Über die Autorin dieser Erläuterung: Magret Möckel, geboren 1952 in Lindau an der Schlei (Schleswig-Holstein), Studium ...
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Über die Autorin dieser Erläuterung: Magret Möckel, geboren 1952 in Lindau an der Schlei (Schleswig-Holstein), Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität in Hamburg. Seit 1979 Lehrerin für Deutsch und Englisch, erst an einem Gymnasium in Vechta, dann in Friesoythe, seit 2003 an der Graf-Anton-Günther-Schule in Oldenburg. Dort leitet sie als Oberstudienrätin die Fachgruppe Deutsch. Ihr Unterrichtsschwerpunkt liegt auf dem Deutschunterricht in der Oberstufe. Frau Möckel ist verheiratet und hat zwei Kinder. Hinweis: Die Rechtschreibung wurde der amtlichen Neuregelung angepasst. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Unterrichtszwecke! 1. Auflage 2008 ISBN: 978-3-8044-1880-6 2008 by Bange Verlag, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Lektorat: Oliver Pfohlmann Herstellung: Pia Mankopf, MP Medien & Print, Neuenmarkt Titelabbildung: Franz Xaver Kroetz Ullstein Bild Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
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1.1 Biografie Inhalt
Vorwort .......................................................................5
1. 1.1 1.2 1.3
Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk.......................7 Biografie .......................................................................7 Zeitgeschichtlicher Hintergrund . ................................ 15 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken ............................................. 21
2. Textanalyse und -interpretation ............................. 27 2.1 Entstehung und Quellen.............................................. 27 2.2 Inhaltsangabe ............................................................. 31 2.3 Aufbau ....................................................................... 40 2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken . .............. 49 2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen .................... 61 2.6 Stil und Sprache . ........................................................ 66 2.7 Interpretationsansätze . ............................................... 74 2.7.1 Maria Magdalena als soziales Drama ........................... 74 2.7.2 Sprache und Sprachlosigkeit bei Franz Xaver Kroetz.... 75 2.7.3 Der Mensch und der Kommerz in Maria Magdalena..... 78 2.7.4 Vergleich: Hebbel – Kroetz . ........................................ 81 2.7.5 Komödie – Tragödie .................................................... 94 3.
Themen und Aufgaben . .......................................... 96
4.
Rezeptionsgeschichte ............................................... 98
5.
Materialien ............................................................. 102
Literatur ................................................................. 105
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie Vorwort
Vorwort Franz Xaver Kroetz ist ein Dramatiker, der aus der Literaturgeschichte Deutschlands nicht mehr wegzudenken ist. Das liegt einerseits an seiner erfolgreichen Erweiterung und Erneuerung des Sozialstückes. Mit seinen Dialekt sprechenden Menschen hat Kroetz dem Volksstück neue Impulse gegeben. Gleichzeitig fängt er in seinen Werken in authentischer Weise die Lebenssphäre, Wünsche und Abhängigkeiten der so genannten kleinen Leute ein. Insbesondere in den 1970er Jahren galt Kroetz als einer der wichtigsten Dramatiker der Bundesrepublik. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der Komödie Maria Magdalena (1972). Die Behandlung dieses Stückes ist unter verschiedenen Gesichtspunkten spannend. Einmal ist der Vergleich mit dem gleichnamigen bürgerlichen Trauerspiel von Christian Friedrich Hebbel aus dem Jahr 1844 von großem Wert. Thematische Änderungen, Umgang mit der literarischen Vorlage, gattungsgeschichtliche Entwicklungen und Tendenzen sowie die Auseinandersetzung mit zeitlichen und geschichtlichen Phänomenen eröffnen eine große Spannweite literarischen und geschichtlichen Wissens. Darüber hinaus ist aber auch die Beschäftigung mit der Zeit der 1970er Jahre gerade heute wieder von großer Bedeutung. Das liegt u. a. an den in Kroetz’ Stück im Hintergrund mitschwingenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Phänomenen und Krisen, deren Auswirkungen unsere Zeit, von der gegenwärtigen Rechtsprechung bis hin zu politischen Entscheidungen, mit beeinflussen. Auch soziologisch ist es interessant zu beurteilen, in welcher Hinsicht Kroetz in seinem Stück Fragen aufgegriffen hat, die immer noch oder schon wieder unsere Gesellschaft prägen. 1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk Vorwort
1.1 Biografie Vorwort Textgrundlage für die vorliegende Erläuterung ist die aktuelle Taschenbuchausgabe des Stückes (Franz Xaver Kroetz: Maria Magdalena. Oberösterreich. Der Soldat. Wunschkonzert. Stücke 1. Hamburg: Rotbuch Verlag, 7. Aufl. 2007). Für ein schnelles Verständnis der Erläuterungen werden die Seitenangaben von Textzitaten an der jeweiligen Stelle im Text aufgeführt, die Quellenangaben der verwendeten Sekundärliteratur finden sich in den entsprechenden Fußnoten.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Vorwort Werk
1.1 Biografie
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk 1.1 Biografie Jahr Ort
Ereignis
1946
Geburt am 25. Februar in München (Vater: Finanzbeamter; Mutter: Hausfrau).
München/ Simbach am Inn (Niederbayern)
Alter
1951– München Besuch der Volksschule, an- 5–14 1960 schließend der Wirtschaftsoberrealschule (abgebrochen). 1961 Tod des Vaters, Aushilfsarbeiten 15 am Bau, dann Besuch einer privaten Schauspielschule (ohne Abschluss). 1962– Wien Aufnahme in das 3. Semester des 16–17 1963 Max-Reinhardt-Seminars, nach 4. Semester Ausschluss („wegen mangelnder Technik“). 1964– München Austritt aus der katholischen Kir- 18–19 che, Ablegen der mittleren Reife, 1965 Gelegenheitsarbeiter (u. a. Bananenschneider auf dem Groß-
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
markt), Schreibanfänge. Bestehen der Schauspielprüfung der Bühnengenossenschaft. 1966– Erfahrungen als Schriftsteller, 20–24 1970 Schauspieler und Regisseur an Laienbühnen und Kellertheatern, Gelegenheitsarbeit in wechselnden Berufen (Gärtner, Krankenpfleger, Chauffeur, Lastwagenfahrer, Zeitungszusteller, Portier, Bauarbeiter etc.). 1968 Begegnung mit dem Regisseur 22 Rainer Werner Fassbinder und seinem Antitheater; spielt in Fassbinders Produktion Zum Beispiel Ingolstadt (nach Marieluise Fleißer), intensive Auseinandersetzung mit den kritisch-realistischen Volksstücken dieser Dramatikerin. Stücke: Wildwechsel, Hilfe, ich werde geheiratet! 1969 Stücke: Der Soldat, Heimarbeit.
23
1970 Beginn der Karriere als freier 24 Schriftsteller, Dramatikerstipendium des Suhrkamp Verlages.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
Stücke: Michis Blut, Hartnäckig, Männersache. 1971
Erste, zum Teil von Tumulten begleitete Aufführungen der Stücke Kroetz’ (Münchner Kammerspiele: Heimarbeit, Hartnäckig), schnell wachsender Bekanntheitsgrad des Autors. Dortmund Premiere von Wildwechsel (in Ei- 25 München. genregie). Verleihung der Ludwig-ThomaMedaille. Stücke: Geisterbahn, Lieber Fritz, Stallerhof, Wunschkonzert; Hörspiel: Inklusive.
1972 Berlin Verleihung des Berliner Kunst- 26 München preises. Eintritt in die Deutsche Kommunistische Partei (DKP, 1972– 1980), Kandidatur für die Bundestagswahl 1972. Stipendium der Städtischen Bühnen Heidelberg, des Kultusministeriums Baden-Württemberg sowie des Kunstkreises Berlin. Stücke: Globales Interesse, Dolomitenstadt Lienz, Oberösterreich,
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
Bilanz, Maria Magdalena, außerdem theoretische Texte, Hörspiele und Fernsehfilme. Theatersaison 1972/73: Kroetz wird zum meistgespielten deutschen Autor, endgültiger Durchbruch mit der Uraufführung von Stallerhof in Hamburg. 1973 München Westberliner Kritikerpreis. 27 Moskau Teilnahme am „Weltkongress der Friedensmächte“ in Moskau. Streit mit R. W. Fassbinder über dessen Verfilmung von Wildwechsel. Heidelberg Uraufführung von Maria Magdalena am 6. 5. 1973 an den Städtischen Bühnen Heidelberg unter der Regie von Dieter Braun. Stücke: Ein Mann ein Wörterbuch, Die Wahl fürs Leben, Münchner Kindl, Muttertag, Verfassungsfeinde. 1974 Kirchberg Kauf eines Bauernhofes in Kirch- 28 (Chiemgau) berg, Geburt der Tochter Sabine. Erstmals Untertitel „Volksstück“ für Das Nest.
10
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
Hannoverscher Dramatikerpreis (zusammen mit Botho Strauß und Thomas Bernhard). Das Stück Maria Magdalena erscheint in der Reihe edition suhrkamp. Stücke: Sterntaler, Weitere Aussichten ... 1975 Gründung eines eigenen Verlages 29 „Franz Xaver Kroetz Dramatik“; dieser nimmt alle Aufführungsund Medienrechte der Stücke wahr. Wilhelmine Lübke-Preis für Weitere Aussichten. Sohn David wird geboren. Stücke: Heimat, Agnes Bernauer, Reise ins Glück. 1976 Kroetz lässt sich als Kandidat der 30 DKP für die Bundestagswahl aufstellen. Mühlheimer Dramatikerpreis für Das Nest. 1977 Leipzig Uraufführung von Agnes Bernauer 31 (frei nach Hebbel), Erscheinen der Chiemgauer Gschichten (Re-
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
11
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
portageband über Bauernleben in Bayern). Kroetz als Darsteller im Fernsehfilm Zeit zum Aufstehn (nach dem Roman von August Kühn). 1980 Austritt aus der DKP. 34 Frankfurt Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt. Erster Teil des Romans Der Mondscheinknecht. 1981 Düsseldorf Nicht Fisch, nicht Fleisch (Urauf- 35 führung), Auszeichnung zum „Stück des Jahres“ durch die Zeitschrift Theater heute. 1982 Arbeit an der Fortsetzung des Ro- 36 mans Der Mondscheinknecht. Regie und Hauptrolle bei der Fernsehverfilmung von Mensch Meier. 1983 München
12
Einakter Furcht und Hoffnung der 37 BRD. Dreimonatige Tournee als Schauspieler in Nicht Fisch nicht Fleisch.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
1985 Ernst-Hoferichter-Preis.
Alter 39
1986 Kroetz wird in der Rolle als 40 Klatschreporter Baby Schimmerlos in der Fernsehserie Kir Royal (Regie: Helmut Dietl) einem breiteren Publikum bekannt. 1987 Kroetz lernt die Schauspielerin 41 Marie-Theres Relin (Tochter von Maria Schell) kennen. 1992 Altenmark Heirat mit Marie-Theres Relin, 46 (an der Alz) aus der Ehe gehen drei Kinder hervor. (Kroetz hat außerdem zwei uneheliche Kinder.) 1995 Der Suhrkamp-Verlag lehnt das 49 Stück Ich bin das Volk wegen „mangelnder Qualität“ ab, daraufhin Trennung von seinem langjährigen Verlag. 2000 Erscheinen von Das Ende der Paa- 54 rung. Ein deutsches Trauerspiel. 2002 Hauptrolle in dem TV-Histo 56 riendrama 1809 – Die Freiheit des Adlers.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
13
1.1 Biografie
Jahr Ort
Ereignis
Alter
2003 München Mitglied der Bayerischen Akade- 57 mie der Schönen Künste. 2005 Verleihung des Bundesverdienst- 59 ordens.
14
2006
Scheidung von Marie-Theres Re- 60 lin. Erscheinen von Tänzerinnen und Drücker (Stück).
2007
Auszeichnung mit dem Marielui- 61 se-Fleißer-Preis. Erscheinen von Blut & Bier. 15 ungewaschene Stories (Kurzgeschichtensammlung).
2008 Teneriffa, Kroetz lebt als freier Autor ab- 62 München, wechselnd auf Teneriffa, in MünKirchberg chen und in Kirchberg.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher1.1 Hintergrund Biografie
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Das westdeutsche Drama in der Nachkriegszeit Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es das junge deutsche Theater schwer; viele Städte waren zerstört; die Menschen waren mit der Beseitigung der Trümmer, mit Heimkehr und Existenzaufbau beschäftigt. Es gab keine geeigneten Spielstätten; Regisseure und Schauspieler fehlten. Unter der Aufsicht der Alliierten wurden zunächst Exildramatiker (Bertolt Brecht, Ernst Toller, Georg Kaiser u. a.), französische Existenzialisten (Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Jean Giraudoux u. a.) und amerikanische Gegenwartsdramatiker (Eugene O’Neill, John Steinbeck, Thornton Wilder u. a.) gespielt. Nur drei deutsche Dramen waren in dieser Zeit von großem Einfluss: Des Teufels General (1946, von Carl Zuckmayer), Die Illegalen (1946, von Günther Weisenborn) und Draußen vor der Tür (1947, von Wolfgang Borchert). Diese Stücke nahmen die unmittelbar gemachten Erfahrungen des Krieges, der Orientierungslosigkeit und Fragen nach der eigenen Existenz, Verantwortung und Perspektive in drängender Weise auf und repräsentierten das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration. In dieser Zeit spielten die Textgattungen Lyrik und Epik eine bedeutendere Rolle als die Dramatik. Doch entstanden nach dem Krieg viele Kabarett- und Kleinkunstbühnen, die sich scharfzüngig, ironisch und zeitkritisch mit der deutschen Gegenwart auseinandersetzten. Auch das in dieser Zeit entstehende Hörspiel (z. B. von Günther Eich) war sehr beliebt und entwickelte sich zu einer wichtigen dramatischen Form. Die bedeutendste literarische Gruppierung der Zeit war die Gruppe 47 unter der Leitung von Hans Werner Richter. Diese etablierte einen literarischen Neubeginn in Westdeutschland und verlor erst in den späten 1960er Jahren an Einfluss. 1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Zeitgeschichtlicher 1.2 Biografie Hintergrund Auch die 1950er Jahre brachten in der Bundesrepublik das Drama nicht entscheidend voran. Die Sorge um das atomare Wettrüsten und die Angst vor einem neuen Krieg wurden literarisch vor allem in epischen und lyrischen Texten zum Ausdruck gebracht. Weitere literarische Themen waren die Verdrängung der NS-Vergangenheit, Faschismuskritik und das Wirtschaftswunder, das vielen Menschen zu selbstgenügsamem finanziellen Wohlstand verhalf. In den 1950er Jahre finden sich daher weder nennenswerte Theaterproduktionen noch bedeutendere theoretische Weiterentwicklungen. Der in der DDR lebende Dramatiker Bertolt Brecht blieb mit seinen Beiträgen und dem Konzept des epischen Theater auch im Westen der Maßstab, und alle Versuche, Brechts Werk in der BRD aus politischen Gründen zu unterdrücken, schlugen fehl. Nach Shakespeare war Brecht noch in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik der meistgespielte Autor. Daneben gehörten die vom Existenzialismus beeinflussten Schweizer Autoren Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu den wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatikern. Die Situation des Theaters änderte Politisierung in den 1960er sich erst in den 1960er Jahren, als es Jahren zu einer zunehmenden Politisierung des öffentlichen Lebens (APO = außerparlamentarische Opposition, Studentenrevolte, Achtundsechziger usw.) kam. Die Intellektuellen beschäftigten sich mit dem Mauerbau und dem Kalten Krieg, mit der Großen Koalition und der fehlenden parlamentarischen Opposition, den Notstandsgesetzen und dem Vietnam-Krieg. Dazu kam das Misstrauen der Jugend einer Elterngeneration gegenüber, die Faschismus und Zweiten Weltkrieg erlebt und er- oder geduldet hatte, die Aufarbeitung der Vergangenheit aber nicht konsequent genug vorantrieb. Gerade der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) gegen ehema-
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1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher1.1 Hintergrund Biografie lige Mitglieder des SS-Wachpersonals führte dazu, dass in den westdeutschen Medien täglich detailliert über den Holocaust und das Terrorsystem der Nazis berichtet und die verdrängte Vergangenheit so wieder präsent wurde. Da sich die zunehmende politische Diskussion in der Politik selbst nicht artikulieren konnte (da eine parlamentarische Opposition eben fehlte), entlud sie sich mehr und mehr in der Kunst und hier vor allem im Theater. Gesellschaftliche Probleme, die unmittelbare Gegenwart, aber auch die als unbewältigt empfundene deutsche Vergangenheit sollten mit den künstlerischen Mitteln des Dramas aktiv angegangen werden. So wundert es nicht, dass eine deutliche Hinwendung zum sozialen und naturalistischen Drama des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Henrik Ibsen, August Strindberg, Naturalisten wie Gerhart Hauptmann etc.) das eher unpolitisch-poetische Theater der 1950er Jahre ablöste. Stoffe aus der Alltagswelt und der Gegenwart wurden geschichtlichen und poetischen Verarbeitungen vorgezogen. Die 1960er Jahre waren die Zeit des Straßentheaters, des Dokumentartheaters (Heinar Kipphardt, Peter Weiss, Rolf Hochhuth) sowie des Zeitstücks. Das „neue Volksstück“ In der Folge dieser Entwicklungen versuchen sich Anfang der 1970er Jahre einige junge Dramatiker, unter ihnen Franz Xaver Kroetz, auch an einer Wiederbelebung des Volkstheaters. Im Gegensatz zum traditionellen Volkstheater entstehen aber keine unterhaltsamen Komödien, sondern Stücke, die Alltagsmenschen und Außenseiter der Gesellschaft in ihrer Sprachlosigkeit und ihren Problemen zeigen. Die „neuen Volksstücke“ stehen in der Tradition von Marieluise Fleißer (1901–1974, berühmtestes Stück: Pioniere in Ingolstadt, 1928) und Ödön von Horváth (1901–1938, berühmtestes Stück: Geschichten aus dem 1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Zeitgeschichtlicher 1.2 Biografie Hintergrund Wiener Wald, 1931), die bereits in der ebenfalls politisch aufgeladenen Atmosphäre der Weimarer Republik eine Politisierung des Volksstücks unternommen hatten. Im „neuen Volksstück“ nach 1970 sprechen die Charaktere Dialekt und sind einem ländlichen, kleinbürgerlichen oder asozialen Milieu entnommen. Das „neue Volksstück“ entspringt dem neu erwachten Interesse der Intellektuellen an sozialen Fragen und Klassengegensätzen. Es ist eine Zeit der kritischen Betrachtung bisheriger Bildungsideale sowie neues Interesse an sozialen bürgerlicher und künstlerischer NorFragen und Klassengegensätzen men. Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften gelten jetzt als wichtiger als die (damals unpolitischen, rein textbezogenen) Geisteswissenschaften, und die Diskussionen um Marxismus, Neomarxismus und Faschismus führen zu einem neuen Interesse an der dem Faschismus vorausgehenden Krisenzeit der Weimarer Republik. Ebenso wird der Kampf des Individuums gegen übermächtige Lebensbedingungen in der modernen Industriegesellschaft thematisiert. Auf der Suche nach neuen antibürgerlichen Kunstformen wird die Arbeiter- und Alltagswelt für die Literatur wiederentdeckt. Gleichzeitig wächst das Interesse an der Sprache als Instrument der Manipulation, der Herrschaft und Unterdrückung sowie der Erzeugung „falschen Bewusstseins“. Linguistik und Soziolinguistik bieten neue Erkenntnisse und Verstehensansätze. In diesem Sinne ist das „neue Volkstheater“ kein Theater für das Volk, sondern eher eine Auseinandersetzung der Intellektuellen mit Außenseitern, Bürgerlichkeit, Eta bliertheit, Individualität und der eigenen Geschichte. Es werden extreme Randfiguren auf die Bühne gebracht, die in ihrer
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Zu den Voraussetzungen und Charakteristiken des „neuen Volksstücks“ vgl. Barner, S. 488– 495.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher1.1 Hintergrund Biografie Brutalität, Triebgesteuertheit und Kommunikationsunfähigkeit zum Scheitern verurteilt sind. Wichtige Vertreter des „Neuen Volksstücks“ sind (neben Franz Xaver Kroetz): • Wolfgang Bauer (1941–2005, Magic Afternoon, 1968) • Rainer Werner Fassbinder (1945–1982, Katzelmacher, 1968) • Felix Mitterer (geb. 1948, Kein Platz für Idioten, 1977) • Karl Otto Mühl (geb. 1923, Rheinpromenade, 1974) • Harald Sommer (geb. 1935, Die Leut, 1970) • Martin Sperr (1944–2002, Jagdszenen aus Niederbayern, 1966) • Peter Turrini (geb. 1944, Sauschlachten, 1973) Frauenbewegung und Abtreibungsdebatte um 1970 In der Folge der Protestbewegungen Ende der 1960er Jahre kam es um 1970 in ganz Westdeutschland auch zur Gründung zahlreicher Frauengruppen und Frauenzentren. Eines ihrer zentralen Anliegen war dabei der Kampf gegen den Paragrafen 218, den so genannten „Abtreibungsparagrafen“, der (bis heute) den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt (§ 218, Absatz 1: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“). Wer dennoch abtrieb, musste ins Ausland reisen bzw. dies heimlich „im Hinterzimmer“ dubioser Arztpraxen tun, mit zum Teil lebensgefährlichen Folgen. Schwangerschaftsabbruch war lange Zeit ein gesellschaftliches Tabu. Viele Frauen fühlten sich daher in der „patriarchalischen“ (von Männern bestimmten) Gesellschaft in ihrem Selbstbestimmungsrecht unterdrückt – Kroetz zeigt in seinem Stück die Abhängigkeit einer jungen, schwangeren Frau aus einfachen Verhältnissen von der Unterstützung der Männer (Verlobter, Bruder, Vater) in dieser Zeit. Unter dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ forderte die Frauenbewegung die 1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Zeitgeschichtlicher 1.2 Biografie Hintergrund ersatzlose Streichung des Paragrafen 218. Am 6. Juni 1971, also nur ein Jahr vor der Entstehung von Kroetz’ Stück, löste das Magazin Stern eine heftige Debatte aus, als sich darin unter dem Titel „Wir haben abgetrieben“ 374 Frauen „outeten“, unter ihnen zahlreiche Prominente wie Senta Berger oder Romy Schneider. Durch diese Aktion sollte die Kriminalisierung und gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden, beendet werden. Seit 1995 ist in Gesamtdeutschland eine Fristenlösung gültig, die einen Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten durch einen Arzt nach einer vorherigen Beratung erlaubt. (In der DDR gab es eine Fristenregelung bereits seit 1974.)
„Mein Bauch gehört mir“
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1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken 1.1 Biografie
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Franz Xaver Kroetz hat bis heute über bis heute über 60 Stücke 60 Stücke geschrieben. Dazu kommen Prosatexte (Nicaragua Tagebuch, Blut & Bier) und Lyrik (Heimat Welt. Gedichte eines Lebendigen). Es ist nicht möglich, alle diese Texte hier vorzustellen. Kurze Erläuterungen zu ausgewählten Stücken Kroetz’ sollen im Folgenden einen ersten Einblick in sein Werk geben. Heimarbeit (entstanden 1969, Uraufführung 1971) Der Einakter führt vor, wie Sprache ihren Sinn als Kommunikationsmittel verlieren kann. Der 40-jährige Willy hat durch einen Mopedunfall seinen Arbeitsplatz verloren und hält sich und seine Familie mit Heimarbeit über Wasser. Gewohnheiten sowie latente Spannung und Gewaltbereitschaft prägen die Stimmung. Seine Frau Martha erwartet ein Kind, dessen Zeugung aber in die Zeit des Krankenhausaufenthaltes von Willy fällt, also einem Seitensprung entstammt. Willy legt ihr nahe, das Kind mittels einer Stricknadel abzutreiben. Das Kind überlebt diesen und andere Tötungsversuche und kommt krank zur Welt. Martha hält die bedrückenden häuslichen Verhältnisse nicht mehr aus und zieht zu ihren Eltern. Willy erdrosselt schließlich das Kind. Nach Marthas Rückkehr zeichnet sich so etwas wie Einverständnis zwischen den Eheleuten ab.
In einem weiteren Sinn lassen sich auch die (wenigen) Fernsehauftritte von Kroetz zu seinem Werk zählen wie etwa seine Darstellung des Reporters Baby Schimmerlos in der sechsteiligen Fernsehserie Kir Royal (1986) oder sein Auftritt in dem zweitteiligen Mafia-Thriller Der Leibwächter (1988). Zu seinen Veröffentlichungen vgl. die ausführliche Werkliste in Wikipedia (http:// de.wikipedia.org/wiki/Franz_Xaver_Kroetz, Stand: April 2008) sowie auf der Autorenhomepage (www.kroetz-dramatik.de, Stand: April 2008).
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Angaben 1.3 Biografie und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Wildwechsel (entst. 1968, UA 1971) Die 13-jährige Nanni ist schwanger von dem sechs Jahre älteren Franz. Sie stiftet ihn zum Mord an ihrem Vater an. Das Kind wird geboren, erweist sich aber als nicht lebensfähig. Als Nanni und Franz sich vor Gericht wiedersehen, bestreiten sie, jemals durch eine richtige Liebe verbunden gewesen zu sein. Stallerhof (entst. 1971, UA 1972) Auf einem Bauernhof lebt das Ehepaar Staller mit seiner ca. 14-jährigen, geistig zurückgebliebenen Tochter Beppi. Außerdem gibt es noch den älteren und kränklichen Knecht Sepp mit seinem Hund. Sepp schwängert Beppi während eines Kirmesbesuchs, als Beppi sich vor Angst in der Geisterbahn in die Hose gemacht hat. Der Akt geschieht unter Alkoholeinfluss auf unbeholfene und sprachlose Weise, als Sepp dem Mädchen helfen will, sich zu reinigen. Der halbherzige Abtreibungsversuch der Mutter schlägt fehl. Sepp muss den Hof verlassen und geht in die Stadt, nachdem der Bauer aus Rache Sepps Hund getötet hat. Ein Abtreibungsversuch misslingt. Das Stück endet mit den einsetzenden Wehen Beppis. Geisterbahn (entst. 1971, UA 1975) Dieser Dreiakter ist bei aller Eigenständigkeit als Fortsetzung von Stallerhof zu verstehen. Beppi kümmert sich rührend um ihr Kind, den kleinen Georg. Als die Eltern Georg in ein Heim geben wollen, zieht Beppi mit ihrem Kind zu Sepp in die Stadt in ein möbliertes Zimmer. Mit Heimarbeit verdient sich das Paar seinen bescheidenen Lebensunterhalt. Sie gehen unbeholfen, aber liebevoll und fürsorglich miteinander um. Als aber Sepp stirbt, droht die Fürsorge, Beppi das Kind fortzunehmen. Beppi tötet den kleinen Georg und bringt den Leichnam in die Geisterbahn zum Kirmes, wo einst alles begann. Das Stück
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1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken 1.1 Biografie endet mit Beppi im Gefängnis, wo sie sich die Vorwürfe ihrer Eltern anhören muss. Lieber Fritz (entst. 1971, UA 1975) In „17 Bildern“ entwickelt das Stück eine Szenerie in einer Gärtnerei in der Nähe Münchens, dem Familienbetrieb von Otto und Hilde. Hinzu kommen noch ihre Kinder Martin und Susi und die Angestellte Mitzi. Hildes Bruder Fritz kommt nach längerem Gefängnisaufenthalt wieder nach Hause und will in der Gärtnerei mitarbeiten. Er ist wegen unbeherrschbarer sexueller Triebhaftigkeit operiert worden und kränklich. Von seinen krankhaften Neigungen wissen jedoch nur Otto und Hilde, den anderen wird von einem längeren Amerikaaufenthalt erzählt. Mitzi fängt eine Beziehung mit Fritz an, obwohl sie ahnt, dass er im Gefängnis war, und zunehmend mehr über seine sexuellen Perversionen erfährt. Sie beschließen, gemeinsam fortzugehen und ein neues Leben anzufangen. Da Otto seine Angestellte aber nicht gehen lassen will, macht er Fritz’ Fall öffentlich. Fritz verlässt daraufhin (mit behördlichen Auflagen) den Ort ohne Mitzi. Wunschkonzert (entst. 1971, UA 1973) Das Stück enthält keine Dialoge und hat lediglich eine Figur, das ca. 40–45 Jahre alte Fräulein Rasch. Der Zuschauer erlebt mit, wie das Fräulein Rasch ihren einsamen und langweiligen Feierabend gestaltet, sich zum Schlafengehen fertig macht und am Schluss des Stückes wie in einer routinierten Fortsetzung der Abendzeremonien Selbstmord begeht. Einzige Tonquellen in diesem Stück sind der Fernseher und das Radio mit dem beliebten Wunschkonzert.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Angaben 1.3 Biografie und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Oberösterreich (entst. 1972, UA 1972) Ein Ehepaar aus dem kleinbürgerlichen Milieu (sie ist Verkäuferin, er Ausfahrer) träumt von einer heilen Fernsehwelt. Ihre Konsumwünsche sind allerdings mit einer Schwangerschaft nicht vereinbar, und so verlangt der Mann die Abtreibung. Die Frau weigert sich aber und setzt sich durch. Am Schluss steht die Familie finanziell am Abgrund, da der Mann durch Alkoholprobleme einen Unfall verursacht und seinen Führerschein verliert. In Zukunft muss er für einen geringeren Lohn im Lager arbeiten. Trotz der verschlimmerten Umstände freuen sie sich nun auf das Kind und scheinen sich für die Gründung einer Familie entschieden zu haben. Nicht Fisch, nicht Fleisch (entst. 1980, UA 1981) „Das Stück handelt vom technischen Fortschritt der Arbeit und seinen Auswirkungen im privaten Dasein. Mit den vier Figuren des Stückes werden thesenartig vier unterschiedliche, aber anachronistische Lebenseinstellungen gegenüber dem technischen Fortschritt durchgespielt.“ Das kinderlose Ehepaar Edgar und Emmi ist befreundet mit Hermann und Helga. Beide Männer sind Maschinensetzer in derselben Firma. Während sich aber Hermann auf technische Neuerungen einstellen kann und nach Fortbildungskursen weiter im Betrieb bleibt, kann sich Edgar nicht mit Veränderungen seines Arbeitsbereiches abfinden, er kündigt. Seine Frau Emmi hat sich inzwischen zur erfolgreichen Geschäftsfrau hochgearbeitet. Helga hingegen ist mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter; sie erwartet ihr drittes Kind – zum Unwillen Hermanns, der eine Verschlechterung ihres Lebensstandards be
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Elm, S. 278.
1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken 1.1 Biografie fürchtet. Für alle Beteiligten wirkt sich die Veränderung des Arbeitslebens deutlich im Privaten aus. Die Ehen kriseln, die Freundschaften zerbrechen. Das Selbst- und Rollenverständnis der Personen ist harten Belastungsproben ausgesetzt. Besonders Edgar verliert nicht nur Beruf und Freunde, er kann sich auch nicht mit seiner Rolle als von der Frau abhängiger Hausmann abfinden. Sein Verhalten ändert sich drastisch. Dies wirkt sich sehr belastend auf die Beziehung sowohl zu seiner Frau als auch zu Freunden und ehemaligen Kollegen aus. Auch Hermanns und Helgas Ehe hält der Belastung durch die Unruhe und Perspektivlosigkeit nicht aus. Wichtige Buchveröffentlichungen: •H eimarbeit. Hartnäckig. Männersache. Drei Stücke (1971) • Stallerhof. Geisterbahn. Lieber Fritz. Wunschkonzert. Vier Stücke (1972) • Wildwechsel (1973) • Oberösterreich. Dolomitenstadt Lienz. Maria Magdalena. Münchner Kindl (1974) • Gesammelte Stücke (1975) • Reise ins Glück. Wunschkonzert. Weitere Aussichten ... (1975) •W eitere Aussichten … Ein Lesebuch (1976) • Chiemgauer Gschichten. Bayrische Menschen erzählen ... (1977) •M ensch Meier. Der stramme Max. Wer durchs Laub geht … Drei neue Stücke (1979) • Nicht Fisch nicht Fleisch. Verfassungsfeinde. Jumbo-Track. Drei Stücke (1981) • Der Mondscheinknecht. Roman (1981) • Frühe Prosa / Frühe Stücke (1983) • Der Mondscheinknecht. Fortsetzung. Roman (1983) • Furcht und Hoffnung der BRD. Das Stück, das Material, das Tagebuch (1984) 1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
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1.1 Angaben 1.3 Biografie und Erläuterungen zu wesentlichen Werken •N icaragua Tagebuch (1986) • Stücke I – IV (vier Bände, 1989) • Brasilien-Peru-Aufzeichnungen (1991) • Heimat Welt. Gedichte eines Lebendigen (1996) • Blut & Bier. 15 ungewaschene Stories (2006) Mit Agnes Bernauer schrieb Kroetz 1977 ein zweites Stück nach einer Vorlage Hebbels. Es ist parabelartig angelegt und weist durch die Geburt des Kindes von Agnes (Handwerkertochter, die den Fabrikantensohn Werdenfels heiratet) auf eine mögliche positive Zukunft.
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1. Franz Xaver Kroetz: Leben und Werk
2.1 Entstehung1.1 undBiografie Quellen
2. Textanalyse und -interpretation 2.1 Entstehung und Quellen 1972 erhielt Franz Xaver Kroetz ein einjähriges Stipendium der Städtischen Bühnen in Heidelberg. In dieser Zeit entstand das Stück Maria Magdalena. Die EntsteExperimente mit hung des Stückes nach dem gleichnaliterarischen Vorlagen migen sozialen Drama von Christian Friedrich Hebbel (1813–1863) fällt in eine Arbeitsphase Kroetz’, in der er mit literarischen Vorlagen experimentierte. Hebbels Drama von 1844 gehört in die Spätzeit des bürgerlichen Trauerspiels, in der die sozialen Konflikte innerhalb des Bürgerstandes sichtbar werden, d. h., zum Auslöser des Tragischen werden Konflikte im Bürgertum selbst, aufgrund seiner geistigen und moralischen Enge, und nicht wie zuvor die Konflikte zwischen den Ständen (vgl. Friedrich Schillers Kabale und Liebe, 1784). Kroetz’ Fassung lehnt sich deutlich an Hebbels Vorlage an. Die Begrenztheit und Enge bürgerlicher Lebensumstände werden schon in der Übernahme der örtlichen Beschränkung auf das Wohnzimmer deutlich. Allerdings verschiebt Kroetz den Akzent von den Konflikten innerhalb des Bürgerstandes auf die Darstellung spießbürgerlicher und provinzieller Lebenssituationen, Einstellungen und Abhängigkeiten. Es wird ein deutlicher Bezug zur westdeutschen Gegenwart hergestellt durch: • Kennzeichnung der Nachkriegszeit (der „Papa“ hat das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg erlebt, vgl. S. 30),
In dieser Hinsicht hat schon Brecht z. B. mit seinem Einakter Die Kleinbürgerhochzeit (1919) eine Weiterentwicklung des bürgerlichen Trauerspiels in einer satirischen und karikierenden Form vorweggenommen.
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 2.1 Biografie Entstehung und Quellen • Kennzeichnung der aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen (Wirtschaftswachstum, Akkordarbeit, große Kaufhäuser und der Kampf ums Überleben für den Einzelhandel bilden den Hintergrund des Geschehens, vgl. S. 26 f.), • Werbeslogans und Markenprodukte („Aletekost fürs Kind“, S. 62; „Trumpf Schokolade“, S. 57; Kartoffelklöße von Pfanni, S. 57), • politische Geschehnisse (Studentenunruhen, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und Linksextremismus, vgl. S. 44 f., „Baader-Meinhof-Bande“, S. 39), • aktuelle Kino- und Fernsehstars (Heinz Rühmann, S. 61; Petra Schürmann, S. 58; Liz Taylor und Richard Burton, S. 24), • bekannte Medien (z. B. die Zeitschrift Stern, S. 41), • aktuelle Kriminalfälle (Fall des Kindermörders Bartsch, S. 38). Ein ausführlicher Vergleich von Kroetz’ Stück mit Hebbels Vorlage findet sich in Kap. 2.7.4 dieser Erläuterung. An dieser Stelle daher nur einige Hinweise: 1. Hebbels Drama von 1844 bezieht persönliche Erfahrungen Hebbels mit ein, intendiert aber vor allem die Abbildung einer Welt in einer Zeit des Umbruchs und sich verändernder Normen und Werte. Als hohe tragische Dichtung wird der Konflikt des Individuums zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und den Ansprüchen der Gesellschaft dargestellt. Die weibliche Hauptfigur bei Hebbel, Klara, entscheidet sich für den Selbstmord und damit auch den Mord an ihrem ungeborenen unehelichen Kind, um nicht als Vatermörderin Schuld auf sich zu laden. Sie ist massiv dem Druck der Gesellschaft und den Anforde-
Kroetz und Hebbel
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Vgl. Möckel, Kap. 2.1, S. 15-17.
1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.1 Entstehung1.1 undBiografie Quellen rungen an ihre Rolle als unbescholtene tugendhafte Tochter ausgesetzt. Ihr Vater vertritt starr und unnachgiebig überkommene bürgerliche Normen und zwingt sie durch Suiziddrohungen zu Schwüren, die sie von vornherein nicht halten kann. Kroetz bemächtigt sich dieses Stückes und macht daraus in parodistischer Weise eine Komödie. Auf die Vorlage wird deutlich hingewiesen u. a. im Untertitel („Komödie in drei Akten frei nach Friedrich Hebbel“, S. 7), als intertextuelle Referenz („Wo hastn das glesn?“, S. 11; „ – bringst du dich um. Das is bekannt und fad.“, S. 64) und durch das Hebbel-Zitat am Ende des Dramas (S. 65). 2. Wie bei Hebbel steht auch bei Kroetz die biblische Figur Maria von Magdala im Hintergrund des Stückes. Sie ist eine Frau aus der Nachfolge Jesu (vgl. im Neuen Testament Mk 16, 9; Mt 28, 1; Lk 8, 2; Joh 19, 25 u. 20, 1–18), wird aber in der Kirchengeschichte auch mit der namenlosen Sünderin und Büßerin gleichgesetzt (vgl. Lk 7, 35–50). Kroetz nennt seine Hauptfigur zwar Marie und stellt eine Fülle von biblischen Bezügen her, doch hat seine Protagonistin kein Schuldbewusstsein und ist weit entfernt von Glauben und Kirche. 3. Wie Hebbels Drama einer neuen Phase des bürgerlichen Trauerspiels angehört, so wird auch mit Kroetz’ Variante eine neue Entwicklung des Genres vorangetrieben. In der zweiten Phase des bürgerlichen Trauerspiels bei Hebbel entwickeln sich, wie bereits gesagt, die Konflikte innerhalb des Bürgertums und nicht wie zuvor in der Zeit des Sturm und Drang zwischen dem Stand des Bürgertums und dem des Adels. Zur dritten Phase dieser Entwicklung gehören das naturalistische Sozial
Vgl. Kapitel 2.7 dieser Erläuterungen. Vgl. Möckel, S. 18. Vgl. ebenda, S. 19 ff.
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1.1 2.1 Biografie Entstehung und Quellen drama und das analytische Drama Henrik Ibsens und August Strindbergs. Kroetz’ Drama gehört zu den „Volksstücken“, ein Begriff, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geläufig wurde. „Volkstheater meint dabei ein Theater ‚über das Volk’ und ‚für das Volk’, d. h., es werden Geschichten ‚vom Volk’ vorgeführt, und die Zuschauer repräsentieren ‚das Volk’, die breite Masse der Bevölkerung.“ Kroetz bleibt also in der betont bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Welt und setzt seine karikierenden und kritisierenden Akzente. Auf komödiantische Weise entlarvt auch er die Brüchigkeit und Oberflächlichkeit der bürgerlichen Lebenswelt. 4. Er befindet sich damit in der ausin der Nachfolge drücklichen Nachfolge Ödön von Marieluise Fleißers Horváths und Marieluise Fleißers10. Kroetz lernte Marieluise Fleißer 1968 kennen, als Fassbinder am Münchner Büchner-Theater Fleißers Stück Die Pioniere von Ingolstadt unter dem Titel Zum Beispiel Ingolstadt inszenierte. Kroetz’ Verdienst ist es, das Volksstück weiterentwickelt und mit Versatzstücken des Bauerntheaters zu einer eigenen Kunstform verschmolzen zu haben. Dabei wird durch die Verwendung von Dialekt und Umgangssprache das Milieu betont. Mit der gleichzeitigen Konzentration auf einen kleinen Ausschnitt der kleinbürgerlichen Welt steht er ebenfalls im weitesten Sinne in der Tradition des Naturalismus.
Hein, S. 7. 10 Fleißer selbst zählte Kroetz zusammen mit Martin Sperr und Rainer Werner Fassbinder zu ihren „Söhnen“. Vgl. Fleißer.
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2.2 Inhaltsangabe 1.1 Biografie
2.2 Inhaltsangabe I. Akt: 1. Hochzeit Die Mutter und Marie unterhalten sich über das Hochzeitskleid der Mutter, das diese als ihr Sterbekleid aufheben will, während Marie es gern bei ihrer eigenen Hochzeit anziehen würde. Dies führt zu einer Auseinandersetzung über den Tod. Die Mutter war erst vor kurzem im Krankenhaus und ist, wie sie sagt, von einer schweren Krankheit genesen, dagegen hält die Tochter die se Krankheit größtenteils für Einbildung. Während die Mutter große Angst vor dem (ihrer Ansicht nach) nahen Tod hat und die gewonnene Zeit zur Buße und Vorbereitung nutzen will und dabei auch ihre Verdienste um ihr Seelenheil aufzählt (Spenden für verschiedene wohltätige Institutionen), bringt Marie zum Ausdruck, dass sie nicht an Gott glaubt. Sie reagiert respektlos und geringschätzig auf die Sorgen der Mutter. 2. Verlorener Sohn Karl, der lebenslustige Sohn des Hauses, kommt zu Besuch, um sich von der Mutter Geld zu leihen. Er ist schick angezogen und trägt ein goldenes Armband. Die Mutter schlägt sein Ansinnen zunächst ab und erinnert ihn an seine Schulden. Sie lässt sich aber dann doch erweichen, nachdem Karl damit droht, sich das Geld, das er braucht, zu stehlen, und auf seine gesellschaftlichen Verpflichtungen (Einladung zu einem Fest) hinweist. Sobald er sein Ziel erreicht hat, verschwindet er wieder. 3. Was sich gehört Die Mutter reflektiert darüber, was sie bei Karls Erziehung falsch gemacht hat, dass er ihr heute so respektlos begegnet. Marie verteidigt ihren Bruder, verweist allerdings darauf, dass 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Inhaltsangabe 2.2 Biografie er ihr immer vorgezogen und von klein auf verwöhnt worden sei. Die Mutter bemerkt, dass Karl sie in ihrer Zeit im Krankenhaus, als sie quasi schon im Sterben lag, kein einziges Mal besucht hat, anders als Maries Freund Leo. Sie fragt Marie, warum sich Leo schon so lange nicht mehr hat blicken lassen, und beteuert, damit einverstanden zu sein, dass Leo Maries Ehemann wird, vorausgesetzt, dass er in der Bank noch Karriere macht. Ehe sie in die Kirche zum Abendgebet geht, versucht sie, Maries gesellschaftlichen und finanziellen Ehrgeiz bei der Partnersuche zu wecken. 4. Madonna allein Marie schaut der Mutter nach. Während sie noch einmal das Hochzeitskleid der Mutter hervorholt und anprobiert, erinnert sie sich an ihren dreimaligen Traum vom Tod der Mutter. Sie wendet sich an Gott und beschwört ihn, ihr ungeborenes Kind mittels einer Fehlgeburt aus der Welt zu schaffen. Ein uneheliches Kind sei in einer Stadt wie Augsburg noch immer ein Problem. Wenn er dies täte, wolle sie auch wieder an ihn glauben; andernfalls werde sie sich umbringen. 5. Prinz Leo Leo tritt ein, wird aber von Marie nicht sonderlich begeistert empfangen. Er erinnert sie daran, dass er ihr einen Antrag gemacht, sie aber bei ihrem Ausflug nach München einem früheren Freund namens Peter Hutschinger schöne Augen gemacht habe. Marie wirft Leo mangelndes Gefühl, er ihr Untreue vor. Leo macht deutlich, dass er einen Karrieresprung erwartet; er wird mit der Inspektorenanwärterprüfung in den höheren Dienst übernommen werden. Er sieht sich bereits als zukünftigen Filialstellendirektor. Marie ist eher skeptisch. Leo erklärt Marie, dass er auch im Fall einer Trennung besser dasteht als
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2.2 Inhaltsangabe 1.1 Biografie sie: Er habe bezüglich ihres Verhältnisses alles gehabt, was sich ein Mann wünschen könne, und erwarte eine durchaus aussichtsreiche berufliche Zukunft. Sie dagegen stünde ganz allein auf der Welt. Leo kündigt an, bei Maries Vater um ihre Hand anzuhalten, macht Marie aber zugleich klar, dass sie auf ihn angewiesen ist. 6. Prüfung Maries Vater betritt den Raum und begrüßt Leo. Während Marie in der Küche Kaffee macht, geraten die beiden in ein Gespräch über berufliches Fortkommen. Maries Vater beklagt die Schwierigkeiten des Einzelhandels, sich gegen die großen Ladenketten durchzusetzen, und fürchtet um die Zukunft seines Schuhgeschäfts, zumal er von seinem Sohn Karl keine Unterstützung erwarten kann. Leo bringt das Gespräch auf den zu erwartenden Konkurs einer Gartenbaufirma, von dem er als Bankangestellter frühzeitig Kenntnis hat und der seines Wissens auch Maries Vater Geld geliehen hat. Leo rät Maries Vater, sein Darlehen so schnell wie möglich zurückzufordern, zumal es sich um die Mitgift seiner Tochter Marie handle und er ihn um Maries Hand bitte. Wie sich herausstellt, ist das Geld jedoch verloren. Maries Vater erzählt die Geschichte seiner Jugend und seiner Verpflichtung gegenüber seinem ehemaligen Lehrherrn. Als sich dieser vor einigen Jahren in einer Notsituation befunden habe, habe der Vater das Geld von der Gartenbaufirma zurückgefordert und es seinem Lehrherrn ohne Schuldschein geliehen. Nach dem Tod seines Lehrherrn habe er daher das Geld von den Erben nicht zurückfordern können. Leo ist entsetzt darüber, dass das Geld, mit dem er als Mitgift für Marie bereits fest gerechnet hat, ihm nun nicht mehr zur Verfügung steht. Er macht deutlich, über seine Heiratsabsichten noch einmal nachdenken zu wollen, schließlich habe ihm die Mitgift zugestanden. Maries 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Inhaltsangabe 2.2 Biografie Vater wirft ihm Herzlosigkeit und Habgier vor. Einem solchen Menschen könne er seine Tochter nicht geben. 7. Luftballon Die Mutter hat ihr Hochzeitskleid angezogen und kommt damit in die Stube. Anstelle von Komplimenten bekommt sie aber von ihrem Mann nur höhnische Bemerkungen zu hören. Während Marie und die Mutter Kaffee kochen, erfährt der Vater aus der Zeitung, dass ein Diebstahl beim Juwelier begangen wurde. Er liest Leo die Einzelheiten der Nachricht vor. 8. Schäferstündchen Der Oberinspektor Hufnagl erscheint mit einem Durchsuchungsbefehl und in Begleitung mehrerer Polizisten. Er teilt mit, dass der Sohn Karl schon verhaftet worden ist und er sich sicher sei, dass die Beute in der elterlichen Wohnung versteckt sei. Die Mutter ist außer sich und schreit hysterisch. Als der Vater ihr grob befiehlt, ruhig zu sein, fällt sie um und ist tot. Der Oberinspektor befiehlt seinen Beamten ungerührt, ihre Arbeit fortzusetzen. II. Akt: 9. Suppenkasper Betrunken und fortwährend essend, ergeht sich der Vater vor Marie in Selbstmitleid über seine Situation. Er hat geträumt, dass ihn seine Tochter vergiften wollte. Den Tod seiner Frau empfindet er als ungerechten Verlust. Durch die Verhaftung des Sohnes sieht er sich um seine Altersversorgung gebracht. Stattdessen bedrängt ihn nun die Schande. In langen Ausführungen distanziert er sich von der Verantwortung als Vater für die Taten des Sohnes, droht aber gleichzeitig damit, dass er sich umbringen werde, wenn noch irgend etwas in der Familie passieren
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2.2 Inhaltsangabe 1.1 Biografie sollte. Marie wendet ein, dass er zu schnell und ohne Beweise von Karls Schuld überzeugt ist. Der Vater spielt kurz in Gedanken durch, dass er, sollte sich Karls Unschuld erweisen, die Medien einschalten werde, gibt aber zu verstehen, dass er Karl die Tat zutraut. Er geht in ein Wirtshaus, wo man ihn nicht kennt. 10. Mon cherie Beim Abräumen des Tisches monologisiert Marie über die Selbstmorddrohung ihres Vaters, für den sie nur Verachtung übrig hat. Sie überlegt, dass, sollte sich ihr Vater wirklich umbringen, ihre finanzielle Zukunft als ledige Mutter leichter wäre, da ihr die Eigentumswohnung und das Geschäft zufallen würden, solange der Bruder im Gefängnis sitzt. Während sie Klavier spielt, äußert sie Zweifel daran, dass der Vater seine Drohung wirklich in die Tat umsetzt. 11. Der Coup Der Juwelier Huber betritt das Zimmer mit der Nachricht, dass Karl unschuldig ist. Er erzählt, dass sich inzwischen herausgestellt hat, dass ihn sein eigener Sohn bestohlen habe, und führt aus, wie schlecht das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn ist; der politisch radikalisierte Sohn hält seinen Vater für einen Vertreter der überkommenen Gesellschaftsordnung. Der Juwelier beteuert, dass er keinen Anteil an der Beschuldigung und schnellen Verhaftung von Maries Bruder habe. Marie sieht in der Wiederherstellung der Familienehre eine Chance für sich und das Kind. 12. Schwanengesang In dieser Situation betritt der Jugendfreund Peter die Wohnung, auch er kommt mit der Nachricht von Karls Unschuld. Peter und Marie erinnern sich an die jüngst zurückliegende Begeg1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Inhaltsangabe 2.2 Biografie nung in München und die erneut erwachten Gefühle füreinander. Peter fordert Marie auf, sich von Leo zu trennen und stattdessen mit ihm eine Beziehung einzugehen. Marie erzählt ihm daraufhin von ihrer Schwangerschaft und zeigt ihm Leos Abschiedsbrief, den sie nach der Verhaftung Karls erhalten hat. Peter rät zur Abtreibung des Kindes auf Leos Kosten in England. Diese Möglichkeit scheidet aber aus, nachdem Marie bekennt, dass sie sich schon am Ende des 6. Schwangerschaftsmonats befindet, da ein so später Abbruch auch in England verboten ist. Peter beschließt, dass Marie Leo wegen des Kindes erst heiraten müsse; nach einem Jahr könne sie sich von Leo scheiden lassen, und er, Peter, würde sie zur Frau nehmen. Würde er sie mit einem unehelichen Kind von einem anderen Mann heiraten, müsste er selbst das Gerede der Leute und um sein Ansehen fürchten. III. Akt: 13. Haltestelle Marie trifft sich mit Leo, um mit ihm über seine Heiratsverpflichtungen ihr gegenüber zu sprechen. Sie gibt Leo seinen Abschiedsbrief zurück und informiert ihn darüber, dass der angegebene Trennungsgrund, die Inhaftierung des Bruders, inzwischen nicht mehr stichhaltig ist. Weiterhin führt sie an, dass er schließlich das Kind immer gewollt habe, er also dafür verantwortlich sei, dass sie es nicht längst abgetrieben habe. Leo betont die Veränderung der Verhältnisse; er habe inzwischen schon eine andere Verlobte. Marie möchte ihn dennoch zur Heirat zwingen, auch wenn sie ihn nicht mehr liebt. Leo verweist zunächst auf die hohen moralischen Anforderungen und den Anspruch auf unbedingte Liebe in einer Ehe, die er als heilig bezeichnet. Dann aber wird die fehlende Mitgift als wahrer Trennungsgrund deutlich. Marie hingegen wäre mit einem
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2.2 Inhaltsangabe 1.1 Biografie geschäftlichen Abkommen zufrieden: eine Ehe auf dem Papier und Scheidung nach einem Jahr. Sie schildert Leo, dass bei der fortgeschrittenen Schwangerschaft eine Abtreibung nicht mehr in Frage komme, sie aber ihr Ansehen retten müsse, und droht mit den Beziehungen von Peter Hutschingers Vater. Doch Leo lässt sich nicht auf ihre Argumentation und Forderung ein. So geht Marie, ohne ihre Ziele erreicht zu haben. Leo überlegt für sich, dass er mit seiner neuen Verlobten, der Tochter des Regierungsrates, vor Peter Hutschinger keine Angst haben müsse. 14. Duell Peter kommt zu Leo und versucht ebenfalls, Leo zur Heirat von Marie zu bewegen. Er erinnert ihn an seine moralische Pflicht. Für sich selbst stellt er in Aussicht, dass er Marie möglicherweise nach einer Scheidung heiraten werde, er aber um das Wohlwollen und Erbe seines Vaters fürchte, wenn er eine ledige Frau heirate, die von einem anderen Mann geschwängert worden sei. Sympathie müsse da leider an zweiter Stelle stehen. Leo trumpft mit den Beziehungen zu politisch und gesellschaftlich wichtigen Personen auf, die sowohl er als auch sein Vater hätten. Er müsse sich nicht unter Druck setzen lassen. Demütigend fügt er noch hinzu, dass Peter gern die von ihm verlassenen Frauen übernehmen könne. Peter verlässt resigniert und geschlagen das Büro. Leo stellt für sich verächtlich fest, dass Marie treulos und finanziell unattraktiv sei, ihn aber kommandieren zu können glaubte. 15. Amerika I Karl kommt aus der Untersuchungshaft nach Hause und wundert sich, dass keiner da ist. Er erinnert sich an das Starren der Leute, als er vom Gefängnis nach Hause ging. Dann mustert er
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1.1 Inhaltsangabe 2.2 Biografie die Konservendosen, die das Essen für jeden Wochentag enthalten, und denkt wehmütig an das gute Essen der Mutter. 16. Amerika II Marie kommt in die Stube. Sie freut sich, ihren Bruder zu sehen, und klärt ihn gleich über den Stand der Dinge hinsichtlich Leos Entlobungsbrief und Peters Angebot, sie erst nach einer Scheidung von Leo zu ehelichen, auf. Karl kann Peters Einstellung aus der Perspektive eines Mannes nachvollziehen. Da sowohl für ihn (Makel des Einbruchsverdachtes) als auch für seine Schwester (uneheliches Kind) die gesellschaftliche und berufliche Situation in der Kleinstadt Augsburg schwierig geworden ist, schlägt er vor, zusammen nach München zu ziehen. Im Lauf des Gespräches ist allerdings nur noch von den eigenen Umzugsplänen die Rede. Auch Marie spricht nur noch von Karls neuen Chancen in der Großstadt, im Zusammenhang mit ihrer Situation fällt das Stichwort Selbstmord. 17. Schattenkabinett Als der Vater den heimgekehrten Sohn sieht, zeigt er keine Freude, sondern weist nur mürrisch darauf hin, dass er inzwischen die Schulden des Sohnes beglichen habe. Er erzählt von der Beerdigung der Mutter, die sehr viele Schaulustige herbeigelockt hat, deren Sensationslust er und Marie haben ertragen müssen. Der Vater führt das übergroße Interesse an der Beerdigung auf den Bekanntheitsgrad des Sohnes zurück. Karls Verhaftung sei in der Stadt eine Sensation gewesen. Als Marie dem Vater Leos Entlobungsbrief zeigt und ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt, wünscht dieser sich an die Stelle der toten Mutter. Er stellt klar, dass er nicht für das Kind aufkommen werde, und verweist, als Marie auf ihre Eigenständigkeit pocht, auf die hohen Kosten, die Kinder mit sich bringen.
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2.2 Inhaltsangabe 1.1 Biografie 18. Bilanz Peter kommt hinzu. Alle drei Männer lehnen es ab, Marie zu helfen, obwohl sie droht, sich umzubringen. Für Peter kommt eine Heirat unter diesen Umständen nicht in Frage, Karl will sich erst selbst in München eine neue Existenz aufbauen, und der Vater hat bereits für sich eine Heiratsannonce aufgegeben, da stört eine ledige Mutter im Haus. Auf Maries Verzweiflung reagieren alle drei gefühllos und nüchtern, der Vater sogar mit Spott. Die drei Männer beginnen, Skat zu spielen. Marie verlässt fassungslos den Raum. Nach einer Weile kommt sie zurück und beteuert immer verzweifelter, Gift genommen zu haben. Doch auch jetzt hilft ihr keiner, stattdessen wird sie ausgelacht. Keiner glaubt ernsthaft an einen Suizidversuch Maries. Diese steht fassungslos da. Mit einem Zitat Friedrich Hebbels zu seiner Hauptfigur Klara aus Maria Magdalena endet das Drama.
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1.1 Aufbau 2.3 Biografie
2.3 Aufbau Kroetz übernimmt von Hebbel die Strukturierung des Dramas in drei Akte, wobei zwar die Einheit des Ortes weitgehend gewahrt bleibt (überwiegend das bürgerliche Wohnzimmer), sich allerdings die Zeit über mehrere Tage erstreckt (vgl. Rückblick auf Beerdigung, S. 61). Die Akte sind unterschiedlich lang: 1. Akt: 8 Szenen, 2. Akt: 4 Szenen, 3. Akt: 6 Szenen. Nach dem Ende des Stückes folgt noch ein Hebbel-Zitat. Die Szenen sind fortlaufend nummeriert, ironischer Charakter jeder einzelnen Szene ist eine Überder Überschriften schrift vorangestellt. Vergleicht man diese Überschriften mit dem jeweiligen Handlungsverlauf, wird der überwiegend satirische und ironische Charakter der Überschriften erkennbar, da die Überschriften beim Leser/Zuschauer Erwartungen erzeugen, die meist in Kontrast zur folgenden Szene stehen. Vergleich der Überschriften mit dem Inhalt der Szenen: „Hochzeit“ (1. Szene) Zu einer Hochzeit kommt es in dem Stück gerade nicht, statt dessen wird in der Szene um das alte Hochzeitskleid der Mutter gestritten: Die Tochter möchte es bei ihrer eigenen Hochzeit tragen, die Mutter will darin beerdigt werden. Die Zeitlosigkeit des Hochzeitskleides – es „war schon zehnmal in und aus der Mode“ (S. 9) – und seine Multifunktionalität als Hochzeits- und Sterbekleid symbolisieren Wandel und gleichzeitig Gleichförmigkeit von menschlichen Erfahrungen und Bewertungen. Die schwerpunktmäßige Thematisierung des Todes muss als Vorausdeutung des Todes der Mutter am Ende des ersten Aktes verstanden werden. In dem Streitgespräch wird neben unter-
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1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
1.1 2.3 Biografie Aufbau schiedlichen Vorstellungen von Rollen und Normen bei Mutter und Tochter auch der wenig respektvolle Umgang der jüngeren Generation mit den Älteren deutlich. „Verlorener Sohn“ (2. Szene) Die Überschrift spielt in parodistischer Verfremdung auf die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn an: Sohn Karl kehrt nicht aus Reue, sondern nur deshalb zurück, weil er Geld braucht; sobald er es bekommen hat, verschwindet er wieder. Deutlich werden seine Untugenden (Schulden machen, Leben auf großem Fuß, Skrupellosigkeit, Rücksichtslosigkeit gegen über Mutter und Schwester, Egoismus usw.). „Was sich gehört“ (3. Szene) Was sich nach Ansicht der Mutter gehört, ist Respekt vor seinen Eltern, wie ihn Leo, ihr Schwiegersohn in spe, mit seinem Besuch an ihrem Krankenbett gezeigt hat. Darüber hinaus muss man auf das Gerede der Leute auch im Umgang mit Beziehungsproblemen achten, sich einen Mann mit Aussichten auf Karrie re suchen bzw. die eigene „Versorgung“ (Sicherheit, geordnete bürgerliche Verhältnisse) wichtiger nehmen als das „Vergnügen“ (Gefühl, Liebe). Die Mutter beschwert sich über Karls Verhalten. Sie fühlt sich geringschätzig behandelt und glaubt, dass man sie nicht ernst nimmt. Dies bezieht sich auch auf die wieder deutlich gemachte unterschiedliche EinEgoismus der Personen schätzung der Schwere ihrer Krankheit. Der Egoismus der Personen wird somit deutlich gemacht. Gleichzeitig werden soziale Forderungen und Ansprüche auf gesellschaftliche Anerkennung und Positionen thematisiert.
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1.1 Aufbau 2.3 Biografie „Madonna allein“ (4. Szene) Marie vor dem Spiegel im Gespräch mit Gott spielt auf die betende Jungfrau Maria an. Im Kontrast zur biblischen Geschichte wird hier jedoch für einen Abgang des Kindes gebetet, die unehelich schwangere Marie beschimpft Gott und wendet sich von Glaube und Kirche ab. Der Monolog Maries offenbart die Problemlage: Sie ist unehelich schwanger und weiß keinen Ausweg. Sie fürchtet das Gerede in der Kleinstadt Augsburg und droht Gott mit Selbstmord, falls er das Kind nicht beseitigen helfe. Die Beschwörung Gottes und das Zugeständnis, im Falle der gewünschten Hilfeleistung wieder an ihn zu glauben, sind widersinnig, zeigen aber die Notsituation Maries. Die Mutter kommt als Ratgeberin offenbar nicht in Frage. Wieder tauchen die Motive Tod und Hochzeit auf. „Prinz Leo“ (5. Szene) Maries Verlobter Leo ist alles andere als ein Märchenprinz, sondern tritt eher arrogant und egoistisch auf. Deutlich wird durch die Überschrift die enttäuschte Erwartung Maries an Leo als Retter in ihrer Not. Die Beziehung zwischen Leo und Marie ist sichtlich kühl und durch gegenseitige Vorwürfe geprägt. Romantische Vorstellungen Maries von Liebe und zärtlichem Gefühl finden keinen Platz in dieser Beziehung. Sexualität, Eifersucht, soziales Prestige und der Versuch, den anderen klein zu machen, spielen eine weitaus größere Rolle. Leos Selbstzufriedenheit und berechnendes Vorgehen werden deutlich.
alles andere als ein Märchenprinz
„Prüfung“ (6. Szene) Die Überschrift bezieht sich zunächst auf die anstehende Inspektorenanwärterprüfung Leos. In der Szene prüft Leo jedoch auch
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1.1 2.3 Biografie Aufbau die finanziellen Verhältnisse seines künftigen Schwiegervaters. Der Umstand, dass die fest einkalkulierte Mitgift nicht mehr vorhanden ist, unterzieht in der Folge auch Leos angeblicher Liebe zu Marie einer Prüfung. Maries Vater zeigt, obwohl er der Ältere ist, zunächst deutlich seine Unterordnung und seinen Respekt vor der sozialen Position Leos. Im Laufe des Gesprächs aber präsentiert er sich als der moralisch integrere Mensch, der erkennt, dass es Maries Verehrer nur auf die vermeintliche Mitgift der Tochter abgesehen hat, und einem solchen Menschen seine Tochter nicht geben will. Die Beweggründe für die finanziellen Entscheidungen von Maries Vater werden durch Rückblicke auf dessen Kindheit, Jugend und Kriegserfahrungen verständlich gemacht. Leo vertritt dagegen eine neue Generation von materialistisch orientierten Menschen. „Luftballon“ (7. Szene) Die Mutter in ihrem Hochzeitskleid gibt sich dem „Traum in Weiß“ hin, der „guten alten Zeit“, ein Traum, den der autoritäre Vater wie einen Luftballon zerplatzen lässt. Die Nachricht von einem Diebstahl beim Juwelier lässt alle Träume der Mutter von gesellschaftlichem Aufstieg und unbeschwertem Glück zerplatzen. Diese Szene zeigt vor allem die unfreundlich-respektlose Art, mit der der Vater seine Frau behandelt. Der Vater wirft ihr Dummheit und Faulheit vor, kommandiert und schickt sie herum, ohne dass sie sich zu wehren weiß. Beide bemitleiden sich lediglich selbst. „Schäferstündchen“ (8. Szene) Das Schäferstündchen im Stück ist das Gegenteil einer Romanze: Anstelle eines Idylls kommt es zu einer Hausdurchsuchung und in deren Folge zum Tod der Mutter. Während der Vater ohne Weiteres von der Schuld Karls überzeugt ist, reagiert die 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Aufbau 2.3 Biografie Mutter mit Entsetzen und Unglauben. Sie stellt sich zunächst schützend vor ihren Sohn, hat aber gleichzeitig Angst vor der Schande, die über die Familie gebracht wird. Ihre Ankündigung, dass diese nicht zu überleben sei, bewahrheitet sich sofort in ihrem Fall. „Suppenkasper“ (9. Szene) Im Gegensatz zu der Bilderbuchfigur, die die Nahrung verweigert und deshalb jeden Tag dünner wird, bis am Ende der Tod steht, frisst und säuft der Vater die ganze Szene hindurch. Die Gesprächssituation zwischen Vater und Tochter ist außerordentlich asymmetrisch: Marie kommt in dieser Szene kaum zu Wort, sondern blickt ihren Vater nur unentwegt an. Sie reagiert kurz und schnippisch auf seine langen Klagen und scheint froh zu sein, als er gegangen ist. Der Vater fühlt sich aber offenbar unter ihrer Beobachtung unwohl. „Mon cherie“ (10. Szene) Es geht nicht um Kosenamen und Liebe, sondern um drastische Beschimpfungen und Todeswünsche Maries gegen den Vater. Für Marie eröffnet der angekündigte Selbstmord des Vaters eher eine Zukunftschance, als dass sie ihn fürchtet. Marie spricht ohne jeden Respekt von ihrem Vater, aber sie glaubt nicht an die Lösung ihrer Probleme auf diese Weise. Sie sieht lediglich den Nutzen für sich und ihr Problem, statt Vater und Bruder zu bedauern.
der angekündigte Selbstmord des Vaters als Zukunftschance
„Der Coup“ (11. Szene) Hier ist ein Anklang an filmische Themen zu sehen: In Möchtegern-Gangster-Manier hat der Juwelierssohn einen Coup gelandet, der Karl zum Verhängnis wurde. Die ständigen Ver-
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1.1 2.3 Biografie Aufbau wechslungen der Bezeichnungen „Bruder“ und „Sohn“ durch den Juwelier wirken komisch und mindern die Tragweite der Botschaft. Interessant ist der Hinweis des Juweliers auf die übereinstimmend negativen Erfahrungen von Kollegen mit ihren Kindern. Dies wird durch Maries Verhalten exemplarisch deutlich: Wieder sieht sie lediglich den positiven Aspekt der Wendungen der Geschehnisse für sich. „Schwanengesang“ (12. Szene) Der mythologische Gesang des sterbenden Schwans ist ein Gesang der Freude in der Aussicht auf das Leben nach dem Tod. Hier ist eine Abtreibung des Kindes aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht mehr möglich, daher schmieden Peter und Marie ein Komplott gegen Leo; dem freudig erwarteten Leben nach dem Tod entspricht hier die freudig erwartete Zeit nach einer kurzen Ehe anstandshalber zwischen Leo und Marie. Marie geht sehr naiv mit ihrer Schwangerschaft um. Offenbar ist ihr nicht klar gewesen, dass Alternativen wie Abtreibung ab einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft ausgeschlossen sind. Sie sieht in ihrer Jugendliebe Peter die letzte Rettung. Peter beteuert zwar, dass er Marie liebt, dennoch ist es ihm wichtiger, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren, als Marie zu helfen. Offenbar spielt auch eine Rolle, wieweit er seinen Nebenbuhler Leo beschämen kann. „Haltestelle“ (13. Szene) Marie bemüht sich noch einmal um die Ende der Lebensfahrt Ehe mit Leo: Während Leo zuversichtlich der Zukunft entgegenstrebt, zeichnet sich ab, dass Maries „Lebensfahrt“ endet, dass sie an dieser Stelle aussteigen muss. Die Szene zeigt die unterschiedlichen Beweggründe für oder gegen die Ehe. Für Marie ist die Heirat wegen „der Umgebung“ 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Aufbau 2.3 Biografie nötig. Leo hat vordringlich materielle Gesichtspunkte und gesellschaftlichen Aufstieg im Kopf. Werte wie Liebe, Zuneigung, lebenslange Treue werden von beiden nicht mehr ernst genommen, tauchen aber als Anforderung an den anderen immer dann auf, wenn die Chance besteht, den anderen mit diesen Argumenten in die Defensive zu drängen. „Duell“ (14. Szene) Peter und Leo duellieren sich nicht im klassischen Sinne (heroischer Kampf zweier Männer um die Frau), sondern mit Worten und setzen Beziehungen und Skrupellosigkeit ein, um den anderen auszustechen. Das Gespräch der Männer ist ein Tauziehen um den Platz des Stärkeren. Hier gewinnt Leo die Oberhand und macht dies sprachlich, inhaltlich und durch sein Verhalten deutlich. Familiärer Hintergrund, Beziehungen zu einflussreichen Personen, Parteienzugehörigkeit, die Wahl der richtigen Ehefrau, finanzielle Mittel und Karriere sind dabei Kriterien des Kampfes. Leo will sich auf keinen Fall bei der Durchsetzung seiner egoistischen Zukunftspläne behindern lassen. Das Duell endet damit, dass Peter früh erkennt, dass er nicht gewinnen kann, und die Flucht ergreift. „Amerika I“ (15. Szene) Amerika gilt hier als Signal für Auswanderung, Aufbruch in ein neues Leben, Freiheit. Das für jeden Wochentag übliche Essen, das sogar jetzt nach dem Tod der Mutter, allerdings in verringerter Qualität, beibehalten wird, symbolisiert die kleinbürgerliche Enge und die Gleichförmigkeit des Lebens in dieser Familie. Gleichzeitig ist die gleichmäßige Speisefolge auch mit positiven Erinnerungen an die Kindheit, mit Sicherheit und Vorausschaubarkeit verknüpft.
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1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
1.1 2.3 Biografie Aufbau „Amerika II“ (16. Szene) Statt das ferne, mythische Amerika ist die nahe Großstadt München das Ziel der „Auswanderung“. Diese Szene ist thematisch bestimmt durch die Auswirkungen München statt Amerika von Entehrung und Rufmord auf das einzelne Schicksal. Trotz seiner erwiesenen Unschuld bekommt es Karl deutlich zu spüren, dass er ausgegrenzt und weiter unter Verdacht steht. In einem kleinen fiktiven Dialog spielt er die möglichen Reaktionen der Leute durch. Verdächtigungen bleiben seiner Meinung nach immer an der Person haften und wirken sich drastisch auf das Privat- und Berufsleben aus. Dazu kommt für ihn die uneheliche Schwangerschaft der Schwester, die die Familie zusätzlich in Verruf bringt. Karls Ausweg ist die Flucht in die Anonymität der Großstadt. „Schattenkabinett“ (17. Szene) Ein Schattenkabinett ist das von einer parlamentarischen Opposition aufgestellte Kabinett für den Fall eines Regierungswechsels. Als verborgene Machthaber erweist sich hier die Gesellschaft mit den Reaktionen der Mitmenschen auf Skandale und Sensationen (Beerdigung, Verdächtigung Karls), denen sich die Familie in ihren Entscheidungen beugt. Die Begegnung zwischen Vater und seinem Sohn macht das unfreundliche Verhältnis zwischen beiden deutlich. Es ist von gegenseitigen Vorwürfen und Vorurteilen geprägt. Auf Karls Ankündigung, Augsburg zu verlassen, reagiert der Vater erleichtert. Für Maries Not hat der Vater kein Ohr. Er sieht sich als Opfer der Verhältnisse und macht seine Kinder dafür verantwortlich, dass es ihm schlecht geht.
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Aufbau 2.3 Biografie „Bilanz“ (18. Szene) Die Bilanz ist verheerend: Der Vater, Karl und Peter lehnen jede Hilfe für Marie ab, Marie ist am Ende auf sich allein gestellt, ihr Suizidversuch wird von den anderen nicht ernst genommen.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie
2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Die Mutter Die Mutter („Mama“) entspricht ganz dem Stereotyp der Kleinbürgerin in den 1960er Jahren. Sie ist für Versorgung und Haushalt der Familie zuständig, aber finanziell ganz vom Ehemann abhängig. So ist sie ihm Rechenschaft über den Verbleib des Haushaltsgeldes schuldig („Der Papa schimpft mich, wenn ich es dir leih, und am Monatsende hab ich nix, weil du es nicht zurückgibst.“ S. 15). Sogar über das eigene Erbteil kann sie nicht verfügen, sondern der Ehemann gibt dies nach eigenen Vorstellungen aus (vgl. S. 31). Als Mutter ist sie stolz auf die Bewunderung ihrer Kinder durch andere. Hier ist es besonders ihr Sohn Karl, der schon als Kind durch seine hübschen Locken auffiel („Er war ein anerkannt schönes Kind.“ S. 16). Deshalb hat sie ihn auch verwöhnt („Guttifresser“, S. 17). Karl aber dankt ihr die besondere Fürsorge nicht, sondern nutzt seine Mutter aus. Obwohl sie die mangelnde Zuwendung, Undankbarkeit und erntet für ihre Fürsorge Herzlosigkeit ihrer Kinder, insbesonnur Undankbarkeit dere des Sohnes, beklagt (vgl. S. 13) und der Tochter gegenüber betont, dass der „Bruder nix taugt“ (S. 11), ist sie im Unterschied zum Vater auf Karls Seite: Als „Mutter des Hauses“ (S. 35) fordert sie Aufklärung über die Vorwürfe gegen ihren Sohn, wird aber nicht weiter beachtet. Selbst ihr plötzlicher Tod verursacht kaum eine Störung der Geschehnisse („Machen Sie weiter, meine Herrn, das is eine Privatangelegenheit.“ S. 36). Wenn sie vom Sohn mit Koseworten und dem Possessivpronomen „mein“ spricht („Mein Sohn, mein Bubi, der Karli.“ S. 35), drückt dies eher ihre Bindung an den Sohn aus als seine an die Mutter.
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Von ihrem Ehemann wird sie herumkommandiert und, sofern sie einmal selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen will, zur Versorgung des Haushaltes aufgefordert („Wasch lieber eine Wäsch und lass die alten Fetzn stehn. Kein frisches Hemd hab ich mehr.“ S. 32). Fehlender Respekt, grobe Unhöflichkeiten und sogar Gewaltbereitschaft („Wenn es manchmal da drin steht, in der Zeitung, dass ein Ehemann hergeht und seine Frau derschlagt! So grausam es is, ich versteh es.“ S. 33) bestimmen den Umgang der Eheleute miteinander. Das Vorbild des Vaters wirkt als Muster für die Kinder im Umgang mit ihrer Mutter. Sie verhalten sich ihr gegenüber frech und fordernd. So bleibt ihr nichts, als „heulend“ (S. 33) abzutreten. Daher kann sie weder ein Ansprechpartner für ihre schwangere Tochter noch eine ernst zu nehmende Person für die Kinder sein, die Anspruch auf Schutz und Respekt hat. Die Mutter lamentiert über das Verhalten der Kinder und beschwört die besseren Sitten in früheren Zeiten herauf („Wenn ich so was vor meiner Mutter gsagt hätt.“ S. 13, „Das hätt ich einmal bei meine Eltern machn solln!“ S. 16), ist aber nicht in der Lage, den Kindern eine entsprechende Erziehung zuteil werden zu lassen. Ihr Beharren auf ihren schlechten Gesundheitszustand (1. Szene) wirkt daher zunächst wie ein verzweifelter Versuch, von ihrer Familie doch ein wenig Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu erhalten, wird aber freilich durch ihren plötzlich Tod am Ende des ersten Aktes bestätigt. Wie im bürgerlichen Trauerspiel häuTraum vom gesellschaftlichen fig11, träumt die Mutter auch bei KroAufstieg etz von gesellschaftlichem Ansehen und Aufstieg, den sie vor allem von ihren Kindern erwartet. Dies wird bereits in ihrer Überbewertung der beruflichen Si11 Vgl. z. B. Heinrich Leopold Wagners Kindermörderin (1776) oder Friedrich Schillers Kabale und Liebe (1784).
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie tuation ihres Mannes deutlich („Wo du die Tochter von einem Schuhgeschäft bist!“ S. 18), aber auch in ihrer Forderung an ihren zukünftigen Schwiegersohn, Karriere zu machen („Die Frage is, ob der Leo das Zeug dazu hat, dass er eine Karriere macht.“ S. 18). Ihre nachfolgenden Vorschläge zeigen allerdings ihre völlige Unkenntnis vom modernen Berufsleben. So oberflächlich wie ihr gesellschaftlicher Ehrgeiz und ihre Furcht vor dem, was „man“ über die Familie denken könnte (vgl. S. 17), wirkt auch ihre Frömmigkein echter Glaube keit. Diese scheint mehr von der Angst vor dem Tod (vgl. S. 11, 12) bestimmt als von echter Gläubigkeit und Gottesfurcht. Als Katholikin geht sie in die Kirche und spendet (sogar „für die Kriegsgräberfürsorge. Wo niemand gefallen is von uns im Krieg“, S. 11), ist aber gleichzeitig selbstgefällig bzw. -gerecht („Wo es nix im Lebn gibt von mir, was der Reue würdig wäre“. S. 11) und erwartet von Gott einen entsprechenden Lohn nach ihrem Tod (vgl. S. 12). Dass sie wie alle Figuren des Stückes trotz ihrer selbstlosen Rolle innerhalb der Familie von Egoismus bestimmt wird, zeigt sich daran, dass sie ihrer Tochter ihr altes Hochzeitskleid verweigert. Ihr plötzlicher Tod wird im Drama durch das schwache Herz begründet. Die Mutter hinterlässt keine nennenswerte menschliche Lücke, denn ihr hysterisches Verhalten im Vorfeld ist fast eher dazu angetan, den Verlust als Erleichterung zu empfinden. Sohn Karl vermisst vor allem das gute Essen der Mutter; der Ehemann spricht von Trauer (vgl. S. 38), doch zugleich wird die egoistische Sicht des Witwers deutlich, der sich gleich nach einer neuen Frau umsieht, wobei nun die verstorbene Gattin eher als Bedrohung erscheint („Da obn is die Mama und schaut uns zu. Ich komm mir beobachtet vor.“ S. 37).
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Mit all diesen Merkmalen bekommt die Mutter in Kroetz’ Fassung des Dramas eine deutlich karikaturähnliche Zeichnung. Der Vater Der Vater, „Papa“ genannt, ist Schuster, also Handwerker, hat aber in Anpassung an die modernen Zeiten und unter Verwendung des Erbteils seiner Frau ein kleines Schuhgeschäft eröffnet. Allerdings scheint er in finanziellen Dingen nicht besonders geschickt zu sein, denn Leo wirft ihm vor, „ein ruiniertes Schuhgeschäft am Leben (zu) erhalten“ (S. 31). Der Vater kommt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und hat sehr früh seinen eigenen Vater verloren; die Vaterstelle wurde von seinem Lehrherren vertreten. Mit einer rührseligen Geschichte über die Unterstützung dieses Mannes aus Dankbarkeit heraus begründet er den Verlust von Maries Mitgift (vgl. S. 28–31). Darüber hinaus macht er für seine bedrohliche geschäftliche Lage die großen Kaufhäuser und das veränderte Kundenverhalten verantwortlich (vgl. S. 26). Die verlorene Mitgift für seine Tochter Marie kümmert ihn wenig, auch wenn er beteuert, seine „Tochter schon ned mit einem einzign Hemd auf dem Arsch aus dem Haus gehn“ (S. 29) zu lassen. Wenn es ihm nützt, beruft er sich auf die neuen Sitten („Mitgift! Das is doch vorbei! Vergangenheit! Heute heiratet man der Liebe wegen.“ S. 31), statt sich um Maries Zukunft Gedanken zu machen. Für sich selbst hat er den Ausweg der Fabrikarbeit im Auge („In der Schuhfabrik kann ich jederzeit im Akkord anfangen. Salamander nimmt auch Ältere.“ S. 26). Offenbar hat er die Kriegs- und Nachkriegszeit recht gut überstanden und nutzt noch bestehende Beziehungen aus dieser Zeit (vgl. S. 30). Seine Äußerungen lassen jegliche politische Reflektion („Nationalsozialismus und so weiter.“ S. 30) oder kritische
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie Vergangenheitsbewältigung verfehlende politische missen. Er nutzt die Erinnerung an Reflexion die NS-Zeit nur, um Mitleid zu erregen („Was hab ich erlebt. Hunger, Krieg und Elend. Alles war zum Ertragen, sogar der Hitler.“ S. 40). Sein Verhältnis zu seiner Frau ist durch eine klassische Rollenverteilung geprägt. Er ist der autoritäre Ernährer der Familie sowie ihr rechtliches und finanzielles Oberhaupt. Für ihn ist selbstverständlich, dass er über die Verwendung des Haushaltsgeldes Auskunft fordern kann. Er verlangt von seiner Frau Fleiß und Unterordnung. Barsch schickt er seine Frau in die Küche („Schau, dassd in die Kuchl kommst. Die Marie macht uns einen Kaffee.“ S. 32), reißt ihr die Zeitung aus der Hand und schneidet ihr das Wort ab. Ihre Tränen rühren ihn nicht, sondern machen ihn eher aggressiv. Von seiner Tochter fordert er das gleiche untergeordnete Verhalten, wie er es von seiner Frau gewöhnt ist. Allerdings trifft er hier auf den Widerstand Maries. Auf die Aufforderung, zu seiner Entspannung Klavier zu spielen, reagiert Marie schnippisch und mit Ablehnung („Spiel dir selber was vor. Glaubst, ich bin die Mama?“ S. 39). Auch Karl, der als Vertreter mehr verdient als sein Vater, scheint sich von seinem Vater nur noch wenig sagen zu lassen. Dennoch scheint der Vater den Anspruch zu erheben, dass er für die Erziehung der Kinder Gegenleistungen erwarten kann. Insgesamt beklagt er sich über seine Kinder („Dass ausgerechnet mir solche Kinder ham?“ S. 39). Dabei zeugen seine Äußerungen von einem hohen Maß an Selbstmitleid und Egoismus („Mit die verdammtn Saufratzn bleibt einem nix erspart.“ S. 62): Marie hält er für einen blöden „Trampel“ (S. 62) und traut ihr im Traum sogar zu, ihn vergiften zu wollen. Von seinem Sohn denkt er nur Schlechtes. Er ist ohne jeden Beweis bereit, den Vorwurf des Diebstahls zu glauben. Er wirft 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Karl vor, ihm durch seinen vermeintlichen Diebstahl das verdiente „Ruhekissn im Alter“ (S. 39) vorzuenthalten: Statt dass seine Rente durch den Sohn aufgebessert würde, muss er für Karls Schulden aufkommen; letzteres freilich nur auf Druck von außen bzw. aus Angst um sein gesellschaftliches Ansehen. Statt in einem „trauten Heim“ sieht er sich in einer „Räuberhöhle“ (S. 38). Die Unterstützung für seine schwangere Tochter lehnt er jedoch ab. Für das Verhalten und die Lebensumstände seiner Kinder will er nicht verantwortlich gemacht werden („An uns kann es ned liegn, der Erbmasse.“ S. 40). Seine Vaterrolle gefällt ihm nicht mehr (vgl. S. 38), insbesondere seit sich alles falsch entwickelt. Mit dem Hinweis auf die Aussagen des Pfarrers und die biblische Parallele zu Adam12 („Der hat auch so ein Kind ghabt und kann nix dafür.“ S. 40) verweist er auf die Eigenverantwortung eines jeden Menschen. Dabei fällt er selbst nicht gerade durch vorbildliches Verhalten auf. Neben grobem und verletzendem Verhalten gegenüber seinen Familienmitgliedern ist er auch sonst eher rüde und ungehobelt. Er neigt zu übermäßigem Alkoholkonsum („Das versoffene Schwein versauft alles, wo eh nix da is.“ S. 42) und Essverhalten (vgl. II, 9. Szene) und ist egoistisch und berechnend. Schon kurz nach der Beerdigung seiner Frau hofft er, mithilfe einer Annonce eine neue Frau zu finden („Ich denk an mich und überleb.“ S. 64). Selbstsucht ist seine herausragende Eigenschaft.
Selbstmitleid und Egoismus
12 Satirisch wirkt hier, dass er sich für beklagenswerter hält als Adam („Der hat keine Nachbarn ghabt.“ S. 40).
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie Marie Die Tochter des Hauses zeichnet sich kurzsichtig und naiv vor allem durch ihre Kurzsichtigkeit und Naivität aus, die sie aber selbst nicht wahrnimmt. Sie hat sich auf eine Beziehung zu Leo eingelassen und erwartet ein Kind von ihm. Statt aber in dieser Situation Entscheidungen zu treffen, wartet sie ab („Ich hab Tag und Nacht überlegt“ S. 48), bis es zu spät ist und eine Abtreibung nicht mehr in Frage kommt. Obwohl sie nicht an Gott glaubt, hofft sie mit göttlicher Unterstützung auf eine Fehlgeburt und damit auf eine Lösung des Problems ganz ohne ihr Zutun. Von Gott fordert sie Vernunft und Einsicht (vgl. S. 19), sie selbst aber will mit dem „Scheißkind“ (S. 48) am liebsten nicht behelligt werden. Einerseits verhält sie sich Leo gegenüber spröde und fordert von ihm eine romantische Liebeserklärung, bevor sie ihm ein Jawort gibt („Und weil man nicht gleich mit fliegenden Fahnen ja schreit, bist beleidigt.“ S. 20 f.). Als dieser sich allerdings von ihr distanziert und die Verlobung lösen will, versucht sie, ihn mit allen Mitteln zur Heirat zu zwingen, weil ein uneheliches Kind „nicht in Frage“ (S. 51) kommt. Sie bändelt nebenbei mit ihrer alten Jugendliebe Peter an, und zwar unter den Augen ihres Verlobten („Hat meine Beobachtungsgabe doch recht gehabt an dem fraglichen Abend in Münchn!“ S. 53), kann sich aber nicht entscheiden. Erst als sie unter Druck gerät und keiner der beiden sie heiraten will, sucht sie mit allen Mitteln eine Lösung. Ihre uneheliche Schwangerschaft ist dabei nicht nur in finanzieller Hinsicht ein Problem, sondern vor allem wegen des zu erwartenden Geredes der Leute in der Kleinstadt, zumal sie annimmt, dass Leo sich im Nachhinein mit der sexuellen Eroberung brüsten und sie gleichzeitig fallen lassen wird („Das machen mir zwei nicht, dass du der King bist und ich die blöde 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Kuh.“ S. 52). Hier spielt eine große Rolle, dass Marie in diesem Beziehungskonflikt nicht die Abhängige sein möchte. Dies gelingt ihr aber nicht. Ihre Zukunft und die eigene Versorgung sowie die des Kindes werden nicht aktiv in die Hand genommen, sondern es entwickeln sich neue Hoffnungen nur durch neue Umstände. Aber weder die Hoffnung auf den Tod des Vaters (mit ihr als Alleinerbin, da der Bruder noch im Gefängnis ist) noch auf eine Ehe mit Leo oder Peter noch auf eine Zukunft in München mit ihrem Bruder erfüllen sich. Marie will emanzipiert und auf keinen Fall wie ihre Mutter sein oder sich in deren Rolle zwängen lassen (vgl. S. 39). Sie plant die eigene Selbstständigkeit wie ihr Bruder Karl („Er is selbstständig. Ich geh auch bald.“ S. 16), tut aber nichts dazu, um diese wirklich zu erreichen. Sie entlehnt ihre Wünsche und Vorstellungen aus Filmen und Medien, führt z. B. Liz Taylor und Richard Burton als Vorbilder an (S. 24) und ist vergnügungssüchtig (Abend in München, S. 21) und oberflächlich. Zwar weiß sie um ihre fehlende Eigenständigkeit („Aber ich bin eine Frau. Was hab ich denn sonst.“ S. 22) und versucht deshalb, ihre weiblichen Reize gezielt einzusetzen. Da diese aber aufgrund ihrer Situation nicht mehr wirken, kann sie nur noch mit Selbstmord drohen. Doch auch diese Drohung wird so wenig ernst genommen wie sie selbst. Zur kritischen Refle xion des eigenen Verhaltens ist sie nicht in der Lage. Auch sie denkt in erster Linie an sich selbst.
will nicht die Abhängige sein
Karl Der Sohn des Hauses ist Vertreter (vgl. S. 28, 60) und eigentlich finanziell unabhängig. Er verdient mehr als der Vater und fährt sogar einen Firmenwagen (vgl. S. 14). Aufgrund seines anspruchsvollen Lebensstils und seiner Verschwendungs- und
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie Spielsucht (vgl. S. 14, 27) gerät er dennoch immer wieder in Geldnot, macht Schulden und leiht sich Geld von der Mutter. Diese geht auf seine Bitten ein, offenbar in der Hoffnung auf die Dankbarkeit ihres Sohnes. Diese Hoffnung erfüllt sich aber nicht, denn selbst, als sie im Krankenhaus lag, hat er sich nicht um sie gekümmert. Kritik an seinem Verhalten weist er zurück („Meine Mama is meine Mama und deine Mama is deine Mama.“ S. 13). Dabei reagiert er seiner Mutter gegenüber ohne jeden Respekt (vgl. S. 14). Auch nach ihrem Tod bedauert er nur den Verlust ordentlich gekochter Mahlzeiten. Mehr als oberflächliches Mitleid („Arme Mama!“ S. 57) ist nicht zu spüren. Zu seinem Vater hat er ein schlechtes Verhältnis und geht ihm lieber aus dem Weg, denn dieser wirft ihm ständig seinen unmoralischen und verschwenderischen Lebenswandel vor. Deshalb hat der Vater auch nichts gegen Karls Pläne, nach seiner Entlassung nach München zu ziehen. Beide sind froh, sich in Zukunft nicht mehr begegnen zu müsfühlt sich nicht sen, spielen aber dennoch einträchtig zur Hilfe verpflichtet gemeinsam Skat (vgl. S. 64). Obwohl Karl sich mit seiner Schwester Marie durchaus versteht, fühlt er sich nicht verpflichtet, sie zu unterstützen. Sich bei Leo oder Peter für sie einzusetzen, kommt ihm nicht in den Sinn, stattdessen bekundet er Verständnis für Peter (vgl. S. 59). Seine eigene Zukunft ist vorrangig („München is groß. Da muss ich selber erst auf meine Füß stehn. Dann kannst nachkommen.“ S. 63). Auf Maries Ankündigung, sich vergiftet zu haben, reagiert er mit dem kaltschnäuzigen Hinweis auf die Rufnummer der Feuerwehr. Dieses lieblose und egoistische Verhalten bestimmt alle seine Handlungen und Entscheidungen.
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Leo Maries Verlobter Leo ist ebenfalls ein Mensch, dem es vor allem um den eigenen Wohlstand und das persönliche Fortkommen geht; ob er jemals echte Gefühle für Marie empfunden hat, muss aufgrund seines Verhaltens bezweifelt werden. Im Gegensatz zu Marie ist er aber aktiv. So sieht er seine berufliche Zukunft als Bankangestellter in der „Inspektorenanwärterprüfung“ (S. 26) und danach als „Filialstellendirektor“ (S. 25). Er kennt die Gesetze des Marktes (vgl. S. 27). Die eigene Karriere ist genau geplant und wird durch Fernkurse (vgl. S. 50, 54) vorangetrieben. Neben der beruflichen Karriere an erster Stelle Karriere will er auch privat sein „kleines Glück“ (vgl. S. 22). Dieses ist eng verknüpft mit finanziellen Möglichkeiten, denn er glaubt, durch seine Verlobte Marie an eine stattliche Mitgift zu gelangen. Um sich dieses Geld zu sichern, ist er auch bereit, das Bankgeheimnis zu brechen und dem Schwiegervater in spe Informationen zukommen zu lassen. Als sich herausstellt, dass Marie nicht auf dieses Geld hoffen kann, reagiert er auf entlarvende Weise emotional („Mein Geld!“ S. 31) und ist zu gern bereit, die Verhaftung des Bruders zu nutzen, um das wenig gewinnträchtige Verlöbnis wieder zu lösen. Er ist auf Risiken und Neuentwicklungen eingestellt („Kaum macht man ein Fenster auf, weil man glaubt, man sitzt fest im Sattl, kommt Unerwünschtes.“ S. 22) und reagiert prompt; er sichert sich ab und schickt seinen Brief zur Lösung der Verlobung per „Einschreiben und Express“ (S. 50). Schadenfroh teilt er Marie mit, dass ein „Verlust“ nur auf ihrer Seite besteht, denn er hat „alles gehabt, was sich ein Mann denkn kann“ (S. 23). Gleich nach der Auflösung der Verlobung knüpft er ein neues Verhältnis zu Fanny Hapfinger, die als Tochter des Regierungsrates eine ungleich aussichtsreichere Partie darstellt (vgl. S. 54, 56). Leo
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 1.1 Biografie rechnet fest damit, in Zukunft die politischen Beziehungen von Fannys Vater zu seinem Vorteil nutzen zu können. Leo hält sich für einen normalen Menschen (vgl. S. 32), der einen Schritt nach dem anderen tut (vgl. S. 25) und sich so sein Fortkommen sichert. Mitmenschlichkeit und Mitleid hält er für rückständig und wenig zuträglich („Aber ein Schutz muss sein vor den Gefühlen, sonst is man menschlich, und das is schlecht, wenn man noch nicht in sicherer Entfernung is.“ S. 24). Er ist mit sich „zufrieden“ (S. 25) und hält das Leben für eine „Frage der Intelligenz“ (S. 56). Seinem ehemaligen „Freund“ (S. 21) Peter demonstriert er skrupellos seine Überlegenheit (vgl. S. 56) und zögert nicht, die verzweifelte Marie auf ihre fehlende Treue und Liebe hinzuweisen, um ihr die Schuld an dem Zerwürfnis zuzuschieben. Moralische Werte werden somit nur dann eingesetzt, wenn sie zur Durchsetzung der eigenen Ziele dienen. In diesem Fall ist es die Ablehnung der Heirat und von Verpflichtungen für das ungeborene Kind. Er will sich durch nichts und niemanden in seinem Karrierestreben aufhalten lassen (vgl. S. 56). Peter Auch Peter ist im Bankwesen beschäftigt. Der gemeinsame Jugendfreund von Marie und Leo taucht als Hoffnungsträger für Marie auf. Peter und Marie fühlen sich offenbar zueinander hingezogen und haben an einem Abend in München ihre alte Beziehung neu entdeckt („Das war kein erotisches Wiedererkennen allein.“ S. 46). Peter fordert nun von Marie die Lösung ihrer Verbindung mit Leo mit dem Hinweis auf seine Liebe (vgl. S. 46). Als er aber von Maries SchwangerGroßmaul als Hoffnungsträger schaft erfährt, zieht er sich wieder zurück und will zunächst Leo in die Verantwortung zwingen. Zwar behauptet er, langfristig bereit zu sein, mit Marie trotz ihres 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Personenkonstellation 2.4 Biografie und Charakteristiken Kindes eine Beziehung einzugehen, aber nur, wenn sie und Leo zunächst heiraten und sich dann wieder scheiden lassen, wenn also Leo die Verantwortung für das Kind übernimmt. Marie gegenüber tritt Peter vollmundig und rigoros auf („Und der Erfinder zahlt. Sonst krachts.“ S. 47). Als er aber auf Leo trifft, wird er immer kleinlauter und muss feststellen, dass seine Drohungen nicht wirken. Ab diesem Zeitpunkt engagiert er sich nur noch halbherzig für Marie. Am Schluss verweist er auf die fehlende Zustimmung seines Vaters (vgl. S. 64) und hält eine Heirat mit Marie für ausgeschlossen („Marie: Und warum heiratest du mich nicht? Peter: Geh, wie kannst denn da fragen?!“ S. 63). Auch für ihn gilt also, dass er egoistisch handelt, vor allem um sein gesellschaftliches Ansehen und das allgemeine Gerede besorgt ist und Schwierigkeiten lieber aus dem Weg geht.
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 1.1 Biografie
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Brot für die Welt (S. 11): 1959 gegründete Hilfsaktion der evangelischen Landes- und Freikirchen in Deutschland. Chanse (S. 12): Chance, Gelegenheit. am Scheideweg (S. 12): Situation, in der zwischen zwei Alternativen entschieden werden muss oder sich nur zwei Möglichkeiten zeigen (hier: Überleben oder Tod). hätt ich einen Stich (S. 13): Wäre ich (als Mann) attraktiv, wenn ich nicht dein Bruder wäre? Erdäpfel (S. 13): Kartoffeln. Fuchzger (S. 14): Fünfziger, Fünfzig-Mark-Schein. Opferstock (S. 15): Behälter für Geldspenden in der Kirche. Pfiat enk (S. 16): Abschiedsgruß. So ein Schmarrn (S. 16): So ein Unsinn. Guttifresser (S. 16): Leckermäulchen, Süßigkeiten nicht abgeneigt. Todeskammerl (S. 17): Einzelzimmer für Sterbende. dass es ein Abgang is (S. 19): Dass es eine Fehlgeburt wird. dem blöden Gred (S. 20): Dem blöden Gerede. Raffael Kubelik (S. 21): Rafael Kublekík, Schweizer Dirigent (1914–1996), 1961–1979 Chefdirigent des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks. Wimmerl (S. 23): Pickel, Pustel, Warze. Richard Burton ... die Liz Taylor (S. 24): Die beiden US-amerikanischen Schauspieler Richard Burton (1925–1984) und Liz Taylor (geb. 1932) waren zwischen 1964 und 1976 verheiratet und wohl das berühmteste Schauspielerehepaar ihrer Zeit. Salamander (S. 26): Bekannte Schuhmarke. Konkursmasse (S. 28): Gesamtheit der noch vorhandenen Werte eines zahlungsunfähigen Unternehmers, die bei einem Konkurs dazu dient, die Forderungen zu begleichen. 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Sachliche 2.5 Biografie und sprachliche Erläuterungen Franz Josef Strauß (S. 28): (1915–1988) deutscher Politiker (CSU), 1971–1978 wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, 1978–1988 Ministerpräsident des Freistaates Bayern. Kuchl (S. 32): Küche. E 605 (S. 36): Pflanzenschutzmittel, für Menschen hochgiftig. Gedankn und Träume sind zollfrei (S. 36): Anspielung auf das deutsche Volkslied Die Gedanken sind frei aus dem 18. Jahrhundert. Geschorene Haare (S. 36): Früher galt das Abschneiden der Haare oder gar Kahlrasieren als Form der öffentlichen Brandmarkung von Straftätern, Ehebrecherinnen oder unehelich Schwangeren. Bartsch seiner Todeshöhle (S. 38): Jürgen Bartsch (1946– 1976), pädophiler Serienmörder, der in der Nähe von Essen vier Kinder umbrachte. Sein Fall beherrschte Ende der 1960er Jahre die Medien. zerscht (S. 39): Zuerst. Baader-Meinhof-Bande (S. 39): „Rote Armee Fraktion“ (RAF), linksextremistische Terrororganisation, Gründung 1970 u. a. durch Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof, verantwortlich für Morde, Entführungen, Bank überfälle, Sprengstoffattentate. Fronleichnamsprozession (S. 39): Christliche Tradition seit 1264, Tag der Verehrung des Leibes Christi, nach dem Hochamt Prozession mit Standarten, Fahnen etc. vorbei an geschmückten Häusern zu verschiedenen Segensstationen, bedeutendes christliches Fest in katholischen Gegenden. Erbmasse (S. 40): Erbanlagen. Herzipoppi (S. 41): Kosewort (wie Herzilein). Rehabilitierung (S. 41): Wiederherstellung der Ehre und des öffentlichen Ansehens
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 1.1 Biografie „Stern“ (S. 41): Wöchentlich mit großer Auflage erscheinende Zeitschrift. wasche mich in Unschuld (S. 44): Anspielung auf die Kreuzigung Jesu; der römische Statthalter Pontius Pilatus wäscht seine Hände, um zu demonstrieren, dass die Juden selbst und nicht er am Tod Jesu schuld sind. Burschoa (S. 44): Bourgeois, Bürgertum, nach marxistischer Definition die herrschende Klasse der kapitalistischen Gesellschaft, die im Besitz der Produktionsmittel ist und vom Proletariat gestürzt werden muss. Französischn Revolution (S. 44): Nach der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 wurde der französische König abgesetzt und die Republik (Herrschaft des Volkes) ausgerufen. Die Adelsherrschaft wurde durch die Herrschaft des Bürgertums ersetzt, die feudalen Privilegien und Rechte für nichtig erklärt. Der am 21. 9. 1792 abgesetzte König Ludwig XVI. wurde durch die Guillotine hingerichtet. den Kommunismus bekämpfen (S. 44): Anspielung auf den Kampf der westlichen Welt (des Bürgertums bzw. Kapitalismus) gegen den Kommunismus, Zeit des Kalten Krieges. Marx und Mao (S. 44): Karl Heinrich Marx (1818–1883), Philosoph und Theoretiker des Kommunismus; Mao Zedong (1893–1976) Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas, für die Linke in den westlichen Industriestaaten um 1970 eine Vorbildfigur. Arm! (S. 48): Kurzform von „Amen“, bekräftigt die Aussage. Der Brief ist jetzt gschissn (S. 50): Der Brief ist jetzt bedeutungslos. HÖR ZU (S. 51): Populäre Fernsehzeitschrift. Alimente (S. 52): Unterhaltszahlungen für uneheliche Kinder. einen Blauen (S. 52): Hundert-Mark-Schein. mit dem depperten Kind (S. 52): Mit dem blöden Kind. 1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Sachliche 2.5 Biografie und sprachliche Erläuterungen Fernkurse (S. 54): Fortbildung, bei denen der Lernende ohne persönlichen Kontakt mit dem Lehrenden unterrichtet wird (durch Briefe, Fernseh- oder Rundfunksendungen). die neuen Scheidungsgesetze (S. 54): Rechte, die Unterhalt, Ansprüche etc. regeln, 1970 erstmals Verknüpfung von Scheidungsgesetz und elterlichem Sorgerecht (Wohl des Kindes). Hypo (S. 55): Kurzform für Bayerische Hypotheken- und Wechselbank. Schwiegerpapa in spe (S. 56): Zukünftiger Schwiegervater. Machen wir ein Metsch: Bayerische Variante des englischen „match“ (Spiel); sinngemäß: Schauen wir, wer der Stärkere von uns ist. Servus (S. 56): In Bayern übliche Abschieds- und Begrüßungsfloskel. Trumpf Schokolade (S. 57): Schokoladenmarke. Kaiserschmarrn (S. 57): Warme Süßspeise, ähnlich wie Pfannkuchen. Wammerl (S. 57): Bayerische Speise, Bauchfleisch vom Kalb. Innegreisch (S. 57): Innereien. Dampfnudeln (S. 57): Mehlspeise. Pfannibatzerei (S. 57): Kartoffelknödel, die aus der Tüte (Hersteller Pfanni) stammen. Wer is denn auf der Brennsuppn dahergeschwommen? (S. 58): Redewendung; Brennsuppe ist eine sehr einfache und billige Suppe aus Mehl und Wasser, die als Kennzeichen ärmlicher Verhältnisse gilt. Karl spielt mit dieser Frage darauf an, dass Leo aus untersten Schichten stammt und kein Recht hat, sich über sie zu erheben. Petra Schürmann (S. 58): Fernsehmoderatorin und Schauspielerin (geb. 1935), 1956 Miss World, seit 1960 beliebte Ansagerin im Bayerischen Rundfunk, 1967 Geburt einer unehelichen Tochter.
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1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 1.1 Biografie Für mich is es ein Knopf in der Zukunft (S. 58): Das uneheliche Kind versperrt den Weg in eine positive Zukunft. Heinz Rühmann (S. 61): (1902–1994), populärer Film- und Theaterschauspieler, besonders in humoristischen Rollen der 1960er Jahre. Er spielte viele Hauptrollen in Komödien. Sie liegt auf 2 Meter 30. … Auf 1 Meter 80 kann noch wer kommen. Das bin ich (S. 61): Hier ist die Tiefe der Grabstelle angesprochen. So können zwei Personen übereinander beerdigt werden. Aletekost fürs Kind (S. 62): Werbeslogan für Babynahrung von der Firma Alete. Mersie (S. 63): Bayerische Abwandlung des französischen Mercie (Danke). kibitzn (S. 64): Umgangssprachlich für „stehlen“.
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Stil 2.6 Biografie und Sprache
2.6 Stil und Sprache13 Die Charaktere in Kroetz’ Stück sprechen ausnahmslos „Umgangsdeutsch mit Süddeutsch“ (S. 8). Über das Bayrische sagte Kroetz einmal: „Für mich ist das Bayrische eine geschundene Sprache, eine Volkssprache, eine traurige Sprache.“14 Diese Sprachvariante verweist allerdings nicht auf eine heraufbeschworene heile oder kitschig-romantische Welt von einfachen, aber ehrlichen Leuten oder Naturburdas Bayrische als schen. In Maria Magdalena wird durch „geschundene Sprache“ die Sprache ein alltägliches Milieu gekennzeichnet. Der Sprache des Stückes fehlt völlig die literarische Überhöhung, genauso wie den Charakteren das Heroische und Heldenhafte fehlt. Sie sind keine Menschen, die in einem literarisch-ästhetischen Sinn Konflikte haben und austragen oder an ihnen zugrunde gehen. Allen Figuren in Maria Magdalena fehlt die Fähigkeit zum tragischen Konflikt. Sie haben nur Probleme (meist egoistischer Natur), die irgendwie gelöst werden müssen. Im Gegensatz zum traditionellen sozialen Drama in der Nachfolge des bürgerlichen Trauerspiels sind bei Kroetz keine unterschiedlichen Soziolekte als Ausdruck verschiedener Bildungsstände zu finden (z. B. die gewählte Sprache eines Akademikers im Gegensatz zur einfachen eines Bauern). Ebenso gibt es keine Idiolekte (individuelle Sprache einer Person) als Kennzeichen von Individualität. Bei Kroetz unterscheiden sich die Personen in sprachlicher Hinsicht kaum voneinander. Die Charaktere sind ohne persönliches Profil, etwaige Unterschiede nivelliert. Die Figuren verwenden Sprachfloskeln und Worthülsen, was auf eine oberflächliche Behandlung der Probleme hindeutet, 13 Vgl. zum Folgenden auch Kap. 2.7.2 in dieser Erläuterung. 14 Zitiert nach: Barner, S. 492.
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1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.6 Stil1.1 undBiografie Sprache denn sie sind nicht in der Lage, differenziert zu denken und zu kommunizieren. Damit entfällt auch die Möglichkeit, Probleme durch Kommunikation zu lösen. Ihre Gespräche sind durch Verkürzungen und Ellipsen gekennzeichnet. Sie sprechen häufig ungrammatisch, die Aussagen sind oft nicht oder unlogisch miteinander verknüpft.15 Auch dies verweist auf mangelnde geistige Komplexität und fehlende Zuwendung bzw. nicht vorhandenes mitmenschliches Interesse. Tatsächlich stellt sich heraus, dass alle Personen sehr ichbezogen sind und kaum Interesse an den Problemen anderer haben, selbst wenn sie nahe miteinander verwandt sind. Aus dem bürgerlichen Trauerspiel Hebbels gestaltet Kroetz „frei“ (S. 7) eine Komödie. Auch dies hat deutliche Auswirkungen auf die Sprache. So gibt es einerseits die für Komödien typischen Versprecher und Missverständnisse. Der Juwelier Huber spricht gegenüber Marie mehrmals Maria Magdalena von ihrem „Sohn“ (S. 43). Wenn er sich als Komödie daher ständig korrigieren muss, wirkt dies komisch, verweist allerdings im Sinne einer Freudschen Fehlleistung (die Auskunft über das Unbewusste einer Person gibt) zugleich auf seinen Egozentrismus (er ist gedanklich eben nicht bei Maries Bruder, sondern nur bei sich und seinem eigenen Sohn), selbst in einem so schweren Fall wie der Anklage und Verhaftung eines Unschuldigen („Ihr Sohn, Ihr Vater (korrigiert sich) Bruder is unschuldig. Mein Sohn war es.“ S. 42 f.). Die Mutter bekommt deutlich karikaturhafte Züge, wenn sie pathetische Äußerungen macht wie „Man krümmt sich wie ein Wurm!“ (S. 12) und in hochgestochener Sprache von ihrer Krankheit und vom Sterben spricht. Ebenso wirkt die rüde Sprache der Personen im Umgang miteinander komisch. Leo 15 Zur genauen Untersuchung der Dramensprache bei Kroetz vgl. Betten, S. 218–290.
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Stil 2.6 Biografie und Sprache verweist wenig schmeichelnd auf die Unübersehbarkeit einer Warze („Wimmerl“) von Marie (S. 23) und reagiert sprachlich unlogisch (aber aus Sicht des Zuschaurüde Sprache ers komisch) auf Maries Geständnis hinsichtlich der neuen Bindung an Peter („Hat meine Beobachtungsgabe doch recht gehabt an dem fraglichen Abend in Münchn! Sau.“ S. 53). Grotesk verfremdend und ironisch wirken die biblischen Anklänge, die sowohl in den Überschriften (z. B. Madonna allein) als auch in den leitmotivisch gesetzten Parallelen zur Kreuzigung Jesu (Waschen der Hände in Unschuld, S. 44, 61) zu finden sind. Immer wird darauf hingewiesen, dass keiner der Betroffenen sich schuldig fühlt oder Verantwortung übernehmen will. In die gleiche Kategorie gehören die Anklänge ans Märchen (Prinz Leo). Auch durch sie wird auf die enttäuschten Hoffnungen und Träume der Figuren aufmerksam gemacht. Die Wirklichkeit ist eben nicht so rosig wie eine Märchenwelt. Wer dennoch solche Hoffnungen hegt, muss gegenüber einem skrupellosen Realitätsmenschen wie Leo den Kürzeren ziehen. Auf diese Weise dienen die biblischen und märchenhaften Bezüge der Kontrastierung. Weitere komische Elemente werden nur indirekt durch die Sprechakte deutlich und sind vor allem im Bereich der Handlung, der Gestik und Mimik zu finden. Die Begegnung zwischen Bruder und Schwester in der zweiten Szene (S. 13) lässt auf drastisch komisches Verhalten schließen. Auch das derbe Benehmen des Vaters (Suppenkaspar) gehört in den drastisch, platt komischen Bereich. Während der plötzliche Tod der Mutter in der Hebbelschen Tragödie die tragischen Konflikte verstärkt, wird bei Kroetz nur das an Comics erinnernde Komische des Todes eingesetzt.
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1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.6 Stil1.1 undBiografie Sprache Weiterhin ist das Drama eine Parodie. Die Überarbeitung der Hebbelschen Vorlage transponiert die Ereignisse nicht nur in eine neue Zeit, sondern setzt parodistisch neue Akzente, indem unter Beibehaltung der Form neue Inhalte dargeboten werden. Für die sprachliche Gestaltung heißt dies, dass Zitate aus der Vorlage in neue Kontexte eingebunden Maria Magdalena als Parodie werden. Die Sprache Hebbels passt nicht zum übrigen Sprachgebrauch und gedanklichen Verhalten der Personen. Die Aussagen wirken wie angelernt und wie Versatzstücke. Darauf wird z. T. ausdrücklich hingewiesen („Mama: Man denkt zu wenig an seinen Tod. Alles wird dunkel, und die Lichter gehen aus. Marie: Wo hastn das glesn?“ S. 10 f.). Damit wird die gedankliche Leere und Oberflächlichkeit der Charaktere hervorgehoben. Je weiter das Drama voranschreitet, desto weniger wörtliche Übernahmen findet man. Dies hängt inhaltlich damit zusammen, dass Kroetz’ Figuren sich immer weiter von der Vorlage Hebbels entfernen. Sprache dient ihnen, wie oben bereits ausgeführt, nicht zur Kommunikation oder zur Bewältigung ihrer Probleme, da sie keine echten Konflikte wahrnehmen. Die Sprache bleibt bei leeren Worthülsen, Kalauern und abgedroschenen Phrasen stehen. Eine gehobene literarische Sprache wäre unangemessen für den Egoismus und die Oberflächlichkeit dieser Figuren.
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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1.1 Stil 2.6 Biografie und Sprache
sprachliches Mittel
Erklärung
Beispiel
Sprichwörter oder Redensarten
Fehlen einer eigenen variationsreichen Sprache, Kennzeichen von sprachlicher Unbeholfenheit
„Was du heute kannst besorgn, das verschiebe nicht auf morgn.“ (S. 42) „Dann muss man in den sauern Apfel beißn (...)“ (S. 42) „Handwerk hat goldenen Boden (...)“ (S. 26) „Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.“ (S. 22) „Zeit is Geld.“ (S. 15)
Berufung auf allgemein Anerkanntes
70
Sprachfloskeln
Rückgriff auf abgegriffene Sprachmuster
„Eifersucht is auch eine Sucht!“ (S. 22)
abgewandelte Sprichwörter
Parodie, Abgrenzung von gängiger Meinung
„(...) keinen Fleiß um jeden Preis (...)“ (S. 22)
drastische und obszöne Sprache
Kennzeichen des Milieus, es fehlen Respekt und Höflichkeit dem anderen gegenüber
„Mein Schwanz ist auch der meine.“ (S. 55) „Scheiße.“ (S. 57) „Das versoffene Schwein versauft alles (...)“ (S. 42) „Du Sau.“ (S. 13)
1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.6 Stil1.1 undBiografie Sprache
sprachliches Mittel
Erklärung
Beispiel
biblische Zitate Parodie, leitmotivische Funktion bei Wiederholung
„Ich wasche mich in Unschuld (...)“ (S. 44) „Ich wasche meine Hände in triefender Unschuld!“ (S. 61)
Verkürzungen, Weglassen der Flexionsendun gen, Ellipsen
Merkmal der gesprochenen Sprache, Authentizität der Sprache
„Dass ich träum.“ (S. 39) „Geh schlafn!“ (S. 39) „Lauter Leichn“ (S. 38) „Verstehst?“ (S. 39)
ungrammatische Sprache
Merkmal der gesprochenen Sprache, Kennzeichen eines niedrigen Bildungsstandes
„Das zieh ich in den Sarg an“ (S. 9) „Ich hätt eine Wichtigkeit für ihm.“ (S. 42)
falsche InfiniDialekt, gespro- „nichts anderes zum tun“ tivkonstruktion chene Sprache (S. 12) „gestört zum habn“ (S. 20) „Das ist schwer zum erklären.“ (S. 29) pathetische, bildreiche Sprache, Metaphern
wirkt ironisierend, weil deplaziert
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
„weil ich hinüber muss in das Reich der Schatten“ (S. 10)
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1.1 Stil 2.6 Biografie und Sprache
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sprachliches Mittel
Erklärung
Beispiel
Ersatz der Pronomen („mir“ statt „wir“), Austausch der Morpheme
bayrischer Dialekt, Authentizität des sprachlichen Verhaltens
„Dann redn mir weiter.“ (S. 11) „Papa schimpft mich“ (S. 15) „Dass ausgerechnet mir solche Kinder ham?“ (S. 39)
phonetische Varianten des Hochdeutschen, Wortvarianten, Elisionen, Kontraktionen
authentischer Dialekt, bayrische Varianten
„So lauft der Has!“ (S. 29) „ham“ (S. 39) statt haben, „ned“ (S. 29) statt nicht „Sonst nix.“ (S. 22) „Das is mir doch wurscht.“ (S. 31) „Schwesterl“ (S. 29), „Pfefferpackeln“ (S. 39)
ungrammatische Satzverknüpfung, unlogische Konjunktionen
Ungenauigkeiten der gesprochenen Sprache
„Aber zerscht komm ich und die Reihenfolge.“ (S. 39) „Spiel mir was auf dem Klavier vor, für was hab ich es kauft und euch lernen lassn.“ (S. 39)
Ellipsen, parataktische Satzgestaltung
sprachliche Un- „Dass ich träum.“ (S. 39) beholfenheit, „Deckel drauf. Aus.“ (S. 38) Unfähigkeit
1.2.Kazuo Textanalyse Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
2.6 Stil1.1 undBiografie Sprache
sprachliches Mittel
Erklärung
Beispiel
zum genauen Ausdruck, zur sprachlichen Verständigung Wiederholung
Bekräftigung des Gesagten
„Nix. Es bleibt mir nix erspart.“ (S. 38)
Kinderverse, Abzählreime
Unfähigkeit zur Kommunikation, Sprachhülsen statt persönlicher Wortwahl
„Heile heile Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Schnee, und dann tuts nicht mehr weh!“ (S. 38)
literarischer ironisch-konSprachgebrauch trastierende Wirkung
„Hab ich dir je ein Leides getan?“ (S. 37)
wörtliche Zitate Parodie, „Man krümmt sich wie ein aus Hebbels Kennzeichnung Wurm!“ (S. 12) Maria Magdader Vorlage lena
1. Textanalyse 2. Kazuo Ishiguro: undLeben -interpretation und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie
2.7 Interpretationsansätze 2.7.1 Maria Magdalena als soziales Drama Franz Xaver Kroetz’ spöttisch-böse Transponierung (Übertragung) des Hebbel-Dramas von 1844 in das Kleinbürgermilieu der 1970er Jahre stellt die sozialen Bedingungen der Bundesrepublik dieser Zeit in den Vordergrund. Es geht nicht nur um eine „Wirklichkeitserfassung durch Sprach-, Sprech- und Verhaltensbeobachtung sozial und geistig immobiler (immobil gemachter oder gewordener) Schichten“16, sondern es werden ‚Normalbürger’ versuchsweise in den Vordergrund gestellt. Es sind nicht die Außenseiter oder sozialen Randgruppen, die in Maria Magdalena zu Protagonisten werden, sondern die Handwerker, die Bankangestellten und Normalbürger im Vordergrund Angehörigen einer bürgerlichen Familie. Dies dient – so Kroetz – der Aufklärung des Zuschauers, der die Kluft zwischen vorgestellter Wirklichkeit und tatsächlicher Realität erkennen soll. Das allerdings setzt eine Irritation bzw. Verunsicherung des Zuschauers voraus, wobei jedoch keine Verärgerung oder Provokation intendiert ist (vgl. Kroetz’ Vorbemerkung zu seinem Stück Wunschkonzert, S. 135). Wie Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth ist Kroetz bestrebt, „Strukturen der so genannten Dummheit“ aufzuzeigen, die auf einen „von Macht- und Profitstreben“17 gelenkten größeren gesellschaftlichen Prozess zurückzuführen sind. Dabei geht es ihm um die Enthüllung des miserablen Zustands der gesellschaftlichen Realität, nicht aber um die Lösung des Problems. Dies wird durch das offene Ende des Dramas deutlich. Es fehlt 16 Rühle, S. 153. 17 Kroetz: Liegt die Dummheit auf der Hand? „Pioniere in Ingolstadt“ – Überlegungen zu einem Stück von Marieluise Fleißer (1971). In: Hein, S. 73.
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie der eigentliche dramatische Konflikt, denn nicht die Steigerung, sondern die Reihung ist das Strukturprinzip dieses Stückes, in dem auf der Folie des Dramas aus dem 19. Jahrhundert ein allmähliches Aufdecken der sozialen Wirklichkeit von 1972 vorgenommen wird. 2.7.2 Sprache und Sprachlosigkeit bei Franz Xaver Kroetz „Es gibt Menschen, die immer reden, obwohl sie nichts zu sagen oder auszudrücken haben. Das ist Geschwätzigkeit. Aber es gibt auch Verhalten, das außer der Geschwätzigkeit steht. Im Schweigen. Die Sprache funktioniert bei meinen Figuren nicht. Sie haben auch keinen guten Willen. Ihre Probleme liegen so weit zurück und sind so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr in der Lage sind, sie wörtlich auszudrücken. / Sie sind introvertiert. Daran ist zum großen Teil die Gesellschaft schuld, die auf sie keine Rücksicht nimmt und sie in ihrem Schweigen verharren lässt. (…) Die Priorität des Dialoges auf dem Theater ist ein Vorurteil. Der Gang, die Bewegung eines Menschen sind gleich ausdrucksstark. Pausen haben primär den Charakter der Wahrheit. Das ist ihnen immanent. / Trotzdem ist die Sprache dieser Menschen präzise, soweit sie sie beherrschen. Ihre Ausdrucksweise bedient sich des Dialektes, der kurz, prägnant und nur bei Heimatschriftstellern entlarvend ist. Tatsächlich ist der Dialekt die introvertierteste, verschlossenste Sprache. (…) Der Rückgang der Sprache, ihrer Bedeutung ist in allen Bereichen des Lebens zu erkennen. Das Theater ist prädestiniert, diesen Vorgang, der sich intensivieren wird, darzustellen.“18
18 Kroetz, Die Sprache meiner Figuren, S. 64 f.
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie Mit diesem Credo nimmt Kroetz Stellung zur Sprache seiner Figuren. Seine Charaktere sprechen nicht nur Dialekt und verwenden Sprachfloskeln und Worthülsen, sondern sie versinken auch häufig in Schweigen (wie im Extremfall Wunschkonzert, vgl. Kap. 1.3 in dieser Erläuterung). Pausen sind elementare Bestandteile der Dialoge. Der Dialekt Dialekt als Ausdruck der dient als Mittel zur Versprachlichung Arbeits- und Lebenssituation der dargestellten provinziellen Enge, er ist Ausdruck der Arbeits- und Lebenssituation, in der sich die Menschen befinden. Damit wird dem Dialekt jede volkstümelnde Gemütlichkeit und Exotik (wie im traditionellen Heimatroman oder Volksstück) genommen. Vielmehr bildet der Dialekt bei Kroetz sprachliche Realität ab. Wenn Kroetz’ Charaktere in Sprachlosigkeit verharren, ist dies nicht gleichbedeutend mit der Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Existenz: „Bei Kroetz (…) vermittelt die Sprechweise der Figuren ein getreues Abbild ihrer sozialen Lebenssituation. Der Dialog verrät, wie die Figuren leben, arbeiten, denken, wovon sie abhängen, was sie wünschen und erhoffen. So bildet Kroetz in der Figurensprache deren soziales Sein ab, die Sprache wird ganz und gar funktional verwendet. Sie dient nicht dazu, Botschaften zu verkünden, Erkenntnisse des Autors ans Publikum zu bringen, sondern bildet nichts als die Lebenssituation der handelnden Figuren und ihre daraus resultierende Kommunikationsfähigkeit ab. Da, wo ihnen die Sprache fehlt, wird auf die mangelnde Bewusstheit ihrer wirklichen Lebensproblematik verwiesen. Fehlende Artikulations- und Kommunikationsfähigkeit drückt ihr Unvermögen aus, die eigene Lebenssituation angemessen einschätzen zu können. Die Figuren zappeln gewissermaßen ganz hilflos an dem, wovon sie abhängen.“19 19 Reinhold, S. 235.
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie In Maria Magdalena sind die Menschen in ihren kleinbürgerlichen Denk- und Verhaltensstrukturen gefangen (vgl. S. 48). Sie sind einerseits abhängig voneinander, wollen andererseits nicht für den anderen verantwortlich sein. Sie vermeiden es, aufeinander einzugehen und sich mit den Gedanken des anderen zu beschäftigen („Für die Gedanken deiner Mama hast du kein Herz. Sei froh, dass man was denkt!“ S. 12). Gleichzeitig ist durch die Analyse der Sprachäußerungen der Mutter (vgl. Kap. 2.4 und 2.6 dieser Erläuterung) bereits deutlich geworden, dass sie zu eigenen, tieferen Gedanken gar nicht in der Lage ist, wodurch ein Versuch einer wirklichen Unterhaltung mit ihr wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Wenn die Figuren aufeinandertreffen oder einander verlassen, fallen Begrüßung und Verabschiedung äußerst kühl aus („Hau ab.“ S. 16; „Wennst es willst, dann geht man wieder. Wünsche nicht gestört zum habn.“ S. 20). Selbst Existenzkrisen werden nicht ernst genommen („Zerscht musst tot sein, dann glauben mir es!“ S. 65). Durch diese (Nicht-)Reaktionen wird die Isoliert heit und der Egoismus der Personen hervorgehoben. Sie denken vor allem in wirtschaftlich-finanziellen Kategorien und haben nur ihren eigenen Profit und privaten Vorteil im Blick. Macht und Profitstreben sind vorherrschend (vgl. Kap. 2.7.3 dieser Erläuterung). Ihre Sprache ist plakative Sprache voller häufig plakativ und durch ÜbertreiÜbertreibungen bungen gekennzeichnet („Welttatsache!“ S. 48). Sie benutzen abgegriffene Sprachmuster und berufen sich auf anerkannte Weisheiten („Wer einmal im Verdacht war, bleibt verdächtig. Volksmund!“ S. 60). Die Beschränktheit der Figuren in sprachlicher Hinsicht zeigt sich auch durch die Vielzahl der Sprichwörter und Redensarten, die verwendet werden („Der Leo muss in den sauern Apfel beißn.“ S. 49). 2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie Konflikte und Probleme werden von den Figuren nicht logisch durchdacht oder auf mitmenschliche Weise angegangen. Das zeigt sich besonders an Maries Umgang mit ihrer unehelichen Schwangerschaft (vgl. Kap. 2.4 dieser Erläuterung). Die Figuren entwickeln sich nicht, ebenso wenig wie sich ihre Dialoge fortentwickeln. Die Sprache dient daher nicht der Bewältigung der Probleme. Einerseits spielen Normen und die Furcht vor dem Gerede der Nachbarn eine große Rolle, andererseits möchten zumindest einige Figuren (Marie, Karl) dieser Enge entkommen und beschwören die Großstadt (München) als Ort der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit herauf. Die Menschen wissen um ihre Abhängigkeit („Mir sind in Augsburg, genau.“ S. 49), können ihr aber nicht wirklich entkommen. 2.7.3 Der Mensch und der Kommerz in Maria Magdalena „In diesem Stück wird viel vom Geld, von Verkauf gesprochen, (…) ständig wird gehandelt; der Mensch ist zu einer Zugabe, zu einer Ware geworden; Geld, Gefühle, Beziehungen werden nur noch gegen Geld gehandelt.“20 Diese Aussage Kroetz’ nimmt ein wichtiges Thema des Dramas auf, wodurch es sich drastisch von der Vorlage Hebbels entfernt. Wenn bei Hebbel noch die sich ändernden moralischen Normen im Vordergrund standen, ist es bei Kroetz die Marktwirtschaft, die das Denken und Handeln aller Menschen im Drama bestimmt. Alles ist kommerziell ausgemarktwirtschaftliches Denken richtet und hat seinen Marktwert, die und Handeln dominiert Menschen zahlen und bezahlen. Berechnung und Kalkulation, Besitz und Neid bestimmen ihr Verhältnis zueinander: 20 Zitiert nach: Blevins, S. 86.
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2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie 1. Schon zu Beginn des Dramas verweigert die Mutter der Tochter das Hochzeitskleid, weil sie es als Totenkleid anziehen will („Da lasst du die Finger davon. … Nich zu glauben, was einem alles wegnehmen wollen. Die Kinder und neidisch sind.“ S. 9). 2. Die Frömmigkeit der Mutter ist oberflächlich und an Geld gebunden. Durch Spenden will sie sich ihr Seelenheil erkaufen („Wenn alle soviel gebn hättn wie mir, es gäbe gar kein Elend auf der Welt. ... Zuerst muss er sich um die Katholischen kümmern. Das wird wohl unser gutes Recht sein, wo mir so viel für ihn getan ham.“ S. 11 f.). 3. Karl macht ständig Schulden und nötigt seiner Mutter immer wieder Geld ab, obwohl er weiß, wie knapp ihre Haushaltskasse bemessen ist („20 is wie in die Hand gschissn. 50.“ S. 15). Im Zweifelsfall erpresst er seine Mutter mit der Drohung einzubrechen (S. 15) und schiebt der Mutter die Verantwortung dafür zu. 4. Karls berufliche Situation als Vertreter ist eine Frage des Marktwertes. Ein schlechter Leumund ist dabei entscheidender als möglicherweise Faulheit („Ein Vertreter braucht die Anonymität. Sonst is er unverkäuflich.“ S. 60). 5. Leo ist als Bankangestellter mit den Gesetzen der Marktwirtschaft bestens vertraut und spricht von „Gläubiger“, „Konkurs“, „Darlehen“, „Konkursmasse“ (S. 28) und der Einstellung von Zahlungen. Das damit verbundene Schicksal von Menschen ist für ihn ohne Belang. 6. Leos Vorstellungen von der Ehe sind von Finanzen geprägt. Heirat ist keine Frage der Liebe, sondern eine Frage des Geldes („Was glaubst, was das kost, eine Ehe, wenn sie gegründet wird, so – wie es sich gehört, weil es üblich is! Tausende – und wo nimm ich die her?“ S. 53). Und es macht für ihn den entscheidenden Unterschied, ob man „eine Marie 2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie mit 10tausend oder ohne 10tausend heiratet. Das muss der Mensch wissen. Bevor er sich zur Liebe entschließt!“ (S. 31). Marie lässt sich auf diese Entwertung bzw. Reduktion ihrer Person auf ihren „Marktwert“ ein und spricht ihrerseits gegenüber Leo von der Abwicklung eines Geschäftes (S. 51), als sie ihm die Scheidung nach einem Jahr Ehe vorschlägt. 7. Auch das Verhältnis zwischen Peter und Marie wird von Leo auf seinen Geldwert reduziert. Leo bezeichnet Maries Neigung zu Peter als durch seine finanzielle Lage bestimmt („Die will dich doch jetzt nur, weilst ein Geld hast.“ S. 55). Und für Peter ist der Marktwert einer unehelich schwangeren Marie geringer als der einer nicht-schwangeren oder zumindest geschiedenen Marie. 8. Peter kennt die finanziellen Auswirkungen der neuen Scheidungsgesetze („Es geht ned bloß ums Geld. Jetzt, wo die neuen Scheidungsgesetze kommen, stehst dich eh fast gleich.“ S. 54) und versucht, Leo durch Hinweis auf seine moralische Verpflichtung umzustimmen. Letztlich gewinnt Leo aber das „Duell“, indem er den einflussreicheren und finanzkräftigeren Schwiegervater ins Feld führt, durch den er sich sein unmoralisches Verhalten buchstäblich leisten kann. 9. Marie sieht in dem angekündigten Selbstmord des Vaters vor allem einen finanziellen Vorteil für sich, da sie, solange Karl im Gefängnis sitzt, Alleinerbin wäre („Bring dich um, is das beste, was du tun kannst. Wo es eine Eigentumswohnung is und der Karl ned erbt, weil er sitzt. Zwei Zimmer vermietn, und das Geschäft verpachtn. Man wär aus dem Schneider, das Kind und ich.“ S. 42). 10. Der Vater verweigert seinem Sohn das Vertrauen in seine Unschuld. Während Peter und Marie an Karls Unschuld geglaubt haben, sieht der Vater seine Pflichten dem Sohn gegenüber durch die Begleichung von Karls Schulden als
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2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie abgeleistet („Ich hab deine Schulden zahlt, das langt. 217 Mark.“ S. 63). 11. Der Juwelier Huber und sein Sohn streiten sich „vor allem um die Gesellschaftsordnung und das Geld“, wobei „das letztere zählt“ (S. 44). Weil der Sohn meint, nicht genug von Zuhause zu bekommen, bestiehlt er den eigenen Vater und provoziert so die Verhaftung Karls. Auch ihr Verhältnis zu einander ist durch Verachtung und den Wunsch nach Unabhängigkeit geprägt. Obwohl der Sohn kommunistische Thesen proklamiert, also für die Abschaffung des Privat eigentums sein müsste, kann er nicht genug Geld von seinem Vater bekommen („Mir is es zu viel, was ich ihm gebe, und ihm zu wenig.“ S. 44). 12. Sobald Schwierigkeiten auftreten, fürchten die Menschen um ihr Geld. Das gilt für den Konkurs des Geschäftes, für die Schuldner Karls („Ich geh dahin, und die Leute redn mich an und sagn, Ihr Herr Sohn hat Schuldn bei mir. Angst hams um ihr Geld. Das versteh ich. Mir is ganz übel, und ich zahl.“ S. 40), aber auch für Maries Vater, der in dem unehelichen Kind nur eine finanzielle Belastung sieht („Das is ein Kind, wo mich nix angeht.“ S. 62). 2.7.4 Vergleich: Hebbel – Kroetz Titel Schon durch den Titel Maria Magdalena verweist Kroetz ausdrücklich auf die literarische Vorlage. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass Hebbel nur auf Druck des Verlegers hin von seinem ursprünglich geplanten Titel Klara (nach seiner weiblichen Hauptfigur) abgewichen ist und sein Drama nach der biblischen Gestalt benannt hat.21 Gleichwohl gibt es bei genauerer 21 Vgl. Möckel, S. 18.
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie Betrachtung kaum oder nur mühsam herstellbare Bezüge zwischen der biblischen Maria Magdalena und den Frauengestalten bei Hebbel und Kroetz: Maria Magdalena (oder Maria von Magdala) ist in der Bibel eine der prominentesten Frauengestalten im Umkreis von Jesus und seinen Jüngern. Sie trug vermutlich mit ihrem Vermögen zum Unterhalt der Jünger bei; außerdem war sie bei Kreuzigung und Grablegung zugegen und bezeugte die Wiederauferstehung Christi. In der Kirchengeschichte wurde Maria Magdalena schon früh mit der namenlosen Sünderin und Prostituierten die biblische verknüpft, die im Lukas-EvangeliMaria von Magdala um Jesus mit ihren Tränen die Füße wäscht22 – eine nach offizieller katholischer Lehre irrige Identifikation, die jedoch gleichwohl bis heute im Volksglauben weit verbreitet ist und Maria Magdalena in der Kirchengeschichte zu einer Art Schutzheiligen der Ehebrecherinnen und Prostituierten werden ließ.23 Diese ihr zugeschriebene Rolle der reuigen Ehebrecherin und heiligen Büßerin lieferte den Zusammenhang mit Hebbels Klara, die durch ihre uneheliche Schwangerschaft Schuld auf sich lädt und durch Selbstmord für diese Schuld büßt. Dennoch sind deutliche Unterschiede zu sehen, weil bei Hebbel die Schuld Klaras nicht bei ihr selbst liegt und auch gar kein Ehebruch begangen wird. Kroetz lehnt sich sehr deutlich an das Hebbelsche Drama an, verliert dabei aber völlig den religiösen Bezug zu der Gestalt. Stattdessen werden biblische Anspielungen in anderen Zusammenhängen (z. B. durch die Überschriften der Szenen 2 und 4) deutlich. 22 Vgl. im Neuen Testament Lk 7, 35–50. 23 Vgl. zur Gestalt der Maria Magdalena in der Bibel und Kulturgeschichte die Einträge in Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Maria_Magdalena, Stand: April 2008) sowie im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (http://www.bbkl.de/m/maria_mag.shtml, Stand: April 2008).
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie Für beide Titel gilt also, dass intertextuelle Bezüge (Hebbel→ Bibel, Kroetz Hebbel) hergestellt werden, die im Vorfeld Leser- bzw. Zuschauererwartungen wecken und publikumswirksam sind.24 Struktur Den beiden Dramen ist die Einteilung in drei Akte gemeinsam. Während aber Hebbel in den drei Akten die einzelnen Szenen von neuem nummeriert, zählt Kroetz die Szenen fortlaufend und gibt ihnen darüber hinaus noch Überschriften. Auch die Anzahl der Szenen variiert. Insgesamt verkürzt Kroetz sein Drama um 6 Szenen. Akt I: Akt II: Akt III:
Hebbel
Kroetz
1–7 (7 Sz.) 1–6 (6 Sz.) 1–11 (11 Sz.) = insg. 24 Szenen
1–8 (8 Sz.) 9–12 (4 Sz.) 13–18 (6 Sz.) = insg. 18 Szenen
Auffallende strukturelle Unterschiede zeigen sich zwischen Hebbel und Kroetz, betrachtet man auffallende strukturelle die Monologe ihrer weiblichen ProtaUnterschiede gonistinnen: Bei Kroetz wird im ersten Akt der Monolog Maries nach Ende der dritten Szene zu einer eigenständigen Szene (Szene 4: Ma donna allein). Hier erfährt der Zuschauer von der Schwangerschaft. Bei Hebbel steht Klaras erster Monolog dagegen am Ende der 3. Szene unselbstständig. 24 Eine Zusammenstellung von literarischen Verarbeitungen der Figur Maria Magdalena findet sich in: Held.
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie Im zweiten Akt beherrschen bei Hebbel die Monologe Klaras den Akt strukturell, da sie jede zweite Szene darstellen (Szenen 2, 4 und 6 des zweiten Aktes). Kroetz beschränkt hier Maries Monolog auf einen einzigen (Szene 10: Mon cherie). Die strukturellen Unterschiede sind inhaltlich begründet: Bei Hebbel reflektiert Klara ihre persönliche Schuld, hat keinen persönlichen Ansprechpartner und kommt in den drei Monologen sukzessiv zu dem Entschluss, lieber Selbstmord zu begehen als für den Tod des Vaters verantwortlich zu sein. Dieser hatte ihr nach dem Tod der Mutter (Akt II, Szene 1) damit gedroht, sich umzubringen, falls sich erweisen würde, dass sie nicht tugendhaft sei. In Kroetz’ Stück ist sich Marie keinerlei Schuld bewusst. Für sie wäre es geradezu eine Erleichterung, wenn der Vater tot wäre, da sie dann als Erbin finanziell besser dastünde. Marie verhandelt am Ende des zweiten Akts mit ihrem Jugendfreund Peter, dass Leo sie vorübergehend heiraten muss. Es existiert also bei Kroetz am Schluss des zweiten Aktes durchaus noch eine Zukunftsaussicht für Marie. Der dritte Akt ist in Kroetz’ Drama nur etwa halb so lang. So wird der Monolog Leonhards (Hebbel, Akt III, Szene 1) bei Kroetz zu einem kurzen Selbstgespräch am Anfang der Szene 11. Leo ist hier nicht mehr von Schuldgefühlen und Vorwürfen gepeinigt; er ist mit den Gedanken bei der Arbeit und der Karriere. Ebenso fehlen die symbolträchtige dritte Szene mit den Blumen sowie der Monolog Leonhards in der fünften Szene. Alle diese Szenen enthalten bei Hebbel Zweifel Leonhards an der Richtigkeit seiner Entscheidungen und nehmen sein Bewusstsein um die moralische Verpflichtung, Klara zu heiraten, auf. Kroetz’ Leo verschwendet keinen Gedanken daran. So entspricht der Dialog zwischen Leonhard und Klara aus Hebbels 2. und 4. Szene (Akt III) der 13. Szene (Akt III) bei Kroetz, die Szenen 1, 3, 5 und 9 entfallen. Die kurze 9. Szene bei Hebbel
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie enthält das Fernweh Karls, das durch die Titel (Amerika I und II) der vorangegangenen Szenen bei Kroetz thematisiert wird. Namensgebung Hebbel
Kroetz
Klara Karl Leonhard Sekretär Meister Anton Mutter Juwelier Wolfram Knabe und Magd Gerichtsdiener Adam Zweiter Gerichtsdiener
Marie Karl Leo Peter Papa Mama Huber entfallen Inspektor Polizei
Diese Übersicht zeigt, dass Kroetz die Namen der Personen zwar modernisiert, aber weitgehend keine Kennzeichnung der der Vorlage angepasst hat, allerdings sozialen Stellung mehr entfällt in der Namensgebung die Kennzeichnung der Berufe und damit der sozialen Stellung. Vor allem Meister Anton verliert seine Überhöhung. Nebenfiguren werden weggelassen. Handlungsverlauf Kroetz übernimmt aus Hebbels Drama viele Elemente der Handlungsführung: • Krankheit und Genesung der Mutter • Karls Verschwendungssucht, die finanzielle Zuwendung durch die Mutter 2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie • die uneheliche Schwangerschaft Maries • Verdächtigung und Inhaftierung Karls • plötzlicher Tod der Mutter • Lösung des Heiratsversprechens durch den Verlobten, als die fehlende Mitgift und Karls Inhaftierung bekannt werden • Aufklärung des Diebstahls durch den Juwelier • neue Verbindung von Klaras/Maries Verlobten • Auftauchen des ehemaligen Jugendfreundes als Aussicht auf Rettung aus dem Dilemma, Möglichkeit der Ehe • Streit der beiden Rivalen (Leo/Peter; Leonhard/Sekretär) • Aussichtslosigkeit von Klaras/Maries Situation • fehlende Hilfe, Marie/Klara auf sich allein gestellt, Druck der gesellschaftlichen Normen Während anfangs Kroetz’ Verweise auf das Hebbelsche Drama eine enge Anlehnung an die Vorlage signalisieren, zeigen sich zunehmend bemerkenswerte Unterschiede. Gerade zu Beginn des Dramas wird die Vorlage durch nahezu wörtliche Anlehnungen und Übernahmen ins Gedächtnis gerufen: Hebbel
Kroetz
„war schon zehnmal aus der „Das war schon zehnmal in Mode und kam immer wie- und aus der Mode“ (S. 9) der hinein“ (S. 3725) „wo die alten Weiber es dir „Einmal zieht man es mir über über den Kopf ziehen wür- den steifn Kopf.“ (S. 10) den“ (S. 37) 25 Die Kurzbelege in dieser Übersicht aus Hebbels Stück beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe von Maria Magdalena, vgl. Literaturverzeichnis.
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie
„er bläst all die Lichter, „Alles wird dunkel, und die eins nach dem andern, aus“ Lichter gehen aus.“ (S. 11) (S. 37) „ich habe aber immer auch einen Pfennig für die Armen zu erübrigen gewusst“ (S. 38)
„Immer für die Armen ein offenes Herz gehabt!“ (S. 11, es folgt eine lange Liste der karitativen Einsätze)
Während charakteristische Dingsymbole wie das Hochzeitskleid von Kroetz übernommen werden, entstehen an anderen Stellen Modernisierungen und Modifikationen. So wird Karls Kette (Akt II) durch ein goldenes „Armbandl“ (S. 13) ersetzt, und die gleich bleibende Speisefolge bei Hebbel (S. 87) verändert sich bei Kroetz zu einer Liste von bayrischen Spezialitäten (S. 57). Parodierend wirkt die Tatsache, dass Karl bei Kroetz ausgerechnet die Speise für den Donnerstag vergessen hat und nach dem Tod der Mutter ohnehin nur noch Konserven verwendet werden, während Hebbels Karl gerade das übliche Fami lienessen am Donnerstag thematisiert. Im weiteren Verlauf der Handlung wird die Bindung an die Hebbelsche Vorlage immer loser. Der immer losere Bindung an Brief, in dem Leo/Leonhard die AuflöHebbels Vorlage sung der Verlobung mitteilt, verliert seine Dramatik und bekommt nur noch die Funktion, die Handlung voranzutreiben. Das Seefahrer-Lied bei Hebbel (Akt III, 8) mit der Sehnsucht Karls, weit weg zu gehen, taucht bei Kroetz in der Überschrift der Szene (Amerika II) auf. Damit wird zwar das Motiv des Auswanderns angedeutet, tatsächlich will Karl jetzt aber nur nach München. Der Konflikt Klaras, der sich in 2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie dieser Szene zum Entschluss, Selbstmord zu begehen, zuspitzt, entfällt bei Kroetz: Selbstmord wird nur noch als Möglichkeit der Erpressung in den Raum gestellt. Leo soll mit allen Mitteln gezwungen werden, Marie zu heiraten. Deshalb droht sie mit Suizid. Letztlich wird der unehelichen Schwangerschaft die Problematik genommen. Der Bruder weiß von der Schwangerschaft Maries, ist aber nicht bereit, sie unter diesen Umständen mit nach München zu nehmen. Der Vater erfährt in der nächsten Szene (Schattenkabinett) von der Schwangerschaft, ärgert sich aber vor allem über die Dummheit seiner Tochter („Mit die verdammtn Saufratzen bleibt einem nix erspart. (…) Blöder Trampel.“ S. 62) und lehnt jede Unterstützung und Hilfe rigoros ab („Das is ein Kind, wo mich nix angeht.“ S. 62). Auch er hat vor allem den materiellen Vorteil im Sinn. Der moralische Aspekt dient ihm nur dazu, sein Verhalten zu rechtfertigen („Mit mir kann man nicht rechnen. Ein lediges Kind seh ich nicht, weil es für mich nicht existiert.“ S. 63). In der letzten Szene verstärkt sich der parodistische Ton, wenn der Vater selbst unter Verweis auf literarische Vorbilder Marie den Selbstmord vorschlägt („Marie: Dann – Papa: – bringst du dich um. Das is bekannt und fad.“ S. 64). Er nimmt, wie auch die beiden anderen in dieser Szene anwesenden Männer Peter und Karl, ihren Selbstmord durch Vergiftung nicht ernst, sondern spielt ungerührt weiter Skat. Der vom Trauerspiel zur Komödie Leser/ Zuschauer ist ebenfalls geneigt, Maries Hilferuf nicht ernst zu nehmen. Wenn daher durch den fehlenden inneren Konflikt Maries weder sie selbst noch ihre potenziellen Ehemänner Peter und Leo sterben und der absurde plötzliche Tod der Mutter eher slapstickhafte Züge bekommt, wird das Drama ins Gegenteil verkehrt, wird das Trauerspiel zur Komödie.
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie Grundlegende Änderungen des Handlungsverlaufes bei Kroetz: • Der Ausgang: Marie springt nicht in einen Brunnen, sondern sagt nur, sie hätte Gift genommen. Das Drama endet ohne Gewissheit, ob sie sich tatsächlich vergiftet hat und infolgedessen stirbt; sonderlich wahrscheinlich erscheint es nicht. Auch Leo und Peter überleben bei Kroetz, denn das „Duell“ erfolgt nun lediglich mit Worten. • Der Vater übt keinen größeren Druck auf Marie aus, auch wird er von ihr nicht ernst genommen. Seine Androhung, sich umzubringen, verliert daher an Gewicht. Es sind eher Existenzsorgen als moralische Aspekte, die die Handlung vorantreiben. • der fehlende innere Konflikt Maries Rollen Bei Hebbel sind die Rollen innerhalb der bürgerlichen Familie klar bestimmt. Diese Rollenaufteilung geht bei Kroetz verloren. Hebbel
Kroetz
Vater • Oberhaupt der bürgerlichen • offizielles Oberhaupt der Familie, wird aber nur noch Familie im moralischen, von seiner Frau, nicht mehr rechtlichen und finanziellen von den Kinder ernst geSinn nommen • verheiratet die Tochter • sorgt für die Ausbildung des • steht finanziell schlechter da als der Sohn Sohnes
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie
Hebbel
Kroetz
• hat großes Gewicht; zwingt durch seine Androhung des Selbstmordes im Falle, dass sich die Tochter als nicht tugendsam herausstellt, die Tochter selbst zum Suizid • verkörpert starre moralische Werte, kann sich neuen Lebensbedingungen nicht anpassen, hält sich für unfehlbar
• gibt nur noch formal die Einwilligung zur Ehe für seine Tochter • stellt kein Vorbild dar, verliert völlig an Gewicht • seine Androhung des Selbstmordes wird nicht ernst genommen, ebenso wie er den angekündigten Suizid Maries nicht ernst nimmt • verkörpert Egoismus
Mutter • Verkörperung der bürgerlichen weiblichen Tugenden (Sparsamkeit, Frömmigkeit, Züchtigkeit, Fleiß, Bescheidenheit etc.) • steht im Hintergrund, ordnet sich unter • führt den Haushalt • erzieht die Kinder zu tugendhaften und gehorsamen Menschen
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• verkörpert nur noch im Ansatz die weiblichen bürgerlichen Tugenden, wird aber gerade deshalb nicht mehr ernst genommen, sondern vor allem ausgenutzt, wirkt lächerlich • ist um die Karriere ihres Mannes und den gesellschaftlichen Aufstieg Maries besorgt • führt den Haushalt, wird vom Ehemann bevormundet • hat insbesondere den Sohn verzogen
Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie
Hebbel
Kroetz
Tochter • tritt in die Fußstapfen der Mutter, wird zur Ehefrau und Mutter erzogen • kümmert sich nach dem Tod der Mutter um die Familie • soll moralisch integer und unangreifbar sein, zeugt durch ihren Lebenswandel von der guten Erziehung durch die Eltern • hat keine Rechte und darf keine persönlichen Bedürfnisse äußern • ist bemüht um die Erfüllung aller an sie herangetragenen Ansprüche, nimmt alles auf sich
• hat keine genau definierte Rolle mehr, muss heiraten, um das Kind versorgt zu wissen, möchte selbstständig sein • übernimmt im Ansatz nach dem Tod der Mutter Haushaltspflichten, reicht aber an deren Vorbild nicht heran (Konserven anstelle von ordentlich gekochtem Essen) • hat eigene moralische Ansichten und Ansprüche, hat keine Hemmungen hinsichtlich vorehelicher Beziehungen, widersetzt sich den Eltern, ist frech und vorlaut • sieht die Einschränkungen hinsichtlich materieller Möglichkeiten durch enge Normen der Kleinstadt bedingt
Sohn • soll in die Fußstapfen des • geht eigene Wege, nutzt Vaters treten, die Altersverdie Mutter aus, es fehlt die sorgung der Eltern übernehpersönliche Bindung an die men Mutter oder andere Familienmitglieder
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie
Hebbel
Kroetz
• vertritt schon eine neue Ge- • stellt eine Fortentwicklung neration, die nach einem des jungen und nach Selbsthohen Maß von persönverwirklichung strebenden licher Selbstverwirklichung Mannes dar, ist vergnüstrebt und den Eltern entgungssüchtig, zeigt wenig gegengesetzte Vorstellungen moralische Bedenken von Ehre, Anstand und Moral hat
Die Gestaltung der Charaktere und das Verhältnis der Personen zueinander Im Unterschied zur Vorlage von Hebbel liebt der Sohn Karl bei Kroetz die Mutter nicht und fühlt sich nicht durch sie zu Zugeständnissen genötigt. Überhaupt ist bei Kroetz von Liebe und Treue zwar oft die Rede, tatsächlich fehlen aber zwischen allen Personen innige und liebevolle Beziehungen. Das gilt für die eheliche Beziehung genauso wie für die zwischen den Geschwistern und nicht zuletzt für Liebesverhältnisse: Selbst Verlobte und „Liebespaare“ sind nicht wirklich aufeinander bezogen. Alle denken und agieren gleichermaFiguren erregen kein ßen egozentrisch und egoistisch. Mitleid mehr Damit entfallen auch die Dominanz einzelner Figuren und deren Fähigkeit, beim Zuschauer Mitleid zu erzeugen.
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie Konflikte und Probleme Das Hebbel-Zitat zum Ausklang des Kroetz’ Stückes („Mich selbst erschüttert die Klara gewaltig wie sie aus der Welt herausgedrängt wird.“ S. 65) verstärkt durch den Kontrast die Feststellung, dass bei Kroetz keine unlösbaren Konflikte und Probleme vorliegen und ein tragisches Dilemma mit unausweichlichem Ausgang fehlt. Deshalb gibt es neben der Mutter keine weiteren Toten (zumindest innerhalb des Stückes; ob Marie nach Ende des Stückes stirbt, bleibt ja offen). Das Problem der unehelichen Schwangerschaft wird gleichsam auf eine Unpässlichkeit reduziert, ein Umstand, der die Diskrepanz zwischen den Bürgern einer Kleinstadt wie Augsburg und dem Leben von Medienstars, wie es in der Boulevardpresse gezeigt wird (vgl. S. 58), deutlich macht. Intention des Stückes Neben dem unterhaltenden Charakter verweist Kroetz’ Komödie kritisch auf die Reduktion allen Denkens auf kommerzielle Aspekte in der modernen westlichen Industriegesellschaft. Profitstreben, falsche oder fehlende Moral, Respektlosigkeit, fehlende Gottesfurcht und Egoismus werden dargestellt. Vor allem wird vom Dramatiker systemkritisch aufgezeigt, welchen Mechanismen die Menschen in der Gegenwart ausgesetzt sind. Dieses erfolgt allerdings ohne die Schwere und Tragik der Hebbelschen Vorgabe. Auch wenn sehr viele Grundsituationen beibehalten werden (vgl. Gespräch zwischen Tochter und Mutter über Gesundung, Karl leiht sich Geld von der Mutter, Mutter und Tochter sprechen über den Verlobten usw.), wird dennoch eine völlig andere Zeit, Einstellung und Haltung der Menschen erkennbar. 2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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2.7 1.1 Interpretationsansätze Biografie Die verknöcherte Ehrbarkeit von Meister Anton (bei Hebbel) beispielsweise hat sich überlebt, und der neue materialistische Liberalismus Leonhards hat sich durchgesetzt. Die Familie ist bei Kroetz deutlich in Auflösung begriffen. 2.7.5 Komödie – Tragödie Das Theater des 20. Jahrhunderts löst den Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie auf, denn die Polarisierung innerhalb der Gattung scheint immer fragwürdiger. Es gibt keinen konsistenten Begriff von Tragik mehr, genauso wie es keine heiteren Lösungen der Konflikte kein konsistenter Begriff in der Komödie mehr gibt. Stattdessen von Tragik mehr erfolgt ein Umschlagen in die schwarze Komödie, in Groteske, Farce, Schwank und Burleske sowie in satirisch-aggressive Varianten der Komödie bis hin zum absurden Theater (Samuel Beckett). Daneben entwickeln sich Transformationen alter Komödienformen, z. B. das Kabarett und die Revue. Ausgehend von der Charakterkomödie des Naturalismus (Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz, 1893, Schluck und Jau, 1900) und der Wiederbelebung der Wiener Posse durch Max Reinhardt, wird die Tradition der Komödie nach dem Ersten Weltkrieg (Hugo von Hofmannsthal und Carl Sternheim) und darüber hinaus in die späte Weimarer Zeit fortgeführt (Carl Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenick 1930, Ödön von Horváth, Geschichten aus dem Wiener Wald, 1931, Kasimir und Karoline, 1932). Auch im epischen Theater Bertolt Brechts gibt es komische Elemente. Während Ödön von Horváth noch versucht zu zeigen, dass tragische Ereignisse sich im Alltag oft in eine komische Form kleiden, und bei ihm falsche Happy Endings vorgeführt werden, kommt Friedrich Dürrenmatt zu der Einsicht, dass wir in einer
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Textanalyse undLeben -interpretation 1.2.Kazuo Ishiguro: und Werk
2.7 Interpretationsansätze 1.1 Biografie Welt leben, der nur noch mit der Komödie beizukommen ist (z. B. Besuch der alten Dame, 1956). Seiner Ansicht nach setzt die Tragödie als strengste Kunstgattung eine gestaltete Welt voraus, der die Einsicht in Schuld und Verantwortung zugrunde liegt. Die Komödie hat sich aber „nie mit der Ausschließlichkeit des tragischen Theaters auf die vollkommene Bühnenillusion eingelassen, vielmehr stets illusionsbrechende, didaktische und appellative Momente bewahrt.“26 Bei Kroetz’ Versuch mit der Komödie entfällt allerdings dieses didaktische Moment. Seine Hebbel-Bearbeitung als Versuch der ‚großen Form’ empfindet Kroetz selbst im Nachhinein als gescheitert. Seine Hebbel-Bearbeitung als Versuch der ,großen Form‘ empfindet Kroetz selbst im Nachhinein als gescheitert. Während er anfangs noch mit dem Erfolg von Maria Magdalena zufrieden ist, äußert er sich später kritisch gegenüber dramatischen Großentwürfen. Er sei „einem formalen Aspekt auf den Leim gegangen“.27 Für Kroetz ist es rückblickend wichtig, „den Menschen und seine Konflikte erkennen und ernsthaft darüber schreiben zu können“. Er will „Fragen erlebbar“ machen und beim „Durchleuchten der Wirklichkeit“ helfen.28
26 Borchmeyer; Žmegač, S. 229. 27 Interview mit Willi Bär, in: die tat, Nr. 42, 20. 10. 1978, S. 18. 28 Interview mit Monika Sperr, in: Nürnberger Nachrichten, 24./25. 9. 1983.
2. undLeben -interpretation 1. Textanalyse Kazuo Ishiguro: und Werk
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1.1Themen 3. Biografie und Aufgaben
3. Themen und Aufgaben Thema: Amerika, Aussteiger
Lösungshilfen
Vergleichen Sie das „Seefahrerlied“ aus Hebbels s. 5., 2.4 Maria Magdalena mit Karls Einstellung in Kroetz’ Drama (Szene 15 und 16) auf der Grundlage der Darstellung von Karls Charakter bei Kroetz. Erörtern Sie, inwiefern das Aussteigen aus einem gesellschaftlichen Umfeld zur Lösung von Problemen beitragen kann. Thema: Schuldproblem
Lösungshilfen
Stellen Sie fest, inwiefern Schuld und Schuldbe- s. 2.4, 2.7 wusstsein eine Rolle in Kroetz’ Stück spielen. Vergleichen Sie die Ergebnisse mit Hebbels Dra- s. 2.7.4 ma hinsichtlich des Umgangs mit Fragen der Schuld. Nehmen Sie Stellung zu der Frage, ob und in- s. 2.4, 2.7 wieweit Normen und veränderte bürgerliche Werte dem Handeln der Figuren bei Kroetz zugrunde liegen.
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1. Kazuo Ishiguro: 3. Themen Leben und Aufgaben und Werk
3. Themen und 1.1 Aufgaben Biografie Thema: Zeit- und Gegenwartsbezug des Stückes
Lösungshilfen
Fertigen Sie eine Zusammenstellung von im s. 2.1, 4. Drama auftauchenden aktuellen politischen Problemen und Fakten an. Stellen Sie fest, inwiefern Vorurteile, Wünsche und Erwartungen einfacher Leute von heute aufgegriffen werden. Diskutieren Sie die Bedeutung der konkreten s. 1.2, 2.5 Zeitbezüge für das Drama. Thema: Familie, Sozialkritik
Lösungshilfen
Beschreiben Sie die bürgerliche Familie, wie sie s. 2.4, 2.7 in Kroetz Drama dargestellt wird. Vergleichen Sie diese Darstellung mit Hebbels s. 2.7.4 Darstellung. Nehmen Sie Stellung zu der Frage, welchen Stellenwert die Familie in unserer Zeit hat und in welcher Hinsicht heutige Tendenzen schon in Kroetz‘ Drama aus dem Jahr 1972 angedeutet werden. Die Lösungstipps beziehen sich auf die Kapitel der vorliegenden Erläuterung.
1. Themen 3. Kazuo Ishiguro: und Aufgaben Leben und Werk
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4. 1.1Rezeptionsgeschichte Biografie
4. Rezeptionsgeschichte Die Uraufführung von Maria Magdalena war am 6. 5. 1973 in den Städtischen Bühnen Heidelberg unter der Regie von Dieter Braun. Nur ein Jahr später entstand eine Fernsehproduktion des Stückes vom Hessischen Rundfunk, die am 14. 5. 1974 in der ARD gesendet wurde. Am 14. 9. 1980 auch Fernseh- und wurde im SWF eine Hörspielfassung Hörspielproduktion gesendet. Sowohl bei der Fernseh- als auch bei der Hörspielproduktion führte der Autor selbst die Regie. Franz Xaver Kroetz hatte mit seinen Anfang der 1970er Jahre in rascher Folge entstandenen Stücken überraschend schnell Erfolg und gilt auch heute noch als einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker der Nachkriegszeit. Gerade seine frühen Stücke erregten jedoch bei konservativen Zuschauern zum Teil heftige Proteste. So kam es bei einigen Inszenierungen von Heimarbeit und Hartnäckig 1971 zu Anti-Kroetz-Demonstrationen, bei denen Schauspieler und Zuschauer vor dem Theater mit „Schweine, Schweine!“- und „Pornographen raus aus München!“-Sprechchören empfangen wurden und sogar Stinkbomben geworfen wurden: Kroetz’ Stücke wirkten auf viele provozierend.29 Zwar sind solch heftige Reaktionen im Fall von Maria Magdalena nicht überliefert, doch zeigt die unten zitierte Äußerung des CSU-Landtagsabgeordneten Richard Hundhammer, dass auch dieses Stück für konservative Zuschauer ein Ärgernis darstellte.
29 Vgl. Benjamin Hinrichs: Abend der Sprachlosen. Zwei Einakter von Franz Xaver Kroetz im Münchner Werkraumtheater uraufgeführt. In: Süddeutsche Zeitung, 5. 4. 1971.
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1. Kazuo Ishiguro: 4. Rezeptionsgeschichte Leben und Werk
4. Rezeptionsgeschichte 1.1 Biografie Mit seiner Adaption der Hebbelschen Vorlage, mit der Kroetz sich an der „großen Form“ versuchen wollte, blieb ihm jedoch zunächst der Erfolg versagt. Erst im Lauf der Zeit wurde auch diesem Stück die literarische Anerkennung zuteil. Die folgenden Ausschnitte aus Rezensionen und Kritiken belegen die unmittelbare zeitgenössische Reaktion der Theaterkritik. „Wenn Hebbel so banal wäre wie sein Material, wenn – mit anderen Worten – Hebbel der Kroetz des 19. Jahrhunderts wäre, dann hätte der Kroetz des 20. Jahrhunderts gegen ihn recht. Franz Xaver Kroetz aber, der nur das banale Material Hebbels ins 20. Jahrhundert transponiert, zielt viel zu niedrig, um die metaphysische Tragödie Hebbels zu treffen: Kroetz hat kein AntiHebbel-Stück, er hat ein Un-Hebbel-Stück geschrieben. Nicht die Tragödie hat Kroetz im Schussfeld, sondern einen karikierten Konfessionalismus, eine Art Erpresser-Verhältnis zu Gott im Stile von Hilf du mir erst mal, dann glaub ich vielleicht an Dich. Niemand wird aus dieser Maria Magdalena den Schluss ziehen: Nun aber weg mit dem Kapitalismus! Eher liegt an ihrem Ende die resignierende Feststellung nahe: Die Menschen sind eben dumm, herzlos, habgierig und infam, und sie werden es – unter welcher Gesellschaftsordnung auch immer – bleiben. (…) In seiner ‚Komödie’ (…) sind die inneren Vorgänge so banal wie der Wortlaut der Dialoge.“ (Georg Hensel, 1973)30 „Es fehlt der Maria Magdalena jene Intensität der Entfremdung, die Kroetzens frühere Stücke auszeichnet, in welchem die armen Leute, Arbeiter und Kleinbauern zumeist, in ihrem unbegriffenen Leid, ihrer Angst und Kaputtheit, ihren Sprachschwierigkeiten, auch ihrer Gewalttätigkeit, ihren heruntergewürgten 30 Hensel, S. 35.
4. 1. Rezeptionsgeschichte Kazuo Ishiguro: Leben und Werk
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4. 1.1Rezeptionsgeschichte Biografie Hoffnungen, dem Bedürfnis nach Liebe und Harmonie glaubhaft dargestellt sind. Maria Magdalena markiert eine Wende in Kroetzens literarischer Tätigkeit.“ (Michael Buselmeier, 1973)31 „Gegen die Wiederholung des Kroetz-Stückes Maria Magdalena im Deutschen Fernsehen (ARD) hat der CSU-Landtagsabgeordnete Richard Hundhammer beim Intendanten des Bayerischen Rundfunks (BR), Reinhold Vöth, protestiert. ‚An einem Bankschalter fallen nicht nur ordinärste Ausdrücke, sondern der eine Ganove rühmt sich seiner Beziehungen zur CSU, der andere beruft sich auf seine Verbindungen zu Goppel’, heißt es in dem Schreiben Hundhammers an Vöth. / Der Abgeordnete verlangt eine Behandlung dieser Wiederholungssendung vom 23. Januar 1976 im BR-Rundfunkrat. ‚Sollten derartige Sendungen in Zukunft nicht mit Sicherheit auszuschließen sein, wäre wohl eine Kündigung des ARD-Vertrages unumgänglich.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. 2. 1976)32 „Manches im Kroetzschen Kontext befremdliche Motiv – die Identität von Hochzeits- und Totenkleid (1. und 7. Bild), der plötzliche Tod der Mutter (8.), das merkwürdige ‚Duell’ zwischen Peter und Leo (14.) – und manche aus dem Rahmen fallende sprachliche Wendung sind zu nichts anderem gut, als auf den originalen Verwendungszusammenhang zurückzuverweisen. Die Tatsache der Zitierung beantwortet aber noch nicht die Frage nach Sinn oder Unsinn der Übernahme. Nicht selten bleibt es bei einer bloß ‚lächerlichen’ Wiederholung oder Umkehrung, womit die Parodie ihr aufklärerisches Ziel verfehlt. Der Hebbelsche Konflikt basiert auf einem Komplex historisch-sozialer Voraussetzungen, religiös-moralischer und künstlerischer 31 Buselmeier. 32 Zitiert nach: Riewoldt, S. 132 f.
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1. Kazuo Ishiguro: 4. Rezeptionsgeschichte Leben und Werk
4. Rezeptionsgeschichte 1.1 Biografie Anschauungen, der sich als Ganzes nicht ins 20. Jahrhundert übertragen lässt. Damit ist die Beibehaltung von Details immer der Gefahr ausgesetzt, dass die gewünschte Aktualisierung zur Enthistorisierung gerät und so Vorlage und Gegenwart aus dem Visier verliert. Mit diesem Problem ist Kroetz nicht fertig geworden, sein Bemühen um zeitgemäße Veränderung greift immer wieder zu kurz. Mittels aktueller Anspielungen – auf Franz Josef Strauß (…), auf den Kindermörder Jürgen Bartsch (…), die Baader-Meinhof-Bande (…), die Ultralinken (…) und die Prominenz vom Show-Business (…) – glaubt er, den Wandel der historisch-sozialen Rahmenbedingungen signalisieren zu können, übersieht jedoch, dass er damit lediglich Chiffren setzt, deren Repräsentanz erst noch herauszuarbeiten wäre, da sie sich aus den im Stück sonst angedeuteten Verhältnissen keineswegs von selbst ergibt.“ (Rolf-Peter Carl, 1978)33
33 Carl, S. 91.
4. 1. Rezeptionsgeschichte Kazuo Ishiguro: Leben und Werk
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1.1Materialien 5. Biografie
5. Materialien 1) Über Kroetz’ Figuren „Kroetz schildert die Wirklichkeit einer Gruppe von Menschen. Die Gruppe ist sehr groß, die Unterschiede sind sehr gering. / Die meisten leben nun mal (nun mal?) als Kleinfamilie in einer Kleinwohnung, sparen auf irgendwas und haben Angst vor irgendwas; die Kindererziehung ist schwer, die Liebe auch. Wenn man sich selbst nicht mag, wie soll man den anderen mögen?“34 2) Karls „Seefahrer-Lied“ aus Hebbels Maria Magdalena „Dort bläht ein Schiff die Segel, Frisch saust hinein der Wind! Der Anker wird gelichtet, Das Steuer flugs gerichtet, Nun fliegt’s hinaus geschwind! Ein kühner Wasservogel Kreist grüßend um den Mast! Die Sonne brennt herunter, Manch Fischlein, blank und munter, umgaukelt keck den Gast! Wär gern hineingesprungen, Da draußen ist mein Reich! Ich bin ja jung an Jahren, Da ist’s mir nur ums Fahren, Wohin? Das gilt mir gleich!“35
34 Michael Skasa: „Lieber tot als so wie du“. Michael Skasa über Franz Xaver Kroetz und „Mensch Meier“. In: Theater heute, Jahressonderheft/1978, S. 102. 35 Hebbel, S. 88–91.
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1. Kazuo Ishiguro: Leben 5. Materialien und Werk
5.1.1 Materialien Biografie 3) Aussagen zu Hebbels Maria Magdalena „Die Dialektik persönlicher Ehre und Schande ist für den auf gesellschaftlichen Aufstieg bedachten Hebbel der Dreh- und Angelpunkt des Dramas. Sie ist die Antriebsfeder für die Handlungstragik. Sie steht hinter der Handlungsmotivation der Figuren – des Kaufmanns Wolfram, des Sekretärs Leonard, Klaras, vor allem aber des Meisters Anton. Dabei wäre sozialhistorisch glaubwürdiger eher die Armut als Zündpulver für das Schicksal des Handwerkers Anton und seiner Familie. Ist doch gerade die Verarmung des Handwerks das strukturgeschichtliche Sozialphänomen der Stunde. Verursacht ist es durch Industriewachstum, Bevölkerungsvermehrung, Wirtschaftsstagnation und Zunftauflösung (…). Davon findet sich bei Hebbel kein Wort. (…) Armut ist hier kein Thema – mit gutem Grund, denn nicht Armut, sondern Ehre reimt sich seit jeher auf Tragik (…). Und die große Form der Tragödie ist eben das erklärte Konstruktionsziel des ehrgeizigen Autors.“36 4) Die Intellektuellen und das „Volk“ „In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begaben sich die westdeutschen Intellektuellen und Schriftsteller nicht nur auf die Suche nach der Revolution, sondern kurz darauf, als sie feststellten, dass ihnen ein revolutionäres Subjekt fehlte, auch auf die Suche nach dem Volk. Sie schrieben, fast gleichzeitig, Revolutionsdramen und Volksstücke, das heißt, sie versuchten, die Revolution unters Volk herbei zuschreiben. / Aber wie die Revolution blieb auch das ‚Volk’ eine ‚Metapher’, eine literarische Fiktion. Und wie die Revolutionsdramen der sechziger Jahre von der unglücklichen Liebe der Intellektuellen zur Politik kündeten, sprach sich in Volksstücken ihr gebrochenes Verhältnis zum Volk aus, einer imaginären Größe, die bis heute niemand zu definieren vermag. Es sprach sich die Ent36 Elm, S. 146 f.
1. Materialien 5. Kazuo Ishiguro: Leben und Werk
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1.1Materialien 5. Biografie täuschung darüber aus, nirgendwo ein positives, handlungsfähiges ‚Volk’ entdecken zu können und der Zorn darüber, über ein nur auf ein angeblich depraviertes, ohnmächtiges und postfaschistisches Volk zu stoßen. / So seltsam es klingt: Die Volksstücke dieser Zeit setzten die alte deutsche Geschichte von der unglücklichen Liebe zwischen Intellektuellen und Volk fort, sie erzählten weitaus mehr von der Abneigung als von der Zuneigung ihrer Autoren zum Volk. Es waren auch fiktive Rachehandlungen an einem Wesen, das es so gar nicht gibt. Und die gehäuft auftretenden sympathischen Außenseiter, die in ihnen von bösartigen Dorf- und Kleinbürgergesellschaften zur Strecke gebracht werden, waren vor allem Stellvertreterfiguren ihrer Autoren. Sie inszenierten mehr ihr eigenes soziales und politisches Psychodrama als das Volk selbst.“37
37 Barner, S. 488.
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1. Kazuo Ishiguro: Leben 5. Materialien und Werk
1.1 Biografie Literatur
Literatur Primärliteratur Hebbel, Friedrich: Maria Magdalena: ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten. Stuttgart: Reclam, durchges. Ausg. 2004 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 3173). Kroetz, Franz Xaver: Heimarbeit. Hamburg: Rotbuch Verlag, 2006. (Enthält u. a. das Stück Stallerhof.) Kroetz, Franz Xaver: Maria Magdalena. Oberösterreich. Der Soldat. Wunschkonzert. Stücke 1. Hamburg: Rotbuch Verlag, 7. Aufl. 2007. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) Kroetz, Franz Xaver: Die Sprache meiner Figuren. In: Otto Riewoldt (Hrsg.): Franz Xaver Kroetz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 (suhrkamp taschenbuch materialien, 2034), S. 63– 65. Sekundärliteratur Arnold, Heinz Ludwig; Töteberg, Michael; Voskamp, Uli: Franz Xaver Kroetz. (Letzte Akt. 1. 10. 2007). In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). München: edition text+kritik, [Das KLG auf Cd-Rom], 2007. Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck, 2., akt. u. erw. Aufl. 2006. Betten, Anne: Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre. Heidelberg: Winter, 1985 (Monographien der Sprachwissenschaft, Bd. 14).
1. Kazuo Ishiguro: Leben und Werk Literatur
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1.1 Biografie Literatur (Besonders Kap. IV, 2. Fallstudie: Die Dramensprache von Franz Xaver Kroetz, S. 218–290.) Blevins, Richard W.: Franz Xaver Kroetz. The Emergence of a Political Playwright. New York: Peter Lang, 1983. Borchmeyer, Dieter; Žmegač, Viktor (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2., neu bearb. Aufl. 1994. Carl, Rolf-Peter: Franz Xaver Kroetz. München: C. H. Beck, 1978 (Autorenbücher, Bd. 10). Elm, Theo: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam, 2004 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 17645). Fleißer, Marieluise: Alle meine Söhne. Über Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz. In: Günther Rühle (Hrsg.): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Frankfurt: Suhrkamp, 1973, S. 405–410 (edition suhrkamp, 594). Hein, Jürgen: Franz Xaver Kroetz: Oberösterreich, Mensch Meier. Frankfurt am Main, Berlin u. a.: Diesterweg, 1986 (Grundlagen zum Verständnis des Dramas). Held, Heinz-Georg (Hrsg.): Maria Magdalena. Die heilige Sünderin. Ein Lesebuch. Frankfurt am Main, Ullstein, 1989. Ismayr, Wolfgang: Das politische Theater in Westdeutschland. Königstein i. Ts.: Hain, 2. Aufl. 1985. Liebenstein-Kurtz, Ruth von: Stundenblätter Hebbel, „Maria Magdalene“, Kroetz, „Maria Magdalena“. Stuttgart: Klett, 2. Aufl. 1991. Möckel, Magret: Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Hollfeld: Bange Verlag, 3. korr. Aufl. 2007 (Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 176). Panzner, Evalouise: Franz Xaver Kroetz und seine Rezeption. Die Intentionen eines Stückeschreibers und seine Aufnahme durch die Kritik. Stuttgart: Klett, 1976.
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1. Kazuo Ishiguro: Leben und Literatur Werk
1.1 Biografie Literatur Ralinowsky, Dagmar: Die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen im Drama der Moderne: Tradition und Mutation. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1976. Reinhold, Ursula: Franz Xaver Kroetz – Dramenaufbau und Wirkungsabsicht. In: Otto Riewoldt (Hrsg.): Franz Xaver Kroetz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985 (suhrkamp taschenbuch materialien, 2034). Riewoldt, Otto (Hrsg.): Franz Xaver Kroetz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 (suhrkamp taschenbuch materialien, 2034). Rühle, Günther (Hrsg.): Anarchie in der Regie? Theater in unserer Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976 (Suhrkamp Taschenbuch 325). Sudau, Ralf: Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Niemeyer, 1985 (Studien zur deutschen Literatur 82). Rezensionen zur Uraufführung Buselmeier, Michael: Vordergründig aktualisiert. ‚Maria Magdalena’, Komödie von Kroetz nach Hebbel, uraufgeführt. In: Deutsche Volkszeitung, 24. 5. 1973 Henrichs, Benjamin: Kroetz verliert die Sprache. In: Süddeutsche Zeitung, 8. 5. 1973. Hensel, Georg: Der unterwanderte Hebbel. In: Theater heute, Heft 6/1973, S. 34 f. Niehoff, Karena: Kleinbürger als Lemuren. In: Süddeutsche Zeitung, 12. 3. 1974. Schmidt, Dietmar N.: Wenn ein Mitleidsdramatiker eine Komödie schreibt. In: Frankfurter Rundschau, 10. 5. 1973. Schultz, Uwe: Selbstmord zum Skat. Kroetz’ „Maria Magdalena“ in Heidelberg. In: Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 18. 5. 1973. 1. Kazuo Ishiguro: Leben und Werk Literatur
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1.1 Biografie Literatur Links http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Xaver_Kroetz [Stand: Mai 2008] (Artikel über Kroetz in der Online-Enzyklopädie Wikipedia.) www.kroetz-dramatik.de/ [Stand: Mai 2008] (Autorenhomepage.)
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1. Kazuo Ishiguro: Leben und Literatur Werk