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Alfred Pritz (Hrsg.)
Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie Ein Literaturführer
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Univ. P...
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Alfred Pritz (Hrsg.)
Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie Ein Literaturführer
SpringerWienNewYork
Univ. Prof. Dr. Alfred Pritz Sigmund Freud PrivatUniversität, Wien, Österreich
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
© 2008 Springer-Verlag/Wien Printed in Germany
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Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.
Umschlagbild: GettyImages/Hand reaching up to books on shelf/Stockbyte Satz und Layout: Mag. Judith Martiska, Springer-Verlag Wien Druck und Bindearbeiten: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF
SPIN: 11403760
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-25214-7 SpringerWienNewYork
Vorwort
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sychotherapie ist eine Erfahrungswissenschaft, die das eigene subjektive Erleben ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. Bücher können eine psychotherapeutische Beziehung nicht ersetzen, aber ergänzen. Nicht zufällig spricht man auch von Bibliotherapie, also möglicher therapeutischer Wirkung von Literatur. Dabei sind Information, Erlebnisbericht und verdichtete Beziehungsdarstellung von besonderer Bedeutung. Dieser Idee folgt auch dieses Buch. Es soll einen Überblick geben über das wissenschaftliche, aber auch handlungsleitende Schaffen von Autoren aus dem Bereich der modernen Psychotherapie. Die Auswahl der 100 Werke war interessant, aber auch schwierig und ist naturgemäß subjektiv geblieben. Die Autoren von Büchern aus dem deutschen Sprachraum sind überrepräsentiert aufgrund der sprachlichen Nähe jener Kolleginnen und Kollegen, die ich um eine Empfehlung gebeten habe. Der Auswahlvorgang hat sich folgendermaßen gestaltet: Ich bat 30 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, ihre wichtigsten Fachbücher zu nennen. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Schließlich empfahlen sie 374 Bücher. Aus diesen 374 Büchern suchte ich die vorliegenden 100 Meisterwerke aus – manchmal mit schwerem Herzen aufgrund der Fülle der Möglichkeiten. Sie werden als Leserin und Leser vielleicht das eine oder andere Werk vermissen oder überrascht sein, dass ein bestimmtes Werk hier enthalten ist. Ich möchte den Rezensentinnen und Rezensenten der Bücher danken, den KollegInnen und den Studierenden unserer Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien, die mit viel Engagement und Diskussionslust die einzelnen Werke vorstellen. Wichtig war mir, dass verschiedene Sichtweisen und Felder der Psychotherapie dargestellt werden. Mein Ansinnen geht dahin, die Buntheit der Psychotherapie als Stärke zu sehen, als vielfältige Antwort auf das „Weite Land der Seele“(A. Schnitzler). Einige Kriterien, nach denen die Bücher ausgewählt wurden: 1. Grundlegende Werke 2. Übersichtswerke 3. Einführende Werke 4. Monografien 5. Historische Werke 6. Falldarstellungen 7. Selbstzeugnisse
Einige Rezensionen beschäftigen sich mit einem Werk, das mehrere Bände umfasst. Aufgrund der Geschlossenheit dieser Werke haben die Rezensenten diese Bände zu einer Beschreibung zusammengefasst. Das Buch soll den verschiedenen Lesern auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen Eindrücke über das Wesentliche der Psychotherapie vermitteln. Daher haben wir die Rezensionen mit drei Stufen bewertet hinsichtlich der leichten, mittleren und schwereren Lesbarkeit, auch im Hinblick auf den Wissensstand der Leser. Leichte und mittlere Schwierigkeitsgrade sind ohne Weiteres von Lesern zu verstehen, beim schwereren Schwierigkeitsgrad sind meist psychotherapeutische Vorkenntnisse erforderlich, doch wiederum nicht bei jedem Buch. Die Lesbarkeit wird mit folgenden Symbolen gekennzeichnet:
leicht
mittel
schwer
Bei den einzelnen Büchern wird jeweils die aktuellste deutschsprachige Ausgabe angeführt, die in den meisten Fällen auch regulär im Buchhandel lieferbar ist. Bei Titeln, die bereits in mehreren Auflagen bzw. Ausgaben erschienen sind oder bei denen es sich um Übersetzungen handelt, werden auch das Jahr der Erstausgabe, der Originalverlag und der Originaltitel zitiert. Ansonsten werden die fremdsprachigen Originalausgaben angeführt. Mein Dank gilt Frau Monika Millecker, M.A., für die Hilfe bei der Zusammenstellung und der Durchsicht sowie Frau Mag. Renate Eichhorn, die als Lektorin im Springer-Verlag eine wertvolle Hilfe war und ist.
Wien, im August 2007
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Alfred Pritz
Inhaltsverzeichnis Alfred Adler: Der Sinn des Lebens ......................................................... 11 Alfred Adler: Über den nervösen Charakter .......................................... 12 August Aichhorn: Verwahrloste Jugend ................................................ 14 Hermann Argelander: Das Erstinterview in der Psychotherapie............ 17 Virginia M. Axline: Dibs ......................................................................... 18 Michael Balint: Therapeutische Aspekte der Regression........................ 20 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes .................................................. 22 Judith S. Beck: Praxis der Kognitiven Therapie ..................................... 24 Aaron T. Beck, A. John Rush, Brian F. Shaw, Gary Emery: Cognitive therapy of depression ......................................................... 25 Gaetano Benedetti: Todeslandschaften der Seele ................................... 26 Eric Berne: Spiele der Erwachsenen ...................................................... 28 Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung ............... 30 John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung ................... 33 Oliver Brachfeld: Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft .................................................................... 35 Michael B. Buchholz: Psychotherapie als Profession ............................. 37 Marie Cardinal: Schattenmund .............................................................. 39 Luc Ciompi: Affektlogik ......................................................................... 40 Johannes Cremerius: Die Verwirrungen des Zöglings T. ........................ 42 Johannes Cremerius: Vom Handwerk des Psychoanalytikers ................ 45 Steve De Shazer: Das Spiel mit Unterschieden ...................................... 46 Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften................................................................... 48 Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes ................................... 50 Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit ................................................ 52 Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten ....................... 54 Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit .................................................................................... 56 Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus .......................................... 58 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft ........................................ 59 Jerome D. Frank: Die Heiler ................................................................... 62 Viktor Frankl: ... trotzdem ja zum Leben sagen ..................................... 64 Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen ............................. 66 Sigmund Freud: Die Traumdeutung....................................................... 98 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur ...................................... 70 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens ...................... 71 Erich Fromm: Haben oder Sein .............................................................. 75 Ben Furman: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben ...... 77 Peter Gay: Sigmund Freud ..................................................................... 79 Klaus Grawe / Ruth Donati / Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel ................................................................. 81 Ralph R. Greenson: Technik und Praxis der Psychoanalyse................... 84 Georg Groddeck: Das Buch vom ES ....................................................... 85
Georg Groddeck: Krankheit als Symbol ................................................. 87 Iris Hanika / Edith Seifert: Die Wette auf das Unbewußte .................... 90 Thomas A. Harris: Ich bin o. k. – Du bist o. k......................................... 93 Lucien Israël: Die unerhörte Botschaft der Hysterie .............................. 94 Russell Jacoby: Soziale Amnesie ............................................................ 97 Eva Jaeggi: Und wer therapiert die Therapeuten? ................................. 99 C. G. Jung: Praxis der Psychotherapie.................................................. 100 Frederick H. Kanfer / Hans Reinecker / Dieter Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie ................................................................ 103 Karen Kaplan-Solms / Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse ................. 105 Verena Kast: Die Dynamik der Symbole .............................................. 107 Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus ........................................................................................ 110 Otto F. Kernberg / Birger Dulz / Jochen Eckert (Hrsg.): Wir: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen“ Beruf ....... 111 M. Masud R. Khan: Entfremdung bei Perversionen ............................ 112 Melanie Klein / Joan Riviere: Seelische Urkonflikte ............................ 113 Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst .................................................... 115 Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs … .............................. 117 Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst ..................................................... 119 Michael J. Lambert (Ed.): Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change............................................ 121 Darian Leader: Why do women write more letters than they post? .... 122 Alfred Lorenzer: Intimität und soziales Leid ........................................ 124 Michael J. Mahoney: Human change processes ................................... 128 Donald W. Meichenbaum: Kognitive Verhaltensmodifikation............. 130 Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung ........................... 132 Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus ................................................................. 133 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes ...................................... 137 Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern ............................................................... 138 Michael Lukas Moeller: Die Liebe ist das Kind der Freiheit ................. 140 Hans Morschitzky: Psychotherapie Ratgeber ....................................... 141 Tilmann Moser: Lehrjahre auf der Couch ............................................ 143 Maria Selvini Palazzoli / Luigi Boscolo / Gianfranco Cechin / Giuliana Prata: Paradoxon und Gegenparadoxon ............................ 145 Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst ......................................... 148 Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel ............................................................... 150 Frederick S. Perls: Das Ich, der Hunger und die Aggression ................ 152 Nossrat Peseschkian: Psychosomatik und Positive Psychotherapie ...... 153 Hilarion Petzold (Hrsg.): Psychotherapie & Babyforschung Band 2: Die Kraft liebevoller Blicke ................................................. 155 Hartmut Radebold: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit ...... 158
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Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse ....................................................................... 160 Wilhelm Reich: Charakteranalyse ........................................................ 162 Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus........................................ 165 Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse ......................................... 167 Arnold Retzer: Systemische Paartherapie ............................................ 170 Fritz Riemann: Grundformen der Angst .............................................. 172 Erwin Ringel: Selbstschädigung durch Neurose ................................... 173 Carl R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit................................... 175 Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent .......... 178 Johannes Heinrich Schultz: Das autogene Training ............................. 181 Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings ................................ 184 Berthold Stokvis / Eckart Wiesenhütter: Lehrbuch der Entspannung .................................................................................... 186 Gerhard Stumm / Alfred Pritz / Paul Gumhalter / Nora Nemeskeri / Martin Voracek (Hrsg.): Personenlexikon der Psychotherapie ...... 189 Gerhard Stumm / Alfred Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie ................................................................................. 190 Helmut Thomä / Horst Kächele: Psychoanalytische Therapie.............. 181 Thure von Uexküll / Rolf H. Adler / Jörg Michael Herrmann / Karl Köhle / Wolf Langewitz / Othmar W. Schonecke / Wolfgang Wesiack (Hrsg.): Psychosomatische Medizin .................... 193 Vamik Volkan: Das Versagen der Diplomatie ....................................... 194 Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein ............................... 195 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? ............................ 197 Jürg Willi: Die Zweierbeziehung .......................................................... 198 Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität .................................. 200 Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie ........ 202 Irvin D. Yalom: Existenzielle Psychotherapie ....................................... 203 Irvin D. Yalom: Die rote Couch ............................................................ 205 Jeffrey E. Young / Janet S. Klosko / Marjorie E. Weishaar: Schematherapie ................................................................................ 208
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Alfred Adler: Der Sinn des Lebens #WƂCIG(KUEJGT6CUEJGPDWEJ 'TUVCWUICDG9KGP2CUUGT
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ie Meinung des Individuums vom Sinn des Lebens ist in letzter Linie die Richtschnur für sein Denken, Fühlen und Handeln. Der wahre Sinn des Lebens aber zeigt sich in dem Widerstand, der sich dem unrichtig handelnden Individuum entgegensetzt“ (S. 39). Welche Meinung jeder Mensch vom Leben hat, findet Ausdruck in dessen individuellem Lebensstil. Dieser wurzelt in den drei grundlegenden Adler’schen Mechanismen (dem Minderwertigkeitsgefühl, Streben nach Macht bzw. deren Überwindung und dem Gemeinschaftsgefühl) und der Rückmeldung der Umgebung. Jede Person empfinde sich innerhalb bestimmter Grenzen als minderwertig (Minderwertigkeitskomplex), ist aber gleichzeitig bemüht, dieses Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden. Wie stark das Minderwertigkeitsgefühl ausgeprägt ist und die Art und Weise der Überwindung wird nach Adler schon in frühester Kindheit geprägt. Die Überwindung dieses Gefühls von Minderwertigkeit ist dem Menschen nur in der Gemeinschaft mit anderen möglich. Daraus folgt, dass der gesunde Mensch vor allem ein soziales Wesen darstellt, welches stets im Interesse der Gemeinschaft handelt (vgl. Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“). Wie kommt es nun zu mehr oder weniger gemeinschaftsfreundlichen oder -feindlichen Lebensstilen? Ausschlaggebend sind im Wesentlichen vier gemeinschaftshindernde Kindheitssituationen: Mängel und Schwächen der organischen Ausstattung (sogenannte Organminderwertigkeit) Vernachlässigung und mangelnde Zuwendung Autoritärer Zwang und brutale Unterwerfung Verwöhnung oder Verzärtelung In diesem Buch werden die Wirkung und die Mängel des gegenwärtigen Gemeinschaftsgefühls beschrieben, es werden die Menschenkenntnis und Charakterologie thematisiert und es wird versucht, die Bewegungsgesetze des Einzelnen und der Masse sowie deren Verfehlungen zu beschreiben. Adler war bestrebt, seine Anschauungen und Beobachtungen in einen streng wissenschaftlichen Zusammenhang zu bringen, was ihm auch gelungen ist: Eine immense Zahl von unmittelbaren Erfahrungen, ein System, welches diesen Erfahrungen Rechnung trägt und ihnen nicht widerspricht, konnte er aufstellen: die Individualpsychologie. Ein Werk, welches gut verstehen lässt, welche Fehler und Wünsche die Menschen haben, und die heutige Erziehung kritisch beleuchtet. „Der Sinn des Lebens“ ist ein spannender Führer durch die Individualpsychologie, der mit viel Lust und fundierten Theorien die Grundthemen dieser tiefenpsychologischen Richtung behandelt und der geeignet ist, sich einen Überblick über und einen Einblick in die Theoreme Adlers und der Individualpsychologie zu verschaffen. Er beschreibt den Sinn und Zweck 11
A menschlichen Lebens aus individualpsychologischer Sicht und zeigt die Folgen „falscher Erziehung“ auf, und das, ohne es nötig zu haben, sich hinter einer Mauer von sprachlichen Verklausulierungen zu verschanzen. Lesenswert für Fachleute sowie für Mütter, Väter, erziehende Personen und gesellschaftskritisch interessierte Menschen. Würden alle Pädagogen Adler gelesen haben, wäre die Welt wieder ein Stück besser. Ein wunderbarer Wegweiser und ein Vorbild, dass Tiefenpsychologie verständlich und nachvollziehbar, aber zugleich anspruchsvoll sein kann. Für mich stellt dieses Werk eine der gehaltvollsten Schriften der Tiefenpsychologie dar. Adler hat darin kurz vor seinem Tod alle wichtigen Erkenntnisse der von ihm begründeten Individualpsychologie zusammengefasst. „Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, dass unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden können“ (A. Adler). Dorit Hejze
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter
Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie *IXQP-CTN*GKP\9KVVG#NOWVJ$TWFGT$G\\GN4QNH-ØJP )ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG9KGUDCFGP$GTIOCPP
er Titel des Buches wirkt vielleicht ein wenig irreführend, und das gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch jemand als nervös bezeichnet, der von Unruhe, Zerfahrenheit oder Unsicherheit erfüllt ist. Das ist nicht gemeint, „nervös“ bedeutet hier, im Einklang mit den sprachlichen Gepflogenheiten um 1900, neurotisch. Zum anderen sind mit „Charakter“ keine ererbten Eigenschaften gemeint; vielmehr entwickeln sich nach Adler dessen Grundlagen in der Kindheit und bilden ein Schema aus, das als Ergebnis einer zielgerichteten Einheit verstanden werden kann. Um die Entstehung und Entwicklung des „nervösen Charakters“ geht es im ersten Abschnitt, dem theoretischen Teil des Buches. Ein konstitutives Merkmal aller Kinder ist wegen ihrer Kleinheit und Unbeholfenheit ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit. Verläuft die Entwicklung in normalen Bahnen, so wird es durch ein Streben nach Anerkennung, Wertschätzung und Ebenbürtigkeit kompensiert, während das neurotische Kind danach trachtet, stets oben zu sein, andere hinter sich zu lassen oder sie zu überwältigen. Schwäche wird also im Falle einer normalen Entwicklung in Stärke und beim Neurotiker in vermeintliche
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A menschlichen Lebens aus individualpsychologischer Sicht und zeigt die Folgen „falscher Erziehung“ auf, und das, ohne es nötig zu haben, sich hinter einer Mauer von sprachlichen Verklausulierungen zu verschanzen. Lesenswert für Fachleute sowie für Mütter, Väter, erziehende Personen und gesellschaftskritisch interessierte Menschen. Würden alle Pädagogen Adler gelesen haben, wäre die Welt wieder ein Stück besser. Ein wunderbarer Wegweiser und ein Vorbild, dass Tiefenpsychologie verständlich und nachvollziehbar, aber zugleich anspruchsvoll sein kann. Für mich stellt dieses Werk eine der gehaltvollsten Schriften der Tiefenpsychologie dar. Adler hat darin kurz vor seinem Tod alle wichtigen Erkenntnisse der von ihm begründeten Individualpsychologie zusammengefasst. „Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, dass unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden können“ (A. Adler). Dorit Hejze
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter
Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie *IXQP-CTN*GKP\9KVVG#NOWVJ$TWFGT$G\\GN4QNH-ØJP )ÒVVKPIGP8CPFGPJQGEM4WRTGEJV 'TUVCWUICDG9KGUDCFGP$GTIOCPP
er Titel des Buches wirkt vielleicht ein wenig irreführend, und das gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch jemand als nervös bezeichnet, der von Unruhe, Zerfahrenheit oder Unsicherheit erfüllt ist. Das ist nicht gemeint, „nervös“ bedeutet hier, im Einklang mit den sprachlichen Gepflogenheiten um 1900, neurotisch. Zum anderen sind mit „Charakter“ keine ererbten Eigenschaften gemeint; vielmehr entwickeln sich nach Adler dessen Grundlagen in der Kindheit und bilden ein Schema aus, das als Ergebnis einer zielgerichteten Einheit verstanden werden kann. Um die Entstehung und Entwicklung des „nervösen Charakters“ geht es im ersten Abschnitt, dem theoretischen Teil des Buches. Ein konstitutives Merkmal aller Kinder ist wegen ihrer Kleinheit und Unbeholfenheit ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit. Verläuft die Entwicklung in normalen Bahnen, so wird es durch ein Streben nach Anerkennung, Wertschätzung und Ebenbürtigkeit kompensiert, während das neurotische Kind danach trachtet, stets oben zu sein, andere hinter sich zu lassen oder sie zu überwältigen. Schwäche wird also im Falle einer normalen Entwicklung in Stärke und beim Neurotiker in vermeintliche
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A Stärke verwandelt, denn Letztere bindet Ressourcen, welche zulasten der persönlichen und sozialen Entwicklung gehen. Allerdings sind die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit fließend und insofern von relativem Charakter, zumal in beiden Fällen ein fiktives Endziel angestrebt wird. Die Vorstellungen, welche sich ein Kind macht, um in sicherere Bahnen zu gelangen, stimmen nämlich nur ungenau mit der Wirklichkeit überein. Sie treffen die Realität nie ganz, denn man nimmt diese nur selektiv wahr und projiziert eigene Wünsche auf die Vorbilder, denen man nacheifert. Erst recht gilt das für den neurotischen Menschen, der zu strikten antithetischen Wahrnehmungsschemata neigt und die Welt rigoros in ein Unten und ein Oben, in Stark und Schwach einteilt. Im zweiten Abschnitt des Buches, dem praktischen Teil, wird neurotisches Verhalten anhand von Fallbeispielen und weiteren theoretischen Einschüben exemplifiziert, wobei auch immer wieder Parallelen aus der Kulturgeschichte herangezogen werden, um das Gemeinte zu illustrieren. Im ersten Kapitel werden Geiz, Misstrauen, Neid und Grausamkeit thematisiert, in den Folgekapiteln unter anderem Phänomene wie Wahn (Kapitel II), Entwertungstendenz (Kapitel IV), Furcht vor dem Partner (Kapitel VIII) oder der „Familiensinn des Nervösen“ (Kapitel X). Im Sommer 1911 hatte sich Adler von Freud getrennt und den „Verein für freie psychoanalytische Forschung“ ins Leben gerufen, den späteren „Verein für Individualpsychologie“. Und bereits 1912 ist der „Nervöse Charakter“ erschienen, um der neuen Lehre ein eigenständiges Profil zu verleihen. Es handelt sich um das Hauptwerk der Individualpsychologie, wird aber bis heute unterschätzt. Es wurzelt in der Psychoanalyse und geht doch weit über sie hinaus. Mit Freud teilt Adler den immensen Einfluss der Kindheit auf das spätere Leben sowie die Bedeutung des Unbewussten als eines Spiels antagonistischer Kräfte, in dem Fall zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Während aber die Psychoanalyse im Einklang mit den Standards neuzeitlicher Kausalitätsvorstellungen primär auf die aristotelische Wirkursache Bezug nimmt, das heißt auf die Frage nach dem Woher, bezieht Adler auch die in der modernen Wissenschaftstradition marginalisierte aristotelische Zielursache mit ein, die Frage nach dem Wohin, indem er den Zielen und Zwecken menschlichen Verhaltens nachgeht, genauer – und das war ebenfalls neu – der Frage nach dem unbewussten Sinn. Verknüpft ist damit eine das analytische Denken erweiternde ganzheitliche Perspektive, indem der Charakter als zielgerichtete Einheit verstanden wird, die Adler später unter dem Begriff „Lebensstil“ fassen sollte. Die Erkenntnis, dass es sich dabei „um die Eintragung eines unwirklichen abstrakten Schemas in das wirkliche Leben handelt“ (23), betrachtet Adler als Hauptaufgabe seines Werkes, und genau das verleiht ihm auch heute noch Aktualität, denn dahinter steht eine frühe konstruktivistische Theorie, nämlich der Fiktionalismus des Neukantianers Hans Vaihinger. In seiner „Philosophie des Als Ob“, die erst 1911 im Druck erschienen ist, bemüht sich der Autor um den Nachweis, dass alle Annahmen und Theorien die sogenannte Realität nur 13
A in unzulänglicher Weise wiedergeben können. Um sich zu orientieren, müsse man aber „so tun, als ob“ sie wahr wären, und inwieweit sie der Wirklichkeit nahe oder fernstehen, könne nur die praktische Anwendung erweisen. Eine sinnvolle Fiktion sei beispielsweise die Einteilung der Erdoberfläche in Längen- und Breitengrade. Sie existierten nicht eigentlich, aber wenn man so tue, als wären sie vorhanden, könne man sich an ihnen orientieren. In Analogie dazu betrachtet Adler die Vorstellungen des Menschen über die Welt als Fiktionen, und der Unterschied zwischen der gesunden und der neurotischen Persönlichkeit besteht darin, dass jene nützlichere, da realitätsnähere Fiktionen verwendet als diese. Eine solche Sicht ist heuristisch wertvoll und lässt sich darüber hinaus mit der psychoanalytischen Theorie der Abwehrmechanismen verbinden, denn diese sagen implizit aus, dass man bestimmte Aspekte der Realität nicht wahrhaben will und so tut, als existierten sie nicht. Indirekt angesprochen ist damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Rolle und Identität, womit nicht nur Bezüge zur soziologischen Rollentheorie existieren, sondern auch zu den kulturgeschichtlichen Konzepten der Bühnenmetapher (Theatrum Mundi) und des Homo ludens im Sinne Johan Huizingas. Bernd Rieken
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August Aichhorn: Verwahrloste Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud #WƂCIG$GTP*CPU*WDGT 'TUVCWUICDG.GKR\KI9KGP