Sergio Bambaren Ein Strand für meine Träume Zu diesem Buch John Williams, ein Workaholic, hat alles erreicht, was im Leben zu zählen scheint: Geld, Erfolg, ein tolles Haus und gesellschaftliches Ansehen. Nur sein persönliches Glück, das hat er noch nicht gefunden. Immer stärker spürt er die innere Leere und Unzufriedenheit. Da trifft er einen geheimnisvollen Weisen, den alten Simon, der sein Freund wird und ihm zeigt, wo der Strand seiner Träume und der Schlüssel zum Glück liegen. John muß erkennen, daß Statussymbole nicht alles bedeuten, und lernen, ehrlich mit sich selbst zu sein. Als er es wagt, loszulassen und zu verzichten, macht er die wertvollste und schönste Erfahrung seines Lebens. Eine bewegende und poetische Geschichte voll Wärme und Menschlichkeit darüber, wie die große Sehnsucht nach Glück Wirklichkeit wird und wozu wir tief im Innersten fähig sind, wenn wir diese Sprache verstehen.
Aus dem Englischen von Elke vom Scheidt Mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both
Sergio Bambaren, geboren 1960 in Peru, Studium in den USA. Seine Suche nach der perfekten Welle führte den passionierten Surfer um die ganze Welt. Bambaren lebt nach längerem Aufenthalt in Sydney heute als Schriftsteller wieder überwiegend in Peru. Auf deutsch erschienen außerdem seine Bestseller »Der träumende Delphin« (1998), »Das weiße Segel« (2001) und »Der Traum des Leuchtturmwärters« (2002). Piper München Zürich
Von Sergio Bambaren liegt in der Serie Piper außerdem vor: Der träumende Delphin (2941) Der Traum des Leuchtturmwärters (3643)
Sie können Sergio Bambaren direkt erreichen über
[email protected] Ungekürzte Taschenbuchausgabe Piper Verlag GmbH, München 1. Auflage Januar 2001 6. Auflage April 2002 © 1996 Sergio F. Bambaren Titel der australischen Originalausgabe: »Beach of dreams«, McPhersons Printing Group, Victoria © der deutschsprachigen Originalausgabe: 1999 Kabel Verlag GmbH, München Umschlag: Büro Hamburg Stefanie Oberbeck, Katrin Hoffmann Umschlagabbildung: Heinke Both Satz: Wirth, München Reproduktion der Abbildungen: Lorenz & Zeller, Inning a. A. Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-23229-9 www.piper.de
Für Olga, wo immer Du gerade bist
Der glückliche Mensch ist nicht der, der anderen glücklich erscheint, sondern der sich selbst glücklich schätzt. PUBLILIUS SYRUS, Moralische Sprüche Glück hängt, wie die Natur zeigt, weniger von äußeren Dingen ab, als die meisten annehmen. WILLIAM COWPER
Prolog Ich stand vor dem Foto auf meinem Schreibtisch und starrte den Mann an, der eine schöne goldene Muschel auf seiner Handfläche hielt. Ich hatte ihm diese Muschel geschenkt. Nichts geschah. Ich schloß ganz fest die Augen, um mich zu konzentrieren, und versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, mich an den Zauber zu erinnern, den er einst in meinem Herzen entfacht hatte. Nichts geschah. Anscheinend war der Zauber verflogen. »Ich vermisse dich, Simon«, hörte ich mich selbst flüstern. Langsam rann eine Träne über meine Wange. Ich trank einen Schluck Portwein, den gleichen rubinroten Portwein, den ich so oft mit Simon geteilt hatte, wenn wir noch lange nach Sonnenuntergang
an seinem »Strand der Träume«, wie er ihn nannte, saßen und redeten; diesem magischen Ort auf der Welt, an dem Simon und seine Träume in einer alten, verfallenen Hütte lebten. Und unwillkürlich mußte ich an ihn denken, der mich so viel gelehrt hatte, fern von den Menschenmengen der Großstadt, in der Einsamkeit seiner geheimen Welt. Einen Mann, der mich auf eine Entdeckungsreise zu mir selbst geführt hatte; eine Reise auf der Suche nach dem Glück, das in jedem von uns wohnt. Diese unglaubliche Reise begann unmittelbar vor meinem vierzigsten Geburtstag. An dem Tag fingen meine Falten zu schwinden an. Die auf meinem Gesicht und die in meinem Herzen. Aber das ist schon Teil der Geschichte ...
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1 Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen ?
Es war Morgen, und die Wolkenkratzer der Stadt filterten die Strahlen der frühen Sonne. Während ich gedankenverloren zur Arbeit ging, umgeben vom Lärm der vibrierenden Großstadt, dachte ich an die Vorstandssitzung, an der ich an diesem Vormittag bei Williams Amalgamated teilnehmen würde, der Finanzgesellschaft, die ich vor fünfzehn Jahren gegründet hatte. Normalerweise versuchte ich, wenn ich zur Arbeit ging, die Boulevards zu nehmen, die die Innenstadt kreuz und quer durchschneiden, um dem betäubenden Lärm der morgendlichen Stoßzeit auszuweichen. Dies, das wußte ich, war ein Mittel geworden, mich vor der Realität zu verstecken; ein Abwehrmechanismus, mich selbst glauben zu machen, daß ich nicht Teil von dem war, was mich umgab. Aber an diesem Morgen blieb ich stehen und sah auf meine Uhr. Ich habe noch eine Viertelstunde, dachte ich. Zu früh, um ins Büro zu gehen; also machte ich einen Umweg durch den Park.
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Der kleine Park, nicht weit von meinem Büro entfernt, war das einzig Natürliche, was in diesem Betondschungel übriggeblieben war. Von Gebäuden eingeschlossen, langsam vergiftet von den Tausenden von Autos, die jeden Tag durch die Straßen fuhren, war dieser kleine Park ein Tribut an das Überleben; die Blumen darin versuchten noch immer zu blühen, die alten Bäume, die in den Überresten dessen standen, was noch vor hundert Jahren ein schönes, grünes Tal gewesen war, gaben nicht auf. »Wenn diese Bäume reden könnten ...«, sagte ich zu mir selbst. Ich setzte mich auf eine Parkbank, drei Blocks von dem Büro entfernt, in dem ich in den letzten fünfzehn Jahren Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat die besten Stunden meines Lebens verbracht hatte. Ich war das, was die Leute einen erfolgreichen Mann nennen würden. Schon in sehr jungen Jahren hatte ich sehr hart gearbeitet. Ich hatte eine bemerkenswerte Jugend mit fabelhaften Freunden, Privatschulen und privaten Universitäten erlebt und meine Abschlüsse mit Auszeichnung gemacht. Zwei Diplome, die an der Wand meines Büros hängen, zeugen davon. Morgen würde ich vierzig werden. Im Büro
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würde es eine große Party geben, gefolgt von einem kleinen Beisammensein nach der Arbeit und den üblichen drei oder vier Drinks. Ich hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, viele Stunden täglich, und an all den Luxus gedacht, den ich mir eines Tages würde leisten können. Und jetzt besaß ich ihn endlich: ein großartiges Haus, einen schicken Sportwagen und Leute, die mich bewunderten und um meine Stellung und meine finanzielle Sicherheit beneideten. Ich war auf dem Gipfel meiner Karriere angekommen, und alles schien möglich. Die Welt lag mir zu Füßen. Ich schätzte mein Leben und die Freiheit, mir alles leisten und tun zu können, was mir gefiel, aber irgend etwas stimmte nicht, und ich glaubte zu wissen, was das war. Bei all der Hetze von einer Konferenz zur nächsten, den Versuchen, ein Geschäft nach dem anderen abzuschließen, den Flügen von einer Stadt zur anderen und den Übernachtungen in so vielen Hotels, daß ich manchmal nicht mal mehr wußte, wo ich eigentlich gerade war, wenn ich morgens aufwachte, fehlte mir etwas, und jetzt wurde mir klar, was das war.
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Ich war nicht mehr glücklich. Ich erinnerte mich, wie ich es als Kind genossen hatte, meine Tage am Strand zu verbringen, auf den Wellen zu reiten und die Möwen hoch oben am Himmel, den Sonnenuntergang am Horizont, die anmutig in der Brandung spielenden Delphine zu beobachten. Jetzt schien mir jeglicher Genuß an den einfachen Freuden des Lebens abhanden gekommen zu sein. Obwohl ich alles besaß, was ich mir auf dieser Welt wünschte, hatte ich in Wirklichkeit nichts. »Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen?« »Wie bitte?« »Ich frage mich manchmal, was mit der Welt passieren würde, wenn jeder sein Glas als halb voll bezeichnen könnte.« Das waren seine ersten Worte, und sie trafen mich völlig unvorbereitet. Dann lächelte der Fremde mich an. Er lächelte, wie ich es nie zuvor bei jemandem gesehen hatte, und nur für einen Moment kam mir ein Gedanke in den Sinn: Er hat die Antwort, nach der ich suche. Er dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. 16
»Kenne ich Sie?« fragte ich. »Ich denke schon.« Ausgeschlossen, dachte ich. Der Mann sah aus wie ein Bettler. Mit seinem langen Haar, dem langen Bart und den zerfetzten Kleidern war es schlichtweg unmöglich, daß ich ihn kannte. Doch aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an jemanden, an wen, wollte mir aber nicht einfallen. »Übrigens, ich heiße Simon«, sagte er. »Williams. John Williams.« »Sehr erfreut, Sie an diesem schönen Tag zu treffen, Mister Williams.« Bist du verrückt? dachte ich. Was fällt dir ein, mitten im Park mit diesem Bettler zu reden? Jetzt kennt er deinen Namen. Wer weiß, was er von dir will ... »Sie müssen sich irren«, sagte ich. Ich zog einen Fünf-Dollar-Schein aus der Brieftasche und reichte ihn ihm. »Nehmen Sie das und kaufen Sie sich etwas Warmes.« »Nein danke, Mister Williams. Behalten Sie das, bis wir uns am Strand der Träume treffen.« »Wenn Sie es nicht wollen ...« »Behalten Sie es einfach, bis wir uns am Strand der Träume treffen«, wiederholte er. 17
»Na gut, wie Sie wollen«, meinte ich und steckte die Banknote wieder in die Brieftasche. Ich stand auf, um zu gehen. Und dann begann ich zu laufen. Ich rannte schneller, als ich je zuvor in meinem Leben gerannt war. Und wieder stieg dieses seltsame Gefühl in mir auf, das ich schon mehrfach erlebt hatte, seit ich meinen Weg auf der Welt verloren hatte, und formte sich zu der Frage: »Wovor läufst du weg, John Williams?«
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Was auch immer das Beste für mich ist, muß nicht zwangsläufig auch für Sie das Beste sein ...
Ich weiß nicht, wie ich an diesem Morgen ins Büro kam. Ich fand mich einfach an meinem Schreibtisch wieder, mit meinem Lieblingsstift spielend, den ich durch die Finger rollen ließ. »Mister Williams? Mister Williams, geht es Ihnen nicht gut?« Ich kehrte auf die Erde zurück. »Oh, doch. Entschuldigung, Sarah, ich habe Sie gar nicht gehört.« Ich starrte die Frau vor mir an. Ja, das war Sarah, meine loyale Sekretärin, die seit der Gründung von Williams Amalgamated zu mir gehalten hatte. Immer da, in guten wie in schlechten Zeiten. »Alles in Ordnung, Mister Williams? Einen Moment lang dachte ich, Sie wären ganz woanders. Sie sahen sehr traurig aus, und ...« »Sarah, haben Sie jemals von einem Ort irgendwo an der Küste gehört, der >Strand der Träume< heißt?« »Hmm, eigentlich nicht. Sie etwa?« 20
»Ich habe noch nie von einem Strand dieses Namens gehört, aber aus irgendeinem Grund erinnert er mich an etwas.« »Ich habe auch noch nie von einem Strand gehört, der so heißt, Sir. Zumindest nicht in der Nähe unserer Stadt.« »Macht nichts, Sarah, trotzdem vielen Dank. Und jetzt - was wollten Sie mir denn nun sagen ...« Der Tag im Büro verging wie gewöhnlich mit der Lösung dessen, was vielbeschäftigte Leute wichtige Fragen nennen; mit der Diskussion von neuen Entwicklungen und Venturegeschäften, an denen man sich beteiligen sollte. Die Vorstandssitzung fand statt, ebenso die Konferenz des Managements, nur daß diese länger als sonst dauerte. Es war neun Uhr abends, und ich war müde. Wieder ein vergeudeter Tag, dachte ich. Da muß es doch noch etwas anderes geben. Und dann erinnerte ich mich an den Bettler. »Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen?« 21
Mein Leben fühlt sich an wie ein halbleeres Glas, dachte ich. Ich nahm mein Jackett und schickte mich an, das Büro zu verlassen. »Es war ein langer Tag, Mister Williams. Ich hoffe, Sie kommen zur Ruhe. Schönen Abend.« »Schönen Abend, Sarah. Bitte vergessen Sie nicht, das Büro abzuschließen.« Ich wollte schon gehen, doch dann hielt ich einen Moment inne. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Sarah, finden Sie, daß diese zehn oder zwölf Stunden Arbeit täglich, Tag um Tag, Jahr um Jahr, finden Sie, daß sie die Anstrengung wirklich wert sind? Oder haben wir uns einfach daran gewöhnt und können nicht mehr anders?« »Sie stellen heute seltsame Fragen, Mister Williams.« »Nein, ich meine es ernst, Sarah. Würden Sie lieber etwas anderes machen als hier sein und das tun, was wir jeden Tag tun?« Sie sah mich mit ihrem typischen warmen, mütterlichen Ausdruck an. »Mister Williams, ich kenne Sie seit fünfzehn Jahren, und ich glaube, ich kenne 22
Sie gut. Ich habe gesehen, wie Ihre Energie sich mit den Jahren verzehrt hat, aber ich habe auch all die wunderbaren Dinge gesehen, die Sie erreicht haben, und den Respekt, den die Leute vor Ihnen haben.« Dann fuhr sie fort und blickte mich dabei unumwunden an: »Ich glaube, keiner kann beurteilen, ob es das wert war, nur Sie allein, Mister Williams.« Sie hielt einen Moment inne und sprach dann weiter: »Würde ich lieber woanders sein? Ich glaube nicht. Ich habe ein gutes Leben gehabt, mit guten und schlechten Momenten natürlich, aber ich bin glücklich, für Sie zu arbeiten. In gewisser Weise erinnern Sie mich an jemanden, der mir sehr wichtig ist. Aber vergessen Sie nicht, was auch immer das Beste für mich ist, muß nicht zwangsläufig auch für Sie das Beste sein. Meinen Sie nicht?« Ich sah starr aus dem Fenster und versuchte, eine Antwort zu finden. »Ich weiß es nicht, Sarah. Ich weiß es einfach nicht mehr.«
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Die Zukunft kommt früh genug. Ganz gleich, was man tut. Und dann wird einem klar, wie wichtig es ist, daß man sich Zeit nimmt zu leben, glücklich zu sein.
Wenn es einen Ort auf der Welt gäbe, wo ich klar denken und all meine Probleme hinter mir lassen könnte, dann wäre das »die Bucht«. Das war meine liebevolle Bezeichnung für den Strand vor meinem Haus. Der vordere Balkon des Hauses ging direkt auf einen langen Sandstrand zwischen zwei Klippen hinaus, die ihn effektvoll vom Rest der Küste trennten. Der Strand zwischen diesen beiden Klippen hatte die Form einer Mondsichel, daher der Name »die Bucht«. Tatsächlich ging ich immer nachmittags, wenn es mir möglich war - und das war in letzter Zeit nicht allzuoft der Fall gewesen - die ganze Länge des Strandes ab und dann wieder zurück. Ich liebte es, die reine Luft mit dem frischen Meeresgeruch einzuatmen und das flüsternde Geräusch der Brandung in den Ohren zu haben. An diesem Nachmittag glitten am Horizont zwei Möwen dahin. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sein wie sie, dachte ich. Sie scheinen zu wis-
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sen, was sie machen, ihr Tun als sinnvoll zu erleben. Wenn ich sie fliegen sehe, weiß ich, daß sie sind, was sie sein sollen. Ich wünschte, für mich würde das auch gelten. »Was für ein wunderschöner Nachmittag, Mister Williams«, sagte eine Stimme. »Freut mich, daß Sie diesen prachtvollen Augenblick der Natur genießen, wenn die Sonne das Meer trifft.« Ich konnte es nicht glauben. »Simon?« »Ich bin froh, daß Sie sich noch an mich erinnern, Mister Williams. Ich hatte mir ein bißchen Sorgen um Sie gemacht. Nach unserem Treffen neulich im Park dachte ich ...« »Was machen Sie hier?« hörte ich mich schreien. »Ich genieße den Augenblick, genau wie Sie, Sir.« Jetzt weiß er, wo ich wohne, dachte ich, und zu ihm sagte ich: »Ich habe Sie noch nie an diesem Strand gesehen. Was machen Sie hier?« »Ich wohne hier in der Nähe, Mister Williams«, antwortete Simon. Mit diesen Kleidern unmöglich, dachte ich. Ich mußte es darauf ankommen lassen. »Ich wohne fünf Blocks südlich von hier, Simon. Wo ist Ihr Haus?« 28
»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Mein Haus liegt am Strand der Träume. Kein großes Haus, aber mir ist es gerade recht so.« »Und die Adresse?« fragte ich ihn. »Es ist ein Ort, ein Ort, den Sie auch kennen, Mister Williams.« Ich sah seine Augen. Er blickte traurig drein und sagte: »Sie erinnern sich bloß nicht.« »Ist das irgendein Trick, Simon? Was wollen Sie wirklich von mir? Geld, einen Job oder was?« Sein Ausdruck veränderte sich, und er lächelte. »Ich möchte bloß, daß Sie glücklich sind, Mister Williams. Das ist alles.« »Nun, wenn Sie wollen, daß ich glücklich bin, dann lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich möchte nicht mit Ihnen reden, und ich will Sie auch nicht wiedersehen.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg. Im Weggehen hörte ich ihn sagen: »Wie Sie bereits entdeckt haben, Mister Williams, die Zukunft kommt früh genug. Ganz gleich, was man tut. Und dann wird einem klar, wie wichtig es ist, daß man sich Zeit nimmt zu leben, glücklich zu sein.« 29
Ich fing an zu laufen, schneller und schneller, versuchte ihm zu entkommen, aber als ich gerade im Begriff war, mein Haus zu erreichen, durchfuhr mich wie ein Blitz ein Gedanke: Bin ich vor Simon davongelaufen oder vor der Wahrheit?
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Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist. Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.
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Eines Nachmittags spazierte ich barfuß die Bucht entlang. Gerade nahe genug am Wasser, um mit den Füßen in den nassen Sand einzusinken. Ich ging, wie ich immer ging, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und etwas frische Luft zu genießen, fern von dem Lärm und Verkehr, die die Straßen meiner Geschäftswelt verstopften. Plötzlich erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Nicht weit vor mir erhob sich eine Klippe. Ich erkannte sie nicht als diejenige, die meine Bucht vom nächsten Strand trennte. So schnell kann ich nicht gegangen sein, dachte ich. Normalerweise brauchte ich dreißig Minuten, um von meinem Haus aus zur südlichen Klippe zu kommen, aber ich hatte das Gefühl, erst fünf Minuten unterwegs zu sein. Muß wohl an der Hitze liegen, überlegte ich. Ich ging näher heran, um mich zu vergewissern, daß es sich tatsächlich um die Klippe handelte, die ich so viele Male gesehen hatte; vermutlich war ich so in Ge-
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danken versunken gewesen, daß ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Je näher ich kam, desto weniger vertraut kam mir die Klippe vor. Sie ist zu klein, dachte ich. Ich konnte es nicht dabei belassen, sondern mußte sehen, was sich auf der anderen Seite befand. Also fing ich an, die Klippe hinaufzuklettern. Irgend etwas stimmt nicht, ging es mir durch den Kopf. Ich spürte, wie mein Herz schneller und schneller schlug und das Adrenalin durch meinen Körper strömte. Endlich erreichte ich die Spitze. Ich traute meinen Augen nicht. Vor mir lag ein kleiner Hügel, vielleicht hundert Meter von der Klippe entfernt. Üppiges grünes Gras bedeckte den Abhang zum Strand hinunter, wo der weißeste Sand, den ich je gesehen hatte, mit dem unberührten smaragdgrünen Wasser verschmolz. »Willkommen an meinem Strand der Träume, Mister Williams«, sagte Simon mit diesem Lächeln, das ich inzwischen so gut kannte. Ich konnte es einfach nicht glauben. Dort, inmitten dieses paradiesischen Fleckchens, saß Simon vor einer winzigen, heruntergekommenen Hütte. »Sind Sie's, Simon?« 33
»Willkommen an meinem Strand der Träume, Mister Williams. Bitte, kommen Sie herüber und leisten Sie mir Gesellschaft.« Ich tat, was er sagte. Nur wenige Minuten zuvor war ich noch gefahrlos die Bucht entlanggegangen. Und jetzt wußte ich nicht, wo ich mich befand. »Wo sind wir, Simon?« fragte ich und zitterte dabei. »Es scheint, daß wir an einem sehr schönen Strand sind, der von grasbewachsenen Hügeln umgeben ist«, antwortete er. »Nein, Simon, ich meine, ich habe diese Stelle noch nie zuvor gesehen. Ich bin wie üblich die Bucht entlanggegangen, als ich plötzlich eine Klippe sah, die ich nicht erkannte, und jetzt bin ich an diesem Strand, den ich noch nie gesehen habe, und ...« »Doch, Sie waren schon hier, Mister Williams«, sagte er. »Es ist nur viele Jahre her, seit Sie zum letztenmal hier waren, und Sie erinnern sich einfach nicht daran. Aber Sie werden sich schließlich erinnern.« Er starrte mich an. »Wenn Sie entschlossen genug waren, diese Klippe zu erklimmen, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist, dann werden Sie sich auch erinnern.« 34
Ich fühlte mich verwirrter denn je. »Das ist nicht mehr lustig, Simon. Ich weiß, daß Sie alle möglichen Tricks beherrschen. Ich habe Sie im Park gesehen; ich habe gesehen, wie Vögel sich Ihnen nähern, wie Kinder zu Ihnen kommen und lächeln. Aber das hier ist zuviel. Ich hatte einen schrecklichen Tag im Büro und ...« »Und Sie waren gerade im Begriff aufzugeben und sich zu sagen, daß das, was Sie tun, keinerlei Sinn hat und daß Sie eine radikale Veränderung darin vornehmen müssen, wie Sie mit dem Leben umgehen?« »Woher wissen Sie das? Ist das auch einer Ihrer Tricks?« »In diesem Geschäft gibt es keine Tricks, Mister Williams. Ich habe mich bloß irgendwann in der Vergangenheit einmal genauso gefühlt wie Sie heute, habe eine Lebenskrise durchgemacht und nicht gewußt, wohin ich gehen sollte.« Simon wirkte jetzt traurig. »Ich weiß, wie sich das anfühlt, Mister Williams, ich war auch dort.« »Was machen Sie dann hier?« fragte ich. »Nun, es scheint, als ob wir uns am Beginn eines sehr interessanten Gesprächs in sehr friedlicher Umgebung befinden. Bitte kommen Sie, leisten Sie mir 36
Gesellschaft bei einem Glas süßem, schön gereiftem, rubinrotem Portwein.« Er reichte mir ein Glas. Ich trank es in einem Zug leer. Der Portwein schmeckte gut. »Seien Sie vorsichtig, Mister Williams«, riet er mir lachend. »Dieser Tropfen hat schon einige sehr geübte Trinker umgeworfen. Und außerdem wollen Sie doch sicher den schönen Sonnenuntergang nicht verpassen, den wir gleich erleben werden, oder?« »Sonnenuntergang?« Ich sah auf meine Uhr. Es war vier Uhr. »Wovon reden Sie, Simon? Die Sonne geht erst in ein paar Stunden unter, und ...« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich beobachtete den Horizont, sah die goldene Sonne, die gleich untergehen würde, die wunderschönen Farben, in die der Himmel jetzt getaucht war: rosa, gold und rot. »Noch ein Trick, nicht wahr?« Simon blickte mich an. »Mister Williams, heute haben Sie den schwierigsten Schritt getan, den ein Mensch nur tun kann.« »Was meinen Sie, Simon?« 37
»Sie haben begriffen, daß Sie nicht imstande sein werden, auf dem Weg, den Sie gehen, Glück zu finden, ganz gleich, wie viele Geschäfte Sie abschließen, wie viele Millionen Sie verdienen oder wie viele Menschen Sie respektieren. Letztendlich geht es um Sie und um Ihr Herz, und das ist es, was Sie endlich erkannt haben.« Er sah mir direkt in die Augen. »Keine Sorge, Mister Williams. Sie haben nichts zu beweisen, weil Sie wissen, wer Sie sind.« »Was meinen Sie damit, Simon?« »Daß all die Dinge, die Sie sich gekauft haben, um Ihre Tage schöner zu machen, Ihnen am Ende nur ein falsches Gefühl der Sicherheit einbringen.« Ich hatte Schwierigkeiten, dem zu folgen, was Simon sagte. Ich versuchte, ihn in die Enge zu treiben. »Aber die Menschen wünschen sich schöne Dinge, Simon. Es ist normal, daß Menschen versuchen, ihre Lage zu verbessern.« »Daran ist ja auch nichts auszusetzen, Mister Williams«, entgegnete Simon. »Sie müssen nur erkennen, daß all die Dinge, die Sie sich wünschen, nicht unbedingt die Dinge sind, die Sie brauchen.« 38
Er nahm noch einen Schluck von seinem Portwein. »Wir setzen uns so sehr unter Druck, in allem Erfolg zu haben, daß wir Glück zu einer weiteren Sache gemacht haben, die wir erlangen müssen. Also jagen wir ihm nach und setzen es mit Reichtum und Erfolg gleich, ohne zu merken, daß die Menschen, die diese Dinge bereits besitzen, nicht unbedingt glücklich sind. Im Laufe der Jahre, Mister Williams, habe ich viele Menschen gesehen, die den gleichen Fehler begangen haben: >Wenn ich erst dies habe, werde ich aufhörenWenn ich erst jenes habe, werde ich aufhören. Das ist wirklich alles, was ich will.< Aber wenn sie es erst einmal haben, fangen sie an, etwas anderes zu sehen, was sie auch wieder unbedingt haben wollen. Jedesmal, wenn sie einen Berg bestiegen haben, ist dahinter noch ein anderer, höherer, der grüner und ferner aussieht, und sie wollen auch den bezwingen. Das nennt man Gier, Mister Williams. Man hört nie auf. Und auf einmal, wenn man erkennt, was mit dem eigenen Leben passiert ist, ist es für gewöhnlich zu spät, um dem nachzugehen, was man sich wirklich wünscht. 39
Vergessen Sie nicht, Sie leben nur einmal, Mister Williams.« Er verstummte für einen Moment und fuhr dann fort: »Was Sie lernen müssen, ist, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die Ihnen helfen, Ihr Leben zu bereichern, und den Dingen, die Ihnen nur ein vorübergehendes Gefühl von Leistung oder Status bringen, weil Sie früher oder später entdecken werden, daß der Preis, den Sie für die Statussymbole bezahlt haben, viel größer war als das daraus bezogene Glück.« Plötzlich veränderte sich Simons Ausdruck. Er lächelte und sagte: »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist, Mister Williams. Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.« »Aber wie kann ich das?« »Ich habe eine einfache Methode, die immer funktioniert. Suchen Sie sich einfach einen ruhigen Platz, den Sie mögen, und denken Sie vor einer Entscheidung, ob Sie etwas wirklich haben wollen, darüber nach, was Sie damit machen werden. Kommt die Idee, es zu besitzen, aus Ihrem Herzen, oder ist sie nur eine exzellente Marketingstrategie der Person, die versucht, es Ihnen zu verkaufen? Wären Sie 40
glücklicher, wenn Sie es hätten, oder würde es nur für eine Weile eine leere Stelle in Ihrem Herzen füllen? Das Schlüsselwort lautet hier Glück.« »Sie haben leicht reden«, antwortete ich ärgerlich. »Vermutlich haben Sie immer in Ihrer Hütte gewohnt und besitzen gar nicht die Mittel, besser zu leben.« »Sie sind sehr hart in Ihrem Urteil über jemanden, den Sie gerade erst kennengelernt haben, Mister Williams. Schauen Sie sich um. Was sehen Sie?« Ich betrachtete den Ort und versuchte zu erraten, welche Antwort er von mir erwartete. »Ich sehe eine Hütte inmitten eines leeren Strandes.« »Sehr gut, Mister Williams. Und jetzt schauen Sie bitte noch einmal.« Ich versuchte immer noch dahinterzukommen, was er dachte. »Ich sehe noch immer einen leeren Strand mit einer Hütte«, sagte ich. Er starrte mich an und lächelte dabei. »Wissen Sie, was ich sehe, Mister Williams?« »Was sehen Sie, Simon?« »Ich sehe einen Strand voller Träume und einen 41
Ort, an dem man nachts ausruhen kann. Seit ich ein Kind war, war es das, wonach ich gesucht habe. Ein Ort, wo ich in Frieden mit meinem wahren Selbst leben konnte. Lange Zeit habe ich meinen Weg verloren, bis ich diesen Ort fand, und glauben Sie mir, Mister Williams, ich habe niemals zurückgeschaut. Hier habe ich mich selbst wiedergefunden. Ich fing an, wieder glücklich zu sein.« »Aber wie leben Sie, wovon ...« »Ich habe ein kleines Einkommen, das meinen Bedürfnissen sehr gut entspricht. Es mag sich unlogisch anhören, aber jedesmal, wenn Sie sich von etwas befreien, das Sie nicht brauchen, wird in Ihrem Kopf Raum für einen Gedanken frei. Einer der Gründe, warum wir Menschen uns in der Welt manchmal so verloren fühlen, ist, daß wir zuviel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, wie wir all die materiellen Dinge behalten können, die wir um uns herum ansammeln. Wenn Sie sie nicht haben, Mister Williams, dann brauchen Sie sich auch keine Sorgen um sie zu machen, und das gibt Ihnen Zeit. Zeit, um über die wichtigen Dinge im Leben nachzudenken; Zeit, um glücklich zu sein; Zeit, um sich selbst und Ihr Leben zu schätzen.« 42
»Simon, was Sie sagen, ist völlig utopisch. Die wirkliche Welt funktioniert nicht so, wie Sie sagen. Sie müssen für die Dinge kämpfen, die Sie sich wünschen. Manchmal ist das da draußen ein Dschungel. Da gibt es Wettbewerb, Neid, Gier ...« Er starrte auf den Ozean, als erinnere er sich an etwas. »Früher habe ich genauso gedacht, Mister Williams. Bis ich eines Tages merkte, daß ich mehr als nur eine Wahl hatte. Ich konnte weiterhin kämpfen, um meine Stellung in diesem >Dschungel< zu behaupten, von dem Sie sprechen, aber ich konnte auch fortgehen, wenn ich wollte.« Simon schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Gewöhnlich sagt man uns, daß es im Leben nur zwei Möglichkeiten gibt, Mister Williams: so hart zu kämpfen, wie man kann, um die Spitze zu erreichen und erfolgreich zu sein, oder sich denen anzuschließen, die man gemeinhin die Heerscharen der Verlierer dieser Welt nennt, den Leuten, die nie irgendwelche Aufmerksamkeit erregen werden.« Simon machte eine Pause und schaute auf den dunkler werdenden Horizont. 43
»Es gibt eine dritte Möglichkeit, Mister Williams. Sie können beiseite treten und anfangen, die Person zu sein, die Sie sein möchten. Sie brauchen das Spiel der anderen nicht mitzuspielen. Diese Leute brauchen Sie. Nicht umgekehrt.« Simons Worte überrumpelten mich. Ich hätte mit ihm argumentieren können, um ihn zu überzeugen, daß er sich irrte, aber ich war nicht dazu imstande. Dies war keine Vorstandssitzung, bei der Themen diskutiert und Argumente gefordert wurden. Jetzt gab es keine Diskussion, es gab keine Argumente auf den Tisch zu legen. Dieser Simon, wie er sich nannte, lebte so, wie er redete, und das flößte mir ein sehr unbehagliches Gefühl ein, denn im Grunde meines Herzens wußte ich, daß er mitten an diesem kleinen, schönen Strand mit einer Hütte als Wohnhaus und nicht mehr materiellem Besitz als einer Flasche gut gereiftem Portwein ausgesprochen glücklich war. »Ist das so einfach, Simon? Ich meine, glücklich zu sein, in Frieden mit sich selbst zu sein?« »Es ist nicht einfach, Mister Williams, aber jeder kann es. Man muß nur sicher sein, daß man es aus dem richtigen Grund tut: für sich selbst.« 44
In dieser Nacht sprachen wir über viele Dinge, und ich begriff allmählich, daß der Mensch, über den ich so voreilig geurteilt hatte, tatsächlich ein sehr weiser und sanftmütiger Mann war, der genauso lebte, wie er sprach. Es war lange her, seit ich das letzte Mal ein wichtiges Gespräch geführt hatte, ohne ein einziges Wort über Arbeit zu verlieren. Die Unterhaltung brachte uns auf entscheidende Fragen danach, wer wir sind, nach dem Leben; nach seinen Problemen und seiner Komplexität, seinen Herausforderungen und Hoffnungen. Und erst die aufgehende Sonne am Morgen lenkte mich von diesen magischen Augenblicken der geistigen Erleuchtung ab. »Ich muß zur Arbeit, Simon. Ich möchte nicht, aber ich muß. Das Team erwartet mich zu einer Konferenz.« »Ich weiß, Mister Williams. Danke, daß Sie gekommen sind. Ich hoffe, Sie werden in der Lage sein, mich wieder zu besuchen.« »Darauf können Sie wetten, Simon. Diese Nacht ohne Schlaf war besser als all die Nächte, in denen ich Pillen nehmen mußte, um zu schlafen. Ich fühle mich großartig!« 45
»Das ist gut, Mister Williams. Ich bin sehr froh.« »Ich werde wiederkommen, Simon.« »Einstweilen auf Wiedersehen, Mister Williams.« Ich wollte gehen, hielt dann aber inne. »Simon?« »Ja, Mister Williams?« »Das mit der Fünf-Dollar-Note, die ich Ihnen im Park angeboten habe, tut mir leid. Ich habe Sie falsch beurteilt, aber das wird nicht wieder vorkommen.« »Ich werde es Ihnen nicht nachtragen, Mister Williams. Sie können sich gar nicht vorstellen, was die Leute schon alles zu mir gesagt oder mir nachgeworfen haben, einfach wegen meines Aussehens; aber ich mache mir nichts daraus, weil ich weiß, daß es Teil des Tests ist.« »Danke, Simon.« »Nein, ich danke Ihnen, Mister Williams.« Ich machte mich auf den Weg zur Klippe. Ich drehte mich nicht um, aber ich wußte, daß er es war, der direkt zu meinem Herzen sprach: »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist. Sie brauchen nur den Mut, ihm zu folgen.«
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Glück trägt, wie Tugend, seinen Lohn in sich. Er wohnt im Herzen und nirgendwo sonst.
Mutter, die stolz auf ihren Sohn ist. »Danke, Sarah«, sagte ich. »Und nun - würden Sie mir bitte die heutige Post bringen?« »Mister Williams!« rief Sarah. »Was in Gottes Namen ist denn mit Ihnen passiert?« »Was meinen Sie, Sarah?« Ich verstand nicht. »Waren Sie in einem dieser Schönheitssalons für Männer?« »Wieso fragen Sie?« »Ihre Falten, Mister Williams. Sie sind weg.« Sie sah verwirrt aus. »Ich könnte schwören, daß seit ungefähr zehn Jahren Falten unter Ihren Augen zu sehen waren. Und jetzt sind sie verschwunden!« »Damit das ganz klar ist, Sarah: Erstens, ich war in keinem Schönheitssalon, ich war noch nicht einmal bei meinem Friseur. Und zweitens, was diese Falten angeht - vielleicht lerne ich, meinen Streß zu kontrollieren und besser mit meinen Problemen fertig zu werden.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen, Mister Williams, aber was immer Sie tun, machen Sie bloß weiter damit!« Ich sah ihr schönes Lächeln; es glich dem einer
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An diesem Tag arbeitete ich fröhlich vor mich hin und fühlte mich nicht unter Druck gesetzt, weil ich Dinge erledigen und an Konferenzen teilnehmen mußte. Zum erstenmal seit Monaten fing meine Arbeit wieder an, mir sinnvoll zu erscheinen. Es gab in der Firma einen jungen Angestellten namens ROSS Macalister, den ich schon einige Zeit beobachtet hatte. Er besaß genau diesen Elan, den ich selbst so gut kannte. Er war der typische junge Mann voller Träume, voller Ehrgeiz, in einer Welt, in der man sich mit Geld und Prestige einen Namen und Respekt erkaufen, es sich ermöglichen kann, jemand zu sein. Aber dieser ROSS Macalister besaß noch etwas anderes. Ich hatte an ihm eine Tugend bemerkt, die es in der Geschäftswelt sonst fast nicht gab: er spielte fair. So ehrgeizig er auch war, ich hatte nie gesehen, daß er manipulierte oder täuschte, um das zu bekommen, was er wollte. 49
Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Würden Sie Mister Macalister bitten, in mein Büro zu kommen?« »Sofort, Mister Williams.« Ich schaltete die Sprechanlage aus, stand auf und machte mir eine Tasse Kaffee. Es klopfte an die Tür. »Sie wollten mich sprechen, Mister Williams?« »Ja, ROSS. Bitte, kommen Sie herein und setzen Sie sich. Kaffee?« »Nein, danke, Mister Williams.« Ich kam sofort zur Sache. »Ross, wie Sie wissen, haben wir heute nachmittag eine Vorstandssitzung.« »Ja, Sir, ich weiß.« »Und Sie wissen auch, daß wir über einige wichtige Fragen bezüglich der Richtung diskutieren müssen, die diese Firma in Zukunft einschlagen soll.« »Ja, Sir. Ich habe alle notwendigen Informationen vorbereitet, die Sie haben wollten.« »Sehr gut, Ross, denn ich möchte, daß Sie an meiner Stelle an dieser Sitzung teilnehmen.« 50
Er fiel fast vom Stuhl. »Wie bitte?« »Sie haben richtig gehört, Ross. Ich werde mir heute nachmittag frei nehmen. Es gibt ein paar wichtige Dinge, um die ich mich kümmern muß, und ich glaube, daß Sie der richtige Mann sind, um bei so einer Sitzung den Vorsitz zu führen. Sie kennen diese Firma fast so gut wie ich, und ich weiß, daß Sie so sorgsam damit umgehen, als wäre es Ihre eigene. Ich werde Sie am späten Nachmittag anrufen und mich erkundigen, wie es gelaufen ist.« Ich erhob mich und beendete damit die Unterredung. »Danke, daß Sie gekommen sind, Ross.« »Nein, ich danke Ihnen, Mister Williams. Ich werde Sie genauestens über alles informieren.« »Das weiß ich, Ross.« Der verblüffte junge Mann ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Bitte teilen Sie dem Vorstand mit, daß Ross Macalister heute nachmittag den Vorsitz für mich übernehmen wird.« »Und was ist mit Ihnen, Sir?« 51
»Ich nehme mir den Nachmittag frei, Sarah. Ich muß ein paar Dinge klären. Ich nehme mir ein bißchen Zeit zum Leben.«
Ich wollte einen Spaziergang machen und wartete damit bis zum späten Nachmittag. Ich hatte bereits mit ROSS Macalister gesprochen, und wie erwartet war die Vorstandssitzung glatt verlaufen. Dieser junge Mann hat das Zeug dazu, dachte ich. Ich schaltete die Lichter im Haus aus, verschloß die Tür und machte mich auf den Weg zum Strand. Wieder so ein schöner Abend. Wie konnte ich nur so beschäftigt sein, nicht mehr solcher Abende zu genießen? Ich hatte Lust, Simon noch einmal zu besuchen. Den ganzen Tag hatte ich an ihn gedacht, und je mehr ich an ihn dachte, desto mehr fing ich an, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, an Dinge, die ich fast vergessen hatte. Es gab so vieles, worüber ich mit ihm sprechen wollte, so viele Fragen, die ich ihm gern stellen wollte. 52
Ich lief und lief, entdeckte aber kein Zeichen für diesen magischen Ort, den ich zuvor gefunden hatte. Wie kann ich Sie erreichen, Simon? Ich begann nachzudenken. Und dann fiel es mir ein. »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist«, hatte Simon zu mir gesagt. »Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.« Binnen eines Augenblicks begriff ich: »Ich muß wieder glauben. Ich muß mir klarmachen, daß magische Dinge geschehen.« Ich hob den Kopf und lächelte. Dieselbe Klippe, die mir beim erstenmal so fremd erschienen war, lag vor mir, damit ich sie erklimmen konnte. »Mister Williams! Ich freue mich so, Sie zu sehen.« »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Simon.« Ich starrte ihn an. Dieser Mann hatte etwas Besonderes, und es fühlte sich gut an, mit ihm zusammenzusein. Er wußte, wohin er im Leben ging. Ich konnte es spüren. »Was führt Sie an diesem schönen Abend hierher, Mister Williams?«
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»Oh, nichts Besonderes. Ich habe mir nur einen freien Nachmittag genommen und hatte Lust auf ein gutes Gespräch bei einem schönen Glas Portwein.« »Dann bin ich entschieden Ihr Mann«, sagte er. »Ich hole Ihnen einen.« Er ging in die Hütte und kam mit zwei Gläsern von dem herrlichen rubinroten Portwein zurück. Er reichte mir eines und hob sein Glas. »Auf den Anfang Ihres neuen Lebens, Mister Williams!« »Auf das Glück«, erwiderte ich. An diesem Abend tranken wir unseren Portwein wie alte Freunde und redeten über Dinge, über die ich seit meiner Jugend nicht mehr gesprochen hatte. Simon sprach von Wundern und davon, daß sie dauernd geschehen, von Träumen und Hoffnungen und daß man sie leicht vergißt. Darüber, wie man sich in der Welt verirren kann, ohne es auch nur zu merken, und darüber, daß manche Erfahrungen unser Leben für immer verändern können. »Jetzt, da Sie davon sprechen, Simon, erinnere ich mich an zwei Augenblicke, die mir entscheidend dafür vorkommen, daß ich die Sprache des Glücks in meinem Leben verloren habe. Über den ersten werden Sie vermutlich lachen.« 55
»Keiner sollte jemals über etwas lachen, das einem anderen am Herzen liegt.« »Nun, wissen Sie, Simon, das erste, was mein Leben für immer veränderte, war der Tag, an dem ich erfuhr, daß der Weihnachtsmann nicht existiert. Als ich noch ein Kind war, verbrachte ich viele Stunden damit, darauf zu lauern, wie der Weihnachtsmann durch den Kamin unseres Hauses kam, aber ich schlief immer ein, und wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich unter dem Weihnachtsbaum meine Geschenke. Doch an einem Weihnachtsabend trank ich, ohne daß meine Eltern es wußten, drei Tassen starken schwarzen Kaffee. Danach konnte ich drei Nächte lang nicht schlafen. Ich war wie üblich zu Bett gegangen und lag eine Weile ruhig da, so daß meine Eltern glaubten, ich schliefe. Als ich unten Geräusche hörte, ging ich leise zur Treppe und dachte, diesmal würde ich den Weihnachtsmann erwischen. Aber ich sah nur meinen Vater, der die Geschenke für mich und meinen Bruder unter den Baum legte. Ich war am Boden zerstört. Wenn es keinen Weihnachtsmann gab - wie viele andere Dinge hatten die Erwachsenen dann womöglich noch erfunden?« 56
»Ich kann Ihnen Ihre Traurigkeit nachfühlen, Mister Williams. Das muß sehr schmerzhaft gewesen sein.« »Ja, das war es.« Ich hatte Tränen in den Augen. »Auf einmal begann meine Welt zu zerbröckeln. Ich verlor nach und nach das Interesse an Dingen, die ich nicht sehen, nicht beweisen konnte. Ich schwor mir, daß mir nie wieder jemand Geschichten erzählen würde, die nicht wahr waren.« »Und was war das zweite?« »Das zweite war der Tag, an dem meine Mutter diese Welt verließ. Ich hatte von Leuten gelesen, die bei Autounfällen, im Krieg, sogar bei Schießereien oder im Krankenhaus sterben; ich erinnerte mich auch vage an die Beerdigung meines Großvaters, aber näher war ich dem Tod noch nie gekommen. Mit meiner Mutter war das anders. Sie starb in meinen Armen, und zum erstenmal in meinem Leben wurde mir klar, daß Menschen wirklich sterben. Zumindest verlassen sie ihren Körper. Dieses Gefühl hatte ich bei ihr. Und dann flehte ich sie Nacht für Nacht an, zurückzukommen und bei mir zu bleiben, nur für ein Weilchen. Aber sie tat es nicht.« »Ich denke, Sie sind zu hart zu ihr«, meinte 57
Simon. »Ist sie Ihnen jemals im Traum erschienen?« »Nun, ich denke schon, aber ich kann es nicht beweisen. « »Die Tatsache, daß Sie etwas nicht beweisen können, bedeutet nicht unbedingt, daß es nicht wahr ist. Tagsüber können Sie an diesem Strand spüren, wie die Sonne Ihre Haut erwärmt. Sie sehen nicht, daß die Sonnenstrahlen Sie berühren, doch weil Sie die Hitze spüren, wissen Sie, daß sie real sind.« »Sie meinen, wie jemand, der im Traum kommt, Simon?« »Genau. In der Welt der Träume können Sie Menschen spüren und sehen. Die Tatsache, daß Sie sie nach dem Aufwachen nicht mehr sehen, bedeutet nicht, daß sie nicht da waren und nicht real sind. Unser Körper ist so beschaffen, daß wir mit diesen Menschen nur auf bestimmte Arten und bei bestimmten Gelegenheiten kommunizieren können. Haben Sie zum Beispiel in Ihren Träumen jemals jemanden gesehen, den Sie nicht erkannten oder noch nie gesehen hatten?« »Jetzt, da Sie es erwähnen, ja, mehrmals sogar.« »Besagt also die Tatsache, daß Sie diesen Men58
sehen in diesem Leben nie begegnet sind, daß sie Ihnen nichts bedeuten? Vielleicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft?« Simon starrte aufs Meer hinaus. »Die Menschheit hat immer nach Antworten gehungert, die dem Leben einen Sinn geben können, einen Grund für die Existenz. So sind Jesus, Mohammed, Buddha und andere auf die Welt gekommen, um uns zu sagen, daß das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist. Daß wir nur versuchen müssen, der einfachsten aller Regeln zu folgen: glücklich zu sein, indem wir einander lieben und respektieren. « Simons Stimme hatte einen traurigen Ton angenommen. »Schauen Sie sich an, was einige Individuen mit den Religionen und dem Glauben der Menschen gemacht haben. Die Tatsache, daß diese Messiasse an verschiedenen Orten zur Welt kamen, gab den Völkern dieser Länder das Gefühl, sie seien besonders, weil der Erwählte in ihrem Land geboren wurde; und deswegen haben sie seit Anbeginn der Zeiten Kriege geführt, Mister Williams. Jedesmal, wenn sie kämpfen, rechtfertigen sie ihre Grausamkeit mit der 59
Behauptung, sie verträten ihre Interessen im Namen Gottes.« Simon machte eine Pause, lang genug, daß seine Worte bei mir ihre Wirkung taten. »Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen, Mister Williams. Vor einiger Zeit habe ich die Iberische Halbinsel bereist, die jetzt Spanien heißt, ein Land, das zur Zeit dessen, was wir im Westen als Kreuzzüge bezeichnen, von vielen anderen Völkern besetzt wurde. Damals sprachen sie von einem Heiligen Krieg. Wie auch immer, ich besichtigte eine schöne christliche Kathedrale, die restauriert und in ihren prachtvollen Urzustand zurückversetzt wurde. An der Seite dieses herrlichen Bauwerks sah ich einige Männer, die etwas ausgruben, was ein Keller oder das Fundament einer alten Stadt zu sein schien. Ich fragte einen Mann, der vorbeikam, ob er mir sagen könne, was das sei. >Dassind die Überreste der alten maurischen Stadt. Aus der Zeit, als die Wilden aus dem Süden in unser Land einfielen und unser Volk töteten. < >Und was ist mit der Kirche?< fragte ich den Mann. 60
>Nun, das ist eine andere Geschichte«:, erklärte er mit stolzer Miene. >Als die Mauren in dieses Land einfielen, haben die Kreuzfahrer vor ihrer Abreise die Statue der Jungfrau mit Lehm bedeckt und vor den Mauren versteckt. Fünfhundert Jahre vergingen, und keiner wußte, daß die Statue da war, bis eines Tages plötzlich ein Stück Lehm von einer der Wände in der Kirche abfiel und die Statue enthüllte. Unberührt und von allen zu bewundern. Un milagroun milagro