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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Ed Mazzaro Einer gegen Chicago
Kriminalroman
Wer ken...
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Ed Mazzaro Einer gegen Chicago
Kriminalroman
Wer kennt sie nicht, die verwegenen, unerschrockenen Helden der Abenteuerliteratur, die Männer, die noch Männer sein durften … Einer dieses Schlags ist Bruno Farrell, erprobter Geheimagent und Sonderbeauftragter Washingtons. Eingeschleust in die Chicagoer Unterwelt, hat er eine besonders gefährliche Aufgabe zu meistern. Er soll dafür sorgen, daß die bevorstehende Bürgermeisterwahl ungestört – was heißt:, etwas demokratischer – vonstatten gehen kann. Kein Wunder, daß Farrell eines Tages tief in der Patsche sitzt; denn das Chicago der zwanziger Jahre ist ein Gangsterparadies, die Rufer nach Gesetz und Ordnung werden am liebsten nicht nur mund-, sondern mausetot gemacht.
Ed Mazzaro
Einer gegen Chicago
Verlag Das Neue Berlin
Für Denis Preston
Durch die Straßen fuhren Automobile, vollgepfercht mit Revolverhelden, die Wahlhelfer verprügelten und entführten. Wahllokale wurden von bewaffneten Gangstern überfallen, Wahlzettel den Wählern, die an den Urnen warteten, um sie einzuwerfen, unter Bedrohung mit Schußwaffen aus den Händen gerissen. Wähler und Arbeiter wurden entführt, nach Chicago gebracht und dort gefangengehalten, bis die Wahllokale schlossen. The Illinois Crime Survey Jeder Wähler wurde von Männern in Schlapphüten und mit Revolvern im Gürtel gefragt, wie er wählen würde. Wenn es nicht paßte, riet man ihm, es sich anders zu überlegen, und blieb so lange bei ihm stehen, bis er sein Kreuz in die richtige Zeile gesetzt hatte. Leute, die Widerspruch erhoben oder sich gar weigerten, wurden zusammengeschlagen und hinausgeworfen oder in Autos gesteckt und davongefahren … Die Banden schlugen Kapital aus der Tatsache, daß die Moral der Polizei und die vollstreckende Gewalt auf breiter Front zusammengebrochen waren. Das Verbrechen, von der Bagatellsache bis zum Kapitalverbrechen, florierte. Pro Nacht wurden bis zu zweihundert Überfälle gemeldet. Banküberfälle waren an der Tagesordnung. Ganze Teile der Stadt wurden systematisch von Einbrechern geplündert. Reiche Familien stellten sich persönliche Leibwächter ein. Autos wurden jeden Monat zu Tausenden gestohlen. Kenneth Allsop: The Bootleggers 6
Chicago schien angefüllt zu sein mit Gangstern – Gangstern, die sich gegenseitig umbrachten; Gangstern, die aus Jux Lokale zu Schießbuden machten; Gangstern, die Bomben warfen; Gangstern, die in großen Autos durch die Straßen rasten und die Verkehrsvorschriften ignorierten; Gangstern, die, ihre geholsterten Pistolen kaum verborgen, über den Loop spazierten; Gangstern, die der Polizei, den Richtern, den Staatsanwälten, all jenen, die gelobt hatten, das Gesetz aufrechtzuerhalten, Befehle gaben; Gangstern, die in exklusiven Restaurants dinierten; Gangstern im Smoking, die sich mit ihren nerzbehangenen, in Paris eingekleideten Frauen und Geliebten in der Oper und im Theater zeigten; Gangstern, die Parties gaben, auf denen die Gäste sich aus lauter Übermut gegenseitig mit Champagner übergossen, von dem die Flasche 20 Dollar kostete, auf denen in einer einzigen Nacht tausend Pfropfen knallten; Gangstern, die, mit Flinten, Gewehren und Maschinengewehren bewaffnet, den Biertransportern Geleitschutz gaben; Gangstern überall – außer im Gefängnis. „Das ist doch alles Pressegewäsch“, erklärte Big Bill Thompson, der Bürgermeister von Chicago. Herbert Asbury: The Underworld of Chicago
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TEIL 1 Bruno Faroli
1 Mein Name ist Farrell, Bruno Farrell – so hieß ich jedenfalls, als ich im Jahre 1891 in Denver im Staat Colorado geboren wurde. Ja, Sie haben richtig gehört: neun Jahre vor der Jahrhundertwende. Sie hätten nicht gedacht, daß ich ein Mann von Ende Achtzig bin, nicht wahr? Die meisten Leute halten mich für einen rüstigen Siebziger. Ich vermute, das liegt an dem Klima hier in Kuba; die karibische Sonne tut einem alten Mann wirklich gut! Die Gangster, mit denen ich in den Tagen der Prohibition zu tun hatte, würden mich jetzt nicht wiedererkennen, aber ihnen war ich natürlich als Faroli bekannt. Selbst meine Mutter hätte mich nicht wiedererkannt, als ich hier ankam: Das Gesicht auf meinem Paßfoto war das von Rick Martin – und der wurde erst im Sommer 1928 geboren. Aber davon wissen die wenigsten; wenn man dem Tod auf der Schippe sitzt, quasselt man nicht über die falschen Namen, unter denen man reist. Die Killer spielten in Amato Gasperris Friseurladen Binokel bis Mittag, dann setzten sie sich ins Café Bella Napoli beim Loop und aßen frito misto und lasagne verde. Sie waren zu dritt: ein wieselgesichtiger Mann mit einer Tuchmütze und zwei Kraftprotze in gegürteten Mänteln und perlgrauen Filzhüten. Das Wieselgesicht hängte seine Schirmmütze auf einen Haken an der Tür, aber die beiden anderen ließen die Hüte beim Essen auf 8
dem Kopf. Um zwei Uhr, als ihnen zum drittenmal Kaffee gebracht wurde, sagte einer der Muskelmänner: „Er scheint nicht zu kommen.“ „Ich hab dir ja gesagt, Frank“, versetzte der andere Riese, „der kommt nicht mehr regelmäßig her. Der Laden läuft zwar noch unter seinem Namen, aber er hat Wichtigeres zu tun, als für die Spaghettifresser zu kochen. Er ist jetzt ein hohes Tier bei der Unione Siciliana, war Leiter und Ausschußmitglied bei den Republikanern. Außerdem hat er im Schnapshandel und im Kneipenbetrieb die Finger drin. Das weißt du doch.“ „Manchmal kommt er trotzdem noch.“ „Klar. Aber nicht regelmäßig. Früher schon, aber jetzt nicht mehr.“ „Was machen wir dann, Mick?“ Mick seufzte. „Wir schauen woanders“, versetzte er. „Und das ganze Gerenne für lumpige 1 000 Dollar pro Kopf. Der Scheißsenator hätte uns nach Stunden zahlen sollen.“ Er schnalzte mit den Fingern und verlangte die Rechnung. Draußen war es kalt für Mitte März. Der Himmel hinter dem goldenen Turm der Methodistenkirche an der Ecke Clark Street und Washington Avenue war schwefelgelb, und ein eisiger Wind, der vom See her blies, trieb Kaugummipapier, Busfahrscheine und Blätter aus den Rennzeitungen die eisenharten Bürgersteige entlang. „Mensch“, erklärte Mick fröstelnd, „wenn’s vor Einbruch der Dunkelheit nicht schneit, freß ich einen Besen.“ Das Wiesel setzte sich hinter das Steuer eines dunkelblauen Essex-Tourenwagens, und Frank zog einen Lederhandschuh über, um den kalten Motor anzukurbeln. Als er lief, stieg er in den Wagen und setzte sich hinter Mick auf den Rücksitz. „Quer durch die Stadt Richtung Dearborn, dann fährst du in nördlicher Richtung, bis du an der anderen 9
Seite vom Fluß bist“, befahl Mick. „Wir müssen in die Loomis Street in Little Italy.“ Little Italy war eine Quadratmeile heruntergekommener Mietskasernen, in denen jenseits der Fabriken von Smoky Hollow an die hunderttausend Immigranten lebten. Der Bezirk gehörte zum Polizeirevier Maxwell Street. Im Osten ragten der Turm des Verlagsgebäudes der Tribune und die Wolkenkratzer am Lake Shore Drive über schmutzige Dächer in den dunkler werdenden Himmel hinein. Das Wiesel hielt den Wagen neben einer angekränkelten Pappel an, die müde über das verrostete Gitter vor einem Billardsalon hing. „Laß den Motor laufen“, befahl Mick. „Ich bin gleich wieder da.“ Er kletterte aus dem Wagen und ging in den Billardsalon. Frank spähte durch die beschlagenen Seitenfenster. Auf der anderen Straßenseite waren eine Pfandleihe, deren Laden heruntergelassen war, und ein Lebensmittelgeschäft, dessen Gemüse- und Obststände auf dem Bürgersteig noch mit Planen überdeckt waren. In der Luft hing der durchdringende Gestank von Tausenden illegaler Heimdestillen, die in diesem Viertel noch betrieben wurden. „Soll ich dir mal was sagen?“ bemerkte Frank. „Er hat recht. Es fängt bestimmt noch vor dem Abend zu schneien an.“ Das Wiesel gab keine Antwort. Mick tauchte wieder auf und stieg in den Wagen. „Ich hab mir sagen lassen, daß er jeden Nachmittag gegen vier bei Hinky Dink Kenna vorbeigeht“, berichtete er. „Das ist ein Zigarrenladen in der South Clark Street Nummer 311. Also, das Ganze zurück.“ In der South Clark Street staute sich der nachmittägliche Verkehr. Der Essex schob sich auf gleiche Höhe mit einem Model-T Ford, der sich eben in den einzigen freien Parkplatz heben einem Feuerhydranten hinein10
schieben wollte. Mick öffnete die Tür und trat auf die Straße. „Hauen Sie ab, Mann“, sagte er zu dem Fahrer des Fords, einem älteren Mann, der ein Arzt oder Rechtsanwalt hätte sein können. „Was soll das heißen? Ich war zuerst hier.“ „Verschwinden Sie. Und zwar schnell.“ „Was bilden Sie sich ein! Ich sage Ihnen doch, ich war zuerst hier. Sie können doch nicht einfach –“ „Was haben Sie gesagt?“ Frank stand jetzt neben seinem Kumpel, eine Hand unter dem Revers seines Mantels. Seine Stimme war leise und drohend. Der Fahrer schluckte und legte den ersten Gang ein. Als der Ford davongehoppelt war, manövrierte das Wiesel den Essex in die Lücke hinein. Mick zog einen 45er Smith & Wesson aus dem Schulterholster, öffnete ihn und schüttete die Patronen in seine offene Hand. In die Spitzen der Dum-Dum-Geschosse aus Weichblei waren bereits grobe Kreuze eingekerbt. Jetzt kramte Mick eine Knoblauchzehe aus der Tasche und rieb damit sorgfältig die tödlichen Kugeln ein. „Das wird dem Kerl schmecken“, bemerkte er grinsend. „Die Itaker haben doch alle eine Schwäche für Knoblauch, stimmt’s?“ Frank lud einen 38er Police Special mit Nickelmantelgeschossen. „Auf den glorreichen Gedanken ist doch ein Itaker gekommen, nicht wahr?“ meinte er. „Daß der Knoblauch die Wunde vergiftet, selbst wenn die DumDums den Kerl nicht in Stücke reißen sollten.“ Mick nickte. „Samoots Amatuna. Er war Präsident der Unione, hat für die Gennas gearbeitet. Die O’Donnells haben ihn 1925 kaltgemacht.“ Er lachte. „Jim Dohertiy hat ihn beim Friseur erwischt. Hat sein Hirn übers ganze Handtuch verspritzt.“ Er schloß den Revolver und steckte ihn wieder in sein Holster. „Mensch, ist das kalt!“ sagte er. 11
Während der Himmel immer dunkler wurde, bekam das Rattern der Straßenbahnen, das ungeduldige Hupen der Automobile und Lastwagen, die die Straße verstopften, einen merkwürdig gedämpften Ton in der schwerer werdenden Luft. Die Mantelkrägen hochgeschlagen, die Köpfe gegen den eisigen Wind gesenkt, eilten die Passanten durch die Straße. Um vier Uhr flammten in den Schaufenstern in der South Clark Street die ersten Lichter auf, schimmerten matt auf den geschnitzten Federschmuck des hölzernen Indianers, der vor dem Zigarrenladen stand. Es war sechzehn Uhr dreizehn, als das Wiesel plötzlich sagte: „Das ist er!“ Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie das Bella Napoli verlassen hatten. Die beiden Gangster im Auto hoben das Seitenfenster heraus und blickten angespannt auf den menschenbevölkerten Bürgersteig. Drei Männer, die eben die Fahrbahn überquert hatten, steuerten auf Hinka Dink Kennas Laden zu. Sie gingen Schulter an Schulter, bahnten sich energisch einen Weg durch das Gemenge. Der Mann in der Mitte war dunkel, muskulös und kompakt gebaut. Er trug eine silbergraue Melone mit schwarzem Schweißband, einen Mantel mit Samtkragen, einen gelb gestreiften Anzug mit weißen Gamaschen. Selbst auf fünfzehn Yards Entfernung konnten die Beobachter im Essex im Lichtschein das Blitzen der Brillanten an seinen Manschettenknöpfen, seinen Ringen und seiner Krawattennadel sehen. Er ging in den Laden hinein, und seine beiden Begleiter bauten sich rechts und links von der Tür auf. Sie waren typische Gangster, wie sie im Chicago des Jahres 1928 gar nicht auffielen – massige Männer mit dunklen Gesichtern, in lange Mäntel gehüllt, die Hüte tief in die Stirn gezogen. So reglos wie der hölzerne Indianer neben der Tür standen sie da und beobachteten die Menschen auf dem Bürgersteig. Mick stieg aus und kurbelte den Essex wieder an. 12
Frank kauerte sich auf seinem Sitz zusammen und hielt die hintere Tür einen Spalt offen. Das Wiesel spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe. Der Verkehrsstrom auf der Straße kam kreischend zum Stehen und flutete wieder vorwärts, als das Signal an der Kreuzung Grün zeigte. Die Menschenmenge auf dem Bürgersteig wurde dünner, wurde wieder dichter, lockerte sich erneut. Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet. Ein Grammophon quäkte Everybody loves my baby. Die Leibwächter vor dem Zigarrenladen gerieten in Bewegung, drehten sich um, zur Tür hin. „Los“, sagte das Wiesel. „Schnappt ihn euch.“ Mick hatte sich am Temperaturmesser auf dem Kühlerverschluß des Autos zu schaffen gemacht. Jetzt trat er auf den Bürgersteig und blickte zum Laden hinüber. Frank stieg aus dem Essex und pflanzte sich neben ihm auf. Plötzliche Stille trat ein, wie das manchmal in einer Großstadtstraße vorkommt. Die Lichter schalteten auf Rot, das Signal zeigte Halt, das Keuchen von Automobilen, das Rumpeln ihrer Räder verstummte. Das schrille Gedudel des Grammophons brach abrupt ab. In diesem Moment beinahe völliger Stille trat der Mann mit der silbergrauen Melone aus dem Zigarrengeschäft und ging, flankiert von seinen beiden Leibwächtern, in südliche Richtung und weg von dem Essex. Eine Lücke öffnete sich in der Menschenmenge hinter ihnen. Frank und Mick rannten vorwärts. Wie Marionetten, die an einem einzigen gemeinsamen Draht geführt werden, blieben sie stehen, griffen mit der rechten Hand in ihre Mäntel, zogen ihre Revolver, feuerten. Das Krachen der Schüsse war erschreckend laut. Und plötzlich ging alles drunter und drüber. Männer und Frauen schrien, duckten sich, ließen sich auf den Bürgersteig fallen, drängten sich in Türnischen. Motoren heulten auf, als der Verkehrsstrom sich ruckartig in Bewegung setzte. Der Essex war schon in Fahrt, als die Kil13
ler sich aufs Trittbrett schwangen. Das Wiesel riß den Wagen vor einem Lastwagen aus der Parklücke auf die Fahrbahn hinaus, schob sich zwischen eine Straßenbahn und ein Taxi und raste, begleitet von wütendem Hupen und dem durchdringenden Quietschen von Bremsen, über die Kreuzung. Die beiden Leibwächter rannten auf die Fahrbahn hinaus, jagten ihnen eine Salve von Schüssen hinterher – und rannten weiter. Der Mann mit der silbergrauen Melone war von der Wucht der schweren Geschosse, die ihn in den Rücken getroffen hatten, mehrere Yards vorwärts geschleudert worden. Er lag auf dem Gesicht am Rand des Bürgersteigs. Sein Mantel war dunkel gefärbt vom Blut, ein Netzwerk roter Fäden gefror auf dem Pflaster unter ihm. Als die Panik sich gelegt hatte, strömten die Leute wieder auf den Bürgersteig hinaus und umdrängten die Leiche. Der Lastwagenfahrer kletterte auf unsicheren Beinen aus dem Fahrzeug und drehte den Toten herum. „Das ist Diamond Joe Esposito!“ rief jemand. „Wer ist das? Was hat er gesagt?“ „Zwei Kerle in Filzhüten – mitten auf dem Bürgersteig!“ „Das, hätte jeden von uns treffen können. Ich sag Ihnen …“ „Esposito. Der Italiener, dem das Bella Napoli gleich da vorn um die Ecke gehört.“ „Sie sind in einem Essex abgehauen. Ich hab gesehen –“ „Nein, es war ein Buick. Dunkelgrün mit –“ „Vier oder fünf waren es.“ „… er war Bezirksleiter von den Republikanern. Das wird eine Wahl wie –“ „Man kann sich nicht einmal mehr in Frieden seine Zigarre kaufen, sag ich Ihnen!“ „He, he! Auseinander da. Was, zum Teufel, geht hier vor?“ Zwei Streifenbeamte trieben die Menge mit ihren Gummiknüppeln auseinander und beugten sich über den 14
Toten. Noch während sie auf die weißen Knochensplitter starrten, die Espositos zerfetzte Brust durchbohrten, fielen die ersten Schneeflocken. Lautlos schwebten sie vom tiefhängenden Himmel herunter, ließen sich auf den Rinnsalen dunklen Bluts nieder, wo sie einen Moment lang heller funkelten als die Brillanten an den Fingern des Toten, um sich dann rot zu färben und zu zerschmelzen.
2 Ich arbeitete als Prohibitions-Agent in Massachusetts, als es losging. Am Dienstag kutschierte ich noch auf meinem Fahrrad in Cape Cod herum und machte den Fischern, die den Schnaps vom Meer reinschmuggelten, die Hölle heiß; am Mittwoch war ich schon auf dem Weg nach Washington, um diesen Sonderauftrag zu übernehmen. Das war wirklich was Besonderes: Sie hoben mich von 85 Dollar die Woche auf 125 Dollar an. Mit Spesen. Das ist ein Witz, wenn man bedenkt, was ich jetzt kassiere. Natürlich hatte ich Qualifikationen. Vor dem ersten Weltkrieg war ich auf einem Segelboot im Mittelmeer herumgeschippert, war dann für die Engländer an der Westfront geflogen, hatte schließlich bis Caporetto für den amerikanischen Nachrichtendienst gearbeitet! Ich hatte sogar selbst ein bißchen geschmuggelt – in Italien, meine ich. Aber das alles zählte nicht viel, als ich ins Gangsterparadies Chicago kam. „Diamond Joe Esposito“, meinte der Mann hinter dem großen Schreibtisch nachdenklich. „Im allgemeinen knallen sie doch ihre Anführer nicht ab. Hältst du das für einen Bandenmord, George?“ George Stevens schüttelte den Kopf. Sein Haar war grau, sein Gesicht hatte nichts Bemerkenswertes, war so 15
anonym wie der Anzug, den er trug, so wenig auffallend wie die Persönlichkeit, die sich hinter der randlosen, leicht getönten Brille verbarg. „Ich würde sagen, es hat mit der Wahl zu tun. Ein politischer Mord. Bis zur Vorwahl im April sind es nur noch zwei Wochen – und der Mann war nicht nur einer der Schnapsbarone und ein hohes Tier in der Unione Siciliana, sondern er war auch Mitglied des republikanischen Wahlausschusses.“ „Sie meinen, die Demokraten von Chicago –? Aber George, die reisen doch mit der Parole, daß sie die Stadt säubern wollen! Die würden es doch nicht riskieren –?“ „Bob, es handelt sich hier um lokale Wahlen und noch dazu um eine Vorwahl. Wir haben es hier nicht mit einem simplen Wahlkampf zwischen Republikanern und Demokraten zu tun“, erklärte Stevens. „In Chicago stehen die Prohibitionsgegner gegen die Abstinenzler, die Gangster gegen Gesetz und Ordnung, die Korruption gegen die Reform – und diese Gegensätze ziehen sich auf jeder Ebene quer durch die Parteien.“ „Ja, aber –“ „Wenn die Demokraten am Ruder wären, dann wäre Anton Cermak Bürgermeister, und er würde die Geschäfte im Sinne der Tammany Society führen. Tatsächlich aber ist Big Bill Thompson Bürgermeister, folglich ist es eine Schlacht zwischen den korrupten Beamten, die er in der Tasche hat, und den anderen Republikanern, die wirklich eine Durchführung der Gesetze wollen. Und da Thompson mit den Banden, gemeinsame Sache macht, ist damit zu rechnen, daß es bei der Wahl zu Zusammenstößen kommen wird.“ Robert Masterman seufzte. Es war ein Steuerfachmann, der Emmerson Q. Johnson, dem Justizminister der Vereinigten Staaten, unterstand, und sein Interesse an Chicago lag in erster Linie darin, Alkoholschmuggler im Auftrag der Finanzbehörden wegen Steuerhinterziehung zu überführen. 16
„Ich verstehe nicht, in welchem Zusammenhang das mit dem Mord an Esposito steht“, versetzte er. „Deneens Kandidaten treten doch gegen die Kerle auf Thompsons Liste an, und Deneen ist ein gerader Bursche. Er ist aus Überzeugung gegen den Alkohol und nicht nur deshalb, weil der Kongreß für ein Prohibitionsgesetz gestimmt hat.“ „Es soll vorgekommen sein, daß sogar schon Senatoren mit den Wölfen geheult haben“, entgegnete Stevens trocken. „Sicher, Deneen ist ein überzeugter Alkoholgegner – in der Öffentlichkeit. Er will sich die Stimmen der Reformer sichern. Aber insgeheim achtet er sehr darauf, es sich nicht mit den nichtorganisierten Alkoholhändlern zu verderben. Esposito war sein Mann. Das heißt, als Deneen die Stadt mit FBI-Leuten überschwemmte, um zu versuchen, die Prohibitionsgesetze durchzudrücken, sollen einige von den Schnapskönigen sich um Schutz an Esposito gewandt haben. Er soll ihr Geld genommen, aber nie die Gegenleistung erbracht haben.“ „Glauben Sie das?“ „Nein“, erwiderte Stevens ohne Zögern. „Ich glaube, das ist ein Gerücht. Absichtlich von Thompsons Anhängern ausgestreut.“ „Und von einem politischen Mord könnte man dann ja sowieso nicht sprechen, nicht wahr? Das wäre eine reine Racheaktion.“ „Genau. Deshalb glaube ich es nicht. Sehen Sie sich doch die Fakten an, Bob. Nehmen Sie sich die Zahlen vor: 1923 wurde Thompson nach zwei Amtszeiten nicht wiedergewählt. William Dever, der ihn ablöste, gelobte, reinen Tisch zu machen. 1924 gab es sechzehn Bandenmorde, 1925 sechsundvierzig, 1926 über siebzig. Letztes Jahr wurde Thompson wiedergewählt, und die Zahl der Morde stieg auf über achtzig. Nur sechs Leuten wurde für all diese Morde der Prozeß gemacht, und fünf wur17
den freigesprochen. Der sechste wurde verurteilt – aber nur, weil er so weit ging, im Gerichtssaal jemanden zu erschießen. Heute haben wir in Chicago zwanzigtausend Kneipen, die mit Thompsons Einverständnis in aller Öffentlichkeit betrieben werden. Capone, der beinahe eine halbe Million Dollar zu seinem Wahlkampf beigesteuert hat, verfügt über eine Privatarmee von siebenhundert Gangstern, ein Drittel von ihnen Sträflinge, die auf Bewährung frei sind. Gouverneur Small, ein ThompsonAnhänger, hat in den letzten drei Jahren neunhundertfünfzig Verbrecher auf Bewährung freigelassen. Die meisten dieser Begnadigungen wurden gekauft. Zusätzlich zahlt Capone wöchentlich 300 000 Dollar Schweigegeld – den größten Teil an die Polizei. Sechzig Prozent aller Polizeibeamten erhalten regelmäßig Zahlungen von ihm, und die meisten anderen kassieren bei den irischjüdischen Banden, die mit Capone und der Mafia im Kampf liegen. Wie, zum Teufel, kann man die Prohibitionsgesetze unter diesen Umständen durchsetzen, wenn die eigenen Agenten lumpige fünfundachtzig Dollar die Woche bezahlt bekommen?“ „Ist ja gut“, sagte Masterman. „Sie blenden mich mit Zahlen! Aber, was ich nie verstehen kann –“ „Es stimmt, daß die Zahlen blenden Jede dieser Kneipen kauft pro Tag ein Faß Bier zu sechzig Dollar – und die Alkoholschmuggler kostet ein Faß ganze vier Dollar. Capones persönliches Einkommen liegt bei fünfunddreißig Millionen pro Jahr!“ „Wenn ich das nachweisen könnte“, meinte Masterman trocken, „dann säße er schon morgen wegen Steuerhinterziehung hinter Gittern. Dieser Schweinehund hat nie eine Steuererklärung abgegeben.“ „Gerade daran arbeiten wir ja. Ich komme nachher noch darauf zurück, Bob. Aber jetzt wollte ich etwas anderes sagen. Angesichts der Tatsache, daß derartige Summen zu verdienen sind, solange Thompson am Ruder ist, ist es 18
kein Wunder, daß die Gangster vor nichts zurückschrecken werden, um sicherzustellen, daß er im Rathaus bleibt. Jeder, der gegen einen Thompson-Kandidaten antritt, muß auf heftigen Widerstand gefaßt sein. Und Esposito setzte sich für Deneen ein.“ „Sie glauben, daß er deshalb umgebracht wurde?“ „Er hätte eine Menge Stimmen mitgebracht“, erwiderte Stevens. „Er war ein hohes Tier in der Unione.“ „Aber ich dachte, die Sizilianer stünden hinter Capone?“ „Manche. Das ist alles ziemlich kompliziert, Bob. Capone ist in der Nähe von Rom geboren, und ein Teil der Sizilianer nimmt es ihm übel, daß er sich als Außenseiter eingedrängt hat.“ Masterman fuhr sich aufgeregt mit den Fingern durch sein Haar. „Eines kann ich nie verstehen – warum, zum Teufel, läßt man die Sache einfach so laufen? Warum greifen wir nicht ein und – nun, machen dem allen einfach ein Ende?“ „Die Situation ist schwierig. Thompson und der ganze korrupte Apparat wurden im demokratischen Verfahren gewählt. Ein Eingreifen der Bundesbehörden könnte eine hochexplosive Stimmung schaffen. Um es einmal ganz brutal zu sagen, wir müssen hoffen, daß es schlimmer wird, wenn wir die Berechtigung haben.“ „Die haben wir bereits.“ Stevens hüstelte. „Vor ein paar Jahren beruhigte sich die Szene; die Banden schlossen einen Waffenstillstand. Wir – äh – sorgten dafür, daß es wieder zu Kämpfen kam. Unser nächster Schritt bestand darin, zu versuchen, Capone selbst zu schnappen. Der Einfall stammte vom Präsidenten. Wir hielten Steuerhinterziehung für die beste Möglichkeit – aber die Sache hatte einen großen Haken: Wir konnten nicht nachweisen, daß er auch nur einen Penny der Gewinne anrührte, die er aus dem Betrieb seiner Spielcasi19
nos und Bordelle und aus dem illegalen Alkoholhandel zog. Das gelang uns erst, als einer unserer Leute es fertigbrachte, sich von Capone anheuern zu lassen, und uns Fotokopien der Bücher des Syndikats lieferte.“ „Elmer J. Irey und die Leute von der Steuerfahndung sitzen jetzt über dem Material, nicht wahr?“ „Ja. Seit das Justizministerium im letzten Monat die Durchführung des Prohibitionsgesetzes übernommen hat. Gegen Bottles Capone, den jüngeren Bruder, haben sie bereits Beweise für ein Gerichtsverfahren beisammen. Aber was Al angeht, wird es Monate dauern, um all die falschen Namen und verschleierten Einträge und geheimen Schlüssel in diesen Büchern zu überprüfen – dazu das Material, das von Beamten der Bundesbehörden bei Razzien sichergestellt wurde. Sobald lückenloses Beweismaterial vorliegt, bekommen sie den Fall.“ Masterman brummte. „Wenn nur der Oberste Gerichtshof entscheidet, daß jegliches Einkommen versteuert werden muß – selbst wenn es aus illegaler Tätigkeit stammt. Bis jetzt haben sich diese Schweine ja immer auf das Fifth Amendment berufen: Ihre Anwälte haben argumentiert, daß die Abgabe einer Steuererklärung über Einkommen aus illegaler Tätigkeit einem Geständnis, illegal gehandelt zu haben, gleichkommt. Und da das Fifth Amendment ausdrücklich jedem Bürger gestattet, eine Aussage zu verweigern, die ihn selbst belasten könnte, sind sie mit ihrer Weigerung, eine Erklärung abzugeben, bis jetzt auch immer durchgekommen.“ „Ich weiß“, warf Stevens ein. „Ich glaube, Sie werden die gewünschte Entscheidung bekommen. Aber im Augenblick muß ich mich in meinem eigenen Ressort an die Arbeit machen. Wir haben immer noch – nun, nennen wir es einmal – eine offene Leitung zum Tatort.“ Diese „offene Leitung“ war Bruno Farrell, ein Geheimagent, der im Auftrag der Bundesregierung in Chicago tätig war und nur Stevens persönlich verantwortlich. Far20
rell war aus einer kurzen Liste zuverlässiger Prohibitionsagenten ausgewählt worden, weil er dank seiner italienischen Vorfahren wie ein Italiener aussah, weil er fließend Italienisch sprach – und weil er vertrauenswürdig war. Es war Ironie – dachte Stevens, als er in sein eigenes Büro zurückkehrte –, daß einer der wenigen Prohibitionsagenten, der wirklich ehrlich und unbestechlich war, sich seinen Lebensunterhalt dadurch verdiente, daß er anderen half, die Gesetze zu brechen. Weil man ihn leicht für einen Italiener aus Neapel oder Palermo hätte halten können, war es Farrell gelungen, sich in die Welt der Banden einzuschleichen – dazu beigetragen hatten ein spektakulärer Ausbruch aus dem Zuchthaus und eine gefälschte Liste von Vorstrafen, die Stevens sich ausgedacht hatte. Nachdem er im Schnapskrieg mit der Mafia zusammengearbeitet und dann Capone hintergangen hatte, war er nun bei beiden Parteien, die sich in diesem Konflikt bekämpften, persona non grata und konnte es nun nicht mehr wagen, sich entweder mit den Sizilianern oder ihren irisch-jüdischen Gegnern einzulassen. Auf Stevens’ Befehl hin hielt er sich im Hintergrund. „Halten Sie sich zurück, bis die Lage sich beruhigt hat“, hatte Stevens nach der Capone-Episode geraten. „Sie sind zwar jetzt bei beiden Parteien schlecht angeschrieben, aber keiner ahnt etwas von Ihrer Rolle als Geheimagent. Wenn wir Glück haben, wird man Sie als lästigen Einzelgänger abschreiben, der zu eigenwillig ist, um von den Bossen Befehle anzunehmen. Ich würde vorschlagen, Sie bilden Ihre eigene kleine Bande. Beschränken Sie sich auf Einbrüche, gewaltlose Überfälle, Wettbetrügereien auf den Rennbahnen. So in der Art. Aber lassen Sie die Finger von der Lotterie, dem Geschäft mit den Schutzgebühren, den Bordellen und dem Schnapshandel. Auf die Art und Weise kommen Sie den Großgangstern nicht ins Gehege und können uns über alles, was Sie sehen und hören, auf dem laufenden halten.“ 21
Ein Jahr lang hatte sich Farrell gewissenhaft an seine Anweisungen gehalten, hatte Stevens einmal in der Woche unter der Geheimnummer in Washington angerufen, um seine Berichte durchzugeben. Der Prohibitionsagent nämlich war in der Tat ganz auf sich selbst gestellt. Sein Doppelleben war weder der Polizei von Chicago noch den Bundesbehörden bekannt. Sein Name erschien in keiner Akte, es gab kein Dossier in Washington über seine Tätigkeit. Man wüßte nicht, hatte Stevens erklärt, wie weit die Fangarme der Korruption reichten. Und wenn auch nur ein Mensch in Chicago oder Washington Farrells wahre Identität kenne, dann könnte diese Person reden, und Farrell wäre als Geheimagent für immer erledigt. Es war ein irrwitziges Leben für einen ehrlichen Menschen, dachte Stevens wieder, als er an den Rasenflächen rund um das Capitol entlangschritt. Tauben sonnten sich auf dem breiten Weg, und über den Bäumen lag schon ein frühlingsgrüner Schleier. Aber, sagte er sich, Bruno Farrell war kein Durchschnittsmensch. „Dieser Bursche ist ein harter Brocken und lebt gewissermaßen nach seinem eigenen Gesetz“, hatte ein hoher Beamter des FBI in Farrells Personalakte geschrieben, als dieser Stevens zugeleitet worden war. „Aber er kann Befehle entgegennehmen – und versteht auch, sie zu geben. Und er ist, soweit wir feststellen können, absolut unbestechlich.“ Ja, Farrell war wirklich unbestechlich: Seit er vor drei Jahren diesen Sonderauftrag erhalten hatte, hatte er hundert Gelegenheiten gehabt, in die eigene Tasche zu arbeiten, aber nicht eine hatte er wahrgenommen. Und ein harter Brocken war er auch. Schlägereien, bei denen er halb totgeprügelt worden war, Mordversuche, Zusammenstöße mit der Polizei, Schießereien – alles hatte er überstanden. Es war schade, dachte Stevens mit Bitterkeit, als er das bescheidene rote Backsteingebäude betrat, in dem sich sein Büro 22
befand, daß nicht mehr Leute seines Schlags für das Ministerium tätig waren. Farrell erwartete ihn im Vorzimmer – ein kräftig gebauter, muskulöser Mann mittlerer Größe mit leicht gelblichem Teint und dunklem, brillantineglattem Haar. Es war seit mehr als einem Jahr das erste Mal, daß er wieder in Washington war. „Wie sehen Sie die Ermordung von Esposito?“ fragte Stevens, nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten. Farrell zuckte die Achseln. Um seinem Gangsterimage gerecht zu werden, trug er einen taillierten braunen Anzug mit senffarbenen Nadelstreifen, weiß-braune Schuhe und ein schwarzes Hemd mit weißer Krawatte. „Es könnte ein Krach über die Präsidentschaft bei der Unione dahinterstecken“, meinte er. „Es könnte auch eine Privatfehde der Grund sein. Ich persönlich halte die Sache für ein politisches Manöver.“ „Sie sprechen von der Wahl?“ „Natürlich. Aber das bringt uns der Antwort auf die Frage, wer dahintersteckt, auch nicht näher. Es gibt eine Menge Leute, die Thompson und seinen Apparat an der Macht halten wollen – und nicht nur die Gangster. Insull, Yerkes, Capone, Moran, irgendein korrupter Polizist oder Richter – jeder von ihnen hätte die Kerle anheuern können, die ihn kaltgemacht haben.“ „Die Killer gehörten also nicht zu einer der Banden von Chicago?“ „Nein. Ausbaldowert wurde er, scheint’s, vom Wiesel, einem Kontaktmann der Purple Gang. Die lungerten den ganzen Tag ’rum und fragten nach Diamond Joe – zwei von ihnen sprachen mit irischem Akzent. Aber das heißt noch nicht, daß sie von Moran oder anderen von der North Side angeheuert worden sind. Ich hab gehört, sie sollen von Cleveland gekommen sein.“ „Wird sich das auf die Vorwahl auswirken?“ 23
Farrell schnitt ein Gesicht. „Im 19. und 21. Bezirk gibt es einen Haufen Wähler, die jetzt, wo Diamond Joe nicht mehr hinter ihnen steht, mit Drohungen und Terror dazu gebracht werden können, die falsche Seite zu wählen“, sagte er. „Sie wissen schon – Maxwell Street, West Division Street, da leben doch nur sizilianische Immigranten. Solange sie unter Espositos Schutz standen, hätten sie alles getan, was er von ihnen wollte. Er führte da so eine Art Feudalherrschaft. Aber jetzt, wo er aus dem Weg ist, braucht nur der nächste Peitschenschwinger zu kommen …“ Wieder zuckte er die Achseln. „Genau das dachte ich mir“, bemerkte Stevens niedergedrückt. „Hören Sie, Farrell – Sie wissen doch, wie wichtig diese verdammte Wahl für uns ist?“ Farrell nickte. „Wir wollen diese Stadt endlich säubern“, fuhr Stevens fort. „Im Augenblick können wir nichts tun. Wir können nicht einfach eingreifen und gewählte Vertreter abschieben – schon gar nicht, wo unsere eigene Weste nicht fleckenlos ist. Seit 1920 haben wir 706 Prohibitionsagenten wegen Korruption gefeuert. Aber Präsident Hoover legt jetzt die Durchführung des Prohibitionsgesetzes in die Hände des Justizministeriums. Das sollte etwas helfen. Außerdem arbeitet die Steuerfahndung an den Capone-Büchern, die Sie uns geliefert haben. Wenn wir den Kerl erst mal hinter Gittern haben, sieht die Sache schon besser aus. Aber das wichtigste ist, daß die Bürger von Chicago ihrer Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen Ausdruck geben. Und das können sie nur an den Wahlurnen tun.“ „Ich verstehe“, sagte Farrell. Stevens stand von seinem Schreibtisch auf und trat zum Fenster. Über dem Park lagen schon dunkle Schatten, aber die große weiße Kuppel des Capitols war noch vergoldet vom Schein der untergehenden Sonne. „Wenn Thompsons Kandidaten entscheidend geschla24
gen werden“, fuhr er fort, „dann kann man das als deutliches Zeichen öffentlicher Unzufriedenheit nehmen. Vielleicht können wir dann etwas tun. Wenn aber Thompson und seine Leute wiedergewählt werden, dann sind uns die Hände weiterhin gebunden.“ Er machte eine kurze Pause und setzte dann langsam hinzu: „Es ist deshalb von entscheidender Wichtigkeit, daß die Wähler nicht unter Druck gesetzt werden, sondern die Freiheit haben, so zu wählen, wie sie selbst es möchten.“ „Sie werden doch nicht wollen, daß ich eine gegnerische Armee von Schlägern und Killern aufbaue, um sie dazu zu bringen, gegen Thompson zu stimmen?“ fragte Farrell. „Lieber Gott, nein!“ Stevens’ Stimme klang schockiert. „Ich habe gesagt, sie sollen die Freiheit haben, so zu wählen, wie sie möchten.“ Farrell, den Blick auf die graue Silhouette gerichtet, unterdrückte ein Lächeln. In den drei Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte sich zwischen den beiden Männern gegenseitige Hochachtung entwickelt. Doch Farrell wußte noch immer sehr wenig über Stevens. Er war Jurist, ein Mensch, der offenbar gern anonym blieb, den nur ein besonderes Merkmal auszeichnete, seine Leidenschaft für das Gesetz als solches. George Stevens war der Ansicht, daß der Zweck die Mittel heilige, solange der Zweck die Aufrechterhaltung des Gesetzes war. Er fragte nicht nach Richtigkeit oder Unrichtigkeit, Billigkeit oder Angemessenheit des Gesetzes; ihn interessierte nur seine gerechte Anwendung, sobald es einmal erlassen worden war. Unerschüttert von persönlichen oder politischen Überlegungen, sorgte er daher für die Durchsetzung des Prohibitionsgesetzes, nicht weil er den Genuß von Alkohol mißbilligte, nicht weil er Alkohol als eine soziale Gefahr betrachtete, nicht einmal weil er ein treuer Parteianhänger war, sondern weil dieses Gesetz mit einer Zweidrittelmehrheit vom Senat erlassen und im 25
selben Jahr – 1917 – vom Repräsentantenhaus ratifiziert worden war. Doch wenn auch Stevens das Gesetz als solches zum Gott erhob, so waren seine Methoden, es durchzusetzen, praktisch und konkret. In dieser Hinsicht war er ein unerschrockener Individualist, der keine Angst hatte, mit unorthodoxen Methoden zu arbeiten oder sich zu exponieren – wenn nur das Endergebnis seinen Kriterien von Gerechtigkeit und Recht entsprach. Er war somit in einem nicht politischen Sinn ein Demokrat, ein Mann, der das Wohl der Mehrheit dem Wohl des Individuums voranstellte. Aus diesem Grund hatte er es Farrell gestattet, damit dessen Deckidentität gewahrt bleiben konnte, sich an den illegalen Unternehmungen der Verbrecher zu beteiligen, mit denen er Umgang hatte. Er blieb am Fenster stehen, bis die letzten Strahlen der Sonne auf der Kuppel erloschen; dann kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück. „Wie macht sich die Faroli-Bande?“ fragte er mit einem frostigen Lächeln. Faroli war der frühere Name des Vaters von Bruno Farrell gewesen, und Stevens hatte es für ratsam gehalten, daß er in Chicago unter diesem Namen auftrat für den Fall, daß jemand die Echtheit seiner italienischen Abstammung überprüfen wollte. „Wir sind im Geschäft“, antwortete Farrell lakonisch. „Wir sind zu dritt, und dazu ein Fahrer. Wir haben zwei Juweliergeschäfte ausgenommen, die Kasse von einer Tankstelle in Des Plaines, haben auf der Rennbahn in Hawthorne ein paar Dinger gedreht und drei oder vier Lagerhäuser ausgeräumt. Kleinkram, genau wie Sie gesagt haben. Abgekriegt hat niemand was – jedenfalls nicht mehr als eine Beule am Kopf.“ „Was für Lagerhäuser?“ erkundigte sich Stevens besorgt. „Regen Sie sich ab. Kein Schnaps, keine Waren unter 26
Zollverschluß. Hauptsächlich Seidenstoffe und Fertigwaren; Radios und ähnliches. Nichts, was die Bierbarone interessieren würde. Aber weil wir gerade davon sprechen – Mr. Stevens, ich hab ein Problem.“ „Heraus damit“, forderte Stevens ihn auf. „Das heißt, eigentlich sind es zwei Probleme. Das erste betrifft die Dinger, die wir drehen. Ich muß den Jungens ihren Anteil geben. Das liegt auf der Hand. Aber was soll ich mit meinem Anteil anfangen? Im Augenblick liegt das Geld unter meinem Namen auf der Bank in Burham, aber –“ Stevens drückte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich mit einem befriedigten Lächeln in seinen Sessel zurück. Hier handelte es sich um ein moralisches Problem, das er lösen konnte. „Nehmen Sie sich davon das, was Sie an Spesen brauchen“, meinte er. „Dann brauche ich vom Geheimbudget des Ministeriums keine Zuweisung vorzunehmen. Was den Rest angeht – nun, die Chicago Crime Commission hat einen Fonds für Leute angelegt, die durch die verbrecherischen Aktionen der Banden unschuldig zu Schaden kommen: Beschädigung an ihrem Eigentum, gestohlene Autos und dergleichen mehr, Sie wissen schon. Ich werde dafür sorgen, daß das Geld in diesen Fonds gelangt.“ „Okay. Nummer zwei – und das ist ein mehr persönliches Problem. Als ich den Auftrag übernahm, sagten Sie mir, daß ich allein arbeiten muß. Niemand außer Ihnen wüßte, daß in Chicago ein Geheimagent rumläuft – und niemand hätte mich rauspauken können, wenn ich mit dem Gesetz in Konflikt gekommen wäre. Sie sagten, falls ich in eine gefährliche Situation geraten sollte, könnte ich mit Rettung in letzter Minute nicht rechnen, weil sonst womöglich der ganze Schwindel auffliegen würde, stimmt’s?“ „Das ist richtig“, erwiderte Stevens nickend. „Das war ganz in Ordnung, solange ich mit den di27
cken Fischen zusammenarbeitete“, fuhr Farrell fort. „Die meisten von ihnen haben sowieso ihre Beziehungen. Von ihren Leuten wird nie einer verurteilt. Aber jetzt bin ich wirklich allein, ein kleiner Fisch in einem großen Teich mit lauter dicken Karpfen – und weil die Polizei niemals Leute wie Capone und Moran und die Gennas hochgehen läßt, machen sie dafür den kleinen Gaunern die Hölle um so heißer, den Einbrechern und Säufern und so. Damit es so aussieht, als bekämen sie ihr Geld nicht ganz umsonst, verstehen Sie. Jetzt möchte ich aber gern wissen, was passiert, wenn sie mich bei einem von diesen Jobs schnappen und verknacken?“ Stevens schürzte die Lippen. „Normalerweise würde ich sagen, daß die gleiche Regel gilt“, erklärte er nach einem Moment des Schweigens. „Aber weil ich Sie während dieser Wahl an Ort und Stelle haben möchte – nun, tun Sie Ihr Bestes, um eine Begegnung mit der Polizei zu vermeiden, aber wenn Sie wirklich in der Patsche sitzen sollten, dann erklären Sie, daß Sie Ihren eigenen Anwalt haben wollen, und rufen Sie mich unter meiner Geheimnummer an. Ich werde sehen, was sich dann machen läßt.“ „Das ist eine Erleichterung, Sir“, sagte Farrell. Sein schmaler, ein wenig grausamer Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Man fühlt sich ein bißchen einsam da draußen so ganz ohne Kontakte. Also, was erwarten Sie jetzt von mir? Ich meine, bezüglich der Wahl. Haben Sie spezielle Anweisungen für mich?“ „Nein, eigentlich nicht.“ Stevens überlegte einen Moment, dann fügte er hinzu: „Halten Sie Augen und Ohren offen, und teilen Sie mir alles mit, das in irgendeiner Weise Schlüsse darüber zuläßt, wie sich die Dinge entwickeln werden. In den letzten fünf Monaten beispielsweise hat es fünfundfünfzig Bombenanschläge gegeben. Jeder Hinweis darauf, daß da eine Eskalation zu erwarten ist, wäre nützlich. Gerüchte etwa, daß ortsfremde Galgenvö28
gel in der Stadt auftauchen oder sich vielleicht irgendwelche neuen Gruppierungen herausbilden – jede Kleinigkeit kann den Leuten vom Nachrichtendienst helfen, sich ein genaueres Bild von der Lage zu machen. Und dann können wir vielleicht die nötigen Gegenmaßnahmen unternehmen.“ „Okay.“ Farrell stand auf und nahm seinen perlgrauen Filzhut von einem der Aktenschränke. „Soll ich versuchen, mit Deneens Organisation Verbindung aufzunehmen?“ „Nur, wenn es sich so ergibt. Auf keinen Fall dürfen Sie auffallen. Ich möchte nicht eines Tages hier sitzen und Diskussionen darüber abhalten, ob Ihre Ermordung ein politisches Manöver war oder nicht.“ Farrell lächelte schief und steuerte auf die Tür zu. „Okay“, sagte er. „Ich melde mich.“ Stevens trat zu ihm und schüttelte ihm die Hand. „Seien Sie vorsichtig, Farrell“, sagte er. „Ihre Vergangenheit als Gangster könnte Sie einholen. Sie hätten auf meinen Rat hören und sich ein anderes Gesicht zulegen sollen.“ Nachdem Farrell Capone überlistet hatte, hatte Stevens versucht, ihn zu überreden, sich einer kosmetischen Operation zu unterziehen, um seine Gesichtszüge ändern zu lassen; Farrell jedoch hatte lediglich einer Hautverpflanzung zur Beseitigung einer häßlichen Narbe zugestimmt, die seine Züge verunstaltete, seit ihm jemand eine abgebrochene Flasche ins Gesicht gestoßen hatte. Jetzt hob er eine Hand und berührte seine linke Wange. „Ich bin nun mal an das Gesicht hier gewöhnt“, sagte er. „Es ist so ziemlich das einzige, was mich noch daran erinnert, wer ich bin.“
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3 Mann, damals konnte man in Chicago wirklich machen, was man wollte – wenn man Geld hatte. Da lief alles – aber echt alles. Bürgermeister Dever versuchte, ein bißchen Ordnung zu schaffen, aber er hatte überhaupt keine Chance. Richter, städtische Beamte und praktisch die ganze Polizei wurden ja von den Gangstern bezahlt. Als Thompson sich wieder ins Rathaus boxte, gab’s überhaupt keine Grenzen mehr. Aber zur Hälfte lag die Schuld natürlich bei den Leuten: Es hätte kein Gangstertum gegeben und auch keinen Schnapskrieg, wenn es die Leute nicht gewollt hätten. Chicago wurde zum Verbrecherparadies, weil seine Bürger sich weigerten, die Gesetze zu achten. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie Ähnlichkeit mit Ramon Novarro haben?“ fragte die Verkäuferin, während sie die Vitrine hinter dem vergitterten Fenster aufsperrte. „O ja“, erwiderte Farrell. „Ohne den Schnurrbart. Meine Mutter hat’s mir gesagt. Und meine Schwester, und meine Tante May. Und Mrs. Ramon Novarro zufällig auch.“ Das Mädchen lief rot an. Sie war mager, mit mausbraunem Haar und vorstehenden Zähnen. „Seien Sie doch nicht so“, sagte sie. „Außerdem hat er in seinen Filmen nie einen Schnurrbart.“ „Ich auch nicht“, versetzte Farrell. „Nur in den Sexfilmen für’s Heimkino, wenn ich nicht erkannt werden will.“ „Ach, Sie!“ protestierte das Mädchen. „Hier, sehen Sie sich die Kette an. Zu Ihren Augen passen die Steine bestimmt nicht, das sieht jeder Blinde.“ Farrell nahm das Saphir-Kollier aus der mit Samt ausgeschlagenen Schublade und hielt es ans Licht. Selbst ohne den ultramarineblauen Hintergrund, fern der hellen Fensterbeleuchtung, strahlten die Steine in funkelndem blauem Feuer. 30
„Gute Steine“, lobte er. „Auch ordentlich geschliffen.“ „Das will ich meinen!“ Die Verkäuferin war entrüstet. „Das Kollier kommt von Vladyslaw Hradec!“ Farrell wußte das. Ihn interessierte das Schmuckstück, weil es einem Stück in einem Warenhaus am Loop, das er zu überfallen gedachte, zum Verwechseln ähnlich sah, und auch das Kollier dort stammte aus der Werkstatt des berühmten tschechischen Juweliers. Er breitete das Kollier auf der polierten Holztheke aus. Die Steine, in Weißgold gefaßt, lagen halbmondförmig angeordnet vor ihm, der größte Stein in der Mitte des Bogens. Daran hing, so fein gefaßt, daß man es kaum sah, ein einziger großer Saphirtropfen in einer Art Medaillon. „Hübsch“, sagte er. „Sie haben nicht etwas in der gleichen Art, mit einem Kreuz hier, an Stelle des Medaillons?“ „Nein. Hradecs Entwürfe sind lauter Einzelstücke. Wenn Sie ein Stück von ihm kaufen, dann können Sie sicher sein, daß Sie etwas Gleiches nicht wiedersehen werden.“ „Jedenfalls nicht im selben Geschäft“, stimmte Farrell zynisch zu. „Was kostet das Ding übrigens?“ Das Mädchen warf einen Blick auf das kleine ovale Kärtchen am Kollier. „3 000 Dollar und 59 Cent“, verkündete sie. Durch das Schaufenster hinter ihr starrte mit hungrigem Blick ein schmalgesichtiger Junge mit einer Schirmmütze in den Laden herein. „4 000 Dollar“, sagte Farrell. Er schob die Unterlippe vor. „Okay, Mädchen, ich nehm sie.“ „Bar?“ fragte das Mädchen zweifelnd. „Natürlich.“ Farrell zog ein Geldbündel aus seiner Innentasche und zählte die Hunderter auf den Tisch. Die Verkäuferin ordnete die Schmuckstücke in der Schublade und schob sie wieder in die Vitrine, wobei sie angesichts des Jungen auf 31
der anderen Seite des kugelsicheren Glases hochmütig die Augenbrauen hochzog. Sie zählte das Geld, verschwand mit den Scheinen in einem Hinterzimmer und kehrte dann zurück, um das Saphir-Kollier in seinem Lederetui zu verpacken. Farrell steckte das lange, flache Päckchen in die Brusttasche seines Mantels und wandte sich zur Tür. Der Junge mit der Schirmmütze war verschwunden. „Die Quittung liegt beim Etui“, bemerkte das Mädchen. „Wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte, dann bringen Sie das Kollier zurück, und wir richten es.“ „Wenn bei einem Preis von 4 000 Dollar was nicht in Ordnung ist“, versetzte Farrell, „dann schlag ich den Laden hier kurz und klein.“ Sie lächelte kühl. „Das Mädchen ist ein Glückskind“, bemerkte sie, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte. „Wer soll das denn sein?“ „Das Mädchen, für das Sie das Kollier kaufen. Für eine Ehefrau ist das bestimmt nicht.“ „Mädchen?“ erwiderte Farrell. „Das ist nicht für ein Mädchen, Mädchen. Das Kollier ist für mich. Ich seh gern hübscher aus, wenn ich mich rasiere.“ Die Verkäuferin rümpfte die Nase. „Überhaupt“, sagte sie, „glaube ich, gibt es gar keine Mrs. Ramon Novarro.“ „Sie wollen ja gar nichts glauben, was ich Ihnen sage“, entgegnete Farrell. „Das Kollier ist für mich; Ramon möchte, daß ich es trage, wenn wir zusammen tanzen.“ Er öffnete die Tür und trat auf die Straße hinaus. Es war schon dunkel geworden, in den schwarzen Wolken schimmerte der Abglanz der Lichter der Neonschilder in der Wabash Avenue und der grell beleuchteten State Street. Die Luft war feucht, aber es regnete nicht, und ausnahmsweise einmal ging kein Wind. Das Juweliergeschäft lag in einer Zeile schicker kleiner Läden in einer Seitenstraße der Calumet Avenue, in einem Viertel teurer Wohnhäuser südlich der 43rd Street. Far32
rell ging zu Fuß zu dem unbebauten Grundstück in der Nähe des Hochbahnhofs, wo er seinen Wagen stehengelassen hatte. Er war zufrieden mit der Transaktion, die er soeben getätigt hatte. Das Mädchen wird sich an ihn erinnern, und das war wichtig. Außerdem hatte er nun das Kollier: Das war eine der kitzligen Entscheidungen, die er hatte treffen müssen. Smokey Hernandez, die kreolische Nachtclubsängerin, mit der er zusammen lebte, hatte sich das in den Kopf gesetzt, das in dem Kaufhaus lag, das sie Überfällen wollten. Und da Smokey ihn nur als einen kleinen Gangster kannte, von seinem wahren Beruf oder seiner wahren Identität nichts wußte, war er gezwungen gewesen, es ihr zu versprechen. Der Gedanke jedoch, daß sie mit einem Schmuckstück glänzen wollte, das so offensichtlich gestohlen war, behagte ihm nicht; allzu leicht hätte sich feststellen lassen, daß er der Dieb war, und wenn man ihn hinter Gitter setzte, dann konnte er Stevens nicht mehr nützlich sein. Hätte er sich andererseits geweigert, ihr das Stück zu beschaffen, so hätte das seinem Image als Gangster empfindlich geschadet – in den Augen seiner Bande ebenso wie in denen des Mädchens. Er hatte deshalb beschlossen, ein ähnliches Kollier aufzutreiben und es ganz legal von dem Geld zu kaufen, das er für Stevens beiseite gelegt hatte. Das Ministerium konnte daran kaum etwas auszusetzen haben; es ging ja schließlich darum, daß seine Rolle nicht platzte. Jetzt brauchte er nur noch nach dem Überfall die Kolliers zu vertauschen und dafür zu sorgen, daß das aus dem Kaufhaus auseinandergenommen und die Steine zusammen mit der restlichen Beute dem Hehler übergeben wurden. Auf diese Weise konnte er, wenn doch etwas schiefgehen sollte und Fragen gestellt werden sollten, für Smokeys Kollier eine echte Quittung vorlegen, und die Verkäuferin konnte bestätigen, daß er das gegen bar gekauft hatte. Es war dumm, daß die beiden Stücke nicht genau 33
gleich waren, aber vielleicht würde sich das gekaufte Kollier mit Hilfe eines Fachmanns aus der Unterwelt ändern lassen, oder er konnte sogar das Medaillon gegen das Kreuz austauschen, ehe Smokey das Stück in die Hände bekam. Auf jeden Fall war es ein gutes Gefühl, zu wissen, daß er ausnahmsweise einmal in einer Kleinigkeit eine reine Weste hatte. Zu dem Platz, wo er sein Auto stehen hatte, gab es eine Abkürzung durch eine Hintergasse zwischen zwei hohen Mietskasernen. Er war schon auf halbem Weg, als er auf den feuchten Pflastersteinen hinter sich das verstohlene Trapsen von Tennisschuhen hörte. Normalerweise, bei einem seiner Nacht- und Nebelausflüge, wäre es für Farrell eine Selbstverständlichkeit gewesen, darauf zu achten, ob er beschattet wurde. Da er an diesem Tag jedoch in völlig legaler Angelegenheit unterwegs war, hatte er seine normale Wachsamkeit abgelegt. Noch ehe er Zeit hatte, die Gefahr zu registrieren oder darauf zu reagieren, wurde ihm ein harter Gegenstand in den Rücken gedrückt, und eine heisere Stimme krächzte: „Okay, Mister, nehmen Sie die Hände hoch. Und bleiben Sie ganz still stehen.“ Farrell erstarrte. Langsam hob er die Hände bis zur Schulterhöhe. Sein Revolver steckte in seinem Hosenbund, außer Reichweite unter Jackett und gegürtetem Mantel. 30 Yards entfernt mündete die Gasse in das unbebaute Grundstück; er konnte den Schimmer von Autokarosserien in der Beleuchtung des oberhalb liegenden Hochbahnhofs sehen. Über einer Tür in der glatten, schmucklosen Mauer der Mietskaserne brannte eine Gaslampe. Sonst war hier nur feuchte Backsteinmauer, ein schmaler Streifen bewölkten Himmels und das Lampenlicht, das sich in den feuchten Kopfsteinen spiegelte. Für Heldentaten war diese Kulisse nicht gemacht. Es konnte natürlich sein, daß das nur ein Finger war, der sich da in seinen Rücken bohrte. Oder ein Stock oder 34
ein Stück Rohr. Aber lohnte sich das Risiko, der Sache auf den Grund zu gehen? Er brauchte sich über diese Frage nicht länge den Kopf zu zerbrechen. Der Druck in seinem Rücken ließ nach. Dafür spürte er jetzt an seinem Hals, unterhalb der Hutkrempe, unverwechselbar den kalten Stahlkreis einer Revolvermündung. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich. War das ein gewöhnlicher Straßenüberfall, oder saß er ernstlich in der Klemme? Er hörte keuchenden Atem hinter seinem Ohr. Ein Hauch üblen Mundgeruchs, vermischt mit Bierdünsten, wehte an seiner Wange vorbei. „In die Türnische“, flüsterte die Stimme. „Schön langsam. Wenn Sie Dummheiten machen, sind Sie ein toter Mann.“ Farrell glaubte es. Die Stimme war heiser von Nervosität, das Flüstern pfeifend vor Angst, die jeden Moment in Kopflosigkeit umschlagen konnte. Das war kein Profi: Um so größer war gerade deshalb die Gefahr. Langsam ging er zu der Türnische, stieg die Stufen hinauf. „Drehen Sie sich um.“ Die Hände noch immer hoch erhoben, drehte Farrell sich um. Eine schlaksige Gestalt in fadenscheinigen Kleidern; ein spitzes Rattengesicht mit beinahe wimpernlosen Augen und einer Schirmmütze. Es war der Junge, der durch das Schaufenster in den Juwelierladen hineingespäht hatte. Farrell verfluchte sich für seinen Leichtsinn. Vor einem erleuchteten Schaufenster mit einem dicken Geldbündel zu hantieren – das war die Höhe des Dilettantismus! Noch dilettantischer jedoch war der Junge, der ihn jetzt bedrohte. Er hatte ihn nicht einmal durchsucht. Und Farrell stand nun höher als er, tief im Schatten, während der Junge von der Gaslampe über der Tür angestrahlt wurde. „Das Geld aus Ihrer Tasche“, sagte der Junge. „Nur mit der linken Hand.“ 35
Der Revolver, der auf Farrells Bauch gerichtet war, war ein uralter Police Spezial mit abgesägtem Lauf. Der Stahl war angerostet, und die Hand, die ihn hielt, zitterte leicht. „Mensch, komm, Junge“, sagte Farrell leichthin. „Sei nicht dumm. Wenn du bei dem Ding abdrückst, dann reißt es dir die ganze Hand weg. Der ist doch seit Ewigkeiten nicht mehr abgefeuert worden. Und geölt auch nicht.“ „Holen Sie das Geld ’raus“, fuhr der Junge ihn an. Farrell senkte den linken Arm und begann seinen Mantel aufzuknöpfen. Im hellen Gaslicht hatte er gesehen, wie die Haut über den Knöcheln des Jungen weiß geworden war, als der Finger am Abzug sich gekrümmt hatte. Der Junge war so gefährlich wie eine Klapperschlange. Die Stimme war nicht die eines überlegten Killers, der sich seiner Sache und dessen, was er tun werde, sicher war. Es war die Stimme der Armut und der Verzweiflung, die Stimme der Slums, geprägt von Enttäuschung und Bitterkeit und Desillusionierung. Die Stimme eines Menschen, der nicht wußte, was, zum Teufel, er tun würde – und dem der Preis gleich war. Farrell wußte, daß er in diesem Augenblick nur eines tun konnte: mitspielen. Er schob seine Finger in die Tasche und zog das Bündel Geldscheine heraus. Seine Augen weiteten sich, starrten über die linke Schulter des Jungen. „Okay, Sergeant“, sagte er ruhig. „Packen Sie ihn schnell.“ Der Mund des jungen Revolverhelden verzog sich verächtlich. „Sie bilden sich wohl ein, Sie können mich aufs Kreuz legen?“ krächzte er wütend. „Scheißkerl! Los! Werfen Sie es ’rüber.“ Der rostige Revolverlauf hob sich schräg nach oben. Farrell warf das Geldbündel ein wenig abseits von der freien Hand des Jungen. Aber auch darauf fiel der Bursche nicht herein. Er ließ die Scheine zu Boden fallen, 36
wie Farrell gehofft hatte. Dann, die Augen auf Farrells Gesicht geheftet, kauerte er nieder und tastete auf den feuchten Pflastersteinen nach dem Bündel. Zischend drang sein Atem zwischen seinen Zähnen hindurch, als er das Bündel fand und in seine Hosentasche stopfte. Farrell benützte die Gelegenheit, während die Augen unverwandt in sein Gesicht starrten, den einzigen Knopf an seinem Jackett zu öffnen. Dann hob er wieder die linke Hand. Wenn er nur das Jackett getragen hätte, hätte er jetzt innerhalb neun Zehntel einer Sekunde den Revolver ziehen und schießen können; da er aber noch den Mantel darüber hatte, mußte er weitere zwei Zehntel zugeben. Der Junge jedoch konnte, bei Zugrundelegung einer normalen Reaktionszeit, in weniger als einem Fünftel dieser Zeit auf den Abzug drücken und Farrell abknallen; er war also noch immer schwer im Vorteil. „Jetzt das Päckchen“, sagte der Junge, als er sich aufrichtete. „Welches Päckchen?“ „Mister, Sie wollen sich wohl unbedingt die Radieschen von unten besehen. Innentasche von Ihrem Mantel.“ Farrell seufzte theatralisch. Solange er den Jungen in dem Glauben lassen konnte, daß er nur ein harmloser Bürger war, der sich für klug hielt, solange der Junge sich ihm gegenüber überlegen fühlte, hatte er eine Chance. Er zog das Päckchen mit dem Kollier heraus. „Nicht werfen diesmal. Halten Sie es in der linken Hand.“ Farrell gehorchte. Der Junge trat näher, den Revolver noch immer auf Farrell gerichtet, und riß ihm das Päckchen aus der Hand. Ohne einen Blick darauf zu werfen, schob er es in seine andere Hosentasche. „Drehen Sie sich jetzt wieder um“, befahl er. „Nehmen Sie den Hut ab und lassen Sie ihn fallen.“ Wieder gehorchte Farrell. War der Junge verrückt genug, tollkühn genug, zu schießen und eine Anklage 37
wegen Mordes zu riskieren, um eine Identifizierung zu vermeiden? Oder würde er sich damit begnügen, sein Opfer niederzuschlagen, um ungehindert fliehen zu können? Auf die Tür aufgeschraubt war eine glänzende Messingplatte mit einem Klopfer. Farrell beugte sich ein wenig vor und konnte im blitzenden Metall gerade das Spiegelbild von Kopf und Schulter des Jungen erkennen. Unwillkürlich hielt er den Atem an, als der Junge einen Schritt zurücktrat. Aber er entspannte sich, als er sah, wie der Revolver umgedreht wurde, der erhobene Arm zum Schwung ausholte. Farrell wartete bis zur letzten Sekunde; mit einem Ruck warf er sich zur Seite, so daß der betäubende Schlag des Revolverkolbens seine Schulter traf. Gleichzeitig schlug er blitzartig seine Hände über dem Kopf zusammen und packte das Handgelenk des Jungen mit stählernem Griff. Heftig riß er den Arm nach vorn, über seine Schulter hinweg, so daß das Gesicht des Jungen gegen die Tür knallte. Der Junge schrie auf vor Schmerz und Verblüffung. Der Revolver fiel ihm aus der Hand. Aber er war drahtig und war zäh. Es gelang ihm, sich aus Farrells Umklammerung zu reißen, daß er auf die Stufe niederfiel, er zog Farrell die Beine weg und katapultierte sich dann hinunter in die Gasse. Farrell lag einen Augenblick rücklings in der Türnische, die Luger Automatic, die er gezogen hatte, in der einen Hand. Zu gleicher Zeit sprangen die beiden auf. Der Junge sah die Waffe und wollte davonlaufen. Farrell sprang vor und schlug ihm mit der Waffe ins Gesicht. Blut strömte aus der aufgeplatzten Wange und mischte sich mit dem scharlachroten Rinnsal, das aus der gebrochenen Nase des Jungen floß. Die Hände vor sein Gesicht geschlagen, fiel der Junge auf die Knie. Farrell packte ihn am zerschlissenen Kragen. 38
„So, du kleines Schwein“, keuchte er, „jetzt gibst du mir das Päckchen zurück.“ Der Junge fluchte monoton vor sich hin. Er spie einen ausgeschlagenen Zahn aus und griff mit blutverschmierter Hand in seine Hosentasche. Als er sie wieder hervorzog, hielt sie das Päckchen. Und unter dem Päckchen war ein Messer. Farrell sah das Glitzern des Lampenlichts auf dem Stahl in letzter Minute. Wie wahnsinnig sprang er zur Seite, als die nadelscharfe Klinge von unten nach oben seinen Mantel aufschlitzte. Er spürte einen plötzlichen brennenden Schmerz an seinem Schenkel. Mit einem Schlag wirbelte er herum und stieß dem Jungen mit dem Fuß das Messer aus der Hand, bückte sich, das Päckchen aufzuheben, das zu Boden gefallen war. Der Junge war aufgesprungen und rannte. Farrell setzte ihm nach, während er das Päckchen mit dem Kollier wieder in die Tasche stopfte. Der Junge stieß ihm eine Mülltonne in den Weg. Farrell sprang über sie hinweg wie ein Hürdenläufer und warf sich auf den Jungen. Ineinander verklammert, stürzten sie am Ausgang der Gasse zu Boden, wälzten sich im Schmutz. Farrell stöhnte auf, als ein spitzer Ellbogen ihn in die Kehle stieß. Verbissen hielt er den Jungen fest, während dieser versuchte, sich zu befreien. Das dünne Tuch der Hose des Jungen zerriß, und das Geldbündel fiel heraus. Dann war der Junge schon wieder auf und davon. „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ rief eine barsche Stimme. Farrell kniete auf dem Boden, schmutzverschmiert, und suchte tastend nach seinem Geld. Er blickte auf. Wenige Yards entfernt, auf dem leeren Parkplatz, stand ein stämmiger Mann im Trenchcoat, den Jungen im Schwitzkasten. Farrell sah ein kantiges Gesicht, einen Mund, der an einen Briefkastenschlitz erinnerte, scharfe blaue Augen, die unter einem breitkrempigen Hut blitz39
ten. Er seufzte in stillen. Natürlich, wer sonst hätte es sein können? Sein alter Gegner, Lieutenant Howard Mulligan vom Revier Hanson Street! Natürlich! Das Revier war ja nur ein paar Straßen entfernt. Steifgliedrig richtete er sich auf, spürte warmes Blut, das sein linkes Bein hinunterrann. Mulligan war so ziemlich der einzige ehrliche Polizist in ganz Chicago – ein Beamter, der es allen Ernstes als seine Pflicht betrachtete, Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Liebend gern hätte Farrell sich ihm anvertraut. Er war der Meinung, daß sie sogar ein gutes Team abgeben würden. Aber Stevens war hart geblieben: Kein Mensch, absolut niemand, durfte von der wahren Identität des Geheimagenten erfahren. Und inzwischen war es so weit gekommen, daß Mulligan, enttäuscht und verbittert darüber, sich ständig von bestechlichen Vorgesetzten behindert zu sehen, Farrell eine Feindseligkeit entgegenbrachte, die ans Neurotische grenzte. Und Farrell hatte keine andere Wahl, als die Rolle zu spielen, die er sich selbst geschrieben hatte. „Ach, was sehen denn da meine entzündeten Augen!“ rief er höhnisch. „Der St. Georg von der Hanson Street – nur fünf Minuten zu spät, wie üblich!“ „Faroli! Ich hätt’s mir ja denken können. Knietief im Dreck – wie üblich.“ Mulligan blickte von Farrell auf den Jungen. „Sagen Sie mir bloß nicht, daß dieser lausige kleine Gauner den Obergangster persönlich aufs Kreuz gelegt hat! Wie hat er das gemacht? Hat er Sie angesprungen, als Sie gerade mal weggeschaut haben?“ „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Freunden“, versetzte Farrell. „Eine Auseinandersetzung über eine Prinzipiensache, könnte man sagen.“ Der Junge blieb stumm. Blubbernd kam sein Atem durch die Maske aus Blut, die seinen Mund und seine Nase bedeckte. 40
„Was war denn das für eine Prinzipiensache? Es ist mir ganz neu, daß Gangster Prinzipien haben.“ „Eine theoretische Diskussion über den Wert und Unwert privaten Eigentums“, entgegnete Farrell. „Sie wollen keine Anzeige machen?“ Farrell schüttelte den Kopf. „Ich möchte doch Ihr schönes sauberes Gefängnis nicht beschmutzen“, erklärte er. „Die Zellen sind sowieso leer. Die Kerle, die eigentlich hineingehörten, bleiben ja doch draußen, und das wissen Sie so gut wie ich.“ Er nahm eine schmutzbespritzte Hundert-Dollar-Note von dem Geldbündel und hielt sie dem Jungen hin. „Hau ab, Bürschchen“, sagte er kurz, „und such dir das nächste Mal jemand von deinem eigenen Kaliber aus – was Kleines.“ Mulligan ließ den Jungen los. Der packte den Geldschein und rannte stolpernd über den freien Platz. „Okay“, sagte Mulligan barsch, „Bald wird wieder irgendwo ein Ladenbesitzer zusammengeschlagen oder eine alte Frau im Dunkeln überfallen, und dafür werden Sie verantwortlich sein. Ich kann ihn nicht festnehmen, weil ich nichts gesehen habe. Aber Sie verhafte ich, Faroli – unter Verdacht.“ „Auf was Verdacht – Leisetreter?“ höhnte Farrell. In Mulligans Hand lag plötzlich eine Waffe. „Herumtreiberei mit der Absicht, ein Verbrechen zu begehen. Verdächtiges Verhalten. Hehlerei. Los, heben Sie die Hände, und drehen Sie sich um, während wir uns mal anschauen, was Sie bei sich haben.“ Mit einem theatralischen Seufzer drehte Farrell sich um und ließ sich durchsuchen. „Sie haben natürlich einen Waffenschein für diesen Revolver?“ „Natürlich.“ Farrell hörte, wie hinter ihm Papier zerrissen wurde. „Aha!“ Die Stimme des Polizeibeamten klang erfreut. „Sie haben nicht zufällig eine Quittung für die41
ses hübsche kleine Stück Flitterkram?“ fragte er sarkastisch. „Zufällig ja“, antwortete Farrell. „Und Sie können jederzeit mit mir zu dem Laden gehen, wo ich es vor einer halben Stunde gekauft habe. Es ist nicht weit von hier. Na, wollen Sie die Verkäuferin fragen?“ „Und das Geld?“ versetzte Mulligan, ohne auf die Aufforderung einzugehen. „Seit wann ist es verboten, Geld bei sich zu haben?“ fragte Farrell. „Seit es verboten ist zu stehlen – wenn das Geld gestohlen ist.“ „Ist es nicht.“ „Woher haben Sie es?“ Farrell grinste. „Ich hab’ heute morgen in Burnham von meinem Scheckkonto bei der Illinois South Eastern abgehoben. Da es lauter neue Hunderter sind, müßte es der Kassierer eigentlich an Hand der Seriennummern bestätigen können. Er heißt –“ „Ach, schon gut!“ sagte Mulligan bitter. Er stopfte das Geldbündel, das Kollier und die Quittung wieder in eine von Farrells Manteltaschen und rammte die Luger so wütend in die andere, daß die Naht riß. Farrell drehte den Kopf, um den Riß zu begutachten. „Ich schicke die Rechnung ins Revier Hanson Street“, sagte er. „Damit wäre also der Vorwurf der Hehlerei erledigt. Jetzt zur Herumtreiberei. Ich hab das Kollier im Juweliergeschäft gekauft. Da auf dem Parkplatz steht mein Wagen – der grüne Packard da drüben. Papiere sind in meiner Brieftasche. Die Gasse hier ist der kürzeste Weg zwischen dem Laden und dem Platz. Inwiefern habe ich mich also verdächtig gemacht, wenn ich hier durchgehe?“ „Sie haben sich mit einem lumpigen kleinen Gauner im Dreck gewälzt, als ich Sie sah“, antwortete Mulligan. 42
Farrell senkte die Arme und drehte sich herum, ihm ins Gesicht zu sehen. „Ach, hören Sie doch auf, Lieutenant“, sagte er verdrossen. „Warum müssen Sie Ihre Wut an mir auslassen? Ich weiß ja, daß es hart ist, für einen korrupten Bürgermeister zu arbeiten; es ist verdammt hart, wenn das ganze Rathaus vor Korruptheit stinkt, wenn der eigene Captain der billigste –“ „Schnauze!“ schrie Mulligan ihn an. „Halten Sie den Mund, und sparen Sie sich Ihre schmutzigen Anspielungen für Ihre Gangsterkumpel.“ Wütend starrte er Farrell an, und seine Augen glitzerten im Lampenlicht. „Eines Tages, Faroli, werden Sie ins Fettnäpfchen treten“, sagte er drohend. „Und glauben Sie mir, wenn der Tag kommt, dann bin ich zur Stelle, und es wird mir ein Vergnügen sein, Sie ins Kittchen zu bringen.“ „Ganz meinerseits, Lieutenant“, versetzte Farrell mit übertriebener Höflichkeit. Er wandte dem Lieutenant den Rücken zu und ging zu seinem Wagen. Sein Bein schmerzte, seine Schulter war betäubt, und seine Kleider waren hinüber. Aber er war befriedigt, daß es zu dem Zwischenfall gekommen war. Er hatte jetzt sogar einen Polizeibeamten als Zeugen, der bestätigen konnte, wann und wo er das Saphir-Kollier gekauft hatte. Als er den Packard vom Platz herunterfuhr, wartete Mulligan am Bordstein, um die Straße zu überqueren. Farrell trat auf die Bremse und kurbelte das Fenster herunter. „Sollten Sie an meiner Geschichte noch Zweifel haben“, bemerkte er, „dann können Sie sich ja bei der Verkäuferin, beim Bankkassierer, bei der Zulassungsstelle und bei der Ausgabestelle für Waffenscheine erkundigen.“ „Glauben Sie nur nicht, daß ich es nicht tun werde!“ versicherte Mulligan erbittert.
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4 Als Bürgermeister von Uncle Sams zweitgrößter Stadt war Big Bill Thompson ein Witz – nur gab es da nicht viel zu lachen. Thompson war ein aufgeblasener Prahlhans, ein massiger, schwammiger Bursche mit schlaffen Lippen und einer großen Nase. Er war Goebbels weit voraus mit der Parole: „Man muß es nur oft genug sagen, dann glauben Sie es schon.“ Der halben Million Deutschen in Chicago erklärte er, er wäre gegen den Krieg, während er als Amerikas erster Patriot posierte. Er versprach den Bürgern, die Stadt zu säubern, während er den Verbrechern Tür und Tor öffnete. Seine Wahlplakate verkündeten prahlerisch, er könnte weder „Gegängelt noch gekauft“ werden – und dabei hatte er doch die Hände in sämtlichen schmutzigen Geschäften und korrupten Machenschaften. Wenn man das Geld hatte, dann konnte man sich damals in Chicago von allem freikaufen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Stadtverwaltung 300 Millionen Dollar Schulden hinterließ, als Thompson endlich hinausgeworfen wurde. Ein Journalist schrieb einmal, daß Smokey Hernandez „eines dieser Gesichter hatte, die zu gleicher Zeit ‚Bitte! Und ja! Und unterstehen Sie sich!‘ sagen.“ Er äußerte ferner die Meinung, daß sie die beste Blues-Sängerin seit Ma Rainey und Bessie Smith wäre. Bruno Farrell war bereit, dieser Beurteilung in jedem Punkt zuzustimmen – obwohl der letzte für ihn von nur geringem Interesse war, er den dritten nur einmal zu spüren bekommen hatte und Smokey selbst nur selten auf den ersten zurückgreifen mußte, wenn er bei ihr war. Der zweite Punkt war es, die bejahende Seite des Mädchens, den Farrell so erfreulich fand. Smokey war großartig in jeder Beziehung. Sie war groß, mit vollen Brüsten und großen Augen. Sie hatte eine großartige Stimme und ein großes Herz. Das beste aber war, daß sie eine unge44
heure enthusiastische und lebensfrohe Person war. Und in den vergangenen achtzehn Monaten hatte dieser Enthusiasmus sich auf Farrell selbst konzentriert. Obwohl die Beziehung im Schatten seines Doppellebens als Gangster stand – obwohl sie in vieler Hinsicht den Betrug unterstützte –, war sie dennoch für Farrell etwas ausschließlich Persönliches und Privates. Wenn Smokey von seiner wahren Arbeit und den Gründen für seine Anwesenheit in Chicago nichts wußte, so wußte George Stevens ebensowenig von Smokey und der wichtigen Rolle, die sie in Farrells Privatleben spielte. Und so sollte es, wenn es nach Farrell ging, auch bleiben. Soweit er sehen konnte, war die Beziehung als Bestandteil seines täglichen Lebens nützlich im Hinblick auf seine Kontakte mit Washington. Seine Gefühle für sie als Mensch hatten weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas zu tun und waren seine eigene Angelegenheit. An dem Tag, für den der Überfall auf das Kaufhaus geplant war, lag sie nachmittags auf dem Diwan in ihrer bescheidenen Wohnung auf der South Side und betrachtete ihn ruhig, während er zum letztenmal die Einzelheiten durchging. Das Zimmer war klein, aber behaglich eingerichtet, und Farrell hatte noch einige Gegenstände hinzugefügt, die er zur Unterstützung seines Gangsterimages für notwendig hielt – ein Grammophon, ein Barschrank, ein teures Radio, auf dem man auch den Polizeifunk über Kurzwelle hereinbekommen konnte. Von der Persönlichkeit des Mädchens sprachen das weiße Bärenfell auf dem Boden, die bunten Kissen, die sich auf dem Diwan häuften, eine Serie gerahmter Drucke, die Adah Isaacs Menken, Mabel Santley, Lydia Thompson und andere frühe Stars des Varietés zeigten. Abends sang Smokey in einem Club in der 35th Street, der den unwahrscheinlichen Namen Razzmatazz führte. Im Augenblick war sie es zufrieden, einfach für den Mann dazusein, der ihr gehörte, in der Hoffnung, daß er, wenn 45
die Vorarbeiten getan waren, noch etwas Zeit für sie haben würde. Farrell blickte auf von seinen Notizen über den Zeitablauf und den Karten und Plänen, die er mit akribischer Genauigkeit gezeichnet hatte. Es war trocken draußen, über dem See bauschten sich noch immer dunkle Schneewolken, und Smokey hatte eine Stehlampe mit rotem Schirm angeknipst. Auf einen Ellbogen gestützt, lag sie da, ihre langen Beine schimmerten im warmen Licht, die Grube zwischen ihren Brüsten unter dem beigefarbenen seidenen Morgenrock, der lose um ihre Taille gegürtet war, war dunkel beschattet. Schatten auch verhüllten die Augen unter dem kurzen dunklen Pony. Farrell legte seinen Bleistift weg und schob den Stuhl zurück. „Wenn du mich so ansiehst, Baby –“, begann er. „Das Licht ist hinter mir. Du kannst gar nicht sehen, wie ich dich ansehe“, neckte ihn Smokey. Farrell stand auf. „Korrektur!“ meinte er lächelnd. „Wenn du so aussiehst …“ In einer Reflexbewegung zog sie ihren Morgenrock zusammen. „Bruno, du mußt arbeiten.“ „Das kann man wohl sagen“, versetzte Farrell. „Labor ipse voluptas.“ „Wie war das?“ „Labor ipse – das ist – äh – ein lateinisches Sprichwort und heißt, daß die Arbeit ein Vergnügen ist.“ „Latein!“ Smokey setzte sich auf. „Sag mal, mit was für einem Irren leb ich da eigentlich zusammen?“ „Tut mir leid“, sagte Farrell. „Das ist mir so rausgerutscht.“ Er ging auf sie zu und knöpfte sich dabei die Weste auf. „Bruno, du mußt wirklich arbeiten“, sagte Smokey nervös. „Es wäre mir furchtbar, wenn bei der Sache was schiefgeht, nur weil du plötzlich Lust –“ 46
„Mit der Arbeit bin ich fertig“, unterbrach Farrell. „Wenn ich den Zeitplan noch einmal durchgehe, wird das so automatisch, daß ich am Ende noch was vergesse und alles vermurkse. Ich hab eben von was ganz anderem geredet.“ „Das dachte ich mir schon.“ Sie legte sich in die Kissen zurück und zuckte die Achseln. „He, wo willst du hin?“ Er war am Diwan vorübergegangen, auf dem Weg zum Duschraum. „Ich muß mich ja umziehen, oder nicht? Ich kann doch kein exklusives Kaufhaus überfallen, wenn ich ausschaue wie ein Versicherungsvertreter.“ „Ach so. Ach so, ja, da hast du wahrscheinlich recht.“ Wieder auf den Ellbogen gestützt, sah sie ihm zu, wie er seine Sachen ablegte. Abgesehen von einem Streifen Pflaster über dem Kratzer an seinem Schenkel war sein sehniger, muskulöser Körper ohne Makel. Als sich die Tür hinter ihm schloß, schüttelte sie den Kopf. „Latein!“ murmelte sie. Fünf Minuten später kam er in einem scharlachroten Bademantel zurück. Er setzte sich auf den Rand des Diwans. Smokey lag auf dem Rücken, die Arme an ihren Seiten, die Beine ausgestreckt. Der beigefarbene Morgenmantel umhüllte ihren Körper von der Kehle bis zu den Knöcheln. „Ich dachte, du wolltest dich umziehen“, bemerkte sie vorwurfsvoll. „Das stimmt, ich muß mich auch umziehen. Aber das hat noch eine Stunde Zeit.“ Farrell starrte auf die Glanzlichter, die matt auf der Seide über ihren Brüsten schimmerten. Die Lichtflecken bewegten sich, tanzten hin und her auf dem glänzenden Stoff, immer rascher, als ihr Atem schneller zu gehen begann. Er beugte sich vor. Sehr langsam zog er den Morgenrock auseinander. Das Dreieck dunkler Haut wurde größer. Die seidenen Ränder glitten weiter nach 47
außen, hinweg über die Erhebung der Brüste – und plötzlich, ohne den Gürtel zu lösen, riß Farrell sie auseinander, so daß ihr Oberkörper nackt vor ihm lag. Smokey rührte sich nicht. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, während sie aus ausdruckslosen Augen zu ihm aufblickte. Farrell legte seine Hände um ihre Brüste. Ganz leicht bewegte er die Finger, ließ sie über die dunkle Haut gleiten, sah, wie die Brustwarzen sich aufrichteten. Er senkte den Kopf. Smokey hielt den Atem an. Die Hand, die Farrell am nächsten lag, flatterte wie ein Vogel. Der Vogel hüpfte auf seinen Schenkel, kroch unter den Bademantel, schoß vorwärts. Er fühlte eine kühle Hand an seinem eigenen heißen Körper. „Mein Gott, Baby!“ stöhnte Farrell. Er riß am Gürtel des Morgenrocks und schlug die Seide auseinander. Er sah die glatten Flächen ihres Bauchs, das dunkle, geringelte Haar, und dann spürte er nur noch sengende Hitze und glatte Weichheit, als er in sie eindrang und ihre Beine ihn umschlossen. Eine halbe Stunde später lag er auf dem Diwan, einen Arm abgewinkelt unter dem Kopf, und zog befriedigt an einer Zigarette. Smokey war in der kleinen Küche und machte Kaffee. Zum letztenmal durchdachte er die Einzelheiten des Plans, den er entworfen hatte, und fragte sich gleichzeitig, warum, zum Teufel, er sich überhaupt darauf einließ. Vermutlich war es so, wie Stevens gesagt hatte, daß er kaum als Washingtons Spitzel in der Unterwelt arbeiten konnte, wenn er nicht selbst in dieser Welt akzeptiert wurde. Und um akzeptiert zu werden, mußte er handeln. Trotzdem, er hoffte – wie er das immer hoffte, ehe er ein Ding drehte–, daß niemand zu Schaden kommen würde. Wenn es doch geschah, so lastete die Verantwortung auf ihm – aber ob etwas passierte oder nicht, das lag nicht in seinem Kontrollbereich. Gewiß, er konnte seine 48
Befehle geben. Aber er mußte vorsichtig sein, konnte es nicht riskieren, von Smokey und den Jungs sein Image vom knallharten Burschen zu ruinieren; wenn er befahl, mit den Leuten glimpflich zu verfahren, so mußte das einen, für die Gangster akzeptablen Grund haben, beispielsweise daß man dann, wenn man geschnappt werden sollte, mit einer leichteren Strafe rechnen konnte. Niemals durfte auch nur der Eindruck aufblitzen, daß seine Milde mit den Opfern dem Mitgefühl entsprang. Der Haken war nur – dachte Farrell, als Smokey mit einem Tablett hereinkam –, daß die Jungs von Lässigkeit nichts hielten. Sie bildeten ein gutes Team für diese sauberen, schnellen Ruckzuck-Coups, die Farrell austüftelte. Aber eben weil sie hart, erbarmungslos, tüchtig waren und Initiative besaßen, waren sie gut. Wenn sie um der Tüchtigkeit willen diese Initiative einsetzten und die Methode, die sie wählten, erbarmungslos und hart war, dann konnte Farrell wenig dagegen tun. Seine Zweifel richteten sich in erster Linie auf Flash Butcher, seine rechte Hand. Flash war Edelsteinspezialist. Er verstand mehr von Juwelen als das gesamte Personal der New-Yorker Diamantenbörse in der West 47th Street. Man brauchte ihm nur einen Kasten mit Juwelen hinzustellen, und er brauchte, um die Spreu vom Weizen zu sondern, nicht einmal die Zeit, die ein Uhrmacher braucht, um sich die Lupe ins Auge zu klemmen. Ohne ihn wären Farrells Blitzüberfälle unmöglich gewesen. Butcher wußte außerdem, wo man die Ware zum besten Preis loswerden konnte, und in Samt und Seide hatte er auch seine Verbindungen. Er war ein harter Bursche, ein argwöhnischer Mensch und erbarmungslos, wenn es um seine eigene Sicherheit ging. Flash hatte den Gefängnisausbruch geplant, der Farrell den Zugang zur Unterwelt verschafft hatte – Flash hatte einem Wärter die Hand abhacken lassen, um keine Zeit damit verschwenden zu müssen, das Schloß 49
des Stahlrings mit den Schlüsseln aufzubrechen, der am Handgelenk des Mannes hing. All dies konnte Farrell hinnehmen, auch wenn es ihm nicht gefiel. Der große Nachteil jedoch war, daß Flash Butcher ein Junkie war – ein Heroinabhängiger, der den Stoff nicht aus Abenteuerlust nahm, sondern weil er ohne ihn nicht leben konnte. Und damit war er für Farrell gewissermaßen immer ein großes Fragezeichen. Weil Junkies unberechenbar und daher unzuverlässig sind. Nach dem Ausbruch aus dem Zuchthaus war Flash geschnappt und wieder eingebuchtet worden – weil natürlich George Stevens über die ganze Sache unterrichtet gewesen war. Jetzt aber war er auf Bewährung frei. Und Farrell vertraute auf Butchers Versprechen, nicht zu weit zu gehen; er durfte sich nichts zuschulden kommen lassen, weil er sonst ja wieder in den Knast wanderte. Während also Flash Butcher der Warensachverständige des Unternehmens war, war Boscoe der starke Mann. Ein bulliger Riese von einem Menschen, hatte früher einmal Bierwagen von Bugs Moran und die Banden der North Side gefahren, war unerschrocken und kräftig wie ein wilder Stier und ebenso wie Butcher und Farrell bei dem Zuchthausausbruch dabeigewesen. Boscoe besaß vielleicht nicht so viel Initiative wie die anderen – bei ihm hatten wohl die Muskeln auch das Gehirn durchwuchert –, aber er war verdammt schlagkräftig, und er tat, was man ihm sagte. Seltsamerweise bildete er sich ein, ein Frauenheld zu sein, und das war Pech für ihn, weil er mit dieser Meinung allein stand. Als Farrell ihn kennengelernt hatte, saß er wegen Vergewaltigung. Chappie Guglieri war der Fahrer. Er war ein rundlicher, rotgesichtiger kleiner Mann mit lockigem grauem Haar und einer randlosen Brille. Er sah aus wie der Laienprediger einer Methodistenkirche. Aber das bewies nur wieder einmal, daß der Schein trügt, Chappie nämlich war mit der 8 mm Beretta Automatic ein todsicherer 50
Schütze, und er war todbringend mit dem Wurfmesser, das er an seinem Unterarm angeschnallt trug. Seine Fahrkunst jedoch war es, die ihn für Farrell unentbehrlich machte. Vor seiner illegalen Einwanderung hatte er in Italien bei Alfa Romeo gearbeitet und war danach ein international bekannter Rennfahrer geworden. Seine Karriere als Rennfahrer hatte ein Ende gefunden, nachdem bei einem Rennen in Indianapolis drei seiner Gegner bei einem spektakulären Zusammenstoß, der auf Sabotage an den Bremsen zurückgeführt worden war, umgekommen waren. Doch er konnte noch immer das letzte aus einem Motor herausholen und mit einem Wagen artistischer umgehen als jeder andere, den Farrell gekannt hatte. Der Zeitplan hätte noch besser, knapper, enger ineinandergreifend sein können, dachte Farrell. Aber für das Rein und Raus, wie er es geplant hatte, sollte es eigentlich reichen – vorausgesetzt, Butcher bekam rechtzeitig seinen Fix und verlor nicht den Kopf. Das wichtigste war schließlich die Flucht, und zu Chappie hatte er volles Vertrauen. Smokey schenkte Kaffee ein. Sie trug jetzt ein cremefarbenes Kleid aus Shantungseide mit einem kurzen, gefransten Rock und tiefem Ausschnitt. Es kostete Farrell Mühe, sich auf den bevorstehenden Überfall zu konzentrieren. Von jetzt an durfte es keine Ablenkung mehr geben, ganz gleich wie aufregend sie war. Er schnürte den Gürtel an seinem Bademantel zu und stand auf. Über den Rand ihrer Tasse hinweg lächelte sie ihn an. „Ich bin bei jedem Schritt bei dir, Bruno“, sagte sie. „Hoffen wir, daß alles klappt.“ „Baby“, versetzte Farrell, „es muß klappen.“
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5 Ehe Stevens mir Anweisung gab, meine eigene Bande zu bilden, hatte ich auf eigene Faust einen Banküberfall inszeniert, hatte, während ich für Sanquinetti arbeitete, einen Zusammenbruch des Waffenstillstands der gegnerischen Banden herbeigeführt und hatte für Capone von Kanada aus den Alkohol per Flugzeug eingeschmuggelt. Einmal stand ich sogar auf der Abschußliste von Capone. Aber nichts von alldem war mit dieser Wahl im Jahre 1928 zu vergleichen. Die Ananaswahl nannte man sie wegen der vielen Bombenanschläge. Und der Drahtzieher war Thompson, dieses Großmaul. In einem Panzerwagen mit erhöhtem Rücksitz kutschierte er von Versammlung zu Versammlung und ließ sich von einem Scheinwerfer anstrahlen, während er herumschrie, daß alles, was in Chicago im argen läge, nur den Briten zuzuschreiben wäre. Mit dieser Masche reiste er. Er beschuldigte die britische Marine sogar, sie schmuggelte Rum ins Land, um unsere Prohibitionsgesetze zu umgehen. Aber die britische Marine war es bestimmt nicht, die drei Millionen Dollar aus öffentlichen Geldern abzweigte und in Big Bill Thompsons Taschen fließen ließ. Peabody-Hanson war eines von Chicagos ältesten Kaufhäusern – ein fünfstöckiges Gebäude aus rotem Backsteinbau, einen Block entfernt von der State Street und der Madison Avenue, jener Kreuzung, die die Leute von Chicago gern die betriebsamste Ecke der Welt nannten. Die mit Türmchen verschnörkelte viktorianische Fassade mit den Erkerfenstern über der Treppe, die zum Eingang hinaufführte, war 1869 einem berühmten Londoner Kaufhaus nachgebildet worden, aber schon hundert Jahre zuvor hatte an dieser Stelle ein Peabody-Hanson gestanden. Mit der Zeit hatte das exklusive Haus seine eigenen Traditionen entwickelt, und eben die waren es, die Bruno Farrell das Gelingen seines Plans garantieren sollten. 52
Die meisten dieser Traditionen waren europäischen Ursprungs. Sehr förmliche Substituten in schwarzen Jacketts und gestreiften Hosen; separate Kassen, die die Quittungen ausstellten, die der Kunde an der Theke vorlegen mußte, ehe er seine Einkäufe mitnehmen konnte; Schienenstränge, die sich an den Decken entlangzogen und von der Zentralbuchhaltung aus zu den verschiedenen Kassen führten. Auf ihnen wurden in hölzernen Kugeln Rechnungen, Geldscheine und zu Rollen gestapelte und verpackte Münzen befördert. Eine britische Tradition, die die Geschäftsleitung sich zu eigen gemacht hatte, war die Ladenschlußzeit um 17 Uhr 30. Fachleute behaupteten, sie verlören dank dieser Halsstarrigkeit jedes Jahr Millionen von Dollar, aber Peabody-Hanson hielt dem hochnäsig entgegen, ihre Kunden kämen immer, ganz gleich, wie die Öffnungszeiten aussähen. Vielleicht, um diese höheren Geschöpfe häufiger in das Geschäft zu locken, wurde am Mittwoch, Donnerstag und Freitag jeder Woche eine besondere Ausstellung veranstaltet – nicht unbedingt solcher Waren, die im Haus zum Verkauf standen. Die Natur der derzeitigen Ausstellung und die Art und Weise, wie sie arrangiert wurde, waren für Farrells Unternehmen von entscheidender Bedeutung. In der vorangegangenen Woche hatte man Schmuck ausgestellt: französische, italienische und holländische Stücke, die von den extra zu diesem Zweck engagierten Leuten einer Detektei scharf bewacht worden waren. Farrell setzte darauf, daß das reguläre Personal jetzt einen Seufzer tiefer Erleichterung ausstoßen würde, heilfroh darüber, daß niemand versucht hatte, die importierten Steine zu rauben. Ja, eigentlich sollten sie sogar weniger wachsam sein als sonst, in der Überzeugung nämlich, daß jeder Räuber selbstverständlich eine Woche gewählt hätte, wo sich wertvollere Ware im Haus befand als das normale Angebot. Farrell reichte 53
das normale Angebot vollkommen: Flash Butcher hatte ihm gesagt, daß man in der Schmuckabteilung jederzeit nicht identifizierbare Ware im Wert von 50 und 100 000 Dollar mitgehen lassen konnte. Vorausgesetzt man wußte, was man suchte, und das wußte Flash ganz genau. Farrell wußte zwei andere Dinge: Erstens, daß man in dieser Woche Automobile zur Schau stellen würde; zweitens die Ausstellungsstücke am Dienstagabend unmittelbar nach Ladenschluß geliefert werden sollten. Die sechs Ladebuchten befanden sich in einer Gasse hinter dem Gebäude. Und die letzte Bucht war von der Schmuckabteilung im Erdgeschoß nur durch einen Personaleingang und einen kurzen Korridor mit einer Herrentoilette getrennt. Das war zweifellos so eingerichtet, um das Risiko eines Diebstahls auf dem Weg vom Panzerwagen zur Abteilung auf ein Minimum zu beschränken. Aber diese Anordnung verringerte auch das Risiko für den Dieb, der mit gestohlener Ware aus der Abteilung verschwinden wollte. Organisator der Ausstellung war ein Stutz-Händler, der auf den neuesten Bearcat aufmerksam machen wollte. Das Vorführmodell sollte auf einer Drehscheibe unter der riesigen Glaskuppel in der Mitte des Verkaufsraums zur Schau gestellt werden. Rundherum sollte ein halbes Dutzend europäischer Roadster gruppiert werden – womit demonstriert werden sollte, wieviel preiswerter der Stutz war als seine Rivalen. Für diese Werbeaktion mit dem Holzhammer hatte sich der Händler einen englischen Aston Martin International, einen Lancia Lambda aus Italien, einen deutschen 36/220 Mercedes, einen Alfonso Hispano-Suiza, einen österreichischen Steyr und einen französischen D. 8 Delage erbettelt oder ausgeborgt. Die Wagen sollten einzeln in geschlossenen Lastwagen um 17 Uhr 25 am Dienstag eintreffen. Der Händler wußte nicht, daß sich in den Konvoi ein 54
siebenter Lastwagen einreihen würde, mit Chappie Guglieri am Steuer. Um 17 Uhr 20 trat Farrell durch die Drehtür in die abgeschlossene, dampfbeheizte Stille des Foyers. Er trug eine schwarze Soutane und einen flachen Hut, dessen Krempe auf den Seiten aufgebogen und durch Schnüre am Hutkopf festgemacht war. Über seiner Oberlippe saß ein buschiger Schnurrbart, wie ihn die Mexikaner zu tragen pflegten. Ein ausgedienter Soldat in einer mit Tressen besetzten Portiersuniform hob die Hand zum Schirm seiner Mütze. „Ehrwürden?“ Das Personal bei Peabody-Hanson war darauf gedrillt, Kunden von Bedeutung die ihnen gemäße Anrede zu geben. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“ „Das ist sehr nett von Ihnen“, erwiderte Farrell in geziertem Ton. „Die – äh – Abteilung, wo man Rauchutensilien bekommt, bitte.“ „Gewiß, Ehrwürden.“ Der Portier hielt die Innentür auf und winkte mit weißbehandschuhter Hand einem Substituten. „Rauchwaren“, sagte er. „Rauchwaren. Würden Sie mir bitte folgen. Hier entlang, Sir.“ Mit erhobenem Arm führte der Substitut Farrell an Kurzwaren vorbei, durch Geschenkartikel und Bettwäsche hindurch zu einem rückwärts gelegenen breiten Gang mit boutiqueähnlichen Ladentischen zu beiden Seiten. Der Tabakwarenkiosk war von Glasvitrinen flankiert, in denen teure Schreibtischgarnituren, verschnörkelte Aschenbecher und Zigarrenschneider in Silber und Gold ausgestellt waren. Farrell kaufte eine kleine Schachtel Havana-Havanas und sah sich um. Der Laden war fast leer. Auf der geschwungenen Treppe, die um die Glaskuppel herum zu den oberen Stockwerken führte, waren 55
noch einige späte Kunden. In der zweiten Etage waren die Verkäuferinnen dabei, die Ständer mit den Modellkleidern zuzudecken, hier jedoch, im Erdgeschoß, verriet nichts, daß es nur noch wenige Minuten bis zum Ladenschluß waren. Peabody-Hanson war stolz darauf, bis Schlag halb sechs hundertprozentigen Service zu bieten. Pelzbehangene Frauen, die noch königlichen Schrittes über den flauschigen Teppich rauschten, konnten sich darauf verlassen, daß sie bis zum allerletzten Moment mit devotem Lächeln bedient werden würden. Farrell wandte dem Zigarrenkiosk den Rücken. Es war 17 Uhr 23. Draußen, unter dem stürmischen Himmel, hasteten die Menschen die State Street entlang, strebten eilig der Ecke zu, um aus dem Wind herauszukommen. Wahlplakate flatterten an der Mauer hinter dem Zeitungsjungen an der Kreuzung zur Madison Avenue, und in den unteren Stockwerken der Wolkenkratzer am Loop brannten schon die Lichter. Sechs Lastwagen bogen an der Ampel ab und rollten langsam die Madison Avenue hinunter. Ein siebenter schob sich aus einer Seitengasse heraus und schloß sich an, als ein Polizist den Verkehr anhielt, damit der Konvoi in die Gasse hinter dem Kaufhaus Peabody-Hanson einfahren konnte. Die Fahrer der anderen Wagen waren nur Lieferanten; sie wußten nicht, wie viele Automobile abgeladen werden sollten. Für den Fall, daß Fragen gestellt werden sollten, konnte Chappie Guglieri ebenfalls einen europäischen Roadster vorweisen: einen schnittigen kleinen Bugatti 43 mit glänzenden Stahlachsen, einem spitz zulaufenden Heck und einem eleganten hufeisenförmigen Kühler. Er würde behaupten, man hätte ihm Auftrag gegeben, den Wagen zu liefern; sollten sich andere Leute über dieses Rätsel den Kopf zerbrechen. Die ersten sechs Lastwagen fuhren rückwärts in die Ladebuchten hinein, und Männer in weißen Overalls 56
machten sich daran, die chromblitzenden Automobile abzuladen. Guglieri wartete in der Gasse mit laufendem Motor. Für die Arbeiter war er lediglich ein weiterer Lieferant, der darauf wartete, daß ein Platz frei wurde, wo er abladen konnte. Am Ende der Gasse, die nur in einer Richtung befahren werden durfte, war eine Schranke, und kein Fahrzeug konnte die passieren, ohne zuvor von dem Posten dort überprüft worden zu sein. Das aber machte Chappie keine Sorge: Er würde den Lastwagen hier stehenlassen – und er würde auf dem gleichen Weg aus der Gasse herausfahren, auf dem er hineingelangt war. Er sah auf seine Uhr. Es war 17 Uhr 27. Boscoe stieg aus dem Fahrerhäuschen, schritt die Gasse entlang zur Rampe und schwang sich hinauf zu den Arbeitern in den Buchten. Drinnen im Kaufhaus war Farrell den breiten Gang entlanggeschlendert. Der Zigarrenkiosk lag der Lederboutique gegenüber, in deren Schaufenster sündteure Krokodiltaschen ausgestellt waren. Gleich nebenan war die Schmuckabteilung, durch eine Tür und ein Fenster aus Panzerglas gesichert, und auf der anderen Seite die Parfümerie. Er starrte ins Fenster, als eine alte Frau in einem Zobelmantel, eine übergroße Aktentasche an sich gedrückt, herauskam. Die Tür wurde von einem Mann mit eingefallenem Gesicht und pomadisiertem Haar und einem randlosen Pincenez geschlossen. Die einzige Person in der Boutique war eine rundliche Verkäuferin, die hinter der Glastheke stand. Ein paar Schritte von Farrell entfernt stand ein bulliger Mann, der auf einer kalten Zigarre kaute und so tat, als wäre er in eine Zeitung vertieft. Farrell hatte damit gerechnet, ihn hier zu finden: Der Ladendetektiv war ihm am Gesicht abzulesen. Das Mädchen kam zum Fenster und nahm einen Kasten mit Brillantringen heraus. Sie stellte ihn auf die Theke, während der Mann mit dem mageren Gesicht in 57
einer kleinen Hinterkammer verschwand und vor einem Safe niederkniete. Das Mädchen kam zurück und hob einen geschnörkelten Ständer aus dem Fenster, der mit Armbändern, Ketten und Broschen behangen und besteckt war. Als sie zum drittenmal zurückkehrte, um den Kasten mit dem Saphir-Kollier herauszunehmen, schien Farrell einen Entschluß zu fassen. Er öffnete die Tür und ging in die Boutique hinein. Das Mädchen raffte sich zu einem Lächeln auf. „Guten Abend, Sir. Leider werden wir gleich –“ „Ach, wie dumm. Ist es denn schon –? Sie wollen doch nicht etwa schon schließen?“ Farrell gab sich tief enttäuscht. „Halb sechs Uhr, Sir. In drei Minuten.“ „Wie dumm von mir! Wirklich, ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist. Und dabei wollte ich doch unbedingt – es ist wirklich sehr wichtig – ein kleines Geschenk –“ „Woran hatten Sie denn gedacht?“ fragte das Mädchen, einen Seufzer unterdrückend. „Nun, eigentlich hatte ich – ich hoffte, Sie könnten mir vielleicht –“ Abrupt wurde die Tür geöffnet, und Flash Butcher trat herein. Er trug eine silbergraue Melone, einen Mantel mit Pelzkragen und weiße Gamaschen. In der einen Hand hielt er einen Stock mit silbernem Knauf, in der anderen ein Paar gelber Waschlederhandschuhe. Der Mann im Hinterzimmer schnalzte gereizt mit der Zunge. Er drückte die Safetür zu und stand auf, klopfte sich die Knie seiner gestreiften Hose. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er, zur Theke tretend. „Ja.“ Butcher knöpfte seinen Mantel auf und kramte mit zwei Fingern seiner linken Hand in seiner Weste. „Ich will Sie gar nicht lange aufhalten – ich weiß, Sie machen jetzt zu –, ich wollte Sie nur fragen –“ Er zog 58
einen sehr großen, ungefaßten Brillanten aus der Weste und hielt ihn hoch. Der Edelstein sprühte blaues Feuer, während der Verkäufer ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herdrehte. „Ein Prachtstück!“ stellte er bewundernd fest. „Ja. Ich wollte Sie fragen, ob Sie ihn mir in Gold fassen können und wie lange das dauern wird.“ „Nun, das können wir natürlich –“ Der Mann brach mit einem Stirnrunzeln ab und starrte zum Fenster hinaus. Draußen ging Boscoe vorbei, das Gesicht so drohend wie eine Gewitterwolke. Er trug einen schmierigen Overall, sein Gesicht war unrasiert, und seine Lippen bewegten sich wütend. Als er schon ein Stück weiter unten im Gang war, konnten sie seine aufgebrachte Stimme hören. „… überhaupt für ein Saftladen? … 30 Dollar hab ich gezahlt – Geburtstagsgeschenk für ein Mädchen, und gleich beim erstenmal, wo sie’s benutzt, geht das verdammte Ding – dem Scheißverkäufer brech’ ich das Genick, der –“ Der Detektiv senkte seine Zeitung und entfernte sich zielstrebig vom Fenster. Sie hörten laute Stimmen, das Rumoren eines Handgemenges. Der Mann mit dem mageren Gesicht eilte zur Tür, sperrte sie ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche. „Nur eine Vorsichtsmaßnahme“, entschuldigte er sich. „Im allgemeinen treiben sich bei uns keine Rowdies herum.“ „Sehr klug“, sagte Farrell. „Jetzt sind wir ungestört.“ Etwas im Ton seiner Stimme veranlaßte den Verkäufer, ihm einen scharfen Blick zuzuwerfen. In Farrells Hand lag eine kleine Automatic. Der Verkäufer riß den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Er schluckte, warf verzweifelte Blicke auf die verschlossene Tür. Draußen liefen Männer vorbei, auf dem Weg zum Ort der Kampfhandlung weiter unten im Gang. Boscoes Ablenkungsmanöver klappte wie geplant. 59
Doch Farrell stand mit dem Rücken zum Fenster, und die Waffe war unsichtbar hinter seinem kirchlichen Gewand. Das Mädchen hinter der Theke war starr vor Furcht. „Sie – aber – das geht doch nicht!“ krächzte der Verkäufer. „Wir müssen uns bei Gelegenheit einmal zusammensetzen, dann können Sie mir erklären, warum nicht“, versetzte Farrell freundlich. „Jetzt aber bleiben Sie erst einmal genau da, wo Sie sind. Ich möchte nicht, daß da irgendwo auf einen versteckten Alarmknopf gedrückt wird – und das gilt auch für Sie, meine Schöne. Eine Bewegung von Ihnen, und Sie wandern beide ins Leichenhaus.“ Er nickte Flash Butcher zu. „An die Arbeit.“ Das Mädchen zitterte jetzt unkontrollierbar. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, als Butcher flink zum Ende der Theke trat, seinen eigenen Revolver herauszog und ihn auf die Glasplatte legte. Er beugte sich über die Theke, um die Waffe und die Kästen mit den Schmuckstücken den Blicken eventuell vor dem Fenster Stehender zu entziehen. Während er die linke Hand auf den Revolverkolben legte, flog seine rechte wie ein futterpickender Vogel zwischen den funkelnden Juwelen hin und her. Her damit! – Das Saphir-Kollier – schnell! – Ein Paar Smaragdohrringe – schnell, schnell, schnell! – Brillantringe – schnell, schnell! – Ein Rubinhalsband und eine Perlenschnur. In weniger als einer Minute war es geschafft. Das war auch nötig. Am Ende des Ganges war ein Seitenausgang, und Boscoe mußte vor 17 Uhr 30 dort hinaus sein, wenn er nicht hinter den sich automatisch schließenden Türen gefangen werden wollte. Ebenso mußten Farrell und Butcher fertig sein, ehe das Personal, das durch Boscoes Manöver weggelockt worden war, an der Schmuckboutique vorbei, wieder an seine Plätze zurückkehrte. Flash Butcher stopfte die Stücke, die er ausgewählt hat60
te, in seine Manteltasche. Farrell wies mit dem Kopf auf das Kämmerchen im Hintergrund. „Da ’rein“, sagte er zu dem Verkäufer. „Los. Knien Sie sich wieder vor den Safe.“ „Das ist ein Kombinationsschloß“, versetzte der Verkäufer. „Das werden Sie nie –“ „Halten Sie die Klappe! Ich will es gar nicht aufmachen. Wir haben, was wir wollen. Los, knien Sie nieder.“ Voller Angst gehorchte der Mann. Während er sich vorsichtig vor dem Safe niederkniete, drehte Farrell die Waffe in seiner Hand um und versetzte dem Mann mit dem Kolben einen sachkundigen Schlag hinter das Ohr. Der Verkäufer kippte vornüber, prallte gegen die Stahltür und rutschte zu Boden. Das Mädchen schrie. Fluchend sprang Butcher um das Ende der Theke herum und packte sie am Haar. Sie schrie wieder, es war ein schriller, durchdringender Schrei, der in der plötzlichen Stille widerhallte. Boscoe mußte schon weg sein. „Du brauchst doch nicht –“, begann Farrell. Aber Butcher hatte die Hand schon zur Faust geballt. Wuchtig traf sie das Kinn des Mädchens. Sie stürzte krachend zu Boden, und ein Blutfaden rann aus ihrem Mundwinkel. Draußen klangen schwere Schritte. Verkäufer und Substituten drängten sich gestikulierend vor dem Fenster. Der Detektiv schob sich durch das Knäuel, zog einen schweren Coltrevolver. Butcher packte seinen Revolver. „Herrgott noch mal!“ zischte Farrell. „Fang doch jetzt nicht an –“ Aber wieder war es zu spät. Butcher schoß. Das kugelsichere Glas sprang, aber es brach nicht. Die Menschenmenge da draußen wich zurück wie eine zurückflutende Woge. Und jetzt schellten überall im Gebäude Alarmglocken. Der Detektiv rannte gegen die Tür an. Wieder feuerte Butcher, zielte sorgfältig auf das Holz rund um das Pan61
zerglas. Der Hausdetektiv griff sich an den Arm und torkelte rückwärts. Aber schon waren andere Sicherheitsleute da. Zwei von ihnen warfen sich gegen das Glas. Farrell war an der Personaltür im Hinterzimmer, riß an der Klinke. Die Tür war abgeschlossen. „Verdammt!“ explodierte Farrell. Er trat einen Schritt zurück und setzte die sieben Kugeln aus seinem Magazin in sauberem Halbkreis rund um das Schloß. Er trat mit dem Absatz gegen das Holz. Die Füllung splitterte, aber sie hielt noch immer. Hinter ihm krachte Flashs Revolver. Die Boutique war vernebelt von Pulverdämpfen. „Herrgott noch mal!“ schrie Farrell. „Verschwende deine Munition nicht! Wir brauchen sie hier!“ Butcher rannte ins Hinterzimmer. Er keuchte. „Scheißkerle!“ stieß er hervor. „Beschissene Scheißkerle!“ Er gab seine drei letzten Schuß auf das Schloß ab, während Farrell neu lud. Hinter ihnen schoß jemand mit einem großkalibrigen Revolver auf das Schloß der anderen Tür. Laute Stimmen waren zu hören. Holz splitterte, Glas klirrte. Farrell rammte seinen Absatz ein zweites Mal gegen das beschädigte Schloß. Die Tür sprang auf, und sie rannten in den Korridor hinaus. Das schrille Bimmeln der Alarmanlage klang jetzt sehr laut. Zwei Männer in Overalls stürzten aus der Toilette im Gang. „Was, zum Teufel –?“ Farrell feuerte über ihre Köpfe hinweg, und sie duckten sich hastig wieder hinter die Tür. Wütende Stimmen klangen durch die aufgebrochene Tür hinter ihnen. Wieder donnerte der schwere Revolver. Eine Kugel zischte wie eine wütende Hummel zwischen Farrell und Butcher hindurch, prallte pfeifend von einem Eisenpfeiler in der Ladebucht ab und sauste in die Dunkelheit hinaus. Dann hatten sie die Ecke umrundet und waren auf dem Weg zu Chappie Guglieris Lastwagen. 62
Ein halbes Dutzend Arbeiter kam hinter den Autos hervor, die auf der Rampe standen, und rannten ihnen entgegen. Farrell drehte sich um und feuerte noch einmal in die Luft. Die Männer wichen zurück oder ließen sich zu Boden fallen. Die Tür zum Fahrerhäuschen des Lastwagens stand offen. Butcher und Farrell sprangen von der Rampe herunter, sprinteten zur Wagentür und stiegen ein. Vom Fahrerhäuschen aus krochen sie nach hinten auf die Ladefläche des Lastwagens. Das war das schlaueste an Farrells Plan: Der blaue Bugatti diente Guglieri nicht nur als Vorwand, hier mit dem Lastwagen vorgefahren zu sein; er sollte ihnen auch als Fluchtwagen dienen. Chappie hatte eine sehr hohe Ladeklappe angebracht, die, wenn man sie herunterließ, bis zur Straße reichte und eine Rampe bildete. Farrell rannte nach rückwärts, zog die Bolzen heraus und stieß die Ladeklappe auf. Chappie saß schon am Steuer des blauen Wagens, dessen Motor lief. Als Farrell hineinsprang, ließ er den Bremshebel los, und das Automobil sprang vorwärts. Butcher hing über dem spitz zulaufenden Heck und hielt sich an dem übergroßen Tankverschluß fest. Eine Salve von Schüssen folgte ihnen von der Ladebucht her. Kugeln zerfetzten die Plane des Lastwagens und zerschmetterten die Windschutzscheibe. Einen Augenblick später schoß der Bugatti die steile Rampe hinunter, sprang holpernd aufs Pflaster und raste der Straße zu. Über das Heulen des Motors hinweg hörten sie laute Schreie und das Krachen von Schüssen, dann waren sie um die Ecke – und Guglieri fluchte, während er hart auf die Bremse trat. Dies war der einzige schwache Punkt in ihrem Plan. Er hatte gehofft, sich in eine Kette fahrender Autos einreihen zu können, sich mit dem schmalen, leicht manövrierbaren Sportwagen durch das Gedränge von Straßenbahnen, Lastwagen und 63
großen Limousinen hindurchschlängeln zu können. Aber die Lichter an der Kreuzung zeigten rot, und die Straße war zu beiden Seiten von Fahrzeugen verstopft, so weit sie sehen konnten. Farrell fluchte. Er drehte sich um und tippte Butcher auf die Schulter, während er gleichzeitig mit dem Kopf zur anderen Straßenseite hinüberwies. Flash verstand. Er ließ sich vom Heck gleiten und rannte auf die Straße hinaus, hetzte im Zickzack zwischen den stehenden Fahrzeugen hindurch, bis Farrell ihn aus den Augen verloren hatte. Boscoe erwartete ihn in einem gestohlenen Hudson an der nächsten Ecke. Wenn alles gut ging, würde Flash in zehn Minuten beim Hehler sein. In weniger als einer Stunde würde der gestohlene Schmuck in seine Bestandteile zerlegt und nicht mehr zu erkennen sein. Das war großartig – aber Farrell und Chappie half das nichts, wenn man sie schnappte, ehe sie türmen konnten. Farrell fragte sich, ob sie nicht den Wagen einfach stehenlassen und die Flucht zu Fuß wagen sollten, als der Fahrer ihm die Entscheidung aus der Hand nahm. Chappie Guglieri war nicht der Mann, der sich von einer lumpigen Verkehrsstauung das Konzept verderben ließ. Er legte den ersten Gang ein, riß das Steuerrad herum und lenkte den Bugatti auf den Bürgersteig hinauf. Frauen kreischten und Männer schimpften, als sie mit dröhnender Hupe auf die Kreuzung zurasten. Die Passanten stoben auseinander und starrten perplex auf den schnittigen blauen Roadster und den mexikanischen Bischof, der neben dem Fahrer saß. Sie hatten dreißig Yards geschafft, als die Verfolger an der Ecke auftauchten – aber die Wachmänner wagten nicht zu schießen, aus Angst, sie könnten jemanden aus der Menge verletzen. Guglieri schwitzte. Er drehte das Steuerrad, tippte auf das Gaspedal, preßte die Hände auf die Hupe, griff immer wieder zum Bremshebel, während er den Wagen 64
vorwärts steuerte. Eine Frau stolperte und stürzte; ein Mann wurde vom rechten Kotflügel zur Seite geschleudert. Sie erreichten die Kreuzung genau in dem Moment, als die Lichter umschalteten. Grinsend wie ein Dämon, riß Chappie am Ganghebel, schoß auf die Fahrbahn hinaus und raste dem sich träge in Bewegung setzenden Verkehrsstrom davon. Ein rotgesichtiger Polizist pflanzte sich mit durchdringend schrillender Trillerpfeife vor ihnen auf. Der Roadster schlingerte im Bogen um ihn herum und raste über die Kreuzung. In der Randolph Street wandten sie sich nach Osten, erwischten gegenüber von der Stadtbibliothek grünes Licht und schossen mit donnerndem Motor in die Michigan Avenue hinein. Die Nadel stand auf sechzig, als sie den Fluß überquerten. Hinter ihnen übertönte das Dröhnen der Polizeigongs das Hupen wütender Fahrer, die sie auf der falschen Seite überholt hatten. Farrell sah die Streifenwagen erst, als sie auf dem langen, flachen Bogen des Lake Shore Drive waren. Als er über das Heck des Bugatti nach rückwärts blickte, konnte er über dem Glitzern der Hafenlichter im dunklen Wasser zwei Paar Scheinwerfer sehen, die wie Zuckmücken im heimwärts fließenden Verkehrsstrom hin und her schossen. Da hatte er sich des Bischofshutes, der Soutane und des mexikanischen Schnurrbarts schon entledigt. Er beugte sich näher zu Guglieri und sagte: „Gut gemacht, Chappie. Fahr ein bißchen langsamer jetzt; wir können es uns leisten, daß sie näher kommen.“ Guglieri nahm den Fuß vom Pedal. Das Heulen des Motors wurde eine Nuance kleiner; der eisige Wind, der über die kleine Windschutzscheibe des Roadsters fegte, wurde weniger schneidend. Die Lichter der Verfolger im Rückspiegel wurden heller. „Noch zwei Straßen weiter“, bemerkte Farrell. Sie hat65
ten die hochragenden Wohnhäuser am Lake Shore Drive hinter sich gelassen und befanden sich in einem Viertel großer, von Parks umgebener Villen. Draußen auf dem See blickten die Navigationslichter eines Dampfers rot und grün. „Jetzt!“ sagte Farrell. Guglieri zog die Handbremse, riß das Steuer herum und schaltete im selben Moment herunter. Die Tachometernadel sauste abwärts. Der Bugatti schlitterte quer über die Fahrbahn, flitzte an der Schnauze eines sich nähernden Bierwagens vorbei und schoß in eine Seitenstraße. Die Polizeifahrzeuge waren nur zweihundert Yards entfernt. Sie hörten das Quietschen der Reifen, als sie wendeten. Die Straße schlängelte sich zwischen Bäumen eine leichte Steigung empor. Oben war eine scharfe Rechtskurve, ehe das Gelände eben wurde und dann abfiel. Und unmittelbar hinter der Kurve wand sich zwischen hohen Eibenhecken eine private Auffahrt zu einem viktorianischen Herrenhaus, das im Schatten eines Zedernwäldchens stand. Hügelabwärts parkte unter einer Straßenlampe ein blauer Bugatti 43, in dem zwei Leute saßen. Guglieri blinkte dreimal mit den Scheinwerfern, bog in die Auffahrt ein und schaltete Lichter und Motor aus, als er den Roadster zum Stehen brachte. Der andere Wagen setzte sich in Bewegung und legte Tempo zu, als die Verfolger um die scharfe Kurve auf der Höhe der Kuppe bogen. Farrell blickte ihnen nach, als sie vorüberfuhren, wartete, bis das Dröhnen der Gongs sich in der Ferne verlor, und lachte dann. „Note eins für die Organisation, Chappie!“ sagte er und schlug dem Italiener auf die Schulter. Er war hochzufrieden mit dem Ablauf des Unternehmens. Wenn es den Bullen schließlich gelang, den anderen Bugatti aufzuhalten, würden sie feststellen, daß am Steuer ein rechtschaffener Autovertreter aus Oakwood 66
saß, der einen durchaus triftigen Grund dafür hatte, dort zu sein, wo er war: Er machte eine Probefahrt mit einer Interessentin, einer gutbezahlten Nachtclubsängerin namens Smokey Hernandez. Smokey wußte genau, was sie zu tun hatte. Die Probefahrt war drei Tage zuvor vereinbart worden. Es war selbstverständlich, daß jemand, der sich für einen Sportwagen interessierte, diesen auf einer kurvenreichen, hügeligen Strecke ausprobieren wollte – und es war ihr sicher nicht schwergefallen, den Vertreter zu veranlassen, an dieser Stelle anzuhalten und ihr einige technische Daten des Wagens zu nennen; sie brauchte ihn ja nur die paar Minuten dort festzuhalten, bis Guglieri sein Signal gab. Mit dem Überfall im Kaufhaus konnte nichts und niemand sie und den Vertreter in Verbindung bringen – im übrigen hatten sie ein unwiderlegbares Alibi. Als Chappie im Loop mit Farrell getürmt war, waren sie, umgeben von Zeugen, im Ausstellungsraum von Oakwood gewesen. Auch der Bande, dachte Farrell, konnte nichts nachgewiesen werden. Er selbst war verkleidet gewesen. Flash Butcher war in Chicago ein Unbekannter – außerdem begegnete man zu jeder Zeit und an jedem Tag hundert hartgesottenen Verbrechern seines Typs in der Stadt. Chappie war für die Zeugen nicht mehr gewesen als eine verschwommene Gestalt am Steuer eines Wagens. Der Schmuck war bereits auseinandergenommen. Und was Boscoe anging – nun, auch da hatten sie nichts zu fürchten. Weil er so leicht zu identifizieren war, hatte Farrell ihm eine Rolle geschrieben, wo er sich selbst spielen konnte. Er hatte tatsächlich einige Tage zuvor bei Peabody-Hanson eine teure Küchenmaschine gekauft; sie war tatsächlich – nachdem Chappie ein bißchen an ihr herumgespielt hatte – unerklärlicherweise kaputtgegangen. Und es war glaubhaft, daß ein Mann von Boscoes Charakter und Mentalität deshalb eine Sze67
ne heraufbeschwören würde. Die Polizei mochte argwöhnen, daß diese Szene mit dem Überfall im Zusammenhang stand – was aber konnte sie beweisen? Farrell lachte wieder. „Was findest du denn so komisch?“ fragte Guglieri. „Allerhand“, antwortete Farrell, „aber besonders die Bullen. Ich hab mir gerade die Gesichter von den Kerlen in den Streifenwagen vorgestellt, wenn sie sich überlegen, wem, zum Teufel, sie eigentlich auf dem Lake Shore Drive hinterhergefahren sind!“ Der Italiener lächelte. „Denen kann’s nicht schaden, wenn sie zur Abwechslung mal ihr Hirn gebrauchen. Aber ich glaub, es ist besser, wir machen uns jetzt auf die Socken und packen das Spielzeug hier wieder weg – sonst kommen sie uns vielleicht doch noch auf die Schliche.“ Der Bugatti war aus der Garage eines Autonarren in Burnham gestohlen worden, der den Winter an der Westküste verbrachte. Soweit sie wußten, war er nicht vermißt worden. Farrell gähnte, starrte über die Hecke auf die düstere Fassade der Villa. „Okay, fahren wir“, stimmte er zu. „Ich weiß nicht, wem die Bruchbude hier gehört, aber eigentlich müßten wir ihm für seine Gastfreundschaft danken.“ „Es war mir ein Vergnügen, Gentlemen“, sagte eine ruhige Stimme hinter ihnen. Sie fuhren in ihren Sitzen herum. Guglieri unterdrückte einen Fluch. Die Ausfahrt war jetzt durch ein hohes Eisentor versperrt, und am Heck des Wagens stand ein Mann mit einer Flinte. „Ich würde es als ernsten Mangel besagter Gastfreundschaft betrachten, wenn Sie abführen, ohne das Haus von innen gesehen zu haben“, bemerkte er. „Ich weiß nicht, welche Verlockungen ich Ihnen bieten kann, Sie dazu zu überreden, aber …“ Er gestikulierte mit der Flinte. „Was sagt er?“ fragte Chappie verwirrt. 68
„Er sagt, entweder wir kommen mit ins Haus, oder …“, übersetzte Farrell. Steifbeinig kletterten sie aus dem kleinen Wagen. „Nach Ihnen“, sagte der Mann. „Dort vorn ist eine Lücke in der Hecke. Links. Sie können den gepflasterten Weg, der über den Rasen zur beleuchteten Terrassentür führt, gar nicht übersehen. Ich sollte Sie vielleicht darauf aufmerksam machen, daß es nur eines geringen Drucks bedarf, den Abzug an dieser Flinte zu betätigen“, fügte er freundlich hinzu. Sie schritten über die etwa hundert Yards breite Rasenfläche. Auf der Terrasse vor der erleuchteten Tür standen moderne Gartenmöbel und Geranientöpfe. Drinnen war ein Billardtisch, über dem eine grüngeschirmte Lampe hing. „Vielleicht würden Sie Ihre Waffen auf den Tisch legen“, sagte der Mann. „Sie sind doch bewaffnet? – Ah, ja. Ich dachte es mir.“ Er griff nach Farrells Automatic und der Police Special von Guglieri. „So, jetzt, wo wir eine etwas geselligere Atmosphäre aufgebaut haben, kann vielleicht auch dieses Spielzeug wieder eingepackt werden.“ Er verstaute die Flinte in einem Gewehrschrank unter einem riesigen Elchgeweih und schob dann die Lampe über dem Billardtisch hoch. „Als freundschaftliche Geste, verstehen Sie“, fügte er hinzu. Jetzt, wo das Licht heller war, konnten sie ihn richtig sehen. Er war ein hochgewachsener Mann mit einer Neigung zur Fülligkeit. Zur grauen Hose trug er einen dunkelblauen Blazer, im offenen Hemdkragen einen teuren Foulardschal. Er hatte das rosige Gesicht eines Trinkers, dünnes weißes Haar und einen weißen, militärisch gestutzten Schnurrbart. An einem Lederriemen um seinen Hals hing ein Feldstecher. „Das versteh ich nicht“, sagte Farrell. „Gewiß, wir haben ein paar Minuten in Ihrer Auffahrt geparkt, wo wir nichts zu suchen hatten, aber –“ 69
„Aber, aber, Sie sind über die Gebühr bescheiden. Das war doch bei weitem nicht alles. Das – äh – Parken, wie Sie es nennen, war der Abschluß eines brillanten Manövers.“ Die Stimme war sehr leise, ein wenig rauh, als hätte der Mann einen leichten Katarrh. Eine gut geölte Portund Brandy-Stimme. Farrell spielte den Verständnislosen. „Ich weiß nicht –?“ „Ich habe oben im Turm ein Arbeitszimmer. Ich habe die Gewohnheit, bei Einbruch der Dunkelheit die Schiffe auf dem See zu beobachten.“ Der Mann berührte den Feldstecher. „Das ist vielleicht kindisch, aber das Spiel der Lichter kann sehr unterhaltsam sein. Heute abend habe ich nun, wie es der Zufall will, die Straße beobachtet: Draußen vor meinem Park stand ein teurer ausländischer Roadster, und das machte mich neugierig. Es war ein blauer Wagen.“ Farrell und Guglieri tauschten einen Blick. „Aber ich vergesse meine Manieren!“ rief der Mann. „Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf zwei Ledersessel, die zu beiden Seiten eines niedrigen, mit Flaschen und Gläsern beladenen Tischs standen. „Bedienen Sie sich. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie nach Ihrer – Exkursion einen Drink gebrauchen können.“ „Da könnten Sie recht haben!“ versetzte Farrell grimmig. Er ließ sich in einen Sessel sinken und goß Bourbon in zwei Gläser. Nach einem Moment des Zögerns ließ sich Guglieri vorsichtig auf dem Rand des anderen Sessels nieder und griff nach einem der Gläser. „Für Sie?“ fragte Farrell und hielt die Flasche hoch. „Danke, nein. Für mich ist es noch ein wenig zu früh.“ Der Mann schritt um den Billardtisch herum zur anderen Seite und stützte die Hände auf die Tischplatte. Er bewegte sich sehr leichtfüßig, für einen Mann seiner Größe und Fülle. „Ja, ein blauer Roadster“, spann er den Faden weiter. „Stellen Sie sich meine Überraschung vor, 70
als ich einige Minuten später ein Fahrzeug desselben Modells und derselben Farbe erspähe, das auf der Kuppe um die Kurve kommt.“ Chappie Guglieri kippte einen Schluck Bourbon hinunter. Der weißhaarige Mann betrachtete sie aus scharfen blauen Augen. „Man kann doch wohl kaum behaupten, daß der Bugatti, so hervorragend er im Design ist, die Kapitäne der Autoindustrie in Detroit auf ihren Thronen erzittern läßt“, sagte er. „Das ist kein Fahrzeug, das man an jeder Straßenecke sieht. Die Einfuhrzahlen dieses besonderen Modells könnte man, meine ich, bestenfalls als mager bezeichnen.“ Farrell und Guglieri starrten ihn an, ohne zu sprechen. „Ferner ist dieser Wagen, an amerikanischen Maßstäben gemessen, ungeheuer kostspielig. Zwei solche Wagen zu gleicher Zeit in derselben Vorstadtstraße – das dünkte mich mehr als ein Zufall.“ Farrell räusperte sich. „Es ist ein wohlhabendes Viertel“, bemerkte er. „In der Tat. Jeder von uns, der das Glück hat, hier zu leben, kann es sich leisten, seinen Launen zu frönen. Eine meiner Launen beispielsweise ist ein Kurzwellenradio, das ich in meinem Arbeitszimmer aufgestellt habe. Sie werden das zweifellos als ein weiteres Beispiel für meine kindische Natur halten, aber ich vertreibe mir häufig die Zeit damit, daß ich mir die Funksprüche der Polizei anhöre. Heute brachte der Polizeifunk als erfreuliche Abwechslung von den üblichen Brutalitäten eine höchst interessante Meldung über einen tollkühnen Raubüberfall auf ein Kaufhaus, wo ich zufällig ein Konto habe.“ Farrell seufzte. „Fahren Sie ruhig fort“, sagte er. „Es hieß, die Diebe wären in einem blauen Automobil entkommen, vermutlich einem ausländischen Sportwa71
gen. Wenn ich dann beobachte, wie ein ebensolches Automobil, verfolgt von Polizeifahrzeugen, unvermittelt in meine Auffahrt einbiegt, wie dann sein glänzend placiertes Pendant die Verfolger auf eine falsche Fährte lockt – was glauben Sie wohl, was mir da durch den Kopf ging?“ „Sagen Sie es mir“, versetzte Farrell. „Mir ging folgendes durch den Kopf: Hier haben wir das Beispiel für einen Geniestreich. Der Durchschnittsräuber sucht sich ein anonymes Fahrzeug aus, einen Ford oder einen Dodge oder einen Chevrolet und hofft, daß er in der Menge untertauchen kann. Der Planer dieses Unternehmens jedoch hat mit voller Überlegung einen Wagen ausgesucht, der so auffallend ist, daß er gar nicht übersehen werden kann – und hat sich dann genau diese Tatsache zunutze gemacht, um die Verfolger auf den Holzweg zu führen. Das finde ich bewundernswert.“ „Schön“, sagte Farrell. „Sie haben den Trick durchschaut. Wieviel wollen Sie haben?“ „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zum Ende kommen lassen würden.“ Zum erstenmal verriet die joviale Stimme Anzeichen von Gereiztheit. „Ich wollte gerade zum Schluß meiner Ausführungen kommen, und ich bin es nicht gewöhnt, unterbrochen zu werden. Ich finde es –“ „Jetzt weiß ich, wer Sie sind!“ unterbrach Farrell dennoch. „Ich habe Ihr Bild gestern im Globe gesehen. Sie sprachen –“ „Richtig. Marcus Sweeney, Senator des Staates Illinois, zu Ihren Diensten.“ Der Mann hinter dem Billardtisch lächelte. „Das heißt, um es genauer zu sagen, ich hoffe, Sie beide und Ihre Geschäftspartner werden zu meinen Diensten stehen.“ „Jetzt kommt’s“, sagte Farrell zu Guglieri. „Na schön, Senator, schießen Sie los.“ Sweeney räusperte sich. „Es ist selbstverständlich 72
meine Pflicht“, erklärte er, „diese Information der Polizei zu unterbreiten.“ „Unter gewissen Umständen jedoch …?“ „Sie sind, Sir, genau wie ich angenommen hatte, ein intelligenter Mann. Die Polizei in dieser Stadt ist bemerkenswert untüchtig, man könnte sogar sagen korrupt.“ Farrell grinste. „Das könnte man wohl sagen!“ „Sollte ich melden, was ich gesehen habe, selbst wenn ich meine eigenen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Bedeutung meiner Beobachtungen hinzufügen würde, so gibt es keine Garantie dafür, daß die Polizei der Sache auf korrekte Art und Weise nachgehen würde. Selbst wenn man ihnen diese entscheidenden Anhaltspunkte zur Verfügung stellte, ist es möglich, daß sie weder Sie noch Ihre – äh – Beute je sicherstellen würden. Schließlich habe ich ja keine Ahnung, wer Sie sind. Selbst mit einem Feldstecher wäre es unmöglich, vom Turmfenster aus jemanden zu erkennen, der sich unten in der Auffahrt befindet, schon gar nicht bei Nacht. Sie können mir folgen?“ „Ich bin Ihnen weit voraus“, entgegnete Farrell. „Sie sind deshalb der Meinung, daß es wenig Sinn hätte, diese – Informationen weiterzuleiten. Wir wären bereit, wie ich schon sagte, unter gewissen Umständen, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Zu einem Preis.“ „Genau. Zu einem Preis.“ Der Senator nahm ein Queue aus dem Ständer, stieß die schwarze Kugel ins Loch und blickte unter buschigen weißen Brauen hervor zu ihnen auf. „Ich kandidiere bei der Wahl“, erklärte er, sein Rednertribünegehabe fallenlassend. „Auf Deneens Liste gegen einen von Thompson aufgestellten Mann. Ich bewerbe mich um das Amt des Präsidenten des States Improvement Board.“ Guglieri lachte. „Glauben Sie, das werden Sie schaffen?“ Sweeney richtete sich auf, verschränkte die Hände über die Spitze des Queue und stützte sich darauf. „Ich 73
hätte schon gewonnen, wenn es den Leuten, die mich wählen wollen, erlaubt wäre, das zu tun“, sagte er. „Wenn nicht die Hälfte von ihnen durch Überfälle, Bombenanschläge, Prügeleien und Drohungen dazu gezwungen würden, ihre Stimme Thompson zu geben.“ „Wenn ich Sie richtig verstehe, Senator –“, begann Farrell. „Wir alle“, fiel Sweeney ihm ins Wort, „die wir Senator Deneen unterstützen, haben uns verpflichtet, die Stadt von Korruption und Verbrechen zu säubern. Unglücklicherweise besteht, da die Verbrecher das Heft so fest in der Hand haben, nur geringe Aussicht für uns, eine Position zu erreichen, wo wir das tun können, wenn wir nicht zuvor mit ihren eigenen schändlichen Waffen gegen sie kämpfen.“ „Sie wollen sagen –?“ „Ich will sagen, daß wir gegen die mächtigste politische Maschinerie antreten, die jemals in Chicago geherrscht hat. Abgesehen von jenen Stellen, die durch die Bundesbehörden besetzt werden, hat Thompson die ganze Stadt, das County und den Staat in der Hand. Er hat eine Armee von 100 000 Wahlhelfern. Er ist noch nie in einer Vorwahl geschlagen worden. Und er kann sich darauf verlassen, daß Capone dafür sorgen wird, daß es so bleibt. Es werden bereits Wetten darauf abgeschlossen, daß er mit einer Mehrheit von etwa 150 000 Stimmen siegen wird.“ Der Senator machte eine Pause und fügte dann langsam hinzu: „Was ich sage, ist, daß wir mit Capones eigenen Methoden arbeiten müssen – nicht um die Wähler zu beeinflussen, sondern um den Verbrechern, die sie unter Druck setzen wollen, den Wind aus den Segeln zu nehmen.“ „Was genau schwebt Ihnen denn vor?“ Farrells Augen blitzten vor Interesse. Dieses Gespräch konnte zu einer Zusammenarbeit führen, die besser, als er es sich hätte träumen lassen, mit Stevens’ Plänen übereinstimmte. 74
„Ich bin bereit, Ihnen, Gentlemen, einen Gefallen zu tun“, sagte Sweeney. „Einen – nun sagen wir – zeitweiligen Gedächtnisverlust zu erleiden. Ich brauche Männer mit Intelligenz und mit Initiative und Mut. Sie scheinen mir diese Qualitäten zu besitzen. Sie haben außerdem, denke ich mir, Mitarbeiter – ein Team? Eine Gang? Gut. Als Gegenleistung für diesen Gefallen möchte ich, daß dieses Team gewisse Aufgaben für Deneen und mich übernimmt – Aufgaben, das möchte ich gleich hinzufügen, für die Sie gut bezahlt werden. Wir haben großzügige Mittel zur Verfügung. Kurz gesagt, ich möchte, daß Sie unsere Versammlungen überwachen und die Einschüchterung von Wählern und Kandidaten mit allen Mitteln verhindern, die Sie für geeignet halten.“ „Das klingt interessant“, meinte Farrell und bemühte sich, die Erregung aus seiner Stimme herauszuhalten. „Sagen Sie mir Näheres.“ Senator Sweeney stellte das Queue wieder in den Ständer und sah auf seine Uhr. „Sieben“, stellte er fest und schlenderte zum Tisch hinüber. Er nahm eine Flasche zur Hand. „Zeit, glaube ich, für einen gesetzeswidrigen Cocktail, um unsere – äh – gesetzeswidrige Zusammenarbeit zu feiern.“ Er goß Alkohol in ein Glas. „Also, ich erwarte folgendes von Ihnen …“
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TEIL 2 Jason Mettner
1 Jetzt, wo in dieser Gemeinde führende Vertreter von Stadt und Land sich im Belagerungszustand befinden, ihre Häuser von Polizeikommandos vor Bombeneinschlägen schützen lassen, muß der langwährenden Farce von der Gesetzesgewalt, die offensichtlich keine Gewalt hat, ein Ende gemacht werden. Wenn die Hüter des Gesetzes dieser Gemeinde keine moralischen Gründe haben, die Feinde zu fürchten, die sie mit so niederträchtigen Mitteln bekämpfen, warum schlagen sie dann nicht mit der ganzen Kraft empörter Integrität, gewappnet mit allen Gewalten einer ordentlichen Regierungsführung, zurück? Leitartikel in der Zeitung The Chicago News, Februar 1928 Die wahren Gangster in Chicago waren für meine Begriffe Leute wie Samuel Insull und Charles T. Yerkes. Big Bill Thompson war ein Witz; Capone war eine Krankheit. Keiner von beiden hätte eine Existenzgrundlage gehabt, wenn diese Riesenschieber in ihren Wolkenkratzern in der La Salle Street nicht zuvor Sand ins Wirtschaftsgetriebe der Stadt gebracht hätten. Yerkes ließ Bestechungsgelder in Höhe von fast einer halben Million Dollar springen, um die Straßenbahnlizenzen in seine Klauen zu bekommen, die ihn zum König des Transportwesens im mittleren Westen machten. Insull usurpierte den Stromversorgungsmarkt in 385 Städten und 76
beschwatzte 300 000 Kleinaktionäre, ihre Ersparnisse in einem Netzwerk von Firmen anzulegen, das ein Jahr später mit einem Defizit von vierzehn Millionen pleite ging. Und Marcus Sweeney war für meine Begriffe aus dem selben Holz geschnitzt: ein reicher Opportunist, der nur aus persönlichem Ehrgeiz zu den Reformern übergewechselt war. Diese Leute – Yerkes, Sweeney und Insull – waren für meine Begriffe die Galgenvögel, deren Gesichter meine Polizeiberichte hätten zieren sollen. Aber nein. Man findet sie, einander die Hände schüttelnd, im Wirtschaftsteil, sie grinsen einem aus dem Gesellschaftsteil entgegen, oder die Klatschkolumnisten heben sie in den Himmel, als wären sie Busenfreunde von Jesus Christus. Die Wahrheit über sie darf man nicht bringen, nicht einmal im Globe. Sie gehören ja zu den Inserenten. Sie spielen Golf mit dem Verleger. Sie sind auf du und du mit Hearst. Sie spenden für den Wahlfonds. Colonel McCormick von der Tribune sagt, sie hätten Heiligenscheine am Hintern. Und da sitze ich nun, erster Polizeiberichterstatter beim Globe, Verfasser einer Wochenspalte – und darf nicht ein Wort über meine wichtigsten Kunden schreiben! Das heißt aber noch lange nicht, daß ich nicht Material über sie sammle. Und das heißt noch lange nicht, daß die Schurken, auf die man weniger Rücksicht nimmt, nicht auch gute Stories hergeben. Faroli zum Beispiel. Also, der Bursche war mir von Anfang an ein Rätsel. Das war keiner von denen, denen man den Gangster an der Nasenspitze ansieht. In den letzten drei Jahren war er mir immer wieder mal über den Weg gelaufen, und immer dachte ich mir, daß er nicht in die Szene paßt. Nie glaubte ich, daß er echtes Verbrecherkaliber war. Er hat mir beispielsweise die Tips für die besten Polizeiberichte gegeben, die ich je 77
geschrieben habe. Wäre er nicht gewesen, so müßte ich mich jetzt noch immer in den Nachtclubs herumtreiben und gegen vier Uhr morgens hundert wohlgesetzte Wörter zum Druck geben, um den verehrten Lesern mitzuteilen, wie hochgeehrt sich der Wirt irgendeiner miesen Kneipe durch den Besuch von Senator Sweeneys schöner Tochter fühlte. Dazu ein Foto von Gloria Sweeney. Hinzu kommt noch, daß sich hinter Farolis römischem Profil Intelligenz verbarg. Ab und zu ließ er Bemerkungen von einer literarischen Spritzigkeit fliegen, um die ihn jeder professionelle Verfasser geistreicher Dialoge beneidet hätte. Dann die Augen. Ich habe einmal geschrieben, daß der Durchschnittskiller Augen hat, die an erloschene Glühbirnen erinnern. Nun, in Farolis Fall hatte jemand vergessen, den Strom abzuschalten. Aber, wie ich schon sagte, er war ja kein Durchschnittsverbrecher. Und doch hat er für Capone Schnaps eingeflogen, hat sich mit der North Side angelegt, gehörte einmal zu Sanquinettis Killerbande. Ich begriff das alles nicht. Ich hatte mehrmals versucht, tiefer zu schürfen, mehr über ihn zu erfahren, rauszukriegen, was bei ihm lief, ihn vielleicht sogar zu überreden, die Seiten zu wechseln und etwas zu tun, was seiner Intelligenz wert war; aber immer gab er mir eine Abfuhr. Er verschloß einfach sein Gesicht, und ich mußte feststellen, daß ich an die Wand redete. Ehrlich gesagt, der Bursche machte mich fuchsteufelswild – wütend auf mich selbst, weil ich die Maske nicht durchdringen konnte! Als ich deshalb hörte, daß er irgendwie mit diesem Juwelenraub zu tun haben könnte, packte ich natürlich sofort meinen Hut und eine Extrapackung Zigaretten und machte mich auf die Socken. Das heißt, so einfach ging es auch wieder nicht. Aus irgendeinem Grund war es ziemlich ruhig. In der vergangenen Woche waren nur drei Bandenmorde verübt worden, und seit dem 78
letzten Bombenanschlag waren mehrere Stunden vergangen. Thompson hatte seit seiner letzten Rede keinen seiner Gegner mehr verleumdet. Die Autodiebstähle waren auf weniger als 600 Prozent des nationalen Durchschnitts gesunken. Vielleicht rief Michaelson mich deshalb in die Lokalredaktion und halste mir diesen lausigen Job auf. Michaelson ist der Lokalredakteur beim Globe, ein großer, hemdsärmeliger Mann, der sich unter einem grünen Augenschirm verbirgt. Es war kurz vor Redaktionsschluß, er war umgeben vom üblichen Corps de ballet von Textern, Korrektoren und Redakteuren, Layoutern, die wissen wollten, wie zum Teufel sie zusätzliche 300 Wörter unterbringen sollten, wo Stutz auf Seite 19 eine Doppelspalte gekauft hatte. Über ein Bollwerk von Fahnen hinweg funkelte Michaelson mich an. „Sie, Mettner!“ brüllte er. „Sie haben doch im Moment nichts zu tun, stimmt’s?“ „Nur noch die Hälfte meiner Spalte für diese Woche, ein Profil von Richter Swanson, ein paar Recherchen über Frank Nitti – ach, und die Überfallstatistik für diesen Monat“, log ich. „Das dachte ich mir. Sie sind frei. Hier, dann können Sie mir das abnehmen. Ungefähr fünfhundert Wörter.“ Er streckte mir eine Notiz entgegen, die in der unverkennbaren Handschrift des Verlegers unterzeichnet war. „Was ist das?“ fragte ich mißtrauisch. „Sie können doch lesen, oder nicht? Internews möchte für ihr Londoner Büro etwas über die Vorwahl. Zwei Seiten. Um einer britischen Leserschaft das amerikanische Wahlsystem zu erklären.“ „Lieber Himmel, Harry“, protestierte ich, „eine ganze Verfassung ist nötig, um das einer amerikanischen Leserschaft zu erklären. Wie, zum Teufel, kann man von mir erwarten –“ „England erwartet, daß jedermann seine Pflicht tut“, zi79
tierte Michaelson. Eines der Telefone auf seinem Schreibtisch läutete. „Los, ’raus mit Ihnen und an die Arbeit.“ „Darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß ich hier der Polizeiberichterstatter sein soll. Warum kann denn nicht der Wahlexperte –“ „Der schreibt über die Wahl. Außerdem ist es weiß Gott ein Verbrechen, das in den Polizeibericht gehört, wie die Wahl hier geführt wird.“ Seine Hand griff zum Hörer, drückte ihn ans Ohr. „Michaelson – ja. Was? – Okay, zweihundert Wörter. Aber schnell.“ „Aber Harry –“ Michaelson nahm eine Zigarre aus dem Aschenbecher und klemmte sie sich zwischen die Zähne. In den Falten seiner Weste saß bereits genug Asche, um eine Urne zu füllen. Ein Redakteur beugte sich über seine Schulter und hielt ihm ein Blatt Papier hin. Er setzte seine Initialen darauf und griff zu der obersten Fahne auf dem Stapel, der vor ihm lag. Ich versuchte es noch einmal. „Hören Sie doch, Harry, seien Sie realistisch –“, begann ich. Er spähte unter seinem grünen Schirm hervor. „Sind Sie immer noch hier? Hören Sie auf, mich zu löchern, Mettner. Wenn Sie nicht in zehn Sekunden wieder an Ihrem Schreibtisch sitzen, schick ich Sie nach Cicero, da können Sie dann einen Bericht über Thompsons Wahlversammlung machen.“ Ich saß innerhalb von zehn Sekunden wieder an meinem Schreibtisch. Es war eine Arbeit, wie ich sie hasse. Kein Mensch hier wollte wissen, wie das gottverdammte Wahlsystem funktioniert; weshalb sollte es die blöden Engländer interessieren? Vielleicht hatte Thompson recht; vielleicht waren sie wirklich für die Bandenkriege in Chicago verantwortlich. Als ich endlich Seite eins fertig hatte, stand ich bis zu den Knöcheln in zerknüllten Blättern. Ich tippte den ersten Absatz von Seite zwei, riß eine frische 80
Packung Zigaretten auf, klemmte mir einen von den Glimmstengeln in den Mund und überflog, was ich geschrieben hatte. Im britischen Wahlsystem, wo die Kandidaten, die eine Partei vertreten sollen, auf lokaler Ausschußebene ausgewählt werden, gibt es kein Gegenstück zu einer amerikanischen Vorwahl. Die amerikanische Vorwahl ist eine öffentliche Wahl, bei der die Stimmberechtigten unter gegnerischen Kandidaten derselben Partei wählen, wobei dann jene, die nominiert werden, bei der eigentlichen Wahl gegen die Kandidaten antreten, die von der anderen Partei gewählt wurden … Es war nicht gerade flüssig. Ich riß die Seite heraus und zündete eine Zigarette an. Neben mir stand ein Botenjunge. „Mr. Michaelson möchte Sie sprechen.“ „Unter den gegebenen Umständen, mein lieber Junge, bezweifle ich das“, gab ich zurück, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. „Möglich, daß er es für erforderlich hält, mich zu sprechen, oder sogar mit mir sprechen muß, aber zu unterstellen, daß auf seiner Seite auch nur der geringste Wunsch besteht, mich zu sprechen, ist reiner Euphemismus.“ „Er sagte, er wünschte Sie zu sprechen.“ „Der Junge ist ein Lügner“, erklärte ich meiner Schreibmaschine. „Kein Lokalredakteur hat bei der Vorstellung, mit seinem Polizeiberichterstatter ein Gespräch zu führen, je auch nur das geringste Vergnügen geäußert. Man muß sich immer an den genauen Wortlaut halten, mein Junge. Ich will dir sagen, wie er sich tatsächlich ausgedrückt hat. ‚Mettner soll mal herkommen!‘ Stimmt’s?“ „Sie können mich mal, Jay“, versetzte der Junge. Das ist es, was mir an meinem Beruf so gefällt. Uns Rittern der Schreibmaschine zollt man augenblicklich Respekt, wenn 81
wir denen, die in unsere Fußstapfen treten wollen, die Anfangsgründe des Gewerbes beizubringen versuchen. Michaelsons Zigarre war ausgegangen. Er zündete sich eine neue an. Die Asche war von seinem Schmerbauch gefallen und bildete zwischen seinen Schenkeln ein kleines Reservoir. Er hielt das Ende eines Fernschreiberstreifens, der sich um seine Füße wand und dann zu dem Glaskasten hinaufstieg, unter dem die Maschine für die Lokalnachrichten stand. „Fahren Sie gleich mal ’runter zum Loop“, sagte er. „Ein mexikanischer Bischof und ein Spieler von einem Mississippi-Dampfer haben gerade die Schmuckabteilung bei Peabody-Hanson überfallen.“ „Das ist doch nichts Besonderes“, erwiderte ich. „Warum soll die Kirche nicht mit der Zeit gehen?“ Die Maschine begann von neuem zu stottern und spie weitere 100 Yards Geschichte aus ihrem Glasmaul. Michaelson ließ den Streifen durch seine Finger laufen und las blinzelnd. „Sie haben zwei Verkäufer niedergeschlagen, einen Hausdetektiv angeschossen und sind in einem Rennwagen getürmt“, berichtete er. „Ist doch klar! Besteht eine Chance, daß der Detektiv ins Gras beißen muß?“ fragte ich hoffnungsvoll. Er schüttelte den Kopf, während er den Streifen weiter durch blauschwarze Finger laufen ließ. „Fleischwunde im Arm.“ „Dann wird’s also nichts mit meiner schönen Schlagzeile“, stellte ich fest. „ ‚Heiliger Heckenschütze schickt Hausdetektiv in den Himmel‘ hätte sich prächtig ausgenommen.“ „Gott sei Dank schreiben Reporter nicht ihre eigenen Schlagzeilen“, versetzte Michaelson. „ ‚Bischof ballert blaue Bohnen‘ reicht vollkommen.“ Er überflog den Rest des Streifens. „Die einzigen Hinweise, die sie hinterließen, waren ein Spazierstock mit silbernem Knauf, ein 82
paar Waschlederhandschuhe und ein großer Brillant, der möglicherweise Talmi ist. Also, fahren Sie ’runter, und schauen Sie, was da zu holen ist.“ „Und was wird aus dem Artikel über die Wahl?“ „Der kann warten. Ich kürze Swansons Rede und halte Ihnen fünf Zoll auf der ersten Seite frei.“ Er rammte sich seine Zigarre wieder zwischen die Lippen. Ich klopfte eine Camel aus meiner Packung, griff nach seinen Streichhölzern. „Ich bin schon auf dem Weg“, sagte ich. Michaelson griff zum Telefon. „Sie rauchen zuviel“, knurrte er. Peabody-Hanson lag gerade noch innerhalb des Reviers Hanson Street. Was hätte man auch anderes erwarten können, wo doch Emeritus T. Hanson, der das Kaufhaus mit seinem Schwager zusammen gegründet hatte, im Jahre 1804 der Stadt hundert Morgen Land verkaufte und dann nach Florida emigrierte? Für mich jedenfalls bedeutete diese Tatsache, daß ich der Konkurrenz gegenüber im Vorteil war. Weil nämlich Lieutenant Howard Mulligan die Ermittlungen in dieser Sache leiten würde. Und abgesehen davon, daß er in diesen Zeiten ein Paradoxon war – ich meine, ein ehrlicher Bulle –, war er ein alter Schulkamerad von mir. Wir hatten beide in jenen fernen Tagen, als Big Jim Colosimo noch nicht mehr war, als Besitzer eines Vorstadtbordells, die Austin High School besucht. Und noch etwas hatten wir gemeinsam: So merkwürdig es klingen mag, wir glaubten beide, es müßte angenehm sein, in Chicago zu leben, wenn erst einmal der Schmutz von den Straßen gefegt war. Vielleicht sahen wir beide deshalb immer so aus, als hätten wir zum Kaffee einen Extralöffel Zucker nötig. „Mettner! Jedesmal, wenn ich dich sehe, siehst du größer und dünner und trauriger aus“, stellte Mulligan mit saurer Miene fest, als ich durch das Gewoge von Po83
lizeibeamten am Hintereingang des Kaufhauses tauchte. Er war von Fotografen und Bullen und Presseleuten umringt. Der Mann von der City News hatte seine Story schon weitergegeben und sich dünngemacht, aber UP und AP, Burschen vom Herald-Examiner, der Chicago News und der Tribune lungerten noch herum. Sogar für die Washington Post war jemand da. Vielleicht hatte der Präsident ein Konto bei Peabody-Hanson. „Was steckt dahinter, Howie?“ fragte ich, als ich Mulligan allein hatte. „Das stinkt doch nach einer großen Sache, und dabei hat’s nicht mal einen Mord gegeben.“ Mulligan zuckte zornig die Achseln. „Du weißt wohl, was für Leute hier kaufen“, erwiderte er. „Man wird Druck machen, daß die Kerle, die das Ding gedreht haben, gefaßt werden. Wenn wir sie erwischen, kommt’s vielleicht sogar zu einem ordentlichen Prozeß – da die Sache ja mit Schnaps und Freudenmädchen, mit Lotterie und Schutzgebühren nichts zu tun hat.“ „Hast du eine Ahnung, wer’s war?“ Er schüttelte den Kopf. „Jedenfalls hatten die Burschen ihren Grips benützt. Sie hatten ihr Fluchtauto in einem Lastwagen versteckt – hinten, wo andere Lastwagen ähnliche Autos für irgendeine idiotische Ausstellung lieferten, die morgen hier anfängt. Das war gerissen.“ „Und der Überfall selbst?“ Mulligans Kauwerkzeuge schlossen sich fest um ein Stäbchen Kaugummi. „Zwei maskierte Verbrecher. Die Beschreibungen sind wertlos.“ „In der Meldung, die wir bekommen haben, hieß es, einer wäre ein mexikanischer Bischof gewesen.“ Howie spie auf den Boden. „So ein Quatschkopf!“ sagte er wütend. „Ich hab ihm ausdrücklich gesagt, der Kerl war als mexikanischer Bischof verkleidet ! Der Verkäufer hat entgegenkommenderweise noch die Tür von der Schmuckboutique abgesperrt, als die beiden darin waren; irgendein Lastwagenfahrer schlug draußen Krach, 84
weil er eine Küchenmaschine gekauft hatte, die nicht funktionierte, und der Verkäufer hatte Angst, er würde auch noch die Schmuckabteilung stürmen. Da konnten die Sicherheitsleute natürlich an die Räuber nicht ’ran, als die loslegten.“ „Kam ziemlich gelegen, der Krach mit dem Lastwagenfahrer“, konstatierte ich. „Gelegen? Natürlich kam es gelegen!“ rief Mulligan. „Ich sag dir, die ganze Sache war bestens durchgeplant. Mir kann keiner weismachen, daß Lastwagenfahrer ihre Küchen bei Peabody-Hanson einrichten. Aber der hier hatte das Ding wirklich da gekauft; es steht fein säuberlich im Auftragsbuch. Natürlich hat der zu der Bande dazu gehört – aber versuch mal, das vor Gericht zu beweisen, wenn wir ihn überhaupt finden!“ „Was ist mit dem Stock und mit den Handschuhen, die sie dagelassen haben?“ „Die Handschuhe wurden zehn Minuten vor dem Überfall im Laden gekauft. Der Spazierstock ist ein Stockdegen – man schraubt den Knauf ab, und die Klinge kommt ’raus. Aber ich glaub nicht, daß uns das viel helfen wird. Ich habe hier in Chicago nie von einem Ladenräuber gehört, der mit so einem Ding arbeitet.“ „Und der Stein?“ Mulligan seufzte. „Der war echt. Vor drei Monaten bei einem Überfall auf einen Tresor in Calumet City geklaut. Die Kerle haben wir auch nie geschnappt. Ich vermute, den Hehlern war es zu gefährlich, den Stein zu übernehmen, deshalb opferten sie ihn als Requisit bei ihrer Komödie.“ „Und die Untersuchung des Lastwagens hat auch nichts gebracht?“ Ich machte mir allmählich Sorgen um meine fünf Zoll auf der ersten Seite. Mein Bischof war schon weg vom Fenster. Der Lastwagen brachte leider auch nichts. Er war bei derselben Firma gemietet worden wie die anderen Fahrzeuge, mit denen die Ausstel85
lungsautos geliefert worden waren. Und der Fahrer hatte Handschuhe getragen. Howie zeigte mir den Lastwagen. Ich sah mir die Spezialkonstruktion der Ladeklappe an, dann kehrte ich in die Schmuckboutique zurück und begutachtete die beiden von den Kugeln zertrümmerten Türschlösser, das Loch im Holzrahmen, durch das der Hausdetektiv angeschossen worden war, das Blut auf dem Boden, das von einem Netzwerk von Sprüngen durchzogene Panzerglas. Schlagzeilenmaterial war das nicht gerade, aber ich schrieb meinen kurzen Bericht in einer Kneipe über der Straße und telefonierte ihn in die Redaktion. Ich hätte mir die Anstrengung sparen können. Richter Swanson, Deneens Kandidat für den Posten des Justizministers, sagte in seiner Rede, die Thompson-Verwaltung wäre für die Bombenwirtschaft in Chicago verantwortlich. Und da Bomben in diesen Tagen recht aktuell waren, bekam er die fünf Zoll auf der ersten Seite, und mein Bericht wurde auf fünf Zeilen reduziert und landete in der Gemischtwarenabteilung „Letzte Meldungen“. Erst am nächsten Tag, als Howie die Beschreibung der gestohlenen Stücke durchsah, fing die Geschichte an, interessant zu werden – jedenfalls für mich. Ich saß gerade zehn Minuten an meinem Schreibtisch und schlug mich mit dem gottverdammten Wahlbericht herum, als er mich anrief. „Jason, ich bin da eben bei diesem Juwelenraub auf ein merkwürdiges Zusammentreffen gestoßen“, berichtete er. Seine Stimme klang beinahe fröhlich. „Wär möglich, daß sich da für dich was rausholen läßt.“ „Der Globe freut sich immer, mit der Polizei in der Ausführung ihrer Pflichten zusammenarbeiten zu können“, versetzte ich. „Wenn Sie mir vielleicht einen Hinweis auf die Art Ihrer Ermittlungen gäben, Lieutenant …?“ „Sagt Ihnen der Name Bruno Faroli etwas, Mr. Hearst?“ „Ich bin in zehn Minuten bei dir“, erklärte ich. 86
In meinem Teil von Chicago herrschte an diesem Morgen dichter Nebel Michaelson rauchte seine dritte Zigarre, und es tat gut, aus der Redaktion in den kalten, klaren Regen hinauszukommen. Howie hockte schon im Fond des schwarzen Polizeifahrzeugs, als ich in den Hof hinter dem Revier hineinrannte. Er öffnete mir die Tür, und ich sprang hinein, schüttelte mir das Wasser vom Trenchcoat. Meine Hose war schon bis zum Knie tropfnaß. „Okay, Sherlock, schieß los“, sagte ich. „Fünf Minuten kannst du noch warten“, erwiderte Mulligan. Einen Moment lang starrte er mich schweigend an, während der Regen aufs Verdeck trommelte, dann lachte er leise. Sein kantiges Gesicht verzog sich, und sein Briefkastenmund wurde noch breiter. „Wir machen jetzt einen Besuch, aber“, fügte er hinzu, „fürs erste sage ich dir nur, daß es um ein Halsband geht – eines, mit dem ich hoffentlich Faroli die Luft abdrehen kann.“
2 Bestürzt sieht sich Chicago in direkter Konfrontation mit der irren Schattenwelt, von der jeder weiß, deren Existenz jedoch praktisch niemand zugibt … Es ist eine Welt, wo Unrecht Recht ist – wo in weiten Kreisen der Polizei und der Gerichte jede Triebfeder, Ehre, Gerechtigkeit, Verbrechensverhütung, ja selbst fundamentale Disziplin zu üben, lahmgelegt ist … Politiker haben für Bestechung ein offenes Ohr und eine offene Hand, und Inkasso-Agenten, Mitglieder der Polizei, treiben die Gelder für die Politiker und korrupten hohen Polizeibeamten ein. Glücksspiel, Laster und Gewalttätigkeit gedeihen prächtig in einer solchen Atmosphäre. Chicago Tribune, April 1960 87
Manchmal ziehen mich die Freunde in der Lokalredaktion damit auf, daß ich zuviel rauche. Ich achte nicht weiter auf sie. Ich kaufe mir durchschnittlich vier Schachteln am Tag und lasse ein halbes Dutzend im Aschenbecher oder an der Schreibtischkante verglühen, komme also auf weniger als achtzig pro Tag. Und ich wette, daß Howie Mulligan, Meister im Kaugummikauen von Cook County, es mir Stäbchen um Stäbchen gleichtut. Nur läßt er nicht ein einziges im Aschenbecher verkommen. Jedes Stäbchen Kaugummi wird in seinem breiten Mund gründlich durchgeknetet und ausgelutscht. Trotzdem möchte ich nicht mit der Hand an der Unterseite von Howies Schreibtisch entlangfahren. Je aufgeregter Mulligan wird, desto häufiger greift er zum Kaugummi. Als der Polizeiwagen an diesem Tag vor Farolis Wohnung auf der South Side anhielt, war er bei seinem dritten Stäbchen. Faroli machte selbst auf. Ich sah ihn zum erstenmal seit mehreren Monaten wieder. „Sie haben sich die Narbe wegmachen lassen!“ rief ich, ehe Mulligan Zeit hatte, ein Wort hervorzubringen. „Sie kommen und sie gehen“, gab Faroli zurück. „Ich würde Sie ja hereinbitten, nur –“, er warf einen Blick auf Mulligan, „es ist eine Dame im Haus.“ Das ist es, was mir an Chicago so gefällt: die natürliche Wärme, mit denen einen die Leute hier willkommen heißen; die angeborenen guten Manieren; das Bemühen, niemanden zu kränken, nicht einmal einen Polizeibeamten. Mulligans Gesicht lief rot an. Seine Kauwerkzeuge schalteten in den zweiten Gang herunter, und wenn er mit einem Tachometer ausgestattet gewesen wäre, dann wäre die Nadel in den roten Sektor hineingeschossen. „Den Quatsch können Sie sich sparen“, sagte er grob. „Ich habe Fragen an Sie, und ich komme ’rein.“ „Sie haben wohl nicht zufällig einen Haussuchungsbefehl bei sich?“ erkundigte sich Faroli sarkastisch. 88
„Doch, zufällig habe ich den mit“, antwortete Mulligan – und ich weiß nicht, warum, aber mir schien, daß hinter dem Wortwechsel mehr steckte, als an der Oberfläche ersichtlich war. Es war, als würde eine zweite, unterschwellige Schlacht geschlagen, eine Schlacht, bei der Mulligan einen Punkt gemacht hatte, seine gute Laune nämlich war vorübergehend wiederhergestellt, und er trat in das Wohnzimmer und sagte: „Hübsch haben Sie es hier, Faroli.“ „Man ist vorm Regen sicher“, erwiderte Faroli. „Ich wollte, das gälte auch für die Ratten.“ Mulligan überging die Bemerkung. Er wanderte im Zimmer umher, betrachtete die Drucke an der Wand, die grellbunten Kissen, das Grammophon. „Das ist ja ein tolles Kurzwellengerät“, bemerkte er, während er sich über einen Kasten beugte, der förmlich starrte vor Röhren, Knöpfen und Verstärkern. „Ich wette, auf dem Ding könnte man sogar den Polizeifunk abhören.“ „Das tu ich oft“, erwiderte Faroli. „Ich hör so gern das Rascheln von schmutzigem Geld.“ Ich weiß nicht, warum der Bursche Howie ständig hänseln mußte; warum er gerade in das Wespennest polizeilicher Käuflichkeit hineinstochern mußte. Dabei war Howie einer der wenigen Polizeibeamten der Stadt, der nicht kassierte. Vielleicht war Faroli, der Verbrecher, sauer, weil Mulligan sich nicht kaufen ließ, aber irgendwie war das mit meiner Beurteilung seines Charakters nicht in Einklang zu bringen. Ganz gleich, was der Grund war, Howie biß unweigerlich an. Der breite Mund klappte über einem frischen Stäbchen Kaugummi zu. „Eines Tages werden auch die Streifenwagen Funkgeräte haben“, sagte er. „Dann schwirrt vielleicht Ihr Name durch den Äther.“ Farolis Punkt, fand ich. Eins beide. Er hatte dem Lieutenant den Rücken zugewandt. 89
„Setzen Sie sich, Jason“, forderte er mich auf. „Es ist nett, Sie zu sehen. Mögen Sie einen Drink?“ Er wies mit der Hand auf eine Flasche Jack Daniels auf einem Beistelltisch. „Gern“, antwortete ich. „Jederzeit – morgens, mittags oder abends.“ Ich zündete mir eine Zigarette an. Faroli goß Whisky in ein Glas und reichte es mir. Das konnte Mulligan nicht einfach passieren lassen. „Ich könnte Sie wegen Verstoßes gegen die Volstead Act festnehmen –“, begann er. Dann, plötzlich auf der Hut: „Was ist in der Flasche, Faroli?“ „Kalter Tee“, erwiderte Faroli. „Die Nummer ist zu abgedroschen, daß mein Produzent dafür das echte Zeug nicht rausrücken mag. Wollen Sie Milch oder Zucker haben, Jason?“ Ich würgte ein Lachen hinunter und winkte ab. Er wandte sich wieder an Mulligan. „Ich hab gehört, die Iren haben eine Vorliebe für kalten Tee“, fuhr er mit übertriebener Höflichkeit fort. „Kann ich Sie nicht überreden, ein Gläschen zu probieren, Lieutenant?“ Howie biß sich auf die Lippe. Keinesfalls wollte er sich so weit demütigen, an der Flasche zu schnüffeln; es hätte ja tatsächlich kalter Tee sein können. Faroli war es zuzutrauen. Aus dem gleichen Grund aber konnte er einen Drink nicht annehmen: Wenn es Tee war, würde er dumm dastehen; wenn es keiner war, machte er sich selbst zum Gesetzesbrecher. Er beschloß, nicht darauf einzugehen, und kam bei einer Führung Farolis mit zwei zu eins kämpfend aus seiner Ecke hervor. „Ich hab Sie neulich mit einem Saphirhalsband gesehen“, bemerkte er angriffslustig. Faroli zog die dunklen Brauen hoch. „Und?“ Sie starrten einander an wie Vögel bei einem Hahnenkampf. Ich richtete mich in meinem Sessel auf. Das Gespräch hatte eine für mich unerwartete Wendung genommen: Ich hörte zum erstenmal von einem Saphir90
Kollier. Ich trank einen Schluck aus meinem Glas. Es war Jack Daniels. „Und ich möchte wissen, wo die Kette jetzt ist.“ „Keine Ahnung.“ Faroli zuckte betont lässig die Achseln. „Ich habe sie meinem Mädchen geschenkt.“ „Das ist eine Miß Hernandez, wenn ich mich nicht irre?“ Der nordirische Anklang in Mulligans Ton wurde ausgeprägter, wie immer, wenn er aufgeregt oder wütend war. „Richtig, ich habe die Kette für Smokey gekauft.“ Faroli ließ ihn den Punkt machen. „Die gestern abend in der Nähe von Lake Shore Drive von einer Polizeistreife aufgehalten wurde, am Steuer eines ausländischen Automobils, eines blauen Bugatti?“ „Schon möglich.“ Er zuckte wieder die Achseln. „Sie hatte vor, sich einen Roadster zu kaufen. Stimmt, jetzt fällt’s mir ein, sie hat was von einer Probefahrt gemurmelt – und daß so ein paar schwachsinnige Bullen sie aufgehalten und ihnen die Ohren mit dämlichen Fragen vollgeblasen haben. Der Vertreter war wütend. Er hätte längst wieder an seinem Arbeitsplatz in Oakwood sein müssen.“ Mulligan schob seinen Hut auf den Hinterkopf und ging mit langen Schritten zum Fenster. Er starrte auf eine Reihe von Backsteinhäusern auf der anderen Straßenseite. Die Schieferdächer glänzten im Regen. „Da muß es eine Verbindung geben“, sagte er grimmig. „Ich treffe Sie mit einem Viertausend-Dollar-Kollier an. Sie behaupten, Sie hätten es eben erst gekauft. Zwei Tage später wird ein ebensolches Kollier aus einem Kaufhaus in der Innenstadt gestohlen. Wir verfolgen die Räuber den Lake Shore Drive hinunter. Was für ein Fluchtauto fahren sie? Natürlich einen blauen Bugatti. Sie biegen in die McManus Avenue ein und verschwinden hinter einer scharfen Kurve. Als die Streifenwagen um die Kurve kommen, sehen sie den blauen Bugatti vor sich – nur sitzt am Steuer Miß Smokey Hernandez in Begleitung eines Autovertreters. Da gibt’s nur einen Reim darauf.“ 91
„Ich weiß nicht, was Sie da reden“, bemerkte Faroli. „Hat jemand ein Kollier gestohlen?“ Mulligan fuhr herum. „Sie wissen ganz genau, daß jemand ein Kollier gestohlen hat!“ brüllte er. Den Zeigefinger auf Faroli gerichtet, bohrte er ein Loch in die Luft. „Und Sie stecken da mit drin, und ich krieg ’raus, wie, Und wenn es das letzte ist, was ich tue.“ Faroli schenkte sich einen Whisky ein und lehnte sich lässig an sein Bücherregal. Auf den Borden standen sogar Bücher. Ein Gangster, der lesen konnte! „Hören wir auf mit dem Quatsch, Mulligan“, sagte er. „Wenn Sie von dem Überfall bei Peabody reden, dann wissen Sie so gut wie ich, daß da zu mir keine Verbindung besteht.“ „Im Gegenteil, es gibt fünf Verbindungspunkte“, gab Howie heftig zurück. „Zwei identische Saphir-Kolliers, zwei identische blaue Bugattis und eine kreolische Nachtclubsängerin, die zufällig Ihre Schickse ist.“ Faroli fuhr hoch. „Nehmen Sie sich in acht!“ sagte er. „Die Dame sitzt in einem der beiden Autos, die Dame trägt eines der beiden Kolliers –“, Mulligan schob ein weiteres Stäbchen Kaugummi in den Mund, „und Sie wollen mich glauben machen, daß Sie mit dem Überfall nichts zu tun haben!“ „Sie haben etwas vergessen. Okay, zwischen mir und der Dame besteht eine Verbindung. Und von der Dame führt eine Verbindung zu einem Kollier und zu einem Auto. Aber es handelt sich um das Kollier, das nicht gestohlen wurde; das Auto, das nicht als Fluchtwagen benutzt wurde. Wenn ich Polizeibeamter wäre –“ „Da sei Gott vor!“ „Wenn ich Polizeibeamter wäre, würde ich sagen, das läßt darauf schließen, daß ich mit dem Überfall nicht das geringste zu tun gehabt habe.“ Mulligan kaute so hastig, daß sein Mund in seinem Gesicht auf und nieder hüpfte. „Einen Zufall könnte ich 92
vielleicht akzeptieren“, stieß er hervor. „Zwei – das wäre viel verlangt, bei dem, was ich weiß. Aber drei!“ „Sie wissen gar nichts“, entgegnete Faroli. „Ich darf Sie vielleicht darauf hinweisen, daß überhaupt nur von einem Zufall die Rede sein kann. Für die anderen sogenannten Zufälle gibt es eine logische Erklärung.“ „Logisch?“ schrie Mulligan. „Ganz recht. Smokey hat das Kollier in der Auslage bei Peabody gesehen. Sie wollte es haben. Von einem Zufall kann man nur bei den Autos sprechen.“ „Warum haben Sie ihr nicht das Kollier bei Peabody gekauft?“ Faroli grinste. „Ein Mädchen wie Smokey kann teuer kommen“, erklärte er. „Und man muß auf seine Kröten achten. Das Kollier, das ich gekauft habe, war fünfhundert Dollar billiger. Bin ich blöd und zahl auch noch für den Namen Peabody mit?“ „Und was ist aus dem anderen Auto geworden, dem Fluchtwagen?“ Wieder zuckte Faroli die Achseln. „Da dürfen Sie mich nicht fragen. Sie sind doch der Schnüffler.“ Mulligan stand in der Mitte des Zimmers, den Kopf vorgeschoben, den breiten Mund zu einem Strich zusammengepreßt. Er sah aus wie ein kleingebliebener Stier, der den Angriff des Matadors erwartete. „Damit können Sie mich nicht abspeisen“, sagte er eigensinnig. „Es muß eine Verbindung geben, und ich werde sie finden. Sie behaupten, daß –“ „Jetzt hören Sie mal zu!“ Zum erstenmal klang Farolis Stimme zornig. „Ich hab allmählich die Nase voll von Ihren gottverdammten Anspielungen. Ich brauch mir das nicht bieten zu lassen. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Mulligan?“ Howie atmete schwer. Er hatte wieder angefangen zu kauen. „Ich glaube, Sie haben dieses Kollier ganz absichtlich 93
für einen bestimmten Zweck gekauft. Vielleicht arrangierten Sie sogar diesen Kampf, damit ich das Kollier bei Ihnen sehen würde. Ich glaube, unmittelbar danach haben Sie es wieder verkauft und Ihr Geld zurückbekommen. Dann stahlen Sie das Kollier bei Peabody, und –“ Faroli lachte laut heraus. „Ach, hören Sie doch auf! Woher, zum Teufel, hätte ich wissen können, daß Sie genau um die Zeit an der Gasse da vorbeikommen würden? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“ Er kippte die Hälfte seines Whiskys hinunter. „Und weshalb hätte ich dieses Kollier wählen sollen? Warum nicht das Rubinhalsband, die Broschen, die Brillant –“ „Ha!“ Mulligans Kopf schoß vor, triumphierend wie der einer Schildkröte, die sich unter ihrem Panzer hervorwagte. „Sie gestehen also, von den gestohlenen Waren Kenntnis zu haben?“ Faroli verdrehte die Augen zur Decke. „Wie Sie dank Ihrer höchst aufmerksamen Ermittlungstechnik festgestellt haben, besitze ich ein Radio. Ich lese die Zeitung. Die Versicherung bietet eine Belohnung und hat eine Liste der Schmuckstücke veröffentlicht.“ Eines muß man Howie lassen. Er steckt nicht auf. „Was das Kollier angeht“, schnarrte er, „so haben Sie sich dieses besondere Stück ausgesucht, weil Sie Ihrem Mädchen imponieren wollten. Faroli – ich möchte dieses Kollier sehen.“ Die Wohnungstür öffnete sich. Wie auf ein Stichwort trat Smokey Hernandez ins Zimmer. Sie trug einen enggegürteten weißen Regenmantel und Pelzstiefel. Sie legte den Mantel ab, und ich bekam augenblicklich Sehnsucht nach einem Urlaub in der Karibik. „Ach! Jason Mettner!“ rief sie. „Wie nett! Und der Lieutenant! Ist das aber eine Überraschung.“ „Es geht um das Saphir-Kollier, Schätzchen“, bemerkte Faroli. „Wo ist es?“ Sie wechselten Blicke, die ich nicht deuten konnte. 94
Schließlich sagte das Mädchen: „Hier, in meiner Handtasche. Ich hab es noch nicht versichern lassen, deshalb trage ich es mit mir herum. Es – es ist das einzige, was ich habe.“ „Zeig es dem Mann da.“ Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Er nickte. „Nicht einmal die Polizei wird es dir vor Zeugen wegnehmen.“ Sie öffnete die Handtasche, entnahm ihr ein in Watte gewickeltes Päckchen und enthüllte eine Kaskade blaublitzender Flammen. „Zeigen Sie mal her!“ befahl Mulligan. Er packte das Kollier, legte es auf den Tisch und zog ein dünnes Bündel Papier aus seiner Tasche. Nachdem er es durchgeblättert hatte, legte er ein Blatt extra, glättete es und verglich das Kollier mit der Zeichnung auf dem Papier. Stirnrunzelnd zählte er die Steine auf jeder Seite des Anhängers, blickte dann wieder auf die Zeichnung. „Das ist nicht das Kollier von Peabody“, stellte er enttäuscht fest. Er nahm seinen Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Faroli sagte nicht: „Ich hab’s Ihnen ja gleich gesagt.“ Er ging zum Tisch, nahm die Kette und reichte sie dem Mädchen zurück. Sie ließ sie in die Handtasche fallen und klappte sie zu. „Aber damit geb ich mich noch nicht zufrieden“, erklärte Mulligan mißmutig. „Irgendwie haben Sie da die Hände drin.“ Wieder schoß sein Zeigefinger durch die Luft. „Wo waren Sie gestern nachmittag zwischen 17 Uhr und 18 Uhr 30?“ „Das ist leicht. Ich war in der McManus Avenue, in der Nähe vom Lake Shore Drive“, antwortete Faroli gelassen. „Was!“ Howie sprang hoch, als hätte ihn etwas gestochen. Sogar ich nahm das Glas von meinem Mund. „Sie waren genau in der Straße, wo die Autos vertauscht wurden? Sie geben das zu?“ 95
„Warum nicht? Ich war die ganze Zeit von fünf bis halb sieben dort“, erklärte Faroli nachdrücklich. „Von drei bis sieben, wenn Sie es genau wissen wollen.“ „Sie sind nicht zufällig in der Lage, das zu beweisen?“ Wieder war da diese geheime Unterschwelligkeit. Ich fragte mich, was, zum Teufel, da vorging. „Zufällig kann ich das.“ Ich konnte den Dialog allmählich schon auswendig. „Ich war nämlich bei einer Besprechung mit meinem Arbeitgeber. Er wohnt – zufällig – in der McManus Avenue.“ „Ach ja? Und wer ist denn das?“ erkundigte sich Mulligan höhnisch. „Das ist das erste Mal, daß ich davon höre, daß ein lumpiger Gangster was arbeitet. Dürfen wir vielleicht den Namen dieses Philanthropen erfahren, der Ihnen Arbeit gegeben hat?“ „Warum nicht? Es handelt sich um Senator Marcus Sweeney. Ich bin überzeugt, der Senator wird Ihnen gern alles bestätigen, was ich gesagt habe. Möchten Sie ihn vielleicht anrufen, Lieutenant? Ich würde Sie sogar umsonst telefonieren lassen.“ Farolis Miene war zuckersüß. Howies Gesicht lief rot an. Ganz gleich, was er argwöhnte, er war in einer Sackgasse. An Sweeney war nicht heranzukommen. Ich wußte es, Mulligan wußte es, Faroli wußte es. Und Faroli wußte, daß Mulligan es wußte. Spiel, Satz und Sieg für den Italiener. Nach einer Weile stülpte sich Howie den Hut wieder auf den Kopf. „Komm, Jason“, knurrte er. „Ich muß hier ’raus und frische Luft schnappen.“ Smokey ließ uns hinaus. An der Wand im Flur hing ein Abreißkalender. Als sie die Tür öffnete, riß sie das Blatt vom Vortag ab. Das Datum darunter war der 1. April.
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Das ist der Krieg! Schlagzeile im Herald and Examiner, Chicago, November 1924
Chicago ist auf dem Weg, die erste Großstadt Amerikas zu werden, die sich von Gangstereinfluß und Gangstermord befreit … Der Tag der Abrechnung ist meßbar näher gerückt. Chicago Tribune, August 1930 Die regelmäßigen Syndikatszahlungen gehen ruhig weiter, während die Skandale auf Seite eins erscheinen … Und das sind keine Kleinigkeiten, die gesamte Polizei steckt da mit drin, das recht bis zu den Gerichten und gesetzgebenden Gewalten des Staats hinauf, vielleicht noch höher. Captain der Polizei von Chicago, wie von der Chicago Tribune zitiert, Januar 1960 Einige unter den 11 200 Polizeibeamten von Chicago müssen doch ehrlich sein … Time, März 1960 Michaelson hatte natürlich recht. Die Art und Weise, wie diese Wahl geführt wurde, war tatsächlich ein Verbrechen – und das Verbrechen selbst führte da das Regiment. Deshalb kam ich als Polizeiberichterstatter auch mehr bei Wahlversammlungen und Ausschußsitzungen herum als die Reporter, deren Aufgabe es war, die Reden zu kommentieren oder Prognosen für die Vorwahl zu stellen. Deshalb hatte ich während dieser Zeit Gelegenheit, Faroli im Auge zu behalten. Marcus Sweeney hatte Faroli angeheuert, damit dieser ihm eine schlagkräftige Abwehrtruppe zum Schutz gegen die Syndikatsbrüder stellte, die für Thompsons Apparat arbeiteten. Farolis Bande brauchte die Wähler 97
nicht unter Druck zu setzen: Es gab Leute genug, die für Deneens Kandidaten stimmen wollten, wenn man sie ließ. Seine Aufgabe war es, ihnen – und auch den Kandidaten selbst, wenn diese eine Versammlung abhalten wollten – die Gangster vom Leib zu halten. Capones Leute spezialisierten sich darauf, Versammlungen zu stören und zu sprengen und die Redner mit Terrormethoden daran zu hindern, auf die Tribüne zu treten. Es war nichts Gesetzwidriges daran, sich eine solche Schutztruppe zu kaufen, und nichts Ungewöhnliches. Zumindest nicht in Chicago. In anderen Gegenden, wo Bombenanschläge und Schießereien, Entführungen und Prügeleien nicht zum Alltag des Wahlkampfs gehörten, hätte man eine solche Maßnahme vielleicht etwas unsozial gefunden. Nicht in Chicago im Jahre 1928. Ich weiß nicht, wie viele Leute normalerweise für Faroli arbeiteten. Einer der Kontaktleute beim Globe erzählte mir, es wäre eine ziemlich bescheidene Organisation, wahrscheinlich nur eine Handvoll Männer, die sich auf kleinere Raubzüge beschränkte und es tunlichst vermied, die Geschäftsinteressen der großen Banden zu stören. Ich vermute, er wollte die Gangsterkönige nicht gegen sich aufbringen. Mit Bestimmtheit wußte ich, daß er, als er für Sweeney zu arbeiten anfing, aus Cleveland und Detroit zur Verstärkung der eigenen Reihen zusätzlich Leute kommen ließ. Ehrlich gesagt, ich wußte überhaupt nichts davon, daß Faroli eine Bande hatte; ich erfuhr es erst an dem Tag, als Howie und ich ihn wegen des Juwelenraubs bei Peabody aufsuchten. Mulligan war übrigens stocksauer über diese Geschichte. Er war überzeugt, daß Faroli den Überfall geplant hatte, wenn er nicht gar selbst daran teilgenommen hatte. Er meinte, er wäre nahe daran, das beweisen zu können – nur noch ein paar fehlende Glieder in der Kette, die er finden mußte, und die Sache war gelaufen. Aber als sich herausstellte, daß Sweeney den Burschen unter 98
seine Fittiche genommen hatte, da war es aus. Da konnte Howie nur noch die Wände hochgehen. Das machte ihn natürlich noch wütender. Und er nahm die Sache persönlich – als hätte Faroli das Ding nur gedreht, um ihm eins auszuwischen. Ich glaube nicht daran. Aber ich hätte ja auch nie geglaubt, daß Faroli eine eigene Bande hatte. Vielleicht brauchte ich ein Vergrößerungsglas dringender als Howie. Als wir ’rausbekamen, welcher Art die Arbeit für Senator Sweeney war, fragte ich Howie, ob er vorhätte, Faroli während des Wahlkampfs zu kassieren. Wenn er sich an die Vorschriften hält, kann jeder Polizeibeamte zu jeder Zeit jeden, der Leibwächter spielt, auf Grund eines von etwa einem Dutzend Gesetzen etwas anhängen. Öffentliche Ruhestörung, Tragen bedrohlicher Waffen, bedrohliches Verhalten, Nötigung, provozierendes Benehmen – er hat eine große Auswahl. Vorausgesetzt, er verschließt die Augen vor der Situation, die solches Benehmen oder Verhalten herausfordert. Howie zog es vor, seine Augen offenzuhalten. „Ich will mir den Kerl nicht unter einem Vorwand schnappen“, erklärte er mir. „Ich krieg ihn, und zwar gründlich. Aber ich schnapp ihn mir für etwas, was er wirklich getan hat, nicht auf Grund irgendeiner aus der Luft gegriffenen Beschuldigung. Eines Tages wird der Bursche einen Fehler machen. Und wenn das passiert, schlag ich zu. Bis dahin kann ich nur abwarten.“ Der Briefkastenschlitz seines Mundes klappte über einem Stäbchen Kaugummi zu. „Außerdem“, fügte er bitter hinzu, „weißt du genau, wie groß die Chance wäre, daß ich eine Verurteilung erreiche. Oder den Kerl auch nur bis in den Gerichtssaal kriege.“ Ich konnte ihn verstehen. Howies Captain O’Mara gehörte auch zu den Polizeibeamten mit der offenen Hand. O’Mara hatte für Faroli nichts übrig. Aber O’Mara tat, was man ihm sagte. Und für die Dauer der Wahlmanöver 99
hatte man ihm gewiß Befehl gegeben, Faroli in Ruhe zu lassen. Ein ehrlicher Bulle hat’s schwer in Cook County. Aber Mulligan war geduldig. Er lebte für den Tag, wo es so schlimm werden würde, daß die Bundesbehörden eingreifen mußten. Im Augenblick begnügte er sich damit, jeden Fall von Bestechung aufzuschreiben, jedes Beispiel korrupten Verhaltens seitens der Polizei. Seine vertraulichen Berichte schickte er an einen Bekannten in Washington. „Höchstwahrscheinlich verstauben die Dinger auf irgendeinem Regal“, sagte er einmal zu mir. „Aber an irgendwas muß man glauben, sonst könnte man ja genau wie alle anderen die Hand aufhalten.“ Zwei Tage nach dem fruchtlosen Besuch bei Faroli ging in Richter Swansons Haus eine Bombe hoch. Der Richter selbst war zur fraglichen Zeit nicht im Haus gewesen, aber mir fehlte noch ein bißchen Stoff für meine Spalte – können Sie sich das vorstellen, in Chicago? –, deshalb beschloß ich, auf jeden Fall mal runterzufahren und mir die Sache anzusehen. Vielleicht stieß ich sogar auf einen Augenzeugen, der keine Angst hatte, den Mund aufzumachen. Schon kurz nach meiner Ankunft hatte ich Glück. Der vordere Teil des Hauses war ein Trümmerhaufen. Nicht eine Scheibe saß mehr in den Fenstern, die Treppe vor der Haustür war übersät mit gesplittertem Holz, das Mauerwerk rund um die Haustür war pulverisiert. Die Tür selbst war aus den Angeln gerissen, durch das Haus geschleudert worden und durch das Küchenfenster in den Garten geflogen. Polizeibeamte hatten den Tatort abgesperrt, dennoch hatte sich die übliche Menge Gaffer eingefunden. So eine alte Scharteke mit Lockenwicklern im Haar stürzte sich auf mich, als ich mich durch Betonstaub und TNT-Dämpfe kämpfte und packte mich beim Arm. „Was ist passiert, Mister?“ fragte sie schrill. „Ist jemand verletzt?“ 100
„Er hat die Tür zu fest zugeknallt“, versetzte ich. „Es hat nur hundert Tote gegeben.“ „Ich hab ja gleich gewußt, daß diese Kerle in dem Cadillac was im Schilde geführt haben!“ erklärte die Alte. Diesmal packte ich ihren Arm. „Cadillac?“ wiederholte ich. „Sind Sie sicher?“ Schön, ich weiß, daß es in Chicago Cadillacs in rauhen Mengen gibt, besonders in der Gegend vom Lake Shore Drive. Aber einer der bekanntesten gehört einem Kerl namens Capone – ein Dreißigtausend-Dollar-Vehikel mit gepanzerter Karosserie und Glas. Es hätte ein Hinweis sein können. „Natürlich bin ich sicher“, fährt die Frau mich an. „Mein Mann hat schließlich die Vertretung hier.“ „Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben die Männer gemacht?“ fragte ich. „Also ich hab gerade aus dem Wohnzimmerfenster geschaut, verstehen Sie, und da seh ich diese vier Kerle in einem Zwölfzylinder vorfahren, und zwei von ihnen schleppen so ein schweres Paket vor Richter Swansons Haustür. Und ich denk mir –“ „Moment mal“, unterbrach ich. „Hat Ihr Mann auch die Vertretung für Packard?“ „Ja, warum? Was hat das denn damit zu tun –“ „Der Zwölfzylinder ist ein Packard. Der Cadillac ist ein V 48“, erklärte ich. Zeugen! Ich wimmelte die Alte ab und ging zum Haus. In dem Moment sah ich Faroli, der mit einem erregt aussehenden Mann mit einer Rosette im Knopfloch sprach. Der Mann wedelte wild mit den Armen und wies in Richtung zum Loop. Faroli nickte und sprintete zu einem Auto, das mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig geparkt stand. Auch das war ein Packard, aber kein Zwölfzylinder. Fünf Männer waren da drinnen zusammengepfercht: ein kleiner Dicker mit Brille, der am Steuer saß; neben ihm 101
ein Riesenkerl, gebaut wie ein Bierkutscher; und hinten drei Standardgangster mit den vorschriftsmäßigen blauschimmernden Bartstoppeln. Faroli zwängte sich zu ihnen hinein, und der Packard zischte in Richtung Stadt ab. Fragen Sie mich nicht, weshalb ich Ihnen in meinem Dienstauto hinterherbrauste. Das war nur Impuls, und wenn ich zwischen dem Bombenanschlag und Capone keine Verbindung herstellen konnte, hatte es keinen Sinn, daß ich weiter da draußen herumlungerte. Die wilde Jagd zur 22nd Street kostete mich einige Jahre meines Lebens, aber ich überstand sie. Ich kam rechtzeitig an, um zu sehen, wie Farolis Team in eine mit Wellblech gedeckte Gemeindehalle stürzte, wo eine Wahlversammlung stattfand. Draußen zierten Bilder von Deneen, Swanson und Sweeney die Landschaft, die Mauern waren mit Wahlplakaten bepflastert und quer über die Straße waren Transparente gespannt mit der Aufschrift ‚Unsere Stadt muß sauber werden‘. Drinnen – nun, wenn ich gesagt habe, daß da eine Versammlung stattfand, so war das eine leichte Untertreibung. Das Getümmel erinnerte eher an eine Massenszene aus Birth of a Nation. In dem Saal befanden sich ungefähr tausend Menschen, und die eine Hälfte prügelte mit Stühlen auf die andere Hälfte ein. Sweeney stand auf der Tribüne am hinteren Ende, umgeben von einigen Damen und Herren der besseren Kreise. Auch sie gestikulierten eifrig, aber ich konnte nicht hören, was sie sagten. Es war ziemlich laut da drinnen. Ich muß sagen, Faroli und seine Leute verdienten sich ihr Geld. Allerdings waren die Rowdies, die versuchten, die Versammlung zu sprengen, keine ausgekochten Gangster: Das war nur ein Haufen Schlägertypen aus der Nachbarschaft, die man zu diesem Zweck angeheuert hatte. Aber es gibt solche Viertel und solche, und dies hier grenzte 102
direkt an Cicero. Unser Freund und seine Spießgesellen stampften da in Dampfwalzenmanier ’rein. Faroli kämpfte mit Fäusten, Füßen und dem Kolben einer Luger. Seine Mannschaft arbeitete mit Schlagringen und Gummiknüppeln. Ich sah, wie der Bierkutscher zwei Kerle vom Kaliber John Scalises hochhob und ihre Köpfe aneinanderschlug. Vielleicht waren es sogar John Scalise und sein Zwillingsbruder. Die hauten so schnell ab, daß ich’s nicht sehen konnte. Es dauerte nicht lange, da sah es im Saal aus wie bei Waterloo, nachdem Napoleon zum Rückzug geblasen hatte. Niedergeknüppelte lagen auf dem Boden, hingen ungraziös über den Stühlen, krümmten sich unter den Stühlen, und die, die noch laufen konnten, versuchten, durch die Fenster zu türmen. Und dann waren natürlich noch Mr. und Mrs. Durchschnittswähler da, die am liebsten auch schnellstens das Schlachtfeld verlassen hätten. Und das war ja genau das, was die Leute wollten, die die Rowdies gedungen hatten. Einige von ihnen schafften es, aber Faroli wurde auch damit fertig: Den größten Teil von ihnen drängte er in die der Tür entfernteste Ecke, während die Kampfhandlungen sich in der Mitte des Raums abspielten. So blieb der Ausgang frei, und man konnte jene Schläger, die unter eigenem Dampf nicht mehr vorwärts kamen, hinausbefördern. Die ganze Sache dauerte ungefähr zwölf Minuten. Faroli hatte zwei Schüsse in die Luft gefeuert, um das Ende des ersten Viertels zu signalisieren. Als der letzte Tunichtgut verschwunden war, machten Teile des Publikums den Versuch zu folgen. Faroli aber stand an der Tür aufgepflanzt und ließ seine Luger sprechen. Die Sturmreihe hatte sich hinter ihm formiert. Man konnte sie leicht von den Wählern unterscheiden. Es waren die mit den zerfetzten Jacketts, den Veilchen, den verschwollenen Gesichtern und den Gummiknüppeln in den Fäusten. 103
„Ich würde an Ihrer Stelle jetzt nicht gehen, Herrschaften“, sagte Faroli. „Senator Sweeney hat Ihnen ein paar interessante Dinge zu sagen. Warum gehen Sie nicht zurück an Ihre Plätze und hören ihm zu?“ Sie gingen zurück an ihre Plätze und hörten ihm zu. Ja wirklich, sie gingen zurück an ihre Plätze und hörten ihm zu. Sie hatten auch praktisch keine Wahl – und, wie Faroli den weniger fügsamen unter ihnen taktvoll mitgeteilt hatte, einige der Rowdies konnten ja noch draußen an der Straßenecke herumlungern. Sweeney, haute kräftig aufs Blech. „Jetzt, wo unsere Ordnungsleute die Ruhe wiederhergestellt haben …“, begann er. Ordnungsleute, dachte ich, war gut. Ich sah sie mir an, als ich mich auf einem leeren Stuhl ganz hinten niederließ. In Reih und Glied standen sie an der Wand, und der Bierkutscher grinste. Vielleicht fand er den Ausdruck auch gut. „Bürgermeister Thompson hat man den Gifthauch der Politik von Chicago genannt“, dröhnte Sweeney. „Der Führer der Presbyterianer von Chicago meint, er gehört ins Zuchthaus. Rabbi Louis Mann definiert seine Regierung als eine Herrschaft der Bombenwerfer und Betrüger. Edward Litzinger findet, er hat die Anatomie eines Flußpferdes und das Gehirn eines Pavians. Pater Mahoney, der Hirte dieser Gemeinde, sagte erst letzten Sonntag, daß Thompson ein niederträchtiger Schurke ist, den man teeren und federn und mit Gespött aus der Stadt jagen sollte. Für mich haben all diese Meinungsäußerungen nur einen Fehler.“ Theatralische Pause. „Sie gehen nicht weit genug!“ Pfiffe und Applaus. Sweeney wußte genau, was er tat. Er war ein guter Redner. Innerhalb von fünf Minuten hatten sie das ganze Tohuwabohu vergessen und fraßen ihm aus der Hand. Er hatte für jeden etwas, und er sagte ihnen, was sie hören wollten. Er wiederholte das, was 104
wir alle wußten, daß im Rathaus eine Bande bewaffneter Verbrecher herrschte; seine Stimme troff vor Verachtung, als er über die Unfähigkeit der Polizei berichtete, Ordnung zu halten, und sie zitterte vor Wut, als er von der allgemeinen Korruption sprach. Er weckte Zorn in seinen Zuhörern, als er darauf hinwies, wie das Geld der Steuerzahler dafür verschwendet wurde, Männern wie Insull und Yerkes die Taschen zu füllen, weckte Neid in ihnen, als er die Beträge erwähnte, die an Schmiergeldern gezahlt wurden. Danach kam die patriotische Masche – „Kein echter Amerikaner mag mit ansehen, wie mit den demokratischen Gesetzen seines Landes so offen Schindluder getrieben wird“ –, und dann blies er ihnen die Ohren voll mit den Reformen, die er und seine Freunde einführen wollten. „Man hat Senator Deneen und mich Visionäre genannt“, sagte er voller Leidenschaft. „Aber, bei Gott, die Vision, die uns vorschwebt, ist simpel genug! Wir wollen eine Stadt, wo die Menschen erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen können, sicher in dem Wissen, daß der Polizist an der Ecke nicht auch eine Marionette der Unterwelt ist; eine Stadt, wo alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – und wo dieses Gesetz unparteiisch angewendet und nicht zugunsten der Privilegierten gebeugt wird. Mit Ihrer Hilfe, meine Freunde, kann aus dieser Vision Wirklichkeit werden …“ Und so weiter und so fort. Nach einer Weile verlor ich das Interesse. Den Rest der Rede hätte ich mit geschlossenen Augen heruntertippen können. Ich fragte mich, was Faroli darüber dachte. Er lehnte am Türpfosten, als ich ging, eine Zigarette in seiner Filmstarvisage. Er grinste und zwinkerte mir zu. „Interesse an einem Rubinhalsband und ein paar Brillantringen?“ fragte er. Das nächste Mal sah ich ihn an dem Tag, als Deneens Haus hochging. Ich war knapp hundert Meter weg, als es krachte. Die Explosion schleuderte den Wagen quer über 105
die Straße. Ich riß ihn herum, wendete, fuhr zurück und parkte, noch ehe die Pilzwolke aus Rauch und Staub sich gesetzt hatte. Die ganze Fassade des Hauses war aus dem Fundament gerissen worden und vornüber in den Garten gekippt. Von der gepflegten Rasenfläche war vor Ziegelsteinen kaum noch was zu sehen. Tragende Balken waren geknickt worden, ein Hagel von Schieferschindeln hatte sich in die Grube ergossen. Und durch Staub und Rauch konnte ich das schwankende obere Stockwerk sehen, aus dem noch immer Stühle und Bücher und zerschmetterte Vasen herunterstürzten, während das Gebälk nach der starken Erschütterung langsam wieder ruhig wurde. Leute stürzten aus den Nachbarhäusern, kletterten laut rufend, um zu sehen, ob noch jemand im Haus war, über die Trümmerhaufen. Sogar in Chicago zeigen die Leute bei einer Katastrophe Hilfsbereitschaft; abgesehen natürlich von Bullen oder Politikern. Und ganz besonders in Chicago tauchen augenblicklich Gaffer und Sensationslüsterne aus dem Nichts auf. Es dauerte nicht lange, da drängte sich eine dichte Menschenmenge auf dem Bürgersteig. Und das in einem stinkvornehmen Wohnviertel wie diesem. Die Leute mußten gemietet sein. Bald darauf traf die Feuerwehr ein – Flammen züngelten schon dort, wo die Veranda gewesen war, am zertrümmerten Mauerwerk. Danach kamen die Polizisten vom zuständigen Revier und die Rettungsmannschaften. Sie holten ein Dienstmädchen aus dem Haus, das aus einer Wunde am Arm blutete, und eine andere Frau, von Kopf bis Fuß weiß mit Mörtelstaub, völlig hysterisch, aber offenbar unverletzt. Deneen und seine Frau waren, scheint’s, zehn Minuten vor der Explosion weggefahren, um an irgendeinem offiziellen Mittagessen teilzunehmen. 106
Ich hörte mich bei ein paar Leuten in der Menge um, versuchte festzustellen, ob jemand einen Zwölfzylinder Packard auf der Straße gesehen hatte, als Faroli mit Sweeney eintraf. Er saß wie in Abrahams Schoß im Duesenburg des Senators, während der Rest seines Teams in dem Tourenwaren folgte, den ich schon zuvor gesehen hatte. Sie sprachen mit einem Lieutenant der Polizei, den ich nicht kannte, wechselten ein paar Worte mit dem Captain der Feuerwehr, sprangen dann wieder in die Limousine und fuhren davon. Ich weiß nicht, warum ich mich wieder anhängte. Ich kann nicht behaupten, daß ich ein Vorgefühl hatte oder so was. Aber beim letzten Mal, als ich meinem Impuls gefolgt war, hatte das mir eine gute Story eingebracht, und vielleicht meinte ich, der Glücksfall könnte sich wiederholen. Auf jeden Fall hatte ich ja schon meinen Bericht über den Bombenanschlag bei Deneen, den ich selbst miterlebt hatte, was hatte ich also zu verlieren? Wenn Sie Zeitung lesen, werden Sie wissen, was passierte – aber diese zweite Verfolgungsfahrt auf Verdacht bescherte mir damals eine höllische Überraschung. Sweeney fuhr schön ruhig und gleichmäßig den Lake Shore Drive hinunter und bog in die McManus Avenue ein. Offensichtlich wollte er nach Hause. Ich war ein ganzes Stück zurück, weil ich fürchtete, die Burschen in dem Tourenwagen hinter ihm könnten ein bißchen empfindlich sein und was dagegen haben, wenn man ihnen zu nah auf den Pelz rückte. Deshalb war, als ich um die scharfe Kurve oben auf der Kuppe kroch, die Szene schon in vollem Gang, und die Kamera lief. Im ersten Moment war ich baff. Es war so, als öffnet man die falsche Tür des Badezimmerschränkchens: Man erwartet, Becher und Zahnbürste zu sehen, die brav auf ihrem Bord stehen, und statt dessen fallen einem ein Haufen alter Pillenröhren und gebrauchter Rasierklingen entgegen. 107
Ich erwartete, zwei Autos zu sehen, die entweder vor Sweeneys Haus anhielten oder in seine Auffahrt einbogen. Das erste aber, was ich sah, war der Duesenburg, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 Meilen pro Stunde rückwärts auf mich zufuhr. Faroli stand auf dem Bürgersteig und brüllte, schrie dem Senator offenbar zu, er solle schleunigst verduften. Der Tourenwagen hatte gedreht und stand auf der anderen Straßenseite. Wie die Hasen hüpften Farolis Leute heraus und suchten mit Ballermännern in den Fäusten hinter dem Auto Deckung. Und draußen vor der Eibenhecke, die Sweeneys Park umschloß, stand ein Zwölfzylinder Packard mit offenem Verdeck. Ein Mann saß am Steuer, zwei im Fond. Ich vermute, sie waren gerade erst eingetroffen, als Faroli auftauchte. Auf jeden Fall beschlossen sie angesichts der bewaffneten Abwehrtruppe rund um den Tourenwagen, daß es wohl besser war, Fersengeld zu geben. Wenn sie überhaupt die Absicht gehabt hätten auszusteigen, so gaben sie sie jetzt augenblicklich auf. Die Kerle im Fond duckten sich auf dem Sitz und ballerten über das gefaltete Verdeck hinweg auf Farolis Leute; der Fahrer ließ den Motor an – der. Packard hatte einen elektrischen Starter – und drückte das Pedal zum Boden durch. Farolis Mannschaft feuerte derweilen aus allen Rohren auf die große Limousine. Mir wurde am 3. April ein Feuerwerk geboten, wie es der Durchschnittsbürger sonst nur am 4. Juli zu sehen bekommt. Der Packard schoß die McManus Avenue ’runter, der Fahrer des Tourenwagens riß das Steuer herum und nahm die Verfolgung auf, noch während seine Genossen in die Kiste reinkletterten. Sweeney war inzwischen in weitem Bogen um mich herumgefahren und verschwand auf der anderen Seite der Kurve. Mettner, der Oberidiot, fuhr weiter – um von Faroli erkannt zu werden, der 108
noch immer mit rauchendem Revolver in der Mitte der Straße stand. „Ihnen nach, Jason!“ schrie er, während er auf das Trittbrett sprang. „Das bringt Ihnen einen dicken Knüller ein.“ Mir sah es mehr danach aus, als würde es mir eine eisgekühlte Schublade im Leichenhaus einbringen. Aber aus irgendeinem Grund – Neugier? – tat ich, was er sagte, und folgte den beiden Wagen die McManus Avenue hinunter, bog dann links ab auf einen Trampelpfad, der sich an einem Golfplatz entlangschlängelte. „Was, zum Teufel, ist überhaupt los?“ fragte ich, als er endlich die Tür geöffnet hatte und sich neben mich auf den Sitz fallen ließ. „Das dürfen Sie mich nicht fragen“, erwiderte er. „Ich vermute, das sind die Burschen, die die Ananas bei Deneen gepflanzt haben – und ich denke, sie wollten bei Sweeney den gleichen Budenzauber veranstalten.“ „Das war aber eine Riesenananas“, sagte ich. „Da müssen mindestens zehn Pfund TNT drin gewesen sein.“ „Na, Sie kennen doch Chicago“, witzelte Faroli. „Da ist alles größer und besser. Was ein richtiger Wahlkämpfer ist, der gibt sich nicht mit so einer kleinen Handgranate zufrieden. Können Sie die Kutsche nicht ein bißchen auf Tempo bringen?“ Wir fuhren schon fünfzig, und der Weg war holprig. Die anderen waren ungefähr 200 Yards voraus, wirbelten Staubwolken auf, während sie holpernd und schwankend durch die Schlaglöcher sprangen. Eine Zeitlang tauschten sie Höflichkeiten der fünfundvierziger und achtunddreißiger Sorte, dann schien es, als machten die Burschen in dem großen Cabriolet einen Versuch, irgend etwas aus dem Wagen zu werfen. Sie hievten und strampelten sich ab, als ob der Gegenstand ihnen zu schwer wäre. Dann passierte es. Ich weiß nicht, ob eine Kugel in das Ding einschlug oder ob durch das 109
Rütteln und Schütteln im Wagen am Zeitzünder was schiefging. Ich hörte die Explosion überhaupt nicht. Diese merkwürdigen blinden Stellen kommen bei einer Explosion manchmal vor. Ich sah eine riesige orangefarbene Stichflamme, und als ich den Wagen vom vierzehnten Grün herunter wieder auf die Straße gesteuert hatte, hatte das Dröhnen in meinen Ohren aufgehört, und ich sah, daß meine Hände bluteten und die halbe Windschutzscheibe in meinem Schoß lag. Der Tourenwagen hatte versucht, sich in ein Kaninchenloch zu verkriechen: Der Kühler steckte in einem Ginstergebüsch, und eines der Hinterräder saß im Graben fest. Die Männer waren ein bißchen mitgenommen, aber Lebensgefahr bestand nicht. Die Kerle, die die Bombe im Wagen gehabt hatte, waren etwas schlimmer dran. Neben dem Fairway war eine nagelneue Sandgrube. Sie war ungefähr zwanzig Fuß breit, zehn Fuß tief, und es stiegen immer noch Rauchwolken aus ihr auf. Rundherum hatte irgendein unordentlicher Mensch ein paar Autoreifen und die verbogenen Teile einer Autokarosserie liegenlassen. Die Büsche auf der Seite des Pfads waren völlig verstümmelt. Nachdem wir den Tourenwagen wieder auf die Straße geschleppt und die Insassen verarztet hatten, fuhren Faroli und ich zu Sweeney zurück, um Bericht zu erstatten. Er machte uns einen Drink in seinem Salon, der nicht viel größer war als ein Baseballplatz. Ich meine, wenn er da mehr als zweihundert Gäste zum Essen hatte, mußte es ganz schön eng werden. Am Rand des Horizonts war eine Bar von der Größe des Bahnhofs Dearborn Street. Sweeney stand hinter der Theke, und auf einem Hocker davor hing eine Blondine von ungefähr siebzehn Jahren. „Gentlemen“, sagte der Senator im Rednerton, „ich bin überzeugt, daß so unerschrockene Friedenshüter wie Sie gegen einen guten Tropfen zur geistigen und körperlichen 110
Erquickung jetzt nichts einzuwenden hätten, auch wenn das, rein technisch gesehen, gesetzeswidrig sein mag. Ehe ich Sie jedoch den Erzeugnissen von Mr. Hiram Walker bekannt mache, gestatten Sie mir, Ihnen meine Tochter Gloria vorzustellen – der Augapfel ihrer verstorbenen Mutter, die größte Sorge ihres armen Vaters.“ Die Blondine kicherte. Sie war offensichtlich beschwipst. „Normalerweise“, fuhr Sweeney fort, „wäre meine ältere Tochter Marcia hier, um Gäste willkommen zu heißen. Aber sie ist heute mit ein paar Freundinnen aus Vassa in die Ferien gefahren. Faute de mieux muß Gloria also die Rolle der Gastgeberin spielen.“ Das Mädchen kicherte wieder. Ich betrachtete sie mit einigem Interesse. Natürlich hatte ich von ihr gehört. Wer in Chicago hatte das nicht? Seit dem Tod ihrer Mutter war sie außer Rand und Band, trank sich durch sämtliche Kneipen in der Stadt, von Four Deuces bis zum Hotsy-Totsy. Es hieß, sie wäre ziemlich mannstoll. Und außerdem ziemlich verkorkst, hängte sich immer an Kerle, die sie verprügelten, so daß der liebe Papa dauernd zahlen mußte, um ihr aus der Patsche zu helfen. Geld ist wahrscheinlich eine Hilfe, wenn man eine masochistische Tochter hat, aber ich hätte die Puppe auch nicht zur Tochter haben wollen, wenn es mir das Doppelte von Sweeneys Geld eingebracht hätte. Sie rutschte vom Hocker und stellte sich sehr nahe zu Faroli. Sie trug ein knallrotes perlenbesticktes Kleid mit ausgefranstem Rock und einem Silberfuchskragen. Sie hatte eine tolle Figur, und ihre feucht glänzenden Lippen waren leicht geöffnet. Sie war ein Bonbon mit Dynamitfüllung. „Ich bin wirklich froh“, sagte sie, während sie eine Hand auf Farolis Arm legte, „daß Sie sich um Daddy kümmern. Sie sind ein Mann, der wirklich stark ist, das sehe ich.“ Es war das erste Mal, daß ich Faroli verlegen sah. Zö111
gernd blickte er auf Daddy, wußte nicht, was er sagen sollte. Ich hätte es ihm verraten können, aber in dem Moment ging das nicht. Und selbst ich konnte nicht ahnen, daß er ihretwegen verurteilt werden würde, auf dem elektrischen Stuhl zu sterben.
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TEIL 3 Bruno Farrell
1 Ein Professor aus Harvard schrieb einmal: „Ohne ein Rezept der Gemeinde hätte das Verbrechen gar nicht auf die Weise organisiert werden können, wie es in Chicago der Fall war, und es stand in rechtlicher und moralischer Hinsicht im Einklang mit dem tatsächlichen Verhalten der Bewohner der Stadt. Die Situation war die, daß ein Bedarf an Waren und Dienstleistungen bestand, die von Gesetzes wegen nicht geliefert wurden – und als die Situation einmal so weit gediehen war, daß die Bande gewissermaßen von der Öffentlichkeit ins Leben gerufen wurde, ergab es sich von selbst, daß die Bande der rechtlichen und moralischen Struktur einverleibt wurde. Ein bedeutender Soziologe hat gesagt, daß die Capone-Organisation ‚ein öffentlicher Versorgungsbetrieb war, der seinen Kunden das lieferte, was sie haben wollten – und sie wollten Schnaps, Spielhöllen und Frauen‘. Diese Leute wußten, wovon sie redeten: Genau das war die Situation, als ich dort arbeitete.“ Farrell saß im Razzmatazz und sah sich Smokeys Nummer an. In den frühen Tagen der Prohibition war das Lokal eine simple Kellerkneipe gewesen. Als es dann vom Syndikat übernommen worden war, hatte man die Keller der Nachbargebäude gemietet und die Mauern eingerissen, um die Räumlichkeiten zu vergrößern – was den zusätzlichen Vorteil hatte, daß es jetzt, da das Haus 113
an einer Ecke lag, Ausgänge zu drei verschiedenen Straßen gab. Bunny Krieg, der das Razzmatazz für ein Organisationsmitglied von Capone führte, hatte die Kneipe aufgedonnert und dafür gesorgt, daß allabendlich ein Programm geboten wurde. Jetzt gehörte sie zu den bevorzugten Nachtlokalen der reichen Snobs, die südlich vom Loop etwas erleben wollten, und war ein Treffpunkt der Gangster, die zu Sheldons, O’Donnells und Pescarolos Banden gehörten. Capones eigene Leute kamen selten hierher – sie setzten sich lieber ins Four Deuces in der South Wahash Avenue – und das war einer der Gründe, weshalb Farrell Smokey ermuntert hatte, hier zu arbeiten, weshalb er selbst sich ohne Sorge dort hineinwagte. Das Podium mit der Kapelle befand sich im Hintergrund eines von fünf ineinander übergehenden Kellerräumen, und ein Laufsteg führte zu einer kleinen Bühne in der Mitte, so daß die Künstler durch die Öffnungen gemauerter Torbögen hindurch von allen Seiten gehört und gesehen werden konnten. Art Pearson war der Bandleader der Kapelle, die ständig hier aufspielte. Sie war ungewöhnlich in zweierlei Hinsicht: Es war eine große Band mit drei Saxophonen und vier Blechen, und sie war aus schwarzen und weißen Musikern zusammengesetzt. Jede dieser Fakten hätte ihr in einer Periode kleiner Combos und strenger Rassentrennung einen Platz in den Nachschlagewerken eingebracht. Aber Pearsons Paradise Orchestra verdiente Ruhm noch aus einem dritten Grund: Es brachte glühendheiße Jazzarrangements, und es hatte einen irren Rhythmus. Der Bandleader war ein Klarinettist aus St. Joe, Missouri, der unter Jimmie Noone gelernt hatte und sich seine Lorbeeren in Chicago im Paradise Gardens in der 29th Street verdient hatte. Smokey war für zwei Vorstellungen angekündigt, eine um zehn und eine um Mitternacht. Farrell wollte sich die 114
erste Nummer ansehen, dann vielleicht nach Hause fahren und etwas versäumten Schlaf nachholen. Wenn Smokey beim Heimkommen zu müde war, nun, dann war am Morgen immer noch Zeit für Liebe; wenn nicht – dann brauchte er den Schlaf sowieso. Gegen Viertel vor zehn setzte er sich auf seinen Stammplatz gleich unterhalb vom Podium. Das Razzmatazz war bereits zum Brechen voll, die mit rotkarierten Tüchern bedeckten Tische von lachenden, plaudernden Menschen umgeben, zwischen denen die Kellner mit ihren Schnapstabletts wie raubgierige Möwen hin und her segelten. Durch die dichten Rauchschwaden konnte er Boscoe sehen, Flash und die beiden Revolvermänner, die er aus Cleveland importiert hatte. Sie standen mit einigen anderen Burschen an der Bar in einem der anschließenden Kellerräume. Chappie Guglieri wartete draußen am Ausgang in der 35th Street am Steuer des Packards. Die Frontreihe machte Pause, als Farrell seinen ersten Whisky Soda schlürfte. Über ihm hämmerte Paul Devreux, der Kreole, einen schnellen Blues auf dem Klavier, während Mutt McKee auf der anderen Seite des Podiums wie rasend auf seinem Schlagzeug arbeitete. Mutt war ein weißer Junge aus Calumet City, der Abend um Abend sein Letztes hergab in dem Bemühen, es Bid Sid Bob Catlett gleichzutun. So schlecht war er gar nicht, wenn man bedachte, daß er erst neunzehn war und nicht viel größer als seine Baßtrommel. Farrell zog sein Jackett aus und nahm das Schulterholster ab, hängte beides über die Rückenlehne seines Stuhls und kippte nach rückwärts, so daß er sich an die Mauer lehnen konnte. Er zündete sich eine Zigarette an. Der Tisch stand gut. Durch die Torbögen hatte er den Haupteingang und ein gutes Stück der Bar im Auge, außerdem Teile der übrigen Kellerräume und natürlich die Bühne. Gegen zehn vor zehn trotteten, miteinander lachend 115
und kichernd, die Musiker wieder herein. Farrell wußte, daß sie ihre Pause dazu ausgenutzt hatten, in der Toilette eine Marihuanazigarette herumzureichen. Art Pearson nahm seine Klarinette aus dem Kasten, baute sie zusammen und blies versuchsweise ein paar Takte. Der Lärm im Lokal senkte sich um einige Nuancen. Viele der Gäste, die hierherkamen, um zu trinken, waren persönliche Anhänger von ihm. Er stimmte an, und die Band legte sich mit Schwung in ein mitreißendes Arrangement von Shim-me-sha-wabble. Rusty Sampson, der einmal im Persimmon seine eigene Gruppe gehabt hatte, blies das Cornettsolo – eine glänzend erdachte Progression breiter, in weiten Bögen gefaßter Phrasierungen in der unteren Tonlage, die in rhythmischem Kontrast zu den schnellen, pulsierenden Figuren standen, die die Band setzte. Dann kamen die letzten Refrains, Blech rieb sich an Holz, und die Rhythmusgruppe peitschte den Beat zum erregenden Crescendo auf. Als Smokey ihren Auftritt hatte, war die Stimmung dem Siedepunkt nahe. Sie trug ein schwarzes, mit Pailletten übersätes Kleid, das aussah, als wäre es ihr auf den Leib gegossen. Weiße Straußenfedern umrahmten die dunkle Schönheit ihres Gesichts, und Goldstaub schimmerte auf ihren Augenlidern. Tänzelnd glitt sie den Laufsteg entlang und stand reglos, während die Lichter sich verdunkelten und die Menge still wurde. Die Band fiel in ein träges, schleppendes Tempo, Smokey schloß die Augen und begann zu singen. Trouble in mind, well I’m blue But I won’t be blue all-ways, Cause the sun’s gonna shine in To my back door some day … Honig, der über Kies floß – so hatte irgendein Nacht116
clubreporter ihre Stimme beschrieben; Farrell spürte noch immer, jedesmal wenn er sie singen hörte, den Schauder im Nacken. Und obwohl er fast jeden Abend hier war, überraschte es ihn stets von neuem, wenn am Ende von Trouble in mind, beinahe noch ehe der Applaus seinen Höhepunkt erreicht hatte, Pearsons Klarinette aufschrie und das ganze Orchester sich in einen halsbrecherischen Double Check Stomp stürzte. Noch ehe das Publikum Zeit hatte, wieder zu Atem zu kommen, hatte sich Smokey von der unnahbaren klagenden Statue in eine wild lodernde Flamme verwandelt. Der bodenlange, geschlitzte Rock fiel; Federn und glitzerndes Mieder verschwanden, um eine herzförmig ausgeschnittete Korsage zu enthüllen, die alles zeigte, was sie zu bieten hatte. In einem winzigen, gefransten Röckchen wurde sie zu einem sich rüttelnden und schüttelnden Wirbel an Bewegung, in dem stampfende Beine und fliegende Arme, zitternder Bauch und blitzende Zähne verschwammen. Die Nummer endete in einem langgezogenen Akkord, Smokey auf den Knien, die Arme hochgeworfen. Das Razzmatazz erzitterte in einer Explosion von Pfiffen, Zurufen und donnerndem Applaus. Einen Augenblick später spielte sie, den langen paillettenbesetzten Rock jetzt aufreizend um ihren Körper drapiert wie ein Cape, das Kätzchen – war sie die raffinierte Bluessängerin, mit züchtig gesenkten Augenlidern und verheißungsvollem Blick über eine bloße Schulter. I got mah sugar-daddy, his name is … Jim! He’s a real rough rider, but I’ll sure tame him! He’s gotta fan it; Yes, daddy’s gotta fan it! He gotta fan it an’ cool it, Honey till the cows come home …
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Tenorsaxophon und gestopfte Trompete heizten die Stimmung beim zweiten Refrain an. Beim dritten flogen – wie beabsichtigt – die ersten zotigen Kommentare aus dem Publikum zur Bühne. Ein Kellner beugte sich mit einem Zettel über Farrells Schulter. Er öffnete das gefaltete Papier, mußte sich anstrengen, im schummrigen Licht die gekritzelten Zeilen zu entziffern, schob dann mit einem Ausruf seinen Stuhl zurück und sprang auf. Er griff nach seinem Jackett und dem Holster – und erstarrte. Das Holster war leer. Jemand hatte ihm seine Luger gestohlen, während er sich Smokeys Auftritt angesehen hatte. Es konnte nur einer der Kellner gewesen sein – aber wie sollte er das beweisen? Und weshalb sollte jemand so etwas tun? Schußwaffen waren in Chicago zu Schleuderpreisen zu haben – kein Mensch hätte es für der Mühe wert gehalten, eine zu stehlen. Und in seiner Jackentasche steckte ein Geldbündel von mehr als tausend Dollar, das völlig unberührt war. Um ihn also zu entwaffnen? Das schien unwahrscheinlich: Wie die meisten Gangster trug er im Hosenbund eine zweite Waffe. Er steckte die kleine Automatic, die er bei dem Überfall bei Peabody benutzt hatte, in das Holster und schnallte es um. Im Moment gab es wichtigere Probleme. Er fuhr in seine Jacke, legte zwei Geldscheine neben sein Glas und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch zur Bar. Smokey machte eine anzügliche Bemerkung, als er durch den Torbogen ging, und von den Gästen in der Nähe der Bühne kam Gelächter. Mit herrischer Kopfbewegung gab er Boscoe, Flash und den anderen ein Zeichen, und sie eilten hinter ihm her die Treppe hinauf. „Was ist los, Boss?“ brummte Boscoe, als sie auf der Straße standen. Die Nacht war kalt und trocken, und über dem neondurchglühten Dunst der Stadt glitzerten die Sterne. 118
„Eine Information“, antwortete Farrell kurz. „Pescarolos Bande hat anscheinend vor, die Versammlung in Des Plaines zu sprengen. Wir müssen da hin, und zwar pronto !“ Senator Sweeney und Deneen hielten an diesem Abend draußen in der Vorstadt eine Wahlkundgebung ab. Aber, da Des Plaines 18 Meilen vom Loop entfernt war – und da das Gebiet fest in der Hand von Roger Tuohy war, der pro Deneen und anti Capone war –, hatte man es nicht für notwendig gehalten, Farrell und seine Truppe mitzunehmen. „Scheiße!“ schimpfte Flash Butcher. „Mir reicht die Kälte hier schon. Das Nest ist noch weiter nördlich, verdammt noch mal!“ „Hör auf zu quengeln, Flash“, fuhr Farrell ihn an. „Wir werden dafür bezahlt, daß wir eine bestimmte Arbeit tun, also tun wir die Arbeit auch. Für zweitausend die Woche kann man sich ein paar Frostbeulen schon leisten. Schieß dir einen doppelten im Auto, wenn’s dich wurmt.“ Die beiden Männer aus Cleveland sagten nichts. Solange die Kohlen stimmten, taten sie, was man ihnen sagte. Chappie Guglieri brauchte genau 24 Minuten für die Fahrt. Die Versammlung fand in einem Kino statt. Farrell und seine Leute sprangen aus dem Wagen und rannten ins zugige Foyer. Drei Leute vom Bezirksausschuß, in dicke Mäntel und Schals vermummt, standen füßestampfend unter einem Plakat, das die baldige Vorstellung von Desert Desire mit Norma Talmadge und Charles Farrell ankündigte. „Was gibt’s?“ bellte Farrell. Einer der Männer zog die Brauen hoch. „Nichts Besonderes. Wir haben fast volles Haus. Die Reden kommen gut an. Warum fragen Sie?“ „Sie hatte keine – Scherereien?“ 119
„Aber nein. Tuohys Leute hätten das sowieso erledigt. Jedenfalls hat mir der Senator das gesagt.“ „Mir auch“, erwiderte Farrell grimmig. „Aber wir haben einen Tip bekommen. Vielleicht ist es besser, wenn wir uns mal umsehen. Haben Sie was dagegen, wenn wir reingehen?“ „Bitte. Aber keiner von den Leuten da drinnen schaut mir aus wie ein Unruhestifter.“ Farrell schickte Boscoe mit einem der Männer aus Cleveland los, die Ausgänge zu überprüfen, während er mit Butcher und dem anderen Burschen in den Saal eilte. Applaus empfing sie, als sie die staubige Samtportieren am Ende der Treppe teilten. Alle Lichter brannten. Mehrere hundert Männer und Frauen saßen auf den Klappsitzen, deren Plüschbezug schon fadenscheinig geworden war, und blickten angespannt auf die Redner vor der leeren Leinwand. Sweeney stand am Pult, das Konzept seiner Rede in einer manikürten Hand. „Man hat mich einen Visionär genannt“, verkündete er. „Wenn man damit jemanden meint, der am Ende des Tunnels Licht sehen kann, dann bekenne ich mich schuldig. Aber, in Gottes Namen, die Vision, die mir von der Zukunft dieser Stadt vorschwebt, ist schlicht …“ Farrells Blick flog forschend über die Menschenmenge. Niemand machte Zwischenrufe; niemand rührte sich. Ein Dutzend bulliger Ordnungsleute mit Rosetten in den Knopflöchern lehnte mit verschränkten Armen an den Wänden. Er schüttelte den Kopf. „Das versteh ich nicht“, murmelte er. „Was ist denn?“ fragte Butcher. „Paßt es dir nicht, daß wir niemanden verprügeln können?“ „Ich weiß nicht. Irgendwas stinkt da. Aber ich weiß nicht, woher der Gestank kommt – noch nicht. Ich würde sagen, jetzt, wo wir mal hier sind, bleiben wir am besten.“ Doch es geschah nichts, was den Ablauf der Ver120
sammlung gestört hätte. Reden wurden gehalten und beklatscht. Fragen wurden gestellt und beantwortet. Eine Anzahl von Resolutionen wurden vorgeschlagen und durch Handaufheben angenommen. Neuerlicher Applaus. Als alles vorbei war, gab es im Foyer ein großes Händeschütteln und Schulterklopfen, ehe die Menge sich zerstreute. Farrell ging zu Sweeney und berichtete ihm. „Vielleicht fahre ich besser mit Ihnen nach Hause, nur für den Fall“, meinte er. „Mein lieber Junge! Aber selbstverständlich – obwohl ich nicht erwarte, daß man mich unterwegs – äh – entführen wird. Es tut mir wirklich leid, daß Sie die Fahrt umsonst gemacht haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer Sie da so auf den Leim geführt hat – oder warum. Sie müssen auf jeden Fall noch einen Schluck bei mir trinken, um Ihren inneren Menschen aufzuwärmen.“ Nachdem der Duesenburg des Senators in die Remise gefahren worden war, wurde der Gestank so stark, daß er nicht mehr zu ignorieren war. Als sie die Terrasse überquerten, knirschten Glasscherben unter ihren Füßen. Eine Scheibe der Terrassentür, die ins Billardzimmer führte, war eingeschlagen worden, und die Tür war offen. „Mein Gott!“ rief der Senator. „Gloria!“ Er rannte durch das Zimmer ins Vestibül. Vom Fuß der Treppe kamen merkwürdige, gedämpfte Wimmerlaute. Zwei Frauen in gestärkten Schürzen waren Rücken an Rücken an den Treppenpfosten gefesselt. Aus tränennassen Augen starrten sie verschreckt über die Pflasterstreifen hinweg, mit denen man ihnen den Mund verklebt hatte. Ein Stück hinter ihnen lag reglos ein schwarzer Boy auf dem Marmorboden. Im riesigen Salon brannten alle Lichter. Unter dem gemeißelten Kaminsims glühte ein Feuer. Davor lag zwi121
schen verstreuten Schallplatten und Pralinen, die aus einer Konfektschachtel herausgefallen waren, ein umgekippter Sessel. Aber erst als Farrell den Zettel sah, der an einer leeren Whiskyflasche auf der Bartheke lehnte, wurde Farrell mit Bestürzung und Schrecken klar, weshalb man ihn und seine Leute nach Des Plaines hinausgelockt hatte. Auf dem Zettel stand in großen Blockbuchstaben: Sweeney – wenn Sie Ihre Tochter Marcia lebend wiedersehen wollen, halten Sie sich ’raus aus der Politik. Ziehen Sie Ihre Kandidatur zurück, und legen Sie Ihr Wahlmandat nieder, sonst stirbt das Mädchen. Wenn Sie sich danach richten, halten wir sie bis zum Wahltag fest, dann bekommen Sie sie zurück. Wenn Sie stur sind, bekommen Sie von der Post jeden Tag ein Päckchen zum Beweis, daß es uns ernst ist – erst die Titten, dann die Ohren und ein paar Finger. Sie haben 24 Stunden Zeit, sich zu entschließen. Wenn wir bis spätestens morgen mitternacht nichts davon gehört haben, daß Sie Ihr Mandat niedergelegt haben, dann wetzen wir die Messer. Der Brief war nicht unterzeichnet. Farrell sah den Senator an. Sein rosiges Gesicht war sehr bleich geworden, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. „Mein Gott“, sagte er zittrig, „sie – Marcia ist mit den De Beers in Vermont. Sie haben das falsche Mädchen gekidnappt: Die Schweine haben meine kleine Gloria mitgenommen.“ Farrell seufzte. Ob man nun Marcia oder Gloria entführt hatte, er mußte sie befreien, ehe Sweeney klein beigab.
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2 Nahezu eine halbe Million kleiner Leute verloren ihre gesamten Ersparnisse, als Insulls Finanzimperium zusammenbrach. Yerkes nahm ihnen ihr Geld auf andere Weise ab: Er baute sich ein Monopol auf und ließ die Leute mehr zahlen, als notwendig war. Typen dieses Schlags waren es, die in Wirklichkeit die Fäden in der Hand hielten, an denen die Schieber im Rathaus tanzten. Ich sage Ihnen, in der Unterwelt ging es nicht halb so erbarmungslos zu wie bei den Nahkämpfen im Dschungel der La Salle Street. Sie könnten sich das besser vorstellen, wenn Sie wüßten, wie knallhart es damals in der Unterwelt zugeben konnte! Sie fanden das Wiesel in einer schmierigen Imbißstube nicht weit von den Union Stockyards. Er saß allein und kaute ein Pastrami-Sandwich. Seine Oberlippe hob und senkte sich bei jedem Biß über seinen Nagetierzähnen. Eine Tasse Kaffee stand auf dem Wachstuch zwischen Ketchupflecken und verklebten Resten von Pommes frites. Die Imbißstube lag in einem Gebiet, das zum Abbruch bestimmt war – ein dreistöckiges Gebäude an der Kreuzung zweier mit Kopfstein gepflasterter Straßen, in denen noch Pfützen schmutzigen Wassers standen, obwohl es seit zwei Tagen nicht mehr geregnet hatte. Rundherum waren nur leerstehende Lagerhäuser, die verbreiterten Fenster von Mietskasernen und unkrautüberwucherte Bauplätze, mit Wellblech eingezäunt. Die meisten Kunden waren Deutsche oder Polen; Arbeitslose aus den Schlachthöfen, Eisenbahner, die gerade dienstfrei hatten, und Arbeiter, die von der Wohlfahrt lebten. Rauhe Burschen waren das, die schnell zuschlugen, aber mit den Gangstern vom Loop legten sie sich nicht an. Keiner sagte ein Wort, als Farrell mit Boscoe und Flash Butcher hereinkam und das Wiesel hinausschleppte. 123
Es wußte sowieso niemand viel über das Wiesel. Niemand wußte, wie lange er schon in Chicago war oder wo er vorher gelebt hatte; niemanden interessierte es, ob er Frau oder Kinder hatte oder überhaupt ein Zuhause. Angefangen hatte er seine Laufbahn als Taschendieb. Aber jetzt war er in erster Linie Kurier, Kontaktmann, Kundschafter, eine Art Mittelsmann, der jeder Bande in Cook County bekannt war, aber zu keiner gehörte. Sie bedienten sich seiner, um Versammlungen einzuberufen, um die Spur solcher Leute ausfindig zu machen, die bei den Banden auf der Abschußliste standen, um Nachrichten zu befördern – sie setzten ihn immer da ein, wo sie selbst nicht in Erscheinung treten wollten. Er arbeitete für das Syndikat und für die North Side, für Spike O’Donnell und die West Side O’Donnells, für die Saltis und Druggan und sogar für Roger Tuohy und zollte keinem von ihnen Loyalität, und sie wußten es. Abgesehen jedoch von all diesen Aktivitäten betätigte sich das Wiesel als Polizeispitzel. Die Gangster wußten auch das. Die Tatsache, daß er noch lebte, war daher wie das Wiesel selbst ein Paradoxon. Wenn er nicht schon vor Jahren umgebracht worden war, so entweder deshalb, weil es den Bandenbossen gelegen kam, eine Leitung zu haben, über die man der Polizei irreführende Informationen zukommen lassen konnte, oder einfach, weil er nicht wichtig genug war, um ausgeschaltet zu werden. Farrell, Boscoe und Butcher spähten durch die beschlagenen Fenster der Imbißstube und gingen dann hinein. Es roch nach feuchten Spültüchern und billigem Kochfett. Sie traten schnurstracks zum Tisch des Wiesels und bauten sich vor dem schmächtigen Mann auf. Sie trugen Regenmäntel und Filzhüte, und ihre Gesichter waren düster. „Okay, Wiesel – aufstehen“, sagte Farrell ruhig. „Du fährst mit uns.“ 124
Der Spitzel blickte auf. „Mensch, nicht mal in Frieden essen kann man!“ sagte er kauend. „Was ist überhaupt los? Du hast gar nichts gegen mich, Faroli.“ „Genau das möcht ich rauskriegen“, entgegnete Farrell. „Los, Jungs, nehmt ihn mit.“ Butcher und Boscoe hoben das Wiesel bei den Armen von seinem Stuhl hoch. Er protestierte halbherzig und riß seine Mütze von einem Wandhaken, als sie ihn zur Tür schleppten. Die Männer an den benachbarten Tischen starrten angelegentlich auf ihre Teller. Farrell ging zur Theke und fragte den schwitzenden Jungen in Hemdsärmeln: „Was schuldet er Ihnen?“ „Ach Mensch –“ Der Junge war nervös. „Er kann zahlen, wenn er das nächste Mal kommt, Mister.“ „Ein nächstes Mal gibt es vielleicht nicht“, sagte Farrell so laut, daß das Wiesel es hören mußte. Er zog einen Zehn-Dollar-Schein heraus und legte ihn auf die Theke. Doch selbst da hatte das Wiesel noch keine Angst. Er war nur wütend über die Störung beim Essen. Vielleicht war er schon so oft gerade noch davongekommen, daß er meinte, über seinem Leben läge ein schützender Zauber. Er saß zwischen Boscoe und Flash im Fond des Pontiac, den Guglieri früh am Morgen gestohlen hatte, und schimpfte vor sich hin, während sie durch das gottverlassene Viertel nach Südwesten fuhren. Farrell lehnte es ab, seine Fragen zu beantworten, und keiner der anderen sprach auch nur ein Wort. Sie passierten ein Stahlwerk, eine Konservenfabrik und ein chemisches Werk, über dessen Türmen und Gerüsten und Rohrnetzen der Gestank nach Schwefel wie ein Leichentuch hing. Schließlich steuerte Guglieri den Wagen durch das offene Tor eines Kohlenlagers und fuhr weiter durch eine öde Wildnis brachliegenden Landes oberhalb einer Bahnanlage. Es war eine Landschaft von Schuttabladeplätzen und Müllhaufen, von untauglich gewordenen Eisschränken und den verrosteten Ka125
rosserien ausgeschlachteter Autos. Vor einer Holzhütte, die mit Teerdachpappe gedeckt war, hielten sie an, und Farrell stieg aus. Der Wind pfiff durch das Unkraut zu seinen Füßen. Etwas entfernt spien die Türme eines Eisenwerks Flammen in den Himmel. „Das tut’s!“ rief Farrell gegen den Wind. „Bringt ihn hier ’rein.“ Er öffnete die Tür der Hütte und ging hinein. Zum erstenmal zeigte das Gesicht des Wiesels echte Unruhe. Seine unsteten Augen huschten hin und her, als sie ihn durch die Tür stießen, musterten die fensterlosen Wände, den hartgetretenen Boden, die Rollen neuen Stricks auf einem eingedrückten Ölkanister. „Was, zum Teufel, soll das?“ winselte er. „Ihr Kerle habt kein Recht –“ „Schnauze!“ fuhr Farrell ihn an. Dann wieder zu Butcher: „Das geht prima, Flash. Bei dem Krach von dem Eisenwerk und von den Lokomotiven da unten auf den Bahngleisen kann man Schreie überhaupt nicht hören.“ „Herrgott noch mal!“ schrie das Wiesel jetzt wirklich voller Angst. „Was wollt ihr von mir? Was? Wenn’s um den Mord an Diamond Joe geht, damit hab ich nichts zu tun gehabt, das schwör ich. Das waren Kerle von außerhalb. Ich weiß nicht, wer sie waren. Ich sollte ihn auskundschaften, aber das hab ich nicht getan. Ich war zwar mit denen im Bella Napoli, aber die sind dann nach Little Italy abgehauen. Ich hab nicht –“ Er brach plötzlich laut aufheulend ab, als Boscoe ihn von hinten unter die Arme nahm und vom Boden aufhob. Flash Butcher schwang den rechten Arm und boxte ihn zweimal in den Bauch. In einem schmerzgequälten Stöhnen drang der Atem des Wiesels aus seinen Lungen. Er würgte und zitterte in Boscoes Umklammerung. Boscoe ließ ihn los, so daß er zu Boden fiel. Noch während das Wiesel auf gummiweichen Beinen hin und her schwankte, knallte ihm Farrell einen linken Haken ans Kinn, und er ging zu Boden. 126
Er kauerte an der Wand, angstglühende Augen in einem maskenbleichen Gesicht, einen Arm erhoben, um weitere Schläge abzuwehren. Seine Mütze war ihm vom Kopf gefallen und lag neben seinem Knie. „Diamond Joe interessiert mich nicht“, erklärte Farrell. „Ich interessiere mich für dich – und deshalb geben wir dir jetzt eine kleine Lektion. Eine Lektion in Rechtschreibung.“ Das Wiesel starrte ihn verständnislos an. Er leckte sich die Lippen. „Zum Anfang etwas Einfaches: Wie schreibt man das Wort ‚anfangen‘?“ fragte Farrell. „Los schon, wie schreibt man das Wort?“ „Das ist doch kein Geheimnis“, versetzte das Wiesel mürrisch. „A-n-n-f-a-“ „Du widerliche kleine Ratte!“ schrie Farrell. Er beugte sich herunter und packte das Wiesel beim Revers, zog ihn auf die Füße und schlug ihn immer wieder ins Gesicht. „Ich hab einmal – einen Zettel von dir – bekommen – als ich für – Capone arbeitete. Da hast du es genauso geschrieben. Und so – stand’s auf dem Zettel – mit dem ich gestern abend – nach Des Plaines gelockt worden bin – als Sweeneys Tochter entführt wurde!“ „Ja doch, ja, schon gut!“ schrie das Wiesel. Er blutete aus der Nase, und seine Augen huschten wild von links nach rechts. „Mir hat einer fünf Dollar dafür gegeben, daß ich den Zettel schreibe und dir ins Razzmatazz bringen lasse. Warum hast du nicht gleich gesagt, daß es dir darum geht? Deswegen brauchst du mich doch nicht in Grund und Boden zu schlagen.“ „Wer hat dich den Brief schreiben lassen?“ „Ich weiß nicht. Ich hab den Kerl nie vorher gesehen, ehrlich.“ Farrell ließ das Revers des Wiesels los und trat zurück und nickte Boscoe und Flash zu. „Nein!“ schrie das Wiesel schrill. „Bitte –!“ 127
Draußen, vor der Hütte, holte Farrell tief Atem und blickte hinauf zum Himmel. Im Osten, in Richtung der Stadt und des Sees, ballten sich wieder Wolken zusammen. Es schien wieder eine feuchte Nacht werden zu wollen. Er versuchte die Geräusche, die aus der Hütte kamen, nicht zu hören. Es war ihm verhaßt, sich an den Brutalitäten beteiligen zu müssen. Aber das Wiesel war der einzige, der ihn zu den Leuten führen konnte, die Gloria Sweeney gekidnappt hatten. Er mußte das Mädchen finden und zurückholen, ehe der Senator das Handtuch warf und damit Deneen alle Chancen bei der Wahl nahm. Er hatte nur ein paar Stunden Zeit dazu. Das Wiesel mußte wissen, wer die Kidnapper waren – und man konnte diese Information nur aus ihm herausprügeln. Er kehrte in die Hütte zurück. Boscoe und Flash standen vor einem zitternden, wimmernden Bündel, das in der Mitte des Raums auf dem Boden lag. Flash schwang seinen Fuß und trat zu. Ein tiefes Stöhnen fuhr aus dem Bündel hervor. Farrell schob seine Schuhspitze unter den Körper und wälzte das Wiesel auf den Rücken. „Wer war der Mann?“ fragte er. „Wer hat dir aufgetragen, den Zettel zu schreiben? Wer hat Sweeneys Tochter entführt? Wo wird sie festgehalten?“ Die einzige Antwort, die er bekam, war ein Kopfschütteln. Das Wiesel hatte offenbar vor seinen Auftraggebern mehr Angst als vor Farrell – bis jetzt jedenfalls. „Okay“, sagte Farrell kurz. „Hängt ihn auf.“ Boscoe und Flash gingen zu dem Ölkanister und nahmen sich jeder ein Stück Strick. Das eine Ende legten sie dem Wiesel um die Handgelenke, das andere Ende warfen sie über einen Dachbalken und zogen. Als Farrell zufrieden war, knüpften sie die losen Enden fest. Mit gespreizten Armen hing das Wiesel unter dem Dach, die Füße nur ein kleines Stück über dem Boden. 128
Farrell unterdrückte sein Mitleid, während er auf die schmächtige, gekreuzigte Gestalt blickte. Wie viele Christen wurden in Chicago jeden Tag zu Märtyrern gemacht? Der Mund des Wiesels stand offen. Zwei Blutrinnsale aus seiner Nase waren über seiner Oberlippe und auf dem Kinn geronnen. Seine schäbigen Kleider waren zerrissen und verschmutzt. Beide Augen waren verschwollen, an einer Wange hatte er eine Platzwunde. „Wir werden dir einen Gefallen tun, Wiesel“, erklärte Farrell. „Wir geben dir Bedenkzeit. Vielleicht werden dir nach einer Weile die Antworten auf die Fragen einfallen, die wir dir gestellt haben. Morgen früh kommen wir wieder. Oder vielleicht auch erst übermorgen, wenn wir anderes zu tun haben.“ Schlaff wackelte der Kopf von einer Seite auf die andere. „O Gott“, ächzte das Wiesel. „Die Schmerzen in meinen – heilige Mutter Maria, meine Arme!“ „He, Boß!“ sagte Boscoe. „Sollen wir ihn knebeln?“ Farrell schüttelte den Kopf. „Der kann sich die Lunge aus dem Leib brüllen“, erwiderte er. „Hier hört ihn keiner.“ Sie gingen nach draußen und sperrten die Tür ab. Farrell schlug die Wagentür zu, ohne einzusteigen, und Guglieri fuhr ein Stück weg und schaltete dann den Motor aus. Flash Butcher hatte hinter einer Gruppe dürrer Büsche ein Stelldichein mit einer Spritze. Farrell und Boscoe schlichen zur Hütte zurück und lauschten. Eine Weile war es still. Dann kam verzweifeltes Rufen, gemischt mit Schmerzensschreien, mit Schreien der Angst und des Entsetzens. Wieder Schweigen – wieder Schreie – ein monotones, fiebriges Lallen durchsetzt von Stöhnen. Als sie im Innern der Hütte trockenes, würgendes Schluchzen hörten, winkte Farrell Guglieri, und der Pontiac drehte um und fuhr wieder zu ihnen hin. 129
Sehr bald danach sagte das Wiesel Farrell alles, was er wissen wollte. Marty Pescarolo war ein harter Mann. Selbst jene, die ihm am nächsten standen, hatten Angst vor seinen Wutanfällen. Er konnte jeden von ihnen sowieso mit bloßen Fäusten niederschlagen, aber die größte Gefahr war seine Impulsivität: Er brachte es fertig, einen Mann umlegen zu lassen, wenn der zu einer Verabredung zu spät gekommen war oder eine Krawatte trug, die Pescarolo nicht gefiel. Einmal hatte er einen Milchmann niedergeschossen, weil dieser gegen einen Räuber ausgesagt hatte, den Marty nicht einmal kannte – aber Marty hatte eben was gegen Singvögel. Aus dem Schnapshandel hielt die Pescarolo-Bande sich heraus. Im Schutzgebührengeschäft waren sie ganz dick drin, sie stießen sich an Wettbetrügereien, an einer Kette von Fünfzig-Dollar-Bordellen und Erpressungen gesund. Und weil sie am Schnapsgeschäft nicht interessiert waren, wurden sie von der North Sider und der Mafia geduldet. Capone ließ ihnen manchmal einen Auftrag zukommen, wenn er der Meinung war, sie könnten ihn besser erledigen als seine eigenen Leute. Die Entführung von Gloria Sweeney zum Beispiel. Das – und der andere Plan, der damit Hand in Hand ging – war genau ihre Masche. Marty hatte allerdings die Zwischenphase des Unternehmens in fremde Hände gelegt: Seine Leute hatten zuviel damit zu tun, Wähler unter Druck zu setzen und Deneens Anhänger mit Bombenanschlägen kirre zu machen, um ihre Zeit damit zu vergeuden, bei einem siebzehnjährigen verwöhnten Gör mit einem Hang zur Nymphomanie Wache zu schieben. Gus Hannlicher, der Mann, dem der Fehler unterlaufen war, die falsche Tochter zu entführen, lag bereits, beschwert mit einem zementgefüllten Ölkanister, auf dem Grund des Michigansees. Und wenn130
schon, dachte Pescarolo; sein Problem war das nicht. Die eine Tochter war dem Senator wahrscheinlich so teuer wie die andere. Er stand unter der Tür der Hütte, wo das Mädchen festgehalten wurde – ein dicker, stämmiger Mann mit vorspringendem Kinn und schmalen Augen. Auf seinem Kopf saß eine braune Melone, und er trug einen Tweedanzug im Fischgrätmuster mit zweireihig geknöpfter Weste. Marty Pescarolo sah sich gern als Dandy. „Okay, Leute“, sagte er mit seiner täuschend weichen Stimme. „Ich gehe jetzt; ich hab Geschäfte in der Stadt. Paßt auf die Dame auf. Ich melde mich später.“ „Sie geben uns vor Mitternacht Bescheid, Mr. Pescarolo?“ fragte einer der angeheuerten Ganoven. „Ich meine, ob Sweeney spurt?“ Pescarolo nickte. „Ich würd’s ihm raten“, sagte er. „Sollen wir’s wirklich tun?“ fragte ein anderer Mann. „Wenn er bis Mitternacht nicht niedergelegt hat, schneiden wir ihr wirklich –“ „Keine Sorge, Lefty“, unterbrach der Bandenboß. „Ich melde mich. Ihr könnt schon die Messer wetzen, wenn ihr wollt; aber wenn’s wirklich so weit kommen sollte, übernehme ich das persönlich.“ Seine schmalen Lippen öffneten sich in einem frostigen Lächeln „Aber ich hab das Gefühl, das wird nicht nötig werden.“ Er nickte wieder und ging hinaus. Einige Minuten später hörten sie das Knattern des Auspuffs von seinem Pierce-Arrow, als er die Rückfahrt in die Stadt antrat. Lefty Rabinowitz war ein großer, grobknochiger Mann mit hohen Wangenknochen und einer schmalen Stirn. Sein Jackett spannte über dem mächtigen Brustkasten. Die Ärmel waren zu kurz, bedeckten nicht die Handgelenke, auf denen schwarzes Haar wucherte. Kurz nachdem Pescarolo gegangen war, nahm er eine Taschenlampe und machte einen Rundgang um die Hütte, um 131
sich zu vergewissern, daß alle Läden geschlossen waren. Als er wieder hereinkam, hatten Max und Bernie ihre Jacketts und Schulterholster über die Rückenlehne ihrer Stühle gehängt und angefangen, Poker zu spielen. „Kartenspielen könnt ihr“, sagte Lefty, „aber hängt euch um Gottes willen die Schießeisen wieder um. Wollt ihr vielleicht, daß Marty euch so sieht? Wir arbeiten jetzt für eine große Bande und müssen uns danach richten.“ „Okay, okay“, erwiderte Max verdrießlich. „Müssen wir auch die Prohibitionsgesetze beachten – oder kann ich mal einen heben? Ich mein, es wär mir unheimlich peinlich, wenn Mr. Pescarolo merkt, daß ich eine Fahne hab.“ Lefty grinste. Er sperrte einen Aktenkoffer auf, nahm eine Flasche Rye-Whisky heraus und stellte sie auf den Tisch. „Trinkt ruhig“, sagte er. Die Klinke an der Tür, die in den Raum führte, wo das Mädchen gefangen war, klapperte wie wild. „Herrgott noch mal!“ schimpfte Lefty. Er ging durch das kahle Zimmer und trommelte auf die Tür. „Halt dich gefälligst ruhig da drinnen!“ schrie er. „Sonst sorgen wir dafür, daß du Ruhe gibst.“ Das Rütteln ging weiter. Lefty fluchte. Er sperrte die Tür auf und riß sie auf. Gloria Sweeney stand ihm gegenüber, eine Locke blonden Haares über einem Auge. Sie war barfuß, und die beiden obersten Knöpfe ihrer Hemdbluse waren geöffnet. Aus irgendeinem Grund schien sie den Büstenhalter ausgezogen zu haben; er konnte sehen, wie ihre Brust sich unter dem dünnen, bedruckten Stoff frei bewegte, als sie eine Hand hob, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Es war doch nicht möglich, daß sie …? Aber nein, das war ja verrückt! „Warum kann ich mich nicht zu euch setzen?“ fragte das Mädchen bittend. „Ich fühl mich so einsam da drin, und ich –“ 132
„Los, mach, daß du wieder reinkommst!“ knirschte Lefty. „Aber ich möcht mich unterhalten! Ich möcht was trinken!“ Sie spielte wieder das kleine Mädchen. „Ich lauf nicht weg, ehrlich nicht. Ich versuch’s nicht mal. Wir könnten sogar Spaß miteinander haben, während wir warten.“ Sie blickte an ihm vorbei und sah die Karten auf dem Tisch. Sie kicherte. „Wir könnten StripPoker spielen, wenn ihr wollt.“ Er schob sie vor sich her in das dunkle Zimmer hinein und stieß sie auf das Bett, das einzige Möbelstück im ganzen Raum. „Halt endlich die Klappe!“ fuhr er sie an. Sie blieb auf der Matratze liegen und blickte zu ihm auf. Im Schein des Lichtstrahls, der durch die halbgeöffnete Tür auf das Bett fiel, konnte er weiße Haut schimmern sehen. „Warum müßt ihr so brutal sein?“ wimmerte sie. „Was kann ich euch denn –“ „Halt die Schnauze!“ drohend erhob er die geöffnete Hand. „Gut – komm, schlag mich! Schlag mich doch!“ rief das Mädchen. „Bitte!“ Lefty ließ den Arm sinken. Er trat einen Schritt zurück. „Bitte?“ wiederholte er verständnislos. „Ich kann doch gegen euch drei nichts ausrichten“, keuchte Gloria. „Ihr könnt mich vergewaltigen, einer nach dem andern, und ich könnte überhaupt nichts dagegen tun. Ihr brauchtet mich nicht mal zu fesseln.“ Ihre Pupillen waren geweitet, und das Weiße ihrer Augen glänzte. „O Gott!“ stöhnte sie. „Tu es jetzt …“ Lefty schoß wie der Blitz in das andere Zimmer zurück und sperrte die Tür zu. „Heiliger Bimbam!“ rief er. „So was Verrücktes hab ich noch nie erlebt!“ Im Polizeirevier in der Hanson Street roch es nach Schweiß und Desinfektionsmitteln und kaltem Zigarren133
rauch. Im Sommer roch es manchmal auch nach Fußschweiß. Daß das bei Kälte nicht so war, war so ziemlich das einzige, was man dem Winter in Chicago zugute halten konnte, dachte Lieutenant Mulligan, als er die Treppe zum Dienstraum hinaufstieg. An die Wand des Korridors, der zum Zellentrakt führte, hatte irgendein Verdächtiger, der auf sein Verhör wartete, seine Meinung über die Polizei von Chicago aufgeschrieben. ‚Jetzt spielen die Kinder in der Stadt schon Gendarm und Gendarm‘, verkündeten die sauber geschriebenen Druckbuchstaben. Mulligans Gesicht verfinsterte sich. Abrupt blieb er stehen und fuhr herum. „Hertz!“ rief er scharf. Ein Beamter in Zivil, der gerade einen Stapel von Berichten las, schwang die Beine vom Schreibtisch und stand auf. „Sir?“ „Lassen Sie den Hausmeister mit einem Eimer und einer Bürste raufkommen. Er soll den Blödsinn da von der Wand wischen“, befahl Mulligan zornig. „Sie haben wohl gar keinen Stolz – oder ärgert Sie das nicht, das Gespött der ganzen Stadt zu sein?“ Er stakte davon und knallte die Tür seines Büros zu, ehe Hertz etwas erwidern konnte. Innerhalb des Reviers hatten an diesem Tag bereits drei Bombenanschläge, ein Straßenraub, ein Überfall auf eine Tankstelle, zwei Einbrüche und ein Fall von Fahrerflucht, bei dem es ein Todesopfer gegeben hatte, stattgefunden. Bald würden die Säufer und betrunkenen Autofahrer hereingebracht werden, und es lag noch ein Haufen Papierkram da, der erledigt werden mußte. Seufzend wickelte er einen Kaugummi aus dem Silberpapier und setzte sich an seinen Schreibtisch. Es war schon dunkel, als einer der Beamten das Wiesel ins Zimmer führte. „Eine Information, die ausschließlich für Ihr amtliches Ohr bestimmt ist“, meldete der Mann sarkastisch. Er ging hinaus und schloß die Tür. 134
„Du lieber Gott! Was ist Ihnen denn passiert?“ rief Mulligan. „Sie sehen ja aus, als wären Sie gerade aus einem Zug gefallen.“ Im grellen Licht der grüngeschirmten Schreibtischlampe leuchteten jene Teile des Gesichts seines Gegenübers, die nicht von Schwellungen und Platzwunden verfärbt waren, kreidebleich. Das Wiesel humpelte zu einem Stuhl und ließ sich vorsichtig darauf nieder. „Die Dreckskerle haben mir meine ganzen Kleider zerfetzt“, sagte er. „Meine Mütze ist zerrissen. Und die Jacke ist auch nicht mehr zu flicken.“ „Aber was ist denn passiert, Mann? Wer war das? Heiliges Kanonenrohr! Was ist denn mit ihren Handgelenken los, Wiesel?“ fragte Mulligan bestürzt. Der Spitzel zog die zerschlissenen Manschetten tiefer, um die aufgeriebenen Stellen zu verbergen. „Sie haben doch von der Sweeney-Entführung gehört?“ fragte er ausweichend. „Und ob ich davon gehört habe! Glauben Sie vielleicht, ich weiß nicht, warum mein Dienstraum da draußen gähnend leer ist?“ schnaubte Mulligan. Er wußte außerdem, daß keiner der Beamten, die in die Ermittlungen eingeschaltet worden waren, auch nur mit dem geringsten Hinweis zurückkommen würde, da ja sein Captain von Thompson bezahlt wurde. Aber das sagte er dem Wiesel nicht. „Da hat Faroli die Finger drin.“ „Faroli? Aber ich dachte, der arbeitet für Sweeney?“ „Wär ganz gerissen oder nicht – wenn er vorhätte, den Burschen aufs Kreuz zu legen und die Kleine für jemand anderen zu entführen“, höhnte das Wiesel. Mulligan beugte sich vor. „Was wissen Sie über die Entführung?“ fragte er. „Ich weiß, wo das Mädchen sitzt.“ „Okay, ich glaub’s.“ Der Lieutenant schob einen Klumpen Kaugummi von einer Backentasche in die andere. Es 135
hatte keinen Sinn, das Wiesel zu drängen: Das, was er sagen wollte, würde er sagen, wenn es ihm paßte, und es war sinnlos, zu versuchen, mehr aus ihm herauszubekommen. „Unten in Argonne ist eine Hütte, am Rand von dem Wald bei Stony Creek. Es ist ein altes Forsthaus – gehört zu einem riesigen Besitz, der Westwood heißt. Capone hatte damals so eine Art Erholungsheim für seine Jungs. Zum Beispiel, wenn der Boden zu heiß wurde.“ „Westwood? Aber ist das nicht … Da hat Capone doch den Schnaps aus Kanada eingeflogen, nicht wahr? Faroli war da auch mit von der Partie.“ Das Wiesel zuckte die Achseln, verzog das Gesicht und setzte sich anders. „Keine Ahnung. Jetzt ist da jedenfalls nichts mehr los. Außer in der Hütte, wo das Mädchen festgehalten wird. Wenn Sie sie lebend rausholen wollen, dann fahren Sie hin, ehe es zu spät ist.“ Mulligan schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich kann nur hoffen, daß das stimmt, Wiesel“, sagte er grimmig. Die Augen des Wiesels glitzerten boshaft. „Und ich kann nur hoffen, daß Sie dieses Schwein, diesen Faroli, und die Dreckskerle, die mit ihm zusammenarbeiten, schnappen“, versetzte er haßerfüllt. „Die haben Sie wohl so verprügelt?“ fragte Mulligan. Das Wiesel leckte sich die aufgesprungenen Lippen. „Ich hab Ihnen gesagt, was Sie wissen wollten“, entgegnete er. „Also fahren Sie schon los, und holen Sie sich einen Orden, Lieutenant.“ Mulligan zog einen Fünfzig-Dollar-Schein aus seiner Tasche. „Marschieren Sie schleunigst in eine Apotheke, und lassen Sie sich Ihr Gesicht verarzten, Wiesel“, sagte er. Dann drehte er sich um und eilte aus dem Zimmer, um einen Streifenwagen zu rufen. Kahle, dichtstehende Bäume verbargen die Hütte vor der Straße. Dahinter dehnte sich der Wald nach Südwes136
ten. Auf der anderen Seite der Straße fiel das Gelände zu zwei parallel gespannten Ketten von Lichtern ab, die die Landstraße am Calumet Sag Channel markierten. Weiter weg wetteiferte das Lichtermeer der Stadt mit dem Blitzen der Sterne, die jetzt zwischen aufgerissenen Wolken zu sehen waren. Es wehte kaum ein Lüftchen, und die Luft war feucht. Farrell saß neben Chappie Guglieri in dem gestohlenen Pierce-Arrow. „Es muß ein Pierce-Arrow sein“, hatte er dem Italiener gesagt. „Wenn sie den Motor hören, dann glauben Sie vielleicht, es wäre Pescarolo, der zurückgekommen ist.“ Flash und Boscoe saßen in dem Packard hinter ihnen. Die beiden Männer aus Cleveland hatten den Pontiac genommen und waren zu Sweeneys Villa hinausgefahren, um dort Wache zu halten. „Wartet hier“, befahl Farrell. „Ich seh mal nach, was hier läuft.“ Er stieg aus dem Wagen und verschwand in der Dunkelheit. Es war sehr still am Rand des Waldes. Eine Eule schrie. Kahle Äste knackten über ihnen in einem plötzlichen Windstoß. Fünfzehn Minuten später kam Farrell zurück. „Scheint in Ordnung zu sein“, sagte er leise. „Draußen stehen keine Wachen, aber drinnen sind welche. Durch die Laden kann man Licht sehen.“ Er ging zum Packard und kehrte mit Boscoe und Flash zurück. Sie kauerten sich auf den Trittbrettern nieder, als Guglieri den Motor anließ, in den kleinen Gang schaltete und mit laut brummendem Motor den Trampelpfad zur Hütte hinunterfuhr. Der Pierce-Arrow hielt mit einem letzten Aufheulen vor der Tür der Hütte an. Die drei Gangster verschmolzen in der Dunkelheit zu beiden Seiten des Gebäudes. Farrell knallte die Wagentür zu und marschierte kühn zur Veranda. Er trug eine Tompson-Maschinenpistole. Er klopfte an die Tür. „Wer ist da?“ rief eine Stimme von drinnen. „Pescarolo.“ 137
„Das ist nicht das richtige Klopfzeichen.“ „Wie wär’s damit?“ konterte Farrell. Die Tompson krachte. Dünne Lichtblitze durchbohrten die Dunkelheit, als die Fünfundvierziger-Kugeln die Türfüllung durchschlugen. Er sprang zur Seite, als von drinnen eine Kontersalve knatterte. Chappie, Boscoe und Flash schossen gleichzeitig auf die Schlösser der Laden auf beiden Seiten der Hütte. Farrell trat die zersplitterte Tür auf und gab auf Verdacht noch eine Ladung ab. Glas splitterte links und rechts. Revolver und Automatics krachten wieder. Flash und die anderen hatten die Fenster eingeschlagen und belegten die Verteidiger mit Feuer. „Okay, okay! Wir geben auf!“ schrie eine vor Panik schrille Stimme aus der Hütte. „Werft eure Schießeisen zur Tür heraus“, befahl Farrell. Mit dumpfem Aufprall schlugen die drei Waffen auf die gedielte Veranda. Den Finger am Abzug der Tompson, trat Farrell ein. Zwei Männer standen mit weißen Gesichtern und erhobenen Armen an der Rückwand. Ein dritter kauerte neben einem umgekippten Tisch auf dem Boden, umgeben von Spielkarten und den Scherben einer zersprungenen Flasche. Blut war auf dem Ärmel seiner Jacke und quoll zwischen den Fingern der Hand hervor, die die rechte Schulter umklammert hielt. „Wir wollen mit euch nichts zu schaffen haben“, sagte der größere der stehenden Gangster nervös. „Wir haben mit der Entführung nichts zu tun. Wir sind nur dafür bezahlt worden, die Puppe zu bewachen.“ „Wo ist sie?“ „Da drin. Ihr ist nichts passiert, das kann ich beschwören.“ Farrell wies mit dem Kopf zur Verbindungstür. Boscoe ging hinüber und drehte den Schlüssel im Schloß. Er öffnete die Tür. Gloria Sweeney kam ins Zimmer, die vom Licht geblendeten Augen zusammengekniffen. 138
„Meine Güte, das war aber aufregend!“ sagte sie. „Genau wie im Kino!“ „Sehen Sie!“ bemerkte der Große mit Nachdruck. „Wir sind nur die Aushilfskräfte. An Heldentaten haben wir kein Interesse.“ „Wenn nur Pescarolo nicht jeden Moment zurückkommt“, fügte sein Komplice bedrückt hinzu. „Schon gut“, sagte Farrell. „Kein Grund, sich gleich in die Hose zu machen. Euch Strolche lassen wir wahrscheinlich frei. Aber das Mädchen fährt mit uns.“ „Sie haben keine Ahnung, wie recht mir das ist, Mann“, versetzte der Große. „Es ist nicht recht, daß ein junges Mädchen aus ordentlicher Familie solche Flausen im Kopf hat.“ „Es ist nicht recht, daß ein junges Mädchen aus ordentlicher Familie von ein paar lumpigen Revolverhelden entführt wird“, sagte Boscoe anklagend. „Warum legen wir die Kerle nicht um, Boß? Die haben’s doch nicht anders verdient.“ „Sie sind Opfer des Systems“, erwiderte Farrell. „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ „Wie bitte?“ „Das ist ein Zitat aus einem neuen Stück, das gerade in Berlin in Deutschland aufgeführt worden ist“, erklärte Farrell. „Die Dreigroschenoper. Von einem Burschen namens Brecht.“ „Ach ja?“ „Ich finde, wir sollten sie kaltmachen“, warf Flash Butcher ein. „Dann weiß Pescarolo nicht, wer die Puppe mitgenommen hat.“ „Da hat er recht“, stimmte Guglieri zu. „Es ist nicht gerade lustig, den guten Marty auf dem Hals zu haben.“ Auf der Stirn des kleineren Mannes glänzte Schweiß. „Wenn ihr glaubt, daß wir nach der Geschichte hier Pescarolo noch unter die Augen kommen können“, sagte er, „dann kennt ihr Pescarolo nicht.“ 139
„Ich sage, wir lassen sie frei“, wiederholte Farrell. „Pescarolo ist nicht dumm. Er wird natürlich sofort wissen, wer das Mädchen rausgeholt hat.“ Er wandte sich den beiden Gangstern zu. „Also los, ihr Kerle, haut ab. Nehmt euren Kumpel mit – und ich würd mich an eurer Stelle in den nächsten Tagen nicht in der Stadt blicken lassen. Boscoe, Flash, bringt die Galgenvögel von hier weg. Chappie, du fährst in die Stadt zurück, wenn sie fertig sind. Ich bring inzwischen die Kleine hier heim zu Daddy. Wir sehen uns dann später im Razzmatazz. In Ordnung?“ „Wie du meinst“, antwortete Flash Butcher widerwillig. „Okay, Herrschaften, ab durch die Mitte.“ Die beiden Gangster halfen ihrem verletzten Komplicen auf die Beine und stolperten, von Farrells Leuten getrieben, in die Nacht hinaus. Etwas später hörte man, wie der Packard in Richtung zur Stadt davonfuhr. „Dieser Pescarolo!“ sagte Gloria Sweeney bewundernd. „Der ist wirklich erbarmungslos!“ „Sie müssen’s ja wissen“, entgegnete Farrell. „Kommen Sie, Baby. Heim ins Bettchen.“ Er schaltete die Lichter in der Hütte aus, schloß die zerschmetterte Tür und brachte sie zu dem Pierce-Arrow hinaus. Er bog gerade von einem Trampelpfad auf die Landstraße ab, als ein schwarzer Tourenwagen, der aus der Richtung der Stadt kam, mit kreischenden Bremsen anhielt, sich auf dem Asphalt querstellte und ihm den Weg versperrte. Der blendende Lichtstrahl eines starken Scheinwerfers flammte auf der einen Seite der Windschutzscheibe auf, schwenkte herum und durchflutete das Innere des Pierce-Arrow mit grellem Licht. „Das wär’s, Faroli“, schnarrte Mulligans Stimme durch einen Lautsprecher, „werfen Sie Ihre Waffe weg, und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.“
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3 Ich möchte vermeiden, daß Sie eine falsche Vorstellung bekommen. Heutzutage scheinen die Leute das Chicago jener Zeit als ein Schlachtfeld zu sehen, auf dem die Guten gegen die Bösen kämpften – der ehrliche Bürger und seine Frau auf der einen Seite; die Polizeibeamten, die Gangster und die Stadtverwaltung auf der andern. Aber so war es ganz und gar nicht, ganz gleich, wie es in den Zeitungen oder bei den Wahlversammlungen dargestellt wurde. Es war chic, von „meinem Schnapslieferanten“ zu reden, so wie man von seinem Metzger oder seinem Schneider spricht. Die Politiker boten einem einen Cocktail an, während sie darüber debattierten, wie man die Stadt von den Leuten säubern sollte, die den dazu nötigen Alkohol lieferten. In der Stadt lebten eine Million europäische Immigranten, und nicht einen davon konnte man überzeugen, daß es unrecht war, sich einen zu genehmigen. Capone sagte einmal: „Solange das Zeug in einem Faß auf einem meiner Lastwagen liegt, ist es ein Verbrechen; aber sobald es in eine Karaffe wandert, ist es Gastfreundschaft’.“ Er hatte gar nicht so unrecht. Der Pierce-Arrow war schon im zweiten Gang. Am Straßenrand war ein schmaler Grasstreifen, danach eine Böschung, die mit Büschen bepflanzt war. Farrell drückte dem Mädchen die Hand ins Genick, stieß sie gewaltsam zu Boden, während er aufs Gaspedal trat. Der Wagen schoß über die Straße und raste auf den Grünstreifen. Er riß am Steuer, während er gleichzeitig den Motor auf Hochtouren brachte. Als der Fahrer des Streifenwagens sah, daß er versuchte, die Absperrung zu durchbrechen, legte er den Rückwärtsgang ein und gab Gas, um ihm den Weg abzuschneiden. Mulligans durch das Megaphon verstärkte Stimme ging unter im Kreischen des Getriebes. Gefährlich geneigt an der abschüssigen Böschung, 141
zischte der Pierce-Arrow am sich rasch nähernden Heck des Polizeifahrzeuges vorbei. Metall klirrte und knirschte, und der Wagen sprang seitlich weg, als der hintere Kotflügel den dunklen Tourenwagen streifte. Dann waren sie vorbei, holperten und rutschten über den weichen Boden. Grelle orangefarbene Blitze zuckten durch die Nacht, als die Polizeibeamten das Feuer eröffneten. Kugeln bohrten sich in die Karosserie. Farrell steuerte den Wagen auf die Fahrbahn zurück und trat das Gaspedal durch. Gloria Sweeney kroch wieder auf ihren Sitz und warf das Haar zurück. „Besonders gute Schützen sind sie nicht“, stellte sie mit Verachtung fest. „Sie haben nicht einmal das Rückfenster oder die Windschutzscheibe getroffen.“ „Sie haben’s auch gar nicht versucht. Sie hatten Angst, sie könnten Sie treffen.“ Farrell warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Streifenwagen wendete, um die Verfolgung aufzunehmen. „In solchen Fällen zielen sie nur auf die Reifen und den Benzintank.“ Er grinste. „Ein Glück, daß wir diese breiten Kotflügel haben – und der Tank ist bei diesem Wagen vorn.“ „Warum flüchten Sie vor der Polizei?“ fragte das Mädchen. „Wenn Sie mich für meinen Vater da rausgeholt haben, dann hätten Sie mich ihnen doch einfach ausliefern können. Da wären Sie mich schneller wieder losgeworden.“ Die Lichter von Scheinwerfern lagen jetzt blendend auf dem Rückspiegel. Farrell zog den Pierce-Arrow um eine scharfe Kurve, korrigierte mit einem leichten Zug am Steuerrad, als die Reifen protestierend quietschten. „Erstens“, erklärte er, „traue ich ihnen nicht über den Weg. Ich ziehe es vor, Sie persönlich abzuliefern. Dann weiß ich wenigstens, daß Sie ankommen. Zweitens hab ich Geschäfte zu erledigen: Ich hab nicht die Zeit, mich die ganze Nacht auf einem Polizeirevier rumzutreiben und Fragen zu beantworten. Drittens, ich bin der einzi142
ge, den man seit Ihrer Entführung in Ihrer Gesellschaft gesehn hat. So wie die kombinieren, würden die mich doch für die Entführung festnehmen.“ „Aber ich weiß doch, daß das nicht richtig ist. Außerdem arbeiten Sie für meinen Vater.“ „Ja. Und der größte Teil der Polizei arbeitet für Thompson.“ „Aber wenn es doch nicht wahr ist?“ „ ‚Was ist Wahrheit?‘ fragte scherzend Pilatus.“ Farrell schaltete herunter. Das Mädchen wurde gegen ihn geworfen, als der Wagen durch eine S-Kurve schlitterte. Die Lichter im Rückspiegel waren kleiner geworden, als sie die Gerade hinter den Kurven gewannen. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Fahren Sie immer so?“ fragte sie. „Nur wenn ich stockbesoffen bin und voll mit Heroin“, antwortete Farrell. Mit fünfundachtzig rasten sie die Straße am Sag Channel entlang; die Lichter der Verfolger waren nur noch Stecknadelköpfe im Spiegel. Dann erreichten sie den dichten Verkehr in den Außenbezirken der Stadt, und das Durchkommen wurde schwierig. Es hatte angefangen zu regnen. Die Fahrbahn war glitschig, die Straßenbahnschienen wie Bananenschalen unter den Füßen eines dicken Menschen. Mehrmals rutschte der Roadster mit blockierten Rädern quer über die Straße, als Farrell heftig bremste, um eine Katastrophe zu vermeiden. Einmal, als sie einer Frau auswichen, die die Straße überquerte, nahmen sie den Bordstein mit und drehten sich einmal um ihre eigene Achse. Das Polizeifahrzeug war jetzt näher. Farrell konnte das Dröhnen der Gongs hören. „Wo wohnt Mr. Pescarolo!“ fragte Gloria Sweeney. „In einem Mülleimer, vermute ich“, antwortete Farrell. Sie hob den Kopf von seiner Schulter. „Seien Sie doch nicht so.“ 143
Er überfuhr ein rotes Licht und raste mit Vollgas über die Kreuzung. Als das Quietschen der Bremsen und das Quäken der Hupen hinter ihnen verklungen war, sagte er: „Ich bin nicht so; ich bin anders. Und Sie sollten froh sein darüber, Baby.“ Sie machte einen Schmollmund und hüllte sich in Schweigen. Als sie sich der Stadtmitte näherten, wurde die Fahrt ein Alptraum aus grellen Lichtern, die ihnen zusammen mit langen Bändern bunten Neonlichts, das sich in der nassen Schwärze der Straße spiegelte, entgegenwirbelte. „Mr. Pescarolo hat gesagt, er könnte einen Star aus mir machen“, bemerkte Gloria. „Das glaub ich gern“, erwiderte Farrell. „Die Frage ist nur, in was für einem Film?“ Sie rasten jetzt neben der Reihe Träger entlang, auf denen die Hochbahn ratterte. Das Polizeifahrzeug war jetzt ziemlich dicht hinter ihnen. Über ihnen glitt eine lange Lichtkette langsam zurück in die Dunkelheit, als sie einen Zug überholten. „Wir müssen’s riskieren“, sagte Farrell. „Da vorn ist ein Bahnhof. Wir müssen oben sein und im Zug, ehe die Schnüffler anhalten können. In der Kiste hier schnappen sie uns doch, wenn der Verkehr noch dichter wird.“ Der erste Wagen des Zugs fuhr in den Bahnhof ein, als der Pierce-Arrow quietschend zum Stehen kam. Sie schafften es gerade noch, ehe die Türen sich schlossen. Mulligan und seine Leute blieben mit wedelnden Armen auf der Treppe zurück. An der East 22nd Street stiegen sie aus und gingen die zwei Straßen zum Hotel Metropol zu Fuß und nahmen dort ein Taxi zur McManus Avenue. Unten in Sweeneys Villa war alles dunkel, aber oben im Turm brannte das Licht im Arbeitszimmer. „Was soll denn das?“ fragte Farrell. „Spart Ihr alter Herr Strom? Oder hat er einfach was gegen Yerkes?“ 144
Das Mädchen kicherte. „Die Angestellten schlafen über der Remise“, erklärte sie. „Es ist schon spät, wissen Sie. Außerdem liegt ein Türschlüssel auf einem Sims an der Veranda.“ In der Auffahrt passierten sie den Pontiac, den Guglieri den Männern aus Cleveland überlassen hatte. „Sie halten sich wahrscheinlich hier im Park versteckt“, bemerkte Farrell. „Mann, ich kann jetzt wirklich einen Drink gebrauchen. Machen Sie mir einen Whisky Soda, Schätzchen, ja? Ich lauf nur schnell ’rauf und überbring Daddy die freudige Nachricht.“ Er ließ das Mädchen im Salon zurück und stieg die vier Stockwerke in den Turm hinauf. Sweeney saß an seinem Schreibtisch. Er trug einen Smoking in Rot und Weiß mit einem roten Hemd. Sein Gesicht war noch tiefer gerötet als sonst – es kam von dem Blut, das aus der Wunde in seiner Schläfe geflossen war, ehe er gestorben war. „Oh, mein Gott!“ sagte Farrell leise. Er streckte den Arm aus und berührte die unversehrte Seite der Stirn des Senators. Sie war noch warm. Er trat zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Jenseits der Zedern funkelten die Lichter am See. Vieles, was ihm rätselhaft gewesen war, schien plötzlich einfach zu sein. Jetzt wußte er, warum man ihm im Razzmatazz seine Luger gestohlen hatte: Niemand brauchte ihm zu sagen, daß sich der Revolver als die Mordwaffe erweisen würde. Man würde ihn irgendwo draußen im Gelände finden, versteckt – aber nicht allzu gut versteckt –, als hätte der Mörder sie weggeworfen, als er Hals über Kopf geflohen war. Ein Mörder namens Faroli. Es war nachweisbar, daß die Waffe ihm gehörte. Er hatte sie ganz legal gekauft; er hatte einen Waffenschein für sie – er hatte sogar Mulligan damit geärgert, ihn mit Sticheleien herausgefordert, die Nummer der Waffe zu über145
prüfen. Jetzt wußte er, warum es so trügerisch einfach – allzu einfach – gewesen war, das Mädchen aus dem Versteck der Kidnapper zu retten; man hatte gewollt, daß er den Ort des Verstecks aus dem Wiesel herausprügelte; man hatte gewollt, daß er die drittklassigen, gedungenen Revolverhelden aufs Kreuz legte, die man zu ihrer Bewachung zurückgelassen hatte. Damit er von jenem einen Zeugen, dessen Wort niemand bezweifeln konnte, mit dem Entführungsopfer gesehen werden würde: dem ehrlichen Polizeibeamten, der ihn wirklich für schuldig hielt – der im richtigen Moment die Information bekommen hatte, um rechtzeitig bei der Hütte einzutreffen. Farrell wanderte in dem Turmzimmer auf und ab und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Man hatte ihn zum Sündenbock gekürt – und er war dumm genug gewesen, in die Falle hineinzutappen. Es war leicht zu sehen, wie die Sache sich darstellte: Von Sweeney angeheuert, bei seinen Wahlversammlungen für Ordnung zu sorgen, hatte er insgeheim für die andere Partei gearbeitet. Er hatte die Entführung arrangiert, und dann, als der Senator sich geweigert hatte, auf den Handel einzugehen, hatte er ihn getötet. Warum hatte er das Mädchen zurückgebracht? Vielleicht, weil der Senator gesagt hatte, er würde sein Mandat niederlegen – und dann, als seine Tochter zurück war, sein Wort nicht eingelöst hatte. Das war Motiv genug, seine Rückkehr mit Gloria und den Mord zu erklären. Aber wer, zum Teufel, brauchte schon ein Motiv, wenn sich nachweisen läßt, daß er bei der Entführung die Hände im Spiel gehabt hatte, daß die Mordwaffe sein Eigentum war – und wenn er zur fraglichen Zeit am richtigen Ort gewesen war? Sweeney mußte erst wenige Minuten, bevor er das Haus betreten hatte, erschossen worden sein. Sehr sauber war das gemacht. Anstatt sich mit Farrells Leuten bei den Versammlungen herumzuschlagen, hatten Sweeneys Feinde beschlossen, sich des Senators 146
und seines Helfers mit einem Schlag zu entledigen. Man brachte Sweeney um und schob den Mord seinem Mann in die Schuhe. Daß die Polizei das fressen würde, darauf konnte man sich verlassen: Wenn sie einen Mörder an die Staatsanwaltschaft auslieferte, der angeblich für die Partei Thompsons gearbeitet hatte, dann konnten sie behaupten, daß jegliche Beschuldigung der Wahlbegünstigung unbegründet war. Konnte Farrell damit rechnen, daß jemand seine eigene Aussage bestätigen und die Wahrheit sagen würde? Boscoe und die anderen würden niemals in den Zeugenstand treten und ihm ein Alibi geben. Und welche Geschworenenbank würde ihnen glauben, wenn sie es taten? Die angeheuerten Leute aus Cleveland waren wahrscheinlich umgebracht worden. Das Mädchen dann? Würde irgendein Gericht einem flatterhaften, mannstollen jungen Ding glauben – gegen die unter Eid gemachte Aussage eines Mannes wie Mulligan? In einem Fall, wo sowieso alle Indizien gegen Farrell sprachen? Sie konnte ihn vielleicht von der Anklage der Entführung freisprechen, aber was den Mord anging, so konnte er Sweeney in diesem Moment getötet haben, nachdem er ihr befohlen hatte, unten zu warten. Lieber Gott! Das Mädchen unten! Er mußte hier schleunigst weg. Aber erst mußte er Gloria sagen, daß ihr Vater tot war … Erst als Farrell – zum zweitenmal – einen Zettel sah, der an einer Flasche auf der Bar lehnte, wurde ihm klar, wie tief er in der Patsche saß. Auf dem Zettel stand: „Ein Sweeney stirbt. Ein Star wird geboren. Tut mir leid. – G.“ Er wußte natürlich, was die Worte bedeuteten. Die kleine Gloria kroch unter den väterlichen Fittichen hervor, um sich mit Hilfe von Pescarolo selbst einen Namen zu machen. Er hatte wahrscheinlich irgendwo im Haus auf sie gewartet. Aber im Zusammenhang mit dem Mord … Mein Gott! Seine einzige Zeugin war weg – und ohne sich dessen 147
bewußt zu sein, hatte sie sich in ihrer eigenen Handschrift mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht! Während Farrell noch dastand und blind auf den Zettel in seiner Hand starrte, hörte er, wie der Motor des Pontiac aufheulte. Er drehte sich um und rannte zur Tür. Eine Gestalt in einem klatschnassen Regenmantel versperrte ihm den Weg. Dahinter blinkten im Verandalicht die Pistolen in den Händen von drei uniformierten Polizisten. „So, Faroli. Den Zettel nehm ich an mich, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte Lieutenant Mulligan.
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TEIL 4 Jason Mettner
1 In der Stadt wimmelte es von Rowdies, Betrügern und allen Arten von Herumtreibern. Von allen Seiten werden wir belagert, von Banden, von Schurken, die vor nichts zurückschrecken … An jeder Straßenecke stößt man mit einem Mörder zusammen, doch die Vertreter des Gesetzes scheinen unfähig, die Übeltäter vor Gericht zu bringen. Chicago Journal, August 1860 Die Stadt unterliegt einer Schreckensherrschaft. Keine Stadt hat in Friedenszeiten je einen so hohen Rang in der Kategorie von Verbrechen, Terror und mordverseuchter Städte eingenommen wie gegenwärtig Chicago. Chicago Tribune, April 1906 In den ersten 93 Tagen des Jahres explodierten in der Spaghetti-Zone 55 Bomben. Nicht eine der 55 war, soweit sich feststellen läßt, aus anderem Grund gelegt worden als der Erpressung von Geldern … Nie verlangt die schmutzige Hand weniger als 1 000 Dollar. Gut informierte Italiener haben den jährlichen Tribut an die Schwarze Hand nie auf weniger als eine halbe Million Dollar geschätzt. Chicago Daily News, Mai 1913 Michaelson rief mich an seinen Schreibtisch. „Mettner, wir bringen die Sweeney-Story ganz groß ’raus. Entfüh149
rung, Erpressung, Mord, neuerliches Verschwinden des Entführungsopfers – da ist wirklich alles dran. Haben Sie Lust, die Hanson Street ’runterzufahren und sich da direkt umzuhören? Sie kennen doch den Mörder, nicht wahr?“ „Den Verdächtigen“, verbesserte ich. „Ja, wir sind uns ein paarmal begegnet.“ Unter seinem Augenschirm hervor spähte er zu mir auf. „Verdächtiger? Wenn er Minuten nach dem Mord am Tatort gefaßt wurde? Wenn die ballistischen Untersuchungen zeigen, daß die tödliche Kugel aus seinem Revolver abgegeben wurde – und ebenso die Kugeln, mit denen die beiden Wächter umgelegt wurden, die man draußen im Nebengebäude fand? Wenn er kurz vor Eintreffen der Polizei die Waffe zum Fenster hinaus ins Gebüsch geworfen hat? Ich brauche Reporter an dieser Zeitung, nicht sentimentale Romantiker.“ „Der Schein kann trügen“, sagte ich. „Wer würde Ihnen ansehen, daß unter diesem eisenharten Redakteurpanzer ein goldenes Herz schlägt?“ Zornig funkelte er mich an. „Soll das vielleicht witzig sein?“ „Nur eine Demonstration herkömmlicher Ermittlungstechnik“, entgegnete ich. „Daß man jede Frage von zwei Seiten betrachten sollte.“ Ich riß ein Streichholz an und hielt es ihm an seine Zigarre. Michaelson verschluckte sich am Rauch. „Ich möchte – ein Profil von Faroli – Ihre Spalte – neben dem eigentlichen Bericht“, stieß er hustend hervor. „Bin schon unterwegs“, sagte ich. Ich machte mich davon, ehe ihm eine Ader platzte. Ein anderer Redakteur hätte mich vielleicht auf eine Innenseite zurückversetzt. 150
Die Straßen lagen ausnahmsweise einmal im Sonnenschein. Die Leute gingen mit offenen Mänteln, und die Bäume im Grant Park schimmerten grün. Faroli, dachte ich, als ich mich im Taxi zurücklehnte und mir eine Zigarette anzündete, saß wirklich tief in der Patsche. Anklage wegen vorsätzlichen Mordes, verbunden mit dem Vorwurf des Menschenraubs. Dazu die Ermordung zweier unbekannter Verbrecher aus Cleveland: Da sollte sich mal einer rausreden! Mulligan rief mich in sein Büro, sobald ich ankam. Er sah immer aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Gewöhnlich traf das auch zu. An diesem Tag sah sein Anzug noch schlimmer aus. Aber Howies Nußknackergesicht strahlte in reinster Freude. Er war frisch rasiert; sein Haar war über die kahle Stelle an seinem Hinterkopf gekämmt; er hatte sogar zum Rasierwasser gegriffen, der Hauch eines herben Duftes ging von ihm aus. Howie war glückselig, weil er Faroli endlich in der Zange hatte. Ich persönlich glaube nicht, daß hier ein banales Rachesyndrom vorlag; ich glaube nicht, daß er triumphierte, weil Faroli ihn so oft lächerlich gemacht hatte, und der Spieß jetzt umgedreht war, ich kenne Howie, seit wir zusammen zur Schule gingen, und ich halte ihn wirklich nicht für eine solche Krämerseele. Ich glaube, er fühlte sich gut, weil er endlich wußte, woran er war: Dies eine Mal trat er gegen Faroli im Rahmen eines Kampfes an, den er verstand. Er hatte den Mann nie verstanden, hatte nie begriffen, warum ein Mensch seiner Intelligenz sich zum Verbrecher herablassen sollte – ich übrigens auch nicht –, und aus diesem Grund war er nur deshalb gegen Faroli gewesen, weil dieser in keine gängige Kategorie paßte. Wenn er aber ein Entführer war und ein Mörder, den die Indizien überführten, dann paßte er jetzt: Ausnahmsweise einmal spielten die beiden nach den gleichen Regeln – und Howie war auf der Siegerstraße. 151
Ich setzte mich vor seinen Schreibtisch, und Punkt für Punkt ging er mit mir das Beweismaterial durch. Es sah tatsächlich düster aus für Faroli, dachte ich, während ich mir meine Notizen machte. Alles sprach gegen ihn. Jeder Hinweis deutete auf ihn und keinen andern. Er war allem Anschein nach in flagranti am Tatort ertappt worden. Die einzige Zeugin, die ihm ein Alibi hätte geben können, war verschwunden. Entweder – dem Zettel zufolge, den Mulligan Faroli abgenommen hatte – war sie auf irgendeine Weise ins Verbrechen verwickelt, oder aber sie war ebenfalls getötet worden. Um die Sache noch schlimmer zu machen, hatte Faroli keinen einflußreichen Rechtsanwalt, keine Verbindungen in der Stadtverwaltung, die ihn herauspauken konnten. Der einzige Mann, der ihm hätte Schutz geben können, war tot. Und selbst wenn das Material nicht völlig schlüssig gewesen wäre, würde Mulligans Chef, Captain O’Mara, dafür sorgen, daß er zum Tode verurteilt wurde – um den Gangstern gefällig zu sein, die Faroli aus dem Weg haben wollten, und als Gegengewicht zu der Zahl wirklich schuldiger Killer, die er ungeschoren davonkommen ließ, weil es die Leute, die ihn schmierten, von ihm verlangten. Ich sage „wirklich schuldig“, weil ich selbst da schon meine Zweifel an Farolis Schuld hatte. Ich konnte ihn nicht in der Rolle des heimtückischen Mörders sehen. Das ganze Beweispäckchen war mir zu sauber verschnürt. Mulligan war mit seiner Rekapitulation gerade fertig, als sich die Tür öffnete und O’Mara selbst eintrat. Er war ein massiger, aalglatter Mann mit sandfarbenen Brauen und krausem rotem Haar, das sich dick pomadisiert um seinen runden Schädel schmiegte. O’Mara roch teuer. Er trug einen Anzug aus Shantungseide, darunter ein seidenes Hemd mit Monogramm und eine Krawatte von Saks. Der Brillant in seiner Krawattennadel hatte die Größe 152
einer Eichel, kleinere Saphire blitzten an seinen Manschettenknöpfen und auf der Schnalle seines Gürtels. Ein New-Yorker Polizei-Captain, der Korruption in seinem Revier argwöhnte, befahl einmal allen Beamten, die für ihn arbeiteten, sich zu setzen und ihre Hände auf den Tisch zu legen. „Schön“, sagte er nach einer kleinen Pause. „Jeder Scheißkerl, der einen Brillantring trägt, ist gefeuert!“ O’Mara hätten sie da nicht mal durch die Tür gelassen. Noch etwas muß ich Ihnen über Captain Terence O’Mara berichten: Er und Mulligan haßten einander wie die Pest. Sie waren beide irischer Abstammung, verstehen Sie, aber O’Mara kam aus einer katholischen Familie im Süden, und Mulligans Vater war ein nonkonformistischer Geistlicher im Norden gewesen. Bei der Osterrebellion 1916 und während der Unruhen im Jahre 1921 hatten sie auf verschiedenen Seiten gestanden. Jetzt führten die Söhne – wenn einer die beruflichen Manöver des andern blockierte – die Schlacht auf amerikanischem Boden weiter. Manchmal, wenn ich Howie auf den Arm nehmen wollte, erklärte ich ihm, er wäre nur deshalb ein unbestechlicher Polizeibeamter geblieben, weil O’Mara korrupt war. Wo sie gingen und standen, befehdeten sich die beiden, und das schlimmste für Faroli war meiner Ansicht nach, daß sie sich in diesem Fall ausnahmsweise einmal einig waren: Sie waren beide von seiner Schuld überzeugt. „Nun“, sagte O’Mara, „was gibt es Neues über den Vogel, der uns in den Käfig geflattert ist? Hat er sich entschlossen zu singen?“ Mulligan schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Er beharrt weiterhin darauf, auf nicht schuldig zu plädieren.“ Es widerstrebte Howie im Tiefsten, O’Mara mit „Sir“ zu titulieren, aber ich vermute, er hielt es für lohnend, wenn er ausnahmsweise aktive Unterstützung bei seinem Bemühen bekam, einen Verbrecher hinter Gitter zu bringen. 153
„Dann öffnen wir einmal den Käfig“, meinte O’Mara, „und sehen, ob wir ihn nicht zum Singen bringen können.“ Faroli wurde aus dem Zellentrakt geholt und nahm gegenüber von Mulligans Schreibtisch Platz. Er war blaß und unrasiert, und zum erstenmal, seit ich ihn kannte, machte er keinen Versuch, zu widersprechen oder seine Gegner zu hänseln. Er wußte wahrscheinlich, wie prekär seine Lage war. Die mit Handschellen gefesselten Hände im Schoß, saß er da, während die beiden Polizeibeamten mit Routine ihre Nummer abzogen. O’Mara: „Warum haben Sie Sweeney getötet?“ Mulligan: „Wer hat Sie dafür bezahlt, ihn umzulegen?“ „Warum haben Sie das Mädchen zurückgebracht? Wo ist sie jetzt?“ „Wer hat die Hütte überfallen und Sie gezwungen, mit Gloria abzuhauen?“ „Ich hab’s Ihnen vorher schon mal gesagt“, sagte Faroli. „Ich habe die Hütte überfallen. Ich wollte nicht abhauen mit der Kleinen; ich habe sie befreit.“ „Na klar“, höhnte Mulligan. „Und Sie haben sich von ihr die Erlaubnis geben lassen, ihren Papa kaltzumachen.“ „Wenn Sie sie befreit haben“, konterte O’Mara, „warum haben Sie sie dann nicht dem Lieutenant ausgeliefert, als er ankam?“ Faroli preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts. „Wo war das Mädchen, als Sie ihren Vater umbrachten?“ fragte Mulligan. „Wann haben Sie die beiden Wächter umgelegt?“ schrie O’Mara ihn an. „Ich sag Ihnen doch, ich hab nicht –“ „Wer waren die Kerle, die Sie in der Hütte überfallen haben?“ „Wer hat die Entführung mit Ihnen geplant?“ 154
„Wer hat Sie bezahlt?“ „Wer hatte mit Ihnen zusammengearbeitet?“ „Warum haben Sie ihn getötet?“ „Wo ist das Mädchen jetzt? Haben Sie sie auch umgebracht?“ „Warum haben Sie auf meine Anrufe nicht angehalten?“ „Warum bekennen Sie sich nicht schuldig und erleichtern sich die ganze Sache?“ Faroli sagte: „Hören Sie mal zu – ich habe für Sweeney gearbeitet. Das wissen sie doch, Lieutenant. Seine Tochter wurde entführt, um ihn zu zwingen, aus der Wahl auszuscheiden. Ich habe sie gefunden und zurückgebracht. Daraufhin haben sie ihn umgebracht und mir die Sache in die Schuhe geschoben.“ „Und all die Beweisstücke haben sie in der Zeit präpariert, die sie brauchten, um von Argonne in die McManus Avenue zu kommen?“ fragte Mulligan ungläubig. „Legen Sie eine andere Platte auf.“ „Es war alles vorausgeplant. Vor drei Tagen haben sie mir meinen Revolver gestohlen.“ „Warum haben Sie das nicht gemeldet?“ Faroli öffnete den Mund, um eine spöttische Bemerkung loszulassen, dann überlegte er es sich anders. Er sagte nichts. O’Mara änderte seine Taktik. „Den Spuren zufolge, die wir in dieser Hütte gefunden haben“, erklärte er ruhiger, „kam es da zu einer Schießerei, in die mindestens sieben Leute verwickelt waren. Sie werden von mir doch nicht verlangen, zu glauben, daß Sie auf eigene Faust, ohne Hilfe, mit sechs Revolverhelden fertig geworden sind und das Mädchen befreit haben! Ich frage Sie also nochmals: Wer gehörte zu Ihnen, und wer waren die Burschen, die Sie überfallen haben?“ „Sie bringen die Tatsachen durcheinander. Ich hab Ihnen doch gesagt –“ 155
„Sie haben uns einen Haufen Lügen aufgetischt!“ brüllte Mulligan. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Wie können Sie so blöd sein, Mann, wo alle Indizien gegen Sie sprechen?“ „Die Indizien sind so überzeugend, weil es eine Verschwörung –“, begann Faroli. „Hören Sie endlich damit auf!“ fiel O’Mara ihm ins Wort. „Auf Grund dieser Indizien könnten Sie auf dem elektrischen Stuhl landen, mein Junge. Warum bekennen Sie sich nicht schuldig und versuchen es mit Totschlag?“ „Wir leben in einem freien Land, oder nicht?“ entgegnete Faroli. „Aus meiner Sicht nicht. Man muß für alles bezahlen, darum kommt man nicht herum. Sie haben sich in meinem Revier schon viel zu lange lästig gemacht, und ich kann das nicht mehr dulden. Ich habe es Ihnen früher schon einmal gesagt, Außenseiter haben hier keinen Platz. Diesmal sind Sie zu weit gegangen: Sie haben die Grenze überschritten, und ich werde dafür sorgen, daß Sie dafür bezahlen.“ „Daran ist nichts Neues“, gab Faroli mit einem Aufblitzen seines alten Kämpfergeistes zurück. „Soweit ich sehen kann, sorgen Sie dafür, daß jeder in der Stadt die Polizei bezahlt.“ O’Mara wurde tiefrot. Hart schlug er Faroli ins Gesicht, erst Vorhand, dann Rückhand. „Bringen Sie das Schwein wieder ’runter“, stieß er hervor. „Wir werden ja sehen, ob er vor dem Richter auch noch so eine dicke Lippe riskiert.“ Mulligan erlaubte es mir, Faroli in seiner Zelle zu interviewen. Ausnahmsweise einmal war er bereit, sich mit mir zu unterhalten. Er erzählte mir viel über sein früheres Leben – daß er vor dem Krieg auf einem Segelboot im Mittelmeer gelebt hatte, während des Krieges für die Engländer geflogen war und dann – das behauptet er je156
denfalls – für den amerikanischen Nachrichtendienst in Italien gearbeitet hatte. Aber als die Rede auf sein Leben als Gauner unter Gaunern kam, wurde er wieder verschlossen. Er berichtete von seinen Unternehmungen in Chicago – wie er für Sanguinetti gearbeitet hatte, wie er für Capone per Flugzeug Schnaps eingeschmuggelt hatte –, aber das alles wußte ich bereits; ich wollte wissen, was vorher gewesen war, aber darüber sprach er nicht. „Was haben Sie getan, ehe Sie nach Chicago kamen?“ fragte ich. Er zuckte die Achseln. „Ich wanderte wegen eines Einbruchs an der New-Yorker Diamantenbörse in den Knast. Und da bin ich ausgebrochen.“ Großartig. Auch das wußte ich bereits; es war alles im Archiv vom Globe nachzulesen. Ich klappte mein Notizbuch zu. „Ich komme morgen wieder“, sagte ich. „Übrigens – wie steht’s mit einem Anwalt? Sie werden einen guten brauchen; man wird aus Ihrer Sache einen Schauprozeß machen und sämtliche starken Geschütze gegen Sie auffahren lassen.“ Faroli lächelte. Es war kein Lächeln, das einem Scherz folgt. „Smokey hat’s überall versucht“, berichtete er. „Aber keiner von den einflußreichen Leuten will die Sache übernehmen. Es liegt auf der Hand, daß sie Anweisung haben, die Finger von der Sache zu lassen.“ „Aber haben Sie denn jemanden?“ „O ja“, antwortete er. „Ich habe jemanden. Ich habe Hofstetter.“ „Das ist gut“, erklärte ich so überzeugend, wie ich konnte. „Er ist ein guter Mann.“ Marshal Hofstetter war ein junger Anwalt, der gerade erst von der Universität gekommen war, ein Oststaatler, der noch nie einen größeren Fall bearbeitet hatte. Im Dschungel von Chicago würde er ein Lamm unter Löwen sein. Wenn er der Beste war, den Faroli kriegen konnte … 157
Ich stand auf. „Mettner“, sagte er. „Sie sind ein ehrlicher Mensch. Ich werde Sie nicht in Bedrängnis bringen und Sie fragen, ob Sie glauben könnten, daß ich unschuldig bin. Aber – könnten Sie glauben, daß all diese Indizien auf einer Verschwörung gegen mich beruhen?“ Ich klopfte zwei Zigaretten aus meiner Packung und reichte ihm eine. „Natürlich“, antwortete ich. „Das könnte ich glauben – auch wenn es Tausende nicht glauben werden.“ „Sagen Sie mir doch eines. Ihr Freund Mulligan – ist der wirklich vertrauenswürdig?“ „Mulligan ist ein absolut unbestechlicher und pflichtbewußter Polizeibeamter“, erwiderte ich. „Meiner Ansicht nach glaubt er wirklich, daß Sie Sweeney getötet haben, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen.“ „Das dachte ich mir. Mettner –?“ „Ja?“ Ich dachte, er würde noch etwas sagen. Regungen, die ich nicht deuten konnte, huschten über sein Gesicht. Er schien einen inneren Kampf mit sich selbst auszufechten. Dann zuckte er die Achseln. „Schon gut“, sagte er. „Sie wollten mich etwas fragen?“ Faroli schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nichts.“ Ich rief den Wärter und ging, zerbrach mir den Kopf darüber, was, zum Teufel, das wohl war, was er mir beinahe anvertraut hätte. Ich hatte den Eindruck, daß es ziemlich wichtig war. Aber erst am nächsten Tag erfuhr ich, daß es im wahrsten Sinn des Wortes eine Frage um Leben und Tod war. Es war gegen Mittag, als alles herauskam. Ich war noch einmal in die Hanson Street gegangen, um zu sehen, ob ich nicht etwas zusätzliches Material für das Magazin am Sonntag auftreiben konnte. Mulligan und O’Mara hatten Faroli wieder verhört, und O’Mara war schließlich wütend wie ein angestochener Stier hinausgestürzt, weil Fa158
roli einfach nicht auf schuldig plädieren wollte. Das bedeutete, daß O’Mara einiges zu tun haben würde, um den Fall für den Staatsanwalt vorzubereiten – er mußte Zeugen ausfindig machen, Aussagen zu Protokoll nehmen, Vorladungen ausstellen und ähnliches. Vermutlich meinte er, das würde ihn bei seinen Fahrten zur Bank stören. Faroli war die ganze Zeit sehr still und zurückhaltend gewesen, hatte kein Wort zu seiner eigenen Verteidigung vorgebracht, ganz gleich, wie sehr die beiden Beamten tobten. Aber als O’Mara gegangen war, wandte er sich Mulligan zu und sagte: „Lieutenant, ich bin Ihnen Entschuldigungen für ungefähr drei Jahre schuldig. Ich habe Sie erbarmungslos gehänselt und habe mich Ihnen gegenüber jedesmal, wenn wir einander begegneten, wie ein Schweinehund benommen. Ich möchte Ihnen sagen, daß mir das wirklich leid tut – aber unter den Umständen hatte ich keine andere Wahl.“ Mulligan starrte ihn verdattert an. „Es war gerade deshalb, weil Sie so ziemlich der einzige ehrliche Polizeibeamte in ganz Chicago sind“, fuhr Faroli fort. „Ich konnte es mir nicht leisten, freundschaftlich mit Ihnen zu verkehren, verstehen Sie. Die Versuchung, mich Ihnen anzuvertrauen, wäre zu groß gewesen. Man hatte mir ausdrücklich Anweisung gegeben, niemandem zu trauen, absolut niemandem.“ Ich setzte mich in meinem Stuhl auf. Das war ein neuer Faroli. Das war ein Faroli, der sprach wie der gebildete Mann, den ich immer hinter seiner Maske vermutet hatte. Aber worauf, zum Teufel, wollte er hinaus? „Ich muß ein Geständnis ablegen“, sagte er. „Aha!“ Mulligan beugte sich über den Schreibtisch und griff nach Bleistift und Papier. „Auch das verstößt gegen meine Befehle, aber im Augenblick sehe ich keinen anderen Ausweg“, fuhr Faroli fort. „Oh, mit Sweeneys Ermordung hat das nichts zu tun – oder zumindest nur indirekt. Ich habe Ihnen fol159
gendes zu sagen: Mein wirklicher Name ist nicht Faroli; ich heiße Farrell. Bruno Farrell.“ Mulligan lehnte sich wieder zurück. „Na und?“ fragte er. „Soll ich aufspringen und in Hochrufe ausbrechen?“ „In Wirklichkeit bin ich Prohibitionsagent der Bundesbehörden, arbeite als Geheimagent hier im Auftrag einer Regierungsbehörde, die in enger Verbindung mit den Finanzbehörden und dem Finanzministerium steht.“ Mulligan warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch. „Und ich bin Huey Kingfish Long, Gouverneur von Louisiana!“ bellte er. „Was bilden Sie sich eigentlich ein, Faroli – Sie halten mich wohl für einen Vollidioten?“ „Es klingt vielleicht verrückt, aber es ist wahr“, erklärte Faroli. Und dann erzählte er uns, er wäre von seinem Posten als Prohibitionsagent in Massachusetts wegbeordert worden, weil er fließend italienisch sprach und wie ein Italiener aussah und man ihn leicht für einen Mafia-Gangster hätte halten können. Er hätte Anweisung erhalten, sagte er, Unruhe zu stiften und den Waffenstillstand im Gangsterkrieg zum Zusammenbruch zu bringen, er hätte, als er für Capone arbeitete, Unterlagen gestohlen und an die Finanzbehörden geschickt, und schließlich erklärte er uns, warum er eine eigene kleine Bande gebildet hatte und sich von Sweeney hatte anheuern lassen. Was die Entführung und Ermordung Sweeneys anging, so tischte er uns dieselbe Geschichte auf, die er uns zuvor bereits erzählt hatte. Wenn ich ein Buch schriebe, würde ich sagen, daß Mulligan ihm mit wachsender Ungläubigkeit zuhörte. Sein kantiges Gesicht trug einen Ausdruck, wie man ihn vielleicht beim Präsidenten von General Motors sehen würde, wenn der Hausmeister ihm eröffnete, er hätte ein Auto erfunden, das mit Leitungswasser läuft. Aber ich glaubte ihm, so sonderbar das war. Rückhalt160
los. Es war die verrückteste Geschichte, die ich je gehört hatte – so verrückt, daß kein vernünftiger Mensch in Farolis Lage es gewagt hätte, sie zu erfinden –, aber sie war stimmig. Sie räumte alle Ungereimtheiten aus und beantwortete all die Fragen, die ich mir immer wieder gestellt hatte. Ich hätte keine rationalen Gründe dafür angeben können, daß ich ihm glaubte, wenn man mich gefragt hätte, aber irgendwie wußte ich einfach, daß der Mann die Wahrheit sagte. Nicht so Howie. Nach einer Weile hielt Faroli inne und verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Sie glauben mir nicht, Lieutenant, nicht wahr?“ sagte er. „Nein, ich glaube Ihnen nicht.“ Mulligan sah zornig aus. „Ich glaube Ihnen nicht ein einziges Wort. Wofür halten Sie mich denn, Mann? Sie glauben, Sie brauchen mir nur Honig ums Maul zu schmieren, und dann schlucke ich diesen Blödsinn, den Sie hier verzapfen? Machen Sie sich nicht lächerlich, Faroli! Die Zeiten, wo die Leute noch an Wunder glaubten, sind vorbei.“ Faroli – oder Farrell, wie ich ihn jetzt wohl besser nenne – Farrell also seufzte. „Ich fürchtete schon, es würde Ihnen schwerfallen, das zu schlucken“, sagte er. „Ich verstehe das, aber –“ „Es würde mir schwerfallen, das zu schlucken?“ brüllte Mulligan. „Darauf können Sie sich verlassen, mein Junge! Alles, was Sie mir heute verraten haben, ist, daß Sie ein hinterhältiges Schwein sind – ein glitschiger, gerissener, verlogener Dreckskerl wie alle Ihres Schlags. Einer, der bereit ist zu lügen, daß sich die Balken biegen, nur um seiner gerechten Strafe zu entgehen. Und das hab ich schon vorher gewußt. Schwer zu schlucken, sagen Sie? Das ist das einzige wahre Wort, das Sie gesagt haben! Es bleibt mir in der Kehle stecken!“ „Ich weiß, das es weit hergeholt klingt, aber –“ „Spielen Sie mir hier nicht den gebildeten Akademi161
ker vor! Rausreden können Sie sich aus dem Dreck, in dem Sie leben, sowieso nicht. Wenn Sie vom FBI sind, warum rufen Sie dann nicht George Golding, den hiesigen Leiter des FBI, an und lassen sich von ihm rausholen?“ „Die dort wissen nichts von meiner Existenz. Man hat mir gesagt, Chicago wäre so korrupt, daß es gefährlich wäre, irgend jemanden über meine wahre Identität zu unterrichten.“ „Wie gelegen!“ höhnte Mulligan. „Und das gleiche gilt natürlich für das Finanzamt und das Finanzministerium? Auch dort kennt Sie niemand, wie?“ Farrell seufzte wieder. „Ja, darauf läuft es hinaus“, antwortete er. Mulligan schlug sich vor die Stirn. „Ihr Ganoven seid zum Kotzen“, sagte er. „Mettner und seine Kollegen haben dafür gesorgt, daß die Story in sämtlichen Zeitungen Amerikas erscheint. Wenn Sie der wären, der Sie zu sein behaupten, wie kommt es dann, daß Ihre Vorgesetzten sich nicht ans Telefon hängen und mit dem Captain reden?“ „Ich wollte, das wüßte ich“, erwiderte Farrell. „Vielleicht können sie nicht lesen?“ rief Mulligan spöttisch. Und dann, mit beißender Ironie: „Oder vielleicht – verzeihen Sie, daß ich so taktlos bin – vielleicht existieren sie einfach gar nicht.“ „Man hat mir gesagt, daß ich ganz auf mich selbst gestellt sein würde, wenn ich in Schwierigkeiten geraten sollte“, erklärte Farrell. „Ich meine, daß niemand mich herauspauken würde. Sollte ich für einen Überfall oder sonst eine Straftat geschnappt werden, so würde ich meine Strafe verbüßen müssen. Um meine Rolle weiterspielen zu können. Aber ich hätte nicht gedacht, daß das auch im Falle einer Mordanklage gelten würde.“ „O ja, Sie sind ganz auf sich selbst gestellt“, stimmte Mulligan zu. „Mutterseelenallein!“ er zog das Telefon zu 162
sich heran. „Hertz!“ brüllte er hinein. „Ich bin zu alt für Märchen. Schicken Sie Macready und Sampson ’rein, sie sollen unseren Hans Christian Andersen hier in seine Zelle zurückbringen.“ Nachdem Farrell gegangen war, kam O’Mara wieder herein. „Was Neues?“ erkundigte er sich. Einen Moment lang zögerte Howie. Ich fragte mich, ob er die Katze aus dem Sack lassen würde. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. „Nichts.“ O’Mara hatte einen Stoß Papiere in der Hand. „Der Bürgermeister ist gerade dabei, den Transfer einer sehr hohen Summe von Wählkampfgeldern von Cicero ins Rathaus zu arrangieren“, teilte er Mulligan mit. „Wir sollen hier in unserem Revier Begleitschutz fahren und dann am Revier Maxwell Street abgelöst werden.“ Sie kauten das eine Weile durch, dann zog sich O’Mara wieder zurück. Mulligan sah mich an. „Hast du so was schon mal gehört?“ fragte er. „Sie haben wahrscheinlich Angst, daß ihnen jemand die Kohlen klaut“, entgegnete ich. „Nein, davon rede ich nicht. Dieser ganze Quatsch, den Faroli mir aufgetischt hat.“ Ich zündete mir eine Zigarette an. „Es könnte die Wahrheit sein“, meinte ich. „Klar. Und nach der Wahl könnte es im Rathaus keine Korruption mehr geben!“ „Ich war immer der Meinung, daß er nicht in die Szene hier paßt. Und du warst einmal der gleichen Meinung. Wenn seine Geschichte wahr ist, dann wäre sie eine Erklärung für all die Zweifel, die wir einmal gehabt haben.“ „Jetzt habe ich keine Zweifel mehr“, sagte Mulligan. „Er ist ein Mörder, und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn in die Todeszelle zu bringen. 163
Typisch Zeitungsschmierer, sich auf die Seite des Verbrechers zu stellen.“ „Hör mal, Howie“, sagte ich, „darüber brauchen wir uns doch nicht zu verfeinden. Du hast deine Aufgabe; ich habe die meine. Und jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung.“ „Ganz recht. Aber bring du ja nicht ein Wort von diesem Mist.“ „Ich hatte nicht die Absicht, etwas darüber zu bringen“, antwortete ich. Ich wollte gerade gehen, als einer der Bullen mir sagte, Farrell hätte darum gebeten, mich in seiner Zelle sprechen zu dürfen. „Halten Sie es für möglich, daß es stimmt?“ fragte er. „Können Sie etwas glauben, was nicht auf der Stelle nachgewiesen werden kann?“ Ich grinste und reichte ihm eine Zigarette. „Merkwürdigerweise kann ich das“, antwortete ich. „Ich glaube, das nennt man blindes Vertrauen.“ Er setzte sich auf seine Pritsche und runzelte die Stirn. „Es ist schon eine harte Sache. Aber Ihr Vertrauen hilft mir. Mein Gott, wie oft war ich versucht, Ihnen und Mulligan alles anzuvertrauen. Ich hoffe, Sie verstehen, warum es unmöglich war.“ „Natürlich“, sagte ich. „Aber Sie müssen etwas tun. Warum, zum Teufel, sind Sie damit nicht früher herausgekommen?“ „Ich habe mich nur an meine Anweisungen gehalten. Aber wie ich Mulligan schon sagte, ich dachte, sie würden die Zeitungen lesen und von selbst etwas unternehmen. Ich kann nicht glauben –“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, daß sie mich einfach – ich meine, wenn es sich um eine Gefängnisstrafe handelte, okay, meine Maske würde nicht gelüftet, werden, und ich könnte weiterarbeiten, wenn ich wieder rauskäme. Oder sie würden ihre Verbindungen spielen lassen und 164
dafür sorgen, daß die Strafzeit verkürzt wird oder so etwas. Aber eine Anklage wegen Mordes …“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Sie meinen, jetzt ist es gleich, wenn die Wahrheit herauskommt: Wenn man Sie als Leiche aus der Todeszelle herausträgt, sind Sie als Geheimagent sowieso nichts mehr wert?“ „Ja, genau das meine ich.“ „Okay“, fuhr ich fort. „Sie haben den Mund gehalten, weil Sie auf Nachricht warteten. Aber es ist keine Nachricht gekommen – und in diesem Fall ist keine Nachricht schlechte Nachricht. Folglich müssen Sie jetzt etwas tun. Wenn es stimmt, daß Sie bei keiner dieser Behörden bekannt sind –“ „Es ist leider nur zu wahr“, unterbrach er mich. „Oh, ich mache Mulligan keinen Vorwurf. Mir ist klar, daß die ganze Geschichte höchst unglaubwürdig klingt. Aber sie stimmt.“ „Ja, aber irgend jemand muß es doch geben! Jemand hat Ihnen doch die Anweisungen gegeben.“ „Es gibt auch jemanden“, gab Farrell zurück. „In ganz Amerika gibt es einen einzigen Mann, der weiß, wer ich wirklich bin – der Mann, der mich für diesen Wahnsinnsjob angeheuert hat. Seine Vorgesetzten wissen, daß hier jemand im geheimen tätig ist, aber sie wissen nicht, daß ich es bin. Mein Name erscheint in keiner Akte dort oben. Der Name Faroli – oder auch Farrell – würde ihnen überhaupt nichts sagen.“ „Dann rufen Sie den Mann doch an“, schlug ich vor. „Das kann ich nicht; nicht von hier aus. Das Gespräch wird abgehört werden, und es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß niemand die Verbindung kennt. Schon gar nicht die Polizei. Außerdem ist es eine Geheimnummer; ich soll sie nur in Notfällen anrufen.“ „Und den elektrischen Stuhl betrachten Sie nicht als Notfall?“ 165
„Doch schon. Aber ich müßte Mulligan die Nummer geben, und –“ „Soll ich für Sie anrufen?“ fragte ich. Farrell lächelte. Ich verstand plötzlich, warum Frauen ihn so unwiderstehlich fanden. „Ich habe gehofft, daß Sie das sagen würden. Aber Sie müssen sich die Nummer auswendig merken. Es ist eine Nummer in Washington. Sie rufen zwischen 18 und 19 Uhr an. Der Mann heißt George Stevens. Erzählen Sie ihm nur, was los ist, und lassen Sie sich sagen, was er vorschlägt.“ „Ich ruf ihn heute abend noch an und bringe Ihnen gleich morgen vormittag die freudige Nachricht“, versprach ich. Er nannte mir die Nummer und hielt mir die Hand hin. „Vielen Dank, Mettner.“ „Gern geschehen, wenn ich nur später, wenn alles vorbei ist, die Exklusivrechte bekomme.“ Am Nachmittag wurden drei Bombenanschläge verübt; eine Gruppe von Deneens Wahlhelfern wurde am 19. Wahlbezirk aus dem Hinterhalt überfallen; und Octavius Granada, ein schwarzer Kandidat, der gegen einen von Thompsons Männer antrat, wurde in seinem Wagen erschossen. Es war eine Minute vor sieben, als ich endlich nach Hause kam und den Anruf machen konnte. Eine Frauenstimme meldete sich. „Wer spricht bitte?“ fragte sie. „Ein Freund von Bruno Farrell. Kann ich bitte Mr. George Stevens sprechen?“ „Mr. Stevens?“ „Mr. George Stevens. Es ist sehr dringend.“ Einen Moment war es still, dann sagte sie langsam: „Sie wissen es nicht?“ Die feinen Härchen in meinem Nacken sträubten sich, als ich sagte, nein, ich wußte es nicht. 166
„Mr. Stevens ist vor drei Tagen von einer Straßenbahn überfahren worden, als er die Clark Street überquerte“, sagte sie. „Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.“ Ganz behutsam hängte ich auf. Mulligan hatte recht gehabt. Farrell stand wirklich allein.
2 Die wahren Anführer des organisierten Verbrechens in der Stadt (Chicago) sitzen länger und fester im Sattel der Macht als viele unserer College-Präsidenten – wesentlich länger als viele unserer öffentlichen Beamten. Beamte kommen und gehen, aber die Herren des Lasters bleiben an der Macht. Illinois Association for Criminal Justice Survey, Mai 1928 Farrells Prozeß kam einem Standgericht näher als alles andere, was ich in dieser Richtung je erlebt habe. Der einzige Unterschied war, daß der Angeklagte vor einem Standgericht immerhin eine gewisse Chance hat, freigesprochen zu werden – sagen wir eine in einer Million. In Farrells Fall hätten die Buchmacher nicht einmal für diesen Kurs Wetten abgeschlossen. Der Richter war ein von Thompson berufener Mann. Der Staatsanwalt gehörte selbstverständlich zur Clique Thompsons. Die Geschworenen kamen aus dem 19., 41. und 42. Bezirk – alle fest in Capones Hand. Auch das war clever: Die Verteidigung hätte sich ziemlich lächerlich gemacht, wenn sie gegen die Geschworenen aus diesen Gebieten mit der Begründung Einspruch erhoben hätte, sie könnten gegen einen Angeklagten, von dem bekannt war, daß er zur Unterwelt gehörte, voreingenommen sein; ebensowenig konnte die Verteidigung glaubwürdig einwenden, die 167
Geschworenen könnten pro Capone sein – schließlich war Farrell ja angeklagt, einen von Capones erbittertsten Feinden getötet zu haben. Man konnte die Sache drehen und wenden, wie man wollte, die Anklage war immer im Vorteil. Und so war es den ganzen Prozeß hindurch. Der junge Hofstetter tat sein Bestes, aber er war von Anfang an auf der Verliererstraße. Zunächst einmal kam er aus den Oststaaten, er war also, soweit es die rechtschaffenen Leutchen jener Bezirke anging, ein Ausländer und daher ein Mann, dem nicht zu trauen war. Zweitens hatte er, bei Licht besehen, nicht ein Beweisstück in der Hand, das Faroli entlastet hätte. Er hatte der Anklage praktisch nichts entgegenzusetzen, als Farrells eigene unbestätigte Beteuerungen seiner Unschuld. Und Beweismaterial dieser Art hat bei Geschworenen nie viel Wirkung, auch bei ehrlichen nicht. Der Ankläger hatte Beweise dafür – die unangefochten blieben –, daß Farrell etwa zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, in Sweeneys Haus gewesen war. Farrells Fingerabdrücke waren auf der Mordwaffe sichergestellt worden. Das bedeutete lediglich, daß die Leute, die sie gestohlen hatten, Handschuhe getragen hatten, aber überzeugen Sie davon mal die Geschworenen. Er hatte zugegeben, daß die Waffe sein Eigentum war. Polizeizeugen hatten ihn kurz vor dem Mord in Begleitung der entführten Tochter des Opfers gesehen. Ipso facto war Farrell auch der Entführer. Es blieb die Frage des Motivs – aber wer, zum Teufel, wollte sich darüber den Kopf zerbrechen, wenn Indizien in Hülle und Fülle vorlagen? Die Anklage präsentierte schließlich noch einige Zeugenaussagen, die sehr belastend waren. Leute, die in der Nähe der Hütte wohnten, wo Gloria Sweeney gefangengehalten worden war, hatten ausgesagt, daß sie mehrmals am Abend ihrer Entführung einen Pierce-Arrow 168
beobachtet hatten, der zu der Hütte gefahren war – und Farrell hatte am Steuer eines Pierce-Arrow gesessen, als er Gloria Sweeney dort herausgeholt hatte und Mulligan davongefahren war. Hofstetter hatte zwei Möglichkeiten, dieser Aussage zu begegnen. Er konnte zur Untermauerung der Behauptung, daß Farrell der Befreier und nicht der Entführer des Mädchens war, nachweisen, daß Farrells Wagen am Tag des Mordes gestohlen gewesen war – wobei Farrell dann als Autoknacker noch schlechter dagestanden hätte. Oder er konnte die ganze Geschichte ignorieren und sich darauf berufen, daß sein Mandant wegen Mordes vor Gericht stand und nicht wegen Entführung. Er wählte das letztere – und klugerweise meiner Meinung nach. Aber ich vermute, es war sowieso gehupft wie gesprungen. Natürlich hatten wir alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Gloria Sweeney ausfindig zu machen. Aber wir hatten nur Nieten gezogen. Es hieß, Pescarolo wäre in Florida. Oder Palm Springs. Oder Sacramento. Ganz gleich, wo er war, sie mußte bei ihm sein – und sie hielten sich still. Ganz gewiß hätte sie Farrell von der Anklage, sie gekidnappt zu haben, reinwaschen können. Doch wenn sie seine Angaben von A bis Z bestätigt hätte, hätte er dennoch während jener entscheidenden wenigen Minuten im Haus nach oben laufen und ihren Vater erschießen können. Blieb der Brief, den sie hinterlassen hatte. Auch hier hatte die Anklage die Wahl. Der Wortlaut erlaubte die Auslegung, daß sie an der Ermordung ihres eigenen Vaters beteiligt gewesen war; oder man konnte unterstellen, daß ihre Abwesenheit auf die Tatsache zurückzuführen war, daß Farrell sie getötet hatte, um sie zum Schweigen zu bringen – und den Brief überhaupt nicht in die Beweisführung aufnehmen. Die Anklage wählte die zweite Möglichkeit – und diesmal fand ich die Wahl 169
klug. Hätte die Anklage versucht, das Mädchen in den Mord zu verwickeln, so hätte die Geschichte von der Entführung an Überzeugungskraft verloren, und Farrells Glaubwürdigkeit als Zeuge wäre gestärkt worden. Unter den Umständen hätte dem armen Kerl allerdings sowieso nur noch ein Wunder helfen können. Er hielt sich an das ungeschriebene Gesetz der Unterwelt und weigerte sich, die Mitglieder seiner eigenen Bande zu nennen, indem er sich auf das Fifth Amendment berief, als er über die Schießerei in der Hütte ins Verhör genommen wurde. Sie hätten ihm ja auch für die Zeit, in der der Mord begangen wurde, kein Alibi geben können. Farrell berichtete, als er in den Zeugenstand gerufen wurde, über die Ereignisse so, wie sie sich abgespielt hatten – wobei er jedoch jeden Hinweis auf die Tatsache, daß er ein Geheimagent war, vermied, da er ja auch dafür keine Beweise vorbringen konnte. Die Geschworenen berieten nur zehn Minuten. Farrell wurde schuldig gesprochen und zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Ich war nicht im Gerichtssaal, als das Urteil verlesen wurde. Mir wurde schlecht beim Anblick dieser scheinheiligen Schweine, die da Krokodilstränen über die Ermordung eines so hervorragenden Bürgers vergossen, wo ich wußte, daß die gesamte Stadtverwaltung Freudentänze aufführte über Sweeneys Tod, der ihre Chancen auf einen Wahlsieg beträchtlich vergrößerte. Außerdem mußte ich sowieso arbeiten. Nicht für Michaelson: Mein Artikel war schon vor dem Schlußplädoyer der Anklage geschrieben, und die Schlagzeile „Der Stuhl für Sweeneys Mörder“ war bereits gesetzt. Nein, hier handelte es sich gewissermaßen um ein freiberufliches Unternehmen. Um die Planung eines Gefängnisausbruchs. Ich hatte mich nämlich entschlossen, Farrell zu helfen. Dafür gab es drei Gründe. Erstens, es paßte mir nicht, wie 170
die Stadtverwaltung arbeitete. Zweitens, ich hatte was dagegen, daß ein Mann, den ich für unschuldig hielt, auf Grund von Lügen und Intrigen in die Todeszelle befördert wurde. Drittens, und das war vielleicht das Entscheidende, ich mochte Farrell. Wir hatten natürlich bereits besprochen, was zu tun war, wenn Farrell schuldig gesprochen werden sollte. Wovon wir überzeugt waren. Sehr diskret in Farrells Zelle. Weniger diskret in der Wohnung mit Smokey Hernandez. Das Mädchen ließ sich nicht unterkriegen. Sie brachte Farrell sogar während des Prozesses noch zum Lächeln, und den drei Lumpen, die vorher so gern mit ihm zusammengearbeitet hatten, machte sie ganz schön Feuer unterm Hintern. Farrell selbst hielt sich während der ganzen Zeit recht gut. Als er einmal die Tatsache überwunden hatte, daß George Stevens tot war, daß niemand in Washington etwas für ihn tun konnte, akzeptierte er die Situation und baute auf ihr neu auf. Vielleicht war es der Gedanke gewesen, als kein Mensch sich um ihn gekümmert hatte, daß man ihn als entbehrlich abgeschrieben hatte, der ihn aus der Fassung gebracht hatte. Als er erfahren hatte, daß unglückliche Umstände daran schuld waren, daß er von außen keine Hilfe bekam, legte er diesen niederdrückenden Gedanken ad acta und begann zu kämpfen. Zurück zu dem Gefängnisausbruch. Wir waren bereits zu dem Schluß gekommen, daß es keinen Sinn hatte, unsere Hoffnungen auf eine Berufung zu setzen. Ganz Amerika schrie nach einem Ende der Bandenkriege in Chicago. Wenn dort in einem Jahr, wo bereits 73 Mörder straflos davongekommen waren, endlich einmal ein Killer verurteilt wurde, dann war es höchst unwahrscheinlich, daß dieses Urteil umgestoßen werden würde. Selbstverständlich wollten wir es dennoch versuchen; Hofstetter würde auf jeden Fall Berufung einlegen. Aber Smokey und Farrell waren sich mit mir einig, daß Far171
rell, der keine einflußreichen Gangsterfreunde hatte, die ihre Beziehungen spielen lassen konnten, nur eine Möglichkeit hatte: Er mußte Sweeneys Tochter finden und herausbekommen, wer ihren Vater wirklich getötet hatte. Aber solange er hinter Gittern saß, konnte er das nicht tun. Also mußte er herausgeholt werden. Aus irgendeinem Grund war die Entführung von Übeltätern aus staatlichen Zuchthäusern bei den Literatur- und Stilkursen, die ich 1923 und 1924 am Oakwood and Burnside Polytechnic College genommen hatte, kein Thema gewesen. Immerhin konnte ich als Berater fungieren: Wenn man einen Lieutenant der Kriminalpolizei zum Freund hat, lernt man einiges über die Polizeiroutine, schon gar, wenn man zufällig gleichzeitig Polizeiberichterstatter ist; allerdings verhielt sich Howie mir gegenüber etwas kühl, seit ich ihn hatte wissen lassen, daß wir über den Fall Farrell nicht einer Meinung waren. Ich erklärte Smokey, dies bedeutete, es wäre eine Klasseidee, ihren Freund rauszuhauen, aber wir müßten uns auf die Hosen setzen, wenn wir das schaffen wollten, ehe die Bullen ihn im Knast einlochten. Wenn er erst einmal im Zuchthaus saß, sagte ich, dann wär’s ungefähr so einfach, ihn da rauszuholen, wie das Standard OilHochhaus mit einer Steinschleuder zu zertrümmern. Folglich mußte das Unternehmen stattfinden, wenn Farrell von der Hanson Street ins Zuchthaus übergeführt wurde. Und hier konnte ich helfen, weil ich über die Gepflogenheiten im Revier Hanson Street ziemlich gut Bescheid wußte: zu welchen Zeiten sie ihre Gäste ins Zuchthaus zu befördern pflegten, welche Route gefahren wurde und so weiter. Wie die Befreiung bewerkstelligt werden sollte, war nicht mein Problem: Das überließ ich, wie gesagt, den Experten. Der Haken war nur, daß die Experten nichts davon 172
wissen wollten. Das erste Mal traf ich sie in Farrells Wohnung – Boscoe, der aussah wie eine Dampfwalze mit Bartstoppeln; Guglieri, der an der Theke eines Lebensmittelgeschäfts in Little Italy hätte stehen können, und Flash Butcher. Butcher hatte unheimliche Ähnlichkeit mit John Gilbert. Bis aufs Gesicht. Sowas Kaltschnäuziges wie ihn hatte ich selten gesehen. Das Problem war sehr einfach. Warum, zum Teufel, sollten sie Kopf und Kragen riskieren, um Farrell aus der Patsche zu holen, wenn für sie nichts dabei heraussprang? Unter den Umständen war das eine gute Frage. Instinktiv hatte ich das Gefühl, daß ein Appell an ihre Loyalität mißverstanden werden könnte. Und ich hatte den Verdacht, daß ihre Französischkenntnisse zu mager waren, als daß man ihnen mit esprit de corps hätte kommen können. Ich wartete darauf, daß Smokey sie an ihre Pflicht erinnern würde, mit diskreter Beredsamkeit und eleganter Raffinesse, die das Gute in ihnen ansprechen und sie anspornen würde zu handeln. Ich wartete nicht umsonst. „Ihr widerlichen, stinkenden Dreckskerle“, sagte sie; „ihr lumpigen, falschen, feigen, beschissenen Schmarotzer – wer hat euch denn in den letzten drei Monaten über Wasser gehalten? Faroli. Wer hat seinen Grips angestrengt, damit ihr genug Kohlen zusammenscharren konntet, um euch Schuhe für eure Füße zu kaufen? Faroli. Wer hat die Jobs so gut geplant, daß keiner von euch dreckigen Schweinen bei den Bullen auch nur auf der Verdächtigenliste steht?“ Und dergleichen mehr. Eine Weile hörten sie ihr schweigend zu. Ich hatte den Eindruck, daß Butcher möglicherweise die syntaktische Anwendung des adjektivischen Nebensatzes in der englischen Umgangssprache studierte. Dann sagte er: „Hör auf, hier ’rumzuschreien! Du gehst mir auf die Nerven. Schön, Faroli hat ein paar gute Dinger gedreht. Na und? Ich könnte mich heute praktisch von jeder Bande 173
anheuern lassen, die mir gefällt. Warum soll ich für ihn den Kopf hinhalten?“ „Ja“, pflichtete ihm Boscoe bei. „Solange er der Boß war, okay, war er der Boß. Aber jetzt ist er nicht mehr der Boß. Jetzt sitzt er.“ Guglieri sagte: „Der hat Nerven – von uns verlangen, daß wir ihm helfen, wenn er Scheiße baut und uns im Dreck sitzenläßt. Klar hab ich für ihn gearbeitet und getan, was er gesagt hat, solange er mich bezahlt hat. Er zahlt gut. Aber jetzt kann er nicht mehr zahlen, auch wenn wir ihn rausholen. Der kann keine dicken Dinger mehr drehen; der muß nur noch laufen, damit ihn die Bullen nicht noch mal erwischen.“ „Es ist wirklich eine Wohltat, zu sehen, mit was für einer überwältigenden Loyalität ihr hinter eurem Boß steht“, sagte Smokey. „Nur hat er überhaupt nichts verlangt –“ „O doch, er hat verlangt!“ fuhr ich dazwischen. Bei Guglieris Worten war mir ein Einfall gekommen. Ich erinnerte mich eines Gesprächs, das ich in Mulligans Büro mit angehört hatte. „Er will von euch herausgeholt werden, weil er ein Mordsding ausbaldowert hat.“ Ich warf Smokey einen warnenden Blick zu und fuhr, ehe sie etwas sagen konnte, hastig fort. „In den nächsten Tagen kommt eine Riesenanlieferung an Wahlgeldern. Er will ’raus, damit er die Sache mit euch zusammen anpacken kann.“ Ich konnte förmlich die Sprechblase über Smokeys Kopf sehen; nichts war darinnen als ein riesiges Fragezeichen. „Farr – Faroli hat alle Einzelheiten beisammen“, fügte ich eilig hinzu. „Da springt für jeden ein Batzen heraus – aber erst müßt ihr ihn rausholen, weil er derjenige ist, der die nötigen Informationen hat.“ „Hm …“, sagte Butcher. „Da kann was dran sein. Aber erst muß ich mehr darüber wissen.“ Boscoe kratzte sich das Kinn und sagte: „Ja. Hm. Klar …“ 174
Guglieri sah aus wie ein Eisverkäufer, der sich überlegte, ob er den letzten Löffel Maraschino-Eis über zwei oder drei Eistüten strecken konnte. Ich redete wie ein Buch. Smokey spielte mit, sobald sie merkte, worauf ich hinauswollte. Die Burschen waren unschlüssig. Sie hatten noch immer ihre Zweifel – aber wenigstens war das etwas, worüber sie mit sich reden ließen. Appelle an ihre Loyalität waren reine Zeitverschwendung, aber die Aussicht auf ein dickes Geschäft, das war etwas, das bei ihnen ankam. Und sie stand jetzt auch auf sicherem Boden. Bei ihrer Ehre waren sie nicht zu packen. Jetzt aber, wo es darum ging, ein gefährliches und möglicherweise lukratives Unternehmen zu wagen, hatte sie Waffen in der Hand, mit denen sie sie treffen konnte. Sie konnte sie beschuldigen, pflaumenweich und feige zu sein, sie konnte sie wegen ihres Mangels an Mut verhöhnen und ihre Männlichkeit anzweifeln; kein Schurke mit ein bißchen Selbstachtung hört so was gern. Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, erklärten sie sich endlich einverstanden mitzumachen. Ich sollte alle nötigen Informationen von Farrell beschaffen und an sie weiterleiten, und sie würden dann selbst den Plan zu seiner Befreiung entwerfen. Erst als ich ging, fiel mir ein, daß Farrell überhaupt nichts von dem von Thompson geplanten Transfer von Wahlgeldern wußte; Jason F. Mettner, geachteter Polizeiberichterstatter, mußte diese Sache ausbaldowern. Worauf hatte ich mich da eingelassen – da schmiedete ich mit drei Gangstern und einer Nachtclubtänzerin finstere Pläne, das Gesetz zu brechen und einen verurteilten Mörder zu befreien! Was zum Teufel! Mitgehangen, mitgefangen. Mit List und Tücke überzeugte ich Michaelson davon, daß es ein Schlager wäre, ein Feature zum Thema „Was geht in einem zum Tode Verurteilten vor?“ zu bringen. Ich bekam 175
die Erlaubnis, Farrell in seiner Zelle zu interviewen, ehe er ins Zuchthaus gebracht wurde, und ich tat, was ich konnte. Wir waren uns einig, daß es, wenn wir ihn auf dem Weg vom Revier zum Zuchthaus befreien wollten, das Beste war, unmittelbar nach der Abfahrt des Wagens vom Revier zuzuschlagen. 62 Prozent aller Autounfälle finden nämlich innerhalb eines Fünf-Meilen-Umkreises vom Zuhause des Fahrers statt; deshalb waren wir der Ansicht, daß der Polizeifahrer und die Wärter, die hinten bei Farrell saßen, erst eine Weile brauchen würden, ehe sie wirklich wachsam wurden und auf ihre Umgebung achteten, um einen Überfall oder ähnliches zu vermeiden. Und vorher wollten wir losschlagen. Dann hörte ich von einem von Mulligans Leuten, daß Farrell schon am nächsten Tag weggebracht werden sollte. Wir mußten uns also ranhalten. Wahrscheinlich war das auch gut so. Mir blieb auf diese Weise keine Zeit, mir bei dem Gedanken, daß ich womöglich schon bald Faroli im Knast Gesellschaft leisten würde, in die Hose zu machen.
3 La Cosa was? Die Mafia scheint, was den Kongreß angeht, ein alter Hut zu sein. Die Ausschüsse haben das Thema abserviert – trotz der weitverbreiteten Ansicht, daß das organisierte Verbrechen seine Bemühungen verstärkt hat, in die Bereiche legaler Geschäftigkeit einzudringen. „Wir haben genug Unterlagen, um vier Jahre lang zu ermitteln“, sagte ein Senatsmitarbeiter, „aber die Senatoren weichen aus.“ Der Grund: Mangel an Interesse. Mangel an Führerschaft, möglicherweise auch Druck. Newsweek, Mai 1937 176
An der Kreuzung Hanson Street, nur zwanzig Schritt entfernt von der in einer Seitenstraße befindlichen Ausfahrt aus dem Hof des Reviers, schlugen wir zu. Die Bullen im Wagen durften kaum Zeit gehabt haben, ihre Uniformjacken aufzuknöpfen und sich eine Zigarette anzuzünden. Ich sage, wir schlugen zu, aber natürlich konnte ich da nicht direkt beteiligt sein. Ich hatte aber eine Besprechung mit Mulligan arrangiert, und zwar über ein Thema, das mit Farrell auch nicht im geringsten zu tun hatte – eine Statistik über Einbrecher, die Frauen in Wohnhäusern überfielen, glaube ich –, und war oben in seinem Büro, gewissermaßen den Bleistift schon gezückt zur Abfassung des Augenzeugenberichts, den ich, wie ich genau wußte, schreiben würde. Howie war immer noch etwas kühl, aber langsam fing er sich wieder. Der Polizeiwagen sollte um 8 Uhr 15 abfahren. Mulligan schien überrascht, als ich zu so früher Stunde um eine Besprechung bat, aber ich erklärte ihm, daß ich den Bericht für die Nachmittagsausgabe liefern müßte. Ich wußte, daß er sowieso im Dienst war. Es war natürlich ein Risiko, die Sache direkt vor dem Revier steigen zu lassen, in dem es von Polizeibeamten wimmelte, die gerade zum Dienst gekommen waren. Aber wir hofften, daß uns das Überraschungsmoment zu Hilfe kommen würde und Farrell schon auf freiem Fuß sein würde, ehe die Bullen sich ihre Pistolen umhängen und die Treppen runterstürzen konnten. Chappie Guglieri hatte den Ort gewählt: Er wollte sein Wissen und Können als Autofachmann einsetzen. „Die Dinger sind doch gepanzert, nicht wahr?“ sagte er. „Sie sind vorn, hinten und auf den Seiten gegen Angriffe geschützt. Aber das Verdeck ist nichts wert. Das kann man mit einem Büchsenöffner aufkriegen, wenn er groß genug ist.“ „Was erwartest du denn von uns?“ fragte Flash But177
cher. „Daß wir uns von irgendeiner Brücke auf die Karre runterfallen lassen und eine Ananas aufs Verdeck pflanzen?“ „Nein, nein.“ Chappie schüttelte den Kopf. „Die Kiste ist sehr kopflastig – eine große, breite Karosserie auf einem schmalen Chassis. Die kann man leicht umkippen.“ „Was soll das heißen – umkippen?“ „Wenn sie in der Kurve mit was zusammenstößt – mit einem schweren Wagen am Heck – so ungefähr“ – Chappie machte es mit seinen Händen vor –, „dann kippt die Kiste um. Und dann liegt das Verdeck auf der Seite. Okay? Dann können wir leicht an das Verdeck ’ran. Wir können es aufmachen und Faroli rausziehen. Falls er nicht gepanzert ist, versteht ihr?“ Butcher pfiff durch die Zähne. „He! Das klingt gar nicht so dumm!“ „Ich hab mir schon alles überlegt. Die beste Stelle ist gleich beim Revier. Die Bullen nehmen die Kurve sowieso immer zu schnell. Als ob ihnen die ganze gottverdammte Straße gehört. Wir fahren schnell von hinten ’ran und – peng! – fahren an der Kurve auf sie auf.“ Genauso lief es. Ich stand an Howies Fenster, während er einen Haufen Berichte durchsah, um die Zahlen herauszusuchen, die ich haben wollte. Die Hanson Street war leer. Die frühen Pendler waren schon in ihren Büros, und die hohen Tiere kamen erst später. Eine Straßenbahn fährt nicht durch die Hanson Street, und es gibt kaum Läden. In diesem Viertel haben hauptsächlich Rechtsanwälte, Versicherungsvertreter, Immobilienmakler und ähnliche Leute ihre Büros. In Chicago heißt es immer, wenn Wind geht, kommt bald Regen; und wenn kein Wind geht, dann ist der Regen schon da. An diesem Tag kannten sich die Wetterfrösche überhaupt nicht mehr aus: Ein kalter Wind blies in stürmischen Böen Regenschauer durch die schmutzigen Straßen. 178
Ich sah den Polizeiwagen, wie er die schmale Straße seitlich vom Revier hinunterfuhr. Dort drinnen saß jetzt Farrell und bereitete sich darauf vor, den Wärter mit den Handschellen an seinen Gelenken niederzuschlagen. Der Fahrer bog, ohne zu bremsen, nach rechts in die Hanson Street ab, schoß mit voller Geschwindigkeit, den Fuß auf dem Gaspedal, um die Kurve. Die Hinterräder schlingerten schon ein bißchen auf dem glitschigen Asphalt, als ein dunkelgrüner Buick mit stabiler Karosserie in rascher Fahrt hinter dem Polizeiwagen die kleine Straße heraufkam. An der Kreuzung bog der Buick nach rechts, legte Tempo zu und knallte genau gegen das innere Hinterrad des Polizeiwagens. Die Vorderräder des Fahrzeugs standen noch schräg. Das Heck brach augenblicklich aus, und die beiden ineinander verklemmten Fahrzeuge schlitterten quietschend quer über die Hanson Street. Der Polizeiwagen raste auf der anderen Seite gegen den Bordstein und kippte um. Es klang, als hätte jemand sämtliche Mülltonnen von Illinois eine Betontreppe hinuntergeworfen. Mit anderen Worten, es lief alles nach Plan. Howie war aufgesprungen. „Was, zum Teufel, war das?“ brüllte er. Er rannte zum Fenster, fluchte und sprintete zur Tür. „Macready!“ schrie er. „Guzman! Farmer! Runter auf die Straße! Unser Transport ist überfallen worden!“ Er zog seinen Revolver und stürzte in den Dienstraum. Unten waren Boscoe, Butcher und Guglieri aus dem Buick heraus, noch ehe der zum Stillstand gekommen war. Boscoe war mit einer Hacke bewaffnet. Er rannte zur anderen Seite des gekenterten Wagens und begann, wie ein Wahnsinniger auf das Verdeck einzuschlagen. Die anderen beiden hielten Revolver in den Händen. Sie gaben ein paar Schüsse in die Luft ab und rannten zur Fahrerkabine. Die wenigen Passanten, die auf der Straße 179
gewesen waren, hatten sich bereits in Türnischen verkrochen oder flach auf den Boden geworfen. Wir waren damals gut geschult in Chicago. Jetzt drückte ich beide Daumen. Keinesfalls wollte ich am Tod eines oder mehrerer Polizeibeamten schuldig sein, und ich hatte den Jungs erklärt, daß Farrell in seinem eigenen Interesse verlangte, daß niemand getötet wurde. Aber ich traute Butcher nicht. Das einfachste wäre gewesen, die beiden Beamten in der Fahrerkabine zu erschießen. Ich seufzte auf vor Erleichterung, als ich sah, daß er sie lediglich durch die Windschutzscheibe mit der Waffe bedrohte. Ich vermute, sie waren vor lauter Schreck über den Zusammenstoß zu verdattert gewesen, um ihre Waffen zu ziehen. Chappie hatte anderes zu tun – wir hatten nämlich nicht damit gerechnet, daß dem Transport ein Streifenwagen mit vier Beamten als Geleitschutz folgen würde. Er hatte offenbar an der Ausfahrt gewartet, um den Buick vorbeizulassen, und war gerade in die Straße eingebogen, als Chappie den Transporter gerammt hatte. Der Fahrer raste zur Kreuzung und stellte sein Vehikel auf der Straße quer, während die Bullen heraussprangen und dahinter in Deckung gingen. Chappie feuerte über die Seite der Fahrerkabine, um sie zu zwingen, unten zu bleiben, und sie erwiderten das Feuer sporadisch – besorgt vielleicht, daß ihre Kugeln den Boden durchschlagen und ihre Kollegen in der Fahrerkabine verletzen würden. Butcher, der auf dem Bürgersteig hinter einem geparkten Lastwagen kauerte, war gut gedeckt, während er die Burschen in der Fahrerkabine in Schach hielt. Boscoe war hinter dem Polizeiwagen versteckt. Aber ich könnte vom Fenster aus sehen, wie das dünne Metall des Verdecks unter den wütenden Schlägen seiner Hacke aufbrach. Der Buick blockierte die eine Hälfte der Fahrbahn. Dahinter stauten sich bereits die Autos, und die Fahrer 180
hatten das Weite gesucht. Was die andere Seite anging – nun, kein Mensch würde es riskieren, diese Kreuzung, auf der es blaue Bohnen regnete, zu überqueren, nur um rechtzeitig im Büro zu sein. Uniformierte Polizeibeamte rasten aus dem Revier und schwärmten zwischen den angehaltenen Autos und Liefere wagen aus, um auf die andere Straßenseite hinüberzugelangen und Boscoe und Chappie unter Beschuß zu nehmen. Ich konnte Howie sehen, der draußen vor der Tür stand und seine Befehle brüllte. Chappie rannte zum Heck des Wagens, ließ gleichzeitig eine Salve los, um sich die Bullen vom Leib zu halten, während Butcher die Kerle hinter dem Streifenwagen aufs Korn nahm. Es krachte aus allen Rohren. Boscoe schlug die Spitze seiner Hacke in ein klaffendes Loch im Blech und zerrte – wobei sich ein ganzer Teil des Verdecks löste. Im nächsten Moment war Farrell draußen. Seine gefesselten Hände umklammerten das Genick eines Wärters, dessen Gesicht blutüberströmt war, aber der Bursche ließ nicht locker. Erst als Boscoe die Hacke umdrehte und ihm mit dem Griff auf den Kopf schlug, warf er das Handtuch. Farrell und Boscoe rannten – weg von den Bullen vom Revier, weg von der Kreuzung, rannten den Bürgersteig entlang zu dem aufgemotzten Packard, der 50 Yards straßabwärts wartete, mit Smokey am Steuer. Butcher und Chappie folgten ihnen, ließen es im Laufen immer wieder krachen. Sie hätten es vielleicht geschafft – wenn der Packard auf ihrer Straßenseite gestanden hätte. Doch den Gedanken hatten wir verworfen. Er wäre dann vom gestauten Verkehr blockiert gewesen, wogegen Smokey jetzt dank der Schlacht auf der Kreuzung freie Bahn vor sich hatte. Boscoe und Farrell sprangen unversehrt in den Wagen. Aber einer der Burschen in der Fahrerkabine des Polizeifahrzeugs schlug die Windschutzscheibe ein, als 181
die anderen beiden die Straße überquerten, und ballerte drauflos. Chappie stürzte und überschlug sich auf der nassen Straße. Butcher torkelte, griff sich an die linke Schulter und stolperte dann weiter zu dem Packard. Sie zogen ihn aufs Trittbrett und hielten ihn dann fest, als Smokey mit Vollgas die leere Fahrbahn hinunterraste. Howie sprang vor dem Revier auf und nieder, wedelte mit den Armen und brüllte wie ein Rugbytrainer. Die Bullen im Streifenwagen nahmen die Verfolgung auf, sobald sie konnten, aber das Fahrzeug stand in der falschen Richtung, und sie brauchten eine ganze Weile, ehe sie in der engen Straße, die auf der einen Seite vom Verkehr blockiert war und wo ein Heer von Bullen herumrannte wie eine aufgescheuchte Hühnerschar, den Wagen wenden konnten. Als sie endlich in Fahrt kamen, war der Packard bereits mit quietschenden Reifen in die South Wabash Avenue abgebogen, und sie hatten keine Chance mehr. Mulligan war mit zwei von seinen Leuten in einen Dodge gesprungen und befahl dem Fahrer, den Verfolgern hinterherzufahren. Ich ging zu seinem Schreibtisch und griff zum Telefon. Deshalb sah ich nicht, was aus Chappie wurde. Einer der Bullen erzählte mir, daß er sich hochgerappelt und versucht hatte, zum Bürgersteig zu gelangen. Vielleicht suchte er Deckung; vielleicht wußte er einfach nicht, was er tat. Auf jeden Fall verlor er das Gleichgewicht, brach genau in dem Moment vor dem Dodge zusammen, als der Fahrer aufs Gaspedal trat, und wurde von einem der vorderen Kotflügel erfaßt. Er wurde seitlich weggeschleudert und schlug mit dem Kopf auf den Bordstein. Auf dem nassen Bürgersteig waren noch Spuren von Blut und Hirn, als ich eine halbe Stunde später ging. Inzwischen hatte ich Michaelson meinen Bericht bereits durchgegeben.
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In einem dreisten Überfall, bei dem der zum Tode verurteilte Mörder befreit und ein Gangster getötet wurde, hat sich heute das Gangstertum erneut erfolgreich über das Gesetz hinweggesetzt. Bei der Schießerei wurden drei Polizeibeamte verletzt, und ein zweiter Verbrecher, der von einem mutigen Wärter des Zuchthauses angeschossen wurde, entkam zusammen mit seinen Komplicen im Fluchtwagen. Das neueste Beispiel unverschämter Gangsterherrschaft in Chicago zeigte sich in Form eines bewaffneten Überfalls unmittelbar vor dem Revier in der Hanson Street. Das Polizeifahrzeug, in dem Faroli zur Todeszelle befördert werden sollte, wurde von einem Automobil der Gangster gerammt und umgestürzt. Während zwei der Verbrecher die von Lieutenant Howard Mulligan befehligten Polizeitruppen mit Waffengewalt in Schach hielten, brach ein dritter das Fahrzeug auf und befreite den Gefangenen. In einem zweiten Wagen, der in der Nähe geparkt war, suchten die Verbrecher das Weite. Das Drama nahm heute morgen um 8 Uhr 17 seinen Anfang (schreibt unser Sonderberichterstatter Jason Mettner). Ich war in Lieutenant Mulligans Büro, als das Polizeifahrzeug abfuhr, um Faroli seinem Stelldichein mit den Mächten des Geschicks entgegenzufahren … Und so weiter und so fort. Ich ließ es mir doch angelegen sein, nicht in Lieutenant Mulligans Büro zu sein, als das Gangstertum sich an diesem Tag zum zweitenmal mit Erfolg über das Gesetz hinwegsetzte. Zwei Augenzeugenberichte innerhalb von acht Stunden, vom selben Reporter über ein Verbrechen ein und derselben Bande – das wäre selbst für Chicago ein bißchen zuviel gewesen. Ich saß deshalb friedlich an meinem Schreibtisch, als am Nachmittag Thompsons Geldtransport überfallen wurde. So ehrgeizig bin ich ja auch gar nicht – eine Schlagzeile pro Tag reicht mir vollkommen. 183
Tut mir leid, daß ich so ganz ohne moralisierende Reflexion von einem Aktionsbericht in den andern fallen muß, aber so lief das nun einmal. Rapide. Ich hatte sämtliche Informationen, die ich auftreiben konnte, an Smokey weitergeleitet. Farrell mußte Einzelheiten für den Überfall in der kurzen Zeit ausarbeiten, die ihm zur Verfügung stand. Und ohne Chappie Guglieri mußte natürlich der grobe Plan, den wir entworfen hatten, modifiziert werden. Butcher hatte eine Fleischwunde am linken Arm. Es war nichts Ernstes – die Kugel hatte den Bizeps durchschlagen, ohne einen Knochen zu streifen, und war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Aber die Wunde schmerzte, und der Arm war steif. Flash konnte allenfalls in einem Auto sitzen und einen Revolver abdrücken; er konnte nicht einmal eine Tompson betätigen. Smokey konnte Chappie am Steuer ablösen – aber damit blieben nur Boscoe und Farrell selbst für die eigentliche Durchführung des Unternehmens. Der Plan jedoch, den wir schließlich austüftelten, war nicht übel. Er basierte auf Farrells Geschick als Autofahrer, auf zwei verschiedenen Tönungen von Schwarz – und der Tatsache, daß dieser Tag einer der 364 Tage im Jahr war, wo in Chicago ein Wind ging. Die Beamten von der Hanson Street übernahmen den Transport im 1 500. Block der 22nd Street, an der Grenze von Cicero. Eine Straße weiter bogen sie nach Süden ab und dann, an der 29th Street, wieder nach Osten. Und auf dieser Strecke, wo der Wind für den Konvoi von hinten kam, sollte der Überfall stattfinden. Die Prozession bestand aus sechs Bullen auf Motorrädern, dem Panzerwagen mit dem Geld und schließlich einem Polizeifahrzeug mit vier weiteren Bullen. Da Farrell nur zwei Leute zur Verfügung hatte, mußte seine erste Maßnahme darin bestehen, den Panzerwagen von der Eskorte zu trennen. Danach wollte man sich einfach ans Steu184
er des Panzerwagens setzen und mit ihm davonfahren – weil zwei Männer allein natürlich den Trick vom Morgen nicht wiederholen und den Wagen aufbrechen konnten, während sie gleichzeitig eine Horde von Bullen in Schach hielten. Es war ein Lieferwagen mit einer leicht gepanzerten Karosserie auf einem Ford Modell-T-Chassis. Farrells Plan sah folgendermaßen aus: Smokey, in Chauffeursuniform und einem Turban auf dem Kopf, sollte den Packard mit offenem Verdeck durch die Straße fahren. Butcher sollte bei hochgekurbelten Fenstern hinten sitzen, braun geschminkt wie ein indischer Prinz, angetan mit einem weißen, weiten Gewand, unter dem er seinen bandagierten Arm und den Revolver in der rechten Hand verstecken konnte, auf dem Kopf ebenfalls einen Turban. Auch Farrell, dessen Bild in sämtlichen Zeitungen der Stadt prangte, mußte sich verkleiden. Er wollte die Perücke tragen, die er bei dem Überfall bei Peabody aufgehabt hatte, dazu einen kleinen, militärisch gestutzten Schnurrbart und eine dunkle Brille. Er würde zusammen mit Boscoe in einem elektrischen Milchwagen warten, dessen Heck mit geöffneten Hintertüren der Straße zugewandt war. Boscoe und Farrell waren mit Tompsons bewaffnet. Sobald die Bullen auf den Motorrädern vorüberkamen, wollten sie auf die Hinterräder der Motorräder schießen. Gleichzeitig sollte Smokey den Konvoi überholen – und einen raffinierten kleinen Mechanismus auslösen, der ein Legat von Chappie Guglieri war. Es handelte sich um einen Kanister dichten schwarzen Rauchs, der sich in dem Auspufftopf des Packards befand und durch eine Zugvorrichtung neben dem Schalthebel geöffnet werden konnte. Auf diese Weise würde der nachfolgende Streifenwagen in dichte Rauchwolken eingehüllt werden, und zwar um so länger, als der Wind in Fahrtrichtung des Konvois durch die Straße blies. Nun mußten Farrell und Boscoe schnell handeln. So185
bald der Transporter abbremste, um nicht auf die umgestürzten Motorräder aufzufahren, wollten sie mit ihren Revolvern auf die Trittbretter springen und den Fahrer und seinen Beifahrer zwingen, sich ruhig zu verhalten und weiterzufahren. Smokey wollte sich dann, noch immer Rauch ablassend, dem Transporter anschließen, während Butcher eventuell die Verfolger abschrecken sollte, denen es gelungen war, die Rauchwand zu durchdringen. Phase drei sah vor, daß der Fahrer und sein Beifahrer gezwungen wurden, aus dem Wagen zu springen; dann wollte Farrell das Steuer übernehmen und den Transporter durch Seitenstraßen zu einem Autoschrottplatz bringen, wo ein Kumpel von Chappie – gegen eine Bezahlung von 1 000 Dollar – das Tor schließen würde, so daß sie dem Wagen dann mit einer Lötlampe zu Leibe rücken konnten. Der Packard sollte in der Zwischenzeit die Bullen auf eine falsche Fährte locken, bis die Rauchentwicklung versiegte. Und dann brauchte die beherzte Smokey nur noch das Gaspedal durchzutreten und die Bullen abzuschütteln. Es war ein kompliziertes Unternehmen, das innerhalb eines sehr begrenzten Gebiets ablaufen mußte. Der Schrottplatz war nur ein paar Straßen von der Hintergasse entfernt, wo der Milchwagen stand. Der zeitliche Ablauf war deshalb von entscheidender Wichtigkeit – und die Gelegenheit, eine Generalprobe abzuhalten, gab es nicht. Alle Einzelheiten mußten an Hand einer Straßenkarte ausgearbeitet werden. Dennoch – wahrscheinlich weil Smokey und Flash den Tatort am Tag zuvor genauestens besichtigt hatten – ging alles wie geschmiert. „Mann“, sagte Boscoe später zu mir, „Sie hätten sehen sollen, wie die Bullen von den Maschinen ’runterfielen. Wie die Äpfel vom Baum.“ „Aber ihr habt sie nicht runtergeschossen?“ fragte ich etwas nervös. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. 186
„Wir haben ihnen in die Hinterreifen geschossen“, berichtete Farrell. „Drei von den Kerlen fielen ’runter; zwei warfen ihre Maschinen weg und suchten auf der anderen Straßenseite Deckung; den sechsten haben wir verfehlt: Der nahm gleich die Verfolgung auf. Aber Flash hat ihm den Vorderreifen durchlöchert, als er aus den Rauchwolken rauskam.“ Er schüttelte bewundernd den Kopf. „Das war wirklich ein toller Schuß!“ sagte er. „Und was war mit dem Streifenwagen?“ „Die wollten mit heulenden Sirenen losbrausen. Überall auf der Straße rannten die Leute hin und her, und alles war voller Autos. Ich mein, wenn Sie plötzlich ein Cabriolet auf sich zurasen sehen, das schwarze Rauchwolken ausspuckt, während hinten ein indischer Prinz mit einem Mauser rumballert – würden Sie da nicht auf die Bremse treten und den Kopf einziehen?“ Ich erwiderte, ich hielte es durchaus für möglich, daß ich das tun würde. „Jedenfalls“, erklärte Farrell weiter, „haben sie irgendeinen Idioten angefahren, der versuchte zu wenden und heim zu Mama zu fliehen. Ich nehme an, dabei hat es ihnen die Achse verbogen oder den Kotflügel eingedrückt oder so was Ähnliches, Boscoe und ich haben sie nämlich nicht wieder zu Gesicht bekommen – und Smokey sagt, sie hätte überhaupt keine Mühe gehabt, sie abzuschütteln, als der Rauch fort war.“ Die Beute war nicht umwerfend. Ungefähr 75 000 Dollar in kleinen Noten, von den Bezirksausschußmitgliedern in Leinensäckchen eingenäht. Farrell bestand darauf, daß das Geld durch drei geteilt wurde: Smokey und er wollten zusammen nur einen Anteil haben. Der Rest, zu gleichen Teilen für Boscoe und Flash, sollte es ihnen ermöglichen, aus der Stadt zu verschwinden und irgendwo unterzutauchen, bis der erste Wirbel sich gelegt hatte. Ich hoffe, sie betrachteten das als ausreichende Belohnung für ihre unerschütterliche Loyalität. 187
Zuvor jedoch hätte ich noch Besuch in der Redaktion bekommen. Michaelson zitierte mich in eines der Besprechungszimmer, und da warteten Mulligan und O’Mara. Howie spie Feuer. O’Mara war nur mürrisch. „Du hast einen Tip bekommen, nicht wahr?“ fuhr Mulligan mich an. Er kaute wie ein Rasender. „Tip?“ Ich zog die Brauen hoch und sah Michaelson an. „Der Lieutenant hat den Verdacht, daß Sie, was unseren Bericht auf der Titelseite angeht, Vorausinformationen besaßen“, erklärte er mir in dem Ton, den er im allgemeinen für den Verleger reserviert hat. „Du hast gewußt, daß sie Faroli rausholen wollten“, würgte Mulligan hervor. „Der Schweinehund hat dir wahrscheinlich selbst den Tip gegeben. Dieser Quatsch mit den Statistiken war doch nur ein Manöver: Du wolltest einen Tribüneplatz haben – in meinem Büro!“ „Es ist ein schweres Vergehen, der Polizei wichtige Informationen vorzuenthalten“, bemerkte O’Mara. „Besonders, wenn solche Informationen ein Verbrechen betreffen.“ „Ein Verbrechen, das hätte vermieden werden können“, fügte Mulligan hinzu. „Drei meiner Leute sind verletzt worden, nur damit du deine gottverdammte Schlagzeile bekommen hast. Sie hätten getötet werden können. Ich hoffe, du bist stolz auf dich.“ „Ganz davon zu schweigen, daß jetzt ein Mörder auf freiem Fuß ist“, sagte O’Mara. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon, zum Teufel, Sie reden“, warf ich ein. „Tu doch nicht so!“ schrie Mulligan mich an. „Ich dachte, du wärst ein Freund von mir. Ein feiner Freund! Du erfährst von einem geplanten Verbrechen – in meinem Revier –, und anstatt die Information an mich weiterzugeben, denkst du dir eine Geschichte über einen imaginären Artikel, aus, den du schreiben sollst, damit du –“ 188
„Augenblick, Lieutenant“, mischte sich Michaelson ein. „Halten Sie erst mal die Luft an, ehe Sie hier wilde Beschuldigungen vorbringen. Die Sache mit den Statistiken war kein Vorwand; es war mein Gedanke, den Artikel zu bringen; ich habe Mettner zu Ihnen geschickt; ich habe ihn so früh losgeschickt, weil wir den Bericht für die Nachmittagsausgabe haben wollten.“ Mulligan hörte abrupt auf zu kauen. O’Mara zog die sandfarbenen Brauen hoch. „Wollen Sie unterstellen, daß ich irgendwelche Informationen erhalten hatte und diese Informationen auf die Art und Weise ausnützte, die Sie eben geschildert haben?“ fragte Michaelson ruhig. „Das ist eine ernste Beschuldigung.“ Mulligan räusperte sich. „Ich will nicht voreilig sein“, entgegnete er. „Sie müssen schon verzeihen, aber ein solcher Zufall …“ Langsam setzten sich seine Mahlwerkzeuge wieder in Bewegung. Er war nicht zufrieden, das sah ich ihm an. O’Mara drehte sich plötzlich um und bohrte mir einen mit Sommersprossen übersäten Zeigefinger in die Brust. „Wo waren Sie heute nachmittag zwischen 15 Uhr 30 und 16 Uhr 30?“ „Hier in der Redaktion“, erwiderte Michaelson, ehe ich etwas sagen konnte. „Er hat an dem Bericht über die Statistiken gearbeitet, dessentwegen ich ihn heute früh losgeschickt habe.“ „Wenn der Bericht so wichtig ist, wieso sehe ich ihn dann nicht hier in der Zeitung?“ fragte O’Mara und nahm das Blatt, das auf dem Tisch lag. „In der Hanson Street fand ein Überfall statt“, versetzte Michaelson trocken. „Wir mußten den Artikel auf morgen verschieben.“ „Sie haben nicht die Absicht, einen Bericht über ein weiteres Verbrechen zu bringen?“ erkundigte sich Mulligan plump wie ein Elefant. 189
Wir durften von Farolis Überfall auf den Geldtransport natürlich noch nichts wissen; von den Nachrichtendiensten war uns noch nichts durchgegeben worden. Ich warf Michaelson einen fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf. „Ein entsprungener Killer reicht für heute“, antwortete er. Mulligan griff zu seinem Hut. Als die beiden Beamten gegangen waren, sah ich Michaelson an. „Sie wissen doch ganz genau, daß ich Sie bearbeiten mußte wie einen störrischen Esel, ehe Sie mich heute morgen in die Hanson Street runterfahren ließen“, beschuldigte ich ihn. Er wandte sich ab und zog eine Zigarre aus seiner Westentasche. „Ein Zeitungsmann deckt stets seine Informationsquellen“, versetzte er vage. Ich riß ein Streichholz an. Plötzlich war mir sehr wohl; ich arbeitete in einem Fach, wo einem Loyalität gezollt wurde – und wo keine Fragen gestellt wurden. Er zog den Augenschirm tiefer in die Stirn und sog eine Lunge voll Rauch ein. „Aber eines sag ich Ihnen“, knurrte er. „Wenn der verdammte Statistikartikel nichts wird, dann fliegen Sie.“
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TEIL 5 Bruno Farrell
1 In Chicago mußte alles groß sein – auch die Beerdigungen. Eine fand einmal statt, wo 20 000 Bürger dem Trauerzug folgten, zu dem 26 Wagenladungen Blumen im Wert von 50 000 Dollar gehörten. Zu den Trauergaben gehörten ein acht Fuß hohes Herz aus American Beauty-Rosen und eine Decke aus Orchideen, die über das Grab gelegt wurde. Der Sarg war in Philadelphia hergestellt und per Expreß nach Chicago gebracht worden. Er hatte luftdichte Wände aus Silber und Bronze, einen Deckel aus Panzerglas, Eckpfeiler aus ziseliertem Silber und kostete 10 000 Dollar. Während der Aufbahrung standen, wie die Tribune es nannte, „zu Haupt und Füßen silberne Engel, die Köpfe im Licht zehn goldener Kerzenleuchter, die sie in Händen hielten, geneigt“. Die Beerdigung, die von einem Staatsanwalt geleitet wurde, war die von O’Banion, einem der skrupellosesten aller Gangster. Ich erwähne das nur, um Ihnen die Beziehung zwischen Ganove und ehrbarem Bürger zu demonstrieren. Farrell war frei. Er hatte Geld. Smokey hatte ihm in einer Pension in Stickney einen Unterschlupf besorgt. Er hatte sogar ein Auto, das nicht gestohlen war, zur Verfügung – ein unauffälliges Modell-T Coupé aus Chappies Kollektion. Aber seine Lage war nicht beneidenswert: Als Geheimagent war er erledigt, solange er sich nicht von der Beschuldigung reingewaschen hatte, Sweeney 191
ermordet zu haben, und sein Gesicht auf den Straßen der Stadt nicht wieder zeigen konnte. Aber wie hätte er überhaupt seine Arbeit als Geheimagent fortsetzen können, wo er doch jetzt keinen Chef mehr hatte. Stevens war in ganz Washington der einzige gewesen, der die Identität des Mannes in Chicago gekannt hatte. Farrell nahm an, daß es ihm irgendwann einmal gelingen würde, jemanden davon zu überzeugen, daß er der Agent ohne Namen war, den sie in ihren Büchern hatten. Aber nicht, solange er als verurteilter Mörder galt. Und selbst wenn er den Behörden in Chicago beweisen konnte, daß er ein Prohibitionsagent in geheimer Mission war, würde das seinem Fall mehr schaden als nützen: Das FBI war unpopulär in dieser Stadt, wo dem Verbrechen Tür und Tor offenstanden – schon gar in der Hitze einer Wahl, bei der die Prohibition eines der Hauptthemen war. Die Polizei fand die FBI-Leute wichtigtuerisch und lästig, der Mann auf der Straße sah sie als Spielverderber. Nein, seine einzige Chance lag darin, den wahren Mörder zu finden und das Mädchen, auf Grund dessen Aussage das Verfahren wieder aufgerollt werden konnte. Wie er das jedoch bewerkstelligen sollte, war eine teuflische Frage. Wenn Marty Pescarolo nicht selbst den tödlichen Schuß abgegeben hatte, sagte sich Farrell, so war er doch auf jeden Fall derjenige gewesen, der den Plan für die Verschwörung ausgearbeitet hatte. Selbstverständlich steckte da noch jemand dahinter, der an höherer Stelle saß: der Mann, dem Farrells Arbeit für Deneens Leute so lästig geworden war, daß er sie beendet sehen wollte, der Mann, der Pescarolo seine Befehle gegeben hatte. Niemand würde je dahinterkommen, wer das war. Das beste, was Farrell tun konnte, war, sich Pescarolo zu schnappen und ihn irgendwie dazu zu bringen, daß er zugab, was er getan hatte – es notfalls vor Zeugen aus ihm herauszuprügeln. Einfach würde das nicht werden – aber darüber würde er sich später den 192
Kopf zerbrechen. Zunächst einmal mußte er den Kerl finden. Was das Mädchen anging – nun, das würde gewiß bei ihm sein. Wenn er ihrer nicht schon überdrüssig war. Doch das war unwahrscheinlich: Schließlich würde sie einen Haufen Geld erben, wenn Sweeneys Testament eröffnet wurde. „Sicher, mit ihm zusammen – aber wo?“ fragte Smokey ihn zum drittenmal an diesem Morgen. Sie saßen auf dem Bett in seinem Zimmer. Hinter den verblichenen Chintzvorhängen trommelte Regen ans Fenster. „Du kannst doch nicht straßauf, straßab durch die Stadt wandern, Bruno, oder jede einzelne Kneipe in Chicago aufsuchen und dich erkundigen, ob Marty da war.“ „Ich weiß. Deshalb …“ Farrell blickte durch das Fenster nachdenklich auf die wilde Landschaft von Kaminen und feuchtglänzenden Schieferdächern. „Deshalb suchen wir uns ein Lokal aus, von dem wir wissen, daß er da hingeht – und warten, bis er auftaucht.“ „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel das Razzmatazz. Wir wissen, daß das sein Lieblingslokal ist. Außerdem kaufen die dort sowieso von ihm. Ich garantiere dir, daß er dort, sobald er wieder in Chicago ist, seinen großen Auftritt macht und seine neueste Blondine vorführt.“ „Aber Bruno – lieber Himmel Baby!“ Die Augen des Mädchens waren voll tiefer Beunruhigung. „Da arbeite ich doch!“ Farrell grinste. „Das weiß ich. Es war mir aufgefallen.“ „Mulligan weiß es auch. Glaubst du nicht, daß er gerade den Laden ständig überwachen wird?“ Er schüttelte den Kopf. „Mulligan weiß nicht, daß ich es auf Pescarolo abgesehen habe. Er denkt sicher, ich werde mich dem Razzmatazz in Zukunft tunlichst fernhalten – aus guten Gründen. Aber da hat er sich getäuscht.“ 193
„Aber Bruno, hör doch mal –“ „Und selbst wenn er dort ist, wird er mich nicht sehen. Hast du mal Der entwendete Brief gelesen?“ „Die Kurzgeschichte von Poe? Ja. Warum?“ „Weil ich’s genauso machen werde. Ich werde so auffällig sein, daß er mich gar nicht sieht.“ „Und wie willst du das anstellen?“ „Wo würde Mulligan denn nach mir suchen?“ meinte Farrell. „An den Tischen, an der Bar, vielleicht in deiner Garderobe. Stimmt’s? Aber da werde ich nicht sein. Ich werde ihm direkt vor der Nase rumtanzen – in der Band.“ „In der – Band?“ „Genau. Art Pearson schuldet mir noch eine Gefälligkeit. Ich hab ihm vor zwei Jahren mal aus der Patsche geholfen, als er wegen Drogenhandels dran war. In Italien hab ich ein bißchen Gitarre spielen gelernt. Ein Paar Maracas kann ich auch halten.“ Smokey legte den Saum ihres kurzen Rocks in Falten und glättete sie dann wieder. Dazu trug sie eine Bluse aus cremefarbener Seide, und die dunkle Kurve ihres Halses, fand Farrell, war verführerisch. „Und wenn er dich doch sieht? Es kann ja sein, daß er mal nah ans Podium rankommt, weil er sich irgend jemanden ansehen will, und dann – und dann plötzlich auf dich aufmerksam wird oder so was.“ „Das macht nichts. Ich töne mir die Haut ein bißchen dunkler – nicht stark, nur so, daß man mich vielleicht für einen Mexikaner oder Südamerikaner halten könnte. Das Haar ändere ich auch, und dann setz ich noch eine Brille auf. Es ist gar kein großer Aufwand nötig. Und die verrückten Kostüme von Arts Band tun das Ihre. Du wirst schon sehen.“ „Wie du meinst, Schatz.“ Wenn Bruno es so wollte, dann würde Smokey es akzeptieren, ganz gleich, was er vorschlug. „Aber trotzdem“, meinte sie seufzend, „ich 194
wollte – Herrgott noch mal, warum kann das nicht alles vorbei sein? Das ist doch kein Leben für zwei, die sich mögen. In unserer eigenen Wohnung können wir nicht zusammen sein. Bei Tageslicht kannst du dich nicht sehen lassen; du mußt dich in dieser runtergekommenen Absteige verstecken. Und ich kann nicht mal herkommen, ohne –“ „Du bist doch nicht verfolgt worden?“ „Sei nicht albern, Bruno. Ich hab zwei Taxis genommen, die Hochbahn, eine Straßenbahn. Ich bin doch nicht blöd. Wenn mir einer folgt, merk ich das – und schüttle ihn ab. Wenn es sein muß.“ „Okay, okay.“ Farrell hatte dem Mädchen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie war bereits zweimal von Mulligan und O’Mara verhört worden. Wenn sie jetzt nicht verfolgt wurde, dann nur, weil sie irgendeinen anderen Trick auf Lager hatten. Er hatte auch ein schlechtes Gewissen, daß er ihr das Geheimnis seiner Identität niemals anvertraut hatte. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, schuldete er ihr das doch eigentlich, oder nicht? Aber wenn sie auch zusammen lebten, kannte er sie wirklich gut genug? ‚Trauen Sie keinem Menschen in Chicago, absolut keinem Menschen‘, hatte Stevens gesagt. So loyal sie sich gezeigt hatte, er wagte es nicht, das Risiko einzugehen. Jetzt war er es, der seufzte. „Je eher ich anfange, für Art zu arbeiten, desto besser ist es“, erklärte er mit einem gezwungenen Lächeln. „Aber es gibt doch etwas, was wir zusammen tun können – auch bevor ich Pescarolo gefunden und mich reingewaschen habe.“ „Was denn?“ „Gute Miene zum bösen Spiel machen“, versetzte Farrell grinsend. „Und die Stunden genießen“, fügte er hinzu, während seine Hand unter den Kragen ihrer Bluse glitt und den Stoff von ihrer Schulter streifte. „Ach, du!“ sagte Smokey. 195
Sie schwang ihre Beine auf das Bett, und ihre Hand griff zu seiner Gürtelschnalle. Das Razzmatazz war voller als sonst – und auch lauter. Kurz vor der Wahl, deren Ergebnisse die Existenz von mindestens 50 Prozent der Gäste wesentlich beeinflussen würden, waren die Emotionen – und die Leidenschaften – aufgeheizt. Nicht ein Abend verging ohne Prügeleien an der Bar, wütende Auseinandersetzungen und Tumulte an den Tischen, Streitigkeiten wegen der Mädchen, ohne die energische Einmischung der Rausschmeißer, die die unerwünschten Gäste an die Luft setzten. Farrell, der unterhalb von Mutt McKees brüllender großer Trommel am Rand der Rhythmusgruppe saß, war halb verdeckt durch die Blechgruppe, selbst jedoch so gut placiert, daß er die Tanzpaare und die Trinker an den Tischen in den anschließenden Gewölben überblicken konnte. Mulligan kam zweimal. Inoffiziell, so schien es, denn die Kellner und Barkeeper arbeiteten während seiner Besuche mit unverminderter Hektik weiter. Das erste Mal sah Farrell ihn erst, als er unter dem Torbogen neben dem Podium auftauchte – als er mit grimmig entschlossener Miene die Gäste an den Tischen rundum und das Gewühl der beineschmeißenden Charlestontänzer musterte. Farrell stand da gerade und schüttelte seine Maracas. Er hob die Arme, um sein Gesicht so gut wie möglich mit den volantbesetzten Ärmeln seines Kostüms zu verbergen. Doch der Blick des Polizeibeamten glitt ohne Neugier über die Musiker hinweg, zurück zu den Gästen. Farrell seufzte erleichtert auf. Er hatte Smokey versichert, daß es klappen würde, aber bei der Probe aufs Exempel hatte er doch Blut geschwitzt. Beim zweitenmal empfand Farrell mehr Frustration als Angst. Smokey hatte ihre Nummer soeben mit einem neuen und herrlich unanständigen Text zu The St. Louis 196
Tickler beendet, die Lichter flammten auf, während unten noch die Gäste tobten. Und in der Nische vor der Bar stand Mulligan, kauend wie immer. Farrell erstarrte. An der Theke, unmittelbar hinter dem Lieutenant, saßen Marty Pescarolo und ein blondes Mädchen in einem knallroten, paillettenschimmernden Kleid. Art Pearson blies die ersten Takte zu Big Butter and Egg Man. Farrells Finger krampften sich fester um den Hals seiner Gitarre. Er konnte nicht sehen, ob das Mädchen Gloria Sweeney war; sie saß mit dem Rücken zum Podium. Doch Pescarolos bläulich beschattetes Kinn, seine stumpfen schiefergrauen Augen, seine stutzerhafte Kleidung und die arrogante Haltung seines Kopfes waren unverkennbar. Der Mann, den zu finden er seine Freiheit aufs Spiel setzte, war nur einige Yards entfernt – und er konnte nichts unternehmen, weil Mulligan da war. Er konnte es nicht wagen, mitten in der Nummer das Podium zu verlassen: Das würde todsicher die Aufmerksamkeit des Polizeibeamten erregen. Aus demselben Grund konnte er Pescarolo nicht folgen, wenn dieser den Club verließ. Tatsächlich ging der Bandenboß schon Minuten später. Farrell sah, wie er vom Barhocker glitt und zwei Scheine auf die Theke warf. Er legte einen Arm um die Taille der Blondine. Doch als sie sich ihm zuwandte, drängte sich eine Gruppe betrunkener Studenten in die Nische und versperrte Farrell die Sicht. Als sie sich setzten, waren Pescarolo und das Mädchen schon verschwunden. Farrell kochte vor Ungeduld. Mulligan stand immer noch an der Bar. Am folgenden Abend ließ Pescarolo sich nicht blicken. Aber am Abend danach hatte Farrell Glück. Kurz vor Smokeys zweitem Auftritt wurde der Gangster zu einem reservierten Tisch gleich vor der kleinen Bühne geführt. Er war in Begleitung eines halben Dutzends grölender 197
Wahlhelfer mit Rosetten in den Knopflöchern – und das Mädchen an seinem Arm war Gloria Sweeney! Über seine Gitarre gebeugt, beobachtete Farrell verstohlen die Gruppe. Pescarolo war in Großmannsstimmung, es wurde viel gelacht an seinem Tisch und viel getrunken. Das Mädchen hing lässig in ihrem Sessel, hielt den Arm des Gangsters mit beiden Händen umfaßt. Sie war schon halb hinüber. Ihre Unterlippe glänzte feucht, und sie zeigte zuviel Busen unter der schwarzen Organzabluse. Farrell sah, wie ihre Augen Smokey hungrig folgten, als diese den Laufsteg entlangtänzelte. Das Lokal versank in Dunkelheit. Im von Rauchfäden durchzogenen Scheinwerferlicht stand Smokey da, runde dunkle Schultern, wippende volle Hüfte. Art Pearsons Klarinette hing schmachtend über Rustys Kornett, während die Rhythmusgruppe langsam und locker acht Takte schlug. Smokey sang: Old Deacon Spivin His flock was givin’ The way of livin’ right: Said he: ‚No wingin’, No ragtime singin’ Tonight!‘ Up jumped Aunt Hagar And shouted out with all her might: ,Now ’tain’t no use a-preachin! ’tain’t no use a-teachin’! Each modulation Each syncopation Just tell my feet to dance, And I sure cain’t refuse When I hear that melody called the blues …‘ Blech und Holz stiegen modulierend zu einer höheren Tonlage auf, während Mutt McKee das Becken schallen 198
ließ. Dann brüllte Smokey den synkopierten Refrain heraus: Just hear Aunt Hagar’s children Harmonising to that old mournful time! It’s like a choir From on high broke loose! If the Devil invent it, the Good Lord sent it Right down to me, Let the congregation Join in while I siny those loving Aunt Hagar’s Blues! Nach dem donnernden Applaus, in dem die letzten Takte der Nummer untergingen, hörte Farrell, wie Marty Pescarolo verächtlich lachte und prahlerisch zu den Wahlhelfern an seinem Tisch sagte: „Hah, das ist überhaupt nichts, Jungs! Die Negerhure kann dem kleinen Mädchen, das hier neben mir sitzt, nicht das Wasser reichen! Wartet nur, bis ihr den Schmachtfetzen hört, den wir morgen im Victorine aufnehmen …“ Gelächter und zotige Bemerkungen kamen von dem Tisch, als Smokey einen spektakulären Black-Bottom tanzte. Dann, während die Band die Einleitung zu ihrer Vampnummer spielte, standen Pescarolo und Gloria Sweeney auf und drängten sich zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang. Farrell legte seine Gitarre nieder, nickte Pearson zu und glitt unauffällig vom Podium. Als er durch die Dunkelheit zum Ausgang eilte, sang Smokey: I’m just a little girl, who’s looking for a little boy Who’s looking for a little girl To love … Boop Boop-a-doop! Eeee! Tell me please, where can he be, the loving he who’ll bring to me 199
The harmony and sympathy I crave … Scoo. Boop-adoo! Ow! Pescarolo und Gloria waren schon draußen auf dem Bürgersteig, als Farrell zur Treppe kam. Unter seinem Satinhemd trug er einen Anorak. Als er vor dem Judasauge stand, streifte er das grelle Hemd ab und reichte es dem Ordnungsmann. „Heben Sie es für mich auf, ja, Jack?“ bat er. „Ich hab was zu erledigen, und wenn ich so auf die Straße rausgehe, kriegen die Leute womöglich einen falschen Eindruck von mir.“ Der Ordnungsmann lachte. „Okay, Miß Valentino“, erwiderte er. „Soll ich es in die Damengarderobe hängen?“ Farrell lachte und tat so, als wollte er ihm einen Kinnhaken versetzen, dann ging er zur Tür hinaus. Pescarolos Pierce-Arrow parkte bei einem Feuerhydranten, etwa 50 Yards entfernt. Farrells Modell-T stand ein bißchen weiter weg. Er zog eine Schirmmütze aus der Tasche seines Anoraks und drückte sie sich tief in die Stirn, während er dem Paar in sicherem Abstand folgte. Das Mädchen schwankte leicht, den Kopf auf die Schulter des Gangsters gelegt. Neben dem Roadster blieben sie stehen, und Pescarolo öffnete die Tür. Als Farrell vorbeiging, hörte er das Mädchen sagen: „O Marty, du bist so stark ! Gloria hat einen winzig kleinen Schwips – du bestrafst sie doch nicht so streng, wenn wir nach Hause kommen, nicht wahr? Du bist so groß, und sie ist nur so klein.“ „Los, steig ein und halt’s Maul, du besoffenes Flittchen!“ fuhr Pescarolo sie ungeduldig an. Er schlug ihr hart hinten drauf und stieß sie zur Wagentür hin. Sie quietschte vor Entzücken und rutschte hastig auf den Beifahrersitz. Farrell preßte die Lippen zusammen und beugte sich nieder, den Ford anzukurbeln. 200
Es war nicht schwierig, Pescarolo auf den Fersen zu bleiben. Er fuhr langsam und unstet, vielleicht, weil er zuviel redete, um auf die Straße zu achten, vielleicht weil er nicht so viel Alkohol vertrug, wie er meinte. Vielleicht, dachte Farrell grimmig, hatte er das Mädchen übergelegt und versohlte ihr den Hintern. In der Auffahrt eines neuen, eleganten Appartementhauses in der Nähe der Prairie Avenue hielt Pescarolo an. Ein dicklicher Mann eilte unter dem erleuchteten Portal hervor, als Farrell in seinem Modell-T vorbeirollte. 50 Yards weiter unten fand er einen Parkplatz und stieg aus. Über die blitzenden Verdecks von Lincolns, Cadillacs, De Sotos und Auburns hinweg sah er, wie das Paar das Gebäude betrat. Der dickliche Mann fuhr den PierceArrow zu einem Parkplatz seitlich vom Haus und ging dann zurück ins Foyer. Farrell kehrte zu seinem Wagen zurück, wendete in der leeren Straße, bog in die Auffahrt ein und fuhr auf den Parkplatz. Die einzelnen Abstellplätze waren in Weiß auf dem Asphalt markiert, und neben jedem stand ein kleiner, gestreifter Pfosten mit einem Namen oder einer Nummer. Er schob seinen Wagen auf Nummer 703. Noch ehe er den Motor ausgeschaltet hatte, tauchte neben dem Fahrerfenster ein hochgewachsener Mann mit kalten Schlangenaugen auf. „Was, zum Teufel, soll das?“ fragte er. „Ich besuche einen Bekannten, was sonst?“ erwiderte Farrell kalt. „Der Parkplatz ist für die Mieter. Hauen Sie ab mit Ihrer Kiste, aber schnell.“ „Mein Bekannter ist ein Mieter hier. Wenn der Platz frei ist, warum kann ich dann nicht –“ „Parken Sie auf der Straße. Los, machen Sie, daß Sie wegkommen.“ Farrell fuhr zu seinem ersten Parkplatz zurück. Zu Fuß ging er die Auffahrt hinauf und trat unter die Mar201
kise vor dem Portal. Der dickliche Mann sah ihn kommen, folgte ihm so dicht auf durch die Drehtür, daß Farrell den Bierdunst in seinem Atem auf seiner Wange spüren konnte. Das Foyer war sehr groß, von Wand zu Wand mit einem roten Teppich ausgelegt. Die eckigen Säulen waren mit Spiegelglas verkleidet, und neben den Aufzügen war ein Empfangspult aus Mahagoni. Drei weitere stämmige Männer saßen in Ledersesseln mit Chromrahmen in der Nähe des Empfangspults. Farrell steuerte auf die Aufzüge zu. „Augenblick mal, Kumpel.“ Eine harte Hand legte sich auf seine Schulter. Er drehte sich um. Der Biertrinker blickte ihn finster an. „Wohin wollen Sie?“ Farrell zog die Brauen hoch. „Einen Bekannten besuchen. Warum?“ Von einem Mann mit Schirmmütze, Anorak und südländisch dunkler Hautfarbe klang das nicht sehr überzeugend. „Wer ist Ihr Bekannter? Welche Nummer hat seine Wohnung?“ „Siebennulldrei.“ Die Hand umschloß seinen Oberarm. Die drei Männer in den Sesseln waren aufgestanden. Farrell widerstand der Versuchung, dem Biertrinker eins aufs Maul zu geben. Er konnte sich kein Aufsehen leisten. „Und der Name?“ „Weizmann“, antwortete Farrell frech. „Jacob Weizmann.“ Die Hand umklammerte seinen Arm fester. „He, Ricci, hast du oben in Siebennulldrei einen Jud namens Weizmann?“ Ein vierter Mann, von der gleichen Statur wie die anderen drei, tauchte aus einem Büro hinter dem Empfangspult auf. „Nein“, erklärte er, ohne das Register einzusehen. „Wir führen hier ein sauberes Haus.“ 202
„Okay, Kumpel, ab durch die Mitte.“ Der Biertrinker schob Farrell zur Tür hin. Die drei Wächter folgten schweigend. Draußen, in der Auffahrt, bezahlte gerade ein älterer Mann im Smoking ein Taxi. Der Wächter stieß Farrell grob hinaus und knurrte: „Hauen Sie ab! Und ich würde Ihnen raten, sich hier nicht mehr blicken zu lassen.“ „Was gibt es denn, Menotti?“ fragte der ältere Mann. „Nichts Besonderes, Sir.“ Die barsche Stimme schlug plötzlich einen devoten Ton an. „Irgend so ein Gauner, der sich hier einschleichen wollte. Ich hab ihm aber gesagt, wo es lang geht. Diesen Vögeln kann man nicht über den Weg trauen.“ „Sehr gut, sehr gut haben Sie das gemacht. Man kann heutzutage, wo es überall von Gangstern wimmelt, wirklich nicht vorsichtig genug sein.“ Farrell zuckte zornig die Achseln und kehrte zu seinem Wagen zurück. Er fuhr eine Straße weiter, bog ab, bog an der nächsten Ecke wieder ab. Gleich darauf parkte er an der Einmündung der Gasse, die hinter dem Appartementhaus entlangführte. Er schlich sich durch die schmale Straße, bis er die Hintertür des Gebäudes sehen konnte. Licht flutete über eine Reihe von Mülltonnen – und warf, auf die weißgetünchte Wand drinnen, den Schatten eines Mannes in einem breitkrempigen Hut. Pescarolo hatte offensichtlich Sorge dafür getragen, daß sein Schönheitsschlaf nicht gestört werden konnte. Das Haus war besser bewacht als ein Gefängnis. Farrell starrte die häßlichen Betonmauern hinauf. Keine Balkons, keine Regenrinnen, keine Vorsprünge an der glatten Fassade. Aber er wußte ja sowieso nicht, in welchem Stockwerk der Gangster sein Appartement hatte. Wenn er den Mann irgendwo stellen wollte, wo er ihn allein erwischen konnte, würde er bis zum Morgen warten und dann die Verfolgungsjagd wieder aufnehmen müssen. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zurück. Er parkte 203
an einer Stelle, wo er den Pierce-Arrow im Auge behalten konnte. Es schien unwahrscheinlich, daß Pescarolo sich auch nur einen Meter ohne sein Auto fortbewegen würde. Es war eine lange Nacht, und eine kalte dazu. Ein beißender Wind war aufgekommen, der die Straßenlampen in ihren Halterungen schüttelte und die Sterne zu unnatürlichem Glanz aufpolierte. Farrell, der zusammengekauert auf dem vorderen Sitz des Fords hockte, sah im gelben Lichtschein das Glitzern mineralischen Gesteins im Pflaster des Bürgersteigs. Der Anorak war warm, aber er hatte nichts, womit er sich die Beine hätte bedecken können – und er wagte es nicht, den Motor anzulassen, weil er fürchtete, dann die Aufmerksamkeit der Wächter im Foyer auf sich zu ziehen. Als endlich über den Villen und Appartementhäusern östlich der Auffahrt eine bleiche Aprilsonne aufging, war sein Magen zusammengekrampft vor Hunger, sein stoppliges Kinn juckte, seine rotgeränderten Augen brannten – und er zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Den fortschreitenden Morgen unterteilte er nach den Geräuschen, die er hörte: das Klappern von Milchflaschen, das Rattern einer frühen Straßenbahn irgendwo jenseits der Dächer, das Summen eines elektrisch betriebenen Straßenreinigungswagens, das metallische Klirren von Mülltonnen und endlich Schritte und das Zischen von Reifen auf der trockenen Fahrbahn. Farrell hätte fünfzig Dollar für eine Tasse heißen Kaffees gegeben. Als der Verkehr sich verdichtete, stieg er aus dem Wagen und marschierte auf und ab, während er die Arme schwang und mit den Füßen stampfte, um sich warm zu machen. Der kalte Wind hatte alle Wolken vom Himmel weggefegt. Die Sonne schien hell, aber sie hatte keine Wärme. Vielleicht hundert Dollar, dachte Farrell, wenn der Kaffee wirklich heiß war. Erst um halb elf tauchte einer der Wächter aus dem 204
Haus auf und ging zum Parkplatz, um den Pierce-Arrow anzulassen. Dankbar kurbelte Farrell den Modell-T an. Pescarolo und Gloria Sweeney kamen heraus. Gloria trug einen kurzen Fuchsmantel und eine Strickmütze; der Gangster stolzierte in einem Kamelhaarmantel mit Biberkragen und einem kleinen Tweedhut durch die Tür. Sie stiegen in den Roadster und fuhren in Richtung zur Stadt davon. Farrell folgte ihnen zur 22nd Street, dann in westlicher Richtung nach Cicero hinaus. Dort bogen sie nach Süden ab und fuhren zur Rennbahn Hawthorne. Neben dem Rennplatz war ein Baseballstadion, und dort war irgend etwas los. Die Parkplätze waren überfüllt, Fahnen und Girlanden flatterten über den Tribünen. Farrell konnte die schrillen Töne einer Blechkapelle hören. Ihm fiel ein, daß am nächsten Tag Wahltag war: Offenbar – dies war schließlich Capones Revier – war Pescarolo von dem Obergangster herzitiert worden, um an irgendeiner Veranstaltung teilzunehmen, mit der man in letzter Minute noch Stimmen für Thompson fangen wollte. Als Farrell dem Paar durch die Sperre folgte – der Eintritt war frei, wie er amüsiert feststellte –, sah er, welcher Art die Attraktion war. Auf der Suche nach einer Neuheit hatten die Organisatoren eine typisch englische Volksbelustigung importiert: Motorradfußball. Die beiden Teams fuhren gerade aufs Feld, als Farrell eintraf. Die eine Seite trug Hemden in den Farben von Bürgermeister Thompson, die andere trat in Deneens Farben an. Es lag auf der Hand, daß das Spiel ein reiner Gag war: Das Thompson-Team würde einen entscheidenden Sieg davontragen, was den Wählern nichts anderes sagen sollte, als daß Big Bill immer die Oberhand behielt. Capone saß, umgeben von Presseleuten und Anhängern, in einer Loge. Der perlgraue Filzhut saß tief über der zernarbten Stirn seines Gesichts. Farrell erkannte 205
Klenha, den Marionettenbürgermeister von Cicero, Jake Guzik, Capones Finanzgenie, die Killer Scalise und Anselmi und eine Anzahl lokaler Gemeinderäte. Unter der Loge blieb Pescarolo stehen, um dem König der Verbrecher die Hand zu schütteln und ein paar scherzhafte Worte mit ihm auszutauschen, dann führte er das Mädchen zu einer anderen Loge, in der seine eigenen Leute warteten. Die Band spielte das Wahllied Thompsons, Big Bill the Builder. Eine Pfeife schrillte. Mit einem Aufheulen aus 22 Maschinen und unter Hurrarufen der Menge begann das Spiel. Farrell eilte durch die leere Wetthalle zu einem Telefon. Er rief Smokey zu Hause an und bat sie, um Himmels willen mit einer Thermosflasche heißen Kaffees und einem Rasierapparat herzufahren. Während er wartete, ging er zu einem Würstchenstand und verschlang gierig drei der unappetitlichen Würste. Als Smokey eine halbe Stunde später ankam, führte Thompsons Mannschaft bereits drei zu null. Farrell rasierte sich mit kaltem Wasser in der Toilette, trank etwas Kaffee und setzte sich dann zu Smokey auf die Terrasse. Die Tafel zeigte fünf zu zwei für Thompsons Team an, die Band spielte Sousa, und die Menge tobte. Sie gingen etwas nach rechts hinüber, um einen besseren Blick auf Pescarolos Loge zu haben. Farrell stieß versehentlich mit einem schmächtigen Mann mit einer Schirmmütze zusammen, entschuldigte sich und erstarrte, als der Mann sich mit einem unterdrückten Fluch umdrehte. Es war das Wiesel. Die hellen Augen weiteten sich. Das Wieselgesicht verzerrte sich zu einer Maske des Hasses. In der unwahrscheinlichen Rolle des Nachtclubmusikers hatten Farrell die dunkel getönte Haut und die veränderte Frisur genügt, um unerkannt zu bleiben – aber nicht hier, im hellen, kalten Sonnenlicht, wo er einem Mann gege206
nüberstand, den er gedemütigt und geschlagen hatte. Das Wiesel duckte sich und verlor sich in der Menge. Farrell starrte voller Unruhe auf Pescarolos Loge. Es dauerte nicht lange, da erschienen die Schirmmütze, die gekrümmten Schultern und das dünne Gesicht im Hintergrund der Loge. Das Wiesel beugte sich vor und redete auf Pescarolo ein. Der stand abrupt auf und spähte über die Menschenmenge hinweg. Das Wiesel streckte den Arm aus. „Smokey“, sagte Farrell, „wir müssen hier verduften.“ Die Menge grölte. Wieder ein Tor für Thompsons Mannschaft. Die Band stimmte Old Glory an. Drei Gangster bahnten sich zielbewußt einen Weg durch die Zuschauer und näherten sich Farrell und Smokey. Er nahm ihren Arm und schob sich mit ihr der Rampe zu, die zu den höher gelegenen Terrassen führte. Drei weitere Ganoven rannten die Rampe hinauf und versperrten ihnen den Weg. Farrell warf einen verzweifelten Blick über seine Schulter. Die Menschenmenge konzentrierte sich in den unteren Reihen der Tribüne. Oberhalb des Mittelgangs waren die Betonstufen leer – abgesehen von einer weiteren Gruppe von Gangstern, die jetzt zu ihnen hinuntereilten. Er nahm Smokey bei der Hand, sprang in die nächste Reihe hinunter, drängte sich durch die Zuschauer, sprang wieder, merkte, daß plötzlich eine Bewegung durch die Menge ging. Das Spiel hatte wieder angefangen. Etwa sechs Fahrer rasten auf die Tribüne zu, schlugen mit einem Fuß nach dem Ball, während sie in dem Bemühen, einen Zusammenstoß zu vermeiden, hierhin und dorthin steuerten. Farrell und Smokey rannten aufs Spielfeld. Bei der Mittellinie war was los. Der Ball flog zu den Terrassen hinauf. Der Schiedsrichter pfiff. Drei Spieler waren zusammengestoßen; zwei waren von ihren Maschinen gestürzt. Farrell raste über das Spielfeld, packte den Lenker 207
der nächstliegenden Maschine und stellte sie auf, während Smokey schon ihren Rock raffte und sich auf den Sozius schwang. Laut protestierend sprang der Fahrer auf. Farrell versetzte ihm einen Stoß in die Brust, saß auf und gab Gas. Er holperte über das Feld, riß die Maschine mehrmals herum, um anderen Fahrern auszuweichen. Smokeys Arme lagen fest um seinen Körper. Die Menge schrie. Die Band spielte Over the Waves. Dann endlich erreichten sie den asphaltierten Weg auf der anderen Seite des Spielfelds und rasten dem Ausgang zu. Smokey drehte den Kopf und blickte über ihre Schulter zurück. Die Gangster waren aufs Spielfeld gelaufen. Drei von ihnen hatten sich Motorräder geschnappt und nahmen die Verfolgung auf. „Gib Gas, Schatz“, rief sie. „Sie kommen hinterher.“ Farrell nickte, gab Gas, und im Zickzack schossen sie über einen Parkplatz, schlitterten um einen Wächter bei dem großen, eisernen Tor herum und brausten die Straße entlang, die in die Ortsmitte führte. Hinter ihnen hingen die Verfolger geduckt über ihren Lenkern, machten langsam Boden gut. Farrell, der mit doppelter Ladung fuhr, war auf der langen Geraden im Nachteil. Im dichten Verkehr, wo hohe Geschwindigkeit weniger wichtig war, würde er besser dran sein, sagte er sich. Bei der Ampel an der 24th Street bog er nach links ab, an der nächsten Kreuzung nach rechts, dann an der 22nd wieder nach links. Straßenbahnen und Lieferwagen behinderten hier die Taxis und Autos. Farrell schlängelte sich zwischen den stehenden Fahrzeugen hindurch, am Anton Hotel und am Hawthorne Inn vorbei, weiter zur Apotheke an der Ecke und dem Hochbahnhof. Die Reihe der Verfolger hinter ihnen hatte sich jetzt auseinandergezogen. Einer der Ganoven war nur etwa 150 Yards entfernt, aber die anderen waren zurückgefallen. 208
Kurz vor einer entgegenkommenden Straßenbahn riß er abrupt das Steuer herum, schoß quer über die Fahrbahn in eine Gasse auf der anderen Straßenseite hinein. Die Gasse war eine Abkürzung zur Hochbahn. Wenn die Straßenbahn die Verfolger aufhielt – wenn gerade ein Zug zur Abfahrt bereit stand –, mitten in seinen Überlegungen setzte Farrell plötzlich aus. Sein Gedächtnis hatte ihn getrogen: Das war die falsche Gasse, und es war eine Sackgasse. Am hinteren Ende war eine Menschenmenge versammelt. Transparente hingen schlaff über einer gestreiften Markise. Riesige Plakate schrien von der Mauer, die die Gasse begrenzte. „Großer Charleston-Wettbewerb! Freie Teilnahme! Big Bill zahlt dem Sieger 1 000 Dollar! Jeder kann mitmachen!“ Farrell fuhr bis an den Rand des Gedränges heran, lehnte das Motorrad gegen die Mauer und zog Smokey mit sich in das Geschiebe von Männern und Frauen vor den offenen Türen unter der Markise hinein. Die Verfolger waren noch nicht in der Gasse aufgetaucht. Hatten sie ihn überhaupt hineinfahren sehen? Oder hatte ihnen die Straßenbahn die Sicht versperrt? Wenn ja, dann glaubten sie vielleicht, er hätte einfach gewendet und wäre auf der 22nd Street zurückgefahren. Die Frage war noch immer unbeantwortet, als sie ins Foyer des Tanzsaals traten. Es roch nach billigem Parfüm und Schweiß und Desinfektionsmittel. Auf der einen Seite der riesigen Tanzfläche spielte ein Orchester eine flotte Version von Lonesome and Sorry. Farrell nahm Smokeys Hand, und sie gingen auf die Tanzfläche. Etwa zweihundert Paare ruckten und zuckten im Takt zur Musik. Mitglieder der Jury wanderten zwischen ihnen umher und tippten den weniger talentierten Paaren auf die Schulter. Doch kaum wurde ein Paar eliminiert, da drängte sich schon von außen ein neues Teilnehmer209
paar heran, so daß unter den zuckergußrosa Luftschlangen ein ständiges wildes Gewoge war. Lampions, Luftschlangen und Girlanden umrahmten das Podium auf dem die Jury saß. Die Nummer endete mit klirrenden Beckenschlägen. Die Bühne, auf der die Band stand, drehte sich, eine kleine Jazzgruppe, die ein feuriges Arrangement von Barney Google spielte, kam zum Vorschein. Smokeys Arme und Beine machten sich selbständig. Sie wurde zu einem Wirbelwind aus Ellbogen, Knien und Füßen. Farrell führte sie hinüber zu jener Seite des Saals, der vom Eingang am weitesten entfernt war. Hinter den Seilen, die die Tanzfläche umgrenzten, stand eine Anzahl von Presseleuten. „Bravo, Mädchen!“ rief jemand. Ein Blitzlicht flammte auf. „Vorsicht, Baby!“ warnte Farrell. „Das ist ein Marathonwettbewerb. Kann sein, daß wir Stunden hier aushalten müssen, bis wir sicher sein können, daß wir die Schweine abgeschüttelt haben. Wenn du so weitermachst, dann gewinnst du womöglich und kommst in die Zeitung.“ Lieutenant Mulligan schritt, vom Geklapper der Schreibmaschinen begleitet, durch die Lokalredaktion des Globe. Der Polizeiberichterstatter hockte auf der Kante seines Schreibtischs und las eine Korrekturfahne. Seine Augen waren zusammengekniffen gegen den Rauch, der aus der Zigarette zwischen seinen Lippen aufstieg. „Mettner!“ rief der Polizeibeamte. „Ich möchte mit dir über Farrell reden.“ Mettner ließ die Fahne sinken und zog die Augenbrauen hoch. „Schon wieder?“ Es war das erste Mal, daß er Mulligan seit dem Tag von Farrells Ausbruch wiedersah. „Schon wieder. Es gibt da noch was –“ Mulligan brach ab. Michaelson, der Chefredakteur, nä210
herte sich mit einem Stapel von Korrekturfahnen in der Hand. „Die Story ist in Ordnung“, sagte er zu Mettner. „Aber wo, zum Teufel, ist das Bild?“ „Ist das noch nicht da? Herrgott, ich hab den Kerlen doch gesagt –“ Mettner drückte seine Zigarette in einer Untertasse aus, auf der eine Tasse mit kalt gewordenem Kaffee stand. „Ich geh mal ’rauf ins Labor und sag Harry, er soll ein bißchen Dampf machen.“ „Und sehen Sie zu, daß das Ding zweieinhalb Spalten wird“, rief Michaelson im Weggehen. „Also wegen Farrell …“, begann Mulligan wieder. Aber der Rest des Satzes ging unter. Telefone läuteten. Ein Fernschreiber neben Mettners Schreibtisch begann laut zu stottern. „Was? Hör mal, Howie – es tut mir wirklich leid. Wir haben einen Haufen Arbeit. Es ist gleich Redaktionsschluß. Du mußt schon mitkommen, wenn du mit mir reden willst.“ Mettner ging voraus zu einem Korridor im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Er drückte auf den Aufzugknopf. „Also, was wolltest du sagen?“ „Der Kerl hat mir doch erzählt, daß er als Prohibitionsagent in Massachussetts gearbeitet hätte.“ „Stimmt.“ Mettner drückte nochmals auf den Knopf. „Diese verdammten Aufzüge!“ schimpfte er. „Komm, zu Fuß geht’s schneller. Es sind nur zwei Stockwerke.“ „Ich hab mich bei der zuständigen Behörde des Justizministeriums erkundigt“, sagte Mulligan, als sie die Treppe hinaufliefen. „Das hab ich auch getan.“ „Man sagte mir, es hätte tatsächlich mal ein Bruno Farrell in der Gegend von Cape Cod gearbeitet“, fuhr Mulligan grimmig fort. „Vor drei Jahren.“ „Und ungefähr so lange ist er hier, nicht wahr?“ „Ja. Nur wurde er damals nach Washington abberufen.“ 211
Sie gingen ins Fotolabor hinein. Die Fenster waren verdunkelt, in der Luft lag ein beißender Geruch. Im schummrigen roten Licht waren ganze Reihen von Fotografien zum Trocknen aufgehängt. Mettner trat zu einem mageren, kahlköpfigen Mann in Hemdsärmeln. „Was ist mit dem Bild von der Bombenexplosion, Harry?“ „Welches meinen Sie? Das von Deneens Wahlkampfwagen im Loop, oder –?“ „Nein, das, wo sie die Gemeindehalle kurz vor der Versammlung haben hochgehen lassen.“ „Ach so. Das ist gleich fertig. Da liegt es schon.“ Harry ging zu einer seichten Wanne, in dem mehrere Abzüge, bleich und leer, in einer klaren Flüssigkeit lagen. Er kippte die Wanne hin und her, so daß die Flüssigkeit von einer Seite zur andern schwappte. Allmählich erschienen umrißhafte Formen auf den Abzügen. „Was, zum Teufel, ist denn das?“ fragte Mettner. „Das oberste? Irgend so eine verrückte Wahlveranstaltung in Cicero. Es ist gerade hereingekommen.“ „Lassen Sie mich das mal sehen!“ Mulligan lehnte sich über Mettners Schulter. „Mensch, ich brauch sofort einen Streifenwagen!“ rief er. Aus der klaren Flüssigkeit hoben sich deutlicher und deutlicher die Gesichter von Bruno Farrell und Smokey Hernandez ab. Das Tonstudio lag in einer Seitenstraße vom Wacker Drive, südlich vom Fluß. Schalldichte Wände unterteilten den großen Raum, der früher als Saal für Versammlungen gedient hatte. An einem Ende befanden sich die Garderoben, am anderen Ende, hinter einer Glaswand, ein Aufnahmeraum. Vor einem Flügel und einer Reihe Notenständern stand ein Mikrofon mit der Inschrift Victorine Phono Inc. 212
Farrell und Smokey kamen erst nach Einbruch der Dunkelheit dort an. Es war vier Uhr geworden, ehe Farrell, erschöpft von ununterbrochenem Tanzen, beschlossen hatte, die sich lichtenden Reihen der CharlestonWütigen zu verlassen und sich durch einen Notausgang aus dem Saal zu stehlen. Von Pescarolos Leuten war keine Spur zu sehen gewesen. Aber sie hatten eine Stunde gebraucht, um in einer Seitenstraße ein Taxi aufzutreiben, Smokeys Packard in Hawthorne Park abzuholen und nach Hause zu fahren. Und da hatte dann Farrell seinen Geistesblitz gehabt. Er war wütend und enttäuscht gewesen, daß er gezwungen gewesen war, vor dem Bandenboß davonzulaufen, fragte sich, ob es weise war, jetzt, wo Pescarolo wußte, daß er es auf ihn abgesehen hatte, in den Club zurückzukehren – und da plötzlich, während er sich die Szene im Razzmatazz durch den Kopf gehen ließ, war es ihm eingefallen. Bei Smokeys Auftritt am vergangenen Abend – ein verächtliches Lachen – eine prahlerische Bemerkung – Gloria Sweeneys Stimme am Abend des Mordes: ‚Mr. Pescarolo sagt, er könnte einen Star aus mir machen …‘, und dann am vergangenen Abend der Gangster selbst: ‚Das ist gar nichts – wartet, bis ihr den Schmachtfetzen hört, den wir morgen im – ja wo? – aufnehmen werden.‘ Im Victoria? Viridine? Vic-irgendwas, dessen war Farrell sicher. Er nahm das Telefonbuch und begann darin zu blättern. Victoria Park. Die Victory Hotels. Victoria Avebue, Victoria Drive, Victoria Road. Vickys Imbißstube. Pescarolo hatte von aufnehmen gesprochen. Das konnte sich doch nur auf ein Tonstudio beziehen. Aha! Farrells Zeigefinger hielt an: Im Loop gab es ein Victorine Studios Inc. Ja, das mußte es sein. Er kritzelte Adresse und Telefonnummer auf einen Zettel und griff zum Telefon. Wenn Gloria und ihr starker Mann zu dem Fußballspiel eingeladen gewesen waren, so war dem ganz gewiß ein großes Mittagessen gefolgt. Sie würde deshalb ihr 213
Debüt als Schlagersängerin wohl kaum vor dem späten Nachmittag oder dem frühen Abend geben. Vielleicht war noch Zeit, die Spur aufzunehmen. Ja, die Frauenstimme am Telefon bestätigte. Für sieben Uhr war eine Aufnahme auf den Namen Pescarolo gebucht. Die Sängerin war einfach unter dem Namen „Gloria“ eingetragen. Saxophon, Trompete, Klarinette und eine kleine Rhythmusgruppe. Farrell küßte Smokey auf die Wange. „Es geht los“, sagte er. Der Pierce-Arrow stand draußen vor dem alten Versammlungshaus. Farrell zog seinen Revolver aus dem Holster und reichte Smokey die kleine Automatic, die er bei dem Überfall bei Peabody benutzt hatte. „Nur für den Fall“, murmelte er. „Komm, Baby, jetzt wird’s ernst.“ Sie gingen die Treppe hinauf und stießen die Tür auf. Drinnen war eine zweite Tür mit kleinen Fenstern. Farrell hielt das Mädchen zurück. Pescarolo und Gloria Sweeney standen auf der anderen Seite im Vorraum und sprachen mit einem Techniker, der einen grünen Augenschirm trug. „Das dauert nur einen Moment, Herrschaften“, sagte der Techniker. „Wir haben bei der letzten Aufnahme ein bißchen überzogen. Die Jungs sind nur schnell rübergegangen, um was zu essen.“ „Okay, dann gehe ich in die Garderobe und mache mich frisch“, bemerkte Gloria. Der Techniker hüstelte. „Die letzte Sängerin ist noch nicht ganz fertig“, sagte er. „Aber sie wird gleich ’raus sein. Vielleicht möchten Sie in den Aufnahmeraum gehen, dann könnten wir das Mikrofon einstellen!“ Pescarolo nickte. Er stieß eine Tür auf einer Seite des Vorraums auf und wich zur Seite, um Gloria Sweeney den Vortritt zu lassen. Der Techniker ging in den Kontrollraum. Im Studio schlüpfte Pescarolo aus seinem Kamelhaarmantel und warf ihn über einen Stuhl. Er zog eine Zigar214
re aus seiner Westentasche und schnitt das Ende mit einem goldenen Abschneider ab. „Oh, ich bin ja so aufgeregt“, säuselte Gloria. „Glaubst du wirklich, daß die Platte ein Erfolg wird? Glaubst du wirklich, daß ich es schaffen werde?“ „Wo die Organisation dahintersteht? Klar!“ Pescarolo riß ein Streichholz an. „Und eine gute Aufnahme wird es auch“, fuhr er fort, während er an seiner Zigarre zog. „Die haben hier elektrische Geräte, das Modernste vom Modernen. Da schau, da ist das Mikrofon.“ Er ließ das Streichholz auf den Kokosteppich fallen und trat es aus. „Die Hände ganz hoch“, sagte Farrell von der Tür her, „und langsam umdrehen!“ Der Revolver in seiner Hand war auf den Rücken des Gangsters gerichtet. Pescarolo drehte sich auf dem Absatz um und nahm die Zigarre aus dem Mund. „Sieh mal einer an, unser Schönling“, sagte er, „der Mörder, den alle suchen.“ „Die Hände!“ Lässig gehorchte Pescarolo. Die Ringe an seinen Fingern blitzten im harten Licht der ungeschirmten Glühbirnen, die von der Decke herabhingen. Gloria Sweeney war mit aufgerissenen Augen zurückgewichen. „Werfen Sie Ihren Revolver auf den Boden, hier vor meine Füße“, befahl Farrell. „Aber langsam und gemütlich.“ Ein Smith & Wesson 38er fiel auf den Teppich. Farrell stellte den Fuß darauf. Dann, die Augen unverwandt auf Pescarolos Gesicht gerichtet, bückte er sich und hob den Revolver auf. Er hielt ihn in der linken Hand. Smokey, die hinter ihm ins Studio getreten war, nahm die Waffe und kehrte zur Tür zurück. „Entschuldigen Sie meine Neugier“, sagte Pescarolo träge, „aber was, zum Teufel, soll diese idiotische Komödie eigentlich?“ 215
„Sie haben das Mädchen“, sagte Farrell mit einem Nicken zu Gloria Sweeney hin, „in Vorbereitung des Mordes an ihrem Vater entführt. Die ganze Sache war ein Komplott, um mir den Mord anzuhängen. Ich möchte wissen, wer den Schuß abgegeben hat.“ „Ach ja? Und wie kommen Sie darauf, daß ich Ihnen das sagen werde, vorausgesetzt, ich wüßte es?“ „Sie wissen es ganz genau. Und ich werde Sie zwingen, es zu sagen“, versetzte Farrell. „Da kann ich nur lachen“, entgegnete Pescarolo verächtlich. „Was wollen Sie denn tun? Mich erschießen? Vor drei Zeugen? Wo Sie sowieso schon auf der Flucht sind? Machen Sie sich nicht lächerlich, Sie kleiner Spaghettifresser: Sie getrauen sich nicht, auch nur einen einzigen verdammten Schuß abzugeben, das liegt doch auf der Hand.“ „Ich habe gar nicht vor zu schießen“, erwiderte Farrell. „Ich werd’s aus Ihnen rausprügeln.“ Der Bandenboß lachte. Es hörte sich an, als wäre er wirklich erheitert. „Sie und wer noch?“ höhnte er. „Mann, ich könnte Ihnen den Kragen umdrehen, noch ehe Sie mich überhaupt anrühren!“ Farrell hatte gelernt, daß im Kampf von Mann zu Mann der Überraschungsfaktor von entscheidender Bedeutung ist: Nimm deinen Vorteil wahr, ehe dein Gegner überhaupt merkt, daß der Kampf begonnen hat. Und bring ihn dazu, daß er die Beherrschung verliert. Meistens war der Kämpfer, der als erster wütend wurde, auch der, der den Kampf verlor. Pescarolo war ein harter Bursche – aber er war auch eitel. Farrell sagte sich, daß seine Stutzerkleidung möglicherweise sein wunder Punkt war. An der Wand neben der Tür standen mehrere rote Feuerwehreimer. Einige waren mit Sand gefüllt, die anderen mit Wasser. Der, der der Tür am nächsten stand, 216
enthielt Wasser – frühere Besitzer des Studios jedoch hatten ihn als Aschenbecher, Spucknapf und Mülleimer benutzt: Das Wasser war bräunlich gefärbt von Kaffee, auf seiner Oberfläche schwammen Schleimfäden, ausgelöschte Zigarettenkippen und Orangenschalen. Farrell warf Smokey seinen Revolver zu. „Sie sollten die Zigarre ausmachen, Marty“, sagte er. „Sonst setzen Sie noch das Haus in Brand.“ Als Pescarolo unwillkürlich auf die Zigarre in seiner rechten Hand blickte, bückte sich Farrell, nahm den Eimer und goß seinen Inhalt mit Schwung über den eleganten englischen Tweedanzug des Gangsters. Das schmutzige Wasser durchnäßte Pescarolo bis auf die Haut, Kaffeesatz, Tabakfetzchen und Schleimfäden klebten an seinem Hemd und seinem Jackett. Er stieß einen unartikulierten Wutschrei aus, als ihm die eiskalte Dusche vorübergehend den Atem nahm. Farrell schwang ihm den leeren Eimer seitlich an den Kopf und schleuderte ihn dann fort, noch ehe Pescarolo reagieren konnte. Blitzschnell setzte er dem Gangster zwei harte Faustschläge in den Solarplexus. Es war, als schlüge man gegen eine Mauer. Pescarolo schüttelte den Kopf wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Sein Gesicht war krebsrot vor Wut. „Du – niederträchtige, dreckige Ratte!“ stieß er hervor. „Dafür schlag ich dich windelweich!“ „Versuch’s doch“, höhnte Farrell. Mit dem Fuß trat er nach Pescarolos Knie und landete dann zwei rasche Schläge über seinem Herzen. Pescarolo war behende für einen Mann seines Umfangs. Er wich dem Fußtritt aus und ging mit den Schlägen mit, während er gleichzeitig einen linken Schwinger losließ, der Farrell seitlich am Kopf erwischte und zu Fall brachte. Er ließ einen Nackenschlag mit der Handkante folgen, als Farrell zu Boden ging – aber Farrell sprang schon wieder hoch wie ein Gummiball, tauchte unter der De217
ckung Pescarolos hindurch und schlug ihm mit beiden Händen hart aufs Kinn. Während sie sich im Studio schlugen, griff der Techniker im Tonraum zum Telefon. Smokey rannte mit ihren beiden Revolvern hinaus und machte ihm klar, daß es besser war, im Augenblick nicht zu telefonieren. Die beiden Männer im Studio keuchten. Farrell hatte eine aufgeplatzte Lippe und eine Schwellung über einem Auge; Pescarolo blutete aus der Nase, und an seinem Jackett war ein Ärmel halb herausgerissen. Er tat so, als wollte er Farrell von links einen Schwinger an den Kopf verpassen. Farrell duckte sich – und rannte genau in den rechten Haken, der ihm den Kopf zurückriß und in die Reihe der Notenständer hineinschleuderte. Er stolperte und stürzte, und die leichten Metallständer klapperten klirrend über ihm zusammen. Pescarolo packte einen der Ständer und holte aus, ihn auf Farrells Kopf niedersausen zu lassen; Farrell wälzte sich weg, kam stolpernd auf die Beine und rannte mit gesenktem Kopf gegen den massigen Mann an. Er rammte ihn Pescarolo in den Magen, schob ihn durch das Zimmer, bis er mit den Kniekehlen gegen einen Stuhl stieß und stürzte. Als er sich hochrappeln wollte, zerschmetterte Farrell den Stuhl auf seinem Rücken. Der Gangster war wirklich ein knallharter Bursche. Wieder schüttelte er sich, grunzend vor Zorn, und richtete sich auf die Knie auf. Farrell trat ihn gegen das Kinn. Krachend fiel er auf den Rücken, und Farrell stürzte sich auf ihn. Pescarolo zog die Knie an und streckte blitzartig die Beine, als Farrell auf ihm landete. Seine Absätze trafen Farrell in den Unterleib und schleuderten ihn in einen Stapel von Stühlen. Schwankend versuchte Farrell, sich aufzurichten, aber der Gangster war schon auf den Beinen und griff wieder an. Er packte mit der einen Hand Farrells Anorak und versetzte ihm mit der anderen ei218
nen mörderischen Schlag an den Kopf. Farrell stürzte um wie ein gefällter Baum. Pescarolo trat ihm wuchtig ins Kreuz. Farrell stöhnte und rührte sich nicht. Pescarolo grinste schadenfroh. Er wischte sich das Blut vom Gesicht und ging dann um Farrell herum, um ihm einen Fußtritt an den Kopf zu geben. Gloria Sweeney schrie erschreckt auf. Aber Farrell spielte nur den toten Mann. Er wußte jetzt, daß es sinnlos war, zu versuchen, Pescarolo mit Schlägen unterzukriegen: Der Mann war einfach zu kräftig. Siegen konnte er jetzt nur noch mit List. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie der Fuß zurückschwang, sah, wie er sich vorwärts bewegte, auf sein Gesicht zu … Farrell schnellte hoch, packte den Fuß mit beiden Händen und drehte ihn mit einem harten Ruck herum. Es knackte, als wäre ein trockener Ast abgebrochen. Pescarolo schrie auf und fiel auf den Kokosteppich. Während er sich wand vor Schmerzen, zog ihn Farrell hoch und klemmte ihn dann mit dem Gesicht nach unten und zwischen die Beine eines umgekippten Stuhls. Er kniete sich auf Pescarolos Rücken und grub seine Finger in das Haar des Gangsters. „So“, keuchte er, „und jetzt heraus damit: Wer hat Marcus Sweeney getötet?“ „Fahr zur Hölle“, stöhnte Pescarolo. „Heilige Mutter Gottes, mein Knöchel!“ „Wer hat geschossen? Waren Sie es?“ „Du kannst mir den Buckel runterrutschen, du dreckiger Itaker! – Heiliger Jesus! Mein –“ Der Gangster brach mit einem erstickten Stöhnen ab, als Farrell fester zupackte und seinen Kopf nach rückwärts zog, bis die Halsmuskeln so straff waren wie Violinsaiten. „Haben Sie Sweeney erschossen?“ Pescarolo stieß einen Fluch aus und gab keine Ant219
wort. Farrell griff mit der freien Hand in seine Hüfttasche und zog den Rasierapparat heraus, den Smokey ihm nach Hawthorne Park mitgebracht hatte. Vor Pescarolos Augen öffnete er ihn und hielt ihm die Klinge an die Kehle. „Haben Sie Sweeney erschossen?“ wiederholte er. Pescarolos Augen waren starr wie die eines Wahnsinnigen. Farrell fuhr mit der Klinge behutsam über die gestraffte Haut. Sie platzte auf wie eine überreife Weintraube. Blutstropfen fielen auf ein Notenblatt auf dem Boden. „Ich frage Sie zum letztenmal“, sagte Farrell. „Schon recht, schon recht, verdammt noch mal!“ Pescarolos Stimme war ein entsetztes Krächzen. „Ich hab ihn erschossen.“ „Und die beiden Ganoven im Nebengebäude?“ „Ja – ja, verdammt noch mal. Die hab ich auch erschossen.“ „Und Sie haben meinen Revolver gestohlen und mir die ganze Sache angehängt?“ „Heilige Mutter Gottes! Was wollen Sie denn noch –? Ja! Ich hab’s Ihnen angehängt – und Sie werden auch dafür braten, Sie Schwein, weil Sie nichts beweisen können.“ „Darauf würde ich mich nicht verlassen“, sagte Smokey von der Tür her. „Die Mater drüben ist die ganze Zeit gelaufen – und das Mikrofon ist eingeschaltet. Ihr ganzes kleines Geständnis ist also auf Platte aufgenommen, und es sind Zeugen da, die beweisen können, wem die Stimmen gehören. Wie Sie sagten, Mr. Pescarolo, die Platte wird ein Erfolg werden – ganz besonders in Gerichtskreisen.“ „Bravo“, keuchte Farrell. Er glitt von Pescarolo herunter und zog seine Kleider zurecht. Der Gangster glitt, um Atem ringend, zu Boden. Er bot ein erbarmungswürdiges Bild; das klatschnasse 220
Jackett beschmutzt und zerrissen, eine blutverschmierte Hand auf die Fleischwunde am Hals gedrückt, die andere mit angebrochenen Knöcheln. „Jetzt brauche ich nur noch von Ihnen die Bestätigung“, wandte sich Farrell an Gloria Sweeney, „daß nicht ich es war, der Sie aus dem Haus Ihres Vaters entführt hat.“ Er grinste sie an, während er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. „Und daß ich der edle Ritter war, der Sie aus den Klauen der Komplicen dieses Herrn befreit hat.“ Sie starrte ihn aus leuchtenden Augen an. „Ich finde Sie wunderbar!“ hauchte sie. „Sind Sie fertig hier drinnen?“ fragte eine Stimme vom anderen Ende des Studios. „Oder störe ich, wenn ich jetzt hier durch zum Ausgang gehe?“ Farrell, Smokey und Gloria fuhren herum. Eine üppige Blondine in einem Zobelmantel stand unter der Tür der Garderobe. Farrell stockte der Atem. Princey Hartz! Princey hatte Aufnahme gehabt, bevor Pescarolo und Gloria eingetroffen waren – Princey, die Bluessängerin, mit der Farrell zusammen gelebt hatte, als er neu nach Chicago gekommen war; Princey, die eine große Amerika-Tournee gemacht hatte; dieselbe Princey, ein wenig fülliger im Gesicht, aber sexy und vital wie immer. Tänzelnd, ein selbstsicheres Lächeln auf den Lippen, trat sie ins Zimmer – und dann sperrte sie voller Erstaunen den Mund auf. Die blauen Augen hinter den getuschten Wimpern leuchteten auf. „Bruno!“ rief sie. „Liebster! Mein Gott, so was von einem Zufall! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt, Süßer? Lieber Himmel, es ist herrlich, dich wiederzusehen!“ „Hallo, Princey!“ sagte Farrell. „Mein Gott, du bist ja ganz zerzaust“, stellte Princey voller Mitgefühl fest. „Du kommst jetzt gleich mit heim zu Mama, mein Schatz. Ich hab die Wohnung im Wacker 221
Drive noch, weißt du noch? Das ist praktisch um die Ecke von hier. Wir fahren nach Hause und –“ „Augenblick mal, Schwester!“ Smokeys Stimme war hart. „Was heißt hier Süßer? Damit du es weißt, das ist zufällig mein Freund, dem du Anträge machst!“ „Ich wußte gar nicht“, versetzte Princey frostig, „daß man dem, was einem selbst gehört, Anträge machen kann.“ „Laß gefälligst deine Krallen von meinem Eigentum!“ „Ich laß mir doch von einer schwarzen Kuh nicht sagen, was ich zu tun habe!“ „Ich würd mit meinen Ausdrücken ein bißchen vorsichtiger sein, du Herzchen!“ „Nenn mich nicht Herzchen, du Luder!“ Gloria hakte sich bei Farrell unter. „Wer möchte wohl mit solchen Damen was zu tun haben?“ gurrte sie. „Kommen Sie mit mir, Bruno, und ich sag aus, was Sie wollen.“ Sie warf ihm einen schalkhaften Blick zu. Ihre Finger umfaßten seinen Arm fester. „Aber nur wenn –“, sagte sie. „Heiliger Himmel!“ rief Farrell. Er riß sich los und floh. Da war vielleicht ein Todesurteil noch besser, dachte er, als ein Lebenslänglich mit einer dieser drei. Er rannte durch die Türen und lief die Treppe hinunter in die Nacht. Lieutenant Mulligan hielt die Tür des Polizeifahrzeuges offen, das am Bordstein stand. „Farrell“, sagte er und wies mit dem Revolver in der Hand auf den Wagen. „Wir haben lange auf Sie gewartet.“ Farrell lächelte müde. „Sie haben nicht zufällig einen Haftbefehl, nehme ich an?“ fragte er.
2 Ich möchte nicht, daß Sie den falschen Eindruck bekommen. Ich meine, es waren nicht nur die Republikaner. Als Anton Cernak im Sommer 1931 222
Bürgermeister wurde, fiel die Stadt dem politischen Apparat der Demokraten in die Hände – und innerhalb von sechs Monaten brachten sie es mit ihrer Tammany Society-Politik so weit, daß Thompson sich neben ihnen wie ein Waisenknabe ausnahm. Cernak sah das Ende der Prohibition voraus und konzentrierte sich auf die 7 500 Spielhöllen in Chicago. Er drängte sogar die Banden aus diesem Geschäft heraus. Ein Jahr später hatte die Stadtverwaltung 300 Millionen Dollar Schulden. Es gab keine Müllabfuhr, keine Straßenreinigung, kein Personal für Schulen und Ämter, weil kein Geld da war, die Leute zu bezahlen. Es war wie in New York im Jahre 1975. 1932 schlossen innerhalb eines Monats 38 Banken in Chicago ihre Türen. Aber das war nach der Zeit, von der hier die Rede ist. Ich nehme an, es war immer so und wird immer so sein. Hat jemand was von Watergate gesagt? „Zufällig nicht“, antwortete Lieutenant Mulligan. Er schloß die Tür und tippte dem Fahrer auf die Schulter. Der Wagen setzte sich in Bewegung. „Sie haben keinen Haftbefehl?“ fragte Farrell verdutzt. „Weshalb sollte ich einen haben?“ erwiderte Mulligan. „Sie sind bereits verhaftet und verurteilt worden. Da wäre doch ein Haftbefehl jetzt überflüssig, nicht wahr?“ Farrell warf ihm einen verwunderten Blick zu. In der flackernden Beleuchtung der Straßenlampen, die am Auto vorbeiglitten, konnte er sehen, daß das Nußknackergesicht des Lieutenants in einem Lächeln verzogen war. Mulligan kaute nicht einmal. „Ich versteh immer Bahnhof“, sagte Farrell. „Sie werden’s schon noch begreifen.“ „Aber – geht es denn nicht um den Gefängnisausbruch?“ „Darüber reden wir später“, entschied Mulligan. Und er sagte nichts mehr, bis Farrell in seinem Büro vor ihm saß. 223
Zur Überraschung Farrells war auch Mettner im Büro, eine schlaksige Gestalt, die mit der unvermeidlichen Zigarette im Mund an einem der Heizkörper lehnte. Neben ihm stand ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug. „Das ist Mr. Robert Masterman“, stellte Mulligan vor, „von der Staatsanwaltschaft in Washington.“ Farrell verstand noch immer nicht. Masterman räusperte sich. „Vielleicht klärt sich einiges für Sie“, sagte er, „wenn ich Ihnen sage, daß ich bestellt wurde, die Geschäfte des verstorbenen George Stevens zu übernehmen.“ Farrells Herz tat einen Sprung. „Sie wollen doch nicht sagen –? Lieber Gott! Aber ich dachte – ich meine, er sagte mir, niemand wüßte –“ „Von Ihrer wahren Identität? Davon wußte auch niemand. Aber George war ein sehr methodischer Mensch, Mr. Farrell. In einem Safe in seiner Wohnung befand sich ein versiegelter Umschlag, der im Fall seines Todes geöffnet werden sollte. Unter anderem befand sich in diesem Umschlag ein umfassender Bericht über Ihre Tätigkeit für die Behörde. Sobald ich in den Zeitungen von Ihrem – äh – Dilemma las, bin ich selbstverständlich hierhergefahren, um zu sehen, was ich tun könnte.“ „Na so was!“ sagte Farrell verwundert. „Der alte Höllenhund.“ „Genau. George wollte, daß Sie allein arbeiten, absolut allein, weil er in Chicago nicht einen einzigen Menschen kannte, dem er vertrauen konnte. Ich bin da in einer glücklicheren Lage. Ich kenne einen solchen Mann. Und dieser Mann, einer der sehr wenigen unbestechlichen Polizeibeamten dieser Stadt, ist Lieutenant Mulligan.“ Mulligan wurde rot und begann in den Papieren auf seinem Schreibtisch zu kramen. Er wickelte einen Kaugummi aus, stopfte ihn sich in den Mund und begann wie wild zu kauen. 224
„Seit einigen Jahren“, fuhr Masterman fort, „schickt der Lieutenant mir private Berichte, die sich auf Bestechungsaffären bei der Polizei, Korruption, Rechtsbeugung und dergleichen mehr beziehen. Zweifellos hegte er den Verdacht, daß sie alle auf irgendeinem Regal verstaubten.“ Mulligans Gesicht rötete sich noch tiefer, und er begann in einer Schublade seines Schreibtischs zu kramen. „Aber das war nicht der Fall. Tatsächlich waren sie für uns von unschätzbarem Wert – und das wird sich auch bald erweisen“, erklärte Masterman. „Aus diesem Grund habe ich beschlossen, ihn in Ihr Geheimnis einzuweihen, in der Hoffnung, daß Sie in Zukunft zusammenarbeiten können.“ „Es wird mir ein echtes Vergnügen sein“, versicherte Farrell und meinte es ernst. Er grinste Mulligan an. „Deshalb heiße ich also plötzlich Farrell und nicht mehr Faroli?“ „Wir haben Sie den ganzen Tag gejagt“, knurrte Mulligan, „um Ihnen mitzuteilen, daß der Zauber vorbei ist. Zum Glück konnte mir Mettner einen Hinweis geben. In Cicero haben wir Sie leider verfehlt.“ „Aber woher wußten Sie denn, daß ich in dem Tonstudio war?“ Zum erstenmal, seit Farrell das Büro betreten hatte, schaltete Mettner sich ein. „Sie – äh – haben die Adresse auf einem Zettel in Ihrer Wohnung hinterlassen“, sagte er. Farrell lachte. „Sie hatten wohl nicht zufällig einen –“ „Einen Durchsuchungsbefehl?“ fiel ihm Mettner ins Wort. „Nein, den hatte ich nicht. Aber Journalisten erlauben sich manches, was sich ein ehrlicher Polizeibeamter nicht erlauben würde.“ Mulligan machte ein verlegenes Gesicht. „Vor ein paar Tagen sagten Sie zu mir, Sie schuldeten mir für ungefähr drei Jahre Entschuldigungen“, bemerkte er befangen. „Ich war so dumm, Ihnen Ihre Geschich225
te nicht zu glauben. Jetzt, wo ich weiß, was Sie getan haben, welche Risiken Sie auf sich genommen haben und warum – tja, ich glaube, ich muß Ihnen die Entschuldigung mit Zins und Zinseszins zurückgeben.“ Farrell stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Lieutenant“, sage er, „es erfüllt mich mit Stolz, Ihnen die Hand schütteln zu können. Ich glaube, mit Jason hier als Informationsquelle werden wir ein recht gutes Team abgeben.“ Mulligan griff in die Tiefe der Schublade, die er geöffnet hatte, und brachte eine Flasche Canadian Rye zum Vorschein. „Dieses ganze Gewäsch von Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit“, sagte er barsch. „Sie haben schon so viele Verbrechen begangen, daß da wohl ein kleiner illegaler Schluck kaum noch Schaden anrichten wird.“ „Apropos Verbrechen“, sagte Farrell später, „ich bin noch immer ein zum Tode verurteilter Mörder. Pescarolos Geständnis ist aufgezeichnet – ich meine im wahrsten Sinne des Wortes. Aber –“ „Vernichten Sie es“, warf Masterman ein. „Wenn wir den Fall wieder aufrollen, ließe sich gar nicht vermeiden, daß Ihre wahre Identität herauskommt. Offiziell wird eine Berufung nicht stattfinden, und Sie werden hingerichtet werden. In Wirklichkeit –“ Er machte eine Pause und sah Farrell mit einem dünnen Lächeln an. „In Wirklichkeit werden Sie sich der kosmetischen Operation unterziehen, die George Ihnen schon einmal vorschlug. Mit einem neuen Gesicht und einer neuen Identität werden Sie als Rick Martin nach Chicago zurückkehren, ein kleiner Ganove, der ganz versessen darauf ist, in die Bandengeschäfte einzusteigen. Nur werden Sie diesmal im Revier der Hanson Street einen Verbündeten haben.“ Zum zweitenmal machte er eine Pause. „Wenn Sie bereit sind, darauf einzugehen“, fügte er hinzu. „Aber klar“, erwiderte Farrell. „Ich spiele immer gern in einer Gewinnermannschaft.“ Er warf einen Blick auf 226
die Tür, die in O’Maras Büro führte. „Aber was wird aus unserem mutigen Captain?“ fragte er. „Captain O’Mara wird in Kürze seines Postens enthoben werden“, antwortete Masterman grimmig. „Ich sehe eine Beförderung für Lieutenant Mulligan.“ Mettner seufzte. „Der beste Krimi in meiner ganzen Karriere“, stellte er fest, „und ich darf nicht ein Wort davon drucken!“ Masterman blätterte Papiere in einem Aktenkoffer durch. „Wie Sie sich erinnern werden“, wandte er sich an Farrell, „sagte ich Ihnen, daß George Stevens einen umfassenden Bericht über Ihre Tätigkeit für die Abteilung hinterlassen hat. Nun, ich muß Sie daran erinnern, daß Sie seit mehr als zwei Monaten keine Spesenabrechnung mehr eingereicht haben …“
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EPILOG
Ja, das wär’s eigentlich. Sie wissen, was später geschah. Der folgende Tag war der Wahltag. Trotz Bombenterrors und Gewalt, trotz Drohungen und Entführungen entschieden sich die Bürger von Chicago mit überwältigender Mehrheit für eine Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung. Außer in einigen von den Gangstern beherrschten Bezirken wurden Thompsons Kandidaten überall hinausgeworfen und Deneens nominiert. Das alte Großmaul blieb zwar Bürgermeister, aber sein politischer Apparat war zertrümmert. 1931 verlor Deneen gegen die Demokraten, und dann wurde es schlimmer als je zuvor, wie ich Ihnen schon erzählt habe. Aber so ist nun mal das Leben, nicht wahr? Ich und Howie Mulligan haben weiterhin zusammengearbeitet. Nach dem St.-Valentins-Massaker von 1929 schickte das Justizministerium einen weiteren Geheimagenten, einen Iren namens Patrick O’Rourke, der sich in Capones Bande einschleichen sollte. Im selben Jahr wurde Capone wegen eines Vergehens gegen das Waffengesetz zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Während er saß, stöberten ich und O’Rourke – dessen Deckname Michael Lepito lautete – eine Menge weiterer Informationen über Capone auf. Endlich also (ich glaube, es war 1931) konnten George Irey und seine Fahndungsgruppe Capone wegen Steuerhinterziehung für elf Jahre hinter Gitter bringen. Zur gleichen Zeit brachte eine Gruppe von Geschäftsleuten in Chicago, die sich die Secret Six nannten, einen Batzen Geld auf, um es Elliot Ness und seinen Un228
bestechlichen zu ermöglichen, die Brauereien der Alkoholschmuggler eine nach der anderen außer Aktion zu setzen. Das haben Sie wahrscheinlich schon auf dem Fernsehschirm oder im Kino gesehen. Damals ist es laut zugegangen – aber das ist eine andere Geschichte. Princey und Gloria und Smokey? Tja, das ist auch eine andere Geschichte. Ziemlich persönlich. Sie verstehen, was ich meine? Selbst ein alter Mann hat seine Geheimnisse. Ich hörte allerdings, Gloria wäre Ende der dreißiger Jahre nach Deutschland gegangen – aber vielleicht ist das nur ein Gerücht. Und jeder, der die Zeitung liest, weiß, was aus den anderen beiden geworden ist. Ich persönlich? Nun, nachdem man Capone dingfest gemacht hatte, meinte Masterman, es wäre nicht allzu gesund für mich, wenn ich im Lande bliebe. Die Mafia hat einen langen Arm. Und auch ein langes Gedächtnis, wenn es um Rache geht: Roger Tuohy haben sie erst 1959 erwischt, als er nach Verbüßung einer fünfundzwanzigjährigen Zuchthausstrafe wegen einer Entführungsgeschichte, die Capone ihm angehängt hatte, aus dem Gefängnis entlassen wurde. Deshalb schickte das Ministerium Rick Martin hierher, nach Kuba. Ich habe das Leben hier genossen. Zunächst entdeckte ich wieder meine alte Leidenschaft fürs Segeln und versorgte gleichzeitig Washington mit Informationen über den Rumschmuggel – und den Waffenschmuggel – draußen in den Florida vorgelagerten Keys. Im Krieg hatte ich mit Rauschgift zu tun – noch immer im Rahmen meiner Tätigkeit als Geheimagent, versteht sich, und gab alles, was ich in Erfahrung brachte, an das Rauschgiftdezernat weiter. Dann übergab ich, auf Anweisung, kurz vor der Revolution alles den Roten und befand mich deshalb in bestem Einvernehmen mit Castro, als er an die Macht kam.
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Copyright © 1979 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. „CHICAGO DEADLINE“ Copyright © by Ed Mazzaro, 1978 Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Westberlin, im westlichen Ausland und in Jugoslawien ist nicht gestattet.
1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 Lizenz-Nr.: 409–160/151/82 • LSV 7324 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 559 8 DDR 2,– M