Von John Farris sind als Heyne-Taschenbücher erschienen: Bruder des Satans • Band 01/6977 Blutsteine- Band 01/7728
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Von John Farris sind als Heyne-Taschenbücher erschienen: Bruder des Satans • Band 01/6977 Blutsteine- Band 01/7728
JOHN FARRIS
ENGEL DES GRAUENS
Roman
Deutsche Erstausgabe
Scanned by Doc Gonzo
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8152
Für Peter John, den Drachentöter und guten Menschen schlechthin
Titel der Originalausgabe NIGHTFALL Aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ahlers
Wir danken für die Abdruckgenehmigung der Gedichte aus »Wreck on the Highway«, Text und Musik von Dor sey Dixon. Copyright 1946, renewed 1973 by Acuff-Rose/ Opryland Music, Inc. International Copyright Secured. Made in U.S.A. All rights reserved. Copyright © 1987 by John Farris Copyright © der deutschen Ausgabe 1990 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, MUnchen Printed in Germany 1990 Umschlagfoto: Bildagentur Mauritius / H. Schwarz, Mittenwald Urnschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-453-04554-8
Keine Nacht ist so tief wie dieser Unentrinnbare Schlund der Seele, in dem ich nur noch unter Feinden bin. Aus einem unbetitelten Gedicht von Olive Fräser
1. Kapitel In der Nacht zum 22. Oktober erwachte Angel im Wach turm zurück zum Leben. Es war zufällig auch sein Ge burtstag. Vierunddreißig Jahre alt war er geworden. Es gab vielleicht noch eine Handvoll Leute, denen sein Ge burtstag wichtig genug schien, um sich daran zu erinnern, aber niemand rief an oder kam gar zu Besuch. Angel be fand sich in der dritten Woche eines Zustands der katato nischen Starre. Das war selbst für ihn eine lange Zeit. Das letzte Versuchsmedikament, das ihm vom Chef der Neu rologischen Klinik Silver Birches verabreicht worden war, hatte es nicht vermocht, ihn von jenseits der hermeti schen Grenze seiner Isolation zurückzuholen. Bevor überhaupt jemand so richtig Notiz von seiner Rückkehr nehmen konnte, hatte Angel wieder getötet. Sein Opfer war LaDonna Morales, eine New Yorkerin aus Long Island City, die in ihrer ersten Woche in Silver Birches war und deren Abschluß auf der Sch western schule noch nicht einmal ein ganzes Jahr zurücklag. Der Mangel an Erfahrung mit psychiatrischer Betreuungsar beit muß ohne Zweifel zu den Faktoren hinzugerechnet werden, die zu ihrem Tode führten. Weder war sie jemals zuvor wie Angel (oder auch Anchel, wie sie seinen Namen beharrlich auszusprechen pflegte) begegnet, noch hatte man ihr Einblick in seine Krankengeschichte im Instituts computer gewährt. Alles, was sie über ihn wußte, hatte ihr die scheidende Schwester der >Friedhofsschicht< im Wachturm erzählt, eine Frau namens Alma. Und Almas Geschichte war wahrlich zum Gruseln ge wesen. Sie war eine Veteranin auf dem Gebiet der psych iatrischen Krankenpflege, über dreißig Jahre lang hatte 7
sie diesen Beruf ausgeübt. Verglichen mit anderen staatli chen Institutionen, in denen Alma gearbeitet hatte, war Silver Birches so eine Art Garten Allahs. Sie war sechzig Jahre alt und immer noch rüstig mit ihrem drahtigen, trok kenen, künstlich blondierten Haar, aber ihr Lächeln wirkte so, als hätte sie ständig Ärger mit den Beinen, was auch stimmte. Das war der Hauptgrund für ihren Rück zug und die Entscheidung, in Zukunft als Aushilfs -Mis sionarin bei den Indianerstämmen im Südwesten tätig zu sein. Alma trug Narben von Zähnen und Fingernägeln auf beiden Händen und Unterarmen und an einer Seite ihres mit Sommersprossen übersäten Halses. Sie gehörte zu den Menschen, von denen man schon nach ein paar Mi nuten weiß, daß sie nicht zu Übertreibungen neigen. »Verscheißer mich nicht, Kleine«, pflegte sie zu sagen. »Ich verscheißere niemanden, und niemand verscheißert mich.« Sie hatte LaDonna ein wenig ins Herz gschlossen, deshalb tat das Mädchen ihr leid. Der Dienst im Wach turm konnte ganz schön ruppig werden, selbst während der Stunden von Mitternacht bis acht Uhr, wenn die vier bis sieben Insassen (die Belegung fluktuierte innerhalb dieser Grenzen) eigentlich schlafen sollten. Aber einige von ihnen hatten natürlich komplizierte Schlaf - und Wachzyklen. (Mr. Tashian, der ein kleines Baby in einem Supermarkt getötet hatte, indem er ihm einfach so den zerbrechlichen Schädel eingedrückt hatte, als prüfe er eine Honigmelone auf ihren Reifegrad, hatte aus thera peutischen Gründen einen Tag, der siebenundzwanzig Stunden dauerte.) Zumindest einer von ihnen, Angel, schien während der Episoden seiner Katatonie niemals die Augen zu schließen. Und so begegnete LaDonna ihm an ihrem ersten Ar beitstag: Er saß auf einer gepolsterten Bank in dem kah len, keilförmigen Raum, der seit achtzehn Monaten sein 8
Domizil war. Mit dem Rücken lehnte er gegen eine gepol sterte Wand. Er war völlig verkabelt mit Katheterschläu chen und EKG-Drähten, die mit einem Oszilloskopen au ßerhalb seines Zimmers verbunden waren. Das erste, was ihr auffiel und was sie einigermaßen verstörte, ware n seine großen, bernsteinfarbenen, leuchtenden Augen. Sie schienen Licht abzugeben und nicht welches in sich aufzu nehmen. Sie erinnerten LaDonna an die Augen eines Pi ranha, den sie einmal in einem Aquarium gesehen hatte. Das zweite, was sie wie ein Bli tzschlag traf, war Angels beinahe vollständige Nacktheit. Er trug lediglich eines die ser kurzen Krankenhausmäntelchen, das ihn ungefähr so ausreichend bedeckte, wie eine Babywindel es vermocht hätte. Man konnte gut erkennen, daß er, obwohl er seit einer ganzen Weile nur durch den Tropf ernährt worden war, einen festen, gutgebauten Körper besaß, der nicht durch Bodybuilding narzistisch zurechtgetrimmt, son dern natürlich gewachsen war. Seine Haut war olivfarben, seine sauber rasierten Wangen und das Kinn glänzten. Das dritte, was sie an ihm bemerkte, war sein Ständer. Sein Penis stand beinahe lotrecht aus seinem Schoß hervor und stemmte den Saum des kurzen Mäntelchens nach oben. LaDonna seufzte leise. Wie konnte das Ding so groß sein, wo doch ein Röhrchen mitten hindurch führte. Spürte er denn gar keinen Schmerz? Sie fragte sich, woran er wohl denken mochte, oder ob er überhaupt an etwas dachte, so weit hinten im Bewußtsein, wo Leben und Tod ganz zart miteinander verwoben sind. »Kümmere dich bloß nicht darum«, sagte Alma ganz bei läufig, nachdem sie bemerkt hatte, auf was LaDonna ihren Blick gerichtet hatte. »Das ist nur ein Nebeneffekt des Me dikaments, das ihm zugeführt wird.« »Priapismus«, sagte LaDonna. Ihre Zunge fühlte sich ganz trocken im Mund an. Sie wollte Alma nur demon 9
strieren, daß sie in letzter Zeit auch das eine oder andere dazugelernt hatte. Mit einer Hand massierte sie sich den schlanken Hals, eine unbewußte Handlung, deren Ur sprung weit zurück in ihrer Kindheit lag. Angel schien den Blick etwas gewandt zu haben. Er schaute jetzt auf das kleine Beobachtungsfenster neben der Tür, vor der die Krankenschwestern standen. Er blinzelte ein paarmal mit den Augen, schaute her - aber sah er LaDonna tatsächlich an? Hatte er ihre Gegenwart wirklich bemerkt? In diesem kalten Verwahrungsraum mit seinem ewigen Dämmer licht schien kein Platz für eine lebendige Seele zu sein. Furchen waren in Angels Stirn eingegraben. Wie die meisten Menschen, die in katatonischer Starre verharren, sabberte er. Der Speichel lief ihm aus dem linken Mund winkel und hatte auf dem Baumwollkissen unter seiner linken Schulter schon einen großen, runden Fleck ge macht. Sein schwarzes Haar, das von einigen silbrigen Strähnen durchzogen wurde, war kurz geschnitten, der Haaransatz hatte sich schon ein gutes Stückchen von den Schläfen zurückgezogen. Er hatte eine hohe, rechteckige Stirn und ein energisches Kinn. Ganz sicher konnte man diesen Mann nicht als schön bezeichnen, dachte La Donna, aber wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte sie sich nach ihm umgesehen, vielleicht hätte sie ihn sogar anstarren müssen. »Sie sagten, er sei bipolar«, bemerkte LaDonna in dem Bemühen, möglichst professionell zu klingen. Alma nickte und regulierte Angels Beleuchtung mit einem Regelwiderstand, der außerhalb des Zimmers an gebracht war. LaDonna fühlte einen Schauer der Erleich terung, daß sie nicht länger auf diese hellen, stechenden Augen, die qualvolle Erektion und die Versorgungs schläuche schauen mußte, welche seinen steifen Kör per tröpfchenweise mit Energie auffüllten. Irgendwie unter 10
schied er sich von zwei anderen Katatonikern, die sie zu sammen mit ihrer Klasse auf der Schwesternschule beob achtet hatte. Seine Starre schien ihr eher willentlich zu sein. Aber traf das nicht in einem gewissen Sinn auf alle Katatoniker zu? Genau konnte das niemand beantworten, und diejenigen, die unter dieser seltenen Anomalie litten, waren nun mal nicht in der Lage, Erklärungen abzugeben. Faszinierend. LaDonna spürte beinahe etwas Unbehagen, aber ihr ganzes Leben lang war von ihr verlangt worden, jegliche Art von Furcht abzuschütteln. Sie wußte, daß ihr die Arbeit hier gefallen würde, auch wenn Silver Birches eine Tagesreise von ihrem Wohnviertel, von Familie und Freunden entfernt lag. »Wie ist es, wenn er aufwacht?« fragte LaDonna mit einem Blick auf die dunkelblaue Tür, hinter der Angel lag. Alma seufzte. »Weiß man nie so genau. Vielleicht bleibt er diesmal für immer weg. Dr. Bushmill ist ziemlich frustriert, da gibt es keinen Zweifel.« LaDonna folgte ihr die wenigen Schritte bis in die Mitte des runden Wachturms, zur Schwesternstation, wo Alma sich ohne Probleme über den Tresen lehnte und den Schalter für die Doppelverriegelung von Angels spartani schem Zimmer umlegte, etwas, das die schmächtiger ge baute LaDonna nicht so ohne weiteres gekonnt hätte. »Es gibt eine Kardinalsregel: Du darfst niemals ohne Begleitung in das Zimmer eines Patienten gehen. Es muß immer ein männlicher Wärter dabeisein, selbst wenn du erst ein paar Minuten warten müßtest, bis einer aus dem Hauptgebäude herübergekommen ist. Und wenn Angel aufwachen sollte, dann darf er dieses Stockwerk auf kei nen Fall ohne Zwangsjacke verlassen.« »Ist Anchel ein Latino? Er könnte dem Aussehen nach einer sein.« Alma seufzte wieder, diesmal allerdings etwas unge 11
duldiger. »Kleines, er heißt >AngelSome Enchanted Evening< aus dem Musical South Pacific zu singen. LaDonna öffnete die Tür eines Wandschranks und riß den Kasten mit den medizinischen Geräten heraus. »Was gibt's?« fragte McSwain und sah sie von der Tür zum Aufenthaltsraum her an. »Es ist Angel. Er hat einen Anfall.« Der TV-Monitor war dunkel, das Oszilloskop hatte seinen Geist aufgegeben. »Kommen Sie mit.« »Hey, Mädchen, vorsichtig . . .« Sie stand schon vor Angels Tür. Den passenden Schlüs sel hielt sie in der Hand. Sie steckte ihn in das zweite Schloß und drehte ihn herum. Die Tür sprang auf. Etwas Licht von den blendenden Scheinwerfern am anderen Ende des Turms verbreitete sich im Zimmer. Seine Fuß sohlen sahen sehr weiß aus. Blut floß in den Versor gungsschlauch, der immer noch an seinem Handrücken befestigt war. Alle Drähte des EKG waren losgerissen. Sie hörte das Knirschen seiner Zähne und sah sich nach McSwain um. »Er braucht Hilfe! Wahrscheinlich steckt ihm die Zunge im Hals. Ich weiß nicht, ob ich genug Kraft habe. Kommen Sie, McSwain!« McSwain rührte sich nicht von de r Stelle. »Sie sollten besser auf das Team warten, LaDonna. Der Kerl. . . Scheiße . . . er . . .« »Bichote«, sagte LaDonna voller Verachtung und betrat Angels gepolstertes Zimmer. Sie sah die leuchtenden Schlitze seiner Augen. Er zit terte heftig. Sie hatte keine Angst. Sie kniete neben ihm nieder und öffnete den Kasten mit den Geräten. Wenn sie doch mehr Licht hätte. Draußen begann es wieder zu reg nen. Sintflutartig. In Zimmer drei sang der alte Schauspieler begeistert 2l
von feuchtfröhlichen Nächten, gefüllten Sälen und inter essanten Fremdlingen. Draußen setzte sich McSwain in Bewegung. Er schlurfte zur Tür von Angels Zimmer, schaute herein und sah, wie LaDonna ein verchromtes Spreizgerät aus dem Kasten mit den medizinischen Geräten nahm. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zur Schwesternsta tion. Er mußte mehrere Wandschränke durchwühlen. Er wußte nicht genau, wo es war, aber er hatte so eine Ah nung, daß er es würde gebrauchen können. Angels Mund war voller Blut und Speichel, aber trotz dem glaubte LaDonna nicht, daß er seine Zunge ver schluckt hatte. Sie dachte nicht mehr an McSwain und konzentrierte sich darauf, Angels Kiefer auseinanderzu bekommen. Sie führte das Spreizgerät ein, um ihn daran zu hindern, auf seiner Zunge herumzukauen. Plötzlich hörte Angel auf zu zittern. Sein Mund ließ sich ganz leicht öffnen. Blut und Erbrochenes spritzte auf ihr schweißnasses Gesicht. Mit einem Schrei des Entset zens sprang sie zurück auf die Füße. McSwain, der gerade in aller Eile das CCh-Gewehr lud, hörte den Schrei und dachte nur: O mein Gott. Während sie versuchte, sich den Dreck aus dem Ge sicht zu wischen, packte eine kräftige, überhaupt nicht mehr zittrige Hand ihren Hals. Bewegungsunfähig vor Entsetzen, sah sie in seine Augen, die jetzt weit geöffnet waren. Sie begriff, daß sie hereingelegt worden war. Mrs. Tashians Lieblingswort fiel ihr ein, bevor die große Finsternis über sie kam: Gim pel. Draußen ließ McSwain die Patrone fallen, die er gerade in die Betäubungspistole stecken wollte. Sie traf die Spitze seines weißen Reebok-Schuhs und blieb heil. »Hast du mich lieb?« 22
LaDonna konnte nirgendwo anders hinschauen als in seine Augen. Sein Blut und das Erbrochene klebten auf ihren Lippen. Seine kräftigen, großen Finger übten Druck auf ihr Zungenbein aus. Ihre Fingernägel hatte sie tief in das Fleisch seiner einen Schulter gegraben, aber langsam lockerte sich ihr Zugriff. Ihre linke Hand fiel, ins Leere greifend, langsam herunter und streifte leicht an seinem harten Penis entlang, während er ihren Kopf weit auf die eine Seite drückte. »Hast du mich lieb?« fragte er sie. Noch nie war sie solcher Kraft begegnet. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Der U-förmige Knochen an der Wurzel ihrer Zunge knackte. Angel stand auf, und LaDonna erh ob sich mit ihm, mit glasigen Augen baumelte sie in seinem festen Zugriff, als sie starb. Angel warf ihren toten Körper durch seine Zimmertür. Während McSwain daraufstarrte, auf das weiße Kleid, dessen Saum sich bis über ihre Hüften geschoben hatte, auf das erstarrte Gesicht, das in einem gräßlichen Winkel über die eine Schulter zurückschaute, schwang Angel sich über den Tresen der Schwesternstation und schickte McSwain mit einem Schlag zu Boden. Die CCh-Pistole fiel ihm aus der Hand, sein Kopf schlug hart auf dem Fußbo den auf. Er sah das Leuchten der Blitze am Himmel durch die Kuppel direkt über seinem Kopf, und er sah sprü hende Funken. Die Verletzung ließ seine entsetzliche Angst nur noch anwachsen. McSwain rappelte sich hoch. Er war benommen, konnte n icht frei stehen, ohne ir gendwo Halt zu suchen. Als er versucht', einen Schritt vorwärts zu machen, verhedderten sich yeine Füße. Der freie Fall der sprühenden Funken vor seinen Augen setzte sich fort, der hart beleuchtete Fußboden begann zu kip pen und sich zu drehen. Zwischen sich und den Not 23
Scheinwerfern erkannte er etwas, das hochfuhr und die Lichter löschte. Er wollte schreien, aber er brachte nicht mehr als ein ersticktes Röcheln zustande. Die COz-Pistole, die Angel sich inzwischen geschnappt hatte, knallte, aber McSwain hörte sie nicht durch das oh renbetäubende Klingeln in seinem Kopf hindurch. Der stummelige, eisig kalte Betäubungspfeil traf ihn mitten in den rechten Augapfel. Die Hälfte aller Lichter in seinem Gehirn gingen aus, ließen ein tiefes Dunkel zurück, aber er fühlte keinen Schmerz, sondern nur den betäubenden Stoß. Er ließ den Tresen los, sackte auf die Knie, verharrte ein paar Sekunden in dieser Stellung, um schließlich mit einem klagenden Seufzer vornüber zu kippen. Angel stieg über ihn hinweg und stand vor den unzähli gen Schaltern, von denen einer ihm Zutritt zum Treppen haus verschaffen konnte. Er drückte einige von ihnen, ha stig, bis er das Summen der Eingangstür hörte. Er zog McSwain in eine aufrechte Position, setzte ihn auf einen Stuhl und bog ihn so zurecht, daß sein Kopf den Knopf für die Tür zum Treppenhaus runterdrückte. Es summte unaufhörlich, als Angel die Station verließ, und es würde noch eine weitere halbe Stunde summen, in Gang gehal ten von einem unabhängigen Stromkreis, der durch eine 9-Volt-Batterie gespeist wurde. Angel hörte, wie die Mitglieder des medizinischen Ret tungstearns die Treppen zum Patientenstockwerk hoch hasteten, laut fluchend, weil der Fahrstuhl nicht funktio nierte. Direkt über Angels Kopf brannte ein Notlicht. Er entdeckte einen Feuerlöscher an der Wand, riß ihn aus seiner Halterung und stieg eilig die Treppe hinunter, den beiden Männern entgegen. Die beiden sahen einen nack ten, muskulösen Mann mit erigiertem Penis plötzlich auf sich zukommen, und ihnen blieb kein Ausweg. Angel zer trümmerte beiden mit dem schweren Feuerlöscher den 24
Schädel und ließ sie liegen. Er humpelte die verbleiben den Stufen hinunter. In beiden Oberschenkeln hatte er Krämpfe und ein Stechen in der Seite. D ie Überreste des Mäntelchens flatterten ihm um die Schultern. Immer noch trug er seinen harten Penis wie eine Fahnenstange vor sich her. Er öffnete die untere Eingangstür. Eine Dusche kalten Regens empfing sein Gesicht. Im Haupthaus sah er Licht, aber auf der in Nebel eingehüllten Rasenfläche schien sich niemand zu nähern. Er brauchte nur ein paar Sekun den, um sich zu orientieren. Sein Körper, der keine An strengungen mehr gewöhnt war, quälte ihn. Aber er konnte Qualen ertragen, er glaubte sogar daran. E r zwang sich, loszurennen. Er war der Engel des Todes, und er war wieder auf freiem Fuß.
2. Kapitel Nach seiner achthundertneunundneunzigsten - und schlechtesten - Landung auf dem Deck eines Flugzeug trägers blieb Captain Clay Tomlin noch für ein paar Mo nate bei der Navy, aber nachdem immer offensichtlicher wurde, daß er seinem Land keinen guten Dienst mehr lei sten konnte, quittierte er denselben. Er war vierunddrei ßig Jahre alt, ledig und hatte keine Ahnung, was er jetzt mit sich anfangen sollte. An Land tat er die üblichen Dinge: Er traf alte Freunde, hatte Affären mit einer ganzen Reihe Frauen und trank zuviel. Wenn er betrunken war, verfiel er in dumpfes Brü ten und hatte nicht besonders viel Spaß. Er versuchte, ein sinnvolles Bild seiner Zukunft zusammenzusetzen, und er scheiterte immer wieder. Finanziell war er unabhängig. 25
Während der fünfziger Jahre hatte er Geld verdient, ohne nennenswerte Ausgaben zu haben. Ein ehemaliger Maat aus Annapolis, der heute Inhaber eines soliden Unterneh mens in der Wallstreet war, hatte ihm Pfandbriefe ange dreht, als niemand sie loswurde. Später hatten die Pfand briefe sich nach und nach prächtig entwickelt. Einen Teil seines Geldes hatte er an zivile Spezialisten verschwen det, die ihm aber auch nicht mehr sagen konnten, als die Ärzte der Navy in Bethesda ihm ohnehin schon klarge macht hatten. Er würde nie wieder fliegen können. Aber das Fliegen war das einzige, was wirklich Bedeutung für ihn hatte. Schließlich hatte er von seinem Katzenjammer die Nase voll und beschloß, da es sonst auf dieser Erde keinen Platz für ihn zu geben schien, nach Hause zu fahren. Außerdem würde es bald Winter werden, und der Winter behagte seinen Südstaatlerknochen überhaupt nicht. Gegen Mittag des 24. Oktober, einem kühlen und kla ren Tag, fuhr Tomlin nach Port Bayonne, Mississippi, hinein, einem Hafenstädtchen, das östlich von Biloxi an der Golfküste liegt. Er parkte seinen schneeweißen Cor vette vor dem Büro von Rechtsanwalt Mace Lefevre, das sich in einem kleinen, renovierten einstöckigen Gebäude an der Hauptstraße befand. In den Fensterkästen standen Orangenbäumchen. Er schlenderte durch die geöffnete Tür. Es tat sich nicht viel. Das Fräulein am Empfang tele fonierte gerade mit einer Freundin. Sie war ein vorlautes, kleines Kraftpaket, vielleicht eins fünfzig groß und etwa achtzehn Jahre alt, aber am entsprechenden Finger trug sie bereits den Verlobungsring mit einem stecknadel kopfgroßen Diamanten. In diesem Land reiften sie immer noch schneller und heirateten früher als anderswo. Ihre Ehemänner waren vielleicht ein, zwei Jahre älter und ar beiteten auf den Krabben- und Austernkuttern des nahe 26
gelegenen Fischereihafens von Pascagoula. Er fühlte eine leichte Sehnsucht, als sei ihm bei seinem Eintritt so etwas wie ein Schatten aus seiner eigenen Jugendzeit begegnet. Das Empfangsfräulein legte ihre Hand über das Mikro fon des Telefonhörers. »Bitte, Sir?« »Lungern hier bei Ihnen vielleicht ein paar heimweh kranke Waschbären herum?« »Clay Tomlin! Bist du das etwa?« »Komm nur raus, Mace.« Mace Lefevre füllte den gesamten Rahmen seiner Bü rotür aus. Er hatte Tomlins Alter und war etwa genauso groß, aber er befand sich in wesentlich schlechterem Zu stand. Mindestens 150 Pfund Übergewicht trug er mit sich herum. Tomlin hörte ein leichtes Pfeifen, wenn er at mete. Mace trug einen pulverblauen Leinenanzug und einen marineblauen Häkelschlips. Und Diamanten. Auch wenn er einen Juristenanwärter beschäftigte und ein Mädchen, das die Telefongespräche führte, stand er mehr oder weniger einem Ein-Mann-Betrieb vor. Aber es war Mace gelungen, entlang der Küste den einen oder ande ren sehr lukrativen Deal zu tätigen. »Also zum Teufel, da bist du! Was hast du vor, du ver rückter Kerl?« Tomlin antwortete mit dem Anflug von Grinsen, den er aufzubringen imstande war: »Hab' ein bißchen Freizeit. Da dachte ich, kommste halt nach Hause und gehst ein bißchen angeln.« »Also, komm rein. Mein lieber Mann, wir haben eini ges nachzuholen.« »Bist du sicher, daß du nicht zuviel zu tun hast?« »Ach, Quatsch! Wann hatte ich schon mal zuviel zu tun? Elizabeth, wenn Perrine das nächste Mal anruft, dann sagen Sie ihm, wir seien ins Gericht gefahren, um 27
die nötigen Dokumente zu beschaffen. Um vier heute nachmittag wird er das Nutzungsrecht haben.« Elizabeth nickte, steckte sich den Kaugummi zurück in den Mund und nahm den unterbrochenen Telefonklatsch mit ihrer Freundin wieder auf. Mace Lefevre folgte Tom lin in das geräumige hintere Büro, das immer noch so aus sah, wie Tomlin es in Erinnerung gehabt ha tte, mit den robusten, alten Eichenmöbeln, die Maces Vater seinem Sohn zusammen mit dem Geschäft hinterlassen hatte. Ein Paar tiefer Ledersessel, ein Schreibtisch mit eingelassener Schreibfläche aus Leder. Als Trophäen an den Wänden blaue, martialisch aussehende Schwertfische. Übersichts karten des gesamten County. Der gerahmte Entwurf eines Architekten für eine Feriensiedlung, die auf einem Stück chen Land erbaut worden war, das Mace gehörte und die er an einen Hotelkonzern verpachtet hatte. »Hübsches Mädchen da draußen«, meinte Tomlin. »O ja zum Teufel, ich hatte bestimmt schon ein Dut zend von der Art. Sie bleiben acht Monate, vielleicht ein Jahr, und dann gehen sie dahin und kriegen Kinder. Manchmal kriege ich schon ihre Namen durcheinander. Wenn man erst einmal unser fortgeschrittenes Alter er reicht hat, sehen sie alle gleich aus. Falls Elizabeth dir ge fällt, sie hat eine kleine Schwester, der könnte ich dich mal vorstellen. Sie hat zwar schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel, aber das sieht man ihr nicht an. Sieht wirklich Spitze aus. Letztes Jahr geschieden. Sie arbeitet im Sea Sprite als Hosteß. Ich nehme an, du hast nicht inzwischen geheiratet, ohne uns Daheimgebliebenen etwas davon mitzuteilen.« »Immer noch überzeugter Junggeselle, Mace.« »Ich weiß, wie das ist. Immer der Dienst auf See. Aber da gab es doch ein Mädchen, oder? Bob hat sie einmal er wähnt. Arbeitete in einem Lazarett in Vietnam. Ist ihr 28
nicht etwas zugestoßen?« Mace setzte sich an seinen Schreibtisch, die Finger verschränkte er vor seinem er normen Bauch, die Augen blickten jetzt ernst aus seinem sonnengebräunten Gesicht. »Eine Bombe in Cam Ranh Bay. Sie hat den größten Teil des Hecks einer 707 weggerissen, die Verwundete zurück in die Staaten bringen sollte. Sie hat nach der Ex plosion noch zwei Monate gelebt, aber frag mich nicht, wie.« »Tut mir wirklich leid, so etwas zu hören«, sagte Mace und hielt es nach einer kurzen Einschätzung von Tom lins ausdruckslosem Gesicht für angebracht, das Thema zu wechseln. »Also hast du dir etwas Zeit mitgebracht? Was bist du noch gleich? Geschwaderkommandeur auf der Saragotal« »War ich. Nachdem sie außer Dienst gestellt wurde, hat man mich auf die Vinsion versetzt. Aber seit einem Jahr bin ich nicht mehr bei der Navy.« »Großer Gott! Und wo haben Sie sich seitdem rumge trieben, Mr. Tomlin?« »Hier und dort.« »Hast dir Zeit genommen mit dem Nachhausekom men, was? Das letzte Mal haben wir uns gesehen, als wir den alten Bob zur letzten Ruhe betteten. Wie lange ist das jetzt her? Drei Jahre?« »So ungefähr.« Tomlin fühlte, daß er keine Lust hatte, darüber zu reden, keine Lust auf Erinnerungen dieser Art. Er trauerte seinem toten Bruder nicht nach, der älter gewesen war als er, alt genug, um während seines gan zen Lebens ein Fremder für Clay zu bleiben. Bob, der Marinehistoriker. Seine Frau war kinderlos gestorben, nach sechs Jahren Ehe. Die Familie hatte sich drastisch vermindert. Hier und da gab es noch ein paar Oldtimer Großonkel und Tanten -, aber in seiner Umgebung 29
hatte er zu niemandem mehr enge Beziehungen. Er be gann sich schon zu fragen, warum er eigentlich nach Port Bayonne gekommen war. Aber solange er . . . »Wer lebt in dem großen Haus, Mace?« »Ein Ehepaar aus der Gegend von New York. Sie leben jetzt seit beinahe elf Monaten hier unten. Zum Teufel, ich habe ihren Mietvertrag gerade erst für ein weiteres Jahr verlängert. Ich hatte ja keine Ahnung, daß du kommen würdest. Clay, du weißt, daß du Lorraine und mir immer willkommen bist. Solange du willst.« »Ist schon in Ordnung, Mace. Ich glaube, ich möchte für eine Weile mit mir allein bleiben. Werde schon was finden.« »Komm, machen wir eine kleine Ausfahrt zusammen. Seit deinem letzten Besuch hat sich einiges geändert. Wir werden irgendwo zu Mittag essen. Unten am Bluebell Jachthafen gibt es einen neuen Laden, die machen den be sten gegrillten Rotfisch, den ich je gegessen habe.« Sie fuhren in Maces Cadillac, der noch zwei Wochen zuvor im Schaufenster des Händlers gestanden hatte, zum Jachthafen hinunter und parkten auf dem geräu migen Parkplatz. Dann gingen sie im rechten Winkel an einer langen Reihe von Sportanglerbooten und Küsten seglern vorbei. Die meisten von ihnen gehörten Einhei mischen. Zu dieser Jahreszeit waren bis auf ein paar un entwegte fast alle Touristen verschwun den. Schließlich standen die ersten Herbststürme ins Haus. Viele der An legeplätze waren frei. Sie kamen zu einem Zweikabinen boot mit Dieselmotor, das beeindruckende vierzig Fuß lang war. Mace verlangsamte seinen Schritt, sein Gesicht verzog sich zu einem verzückten Lächeln. Die Shady Lady IV. Tomlin erinnerte sich an eine Reihe anderer Shady La dys, begonnen hatte sie mit einer gebrauchten, dreiund zwanzig Fuß langen O'Day, die Mace schweren Herzens 3°
zu einer Zeit erworben hatte, als sein knickerig er Vater ihn noch als Angestellten hielt. »Geschäfte scheinen gut zu gehen, Mace«, bemerkte Tomlin ganz beiläufig. »Zum Teufel, du kennst mich doch. Ich laufe lieber mit schiefen Absätzen herum und lasse meine Kinder hun gern, als daß ich auf meine Spielz euge verzichte. Komm, laß uns an Bord gehen. Ich organisier uns 'n paar Dosen Bier, bevor wir zum Landlubber rüberlatschen. Ach ja, und natürlich 'n Satz Zweitschlüssel.« Tomlin sah ihn fragend an. »Sie steht dir natürlich zur Verfügung. Wann immer du mit ihr rausfahren magst, Clay.« »Hört sich wie das große Los an«, meinte Tomlin. Irgend jemand spielte drei Anlegeplätze weiter auf einem der schnellen Flitzer Bob Seegers >Nine Tonighh. Tomlin sah einen stämmigen Mann mit dunkelroter Haut, der auf den Schult ern mehr Haare zu haben schien als auf dem Kopf. Er hatte sich auf ein Knie niedergebeugt, um sich an der Maschinenklappe eines achteinhalb Meter langen Fountain-Motorflitzers zu schaffen zu machen, der fest vertäut dalag. Jede Menge Pferdestärken aus zwei Innenbord-Mercurys hinter einer Hülle aus Kevlar und Fiberglas. Er wechselte offensichtlich die Zündkerzen aus, wobei er in der milden Oktobersonne leicht ins Schwitzen gekommen war. Gerade machte er eine Pause. Mit der rechten Hand schlug er sich im Rhyt hmus der Rockmusik mit der flachen Hand auf einen Oberschen kel. »Wo wir gerade von Spielzeugen reden«, meinte Tom lin. Mace zuckte mit den Achseln. »Von den Dingern sieht man inzwischen jede Menge an dieser Küste. Wirklich, Typen, von denen man nicht glauben sollte, daß sie sich 3i
auch nur zwei Zehncentstücke fürs Mittagessen zusam menkratzen können, kreuzen plötzlich mit so 'nem Fünfundsiebzigtausend-Dollar-Geschwindigkeitsungeheuer auf.« Der stämmige Mann veränderte seine Stellung auf der Bank im Cockpit nur ganz leicht, so daß er, immer noch kniend, wobei die karierten Bermudashorts sich über sei nen muskulösen Schenkeln spannten, zu ihnen herüber schauen konnte. Die Lautsprecher auf seinem silber grauen Flitzer dröhnten so laut, daß er ihre Un terhaltung auf keinen Fall mit angehört haben konnte. Er trug eine Sonnenbrille, deren Gläser so tiefschwarz waren wie po lierte Eierkohlen. Er grinste, als er seinen Jachtkameraden Mace Lefevre erkannte, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Tomlin sagte: »Tanks voll, Arsch auf den Fahrersitz ge klemmt und dann ab, ohne Streß rüber nach Isla Mujeres oder Campeche.« »Nun, es wird inzwischen so einiges geredet«, sagte Mace. Er sah ein bißchen beunruhigt aus und hatte es auf einmal eilig, an Bord seiner Jacht zu kommen. »Krabben fischen ist ein harter Job, und außerdem ist er unsicher. Mit Stoff scheint das einfacher zu laufen, obwohl man hört, daß die Küstenwache inzwischen eins von drei Boo ten aufbringt, die durch den Kanal von Yucatän zu den Barrier-Inseln fahren.« Tomlin fügte hinzu: »Es gibt eine Aufklärungsstaffel der Navy, die mit Jägern außerhalb der Dreimeilenzone operiert. Ich glaube, sie haben sogar P-3-Jäger. Die kön nen sechzehn Stunden in der Luft bleiben und dabei pro Stunde 95000 Quadratmeilen absuchen.« Er sah immer noch zu dem stämmigen Mann hinüber, »Den kenne ich doch, oder? Entschuldige, Mace, bin gleich wieder da.« Er ging das Stückchen Kai entlang zu dem Motorboot. 32
Der Mann im Cockpit mußte jetzt beide Hände gebrau chen, um eine hartnäckige Kerze mit Hilfe seines Ker zenschlüssels loszubekommen. Es gelang ihm. Tomlin nahm seine Revo-Sonnenbrille ab. In der hellen Mittags sonne blinzelte er ein wenig mit den Augen. »Bist du nicht Wink Evergood?« Der stämmige Mann sah auf. Er schien überrascht zu sein. Er starrte Tomlin an, dann streckte er ihm eine Hand entgegen, an der ein Knöchel blutig abgeschürft war, und drehte die Lautstärke seines tragbaren Stereo gerätes leiser. Er sagte kein Wort. Tomlin stellte sich vor. Wink Evergood nickte langsam und erhob sich, dabei stieß er die Sonnenbrille bis hinter seinen zurückwei chenden Haaransatz die hohe Stirn hinauf. »Ja, gibt's denn das, Mann? Ist 'ne ganze Weile her.«
Tomlin nickte. »Das Meisterschaftsspiel während der Küstenkonferenz.« »Ja, ich erinnere mich. Wir beide und Farragut. Was für ein Spiel. Weißt du, daß du mir den Kiefer an drei Stellen gebrochen hast?« Jetzt grinste er. Er hätte einen Zahnarzt gebrauchen können. Seine Zähne waren zwar noch einigermaßen weiß, besonders im Kontrast zu dem schmutzigen Rotschimmer seiner Haut, aber sie hatten Risse und bröckelten. Und er hatte Narben um den Mund herum. Ein Raufbold, der einiges einstecken konnte, erinnerte Tomlin sich. Aber jetzt sanfter gewor den, beinahe liebenswürdig, wi e er dastand und Tomlin musterte. »Ging manchmal ganz schön rauh zu unter den Kör ben«, sagte Tomlin. »Der Teufel soll mich holen, wenn's nicht so war. Hast du deinen Weg auf der Militärakademie gemacht?« Tom lin nickte wieder. »Ich glaube, ich habe mal was über dich 33
in einer von diesen Zeitungen gelesen. Bist 'n paarmal in Vietnam gewesen. Flieger, stimmt's?« »Stimmt.« »Gut, dich wieder mal zu sehn, Kumpel. Bist du 'ne Weile in der Stadt?« Wink Evergood rieb sich das Kinn samt den blonden Bartstoppeln und sah an Tomlin vorbei zu Mace hinüber, der unter dem Bug seiner Jacht wartete. »Schon 'ne Weile«, antwortete Tomlin. Wink wandte Tomlin wieder seinen Blick zu. »Komm mal wieder vorbei, wenn ich mehr Zeit habe.« Er rieb sich jetzt den Kiefer und grinste dabei. »Ich glaube, ich bin dir noch was schuldig.« »Wenn du meinst.« Wink schüttelte leicht amüsiert den Kopf. »Nein, nein, ich meine einen Drink. Warst du das nicht, der mir 'n Liter Jack Daniels ins Krankenhaus geschickt hat? Dacht ich mir. Hab' ich damals sehr zu schätzen gewußt.« Er führte den aufgescheuerten Knöchel zum Mund und lutschte daran, glücklich wie ein Kind, obwohl in seinen grauen Augen etwas Unberechenbares, vielleicht sogar Gefährli ches lag. In einem von ihnen hatte er einen bösen Blu ter guß. Tomlin verabschiedete sich und ging zurück zu Mace, der auf ihn wartete. »Was hatte das zu bedeuten?« »Wir haben auf der High -School gegeneinander ge spielt. Er hatte nicht besonders viel Talent, er war nur kräftig, rauh und hinterhältig. Er hat mir '-n paar Dinger verpaßt, und einmal hab' ich's ihm heimgezahlt. Ich wollte nur mal sehen, ob ich ihn jetzt besser leiden kann als damals.« »Und? Kannst du?« »Nein.« Mace zeigte Tomlin jeden Winkel seiner Jacht und ver 34
suchte dabei, nicht zu sehr zu protzen. Sie tranken ein paar Dosen Bier. Dann gingen sie hinüber zum Landlub ber, der früher einmal den Namen Something Fishy ge führt hatte, aßen Rotfisch und Austern auf der halben Schale und spülten das Ganze mit einem Montrachet hin unter. Tomlin hörte meistens zu, während Mace von sei ner Frau, den Kindern, dem Geschäft mit Immobilien er zählte. Er erklärte seinen Wohlstand mit einer Kette von glücklichen Zufällen, Gelegenheiten, die ihm einfach so auf die Türschwelle gehüpft seien, und er sei einfach nur zu faul gewesen, sie wieder hinunterzustoßen. Tomlin kannte Mace seit der Zeit, als sie noch kleine Jungen ge wesen waren, deshalb wußte er ganz genau, was für ein Streber er war. Er mochte Mace sehr gern, deshalb wurde es ein guter Nachmittag, aber um drei Uhr mußte der An walt zurück in sein Büro. Tomlin sagte ihm, er würde die Zweitschlüssel für das Boot an einem der nächsten Tage abholen, dann dankte er Mace noch für seine Freundlich keit. Mace lud ihn für jeden Abend der Woche zu sich nach Hause zum Essen ein, aber Tomlin fand Ausflüchte. Auf dem Parkplatz teilte er Mace mit, daß er zu seinem Haus auf Lostman's Bayou hinausfahren wolle, wenn es für die jetzigen Mieter kein zu großes Problem wäre. »Um Gottes willen, nein, nein, überhaupt kein Pro blem. Sag mir nur wann, und ich arrangiere es für dich.« »Wie war's mit morgen abend?« »Das sollte zu machen sein. Ruf mich kurz an, wenn du losfahren willst.« Es war beinahe unvermeidlich, daß Tomlin auf der Rück fahrt von Port Bayonne zu seinem Zimmer im Ramada Inn plötzlich nach rechts abbog und die Landstraße weiter fuhr, die zum Bayou hinunterführte. Es schockierte ihn ein bißchen zu sehen, wie weit sich die Stadt in Richtung 35
der Meerenge ausgebreitet hatte, wie sie ihre schwarzen Greifarme aus Asphalt ausstreckte, an denen entlang Wohnanhängersiedlungen, Einkaufszentren und Einfa milienhäuser im rustikalen Stil aus dem Boden schössen, bis hinüber zur nördlichen Grenze des bundeseigenen Meeresufers. Dann lag auf einmal alle Zivilisation hinter ihm. Die Straße teilte sich, der eine Arm wand sich um die nordwestliche Ecke des bundeseigenen Landes herum, zunehmend schlechter werdend, voller Schlaglöcher, vor bei am verblichenen Hinweisschild >PRIVATSTRASSE/ PRIVATGRUNDSTÜCK/DURCHFAHRT VERBOTENE. Zu beiden Seiten der Straße jetzt flaches Land, dicht be standen mit einer hochgewachsenen Mischung aus südli chen Harthölzern und Lobolly-Kiefern, später waren es dann nur noch Kiefern. Bis jetzt war noch kein Wasser zu sehen, aber vor dem steile n Pfefferkuchendach des wei ßen Hauses, das direkt vor ihm in einer Lichtung zwi schen den dunklen Bäumen auftauchte, flatterten die er sten Möwen. Auf der einen Seite der schmalen Asphalt straße schlängelte sich ein sumpfiger Ausläufer des Brackwassers durch die Bäume, auf der anderen bot sich Tomlin ein derart verblüffender und unerwarteter An blick, daß er erst nach einer Art Schrecksekunde auf die Bremse trat. Er setzte die fünfzig Meter zurück bis zu der riesigen, einzeln dastehenden Steineiche. Auf dem graslosen, har ten Boden unter den weit ausladenden Ästen standen ein paar hölzerne Klappstühle, die sicher zu einem bestimm ten Zweck dort aufgebaut worden waren, aber jetzt leer waren. Er sah nach oben, mit den Blicken dem klapprigen Aufbau einer Wendeltreppe folgend, die sich um den schwarzen Stamm der Eiche herumwand, hinauf zu einer Plattform, die immerhin groß genug war, um einem aus gewachsenen Klavier Platz zu bieten, und einem Schup 36
pen, der vielleicht zweimal die Größe eines Aborts be saß. Auf dem Blechdach des Schuppens befand sich ein kleiner Glockenturm, in dem etwas hing, das wie ein Glöckchen einer vorsintflutlichen Lokomotive aussah. Von dem Glockenturm hing ein Seil herab. Mehrere Kat zen faulenzten auf der Plattform und um den Baum herum. Tomlin stieg aus seinem Corvette und zog ein paarmal an der Glockenstrippe. Sofort öffnete sich die Tür des Baumhauses, und ein Neger trat mit eingezogenem Kopf ins Freie. Ein eisgrauer Haarkranz umrahmte seinen kah len Schädel hinter den Ohren wie eine Krone aus schmutziger, alter Wolle. Er trug einen schwarzen Kittel, Khakihosen und an den Zehen ausgetretene Turnschuhe. In der Hand hielt er einen hohen schwarzen Hut, an dem viele kleine Spiegel angebracht waren. Tomlin erkannte den Hut, bevor ihm der Name des Mannes einfiel. Es war schon so lange her. »Was geht hier vor, Wolfdaddy?« Wolfdaddy setzte feierlich seinen Hut auf, wobei die Spiegelchen viele kleine Blitze des Sonnenlichts reflek tierten, das sich durch die braungefleckten abste rbenden Blätter der Steineiche stahl. »Alle Pilger und reuigen Sünder«, sagte er, »werden Aufnahme in der >Kirche zum Tor des Himmels< des >Evangeliums des Richtigen Weges< finden. Freiwillige Spenden sind willkommen. Jede zehn Verse, die ich Ih nen aus der Bibel vorlese, kosten einen Dollar. Ein Gebet gegen Ihre Betrübnis kostet zwei Dollar. Nennen Sie die Choräle Ihrer Wünsche, ich werde sie Ihnen spielen und singen. Drei Dollar. Gelobt sei Jesus Christus.« »Kein Blues mehr, Wolfdaddy? Ich werde die groß e Baritontrompete vermissen.« »Den Blues der Sünder spiele ich nicht mehr. Ich singe 37
nur noch zu seinem Lob, zum Lobpreis meines geliebten Herrn. Jawohl, Sir. Fühlen Sie sich wie zu Hause, Mist' Bob.« »Bob ist tot«, antwortete Tomlin. »Ich bin Clay.« Wolfdaddy angelte in einer der Taschen seiner ausge beulten Hosen herum. Schließlich brachte er eine Brille zutage und setzte sie sich auf die Nase. »Ja, ja. Etwas fülliger geworden, stimmt's. Willkom men, Mist' Clay. Wie lange mag's her sein, daß ich Sie zum letztenmal gesehen habe?« »Sehr, sehr lange her.« »Das ist wahr.« Eine Weile schaukelte Wolfdaddy nur immer wieder von den Absätzen auf die Fußspitzen und lächelte heiter dazu, während keiner der beiden Männer ein Wort sprach. Ein aufkommender Wind raschelte in den Blättern der alten, von Hurrikans gebeugten Steineiche. Zwei der schlanken Katzen hatten eine kurze Auseinandersetzung. Tomlin fühlte, wie hinter seinem Rücken die Sonne lang sam unterging. Ihn fror ein wenig. »Ich hätte Ihnen sagen müssen, daß der Erlösungsgot tesdienst jeden Donnerstagabend stattfindet. Wir haben hier schon die großartigsten Wunder geschehen sehn.« »Wie kommst du darauf, ich könnte ein Wunder ge brauchen ?< »Oh, ich habe da meine Informationsquellen, Mist' Clay«, antwortete Wolfdaddy ernst, aber nicht selbstge fällig. Er drehte den Kopf. Die Spiegel schleuderten kleine Blitze über die handtellergroßen Blätter der Eiche. »Kommen Sie. Wir werden für Sie beten.« Tomlin sagte kein Wort. Er schaute zurück über die Schulter, um zu sehen, wieviel Tageslicht ihm noch blieb. Gerade noch genug, dachte er, aber es war trotzdem ein Fehler, heute noch diese Straße entlangzufahren. Etwas 38
von der Bitterkeit, die er sich selbst zu fühlen verboten hatte, tropfte heraus aus seinem Herzen. Zum Teufel, vielleicht hatte Wolfdaddy sogar recht. Vielleicht war das wirklich der wahre Grund, weshalb er zum Bayou zurück gekehrt war, die kindliche Hoffnung, errettet zu werden, wenn schon nicht durch Jesus Christus, dann doch wenig stens durch irgend etwas. Irgend jemanden. Aber sie leb ten alle nicht mehr in dem Haus. Mutter. Sein alter Vater. Bruder Bob. »Bis bald, Wolfdaddy«, sagte er und ging zu seinem Wagen. Er versuchte sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, daß der Kreis seines Leben s sich geschlossen hatte, nur damit er hier in eine Falle ging.
3. Kapitel Am Morgen des 25. Oktober, der in der nördlichen Hälfte des Staates New York bedeckt war und einen beißenden Wind mitgebracht hatte, parkte Lieutenant Barney Green land von der State Police seinen Wagen am Rand der Straße, die etwas oberhalb neben der belebten Autobahn verlief, und ging auf das Waldstückchen zu, das bereits Schauplatz beträchtlicher Aktivitäten war. Staatspolizei. Zwei Krankenwagen, zivile Ermittler und eine Laborcrew seiner eigenen Dienststelle. Der medizinische Sachver ständige war ebenfalls dort. Greenland war wegen eines anderen Falls in Lake George gewesen und war die sech zig Meilen in einem Stück gefahren, um rechtzeitig her zukommen. Die erste Leiche, die er sich anschauen mußte, gehörte einem männlichen Kaukasier, etwa eins achtzig groß und älter als fünfzig, aber das war auch schon alles, was man 39
sagen konnte. Das Opfer war durch mehrere Schläge mit einem harten Gegenstand getötet worden und hatte schwerste Verletzungen am Kopf. Die klaffenden Schä delwunden hatten stark geblutet, und das herunterströ mende Blut hatte das Gesicht des toten Mannes in eine entsetzliche Maske verwandelt. Kein Mensch sagte auch nur ein Wort zu Greenland. Es gab Reifenspuren, aber kein Auto. Man nahm gerade Gipsabdrücke. Er ging hinüber zu der zweiten Leiche. Weiblich. Von der Hüfte abwärts unbekleidet, einmal ab gesehen von einem zierlichen, schwarzen Schnürstiefel. Sie war erwürgt worden. An Oberschenkeln und Unter leib fanden sich große Blutergüsse. Die Frau hatte locki ges, rauchblaues Haar, wie Greenlands Großmutter, aber die mehrfachen Vergewaltigungen hatten die meisten Locken aus der Dauerwelle gelöst. Sergeant Wilkowski sprach mit zwei Kindern in karier ten Jacken, die offensichtlich zusammen mit dem goldfar benen Jagdhund, den eines von ihnen an einer kurzen Leine hielt, auf die Leichen gestoßen waren. Staatspolizi sten hielten die kleine Meute von Fernsehteams auf Ab stand vom Tatort. Wilkowski kam gerade z u Greenland herüber, als der Lieutenant herschaute. »Identität?« fragte Greenland und lauschte einem Last wagen, der auf der nahen Autobahn vorüberheulte. Am seln sangen überall in den Bäumen um sie herum. Über einem Haus, dessen Dach man hinter dem Hügel, der sich gleich an das Wäldchen anschloß, eben noch erkennen konnte, stieg der Rauch eines Holzfeuers auf. Man sah eine Scheune. Kühe standen auf der bräunlichen Weide. Und hier vor ihnen lagen zwei Tote. Zwei Menschen, die brutal ermordet worden waren. »Richard und Martha Pell. Lebten an der Route 119. Er war Farmer im Ruhestand. Sie gehörten beide der Ge 40
meinde der katholischen St.-Stanislauskirche in Com stock an.« »Und?« »Möglicherweise haben sie ihn dort aufgelesen. Ge stern abend nach der Me sse. Sieh dir an, was er mit ihr gemacht hat.« Greenland beugte sich über den Körper der Frau. Auf ihrer Stirn war verschmiertes Blut. Offensichtlich, da es sonst keine offenen Wunden gab, kam das Blut aus ihrer Vulva. Er nahm eine seiner Visitenkarten aus der Briefta sche, um damit das silberne Kreuz anzuheben, das an einer Kette hing, die man nicht sehen konnte, weil sie sich tief in den blutunterlaufenen Hals eingegraben hatte. »Ein Rosenkranz?« Wilkowski nickte. »Ich verwette ein Steak im Claridge House darauf, daß es unser Junge aus Silver Birches war.« Greenland sagte nichts. Er sah sich die Blutspuren auf der Stirn genauer an. Sie schienen sich zu Worten zu for men. Er langte nach seiner Brille und sah gerade in dem Moment hoch, als der medizinische Sachverständige zu sammen mit zwei Krankenpflegern vorüberging, die eine Bahre trugen. »Barney.« »Mal. Was glaubst du? Wie lange?« »Mindestens zwölf Stunden. Wahrscheinlich länger. Ich kann natürlich nur vermuten, aber ich würde sagen, der Mann war sofort tot. Mit der Frau hat er sich Zeit gelassen.« Greenland erhob sich, der Saum seines Trenchcoats flatterte im Wind. »Was ist das da auf der Stirn? Sieht aus, als hätte er etwas schreiben wollen.« 4i
Der medizinische Sachverständige nickte. »Soweit ich das erkennen kann, soll es wohl heißen: >Hast du mich
In ihrem Zimmer in dem Haus an der 83sten Avenue in Howard Beach, Queens, war Antonia Barzatti bereits vor sechs Uhr früh aufgewacht. Sie fieberte, die Brust schmerzte noch immer, obwohl sie bei ihrer Bro nchitis das Schlimmste schon überstanden hatte. Draußen war es gerade hell geworden, aber der Himmel war grau, die alte Dame hörte den Regen. Und sie hörte das Telefon im Erd geschoß des Hauses. Sie hatte von Angel geträumt. Er hatte ihr einen Blu menstrauß gebracht, aber in den bunten Blüten hatten schwarze Spinnen gelauert. Ziemlich früh für Telefonanrufe. Zu früh. Irgend etwas stimmte da nicht. Sie war ganz sicher. Sie stieg aus dem Bett. Ihr war etwas schwindelig, und sie fror trotz des langen Flanellnachthemds. Ihr Schwie gersohn mußte sich noch vor dem Winter etwas mit dem Heizkessel einfallen lassen, sonst würden sie sich alle zu Tode frieren. Sie zog ihren Dior-Morgenrock an - die En kelkinder hatten ihn ihr zum letzten Muttertag geschenkt - und versuchte nicht zu husten, denn das Husten zerrte wie mit Widerhaken an den entzündeten Bronchien. Selbst ohne Schuhe war sie sehr groß. Außerdem trug An tonia ihr Haar hoch, voller Stolz, wie ein Bischof seine Mitra. Es sah aus, als sei es mit einem Teer pinsel frisiert worden, die Nacht im Bett hatte ihm kaum etwas anhaben können. In Antonias hartem Gesicht gab es kaum einen weiblichen Zug zu entdecken, nur die erstaunliche Wöl bung ihres Busens konnte als eindeutiger Hinweis auf ihr Geschlecht dienen. Antonia zog die Jalousie etwas auseinander und sah 42
hinab auf den kleinen, dunstigen Hinterhof, den Garten mit seinen verwelkten Blumen, die entlang des Zauns standen, den Turngeräten für die Kinder, und sie sah eine schlichte Limousine, die sie nicht kannte und die jemand in der hinteren Gasse, gleich neben der Garage der Sina gras, geparkt hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie ein waches Auge für poli zeiliche Überwachungsteams entwickelt, und obwohl sie in der Limousine niemanden erkennen konnte, wußte sie, daß sie da waren. Also. Das Haus wurde überwacht. Aber warum? Ihr Schwiegersohn war ein einfacher Mann, der für die Stadt arbeitete, und ihre Tochter war eine angese hene Geschäftsfrau. Warum sollte man also ihr Haus überwachen? Sie hörte ein sanftes Klopfen an der Tür. Antonia Bar zatti drehte sich um, die Hand gleich unterhalb des Halses gegen die Brust gepreßt. »Mama?« sagte Carol ganz leise. »Bist du wach? Pater Tonelli ist gekommen.« In all den Jahren, die sie nun schon in Amerika war, hatte sie noch nicht ein einziges Mal die Morgenmesse versäumt, selbst als sie nach der Geburt ihres einzigen Sohnes krank in der Klinik gelegen hatte. Sie hatten ihn •Dominic genannt, nach seinem Vater, aber sie hatten ihn schon als Baby >Angel< gerufen. Als man ihn ihr gebracht hatte, hatte sie sofort diesen ausgeprägten, goldenen Schein um seinen schwarzgelockten Kopf herum gese hen, und sie war die einzige gewesen, die ihn gesehen hatte. Sie öffnete ihre Schlafzimmertür und sah Carol an. »Hier geht irgend etwas vor. Warum teilst du es mir nicht mit?« »Ach, Mama. Du hast dich nicht gut gefühlt, und des halb . . .« 43
»Ist Angel tot?« Für einen kurzen Moment drängte sich ein Blick in Ca rols Augen, den sie sogleich vor ihrer Mutter verstecken mußte. Wäre er doch nur tot. »Nein. Er ist ausgebrochen. Vorgestern nacht.« »Ah.« Antonia Barzatti entließ den schmerzhaften Atemzug, den sie zurückgehalten hatte. Sie war froh. Sie hatte Angel in Silver Birches besucht. Was für ein schrecklicher Ort. »Ist das alles? Ausgebrochen? Und sie wissen nicht, wo er ist?« »Mama . . . er hat eine Schwester getötet. Und mögli cherweise noch ein paar andere Menschen.« Carol sah niedergeschlagen aus und besorgt. Ihre Mutter nickte feierlich, aber die Nachricht bedeu tete ihr nichts. Nach allem, was sie wußte, mußte die tote Krankenschwester eine böse Frau gewesen sein, die ihren armen Jungen gequält hatte. Sie hatte Angel wegen seiner Gewalttätigkeiten niemals Vorhaltungen gemacht. Ei gentlich hatte sie den Geschichten, die ihr zu Ohren ge kommen waren, nie so rechten Glauben geschenkt. »Ich habe heute nacht von Angel geträumt. Er hat mir Blumen gebracht, wie er es früher immer zu tun pflegte. Neun Spinnen saßen in den Blüten, ich habe sie sorgfältig gezählt.« »Mein Gott«, sagte Carol. Es war noch so früh, und sie hatte schon wieder Kopfschmerzen. Unten schrie das Baby. Was wäre, wenn Angel hier auftauchen würde? »Neun Spinnen«, sagte ihre Mutter und unterstrich die Bedeutung dieser Zahl noch durch ein feierliches Kopf nicken. >Und? Was bedeutet das?« »Ich bin nicht ganz sicher. Ich sage dir ja nur, daß ich sie gezählt habe. Die Jungfrau wird mir die Bedeutung der Spinnen erklären.« 44
»Mama . . .« Aber sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, einen Streit über die Visionen der Antonia Bar zatti anzu fangen oder auch nur die enge Freundschaft in Zweifel zu ziehen, die sie angeblich mit La Virgene verband. Das würde nur eine Krise auslösen und das Zusammenleben mit ihr noch schwieriger machen, als es ohnehin schon war. Carol liebte ihre Mutter, aber. . . »Mama, ich muß mich um Varonne kümmern. Außerdem haben wir heute sehr wichtige Aufnahmen. Ich muß um Viertel nach sechs aus dem Haus, um nach Brooklyn zu fahren. Geh jetzt runter. Pater Tonelli ist unten in der Kapelle.« »Wirst du heute mit mir in die Messe gehen, Carol? Bitte, nimm dir ein bißchen Zeit, carrissima.« »Das Baby schreit«, sagte Carol gereizt. Dann versuchte sie ein Lächeln. »Geh du schon voraus. Ich will versu chen, in ein paar Minuten nachzukommen.« »Du solltst dir auch ein paar Minuten für das Frühstück nehmen. Du bist viel zu dünn. Letzten Winter warst du so oft erkältet.« »In Ordnung, Mama, Frühstück.« Joe rief nach ihr, of fensichtlich verärgert. Antonia Barzattis schmale Ober lippe verzog sich zu der gewohnten Grimasse der Mißbil ligung. Sie hatte es Carol nie ganz verziehen, daß sie nicht standesgemäß geheiratet hatte. Ein Kostenanalytiker, der in der Stadtverwaltung arbeitete. Er brachte nicht viel Geld mit nach Hause, etwa die Hälfte von dem, was Carol als Autorin und Produzentin von Werbespots im Fernse hen verdiente. Aber wenigstens kam er nach Hause, je denfalls die meisten Nächte. Er hatte keine comares, keine kostspieligen Laster. Antonia Barzatti ging die drei Treppen ins holzgetäfelte Kellergeschoß hinunter, wo es nach dem Wettersturz be reits wieder feucht zu riechen begann. Pater Tonelli, ein junger Priester der katholischen Gemeinde der Himmel 45
fahrt Maria, wartete bereits in der Nische, in der Joe und Carol einen kleinen Reliquienschrein für die Jungf rau eingerichtet hatten, die ihnen mit glasigem Blick von ihrem Gipspodest herab entgegensah, ohne daß sie die Tischtennisplatte oder die Sammlung von Bierdosen aus aller Welt anschauen mußte. Erst nachdem ein angemes sener Platz für die Jungfrau gefunden war, hatte Antonia Barzatti sich bereit erklärt, aus ihrem Haus auszuziehen und bei ihren Kindern zu wohnen. Sie kniete schwerfällig nieder, um der Statue die rechte Hand zu küssen und danach die Hand des Priesters. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Pat er Tonelli«, sagte sie. Ein unangenehmes Kratzen reizte ihren Hals, das noch nicht dagewesen war, als sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte. Sie wandte dem Priester einen jämmer lichen Blick zu. »Nemmeno. Es ist gut, Sie wieder auf den Beinen zu se hen.« Er blickte erwartungsvoll an ihr vorbei. Ganz heim lich schwärmte er ein bißchen für Carol. »Nein, nein«, sagte Antonia Barzatti und mühte sich mit seiner Unterstützung wieder auf die Beine. »Es hat keinen Sinn, auf meine Tochter zu warten. Die Kinder. Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit, Für die geistige Seite des Lebens haben sie keinen Gedanken übrig.« Pater Tonelli brachte sie zu ihrer Bank und begann, die Messe zu zelebrieren. Sie antwortete, wenn es von ihr verlangt wurde, und hielt den Rosenkranz fes t umklam mert. Dabei sah sie auf das jugendliche Gesicht der Ma donna und fragte sich, ob sie nicht etwas frische Farbe ge brauchen könnte. Die Feuchtigkeit hier unten. Eine ihrer rosa Wangen sah fast ein bißchen schuppig aus. Weil sie durch ihren Traum vorgewarnt und gefestigt war, wunderte Antonia Barzatti sich nicht, daß die Ma donna auf einmal hell zu strahlen begann, während alles 46
andere in der Nische sich zu verfinstern und weit zu ent rücken schien. Aus der Stirn der Jungfrau kamen ihr Spi ralen himmlischen Lichts entgegen, genau von der Stelle, wo alle Hexen ein drittes, allwissendes, hinter dem Kno chen verborgenes Auge vermuteten. Pater Tonelli mußte sie mit einem kräftigen Stupser auf die Schulter darauf aufmerksam machen, daß es Zeit w ar, das heilige Abend mahl entgegenzunehmen. Er sah besorgt aus. Sie behielt die Oblate auf der Zunge, um sie dort zergehen zu lassen, bevor sie sie hinunterschluckte. Dann bekreuzigte sie sich und lehnte sich müde zurück. Das Erscheinen des himmlischen Lichts, ein Phänomen, das sie bereits seit ihrer frühesten Kindheit kannte, bedeutete, daß die Jung frau bald zu ihr kommen würde. Je leuchtender das Licht, desto bedeutender die Botschaft, die man ihr bringen würde. Als sie das letzte Mal Zeuge einer so wunderbaren Erscheinung geworden war, hatte die Jungfrau ihr an schließend mitgeteilt, daß ihr Gatte an Krebs sterben würde. >Big Marbles< hatte im Auburn State Prison gerade eine sechsjährige Strafe wegen Erpessung und Beste chung - den wesentlichsten Werkzeugen seines Hand werks - angetreten. Er hatte über die Offenbarung seiner Frau nur gelacht. Schließlich nahm er es mit seiner Ge sundheit sehr genau und konnte glatte dreihundert Pfund in die Luft stemmen. Und wo war er jetzt? Er lag schon lange in seinem Grab. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Mrs. Barzatti?« fragte Pater Tonelli. »Lassen Sie mich Ihre Tochter holen.« »Nein, behelligen Sie sie nicht.« Sie starrte immer noch auf die kindliche Madonna, als wolle sie mehr und könne das, was da kommen sollte, kaum noch erwarten. »Ich werde für eine Weile hier sitzenbleiben und beten. Auf Wiedersehen.« Er schien sie nicht allein lassen zu wollen, aber sie kümmerte sich nicht mehr um ihn, und schließ 47
lich ging er hinaus. Sie wußte, daß es keinen Sinn ge habt hätte, ihm von dem himmlischen Licht zu erzählen. Nur der Monsignore hätte sich die Zeit genommen, ihr zuzu hören, nur er schien sie zu verstehen, aber der war in letz ter Zeit so beschäftigt, daß man ihn nicht einmal mehr ans Telefon bekam. Angel, ja, Angel hatte genau verstanden, was das himmlische Licht ihr bedeutete. Sie hatte es ihm zum er stenmal gezeigt, als er noch ganz klein war. Damals hatten sie stundenlang vor einer Madonna wie dieser hier geses sen, ganz still nebeneinander, vereinigt in derselben Stimmung, und sie hatten kein Wort wechseln müssen, während ihre Seelen miteinander flüsterten. Später, als er heranwuchs und unruhiger wurde wie jeder normale Junge, der hinauslaufen will, um mit seinen Freunden zu spielen, hatte sie im Kerzenschein des fensterlosen Zim mers nur die Arme um ihn legen müssen, hatte ihn fest an ihre Brust ziehen müssen, damit ihre Seelen miteinander sprechen konnten, und er war ruhig geworden. Einmal hatte Antonia ihn in ihrer Verzückung so fest an sich ge preßt, daß ihr Mann, der gerade nach Hause gekommen war, sie mit entrücktem Blick vorgefunden hatte und den Jungen bewußtlos, beinahe erstickt in ihrer Umarmung. Big Marbles hatte Antonia zu Ärzten geschickt, aber de nen hatte sie nichts von dem himmlischen Licht erzählt, von den Besuchen der Heiligen Jungfrau. Sie hatten ihr Medizin gegeben, die sie in die Toilette geschüttet hatte, wenn sie unbeobachtet gewesen war. Seitdem war sie zu keinem Arzt mehr gegangen.
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4. Kapitel Carl war schon wach und hatte bereits ein paar Aspirin ge nommen. Er hatte sie trocken hinuntergeschluckt. Das blonde Mädchen mit der langsam schwindenden Ganz körperbräune, das sich das Wort Brazo quer über eine Hinterbacke hatte tätowieren lassen, erwachte gerade. Er sah zu ihr hinüber und überlegte, ob er sie schnell noch einmal vögeln sollte, als ein Ortungsgerät für Eindring linge loslegte. Es gab dabei ein hohes Piepsen von sich wie das Bullenortungsgerät in seiner Bootskabine. »Was'n das?« fragte das Mädchen, wischte sich verwirrt eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bedachte Carl mit einem Blick aus ihren grauen Augen, der ihm klarmachte, daß sie nicht genau wußte, wo sie sich befand. »Besuch«, sagte Carl, langte zum Bullauge auf der Steu erbordseite und zog den geflochtenen Vorhang zur Seite. Etwa zweihundert Meter entfernt sah er einen weißen Corvette mit einem Typen hinterm Steuer, der ein blaues Hemd und eine Windjacke trug. Der Corvette rollte ge rade durch das Tor und auf das Haus zu. Carl zog die Stirn in Falten. »Jemand, den ich kenne?« fragte das Mädchen. Sie be fühlte ihren ganzen Körper, vorsichtig, als habe sie Angst, er könnte ihr etwas Unersetzliches geklaut haben, wäh rend sie schlief, die linke Titte vielleicht, oder ein Ohr läppchen. »Wen kennst du denn schon?« erwiderte Carl ohne In teresse. »Mein Gott, brummt mir der Schädel! Was für 'ne Sorte Pantherpisse haben wir eigentlich getrunken?« »Black Velvets.« »O Gott, dann ist's ja kein Wunder. Wo kann man denn hier mal für kleine Mädchen, Seemann?« 49
»Carl.« »Carl. Sicher. Ich bin Evie.« »Ja, ich weiß.« Er war sich nicht sicher gewesen, wie sie sich genannt hatte. Er zeigte mit dem Finger. »Die Tür mit dem Spiegel.« »Danke. Bin gleich wieder da.« Sie setzte sich auf die Kante der schmalen Koje, mit eingezoge nen Schultern ließ sie den Kopf von einer Seite auf die andere rollen. »Ach, du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte Carl. »Kann sein, daß ich drüben im Haus was zu erledigen habe. Nachdem du dich erfrischt hast, könntest du doch deine Sachen anziehen und dich aus dem Staub machen. Wie war's, wenn du deine Telefonnummer dalassen wür dest? Ich verspreche dir, daß ich mich melden werde.« »Wie bin ich eigentlich hierher geraten?« fragte Evie, erhob sich, reckte sich auf den Zehenspitzen und preßte die Handflächen gegen das Kabinendach. Die Spitzen ihrer Brüste zeigten dabei schräg gen Himmel. Mein lie ber Mann. Die luden ganz schön zum Grabschen ein. Carl gab sich selbst den Befehl zur Zurückhaltung. Der Bur sche in dem Corvette machte ihm Sorgen. »Wir sind in deinem Chris-Craft gekommen. Es ist an der anderen Seite des Anlegers festgemacht.« »O ja, ich erinnere mich. Also, Carl, bye -bye.« Sie schenkte ihm noch ein betörendes Lächeln und ein Win ken über die Schulter, dann verschwand sie mit eingezo genem Kopf im Vorderteil des Bootes. »Bye, Honey«, sagte Carl, wobei er versuchte, ihren nicht unbeträchtlichen Akzent nachzuahmen. Er gönnte sich noch einen Blick auf ihre makellose Rückansicht und die langen Beine, bewunderte seinen guten Geschmack und fragte sich, wie alt die Kleine wohl sein mochte. Dann stand er auf, zog ein Paar ausgefranster Shorts an, dachte darüber nach, daß es draußen ziemlich frisch sein würde, 5°
und streifte daraufhin noch einen gestrickten Baumwoll pullover über. Das Haus, in dem Clay Tomlin aufgewachsen war, be stand zu zwei Stockwerken aus altem Backstein, während das obere Stockwerk mit verzierten, viktorianischen Schindeln verkleidet war. An mehreren Stellen ragten Blitzableiter aus dem Dach. Entlang der Westseite und an der Vorderfront gab es breite, überdachte Verandas, auf denen man den ganzen Tag über Schatten fand, einmal ab gesehen von den frühen Morgenstunden und dem Spät nachmittag. Sie hatten restauriert werden müssen, nach dem ein Hurrikan mit den Namen Camille im Jahre 69 einiges auf dem Grundstück verwüstet hatte. Eine Rasen fläche zähen, widerstandsfähigen Bermudagrases zog sich etwas siebzig Meter hinunter bis zum Sumpfgras, das Lostman's Bayou auf allen Seiten einrahmte, und dem U-förmigen Bootsanleger samt Plankensteg, der ebenfalls nach dem großen Orkan erneuert werden mußte. Tomlin, der auf der Veranda wartete, daß ihm jemand die Tür öffnen würde, sah eine sündhaft teure Motorjacht mit Flügelbrücke, die zusammen mit einem kleinen Mo torflitzer mit offenem Cockpit und ein paar alten, verbeul ten Blechbooten, mit denen sie früher durch die Sümpfe getuckert waren, am Anleger festgemacht hatte. Hinter dem Haus zog sich auf der Anhöhe, auf der das Haus stand, ein Dickicht in östlicher Richtung, Sumpfkiefer meist und Hartholz-Gebüsch, in dem umgewehte Baum stämme langsam vor sich hin moderten. Die alte, back steinerne Garage und ein kleines Pumpenhaus standen an der äußeren Kehre der gepflasterten Zufahrt. Vor der Ga rage, auf dem Beton eines kleinen Vorplatzes, stand das große, luxuriöse Wohnmobil, das sein Bruder Bob sich gekauft hatte, um noch etwas von der Welt zu sehen, be 51
vor sein chronisch schwaches Herz ihm endgültig den Dienst versagen würde. Soviel Tomlin wußte, war er nicht mehr dazu gekommen, s ich an dem Ding zu er freuen. Aber irgend jemand hielt den Bus instand, fuhr ihn vielleicht sogar von Zeit zu Zeit. Die braun und weiß lackierte Karosserie und alle Chromteile strahlten in flek kenlosem Glanz. Tomlin hatte ganz vergessen, daß der achtunddreißig Fuß lange Bus jetzt ihm gehörte. Zusam men mit all dem Inventar, das Bob dafür bestellt hatte, war das Ding sicher seine hunderttausend wert. Er hatte Mace nie irgendwelche Instruktionen gegeben, was sein Erbe betraf. Vielleicht, dachte Tomlin und fügte damit seinem kleinen Vorrat an Möglichkeiten für die Zukunft eine weitere hinzu, würde er sich mit dem Bus eines Tages auf die Reise machen ... Ja, er konnte es sich deutlich ausma len, wie er unter einem westlichen Technicolor -Himmel vor dem langen Sonnendach saß und zusammen mit an deren Pensionären gute Tips für die Instandhaltung sol cher Gefährte austauschte. Verwirrt und gleichzeitig fasziniert wurde er durch den Anblick einiger Einrichtungen, die die Mieter auf eigene Kosten hatten installieren lassen. Die riesige Schale einer Satelliten-Antenne für den Fernsehempfang stand auf einer eigens dafür aufgegossenen Plattform. Dann gab es eine ganze Reihe großer Flutlichtscheinwerfer, die den größten Teil des Grundstücks ausleuchten konnten. Vi deokameras zur Überwachung waren über der Eingangs tür und an allen Ecken der Veranda installiert. Was glaub ten die Leute bloß, wieviel Sicherheit man hier unten auf dem Bayou brauchte? Viele Leute kamen sicher nicht vor bei, und die Alligatoren zogen es vor, unter sich zu blei ben. Tomlin hörte das tiefe Bellen eines Hundes, und dann wurde die von einem schrägen Dach überbaute äußere 52
Tür von einem schlaksigen, schwarzen Mädchen geöff net, das aussah, als sei es gerade für eine Szene in >Vom Winde verwehtx kostümiert worden - ihr Kopf war in ein Kopftuch eingewickelt, und sie trug eine große Schürze. Sie hatte einen langen Körper mit lose baumelnden Ar men und einen wehmütigen Blick, als wartete sie, wie Bill Cosbys Tochter in einem seiner Sketche, auf das Erschei nen der guten Fee. Sie trat einen Schritt zurück, schließ lich löste sich sie Szene in einem schüchternen Lächeln auf. »Wie? Mist' Clay?« Tomlin kannte sie nicht. »Ich bin Opal, Mist' Clay, Chessies Nichte.« »Die mit dem wahnsinnigen lin kshändigen Bogen wurf?« »Genau! Kommen Sie rein. Werden Sie von Mrs. Jef fords erwartet?« »Mace Lefevre hat sie heute morgen angerufen«, sagte Tomlin und betrat das Haus. Wie vertraut war ihm die sonnendurchflutete Eingangshalle mit dem hohen Fen ster in der äußeren Kurve des Treppenhalbrunds. »Wie seid ihr Mädchen zurechtgekommen?« »Ach, wir sind zwei Jahre nacheinander ins Halbfinale der Staatsmeisterschaft gekommen, aber gewonnen ha ben wir nichts.« »Wie geht's Chessie? Mein Gott, sie war ja schon alt, als ich von hier fortging.« Er entdeckte unter der Treppe eine weitere Videokamera, die direkt auf ihn gerichtet war. Er zog seine blaue Windjacke aus. Im Haus war es wärmer als draußen auf der Veranda. »Chessie beklagt sich nicht, aber, Sie wissen ja, ihre Knochen. Sie kann keine Arbeit mehr tun. Ach, was wird sie sich freuen, daß Sie wieder zu Hause sind und nach ihr gefragt haben. Geben Sie mir Ihre Jacke, Mist' Clay.« 53
Tomlin schaute sich um nach den Spiegeln, den Gemäl den, den chinesischen Möbelstücken, die man in Hong kong und anderen exotischen Hafenstädten erworben hatte. »Sieht alles noch so aus wie früher.« »Mist' Bob hat niemals was verändert. Er liebte das alte Haus so sehr.« »Das tu' ich auch. Mir wird jetzt erst klar, wie sehr ich es vermißt habe.« »Sind Sie zurückgekommen, um zu bleiben?« fragte Opal, während sie die Windjacke in einen vergoldeten Wandschrank hängte, über dessen beide Türen ein blü hender Pflaumenbaum gemalt war. »Könnte schon sein.« Der Auftritt der Frau nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie blieb am anderen Ende des langen Mittel flurs einen Moment lang stehen und wandte den Kopf, um sich in einem der antiken Spiegel, die es überall im Hause gab, noch kurz von oben bis unten zu betrachten. Dann kam sie in die Eingangshalle, eine Frau, die es ge wöhnt zu sein schien, sich schnell und entschlossen zu bewegen. Die rechte Hand blieb in der Hosentasche der gebügel ten Shorts stecken, während sie ihm die Linke zur Begrü ßung entgegenstreckte. »Mr. Tomlin, guten Tag. Ich bin Anita Jeffords.« Auf der Rückseite ihres linken Arms zog sich eine lange Narbe entlang, ein Netz von kleineren Narben gruppierte sich strahlenförmig um den Handgelenkskno chen. Er fragte sich, ob an der Hand, die sie verbarg, wohl noch alles dran sein mochte. Sehr schnell war sie auf sein Interesse aufmerksam geworden und zog die rechte Hand etwas unbeholfen aus der Hosentasche, wobei sie die ganze Schulter zu Hilfe nehmen mußte. Offensichtlich 54
war das Ellenbogengelenk nicht beweglich genug. Die Hand hing schlaff herab. Zumindest alle Finger waren noch dran. Er war erleichtert. Sie war viel zu jung und zu hübsch, um schon verstümmelt zu sein. »Autounfall«, erklärte sie. Ostküstenakzent, dachte er. Big Apple, vielleicht sogar Brooklyn. Dann aber Brooklyn Heights. Außerdem hatte sie einen kleinen Sprachfehler, als sei die Zunge oder der Gaumen bei dem Unfall eben falls in Mitleidenschaft gezogen worden. Nicht direkt ein Lispeln, eher ein flüsterndes Geräusch, kaum zu hören und reizend. »Ich kann meine Hand ein wenig gebrau chen.« Wie zum Beweis machte sie eine Faust. »Aber ich habe noch keinen festen Griff. Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen?« »Gern«, antwortete Tomlin. »Tee? Oder etwas Stärkeres?« Tomlin wandte sich zu Opal um. »Hat Chessie dir bei gebracht, wie sie ihre Limonade macht? Die mit dem Schuß Cherry Cordial?« Opal strahlte. »Klar! Hat sie!« »Limonade«, meinte Anita. »Das hört sich gut an.« Sie lächelte Tomlin an, aber ihre frechen, braunen Augen wa ren wachsamer, als nötig gewes en wäre. Der Hauswirt war zu Besuch. Es gefiel ihm, in ihre Augen zu gucken, zum Teil auch deshalb, weil neben jeder der beiden dunk len Pupillen ein winziges gelbes Etwas eingebettet lag wie ein Körnchen Blutenstaub. Sie war keine besonders große Frau, höchstens eins sechzig, sie trug kein Gramm Fett zu viel am Körper und hatte trotzdem eine wohlgeformte Fi gur mit einem schönen, hochangesetzten Busen. Ihm fiel ein kleiner, grauer Fleck auf einer Wange auf, der aussah wie etwas Schmutz, den sie übersehen hatte. Spuren von demselben grauen Zeug waren auch auf der ansonsten 55
blitzsauberen, kurzärmeligen Bluse zu sehen, als hätte sie im Garten gearbeitet, bevor sie hier erschien. Sie trug kein Make-up. Sie hatte natürliche, volle Augenbrauen und Wimpern. Das volle, dunkelbraune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, um es von Schul tern und Hals fernzuhalten. Das pflegten normalerweise die Mitglieder der Mädchengruppen zu tun, die bei Sportveranstaltungen die Stimmung anheizen, aber es stand ihr. Ihre Hautfarbe war etwas blaß, als sei sie den ganzen Sommer über im Haus geblieben. Bei seiner ober flächlichen Taxierung hatte er einiges an ihr entdeckt, aber er wußte, daß es noch viel mehr geben mußte, was ihm zunächst noch entgangen war, was er aber unbedingt kennenlernen wollte. Als ihre Blicke sich begegneten, fühlte Tomlin ein angenehmes Kribbeln im Nacken. Aber sie war eine Mrs. Jeffords. Zu schade. Er folgte ihr in das Wohnzimmer. »Fühlen Sie sich wie zu Hause . . . wie dumm von mir, es ist ja ihr Zuhause. Möchten Sie sich ein bißchen umse hen? Wir haben nichts verändert. Ich meine, es war alles perfekt, so, wie es war. Eine wunderschöne Einrichtung. Wir wohnen hier sehr gerne.« Sie fand in einer Schachtel auf einem der Tischchen vor den Fenstern, die den marmornen Kaminsims einrahm ten, eine Filterzigarette. »Rauchen Sie?« Tomlin schüttelte den Kopf. »Darf ich?« »Sicher.« Ihm fiel auf, daß Opal ein gutes Hausmäd chen zu sein schien. Kein Körnchen Staub. Die zarten, cremefarbigen Vorhänge an den Fenstern schimmerten im diffusen Licht des Morgens. Nachdem Anita die Zigarette angezündet hatte, bezog sie mit verschränkten Armen vor den zwei Porträts über dem Sims Stellung. Tomlin kam zu ihr herüber, um einen Blick auf die Bilder zu werfen. Se ine Mutter, die See 50
mannsfrau, trug einen Haarknoten im Stil der dreißiger Jahre. Der entrückte Blick ihrer dunklen Augen und die verlorene Art, wie sie sich auf ihre gefalteten Hände stützte, erweckten beim Betrachter den Eindruck, sie sei mit ihren Gedanken an einem fernen Strand. Seinem Va ter schien es gefallen zu haben, für das Gemälde zu posie ren, aber wie üblich geizte er mit seinem Lächeln. Tomlins Kindheit war eine bange Schatzsuche nach Hinweisen auf die Stimmung des alten Mannes gewesen. »Ihrer Mutter sehen Sie ähnlicher«, sagte Anita. »Ich weiß.« »War Ihr Vater Admiral?« »Konteradmiral, als er in den Ruhestand ging. Er kom mandierte Schlachtschiffe im Pazifik. Zwei von ihnen sind ihm unterm Hintern wegtorpediert worden. Trotz dem hat er ein hohes Alter erreicht.« »Und Sie sind Flieger? Ich glaube, Mace hat so etwas erwähnt.« Er sah sie an. Sie hatte etwas Italienisches, vielleicht auch Griechisches. Ihre Nase war ganz leicht gebogen, aber überhaupt nicht auffällig. Ihr Blick war manchmal verschwommen, als würde sie durch entfernte Punkte und unerwartete schwarze Löcher auf dem Kontinuum ihres Sichtfeldes abgelenkt. »Nicht mehr. Ich habe mich in einen frühen Ruhestand versetzen lassen.« »Oh, ich verstehe.« Sie schien über ein anderes Ge sprächsthema nachzudenken, aber offensichtlich fiel ihr nichts ein. Also sahen sie sich einfach nur an. Anita wandte sich höflicherweise ab, um den Rauch auszubla sen. Die Zigarette hielt sie in der rechten Hand, den rech ten Arm unterstützte sie dabei mit der linken Hand, die sie unter den Ellenbogen gelegt hatte. Tomlin spürte das Bedürfnis, sie zu berühren. Statt 57
dessen tätschelte er einen der beiden Porzellanhunde aus der Ming-Zeit, die mit gefletschten Zähnen zu beiden Sei ten des Kamins Wache hielten. Die Hunde waren Nach bildungen. Das wirklich wertvolle Zeug, das seine Mutter gesammelt hatte - japanische Holzmalereien aus der EdoPeriode, einige glasierte Tierstatuen aus der Liao -Dynastie und ein eleganter, aber leicht zerbrechlicher Lao Hua-Li-Anrichtetisch aus dem 18. Jahrhundert -, befan den sich in einem Lagerraum. Als er seinen Blick von Anita abwandte, entdeckte er, daß die Schiebetür zur Bibliothek um ein paar Zentimeter geöffnet worden war. Ein kleiner Junge - die unglaubli che Ähnlichkeit der Augen verriet, daß es sich nur um Anitas Sohn handeln konnte- sah sie durch den geöffne ten Türspalt hindurch an. »Hi«, sagte Tomlin und lächelte in den rissigen Spiegel hinein. Anita sah, wohin er schaute. Sie drehten sich beinahe gleichzeitig in Richtung Bibliothek um, und sie winkte ihrem Sohn. »Tony, komm her.« Der Junge rührte sich nicht von der Stelle. Sie sah Tomlin mit einem leichten, ratlosen Achsel zucken an. »Er ist schüchtern.« »Hast du heute keine Schule?« »Oh, er geht nicht zur Schule. Ich unterrichte ihn sel ber. Ich bin ausreichend qualifiziert für den Heimunter richt. Er hat gerade seine Mathematikstunde.« Sie ging mit ein paar flinken Schritten hinüber zur Bibliothek, da bei sagte sie mit etwas lauter Stimme: »Tony, das i st, hmm .. .« Jetzt wußte sie nicht weiter. Sie drehte sich um zu Tomlin. »Ich kenne Ihren militärischen Rang nicht.« »Nennen Sie mich einfach Clay.« »Komm rein, Tony. Das ist schon in Ordnung. Du kannst ruhig mal 'ne kleine Pause machen.« 58
»Wie alt ist er?« wollte Tomlin wissen. »Tony ist sieben. Es ist nur . . . nun . . . Tony ist nicht an Besuch gewöhnt. Wir haben hier nicht oft Gäste.« Warum eigentlich nicht, dachte Tomlin bei sich. Anita hatte inzwischen im Spiegel den Schmutzfleck auf ihrer Wange entdeckt. »Oh . . .« Die Zigarette zwi schen die Lippen geklemmt, bearbeitete sie den Fleck mit einem Papiertuch. »Ich bildhauere ein wenig«, sagte sie. »Sie kennen ja den Lagerraum hinter der Küche. Es stand kaum was drin, und außerdem hat er ein ausgezeichnetes Licht. Ich habe den Raum ausgeräumt und ihn zu meinem Atelier gemacht.« »Würde ich mir gerne mal anschauen.« Er hätte über haupt nichts dagegen gehabt, ihr ein paar Tage lang ein fach nur zu folgen, sie zu beobachten, ohne dabei viel re den zu müssen. »Woher stammen Sie, Mrs. Jeffords?« »Anita. Bitte. Aus einer kleinen Stadt in New Jersey. Der Name würde Ihnen wahrscheinlich überhaupt nichts sagen.« Ihre Antwort kam ihm einigermaßen ausweichend vor. Was spielte es für eine Rolle, ob er den Namen ihrer Hei matstadt schon mal gehört hatte oder nicht? »Ganz schöne Veränderung, hier unten auf dem Bayou«, sagte Tomlin. Er hätte gerne gewußt, warum sie hergekommen war, mit einem lahmen Arm und einem Kind, das nicht mit ande ren Kindern zusammen zur Schule ging. Sie antwortete auf die Frage, die hinter seiner Bemer kung unausgesprochen geblieben war. »Ich mag die Ein samkeit. Außerdem bin ich Künstlerin, und . . .« »'nita?« »Wir sind im Wohnzimmer, Carl.« Er kam mit energischen Schritten herein (noch so ein Yankee, der's eilig hat), mit nackten, braungebrannten Beinen, erblickte Tomlin und bedachte ihn mit einem 59
flüchtigen, oberflächlichen Lächeln des Willkommens,
obwohl er offensichtlich keine Ahnung hatte, wer Tomlin
war. Ein schneller Seitenblick zu Anita half ihm nicht wei
ter. Erstreckte seine Hand aus.
»Hi. Carl Jeffords.«
Anita holte schnell das Versäumte nach. »Carl, das ist Clay... Tomlin.« »Na klar!« Carl hatte einen kräftigen Händedruck. Er war kleiner als Tomlin, vielleicht dreißig Pfund schwerer und stämmig, aber nicht fett. Er schien in ausgezeichneter körperlicher Verfassung zu sein. Lebhafte blaue Augen, olivfarbener Teint, die Nasenlöcher eines jungen Stiers, Bartstoppeln, die etwa einen Tag alt waren, auf einem energischen Kinn. Ein ganz ordentliches Paket. Der Typ Mann, der von sich selbst überzeugt ist, der die Dinge so gut im Griff zu haben scheint, daß man ihm die Versiche rungspolice, die zusätzlichen Extras beim Auto oder den Viertelhektar Bauland nur ein paar Schritte vom Oz ean entfernt schon abgekauft hat, bevor man sich überhaupt die Zeit genommen hat, drüber nachzudenken. »Was für eine Freude, Captain Tomlin,« Tomlin hätte die Gelegenheit gehabt, die Begrüßung ebenso freundlich zu erwidern, aber er tat es nicht. Nach ein paar Augenblicken des Zögerns ließen sie voneinan der ab. Carl sah wieder zu Anita hinüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. (Vielleicht mißbilligte er ein fach nur, daß sie rauchte.) Anita sagte gar nichts, spielte nur nervös mit der Zigarette herum. Carl schaute wieder zu Tomlin hinüber. Erwartungsvoll. Tomlin sagte: »Wie geht es Ihnen?« Zähne blitzten auf, so weiß wie Talkum. »Ging mir nie mals besser. Vor einem Jahr war ich ziemlich sicher, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Ich arbei tete in der Wallstreet. Als Teilhaber meiner eigenen Han 60
delsgesellschaft für Vermögenswerte. Ich hab' 'ne Menge Geld gemacht, aber ich war alles andere als glücklich. Hier unten, zum Teufel, schließe ich meine Geschäfte via Com puter ab. Hier und dort mal 'n kleines Geschäft mit einem Entwicklungsprojekt und viel, viel Zeit zum Angeln.« »Kein schlechtes Leben«, meinte Tomlin anerkennend. Opal kam mit einem Krug Limonade und Gläsern auf einem Tablett herein. »Limonade!« rief Carl begeistert aus. Er s chien einen unbegrenzten Vorrat an Begeisterung zu haben. Außer dem redete er viel mit den Händen. »Ich möchte wetten, daß du noch nicht einmal gefrüh stückt hast«, sagte Anita zu ihm. »Ach, Opal. Würdest du mir bitte ein Pilzomelette und ein halbes Dutzend Wurstpasteten machen?« »Ja«, sagte Opal. Sie schenkte zwei Gläser mit Limo nade voll, brachte eines Anita und das andere Clay, wobei sie ihm zulächelte. »Ich glaube, ich hätte auch ganz gerne ein Glas Limo nade«, sagte Carl. »Dann muß ich noch ein Glas aus der Küche holen«, war Opals mehr als förmliche Antwort, und sie verließ das Wohnzimmer, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Carl sah ihr nach. Das Lächeln stand immer noch auf seinem Gesicht. Dann kratzte er sich die Bart stoppeln und wandte sich wieder Tomlin zu. »Das ist wirklich ein tolles altes Haus, Clay. Wir ha ben's einfach wahnsinnig genossen, hier unten zu sein. Übrigens haben wir gerade vorgestern den Mietvertrag für ein weiteres Jahr verlängert.« »Hab' ich schon gehört.« Nachdem er seinem legalen Anspruch auf ein weiters Jahr Wohnrecht in Tomlins Heim deutlich Ausdruck ver liehen hatte, hob Carl jetzt leutselig die Hände, als hoffe 61
er, das Haus bis in alle Ewigkeit in Besitz nehmen zu kön nen. Er rückte etwas näher an Tomlin heran, sein Lächeln wurde ernster. »Was meinen Sie, besteht überhaupt keine Aussicht, daß Sie sich zum Verkauf entschließen könn ten, Clay?« »Ich glaube kaum. Im Augenblick plane ich allerdings nicht, länger als eine Woche hierzubleiben, höchstens zwei.« Anita schlürfte von ihrer Limonade und beobachtete Carl über den Rand ihres Glases hinweg. Nach einer etwas zu langen Pause sagte Carl ein biß chen zu herzlich: »Hier im Haus?« Anita fügte schnell hinzu: »Hier gibt's sicher mehr als genug Platz . . .« »Ich will euch nicht auf den Wecker gehen. Ich habe draußen Bobs Wohnmobil entdeckt. Das wird für mich vollkommen ausreichen.« Carl hustete leise in die geschlossene Faust und sagte zu Anita: »Gibst du mir einen Schluck von deiner Limo nade? Bis Opal mit meinem Glas zurückkommt, was ja be stimmt irgendwann im Laufe des Tages noch passieren wird.« Anita reichte ihm schweigend das Glas hinüber und nahm die Zigarette, die sie auf dem Rand des Aschenbe chers abgelegt hatte. Carl nahm einen Schluck und sagte n achdenklich zu Tomlin: »Sie setzen sich also in den Campingbus und fah ren .. .« »Nein, ich lasse ihn dort, wo er ist. Ich will nirgendwo anders hin. Ich will einfach 'ne Weile hier zu Hause am Bayou bleiben.« Carl antwortete, mit dem Kopf nickend: »Aha, ich ver stehe. Nun . . . sicher. Es ist nicht Bestandteil des Miet vertrags, deshalb war ich noch nicht drin, aber ich nehme 62
an, er bietet alle Annehmlichkeiten. Sie müssen nur ein Elektrokabel anschließen und ein paar . . .« Tomlin sagte ohne besonderen Nachdruck: »Ich habe nicht vor, Ihnen zur Last zu fallen.« »Aber nein! Ich bin froh, für 'ne Weile Gesellschaft zu haben. Angeln Sie manchmal, Clay?« »Mit Begeisterung.« »Vielleicht haben Sie vorhin mein Boot gesehen.« Tomlin erwiderte: »Ich habe zwei Boote gesehen.« Anita sah Carl mit müdem Lächeln an, dann blickte sie weg und nahm einen Zug aus der Zigarette. »Ach, richtig, die kleine Chris mit dem Außenborder. Die gehört einem Freund. Die Davis gehört mir. Die ganze Elektronik ist von SatNav. Rupp Motor. Wir kön nen jederzeit rausfahren. Sie müssen nur ein Wort sagen. Nun . . .« Carl sah auf seine Rolex, das Modell für den professionellen Taucher, wasserdicht bis zu einer Tiefe von hundert Faden. »Ich hab' gestern nachmittag kurz vor Börsenschluß noch ein Angebot für ein paar Optionen ge macht. Ich glaube, ich sollte mich drum kümmern, daß man mich nicht ausschmiert. Honey, kannst du Clay da bei helfen, sich einzurichten?« »Okay.« Carl schüttelte Tomlin noch einmal die Hand. »Wenn sie was brauchen sollten, fragen Sie.« Er ging mit schnel len Schritten auf die Tür zur Bibliothek zu und zog sie auf. Opal, die gerade mit einem Glas in der Hand aus der Kü che kam, machte auf dem Absatz kehrt, als Carl die Tür zur Bibliothek hinter sich schloß. Nach etwa zehn Sekunden des Schweigens sagte Anita: »Ich könnte Ihnen jetzt mein Studio zeigen, falls es Sie in teressiert.« »Sicher«, antwortete Tomlin. Er hatte keine anderen Pläne. Er hatte jede Menge Zeit. 63
In der Bibliothek bückte sich Carl, um dem irisc hen Wolfshund, der auf einem Stückchen Plüschteppich auf dem dunklen Eichenparkett lag, den zottigen Kopf zu streicheln. Der Junge, Tony, saß vor dem Computer und spielte ein Spiel mit Zauberern, Ungeheuern und dunklen Burgverliesen. Als Monitor diente ein Fernsehgerät mit einem Vierzig-Zoll-Bildschirm. Es war dunkel in der Bi bliothek, die Läden der Fenster und Türen, die auf die Ve randa hinausgingen, waren geschlossen. Der Ventilator unter der Decke quietschte. An den Wänden hingen alte Ölgemälde von Segelschiffen und eingerahmte Kon struktionszeichnungen von anderen Schiffen. Die mei sten der Bücher auf den Regalen beschäftigten sich mit der Geschichte der Seefahrt oder Architektur. »Bist du fertig mit den Schularbeiten?« sagte Carl zu dem Jungen. Tony nickte nur, er war zu beschäftigt mit seinem Spiel. Carl schlenderte hinüber zum Schreibtisch und nahm den Zettel mit den Rechenaufgaben. »Soll ich sie mal durch schauen, ob du auch alles richtig gemacht hast?« »Das macht Mama schon.« Carl sah sich das Blatt Papier trotzdem an. »Hier, bei der vorletzten Aufgabe, neununddreißig minus sechzehn plus vier, müßte die Antwort siebenundzwanzig heißen.« Tony nahm keine Notiz von der Korrektur. Statt dessen machte er einen Fehler bei seinem Spiel und preßte unte r angehaltenem Atem heraus: »Scheiße!« »Ich muß den Computer jetzt benützen, Tony. Nimm dir solange ein Buch und lies oder geh hinaus zum Spie len.« Der junge antwortete nicht. Der Wolfshund begann zu hecheln. Die Zunge hing ihm aus dem Maul. Carl ging hinüber zu Tony und stellte sich hinter seinem Stuhl auf. Er beobachtete den Fortgang des Spiels. Carl hatte auch 64
ein paarmal gespielt. Aus Langeweile. Tony löste die ge stellten Aufgaben besser und schneller als er. »Ich hab' dir schon so oft gesagt«, sagte Carl und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, um seinen Vor haltungen etwas von ihrem Nachdruck zu nehmen, »daß du von dieser Art Spiele deine schlechten Träume be kommst. Wir können auf deine Anfälle und Schrei krämpfe mitten in der Nacht gut verzichten.« Tony ant wortete nicht. Carl kratzte sich an der Wange, wo eine Mücke ihn auf dem Weg von seinem Boot ins Haus gesto chen hatte. Er packte die Schulter des Jungen etwas fester und langte mit der anderen Hand um ihn herum, um den Computer auszuschalten und das Spiel aus dem Disket tenlaufwerk zu nehmen. Tonys Gesicht spiegelte sich in dem jetzt dunklen Schirm des großen Fernsehgerätes. Er sah Carl an. »Wer ist das, mit dem Mom da redet?« »Kein böser Mann.« Tony blieb noch einige Augenblicke lang dort sitzen, dann langte er mit der linken Hand hoch, stieß Carls Hand von seiner Schulter und schlüpfte vom Stuhl herunter. »Big Dog!« rief er. »Komm mit raus!« Der Wolfshund sprang auf die Füße und folgte Tony zu den Verandatüren. Der Junge war im Stehen nur wenig größer als der Hund. »Nicht alle Menschen sind böse, Tony«, sagte Carl zu ihm. »Du weißt doch, daß ich niemanden ins Haus lassen würde, der dir was antun will.« Der Junge zögerte auf der Schwelle zur Veranda. Die Vorhänge begannen sich unter einer Brise zu blähen, die vom Golf von Mexiko herüberwehte. Er schaute etwas verbittert. Vielleicht, dachte Carl, hatte er etwas Falsches gesagt. Aber, auf der anderen Seite, schien so ziemlich alles falsch zu sein, was er zu Tony sagte. Verdammt lau 65
nischer Bengel. .. Carl lächelte über das ganze Gesicht. Tiefe Fältchen gruben sich in die Ecken seiner Augen. Manche Tage waren halt nicht so gut wie andere. Er würde Tony schon auf seine Seite bekommen, wenn er sich rich tig hineinkniete. »Hast du was Bestimmtes vor?« fragte Carl. »Ich will nur nach draußen.« »Ich muß für eine Weile in die Stadt, Tony. Ich werde erst spät in der Nacht zurück sein. Wie war's, wenn ich dir ein paar neue Abfalltonnen-Kids mitbringen würde. Das war doch okay, oder?« »Ja«, sagte Tony. Über das Angebot mußte er nicht lange nachdenken. Er war immer noch verrückt auf seine Samm lung von Abfalltonnen-Kids, obwohl er den miesen Kau gummi nicht mochte, der immer dabei war. Man konnte gar nicht genug von diesen scheußlichen Karten erfinden, um Tonys Bedarf zu decken. Er hatte schon damit begon nen, sich seine eigenen Namen auszudenken: Spindel dürre Hedda, Strumpfloch-Hanna, Friedhofs-Sal. . . »Na, ist das nicht 'ne kleine Umarmung wert?« wollte Carl wissen, aber Tony war s chon durch die Tür ver schwunden, vielleicht, weil er mit so etwas gerechnet hatte. »Dann hol' ich mir meine Umarmung eben später«, sagte Carl zu seinem Spiegelbild auf dem dunklen Bild schirm. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich ein wenig im Stich gelassen. Auf seinem Rückweg von Krogers Supermarkt in Port Bayonne begegnete Tomlin Carl, der hinterm Lenkrad eines Mercedes 450 SL Sportcoupe saß. Kleine Scheiben wischer für die Scheinwerfer. Die Art Auto fuhr der Typ also. Carl trug einen Mantel und eine Krawatte. Er hupte und lächelte, das Haar wehte von seinen Schläfen nach 66
hinten. Er wirkte wie ein Mann, der das Leben zu genie ßen wußte. Tomlin hatte die Fenster des Wohnmobils offengelas sen, um einmal kräftig durchzulüften. Es lief bereits ein 220-Volt-Kabel vom Generator-Schuppen hinter dem Haus zum Bus herüber. Er brauchte es nur noch einzu stecken. Der Campingbus war mit gutem Teppichboden ausgelegt, die Platten auf den Wandschränken waren ent weder aus Marmor oder aus massivem Holz, Eichen schränke, eingebaute Stereoanlage, Satellitenfernsehen, Kühlschrank mit Fassungsvermögen von einem Kubik meter. Im Badezimmer war Platz genug für eine Bade wanne, und der Bettrahmen im Schlafzimmer hatte wahr haft königliche Ausmaße. In die Bettkonstrukt ion war eine elektrische Fußleistenheizung integriert. Mehr konnte man wirklich nicht verlangen. Ein ganzes Stück mehr Lebensraum, als er selbst auf dem größten aller Flugzeugträger zur Verfügung hatte. Aber er war schlech ter Laune. Irgendwas machte ihn unzufrieden. Vielleicht war es einfach nur seine Entscheidung, für eine Weile hierherzukommen. Er trat wieder ins Freie, nachdem er die Lebensmittel abgestellt hatte, und sah den kleinen Tony, der ihn aus einer Entfernung von ungefähr zehn Metern beobachtete, während er träge mit einem Stock auf den Rasen ein schlug. Der riesige Wolfshund jagte am Waldrand hinter einem Eichhörnchen her. »Hi, Tony«, sagte Tomlin. Der Junge antwortete nicht, aber er fuhr damit fort, Tomlin zu beobachten, auch wenn seine Augen im Schat ten des Gegenlichts der Sonne blieben. Er schlug jetzt et was heftiger mit dem Stock zu. »Möchtest du mal einen Blick hineinwerfen?« Tony traute der Einladung nicht. Oder er traute Tomlin 67
nicht. Er schüttelte nur kurz den Kopf und trottete davon. Tomlin ging wieder hinein, riß sich eine Dose Bier auf, die noch kalt gewesen war, als er den Supermarkt verlassen hatte, machte es sich in dem mit einem Schafpelz bezoge nen Fahrersitz des Campingwagens bequem und schaute durch die große, aerodyn amisch gestylte PanoramaWindschutzscheibe hinaus, den Bayou entlang bis hinaus zum flimmernden Horizont, wo er mit der Meerenge eins wurde. An den Stellen, wo das Süßwasser in Salzwasser überging, waren viele Vögel in der Luft, einige der Fisch adler nahmen ihre Mahlzeit ein. Außerdem sah er ein paar herrliche blaue Reiher. Anita modellierte in ihrem Atelier solche Vögel. Meistens mit ihrer linken Hand. Die Kraft kehrte nur langsam in die verkrüppelte rechte Hand zu rück. Ihre Vögel hatten so ein starres, gestrecktes Ausse hen. Das hatte sich in sein Gedächtnis eingegraben, ebenso wie die Lady selber. »Mist' Clay?« Opal klopfte an die geöffnete Tür und unterbrach seine Tagträumerei. Sie hatte einen Stapel frischer Leintücher für ihn. »Ich werde Ihnen das Bett machen, Mist' Clay.« »Vielen Dank, Opal.« Sie entdeckte die Tragetüten auf dem Eßtisch und legte die Laken aus der Hand. »Lassen Sie mich erst diese Le bensmittel verstauen. Übrigens, Mrs. Jeffords bittet Sie, heute abend mit ihr und Tony zu essen.« »Um welche Uhrzeit?« »Oh, sie essen früh. Halb sechs, wenn es Ihnen recht ist.« »Das ist mir recht.« Tomlin wirbelte mit dem Fahrersitz herum, damit er Opal dabei zusehen konnte, wie sie seine Einkäufe sortierte. Einige der Sachen wanderten in den Kühlschrank, andere in eines der Wandregale. 68
»Seit wann arbeitest du schon hier, Opal?« »Seitdem die Jeffords hier runtergezogen sind und mich angestellt haben.« »Also seit etwa einem Jahr.« »Ja, Sir.« »Und wie lange hat's gedauert, bis der gute Carl ver sucht hat, dich ins Bett zu kriegen?« »Das hat er versucht, als wir das erste Mal miteinander allein waren. Ich hab' zu ihm gesagt, Mister, hab' ich ge sagt, es wird Ihnen leid tun, wenn Sie das noch einmal tun.« »Aber sie magst du doch ganz gerne, oder?« »Mrs. Jeffords ist eine gute Frau. Was sie auf sich ge nommen hat, mit. . . Opal, halt den Mund.« »Was ist mit Tony los?« Opal antwortete nur zögernd. »Ach, wissen Sie, er ist furchtbar schüchtern.« »Schüchternheit ist eine Sache. Mir kommt es aber vor, als hätte er richtig Angst vor etwas.« »Aber er kann so süß sein«, sagte Opal, und in ihrer Stimme lag die Entschlossenheit, ihn in Schutz zu neh men. »An seinen guten Tagen kommen wir prächtig mit einander aus.« Sie sah Tomlin an. »Mist' Clay, wissen Sie, ich klatsche nicht gerne über die Leute, für die ich arbeite. Wolfdaddy sagt, das sei der erste Schritt zur Verdamm nis.« »Tut mir leid, Opal, aber ich bin nun mal furchtbar neu gierig, was die Leute betrifft, die in meinem Haus woh nen.« »Das ist schon in Ordnung, Mist' Clay. Ich verstehe das. Ich weiß, daß in Ihrem Herzen keine Bosheit lauert. Nun, Sie werden ja einige Tage hierbleiben. Ich schätze, Sie werden Zeit finden, mit eigenen Augen zu sehen, was Sie wissen wollen.« 69
Tomlin trank sein Bier aus. »Was gibt es zum Abendes sen, Opal?« »Gebratene Hähnchen.« »Ich wette, das hat Chessie dir beigebracht.« »Ach, Chessie. Wenn's um gebratene Hähnchen geht, könnte ich ihr Nachhilfestunden geben.«
5. Kapitel Der fünf Hektar große Besitz in Alpine, New Jersey, war von einem Popsänger gemischter Hautfarbe bewohnt worden, der bei einer Plattenfirma unter Vertrag stand, an der die Barzatti-Familie beträchtliche Anteile besaß. Der Junge sah aus wie ein elfenhafter Waldgeist, der von Dis ney-Zeichnern erdacht und anschließend in Steinkohlen teer getaucht und trockengefönt worden war, aber er hatte es immerhin auf fünfmal Platin gebracht, bevor die Teenager ihm ihre Gunst entzogen und er Ärger mit dem Finanzamt bekam. Die Plattenfirma hatte das Haus über nommen, hatte den Besitztitel durch das verzweigte Laby rinth der Barzatti-Unternehmungen geschleust, und ir gendwann nach einigen Renovierungen und einer gründ lichen Ausmistung der Einrichtung war Aldo Barzatti von seinem Haus in Long Beach, wo die feuchten, kalten At lantikwinter seinen alten Knochen gar zu heftig zugesetzt hatten, nach Jersey gezogen. Don Aldo verließ das Grundstück nur noch selten, um die Clubs in der Mulberry Street in Manhattan zu besu chen oder im Ozone Park draußen beim Flughafen , der eine der Haupteinnahmequellen für das Einkommen sei ner blühenden Familie darstellte. Er liebte die Abgeschie denheit der Wälder von Alpine, und er liebte seinen ge 70
heizten, überdachten Swimmingpool. Der stellvertre tende Chef der Familie kam immer zu ihm, wenn es um Geschäfte ging, die seine persönliche Kenntnisnahme er forderten. Mit den Bossen der anderen Familien in den großstädtischen Zonen verkehrte er meistens über Boten, er sah sie nur bei den Sitzungen der Ausschüsse oder bei bedeutenden Hochzeiten und Begräbnissen. Der Don war achtundsiebzig Jahre alt, sein Bruder Johnny (>Rip-DogGoldenen Fallschirm< nennen. Es handelt sich um Doyles Abfindung für seinen Weggang nach der feindlichen Übernahme der Mehrheit, die er für uns in die Wege ge leitet hat. Zusätzlich kriegt er von uns noch anderthalb Millionen in Form von Schweizer Rentenpapieren.« Rip-Dog leckte die Spitze seiner teuren Zigarre feucht und sagte mit jenem Aufblitzen von Feindseligkeit, das 74
die jungen Hüpfer in der Familie immer noch in Angst und Schrecken zu versetzen wußte: »Mr. Doyle ist ein/zglio di puttanal« Mark erwiderte: »Heutzutage nennt man so jemanden einen Wirtschaftskapitän. Es könnte schlimmer sein. Doyle hat versprochen, nicht in die Politik zu gehen. Also, ich habe noch einen Punkt auf der Geschäftsord nung, für den noch kein Computerbild vorliegt. Carlo hat da unten in Mississippi kein Moos unter seinem Hintern wachsen lassen. Er hat ein hübsches Paket Grundbesitz an der Küste aufgetan, das man mit den richtigen Verbin dungen in Hotelbauland umbenennen lassen könnte. Dazu müßte man allerdings mit einem der ortsansässigen Bauern ein ernstes Wörtchen reden. Finanzieren könnten wir das Ganze über unsere neue St. -Maartens-Dachgesellschaft, durch eine Aufgabe bevorrechtigter Schuld verschreibungen. Natürlich nur, wenn ihr alle zustimmt.« Rip-Dog und Gabriel Solvarro nickten und versuchten dabei den Eindruck zu erwecken, sich mit bevorrechtigten Schuldverschreibungen bestens auszukennen. Der Don schien ebenfalls zu nicken, es war allerdings auch mög lich, daß er nur eingeschlafen war. »Das war's dann«, sagte Mark, und Frank schaltete die Zentraleinheit aus. Die beiden jüngeren Männer sammel ten ein paar Papiere zusammen und steckten sie in ihre poo-Dollar-Aktenkoffer. »Wer spielt mit mir 'ne Partie zecchinettal« wollte RipDog wissen. »Ich glaube, ich schaue mir das Footballspiel an«, sagte Gabriel. Er hatte bei der letzten Partie an die viertausend verloren. Rip-Dog schaute seinen Sohn herausfordernd an. Frank stöhnte. »Papa, du weißt doch, daß ich kein Karten spieler bin.« 75
Rip-Dog rieb sich fröhlich die Hände. »Ich weiß, ich weiß.« Der Don, der sich in seinem Sessel nicht gerührt hatte, sah auf und zeigte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewe gung seines Kopfes an, daß die anderen gehen sollten. Zu Mark sagte er: »Du bleibst noch einen Moment.« »Jawohl, Sir.« Als sie allein waren, suchte der Don nach dem Knopf, mit dem er seinen Monitor ausschalten konnte. Mark mußte ihm helfen. »Ich sage ja gar nicht, daß es nicht eine wunderbare Er findung ist. Unsere Geschäfte lassen sich leichter abwik keln, seitdem Dominic die Computer installiert hat.« »Und auch sicherer. Niemand Unbefugter kommt hin ein.« Der Don betrachtete die Ringe an seinen riesigen Hän den. Selbst wenn die Finger sich auf dem Tisch abstützen konnten, zitterte die Hand etwas. »Also, nun sag mal, wie hat Dominic seinen Ausbruch nur so effektiv bewältigen können?« »Überraschung. Brutale Gewalt. Er war unbekleidet, als er in den strömenden Regen hinauslief. Er plünderte ein geparktes Auto, erbeutete die Uniform eines Wachbeam ten und mac hte sich auf den Weg nach Süden. Das alte Ehepaar gabelte er in einer Kirche auf. Ich nehme an, daß sie ihm vertrauten. Wer würde einem Wachbeamten auch nicht trauen?« »Das alte Ehepaar - das war also Dominics Werk?« »Ja. Sie haben über die Samen im Körper der Frau die Blutgruppe rausbekommen.« »Das ist ja erstaunlich. Wie funktioniert denn das?« »Lo so ehe e.« »Antonia hat mich heute mindestens zehnmal angeru fen. >Hast du was von Dominic gehört?< Wahrscheinlich 76
plant sie eine Willkommensparty. Die Liebe einer Mutter ist schon eine merkwürdige Sache.« »Er wird bald hier sein«, sagte Mark. Der Don zuckte mit den Achseln. »Das ist zu erwar ten.« »Nun, wir haben die Wachposten in der Gegend ver stärkt. Das Alarmsystem wurde erst letzte Woche über prüft, und diese neuen Sensoren sind wirklich . . .« Der Don erhob sich schwerfällig. »Alarmsystem. Sen soren.« Er mußte lächeln, obwohl er Angst hatte. »Das sind doch Spielsachen für jemanden wie Dominic. Er hat schließlich die Programme für die Computer ganz alleine ausgearbeitet. Sie werden tun, was er ihnen befielt. Er ist ein hochbegabter Junge. Er hat uns 'ne Menge Geld einge bracht. Und er hat mir soviel Kummer bereitet. Ich weiß nicht, warum er so ist, wie er ist. Ich glaubte immer, daß Antonia ein bißchen verrückt war. Zuviel Religion, ver stehst du? Für Frauen mag das in Ordnung sein, aber nicht für Männer. Diese Priester. Ich habe noch nie einem Mann getraut, der verleugnet, daß er Eier hat.« »Angel wird es nicht schaffen, hier einzudringen«, ver sprach Mark. »Was soll das? >AngelLord, Lord, You Sure Been Good to Me.< Sie hatte schon immer vorgehabt, einmal die Straße entlangzuge hen und sich einen dieser Gottesdienste anzusehen, an de nen Opal so häufig teilnahm. Sie war sich sicher, daß man sie willkommen heißen würde, wahrscheinlich würde ihr der Gesang sogar Spaß machen, auch wenn sie die Lieder nicht alle kannte. Ein langer Weg von ihrer katholischen Kindheit bis dorthin, dachte sie. Aber ihre eigene Religion bedeutete Anita nichts mehr, nur manchmal setzte sie ihr noch zu, in Augenblicken, wenn Schmerz und Schuldge fühle mal wieder aus allen Richtungen auf sie einstürm ten. Nein, heutzutage hatte jeder das Recht, den Glauben zu verweigern. Und wie nannte man so etwas? Ihr nic ht unbeträchtlicher Wortschatz stellte ihr ein Wort zur Ver fügung. Zweiflerin. Der Klang des Wortes paßte genau zu ihrer augenblicklichen Stimmung. Ich bin eine Zweiflerin. Anita ging hinunter in ihr eigenes Zimmer. Früher war es das große Schlafzimmer gewesen. Sie nahm ein Buch von den vollgepackten Regalen. Oliver Twist. Sie nahm es mit in Tonys Zimmer. Er war schon aus der Badewanne und zog gerade seinen Pyjama an. Der Abend war kühl ge worden. Sie machte beide Fenster zu. 86
»Hey, warte mal«, sagte sie, als Tony in sein Bett klet tern wollte. Sein Haar war noch ganz naß. Sie rubbelte ihm mit einem Handtuch kräftig den Kopf. Er strampelte, stöhnte und lachte. Das war der Teil der täglichen Gute Nacht-Zeremonie, der ihr am meisten Spaß machte. Der andere Teil, der, den sie so sehr haßte, konnte manchmal umgangen werden, dann nämlich, wenn er während ihres Vorlesens einschlief. Tony hörte Dickens für sein Leben gern, vor allem des halb, weil sie mit vielen Stimmen vorlesen und den engli schen Akzent so gut nachmachen konnte. Sie hatte das Ohr einer Schauspielerin, auch wenn sie nicht oft auf der Bühne gestanden hatte. My Fair Lady und ein paar OscarWilde-Stücke auf dem College. Tony hörte immer noch aufmerksam zu und war hellwach, als sie das Kapite l zu Ende gelesen hatte. Sie wollte nicht mehr weiterlesen. Sie war unruhig an diesem Abend, verzweifelt. »Bitte.« »Tony. Es reicht für heute. Husch, husch! Zeit zum Schlafen.« »Eine gute Nacht der alten Dame, die ihm >husch, husch< zuflüsterte«, zitierte Tony aus einem anderen sei ner Lieblingsbücher. Anita beugte sich hinunter, um ihm einen Kuß zu ge ben. »Ich bin aber keine alte Dame.« Sie fühlte eine dunkle Furcht, als sei ihr das Schicksal gewiß, zwischen jetzt und Mitternacht dahinzuschwinden. Mein Gott, aber sie hatte einfach einen konfusen Tag hinter sich, und das nur, weil ein Mann gekommen war, der sie interes sierte. Sie sollte sich in die Badewanne legen und hinter her ihr Haar und die Fingernägel machen. Sie hatte sich viel zu lange vernachlässigt. »Wo ist Big-Dog?« fragte Tony, und damit begann der Teil der Zeremonie, der sie so sehr bedrückte. 87
»Am Fußende von deinem Bett, wo er immer ist.«
»Und der Zauberring?«
Anita sah in ihren Taschen nach und brachte einen
ererbten Serviettenring zum Vorschein, mit einem unech ten Saphir, der beinahe die Größe eines Taubeneis hatte. Sie legte ihn auf den Nachttisch neben Tonys Bett. »Den Zauberring vergesse ich schon nicht.« »Wird er heute nacht mächtig sein?«
Sie nickte.
»Du mußt es sagen.«
Anita sagte: »Der Zauberring ist immer mächtig.« »Und was passiert, wenn er mich überfällt, während ich schlafe?« »Der Zauberring wird dich beschützen.« Es hämmerte in ihrem Kopf. Sie sah von Tony hoch, schaute sich im Zimmer um, sah seine Wandtafel, die überquel lenden Spielzeugregale und die Lego-Ausrüstung, die auf sei nem Kleiderschrank aufgestapelt war. »Was wird der Ring mit ihm machen? Sag es?«
»Er wird . . . Der Ring wird ihn in die Luft jagen.«
»In wie viele Stücke?«
»In eine Milliarde Stücke«, antwortete Anita und fragte
sich, ob es ihr wohl gelingen würde, das Zimmer zu ver lassen, ohne daß er ihre Tränen gesehen hätte. »Eine Milliarde Stücke, kleiner als unsichtbar?« »Kleiner als unsichtbar«, versicherte Anita ihm. Sie lä chelte sanft. Tony, der jetzt zufrieden zu sein schien, kuschelte sich tiefer in sein Federbett. Anita schaltete das Deckenlicht aus, aber die Nachttischlampe ließ sie brennen. Dann be gann sie zu weinen. Sie verfluchte die blödsinnigen Trä nen, aber sie konnte nichts dagegen machen. Tony hatte die Augen schon geschlossen. Nur Big -Dog sah ihr zu, wie sie das Zimmer verließ. Sein Schwanz klopfte einmal 88
auf den Fußboden, dann legte er seinen Kopf zwischen die langen Vorderpfoten.
7. Kapitel Carl betrat den Salon von Murray's Driftwood um Viertel nach acht. Er sah Wink Evergood in einer gepolsterten Sitzecke, allein, und setzte sich zu ihm, nachdem er sei nen großen Aktenkoffer auf den Sessel gegenüber gewor fen hatte. »Ich hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet«, sagte Wink erleichtert. Er trug drei Goldketten unter seinem beinahe vollständig aufgeknöpften Hemd, das aus einem so dünnen Stoff war, daß man eine Narbe auf seinem rechten Bizeps hindurchschimmern sah. Carl nickte müde. Wink schaute auf den Aktenkoffer. »Was hast du da mitgebracht?« »Einen riesigen Haufen Papierkram. Optionen auf Landerwerb.« »Ich glaube langsam, daß du so eine Art Workoholic bist. Hat Mace Lefevre dir was besorgt?« »Er kennt die Rädchen, die das meiste Fett brauchen«, antwortete Carl und sah sich nach einer Bedienung um. Er brauchte einen Drink, und zwar schnell. Der Raum war beinahe voll besetzt. Hinter der Bar stand etwas erhöht ein Klavier; die Frau, die darauf spielte, trug ein langes, schwarzes Kleid und hatte sich einen bemerkenswerten, rosa leuchtenden Neonmund geschminkt. Das war so ziemlich alles, was man im Licht des kleinen Decken scheinwerfers von ihr erkennen konnte. Der Mund und die Wimpern, die aussahen wie Fliegenfallen. Beides, so wohl ihr Klavierspiel als auch den dazugehörigen Gesang 89
trug sie eher gedämpft vor. Das war einer der Gründe, weshalb es Carl so gut bei Murray's gefiel. »Du hast 'ne Menge Zeit auf das Geschäft verwandt, stimmt's?« sagte Wink. Carl grinste etwas säuerlich. »Ich hatte ja auch 'ne Menge Zeit zur Verfügung, hier unten im tiefen Süden.« Wink, der immer ziemlich von sich eingenommen war, antwortete mit einem Beweis seiner geistigen Tiefe: »Das ist sicher ein bequemerer Weg, um zu Geld zu kommen.« »Die Gesellschaft, für die ich arbeite, zieht Investitio nen mit geringem Risiko bei möglichst hoher Gewinnaus sicht vor.« Carl verrenkte sich etwas in seinem Sessel, um endlich die Aufmerksamkeit der Kellnerin mit der erd nußcremefarbenen Haut und den Augen wie Holzkoh lenglut auf sich zu lenken. Sie mußte noch war ten, bis ein alter Herr ihr ein Stapel Eindollarnoten auf den Tisch ge zählt hatte. Sie schaute in Carls Richtung und lächelte. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken und wandte sich wie der Wink zu. »Grundbesitz wird immer eine solide Sache bleiben, man muß nur wissen, wo man ihn erwirbt.« »Bitte, Sir?« sagte die Kellnerin. Carl sah in gespielter Überraschung hoch. »Du hast mir also nicht geglaubt«, sagte er. »O doch, ich habe Ihnen geglaubt.« »Aber du bist immer noch hier. Du bist nicht in Atlantic City.« Sie hatte tiefe Grübchen. Ihre Haut war ein bißchen rauh, aber das wurde von ihrem Lächeln überdeckt. »At lantic City, da brauch ich noch etwas Zeit zum Nachden ken.« »Ist doch ein prima Tausch. Sechshundert die Woche, verglichen mit.. . was hast du gesagt, verdienst du hier?« »Zweihundertfünfzig, vielleicht dreihundert, aber das war während der Sommermonate. Ich weiß nicht, ich muß 90
drüber nachdenken. Vielleicht kann ich die Arbeit gar nicht machen.« »Black-Jack-Karten ausgeben? Honey, jedes Kind kann lernen, mit einem Haufen Karten umzugehen. Sie ver passen dir dort eine regelrechte Ausbildung. Du hast doch noch meine Karte?« »Sicher«, sagte das Mädchen. »Schau sie dir bitte noch mal genau an. Auf die Rück seite hab' ich nämlich einen Namen geschrieben, und da neben eine Telefonnummer. Vielleicht bedeutet dir das nicht viel, aber es gibt auf der ganzen Welt höchstens, na, sagen wir mal zehn Leute, die im Besitz dieser Geheim nummer sind. Du mußt nur aus dem Autobus aussteigen und diese Nummer anrufen. Dann sagst du zu dem Mann am Telefon: >Eddie, Carl hat mich gebeten, Sie an zurufen.< Das ist alles. Man wird dich mit all der Höflich keit empfangen, die in unseren großen Ferienhotels üb lich ist. Eddie wird sich persönlich um dich kümmern.« »Und was bekommt er dafür?« fragte sie, immer noch lächelnd, nur vielleicht eine Spur skeptischer. »Das Vergnügen, mir einen Gefallen getan zu haben«, antwortete Carl. »Ich werde ernsthaft drüber nachdenken«, versicherte sie ihm. »Gut. Und während du nachdenkst, könntest du mir eigentlich einen Seven-and-Seven bringen. Und, hör mal, äh . . .« »Rochelle.« »Rochelle, wenn du noch etwas mehr erfahren möch test, ich meine, wenn du etwas ausführlicher mit mir über die Sache reden möchtest, ich würde dir mit Ver gnügen die Zeit opfern. Ich weiß, ich habe für dich schon viel mehr getan, als ich normalerweise für Leute tue, aber ich möchte nicht, daß du über meine Absichten irgend 9i
welche Zweifel hegst. Ich will dir wirklich nur weiterhel fen.« »Ich weiß das zu schätzen.« »Carl.« »Carl.« Sie ging hinüber zur Bar, und Carl seufzte leise. »Mein Gott, was für ein Rohmaterial. Und was macht sie damit?« »Sie bumst diesen erstklassigen Flieger drüben in Kees ler, das macht sie damit. Und deshalb wird sie auch nicht aus Biloxi weggehen.« »Verfluchte Liebe«, meinte Carl verzagt. »Die ist völlig benebelt. Die hat nicht mal kapiert, was du meintest, als du gesagt hast, du würdest ihr deine Zeit opfern.« Carl sah auf seine Uhr mit den vielen Druckknöpfen und wechselte das Thema, um bessere Laune zu kriegen. »Wann treffen wir die Mädchen?« »Um neun. Ich hatte mir schon gedacht, daß du dich verspäten würdest. Ich habe Plätze im Swashbuckler re servieren lassen.« »Mein Gott, ich kann's kaum erwarten. Wen hast du heute abend für mich?« »Cindalou.« »Jesus, die Bissige«, sagte Carl, aber er schien nicht eben unglücklich über Winks Wahl zu sein. Wink trank sein Glas Bier aus und sah sich im Raum um. »Scheint so, als hätten wir mächtig Dusel mit Don nerstagnacht. Der tropische Or kan ist über die Keys in Florida gefegt und hat sich dem Landesinneren zuge wandt. Vielleicht etwas Regen und Wind, aber der Golf wird nicht übermäßig aufgewühlt sein.« Carl rieb sich über sein mitternachtsblaues Kinn und sagte mit einem Anflug von Gereiz theit: »Ich habe doch ein kleines Problem mit Donnerstagnacht.« 92
Wink starrte ihn ein paar Sekunden an, bevor er sagte: »Was für ein Problem?« »Der Typ, von dem wir das Haus gemietet haben, ist plötzlich aufgekreuzt. Er will 'n paar Tage bleiben. Ich konnte nichts dagegen machen.« »Wie heißt der Bursche?« »Clay Tomlin.« »Tomlin. Sieh an. Ich bin ihm begegnet, gestern, glaub' ich, drüben am Bluebelle Marina. Teufel auch. Weißt du, wir hatten mal miteinander zu tun, er und ich. Bei einem Basketballspiel. Ich hab' ihm all die Dinger verpaßt, mit denen ich durchkam, schließlich hat er mich mit dem El lenbogen unterm Kiefer erwischt. Mann, ich hab' drei Monate lang flachgelegen. Das hat uns damals wahr scheinlich die Meisterschaft gekostet. Ich hatte sieben von dreizehn reingelegt, bevor Feierabend war. Clay Tomlin.« Wink lehnte sich behaglich zurück und erin nerte sich lächelnd. Dann dachte er an das, was vor ihnen lag. Die möglichen Komplikationen gefielen ihm über haupt nicht. »Nun, wir haben unsere fest en Lieferfristen, so ist das nun mal. Unser Mann in Atlanta will das Zeug pünktlich haben, und ich möchte weiß Gott vermeiden, daß erstklassiger Koks im Wert von zwei Millionen und sechshunderttausend nach Mexiko zurückgeschifft wird.« Wink hatte den letzten Silben den Rhythmus eines Jive gegeben, indem er sie mit Fingerschnipsen begleitet hatte. Rochelle erschien mit Carls Seven-and-Seven. »Ich denke nach«, sagte sie. »Ist das ein Mädchen«, seufzte Carl. Wink bestellte noch ein Miller's vom Faß und warf sich ein paar von den spanischen Erdnüssen in den Mund. »Und was gedenkst du zu tun?« fragte er Carl. »Ihn von dort wegzubekommen.« 93
»Yeah«, sagte Wink kauend. »Nichts Gefährliches. Nichts, was Aufmerksamkeit er regen könnte.« »Okay.« Carl nahm einen kräftigen Schluck von seinem Sevenand-Seven, dann sah er Wink an. Wink sagte: »Nun, er ist gerade aus der Navy ausgetre ten, stimmt's?« Carl zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, er hat so etwas zu mir gesagt. Vielleicht könnte er einen kleinen Check gebrauchen, drüben, in der Klinik für Kriegsveteranen.« Carl nickte. »Könnte sein. Drei oder vier Tage im Kran kenhaus. Nichts Ernstes.« »Was fährt er für ein Auto?« »Einen weißen Corvette.« Wink schnalzte mit der Zunge. »Diese verdammten Navypiloten. Ihre Flügel reichen ihnen nicht, nein, sie müssen auch noch einen Corvette fahren.« »Ja. Und er haust draußen in dem Wohnmobil, das sei nem Bruder gehörte.« »Okay«, sagte Wink, »mach dir keine Sorgen. Ich werde mit meinem Cajun-Cousm reden. Mir und Tom Paul wird schon was einfallen.« Rochelle stellte das Bier vor Wink auf den Tisch und beugte sich runter, um Carl etwas ins Ohr zu flüstern. »Um noch mal auf Ihr Angebot zurückzukommen, ich würde tatsächlich ganz gerne etwas ausführlicher mit Ih nen über die Sache reden. Wenn Sie Zeit haben.« »Ich habe Zeit, wann immer du Zeit hast«, antwortete Carl auf der Stelle. »Wann bist du hier fertig?« »Halb eins.« »Ich werde hier sein«, sagte Carl. Als Rochelle außer Hörweite war, sagte Wink: »Du solltest ihr etwas über die üblen Angewohnheiten erzäh 94
Jen, die ich in Spielcasinos beobachtet habe. Wenn man chen Typen die Karten nicht gefallen, werfen sie mit Aschenbechern nach den Ausgebern oder spucken ihnen ins Gesicht. Na, egal. Soll ich dich bei Cindalou entschul digen?« »Was redest du da? Es ist erst fünf nach halb neun. Wir werden was essen, ich werde sie ficken, und um Mitter nacht bin ich wieder hier.« »O Junge«, sagte Wink und grinste. »Nun sag mir mal, bist du schon auf schwarzes Fleisch gestanden, bevor du hier in den Süden kamst?« »Weißt du was, ich hatte noch nie welches. Aber ich bin nun mal einer, der hinter jedem Arsch her ist, der einiger maßen wohlgeformt ist.« Wink sah noch einmal hinüber zu der Kellnerin mit den Grübchen und der Haarfrisur im Tina-Turner-Stil. »Nun, könnte 'ne ganz amüsante Angelegenheit werden, wenn sie im Liegen genau so 'ne gute Figur macht wie aufrecht.«
8. Kapitel Gegen elf war die Temperatur unter 15 Grad gesunken, aber Anita ließ ihre Schlafzimmerfenster geöffnet. Sie mochte es kühl. Von der >Kirche zum Tor des Himmels< des >Evangeliums des Richtigen Weges< war keine Musik mehr zu hören, es erklang nur noch die Musik von Gottes niederen Kreaturen, den Kröten und Nachtvögeln. Offen sichtlich hatte Clay Tomlin ein Fenster seines Cam ping wagens offengelassen, denn sie konnte seinen Fernseher hören. Es lief ein Basketballspiel. In Carls Zimmer, gleich neben einem gemeinsamen Bad, das er nie benutzte, befanden sich sechs Kontrollmo 95
nitore hinter den Türen eines Wandschranks. Sie s elbst hatte einen kleinen Monitor in ihrem Zimmer, auf einem Bücherregal. Man konnte das Bild mit einer Fernbedie nung umschalten, die Kameras beobachteten alle Seiten des Hauses und das Gebiet bis hinunter zum Bootsanle ger. Die Bilder auf den Monitoren waren deutlich und klar, denn das Flutlicht blieb die ganze Nacht über in Be trieb. Sie fragte sich, ob die Scheinwerfer Tomlin wohl stören mochten. Und außerdem fragte sie sich, wann er ihretwegen wohl Fragen stellen würde, und wegen der Kameras, und was sie ihm dann wohl antworten sollte. Um Viertel nach elf ging sie den Flur entlang, um noch einmal nach Tony zu schauen. Er schlief ganz an der Bett kante. Der eine Fuß hing beinahe bis auf den Fußboden. Sie veränderte seine Lage und zog die Bettdecke zu recht, ohne ihn aufzuwecken. Big -Dog war aufgestanden und streckte sich. Er wollte nach draußen. Sie ging mit dem Wolfshund nach unten und hinaus auf die vordere Ve randa. Sie sah zu dem Campingbus hinüber und dachte über einen Grund nach, hinzugehen. Die Anziehungs kraft war beinahe unwiderstehlich, und sogar ein bißchen aufregend war es. Anita fröstelte im Nachtwind, sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie hatte zwar eine Strickweste angezogen, aber ihre Beine waren nackt. Die Tür des Wohnmobils w ar nur angelehnt, sie klap perte ein bißchen im Wind. Das wäre eine ausreichende Entschuldigung, dachte sie. Sie wollte schließlich nur kurz reinschauen, um zu sehen, ob mit ihm alles in Ord nung war. Sein Benehmen nach dem Abendessen war ihr immer noch rätselhaft. Anita überquerte die Rasenfläche und die Auffahrt. Ein paar Meter von der Seite des Busses entfernt blieb sie ste hen. Er hatte nur ein Licht an und den Fernseher. Sie war schon einige Male in dem Ding dringewesen, um sich 96
umzuschauen. Opals Bruder Roland, der den Garten und die Arbeiten um das Haus herum machte, wusch den Campingbus von Zeit zu Zeit und fuhr ein bißchen mit ihm herum, um zu überprüfen, ob noch alles funktio nierte. Trotzdem müßten die Reifen mal ausgewechselt werden, sie waren jedem Wetter ausgesetzt und rotteten vor sich hin. »Clay?« »Ja.« Er antwortete auf der Stelle, aber sie war sicher, daß er geschlafen hatte. Schnelles Reagieren nach dem Aufwachen war eine der Anforderungen, die sein Beruf an ihn gestellt hatte. Sie hatte ihn eigentlich nur auf die klappernde Tür auf merksam machen, sie zuschlagen und wieder ins Haus gehen wollen. Statt dessen fragte sie ihn: »Darf ich rein kommen?« »Sicher.« Anita öffnete die schmale Tür und betrat den Camping bus. Ein Nachtlicht unter dem Wandschrank über der Eßecke brannte. Tomlin hatte sich auf dem Sofa hinter dem Fahrersitz ausgestreckt, die Schuhe hatte er ausgezo gen und sich ein Kissen unter den Kopf geschoben. Er sah gar nicht auf den Fernseher, der über der Windschutz scheibe montiert war. Er hatte die Augen offen, machte ein freundliches Gesicht, aber er sah sie nicht an. »Die Tür war nicht richtig zu«, erklärte Anita. »Wenn nicht soviel Wind wäre, hätten die Mücken Sie schon bei lebendigem Leib gefressen.« »Ich muß eingenickt sein.« Er rührte sich nicht. »Wie war's mit einem Drink?« »Nein, danke, ich glaube nicht. Es ist schon spät. Ich kann nicht hierbleiben. Ich wollte nur Big -Dog noch ein bißchen rumlaufen lassen.« »Wie spät mag es sein?« Er hatte die Armbanduhr am 97
Handgelenk, nur ein paar Zentimeter von seinem Kopf entfernt, aber er sah nicht drauf. Er hörte dem Reporter des Basketballspiels zu. Die Hawks spielten im Golden State. »Zwei Minuten noch«, murmelte er. »Was mag wohl mit dem Sieben-Punkte-Vorsprung passiert sein?« Zu Anita sagte er: »Mögen Sie Basketball?« »Nein. Lieber Baseball. Als ich klein war, hat mein Va ter mich immer zu den Yankees mitgenommen.« Auf dem Tisch in der Eßecke lagen eine Ausgabe der Navy Times und ein abgestoßener Fliegerhelm. Über den Fliegerhelm lief von vorne nach hinten ein schwarz-weiß karierter Streifen, und auf der Seite war mittels einer Schablone der Name Rattler angebracht. »Rattler. Sind Sie das?« »Ja. Bei der Navy hat jeder einen Spitznamen.« Er setzte sich auf und reckte sich. Noch immer sah er sie nicht an. Trotzdem fühlte sie sich weder links liegengelassen noch unwillkommen. »Sind Sie sicher, daß Sie keinen Drink wollen?« »Nun . .. wenn Sie ein Bier hätten . . .« »Kühlschrank«, sagte Tomlin. »Gegenüber vom Mikro wellenherd. Ich hätte auch ganz gerne eins.« Ein ganzes Regal des Kühlschranks stand voller Dosen mit Miller's. Anita riß zwei von ihnen auf und brachte sie zum Sofa hinüber, wo Tomlin jetzt saß und ziemlich un bestimmt auf die geschlossenen Jalousien des Fens ters ihm gegenüber starrte. Anita sah ihn an, und ganz plötz lich und unerwartet lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hätte nicht sagen können warum. Sie streckte ihm eine der Bierdosen entgegen. Er achtete gar nicht darauf. Nach ein paar Sekunden drehte sie sich um und stellte ihr Bier auf den Tisch mit der Lampe, dann wandte sie sich wieder Tomlin zu. Nach einem erneuten, schwächeren Schau dern nahm sie seine Hand und drückte ihm vorsichtig das Miller's hinein. Er berührte die Oberseite mit dem Zeige 98
finger, um zu fühlen, wo die Öffnung war, dann trank er, ohne seinen starren Blick auch nur ein wenig zu senken. »Danke«, sagte er. Anita setzte sich neben ihn. »Ich . . . verstehe nicht. . . was . . .« »Es ist eine extreme Form der Nachtblindheit. Es ist nicht erblich, und, Gott sei Dank, es ist keine Degenera tion. Soviel man weiß, handelt es sich um einen Mangel an bestimmten Enzymen, die verantwortlich für die Pro duktion des Sehpurpurs und das generelle Funktionieren der retinalen Zellmaschinerie sind. Oder, das ist auch möglich, die Enzyme sind zwar da, aber sie tun in künstli chem Licht ihren Job nicht richtig.« »Faule Enzyme?« Tomlin grinste etwas jämmerlich und nahm noch einen Schluck Bier. »Sie können jetzt überhaupt nichts sehen?« fragte sie. »Nein. Es ist genauso, als säße ich in einem Wand schrank, dessen Fugen man mit Teerpappe verklebt hat. Mein Sehvermögen hört auf oder fängt wieder an bei einer Helligkeit von etwa 2500 Lux. Das ist ein bißchen weniger, als die Sonne produziert, wenn sie an einem wolkenlosen Tag kurz über dem Horizont steht. Dann kann ich gerade noch Umrisse erkennen und Farben un terscheiden. Das Tageslicht am Mittag eines sonnigen Ta ges hat etwa 113000 Lux. In der Jules -Stein-Klinik der Universität Los Angeles hat man rausgefunden, daß ich bei 45000 Lux eine Sehschärfe von zwanzig -zwanzig zu rückgewinne.« »Gibt es nicht Leuchtstofflampen, die das Spektrum des Tageslichts reproduzieren? In Gärtnereien werden Pflanzen auf die Art herangezogen.« »Pflanzen kann man leichter stimulieren als meine Fo torezeptoren. Ich könnte mir Lampen besorgen, die 2500 99
Lux produzieren, aber die würden einen Quadratmeter Platz einnehmen, und ich brauchte fünfzehn oder zwan zig davon, um Zeitung lesen zu können.« »Das Spiel ist zu Ende«, sagte Anita mit einem Blick auf den Fernseher. »Ja, ich weiß. Die Hawks haben mit einem Punkt verlo ren. Was für ein Start in die neue Saison.« »Gott sei Dank«, sagte Anita. »Wieso? Mögen Sie die Hawks nicht?« »Ich spreche nicht von dem Spiel. Als Sie heute abend das Eßzimmer verlassen haben . . .« »O ja, das muß einen fantastischen Eindruck gemacht haben. Ist der Fleck wieder rausgegangen?« »Natürlich, machen Sie sich bloß deswegen keine Sor gen. Aber ich . . . ich habe an die fürchterlichsten Dinge gedacht. Es . . . es hätte ja auch ein Gehirntumor sein kön nen.« »Nein, so tragisch ist es nicht. Das Problem hat mich meine Karriere gekostet, und es erschwert mir das soziale Leben. Ich werde mich langsam dran gewöhnen müssen.« Er hatte seine Bierdose leergetrunken und faltete sie nun systematisch zusammen. Sie hatte das schon bei Carl ge sehen und sich über diese kindische Angeberei amüsiert. Jetzt bewunderte sie die Kraft in Tomlins Fingern und Handgelenken. »Soll ich Ihnen noch eins bringen? Sie können aber auch meins haben. Ich habe nur ein, zwei Schlucke ge trunken.« »Danke«, sagte er, und sie gab ihm ihre Dose. »Und da gibt es nichts . . .? Eine Operation oder . . .« »Nein. Den Spezialisten im Johns Hopkins und am Wills Augeninstitut in Phila delphia ist jedenfalls nichts eingefallen. Am Wills haben sie einiges ausprobiert, sie haben Calmodulin und PDE in die Glaskörperflüssigkeit 100
injiziert. Das sollte den retinalen Zellen helfen, sich an geringere Lichtintensität anzupassen. Das taten sie auch, aber dadurch stieg der Augendruck, und das hätte mein allgemeines Sehvermögen auf Dauer schädigen können. Also entschied ich, der Natur ihren Lauf zu lassen und meine Rolle als Versuchskaninchen an den Nagel zu hän gen.« »Kann ich Ihnen nicht verdenken. Wenn ich Ihnen ir gendwie eine Hilfe sein kann . . .« »Vielen Dank. Nun, solange ich einen Platz habe, wo ich mich in der Nacht verkriechen kann, ist alles in Ord nung. Die Winter sind kurz hier an der Küste, und von März bis November sind die Tage lang genug. Die Fern bedienung liegt da auf dem Tisch, falls Sie die Nachrich ten sehen wollen. Ob wir heute mal wieder mit jemandem einen Krieg angefangen haben.« »Die Fliegerei muß Ihnen mächtig fehlen.« »Ja. Ich vermisse sie sehr. Und dann fange ich an nach zudenken. Ich hatte mehr als zwanzig gute Jahre, habe Vietnam überlebt und ein paar von Ghaddafis lausigen Kampffliegern über dem Golf von Sidra. Also, worüber sollte ich jammern?« Big-Dog bellte draußen auf der Veranda. Anita sagte: »Er hat sein Geschäft erledigt und will rein. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen. Es ist schon spät.« »So spät auch wieder nicht«, antwortete Tomlin und dann, nachdem er vergeblich auf ihre Erwiderung gewar tet hatte: »Ich habe Ihren Mann noch nicht nach Hause kommen hören.« Anita stand vom Sofa auf. Er wandte seinen Kopf und sah ihr gerade ins Gesicht. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob er ihr wohl die Wahrheit über den Zustand seiner Augen erzählt haben mochte. Dann merkte sie, daß er sie weder auf sie noch auf einen anderen Gegenstand 101
scharf eingestellt hatte und daß er nicht mit den Lidern zwinkerte. Sie hätte eigentlich nichts sagen müssen, aber sie sagte: »Das ist nicht ungewöhnlich.« Das klang trocken, aber ohne Bitterkeit. »Und Sie müssen jetzt gehen?« »Ja«, sagte sie, auf einmal verärgert, aber nicht über seine Frage. Anita war schon an der Schwelle, hatte eine Hand auf den Türknopf gelegt, als Tomlin sie noch einmal zurück hielt. »Es wäre mir lieber, wenn das, was Sie jetzt über mich wissen, nicht überall die Runde machen würde.« »Okay. Das verstehe ich.« Sie öffnete die Tür, trat aber nicht gleich hinaus in die Nacht. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß, ihr Herz klopfte auf einmal schneller. Sie war im Begriff, etwas Lächerliches zu tun , und wahrscheinlich war sie verrückt. »Carl ist nicht mein Mann«, sagte sie. Das war alles. Sie sah Tomlin weder an, noch wartete sie auf irgendeine Reaktion von ihm, aber sie hatte sicher schon zwei Drittel des Wegs zur Veranda zurückgelegt, von der herunter Big-Dog ihr fröhlich ent gegengesprungen kam, bevor ihr Herzschlag sich einiger maßen normalisiert hatte. Oben schaute sie noch einmal nach Tony. Macht der Gewohnheit. Manchmal ging sie die ganze Nacht über den Flur rauf und runter, bis sie schließlich zu ihm unter die Decke kroch, um noch ein paar Stunden Schlaf zu fin den, der Verstand völlig erschöpft von den dauernden Zwangsvorstellungen. Heute nacht hatte er wieder die Decke weggestrampelt. Sie ging zum Bett und sah etwas, das vor einer Weile noch nicht dagewesen war: Das Mo dell des Korsar-Düsenflugzeugs, das Tomlin ihm nach dem Abendessen geschenkt hatte. Es lag auf seinem 102
Kopfkissen. Tony hatte es doch im Eßzimmer liegenlas sen, da war sie sich ganz sicher. Als sie ihm die leichte Zudecke zurechtzog und sein Gesicht ansah, kam ihr der Verdacht, er könnte wach sein, auch wenn er die Augen geschlossen hielt. »Er kann in der Nacht nichts sehen, das war es«, sagte sie leise und brach damit bereits das Versprechen, daß sie Tomlin gegeben hatte, aber sie wollte unbedingt, daß der Junge Bescheid wußte, und was konnte das schon scha den?
9. Kapitel In Alpine, New Jersey, klingelte um halb vier am frühen Morgen des 26. Oktober eines der beiden Telefone, die Aldo Barzatti neben seinem Bett stehen hatte. Der Don war wach, er hatte noch nicht geschlafen, ja er hatte noch nicht einmal die Augen zugemacht. Trotz der Änderung der medikamentösen Behandlung machte ihm seine Prostata noch Sorgen. Schon am Klang des Klingeins erkannte er, daß es sich um die interne Hausleitung handelte. Er wandte den Kopf und sah das Telefon an, dabei dachte er mit leichter Ge ringschätzung, aber ohne Furcht: Alarmanlagen. Sensoren. Kinderkram. Der Junge ist ein Genie, das habe ich ihnen doch gesagt. Er hatte außerhalb des großen Steinhauses mit seinen Zwischenstockwerken keinerlei Geräusche gehört. Die äthiopischen Jagdhunde in ihren Zwingern waren ruhig. Don Aldo ließ das Telefon klingeln, aber er sah es un verwandt an. Er dachte darüber nach, was er tun sollte. Ruhig, aber nicht friedvoll. Das Telefonklingeln war leise, 103
es ging nicht an die Nerven, es war nichts als eine beharr liche Bitte um Aufmerksamkeit. Natürlich gab es nur eine vernünftige Art des Vorgehens, auch wenn er das Haus voller picäotti hatte. Aber warum sollte er ein unnötiges Blutvergießen in seinem eigenen Haus riskieren? Jetzt war keine Ausdauer gefordert, sondern Entschlußkraft. Der Schlüssel lag in dem Willen, es endlich hinter sich zu bringen, und vor schwierigen Entscheidungen und ent schlossenen Handlungen war er noch nie zurückge schreckt. Don Aldo rollte sich auf die linke Seite des Betts, von wo aus er das Telefon bequem erreichen konnte. Es hatte zwölfmal geklingelt. Als mit dem sechzehnten Klingeln die zweite Achtergruppe vollständig war, nahm er den Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr, ohne etwas zu sagen. »Hast du mich lieb, Großvater?« fragte ihn der Engel des Todes. »Ja«, antwortete der Don, die Geschwindigkeit des Pulsschlags verursachte ihm Übelkeit, ihm wurde schwarz vor Augen. Er ließ sich in einen ganzen Stapel von Kopfkissen zurücksinken. Die Verbindung war un terbrochen. Als Don Aldo wieder Herr über seine Sinne war, nach etwa dreißig Sekunden, stellte er fest, daß er sich die Pyja mahose ein wenig naßgemacht hatte. Er weiger te sich, die Unterwäsche zu tragen, die den unangenehmen Folgen häufiger Inkontinenz zuvorkommen sollte. Man konnte die Dinger, verdammt noch mal, nennen, wie man wollte, sie waren und blieben nichts anders als Windeln. Don Aldo setzte sich auf die Bettkante und fühlte mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. Als er hineinge schlüpft war, ging er ins Badezimmer, das ein großes, rundes Fenster besaß, durch welches hell die Sterne einer klaren Nacht schienen. Das Badezimmer war mit allem 104
ausgestattet, was man für die Bequemlichkeit und die Hy giene brauchte. Eine marmorne Badewanne mit einem Ge länder, an dem er jetzt entlangging, ein luxuriöser Barbier stuhl aus einem Laden, den er während der zwanziger und dreißiger Jahre in Little Italy geleitet hatte. Er liebte es, tag täglich auf die herkömmliche Art rasiert zu werden, mit kochendheißen Tüchern, zentimeterdicker Rasierseife und dem schlipp-schlapp des Messers auf einem langen, dicken Lederband. Und Pimentöl, jede Menge Pimentöl. Aber der Don hatte s ich trotzdem nie zu einem Sklaven seiner Gewohnheiten machen lassen, und wenn, dann höchstens in seinen eigenen vier Wänden. Das war einer der Gründe, warum er beinahe alle seiner gleichaltrigen Kollegen überlebt hatte. Der Don zog die Pyjamahose herunter und stand vor der Kloschüssel, sein Glied in der Hand haltend. »Wenn du pinkeln willst, dann pinkel jetzt«, brummte er mißmu tig. Aber es dauerte eine ganze Weile. Er zählte jeden ein zelnen Tropfen. Acht. Endlich. Acht war eine schicksal hafte Zahl, da war er sehr abergläubisch. Er war im achten Monat eines Jahres geboren worden, dessen Zahl auf acht endete, als achtes Kind der Familie, das die Geburt über lebt hatte, in einem sizilianischen Dorf, das genau acht Ki lometer vom Meer entfernt lag. Sein Nachname enthielt acht Buchstaben. Während seines Lebens hatte er acht Männer von eigener Hand getötet. Insgesamt hatte er acht Jahre in Gefängnissen abgesessen, und in Las Vegas hatte er einmal 300000 Dollar gewonnen, weil viermal hinter einander die Zahl acht gekommen war. Da es sich nicht um ein präpariertes Roulette gehandelt hatte, war die Wahr scheinlichkeit eines solchen Ereignisses geradezu astro nomisch gering gewesen. Schicksal. Und heute war der 26. Oktober. Zwei und sechs ergeben acht. Die Un er schütterlichkeit dieser Rechnung gab ihm Sicherheit. 105
An seiner Badezimmertür klopfte es. »Ist alles in Ordnung, Mr. Barzatti?« Seine männliche Krankenschwester. Sein Name war Curly. »Ja, ja. Ich versuche gerade zu pinkeln«, brummte der Don. »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid.« »Ich kann nicht schlafen«, sagte der Don. »Vielleicht sollte ich ein Dampfbad nehmen, mit anschließender Massage. Laß mir noch zehn Minuten Zeit.« »Jawohl, Sir«, sagte Curly und ging nach unten, um die Sauna einzuschalten. Der Don zog den Pyjama aus und spülte die Toilette. Dann ging er zurück in sein Zimmer. Beinahe erwartete er schon, Dominic dort auf seiner Bettkante sitzen und auf ihn warten zu sehen. Aber noch war er allein. Dominic würde Zeit und Ort gewissenhaft aussuchen, würde erst kommen, wenn er sich absolut sicher fühlen konnte. In der Zwischenzeit könnten die picdotti ruhig das Haus von oben nach unten kehren, sie würden ihn doch nicht fin den. Tausendneunhundert Quadratmeter auf drei Stock werken, genügend Platz, um sich zu verstecken, auch wenn er sich hier nicht auskannte. Dominics Genie be ruhte nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, sich an äußere Ge gebenheiten automatisch anzupassen, während er sich wie ein hungriges Raubtier auf seine unmittelbaren Be dürfnisse konzentrierte. Seine Stärke war seine Skrupel losigkeit, ein für die ganze Familie typischer Charakter zug, der bei ihm erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Don Aldo zog einen schweren Frotteebademantel an und nahm eine Waffe aus der Schublade seines Nacht tischs, einen 3 8er Revolver mit umwickeltem Hammer. Die Waffe beulte die rechte Seitentasche seines Bademan tels nicht besonders stark aus, vor allem, weil er seine 106
Hand mit hineinsteckte und so die eventuell verräteri schen Umrisse verdeckte. Curly, der weiße Leinenhosen und ein T -Shirt unter dem offenen weißen Kittel trug, kam nach oben, um ihn abzuholen. Mit einem kleinen Fahrstuhl fuhren sie in den Erholungsflügel des Hauses hinunter, der, zusammen mit einem Partyraum, einem Spielzimmer und einer klei nen Turnhalle den großen Swimmingpool-Komplex ent hielt. Es gab dort eine große Sauna mit einem Abkühlbek ken gleich nebenan, eine Dusche und einen Massage raum mit Spinden entlang einer Wand. Die Temperatur in der Sauna betrug 90°, als Don Aldo sie betrat und seinen Bademantel aufhängte. Auf den Holzbänken, die sich auf zwei Ebenen verteilten, wäre ge nug Platz für ein Dutzend nackter Körper gewesen. Curly verzog sich pfeifend in den Massageraum, um die Hand tücher anzuwärmen und seine Utensilien bereitzulegen. Der Don spritzte eine Kelle Wasser auf die bleifarbenen Steinbrocken und setzte sich. Zwanzig Minuten konnte er die Hitze aushalten, länger nicht. Als er die Sauna verließ, den Bademantel über einen Arm gehängt, den Revolver in der Hand, sah er sich vor sichtig um, aber Dominic war nirgends zu sehen. Curly pfiff im Massageraum hinter den Duschen immer noch vor sich hin. Don Aldo sah einen Zipfel seines knielangen Kittels, bevor er seinen Bademantel auf dem langen Flie sensockel neben dem Abkühlbecken ausbreitete. Das trübe, grüne Wasser war zwei Meter tief, es reichte dem Don beinahe einen ganzen Fuß über den Kopf, das Tauch becken hatte einen Durchmesser von zweieinhalb Me tern. Das Wasser, es hatte eine Temperatur von etwa 17°, fühlte sich schockierend kalt an, als er mit zugehaltener Nase hineinsprang. 107
Er blieb lange genug unter Wasser, daß seine nackten Zehen die Leiche am Boden des Beckens fühlen konnten. Don Aldo schaute durch das von Mineralsalzen ge trübte Wasser hindurch nach unten und entdeckte Curly, nackt bis hinunter zur Hüfte. Ein Messer stak in einer im mer noch blutenden Wunde gleich neben dem rechten Schulterblatt. Eine zwanzig Pfund schwere Servierplatte aus dem Inventar des Partyzimmers hatte man ihm als Be schwerung unter den Bund seiner weißen Leinenhose ge steckt. Don Aldo tauchte hustend und prustend an die Ober fläche. Er versuchte zu schreien und seinen Bademantel zu erreichen, den er auf dem Fliesensockel zurückgelas sen hatte, aber er war nicht mehr da, statt dessen hatte der Engel des Todes dort Platz genommen. Er langte hinunter in das Becken, um den Kopf des Alten gleich wieder unter Wasser zu stoßen. Natürlich. Jeder kann vor sich hin pfeifen, dachte der Don, und versuchte sich auf die neue Lage ein zustellen, nicht zuviel Wasser zu schlucken und unnütz Energie zu verbrauchen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Dominic ihn hier in seinem Tauchbecken ersäufen wollte. Er hatte recht, nach ein paar Augenblicken ließ sein En kel seinen Kopf los, und der Don bekam seine Nase hoch genug über Wasser, um einen Atemzug nehmen zu kön nen. Doch er bekam keinen Halt auf den schlüpfrigen Fliesen. Die Leiter war viel zu weit weg. »Dominic . . . du ... was machst du mit mir . . .?« »Ich heiße nicht Dominic. Ich heiße Angel.« »Angel. . . Das war der . . . verrückte Name, den deine Mutter dir . . .« »Mir gefällt Angel.« »In Ordnung . . . ist ja schon gut, aber . . . warum jagst du mir einen solchen Schrecken ein?« 108
»Ich möchte mich an einem Platz mit dir unterhalten, wo uns niemand in die Quere kommen kann.« »Wir werden reden. Aber . . . hilf mir zuerst mal hier raus.« Angel schüttelte ruhig und entschieden den Kopf, er hockte auf einem Knie, den Unterarm auf das andere Knie gestützt. »Dom . . .«, wollte der Don gerade sagen, da mußte er wieder Wasser schlucken. Er tanzte einen Spitzentanz auf dem Rücken des toten Curly, versuchte, das muskulöse Fleisch des Masseurs als Sprungbrett zu benützen, aber seine Kräfte schwanden schnell dahin. »Also gut, Angel. Wir sind doch . . . deine Familie. Oder? Niemand will dir hier Böses. Wir wollen dir ... helfen.« »Ja, Großvater, genau das brauche ich. Hilfe.« »Angel. . . ich ertrinke.« Angel schüttelte wieder den Kopf. Er glaubte nicht daran. »Ich werde dich schon nicht ersäufen. Du sollst mir nur sagen, was ich wissen will.« »Wie könnte ich? Ich . . . muß dich doch schützen, An gel. Ich muß dich .. . vor dir selbst schützen.« Don Aldos Füße rutschten von Curlys Rücken ab, sein Kopf tauchte wieder unter Wasser und schlug hart gegen die Becken wand. Er verschluckte beinahe eine ganze Lunge voll. Als er wieder an die Oberfläche kam, hustete und keuchte er schrecklich, aber der Gesichtsausdruck des Todesengels veränderte sich nicht die Spur. »Ich will meine Frau. Ich will meinen Sohn. Sag mir, wo ich sie finde, Großvater.« »Hör zu. Du weißt doch, was du ihr . . . getan hast. Sie wäre beinahe . . . gestorben.« »Aber es tut mir doch leid, was ich ihr angetan habe. Ich werde ihr bestimmt nicht wieder weh tun.« 109
»Du hast. . . keine Kontrolle über dich«, sagte der Don. Er trampelte jetzt auf Curlys Kopf herum. Seine Lippen zitterten vor Abscheu. »Es ist das . . . Tier in dir. Ich . . . ich habe auch Menschen getötet. Aber doch niemals aus .. . Vergnügen.« »Hast du mich lieb, Großvater?« »Ich werde sie nicht. . . verraten. Ich werde das Unge heuer in dir nicht füttern.« Der Todesengel sah ihn feierlich an, nur die Andeu tung eines Stirnrunzeins verfinsterte sein Gesicht. End lich gelang es dem Don, mit den Fingern etwas Halt auf dem gefliesten Beckenrand zu finden. Er hielt sich jetzt im Wasser, so ruhig er konnte, den Kopf in den Nacken ge legt, sah er hinauf in die bernsteinfarbenen Augen. Ein Mann dürfte keine solchen Augen haben, dachte er. Er zitterte von der Anstrengung, sich über Wasser zu halten. Er wußte, daß er es nicht überleben würde, noch einmal unterzugehen. Schließlich sagte Angel: »Ich werde sie auch so finden. Auf Wiedersehen, Großvater.« Er streckte beide Hände aus. Der Don schloß die Augen, er resignierte, aber wenigstens war er überzeugt, sein Bestes gegeben zu haben. Angels starke Hände griffen ihn unter beiden Achsel höhlen, er wurde aus dem Becken herausgehoben. Seine Knie wollten ihn nicht tragen, Angel mußte ihn mit einem Arm auf den Beinen halten, während er seine Lippen auf die zitternden, eiskalten Wangen des Alten preßte. Don Aldo spürte ein plötzliches Reißen und einen schrecklichen Schmerz an den Geschlechtsteilen, dann sah er etwas aus den Augenwinkeln heraus, ein Aufsprit zen, und etwas von wohlvertrauten Umrissen, das wie ein Fisch im zwei Meter tiefen Wasser trieb und von dem aus ein dünner Faden Blut an die Oberfläche stieg. Eine be 110
täubende Flut von Wärme breitete sich zwischen seinen Schenkeln aus. Er starrte dem Tode sengel direkt in die Augen. »Hast. . . hast du mich getötet?« Er hatte das Messer noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Angel war ein fach viel zu schnell für ihn gewesen. Aber Angel schüttelte nur den Kopf, als hätte sein Großvater gerade eine Gotteslästerung ausgesprochen. »Du bist der Don der Dons«, sagte er. »Ich habe viel zu viel Respekt, um dich töten zu können. Ich habe dir dei nen Schwanz abgeschnitten.«
10. Kapitel Carls nächtliches Abenteuer war nicht ganz so erfolgreich verlaufen, wie er noch großartig verkündet hatte, als er Wink Evergood im Salon von Murray's Driftwood gegen übergesessen hatte. Sie hatten die Mädchen zum Abend essen getroffen, und Cindalou war auch sehr erfreut ge wesen, ihn zu sehen. Schon während des Essens hatten sie unter der schummrigen Beleuchtung miteinander ge schmust, sie hatte ihm feurige Blicke zugeworfen, ihn an allen möglichen Stellen geknufft und gekniffen, aus rau her Kehle über seine Witze gelacht und ihn aus den kunstledernen Speisekarten in Postergröße immer neuen Nachschub für ihren unersättlichen Appetit bestellen las sen. Sie war höchstens einundzwanzig und arbeitete in der First Federal, wo Carl sein örtliches Konto hatte. Sie hatte eine Semi-Punk-Frisur, einen reizenden Schmoll mund und extravagant geschminkte, sündige Augen, dazu trug sie billigen Modeschmuck, gemusterte, schwarze Strumpfhosen, einen hautengen Rock und eine 111
Weste über einer hauchzarten, lavendelfarbenen Bluse. Er hatte ihr ein gutes Parfüm gekauft, neun Dollar hatte die Unze von dem Zeug gekostet, und sie stank so schrill, als hätte sie sich alles auf einmal in den Kragen gekippt. Zwischen Newburg-Crepes und Filets im Speckmantel ging der Abend zum Teufel. Cindalou wurde ans Telefon gerufen, und als sie zurückkam, hielt sie sich den Bauch, hatte den Mund vor Entsetzen aufgerissen, und Hysterie blitzte aus ihren Augen. Kent, ihr Mann, von dem sie ge trennt lebte und der vom Gericht die Auflage hatte, sich von Cindalou und der vierjährigen Tochter Shanda fern zuhalten, war in dem Wohnanhänger-Park aufgetaucht, wo Cindalou mit dem Kind und einer jungfräulichen Tante lebte, hatte das Kind gepackt und war damit in sei nem Wohnmobil verschwunden. Noch bevor es Carl, Wink und Winks Freundin gelungen war, sie aus dem Re staurant zu bringen und ein bißchen zu beruhigen, hatte Cindalou zu schreien angefangen. Carl nahm die Sache in die Hand. Sie riefen die Cops und Cindalous Anwalt an, der in der Notaufnahme des Krankenhauses mit ihnen zu sammentraf, wo man dem Mädchen ein Beruhigungs mit tel gespritzt hatte. Der nächste Schauplatz war das Poli zeirevier, wo die Anzeige gemacht werden mußte, von einer inzwischen schwerfällig murmelnden, schwitzen den Cindalou. Und dann brachten sie Kent herein, in Handschellen, die kleine Shanda war in eine graue Wolldecke gewickelt und klammerte sich an einer Puppe fest, während sie mit wachem Blick alles beobachtete, was um sie herum vor ging. Ein uniformierter Cop der Staatspolizei hatte ihn bei einer Routinekontrolle aufgestöbert, er hatte mit ei ner Leuchtröhre unter seinem klapprigen VW -Bus gelegen, am Rand der Interstate, etwa zehn Meilen westlich von Gulfport, und hatte versucht, etwas am Lenkgestänge zu 112
reparieren. Nachdem der Cop sich Gewißheit verschafft hatte, daß es sich um den per Ha ftbefehl Gesuchten han delte, hatte er Verstärkung angefordert. Kent hatte diese Ablenkung zu einer Flucht ins Gebüsch neben der Straße genutzt, aber er war nicht sehr weit gekommen. Er war etwa eins fünfundsiebzig groß, untergewichtig, und machte in sein em ganzen Auftreten den Eindruck eines Mannes, der es nie schaffen würde, auf eigenen Füßen zu stehen. Als Cindalou ihn erblickte, erwachte sie wieder zum Leben und versuchte, ihm mit ihren zwei Zentimeter langen Fingernägeln die Augen auszukratzen. Es kam zu einem Handgemenge mit viel Geschrei, und Shanda, in ihrem verzweifelten Bemühen um Aufmerksamkeit, brüllte in den Armen einer weiblichen Polizeibeamtin von allen am lautesten. Dann brach Kent schluchzend zusam men, sagte, er kenne seine Rechte, weiß Gott, und wenn ihm in seinem Leben auch niemand eine faire Chance ge geben habe, so könne man ihn doch nicht von seiner klei nen Shanda fernhalten, denn sie sei schließlich alles, was er auf dieser beschissenen, verkommenen Welt noch be sitze. Was für ein großartiger Abend. Es war bereits Vier tel nach zwölf, als Carl das Polizeirevier endlich verließ, und das auch nur, um festzustellen, daß sein Glück sich nicht gewandelt hatte. Als er nämlich zu Murray's Drift wood zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß Rochelle, das farbige Mädchen, bei dem er zum Schuß hatte kommen wollen, wegen einer Migräne früher nach Hause gegan gen war. Aber wo war ihr Zuhause? Das wußte in dem La den auch niemand so ganz genau. Also fuhr Carl zurück zum Haus auf dem Bayou, wo er um Viertel nach eins ankam. Im Wohnmobil war alles dunkel. In Anitas Zimmer war noch Licht. Warum zum Teufel denn nicht, dachte Carl. Sie könnten wenigstens noch ein wenig an ragusano und sizilianischer Wild 113
schweinsalami herumknabbern und zusammen eine Fla sche Roten vom Ätna aufmachen, und dann, vielleicht... ganz vielleicht. . . Aber als er an ihrer Tür klopfte, sagte Anita mit fester Stimme: »Ich lege mich gerade hin, Carl.« So standen die Dinge also. Schlecht gelaunt haute Carl sich allein aufs Ohr, ohne Liebe. Es war vielleicht erst die dritte Nacht seit dem Unabhängigkeitstag am vierten Juli, in der es ihm nicht gelungen war, seinem unersättlichen Appetit auf knackige Mädchenhintern die angemessene Befriedigung zu verschaffen. Er wachte etwa um sieben nach einer nicht besonders angenehmen Nachtruhe auf und fühlte sich gleich nicht so recht auf dem Damm. Ihn fror, weil das elektrische Heizgerät in seinem Schlafzimmer nicht eingeschaltet war. Er hörte draußen auf dem Bayou einen Motor und schlurfte in seinem Countess-Mara-Pyjama ans Fenster, um nachzusehen. Er sah, wie Clay Tomlin in einem der Blechboote, an dessen Heck ein alter, qualmender Evin rude befestigt war, hinaustuckerte. Die Sonne war gerade aufgegangen, aber es war schon reichlich s pät, um zwi schen den Baumstümpfen und in den tiefen Löchern am Rande des Sumpfgrases noch auf Süßwasserfische zu ge hen. Vielleicht fuhr er nur hinaus, um mal wieder einen Blick auf seinen ganzen Besitz werfen zu können. Carl fragte sich, ob sich der Ma nn eigentlich im klaren darüber war, was er hier unten besaß. Mit der Idee im Kopf, seinem abwesenden Vermieter ein Angebot zu ma chen, hatte Carl sich ein wenig in den Grundbüchern um gesehen und herausgefunden, daß der Besitz völlig unbe lastet war. Der Familienbesitz war in direkter Linie von Tomlins Urgroßvater mütterlicherseits, einem Tobias Park, weitergegeben worden. Ursprünglich war das Grundstück noch eindrucksvoller gewesen, insgesamt hatte es 1128 Morgen bewaldete Hügel, Feuchtland und 114
Uferstreifen umfaßt, aber das meiste, bis auf etwa 247 Morgen, hatte man an die Bundesregierung verschenkt oder verkauft, die dort einen nationalen Küstennaturpark eingerichtet hatte, der im Osten direkt an den Tomlin schen Besitz angrenzte. Das Land sollte für immer in sei nem ursprünglichen Zustand belassen werden. Carl war durchaus dafür, er verstand die ökologische Bedeutung des Projekts, und wer wollte schon an einer Küste leben, die von oben bis unten zubetoniert ist, und an einem Golf, der noch fünfzig Meilen weit draußen wie eine Hin terhoftoilette stinkt? Man brauchte sich doch bloß anzu sehen, was weniger als ein Jahrhundert ungehemmter Verschmutzung aus dem Mittelmeer gemacht hatte. Dort kann man inzwischen unterhalb einiger der reizvollsten Dörfer dieser Welt nicht mal mehr ins Wasser gehen, ohne befürchten zu müssen, sich einen bösen Hautaus schlag zu holen. Aber trotzdem, wenn man es richtig an packte, wäre auch hier unten am Bayou noch jede Menge Platz für Bauvorhaben. Viel von Tomlins Land wäre be baubar, und ein Teil des Bayou ließe sich mühelos auf schütten. Port Bayonne war eine schnellwachsende Stadt. Die milden, kurzen Winter zogen die Menschen an, vor allem jetzt, zu einer Zeit, da Florida bereits völlig überlau fen und viel zu gef ährlich geworden war. Viele von diesen Menschen waren bereit, eine Menge Geld für luxuriöse Heimstätten zu zahlen, aber Plätze mit leichtem Zugang und einem schönen Blick auf den Golf waren auch hier, an den immer noch sauberen Wassern des Mississippi Sound, inzwischen verdammt knapp geworden. Das Ge biet war zwar immer wieder Ziel heftiger Hurrikans, die vom Golf herüberkamen, aber die Barrier -Inseln gleich vor der Küste boten doch einigen Schutz. Carl hatte die Vision von einem Entwicklungsprojekt, das a us lauter kleinen, sündhaft teuren Schmuckkästchen bestand, und "5
dazu einen Jack-Nicklaus-Golfplatz. Er hatte bereits ei nige Annäherungsversuche bei Mace Lefevre unternom men, aber bis jetzt war er damit nicht weit gekommen. Mace hatte ihm immer nur kurz und knapp erklärt, Tom lin würde auf keinen Fall verkaufen. Aber Carl war äu ßerst mißtrauisch, was Maces strategische Rolle in die sem Spiel betraf. Einerseits war er ein Jugendfreund von Tomlin, andrerseits betrieb er hier seine höchsteigenen Machenschaften, trotz seines scheinbar anspruchslosen Stils. Er steckte mit den lokalen Drahtziehern unter einer Decke, einer Art Bauern-Mafia. Wahrscheinlich hatte er schon lange vor Carls Ankunft ein Auge auf das Land ge worfen. Er konnte sich jede Menge Zeit nehmen, konnte Tomlin nach und nach davon überzeugen, daß es besser sei, den Besitz abzustoßen. Mein Gott, der Kerl war An fang Vierzig, war jahrelang ein Düsenjägerpilot gewesen, diese Droge bekam man doch nicht von heute auf morgen aus seinem Blut. Carl war sich ziemlich sicher, daß Tomlin genau auf die Art von Action und Lebensstil stand, dem vier oder fünf Millionen Dollar Cash mächtig auf die Sprünge helfen könnten. Man sollte ihm ein paar Wochen Zeit lassen, zu angeln und seinen Erinnerungen nachzu hängen, dann würde er schon anbeißen. Im Moment war er allerdings ein bißchen im Wege, und das brachte Carl zurück zu den aktuellen Tagesge schäften. Der Gedanke machte ihn kribbelig. Morgen nacht würden sie eine neue Ladung einfahren. Der erste Trip war wie geschmiert verlaufen. Zweieinhalb Millio nen, aufgeteilt auf ein halbes Dutzend Paar Hände: Wink, dessen Cousin Tom Paul, dem Wink gesagt hatte, er könne sich eine goldene Nase verdienen, wenn er die Klappe halten würde, der Hubschrauberpilot und Carls Kontaktmänner in New Orleans, die den Deal vermittelt hatten. Die kombinierten Anstrengungen der Navy und 116
der Küstenwache erwiesen sich als immer effektiver. Ein Boot wie das von Wink konnte man leichter hindurchla vieren als ein kleines Flugzeug in der Nacht, aber das fort schrittliche Infrarot-Radar zog sich langsam wie eine Schlinge um den engen Hals des Kanals von Yucatan. Wenn man einmal zu oft auf das Glück vertraute, ein biß chen zu gierig wurde, konnte das den direkten Weg in den Knast bedeuten. Jedenfalls würde Wink sich des Fliegers annehmen, und vielleicht würde das sogar dessen Entschluß erleich tern, möglichst bald wieder von hier zu verschwinden, und da könnte es doch nichts schaden, wenn Carl schon einen kleinen Vorschlag für ih n bereithielte, über den er sich in der Zwischenzeit den Kopf zerbrechen könnte. Im Grunde ging es nur darum, herauszubekommen, was Tomlin eigentlich vorhatte, dann würde Carl schon ein Angebot einfallen, das der Kerl nicht so leicht in den Wind schlagen würde. Der Gedanke an einen erfolgrei chen Abschluß, dem auch die Familie die Anerkennung nicht würde verweigern können, der ihm Format geben und seinen Namen an die Spitze des förderungswürdigen Nachwuchses katapultieren würde, weckte Carls Lebens geister. Sein Magen knurrte, und er erinnerte sich an das Steak, das ihm letzte Nacht entgangen war. Er zog seinen gepunkteten Morgenmantel an und ging die hintere Treppe hinunter in die Küche, um nachzusehen, was Opal ihm außer einer kalten Dusche noch zu bieten hatte. Tomlin hatte das Wohnmobil etwas zu früh verlassen. Er schaffte es gerade eben bis zum Anleger, ohne hinzufal len, und auch als er das kleine Boot hinaussteuerte, hatte er seine volle Sehkraft noch nicht wieder erreicht. Der Außenbordmotor knatterte einigermaßen gleichmäßig, aber viel zu laut, als er den langsam enger werdenden 117
Bayou entlangfuhr, der sich unterwegs in unzählige, bronzefarbene Seitenkanäle aufteilte, von denen einige nur zwei Fuß tief waren, und die immer wieder durch baumbestandene Hügel geteilt wurden. Auf ihnen wohn ten Waschbären, Opossums und Gürteltiere, die scheuen, stoischen Alligatoren und so viele verschiedene Vogelarten, daß er sich nicht einmal mehr an die Hälfte der Namen erinnerte, selbst wenn er sie klar und deu tlich hinter niedrigem Sumpfgras oder in den Baumkronen hätte erkennen können. Die Sonne hinter seiner rechten Schulter war von einem vollen, aber ein wenig trüben Orange, als müsse sie durch einen dichten Schleier schauen. Der stumpfe Bug des Blechbootes, etwa drei Meter von ihm entfernt, verschwamm noch vor seinen Augen, obwohl die Sehkraft langsam zurückkehrte, als das Tageslicht jetzt immer heller wurde. Die kalte Mor genstille auf dem Bayou beruhigte ihn, befreite ihn von der Angst, mit der er jeden Morgen aufwachte, zu früh und wenn es noch dunkel war, der Angst, daß heute der Tag wäre, an dem seine Sehkraft überhaupt nicht mehr zurückkehren würde. Trotz aller Versicherungen, die ihm von den Augenspezialisten gegeben worden waren, er hatte es immer noch nicht gelernt, mit dieser Angst fertig zu werden, sie drehte ihm immer wieder aufs neue den Magen um. Jedesmal, wenn er in seinem Leben Angst ge habt hatte - und es hatte genug Anlässe gegeben, die erste Landung auf einem Flugzeugträger zum Beispiel, o der der erste Feindbeschluß in Vietnam -, war sie wieder ab geklungen, wenn die Feuerprobe ein Ende gehabt hatte. Aber für ein Leben ohne Sehkraft von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang war nun mal kein Ende abzusehen, und diese besondere Ungewißheit war es, die so schwer zu ertragen war und zerstörerisch wirkte. Er näherte sich einem Zustand der seelischen Erschöpfung, hatte das Ge 118
fühl, weder sich selbst noch jemand anderem zu etwas nütze zu sein. Es war ein heimtückischer Anteil von Selbstmitleid und morbider Verzweiflung dabei, den er oft nicht rechtzeitig genug erkannte, um sich dagegen wappnen zu können. Aber heute ist ein guter Tag, dachte er. Es wird hell und warm werden, und während dieser klaren Stunden werde ich beinahe vergessen können, was Dunkelheit bedeutet. Er fuhr um eine Biegung herum und kam in einen Ab schnitt des Kanals, der vielleicht zehn Meter breit war, als er sah, daß er nicht mehr allein war. In einem Boot, das kleiner war als das seine, saß ein Mann. Er fing die hellen Blitze von Sonnenlicht auf, das von kleinen Spiegelschei ben reflektiert wurde, als der einsame Angler seine Schnur leise und vorsichtig in dem schattigen Wasser auswarf. »Hallo, Mist' Clay.« Tomlin drosselte den Motor und trieb auf den Mann zu. »Was beißen die Fische denn heute, Wolfdaddy?« »Was sie am allerliebsten riechen. Lebende Köder. Ein paar frische kleine Krabben, mehr brauche ich nicht.« Wolfdaddy, der Hinterwäldler, für den der Fisch im Was ser soliden Wohlstand bedeutete, solider als Geld in der Tasche. »Hast du was dagegen, wenn ich hier ein bißchen mein Glück versuche?« »Nein, Sir! Noch zwanzig Minuten vielleicht, dann ist's aus mit dem Beißen. Aber, fängt man keine Forelle am Morgen, gibt's noch den Rotfisch am Abend. Wie Ihr Va ter immer gesagt hat, wenn wir nicht zuviel wollen oder nach zuviel verlangen, nun, dann werden wir immer ge nug haben.« »Ja, ich glaube, das hat er gesagt«, antwortete Tomlin. Er dachte an seinen alten Herrn, hätte ihn jetzt gerne hier 119
gehabt, um sich mit ihm unter halten zu können. Der alte Mann hätte all den so vertraut klingenden Vögeln die zu gehörigen Namen geben können. Er hätte einem sagen können, daß am nächsten Dienstag, wenn genau um sie benunddreißig Minuten nach fünf die Flut beim Gezei tenwechsel fünf Zoll höher stünde, am Ende der langen, grasbewachsenen Bank eine Rinne entstehen würde, in der sich in großer Menge die Rotfische sammeln würden. Fische sind Gewohnheitstiere, also ist der Fischfang eher eine Sache der genauen Beobachtung und des Wissens als der Intuition, genau das aber gehörte zu den Stärken des alten Mannes - er beobachtete ganz genau, bevor er han delte. Den größten Antrieb hatte er als kleiner Junge im mer erhalten, wenn sein Vater ihm in die Augen geschaut und zu ihm, nicht ohne Mitgefühl, gesagt hatte: Wenn das Leben hart ist, dann mußt du eben noch härter sein. Vielleicht hatte sein Vater etwas von ihm gewußt, dessen er selbst sich immer noch nicht ganz sicher war. Ein tröstlicher Ge danke. Tony saß in der Küche, knabberte geröst ete Corn-flakes und ging eine Liste mit Vokabeln durch, die er später ab gefragt werden würde. Er nahm Carls Gegenwart kaum zur Kenntnis, und als Carl ihn anlächelte und ihn fragte, ob er das Wort >soundsoviel< buchstabieren könne, be merkte er kurz angebunden, das Wort stünde nicht auf seiner Liste, also müsse er es auch nicht können. Carl hörte auf zu lächeln. Er bestellte bei Opal sein Frühstück, wobei er ihr in allen Einzelheiten erklärte, wie er sein Ei wünschte. Er wußte, daß sie sich darüber ärgert e, aber wer zum Teufel zahlte schließlich ihren Lohn? Zu Tony sagte er noch: »Ich habe deine Abfalltonnen -Kids nicht vergessen. Ich habe sie oben, und wenn du ein bißchen netter zu mir bist, gebe ich sie dir sogar.« Tony ignorierte 120
ihn, er bewegte die Lippen, als er gerade im Geiste eine seiner Vokabeln buchstabierte. Carl schenkte sich einen Becher Kaffee ein, nahm sich ein frisches Zimtbrötchen und trug beides hinüber ins Wohnzimmer, um das >Schwarze Brett< auf seinem Computer abzurufen, das, abgesehen von gelegentlichen Telefongesprächen über einen öffentlichen Fernsprecher, seine einzige Verbin dung zur Familie darstellte.
11. Kapitel Anita stand unter der Dusche und dachte über Tonys Schularbeiten nach. Das war jeden Morgen das erste. In Lesen und Rechnen war er seiner Altersklasse weit vor aus, wie die 98 Prozent bewiesen, die er im April beim California-Achievement-Test erreicht hatte. Seine Fort schritte bei dem Material für die vierte Klasse, das sie ihm kürzlich gegeben hatte, erstaunten sie trotz seines hohen Intelligenzquotienten. Aber er war eifrig und gründlich, vielleicht ein bißchen zu ungeduldig mit sich selbst, wenn er einen neuen Zusammenhang nicht gleich begriff, wie zum Beispiel die algebraischen Gleichungen, mit denen er sich zu beschäftigen begonnen hatte, oder französische Grammatik. Anita hatte ein gutes Gefühl, was Tonys Fort schritte betraf, und trotzdem war sie manchmal unglück lich, denn sie wußte genau, daß bei seinem Unterricht et was ganz Wichtiges fehlte, nämlich die soziale Interak tion mit gleichaltrigen Kindern, die gesunde Wettbe werbsatmosphäre des Klassenzimmers. Seine launischen Anfälle, die Episoden schmollenden Rückzugs, das waren Folgen des Mangels an Spielkameraden und der Isolation hier unten am Bayou. Sie hatte sich das Schulsystem von 121
Port Bayonne genau angesehen und es für minderwertig befunden. Dort bekäme er bestimmt nicht die intellektu elle Stimulanz, die er brauchte. Das war das eine. Aber ihre Entscheidung, den Jungen zu Hause zu lassen, h atte vor allem auch emotionale Gründe. Sie wußte genau, daß sie die Anspannung nicht aushallen würde, wenn Tony sieben Stunden am Tag außer Haus wäre. In der Nacht hatte sie von einer Heimkehr geträumt, von einer großen Wiedervereinigung der Familie. Ihr Va ter, ihre Brüder und Schwestern, alle Neffen und Nichten, von denen sie einige noch nie gesehen hatte, nicht einmal auf Fotos, alle waren sie versammelt gewesen in dem gro ßen Haus an der Sheepshead Bay. Dann hatte der Traum auf einmal eine böse Wendung genommen. Rauch füllte das Haus, aber niemand konnte das Feuer lokalisieren. Nur Anita wußte genau, wo das Feuer ausgebrochen war, wo es jetzt unkontrolliert wütete. In ihrem Schlafzimmer. Das Feuer verschlang alles, was ihr lieb und teuer gewe sen war, zerstörte jede Erinnerung an ihre Kindheit: ihre Sammlung von Madame-Alexander-Puppen, das Kleid, das sie bei ihrer ersten Kommunion getragen hatte, ihre Tagebücher, die sie als Teenager geführt hatte, die Fotos und Plakate von Fernseh-, Film- und Rockstars, persön lich unterschrieben, die ein Onkel ihr besorgt hatte, der bei der Agentur William Morris beschäftigt gewesen war. Herzzerreißend schluchzte sie in der rauchgeschwänger ten Eingangshalle des großen Hauses, aus der inzwischen alle anderen geflohen waren - für immer. Eher ein trauriger Traum als ein Angsttraum, die Me lancholie wirkte noch lange nach dem Aufstehen in ihr fort und verzögerte das Erwachen ihrer Lebensgeister, das normalerweise durch die morgendliche Dusche be sorgt wurde. Aber er war immer noch besser als einige ihrer anderen Träume, wie zum Beispiel jener, wo sie an 122
rief und das Kodewort sagte und eine vertraute und schrecklich ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung zu ihr sagte, es täte ihr leid, aber sie könne keine Nac h richten mehr weitergeben, denn sie seien alle gestorben, jedes einzelne Mitglied ihrer Familie. Oder der andere Traum, der in der U-Bahn nach Brooklyn spielte, und in dem der Zug unter dem Hast River langsam zu fahren be gann. Sie war plötzlich ganz allein in dem mit Graffitis verschmierten Wagen, im ganzen Zug war niemand mehr außer ihr und . . . Anita drehte das Wasser aus, zog den doppelten Duschvorhang zur Seite und sah Carl, der in Pyjama und seinem todschicken Morgenmantel in ihrer Zimmertür stand und sie ansah, einen etwas hündischen Ausdruck auf dem Gesicht, als wüßte er genau, daß er etwas Uner laubtes tat und mit einem strafenden Fußtritt zu rechnen habe. Sie riß den Vorhang wieder zurück, um ihre Nackt heit zu verdecken, und sagte zitternd zu ihm: »Mein Ba dezimmer ist für dich tabu, Carl! Jetzt und für immer! Schreib dir das verdammt noch mal endlich hinter die Oh ren !« »Ich muß mit dir reden, Anita.« »Das kann warten.« »Hier ist dein Handtuch. Trockne dich ab, ja?« Er nahm das zusammengefaltete Handtuch, das sie auf dem Stuhl neben der Kommode bereitgelegt hatte, und reichte es ihr. Sie schnappte es wütend. »Wir sehen uns unten, wenn ich angezogen bin.« »Angel ist raus«, sagte Carl. Sie stand im Duschbecken, das Handtuch gegen die Stirn gepreßt, hielt es dort mit einer Hand fest und ver suchte tief durchzuatmen. Es gelang ihr nicht. Ihre erste Reaktion war nicht Angst, sondern tiefe Verbitterung. Warum konnten sie ihn dort nicht festhalten? Dann kam der 123
Schock, in ihrem Kopf begann sich etwas zu drehen, sie griff mit der freien Hand dorthin und versuchte sich ge gen den Vorhang zu lehnen, als handle es sich um eine solide Ziegelmauer. Sie verlor das Gleichgewicht, riß den Duschvorhang aus einigen seiner Plastikringe und tau melte aus dem Becken, direkt in Carls Arme. »Hey, hey.« »Ist schon in Ordnung«, keuchte sie. Er hatte ihr einen Arm um die Hüfte gelegt, nur noch ein Stückchen Hand tuch war zwischen ihnen. »Wo ist er?« Ihre Zunge fühlte sich dick und klumpig an, als sei sie an d er Wurzel ge lähmt. Carl versuchte, sie fester zu umfassen, aber sie war noch schlüpfrig von dem Duschgel, daß sie benutzte, um ihre Haut geschmeidig zu halten. Das Haar hatte sie sich oben auf dem Kopf zusammengeknotet, damit es unter der Dusche nicht naß wurde. Anita versuchte sich mit ihrer schwachen Hand von ihm wegzustoßen und aus ei gener Kraft zu stehen. »Wer weiß? Er ist aus der Klinik geflohen und hat ein paar Leute umgelegt.« »Oh .. . mein Gott.« »Letzte Nacht ist er beim Padrino gewesen.« Er wußte, daß der Aufschrei kommen würde, und preßte ihr eine Hand auf den Mund. Seine Finger rochen nach Zimtbrötchen. Anita krümmte sich zusammen, aus ihren dunklen Augen über seiner Hand blitzte das Entset zen. Den Arm immer noch um ihre Hüfte, hatte er sie an gehoben, so daß ihre Füße keinen Halt mehr auf dem Bo den hatten, mit den Zehen kratzte sie über seinen Spann und ein Schienbein. Sein Schwanz wurde hart, in solch einer Stellung hatte er sie noch nie gehabt, auch wenn er oft darüber nachgedacht hatte, wie er es wohl anstellen müßte. Ihr Entsetzen war für ihn Stimulanz und fegte den 124
letzten Rest der Hemmungen hinweg, die der Respekt vor dem Don und dessen Wünschen, betreffend die Ehefrau seines Enkels, ihm aufgenötigt hatte. »Nein, hör doch zu, der alte Mann ist noch am Leben. Er hat Angel kein Sterbenswörtchen verraten. Du bist si cher. Du und Tony. Non haipaura, 'Nita.« Sie wehrte sich jetzt gegen ihn, sie hatte seine Geilheit bemerkt, wußte genau um seine Absichten. Er begann ihre Brüste mit Küssen zu bedecken. Das Handtuch war nach unten gerutscht, es hatte sich an seinem steifen Schwanz verfangen. Er versuchte das Handtuch wegzu ziehen, sie fester an sie zu drücken. »Komm doch, komm«, sagte Carl. Seine Lippen hatte er gegen ihren Hals gepreßt. »Wir müssen es tun. Ich bin verrückt nach dir. Du brauchst es doch auch . ..« Er stieß sie hinunter auf die flauschige Badematte. Anita versuchte nach ihm zu treten, aber ihre Beine waren zu weit auseinander, und das Handtuch war nicht mehr da. Er war über ihr. Carl hätte nicht gedacht, daß sie in der Hand genug Kraft haben würde, auf die er gar nicht ach tete, in der rechten Hand, aber plötzlich fühlte er, wie ihre Fingernägel sich in das Fleisch direkt unter seinen Augen bohrten, die Haut durchschnitten. Er zog eine Grimasse des Schmerzes und lehnte sich so weit zurück, daß es ihr gelang, unter ihm herauszuschlüpfen und auf allen vieren schluchzend in ihr Schlafzimmer hinüberzukrabbeln. »Ich hab' dir gesagt, nie! Niemals! Verschwinde! Vat tene!« Carl stand auf, knirschte laut mit den Zähnen - eine An gewohnheit, die ihn schon so manche Krone gekostet hatte - und sah erst einmal in den Spiegel, um sich den Schaden zu betrachten. Etwas aufgerissene Haut, ein paar Tropfen Blut. Er wischte es mit einem Ko smetiktuch ab und folgte Anita ins Schlafzimmer, wobei er sich den 125
Morgenmantel fest um den Körper band. Er hatte seine Begierde wieder unter Kontrolle, auch wenn er noch hef tig zitterte. Er war gekränkt. Er mochte sie wirklich gerne, und es müßte ja schließlich nicht so sein, wenn sie nur etwas vernünftiger wäre . .. sich wie eine normale Frau verhalten würde. Anita hatte ebenfalls einen Morgenrock angezogen und stand seitlich vom Fenster, mit vorgestrecktem Kinn, und ließ ihn einen Blick auf den Ke rzenständer aus Zinn werfen, den sie in der linken Hand hielt, ganz Dago jetzt und bereit, ihn zu töten. »Um Gottes willen, Anita«, jammerte Carl und tupfte sich das Blut unterm Auge fort, »das hab' ich doch wohl nicht verdient.« Anita wischte sich mit dem rechten Handrücken die Nase. Ihr Busen hob und senkte sich noch immer schwer unter dem Morgenrock. »So etwas nennt man Vergewalti gung, Carl. Du miese Kröte. Ich könnte dich umlegen las sen für das, was du eben versucht hast.« Carl wischte ihre Drohung mit einer müden Handbe wegung zur Seite und setzte sich auf das Bett. »Ach, Scheiße, schließlich hat der Don mit mir gespro chen, bevor ich mitgekommen bin nach hier unten. Ich habe ihn gefragt, was wäre wenn, und er hat gesagt, ich solle dir nur nicht weh tun. Das ist alles. Er will nur nicht, daß es schlimm für dich ist, ansonsten ist er dafür, der Na tur ihren Lauf zu . . .« »Halts Maul, Carl. Er wird herkommen. Stimmt's nicht?« Carl antwortete in aller Naivität: »Der Don?« »Angel, lu säoaol« »Paß doch bitte ein bißchen auf deine Ausdrucksweise auf, Anita. Wir beiden müssen schließlich noch 'ne Weile miteinander auskommen, oder? Also, beruhige dich end 126
lieh. Es gibt für Angel beim besten Willen keine Möglich keit . . .« »Lüg mich nicht an. Mein Gott, Carl, lüg mich bloß nicht an!« Sie lief planlos im Zimmer umher und suchte nach ihren Zigaretten, fand sie und wich einen Schritt vor ihm zurück, um den Leuchter abzustellen und sich eine Filter zigarette anzuzünden. Carl sagte: »Bitte, verzeih mir, daß ich mich da drinnen so vergessen hab'.« Anita nickte beinahe teilnahmslos, Schweißperlen glit zerten noch immer auf ihrem Gesicht, sie atmete stoß weise aus, zusammen mit Wolken von Zigarettenqualm. An ihrem Hals konnte man einen schnellen Puls beob ach ten. »Anita. Honey. Selbst wenn Angel einen Weg finden würde, deinen Aufenthaltsort herauszufinden - und du kannst mir glauben, es wird ihm nicht gelingen -, selbst dann werde ich es nicht zulassen, daß er in deine Nähe kommt.« Anita preßte die Lippen aufeinander, und Tränen füll ten ihre Augen. »Du hast ja keine Ahnung, was . . . was Angel für ein Mensch ist.« »Er ist ein Mann, mehr nicht«, sagte Carl. Er ärgerte sich, daß ein paar Arschlöcher da oben in Jersey, die man für gute Leute gehalten hatte, es zugelassen hatten, daß Angel ein paar Minuten mit dem Don allein war, wo der doch ohnehin nicht bei bester Gesundheit war. »Ich habe noch keinen Mann getroffen, mit dem ich nicht auf die eine oder andere Art und Weise fertig geworden wäre. In meinem Viertel, später in der Army und dem Rest dieser gottverdammten Welt bin ich einigen begegnet. Deshalb hat der Don mich schließlich auch ausgesucht, um auf dich und Tony aufzupassen. Und für ein ganzes, beschis 127
senes Jahr habe ich mich hier mit dir in diesen beschisse nen Sumpf gehockt. Aber für mich ist es jetzt nicht mehr bloß ein Job.« Er erhob sich langsam vom Bett, ballte eine Faust und schlug damit auf den Bettpfosten aus Maha goni, ganz sanft und immer wieder. Er hatte die Augen brauen zusammengezogen und versuchte, so aufrichtig und ernsthaft zu wirken wie wohl noch nie zuvor in sei nem Leben. »Du bist nicht einfach irgend 'ne Braut für mich. Du solltest wissen, was ich für dich empfinde, für dich und den Jungen. Also, warum kannst du nicht. . .« Carl biß sich auf die Unterlippe, der Bettpfosten wackelte. »... ein bißchen lockerer werden? Anita, du mußt doch auch manchmal Lust haben . . . nach einem Jahr . . .« »Hast du dir schon mal genau meinen Rücken ange guckt?« Carl sah auf, überrascht. Worauf wollte sie jetzt hin aus? »Ja, ja. Ich hab' ihn gesehen.« Sie antwortete nicht gleich, sondern starrte ihn nur an. »Tut mir leid«, mur melte Carl, beschämt durch die Erinnerung an das, was er gesehen hatte. »Ich glaube, ich war eben wirklich ein biß chen grob . . .« »Und jetzt sperr mal deine Ohren auf, Carl! Kein Mann wird jemals mehr meinen Körper anrühren. Die Ärzte ha ben ihn zusammengeflickt, ich habe ihn wieder in Gang gebracht, und nun wird mich niemand mehr anrühren. Niemand! Hast du das kapiert?« Der frostige Klang ihrer Stimme hatte ihm jegliche Lust genommen, eine zunächst noch moderate Erektion war endgültiger Schlaffheit zwischen den Beinen gewichen. Er zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich kann nicht verstehen, wie man so ein lausiger Liebhaber sein kann wie dieser Kerl«, sagte er und legte sich damit eine eigene Erklärung für ihre Frigidität zu recht. 128
»Angel? Das hatte nichts mit. . . Liebe zu tun. Und nach einiger Zeit kannte er nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Sexualität und Folter. Würde es dir was ausma chen, mich jetzt allein zu lassen? Ich möchte mich anzie hen. Tony wartet auf mich.« »Fühlst du dich besser? Ich habe dich mit der Nachricht einfach so überfallen. Das hätte ich nicht tun sollen, aber . . . glaube mir, der Kerl ist zwar jetzt frei, aber sie werden ihn bald wieder geschnappt haben. Hat er nicht solche Anfälle, wo er sich nicht mehr bewegen kann?« »Das habe ich einmal gesehen«, sagte Anita ange spannt, als sei ihr etwas im Hals steckengeblieben. Sie drückte ihre Zigarette aus und lehnte sich gegen eine Wand, erschöpft und mit leerem Gesichtsausdruck. »Laß mich dir einen Kaffee bringen«, schlug Carl vor. Er wollte ihr jetzt wirklich etwas Gutes tun. »Vielleicht mit einem Schuß Grappa.Caffe corretto.« »Kaffee wäre nicht schlecht«, sagte Anita, ohne daß sich an ihrem Ausdruck etwas geändert hätte. Eine schwere Last drückte ihr auf die Stirn, zwischen die verängstigten Augen.
12. Kapitel Tony fuhr auf der Auffahrt zum Haus mit seinem Fahrrad herum, Big-Dog immer in seinem Schlepptau, als Tomlin vom Anleger heraufkam, mit Angelrute, aber ohne Fische. Er blieb neben dem Wohnmobil stehen, um auf den Sund hinauszusehen, wo ein Trio von Navy -Jägern in etwa zweitausend Fuß Höhe in Fingertip -Formation vorüber flog. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Pensacola. Er sah ihnen nach, bis sie beinahe verschwunden waren. 129
»Was sind das für Flugzeuge?« fragte Tony hinter ihm. Tomlin drehte sich um. Der Junge hatte sein Fahrrad abgestellt. Das Modellflugzeug trug er bei sich. »F-i4. Tomcats.« »Sind die schnell?« wollte Tony wissen, während er mit seinem Flugzeug einen eleganten Sturzflug durch die Luft simulierte. »Sehr schnell, wenn sie die Nachbrenner einsetzen.« »Was ist das?« »Zusätzliche Kraftreserven. Es ist so, als würdest du dich dort drüben auf deiner Schaukel abrackern, um Schwung zu kriegen, und ich käme vorbei,und würde dir einen kräftigen Schubs von hinten geben.« Der Junge nickte. »Die Schule ist heute aber früh zu Ende«, stellte Tomlin fest. »Mom hat gesagt, ich könnte einen Tag frei machen. Ich werde ihn am Samstag nachholen. Sie fühlt sich nicht so gut.« »Tut mir leid, das zu hören«, sagte Tomlin und sah zum Haus hinüber. »Fliegst du nicht mehr?« fragte Tony. »Nein, ich kann nicht.« Tony dachte gründlich über diese Antwort nach, als enthalte sie irgendein Geheimnis. Er ließ Tomlin dieses Geheimnis. »Würdest du gerne wieder fliegen?« »Lieber als alles andere, Tony.« Der Junge setzte mit seinem Modellflugzeug zur Lan dung an, die Räder berührten den Betonfußbo den. »War das eine gute Landung?« »Du mußt die Nase deines Flugzeuges mehr nach oben halten, weil hinten ein großer Haken dranhängt und du mit sehr hoher Geschwindigkeit angeflogen kommst.« »Wofür ist der Haken?« fragte Tony, drehte sein Mo dellflugzeug um und suchte nach einem solchen. 130
»Also, da sind vier Fangseile auf dem Deck eines Flug zeugträgers. Du möchtest das dritte Seil mit deinem Ha ken erwischen, denn das ist der beste Punkt auf dem Deck. Du kommst mit etwa 150 Meilen pro Stunde, und das Seil muß dein Flugzeug auf einer Strecke von hundert Fuß oder sogar noch weniger zum Stehen bringen, ob wohl du im Moment des Aufsetzens noch einmal voll be schleunigst.« »Du bremst und beschleunigst gleichzeitig?« fragte Tony in dem Bemühen, diesen Wid erspruch zu verste hen. »Man muß Vollgas geben für den Fall, daß mit dem Seil etwas nicht stimmt oder der Haken es nicht greift, denn sonst hat man keine Chance, wieder in die Luft zu kom men. Die Maschine würde über die Seite oder den Bug schlittern, oder es würde einen bösen Zusammenstoß an Bord geben. Es stehen immer Flugzeuge herum, gleich hinter der Begrenzungslinie, und die sind mit hochexplo siven Sprengstoffen beladen.« »Was wür . . .«, wollte Tony fragen, aber Tomlin unter brach ihn mit einer Handbewegung. »Tony, ich kann dir mit Worten gar nicht beschreiben, wie das alles funktioniert. Du müßtest einmal dabeisein und sehen, wie ein Flugzeugträger Flugzeuge aufnimmt, dann würdest du das ganze System richtig kapieren. Viel leicht kann ich das mal arrangieren.« »Wie?« »Ich sagte >vielleichtFlugzeugträger< und >Pensacola< ausmachen konnte und hinter Tony Clay Tomlin entdeckte, der schweigend und zurückha ltend außerhalb der Tür des Zimmers stand, das einmal das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen war. »O Tony. . . heute . . . ich glaube nicht. . .« »Mom! Warum nicht?« 133
Sie sah auf die Uhr, die auf der großen Regence-Kommode stand. »Es ist schon fast neun, und nach Pensacola sind es mindestens hundert Meilen.« »Clay hat gesagt, wir wären bestimmt vor Dunkelheit zurück.« Anita stellte das Telefon ab und barg das Gesicht kurz in den offenen Handflächen. »Tony, schrei bitte nicht so.« »Ich schreie nicht. Ich will dahin. Nie fahren wir ir gendwo hin.« Sie sah hoch zu Tomlin, der immer noch in der Tür stand. »Sie wären mit Ihrer Einladung besser erst zu mir gekommen.« »Ich weiß, das hätte ich tun sollen«, sagte er. »Und ich weiß auch, woran Sie eben gedacht haben. Warum kom men Sie nicht einfach mit? Sie können doch fahren.« »Fahren?« In letzter Zeit hatte sie sich nicht einmal mehr bis zum Supermarkt gewagt. Sie hatte Opal die Ein käufe besorgen lassen und ihr den Zweitwagen gegeben, einen Oldsmobile Firenza Kombi. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wann sie das Haus zum letztenmal verlas sen hatte. Aber in ihrem Kopf pulsierte dunkles Blut. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken oder über irgend etwas anderes. »Wir könnten im Offiziersclub zu Mittag es sen«, sagte Tomlin, »und wenn die Lerauf See sein sollte, werde ich mit Tony den Flughafen in Sherman Field besichtigen.« Als Anita nicht auf seinen Vorschlag reagierte, schaute er auf das Telefon in ihrem Schoß. »Sie sehen aus, als hätten Sie schlechte Neuigkeiten erfahren. Wenn es so sein sollte, entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich nicht auf drängen.« Tony sah sich rasch nach ihm um, auf seinem Gesicht lag Bestürzung. Anita schüttelte ganz gegen ihren Willen den Kopf und sagte: »Nein, nein.« Sie wunderte sich 134
selbst darüber, daß sie so einfach lügen konnte, aber noch mehr wunderte sie sich darüber, wie sehr es sie erleich terte, daß Tomlin hier war. Auf keinen Fall wollte sie, daß er wieder ging. Und wenn, dann wollte sie verdammt noch mal mit ihm gehen. Die Alternative am heutigen Tag wäre Carl, und der war um so aggressiver, als er jetzt einen Grund hatte, auf der Hut zu sein. Carl würde um sie herumlungern, und vielleicht, wenn sie einen schwachen, verletzlichen Moment hätte, würde er das Spielchen von vorne beginnen, denn das war seine Antwort auf alle Pro bleme: Bist du einsam und allein, bringt deine Angst dich beinahe um den Verstand? Laß dich von mir ficken. »Nein . . . ich bin nur mit so furchtbaren Kopfschmer zen aufgewacht, aber . . . Pensacola .. . das hört sich gar nicht so schlecht an.« »Prima!« rief Tony, aber dann, als er den gequälten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah, trat er einen Schritt zurück. »Tut mir leid, Mom.« »Ist schon in Ordnung, Tony. In den ausgefransten Shorts kannst du nirgendwo hinfahren. Geh und zieh dich um. Die neuen Turnschuhe, Khakihose und Flanell hemd. Es ist nicht so besonders warm draußen.« Anita sah an ihrem eigenen, schäbigen Pullover herunter. »Und ich kann so auch nicht gehen, oder?« Sie sah Tomlins Blick und stellte fest, daß er offensichtlich überhaupt keine Ein wände gegen die nackten Füße und die zerzausten Haare hatte. »Lassen Sie uns zwanzig Minuten Zeit, Clay. Wir treffen uns dann unten.« »Hört sich an, als hätte ich das große Los gezo gen«, sagte Tomlin und trat zur Seite, als Tony auf dem Weg in sein Zimmer an ihm vorbeischoß. Carl war an Bord seiner Davis -Motorjacht, die auf den Namen Lollapalooza getauft war. Er hatte kleinere Arbeiten 135
im Maschinenraum zu tun - der automatische Feuerlö scher und die unzähligen Armaturen, Filter und Meß stäbe bedurften ständiger Überprüfung -, als Tonys Stimme gegen den Südostwind, der innerhalb der vergan genen Stunde stärker geworden war, zu ihm herüberge tragen wurde. Carl war sich nicht sicher, aber vielleicht hatte der Junge nach ihm gerufen. Er quetschte sich durch die enge Öffnung unter einer hochgeklappten Stufe der Treppe zum Cockpit und sah gerade noch, wie Anita sich hinter das Lenkrad des weißen Corvette setzte. Clay Tom lin saß auf dem Beifahrersitz und hatte den Jungen auf seinem Schoß, und bevor Carl über die Reling setzen konnte, um herauszufinden, wo sie alle hinwollten, wa ren sie schon verschwunden. Was war das jetzt wieder für ein Quatsch? Und kein Wort zu ihm. Nun, vielleicht hatte Anita ihm einen Zettel hingelegt. Am meisten ärgerte Carl sich darüber, daß sie mit Tomlin zusammen war. Jagdflieger. Er war nicht so ein Angeber wie so viele von den Typen, aber er hatte diese beneidenswerte Gelassenheit, die ein Mann wohl erst erwarb, wenn er seinen Arsch so oft aus der Scheiße hatte ziehen müssen, daß er das Mitzählen aufgegeben hatte. Carl glaubte eigentlich nicht, daß Anita weglaufen wollte. Er hatte sie noch mehr als eine halbe Stunde lang bearbeitet, heute morgen, und sie h atte nur schweigend dagesessen und ihren Frühstückskaffee geschlürft, asch fahl, mit finsterem Blick, wie eine zum Tode Verurteilte. Aber es war ihm gelungen, ihre Lebensgeister wenigstens etwas wiederzuerwecken. Er hatte sie überzeugt, daß An gel zwar gefährlich sein mochte, daß er aber letztlich nur ein Ausbrecher auf der Flucht war, ohne große Unterstüt zung, auf die er hätte zählen können, ohne Freunde, ver stoßen von der Familie. Und wenn ihn das nicht aufhalten würde, dann könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis 136
einer seiner katatonischen Anfälle ihn zu einem Denkmal erstarren ließe und er somit eine leichte Beute für die Cops wäre. Und in der Zwischenzeit wären Anita und Tony hier in ihrem Versteck sicherer als in Abrahams Schoß. Schließlich wüßte nicht einmal ihr eigener Vater etwas über ihren Aufenthaltsort. Carl war sich sicher, daß nicht einmal das FBI mit seinen professionellen Spürhun den sie hier aufstöbern würde. Da dürfte Angel nicht die kleinste Chance haben. Aber immerhin hatte er bewiesen, wie gut er verschlossene Türen zu öffnen wußte. Nach seiner ersten Flucht war er Anita sogar bedrohlich nahe gekommen, während sie noch hilflos im Krankenhaus ge legen hatte. Daraufhin hatte der Don sich für undurch dringliche Sicherheitsmaßnahmen entschieden. Für Anita und Tony wäre alles einfacher und sicherer gewesen, wenn er Angel ganz einfach zum Abschuß freigegeben hätte, aber immerhin war der Junge Fleisch von seinem Fleisch. Vielleicht hatte Don Aldo inzwischen Grund, seine Nachsicht zu bedauern. Etwas später am Vormittag fuhr Carl mit seinem Boot hinaus, aber nicht, um zu angeln. Auf dem seichten Sund herrschte eine leichte Brandung, aber er schnitt ohne gro ßes Schlingern hindurch. Das siebenundvierzig Fuß lange Boot, das der Familie gehörte und mit allen Schikanen, der starken Maschine und den elektronischen Einrichtun gen über eine halbe Million Dollar gekostet hatte, war nicht nur für die Bedürfnisse von Sportfischern gebaut worden. Die Lolly kam mit ihrem sechzehn Fuß breiten Vorschiff und dem Rumpf aus Fiberglas, der noch durch Divinycell und Kevlar verstärkt war, auch in rauher und schwerer See zurecht. Er war mit ihr schon bis Padre Is land hinausgefahren, und für das nächste Frühjahr erwog er sogar einen Trip in die erstkla ssigen Fischgründe vor Costa Rica. Zur Zeit aber durfte er sich natürlich nicht zu 137
weit von zu Hause entfernen, jedenfalls so lange nicht, bis Angel entweder tot oder sicher hinter Schloß und Rie gel wäre. Der Tag war immer noch sonnig, aber über dem südli chen Himmel hatten sich bereits dicke Kumuluswolken zusammengezogen. Die Wetterstation in Biloxi hatte für den Nachmittag Wind bis zu einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Knoten vorhergesagt und Regen für den Abend. Carl hörte im Lauf der beiden Ö25er Dieselmoto ren keinerlei Störungen oder Unregelmäßigkeiten. Mit mäßiger Geschwindigkeit folgte er den Seezeichen zwi schen Hörn und den Petit -Bois-Inseln, dann drehte er nach Steuerbord ab, weg vom Wind. Im tieferen Wasser jagte er jetzt mit dreißig Knoten den Chandeleur-Inseln entgegen. Er ankerte leewärts, so blieb sein Horizont frei von Schiffen oder kleineren Booten. Er ging hinunter in den Salon und öffnete die hölzerne Tür zu einer Vorratskam mer neben der L-förmigen Couch. Seine Schießeisen hatte er in einem doppelten Boden eines dieser Vorrats schränke versteckt, sauber verpackt in flachen Alumi niumschachteln. Er trug sie, zusammen mit einem Beutel für Schrothülsen, der aus Fallschirmstoff genäht war, hin auf in das Cockpit. Dort stellte er die leeren Clorox-Flaschen auf, die er für seine Schießübungen gesammelt hatte, und legte zwei der Waffen neben sich, ein hochmo dernes, automatisches Schrotgewehr vom Kaliber 12, ge nannt >JackhammerHabt ihr mich lieb?< auf sie ge habt hatten. »Sie hätten ihn selber hören müssen, wie er es sagte, sonst können Sie es nicht verstehen. Aber wenn Sie ihn gehört hätten, Mann, dann wäre auch Ihnen nichts Besseres eingefallen, als ihm den Weg freizumachen. Mit so einem hätten Sie nicht einmal im selben Gebäude stek ken mögen. Er hat den Dandy in 46 umgebracht? Es war eigentlich nicht sein Aussehen, aber als er an mir vorbei ging, machte er mir so ein Gefühl, als könnte er unter 143
wegs sein, um jemandem den Garaus zu machen, und ich wollte bestimmt nicht sein Opfer sein.«) Im vierten Stock blieb Angel vor Apartment B stehen und drückte auf den Klingelknopf. Nach ungefähr einer Minute bemerkte er, daß ihn jemand durch das Guckloch beobachtete, dann wurden mehrere Riegel zurückgescho ben und die Tür geöffnet. »Dachte schon, du wärst verlorengegangen. Komm rein. Es hat lange gedauert. Wo hast du dich rumgetrie ben?« Er war eine traurige Gestalt mit herunterhängenden Schultern und dicken, schmutzigen Brillengläsern. Sein Name war Paul Baldric. Angel ging an ihm vorbei in den Vorraum und sagte: »Ich bin aufgehalten worden.« Bal dric kicherte, als fühle er sich dazu aufgefordert, aber er konnte den Doppelsinn der Bemerkung nicht verstanden haben. Er schloß die stahlverkleidete Tür wieder und spulte die tausendmal eingeübten Bewegungen des Zu sperrens ab, bevor er Angel in das Wohnzimmer führte, in dem es aussah wie auf einem Trümmerfeld: Die Möbel waren in einem heruntergekommenen Zustand, der Tisch war übersät mit dreckigem Geschirr, ein Fernseher stand herum, dessen Bild immer wieder durchfiel. Baldric be eilte sich, den Fernseher abzuschalten. »Wollte das Ding schon immer mal reparieren lassen. Kennst du dich aus mit Fernsehern?« »Nein.« Baldric wandte sich zu Angel um und rieb die Handflä chen gegeneinander wie jemand mit zu niedrigem Blut druck. Dabei konnte er kaum älter als fünfunddreißig Jahre sein, und es war auch nicht besonders kalt in seiner Wohnung. Er hatte eine rote, wundgeschnäuzte Nase, an sonsten besaß er die Blässe derjenigen, die selten an der frischen Luft sind. 144
»Du hast am Telefon etwas von einem Problem erwähnt. Wie kann ich dir helfen?« Eine leichte Betonung des Wor tes du mochte ein Hinweis auf Unterwürfigkeit sein. »Ich muß einen Computer ausfindig machen«, antwor tete Angel. »Bereich etwa North Jersey.« »Das engt den Kreis immerhin beträchtlich ein.« Bal dric nickte eifrig. »Sie müssen den Sicherheitscode geändert haben, aber das System ist von mir selbst entworfen. Wenn ich einmal am Log-On vorbei bin, kann ich ihn knacken.« Baldric ging einen Schritt zurück, aus dem Händerei ben wurde ein Händeringen. »Hört sich kompliziert an. Ist das vielleicht so wie bei AT&T? Da könnte ich Schwie rigkeiten bekommen. Das FBI ist mir wegen der Hackerei schon mal schwer aufs Dach gestiegen, und dabei hatte ich nicht einmal kommerziellen Profit daraus gezogen. Aber diese Systemanalytiker im Raketenzentrum hatten so gar keinen Sinn für Humor.« »Du wirst keine Schwierigkeiten bekommen.« Baldric schniefte. Ihm lief die Nase. In einer Tasche der Strickweste fummelte er nach einem durchgeweichten Kleenex. »Also gut. Komm mit.« Er führte Angel - vorbei am Schlafzimmer, das leer war bis auf eine dreckige Bettrolle am Boden - zu einer Tür, die ebenso hermetisch verriegelt war wie die Eingangstür. Er schloß die Tür zu seiner Hacker -Werkstatt auf und schaltete die Leuchtstoffröhren unter der Decke ein. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung war der Raum säuber lich aufgeräumt. Er stand voll mit schimmernden und funkelnden Computer-Komponenten, Ausdrucke und Handbücher waren auf Stahlregalen gestapelt. »Ich habe alle peripheren Einheiten, die du brauchst«, sagte Baldric. »Fernschreiber und einen High -SpeedDigital-Analysator.« 145
»Sieht nicht schlecht aus«, meinte Angel anerkennend. »War wohl nicht billig.« »Weißt du, ich habe ein paar Monate bei Disney einge legt, im digitalen Rechenzentrum von ihrem neuen Park. Da hab' ich 'ne Menge auf die hohe Kante legen können. Es gibt keinen, der bessere Codes schreiben kann als ich, Anwesende mal ausgenommen, aber in einer kontrollier ten Arbeitsumgebung komme ich nun mal nicht so gut zurecht. Das ist das Problem mit uns alten Hackern, wie? Vielleicht könnte ich dir zur Hand gehen. Ich habe gehört, du sollst der Beste sein, wenn es um's Verstecken von Programmen geht.« »Sicher«, sagte Angel, und nach einem erneuten Blick in die Runde, »kann ich mal dein Bad benutzen?« »Da, über den Flur.« Baldric ging voran zum fensterlo sen Badezimmer und langte nach der Kette für das Dek kenlicht. Während er auf Zehenspitzen stand, machte An gel zwei schnelle Schritte, ließ die Klinge seines Klapp messers herausschnellen, verriegelte sie und stellte sich hinter Baldric. In ihm war nicht mehr Gefühl als in jeman dem, der vorhatte, eine Fliese einzuzementieren, Angel verpaßte Baldric einen tiefen Schnitt auf der Rückseite des Halses, und als Baldric stöhnend über dem hohen Ba dewannenrand zusammenbrach und versuchte, mit einer Hand, die unkontrolliert zitterte, die Wunde zu erreichen, stieß Angel ihm die Klinge bis zum Heft in den Rücken, gleich neben dem rechten Schulterblatt, genau im richti gen Winkel, um eine Herzkammer genau zu durchste chen. Er zog das Messer wieder heraus und legte es auf dem Waschbecken ab, dann packte er Baldric bei den Fuß gelenken und stieß ihn in die Badewanne. Während Angel Wasser in die schmierige Wanne lau fen ließ, säuberte er die Messerklinge. Baldric setzte sich noch einmal auf. Sein Kopf wackelte wie der eines Säug 146
lings. Als sein durchstochenes Herz zu flattern begann, wurde Baldric von schüttelfrostartigen Krämpfen ge schüttelt und starb, während Angel gerade ausgiebig i n die Kloschüssel urinierte. Nachdem er die Spülung betä tigt hatte, zog Angel den Duschvorhang um die ganze Ba dewanne herum und drehte das Wasser auf, damit das Blut abfließen konnte. Dann ging er hinüber in Baldrics Hacker-Werkstatt und setzte sich vo r den Computer, einen 4-Megabyte-IBM-Klonen. Er schaltete die Ma schine ein und saß eine Weile lang nur da, die Hände auf der Tastatur, schaute auf das Funktionslämpchen und lauschte dem Summen. Der Monitor war noch immer dunkel, konnte ihm noch keine Geh eimnisse verraten. Aber wenn man ihm genug Zeit ließ, dann würde er alles herausfinden, was andere Menschen ihren Maschinen anvertraut hatten. Er war jetzt zur Gottheit seiner wahren Leidenschaft vorgedrungen, zur Quelle seines Hungers. Aber da war noch etwas in seinen Nasenlöchern, ein Duft nach Parfüm, nach Mädchenfleisch, verbunden mit dem Bild der Kubanerin mit den dunklen Augen und den auf regend jungen Titten. Als er vorhin auf der Treppe an ihr vorbeigegangen war, hatte sein eigenes Fleisch einen un auslöschbaren Flecken abbekommen, einen kräftigen Spritzer ihrer sündigen Ausdünstungen. Die Gewalt sei ner Erektion verursachte ihm beinahe Übelkeit, und das gerade jetzt, wo er nichts dringender gebraucht hätte als einen klaren Kopf, um sich sicher auf dem unendlich wei ten Feld der elektronischen Datenverarbeitung bewegen zu können, dieser universellen Maschinerie, die in seinen Fingerspitzen begann. Er wußte schon seit Jahren, daß es bei seiner Intelligenz, bei seinem Wissen über Schalt kreise, über Algorithmen und zusammengesetzte Bau teile möglich sein müßte, seinen Verstand für immer mit dem Universum des Silicons zu verschmelzen und Ge 147
heimnisse zu entdecken, von denen ein einzelnes menschliches Gehirn sich gar keine Vorstellungen ma chen konnte. Er hatte wichtige Arbeit zu verrichten, aber hier gab es (wieder einmal) diese unwillkommene Ablen kung, die Begierden des Fleisches. Fleisch, von dem er wußte, wie billig es war, so billig wie Dreck auf der Straße, verderblich und letzten Endes immer mit Enttäu schungen verbunden. Das Geheimnis, das er noch nicht hatte enthüllen können, trotz zahlloser, orgiastischer Ausschweifungen, an denen er teilgenommen hatte, war das Mysterium der lähmenden Anziehungskraft des Flei sches. So viele Sünder gab es auf der Welt. Immer hatte er ihnen seine Frage gestellt, aber er hatte ihre Antwort gar nicht abwarten müssen, ihr Fleisch hatte für sie geantwor tet. Sie alle hatten ihn geliebt. Männer und Frauen waren verrückt nach ihm. Aber kein Mann hatte die Zeit, so viele Sünder, wie zum Beispiel diese kleine Kubanerin, auszu merzen, obwohl es ein befriedigendes Gefühl war, wenn die Flecken, die sie auf ihm zurückgelassen hatten, durch ihren sterbenden Atem fortgewaschen wurden. Sein Problem, das hatte er irgendwann einmal erkannt, bestand im Ursprung des allerersten Makels, desjenigen, der ihn vor allen anderen befleckt hatte und der deshalb so schwer zu entfernen war. Einige nannten es Sünde, aber er wußte einen besseren Namen. Die Antwort auf sein Problem, wie auch all die anderen Antworten auf Fra gen, die er jetzt noch nicht einmal zu stellen in der Lage war, lagen im unendlich weiten Herzen dieser Maschine. Jetzt schaltete er den Monitor ein und tippte ein einzi ges Wort in die Tastatur, den Namen der Frau, durch de ren Tod er für immer von den Sünden der Wollust gerei nigt werden würde: ANITA 148
14. Kapitel Die Lexington hatte seit ein paar Tagen im Hafen gelegen, weil dringende Reparaturen durchgeführt werden muß ten, deshalb bekamen Clay Tomlin und seine Gäste die Erlaubnis, für eine Besichtigungstour an Bord zu gehen. Er schien beinahe mit jedem einzelnen auf freundschaftli chem Fuß zu stehen, der in der Pensacola Naval Air Sta tion, wo die Piloten der Navy und der Marines trainiert wurden, was zu sagen hatte. Seit mehr als hundert Jahren gab es Tomlins bei der U.S. -Navy. Drei von ihnen hatten Annapolis absolviert. Aber es schien ihm vorherbe stimmt, der letzte in dieser Reihe zu sein. Er war jetzt drei undvierzig und hatte weder Frau noch Kind. Das Deck des Flugzeugträgers war kleiner, als Anita es sich vorgestellt hatte, und sie hatte kurz hinter der Flug feldbegrenzung schon eine der Maschinen entdeckt, die er einmal geflogen hatte, eine A-y. Sechzigtausend Pfund Flugzeug, und das alles mußte zu einem plötzlichen Halt gebracht werden, nachdem es mit einer Geschwindigkeit von zehn Fuß pro Sekunde aus dem Himmel gefallen war. Er hatte das immer und immer wieder durchexerziert, bei Tag und bei Nacht, so manches Mal unter furchtbaren Be dingungen, bei Regen, ohne Horizont, bei stürmischer See, die selbst den gewaltigsten Träger ins Schlingern und Rollen bringt. Alle Nachtlandungen hatten einen be sonders hohen Streßfaktor (er erklärte das nicht näher, aber sie konnte es sich auch so vorstelle n: Man sog den Pilotensitz durch das Arschloch hoch, bis er einem bei nahe quer im Hals steckte). Ein paar rote Lämpchen, an denen man sich orientieren konnte, ein Lichtkreuz, das sie die >Bulette< nannten, und das anzeigte, ob man noch auf Kurs war oder kurz davor, in die Aufbauten des ver dunkelten Flugzeugträgers abzusegeln. 149
Ängstlich? So etwas wie eine routinemäßige Landung auf dem Deck eines Flugzeugträgers gab es nicht, nicht einmal an einem strahlenden Sonnentag, einer >CaseOneVögel mit mir.< Zu dir kann ich das alles sagen. So gut fühle ich mich mit dir, so sehr vertraue ich dir. Mein Gott, ich rede dummes Zeug. Seit wann kennen wir uns? Seit ein paar Tagen?« »Ich kenne dich, seitdem du neulich zur Tür herein kamst und mir die Hand gabst. Die linke. Ich fühlte . . .« »Mitleid?« »Ich fühlte mich gebraucht. War es tatsächlich ein Au tounfall?« >»ne Art Autounfall.« Tomlin fühlte, wie sie wieder vor ihm zurückscheute, wenn auch nicht körperlich. »Ich ver spreche dir, wir werden über alles reden. Später. Aber was können wir heute machen? Sollen wir irgendwohin fah ren?« »Mace Lefevre hat mir angeboten, sein Boot zu benüt zen. Wann immer ich mag.« »Toll.« »Das Licht wird 'n bißchen besser hier drin.« »Siehst du mich jetzt?« »Noch nicht. Noch nicht so deutlich, wie ich möchte.« »Gott sei Dank gibt's die Sonne«, sagte sie. »Es ist . . . wie ein böser Fluch, oder? Einbruch der Nacht, Geister stunde. >Wenn die Gräber sich auftun, und die Hölle selbst der Welt ihren siechen Atem entgegenhaucht.Oh, Scheiße, was hast du gemacht?< Ich unterdrückte ihn, so lange es ging, bis nach Tonys Geburt.« »Warum hast du ihn eigentlich geheiratet?« 183
»Ich war damals wahnsinnig verliebt in einen klugen, aber vollkommen verrückten Burschen. Er hatte mir jede Menge Anträge gemacht auf die charmanteste Weise, aber er war völlig unzurechnungsfähig und verantwortungs los. Ich habe viel wegen des guten alten Bills geweint, aber schließlich brachte ich den Mut auf, mich von ihm zu tren nen, und ich glaube, ein gutes Stück meines Fleisches ging mit ihm. Eine Liebesaffäre der schmerzhaften Art. Und dann kam Angel, genau im richtigen Augenblick. Wieder ein intelligentes Kerlchen - das ist ein Muß bei mir, aber diesmal solide, verläßlich, ernsthaft. Und er gehörte zur Familie. Jemand, dem ich alles erzählen konnte. Das war genau das Problem. Er war ein fantastischer Zuhörer, das dachte ich zumindest, aber er hatte selber nichts zu erzäh len - außer über Computer. Er war nicht die Bohne daran interessiert, was in der Welt vor sich ging, oder auch nur an der nächsten Straßenecke. Er sah niemals fern. Er las nichts außer seinem technischen Zeug. Er spielte damals viel Handball, um sich in Form zu halten, und er arbeitete Schichten von achtundvierzig oder gar sechzig Stunden an einem Stück. Wenn wir zusammen waren, redete und re dete ich. Ich hielt unsere Beziehung für wundervoll, dabei unterhielt ich mich nur selbst.« »Hat er dich geliebt?« »Was bedeutete Angel die Liebe? Der Geschlechtsakt war ihm unangenehm. Hinterher wusch er sich immer stundenlang. Das war wie eine Art Buße. Und trotzdem verlangte er immer mehr Sex, und immer mehr geriet er außer Kontrolle, wie ein Auto, das ohne Fahrer mit zwei hundert Sachen dahinrast. Ergibt das einen Sinn für dich? Er arbeitete am Sex, wie er an seinem Computer arbeitete, so, als sei er da mit einem Problem konfrontiert, das es zu entschlüsseln galt, damit man es programmieren konnte. Bis ich ihm sagen mußte, nein, keinen Schritt weiter. Ich 184
bin schwanger, wir müssen damit aufhören, bis das Baby da ist.« »Hat er auf dich gehört?« »Damals fing er mit den Prostituierten an. Flittchen, jede Nacht, oder gar in der Mittagspause, mal zehn Minu ten hier, dann eine Stunde dort. Ich bin inzwischen sicher, daß Angel vor unserer Hochzeit niemals Sex gehabt hatte. Ich glaube sogar, er hatte noch nie . . . er wußte nicht ein mal, wie man abspritzt. Es stand wirklich so schlimm. Aber als er mich dann einmal besessen hatte, geriet der Drang, der Trieb ihm außer Kontrolle. Dann wurde Tony geboren. Ich glaube, Angel hatte ir gendwie Angst davor, Tony im Haus zu haben. Was tun Babys? Sie schreien nach Nahrung, sie sabbern und schei ßen ihre Windeln voll. Dieser . . . dieser absolut unkon trollierbare Ausstoß von Schmutz machte Angel wahn sinnig. Es gab eine Zeit, da kam er kaum noch nach Hause. Das war mir ganz recht. Damals schon hatte ich Angst vor ihm. Ich beobac htete ihn eines Tages dabei, wie er sich einen Hautausschlag an seinem Penis anschaute. Dieser Blick seiner Augen - voller Entsetzen und Abscheu. Mein Gott, wie falsch ich damit umging. Ich blies mich vor ihm auf. Wie könne er uns so etwas antun, nie wieder dürfe er mich anrühren und so fort, der typische Ausbruch einer Spaghettifresserin eben. Er brach weinend zusammen, die Tränen sprudelten nur so aus ihm heraus. Ich glaube, in dieser Nacht ist in ihm etwas zerbrochen, das sich nicht wieder reparieren ließ. Er war hinterher nicht mehr der selbe Mann. Vorher war es mir immer möglich gewesen, zu Angel durchzudringen, wenigstens einen Hinweis auf seine innersten Gefühle zu bekommen. Aber dieser wilde Weinkrampf schien ihn sterilisiert zu haben. Alle menschlichen Gefühle starben in ihm ab. Und dann be gann das Töten.« 185
»Mein Gott«, sagte Tomlin. Ihr Zugriff auf sein Handge lenk war so fest geworden, daß es zu schmerzen begann. Und dabei war sie eigentlich keine Linkshänderin. »Meine Schuld. Es war meine Schuld«, stöhnte Anita. »Wenn ich ihn doch nur in Ruhe gelassen hätte, wenn wir uns doch nie über den Weg gelaufen wären . . . Er hatte sein Leben doch im Griff, es ging ihm gut, und ich . . .« »Anita, hör sofort auf damit. Wen hat Angel getötet?« »Eine blutjunge Prostituierte. Vielleicht war es die, von der er sich den Tripper geholt hatte. Er hat's mir nicht er zählt.« »Aber er hat dir erzählt, was er getan hat?« »Jede Einzelheit. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich glaubte an eine Art Nervenzusammenbruch, Ha lluzinatio nen. Natürlich hatte ich furchtbare Angst. Aber das war noch gar nichts, verglichen mit der Angst, die ich bekam, als er wieder hinausging und es ein zweites Mal tat, und mir dann eine Videokassette davon mitbrachte - wie ein Straßenköter hing er da auf irgendeiner Nutte, während er ihr das Genick brach.« Diesmal sagte Tomlin kein Wort. Die Shady Lady IV schaukelte auf den Wellen, die von einem vorbeifahren den Boot ausgelöst worden waren. Tony saß noch immer geduldig im Cockpit und angelte. Anita kratzte sich von einem Daumennagel den brüchig gewordenen Nagellack ab. Ihre Lippen waren ganz weiß. »Und dann hast du die Polizei gerufen?« »Jetzt kommen wir zu dem Teil der Geschichte, für den du nicht allzuviel Verständnis haben wirst.« »Erzähl's mir trotzdem.« »Er war . . . ganz furchtbar krank. Das ist doch offen sichtlich, oder? Und . . . und in Angels Familie hat man nie die Cops gerufen, es sei denn, man wollte sie um einen Ge fallen bitten oder eine Schmiergeldzahlung leisten.« 186
»Mafia?« »So nennt es alle Welt, nur nicht die Fmtellanza.« »Mit Gangstern kenne ich mich nicht so gut aus.« »Im allgemeinen nennt man sie auch >Wise Guysschwarzer Brettern< der Hacker abrufen konnte. Jeder halbwegs fähige Chemiker konnte inzwischen synthetische Drogen herstellen, deren Wir kung um einige Tausend Prozent über jener der Mor phine lag. Die meisten von ihnen waren noch nicht verbo ten, man konnte also Stoff im Wert von einer Milliar de Dollar in einem Schuhkarton unterbringen. Wenn man nun noch in Rechnung stellte, daß etwa 15 % der Bevölke rung mit einer genetisch bedingten Veranlagung zur Dro gensucht herumspazierte, dann konnte man nur zu dem Schluß kommen, daß synthetische Drogen für einen Un ternehmer wie ihn genau das Geschäft der Zukunft wä ren. Noch vor Sonnenaufgang würde er an Bord der Lolly eine Gesamtsumme von 1,6 Millionen Dollar versteckt haben, und man würde das verdammte Boot bis zur Was serlinie umkippen müssen, um etwas davon zu finden. Im nächsten Frühjahr würde er dann eine ausgedehnte Kreuzfahrt zu den Cayman-Inseln unternehmen und bei der Gelegenheit Einzahlungen auf die Bankkonten ma chen, die sein Cousin Rollie dort eröffnet hatte. Von dort 211
aus ließ sich das Geld dann vorsichtig verteilen, auf an dere Banken in Panama, Curacao, Hongkong. Unglücklicherweise hatte Carl keine Ahnung, wem ge genüber Tomlin gequatscht hatte, oder ob er überhaupt sein Maul aufgerissen hatte. Wenn er nur etwas Verstand besaß, dann müßte er sich abgekühlt haben, nachdem er Wink den Kiefer zertrümmert hatte, und müßte sich ge sagt haben, daß er ohnehin schon viel zu weit gegangen war. Vielleicht würde sein Verdacht sich auf Anita rich ten, aber damit wollte Carl schon fertig werden. Er fühlte sich noch immer von Anita betrogen. Wenn man ein Jahr lang zusammenlebt, dann ist das beinahe so wie eine Ehe. Aber er durfte sich jetzt nicht auf destruk tive Gefühle wie Eifersucht einlassen, denn er wußte ganz sicher, daß er in dieser Situation letztlich die Oberhand behalten würde. Es stand in seiner Macht, Anita und Tony vom Bayou wegzubringen, er mußte nur den Don von der Notwendigkeit eines solchen Unternehmens überzeu gen. Die Familie hatte ihn ohnehin schon alarmiert. Hört mal zu, würde er sagen, es ist nur eine Vorsichtsmaß nahme, bis wir sicher sein können, daß Angel wieder hin ter Schloß und Riegel sitzt. Ein weiterer Umzug würde zwar einiges Geld kosten, aber der Don war in diesen Dingen sehr gewissenhaft, außerdem schätzte er Anita wirklich. Und dann gab es ja auch noch den kleinen Tony, der war schließlich Blut von seinem Blut. So ungern Carl auch an Anitas Seitensprung von letzter Nacht dachte, in gewisser Hinsicht könnte ihm Tomlin sogar einen Gefal len erwiesen haben. Er hatte Anita wieder aufgelockert, hatte ihre Lebenslust wieder geweckt. Wenn er sie erst einmal vom Bayou weggebracht hätte, malte Carl sich aus, vielleicht nach Kalifornien - Santa Barbara sollte eine fan tastische Stadt sein -, dann würden sie alle in das Leben zurückkehren, an das sie gewöhnt waren, allerdings mit 212
einem entscheidenden Unterschied: Anita würde kapiert
haben, daß es die Familie war, die zählte, daß niemand,
und schon gar nicht dieser Flieger, so gut für ihr Wohler
gehen sorgen konnte wie die Familie. Sie würde auch end
lich begreifen, wie sehr Carl sich um sie kümmerte. Er
könnte es sich jetzt leisten, ihr ein paar wirklich hübsche
Dinge zu kaufen. Und was den Sex betrifft: Er hatte sich
gescheut, sie zu drängen, er hatte sie für wirklich frigide
gehalten. Und jetzt. Welche Überraschung. Beim näch
sten Mal würde er sie richtig zu behandeln wissen. Als er
gestern morgen in ihrem Badezimmer ein bißchen zu
dringlich wurde, hatte er mehr gesehen als nur eine herr
liche, brachliegende Fotze, er hatte in ihren Augen auch
das Verlangen entdeckt. Kein Wunder, daß Tomlin es so
leicht gehabt hatte. Carl steigerte sich in den Gedanken
hinein. Jesus, keine von den Bräuten, die zu ihm ins Bett
gestiegen waren, hatte ihn so angemacht wie Anita . Mit
nackten Beinen in einem engen, kurzen Höschen steckte
sie alle anderen in die Tasche. Und ihr Hintern. Angel
hatte ihr genau dort keinen Schaden zugefügt, wo es
wirklich zählte. Carl hatte den zweiten Drink ausgetrun
ken, ohne zu merken, wie schnell er weniger geworden
war. Ihn dürstete nach einem neuen. Sein Schwanz wollte
einfach keine Ruhe geben. Er schleuderte das Glas in ho
hem Bogen über Bord, öffnete den Hosenschlitz und flü
sterte ihren Namen in lüsternem Verlangen.
Anita ging hoch in Carls Schlafzimmer, um sich dort um
zusehen, dann kehrte sie zurück ins Wohnzimmer, wo
Tomlin auf sie wartete. Sie zündete sich eine Zigarette an,
bevor sie sprach.
»Er hat nicht viel gepackt, wenn überhaupt etwas.«
»Vielleicht hat er für einen schönen, langen Trip genug
Klamotten an Bord.«
213
Anita ging an ihm vorbei zu der Tür, die in die Bibliothek führte, und öffnete sie mit einem Ruck. Tony spielte drü ben ein Computerspiel, eines mit dem Namen Unheimli cher KorridorDogs and Eight< auf LSU?« 282
»Ich werde drüber nachdenken«, gestand Shelby zu. Deejay grinste, lehnte sich auf seinem Sitz ein wenig nach vorne und sagte: »Halt an.« Aber Shelby war bereits vom Gas gegangen. »Was ist das da vorne unter der Stein eiche? Ist das nicht Wolf daddys Baum ? Na klar ist er das.« »Sieht aus, als wäre das Klavier runtergefallen.« »'s ist ja 'n ganz ordentlicher Wind heute abend, aber so wild nun doch wieder nicht.« Deejay richtete einen der Suchscheinwerfer auf das Kla vier und die beiden sahen den Körper darunter. Katzenau gen leuchteten von überall am Rande des Lichtscheins, und der dicke, gestreifte Kater sprang gerade von der Spitze des Klaviers herunter, das sich wie ein sinkendes Schiff in die Erde gebohrt hatte. »Ach du Scheiße«, flüsterte Deejay. »Vielleicht wird die Nacht doch nicht so ruhig, wie wir uns das vorgestellt hat ten.« Sie stiegen vorsichtig aus dem Wagen. Shelby ließ den Motor laufen. Deejay trug den Roadblocker schußbereit vor der Brust und Shelby hielt den langen Lauf der 44er vor seiner rechten Schulter senkrecht in die Luft. Sie näherten sich dem zertrümmerten Klavier einzeln, in gehörig em Abstand voneinander; Deejay drehte sich nach jedem Schritt um und versuchte es zu vermeiden, in den Schein werfer zu schauen, der auf den Boden und auf Wolfdaddys glänzende Glatze gerichtet war. »Ja, es ist Wolfdaddy«, sagte Shelby und kniete neben dem Kopf der Leiche nieder. Deejay ging weiter herum, sah hoch, sah in die Runde, umkreiste das Klavier, Shelby den Rücken zugewandt. Der Wind schmerzte ihn ein bißchen an den Ohren. Er zog die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf. Shelby legte zwei Finger gegen Wolfdaddys Kehle. Er fühlte weder einen Puls noch einen Rest Körperwärme. 283
»Der ist schon lange tot, Deejay.« »Wie lange?« Deejay spuckte etwas Tabaksaft aus, aber er hatte den Einfallswinkel des Windes dabei falsch ein geschätzt und bekam den Großteil davon zurück ins Ge sicht geweht. Er zog eine Grimasse und wischte sich eine Wange mit dem Ärmel seines Sweatshirts ab. Shelby besah sich das Blut, das Wolfdaddy aus dem of fenen Mund gelaufen und inzwischen längst geronnen war. »Vielleicht seit einer Stunde.« Er stand auf und sah hinauf auf die Plattform, die nicht eingestürzt zu sein schien. Die leichte Tür zu Wolfdaddys Verschlag schlug ständig auf und zu. »Ich glaube nicht, daß das Klavier da einfach von selbst runtergepurzelt ist. Es sei denn, Wolfdaddy wollte seine Möbel umstellen, um einen Platz für das große Bett zu finden.« »Die Erklärung überzeugt mich überhaupt nicht«, erwi derte Deejay, der immer noch in Bewegung war und ver suchte, in die Finsternis um ihn herum zu schauen. Er fühlte sich unbehaglich und kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. »Wir sollten es besser melden.« »Laß uns erst zum Haus rüberfahren, Partner. Für Wolfdaddy macht das keinen Unterschied mehr. Wir wer den das Telefon dort benützen.« »So hatte ich mir das auch gedacht«, sagte Shelby. Deejay ging rückwärts hinüber zu dem Cougar und wartete darauf, daß Shelby zu ihm stoßen würde. Shelby zwängte sich in höchster Eile hinter das Lenkrad, dann stieg auch Deejay ein. Shelby löste die Handbremse und schaltete bis auf die Parkleuchte alle Lichter am Wagen aus, als sie auf den Bayou zufuhren. »Aber wer hätte ein Interesse daran, Wolfdaddy umzu 284
bringen?« sinnierte Deejay, während er versuchte, sich den Rest Red-Man mit einem angefeuchteten Taschen tuch von der Backe zu reiben. »Jemand, der keine Zeugen hinterlassen will. Und zwar keinen einzigen. Jemand, der auf diese Weise vorzugehen pflegt.« »Ich hoffe, wir müssen nicht noch bedauern, daß wir nicht ein bißchen früher gekommen sind.« »Kannst du das Haus schon sehen? Ich kann das ver dammte Ding nirgends erkennen.« »Da ist kein Licht«, sagte Deejay. »Scheiße! Wie ma chen wir das jetzt?« »Leise und in aller Ruhe.« »Wenn ich mich richtig erinnere, fällt das Gelände vom Tor bis zum Haus etwas ab. Am besten stellst du den Mo tor ab und läßt den Wagen runterrollen.« »So hatte ich mir das auch gedacht«, antwortete Shelby. »Irgendwo muß er doch einen Wagen versteckt haben. Vielleicht hat er ihn von der Straße irgendwo zwischen die Kiefern gefahren.« Sie waren beinahe auf der Höhe des Hauses am Bayou angekommen, als sie seine Umrisse erkannten. Der Wind fegte von vorne gegen den Cougar und brachte ihn trotz des Gewichts der beiden Männer auf den Vordersitzen zum Schaukeln. Sie fuhren durch das Tor und ließen den Wagen dann mit ausgeschaltetem Motor den ganzen Weg hinunter bis zum Kutschenhaus rollen. Es stand ein Mercedes Sportcoupe in der Auffahrt, und Shelby hielt ein paar Meter dahinter an. Jetzt drehte er auch noch das Parklicht aus. Sie stiegen aus, wobei sie die Türen gegen den Sturm pressen mußten, um sie aufzube kommen. Leise ließen sie sie wieder zufallen. Shelby rich tete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe seitwärts und ließ ihn über den gewaltigen Klotz des Wohnmobils wan 285
dern, der auf der Asphaltfläche abgestellt war. Deejay leuchtete vielleicht zwei Sekunden lang in den Mercedes hinein, um sicherzugehen, daß niemand sich darin be fand, dann schaltete er seine Lampe wieder aus. Sie standen ein paar Fuß voneinander entfernt und stu dierten das Haus. »Da ist ein Licht«, sagte Deejay zu Shelby, gerade so laut, daß sein Partner es verstehen konnte. »Dort drüben an der Seite? Könnte eine Sturmlampe sein. Der Strom ist sicher ausgefallen.« »Vielleicht ist dort drinnen alles in Ordnung.« »Laß uns dort hinübergehen.« »Du machst einen Bogen über den Rasen«, schlug Dee jay vor, »und ich komme über die Veranda.« »Deejay?« »Ja?« »Meinst du, daß Eastwood es auch so machen würde?« »Der sollte jetzt hier sein und rausfinden, was Sache ist«, grinste Deejay. »Genug gequatscht«, meinte Shelby, und sie trennten sich. Deejay rannte in seinen Nike-Turnschuhen auf die Ve randa. Er versuchte sich ein Gefühl dafür zu erhalten, wo sich Shelby zu seiner Linken befand, während er langsam um die Ecke des großen Hauses schlich. De ejay prüfte den Boden der Veranda, aber die Holzbohlen waren rela tiv fest. Irgend etwas war im Wege. Oh, eine Veranda schaukel. Er zwängte sich geräuschlos daran vorbei. Er wollte seine Taschenlampe nicht einschalten. Bei so vie len Verandatüren und Fenstern, wie leicht hätte er da von jemandem beobachtet werden können, und womöglich hätte ein solcher Jemand dieses Mal kein Klavier genom men, sondern mit heißem Blei um sich geschossen. Er wollte lieber lauschen als was sehen, auch wenn der Wind 286
es einem sehr schwer machte, Geräusche zu unterschei den, so zum Beispiel das Quietschen der Schaukel hinter ihm, die an einer rostigen Kette hing. Die Türen, die von der Bibliothek auf die Veranda führ ten, standen offen, die Vorhänge hatten sich zu dicke n Tauen verdreht, der Wind hatte sie über die Oberkanten der Türflügel geworfen. Drinnen, auf einer Ecke eines rie sigen Tischs, sah er die Lampe stehen. Als er in den Garten hinunterschaute, sah er Shelby, der sich auf leisen Sohlen heranschlich. Am anderen Ende der Veranda lag ein Fahr rad, eines der Laufräder klemmte unter dem Geländer. Deejay ging im Kopf noch einmal die Regeln beim Be treten eines fremden Zimmers durch, bei dem man damit rechnen mußte, daß dort jemand wartete, um einen über den Haufen zu schießen, aber als er erst einmal drin war, mit dem Rücken gegen eine Außenwand gelehnt, konnte er keinen Menschen entdecken, nichts, außer einem wei teren, noch dunkleren Zimmer hinter der Bibliothek. »Deejay?« rief Shelby vom Garten her. Deejay tauchte zusammengekauert durch die offene Verandatür, machte einen Schwenk mit dem schußberei ten Gewehr, dann setzte er über das Verandageländer und näherte sich Shelby, das Haus und Grundstück dabei nicht aus den Augen lassend. »Was gibt's?« fragte er Shelby. Er wandte seinem Part ner immer noch den Rücken zu. »'nen toten Köter. Mein Gott, das arme Vieh ist so in Stücke gehackt worden, ich weiß nicht, vielleicht ist es der Wolfshund, von dem die beiden gesprochen haben.« Deejay sah selber nach, aber er konnte auch nicht mehr sagen. »In Stücke gehackt?« »Ja.« »Wird ja immer besser«, sagte Deejay und hustete etwas Schleim aus. 287
»Hast du wenigstens 'n verdammtes Telefon da drin nen entdeckt?« »Klar, hab' ich.« »Geh'n wir doch rein.« »Du auch?« »Nein, ich werde hier unter freiem Himmel mein Lager aufschlagen und den toten Hund bewachen.« Sie kletterten über das Geländer auf die Veranda und betraten die Bibliothek mit derselben Vorsicht, die Dee Jay schon vorher an den Tag gelegt hatte. »Da drüben«, sagte Deejay und deutete auf das Tele fon, er selbst hatte beschlossen, einen Blick in das Wohn zimmer zu werfen. Er näherte sich der Tür von einer Seite, dann huschte er mit einem schnellen Schritt in das Zim mer hinein. Er zog weder eine Salve von Revolvers chüs sen auf sich, noch fand er irgendwelche weiteren Leichen. Hinter dem Wohnzimmer sah er eine Eingangshalle, eine Treppe - er beschloß, die gründliche Besichtigungstour erst einmal aufzuschieben und wieder zu Shelby zurück zugehen. Er behielt dabei im mer beide Türen im Auge und sein Gewehr im Anschlag. Shelby hielt sich mit gequältem Gesichtsausdruck den Hörer ans Ohr. »Tot?« fragte ihn Deejay. »Du hast es erfaßt.« »Und was sollen wir jetzt tun?« »Uns das Haus noch einmal von außen ansehen, und es dann durchkämmen, von vorne bis hinten und den ersten Stock. Ich mache den Treiber, und du bildest das Emp fangskomitee.« »Okay, Partner.« Deejay und Shelby verließen die Bibliothek durch die Verandatür. Deejay ging schnell hinüber zu dem Cougar in der Auffahrt, den Roadblocker hielt er in den Armen. 288
Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Wagen, dann öffnete er die Tür auf der Fahrerseite, kurbelte das Fenster runter und verschanzte sich hinter der Tür. Das Gewehr legte er auf dem unteren Rand des Fenst ers auf, mit der rechten Hand blieb er in Reichweite des Lichtschalters, falls sich auf einmal die Notwendigkeit ergeben sollte, die Vorderseite des Hauses in Helligkeit zu tauchen. Nun mußte er nur daran denken, daß er vom Rücken her noch immer verwundbar war und versuchen, sich vom Heulen des Windes nicht verrückt machen zu lassen, während er wartete. Aber es war mehr als wahrscheinlich, daß der Verbrecher, den sie hier zu jagen glaubten, längst über alle Berge war, und daß er Gott weiß was für einen Hau fen Leichen dort irgendwo im dunklen Haus zurückgelas sen hatte. Er mußte nicht lange warten, dann hörte er Shelby sei nen Namen rufen. Deejay erhob sich und rannte zur Rückseite des Hau ses. Er sah Shelby an der Ecke der Veranda stehen, in der einen Hand seine 44er, in der anderen die Taschenlampe, mit der er irgend etwas beleuchtete, was er entdeckt hatte. »Leiche?« »Ich glaube es nicht. Verdammte Scheiße, ich glaube das einfach nichtl« Deejay sah selber einmal nach. Auf der hinteren Veranda war ein Mann, er saß auf recht auf der obersten Stufe, ganz in der Nähe der Kü chentür. Im mächtigen Schein der Taschenlampe leuch tete sein nicht zugeschwollenes Auge klar und glasig, in dem rötlichen Gelb eines klassischen Halloween-Kürbis. Der Mann kümmerte sich nicht um das Licht, er hatte sein Gesicht auf etwas gerichtet, das sich abseits davon be fand, er starrte hinunter auf den dunklen Bayou. Er war 289
vollkommen nackt, sein Körper war ganz starr, die ge schlossenen Fäuste streckte er nach unten, tief er noch als seine muskulösen, alabasternen Oberschenkel. Sein Kör per hatte die Farbe ausgeblichener Knochen, einmal ab gesehen von dem dunklen Schöpf seines Haars und den tintenschwarzen Augenbrauen, den Blutflecken auf Ge sicht und Unterarmen und der rosafarbenen Eichel sei nes steif in die Höhe stehenden Schwanzes. »Was meinst du, wer das ist?« fragte Deejay mit Ehr furcht in der Stimme. »Er muß es sein. Ich habe das Licht auf ihn gerichtet, und er hat überhaupt nicht reagiert, aber mir ist vor Schreck beinahe einer abgegangen. Hast du so etwas schon mal gesehen?« »So sah ich nach meiner Heirat sechs Monate lang je den Abend aus, wenn ich darauf wartete, daß Myrna endlich aus dem >/-Eleven< heimkehrte.« »Er muß ein . . . wie nennt man das noch? Ein Kat. . . hmm, irgendwas mit Kat. . .« »Kataplektiker? Ich weiß nicht. Hast du mit ihm ge sprochen?« »Ja, und ihm hat >Bama and Six< auch nicht gefallen.« »Also, legen wir ihm die Manschetten an und sehen wir nach, ob da drinnen noch irgend jemand am Leben ist.« »Paß auf. Jetzt mag er ja so dasitzen, aber . . .« »Du gehst mit den Handschellen hinter ihn, und wenn er auch nur mit der Wimper zuckt, dann schieße ich ihm den rechten Fuß vom Bein.« »Weißt du was, Deejay, es gibt Augenblicke, da glaube ich, daß du in diesem Job nochmal 'ne ganz große Num mer wirst. Aber vielleicht könntest du dir statt des Fußes seine Eier vornehmen.« Deejay knipste seine Taschenlampe an, während 290
Shelby über das Verandageländer kletterte und dabei vor Anstrengung stöhnte. Der Engel des Todes schien nicht auf ihn aufmerksam zu werden, als er sich ganz langsam auf die Treppe zubewegte. Den Revolver hatte er in das Halfter gesteckt, weil er mit der freien Hand in die Hüftta sche langen mußte, wo die Handschellen steckten. Unter halb der Veranda folgte ihm sein Kollege Schritt für Schritt. Deejay richtete den hellen Lichtstrahl seiner Lampe auf das Subjekt. Der Mann sabberte wie ein klei nes Baby. Er war blutverschmierter, als es aus der Entfer nung den Anschein gehabt hatte. Der Wind, der Deejay genau ins Gesicht blies, trug ihm einen fauligen, blutigen, ekelerregenden Gestank zu. Deejays mächtiger Unterkie fer arbeitete, dann spuckte er einen Schwall von Tabaks saft auf den Boden. Als er vor dem Engel des Todes auftauchte - die Mün dung seines Gewehrs zielte dabei auf den Unterleib des nackten Mannes -, achtete er mehr auf das, was Shelby da oben auf der Veranda machte, und das sollte sich als ver hängnisvoll für Deejay erweisen. Es reichte nur noch zu einem kurzen Blick auf das auto matische Schrotgewehr, das hinter dem zerrissenen Drahtgeflecht unter der Stufe klemmte, auf welcher der Engel des Todes saß. Zu spät erkannte Deejay, daß der Draht, der um einen Finger von Angels rechter Faust ge wickelt war, die Verbindung zum gespannten Abzug des versteckten Schrotgewehrs darstellte. Scheiße! Das war Deejays letzter Gedanke auf dieser Erde, noch bevor er eine Bewegung machen konnte, um sich aus der Schußli nie zu hechten, stand der Engel des Todes auf, riß hart an dem Abzugsdraht und der Jackhammer ging los wie eine Kette von detonierenden Dynamitladungen. Die Mün dungsblitze beleuchteten einen Schwall von Blut und den nun kopflosen Körper Deejays, der rückwärts jenen Ab 291
hang hinuntertorkelte, der in sanftem Schwung zum Ufer des Bayou führte. Shelby Burleson wurde durch Angels überraschende Aktion aus dem Gleichgewicht gebracht, und Deejays gleichzeitiges Ableben versetzte ihm einen Schock. Er machte deshalb nur einen unbeholfenen Versuch, seinen Revolver zu ziehen, bevor der Engel des Todes, der die Drahtschlinge von seinem Finger abgeschüttelt hatte, ihm die gesenkte Schulter in den Magen rammte und ihn etwa zweieinhalb Meter rückwärts durch das geschlossene Kü chenfenster stieß. Atemlos versuchte Shelby sich aus den Glasscherben im Fensterrahmen zu befreien, die ihn wie Zangen festhielten. Der Engel des Todes nahm den Re volver auf, der zu Boden gefallen war und trat ganz ruhig ein, zwei Schritte zurück. Shelby, für den inzwischen alles zu spät war und de r das auch genau wußte, richtete sich auf und stolperte auf Angel zu, die Hände nach seinem Peiniger ausgestreckt. Mehrere Kugeln schlugen durch die Flächen seiner Hand, und er war schon tot, bevor die unkontrollierte Wucht seines Körpers einen Abschnitt des Geländers um die Ve randa aus seinen Halterungen riß und er seinem Partner Deejay unten auf dem Rasen Gesellschaft leistete.
30. Kapitel Tomlins Lagerfeuer schwand trotz äußerster Anstrengun gen immer mehr dahin. Er hatte nachgeworfen, was er fin den konnte, war auf allen Vieren herumgekrochen, in einem Umkreis von drei, vier Metern, aber jetzt gab es nichts mehr, was er hätte verbrennen können. Er hatte Gesellschaft auf seiner winzigen Insel, ein Alli 292
gatorenpärchen - zumindest wußte er von die sen beiden -, das sich langsam und schwerfällig der Wärme des Feuers genähert hatte. Sie hatten ihn bis jetzt noch nicht belästigt, und sie würden es wahrscheinlich auch nicht tun. Alligatoren gehen nur sehr selten auf Menschen los, besonders an Land, und jetzt, da die Nächte schon emp findlich kalt wurden, war ohnehin nicht die Jahreszeit, zu der sie besonders angriffslustig waren. Bald würden die Alligatoren ganze Tage auf dem Grund des Bayou ver bringen, wo das Wasser das ganze Jahr über warm war. Sie konnten Monate lang ohne Nahrung auskommen. Er war also in keiner völlig verzweifelten Lage, aber ihm war kalt, und er war immer noch wütend. Er mußte an Anita und Tony denken. Tony würde ihr wohl von seiner mißlichen Lage berichtet haben. Ganz sicher hatte er das getan, und das bedeutete, daß Anita nicht die Möglichkeit hatte, etwas für ihn zu tun. Es war langweilig, immer nur Selbstgespräche zu hal ten, und seine körperlichen Fitneßübungen konnte er hier auch nicht machen. Womöglich wäre er noch über ein en der Alligatoren gestolpert und kopfüber in sein eigenes Feuer gefallen. Wirklich ein Niedergang für einen Mann mit seinem Stolz. Er mußte einfach etwas gegen die in nere Anspannung und die Langeweile tun, etwas, das sein Blut wieder in Bewegung bringen würde. Er stellte sich vor, wie gut er sich fühlen würde, wenn er endlich wieder unter einer heißen Dusche stünde, und bei dem Gedan ken an dieses Glück fing er an zu singen: »When I heard the crash
on the highway
I knew what it was
from the start.
I went to the scene
293
of destruction
a picture was stamped
on my heart.«
Nicht schlecht, dachte Tomlin. Natürlich fehlte ihm das unwiderstehliche Pathos, das Roy Acuff in diesen Song, der zu seinen Markenzeichen gehörte, legen würde, und Tomlin hatte auch Wilma Lee und Maybelle Carter nicht an seiner Seite, die ihn mit Gitarre oder elektrischer Zi ther begleiten konnten. Aber die Alligatoren dürfte er ei nigermaßen unterhalten haben. Hat's euch gefallen, Jungs? Der Refrain packte mich immer wieder auf's neue: »I heard the groans of the dying, but I didn't hear nobody pray.« An einem sonnigen Nachmittag über dem Pazifik, zu einer Zeit, die ihm jetzt schon wie ein anderes Leben vor kam, war zum Schluß eines Routineflugs bei seiner A-/ plötzlich der Öldruck gefallen, und damit einhergegan gen war ein rapider Leistungsverlust, noch bevor der Flugzeugträger in Sichtweite gekommen war. Die Kom mandozentrale hatte ihm empfohlen zu wassern, aber er hatte entschieden, die Deckslandung doch noch zu versu chen, auch wenn er ohne Motorenleistung runtergehen mußte, was bei einem Verfehlen der Fangdrähte unwei gerlich bedeutet hätte, daß seine Maschine auf den tief blauen Grund des Ozeans gesunken wäre. Aber er hatte sich zuversichtlich, ja beinahe glücklich gefühlt, als er die Sache in Angriff nahm, und die Jungs auf der Brücke hatte er damals mit ein paar Strophen aus >Wreck on the Highway< unterhalten, bevor er sicher auf dem Deck ge 294
landet war. Der Admiral hatte ihn sich wegen seines ma kabren Sinns für Humor noch einmal privat zur Brust ge nommen, aber wenn man einmal Geschwaderkomman deur war, dann konnte man mit solch einer Demonstra tion von Draufgängertum schon mal durchkommen, solange man die jungen Heißsporne nicht dazu ermu tigte, sich bei der näc hstbesten, prekären Situation leicht sinnig zu verhalten. Also, Tomlin, noch eine Strophe: »Who did you say it was,
brother?
Who was it feil by
the way?
When whiskey and blood
ran together
Did you hear anyone
pray?«
Wirklich nicht schlecht, befand er, und fragte sich, ob er wohl alle Strophen von >Gathering Flowers from the Hill side< noch zusammenbekommen würde. Das war ein Lied, in das man wirklich seine ganze Seele legen konnte. So wie Wilma Lee und Stoney Cooper das Ding brachten, mit der Dobro, die s ich immer wieder ein- und ausblen dete, konnte es einem wirklich eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Extraklasse. Tomlin versuchte es noch mal: »I know that you have seen
troubles
But never hang down your
head
Your love for me is like
the flowers
Your love for me is dead.«
295
Na, ihr Punk-Rocker, was haltet ihr von solchen Versen? Tomlin stand auf, damit er die letzten Zeilen aus voller Brust herausschmettern konnte: »I shot and killed my
darling;
And what will be my doom?«
»Clay! Clay!« Tomlin schwieg sofort still und lauschte. Es hatte ganz schwach und von weit her geklungen. Hatte er es sich bloß eingebildet? Oder war das wirklich Tonys Stimme gewesen? »Clay, wo bist du?« »Tony?« Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Hey, du Teufelskerl! Wo bist du?« Tonys dünne Stimme wurde ihm vom Wind herüberge tragen. »Hier! Aber wo bist dul« Tomlin sah sich um, ohne etwas sehen zu können. Er mußte lachen. »Ich habe keine Ahnung! Wer ist bei dir?« Er hatte erwartet, jetzt Anita antworten zu hören, abe r Tony rief zu ihm herüber: »Niemand! Carl ist bei mir, aber er ist tot!« Mein Goft/Tomlin formte mit den Händen einen Trich ter um den Mund und rief: »Tony, ich habe ein Feuer ge macht! Halte nach meinem Feuer Ausschau! Hast du das kleine Boot? Halte auf den Klang meiner Stimme zu!« »Sing doch weiter! Aber bitte nicht von Leuten, die sterben müssen!« Tomlin schüttelte nur den Kopf. Für einen Moment fehlte ihm jede Inspiration. Dann erinnerte er sich an ein Spiritual, das Wolfdaddy vor gar nicht so vielen Tagen in 296
seiner >Kirche zum Tor des Himmels< mit seiner Gemeinde gesungen hatte. »Lord, Lord, you sure
beengood to me
Lord, Lord, Lord, you sure
been good to me
>Cause I'm a soldier, a
soldier of the cross!«
Er war Wolfdaddys rauhem, bluesigem Stil einigermaßen nahegekommen. Tomlin fragte sich, ob das Feuer noch brannte. Er konnte es immer noch riechen, und es war auch noch etwas Wärme zu spüren. Daß du mir jetzt bloß nicht ausgehst! Erfragte sich, ob erden Klang einer gedämpften Trompete wohl noch hinkriegen würde. Man mußte dazu den Mund gegen die hohlen Hände pressen. Es ging jetzt darum, soviel Lärm wie möglich zu machen. Vielleicht konnte der Junge ihn auf seiner kleinen Insel finden. »Tony! Tony! Tony!« »Clay!« Es hörte sich schon viel hoffnungsvoller, kräfti ger und vor allem näher an. »Ich glaube, ich sehe das Feuer! Ich komme!« »Nur weiter, Tonyyyy!« Tomlin feuerte den Jungen an. »Fantastisch, wie du das machst! Du bist genau auf dem richtigen Kurs!« »Sing weiter!« Tomlin sang, er versuchte la uter zu singen als der heu lende Wind. Langsam schwand ihm der Atem, er fühlte sich erschöpft. »Ich kann dich sehen!« Die Stimme des Jungen über schlug sich beinahe. »Clay!« »Was ist?« »Du darfst dich nicht bewegen! Da sind Alligatoren!« 297
»Ach, die. Wie viele sind es?«
»Eins, zwei drei - hmm, vier. Nein, ßinß«
Tomlin drehte sich um und lächelte den Alligatoren zu,
die er nicht sehen konnte. »Ich danke euch, Jungs. Ihr wart ein wunderbares Pu blikum. Ich meine das ganz ehrlich. Nächste Woche kommt Liza Minnelli.« Er atmete tief durch. Genug her umgealbert. »Tony, bist du schon hier?« »Ja.« Das kam jetzt schon von ganz nah.
»Du mußt mich hier abholen.«
»Werden die mich auch nicht beißen?«
»Nein.«
»Ich habe Angst.«
»Okay, ich komme dir auf halbem Wege entgegen.«
»Da liegt einer genau vor dir.«
Tony gab dem Krokodil einen Stoß mit dem Fuß. »War
das der Kopf oder der Schwanz?« »Schwanz.« Tomlin stieg über das träge Tier hinweg und ging vor sichtig in die Richtung, aus der die Stimme des Jungen kam. »Ist jetzt alles in Ordnung?« »Ich komme.« Er hörte, wie das seichte Wasser spritzte. »Laß das Boot nicht abtreiben.« »Ich hab' die Leine in der Hand.« »Wie weit bin ich?« »Geh' nur weiter.« »Tony, bist du okay?« »J-ja, aber mir ist etwas kalt.« »Mir auch.« »Hier ist meine Hand.« Tomlin langte nach vorne, Tony ergriff seine Finger und hielt sie fest. Tomlin nahm ihm die Leine aus der 298
Hand und folgte ihr bis zum Boot. Sein Fuß versank im Wasser, Gasblasen stiegen aus dem Morast auf. Er tastete sich mit einer Hand ins Boot und fühlte die ausgestreckte Leiche. »Ist das Carl?« fragte er Tony. Tony begann zu schluchzen. »Okay, okay, du hast deine Sache großartig gemacht, Tony. Bitte . . . ehrlich, du bist der größte Teufelskerl von einem Jungen, den ich in meinem Leben jemals kennen gelernt habe. Jetzt müssen wir .. . wir wollen jetzt dar über nachdenken, was wir als nächstes tun werden. Kannst du das Boot steuern? Dumme Frage, du hast es ja auch hergesteuert.« Er wartete darauf, daß Tony etwas sa gen würde. Womöglich würde der Junge nicht wieder ins Boot klettern, solange darin die Leiche lag. Er hatte keine Ahnung, wie Carl ums Leben gekommen war, aber nach allem, was er fühlen konnte, war von Carl nicht viel mehr als ein Klumpen blutigen Fleisches und Knochen übrigge blieben. »Du . . . du mußt mit mir sprechen, Tony. Ich kann dich doch nicht sehen. Sag mir, wie du dich fühlst.« »Mom, . .« Tomlin erzitterte unter einem Ansturm von Angst. Er klammerte sich mit beiden Händen am Dollbord des Boo tes fest. »Wo ist deine Mutter?« Tony schluchzte. Er konnte oder wollte die Frage nicht beantworten. »Tony, bitte erzähl es mir.« »Ich . . . ich weiß nicht, wo sie ist. Ich glaube, der böse Engel hat sie sich geschnappt.«
299
31. Kapitel Noch bevor sie wußte, wo sie sich befand oder was über haupt passiert war, sah Anita das Gesicht des Todesen gels. Sie hatte keine Angst, sie fühlte sich nur irgendwie betrogen. Sie war sich ganz sicher, daß sie ihn erschossen haben mußte, dort, in Carls dunklem Zimmer. Sie konnte ihn gar nicht verfehlt haben. Und trotzdem saß er ihr ge genüber, keine zwei Meter entfernt, beinahe ganz im Schatten, das Gesicht so ausdruckslos wie auf einem gro ben Holzschnitt. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an, und ihr Blick war getrübt. Sie blinzelte eine Weile ver ständnislos, bevor sein Gesicht einigermaßen scharf vor ihren Augen erschien. Sein Mund bewegte sich. Wollte er etwas zu ihr sagen? Nein, er kaute. Er aß etwas. Es war nicht besonders hell im Zimmer, wo immer sie auch sein mochten. Anita fühlte einen starken kalten Zug, als stünde ein Fenster offen. Sie sah den Gaslichtschim mer auf seiner Stirn, die typisch italienische Nasenwur zel, eine nackte Schulter. Er aß in aller Ruhe, kratzte regel mäßig mit dem Löffel über seinen Teller. Sie ro ch die Cannellonisauce, die sie gekocht hatte, und auf der Stelle wurde ihr schlecht, die übelschmeckende Flüssigkeit, die ihr aus dem Magen hochgeschossen kam, schluckte sie mit einem würgenden Geräusch wieder runter. Er hörte das Geräusch und sah sie an. Sein rechtes Auge war ein dickes Veilchen, als habe er eine wilde Schlägerei hinter sich. Auf der Nase hatte er einen Schnitt, überall waren Krusten getrockneten Bluts. Überhaupt sah er sehr schmutzig aus, als hätte er sich erst kürzlich aus einem undichten Grab herausgebuddelt. Ihr fiel auf, daß sein Haaransatz drastisch zurückgewichen war. Ansonsten saß vor ihr der alte, ihr wohlbekannte Angel. Langsam dämmerte es Anita, daß sie sich in der Küche 300
befinden mußten, zwischen ihnen der Küchentisch. Glän zende Dinge lagen neben Angels Teller: ein Messer mit einer langen Klinge, ein Wetzstahl. Als sie den Kopf zu heben versuchte, wurde ihr klar, daß das Gefühl der Enge um ihren Hals von einem Seil her rührte. Ihre Knie waren fest zusammengepreßt. Sie konnte ihre Zehen bewegen, aber die Beine konnte sie nicht aus einanderspreizen. Alles war irgendwie mit ihren Händen hinter ihrem Rücken zusammengeschnürt. Sie war völlig hilflos, und dabei sollte Angel eigentlich tot in Carls Zim mer liegen. »Ich hab' dic h erschossen«, krächzte sie. Er studierte sie aufmerksam, während er einen halben Laib italienischen Weißbrots aufbrach. Die Krümel fielen ihm wie Schnee über die unbehaarte Brust. Er schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Er mußte nichts dazu sagen. Sie hatte danebengeschossen, das war alles. Sechs Schüsse ins Dunkel - nein, sieben sogar. Daneben. Und dann war sie ohnmächtig geworden, sozusagen als Höhe punkt ihrer Hilflosigkeit, hatte Tony schutzlos diesem ... »Hast du Tony was getan ?« Schneeweiße Zähne, die auf einer Brotrinde herum kauen. Er hatte schon immer wunderschöne Zähne ge habt. Er schüttelte wieder seinen Kopf, die geizigste aller Gesten. Gottseidank. . .! Aber konnte sie ihm Glauben schenken? »Warum bist du gekommen, Angel? Warum willst du mir noch einmal wehtun? Weil ich dich im Stich gelassen habe?« Er zeigte keine Reaktion, schien sie nicht einmal ge hört zu haben. »Okay, vielleicht habe ich das. Aber ich . . . laß es mich noch einmal versuchen, Angel. Wenn es das ist, was du willst. Ist es das?« Sein Stuhl rutschte kratzend nach hinten. Er stand auf, nackt. Schlimmer noch, er hatte eine Erektion. Die Anstö 301
ßigkeit seines Schwanzes erschreckte sie. Hatte er ihn etwa schon an ihr ausprobiert? Sie war immer noch be kleidet. Sie fühlte sich nicht so, als wäre sie vergewaltigt worden. Aber das stünde ihr noch bevor. Ganz ohne Zweifel. Anita erstickte beinahe an ihrem Ekel. Der Engel des Todes verschwand für einen kurzen Au genblick aus ihrem Blickfeld, dann kehrte er mit einer ge öffneten Flasche Valpolicella zurück. Er trank aus der Fla sche, die er am Hals festhielt; dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Sie war so durstig. Aber lieber wollte sie ster ben, als ihn um irgend etwas bitten. Lieber wollte sie sterben. »Was . . . was wirst du mit mir machen?« Er stellte die Weinflasche ab und kam um den Tisch herum. Sie fühlte seinen schmutzigen, profanen Körper dicht hinter dem Stuhl, an den sie gefesselt war, und mußte würgen. Er hob sie ohne Mühe hoch, drehte den Stuhl um und setzte sie mit dem Gesicht gegen den Herd wieder auf den Boden. Anita sah, daß alle Gasflammen brannten. Sie starrte einige Sekunden lang in die Roset ten, die von den kleinen, bräunlichen Flämmchen gebildet wurden. Ihr Verstand arbeitete noch zu langsam, um gleich zu begreifen, was er sich ausgedacht hatte. Dann hatte sie kapiert. Sie versuchte, ohne Erfolg, los zuschreien. Der Stuhl geriet ins Schaukeln, dann kippte er nach hinten. Anitas Kopf schlug hart auf den Küchenboden. Das Seil um ihren Hals zog sich z usammen, würgte ihr auf grausame Weise die Luft ab. Bevor sie wieder in Ohn macht fiel, wehte ihr noch ein Geruch in die Nase, der töd liche Duft brennenden Gases. Das letzte, was sie sah, war Angel, der mit gespreizten Beinen über ihr stand, Wolf daddys exzentrischen Hut mit den vielen Spiegeln auf dem Kopf. Das frisch geschliffene Messer schwang wie ein Pendel in seiner Hand. 302
32. Kapitel »Wo sind wir, Tony?« »Wir sind gleich beim Anleger.« »Siehst du ihn irgendwo?« »Nein.« »Das ist gut. Ist Carls Boot da?« »Ja.« »Irgendwelche Lichter?« »Nein. In der Bibliothek stand eine Sturmlampe, aber ich kann sie jetzt nicht sehen. Warte!« Tomlin fühlte, wie der Junge sich vorbeugte, als be mühe er sich, in der Dunkelheit vor ihm etwas zu erken nen. Er hatte eine Hand auf Tonys Schulter liegen. Der Junge zitterte immer noch. Er wurde von heftigen Krämp fen geschüttelt, aber er hatte nicht aufgegeben, wie viele Jungen an seiner Stelle es sicher getan hätten, er war nicht davongeschwebt ins Niemandsland der Trä ume, mit einem Daumen im Mund. Tomlin dachte daran, wie sehr sein Vater Tony bewundert hätte. Wenn das Leben hart zu dir ist, mußt du eben noch härter sein. »Was ist, Tony?« »Ich glaube, ich sehe ein Licht in der Küche.« »Okay, Tony, wir werden jetzt an Bo rd von Carls Boot gehen und das Funkgerät benutzen. Weißt du, wo es ist?« »Ja.« »Ich möchte keines von den Lichtern auf dem Boot ein schalten. Wie weit sind wir vom Anleger entfernt?« »Beinahe da.« Ein paar Sekunden später schlug das Boot gegen eins der Ölfässer. Ohne daß man es ihm hätte sagen müssen, kletterte Tony hinauf, die Leine in der Hand. Tomlin schaltete den Motor aus, ergriff die Kante des Laufstegs und ertastete sich im vorhinein den Weg, auf dem er gleich das Boot verlassen würde. Nachdem er 3°3
solange in der Hocke gewesen war, fiel es ihm schwer, die Balance zu halten. »Tony?« Er fühlte, wie ihn jemand von hinten am Ärmel zupfte. »Da bist du. Liegt Carls Boot an der Schlippe?« »Ja.« »Hilf mir an Bord.« »Was willst du tun?« »Einen Mayday-Ruf loslassen. Um den Hubschrauber und das Patrouillenboot der Küstenwache zu alarmieren. Und den Sheriff.« »Gib mir deine Hand«, sagte Tony und führte ihn ein paar Schritte den Laufsteg entlang. Tomlin fand tastend den Handlauf der Steuerbordreling der Lolly. Er sprang an Bord und drehte sich um, beide Hände nach Tony aus streckend. Dann hob er den Jungen über die Reling auf das Deck des Cockpits. »Hey, wir schaffen das alles ganz prima.« »Mom geht es nicht so prima«, erinnerte Tony ihn. »Los, schnell zum Funkgerät.« Tony führte ihn vorsichtig durch den Salon zum Steu erpult in der Hauptkabine. Tomlin setzte sich auf den Sitz des Bootsführers und fuhr mit den Fingern über das Ar maturenbrett, bis er das Mikrofon gefunden hatte. »Weißt du, wie man das Funkger ät einschaltet?« fragte er Tony. »Carl hat es mir mal gezeigt. Was ist, wenn es nicht funktioniert?« »Wenn die Batterien aufgeladen sind, wird es funktio nieren«, versicherte ihm Tomlin. »Ich glaube, das ist der richtige Schalter . . .« »Nur zu. Jetzt müßte ein rotes Licht aufleuchten . . .« »Es leuchtet!« Tomlin schob den Knopf am Mikro auf Senden. Es war 304
ihm egal, auf welchen Kanal sie geschaltet waren, auch wenn man auf 16 natürlich die schnellste Reaktion ausge löst hätte. »Mayday! Mayday! Mayday! Hier spricht die Lollapa looza auf Lostman's Bayou. Ich wiederhole. Die Lollapa looza auf Lostman's Bayou. An Bord ist geschossen wor den. Wir werden von einem Mann angegriffen, der bewaffnet und sehr gefährlich ist. Wir brauchen sofort ärztliche Hilfe. Ich bitte jeden, der auf diesem Kanal mit hört, mit der Polizei in Port Bayonne und dem Sheriff des Jackson County Verbindung aufzunehmen. Ich wieder hole . . .« »Clay!« »Mayday! Mayday! Mayday!« »Nein! Hör auf! Sie können dich nicht hören!« Tomlin ließ das Mikrofon sinken. Mit der anderen Hand berührte er das Ende des Kabels, das etwa zehn Zentimeter unterhalb des Mikros abgeschnitten worden war. » Was machen wir jetzt?« Tony hatte es herausgeschrien, und beinahe gleichzei tig hörte man Anitas weit entfernten Aufschrei, als hätte sie auf die Angst des Jungen mit noch größerem Entset zen geantwortet. Tony klammerte sich an Tomlin fest, das Gesicht gegen die Brust des Mannes gepreßt. »Er tut ihr weh!« »Im Wohnmobil habe ich CB-Funk, aber wahrschein lich wird er sich auch darum gekümmert haben. Carl war doch verrückt nach Waffen. Er muß irgendwo an Bord Schußwaffen haben. Tony, wo hat Carl seine Schußwaf fen versteckt?« »Ich weiß nicht. So tu'doch endlich was!« »Tony, ich versuche ja . . . Ich brauche . . . Ich muß . . .« 305
Er stieß den Jungen von sich. Seine Hände tasteten nach dem Schließfach im Steuerpult. Er fand es. Gottsei dank! Nicht verschlossen. Er machte eine hastige Be standsaufnahme des Inhalts. Taschenlampe. Konnte er nicht gebrauchen. Eine Art Werkzeug. Vielleicht. Ihm Schossen ein paar Einfälle durch den Kopf. Einige von ih nen waren völlig verrückt, andere konnte man dagegen tollkühn nennen. Ein riesiger Steckschlüssel. Einstecken. Er füllte seinen Hosenbund mit Werkzeugen. Es hing so furchtbar viel von Tony ab. Wenn der Junge nicht die Ner ven behielte und täte, was man ihm sagt, könnte das für sie alle das Todesurteil bedeuten. Er hatte sich beinahe bis zum Boden des Schließfachs durchgetastet. Wo zum Teufel steckte das Ding? »Wonach suchst du?« fragte Tony. Seine Stimme klang ängstlich, aber nicht mehr so nahe der Panik wie vorher. »Wir müssen ihn an der Nase herumführen, Tony, du und ich. Aber das funktioniert nicht, ohne eine Art von .. .« Tomlin hielt den Atem an und verhielt sic h für ein paar Sekunden ganz still. Tony berührte mit eisigen Fingern seinen Nacken. Ganz langsam zog Tomlin seine Hand aus dem Schließfach. »Was ist das?« »Ein Schuß, Tony. Ein verdammter Schuß. Aber das ist besser als nichts.« Tomlin öffnete den Verschlu ß der Signalpistole, die er gerade aus dem Schließfach gezogen hatte, um sich noch einmal zu versichern, daß sie geladen war. Schweiß tropfte ihm vom Kinn. Er ließ die Pistole wieder zu schnappen und steckte sie zu den anderen Werkzeugen in seinen Hosenbund. Dann drehte er sich um und nahm den Jungen in die Arme. 306
»Tony, hast du doch 'ne Menge Zeit mit deinen Compu terspielen verbracht, stimmt's? Weißt du, wir werden jetzt solch ein Spiel spielen, nur das es wirklich ist. Angel...« »Der böse Engel?« »Der böse Engel - er ist der Drache. Das Ungeheuer am Ende des Korridors. Verstehst du?« Er legte Tony eine Hand auf den Kopf, und der Junge nickte feierlich. »Und wie geht das Spiel?« »Ich werde es dir gleich hier beibringen. Es ist ganz ein fach. Es gibt nur ein paar Dinge, die du tun mußt. Aber laß mich dir noch was anderes erklären. Weißt du, welches deine rechte und welches deine linke Hand ist?« »Ja.« Tomlin streckte ihm die offene Handfläche seiner rech ten Hand entgegen. »Lege deine linke Hand gegen meine.« Tony machte es ohne zu zögern richtig. Gut. Jedes Zö gern könnte nachher fatale Folgen haben. Tomlin schöpfte neuen Mut. »Ich glaube, es wird klappen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen, wir werden deine Mutter da rausholen.« In der Küche war Angel damit fertiggeworden, eine Dacron-Wäscheleine am Türgriff des Kühlschranks zu befe stigen. Er überprüfte den festen Sitz der Leine, die er um Anitas Oberkörper gewickelt hatte, wo sie quer über die Brüste und durch die Achselhöhlen verlief. Er hatte die Gasflammen ausgedreht, nachdem er aus der Bibliothek die Sturmlampe geholt hatte. Anita lag ausgestreckt oben auf der Herdplatte, die Arme hatte er ihr hinter den Kopf gezogen und mit dem Ventilator unter der Decke verbunden. Ihre Füße waren gefesselt und am Wasserhahn über der Spüle festgezurrt. Sie konnte ihren Kopf bewegen, aber das war auch schon 307
alles. Schon die Hitze des Kontrollflämmchens war schmerzhaft und brannte ihr am Ansatz des Hinterteils. Aber das war gar nichts, verglichen mit dem, was sie er wartete, wenn Angel die vier Gasflammen wieder andre hen würde. »Angel, bitte tu' das nicht! Bitte!« Sie hatte geschrien und gefleht, bis sie heiser war und sie das Blut ihrer zerbissenen Zunge im Mund schmeckte. Er hatte kein Wort gesagt, war schweigend seinen Tätig keiten nachgegangen. Nun stand er einfach da, irgendwo in der Mitte der Küche, finster, nachdenklich, aber nicht statisch - die kreisenden Bewegungen seines Kopfes, an getrieben von nichts anderem als der reinen Kraft seiner Irrationalität, erinnerten an die Gefährlichkeit einer Kreissäge. Er sah ihr zu, wie sie den Kopf verzweifelt von einer Seite auf die andere warf (war die Angst nichts ande res als eine Art der Ekstase?); kein anderes Mittel war ihr mehr geblieben als die Überzeugungskraft ihrer Sprache, das verzweifelte Verlangen, zu beschwichtigen und zu überzeugen. »Du hast nichts davon, Angel. Warum willst du mich töten? Laß uns doch miteinander reden. Ich will noch nicht sterben. Ist es das, was du von mir hören wolltest? Ich ... wir . .. haben einen Sohn. Denk doch an Tony. Du mußt doch wenigstens manchmal auch an ihn denken.« Der Engel des Todes langte hinter sich und nahm das große Jagdmesser vom Küchentisch. Er ging hinüber zum Herd und blieb dort stehen, die scharfe Klinge des Mes sers nur ein paar Zentimeter von ihrer Stirn entfernt. Seine Hand bewegte sich ganz ruhig und langsam. Anita starrte ihr entgegen, unfähig, den Kopf zu bewegen. Als die Klinge ihre empfindliche Schläfe berührte, schnaubte sie, außer sich vor Angst, blutiger Schaum bildete sich in ihren Mundwinkeln. 308
Ganz sorgfältig rasierte er ihr eine Locke vom Kopf her unter und trug sie auf der offenen Handfläche zurück zum Tisch, wobei er sie nachdenklich betrachtete. Als der Ansturm des Bluts von ih rem rasenden Herzen etwas abebbte, waren die Ohren wieder so frei, daß sie den Wind hören konnte, der ihren Grabgesang um das Haus heulte. »Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, du Drecksack«, sagte sie, gerade noch fähig, es herauszubringen. Aber ihr Wille war noch nicht gebrochen. Er drehte sich wieder herum, um sie anzusehen, und während er das tat, klirrte irgendwo im Hause eine Glas scheibe und lenkte ihn ab. Zuerst dachte Anita, es sei nur der Wind gewesen, aber dann konnte man etwas Rhyth misches, beinahe Zielstrebiges im fortgesetzten Zerbre chen von Scheiben ausmachen. Und dann hörte sie Clay Tomlins Stimme. »Angel! Komm her, Angel! Oder sollen wir dich ho len?« Danach Tonys hohe Kinderstimme: »Angel! Angel! Angel! Angel!« Anita schluchzte, erregt und erschrocken. So tapfer. Und doch würde Angel sie alle beide töten. Mit dem Messer in der Hand, nackt, mit erigiertem Glied, nahm der Engel des Todes die Sturmlampe und be wegte sich langsam von ihr weg, hinüber zur Eßzimmer tür, die in einem starken Zug hin und her pendelte. Das trockene Zersplittern von Glas ging weiter. »Paßt auf!« schrie Anita. »Paßt auf! Er kommt!« »Komm nur raus, Angel! Wir erwarten dich!« »Wir erwarten dich! Wir erwarten dich!« echote Tonys helle Kinderstimme. Nein, dachte sie, lauft weg, aber sie war zu schwach und zu sehr außer Atem, um noch mal rufen zu können. 309
Sie sah, daß Angel in der Tür zum Speisezimmer zögerte und dem Zersplittern der Glasfenster in der Verandatür lauschte. Dann war es auf einmal wieder ganz still. Angel stieß die pendelnde Tür ein Stückchen auf und schaute in das Speisezimmer, dabei hielt er die Lampe über seinen Kopf. Das Jagdmesser zuckte wie der Schwanz einer Raubkatze. Mit ein paar schnellen Schritten trat er ins Speisezimmer, die Tür schlug hin ter ihm zu, und Anita stöhnte auf. Er wollte sich die beiden holen. Sie saßen nebeneinander auf der Verandaschaukel, etwa zwanzig Meter von der Doppeltür entfernt, die ins Spei sezimmer führte und offen stand. Die Glasscherben am Boden glitzerten im Licht der Sturmlampe, als Angel sich der Veranda näherte. Tomlin hatte die rechte Hand wie beiläufig auf die Rückenlehne der Schaukel gelegt. Der linke Arm umschloß Tonys Schultern. Der Junge kniete zitternd auf dem Schaukelsitz, das Gesicht gegen Tomlins Oberkörper gepreßt. Je mehr Entsetzen diese schreckli che Nacht auf seine empfindliche Kinderseele lud, desto mehr schien Tony der Mut zu verlassen. Beide atmeten sie schwer. Schließlich hatten sie viele Fensterscheiben zerbrechen müssen. Aus Tonys linkem Ohr, das von einem fliegenden Glassplitter getroffen worden war, tropfte etwas Blut. »Kommt er?« fragte Tomlin. Tony sah kurz hin. »Er ist im Eßzimmer. Ich kann seine Lampe sehen.« Und dann sah er den Engel des Todes, des sen bedrohliches Gesicht in einer hal bzerbrochenen Scheibe reflektiert wurde, als der Wind eine der Veranda türen in das Speisezimmer hineindrückte. »Da ist er.« »Draußen?« »Noch nicht.« 310
»Hey, Angel!« rief Tomlin, und seine Stimme war da bei voll Hohn und Spott. »Was ist los mit dir? D u hast doch nicht etwa Angst? Vor einem blinden Mann und einem Kind? Komm raus, ich will mit dir reden. Beweg dich ein bißchen, du Memme!« »Er hat überhaupt nichts an«, sagte Tony, offensicht lich fasziniert. »Ist er schon auf der Veranda?« »Nein, ich kann sein Spiegelbild sehen.« »Angel, mein Name ist Tomlin. Das hier ist mein Haus, und ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben. Also sieh zu, daß du so schnell wie möglich verschwindest!« Tony, der immer noch über die Schulter nach hinten schaute, sagte voller Besorgnis: »Er kommt nicht raus.« »Anita will dich hier auch nicht haben. Sie macht sich einen Scheißdreck aus dir, Angel, du verplemperst also nur deine Zeit. Willst du wissen, was Anita mir erzählt hat? Daß ich im Bett zehnmal mehr ein Mann bin, als du es jemals warst!« »Was soll das heißen?« flüsterte Tony. »Erklär ich dir später, Tony. Was macht er?« »Nichts. Er steht einfach nur da und . . . nein ... er hat hergeschaut. Jetzt ist er . . .« »Jetzt heißt's aufpassen.« Tomlin erhob volle r Spott wieder seine Stimme: »Spielst du Verstecken mit uns, Angel? Du bist richtig süß, Kleiner! Aber keine Sorge, ich werde dir nicht wehtun, Schätzchen, solange du nur tust, was ich dir sage. Aber wenn du das nicht tust, dann trete ich dir die Eier ab u nd werfe sie den Krokodilen vor.« Der Engel des Todes trat vorsichtig über die Schwelle der Verandatür, er mußte einen großen Schritt tun, um mit seinen nackten Füßen den Scherben auszuweichen. 311
»Jetzt kommt er«, flüsterte Tony und vergrub sein Ge sic ht wieder in Tomlins Seite. »Wie schnell?« »Er ist barfuß, und dort liegen viele Scherben.« »Lassen wir ihn einfach näher kommen.« »Er sieht so komisch aus. Sein Piepmatz ist riesig groß.« »Hey, Angel, Tony hat behauptet, du hättest 'nen Stän der! Ich möc hte wetten, daß ich schon 'nen größeren hatte, als ich zwölf war!« Er gab Tony einen kleinen Stoß. »Fang an, mir deine Beobachtungen durchzugeben. Und denke an das, was ich dir erklärt habe.« Tony warf einen kurzen Blick nach hinten. »Auf dem Gleitweg. Auf Kurs.« »Angel, ich hab' keine Lust, die ganze Nacht auf dich zu warten . . .« »Er hat ein Messer!« »Auf Frauen losgehen und kleine Jungen erschrecken, das kannst du, was? Aber vor einem richtigen Mann kneifst du. Selbst vor einem, der nicht sehen kann.« Angel bewegte sich jetzt näher zum äußeren Rand der Veranda, ganz langsam setzte er einen Fuß vor den ande ren. »Etwas vom Kurs!« flüsterte Tony aufgeregt. »Er geht zum Geländer hinüber.« »Denk daran, was ich dir gesagt habe. Wenn ich sage >LosKirche zum Tor des Himmels