Ursula Isbel
Ein Schatten fällt auf Erlengrund
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Ursula Isbel
Ein Schatten fällt auf Erlengrund
scanned by unknown1 corrected by monja a Auf Erlengrund passieren unheimliche Dinge, die Katinka sich nicht erklären kann: Gestalten lösen sich aus der Dunkelheit, schattenhafte Gesichter erscheinen am Fenster und dann verschwindet ihre Zwillingsschwester Alex... ISBN 3 505 07873 5 1978 Franz Schneider Verlag München - Wien Deckelbild und Illustration: Haidrun Gschwind
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„Katinka“, sagte meine Mutter, „willst du es dir nicht noch einmal überlegen?“ Wie oft hatte sie mir diese Frage schon gestellt - zwanzigmal, fünfzigmal? Ich sah von ihr fort, aus dem Fenster, und schüttelte den Kopf. Es gab nichts mehr zu überlegen. Draußen war es grau, kahl und schmutzig. Nur an einem Fliederbusch, der zwischen Mauern und Mülltonnen in einem Hinterhof wuchs und grüne Knospen trug, merkte man, daß Frühling war. Im Erlengrund, dachte ich, blühen jetzt wohl die Schlüsselblumen auf den Wiesen; vielleicht sogar schon die ersten Veilchen. Meine Mutter seufzte und sagte: „Ich weiß, ich habe dir die Entscheidung freigestellt. Aber ich verstehe nicht... Ach, Kind, -3-
du mußt doch begreifen, daß ich deinetwegen nicht auf alles verzichten kann! Bald bist du erwachsen. Es hätte wohl sowieso nur noch ein paar Jahre gedauert, dann wärst du aus dem Haus gegangen, und ich wäre allein geblieben.“ „Du brauchst dich nicht zu verteidigen“, erwiderte ich müde. „Ich verstehe dich ja.“ „Aber du magst ihn nicht - du mochtest Gerald von Anfang an nicht und hast dich immer mehr in diese Abneigung hineingesteigert. Du hast ihm nie eine Chance gegeben. Wir hätten so harmonisch miteinander leben können - du, Gerald und ich. “ Ich antwortete nicht. Es stimmte, was sie sagte: Ich mochte diesen Mann nicht, den meine Mutter heiraten wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, die Wohnung mit ihm zu teilen, ihn täglich zu sehen, ihm freundlich begegnen zu müssen, wo ich ihm doch am liebsten den Rücken gekehrt hätte. Meine Mutter war mir fremd geworden, weil sie einen Menschen liebte, für den ich nichts als Abneigung empfand. „Dabei hat Gerald dich so gern...“ Ich wußte, daß das nicht stimmte, obwohl er seine Gefühle besser verbergen konnte als ich. Sein Gesicht war stets liebenswürdig, doch seine Augen konnten mich nicht täuschen. Ich wandte mich vom Fenster ab und ging zur Tür. Die schöne Erinnerung an blumenbestickte Wiesen war verschwunden. Noch vierundzwanzig Stunden, dann würde ich von hier fortgehen - fort von meiner Mutter und meinem bisherigen Leben, um dorthin zurückzukehren, wo ich meine Kindheit verbracht hatte: in den Erlengrund. Es war ein langer Tag, gefolgt von einer langen Nacht, die ich schlaflos verbrachte und auf den Morgen wartete - den letzten in diesem Bett, diesem Haus, dieser Stadt. Meine Sachen waren längst gepackt. Die Kisten und Koffer standen auf dem Flur. Mutter ging mit rotgeweinten Augen durch die Küche und bereitete das Frühstück vor, während ich -4-
duschte. Jetzt fragte sie nicht mehr, ob ich es mir noch einmal überlegen wollte. Wir hatten beide unsere Entscheidung gefällt die Entscheidung, von jetzt an getrennte Wege zu gehen. Erst als die Klingel schrillte, merkte ich, daß ich Angst hatte. Meine Mutter war sehr blaß, als sie zur Tür ging, um zu öffnen. Ich saß am Küchentisch und lauschte auf das Geräusch des Lifts. Dann hörte ich die Stimme meines Vaters, vertraut und fremd zugleich. Ich blieb sitzen, denn plötzlich war mir, als könnte ich mich nicht von der Stelle bewegen. Die beiden unterhielten sich halblaut. Dann rief mein Vater: „Katinka! Willst du nicht kommen und deinen alten Vater begrüßen?“ Alt! Er sah so jung und braungebrannt aus wie eh und je, wie er da im Flur zwischen meinen Gepäckstücken stand. Vielleicht waren die Lachfältchen um seine Augen etwas tiefer und zahlreicher ge worden, vielleicht hatten sich ein paar graue Strähnen in sein dichtes, gelocktes Haar gemischt. Doch was machte das schon? Ich stolperte über einen Koffer, da fing er mich auf und drückte mich an sich, und ich atmete den herben Geruch von Tabak und Rasierwasser ein, der zu ihm gehörte wie die groben Tweedjacken mit den Lederflecken auf den Ellbogen. „Laß dich anschauen!“ Er hielt mich ein Stück von sich ab und musterte mich. „Größer bist du geworden, genau wie deine Schwester. Meine Töchter wachsen mir langsam über den Kopf!“ Mutter stand still daneben. Plötzlich sagte sie: „Nun hast du sie ja beide, wie du es immer wolltest.“ Er streifte sie mit einem Seitenblick, der schwer zu deuten war. „Das klingt bitter“, erwiderte er. „Aber du kennst ja meine Meinung, daß man Geschwister nicht trennen sollte. Es war ein großer Fehler, daß wir es doch getan haben. Aber es ließ sich wohl nicht vermeiden, weil damals bei der Scheidung keiner von uns auf seine Rechte verzichten wollte.“ -5-
Statt einer Antwort fragte meine Mutter: „Wie geht es Alex?“ Ich machte mich von Vater los. Plötzlich begriff ich, daß es Alex war, vor der ich mich am meisten fürchtete. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Wie mochte sie es aufnehmen, daß ich plötzlich wieder erschien und die gleichen Rechte beanspruchte wie sie, nachdem sie nun so lange Zeit allein mit Vater im Erlenhof gelebt hatte? „Es geht ihr gut“, sagte er und warf mir dabei einen flüchtigen Blick zu. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie ähnlich sich die beiden sehen. Ja, es ist jedesmal fast so etwas wie ein Schock für mich.“ „Kein Wunder, daß sie sich ähnlich sehen; sie sind schließlich Zwillinge.“ Vater legte den Arm um meine Schulter. „Ich glaube allerdings, daß Katinka und Alex im Wesen ziemlich verschieden sind. Und ci h bin wirklich gespannt, wie sie sich nach all den Jahren vertragen werden.“ „Ja“, sagte ich. „Das bin ich auch.“ Dann ging alles sehr schnell. Wir trugen das Gepäck in Vaters Wagen, meine Mutter stand weinend auf der Türschwelle, umarmte mich und sagte immer wieder: „Bleib gesund und schreib mir. Und vergiß mich nicht ganz. Ich komme dich bald besuchen - dich und Alex.“ Ich nickte nur; sagen konnte ich nichts, denn meine Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich empfand ich nichts mehr von dem Zorn, der Eifersucht und Enttäuschung der letzten Monate. Geblieben war nur der Schmerz, sie verlassen zu müssen. Warum war das Leben nur so grausam und schwierig? Warum konnte sie nicht mitkommen und mit Vater, Alex und mir im Erlengrund leben, so daß wir wie einst eine Familie waren? Doch so einfach war das Leben nicht, ich wußte es längst. Mutter würde hier in Hamburg bleiben, ohne mich, und ein zweites Mal heiraten. Ich aber kehrte mit Vater in meine alte -6-
Heimat zurück, die ich vor zehn Jahren verlassen hatte. „Zehn Jahre hat es gedauert, dich wieder heimzuholen“, sagte auch mein Vater, als wir eine halbe Stunde später die Autobahn erreichten. „Anfangs hatte ich noch immer die Hoffnung, deine Mutter würde einsehen, daß man ein Kind nicht so einfach aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen und in eine Großstadt verpflanzen darf. Ich dachte, sie würde doch noch einwilligen, dich wieder nach Hause zu lassen, zurück zu deiner Schwester. Für mich war es einfach unbegreiflich, wie sie darauf bestehen konnte, euch auseinanderzureißen. Ihr wart ja unzertrennlich, und für mich warst du nicht denkbar ohne Alex und Alex nicht ohne dich. Aber deine Mutter hat es nicht eingesehen oder nicht einsehen wollen. Sie hat einfach auf ihrem Recht bestanden.“ Er lachte bitter. „Recht - daß ein Mensch überhaupt das Recht haben kann, zwei Geschwister auseinanderzureißen, die so aneinander hängen; noch dazu Zwillinge!“ Ich sagte leise: „Ich glaube, sie hatte Angst, allein zu sein.“ Mein Vater seufzte. „Und damit sie nicht allein war, mußtet ihr die Einsamkeit ertragen, du und Alex. Ich erinnere mich noch gut an das erste Jahr nach unserer Trennung. Wie oft hat Alex da geweint und mich gefragt: Wann kommt Katinka wieder? Und ich konnte nichts tun. Aber für dich muß es fast noch schlimmer gewesen sein.“ „Anfangs kam es mir wie ein Alptraum vor“, erwiderte ich. „Diese Großstadt mit den grauen Häusern und den schmutzigen, lärmenden Straßen, all die fremden Leute mit ihrem seltsamen Dialekt... Eigentlich habe ich mich bis heute nicht richtig eingewöhnen können.“ Ich dachte an die lange Zeit der Trennung, an die jährlichen Treffen, die meistens in irgendeiner Großstadt auf halbem Weg zwischen dem Erlengrund und Hamburg stattgefunden hatten. Von Jahr zu Jahr waren Alex und ich einander fremder geworden, so wie auch unser Briefwechsel immer spärlicher geworden war und schließlich ganz aufgehört hatte. -7-
Dann faßte ich endlich Mut und stellte die Frage, die mich schon seit unserer Abfahrt beschäftigte. „Und wie steht Alex zu meiner Rückkehr?“ Vater antwortete nicht sofort. „Alex? Ich bin nicht sicher... Sie ist ziemlich verschlossen. Es ist nicht leicht zu erraten, wie sie über eine Sache denkt.“ „Verschlossen?“ wiederholte ich. „Aber das war sie doch früher nicht.“ „Nein. Ich habe mich oft gefragt, ob es die Trennung von dir und Mutter war, die sie so verändert hat. Als Kind war sie so übermütig und aufgeschlossen, aber inzwischen ist sie fast so etwas wie ein Sonderling geworden.“ Er lachte, aber es klang nicht froh. „Ein seltsames Wort für eine Sechzehnjährige! Alex ist wohl einfach zuviel allein. Ich habe meine ganze Hoffnung auf dich gesetzt, Katinka. Vielleicht schaffst du es, sie aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen. “ „Hoffentlich“, sagte ich zweifelnd. „Hat sie denn in der Schule keine Freunde?“ „Ich glaube nicht.“ Wieder fragte ich: „Aber sie muß doch etwas gesagt haben, als sie erfuhr, daß ich nach Hause zurückkomme, weil Mutter wieder heiraten will.“ Sekundenlang zögerte er. „Ach, es kam nur eine von ihren üblichen abweisenden Bemerkungen, die man nicht ernst nehmen darf. “ Ich sah ihn an. „Was hat sie gesagt?“ Vater umfaßte das Steuerrad fester, und ich merkte an seinem Gesichtsausdruck, daß er nicht antworten wollte. „Ich bin überzeugt, wenn du erst ein paar Wochen bei uns bist, werdet ihr euch wieder genausogut verstehen wie früher, als ihr noch Kinder wart.“ Ich erwiderte nichts. Alex wollte also nicht, daß ich kam. Vermutlich war ich für sie ein Eindringling in eine Welt, die nun -8-
ganz ihr gehörte. Meine Vorahnung hatte mich nicht getäuscht. Zehn Jahre hatte es gedauert, bis ich in den Erlengrund zurückkehren konnte - eine lange Zeit. Zu lange vielleicht.
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2 Es war schon spät, als wir unser Ziel erreichten. In der Dunkelheit fuhren wir durch das Dorf, am Weiher vorbei, über die Brücke und durch die Allee mit den uralten Erlen, die wie verkrüppelte Riesen an uns vorüberhuschten, wenn das Scheinwerferlicht sie streifte. Mein Vater schwieg. Er war wohl müde nach der fast zwölfstündigen Fahrt. Ich aber war voller Anspannung und sah so angestrengt durch die Windschutzscheibe, daß meine Augen brannten. Da stand die kleine Kapelle am Wegrand, und ein Stück weiter kam die bemooste Steinbank, auf der wir als Kinder so oft gesessen hatten. Wie oft war ich während der vergangenen zehn Jahre in Gedanken die Allee entlang gewandert, wie oft im Traum durch das schmiedeeiserne Tor gegangen... Schon hatten wir das Gittertor erreicht. Es stand weit offen. Ein Teil der geschmiedeten Rosen wurde vom Scheinwerferlicht erfaßt, und ich erinnerte mich plötzlich, wie Alex und ich einst am Torflügel hochgeklettert und mit ihm hin und her geschwungen waren, mit wehenden Röcken und fliegenden Zöpfen. Ob auch Alex sich noch manchmal an solche Dinge erinnerte? Oder hatte sie all das längst aus ihrem Gedächtnis gestrichen? Am Ende der Allee tauchten Lichter auf. Obwohl das Haus noch in der Dunkelheit hinter den Bäumen verborgen war, kam es mir doch vor, als könnte ich es sehen, wie es da auf dem Hügel stand - mit tiefgezogenem Dach und blinkenden Sprossenscheiben, den efeubewachsenen Mauern, den großen, behäbigen Kaminen und der Freitreppe mit den Steinfiguren zu beiden Seiten. Meine Hände zitterten plötzlich so sehr, daß ich sie in die -10-
Jackentasche steckte. Vater seufzte und sagte: „Das war ein langer Weg.“ „Ja“, erwiderte ich leise. „Sehr lang.“ Am Fuße der Freitreppe hielt er an, und wir stiegen aus. Der Mond schien, und die noch kahlen Äste der Erlen warfen bizarre Schatten über den Kies. Sekundenlang blieb alles still, als hätte niemand unsere Ankunft bemerkt. Doch dann flammte Licht hinter einigen Fenstern im Erdgeschoß auf. Die geschnitzte Eingangstür wurde geöffnet, und eine verwachsene Gestalt erschien auf der Schwelle. Ich hatte den Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt und blieb unwillkürlich stehen. „Ulf“, flüsterte ich. Doch er hörte mich wohl nicht, denn mein Vater rief dazwischen: „Hier ist sie endlich. Komm heraus und sieh sie dir an!“ Die verkrüppelte Gestalt hinkte über den Vorplatz. Jede der mühseligen Bewegungen war mir vertraut - die Art, wie Ulf das Bein nachzog, die linke Schulter vorschob und mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu halten. „Ulf!“ sagte ich noch einmal, jetzt aber laut und klar und lief die Treppe hinauf. Ich streckte die Arme aus und schmiegte mich an ihn - nein, ich drückte ihn an mich, denn nun war ich nicht mehr kleiner als er, war kein Kind, das weinend zu ihm gelaufen kam, wenn es sich verletzt hatte. Doch sein Griff war fest und beschützend wie einst, und ich fühlte seinen krummen Rücken unter meinen Händen, hörte seine erstaunlich tiefe und volle Stimme, die so gar nicht zu dem verwachsenen Körper zu passen schien: „Ach, Mädelchen, endlich bist du zurückgekommen!“ Tränen liefen mir über die Wangen, und ich schämte mich nicht. Mein Vater war neben uns getreten und sagte mit leichtem Spott, hinter dem er seine Rührung zu verbergen suchte: „Mädelchen! Merkst du nicht, daß sie dir längst über den Kopf -11-
gewachsen ist?“ „Ach, was macht das schon.“ Ulf und ich lachten unter Tränen; jetzt, da wir Arm in Arm in den Lichtschein der Halle traten, merkte ich, daß auch seine Augen feucht waren. Er war alt geworden. Seine Haare und sein Bart waren grau, seine Haut von vielen Runzeln durchzogen wie die Schale eines Lederapfels. Doch seine Augen waren noch so strahlend blau wie einst, sein Läche ln unverändert zart und fast kindlich. „Wo ist Alex?“ fragte Vater und stellte die beiden Reisetaschen neben die Wanduhr. Ein Schatten ging über Ulfs Gesicht. „Ich weiß es nicht. Hab sie seit heute nachmittag nicht mehr gesehen. Da ist sie ausgeritten, zum Wald hinüber.“ Von oben erklang leises Winseln, und weiche Pfoten tappten über die Stufen der Eichentreppe. Ich sah auf. Ein weißer Jagdhund mit schwarzer Zeichnung stürzte auf meinen Vater zu und begrüßte ihn freudig. Ich beugte mich vor und sagte leise: „Diana!“ Die Hündin hielt mitten in der Bewegung inne und hob den Kopf, als hörte sie ein Geräusch aus weiter Ferne. Sie war sehr alt; die schwarze Maske ihres Gesichts war silbergrau geworden, die Augen wirkten trüb. Von dem übermütigen Welpen mit den Schlappohren, den tapsigen Bewegungen und dem drolligen Gesicht eines Bärchens war nichts geblieben - nichts als eine schöne Erinnerung. Doch nicht nur ich erinnerte mich, sondern auch Diana. Plötzlich stieß sie einen kurzen, heiseren Laut aus, der fast etwas Menschliches hatte, kam zu mir, sprang wie toll an mir hoch und überschlug sich fast. Dabei jaulte sie so herzzerreißend, daß ich wieder zu zittern begann. Ich bückte mich und schlang die Arme um ihren Hals; und als sie sich endlich etwas beruhigte und die wilden Bewegungen verebbten, vergrub ich das Gesicht in ihrem Fell. -12-
Ich weiß nicht, wie lange ich so auf dem Boden kauerte. Diana bewegte sich nicht, und um mich herum war es plötzlich sehr still. Nur das schwere Ticken der Wanduhr war zu hören, die im Erlenhof seit Generationen die Zeit maß - Minute um Minute, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr. „Was für eine rührende Szene!“ Die Stimme war hell und ein wenig brüchig. Ich zuckte zusammen und hob den Kopf. Diana machte sich von mir los und lief durch die Halle, und ich blieb mit hängenden Armen zurück. In das Tappen der Hundepfoten auf den Steinfliesen mischte sich Ulfs leises Seufzen. Auf dem obersten Treppenabsatz stand Alex, die Arme auf das Geländer gestützt. Sie war mir so ähnlich, daß ich einen Augenblick lang den Atem anhielt. Das Gesicht mit den hohen, vorspringenden Backenknochen, die etwas zu kurz geratene Nase, die tiefblauen Augen unter schwarzem Haar... Mir war, als blickte ich in einen Spiegel. Mein Vater brach das Schweigen. „Diana hat sie wiedererkannt“, sagte er ruhig. „Ich hätte es nicht geglaubt. Aber es stimmt schon, was die Leute sagen: Wenn ein Tier einmal jemanden geliebt hat, hält es ihm die Treue. - Willst du nicht herunterkommen und Katinka begrüßen?“ Ich sah sie noch immer an, konnte den Blick einfach nicht von ihr lösen. Sie bückte sich, streichelte Diana und kam dann lässig die Treppe heruntergeschlendert. Ich richtete mich langsam auf und hatte plötzlich das Gefühl, eine Fremde im Haus zu sein. Während meine Schwester sich näherte und ich ihr entgegensah, dachte ich: Ich hätte nicht zurückkommen sollen. Sie hatte die Hände in den Taschen ihrer Reithose vergraben. Der Blick, mit dem sie mich musterte, war kühl und unpersönlich. „Tag, Katinka.“ „Hallo, Alex.“ Vater räusperte sich und sagte: „Wenn sich der Jubel etwas -13-
gelegt hat, könnten wir vielleicht gemeinsam das Gepäck hereinholen.“ Alex wandte sich ab und ließ sich in einen der alten Ledersessel fallen. „Verschont mich bitte. Ich bin heute den ganzen Nachmittag geritten, und Troll war kaum zu bändigen.“ „Du Ärmste!“ sagte Vater mit halb spöttischem, halb ärgerlichem Unterton. „Da hatten wir es freilich besser. Wir haben nur eine zwölfstündige Fahrt hinter uns und sind putzmunter. Wirklich, ich könnte noch Bäume ausreißen!“ Ich mischte mich hastig ein. „Laßt nur, ich hole die Sachen schon. Ihr braucht mir nicht zu helfen. Nur die Bücherkiste...“ Ulf war schweigend zur Tür gehinkt. Ich ging ihm nach und holte ihn auf dem Vorplatz ein. „Nimm es dir nicht zu Herzen“, sagte er leise. „So ist sie zu uns allen. Ich glaube manchmal fast, sie mag sich selbst nicht leiden.“ „Sie war früher nicht so.“ „Nein, damals nicht, als ihr noch beisammen wart. Aber das ist lange her.“ Wir öffneten den Kofferraum, und mein Vater kam uns über die Treppe nach und half, die schwere Bücherkiste auszuladen. Zu dritt schleppten wir sie ins Haus. Alex saß noch immer im Sessel und beobachtete uns. „Wenn du müde bist, solltest du zu Bett gehen“, sagte Vater. „Oder müssen wir dich hinauftragen, weil wir schon gerade dabei sind, Lasten zu schleppen?“ „Danke, nicht nötig.“ Alex stand auf. „Gehen kann ich noch.“ „Du willst also nicht mehr mit uns zu Abend essen?“ „Ich habe schon gegessen.“ Sie ging so dicht an mir vorbei, daß ihre Schulter mich fast streifte. Neben dem Geruch von Pferdestall war da etwas, was mich vertraut anmutete - ein Duft nach Vanille, der ihrer Haut schon anhaftete, als sie noch ein Kind war. Es war eine -14-
Wahrnehmung, die Erinnerungen in mir weckte; Erinnerungen an vergangene Tage, als wir dicht aneinandergeschmiegt im Kinderbett lagen, wenn das fahle Mondlicht und die Schatten der Nacht uns ängstigten. Als ich ihr nachsah, glaubte ich zu wissen, daß diese Zeit des Vertrauens und der Zärtlichkeit unwiederbringlich verloren war, und daß nichts wieder so sein konnte wie einst. Nachdem wir mein Gepäck in die Halle gebracht hatten, gingen wir ins Eßzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, der große Tisch war festlich gedeckt. Kerzenleuchter standen auf der blendend weißen Damastdecke. Neben meinem Gedeck stand eine Vase mit Frühlingsblumen. „Es ist alles so feierlich“, sagte ich, während ich mich setzte. Vater lächelte. „Wir feiern deine Rückkehr.“ Ein junges Hausmädchen, das ich nicht kannte, trug die Speisen auf. Sie war ein wenig ungeschickt, aber ich mochte ihr rotbackiges Gesicht und das offene, freundliche Lächeln. Nachdem sie mir versichert hatte, wie ähnlich ich Fräulein Alex sei, verschwand sie durch die Tür, die zu den Wirtschaftsräumen führte. Vater schenkte Wein ein, und er und Ulf hoben die Gläser und tranken mir zu. „Auf deine Heimkehr“, sagten sie. „Auf den Erlengrund“, erwiderte ich. Wir saßen bis kurz vor Mitternacht beisammen. Vater und Ulf erzählten von all den Leuten, die ich als Kind gekannt hatte. Einige waren gestorben, andere fortgezogen, doch es gab auch vieles im Dorf, was unverändert geblieben war. Mir war schwindlig vor Müdigkeit und vom Wein, als mein Vater mich nach oben brachte. „Ich habe dir die beiden Zimmer über der Halle herrichten lassen“, sagte er. „Aber wenn du lieber in einem anderen Teil des Hauses wohnen möchtest, kannst du natürlich jederzeit umziehen.“ -15-
Er öffnete eine der bemalten Türen gegenüber dem Treppenabsatz, knipste das Licht an und stellte meine Reisetasche mit dem Nachtzeug auf den Teppich. Der Raum war verändert; neue Möbel standen darin, doch ich erkannte die geschnitzte Truhe unter einem der Fenster wieder, den Erker, der den Blick zur Auffahrt freigab, und die niedrige Balkendecke. „Großmutters Zimmer“, sagte ich. Vater lächelte. „Daß du dich daran erinnerst! Sie starb immerhin schon, als ihr erst vier Jahre alt wart. Ja, das war ihr Zimmer, und nebenan hat sie geschlafen. Ich habe die Einteilung unverändert gelassen.“ Er nahm mich in die Arme und strich mir übers Haar, und ich legte den Kopf an seine Schulter. „Und sei nicht traurig wegen Alex. Ihr habt euch früher so gut verstanden. Bestimmt wird es bald wieder so zwischen euch werden, du mußt nur Geduld haben.“ Ich wich seinem Blick aus, damit er den Zweifel in meinen Augen nicht sah. Dann ging er, und ich blieb allein zurück. Eine Weile stand ich auf der Schwelle zwischen den beiden Zimmern. Eines der Erkerfenster war geöffnet, und die geblümten Vorhänge bewegten sich im Luftzug. Ich zog die Schuhe aus, ging über den weichen Teppich und trat ans Fenster. Die Luft war lind und voller Frühlingsdüfte. Der Mond schien durch das Geäst der Erlen. Wenn sich die Zweige bewegten, war es, als huschte eine Armee von Schatten über die Auffahrt. Die weiten, geschwungenen Wiesen lagen still wie silbrige Seen im Licht. Es war wie ein Märchenland; ein Traumland, nach dem ich mich viele Jahre zurückgesehnt hatte wie nach einem verlorenen Paradies. • Ich war glücklich und traurig zugleich, während ich da stand und über den nächtlichen Erlengrund sah, während ich an Alex und meine Mutter dachte, an Vater und Ulf, an alles, was ich -16-
verloren und wiedergefunden hatte. Vielleicht war es ein Rascheln, das mich veranlaßte, den Kopf zu heben und zu der verwilderten Laube hinüberzusehen, wo Efeu, Geißblattranken und Weinlaub sich wie ein Vorhang von Baum zu Baum spannten. Dort, zwischen den verwitterten Steinfiguren und dem Sommerhäuschen, war unser Lieblingsplatz gewesen. Der ideale Ort für ein Versteck... Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Gebüsch und trat in den Lichtkreis des Mondes. Es war ein Mann. Seine Bewegungen verrieten mir, daß er ein Fremder war, der nicht gesehen werden wollte. Sekundenlang beobachtete ich ihn. Plötzlich drehte er sich um und blickte zum Haus herüber. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zur Seite, hinter den Vorhang. Vielleicht hatte er mich bereits am erleuchteten Fenster gesehen, vielleicht beunruhigte ihn auch etwas anderes, ich weiß es nicht. Als ich den Vorhang teilte und wieder hinausspähte, lag die Auffahrt verlassen da. Der Mann war verschwunden.
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3 Ich erwachte früh vom Gesang der Amseln. Im Haus war noch alles still. Ich stand auf, ging ins angrenzende Badezimmer, wusch mich und zog meine Jeans und einen Pullover an. In der Diele herrschte Dämmerlicht. Es roch vertraut nach Bohnerwachs, Lavendel und Kampfer. Ich ging über die alten Fellteppiche, vorbei an den Porträts meiner Großeltern und Urgroßeltern, und bog in den Flur ein, der zum rechten Seitenflügel des Hauses führte. Der riesige Wellenschrank, in dem wir uns als Kinder so gern versteckt hatten, glänzte matt, als ein Lichtstrahl der aufgehenden Sonne ihn traf. Ich ging daran vorbei, blieb plötzlich stehen und sagte halblaut: „Alex!“ Doch noch während ich den Namen meiner Schwester flüsterte, wußte ich, daß mich mein eigenes Spiegelbild getäuscht hatte. Dicht neben dem Schrank, wo früher eine Vitrine gestanden hatte, hing nun ein mannshoher Spiegel in goldenem Rahmen. Die schmale Eichentreppe zum zweiten Stockwerk zog mich magisch an. Ich zögerte eine Weile, betrat die unterste Stufe und legte die Hand auf das Geländer. Langsam stieg ich nach oben. Ich ging auf Zehenspitzen, um keinen Lärm zu machen, und vermied die siebte Stufe, die früher stets geknarrt hatte. Hier war der Flur noch dunkel, da es nur ein einziges Fenster gab, das wenig Licht spendete. Die Teppiche verschluckten das Geräusch meiner Schritte. Was wollte ich hier? Eine seltsame Macht zog mich zu der Tür am Ende des Korridors, deren Bemalung schon fast verblaßt war. Ich blieb stehen und hielt den Atem an. Es war so still, daß ich -18-
fürchtete, das Hämmern meines Herzens könnte mich verraten. Plötzlich begann die Uhr in der Halle zu schlagen, und die sechs tiefen Schläge hallten feierlich durchs Haus. Langsam wandte ich mich ab, um wieder zu gehen. In diesem Augenblick hörte ich, wie eine Klinke niedergedrückt wurde. Die Tür öffnete sich, und Alex erschien auf der Schwelle. Sekundenlang sahen wir uns schweigend an. Ihr schwarzes Haar war länger als das meine; es reichte ihr fast bis zur Taille. Unvermittelt sagte sie: „Was willst du hier?“ Ich zögerte. „Ich konnte nicht mehr schlafen und mußte an früher denken... Da bin ich heraufgekommen.“ Sie erwiderte hart: „So wie früher ist es nicht mehr.“ „Ich weiß, Alex. Das brauchst du mir nicht zu sagen.“ Sie sah mich an, und in ihrem Blick war etwas, was ich nicht zu deuten wußte. „Bist du etwa heimgekommen und dachtest, ich würde dir jubelnd um den Hals fallen? So wie im Märchen:... und dann lebten sie glücklich bis an ihr Ende?“ Ihre Stimme klang spöttisch, und es tat mir weh, ihr zuzuhören. „Nein“, sagte ich. „So war es nicht. Ich hatte Angst vor dir.“ „Angst?“ wiederholte sie. „Was könnte ich dir schon tun?“ „Sehr viel. Genau das, was du jetzt tust. Mich behandeln, als wäre ich eine Fremde, als hätten wir einander nie gern gehabt. Dabei hat es für mich nie einen anderen Menschen gegeben, mit dem ich mich so verbunden gefühlt habe wie mit dir - nicht einmal Vater oder Mutter.“ Sie wich meinem Blick aus und erwiderte nichts. Ich wandte mich zum Gehen. „Hast du die Zeit vergessen, Alex? “ „Es ist so lange her.“ „Können zehn Jahre etwas auslöschen, was einmal gewesen ist?“ Sie gab keine Antwort, und ich ging langsam auf die Treppe zu. Plötzlich fragte sie: „Warum bist du zurückgekommen?“ -19-
Ich blieb stehen. „Du weißt ja, daß Mutter wieder heiraten will. Ich wollte nicht mit ihr und diesem Mann zusammen leben. Aber das ist nicht der wirkliche Grund. Eigentlich habe ich all die Jahre nur auf den Tag gewartet, an dem ich wieder nach Hause konnte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, in so einer großen Stadt wohnen zu müssen, wenn man an das freie Leben auf dem Land gewöhnt ist.“ Sie erwiderte scharf: „Willst du mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich hierbleiben konnte und du mit Mutter fortgehen mußtest?“ Ihr Gesicht war so feindselig, daß ich den Blick von ihr abwandte. „Nein, Alex. Ich möchte nur nicht, daß du mich wie einen Eindringling behandelst. Ich habe das gleiche Recht wie du, hier zu sein.“ Ich sah sie nicht mehr an, ging nur die Treppe hinunter und hörte noch, wie sie die Tür schloß. Als ich die Diele erreichte und am Spiegel vorüberkam, sah ich, daß mein Gesicht sehr blaß war. Ein breiter Sonnenstrahl zog sich über das honigfarbene Holz des Wellenschranks, und die Amseln hatten aufgehört zu singen. Der Tag war angebrochen. Ich verließ das Haus durch die Hintertür, die zum Obstgarten führte. Die Apfelbäume hatten dicke Knospen, und die Wiesen waren mit Schlüsselblumen bestickt; ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Über dem Wald hing noch ein bleicher Mond. Als ich ums Haus kam, hörte ich ein Pferd wiehern. Ich ging zur Stalltür, schob die Hand durch die Luke in der Bretterwand und klappte den Riegel zurück. Alles war wie früher - nur daß ich mich jetzt nicht mehr auf die Zehenspitzen stellen mußte, um die Tür zu öffnen. Die Box, in der einst unser Pony gestanden hatte, war leer. Doch auf der anderen Seite der Stallgasse standen zwei große Pferde, ein Fuchs und ein Schimmel. Ich ging zu ihnen und ließ mich beschnuppern. Der Fuchs -20-
puffte mich in die Seite und suchte in meinen Jeanstaschen nach Zucker. „Tut mir leid“, sagte ich. „Ich habe nichts mitgebracht. Aber wenn ich nächstes Mal komme, denke ich bestimmt daran.“ Der Schimmel war etwas zurückhaltender, ließ sich aber mit Behagen hinter den Ohren kraulen und sah mich mit seinen sanften, dunklen Augen vertrauensvoll an. Ich sah mir die beiden Namens tafeln an, die an der Wand über den Boxen hingen. Der Schimmel hieß „Merlin“, der Fuchs „Troll“. Welches von beiden mochte Alex's Pferd sein? „Merlin“, murmelte ich, während ich den Schimmel streichelte. Es tat so gut, seine samtweichen Nüstern unter den Händen zu spüren. „Du hast einen seltsamen Namen. Gehörst du Alex? “ „Nein“, sagte eine Stimme von der Tür her. „Er gehört mir und von jetzt an auch dir. Merlin war ein berühmter Zauberer und Wahrsager im alten England.“ Ich drehte mich um. Mein Vater stand auf der Schwelle, die Morgensonne im Rücken. Er trug ein kariertes Hemd und Reithosen und sah genauso aus, wie ich ihn all die Jahre in Erinnerung gehabt hatte. Ich lächelte ihm zu. „Willst du ihn wirklich mit mir teilen?“ Er schlenderte auf mich zu und stellte sich neben mich. Der Schimmel begrüßte ihn mit leisem Wiehern. „Ja, und es ist gar nicht so selbstlos, wie es vielleicht klingt“, erwiderte er. „Weißt du, ich habe nicht mehr viel Zeit zum Reiten, und Merlin braucht mehr Bewegung. Da bin ich ganz froh, wenn du dich um ihn kümmerst.“ „Hoffentlich komme ich mit ihm zurecht. Ich bin während der letzten Jahre nur selten in der Reitschule gewesen. Sicher habe ich eine Menge verlernt.“ „Wenn du jeden Tag reitest, bekommst du schnell wieder Übung. Und Merlin wird dir gefallen. Er ist zuverlässig und hat -21-
keine Mucken. Da ist Troll schon aus anderem Holz geschnitzt. Manchmal benimmt er sich wie ein Wildpferd beim Rodeo.“ „Aber Alex wird mit ihm fertig?“ „O ja, die klammert sich wie ein Affe fest. Es kann ihr gar nicht wild genug zugehen. Und wenn sie fünfmal herunterfällt, steigt sie fünfmal wieder aufs Pferd.“ „So war sie früher schon“, sagte ich. „Ich habe ihren Mut immer bewundert.“ Vater legte mir die Hand auf die Schulter. „Du bist auch mutig, Katinka - wenn auch auf andere Weise. Es gibt verschiedene Arten von Mut. Und jetzt komm, laß uns frühstücken gehen. Ich will anschließend noch eine halbe Stunde ausreiten, dann muß ich ins Säge werk. Wir haben zur Zeit Hochbetrieb: eine große Bestellung von einer Papierfabrik, weißt du.“ Ich sagte: „Oh, das Sägewerk! Darf ich in den nächsten Tagen einmal dort vorbeikommen und mich ein bißchen umsehen?“ Mein Vater strahlte. „Natürlich, damit würdest du mir eine große Freude machen! Du weißt ja, daß eine von euch beiden den Betrieb einmal übernehmen soll, wenn ich mich aufs Altenteil zurückziehe. Und Alex interessiert sich kein bißchen fürs Sägewerk. Sie sagt immer, daß sie später Pferde züchten will.“ „Aufs Altenteil zurückziehen!“ wiederholte ich. „Das hat doch wohl noch zwanzig Jahre Zeit, oder?“ „Tja, ich meine auch eigentlich mehr, daß ich froh wäre, wenn ich eines Tages einen Teil der Arbeit an jemanden abgeben könnte, auf den ich mich verlassen kann.“ Er lächelte. „Aber das ist Zukunftsmusik. Erst mußt du einmal die Schule beenden, und dann sehen wir weiter. Möchtest du studieren?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Wirklich, ich hab noch keine Ahnung.“ Er öffnete die Haustür, und Diana kam uns -22-
entgegengelaufen, kläffte freudig und begrüßte mich erneut überschwenglich. „Sie hat wohl geglaubt, du wärst über Nacht wieder verschwunden“, sagte Vater. „Keine Angst, Diana, jetzt lassen wir Katinka nicht mehr weg!“ Als wir das Eßzimmer betraten, fanden wir Alex und Ulf bereits am Frühstückstisch. Meine Schwester hatte ein Heft neben ihrer Kaffeetasse liegen und lernte Vokabeln. Sie sah kaum auf, als wir uns setzten. „Ich habe dich schon im Gymnasium angemeldet“, sagte Vater zu mir. „Nach den Osterferien beginnt für dich der Unterricht.“ „Das Gymnasium ist doch in Hochstädt“, erwiderte ich. „Wie kommt man dorthin?“ Alex gab keine Antwort. Sie murmelte englische Vokabeln vor sich hin. Ulf antwortete an ihrer Stelle: „Es gibt einen Bus, der auf dem Dorfplatz hält.“ Marie, das rotbackige Küchenmädchen, brachte Kaffee, Toastbrot und Eier. Ich sah durch das geöffnete Fenster auf die Allee hinaus. Die Wildtauben gurrten in den noch dürren Geißblattranken, die die Laube überwucherten. „Vergangene Nacht war ein Mann auf der Allee“, sagte ich. „Ich sah ihn, ehe ich zu Bett ging.“ „Ein Mann? “ wiederholten Vater und Ulf gleichzeitig. „Ja. Er kam von der Laube, stand ein paar Sekunden in der Auffahrt und sah zum Haus herüber. Dann muß er mich wohl am Fenster bemerkt haben, denn plötzlich war er verschwunden.“ Endlich hob Alex den Blick von ihrem Heft und sah mich an. Vater sagte: „Wie sah er aus?“ „Ich konnte ihn nicht deutlich erkennen. Er trug einen Umhang, glaube ich. Ich bin sicher, daß er ein Fremder war, -23-
denn er bewegte sich so... so verstohlen.“ Ulf machte ein nachdenkliches Gesicht. „Hm, es könnte der Förster gewesen sein. Er wohnt ja ganz in der Nähe und geht nachts oft auf Pirsch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Der Mann benahm sich so, als wollte er nicht gesehe n werden.“ „Katinka scheint eine lebhafte Phantasie zu haben“, sagte Alex gedehnt. „Passiert dir das öfter, daß du nachts Leute ums Haus schleichen siehst?“ „Nein, da kannst du beruhigt sein. Ich habe nie unter Wahnvorstellungen gelitten, falls du das meinen solltest.“ Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Vater warf ruhig ein: „Wenn du den Mann noch einmal siehst, sag mir bitte sofort Bescheid. Unser Hof liegt so abgeschieden, daß er für lichtscheues Gesindel ziemliche Anziehungskraft besitzen dürfte. Wir haben zu viele Wertsachen im Haus, die gestohlen werden könnten. Und Diana hat nicht mehr viel von einem Wachhund. Sie ist in letzter Zeit ziemlich schwerhörig geworden.“ Alex lächelte. „Seid ihr aber ängstlich! Glaubt ihr wirklich, daß jemand ga nze Möbelstücke aus dem Haus tragen könnte, während wir in unseren Betten liegen und schlafen?“ „Es müssen ja nicht gerade Möbelstücke sein. Es genügt schon, wenn das Silber, ein paar von den Uhren oder ein Teil der Porzellansammlung verschwindet“, erwiderte Ulf. „Ich glaube nicht, daß du dabei aufwachen würdest; es sei denn, die Diebe wären so zuvorkommend, ihre Arbeit unter lautem Gepolter zu verrichten.“ Alex sagte beleidigt: „Ich habe einen sehr leichten Schlaf.“ ,Ja, so leicht, daß du nicht einmal ge merkt hast, als der Fuchs unsere letzten Hühner holte.“ Wir lachten, doch Alex's Gesicht verfinsterte sich. Für den -24-
Rest des Frühstücks schwieg sie beharrlich. Ulf war anzusehen, daß er sie am liebsten geschüttelt hätte, wie er es in unserer Kindheit manchmal tat, wenn wir Dummheiten gemacht hatten. Als die Uhr in der Halle sieben schlug, sprang Alex auf und verschwand ohne Gruß durch die Tür. Später stand ich am Fenster in meinem Zimmer und sah ihr nach, wie sie auf dem Fahrrad die Allee entlangfuhr, die Schulmappe auf dem Gepäckträger, und zwischen den Stämmen der Erlen verschwand. Und mir war, als hätte ich etwas Kostbares verloren.
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4 Alex war noch nicht zurückgekommen, als ich Merlin kurz nach dem Mittagessen sattelte. Ich schlug den Weg zum Wald ein, ritt über die Wiesen und durch den Birkenhain. Die Felder waren frisch gepflügt. Es roch nach Frühling und schwerer, dunkler Erde. Merlin bewegte sich geschmeidig, aber ohne Hast, und ich fühlte mich auf ihm schon bald sicherer als auf den Pferden der Reitschule. Das Plätschern des Bachs und das leise Raunen des Windes in den Bäumen war mir wunderbar vertraut. Ich wandte den Kopf um und sah zum Erlenhof zurück. Das Haus lag friedlich wie eine kleine Festung im Sonnenlicht, eine Welt für sich. Ich hätte hier so glücklich sein können, wenn die Schwierigkeiten mit Alex nicht gewesen wären... Im Wald war es sehr still - fast zu still. Ich ritt am Moorsee vorbei und über die Fichtenschonung zum „Urwald“, wie wir den ursprünglichsten und wildesten Teil des Forstes einst genannt hatten. Der Bach teilte das Waldstück in zwei Hälften und das ferne Rauschen übertönte den Hufschlag des Pferdes. Als ich zur Mühle kam, zügelte ich Merlin. Vor zehn Jahren war die Mühle noch in Betrieb gewesen. Ein alter Mann hatte dort das Korn für die Bauern der Umgebung gemahlen. Nun war sie verlassen. Die eine Hälfte des Daches war eingesunken wie ein zahnloser Mund, die Fensterhöhlen klafften schwarz wie tote Augen, und Gras wuchs zwischen den Ziegelsteinen des Mauerwerks. Ich stie g ab und führte Merlin an eine seichte Uferstelle, wo er trinken konnte. Das alte Mühlrad war geborsten, doch die Seite des Hauses, die an den Bach grenzte, wirkte weniger verfallen als die Rückfront. Ich sah, daß die meisten Fensterscheiben noch unversehrt waren. Die Haustür stand einen Spalt offen, als würde ich erwartet. -26-
Mir ist nie ganz klargeworden, weshalb ich Merlin an einen Baumstamm band und zur Mühle ging. Dieses schiefe alte Haus, das da einsam am Bachufer im Wald stand, übte eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus. Eine Mischung aus Furcht und Neugier trieb mich durch den verwilderten Garten zur Tür. Eine Weile blieb ich auf der Schwelle stehen. Das Rauschen des Baches schien das ganze Haus zu erfüllen, und ich erinnerte mich plötzlich sehr deutlich an das gleichmäßige Stampfen und Zischen des Mühlrades und die Gischtfontänen, die der Wind mit sich forttrug, wenn das Rad durchs Wasser pflügte. Geblieben war nur das Rauschen - wie eine ewig wiederkehrende Melodie, machtvoll und beruhigend zugle ich. Zögernd ging ich zur Treppe. Über dem Geländer hing ein zurückgelassenes Kleidungsstück, eine Jacke oder ein Mantel aus grünem Loden. Die Stufen waren in der Mitte durchgetreten und gaben unter meinen Schritten leicht nach. Auf dem Vorplatz im ersten Stock stand eine Kommode auf zwei Beinen. Ich öffnete die Tür rechts von der Treppe und sah ins Zimmer. Es war leer bis auf einen Schemel und eine rostige Schaufel. Das Rauschen des Bachs erfüllte das Haus. Ich hörte keine Schritte, kein Knarren von alten Dielen. Plötzlich sagte eine Stimme: „Was machst du hier?“ Ich erschrak so, daß ich einen Augenblick lang wie erstarrt dastand. Mein Herz hämmerte bis in den Hals hinauf, und meine Kehle war wie ausgetrocknet. Ich drehte mich um. Ein blonder Junge stand hinter mir und musterte mich ruhig. Er mochte etwa in meinem Alter sein. Ich fragte mich, wie lange er mich schon beobachtet hatte. Er hatte ein sehr schmales Gesicht mit durchdringenden grauen Augen. „Was machst du hier?“ wiederholte er. Ich sagte: „Heiliger Himmel, hast du mich erschreckt! Ich dachte, die Mühle wäre verlassen.“ -27-
Er hob die Augenbrauen. „Seit wann leidest du an Gedächtnisschwund?“ Verständnislos erwiderte ich seinen Blick. „Aber wieso sollte ich denn...?“ Ich stockte, denn plötzlich wurde mir klar, daß er mich für meine Schwester hielt. „Ich bin nicht Alex.“ „Sehr witzig. Du hast wohl heute deinen komischen Tag? “ Ich trat einen Schritt zurück und wiederholte: „Ich bin nicht Alex, sondern ihre Schwester.“ Seine Augen weiteten sich, und mit einemmal merkte ich, daß etwas an seinem Gesicht mir vertraut war. Ich kannte ihn - ja, ich kannte ihn. „Katinka?“ fragte er zögernd. Ich nickte. „Ja. Nicht Alex, sondern Katinka. Und du... mir ist, als würde ich dich kennen.“ Er versenkte die Hände in den Taschen seiner ausgebleichten Jeans und erwiderte lächelnd: „Erinnerst du dich an den kleinen Jungen, der dich einmal im Winter aus dem Dorfteich zog?“ „Herrje!“ sagte ich. „Du bist das, Steffen! Das gibt's doch nicht!“ „Doch, das gibt es!“ Wir setzten uns auf die oberste Treppenstufe, lachten aus vollem Hals und sahen uns an. „Alex und Katinka - Katinka und Alex“, sagte er. „Das doppelte Lottchen! Dann bist du also zurückgekommen! Was sagt Alex dazu?“ Nun lachte ich nicht mehr. „Sie hätte es wohl lieber ge habt, wenn ich in Hamburg geblieben wäre.“ Auch Steffen wurde plötzlich ernst. „Alex ist ziemlich schwierig und verschlossen. Im Grunde ist sie wohl sehr einsam, glaube ich.“ „Ja, ich fürchte, sie ist unglücklich.“ Ich musterte ihn von der Seite. „Seht ihr euch oft?“ -28-
Seine Miene verdüsterte sich. „Eine Zeitlang haben wir uns ab und zu getroffen, aber irgendwie gab's dauernd Streit. Wir sind wohl zu verschieden.“ Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte ich: „Und was machst du hier in der Mühle?“ „Ich male - nicht Korn, sondern Bilder.“ „Du malst?“ „Ja, ich habe mir unter dem Dach eine Art Atelier eingerichtet. Willst du es sehen?“ Ich nickte verwundert, und wir standen auf. „Vielleicht erinnerst du dich noch, daß meinem Vater der Laden an der Hauptstraße gehört“, sagte Steffen, während wir über die Bodentreppe stiegen. „Natürlich will er, daß ich sein Geschäft übernehme. Dabei möchte ich so gern die Kunstakademie besuchen.“ „Könnt ihr den Laden denn nicht verpachten, wenn dein Vater sich zur Ruhe setzt?“ „Das habe ich ihm auch vorgeschlagen, aber er will einfach nichts davon hören. Er wird schon wütend, wenn er nur einen Pinsel sieht. Und weil ich zu Hause nicht malen darf, komme ich eben heimlich hierher.“ Er öffnete eine Tür am Ende der Treppe und führte mich in einen Raum mit schrägen Wänden. Ein großer Tisch unter einem der Fenster quoll von Gläsern, Tuben, Stiften und Zeichenblättern fast über. In der Ecke stand ein kleiner eiserner Ofen, und zwei Matratzen lagen auf dem Boden. Viele Plakate und eine Serie vo n abstrakten Bildern hingen an den Wänden. Ich sah sie mir an und konnte nur bei einem erkennen, was es darstellte: ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren am Ufer eines Teiches, umgeben von dunklen Bäumen. Während ich noch vor dem Bild stand, merkte ich, wie Steffen mich beobachtete. -29-
„Gefällt es dir?“ fragte er. Ich nickte. „Ja, sehr. Es ist Alex, nicht?“ „Ja, Alex - und doch auch wieder nicht.“ Er stockte. „Es ist eine Traum-Alex, verstehst du? Ich habe eine Art Wunschbild gemalt, das ich einmal vo n ihr hatte.“ „Ich verstehe dich. Auch ich habe all die Jahre eine Art Wunschbild von ihr mit mir herumgetragen. Ich dachte, es könnte zwischen uns wieder so werden wie es einmal war. Aber zehn Jahre sind eben eine lange Zeit. Wir haben uns wohl beide verändert, sie und ich.“ Ich sah mir auch noch ein paar Zeichnungen an, die Steffen in einer Mappe gesammelt hatte. Dann setzten wir uns auf eine der Matratzen, und ich sagte: „Weißt du, ich verstehe zwar nichts von moderner Kunst, aber ich glaube, daß du Talent hast. Nur packst du die Sache vielleicht von der falschen Seite an. Ich habe einmal gelesen, daß alle berühmten abstrakten Maler zuerst gegenständlich gemalt haben; Picasso zum Beispiel. Meinst du nicht, du solltest erst einmal mehr Bilder in der Art malen wie das von Alex?“ Steffen nickte. „Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe es mir selbst schon überlegt. Nur brauche ich einfach eine gute, gründliche Ausbildung. Ich müßte Aktzeichnen lernen und verschiedene Maltechniken und so etwas.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Aber wenn ich immer nur allein hier in der alten Mühle herumsitze, komme ich einfach nicht richtig weiter!“ Nach kurzem Schweigen fragte ich: „Und wie soll es weitergehen? Wirst du das Geschäft deines Vaters wirklich übernehmen, obwo hl du eigentlich etwas ganz anderes aus deinem Leben machen möchtest?“ Steffen schüttelte heftig den Kopf. Ich hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Sein Gesicht sah so traurig aus. „Ich werde nach dem Abitur von zu Hause fortgehen und versuchen, mir das Geld fürs Studium an der Akademie -30-
irgendwie zu verdienen“, erwiderte er. „Leid tut es mir nur wegen meiner Mutter. Sie wird mich vermissen, und ich kann dann nicht mehr nach Hause zurück. Ich weiß genau, daß mein Vater es mir nie verzeiht, wenn ich weggehe. - Du kannst das wohl nicht verstehen. Euer Vater würde so etwas niemals tun.“ „Nein“, sagte ich. „Vater ist wunderbar. Er hat für alles Verständnis. Aber wer weiß, vielleicht siehst du zu schwarz. Manche Probleme lösen sich mit der Zeit ganz von selbst.“ Steffen antwortete nicht. Da ich merkte, daß er mir nicht glaubte, fügte ich hinzu: „Du denkst jetzt sicher, daß das nur ein billiger Trost ist. Aber sieh mich an - ich dachte immer, ich könnte erst in den Erlengrund zurückkehren, wenn ich volljährig bin. Und jetzt hat es sich ergeben, daß meine Mutter wieder heiratet, und ich konnte mich frei entscheiden, ob ich bei ihr bleiben oder nach Hause zurückkehren wollte.“ „Aber du hast sehr lange gewartet. Ich...“ Steffen stockte. Ein Pferd wieherte durchdringend. „Irgend etwas muß Merlin erschreckt haben.“ Ich sprang auf. Wir liefen über die Bodentreppe zum ersten Stock. Auf dem Vorplatz blieben wir stehen. Die Haustür war weit geöffnet. Jemand stand auf der Schwelle, umflossen vom Licht der Nachmittagssonne. Es war Alex. Sie sah zu uns auf, und ihr Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde umkehren und ohne ein Wort wieder gehen. Doch sie blieb, und ich spürte ihre Anspannung, die sich auf mich übertrug. Als das Schweigen fa st unerträglich wurde, sagte Steffen: „Du warst lange nicht hier.“ „Ich wollte auch diesmal nicht zu dir.“ Ihre Stimme klang spröde. „Ich bin am Bach entlang geritten und habe Merlin -31-
gesehen. Da nahm ich an, daß Katinka hier sein muß.“ „Ich bin zufällig he rgekommen“, sagte ich, und es klang wie eine Entschuldigung. „Ich dachte, die Mühle wäre verlassen.“ Alex gab mir keine Antwort. Sie sah Steffen an. „Du malst also noch immer hier? Vielleicht steht Katinka dir in Zukunft Modell. Sie hat sicher mehr Geduld als ich.“ Es klang spöttisch, doch in ihrer Stimme schwang noch ein anderer Unterton mit, den ich nicht zu deuten wußte. „Wir haben nicht...“, begann ich, doch Steffen unterbrach mich. „Ja“, sagte er. „Ich wäre froh, wenn ich dich einmal malen könnte, Katinka. Vielleicht in eurer alten Laube vor dem Haus... Aber natürlich nur, wenn du magst.“ Ich warf Alex einen Blick zu und erwiderte zögernd: „Ja, warum nicht? Aber vielleicht würde Alex gern...“ Sie fiel mir ins Wort. „Nein, das überlasse ich schon dir. Ich habe weder Zeit noch Lust, stundenlang wie ein Ölgötze herumzusitzen.“ Sie schleuderte ihr schwarzes Haar mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Es schimmerte fast bläulich in der Sonne. Dann drehte sie sich um, trat in den verwilderten Garten hinaus und verschwand. Unwillkürlich ging ich einen Schritt die Treppe hinunter, doch Steffen hielt mich an der Schulter zurück. „Laß sie. Willst du ihr wirklich nachlaufen? Sie wird dich nur zurückweisen.“ „Ja“, murmelte ich. „Ich weiß. Was ich auch tue, ist falsch ob ich bleibe oder ihr folge. Ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre es nicht gut, daß sie uns hier zusammen angetroffen hat.“ Steffen seufzte leicht. „Mag sein, aber es läßt sich nicht ändern. Und eigentlich bin ich froh, daß du gekommen bist.“ Wir sahen uns an und lächelten, und ich folgte ihm wieder die -32-
Treppe hinauf. Ich wollte Alex jetzt nicht nachreiten wie ein armer Sünder, der um Vergebung bittet. Und doch quälte mich die Vorstellung, wie sie allein durch den Wald ritt. Während ich mich mit Steffen unterhielt, sah ich immer den Ausdruck auf ihrem Gesicht vor mir. Eine halbe Stunde später kehrte ich auf den Erlenhof zurück. Troll stand schon in seiner Box, als ich Merlin in den Stall führte. Ich kratzte seine Hufe aus, trocknete ihn ab und bürstete seine Fesseln. Als ich ins Freie trat, war die Sonne hinter dunklen Wolken verschwunden. Ich ging über den Hofplatz zum Obstgarten, und als ich die alte Steinmauer erreichte, hatte ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war fast, als hätte mich eine unsichtbare Hand gestreift. Ich blieb stehen und sah mich um. Kein Vorhang bewegte sich hinter den Fenstern des Hauses, niemand war zu sehen. Und doch wurde ich mein Unbehagen nicht los. Mein Herz klopfte rascher und obwohl ich wußte, daß mir hier nichts geschehen konnte, überlief mich ein Schauder. Schnell wandte ich mich um und ging aufs Haus zu. Alles war still bis auf das ferne Geschirrklappern aus der Küche. Schon hatte ich die Hintertür erreicht, öffnete sie und trat in den Bogengang mit den steinernen Säulen. Hier herrschte sanftes Dämmerlicht. Die Truhen und Teppiche verbreiteten eine so warme, friedliche Stimmung, daß jene unbestimmte Furcht mich plötzlich verließ, als hätte ich sie mit dem Schließen der Tür ausgesperrt. Ich blieb stehen und lehnte das Gesicht an eine Säule. Der Stein war kühl und glatt. Ich schloß die Augen, und wieder kam es mir vor, als wäre der Erlenhof eine Welt für sich, eine Festung, die wie ein magischer Kreis alles Böse und Bedrohliche dieser Welt aus zuschließen vermochte.
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5 Erst zwei Wochen später traf ich Steffen wieder. Er stand im Geschäft seines Vaters, das sich während meiner Abwesenheit vom kleinen Lebensmittelladen zum Supermarkt entwickelt hatte, und bediente eine Kundin. Als ich am Schaufenster vorüberkam, sah er zufällig auf, und unsere Blicke trafen sich. Er gab mir ein Zeichen, da blieb ich stehen und wartete, bis die Kundin den Laden verlassen hatte. Dann kam er zur Tür. Er war ziemlich blaß. Leise sagte er: „Katinka, ich muß dir etwas erzählen. Hast du heute abend Zeit?“ Ich freute mich, daß er mich nicht mit Alex verwechselt hatte. „Klar“, erwiderte ich. „Was ist passiert?“ Er sah hastig über die Schulter. Sein Vater stand an der Kasse und unterhielt sich mit einem Mann. „Die Mühle ist verkauft.“ „Was hast du gesagt?“ Er wiederholte ungeduldig: „Die Mühle ist verkauft.“ Ich starrte ihn verblüfft an. Hastig sagte er: „Ich kann jetzt nicht reden. Wir treffen uns um sechs auf eurer Allee bei der alten Steinbank. Einverstanden?“ Ich nickte nur und sah ihm nach, wie er mit hängenden Schultern in den Laden zurückkehrte. Die alte Mühle war verkauft. Aber an wen? Und wem gehörte sie überhaupt? Wer konnte Interesse daran haben, das halb verfallene Haus mitten im Wald zu bewohnen? In Gedanken versunken ging ich über den Dorfplatz. Nur langsam wurde mir klar, was dieser seltsame Verkauf für Steffen bedeutete. Nun hatte er keinen Zufluchtsort mehr, wo er malen konnte. Sein blasses, hoffnungsloses Gesicht hatte deutlich genug gezeigt, wie sehr es ihn traf. Er tat mir leid; doch zugleich freute ich mich auch darüber, daß er gerade mit mir -34-
über seine Schwierigkeiten sprechen wollte, als wären wir alte Freunde. Ich beschloß, nach dem Mittagessen zur Mühle zu reiten und mir die Sache selbst anzusehen. Vater war auf einer Geschäftsreise, und Ulf war zum Förster gefahren, um mit ihm über die Holzarbeiten im Wald zu sprechen, der zum Erlengrund gehörte. So saßen Alex und ich allein am Mittagstisch. Ich überlegte kurz, ob ich ihr vom Verkauf der Mühle erzählen sollte. Sie saß jedoch wie immer stumm auf ihrem Platz und sah mit abweisendem Gesicht aus dem Fenster. Da schwieg ich ebenfalls, wartete, bis der Nachtisch aufgetragen wurde, und ging dann in den Stall, um Merlin zu satteln. Es war ein trüber Tag, und Frühlingsstürme brausten über die Wälder. Die Bussarde ließen sich in gleitendem Flug über die Tannen tragen, die Bäume bogen sich seufzend im Sturm, und die Vögel waren verstummt. Ein gutes Stück von der Mühle entfernt zügelte ich Merlin, band ihn an einem Baum fest und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Bei den Haselbüschen am Bach machte ich halt, kauerte mich zwischen die Sträucher und spähte durch das junge Blattwerk. Zuerst wirkte alles unverändert - die dunklen Fenster, das Gras, das aus dem Mauerwerk wuchs, das eingesunkene Dach. Dann aber bemerkte ich plötzlich, wie sich die Haustür langsam öffnete. Ich weiß nicht, was ich erwartete - einen alten Mann vielleicht, der hier Bienen züchten wollte, oder eine verschrobene Alte mit einem Dutzend Katzen. Auf keinen Fall hatte ich mit einer jungen, gut aussehenden Frau gerechnet. Sie hatte langes, blondes Haar, das im Wind flatterte, war ziemlich groß und schlank. Auf der Schwelle blieb sie stehen und sah sich um, als wüßte sie, daß sie beobachtet wurde. Ich zog mich unwillkürlich etwas tiefer ins Gebüsch zurück und -35-
wartete. Auch sie wartete auf etwas; das wurde mir klar, als ich Motorengeräusch hörte. Die junge Frau hob den Kopf und sah zum kleinen Forstweg hinüber, der am Bach entlang führte. Zwischen den Tannen tauchte ein Wagen auf. Die tiefhängenden Zweige streiften über sein schwarzes Blechdach. Einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, als käme ein unförmiger Käfer mit bösartigem Brummen durchs Gehölz gekrochen. Die Frau blieb auf der Türschwelle stehen, bis der Wagen vor der Mühle haltmachte. Es war ein eleganter Sportwagen, und ein nicht weniger eleganter Mann stieg aus. Ich sah ihn nur von hinten. Er trug einen gut geschnittenen Ledermantel und Schaftstiefel. Der Mann schlug die Tür seines Wagens zu und wechselte ein paar Worte mit der blonden Frau. Dann traten die beiden ins Haus und schlössen die verwitterte Tür hinter sich. Ich kauerte noch eine Weile im Gebüsch und wunderte mich. Dann kehrte ich zu Merlin zurück, schwang mich in den Sattel und ritt he im zum Erlenhof. „Seltsam“, sagte ich. „Was will ein junges Paar, das aussieht, als wäre es aus einer Zigarettenreklame gestiegen, in einer halbverfallenen Mühle?“ Steffen erwiderte finster: „Es ist mir ganz egal, aus welchem Grund sie das Haus gekauft haben. Wahrscheinlich sind sie einfach etwas plemplem.“ Er deutete mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Für mich zählt nur, daß diese Leute vor zwei Tagen plötzlich mit dem Bürgermeister in der Mühle auftauchten und zu mir sagten, ich müßte sofort meinen Kram packen und von dort verschwinden.“ Ich seufzte, und er hob einen Stein auf und schleuderte ihn -36-
gegen den Stamm einer Erle. „Wenn der Bürgermeister meinem Vater etwas von der Sache erzählt, ist zu Hause die Hölle los!“ „Wohin hast du deine Sachen gebracht?“ fragte ich. „In den Viehunterstand hinter dem Weiher. Beim nächsten Regen ist alles ruiniert, weil das Dach praktisch nur noch aus Löchern besteht.“ Er verfiel in dumpfes Brüten. „Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als ein verdammter Krämer zu werden“, sagte er bitter. „Du siehst ja, alles hat sich gegen mich verschworen!“ „Kannst du denn wirklich nicht mit deinem Vater reden?“ Steffen fuhr heftig auf. „Ich sage dir doch, er wird schon ganz wild, wenn ihm nur ein Pinsel unter die Augen kommt. Am liebsten würde ich auf und davon gehen.“ „Solange du nicht volljährig bist, würden sie dich wahrscheinlich sehr schnell aufgreifen und wieder nach Hause zurückschicken“, sagte ich nüchtern. „Hast du denn überhaupt Geld?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich gebe doch mein ganzes Taschengeld für Zeichenmaterial und Farben aus. Das Zeug ist furcht bar teuer.“ Wieder dachte ich, wie glücklich Alex und ich doch waren, daß wir einen Vater hatten, der uns volle Freiheit ließ. Plötzlich kam mir eine Idee. „Du“, sagte ich aufgeregt, „weshalb habe ich nur nicht gleich daran gedacht? Du könntest doch ohne weiteres bei uns auf dem Erlenhof ein Zimmer bekommen! Eines von den Dachzimmern zum Beispiel, oder... Ach, wir haben soviel Platz!“ Steffen hob den Kopf und sah mich an, als hätte ich ihm das Paradies versprochen. Doch das Licht in seinen Augen erlosch sofort wieder. „Dein Vater wird nicht einverstanden sein“, murmelte er. „Wir müßten ihm doch sagen, weshalb ich daheim nicht malen -37-
kann. Und glaubst du im Ernst, er würde mich bei etwas unterstützen, was meinem Vater so zuwider ist? Wenn es herauskäme, würde er sich damit doch die Feindschaft meines Vaters zuziehen, und das wird er sicher nicht riskieren wollen.“ Was Steffen sagte, klang einleuchtend. Vater hatte immer Wert darauf gelegt, mit allen Leuten gut auszukommen. Andererseits kannte ich aber auch seine Meinung, daß jeder junge Mensch ein Recht auf freie Entfaltung und bestmögliche Entwicklung seiner Fähigkeiten hat. Das hatte er selbst noch vor kurzem zu Alex und mir gesagt. Nun würde es sich zeigen, welcher der beiden Grund sätze ihm wichtiger war. Ich schwieg und beschloß insgeheim, mit meinem Vater zu sprechen, sobald die Gelegenheit günstig war. Erst später, als ich in der Abenddämmerung zum Hof zurückkehrte und Klavierspiel aus der Halle hörte, fragte ich mich, was Alex sagen würde, falls Steffen wirklich zum Malen in den Erlenhof kam. Leise öffnete ich die Vordertür und sah Alex am Flügel sitzen. Sie spielte so schön, und ein versunkener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, der mich für einen Augenblick all ihre Härte und Verschlossenheit vergessen ließ. So weich und gelöst war sie als Kind gewesen. Doch als sie meinen Schritt hörte und den Kopf hob, trat der alte Schatten von Feindseligkeit wieder in ihre Augen, den ich fürchten gelernt hatte. Sie nahm die Hände von den Tasten, und ich sagte hastig: „Bitte laß dich nicht stören, spiel weiter. Das hat so schön geklungen.“ Diana kam aus dem Wohnzimmer und begrüßte mich mit verschlafenem Schwanzwedeln. Ich bückte mich, um sie zu streicheln, da erwiderte Alex: „Wo bist du gewesen?“ Überrascht hob ich den Kopf. „Seit wann interessierst du dich für das, was ich tue?“ -38-
In ihrer Stimme schwang unterdrückter Zorn. „Ich interessiere mich nicht dafür. Vater hat vor einer Viertelstunde angerufen und wollte auch mit dir sprechen. Ich konnte dich nicht finden.“ „Tut mir leid“, sagte ich. „Ich war... draußen. Hat er etwas für mich hinterlassen?“ Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab und begann wieder zu spielen. Der verdrossene Zug um ihren Mund war zurückgekehrt. Ich ging in die Küche, und Diana folgte mir. Das Mädchen und die Köchin hatten Ausgang. Bis auf das Klavierspiel war es sehr still im Haus. Auch Ulf war offenbar noch nicht aus dem Forsthaus zurückgekommen. Ich machte mir ein belegtes Brot und gab Diana einen Knochen. Dann setzte ich mich in den Schaukelstuhl ans Fenster und sah in die beginnende Nacht hinaus. Das Seufzen des Windes in den Erlen mischte sich mit Alex' s Klavierspiel zu einer seltsam traurigen, versponnenen Melodie. Ich schloß die Augen und schaukelte mit dem Stuhl vor und zurück. Die Küchenuhr tickte schwer und langsam. Ich dachte an Steffen, an Alex, an die neuen Besitzer der Mühle. Dann wurden die Geräusche um mich her ferner, verschwommener das Klavierspiel, das Brausen und Ticken; und meine Gedanken schienen ineinander zu laufen wie Farben auf einem Bild. Ich träumte, ich wäre ein Vogel und säße gefangen in einem Käfig. Jemand hielt den Käfig in der Hand und schwang ihn hin und her, hin und her. Ich bekam Angst und kauerte mich in eine Ecke des Käfigs. Um mich her waren viele glänzende Augen, die mich beobachteten - böse, funkelnde Augen, die mich nicht losließen, denen ich nicht entfliehen konnte... Ich erwachte mit einem Ruck. Als ich die Augen öffnete, ging mein Blick zum Fenster, und einen Herzschlag lang war mir, als hätte ich ein Gesicht hinter der Scheibe gesehen. Ich sprang auf. Diana, die ebenfalls geschlafen hatte, fuhr hoch und kläffte erschrocken. Als ich das Fenster zu öffnen -39-
versuchte, klemmte der alte Riegel. Ich riß und zerrte daran, bis sich der Fensterflügel klirrend bewegte. Doch als ich mich über das Sims beugte, war draußen nichts als Finsternis, und nur die Erlen bewegten sich im Wind. Das Klavierspiel war verstummt. Langsam schloß ich das Fenster wieder und versuchte mir einzureden, daß das Gesicht hinter der Scheibe nur Einbildung gewesen war, ein Teil meines Traumes. Doch es gelang mir nicht. Ein Gefühl der Bedrohung blieb und begleitete mich, als ich durch die Halle und die Treppe hinauf in mein Zimmer ging.
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6 Vater kam mit sorgenvoller Miene von seiner Reise zurück. Ein wichtiger Geschäftsabschluß war nicht zustande gekommen, weil ein anderer Unternehmer ein günstigeres Angebot gemacht hatte. Ich beschloß, noch zu warten, ehe ich mit Vater über Steffen sprach, weil ich ihn nicht noch zusätzlich belasten wollte. Seit drei Tagen ging ich wieder zur Schule. Als Alex's Zwillingsschwester wurde ich anfangs bestaunt, dann aber rasch in die Klassengemeinschaft aufgenommen. Da Alex allgemein sehr verschlossen war, schien sich niemand übermäßig zu wundern, daß wir so kühl zueinander waren. Steffen ging in eine höhere Klasse, doch ich traf mich oft in den Pausen mit ihm, und im Schulbus hielt er meistens einen Platz für mich frei. Wie Alex über die Freundschaft zwischen Steffen und mir dachte, wußte ich nicht. Sie hatte eine unbeschreibliche Art, über uns hinwegzusehen, und ihr Gesicht verriet nichts von ihren Gefühlen. Sie schien völlig damit zufrieden, allein und ohne Freunde zu sein. Doch manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, merkte ich an ihren Augen, daß sie alles andere als glücklich war. Meine erste Woche in der neuen Schule war gerade verstrichen, als Vater am Samstag während des Abendessens plötzlich auf die Mühle im Wald zu sprechen kam. „Die Gemeinde ist das alte Gemäuer ganz unerwartet losgeworden“, sagte er. „Für einen lächerlichen Preis zwar, wie ich hörte, aber immerhin spart der Bürgermeister jetzt die Kosten für den Abbruch.“ Ich streifte Alex mit einem verstohlenen Blick und merkte, wie sie aufhorchte. Ulf fragte: „Und wer hat die Mühle gekauft? Ein alter -41-
Einsiedler, der dort beten und fasten will?“ Vater lachte. „Das dachte ich anfangs auch, aber der Bürgermeister erzählte mir, es wäre ein junges Paar. Die beiden haben Kunstgeschichte studiert und wollen ein Buch über die alten Kirchen und Höfe in unserer Gegend schreiben. Ich nehme fast an, sie werden demnächst auch bei uns auftauchen, um sich den Erlenhof anzusehen.“ „Das wird bestimmt eine große Überraschung für den Bürgermeister gewesen sein“, warf Alex ein. Sie betonte das Wort „Bürgermeister“, doch ich wußte genau, wer eigentlich gemeint war, und was sie mir damit zu verstehen geben wollte. Vater aber, der nichts von alldem ahnte, nickte nur und erwiderte lächelnd: „Ja, natürlich. Er hielt es für ziemlich verrückt von den beiden, sich in einem halbverfallenen Haus einzuquartieren, aber er wäre schön dumm gewesen, wenn er ihnen die Sache auszureden versucht hätte.“ Wieder sah ich Alex an. Sie machte ein Gesicht wie eine Katze, die Sahne geleckt hat, und ich hätte ihr am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein versetzt. Es freute sie offenbar, daß Steffen nun mit seinen ganzen Sachen auf der Straße stand und nicht wußte, wohin er gehen sollte. Wenn sie sich nur nicht täuschte! Ich beschloß, noch am gleichen Abend mit meinem Vater zu reden und ihn um Hilfe zu bitten. Die Gelegenheit ergab sich wie von selbst. Gleich nach dem Essen verschwand Ulf, um noch seinen üblichen Rundgang durch den Erlenhof zu machen, und Alex folgte ihm. Vater und ich blieben allein zurück. Eine Weile saßen wir schweigend beisammen. Dann zündete er sich eine Pfeife an und sagte: „Es ist noch nicht besser geworden mit Alex, wie?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, sie ist sehr einsam. Aber sie weist mich immer ab, wenn ich versuche, ihr näherzukommen.“ „Wie ist es denn in der Schule?“ -42-
„Ach, sie kommt mit allen ganz gut zurecht, aber Freunde hat sie keine.“ „Und du? Hast du dich im Gymnasium schon ein bißchen einge wöhnt? Hoffentlich fühlst du dich nicht recht ausgeschlossen.“ „Oh, es geht. Ich bin ziemlich viel mit Steffen zusammen, weißt du.“ „Steffen? “ wiederholte er. „Wer ist das? Kenne ich ihn?“ „Der Sohn des Lebensmittelhändlers“, sagte ich. „Er hat mich einmal aus dem Dorfweiher gezogen, als ich noch klein war.“ Vater nahm die Pfeife aus dem Mund. „Ach, der große blonde Junge von Bergers!“ Er sah mich aufmerksam an. „Aber Alex... war sie nicht öfter mit ihm zusammen?“ „Früher, ja“, erwiderte ich. „Steffen sagt, sie hätten meistens Streit gehabt, und schließlich vertrugen sie sich gar nicht mehr.“ „Das alte Lied.“ Mein Vater seufzte. „Sie stößt jeden zurück und schadet sich damit selbst am meisten.“ Ich gab ihm recht; doch Alex war ein Problem, für das ich noch keine Lösung kannte. Für Steffens Schwierigkeiten dagegen gab es eine Lösung. Ich straffte die Schultern und sagte: „Vater, ich wollte dich um etwas bitten. “ Er sah mich liebevoll und abwartend an - ohne jenes Mißtrauen, das meine Mutter oft gezeigt hatte, wenn ich mit einem Wunsch zu ihr kam. Ich hätte ihn am liebsten umarmt. Doch das wäre mir wie ein Bestechungsversuch vorgekommen, und ich wollte, daß er sich frei entschied. „Es geht um Steffen“, sagte ich. „Er malt so leidenschaftlich gern, weißt du.“ Und ich begann ihm alles zu erzählen - wie ich in der alten Mühle auf Steffen gestoßen war und mir seine Bilder angesehen hatte, von der Härte seines Vaters und seinem Wunsch, Maler zu werden. Er hörte aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen, -43-
zog an seiner Pfeife und beobachtete mich mit nachdenklicher Miene. „Und jetzt ist die Mühle verkauft, und Steffen weiß nicht, wo er seine ganzen Sachen unterbringen soll und wo er ungestört malen kann“, schloß ich und wunderte mich selbst über den Eifer in meiner Stimme. „Da dachte ich... Ach, Vater, wir haben doch soviel Platz im Erlenhof! Könnte Steffen nicht eines von den Mansardenzimmern bekommen?“ Gespannt sah ich ihn an, und er erwiderte meinen Blick stumm. Eine Weile war es sehr still im Eßzimmer. Man hörte nur das wütende Gebrumm einer Fliege, die immer wieder gegen die Fensterscheibe prallte. Schließlich richtete sich Vater auf und erwiderte ruhig: „Du bist dir sicher darüber im klaren, daß die Sache nicht ganz so einfach ist, wie es im ersten Augenblick scheint. Wenn wir Steffen ein Zimmer zur Verfügung stellen, tun wir das gegen den Willen seines Vaters. Natürlich könnten wir versuchen, es geheimzuhalten, aber ich bin grundsätzlich gegen solche Heimlichtuerei. Meistens kommt nichts Gutes dabei heraus.“ Er seufzte und fügte hinzu: „Vielleicht ist es am besten, wenn ich einmal zu Herrn Berger gehe und offen mit ihm rede.“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Das würde alles nur noch schlimmer machen, glaub mir. Steffen hat mir immer wieder versichert, daß sein Vater gegen alles allergisch ist, was mit Malerei zu tun hat. Ich fürchte, die Sache ist schon richtig verfahren. Herr Berger will um jeden Preis, daß Steffen einmal sein Geschäft übernimmt. Es ist ihm offenbar ganz egal, daß Steffen eigentlich viel lieber Maler werden möchte und auch Talent hat. Er will ihm einfach seinen Willen aufzwingen. Und ich finde das richtig gemein, weil Steffen sich nicht dagegen wehren kann. Er ist ja noch von seinem Vater abhängig.“ Mein Vater lächelte. „Du scheinst ihn gern zu haben, weil du dich so ereiferst. Aber das ist ganz in Ordnung; für seine -44-
Freunde soll man sich einsetzen. Du weißt ja, ich bin selbst auch der Ansicht, daß Eltern eigentlich kein Recht haben, so über ihre Kinder zu verfügen - kein moralisches Recht, meine ich.“ Er runzelte die Stirn. „Ich hätte nicht geglaubt, daß Herr Berger so ein kleiner Haustyrann ist. Aber in Familien gibt es manchmal Streitigkeiten, bei denen sich die Fronten so verhärten, daß schließlich keiner mehr bereit ist, etwas einzusehen oder gar nachzugeben.“ Ich nickte. „Ja, vielleicht. Aber ich finde, Steffen hat das Recht, selbst zu entscheiden, was er aus seinem Leben machen will.“ „Natürlich hat er das“, sagte mein Vater. „Und ich weiß, daß du mich damit an meine Grundsätze erinnern willst. Denk nicht, ich hätte sie vergessen. Es ist nur in diesem Fall nicht so einfach, die richtige Entscheidung zu treffen. “ Er stand auf, trat ans Fenster und schwieg eine Weile. Dann straffte er die Schultern und fügte hinzu: „Aber ich stehe zu dem, was ich kürzlich über das Recht auf freie Entscheidung gesagt habe. Und wenn einem Menschen dieses Recht verweigert wird, sollte man sich für ihn einsetzen, so gut es geht. Du kannst diesem jungen Mann also sagen, daß er eines von unseren Mansardenzimmern bekommt. Er soll sich das mit den besten Lichtverhältnissen aussuchen.“ „Ach, ich wußte ja, daß man sich auf dich verlassen kann!“ Ich sprang auf und umarmte ihn stürmisch. Vater lächelte. „Ich hatte praktisch keine Wahl, sonst hätte ich mir womöglich deine Achtung verscherzt! Aber eine Bedingung muß ich stellen: Du redest mit der Köchin und den Hausmädchen und bringst ihnen bei, daß im Dorf keiner etwas von Steffens Einquartierung erfahren darf. Wie du das machst, ist deine Sache. Nur kümmere dich bitte darum, sonst haben wir vielleicht schon nächste Woche einen wutschnaubenden Herrn Berger auf dem Hals.“ Ich nickte. -45-
Vater strich mir übers Haar und fügte ernster hinzu: „Hast du dir auch schon überlegt, wie Alex es aufnehmen wird?“ „O ja“, sagte ich. „Ich fürchte, es wird nicht einfach sein.“ „Das fürchte ich auch; aber es soll dich nicht hindern, zu tun, was du für richtig hältst.“ Ich dankte ihm nochmals und ging dann sofort in die Küche, um mit Lisa und Marie zu sprechen. Glücklicherweise hatte Lisa, unsere Köchin, eine Schwäche für mich, weil ich schon öfter freiwillig das Geschirr abgetragen hatte. Ich erzählte ihr und Marie ganz offen, worum es ging, und die beiden hörten kopfschüttelnd zu. „Daß der alte Berger so einer ist, das hätt' ich nicht von ihm gedacht!“ versicherte Lisa entrüstet. „Der arme Junge! Wer weiß, vielleicht wird er später mal ein berühmter Maler - so wie der Picasso. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß mir die Bilder gefallen, die der gemalt hat. Abstrakt nennt man so was. Ich mag's lieber, wenn ich erkennen kann, was auf einem Bild ist. Na, kein Sterbenswort kommt über meine Lippen, Fräulein Katinka, darauf können Sie sich verlassen. Und daß die Mädels ihren Mund halten, dafür werd' ich schon sorgen!“ Sie warf Marie einen drohenden Blick zu, und diese versic herte eilig, daß von ihr bestimmt keiner etwas erfahren werde. „Ich schweige wie ein Grab!“ sagte sie feierlich und machte ein Gesicht, als hätten wir gemeinsam eine Leiche im Keller versteckt. Ich holte mein Fahrrad aus der alten Remise, in der noch eine Kutsche aus der Zeit meiner Großeltern stand, und fuhr ins Dorf, um Steffen alles zu erzählen. Während der ganzen Fahrt stellte ich mir vor, wie sein Gesicht strahlen würde. Doch als ich zum Haus der Bergers kam, stand seine Mutter am Gartenzaun und sagte, er sei mit einem Freund in die Stadt gefahren. Enttäuscht machte ich mich wieder auf den Heimweg. Ich -46-
hatte den Erlengrund in der Abenddämmerung verlassen, doch nun war die Dunkelheit hereingebrochen. Eine schmale Mondsichel stand am Himmel und warf ihr mattes, silbriges Licht über die Landstraße, die zur Allee führte. Als ich die Bäume erreichte, wurde die Finsternis undurchdringlicher. Das junge Blattwerk der Erlen bildete über mir eine Art Baldachin, der das karge Mondlicht abschirmte. Nur vereinzelte Strahlen bahnten sich ihren Weg durch das Laub und tanzten zuckend über den Weg. Außerhalb des Lichtkegels meiner Fahrradlampe war alles in Dunkelheit getaucht - eine Dunkelheit, die von heimlichem Leben erfüllt schien. Überall raunte, rauschte und wisperte es. Und obwohl ich wußte, daß an diesen Geräuschen nichts Unheimliches war, daß sie nur vom Wind kamen, der durch die Zweige und Blätter strich und im Gebüsch raschelte, kroch Furcht in mir hoch. Nie war mir die Allee länger erschienen; nicht einmal in meiner Kindheit, wenn ich mit Alex an einem Sommertag müde und durstig vom Dorf zurückkam. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis endlich der Umriß der steinernen Bank in der Ferne auftauchte. Ich atmete auf. Plötzlich aber tat mein Herz ein paar wilde Schläge. Jemand saß auf der Bank. Es war eine große Gestalt, dunkler noch als die Schatten der Allee. Ich kann nicht sagen, weshalb ich so erschrak. Es hätte mein Vater sein können oder sonst jemand, den ich kannte. Doch eine Art Instinkt sagte mir, daß es ein Fremder war, der dort wartete. Wartete - worauf? Etwas Bedrohliches ging von dieser Gestalt aus, und mein Herz hämmerte so ungestüm, daß mir das Atemholen Mühe machte. Wie in einem bösen Traum näherte ich mich der Bank. Ich schien keine Wahl zu haben, konnte weder anhalten noch umkehren, mußte mich unaufhaltsam in diese Richtung -47-
weiterbewegen wie eine Marionette an einer Schnur. Es war fast, als käme die Bank auf mich zu. Und die ganze Zeit über saß jene Gestalt dort und wartete - wartete auf mich. Plötzlich aber löste sich der Bann, und ich erwachte aus meiner Betäubung. Ich bog so heftig nach links ab, daß das Rad ins Schleudern kam. Mit aller Macht versuchte ich das Gleichgewicht zu halten, sah aus den Augenwinkeln, wie die Gestalt aufsprang, trat wie verrückt in die Pedale und fuhr haarscharf an einem Baumstamm vorbei in die Wiese hinein. Auf dem weichen Grund kam ich langsamer vorwärts, doch ich fuhr, als ginge es um mein Leben. Anfangs war mir, als hörte ich jemanden hinter mir keuchen, aber ich sah mich nicht um. Vereinzelte Sträucher huschten wie Schemen vorüber. Erst als ich den Waldsaum erreichte, der die nördliche Grenze des Erlengrunds bildete, wagte ich es, mich umzudrehen. Die weiten, sanft geschwungenen Wiesen lagen verlassen im Mondlicht. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur die Erlen der Allee ragten im Hintergrund wie eine dunkle Mauer gegen den Himmel auf. Niemand war mir gefolgt. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Ich nahm mir nicht Zeit, darüber nachzudenken, schöpfte nur kurz Atem und fuhr dann weiter; dorthin, wo der Erlenhof hinter den Bäumen verborgen lag. Als ich die erhellten Fenster sah, wurde das wilde Hämmern meines Herzens ruhiger. Wenn ich das Haus erreicht hatte, war alles gut, und nichts konnte mir mehr geschehen. Endlich, endlich war ich am Ziel. Ich brachte das Fahrrad nicht in den Schuppen zurück, sondern stellte es gegen die Wand und lief zur Freitreppe. In der Halle brannte Licht. Ich stieß die Haustür auf und kümmerte mich diesmal nicht um Dianas freudige Begrüßung, sondern ließ mich keuchend in einen der alten Ledersessel fallen und streckte die Beine aus. Mein Vater sah von seiner Zeitung auf und musterte mich erst -48-
überrascht, dann besorgt. „Aber Katinka, was ist passiert? Du bist ja ganz blaß und atemlos.“ Schon öffnete ich den Mund, um ihm alles zu erzählen. Da begegnete ich Alex' Blick. Sie stand am Bücherregal und beobachtete mich mit jenem kalten, spöttischen Ausdruck in den Augen, den ich fürchten gelernt hatte. Ich sah von ihr fort und steckte die Hände in die Hosentaschen, um ihr Zittern zu verbergen. „Nichts ist passiert“, sagte ich. „Ich habe nur einen Stein übersehen und bin vom Rad gefallen, das ist alles.“ Ich fühlte Vaters prüfenden Blick auf mir ruhen, doch ich sah nicht auf. Es widerstrebte mir, ihn zu belügen, aber ich fürchtete seinen Unglauben und viel mehr noch Alex's Spott. So sagte ich nichts von jener Gestalt auf der Steinbank und ahnte nicht, daß ich mein Schweigen schon bald bereuen sollte.
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7 Der Tag, an dem Alex verschwand, war ein ganz gewöhnlicher Dienstag Anfang Mai. Er begann wie jeder andere Wochentag mit einem hastig eingenommenen Frühstück und der Fahrt zum Dorfplatz, wo der Schulbus hielt - Alex wie immer auf ihrem Rennrad voraus, ich in angemessenem Abstand hinterher. In der Mathema tikstunde hatte ich Mühe, nicht einzuschlafen, und dachte während des Geschichtsunterrichts sehnsüchtig an meinen nachmittäglichen Ausritt mit Merlin. Das Wetter war schön, und ich haßte es an diesem Tag wieder einmal gründlich, die Schulbank drücken zu müssen. Im Schulbus setzte sich Steffen neben mich und sagte: „Du, ich komme heute zum Erlenhof und male dein Bild fertig, wenn es dir recht ist. Oder hast du keine Zeit, mir noch einmal zu sitzen?“ „Doch“, erwiderte ich. „Nur möchte ich nach dem Mittagessen erst ausgiebig reiten. Mir war schon den ganzen Vormittag lang so, als müßte ich von der ewigen Herumsitzerei bald platzen. Ein anständiger Galopp ist genau das, was ich brauche.“ Steffen lachte. „Na, paß nur auf, daß du dabei nicht auf die Nase fällst! So gegen drei müßte ich aber schon zu malen anfangen, sonst sind die Lichtverhältnisse zu schlecht.“ „Gut“, sagte ich. „Also dann bis drei.“ Zu dritt stiegen wir auf dem Dorfplatz aus - zuerst Alex, dann Steffen und ich. Sie sah sich nicht nach uns um, schwang sich gleich auf ihr Fahrrad und fuhr davon. Ich nickte Steffen zu und folgte ihr über die Brücke zur Allee. Ich weiß noch heute, wie herrlich die Wiesen an jenem Tag waren. Tausende von Löwenzahnblüten strahlten wie ein -50-
goldenes Meer in der Sonne, und in den Erlen sangen die Vögel. Alles war so licht und friedlich, daß ich keinen Augenblick an kommendes Unheil dachte. Keine böse Vorahnung warnte mich. Auf dem Erlenhof tollte ich eine Weile mit Diana herum, bis wir beide außer Atem waren, nahm mir dann rasch ein belegtes Brot, trank im Stehen ein Glas Milch und rannte nach oben, um mich umzuziehen. Beide Pferde standen noch im Stall. Troll scharrte mit den Hufen, und Merlin begrüßte mich mit ungeduldigem Wiehern. Ich legte ihm die Trense an, sattelte ihn und führte ihn über den Hofplatz. Der Wald lag im Sonnenglanz, doch ich hatte beschlossen, diesmal in die entgegengesetzte Richtung zu reiten. Im Süden des Erlengrunds gab es große Wiesen, wo wir ausgiebig galoppieren konnten, ohne auf tiefhängende Zweige und holprige Pfade achten zu müssen. Erst später wurde mir die Bedeutung dieser Entscheidung klar. Denn es war Alex, die an diesem Nachmittag in den Wald ritt und nicht wiederkam. Als ich kurz vor drei Uhr zum Erlenhof zurückkehrte und Merlin in den Stall brachte, war Troll's Box leer. Ich achtete jedoch nicht weiter darauf, da ich Alex' s Vorliebe für ausgedehnte Ritte kannte. Ich sattelte Merlin ab, rieb ihn trocken, spülte seine Fesseln mit Wasser ab, kratzte seine Hufe aus und gab ihm eine Handvoll Hafer. Steffen stand auf der Treppe, als ich nach oben kam. Sein Gesicht war ziemlich bleich. Er sagte: „Hast du Alex getroffen?“ „Alex?“ wiederholte ich. „Nein. Sie ist ausgeritten, aber ich bin ihr nicht begegnet. Warum fragst du?“ „Weil wir Streit hatten.“ Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und starrte ihn an. -51-
„Streit? Aber sie spricht doch schon seit Wochen nicht mehr mit dir und tut so, als wärst du gar nicht vorhanden!“ „Diesmal hat sie aber mit mir gesprochen“, sagte er grimmig. „Ich wußte seit lange m, daß etwas im Anzug ist. Mir wäre lieber gewesen, sie hätte gleich offen gesagt, was ihr nicht paßt. Das hätte die Luft gereinigt. Aber nein, sie hat so lange damit gewartet, bis sie fast daran erstickt ist.“ Wir setzten uns nebeneinander auf die Treppe, und Steffen erzählte: „Ich kam gegen halb drei Uhr hier an und traf Alex hinter dem Haus, als ich mein Rad abstellte. Sie muß im Stall auf mich gewartet haben - ja, ich glaube nicht, daß dieses Zusammentreffen ein Zufall war. Dann benahm sie sich ganz merkwürdig. Sie tat nämlich so, als wüßte sie nicht, daß euer Vater mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt hat. Sie fragte mich mit ganz kalter und unpersönlicher Stimme, was ich hier wollte. Ich erwiderte ziemlich verärgert, das wüßte sie doch wohl, und da packte sie mich plötzlich am Jackenärmel und schrie: „Du hast dich hier eingeschlichen! Verschwinde von hier! Du hast kein Recht, auf dem Erlenhof zu sein!“ Ich schluckte. „Das hat Alex gesagt? Wirklich?“ „Ja, Katinka. Und sie machte ein Gesicht dabei, daß mir ganz unheimlich wurde. Ihre Augen loderten förmlich. Ich... ich hatte das Gefühl, als hätte sie soviel Wut und Schmerz in sich aufgestaut, daß sie es kaum mehr ertragen konnte.“ Ich sah ihn hilflos an. „Mein Gott, was sollen wir nur tun? Wenn ich doch bloß wüßte, wie ich ihr helfen soll! Warum kann es zwischen Alex und mir nicht wieder so sein wie früher? Wir haben uns so gern gehabt, Steffen - ach, das kannst du dir nicht vorstellen! Und jetzt...“ Wir schwiegen eine Weile; dann murmelte er: „Das ist alles so verfahren. Es ist wohl besser, wenn ich eine Zeitlang nicht herkomme. Vielleicht beruhigt sie sich dann wieder.“ -52-
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, daß das etwas ändern würde. Ich muß versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie sich nur nicht so gegen mich verhärten würde!“ Langsam stand ich auf und zog Steffen an der Hand hoch. „Komm jetzt, du wolltest doch das Bild zu Ende malen. Es wird sonst zu spät.“ Während ich am Fenster des Mansardenzimmers saß und Steffen mich malte, kamen meine Gedanken nicht von Alex los. Ich war voller Unruhe und mußte mich zwingen, stillzusitzen. Am liebsten wäre ich mit Merlin in den Wald geritten, um Alex zu suchen und mit ihr zu sprechen. Manchmal heißt es, daß Zwillinge auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind. Vielleicht stimmt das; vielleicht war ich deshalb an jenem Nachmittag so unruhig, weil ich ahnte, daß Alex in Gefahr war. Plötzlich ertrug ich die Untätigkeit nicht länger. Ich sprang auf und sagte: „Tut mir leid, Steffen. Ich muß jetzt einfach nachsehen, ob Alex zurückgekommen ist.“ „Schon gut. Ich glaube, ich kann den Rest auch ohne dich fertig malen.“ Ich trat hinter ihn und sah mir das Porträt an. Es war gut; meiner Meinung nach hatte Steffen nie ein besseres Bild gemalt. Ich saß auf einem roten Stuhl am Fenster, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so daß meine Haare einen Teil des Gesichts verbargen. Einen Augenblick lang kam es mir so vor, als wäre das Mädchen auf dem Bild nicht ich, sondern Alex, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich genau diese Kopfhaltung, die Steffen da gemalt hatte, auch an meiner Schwester kannte. Ich ging die Treppe hinunter und klopfte an Alex' Tür, doch niemand antwortete. Als ich ins Zimmer spähte, fühlte ich mich wie ein Eindringling. Die Lederjacke, die Alex in der Schule getragen hatte, lag achtlos hingeworfen auf dem Bett. Das -53-
Fenster stand weit offen, und der Efeu streckte seine Ranken über das Sims. Gerade als ich die Tür wieder schließen wollte, fiel mein Blick auf den Steinboden, der nur teilweise von einem Teppich bedeckt war. Ein Stück vom Schrank entfernt lag ein zerbrochener Gegenstand auf den Fliesen. Ich zögerte eine Weile. Dann trat ich ins Zimmer und bückte mich. Es war die alte Spieldose. Großmutter hatte sie uns geschenkt. Sie stammte noch aus ihrer eigenen Kinderzeit. Wir hatten die Spieluhr beide heiß geliebt, Alex und ich. Als ich den Erlengrund verließ, hatte Alex sie behalten, während ich die alte Gliederpuppe mit den Zöpfen aus echtem Haar bekam. Die Spieldose, die uns so viel bedeutet hatte, war zerbrochen. Alex mußte sie mit Gewalt gegen die Steinfliesen geschleudert haben. Überall lagen Schrauben und Rädchen verstreut. Der hölzerne Deckel war zersprungen, die kleine Elfenbeinkurbel lag in einer Ecke. Ich kniete nieder und starrte auf den Deckel. Er war mit einem bunten Vogel bemalt, der in einem Orangenbaum saß und sang. Das kleine Wunderwerk, das uns einst so entzückt hatte, war zerstört. Während ich da auf dem Boden in Alex's Zimmer kauerte, kam mir die Melodie der Spieldose wieder in den Sinn, und ich glaubte die hellen, klingenden Töne zu hören. „Die Tage der Rosen“ hieß das Lied, und es war mir im Gedächtnis geblieben wie das Rauschen der Erlen und das Knarren der alten Treppenstufen. Ich stand auf, verließ das Zimmer und schloß die Tü r hinter mir. Während ich die Treppe hinunterstieg, ging mir das Lied noch immer durch den Kopf. Nun aber hatte es einen grellen, höhnischen Klang, und so sehr ich auch an etwas anderes zu denken versuchte, es kam mir nicht aus dem Sinn. Als ich in den Stall trat, war Trolls Box noch immer leer. Merlin sah mir mit seinen großen, sanften Augen entgegen und -54-
rieb den Nasenrücken an meiner Schulter. Ich streichelte ihn geistesabwesend, setzte mich auf seine Futterkrippe und wartete, doch Alex kam nicht. Statt dessen erschien etwa eine halbe Stunde später Steffen im Stalltor, um sich zu verabschieden. „Das Bild ist jetzt fertig“, sagte er, doch er sah nicht froh dabei aus. „Ich glaube, es ist ganz gut geworden.“ Ich nickte. „Das glaube ich auch. Wenn du dich an der Akademie bewirbst, kannst du es einreichen.“ „Ja, das habe ich vor. Tschüss dann, Katinka. Meinst du, ich kann morgen wiederkommen?“ „Natürlich, warum nicht?“ Ich sah ihm nach, wie er mit seinem Rad losfuhr. Dann mistete ich die Boxen aus, tränkte Merlin und gab ihm frisches Futter. Als die Sonne längst hinter dem Wald versunken war, war Alex noch immer nicht zurückgekommen. Die Schatten im Stall wurden immer länger, bis sie schließlich den ganzen Raum erfüllten. Merlins Augen schimmerten sanft im Dämmerlicht. Immer wieder sah ich auf die Armbanduhr. Jede Minute dehnte sich zu einer kleinen Ewigkeit. Ich lauschte auf die vertrauten Geräusche aus der Küche: Lisas energische Stimme, Geschirrklappern, das Rauschen der Wasserleitung. Doch dann erklang ein anderer Laut, der zunehmend stärker wurde: Hufschlag vom Wald her. Ich sprang auf und lief zum Stalltor. Gegen den dunklen Hintergrund der Tannen zeichnete sich der Umriß eines Pferdes ab, das rasch näher kam. Es war Troll. Doch erst als der Hengst den Bach erreicht hatte, merkte ich, daß er reiterlos war. Troll kam ohne Alex nach Hause zurück.
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8 „Wir müssen sie suchen“, sagte mein Vater. „Ich fürchte, sie ist vom Pferd gestürzt und hat sich verletzt.“ Ulf nickte. „Das Mädel reitet in letzter Zeit wie der Teufel. Ich habe sie schon ein paarmal gewarnt, aber sie will ja auf niemanden hören. Wir nehmen Diana mit. Ich hole noch rasch die Taschenlampe aus dem Gerätehaus.“ „Laßt mich mitgehen“, sagte ich. Mein Vater schüttelte den Kopf. „Nein, du kennst dich in den Wäldern nicht so gut aus. Falls Alex von allein nach Hause kommt, läute die Wetterglocke, damit wir Bescheid wissen und die Suche abbrechen. “ Er strich mir übers Haar und ich umarmte ihn. Es tat gut, das Gesicht an seiner Schulter zu verbergen. Ich hätte gern lange so stehen mögen, doch er mußte fort. Ich kauerte mich auf das Ledersofa beim offenen Kamin und hörte, wie Vater und Ulf im Flur ihre Stiefel anzogen, hörte Diana aufgeregt kläffen und lauschte, bis ihre Schritte auf den Steinfliesen verklangen und sich knirschend über den Kies entfernten. Es wurde eine lange Nacht. Ungezählte Male sah ich auf die alte Wanduhr, ging zwischen Kamin und Fenster hin und her, spähte in die Dunkelheit hinaus und preßte die Stirn gegen die kühle Scheibe. Die Zeit verrann langsam und schnell zugleich. Noch viele Jahre danach sollte das Ticken einer Wanduhr für mich ein Symbol der Angst bleiben. Denn ich hatte Angst; langsam und schleichend kroch sie mir über den Rücken und umklammerte mein Herz mit kaltem Griff. Um Mitternacht war ich so erschöpft, daß ich einschlief; doch es war ein kurzer, unruhiger Schlaf mit wirren Träumen. Als ich -56-
schließlich mit einem Ruck erwachte, standen die Zeiger der Uhr auf halb eins. Irgendwo in der Allee schrie ein Nachtvogel, und der Ruf erschien mir seltsam unheilverkündend. Ich steckte die Finger in die Ohren, doch der Vogelruf hallte noch lange in meinem Innern nach. Dann schlief ich wieder ein und träumte, daß ich auf einer hohen, schwankenden Brücke stand, die über einen reißenden Strom führte. Am Ende der Brücke, jenseits des Stroms, lag Alex. Ihr Mund war mit einem Knebel verschlossen, und sie war an Händen und Füßen gefesselt. Ich rief ihren Namen und sah, wie sich ihr Oberkörper aufbäumte, doch sie konnte mir nicht antworten. Und während ich zu ihr lief, schwankte die Brücke heftig. Ich klammerte mich an dem dünnen Halteseil fest und dachte: Ich darf nicht hinuntersehen. Lieber Gott, hilf mir, daß ich nicht in die Tiefe schaue! Dann aber geschah etwas Furchtbares: Die Stricke, mit denen die Brücke am Ufer befestigt waren, begannen zu reißen. Ich hörte das Ächzen und Knirschen, sah Alex' s verzweifeltes Gesicht vor mir und dachte: Ich falle! Hilft uns denn keiner? - Da sagte plötzlich eine Stimme: „Laß sie schlafen.“ Ich fuhr hoch und sah mich verwirrt um. Vor mir stand Ulf. Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung. Auch mein Vater war da, doch er hatte sich abgewandt und sah mich nicht an. „Alex“, sagte ich. „Habt ihr sie gefunden?“ Vater antwortete nicht. Ulf strich sich über die Stirn und erwiderte: „Nein - noch nicht.“ „Wenn es hell wird, versuchen wir es noch einmal“, murmelte mein Vater. „Wenn... wenn wir sie dann nicht finden, müssen wir die Polizei verständigen.“ Die Polizei! Ich starrte ihn an und sagte plötzlich etwas, was mich selbst überraschte: „Wer weiß, vielleicht ist Alex freiwillig weggegangen.“ -57-
„Freiwillig weggegangen?“ Mein Vater drehte sich abrupt zu mir um. „Wie kommst du auf so etwas?“ Ich zögerte. Die zerbrochene Spieldose und das Gespräch mit Steffen war mit plötzlich wieder eingefallen. Vater setzte sich neben mich auf den Teppich und nahm meine Hände in die seinen. „Katinka, was ist vorgefallen? Du mußt es mir erzählen, es könnte wichtig sein. Hast du mit Alex Streit gehabt?“ Ich schüttelte den Kopf und befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze. „Nicht ich, sondern Steffen. Sie sagte zu ihm, er sollte von hier verschwinden. Sie muß sehr wütend gewesen sein. Dann ist sie weggeritten.“ Ich stockte. „Und sie hat unsere alte Spieldose zerbrochen - mit Absicht, glaube ich.“ Mein Vater stand auf. „Lag in ihrem Zimmer kein Brief? “ „Nein, ich habe keinen gesehen.“ Ulf sah von meinem Vater zu mir und dann wieder zu Vater. „Ihr vermutet also, daß sie von zu Hause weggelaufen ist“, sagte er. „Zuzutrauen wäre es ihr. Aber wenn es wirklich so wäre, weshalb ist Troll dann zurückgekommen?“ „Vielleicht wollte sie sich nicht mit ihm belasten, ist nur ein Stück auf ihm geritten und hat ihn dann zurückgeschickt“, erwiderte ich. „Wir wollen nachsehen, ob sie irgend etwas mitgenommen hat“, sagte Vater. „Kleidung oder ihren Personalausweis, meine ich. Wenn sie wirklich vorhatte, wegzugehen, wird sie nicht einfach ohne etwas losgeritten sein.“ „Wenn sie es vorhatte, ja.“ Ich sah ihn an. „Steffen hat sie zuletzt gesehen, ehe sie losritt. Soll ich ihn anrufen und fragen, ob sie etwas bei sich hatte?“ „Nicht jetzt, um drei Uhr morgens. Wir wollen keinen unnötigen Aufruhr verursachen.“ -58-
Gemeinsam gingen wir durchs Haus zu Alex's Zimmer. Ich blieb auf der Türschwelle stehen, während Ulf in den Kleiderschrank sah und Vater die Schubladen der Kommode öffnete. „Ihre Ausweispapiere sind hier“, sagte Vater schließlich. „Ich glaube auch nicht, daß etwas von ihren Sachen fehlt - bis auf die Reitkleidung, natürlich“, meinte Ulf. Ich starrte auf die Überreste der Spieldose und dachte an meinen Traum. Plötzlich glaubte ich ganz sicher zu wissen, daß Alex nicht freiwillig fortgegangen war. Es gab keinen Grund, keine vernünftige Erklärung für diese Gewißheit; und doch war ich plötzlich felsenfest davon überzeugt. Vater schloß die Schublade und sagte mit erzwungener Ruhe: „Um sechs Uhr rufe ich im Forstamt an und bitte den Förster, die Holzfäller zu schicken, damit wir eine Kette bilden und den Wald systematisch durchsuchen können. Sie hat sich vielleicht ein Bein gebrochen und kann nicht gehen. Nur gut, daß die Nächte jetzt schon so warm sind.“ Er versuchte gelassen und zuversichtlich zu wirken, doch es gelang ihm nicht. Seine Wangen waren eingefallen, und er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Ulf lehnte sich erschöpft gegen die Wand. „Ich habe schon Stürze erlebt, bei denen die Reiter stundenlang bewußtlos waren. Vielleicht...“ In diesem Augenblick schrillte das Telefon in der Halle. Das Signal durchschnitt die nächtliche Stille des Hauses wie ein Peitschenhieb. Ich klammerte mich an den Türrahmen und begann unwillkürlich zu zittern, sah, wie mein Vater zur Treppe lief und wie Ulf mit seinem krummen Rücken ihm mühsam nachhinkte. Dann folgte ich ihnen, überholte Ulf und erreichte meinen Vater gerade, als er in der Halle den Hörer von der Gabel nahm. Er meldete sich und sagte nach einigen Sekunden laut: „Hallo, wer spricht denn? Was wollen Sie um diese Zeit?“ -59-
Ulf blieb am Treppenabsatz stehen. Es war vollkommen still in der Halle. Ich hörte eine Stimme am anderen Ende der Leitung, verstand jedoch kein Wort. Was mich so erschreckte, war das Gesicht meines Vaters. Er wurde plötzlich aschfahl, und seine Nasenflügel bebten, wie ich es nur einmal an ihm gesehen hatte - damals vor zehn Jahren, als wir uns voneinander trennen mußten. „Ich verstehe “, sagte er schließlich mit seltsam fremder Stimme. „Nein, keine Polizei. Aber... welche Sicherheit habe ich, daß ihr nichts passiert? Kann ich mit ihr sprechen?“ Mir wurde kalt. Ich trat dicht neben ihn und preßte meine Wange an die seine, so daß ich hören konnte, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde. Eine dumpfe Stimme sagte: „Es bleibt Ihnen wohl keine andere Wahl, als uns zu vertrauen. Wenn Sie Ihre Tochter lebend wiedersehen wollen, lassen Sie die Polizei aus dem Spiel. Warten Sie weitere Anweisungen ab.“ Ich streckte die Hand aus und stützte mich an der Wand ab. Wie aus weiter Ferne hörte ich meinen Vater rufen: „So hören Sie doch! Bitte, warten Sie!“ Doch wir wußten beide, daß der Mann, in dessen Gewalt Alex war, bereits aufgelegt hatte. Langsam ließ Vater den Hörer sinken. Ich dachte: Das kann nicht sein, es ist alles nur ein böser Traum. So etwas passiert nur in Fernsehfilmen oder Romanen. Und doch war es Wirklichkeit - ich sah es am Gesicht meines Vaters, am Zittern seiner Hände, als er den Hörer auflegte. „Alex ist entführt worden“, sagte er schwer. Ulf nickte nur. Er mußte es bereits erraten haben. Sekunden verstrichen, und wir starrten uns schweigend an. Dann fragte Ulf: „Wieviel verlangen sie?“ „Das hat er nicht gesagt. Er sagte nur, wir sollten weitere Anweisungen abwarten.“ -60-
„Er sagte auch, Alex geht es gut“, murmelte ich. Mein Vater wandte den Blick ab und gab keine Antwort, doch ich sah, wie seine Kinnmuskeln zuckten. Ich umklammerte seinen Arm. „Wir dürfen auf keinen Fall die Polizei einschalten! Das hast du doch versprochen, Vater, und du mußt es halten - um Alex's willen!“ Ulf schüttelte den Kopf und erwiderte scharf: „Unsinn, Katinka! Wir müssen die Polizei sogar umgehend verständigen. Es wäre Leic htsinn, sich so in die Hände dieser Leute zu geben!“ „Und noch viel größerer Leichtsinn wäre es, die Polizei einzuschalten“, sagte mein Vater. „Ich werde zahlen, was sie verlangen - wenn ich kann. Es geht hier nicht um Recht und Gesetz, sondern um Alex. Wir werden die Polizei um jeden Preis da heraushalten.“ Er straffte die Schultern und sah Ulf an. „Hast du gehört? Das ist mein ausdrücklicher Wunsch.“ „Es könnte ein verhängnisvoller Fehler sein.“ „Mach es Vater nicht noch schwerer, Ulf“, bat ich. „Ich halte seine Entscheidung für richtig. Wenn wir nur wirklich sicher sein könnten, daß es Alex gut geht! Können wir denn gar nichts tun?“ Mein Vater schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, uns sind die Hände gebunden. Wir können nur warten. Warten und... beten, daß Alex gesund zurückkommt.“ „Beten“ hatte er gesagt; er, der nie mit zur Kirche gegangen war, so lange ich denken konnte. Ich holte tief Atem und sagte: „Ich mache euch eine Tasse Kaffee“, und Vater versuchte mir zuzulächeln, doch es wurde nur eine Grimasse daraus. Wir saßen am Küchentisch, bis der Morgen graute. Ein jeder von uns war todmüde, doch keiner wollte zu Bett gehen. Wie -61-
gelähmt warteten wir darauf, daß etwas geschehen würde. Aber es geschah nichts. Das Telefon blieb stumm, und wir hingen unseren Gedanken nach. Wie mochte es Alex gehen? Wo war sie? Schreckensbilder quälten mich: Ich sah sie in einem dunklen Keller liegen, verletzt, ohne Wasser, geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt. Geknebelt und gefesselt wie in meinem Traum. Was waren das für Menschen, die sie entführt hatten? Waren sie brutal? Hatten sie Alex vom Pferd gerissen und niedergeschlagen? Ich schauderte unwillkürlich, als ich an all die Entführungsszenen dachte, die ich in Filmen gesehen hatte. Schließlich brach mein Vater das Schweigen. „Du gehst vorläufig nicht zur Schule, Katinka. Ich rufe im Sekretariat an und sage, daß ihr beide krank geworden seid.“ „Und was sagen wir dem Personal?“ fragte Ulf. „Daß Alex für einige Zeit zu ihrer Mutter gefahren ist. Es wäre zu riskant, sie einzuweihen. Irgend jemand könnte bestimmt den Mund nicht halten, und die Sache würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Wir müssen alles vermeiden, was Alex schaden könnte.“ Ich murmelte: „Aber Steffen... Darf ich es Steffen sagen, Vater? Er wird ganz siche r nichts verraten.“ Er nickte geistesabwesend. „Ja, ich glaube, wir können ihm vertrauen wie er uns vertraut. - Ich frage mich gerade, ob ich einen Privatdetektiv auf Alex's Spur setzen soll. Aber dazu müßte ich in die Stadt fahren, und ich fürchte, sie werden jeden unserer Schritte beobachten.“ „Kannst du es nicht telefonisch erledigen?“ „Es ist möglich, daß sie auch das Telefon überwachen.“ Wir schwiegen wieder, bis ich plötzlich sagte: „Steffen wollte heute vorbeikommen. Könnten wir ihn nicht bitten, in die Stadt zu -62-
fahren und für uns zu einer Detektivagentur zu gehen? “ Vater lehnte meinen Vorschlag zuerst mit der Begründung ab, er wolle Steffen da nicht hineinziehen. Dann aber stützte er den Kopf in die Hände und schien zu überlegen. „Vielleicht ist deine Idee gar nicht so schlecht“, murmelte er nach einer Weile. „Der Junge könnte zu meinem alten Freund Frank Vanberg gehen und ihm alles erzählen. Frank ist sehr zuverlässig. Er ist Rechtsanwalt und kann alles Weitere für mich in die Wege leiten.“ „Aber wenn sie es herausfinden... Meinst du, daß sie einen Privatdetektiv weniger übelnehmen als die Polizei?“ fragte Ulf. „O ja, da ist ein gewaltiger Unterschied“, sagte Vater. „Bestimmt ist das Risiko geringer. Und irgend etwas müssen wir doch unternehmen.“ Eine halbe Stunde, ehe die Köchin und die Hausmädchen herunterkamen, ging mein Vater in sein Arbeitszimmer, und ich wusch zusammen mit Ulf die Tassen und Teller ab. Während ich das Geschirr in den Wandschrank stellte, sah Ulf schweigend aus dem Fenster. Ich las in seinem Gesicht nicht nur Angst und Sorge, sondern auch Unzufriedenheit. „Du bist noch immer der Meinung, daß es besser wäre, die Polizei zu verständigen, nicht?“ sagte ich leise. Er nickte. „Die Polizei ist für solche Fälle am besten ausgerüstet. Man würde alle Mittel einsetzen, die zur Verfügung stehen, um Alex zu finden.“ Ich ließ die Hände sinken und sah ihn an. „Ja, sie würden Alex wohl wiederfinden, früher oder später. Aber wie - tot oder lebend?“ Mein Mund war so seltsam trocken, nachdem ich das ausgesprochen hatte: tot oder lebend... Und Ulfs Gesicht wurde um eine Schattierung grauer. Er fuhr sich mit der Hand über die -63-
Bartstoppeln, was ein schabendes Geräusch verursachte, und gab meinen Blick stumm zurück. Die Küchenuhr tickte schwer und langsam, die Schwalben begannen auf dem Stallfirst zu zwitschern, und in der Ferne krähte ein Hahn. All die vertrauten, friedlichen Geräusche an einem Tag wie diesem... Ulf ging mit schweren Schritten durch den Flur zur Hintertür. Ich trat in die Halle und blieb zögernd vor dem Spiegel stehen. Meine Kehle krampfte sich zusammen, als ich mir in die Augen blickte. Plötzlich konnte ich es nicht ertragen, mein Gesicht im Spiegel zu sehen. Es erinnerte mich zu sehr an Alex. Ich wandte mich ab, und mein Blick fiel auf die Treppe. Plötzlich wußte ich, was ich tun wollte. Ich ging nach oben in Alex's Zimmer und schloß leise die Tür hinter mir. Dann sammelte ich die Bruchstücke der alten Spieldose auf, legte sie sorgsam in eine Schachtel und trug sie in mein eigenes Zimmer. Obwohl es mir nahezu unmöglich erschien, wollte ich versuchen, die Spieldose wieder zusammenzusetzen. Ich war nie abergläubisch gewesen, doch ein unsinniger Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und ließ mich nicht los - der Gedanke, daß Alex zurückkehren würde, wenn die Dose wieder wie früher „Die Tage der Rosen“ spielte.
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9 Der Vormittag verstrich unendlich langsam. Wir warteten, doch nichts geschah. Kein Anruf kam, kein Brief. Gegen zwei Uhr nachmittags, als ich gerade in der Halle am Fenster stand, sah ich Steffen auf seinem Fahrrad in wildem Tempo die Allee entlangfahren. Ich öffnete das Fenster, doch er war schon hinter der Hecke verschwunden. Ich hörte das Schutzblech klappern, als er sein Rad gegen die Stallmauer lehnte. Dann tauchte er zwischen den Rosensträuchern auf, sah mich am Fenster stehen und rief: „Was ist los? Warum seid ihr heute nicht in der Schule gewesen?“ Ich legte den Finger an die Lippen und flüsterte: „Um Himmels willen, nicht so laut! Komm herein.“ Er warf mir einen verwirrten Blick zu. Dann war er mit ein paar Schritten an der Freitreppe und ich ließ ihn ein. Fast gleichzeitig öffnete sich auch die Tür des Arbeitszimmers, und mein Vater erschien auf der Schwelle. „Wer ist gekommen?“ fragte er. „Ach, du bist es, Junge. Ihr geht wohl am besten nach oben. Wir sprechen später noch miteinander.“ Er zog sich wieder zurück, und Steffen starrte auf die Tür, die sich langsam hinter ihm schloß. „Ist dein Vater krank? Er sah so - merkwürdig aus. Was ist denn nur los bei euch?“ „Nein, er ist nicht krank.“ Ich ging zur Treppe, und Steffen folgte mir. Im ersten Stock hielt er mich am Arm fest und fragte eindringlich: „Was soll das alles? Sag endlich, was passiert ist, Katinka!“ Leise erwiderte ich: „Alex ist entführt worden.“ -65-
Er starrte mich an wie eine Geistererscheinung. „Was ist Alex?“ „Sie ist entführt worden.“ „Heiliger Gott!“ Steffen schluckte. „Du machst doch Spaß, oder? Das ist doch nicht wahr?“ „Ich wollte, es wäre Spaß, aber es ist bitterer Ernst.“ Er folgte mir wie betäubt über den Flur, und wir traten in mein Zimmer und schlössen die Tür hinter uns. „Heiliger Gott!“ sagte Steffen wieder. „Ich kann's nicht glauben.“ „Es ist wie ein Alptraum. Alex ist gestern abend nicht heimgekommen. Troll kam allein zurück. Wir dachten erst, sie wäre vom Pferd gestürzt oder vielleicht einfach ausgerissen, aber nachdem mein Vater und Ulf sie stundenlang im Wald gesucht hatten, kam ein Anruf...“ Ich kauerte mich auf das Schaffell vor dem Kachelofen, und Steffen setzte sich auf die Fensterbank, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Ein Anruf?“ wiederholte er. „Ja. Ein Mann war am Telefon und sagte, daß Alex entführt worden ist. Er behauptete, daß ihr nichts passiert, solange wir nicht die Polizei verständigen.“ „Hat er Lösegeld verlangt?“ „Noch nicht. Er sagte, wir sollten auf weitere Anweisungen warten, aber bis jetzt hat er sich nicht wieder gemeldet.“ „Ich glaube, ich werd' verrückt“, murmelte Steffen. „Entführt - Alex! Wenn sie nur...“ Er drehte das Gesicht zum Fenster und vollendete den Satz nicht. Ich stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich wußte, was er sagen wollte und nicht ausgesprochen hatte: Wenn sie nur noch lebt. Das war es ja, was ich selbst immer wieder dachte, was mich schon den ganzen Tag verfolgte und quälte. Ich erwiderte nichts, und Steffen sagte nach einer Weile: -66-
„Dein Vater hat die Polizei nicht verständigt, nehme ich an?“ „Nein. Und ich bin froh, daß er es nicht getan hat. Denn die Leute sind möglicherweise zu allem fähig.“ Steffen sah mit gerunzelter Stirn auf seine Füße nieder. „Wenn dein Vater aber nicht bezahlen kann, was sie fordern, wird er die Polizei doch einschalten müssen.“ „Ich weiß nicht“, sagte ich verzweifelt. „Vater will wenigstens einen Privatdetektiv engagieren. Vielleicht könntest du uns dabei helfen.“ „Ich?“ Er sah überrascht und interessiert auf. „Was soll ich tun?“ Ich erklärte es ihm kurz und fügte hinzu: „Vater sagt dir noch die Adresse seines Anwalts und gibt dir einen Brief für ihn mit. Meinst du, daß du heute noch in die Stadt fahren könntest?“ „Klar“, erwiderte er eifrig. „Mein Vater wird nicht begeistert sein, aber ich lasse mir schon irgendeine Ausrede einfallen. Ich nehme den Sechs-Uhr-Bus. Ich bin froh, wenn ich euch irgendwie helfen kann.“ „Steffen“, sagte ich. „Was meinst du, wo sie Alex versteckt halten? Hier in der Nähe vielleicht?“ „Das glaube ich nicht, es wäre zu gefährlich. Habt ihr nicht bemerkt, ob der Anruf ein Orts- oder ein Ferngespräch war?“ Ich zögerte. „Ich weiß nicht. Das einzige, was mir auffiel, war, daß der Mann eine seltsam dumpfe Stimme hatte.“ „Dann hat er sich wahrscheinlich ein Stück Stoff vor den Mund gehalten, um seine Stimme unkenntlich zu machen. So etwas hab ich einmal im Film gesehen. “ Ich sagte mit plötzlicher Wut: „Diese gemeinen Kerle! Ich hasse sie! Warum lassen sie uns nicht in Ruhe? Wenn sie Alex nur nichts tun... Oh, ich hasse sie!“ Jetzt endlich kamen die Tränen, und ich versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Ich schlug die Hände vors Gesicht und -67-
schluchzte wie ein Kind. Steffen kam zu mir, strich mir übers Haar und murmelte sanft: „Wein dich nur aus, das wird dich erleichtern. Weine nur, Katinka.“ Schließlich verebbte das Schluchzen. Ich nahm das Taschentuch, das Steffen mir in die Hand drückte, schnaubte heftig hinein und sagte erstickt: „Danke. Tut mir leid, daß ich plötzlich so durchgedreht habe, aber jetzt geht es mir wieder besser.“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich weiß selbst, wie das ist.“ „Steffen“, sagte ich, „wir verlassen uns darauf, daß du nichts von all dem erzählen wirst. Du verstehst sicher, daß vorläufig nichts von der Entführung bekannt werden darf, weil mein Vater die Polizei nicht einschalten will.“ „Das ist doch klar. Von mir erfährt kein Mensch ein Wort. Was habt ihr dem Personal gesagt?“ „Daß Alex zu unserer Mutter gefahren ist. Und in der Schule sind wir beide krank gemeldet.“ Er sah mich eine Weile schweigend an. Dann sagte er: „Das ist alles sehr seltsam. Wie kommen diese Leute ausgerechnet auf die Idee, jemanden aus eurer Familie zu entführen?“ Er zögerte. „Ist dein Vater denn so reich?“ „Nein, reich ist er nicht. Wir haben nur ziemlich viel Land.“ Steffen nickte nachdenklich. „Grundbesitz, ja... Das ist es wohl. Habt ihr denn in letzter Zeit gar nichts Auffälliges bemerkt?“ Ich schüttelte den Kopf, doch plötzlich fiel mir die Gestalt auf der Steinbank wieder ein, und ich sah die Szene wie einen Film vor meinem geistigen Auge abrollen. Atemlos sagte ich: „Doch, natürlich! Vor etwa zwei Wochen, als ich abends vom Dorf nach Hause fuhr, saß ein Mann auf der Steinbank in der Allee. Ich glaube jedenfalls, daß es ein Mann war. Er wirkte so -68-
unheimlich, daß ich Angst bekam und über die Wiesen davonfuhr.“ „Und du hast keinem etwas davon gesagt?“ Er starrte mich an. „Nein, ich... Es hätte so unwahrscheinlich geklungen, weiß t du. Und ich dachte, Alex würde sich wieder über mich lustig machen wie am Tag nach meiner Ankunft.“ „Was war damals?“ „Oh, ich sah nachts einen Mann auf der Allee stehen, und es kam mir so vor, als würde er das Haus heimlich beobachten. Und einmal sah ich abends auch ein Gesicht am Küchenfenster.“ Plötzlich fielen mir all die unheimlichen Zwischenfälle und Beobachtungen wieder ein, die ihre Schatten auf mein Leben im Erlengrund geworfen hatten. Mit einemmal ergaben sie einen Sinn wie Steinchen, die sich zu einem Mosaik zusammenfügen. „Warum habe ich Vater nur nichts davon gesagt?“ murmelte ich. „Mach dir keine Vorwürfe. Was hätte er schon tun können? Bestimmt wäre niemand auf die Idee gekommen, daß etwas Gefährliches dahintersteckt. Vermutlich hätte nur jeder versucht, eine harmlose Erklärung für diese Zwischenfälle zu finden.“ „Du hast wohl recht. Keiner von uns hat geahnt, was auf uns zukam.“ Ich schauderte plötzlich. „Wenn ich damals nicht mit dem Fahrrad unterwegs gewesen wäre, hätte dieser Mann vielleicht mich entführt.“ Steffen nickte. „Du hast Glück gehabt, Katinka.“ „Und Alex hatte Pech.“ „Sie wird zurückkommen. Nicht alle Entführer sind solche Schurken, wie sie im Fernsehen und im Kino dargestellt werden. Wenn sie auch nur etwas Verstand haben, wissen sie, daß es verhängnisvoll für sie wäre, Alex etwas zu tun.“ „Hoffentlich“, sagte ich leise und sah zum Schreibtisch hinüber, wo die Überreste der Spieldose lagen. Ein paar -69-
Rädchen und Schrauben hatte ich schon zusammengesetzt, aber ich war nicht sicher, ob sie wirklich so zusammengehörten. Plötzlich erklang aus der Halle das schwache Läuten des Telefons. Steffen und ich waren gleichzeitig an der Tür. Wir hatten denselben Gedanken. In halsbrecherischem Tempo rasten wir die Treppe hinunter. Die Halle war leer, das Telefon stand unberührt auf dem kleinen Tisch. Vater hatte also im Arbeitszimmer abgenommen. Ich schlitterte quer durch die Halle, glitt beinahe auf den Steinfliesen aus, öffnete die Tür des Arbeitszimmers. Mein Vater legte gerade den Hörer auf. Er bemerkte nicht gleich, daß ich auf der Schwelle stand. Einen Moment blieb er unbeweglich am Schreibtisch sitzen und starrte wie ein Schlafwandler in die Luft. Erst als ich mich bewegte, fuhr er zusammen und hob den Kopf. Ich sagte atemlos: „Sind sie es wieder gewesen?“ Er nickte langsam, und ich hörte, wie Steffen hinter mir tief Atem holte. „Und? Was haben sie gesagt?“ „Sie haben Lösegeld gefordert - eine Million Mark Lösegeld“, sagte mein Vater tonlos. Ich merkte, wie ich plötzlich am ganzen Körper zu zittern begann. Steffen legte die Hand auf meinen Arm, als wollte er mich stützen. Meine Lippen waren seltsam trocken; ich befeuchtete sie mit der Zungenspitze und flüsterte: „Eine Million Mark... Haben wir denn soviel Geld, Vater?“ „Nein“, sagte er schroff. „Nein, das haben wir nicht. Das Sägewerk wirft ja kaum noch Gewinn ab; die Konkurrenz ist so hart. Ich könnte es vielleicht verkaufen, aber wovon sollen wir dann leben?“ Ich machte mich von Steffen los, ging zu ihm und legte den Arm um seine Schulter. Er war grau unter der Sonnenbräune -70-
und schien um Jahre gealtert zu sein. „Was soll ich tun?“ murmelte er. „Mein Gott, was soll ich nur tun?“ „Wenn du den Wald verkaufst“, sagte ich zögernd. „Und vielleicht ein paar Wiesen...“ Durch den rauhen Stoff seiner Jacke spürte ich, wie seine Schulter bebte. „Ach, wenn es so einfach wäre, mein Mädchen. Aber der Grund ist nicht allzuviel wert, weil hier nicht gebaut werden darf. Und der Wald ist die Existenzgrundlage für das Sägewerk. Wir müßten schon den ganzen Erlengrund verkaufen, um das Lösegeld aufzubringen.“ Den Erlengrund verkaufen... Es war, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich rang nach Luft, umklammerte die Stuhllehne mit der freien Hand und dachte: Das ist alles nicht wahr. Es ist nur ein böser Traum. Ich brauche nur aufzuwachen, und alles ist wieder wie früher. Doch es war kein Traum, es gab kein Erwachen. Ich hörte Steffens Stimme von der Tür her. „Vielleicht lassen die Entführer mit sich reden. Bieten Sie ihnen eine halbe Million, vielleicht begnügen sie sich damit.“ Vater schüttelte den Kopf. „Darauf werden sie nicht eingehen.“ Ich spürte, wie er die Schultern straffte. Mit sichtbarer Willens anstrengung richtete er sich in seinem Stuhl auf und fuhr fort: „Es gibt nur eine Hoffnung. Einem guten Detektiv könnte es vielleicht gelingen, Alex zu finden und sie zu befreien, ohne daß diese Kerle auch nur einen Pfennig bekommen. Dabei könntest du uns helfen, mein Junge. Hat Katinka dir schon gesagt, wie wir uns die Sache denken?“ Steffen nickte und setzte sich in den Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand. Mein Vater erklärte ihm noch einmal genau, wohin er gehen und was er sagen sollte, übergab ihm einen Brief für den Rechtsanwalt und gab ihm Geld für die Busfahrt und das -71-
Taxi. „Wenn dich jemand beobachtet, tu so, als würdest du es nicht merken“, sagte er. „In der Stadt kannst du dann versuchen, deinen Verfolger abzuhängen, falls sich tatsächlich jemand an deine Fersen heftet.“ Steffen nickte. „Sie können sich auf mich verlassen.“ Mein Vater gab ihm die Hand. „Und nichts von alldem am Telefon, falls du Katinka anrufen solltest. Wir müssen damit rechnen, daß die Leitung überwacht wird.“ Ich begleitete Steffen zur Haustür und sah ihm nach, bis er zwischen den Bäumen verschwand. Wenn uns jemand beobachtete, so hielt er sich gut versteckt, denn die Allee lag verlassen da, so weit mein Blick reichte. Alles wirkte ruhig und friedlich. Hinter der Laube blühte der Flieder, und der Wind trug mir den süßen Duft zu. Ich lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Mit einemmal war ich unendlich müde. Das alte Holz roch nach Staub und Bienenwachs. Für einen flüchtigen Augenblick verspürte ich Hoffnung und dachte: Vielleicht ist morgen schon alles wieder gut. Vielleicht bekommen sie es mit der Angst zu tun und lassen Alex wieder frei, oder sie schafft es durch einen Trick, ihnen zu entkommen. Doch dann sagte ich mir, daß solche Wunder nicht geschehen, und die Verzweiflung kehrte zurück. Eine Million Lösegeld... Wie sollte Vater das Geld jemals aufbringen, ohne sich völlig zu ruinieren? Wir müßten schon den Erlengrund verkaufen, hatte er gesagt. Beim Gedanken daran war mir wieder zumute, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich klammerte mich am Türrahmen fest, daß das morsche Holz unter me inen Fingern bröckelte. Wie betäubt starrte ich auf die Holzsplitter nieder und dachte an die Sicherheit in meinem, Vaters und Alex's Leben, die nun plötzlich zu bröckeln drohte wie dieses Holz. -72-
Ein einziger Tag hatte alles verändert, alles ins Wanken gebracht, was so selbstverständlich schien. Und ich wußte, daß ich nie wieder so unbeschwert leben konnte wie früher - auch dann nicht, wenn Alex zu uns zurückkam, wenn wir den Erlengrund nicht verloren.
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10 Die Sonne versank hinter den Wäldern, und die Dämmerung brach herein. Ich ging rastlos durchs Haus. Aus dem Arbeitszimmer kam Stimmengemurmel von meinem Vater und Ulf, die sich seit Stunden miteinander berieten. Die morschen Dielen knarrten, als ich das ehemalige Gesindehaus betrat, das nun schon seit einem halben Jahrhundert leer stand. Die Fensterläden waren geschlossen, und es roch nach Moder und Staub. Unter dem Dach der hölzernen Altane nisteten Schwalben. Wie eine Schlafwandlerin ging ich schließlich in mein Zimmer, zog mechanisch die Jeans aus und kroch mit T-Shirt und Schlüpfer unter die Bettdecke. Mein Kopf hatte kaum das Kissen berührt, da schlief ich schon ein. Doch es war kein erholsamer Schlaf. Wieder träumte ich, daß Alex meine Hilfe brauchte, und wieder konnte ich nichts für sie tun. Der Traum quälte mich so, daß ich von meinem eigenen Stöhnen erwachte. Eine Weile lag ich reglos da und starrte auf den Streifen Mondlicht, der sich über Großmutters Bettdecke zog und die gehäkelten Blütensterne wie bleiche, fremdartige Wasserblumen schimmern ließ. Die Uhr in der Halle schlug einmal, zweimal. Ich lauschte den Tönen nach, bis sie verhallten, hörte in der Ferne einen Dorfhund heulen, hörte den Kies vor dem Haus leise knirschen... Plötzlich saß ich kerzengerade im Bett und hielt den Atem an. Mein Herz hä mmerte wild. Wenn der Kies knirschte, mußte jemand dort unten sein; jemand, der heimlich ums Haus schlich. Wie der Blitz war ich aus dem Bett und am Fenster. Der Mond beleuchtete die eine Hälfte der Allee und ließ die andere im Dunkeln. Die Rosenbüsche an der Hausecke bewegten sich -74-
leicht, doch es wehte kein Wind. Ich fuhr in meine Jeans, war mit ein paar Schritten auf dem Flur und schlich die Treppe hinunter. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich Vater oder Ulf wecken sollte, doch sie schliefen beide in einem anderen Teil des Hauses, und ich wollte keine Zeit verlieren. An der Hintertür blieb ich stehen und lauschte. Der Bach gluckste und plätscherte in der Ferne. Sonst aber hörte ich nichts als das Hämmern meines eigenen Herzens. Langsam, langsam öffnete ich die Tür, trat in die Dunkelheit hinaus und drückte mich gegen die Hauswand. Sie hatte die Wärme des vergangenen Tages gespeichert und gab mir einen Moment lang das Gefühl von Schutz wie der Rücken eines Menschen, dem man vertraut. Mit angehaltenem Atem schlich ich an der Mauer entlang. Die Ranken des Kletterrosenstrauches griffen wie Krallen nach mir und hakten sich in meiner Kleidung fest, und ich focht einen stummen, verbissenen Kampf gegen sie aus. Um mich her war alles still; doch es war keine friedliche, sondern eine lauernde Stille. Als ich um die Hausecke kam, blieb ich stehen und spähte so angestrengt in die Nacht, daß meine Augen brannten. Nichts bewegte sich. Die Erlen warfen im Mondlicht verzerrte Schatten über die Wiesen. Sie wirkten wie riesige Mönche in schwarzen Kutten mit hoch erhobenen Armen und riesigen Kapuzen. Ich schauderte und zwang mich trotzdem, weiterzugehen. Die Rosenbüsche standen unbeweglich am Wegrand, und niemand ging über den Kies. Vielleicht hatte ich mich getäuscht; vielleicht war nur ein Fuchs aus dem Wald gekommen und zu den Wiesen jenseits des Erlengrundes gelaufen, und ich hatte gehört, wie er den Kiesweg kreuzte. Schon stellte ich einen Fuß auf die unterste Treppenstufe, um ins Haus zurückzukehren, da drang ein unterdrückter Laut an -75-
mein Ohr. Er kam vom alten Gesindehaus her. Ich erstarrte und versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Jemand war dort unter den Holzsäulen, auf denen die Altane ruhte - ich wußte es genau, obwohl nun nichts mehr zu hören war, obwohl ich nichts sah. Wer mochte sich dort verbergen? Und hatte er mich entdeckt? Die Freitreppe lag nicht im Strahlenfeld des Mondes, und ich hatte mich sehr vorsichtig bewegt. Ich hielt den Atem an und duckte mich hinter eine der beiden Steinfiguren. Ein leichter, warmer Lufthauch wie der Atem eines Menschen strich über mein Gesicht. Meine Furcht verwandelte sich in Spannung, und ich fühlte mich wie eine Katze, die vor dem Mauseloch auf der Lauer liegt. Doch vielleicht war es gerade umgekehrt. Vielleicht war ich die Beute, und der Jäger saß irgendwo versteckt und überwachte jede meiner Bewegungen. Ich wartete - unendlich lange, wie mir schien, doch es waren wohl nur wenige Minuten. Nichts geschah; nur meine Beine wurden steif, und der Kies bohrte sich in meine Handflächen. Plötzlich hatte ich nicht länger das unheimliche Gefühl, daß jemand in meiner Nähe war. Ein Vogel schrie hinter dem Haus, und wieder kroch mir die Angst über den Rücken. Ich wollte aufspringen, die Stufen hinauflaufen und in die Halle stürzen, doch ehe ich ein Glied bewegen konnte, wußte ich, daß es zu spät war. In das leise Knirschen des Kieses mischten sich hastige, unterdrückte Atemzüge. Wie unter einem Zwang drehte ich mich um, und da sah ich es: eine große, dunkle Gestalt mit verhülltem Gesicht stand hinter mir und streckte die Hände nach mir aus. Ich schrie - schrie, so laut ich konnte. Dann spürte ich einen betäubenden Schlag. Mein Kopf schien zu bersten. Es war, als explodierten glühende Bälle in meinem Gehirn, mehr, immer mehr, bis ich schließlich von einer -76-
endlosen Spirale aus gelben und violetten Kreisen aufgesaugt wurde, die mit sausenden, zischenden Lauten wie ein Flammenmeer über mir zusammenschlugen... Die Stimmen waren anfangs nur wie ein fernes Raunen und Flüstern. Es konnte jedoch auch der Wind sein, der in den Erlen rauschte. Es störte mich nicht, dieses Raunen; quälend war nur das Klopfen und Hämmern, das immer stärker wurde und alles um mich her zu erschüttern schien, das in mir selbst war, in meinem Kopf, meinem ganzen Körper. Dann wurde das Hämmern lauter, die Stimmen deutlicher. Ich wollte fliehen, doch der Lärm ließ sich nicht abschütteln. Jemand sagte: „Sie kommt zu sich!“ Eine andere Stimme rief: „Katinka - wach auf!“ Und jemand schüttelte mich, so daß das Hämmern und Dröhnen anschwoll und über mir zusammenzuschlagen drohte. Ich stöhnte und hörte, wie jemand sagte: „Nicht, laß sie ruhig liegen. Vielleicht ist sie mit dem Kopf aufgeschlagen.“ Mit gewaltiger Anstrengung öffnete ich die Augen. Zuerst schien alles um mich her zu kreisen. Ich sah einen dunklen Himmel voller Sterne, und irgendwo leuchtete der Mond... Doch dann veränderte sich alles, kam näher und wurde deutlicher. Ich unterschied die dunkle Balkendecke der Halle, den geschnitzten Leuchter, das Gesicht meines Vaters und Ulfs blaue Augen. „Stellt es ab!“ murmelte ich. Vater streichelte meine Hand. „Aber was denn, Kind? Was sollen wir abstellen?“ „Den Lärm - das Mühlwerk!“ Ich schloß die Augen vor dem grellen Licht. „Mein Kopf... Ich halte dieses Dröhnen nicht aus!“ Mein Vater murmelte etwas, und ich hörte, wie Ulf aufstand und durch die Halle ging. Eine Tür klappte. Vater sagte sanft: „Hier ist kein Mühlwerk. Du mußt mit dem Kopf aufgeschlagen sein und warst ohnmächtig. Ich fürchte, du hast eine -77-
Gehirnerschütterung.“ Ich lauschte seinen Worten und versuchte zu begreifen, was er sagte, doch der Schmerz in meinem Kopf machte es mir fast unmöglich, einen Gedanken zu fassen. Gehirnerschütterung... Mit dem Kopf aufgeschlagen... Plötzlich kam mir eine Erinnerung. Gewaltsam öffnete ich wieder die Augen und sagte: „Er stand hinter mir! Er hat zugeschlagen!“ Mein Vater sah mich gespannt an, und ich wiederholte: „Plötzlich stand er hinter mir!“ „Wer, Katinka?“ „Ich weiß es nicht. Er trug einen schwarzen Mantel, und sein Gesicht... sein Gesicht war verhüllt.“ „Hast du deshalb so geschrien?“ Hatte ich geschrien? „Ja, o ja, er hatte die Hand erhoben, um zuzuschlagen, und da schrie ich, so laut ich konnte.“ Langsam fügte sich ein Bild zum anderen. „Was dann passierte, weiß ich nicht.“ „Wir haben dich gefunden. Du hast bewußtlos neben der Freitreppe gelegen. Wir konnten uns nicht erklären, wie du dorthin gekommen warst. Es sah aus, als wärst du gestürzt. Komm, laß mich deinen Kopf ansehen.“ Behutsam legte Vater mir ein Kissen unter den Nacken, drehte mich zur Seite und untersuchte meinen Hinterkopf. Ich spürte seine Finger in meinen Haaren und schrie plötzlich auf. „Nicht - bitte faß mich nicht an! Das tut scheußlich weh!“ Rasch zog er die Hand zurück. Seine Finger waren voller Blut, und er sagte mit erzwungener Ruhe: „Das ist eine ziemlich schlimme Platzwunde. Ich fürchte auch, daß Schmutz und Kieselsteine hineingekommen sind. Wir müssen die Wunde mit Alkohol auswaschen. Das wird unangenehm sein, aber ich kann es dir nicht ersparen. Morgen früh hole ich den Arzt. Wir sagen, du wärst vom Pferd gestürzt.“ -78-
Ulf kam mit einem Glas Wasser zurück. „Hier“, sagte er, kniete neben mir nieder und hielt mir eine Tablette an die Lippen. „Nimm das.“ „Was ist es?“ „Ein starkes Kopfschmerzmittel. “ Während Ulf meinen Nacken stützte, damit ich die Tablette einnehmen konnte, wiederholte mein Vater, was er von mir erfahren hatte. Ulf hörte schweigend zu. Dann sah er mich an und fragte: „Weshalb bist du mitten in der Nacht aus dem Haus gegangen?“ „Da war dieses Geräusch... Ich hörte den Kies knirschen und wollte nachsehen, wer da ums Haus schlich.“ Mein Vater fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Und warum hast du uns nicht geweckt?“ „Ich dachte, es würde zu lange dauern“, erwiderte ich matt. „Das war bodenloser Leichtsinn, ist dir das klar?“ sagte Ulf scharf. „Es hätte damit enden können, daß man dich auch noch entführt. Vielleicht war es dein Glück, daß du so geschrien hast.“ „Glaubst du auch, daß sie es gewesen sind?“ fragte Vater. „Ja, sicher. Wer sollte wohl sonst nachts hierherkommen und friedliche Leute niederschlagen?“ „Aber warum - warum sollten sie hier herumschleichen?“ „Das werden wir noch herausfinden“, sagte Ulf grimmig. „Jetzt bringen wir Katinka erst einmal in ihr Bett.“ „Nein, bitte nicht“, murmelte ich. „Tragt mich nicht die Treppe hinauf. Mein Kopf zerspringt jetzt schon fast!“ Vater streichelte meine Hand. „Die Tablette müßte bald wirken, dann geht es dir besser. Wir legen dich hier auf die Couch, und ich werde deine Kopfwunde säubern. Wir haben doch reinen Alkohol in der Hausapotheke?“ -79-
Ulf nickte, und sie trugen mich auf die Couch neben dem Bücherregal. Dann ging Vater ins Badezimmer, um Alkohol und Verbandszeug zu holen. Ulf blieb allein bei mir zurück. Er wickelte mich sacht in Decken ein, setzte sich auf den Rand der Couch und sagte nach kurzem Schweigen: „Ich würde dir gern das Versprechen abnehmen, dich nie wieder so in Gefahr zu begeben. Aber ich war selbst einmal jung und weiß, daß man nur aus Erfahrung klug werden kann. Vorsicht ist etwas, was man erst im Laufe der Jahre lernt. Und manche lernen es nie“, fügte er mit halbem Lächeln hinzu. „Du bist auch nie vorsichtig gewesen, Ulf“, erwiderte ich. „Tust du nicht immer das, was du für richtig hältst, ob es nun gefährlich ist oder nicht?“ Er sah mich an, und ich wußte seinen Blick nicht zu deuten. „Ja“, erwiderte er schließlich, „du hast wohl recht. Aber weißt du, ich hatte seit jenem Unfall in meiner Kindheit, der mich zum Krüppel machte, immer das Gefühl, als könnte ich nichts mehr verlieren. Lange Zeit hindurch war das Leben eigentlich mehr eine Last als ein Geschenk für mich. Da ist es wohl nicht weiter seltsam, wenn man unvorsichtig und draufgängerisch wird.“ Etwas von der alten Qual spiegelte sich in seinen Augen. Ich streichelte seine Hand, weil ich nichts zu sagen wußte. Nach einer Weile erwiderte ich leise: „Vielleicht war es mit mir ganz ähnlich. Vielleicht hatte ich auch das Gefühl, nicht mehr viel verlieren zu können; jetzt, wo Alex fort ist und wir den Erlengrund vielleicht verkaufen müssen.“ Wieder schloß ich die Augen. Das Dröhnen war schwächer geworden, doch mein Kopf schmerzte noch immer. Ich hörte Ulfs Antwort wie aus weiter Ferne: „Sag das nicht, Katinka. Du hast noch sehr viel zu verlieren sehr, sehr viel.“ Ich umfaßte seine Hand fester. In diesem Augenblick kam -80-
mein Vater zurück. Er rückte die Stehlampe dicht neben die Couch, nahm den Schirm ab und drehte meinen Kopf sacht zur Seite. „Jetzt beiß die Zähne zusammen, mein Mädel“, sagte er. „Die Wunde ist ziemlich mit Schmutz und Haaren verklebt.“ Nun war Ulf es, der meine Hand hielt. Ich gab keinen Laut von mir, obwohl der Alkohol höllisch brannte. „Der Arzt wird morgen wohl eine Haarsträhne herausschneiden müssen“, sagte Vater schließlich, „sonst kommt er nicht richtig an die Wunde heran. Mehr kann ich jetzt leider nicht tun. Womit mag er wohl zugeschlagen haben?“ „Mit einem Holzknüppel vermutlich“, erwiderte Ulf. „Hier ist etwas in Katinkas Haaren, was nach einem Stück Rinde aussieht.“ Vater legte mir einen Verband an. Plötzlich sagte er mit einer Stimme, die mir fremd war, soviel Haß schwang darin: „Wenn ich diese Kerle erwische... wenn ich nur einen von ihnen erwische, dann gnade ihm Gott!“ „Sie werden sich nicht erwischen lassen“, gab Ulf nüchtern zurück. „Aber ich könnte wetten, daß dieser Mann nicht grundlos ums Haus geschlichen ist. Er ist natürlich längst über alle Berge, aber laß uns jetzt nachsehen, ob wir irgendwelche Spuren finden.“ Ich blieb allein zurück, während sie Taschenlampen nahmen und durch die Vordertür ins Freie traten. Ich hörte sie vor dem Haus sprechen. Manchmal, wenn ich die Augen öffnete, sah ich einen Lichtkegel über eines der Fenster huschen und wieder verschwinden. Ihre Stimmen entfernten sich, und alles wurde still bis auf das Ticken der Wanduhr und das Hämmern in meinem Kopf. Doch auch das Hämmern ließ langsam nach, wurde leiser und ferner, und ich hätte vor Erleichterung weinen mögen. -81-
Dann war mir plötzlich, als hörte ich Alex auf dem Klavier spielen - ein Stück von Schumann, das Vater so liebte. „Träumerei“ hieß es. Und ich schlief ein und glaubte die Musik fast körperlich zu spüren; so, als wäre sie eine Welle, auf der ich sanft zwischen grünen Ufern dahintrieb.
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11 Ich erwachte vom Geräusch des Regens, der gegen die Fensterscheiben trommelte. Sekundenlang blieb ich mit geschlossenen Augen liegen und genoß diesen friedlichen, beruhigenden Laut. Dann aber, als ich den Kopf auf dem Kissen bewegte, durchfuhr mich ein Schmerz wie von tausend Nadelstichen, und plötzlich wußte ich wieder alles. Da verschwand das Gefühl des Friedens und verwandelte sich in Schrecken. Ich schlug die Augen auf und sah, daß ich in der Halle auf der Couch lag. Mein Vater saß neben mir in einem Sessel. Sein Kopf war zurückgesunken, und sein Gesicht zuckte im Schlaf. Auch seine Hände bewegten sich unruhig auf den Armstützen. Ich wandte den Blick von ihm ab, weil es mir fast ungehörig erschien, daß ich ihn so sah - wehrlos und besiegt. Plötzlich hörte ich Geräusche an der Tür, die zum Eßzimmer führte. Lisa trat in die Halle. Zuerst bemerkte sie uns nicht. Dann aber sah sie mich auf der Couch liegen, faßte sich an den üppigen Busen und stieß atemlos hervor: „O Gottchen! Aber Fräulein Katinka, was tun Sie hier? Himmel, Ihr Kopf ist ja verbunden! Was ist denn nur passiert?“ Ich legte den Finger an die Lippen, doch mein Vater war schon aufgewacht. Er sah sich verwirrt um. Als sein Blick auf Lisa fiel, merkte ich, wie er die Schultern straffte. Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar, und ich sagte möglichst ruhig: „Ich bin gestern spätabends vom Pferd gestürzt, Lisa. Vater und Ulf haben mich wegen der Kopfverletzung nicht die Treppe hinaufgetragen. Aber jetzt geht es mir schon wieder viel besser.“ Die Köchin schüttelte entsetzt den Kopf, murmelte etwas von „gefährlichen Ungeheuern“ und „bodenlosem Leichtsinn“, faßte sich dann wieder und verschwand mit energischen Schritten in -83-
die Küche, um mir eine gute, kräftige Brühe zu kochen. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte mein Vater: „Das hast du gut gemacht. Ich muß wohl eingeschlafen sein, tut mir leid.“ „Das braucht dir nicht leid zu tun. Wenn du nicht schläfst, kannst du das alles nicht durchhalten.“ Ich versuchte mich aufzurichten und die Füße über die Sofakante zu schwingen, doch mein Kopf nahm diese Bewegung sehr übel. So protestierte ich nur schwach, als mein Vater aufsprang und mich in die Kissen zurückdrückte. „Bitte sei vernünftig und bleib liegen“, sagte er. „Du willst doch nicht, daß ich mir auch noch deinetwegen Sorgen machen muß.“ „Nein. Entschuldige, Vater.“ Er trat ans Fenster und murmelte: „Dieser Mann, der dich vergangene Nacht niederschlug... Er war wirklich einer von den Entführern.“ „Woher weißt du das so genau?“ „Ulf hat etwas vor der Hintertür gefunden - einen Brief.“ Ich hielt den Atem an. „Einen Brief? Was haben sie geschrieben? Geht es Alex gut? Zeig ihn mir!“ Er griff in seine Jackentasche. „Eigentlich sind es zwei Briefe“, sagte er leise. „Einer davon ist von Alex.“ Mit zitternder Hand griff ich nach den beiden Zetteln. Der eine war beschmutzt und mit kleinen Ausschnitten beklebt, die aus verschiedenen Zeitungen stammen mußten. Die Worte waren in verschiedener Schriftart, Farbe und Schriftgröße aneinandergefügt. Es war nur ein Satz: Sie haben drei Tage Zeit. Mir war plötzlich eiskalt. Ich sah zu meinem Vater auf, doch er hatte sich abgewandt. Langsam ließ ich den Zettel sinken und faltete das zweite Blatt auseinander. Die Schrift war schief, ein wenig unregelmäßig und sehr eigenwillig, und ich hätte sie unter -84-
tausend Schriften wiedererkannt. „Macht euch um mich keine Sorgen“, stand da. Und darunter: „Alex“. Die Nachricht beruhigte mich nicht. Sie hatte eher eine beängstigende Wirkung auf mich, doch das wollte ich mir nicht anmerken lassen. „Siehst du, es geht ihr nicht schlecht“, sagte ich mit erzwungener Zuversicht. „Das ist doch ihre Schrift! Sie haben ihr nichts getan.“ Mein Vater seufzte. „Wer weiß, was geschehen ist, seit sie das geschrieben hat. Und ob sie es freiwillig geschrieben hat.“ Ich wußte, was er meinte. Sie konnten Alex zu dieser Nachricht gezwungen haben. Es gibt viele Möglichkeiten, einen Menschen zu etwas zu zwingen. Aber nein, das durfte ich nicht denken. Ich versuchte mich mit aller Kraft gegen die Bilder zu wehren, die vor meinem geistigen Auge abrollten. „Sie werden ihr nichts tun“, sagte ich, und es war wie eine Beschwörung. Der Regen schlug immer stärker gegen die Fensterscheiben, der Wind begann ums Haus zu pfeifen. Ich fröstelte, und Vater sah es und meinte, er werde Ulf bitten, Feuer im Kamin anzumachen. „Währenddessen rufe ich den Arzt an“, sagte er. „Es wird Zeit, daß er sich deine Kopfwunde ansieht.“ „Ich glaube nicht, daß ich ihn brauche“, murmelte ich. „Es geht mir schon besser.“ Er schüttelte wortlos den Kopf und verschwand in den Flur. Gleich darauf hörte ich die Hintertür ins Schloß fallen. Etwas später kam Lisa wieder mit einem Tablett in die Halle. „Hier ist Ihre Brühe, Fräulein Katinka“, sagte sie. „Und jetzt werde ich Feuer anmachen, damit Sie sich nicht auch noch obendrein eine Erkältung holen. Es ist verdammt kalt heute.“ Sie steckte mir noch ein paar Kissen in den Rücken, blieb dann vor mir stehen und beobachtete mit strengem Blick, wie -85-
ich die heiße Suppe aß. Ich wagte keinen Widerspruch, obwohl ich eigentlich nicht hungrig war. „Vater wollte Ulf bitten, Feuer anzumachen“, sagte ich, während ich die Brühe löffelte. „Sie können es ihm überlassen.“ Sie schnaubte. „Pah, Ulf! Er soll sich nur um seine eigene Arbeit kümmern. Essen Sie jetzt Ihre Suppe auf und überlassen Sie alles andere mir.“ Sie wartete eine Weile, griff dann nach dem Tablett und fragte: „Wann kommt eigentlich Fräulein Alexandra zurück?“ Ich erschrak unwillkürlich. Ahnte sie etwas? Aber nein, es war wohl nur eine ganz harmlose Frage. „Ich weiß es nicht genau“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Aber sie... sie wird wohl noch ein paar Tage wegbleiben, nehme ich an.“ „Na ja, bei Fräulein Alexandra weiß man nie so recht, woran man ist“, murmelte Lisa im Weggehen. Als Ulf mit seinen Gummistiefeln ins Haus gestapft kam, brannte schon Feuer im alten Kamin, und Lisa hatte mir auch ein Buch gebracht. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich begriff einfach nicht, was ich da las. Das einzige Ergebnis war, daß mein Kopf wieder zu schmerzen begann. Ulf sagte: „Der Arzt wird bald kommen. Du weißt, was du sagen mußt, nicht?“ „Daß ich gestern spätabends vom Pferd gestürzt bin, ja.“ „Hoffentlich nimmt er uns die Geschichte ab. Dein Vater ist im Arbeitszimmer. Hier stelle ich die Klingel aufs Regal, dann kannst du läuten, wenn du etwas brauchst.“ Er wandte sich wieder zum Gehen, da sagte ich: „Ulf...“ „Ja?“ „Ich habe Angst.“ Er wirkte plötzlich sehr alt und glich einem verkrüppelten Vogel, wie er da unter dem Leuchter stand. „Ich auch, Katinka. Wir müssen es eben ertragen, genau wie -86-
Alex auch. Das ist etwas, was du noch lernen wirst - daß jeder mit seiner Angst allein ist.“ „Wenn sie zurückkommt, soll alles anders werden“, sagte ich. „Ja wenn sie zurückkommt.“ Er öffnete die Tür, und Regen sprühte über die Schwelle auf den verblichenen Teppich. Dann hinkte er hinaus. Der Wind riß ihm die Tür aus der Hand und schlug sie heftig zu. Ich blieb allein zurück - allein mit meiner Angst, wie Ulf gesagt hatte.
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12 Der Arzt kam gegen zehn Uhr. Lisa führte ihn herein, und während sie ihm den Regenumhang abnahm, kam auch Vater in die Halle und begrüßte ihn. „Das ist meine Tochter Katinka, die während der letzten Jahre in Hamburg gelebt hat, Doktor Sudermann“, sagte er. Der Arzt kam zur Couch, gab mir die Hand und musterte mich prüfend. Dabei ging ein Lächeln über sein Gesicht. „Danke für den Hinweis“, sagte er. „Ich hätte sonst glauben können, daß ich Alex vor mir habe. Ihre Töchter sehen einander nicht nur zum Verwechseln ähnlich, sie scheinen auch beide gleich tollkühn zu sein. Wenn ich Alex reiten sehe, wundere ich mich jedesmal, daß sie sich noch nicht sämtliche Knochen gebrochen hat. Jetzt wollen wir uns mal deinen Kopf ansehen, Mädchen. Haben Sie den Verband angelegt, Herr Erler?“ Vater nickte. „Es passierte gestern abend. Wir wollten Sie nicht noch so spät he rbemühen. Ich habe die Wunde gleich mit reinem Alkohol ausgewaschen. “ „Hm“, sagte Dr. Sudermann. „Sehr gut.“ Er begann den Verband abzunehmen. Ich biß die Zähne zusammen, als er die Mullbinde löste, die an der Wunde festgeklebt war. Eine Weile herrschte Schweigen; dann hörte ich den Arzt fragen: „Du bist wohl im Wald gestürzt, nehme ich an?“ „Ja“, sagte ich. „Im Wald.“ „Und warst eine Zeitlang bewußtlos?“ Ehe ich antworten konnte, mischte sich mein Vater ein. „Das Pferd kam allein zurück. Da haben wir nach ihr gesucht und sie beim Mühlbach gefunden. Sie war ohnmächtig.“ „Hm“, sagte Dr. Sudermann wieder. „Seltsam, daß die Wunde noch so frisch aussieht. Man könnte glauben, es wäre erst vor ein paar Stunden passiert. Na gut, dann wollen wir mal sehen, -88-
was sich machen läßt. Ich werde wohl eine Strähne von deinen schönen Haaren abschneiden müssen, aber wenn man so dichtes Haar hat wie du, kommt's auf ein paar mehr oder weniger nicht an.“ Die Prozedur war rasch vorüber, und es tat nicht einmal besonders weh. „Wie steht's mit den Kopfschmerzen?“ fragte Dr. Sudermann, nachdem er ein Heftpflaster über die Wunde geklebt hatte. „Soll ich dir ein Mittel hierlassen?“ „Danke, es ist auszuhalten“, sagte ich. „Aber ich darf doch aufstehen, nicht?“ Er lachte. „Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Du bist nicht umsonst Alex's Schwester. Aber ich fürchte, ich muß dich enttäuschen, Mädchen. Du hast dir eine hübsche Gehirnerschütterung zugelegt und solltest mindestens zwei Tage ruhig liegen. Es sei denn, du willst riskieren, daß du vielleicht noch wochenlang Kopfschmerzen hast.“ Ich gab keine Antwort und dachte trotzig: Und ob ich das riskiere! Ganz gleich, was er sagt, ich werde aufstehen, sobald es keiner merkt! Dr. Sudermann schien meine Gedanken zu erraten, denn er schmunzelte und sagte: „Na, Schweigen ist auch eine Antwort, und deine aufrührerische Miene spricht Bände! Aber du kannst mir glauben, daß ich weiß, wovon ich rede. Wie geht's übrigens der tollkühnen Alex?“ „Sie ist zu meiner geschiedenen Frau gefahren“, erwiderte Vater hastig. In diesem Augenblick hörten wir Motorengeräusch von der Allee her. Ulf, Vater und ich hoben wie auf Kommando die Köpfe und lauschten angespannt. Während Lisa den Doktor ins Badezimmer führte, bremste ein Wagen vor dem Haus. Eine Tür wurde zugeschlagen, und schon näherten sich Schritte über den Kies und die Freitreppe. Ulf öffnete. Ein ziemlich kleiner Mann mit schütteren grauen -89-
Haaren und im grauen Anzug stand vor der Tür, verbeugte sich leicht und sagte: „Ich möchte Herrn Erler sprechen.“ Mein Vater ging auf ihn zu, und der Fremde überreichte ihm eine Visitenkarte. Dr. Sudermann kam aus dem Flur zurück, um sich zu verabschieden, und ich konnte nicht hören, was an der Tür gesprochen wurde. Der Arzt und der Fremde begegneten sich auf der Türschwelle; Dr. Sudermann ging hinaus, der graue Mann kam herein, und mein Vater führte ihn rasch durch die Halle in sein Arbeitszimmer. „Wer war das?“ fragte ich Ulf. Er sah sich um, doch Lisa war nicht mehr da. „Der Detektiv, nehme ich an.“ „Der Detektiv? Er sah nicht so aus.“ Ulf lächelte leicht. „Was hast du erwartet - einen James Bond? Es ist wohl eher ein Vorteil, daß man ihm den Detektiv nicht ansieht.“ Er verschwand durch die Eßzimmertür, und ich dachte enttäuscht: Diese graue Maus soll Alex finden? Ein Mann, der wie ein verschrobener Buchhalter aussieht? Warum kann ich nicht dabeisein, wenn Vater mit ihm spricht? Er wird uns bestimmt nicht helfen können. Es gibt keine Hoffnung... Ich ballte die Hand unter der Decke zur Faust. Etwas mußte geschehen - wir mußten etwas tun! Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Wo nur Steffen blieb? Ich wünschte mir so sehr, ihn zu sehen, wollte ihm erzählen, was inzwischen geschehen war, und seine Meinung über alles hören. Es war wie eine Strafe, untätig hier liege n zu müssen, während ich mehr als je zuvor in meinem Leben das Gefühl hatte, daß ich etwas unternehmen mußte. Wir hatten drei Tage Frist - nein, nun waren es nur noch zweieinhalb. Jede Minute war kostbar. Wir durften die Zeit nicht -90-
ungenutzt verstreichen lassen. Ich wollte aufstehen; ja, ich mußte Vater davon überzeugen, daß Dr. Sudermann überängstlich war, daß ich eigentlich schon wieder ganz in Ordnung war. Langsam richtete ich mich auf. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam mich dabei, doch ich achtete nicht weiter darauf. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich. Mein Vater trat mit dem kleinen grauen Mann in die Halle. „Das ist meine Tochter Katinka“, sagte er und vergewisserte sich, daß ich allein war. „Katinka, das ist Herr Liesing. Er will versuchen, Alex zu finden.“ Der Detektiv gab mir die Hand. Sie war schmal und zartgliedrig, und ich dachte unwillkürlich: Wie soll er damit zuschlagen, wenn er sich verteidigen muß? Aber vielleicht trug er einen Revolver in einer Geheimtasche seines adretten grauen Anzugs versteckt. Die Vorstellung wirkte beinahe lächerlich. „Sie sind also Fräulein Alexandras Zwillingsschwester“, sagte er förmlich. „Und man hat Sie vergangene Nacht niedergeschlagen, als Sie jemanden ums Haus schleichen hörten? Bitte erzählen Sie mir, wie sich alles abgespielt hat.“ Er nahm im Ledersessel neben der Couch Platz, und ich schilderte mein nächtliches Abenteuer so genau wie möglich. Als der Detektiv mich bat, den Mann zu beschreiben, der mich angegriffen hatte, sagte ich: „Das kann ich nic ht. Ich weiß nicht einmal mit völliger Sicherheit, ob es wirklich ein Mann war. Es war eine große Gestalt in einem dunklen Umhang und mit verhülltem Gesicht; mehr kann ich nicht sagen.“ „Das ist schade“, erwiderte Herr Liesing. „Sehr schade. Ich nehme an, Ihr Herr Vater hat Ihnen bereits eingeschärft, daß Sie sich nicht noch einmal zu einer derart unüberlegten Handlung hinreißen lassen dürfen.“ Herrje, dieser Mann redete wie ein verknöcherter -91-
Schulmeister! Ich zog es vor, keine Antwort zu geben, und mein Vater warf ein: „Was werden Sie unternehmen, Herr Liesing?“ „Ich will die beiden Zettel im Labor untersuchen lassen, obwohl ich kaum Hoffnung habe, daß wir andere Fingerabdrücke finden werden als Ihre, die Ihrer Tochter und Ihres Angestellten. Aber man darf nichts unversucht lassen. Vielleicht geben uns auch die Schmutzspuren einen Anhaltspunkt; möglicherweise sogar die Papiersorte, die verwendet wurde.“ Das klang nicht sehr vielversprechend. „Glauben Sie wirklich, daß Sie damit weiterkommen werden?“ fragte ich kühl. „Sie wissen doch, daß wir nur drei Tage Zeit haben?“ Er nickte. „Wie ich Ihrem Vater schon sagte, sollte er versuchen, einen Aufschub zu erreichen. Im übrigen halte ich es für gefährlich, die Polizei nicht zu verständigen. “ „Und ich bin der Meinung, daß es gefährlich wäre, sie einzuschalten“, erwiderte Vater ruhig. „Das ist ja auch der Grund, weshalb ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe.“ „Ja, natürlich. Aber sehen Sie, die Polizei hat ganz andere Mittel zur Verfügung. Sie könnte beispielsweise Ihr Telefon überwachen und eventuell feststellen, woher die Anrufe kommen.“ „Falls die Leute wieder hier anrufen, ja. Aber das läßt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen. Vielleicht kommt die nächste Nachricht mit der Post.“ Der kleine Detektiv erwiderte unbestimmt, man müsse mit allem rechnen, und verabschiedete sich. Ich sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Enttäuschung nach. Mein Vater wirkte sehr müde, als er die Tür hinter Herrn Liesing schloß und sich umdrehte. Da unterdrückte ich die -92-
verächtliche Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, und sagte statt dessen: „Du mußt dich ein bißchen ausruhen, Vater.“ Er schien mich nicht gehört zu haben, trat vor den offenen Kamin und streckte die Hände gegen die Flammen aus, als wollte er sich wärmen. „Ich werde versuchen, das Sägewerk und den Erlengrund zu beleihen.“ Er sprach so leise, daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Vielleicht geht es dann.“ Ich wußte, was das bedeutete: Eine riesige Schuld, die wir niemals zurückzahlen konnten. Und doch schien es keinen anderen Ausweg zu geben. Er fuhr fort: „Ich werde noch heute in die Stadt fahren, um festzustellen, ob die Bank bereit wäre, mir einen so hohen Kredit zu geben. Wenn nicht...“ Er machte eine hilflose Handbewegung. „Und wenn sie dich sehen?“ sagte ich. „Wenn sie dir nachfahren?“ „Das macht nichts, dann werden sie feststellen, daß ich zur Bank gehe - und das kann ihnen doch nur recht sein“, erwiderte er bitter. Eine Weile hing jeder von uns seinen Gedanken nach. Dann sagte er plötzlich: „Wir sollten eure Mutter verständigen.“ Ich sah ihn erschrocken an. „O nein! Sie würde sich nur fürchterlich aufregen und sofort herkommen und alles noch schlimmer machen. Vor allem würde sie sofort verlangen, daß wir die Polizei einschalten, da bin ich ganz sicher!“ Mein Vater seufzte. „Das befürchte ich auch. Nur habe ich eigentlich kein Recht, ihr die Sache zu verheimlichen. Alex ist schließlich auch ihre Tochter. Aber vielleicht können wir die Entscheidung darüber noch etwas aufschieben.“ Ich nickte erleichtert. „Ja, das ist sicher am besten.“ Die Vorstellung, meine Mutter auf dem Erlenhof zu haben, in Tränen aufgelöst und völlig verzweifelt, erschreckte mich. -93-
Meiner Ansicht nach war es wirklich besser für sie, wenn sie von alldem nichts wußte. Sie konnte es ja doch nicht ändern. Noch vor dem Mittagessen fuhr Vater in die Stadt. Obwohl ich immer wieder versicherte, nicht hungrig zu sein, kam die Köchin mit einer Riesenportion Hühnerleber und zwang mich, davon zu essen, bis es mich fast würgte. Steffen war noch immer nicht aufgetaucht. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und als Lisa brummend mit dem Tablett verschwunden war, beschloß ich, aufzustehen. Mein Kopf war wie mit Zement gefüllt, und ich hatte das seltsame Gefühl, ihn mit beiden Händen festhalten zu müssen, doch es ging. Langsam und vorsichtig wie eine alte Frau schlich ich ins Badezimmer, um mir Gesicht und Hände zu waschen und mich zu kämmen. Als ich mein Gesicht im Spiegel sah, erschrak ich. Die Sonnenbräune war verschwunden. Meine Augen lagen tief in den Höhlen, die Haare standen wirr nach allen Seiten, und meine Lippen waren geisterhaft bleich. Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne, schöpfte mit den Händen kaltes Wasser und ließ es über mein Gesicht laufen. Alex's Handtuch hing noch am Haken. Ich versuchte nicht hinzusehen, doch mein Blick wurde immer wieder wie magisch davon angezogen. Dann begann plötzlich alles um mich her zu kreisen, und mir wurde schrecklich übel. Ich klammerte mich am Waschbecken fest und begann mich zu erbrechen. Es war quälend und erlösend zugleich - so, als könnte ich alle Angst und Verzweiflung heraus lassen, die sich in mir aufgestaut hatten. Anschließend fühlte ich mich kraftlos und elend, aber etwas leichter war mir trotzdem. Ich blieb noch eine Weile auf der Badewanne sitzen, säuberte dann das Becken und trat auf den Flur. Zum Glück begegnete mir niemand. Ich wandte mich zur Treppe. Schon hatte ich die Hand auf das -94-
Geländer gelegt, da läutete das Telefon. Ich kann nicht sagen, weshalb ich so erschrak. Das Schrillen ging mir durch Mark und Bein. Meine Knie begannen auf lächerliche Weise zu zittern, so daß ich Schwierigkeiten hatte, die wenigen Schritte durch den alten Rundbogen zu gehen, der den Flur mit der Halle verband. Es läutete wieder, und wieder durchfuhr mich dieser Ruck, der einem Stromstoß glich. Ich nahm den Hörer ab, preßte ihn ans Ohr und sagte wie betäubt: „Hallo?“ Die Männerstimme war fern und gedämpft, doch ich erkannte sie sofort wieder. „Hallo “, klang es durch den Hörer. „Haben Sie unsere Nachric ht gefunden?“
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13 Meine Kehle krampfte sich zusammen. Ich konnte nicht antworten. „Haben Sie unsere Nachricht gefunden?“ wiederholte die Stimme ungeduldig. Ich schluckte. „Ja“, erwiderte ich. „Ja, wir haben sie gefunden.“ „Gut. Und was vergangene Nacht geschehen ist, wird Sie und Ihre Familie hoffentlich in Zukunft davon abhalten, uns nachzuspionieren.“ Das klang eiskalt. „Hören Sie“, sagte ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu beherrschen. „Wie geht es Alex?“ „Oh, ganz gut soweit. Sie wird langsam ungeduldig, aber es liegt ja bei Ihnen, die Wartezeit zu verkürzen. Bis wann können Sie das Geld beschaffen?“ Eine Welle von Zorn stieg in mir hoch. „Sie halten meinen Vater für reich, aber da täuschen Sie sich! “ sagte ich leise, aber heftig. „Er besitzt nicht einmal ein Viertel von dem, was Sie fordern. Woher soll er das Geld nehmen - soll er es sich aus den Rippen schneiden?“ „Wie er es macht, ist seine Sache“, erwiderte die Stimme. „Aber wir würden ihm dringend raten, einen Weg zu finden, und zwar schnell! Und keine Polizei!“ Dann knackte es leicht in der Leitung. Er hatte aufgehängt. Ich stand noch eine Weile wie erstarrt da, den Hörer in der Hand. Dann hörte ich Schritte im Eßzimmer und legte rasch auf. Doch niemand kam in die Halle, und das war gut so. Ich wußte nicht, ob ich jetzt die Kraft gehabt hätte, mich zu verstellen. -96-
Ich ging durch den Torbogen zurück und setzte mich auf eine Treppenstufe. Daß es Alex „soweit ganz gut“ ginge, war eine Antwort und doch auch wieder keine; es konnte vieles bedeuten. „Ungeduldig“ war schon besser. Es klang so sehr nach Alex, und nichts Erschreckendes oder Beunruhigendes war daran. Es war ein alltägliches Wort, an das ich mich klammern konnte, um mich vom Schrecken dieses Anrufs freizumachen, diese gedämpfte, kalte Stimme zu vergessen, der wir alle ausgeliefert waren. Plötzlich hörte ich Stimmen an der Hintertür. Jemand sagte barsch: „Sie ist krank. Vom Pferd ist sie gefallen. Sie braucht Ruhe.“ Es war Lisa. Ich stand auf und lauschte. Dann hörte ich Steffen antwo rten - ja, es war Steffen: „Vom Pferd gefallen? Ja, aber... wann denn nur? Und was ist ihr passiert? Geht es ihr schlecht?“ „Eins nach dem anderen, junger Mann“, brummte Lisa. „Sie hat sich am Kopf verletzt. Doktor Sudermann war heute morgen hier und hat sie verbunden. Bettruhe hat er ihr auch verordnet. Und wann es passiert ist, soll sie Ihnen selbst erzählen - aber erst, wenn sie wieder Besuch bekommen darf, verstanden!“ Ich war zur Hintertür gegangen und öffnete sie. Die beiden drehten sich um und sahen mich mit verblüfften Gesichtern an. Lisa begann empört: „Aber Fräulein Katinka, Sie sollen doch nicht aufstehen, das wissen Sie genau! Mindestens zwei Tage müssen Sie liegenbleiben, hat der Doktor gesagt, und...“ Steffen war mit ein paar Schritten bei mir und faßte mich am Arm. „Du bist ja ganz blaß“, sagte er. „Komm, ich bringe dich hinein, und dann erzählst du mir alles.“ „Aber das kann ich nicht zulassen! “ zeterte Lisa. „Sie muß Ruhe haben, absolute Ruhe. Gehen Sie jetzt, junger Mann, und kommen Sie meinetwegen morgen wieder!“ -97-
„Lisa“, sagte ich ruhig, „ich bin kein Kind mehr. Ich weiß selbst, was ich tue. Und ich möchte jetzt mit Steffen reden. “ Sie machte ein verbittertes Gesicht, schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders und stapfte davon. „Das wird sie dir nicht so schnell verzeihen“, sagte Steffen, während wir ins Haus traten. „Ich kann's nicht ändern.“ Er sah sich um und fragte dann mit gesenkter Stimme: „Du bist doch nicht wirklich vom Pferd gefallen? “ „Nein. Jemand hat mich niedergeschlagen.“ Ich ließ mich in den Ledersessel sinken. Steffen lehnte sich gegen die Wand, kreuzte die Arme vor der Brust und hörte zu, während ich ihm erzählte, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden ereignet hatte. Plötzlich, während er noch schweigend dastand, sagte ich etwas, was mich selbst erstaunte: „Es ist sinnlos, einfach so abzuwarten. Ich muß Alex suchen!“ Als ich es ausgesprochen hatte, verstummte ich. Mit einemmal war mir bewußt, daß es stimmte: Ich wollte nicht länger untätig hier sitzen und wie ein hypnotisiertes Kaninchen warten, bis die Schlange zustieß. Wie konnte ich zulassen, daß fremde, feindliche Menschen über unser Schicksal bestimmten? Doch Steffen verstand mich nicht. Er beugte sich vor und sagte aufgeregt: „Bist du verrückt geworden, Katinka? Wo willst du denn zu suchen anfangen? Und überhaupt - sieh dich doch an, du gehörst ins Bett! Willst du dich noch einmal niederschlagen lassen?“ „Diesmal werde ich vorsichtiger sein“, erwiderte ich ruhig. „Und was die Suche angeht, so werde ich mich einfach hier in der Gegend umsehen - im Erlengrund und im Dorf. Diese Leute schleichen vermutlich hier irgendwo herum, um uns zu -98-
beobachten.“ „Ja“, sagte er grimmig, „darauf kannst du dich verlassen. Und wenn sie nicht plötzlich mit Blindheit geschlagen sind, werden sie sehr bald merken, was du vorhast. Genügt es nicht, wenn dieser Detektiv durchs Gelände streicht?“ „Pah, der!“ murmelte ich verächtlich. „Sie werden ihn nicht ernst nehmen, genausowenig wie ich es tue. Und was mich betrifft, ich wohne schließlich hier. Also ist es doch nicht weiter verdächtig, wenn ich ab und zu spazierengehe, oder?“ Steffen schüttelte heftig den Kopf. „Das einzige, was du damit erreichst, ist, daß du dich in Gefahr begibst. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß dein Vater damit einverstanden ist?“ Ich fuhr auf. „Untersteh dich, ihm etwas davon zu erzählen! Wenn du das tust, wäre es ein glatter Vertrauensbruch. Dann... dann ist es aus mit unserer Freundschaft!“ Steffen scharrte mit den Füßen auf den Steinfliesen. „Friß mich nur nicht gleich, ich verrate schon nichts. Aber ich wäre wirklich froh, wenn du diesen Einfall aufgeben würdest. So eine Entführung ist kein Kinderspiel. Ich glaube, das sind ziemlich hartgesottene Leute, die hinter der Sache stecken.“ Ich sagte: „Vielleicht überschätzen wir sie. Vielleicht lassen wir uns von ihren Drohungen zu sehr einschüchtern. Sie fühlen sich sehr stark - zu stark vielleicht.“ „Wenn sich hier jemand zu stark fühlt, dann bist du es“, erwiderte er. „Du kommst mir vor wie David, der mit einer Steinschleuder gegen Goliath kämpfen will.“ „Das ist kein sehr überzeugender Vergleich“, sagte ich und mußte lachen, obwohl mir durchaus nicht danach zumute war. „Oder hast du vergessen, daß David den Riesen Goliath besiegt hat?“ Steffen stöhnte. „Hör jetzt auf, dich mit mir herumzustreifen, und leg dich auf -99-
die Couch. Es macht mich nervös, wenn du so kreidebleich herumsitzt.“ „Und mich macht es nervös, wenn du mir Predigten hältst“, erwiderte ich, stand aber doch auf und merkte dabei erst, wie wackelig ich auf den Beinen war. Auch das Dröhnen in meinem Kopf setzte wieder ein, und ich war froh, als ich die Couch erreicht hatte und mich zurücklehnen konnte. Steffen beobachtete mich. „Hoffentlich siehst du jetzt ein, daß du besser liegenbleiben solltest, statt Detektiv zu spielen.“ „Ich sehe gar nichts ein. Morgen werde ich aufstehen, Diana an die Leine nehmen und mich gründlich umsehen.“ Diana hatte bis jetzt vor dem Kamin geschlafen. Als sie ihren Namen hörte, sprang sie auf, streckte sich und wedelte mit dem Schwanz. „Ist schon gut, altes Mädchen“, sagte ich. „Morgen, nicht heute!“ Diana gähnte und trottete zur Tür. Nachdem Steffen sie hinaus gelassen hatte, stellte er sich vor die Couch und sagte: „Bitte, Katinka, sei doch nicht so verdammt unvernünftig! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß du gegen eine ganze Bande etwas ausrichten kannst?“ „Wer sagt dir denn, daß es eine ganze Bande ist? Es kann genausogut nur einer sein.“ „Einer!“ wiederholte er empört. „Das ist doch Unsinn, du weißt es so gut wie ich! Einer allein könnte so eine Entführung nie richtig durchführen. Er müßte ja...“ Ich unterbrach ihn gereizt. „Es ist ja ganz gleich, ob einer dahintersteckt oder ein ganzes Dutzend, ich werde jedenfalls nicht länger wie ein Opferlamm hier herumsitzen und abwarten, was sie mit uns vorhaben!“ „Nein“, sagte Steffen ebenso gereizt, „du wirst ihnen nachspionieren, genau wie letzte Nacht - so lange, bis sie dir wieder einen Denkzettel verpassen. Und wer weiß, ob du dabei so -100-
glimpflich davonkommst wie diesmal.“ Er warf mir einen wütenden Blick zu, wandte sich ab und marschierte durch die Halle in den Flur hinaus. Ich hörte, wie er die Hintertür öffnete, und preßte die Lippen aufeinander. Noch konnte ich ihn zurückrufen, aber was hätte es geändert? Ich hatte meinen Entschluß bereits gefaßt und war nicht bereit, nachzugeben. Eine Weile lag ich still auf der Couch und sah zur Balkendecke hoch. Jetzt, wo mir klargeworden war, was ich tun mußte, fühlte ich mich ruhiger, doch auch sehr müde. Das Dröhnen in meinem Kopf wurde schwächer. Dann mußte ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel in der Halle, und im Kamin schwelten die Überreste der Buchenklötze und sanken mit leisem Knistern zu Häufchen von Glut zusammen, die in der Finsternis wie Irrlichter aufflackerte und verlöschte. Die letzten Flammen warfen ihren zuckenden Schein über den Boden, die Wände und die Decke. Ich starrte zum Klavier hinüber. Saß da nicht jemand über die Tasten gebeugt? Ich fuhr zusammen, tastete nach der Lampe und warf eine Vase um. Sie fiel zu Boden und zerbrach klirrend. Endlich hatte ich den Schalter gefunden. Alles um mich her war in mildes Licht getaucht. Der Platz am Klavier war leer. Die Standuhr zeigte auf Viertel vor sieben. Vater mußte längst zurück sein. Er hatte sich wohl leise in sein Arbeitszimmer geschlichen, um mich nicht zu wecken. Ich stand auf und ging zu seiner Tür, um ihm von dem Anruf zu erzählen und zu fragen, was er in der Bank erreicht hatte. Das Licht im Arbeitszimmer brannte. Als ich über die Schwelle trat, sah ich, daß Vater halb über dem Schreibtisch lag, den Kopf auf den Armen. Einen Augenblick wurde ich von panischem Schrecken erfaßt. Wie er da lag, dachte ich, er hätte sich eine Kugel durch den -101-
Kopf geschossen und wäre tot. Doch dann sah ich, daß sich ein Blatt, das in der Nähe seines Gesichts auf der Schreibtischplatte lag, unter seinen Atemzügen leicht bewegte. Vater schlief; er mußte unendlich müde sein. Meine Erleichterung war so groß, daß ich die Tränen zurückdrängen mußte. Ich blieb noch sekundenlang stehen, wandte mich dann um und schloß die Tür behutsam hinter mir. Ulf hatte recht. Ich hatte noch sehr viel zu verlieren.
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14 Wir saßen gemeinsam am Frühstückstisch, obwohl keiner von uns hungrig war. Doch der starke Kaffee tat mir gut nach dieser Nacht, in der ich kaum geschlafen hatte. Ulf sagte: „Aber laß Katinka doch aufstehen, wenn sie es unbedingt will. Sie wird schon selbst so vernünftig sein, sich wieder hinzulegen, wenn sie sich schlecht fühlt.“ Vater schüttelte den Kopf. „Aber Doktor Sudermann hat ihr ausdrücklich zwei Tage Bettruhe verordnet. Er wird wohl seine Gründe dafür gehabt haben.“ „Ach, vom Herumliegen wird alles nur noch schlimmer“, sagte ich. „Es macht mich so furchtbar kribbelig, daß ich aus der Haut fahren könnte. Ich gehe heute mit Diana spazieren. Frische Luft hat noch keinem geschadet.“ Vater seufzte und antwortete nicht. In diesem Augenblick kam Marie mit der zweiten Kanne Kaffee ins Eßzimmer. Ich war froh über die Unterbrechung. Als sie ging, wurde nicht mehr über die Sache gesprochen. Vater erzählte, daß der Direktor der Bank bereit war, ihm einen ungewöhnlich hohen Kredit zu gewähren. Allerdings verlangte er beträchtliche Zinsen und den Erlengrund als Sicherheit. „Das ist eine Schuld, an der wohl noch eure Kinder zahlen werden“, sagte mein Vater zu mir. „Es sei denn, ihr entschließt euch nach meinem Tod, den Erlengrund zu verkaufen.“ „Nie! Das werde ich bestimmt nicht tun!“ erwiderte ich heftig. „Und Alex ebensowenig, das weiß ich genau.“ Er sah mich an, doch sein Blick ging durch mich hindurch, als sähe er mich nicht wirklich. „Ach, wer kann sagen, wie noch alles kommt.“ Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich fahre jetzt noch einmal in die Stadt und bringe die Urkunden zur Bank.“ -103-
„Was hast du dem Direktor gesagt, wofür du das Geld brauchst?“ fragte Ulf. „Ich erzählte ihm, ich hätte vor, das Sägewerk zu erweitern, um konkurrenzfähig zu bleiben.“ Vater seufzte. „Der Hohn ist, daß es sogar stimmt - ich müßte eine Menge Geld in das Werk stecken. Aber das alles ist jetzt unwichtig geworden.“ Ulf erhob sich ebenfalls. „Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?“ fragte er leise. „Willst du diesen Kerlen wirklich eine derartige Summe in den Rachen werfen und dich finanziell ruinieren, statt die Sache der Polizei zu übergeben? “ Vater strich sich über die Stirn. „Es geht nicht um das Geld, es geht um Alex. “ „Sie haben sehr leichtes Spiel mit dir“, sagte Ulf. „Warum wehrst du dich nicht gegen sie?“ Mein Vater ging zur Tür. „Sie haben alle Trümpfe in der Hand“, erwiderte er über die Schulter. „Ich habe keinerlei Chancen gegen sie. Wie viele Entführer haben ihre Opfer schon getötet, weil ihre Bedingungen nicht erfüllt wurden oder weil die Verwandten die Polizei verständigten! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich nicht bereit bin, auf Alex's Kosten ein Risiko einzugehen.“ „Und wer garantiert dir, daß sie Alex freilassen, wenn du ihre Forderungen erfüllst?“ Ich sprang auf und rief: „Hör auf! Bitte, hör auf damit, Ulf!“ „Tut mir leid.“ Er legte den Arm um meine Schulter. „Es macht mich nur ganz verrückt, untätig mitansehen zu müssen, wie man uns unter Druck setzt.“ Ich wußte nur zu gut, was er meinte, doch ich sagte nichts und streichelte nur stumm seine knochige Hand. Es war eine seltsame Erfahrung für mich, diese beiden Männer so hilflos zu sehen, die ich früher für so stark und unbesiegbar gehalten hatte wie die Helden in den Märchen. -104-
Vater verließ das Eßzimmer, und Ulf sagte: „Sei vernünftig, Katinka, und sieh zu, daß du ins Bett kommst, wenn dir dein Kopf zu schaffen macht. Dein Vater hat schon genug Sorgen.“ Ich nickte, und dann ging auch er. Zehn Minuten später hatte ich meinen Regenmantel und die Gummistiefel angezogen und Diana an die Leine genommen. Es regnete nicht, als ich aus dem Haus trat, doch die Wolken hingen schwer und grau über der Allee, und der Wind trieb welke Blütenblätter über den Kies. Diana zerrte an der Leine. Sie wollte zum Wald hinüber, doch ich hatte beschlossen, ins Dorf zu gehen und mich dort umzusehen. Als ich zum Tor kam, erschien es mir plötzlich kindisch und hoffnungslos, daß ich versuchen wollte, diesen Leuten auf die Spur zu kommen, die Alex in ihrer Gewalt hatten. Was erwartete ich denn - daß ich sie hinter irgendeiner Hecke lauern sah oder ihnen im Dorf begegnete, wo sie sich durch verdächtiges Benehmen verrieten? Nein, dachte ich, solche Dinge geschehen nur in billigen Detektivgeschichten, nicht aber im wirklichen Leben. Fast wäre ich umgekehrt, aber nachdem ich eine Weile auf der Bank gesessen hatte, ging ich doch weiter. Ich wollte mein Vorhaben nicht schon aufgeben, ehe ich es noch richtig begonnen hatte. Es wurde dunkler. Bleigraue Wolken hingen tief über der Siedlung in der Talmulde, die von weitem wie eine versunkene Stadt wirkte. In der Ferne zuckte ein Blitz auf, doch ich hörte keinen Donner. Meine Schritte hallten hohl auf den alten Brückenplanken wider. Die Hauptstraße und der Dorfplatz waren fast menschenleer. Ein paar Autos parkten vor den Häusern - einstige Bauernhöfe, die auf häßliche Weise modernisiert worden waren; mit großen Kippfenstern, Türen aus Preßglas und schablonenhaften -105-
Malereien über den Eingängen. Ich streifte den Supermarkt auf der anderen Straßenseite mit einem zögernden Blick. Sollte ich versuchen, mit Steffen zu reden? Er würde wohl wütend sein, wenn er sah, daß ich meinen Willen durchgesetzt hatte. Langsam trat ich über die Bordsteinkante auf die Straße. Vor dem Supermarkt stand ein Wagen, der in dieser Umgebung so unpassend wirkte wie etwa ein Paradiesvogel unter Spatzen. Es war ein schnittiger schwarzer Sportwagen, der mir bekannt vorkam. Ich runzelte die Stirn und überlegte, wo ich diesen Wagen schon einmal gesehen hatte. Als ich die andere Straßenseite erreichte, öffnete sich die Schwingtür des Supermarkts, und eine junge Frau trat auf den Bürgersteig. Diana hob den Kopf, begann zu winseln, lief auf die fremde Frau zu und zerrte mich an der Leine hinter sich her. Die Frau ging auf den Sportwagen zu. Diana folgte ihr, wedelte heftig mit dem Schwanz und beschnupperte ihre Beine. Ich versuchte gerade, sie zurückzuziehen, da drehte sich die Fremde um und sagte scharf: „Halt deinen Hund fest!“ Dann stockte sie, und über ihr Gesicht ging ein seltsamer Ausdruck von Überraschung und Schrecken. Abrupt wandte sie sich ab und öffnete die Tür des Sportwagens. Ich blieb stehen und hielt Diana zurück, die ihr folgen wollte. Jetzt hatte ich die Fremde wiedererkannt und wußte auch, wo ich den Wagen schon einmal gesehen hatte. Es war die blonde Frau aus der Mühle, die zusammen mit ihrem Mann ein Buch über alte Bauwerke unserer Gegend schreiben wollte. Sie stieg ein, ohne sich umzudrehen. Dann heulte der Motor auf, und der Wagen schoß wie ein Pfeil die Dorfstraße entlang. Im gleichen Augenblick begann Diana zu kläffen, und dic ht hinter mir sagte eine Stimme: -106-
„Du bist also doch aufgestanden.“ „Ja“, erwiderte ich geistesabwesend und sah noch immer die Straße hinunter, obwohl der Sportwagen bereits um die Ecke verschwunden war. „Hast du sie gesehen?“ „Wen?“ Steffen hatte sich gebückt und streichelte Diana, die begeistert an ihm hochsprang, als hätte sie mitten in der Wildnis unerwartet einen alten Freund getroffen. „Die Frau aus der Mühle.“ „Ach, die!“ Er nickte kurz, und ein Schatten ging über sein Gesicht, als er zu mir aufsah. „Versuch jetzt nicht vom Thema abzulenken. Ich dachte, du würdest zur Vernunft kommen, aber du scheinst genauso eigensinnig zu sein wie Alex.“ Er richtete sich auf. „Ich nehme an, du bist der Bande inzwischen schon hart auf den Fersen?“ „Spar dir deinen Spott“, sagte ich kalt. „Begreifst du denn nicht, daß das bitterer Ernst ist?“ Unsere Blicke kreuzten sich. Jeder von uns war zornig und enttäuscht darüber, daß ihn der andere nicht verstand. „Doch, das begreife ich sogar sehr gut“, erwiderte er. „Ich fürchte nur, du hast es noch nicht recht begriffen.“ Ich drehte ihm schroff den Rücken zu und zog Diana hinter mir her. Steffen folgte mir nicht. Die Kirchturmuhr schlug; als der elfte Ton verklungen war, hatte ich das Ende der Hauptstraße erreicht.
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15 Ich sah mich um. Der Platz vor dem Supermarkt war leer. Langsam ging ich über die Brücke zur Allee zurück. Alles erschien mir plötzlich so sinnlos. Ich hätte mich am liebsten ins Gras gelegt und die Augen geschlossen, um einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ins Dorf zu gehen. Was hatte ich erreicht? Ich hatte keinen Anhaltspunkt gefunden; nichts, was mir weitergeholfen hätte. Statt dessen hatte ich vielleicht einen Freund verloren. Diana hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Ihr Fell war naß, und sie sah aus wie eine unförmige Bachratte. Während ich auf die Hündin niedersah, kam mir plötzlich eine schwache Erinnerung, die ich nicht greifen konnte. Etwas, was sich vor kurzem ereignet hatte und was nicht so war, wie es sein sollte... Etwas, was mit Diana zusammenhing. Ja, so mußte es sein, doch noch kam ich nicht darauf. Ich mußte versuchen, mich zu erinnern; es konnte wichtig sein. Noch einmal rief ich mir meinen Gang durchs Dorf ins Gedächt nis, ließ die einzelnen Bilder vor meinem geistigen Auge abrollen, doch in umgekehrter Reihenfolge - wie bei einem Film, der von hinten nach vorne abläuft. Ich stellte mir vor, wie ich mich am Ende der Dorfstraße nach Steffen umgedreht hatte, sah den Bürgersteig vor dem Supermarkt vor mir, erinnerte mich an den kurzen Wortwechsel mit Steffen und daran, wie er plötzlich hinter mir stand, wie Diana ihn begrüßte. In diesem Augenblick war es, als rastete etwas in meinem Gehirn ein, als wäre dieses „begrüßen“ eine Art Sesam-ÖffneDich, das die Macht hatte, mir einen verborgenen Teil meines Unterbewußtseins zu erschließen. Ja, Diana hatte Steffen begrüßt. Das war nicht weiter seltsam, -108-
denn sie hatte eine richtige Vorliebe für ihn gefaßt, seit er zum Malen zu uns kam. Doch es ging nicht um Steffen... Ich blieb stehen, und als Diana ungeduldig an der Leine zerrte, machte ich sie los und blickte ihr nach, wie sie mit fliegendem Schwanz und wehenden Ohren die Allee entlang rannte. Ich sah sie, und doch auch wieder nicht, denn gleichzeitig hatte ich ein anderes Bild vor Augen - das Bild einer hochgewachsenen, blonden Frau, die sich ärgerlich umdrehte, als die Hündin ihre Beine beschnupperte. Deutlich glaubte ich ihr Gesicht wieder vor mir zu sehen: die blauen Augen mit den Lidschatten, die gebräunte Haut. Und ich dachte: Diana kümmert sich doch sonst nicht um Fremde. Was hat sie zu dieser Frau hingezogen? Es muß ein Geruch gewesen sein - ein Geruch, den sie kannte! Mein Herz begann wild zu schlagen. Plötzlich begriff ich alles, sah, wie alles zusammenpaßte. Deshalb also hatte sie mich so erschrocken angesehen! Ein Windstoß fegte durch die Allee, zerrte an meinen Haaren, blähte meinen Regenumhang wie ein Segel, streifte über die Wiesen und setzte sich brausend in den Wäldern fort. Ich folgte ihm in Gedanken, dachte an die alte Mühle, an Alex, an die blonde Frau mit den harten Augen, die unter den Lidschatten wie Glasmurmeln gewirkt hatten. Nein, nicht wie Glasmurmeln, die eine Märchenwelt enthalten können, wenn man sie gegen das Licht hält - mehr wie jene ma gischen Augensteine, die ich einmal in einem griechischen Laden gesehen hatte. Alles war mir nun klar, doch ich wußte auch, daß ich keinen Fehler machen durfte. Jeder falsche Schritt konnte verhängnisvoll sein. Ein weiterer Windstoß folgte dem ersten und trieb mich vorwärts, dem Erlenhof zu. Mein Vater stand im Türrahmen, als ich kam, und sah mir -109-
unruhig entgegen. „Gut, daß du endlich hier bist“, sagte er. „Ich fürchtete schon, dir wäre etwas zugestoßen, als Diana allein nach Hause zurückkam.“ Er legte den Arm um meine Schulter, und wir standen eine Weile Seite an Seite im Wind. Plötzlich murmelte er: „Sie haben wieder angerufen. “ Ich biß die Zähne zusammen. „Was wollten sie diesmal?“ „Sie sagten, ich sollte den Detektiv wegschicken; wenn er noch länger hier herumschnüffeln würde, könnten sie für nichts garantieren.“ Wieder stieg eine Welle von Haß in mir hoch. Doch diesmal verspürte ich nichts mehr von jener quälenden Hilflosigkeit. „Sie scheinen uns sehr genau zu beobachten.“ Vater nickte. „Ich hatte sowie so kaum Hoffnung, daß wir von diesem Mann Hilfe erwarten könnten. Er ist bisher mit seinen Ermittlungen kein Stück weitergekommen“, sagte er. „Morgen bekomme ich das Geld von der Bank, dann ist alles überstanden - hoffentlich.“ Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann jedoch. Nein, es hatte keinen Sinn, von meinem Verdacht zu sprechen. Vater hätte es entweder nicht ernstgenommen, denn es war ja kaum mehr als eine Vermutung, für die es keinerlei Beweise gab; vielleicht hätte er aber auch etwas Unbedachtes getan und sich damit in Gefahr gebracht. Ich mußte einen Weg finden, der möglichst wenig Risiko in sich barg - und ich mußte ihn allein gehen. „Komm ins Haus“, sagte er. „Du bist blaß, mein Mädchen. Du hättest nicht aufstehen dürfen. Ich möchte, daß du dich gleich nach dem Essen hinlegst.“ Ich widersprach nicht. Erst jetzt merkte ich, wie erschöpft und -110-
zugleich erregt ich war; so, als hätte ich nächtelang nicht geschlafen und zuviel starken Kaffee getrunken, um mich wachzuhalten. „Haben sie gesagt, wie du ihnen das Geld übergeben sollst?“ fragte ich, während wir die Tür hinter uns schlössen. „Nein. Sie sagten, ich würde weitere Anweisungen bekommen.“ „Und Alex?“ „Angeblich geht es ihr nicht schlecht.“ Ich warf ihm einen Seitenblick zu, sah seine eingesunkenen Wangen, den bitteren Zug um Mund und Nase, den ich früher nie bemerkt hatte, und dachte mit plötzlicher Furcht: Wenn es nur nicht zuviel für ihn wird. Wenn er nur durchhält - und wenn nur Alex gesund zurückkommt; auch um seinetwillen. Er hat nicht mehr viel Kraft. Ich darf ihn nicht belasten. Ich muß selbst handeln, muß ihm helfen, so gut ich kann. Er ist nicht so stark, wie ich glaubte. Obwohl meine Kehle vor Anspannung wie zugeschnürt war, zwang ich mich, einen Teller Suppe zu essen, um Vater zu beruhigen und Lisa nicht noch mehr zu verärgern. Ulf kam nicht zu Tisch. Ich sah durchs Fenster, wie er Troll und Merlin auf die Weide führte. Er wirkte zwergenhaft klein zwischen den beiden Pferden, doch sie gingen ruhig und folgsam neben ihm her, als wüßten sie nicht, daß sie ihn mit einem einzigen Ruck am Zügel zu Boden schleudern und ihn mühelos über Wiesen und Felder schleifen konnten. Später, vom Fenster meines Wohnzimmers aus, sah ich Ulf am Koppelzaun stehen und zum Wald hinüberblicken. Lange Zeit stand er so, und ich fragte mich, woran er wohl denken mochte. Vielleicht erinnerte er sich an früher, an glücklichere Zeiten, als Alex und ich noch Kinder waren und dort am Waldrand zwischen den Büschen Verstecken spielten. Als er sich umdrehte und fortging, wandte auch ich mich vom -111-
Fenster ab. Mein Herz schlug schwer und langsam. Ich hatte Angst vor dem, was mich erwartete, was ich tun mußte - ohne Hilfe, ganz auf mich selbst gestellt. Ich legte mich aufs Bett, schmiedete tausend Pläne und verwarf sie wieder. Eines stand fest: Solange es hell war, konnte ich nichts unternehmen. Ich mußte warten, bis die Dunkelheit hereinbrach. Erst dann durfte ich mich aus dem Haus wagen. Es gab einen Weg an den Haselsträuchern entlang zum Wald, der Schutz bot. Es konnte allerdings sein, daß auch andere auf diese Idee gekommen waren und diesen Ort gewählt hatten, um zu beobachten, aber nicht gesehen zu werden... Ich schauderte. Nein, so ging es nicht; dieser Weg war zu gefähr lich. Ich mußte zuerst ein Stück in die entge gengesetzte Richtung gehen, fort vom Wald. Dann erst, außerhalb der Grenzen des Erlengrundes, konnte ich in einem großen Bogen zum Forst zurückkehren. Es war ein Umweg, der etwa eine Stunde Fußmarsch bedeutete, doch es schien mir so am sichersten. Wenn ich erst außerhalb der Gefahrenzone des Hofes war, konnte ich aufatmen. Es ist eine seltsame Erfahrung, daß die Zeit manchmal zugleich sehr rasch und sehr langsam verstreichen kann. So war es an diesem Nachmittag. Während ich unruhig wie ein gefangenes Tie r zwischen Bett, Fenster und Schreibtisch auf und ab ging, wurde mir immer klarer, daß sich der wichtigste Teil meines Vorhabens nicht planen ließ, sondern daß ich ihn dem Zufall überlassen mußte. Es gab zu vieles, was ich nicht wußte und nicht voraussetzen konnte. Ich überlegte kurz, ob ich Steffen ins Vertrauen ziehen und ihn um Hilfe bitten sollte. Es hätte vieles leichter gemacht. Doch dann dachte ich an unseren Streit vom Vormittag, an seine Überzeugung, daß ich gegen Alex's Entführer unmöglich etwas ausrichten konnte. Wenn ich ihm nun von meinem Verdacht erzählte und ihm meinen Plan anvertraute, würde er mich -112-
entweder auslachen oder darauf bestehen, daß ich meinem Vater Bescheid sagte - und gerade das wollte ich nicht. Am Spätnachmittag verstärkte sich der Wind. Die Efeuranken scharrten wie Finger über die Fensterscheiben, die Erlen rauschten, und vom Wald her erklang ein stetig anschwellendes Brausen. Auch meine Unrast wuchs. Um mich abzulenken, setzte ich mich an den Schreibtisch und arbeitete weiter an der zerbrochenen Spieldose. Es gelang mir, ein Rädchen mit Klebstoff zusammenzufügen; ich setzte ein paar Schrauben wieder ein und befestigte schließlich die kleine Walze zwischen den beiden Metallwänden. Dann probierte ich eine Weile herum, ehe ich begriff, wo die Walze mit der Kurbel verbunden werden mußte. Als der Abend dämmerte, war ich fertig. Kein Teil war übrigge blieben. Nur zwei dünne Stäbchen, die aus einem kammähnlichen Metallstück herausgebrochen waren, ließen sich nicht mehr befestigen. Ich schob das Gehäuse über das kleine Werk, klemmte den Boden darunter und klebte schließlich auch noch den Deckel, so gut es ging. Dann blieb ich eine Weile in der beginnenden Dunkelheit sitzen und lauschte auf den Wind. Meine Hände zitterten. Plötzlich hatte ich wieder dieses verrückte Gefühl, als hinge alles vom Gelingen dieser Arbeit ab. Wenn die Spieldose wieder geht, wird alles gut, dachte ich. Und obwohl ich wußte, wie albern und unsinnig das war, hatte sich der Gedanke doch hartnäckig in meinem Kopf festgesetzt. Es dauerte einige Zeit, bis ich endlich den Mut fand, an der Elfenbeinkurbel zu drehen. Eine Weile lauschte ich mit angehaltenem Atem. Nichts war zu hören als ein leises, klirrendes Geräusch. Dann aber kam plötzlich der erste Ton, zittrig wie die Stimme einer sehr alten Frau. Und ein Ton folgte dem anderen, rascher und immer rascher mit den Bewegungen -113-
meiner Hand, bis aus der Kette von Tönen die alte Melodie entstand: Die Tage der Rosen. Erst als das Lied verklungen war, merkte ich, daß ich weinte. Ich wischte die Tränen mit dem Handrücken fort, und als ich aufstand und Licht machte, war mir leichter ums Herz. Bald war es Zeit, nach unten zu gehen, etwas zu Abend zu essen und so zu tun, als wollte ich mich früh schlafen legen, damit niemand Verdacht schöpfte. Doch vorher gab es für mich noch etwas zu tun. Niemand begegnete mir, als ich durch einen Seitenflur zum alten Gesindehaus schlich. Dort führte eine Wendeltreppe ins Erdgeschoß hinunter, wo zur Zeit meiner Großeltern das Eßzimmer für die Knechte und Mägde gewesen war. Daneben befand sich die soge nannte Handwerksstube, in der die Geräte und Gebrauchsgegenstände des Hofes ausgebessert wurden, wie Großmutter uns erzählt hatte. Heute arbeitete nur noch Ulf manchmal in der alten Stube, wenn er einen Pferdesattel reparierte oder schadhafte Möbelstücke ausbesserte. Die Schatten des Abends lagerten in dem niedrigen Raum. Die rußgeschwärzte Feuerstelle glich einem dunklen Schlund, und der Wind fuhr durch die Kaminöffnung und streifte mich wie kalter Atem, als ich daran vorüberkam. Zum Glück wußte ich noch aus meiner Kindheit, wo Ulf seine Sachen aufbewahrte; und er war nicht der Mensch, der seine Gewohnheiten leicht änderte. Alles hatte bei ihm seinen festen Platz. Wirklich, ich fand das Klappmesser genau da, wo ich es vermutet hatte: in einer der kleineren Schubladen des Werkzeugschrankes. Es stammte noch aus seiner Jugend, hatte er mir einmal gesagt; ein zierliches Messer, dessen Griff aus einem Hirschgeweih geschnitten war. Ich klappte das Messer auf und befühlte die Schneide mit der Fingerspitze. Sie war sehr scharf. Der blankgeputzte Stahl -114-
schimmerte matt in der Dunkelheit. Sicher gab es wirksamere Waffen als dieses alte Messer; meines Vaters Jagdflinten zum Beispiel. Doch da ich nicht mit ihnen umgehen konnte, hätte eine Flinte für mich mehr Gefahr als Sicherheit bedeutet. Ulfs Messer war gerade richtig. Allein schon das Bewußtsein, nicht völlig wehrlos zu sein, stärkte mein Selbstvertrauen. Jetzt war es wichtig, ein gutes Versteck für das Messer zu finden. Ich mußte mit allem rechnen - auch damit, daß man mich faßte und nach Waffen durchsuchte. Der Wind heulte in der alten Feuerstelle, und irgendwo knackte es im Gebälk, als klopfte eine unsichtbare Hand gegen das Holz. Ich ließ das Messer in die Tasche gleiten und verließ die Handwerksstube leise wie ein Dieb. Gleich darauf hörte ich Ulfs mühselige, ungleichmäßige Schritte auf dem Innenhof. Ich eilte den Flur entlang und über die Wendeltreppe zurück ins Haupthaus. Als ich mein Zimmer erreicht hatte, schloß ich die Tür und lehnte mich schwer atmend dagegen. Dann griff ich in die Tasche und nahm das Messer wieder heraus. Alles konnte davon abhängen, ob es mir gelang, das Messer gut zu verstecken; so gut, daß keiner etwas von seinem Vorhandensein ahnte. Flüchtig dachte ich daran, es im Schaft meiner Gummistiefel zu befestigen, verwarf den Einfall aber wieder. Auch in den Jeans oder unter dem Pullover war es bei weitem nicht sicher genug. Ebenso war es mit dem Regenumhang: Falls ich das Pech hatte, von den Entführern gefaßt zu werden, würde man ihn mir sicher sofort abnehmen. Geschirrklappern aus dem Erdgeschoß kündigte an, daß gleich Abendessenszeit war. Ich mußte abwarten; vielleicht kam mir bei Tisch ein Einfall. Mechanisch ging ich zur Kommode und griff nach dem Kamm. Und während ich mich frisierte, wußte ich plötzlich die Lösung. -115-
Ich legte den Kamm beiseite, ging zu Großmutters Nähtisch und kramte fieberhaft in der Schublade, bis ich einen Rest schwarzen Leinenstoff fand. Mit der Nadel und einem dicken Faden verfertigte ich einen kleinen, schmalen Beutel daraus, schnitt in die obere Kante ein paar Löcher und zog ein Band durch. Dann steckte ich das Messer in den Beutel, löste die Spange, mit der ich mein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und verbarg den Beutel zwischen Haar und Nacken. Anschließend faßte ich die Strähne wieder zum Pferdeschwanz zusammen und befestigte die Spange so, daß sie die Haare und das Band des Beutels zusammenfaßte. Ich ging zum Wandspiegel und betrachtete mich von allen Seiten. Der Beutel mit dem Klappmesser war völlig unter den dichten schwarzen Haaren verborgen. Nichts war davon zu sehen. Zur Vorsicht nahm ich auch hoch den Handspiegel von der Kommode und hielt ihn so, daß ich mich auch von hinten sehen konnte. Die Haarsträhnen verhüllten den Beutel vollständig; auch dann noch, als ich den Kopf versuchsweise hin und her bewegte. Zufrieden legte ich den Spiegel wieder an seinen Platz zurück. Dann ging ich nach unten und verspürte etwas wie Triumph, als hätte ich eine Schlacht geschlagen.
Der Wind stemmte sich wie ein unsichtbarer Widersacher gegen mich, als ich aus dem Fenster der Abstellkammer stieg. Das Heulen und Pfeifen übertönte jedes andere Geräusch, was zugleich Sicherheit und Gefahr für mich bedeutete, denn so konnte ich zwar nicht so leicht gehört werden, wußte aber auch selbst nicht, ob jemand in meiner Nähe war. Die Wolken jagten über den Himmel, so daß Licht und Dunkelheit ständig wechselten. Minutenlang war der Erlengrund in völlige Finsternis getaucht, dann wieder enthüllte plötzlich -116-
eine fahle Helligkeit das wehende Gras und Bäume, die sich ächzend im Sturm bogen. Im Schutz der alten Hofmauer schlich ich fort. Der Sturm, der an meinem Umhang zerrte und meine Kapuze aufblähte, machte mich schwindlig. Noch fand ich Halt an der Mauer, doch als ich den Hügel am Rand der Moorwiesen erreichte, mußte ich mir jeden Schritt mühsam erkämpfen. Es ging langsam, doch ich kam vorwärts; und bisher schien mich niemand entdeckt zu haben, denn keiner folgte mir. Jetzt wußte ich auch, daß das, was gebückt dahinschleichenden Gestalten ähnelte, nur Gebüsch war, das sich im Wind krümmte. Das Ried, das tagsüber mit seinem hellen Wollgras, den Libellen, Vögeln und Fröschen so friedlich wirkte, hatte sich unversehens in einen unheimlichen Ort verwandelt. Die langen, schwertförmigen Gräser und Schilfrohre bogen sich in wildem Tanz, strichen sausend und zischend gegeneinander, und das Wollgras leuchtete und züngelte im Mondschein wie ein Heer geisterhafter Flämmchen. Das Moorwasser gluckste und brodelte wie das schwarze Gebräu eines Hexenkessels, und ab und zu erklang ein Schnalzen, als hätte jemand mit der Peitsche aufs Wasser geschlagen. Es war schaurigschön, wenn der Mond das Ried beleuchtete, anziehend und abstoßend zugleich. Ich zwang mich, den Blick nicht von dem schmalen, fast verwachsenen Pfad abzuwenden. Das Ried war gefährlich, das wußte ich noch aus meiner Kindheit. Damals hatte man uns streng verboten, allein hierherzukommen. Mir war klar, was es bedeutet hätte, so spät am Abend vom Weg abzukommen. Es wußte ja keiner, wo ich war. Plötzlich bekam ich Gewissensbisse, daß ich nichts hinterlassen hatte - keine Nachricht, keinen Hinweis, wohin ich gegangen war. Ich blieb stehen und sah über die Schulter zurück. Der Erlenhof war längst hinter den Hügeln -117-
verschwunden. Zum Umkehren war es zu spät. Jetzt konnte ich nur noch auf mein Glück hoffen; und mir wurde von Minute zu Minute bewußter, wieviel Glück ich für dieses Abenteuer brauchen würde. Als ich das Ried hinter mir ließ und zum Wald hin abbog, kam ich rascher vorwärts, denn jetzt hatte ich den Wind im Rücken. Nun mußte ich auf anderem Weg in die Richtung zurückgehen, aus der ich gekommen war, bis ich mich wieder auf gleicher Höhe mit dem Erlenhof befand. Dann erst hatte ich den Umweg hinter mir - dann erst begann der eigentliche Weg zu Alex.
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16 Der Wald empfing mich wie ein schützendes Dach. Die hohen Tannen dämpften die Wucht des Sturms. Obwohl ich hier schlechter sah als im Ried, wußte ich doch, daß ich auf dem richtigen Weg war, solange ich die Steine, mit denen der Forstweg aufgeschüttet war, unter meinen Schuhsohlen spürte. Es war ein Glück, daß ich nur immer diesem Weg zu folgen brauchte, bis ich zum Bach kam. Manchmal leuchtete mir der Mond, doch wenn die Wolken ihn verhü llten und alles in Finsternis getaucht war, tastete ich mich an den Baumstämmen entlang und lauschte auf das Knirschen der Steine. Ich hätte viel darum gegeben, die Taschenlampe benutzen zu dürfen, die in meinem Umhang steckte. Doch da es zu gefährlich gewesen wäre, ertrug ich die Angst vor der Finsternis, die sich immer wieder wie ein schwarzes Tuch um mich legte, vor dem Ächzen der Baumstämme und den vielen unerklärlichen Geräuschen - und vor jenen Feinden, die hinter jedem Baum, jedem Strauch auf mich la uern konnten. Doch niemand trat mir in den Weg, keiner hielt mich auf. Manchmal griff eine Brombeerranke nach meinem Umhang, und es dauerte eine Weile, bis ich mich mit zitternden Fingern befreite. Wieder begann es zu regnen; die Steine wurden schlüpfrig, ich glitt aus und schürfte mir die Handflächen auf. Plötzlich aber hörte ich, wie sich das ferne Plätschern des Bachs in das Windesrauschen mischte. Wenn ich erst den Bach erreicht hatte, war der Weg nicht mehr weit. Doch die letzte Strecke war auch die ge fährlichste. Alex's Entführer hatten sicher mindestens einen Wachposten aufgestellt, und wenn ich Pech hatte, lief ich ihm vielleicht direkt in die Arme... Nein, ich wollte nicht daran denken, was geschehen konnte. Es nahm mir nur den Mut, und Mut war das, was ich jetzt am dringendsten brauchte. Ich hatte den Bach schon fast erreicht; -119-
ich hörte ihn, nahm den Geruch des Wassers wahr, doch sehen konnte ich ihn nicht. Das vertraute Plätschern war zu einem Tosen angeschwollen. Das bedeutete, daß der Bach große Wassermassen mit sich führte, und daß in den Bergen heftige Unwetter niedergegangen waren. Ich ging dicht an den Büschen entlang durchs hohe Gras. Dabei bewegte ich mich so vorsichtig wie möglich, damit ich nicht ausglitt und auf den steilen Uferhang geriet. Dort mußte die Brücke sein - ich ahnte sie mehr als daß ich sie sah, streckte die Hand aus und tastete wie eine Blinde nach dem Geländer, das aus einem einfachen Holzbalken bestand. Als ich es gefunden hatte, blieb ich eine Weile stehen und rang nach Luft. Doch es war nicht Anstrengung, die mir den Atem benahm, sondern Furcht. Ich sehnte mich danach, umzukehren und nach Hause zurückzulaufen, aber ich mußte durchhalten; es stand zuviel auf dem Spiel. Ich biß die Zähne zusammen und dachte an Alex. Hätte sie das gleiche auch für mich getan? Aber nein, das war nicht wichtig. Wichtig war, daß ich es tun mußte - für sie, für Vater und auch für mich. Ich hatte keine Wahl. Die Brücke war ein gefährlicher Ort. Dort war ich ungeschützt; wenn der Mond hinter den Wolken hervorkam, während ich über den Bach ging, konnte man mich weithin sehen. Ich holte tief Atem, ließ die windgepeitschten Büsche hinter mir und huschte gebückt über die alte Brücke, unter der das Wasser toste. Dabei ließ ich das Geländer keinen Augenb lick los. Ich hatte Glück. Der Mond schien nicht, und alles blieb in Finsternis gehüllt. Schon hatte ich das Gehölz am anderen Ufer erreicht und bahnte mir einen Weg durch die Fichten, deren tiefhängende Zweige mir das Gesicht zerkratzten. Ich zog die Kapuze tiefer in die Stirn, senkte den Kopf und ging weiter -120-
immer langsamer und vorsichtiger, je näher ich meinem Ziel kam. Schon sah ich ein Licht in der Dunkelheit. Es glomm wie das Auge eines Raubtiers auf, verschwand manchmal hinter den Bäumen, tauchte wieder auf, wurde größer und heller. Ich konnte den Blick nicht davon wenden. Als ich den Waldsaum erreicht hatte, wartete ich eine Weile und beobachtete die alte Mühle. Die Zweige der Bäume schnellten gegen das schadhafte Dach, und irgendwo schlug ein Fensterladen im Wind. Einmal sah ich den Umriß einer Gestalt hinter der erleuchteten Fensterscheibe. Wenn jemand das Haus bewachte, hielt er sich wohl irgendwo in der Nähe verborgen. Ich konnte jedoch nicht ewig warten, bis er aus seinem Versteck kam, damit ich wußte, woher mir Gefahr drohte. Ich versuchte mich damit zu trösten, daß sich die Entführer hier im Wald wohl zu sicher fühlten, um das Haus zu bewachen, und daß sie es in dieser stürmischen Nacht vermieden, ins Freie zu gehen. Geduckt schlich ich vom Waldrand zum Holunderbaum, der beim verfallenen Schuppen wuchs. Die lockeren Bretterwände ächzten und schwankten wie betrunken hin und her. Ich drückte mich gegen den Baumstamm und spähte mit klopfendem Herzen zum Haus. Niemand schien mich bemerkt zu haben. Die Fenster des oberen Stockwerks waren dunkel. Wieder kam der Mond sekundenlang hinter den Wolken hervor und tauchte die Mühle in fahles Licht. Die eine Hälfte des Daches war noch immer eingesunken, und die Kamine ragten wie schwarze Zahnstümpfe gegen den Himmel auf. Wäre nicht das Licht im Erdgeschoß gewesen, hätte man die Mühle für eine Ruine halten können, in der nur noch Fledermäuse und Spinnen hausten. Doch ich wußte, daß Menschen hier wohnten; wenn auch nur -121-
für kurze Zeit. Eine Atmosphäre der Gefahr ging von diesem Haus aus und legte sich lähmend auf meine Glieder. Ich brauchte all meinen Mut, um an der Schuppenwand entlang weiterzugehen. Dann stand ich im Schatten des Nebengebäudes, in dem das Mühlwerk untergebracht war. Es war niedrig und klebte wie ein Schwalbennest an der Hauswand. Hier war meine einzige Chance, unbemerkt in die Mühle zu kommen. Wenn es mir gelang, auf das Dach des Anbaus zu klettern, konnte ich von dort aus ohne große Mühe eines der Fenster im ersten Stock erreichen. Ich kauerte mich hinter einen Holzstoß und sah zum Dach hoch. Es hatte unangenehme Ähnlichkeit mit einer Berg- und Talbahn. Ein Teil der Schindeln war eingesunken, und an zwei Stellen klafften große Löcher. Wenn ich Pech hatte, konnte es passieren, daß ich mit entsetzlichem Gepolter durchs Dach fiel. Trotzdem mußte ich es riskieren. Es gab keinen anderen Weg als diesen. Durch eines der Fenster im Erdgeschoß einzusteigen, wagte ich nicht. Ich war sicher, daß sich die Entführer dort unten aufhielten, während sie Alex vermutlich nach oben gebracht hatten, wo sie nicht so leicht entkommen konnte. Die Tür des Nebengebäudes war verschlossen. Nach kurzer Suche entdeckte ich eine Lücke in der Bretterwand und versuchte mich durchzuzwängen. Es ging erst, nachdem ich meinen Umha ng ausgezogen hatte. Im Innern des Anbaues war es noch dunkler als im Freien. Erst als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich etwas von meiner Umgebung erkennen: die Umrisse des alten Mühlsteins, ein paar Kisten, ein zerbrochenes Regal und eine Menge Gerümpel in den Ecken. Als ich nach oben sah, verrieten mir die beiden hellen Stellen, wo die Löcher im Dach waren. Obwohl der Raum ziemlich niedrig war, konnte ich die Decke nicht erreichen, selbst wenn -122-
ich die Hände ausstreckte und mich auf die Zehenspitzen stellte. Wieder fiel mein Blick auf die alten Kisten. Ich trug eine nach der anderen in die Mitte des Raums und stapelte sie leise und vorsichtig aufeinander. Dann begann ich auf den Kistenstapel zu klettern. Es war eine äußerst wackelige Angelegenheit. Vor Angst, der Kistenturm könnte mit höllischem Lärm zusammenkrachen, brach mir der Schweiß aus. Es wunderte mich fast, als ich es schließlich wirklich schaffte. Ich stand wie ein Seiltänzer auf der obersten Kiste und zwängte Kopf und Schultern durch das Loch im Dach. Um mich herum klafften die alten Schindeln wie die Zähne eines Krokodils. Sie gaben bedenklich nach, als ich mich mit den Ellbogen abstützte und versuchte, mich hochzustemmen. Plötzlich löste sich eine Schindel, aber ich bemerkte es rechtzeitig und fing sie auf, ehe sie zu Boden fiel. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während ich in diesem Loch steckte, auf Geräusche vom Haus lauschte und jeden Augenblick erwartete, mit einem Teil des Daches durchzubrechen. Wunderbarerweise hielten die alten Schindeln jedoch. Und als ich bis zu den Oberschenkeln im Freien war, setzte ich mich aufatmend auf das schwankende Dach. Der Rest war nicht mehr so schlimm. Auf allen vieren kroch ich bis zur Seitenmauer der Mühle. Hier war ein Fenster, das ich erreichen konnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte ein Fenster, dessen Scheiben längst zerbrochen waren. Und niemand hatte sich inzwischen die Mühe gemacht, neues Glas einsetzen zu lassen. Das war mein Glück. Wieder wartete ich. Mir war, als hörte ich gedämpfte Stimmen, doch sie schienen aus dem Erdgeschoß zu kommen. Hinter dem Fenster aber war alles dunkel und still. Ich reckte die Arme und klammerte mich am Sims fest. Dann zog ich mich langsam hoch und stemmte dabei die Füße gegen -123-
die Hauswand. Zu meiner eigenen Verwunderung ging es ohne Schwierigkeiten. Ich schwang mich über das Fenstersims, ritzte mir die Wange an einem rostigen Nagel und spürte, wie Blut in meinen Mundwinkel sickerte, aber ich achtete nicht darauf. Endlich hatte ich es geschafft: Ich war in der Mühle! Das Blut dröhnte in meinen Ohren. Nur mit Mühe unterdrückte ich meine heftigen Atemzüge. Als ich mich gegen die Wand des Zimmers lehnte, merkte ich, daß meine Knie zitterten. Der Raum war leer, die Tür geschlossen. Einen Herzschlag lang starrte ich wie gelähmt auf die Tür. Wenn sie versperrt war, war alles umsonst. Hastig schlüpfte ich aus den Stiefeln, durchquerte das Zimmer auf Zehenspitzen und drückte die Klinke vorsichtig nieder. Und die Tür gab nach - sie öffnete sich mit einem leisen Knarren, das mich zurückzucken ließ. Wieder lauschte ich, bereit zur Flucht, doch niemand schien mich gehört zu haben. Die Tür weiter zu öffnen, wagte ich nicht. So zwängte ich mich durch den schmalen Spalt und hielt die Klinke dabei fest. Schon wollte ich einen Fuß auf den Flur setzen, da hörte ich ein Geräusch aus dem Erdgeschoß. Eine Tür wurde geöffnet, und eine Männerstimme sagte: „... ins Dorf fahren und anrufen. Kümmere du dich inzwischen um sie.“ Wie der Blitz zog ich mich in das Zimmer zurück. Mein Herz klopfte wild. Eine Frau erwiderte etwas, was ich nicht verstand. Dann hörte ich das Öffnen und Schließen der Vordertür. Minuten später mischte sich das Geräusch eines startenden Wagens in das Brausen des Windes und das Tosen des Baches. Aus dem Erdgeschoß erklangen leise Schritte. Die Frau war zurückgeblieben. Doch wer mochte außer ihr noch in der Mühle sein, um Alex zu bewachen? Kümmere dich um sie, hatte der Mann gesagt. Das beseitigte nicht nur meinen letzten Zweifel, -124-
ob Alex wirklich hier war. Es klang auch so, als wäre augenblicklich nur die Frau zu ihrer Bewachung in der Mühle. Wo war Alex? Ich überlegte, ob ich in allen Räumen des Obergeschosses nachsehen sollte, sobald von unten nichts mehr zu hören war. Konnte es sein, daß außer Alex noch jemand hier oben war - jemand, der zur Bande gehörte? Wenn ja, lief ich ihm vielleicht direkt in die Hände. Doch ich konnte nicht mehr lange warten. Ich mußte die Zeit nutzen, solange der Mann fort war. Es war meine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen durfte. Die Frau war offenbar wieder in einem der Zimmer verschwunden, denn ich hörte nichts mehr als das Brausen des Windes, der mit wütender Gewalt an der alten Mühle rüttelte. Lautlos zwängte ich mich ein zweites Mal durch die Türöffnung, hielt den Atem an und betrat den Flur. Auf Zehenspitzen schlich ich am Treppenabsatz vorbei. Ich streckte die Hand aus, tastete nach der Mauer und spürte den rauhen Verputz der Wand unter den Fingerkuppen. Ein Stück weiter kam eine Vertiefung, dann Holz. Eine Tür! Ich blieb stehen, preßte den Kopf dicht an das Holz und horchte. Dahinter war alles still. Ich beschloß, weiterzugehen, bis ich irgendwo Geräusche hörte. Die nächste Tür war nicht geschlossen. Sie hing schief in den Angeln, und der Raum war zum Teil mit altem Heu gefüllt. Am Ende des Korridors war eine dritte Tür hinter einem Mauervorsprung. Als ich mit den Fingerspitzen über das Holz strich und mich vorbeugte, glaubte ich ein Geräusch zu hören: ein sachtes Rascheln, als bewegte sich jemand ganz leise. Natürlich konnte es eine Maus sein, die über die Dielen huschte, doch ein Gefühl sagte mir, daß es nicht so war. Ich hielt den Atem an und wartete in höchster Anspannung. Nichts. Dann aber wieder ein Rascheln, diesmal vernehmlicher, und ein Laut, der wie ein unterdrücktes Seufzen klang. -125-
Leise, ganz leise flüsterte ich: „Alex!“
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17 Es war nur wie ein Hauch, und noch während ich den Namen meiner Schwester flüsterte, wußte ich, daß sie mich nicht gehört haben konnte. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Der Wind hatte sich gelegt, als wollte er neuen Atem schöpfen, und ich versuchte es wieder, diesmal eine Spur lauter: „Alex!“ Im Zimmer blieb es sekundenlang still. Dann aber kam plötzlich ein Wispern als Antwort. „Bist du es, Katinka?“ Ich hatte es geahnt, gewußt, und doch traf es mich wie ein Schlag. Für einen Augenblick war ich stumm und starr, und Alex schien es ebenso zu gehen, denn kein Laut kam mehr aus dem Zimmer. Dann aber kam wieder Leben in mich. Ich tastete nach der Klinke, und ehe ich sie noch gefunden hatte, hörte ich Alex' Stimme wieder. „Du kannst nicht herein. Sie haben abgeschlossen.“ Ich ließ die Hand sinken. Wie durch ein Wunder war alles gutgegangen - bis zu diesem Augenblick. Ich hatte Alex gefunden. Jetzt aber, so kurz vor dem Ziel, kam ich nicht weiter. Ich legte die Lippen an den Türspalt und fragte: „Wo ist der Schlüssel?“ „Ich weiß es nicht. Sie haben ihn.“ Alex schien noch immer ein Stück von mir entfernt im Zimmer zu sein, denn ich merkte keine Bewegung hinter der Tür. Ich flüsterte: „Was soll ich tun?“ „Du mußt warten, bis jemand heraufkommt. Suche nach irgend einem harten Gegenstand. Vielleicht kannst du einen von ihnen von hinten niederschlagen.“ -127-
Das war ganz die alte Alex. „Wie geht es dir?“ fragte ich. „Ach, Katinka... Ich muß endlich von hier weg! Herrgott, bin ich froh, daß du gekommen bist!“ Das klang schon nicht mehr so draufgängerisch. Ich merkte, daß ihre Stimme leicht zitterte. „Wie viele sind es?“ „Zwei - ein Mann und eine Frau.“ Ich wisperte: „Dann ist sie also wirklich allein in der Mühle. Ich habe gehört, wie der Mann vor kurzem ins Dorf gefahren ist.“ Alex gab keine Antwort. Ich dachte schon, sie hätte mich nicht verstanden, da hörte ich ihr eindringliches Flüstern: „Oh, das ist gut! Dann dürfen wir keine Zeit verlieren. Hör zu, ich weiß, was wir tun: Du versteckst dich auf dem Flur, und ich schreie, so laut ich kann. Dann denkt sie, mir wäre etwas passiert, und kommt angelaufen. In dem Augenblick, in dem sie die Tür öffnet, mußt du hinter sie treten und ihr einen Stoß versetzen, daß sie umfällt.“ „In Ordnung“, erwiderte ich atemlos. „Das ist kein schlechter Plan. Aber was dann? Kannst du mir helfen, sie festzuhalten? “ „Nein, kann ich nicht. Sie haben mich ans Bett gefesselt.“ „Aber wie soll ich dann mit ihr fertigwerden? Sie ist viel größer und stärker als ich.“ Alex seufzte. „Ja, das ist sie. Du mußt dich eben vorher nach einem harten Gegenstand umsehen, mit dem du sie niederschlägst.“ Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Nein, Alex, das kann ich nicht. Ich weiß, daß ich es einfach nicht fertigbringen würde. Verlang das nicht von mir.“ Alex' Stimme wurde vor Erregung lauter. „Aber du mußt es -128-
tun! Sei nicht feige! Es ist der einzige Weg, um hier herauszukommen. Wir haben nicht mehr viel Zeit!“ Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und wiederholte erschöpft: „Das kann ich nicht tun. Verlang das nicht von mir.“ Sekundenlang schwiegen wir beide. Der Wind rüttelte am Dach und an den Fenstern. Die Tür zu meiner Linken, die halb in den Angeln hing, ächzte wie ein Mensch, der Schmerzen leidet. Plötzlich hörte ich Alex wieder flüstern: „Warte, mir ist etwas anderes eingefallen. Hier auf dem Bett liegt eine Decke. Ich nehme sie zwischen die Zähne und schleudere sie auf den Boden. Wenn die Frau gestürzt ist, wirfst du dich sofort auf sie. Dann nimmst du die Decke und wickelst sie ihr um den Kopf und den Oberkörper, verstanden? Sie kann sich dann ein paar Minuten lang nicht gegen dich wehren.“ „Und dann?“ zischte ich. „Dann müssen wir eben sehen, wie es weitergeht. Hast du etwas dabei, womit du meine Fesseln durchschneiden kannst?“ „Ja“, sagte ich. „Ich habe ein Messer.“ „Gut. Nimm es gleich in die Hand, damit du mich möglichst schnell befreien kannst. Nachher geht es vielleicht um Sekunden.“ Ich löste die Haarspange und holte den Beutel mit dem Messer unter meinem Pferdeschwanz hervor. Dann nahm ich das Messer heraus und hielt es in der Faust - doch ich klappte es nicht auf. „Die Decke liegt jetzt auf dem Boden“, hörte ich Alex sagen. „Ich zähle bis zwanzig. Wenn ich fertig bin, mußt du dich versteckt haben. In Ordnung?“ „In Ordnung.“ Die alte Einigkeit, die in der Kindheit zwischen uns geherrscht hatte, war plötzlich wiederhergestellt. Ich schlich ins -129-
Nebenzimmer, in dem das alte Heu lag, versteckte mich hinter der Tür, hielt mir die Nase zu und wartete. Plötzlich hörte ich Alex schreien. Sie schrie so gellend, daß ich erschrak, obwohl ich doch wußte, worum es ging. Der Schrei übertönte den Sturm, ebbte ab und stieg dann wieder an, bis es mir kalt über den Rücken lief. Eine Tür öffnete sich im Erdgeschoß, und hastige Schritte näherten sich über die Treppe. Durch eine Ritze in der Tür sah ich, wie der Lichtkegel einer Taschenlampe über den staubigen Fußboden des Korridors huschte, über die Wand streifte, immer breiter und heller wurde. Mein Herz hämmerte wild. Die Schritte näherten sich; eine dunkle Gestalt kam an der Tür vorbei, hinter der ich stand, und lief zum Ende des Korridors. Wieder schrie Alex. Auf Strümpfen schlich ich über die Türschwelle, vernahm hastige Atemzüge, hö rte, wie Metall klapperte und ein Schlüssel ungeschickt ins Schloß gesteckt wurde. Eine Umdrehung, noch eine... Schon war ich auf dem Flur. Die Frau hörte mich nicht, denn Alex schrie noch immer. Ich sah im Licht der Taschenlampe, daß sie die Tür geöffnet hatte. Wie der Blitz sprang ich vor, prallte gegen den Rücken der Frau und stieß sie mit solcher Wucht ins Zimmer, daß sie über die Schwelle stolperte, das Gleichgewicht verlor und schwer zu Boden stürzte. Die Taschenlampe schlitterte quer über den Boden in eine Ecke. Glas splitterte, doch ich achtete nicht darauf. All meine Aufmerksamkeit war nun auf die Frau gerichtet. Sie keuchte und schlug wild um sich und wehrte sich gegen den Griff, mit dem ich sie an den Schultern zu Boden drückte. Aus den Augenwinkeln sah ich einen dunklen Umriß auf den Dielen. Es war die Decke; hastig zog ich sie zu mir her. Dann wickelte ich sie um den Oberkörper und den Kopf der Frau, hörte wie durch einen Schleier der Betäubung ihre erstickten -130-
Schreie, hörte Alex rufen: „Laß sie nicht los um Gottes willen, laß sie nicht los!“ Keuchend erwiderte ich: „Nein, aber ich kann sie doch nicht ewig festhalten! Was ist, wenn sie keine Luft mehr bekommt?“ „So schnell erstickt man nicht“, sagte Alex, und ich merkte an ihrer Stimme, wie sehr sie die Frau haßte. „Jetzt zerrst du sie zum Bett herüber - ja, so ist es gut! Setz dich auf sie und schneide mir die Fesseln durch! “ Es ging wider Erwarten leicht. Die Frau wehrte sich nur noch schwach, und ich wurde die Angst, sie könnte unter der Decke ersticken, nicht los. In fliegender Hast klappte ich das Messer auf. Alex streckte mir beide Hände entgegen. Sie waren mit einem dünnen Seil kreuzförmig übereinander gebunden und zusätzlich mit einem Strick am Bettpfosten befestigt. Als ich im trüben Schein der Taschenlampe die roten Male an Alex' Handgelenken sah, kehrte auch mein Haß gegen ihre Entführer zurück. Ich achtete nicht länger auf das erstickte Stöhnen der Frau, sondern begann das Seil durchzuschneiden. Es ging nur langsam, und Alex drängte zur Eile. „Schnell“, sagte sie immer wieder verzweifelt, „mach um Himmels willen schnell! Er kann jeden Augenblick zurückkommen!“ Endlich waren ihre Hände frei. Ich half ihr vom Bett herunter, und während sie sich über die Frau beugte und sie festhielt, durchschnitt ich auch die Fesseln an ihren Fußgelenken. „Nimm jetzt die Decke von ihrem Gesicht“, drängte ich. „Wir dürfen sie nicht länger so liegenlassen! Zu zweit können wir sie schon festhalten.“ Die Frau hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Sie machte keinen Versuch mehr, sich zur Wehr zu setzen. Einen -131-
Augenblick lang sah ich angstvoll auf sie nieder. „Sie hat vielleicht ein schlechtes Herz“, flüsterte ich. „Ja, ein schlechtes Herz, das hat sie!“ bestätigte Alex grimmig. „Sie ist von Grund auf schlecht, und ich hätte keine Sekunde lang Mitleid mit ihr, wenn sie jetzt vor meinen Augen sterben würde!“ Ich schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Jetzt war nicht der Moment, ihr zu sagen, daß meiner Ansicht nach niemand als Bösewicht geboren wird, genausowenig wie es Menschen gibt, die nur selbstlos und gütig sind. Später, wenn wir wieder in Sicherheit zu Hause auf dem Erlenhof waren, hatten wir Zeit genug, über alles zu sprechen. Nun war es nur wichtig, von hier fortzukommen, so rasch es ging. So sagte ic h nur kurz: „Aber ich will nicht, daß sie stirbt. Nimm den Schlüssel, Alex, er liegt dort neben der Taschenlampe. Und laß uns jetzt verschwinden.“ Sie nickte und streckte die Hand nach dem Schlüssel aus. Schon waren wir aus dem Zimmer, schlugen die Tür hinter uns zu und versperrten sie. Die Taschenlampe vergaßen wir, und meine eigene war im Umhang, der Umhang draußen vor dem Nebengebäude. So stürzten wir im Dunkeln den Korridor entlang, und als wir die Treppe hinunterrasten, begann die Frau plötzlich zu schreien. „Verdammt!“ zischte Alex. „Und du dachtest, sie wäre halb erstickt! Wenn er jetzt zurückkommt und sie schreien hört, weiß er sofort Bescheid.“ Im Dunkeln übersah ich eine Stufe, verlor den Halt und prallte gegen das Geländer, das knirschend nachgab. Alex griff gerade noch rechtzeitig nach mir und zerrte mich hoch. In die Schreie der Frau mischte sich das Krachen splitternden Holzes. Plötzlich aber hörten wir noch einen anderen Laut: Das Brummen eines Motors. -132-
Wie erstarrt blieben wir stehen, klammerten uns aneinander und lauschten. Dann riß Alex mich herum, stürmte wieder mit mir die Treppe hinauf, den Weg zurück, den wir gekommen waren. Oben rüttelte die Frau mit aller Kraft an der Tür, und ich hörte sie rufen: „Henning! Sie ist fort... Henning! Laß sie nicht entkommen!“ Das Motorengeräusch wurde stärker und verstummte. Der Wagen hielt vor der Mühle. Ich zog Alex in das leere Zimmer, durch dessen Fenster ich ins Haus gekommen war. Als wir durch den Raum rannten, wurde die Haustür aufgeschlossen, und die Frau schrie wieder: „Henning! Laß sie nicht entkommen!“ Ich dachte: Mein Gott, hilf uns! Wir müssen es schaffen! Hilf uns, von hier wegzukommen. Es darf nicht alles umsonst gewesen sein... Schon hatte sich Alex über das Fenstersims geschwungen und sprang federnd auf das Dach des Anbaus. Ich folgte ihr und griff nach ihrer ausgestreckten Hand. Gemeinsam krochen wir über das schadhafte, schwankende Dach, hörten von oben die Stimmen des Mannes und der Frau, ihre wilden Schreie. Es konnte nicht lange dauern, bis sie uns entdeckten. Diesmal zwängte ich mich nicht durch das Loch in den Schindeln; es hätte zu lange gedauert. Ich sprang von der Dachkante in die Tiefe, ohne mich zu besinnen, und Alex sprang mit. Mit hartem Aufprall landete ich im Gras. Für einen Moment nahm es mir den Atem. Da hörte ich Alex leise neben mir stöhnen und richtete mich auf. Erst als Alex liegenblieb, begriff ich, daß etwas geschehen war. Sie flüsterte: „Katinka - ich kann nicht weiter! Mein Bein... Der Knöchel ist beim Aufspringen abgeknickt. Es tut höllisch weh!“ -133-
Verzweifelt sah ich mich um. Noch hatten sie uns nicht entdeckt, doch jede Sekunde war kostbar. „Du mußt aber... Du mußt mitkommen!“ flüsterte ich beschwörend. Meine Kehle krampfte sich zusammen, und ich versuchte das Schluc hzen gewaltsam zu unterdrücken. „Hier, stütz dich auf mich! Ich kann dich mitschleifen wenigstens ein Stück! Beiß die Zähne zusammen und versuch es bitte, Alex, versuch es!“ Ich faßte sie um die Taille und zerrte sie hoch, und sie klammerte sich an mich. Stück für Stück schleppte ich sie an der Wand entlang und hinüber zum Holunderbaum beim Schuppen. Alex's Wange lag an der meinen, und mir war, als spürte ich ihre Qual, während sie immer wieder tapfer versuchte, aufzutreten, um mich zu entlasten und unsere Flucht zu beschleunigen. „Zum Wald“, keuchte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Wenn wir nur den Wald erreichen, haben wir's geschafft. Nur noch ein kleines Stück, Alex!“ Ich begann zu schluchzen, und plötzlich weinte auch sie. Ihre Tränen vermischten sich mit den meinen. Es war wieder wie früher: wir waren beisammen, waren füreinander da, nichts trennte uns mehr. Und in all meiner Angst, meiner Verzweiflung und Ratlosigkeit spürte ich auch etwas wie Glück und Erlösung. Wir waren noch ein paar Meter vom Waldrand entfernt, als sich die Tür der Mühle öffnete. Laute Stimmen erklangen, und starke Lichtkegel streiften über die Büsche und Wiesen. „Wir kriechen“, wisperte ich. „Komm, wir kriechen das letzte Stück. Das Gras ist so hoch - vielleicht entdecken sie uns nicht. Schone dein Bein, ich ziehe dich mit!“ Alex nickte keuchend. Ich hatte nicht mehr viel Kraft. Das Blut pochte schwer in meinen Schläfen, und ich rang nach Luft, doch ich wollte und mußte es schaffen. Der Wald war so nahe -134-
und schien doch unendlich fern. Ich faßte Alex unter der Schulter, zog sie ein Stück weiter. Da streifte uns ein Lichtschein, beleuchtete das wehende Gras und die Fichtenstämme am Rand der Wiese. Die Stimmen wurden lauter, schienen sich zu nähern. Hatten sie uns gesehen? Mir war, als fühlte ich Alex unter meiner Hand schlaff werden, und ich dachte: Wenn sie nur jetzt nicht ohnmächtig wird! „Alex?“ flüsterte ich. „Dort sind schon die ersten Bäume. Halt aus, es ist nicht mehr weit.“ Sie ließ sich mitziehen, versuchte jedoch nicht mehr, selbst vorwärts zu kommen. „Ja“, wiederholte sie sehr leise. „Es ist nicht mehr weit.“ Noch schienen sie uns nicht entdeckt zu haben. In jenen Minuten begriff ich, wie einem Tier zumute sein muß, das von einer Hundemeute gejagt wird. Und es ging nicht um mich, sondern um Alex. Ich mußte sie retten. Sie durfte diesen Leuten nicht noch einmal in die Hände fallen. Dieser Entschluß gab mir die Kraft, sie weiterzuziehen - hin zum Waldrand und unter das Gebüsch, das uns wie eine schützende Höhle aufna hm. Eine Weile lag ich mit geschlossenen Augen zwischen Moos, Farnkraut und altem Laub, dicht an Alex gepreßt. Wir atmeten beide schwer, und meine Glieder schmerzten vor Erschöpfung. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich Lichter aufblitzen und wieder verlöschen. Ich merkte, wie sich das Rauschen des Blutes in meinen Ohren mit dem Brausen des Windes vermischte, hörte wie aus weiter Ferne Stimmen und dazwischen Alex's Stöhnen. Dann wurden ihre Atemzüge plötzlich leiser, und ich schlug erschrocken die Augen auf. Als ich mich über Alex beugte und ihr Gesicht berührte, nach ihren schlaffen Händen tastete, merkte ich, daß sie bewußtlos geworden war. Ich fühlte ihren Puls. Er ging schwach und unregelmäßig. Da -135-
sie nur eine dünne Bluse trug, zog ich meinen Pullover aus und streifte ihn über ihren Kopf. Sie merkte es nicht. Dann wartete ich, da es nichts gab, was ich im Augenblick für sie tun konnte. Nun war alles dunkel, und die Stimmen waren kaum mehr zu vernehmen. Vermutlich suchten sie im alten Schuppen oder im Anbau nach uns. Mir war klar, wie wichtig es für die beiden sein mußte, uns zu finden, und daß sie nicht so leicht bereit sein würden, sich das Lösegeld entgehen zu lassen. Andererseits hatten sie nicht viel Zeit; auch das wußte ich. Sie würden wohl kaum mehr als eine Viertelstunde damit verbringen, nach uns zu suchen. Dann mußten sie verschwinden, wenn sie nicht riskieren wollten, daß die Polizei sie fand. Es war ein Glück, daß sie nichts von Alex's Verletzung wußten. So mußten sie annehmen, daß wir uns entweder noch hier versteckt hielten oder schon auf dem Weg nach Hause waren. Plötzlich stöhnte Alex und bewegte sich leicht. Ich faßte sie an den Schultern und legte ihren Kopf in meinen Schoß. „Katinka?“ wisperte sie. „Was ist passiert?“ „Du bist ohnmächtig geworden, aber wir sind im Wald. Sie haben uns noch nicht gefunden.“ „Noch nicht“, wiederholte sie. „Herrje, mein Bein! Mein Bein tut so höllisch weh!“ Sie wollte sich aufrichten, doch ich drückte sie sanft zurück und tastete ihre Beine ab. Als ich ihren rechten Knöchel berührte, erschrak ich. Er war stark geschwollen und fühlte sich heiß an. Was sollte ich tun? Mir war klar, daß Alex mit ihrem verletzten Bein unmöglich nach Hause gehen konnte, selbst wenn ich sie stützte. Doch ebenso unmöglich erschien es mir, sie hier allein zurückzulassen. Alex's Hand zuckte in der meinen. Sie sagte matt: „Du mußt nach Hause gehen und Hilfe holen.“ -136-
Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Ich lasse dich nicht allein hier liegen! “ Etwas von der alten Ungeduld war in ihrer Stimme, als sie erwiderte: „Siehst du denn nicht ein, daß du gehen mußt? Wir brauchen Hilfe; wir schaffen es nicht allein.“ „Aber wenn sie dich finden...“ „Dann ist es immer noch besser, als wenn sie uns beide erwischen. Du kannst wenigstens die Frau beschreiben, falls sie mich von hier wegbringen. “ Ich wußte, daß sie recht hatte. Und doch erschien es mir fast wie ein Verrat, sie zurückzulassen. Plötzlich merkte ich, wie Alex die Hand hob und meine Wange streichelte. „Glaub mir, es ist die einzige Möglichkeit“, sagte sie sanft. „Du mußt weggehen, und ich muß hierbleiben.“ Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Das Wichtigste ist doch, daß du gekommen bist. Das ist das einzige, was zählt. Und... verzeih mir, Katinka.“ Ich spürte ein Brennen in meiner Kehle. Sie ließ die Hand sinken, und ich fing sie auf und drückte sie stumm. Eine Weile blieben wir so, Hand in Hand. Dann sagte ich mit erstickter Stimme: „Schon gut, Alex. Ich hab dich sehr vermißt, weißt du - all die Jahre und auch in den letzten Wochen. Also gut, ich gehe. Aber vorher werde ich dich noch ein Stück tiefer in den Wald bringen, damit sie dich nicht so leicht finden können.“ Sie schlang die Arme um meinen Hals, und ich stand vorsichtig auf. Dann faßte ich sie um die Taille und ging gebückt ein paar Schritte tiefer in den Wald hinein. Sie war schwer - schwerer noch als vorher, wie mir schien. Doch es ging, sehr langsam und Schritt für Schritt. Die Stimmen waren -137-
nun wieder deutlicher zu hören, und wir lauschten beide angestrengt, aber der Lichtstrahl der Taschenlampen erreichte uns nicht. Schließlich fielen wir beinahe in eine Mulde zwischen den Bäumen, die zur Hälfte mit altem Laub gefüllt war. Während ich keuchend stehenblieb, sagte Alex: „Setz mich hier ab. Die Mulde ist ein gutes Versteck. Du deckst mich mit den Blättern zu, so gut es geht, dann übersehen sie mich vielleicht, falls sie hier suchen.“ Ich nickte nur, ließ sie behutsam in die Mulde gleiten und häufte Laub auf sie, bis nur noch ihr Kopf frei war. „Wenn sie kommen, tauche ich ganz unter!“ flüsterte sie. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon klappen. Paß nur auf, daß sie nicht am Ende dich erwischen - und beeil dich!“ Obwohl sie es nicht aussprach, wußte ich, daß sie Schmerzen hatte. Ich kniete neben ihr nieder, strich ihr übers Haar und sagte: „Es wird alles wieder gut, Alex.“ So hatten wir einander als Kinder getröstet, wenn uns etwas Schlimmes zugestoßen war. Doch damals waren es nur kleine Sorgen gewesen, die uns bedrückten; diese Nacht aber konnte über unser ganzes weiteres Leben entscheiden. Sie antwortete nicht, aber ich spürte, wie sie nickte. Da richtete ich mich auf und lief quer durchs Gehölz auf die Brücke zu, ohne mich noch einmal umzudrehen.
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18 Niemand holte mich ein, keiner vertrat mir den Weg, obwohl ich diesmal alle Vorsicht außer acht ließ und lief, so rasch ich nur konnte. Auf dem Forstweg stolperte ich mehrmals, fiel hin und schürfte mir Gesicht und Hände auf. Doch ich raffte mich jedesmal sofort wieder auf und gönnte mir keinen Augenblick Rast, um Atem zu holen. Meine Füße schmerzten und bluteten, und ich vermißte die Gummistiefel bitter, die ich in der Mühle zurückgelassen hatte. Bald waren die Strümpfe zerrissen und boten keinen Schutz mehr gegen Steine, Dornen und spitze Zweige. Schließlich spürte ich nichts mehr; ich lief nur wie eine automatische Puppe durch den Wald, dessen Brausen ein Echo meines Blutes zu sein schien, das in meinen Ohren rauschte und in meinen Schläfen hämmerte. Als ich das Ende des Forstwegs erreichte, hatte sich der Sturm gelegt, und es begann in Strömen zu regnen. Die Regenfluten kühlten mein heißes Gesicht, und das nasse Gras war eine Wohltat für meine Füße. Doch ich dachte an Alex, die da in der Mulde lag, stellte mir vor, wie sich das Laub mit Wasser vollsog, bis die Nässe durch ihre Kleider drang. Falls sie noch dort in der Mulde lag... Ich versuchte schneller zu laufen, noch schneller. Der Mond schien nicht mehr, doch meine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt, und ich vermochte alles zu unterscheiden: die Hügelkette im Regenschleier, die fernen Baumgruppen, die Wiesen und den Wald. Der Hof lag dunkel und still unter dem stürmischen Nachthimmel, und nirgends brannte ein Licht. Sie hatten meine Abwesenheit also nicht bemerkt. Doch ich wußte, daß sie nicht schliefen - weder Vater noch Ulf; und es wunderte mich nicht, daß sie mein Klopfen und Rufen so rasch hörten. -139-
Ich kauerte auf der Türschwelle, als mein Vater kam. Minutenlang rang ich so heftig nach Atem, daß ich kein Wort hervorbringen konnte. Vater kniete neben mir nieder. Das Licht aus der Halle erhellte sein erschrockenes Gesicht. Doch nicht einmal jetzt verwechselte er mich mit Alex. Er sagte nur: „Katinka- um Gottes willen, Kind!“ Wie ein verzerrter Schatten tauchte Ulf hinter ihm auf. Ich gab mich ganz in die tröstliche Umarmung meines Vaters, legte den Kopf an seine Brust und spürte, wie meine Hände in den seinen wieder warm wurden. „Alex“, flüsterte ich. „Sie ist... Sie liegt im Wald bei der Mühle. Wir müssen sie holen - schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Und ich raffte mich wieder auf und zog ihn mit mir hoch. Da begann plötzlich alles vor meinen Augen zu kreisen - Vaters Gesicht, Ulf, das Licht in der Halle, die Schnitzereien der alten Tür. Es dauerte nur einen Augenblick. Schon schlug ich die Augen wieder auf und zwang mich in die Wirklichkeit zurück. Es war, als sei eine geheime Reserve an Kraft in mir, die ich zu Hilfe nehmen konnte. Vater hatte meine Schultern umfaßt, schüttelte mich leicht und rief: „Was sagst du da? Alex? Im Wald bei der Mühle? Was ist mit ihr? Sie ist doch nicht...?“ Er ließ den Satz unvollendet, doch ich sah die Angst in seinen Augen und schüttelte den Kopf. „Sie ist verletzt“, erwiderte ich. „Sie hat sich den Knöchel gebrochen, als wir aus der Mühle geflohen sind, und konnte nicht mehr mitkommen. Wir müssen sie holen, Vater. Sie liegt in einer Mulde versteckt und wartet auf uns.“ Ich stockte und fügte hinzu: „Wenn sie sie nicht schon gefunden haben.“ -140-
Mein Vater stellte keine Fragen mehr. Ulf legte mir eine trockene Jacke um die Schultern und hinkte die Stufen hinunter. Minuten später fuhr er den Wagen aus der Garage, daß der Kies nur so unter den Reifen hervorspritzte. Vater lehnte mich sanft gegen den Türrahmen, als fürchtete er, ich könnte nicht mehr ohne Halt stehen, und war mit ein paar Schritten beim Telefon. „Ihr seid aus der Mühle geflohen, sagst du?“ rief er über die Schulter, während er eine Nummer wählte. „Hat man sie dort gefangengehalten?“ Ich nickte nur. „Als ich heimlief, suchten sie nach uns. Es sind nur zwei - ein Mann und eine Frau.“ Ich war so müde, so müde... Nur einen Augenblick lang schlafen, ein paar Minuten bloß. Ich lehnte den Kopf gegen das Holz, schloß die Augen wieder, hörte die Stimme meines Vaters wie aus weiter Ferne und sah seltsame Bilder vor mir: riesiges Schilfrohr, das sich im Wind bog, ein Heer von Baumstämmen, die wie Riesen über mir aufragten, die blauroten Male an Alex's Handgelenken, den nächtlichen Himmel, über den die Wolken jagten. Jemand zog mich hoch und sagte: „Hier, zieh die Strümpfe und Schuhe an. O Gott, ihre Füße bluten ja!“ Und dann, eindringlicher: „Katinka, wach auf! Du darfst jetzt nicht schlafen. Du mußt mitkommen und uns zu Alex führen!“ Mit gewaltiger Anstrengung öffnete ich die Augen. Mein Vater stand vor mir. Ulf kniete am Boden und streifte mir Strümpfe und Schuhe über. Ich sah verwirrt auf ihn nieder. „Was ist los?“ murmelte ich. „Ich schlafe ja nicht... Warum sind wir noch immer hier?“ Sie nahmen mich in die Mitte und führten mich zum Wagen. „Ich habe noch bei der Polizei angerufen“, sagte mein Vater. -141-
„Sie werden einen Streifenwagen zur Mühle schicken. Es könnte sein, daß wir Hilfe brauchen.“ Wir stiegen ein, und Ulf setzte sich ans Steuer. „Gott geb's, daß wir nicht steckenbleiben“, sagte er grimmig und fuhr in halsbrecherischem Tempo quer über die Wiesen zum Wald. Ich lehnte mich ins Polster zurück. Es war wie eine Erlösung, endlich zu sitzen, endlich diese Last mit anderen zu teilen. Mein Vater nahm eine kleine Flasche aus dem Handschuhfach, entkorkte sie und hielt sie an meine Lippen. „Hier“, sagte er. „Trink. Das habe ich immer für Notfälle dabei.“ Die Flüssigkeit brannte wie Feuer in meiner Kehle. Ich nahm einen Schluck und rang nach Luft. Gleich darauf spürte ich, wie sich angenehme Wärme in meinem Körper ausbreitete. Wir hatten den Wald erreicht. Einen Moment blieb der Wagen stecken, und die Räder drehten sich leer im aufgeweichten Erdreich. Dann aber heulte der Motor auf, der Wagen schoß vorwärts, und die Scheinwerfer glitten über den Schotter des Forstweges. Die Nässe tropfte aus meinen Haaren und meiner Kleidung und bildete kleine Lachen auf dem Lederpolster. Ich merkte, wie Vater mich beobachtete. Plötzlich sagte er: „Woher wußtest du, daß Alex in der Mühle war?“ „Ich wußte es nicht“, erwiderte ich. „Ich habe es nur vermutet. Da war diese Frau aus der Mühle... Ich bin ihr im Dorf begegnet, und Diana benahm sich so seltsam. Die Frau schien auch zu erschrecken, als sie mich sah, obwohl sie mich doch eigentlich nicht kannte; so, als würde sie mich für einen Moment mit Alex verwechseln. Da kam ich auf die Idee, Alex könnte in der Mühle sein.“ „Und bist allein hingegangen“, vervollständigte Ulf. -142-
Vater machte eine heftige Bewegung. „Aber Herr im Himmel, Kind, war dir denn nicht klar, wie gefährlich das ist? Warum bist du nicht zu mir gekommen?“ Er seufzte. „Aber darüber sprechen wir später noch. Jetzt sag mir, was mit Alex geschehen ist.“ Ich erzählte, was in der Mühle vorgefallen war, so gut ich konnte. Mein Bericht klang wohl etwas verworren, doch sie hörten schweigend zu und stellten keine Zwischenfrage. Erst als ich den Sprung vom Dach erwähnte und unsere Flucht zum Wald schilderte, sagte mein Vater leise: „Mein Gott!“ Schon fuhr der Wagen über die Brückenplanken; langsam, denn die Brücke war alt. Wir konnten das Wasser rauschen hören, und ich hatte Mühe, zu verstehen, was Ulf mich fragte: „Sie haben also nach euch gesucht?“ „Ja“, sagte ich und krampfte die Hände so fest ineinander, daß sich meine Fingernägel ins Fleisch bohrten. „Und vielleicht haben sie Alex gefunden, nachdem ich ging.“ Plötzlich war der quälende Kloß wieder in meiner Kehle, und ich begann zu weinen. „Ich wollte sie nicht allein dort zurücklassen!“ rief ich. „Aber sie sagte, ich müßte gehen und Hilfe holen. Sie sagte, es wäre immer noch besser, als wenn sie uns beide erwischen. Alex konnte doch nicht mitkommen, sie hatte solche Schmerzen! “ Vater nahm mich in die Arme und streichelte mich. „Ist ja schon gut, mein Mädel“, murmelte er. „Es war richtig, daß du heimgekommen bist und uns geholt hast. Du hast getan, was du konntest... Obwohl ich wünschte, du wärst gleich zu mir ge kommen, statt dich allein auf dieses gefährliche Abenteuer einzulassen. “ -143-
Meine Augen waren blind vor Tränen. Erst als der Wagen mit einem Ruck hielt, merkte ich, daß wir die Mühle erreicht hatten. Hier war nun alles sehr still; still und dunkel bis auf die Lichtkegel unserer Scheinwerfer. „Sie scheinen fort zu sein“, sagte mein Vater, und ich dachte: Fort - aber mit oder ohne Alex? „Natürlich haben sie sich aus dem Staub gemacht“, erwiderte Ulf, als wir ausstiegen. „Es wäre Wahnsinn gewesen, wenn sie noch viel Zeit damit verschwendet hätten, nach den Mädchen zu suchen. “ Kein Laut kam aus der alten Mühle, als wir zum Wald gingen. Vater leuchtete mit der Taschenlampe, und ich versuchte mich zu erinnern, an welcher Stelle wir ins Unterholz gekrochen waren. Das Gras war überall vom Sturm und Regen niedergedrückt; nirgends sah man Spuren unserer Flucht. Wir gingen am Waldrand entlang und begannen nach Alex zu rufen, doch sie antwortete nicht. Meine Furcht war zurückgekehrt und steigerte sich mit jeder Minute. In meinem Kopf begann es plötzlich wieder zu dröhnen. „Vielleicht ist sie eingeschlafen“, sagte ich schließlich leise. „Oder sie ist ohnmächtig geworden.“ Schweigend bahnte sich mein Vater einen Weg durchs Gebüsch. Ulf schlug vor, daß wir uns trennen und jeweils ein Stück des Waldes allein absuchen sollten. „Dann finden wir sie schneller“, sagte er. Ich hörte Vaters Antwort nicht, denn in diesem Augenblick entdeckte ci h einen Baumstrunk, der halb entwurzelt war. Er ähnelte einem Geier, der über seiner Beute kauert. Plötzlich erinnerte ich mich, daß ich diesen Baumstrunk schon einmal gesehen hatte. Ich blieb stehen und starrte darauf nieder. Hier hatten Alex und ich gelegen, ehe wir nach einem Versteck -144-
suchten und die Mulde fanden! „Gib mir die Taschenlampe, Vater“, sagte ich hastig. „Alex muß hier ganz in der Nähe sein!“ Wieder riefen wir nach ihr, und wieder kam keine Antwort. Wir hörten nichts als das Flüstern des Windes in den Bäumen und das Rauschen des Baches. Es hatte inzwischen zu regnen aufgehört, doch es tropfte noch immer von den Bäumen herab. Im Licht der Taschenlampe tauchten Büsche, Zweige und bemooste Steine wie geisterhafte Wesen auf und versanken wieder in der Finsternis. Plötzlich hörten wir Motorengeräusch - fern zuerst, doch es wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. „Das muß die Polizei sein“, sagte Ulf. „Ich gehe zum Wagen zurück und sage den Beamten Bescheid. Sie können uns bei der Suche helfen.“ Seine Stimme klang mutlos. Wir nickten nur, und er wandte sich ab und verschwand in die Dunkelheit hinein. Im Schein der Taschenlampe sah ich, wie totenblaß mein Vater war, und dachte: Mein Gott, soll diese schreckliche Nacht denn nie ein Ende nehmen? Wie lange wird diese Angst und Ungewißheit noch dauern? Und wie lange werden wir es noch ertragen - er, Alex und ich? Das Motorengeräusch wurde lauter und verstummte; Wagentüren wurden zugeschlagen. In die fernen Stimmen, das Rauschen des Wassers und das Seufzen des Windes mischte sich ein anderes Geräusch - sehr leise zwar, doch ich hörte es. Ich blieb stehen und flüsterte: „Horch! Hast du das gehört?“ Mein Vater sah mich an und schüttelte den Kopf. Eine Weile lauschten wir angespannt. Und da war das Geräusch wieder: ein leichtes Stöhnen, das aus dem Waldboden zu kommen schien. „Alex!“ rief ich. Noch immer kam keine Antwort. Ich kniete nieder und ließ -145-
den Strahl der Taschenlampe über den Boden wandern. Der Lichtkegel erfaßte Tannennadeln, Farnkraut, Steine, altes La ub; dann eine Hand, die zwischen dürren Blättern lag... „Da ist sie!“ schrie ich. „Sie ist noch da!“ Und ich sprang auf und stürzte vorwärts, ohne mich nach meinem Vater umzusehen, erreichte die Mulde, beleuchtete Alex's Gesicht. Schon war Vater bei mir und kniete neben ihr nieder. Sie hatte die Augen geschlossen. Rote Flecke brannten auf ihren Wangen. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Lippen waren geöffnet. Wieder stöhnte sie, doch sie schien uns nicht zu hören, schlug die Augen nicht auf. Vater sagte rasch: „Sie ist bewußtlos. Komm, hilf mir, sie herauszuholen. Ich fürchte, sie hat sich zu ihrem Knochenbruch auch noch eine Lungenentzündung geholt.“ Während wir Alex aus dem nassen Laub gruben, das nach Fäulnis und Moder roch, erwachte sie nicht aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie kam auch nicht zu sich, als Vater sie in seinen Mantel wickelte. Dann hörten wir Ulf rufen und antworteten ihm. Minuten später streiften die Lichtkegel starker Lampen durch den Wald, und Ulf tauchte mit zwei Polizeibeamten zwischen den Bäumen auf. „Meine Tochter muß sofort ins Krankenhaus“, sagte Vater. „Bitte helfen Sie mir, sie zum Wagen zu bringen.“ Ich sah, wie sie Alex aufhoben und behutsam durch den Wald und über die Wiese trugen, hin zur dunklen Mühle. Schweigend folgten Ulf und ich. Wir hatten Alex gefunden, doch der Alptraum war noch nicht vorüber.
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19 Alex war gerettet, doch sie lag im Krankenhaus, und wir durften sie nicht besuchen. Ihr rechter Fußknöchel war zweimal gebrochen; schlimmer aber war die Lungenentzündung. Sie hatte hohe s Fieber. Daß ihr Körper sich nur schwer gegen die Krankheit wehren konnte, erklärten die Ärzte mit ihrer geschwächten seelischen und körperlichen Verfassung nach dreieinhalb Tagen der Angst und Ungewißheit. Es war nicht leicht, sich gegen die Reporter zu schützen, die plötzlich wie die Aasgeier im Erlenhof einfielen. Wir konnten das Haus nicht mehr verlassen, ohne fotografiert und mit Fragen bestürmt zu werden. Aus dem Dorf kamen die Leute in Scharen, um ihre Neugier zu befriedigen, und die Zeitungen waren voll mit haarsträubenden Geschichten über Alex's Entführung und ihre Befreiung. Es gab rührselige Schlagzeilen wie „Schwesternliebe siegt über teuflisches Entführerpaar“ oder „Die tapferen Zwillinge vom Erlengrund“, und dazu erschienen Fotos von Vater und mir, vom Krankenhaus, in dem Alex lag, der Mühle, dem Erlenhof und Troll. Die einzige, die von alldem nichts wußte, war Alex. Sie lag in Fieberphantasien, und die Ärzte äußerten sich nur vorsichtig über ihren Zustand. Und wieder konnten wir nichts tun als warten - warten und hoffen, daß ihre starke Natur über die Krankheit und den Schock siegte. Meine Mutter kam aus Hamburg und mietete sich in der Stadt in einem Hotel nahe dem Krankenhaus ein, in dem Alex lag. Doch auch sie wurde nicht zu Alex vorgelassen. Alle kamen, nur Steffen kam nicht. Am ersten Tag nach der ereignisreichen Nacht - sie sollte später in unserer Erinnerung und unseren Gesprächen immer „jene Nacht“ bleiben - ging ich mehrmals ans Telefon, um ihn anzurufen, ließ den Hörer aber jedesmal wieder sinken. Ich wollte, daß Steffen von selbst kam, -147-
ohne daß ich ihn rief. Auch ein Kriminalinspektor war mit seinem Assistenten erschienen - nachts noch, nachdem wir Alex ins Krankenhaus gebracht hatten. Sie trafen etwa eine Viertelstunde nach uns im Erlenhof ein. „Tut mir leid, daß wir dich sofort vernehmen müssen“, 'sagte der Inspektor zu mir. „Du bist sicher furchtbar müde. Siehst aus, als hättest du ein paar Stunden Schlaf dringend nötig. Aber wir brauchen Auskünfte über die Entführer, damit wir die Fahndung sofort einleiten können.“ „Den Mann habe ich nur flüchtig gesehen“, sagte ich und schilderte, wie ich ihn bei der Mühle beobachtet hatte. Dann berichtete ich auch von den Zwischenfällen, die ich mit dem Mann in Zusammenhang brachte - meiner ersten Nacht im Erlenhof, der Gestalt auf der steinernen Bank, dem nächtlichen Überfall. „Die Frau ist groß, schlank, blond und noch ziemlich jung - etwa zweiund dreißig, würde ich sagen. Ein Freund von mir, Steffen Berger, hat sie ebenfalls gesehen. Er malt sehr gut und kann Ihnen sicher ein Bild von ihr zeichnen.“ Die Beamten wollten wissen, wo sie Steffen finden könnten, und ich gab ihnen die Adresse. Dann beschrieb ich noch den Sportwagen, den das Paar fuhr. „An die Autonummer kannst du dich wohl nicht erinnern?“ fragte der Inspektor, während sein Assistent sich Notizen machte. „Nein“, sagte ich. „Darauf habe ich leider nicht geachtet.“ „Bitte versuche dich an jede Einzelheit zu erinnern, die dir aufgefallen ist - an der Frau, dem Wagen, irgend etwas in der Mühle; ganz gleich, was es ist, auch wenn es dir unwichtig erscheint. Es könnte uns vielleicht weiterhelfen“, sagte der Inspektor. „Aber es ist wohl am besten, du schilderst uns einmal genau, wie du in die Mühle eingestiegen bist und wie es dir -148-
gelungen ist, deine Schwester herauszuholen.“ Ich erzählte langsam und zögernd alles, was ich noch wußte, und der jüngere Beamte stenographierte mit. Als ich erwähnte, daß die Frau „Henning“ gerufen hatte, als der Mann in die Mühle zurückgekommen war, horchten sie auf. „Henning?“ wiederholte der Inspektor. „Das ist interessant; es könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein.“ Er seufzte. „Zu schade, daß wir deine Schwester nicht vernehmen können. Sie hat vielleicht sehr wichtige Informationen für uns, die uns helfen könnten, die beiden noch zu fassen. Jede Stunde ist kostbar. Sie werden versuchen, das Land zu verlassen.“ Vater war hinter meinen Sessel getreten und erwiderte: „Wichtiger ist, daß meine Tochter in Ruhe gesund werden kann.“ „Natürlich“, sagte der Inspektor. „Ich verstehe Sie sehr gut. Aber bitte versuchen Sie auch uns zu verstehen. Wir müssen diese Leute fassen, ehe sie weiteres Unheil anrichten. Menschenraub ist ein schweres Verbrechen.“ Er stockte. „Ich wünschte wirklich, Sie hätten uns sofort verständigt, als Ihre Tochter entführt wurde.“ „Ich weiß jetzt, daß ich falsch gehandelt habe“, sagte mein Vater. „In meiner Angst um Alex konnte ich nicht mehr klar denken. Ich kann nur sagen, daß es mir leid tut.“ Der Inspektor seufzte. „Ich kann Sie ja verstehen; ich habe selbst Kinder. Trotzdem würde ich in einer solchen Lage niemals versuchen, allein zu handeln. Sie müssen wissen, daß wir alles getan hätten, um das Leben Ihrer Tochter nicht zu gefährden.“ Er wandte sich an mich. „Das gilt auch für dich. Du hattest vergangene Nacht verdammt viel Glück, aber es hätte auch übel ausgehen können. Du hast verantwortungslos und leichtsinnig gehandelt. Mit Kidnappern und Erpressern ist nicht zu spaßen.“ -149-
Ich nickte nur, denn ich wußte, daß er recht hatte. Vielleicht, dachte ich, war ich genau wie mein Vater vor Angst und Verzweiflung nicht mehr fähig gewesen, die richtige Entscheidung zu treffen. Der Inspektor nickte mir zu. „Und wenn dir noch etwas einfallen sollte, ruf mich bitte an. Hier ist meine Nummer.“ Er gab mir seine Karte und wandte sich zum Gehen. Ich ließ mich auf die Couch in der Halle fallen und hörte nicht einmal mehr, wie sich die Tür hinter den beiden Männern schloß, so rasch schlief ich ein. Am dritten Tag nach Alex's Einlieferung ins Krankenhaus erhielten wir Bescheid, daß sie Besuch bekommen durfte. Meine Mutter war gerade auf den Erlenhof gekommen und saß mit mir in der Halle, als Vater den Anruf entgegennahm. Ich war so erleichtert, daß ich kein Wort hervorbrachte und meinen Vater nur schweigend ansah. Er lächelte und nickte mir zu, während meine Mutter atemlos sagte: „O mein Gott, ich dachte schon, ich würde sie nie wiedersehen! Ich werde sofort zu ihr gehen...“ Vater unterbrach sie. „Nein, Anne, das wirst du nicht. Der Arzt sagt, sie ist noch sehr schwach und darf morgen nur einen Besucher empfangen, damit es nicht zu anstrengend für sie wird. Ich finde, wir sollten Katinka als erste gehen lassen.“ „Katinka?“ Mutter starrte ihn an. „Aber ich bin ihre Mutter; ich habe sie so lange nicht gesehen, ihr habt mich nicht einmal benachrichtigt, als sie entführt wurde...“ Sie brach in Tränen aus. Ich beobachtete sie hilflos. Gerade als ich mich einmischen wollte, sagte Vater: „Und ich bin ihr Vater, Anne. Aber Katinka hat Alex gerettet, vergiß das nicht. Die beiden standen einander früher sehr nahe. -150-
Die Jahre der Trennung haben eine Menge Unheil angerichtet und das gute Verhältnis zwischen den beiden gestört. Vielleicht ist das jetzt eine Chance; vielleicht kommen sie sich wieder näher.“ Sie richtete sich auf. „Soll das ein Vorwurf sein? Ich weiß genau, daß...“ Sie stockte, fuhr sich mit der Hand über die Augen und fügte leise hinzu: „Aber wir wollen uns nicht streiten, es geht ja um unsere Kinder. Vielleicht hast du recht. Ja, es ist wohl besser, Katinka besucht Alex als erste. Ich werde es schon ertragen können, noch einen Tag länger zu warten.“ Ich legte den Arm um ihre Schultern und sagte: „Danke, Mutter.“ Doch noch während ich sie umarmte, erwachte in mir die Furcht, Alex könnte plötzlich wieder so sein wie vor jener Nacht, in der ich sie aus der Mühle geholt hatte. Vielleicht hatte sie alles aus ihrem Gedächtnis gestrichen, was zwischen uns gewesen war, hatte wieder die schützenden Mauern um sich errichtet, so daß ich sie nicht mehr erreichen konnte. Eines war mir klar: Wenn die alte Feindseligkeit wieder aufflammte, hatten wir unsere Chance für einen neuen Anfang verpaßt.
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20 Vater bot mir an, mich zum Krankenhaus zu bringen, doch ich wollte lieber mit dem Bus fahren. Ich hatte das Gefühl, eine Weile mit mir allein sein zu müssen, um mich auf das Wiedersehen mit Alex vorzubereiten. Viele neugierige Blicke folgten mir, als ich durchs Dorf ging, aber ich achtete nicht darauf. Ich hielt nach Steffen Ausschau. Gern hätte ich mit ihm gesprochen, ehe ich in die Stadt fuhr. Er war jedoch nirgends zu sehen, und im Laden seines Vaters bedienten fremde Leute. Seit jenem Dienstag, an dem ich zum letztenmal mit dem Bus zur Schule gefahren war - dem Tag, an dem Alex verschwand -, war eine kleine Ewigkeit vergangen. Es schien mir fast wie ein halbes Leben, und doch lag es nur eine Woche zurück. Ich dachte darüber nach, als ich in den Bus stieg. Eine alte Bäuerin war der einzige Fahrgast. Sie saß hinter dem Fahrer und schlief, die Arme auf ihren Henkelkorb gestützt. Ich sah durchs Busfenster auf die blühenden Wiesen, und meine Erregung wuchs mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten. In dieser letzten Woche, die für uns alle eine Art Feuerprobe gewesen war, hatte ich erst richtig begriffen, wie wichtig mir Alex doch war. Ich wollte nicht weiter so mit ihr zusammenleben wie in der Zeit nach meiner Rückkehr auf den Erlenhof. Nun würde ich erfahren, ob jene Nacht unserer gemeinsamen Flucht wirklich eine Wendung gebracht hatte. Der Pförtner des Krankenhauses wollte mich anfangs nicht zu Alex lassen. Erst nachdem er mit dem Stationsarzt telefoniert hatte, erlaubte er mir, nach oben zu gehen, und beschrieb mir den Weg. Mir war, als hörte ich mein Herz zwischen den hohen, weißgekalkten Wänden des Krankenhausflurs hämmern, doch es waren nur meine Schritte, die auf dem Steinfußboden hallten. -152-
Zimmer siebzehn lag am Ende des Korridors; eine weißlackierte Tür wie alle anderen, durch die kein Laut nach außen drang. Sekundenlang blieb ich davor stehen und atmete tief. Irgendwo schrillte eine Klingel. Ich streckte die Hand aus und drückte die Klinke nieder. Alex lag allein im Zimmer, in einem schmalen Bett, das am Fenster stand. Sie schlief und hörte mich nicht kommen. Ich sah ihr dunkles Haar auf dem Kissen; das Gesicht hatte sie halb dem Fenster zugewandt. Leise ging ich zu ihr und setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett. Sie sah schlecht aus, und obwohl ich darauf vorbereitet war, wurde ich traurig, als ich die blauen Schatten unter ihren Augen sah, ihre eingefallenen Wangen, das Haar, das an den Schläfen klebte. Ihre Lider zuckten im Schlaf, und ihre Hand auf der Bettdecke wirkte sehr kindlich und irgendwie rührend. Am Fußende wölbte sich die Decke über dem Gipsverband. Das Fenster stand einen Spalt offen. Plötzlich erhob sich ein leichter Wind, und die Fensterflügel stießen mit leisem Knarren gegeneinander. Alex Lider begannen zu flattern. Ich wartete, während sie langsam und fast widerstrebend die Augen aufschlug. Zuerst sah sie zum Fenster hinüber - mit einem wunderlich fernen Blick, als träumte sie noch. Ich beugte mich vor und sagte leise: „Alex!“ Da wandte sie den Kopf auf dem Kissen. Unsere Blicke kreuzten sich, und ich wußte mit einemmal, daß meine Ängste und Zweifel unbegründet gewesen waren. Alex streckte die Hand aus, und ich nahm sie fest in meine beiden Hände. Ihre Haut war heiß und trocken. Eine Weile schwiegen wir, weil jedes Wort überflüssig war. Es genügte, daß wir uns ansahen, uns berührten und wußten, daß uns nichts mehr -153-
trennte. Plötzlich lächelte Alex und sagte: „Schön, daß du da bist, Katinka. Ich habe auf dich gewartet. Ich wollte dir etwas sagen etwas, das uns beide betrifft. Ich möchte, daß du verstehst, weshalb ich nach deiner Rückkehr so kalt und abweisend zu dir war. Lange Zeit habe ich den Grund dafür selbst nicht gekannt. Aber jetzt ist mir manches klargeworden. Damals, als du mit Mutter fortgegangen bist, habe ich dich schrecklich vermißt. Manchmal dachte ich, ich könnte nicht ohne dich leben. Ich bin nie so unglücklich gewesen wie im ersten Jahr nach unserer Trennung. Und irgendwie muß ich damals angefangen haben, mich gegen alle Menschen zu verhärten. Ich muß unbewußt den Entschluß gefaßt haben, mich nie wieder von einem anderen so abhängig zu machen, daß mir die Trennung von ihm solchen Schmerz verursachen könnte.“ Sie stockte. „Seltsamerweise kam es dann im Lauf der Jahre wirklich so, daß ich nichts für andere empfand, niemanden mehr brauchte. Manchmal hätte ich schon gern Freunde gehabt, aber ich konnte mich einfach nicht mehr für andere Menschen öffnen. Das klingt merkwürdig, nicht? Und doch war es so. Als ich dann erfuhr, daß du zurückkommen würdest, war ich in einem seltsamen Zwiespalt. Ich fürchtete, es könnte wieder so zwischen uns werden wie früher, und zugleich sehnte ich mich insgeheim danach. Oft, wenn ich so feind selig zu dir war, kam es mir vor, als wäre da ein fremdes Wesen in mir, das dich so schlecht behandelte, als wäre das nicht wirklich ich selbst - und doch konnte ich nicht anders. Ich glaube, ich hatte Angst, verstehst du? Angst, ich könnte dich wieder so gern haben wie früher und dich wieder verlieren.“ Alex lehnte sich erschöpft zurück. Ich sah sie unverwandt an und erwiderte langsam: -154-
„Ja, ich verstehe dich. Ich hatte oft das Gefühl, daß du eine Art Schutzwall um dich herum aufbaust, hinter dem du dich versteckst, und daß du unglücklich und einsam warst. Ich glaube, ich habe dich damals genauso verzweifelt vermißt wie du mich, Alex. Nur mit dem Unterschied, daß ich die Hoffnung nie aufgegeben habe, eines Tages in den Erlengrund zurückzukommen.“ Sie nickte, und ihr Gesicht sah plötzlich viel gelöster aus. „Wie geht es dir?“ fragte ich. „Schon besser. Ich glaube, es hatte mich ziemlich schlimm erwischt. Aber du weißt ja, was Ulf immer von uns sagte: Zäh wie Katzen.“ Ich strich sacht mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken. „War es noch schlimm - in jener Nacht im Wald?“ Sie schloß die Augen. „Jene Nacht... Ich möchte sie nicht noch einmal erleben. Ich hatte Schmerzen und fror, aber das war zu ertragen. Schlimmer als alles andere war die Angst. Ich muß bald eingeschlafen sein, nachdem du gingst, und hatte so schreckliche Träume, sie wären hinter dir her und hätten dich gefangen und verschleppt. Diese beiden...“ Alex schauderte. „Sie sind wohl längst über alle Berge, nehme ich an?“ „O nein, die Polizei ist ihnen auf den Fersen!“ Sie sah aus dem Fenster. „Es ist alles so weit weg - fast, als wäre es nur ein Traum gewesen und nicht wirklich geschehen. Das ist wohl dieses Fieber. Ich habe so ein Gefühl, als wäre ich noch in einer anderen Welt. Mir ist, als müßte ich erst wieder in die Wirklichkeit zurückkehren.“ Vielleicht ist es gut so, dachte ich. Es ist wohl ihre starke Natur, die ihr auf diese Weise hilft, den Schock zu überwinden. „Wie geht es Vater?“ fragte sie nach einer Weile. -155-
„Besser, seit er weiß, daß du außer Gefahr bist. Es war eine furcht bare Belastung für ihn. Ich hatte manchmal Angst, er würde zusammenbrechen.“ Ich erzählte ihr in kurzen Umrissen, was die Entführer gefordert hatten, und daß Vater die Polizei bis zuletzt nicht eingeschaltet hatte. Alex hörte schweigend zu und sagte dann: „Ich glaube fast, es war für euch schlimmer als für mich. Freilich war es höllisch, tagelang in diesem dunklen Zimmer eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, was sie mit mir vorhatten. Und diese Fesseln... Davon habe ich heute nacht wieder geträumt. Jetzt weiß ich, wie einem Kettenhund oder einem Vogel im Käfig zumute sein muß.“ Ein Schatten ging über ihr Gesicht. „Denk jetzt nicht daran“, sagte ich rasch. „Wenn du wieder gesund bist, ist Zeit genug, über alles zu reden.“ Sie erwiderte leise: „Es ist gut, daß du mich rechtzeitig da herausgeholt hast, Katinka. Sonst hätte Vater das Lösegeld bezahlt, und sie wären damit verschwunden. Wir aber wären ruiniert gewesen - und das alles meinetwegen.“ „Mach dir keine Gedanken, es ist ja alles gut. Du mußt nur gesund werden. “ Sie schwieg und schloß die Augen, und nach einer Weile fragte ich mich, ob sie wieder eingeschlafen war. Da öffnete sich die Tür, und eine Schwester sah ins Zimmer. „Der Doktor läßt Sie bitten, jetzt zu gehen“, sagte sie freundlich zu mir. „Es wird sonst zu anstrengend für Ihre Schwester.“ Alex schlug die Augen auf. Ich nickte. „Ja, sie ist müde. Ich will mich nur noch verabschieden.“ Die Schwester zog sich zurück, und Alex sagte schläfrig: -156-
„Wann kommst du wieder?“ „Morgen - mit Mutter und Vater, wenn sie uns alle drei zu dir lassen.“ „Ist Mutter hier?“ „Ja, schon seit ein paar Tagen, aber du durftest bis jetzt keinen Besuch bekommen.“ Ich griff in die Tasche meiner Jacke, zog die alte Spieldose hervor und legte sie behutsam auf die Bettdecke. „Hier“, sagte ich. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Ihre Augen weiteten sich. „Aber die Spieldose ist doch... Ich habe sie doch auf den Boden geworfen und selbst gesehen, wie sie zersprang!“ „Ich habe sie repariert. Weißt du, es klingt vielleicht lächerlich, aber ich hatte so ein Gefühl, daß du zurückkommen würdest, wenn ich es schaffe, die Spieldose wieder zusammenzusetzen.“ Alex sah mich ungläubig an. „Du hast sie repariert? Geht sie denn wieder?“ Ohne zu antworten, beugte ich mich vor und drehte die Elfenbeinkurbel. Zitternd erklang die alte Melodie. Alex hörte lächelnd zu. „Die Tage der Rosen“, murmelte sie. „Schön, nicht?“ „Ja“, sagte ich. „Schön.“ Die zerbrechlichen Töne der alten Spieldose klangen mir noch in den Ohren, während ich mit dem Bus nach Hause zurückfuhr. Als ich auf dem Dorfplatz ausstieg, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Ich sah auf. Steffen stand mit dem Rücken gegen einen Zaun gelehnt, und sein blondes Haar glänzte in der Sonne. Sekundenlang sahen wir uns an, ohne ein Wort zu sagen. -157-
Dann ging ich einen Schritt vorwärts, und er kam auf mich zu. „Du bist also doch noch gekommen“, sagte ich. „Ja. Ich wollte dich heute besuchen, aber dein Vater sagte, du wärst in die Stadt gefahren. Da bin ich zum Bus gegangen, um dich abzuholen. Übrigens: Sie haben die beiden gefaßt.“ Ich starrte ihn ungläubig an. „Die Entführer?“ „Ja. Der Inspektor hat deinen Vater angerufen und es ihm gesagt. Heute morgen sind sie an der Schweizer Grenze geschnappt worden.“ „Das ist gut“, sagte ich leise. „Ich hätte mich nie ganz sicher gefühlt, wenn sie entkommen wären - und Alex wohl auch nicht. Ja, ich bin froh, daß dieser Alptraum nun endgültig vorüber ist.“ „Wie geht es Alex?“ fragte Steffen. „Besser. Und es ist... es ist alles gut zwischen uns.“ Steffen sah mich an und blickte dann rasch zur Seite. „Dann wirst du mich jetzt wohl nicht mehr brauchen“, sagte er leise. Ich begriff nicht sofort, was er meinte. „Was hat das mit unserer Freundschaft zu tun? Denkst du vielleicht, ich wäre nur mit dir befreundet gewesen, weil ich mit Alex nicht zurechtkam?“ „Sie wird dich auf ihre Seite ziehen“, murmelte er. „Sie wird dich wieder ganz für sich haben wollen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Alex hat sich geändert, Steffen, glaub mir. Und unsere Freundschaft hat nichts mit Alex und mir zu tun. Das eine schließt das andere nicht aus. Alex ist meine Schwester, und du bist mein Freund - jedenfalls hoffe ich, daß du es noch immer bist.“ Er lächelte zögernd. -158-
„Das weißt du doch, Katinka.“ „Warum bist du dann während der ganzen letzten Tage nicht gekommen?“ Zwei Dorfbewohner kamen uns entgegen, grüßten und starrten mich neugierig an. Wir traten zur Seite und gingen gemeinsam die Straße entlang, am Weiher vorbei und zur Brücke. „Ich dachte, du bist mir böse“, sagte Steffen. „Wegen... du weißt schon, wegen unserer Meinungsverschiedenheit! Ich wollte in Ruhe mit dir darüber sprechen. Aber da wanderten diese neugierigen Völkerscharen zu eurem Hof, und ich dachte, du würdest mich vielleicht anrufen...“ Ich erwiderte: „Ich war dir nicht böse. Eigentlich hattest du ja recht, wenigstens teilweise. Ich habe etwas getan, was gefährlich und leichtsinnig war, und es hätte genausogut schiefgehen können.“ Unsere Blicke begegneten sich. Plötzlich faßten wir uns an den Händen und liefen an der Steinbank vorbei bis zum Tor. Meine Haare flatterten im Wind, ich spürte die Sonne auf meinem Gesicht und meinen bloßen Armen und den warmen, festen Druck von Steffens Hand. Die Erlen rauschten im Wind wie scho n seit Menschenaltern. Ich sah zu dem grünen Blattgewirr auf und schloß die Augen, lief und spürte den Boden unter meinen Füßen, war plötzlich frei, so frei, und glücklich wie einst in meiner Kindheit. Es dauerte nur einen Augenblick, dieses wilde Gefühl von Freiheit und Glück, doch ich ahnte, daß es wiederkehren würde. Und zugleich wußte ich, daß ich es nur empfinden konnte, weil ich durch eine Zeit der Angst und des Schmerzes gegangen war. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich vor mir am Ende der Allee den Erlenhof, stark und sicher wie eine Festung. Und mir war, als wäre ich erst jetzt wirklich heimgekehrt. -159-
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