt der Indikator 16 Die Bezeichnung Tonnen-Kilometer steht für die Transportleistung einer metrischen Tonne über eine Entfernung von einem Kilometer. Für Passagiere wird dabei ein Standardgewicht angenommen (ICAO 2001).
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praktisch aus, da der internationale Luftverkehr als Verkehrsträger innerhalb einer Grenzregion keine große Rolle spielt. Problembehaftet in Bezug auf die räumliche Erfassung ist allerdings die von der Weltbank publizierte Anzahl beförderter Luftfahrtpassagiere pro Staat, die gelegentlich als Indikator herangezogen wird (bspw. Le Monde Diplomatique 2003; ANHEIER, GLASIUS & KALDOR 2004). Bei diesen von der internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) stammenden Daten wird zum einen nicht zwischen nationalem und internationalem Flugverkehr unterschieden. Zum anderen handelt es sich bei diesen Zahlen nicht um die Passagiere, welche in das Land, aus dem Land oder innerhalb des Landes geflogen sind, sondern vielmehr um das Passagieraufkommen der in einem Land registrierten Luftfahrtgesellschaften, unabhängig davon, wo auf der Welt die Flüge stattgefunden haben (ICAO 2001; World Bank 2005; vgl. KESSLER 2009). Die ICAO (2001) publiziert jedoch Passagierzahlen im gewerblichen Luftverkehr der internationalen Verkehrsflughäfen eines Landes. Dabei wird zwischen Passagieren nationaler und internationaler Flüge unterschieden. Summiert man die Passagierzahlen im internationalen Luftverkehr der Verkehrsflughäfen eines Landes, so ergibt sich mit guter Näherung die Anzahl der Flugpassagiere im internationalen gewerblichen Luftverkehr auf der Basis von Nationalstaaten.17 Die so errechnete Anzahl internationaler Luftfahrtpassagiere (Ankünfte und Abflüge) an Verkehrsflughäfen wird im Verhältnis zur Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes (pro 100 Einwohner) im folgenden als Indikator für das Ausmaß grenzüberschreitender Mobilität herangezogen (ICAO 2001). Von den 148 Staaten, welche Gegenstand der Untersuchung sind, liegen Daten für 101 Staaten vor.18 Dass das internationale Passagieraufkommen im globalen Maßstab räumlich äußerst ungleich verteilt ist, zeigt Abbildung 11. Auch diese Karte ähnelt stark den vorangegangenen. Ein hohes Aufkommen internationaler Luftfahrtpassagiere findet sich wieder in Nordamerika, Europa, Australien, auf der arabischen Halbinsel sowie beispielsweise in Tunesien und Malaysia. Mittlere Ausprägungen weisen beispielsweise etliche der Staaten Mittel- und Südamerikas, Marokko und Namibia sowie in Asien Japan, Südkorea, Thailand und Malaysia auf. Mit weniger als fünf internationalen Luftverkehrspassagieren pro 100 Einwohnern vollkommen marginal ist der diesbezügliche grenzüberschreitende Austausch insbesondere in großen Teilen des subsaharischen Afrikas, in Iran sowie in großen Teilen Asiens, darunter China, Indien, Bangladesch, Laos und Vietnam. Den niedrigsten Wert weist die Demokratische Republik Kongo mit 0,2 Passagieren pro 100 Einwohner auf. Den höchsten Wert hingegen erreicht die Schweiz mit 375 internationalen Luftfahrtpassagieren an Verkehrsflughäfen pro 100 Einwohner. 17 Staaten verzeichnen einen Wert von weniger als 2, 17 andere einen Wert von mehr als 100 Passagieren pro 100 Einwohner. Wie ungleich das Passagieraufkommen im internationalen Luftverkehr verteilt ist, lässt sich auch der Abbildung 12 entnehmen.
17 Die Passagierzahlen der aufgeführten internationalen Verkehrsflughäfen umfassen insgesamt mindestens 90 % des gesamten gewerblichen internationalen Luftverkehrs eines Landes (ICAO 2001). 18 Die Passagierzahlen des Flughafens Bale/Mulhouse wurden hälftig Frankreich und der Schweiz zugerechnet. Für einige Staaten wurde für höchstens 3 Flughäfen der aktuellste verfügbare Wert aus dem Jahr 1998 herangezogen.
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Abbildung 12: Internationale Luftfahrtpassagiere / 100 Einwohner im Jahr 1999 30
28
Anzahl Staaten
25 20 14
15
12
13
14 11 9
10 5 0 0-5
5,1-10
10,1-20
20,1-40
40,1-80
80,1-160
>160
Internationale Luftfahrtpassagiere / 100 Einwohner Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: ICAO (2001); World Bank (2005).
Auch diese Verteilung ist schief; der Mittelwert beträgt 49, der Median 16. Eine Dichotomie von Staaten, die in hohem Maße an Globalisierungsprozessen partizipieren und einem ausgeschlossenen Rest zeigt sich allerdings auch hier nicht. Eine dementsprechende Charakterisierung wird der tatsächlichen mehrstufigen und komplexen räumlichen Differenzierung nicht gerecht.
4.2.6 Internationaler Tourismus Der internationale Tourismus überwiegend ein Phänomen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist in besonderem Maße Ausdruck des Globalisierungsphänomens (HELD et al. 1999; STEINER in diesem Band). Er hat sich ähnlich dynamisch entwickelt wie der internationale Luftverkehr, was natürlich auch daran liegt, dass die beiden Indikatoren miteinander verknüpft sind. Die Zahl der weltweiten Touristenankünfte stieg ausgehend von 287 Mio. im Jahr 1980 auf 702 Mio. im Jahr 2000 an, was einer Steigerung von etwa 145 % entspricht. Alleine innerhalb des Zeitraums 1995 bis 2000 erhöhten sich die Touristenankünfte um mehr als 25 % (World Bank 2005; vgl. STEINER in diesem Band). Abbildung 13 zeigt die räumliche Differenzierung des Tourismusindikators (Summe der Ankünfte und Abreisen pro 100 Einwohner) in kartographischer Form (World Bank 2005).19
19 Die von der Weltbank publizierten und im Folgenden verwendeten Daten zu den Touristenzahlen stammen ursprünglich von der World Tourism Organization (World Bank 2005).
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Auch diese Karte ähnelt den vorangegangenen, wenn auch die Datenlage etwas ungünstiger ist und lediglich für 81 der 148 Staaten Daten verfügbar sind. Hohe Touristenzahlen zeigen insbesondere Kanada, Uruguay, fast alle europäischen Staaten, Israel, Malaysia sowie Australien und Neuseeland. Mittlere und niedrigere Werte finden sich überall auf der Welt verteilt, darunter vielleicht etwas überraschend beispielsweise auch Japan. Gemessen an der Größe der Staaten vollkommen marginal ist der internationale Tourismus beispielsweise in Brasilien, Kolumbien, Niger, der Demokratischen Republik Kongo, Iran, Indien, China, Bangladesch, Kambodscha, Vietnam, und Papa Neuguinea. Die Bedeutung der Standardisierung ist auch hier wieder immens, liegt China doch beispielsweise bei den absoluten Zahlen auch bei diesem Indikator weltweit in der Spitzengruppe (vgl. STEINER in diesem Band). Die ungleiche Verteilung illustriert auch Abbildung 14. Bei 17 Staaten liegt die Summe der internationalen Ankünfte und Abreisen pro 100 Einwohner unter fünf. Bei sieben Staaten gar unter 2, wohingegen 22 Staaten einen Wert von über 100 aufweisen. Der Mittelwert der Verteilung ist 65, der Median 23. Den niedrigsten Wert mit 0,2 zeigt erneut die Demokratische Republik Kongo, den höchsten Wert mit 445 die Tschechische Republik.20 Damit weist auch der letzte der hier angeführten Globalisierungsindikatoren große Unterschiede auf und zeigt eine komplexe, den vorangegangenen Indikatoren ähnliche räumliche Differenzierung. Abbildung 14: Internationale Touristen (Ankünfte und Abreisen) / 100 Einwohner im Jahr 2000 20 17
17 15
Anzahl Staaten
16
12
10 8
7
8
7
4
0 0-5
5,1-10
10,1-20
20,1-40
40,1 -80
80,1-160
> 160
Internationale Touristen / 100 Ein wohner Quelle: eigene Darstellung. Datenquelle: World Bank (2005).
20 Der hohe Wert der Tschechischen Republik erklärt sich auch aus der Teilung der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei im Jahr 1993 und der damit verbundenen neuen Grenzziehung, welche aus der fortbestehenden (zuvor binnenstaatlichen) Interaktion grenzüberschreitende Interaktion macht.
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4.3 Fazit Das Globalisierungsniveau einzelner Staaten ist stark ausdifferenziert. Sämtliche Indikatoren weisen eine ähnliche räumliche Differenzierung und exorbitante Unterschiede zwischen den Nationalstaaten auf. Anhand dieser Differenzen, zum Teil unterscheiden sich die niedrigsten und die höchsten Werte um mehr als das Hundertfache, lässt sich die Homogenitätsthese zurückweisen. Während für manche Akteure Entfernungen globalen Ausmaßes erheblich an Bedeutung verloren haben und die grenzüberschreitende Interaktion in etlichen Staaten sehr stark fortgeschritten ist, stellen für andere selbst kleine Entfernungen ein kaum zu überwindendes Hindernis dar und in zahlreichen Staaten findet kaum grenzüberschreitende Interaktion statt. Die Homogenität, die von den Vertretern der in Abschnitt 2.1 angeführten Thesen und Begriffen wie dem des global village suggeriert wird, gibt es auf globaler Maßstabsebene nicht. Aus der Analyse geht auch hervor, dass es sich nicht um eine dichotome Verteilung handelt. Weder zeigt sich eine Dichotomie im Sinne WERLENS, die lediglich traditionelle, räumlich verankerte von modernen, räumlich entankerten Staaten unterscheidet, noch eine dichotome Verteilung, welche erlauben würde, die Mitglieder der Triade von einem in Bezug auf die Globalisierungsprozesse weitgehend ausgeschlossenen Rest zu unterscheiden. Eine derartige Zweiteilung lässt sich bei keinem der Indikatoren beobachten und erscheint angesichts der empirischen Ergebnisse als eine kaum akzeptable Vereinfachung. Zwar weisen Nordamerika und Westeuropa bei allen Indikatoren mit die höchsten Werte auf, aber Japan liegt bei der Mehrzahl der Indikatoren nicht in der Spitzengruppe der Länder mit den höchsten Werten. So wird Japan bei den meisten Indikatoren grenzüberschreitender Interaktion von Südkorea und Malaysia ebenso übertroffen wie von Australien und Neuseeland. Dass diese vier genannten Staaten zu dem von Globalisierungsprozessen weitgehend ausgeschlossenen Rest gehören sollen, ist nicht plausibel. Insbesondere Australien und Neuseeland befinden sich ebenso wie die USA, Kanada und die westeuropäischen Staaten in der Staatengruppe, die am stärksten an den Globalisierungsprozessen partizipiert. Darüber hinaus sind die Unterschiede zwischen Malaysia und Südkorea und Staaten wie Vietnam oder Laos, die sich durch ein äußerst geringes Ausmaß grenzüberschreitender Interaktion auszeichnen, eklatant und nicht vernachlässigbar. Kaum nachvollziehbar ist außerdem, wenn die südamerikanischen Staaten Chile, Argentinien oder Uruguay, die bei den meisten Indikatoren ebenso wie die arabischen Golfstaaten Saudi Arabien oder Kuwait recht hohe Werte aufweisen, auf eine Stufe mit den afrikanischen Staaten Niger, Tschad oder Burundi gestellt werden. Die Werte der genannten afrikanischen Staaten liegen bei sämtlichen Indikatoren, soweit die Daten für den jeweiligen Staat vorliegen, in der Klasse mit den geringsten Werten. Vielmehr bestätigen die empirischen Ergebnisse diejenigen Autoren, die das Modell der weitgehend auf die Triade beschränkten Globalisierung als unzulässige Vereinfachung zurückweisen. Das Globalisierungsniveau ist weder homogen noch dichotom, sondern variiert auf der Maßstabsebene von Nationalstaaten außerordentlich stark und folgt einer graduell abgestuften Verteilung. Zwar bezieht sich dieses Ergebnis auf die im Rahmen der Untersuchung verwendeten Beispielindikatoren und erfasst damit nicht alle Aspekte grenzüberschreitender Interaktion. Zu beachten ist jedoch, dass die einzelnen Indikatoren miteinander in einem engen Zusammenhang stehen und es bereits bei diesen sechs Indikatoren zu vielfältigen Überschneidungen der Erfassung grenzüberschreitender Interaktion kommt (KESSLER 2009). Nicht nur die
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Zahl internationaler Flugpassagiere und internationaler Touristen stehen in einem Zusammenhang zueinander, sondern auch die Intensivierung des grenzüberschreitenden Handels mit dem Anstieg des grenzüberschreitenden Verkehrs (GROTRIAN 2003) und die Zunahme der Internetnutzung mit der Ausweitung internationaler Finanztransaktionen (EnqueteKommission 2002). Aufgrund der vielfältigen Überschneidungen der betrachteten Indikatoren ist davon auszugehen, dass auch Bereiche, die nicht direkt in die Betrachtung eingegangen sind, zumindest teilweise indirekt durch die gewählten Indikatoren erfasst werden. Beispielsweise ist die internationale politische Interaktion auch an die grenzüberschreitende Mobilität von Personen gebunden, ebenso wie an den kommunikativen Austausch mittels des internationalen Telefonverkehrs oder des Internets (HELD et al. 1999). Auch wenn es gelänge, die internationale politische Interaktion mittels eines geeigneten Indikators direkt zu erfassen, ergäben sich vermutlich keine substantiellen Abweichungen.21 Auch kulturelle Interaktion wird indirekt durch die verwendeten Indikatoren erfasst, denn auch sie ist unter anderem an den persönlichen Kontakt oder den kommunikativen Austausch zwischen Individuen gebunden.22 Ein kultureller Austausch geht mit dem Tourismus ebenso einher wie mit der Gründung von Unternehmensniederlassungen im Ausland. Und natürlich erfolgt mit dem grenzüberschreitenden Handel von Waren, seien es nun Lebensmittel, Bücher, Filme, Elektronikprodukte oder Kraftfahrzeuge, auch ein kultureller Austausch. Es kann daher angenommen werden, dass auch andere Aspekte ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller oder politischer grenzüberschreitender Interaktion eine ähnliche räumliche Differenzierung wie die hier ausgewählten Indikatoren aufweisen. Demnach variiert das Globalisierungsniveau außerordentlich stark, wobei sich die Werte der einzelnen Staaten graduell abgestuft zwischen den niedrigsten und den höchsten Werten verteilen. Die erste These (vgl. Abschnitt 3.4) wird durch die empirischen Ergebnisse bestätigt und kann angenommen werden.
21 So gilt die Anzahl und die Aktivität internationaler Regierungsorganisationen sowie internationaler Nichtregierungsorganisationen als besonders repräsentativ für politische Globalisierungsprozesse. Die Anzahl der internationaler Regierungsorganisationen auf Basis von Nationalstaaten wird dazu beispielsweise von HELD et al. (1999) und dem Kearney & Foreign Policy (2005) Globalization Index verwendet. Obwohl dieser Indikator zur Messung des Ausmaßes grenzüberschreitender politischer Interaktion sicher nur bedingt geeignet ist (KESSLER 2009), so zeigt sich eine räumliche Differenzierung (HELD et al. 1999: 56), die den Ergebnissen der in der vorliegenden Untersuchung verwendeten Indikatoren vergleichbar ist. 22 Nicht berücksichtigt wurde hier das Fernsehen, das bezüglich des kulturellen Austausches und der Informationsübermittlung aber eine wichtige Stellung einnimmt. Das gilt insbesondere dann, wenn dem Nutzer beispielsweise durch Anwendung von Satellitentechnologie eine breite Auswahl an Programmen zur Verfügung steht (HELD et al. 1999). Aber auch die Verbreitung von Fernsehgeräten ist so ungleich verteilt, dass die Ungleichgewichte kaum dadurch kompensiert werden können, dass in weniger entwickelten Ländern eine größere Anzahl Personen durch ein Fernsehgerät erreicht wird. Zahlreiche Staaten weisen weniger als 10 Fernsehgeräten/1000 Einwohner auf, während in vielen anderen Staaten mehr als 500 Fernsehgeräte/1000 Einwohner zu verzeichnen sind (World Bank 2005). Demnach ist ein Großteil der Bevölkerung in zahlreichen Staaten nicht nur von einer auf Gegenseitigkeit beruhenden grenzüberschreitenden Kommunikation (Telefon; Internet) nahezu vollständig ausgeschlossen, sondern auch von einer asymmetrischen Kommunikation wie der Informationsvermittlung durch das Fernsehen. Die räumliche Differenzierung der Anzahl der Fernsehgeräte/1000 Einwohner entspricht im Wesentlichen den Ergebnissen der hier untersuchten Indikatoren (ITU 2003; World Bank 2005).
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Prüfung der Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Wohlstand/Entwicklung sowie zwischen Globalisierung und Freiheit
Nachdem im vorangegangenen deskriptiven Teil die räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus anhand von sechs Beispielindikatoren dargestellt wurde, erfolgt nun die Prüfung der zweiten der in Abschnitt 3.4 abgeleiteten Thesen. Diese lautet, dass das Globalisierungsniveau in einem starken positiven Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau sowie den von politischer Seite bestehenden Freiheiten steht. Neben den bereits bekannten Globalisierungsindikatoren wird hier als Indikator des Wohlstands- oder Entwicklungsniveaus das BIP pro Kopf herangezogen, aus Gründen der Vergleichbarkeit in Kaufkraftparitäten (KKP) berechnet (SCHÄTZL 1994; UNDP 2002).23 Ebenso könnte der Human Development Index (HDI) des UNDP (2002) Verwendung finden, was allerdings keinen bedeutenden Einfluss auf die Ergebnisse hätte, da beide Indikatoren extrem hoch miteinander korreliert sind.24 Aufgrund der besonderen Bedeutung, welche den Direktinvestitionen in Bezug auf die Globalisierung beigemessen wird (vgl. Abschnitt 4.2.1), wird zunächst der Zusammenhang zwischen dem Wohlstands- und Entwicklungsniveau und den Direktinvestitionen exemplarisch etwas detaillierter dargestellt. Abbildung 15 zeigt grafisch anschaulich den bestehenden stark positiven, nichtlinearen Zusammenhang zwischen beiden Variablen. Abbildung 15: Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem BIP / Kopf in $ (KKP) 50.000
ADI / Kopf in US$
40.000
30.000
20.000
10.000
0 0
10.000
20.000
30.000
40.000
BIP / Kopf (KKP) Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: UNCTAD (2005); World Bank (2005). 23 Da die Berechnung nach Kaufkraftparitäten auch problematisch sein kann (FRANKEL 1997; UNDP 2002), wurden die folgenden Analysen zusätzlich mit dem nominalen BIP pro Kopf durchgeführt. Die Unterschiede sind wenig bedeutsam. 24 Dem BIP/Kopf wird hier wegen seines eindeutig metrischen Datenniveaus der Vorzug gegeben.
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In den am niedrigsten entwickelten Staaten sind fast keine Direktinvestitionen zu verzeichnen. Mit steigendem Wohlstandsniveau wächst auch der Bestand an Direktinvestitionen, zunächst langsam, dann immer ausgeprägter bei gleichzeitig zunehmender Varianz. Der Rangkorrelationskoeffizient (Spearman) rs beträgt .90 (N = 117). Linearisiert man den Zusammenhang durch eine Logarithmierung der Variablenwerte, so zeigt sich ein entsprechend starker linearer Zusammenhang zwischen den Direktinvestitionen/Kopf und dem BIP/Kopf (Abbildung 16). Der Korrelationskoeffizient (Pearson) entspricht mit r = .90 (N = 117) dem zuvor angeführten Rangkorrelationskoeffizienten. Der Wert für das Bestimmtheitsmaß beträgt dementsprechend R² = .80. Zwischen beiden Variablen besteht demnach ein äußerst starker positiver Zusammenhang, der statistisch hoch signifikant ist (p < 0.01; zweiseitig). Der gemäß These zwei zu erwartende starke positive Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau bestätigt sich demnach eindrucksvoll für diesen ersten Indikator des Globalisierungsniveaus. Abbildung 16: Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem BIP / Kopf in $ (KKP); logarithmische Darstellung 10 9 2
R = .80
ADI / Kopf in US$, LN
8 7 6 5 4 3 2 1 6
7
8
9
10
11
BIP / Kopf (KKP), LN Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: UNCTAD (2005); World Bank (2005).
Dies trifft für die übrigen Beispielindikatoren ebenfalls zu. Die Form der Zusammenhänge ist in allen Fällen dem zuvor präsentierten Zusammenhang zwischen dem BIP/Kopf und den Direktinvestitionen sehr ähnlich, weshalb auf deren gesonderte grafische Darstellung verzichtet wird. Die Stärke des Zusammenhangs ist bei den übrigen Beispielindikatoren
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ebenfalls hoch bis sehr hoch. Das Bestimmtheitsmaß beträgt für den Außenhandel R² = .88, für den internationalen Telefonverkehr R² = .77, für die Anzahl der Internetnutzer R² = .85, für die Anzahl der Luftfahrtpassagiere R² = .70 und für den Internationalen Tourismus R² = .64. Die dargestellten bivariaten Zusammenhänge sind mit einer gewissen Unschärfe behaftet. Berücksichtigt man allerdings einzelne der systematischen Schwächen der hier vorgenommenen empirischen Analyse, so scheinen die Ergebnisse die Enge des tatsächlichen Zusammenhangs eher noch zu unterschätzen. Beispielsweise können die Mittel- und Osteuropäischen (MOE-) Staaten angeführt werden, die bei dem Tourismus-Indikator eine theoretisch erklärbarere Sonderstellung einnehmen, welche bei der hier vorgenommenen bivariaten Analyse nicht berücksichtigt wird. Die hohen Werte der genannten Staaten können als Ausreißer eingestuft werden, weil ein nicht unbedeutender Anteil der offiziell Besuchszwecken dienenden Reisen entgegen dem definitorischen Kriterium zu Zwecken der Entlohnung erfolgt sein dürfte. Aufgrund des Wohlstands- und Lohngefälles sowie der rechtlichen Restriktionen bezüglich der Aufnahme einer Beschäftigung in den EU-Staaten zum Untersuchungszeitpunkt, ist davon auszugehen, dass die Touristenzahlen der genannten MOE-Länder durch inoffiziell zu Zwecken der Entlohnung Reisende verzerrt werden. Der hohe Wert der Tschechischen Republik dürfte zusätzlich auf die Teilung der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei im Jahr 1993 und der damit verbundenen neuen Grenzziehung zurückzuführen sein. Die verhältnismäßig hohen Werte der genannten MOEStaaten lassen sich also theoretisch erklären. Berücksichtigt man dies, für die hier vorgenommene bivariate Analyse durch eine Eliminierung der Ausreißer, so zeigt sich, dass der ohnehin starke Zusammenhang noch etwas unterschätzt wird. Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Globalisierungsniveau und den von politischer Seite bestehenden Freiheiten wird der Index bürgerlicher Freiheit von Freedom House (2005) herangezogen. Freiheit wird dabei verstanden als die Möglichkeit, in verschiedenen Bereichen spontan und unabhängig von einer Einflussnahme der Regierung oder anderer Herrschaftszentren zu agieren. Der Index ist mehrdimensional und nicht auf den ökonomischen Bereich beschränkt wie beispielsweise der Economic Freedom of the World Index (GWARTNEY, LAWSON & GARTZKE 2005), der ebenfalls herangezogen werden könnte. Der Index bürgerlicher Freiheit erfasst in Bezug auf die von politischer Seite bestehende Freiheit grenzüberschreitend zu interagieren einerseits weniger relevante Aspekte wie die Glaubensfreiheit, weshalb es sich bei diesem Index um eine eher unscharfe Proxyvariable handelt. Seine Multidimensionalität ist aber auch von Vorteil. So beinhaltet der Index neben ökonomischen Freiheitsrechten beispielsweise auch die Unabhängigkeit von staatlicher Kontrolle bei Reisen (Freedom House 2005). Exemplarisch zeigt die Abbildung 17 den Zusammenhang zwischen der Höhe der Direktinvestitionen/Kopf und dem Ausmaß bürgerlicher Freiheit in dem jeweiligen Staat. Es besteht ebenfalls ein positiver, nicht-linearer Zusammenhang, der in seiner Form dem zuvor beschriebenen Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau sehr ähnlich ist. In der Gruppe der Staaten mit den geringsten von politischer Seite bestehenden Freiheiten sind kaum Auslandsdirektinvestitionen zu verzeichnen. Auch hier steigen mit zunehmender Freiheit die Direktinvestitionen an, zunächst langsam und dann immer stärker, bei insgesamt wachsender Varianz.25 Die unfreien Staaten weisen also gemessen an ihrer Größe durchgängig kaum Direktinvestitionen auf, wohingegen die besonders freien Staaten 25 Freedom House vergibt für das geringste Ausmaß bürgerlicher Freiheit den Wert 7, für die höchste Ausprägung bürgerlicher Freiheit den Wert 1.
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größere Unterschiede bei insgesamt höheren Werten zeigen. Der Zusammenhang ist stark positiv, der Wert für rs ist .69 (N = 122).26 Abbildung 17: Zusammenhang zwischen den Auslandsdirektinvestitionen / Kopf in US$ (instock + outstock) und dem Index bürgerlicher Freiheit 50. 000
ADI / Kopf in US$
40. 000
30. 000
20. 000
10. 000
0 0
1
2
3
4
5
6
7
Index bürgerlicher Freiheit (1 = frei; 7 = unfrei) Quelle: eigene Darstellung. Datenquellen: UNCTAD (2005); Freedom House (2005).
Auch die weiteren Koeffizienten zwischen den Beispielindikatoren des Globalisierungsniveaus und dem Index bürgerlicher Freiheit sind stark positiv und ebenso wie der Koeffizient für die Direktinvestitionen statistisch hoch signifikant (Tabelle 1). Sie liegen zwischen .60 und .73. Damit sind die Koeffizienten allerdings niedriger bzw. die Zusammenhänge schwächer als jene für den Zusammenhang mit dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau (die Korrelationskoeffizienten liegen bei .80 oder darüber), was auch an dem verwendeten Freiheitsindikator liegen kann. Der Index bürgerlicher Freiheit stellt eine eher grobe Bezugsgröße dar, die für die jeweils betrachtete Interaktionsvariable nicht direkt relevante bürgerliche Freiheiten mit einbezieht und gleichzeitig die politischen Faktoren, welche den jeweiligen Indikator direkt beeinflussen, nicht in jedem Fall gebührend berücksichtigt. So wäre beispielsweise für die Korrelationen mit ökonomischen Indikatoren die Verwendung des Economic Freedom of the World Index (GWARTNEY, LAWSON & GARTZKE 2005) präziser, da dieser die von politischer Seite bestehende Freiheit ökonomischer Interaktion fokussiert erfasst. Der nichtlineare Zusammenhang zwischen den Auslandsdi26 Wegen der nicht-linearen Beziehung sowie dem umstrittenen Datenniveau des verwendeten Index (WELZEL (2000) bspw. ordnet den Index dem metrischen Datenniveau zu, was bspw. von TRAINE (2000) infrage gestellt wird), wird hier der konservativere Rangkorrelationskoeffizient nach Spearman (rs) herangezogen und auf eine Datentransformation verzichtet.
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rektinvestitionen pro Kopf und diesem Index beträgt rs = .80 (N = 98) und übertrifft damit den Zusammenhang desselben Globalisierungsindikators mit dem Index bürgerlicher Freiheit deutlich rs = .69 (N = 122). Das Gleiche gilt für den Außenhandel. Der Korrelationskoeffizient des Außenhandelsvolumens pro Kopf und des Economic Freedom of the World Index beträgt rs = .74 (N = 102) gegenüber rs = .64 (N = 132) der Korrelation mit dem Index bürgerlicher Freiheit. Die Beispiele zeigen, dass ein einziger Indikator der Vielzahl und Komplexität möglicher politischer Einflussfaktoren kaum vollständig gerecht werden kann. Tabelle 1: Zusammenhänge zwischen den Globalisierungsindikatoren und dem BIP sowie dem Index Bürgerlicher Freiheit Bürgerl. Freiheit (FH Index)
BIP/Kopf
Außenhandel/Kopf
.64* (N = 132)
.94* (N = 130)
Direktinvestitionen/Kopf
.69* (N = 122)
.90* (N = 117)
Int. Telefonverkehr/Kopf
.66* (N = 113)
.87* (N = 109)
Internetnutzer/Kopf
.73* (N = 144)
.92* (N = 134)
Int. Luftfahrtpassag./Kopf
.60* (N = 101)
.83* (N = 97)
Int. Touristen/Kopf
.68* (N = 80)
.80* (N = 78)
Quelle: eigene Berechnung. Rangkorrelationen (Spearman); * p < 0.01 (zweiseitig).
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Unschärfe, welche durch die Beschränkung der Betrachtung auf einen Zeitpunkt entsteht. Die Zeitspanne, in der die Freiheit bestand, dürfte von Bedeutung sein (vgl. CLAGUE et al. 1996), wurde bei der hier vorgenommenen Querschnitteanalyse allerdings nicht berücksichtigt. Dies dürfte insbesondere deswegen relevant sein, weil das Freiheits- und damit verbunden das Demokratieniveau in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Staaten häufig gravierenden und sprunghaften Veränderungen unterlag. Uruguay beispielsweise wurde im Jahr 2000 erstmals mit dem Wert 1 (frei) klassifiziert. Zwischen 1972 und 1985 schwankte die Einschätzung für Uruguay zwischen 4 und 6 (unfrei) (Freedom House 2005). In der vorliegenden Untersuchung wird Uruguay aber lediglich anhand des Wertes für das Jahr 2000 der gleichen Klasse zugeordnet, in der sich auch die Staaten Kanada, Dänemark oder Schweiz finden, deren Indexwert von 1972 bis 2000 durchgängig bei 1 lag. Dass Uruguay bei 5 der 6 Indikatoren von den mit 1 eingestuften Staaten den teilweise mit Abstand niedrigsten Indikatorwert des Globalisierungsniveaus aufweist, ist daher wenig verwunderlich. Auch andere Ausreißer wie die vergleichweise hohen Außenhandelswerte der in Bezug auf die von politischer Seite bestehenden Freiheiten der Akteure relativ unfreien Staaten Saudi Arabien und Kuwait lassen sich theoretisch erklären (in diesem Fall durch den Ressourcenreichtum und -export dieser Länder sowie durch die damit ermöglichten Importe) und tragen dazu bei, dass die Stärke der hier dargestellten Zusammenhänge eher unterschätzt wird.
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Ebenso wie bei der räumlichen Differenzierung kann auch hier angenommen werden, dass im Wesentlichen auch in Bereichen, die hier nicht direkt analysiert wurden, keine substantiell anderen Ergebnisse zu erwarten wären. So kann davon ausgegangen werden, dass auch das Ausmaß des grenzüberschreitenden kulturellen Austausches in Zusammenhang mit dem Wohlstands- und Entwicklungsniveau sowie den von politischer Seite bestehenden Freiheiten steht. Dasselbe dürfte für die grenzüberschreitende politische Interaktion gelten, auch wenn ihr Ausmaß durch die gegenwärtig verfügbaren Indikatoren nicht zufrieden stellend erfasst werden kann. Es ist jedoch plausibel, dass die politische Interaktion zwischen hochentwickelten und mit einem politischen System freiheitlicher Orientierung ausgestatteten Staaten vergleichsweise stark ausgeprägt ist, wohingegen Staaten, die sich durch gegenteilige Merkmale auszeichnen, eine geringere Interaktionsdichte aufweisen. So dürfte sowohl die politische als auch die kulturelle Interaktion zwischen Deutschland, Frankreich, Südkorea, Japan, den USA und anderen vergleichbaren Staaten erheblich stärker ausgeprägt sein, als zwischen Staaten vom Entwicklungsniveau Tschads oder Vietnams. Ebenfalls gering dürfte die grenzüberschreitende Interaktion von Staaten wie Kuba, Nordkorea oder Afghanistan (im Jahr 2000) sein, allerdings nicht nur politisch oder kulturell, sondern auch in den hier untersuchten Bereichen. Diese und einige vergleichbare andere Staaten gingen aufgrund der fehlenden Daten nicht in die Untersuchung ein. Es ist davon auszugehen, dass sich gerade solche wenig freiheitlichen Staaten mit zudem niedrigem Entwicklungsniveau durch eine geringe grenzüberschreitende Interaktionsdichte auszeichnen und sie bei Vorliegen von Daten zur Erhöhung der Koeffizienten und damit der Stärke der präsentierten Zusammenhänge beigetragen hätten. Für sämtliche der hier herangezogenen Indikatoren besteht also ein sehr starker, signifikanter Zusammenhang zwischen dem Globalisierungsniveau und dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau. Zwischen dem Globalisierungsniveau und den von politischer Seite bestehenden Freiheiten besteht ein etwas schwächer ausgeprägter, aber immer noch starker und ebenfalls signifikanter positiver Zusammenhang. Dementsprechend kann auch die zweite der in Abschnitt 3.4 theoretisch abgeleiteten Thesen angenommen werden. Abbildung 18: Zentrale Determinanten des Globalisierungsniveaus
Globalisierungsniveau / Grenzüberschreitende Interaktion
Wohlstand / Entwicklungsniveau
Von politischer Seite bestehende Freiheiten
Quelle: eigene Darstellung.
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Das Wohlstands- und Entwicklungsniveau sowie die von politischer Seite bestehenden Freiheiten sind demnach zentrale Einflussgrößen des Globalisierungsniveaus (Abbildung 18).27 Denkbar ist jedoch auch, dass das Globalisierungsniveau umgekehrt einen Einfluss auf das Wohlstands- und Entwicklungsniveau (bspw. FRANKEL & ROMER 1999; MALLAMPALLY & SAUVANT 1999; European Commission 2002; DOLLAR & COLLIER 2002) oder auch auf das Freiheits- und Demokratieniveau (bspw. CAIRNCROSS 1997; VESETH 1998; HELD et al. 1999; STRUBELT 1999; FRIEDMAN 2000; WEIFFEN in diesem Band) eines Staates haben kann. Es könnte sich also um eine interdependente Kausalbeziehung handeln, deren ausführlichere Analyse auch in Bezug auf die relative Stärke der einzelnen Einflussfaktoren jenseits des Rahmens dieses Beitrags liegt.
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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Ausgehend von einem widersprüchlichen Forschungsstand, war die räumliche Differenzierung des Globalisierungsniveaus Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Globalisierung wurde hier definiert als eine Zunahme und Ausweitung grenzüberschreitender anthropogener Interaktion. Das Phänomen wurde konzeptionell in die ihm zugrunde liegenden Voraussetzungen, die grenzüberschreitende Interaktion selbst als Kern oder Wesensmerkmal der Globalisierung sowie die sich aus der Interaktion ergebenden Folgen untergliedert. Die Analyse konzentrierte sich auf das Niveau der grenzüberschreitenden Interaktion im Jahr 2000, wohingegen die komplexen Folgen von Globalisierungsprozessen so bedeutsam sie auch sein mögen nicht Gegenstand der Untersuchung waren. Die Voraussetzungen der Interaktion wurden soweit zum Verständnis und zur Erklärung der räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus im Rahmen dieses Beitrags erforderlich ebenfalls in die Untersuchung mit einbezogen. Bestehende theoretische Konzepte wie das der time-space-convergence oder das der time-space-compression wurden auf ihren Erklärungsgehalt in Bezug auf die Globalisierung geprüft. In enger Anlehnung an diese wurde ein Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen als den Globalisierungsprozessen zugrundeliegendes Phänomen identifiziert. Alles, was die Interaktion über räumliche Entfernung und Grenzen hinweg einfacher, schneller, billiger, sicherer, komfortabler und attraktiver macht, generiert einen Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen in ihrer Eigenschaft als trennende Elemente oder Hindernisse für Akteure. Dabei kommt es zu einer Minderung der Bedeutung, relativ zu der vorher vorhandenen Bedeutung, ohne dass räumliche Entfernung oder Grenzen dadurch bedeutungslos werden. Die Einflussgrößen, die einen Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen konstituieren, entsprechen den Voraussetzungen der Globalisierung. Von besonderer Bedeutung ist die Verfügbarkeit von Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation, was die entsprechende Infrastruktur ebenso einschließt wie das erforderliche Know-how beispielsweise in Form von Sprach- oder Computerkenntnissen. Diese Voraussetzungen lassen sich unter den Begriffen Wohlstands- oder Entwicklungsni27
Bei der Darstellung in Abbildung 18 handelt es sich um eine modellhafte Vereinfachung komplexer Realität. Der Zusammenhang zwischen dem Wohlstands- und Entwicklungsniveau sowie der von politischer Seite bestehenden Freiheiten oder dem Demokratieniveau ist der Vollständigkeit wegen in der Abbildung angedeutet; er ist allerdings nicht Gegenstand dieses Beitrags (vgl. dazu bspw. DIAMOND 1992; WELZEL 2000, UNDP 2002).
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veau subsumieren. Ebenfalls zentral sind die von politischer Seite bestehenden Freiheiten grenzüberschreitend zu interagieren, sei es beispielsweise in Form von niedrigen oder fehlenden Grenzbarrieren in Bezug auf den Außenhandel, den Kapital- wie auch den Personenverkehr. Aus diesen Überlegungen und der auf globaler Maßstabsebene außerordentlich ungleichen Verteilung des Wohlstands- oder Entwicklungsniveaus sowie der von politischer Seite bestehenden Freiheiten und damit der Voraussetzungen der Globalisierung ließen sich die Thesen ableiten, dass auch das Globalisierungsniveau eine ausgeprägte, komplexe räumliche Differenzierung aufweisen und in einem engen positiven Zusammenhang mit den genannten zentralen Einflussgrößen stehen muss. Die zur empirischen Überprüfung dieser Thesen erforderliche Operationalisierung erfolgte anhand von sechs Indikatoren, die grenzüberschreitende Interaktion indizieren und unterschiedliche Aspekte der Globalisierung repräsentieren. Um die grundlegende Vergleichbarkeit von Staaten unterschiedlicher Größe zu gewährleisten und das tatsächliche gemittelte Interaktionsniveaus der Akteure zu erfassen, gingen die Indikatorwerte in Relation zur Bevölkerungsgröße in die Untersuchung ein. In Bezug auf die erste These wurde gezeigt, dass sämtliche Indikatoren eine ähnliche räumliche Differenzierung und exorbitante Unterschiede zwischen den Nationalstaaten aufweisen. Anhand dieser Differenzen, zum Teil unterscheiden sich die niedrigsten und die höchsten Werte um mehr als das Hundertfache, lassen sich die Thesen einer homogenen Globalisierung zurückweisen. Während für manche Akteure Entfernungen globalen Ausmaßes erheblich an Bedeutung verloren haben und die grenzüberschreitende Interaktion in etlichen Staaten sehr stark fortgeschritten ist, stellen für andere selbst kleine Entfernungen ein schwer zu überwindendes Hindernis dar und in zahlreichen Staaten findet kaum grenzüberschreitende Interaktion statt. Die vielfach beschworene globalisierte Welt stellt gegenwärtig eher eine Utopie dar und ist mit dem Befund einer ausgeprägten räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus, man könnte auch von einer fragmentarischen Globalisierung sprechen, kaum vereinbar.28 Der Begriff eines global village mag zwar für ein Essay geeignet sein und als Metapher besonders prägnant erscheinen. Als Zustandsbeschreibung oder zur Charakterisierung des Globalisierungsniveaus auf globaler Maßstabsebene ist er allerdings ungeeignet und sogar irreführend. Der Begriff unterschätzt nicht nur die Bedeutung, die räumliche Entfernung als Interaktionshemmnis weiterhin besitzt. Er suggeriert auch eine auf globalem Maßstabsniveau nicht existente Homogenität in Bezug auf die Möglichkeit zur Interaktion über räumliche Entfernung und nationalstaatliche Grenzen hinweg. Das Charakteristikum eines Dorfes ist ja gerade, dass räumliche Entfernung innerhalb des Dorfes für alle Bewohner in vergleichbarer Weise von untergeordneter Bedeutung ist. Während die Bewohner eines Dorfes innerhalb des Dorfes typischerweise über ähnliche Möglichkeiten der Interaktion verfügen, gilt das für die Globalisierung konstituierende Interaktion nicht. Die Homogenität, die von den Vertretern der in Abschnitt 2.1 angeführten Thesen und Begriffen wie dem des global village suggeriert wird, gibt es auf globaler Maßstabsebene nicht. Die Analyse zeigt weiterhin, dass es sich nicht um eine dichotome Verteilung handelt, die beispielsweise erlauben würde, die Mitglieder der Triade von einem in Bezug auf die Globalisierungsprozesse weitgehend ausgeschlossenen Rest zu unterscheiden. Eine derarti28
Während Menzel (1998) Globalisierung und Fragmentierung als gegensätzliche Entwicklungen begreift, zeigt sich hier Globalisierung selbst als fragmentarisches Phänomen.
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ge Zweiteilung lässt sich bei keinem der Indikatoren beobachten und erscheint angesichts der empirischen Ergebnisse als eine kaum akzeptable Vereinfachung einer komplexeren räumlichen Differenzierung. Auch die zweite These konnte angenommen werden. Sämtliche Indikatoren weisen bivariat stark positive und signifikante Zusammenhänge mit dem Wohlstands- und Entwicklungsniveau sowie mit den von politischer Seite bestehenden Freiheiten auf. Vereinfachend ließ sich feststellen, dass die grenzüberschreitende Interaktion in den wohlhabenden, hoch entwickelten und mit von politischer Seite bestehenden Freiheiten ausgestatteten Staaten am stärksten ausgeprägt ist. Das Gegenteil gilt hingegen für die armen, wenig entwickelten Staaten und solche, die sich durch die Abwesenheit politischer und bürgerlicher Freiheiten auszeichnen. Der Frage nach der relativen Einflussstärke der genannten Faktoren und damit verbunden der Interdependenz der dargestellten Zusammenhänge konnte im Rahmen dieses Beitrags und mittels der durchgeführten bivariaten Analysen nicht nachgegangen werden. Ebenso wenig wurden weitere mögliche Einflussfaktoren wie die geographische Ausdehnung oder Lage der Staaten berücksichtigt. Zur detaillierteren Klärung der Kausalverhältnisse können sich hier multivariate Analysen anschließen, ebenso wie Untersuchungen der zeitlichen Entwicklung des Phänomens Globalisierung. Eine Betrachtung über die Zeit könnte zudem Aufschluss darüber geben, ob trotz der zum Untersuchungszeitpunkt im Jahr 2000 bestehenden exorbitanten Unterschiede in Bezug auf das Globalisierungsniveau ein Homogenisierungstrend zu verzeichnen ist oder die ausgeprägtem Differenzen relativ konstant bestehen oder sich möglicherweise im Laufe der letzten Jahrzehnte noch vertieft haben. Anhand der hier präsentierten Ergebnisse lassen sich zudem Schlussfolgerungen in Bezug auf Fragestellungen ableiten, die zum Thema Globalisierung kontrovers diskutiert werden und die hier nicht direkt Gegenstand der Untersuchung waren. So greifen Thesen zu kurz, welche die Bedeutung von Nationalstaaten und den zwischen diesen bestehenden Differenzen als zunehmend vernachlässigbar darstellen und Nationalstaaten als Analyseeinheiten in Zeiten der Globalisierung infrage stellen (bspw. SASSEN 1991; O BRIEN 1992; STRANGE 1996; zur Bedeutung von Nationalstaaten vgl. auch DITTGEN in diesen Band). Die Heterogenität innerhalb der Staaten, die hier nicht berücksichtigt wurde und die aufgrund mangelnder Datenbasis auf globaler Maßstabsebene kaum erfasst werden kann, wird zwar zu Recht betont. Analysen auf substaatlicher Ebene sind aber zu denen auf zwischenstaatlicher Ebene komplementär und die hier aufgezeigte Heterogenität zwischen den Staaten verdeutlicht, dass der Nationalstaat als Analyseeinheit keineswegs ausgedient hat. Auch pauschale Aussagen wie die behauptete Unvereinbarkeit von Globalisierungsprozessen mit den Grundsätzen politischer Demokratie (bspw. TEUSCH & KAHL 2001; Le Monde Diplomatique 2003; LI & REUVENY 2003), stehen im Widerspruch zu den hier erzielten Ergebnissen. Die stark positiven und signifikanten Zusammenhänge zwischen sämtlichen Globalisierungsindikatoren und dem Index bürgerlicher Freiheit legen das Gegenteil nahe (vgl. dazu auch WEIFFEN in diesem Band). Der Index bürgerlicher Freiheit ist wiederum extrem hoch mit dem ebenfalls von Freedom House erhobenen Index der politischen Freiheit korreliert. Letzterer oder auch beide in Kombination gehören trotz berechtigter Kritik an ihrer Erhebung zu den zuverlässigsten verfügbaren Indikatoren zur Messung des Demokratisierungsgrades und stehen zudem wiederum in einem engen Zusammenhang mit anderen Demokratieindizes (DIAMOND 1992; LAUTH, PICKEL & WELZEL 2000; PICKEL &
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PICKEL 2006). Gerade die stabilsten und ältesten Demokratien zeichnen sich durch die stärkste Partizipation an Globalisierungsprozessen aus. Für die am wenigsten demokratischen Staaten gilt sinngemäß das Gegenteil. Auf Dauer dürfte ein hohes grenzüberschreitendes Interaktionsniveau daher eher mit politischer Diktatur und Despotismus unvereinbar sein.29 Ebenso lässt sich die pauschale Behauptung zurückweisen, dass die Einbindung in Globalisierungsprozesse wachsende Armut verursacht (bspw. SCHOLZ 2003; Le Monde Diplomatique 2003). Betrachtet man wie hier das Globalisierungsniveau auf globaler Maßstabsebene mit Nationalstaaten als Untersuchungseinheiten, so sind die reichsten Staaten ja gerade die, deren Akteure am stärksten in Globalisierungsprozesse eingebunden sind. Die Akteure in den ärmsten Staaten hingegen sind von Prozessen grenzüberschreitender Interaktion nahezu vollständig abgeschottet. Es greift daher zu kurz von dem zeitgleichen, innerhalb der letzten Jahrzehnte beobachtbaren Auftreten einer sich öffnenden Schere zwischen dem Einkommen der reichsten und der ärmsten Länder und einer starken Zunahme von Globalisierungsprozessen auf eine kausale Verursachung der Armut in den ärmsten Ländern durch Globalisierungsprozesse zu schließen. Derartige Schlüsse gehen implizit von der Globalität der Globalisierungsprozesse aus und vernachlässigen die hier gezeigte räumliche Differenzierung der Globalisierung. Der auf der Analyseebene von Nationalstaaten bestehende signifikant positive Zusammenhang zwischen dem Wohlstands- oder Entwicklungsniveau auf der einen und dem Globalisierungsniveau auf der anderen Seite spricht vielmehr dafür, ANNANs (2003: 20) Aussage zuzustimmen: The main loosers in todays very unequal world are not those who are too much exposed to globalization, but rather those who have been left out.
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Zahlreiche Autoren definieren den Begriff Globalisierung nicht genau oder verzichten vollständig auf eine Definition. Es besteht daher die Möglichkeit, dass ihren Aussagen eine von der hier vorgenommenen Definition abweichende Vorstellung des Phänomens Globalisierung zugrunde liegt.
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Globalisierung als wirtschaftliches und gesellschaftliches Phänomen
Globalisierung wurde spätestens seit dem Untergang der real existierenden sozialistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa und der Transformation der dortigen Ökonomien in kapitalistisch-marktwirtschaftliche Systeme zu einem politischen Schlagwort, das sich zumindest scheinbar zur Polarisierung unterschiedlicher programmatischer Lager eignet. Während auf der einen Seite Globalisierung als instrumentelles Schlagwort zur Begründung der Notwendigkeit ökonomischer und sozialer Reformen genutzt wird, stellt Globalisierung für eine andere politische Interessengruppe ein zu bekämpfendes Trojanisches Pferd dar, mit dem die Ökonomisierung der Gesellschaft und die Verbreitung so genannten neoliberalen Denkens schleichend vom politischen Gegner mit dem Verweis auf Sachzwänge bewerkstelligt werden soll. Auf beiden Seiten erscheint der polarisierende Begriff hochgradig ideologisch aufgeladen und entzieht sich in der politischen Debatte damit oftmals der notwendigen Sachlichkeit. Globalisierung, ein bereits in den 1960er Jahren geprägter Begriff, stellt keinesfalls ein neuartiges Phänomen dar, sondern findet vielmehr seit dem Moment statt, in dem die erste menschliche Gesellschaftsgruppe die Unterscheidung zwischen den zur Gruppe Dazugehörenden und den Anderen einführte. Globalisierung stellt somit ganz grundsätzlich betrachtet nichts anderes vor als die Beschreibung des In-der-Welt-seins von Menschengruppen in Verbindung mit der Erkenntnis des Nicht-allein-in-der-Welt-seins und der damit verknüpften Erfahrungen von Kooperation und Konkurrenz. Eine nicht globalisierte Gesellschaft lässt sich historisch vielleicht mit Ausnahme der früheren Situation von Bevölkerungen kleiner Inseln ohne Anschluss zur Außenwelt kaum denken. Dass die Globalisierung eine unumstößliche Tatsache ist, hat die Bevölkerung Europas nicht zuerst während der Eroberungszüge der Hunnen leidvoll erfahren. Und während europäische Gesellschaften in der Kolonialzeit Globalisierung als positiven, persönlich vor allem materiell bereichernden Umstand empfunden haben mögen, haben die Gesellschaften der kolonialisierten Länder äußerst schmerzreiche Erfahrung mit dieser Globalisierung gemacht. Das Spannungsfeld zwischen Kooperation und Konkurrenz erstreckt sich auf alle denkbaren Felder der Interaktion von Gruppen, sei sie nun kulturell, politisch, wissenschaftlich oder durch materielle Interessen bedingt. Bei der isolierten Betrachtung von durch materielle Interessen motivierte Interaktionen zwischen Gruppen äußert sich der Dualismus von Kooperation und Konkurrenz vordergründig in zwei Formen, nämlich im Handel und in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Zwecke der Aneignung der materiellen Güter des jeweiligen Feindes. Beide Formen der materiell motivierten Interaktion müssen nicht zwingend getrennt voneinander gesehen werden. So kann die kriegerische
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Auseinandersetzung oder schon der Verweis auf das eigene militärische Potenzial von Seiten des Überlegenen als Instrument eingesetzt werden, dem Unterlegenen die Rahmenbedingungen des Handels zum eigenen Vorteil zu diktieren. Weiterhin führen die Einnahmen durch einen ausgedehnten Handel unter Umständen auch dazu, dass das eigene militärische Potenzial ausgebaut werden kann. Bei der aktuellen Debatte um die Auswirkungen der Globalisierung spielen solche Fragen zwar keine unwichtige, jedoch eine untergeordnete Rolle. Vielmehr tritt die Beschäftigung mit Transaktionen in den Vordergrund, die von autonom agierenden Volkswirtschaften getragen werden und sich an den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage orientieren. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren findet hierbei vornehmlich über den zentralen Regulationsmechanismus Preis statt. Dieser wurde schon von den Phöniziern benutzt, die seit ca. 1500 v. Chr. mit der gesamten ihnen damals bekannten Welt erfolgreich Handel trieben (SOMMER 2005), vornehmlich mit manufakturell hergestellten Keramik- und Glasprodukten. Diese hatten gegenüber den rund um das Mittelmeer hergestellten Konkurrenzprodukten neben dem Vorteil einer hohen Verarbeitungsqualität einen Preisvorteil, herrührend aus einer frühen Form der Massenfabrikation (SCHEFOLD 1994: 113ff.). Schon lange vor Christi Geburt mussten sich demnach Anbieter auf Märkten mit Konkurrenzsituationen konfrontieren, die Ergebnis von globalisierten Handelsströmen waren. Somit stellt sich die Globalisierungsdebatte aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften keinesfalls als Reaktion auf ein neuartiges Phänomen dar, sondern höchstens als Ausdruck eines zunehmenden weltweiten Warenverkehrs wie auch einer immer tiefer greifenden Integration von nationalen Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft und der Intensivierung von internationaler Arbeitsteilung.
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Die Theorie der komparativen Kostenvorteile
Ebenso wie die Arbeitsteilung und der Tausch auf nationalen Märkten Wohlfahrtsgewinne für die Marktteilnehmer verspricht, stellen auch die internationale Arbeitsteilung und eine Ausweitung des Welthandels Wohlfahrtsgewinne für die beteiligten Akteure in Aussicht. Eine frühe theoretische Begründung für diese Annahme stellt DAVID RICARDO (17721823) in seinem 1817 veröffentlichten Werk On the Principles of Political Economy and Taxation vor, in dem er die Theorie der komparativen Kostenvorteile (RICARDO 1821: 272ff.) entwickelt. Dieses Modell bildet einen der wichtigsten theoretischen Grundsteine der modernen Außenhandelstheorie, der auch fast zweihundert Jahre nach seiner Entwicklung im Zeitalter stark ansteigender internationaler Handelstätigkeit nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Am Beispiel eines abgeschlossenen Systems zweier Volkswirtschaften weist RICARDO nach, dass Spezialisierung und internationaler Handel auch bei demjenigen Partner zu einer Anhebung des Wohlstandsniveaus führen kann, der aufgrund höherer Kosten bei der Produktion sämtlicher betrachteter Güter absolute Nachteile besitzt (vgl. Tabelle 2). Analysiert man die beiden Volkswirtschaften zunächst isoliert, so muss England 100 Einheiten Arbeit aufbringen, um eine Mengeneinheit Tuch zu produzieren, und 120 Arbeitseinheiten, um eine Mengeneinheit Wein herzustellen. Bei Konstanz dieser Koeffizienten ergäbe sich in der Autarkiesituation ein Austauschverhältnis von sechs Mengeneinheiten Tuch zu fünf Mengeneinheiten Wein. Portugal hingegen muss für eine Mengeneinheit Tuch 90 Arbeitseinheiten aufwenden und für eine Mengeneinheit Wein lediglich 80 Ar-
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beitseinheiten. Hier ergäbe sich in der Autarkiesituation ein Austauschverhältnis zwischen Wein und Tuch von acht zu neun. Tabelle 2: Komparative Kostenvorteile und Wohlfahrtseffekte bei zwei Volkswirtschaften Arbeit / 1 ME Tuch
Arbeit / 1 ME Wein
Tauschverhältnis Tuch/Wein in Autarkie
Mögliches Tauschverhältnis bei Freihandel
England
1 0 0 = 1 / a 1E
1 2 0 = 1 / a 2E
6 / 5 = a 1E / a 2E
1
Portugal
9 0 = 1 / a 1P
8 0 = 1 / a 2P
8 / 9 = a 1P / a 2P
1
Quelle: KLUMP 2006: 217.
Obwohl Portugal in der Lage ist, beide betrachteten Güter relativ billiger zu produzieren als England, könnte es in RICARDOS Modell doch von einer internationalen Arbeitsteilung mit England profitieren. Dies geschieht, indem sich beide beteiligten Partner auf die jeweilige Produktion desjenigen Gutes spezialisieren, bei dem sie einen komparativen Kostenvorteil besitzen, welches sie also im Vergleich zu einem anderen Gut im Inland relativ billiger produzieren können. Spezialisiert sich England demnach auf die Produktion von Tuch und Portugal auf die Produktion von Wein, könnten beide Partner in der Folge einen Wohlstandsgewinn realisieren unter der Bedingung, dass sie sich auf ein (internationales) Tauschverhältnis von einer Einheit Tuch gegen eine Einheit Wein einigen würden. England würde dann Wein relativ billiger beziehen können als in der Ausgangssituation, während für Portugal Tuch relativ billiger würde. Entscheidend für das Zustandekommen eines allseits gewinnbringenden Handels sind demnach nicht die absoluten Produktionskosten, wie noch bei SMITH dargestellt (SMITH 1978: 48ff.), sondern unterschiedliche Arbeitsproduktivitätsparameter und damit verbundene unterschiedliche Opportunitätskosten der Güterproduktion.
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Grundannahmen und kritische Betrachtung des Modells
Um die Relevanz der Theorie der komparativen Kostenvorteile für die Erklärung der Entwicklung des weltweiten Handels einschätzen zu können, ist es wichtig, sich die Grundannahmen von RICARDOS Modell zu verdeutlichen, wie auch auf einige offensichtlich berechtigte Kritikpunkte an der Realitätstauglichkeit dieser Annahmen einzugehen. Zunächst geht RICARDO in seinem Modell von einer kleinen Anzahl beteiligter Ökonomien aus, die ohne die Aufwendung hoher Transaktionskosten durch Informationsbeschaffung oder institutionelle Regulation von Absprachen in der Lage sind, ihre jeweilige Produktionsstruktur aufeinander abzustimmen. Die Anzahl der Produzenten und Konsumenten in seinem Modell ist sehr überschaubar, was den beiden Ökonomien eine große Flexibilität verschafft. Diese Annahmen erscheinen in der ökonomischen Praxis natürlich nicht sonderlich realistisch, da eine sehr große Anzahl beteiligter Volkswirtschaften im internationalen Handel zu be-
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obachten ist mit einer unüberschaubaren Menge an (potenziellen) Produzenten und Konsumenten. Eine Absprache im Sinne RICARDOS über eine sich ergänzende Produktionsstruktur sieht sich zum einen mit sehr hohen Kosten von multilateralen institutionellen Regelungen konfrontiert, zum anderen mit hohen Kosten resultierend aus der notwendigen Informationsbeschaffung und dem zwangsläufig aufkommenden Problem von Fehlallokationen durch unvollständige Information. Ein bei zwei beteiligten Ökonomien durch bilaterale Absprachen noch leicht möglicher Absprachemodus erweist sich in der Übertragung auf realitätsnahe Modellbedingungen als hochkomplexer Abstimmungsmechanismus, der fast zwingend auch zu Fehlentwicklungen führen wird. Der Produktionsfaktor Kapital erscheint bei RICARDO als Konstante, auf die jeweilige Kapitalausstattung der beteiligten Ökonomien wird nicht eingegangen. Auch diese Annahme erscheint wenig realistisch, da Ökonomien gemäß der Kosten der einzelnen Produktionsfaktoren die Kapital- bzw. die Arbeitsintensität variieren werden, um somit eventuelle Kostennachteile auszugleichen (OHLIN 1933). Fände der Produktionsfaktor Kapital in RICARDOS Modell Berücksichtigung, dann wäre anstatt der Abstimmung der jeweiligen Produktionsstrukturen aufeinander auch das schlichte Abwandern des Kapitals in das Land mit den niedrigeren Produktionskosten denkbar. Ein Szenario, das sich in der Realität nicht selten beobachten lässt. Der Produktionsfaktor Arbeit ist bei RICARDO voll ausgeschöpft, es stehen offensichtlich keiner der beiden Ökonomien weitere Arbeitskräftepotenziale zur Verfügung, wohingegen in zahlreichen Volkswirtschaften das Phänomen zu beobachten ist, dass das vorhandene Arbeitskräftepotenzial nicht vollständig in den Arbeitsmarkt integriert wird und eine charakteristische nationale Quote von natürlicher Arbeitslosigkeit zu beobachten ist.1 Das Thema Arbeitslosigkeit war zu RICARDOS Zeiten jedoch kein allzu bedeutendes Problem, da im 19. Jahrhundert von einer weitgehenden Markträumung auf dem Arbeitsmarkt ausgegangen werden kann. Würde man das Phänomen der Arbeitslosigkeit in RICARDOS Modell berücksichtigen, könnten sich unter Umständen andere als die im Modell vorgestellten Produktionsstrukturen nach der Aufnahme von internationalem Handel ergeben. Nicht berücksichtigt werden in RICARDOS Modell die unterschiedlichen Formen von durch den internationalen Handel entstehenden Transaktionskosten, welche im Preis eines Gutes auf dem internationalen Markt Berücksichtigung finden müssen. Hierbei handelt es sich um Kosten, die nicht durch die Produktion eines Gutes entstehen, sondern bei der Durchführung und dem Abschluss von Markttransaktionen auftreten, also zum Beispiel Kosten der Informationsbeschaffung oder Liefer- und Kommunikationskosten (MANKIW & TAYLOR 2006: 197). Schätzungen zufolge belaufen sich in modernen Marktwirtschaften die Transaktionskosten auf bis zu 50 Prozent des Sozialproduktes, Transaktionskosten stellen demnach einen bedeutenden Faktor für den Preisbildungsmechanismus auf einem Markt dar.2 Diese Kosten sind annahmegemäß bei internationalen Handelstransaktionen höher als bei nationalen, da hier in der Regel zusätzliche Kosten für sprachliche Übersetzung, Infor1
Der Begriff natürliche Arbeitslosigkeit ist in der Arbeitsmarktökonomik etwas unglücklich gewählt, da es sich hierbei nicht um ein naturgegebenes Phänomen handelt, sondern vielmehr um diejenige Arbeitslosenquote, die bei einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt unter bestimmten Rahmenbedingungen (z. B. sozialstaatliche Absicherungs- und Umverteilungsmechanismen) existiert (vgl. FRANZ 2003: 373f.). 2 Bei dieser Berechnung werden neben den oben beschriebenen Markttransaktionskosten zusätzlich noch politische Transaktionskosten (entstehend durch die Einrichtung und die Funktion von staatlich-rechtlichen Institutionen) und Unternehmenstransaktionskosten (entstehend durch die Einrichtung und Funktion von privatwirtschaftlichen Institutionen) berücksichtigt (vgl. WALLIS & NORTH 1986: 195223).
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mationsbeschaffung, Transport, Kommunikation, gegebenenfalls Beratungen von politischen Institutionen über ein entsprechendes Handelsabkommen etc. anfallen. All diese Kostenfaktoren, die den nationalen Handel gegenüber internationalem Handel besser stellen, müssten in das von RICARDO angenommene internationale Gütertauschverhältnis einbezogen werden. Eine weitere Annahme in RICARDOS Modell ist die der konstanten Skalenerträge, d. h. dass die Produktionsmenge linear mit einem Anstieg der eingesetzten Produktionsfaktoren ansteigt. Hiervon kann allerdings nicht zwingend ausgegangen werden. Während aufgrund der Knappheit des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens im landwirtschaftlichen Produktionssektor in der Regel von sinkenden Skalenerträgen ausgegangen werden kann, lassen sich bei industriellen Produktionsmechanismen oftmals steigende Skalenerträge beobachten. Dies lässt sich durch den Einsatz größerer oder automatisierter Produktionsmittel, durch Synergieeffekte oder positive Effizienzeffekte der Arbeitsteilung begründen. Findet die Arbeitsteilung in RICARDOS Modell nun in der Art statt, dass sich der eine Handelspartner auf die Produktion eines landwirtschaftlichen Gutes und der andere Partner auf die Produktion eines Industriegutes spezialisiert, sähen sich beide Partner mit unterschiedlichen Skaleneffekten konfrontiert, die Einfluss auf das Tauschverhältnis beider Güter haben würden und eventuell die aus der internationalen Arbeitsteilung resultierenden Wohlstandsgewinne neutralisieren könnten. Ein weiterer Kritikpunkt setzt an RICARDOS Annahme an, dass alle Güter theoretisch auch von allen Marktteilnehmern hergestellt werden können, was einer realistischen Betrachtung kaum standhält. Auch eine weitere implizierte Annahme des Modells, dass es sich bei den von unterschiedlichen Produzenten hergestellten Gütern zusätzlich auch um homogene, also absolut gleichwertige Güter handelt, ist fraglich. Selbst wenn jeder Handelspartner jedes Gut theoretisch herstellen könnte, ist nicht zwingend von RICARDOS Annahme auszugehen. Während bei industriell hergestellten Gütern Qualitätsunterschiede theoretisch durch den Einsatz neuer Technologien aufhebbar scheinen, ist ein Qualitätsunterschied bei landwirtschaftlich hergestellten Gütern aufgrund beispielsweise unterschiedlicher klimatischer Einflüsse kaum aufzulösen. Dies zeigt sich am besten in dem von RICARDO selbst gewählten Beispiel: Selbst wenn sich England auf die Produktion von Wein spezialisieren würde, ist es fraglich, ob bei den derzeitig herrschenden klimatischen Verhältnissen dieser Wein qualitativ mit dem portugiesischen Wein zu vergleichen wäre. Dem Konsumenten stellte sich dann die Frage, ob ein billigerer in England produzierter Wein tatsächlich einen individuellen Wohlfahrtsgewinn darstellt. Weiterhin sind die Produktionskoeffizienten der Produzenten weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene immer gleich, was an unterschiedlichen Fertigkeiten, dem Bildungsstand oder kulturellen Aspekten liegen kann. Auch kann durch klimatische Gegebenheiten, die Beschaffenheit des Bodens oder spezialisiertes Wissen eine Monopolstellung für die Produktion eines Gutes auf dem internationalen Markt entstehen. Diese Monopolsituation stellt die Grundlage einer Marktmacht dar, mit deren Hilfe der Monopolist das Tauschverhältnis für das von ihm hergestellte Gut zu seinem Vorteil verändern kann. Je nach Bedürftigkeit des Handelspartners nach diesem Gut kann so ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen, in dem die Vorteile durch die internationale Arbeitsteilung sehr ungleich auf die Handelspartner verteilt sein können. Dies kann so weit gehen, dass anders als von RICARDO angenommen kein für beide Seiten vorteilhaftes Tauschverhältnis zustande kommt, sondern einer der beiden Partner aufgrund der Marktmacht einen Nachteil durch
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den Handel realisiert. Die Debatte um die Terms of Trade liefert ein anschauliches Beispiel dafür, dass eine solche Konstellation im internationalen Handel beobachtbar sein kann (KRÜPER 1973). Es ist RICARDO allerdings zugute zu halten, dass er in seinem Modell von einem wirklich funktionierenden Freihandel ausgeht, für den es keine Handelsbeschränkungen gibt und aufgrund der theoretischen Möglichkeit der Produzenten alle Güter zu produzieren eine vollständige Konkurrenz die Monopolbildungen verhindert. Dem steht in der Realität ein wirtschaftlicher Protektionismus gegenüber, mit dessen Hilfe nicht zuletzt die wirtschaftlich leistungsfähigeren Staaten versuchen, ihre heimischen Produzenten durch Zölle und Subventionen vor internationaler Konkurrenz zu schützen. Der Versuch, den Protektionismus durch die Einrichtung einer Institution zu begrenzen, welche internationale Handelsregeln setzt und die Durchsetzung dieser Regeln weltweit überwacht, ist zumindest bisher nur teilweise erfolgreich gewesen.3
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Die Relevanz von RICARDOS Theorie in der Außenhandelstheorie
Die oben beschriebenen Einwände gegen die von RICARDO getroffenen Grundannahmen stellen jedoch keinesfalls eine Falsifizierung der These von der Vorteilhaftigkeit der internationalen Arbeitsteilung für die Wohlfahrtsentwicklung dar. Vielmehr sind sie Indikator dafür, dass dem von RICARDO zugunsten der Anschaulichkeit vereinfacht dargestellten Modell noch einige Modifikationen hinzugefügt werden müssen, um alle für die Außenwirtschaft relevanten Effekte zu berücksichtigen. Die Verortung der Grenzen des Modells bedeutet nicht, dass die modellimmanenten Schlussfolgerungen deswegen negiert werden müssen. Vielmehr haben wir es bei der Theorie der komparativen Kostenvorteile mit einer der volkswirtschaftlichen Verallgemeinerungen zu tun, mit denen die Wirkungsweise wirtschaftlicher Teilsysteme dargestellt wird (STIGLER 1952). Als Beleg für die Gültigkeit des Modells kann der stark anwachsende Welthandel gepaart mit einer erheblichen Wohlfahrtssteigerung in vielen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen werden. Das Anwachsen des Welthandels ließe sich kaum erklären, wenn in der Regel nicht beide beteiligten Transaktionspartner davon einen Vorteil hätten. Auch das Aufkommen von neuen weltwirtschaftlichen Akteuren in den letzten sechzig Jahren mit zum Teil immensen Wohlfahrtssteigerungen lässt sich vor allem aus deren intensivierter Teilnahme am Weltmarkt erklären. Letztlich bleibt die These RICARDOS im Kern von der Ökonomie unbestritten und es ist davon auszugehen, dass Länder, die auf ihren komparativen Vorteil verzichten, (
) dafür einen hohen Preis in Form eines zu niedrigen Lebensstandards und eines suboptimalen Wirtschaftswachstums zahlen (SAMUELSON & NORDHAUS 1998: 787). Es bleibt wichtig anzumerken, dass es anders als in RICARDOS einfachem Modell im Rahmen der Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung nicht zwingend ausschließlich Gewinner gibt, sondern ebenso die Gefahr besteht, dass sich einzelne Volkswirtschaften als Verlierer eines stärkeren globalen Handels wiederfinden. Obwohl ein Anstieg der internationalen Arbeitsteilung die weltweite Wohlfahrt insgesamt anhebt, wird damit keine Aussage über die nachträgliche Verteilung dieses Wohlstands auf die Nationalökonomien getroffen, weswegen sich Ökonomien, die sich strategisch nicht vorteilhaft verhalten, auch schlechter stellen können (SAMUELSON 2005). 3 Die Erfolglosigkeit der jüngsten Welthandelsrunde, der so genannten Doha-Runde, kann als Indiz hierfür gesehen werden.
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Nicht weniger wichtig ist eine zweite Aussage des Modells, dass nämlich das jeweils in einer Volkswirtschaft herrschende Preisniveau der Arbeit nicht alleiniger ausschlaggebender Faktor dafür ist, ob eine Ökonomie Vorteile aus der internationalen Arbeitsteilung ziehen kann oder nicht. Es muss nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass sich der Preis der Arbeit auf einem homogenen internationalen Niveau einpendelt, wenn sich einzelne Ökonomien auf die Produktion derjenigen Güter spezialisieren, bei denen sie komparative Kostenvorteile realisieren können. Dies heißt im Gegenzug allerdings nicht, dass das relative Kostenniveau einer Volkswirtschaft bei dieser Spezialisierungsstrategie zu vernachlässigen wäre. Abbildung 19: Lohnstückkostenniveau (2004) Taiwan 2)
64 71
Südkorea 2) Kanada
73
Japan 2)
73
USA 2)
82
Durchschnitt 1)
83
Niederlande
83
Schweden
84 86
Belgien
88
Frankreich Italien
95
Norwegen
95
Deutschland
100
Vereinigtes Königreich
100
Dänemark
101 0
20
40
60
80
100
120
Verarbeitendes Gewerbe, Deutschland = 100 1) Mittelwert der betrachteten Länder ohne Deutschland, gewichtet mit deren Anteil am Weltexport im Zeitraum von 20022004 2) Auf Basis der Bruttowertschöpfung zu Marktpreisen Quelle: SCHRÖDER 2005.
Ein Blick auf die Ökonomien der Europäischen Union und anderer führender Industrienationen verdeutlicht diese Analyse. Um das Kostenniveau einzelner Nationalökonomien zu vergleichen, bietet sich ein Blick auf die in den jeweiligen Ländern herrschenden Lohn-
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stückkosten an. Um die Lohnstückkosten zu erhalten, wird das gesamte anfallende Lohnentgelt durch die im Rahmen der Arbeitszeit erbrachten Leistung geteilt. Somit spiegeln die Lohnstückkosten nicht ausschließlich das herrschende Lohnniveau einer Volkswirtschaft wider, sondern berücksichtigen ebenso unterschiedliche Produktivitätsniveaus in einzelnen Ländern, was zu einer objektiveren Vergleichbarkeit der durch die Produktion entstehenden Kosten führt. Vergleicht man die in Deutschland anfallenden Lohnstückkosten mit denjenigen anderer Industrieländer, wird deutlich, dass es sich bei der deutschen Volkswirtschaft um eine Ökonomie mit sehr hohem Preisniveau handelt (siehe Abbildung 19). Lediglich Dänemark realisiert ein noch höheres Preisniveau der Arbeit, während der Durchschnitt aller betrachteten Industrienationen außer Deutschland bei lediglich 83 % des deutschen Kostenniveaus liegt. Die Spannbreite der Preise an unterschiedlichen Produktionsstandorten verschärfte sich noch weiter, würden Standorte wie China, Indien oder Osteuropa in der Betrachtung berücksichtigt, an denen bedeutend niedrigere Lohnkostenniveaus realisiert werden als in den betrachteten Industrienationen. Zusätzlich ist zu bemerken, dass die Berechnung der Lohnstückkosten lediglich die Arbeitnehmer und nicht die Arbeitslosen berücksichtigt. Hierbei ist anzunehmen, dass die durchschnittliche Produktivität eines Arbeitnehmers in Ländern mit hoher Arbeitslosenquote höher liegt, da unterdurchschnittlich produktive Erwerbspersonen häufiger in die Arbeitslosigkeit abwandern. Eine Verringerung der Arbeitslosigkeit in diesen Ländern bei gleich bleibendem Lohnniveau würde demnach einen sukzessiven Anstieg der Lohnstückkosten mit sich bringen. Abbildung 20: Anteil am Weltexport nach Regionen (2005) Restliches Asien 14%
Nordamerika (ohne USA) 6%
Japan 6%
USA 9% Mittel- und Südamerika 3%
China 8% Naher und Mittlerer Osten 5%
Europa (ohne Deutschland) 33%
Afrika 3% GUS 3%
Deutschland 10%
Quelle: World Trade Organization 2006.
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Würde lediglich das Lohnkostenniveau ausschlaggebend für den Erfolg auf den internationalen Märkten sein, sähe sich Deutschland einer Konkurrenz ausgesetzt, gegen die es nur mit drastischen Lohnkürzungen bestehen könnte. Eine Betrachtung der weltweiten Handelsströme und der Verteilung der Welthandelsexporte auf die unterschiedlichen Regionen der Welt zeigt allerdings, dass die deutsche Volkswirtschaft in der aktuellen Situation trotz eines sehr hohen Preisniveaus im Konkurrenzkampf mit anderen Volkswirtschaften bestehen kann. Im Zeitraum zwischen 2003 und 2006 exportierte Deutschland absolut betrachtet mehr Güter (gemessen am Warenwert) als jedes andere Land der Welt. Dies ist umso bemerkenswerter, da Deutschland in direkter Konkurrenz um den Titel des Exportweltmeisters mit den USA und Japan steht, die beide deutlich mehr Einwohner als die Bundesrepublik haben und ein höheres Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften. Auch konnte Deutschland im Durchschnitt der Jahre von 2000 bis 2005 einen deutlich höheren Exportzuwachs realisieren (10 % per anno) als die USA (3 %) und Japan (4 %). Allerdings tut sich vor allem China (25 % Exportzuwachs per anno) als zukünftiger Konkurrent um den Titel des Exportweltmeisters hervor (World Trade Organization 2006: 11). Die Annahme, dass nicht ausschließlich das Lohnkostenniveau ausschlaggebend für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ist, zeigt auch der Blick auf andere führende Industrienationen, die in der Lage waren, ihren Anteil am Welthandel in den letzten Jahren trotz eines hohen Lohnkostenniveaus auszubauen. So verzeichnete das Vereinigte Königreich einen durchschnittlichen Exportzuwachs zwischen 2000 und 2005 von 6 %, die Schweiz sogar von 9 % (World Trade Organization 2006: 11). Die betrachteten Länder waren offensichtlich in der Lage, ihre komparativen Kostenvorteile gegenüber den anderen Marktteilnehmern überdurchschnittlich gut zu nutzen. Dass die Lohnkosten beispielsweise in Deutschland nicht in allen Marktsegmenten konkurrenzfähig sind, zeigt allerdings der Blick auf die Arbeitslosenzahlen, besonders bei den gering Qualifizierten. Hier belegt Deutschland im weltweiten Vergleich eine Spitzenposition, die darauf hinweist, dass die komparativen Kostenvorteile der deutschen Wirtschaft bei denjenigen Produkten liegen, deren Herstellung mit hoher Qualifikation der Arbeitnehmer in Kombination mit hoher Produktivität verbunden ist. Die Produktivität vieler gering qualifizierter Arbeitnehmer bei durch den Sozialhilfesatz faktisch gegebenem Mindestlohn scheint hingegen nicht ausreichend hoch zu sein, um mit den Produkten aus anderen Ländern, die mit weitaus niedrigeren Arbeitskosten hergestellt wurden, in Konkurrenz zu treten. Der Anstieg der Arbeitslosenquote gering Qualifizierter in Deutschland in den letzten Jahren weist zudem darauf hin, dass sich diese Konkurrenzsituation stetig verschärft. Der Vergleich mit der Arbeitslosenquote gering Qualifizierter in anderen europäischen Ländern (siehe Abbildung 21) zeigt, dass es sich bei diesem Problem nicht um ein zwangsläufig mit einem hohen Lohnniveau einhergehendes Phänomen handelt. Sowohl Dänemark (7,2 %) als auch das Vereinigte Königreich (6,9 %) weisen trotz vergleichbarer Lohnstückkosten eine weitaus bessere Marktsituation für gering qualifizierte Erwerbspersonen auf, während Deutschland bei der Arbeitslosenquote gering Qualifizierter im Vergleich zu den westeuropäischen Mitgliedstaaten der EU mit deutlichem Abstand eine Spitzenposition einnimmt. Die Gegenüberstellung der Zahlen aus den betrachteten Ländern lässt vermuten, dass es sich bei der hohen Arbeitslosenquote von gering Qualifizierten in Deutschland um eine aus strukturellen Gegebenheiten resultierende Entwicklung handelt.
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Abbildung 21: Arbeitslosenquote gering Qualifizierter1) (2005) in Prozent Niederlande
6,0
Irland
6,3
Vereinigtes Königreich
6,9
Dänemark
7,2
Österreich
8,8
Schweden
9,1
Frankreich
11,0
Finnland
11,1
EU-25
11,3
Belgien
12,1 16,1
Litauen
20,1
Deutschland
25,7
Tschechien
29,1
Polen
50,0
Slowakei 0
10
20
30
40
50
60
1)
25- bis 59-Jährige, bis einschließlich abgeschlossener Sekundarstufe 1 Quelle: Eurostat 2006.
Wenn der Blick auf die Anteile am Welthandel zunächst ein sehr positives Bild der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Produktionsstandortes erzeugt, zeigt der rasante Aufstieg neuer Marktkonkurrenten in den letzten Jahren, dass die aktuelle Position der deutschen Produzenten lediglich eine Momentaufnahme darstellt. Diese lässt keine Gewissheiten über die zukünftige Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft auf den globalen Märkten zu, da sich Marktanteile und damit verbundene Wohlfahrtseffekte schnell verschieben können. Zur Sicherung und gegebenenfalls. Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt ist eine ständige Überprüfung und Veränderung sowohl der Produktions- als auch der Kostenstrukturen notwendig, um eine optimale Nutzung der komparativen Kostenvorteile zu gewährleisten. Dies ist umso wichtiger, da in Deutschland ein vergleichsweise hoher Prozentsatz der Bevölkerung keinen Anteil an den aus diesen Kostenvorteilen entstehenden Wohlfahrtseffekten hat, abgesehen von den sozialen Umverteilungsmechanismen.
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Lars Pilz RICARDOS Modell und die deutsche Volkswirtschaft
Folgt man RICARDOS Theorie der komparativen Kostenvorteile, erscheint eine Integration der von der Arbeitslosigkeit betroffenen Bevölkerungsgruppen in den ersten Arbeitsmarkt auch dann möglich, wenn sich das Lohnkostenniveau für Arbeitnehmer in gering qualifizierten Produktionssektoren nicht auf das Niveau beispielsweise osteuropäischer Konkurrenten absenkt. Die Beispiele in Skandinavien oder auf den Britischen Inseln scheinen diese Annahme zu bestätigen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn als Reaktion auf den wachsenden Konkurrenzdruck aus Osteuropa oder Asien Veränderungen in der Produktionsstruktur wie auch Eingriffe in die Lohnstruktur vorgenommen werden. Dies bedeutet einerseits eine stärkere Konzentration auf Wirtschaftssektoren, in denen die deutsche Volkswirtschaft komparative Kostenvorteile besitzt, zum anderen systematische Veränderungen in der Finanzierung des Sozialstaats, dessen Kosten als eine der Hauptursachen für den vergleichsweise hohen Preis des Faktors Arbeit in Deutschland angesehen werden kann. Im Folgenden werden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, einige dieser möglichen strukturellen Veränderungen vorgestellt unter der Annahme, dass das in Deutschland herrschende Lohnniveau beibehalten werden soll. RICARDO folgend erscheint es grundlegend, dass sich die deutsche Ökonomie im Außenhandel auf diejenigen Gütergruppen spezialisiert, in denen sie komparative Kostenvorteile aufweisen kann. Diese Wirtschaftssektoren lassen sich an der deutschen Handelsbilanz aufgegliedert nach Güterabteilungen recht gut ablesen. Komparative Kostenvorteile scheinen in der Produktion derjenigen Güter zu liegen, bei denen die Differenz zwischen dem Wert der eingeführten Waren und dem der ausgeführten Waren besonders hoch ist, die einen relativ großen Anteil am Gesamtexport der deutschen Volkswirtschaft haben und bei denen hohe Zuwachsraten der ausgeführten Menge in den letzten Jahren erzielt werden konnten. Einen besonders hohen Anteil am deutschen Export im Jahr 2005 hatten Fahrzeuge und Fahrzeugteile (22,4 % des Gesamtexportwertes), Maschinen (14,1 %), chemische Erzeugnisse (13,1 %), Elektrotechnik (12,4 %), Metalle und Halbzeug daraus (5,2 %) und medizinische Geräte (4,2 %) (Deutsches Statistisches Bundesamt 2006). Dies sind auch mit Ausnahme der Elektrotechnik diejenigen Gütergruppen, in denen die größte Differenz zwischen der importierten und der exportierten Warenmenge zu beobachten ist (Deutsches Statistisches Bundesamt 2006). Betrachtet man in einem dritten Schritt die Zuwachsraten des Exports differenziert nach Gütergruppen, sind bei fast allen oben vorgestellten Gütergruppen überdurchschnittliche Exportzuwachsraten festzustellen. Während der Gesamtexport im Zeitraum von 2000 bis 2005 um 31,6 % zunahm, stieg der Export von medizinischen Geräten im gleichen Zeitraum um 45,2 %, von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen um 44,5 %, von Metallerzeugnissen und Halbzeug daraus um 38,1 % und von chemischen Erzeugnissen um 37,3 %. Die Gütergruppen Maschinen (30,7 %) und Elektrotechnik (21,7 %) konnten hingegen nur unterdurchschnittliche Zuwachsraten realisieren (Deutsches Statistisches Bundesamt 2006). Die angeführten Zahlen zeigen deutlich, dass die komparativen Kostenvorteile der deutschen Ökonomie vor allem im verarbeitenden Gewerbe und im Hochtechnologiesektor liegen, was auch dadurch verdeutlicht wird, dass 85 % aller exportierten Güter Fertigprodukte waren, während Rohstoffe, Nahrungs- und Genussmittel sowie Halbwaren lediglich 15 % des deutschen Exportwertes im Jahre 2005 ausmachten (Deutsches Statistisches Bundesamt 2006).
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Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen
Im Bereich des verarbeitenden Gewerbes und der Hochtechnologie sollten also diejenigen Industriesektoren liegen, in denen durch eine intensivierte Spezialisierung zusätzliche Erwerbspersonen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Wichtig ist es hierbei festzustellen, dass der Erfolg dieser Sektoren nicht ausschließlich darauf beruht, dass Produkte aus deutscher Produktion billiger wären als diejenigen der konkurrierenden ausländischen Produzenten. Vielmehr ist der Erfolg teilweise auch damit zu begründen, dass Käufer deutsche Produkte mit gewissen Qualitätsmerkmalen verbinden und dadurch bereit sind, höhere Preise auf dem Markt zu zahlen. Der Fahrzeugmarkt ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es sich bei Autos keinesfalls um homogene Güter handelt, sondern die Kaufentscheidung mit unterschiedlichsten rationalen und emotionalen Einschätzungen der Produkteigenschaften verbunden ist, die einen Einfluss auf die Bereitschaft des Käufers haben, gegebenenfalls einen höheren Preis zu zahlen. Gerade an einem kostenintensiven Produktionsstandort müssen solche Präferenzen und positiven Vorurteile berücksichtigt und bedient werden. Weiterhin erscheint eine stärkere Konzentration auf Innovationssektoren notwendig, da gerade bei der Herstellung von neuartigen Innovationsgütern das Preisniveau aufgrund fehlender Marktkonkurrenz eine nachrangige Rolle spielt. Jeder Erfinder ist zunächst einmal ein Monopolist, der auf dem Markt vergleichsweise hohe Preise mit seinem neuartigen Produkt erzielen kann. Dies gelingt zumindest so lange, bis die ersten Imitatoren ihre Konkurrenzprodukte auf den Markt bringen. Doch bis dahin könnte der Erfinder seinen Zeitvorsprung genutzt haben, um neue Innovationen oder Weiterentwicklungen umzusetzen (SCHUMPETER 2002: 405ff.). Sowohl die Unterhaltungselektronik (wenn auch nicht vornehmlich von Deutschland ausgehend) als auch die Umwelttechnologie weisen einen solchen von SCHUMPETER beschriebenen Entwicklungsprozess der schöpferischen Zerstörung auf. Zur Integration von Erwerbspersonen in den ersten Arbeitsmarkt ist es neben der Nutzung der komparativen Kostenvorteile auf dem internationalen Markt ebenso sinnvoll diejenigen Märkte auszubauen, in denen eine internationale Marktkonkurrenz nur eingeschränkt möglich bzw. bei denen der Markteintritt durch ausländische Anbieter mit vergleichsweise hohen Transaktionskosten verbunden ist. Eine Vielzahl von Dienstleistungen weist die Eigenschaften solcher eingeschränkt globalisierungsfähiger Märkte auf, sei es aus kulturellen oder räumlichen Gegebenheiten. Während Callcenter überall in der Welt entstehen und so mancher Kunde, ohne es zu wissen, durch die Wahl einer lokalen Servicenummer mit einem Callcenter in Indien verbunden wird, entstehen gleichzeitig höhere Transaktionskosten. Die Angestellten eines indischen Callcenters müssen viel Zeit und Geld aufwenden, um deutsch zu lernen, die Zugangsvoraussetzung, um solche Dienste auf dem deutschen Markt anbieten zu können. Durch Zeitverschiebung und Entfernung entstehen höhere Lohn- und Kommunikationskosten, die die aus den unterschiedlichen Lohnstrukturen entstehende Gewinnspanne vermindern. Vergleichsweise höhere Transaktionskosten fallen bei Dienstleistungen an, die vor Ort durchgeführt werden müssen. So ist beispielsweise der Pflegebereich ein Wirtschaftssektor, in dem ausländische Anbieter kaum in der Lage sein werden, mit konkurrenzfähigen Angeboten in den nationalen Markt einzutreten. Neben den Kosten für das Erlernen der Sprache und gegebenenfalls spezieller kultureller Techniken entstünden hierbei zusätzlich sehr hohe Fahrt- und Informationsbeschaf-
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fungskosten. Ein ausländischer Anbieter muss unter Umständen nicht nur eine große, mit hohem Zeitaufwand verbundene Entfernung zurücklegen, um seinen Klienten in Deutschland zu erreichen, er müsste zusätzlich noch sehr viel Zeit investieren, um beispielsweise das Abrechnungssystem der deutschen Krankenkassen zu verstehen und zu nutzen. Dieses Problem verschärft sich exponentiell, wenn der Anbieter seine Dienstleistung in zusätzlichen Ländern anbieten will. Hier besitzen nationale Anbieter einen entscheidenden Standortvorteil, dessen Ausnutzung gekoppelt mit einer Ausweitung des Marktes für Dienstleistungen die Schaffung neuer Beschäftigungsverhältnisse vermuten lässt. Für Deutschland wäre eine solche Entwicklung auch deswegen reizvoll, weil für die Bereitstellung einer Vielzahl von Dienstleistungen keine hoch spezialisierten Qualifikationen erforderlich sind. Vielmehr lassen sich auch ungelernte Erwerbspersonen in diesen Bereich leichter integrieren als in andere. Die vergleichsweise schwache Ausprägung des Dienstleistungssektors in Deutschland mag einer der Gründe dafür sein, warum die Arbeitslosigkeit generell wie auch diejenige bei den gering Qualifizierten in Deutschland höher liegt als in Industrienationen mit vergleichbaren Kostenstrukturen (HEINZE & STREECK 2003: 2535). Der Aufbau von neuen Beschäftigungsverhältnissen in Produktionssektoren mit komparativen Kostenvorteilen, die Spezialisierung auf Innovationsbereiche wie auch die Ausweitung des Dienstleistungssektors oder des Unternehmertums muss allerdings mit strukturellen Veränderungen in den Ausbildungs- und Sozialsystemen einhergehen, wenn die Arbeitslosigkeit wirklich nennenswert gesenkt werden soll. Es ist allgemein bekannt, dass Bildung die einzige Ressource ist, die die deutsche Volkswirtschaft besitzt. Umso sorgenvoller muss man die jüngsten Ergebnisse der Pisa-Studien zur Kenntnis nehmen. Wenn diejenigen Wirtschaftssektoren, in denen Deutschland komparative Vorteile besitzt, im hoch qualifizierten Produktionsbereich liegen, ist die deutsche Volkswirtschaft darauf angewiesen, dass die Bildungssysteme Erwerbspersonen hervorbringen, die die in diesem Bereich erforderlichen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt anbieten können. Hierzu ist ein hoch funktionsfähiges Bildungssystem notwendig, das möglichst alle Personen einer Gesellschaft zu einer optimalen Entwicklung ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit führt. Ein solches System wird zwangsläufig hohe Kosten mit sich bringen, die aber mittelfristig zu einem Anstieg der Wohlfahrt führen könnten, da die Gefahr der (für die Sozialsysteme sehr teuren) Arbeitslosigkeit mit einem Anstieg der Bildungsniveaus sukzessive abnimmt (Sachverständigenrat 2005: 135f.). Eine weitere entscheidende Maßnahme zu einer Verbesserung der Beschäftigungssituation ist die Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen, um einem größeren Teil der Bevölkerung den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Erwerbsquote in Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit 65,4 % (2005) lediglich im Mittelfeld.4 Die Schweiz erreicht hier einen Wert von 77,2 % (2005), Dänemark 75,9 % (2005) und das Vereinigte Königreich immerhin noch 71,7 % (2005) (Eurostat 2006). Die geringe Partizipation auf dem Arbeitsmarkt bedeutet nicht zuletzt eine suboptimale Nutzung von Produktions- und Innovationspotenzial in Deutschland, während andere Länder diese Ressourcen besser zu nutzen verstehen. Gerade die Förderung der Beteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ist von zentraler Rolle, da auch hier Deutschland gegenüber den europäischen Nachbarstaaten schlechtere Eckdaten aufzuweisen hat. Während die weibliche Erwerbsquote in Deutschland bei lediglich 59,6 % (2005) liegt, erreichen Länder wie das Vereinigte König4 Die Erwerbsquote ergibt sich aus dem Dividieren der Erwerbstätigen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren durch die Gesamtbevölkerung der gleichen Altersklasse (Eurostat 2006).
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Der Beitrag der komparativen Kostenvorteile zur Globalisierungsdebatte
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reich (65,9 %, 2005), die Schweiz (70,4 %, 2005), Schweden (70,4 %, 2005) oder Dänemark (71,9 %, 2005) weitaus höhere Werte (Eurostat 2006). Diese Zahlen sind nicht zuletzt deshalb sehr bedenklich für Deutschland, da vorhandene strukturelle Hindernisse für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt bedeutende Auswirkungen auf die demographische Entwicklung des Landes und damit auf die Kostenstrukturen der sozialen Sicherungssysteme haben. Neben der Integration eines möglichst großen Anteils der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt müsste es durch eine Flexibilisierung der Arbeitsformen auch gelingen, viele unterschiedliche Lebenssituationen in die Arbeitsstrukturen zu integrieren. Dass dies machbar ist, zeigen die Geburtenraten derjenigen Länder, in denen die Frauenerwerbsquote sehr hoch liegt. Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen bedeutet aber ebenso, dass sich das Renteneintrittsalter den geänderten Ausbildungszeiten und der angestiegenen Lebenserwartung anpasst. Das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter in Deutschland liegt bei 61,3 Jahren (2004), während der gleiche Wert in der Schweiz (62,5 Jahre, 2005), dem Vereinigten Königreich (62,6 Jahre, 2005) und Schweden (63,7 Jahre, 2005) weitaus höher liegt, und dies trotz einer höheren Erwerbsquote von Frauen am Arbeitsmarkt, die in der Regel früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden (Eurostat 2006). Noch drastischer wird der Unterschied zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern dadurch, dass aufgrund der relativ langen Ausbildungsdauer in Deutschland Erwerbspersonen im Durchschnitt mit höherem Alter in das Erwerbsleben eintreten, sich somit die Lebensarbeitszeit und die für die sozialen Sicherungssysteme beitragspflichtige Zeit zusätzlich verringert. Eine Anhebung des realen Renteneintrittsalters könnte hier zu einer spürbaren Entlastung der sozialen Sicherungssysteme und zu einer zusätzlichen Entlastung der Lohnkosten über eine Verringerung der Lohnnebenkosten führen. Zur Realisierung des Ziels der Absenkung der Produktionskosten unter der Nebenbedingung eines konstanten Lohnniveaus stellen die Lohnnebenkosten einen zentralen Ansatzpunkt dar. Eine Senkung der Lohnnebenkosten ist durch eine Vielzahl von Instrumenten möglich, die gemäß des politischen Willens der Legislative auf vielfältige Art und Weise kombiniert werden können. Eine solche Kostensenkung kann zum einen durch eine Verminderung der Arbeitslosigkeit und daraus resultierender niedrigerer Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geschehen wie auch durch die Verminderung der aus der Versicherung entstehenden Leistungsansprüche. Eine Möglichkeit, die Beiträge an das Rentenversicherungssystem abzusenken, ist weiter oben bereits beschrieben worden. Alternativ hierzu besteht natürlich ebenso die Möglichkeit der Absenkung von Leistungsansprüchen, oftmals in Verbindung mit der Schaffung von positiven oder negativen Anreizen zur Aufnahme einer zusätzlichen privaten Vorsorge. Da das deutsche Rentensystem über einen Umlagemechanismus finanziert wird, die nachkommende Generation also jeweils für die Versicherungsansprüche der Elterngeneration aufkommen muss, ist hier die Einführung einer stärkeren Familienkomponente überlegenswert, die Eltern mit Kindern im Versicherungssystem besser stellt (oder nicht weiterhin schlechter?) als kinderlose Beitragszahler (SINN 2003: 2036). Einen weiteren Vorschlag zur Absenkung der Lohnnebenkosten stellt die stärkere Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über Steuern dar. Die jüngste Anhebung der Mehrwertsteuer in Deutschland stellt eine solche Maßnahme vor, wenn die sich aus der Steueranhebung ergebenden zusätzlichen Einnahmen auch nicht vollständig der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zugute kommen. Die Finanzierung über die Mehrwertsteuer kann von daher eine sinnvolle Konstruktion sein, weil die Absenkung der Lohn-
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kosten und die gegebenenfalls damit verbundene Senkung der Preise von in Deutschland produzierten Produkten die zusätzliche Steuerbelastung teilweise ausgleichen könnte. Weiterhin werden die deutschen Sozialsysteme (und damit die verbesserte Konkurrenzfähigkeit heimischer Produkte auf den internationalen Märkten) verstärkt über höhere Steuereinnahmen durch den Verkauf von Importgütern finanziert und die aus unterschiedlichen sozialen Standards an verschiedenen Produktionsstandorten entstehenden Produktionskostendifferenzen abgemildert. Eine letzte hier vorgestellte Maßnahme zur Absenkung der Arbeitslosigkeit stellt die Einführung effektiver steuerlicher und wohlfahrtsstaatlicher Anreizmechanismen zur Aufnahme einer Beschäftigung dar. Selbst wenn die Produktivität einer Erwerbsperson nicht ausreichend sein sollte, um eine Anstellung zu einem Lohnsatz oberhalb des Sozialhilfesatzes unternehmerisch zu rechtfertigen, kann eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt mit Hilfe staatlicher Lohnzuschüsse sinnvoll sein. Bei allen Problemen, die der so genannte Kombilohn in der Praxis mit sich bringt, wurden in verschiedenen Ländern positive Erfahrungen mit einem solchen Modell gemacht (KALTENBORN & PILZ 2002). Die Einführung eines solchen Zuschussmodells kann auch deshalb sinnvoll sein, weil mittel- und langfristig die durch den staatlichen Lohnzuschuss entstehenden Kosten unterhalb der durch ein Verbleiben im Leistungskatalog sozialer Mindestsicherung entstehenden Kosten liegen dürfte und damit die sozialen Sicherungssysteme finanziell entlastet werden. Außerdem sollten positive soziale Effekte durch die Aufnahme einer sinnvollen Beschäftigung nicht vernachlässigt werden. Zusätzlich zum Instrument staatlicher Lohnzuschüsse gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, wie ein stärkerer Anreiz zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit geschaffen werden kann. Neben dem Vorschlag der Absenkung des Leistungsniveaus der Sozialhilfe oder des Arbeitslosengeldes II sind dies die Verpflichtung zur Annahme einer Arbeit unter bestimmten Rahmenbedingungen, die mit dem Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung gekoppelt wird, positive Anreize zur Aufnahme einer Arbeit in einer anderen Region oder zum Eintritt in die Selbstständigkeit. Auch verpflichtende Weiterbildungsmaßnahmen und die Förderung des Nachholens von Ausbildungsabschlüssen können Wege sein, die Arbeitslosigkeit merklich zu senken, um so die Belastung des Preisniveaus durch die Lohnnebenkosten zu verringern.
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Zusammenfassung
Trotz der in jüngster Zeit immer intensiver geführten Debatte über das Phänomen der Globalisierung handelt es sich hierbei keineswegs um einen erst in neuester Zeit aufgetretenen Prozess, wenn auch die mit der Intensivierung des internationalen Handelns einhergehenden Befürchtungen um die zukünftige Entwicklung der individuellen materiellen Wohlfahrt neueren Datums sind. DAVID RICARDO zeigte in seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile bereits Anfangs des 19. Jahrhunderts, dass die Aufnahme von internationalem Handel keinesfalls zwingend zu einer Angleichung des Lohnniveaus bei den Handelspartnern führen muss. Im Hinblick auf die Anteile am weltweiten Export zeigt sich, dass die deutsche Volkswirtschaft bisher die Ausweitung der internationalen Handelsströme trotz hohen Kostenniveaus nutzen konnte, was aber keinesfalls eine Prognose für zukünftige Entwicklungen zulässt. Will die deutsche Volkswirtschaft auch in Zukunft am weltweiten Wohlfahrtsanstieg in gewohnt hohem Maße teilhaben, wird die Wirtschaftspolitik Maß-
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nahmen ergreifen müssen, um das allgemeine Kostenniveau stabil zu halten oder zu senken. Hier erscheint nicht zuletzt der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit als zentrale Aufgabe. Ob es wirklich möglich sein wird, die Arbeitslosigkeit völlig zu eliminieren, erscheint mehr als fraglich. Dass eine bedeutende Verringerung der Quote möglich ist, zeigen erfolgreiche Beispiele in einigen Staaten der Europäischen Union. Für die Frage, ob das deutsche Lohnniveau abgesenkt werden muss oder ob der steigende Konkurrenzdruck auch durch die Absenkung der Lohnnebenkosten ohne relevante negative Einkommenseffekte für die Arbeitnehmer aufgefangen werden kann, scheint eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik in jedem Fall von zentraler Bedeutung zu sein.
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Die Ausbreitung der Demokratie eine Komponente der Globalisierung? Brigitte Weiffen
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Entwicklung der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung
Seit den 1980er Jahren, und verstärkt nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion, wurden in vielen Staaten auf der ganzen Welt autokratische Herrscher von demokratisch gewählten Regierungen abgelöst. Diese Entwicklungen spiegeln sich in international vergleichenden Demokratiemessungen wider, bei denen Experten anhand eines vorgegebenen Kriterienkatalogs die Staaten der Welt hinsichtlich ihres Demokratisierungsniveaus einschätzen. Wie Tabelle 3 zeigt, haben vor allem Osteuropa, Mittel- und Südamerika sowie das südliche Afrika zwischen 1972 und 2002 einen Zuwachs an Demokratie erlebt, aber auch in Asien hat die Zahl der repressiven Autokratien ab- und die Zahl der Staaten, die mit der Durchführung von freien Wahlen zumindest das Grundmerkmal einer Demokratie aufweisen, zugenommen. Parallel zu der bemerkenswerten Ausbreitung der Demokratie fand in den vergangenen Dekaden ein beschleunigter Prozess der Globalisierung statt, der sich in zunehmender grenzüberschreitender wirtschaftlicher, politischer und kultureller Interaktion äußert. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz ist anzunehmen, dass zwischen dem Phänomen der Globalisierung und dem weltweiten Trend zur Demokratie ein Zusammenhang besteht. Tatsächlich wird die Ausbreitung der Demokratie von vielen Beobachtern als globale Erscheinung aufgefasst (vgl. z. B. SCHOLTE 2005: Kapitel 11; BRUNEAU & TRINKUNAS 2006). Der weltweite Siegeszug der Demokratie hat in der Politikwissenschaft sowie in Teildisziplinen der Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Geographie zu einer intensiven theoretischen und empirischen Beschäftigung mit den Funktionsvoraussetzungen von Demokratie, dem Verlauf von Demokratisierungsprozessen und den Garanten demokratischer Stabilität geführt. Allerdings konzentriert sich die Mehrzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Bedingungen demokratischer Entwicklung auf innerstaatliche Einflussfaktoren wie das Wohlstandsniveau, den Bildungsgrad der Bevölkerung und die politische Kultur, während die Auswirkungen internationaler Verflechtung auf das politische System nur in wenigen neueren Studien Berücksichtigung finden. Ausgehend von einem kurzen Forschungsüberblick zu den innerstaatlichen Einflüssen (Kapitel 2) richtet der vorliegende Beitrag daher den Blick auf die Demokratieentwicklung vor dem Horizont der Globalisierung und präsentiert einige Annahmen, auf welche Weise die verschiedenen Dimensionen der Globalisierung zur Demokratieentwicklung beitragen. Zudem ist zu fragen, ob die weltweite Ausbreitung der Demokratie selbst eine Facette der Globalisierung darstellt.
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Die Ausbreitung der Demokratie eine Komponente der Globalisierung
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Tabelle 3: Mittleres Demokratieniveau nach Weltregionen
Westliche Industriestaaten
1972
2002
10,42
11,93
24
29
1,13
8,95
8
19
3,45
3,09
20
23
3,11
5,45
37
47
6,75
8,94
24
32
4,93
5,95
27
40
Mittelwert
5,27
7,19
Fallzahl
140
190
Mittelwert Fallzahl
Osteuropa
Mittelwert Fallzahl
Nordafrika und Naher Osten
Mittelwert Fallzahl
Südliches Afrika
Mittelwert Fallzahl
Mittel- und Südamerika
Mittelwert Fallzahl
Asien
Mittelwert Fallzahl
Insgesamt
Anm.: von 0 (= völlig unfrei) bis 12 (= frei) Quelle: Freedom House-Freiheitsindex (vgl. PUDDINGTON 2007).
2
Entstehungsbedingungen von Demokratie Innerstaatliche Einflüsse
Seit den Anfängen der Forschung zu den Entstehungsbedingungen von Demokratie konzentrierten sich die meisten Studien auf innerstaatliche Einflüsse. In den 1950er Jahren postulierte die Modernisierungstheorie, dass im Übergang von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft die damit verbundenen Wandlungsprozesse wie Alphabetisierung, Industrialisierung, Entwicklung der Marktwirtschaft sowie gesellschaftliche Pluralisierung und Demokratisierung Hand in Hand gehen und sich wechselseitig unterstützen. Zudem wurde von der Universalität des Prozesses ausgegangen, da sich kein Staat der Modernisierungsdynamik entziehen könne und am Ende die Konvergenz aller Staaten in ein- und demselben Ziel der modernen Gesellschaft stehe (HUNTINGTON 1971; BERGER 1996). Die Entstehung und Stabilisierung von Demokratien werden demnach umso wahrscheinlicher, je weiter fortgeschritten die sozioökonomische Entwicklung eines Landes ist. Diese These steht im Zentrum der bekannten Arbeiten von LERNER (1958) und LIPSET
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(1959). Ein hohes Wohlstandsniveau und damit verbundene Faktoren wie Urbanisierung, Verbesserung der Bildung und Verbreitung von Massenmedien gelten seither als Hauptimpulsgeber für demokratische Entwicklung. Neuere, in der Tradition der Modernisierungstheorie stehende Untersuchungen arbeiteten verschiedene Kausalmechanismen und Bindeglieder heraus, mittels derer ein höheres Entwicklungsniveau sich positiv für die Demokratie auswirkt. So propagiert die Theorie der Humanentwicklung, dass Industrialisierung und ökonomische Entwicklung lediglich ein erster Schritt auf dem Weg zur Demokratie sind. Entscheidend ist eine bei Vorhandensein eines hohen Entwicklungsniveaus einsetzende zweite Phase der Modernisierung, die von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft führt. Für diese Phase ist die Herausbildung von Selbstentfaltungswerten und emanzipatorischen Orientierungen in der Gesellschaft charakteristisch, welche unmittelbar ursächlich für Partizipationsbestrebungen der Bürger und schließlich die Gewährung von Freiheitsrechten sind (vgl. WELZEL 2002; INGLEHART & WELZEL 2005). Weitere Autoren ergänzten die Forschung zu Entstehungsbedingungen von Demokratie, indem sie feststellten, dass auch historisch-kulturelle Einflüsse wie die Kolonialgeschichte, religiöse Prägungen oder die ethnische Zusammensetzung die Chancen der Demokratieentwicklung in einem Land maßgeblich beeinflussen (LIPSET 1994; LIPSET, SEONG & TORRES 1993; LANE & ERSSON 2002). Neben diesen Fragen nach strukturellen Voraussetzungen der Demokratie, in denen sich die generelle Prädisposition eines Landes für die Chance auf demokratische Verfasstheit widerspiegelt, wurden seit den 1980er Jahren die Begleiterscheinungen und Auslöser konkreter demokratischer Übergänge untersucht. Die Entscheidung für oder gegen ein demokratisches politisches System wird dabei als Ergebnis einer situationsgebundenen, kontinuierlichen Neudefinition wahrgenommener Präferenzen, Strategien und Handlungsmöglichkeiten durch die relevanten Akteure verschiedene Gruppierungen in Regierung und Opposition und möglicherweise politische Parteien, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen etc. angesehen (ODONNELL & SCHMITTER 1986; PRZEWORSKI 1991). Auch hier standen jedoch nationale Akteure im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die internationalen Bestimmungsfaktoren von Demokratisierungsprozessen hingegen blieben lange Zeit unbeleuchtet. Dabei ist vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges augenfällig, dass Wahlen plötzlich auch in Ländern stattfinden, denen es aus modernisierungstheoretischer Sicht aufgrund ihres geringen Wohlstandsniveaus nie zugetraut worden wäre. Andererseits gibt es Länder mit hohem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, die dennoch resistent gegenüber Demokratisierungsversuchen zu sein scheinen. Es ist offensichtlich, dass für die Entwicklung dieser Länder Erklärungsfaktoren jenseits der innerstaatlichen sozioökonomischen Entwicklung und kulturellen Prägung maßgeblich sind. Die hier betrachteten Einflussfaktoren sind sowohl auf der Ebene der Strukturen (Kapitel 3.1 und 3.2) als auch auf der Ebene der Akteure (Kapitel 3.3) angesiedelt.
3
Entstehungsbedingungen von Demokratie im Zeitalter der Globalisierung
Globalisierung ist kein plötzlich einsetzender Schock, sondern ein Prozess, dessen Geschwindigkeit sich aber in den letzten Dekaden enorm gesteigert hat. Das Phänomen der Globalisierung umfasst mehrere Dimensionen, die allerdings miteinander zusammenhängen. Dabei stellt die Entwicklung besserer Transport- und Kommunikationsmittel, durch
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die die Distanzen in der Welt geschrumpft sind, die technologische Grundvoraussetzung für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierungsprozess dar. Bereits Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts führte technologischer Wandel hier sind vor allem die Einrichtung von Eisenbahnlinien, Dampfschifffahrt und transatlantischen Telegrafenleitungen zu nennen zu einer ersten Globalisierungsphase. Im 20. Jahrhundert kamen mit Containerschiffen und Flugzeugen sowie mit Radio, Fernsehen, Telekommunikation, Satelliten und schließlich dem Internet weitere Innovationen hinzu. Die politische Dimension der Globalisierung hat von diesen Neuerungen in starkem Maße profitiert, da bessere Kommunikationsmittel die grenzüberschreitende Verbreitung von Informationen und Nachrichten sowie die transnationale Vernetzung von Nichtregierungsorganisationen erleichtern (LEVITSKY & WAY 2005, 2006). Auf institutioneller Ebene ist eine Verlagerung von Entscheidungsprozessen auf die Ebene inter- und supranationaler Organisationen festzustellen. Die wirtschaftliche Dimension besteht in der zunehmenden Interdependenz der Volkswirtschaften und der wachsenden Bedeutung multinationaler Konzerne. Der zwischenstaatliche Handel wächst mit der mehrfachen Geschwindigkeit der Weltproduktion, die ausländischen Direktinvestitionen mit der mehrfachen Geschwindigkeit des Handels und die Devisentransaktionen mit der mehrfachen Geschwindigkeit der Direktinvestitionen (WEEDE 2000: 400). Allerdings sind die ökonomischen Phänomene der Internationalisierung von Produktion, Handel und Kapitalverkehr keine Selbstläufer, sondern durchaus Ergebnisse politischer Steuerung. Globalisierung fußt somit auch auf dem Abbau nationaler Beschränkungen und Regulierungen der Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalflüsse (BHAGWATI 2004: 11). Daneben hat die Globalisierung auch soziale, kulturelle und ökologische Dimensionen, die jedoch eher als Begleiterscheinungen oder Folgen der anderen dargestellten Entwicklungen anzusehen sind. Einflüsse auf die Demokratieentwicklung werden vor allem den technologischen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen der Globalisierung zugeschrieben. Zum einen erleichtern eine verbesserte Infrastruktur und die Neuerungen in der Kommunikationstechnologie die weltweite Diffusion von Ideen, wie Kapitel 3.1 zeigt. Hinsichtlich der ökonomischen Globalisierung gibt es hingegen widersprüchliche Erwartungen, wie sich die grenzüberschreitende wirtschaftliche Interaktion auf Demokratieentwicklung auswirkt. Diese werden in Kapitel 3.2 diskutiert. Kapitel 3.3 stellt hingegen dar, dass die politische Globalisierung Hand in Hand mit einer klaren Präferenz für die Verbreitung demokratischer Regierungsformen geht: Internationale Organisationen, aber auch Regierungen einzelner Staaten sowie Nichtregierungsorganisationen betreiben aus unterschiedlichen Gründen aktive Demokratieförderung.
3.1 Ist Demokratie ansteckend? Diffusion von Demokratie Nach ROGERS (1995: 10) ist Diffusion ein Prozess, durch den eine Innovation mittels bestimmter Kommunikationskanäle im Laufe der Zeit unter den Angehörigen eines sozialen Systems verbreitet wird. Betrachtet man die Demokratie als eine solche Innovation, so stellen die durch räumliche Nähe oder gemeinsame Mitgliedschaft in internationalen Institutionen vernetzten Staaten die Angehörigen des sozialen Systems dar. Neben regionalen oder organisationalen Netzwerken könnte man auch die Existenz eines einzigen globalen
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Systems annehmen. Als Kommunikationskanäle fungieren die Massenmedien und Kommunikationsmittel wie Telefon und Internet. Tatsächlich ist das weltweite Gewicht der Demokratien gewachsen: Laut den Analysen von STARR & LINDBORG (2003) hat der Anteil der Demokratien an allen Staaten im internationalen System zwischen 1974 und 1996 von 30,3 % auf 42,4 % zugenommen. Es gab diverse Versuche, diese Ausbreitung analytisch zu erfassen. Als prominenteste Beispiele sollen die Wellen-Metapher und die Domino-Metapher vorgestellt werden. In seinem 1991 erschienenen Buch The Third Wave konstatiert SAMUEL HUNTINGTON, dass die Ausbreitung der Demokratie nach einem Muster verlaufen sei, das sich anschaulich als Wellenbewegung darstellen lässt. Eine Demokratisierungswelle findet statt, wenn in einem gewissen Zeitraum die Anzahl von Transitionen von nicht demokratischen zu demokratischen Regimes signifikant größer ist als die Anzahl der Regimeübergänge in die entgegengesetzte Richtung (HUNTINGTON 1991: 15). HUNTINGTON diagnostizierte im Laufe der jüngeren Geschichte drei Demokratisierungswellen: Die erste, lange Welle, die ihre Wurzeln in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution hatte, zog sich von 1828 bis 1926 hin. Die zweite Welle begann bereits während des Zweiten Weltkriegs und erstreckte sich bis zum Beginn der 1960er Jahre. Die dritte Welle schließlich nahm ihren Ausgang 1974 mit dem Ende der Diktatur in Portugal, erfasste nach Südeuropa dann Lateinamerika und schließlich Osteuropa und dauerte aus HUNTINGTONS Sicht bis in die 1990er Jahre an. Auf die ersten beiden Wellen folgten jeweils Wellentäler, in denen die Anzahl der Demokratien wieder ab- und die der Autokratien zunahm. Die Idee von der Ausbreitung der Demokratie in Wellen wurde aufgrund ihrer Einprägsamkeit immer wieder zitiert (vgl. z. B. SHIN 1994; JAGGERS & GURR 1995; SCHMITTER 1995; DIAMOND 1996; KURZMAN 1998; DOORENSPLEET 2000), allerdings auch heftig kritisiert (ZIMMERLING 2003). Selbst bei den Wissenschaftlern, die die Wellenmetapher grundsätzlich überzeugend finden, sind sowohl die historische Situierung als auch die Anzahl der demokratischen Wellen umstritten. So plädieren einige Autoren dafür, die durch das Ende des Kommunismus ausgelöste Demokratie-Explosion um 1990 bereits als vierte Welle zu begreifen, zumal diese Transitionen andere Merkmale und Verläufe aufweisen als die Übergänge in Südeuropa und Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre (DOORENSPLEET 2000; MCFAUL 2002). Zu welchen Zeitpunkten die demokratischen Wellen und die Rückfall-Wellen genau stattfanden, hängt auch davon ab, wie man den Zuwachs an Demokratien misst: als weltweites durchschnittliches Demokratieniveau (JAGGERS & GURR 1995; KURZMAN 1998), als Anteil der Demokratien an der Gesamtzahl der unabhängigen Staaten der Welt (HUNTINGTON 1991: 26) oder als Übergewicht der demokratischen gegenüber den autokratischen Transitionen in einem bestimmten Zeitraum (KURZMAN 1998: 46ff.; DOORENSPLEET 2000: 399). Letztlich spiegelt die Wellenmetapher zwar die empirische Beobachtung wider, dass in bestimmten Zeiträumen auffällig viele Länder eine demokratische Regierungsform etablieren; jenseits dieser deskriptiven Aussage bietet sie jedoch wenig Aufschluss über die Ursachen oder den Verlauf von Demokratisierungsprozessen. Während die Wellenmetapher vor allem der zeitlichen Einordnung von Demokratisierungsprozessen dient, bezieht sich die Domino-Metapher auf deren räumliche Verteilung. Gleich einem fallenden Dominostein, der die angrenzenden Steine mitreißt, wirken sich auch Systemwechsel in einzelnen Staaten auf das Umfeld aus. Ursprünglich wurde die Dominotheorie im Kalten Krieg von US-Präsident Dwight D. Eisenhower mit Blick auf die Gefahr der Ausbreitung des Kommunismus formuliert und Anfang der 1990er Jahre von
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HARVEY STARR (1991) erstmalig auf die Demokratieverbreitung angewendet. Sie beschreibt Ansteckungseffekte auf globaler Ebene, in der gleichen Weltregion und vor allem zwischen Nachbarstaaten. Bereits ROBERT AXELROD (1984: 158) stellte fest, dass Staaten in stärkerem Maße mit ihren Nachbarstaaten interagieren als mit weiter entfernten Staaten. Dabei können die Nachbarn auch die Funktion eines Rollenmodels übernehmen. Wenn es dem Nachbarn gut geht, lädt dies dazu ein, das Verhalten des Nachbarn zu imitieren. Auf diese Weise verbreiten sich erfolgreiche Strategien in der Staatenwelt. Da räumliche Verbreitungsmuster von Innovationen Gegenstand der geographischen Forschung sind (vgl. z. B. ANSELIN 1999), ist es nicht weiter überraschend, dass eine der ersten umfassenden Studien zu Ansteckungsprozessen zwischen Nachbarstaaten und regionaler Clusterung demokratischer Übergänge in einer geographischen Fachzeitschrift erschien (OLOUGHLIN et al. 1998). In jüngster Zeit widmet sich aber auch die Politikwissenschaft in verstärktem Maße der räumlichen Verteilung von Demokratisierungsprozessen: GLEDITSCH (2002), STARR & LINDBORG (2003), CEDERMAN & GLEDITSCH (2004) sowie GLEDITSCH & WARD (2006) identifizieren regionale Cluster demokratischer Transitionen. Sie modellieren den Einfluss des Anteils demokratischer Nachbarstaaten sowie demokratischer Transitionsereignisse in Nachbarländern auf die Wahrscheinlichkeit einer demokratischen Transition und demonstrieren einen klaren Zusammenhang: Wenn in benachbarten Staaten demokratische Transitionen stattgefunden haben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Transition im jeweiligen Land. Auch BRINKS & COPPEDGE (2006) betrachten neben dem Einfluss von Supermächten und globalen Trends auf die Demokratieentwicklung vor allem das Einwirken der Nachbarstaaten und konstatieren, dass ein Mechanismus der Nachahmung der Nachbarn stattfindet. Die theoretische Erklärung dafür lautet, dass Länder von einer Ähnlichkeit ihres politischen Regimes mit dem des Nachbarn profitieren, da dies eine verlässlichere Kooperation ermöglicht (BRINKS & COPPEDGE 2006: 466). WEJNERT (2005) analysiert verschiedene Mechanismen der Diffusion räumliche Nähe, Mitgliedschaft in verschiedenen Arten von Netzwerken und Verbindung durch Kommunikationsmedien. Vor allem räumliche Nähe und Einbindung in Netzwerke erweisen sich durchgängig als Prädiktoren für einen Zuwachs an Demokratie. Auch wenn dies zunächst widersprüchlich scheinen mag, wirken im Kontext grenzüberschreitender Ansteckungs- oder Verbreitungseffekte also sowohl globale Vernetzung als auch räumliche Nähe förderlich auf Demokratisierungsprozesse.
3.2 Freier Handel, freie Bürger? Ökonomische Globalisierung und Demokratie Oft wird argumentiert, dass nicht außenwirtschaftliche Öffnung die Demokratie beeinflusst, sondern umgekehrt Demokratie zu mehr außenwirtschaftlicher Öffnung führt (MILNER & KUBOTA 2005). Diese Argumentation zielt jedoch weniger auf das Außenhandelsvolumen und die Anzahl von Kapitaltransfers als auf die Außenwirtschaftspolitik ab: Eine aktiv seitens der Politik betriebene Liberalisierung der Wirtschaftspolitik ist zu unterscheiden von der nicht zentral steuerbaren Zunahme der außenwirtschaftlichen Verflechtungen (vgl. MILNER 2002: 449). Für LINDSEY (2002) ist eine marktfreundliche politische Grundorientierung der Ausgangspunkt für konkrete Maßnahmen der Öffnungspolitik. Diese fördert dann ihrerseits die zunehmenden Waren- und Kapitalströme über nationalstaatliche Gren-
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zen hinweg. Umgekehrt genießt aber nicht jedes Land mit umfangreichem Außenhandelsvolumen und Kapitaltransfers automatisch auch große wirtschaftliche Freiheit. Wenn man den Zusammenhang zwischen politischer und ökonomischer Liberalisierung und dem Ausmaß von Waren- und Kapitalflüssen analysieren will, ist zudem zu bedenken, dass die Liberalisierung des Wirtschaftssystems und die Liberalisierung des politischen Systems nicht notwendiger Weise synchron verlaufen. So wurde beispielsweise China zwar massiv wirtschaftlich liberalisiert, eine politische Liberalisierung ist jedoch seitens der Machthaber nicht vorgesehen. Während zwischen wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung schwerlich ein Kausalzusammenhang behauptet werden kann, weil beiden Prozessen politische Entscheidungen zugrunde liegen, und während es nahe liegend ist, dass ökonomische Liberalisierung zur Ausweitung der Weltmarktintegration führt, ist bei der Beziehung zwischen Weltmarktintegration und Demokratie die Richtung der Kausalität umstritten. Auch graphische Darstellungen wie Abbildung 22 illustrieren zwar deutlich, dass eine zeitliche Koinzidenz zwischen den anwachsenden Welthandels- und Kapitalströmen und der Ausbreitung der Demokratie existiert, lassen aber keine Aussage über die Kausalität zu. Abbildung 22: Ökonomische Globalisierung und Demokratisierung (19722002) 12
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Außenhandel standardisiert (0−10)
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Ausländische Direktinvestitionen standardisiert (0−10)
Der Demokratieindex entspricht dem Freedom House-Freiheitsindex [0 = völlig unfrei, 12 = frei]; der Außenhandelsindex setzt das Außenhandelsvolumen in das Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt [(Exporte + Importe)/BIP]; der Index Ausländischer Direktinvestitionen gibt die Nettobeträge der Ausländischen Direktinvestitionen (Zuflüsse) im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt an [Nettobeträge der Ausländischen Direktinvestitionen/BIP]. Die Werte des Außenhandelsindex und des Index der Ausländischen Direktinvestitionen wurden so transformiert, dass sie zwischen 0 und 10 variieren.
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Die optimistische Position, der sich in seltener Einigkeit sowohl der gegenwärtige USPräsident George W. Bush als auch sein Vorgänger Bill Clinton zurechnen lassen, geht davon aus, dass ökonomischer Wettbewerb den politischen Wettstreit fördert. Die Außenöffnung einer Volkswirtschaft ermöglicht demnach nicht nur den freien Verkehr von Gütern und Kapital, sondern auch das Eindringen moderner Ideen und erschwert eine ideologische Abschottung nach außen. Aus Sicht der Modernisierungstheorie führen nicht allein innerstaatliches Wirtschaftswachstum, sondern auch Außenhandel und Kapitaltransfers zu Entwicklung in Gestalt von Industrialisierung, Urbanisierung, höherer Bildung und zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung. Diese Prozesse haben einen Wandel der Sozialstruktur, vor allem eine Vergrößerung von Mittel- und Arbeiterschicht, und wachsende soziale Gleichheit zur Folge. All diese Faktoren fördern wiederum Partizipationsbestrebungen der Bürger und letztlich die Entstehung eines demokratischen politischen Systems (HADENIUS 1992; SCHWARTZMAN 1998; PIES 2000; BHAGWATI 2004: 93ff.). Die Optimisten erachten auch die Rolle multinationaler Unternehmen als positiv: Diese Konzerne investieren, sorgen für Technologietransfer und erhöhen somit die Ausstattung der Zielländer mit Sach- und Humankapital. Zudem importieren sie moderne Werte und Praktiken wie Gleichberechtigung der Geschlechter und ethnischer Gruppen, Durchsetzung von Umweltund Sozialstandards und Ersetzung klientelistischer Praktiken durch das Leistungsprinzip (PIES 2000: 57f.; BHAGWATI 2004: 180f.; WOLF 2004: 239f.). Da Handel mit grenzüberschreitender menschlicher Interaktion einhergeht, hat die Öffnung nach außen auch zur Folge, dass internationale Kontakte und somit Wissenstransfer und die Verbreitung von Ideen gefördert werden (WEEDE 2005: 31). Durch die kommunikationstechnologische Komponente der Globalisierung werden der Zugang zu Wissensbeständen aus anderen Kulturen und die Diffusion demokratischer Ideen zusätzlich unterstützt. Bessere Kommunikationsmittel erleichtern die grenzüberschreitende Verbreitung von objektiven Informationen sowie die transnationale Vernetzung pro-demokratischer Nichtregierungsorganisationen beides Faktoren, die die partizipative Komponente der Demokratie fördern und internationale Reaktionen auf staatliche Repressionsmaßnahmen wahrscheinlicher machen (DIAMOND 1992; KECK & SIKKINK 1998; MUNCK 2002; LEVITSKY & WAY 2005, 2006). Der internationale Wettbewerb zwingt die Staaten außerdem zu guter Regierungsführung. Ausländische Investoren und Handelspartner sind an einem stabilen Umfeld interessiert und verlangen daher, dass die Regierung verantwortlich handelt, die Institutionen transparent sind, eigennützige Strategien wie Rent-Seeking und Korruption eingedämmt und die Eigentumsrechte geschützt werden (VANBERG 2000). Die Nachfrage der internationalen Akteure nach Frieden, Stabilität und demokratischen Verhältnissen kommt auch den Bürgern zugute: Sie profitieren von rechtsstaatlichen Garantien und den Vorkehrungen der Regierung gegen mögliche Bedrohungen dieser Rechte, beispielsweise in Gestalt von Hyperinflation oder Bürgerkriegen (PIES 2000: 56; WOLF 2004). Zusammengefasst gehen die Optimisten also davon aus, dass ökonomische Interaktion die bürgerlichen Rechte und politischen Freiheiten stärkt, welche konstitutiv für ein demokratisches System sind. Demgegenüber argumentieren die Pessimisten, dass eine zu liberale Weltwirtschaft Demokratisierungsprozesse in Entwicklungsländern behindert und zudem zur Destabilisierung und Delegitimierung schon bestehender Demokratien führen kann. Die Dependenztheorie interpretiert den Handel zwischen reichen und armen Staaten als neokoloniale Struktur. Dabei wird ein System des ungleichen Tausches etabliert, in dem multinationale Unternehmen die Funktion des Ausbeuters haben, die mehr Ressourcen aus den Ländern
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abziehen, als sie ihnen bringen. Ausländische Handelspartner und Investoren arbeiten vor allem mit den einheimischen, regimenahen Eliten zusammen, so dass die abhängige Entwicklung zwar die Eliten stärkt, aber die Möglichkeiten zur Interessenvertretung für die Massen schwächt (vgl. z. B. DOS SANTOS 1970; CARDOSO & FALETTO 1979). Nach dieser Sichtweise ist außenwirtschaftliche Öffnung kein Motor für sozialen Wandel, der letztlich zu Demokratiebestrebungen führt. Ganz im Gegenteil unterstützen die ausländischen Wirtschaftspartner sogar autokratische Regierungen, solange deren Handeln ihren Interessen nicht zuwider läuft. Wenn eine Autokratie ihnen wirtschaftsfreundliche Bedingungen wie die Sicherung der Eigentumsrechte garantieren kann, sind sie an weiter gehenden politischen Reformen, die möglicherweise zu Phasen der Instabilität führen, nicht interessiert (HALEY 2001). Gerade den multinationalen Konzernen wird vorgeworfen, dass sie unter Umgehung jeglicher demokratisch gewählter Institutionen auf die Entscheidungen der Regierung einwirken und somit starken Einfluss auf die Entwicklung eines Landes nehmen können (MARTIN & SCHUMANN 1997). Auch nach Ansicht moderaterer Globalisierungskritiker ist nicht von der Hand zu weisen, dass Globalisierung die politische Autonomie der Nationalstaaten reduziert. Vor allem die Öffnung für Kapitalströme macht Staaten sensibel für externe Schocks, die auch etablierte Demokratien gefährden können (QUINN 2002). Dass die internationalen Kapitalströme unberechenbar sind und eine zu hastige Öffnung ohne regulative Mechanismen die betroffenen Staaten einem massiven Risiko plötzlicher Kapitalflucht aussetzen kann, räumen sogar Globalisierungsbefürworter ein (BHAGWATI 2004: 202f.). Neben diesen Gefährdungen durch weltwirtschaftliche Krisen verringert sich vor allem bei der Gestaltung von Einnahmen und Ausgaben die staatliche Handlungsfähigkeit: Weil die Mobilität des Kapitals Fluchtmöglichkeiten eröffnet, ist der Spielraum des Staats in der Steuerpolitik begrenzt und etwa eine Stabilisierung des Haushalts durch höhere Besteuerung nur noch eingeschränkt möglich. Auch in der Sozialpolitik schwindet der Gestaltungsspielraum der Regierungen. Da staatliche Eingriffe in Gestalt von Sozialausgaben aus Sicht internationaler Investoren und Handelspartner die Wettbewerbsfähigkeit senken, reduzieren sich die Möglichkeiten zur Gewährung von Zuwendungen, obwohl gleichzeitig die Notwendigkeit wächst, die sozialen Effekte der Globalisierung auf diese Weise auszubalancieren (BHAGWATI 2004: 98102; RODRIK 2000). Zusammengefasst setzt die pessimistische Sichtweise mit Blick auf die Entwicklungsländer wirtschaftliche Außenöffnung mit extremer Abhängigkeit von ihren höher entwickelten Handelspartnern oder von multinationalen Konzernen gleich. Dass auf diese Weise die Politik im Sinne der Kapitaleigner gesteuert wird, wird zunehmend auch als Beleg für die Gefährdung bereits bestehender Demokratien durch die Globalisierung ins Feld geführt. Die kritisch-optimistische Sichtweise dagegen richtet einen differenzierten Blick auf die weltweite ökonomische Integration und Interaktion und geht davon aus, dass diese Prozesse nur unter bestimmten Bedingungen eine positive Wirkung entfalten. Grundsätzlich erachten sie die weltweite wirtschaftliche Interaktion zwar als positiv, sind jedoch sensibel für die Gefahren, die die Außenöffnung mit sich bringen kann. Wird etwa durch den bloßen Abbau von Zollschranken und die Zulassung ungehinderter Kapitalflüsse die internationale wirtschaftliche Integration vorangetrieben, ohne dies durch innenpolitische Maßnahmen zu flankieren, dann steht das Land externen Einflüssen ungeschützt gegenüber (RODRIK 2000). Daher betonen die Vertreter einer modifizierten liberalen Sicht die Notwendigkeit eines ausgleichenden Eingreifens, vornehmlich durch Abfederung negativer Auswirkungen mit Hilfe sozialer Sicherungssysteme. In diesem Sinne führt RODRIK (1999) an, dass Handel
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vor allem dann entwicklungsförderlich ist, wenn parallel zur Außenöffnung inländische Investitionen gefördert und handlungsfähige politische und soziale Institutionen geschaffen werden, die in der Lage sind, Konflikte zu entschärfen. Für die entwickelten Länder weist RODRIK (2000) darauf hin, dass vor allem kleine offene Volkswirtschaften einen sozialen Wohlfahrtsstaat als Absicherung gegen externe Risiken errichtet haben und damit durchaus erfolgreich sind. RUDRA (2005) zeigt, dass auch in Entwicklungsländern die Wirkung der ökonomischen Globalisierung auf Demokratie vom Ausmaß der ausgleichenden Umverteilungspolitik abhängt. Durch Umverteilung werden revolutionäre Impulse bei den benachteiligten Massen eingedämmt und die Eliten zeigen daher eher die Bereitschaft, die im Zuge des Modernisierungsprozesses entstehenden Demokratiebestrebungen zu unterstützen (RUDRA 2005: 708). Neben der Notwendigkeit moderierender Maßnahmen, die die negativen Begleiterscheinungen der ökonomischen Globalisierung abmildern, weisen andere Vertreter des kritisch-optimistischen Ansatzes darauf hin, dass man die hoch aggregierten Größen Außenhandel und Kapitaltransfers nicht insgesamt betrachten darf, sondern dass nach bestimmten Ausformungen unterschieden werden muss. Bisherige Forschungsergebnisse liefern erste Evidenz dafür, dass eine Ausdifferenzierung nach unterschiedlichen Typen des Handels bzw. des ausländischen Kapitals genaueren Aufschluss über die kausale Verknüpfung von ökonomischer Globalisierung und Demokratieentwicklung liefert. Mit Blick auf unterschiedliche Typen des Außenhandels zeigt WEIFFEN (2006), dass die Ausfuhr von Primärprodukten (mineralische Rohstoffe oder Agrarprodukte) sich eher negativ auf Demokratie auszuwirken scheint, wohingegen eine Weltmarktintegration durch den Export von Fertigprodukten demokratieförderliche Effekte zeitigt. Zu den Auswirkungen verschiedener Arten von Kapitaltransfers stellen der theoretische Artikel von ARMIJO (1999) und die darauf aufbauende empirische Studie von BAYULGEN & LADEWIG (2005) die bislang detailliertesten Analysen dar. Entscheidend dafür, ob Kapitalflüsse die Demokratieentwicklung fördern oder behindern, ist die gegenwärtige politische Situation in einem Land, also die Frage, ob Autokraten oder bereits Demokraten an der Macht sind (ARMIJO 1999: 34). Zudem können die Kapitalflüsse nach der Art des ausländischen Investors (öffentlich oder privat), der Art des innerstaatlichen Empfängers (öffentlicher oder privater Sektor) und nach der Volatilität der finanziellen Mittel (niedrig, mittel, hoch) unterschieden werden. Beim Vergleich hinsichtlich dieser Merkmale finden BAYULGEN & LADEWIG (2005) heraus, dass Kapitalflüsse von privaten Quellen an private Empfänger mit mittlerer bis hoher Volatilität am effektivsten für die Demokratieentwicklung zu sein scheinen, allerdings nicht in bereits demokratischen Regimes. Zusammengefasst geht die kritisch-optimistische Sichtweise also davon aus, dass positive Effekte ökonomischer Globalisierung auf Demokratie nur unter bestimmten Bedingungen bzw. nur von bestimmten Typen wirtschaftlicher Interaktion zu erwarten sind. Neben der inhaltlichen Debatte über die Kausalmechanismen zwischen ökonomischer Globalisierung und Demokratie und dem Hinweis auf die bislang widersprüchlichen Forschungsergebnisse, die je nach verwendeter Datenanalysemethode mal die eine, mal die andere Sichtweise unterstützen (vgl. WEIFFEN 2006: 75f.), hat jüngst KESSLER (2007) die übliche empirische Erfassung von Globalisierungsprozessen infrage gestellt. Seiner Meinung nach handelt es sich bei den in den meisten quantitativen Studien verwendeten ökonomischen Daten wie der Summe aus Exporten und Importen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt oder den Auslandsdirektinvestitionen, ebenfalls in Relation zum BIP um
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Integrationsindikatoren, welche lediglich die grenzüberschreitende wirtschaftliche Interaktion mit der Binneninteraktion gewichten, den Globalisierungsgrad eines Landes jedoch nicht adäquat widerspiegeln (KESSLER 2007: 10ff.). In Anbetracht dieser gegenwärtig geführten Diskussionen kann die Frage nach dem Einfluss ökonomischer Globalisierung auf Demokratisierungsprozesse bislang nicht eindeutig beantwortet werden.
3.3 Installation von Demokratie? Mechanismen und Agenten der Demokratieförderung Während die bisher dargestellten internationalen Einflüsse in Gestalt von Umfeldbedingungen oder Veränderungen im internationalen System indirekt auf die Demokratieentwicklung einwirken, richtet sich der Focus nun auf direkte Eingriffe wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Akteure mit dem Ziel der Veränderung des politischen Systems. Bevor verschiedene Akteure und Mechanismen der Demokratieförderung vorgestellt werden, soll die Frage aufgeworfen werden, warum Demokratie überhaupt förderungswürdig ist. Unter den Außenpolitikern der westlichen Staaten herrscht eine instrumentelle Sicht auf Demokratisierung vor, nach der sie nicht als Wert an sich, sondern als Mittel zum Zweck verstanden wird (NEWMAN 2004: 190; FOX 2004). Da es in der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen als weitgehend gesicherter Befund gilt, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, betreiben vor allem die Vereinigten Staaten die Verbreitung der Demokratie als sicherheitspolitische Strategie. Zudem gelten Demokratien als wirtschaftlich erfolgreicher, wodurch Demokratisierung auch als Komponente in einem umfangreicheren Entwicklungsprogramm brauchbar wird. Die Frage, ob Demokratien für das Wirtschaftswachstum förderlicher sind als Autokratien, war lange Zeit umstritten. Viele Studien stellen keine signifikanten Unterschiede fest und können somit demokratisch regierten Staaten keine bessere wirtschaftliche Bilanz bescheinigen als Autokratien (für einen Forschungsüberblick vgl. z. B. OBINGER 2001). WEEDE (1996) hingegen zeigt, dass sich die wirtschaftliche Performanz von Demokratien und Autokratien nur bei oberflächlicher Betrachtung von Durchschnittswerten ähnelt. Während Demokratien hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Erfolge relativ konstant im Mittelfeld liegen, besteht unter den Autokratien eine große Variation von sehr schlechter bis zu sehr guter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (WEEDE 1996: 168). Der Demokratie werden zumindest indirekte positive Effekte auf die Wirtschaftsentwicklung zugeschrieben. FENG (2003) zum Beispiel argumentiert, dass Demokratien ein höheres Bildungsniveau und eine egalitärere Einkommensverteilung aufweisen und dass sie eine bessere Gewähr für Preisstabilität und die Sicherung von Eigentumsrechten bieten und somit mehr Investitionen anziehen. Neuere Ergebnisse legen sogar nahe, dass Demokratien hinsichtlich bestimmter wirtschaftlicher Indikatoren deutlich leistungsfähiger sind als Nichtdemokratien (FAUST 2006 a, b). Jenseits der in ökonomischen Daten oder höherer Friedfertigkeit messbaren positiven Errungenschaften darf man jedoch den intrinsischen Wert von Demokratie nicht vergessen. So betonte der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, der neben seinem großen Projekt der Agenda für den Frieden 1996 auch eine Agenda für Demokratisierung entwarf, dass Demokratie um ihrer selbst willen gefördert werden sollte (BOUTROS-GHALI 1995, 1996). Im Einklang mit der empirischen Zuwachsrate an demokra-
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tischen Regimes wird Demokratie zunehmend als internationale Norm verstanden: Internationale Organisationen bekennen sich zur demokratischen Herrschaftsform und legen die demokratische Verfasstheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft fest, und einige Organisationen sehen sogar zusätzlich Durchsetzungsmechanismen im Falle von Verstößen gegen die Demokratieklausel vor. Ebenso wie Regierungen und diverse Nichtregierungsorganisationen betreiben sie zudem mit Hilfe verschiedener Instrumente aktive Demokratieförderung. Demokratieförderung kann in unterschiedlichen Phasen des Demokratisierungsprozesses erfolgen und sich dementsprechend an unterschiedliche Adressaten richten. Geschieht sie noch vor der demokratischen Transition, so handelt es sich meist um Unterstützung für die demokratische Opposition, in der Transitions- und Konsolidierungsphase richtet sich die Unterstützung dann oftmals an die neue Regierung. Die verschiedenen Demokratieförderungsmechanismen sind zudem durch die unterschiedliche Intensität des ausgeübten Drucks gekennzeichnet: Sie reichen von Instrumenten sozialer Einflussnahme über Konditionierung bis hin zur zwangsweisen Demokratisierung durch militärische Intervention. Im Bereich der sozialen Einflussnahme wird auf einen demokratischen Sozialisationsprozess mittels Überzeugung der politischen Eliten und der Bevölkerung, Unterstützung demokratischer Bestrebungen, Dialog und Wissenstransfer abgezielt. Konditionalität hingegen bedeutet, dass weitere ökonomische Unterstützung oder politische Kooperation von der Etablierung demokratischer Standards abhängig gemacht werden. Sozialisationsprozesse und Konditionalität sollten sich im Idealfall ergänzen oder gegenseitig verstärken (RICHTER 2005: 87). In den 1980er Jahren legten internationale Institutionen, vor allem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, besonderen Wert auf wirtschaftliche Reformen und forderten wirtschaftliche Strukturanpassung. Die dabei angepeilten Ziele wie Privatisierung, Deregulierung und die Verringerung der Staatsausgaben wurden 1990 explizit formuliert und sind als Washington Consensus bekannt geworden (WILLIAMSON 1990). Angesichts der durchwachsenen Bilanz der Strukturanpassungs- und Stabilisierungsprogramme vollzog sich jedoch in den 1990er Jahren eine Neubetrachtung der Entwicklungsvoraussetzungen. Während man in den 1980er Jahren kaum bedacht hatte, wie sich die Wirtschaftsreformen auf das politische System auswirken würden, lag nun starkes Gewicht auf der Förderung guter, transparenter Regierungsführung (good governance) und mithin demokratischer politischer Strukturen. Bei diesem Paradigmenwechsel spielte der Niedergang des real existierenden Sozialismus eine Schlüsselrolle: Mit ihm verschwand zum einen die Systemalternative zu Kapitalismus und Demokratie, und zum anderen entfiel der Faktor der bipolaren weltpolitischen Machtstruktur, welcher zu pragmatischen Bündnissen westlicher Demokratien mit Autokratien im Kampf gegen den Kommunismus Anlass gegeben hatte (SPANGER 2004: 130). Welche Instrumente sozialer Einflussnahme zum Einsatz kommen und welche Anreize und Sanktionen gesetzt werden, hängt von dem jeweiligen Akteur ab, der Demokratieförderung betreibt. Drei Typen von Agenten der Demokratieförderung sind zu unterscheiden: internationale Organisationen, einzelne Staaten sowie Nichtregierungsorganisationen (zu verschiedenen Instrumenten und Agenten der Demokratieförderung vgl. z. B. CAROTHERS 1999; BURNELL 2000; SCHRAEDER 2002). Internationale Organisationen können sowohl bei der demokratischen Transition als auch bei der Konsolidierung der Demokratie Hilfestellung leisten (PEVEHOUSE 2005). Zum
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einen geschieht dies durch demokratische Konditionierung seitens der Organisationen, wenn etwa die Mitgliedschaft an bestimmte Mindestvoraussetzungen in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geknüpft wird. Zum anderen bestehen für junge Demokratien Anreize zur demokratischen Selbstverpflichtung durch Mitgliedschaft in einer demokratischen internationalen Organisation (MANSFIELD & PEVEHOUSE 2006). Die Akzeptanz demokratischer Normen seitens der Mitgliedstaaten sendet ein klares Signal nach außen, dass es die Regierenden mit der Demokratisierung ernst meinen. Denn damit unterwerfen sie sich der Kontrolle durch Dritte (Monitoring) und setzen sich der Gefahr aus, bei Zuwiderhandlung mit Sanktionen rechnen zu müssen. Die Unterstützung durch internationale Organisationen und die internationale Selbstverpflichtung erleichtern zudem den demokratiefreundlichen Kräften die Selbstbehauptung gegen demokratiefeindliche Akteure. Um demokratische Konsolidierungsprozesse zu stützen, sollte eine internationale Organisation allerdings laut PEVEHOUSE (2002: 615) drei Bedingungen erfüllen: Erstens muss der politische Wille zur Setzung einer Demokratienorm und demokratischer Konditionierung bestehen, zweitens muss zusätzlich der politische Wille zur Normdurchsetzung vorhanden sein und drittens reicht auch dies nicht aus, wenn die Organisation nicht zusätzlich über die Mittel zur Normdurchsetzung verfügt. Unter den demokratiefördernden internationalen Organisationen haben die Vereinten Nationen (UN) sicherlich den prominentesten Platz inne, da sie auf der ganzen Welt mit Friedensmissionen und Maßnahmen der Wahlhilfe und -beobachtung präsent sind. Zwar wurde in der UN schon seit langer Zeit der Schutz der Menschenrechte propagiert, jedoch enthielt keiner der Menschenrechtsverträge das Wort Demokratie, da während des Kalten Krieges keinerlei Konsens auch nur über ein Minimum an demokratischen Institutionen erreichbar war (FOX 2004: 70f.). Erst das Ende des ideologischen Gegensatzes zwischen Ost und West ermöglichte ein offenes Eintreten der UN für Demokratie. Die Organisation bedient sich dabei verschiedener Instrumente: Zum einen fördert sie junge Demokratien, z. B. durch Unterstützung von Parlamenten (PONZIO 2004) oder verschiedene Formen von Wahlhilfe. Dafür wurde 1991 eine separate Organisationseinheit, die Electoral Assistance Division, geschaffen (LUDWIG 2004). Allein im Jahr 2005 leisteten die Vereinten Nationen logistische und strategische Unterstützung bei über 20 Wahlprozessen, unter anderem in Afghanistan, Palästina und Burundi. Weitere Formen von Demokratieförderung geschehen in Zusammenarbeit mit anderen UN-Organisationen wie dem Büro des Hochkommissars für Menschenrechte, der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (Department for Economic and Social Affairs), der UNESCO, den UN-Freiwilligen und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Das UN-Entwicklungsprogramm betätigt sich als Politikberater und stellt technische und logistische Unterstützung bereit, wobei es schwerpunktmäßig auf die Schaffung der Voraussetzungen für demokratisches Regieren abzielt. Es unterhält in seinem Büro für Entwicklungspolitik eine eigene Democratic Governance Group, die vor allem für Wahlhilfe zuständig ist. Des Weiteren unterstützt das UN-Entwicklungsprogramm die gesetzgebenden Kammern z. B. durch Schulungen für Abgeordnete und ihre Mitarbeiter, Modernisierung der institutionellen Prozesse und Betreuung bei der Durchführung von Reformmaßnahmen und Verfassungsänderungen (PONZIO 2004). Generell ist aber bei Demokratiehilfe-Maßnahmen der UN Demokratisierung meist in Verbindung mit anderen Zielen wie der dauerhaften Beilegung von Konflikten und der Durchsetzung von Menschenrechten zu sehen: Demokratisierung ist nicht das
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zentrale Ziel, sondern nur eine Komponente in umfangreicheren Programmen zur Friedensschaffung und -bewahrung (vgl. WHITE 2000; FOX 2004). Nichtsdestotrotz gibt es auch in den Vereinten Nationen zunehmend Bestrebungen, Demokratie als Wert an sich und nicht nur als Mittel zur Erreichung anderer Zielsetzungen zu fördern. Der erste Schritt in dieser Richtung war die bereits erwähnte Agenda für Demokratisierung des UN-Generalsekretärs BOUTROS-GHALI von 1996. Weitere Absichtserklärungen folgten: So bekannte sich die Generalversammlung in einer 2003 verabschiedeten Resolution zur ihrer Verpflichtung, Demokratie zu fördern und die Konsolidierung neuer und wiedererrichteter Demokratien zu unterstützen. Eine UN-Institution, die sich ausschließlich mit Demokratieförderung befassen soll, wurde jedoch erst knapp zehn Jahre nach der Agenda für Demokratisierung geschaffen: Am 4. Juli 2005 verkündete der UN-Generalsekretär Kofi Annan die Einrichtung eines UNDemokratiefonds (UN Democracy Fund). Die Idee dafür war erstmalig von Präsident George W. Bush in einer Rede vor der Generalversammlung im Herbst 2004 artikuliert worden. Die Betätigungsfelder des UN-Demokratiefonds gehen jedoch nicht wesentlich über die bereits vorher ausgeführten Aktivitäten hinaus: Neben Wahlhilfe und demokratischer Regierungsführung sollen Rechtsstaatlichkeit gefördert und Korruption bekämpft werden. Das operative Geschäft der Fördermaßnahmen verbleibt bei den einzelnen UNAgenturen, während der Demokratiefonds vor allem mit Koordinierungsaufgaben betraut ist und eine bessere Abstimmung der einzelnen Maßnahmen gewährleisten soll. Zur wachsenden Bedeutung der Demokratieförderung im Rahmen der Vereinten Nationen hat auch eine intergouvernementale Organisation beigetragen, die sich ausschließlich mit Demokratieförderung befasst: die Gemeinschaft der Demokratien (Community of Democracies CD). Im Juni 2000 trafen sich die Außenminister zahlreicher UNMitgliedsstaaten auf Initiative der US-Außenministerin Madeleine Albright und der Regierungen von Polen, Chile, Tschechien, Indien, Mali und Südkorea in Warschau, um sich zu einer Organisation von Demokratien und sich demokratisierender Staaten zusammenzuschließen. Erklärtes Ziel ist laut der auf der Konferenz verabschiedeten Warschauer Erklärung die weltweite Verbreitung und Verankerung demokratischer Prinzipien, darunter freie und faire Wahlen, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, gleicher Zugang zu Bildung und Rechtsstaatlichkeit. Notwendige Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist eine mit diesen Prinzipien übereinstimmende demokratische Regierungsform. 2004 organisierten sich die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der Demokratien in einem Democracy Caucus innerhalb der Vereinten Nationen. Inzwischen hat der Democracy Caucus über 100 Mitgliedsstaaten, und sein Gedeihen hat maßgeblich zur Gründung des UN-Demokratiefonds beigetragen. Eine weitere intergouvernementale Organisation, die sich ausschließlich mit Demokratieförderung befasst, ist das International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA). Sie wurde 1995 gegründet und hat 24 Mitgliedsstaaten aus allen Kontinenten. International IDEA leistet aktive Unterstützung beim Aufbau demokratischer Institutionen. Die Organisation hilft bei der Schaffung neuer Verfassungen und politischer Institutionen, unterstützt die Etablierung demokratischer Konsensfindungs- und Entscheidungsprozesse und tritt zudem als Mediator bei Konfliktmanagement- und Versöhnungsprozessen auf. Die Stärkung von Wahlprozessen stellt ein zentrales Thema auf der Agenda dar: Durch Verbesserungen des Wahlsystems und professionelle, transparente Organisation
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des Wahlprozesses soll Institutionenvertrauen und eine Erhöhung der Wahlbeteiligung erreicht werden. Zudem wird der Aufbau von politischen Parteien durch Unterstützung bei den Themen Parteiengesetzgebung und Parteienfinanzierung, interne Organisationsstruktur und Verhältnis zur Zivilgesellschaft und zur Öffentlichkeit gefördert. Gleichzeitig beobachtet und dokumentiert International IDEA die weltweite Demokratieentwicklung und die eingesetzten Unterstützungsmaßnahmen, um positive Beispiele zu identifizieren und daraus Leitlinien und Instrumente für die Demokratieförderung zu entwickeln. Die Organisation fördert die Vernetzung von Wissenschaftlern, Politikern und dem Fachpersonal der Hilfsorganisationen vor Ort. Neben diesen Organisationen mit globalem Tätigkeitsfeld sind vor allem Regionalorganisationen im Bereich der Demokratieförderung aktiv. Dazu zählen in Europa vor allem die Europäische Union (EU) und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). In Lateinamerika hat die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) seit dem Ende des Kalten Krieges verstärkt demokratische Normen und Normdurchsetzungsmechanismen etabliert (vgl. z. B. BONIFACE 2002; COOPER & LEGLER 2006). Selbst der Mercosur, ein ursprünglich rein auf wirtschaftliche Integration abzielendes Bündnis im südlichen Lateinamerika, bezeichnet seit 1996 die demokratische Verfasstheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft. Obwohl vor allem diese Regionalorganisationen verstärkte demokratische Normen sowie neue Durchsetzungsmechanismen eingerichtet haben, leiden sie nach wie vor unter Defiziten hinsichtlich ihrer Mittel zur Normdurchsetzung. Verstößt ein Staat gegen die Demokratienorm, reichen die Sanktionsmöglichkeiten kaum über eine offen erklärte Missbilligung hinaus. Zudem sind viele Vorkehrungen zum Schutz der Demokratie nur auf offensichtliche Rückfälle in Richtung Autokratie anwendbar, etwa in Gestalt eines Putschversuchs. Unklar ist dagegen der Umgang mit Staaten, in denen ein schleichender Verfall demokratischer Institutionen zu beobachten ist. Ein weiteres Problem bei der Durchsetzung von Demokratienormen ist das Spannungsverhältnis zwischen einem international zunehmend anerkannten Recht auf Demokratie einerseits und den Prinzipien der staatlichen Souveränität und der Nichtintervention in innere Angelegenheiten andererseits. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie weit die Normdurchsetzung gehen darf. Über sanfte Maßnahmen wie Wahlhilfe und -beobachtung, Schulung der politischen Eliten und Unterstützung beim Aufbau von Institutionen hinaus beobachten wir zunehmend Versuche, Demokratisierung mit Gewalt zu erzwingen auch wenn es sich im Moment noch um singuläre Erscheinungen handelt. Während nach dem Putsch in Haiti 1991 ein Eingreifen dadurch gerechtfertigt war, dass die OAS über eine Demokratieklausel verfügte und es durch internationale Organisationen (OAS, UN) betrieben wurde, stellt die Intervention im Irak 2003 einen weder durch eine vorherige demokratische Selbstverpflichtung des Landes noch durch den Konsens der internationalen Gemeinschaft legitimierten unilateralen Akt dar. Es ist jedoch äußerst fragwürdig, ob eine internationale demokratische Norm dergestalt zu interpretieren ist, dass sogar ohne entsprechende Forderungen seitens der Gesellschaft die Pflicht zur Demokratie besteht und dementsprechend Demokratisierung von externen Akteuren eingefordert werden kann. Mit dem Vorwurf der Unzulässigkeit des Eingriffs in innere Angelegenheiten sind somit nicht nur internationale Organisationen, sondern auch staatliche Akteure der Demokratieförderung konfrontiert. Dennoch verfolgen seit den 1990er Jahren immer mehr nationale Akteure und Organisationen eine aktive Strategie des Demokratieaufbaus. Dies geschieht
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direkt durch finanzielle und technische Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit sowie indirekt durch das Agieren staatlicher oder halbstaatlicher Organisationen. Obwohl man nicht behaupten kann, dass die demokratischen Transitionen in Portugal, Spanien und Griechenland in den 1970er Jahren maßgeblich von internationalen Akteuren beeinflusst worden wären, wurde der Konsolidierungsprozess durchaus von Akteuren wie den internationalen Parteiverbünden (z. B. Sozialistische Internationale) und den deutschen Parteistiftungen unterstützt. Diese Stiftungen die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS), die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung, die aus mehreren grünen Stiftungen entstandene Heinrich-Böll-Stiftung und die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung gehören zu den ältesten und gewichtigsten Akteuren in der internationalen Demokratiehilfe. FES, KAS und FNS begannen bereits in den 1960er Jahren mit ihrer internationalen Arbeit. Durch ihre Auslandsvertretungen in Osteuropa, Afrika, Asien und Lateinamerika verfügen sie über unmittelbaren Einblick in die politische und soziale Situation vor Ort, und ihre Repräsentanten genießen vor allem in kleinen und armen Ländern erheblichen Einfluss (MAIR 2000). MACIEL PEDROTI (2006) bezeichnet Organisationen wie die deutschen Parteistiftungen als hybride Akteure, die der Zivilgesellschaft entstammen, aber überwiegend oder ganz vom Staat finanziert werden. Die US-Regierung erkannte, dass sie über derartige Instrumente nicht verfügte, und in den 1980er Jahren entstanden entsprechende Organisationen auch dort (vgl. CAROTHERS 2001): Das International Republican Institute (IRI), die Parteistiftung der Republikaner, wurde 1983 gegründet, und im darauf folgenden Jahr wurde das National Democratic Institute (NDI), die Parteistiftung der Demokraten, aus der Taufe gehoben. Des Weiteren gibt es mit dem 1983 gegründeten National Endowment for Democracy, das hauptsächlich vom US-Außenministerium finanziert wird, und der Organisation Freedom House, die bereits seit 1941 besteht und der zeitweilig CIA-Kontakte nachgesagt wurden, weitere staatliche und halbstaatliche US-Organisationen zur Förderung und Verbreitung der Demokratie in der Welt. Neben internationalen Organisationen und staatlichen Akteuren haben auch Nichtregierungsorganisationen einen zunehmenden Einfluss bei der Demokratieförderung. Vor allem die transnationale Vernetzung von Verbänden, Parteien und Menschenrechtsorganisationen kann dazu beitragen, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure aus autokratischen Staaten auf internationaler Ebene ihre Interessen artikulieren, Aufmerksamkeit erringen oder gar eine Reaktionen auf repressive Praktiken ihrer Regierungen bewirken können (KECK & SIKKINK 1998; LEVITSKY & WAY 2006). Insgesamt zeigt sich bei der Betrachtung internationaler Akteure und ihrer Einflussmöglichkeiten jedoch immer wieder, dass externe Intervention sich nur dann positiv auswirkt, wenn die internen Bedingungen bis zu einem gewissen Grad ebenfalls förderlich für Demokratisierung sind (vgl. BOUTROS-GHALI 1995; NEWMAN 2004). Nur wenn transnationale Nichtregierungsorganisationen, eine staatliche Organisation oder eine internationale Organisation einen verlässlichen innerstaatlichen Kooperationspartner für ihr Ziel der Herbeiführung einer demokratischen Transition oder der Konsolidierung eines demokratischen Reformprozesses finden, wenn also auch interne Impulse in Richtung Demokratie existieren, kann Unterstützung von außen hilfreich sein: The drive for democracy must originate and be empowered by the people themselves; no outside effort can provide it. (BHOUTROS-GHALI 1995: 5)
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Brigitte Weiffen Perspektiven der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung
Nachdem nun die Auswirkungen verschiedener Facetten der Globalisierung auf die Demokratieentwicklung beleuchtet wurden, stellt sich die Frage, ob die Ausbreitung der Demokratie selbst eine Komponente der Globalisierung darstellt. Augenfällig ist, dass zahlreiche Wandlungsprozesse, die sich auf innerstaatlicher Ebene vollzogen haben und im nationalen Kontext als Voraussetzungen für Demokratisierung angesehen wurden, sich im Kontext der Globalisierung in vergleichbarer Weise auf internationaler Ebene reproduzieren. Dazu zählen die Verdichtung durch bessere Infrastruktur und neue Kommunikationstechnologien, die Verbreitung von Informationen, die wirtschaftliche Interdependenz und das Einsetzen von Modernisierungsprozessen in immer mehr Regionen sowie zunehmende Herausbildung, Vernetzung und Partizipationsbestrebungen von Nichtregierungsorganisationen. Zwar ist die letzte Konsequenz dieser ehemals innerstaatlichen und nun grenzüberschreitenden Dynamik, die Demokratisierung des internationalen Systems, noch nicht absehbar. Nichtsdestotrotz wirken die auf internationaler Ebene stattfindenden Modernisierungs- und Wandlungsprozesse in einer Weise auf die innerstaatliche Entwicklung ein, die vor dem Beginn des Zeitalters der Globalisierung nicht denkbar war. Vor dem Hintergrund der Globalisierung beeinflussen sich Modernisierungsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene wechselseitig und fungieren gleichzeitig als Impulsgeber für die Herausbildung demokratischer Regierungsformen. Deren Ausbreitung legt dann tatsächlich die Schlussfolgerung nahe, dass weltweite Demokratisierung eine Komponente der (politischen) Globalisierung darstellt. Eine gewichtige Einschränkung ist jedoch am Platze: Beleuchtet man die Qualität zahlreicher seit den 1970er Jahren entstandener Demokratien, so ist zu konstatieren, dass überwiegend formale Demokratien entstanden sind, in denen zwar Wahlen abgehalten werden, andere vitale Komponenten eines demokratischen Systems jedoch fehlen oder nur schwach ausgeprägt sind. LAЇDI (2002) wagt angesichts dieser Tatsache sogar die Frage, ob die Art der im Zuge der Globalisierung durchgeführten Demokratisierung nicht die eigentliche Substanz der Demokratie untergräbt. Unbestritten ist, dass Demokratie zunehmend global als beste Regierungsform akzeptiert wird. Die Globalisierung beinhaltet somit die Verbreitung demokratischer Prozeduren, und alternative Regierungssysteme erscheinen nicht mehr als legitim und zeitgemäß. Doch werden gerade bei der Demokratieförderung durch internationale Organisationen formale Kriterien, vor allem die Durchführung freier Wahlen, in den Vordergrund gestellt. Die Verwirklichung einer demokratischen politischen Kultur hingegen hinkt der Einführung demokratischer Prozeduren hinterher, da die kulturelle Verankerung von Demokratie in einer Gesellschaft Zeit braucht. Immerhin war Demokratie in ihrer ursprünglichen Variante Ergebnis eines sich über mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erstreckenden sozialen Wandlungsprozesses. Dadurch, dass nach dem gegenwärtigen Verständnis Demokratie durch bloße Erfüllung formaler Kriterien installiert werden kann, wird das Verständnis von Demokratie als historisch gewachsene Struktur geschwächt. Insofern hat sich insgesamt zwar die Demokratie als Komponente der Globalisierung verbreitet, wird jedoch durch die oberflächliche Art der Verbreitung auch in ihrer Essenz gefährdet.
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Globalisierung und Umweltregieren: Die Konvergenz von Politiken in der OECD-Welt Thomas Sommerer & Stephan Heichel
1
Einleitung
Sowohl in der alltäglichen als auch in der wissenschaftlichen Diskussion zu den Auswirkungen der Globalisierung auf nationalstaatliches Handeln wird oft vermutet, dass politische Programme, Steuerungsinstrumente und ganze Politikbereiche sich über Grenzen hinweg zunehmend ähnlicher werden. Neben den zentralen Gebieten der Sozial-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik bezieht sich dies auch und gerade auf die Umweltpolitik. Im Gegensatz zu der oft geäußerten Vermutung, dass diese so genannte Konvergenz (Annäherung) auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner stattfindet (race to the bottom), zeigen Fallstudien zu einzelnen Umweltmaßnahmen, dass es oft die Ideen, Konzepte und Problemlösungen der umweltpolitischen Vorreiterstaaten sind, die sich international durchsetzen. Allerdings zeigt die Forschung auch, dass Konvergenz keine einheitliche Tendenz ist, die jederzeit vorausgesetzt werden kann. Je nach Umweltmaßnahme gibt es durchaus beträchtliche Varianz. Auch bezüglich der Rolle von erklärenden Faktoren die Wirkung von Regulierungskonkurrenz zwischen den Staaten, die Zusammenarbeit in internationalen Organisationen und Regimen, die spezifischen Charakteristika einzelner Politiken sowie die generelle Anpassungsfähigkeit der Nationalstaaten besteht kein Konsens. Obwohl entscheidende Faktoren identifiziert wurden, haben wir noch unzureichende Kenntnisse über den relativen Einfluss und das Zusammenspiel dieser oder anderer, noch unbekannter Wirkmechanismen. Vor diesem Hintergrund präsentiert der Beitrag Resultate eines Forschungsprojekts mit dem Ziel, den Umfang und die entscheidenden Antriebskräfte einer Konvergenz von Umweltpolitiken festzustellen. Der Fokus liegt dabei auf unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen der Konvergenz und ihrer globalisierungsbedingten Ursachen. Die Empirie besteht in statistischen Analysen auf der Basis von Daten zu 24 europäischen und außereuropäischen Staaten, darunter 14 alte Mitgliedstaaten der EU. 40 theoriegeleitet ausgewählte umweltpolitische Maßnahmen werden zu vier Zeitpunkten zwischen 1970 und 2000 verglichen.
2
Theoretischer Rahmen
Basierend auf Theorien der Globalisierung wird oft vermutet, dass sich Problemlösungen, Instrumente und Regulierungsniveaus über die Ländergrenzen hinweg angleichen (EVANS 1997; SINN 1997). Dies bezieht sich auch auf die Umweltpolitik, wo große Ähnlichkeiten zwischen den Politiken auf nationaler Ebene beobachtet werden. Beispiele reichen von der frühen Institutionalisierung des Umweltschutzes durch die Schaffung von Umweltagentu-
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Thomas Sommerer & Stephan Heichel
ren bzw. -ministerien bis hin zur sequenziellen Einführung bestimmter Politikmaßnahmen, wie Ökosteuern, und Selbstregulierungsinstrumenten, wie Ökoaudit und Ökolabel, in jüngerer Zeit (WEALE 1992). Konträr zur oft geäußerten Vermutung, Konvergenz finde auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt, zeigen Fallstudien zu diesen und anderen Umweltschutzpolitiken, dass es oft die ambitionierten Problemlösungen der umweltpolitischen Vorreiter sind, die in der Staatenwelt Oberhand gewinnen (BUSCH & JÖRGENS 2005; KNILL & LIEFFERINK 2007; WEIDNER & JÄNICKE 2002; VOGEL 1995). Daher hat gerade in den letzten Jahren das Interesse an der Untersuchung von Prozessen der länderübergreifenden Politikkonvergenz erheblich zugenommen (HOLZINGER, KNILL & JÖRGENS 2007; IO special issue 2006; KNILL 2006). Diese Debatte bewegt sich dabei zwischen der vermuteten starken Wirkung eines Konvergenzdruckes durch Prozesse der Globalisierung oder der Europäisierung im Rahmen der EU (BENNETT 1991; DOLOWITZ & MARSH 2000; DREZNER 2001; GILARDI 2005; HOBERG 2001; HOLZINGER & KNILL 2005; SIMMONS & ELKINS 2004) und der Beobachtung, dass nationale Faktoren sich als Bremsen oder zumindest Filter für den Anpassungsdruck von außen erweisen und damit einer Konvergenz entgegenwirken (BUSCH 2003; COWLES et al. 2001; HÉRITIER et al. 2001; KNILL 2001). Denn trotz der Beobachtung häufiger Konvergenz zeigt die vergleichende Forschung zu Politikkonvergenz bzw. verwandten Konzepten (wie Politikdiffusion und -transfer) ebenso, dass diese keineswegs als dominanter, uniformer oder quasi selbstlaufender Prozess verstanden werden kann (BÖRZEL 2001; COWLES et al. 2001; DREZNER 2001). Zur Erklärung dieser Konvergenztrends werden verschiedene Faktoren angeführt. Wie angedeutet, dominieren in der existierenden Literatur internationale Ursachen von länderübergreifender Politikkonvergenz. Internationale Harmonisierung meint dabei ein spezifisches Resultat zwischenstaatlicher Kooperation, nämlich den Umstand, dass Staaten sich durch die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen verpflichtet haben, ähnliche Programme und Politiken einzuführen. Dies geschieht in der Regel vor dem Hintergrund starker Interdependenzen bzw. Externalitäten zwischen den Ländern (z. B. grenzüberschreitende Umweltverschmutzung), so dass Regierungen Eigenständigkeit teilweise aufgeben, um gemeinsame Probleme angehen zu können (DREZNER 2001: 60; HOBERG 2001: 127). Sind diese Kooperationsorgane einmal geschaffen, werden ihre Aktivitäten dauerhaft die Möglichkeiten nationaler Politikgestaltung beschränken. Internationale Institutionen sind demnach nicht bloß das Ergebnis von Kooperation, sondern gleichzeitig eigenständige Einflussfaktoren auf die Nationalstaaten (MARTIN & SIMMONS 1998: 743). Daneben beinhalten internationale Faktoren im Bereich institutioneller Integration auch Effekte von Kommunikation und Informationsaustausch in derart institutionalisierten Netzwerken und zwar auch dann, wenn diese Kooperationsorgane kein verbindliches Völkerrecht setzen (dürfen) bzw. gar nicht auf staatlicher, sondern der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt sind die so genannte transnationale Kommunikation (HOLZINGER & KNILL 2005). Diverse spezifischere Mechanismen wie Politiklernen oder Politiktransfer bzw. die Propagierung bestimmter Politikmodelle als Best Practice können hierunter gefasst werden. Der Einfluss dieser internationalen Faktoren basiert auf theoretischen Argumenten der Organisationssoziologie, welche beispielsweise besagen, dass sich häufig mit ihren ausländischen Kollegen treffende nationale Fachleute der Verwaltungsorgane über Zeit ähnliche Strukturen und Konzepte für diese entwickeln, um die Legitimität der Organisation zu festigen bzw. zu erhöhen (DIMAGGIO & POWELL 1991; STRANG & MEYER 1993). In ähnlicher
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Globalisierung und Umweltregieren
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Weise können so genannte epistemische Gemeinschaften (HAAS 1992), d. h. Expertennetzwerke, die über gleiche Problemvorstellungen verfügen und über entsprechende Lösungen diskutieren, also beispielsweise die Wissenschaftler des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Konvergenz durch Kommunikationen und Informationen hervorrufen. An prominenter Stelle bei den auslösenden Faktoren für Politikkonvergenz wird in der Literatur der Regulierungswettbewerb als Folge der wachsenden ökonomischen Integration grenzüberschreitender Märkte gehandelt. Staaten sehen sich einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt und werden deshalb ihre Regulierungsstandards gegenseitig anpassen, um eine Belastung der Wettbewerbsfähigkeit heimischer Industrien gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu vermeiden, so dass es zu einer Annäherung kommt. Folgerichtig kann dieser Mechanismus nur wirken, wenn Länder auch ökonomisch integriert sind, also Handelsbarrieren (weitgehend) abgeschafft sind (also z. B. in der EU und der WTO). Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig die Absenkung von Umweltstandards auf das niedrigste Niveau (DREZNER 2001; HOLZINGER 2003; SCHARPF 1997; SIMMONS & ELKINS 2004; Vogel 1995). Schließlich kann Politikkonvergenz auch einfach das Resultat ähnlicher, aber unabhängiger Reaktionen von Staaten auf gleiche kontextuelle Bedingungen sein (BENNETT 1991: 231). Im Umweltbereich ist dies natürlich zuvorderst gleicher Problemdruck, also ähnliche Gegebenheiten bei Luft- und Gewässerverschmutzung oder der Müllbelastung. Darauf basierend ist Konvergenz aber möglicherweise auch das Ergebnis nicht nur eines objektiv gleichen Problemdrucks, sondern auch eines zumindest ähnlich wahrgenommenen Handlungsbedarfs. Dieser kann sich als gleiche Nachfrage nach umfassenden und stringenten Umweltschutzpolitiken manifestieren, also beispielsweise in Form der Existenz und des Wahlerfolgs grüner Parteien, dem Einfluss von Umweltschutzorganisationen oder durch ein hohes Niveau wirtschaftlichen Wohlstands. Bei der Analyse von Politikkonvergenz unterscheidet man verschiedene Dimensionen, die über spezifische Konvergenztypen erfasst werden können (HEICHEL & SOMMERER 2007). Sie kann nicht nur als Angleichung an einen Mittelwert und als Reduktion von Varianz begriffen werden (klassische Sigma-Konvergenz), sondern auch als Annäherung an ein bestimmtes Politikmodell oder eine so genannte Benchmark (Delta-Konvergenz). Ein derartiger Prozess muss nicht mit einer Homogenisierung einhergehen, wenn sich zwei Länder einem dritten Modell annähern, ohne dabei ihre Unterschiede aufzugeben. Auch die Untersuchung von Aufholprozessen (Beta-Konvergenz) und von der Veränderung in Länderrankings (Gamma-Konvergenz) kann zusätzliche Informationen über einen generellen Prozess der Angleichung nationaler Politiken erbringen, der über die Reduktion von Varianz hinausgeht.
3
Forschungsfragen und Forschungsdesign
Das von der Europäischen Union im fünften Forschungsrahmenprogramm finanzierte Projekt Environmental Governance in Europe: The Impact of International Institutions and
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Thomas Sommerer & Stephan Heichel
Trade on Policy Convergence (ENVIPOLCON) beschäftigte sich mit der empirischen Analyse der Konvergenz nationaler Umweltpolitiken zwischen 1970 und 2000.1 Die Ziele des ENVIPOLCON-Forschungsprojekts bestanden darin, den Umfang und die Richtung einer Konvergenz bzw. Divergenz der Umweltpolitiken zwischen 24 Ländern seit 1970 festzustellen und die entscheidenden Antriebskräfte dahinter zu identifizieren. Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit vier speziellen Aspekten solcher Konvergenzprozesse, deren empirische Ergebnisse in Abschnitt 4 vorgestellt werden.
Forschungsfrage 1: Können wir eine Konvergenz (Angleichung) der nationalen Umweltpolitik in Europa innerhalb der vergangenen 30 Jahre feststellen, und wenn ja, in welchem Ausmaß?
Forschungsfrage 2: Wenn Konvergenz festgestellt werden kann, in welche Richtung erfolgt diese: abwärts, also in Richtung weniger Stringenz (race to the bottom), oder aufwärts, also in Richtung mehr Stringenz (race to the top)?
Forschungsfrage 3: Bleibt die Rangfolge unter den Staaten stabil? Bleiben Vorreiterstaaten innovativ oder gibt es Aufholprozesse?
Forschungsfrage 4: Welche Faktoren beeinflussen die Regulierungshöhe von nationalen Umweltstandards: eher internationale Faktoren wie die ökonomische Verflechtung oder unabhängige nationale Faktoren?
3.1 Politikauswahl und Datengrundlage Die Grundlage der empirischen Untersuchung dieser Forschungsfragen bildet eine Auswahl von 40 nationalen Politikmaßnahmen (Tabelle 4). Diese kann zwar schon deshalb nicht repräsentativ sein, weil es keine abgeschlossene Grundgesamtheit nationaler Umweltpolitik gibt. Sie umfasst jedoch Politiken zu den Umweltmedien Luft, Wasser, Boden, aber auch zu Klima, Lärm, Ressourcenschonung und Querschnittspolitiken. In erster Linie wurde die Auswahl nach den Kriterien Politikdimension, Handelsrelevanz und dem Vorhandensein einer durch internationales Recht gesetzten nationalen Verpflichtung ausgewogen gestaltet. Von den 40 Politiken sind 11 produktbezogene Regulierungen (z. B. Autoabgasstandards), 15 beziehen sich auf Produktionsprozesse (z. B. Kraftwerksemissionsstandards) und 14 sind weder das eine noch das andere. Hintergrund ist hier, dass für die Untersuchung des Effektes von Regulierungswettbewerb sowohl handelsrelevante als auch handelsirrelevante Politiken eingeschlossen sein müssen. Um die Auswirkungen internationaler Verrechtlichung (Harmonisierung) und von Kommunikation zu überprüfen, sind sowohl 19 völkerrechtlich obligatorische als auch 21 nicht obligatorische Maßnahmen einbezogen (bezogen auf den spätesten Beobachtungszeitpunkt). 1 5. EU-Rahmenprogramm: Research, Technological Development and Demonstration. Improving the Human Research Potential and the Socioeconomic Knowledge Base. Das Projekt lief vom 1. Januar 2003 bis zum 30. Juni 2006. Beteiligt waren die Universität Konstanz, die Universität Hamburg die Radboud University Nijmegen, die Universität Salzburg und die FU Berlin. Weitere Informationen zum Projekt unter http://www.unikonstanz.de/FuF/Verwiss/knill/projekte/envipolcon/project-homepage.php.
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Schließlich wird für alle 40 Elemente das Vorhandensein der Politik erfasst (Gibt es eine bestimmte Politik p in Land y zum Zeitpunkt t?), dazu für einige, bei denen dies möglich ist, der spezifische Instrumenttyp (z. B. Verbot oder Anreiz) und das konkrete Regulierungsniveau (z. B. Schadstoffgrenzwert oder Steuersatz). Die Datenerhebung erfolgte im Wesentlichen durch eine Expertenbefragung, verbunden mit nachfolgenden Ergänzungen und Bereinigungen.2 Für den Zeitraum von 1970 bis 2000 wurde Politikwandel jeweils im Abstand eines Jahrzehnts erfasst. Die Daten für die unabhängigen Variablen wurden durch die Nutzung bestehender Datensätze sowie durch eigene Recherchen erhoben. Tabelle 4: Liste der Umweltschutzmaßnahmen Handelsbezogene Policies
Obligatorische Policies (verbindlich seit
)
Schwefelgehalt von Gasöl
●
1975
Bleigehalt von Kraftstoff
●
1978
Pkw NOx-Emissionen
●
1977
Pkw CO-Emissionen
●
1970
Pkw HC-Emissionen
●
1970
SO2-Emissionen von Großfeuerungsanlagen
●
1988
NOx-Emissionen von Großfeuerungsanlagen
●
1988
Staubemissionen von Großfeuerungsanlagen
●
1988
Kolibakterien in Badegewässern
1976
Gefährliche Substanzen in Reinigungsmitteln
●
Effiziente Wassernutzung in der Industrie
●
Bleigehalt in industriellen Abwässern
●
Zinkgehalt in industriellen Abwässern
●
Kupfergehalt in industriellen Abwässern
●
Chromgehalt in industriellen Abwässern
●
Biochemischer Sauerstoffbedarf in industriellen Abwässern
●
1973
Bodenschutz Altlastensanierung Abfallziel Wiederverwertung
1994
Abfallziel Deponierung
1994
Wiederverwertungsziel Glas
2 Aufgrund der großen Anzahl an Politiken aus 24 Ländern mit 15 Sprachen wurden die Daten großenteils nicht projektintern erhoben. Für jedes Land wurden umweltpolitische Experten, meist Juristen und Politikwissenschaftler aus der Ministerialverwaltung oder aus der Wissenschaft, rekrutiert. Für die dreimonatige Datensammlung stand ihnen ein Fragenkatalog in Form eines halbstandardisierten Fragebogens und eines eigens entwickelten Handbuchs zur Verfügung, welches die einheitliche Bearbeitung garantieren sollte. Nach der Erhebungsphase wurden die Experteninformationen in einem Rohdatensatz elektronisch erfasst.
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Thomas Sommerer & Stephan Heichel Handelsbezogene Policies
Obligatorische Policies (verbindlich seit
)
Wiederverwertungsziel Papier Förderung von wiederverwendbaren Getränkeverpackungen
●
Freiwilliges Flaschenpfand
●
Lärmschutzstandard bei Lkws
●
1970
Lärmbelastung am Arbeitsplatz
●
1977
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
●
Bauschutt-Recycling
●
Energieeffizienz bei Kühlschränken
●
1992
Industrielle Abgabe auf Schweröle
●
1992
CO2-Emissionen durch Schwerindustrie
●
Autobahn Lärmbelastung
Stromsteuer für private Haushalte
Forstschutz Öko-Audit
●
1993
●
1992
Umweltverträglichkeitsprüfung Öko-Label
1985
Vorsorgeprinzip Nachhaltigkeitsprinzip: Gesetzesbezug Umwelt-/Nachhaltigkeitsentwicklungsplan
●
3.2 Länderauswahl und Zeitrahmen Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Analyse der Umweltpolitik europäischer Länder. Daher umfasst die Auswahl zunächst die Mitgliedstaaten der EU-15 im Jahr 2000 (außer Luxemburg). Damit sind über den Untersuchungszeitraum von 30 Jahren die verschiedenen Beitrittswellen erfasst (1973, 1981/1986, 1995). Dazu kommen im Jahr 2004 bzw. 2007 beigetretene Staaten, welche im Jahr 2000 Kandidatenstatus hatten (Polen, Slowakei, Ungarn; Bulgarien, Rumänien) sowie Länder, die zwar nicht Mitglied sind, aber enge Beziehungen zur EU unterhalten (Norwegen, Schweiz) und institutionell nicht mit der EU integrierte Länder (Japan, Mexiko, USA). Durch den Einschluss außereuropäischer Staaten können Effekte, die über den spezifischen europäischen Integrationseinfluss hinausgehen, erfasst werden. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1970 bis 2000. Die Beobachtungsperiode stellt somit sicher, dass die Daten über die nationale Umweltpolitikentwicklung nicht bloß einen arbiträren (beliebigen) Querschnitt widerspiegeln, sondern dass Politikwandel über einen längeren Zeitraum betrachtet werden kann. Für die Analyse von Politikkonvergenz ist dies unerlässlich. Das Jahr 1970 fungiert als Startjahr, weil dieser Zeitpunkt noch vor der ersten umfassenden Manifestation nationaler wie internationaler Umweltpolitik
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Globalisierung und Umweltregieren
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liegt (z. B. durch die Stockholmer UN Konferenz zur menschlichen Umwelt 1972). Im Jahr 1980 hatten die umweltpolitischen Vorreiter bereits die erste Welle an Umweltgesetzen verabschiedet. Darüber hinaus hatten diverse internationale Organisationen wie UNEP, OECD und EU erstmals ihre Umweltschutzprogramme in Gang gesetzt. 1990 waren mehr oder weniger umfassende Umweltpolitiken in nahezu allen industrialisierten Staaten in Kraft. Das Jahr 2000 repräsentiert die Situation nach Ende des Kalten Krieges mit der politischen Öffnung Mittel- und Osteuropas sowie der damit zusammenhängenden wachsenden Handelsverflechtung zwischen den westlichen und östlichen, EU-beitrittswilligen Ländern Europas. Ebenso erfasst es die Phase der Ausbreitung einer nachhaltigen Umweltpolitik im Zuge der internationalen Konventionen von Rio 1992.
4
Empirische Analyse nationaler Umweltpolitiken
In vier Schritten sollen nun ansatzweise Antworten auf die Frage nach der Form und dem Ausmaß der Folgen von Globalisierung auf nationalstaatliche Politiksetzung am Beispiel der Umweltpolitik präsentiert werden. Zuerst wird die Annäherung nationaler Politikrepertoires dargestellt, dann die Existenz eines Aufwärtstrends bei der Regulierungshöhe und das Auftreten von Aufhol- und Überholprozessen zwischen Ländern untersucht sowie zuletzt der Versuch einer Erklärung der Regulierungshöhe unternommen.3
4.1 Zu Forschungsfrage 1: Konvergenz nationaler Politiken Eine wesentliche Konsequenz der Globalisierung in der Politik ist die Ausbreitung ähnlicher Konzepte über die nationalen Grenzen hinweg. Diese so genannte Diffusion von Innovationen und Modellen führt zu Politikkonvergenz, d. h. zu einer Vereinheitlichung und Homogenisierung vormals unterschiedlicher Regulierungsformen. Bedingt durch unterschiedliche Faktoren wie internationaler Wettbewerb und internationale Vereinbarungen oder Lernprozesse zwischen Staaten, ergibt sich vor allem für die Staaten der OECD-Welt eine Situation, in der ein bestimmtes Problem möglicherweise überall mit derselben Patentlösung reguliert wird (BUSCH & JÖRGENS 2005). Ein solcher Konvergenzprozess lässt sich auch für das Repertoire von 40 nationalen Umweltschutzmaßnahmen in den im Projekt ENVIPOLCON untersuchten 24 Ländern finden. In Abbildung 23 sind beispielhaft die Adaptionsraten für acht solcher Politiken dargestellt, wobei 100 % bedeutet, dass alle (24) Länder eine solche Maßnahme auf nationaler Ebene eingeführt haben. Die stärkste Diffusion erreicht die Regulierung des Bleigehaltes im Benzin: Während 1980 schon jedes zweite Land eine solche Politik zur Reduktion der Luftverschmutzung besaß, breitete sich diese bis zum Jahr 2000 in allen 24 Ländern aus. Eine ähnlich hohe Konvergenz im Jahr 2000 erreichten Maßnahmen zur Reduktion der Stickoxid-Emissionen von Kraftwerken und anderen Großfeuerungsanlagen, wobei jedoch Maßnahmen gegen diesen Schadstoff, der mit für den sauren Regen und das Waldsterben verantwortlich gemacht wurde, erst nach 1980 an Bedeutung gewannen und sich in der letzten Dekade des Untersuchungszeitraums stark ausbreiteten. 3
Für einen Überblick über Ergebnisse aus dem Projekt ENVIPOLCON siehe HOLZINGER, KNILL & ARTS 2008.
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Auch in der Gewässerschutzpolitik ist eine starke Tendenz zur Homogenisierung auszumachen, wie sich an der Adaptionsrate der Politik zur Regulierung des Zinkgehalts in industriellen Abwässern ausmachen lässt, die 1990 in etwa der Hälfte und 2000 in fast 90 % der untersuchten Länder vorgefunden wurde. Die gesetzliche Förderung der Erzeugung von Elektrizität unter Einsatz erneuerbarer Energien gab es im Jahr 2000 in über 80 % aller Länder, was auf die extrem hohe Zuwachsrate während der neunziger Jahre zurückgeht, denn dieser Wert lag 1990 noch bei unter 20 %. Ebenfalls sehr weit verbreitet sind Maßnahmen zum Lärmschutz am Arbeitsplatz, die sich seit 1980 relativ kontinuierlich ausbreiteten und im Jahr 2000 ebenfalls in drei von vier der untersuchten Länder existierten. Abbildung 23: Adaptionsraten nationaler Politiken von 19702000 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% 1970
1980 Schwerindustrie CO²-Emissionen Elektrizität aus Erneuerbaren Energien Großfeuerungsanlagen NOx-Emissionen Lärmschutz am Arbeitsplatz
1990
2000
Effiziente Wassernutzung Industrie Industrielle Abwässer Zinkgehalt Bleigehalt Benzin Wiederverwertungsziel Müll
Die Reduktion von CO2-Emissionen als gegenwärtig zentrales Mantra der Umweltpolitik ist erst in den 1990er Jahren im Zuge der UN-Klimakonferenz in Rio 1992 auf die politische Agenda gelangt. So findet sich eine Ausbreitung der Regulierung solcher Emissionen für die Industrie auch erst seit dieser Zeit; bis 2000 haben jedoch immerhin 50 % der untersuchten Länder eine solche Politik verabschiedet. Maßnahmen für eine effiziente industrielle Wassernutzung sowie für eine Wiederverwertung des Mülls, die beide ebenfalls erst durch das Aufkommen des Konzeptes nachhaltiger Politikgestaltung bekannt wurden, erfreuen sich noch eher geringer Verbreitung; sie liegen bei etwa 20 bzw. 30 %, jeweils aber mit aufstrebender Tendenz. Die räumliche Struktur solcher Diffusionsprozesse und die daraus resultierende Homogenisierung verdeutlicht die Darstellung in Abbildung 24. Sie zeigt in drei Karten, wie sich die Ausbreitung nationaler Öko-Labels, eine weitere Maßnahme aus den 40 untersuchten Politiken, über die beobachteten Länder vollzogen hat. Das erste Label ist der blaue
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Globalisierung und Umweltregieren
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Umweltengel in Deutschland, der 1977 eingeführt wurde. Ihm folgten Ende der 1980er Jahre die drei skandinavischen Länder Norwegen, Finnland und Schweden, die mit dem Nordic Swan ein neues Label einführten. Zur genau gleichen Zeit, nämlich 1989, konnte auch in Japan die Etablierung eines Ökolabels beobachtet werden. Während der 1990er Jahre breitete sich diese Politik dann in 14 weiteren Ländern aus, nicht zuletzt durch die Einführung eines Europäischen Zeichens für umweltfreundliche Produkte im Jahr 1992. Abbildung 24: Die räumliche Ausbreitung nationaler Ökolabels 19802000
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Betrachtet man die Breite des gesamten Repertoires von 40 Politiken zum Schutz der Umwelt, so bestätigt sich der Eindruck umfassender Konvergenz, der sich bei der Darstellung einzelner Beispiele ergeben hat. Tabelle 5: Zahl der Regulierungen in den einzelnen Ländern 1970
1980
1990
2000
Belgien
8
14
17
27
Bulgarien
4
6
11
25
Dänemark
1
13
23
39
Deutschland
5
12
24
36
Finnland
9
16
23
37
Frankreich
6
11
22
33
Griechenland
0
2
16
31
Irland
1
8
13
26
Italien
4
18
21
33
Japan
13
20
20
31
Mexiko
1
1
11
28
Niederlande
8
14
24
39
Norwegen
2
9
24
35
Österreich
3
9
23
34
Polen
1
4
12
27
Portugal
1
3
21
31
Rumänien
0
1
4
26
Schweden
14
20
25
37
Schweiz
5
13
25
33
Slowakei
3
7
9
27
Spanien
1
7
20
31
Ungarn
9
18
22
31
USA
4
13
13
17
Vereinigtes Königreich
6
11
19
32
4.5
10.4
18.4
31.1
Mittelwert
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Tabelle 5 gibt an, wie viele der erfassten Regulierungen im jeweiligen Land und Jahr in Kraft waren. Der durchschnittliche Wert über alle Länder stieg von 1970 bis 2000 stark an. Hatten die 24 Länder zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch im Mittel 4,5 Regulierungen auf nationaler Ebene, so wuchs dieser Wert bis 2000 auf 31,1 an, was hier 77 % aller erfassten Maßnahmen entspricht. Dies bedeutet, dass sich die Repertoires nicht nur angeglichen haben, sondern auch, dass der Umfang der Umweltpolitik überhaupt enorm gestiegen ist. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums haben Japan und Schweden mit 13 beziehungsweise 14 Maßnahmen die Nase vorn. Erst 1990 wird Schweden mit dann 25 Politiken von der Schweiz (25) sowie Deutschland, den Niederlanden und Norwegen (jeweils 24) eingeholt. Im Jahr 2000 finden sich die meisten Politiken in Dänemark und den Niederlanden (39), wobei Dänemark seine Umweltpolitik erst recht spät ausbaute. Bemerkenswert ist das gute Abschneiden Ungarns im Gegensatz zu Ländern wie Bulgarien, Rumänien, aber auch Polen, die alle erst Ende der 1990er eine umfassendere Zahl an Umweltpolitiken umgesetzt hatten. Die niedrigen Werte für Belgien und die USA sind zu einem beträchtlichen Teil darin begründet, dass in beiden Ländern Umweltschutz häufig unterhalb der zentralstaatlichen Ebene reguliert wird. Bei den südeuropäischen Ländern wie Spanien, Griechenland und Portugal zeigt sich hingegen, welche Auswirkungen die Regulierung oberhalb der staatlichen Ebene haben kann: Relativ kurz nach ihrem Beitritt zur EU in den 1980er Jahren findet sich in allen drei Ländern ein Anstieg der Politiken, bedingt durch die Anpassung der eigenen Politik an den wachsenden acquis communitaire, also an das europäische Umweltrecht. Doch nicht nur die wachsende Breite des Repertoires signalisiert, dass die Unterschiede zwischen Nationalstaaten geringer werden. Ein direktes Maß der Ähnlichkeit von Politiken bestätigt diese Schlussfolgerung. Tabelle 6 zeigt die Ergebnisse der Berechnung von Ähnlichkeit auf der Basis von Länderpaaren. Besitzen zwei Länder beispielsweise eine identische Politik zur Regulierung des Bleigehalts im Benzin, so bekommt das Länderpaar den Wert 1 (oder 100 %) zugeordnet, ansonsten 0. Kann der Gegenstand der Politik genauer gemessen werden, wie etwa bei Emissionsgrenzwerten, steht eine Ähnlichkeitsskala von 0 bis 100 % mit gradueller Abstufung zur Verfügung. Diese Paarvergleiche werden für alle vorhandenen Politiken und alle möglichen Länderkombinationen durchgeführt, wobei die Ähnlichkeitswerte aggregiert werden können: Sind sich zwei Länder in 20 der 40 Politiken vollständig gleich, und gibt es bei den restlichen 20 überhaupt keine Übereinstimmung, so ergibt sich ein Gesamtwert von 0,5 (bzw. 50 %).4 Eine Zunahme der Ähnlichkeit ist mit Konvergenz gleichzusetzen. Im Durchschnitt aller Länderpaare zeigt sich, dass bis zum Jahr 2000 eine Ähnlichkeit von 65 % erreicht wird, während sie 1970 noch bei 3 % lag und von 12 % in 1980 auf 30 % zu Beginn der 1990er Jahre stieg. Dies manifestiert einen starken Trend zur Konvergenz. Unterscheidet man nun nach Untergruppen von Politiken, so können handelsrelevante Umweltschutzmaßnahmen, die etwas mit Produkten und Produktionsprozessen zu tun haben, von nicht handelsrelevanten Umweltpolitiken, wie etwa Qualitätsstandards für Badegewässer, unterschieden werden. Hier zeigt sich in Tabelle 6, dass die populäre Vermutung, Wettbewerb habe einen negativen Einfluss auf Umweltpolitik, keine Unterstützung findet.
4 24 Länder ergeben 276 Länderpaare. Die Nichtexistenz einer Politik in beiden Ländern wird nicht als Ähnlichkeit gewertet. Zum Paar-Ansatz siehe HOLZINGER, KNILL & SOMMERER 2007.
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Die Ähnlichkeit im Ausmaß des umweltpolitischen Repertoires ist bei handelsrelevanten Maßnahmen deutlich höher Eine zweite Möglichkeit, Politikähnlichkeit zu unterschieden, ist die Aufteilung in Maßnahmen, bei denen auch eine Regulierung auf der Ebene der EU vorliegt, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Hier zeigt sich (siehe Tabelle 6), dass bei den Politiken, die in Europa harmonisiert sind, die Ähnlichkeit auf nationalstaatlicher Ebene höher ist als bei anderen was den Erwartungen entspricht. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, da nur maximal 14 (und das erst seit 1995) der 24 untersuchten Länder Mitgliedstaaten sind. Tabelle 6: Politikähnlichkeit (Skala von 0 bis 1) 1970
1980
1990
2000
Alle Politiken (40)
0,03
0,12
0,30
0,65
Handelsrelevante Politiken (26)
0,02
0,14
0,34
0,72
Nicht handelsrelvante Politiken (14)
0,05
0,09
0,22
0,52
Politiken mit EU-Regulierung (3/8/13/19)
0,05
0,32
0,55
0,75
Politiken ohne EU-Regulierung (37/32/27/21)
0,06
0,07
0,18
0,56
Neben der Aktivität auf europäischer Ebene ist es entsprechend ähnlicher Untersuchungen vor allem die institutionelle Verflechtung der Staaten, die über Harmonisierung gemeinsamer Standards oder über Kommunikation allein dafür sorgt, dass Konvergenz entsteht, ebenso wie kulturelle Nähe, ähnliche Problemlagen und ein hoher ökonomischer Entwicklungsstand.5 Zwei Möglichkeiten, wie eine Konvergenzbewegung im Detail aussehen kann, zeigen sich in den beiden folgenden Darstellungen. In Abbildung 25 sieht man die Entwicklung von Steuerungsinstrumenten zur Regulierung des Zinkgehalts in Industrieabwässern. Während 1970 neben einem obligatorischen Grenzwert in einigen Ländern auch technische Vorschriften sowie Planungs- und informationsbasierte Instrumente dominierten, entwickelte sich über die Zeit eine Konvergenz gänzlich hin zu festen Standards: Steuern und technische Vorschriften verloren ihre Bedeutung bis ins Jahr 2000 Schritt für Schritt, während die Zahl der Länder, die einen Grenzwert verwendeten, von zwölf im Jahr 1970 auf 23 im Jahr 2000 stieg.
5
Siehe HOLZINGER, KNILL & SOMMERER 2007; KNILL, SOMMERER & HOLZINGER 2008.
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Abbildung 25: Regulierung des Zinkgehalts industrieller Abwässer 24 22 20 18
Zahl der Länder
16 14 12 10 8 6 4 2 0 1970
1980
Obligatorischer Standard
1990
Technische Vorschrift
Steuer oder Abgabe
2000 Planungsinstrument
Informationsbasiertes Instrument
Abbildung 26: Regulierung von Elektrizitätsgewinnung aus erneuerbaren Energien 24 22 20
Zahl der Länder
18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1970 Steuer oder Abgabe
1980 Planungsinstrument
1990
Öffentliche Investition
2000 Informationsbasiertes Instrument
Einspeisvergütung
Ein zweites Konvergenzmuster zeigt sich in Abbildung 26 bei der Darstellung von Steuerungsinstrumenten zur Förderung erneuerbarer Energien in den 24 Ländern. Während bis in die 1980er Jahre nur in Finnland Subventionen als Mittel eingesetzt wurden, zeigt sich für die 1990er Jahre ein Trend zur Konvergenz um zwei Instrumente, nämlich die genannten
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Subventionen oder Steuerreduktionen auf der einen Seite (2000 in 11 Ländern) sowie die gesetzliche Regelung zur Einspeisevergütung, d. h. die Pflicht für Stromversorger, Strom aus regenerativen Quellen zu kaufen, die 2000 in neun Ländern das dominante Politikinstrument darstellte. Öffentliche Investitionen, planungs- und informationsbasierte Instrumente spielen dabei nur eine geringe Rolle. Dieses Beispiel zeigt, dass Konvergenz nicht unbedingt zu einer völligen Vereinheitlichung führen muss, sondern dass sie auch auf niedrigerem Level um mehr als eine Lösung herum stattfinden kann (so genannte KonvergenzKlubs).
4.2 Zu Forschungsfrage 2: Aufwärtsbewegung bei den Umweltstandards Der vorangegangene Abschnitt hat gezeigt, dass eine Annäherung nationaler Politiken zu beobachten ist, und dass sich durch die Zunahme des Regulierungsinstrumentariums auch der Umfang des umweltpolitischen Schutzes erweitert hat. Was das Schutzniveau betrifft, steht im Gegensatz dazu die schon erwähnte Vermutung aus der Literatur zum Regulierungswettbewerb, dass sich ökonomischer Wettbewerb auf internationaler Ebene zu einer Absenkung nationalen Schutzniveaus, etwa bei Arbeitsstandards, aber auch im Umweltbereich, führt.6 Um dies zu überprüfen, wurden für zwölf der 40 oben genannten Politiken auch die Entwicklung von Grenzwerten und Steuersätzen untersucht. Abbildung 27 zeigt den Verlauf von Grenzwerten für den Kohlenmonoxid-Ausstoß von Kraftfahrzeugen. Das Ergebnis widerspricht der viel zitierten Abwärtsspirale: Über den gesamten Zeitraum ist zu beobachten, dass die Standards fortlaufend verschärft werden.7 Während die USA in den 1970er Jahren mit weltweit einmalig strengen Standards voraus schritten, waren es seit Mitte der 1980er Jahre die Europäer, die sich zu strengeren und vor allem ähnlichen Grenzwerten durchringen konnten: Neben dem Trend zu einer restriktiven Umweltpolitik ist eine Konvergenzbewegung im Sinne einer Varianzreduktion zu erkennen. Ein ähnliches Bild zeigt sich für die Regulierung des Schwefelgehalts im Heizöl (Abbildung 28). Die Darstellung in Form von so genannten Boxplots erlaubt eine eindeutigere Darstellung von Konvergenz (siehe auch HEICHEL & SOMMERER 2007). Die Länge der Balken repräsentiert die mittleren 50 % aller Länderwerte, der mittlere Balken gibt den Median an, außerhalb liegende Werte werden durch die so genannten Antennen gekennzeichnet. Verringert sich die Länge der Balken, so nimmt die Variation ab und es kommt zu Konvergenz. Die Skala gibt den Grenzwert in Volumenprozent an. Der mittlere Schwefelgehalt sinkt über die Zeit stark, was an der Veränderung des Medians in der linken Bildhälfte, die alle Adaptionen erfasst, sowie in der rechten, die nur die Länder mit einer Politik seit 1980 erfasst, erkennbar ist. Auch die Länge der Balken verringert sich rapide, was auf eine Harmonisierung der Grenzwerte hinweist, die auch von europäischer Ebene schon seit Mitte der 1970er Jahre betrieben wurde. Ausreißer mit laxen Regulierungen sind Schweden, vor allem aber Bulgarien und Mexiko.
6
Für eine Übersicht der Argumentation und empirischer Ergebnisse siehe z. B. DREZNER 2001. Die Linien, die in der Grafik einen Wert oberhalb von 50 g/km mit einem Wert innerhalb der Grafik verbinden, bedeuten die Verbesserung von keinem Standard auf (irgend-)einen Standard. 7
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Abbildung 27: Maximale Kohlenmonoxid-Emissionen von Fahrzeugen 19702000 50 45 40 35
g/km
30 25 20 15 10 5 0 1970
1980
FRA
GRE
1990
HUN
IRL
NED
2000
SWE
SWI
USA
Abbildung 28: Maximaler Schwefelgehalt Heizöl in Vol.-%, Boxplot 3,0
2,5 SWE
SWE
2,0
MEX
1,5 BUL
BUL
1,0 SWE
SWE
,5 DEN
ROM
N=
NED
AUT
0,0 2
13
17
20
1970
1980
1990
2000
N=
13
13
13
1980
1990
2000
Wenn man von den beiden Einzelbeispielen auf die Zusammenfassung aller zwölf Standards wechselt (siehe Tabelle 7), bestätigt sich auch hier das Ergebnis eines klaren Aufwärtstrends. In der ersten Spalte der Tabelle wird die standardisierte, d. h. über unterschiedliche Maßeinheiten vergleichbare Veränderung der Grenzwerte dargestellt. Lag sie im Mittel bei einem Wert von 0,27 und war damit deutlich positiv, d. h. auf strenge Standards ausgerichtet, so offenbart sich, dass die Verschärfung über die Zeit anstieg und ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren erreichte mit einem beinahe doppelt so hohen Wert von 0,47.
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Betrachtet man Unterschiede in der Handelsrelevanz der zu regulierenden Gegenstände, so wird deutlich, dass die Verschärfung von Produktstandards weitreichender war als die von Prozessstandards und nicht handelsrelevanter Standards, was ebenfalls der theoretischen Vermutung der negativen Wirkung von wirtschaftlicher Konkurrenz auf Umweltstandards widerspricht. Auch Umweltstandards, die von einer europäischen Harmonisierung betroffen sind, wurden in den einzelnen Ländern im Mittel umfassender verschärft als solche ohne Aktivität in Brüssel, was ebenfalls populären Vermutungen, die EU achte mehr auf wirtschaftliche denn ökologische Interessen, entgegensteht. Die zweite und dritte Spalte sprechen eine noch eindeutigere Sprache. Hier wird angegeben, wie viele Aufwärtsbewegungen bei der Neuregulierung von Standards möglichen Abwärtsbewegungen entgegenstehen. Das Verhältnis fällt mehr als eindeutig aus. Während 230-mal ein Grenzwert verschärft wurde, gab es insgesamt nur 14 Fälle, in denen eine Regulierung abgeschwächt wurde. Das Ausmaß des Aufwärtswandels wuchs über die Zeit von 22 Veränderungen vor 1980, 75 Veränderungen in der mittleren Dekade bis auf 133 in den 1990er Jahren. Die meisten Aufwärtsbewegungen bezogen sich auf produkt- und prozessbezogene Politiken, die auch auf europäischer Ebene reguliert sind. Doch auch die anderen Kategorien weisen eine hohe Zahl von Aufwärtsbewegungen hin zu einer strengeren Umweltpolitik auf. Die geringe Zahl der Abschwächungen verteilt sich über alle Kategorien beinahe erratisch. Eine bestimmte Häufung ist für die 1990er Jahre festzustellen, jedoch auf äußerst geringem Niveau (11). Tabelle 7: Beschreibung des Politikwandels bei zwölf Standards: Mittelwerte Aufwärtswandel
Zählen
standardisiert
aufw.
abw.
Alle Standards
0,27
230
14
197080
0,08
22
3
198090
0,27
75
0
199000
0,47
133
11
Produktrelevante Standards
0,44
128
4
Prozessrelevante Standards
0,21
71
8
Nicht handelsrelevante Standards
0,15
31
2
Standards mit Regulierung auf EU-Ebene
0,31
175
12
Standards ohne Regulierung auf EU-Ebene
0,14
55
2
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4.3 Zu Forschungsfrage 3: Aufholprozesse zwischen Staaten Der dritte Aspekt der politischen Globalisierung, der anhand von Daten zu nationalen Umweltpolitiken dargestellt werden soll, ist die Veränderung in der Rangordnung unter den Staaten. Man könnte vermuten, dass die Globalisierung und der Trend zu uniformen Politiken dazu führt, dass Länder mit vormals rückständiger Regulierung aufholen und Pionierländer sogar überholen können, wie es analog in der Wachstumstheorie zur ökonomischen Entwicklung vermutet wird. Dass dies der Fall ist, zeigt sich sehr deutlich an dem in Abbildung 27 dargestellten Beispiel. Während die USA, aber etwa auch Schweden, relativ früh strikte Standards eingeführt haben, die sie dann jedoch nicht mehr so stark verschärften, gibt es Länder, die erst spät oder nur zögerlich regulierten, dann aber hohe Veränderungsraten aufweisen und die Pionierländer am Ende überholen. Dazu zählen etwa Irland und Ungarn. Systematisch lässt sich das Auftreten von Aufhol- und Überholprozessen mit der so genannten Beta-Konvergenz erfassen.8 Mit einer einfachen Regression wird hier der Einfluss der Veränderungsraten auf die Höhe der Ausgangswerte geschätzt. Fällt der Koeffizient positiv aus, kann man davon ausgehen, dass sich Nachzügler den anderen Ländern angeschlossen haben: Vormalig laxere Regulierungen weisen hier höhere Veränderungsraten auf als andere Standards. Für zwölf Standards aus dem Datensatz ergibt sich in der Regressionsanalyse in Tabelle 8 ein relativ klarer Hinweis auf das Vorliegen von Beta-Konvergenz: Nicht nur beim erwähnten Beispiel der Kraftfahrzeugsemissionen liegen für fast alle Fälle positive Koeffizienten vor über alle Kategorien hinweg finden sich Aufholprozesse zurückliegender Länder. Dahingegen finden sich nur vier Standards mit negativem Vorzeichen, und dies in drei Fällen auch nur für einen von drei Zeitabschnitten: In diesen Ausnahmefällen haben sich Pionierländer mit strengen Standards weiter von den Nachzüglern entfernt, etwa bei der Strombesteuerung oder den Emissionen aus Großfeuerungsanlagen in den 1980er Jahren. Ein umfassender Aufholprozess offenbart sich auch in einer weiteren Perspektive, wenn die relative Rangposition der einzelnen Länder gemäß des Vorhandenseins und der Strenge der zwölf Standards über die Zeit hin gemessen wird.9 Hier zeigt sich in Tabelle 9 ebenfalls eine umfassende Mobilität, die auch mit der so genannten Gamma-Konvergenz gemessen werden könnte (HEICHEL & SOMMERER 2007). Deutschland etwa verbessert seine Position über die Zeit stark, zunächst vom 9. Rang auf den 8. in 1980; es ist seit den 1980er Jahren das Land mit den strengsten Standards. Die USA hingegen entfernen sich über die Zeit immer weiter von der Spitzengruppe und fallen vom 3. Rang 1980 auf den 24. Rang im Jahr 2000 ab. Länder wie Österreich und Schweden finden sich mal in der Spitzengruppe, mal weiter abgeschlagen. Nur wenige Länder können ihre Positionen halten.
8
Siehe HEICHEL & SOMMERER 2007; KNILL, SOMMERER & HOLZINGER 2008. Die letzten Rangplätze erhalten die Länder, die gar keinen Standard haben. Die Rangordnung hat den Vorteil, dass die verschiedenen Maßeinheiten verglichen werden können, ohne dass eine Transformation der Skalen durchgeführt werden muss. 9
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Tabelle 8: Regression der Veränderung auf das Ausgangsniveau von zwölf Umweltstandards Handelrelevanz Pkw CO-Emissionen
1970er 1980er 1990er 1,00
0,69
1,00
0,23
0,57
0,60
Schwefelgehalt im Heizöl
1,00
0,98
0,35
Lärmschutzstandard bei Lkws
0,66
0,44
0,08
Industrielle Abgabe auf Schweröle
0,60
0,13
1,00
-
1,00
0,99
1,00
0,98
0,88
-
-
0,39
-
0,32
0,38
-
0,61
0,27
-
-
0,04
-
1,00
1,00
Bleigehalt im Benzin Produkt
SO2-Emissionen von Großfeuerungsanlagen
Staubemissionen von Großfeuerungsanlagen
Prozess
Lärmbelastung am Arbeitsplatz
Zinkgehalt in industriellen Abwässern Kolibakterien in Badegewässern Autobahn Lärmbelastung Stromsteuer für private Haushalte
Nicht handelsrelevant
Somit wiederholt sich, was für die Existenz von Politiken schon zu beobachten war: Trotz einer gewissen Stabilität in der Spitzengruppe und bei den Nachzüglern (einer Einteilung, die auch mit der allgemeinen Erwartung von grünen Ländern wie Niederlande, Deutschland, Schweiz, Schweden und schwarzen Schafen wie Griechenland, Rumänien, Bulgarien übereinstimmt) zeigt sich, dass eine Angleichung der Politiken, wie sie festgestellt wurde, auch durch Prozesse des Aufholens und relativen Zurückfallens geprägt ist.
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Tabelle 9: Rangordnung der Länder nach Strenge der zwölf Umweltstandards 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1970 BEL SWI FRA ITA USA UKD SWE HUN GER FIN SLO JAP AUT NED SPA POR NOR DEN POL IRL BUL GRE MEX ROM
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1980 BEL ITA USA SWI JAP SWE DEN GER FRA NED HUN UKD SLO IRL NOR SPA POR AUT FIN BUL POL GRE MEX ROM
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1990 GER AUT SWI ITA BEL FRA NED SPA UKD POR HUN NOR FIN SWE USA SLO DEN POL JAP IRL BUL GRE MEX ROM
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
2000 GER AUT FRA NED ITA HUN SLO SWI POR SPA UKD FIN SWE DEN ROM BEL NOR JAP MEX IRL BUL POL GRE USA
4.4 Zu Forschungsfrage 4: Internationale Zusammenarbeit erhöht das Regulierungsniveau In einem vierten Schritt soll ein Versuch der Erklärung dieser Politikentwicklung hin zu strengeren Standards unternommen werden. Mit einem einfachen Regressionsmodell wird geschätzt, wie sich die Variation des Trends der (wegen der Vergleichbarkeit normalisierten) Umweltstandards durch Faktoren erklären lässt, die in der Literatur diskutiert werden. Dazu wird ein über vier Zeitpunkte von 1970 bis 2000 gepoolter Datensatz von 24 Ländern analysiert. Tabelle 10 zeigt das Ergebnis der GLS-Schätzung mit einem AR(1)-Ausgleich. Die abhängige Variable besteht aus den normalisierten Werten der zwölf Standards, die nach der Zahl der vorhandenen Standards gewichtet wird, um Länder, die nur einen, aber strengen Standard haben, nicht zu begünstigen. Ein hoher Wert bedeutet ein hohes Schutz-
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niveau, also numerisch niedrige Standards. Drei internationale und vier nationale Erklärungsfaktoren wurden in die Gleichung mit aufgenommen.10 Die Mitgliedschaft in der EU scheint keinen signifikanten Einfluss auf die Höhe der Regulierungen auszuüben. Das mag überraschen, könnte aber darin begründet liegen, dass EU-Standards meist als Mindeststandards funktionieren und daher Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten nicht überdecken, während sich Nicht-Mitglieder wie Norwegen oder zukünftige Mitglieder immer schon an EU-Vorgaben orientiert haben. Zudem waren Länder wie Griechenland, aber auch Irland bei mancher Umsetzung von europäischen Vorgaben eher zögerlich am Werke. Tabelle 10: Regression der Regulierungshöhe 12 Umweltstandards (1) EU-Mitgliedschaft Mitgliedschaft in internationalen Institutionen Handelsoffenheit
(2)
(3)
0,791
2,841
(3,95)
(3,94)
4,416***
4,108***
(0,86)
(0,89)
0,0558
0,0123
(0,065)
(0,058)
Pro-Kopf-Einkommen (log) Bevölkerungsdichte CO2-Emissionen pro Kopf Einfluss grüner Parteien
6,480***
1,528
(2,10)
(2,15)
0,0379**
0,0393**
(0,019)
(0,017)
0,720
0,389
(0,50)
(0,44)
2,490
3,321*
(2,06)
(1,90)
Beobachtungen
96
96
96
Einheiten
24
24
24
0,71
0,68
0,76
R²
GLS-Regression mit AR(1), Standardfehler in Klammern *** p < 0,01, ** p < 0,05, * p < 0,1, Dummyvariablen für die Zeitpunkte und Konstante geschätzt, aber nicht angegeben
10
Zu den Variablen sowie zu Informationen über die verwendeten statistischen Verfahren siehe auch detaillierter HOLZINGER, KNILL & SOMMERER 2007.
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Globalisierung und Umweltregieren
137
Die Mitgliedschaft in internationalen Institutionen hingegen ist ein wichtiger und robuster Indikator, und er steht in positivem Zusammenhang mit dem Regulierungsniveau.11 Die Vernetzung von Regierungen in solchen Organisationen und Regimen, die entweder alleine über die Ausbreitung und Bewertung von Informationen, oder aber über die Vereinbarung von gemeinsamen rechtlichen Verpflichtungen auf die einzelnen Mitglieder einwirken können, ist gemäß der hier durchgeführten Regressionsanalysen der maßgebliche Einflussfaktor hinter der Ausbreitung immer strengerer Standards. Der dritte internationale Faktor, die Handelsoffenheit, gemessen als Verhältnis von Importen und Exporten zur Größe des nationalen Marktes, spielt bei der Erklärung jedoch keine sichtbare Rolle, was insofern nicht erstaunt, als auch kein Abwärtswettlauf zu beobachten ist. Der Koeffizient ist zwar positiv, aber nur schwach und dabei nicht signifikant. Bei den Erklärungsfaktoren auf nationaler Ebene zeigt sich ein positiver Einfluss des (logarithmierten) Wohlstandsniveaus für eine strenge Umweltpolitik, was der Erwartung entspricht, dass reiche Gesellschaften sich einen solchen Schutz eher leisten können und die Wähler diesen auch honorieren. Der Koeffizient behält zwar sein Vorzeichen, ist jedoch nicht mehr signifikant, wenn die internationalen Faktoren in die Gleichung aufgenommen werden (siehe Tabelle 10). Während CO2-Emissionen als Indikator für parallelen Problemdruck keine signifikanten Ergebnisse produzieren, sieht es bei der Bevölkerungsdichte anders aus: Eine hohe Dichte scheint hier positiv mit strengen Standards zu korrelieren. Ebenso verhält es sich gemäß der allgemeinen Erwartung mit dem Einfluss grüner Parteien: Sind sie in einem Land bei Wahlen, in Parlamenten und in der Regierungsbeteiligung erfolgreich, geht dies mit einem höheren Regulierungsniveau einher.
5
Zusammenfassung der Ergebnisse
Es zeigen sich im Bereich der nationalen Umweltpolitik primär vier Befunde. Zum einen findet eine Angleichung der nationalen Politikrepertoires, der Instrumente und auch der einzelnen Umweltstandards statt. Dies muss jedoch nicht zu einheitlichen Politiken führen, die vielleicht nicht überall gleich gut geeignet sind; Problemlage, institutionelles Setting und Verwaltungskulturen in den einzelnen Ländern variieren mitunter stark. Stattdessen kann sich auch eine Konvergenz rund um verschiedene Cluster bilden, wie es etwa in Abbildung 25 zu beobachten ist.12 Als zweites Ergebnis kann festgehalten werden, dass mit der Konvergenz eine Verschärfung unterschiedlicher Umweltstandards einhergeht. Anstatt eines von der Standortkonkurrenz getriebenen Wettlaufs hin zu laxeren Standards ist zu beobachten, dass im Laufe des Untersuchungszeitraums immer strengere Standards eingeführt wurden, und dass sich die Zahl der Abwärtsbewegungen im vernachlässigbar geringen Rahmen hält. Hingegen ist eine massive Zahl an Verschärfungen festzustellen. Drittens sind diese beiden Trends nicht Ergebnis einer vollständig parallelen Entwicklung, in der ähnliche Staaten noch ähnlicher werden und fortschrittliche noch fortschrittlicher. Stattdessen ist ein auffälliges Maß an Mobilität in einem Ranking der Länder zu beo11
Erfasst werden die staatlichen Mitgliedschaften in 35 Organisationen und Institutionen aus dem Umweltbereich, gewichtet nach dem Umfang ihres Betätigungsfeldes. 12 Zur Konvergenzforschung und Globalisierung siehe auch DREZNER 2001; HEICHEL & SOMMERER 2007; HOLZINGER & KNILL 2005.
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Thomas Sommerer & Stephan Heichel
bachten, sowohl was die Breite des Repertoires angeht (Tabelle 5), als auch die Strenge der Standards betreffend. Ebenso werden selbstverständlich einige Erwartungen an besonders fortschrittliche und eher zögerlich den Umweltschutz verfolgende Länder erfüllt. Eine Antwort darauf, ob diese Entwicklungen mit Erklärungsfaktoren verknüpft werden können, liefert eine einfache Regressionsanalyse. Sie zeigt, dass Umweltstandards entgegen mancher Erwartung kaum mit der Handelsoffenheit, die ökonomischen Wettbewerbsdruck darstellen soll, in Verbindung gebracht werden können. Stattdessen ist der Kooperation auf internationaler Ebene in Regimen und Organisationen eine große Bedeutung zuzumessen wie auch anderen Faktoren, z. B. dem ökonomischen Entwicklungsniveau eines Landes oder dem tatsächlich vorliegenden Problemdruck. All diese Ergebnisse können nur unter bestimmten Einschränkungen generalisiert werden, etwa was den Zeitraum und die Länderauswahl betrifft oder auch die Tatsache, dass es sich bei den hier erhobenen Daten um Gesetze und Verordnungen zum Umweltschutz handelt, jedoch nicht Daten über Umweltqualität.13 Trotzdem geben sie ein vielfältiges und buntes Bild einer Politikentwicklung im Umweltschutz preis. Sie können dabei einen Beitrag leisten, ein oftmals eher vages Bild unterschiedlicher Facetten der Politikkonvergenz klarer zu skizzieren, was bei Untersuchungen zu anderen Regionen und anderen Politikfeldern helfen kann, das Phänomen der politischen Globalisierung zu erkennen, zu verstehen und die Auswirkungen deutlich zu machen.
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13
Die jedoch nicht nur von politischen und ökonomischen Faktoren beeinflusst wird, sondern auch durch zufällige Faktoren wie etwa Wetter- und geographische Bedingungen oder geschichtliche Ereignisse wie den Niedergang der Wirtschaft in Osteuropa Anfang der 1990er Jahre; siehe dazu auch HEICHEL & SOMMERER 2007.
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Globalisierung und Tourismus: Paradiese unter Palmen auf Kosten der Armen? Christian Steiner
1
Tourismus zum Vor- oder Nachteil der Dritten Welt?
Der internationale Tourismus ist gleichzeitig Phänomen und Treiber der zunehmenden Globalisierung. Insbesondere im Tourismus aus der so genannten Ersten in die Dritte Welt1 begegnen sich Menschen mit unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen. Der Entwicklungsländertourismus2 weist viele Facetten auf, die zu thematisieren sich lohnen würde. Es ließe sich über interkulturelle Begegnungen, über unangepasstes Verhalten von Touristen, über soziale und kulturelle Folgen des Entwicklungsländertourismus reflektieren. Zugleich ist die Diskussion über die Eignung des Tourismus zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklung gut 40 Jahre alt. Die unbezweifelten Vorteile, die der Tourismus als Hebel zur wirtschaftlichen Entwicklung bietet (vgl. bspw. MIHALIČ 2004; ROE et al. 2004; SHARPLEY 2004), liegen verkürzt dargestellt darin, dass erstens die Konsumenten touristischer Dienstleistungen zu den Erzeugern kommen müssen. Der Tourismus bietet daher potenziell auch Personen die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die in der Regel keinen direkten Zugang zu den Absatzmärkten der Industriestaaten für die von ihnen produzierten Güter oder Dienstleistungen haben. Zweitens besitzen auch arme Gesellschaften Werte, die wirtschaftlich genutzt werden können, wie schöne Landschaften oder kulturelle Attraktionen. Drittens liegen viele touristische Hauptattraktionen in peripheren Gebieten. Der Tourismus kann daher einen erheblichen Beitrag zur Regional- und Infrastrukturentwicklung liefern. Viertens kann der Tourismus positive Auswirkungen auf die Gesamtökonomie ausüben, indem er Verbindungen zu anderen Wirtschaftszweigen ausbildet3, und fünftens können durch den Tourismus Deviseneinnahmen generiert werden, die die meisten Entwicklungsländer dringend zum Ausgleich ihrer defizitären Leistungsbilanzen benötigen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des internationalen Tourismus sind jedoch stark umstritten. Kritiker sehen die meisten positiven wirtschaftlichen Impulse des internationalen Tourismus durch eine weitgehende Außenabhängigkeit der Entwicklungs-
1
Zur Geschichte des Begriffs, der in Abgrenzung zur Ersten Welt der kapitalistisch-industrialisierten Staaten Nordamerikas und Westeuropas sowie zum Block der kommunistisch-sozialistischen Staaten der Zweiten Welt entstanden ist, siehe PORTER & SHEPPARD (1998: 3f.). 2 Wenn hier von Entwicklungsländern oder entwickelten Ländern die Rede ist, muss betont werden, dass damit in keiner Weise eine normativ wertende Absicht verfolgt wird. Die Benutzung dieser Begriffe soll lediglich dazu dienen, relative Unterschiede der nominalen Wirtschaftskraft auszudrücken. Der Entwicklungsbegriff ist völlig zu Recht hochgradig umstritten, da er normative Bewertungsmuster unterschwellig ins Spiel bringt und eine lineare Entwicklungslogik von Gesellschaften suggeriert, die final äußerst eurozentrisch angelegt ist. Dass der Begriff trotzdem hier verwendet wird, liegt darin, dass ein geeigneterer und besser etablierter Begriff kaum vorhanden ist. Nichtsdestotrotz muss bei seiner Verwendung ein kritischer Umgang an den Tag gelegt werden. 3 Direkte positive Verbindungen ergeben sich bspw. in der Lebensmittel- und Möbelproduktion oder der Baustoffindustrie.
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Christian Steiner
länder zunichte gemacht, im Rahmen derer die Gewinne aus dem Tourismus im Wesentlichen wieder in die Industrieländer abflössen. Im Zentrum dieses Beitrages soll daher die Frage stehen, ob die Globalisierung im Tourismus als Hebel zu Entwicklung und Armutsreduktion tauglich ist oder ob die geschaffenen Paradiese unter Palmen auf Kosten der Armen in der Dritten Welt errichtet worden sind. Haben wir, so könnte man etwas plakativ formulieren, es gar mit einem neuen Muster einer Nord-Süd-Ausbeutung zu tun, wie einige globalisierungskritische Gruppen vermuten?
2
Globalisierung des Tourismus
Der internationale Tourismus ist weltweit einer der dynamischsten Wachstumssektoren. Seit 1950 sind die internationalen Touristenankünfte von 25 Mio. auf 808 Mio. im Jahr 2005 gestiegen. Die damit erlösten Einnahmen überschreiten im Jahr 2005 682 Mrd. US$ an Einnahmen. Bis 2020 erwartet die Welttourismusorganisation (World Tourism Organization WTO) eine Steigerung der internationalen Reisetätigkeit auf weltweit mehr als 1,5 Mrd. Touristenankünfte jährlich (vgl. Abbildung 29), wodurch mehr als zwei Billionen US-Dollar im internationalen Tourismus umgesetzt würden (vgl. WTO 2006a; 2006b). Vergleicht man die Exporterlöse aus dem Tourismus mit denen aus anderen Branchen wie der Automobilindustrie, wird die große Bedeutung der Tourismuswirtschaft im weltwirtschaftlichen Maßstab deutlich. Im Jahr 2005 entfallen auf Erlöse aus Tourismusdienstleitungen 5,5 % der globalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Autos als wichtigstes einzelnes Handelsgut zeichnen sich demgegenüber nur für 3,9 % der Erlöse aus den globalen Dienstleistungs- und Güterexporten verantwortlich (vgl. UNCTAD 2007; WTO 2006a). Abbildung 29: Entwicklung des globalen Tourismus von 19502020 IST
1.750
Prognose
1561,1
Touristenankünfte in Mio.
1.500 1.250 1006,4
1.000 698,8
750 458,2
500 250 0
25,3
69,3
1950
1960
165,8
1970
286,0
1980
1990
2000
2010
2020
Datenquelle: WTO 2006a; 2006b; eigener Entwurf
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Globalisierung und Tourismus
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Betrachtet man die globale Struktur des internationalen Tourismus4, fällt seine sehr ungleiche Verteilung auf (vgl. Abbildung 30). Die Karte vermittelt ein plastisches Bild der weltweiten Schwerpunkte internationaler Reisetätigkeit. Wie anhand der Kreisgrößen der Diagramme hervortritt, liegen die Hauptzielgebiet des internationalen Tourismus vor allem in den Industrieländern (IL). Die weltweiten Touristenströme bewegen sich innerhalb der so genannten Triade aus Nordamerika, Westeuropa und (Süd-)Ostasien inklusive Ozeaniens und spiegeln damit die Verteilung des globalen Wohlstandes wider. Auffällig ist, dass besonders in den wirtschaftlich wohlhabenderen Regionen der Welt der Anteil des intraregionalen Tourismus am internationalen Reiseverkehr höher ist als in ärmeren Gebieten wie Südasien, Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten. Die Globalisierung im Bereich des Tourismus spielt sich also vorwiegend in Form einer überstaatlichen Regionalisierung ab, wie sie von HELMUTH NUHN (1997) in Bezug auf Handel und Finanzströme beschrieben wurde. Die Möglichkeit zum Konsum touristischer Dienstleistungen im Ausland steigt mit höherem Einkommen. Arme Regionen haben daher ein deutlich niedrigeres endogenes Nachfragepotenzial. Zum Absatz ihres touristischen Dienstleistungsangebotes sind sie deshalb überproportional auf den interregionalen Tourismus und damit vor allem auf Konsumenten aus den Quellenmärkten der IL angewiesen. Betrachtet man sich etwas genauer die wichtigsten Quellmärkte im internationalen Tourismus (vgl. Abbildung 31), lässt sich eine deutliche Konzentration in Europa und Nordamerika, aber auch im Ostasiatischen Raum ausmachen. Unter den zehn weltweit größten Tourismusmärkten im Jahr 2005 führt Deutschland mit 72,2 Mrd. US$ Ausgaben die Liste vor den USA und dem Vereinigten Königreich an. Erst an siebter Stelle befindet sich mit China ein Entwicklungsland in dieser Gruppe. Da andererseits der Hauptanteil der Touristen in Entwicklungsländern (EL) folglich aus den IL stammt, bietet eine Tourismusförderung in EL die Möglichkeit der Umverteilung von Wohlstand von Nord nach Süd.
4 Dass der Tourismus in Nordamerika keine so wichtige Rolle zu spielen scheint, wie in Europa, trügt denn in Nordamerika entfällt im Gegensatz zu Europa der Hauptanteil der Reisetätigkeit auf den Binnentourismus und ist nicht grenzüberschreitend. Nur der grenzüberschreitende internationale Tourismus ist hier jedoch dargestellt.
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10 Mio.
100 Mio. 50 Mio.
Touristenankünfte 400 Mio. 300 Mio. 200 Mio.
Südamerika
Nordamerika
Subsahara Afrika
Mittlerer Osten
Sonstige
Südasien
Osteuropa
Asien/Pazifik
Amerikas
Europa
Ostasien/Pazifik
Abbildung 30: Karte der globalen Struktur des internationalen Tourismus nach Ziel- und Herkunftsregionen im Jahr 2000 Datenquelle: World Tourism Organisation 2006 Kartographie: Christian Steiner
Anteil intra-regionaler Tourismus
Subsahara Afrika
Mittlerer Osten
Westeuropa
Abbildung 30: Karte der globalen Struktur des internationalen Tourismus nach Ziel- und Herkunftsregionen im Jahr 2000
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Globalisierung und Tourismus
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Abbildung 31: TOP-10 der touristischen Quellmärkte 2005 Deutschland
72,7
USA
69,2
UK
59,6
Japan
37,5
Frankreich
31,2
Italien
22,4
China
21,8
Kanada
18,4
Russland
17,8
Niederlande
16,2 0
10
20
30
40
50
60
Ausgaben in Mrd. US$
70
80
90
100
Datenquelle: WTO 2006a; 2006b; eigener Entwurf
2.1 Einbindung der Entwicklungsländer in den internationalen Tourismus Die wichtigsten Destinationen weltweit liegen allerdings ebenfalls vorwiegend in IL (vgl. Abbildung 32). Frankreich führt die Liste der meistbesuchten Destinationen mit rund 76 Mio. Touristen im Jahr 2005 vor Spanien und den Vereinigten Staaten mit knapp 56 bzw. 50 Mio. Touristen an. Auf Platz vier folgt dann jedoch mit China bereits das erste EL. Insgesamt finden sich mit China, Mexiko und der Türkei drei EL unter den zehn größten Tourismusdestinationen weltweit. Betrachtet man die Verteilung der weltweit größten touristischen Zielmärkte in EL für das Jahr 2005 (vgl. Abbildung 33) fällt auf, dass China bereits heute die wichtigste Destination unter allen EL darstellt. In den globalen Tourismus sind vor allem so genannte Schwellenländer (Türkei, Mexiko, Thailand, Malaysia) eingebunden oder Länder, die eine hohe wirtschaftliche Dynamik (China, Indien, Südafrika) aufweisen. Die drei arabischen Staaten Ägypten, Saudi-Arabien und Marokko sind jedoch weder den Schwellenländern zuzuordnen, noch sind sie wirtschaftlich sehr dynamisch. Sie stellen insofern eine Ausnahme von obigem Befund dar. Ihre Ausnahmestellung ist vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen: Erstens weisen Marokko und Ägypten eine strategische Nähe zu den wichtigen europäischen Quellmärkten auf und bieten eine lange Badesaison. Ägypten ist überdies, neben den Kanarischen Inseln, die für Westeuropa nächstgelegene Ganzjahresbadedestination. Zweitens bietet vor allem Ägypten mit den pharaonischen Altertümern einmalige kulturhistorische Sehenswürdigkeiten ersten Ranges, die ihm zweifellos eine Sonderstellung auf den globalen Tourismusmärkten verschaffen. Drittens genießt Saudi-Arabien wegen seiner für
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Christian Steiner
Muslime bedeutsamen Pilgerorte Mekka und Medina eine Ausnahmestellung im globalen Tourismus. Abbildung 32: TOP-10 der touristischen Destinationen 2005 Frankreich
76,0
Spanien
55,6
USA
49,4
China
46,8
Italien
36,5
UK
30,0
Mexico
21,9
Deutschland
21,5
Türkei
20,3
Österreich
20,0 0
10
20
30
40
50
60
Touristenankünfte in Mio.
70
80
90
100
Datenquelle: WTO 2006a; eigener Entwurf
Abbildung 33: TOP-10 der touristischen Zielmärkte in Entwicklungsländern 2005 China
29,3
Türkei
18,2
Mexico
11,8
Thailand
10,1
Malaysia
8,5
Indien
7,4
Südafrika
7,3
Ägypten
6,9
Saudi-Arabien
6,1
Marokko
4,6 0
10
20
30 40 50 60 Einnahmen in Mrd. US$
70
80
90
100
Datenquelle: WTO 2006a; eigener Entwurf
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Globalisierung und Tourismus
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Innerhalb der Gruppe der EL können die ärmsten Länder, die so genannten Least Developed Countries (LDCs)5, mit nur 0,7 % der globalen Touristenankünfte im Jahr 2000 lediglich einen sehr geringen Teil der internationalen Touristenströme auf sich ziehen (vgl. Abbildung 34). Offenbar können vor allem die EL von der Globalisierung des Tourismus profitieren, die bereits ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Entwicklung realisiert haben. Bilanzierend kann also festgehalten werden, dass die Globalisierung des Tourismus sich folglich vornehmlich in den Entwicklungsländern abspielt, in denen zum einen eine größere regionale Kaufkraft die Nachfrage nach touristischen Dienstleistungen antreiben kann und zum anderen bereits ein höheres Entwicklungsniveau erreicht ist. Erst dann ist eine Destination in der Lage, internationale Standards der touristischen Infrastruktur und Servicequalität zu erfüllen, die wiederum eine notwendige Voraussetzung für eine (Massen-)Tourismusentwicklung darstellen. Dieser Befund verleitet zu der Annahme, das Entwicklungspotenzial durch Tourismus sei für die EL eher begrenzt. Der Tourismus in EL wächst jedoch bedeutend schneller als der in den IL (ROE et al. 2004: 6). Ein Vergleich der Verteilung der Touristenankünfte von 1973 mit denen von 2000 demonstriert, dass es den EL in den letzten 30 Jahren möglich war, massiv an Marktanteilen im internationalen Tourismus zu gewinnen und heute über 40 % der internationalen Touristenströme auf sich zu vereinigen. Hiervon profitieren in besonderem Maße auch die LDCs, deren Einnahmen aus dem Tourismus allein zwischen 1990 und 2000 fast dreimal so stark angewachsen sind wie die der OECD-Staaten. Abbildung 34: Anteile der Entwicklungsländer am internationalen Tourismus 1973 und 2000
2000
58
1973
41,3
79,2
0
20,8
20 40 60 80 Prozent der globalen Touristenankünfte Industrieländer
Entwicklungsländer
0,7
100
LDC
Datenquelle: ASHLEY et al. 2004; eigener Entwurf 5 Die Länder der Gruppe der LDCs wurden erstmals 1971 von den Vereinten Nationen als solche definiert. Sie umfassten seit 2003 die 50 ärmsten Länder der Welt mit weniger als 75 Mio. Einwohnern, in denen die Bevölkerung durchschnittlich weniger als 750 US$ Bruttojahresnationaleinkommen pro Kopf erwirtschaften. Das ProKopf-Einkommen ist jedoch nicht das einzige Kriterium, das ein Land erfüllen muss, um als LDC klassifiziert zu werden. Die Vereinten Nationen haben einen umfangreichen Kriterienkatalog angelegt, der erstens weitere wirtschaftliche Kriterien zur Verwundbarkeit und Außenabhängigkeit der jeweiligen Ökonomie und zweitens soziale Kriterien wie Ernährung, Gesundheit, Bildung oder die Alphabetisierungsrate berücksichtigt (UNO 2007).
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2.2 Wirtschaftliche Relevanz des internationalen Tourismus für die Entwicklungsländer Die geringe Teilhabe vor allem der ärmsten EL am internationalen Tourismus wirft die Frage auf, inwiefern die globalisierte Tourismusentwicklung für insbesondere die ärmsten EL wirtschaftlich relevant ist. Um diese Frage beantworten zu können, müssen zunächst geeigneten Kriterien definiert werden, um die wirtschaftliche Relevanz zu messen. Das britische Entwicklungshilfeministerium (Department for International Development DFID) geht beispielsweise davon aus, dass der Tourismus dann für eine Volkswirtschaft eine erhebliche Rolle spielt, wenn eines von zwei Kriterien erfüllt ist: Entweder muss der Anteil des Tourismus am Bruttosozialprodukt (BSP) höher als zwei Prozent sein oder der Anteil der Tourismuseinnahmen an allen Exporterlösen sich auf mehr als fünf Prozent belaufen (vgl. DFID 1999b). Macht man sich diese Kriterien als Maßstab zu eigen, so ist der Tourismus im Jahr 2000 in allen zwölf ärmsten Länder der Welt6, die zusammen mehr als eine Milliarde Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze von einem US$/Tag beherbergen, ein signifikanter Wirtschaftssektor. In elf der zwölf Länder ist er sogar hoch signifikant mit einem BSP-Anteil von mehr als fünf Prozent und/oder einem Exportanteil von mehr als zehn Prozent. In 47 der 50 ärmsten Länder der Welt ist der Tourismus ein signifikanter und in 41 von 50 sogar ein hoch signifikanter Wirtschaftsfaktor (vgl. ROE et al. 2004: 22). Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Tourismus in weit mehr als der Hälfte der EL als signifikanter Wirtschaftssektor betrachtet werden kann (vgl. DFID 1999b). Der Tourismus ist mit diesen Kennzahlen für die meisten EL bedeutender als jeder andere Exportsektor. Der Tourismus befindet sich in 80 % aller EL sogar unter den fünf wichtigsten Exportsektoren und stellt den wichtigsten Exportsektor für ein Drittel aller EL dar (ROE et al. 2004: 19). Im Gegensatz zu den IL weisen die EL zudem einen Überschuss in ihrer Tourismusbilanz auf, d. h. sie sind Netto-Exporteure touristischer Dienstleistungen (ROE et al. 2004: 15). Dieser Überschuss hat sich seit 1980 vervielfacht. Betrug er 1980 noch 4,6 Mrd. US$, so stieg er bis 1997 bereits auf 62,2 Mrd. US$ an (MILNE & ATELJEVIC 2001: 371). Der Tourismus hat aus dieser makroökonomischen Perspektive eindeutig das ökonomische Potenzial, zur Armutsbekämpfung beizutragen. Allerdings ist mit dieser makroökonomischen Perspektive noch keine Aussage verbunden, wer von den Einnahmen aus dem Tourismus in welchem Maß profitiert.
3
Wirtschaftliche Auswirkungen des Entwicklungsländertourismus: Ausbeutung und Neokolonialismus?
In der Theorie vor allem in einer modernisierungstheoretischen (vgl. DAVIS 1968) und neoklassischen (vgl. BROHMAN 1996) ist es recht unzweifelhaft, dass der Tourismus positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung von EL ausübt. Demnach geht man davon aus, dass eine zunehmende Weltmarktintegration zu steigenden Deviseneinnahmen 6 Unter einem armen Land werden die Länder verstanden, die die höchste absolute Anzahl und den höchsten relativen Anteil der Bevölkerung aufweisen, der mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem US$/Tag leben muss, sowie die Länder, die von der UNO als LDCs klassifiziert sind (vgl. ROE et al. 2004: 22).
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aus dem Tourismus führt, wodurch die Probleme von EL im Ausgleich ihrer Handelbilanzdefizite abgemildert werden. Die generierten Einnahmen schaffen in der Theorie Beschäftigung, aus denen über Sickereffekte Wohlstandsgewinne für alle Individuen in einer Volkswirtschaft entstehen. Die Hauptkritik an der Idee der Tourismusförderung als Hebel zur wirtschaftlichen Entwicklung setzt genau an diesen vier Punkten an. Die vor allem marxistisch, dependenztheoretisch informierte Kritik postuliert, dass durch zunehmende Weltmarktintegration die Außenabhängigkeit steigt. Damit verliert die betroffene Volkswirtschaft vor allem Kontrolle über ihre endogene Entwicklung an transnationale Konzerne. Sie wird zunehmend fremdbestimmt und ist anfällig für exogene Veränderungen wie veränderte Konsummuster in den touristischen Quellmärkten, auf die sie keinen Einfluss hat (vgl. BRITTON 1982; 1991; CRICK 1988; PRODEL 1983; KUSLUVAN & KARAMUSTAFA 2001). Die Kritiker argumentieren, dass die durch Weltmarktintegration zweifelsohne generierten Deviseneinnahmen deshalb zum größten Teil wieder aus den EL in ihre Herkunftsländer abflössen (vgl. UTHOFF 1988: 88). Schuld daran seien die Bedienung ausländischer Kredite, mit denen der Ausbau des Tourismussektors bezahlt würde, die Finanzierung der für den Tourismusbetrieb notwendigen Importe (wie Ausstattungsgegenstände, Einrichtungen und Alkoholika) sowie Gewinntransfers transnationaler Konzerne. Dies führe in der Summe dazu, so die Kritik, dass bis zu 80 % der Deviseneinnahmen den EL wieder verloren gingen (vgl. BRITTON 1982: 340; BRYDEN 1973; CRICK 1988: 45; KUSLUVAN & KARAMUSTAFA 2001; PRODEL 1983: 47; NUSCHELER 1991; WILLIAMS & SHAW 1998: 6; UNEP 2001). Zudem seien die Beschäftigungseffekte kritisch zu bewerten (vgl. STEINECKE 2006: 99). Die Mehrheit vor allem der gut bezahlten Arbeitsplätze werde durch westliche Ausländer eingenommen, während lokale Beschäftigte schlecht bezahlt seien. Die Anzahl der geschaffenen Arbeitsplätze sei zudem niedriger als in anderen wirtschaftlichen Sektoren und die Saisonalität der Arbeitsplätze und lange Arbeitszeiten seien zudem Indikatoren für eine ausbeuterische Struktur des internationalen Tourismus (vgl. ADERHOLD et al. 2000: 33; CRICK 1988: 46; MIHALIČ 2004: 104; PORTER & SHEPPARD 1998: 548ff.; PRODEL 1983: 43; UNEP 2001). Letztlich würden auch die angenommenen Sickereffekte oftmals überschätzt (vgl. MIHALIČ 2004: 96) und die Profite aus dem Tourismus seien ungleich verteilt. In erster Linie profitierten transnationale Unternehmen und lokale Eliten, während einfache Arbeiter und Arme in den Zielgebieten nicht adäquat an den Einnahmen beteiligt würden (vgl. BRITTON 1982; LEA 1988; MILNE & ATELJEVIC 2001: 375). In der Summe ergebe sich daraus eine steigende Außenabhängigkeit ohne substanziellen Wohlfahrtsgewinn für die unteren Bevölkerungsschichten. Durch den hohen Gewinntransfer und die ausländische Kontrolle ähnele der internationale Entwicklungsländertourismus eher einer neokolonialen Ausbeutungsstruktur (MATHEWS 1978), in der Bürger aus westlichen Staaten Urlaub in Paradiesen unter Palmen auf Kosten der Armen machten, als einem Hebel zur Entwicklung von EL und zur Armutsreduktion.
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Christian Steiner Wirtschaftliche Auswirkungen des Entwicklungsländertourismus: Wohlstandstransfer in den Süden?
Anhand des Beispiels Ägyptens wird nachfolgend untersucht, inwieweit sich diese Kritik aufrechterhalten lässt. Dazu wird eine Makroanalyse mit eigenen empirischen Arbeitsergebnissen und mit Ergebnissen anderer Studien kombiniert. Abbildung 35: Entwicklung der Touristenankünfte in Ägypten von 19602005 9
Touristenankünfte in Mio.
8 7 6
+ 658 %
5 4 3 2 1 0
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Datenquellen: SCHAMP 1977; IMF div. Jahre; GRAY 1998; WTO 2006a; MOT div. Jahre; eigener Entwurf
Der Tourismus in Ägypten hat vor allem seit den 1980er Jahren enorm an Fahrt gewonnen (vgl. Abbildung 35). Zwischen 1980 und 2005 sind die Touristenankünfte von 1,253 Mio. auf 8,244 Mio. gestiegen, was einer Zunahme um 658 % entspricht. Die Einnahmen aus Hotels und Restaurants haben sich zwischen der Saison 1986/87 und 2004/05 von 380 Mio. US$ auf 6,4 Mrd. US$ versiebzehnfacht. Die Einnahmen aus dem Tourismus sind im Fiskaljahr 2004/05 noch vor Erdöl oder Suezkanalgebühren die wichtigste einzelne Deviseneinnahmequelle des Landes. Der internationale Tourismus steuert heute rund 19 % zu den Gesamtdeviseneinnahmen bei (vgl. Abbildung 36). Dass die Grafik ein noch größeres Segment enthält, sollte nicht zu Irritationen führen: Es umfasst alle Nicht-Erdölexporte zusammen, die von Lebensmitteln über Baustoffe bis hin zu Industriegütern und Bekleidung alle möglichen Warengruppen beinhalten. Die offiziellen Statistiken der Tourismuseinnahmen zeigen jedoch nur die Einnahmen aus Hotels und Restaurants diese machen aber nur etwa 40 % der direkten wirtschaftlichen Effekte des Tourismus aus. Touristen tätigen selbstverständlich außerhalb von Hotels und Restaurants erhebliche Ausgaben in ihren Reiseländern, sei es für Transport, Führer, Eintrittsgebühren, Souvenirs sowie sonstige Konsumgüter und Dienstleistungen von Sonnenmilch bis zum Friseur. Interpretiert man daher die offizielle Statistiken zu rigi-
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de, führt dies zu einer systematischen Unterschätzung der ökonomischen Effekte des Tourismus.7 Für das Fiskaljahr 2004/05 weist die Statistik offiziell einen Anteil der Einnahmen aus Hotels und Restaurants von 3,5 % am BSP bzw. 6,4 Mrd. US$ aus rechnet man jedoch die anderen direkten sowie die indirekten Effekte des Tourismus hinzu, so ergibt sich ein Anteil des Tourismus am BSP von rund 27,4 Mrd. US$ .Verglichen mit dem gesamten BSP Ägyptens in Höhe von rund 82 Mrd. US$ bedeutet dies, dass rund ein Drittel der ägyptischen Volkswirtschaft vom Tourismus abhängt. Abbildung 36: Zusammensetzung der Deviseneinnahmequellen Ägyptens 2004/05
Investitionen 3%
Andere 10%
Suez Canal 10% Transport 3%
Tourismus 18%
Offizielle Transfers 3% Private Transfers 13%
Gesamte andere Exporte 24%
Erdölprodukte 16%
Datenquelle: CBE 2006; eigener Entwurf
4.1 Struktur der ägyptischen Tourismuswirtschaft Ein Blick auf die Struktur der ägyptischen Tourismusindustrie soll nun die Frage beantworten, mit welchen Devisenabflussquoten wir in Ägypten zu rechnen haben. Zunächst ist es daher wichtig festzustellen, dass die touristischen Produktionsmittel sich weit überwiegend in ägyptischer Hand befinden. Wie Daten der Central Bank of Egypt (CBE) und der General Authority for Investment (GAFI) zeigen, stammen etwa 14 % der zwischen 1990 und 2001 getätigten Investitionen im ägyptischen Tourismussektor aus dem Ausland und nur 13 % der ausländischen Direktinvestitionen (ADI) kommen aus IL, während der weit überwiegende Anteil an ADI aus dem arabischen Ausland stammt (GAFI 2001; CBE 7 Dies ist kein ägyptischer Spezialfall, sondern gängige internationale Praxis. Um die gesamtwirtschaftlichen Effekte des Tourismus besser abschätzen zu können, wurde daher unter der Federführung der Welttourismusorganisation das Instrument des Tourism Satellite Account (TSA) entwickelt. Im TSA werden die gesamten direkten und indirekten Effekte des internationalen Tourismus für einzelne Volkswirtschaften berechnet und jährlich ausgewiesen.
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2003)8. Die im Land zahlreich präsenten transnationalen Hotelketten besitzen ihre Hotels überwiegend nicht, sondern betreiben sie in Form von Managementverträgen. Hierfür ist es üblich, an sie eine Gebühr von in der Regel etwa 2 % des Umsatzes und etwa 10 % Gewinnbeteiligung zu entrichten. Aufgrund der von Ägyptern dominierten Eigentümerstruktur verbleibt der größte Teil der im Tourismus erwirtschafteten Profite im Land selbst. Wie Manager aus der ägyptischen Hotel- und Immobilienbranche in Interviews ausgesagt haben, findet die Hotelprojektfinanzierung vorwiegend nicht mit ausländischen, sondern mit lokalen Krediten statt. Die mit den Anlagen erwirtschafteten Profite fließen somit normalerweise nicht wieder als Refinanzierung von Kreditlinien ins Ausland ab. Die Importabhängigkeit der Tourismusbrache ist in Ägypten zudem ausgesprochen niedrig. Der Tourismussektor musste zwischen 2001 und 2005 lediglich etwa 810 % seiner Deviseneinnahmen für Importe aufwenden (WTTC 2006). Mehrere Studien haben zudem gezeigt, dass die Importabhängigkeit und die Gesamtverlustrate der Tourismusbranche weltweit niedriger sind, als die in anderen produzierenden Sektoren. Als Konsequenz verbleiben durchschnittlich zwischen 60 und 80 % der Reiseausgaben in den EL (vgl. ROE et al. 2004: 14; UTHOFF 1996: 91; WTO 2002: 102). Wie UTHOFF am Beispiel Südostasiens gezeigt hat, scheint es einen Zusammenhang zwischen Importabhängigkeit und Größe und Entwicklung einer Volkswirtschaft zu geben (vgl. UTHOFF 1996: 91) und wird in dieser Diagnose von der WTO bestätigt (WTO 2002: 102f.). Je kleiner ein Land ist und je weniger diversifiziert seine Wirtschaft ist, desto mehr Güter muss es für den Produktionsprozess importieren. Dieser Befund gilt dann jedoch gleichermaßen für alle produzierenden Sektoren der betroffenen Ökonomie.9 Der Grund für das Ausmaß der Importabhängigkeit des Tourismussektors liegt also nicht im Tourismus selbst begründet, sondern in den Charakteristika der jeweiligen Volkswirtschaft. Als Zwischenfazit lässt sich daher festhalten, dass die Präsenz transnationaler Unternehmen im Tourismus nicht zwangsläufig zu Auslandsabhängigkeit und Gewinnabfluss führen muss. Statt in lokalen/transnationalen Dichotomien zu denken wie beispielsweise PORTER & SHEPPARD (1998: 552) und von Dependenzbeziehungen auszugehen, scheint es angemessener zu sein, von einer zunehmenden Interdependenz zu sprechen, in der lokale und transnationale Wirtschaftsakteure gegenseitig zunehmend mit ihrem Geschäftserfolg voneinander abhängig sind. Wie sich daher makroökonomisch am Beispiel Ägyptens zeigt, ist der Tourismus in EL also durchaus geeignet, einen massiven Wohlstandstransfer aus den IL in die EL zu befördern.
8 Die ausgewiesenen Werte sind eigene Kalkulationen. Einschränkend muss angemerkt werden, dass der hier angegebene Anteil ausländischer Direktinvestitionen an den Gesamtinvestitionen nur einen Näherungswert darstellt. Da die Zentralbank die Gesamtinvestitionen pro Fiskaljahr ausweist, die GAFI ihre Daten jedoch auf Kalenderjahre bezieht, sind beide Werte mathematisch nicht in Beziehung setzbar. Man kann sich hier daher leider nur mit einer Näherungsschätzung behelfen, die jedoch zumindest die Größenordnung gut anzeigen dürfte. 9 Daher bietet diese Erkenntnis keine Grundlage, um eine tourismusorientierte Entwicklungspolitik negativ zu bewerten. Besonders für sehr kleine EL wie Inselstaaten wurde darüber hinaus nachgewiesen, dass eine sehr hohe Abhängigkeit vom Tourismus (mit einem Tourismusanteil am BIP von mehr als 70 % wie auf den Malediven) im Gegensatz zur Abhängigkeit von einzelnen Wirtschaftsgütern zumeist mit überdurchschnittlichen BIPWachstumsraten korrespondiert (ROE et al. 2004: 19).
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4.2 Volkswirtschaftliche Verteilung der Tourismuseinnahmen Der kritische Punkt in Bezug auf die Frage, ob und inwieweit die Einnahmen aus dem Tourismus nicht nur makroökonomisch zur Entwicklung beitragen, sondern auch zur Armutsreduktion geeignet sind, ist daher hauptsächlich in den lokalen Verteilungsmodi der Tourismuseinnahmen zu suchen. Hier ist festzuhalten, dass lokale Eliten als Investoren und Unternehmenseigentümer oft überdurchschnittlich von den erzielten Tourismuseinnahmen profitieren. So finden sich 1999 lediglich etwa 20 % des Tourismusumsatzes in Ägypten in Form von Löhnen (vgl. TOHAMY & SWINSCOE 2000: 20) wieder die Einkommensschere öffnet sich also weiter. Dies ist aber weniger dem Tourismus als Wirtschaftszweig inhärent, sondern Ergebnis der lokalen Verteilungspolitik, die zumindest teilweise die für Ägypten charakteristische enge Verquickung der politischen mit der wirtschaftlichen Elite widerspiegelt (vgl. PAWELKA 1985), die auch für die Tourismuswirtschaft typisch ist (vgl. SOWERS 2003: 221ff.). Die Folge dieser Verteilungspolitik ist, dass sich den befragten Managern zufolge Investitionen in Hotelanlagen in den 1990er Jahren bereits nach drei bis zehn Jahren amortisiert hatten, was auf erhebliche Gewinnspannen der Eigentümer hindeutet. Trotz der ungleichen Profitverteilung muss aber festgehalten werden, dass die erwirtschafteten Tourismuseinnahmen eine Lebensgrundlage für Millionen Ägypter schaffen.
4.3 Arbeitsplatzpotenzial des Tourismus Der Tourismus weist in Ägypten das höchste Arbeitsplatzpotenzial aller Wirtschaftssektoren inklusive der Landwirtschaft auf (vgl. Tabelle 11). Der Tourismus schafft direkt und indirekt 329 Arbeitsplätzen/1 Mio. US$ Umsatz und ist damit der potenziell dynamischste Beschäftigungssektor im Land.10 Die Tourismuswirtschaft Ägyptens beschäftigt im Jahr 2005 direkt und indirekt etwa 2,5 Mio. Menschen, was etwa 13 % der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung ausmacht (vgl. WTTC 2006: 23). Tabelle 11: Arbeitsplatzpotenzial ausgewählter Wirtschaftssektoren in Ägypten
Arbeitsplätze/ 1 Mio. US$ Umsatz
Tourismus
Landwirtschaft
Bekleidungsindustrie
Bauindustrie
Erdölindustrie
329
293
192
183
13
Quelle: TOHAMY & SWINSCOE 2000: 35.
Der Tourismus leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und zur Verminderung des Drucks auf den Arbeitsmarkt. Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums in Ägypten drängen jedes Jahr etwa 600.000 junge Menschen neu auf den 10
Im internationalen Vergleich ist diese extrem herausgehobene Bedeutung des Tourismus als Beschäftigungsmotor jedoch ungewöhnlich. Im weltweiten Vergleich hat der Tourismussektor zwar ebenfalls ein deutlich höheres Beschäftigungspotenzial als alle produzierenden Wirtschaftssektoren, liegt jedoch zumeist hinter der Landwirtschaft erst auf Platz zwei der Arbeitsplatzintensität (vgl. DFID 1999a: 48).
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Arbeitsmarkt (vgl. EU 2002). Der größte Anteil von ihnen hat keine Aussicht darauf, eine geregelte Beschäftigung zu finden, die ihnen ein hinreichendes Einkommen zum Leben garantiert das gilt auch für Akademiker. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die durchschnittliche Haushaltsgröße in Ägypten bei 4,85 Personen liegt, ist es begründet davon auszugehen, dass bei 2,5 Mio. Beschäftigten das Haushaltseinkommen von rechnerisch etwa zwölf Millionen11 Ägyptern zumindest teilweise auf dem Tourismus basiert. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Ägypter nicht nur die schlechter bezahlten Arbeiten ausführen. Der Tourismus bietet sehr unterschiedliche Verdienstmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung abhängig vom Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer. Nur eine kleine Anzahl an Managementpositionen wird dabei von Ausländern besetzt. Die Anzahl der Ausländer ist den Erfahrungen nach, die ich im Rahmen meiner Forschungstätigkeit gemacht habe, im Abnehmen begriffen, da immer mehr qualifiziertes Personal aus Ägypten und der Region selbst zur Verfügung steht unter anderem, weil die oft gescholtenen transnationalen Konzerne einen erheblichen Aufwand betreiben, um ihr Personal aus- und weiterzubilden.
4.4 Nachteile der Arbeitssituation im Tourismussektor und Maßstäbe ihrer Kritik Trotzdem muss eingeräumt werden, dass die im Tourismus geschaffenen Arbeitsplätze einigen grundsätzlichen Nachteilen unterliegen. Zunächst einmal sind die Einkommensunterschiede zwischen Managementpersonal und niedrig qualifizierten Mitarbeitern nach westeuropäischen Maßstäben exorbitant. Zweitens sind die Arbeitszeiten für unsere Verhältnisse relativ lang. Drittens leiden vor allem die niedrig qualifizierten Beschäftigten unter der Saisonalität12 im Tourismus und sind permanent in Gefahr, außerhalb der Saison temporär entlassen zu werden. Sicherlich sind diese Arbeitsbedingungen nicht ideal, jedoch müssen sie mit den sich bietenden Alternativen verglichen werden. In einem Land wie Ägypten schafft der Tourismus Arbeitsplätze für Menschen, die nicht auf allzu viele Möglichkeiten zurückgreifen können. Selbst wenn sich daraus nur eine Beschäftigung für neun oder zehn Monate im Jahr ergibt, ist dies besser als das ganze Jahr arbeitslos zu sein oder unter den z. T. inhumanen Bedingungen im informellen Sektor zu arbeiten, wie sie beispielsweise MEYER (2001) eindrücklich beschrieben hat. Diese Position soll nicht von vorhandenen Missständen ablenken, jedoch muss meines Erachtens nach den Maßstäben für Kritik und nach den vorhandenen Erwerbsalternativen gefragt werden. Es ist ausdrücklich davor zu warnen, in eine eurozentrische Kritik zu verfallen, die lokale Bedingungen ausblendet und die Tourismuswirtschaft losgelöst von ihrem sozioökonomischen Umfeld betrachtet. Große Einkommensunterschiede und lange Arbeitszeiten sind keine spezifische Eigenschaft der Beschäftigung im Tourismus, sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen Ägyptens gang und gäbe. Die Frage kann daher nicht lauten, ob große Einkommens-
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Die tatsächliche Zahl könnte allerdings etwas niedriger liegen, da besonders für niedrig qualifizierte Tätigkeiten im Tourismus viele junge, unverheiratete Männer beschäftigt werden. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass diese, ohne eigene Frau und Kinder versorgen zu müssen, durch ihre finanzielle Unterstützung zum Einkommen ihrer Großfamilie beitragen. 12 Hierzu muss angemerkt werden, dass die Saisonalität der internationalen Tourismuswirtschaft in Ägypten kaum eine Rolle spielt, da es sich bei Ägypten um eine Ganzjahresdestination handelt. Das Problem stellt sich für die Beschäftigten jedoch sehr wohl im ägyptischen Binnentourismus an der Mittelmeerküste, der im Winter vollständig zum Erliegen kommt.
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unterschiede bestehen, sondern ob sie im Tourismus größer oder kleiner als in anderen Wirtschaftssektoren sind.
4.5 Einkommenspotenzial im Tourismus und Lebensstandard in Ägypten Bei einem Gesamtumsatz der ägyptischen Tourismuswirtschaft von rund 17,2 Mrd. US$ im Jahr 2005 (vgl. WTTC 2006: 21) ergibt sich angesichts der oben geschilderten Ergebnisse von TOHAMY & SWINSCOE eine kalkulatorische Lohnsumme von rund 3,446 Mrd. US$ im Tourismus Ägyptens. Umgelegt auf die etwa 2,5 Mio. Beschäftigten errechnet sich so ein Durchschnittseinkommen von rund 1378 US$ jährlich. Obwohl der Betrag zunächst nicht hoch aussehen mag, ist er in Anbetracht der lokalen Lebenshaltungskosten und verglichen mit dem Jahreseinkommen einer Bauernfamilie aus Oberägypten von rund 250 US$ (vgl. IBRAHIM & IBRAHIM 2005: 102) sehr attraktiv. Tatsächlich gehören die Beschäftigten aus der Tourismusbranche mit einem Durchschnittseinkommen von 1378 US$ zu dem wohlhabendsten Drittel der ägyptischen Gesellschaft (ebd.: XIV). Zusätzlich können Trinkgelder einen erheblichen Anteil am Einkommen ausmachen, die nicht in offiziellen Statistiken zu Buche schlagen. Beschäftigte mit direktem Kontakt zu Touristen bessern so erheblich ihre teils nominell mageren Gehälter auf. In den meisten kritischen Studien über Einkommenseffekte des Tourismus werden Trinkgelder meist jedoch nicht berücksichtigt (vgl. GORMSEN 1996: 27). Busfahrer und Touristenführer erhalten beispielsweise ein nominelles Monatsgehalt, das weit unter dem rechnerischen Durchschnitt liegt. Ihr Einkommen aus Trinkgeldern übersteigt dies jedoch vielfach: Wie eigene Erfahrungen belegen, war es im Jahr 2006 üblich und in den Kalkulationen der Reiseveranstalter bereits enthalten, dass ein Busfahrer rund 1 , ein Reiseleiter rund 2,50 /Tag/Tourist an Trinkgeld erwartet. Reisen beide mit einer Gruppe von 30 Touristen für zehn Tage durch Oberägypten, so ergibt sich für den Busfahrer ein Zusatzeinkommen von 300 , für den Reiseleiter von rund 750 . Der Tourismus bietet also sehr attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten, die im Allgemeinen weit überdurchschnittlich bezahlt werden. Wie tragen nun aber die generierten Einkommen zur Armutsreduktion bei?
4.6 Einkommenstransfers als Teil der Armutsverringerung? GOODWIN (2006: 7ff.) hat in einer Studie in Ägypten untersucht, inwiefern die in den Touristenzentren am Roten Meer und auf dem Sinai generierten Einkommen zur Armutsreduktion im Niltal beitragen. Dazu wurden Forschungsarbeiten in dem bekannten Ferienort Sharm el-Sheik auf dem Sinai durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass 69 % der Einwohner von Sharm el-Sheik alleinstehende Männer sind, die keine eigene Familie haben oder deren Familien nicht vor Ort leben. Die Familien der Beschäftigten sind in den Städten und Dörfern im Niltal angesiedelt. Hier finden sich die ärmsten Gegenden des Landes mit den höchsten Armutsquoten. Aufgrund der im Landesvergleich guten Verdienstmöglichkeiten im Tourismus können die Beschäftigten in Sharm el-Sheik erhebliche Einkommenstransfers an ihre Familien im Niltal leisten. Wie sich herausgestellt hat, überweisen die Beschäftigten im Tourismus durchschnittlich 63 % ihres Einkommens an ihre Familien. Allein aus
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Sharm el-Sheik werden so im Jahr 2003 rund 64 Mio. US$ in das Niltal transferiert und in den lokalen Wirtschaftskreislauf eingespeist (vgl. Tabelle 12). Tabelle 12: Einkommenstransfers der in Sharm el-Sheik Beschäftigten im Jahr 2003
Direkt Beschäftigte
1.347
Ø Überweisung nach Hause in US$ 849
Indirekt Beschäftigte
2.029
1.278
Ø Einkommen in US$
Summe
Anzahl Beschäftigte
Gesamttransfer in US$
21.600
29.095.200
17.280
35.061.120
38.880
64.156.320
Quelle: GOODWIN 2006: 8.
Es ist davon auszugehen, dass dieses Geld dort nicht nur direkt zu einer Reduktion von Armut der unterstützten Familien beiträgt, sondern in Form von Multiplikatoreffekten auch anderen Armen zugute kommt durch die Erhöhung der lokalen Nachfrage und der damit verbundenen Entstehung von Arbeitsplätzen. Kritisch muss im Angesicht dieser Ausführungen allerdings angemerkt werden, dass es nicht nur in Ägypten, sondern insgesamt kaum empirische Untersuchungen über die exakten Sickerraten und den armutsmildernden Effekt von Einkommenstransfers vorliegen. Aussagen über armutsmildernde Wirkungen basieren daher zu einem guten Teil auf Vermutungen.
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Fazit
Der internationale Tourismus konzentriert sich hauptsächlich auf die IL und weiter entwickelte EL. Der Anteil der EL am internationalen Tourismus ist jedoch im Zuge der Globalisierung im Wachsen begriffen, wobei besonders die Gruppe der LDCs einen stark steigenden Anteil am internationalen Tourismusmarkt verbuchen können. Makroökonomisch ist der Tourismus für die größte Anzahl der EL ein hoch signifikanter Wirtschaftssektor, in dem sie in ihrer Leistungsbilanz erhebliche Exportüberschüsse erwirtschaften. Die weltweiten Erlöse aus dem internationalen Tourismus überschreiten bereits heute die Exporterlöse aus dem Automobilbau. Der Tourismus bietet insofern das ökonomische Potenzial, um zu einem erheblichen Wohlstandstransfer von Nord nach Süd beizutragen. Die dependenztheoretische Kritik an diesem Befund scheint zumindest im aufgezeigten Beispiel Ägyptens weitestgehend an den Gegebenheiten vorbei zu gehen. Wie das Beispiel zeigt, hat der Tourismus zweifelsohne ein hohes Potenzial, um zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Armutsreduktion beizutragen. Auf eine Außenabhängigkeit zu referieren, wie die Dependenztheorie suggeriert, erscheint vor den geschilderten Besitzverhältnissen in der Tourismuswirtschaft zumindest im untersuchten Fall als unangemessen. Die Frage, ob die im Tourismus generierten Einnahmen über schwer nachzuvollziehende Sickereffekte zu einer Armutsreduktion beitragen können, ist anscheinend eher eine Frage der Inklusion oder Exklusion von einzelnen Bevölkerungsschichten im Rahmen der tourismuswirtschaftlichen Wertschöpfung. Man könnte daher sagen, dass der Tourismus zwar das Potenzial zur Armutsreduktion besitzt, wie weit sich dies aber auswirken kann, scheint
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vornehmlich von den soziopolitischen Verhältnissen und der daraus resultierenden Verteilungspolitik innerhalb der jeweiligen EL abhängig zu sein. Inwiefern lokale Eliten überdurchschnittlich und nach westeuropäischen Standards beurteilt gegebenenfalls unangemessen stark von den Einnahmen aus dem Tourismus profitieren, ist insofern nicht in erster Linie eine tourismuswirtschaftliche Frage, sondern eher eine politisch-ökonomische Frage finanzpolitischer Umverteilungsmechanismen über Steuerquoten und Sozialprogramme. Der Beitrag des Tourismus zur wirtschaftlichen Entwicklung lässt sich daher immer nur im jeweiligen Länderkontext beurteilen. Paradiese unter Palmen auf Kosten der Armen? Rein tourismusökonomisch lässt sich ein solcher Zusammenhang nicht zwangsläufig herstellen, sondern Tourismus scheint vielmehr grundsätzlich das Potenzial zu implizieren, um Armut zu reduzieren. Von einem neuen Muster einer Nord-Süd-Ausbeutung in einem neo-kolonialen Sinn kann anscheinend nicht die Rede sein. Vor dem Hintergrund der Millenium Development Goals, mit denen eine Halbierung der globalen Armut bis 2015 anstrebt wird, könnte der Tourismus in Zukunft eine Schlüsselrolle spielen. Ob man mit einer Armutsreduktionsstrategie durch Tourismusförderung erfolgreich ist, entscheidet sich jedoch nicht vor einem rein wirtschaftlichen Hintergrund. Auch wenn dies gerade in der Debatte über Globalisierung oftmals in den Hintergrund zu rücken scheint, spielen hierbei lokale soziopolitische Kontexte die zentrale Rolle.
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Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats1 Herbert Dittgen
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Einleitung
Der Titel meines Beitrages ist bewusst zweideutig formuliert. Mein Thema ist zum einen der Bedeutungswandel der Grenzen des Nationalstaats unter den Bedingungen der Globalisierung, zum anderen aber auch die Grenzen der Handlungsfähigkeit des Nationalstaats im Zeichen der Globalisierung. Ich möchte an den Funktionsveränderungen der Grenzen die ambivalenten Auswirkungen der Globalisierung auf den Nationalstaat aufzeigen. Am besten veranschaulichen lässt sich diese Ambivalenz am Beispiel der US-amerikanischmexikanischen Grenze. Die 3360 km lange Staatsgrenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ist zugleich eine Grenze zwischen dem entwickelten Norden und dem unterentwickelten Süden. Sie ist sowohl Ausdruck von Abschottung als auch von Verflechtung. Sie ist eine der betriebsamsten Grenzen der Welt. So zeigen die Zahlen des grenzüberschreitenden Verkehrs den Grad der Integration der US-amerikanischen und der mexikanischen Wirtschaft: Durchschnittlich benutzen jeden Tag 660.000 Menschen die 35 Grenzübergänge, 12.400 Lastwagen überqueren diese Grenze täglich, das grenzüberschreitende Handelsvolumen auf dem Landweg betrug im Jahr 2004 225 Mrd. US$ (Migration Policy Institute 2006). Dieses enorme Handelsvolumen ist auch eine Folge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA, das die meisten Zollschranken beseitigt hat. Diese ökonomische Öffnung ist politisch gewollt, wird jedoch zugleich als ein großes sicherheitspolitisches Risiko eingeschätzt. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem vom Präsidenten George W. Bush im Oktober 2006 unterzeichneten Secure Fence Act. Dieses Gesetz autorisiert die Regierung zum Bau eines Zauns von über 1000 km Länge und zur Installation eines virtuellen Zauns entlang des gesamten Grenzverlaufs. Für die Grenzsicherung werden 7,4 Mrd. US$ bereitgestellt, allein 1,3 Mrd. US$ für die Sicherung der Grenze durch den Bau von Mauern und Zäunen. Zudem werden im nächsten Jahr 10,4 Mrd. US$ für Border Patrol und Grenzsicherung ausgeben. Jedes Jahr werden über eine Million Menschen an der Grenze festgenommen und zurückgeschickt. Im Jahr 2004 sind fast 500 Menschen bei dem Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, umgekommen. Die Grenzsicherung und die Bekämpfung illegaler Migration sind ein zentrales Thema der US-amerikanischen Innenpolitik, dies gilt verstärkt, seit die USA den war on terror ausgerufen haben. Die US-amerikanischen Bemühungen zur Sicherung der Grenzen stellen für die US-amerikanisch-mexikanischen Beziehungen eine erhebliche Belastung dar. Ein nordamerikanisches Sprichwort lautet Good fences make 1 Die hier vorgetragenen Überlegungen bauen auf zwei älteren Publikationen auf: DITTGEN, HERBERT (2000): The End of the Nation-State? Borders in the Age of Globalisation. In: PRATT, MARTIN & JANET ALLISON BROWN: Borderlands Under Stress. Den Haag/London/Boston, Kluwer Law: 4968. DITTGEN, HERBERT (1999): World without Borders? Reflections on the Future of the Nation-State. In: Government and Opposition 34 (2): 1611.
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good neighbours. Das scheint in diesem Fall aber nicht so zu sein. Im Gegenteil, der mexikanische Außenminister Luis Ernesto Derbez hat sogar damit gedroht, die amerikanischen Anstrengungen zur Grenzsicherung als einen unfreundlichen Akt vor die Vereinten Nationen zu bringen (BARCHFIELD 2006). Auf der einen Seite lässt sich demnach eine enorme Steigerung der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Beziehungen, eine Integration über Grenzen hinweg, feststellen und auf der anderen Seite ein nie dagewesenes Ausmaß an Abschottung durch verstärkte Grenzkontrollen und Maßnahmen zur Sicherung der Grenze. Globalisierung führt offensichtlich nicht einfach zum Bedeutungsverlust von Grenzen, zu einer grenzenlosen oder entgrenzten Welt, und auch nicht zu einem Verlust der Kontrolle der Grenzen durch den Nationalstaat. Grenzen öffnen sich ökonomisch und zugleich wächst die sicherheitspolitische Bedeutung der Kontrolle von Grenzen. Mit entsprechend höherem Aufwand werden sie darum geschützt. Das gleiche Phänomen lässt sich bei den Außengrenzen der Europäischen Union beobachten (DIEZ 2006). Grenzen sind für einen Politikwissenschaftlicher nicht nur ein ungewöhnliches, sondern scheinbar auch ein unzeitgemäßes Thema. Angesichts der Phänomene der Globalisierung ist vorwiegend von Entgrenzung und neuen, grenzüberschreitenden Formen des Regierens die Rede. Von vielen Sozialwissenschaftlern werden bereits das Ende des Nationalstaats und der Übergang zur transnationalen Demokratie konstatiert und begrüßt. Die Gleichzeitigkeit von Prozessen grenzüberschreitender Integration und Prozessen der sicherheitspolitischem Aufwertung oder auch neuen Grenzziehungen wird dabei häufig übersehen. Dieser paradoxe Funktions- und Bedeutungswandel von Grenzen unter den Bedingungen der Globalisierung soll hier erklärt werden.
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Die These vom Ende des Nationalstaats
Für die Feststellung, dass der Nationalstaat an Bedeutung verliere, auf dem Rückzug sei oder dass wir bereits im postnationalen Zeitalter leben, ist zumeist die ökonomische Perspektive ausschlaggebend, die ich hier als erste Variante der These vom Ende des Nationalstaats skizziere (zur Krise des Nationalstaats siehe auch ALBROW 1998). Es ist mittlerweile fast ein Gemeinplatz zu sagen, dass wir in einer neuen ökonomischen und politischen Welt leben, in der die Globalisierung von Handel und Kapital die wirtschaftliche Autonomie des Staats untergraben hat. Als Konsequenz dieser Entwicklung befürchtet SUSAN STRANGE sogar die Zerstörung der Grundlagen des Nationalstaats als Brennpunkt politischer Autorität (STRANGE 1996). Eine andere Variante es gibt bei diesen Thesen natürlich grobe Überschneidungen; hier geht es nur darum, das jeweils Spezifische herauszustellen hebt auf die Vergesellschaftung der Innen- und Außenpolitik ab. In der internationalen Politik haben wir es demnach zunehmend mit transnationalen, nicht staatlichen Handlungszusammenhängen zu tun. Die Politik werde zunehmend von internationalen Regimes und internationalen Organisationen verregelt. In der Innenpolitik trete an die Stelle staatlicher Politik die Selbstorganisation. ERNST-OTTO CZEMPIEL hat diese These auf die Formel gebracht, dass die Staatenwelt von einer Gesellschaftswelt abgelöst werde: In Europa sind mit dem Ost-West-Konflikt die Relikte der Staatenwelt beseitigt worden (CZEMPIEL 1990: 850f.). In der Gesellschaftswelt gehe es nicht mehr darum, die Existenz zu erhalten, sondern nur darum, sie zu
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entfalten. Unüberhörbar sind die Anklänge an den gesellschaftlichen Universalismus des kommunistischen Manifests, in dem vorausgesagt wird, dass an die Stelle von Herrschaft von Menschen über Menschen die freie Assoziation der Menschen treten werde. Eine dritte Variante finden wir bei JEAN-MARIE GUÉHENNO. Er erklärt in seinem Buch Das Ende der Demokratie, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts habe auch das Zeitalter der Nationalstaaten seinen Abschluss gefunden. Wie ein Magnet habe der Ost-WestKonflikt die Welt der Nationalstaaten zum Erstarren gebracht. Heute ist der Magnet aus dem Spiel, und die Späne liegen in wirren Haufen herum. Die territoriale Basis der politischen Modernität wird heute durch neue Formen der wirtschaftlichen Modernität umterminiert. An die Stelle des Gehäuses des Nationalstaats tritt nach dem Muster transnationaler Wirtschaftskonzerne ein Netzverbund, der sich von territorialen Ordnungsformen loslöst und ein offenes System ohne Grenzen repräsentiert. Das Ende des Nationalstaats bedeutet zugleich das Ende der Politik. Begriffe wie Macht und Legitimität verlieren nach GUÉHENNO schlicht ihre Bedeutung. Die Frage nach der Legitimität ist dann so sinnvoll wie die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Computerprogramms. Das sanfte Brummen der gesellschaftlichen Maschinerie genügt sich selbst (GUÉHENNO 1996: 87). Diese sich empirisch verstehenden Thesen vom Ende des Nationalstaats werden durch die normative Feststellung ergänzt, der Nationalstaat sei nicht mehr funktionsgerecht und werde den neuen globalen Herausforderungen nicht mehr gerecht. JÜRGEN HABERMAS hat diese Auffassung besonders prägnant formuliert: Der Nationalstaat war seinerzeit eine überzeugende Antwort auf die historische Herausforderung, ein funktionales Äquivalent für die in Auflösung begriffenen frühmodernen Formen der sozialen Integration zu finden. Heute stehen wir vor einer analogen Herausforderung. Die Globalisierung des Verkehrs und der Kommunikation, der wirtschaftlichen Produktion und ihrer Finanzierung, des Technologie- und Waffentransfers, vor allem der ökologischen und der militärischen Risiken stellen uns vor Probleme, die innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens oder auf dem bisher üblichen Wege der Vereinbarung zwischen souveränen Staaten nicht mehr gelöst werden können. Wenn nicht alles täuscht, wird die Aushöhlung der nationalstaatlichen Souveränität fortschreiten und einen Auf- und Ausbau politischer Handlungsfähigkeiten auf supranationaler Ebene nötig machen, den wir in seinen Anfängen schon beobachten. (HABERMAS 1996: 129f.)
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Zur Funktion von Grenzen
Die These von der Entgrenzung und dem Bedeutungsverlust des Nationalstaats in ihren verschiedenen Variationen will ich im Folgenden anhand einer Typologie der politischen und sozialen Funktionen von Grenzen überprüfen. In einem ganz allgemeinen Sinne kann man sagen, dass es keine soziale und politische Erscheinung gibt, die nicht auch durch Grenzen bestimmt wird. GEORG SIMMEL hat auf die Raumbedeutung der Dinge und Vorgänge hingewiesen. Die Grenze, schreibt er, ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt (SIMMEL 1992: 697). In diesem Sinne können also Grenzen als eine Erscheinungsform der Nationalstaaten, der Nationalitäten und der sozialen Gruppen verstanden werden. Sie haben einen janusköpfigen Charakter. Sie schließen ein und sie schließen aus. Soziale Grenzziehungen, also die
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Mechanismen von Inklusion und Exklusion, sind von der jeweiligen sozialen Ordnung abhängig. Die nationalstaatlichen Grenzen beruhen hingegen auf dem universellen, von der Weltgesellschaft und dem Völkerrecht anerkannten Prinzip der Reziprozität. Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Nationalstaat will ich mit dem Blick auf fünf verschiedene politische und soziale Funktionen seiner Grenzen untersuchen: 1. Die traditionelle militärische Funktion, die Schutzfunktion, 2. die rechtliche Funktion, 3. die wirtschaftliche, 4. die ideologische und 5. die sozialpsychologische Funktion.
3.1 Die militärische Funktion von Grenzen Die ursprüngliche Funktion der Grenze ist die der Verteidigung und des Schutzes. Darum wird sie bewacht und befestigt. Diese militärische Schutzfunktion hat die Grenze im 20. Jahrhundert eingebüßt. Der Fortschritt der Militärtechnik mit der Entwicklung von Bombern und schließlich Raketen interkontinentaler Reichweite hat die Grenze als militärische Sicherung praktisch bedeutungslos werden lassen. Dies gilt auch für die Länder des Südens, die sich mit der Militärtechnik des Nordens ausgestattet haben. Gleichwohl finden sich hier noch die schwelenden Grenzkonflikte, die jederzeit zu einem größeren Krieg führen können. Schutz heißt heute überwiegend nicht mehr Schutz vor dem militärisch stärkeren Nachbarn, sondern Schutz vor dem schwachen Nachbarn, dessen ökonomische Krise oder dessen Bürgerkrieg zur grenzüberschreitenden Flucht der Bevölkerung führt (W EINER 1993). Die Länder des Südens sind solchen Fluchtbewegungen häufig hilflos ausgeliefert. Dies gilt beispielsweise für das frühere Zaire, die heutige demokratische Republik Kongo, aber auch für andere afrikanische Staaten. Die Länder des Nordens sichern ihre Grenze zunehmend gegen Flüchtlinge und verbessern ihr polizeiliches und administratives System, um illegale Einwanderung zu verhindern. Dies ist besonders auffällig an den Nord-SüdGrenzen wie USAMexiko und der Südgrenze der Europäischen Union (ANDREAS 1996). Es lässt sich mithin feststellen, dass die Sicherheitsfunktion der Grenzen neu definiert wird. Ein Ende der Souveränität, ein prinzipieller Verlust der Kontrolle über die Grenzen, zeichnet sich jedoch nicht ab. Im Gegenteil, die technischen Mittel zur Kontrolle der Grenzen und zur Kontrolle von Personen, die Grenzen überschreiten, haben sich erheblich verbessert und sind historisch betrachtet präzedenzlos.
3.2 Die rechtliche Funktion von Grenzen Im Kontext der nationalstaatlichen Ordnung bilden Grenzen den Rahmen für die Verfassungs- und Rechtsordnung und die Verwaltungsorganisation. Es wird häufig nicht gesehen, dass dies die wichtigste Funktion der Grenze ist. Grenzen markieren hier nicht primär die Reichweite des Geltungsanspruchs der Gesetze, sondern das Gehäuse, das eine Verwirklichung derselben erst ermöglicht. Nur innerhalb dieser Grenzen gibt es legitime Sanktionsmechanismen. Auch die Menschenrechte sind trotz ihrer universalen Gültigkeit und ihrer
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Herleitung aus der Natur des Menschen auf den verfassungsrechtlichen Menschenrechtsschutz im Rechtsstaat angewiesen. Bürgerrechte und Grundrechte werden darüber hinaus im vollen Umfang nur für Staatsbürger wirksam. Solange der einzelne nicht als (partielles) Völkerrechtssubjekt anerkannt ist, kann er auf völkerrechtlicher Ebene grundsätzlich nur durch seinen Heimatstaat d. h. den Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt geschützt werden (KIMMINICH 1997: 202). Staatenlose und Flüchtlinge befinden sich darum in einer prekären Lage ein Thema, das HANNAH ARENDT in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vor dem Hintergrund der Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs sehr eindringlich behandelt, das aber nichts von seiner bedrückenden Aktualität verloren hat (ARENDT 1958: 422470). Die Normen des internationalen Flüchtlingsrechts verpflichten die Staaten zu bestimmten Verhaltensweisen, wenn Flüchtlinge eine Grenze überquert haben und einer bestimmten Definition entsprechen. Sie begründen aber kein Einreiserecht. Flüchtlinge genießen zwar einen internationalen Rechtsstatus, aber kein subjektives Recht auf Asylgewährung. Die internationalen Menschenrechtskonventionen haben das Prinzip der Staatssouveränität bislang kaum einschränken können (KIMMINICH 1992: 168). Die Mediatisierung des Einzelnen durch den Staat bleibt auf völkerrechtlicher Ebene die Regel. Die von HANNAH ARENDT herausgestellten Aporien der Menschenrechte sind darum nach wie vor zutreffend: Rechte, die aus der Natur des Menschen abgeleitet werden, lassen sich nur wirksam für die Bürger eines Rechtsstaats verwirklichen und schützen. Die traditionellen Freiheitsrechte richten sich gegen den Staat als ihren möglichen Verletzer. Andererseits benötigen die Menschenrechte doch auch den Staat als Vollstrecker und Vollzugsorgan. Auch im Hinblick auf die rechtliche Funktion der Grenze kann daher vom Ende des Nationalstaats nicht die Rede sein. Man wird es im Hinblick auf diese Funktion auch nicht wünschen. Trotz der wichtigen Rolle der internationalen Organisationen in den internationalen Beziehungen, die auch vom internationalen Recht anerkannt wird, bleiben Nationalstaaten gerade für den Rechtsschutz die wichtigste Einrichtung (DAHRENDORF 1994). Dies gilt im Übrigen für den demokratischen Rechtsstaat insgesamt. Jenseits des Territorialstaats gibt es faktisch keine demokratischen Kontrollverfahren und keine demokratische Öffentlichkeit. Fixiert auf die Frage der Problemlösungsfähigkeit ignorieren Theoretiker von Global Governance häufig das Problem der demokratischen Legitimität (MESSNER & NUSCHELER 2003).
3.3 Die wirtschaftliche Funktion von Grenzen Von dem Funktionsverlust der Grenzen in Bezug auf die Ökonomie ist zurzeit am häufigsten die Rede. Regionale Freihandelszonen, aber auch globale Handels- und Finanzmärkte lassen Grenzen als einen Anachronismus erscheinen. Für die wirtschaftliche Wohlfahrt ist nicht mehr die Volkswirtschaft, sondern der Weltmarkt ausschlaggebend. Der Nationalstaat hat keine Kontrolle über den globalen Kapitalverkehr und die Transaktionen transnationaler Konzerne. Ökonomische Globalisierung mit dem Ende des Nationalstaats gleichzusetzen, halte ich jedoch für einen Kurzschluss. In politischer Hinsicht bedeutet Globalisierung zunächst einmal, dass sich die politischen Arenen verändern, in denen Entscheidungen gefällt werden. Der Rahmen des relativ autonomen und hierarchisch organisierten Territorialstaats wird durchbrochen. Staatliche Politik ist in ein immer weiter verzweigtes und immer dichteres Netz von transnationalen
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und innergesellschaftlichen Abhängigkeiten und Verhandlungsbeziehungen eingebunden. In dieser Vielzahl und diesen vielschichtigen Netzwerken kann es keine Globalsteuerung mehr geben, wie sie Karl Schiller einst propagierte. Der Staat qua Regierung hat in diesen Verhandlungssystemen häufig nur noch die Rolle des Koordinators zwischen einer Vielzahl von beteiligten Akteuren (SCHARPF 1991). Die Intervention der Staaten verlagert sich zunehmend von der makro- auf die mikroökonomische Ebene: Deregulierung, Industriepolitik und die Förderung von Forschung und Entwicklung lauten hier die Stichworte. Auch die klassische Diplomatie gerät immer mehr unter den Zwang der Wirtschaftsförderung. Wenn Präsident Bush oder Bundeskanzlerin Merkel nach China reisen, werden sie vor allem von Vertretern der Wirtschaft begleitet, und der Erfolg der Reise misst sich in erster Linie an dem Umfang der Aufträge, die für die Industrie nach Hause gebracht werden. Der Funktionsverlust der Grenzen in Bezug auf die Ökonomie lässt also ebenfalls nicht auf das Ende des Nationalstaats schließen. Erkennbar wird hier vielmehr die neue Funktion des Nationalstaats nach innen und außen. Nach außen wird er zum Wettbewerbsstaat im Rahmen eines Weltmarktes (CERNY 1997). Innerhalb der transnationalen Verhandlungssysteme übernimmt er zunehmend wie auch in der Innenpolitik eine Koordinationsfunktion. Für die Legitimität des Nationalstaats problematisch ist jedoch der Umstand, dass die wirtschaftliche Globalisierung seine sozialstaatliche und integrierende Funktion erheblich beeinträchtigt. Die Bürger werden zunehmend auf die redistributiven Regelungen des nationalen Wohlfahrtsstaats verzichten müssen. Der unvermindert erhobene Regelungsanspruch des Staats ist angesichts reduzierter Möglichkeiten autonomer Politikgestaltung nicht mehr einzulösen. In ihrem Alltag erleben die Bürger den verwaltenden Staat vermutlich intensiver als je zuvor. Umso ernüchternder muss auf sie daher die Erfahrung tatsächlicher staatlicher Machtlosigkeit wirken etwa in der Arbeitsmarktpolitik (DAHRENDORF 1996).
3.4 Die ideologische Funktion von Grenzen Von einer ideologischen Grenze kann gesprochen werden, wenn sie Bestandteil einer nationalistischen Idee ist. Gebietsansprüche können mit solch ideologisch definierten Grenzen gerechtfertigt werden. Die ideologische Grenze kann Bestandteil der politischen Ziele des Nationalstaats werden, wenn er sich als homogener Nationalstaat definiert. In der Gegenwart fanden sich solche ideologischen Grenzdefinitionen in der Forderung nach einem Großserbien oder in der griechischen nationalistischen Propaganda, die zu Konflikten mit Albanien, Mazedonien und der Türkei geführt hat. Dass Grenzen ideologische Einflusssphären trennen, ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Die eindrucksvollste und zugleich grausamste Manifestation einer solchen ideologischen Grenze war der antifaschistische Schutzwall der DDR. Die ideologische Grenze hat nicht nur Europa geteilt, sondern fast den ganzen Globus in die Einflusssphären der beiden Großmächte aufgeteilt. Die Bewegung der Blockfreien Staaten war da nur eine schwache Gegenbewegung. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, so könnte man annehmen, ist der letzte ideologische Konflikt ausgetragen, die Zeit der Ideologie ist, um Karl Dietrich Brachers Formu-
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lierung zu benutzen, zu Ende gegangen. Aber das Gegenteil scheint zuzutreffen. Es lässt sich vielmehr behaupten, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vermehrt ideologisch begründete Grenzziehungen stattfinden. Ich werde darauf später zurückkommen.
3.5 Die sozialpsychologische Funktion von Grenzen Grenzen haben eine wichtige sozialpsychologische Funktion. Das Individuum konstruiert sich ein Territorium (GOFFMAN 1971). Ein Eindringen in diesen Raum ohne Aufforderung oder Einwilligung provoziert emotionale Reaktionen der Angst und Feindschaft. Wie im physikalischen Sinne kann es diese Orientierung bietende Räumlichkeit nur geben, wenn es eine allgemeine Raumvorstellung gibt. Im politischen und sozialen Leben sind daher unterscheidbare Einheiten eine Notwendigkeit. Diese Orientierungshorizonte müssen nun aber nicht notwendigerweise die Grenzen des Nationalstaats sein und schon gar nicht notwendigerweise nationale Grenzziehungen, die die eigene Identität im Kollektiv durch die Konstruktion nationaler Feindbilder bestärken. Ebenso gut können lokale, regionale und kontinentale Grenzen als Orientierung dienen. Der Kosmopolit, dessen Horizont die abstrakte Menschheitsvorstellung ist, der universal grenzüberschreitend denkt, wird immer eine Ausnahme sein (COULMAS 1990). Mit dieser Disposition des Menschen muss auch die Politik rechnen. Ich habe bereits herausgestellt, dass die nationalstaatlichen Grenzen im Zuge der Auflösung des herkömmlichen autonomen Nationalstaatsmodells tatsächlich als Orientierungsgröße eingebüßt haben. Dies führt dazu, dass andere lokale und regionale Bindungen wichtiger geworden sind. In den Ländern des Südens, in denen der Nationalstaat schwach oder gar zusammengebrochen ist, wird dieser Zusammenhang ganz dramatisch erhellt. Ohne einen ordnenden staatlichen Rahmen herrscht der Bürgerkrieg zwischen verschiedenen ethnischen Clans. Somalia und Liberia sind Beispiele für den Zusammenbruch staatlicher Ordnungsmacht und seine Folgen. Dieser Zusammenhang sollte auch denen zu denken geben, die den Nationalstaat funktional für einen Anachronismus halten. Definiert er sich als heterogener Nationalitätenstaat, dessen Grundlage Gewaltenteilung, Pluralismus und Grundrechtsschutz ist, dann kann er auch die überall in verschiedener Virulenz anzutreffenden Minderheitenprobleme moderieren und politisch kanalisieren. Die gewaltsame Ausübung des Selbstbestimmungsrechts dürfte auf Jahre zu einer der häufigsten Konfliktursachen in der Welt werden (KAISER 1995: 500). Es hat sich gezeigt, dass das Ziehen neuer Grenzen durch die Gründung neuer Nationalstaaten, um nationalen Minderheiten die Selbstbestimmung zu ermöglichen, keine befriedigende Lösung bietet, da dabei unweigerlich wieder neue Minderheitenprobleme entstehen (HOROWITZ 1997). Dies hat sich beispielsweise sehr deutlich an den Problemen, die mit der Umsetzung des Dayton-Abkommens verbunden waren, gezeigt. Die Integration in einen pluralistischen und föderalen Nationalstaat erscheint immer noch als die beste Lösung.
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Neue ideologische Grenzziehungen
In sicherheitspolitischer Hinsicht haben Grenzen selbst im europäischen Kontext nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Wie bereits angedeutet wurde, lässt sich Ähnliches auch über die ideologischen Grenzen sagen. Gerade mit dem Ende des Ost-West-Konflikts war ja erhofft worden, dass diese für immer bedeutungslos würden und stattdessen die politische Integration jetzt auch den Osten Europas einschließen würde. Das Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens hat indes eine Vielzahl von Nachfolgestaaten hervorgebracht, die sich national definieren. Diese massive Reorganisierung des europäischen Raumes entlang nationaler Linien hat in einigen Fällen neue explosive Nationalitäten- und Minderheitenkonflikte geschaffen (BRUBAKER 1996). Vom Ende des Nationalstaats kann nicht die Rede sein, im Gegenteil, er hat hier seine Wiedergeburt gefeiert, und zwar in enger Verbindung mit dem Nationalismus eine Symbiose, die man in Europa einer vergangenen Epoche zuzurechnen geneigt war. Aber nicht nur das Wiederaufleben des Nationalismus lässt sich beobachten, sondern auch die imperiale Barbarengrenze ist als Leitmetapher zum Verständnis der Weltlage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederbelebt worden. Folgen wir JEANCHRISTOPHE RUFIN, dann erleben wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Errichtung einer neuen ideologischen Grenze, eines modernen Limes, der die Welt des Nordens von der Welt des Südens, der Welt der neuen Barbaren trennt (RUFIN 1996). Der neue Limes zwischen dem Norden und dem Süden ist eine durchgehende Linie: Die Border-Patrol von San Diego, die Küstenwächter von Florida, die Marseiller Zöllner, die russischen Polizisten in Aserbaidschan kontrollieren einen Limes, an dem Nord und Süd aufeinander treffen, ohne notwendigerweise jederzeit gewaltsam miteinander konfrontiert zu sein. Wir leben in einer Ära des begrenzten Universalismus. Recht, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind universelle Prinzipien, deren Verwirklichung aber auf die Länder des Nordens begrenzt bleibt. Der Süden dient wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts der Kommunismus als Kontrastmittel, um die eigene Identität und Einheit zu stärken. SAMUEL HUNTINGTON hat mit seiner These vom Zusammenprall der Zivilisationen eine internationale Diskussion ausgelöst. Er erkennt in den Bruchstellen zwischen den Zivilisationen die neuen Konfliktlinien der Weltpolitik. Die Werte des Westens seien nicht universalisierbar, der Westen steuere darum unentrinnbar einem Konflikt mit den anderen Zivilisationen entgegen (HUNTINGTON 1996). Diese Thesen können hier nicht diskutiert werden, aber es kann als sicher gelten, dass Globalisierung kulturelle Grenzen nicht verschwinden lässt. Im Gegenteil, Begriffe wie Globalität und Lokalität, Tradition und Moderne können überhaupt nur als Gegenbegriffe, als verschiedene Seiten derselben Unterscheidung gedacht werden (GIESEN 1996). Erst die Globalisierung der Kommunikation macht die Vielfalt der Kulturen und ihre Eigenheiten deutlich. Die Wahrnehmung der Vielfalt kann zur Unsicherheit über die eigene Identität und in der Folge auch zur Dämonisierung des Fremden führen. In einer Welt, in der sich alles verflüssigt und alles verändert werden kann, wird das Bedürfnis nach Bindung und kollektiver Identität stärker. Ethnizität, Herkunft oder Geschlecht werden verstärkt als nicht veränderbare Bindungen empfunden, als Grenzen, die im politischen Prozess nicht infrage gestellt werden dürfen. Die neuen Grenzbildungen werden auch dadurch gefördert, dass der technologische Fortschritt und die Globalisierung dazu tendieren, den räumlichen Horizont zu erweitern. Wir stehen im unmittelbaren Kontakt mit Zeitgenossen, die das Produkt einer anderen Ge-
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schichte sind. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die durch Globalisierung hergestellt wird, führt zum Zusammentreffen von Fremden, die sich voneinander abgrenzen. Auch gerade angesichts dieser neuen Grenzziehungen, die vielfältiges Konfliktpotenzial bergen, ist der Rahmen des Nationalstaats nicht obsolet, sondern eminent wichtig. Der Nationalstaat bleibt in einer konfliktträchtigen Welt unverzichtbar.
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Europäische Integration und Nationalstaat
Auf der Grundlage der hier entwickelten Typologie soll nun das Phänomen der europäischen Integration näher betrachtet werden und zwar deshalb, weil aus dem Umstand der europäischen Einigung häufig auf das Ende des Nationalstaats geschlossen wird. Die innereuropäischen Grenzen verschwinden und Kompetenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden an europäische Organe abgegeben, sie werden vergemeinschaftet. Der Nationalstaat ist ein Kind der europäischen Moderne und im Zuge der europäischen Expansion zum universellen Ordnungsprinzip geworden. Markiert nun die europäische Integration tatsächlich das Ende des Nationalstaats und wird diese Entwicklung wiederum richtungweisend für die Weltordnung? Betrachten wir Europa im Hinblick auf die Funktion von Grenzen, dann wird deutlich, dass sich hier zwar etwas historisch Präzedenzloses ereignet, nämlich die Aufgabe von nationaler Souveränität zugunsten gemeinschaftlicher Organe, aber das Ergebnis ist wie ein Nationalstaat eine territorial gebundene politische Einheit. Die internen Grenzen werden eingerissen und gleichzeitig gemeinsame Außengrenzen errichtet. Ohne äußere Grenzen wäre eine Europäische Union ja auch tatsächlich nicht vorstellbar. In den Worten von Bundeskanzlerin Merkel: Ein Gebilde, das keine Grenzen hat, kann nicht schlüssig handeln (MERKEL 2006). Die Betrachtung der Funktion dieser Außengrenze ist aufschlussreich. Sie ist nach dem Ost-West-Konflikt wieder in Bewegung geraten und es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien sie festgelegt wird. Wer gehört zu Europa? Erweiterung, also die Überwindung von Grenzen, ist ein zentraler Bestandteil der europäischen Politik nach dem Ende der Ost-West-Teilung geworden, andererseits wächst das Bedürfnis nach einer endgültigen Definition der Außengrenzen Europas. Ohne diese Frage hier weiter verfolgen zu können, wird eine paradoxe Entwicklung in Europa deutlich: Die Erweiterung der Europäischen Union führt zu dem Bedürfnis nach klarer Abgrenzung durch die Definition von Außengrenzen, die Vertiefung der europäischen Integration hingegen führt zu einer zunehmenden Variabilität von politisch definierten Räumen, beispielsweise bei der Europäischen Währungsunion und den Schengen-Staaten. Ein anderer Aspekt, der gerade in Bezug auf die europäischen Grenzen immer mehr in den Vordergrund rückt, ist die Kontrolle der Einwanderung. Auch wenn die Koordinierung und Harmonisierung der Asylpolitik und die Verwirklichung des Schengener Abkommens noch nicht vollständig sind, zeichnet sich ab, dass die Europäische Union im Rahmen der ersten Säule des Unionsvertrags eine intensive, gut strukturierte Kontrolle im Inneren wie an der Außengrenze entwickelt. All dies sind auch die Merkmale eines effektiven Nationalstaats. Wegweisend und neu ist hingegen, dass sich innerhalb der Grenzen der Europäischen Union ein institutioneller Rahmen für eine effektive europäische Mehrebenenpolitik entwi-
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ckelt. Aber auch diese neue Regierungsform macht den Nationalstaat nicht obsolet, sondern ist nur Ausdruck seiner neuen Funktion als Koordinator in einem vielschichtigen Netzwerk von Verhandlungsbeziehungen.
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Schlussfolgerungen: Autonomieverlust und Souveränitätswahrung des Nationalstaats
Globalisierung ist keine qualitativ neue Erscheinung. Man kann vereinfacht sagen, dass wir es mit einer beschleunigten Verdichtung der transnationalen Beziehungen zu tun haben. Diese Verdichtung der sozialen Kontakte führt zu Funktionsverlusten, aber auch Funktionsveränderungen der Grenzen des Nationalstaats, ebenso zu neuen sozialen und ideologischen Grenzziehungen. Die genauere Betrachtung der veränderten Funktionen der Grenze hat gezeigt, dass wir es nicht mit einem allgemeinen Funktionsverlust von Nationalstaaten zu tun haben. Vielmehr ist ein Verlust von Autonomie zu beobachten, bedingt durch zunehmende Interdependenz und ökonomische Integration. Wenn vom Ende des Nationalstaats die Rede ist, dann liegt dieser These zumeist eine bestimmte Staatsvorstellung zugrunde, die eines hierarchisch integrierten Staats, der sich im Inneren gegen konkurrierende Gewalten durchsetzen und sich international als gleichberechtigter Konkurrent behaupten muss. Dieses Staatsmodell beruht auf einer klaren Trennung von Staat und Gesellschaft. Unter dieser Prämisse müssen die hier beschriebenen Autonomieverluste des Staats zugleich als Souveränitätsverluste gedeutet werden. Löst man sich aber von einer solchen zeitlosen Staatsmetaphysik und betrachtet Innenund Außenpolitik unter den realen Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen, dann wird deutlich, dass Autonomieverluste des Staats durchaus nicht mit Souveränitätsverlust gleichgesetzt werden können. Zwar vollzieht sich in der Innen- wie in der Außenpolitik eine Vergesellschaftung über Grenzen hinweg. Das heißt, politische Entscheidungen werden nicht von Regierungen autonom, gegen externe Einflüsse durchgesetzt. Vielmehr ist staatliche Politik heute in ein immer weiter verzweigtes und immer dichteres Netz von transnationalen und innergesellschaftlichen Abhängigkeiten eingebunden. Aber diese Autonomieverluste bedeuten keineswegs das Ende staatlicher Souveränität, also des Gewaltmonopols und der Territorialität des Staats. Man wird auch feststellen müssen, dass dies positiv zu bewerten ist, denn es existiert noch kein alternativer Rahmen für eine Demokratie im Sinne verantwortlicher Politik (responsible government) und für die politische Integration. Die Nationalstaaten haben erheblich an Autonomie verloren, sie haben im Bereich der Finanzmärkte und des Handels ihre Steuerungsmöglichkeiten weitgehend eingebüßt. Dies war aber kein Schicksalsschlag, sondern ist das Ergebnis einer von den OECD-Staaten bewusst herbeigeführten Liberalisierung. Gleichzeitig haben die Staaten aber auch einen erheblichen Zugewinn an Kontrollmöglichkeiten im Inneren und an den Außengrenzen hinzugewonnen. Dies betrifft besonders die Kontrolle der Migration. Die Kontrolle der Grenzen ist zu einer zentralen Aufgabe der Sicherheitspolitik und zu einem zentralen Aspekt nationaler Identitätspolitik im Globalisierungsprozess avanciert. Globalisierung führt demnach nicht nur zu Prozessen der Integration über Grenzen hinweg, sondern gleichzeitig auch zur Ziehung neuer Grenzen, die vorwiegend neuen Sicherheitserfordernissen Rech-
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nung tragen. Diese paradoxe Entwicklung stärkt den Nationalstaat mehr, als dass sie ihn schwächt.
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Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats
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Globalisierung und politische Identität: Die Weltkriege als mythologischer Ursprung eines vereinten Europas? Sandra Petermann
Vor allem zwei große Schlachten der Weltkriege auf französischem Boden sind aufgrund zahlreicher Verluste und der ihnen zugesprochenen herausragenden Bedeutung für den Kampfverlauf in das kollektive Gedächtnis Westeuropas eingegangen: die Schlacht von Verdun (1916), bei der Tausende französische und deutsche Soldaten ums Leben kamen, und die Alliierte Landung in der Normandie (1944), die neben Stalingrad als Wendepunkt in der Befreiung Europas angesehen wird. Nicht nur die Schlachtfelder von Verdun und der Normandie, sondern weite Teile Europas lagen in Schutt und Asche. Die bis dato nicht gekannte Dimension des Zerstörens und Tötens und deren globale Ausmaße verunsicherten viele Bürger der vom Krieg betroffenen Staaten nachhaltig und legten auf individueller Ebene häufig einen Grundstein für Misstrauen gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zu den Kriegsgeschehnissen erodiert dieses Misstrauen kontinuierlich und auch auf politischer Ebene wird die Vergangenheit neu interpretiert. Doch inwieweit können Schlachten, die massenhaften Tod bewirkten und Kriegsgegner hinterließen, als mythologischer Ursprung eines geeinten Europas bezeichnet werden? Welche Rolle spielt die Globalisierung in diesem Re-Interpretationsprozess? Gibt es im Nachkriegseuropa einen Zusammenhang zwischen Globalisierung und politischer Identität?
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Begriffe und Konzepte: Identitäten, Nationen, Rituale
Über Identitäten sei es beispielsweise aus individueller, sozialer, kultureller oder politischer Perspektive wurden schon viele Seiten gefüllt. Ein gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Ansätze besteht darin, dass Identitäten maßgeblich durch das Begriffspaar Gleichheit und Differenz charakterisiert werden. Mit Gleichheit wird einerseits die Stetigkeit des Selbsterlebens einer Person bzw. einer Gruppe bezeichnet, die bestimmte soziale Rollen dauerhaft übernimmt, andererseits auch die Anerkennung dieser Rollen durch Andere auf gesellschaftlicher Ebene (EPSKAMP & KLIMA 1994: 286). Differenz im Gegenzug charakterisiert die Abgrenzung gegenüber Anderen als Teil der Identitätskonstruktion (AINZ 1995, MEYER 2004, TEPLÝ 2006). Weiterhin wichtig für die Identitätsbildung ist eine meist sehr selektive (
) Rückbesinnung auf die Vergangenheit (TEPLÝ 2006: 18), die jedoch eingebettet in ein kollektives Gedächtnis (HALBWACHS 2006) je nach gesellschaftlichem Kontext zum Zeitpunkt der Vergegenwärtigung variieren kann. Politische Identitäten sind darüber hinaus, basierend auf Selbstverständnis und Abgrenzung, vor allem (
) ein Produkt politischer Konstruktionsleistungen und politischer Öffentlichkeit (MEYER 2004: 58). Sie werden, so MEYER (2004: 58) weiter, (
) auf [eine] gemeinsame Staatlichkeit bezogen, sei es im Grenzfall nur in ihren Absichten und Hoffnungen, (
) oder bloß in der Erinnerung (
). Grundlagen für die Konstruktion einer politischen Iden-
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tität sind neben gemeinsamen politischen Grundwerten und der Identifikation mit für alle verbindlichen politischen Institutionen die Herausbildung einer politischen Kultur (MEYER 2004: 59). Ein klassisches Bezugssystem politischer Identität ist die Nation. Doch was ist eine Nation? Mit dieser Frage hat sich schon 1882 der französische Schriftsteller und Historiker RENAN auseinandergesetzt. Er sieht die Nation als ein geistiges Prinzip, das sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit verankert ist: Eine Nation ist (
) eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist (RENAN 1882). ANDERSON (1996: 15) definiert sie dagegen als (
) eine vorgestellte politische Gemeinschaft (
). Imaginiert dahingehend, dass sich die Mitglieder einer Nation nicht persönlich kennen und somit ihre Gemeinschaft lediglich eine mentale Konstruktion, eine Vorstellung ist. Die Nation ist aber vor allem auch ein klassisches Beispiel eines politischen Mythos, also eines (
) narrative[n] Symbolgebilde[s] mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbände bezogenen Wirkungspotential (DÖRNER 1996: 43). Dieser Mythos erzählt, unter Einbeziehung unterschiedlicher Symbole, von der Entstehung einer politischen Gemeinschaft (BIZEUL 2000: 17). Die Nation ist aber auch und hier sind wir bei ihren Funktionen angelangt ein (
) Konstrukt zur Legitimierung des modernen bürokratischen Flächenstaates und zur Sicherung der Massenloyalität (
) (BOCK 2000: 35). Zur Sicherung der Massenloyalität dienen auch Rituale. SOEFFNER (1992: 107) definiert sie im Gegensatz zu einmaligen, alltäglichen Handlungen als stilisierte, symbolisch geformte und sich wiederholende Handlungen der Grenzüberschreitung. Sie werden mit einer expliziten Absicht gefeiert und sind durch Förmlichkeit, Wiederholung, Öffentlichkeit und Liminalität gekennzeichnet (MICHAELS 1999: 34f.). Rituale sind Träger von sowohl impliziten, unausgesprochenen Bedeutungen als auch von expliziten Aussagen und Symbolen (MOORE & MYERHOFF 1977: 16f.) und bewirken eine Transformation der Teilnehmer. Ihre Funktionen sind subjektiver, gemeinschaftlich-gesellschaftlicher und/oder transzendenter Natur (MICHAELS 1999: 36f.) und ordnen für den Menschen seine oft als chaotisch erfahrene Welt.
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Gedenkrituale an die Schlacht von Verdun
Im Kontext des rituellen Kriegsgedenkens an die Schlacht von Verdun soll nun den Fragen nachgegangen werden, wie sich das Gedenken seit Kriegsende bis heute transformiert hat und welche innen- und außenpolitischen Themen die Gedenkfeierlichkeiten bestimmt haben. Hierfür wurden die seit Kriegsende bestehenden Gedenkrituale auf der empirischen Basis von rund 40 qualitativen Interviews (problemzentrierte Interviews und Experteninterviews) und umfangreichem Archivmaterial (Zeitungsberichte und Redemanuskripte der bei den Ritualen anwesenden Politiker) analysiert. Die offiziellen Feierlichkeiten der von Frankreich gewonnenen Schlacht von Verdun setzten bereits in den 1920er Jahren auf Initiative der Stadt ein (CANINI 1986: 97). Sie waren im Gegensatz zu individuell durchgeführten Schlachtfeldbesuchen vieler Veteranen und Hinterbliebener weniger Zeichen der persönlichen Erinnerung, sondern vielmehr Ausdruck der nationalen Gesinnung des siegreichen Frankreichs. Allein schon die Wahl des Datums der 23. Juni fällt auf den letzten Angriff der deutschen Truppen und symbolisiert den hel-
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denhaften Widerstand des französischen Militärs steht im Zeichen eines nationalpatriotischen Gedenkens (CANINI 1986: 98). Doch auch die Besetzung war hochkarätig: Staatspräsident Poincaré, Pensionsminister Maginot und der zum Marschall erhobene Pétain waren neben vielen anderen ranghohen Persönlichkeiten als Ehrengäste geladen (Abbildung 37). Abbildung 37: Programm der ersten Gedenkfeier der Schlacht um Verdun (1920)
Quelle: Stadtarchiv Verdun.
Bis heute werden die Gedenkfeierlichkeiten jedes Jahr an einem Sonntag in zeitlicher Nähe zum 23. Juni abgehalten. Die zehnjährigen Schlachtenjubiläen stehen unter der Schirmherrschaft des französischen Staatspräsidenten, alle fünf Jahre hat der Premierminister die Präsidentschaft inne. Der Gedenktag an die Schlacht von Verdun wird mit einer ökumenischen Gedenkmesse in der Kathedrale von Verdun begonnen. Nach einer Prozession zum Kriegerdenkmal erfolgen Ansprachen und Kranzniederlegungen durch offizielle Amtsträger wie Politiker, Militärvertreter oder Mitglieder von Gedenkvereinigungen (Abbildung 38).
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Abbildung 38: Kranzniederlegung durch offizielle Amtsträger
Quelle: eigene Aufnahme.
Der Prozessionszug zieht anschließend, angeführt von einer Musikkappelle, weiter zum Rathaus (Abbildung 39). Abbildung 39: Militärparade vom Kriegerdenkmal zum Rathaus
Quelle: eigene Aufnahme.
Im dortigen Ehrensaal hält der Bürgermeister eine Ansprache, und ein Umtrunk beschließt den Vormittag. Gegen Einbruch der Dunkelheit treffen sich die Gedenkteilnehmer wieder am Beinhaus von Verdun (Abbildung 40). Hier formiert sich ein Prozessionszug, der zunächst zum muslimischen und später zum israelischen Gedenkstein führt. Es erfolgen jeweils Kranzniederlegungen.
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Abbildung 40: Ablösungsritual am Beinhaus und Soldatenfriedhof von Douaumont
An Punkt vier der Stationen es ist inzwischen fast dunkel werden Fackeln an die Teilnehmer ausgeteilt (Abbildung 41), und in einem Fackelmarsch betreten die Teilnehmer von Süden her den Friedhof. In der Friedhofs-Mitte versammeln sie sich unterhalb der Nationalfahne, dort erfolgen Kranzniederlegungen. Anschließend gehen die Teilnehmer zu Gräbern, stecken ihre Fackel in den Boden und gedenken der Toten. Den Abschluss der Zeremonie bildet eine Gedenkmesse im Beinhaus von Verdun (Abbildung 42).
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Abbildung 41: Fackelzug auf den Soldatenfriedhof von Douaumont
Quelle: eigene Aufnahme.
Abbildung 42: Betreten des Beinhauses zur abschließenden Gedenkmesse
Quelle: eigene Aufnahme.
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Sandra Petermann Gedenkrituale als Konstrukteure von politischen Identitäten
Die Konstruktion von politischen Identitäten erfolgt, wie in Kapitel 1 besprochen, unter anderem durch die Herausbildung von (politischen) Kulturen. Die Ausführung der Gedenkzeremonien ist abhängig von der lokalen, aber auch nationalen Gedenkkultur und steht in engem Zusammenhang zur praktizierten Gedenkpolitik. Von Gedenkpolitik spricht man laut HAHN (2001: 447) dann, (
) wenn die Annahmewahrscheinlichkeit politischer Entscheidungen durch das Medium der Erinnerung erhöht werden soll, indem aktuelle politische Macht sich durch den Aufruf der Vergangenheit invisibilisiert (
). Sowohl die Gedenk- als auch die Geschichtspolitik beschäftigen sich (
) mit der öffentlichen Konstruktion von Geschichts- und Identitätsbildern beispielsweise durch Rituale und Diskurse (BOCK & WOLFRUM 1999: 9). Für die Konstruktion der politischen Identität sehr wichtige Elemente sind auch durch die Bezugnahme auf bestehende politische Mythen und der Verwendung von politischen Symbolen die politischen Ansprachen im rituellen Gedenken an die Schlacht von Verdun.
3.1 Vom patriotischen zum europäischen Gedenken Im Allgemeinen setzen sich die meist von Politikern gehaltenen Reden aus einem historischen Teil, der über die Jahre hinweg relativ konstant bleibt, und einem sich wandelnden politischen Abschnitt zusammen. Im historischen Teil wird an die Geschehnisse im Krieg und in der Schlacht sowie an das Leid und den Heldenmut der Soldaten erinnert sowie den gefallenen und überlebenden Soldaten Ehre zugesprochen. Im zweiten Teil richtet sich der Redner an das Land, indem er verschiedene aktuelle Thematiken anspricht1 (Abbildung 43). In den ersten Gedenkfeierlichkeiten kamen in den gehaltenen Reden Nationalstolz und Patriotismus zum Ausdruck. So beispielsweise 1926, anlässlich des 10-jährigen Jubiläums, als Staatspräsident Poincaré formulierte: Dieser Name Verdun (
) repräsentiert von jetzt an bei uns sowie bei unseren Alliierten das Schönste, das Reinste und das Beste der französischen Seele. Er ist zu einem zusammengesetzten Synonym geworden für Patriotismus und Edelmut.
Verdun wurde in diesen Jahren zur Ville Héroique, zum Symbol des heldenhaften Widerstands Frankreichs gegen den Feind: Verdun ist also das Symbol für die Kraft der [französischen] Nation (
).
Zudem thematisierten die Redner in den ersten Zwischenkriegsjahren vor allem den Wiederaufbau der Stadt. Als dieser 1929 weitgehend abgeschlossen war, wurden immer häufiger die von Deutschland geforderten Reparationszahlungen als Voraussetzung für einen
1 Wenn nicht anderweitig gekennzeichnet, stammen die ins Deutsche übersetzten und kursiv gedruckten Redetexte bis 1976 aus dem Stadtarchiv von Verdun, die aktuelleren Texte der Staatspräsidenten und der Premierminister sind bei der Documentation Française in Paris einzusehen.
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Abbildung 43: Innen- und außenpolitische Themen der Ansprachen im Gedenken an die Schlacht von Verdun
Quelle: eigener Entwurf 2006.
dauerhaften Frieden angesprochen. Eine starke Abgrenzung von Deutschland sowie die Hinwendung zu anderen Staaten mit ähnlichen politischen Grundwerten wie Frankreich war Teil der Identitätskonstruktion Frankreichs zu jener Zeit. Staatspräsident Doumergue unterstrich beispielsweise 1929, dass es zwischen Frankreich und Deutschland nur Frieden geben könne, wenn die Versailler Verträge uneingeschränkt eingehalten würden. 1931, als Deutschland die Reparationszahlungen nicht mehr im geforderten Umfang leistete und dies von alliierter Seite ungesühnt blieb, versuchte Frankreich seine Bündnispolitik mit Belgien zu stärken: Nur das noble und tapfere Belgien, während des Krieges von einem skrupellosen Angreifer mit den Füßen getreten, erpresst und gedemütigt, blieb uns treu im Geiste des Sieges und ein ernsthafter Freund unseres Landes (o. V. 1931).
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermischten sich die Kriegserfahrungen und in den Ansprachen wurde das Bewusstsein offensichtlich, dass der Frieden als sehr fragil wahrgenommen wurde. In den folgenden Jahren verwiesen die Redner auf innenpolitischem Niveau auf Kriegsverluste, wirtschaftliche und soziale Unruhen, die Staatsreform sowie den Wiederaufbau. Wichtig war zudem die Wiederherstellung der nationalen Ehre, die durch die schnelle Kollaboration Frankreichs 1940 mit den Nationalsozialisten unter Staatspräsident Pétain geschwächt war. Im Hinblick auf die Außenpolitik standen die Vor-
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machtstellung der Sowjetunion in Europa und einem Großteil Asiens sowie die Rolle Frankreichs in der internationalen Politik auf dem Gesprächsplan. Auch erste Friedensbekundungen fanden in dieser Zeit statt. Ab 1954 bestimmte zudem der Algerienkrieg die Thematik. Ein Ziel der Ansprachen bestand darin, den zunehmend kritisierten Krieg zu legitimieren. Zudem wurde eine vom Ostblock ausgehende potenzielle Gefahr angesprochen. Aus diesen Gründen beschwor Staatspräsident de Gaulle vor dem Hintergrund der Verunsicherungen erneut die nationale Einheit der Franzosen. Gerade in Verdun, dem Symbol des gegen die Feinde geeinten Frankreichs, bekam dieser Appell eine besonders ermahnende Note. Er zielte auf die Identitätselemente der nationalen Einheit und der Abgrenzung gegenüber Staaten mit anderen politischen Grundwerten ab. Fünf Jahre später standen die Gedenkfeierlichkeiten des 50. Jahrestages unter einem anderen Zeichen und Verdun wurde nun auch offiziell in der Ansprache des damaligen Bürgermeisters offiziell zum Symbol und zur Hauptstadt des Friedens. Vor allem eine Thematik sollte die Ansprachen prägen: die deutsch-französische Versöhnung und die daraus resultierende Freundschaft beider Nationen. Als Auftakt erkannte de Gaulle offiziell die Leiden der Soldaten der deutschen und französischen Nationen an und wünschte sich eine direkte und privilegierte Kooperation mit Deutschland. Er sagte: In einem Europa, das sich nach entsetzlichem Schmerz vereinen, als Heimstätte der Zivilisation reorganisieren und als Führer einer auf die Zukunft ausgerichteten Welt auftreten muss, sehen diese zwei sich gegenseitig ergänzenden Völker und Nachbarn die Möglichkeit, (
) sich für gemeinsame Handlungen zu öffnen.
So wurden aus den noch zu Beginn der Gedenkzeremonien verfeindeten und sich misstrauenden Nationen, die mehr zu trennen als zu verbinden schien, zwei sich ergänzende Völker, die im Zusammenspiel mit ihren Nachbarn an ihrer gemeinsamen Zukunft bauen sollen. Auch 1976, also zehn Jahre später, änderte sich die Thematik nicht. Staatspräsident Giscard dEstaing betonte, dass sich in Verdun die Sinn- und Nutzlosigkeit des Kampfes besonders stark zeige. Zudem ermögliche das Schlachtfeld von Verdun die Einsicht, wie wichtig Einheit und Brüderlichkeit seien. Hier entspringe auch der Wille zur Versöhnung der beiden Nachbarländer. Und es ist zweifelsohne hier, dass nach dem düsteren Abenteuer des Nationalsozialismus der Elan entsprang, der es Frankreich und Deutschland ermöglichte, sich für immer zu versöhnen.
Ab dieser Zeit wandelte sich auch die seit Mitte der 1920er Jahre verwendete offizielle Bezeichnung der Feierlichkeiten als Gedenkfeier des Sieges von Verdun in Gedenkfeier der Schlacht von Verdun. Doch noch eine weitere Veränderung trat zu Beginn der 1980er ein: Vor dem Hintergrund des 1979 geschlossenen NATO-Doppelbeschlusses, der die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland vorsah, und den daraus resultierenden Abrüstungsverhandlungen zu Beginn der 1980er Jahre, wollte sich die Stadt Verdun, repräsentiert durch ihren Bürgermeister, für den Sitz einer Internationalen Abrüstungskonferenz bewerben. Verdun sollte nicht mehr allein die Hauptstadt des Friedens, sondern ebenso die Hauptstadt der Abrüstung sein. Ab 1986 ging es weniger um die Aussöhnung zweier Nationalstaaten, sondern vielmehr um die Konstruktion eines geeinten Europas. In diesem Jahr betonte Mitterrand in
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seiner relativ kurzen Ansprache, dass Frieden Mut verlange. Adressiert an die Verantwortlichen der EU-Länder sagte er: Errichtet Europa, vollendet das Werk. (
) Verliert keinen Augenblick. Die Geschichte wartet. Der Frieden auch.
Dieser Schwerpunkt änderte sich auch in den folgenden Jahren nicht. 1991 verwies die Premierministerin Cresson auf das berühmte Treffen 1984 von Kohl und Mitterrand in Verdun2 und deren Versprechen eines versöhnten Europas. Verdun, so Cresson, sei auch heute noch von ungeahnter Aktualität. Jene [Aktualität] einer gerechteren und solidarischeren Welt. Jene einer neuen Weltordnung, die auf den Selbstbestimmungsrechten der Völker basiert. Jene der französisch-deutschen Freundschaft. Jene des auf das dritte Jahrtausend zuschreitenden Europas.
Die ville héroïque, also die heldenhafte Stadt der 1920er Jahre, die Stadt des Friedens der 1960er und die Stadt der Abrüstung der 1980er Jahre wurde spätestens unter Cresson (
) zu einem Ort der Verwurzelung für die Hoffnung der Bürger Europas, Verdun, die Hauptstadt des versöhnten Europas, Verdun, Hauptstadt des Friedens. Spätestens jetzt wurden die nationalstaatlichen Bezugssysteme durch das supranationale Referenzsystem der Europäischen Union dauerhaft und nachhaltig ergänzt. Das zeigte sich auch 1996. Noch nie stand die Konstruktion Europas so im Zentrum des Geschehens: Nicht Veteranen, sondern 15 auserwählte Jugendliche aus den Ländern der Europäischen Union standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Staatspräsidenten Chirac und wurden von ihm empfangen. Auch seine Ansprache handelte nach einem langen historischen Teil von der europäischen Vereinigung, die auf den Schultern de Gaulles und Adenauers stehe. Die Realisierung der Europäischen Union benötigt, wir erleben es, mehr Zeit. Deswegen bitte ich Sie, die junge und Zukunft verkörpernde Generation heute, wo wir uns andächtig auf diesem Boden versammeln, (
) sich für die Vollendung der Einheit einzusetzen (
).
2001 bekam auch die deutsch-französische Versöhnung einen weiter gefassten Anstrich: Jospin sprach von der europäischen Versöhnung, die aus dem Gedenken an Verdun schöpfe. Verdun selbst wandelte sich in seiner Ansprache vom nationalen zum europäischen Symbol: Die Gedenkpflicht ist ein Werk des Friedens. Verdun, nationales Symbol, aber auch europäisches Symbol, muss weiterhin die Gedenkflamme und den Willen eines friedvollen Europas speisen.
2 Das Foto der beiden vor einem mit den Fahnen beider Länder bedeckten Sarg stehenden, sich an der Hand haltenden Männer ging um die Welt. Im Ritual selbst wird die zu Grabe getragene Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, die Trauer um die Gefallenen beider Nationen und die aus Krieg und Trauer gewachsene Freundschaft der beiden Völker verdeutlicht (SOEFFNER 1992: 182).
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Mit einer ähnlichen Botschaft trat Chirac auch 2006 auf die Rednerbühne vor dem Beinhaus. Die Versöhnung und Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland sei eine inzwischen unbestrittene Tatsache. Wir schulden aber all unseren Toten, dass wir uns dafür einzusetzen, dass so etwas nie mehr passiert um ein Europa des Friedens, der Sicherheit, des Wachstums, der Gerechtigkeit und Solidarität zu fördern.
3.2 Die Mythen der Grande Nation und der größten Schlacht der Geschichte Der französische Mythos der Nation basiert auf der Annahme, dass Frankreich ein Produkt der Ewigkeit sei. Zudem beinhaltet er den zivilisatorischen Auftrag, die Menschen aufzuklären (CITRON 2000: 24): Frankreich soll so das staatliche Selbstverständnis die Errungenschaften der französischen Revolution, der Aufklärung und der Menschenrechte in die Welt tragen und ein Vorbild für andere Staaten sein. Eng damit verbunden ist auch der Mythos der Größe, aus dem sich bis heute die Führungsansprüche Frankreichs ableiten lassen. Verdun wurde folglich 1916 zu einem Schauplatz, an dem es den Mythos des großen und starken Frankreichs bedroht durch die deutsche Offensive zu verteidigen galt. Letztendlich sicherte jedoch der Sieg Frankreichs über Deutschland nicht nur die große Nation: Verdun stärkte sogar durch seine für die Deutschen unüberwindbaren Befestigungsanlagen den Fortbestand des französischen Nationalmythos. Doch auch Verdun selbst wurde im Laufe der Zeit durch viele Erzählungen und Legenden zu einem narrativen Symbolgebilde, das durch eine Verklärung der größten Schlacht der Geschichte gekennzeichnet ist (TREVISAN 2001: 20). Die Symbole, auf die sich der Mythos Verduns bezieht, haben sich mit der Zeit geändert. Beispielsweise wurde Verdun schon kurz nach der Schlacht wie auch die Ansprachen der Politiker gezeigt haben zu einem nationalen Symbol für Patriotismus, Mut und Tapferkeit (PROST 1997: 1757). Später wandelte es sich zu einem Symbol, in dem sich die Unsterblichkeit des Landes ausdrückte und damit den schon im Nationalmythos bestehenden Ewigkeitsanspruch unterstrich. In die Verdun-Symbolik floss zudem ein, dass Frankreich niemals seine Freiheitsideale aufgeben und sich vereint immer gegen Feinde zur Wehr setzen können würde. Verdun war und ist jedoch inzwischen nicht nur ein nationales Symbol, sondern zudem ein Symbol auf europäischer Ebene. Hier versinnbildlicht es in seiner ungeheuren Kraft der Identitätsstiftung (KRUMEICH 1996: 153) die immerwährende Möglichkeit zur Versöhnung und Freundschaft ehemals verfeindeter Nationen und steht als Inbegriff für mörderisches und sinnloses Kriegsgeschehen.
3.3 Trikolore und Marseillaise Was sich in den Ansprachen vollzogen hat nämlich die Ergänzung des Nationalstaats durch ein europäisches Bezugssystem spiegelt sich nicht in den politischen Symbolen wider, die in die Gedenkrituale integriert sind: Hier sind weiterhin lediglich die politischen Symbole der französischen Nation präsent. Als erstes ist hier die Trikolore der Revolution von 1789 zu nennen, Frankreichs heutige Nationalflagge. Im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg wurden ihre Farben als das durch den Staub der Kämpfe gefärbte Blau (die Unifor-
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men der französischen Soldaten trugen diese Farbe), das durch den Staub der Etappen getönte Weiß und das durch das Blut der Märtyrer getränkte Rot interpretiert (LEMERLE 1917 & 1926: 33, zit. in BECKER 1994: 127f.). Alljährlich in der morgendlichen Zeremonie in der Kathedrale geweiht, weht die französische Nationalfahne in heutiger Zeit zudem während der Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal, im Innenhof des Rathauses sowie auf dem Nationalfriedhof von Douaumont. Ein weiteres politisches Symbol stellt die Marseillaise als Nationalhymne der Franzosen dar. Sie wird im Rahmen der Kranzniederlegungen am Kriegerdenkmal gespielt.
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Fazit
Kommen wir zurück auf die eingangs gestellten Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Globalisierung und politischer Identität und insbesondere zur Frage, ob die Schlacht von Verdun und darüber hinaus noch die Alliierte Landung in der Normandie als politische Gründungsmythen eines vereinten Europas dienen können. Zweifelsohne hat die Globalisierung einen Einfluss auf die vereinigenden und abgrenzenden Komponenten politischer Identitäten. Die vereinende Komponente basiert maßgeblich auf gemeinsamen politischen Wertevorstellungen und Institutionen sowie natürlich auf vorgestellten Gemeinsamkeiten, genauer gesagt auf dem politischen Mythos der Nation. Wie dargelegt galt es, diesen Mythos der Grande Nation in der Schlacht von Verdun zu verteidigen. Und sogar mehr noch: Er wurde nicht nur verteidigt, sondern durch den glorreichen Sieg der Franzosen verstärkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es durch unterschiedliche Faktoren zu einer Krise des Patriotismus und auch der Mythos der Großen Nation verblasste: Erstens hatte die französische Gesellschaft unter den Auswirkungen des Krieges und der Okkupation stark zu leiden, zweitens kooperierte 1940 die Regierung Frankreichs unter Pétain sehr schnell und allzu unrühmlich mit den Nationalsozialisten und drittens benötigte Frankreich zum Sieg über Hitler die Hilfe der Alliierten. Der Patriotismus und damit der Mythos der Grande Nation gerieten damit in die Krise und öffneten so den Weg für neue vorgestellte politische Gemeinsamkeiten auf europäischer Ebene. Durch die Globalisierung haben sich auch die zuvor erwähnten Abgrenzungskomponenten bei der Identitätskonstruktion im Kontext der nationalen Gedenkkultur verändert. Die nationalstaatliche Abgrenzung besteht zweifelsohne weiterhin, doch tritt seit den 1980ern zunehmend das supranationale Bezugssystem der Europäischen Union in den Vordergrund. Im Kontext der Gedenkrituale zeigt sich deutlich zumindest in den Ansprachen der Politiker, nicht jedoch bei den verwendeten politischen Symbolen eine Abwendung vom nationalstaatlich-patriotischen Gedenken und eine Hinwendung zu einem europäischvereinenden Gedenken. Aus diesem Grund erscheint es durchaus sinnvoll, eine neue, dem Zeitalter der Globalisierung angepasste Version eines nationalen Mythos als Grundlage der politischen Identität zu konstruieren. Doch trotz sowohl gemeinsamer politischer Institutionen als auch grundlegend geteilter Wertevorstellungen kann bis heute noch nicht von der Herausbildung einer europäischen Identität und Nation gesprochen werden. Hierfür notwendig ist unter anderem auch eine gemeinsame Vergangenheitskonstruktion. Die Interpretation der Weltkriege als Gründungsmomente der Europäischen Nation wäre eine Möglichkeit, eine solche gemeinsame Vergangenheit zu interpretieren und durch die Gedenkrituale zu konsolidieren. Insbesondere das Gedenken an die Schlacht von Verdun wäre hierfür gut
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Sandra Petermann
geeignet. Und spätestens seit dem 60. Jahrestag der Alliierten Landung in der Normandie im Juni 2004, bei dem neben zahlreichen Alliierten erstmals sowohl der deutsche Bundeskanzler als auch der russische Staatspräsident anwesend waren, wird der D-Day als Gründungsmythos der Europäischen Union thematisiert. Die Alliierte Landung ist durch die zahlreiche Beteilung europäischer Nationen im Kampfgeschehen vielleicht sogar noch besser für die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit geeignet als Verdun. Es bleibt also abzuwarten, ob sich in Zukunft die Interpretation des D-Days als europäischer Gründungsmythos öffentlich etablieren sowie eines Tages bei den Gedenkritualen neben oder sogar vor den Nationalflagge die Europäische Fahne wehen wird.
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Globalisierung und politische Identität
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Das Konzept der kulturellen Vielfalt: Protektionismus oder Schutz vor kultureller Homogenisierung? Georg Glasze & Aika Meyer
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Einleitung: Globalisierung versus kulturelle Vielfalt?
Am 20. Oktober 2005 verabschiedete die 33. Vollversammlung der UNESCO mit großer Mehrheit eine Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt (UNESCO 2007). Die Befürworter der Konvention beschreiben diese als ein völkerrechtliches Schutzinstrument gegenüber einer ökonomisch vorangetriebenen kulturellen Globalisierung. Kulturelle Vielfalt ist in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts als politisches Konzept formuliert worden. Als wissenschaftliches und didaktisches Modell findet das Schlagwort kulturelle Vielfalt in den letzten Jahren aber auch zunehmend Eingang in die Geographie. So bezeichnet der Verband der deutschen Schulgeographen in dem 2005 überarbeiteten Entwurf des Grundlehrplans Geographie die Vermittlung der kulturellen Vielfalt der Menschheit als eines der grundlegenden Ziele des Geographieunterrichts (Verband Deutscher Schulgeographen 2005: 10). Die Kommission Geographische Erziehung der Internationalen Geographischen Union (IGU) hat 2000 die Internationale Erklärung Geographische Erziehung zur kulturellen Vielfalt publiziert, in welcher gefordert wird, das Konzept der kulturellen Vielfalt ins Zentrum geographischer Schulbildung zu stellen (IGU 2000). In diesem Beitrag soll ein kritischer Blick auf das Schlagwort kulturelle Vielfalt als politisches und didaktisches Konzept geworfen werden. Im ersten Teil (Kapitel 2) werden die Hintergründe der Debatte um die kulturelle Globalisierung diskutiert. Es kann gezeigt werden, dass dabei Bilder entworfen werden, die eine Einebnung und Homogenisierung einer kulturell vielfältigen Welt durch die Dampfwalze der nordamerikanischen Kulturindustrie skizzieren. Ein Kulturverständnis, das Kulturen als ganzheitliche Entitäten beschreibt, die von einer anderen Kultur überrollt werden können, muss allerdings aus verschiedenen Gründen als problematisch beurteilt werden. Vor diesem Hintergrund muss auch die in der Geographie weit verbreitete Vorstellung, solche als Einheiten gedachte Kulturen an bestimmte Räume zu binden und damit Kultur und Raum in Kulturräumen zusammen zu denken, hinterfragt werden. Hintergrund des politischen Konzepts kulturelle Vielfalt sind Konflikte um die Regulierung bzw. Liberalisierung der Kulturwirtschaft (Kapitel 3). Staatliche Kulturpolitik greift in vielfacher Weise regulierend in die Kulturwirtschaft ein. Im Rahmen der Liberalisierung des Welthandels werden jedoch seit den 1980er Jahren Stimmen lauter, die viele dieser Regulationen als Protektionismus brandmarken und deren Abbau fordern. Gleichzeitig wird unter dem Schlagwort der kulturellen Globalisierung vielfach eine Dominanz internationaler bzw. US-amerikanischer Kulturindustrien beispielsweise auf dem Filmmarkt als bedrohlich wahrgenommen. Kernstück der 2005 verabschiedeten UNESCOKonvention zur kulturellen Vielfalt ist das Recht eines jeden Staats zu einer eigenständigen
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Kulturpolitik. Die Kulturwirtschaft soll damit weitgehend einer Liberalisierung im Rahmen internationaler Handelsabkommen entzogen werden (Deutsche UNESCO-Kommission e. V. 2007). Negative Folgen einer kulturellen Globalisierung, vor allem eine befürchtete Homogenisierung durch Amerikanisierung, sollen damit eingedämmt werden. Gleichzeitig werden jedoch zumindest implizit Vorstellungen einer kulturräumlichen Gliederung der Welt reproduziert und auf dieser Basis teilweise letztlich protektionistische und nationalistische Politiken legitimiert (kritisch hierzu siehe z. B. DAGNAUD 2005).
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Die Welt: Ein Mosaik von Kulturen bedroht durch Homogenisierung? Eine Kritik an der Vorstellung von Kulturräumen
Mit dem Begriff der kulturellen Globalisierung und dem der kulturellen Vielfalt werden häufig Vorstellungen einer Welt als Mosaik von Kulturen verbunden. Dieses Mosaik sei durch Homogenisierung bedroht. Es stellt sich die Frage, ob das Verhältnis von Kultur und Raum mit dem Bild eines Mosaiks von Kulturräumen sinnvoll beschrieben werden kann. Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert sind Kultur und Raum zentrale Kategorien, welche Forschungsobjekte bzw. Perspektiven des Fachs konstituieren. Die Verknüpfung von Kultur und Raum in Kulturräumen ist allerdings keine Erfindung der Geographie; sie ist vielmehr in einen breiten bildungsbürgerlichen Diskurs eingebettet, der im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen seinen Niederschlag fand. Nationale Geschichtsschreibung, nationale Geographie, Völkerkunde und Nationalliteratur spielten eine wichtige Rolle bei der Konstitution der Vorstellung von Nationen (in sensu imagined communities, ANDERSON 1996), die in der Geschichte und mit einem spezifischen Territorium verwurzelt sind. Eine Vorstellung, die zudem vielfach zur Legimitation territorialer Ansprüche herangezogen wurde und wird. Vor dem Hintergrund der Erschließung der außereuropäischen Welt durch die europäischen Kolonialmächte stießen beispielsweise Entwürfe einer weltumspannenden Gliederung von Kulturräumen, wie sie von Geographen wie EWALD BANSE vorgelegt wurden, auf großes Interesse (BANSE 1912; 1915). Kultur wurde dabei als Entität gedacht und Menschen als Elemente einer Kultur verstanden (Abbildung 44). Im 20. Jahrhundert wurde mit der voranschreitenden Industrialisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Modernisierungen die Kategorie Kultur zunächst durch Kategorien sozialwissenschaftlicher Herkunft wie Klasse, Schicht oder sozioökonomische Klassifizierungen verdrängt. Damit einher ging eine neue Gliederung der Welt. Weltregionen wurden jetzt nach dem Grad ihrer Modernisierung als Industrie- und Entwicklungsländer bzw. nach ihrem sozio-politischen System als die freie Welt oder als die sozialistische oder kommunistische Welt differenziert. Zusammen gedacht wurden diese beiden Schemata im Dreiweltenmodell von Erster, Zweiter und Dritter Welt. Dies Schema fand sich dann auch in den Lehrplänen für den Erdkundeunterricht (GLASZE & THIELMANN 2006) wieder.
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Abbildung 44: E. BANSE: Die Geographische Gliederung der Erdoberfläche
Quelle: Petermanns Geographische Mitteilungen (1912), 1, Tafel 1.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Zweiteilung in eine freie und in eine sozialistische Welt obsolet. Im Schema der Ersten, Zweiten und Dritten Welt entfiel die Zweite Welt. Vor diesem historischen Hintergrund entfaltete sich seit den 1990er Jahren ein Diskurs, der das Bild eines globalen Dorfes (global village, MCLUHAN 1986) zeichnete. Gleichzeitig verstärkte sich mit Schlagworten wie der McDonaldisierung (RITZER 2000), der Cocacolisierung oder der Hollywoodisierung die Vorstellung einer Amerikanisierung, d. h. einer weltweiten kulturellen Homogenisierung unter amerikanischer Dominanz. Nur wenige Jahre später kam es seit Mitte der 1990er Jahren zur (erneuten) Verbreitung von Schemata, welche die Welt als kulturell und räumlich fragmentiert fassen. Rasch popularisiert wurde insbesondere das Schlagwort eines clash of civilizations (dt. Kampf der Kulturen) des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers SAMUEL HUNTINGTON (HUNTINGTON 1996). Als didaktisches Modell findet das Konzept von Kulturräumen in neuen Schulbüchern (wieder) Verwendung1 (siehe Abbildung 45).
1 Das Modell wurde in diesem Schulbuch ergänzt mit Fotos von typischen Bewohnern des jeweiligen Kulturerdkreises; zur Kritik der Verwendung des Kulturraumkonzepts im Erdkundeunterricht siehe ausführlicher RHODEJÜCHTERN (2004: 62ff.) sowie WOLKERSDORFER (2006).
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Abbildung 45: Anwendung des Kulturerdraumkonzepts nach HUNTINGTON im Schulbuch GEOS, Klasse 7/8
Quelle: BARTH & RICHTER 1999: 25.
Spätestens nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Gegenüberstellung von kultureller Globalisierung und kulturell fragmentierter Welt zu einem hegemonialen Schema, mit dem die Entwicklung der Welt erklärt und verstanden wird. Warum aber greift die Gegenüberstellung einer Homogenisierungs- und einer Fragmentierungsthese, die von dem amerikanischen Politikwissenschaftler BARBER etwas reißerisch als Jihad vs. McWorld (BARBER 1996) betitelt wurde, zu kurz?
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Der Vorstellung der Welt als Mosaik von Kulturen liegt eine Idee von Kultur zugrunde, die Kulturen essentialisiert, diese also als wesenhafte Entitäten betrachtet (siehe z. B. kritisch dazu WAGNER 2002). In den Sozial- und Kulturwissenschaften hat sich demgegenüber seit einigen Jahren auf breiter Front die Erkenntnis durchgesetzt, dass kulturelle Differenzen nicht naturgegeben sind, sondern permanent sozial produziert und reproduziert werden. Dies bedeutet nicht, dass es keine kulturellen Differenzen gäbe, sondern dass die vielfältigen und sich wandelnden kulturellen Praktiken ins Blickfeld kommen sollten und dass der Blick darauf nicht durch die Vorstellung von Kulturen als ganzheitliche Entitäten verstellt werden darf. So ist die Idee einer Verräumlichung von Kultur im Grundsatz problematisch, da mit dem Konzept der Kulturräume kulturelle Unterschiede als Container gedacht und allen Elementen im Container die gleichen Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Verständnis für die komplexen kulturellen Praktiken von Menschen wird mit einem solchen Konzept erschwert. Hinzu kommt, dass sich vor dem Hintergrund internationaler Mobilität (Migration, Tourismus) und der zunehmenden Verfügbarkeit elektronischer Medien die Bindung kultureller Praktiken an bestimmte Räume löst und immer mehr kulturelle Praktiken zu Bestandteilen eines globalen Kulturangebots werden. Dies bedeutet nicht, dass das Verhältnis von Kultur und Raum unwichtig und belanglos bzw. kein geographisches Thema wäre. Im Gegenteil, gerade die Erkenntnis, dass kulturelle Differenzen nicht einfach gegeben sind, sondern permanent reproduziert und dabei immer wieder verräumlicht werden, macht deutlich, wie wichtig der kritische Blick auf diese Reproduktionen ist. So kann die Betonung kultureller Differenzen seit Mitte der 1990er Jahre als Reaktion auf eine als bedrohlich wahrgenommene Globalisierung verstanden werden. Die enorme Verbreitung des Schlagworts kulturelle Vielfalt und seine Ausformulierung als politisches und didaktisches Konzept müssen vor diesem Hintergrund analysiert werden.
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Das politische Konzept kulturelle Vielfalt
3.1 Zur Dominanz der internationalen Kulturindustrien: das Beispiel Film und (national-) staatliche Kulturpolitik Die Kulturwirtschaft ist einer der am schnellsten wachsenden Bereiche der Weltwirtschaft. Wie Statistiken der UNESCO zeigen, verdoppelte sich beispielsweise zwischen 1994 und 2002 das Handelsvolumen kultureller Güter. Dabei konzentriert sich die Kulturwirtschaft fast ausschließlich auf die G8-Staaten nur einige asiatische Staaten wie China, Indien und Indonesien partizipieren als Exporteure am Wachstum dieser Branche (METZE-MANGOLD & MERKEL 2006: 363). Ein eindrucksvolles Beispiel für die Ungleichgewichte auf dem internationalen Markt der Kulturwirtschaft sind die Filmmärkte. In vielen Ländern ist eine Dominanz der USamerikanischen Filmindustrien zu vermerken: So liegt in allen europäischen Ländern der Marktanteil von Filmen aus den USA deutlich über demjenigen heimischer Produktionen. 2002 wurden beispielsweise mehr als 80 % der Einkünfte in deutschen Kinosälen mit USamerikanischen Filmproduktionen erzielt, wohingegen der Marktanteil deutscher Produktionen nur bei 9,5 % lag (ebd.; siehe Abbildung 46).
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Abbildung 46: Marktanteile der Filmproduktionen in den großen EU-Staaten (2002)
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Deutschland
Frankreich
nationale Produktion
Großbritannien
US-Produktion
Italien
Spanien
Sonstige Quelle: Observatoire Européen de l'Audiovisuel 2003
Quelle: HOLTZ-BACHA 2006: 286.
Es gibt verschiedene Gründe bzw. Erklärungsansätze für diese Dominanz USamerikanischer Produktionen: Zum einen bieten ein großer englischsprachiger Absatzmarkt, eine hohe Marktorientierung (Filme als Wirtschafts- und nicht als Kulturgut) und eine regionale Konzentration der Filmindustrie auf den Standort Los Angeles (die wenig ausgeprägte vertikale Integration des audiovisuellen Sektors führt zu hoher Konkurrenz und niedrigen Produktionskosten) deutliche Wettbewerbsvorteile. Zum anderen sind die Filmmärkte in Europa von einer starken Zersplitterung geprägt, die vor allem aufgrund der Vielzahl der Sprachen und des so genannten Cultural Discounts die Vermarktung erschwert. Cultural Discount bezeichnet das Phänomen, dass ein Film deshalb in anderen Ländern wenig Erfolg hat, weil dem Publikum die Identifikation mit Handlungsorten, Inhalten und Personen schwer fällt (HOLTZ-BACHA 2006: 283ff.). In Frankreich liegt der Marktanteil französischer Filme im Vergleich zu anderen europäischen Ländern vergleichsweise hoch und zwar bei 35 % (vgl. Abbildung 46). Hintergrund dieser Sonderstellung ist die traditionell stark ausgebaute nationale Filmförderungspolitik. Anliegen nationaler Filmförderung ist es, die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der nationalen Filmproduktionen zu sichern. Gefördert werden Filme, die geeignet scheinen, die Qualität und Wirtschaftlichkeit des nationalen Films (Filmförderungsanstalt 2007) zu verbessern und an deren Produktionen in einem bestimmten Umfang Inländer bzw. Landessprachige beteiligt sind (Europäische Audiovisuelle Informationsstelle 2001: 3). Zur Finanzierung der Filmförderung werden in Frankreich spezielle Abgaben pro Kinokarte erhoben (ca. 11 % des Eintrittspreises). Hinzu kommt eine Verpflichtung für die Fernsehsender, im Verhältnis zu ihrem Umsatz jährlich in die Filmproduktion zu investieren. In Deutschland gibt es ebenfalls einen Filmförderungsfond, der von Bund und Ländern in
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Form von bedingt rückzahlbaren und zinslosen Darlehen getragen wird. Die Filmförderungsanstalt (FFA) erhebt darüber hinaus von den Filmtheaterbetreibern und Videoprogrammanbietern eine Filmabgabe (zwischen 1,8 und 3 % des Jahresumsatzes). Die Fernsehanstalten verpflichten sich ihrerseits, Gelder für die Förderung von Filmen zur Verfügung zu stellen. Von der FFA werden Filme gefördert, die einen Bezug zu Deutschland (Europäische Audiovisuelle Informationsstelle 2001: 2) haben, sei es im Hinblick auf die Verwendung der deutschen Sprache, der Herkunft der an der Produktion beteiligten Personen und Unternehmen oder der Drehorte. Filmförderung ist ein Beispiel für staatliche Kulturpolitik. Das Anliegen des Staats ist dabei der Schutz so genannter nationaler Kulturen bzw. nationaler Kulturgüter. Hintergrund der staatlichen Kulturpolitik ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der Kulturproduktion eine wichtige Rolle bei der Reproduktion der vorgestellten Gemeinschaft Nation zugemessen wird. Grundsätzlich hat der Staat zahlreiche Möglichkeiten, Schutz- und Steuerungsinstrumente einzusetzen: So können Subventionen gewährt werden wie in der Filmförderung oder für öffentliche Theater und Museen. Die Aus- und Einfuhr von Kulturgütern kann reguliert werden. Für bestimmte Märkte können Teilmonopole gewährt werden, wie beispielsweise bis vor wenigen Jahren für den öffentlichen Rundfunk in Deutschland. Oder es können Quoten verordnet werden, wie beispielsweise in Frankreich, so dass die Rundfunksender verpflichtet sind, eine Mindestquote an Musiktiteln französischer Sprache zu senden.
3.2 Zur Liberalisierung des Kulturbereichs in internationalen Handelsabkommen und zur Etablierung des Konzepts kultureller Vielfalt Seit den 1980er Jahren geraten die staatlichen Regulationen des Kulturbetriebs zunehmend in den Fokus der Bemühungen um eine Liberalisierung des Welthandels, wie er von der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) angestrebt wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) einen multilateralen Rahmen für den internationalen Handel dar. Bis 1994 wurden in insgesamt acht Verhandlungsrunden immer weitere Bereiche in das GATT integriert. Heute werden die Verhandlungen unter dem Dach der 1995 im Anschluss an die Uruguay-Runde (19861994) neu geschaffenen Welthandelsorganisation (WTO) geführt, die auch die Einhaltung der bisherigen Verträge überwachen soll. Diese achte und letzte bislang abgeschlossene Verhandlungsrunde bezog zum ersten Mal auch Dienstleistungen und geistige Eigentumsrechte in die Verhandlungen ein (KRAJEWSKI 2005: 5ff., METZE-MANGOLD & MERKEL 2006: 368ff.). Ebenfalls am Ende der Urugay-Runde wurde 1995 das Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) verabschiedet. Das GATS gilt für den Handel mit Dienstleistungen, den Konsum von Dienstleistungen im Inland sowie die Erbringung von Dienstleistungen durch ausländische Investoren. Die Vereinbarung enthält zum einen allgemeine Verpflichtungen, die für alle Vertragspartner und Mitglieder gelten, zum anderen spezifische Verpflichtungen bzw. Zugeständnisse, die nur dann zum Tragen kommen, wenn sich die Mitglieder dazu explizit verpflichtet haben. Zu den allgemeinen Verpflichtungen gehört das Meistbegünstigungsprinzip. Es verpflichtet alle Vertragsstaa-
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ten, gleichartige Dienstleistungen und Dienstleistungserbringer aus den WTO-Staaten gleich zu behandeln. Davon konnten die Staaten einmalig bei der Gründung der WTO einzelne Bereiche in so genannten Negativlisten ausnehmen. Daneben gibt es auch Positivlisten, die die Staaten dazu verpflichten, den Zugang zu ihren Märkten nur in dem Umfang und für die Bereiche öffnen, auf die sie sich in den GATS verständigt haben. Gleiches gilt für die so genannte Inländerbehandlung, die vorsieht, ausländische Anbieter auf dem heimischen Markt wie Inländer zu behandeln. Wenn sich ein Mitgliedsland in einem Bereich für Marktzugang und Inländerbehandlung bereit erklärt hat, dürfen in diesem Bereich keine Monopole oder Quoten mehr etabliert werden eine Rücknahme einer erfolgten Öffnung ist grundsätzlich an Kompensation gebunden (ebd.). Von den Befürwortern des GATS werden die Positivlisten als Flexibilitätsbeweis angesehen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die WTO-Mitglieder explizit zu einer fortschreitenden Öffnung weiterer Segmente in weiteren Verhandlungsrunden verpflichtet sind. Dies heißt, dass es eine Tendenz gibt, immer weitere Bereiche dem offenen Marktzugang und der Inländerbehandlung zu unterwerfen. Verschiedene Instrumente staatlicher Kulturpolitik können deshalb schnell in Widerspruch zum GATS geraten. Quotenregelungen in Radio und Fernsehen verstoßen beispielsweise eindeutig gegen das Inländerprinzip. Streng genommen unterliegen sogar öffentlich geförderte Kultureinrichtungen wie städtische Theater oder Orchester den Anforderungen des GATS, da sie zumindest teilweise in Konkurrenz zu privaten Anbietern stehen, aber meist eine finanzielle Unterstützung durch Kommunen oder staatliche Einrichtungen erhalten (ebd.). Vielfach zitiertes Beispiel für die aus Sicht vieler Kritiker negativen Konsequenzen des GATS ist eine gescheiterte Quotenregelung der neuseeländischen Regierung für den neuseeländischen Rundfunk Ende der 1990er Jahre: In den 1980er Jahren hatte die neuseeländische Regierung eine Politik der Deregulierung und des freien Marktes verfolgt. Sie war daher auch im Bereich des Rundfunks eine Reihe von Verpflichtungen im GATS eingegangen. Angesichts der rapide gesunkenen Marktanteile neuseeländischer Produzenten war nach einem Regierungswechsel Ende der 1990er Jahre eine Quotenregelung für den Rundfunkbereich angestrebt worden. Nachdem aber die USA mit einer Klage bei der WTO und mit Kompensationsforderungen gedroht hatten, musste die Regierung ihre Pläne zurückziehen (METZE-MANGOLD & MERKEL 2006: 373). Das Ziel der Europäischen Gemeinschaft bestand darin, im Rahmen der UruguayRunde sicherzustellen, dass einzelstaatliche und europäische Regelungen für den audiovisuellen Bereich aus dem GATS ausgenommen werden. Insbesondere die französische Regierung und der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors setzten sich mit dem Schlagwort der exception culturelle, der kulturellen Sonderstellung, erfolgreich für die Herausnahme des audiovisuellen Bereichs aus den Verhandlungen ein. So gelang es der Europäischen Gemeinschaft, gegen den Widerstand der USA den Erhalt von Sendequoten im Radio und die europäischen Förderprogramme für Produktion und Vertrieb von Fernseh- und Filmproduktionen festzuschreiben (REGOURD 2004). Strittig ist allerdings, ob diese Ausnahmen von der Meistbegünstigung zeitlich begrenzt sind. Prinzipiell liegen für die Befürworter der Marktliberalisierung diese Bereiche weiterhin im Aufgabenfeld des GATS. So haben in der laufenden Verhandlungsrunde, der 2001 begonnenen und im Sommer 2006 vorläufig gescheiterten Doha-Runde, zahlreiche Länder Forderungen nach Aufhebung dieser europäischen Regelungen erhoben. Das Konzept der exception culturelle wurde dabei international oft als eurozentrischer oder auch
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als spezifisch französischer Protektionismus wahrgenommen, der einzig auf einen Schutz der europäischen Märkte vor den Produkten der US-amerikanischen Kulturindustrie abziele. Vor diesem Hintergrund hat die Regierung Frankreichs mit Unterstützung Kanadas seit Ende der 1990er Jahre das Konzept der diversité culturelle, der kulturellen Vielfalt, propagiert. Die Zielsetzung der Begriffsänderung war eindeutig: Zum einen sollte dem Bemühen Ausdruck verliehen werden, einen anthropologischen Kulturbegriff in die internationale Debatte einzubringen. Kultur sollte nicht nur als Ware, sondern auch als identitätsstiftende Praxis betrachtet werden. Zum anderen war damit die Hoffnung verbunden, dass ein Begriff, der an die positiv besetzte ökologische Vielfalt anknüpft, in der Lage sein würde, eine größere Koalition zu schmieden. Und tatsächlich gelang es den beiden Regierungen, Frankreich und Kanada, Schritt für Schritt eine Allianz für eine internationale Konvention für kulturelle Vielfalt zu gewinnen. So wurde der Begriff zu einem Leitwort der Internationalen Organisation der Frankophonie einem Zusammenschluss von mehr als 50 Staaten (TRÉAN 2005; GLASZE 2007). Kanada etablierte außerdem eine Koalition mit zahlreichen weiteren Ländern des Südens und auch die Europäische Gemeinschaft schloss sich dem Unterstützerkreis an (METZE-MANGOLD & MERKEL 2006: 362ff.). Gegen den Widerstand der USA, die 2003 nach 19 Jahren Abwesenheit ihre aktive Mitarbeit in der UNESCO wieder aufgenommen hatten, verabschiedete die Vollversammlung der UNESCO 2005 schließlich eine Konvention für den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Es ist das erste Abkommen, das den Doppelcharakter von Kulturgütern als Ware und als [kulturelle] Sinnträger (METZE-MANGOLD & MERKEL 2006: 362) definiert und die Berechtigung nationalstaatlicher Kultur- und Medienpolitik gegen die Liberalisierungsbestrebungen der WTO absichern soll: Die Ziele dieses Übereinkommens sind, (
) die besondere Natur von kulturellen Aktivitäten, Gütern und Dienstleistungen als Träger von Identität, Werten und Sinn anzuerkennen; (
) das souveräne Recht der Staaten zu bekräftigen, die Politik und die Maßnahmen beizubehalten, zu beschließen und umzusetzen, die sie für den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in ihrem Hoheitsgebiet für angemessen erachten (
) (Deutsche UNESCOKommission 2007: Kapitel I, Artikel 1).
Besonders umstritten war dabei die Stellung der Konvention bezüglich des Regelwerks der WTO. Der nach langen Verhandlungen erreichte Kompromiss sieht nun vor, dass eine widerspruchsfreie Eingliederung der Konvention in bestehende Regelungen angestrebt wird und die Vertragsstaaten aufgefordert werden, die Konvention zu berücksichtigen, wenn sie andere internationale Verträge interpretieren bzw. anwenden. Mit dieser Formel wurde eine Blockade der Konvention durch wichtige Staaten verhindert; zugleich bleibt damit aber der grundsätzliche Konflikt mit dem GATS bestehen. Die Praxis der nächsten Jahre wird zeigen, welche Wirkung die in ihren Formulierungen recht allgemein gehaltene Konvention entfalten kann. Schon während der Verhandlungen zur Doha-Runde ist deutlich geworden, dass zahlreiche Delegationen zunehmend für die Anliegen der Konvention sensibilisiert sind (VON SCHORLEMER 2005). Die Förderung und der Schutz kulturwirtschaftlicher Produktionen eines Staats oder einer Region dienen letztlich immer auch politischen Interessen insbesondere der Reproduktion einer imagined community und damit der Legitimation politischer Gemeinschaften (wie einer regionalen, nationalen oder supranationalen Gemeinschaft). Indem semantisch an die ökologische Vielfalt angeknüpft wird und kulturelle Vielfalt damit als eine
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nicht hinterfragbare Norm etabliert wird, werden (geo-)politische Interessen als quasinaturgegeben legitimiert und damit der politischen Auseinandersetzung entzogen. Die Paradoxien der politischen Debatte in Frankreich weisen auf eine solche zumindest teilweise strategisch-geopolitische Verwendung des Begriffs kulturelle Vielfalt hin: Während die französische Regierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts international zu der treibenden Kraft hinter dem politischen Konzept der kulturellen Vielfalt wurde, dabei vom gesamten etablierten politischen Spektrum in Frankreich unterstützt wurde2 und die Verabschiedung der UNESCO-Konvention vielfach als diplomatischer Sieg für Frankreich beurteilt wird (MUSITELLI 2006), stößt innenpolitisch die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen auf zahlreiche Schwierigkeiten. So hat Frankreich im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern die Europäische Charta zum Schutz der Regionalsprachen bis heute nicht unterzeichnet (JENSDOTTIR 2002: 174f.). 1992 wurde sogar in der französischen Verfassung verankert, dass Französisch die Sprache der Republik ist, was de facto den Regionalsprachen in Frankreich die politische Legitimation entzogen hat.
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Fazit: Kulturelle Vielfalt als Thema der Geographie
Mit der UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt wurde erstmals völkerrechtlich der Doppelcharakter von Kulturgütern festgeschrieben als Ware und als Sinnträger. Damit können Maßnahmen der Kulturpolitik einer Liberalisierung im Zuge internationaler Handelsabkommen entzogen werden. Die Befürworter der Konvention feiern dies als Sieg der kulturellen Vielfalt gegenüber der Bedrohung durch eine US-amerikanisch dominierte und homogenisierende Globalisierung. Wie gezeigt, verbindet sich mit dem Konzept der kulturellen Vielfalt vielfach die Vorstellung einer Welt als Flickenteppich territorial abgrenzbarer und klar unterscheidbarer Kulturen. Die räumliche Beschreibung von kulturellen Unterschieden ist einerseits inhaltlich unbefriedigend. Andererseits ist sie politisch problematisch, weil damit vielfach Herrschaftsansprüchen eine vermeintlich unhinterfragbare Legitimation verliehen wird. Letztlich ist es ein kaum überwindbares Problem, dass der Schutz von Kulturgütern und Dienstleistungen im kulturellen Sektor fast immer auf politische Territorien bezogen wird, in erster Linie auf nationalstaatlicher Ebene (beispielsweise Förderung des nationalen Filmmarktes), aber auch auf einer sub- oder suprastaatlichen regionalen Ebene (bspw. Förderung von Ideen einer europäischen Identität). Inwieweit das politische Konzept kulturelle Vielfalt daher als Schutz bedeutungstragender kultureller Güter und damit als Schutz spezifischer Identitäten interpretiert werden kann oder als Legitimation für regionalistische bzw. nationalistische und protektionistische Politikziele zu lesen ist, muss eine kritische Auseinandersetzung mit der Verwendung des Schlagworts kulturelle Vielfalt immer wieder neu herausarbeiten und kritisch abwägen.
2 Als ein Beispiel für viele: CHIRAC, JACQUES (2003): France: un soutien constant à la spécificité de la culture. Rede am 2. Februar 2003 im Elyseepalast.
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Georg Glasze & Aika Meyer
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen (k)ein Sündenbock sozioökonomischer Realitäten Johannes Kessler & Christian Steiner
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Das negative Image der Globalisierung, mögliche Fehlschlüsse und die Sündenbockfunktion
Nicht nur in den wissenschaftlichen Diskussionen zum Thema Globalisierung, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Debatten finden sich wie zu kaum einem anderen Thema diametral entgegengesetzte Aussagen und es ist erstaunlich, welche Fülle von Entwicklungen pauschal auf die Globalisierung zurückgeführt werden. Dabei basieren die Aussagen selten auf fundierten Analysen als vielmehr auf Ad-hoc-Überlegungen. Häufig wird eine negativ wahrgenommene Entwicklung als (nicht selten unvermeidliches) Ergebnis der (ebenso unvermeidlichen wie globalen) Globalisierung dargestellt, die dadurch wie auch durch zahlreiche negativ konnotierte Schlagzeilen ein überwiegend negatives Image erhält. Dies zeigt sich anhand der Aussagen von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten und lässt sich insbesondere in den Printmedien gut nachvollziehen. Betrachtet man beispielhaft Veröffentlichungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung innerhalb des letzten Jahrzehnts, in einer Zeitung, deren Berichterstattung tendenziell als wirtschaftsliberal und konservativ gilt (bspw. STEERNBERG 2002) und die daher besonders wenig im Verdacht stehen dürfte, kritisch beziehungsweise negativ in Bezug auf Globalisierung zu berichten, so ist dort beispielsweise zu lesen: Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland KOCK sei der Meinung, dass die Globalisierung einen tiefen Keil zwischen arme und reiche Länder treibe (o. V. 2001a). Der Soziologe DAHRENDORF (2001) schreibt, dass wir Hand in Hand mit der Globalisierung einen Zerfall von Recht und Ordnung erlebten, sowohl im eigenen Land als auch weltweit. Sein Kollege und UNSonderberichterstatter ZIEGLER (2003) bezeichnet den Kapitalismus als Feuersbrunst und konstatiert, Globalisierung sei täglicher Terror. Ähnlich äußert sich der ehemalige malaysische Ministerpräsident MAHATIR in den Medien, wenn er vom ökonomischen Terrorismus der Globalisierung spricht (BUCHSTEINER 2003). Und der Terrorist BIN LADIN vertritt in einer Videobotschaft die Ansicht, der Kapitalismus, der heute das Etikett der Globalisierung trage, sei gnadenloser als das Mittelalter (HERMANN 2007). Der ehemalige italienische Minister- und Staatspräsident COSSIGA (2001) vermutet wiederum, dass sich der islamische Terrorismus unter anderem aus den schlimmen kapitalistischen Auswüchsen der Globalisierung nähre. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich in einem Interview mit dem Anthropologen VON BARLOEWEN, das den Titel trägt: Die Globalisierung bedroht den Frieden (VON BARLOEWEN 2004). Ein Manager wiederum erklärt, die Globalisierung habe in Verbindung mit der Alterung der Bevölkerung zur Folge, dass die Sozialsysteme nicht mehr finanziert werden könnten, das Wirtschaftswachstum geschwächt würde und die beiden genannten Faktoren generell die Ursachen für die Notlage der öffentlichen Finanzen dar-
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen
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stellten (BOSOMWORTH 2005). Selbst der Niedergang der SPD und die Krise sozialdemokratischer Parteien in ganz Europa werden als Folge der Globalisierung bezeichnet (STELTZNER 2008). Dazu passt die kritische Haltung des SPD-Politikers und ehemaligen Bundespräsidenten RAU, von dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu berichten weiß: Rau warnt vor den Folgen der Globalisierung (o. V. 2001b). Dabei sind RAU, MAHATIR und COSSIGA nicht die einzigen Spitzenpolitiker, die vor der Globalisierung und ihren Folgen warnen. Der französische Staatspräsident SARKOZY beispielsweise erklärt, Europa müsse sich stärker vor den Folgen der Globalisierung schützen (o. V. 2007). Und die deutsche Bundeskanzlerin MERKEL fordert medienwirksam, der Globalisierung ein menschliches Gesicht zu verleihen (BANNAS 2007). Selbst Artikel von Autoren, welche die Globalisierung insgesamt als eher positive Entwicklung charakterisieren, sind mit Überschriften versehen, die negativ konnotiert sind. Beispielsweise schreibt ISSING (2001): Globalisierung ist nie Gemütlichkeit und DI FABIO (2008) fragt: Kann Globalisierung gerecht sein? Zwar handelt es sich hier nur um einzelne Beispiele und keine systematische Auswertung.1 Erstaunen muss dennoch die Vielzahl der negativ konnotierten Berichte und Schlagzeilen, denn vergleichbare Aussagen finden sich auch in anderen deutschen Zeitungen. So erklärt der Politiker LAFONTAINE (2001) in der Zeit, die Globalisierung sei ein Sprengsatz für die Zivilgesellschaft und ihre Kritiker retteten die Demokratie. In der Zeit ist des Weiteren zu lesen, dass das Mantra der Globalisierung (
) die Deutschen entnervt (GASCHKE 2007), die extremen Unterschiede zwischen Arm und Reich wüchsen und die Globalisierung eine neue Generation verschwenderischer Superreicher gebäre (FISCHERMANN 2008a). In der Süddeutschen Zeitung wiederum steht auf der Titelseite, dass der PAPST vor ungezügeltem Kapitalismus warnt und eine kritische Auseinandersetzung mit der Globalisierung fordert, da die Globalisierung der Wirtschaft die Welt in eine schwierige Situation geführt habe (ULRICH 2006). Ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung ist zu lesen, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einen Fonds für die Opfer der Globalisierung planen (HAGELÜKEN 2005). Ähnlich negativ besetzte Aussagen finden sich nicht nur in den Zeitungen, sondern auch in anderen Printmedien. So liest man beispielsweise im von Le Monde Diplomatique herausgegebenen Atlas der Globalisierung, dass die Globalisierung unverträglich mit den Grundsätzen einer politischen Demokratie sei (SCHEER 2003) und ein Titel des Manager Magazins (2008) lautet: Die Folgen der Globalisierung: Zerstört der Superkapitalismus die Demokratie? Bestseller mit Titeln wie Die Globalisierungsfalle Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand (MARTIN & SCHUMANN 1996) oder Die Schatten der Globalisierung (STIGLITZ 2002) tragen natürlich ebenfalls zum negativen Image der Globalisierung bei. Andererseits existieren auch zahlreiche positive Berichterstattungen: So findet sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch die Überschrift Globalisierung ist gut für die Armen und die Reichen müssen keine Angst haben (FRISCHEN 2001). HANK (2007) schreibt in der gleichen Zeitung, man müsse nicht gegen, sondern für die Globalisierung kämpfen und BRAUNBERGER (2007) nimmt eine klar positive Haltung ein, wenn er feststellt, der weltweite Handel sei in Wirklichkeit ein Glücksfall für die meisten Menschen 1 STEERNBERG (2002) schließt anhand einer Untersuchung deutscher Tageszeitungen zwischen 1995 und 1998, dass die Anzahl der globalisierungskritischen Artikel geringer ist, als die Anzahl positiver Berichterstattungen. Fraglich ist allerdings, ob sich dies auch bei einer systematischen Untersuchung innerhalb des letzten Jahrzehnts zeigen würde.
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und die Globalisierung der vergangenen 15 Jahre eine der größten wirtschaftlichen Erfolgsstorys der Menschheitsgeschichte. In der Zeit konstatiert JOFFE (2007), dass heute sogar die Armen von der Globalisierung profitierten und dass generell profitiere, wer sich globalisiert, und verliere, wer sich abschottet. In der gleichen Zeitung findet sich die Überschrift Rettet die Globalisierung! sogar doppelt (FISCHERMANN 2008b; GREFE & SCHUMANN 2008). Im Handelsblatt warnt HANKE (2008) vor einer Bruchlandung der aktuellen zweiten Globalisierung und verweist auf das Beispiel der dreißiger Jahre, das zeige, dass die bewusste Abkehr von der Globalisierung wirtschaftlich und politisch im Desaster ende. Auch die Titel populärwissenschaftlicher Bücher wie Die Chancen der Globalisierung (STIGLITZ 2006) oder Verteidigung der Globalisierung (BHAGWATI 2008) stehen den oben angeführten negativ konnotierten Aussagen und Titeln gegenüber. Angesichts der Übermacht der häufig reißerisch negativen Berichterstattung, nehmen sich diese Veröffentlichungen allerdings vergleichsweise bescheiden aus. Dabei geht es weniger um die schlichte Anzahl negativer oder positiver Berichterstattung. Die Befürworter der Globalisierung wählen meist weniger drastische Schlagzeilen und sind zudem in der Regel weniger prominent, so dass die angeführten Beispiele insgesamt für ein negatives Image der Globalisierung sprechen. Friedliche Demonstrationen Hunderttausender Globalisierungskritiker sowie gewaltsame Proteste militanter Globalisierungsgegner sprechen für die negative Wahrnehmung dieses Phänomens in Teilen der Bevölkerung nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2008). Dabei ist die Heterogenität der Globalisierungsgegner ebenso erstaunlich, wie die der oben genannten, sich in Bezug auf Globalisierung kritisch äußernden Prominentengruppe, die den geistlichen KOCK ebenso umfasst, wie den Terroristen BIN LADIN, den Linken LAFONTAINE oder den Konservativen SARKOZY. Gegen die Globalisierung protestieren gleichermaßen (teils militante) Rechtswie Linksradikale, Naturschutzverbände und Gewerkschaften ebenso wie konservative kirchliche Gruppen. Die Breite und die Widersprüchlichkeit dieser Protestbewegung dürften damit einzigartig sein. Zwar sind diese Demonstranten nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Aber auch bei einer repräsentativen Umfrage zu den Folgen der Globalisierung, die 1998 und 2006 in Deutschland durch das Institut für Demoskopie Allensbach (1998; 2006) durchgeführt wurde, zeigt sich eine tendenziell negative Bewertung der Globalisierung durch die Bevölkerung. 2006 assoziiert ein großer Teil der Befragten mit Globalisierung, dass Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden und im Inland verloren gehen. Über die Hälfte stimmt der Aussage zu, dass durch die Globalisierung unser soziales Netz gefährdet wird. Demgegenüber ist lediglich ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung der Ansicht, als Folge der Globalisierung würde die Wirtschaft angekurbelt und das Leben interessanter und es gebe mehr Sicherheit und Wohlstand. Besonders auffällig ist zudem, dass die hier vorgenommene Unterscheidung in tendenziell negativ und positiv konnotierte Aussagen zeigt und die Zustimmung zu den negativen Einschätzungen im Vergleich der Jahre 1998 und 2006 durchgängig gestiegen ist, wohingegen die Zustimmung zu den möglichen positiv besetzten Folgen der Globalisierung durchweg abgenommen hat (vgl. Tabelle 13). So scheint die von BUCHSTEINER (2002) geäußerte Einschätzung zuzutreffen: Seit die Spitzen des Staates die Gegner der Globalisierung offen hofierten, gehöre es hierzulande zum guten Ton, die Globalisierung kritisch zu sehen.
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen Tabelle 13:
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Befragung zu Globalisierungsfolgen Bevölkerungsanteil in %* 1998
2006
Arbeitsplätze werden ins Ausland verlegt
69
78
Arbeitsplätze gehen verloren
48
61
Unser soziales Netz wird gefährdet
43
54
Nur Leute mit viel Kapital haben einen Vorteil
32
49
Man verdient alles in allem weniger
27
37
Die Umweltzerstörung nimmt dadurch zu
31
37
Es gibt mehr Kontakte mit anderen Kulturen / kulturellen Austausch
57
53
Es wird leichter, sich weltweit zu verständigen
70
48
Die Chancen, sich beruflich weiterzuentwickeln, werden größer
52
45
Die Wirtschaft wird angekurbelt
42
28
-
26
28
17
-
9
Tendenziell negativ besetzte Aussagen
Tendenziell positiv besetzte Aussagen
Das Leben wird interessanter, spannender Die Sicherheit in der Welt nimmt zu, es gibt weniger Kriege Mehr Wohlstand
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach (1998; 2006); Aufteilung in positiv und negativ besetzte Aussagen durch die Autoren. * Anteil der Befragten, die zumindest eine ungefähre Vorstellung von Globalisierung haben, an der Gesamtbevölkerung.
Es lässt sich also feststellen, dass die in den Medien geäußerten Einschätzungen in Bezug auf die Globalisierung sehr stark divergieren und sich nicht selten sogar direkt widersprechen. Den negativen Bewertungen scheint angesichts der hier aufgeführten Beispiele die größere Bedeutung zuzukommen, nicht zuletzt durch drastische Aussagen und Titel sowie durch kritische Äußerungen besonders prominenter Persönlichkeiten. Dieses negative Image der Globalisierung offenbart sich auch in den teilweise gewaltsamen Protesten und Demonstrationen von vielen Hunderttausend Globalisierungsgegnern und -kritikern, denen gegenüber es keine Entsprechung von Globalisierungsbefürwortern gibt. Und nicht zuletzt zeigt sich das eher negative Image der Globalisierung auch bei der hier angeführten Befragung mit stark zunehmender Tendenz. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen lässt sich relativ gut damit erklären, dass die Diskussion um das Phänomen Globalisierung vergleichsweise jung ist und auch im wissenschaftlichen Bereich eine in dieser Ausprägung ungewöhnliche Unklarheit darüber herrscht, was genau Globalisierung ist und welche Folgen sie generiert (vgl. bspw. KESSLER in diesem Band). Das dargestellte Negativimage der Globalisierung, die drastischen Aussagen in
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Johannes Kessler & Christian Steiner
Bezug auf deren Auswirkungen und die dezidiert kritischen Äußerungen zahlreicher Prominenter erscheinen aber vor diesem Hintergrund zunächst umso erstaunlicher. Ein Grund hierfür könnte sein, dass besonders drastische Aussagen in Bezug auf ein Phänomen, das auf der einen Seite als überaus bedeutsam angesehen wird und auf der anderen Seite mit großer Unsicherheit behaftet ist, der eigenen Popularität dienlich sein können, ohne dass mit einem entsprechend gefestigten Widerspruch zu rechnen wäre. Diesem Argument mag eine gewisse Erklärungskraft innewohnen, zumal offensichtlich ist, dass der Begriff Globalisierung geradezu inflationär in Überschriften und Titeln Verwendung findet, und nicht selten alleine Marketingargumente für seine Aufnahme gesprochen haben mögen (STEERNBERG 2002). Vollständig überzeugen kann diese Überlegung allerdings nicht, da die Steigerung des Bekanntheitsgrades mittels markiger Thesen oder Überschriften auch den Globalisierungsbefürwortern offen stünde. Neben weiteren denkbaren Argumenten, z. B. dass die Menschen generell dazu neigen, bedeutende Veränderungen skeptisch einzuschätzen, erscheinen aber insbesondere drei Möglichkeiten besonders relevant: Erstens besteht natürlich die Möglichkeit, dass die negative Einschätzung durchweg gerechtfertigt ist und die genannten kritischen Thesen und Behauptungen zutreffen. Sollte sich dies allerdings nicht bestätigen lassen, bestehen zwei weitere Möglichkeiten, denen die implizit getroffene Annahme zugrunde liegt, dass das Phänomen Globalisierung die gesamte Welt gleichermaßen betrifft und eine räumliche Differenzierung der Globalisierung vernachlässigt werden kann. Von dieser Annahme ausgehend, kann das überwiegend negative Image der Globalisierung zweitens die Folge eines Fehlschlusses sein, der lediglich aus dem gleichzeitigen Auftreten beispielsweise zunehmender Globalisierung sowie wachsender Armut in verschiedenen afrikanischen Ländern unzulässigerweise ableitet, die Globalisierung sei die Ursache für eben jene Armut (vgl. KESSLER in diesem Band). Und drittens kommt der Verdacht auf, dass die Globalisierung einfach als Sündenbock zur Erklärung negativ bewerteter ökonomischer, gesellschaftlicher oder politischer Entwicklungen und Zwänge herangezogen wird. In diesem Fall eignete sich die Globalisierung besonders gut als Sündenbock, weil sie einerseits durch die unterstellte Globalität für alle möglichen Dinge weltweit verantwortlich gemacht werden kann und weil andererseits aufgrund der angeführten Unsicherheiten in Bezug auf das Phänomen Globalisierung eine zeitnahe und öffentlichkeitswirksame Entlarvung der Sündenbockfunktion vergleichsweise wenig zu fürchten ist.
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Globalisierungsforschung jenseits dichotomer Logiken
Die Beiträge dieses Buches zeigen, dass viele der kursierenden, vereinfachenden Thesen und Vorstellungen in Bezug auf die Globalisierung und ihre Folgen einer differenzierten wissenschaftlichen Betrachtung kaum standhalten. Sie zeigen nicht nur auf, dass einseitig positive wie negative Annahmen über die Wirkungsweise von Globalisierungsprozessen zu kurz greifen, sondern auch, dass die in dem einleitenden Beitrag Facetten der Globalisierung: Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur diskutierte Dichotomie von Homogenisierungs- und Ausdifferenzierungsthese der Komplexität des Phänomens Globalisierung nur unzureichend gerecht wird. Nicht selten laufen Homogenisierungs- wie auch Ausdifferenzierungsprozesse gleichzeitig ab, die sich kaum allein auf die Globalisierung zurückführen lassen und deren Erklärung spezifischer Analysen bedarf.
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen
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Bereits im ersten Beitrag von KESSLER werden schon im theoretisch-konzeptionellen Teil sowohl positive wie auch negative mögliche Folgen der Globalisierung aufgeführt, welche die verbreitete Fokussierung auf die negativen Aspekte sehr einseitig erscheinen lassen. Im Zentrum des Beitrags von KESSLER steht jedoch die theoretisch begründete und empirisch belegte Aussage, dass das Globalisierungsniveau eine exorbitante räumliche Differenzierung aufweist, was die Vorstellung von der Globalität der Globalisierung als Fiktion entlarvt. Der Beitrag zeigt damit eine weit verbreitete Schwäche der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte auf, in der meist implizit von der Globalität der Globalisierung ausgegangen wird und so deren räumliche Differenzierung unterbelichtet oder ganz ausgeblendet bleibt. Tatsächlich weist das Niveau grenzüberschreitender Interaktion gravierende Unterschiede zwischen Nationalstaaten auf. Während in einigen Staaten fast überhaupt kein grenzüberschreitender Austausch stattfindet, hat dieser in anderen Staaten ein außerordentlich hohes Niveau erreicht. Das Globalisierungsniveau steht dabei in einem sehr starken positiven Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Entwicklungsniveau wie auch mit dem Niveau der von politischer Seite bestehenden Freiheiten beziehungsweise dem Demokratieniveau. Angesichts der vielfach geäußerten Behauptung, dass die Globalisierung die Demokratie gefährde oder zerstöre, ist KESSLERS und WEIFFENS Feststellung bemerkenswert, Globalisierung und politische wie bürgerliche Freiheiten sowie damit verbunden Demokratie gingen miteinander einher. Damit ist zwar noch nicht geklärt, wie hier die Kausalitätsbeziehungen im Detail aufzufassen sind. Theoretisch plausibel denkbar ist neben dem Einfluss des Freiheits- oder Demokratieniveaus auf das Globalisierungsniveau eben auch die umgekehrte Wirkungsrichtung sowie eine wechselseitige Beeinflussung. Offen bleibt hier auch die Frage nach dem Einfluss alternativer Erklärungsfaktoren. Eindeutig ist jedoch, dass die gegenwärtigen empirischen Befunde unvereinbar mit der Behauptung sind, die Globalisierung zerstöre die Demokratie. Auch die Behauptung, die Globalisierung produziere generell Armut, ist mit KESSLERS Befund kaum zu vereinbaren, dass ein sehr starker Zusammenhang zwischen Globalisierungs- und Wohlstandsniveau besteht. Die Analyse weist vielmehr gerade die Staaten als besonders von Armut betroffen aus, die kaum in die Globalisierung eingebunden sind und die daher deren über die lokalen Entwicklungsbedingungen hinausreichenden Chancen nicht nutzen können. Dass Globalisierung das Potenzial zu einer Wohlstandsmehrung besitzt, ja sogar zu einem Wohlstandstransfer von Nord nach Süd und damit zu wirtschaftlichem Wachstum in den Entwicklungsländern beitragen kann, deutet sich jedoch nicht nur in dem Beitrag von KESSLER an. Wie PILZ und STEINER demonstrieren, ist unabhängig von dem ökonomischen Potenzial der Globalisierung jedoch die Frage zu stellen, ob Globalisierung mit positiven oder negativen Beschäftigungseffekten und mit gleichmäßig verteilter Wohlstandsmehrung oder mit verstärkter Ungleichverteilung des Wohlstandes einher geht. Die wirtschaftswissenschaftlich argumentierenden Studien von PILZ wie auch von STEINER weisen deutlich darauf hin, dass die Frage, wer in welchem Maß von der Globalisierung profitieren kann, nicht (allein) eine Frage ist, die sich anhand ökonomischer Gesetzmäßigkeiten beantworten lässt. Sie lenkt vielmehr den Blick auf die politisch-ökonomische Verfassung einer Gesellschaft und die jeweilige Regulierung ökonomischer Prozesse, die bestimmte Marktmechanismen und -prozesse nach sich ziehen. Dass deshalb Globalisierung keineswegs zwangsläufig mit einem Abwärtstrend (race to the bottom) der Löhne in den Industrieländern einhergehen muss, ist ein durchaus quer
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Johannes Kessler & Christian Steiner
zur öffentlichen Debatte liegender Befund von PILZ. Ein anderes, häufig in der Öffentlichkeit anzutreffendes Meinungsbild, mit dem sich der Beitrag von SOMMERER und HEICHEL auseinandersetzt, ist das zunehmende unter Druck geraten der bereits erreichten Umweltstandards im Zuge der Globalisierung. Die Autoren kommen dabei ähnlich wie PILZ in Bezug auf das Lohnniveau zu dem Schluss, dass ein race to the bottom jedoch zumindest innerhalb der untersuchten Industrieländer nicht zu verzeichnen, sondern im Gegenteil eine zunehmende Verschärfung der Umweltgesetzgebung zu beobachten ist. Dass sich die staatlichen Gestaltungsspielräume durch die Globalisierung nicht automatisch verringern, Nationalstaaten nicht unbedingt geschwächt werden und Grenzen nicht per se an Bedeutung verlieren, betont der Beitrag von DITTGEN, der damit ebenfalls weit verbreiteten Thesen widerspricht. Globalisierung weist demnach einen höchst ambivalenten Charakter auf, indem sie zwar einerseits durch eine Zunahme der Interdependenz zu einem Autonomieverlust der Nationalstaaten führt, dieser jedoch andererseits nicht mit dem Verlust der Souveränität, also des Gewaltmonopols und der Territorialität des Staates, einhergeht. DITTGEN erinnert hierbei zu Recht daran, dass die zunehmende globale Interdependenz das Ergebnis politischer Entscheidungen für eine zunehmende Liberalisierung insbesondere in den OECD-Staaten darstellt. Dass die Globalisierung nicht mit einer Atomisierung des Staates einhergeht, zeigt sich zudem in der ebenfalls ambivalenten Bedeutung staatlicher Grenzen. Während einerseits beispielsweise die Binnengrenzen im Zuge der europäischen Integration an alltäglich handlungsleitender Bedeutung für die Einwohner der EU zu verlieren scheinen, gewinnen andere Grenzen wie die Außengrenzen der EU zunehmend an Bedeutung und werden für die Personenmobilität zu einem immer unüberwindbareren Hindernis. Inwieweit nationalstaatliche Grenzen für die Identitätsbildung in den Hintergrund rücken, thematisiert der Aufsatz von PETERMANN. Sie geht davon aus, dass auch die beiden Weltkriege ein Teil der Globalisierung des 20. Jahrhunderts waren. Während hier ein übersteigerter Nationalismus Tod und Leid für Millionen von Menschen verursachte, zeigt das heutige Gedenken an die beiden Weltkriege, dass in eben diesen Ereignissen paradoxerweise eventuell sogar der Ursprung einer gemeinsamen Identität eines vereinigten Europa zu finden sein könnte. Konflikt und Kooperation sind insofern nicht das Ergebnis von Globalisierung an sich, sondern gehen vielmehr mit divergierenden oder konvergierenden politischen Identitäten sowie Werte- und Normensystemen einher, die im Zuge von Globalisierungsprozessen wirklichkeitsbildend werden. Ob der Globalisierung in Zukunft eine katalytische Wirkung für die Herausbildung eines neuen, gemeinsamen europäischen Gründungsmythos zukommen wird, hängt insofern nicht zuletzt von der Dynamik unserer Fremd- und Selbstbilder ab. Dass die identitäre Selbstversicherung gerade im Angesicht einer zunehmenden Globalisierung mit ihrer vermeintlich homogenisierenden Wirkung an politischer Brisanz gewinnt, verdeutlicht der Beitrag von GLASZE und MEYER. Dabei demonstrieren die Autoren, dass auch der vorgebliche Schutz der kulturellen Vielfalt nichts anderes sein kann als ein Deckmantel nationalistischer und protektionistischer staatlicher Interessen. Dies verwundert vor dem Hintergrund des Beitrages von PETERMANN wenig, zieht man in Betracht, dass auf der politischen Bühne schon aus Gründen der Selbstlegitimierung das kulturelle Fremd- und Selbstbild entlang der Grenzen von Nationalstaaten definiert wird. Paradoxerweise impliziert der von der UNO angestrebte Schutz der kulturellen Vielfalt sogar die Gefahr der kulturellen Homogenisierung nach innen. Insofern scheint die Schlussfolgerung
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen
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nahe zu liegen, dass es weniger die Globalisierung ist, die die Gefahr der Auslöschung kultureller Differenzen beinhaltet, sondern dass diese Gefahr mindestens ebenso, wenn nicht in noch viel stärkerem Maße, von nationalstaatlichen Akteuren ausgeht. Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass die hier vorliegenden Beiträge einem großen Teil der öffentlich verbreiteten Meinungen sowie der wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Auswirkungen von Globalisierung widersprechen. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Globalisierung bietet in diesem Sinne offenbar keine eindeutigen und hinreichenden Gründe für das vorwiegend negative Image der Globalisierung. Es hat den Anschein, als würden weite Teile der auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit in ihrer Wahrnehmung der Auswirkungen von Globalisierung auf unsere Lebenswelt einem klassischen Fehlschluss unterliegen, den bereits HUME (1997) skizziert hat. Aus der gleichzeitigen Beobachtung von zwei Phänomenen, wie hier beispielsweise von Globalisierung im Weltmaßstab und Armut in Afrika, wird offenbar geschlossen, dass es eine kausale Verbindung zwischen beiden gäbe, die Globalisierung also die Ursache der Armut sei. Dieser Schluss ist jedoch rein aus der Beobachtung heraus nicht zulässig, denn beobachtet werden können nur zwei Ereignisse und nicht die kausale Wirkung des einen Phänomens auf das andere. Gerade weil es streng erkenntnistheoretisch betrachtet sogar unmöglich ist, kausale Beziehungen zwischen zwei Phänomenen nachzuweisen, sollte deren Annahme eine differenzierte, theoretisch und empirisch fundierte Analyse vorausgehen. In diesem Sinne muss davor gewarnt werden, allein aus einer Gleichzeitigkeit des Auftretens von Globalisierung und anderen Phänomenen auf eine Verursachung derselben durch die Globalisierung zu schließen und der Globalisierung vorschnell negative, aber auch positive Folgen zu attestieren. Legt man die geschilderten Ergebnisse zugrunde, hat es den Anschein, dass Globalisierung nicht selten als Sündenbock für die Erklärung negativ bewerteter sozioökonomischer Entwicklungen dient, die ihre Ursachen an anderen Stellen haben. Insbesondere die negativ konnotierten Aussagen von Politikern und Prominenten hinterlassen diesen Eindruck. Der Sündenbockfunktion der Globalisierung wie auch dem Verweis auf die vermeintlichen Zwänge der Globalisierung liegt möglicherweise erstens eine diskursive Vermeidungsstrategie zugrunde, die von der Debatte strittiger Fragen der politischen Gestaltung ablenken soll, wie zweitens eine Legitimationsstrategie zur Durchsetzung unterschiedlichster politischer Interessen. In diesem Sinne ist NUSCHELER zuzustimmen, der treffend formuliert, dass alle sozialen Probleme ziemlich vorschnell und vordergründig dem anscheinend alleserklärenden Sündenbock Globalisierung angelastet werden (NUSCHELER 2000: 7).
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Zukünftige Herausforderungen an die Analyse von Globalisierungsprozessen
Das Phänomen Globalisierung hat es folglich auch in Zukunft verdient, differenzierter betrachtet zu werden, als dies in der öffentlichen Debatte oftmals der Fall ist. Dabei erscheint es uns die Aufgabe von Wissenschaft zu sein, zur Klärung dessen beizutragen, was genau unter dem Begriff Globalisierung verstanden werden kann und aus welchen Dimensionen Globalisierung besteht, wie Globalisierung näherungsweise empirisch erfasst werden kann, wie sich Globalisierung räumlich und zeitlich entwickelt hat und wodurch sie zustande kommt sowie natürlich, welche Auswirkungen sie mit sich bringt. Alle diese Fra-
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Johannes Kessler & Christian Steiner
gen sind unzureichend geklärt und bedürfen weiterer kritischer und sorgfältiger Analysen. Das beginnt mit der Konzeptionalisierung von Globalisierung und reicht bis zu ihren heterogenen Folgen, die teils positiv, teils negativ die unterschiedlichsten Bereiche menschlichen Daseins betreffen. Die Komplexität dieses Themenbereichs einerseits und die Fülle der ungeklärten Fragen sowie der bisher widersprüchlichen wissenschaftlichen Ergebnisse andererseits lassen die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Globalisierung als Herausforderung erscheinen. Verstärkt wird dies noch durch die Interdisziplinarität des Forschungsgegenstands. Zwischen den (und teilweise auch innerhalb der) relevanten universitären Disziplinen gibt es nicht nur tendenziell unterschiedliche Vorstellungen darüber, was unter Globalisierung zu verstehen ist. Neben einem jeweils eigenen Fachvokabular gehen die Autorinnen und Autoren häufig auch von divergierenden wissenschaftstheoretischen Grundannahmen aus, die wiederum Auswirkungen darauf haben, wie und mit welchem methodischen Instrumentarium Globalisierung untersucht wird. Dies zeigt sich auch bei den Beiträgen in diesem Band und gestaltet die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zusätzlich anspruchsvoll. Diese Herausforderungen anzunehmen scheint jedoch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive vielversprechend und angesichts der Relevanz des Themas sogar geboten. Es ist also Aufgabe der Wissenschaft, Globalisierungsprozesse zu erfassen und zu beschreiben sowie deren politisch-ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie auch deren Auswirkungen zu untersuchen. Dabei zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen, ist allerdings nicht nur von akademischem Interesse, da diese in demokratisch verfassten Gesellschaften auch Grundlage für die Debatte über politische Gestaltungsmöglichkeiten sind. Solche Erkenntnisse über den wissenschaftlichen Bereich hinaus zu kommunizieren, kann zur Sensibilisierung für die heterogene Konstitution von Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Prozesse beitragen. Verbreitete Pauschalurteile erweisen sich, wie in den diskutierten Fällen dieses Buches, oftmals als haltlos, womit Globalisierung nicht mehr so leicht als alles erklärender Sündenbock insbesondere für vergangene politische Entscheidungen herangezogen werden kann. Anstatt des verbreiteten Gefühls, einer teleologischen Gesetzmäßigkeit unbeeinflussbarer und undurchdringlicher globaler Prozesse unterworfen zu sein, rückt die Aufgabe der politischen Gestaltung einer zunehmend vernetzten Welt in den Fokus. Ein differenziertes, möglichst umfassendes und multiperspektivisches Informationsspektrum zum Thema Globalisierung zu erarbeiten, bleibt insofern eine Herausforderung von großer Relevanz. Dass dies auch nach Jahren intensivster sozialwissenschaftlicher Forschung unverändert der Fall ist, liegt auch in der Komplexität und dem Facettenreichtum des Phänomens begründet, das die vergangenen Jahrzehnte entscheidend geprägt hat und dessen Bedeutung in der Zukunft noch weiter zunehmen könnte.
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Zur Zukunft der Analyse von Globalisierungsprozessen
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Herbert Dittgen () Institut für Politikwissenschaft Johannes Gutenberg-Universität Mainz Colonel-Kleinmann-Weg 2, 55099 Mainz Prof. Dr. Georg Glasze Institut für Geographie Universität Erlangen-Nürnberg Kochstraße 4 91054 Erlangen
[email protected] Stephan Heichel, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Lehrstuhl für Vergleichende Policy Forschung und Verwaltungswissenschaft Universität Konstanz Fach D 91, 78457 Konstanz
[email protected] Dipl.-Geogr. Johannes Kessler Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Politikwissenschaft Johannes Gutenberg-Universität Mainz Colonel-Kleinmann-Weg 2, 55099 Mainz
[email protected] Aika Meyer Wissenschaftliche Mitarbeiterin Geographisches Institut Johannes Gutenberg-Universität Mainz Becherweg 21, 55099 Mainz
[email protected] Dr. Sandra Petermann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Geographisches Institut Johannes Gutenberg-Universität Mainz Becherweg 21, 55099 Mainz
[email protected] Dr. Lars Pilz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Wilhelm Merton-Zentrum für europäische Integration und internationale Wirtschaftsordnung Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Dantestr. 9, 60054 Frankfurt
[email protected] Dipl.-Pol. Thomas Sommerer Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachbereich für Politik- und Verwaltungswissenschaft Universität Konstanz Universitätsstraße 10, 78457 Konstanz
[email protected] Dr. Christian Steiner Wissenschaftlicher Mitarbeiter Geographisches Institut Johannes Gutenberg-Universität Mainz Becherweg 21, 55099 Mainz
[email protected] Dr. des. Brigitte Weiffen Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich für Politik- und Verwaltungswissenschaft Universität Konstanz Universitätsstraße 10, 78457 Konstanz
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