Catherine Gaskin
Ein Falke für
die Königin
Inhaltsangabe Catherine Gaskins neuer Roman spielt im schottischen Hoch...
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Catherine Gaskin
Ein Falke für
die Königin
Inhaltsangabe Catherine Gaskins neuer Roman spielt im schottischen Hochland - dem Hochland, wie es ein mal war: faszinierend, wild romantisch, undurchschaubar. Und so sind auch die Personen, die sie schildert, so ist ihre Geschichte. Eine geheimnisvolle Botschaft an den Rand einer chinesischen Schriftrolle gekritzelt - das ist die letzte Nachricht von William Howard an seine Schwester Kirsty in China. Worte, die sie in das Haus ihrer Ahnen in Schottland zurückführen, wo ihr Bruder bei einem Jagdunfall umkam. Es ist eine sonderbare, geheimnisumwitterte Welt, die die junge Kirsty vorfindet: einen arro ganten, alten Mann - ihren Großvater -, der eine der besten Whiskybrennereien der Welt führt; zwei Frauen, die das große Haus besorgen - jung und keck die eine, alternd und mißtrauisch die andere; Callum Sinclair, der, den Falken auf der Hand, über die Moore reitet; das gräfliche Schloß, wo die lebenslustige Lady Margaret üppige Feste feiert. Auf der Suche nach der Bedeutung der ge heimnisvollen Botschaft gerät Kirsty sehr bald schon in Verwicklung mit jedem dieser Menschen. Jeder kämpft um sein Quentchen Glück. Liebe und Leidenschaft erwachen, Misstrauen verstärkt sich, Ehrgeiz wird zu tödlicher Gefahr. Und je mehr sich Kirsty des Rätsels Lösung nähert, um so dramatischer wird die Handlung, die einem furiosen Höhepunkt zutreibt.
Titel des Originals:
›A Falcon for a Queen‹
Aus dem Englischen von Susanne Lepsius
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
mit Genehmigung des Scherz Verlags, Bern und München
© by Catherine Gaskin Cornberg
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln (fgb)
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West-Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Prolog
E
s gibt Plätze in diesem Tal, die ich nie wieder aufsuchen werde, und Pfade in den Schluchten, über die ich nie wieder mein Pferd lenken möchte. Denn dort lauern mir Gesichter, Stimmen, Namen auf, und sie wollen nicht weichen. Natürlich muß ich auf dem Weg zur Kir che regelmäßig über den Friedhof gehen, wo diese Namen in Stein ge meißelt stehen. Aber die Seelen liegen dort nicht, jedenfalls nicht für mich. Es sind die ruhelosen Geister, die Geister derer, die geliebt ha ben – falsch, unbedacht, leidenschaftlich und ohne Maß. Und sie alle warten auf mich, an jedem Fleck in diesem Tal, besonders aber an je nen Plätzen, die ich nicht mehr aufsuche. Ballochtorra verfällt allmäh lich, Regen und Schnee haben das Dach arg mitgenommen, das Eis kriecht in die Mauerritzen und vertieft sie. Der Efeu macht sich breit. Bald schon wird nur noch das Auge eines Kenners all das, was vor nicht langer Zeit auf dem Gipfel von Reichtum und Ehrgeiz erbaut wurde, vom wirklich Alten unterscheiden können. Die Krähen nisten in den efeubewachsenen Bäumen und auf den hohen Zinnen. Und im mer wieder, Tag für Tag, blicken meine Augen suchend über den Him mel hin, in der Hoffnung, einen Falken zu sehen.
1
Erstes Kapitel
1
E
s ist ein weiter Weg von China bis tief ins schottische Hochland, ganz besonders, wenn man ihn wegen ein paar Worten zurücklegt, die in schwer lesbarer Mandarinschrift an den Rand einer Schriftrolle gekritzelt wurden – einer Schriftrolle mit der Zeichnung eines Vogels, der auf einem kahlen Weidenzweig sitzt. Trotzdem war ich hergekom men, ungebeten, unerwartet und, wie ich ahnte, unerwünscht. Ich war gekommen, weil mein Bruder William auf einem Friedhof im Herzen des Hochlands begraben lag und weil er vor seinem Tod jene paar Wor te geschrieben hatte. Ja, es war ein weiter Weg. Ich hatte keine Nachricht, kein Telegramm geschickt, vielleicht aus Angst, daß man mich abweisen würde – nach allem, was ich über An gus Macdonald wußte, war er durchaus dazu fähig. Und so stand ich nun mit meinem Koffer und meines Vaters Lederbeutel auf der winzi gen Bahnstation von Ballinaclash, und soweit ich sehen konnte, gab es keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wohin ich wollte. Der Stationsvorsteher schüttelte den Kopf. »Cluain? Das sind mehr als sechs Meilen von hier. Man erwartet Sie wohl nicht … sonst hätte man Sie abgeholt.« Man sah ihm seine Neugier deutlich an. Nur Höflichkeit hielt ihn davon ab, die direkte Frage zu stellen, die er so gern an mich gerichtet hätte. »Tut mir leid, Mistreß, aber Mietkutschen – so was gibt's bei uns nicht. Sie sehen ja, das ist hier noch nicht mal ein Dorf …« »Aber es muß doch irgendeine Möglichkeit geben …« Ich fröstelte, 2
es war kühl und sah nach Regen aus. Wer wäre schon darauf gefaßt gewesen, plötzlich hier draußen inmitten der Wildnis zu stehen? Weit und breit kein Haus, kein Schornstein, aus dem Rauch aufstieg, nichts außer den dunklen Regenwolken und den neugierigen, verwunderten Blicken des Stationsvorstehers. Offenbar kam man nicht unangemel det nach Ballinaclash, und ich mußte verrückt sein, daß ich dennoch gekommen war. Doch dann hörte ich plötzlich hinter mir das Geräusch sich nähern der Schritte, und im selben Moment sah ich vor dem Bahnhof einen einspännigen Landauer stehen. Ein Mann in langem Tweedmantel hielt das Pferd. Er starrte mich an und an mir vorbei, dann zog er den Hut. Aber sein Gruß galt nicht mir. »Ich sehe, Sie haben Gepäck.« Ich drehte mich um und erblickte ei nen Mann, der aus einem der letzten Waggons ausgestiegen sein muß te und mit einem Koffer in der Hand die Schienen entlangkam. Er hat te ebenfalls den Hut gezogen, setzte ihn aber gleich wieder auf. Ein schmales, fragendes Gesicht unter blondem, glattem Haar; klare hell blaue Augen, die unschuldig, ja fast kindlich gewirkt hätten, wären nicht die Runzeln an den Winkeln gewesen. Es war ein noch recht jun ges, aber missmutiges Gesicht – oder war es vielleicht das Gesicht eines jungen Mannes, der seine Illusionen verloren hatte? Ohne jede Spur von Verlegenheit fuhr er fort: »Hat Sie denn nie mand abgeholt? Ich heiße Campbell.« Er war so kühl, so sachlich, daß er mich verwirrt hätte, wäre ich nicht so müde, so in meine eigenen Gedanken vertieft gewesen. »Gott grüße Sie.« Eine dumme Höflichkeitsfloskel, aber Formen müssen ge wahrt werden. »Nein, niemand erwartet mich. Ich dachte, ich könnte vielleicht einen Wagen mieten …« Ein leichtes Achselzucken. »Wie Sie sehen, geht das nicht, Miß … Sie sind doch Miß …?« »Howard«, sagte ich. Sekundenlang verließ ihn sein Gleichmut. »Howard? Sie sind also William Howards Schwester! Daß ich das nicht gleich gesehen habe! Sie sind ihm sehr ähnlich.« 3
Allein der Klang des Namens war Trost. Seit ich China verlassen hat te, hatte niemand mehr Williams Namen ausgesprochen. »Sie kann ten William?« »Ja … ja, ich kannte ihn. Zwar nicht sehr gut, er war auch nicht oft hier.« Er nahm mich beim Arm und winkte den Mann heran, der das Pferd hielt. »Stevens, laden Sie bitte das Gepäck auf. Ja, das ganze. Wir nehmen Miß Howard nach Cluain mit.« »Nach Cluain, Sir? Nach Cluain?« Aber dann hielt er plötzlich inne, so als hätte ihm der Mann, der mich am Arm hielt, irgendein stum mes Zeichen gegeben. Ich fühlte mich überrumpelt, meiner Entschei dungsfreiheit beraubt. Aber warum eigentlich nicht? Mein unmittel bares Problem war gelöst. »Ich kutschiere gerne selbst«, sagte der Mann. »Wollen Sie zu mir auf den Bock kommen, oder ist es zu windig für Sie?« Ich nickte zustimmend. Was machte schon ein bißchen Wind aus? Ich ließ mir beim Einsteigen helfen; dann schwang sich der Mann auf den Sitz neben mir und nahm Stevens die Zügel ab. Wir warte ten, bis das Gepäck auf dem Rücksitz verstaut war; dann fuhren wir los. »Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht …«, setzte ich an. »Um Gottes willen«, unterbrach er mich, »fangen Sie bloß nicht an, mir zu danken. Wenn Sie schon so verrückt waren, niemand von Ihrer Ankunft zu unterrichten, konnte ich Sie wenigstens vor den Folgen Ih rer Dummheit bewahren. Ich glaube übrigens nicht«, fügte er beiläufig hinzu, »daß Angus Macdonald Überraschungen liebt.« »Mehr als mich zurückschicken kann er schließlich nicht tun.« »Das wird er nicht. Angus Macdonald hat einen ausgesprochenen Familiensinn, und Sie sind das einzige Enkelkind, das ihm bleibt.« Dann fügte er mit rücksichtsloser Offenheit hinzu: »Natürlich lag ihm mehr an William, ein Mädchen nützt ihm nicht viel.« »Ich weiß«, antwortete ich tonlos, »und ich habe es auch nicht an ders erwartet.« Er sah mich kurz an, dann blickte er wieder geradeaus; aber sein ab weisendes Gesicht wurde etwas freundlicher, als ob er seine Worte be 4
dauere. »So … Sie haben also beschlossen, nach dem Tode Ihres Vaters hierher zu kommen?« »Woher wissen Sie, daß mein Vater getötet wurde?« »Das ganze Königreich weiß es. Die Journalisten schreiben sich ta gelang die Finger wund, wenn irgendwo weit weg ein blutiges Verbre chen verübt wird – zumal, wenn dabei ein anglikanischer Bischof um kommt. Aber vermutlich hat keiner daran gedacht, wie sehr Sie unter alldem litten, besonders so kurz nach dem Tod Ihres Bruders.« »Vielleicht sollte ich Gott danken, daß ich damals noch nichts wuß te von seinem Tod –« »Um Himmels willen!« Er blickte mich wieder an – diesmal etwas länger. »Dann waren Sie also ganz allein, als die Nachricht von Wil liams Tod kam. Es tut mir sehr leid, Miß Howard. Sie haben …« Sei ne Stimme wurde so leise, daß man sie kaum über dem Klappern der Hufe und dem Rauschen des Windes in den Bäumen vernehmen konn te. »Sie sind durch eine sehr schwere Zeit gegangen.« Er hatte recht, es war für mich eine schlimme, eine sehr schlimme Zeit gewesen. Aber China war oft grausam und der gewaltsame Tod nichts Unübliches. Mein Vater hatte es nie versäumt, seinen Pflichten nachzukommen, selbst wenn er für eine Kirchenvisitation Tausende von Meilen weit reisen und Hunger und Kälte erdulden mußte. Bei ei ner solchen Gelegenheit geriet er in einen Aufstand gegen einen örtli chen Kriegslord in einer entfernten Provinz, und für die gesichtslose Masse der Bauern war es ein besonderer Spaß, daß eins ihrer Opfer ein hoher Priester war, der einem fremden Gott diente. Aber das war noch nicht genug. Nach seinem Tod war kein Mo nat vergangen, als ein Brief ankam, der mir das Letzte nahm, was ich in der Welt hatte. Der förmlich geschriebene Brief stammte von An gus Macdonald und war an meinen Vater adressiert; er lautete: »Dein Sohn, mein Enkelsohn William Howard, starb nach einem Jagdunfall oberhalb Cluains. Er ist zwischen seinen Vorfahren auf dem Friedhof von St. Andrew im Sprengel Ballochtorra beerdigt worden. Solltest Du wünschen …« Doch mein Vater hatte keine Wünsche mehr – auch er war beerdigt 5
worden, aber auf dem Gelände der britischen Botschaft in Peking. Und ich war im Besitz von Williams persönlichen Sachen, die zusammen mit dem Brief nach Peking geschickt worden waren. Dazu gehörte die Schriftrolle mit der Zeichnung des Vogels auf dem kahlen Zweig und den undeutlichen Zeichen in Mandarinchinesisch am Rand. Und warum und wozu hatte ich mich auf diese lange Reise begeben? Ich wußte so wenig von Cluain und von Schottland überhaupt. Wohl hatte ich Bilder der Königin Viktoria, die jetzt sehr alt war, und ihres Prinzgemahls und des Schlosses gesehen, das sie in Balmoral gebaut hatten. Ich kannte Geschichten von Fehden und Aufständen und von mutigen, harten Männern – mehr aber nicht. Warum hatte ich mir keine Mühe gegeben, zumindest mehr über Cluain herauszufinden? In den Briefen, die ich an William schrieb, hatte ich es kaum erwähnt, geschweige denn eine Frage gestellt. Hat te ich ihm übel genommen, daß er plötzlich auf so unerklärliche Wei se an Cluain hing, an diesem Ort, den er früher nicht einmal besuchen wollte? Er war nach Edinburgh gegangen, um auf der dortigen Univer sität Fachingenieur zu studieren, um später in China Eisenbahnen zu bauen. Doch nach seinem ersten Besuch in Cluain kehrte er zu Weih nachten und zu Ostern, dann einen ganzen Sommer lang und noch einmal zu Beginn des Winters dorthin zurück. Bei diesem letzten Be such starb er, und seither war ein halbes Jahr vergangen. Ich fragte mich jetzt, warum ich denn nicht wenigstens meinen Vater über Clu ain ausgehorcht hatte? Spürte ich, daß er sich irgendwie schuldig fühl te, die einzige Erbin von Cluain geheiratet und weit weg entführt zu haben – in ein Land, in dem sie vor ihm gestorben war? »Ist Ihnen kalt?« fragte der Mann. »Es tut mir leid. Wir hätten uns in den Wagen setzen sollen. Aber ich war eine Woche in Edinburgh, und wenn ich von hier fort bin, dann sehne ich mich zurück. Und wenn ich zurück bin, muß ich oben auf dem Bock sitzen, um alles zu sehen. Erst dann weiß ich, daß ich wirklich zu Hause bin.« »Mir ist nicht kalt«, antwortete ich. »Vielleicht bin ich etwas müde. Aber ich verstehe Sie sehr gut …« Ja, es gab viel zu sehen. Die Land schaft um mich her war von einer seltsamen, wilden Schönheit; sie fes 6
selte mich mehr, als ich erwartet hatte. Ich habe also auch Mutters Blut in mir, dachte ich, und plötzlich verstand ich, daß dieses gleiche Ge fühl des Wiedererkennens auch William ergriffen haben mußte. Dann sah ich es – ein großer, ehrwürdiger Bau mit hohen Türmen und einer Brustwehr, der auf einem steilen Felsen hoch über dem Fluss stand. »Was ist das?« »Ballochtorra.« Dieser Name war bereits in meinem Herzen eingegraben – irgendwo in der Nähe lag William begraben. »Wer wohnt hier?« »Ein Campbell.« Dann sah er mich an und lächelte – es war das erste Mal, daß ich ihn lächeln sah – und fügte hinzu: »Ich selbst.« »Warum haben Sie denn ›ein Campbell‹ gesagt?« »Weil Sie, Miß Howard, eine Macdonald sind, ob Sie nun so heißen oder nicht. In der schottischen Geschichte gelten die Macdonalds und die Campbells als unversöhnliche Feinde. Natürlich war es nicht im mer so. Oft fochten sie Seite an Seite – doch nicht weniger oft standen sie sich mit gezückten Schwertern gegenüber wie die meisten schotti schen Clans. Sie bekämpften sich ständig und raubten sich gegenseitig ihre Herden und Frauen. Sie und ich sind in den Augen der anderen Erbfeinde, obwohl ein ganz anderer Zweig unseres Clans in Fehde lag. Sie sind eine Macdonald aus Clanranald, und ich bin ein Campbell aus Cawdor, und wir sind sogar entfernt verwandt.« »Verwandt? Wieso?« Er zuckte mit den Achseln. »Auch das passierte. Es ist eine eigen tümliche Geschichte, und Ihr Großvater wird sich gerne daran erin nern, denn es war für ihn ein großer persönlicher Sieg. Er hat den Be sitzern von Ballochtorra das Beste abgenommen, was sie hatten – Clu ain. Es war der frühere Witwensitz, und die dazugehörigen Länderei en sind die fruchtbarsten in der Umgebung.« Wir fuhren über eine elegant geschwungene Steinbrücke, und er blickte auf das hoch über uns liegende Ballochtorra. »Das war so an ziehend bei William – er war ganz ohne Vorurteile. Er hasste uns 7
nicht, weil wir Campbell hießen; es ging Ihrem Großvater sehr gegen den Strich, daß er uns so oft in Ballochtorra besuchte.« »Er hat immer gesagt, daß er sein eigener Herr sei.« »Das war er auch. Ich glaube nicht, daß er je etwas getan hätte, was er nicht wollte. Sie liebten William sehr?« fragte er in demselben sach lichen Tonfall. »Ich hatte nur einen Bruder. In China ist man isoliert. Dort gibt es wenig Europäer. Ich kann nicht beurteilen, ob sich andere Geschwister so nahe sind, wie wir es waren. Er war älter und hat mir immer den Weg gewiesen.« »Auch den Weg hierher?« »Vielleicht.« Wir fuhren jetzt steil bergan, ganz am Rande des Felsens in einem großen Bogen um das Schloß herum. Dann kamen wir zu einem Pförtnerhäuschen mit kleinen Türmen. Das prunkvolle schmiedeei serne Tor schmückte ein vergoldetes Schild mit einem Wappen, das ei nen Vogel darstellte, der wie ein zischender Schwan aussah. Die Ver goldung war so frisch, daß ich den Wappenspruch gut lesen konnte: Sei achtsam. Ich fragte mich, ob es als Rat oder als Warnung gemeint war. Ich konnte es mir nicht verkneifen, zu sagen: »Für jemand, der sei ne besten Ländereien an einen anderen Clan verloren hat, scheinen Sie ziemlich wohlhabend.« Er nickte. »O ja, unser gutes Ackerland haben wir zwar verloren, aber das Moor, auf dem reiche Leute gern jagen, gehört uns noch.« »Also sind Sie reich?« »Sagen wir, meine Frau ist reich.« Ich war zu müde, um näher auf die Bemerkung einzugehen, und ließ sie daher unbeantwortet. Ich wappnete mich innerlich für Cluain und für alles, was dort auf mich wartete. Ich ließ meine Schultern hängen und spürte plötzlich die Kälte. Wir fuhren jetzt durch alte Eichen- und Birkenhaine. Nach einer Biegung gelangten wir an den Fluss und in weites Wiesenland … und da sah ich ihn. Er stand im Schatten einer Birke, neben ihm ein Hund. Beide rührten sich nicht, nur das Laub 8
über ihnen bewegte sich im Wind. Das Gesicht des Mannes war nicht genau zu erkennen; er hatte schwarzes Haar, trug einen verblichenen Kilt und eine zerschlissene Lammfelljacke. Ruhig musterte er uns. Er hielt seine Hand hoch, aber nicht zum Gruß: Erst als wir fast an ihm vorbei waren, bemerkte ich den Vogel, der auf seiner behandschuhten Hand saß. Ein großer Vogel – was für einer es war, wußte ich nicht; seine dunklen Augen blickten so ruhig und furchtlos wie die Augen seines Herrn und des Hundes. Seltsamerweise hob Campbell grüßend die Peitsche, aber der Mann reagierte nicht. Dann ließen wir dieses unheimliche Trio hinter uns, und es gelang mir, nicht noch einmal zu rückzublicken. »Was werden Sie in Cluain tun?« »Wer weiß, vielleicht bleibe ich gar nicht.« Eine Zeitlang schwiegen wir. Dann sagte er: »Angus Macdonald war verzweifelt, als William starb; er war die Verkörperung all seiner Hoff nungen. Ich habe ihn seit dem Tod nur einmal kurz gesehen, und er schien mir sehr gealtert. Vielleicht tun Sie ein gutes Werk, wenn Sie bleiben.« »Sie meinen also, er wird mich mit offenen Armen empfangen? Aber ich sagte Ihnen doch, er erwartet mich nicht einmal.« »Wer weiß. Cluain ist kein gewöhnlicher Haushalt. Aber sollten Sie einen Freund brauchen … oder irgendeine Zuflucht … Ballochtorra ist ganz in der Nähe.« Er spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an und wies mit der Peitsche auf verschiedene Gebäude. »Da vor Ihnen liegt Cluain.« Es lag einsam zwischen Wiesen eingebettet, die in einer weichen Linie vom Fluss aufstiegen. Der Wind strich über die jungen grünen Kornfel der, das Vieh graste auf den frühsommerlichen Weiden und in der Nähe des Flusses. Ich konnte das Haupthaus von Cluain nur schwer erkennen, weil es von den anderen Gebäuden fast verdeckt wurde. Aber da standen nicht nur die üblichen Scheunen und Ställe eines gutgeführten Gutes, sondern zusätzlich noch eine lange Reihe von niedrigen, gleichförmigen Steinbauten – wahrscheinlich Lagerhäuser – und ein ganz merkwürdi ges Gebilde mit Schornsteinen, die in pagodenartigen Kuppeln endeten. 9
Ich hatte mir unter einer Whiskybrennerei nicht viel vorgestellt, aber daß sie so aussehen würde, hatte ich doch nicht erwartet. »Angus Macdonald behauptet«, sagte Campbell, »daß er den besten Malzwhisky im ganzen Hochland produziert, und ich habe noch nie gehört, daß ihm jemand ernstlich widersprochen hätte. Aber seit Wil liams Tod ist er ein sehr trauriger und verbitterter alter Mann …«
2
N
achdem die Straße einen großen Bogen um den Ballochtorra-Fel sen gemacht hatte, schlängelte sie sich jetzt in entgegengesetzter Richtung langsam bis nach Cluain hinunter. Der ganze Gebäudekom plex lag schräg vor uns, so daß wir genau ins Zentrum blickten. Nun konnte ich auch das Haupthaus erkennen. Es lag uns am nächsten und war kleiner und älter als die anderen. Dann kamen die Stallungen und ein kopfsteingepflasterter Hof, an den auch die Brennerei grenzte. Ge genüber der Brennerei, auf der anderen Straßenseite, standen eins ne ben dem anderen die Lagerhäuser. Sie waren niedrig, nur einstöckig, mit spitzen schwarzen Schieferdächern. Obwohl die pagodenförmigen Brennereischornsteine das Ganze beherrschten, hatten die düsteren Lagerhäuser, die wie eine lange Fassade mit endlosen Giebeln aussa hen, etwas überwältigend Solides und Beständiges. Das Ganze schien ein Dorf für sich zu sein und doch eigentümlich still und verlassen, so als ob niemand dort wohnte. Aber es blieb nicht so ruhig. Ein Hund bellte, als sich der Landauer dem Haus näherte, und aus der Richtung der Lagerhäuser lief eine gro ße Schar Gänse mit lautem Geschnatter auf uns zu. Hinter mir hör te ich Stevens' halblautes Fluchen, und Campbell mußte das Pferd am Zügel nehmen, damit es nicht scheute. Stevens sprang vom Rücksitz und führte das Pferd am Zaum. Wir kamen jetzt nur schrittweise vor 10
an; Campbell warf Stevens die Peitsche zu, um die Gänse zu verjagen. Endlich gab sich sogar der Gänserich geschlagen. Mit einem ärgerli chen Krächzen trat er den Rückzug an; die weiße Schar watschelte hin ter ihm her und wirkte irgendwie hochzufrieden über die Verwirrung, die sie angerichtet hatte. Der Gänseaufruhr schien aber niemand auf unsere Ankunft auf merksam gemacht zu haben. Der Landauer hielt jetzt vor dem Haus. Von der Nähe gesehen, war es gar nicht so klein, aber eins hatte es mit den anderen Gebäuden gemein: die überaus große Sauberkeit. Das Haupthaus, der frühere Witwensitz von Ballochtorra, mußte ungefähr zwei Jahrhunderte älter als die Brennerei sein. Es hatte die Form eines großen L mit einem längeren und einem kürzeren Flügel. Zwischen den beiden Flügeln befand sich ein Hof, den eine hohe Mauer aus mas sivem, unregelmäßig behauenem Stein umgab. Das Haus war aus dem selben Stein gebaut, hatte zwei Stockwerke und ein Giebelfenster in ei nem spitzzulaufenden Dach. Aber das Bemerkenswerte an diesem ehr würdigen, wohlproportionierten Bau war ein unerwartet phantasievol ler Turm, der sich über dem Schnittpunkt der beiden Flügel erhob und den Rest des Hauses um etliches überragte. Sein Dach war rund und aus Schiefer, und auf der Spitze thronte ein prachtvoller Wetterhahn. Ich hatte den Eindruck, für dieses Haus geboren zu sein. So mußte es auch auf William gewirkt haben. Er hatte geschrieben, daß Cluain schön sei – wie vollkommen schön, hatte er nicht gesagt. Stevens betätigte energisch den Klopfer der eisenbeschlagenen Tür. Aber erst nach einigen Minuten bemerkten wir am Fenster des Vor derzimmers eine menschliche Gestalt, und es vergingen ein paar wei tere Minuten, bis sich die Tür endlich öffnete. Die Frau, die im Rah men stand, ignorierte meine Begleiter; ihr Blick richtete sich sofort auf mich, ihre dunklen, tiefliegenden, von langen Wimpern beschatteten Augen musterten mich scharf. Sie trug eine Art Uniform, streng und schmucklos; alles an ihr war schwarz, sogar die Schürze. Ihr schwar zes Haar war schon mit Silberfäden durchzogen und straff nach hinten gekämmt. Es war ein schönes Gesicht. Sie stand groß, schlank, abwei send und würdevoll vor mir und blickte mich wortlos an. 11
Der Mann neben mir, bislang so kühl und selbstsicher, schien von ihr genauso beeindruckt wie ich. Mein Mund fühlte sich trocken an, und so war es schließlich die Frau, die als erste sprach. »Warum haben Sie kein Telegramm geschickt? Wir hätten Sie abge holt. Sie sind William Howards Schwester, nicht wahr?« Woher wußte sie das? Ich war ihm nicht sehr ähnlich. Aber sie mach te den Eindruck, mehr zu wissen als andere. Ich versuchte die Ruhe zu bewahren; schließlich wollte ich mich von einem Dienstboten nicht aus der Fassung bringen lassen. Aber solche Bedienstete hatte ich noch nie getroffen. Ich machte eine steife Bewegung; auch in Campbell kam plötzlich wieder Leben, und er sprang von seinem Sitz, um mir beim Absteigen zu helfen. Stevens hielt das Pferd. Ich ging auf die Frau zu und fragte: »Ist Mr. Macdonald zu Hause?« »Und warum sollte Mr. Macdonald um diese Tageszeit zu Hause sein? Hier in Cluain wird gearbeitet.« Die Beleidigung war beabsichtigt; sie wollte mir zu verstehen geben, daß ich kein Recht hatte, sie auf ihren Platz zu verweisen, ehe ich den meinen gefunden hatte. Als ich näher kam, sah ich, daß sie älter war, als sie zuerst schien. In ihrer bleichen Haut waren zahlreiche feine Li nien eingegraben. Und dann sah ich ihre Hände. Sie waren erstaunlich verarbeitet und rot, die Haut an den Gelenken war rissig. Aber sie zeig te sie stolz vor, wie eine Tugendmedaille, und verachtete offensichtlich jeden, der sich nicht harter Arbeit rühmen konnte. »Darf ich warten?« »Natürlich können Sie warten. Wie ich sehe, haben Sie Gepäck …« Als ob sie wüsste, daß jemand unmittelbar hinter ihr stände, rief sie über die Schulter: »Morag, komm her.« Und tatsächlich erschien sofort ein junges Mädchen, das offenbar in der Halle gelauscht hatte. Ihre rötlichen Locken quollen wirr unter dem Häubchen hervor. Sie hatte volle rote Lippen und goldene Bern steinaugen. Ihr herzförmiges hübsches Gesichtchen glühte apfelrot vor Aufregung. Auch sie sah nicht wie ein Dienstmädchen aus, aber sie trug eine weiße Schürze und machte einen kleinen Knicks vor mir. »Willkommen in Cluain, Mrs. Howard. Ach, wie wird Ihr Großvater 12
sich freuen, Sie zu sehen.« Sie strahlte mich aus glänzenden Augen an und lächelte. Mit raschelnden Röcken lief sie zum Wagen, um das Ge päck zu holen. Campbell half ihr, denn die Frau in Schwarz rührte sich nicht von der Schwelle; sie zeigte nur schweigend auf einen Platz in der Halle, wo das Gepäck abgestellt werden sollte, so als sei Campbell ein Diener. Ich fühlte, wie mir vor Verlegenheit das Blut in die Wangen schoß. Ich wandte mich direkt an die Frau. »Sie haben mir voraus, daß Sie meinen Namen kennen. Darf ich Ih ren wissen?« »Ich bin Mairi Sinclair, die Haushälterin von Cluain.« »In diesem Fall, Mrs. Sinclair, darf ich im Namen meines Großva ters Mr. Campbell eine Tasse Tee anbieten? Er war so freundlich, mich hierher zubringen.« Aber sie blickte über mich hinweg, und ihre strengen Lippen zuck ten. »Sir Gavin, wollen Sie Cluain die Ehre erweisen …« Sie wußte im voraus, daß er ablehnen würde. Er blickte sie nicht einmal an, ihr Spiel offensichtlich durchschau end. Er ging zum Eingang und zog den Hut vor mir. »Ich hoffe, alles geht gut. Und wenn Sie je Hilfe brauchen … Sie wis sen ja, daß ich ganz in der Nähe wohne.« »Ich danke Ihnen …« Aber Mairi Sinclair schnitt mir das Wort ab. »Wir wissen alle, Sir Gavin, daß es von hier nach Ballochtorra nicht weit ist. Master William brauchte nicht lange, um das herauszufinden.« Und dann schlug sie ihm zu meinem größten Entsetzen die Tür vor der Nase zu, und ich stand in der Dämmerung der Halle, allein und hilflos zwischen einem bösen Geist und einem strahlenden jungen Ge schöpf. Plötzlich fuhr mir ein Satz aus einem von Williams Briefen durch den Kopf, über den ich irgendwie hinweggelesen und den ich dann – vielleicht aus Eifersucht – lange Zeit vergessen hatte. »Hier gibt es einen weiblichen Drachen, den die Chinesen bewundern und ach ten würden, und eine schöne Zauberin.« Meine Augen gewöhnten sich allmählich ans Zwielicht. Es hatte zu regnen begonnen, und die Tropfen schlugen prasselnd an die Fenster 13
scheiben. Ich unterdrückte ein Frösteln und verfluchte mein idiotisches Benehmen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, die lange Reise hierher zu machen, ohne zu wissen, ob ich zum Bleiben aufgefordert würde. Und der einzige Grund meines Kommens waren diese alpdruckarti gen Schriftzeichen in Mandarinchinesisch auf dem Rand von Willi ams Schriftrolle. Beim Gedanken an diese Zeichen hob ich den Kopf und blickte neu gierig um mich. Aus dem Landauer gesehen, hatte das Haus wie eine Miniatur ge wirkt. Aber im Inneren hatte es Raum und Tiefe und eine Art von Grö ße – vielleicht war es die Größe des Alters. In der Halle war ein riesiger Steinkamin, vor dem zwei steife geschnitzte Eichensessel standen und ein dunkler Refektoriumstisch mit Silberleuchten darauf. Der Raum nahm die ganze Länge des vorderen Flügels ein. Im Hintergrund sah ich eine Treppe, die an der Mauer des Turmes emporlief. Sie war aus Stein und wirkte trotzdem gewichtlos; statt eines Geländers hatte sie nur eine Kordel. Die schmalen Fenster ließen wenig Licht durch. Und doch war es nicht trübselig, denn die Eichendielen, die Leuchter, die dunklen geschnitzten Möbelstücke waren auf Hochglanz poliert und strahlten das spärliche Licht zurück. Nur Blumen, Teppiche und Bilder gab es nicht, keinerlei Zugeständnis an menschliche Freude oder Lu xus. Dennoch hatte keine noch so strenge Hand die Schönheit zerstö ren können, die ein unbekannter Meister hier vor Hunderten von Jah ren geschaffen hatte; im Gegenteil, vielleicht brachte die Kargheit sie noch eindringlicher zur Geltung. Plötzlich berührte mich etwas, und in der unheimlichen Stille hätte ich fast aufgeschrien. Es war eine Katze. Ich zwang mich stillzustehen, als sie meinen ihr unbekannt riechenden Rock beschnupperte. In Peking hatten wir im mer Katzen gehabt, aber so eine Katze wie diese gab es dort nicht. Sie war ganz weiß, schneeweiß, blütenweiß, als ob sie oft im Regen her umliefe und sich täglich putzte. Sie wandte sich unzufrieden von mir ab und flüchtete sich in die Geborgenheit von Mairi Sinclairs vertrau ten Rockfalten. Von dort aus starrte sie mich an. Sie hatte weder grü 14
ne noch blaue Augen, sondern bleichgraue mit einem rötlichen Schim mer. Ein seltsames farb- und schmuckloses Tier, fuhr es mir durch den Sinn, aber keine Kreatur hätte Mairi Sinclair mehr entsprechen kön nen. Sie bückte sich nicht, um die Katze zu streicheln, aber ich hatte das Gefühl, daß sich beide auch so verstanden. »Ich nehme an, Sie bleiben über Nacht.« »Vielleicht.« Wir wußten beide, daß es keine andere Möglichkeit gab und daß ich gekommen war, um viele Nächte zu bleiben. »Natürlich nur, wenn Sie Platz haben«, fügte ich hinzu. »Platz! O ja, Betten gibt es hier mehr als genug. Alle bequem und gut gelüftet. Wir haben wenig Gäste in Cluain, aber es wird Ihnen an nichts fehlen. Komm, Morag.« Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung ergriff sie meinen Koffer und gab Morag ein Zeichen, ihr beim Tragen zu helfen. Ich stand ne ben meinem Lederbeutel, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihn selbst zu schleppen. Ich folgte den beiden, und der schwere, große Beu tel schlug gegen jede Treppenstufe, als ich mit ihm nach oben keuchte. Die zwei Frauen waren viel geschickter als ich, und plötzlich hatte ich furchtbare Angst, ich würde von der geländerlosen Treppe fallen. Ich war müde. Ich sehnte mich nach einem heißen Bad, nach etwas Essen und einem warmen Bett. Ich hatte gar keine Lust, meinem Großvater noch am selben Abend gegenüberzutreten. Als ich oben anlangte, waren die beiden Frauen verschwunden. Ich stand auf einem kleinen Vorplatz, von dem, entsprechend der L-Form des Hauses, zwei Gänge abzweigten. Verwirrt blickte ich mich um. Von irgendwo hörte ich ein paar schnell gesprochene Worte, aber se hen konnte ich niemanden. Dann entdeckte ich eine Art Türbogen und dahinter eine weitere Wendeltreppe, deren Stufen wie spitzzulaufende Keile in die Mauer eingelassen waren. Sie führten zu dem ungewöhn lichsten Raum, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Er war er staunlich groß und hatte die Form der runden Außenmauern. Seine vier Fenster überblickten das ganze Tal – die Brennerei, den Fluss, das leicht ansteigende Wiesland, die Berge und den Felsen, auf dem Bal 15
lochtorra stand. Der Fußboden war aus Stein. In der Mitte des Raumes häuften sich Holzscheite auf einer leicht erhöhten Plattform. Der Ka minabzug endete an der Spitze der kegelförmigen Decke. Der verzier te Wetterhahn, den ich früher bemerkt hatte, mußte direkt über dem Schornstein sitzen. Ein Himmelbett stand genau zwischen zwei Fen stern; Vorhänge und Bettdecke waren aus dem gleichen gemusterten Schottenstoff. Zwischen den nächsten zwei Fenstern befanden sich ein großer Kleiderschrank und ein Waschtisch. Der dritte freie Platz war einem Schreibtisch vorbehalten, der offensichtlich für diesen Raum ge zimmert worden war, denn er folgte der Rundung der Mauer, und seine Seitenwände waren entsprechend abgeschrägt; zu ihm gehörte ein pas sender Sessel aus dunkler geschnitzter Eiche. Vor dem Kamin standen eine eichene Bank und zwei Leuchter mit Kerzen. Über den Fenstern waren dicke hölzerne Gardinenstangen befestigt, an denen schottisch gemusterte Vorhänge hingen, ganz ohne Rüschen und ungerafft. Am letzten freien Platz zwischen den Fenstern war die Tür, in der ich stand. Der Raum war streng und einfach, aber trotzdem sehr eindrucksvoll. »Hat hier …? Hat mein Bruder in diesem Zimmer gewohnt?« Mairi Sinclair drehte sich um – sie war gerade dabei, meinen Koffer möglichst akkurat unter eines der Fenster zu stellen. »In diesem Zim mer? Ja, der Herr hatte es so angeordnet.« Morag nahm mir den Beutel ab. »Hier oben ist es einsam«, sagte sie, »und wenn der Wind bläst und der Schnee fällt, kommt man sich so verloren vor wie auf einem Berg.« Ja, einsam und verlockend, dachte ich. Jeder, der in diesem Raum wohnte und Cluains Schätze vor sich ausgebreitet sah, mußte in Versu chung kommen, es haben zu wollen. Wer könnte schon diesem pracht vollen Besitz widerstehen? Mein Großvater hatte ihn William zuge dacht. »Das sind komische Gedanken, Morag«, erwiderte Mairi Sinclair. »Dieses Turmzimmer ist der Stolz von Cluain.« Ihr Ton gab fast zu ver stehen, daß sie mich dieses Raumes nicht für würdig hielt, aber gleich zeitig trachtete sie danach, mich hier zu isolieren. Wer immer diesen Raum bewohnte, mußte mit sich allein auskommen können. 16
Ich trat dicht an eins der Fenster und blickte hinunter auf Cluain und den Hof, der durch die hohe Mauer von der Straße abgeschirmt war. In dem Hof befand sich ein Garten, der voll war von wunderba ren Küchen- und Heilkräutern. Die schnurgeraden Wege, die sich ge nau in der Mitte bei einer Sonnenuhr trafen, waren von Lavendel, Thy mian, Salbei, Kamille, Fenchel und Petersilie überwuchert. Die peinli che Ordnung, die sonst überall in Cluain herrschte, war offensichtlich nicht bis dorthin vorgedrungen; die Pflanzen führten ihr süßes, wil des Eigenleben. »Der Garten …«, begann ich – es mußte doch irgendeine Möglich keit geben, Mairi Sinclair näher zu kommen. »Der Garten gehört mir.« Ich unterdrückte einen Seufzer und drehte mich um. Einen Moment lang wirkte sie etwas zugänglicher, nicht ganz so streng, ja fast verletz bar, als ob sie ihr Eigentum verteidigen müßte. Aber vielleicht irrte ich mich, denn ihre Stimme klang völlig gefühllos, als sie wieder sprach. »Ich geh jetzt. Morag wird Ihnen Wasser zum Waschen bringen. Der Herr kommt sicher bald zurück.« »Werden Sie ihn holen lassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Angus Macdonald läßt sich von niemand holen; aber es ist bald Zeit für sein Abendbrot. Er ist sehr pünktlich. Ich geb Ihnen den Rat, ihn nicht warten zu lassen, Miß Howard.« Damit gingen beide, Morag nickte mir aber noch einmal aufmun ternd zu. Der Regen fiel jetzt stärker und verwischte die Konturen der Landschaft. Die Berge verschwanden in den Wolken, der Nebel hing wie ein Schleier vor Ballochtorra. Ich war jetzt allein, allein bis auf die Katze, die es sich auf dem Bett bequem gemacht hatte. Sie lag mit ein geschlagenen Pfoten da und starrte mich aus ihren großen, farblosen Augen an. Ich vermochte ihrem Blick nicht standzuhalten.
Morag kam zurück. Ich hörte ihr leises Trillern, als sie die Turmtrep pe heraufstieg; sie wirbelte mit ihrem flammendroten Haar ins Zim 17
mer wie ein lustiges Irrlicht. »So, das Wasser ist schön heiß«, sagte sie, als sie den Krug absetzte und einen Haufen schneeweißer Handtücher auf den Waschstand legte. »Und ich werde auch den Kamin anzünden, dann wird's gleich gemütlicher.« Ich sah zu, wie sie mit geschickten Fingern die Scheite aufschichtete und ein Streichholz an ein Stück gedrehtes Papier hielt. Das trockene Holz fing sofort Feuer. Morag gehörte offensichtlich zu den Menschen, bei denen alles immer sofort klappt. Sie machte keine unnütze Bewe gung, alles ging ihr schnell und geschickt von der Hand. Die niedri ge Arbeit, die sie verrichten mußte, paßte genauso schlecht zu ihr wie das hübsche Gesicht und die schönen Haare zu ihrer Dienstmädchen kleidung. »Wohnen Sie hier, Morag?« »Ja. Ich habe mein eigenes Zimmer nicht weit von Mrs. Sinclairs. Der Herr schläft im anderen Flügel. Ich habe meinen eigenen kleinen Ka min, und es ist nett und warm. Das Gehalt ist anständig, und man isst gut in Cluain.« »Sind Sie deswegen hergekommen?« Sie lachte. »Viel Wahl hatte ich nicht. Ich bin in Cluain geboren. Mrs. Sinclair hat bei meiner Geburt geholfen. Mein Vater arbeitete in der Brennerei, aber er verunglückte, als ich noch ganz klein war. Einer der Lastschlitten, auf denen die Whiskyfässer zum Bahnhof gefahren wer den, kippte auf der vereisten Straße um, da wo sie ganz steil wird, gleich hinter der Brücke von Ballochtorra. Mutter fing dann gleich an, hier zu arbeiten, und blieb, bis ich acht war; dann zog sie zu ihrer Schwester. Sie könnte die Einsamkeit – oder Mrs. Sinclair – nicht mehr aushalten, sagte sie, und wenn ich Lust hätte, sollte ich mitkommen.« »Aber Sie blieben …?« »Ja, ich kannte die Schneiderwerkstatt meiner Tante, und sie gefiel mir nicht. Außerdem war damals die Herrin noch am Leben, und sie mochte mich. Meine Mutter wußte, warum sie mich in Cluain ließ. Ich mußte natürlich arbeiten, aber ich hatte ein weit besseres Leben, als meine Mutter es mir je hätte bieten können. Mrs. Macdonald gab mir Unterricht, und auch sonst hatte ich eine Menge Vorteile. Und Mrs. 18
Sinclair ist gar nicht so schlimm, wenn man sie richtig nimmt. Wir kommen gut miteinander aus, und ich habe auch eine Menge von ihr gelernt. Sie finden, sie ist hart? Nein, stolz ist sie, und warum auch nicht? Sie ist unheimlich tüchtig und geschickt. Und mit ihren Kräu tern und Arzneien vollbringt sie wahre Wunder. Die Leute aus der Umgebung gehen lieber zu ihr als zum Doktor. Sie kommen von mei lenweit her, um sich von ihr behandeln zu lassen, und nie verlangt sie auch nur einen Penny dafür. Sie sagt, Gott hätte die Kräuter und die wilden Pflanzen geschaffen, und sie hätte kein Recht, dafür Geld zu nehmen. Sie ist eine große Bibelleserin.« Sie hatte vor dem Kamin gehockt, jetzt stand sie auf, und das Feuer fing an zu prasseln. »Nun schwatze ich wieder zu viel. Ich lasse Sie jetzt allein, Miß. Der Herr wird auch bald da sein.« Sie machte eine Pause. »Ich glaube, er wird sich freuen, Sie zu sehen. Der letzte Winter war nicht leicht für ihn. Er hustete die ganze Zeit, und manchmal sah er müde aus. Den Doktor läßt er nicht in seine Nähe. Seit Master William tot ist …« Sie schüttelte sich den Staub von den Händen. »Sie werden ihn im Esszimmer finden. Es ist das einzige Zimmer, das er in Cluain benützt. Wenn Sie runterkommen, ist es die Tür rechts.« Sie war schon im Gehen, als ihr Blick auf die Katze fiel. Plötzlich klang ihre Stimme schrill, fast unangenehm. »Der Teufel soll sie ho len! Immer ist sie da, wo sie nicht sein soll, und man darf sie noch nicht mal anfassen, weil sie Mrs. Sinclair gehört!« Sie ging drohend auf die Katze zu, scheuchte sie aber nicht weg. »Lassen Sie sie, Morag.« Ich weiß nicht, warum ich es sagte; das Tier war mir nicht angenehm, aber ich hatte das Gefühl, daß es schon öf ters auf dem Bett gelegen hatte. »Sie scheint gerne hier zu sein.« »Ach, nur zu gerne. Sie weiß genau, daß sie hier oben nicht sein soll! Aber als Master William hier war, ist sie oft hergekommen, und Sie sind die erste, die nach ihm das Zimmer wieder bewohnt. Na, ich per sönlich möchte die Katze nicht anrühren.« Sie ging rückwärts zur Tür. »Ich muß weg, sonst merkt Mrs. Sin clair, daß ich hier geschwätzt habe, sie merkt immer alles. Aber wenn man irgendwo fremd hinkommt, will man schließlich ein bißchen 19
Bescheid wissen, und von Mairi Sinclair werden Sie kaum etwas er fahren.« Fort war sie. Ich näherte mich der Katze und versuchte die Hand auf ihren Kopf zu legen. Sie rührte sich nicht. »Warst du Williams Freund, Katze? Hast du ihn gut gekannt?« Keine Reaktion, nicht einmal ein freundliches Schnurren. Sie starrte nur weiter ins Feuer. Mit einem Achselzucken wandte ich mich ab. Daß die Katze hier nicht meinet wegen saß, war nur zu klar. Vielleicht liebte sie die kühle Pracht des Raumes. Ich nahm meine Waschsachen aus dem Lederbeutel. Meine Finger waren steif vor Kälte und innerer Spannung – nicht einmal das hei ße Wasser half. Als ich meine Bürste herausholte, fiel mir plötzlich auf, daß kein Spiegel da war und ich nur blanke weiße Wände anstarrte. Kein Bild war zu sehen, und auch hier gab es keine Blumen, keine Va sen. Ein Buch – ein einziges – lag auf dem Schreibtisch, und ohne nach zusehen, wußte ich, daß es die Bibel war. William hatte diese Kargheit sicher nicht ertragen können und mußte mit seinen vielen Sachen die strenge Ordnung des Hauses gestört haben. Verärgert drehte ich mich wieder der Stelle zu, wo ich vergeblich erwartet hatte, mein Spiegelbild zu sehen. Es schien, als ob Mairi Sinclair absichtlich versuchte, dem Bewohner dieses Raumes das Gefühl zu geben, er existiere gar nicht. Der Ärger vertrieb das Gefühl der Einsamkeit, das mich beschlichen hatte. Fieberhaft bürstete ich mein Haar, und ich schaffte es auch ohne Hilfe des Spiegels, meinen Knoten aufzustecken. Schließlich wußte ich noch, wie ich aussah – und würde es nicht vergessen –, denn immer hin existierte ich ja. Ich flocht voller Trotz ein rotes Band um meinen Haarknoten; dann holte ich die roten, mit Lammfell gefütterten Haus schuhe aus dem Beutel, die ich immer im Winter in Peking getragen hatte, und den Kaschmirschal, den William mir einmal aus Kanton mitgebracht hatte. Er war mit kräftigen bunten Farben reich bestickt, so wie die Chinesen es lieben, und hier und da schimmerten Goldfä den durch. Ich jedenfalls würde mich von Mairi Sinclair in keine Form pressen lassen. »Komm, Katze«, sagte ich, als ich fertig war. Unerwarteterweise ge 20
horchte sie. Sie flitzte aus der Tür und lief vor mir die Treppe hinunter, verschwand dann aber. Und so ging ich ohne Begleitung, um den Herrn von Cluain zu tref fen.
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Zweites Kapitel
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E
r erwartete mich – ein stämmig gebauter Mann, dessen Kräfte frühzeitig verbraucht schienen. Er war nicht sehr groß, hatte aber breite Schultern, die allerdings so weit nach vorn gebeugt waren, daß er fast bucklig wirkte. Das auffallendste an ihm waren die dichten Au genbrauen, die seine tiefliegenden Augen beschatteten. Er hatte ein en ergisches Kinn; die übrigen Merkmale seines Gesichts schienen sich in Altersfurchen und im Dämmerlicht des Raumes zu verlieren. Er stand breitbeinig vor dem Kamin und drehte sich nur halb um, als ich ein trat. »So, du bist also gekommen. Die Schwester von William.« »Die Tochter meiner Mutter.« Warum mußte ich eine so scharfe Antwort geben? Hätte ich sie mir nicht wenigstens zur Begrüßung verkneifen können? »Lerne deine Zunge beherrschen, kleine Schwester«, hatte mir William einmal ge sagt. »Dann werden die Männer dir zu Füßen liegen – das heißt, wenn du diese Art von Männern haben willst!« Ich blickte auf den alternden Mann und wußte, daß er mir nie zu Füßen liegen würde. Und ich hof fentlich nicht zu seinen. Er winkte mich irritiert heran. »Komm doch schon rein! Und mach die Tür zu. Es zieht schon genug bei diesem Wind.« Ich gehorchte und trat an den Kamin heran. Seine Stimme war tief, und er sprach mit einem starken schottischen Akzent. »Du kommst von weit her. Gedenkst du hier zu bleiben?« »Eine Zeitlang, wenn es dir recht ist.«
Ein Achselzucken. »Wie du willst. Du hast ein Wohnrecht in Clu 22
ain.« Es war kein sehr herzlicher Empfang, aber schließlich hatte er mich ja auch nicht eingeladen. Es herrschte Stille. Ich überließ es ihm, sie zu brechen. »Warum bist du eigentlich gekommen? Hast du da drüben nieman den gefunden, der dich heiratet?« Ich errötete. »Doch, es gab schon welche. Aber das ist jetzt unwich tig. Mein Vater wurde getötet, und …« »Ja, ich habe davon gelesen. Ich wollte dir schreiben …« Seine Stim me wurde etwas freundlicher. »Aber ich kam nicht dazu. Und der Brief hätte dich ja sowieso nicht mehr erreicht, wie sich jetzt heraus stellt.« Es klang irgendwie erleichtert, als ob damit ein Fehler wieder gutgemacht sei. »Ich hab ihn nie gemocht – deinen Vater mein ich –, das sag ich dir offen. Er war nur einen Sommer lang hier und hat mir mein einziges Kind weggenommen, und dabei war sie noch so jung. Er war Engländer, und er hat sie nicht nur nach England entführt, wo ich sie und auch meinen Enkelsohn hätte besuchen können. Nein, den ganzen Weg nach China mußte er sie schleppen, in diese scheuß liche Heidenhölle, wo sie an irgendeinem verdammten Fieber gestor ben ist. Nein, geliebt habe ich ihn sicher nicht, das kann man nicht be haupten.« »Ich habe ihn geliebt.« Ich mußte es sagen. Unerwarteterweise nickte er. »Das ist gut. Respekt bei Kindern ge fällt mir.« »Liebe«, wiederholte ich. »Ich liebte ihn … und William liebte ihn auch.« Vielleicht war dieser Gefühlsausbruch zu viel für einen düsteren Schotten, der Worte wie Liebe ungern ausspricht und sie auch nicht gern von anderen hört. Er wandte sich verlegen ab. »Und ich kam, weil –« Plötzlich stockte ich. Es war unmöglich, ihm von der Schrift rolle zu erzählen; später vielleicht, aber jetzt nicht. »Ich wollte sehen, wo William … ich wußte ja, wieviel ihm Cluain bedeutet hat.« Ich schien ihn so tief verletzt zu haben, daß er nur mit Mühe die Fas sung bewahrte. Er ging wortlos zur Anrichte und stützte sich haltsu chend mit beiden Händen darauf. In dieser gebeugten Haltung blieb 23
er eine Zeitlang stehen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme er stickt und unstet. »Ja, ich weiß. Er war wie geschaffen für Cluain und Cluain für ihn. Aber nun ist er tot –« Er räusperte sich geräuschvoll und richtete sich auf. »Setz dich doch.« Aber er vermied es noch immer, mich anzuse hen. »Willst du einen dram haben?« »Einen dram?« Jetzt sah er mich an. »Haben sie dir nichts von deinem Erbe erzählt, Mädchen? Ein dram … ist ein Whisky! Cluains Whisky!« »Ich habe noch nie Whisky getrunken.« »Eine Bildungslücke. Aber vielleicht trinkt man in bischöflichen Pa lästen nur Kognak und Champagner.« »Wir hatten keinen Palast, wir waren nicht reich.« Auch das schien ihn zu ärgern. »Nicht nur, daß er mir mein Kind entführt hat, auch für seine eigenen Kinder hat er nicht vorgesorgt. Aber genug davon –« Er brach ab und öffnete mit einem der vielen Schlüssel, die an seinem Schlüsselring hingen, ein Schränkchen in der Anrichte und nahm ein Silbertablett heraus, auf dem die Gläser schon bereitstanden. Aus einer gravierten Kristallkaraffe goß er zwei Gläser voll, kam zu mir herüber und reichte mir eins. Ich hatte mich noch nicht gesetzt, und so standen wir uns vor dem Kamin gegenüber. Die Flüssigkeit in den geschliffe nen Gläsern schimmerte bernsteinfarben im Widerschein des Feuers. Er hob sein Glas und prostete mir zu. »So, das wär's. In der alten gälischen Sprache sagen wir Uisge beatha, auf lateinisch nennen's die Gebildeten Aqua vitae – Lebenswasser. Clu ains Whisky – dein Erbe. So, Miß, und nun auf unser Wohl!« Er nahm einen kräftigen Schluck, und ich folgte unvorsichtigerwei se seinem Beispiel, und ehe ich mich's versah, brannte es wie Feuer in meiner Kehle, und meine Lungen schienen voll von diesem ehrwürdi gen alten Aroma. Ich rang nach Atem und war sicher, daß er die Trä nen bemerkte, die mir in die Augen schossen. Aber ich schaffte es, we der zu husten noch zu spucken – und darauf hast du doch gewartet, dachte ich nicht ohne Schadenfreude. 24
Der Whisky hinterließ einen eigentümlichen Nachgeschmack auf meiner Zunge, und obwohl mir der Alkohol unmöglich so schnell in die Beine geschossen sein konnte, sank ich ziemlich unzeremoniell auf einen der Stühle aus Eichenholz neben dem Kamin. Ich wußte, er wartete auf mein Lob, und ich verspürte eine gewisse Befriedigung, es nicht auszusprechen. »Weißt du«, sagte ich, als ich wieder genug Puste zum Sprechen hat te, »ich bin weder Miß noch Mädchen. Ich heiße Kirsty.« Aber ich hat te das Gefühl, er würde wohl beim ›Mädchen‹ bleiben. Meine Worte irritierten ihn. Ein bitteres Lächeln zuckte über sein Gesicht. Mit den steifen Bewegungen eines alten Mannes setzte er sich mir gegenüber. »Kirsty – Christina. Das ist also der Name, den dir meine Tochter gab, aber den Verstand und das große Herz der Frau, nach der sie dich nannte, konnte sie dir nicht mitgeben. Um deiner Urgroßmutter Chri stina zu gleichen, müsstest du hier im Hochland aufgewachsen sein. Aber das sagt man so – eines Tages erschien mein Enkelsohn, und mir war, als sei er für hier geboren. Nun ist er tot, und die Erbin von Clu ain ist ein ahnungsloses Mädchen. Gott hilf mir! Wer kümmert sich um Cluain …« Er leerte sein Glas. Ich war niedergeschlagen, kein einziges Trost wort fiel mir ein, und so nahm ich noch einen Schluck. Diesmal war es nicht so schlimm – zumindest wärmte es meine Glieder und rann wohlig durch meine Adern. Uisge beatha – Whisky – Lebenswasser. Cluain …
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airi Sinclair brachte wortlos das Abendessen herein und stellte es auf die Anrichte. Mein Großvater tranchierte das Fleisch, aus den anderen Schüsseln nahm man sich selbst. Wie Morag bereits ge sagt hatte, war das Essen gut – ja ausgezeichnet. Und der Whisky hat te mich geradezu heißhungrig gemacht. Es fiel mir auf, daß die Teller, von denen wir aßen, und die Silberbestecke weit eleganter waren, als man es in einem einfachen Gutshaus erwartet hätte. Aber schließlich war Cluain der Witwensitz von Ballochtorra gewesen und hatte an sei nem Reichtum teilgehabt. Aber auch hier war außer dem schönen Por zellan, von dem wir aßen, kein schmückender Gegenstand zu sehen. Die Fenster des Esszimmers blickten auf den umfriedeten Garten, wo die wild wuchernden Pflanzen im Winde nickten und wippten; aber von dem Duft der Kletterrosen, die sich an den alten Mauern hoch rankten, spürte man nichts im Raum. Statt dessen roch es nach Bie nenwachs und dem Torf und Holz, die im Kamin brannten. Die Möbel waren mit mathematischer Genauigkeit ausgerichtet. Die große An richte stand genau parallel zu dem langen Tisch, dessen aufklappbare Seitenteile bis zu den prachtvoll geschnitzten Füßen hinunterreichten. Die hochlehnigen Stühle bildeten einen rechten Winkel zum Kamin. Ihnen gegenüber, unter dem Fenster, war ein kleinerer Tisch – aus der selben geschnitzten dunklen Eiche. Auf diesem Tisch lag ein großes Buch in einem verblichenen braunen Ledereinband mit Metallecken und einem verzierten Bronzeschloß, das die Seiten zusammenhielt. Außer dieser Bibel entdeckte ich einen für mich weit interessanteren Gegenstand, der dem Zimmer eine gewisse persönliche Note verlieh – ein Schachspiel. Das Brett und die Figuren waren auf Hochglanz po liert wie alles in diesem Haus, aber man sah ihnen an, daß sie benützt 26
wurden. Die Figuren standen sich in der Ausgangsposition in je zwei Reihen gegenüber. Ich hatte erwartet, daß mein Großvater ein Gebet sprechen würde, aber er tat es nicht. Er aß schweigend, und nach einer Weile legte er Messer und Gabel hin und starrte mich an, so als fiele ihm plötzlich meine Gegenwart wieder ein. Mir wurde klar, wie ungewöhnlich es für ihn sein mußte, ein Gegenüber zu haben – er hatte ganz vergessen, daß man sich bei Tisch auch unterhalten konnte. Mit William war es sicher anders gewesen. Niemand hatte William je am Reden zu hin dern vermocht. Die Worte kamen nur stoßweise und stockend. »Weißt du, Mädchen, was Cluain in der alten Sprache bedeutet? Hat deine Mutter dir je von solchen Dingen erzählt?« »Als sie starb, war ich vier Jahre alt«, sagte ich. »Ja, richtig. Er hat sie in das verdammte Land verschleppt, und es hat sie getötet. Nun, da ist nichts mehr zu machen. Aber Cluain – das Wort Cluain bedeutet grünes Wiesland, eine Weide. Doch heutzuta ge versteht ja keiner mehr die alten Ausdrücke; auch für Whisky ha ben sie jetzt ganz modische Namen. Aber unser Whisky ist CluainWhisky, aus Cluains eigener Gerste gemacht und über Cluains Torf feuer getrocknet und vor allem mit Cluains eigenem Quellwasser ge braut, nicht mit Flusswasser – merke dir das –, sondern mit Wasser aus unserem eigenen Brunnen. Das Wasser spielt eine Riesenrolle bei der Whiskyherstellung, und Christinas Brunnen, wie er heißt, ist das Kostbarste, was Cluain besitzt.« Er vergaß, wer ich war – er hatte einen neuen Zuhörer, einen neuen Schüler. So hatte er am ersten Abend wahrscheinlich zu William ge sprochen, zu dem Erben, dem ersehnten Enkelsohn. Fast ohne es zu merken, gingen wir wieder zum Kamin und setzten uns auf die kissenlosen Stühle. Mairi Sinclair hatte schweigend abge räumt, und es war mir aufgefallen, daß er, solange sie sich im Zimmer befand, kein Wort sprach. Aber nun waren wir allein. Er schenkte sich noch ein Glas Whisky ein, hielt es in der Hand und schien wieder zu vergessen, wen er vor sich hatte. Er zog eine Pfeife heraus, ohne mich 27
zu fragen, ob mich das Rauchen störe. Aber ewig konnte ich nicht Wil liams Schatten sein, und tatsächlich weiteten sich plötzlich seine Au gen, als ob er aus einem Traum erwachte. »Ach, warum erzähl ich dir das alles? Aber es ist schwer für einen Mann, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, niemanden zu haben, dem er sein Wissen weitergeben kann – niemanden, der sich darum schert, wie ein guter Whisky gemacht wird.« »Cluain hat doch nicht nur eine Brennerei, sondern auch Landwirt schaft?« Warum bemühte ich mich um Anerkennung, wo ich doch nicht ein mal wußte, ob ich bleiben wollte? »Ja, der Boden hier ist gut, sehr gut sogar. Doch unser Stolz ist der Whisky. Das ist der Ruhm von Cluain. Aber was versteht schon ein Mädchen davon? Ich kenne keine Frau, die eine Brennerei leiten kann.« »Das heißt, ich bin unnütz?« Seine Antwort war brutal: »Ja, du bist unnütz – nein, nicht ganz. Vielleicht findest du einen Mann, der imstande ist, Angus Macdonalds Geschäft weiterzuführen. Er wird nicht leicht zu finden sein.« »Du schätzt dich hoch ein, Großvater.« »Jeder, der so gekämpft und gearbeitet hat wie ich, muß sich hoch einschätzen. Er hat seinen Wert bewiesen.« Ich stand auf. »Ich gehe jetzt nach oben.« Er nickte, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Wie du willst. In der Halle steht eine Ker ze für dich.« Er wünschte mir keine gute Nacht, aber er hatte mich auch nicht willkommen geheißen. Ich nahm die Kerze, die in einem Zinnleuchter steckte. Aber ich brauchte sie nicht. Hier im hohen Norden sinkt die Nacht nur langsam. Die schmalen Treppenfenster ließen wenig Licht durch, aber das Turmzimmer war noch von einem fahlen Schein er hellt. Und im Kamin flackerte ein lustiges Feuer – vermutlich hatte Morag noch etwas Torf auf die glühenden Scheite gelegt, und die dar unterliegende Kohle zerfiel langsam zu pulverartiger Asche. Auf dem Waschtisch entdeckte ich etwas Neues: einen kleinen, dreh 28
baren Rasierspiegel. Ich konnte allerdings nur eben mein Gesicht dar in sehen, aber er war immerhin besser als gar nichts. Daneben lag ein Zettel, auf dem klar und fehlerlos geschrieben stand: »Ich dachte, Sie brauchen sicher einen Spiegel. Ich habe auch eine Wärmflasche ins Bett gelegt. Vorsicht, verbrennen Sie Ihre Zehen nicht! Morag Mac pherson.« Ich lächelte dankbar und fragte mich, wie ich wohl diese ersten Stun den in Cluain ohne Morag überstanden hätte. Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Sah ich meinem Bruder wirklich so ähnlich, daß der Mann, den Mairi Sinclair mit Sir Gavin angesprochen hatte, mich gleich als seine Schwester erkannt hatte? Oder hatte er einfach kom biniert? Wir waren beide dunkelhaarig und blaß und unsere Augen eher grau als blau. Saßen sie bei mir so tief wie bei William? Hatte ich dieselben langen schwarzen Wimpern? Plötzlich fielen mir Groß vaters Augen ein; hatten wir – William und ich – den gleichen etwas verschwommenen Blick? Es mag komisch klingen, aber bis jetzt hatte ich eigentlich nie über mein Äußeres nachgedacht, sondern es einfach als selbstverständlich hingenommen, daß ich ganz gut aussah: In Pe king machte man jedem jungen europäischen Mädchen Komplimen te. William hingegen hatte unheimlich gut ausgesehen, und nun sagte man mir, daß ich ihm gliche. Stirnrunzelnd wandte ich mich von mei nem Spiegelbild ab. Ich trat ans Fenster, und in der aufsteigenden Dämmerung sah ich die Lichter von Ballochtorra. Es wirkte eigentümlich fern jetzt, uner reichbar. Die Vorhänge waren noch nicht zugezogen, und hinter den Fenstern brannten viele Lampen. Das untere Stockwerk war heller be leuchtet; dort mußten sie schon Elektrizität haben, was an diesem ent legenen Ort seltsam anmutete. Ich sehnte mich plötzlich nach Lichtern und Stimmen, nach einem belebten Haus. Ob es wohl viele Menschen in Ballochtorra gab – eine große Familie, die zusammensaß, sprach und lachte? In Cluain hörte man nichts außer dem Rauschen des Re gens. Ein Torfstück loderte noch einmal auf und zerfiel, und das leise Geräusch hörte sich an wie ein drohender Laut. Aber es gab jemanden, der genauso einsam war wie ich. Von der 29
Straße her, die nach Ballochtorra führte, kam das gedämpfte KlippKlapp von Pferdehufen. Zuerst war der Reiter im dunstigen grauen Dämmerlicht nicht zu erkennen, aber plötzlich wußte ich, wer es war. Er saß auf einem ziemlich großen, kräftigen Hochlandpony, seine lan gen Beine nach vorn gestemmt. Trotz des Regens war er barhäuptig – die zum Kilt gehörende Hochlandkappe fehlte. Er mußte schon lan ge unterwegs sein, denn sogar seine Lammfelljacke schien durchnäßt. Neben dem Pferd lief ein Hund. Mit einer Hand hielt der Mann die Zügel, auf der anderen, behandschuhten, saß der Vogel – aber nicht mehr so bewegungslos wie zuvor im Birkenwald. Der Vogel drehte das Köpfchen von rechts nach links, machte aber nicht die geringsten An stalten, von der Hand seines Herrn wegzufliegen. Es mußte ein Fal ke sein. Ich drückte mein Gesicht gegen die Fensterscheibe, um mir die eigentümliche Prozession näher anzusehen. Der Vogel tänzelte ein wenig auf dem Handschuh, und ich hatte das komische Gefühl, seine glänzenden Falkenaugen hätten mich entdeckt. Aber der Mann blick te nicht auf; er ritt am Haus und an der Brennerei vorbei und nahm die Straße, die ins Flusstal führte. Ich verfolgte ihn mit den Augen, so lan ge ich konnte. Der leichte Hufschlag des Pferdes war längst verklun gen, als der Nebel die Gestalt verschluckte. Ich war wieder allein. Um dem Nebel und der Leere zu entfliehen, zog ich die Vorhänge zu und zündete die Kerze an. Dann machte ich mich ans Auspacken, aber kaum war der Koffer geöffnet, gab ich es wieder auf. Zu lange hat te ich die Müdigkeit unterdrückt, und der Whisky wirkte jetzt fast wie ein Betäubungsmittel. Ich kramte in meinen Sachen, bis ich ein Nacht hemd fand, wusch mich und bürstete mein Haar. Eine Wolke der Nie dergeschlagenheit hing drohend über mir wie der Nebel über dem Fel sen von Ballochtorra. Ich legte noch etwas Torf nach, weil mich das flackernde Feuer ein wenig tröstete, und war schon bereit, ins Bett zu gehen, als mir plötzlich eine Idee kam. Ich glaube, sie entsprang die ser bedrückenden Einsamkeit, der erschreckenden Überzeugung, daß meine weite Reise sinnlos gewesen war. Ich fühlte plötzlich das drin gende Bedürfnis, irgend etwas zu berühren, was ich kannte und lieb te, nur um das Gefühl des Verlorenseins zu vertreiben. Ich ging wie 30
der zum Koffer und wühlte darin, bis ich das Kästchen fand, das ich so sorgfältig zwischen meinen Kleidern verstaut hatte. Im Kerzenlicht glänzte das reich eingelegte Holz schöner als je zuvor. Ich öffnete es; die Schachfiguren lagen sicher und geborgen in ihren gefütterten Ver tiefungen. Nachdem ich sie alle herausgenommen hatte, klappte ich das Kästchen auseinander, so daß es flach auf dem Tisch lag und als Schachbrett dienen konnte. Dann stellte ich die Figuren in der rich tigen Reihenfolge auf, die Damen und die Läufer, die Türme und die Könige und schließlich die schützende Linie der Bauern. Es war beru higend, die Figuren auch nur in der Hand zu halten. Ich spürte, daß eine gewisse Ordnung wiederhergestellt war, aber auch etwas anderes kam mir scharf und deutlich zum Bewußtsein: Was geschehen war, war geschehen; das Spiel des Lebens ging weiter, und der Angreifer war immer im Vorteil. Das Schachspiel war von großer Schönheit und Eigenart – zweifellos mein wertvollster Besitz. William hatte es mir geschenkt, er selbst hat te es zum Dank für einen Dienst bekommen, den er einem vornehmen Chinesen erwiesen hatte. Es war ein Ratten-Schachspiel – eine chine sische Seltenheit. Die aus indischem Elfenbein geschnitzten Figuren hatten Rattengesichter und -körper, waren aber in lange Gewänder ge kleidet; einige hielten Fächer, die Springer saßen auf reich gezäumten Pferden. Die Augen aus Bernstein und Rubinen gaben ihnen einen er staunlich lebendigen Ausdruck. Das Spiel war, wie William mir er zählt hatte, mehr als hundert Jahre alt. »Nimm es, kleine Schwester«, hatte er ganz beiläufig gesagt, »es wird vielleicht deine einzige Mitgift sein.« Wir machten oft Scherze über unsere Armut – wobei William überzeugt war, daß er zu Geld kommen würde, wenn er sein Ingeni eursdiplom einmal hatte und nach China zurückkam, um Eisenbah nen zu bauen. Für die Kinder eines Bischofs waren wir durchaus rea listisch. Als die Figuren richtig aufgestellt waren, juckte es mich in den Fin gern, und ich spielte Zug für Zug meine letzte Partie mit William durch. Aus irgendeinem Grunde hatte sie sich tief in mein Gedächt nis eingegraben. Je weiter das Spiel fortgeschritten war, um so mehr Fi 31
guren hatte ich an William verloren. Und dann machte er den letzten, kühnen und für mich unerwarteten Zug mit dem Springer; mit tri umphierendem Auflachen sagte er: »Schach der Dame! Nun denk dir was aus, kleine Schwester.« Und damit ging er fort, weil er eine Verab redung hatte. Das war kurz bevor er Peking verließ, um die lange Rei se nach Edinburgh anzutreten, und noch Wochen, nachdem er abge reist war, ließ ich die Figuren unberührt stehen. Ich wußte, daß ich aus diesem Schach nicht herauskommen konnte. Die Niederlage war voll kommen. Während Williams Abwesenheit spielte ich Schach mit meinem Va ter oder mit mir selbst; ich löste Schachprobleme aus Büchern, fest ent schlossen, dem Bruder nach seiner Rückkehr zu beweisen, daß ich viel besser geworden war … Aber dazu kam es nicht mehr. Zusammen mit dem Brief, der die Nachricht von Williams Tod ent hielt, kam die Schriftrolle. Ich sah die flüchtig hingepinselten roten Zeichen, die so verschieden waren von Williams ordentlicher Schrift und doch zweifellos von ihm stammten, und übersetzte sie, so gut ich konnte. Aber dann traute ich meinem Wissen nicht und brachte die Rolle zum Übersetzer meines Vaters, der ausgezeichnet Chinesisch und Mandschu beherrschte. Kopfschüttelnd sagte er: »Es ergibt keinen Sinn. Die Gedanken Ihres Bruders waren nicht bei der Sache.« Er be stärkte nur meinen eigenen Verdacht, und ich wußte, ich mußte nach Schottland gehen. »Schach der Dame.« Das Spiel war aus. Mein Kopf schmerzte vor Müdigkeit, aber die Ruhe wollte sich nicht einstellen. Ich ging zum Fenster, das auf den Garten blickte, und zog den Vorhang zurück. Das Licht der Kerze im Esszimmer warf einen milden Schein durch das Fenster. Mein Großvater war also noch im mer wach. Vielleicht war heute abend der richtige Moment; vielleicht konnte ich nur mit dem Mut der Verzweiflung die Frage stellen, de ren Beantwortung der Grund meines Kommens war. Ich ließ den Fen stervorhang fallen und ging zum Koffer. Meine Finger umklammer ten sekundenlang den Kasten, in dem außer der Rolle auch noch ande re Dinge lagen, die William gehörten und die man mir geschickt hatte: seine Papiere, ein Zirkel in einem samtgefütterten Etui, eine silberne 32
Uhr, ein Kragenknopf. Das war alles. William war noch nicht reich ge wesen. Doch dann stellte ich den Kasten wieder zurück. Ich hatte Zeit. Die Zeichen auf der Rolle würden Angus Macdonald nichts bedeuten. Zuerst wollte ich seine eigene Version über Williams Tod hören. Ich nahm mein Kleid aus dem Koffer. Es war rot – die Lieblingsfarbe Chinas – und wegen der kalten Winter in Peking warm wattiert; der hochgeschlossene Kragen und die weiten Ärmel waren mit bestick ten Bändern besetzt. In dieser Umgebung wirkte es ausnehmend kost bar und exotisch, aber das konnte ich jetzt nicht ändern; etwas anderes hatte ich nicht. Mit meinen weichbesohlten Hausschuhen huschte ich geräuschlos die Treppe hinunter. Als ich die Eßzimmertür öffnete, saß er noch immer über den Tisch gebeugt da. Er blickte mich mit zusam mengezogenen Augenbrauen fragend – fast ärgerlich – an. »Nun?« Seine Stimme klang alles andere als erfreut. Ich war ein Ein dringling und störte sein Alleinsein, die Einsamkeit der Abende, die er hier verbrachte. Ich ging langsam auf ihn zu. Das Licht der einzigen Kerze warf un ruhige Schatten auf das spiegelblanke Schachbrett, das jetzt in der Mit te des großen Tisches stand. Es war längst nicht so kostbar wie meins, sondern ein ganz gewöhnliches Brett mit den üblichen schmucklosen Figuren. Ich stellte meine Kerze auf die andere Seite des Bretts, so daß sich die Schatten der Figuren überschnitten und vermengten. Die har ten alten Augen blickten mich an. Ungebeten zog ich mir einen Stuhl heran und setzte mich ihm gegenüber. »Hast du auch mit William gespielt?« »Ja.« »Gewann er?« »Ja, mein Enkelsohn hatte einen guten Kopf.« »Ich möchte wissen, wie William gestorben ist. Um das zu erfahren, bin ich gekommen. Und zwar möchte ich es von dir erfahren.« »Ich habe es dir doch geschrieben, außerdem ist es unwichtig – er ist tot. Für alle schlägt die Stunde, nur schlug sie für ihn zu früh – gerade als ich ihn am nötigsten brauchte.« Das war es, was ihn am meisten verbitterte: er hatte William ge 33
braucht, und deshalb konnte er auch seinen Tod nicht verwinden. Er hatte geglaubt, William würde nie mehr nach China zu Vater, zu mir zurückkehren, und wer weiß – vielleicht hätte er recht behalten. Und dann war er gestorben, hatte ihn verraten. Hatte er William je geliebt, oder hatte er ihn nur gebraucht? Das Schweigen hing schwer im Raum. Draußen war endgültig die Nacht hereingebrochen; das Licht unserer beiden Kerzen und das Glühen des ausgehenden Feuers war jetzt al les, was Cluain wärmte. Ich wandte die Augen von dem alten Mann ab; er sollte nicht merken, wie ich mich nach William, nach etwas Trost und Menschlichkeit sehnte. Aufmerksam betrachtete ich das Schach brett und die Position der wenigen Figuren, die noch darauf standen. Einen Augenblick lang stockte mir der Atem; diese Konstellation war mir nur allzu bekannt – es gab nur eine Möglichkeit. Ich zog den Springer und sagte: »Schach der Dame.« Unsere Blicke trafen sich, und in seinen Augen spiegelten sich Er staunen und Anerkennung. »Hat er mit dir auch diese Partie gespielt?« fragte ich. Er nickte. Es war, als ob der Wind in diesen stillen Raum eingedrungen sei – ein kalter Luftzug streifte uns. Von irgendwoher jenseits der Zeit und des Todes hatte uns William erreicht. Diese Partie hatte er mit uns bei den gespielt, und beide waren wir in eine Sackgasse geraten, die seinen Sieg bedeutete. »War es die letzte Partie, die er mit dir gespielt hat?« »Ja.« »Mit mir auch.« Nun war das Schweigen leichter zu ertragen; wir wußten, daß wir et was Gemeinsames teilten, und fühlten zum ersten Mal die Bande des Blutes. William war bei uns, stark und lebendig. Wie schwer war es zu glauben, daß er tot war, wo wir doch seine Anwesenheit so deutlich spürten! Mir schien, als hätte er mich hierher gezogen, damit ich sein Instrument, sein Werkzeug würde, damit ich das kühne Spiel des An griffs und des Einsatzes spielte, so wie er es mich gelehrt hatte. Ich war seinetwegen hier. Sein Leben war vorbei, aber meines nicht. 34
»Kann ich bitte einen Whisky haben?« Ich sah, wie sich seine Lider sekundenlang über die umflorten, doch immer noch glühenden Augen senkten und wie ein Zittern durch den starken Körper lief, als habe ihn eine unbekannte Kraft berührt, die er nicht begreifen, aber der er nicht widerstehen konnte. Wortlos er hob er sich, ging zur Anrichte, schenkte zwei Gläser ziemlich voll und stellte sie neben die Kerzen. Er hob sein Glas ein wenig und proste te mir zu. »Du bist hergeschickt worden. Ich habe das nicht gleich verstanden, aber jetzt weiß ich es. William hat dich geschickt. Willkommen in Cluain.« Auch ich hob mein Glas, und wir tranken. Ich sah den alten Mann an und wußte, daß der Schleier der Gleichgültigkeit gelüftet war. Er schien mich zum ersten Mal zu sehen, obwohl er an mir vorbei auf ir gend etwas, irgend jemand zu blicken schien. »Ja, du bist ihm ähnlich; ich habe das nicht gemerkt, ich war blind. Ich sah nur ein kleines Mädchen. Ich habe nicht hingeschaut … ich hab nichts begriffen.« »Erzähl mir, wie er starb.« »Wie? Er starb. So stand es auch in meinem Brief.« »Du hast nicht geschrieben, wie.« »Ein Jagdunfall, ich schrieb …« »Nein … nichts! Und William hat nie gejagt.« »Ach, ich meine doch nicht die englische Art zu jagen. Glaubst du etwa, daß wir hier auf einem Pferd hinter einem Fuchs hergaloppie ren? Nein, er ging mit einem Gewehr Vögel, Kaninchen oder sonst was schießen. Ein junger Mann, der mit einem Gewehr spazieren geht.« »In China tragen nur die Soldaten und Offiziere Gewehre. Ich be zweifle, daß er je in seinem Leben ein Gewehr angefasst hat.« »Hier ist es anders. Jeder stellt Fallen, legt Schlingen, schießt, um die Speisekammer aufzufüllen. Die meisten wildern, wenn sie können. Sie müssen. Das Leben ist karg. Und wenn einer reich ist, so tut er's als Sport. Der Prince of Wales kommt zur Jagd her …« »William war nicht der Prince of Wales. Wer begleitete ihn?« 35
Der große Kopf sank vornüber wie unter dem Gewicht einer Schuld. »Das war's eben. Niemand begleitete ihn. Er machte oft lange Spa ziergänge. Er hat niemand gesagt, daß er das Gewehr mitnahm. Nur die ganz Erfahrenen gehen hier mit einem Gewehr herum.« »Du hast ihn nicht gewarnt?« fragte ich anklagend. Seine Antwort klang so, als ob er mir nichts verheimlichen wollte, nachdem er mich akzeptiert hatte – auch dann nicht, wenn es ihn gro ße Überwindung kostete. Er sagte: »Vielleicht nicht oft genug. Wenn man so alt ist wie ich, vergisst man, daß ein junger Mann die Umge bung ja gar nicht genau kennen und sich in Nebel und Regen verir ren kann. Es war leichtsinnig von ihm, so oft und allein herumzustrol chen, aber sollte ich einen unternehmungslustigen Mann anbinden? Sollte ich ihn etwa über sein Kommen und Gehen ausfragen?« »Nein, sicher nicht, und besonders nicht William. Aber wie starb er?« Er seufzte. »Er hatte bei seinem letzten Besuch nur ein paar Tage bleiben wollen, mehr erlaubten ihm seine Studien nicht. Am zweiten Abend kam er nicht zur üblichen Stunde zurück. Es war November und die Abende sehr kurz; aber ich war nicht sehr aufgeregt – William hatte sich in der Umgebung bereits viele Freunde gemacht, die er gelegentlich besuchte. Aber nach dem Abendessen wußte ich, daß ir gend etwas passiert war; dann kontrollierte ich die Gewehrkammer und sah, daß er sich eins genommen hatte. Ich war nicht einmal sicher, ob er mit einem Gewehr umgehen konnte. In der Dunkelheit konnten wir mit der Suche nicht anfangen, aber in der Morgendämmerung gin gen alle Männer aus Cluain, aus dem ganzen Tal – ja sogar die Ange stellten von Ballochtorra, die sich im Moor auskannten – auf die Su che nach ihm.« »Wie lange hat es gedauert? Die Einzelheiten interessieren mich nicht.« »Zwei Nächte. Für einen, der nicht sein ganzes Leben lang daran ge wöhnt ist, unter einer Decke im Heidekraut oder Gras zu schlafen, muß es furchtbar gewesen sein. Es war kalt, Mädchen, sogar für uns 36
war es kalt. In der zweiten Nacht fiel etwas Schnee, und er hatte eine Gewehrkugel im Knie und konnte keinen Schritt gehen.« »Man fand ihn – wo?« »Hier ganz in der Nähe. Das ist es eben, was mich fast um den Ver stand gebracht hat. Irgendwie war es ihm gelungen, in eine Felsspalte dicht bei Ballochtorra zu kriechen, aber sie bot ihm nur wenig Schutz vor Kälte und Schnee. Er verlor das Bewußtsein und konnte nicht um Hilfe rufen. Und wir dachten, er wäre viel weiter fort, und suchten ihn oben im Gebirge. Gefunden hat ihn ein kleiner Küchenjunge aus Bal lochtorra, der bei der Suche dabeisein wollte, aber nicht kräftig genug war, um mit den Männern zu gehen, die Campbell ausgeschickt hat te. Wir brachten ihn zurück, und ich holte einen Chirurgen aus In verness, damit er die Kugel entfernte; dem hiesigen Arzt traute ich es nicht zu. Doch dann ließ das Fieber nicht nach, und ich schickte nach einem Arzt aus Edinburgh. Aber als er kam, war William schon tot.« Ich ließ nicht locker, obwohl ich sehen konnte, wie ihn jedes Wort schmerzte. »Wie lange hat er noch gelebt?« »Drei oder vier Tage. Er wurde mit Hingabe gepflegt. Mrs. Sinclair hat die ganze Zeit kein Auge zugetan – ich auch nicht, obwohl ich zu Bett ging. Aber die Wunde und die Erschöpfung haben kräftigere Menschen als ihn umgebracht.« »Aber die Wunde? Wie –« »Er konnte nicht sprechen, als wir ihn fanden. Sein Gewehr muß los gegangen sein, als er durch unwegsames Gelände streifte. Er hat sich selbst angeschossen.« »Selbst angeschossen!« Er seufzte. »Ja, das geschieht nur zu leicht, wenn Neulinge mit einem geladenen Gewehr halsbrecherische Touren unternehmen. Ich habe kein Recht, ihm das vorzuwerfen, aber ich tu es doch. Es war Wahn sinn. Ein vergeudetes Leben – das Leben meines Enkelsohns.« Ich umklammerte das Glas. »Kam er überhaupt wieder zu Bewußt sein? Hat er dir nicht erzählt, wie es passiert ist?« »Es gab Stunden, wo er sprechen konnte – aber es waren verwor rene Worte, die keinen Sinn ergaben. Und Mrs. Sinclair bat uns, ihn 37
nicht zum Reden zu zwingen, es würde ihn nur schwächen. Und au ßerdem – was hätte es genützt, ihn auszufragen oder ihm Vorwürfe zu machen? Es war viel besser, ihm seine Ruhe zu gönnen.« Ruhe! Die Worte auf der Schriftrolle sprachen eine andere Sprache. »Starb er dort oben im Turmzimmer?« »Ja, ich habe ihm schon bei seinem ersten Besuch in Cluain dieses Zim mer zugewiesen. Ich wollte ihm das Gefühl geben, Herr von Cluain zu sein. Er sollte auf das Land hinuntersehen können, das ihm eines Tages gehören würde. Mrs. Sinclair schlug noch während der Suche vor, für ihn ein anderes Zimmer herzurichten, weil es ihr die Pflege erleichtern würde, aber ich habe es nicht erlaubt. Ich wollte nicht, daß er in einer fremden Umgebung zu sich kommt. Ich habe ihr verboten, seine paar Sachen, die er im Turmzimmer hatte, anzurühren. Während man ihn suchte, sorgte sie dafür, daß das Feuer im Kamin brannte und das Bett warm war. Sie hielt ihre Arzneien bereit, und davon versteht sie mehr als jeder Arzt. Aber es half alles nichts. Er kam und ging – so schnell. Und ich hatte geglaubt, daß mir mein größter Herzenswunsch erfüllt würde. Aber mein ist die Rache, spricht Gott. Ja, nun weiß ich, daß mir in mei nem Alter keine Freude mehr gegönnt sein wird, so lange ich lebe.« »Warum Rache?« Er strich sich erschöpft mit der Hand über die Augen. »Frage nicht, Mädchen. Hat nicht jeder Mensch in seinem Leben etwas getan, wofür er gerichtet wird? Wofür er zahlen muß?« »Gott ist gnädig. Er ist der Gott der Liebe und nicht nur der Rache. Mein Vater hatte es uns immer gesagt.« Sein Mund zuckte bitter und höhnisch. »Ein bequemer Glaube für die, die ihn haben und denken, daß sie ohne Sünde sind. Aber die Ver gangenheit ist nicht wiedergutzumachen. Sie währt ewig.« Ich streckte die Hand aus, und meine Finger glitten über die Dame, die der Springer scheinbar für immer auf ihr Feld verbannt hatte. »Es gibt auch eine Zukunft«, sagte ich ruhig, »aber sie ist noch nicht geschrieben. Sie hängt von uns ab.« »Als William starb, wußte ich, daß es keine Zukunft mehr gibt, aber auch das ist mir jetzt egal.« 38
»Aber mir nicht! Ich bin Williams Schwester, und ein Teil von ihm lebt in mir weiter!« rief ich. »Er hätte nie zugelassen, daß ich die Zu kunft aufgebe.« »Mädchen, Mädchen, nimm den Mund nicht so voll. Vielleicht hast du recht – vielleicht. Aber nun trink dein Glas aus und geh ins Bett. Du brauchst Ruhe. Und fürchte dich nicht in deinem Zimmer, nur weil William dort starb. Ich hätte dir ein anderes gegeben, aber Mrs. Sin clair hatte es schon so angeordnet.« Ich leerte mein Glas schnell und verärgert, diesmal ohne mich zu verschlucken. »Ich werde mich nie an einem Ort fürchten, wo William gewesen ist. Und wenn er dort oben starb, dann bin ich ihm desto nä her. Auch das hat uns Vater gelehrt. Die Liebe ist stärker als der Tod.« Ich stieß meinen Stuhl zurück und ergriff die Kerze. Er ließ mich ge hen, aber als ich schon die Tür geöffnet hatte, rief er mir nach: »War te, Mädchen.« »Was ist?« »Lauf nicht so schnell weg. Vielleicht hast du recht. Vielleicht gibt es eine Zukunft, obwohl ich sie nicht sehen kann.« Er redete jetzt in ei nem bittenden, eindringlichen Ton, ganz anders als vorhin. »Kirsty …« Zum ersten Mal fiel mein Name. »Kirsty, heirate einen Mann, der sich in meinen Augen mit William messen kann. Finde diesen Mann, Kir sty, und Cluain soll dir gehören.« Die Kerze in meiner Hand zitterte so heftig, daß sie unruhige Schat ten an die Wände warf. »Das ist ein unmöglicher Handel. Du verlangst von mir etwas, was ich nicht versprechen kann. Einen Mann! Wel chen Mann? Und warum soll ich den Mann, den ich heirate, an Wil liam messen? Jeder Mensch hat das Recht, er selbst zu sein und nicht eines anderen Schatten. Nein – so einen Handel kann es nicht geben, Großvater.« Aber er glaubte mir nicht. »Geh ins Bett. Morgen wirst du es dir überlegen und einsehen, daß es sich lohnt, Cluain zu besitzen.« »Morgen werde ich vielleicht fortgehen!« Ein Achselzucken. »Wie du willst …« In der Stille des Hauses fiel die Tür lauter zu, als ich es gewollt hatte. 39
Sie wartete auf mich. Sie stand auf der ersten Stufe der Wendeltreppe, die direkt in mein Zimmer führte. Wahrscheinlich hatte sie durch das schmale Fenster den bleichen Schein unserer Kerzen beobachtet. Sie selbst hielt auch eine Kerze in der Hand und mußte hier schon lange gestanden haben, da ihre Kerze fast so weit heruntergebrannt war wie meine. Ich ging auf sie zu, aber sie rührte sich nicht von der Stelle, so daß ich gezwungen war, zu ihr aufzusehen. »Mrs. Sinclair …?« Für die Nacht trug sie nicht Schwarz. Über ihr einfaches weißes, hochgeschlossenes Nachthemd hatte sie ein langes rotes Plaid gewor fen, das ihr Hemd zum Teil verdeckte. Ihr schwarzes, mit Silberfäden durchzogenes Haar hing lose herab, was ihren regelmäßigen Zügen eine gewisse Weichheit verlieh, sie jünger machte – nein, nicht eigent lich jünger, eher zeitloser. Die eine verarbeitete Hand, mit der sie die Decke über der Brust zusammenhielt, zuckte krampfhaft. »Ihr habt lange miteinander gesprochen«, sagte sie endlich; und dann, als ob sie die Frage nicht zurückhalten könnte: »Worüber?« »Über private Dinge, Mrs. Sinclair.« »Welche Dinge?« Ihre Augen starrten mich wild und verzweifelt an. »Bitte lassen Sie mich durch, Mrs. Sinclair, ich möchte in mein Zim mer.« Die Decke fiel auseinander, als sie mit einem unerwartet harten Griff mein Handgelenk umspannte. »Sagen Sie mir, über welche Dinge!« Meine Kerze schwankte, und heißes Wachs spritzte auf meine Hand. Ich unterdrückte einen kleinen Schmerzensschrei. »Lassen Sie mich durch!« Sie hatte meine Kräfte unterschätzt. Ich packte sie an der Schulter und stieß sie beiseite. Der Weg war frei; ich raffte meinen Rock, um nicht zu stolpern, und lief die Treppe hoch. Aber sie gab nicht auf. Als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, folgte sie mir. Ich hör te ihr Keuchen; ich hatte nur einen kleinen Vorsprung – das Licht ih rer Kerze verriet mir, wie dicht sie mir auf den Fersen war. Oben an gelangt, stürzte ich in mein Zimmer, aber sie hatte mich eingeholt, be vor ich die Tür richtig schließen konnte. Ich lehnte mich von innen 40
mit meinem ganzen Körpergewicht dagegen, um sie am Eindringen zu hindern. Durch den Spalt sah ich ihr gehetztes, fast hexenartiges Gesicht. Die Schönheit war vollends dem Wahnsinn gewichen. Der verrück te Kampf hielt an, aber plötzlich schien sie zu ermüden; sie trat einen Schritt zurück, und der Druck auf meiner Schulter ließ nach; ich fiel krachend gegen die Tür, aber der vorstehende Eisenriegel verhinderte, daß sie ins Schloß fiel. Von draußen hörte ich ein klagendes, fast fle hentliches Geflüster: »Es gehört Ihnen nicht …« Ich hätte die Tür jetzt zudrücken können, aber nun hatte mich die Neugier gepackt. »Was … was gehört mir nicht?« »Cluain. Cluain gehört Ihnen nicht!« Es hörte sich wie ein schluch zender Protestschrei an. Sie war verrückt – völlig verrückt. Ich drehte den Riegel, und die Tür fiel ins Schloß, dann schob ich mit zitternden Fingern den Riegel vor. Ich wandte mich um, lehnte mich erschöpft gegen die Tür und stieß ei nen Seufzer der Erleichterung aus – für den Augenblick zumindest war ich außerhalb ihrer Reichweite. Mir war ganz schwach, und ich warte te, bis das wilde Herzklopfen etwas nachlassen würde. Aber dann, als ich keine sich entfernenden Schritte hörte, horchte ich gespannt und vernahm durch die massive Tür hindurch ein Flüstern, das von un heimlichen Lauten begleitet war, als ob Fingernägel am Holz kratzten. »Cluain gehört Ihnen nicht.« Bei diesen leise hervorgestoßenen Worten erfasste mich ein Grauen. Ich rang nach Luft und rutschte an der Tür hinunter, bis ich auf dem Fußboden saß. Ich stellte den Kerzenstummel beiseite und rieb mir die Stelle an der Hand, wo das Wachs mich verbrannt und die stählerne Hand rote Flecken hinterlassen hatte. Sie mußte mich gehört und sich ihrerseits hingehockt haben, denn ihr Flüstern klang dicht an mein Ohr. »Es gehört Ihnen nicht.« Ich blieb, wo ich war, unfähig, mich zu bewegen. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden saß. Ich beobachtete, wie die Kerze langsam, 41
ganz langsam in ihrem eigenen Wachs ertrank. Mein wildes Herz klopfen konnte dieses schreckliche Geflüster nicht übertönen. »Es ge hört Ihnen nicht!« Die Kerzenflamme flackerte nochmals auf und ver losch. Endlich hörte ich leise Schritte die Treppe hinuntergehen. Aber die Worte verließen mich nicht.
Ich war schon ganz steif und verkrampft, als ich endlich die Kraft hat te, aufzustehen, um mich beim Schein des ausgehenden Kaminfeuers an den Schreibtisch heranzutasten, wo eine andere Kerze bereit stand. Ich zündete sie an, und nachdem die Flamme gleichmäßig brannte, ging ich zum Koffer und holte wieder den Kasten hervor, in dem ich Williams Sachen aufbewahrte. Ich zog die Rolle heraus und legte sie neben mich auf die Bank vor dem Kamin. Ich warf ein paar frische Scheite auf die Glut. Es dauerte eine Weile, bis sie sich neu entfachte, und so blieb ich zusammengekauert sitzen und lauschte angespannt – aber alles blieb still. Ich hielt meine Hand ganz nahe an die niedrigen Flammen, aber sie schienen keine Wärme zu geben. Schließlich zwang ich mich, die Rolle in die Hand zu nehmen. Sie hatte oben und unten je ein schmales Bambusstöckchen und ein ro tes Seidenband zum Aufhängen. Jeder Astknoten im Bambus, jede fei ne Linie der Zeichnung waren mir vertrauter als alles, was ich je beses sen hatte. Hunderte, vielleicht Tausende von Malen hatte ich die Rolle geprüft und studiert. Die Nachricht war mir noch immer unklar, aber jetzt glaubte ich zumindest die verzweifelte Dringlichkeit zu verstehen, mit der William versucht hatte, sie aufzuzeichnen. Wenn sein Verstand von Fieber und Arzneien umwölkt war, wie war es ihm dann gelungen, sich ihrer Aufsicht lange genug zu entziehen, um diese Zeichen hinzupinseln? Wie hatte er sich mit seinem verletz ten Bein bis zum Schreibtisch schleppen können? Hatte er sich im Fie bertraum einer Sprache bedient, die er nur mit Mühe gelernt hatte? Und nur weil William sie gelernt hatte, habe auch ich es getan. Oder war er klardenkender und kräftiger gewesen, als sie annahmen, und 42
hatte deshalb die Nachricht in einer Sprache verfasst, die keiner hier lesen konnte? Hatte er schon gewußt, als er den Pinsel in die rote Tu sche tauchte, daß dies seine letzte Nachricht sein würde? Und schrieb er sie in der Hoffnung, daß Vater und ich sie erhielten, hatte sie aber nicht beenden können? Ich hatte tagelang versucht, seine Botschaft zu entziffern, und war zu der Überzeugung gekommen, daß es mir nur deshalb mißlang, weil ich nicht genug Chinesisch konnte. Aber dann hatte mir auch der Übersetzer nicht helfen können. Ich war enttäuscht und verzwei felt gewesen. Im Mandarinchinesisch gibt es Tausende von Zeichen, und jedes hat Tausende von Nebenbedeutungen. Die chinesische Eti kette verlangt, daß nichts direkt ausgesprochen wird, so daß es so gut wie unmöglich ist, eine einfache dringende Nachricht zu übermitteln. Wir – der Übersetzer und ich – haben uns die Köpfe zermartert; er mit sehr viel mehr Kenntnissen als ich, was ihm aber auch wieder im Wege stand; denn er wagte kaum, das auszusprechen, was auch meine erste Lesart gewesen war. »Ihr geschätzter Herr Bruder … muß sich sehr schlecht gefühlt ha ben.« »Wie können Sie das wissen?« Ein Achselzucken. »Die Verworrenheit … ist gar nicht seine Art. Das Unklare, die schlechte Schrift …« »Bitte sagen Sie mir, sagen Sie mir doch, was er nach Ihrer Meinung schreiben wollte.« Sein eleganter Gelehrtenfinger glitt die Zeichen hinunter, die am Rande des Pergaments standen; er musterte mich mit unsicherem Sei tenblick: »Ich glaube, er wollte …« »Was?« »Ich glaube, es heißt … ›Sie hat gemordet.‹«
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Drittes Kapitel
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D
er nächste Morgen hätte nicht normaler sein können. Morag weckte mich mit einem lauten Klopfen an der Tür. Ich war in den Schlaf gesunken wie in ein warmes Nest, und ich erwachte nur lang sam und ungern. Schon die Tatsache, aufstehen zu müssen, um den Riegel zurückzuschieben, brachte mir Mairi Sinclair wieder in Erinne rung. »Aber, aber«, begrüßte mich Morag, als ich ihr öffnete, »Sie brauchen sich doch nicht einzuschließen! Wer soll denn schon reinkommen?« Sie mußte mich für albern halten. »Ich – ich bin es so gewöhnt.« »Glauben Sie mir, in Cluain brauchen Sie sich vor nichts zu fürch ten. So, hier ist ein Krug heißes Wasser. Mrs. Sinclair hat gesagt, man soll Sie heute morgen etwas länger schlafen lassen, weil Sie doch nach der Reise müde sein müssen. Aber sie hat es nicht gern, lange mit dem Abwasch zu warten. Vielleicht wäre es besser, Sie würden sich ein biß chen beeilen …« Sie plauderte munter weiter, während sie die Laken aufschlug. Sie war geschickt und flink bei der Arbeit, aber das störte sie beim Re den nicht. Sie sprach über alles, was ihr durch den Kopf ging; über das rote chinesische Kleid und daß sie es hübsch fände, über das gute Wet ter und die Sonne, die schon wärmte, und über die Bläue des Him mels. »Es wird ein schöner Tag werden, Miß …« Und dann, mit einem leichten Anflug des Bedauerns, so als denke sie an sorglosere Kinder 44
tage zurück: »Gerade richtig, um über die Wiesen zu gehen; Mrs. Sin clair wird sicher an den Rainhecken ihre wilden Blumen pflücken.« Ich lauschte ihrem Geplauder, dem leisen Seufzen des Windes, dem Vo gelgezwitscher und dem Rauschen des Flusses, der nach dem nächtli chen Regen fast über die Ufer trat. Die Welt von Cluain war hell und klar, ohne Nebel, ohne Geheimnisse. Während ich mich wusch und anzog, versuchte ich mir einzureden, daß ich letzte Nacht nur schlecht geträumt hätte. Aber als ich zur Tür ging, bewiesen die Wachsflecke nur zu deutlich, daß es kein Hirngespinst, sondern Wirklichkeit ge wesen war. Das Esszimmer war leer, aber man hatte für mich gedeckt. Porridge in einer Terrine, Fischbouletten, Speckscheiben, Setzeier – alles stand zum Warmhalten über Spiritusflammen. Wenn Angus Macdonald immer so herzhaft frühstückte, schien er für einen allein stehenden Mann nicht schlecht zu leben. Aber ich war nicht hungrig, und so aß ich nur ein wenig von dem frischen braunen Brot mit Honig und trank eine Tasse Tee. Beim Essen dachte ich an Mairi Sinclair und wie begabt sie war. Das Brot hatte sie bestimmt selbst gebacken, und sicher unter stand ihr auch die Molkerei, aus der die wunderbare Butter stamm te. Und was den Honig anlangte, so hatte ich noch nie einen besseren gegessen. Ich dachte an die Bienen, die fleißig im Kräutergarten her umflogen und dem Honig seinen wilden aromatischen Geschmack ga ben. Im Geist verglich ich die mageren Viehherden von China mit den wohlgenährten Rindern, die ich gestern gesehen hatte, und die scharf gewürzten exotischen Gerichte der Chinesen mit dem einfachen, ge sunden Essen hier. Eigentlich sollte es aus den Händen einer dicken, gemütlichen Frau kommen, die auf ihren Haushalt stolz war und wie Morag lustig dahinplauderte. Aber die Erinnerung an die verzweifel te, gespensterhafte Erscheinung von gestern nacht ließ mich nicht los. Mairi Sinclair hatte sich nicht nur über das Auftauchen einer anderen Frau in ihrem Königreich erbost – nein, sie hatte keine Angst um ihre eigene Stellung im Haus. Sie bangte um Cluain selbst. Was immer ihre Talente und Vorzüge sein mochten, sie hatte auch noch diese andere, merkwürdige Seite, mit der ich rechnen, die ich je 45
doch gleichzeitig ignorieren mußte. Am besten würde ich jetzt in die Küche gehen, um zu sehen, wie sie reagierte. War die nächtliche Sze ne nur eine Entgleisung, die sie vergessen wollte – oder würde sie da wieder einsetzen, wo wir aufgehört hatten? Eins würde allerdings im mer zwischen uns stehen: Williams anklagende Worte auf der Schrift rolle. Eines Tages würde ich sie um eine Erklärung bitten – nur das, mehr nicht. Vielleicht würde sie ruhig und gleichgültig mit den Ach seln zucken und behaupten, diese Worte wären das Produkt einer fieb rigen Phantasie. Ich seufzte, verwirrter als je zuvor. Meine Bekannt schaft mit Cluain und dieser Frau hatte nichts geklärt. Ich nahm das große silberne Tablett, um in die Küche zu gehen. Die Küche war dem Esszimmer genau gegenüber; zwischen beiden Räumen lag ein Korridor. Dicht neben der Küchentür war die Tür zum Garten; die Tür weiter hinten im Gang führte wahrscheinlich zum Fluss hinunter und zu dem Weg, den ich schon von meinem Fen ster aus gesehen hatte und der bei den Ställen und der Brennerei ende te. Auf dem Steinboden des Korridors standen, ordentlich neben einer Bank aufgereiht, einige Paar Stiefel, über denen verschiedene Tweed mäntel und Capes hingen. Wie auf allen Gütern kamen die Mitglieder des Haushalts nur selten durch die Vordertür und über den gebohner ten Fußboden herein. Mit dem Tablett in einer Hand griff ich nach der Klinke und hielt instinktiv den Atem an, um mich darauf vorzuberei ten, Mairi Sinclair gegenüberzutreten. Aber dann hörte ich, noch ehe ich die Küchentür geöffnet hatte, ihre Stimme; sie hatte denselben schrillen, metallischen Klang, an den ich mich so genau erinnerte. Mit Morag würde sie nicht so sprechen, es ging um etwas Wichtiges, um etwas, das sie direkt betraf. »Es macht mich ganz krank, dich hier so rumtrödeln zu sehen. Es ist schon spät, und der Herr arbeitet bereits seit dem frühen Morgen. Du mußt dich ranhalten, jetzt mehr als zuvor.« Eine ärgerliche, tiefe Männerstimme antwortete ihr unbeteiligt. »Ach, gib doch Ruhe. Alles ist in bester Ordnung, ich bin schon zur Stelle, wenn wir wieder mit dem Destillieren anfangen. Was gibt's jetzt schon zu tun? Mein Gott, wir haben doch den ganzen Winter lang ge 46
schuftet. Du weißt genau, daß wir mit dem Brennen erst beginnen, wenn die Gerstenernte eingebracht ist. Bis dahin gehört meine Zeit mir –« Ihre zornige Stimme unterbrach ihn. »Du bist mir ein schöner Bau er, wenn du nichts zu tun findest. Das Vieh ist unbewacht auf den Wei den, der Sattelraum ist voll von zerrissenem Pferdegeschirr, die Zäune müssen ausgebessert werden. Wann hat ein Bauer denn schon richtig frei? Willst du etwa dein ganzes Leben herumstrolchen? Nie sieht man dich auf dem Gutshof. Was soll der Herr von dir denken?« Seine Ungeduld war deutlich hörbar. »Genug davon! Bitte, du kannst ja deine Eier einsammeln oder deine Butter machen oder was immer du sonst noch so unbedingt für Cluain tun willst. Ich jedenfalls habe meine Freiheit wohl verdient, und das weiß er auch! Wenn es mir ge fällt, an einem so schönen Tag wie heute mit einem Brotkanten und ei ner Flasche Bier dahin zu gehen, wo ich hin will, dann tue ich es, und keiner wird mich daran hindern. Zum Zäune ausbessern und Viehhü ten hat er andere, mit so was gebe ich mich nicht mehr ab. Ich tanze nicht nach seiner Pfeife.« »Das ist nicht weise von dir. Nur ein Narr verpasst eine günstige Ge legenheit.« »Weise! Mein Gott, du hast zwar eine Menge Wissen im Kopf, aber kein Gran Weisheit. Wenn du die Wege entlanggehst, um nach deinen Kräutern zu suchen, fällt es dir dann je ein, deine Augen zum Himmel zu heben? Bleibst du je stehen, um den Vögeln zu lauschen und ihren Flug zu beobachten? Oder hältst du immer nur nach ihren Eiern Aus schau? Wenn es so ist, dann tust du mir leid. Ich habe nicht die gering ste Absicht, anderen zu dienen und mein Leben zu vergeuden. Zuerst diene ich mir selbst, und dann sehen wir weiter.« »Cluain wird darunter leiden …« »Soll es.« Seine Stimme klang bestimmt und endgültig. »Hast du völlig den Verstand verloren?« »Vielleicht – wahrscheinlich kein großer Verlust.« Sie schwieg, als ob ihr darauf keine Antwort mehr einfiele, und man hörte nur noch das laute Klappern einer eisernen Bratpfanne als Aus 47
druck ihrer wortlosen Wut. Ich klirrte meinerseits mit dem Porzellan auf dem Tablett und fummelte an der Klinke herum. Mairi Sinclair er schien sofort, riß die Tür auf und stand mir gegenüber. Sie machte eine flinke Bewegung, um mir das Tablett abzunehmen, aber ich tat so, als hätte ich es nicht gemerkt, und betrat schnell die Küche. »Haben Sie ein Zaubermittel für die Bienen, Mrs. Sinclair? Einen besseren Honig habe ich noch nie gegessen.« »Ich wollte gerade abräumen kommen.« »Aber das ist doch nicht nötig. So fein wird es doch in Cluain nicht zugehen, daß ich nicht mal die Küche betreten darf. Schließlich betre ten Sie ja auch mein Zimmer.« Sie reagierte auf meine Anspielung nicht. Ich trug mein Tablett zu dem großen gescheuerten Tisch, der in der Mitte der mit Fliesen aus gelegten Küche stand, und setzte es mit übertriebener Vorsicht ab. Erst dann sah ich mich um. Er stand an den Kamin gelehnt, seine Schultern überragten den Sims. Sein Gesicht erkannte ich zuerst nicht, weil es mir gestern, als ich ihn unter den Birken stehen und später durch den Regen reiten sah, fast verborgen geblieben war. Aber die Figur war unverkennbar. Selbst während des hitzigen Streits mit Mairi Sinclair hatte er nicht die Be herrschung verloren; sein Körper hatte etwas Statuenhaftes. Genau so bewegungslos hatte er mit dem Vogel auf seiner behandschuhten Hand im Wind gestanden – ein einsamer Mann, der sich selbst genügt. Er trug denselben verwaschenen roten Kilt (oder vielleicht doch einen anderen, denn dieser schien trocken), ein schäbiges, fast zerrissenes Kleidungsstück, und dazu gestrickte Kniestrümpfe im selben Muster. Ich war erstaunt, in seinem rechten Strumpf in Reichweite der Hand einen Dolch zu sehen. Seine Lammfelljacke, deren Schultern noch im mer dunkel von Feuchtigkeit waren, hatte er über den Stuhl geworfen. Er hielt mit beiden Händen einen Krug, den er langsam von den Lip pen absetzte, und zwar mit derselben stolzen Gleichgültigkeit, die ich bereits an ihm beobachtet hatte. Es war klar, daß dieser Mann nicht gewöhnt und gewillt war, Befehle entgegenzunehmen. Ich begegnete seinem starren Blick, ohne mit der Wimper zu zuk 48
ken. Ich würde mich von ihm nicht in Verlegenheit bringen lassen. Er sah ungewöhnlich gut aus und wußte es auch. Aber nach der Kleidung und seiner ganzen Art zu schließen, schien ihm nicht daran gelegen zu sein, auf irgend jemand Eindruck zu machen. Das einzige, was er der Welt zeigen wollte, war, daß ihr Urteil ihn gleichgültig ließ. Fürch tete er etwa, jemand könnte das bezweifeln? Für einen Menschen, der viel im Freien war, hatte er eine eigentümlich weiße, aber nicht bleiche Haut. Alles andere war schwarz: der wirre Haarschopf, die geraden bu schigen Augenbrauen und aus der Entfernung sogar die Augen. Der Mund, die Augen und Brauen wirkten wie drei harte Striche, und we der im Gesicht noch in seinen Bewegungen war eine Spur von Weich heit zu entdecken. Noch während ich ihn ansah, stellte er betont langsam den Krug auf den Kamin und nahm seine Lammfelljacke. Er nickte Mairi Sinclair zu, mich übersah er. »Ich geh jetzt.« Ich beobachtete ungläubig und erstaunt die gewollt unhöfliche Nach lässigkeit, mit der er zur Küchentür ging, sie aufmachte und sie ziem lich geräuschvoll hinter sich schloß. Er mußte ganz genau gewußt ha ben, wer ich war, denn er gehörte offensichtlich zu Cluain, und sein Benehmen mir gegenüber war ein Schlag ins Gesicht. Aber obwohl mir die Lippen vor Wut und verletztem Stolz zitterten, siegte meine Neugierde. »Wer – wer war das?« Mir kam es so vor, als ob die Kränkung, die er mir zugefügt hat te, ihr ein gewisses Vergnügen bereitet und ihr Selbstgefühl gehoben hätte, und von diesem Moment an wußte ich, daß ich wahrscheinlich nie über die vergangene Nacht mit ihr sprechen würde. Im kalten Ta geslicht war diese Frau gar nicht schwach, und nichts konnte sie ein schüchtern. »Wer das war? Callum Sinclair, mein Sohn.« Dann ging sie mit derselben Gleichgültigkeit, die ihr Sohn zur Schau getragen hatte, zur Tür und nahm einen schwarzen Schal vom Haken. Sie verließ grußlos die Küche, aber nicht, um ihn einzuholen. Einen 49
Moment später sah ich durchs Küchenfenster, wie sie gemächlich, aber zielbewusst den schmalen Gartenweg entlangging. Alle paar Sekun den machte sie halt und beugte sich zu den Kräutern, um an ihnen zu riechen. Einen Augenblick hatte ich den Eindruck, als ob sich ihre Lip pen bewegten und sie zu den Pflanzen spräche und diese ihr nickend Antwort gäben. Sie wirkte in diesem Garten völlig verändert. Ihr Kör per verlor seine Starre, und sie hatte plötzlich die Grazie einer schönen Frau. Das weiße Fell der Katze, die ihr voranlief, verschwand im Grau der Lavendelbüsche, und die farblosen Augen glitzerten aus dem ho hen Thymian. Obwohl sie die Katze nicht beachtete und die Katze sie nicht, waren doch beide ein Paar, sie gehörten zusammen. Vereint in einer Art von glanzvoller Absonderung. »Nun, was halten Sie von Callum Sinclair?« In der Tür, die vermutlich in die Speisekammer führte, stand Morag. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Dasselbe wie von seiner Mutter«, antwortete ich. Wie leicht glitt ich doch in die Freundschaft mit diesem Mädchen hinein. Sie war so of fen und umgänglich, ohne jegliche Unterwürfigkeit, aber auch ohne Anmaßung. War den Leuten dieses Landes die natürliche Würde an geboren? »Ja, ja, seine Mutter. Aber wer sein Vater war, das wird wohl keiner erfahren.« »Tot?« Sie zuckte die Achseln. »Wer weiß. Mir hat man erzählt, daß Callum Sinclair in Cluain – ich glaube, hier in dieser Küche – geboren wurde. Seine Mutter war anscheinend dem Tod nahe, und Mrs. Macdonald, die sie aus reiner Güte aufgenommen hatte, als kein anderer sie wollte, beschwor sie, doch zu sagen, wer der Vater sei, damit das Kind einen Namen und ein Zuhause hätte. Aber sie schwieg beharrlich und über lebte glücklicherweise. Aber auch später hat niemand was erfahren. Die Leute haben viel geredet, aber nach meiner Meinung wissen sie alle nichts. Seitdem sind schon fast dreißig Jahre vergangen, und Mai ri Sinclair wird von jedermann in der Umgegend sehr geachtet! Keiner spricht mehr darüber, aber eins ist sicher: Einen anderen Mann hat es 50
in ihrem Leben nicht gegeben, denn alle haben wie die Schießhunde auf sie aufgepaßt. Wenn eine Frau einmal einen Fehltritt macht, ist sie vor fremden Augen und Zungen nie mehr sicher.« »Hatte sie denn keine Familie?« »Miß Howard, ich war damals noch nicht geboren, und als ich er wachsen und neugierig wurde, hatten die Leute die Geschichte schon vergessen, außer einer eigenartigen alten Frau, die immer nur über die Vergangenheit sprach. Ich persönlich hab nicht viel Geduld mit sol chen Weibern, aber meine Mutter klatschte gern ein wenig, und da sie Mrs. Sinclair nicht sehr mochte, hat sie versucht, möglichst viel über sie herauszubekommen.« »Und?« Morag hob die Schultern. »Nun, angeblich hat sie allein mit ihrem Vater gelebt – sie war das einzige Kind, das ihm blieb. Er soll ein stol zer, harter und geiziger Mensch gewesen sein, der mit keinem sprach und nie jemand einen Whisky anbot. Er war arm – oder zumindest benahm er sich so. Mairi Sinclair arbeitete schwer, aber er schickte sie immerhin auf die Dorfschule. Sie hatte kein leichtes Leben; nach dem Unterricht mußte sie noch das kleine Pachtgrundstück bestellen und frühmorgens die Kuh melken. Und als sie das uneheliche Kind krieg te, hat der Vater sie so verprügelt, daß sie fast gestorben war. Es ist ein Wunder, daß sie keine Fehlgeburt hatte – vielleicht wollte er das mit den Schlägen erreichen. Er hat sie aus dem Haus gejagt, und sie kroch bei Nachbarn unter, bis sie sich wieder halbwegs erholt hatte. Aber die Nachbarn waren arm und hatten so viele Kinder, daß es für Mairi kei nen Platz gab. Da schlug ihr Mrs. Macdonald vor, doch nach Cluain zu kommen. Ihre Großmutter, Miß Howard, war eine sehr gütige Frau. Man sagt, der Herr hätte sich geweigert, Mairi Sinclair aufzunehmen, aber Ihre Großmutter hat darauf bestanden. So kam es, daß Callum Sinclair in Cluain geboren wurde. Na ja, und seitdem lebt sie ganz ab geschlossen und hat sich nur um die Erziehung des Sohnes und um Cluain gekümmert. Man hat das Gefühl, sie könne nie genug für Clu ain tun – nein, an Mairi Sinclair hat keiner je etwas auszusetzen ge habt. Sie las die Bibel und sammelte ihre Kräuter, und Mrs. Macdonald 51
ließ sogar aus Edinburgh Bücher für sie kommen, weil sich bald her ausstellte, daß sie eine natürliche Begabung für Heilkunde hatte. Auch Callum war gescheit, und als er größer wurde, hat Mrs. Macdonald auch für ihn besondere Bücher bestellt. Vergessen Sie nicht, daß kurz nachdem Mrs. Sinclair nach Cluain kam, Ihre eigene Mutter, Mrs. Howard, nach China ging, und wahrscheinlich fühlte sich Ihre Großmut ter sehr einsam. Und da sie oft krank war, hat sie den Haushalt im mer mehr Mairi Sinclair überlassen. Und als sie starb, gab es in Cluain keine Veränderung – alles ging so weiter wie früher. Manchmal holt man sie von weit her, wenn eine Kuh schwer kalbt oder so was. Sie soll stärker als jeder Mann sein, aber dabei eine weichere Hand haben. Sie kann Tiere beruhigen, indem sie mit ihnen spricht. Sie hat eine beson dere Art, mit allem umzugehen, was stumm ist. Niemand hat sich ge wundert, daß sie in Cluain blieb, nachdem Mrs. Macdonald starb. So jemand wie Mairi Sinclair findet man nicht so leicht wieder.« »Hat sie sich nie mit ihrem Vater ausgesöhnt?« »Nie. Er hat es nicht über sich gebracht, wieder mit ihr zu sprechen, und später, glaube ich, wollte sie nicht mehr. Man soll sich erzählt ha ben, daß Mairi Sinclair nie wieder das Stückchen Erde betrat, das ih rem Vater gehörte. Das kleine Haus verfiel, und das Land verwilder te.« Morag nahm die Teekanne vom Küchenherd. »Möchten Sie noch ei nen Schluck haben, Miß?« Aber als ich ihr meine Tasse hinhielt, sag te sie schnell: »Ach nein, ich mach Ihnen lieber frischen. Mrs. Sinclair würde mir das nicht durchgehen lassen. Sie hasst Schlampigkeiten.« Dann zeigte sie auf die schwarzgekleidete Gestalt im Garten und fuhr fort: »Man erzählte sich auch, daß der Herr ihr angeboten hätte, Cal lum aufs Gymnasium zu schicken, aber Mrs. Sinclair wollte außer ih rem Gehalt nichts annehmen und hat selbst seine Schule in Inverness bezahlt, dann sogar ein Jahr in Edinburgh. Keiner hat gedacht, daß er hierher zurückkommen würde, wo doch jeder im Umkreis alles von ihm weiß – nur nicht den Namen seines Vaters. Mit neunzehn fing er an, in der Brennerei zu arbeiten, und mit vierundzwanzig hat er sie schon praktisch allein geführt. Nur mit dem geschäftlichen Teil hat 52
er nichts zu tun; wenn Kunden kommen, um den Preis auszuhandeln, ist er nicht mit dabei, aber er weiß trotzdem genau Bescheid. Und für Whisky hat er einen unheimlichen Riecher. Er scheint auf die Sekunde genau zu wissen, wann der Vorlauf zum richtigen Whisky wird. Und dazu gehört nicht nur Kenntnis, sondern auch Begabung und Feinge fühl.« »Also schätzt mein Großvater ihn sehr?« Morag hob leicht die Schultern. »Ja und nein. Callum ist zu freiheits liebend und nimmt gewisse Vorrechte für sich in Anspruch, die man ihm auch meistens zugesteht. Nein, sehr gut stehen die beiden nicht, obwohl der Herr Callum alles beigebracht hat, was er selbst wußte. Callum führt sein eigenes unabhängiges Leben. Und das gefällt dem Herrn nicht. Ich glaube, das hat auch dann zu dem großen Krach ge führt. Vor vier Jahren sind sie furchtbar aneinander geraten, und Cal lum ging nach Edinburgh und nahm dort irgendeine Stellung an. Aber der Herr hat ihn schon nach kurzer Zeit gebeten, zurückzukommen, und da, glaub ich, hat Callum seine Bedingungen gestellt. Jetzt lebt er in einem kleinen Haus da oben an der Straße, das er selbst repariert und in Ordnung gebracht hat. Er kommt nur selten nach Cluain, um mit seiner Mutter in der Küche zu essen, und über Nacht bleibt er nie. In der stillen Zeit, wenn die Brennerei nicht arbeitet, verschwindet er, und kein Mensch weiß, wohin. Er hat in gewisser Weise die Begabung seiner Mutter geerbt; er kennt jeden Vogel, jedes lebende Wesen. Auf dem Moor hält er sich bei jedem Wetter auf, und nie passiert ihm was. Mrs. Sinclair behauptet, daß er nie im Leben krank war. – Ja, nun hab ich Ihnen alles erzählt, was ich über Callum Sinclair weiß – aber wer weiß wirklich etwas über ihn? Es gibt nicht gerade viele, denen er sich anvertraut, vielleicht niemanden.« »Was ist denn Ihre Meinung, Morag?« fragte ich. Sie zuckte wieder die Schultern. »Ich glaube, er kam aus Edinburgh zurück, weil er hier geboren ist und die überfüllten Städte nicht aus halten kann. Wenn er in der Brennerei arbeitet, schuftet er wie ein Pferd, und danach ist er wieder frei. Er will weder dem Herrn noch ir gendeinem Menschen etwas schuldig bleiben.« 53
Morag nickte ein paar Mal angestrengt mit dem Kopf, so als versu che sie, den Sinn von Callum Sinclairs Leben zu begreifen; gleichzeitig ließ sie aber auch Mairi Sinclair nicht aus den Augen, die immer noch im Garten herumging und ihre Kräuter begutachtete. »Gelegentlich liegen sich Mutter und Sohn furchtbar in den Haaren, aber sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, und beide gehen ihre eigenen Wege.«
2
I
ch schlenderte den Korridor entlang und öffnete die Hintertür von Cluain. Von hier aus überblickte man weites Weideland, das sich bis zum Flussufer erstreckte. Überall standen alte Eichen und Birken, die vor ewiger Zeit hier angepflanzt worden waren und das lange Be stehen von Cluain bewiesen. Der Weg, den die Kühe zur Molkerei be nützten, war zerstampft und matschig, aber der gepflasterte Pfad, der ums Haus herumführte, war sauber – wie alles in Cluain. Ich blieb ste hen und blickte auf den breit dahinfließenden Fluss; was mich aber unwiderstehlich anzog, war die Brennerei. Ich fragte mich, ob ich dort meinen Großvater finden würde. Als ich den gepflasterten Hof über querte, der von Cluains Garten, den Ställen und der Brennerei um grenzt wurde, hörte ich dasselbe gräßliche Gekreische und Gezische wie gestern bei meiner Ankunft. Ich blieb stehen und sah zu meinem Schrecken die Herde aufgeregter Gänse an der Ecke der Brennerei auftauchen. Sie kam schnatternd und flügelschlagend mit vorgestreckten Schnäbeln auf mich zu. Ich hatte keine Zeit mehr, zu überlegen, welche Tür wohl zu Großvaters Büro führen könnte, sondern raste blindlings auf die nächstliegende zu, das schreckliche Gänsevolk dicht hinter mir. Ich hoffte, daß die Tür nicht geschlossen wäre, weil ich sonst die ganze Länge des Gebäudes hätte 54
entlanglaufen müssen. Aber zuerst drehte ich mich um und versuch te schreiend und mit den Armen fuchtelnd den gefiederten Haufen zu verscheuchen. Sie wichen auch zurück, aber nur für kurze Zeit; dann stürzten sie sich alle wieder auf mich, und während ich noch mit der Türklinke kämpfte, spürte ich, wie mich zwei Gänse durch meinen dicken Rock schmerzhaft in die Wade zwickten. Als ich die Tür aufge stoßen hatte, drehte ich mich noch einmal um und stieß racheerfüllt mit dem Fuß nach dem Gänserich, der die Herde anführte. Eine Se kunde lang schien er verblüfft – sein fast menschlich wirkender Aus druck des Erstaunens war so komisch, daß ich beinah gelacht hätte, wenn er nicht schon wieder auf mich losgegangen wäre. »Scher dich zum Teufel – weg mit dir!« schrie ich und schlug die Tür zu. Das Geschnatter hielt noch eine Weile an, aber dann verstummte es. Ich stand mit dem Rücken zur Tür, rieb das schmerzende Bein und versuchte, mich im Gewirr der Türen, Gänge und Eisentreppen zu rechtzufinden. »Tut es weh?« Es war Callum Sinclair. Ich wußte nicht, woher er gekommen war. Vielleicht war er schon die ganze Zeit hier gewesen und hatte sich an meinem Missgeschick ergötzt. Aber dann sah ich sein Gesicht und wußte, daß von Scha denfreude keine Rede sein konnte. Er trug immer noch den gleichen verärgerten, verdrossenen Ausdruck zur Schau wie vorhin in der Kü che, aber er fragte besorgt: »Sehr weh tut es nicht … oder doch?« Ich hob meinen Rock, ohne mich darum zu kümmern, was er sich dabei dachte, und untersuchte meine Wade. Der Strumpf war zerrissen, der wütende Schnabel hatte mich ganz tüchtig gezwickt, aber Blut kam keins. Callum Sinclair nickte. »Na, das geht ja noch, aber Sie wären nicht die erste gewesen, die der große Billy blutig gebissen hätte.« »Der Gänserich? Warum hält sich mein Großvater so ein bösartiges Tier?« »Es ist nicht seine Schuld. Die ganze verdammte Gänseschar gehört dem Steuereinnehmer, der in einem Cottage bei den Lagerhäusern wohnt. Er sagt, er hätte das Recht, sie überallhin mitzunehmen, und 55
behauptet, sie wären besser als jeder Wächter. Das mag sogar wahr sein, und da er schon über zwanzig Jahre in Cluain sitzt, ist kaum an zunehmen, daß wir die Biester je wieder loswerden.« Während unseres Gesprächs bemerkte ich, daß er ungeduldig mit einem Schraubenschlüssel in seiner Hand spielte. Also stimmte es gar nicht, daß er sich in seiner Freizeit überhaupt nicht um die Brennerei kümmerte, wie er vorhin in der Küche behauptet hatte. Vielleicht woll te er mit solchen Reden nur seine Mutter ärgern oder ihr seine Unab hängigkeit beweisen? Mir schien es, als hätte er irgend etwas hier re parieren wollen, als ihn die Gänse auf mich aufmerksam machten. Na türlich hatte mein Großvater wegen dieser Zuverlässigkeit das groß zügige Abkommen mit ihm getroffen. Für Gleichgültigkeit zahlt man nicht mit Zugeständnissen. »Wozu braucht man denn Wächter hier, wer stiehlt schon an so ei nem entlegenen Ort?« Mit dem Anflug eines Lächelns antwortete er: »Verzeihen Sie mir, Miß Howard, aber Sie haben im Whiskygeschäft noch viel zu lernen. Die Fässer in den Lagerhäusern bergen ein ganzes Vermögen an staat lichen Steuern. Wenn Ihr Großvater soviel Geld hätte, wie er der Re gierung für den Whisky schuldet, den er schon verkauft hat, aber noch für seine Kunden lagert, wäre er ein reicher Mann.« »Erlaubt denn Großvater diesem Burschen von der Steuer, alles zu tun, was er will?« Sinclair zuckte die Achseln. »Wie kann er ihm was verbieten? Nicht Cluain beschäftigt Neil Smith – so heißt er nämlich –, sondern Ihrer Majestät Zoll- und Akzis-Behörde. Cluain stellt ihm ein Haus zur Ver fügung, und seine Aufgabe ist es, die noch unversteuerte Ware in den Lagerhäusern zu bewachen. Und der große Billy ist dafür wie geschaf fen.« Ich rieb meine Wade noch energischer und hatte den Eindruck, daß Callum Sinclair es für mich tun würde, wenn es ihm der Anstand er laubt hätte – aber nicht etwa, weil ich ihn als Frau interessierte, son dern weil Wunden und Schmerzen einfach sein Mitgefühl erweckten. »Warum waren Sie so grob zu mir?« 56
»Wann?« Ich machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ach, ich hab keine Zeit für die Spiele, die ihr hier alle spielt. Wann? Vorhin in der Kü che.« »Wie konnte ich grob zu Ihnen gewesen sein? Wir kannten uns doch noch gar nicht.« »Hat uns der große Billy miteinander bekannt gemacht?« Diesmal verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln, was ihn unheimlich veränderte. Ich glaube, es war in diesem Moment, daß der Wunsch in mir aufkam, ihn öfters zu sehen. Dann lachte er plötzlich laut auf, und es dauerte eine Weile, bis er wieder ernst wurde und die horizontalen Linien in seinem Gesicht – die geraden Brauen, die Au gen, der Mund –, die ich in der Küche schon beobachtet hatte, sich wie der klar abzeichneten. Sie wirkten aber jetzt nicht mehr so streng wie zuvor. »Sie sind Ihrem Bruder William sehr ähnlich«, sagte er. »Ich freu mich, daß Sie das denken. Haben Sie ihn gemocht?« Er nickte. »William war in Ordnung. Aber er hatte noch viel zu ler nen.« Ich schnaubte innerlich vor Wut. »Sie sagen das! William galt immer für sehr intelligent und klug.« »Intelligent, ja. Das will aber nicht heißen, daß er ausgelernt hatte. William war noch sehr jung.« »Sind Sie etwa alt?« Er ließ den Schraubenschlüssel in der Hand wie zustimmend ein paar Mal auf und ab wippen. »Na schön, eins zu null für Sie. Ich bin nicht alt, aber ich war nie so wohlbehütet wie er; ich bin nicht der Sohn eines Bischofs …« Er unter brach sich, als ob ihm die eigenen Worte auf den Lippen brannten; nie mand durfte – niemand konnte je erfahren, wessen Sohn er war. Er schien plötzlich den Faden verloren zu haben. »Soll ich Sie rüber ins Haupthaus begleiten?« murmelte er. »Vor mir hat der große Billy Respekt, aber er wird sich auch an Sie bald gewöhnen.« »Lassen wir den großen Billy. Das nächstemal schlag ich ihn mit 57
meinem Schal. Aber ich will mich wenigstens nicht umsonst gefürch tet haben – als Trost müssen Sie mir die Brennerei zeigen!« Im Nu war die ganze besorgte Freundlichkeit aus seinem Gesicht ge wichen, und er wirkte frostig und ablehnend. »Sie werden mich ent schuldigen, Miß Howard, aber das steht mir nicht zu. Nur Ihr Großva ter kann das tun, und der ist jetzt nicht in der Brennerei. Ich bin nicht der Herr von Cluain.« Ich ballte meine Fäuste und schloß einen Augenblick die Augen, um meine Enttäuschung zu verbergen. Als ich ihn wieder ansah, musterte er mich kalt und aufmerksam. »Ich habe es satt«, rief ich, »dauernd von dem Herrn von Cluain zu hören. Es gibt auch andere Menschen auf der Welt. Waren Sie nicht der Freund meines Bruders? Als sein Freund könnten Sie mir doch die Brennerei zeigen!« »Freund? Ich weiß nicht, ob ich das war. Hätte er mich dafür gehalten?« »Wie kann ich das wissen?« »Hat er Ihnen in seinen Briefen nicht von Cluain – und von den Men schen hier erzählt?« »Briefe brauchen lange bis nach China … Ja, ein wenig hat er es schon beschrieben … aber nur so allgemein.« Dann hörte ich auf, ihm etwas vorzumachen. »Ach, es hat keinen Zweck. Nein, er hat Cluain nicht oft erwähnt. Ich glaube, er wollte uns nicht enttäuschen. An sich hatte er vor, nach China zurückzukehren.« »Und dann hat er's sich anders überlegt? Nach Beendigung seiner Studien wollte er doch in Cluain bleiben, nicht wahr?« Ich machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Woher soll ich das wissen? Gesagt hat er es nie, das war es ja gerade. Aber wir ha ben es erraten …« Plötzlich wollte ich nicht mehr weiter darüber re den. »Also, zeigen Sie mir die Brennerei?« Ich blickte mich um und versuchte das Thema zu wechseln. Aber Callum Sinclair ließ nicht locker. »Sie errieten also, daß Sie William verlieren würden, aber er starb noch, bevor Sie es genau wuß ten. Und dann ermordete man Ihren Vater. Man hat viel darüber gere det, und ich wußte natürlich, daß William eine Schwester hat. Ich habe manchmal an Sie gedacht …« 58
»Und warum haben Sie vorhin in der Küche nicht mit mir gespro chen, wenn Sie doch wußten, wer ich war?« »Haben Sie erwartet, daß ich mich tief vor Ihnen verbeuge und Sie in Cluain willkommen heiße? Nein, die Bücklinge und Schmeichelei en überlasse ich anderen, und von denen gibt es viele.« Jetzt lachte ich. »Davon habe ich wenig gemerkt. Kein einziger hieß mich in Cluain willkommen. Werden Sie es jetzt tun?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht, denn ich bin nicht sicher, daß es richtig von Ihnen war, hierher zu kommen. Vielleicht werden Sie es bereuen – vielleicht auch nicht. Ihr Großvater ist einer, der auf seinem Besitz besteht. Was ihm gehört, gehört ihm. Verges sen Sie das nicht! Und eins kann ich Ihnen verraten, Ihr Bruder mußte sich an seinem ersten Morgen hier nicht selbst den Weg in die Brenne rei suchen und wurde nicht vom großen Billy und seinen Gänsen ge jagt. Nein, nie wurde ein verlorener Sohn herzlicher empfangen! Stun denlang hat man ihm gezeigt, wie alles funktioniert. An diesem ersten Tag konnte er unmöglich auch nur ein Viertel davon behalten. Und dann die Whiskyprobe im Büro des Herrn – der arme William konn te nicht mehr gerade stehen! Der alte Mann hat zu dick aufgetragen, und William wäre fast abgesprungen. Eine Zeitlang wußte man nicht, ob er überhaupt je nach Cluain zurückkommen würde. Ihr Großvater streckte seine groben Tatzen nach ihm aus, um ihn zu schnappen und nie mehr loszulassen. Macht – Macht und Gier. Ich hasse das Gewicht der Macht – und was man Menschen schuldig ist, nur weil sie eine ge wisse Position einnehmen. Und nun, Miß Howard, nachdem ich Ih nen das alles erzählt habe, wollen Sie immer noch, daß ich Ihnen die Brennerei zeige?« Ich nickte demütig. »Ja, ja, bitte. Ich vertraue Ihnen, Callum Sinclair. Sie sind scheußlich ehrlich, aber trotzdem glaube ich, daß Sie mich nicht auslachen werden, weil ich eine Frau bin und mich in Dingen nicht auskenne, von denen die meisten Männer wenigstens eine Ah nung haben.« Er wippte auf seinen Absätzen. »Dumm sind Sie sicher nicht, sonst würden Sie nicht so was sagen. Dumm war auch William nicht. Eine 59
Frau sind Sie, aber Frauen sind manchmal wahre Teufel, weil sie ihr Wissen so gut verbergen können. Sie überrumpeln die Männer. Na gut, ich bin nicht der Herr von Cluain, aber ich werde versuchen, das zu tun, was eigentlich seine Pflicht wäre.«
Mir drehte sich schon der Kopf, bevor wir auch nur halb durch waren. Ich sagte zu allem ja, was Callum Sinclair mir erklärte, und in der er sten halben Stunde stellte ich sogar ein paar Fragen. Aber bald gab ich es auf, hörte nur noch zu und versuchte verzweifelt, mir irgend etwas von dem zu merken, was er mir sagte. Aber ich wußte schon im vor aus, daß es völlig hoffnungslos war, und er wußte das wohl auch. Aber er war geduldig. Er sprach langsam, und seine Stimme wurde immer freundlicher, seine Worte und Sätze wurden weniger knapp. Er paßte seine langen Schritte meinen kürzeren an, während wir durch die großen, totenstillen Räume der Brennerei gingen. Ich könnte mir vorstellen, daß er seinem Hund auf ähnliche Art beigebracht hat, bei Fuß zu gehen – mit freundlichen Worten und vorsichtigen, geduldi gen Bewegungen. Aber er hatte auch einen wilden gefährlichen Falken dressiert, dieses Geschöpf der Lüfte – wie hatte er das fertig gebracht? Wortlos folgte ich ihm durch das Labyrinth der Gänge und Treppen zur Tür, durch die ich vor Billy geflüchtet war. Das schien lange her zu sein. Als ob er einen plötzlichen Entschluß gefaßt hätte, warf er den Schraubenschlüssel auf eine Bank neben der Tür und nahm seine Lammfelljacke. Er öffnete die Tür, und sofort hörte ich wieder das mir nur zu bekannte Zischen. Aber als der große Billy und sein Gefolge um die Ecke der Lagerhäuser geschossen und über die Straße gelaufen kamen, machte Callum eine Handbewegung, und die Gänse blieben schliddernd stehen. Der große Billy machte hochmütig kehrt und wat schelte mitten durch die gefiederte Schar, die ihm gehorsam, aber un ter leisem, ärgerlichem Geschnatter folgte. »Wird der große Billy sich an mich erinnern?« 60
»Ich glaube, ja. Erst mal wird er versuchen, wie weit er Sie erschrek ken kann, aber sehr bald wird er sich daran gewöhnen, daß Sie hierher gehören, und dann werden Sie ihn zähmen müssen. Neil Smith, der Steuerbeamte, hätte wahrscheinlich einen Riesenspaß, wenn Sie aus lauter Angst vor Billy nicht wagten, den Garten zu verlassen – aber die Genugtuung dürfen Sie ihm und dem Gänserich nicht geben. Sie müs sen beiden zeigen, daß Sie ein Recht haben, hier zu sein. Jetzt können Sie unbesorgt ins Haus zurückgehen.« »Und Sie? Kommen Sie nicht mit hinein?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mein eigenes Haus, und außerdem ist der Tag zu schön, um ihn zwischen vier Wänden zu verbringen. Heute habe ich genug für Cluain getan. Eigentlich wollte ich überhaupt nicht in die Brennerei gehen, aber ich wußte, zwei Arbeiter würden heute hier sein, und so dachte ich …« »Wohin gehen Sie?« Ich wußte, es war eine zudringliche Frage, aber ich konnte sie mir einfach nicht verkneifen. Er wandte seinen Blick von Cluain und seiner unmittelbaren Nachbarschaft ab und ließ ihn über den Fluss, die Gerstenfelder und die Berge schweifen, bis er schließlich am Felsen von Ballochtorra hängen blieb. »Oh, immer der Nase nach. Ich habe ein Pferd, einen Hund und einen Falken.« »Ja, ich weiß.« Ich verriet mich mit jedem Wort … mein ganzer Stolz ging zum Teufel, aber warum auch nicht, es war eine unnütze und dumme Eigenschaft, die sich nur trennend zwischen die Menschen stellte. »Dann wissen Sie genug. Ein Mann mit einem Hund und einem Jagdfalken … die zusammen irgendwohin gehen, das ist alles.« Ich versuchte ihn wenigstens noch eine Minute aufzuhalten. »Es ist doch eine bestimmte Falkenart, nicht wahr?« Ich schien das Richtige getroffen zu haben; er war plötzlich wie ver wandelt und sprudelte vor Eifer. »Ja, es ist ein Wanderfalke, und er heißt Giorsal. Ich fand ihn als Nestling auf der anderen Seite des Ballochtorra-Felsens, und er ist jetzt schon drei Jahre bei mir. Wir jagen zusammen. Kein Tier, das ich kenne, ist so frei und so wild, und doch kommt er immer wieder auf meinen Handschuh zurück und scheint 61
zufrieden dabei. Er macht sich nichts aus Whisky oder der Brennerei oder aus dem, was wir hier unten sonst noch tun. Sein Element ist die Luft, und wenn er auf seine Beute niederstößt, ist er schneller als jedes andere lebende Wesen. Nichts kann einem Mann mehr schmeicheln, als wenn so ein Geschöpf freiwillig auf seine Hand zurückkommt. Und wenn ich nicht mit ihm jagen gehen kann, dann plündere ich ohne weiteres Cluains Speisekammer, um ihm frisches Fleisch zu bringen, was immer Angus Macdonald dazu sagen mag. Die Zeit, die ich in der Brennerei verbringe, geht Giorsal verloren. Er ist anspruchsvoll, aber wunderbar. Sein Name heißt auf Gälisch ›Gnade‹.« Sein Gesicht bekam plötzlich einen müden, fast verbitterten Zug, als hätte ein düsterer Gedanke seine Begeisterung gedämpft. »Kennen Sie übrigens die alte Regel, Miß Howard, die ganz genau die soziale Rang ordnung für Falkner festsetzt, ich meine – wer welchen Falken besit zen darf?« »Nein, gibt es so eine Regel?« »O ja, eine sehr strenge und präzise sogar, sie lautet: Ein Adler für ei nen Kaiser, ein Geierfalke für einen König, ein Wanderfalke für einen Prinzen, ein Würgfalke für einen Ritter, ein Zwergfalke für die Dame, ein Hühnerhabicht für einen Pächter, ein Sperber für einen Priester, ein Turmfalke für einen Knappen.« Er lachte laut auf, als ob er sich über ein Tabu lustig gemacht hätte. »Sehen Sie, wenn es nach diesen Regeln ginge, dürfte ich nur einen be scheidenen Turmfalken besitzen, aber nachdem ich einen Wanderfal ken habe, muß ich ein Prinz sein. Auf Wiedersehen, Miß Howard.« Ich sah ihm nach, wie er am Haus entlangging – fort von mir. Der verblichene Kilt wippte über seinen Knien, und ich fragte mich, wa rum ich nicht schon früher gemerkt hatte, wie gut einem Mann ein Kilt steht, wie leicht und beschwingt er darin aussieht. Die Lammfell jacke hing ihm lose über die Schulter. Bevor er um die Ecke der Bren nerei verschwand, hörte ich ihn pfeifen, irgendeine leichte Marschme lodie, die so gut zu diesen Hügeln und Höhen paßte. Die Welt lag offen vor ihm, und er und sein Falke würden sich in ihren Weiten verlieren. Ich blickte zum blauen, dunstigen Sommerhimmel auf und vermein 62
te schon jetzt in der Ferne ein immer kleiner werdendes Pünktchen im All zu sehen – Giorsal im freien Fluge. Ich wollte bei ihm sein – bei ihm und bei Giorsal und dem Hund und dem Pferd. Ein Flüstern in mir wurde lauter, und ich unterdrückte es nicht: Nimm mich – nimm mich doch mit! Aber er hat es mir nicht angeboten.
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Viertes Kapitel
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A
n diesem Nachmittag begab ich mich zur Kirche und dem Fried hof, die oben auf dem Hügel jenseits des Flusses lagen. Morag hat te mir den Weg genau beschrieben. Ich mußte erst an Ballochtorra vor bei über die etwas unterhalb liegende Brücke und dann die dem Schloß felsen gegenüberliegende, steil ansteigende Straße hinaufgehen. Als ich schon ziemlich weit oben an der Gabelung angekommen war, die nach Ballinaclash einerseits oder zur Kirche andererseits führte, drehte ich mich um. So frontal und nicht wie aus dem Turmzimmer von der Sei te her gesehen, wirkte Ballochtorra eigentümlich unharmonisch. Der Mitteltrakt, der einmal eine Burg gewesen sein mußte, hatte nichts von seiner noblen, aber düsteren Schönheit verloren, doch die offensicht lich später hinzugefügten Teile waren ein geschmackloses Durchein ander. Zuviel war auf zu kleinem Raum zusammengepfercht worden. Der Felsen hatte einfach nicht genug Platz für großartige Schwünge, und die auf verschiedenen Höhen angebauten Flügel sahen wie ein schiefgeratener Kuchen aus. Gestern hatten ihm Wind und Regen und später der aufsteigende Nebel eine gewisse Würde, etwas Verwunsche nes verliehen, was heute im goldenen Licht der Sonne völlig fehlte. Es war noch lange nicht Abend, und doch lag eine Seite schon im Schat ten des steil aufragenden Felsens, während Cluain bis zu seinen nörd lichsten Fenstern wie in Sonne gebadet schien. Ich war irgendwie erleichtert, als ich Ballochtorra und Cluain all 64
mählich aus der Sicht verlor und das weite Land sich vor mir öffnete. Die Sonne schien hier wärmer zu scheinen. Ich blickte in die Höhe und hoffte unter all den Vögeln Giorsal zu entdecken, denn Giorsal bedeu tete, daß Callum Sinclair nicht fern war. Aber wie erkennt man einen Falken am Himmel? Würde ich ihn je fliegen und auf seine Beute nie derstoßen sehen oder nur den gezähmten, gehorsam auf dem Hand schuh sitzenden Vogel? Die Kirche lag im Schatten eines Hügels verborgen, aber ich erkann te sie auf Morags Beschreibung hin an ihren dunklen, efeubewachse nen Umrissen. Sie lag nicht weit von Ballochtorra entfernt, war aber von dort aus nicht sichtbar. Sie war winzig, hatte einen eckigen Glok kenturm und stand ganz für sich allein. Kein Dorf, kein einziges Haus befand sich in der Nähe. Sie wirkte verloren, als ob niemand sie je be träte – aber nicht verfallen. Die Mauern waren frisch beworfen, die Fenster unversehrt, der Riegel des Friedhoftores ging leicht auf. Ich fand das Grab ohne große Mühe. Die meisten Grabsteine waren mit Gras überwachsen oder verwittert, ihre Inschriften fast unleser lich. Aber daneben gab es ein paar Grabreihen, die anscheinend frisch hergerichtet waren; die Marmorplatten waren alle neu gesetzt, obwohl die Geburts- und Todeszahlen manchmal Jahrhunderte zurücklagen. Der Familienname war immer derselbe: Sir Andrew Campbell, sei ne Frau Catriona … Mary Campbell, Sir Robert Campbell – drei Rei hen von Campbells. Und dann, diesen Gräbern genau gegenüber, auf der anderen Seite des Kiesweges, fand ich William. Ich war froh, keine polierte Marmorplatte zu sehen, sondern einen einfachen behauenen Granitblock mit der eingemeißelten Inschrift: william macdonald howard, dann das Geburts- und Todesdatum – ohne Bibeltext. Ich dankte meinem Großvater im stillen, daß er William dieses würdevol le, schmucklose Denkmal gesetzt hatte. Schon die Rauheit des Steins schien zu bezeugen, daß es kein zu Ende geführtes, von der Zeit ver schlissenes Leben gewesen war. Kein blumiger Text lobte seine Tugen den – junge Leute haben keine Zeit, sie unter Beweis zu stellen. Aber der Gegensatz zwischen dem Granit und dem polierten Marmor ließ auch noch etwas anderes erkennen: den Glauben meines Großvaters 65
an Arbeit und Pflichterfüllung, seine Einfachheit, die Verachtung für die förmliche Pracht von Ballochtorra. Es war mehr als eine zornige Anspielung auf das vornehme Getue des Landadels. »William«, flüsterte ich. Warum kommt man auf Friedhöfe, um mit Toten zu reden? William war mir im Turmzimmer in Cluain gegen wärtiger als hier. Aber er lag an einem schönen Ort, über den der Wind ungehindert hinwegstrich und der Winter jedes Jahr seine saubere Schneedecke legen würde. Ich setzte mich ins hohe, noch vom gestri gen Regen feuchte Gras und lehnte mich an den Granitstein. »William, warum hast du mir so wenig erzählt? Was erwartest du von mir?« Na türlich kam keine Antwort. Es würde keine Antwort mehr geben. Ich wußte nichts außer den wenigen, mit fiebriger Hand auf eine Schrift rolle gepinselten Zeichen. Und dann hörte ich die Musik. Eine Fülle von Klängen, eine plötzli che Befreiung des Geistes: die ersten mächtigen Auftakte der Bachschen Fuge. Ich sprang auf wie elektrisiert, erschreckt von dem gewaltigen, unerwarteten Brausen, von der disziplinierten Leidenschaft, die für das große Können des Organisten zeugte. Es war eine jauchzende Lobesund Dankeshymne, und ich mußte mich, von Scheu ergriffen, mit der Hand auf Williams Grabstein stützen und wagte kaum zu atmen. Als die Fuge endete, stand ich noch immer reglos da, wahrschein lich auf eine Fortsetzung hoffend, aber nichts kam. Ich wartete, hörte aber nur den Laut einer sich öffnenden Tür und das Umdrehen eines Schlüssels. Der Mann blieb einen Augenblick stehen, wohl um seine Augen an das Tageslicht zu gewöhnen. Er blickte zum Himmel auf – und nun erkannte ich ihn. Unwillkürlich hob ich die Hand. Er mußte die Bewegung gesehen haben, denn er drehte den Kopf in meine Rich tung und kam langsam durch das hohe Gras auf mich zu. »Miß Howard, Sie hier und ganz allein?« Er runzelte die Stirn, aber ich hatte den Eindruck, daß er sich freute, mich wieder zu sehen. »Ja, Mr. Campbell – ach, verzeihen Sie, Sir Gavin Campbell, nicht wahr?« »Es scheint, ich muß mich daran gewöhnen, Sie allein an Orten zu finden, an denen man normalerweise junge Damen nicht vermutet.« 66
»Wieso wundert Sie meine Anwesenheit hier?« Und dabei blickte ich auf Williams Grab. Er schüttelte den Kopf, aber von der gestrigen Schroffheit war nichts mehr zu bemerken. »Verzeihen Sie. Natürlich ist es ganz verständ lich, daß Sie hier sind. Aber irgendwie erwartet man von wohlerzoge nen jungen Damen, daß sie sich an die konventionellen Regeln halten, aber Sie – ich meine, Sie tragen weder Trauer, noch weinen Sie in der Öffentlichkeit. Sie kommen allein aus dem fernen China und schik ken noch nicht mal ein Telegramm. Ich war gestern so verblüfft, daß mir erst hinterher das Verrückte an der ganzen Situation klar wur de … Wäre ich nicht gewesen, wären Sie vermutlich zu Fuß nach Clu ain marschiert.« »Ja, was hätte ich anderes tun können?« Dann fügte ich hinzu: »Im Grunde bin ich gar nicht so anders als die anderen. Ich glaube, ich hatte Angst, zu kommen, und da bin ich einfach losgefahren. Mir hat schlicht der Mut gefehlt, an meinen Großvater zu schreiben oder auf seine Ein ladung zu warten. Und so wie ich die Sache jetzt beurteile, hätte er sie mir auch gar nicht geschickt. Sehen Sie, ich bin eben kein zweiter En kelsohn, aber wenn man in China aufgewachsen ist, gewöhnt man sich daran, daß man als Mädchen nichts gilt. Überhaupt, Sir Gavin, Chi na bringt einem vieles bei, zum Beispiel: zu überleben, am Leben fest zuhalten. Deswegen trage ich keine Trauer, keinen Schleier – es käme mir sinnlos vor. Mein Vater glaubte ans Leben – an den Tod dachte er nicht. Auch William glaubte ans Leben, nur drückte er es anders aus als Vater. Und Sie – Sie glauben doch auch ans Leben, nicht wahr?« »Wie können Sie das wissen?« »Die Musik. Die Orgel eben haben doch Sie gespielt?« »Ja.« Ich blickte ihn an. »Es war das erstemal seit der Nachricht von Willi ams Tod, daß ich wieder etwas fühlte, es war – eine Botschaft der Freu de. Niemand, der nicht mit ganzem Herzen das Leben bejaht, kann diese Musik so spielen.« »Sind Sie Musikerin, Miß Howard?« Auf meine Worte reagierte er nicht. 67
»Nein, leider nicht. Es war reiner Zufall, daß ich mich an die Bach sche Fuge erinnerte. Es war doch Bach, nicht wahr?« »Ja.« »Aber warum hörten Sie so schnell zu spielen auf? Ich hätte hier den ganzen Nachmittag stehen und Ihnen zuhören können.« »Ich wollte eigentlich nur ein paar Hymnen für nächsten Sonntag heraussuchen, aber bevor ich ging, bekam ich plötzlich Lust, etwas für mich zu spielen, und da fiel mir der Beginn der Fuge in die Hände. Ich begleite die Gemeinde, wenn sie sonntags singt – ich finde es weniger scheinheilig als die Lesung des Bibeltextes. Vom Grundherrn erwar tet man das eigentlich, und wenn die Leute nicht wüssten, daß ich mit einem Pferd und einem Gewehr nicht schlechter umgehe als viele an dere, würden sie es sehr merkwürdig finden, daß ich Orgel spiele. Da bei sind die Hymnen sehr einfach, und die Dorfschullehrerin könnte leicht damit fertig werden. Manchmal denke ich, daß ich sie um eine nette Pflicht bringe.« »Aber die Orgel hier ist nicht nur für einfache Hymnen gebaut. So gar ich merke das.« Er lehnte an einem der Campbellschen Grabsteine und blickte auf die Kirche. »Nein, die Orgel ist viel zu gut für eine so kleine Kirche und viel zu wuchtig. Aber bezahlt hat sie mein Schwiegervater, und der muß alles immer im großen Stil machen. Er hat auch die Kirche re staurieren lassen. Na, und das Resultat sehen Sie ja – und nicht nur daß die Orgel viel zu prächtig ist, nein, sie hat auch noch ein großes Kup ferschild, damit der liebe Gott genau weiß, wer dafür gezahlt hat.« »Sie sprechen nicht gerade freundlich von Ihrem Schwiegervater.« Er zuckte die Achseln. »Es ist schwer, unfreundlich zu ihm zu sein. Er würde es noch nicht mal merken. Sehen Sie, als er die Kirche erneu ern ließ, dachte er noch, daß seine Tochter hier einmal begraben wür de neben allen anderen Campbells unseres Familienzweiges. Er konn te nicht zulassen, daß sie auf einem verfallenen Friedhof liegt, auf dem die Schafe und Rinder grasen.« »Wollen Sie meine Meinung hören? Ich glaube, Sie sprechen einfach zuviel, Sir Gavin. Ich bin hier fremd – ich kenne Ihren Schwiegervater 68
nicht. Die Orgel mögen Sie wie ein Engel spielen, aber Sie haben eine verteufelt scharfe Zunge.« Er lachte. »Bravo, Mädchen, aus Ihnen spricht Ihr Vater. Aber seien Sie unbesorgt, Sie werden bald mehr über meinen Schwiegervater hö ren – und wahrscheinlich weit Schlimmeres. Der Schwiegervater ist nämlich James Ferguson.« »Wer?« »Ach Gott, ich habe ganz vergessen, daß der Name Ihnen nichts sagt. Es ist einer von den großen Whisky – oder, genauer gesagt, WhiskyVerschnitt-Magnaten, ein Getränk, das sicher nicht einmal in der Nähe von Cluain geduldet wird. Er überlässt es den anderen, das teure Zeug herzustellen, und kauft dann ihre Produktion auf. Aber was immer er anfasst, wird zu Gold. Das hat sich allmählich herumgesprochen, und nun will sich alle Welt schleunigst an seinem Geschäft beteiligen, und er beeilt sich, seine Gewinne auszugeben. Deshalb die Kirche, die Or gel und Ballochtorra selbst.« »Aber er kann doch unmöglich Ballochtorra gebaut haben.« »Das nicht, aber er hat die alte Burg restauriert und eine Menge hin zugefügt, um ein passendes Haus für sein einziges Kind zu schaffen. Ja, wenn er vor elf Jahren gewußt hätte, daß er so reich würde, dann hätte er sich nicht mit einem einfachen Baron für sie zufrieden gege ben. Außerdem glaube ich, daß seine Tochter mich wirklich heiraten wollte, was natürlich auch nicht ganz unwichtig war.« »Und Sie?« fragte ich kühl. Ich war empört über seine Worte. »Ich? Du großer Gott! Ich liebte sie wahnsinnig. Sie war damals acht zehn und so schön, daß ich dachte, sie würde mich keines Blickes wür digen. Nun, das ist elf Jahre her. Jetzt ist sie voll erblüht und eine Mut ter. In der Londoner Gesellschaft behauptet man, sie sei die schönste Frau im Königreich. Ich persönlich gehe nicht oft nach London und kann deshalb kein allgemeingültiges Urteil abgeben, aber für mich ist sie schön. Nun, Sie werden sie ja bald selbst kennenlernen.« Ich war beschämt. Er hatte sie geliebt, und höchstwahrscheinlich liebte er sie immer noch. Und wenn er über seinen Schwiegervater so schlecht sprach, so hatten ihn vielleicht die Umstände – der einsame 69
Friedhof und das Spiel auf der Orgel, die das Geschenk eines solchen Mannes war – dazu gebracht, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte. »Wissen Sie, am Anfang haben wir beide darüber gelacht. Ich kam nämlich völlig unerwartet zu meinem Titel. Mein Vater erbte ihn plötzlich von einem entfernten Vetter, und dann ging er auf mich über. Aber an meiner Wiege hat man es mir nicht gesungen. Mein Vater hat mich unter großen Opfern nach Cambridge geschickt, und nach dem Studium hoffte ich, vielleicht mal einen Posten als Organist in einer Kirche zu bekommen. Und dann war mein Vater eines Tages Sir Bruce Campbell, weil ein junger unverheirateter Vetter im Zustand der Voll trunkenheit in einen Fluss fiel und ertrank. Zwei Monate später starb mein Vater, und ich hieß Sir Gavin. Als Kind war ich ein einziges Mal in Ballochtorra gewesen; die alte Burg war fast eine Ruine, und ich wollte weder sie noch den Titel. Und plötzlich hatte ich beides, aber dafür keinen Pfennig, und auch der Organistenposten rückte in uner reichbare Ferne, denn Dekanate stellen ungern junge Leute an, die auf die Gemeinde möglicherweise hochnäsig wirken könnten. Ich fuhr zu rück nach Edinburgh, wo mein Vater eine Anwaltspraxis hatte, in der Hoffnung, daß irgend jemand mich irgendwohin empfehlen würde. Aber schon wenige Tage nach meiner Ankunft lernte ich Margaret – meine Frau – kennen.« »Das ging aber gut aus«, sagte ich und wünschte, mein Ton wäre et was weniger scharf. Er blickte auf die Kirche. »In gewisser Weise, ja. Ich habe nur eine sehr vage Erinnerung an diese Tage. Wenn man so verliebt ist, gibt es keinen logischen Ablauf der Ereignisse, ich kann sie jetzt kaum mehr auseinander halten. Ich weiß nur, daß Margarets Vater eines Tages er schien und die Dinge in die Hand nahm. Ich war vermutlich sehr jung für mein Alter – wir waren beide sehr jung. Und wir waren verheira tet.« »Und er kam nach Ballochtorra und hat es umgebaut?« »Ja, aber bevor er damit begann, war uns ein wenig Zeit vergönnt – Margaret und mir. Die Architekten und James Ferguson machten Plä ne, und wir beide waren wunschlos glücklich. Wir hausten einen ver 70
zauberten Sommer lang unter den regendurchlässigen Dächern der al ten Burg. Wenn man jung ist und das Feuer im Kamin brennt und der Wein gut schmeckt, merkt man so etwas nicht. Natürlich hätte ich nachdenken sollen, wer für die Wärme und für den Wein zahlt, aber ich tat es nicht. Es schien so unwichtig damals, aber das war ein Feh ler, zum Schluß war es wichtig – sehr sogar!« »Sie haben gesagt, daß Mr. Ferguson dachte, seine Tochter würde einmal hier neben all den anderen Campbells begraben werden. Wa rum eigentlich nicht?« Er blickte mich von der Seite an, dann schweifte sein Blick über die sauberen Grabreihen. »Sie sind eine aufmerksame Zuhörerin. Ja, das haben wir alle gedacht, und deswegen hat mein Schwiegervater die Kir che und die Gräber renovieren lassen. Aber seitdem – ich hoffe, ich bin nicht irgendein böser Dämon, der Unglück über seine Verwandtschaft bringt – sind zwei weitere Vettern gestorben. Der eine als Offizier in In dien, der andere an Typhus im Kongo – er war Söldner im Dienst des belgischen Leopold. Und es stellte sich heraus, daß beide, einer nach dem anderen, den Anspruch auf den Titel des Marquis of Rossmuir hatten. Die Rechtsanwälte mußten lange suchen, bis sie den nächsten Erben fanden, und der werde ich sein.« Er machte eine abwehrende Ge ste. »Oh, nicht, daß damit irgendwelche Reichtümer verbunden wären. Die Rossmuirs sind zwar eine sehr alte Familie, aber sie besitzen nur noch ein paar hundert Morgen Grasland und ein Schloß, in dem schon seit mehr als hundert Jahren niemand mehr wohnt. Der jetzige Titelträ ger ist fast neunzig und bettlägerig. Er lebt höchst bescheiden in Edin burgh von seinem spärlichen Pachtzins. Da kaum anzunehmen ist, daß er noch einen Erben zeugt, wird der Titel mir zufallen. Jetzt verstehen Sie, wieso mein Schwiegervater hin- und hergerissen ist; einerseits hat er die Kirche hier renoviert, andererseits reizt es ihn, die alte Ruine und den traditionellen Begräbnisplatz der Rossmuirs zu erneuern. Daran hindert ihn im Moment nur, daß es erstens etwas geschmacklos wäre, damit anzufangen, bevor ich den Titel geerbt habe, und zweitens, daß der alte Herr es ihm verbieten könnte. Abgesehen davon liegt das Schloß hoch in den Einöden Schottlands, und wer würde je dort hinkommen, 71
um es zu bewundern? Schließlich gibt man doch kein Geld aus, um ein paar Kleinpächtern und Schafen zu imponieren, nicht wahr?« Ich sagte zornig: »Sie sind unglaublich! Warum nehmen Sie das Geld dieses Mannes an, wenn Sie ihn so verachten? Und wenn Sie es schon tun, warum haben Sie nicht genug Anstand, zu schweigen?« Er seufzte. »Sie haben recht. Ich benehme mich wie ein selbstgefälli ger Narr. Natürlich kann ich einem Vater nicht verbieten, Geld für sei ne Tochter und für seinen Enkelsohn auszugeben; schließlich macht es ihm Freude. Und ich sollte es mit mehr Anstand hinnehmen, wie Sie richtig sagen. Aber wieso erzähle ich Ihnen das alles? Haben Sie von Ihrem Vater das Talent geerbt, Menschen zum Sprechen zu bringen? Ich habe Ihnen Dinge anvertraut, die besser ungesagt blieben. Aber wenn ich selbst nicht davon rede, werden es andere tun – zum Beispiel Ihr Großvater. Vielleicht möchte ich auch, daß Sie zuerst meine Versi on hören – warum, weiß ich nicht, oder vielleicht mußte ich mich ein fach mal bei jemand aussprechen, und bei Ihnen bin ich sicher, daß Sie den Mund halten können.« »Pastorenkinder sind dazu erzogen. Nein, ich klatsche nicht, aber es würde mich interessieren, Mr. James Ferguson kennen zu lernen, den Mann, der ein Vermögen aus Whisky macht – vermutlich ist es gerade das, was mein Großvater auch möchte.« »Ihr Großvater gehört zu einem ganz anderen Menschenschlag. Er ist ein eigensinniger, etwas engstirniger Mann voller Vorurteile, aber er hat seine Ehre dareingesetzt, den besten Whisky im Land herzu stellen. Die Qualität seiner Produktion interessiert ihn mehr als das Geld. Und so war es immer. Wenn man sich seine Vorfahren aussu chen könnte, dann wäre Angus Macdonald, aber auch unsere gemein same Ahnin keine schlechte Wahl.« »Ja, richtig, Sie sagten mir schon, daß wir entfernt verwandt sind. Und wer war die Ahnin?« Aber ich dachte immer noch darüber nach, was er mir über Großvater gesagt hatte. Es gefiel mir, daß er anschei nend genauso große Stücke von ihm hielt wie Angus Macdonald von sich selbst. Er hatte einiges, was er über James Ferguson gesagt hatte, damit wieder wettgemacht. 72
»Angus Macdonalds Mutter. Sie war eine Campbell aus Ballochtor ra. Dort liegt sie!« Er zeigte auf das Grab. Ich blickte auf den rau behauenen Granitstein, der genau neben Wil liams Grab stand, aber kleiner und verwitterter war. Das hohe Gras verdeckte die Inschrift. Ich bog es zurück und las den Namen – chri stina campbell macdonald. Ich sah ihn an. »Warum liegt sie nicht drüben bei all den anderen Campbells?« »Christinas Vater, Sir Graeme Campbell, verbot ihr, John Macdo nald, den Vater von Angus, zu heiraten. Er war nur der Sohn eines kleinen Grundbesitzers auf einer winzigen, armen Hebrideninsel und nicht gut genug für seine Tochter und Ballochtorra, und überdies war er ein Macdonald. Mit Ballochtorra stand schon damals nicht alles zum besten, und nur eine reiche Ehe hätte es wieder flottmachen kön nen. Ich glaube, die beiden lernten sich in Glasgow kennen. Christina kam nach Ballochtorra, um sich die väterliche Genehmigung für die Heirat zu holen, und als er sie nicht gab, zog sie einfach mit ihrem Er wählten auf die entlegene Insel und kam nie mehr wieder. Nicht daß man sie in Ballochtorra gut empfangen hätte; sie war alles, was ihrem Vater noch blieb, sein jüngstes Kind, seine letzte Hoffnung, nachdem seine zwei Söhne in den Napoleonischen Kriegen gefallen waren. Er hatte einen heruntergewirtschafteten Besitz geerbt und die Schulden noch vermehrt; er war ein Spieler. Er verzieh Christina nie, daß sie ihn nicht gerettet hat.« »Aber hier liegt sie – begraben an der Kirche von Ballochtorra. Also ist sie doch zurückgekommen?« »Ja, weil Angus Macdonald darauf bestand. Er brachte sie nach ih rem Tode hierher und reiste erst wieder ab, als sie beerdigt war. Ihr Va ter in seiner Eigenschaft als Grundherr von Ballochtorra verweiger te das Begräbnis mit derselben Hartnäckigkeit, wie Angus darauf be harrte. Zum Schluß fand sogar Sir Graeme Campbells gefügiger Pfar rer keine Ausrede mehr, aber auch dann noch lehnte Sir Graeme es ab, sie neben den anderen Familienangehörigen zu begraben. Deswegen liegt sie hier auf der anderen Seite des Weges.« »Aber wie kommt es, daß meinem Großvater Cluain gehört? Wenn 73
Sir Graeme seiner Tochter nie verzieh, ist es nicht merkwürdig, daß seinem Enkelsohn das fruchtbarste Stück Land von Ballochtorra ge hört?« »Hat er Ihnen nicht davon erzählt? Ich hätte gedacht, dieser alte Tri umph wäre Gesprächsthema Nummer eins bei ihm.« »Wir hatten andere Dinge zu …« »Ja, natürlich. – Man erzählt sich, daß Sir Graeme zu der Zeit schon sehr alt und krank war und sich mit allen Familienmitgliedern ver kracht hatte, sogar mit den entferntesten. Keiner wollte mehr was mit ihm zu tun haben. Nachdem Angus wieder auf seine kleine Insel zu rückgekehrt war, wurde es wohl dem alten Herrn klar, daß er sich wie ein respektvoller und pflichtgetreuer Sohn benommen hatte – obwohl er ein Macdonald war. Von seiner eigenen Familie war Sir Graeme so etwas nicht gewöhnt. Über den unveräußerlichen Teil des Erblehens von Ballochtorra und über den Titel konnte er natürlich nicht verfü gen, aber Cluain war aus irgendeinem spitzfindigen juristischen Grund schon vor Jahren vom Stammgut getrennt worden. Es war zwar ganz heruntergewirtschaftet, aber Sir Graeme hatte seine Gläubiger immer hingehalten und seine Rechte auf Cluain nie verloren. Er vererbte es Angus Macdonald aus schierer Gemeinheit, wie die Campbells sagen. Ich persönlich hoffe, aus verspäteter Reue. Vielleicht wollte er an sei nem Enkelsohn, auf den er nur stolz sein konnte, wiedergutmachen, was er seiner Tochter angetan hatte; er überlebte sie übrigens nur sechs Monate. Und so verließ Angus Macdonald seine Insel und kam nach Cluain, um sein Erbe anzutreten. Es gab eine wütende juristische Aus einandersetzung. Die Campbells behaupteten, er hätte auf einen be reits senilen Mann unerlaubten Druck ausgeübt, obwohl alle von dem Begräbnisstreit wußten, der ja schließlich bewies, daß Angus über haupt keinen Einfluss auf ihn besaß. Angus hatte zwar keinen Pfen nig, aber dafür das Recht auf seiner Seite. Er bat Samuel Lachlan in In verness, den Fall zu übernehmen. Samuel Lachlan hatte schon als jun ger Mann den Ruf, einer der gerissensten Anwälte zu sein. Außerdem war er sehr bedacht aufs Geld, also gar nicht der Typ, der einen Klien ten annimmt, von dem er noch nicht mal weiß, ob er zahlen kann. – 74
Und trotzdem hat er es getan. Der Teufel weiß, warum, und er hat den Prozess auch gewonnen. Damit besaß Angus Macdonald ein gut erhal tenes Haus, voll möbliert, und das beste Ackerland in der ganzen Um gebung. Ballochtorra dagegen gehörte mit seinem reparaturbedürfti gen Dach, einer unrentablen Moorhuhnjagd und einem Felsen glei chen Namens den Campbells. Für den neuen Baronet, von dem später mein Vater den Titel erbte, muß es recht bitter gewesen sein, von Bal lochtorra auf Cluain hinunterzuschauen. Ganz besonders, als Angus Macdonald anfing, seine Brennerei zu bauen. Man erzählt sich, daß Angus noch am selben Tag, an dem ihm Samuel Lachlan die Doku mente und die Schlüssel von Cluain übergab, auf den Besitz eine Hy pothek aufnahm, um Kapital für den Bau der Brennerei zu haben. Und sogar die Brennerei war in gewisser Weise Christinas Erbe. Als sie auf ihrer fernen Insel verwitwete, hat sie sich den Kopf zer brochen, was aus Angus werden sollte. Sie konnte ihm weder das Le ben eines Gentleman bieten noch ein Offizierspatent kaufen. Da fiel ihr das Hauptprodukt ihrer Heimat ein, und sie schickte ihren Sohn zu ei nem Whiskyhersteller. So ließ sie ihn ein Handwerk und einen Handel lernen, an den sie selbst glaubte, und so wußte Angus Macdonald, als er Cluain erbte, daß es mit seinen Gerstenfeldern, Bächen, Torfmoo ren, dem hiesigen Klima der ideale Platz war, um Malzwhisky herzu stellen. Als er hierher kam, fürchtete er weder Tod noch Teufel und am allerwenigsten harte Arbeit. Das Gut wurde mit den bescheiden sten Mitteln bewirtschaftet und die Brennerei mit dem Geld von Sa muel Lachlan aufgebaut. Das Ganze war ein kolossales Wagnis, aber es glückte.« »Sie wissen viel über meinen Großvater.« »Ich fand die ganze Geschichte mit Christina, ihrem Vater und An gus Macdonald, der sie hier begraben wollte, so merkwürdig, daß ich sie mir Stück für Stück zusammengesucht habe, und in gewisser Weise bewundere ich auch Ihren Großvater. Er ist hart wie der Granit hier – hart und ausdauernd. Die Fassade, die er der Welt zeigt, ist undurch dringlich. Es war William, der als erster eine Brücke von Cluain nach Ballochtorra schlug. Er kam recht oft – warum auch nicht. Außer uns 75
gibt es hier keinen anderen Verkehr. Und William hatte in Cluain nicht viel zu tun. Angus Macdonald sah diese Besuche natürlich nicht gern, aber das war William egal.« Plötzlich senkte sich seine Stimme – fast flüsterte er; die Worte ka men nur zögernd, stockend, so als hätte er zu lange versucht, sie in sei nem Innersten zu begraben. »Ja, und warum nicht – warum sollte er nicht kommen – er war verliebt – oder mehr als das – vielleicht lieb te er meine Frau.« Ich weiß nicht, wann er ging. Vermutlich stand ich eine Zeitlang da und beobachtete, wie das Gras über die Gräber von William und Chri stina strich, und als ich wieder aufsah, war er fort, und ich war froh darüber. Mein Blick kehrte zum Grabstein zurück, auf den man erst kürzlich den Namen in den Granit gemeißelt hatte. »Hast du sie ge liebt, William? Hast du sie geliebt und mir nichts davon geschrieben? War sie die schöne Zauberin, die du hier gefunden hast?« Eine leichte Brise wehte über die kleine Lärchengruppe am Ende des Friedhofs; sie war meine einzige Antwort. Mein Großvater wartete auf mich und war ungnädig. Er stand in der gleichen Haltung wie gestern vor dem Kamin im Esszimmer, aber sein Gesicht war von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuch tet, und er wirkte älter als im grauen Licht des Vorabends. »Ich höre, du warst mit Callum Sinclair in der Brennerei«, begrüßte er mich, als ich auf der Schwelle erschien. Ich drehte mich hastig nach ihm um, und die Tür fiel laut ins Schloß. »Ja. Hast du was dagegen, Großvater?« »Und ob! Ich will nicht, daß du auf vertrautem Fuß mit den Brenne reiarbeitern stehst.« Ich ging auf ihn zu und fühlte, wie mein Gesicht zornig errötete. »Auf vertrautem Fuß mit Callum Sinclair stehen! Ich kann mir nicht vorstellen, daß das irgend jemand gelingt, aber an mir hat es nicht ge legen – er ist es, der Vertrautheiten nicht zulässt.« »Na, hoffen wir, daß er seine Stellung kennt.« »Was meinst du mit Stellung? Er scheint über alles hier Bescheid zu wis sen, und wenn nicht er eine Stellung hat, dann möchte ich wissen, wer.« 76
»Er gibt den übrigen Arbeitern ein schlechtes Beispiel. Er geht, wann er will.« »Aber er arbeitet für Cluain, so wie kein anderer es tut, hab ich nicht recht? Und alle wissen es und erkennen es an. Und schließlich behältst du ihn ja in Cluain.« Ich hatte die Oberhand gewonnen, aber ganz gegen meinen Wunsch. Mein Großvater ging mit nervöser Hast zur Anrichte. Ich fragte mich, ob es zwischen uns immer so bleiben würde. Aber er kam mit je einem Glas in der Hand zurück und reichte mir eins. »Da, trink. Auf dein Wohl!« Er leerte sein Glas, ohne mich anzusehen, als ob wir schon ewig miteinander tränken und alle Förmlichkeit unnötig wäre. Viel leicht würden diese kleinen Wortstreite ein Teil unseres gemeinsamen Lebens werden, sozusagen ein Zeichen dafür, daß er mich akzeptiert hatte. Ich trank langsam meinen Whisky, er war mir nicht mehr unan genehm, sondern schmeckte sogar recht gut. Ich setzte mich. »Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen, sonst hätte ich dir erzählt, daß ich dich gesucht habe, damit du mir die Brennerei zeigst. Aber als ich über den Hof ging, kam dieser Gän serich, der große Billy, hinter mir her und hat mich in die Wade ge zwickt. Dann hab ich mich hinter die nächste Tür gerettet, und da stand Callum Sinclair.« »So, du hast also die Bekanntschaft des großen Billy gemacht?« Jetzt lächelte er fast. »Ja, ja, der ist der wirkliche Herr von Cluain. Wenn du ihn kennst, kannst du mit Recht behaupten, daß du Cluain kennst. Ich nehme an, du weißt nun alles über das Whiskybrennen.« »Wohl kaum, und wahrscheinlich lern ich es nie. Callum Sinclair sagte mir, daß man Jahre dazu braucht. Vielleicht lass ich's lieber.« Er runzelte seine dichten Augenbrauen. »Mach, was du willst.« Ich sah, wie er im Sessel zusammensackte. Was für ein ungleiches Paar wir doch waren. Statt ihn ein wenig aufzuheitern, irritierte ich ihn nur. Ich versuchte einen liebevolleren Ton anzuschlagen: »Ich bin zu Williams Grab gegangen.« Er nickte. »So hat man mir erzählt.« »Sie erzählen dir wohl alles?« 77
»Morag weiß fast immer, was hier in der Gegend geschieht, und sie ist ein nettes kleines Ding. Es wäre besser für uns alle gewesen, wenn sie auch gewußt hätte, wohin William an jenem Tag ging …« Er brach ab; Trauer und Schmerz hingen schwer im Raum. »Mir gefiel der Grabstein aus Granit«, sagte ich endlich. »Ich war froh, daß du William denselben Stein wie deiner Mutter gabst. Und ihn neben sie legtest.« »Woher weißt du, daß es das Grab meiner Mutter ist?« Seine Stimme klang scharf und mißtrauisch. »Ich habe die Inschrift gelesen – Sir Gavin zeigte sie mir. Er war da, in der Kirche, und spielte die Orgel«, schloß ich etwas lahm. Viel leicht hätte ich es gar nicht erwähnen sollen. Vielleicht wollte Campbell nicht, daß alle Welt von seinem einsamen Orgelspiel wußte. »Soso, Campbell war also da. Ja, der weiß allerdings ganz genau, wo Christina Campbell begraben liegt – durch sie habe ich Cluain bekom men.« »Das hat er mir erzählt – die ganze Geschichte mit allen Einzelhei ten.« Vielleicht war es ungeschickt, damit herauszuplatzen, aber ir gendwie mußte es doch möglich sein, all diese Vorurteile und alten Feindschaften zu beseitigen. »Er bewundert dich, Großvater.« »Soll er«, antwortete er gleichmütig, als ob diese Bewunderung selbstverständlich sei. »Und soll er mich beneiden. Die Campbells ha ben Cluain verloren, und das wurmt sie heute noch. Sie sind eine hab gierige Bande.« »Aber er doch nicht! Wozu auch? Ballochtorra macht mir keinen ar men Eindruck.« »Nein, das Geld hat seine Frau oder, besser gesagt, ihr ordinärer Va ter, der aus den Slums von Glasgow stammt und ein Vermögen mit billigem Whisky macht. Campbell wünscht ihn wahrscheinlich zum Teufel. Ich meine, was nützt es, ein Gentleman zu sein, schöne Pfer de zu haben und die Orgel zu spielen, wenn man einen Schwiegervater am Bein hat, der keinen korrekten Satz zustande bringt?« »Das ist schließlich nicht Gavin Campbells Schuld. Er scheint seine Frau zu lieben.« 78
»Liebe!« Er warf seinen großen Kopf zurück. »Natürlich, am Anfang waren sie ineinander vernarrt, und alles schien in Ordnung. Aber sag selbst, wie muß einem Mann zumute sein, der sieht, wie die eigene Frau aus einem lieben, einfachen und wohlerzogenen jungen Mädchen zu einer Londoner Gesellschaftspuppe wird? Seit fünf Jahren mietet Ferguson während der Saison ein Haus in London, und jetzt höre ich, daß er sich dort einen großen Kasten gekauft hat, den er von oben bis unten umbauen läßt. Man erzählt, er will das Haus bis zur Krönung fertig haben, und auf die wird man wohl nicht mehr so lange zu war ten brauchen.« »Die Königin ist noch nicht tot.« »Sie hat nicht mehr lange zu leben … aber Ferguson hofft, daß der alte Marquis of Rossmuir noch vor ihr stirbt, damit Campbell den Titel erben kann. Es wäre die Erfüllung von Fergusons verwegensten Träu men, denn dann könnte seine Tochter mit der Tiara einer Marchio ness bei der Krönung des neuen Königs mit allen anderen Damen des Hochadels in der Westminsterabtei sitzen. Ich glaube, er wünscht sich das noch mehr als den Ritterorden für sich selbst. Wer weiß, vielleicht kriegt er beides. Er wäre nicht der erste Whiskybaron – Geld kauft vie les. Aber bei alledem«, fügte er hinzu, als er an der Anrichte sein Glas erneut füllte, »hat er nur einen Enkelsohn. Sie hat ihm nur ein Enkel kind geboren.«
2
A
ls Morag die Besucherin anmeldete, stand ihr die Neugierde förm lich auf dem Gesicht geschrieben. Ihre Wangen waren gerötet, und die glänzenden roten Locken knisterten vor Aufregung über das einzigartige Ereignis.
»Lady Campbell ist hier, in höchsteigener Person!«
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Ich erhob mich vom Schreibtisch, wo ich versucht hatte, einen Brief nach Peking zu schreiben. Den ganzen Morgen lang war ich bedrückt gewesen, obwohl die Sonne warme goldene Strahlen ins Turmzimmer schickte; aber in der schönen Welt, die sich vor meinem Fenster ent faltete, schien es keinen Platz zu geben, wo ich mich nützlich machen konnte. Die Brennerei war Großvaters und Callum Sinclairs Revier, der Garten gehörte seiner Mutter – und abgesehen davon gab es nur noch Ballochtorra und den Friedhof, aber dorthin wollte ich so bald nicht wieder gehen. Die Felder und die Weiden breiteten sich einla dend im Morgenlicht vor mir aus, aber ich war von einer seltsamen in neren Müdigkeit erfüllt und hatte keine Lust, sie zu durchstreifen. Ich befestigte ein paar lose Strähnen mit einer Haarnadel und schlüpfte in elegante Schuhe, bevor ich Morag nach unten folgte. In der Halle ging ich automatisch auf das Esszimmer zu, aber ein aufge regtes Flüstern Morags hielt mich zurück. »Nein, nein, im Salon! Sie ist im Salon. Ich habe den Kamin angezündet, und Mrs. Sinclair kocht schon den Tee.« Sie zeigte auf eine Tür, die dem Esszimmer schräg ge genüberlag. Der Salon. Wie merkwürdig, daß ich noch nicht in Versuchung ge kommen war, ihn zu inspizieren. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß er existierte. War es die dominierende Gegenwart von Mairi Sinclair, die mir alle Unternehmungslust nahm? War ich wirklich schon so einge schüchtert, daß ich nicht einmal wagte, eine Tür zu öffnen? Wenn das zutraf, dann war ich nicht nur vergebens hierher gekommen, sondern es würde ihr auch gelingen, mich wieder zu vertreiben. Ich hob den Kopf, warf die Schultern zurück und bemühte mich, wie die Herrin des Hauses auszusehen. Erst dann betrat ich das Zimmer. Ich hatte erwartet, daß sie mir auf Anhieb missfallen würde, aber das war schlechthin unmöglich. Sie blickte aus dem Fenster, als ich eintrat, aber dann drehte sie langsam, mit einer unendlich anmutigen Bewegung, den Kopf und stand auf. Ihre Stimme war sanft, fast kindlich. »Miß Howard, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Ich wollte Sie nur in unserer Mitte willkom men heißen und Ihnen mein Beileid zu Ihres Vaters und Williams Tod 80
aussprechen. Der liebe William – Gavin und ich mochten ihn beide schrecklich gerne. Es ist alles so traurig für Sie.« Die Worte waren mehr als banal, aber aus ihrem Munde klangen sie tiefempfunden und aufrichtig. Ich ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu, und wir trafen uns auf halbem Wege. Ja, Gavin Campbells Be merkung, daß man sie zu den schönsten Frauen des Königreichs zähl te, war sicher nicht aus der Luft gegriffen – sogar ganz bestimmt nicht. Was für ein Geschöpf! Goldenes hochgekämmtes Haar unter einer kleinen Reitkappe, goldene Augen mit dunkleren Flecken unter lan gen dunklen Wimpern und eine unglaublich weiße Haut. Sie erinnerte mich in diesem ersten Augenblick unwillkürlich an ein Kätzchen, das noch nicht ganz zu einer Katze ausgewachsen war. Ein goldenes grazi öses Kätzchen mit der unbewußten Gabe, zu gefallen und zu entzük ken, ganz gleich, was es tut. Das gelbbraune Reitkostüm unterstrich noch ihre schlanke Taille, und die cremefarbene Spitze an ihrem Hals gab der raffinierten Aufmachung den letzten Pfiff. Nur eine sehr schö ne Frau konnte es sich leisten, in dieser putzsüchtigen Epoche so ein fach angezogen zu sein: eine Einfachheit, die wahrscheinlich geradezu phantastisch kostspielig war. »Darf ich Ihnen meinen Sohn James vorstellen – wir nennen ihn Ja mie. Ich hoffe, er stört Sie nicht, aber er wollte unbedingt mitkommen. Er und William waren nämlich Freunde.« Ich hatte den Jungen gar nicht bemerkt. Er stand an einem hoch lehnigen Sessel und wartete ruhig und wohlerzogen, bis seine Mutter zu sprechen aufgehört hatte. Nun kam er auf mich zu und reichte mir die Hand. Ein blondes, hübsches Kind mit denselben blauen Augen wie sein Vater; später würde er ihm wahrscheinlich sehr ähnlich se hen. Und bald schon, wenn der alte Mann in Edinburgh stürbe, würde er als Sohn eines Marquis ein Graf sein. Ich wußte nicht, warum, aber ich fand die Idee plötzlich komisch, und so lächelte ich, als ich ihm die Hand reichte. Als Antwort erhellte sich sein ernstes kleines Gesicht, was ihm einen völlig anderen, gewinnenden Ausdruck verlieh. »Guten Tag, Miß Howard«, sagte er, sich verbeugend, und fügte so fort hinzu: »Wie ähnlich Sie William sind!« 81
»Es war nett von Ihnen, zu kommen«, sagte ich. »Wollen Sie sich nicht setzen?« »Vielen Dank«, sagte Lady Campbell, »Jamie und ich haben gera de das Zimmer bewundert. Großartig, nicht wahr? Man sieht solche schweren Möbel heutzutage nur noch selten; sie müssen sehr alt sein.« Sie sagte es ganz ehrfürchtig, als ob sie sich selbst sie nie leisten könnte. Später erfuhr ich, daß sie anderer Leute Sachen stets übertrieben be wunderte und so tat, als ob sie selbst nichts besäße. Ich blickte mich im Raum um, ohne zu sagen, daß auch ich ihn zum ersten Mal sah. Die Möbel waren aus derselben dunklen geschnitzten Eiche wie in den anderen Zimmern; ein langer Tisch, ein hohes Pult, harte Stühle mit verblichenen rotseidenen Kissen, zwei schmiedeeiser ne Feuerböcke und ein Bronzelüster. Aber wegen des reichgeschnitz ten Kamins und der Holztäfelung wirkte das Ganze prächtiger als der Rest des Hauses. In der Mitte lag ein weicher Teppich mit einem verbli chenen rot-goldenen Muster – der einzige, den ich bisher im Haus ge sehen hatte. Statt der unvermeidlichen schottengemusterten Fenster vorhänge hingen hier welche aus rotem Brokat, der an den Falten brü chig war. »Wahrscheinlich sind es überhaupt Ihre Möbel, Lady Campbell; sie stammen sicher aus Ballochtorra und sind hierher gebracht worden, um Cluain, den Witwensitz, standesgemäß einzurichten.« »Glauben Sie?« Ihr roter Mund lächelte. »Dann bin ich froh, daß ich sie nicht habe, sie würden mich direkt bedrücken. Ich liebe kuschelige Sofas, ja sogar Nippes und Rüschchen.« »Sie gehören uns«, sagte Jamie plötzlich und zeigte auf die Feuerbök ke. »Schau, Mami, da ist das Wappen der Campbells von Cawdor.« Ich lehnte mich etwas vor, und jetzt erkannte auch ich auf den Wap penschildern den Schwan mit dem gebogenen Hals. Der große Bil ly kam mir wieder unangenehm in Erinnerung. »Stimmt«, sagte ich, »aber meine Urgroßmutter war auch eine Campbell aus Cawdor, und außerdem glaube ich nicht, daß mein Großvater sie zurückgeben wür de!« Ich war höchst erstaunt, mich so reden zu hören. Hatte ich mich so schnell verändert? Packte mich schon nach zwei Tagen im schotti 82
schen Hochland der romantische Familienstolz, vor dem mich Gavin Campbell gewarnt hatte? »Ich weiß, daß er's nicht täte«, antwortete Jamie. »Meinem Großvater würde er kein Eckchen von Cluain verkaufen, auch wenn er einen Bat zen Geld dafür bekäme.« »Hör doch auf, Jamie«, sagte seine Mutter, »du redest zuviel. Wir wissen alle, daß Mr. Macdonald Cluain nie verkaufen würde.« »Großvater findet, Cluain und Ballochtorra sollten wieder vereint werden – wie es früher mal war.« »Sei nicht so habgierig, Jamie. Du kannst nicht alles haben.« In diesem Moment erschien Mairi Sinclair, und zum ersten Mal war ich froh, sie zu sehen. Sie hielt die Tür für Morag auf, die jetzt eine stei fe, gestärkte Schürze und ein Häubchen trug, das die rote Haarpracht brav verdeckte; aber ihre Backen glühten immer noch vor Aufregung. Sie trug ein großes Silbertablett, auf dem Tassen und silberne Kannen standen. Mairi Sinclair beobachtete schweigend, wie Morag das Ta blett vorsichtig auf den Tisch stellte, dann ging sie in die Halle zurück und brachte ein zweites, das mit Brötchen, Brot und Butter, kleinen Pfannkuchen, Marmeladen, dünnen Schinkenscheiben und kleinem Teegebäck beladen war. Und das alles um elf Uhr Vormittag und in ei ner Fülle, als ob man von Lady Campbells Besuch schon mindestens seit einer Woche wüsste. Mein Respekt vor Mairi Sinclair wuchs. Sie hatte sogar ihr Kräutergärtchen geplündert, um die Platten mit Was serkresse und Petersilie zu garnieren. Mein anerkennender Blick aller dings blieb unerwidert. Sie stand ruhig da, die Hände über der Schürze gefaltet, und beaufsichtigte Morag. Dann verließen die beiden schwei gend das Zimmer, und die Tür fiel lautlos ins Schloß. »Das also ist die Perle von Cluain«, sagte Lady Campbell, »ich hatte noch nie die Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen. Sie kommt zwar jeden Sonntag in die Kirche, sitzt aber immer in der hintersten Rei he und geht sofort nach dem Gottesdienst. Man sagt, sie lehnt auch bei schlechtestem Wetter ab, von Angus Macdonald im Wagen mitge nommen zu werden. Auch Gavin hat ihr öfters angeboten, doch we nigstens bis Ballochtorra mitzufahren, aber als einzige Antwort schüt 83
telte sie den Kopf. Aber egal – ich hätte sie schon gerne in Ballochtorra. Wenn Sie mein faules Pack sehen würden … nie brächten die das zu stande.« Sie wies auf die appetitlich angerichteten Sachen. »Nicht mal, wenn man es ihnen einen Monat im voraus sagte. Und wie Mrs. Sin clair hier alles in Ordnung hält!« Sie nahm mir eine Tasse Tee aus der Hand. Dann fuhr sie fort: »Nein … wenn ich es mir genau überlege, möchte ich sie doch nicht in Ballochtorra haben … sie hält mich sicher für ein dummes, nutzloses Ding, was ich ja vielleicht auch bin, aber man will doch nicht, daß die Dienstboten das auch noch wissen.« »Du bist eine schöne Fee, Mama, und sie ist eine Hexe. Eine Hexe ganz in Schwarz.« »Sag so etwas nicht, Jamie! Mrs. Sinclair tut viel Gutes. Sie ist eine gute Frau.« »Manche sagen, sie ist eine Hexe«, antwortete der Knabe trotzig. »Du bist ein Dummerchen. Hexen gibt es nicht.« »Sie muß eine Hexe sein, sonst hätte sie William gerettet. Aber Wil liam starb.« Mir schien, daß ihre weiße Haut noch weißer wurde. Sie warf mir ei nen ängstlichen Blick zu, dann wandte sie sich an ihren Sohn. »Nie wieder will ich von dir so einen Unsinn, so einen abscheuli chen Unsinn hören. Man sagt so etwas nicht, es ist unfreundlich und unwahr! Du weißt, sogar dein Vater findet, daß es besser ist, von Mrs. Sinclair gepflegt zu werden als von den meisten Ärzten in Edinburgh. Nun schweig, Kind, und vergiß nicht, daß Mrs. Sinclair eine gute Frau ist. Da hast du einen Pfannkuchen, sie sind viel besser als bei uns zu Hause.« Damit war das Kind abgelenkt und kaute munter vor sich hin. Eini ge Minuten sprachen wir von ganz unwichtigen Dingen – vom Wetter und vom Sommer im Hochland. »Ihre Wollsachen werden Sie stän dig brauchen«, warnte mich Lady Campbell. »Gott sei Dank wird das Londoner Haus diesen Winter fertig werden. Aber es wird nicht leicht sein, Gavin zu überreden, nach dort zu übersiedeln. Ich glaube fast, ihm gefällt es hier am besten, wenn hoher Schnee liegt. Ach, und die se kalten Gebirgswinde …« Das frische Brötchen zerkrümelte zwi 84
schen ihren zarten Fingern, und sie ließ es halb angegessen auf dem Teller liegen. Dann stand sie auf. »Ich muß jetzt gehen, aber ich hoffe, Sie wer den bald nach Ballochtorra kommen. Es ist langweilig hier, ganz ohne Menschen. Wenn die Jagdsaison beginnt, haben wir natürlich im mer mehr Gäste, als uns lieb ist. Der Prince of Wales geruhte, uns sei nen Besuch in Aussicht zu stellen.« Den letzten Satz versuchte sie ganz beiläufig zu sagen, aber ihre Augen leuchteten vor Stolz. Es war auch wirklich ein großer Triumph für so eine junge Gastgeberin. »Natür lich ist es mehr als liebenswürdig von Seiner Königlichen Hoheit, aber mir wird doch ein bißchen angst bei dem Gedanken. O Gott, wenn ich an die ganzen Vorbereitungen denke! Zum Glück schickt Papa zusätz liches Personal aus London, und trotzdem kann noch vieles schief ge hen. Die Gäste bringen selbstverständlich ihre persönliche Bedienung mit, aber wo soll ich die alle unterbringen – und das noch dem Rang ihrer Herren entsprechend? Der Streit wird schon in der Gesindestube anfangen. Obwohl ich das Ganze so einfach wie möglich halten will, müssen wir doch zumindest einen großen Empfang geben. Ein Din ner mit Tanz hinterher – nur für die Hiesigen, die natürlich darauf er picht sind, dem Prinzen vorgestellt zu werden. Sie kommen doch auch, nicht wahr? Der Prinz liebt hübsche Mädchen …« Ich stotterte ein paar unbeholfene Dankesworte, und wie alle Frauen überlegte ich sofort, was ich anziehen sollte. »Reiten Sie, Miß Howard?« »Nicht sehr gut. Ich habe nur gelernt, nicht vom Pferd zu fallen, mehr nicht.« »Ich bin sicher, Gavin wird Ihnen gerne ein Pferd aus unseren Stäl len zur Verfügung stellen, wenn sich bei Ihnen nichts Passendes fin den sollte. William pflegte immer unsere Pferde zu reiten.« Schon wie der ein Gekicher. »Ich glaube nicht, daß Mr. Macdonald es gerne sah, aber William tat immer, was er wollte.« Sie blickte sich noch einmal im Zimmer um. »Ich bin froh, endlich hier gewesen zu sein. Cluain hat mich seit langem fasziniert, aber vor Ihrer Ankunft hatte ich keinen Vorwand, hierher zu kommen; schließlich konnte ich ja schlecht Wil 85
liam einen Besuch abstatten. Aber Sie müssen mir versprechen, auch nach Ballochtorra zu kommen!« wiederholte sie nochmals nachdrück lich. »Ich bin immer zu Hause, wenn ich nicht gerade ausreite. Es wäre so nett, eine Freundin in nächster Nähe zu haben, und bitte, nennen Sie mich Margaret.« Sie sprudelte das alles mit einem arglosen, aber ir gendwie übertriebenen Eifer heraus, als ob sie mit aller Macht gefallen wollte, wo doch schon ihr Äußeres genügt hätte, um bei jedem Gefal len zu erregen. Es war, als ob sie unter großer Unsicherheit litte und je den für sich gewinnen wollte, um nur von Freunden und ja nicht von Feinden umringt zu sein. Ich begleitete sie hinaus. Mairi Sinclair stand schon wartend an der offenen Haustür. Ein Mann, offensichtlich herbeigerufen, hielt eine schöne braune Stute und ein fast isabellfarbenes Pony. Morag stand neben der Stute und fütterte sie mit jungen Karotten. Sie lächelte Mar garet Campbell scheu an, was mit einem strahlenden Lächeln beant wortet wurde. Beim Anblick der Karotten fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß Mairi Sinclair manchmal eigentümlich nachgiebig zu Morag war, aber vielleicht mochte sie einfach Tiere und fand es unter ihrer Würde, sie selbst zu füttern. Margaret Campbell schwang sich behend und graziös in den Da mensattel, fast ohne Hilfe. Auch Jamie bestieg ohne Beistand des Stall knechts sein Pony und war sichtbar stolz darauf. Margaret neigte sich mir etwas zu, und mir schien zum ersten Mal, als überzöge ein Schat ten ihr junges Gesicht. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich empfangen ha ben. Es war mir eine große Freude. Es ist so einsam hier. William und ich sind oft zusammen ausgeritten …« Damit gab sie der Stute die Sporen, und der Junge folgte ihr schnell. Der große Billy und seine Gänseherde nahmen schnatternd die Ver folgung auf, aber Lady Campbell verscheuchte sie mit einem flinken kurzen Hieb ihrer Reitpeitsche. Ob sie wohl auch diesen missmutigen Gänserich bezaubern konnte? Mir fiel auf, daß auch Mairi Sinclair den beiden nachblickte – sie waren ein auffallendes Paar, mit Schönheit und Reichtum gesegnet. Aber es war Morag, die zuerst sprach: »Sie hat fast nichts angerührt, 86
und das nach all der Mühe! Nun, wenn man so schlank bleiben will und den ganzen Tag nichts tut, kann man sich eben nicht richtig satt essen. Ja, mit Master William ist sie oft ausgeritten, und jetzt muß sie sich nach neuer Gesellschaft umsehen.« Mairi Sinclair fuhr sie ärgerlich an: »Halt deine Zunge im Zaum, Mädchen, in meiner Gegenwart werden keine üblen Nachreden ge führt.« Ich hatte genug von den beiden und ließ sie ins Haus zurückgehen, während ich den sich immer weiter entfernenden Reitern nachblick te. Die Bemerkung von Gavin Campbell klang mir wieder deutlich im Ohr: »Er war verliebt – oder mehr als das – vielleicht liebte er mei ne Frau.« Er hatte es mit einer tonlosen Stimme gesagt, als ob es ihn noch nicht einmal wunderte. »Eine schöne Zauberin …« Aber meine Eifersucht war verraucht. Sogar ich war ihrem Charme erlegen. Wenn sie verführte und behexte, so konnte sie nichts dafür; sie war ein un schuldiges, argloses Kind. Ich blieb in Gedanken verloren stehen, bis sie meinen Blicken entschwanden. Als ich ins Haus zurückkam, war die Tür zum Salon geschlossen. Ich öffnete sie und sah hinein. Der Raum war still und leer, als ob nie je mand hier gesessen hätte. Von den vielen Krümeln, die Jamie auf den Boden hatte fallen lassen, war kein einziger mehr zu sehen. Die Falten im Teppich waren glatt gezogen, die verblichenen Seidenkissen auf geschüttelt. Nur das Feuer im Kamin verriet, daß Menschen hier ge wesen waren. Ich bin überzeugt, daß Mairi Sinclair ungeduldig dar auf wartete, daß das Feuer ausging und Morag die noch warme Asche wegräumen könnte. Ein schöner, trauriger, unbenutzter Raum, der ei gentlich voller Leben hätte sein sollen. Hatte eine meiner Urgroßmüt ter diesen Feuerschirm gestickt? – Ja, sicher, denn er trug das Wappen der Campbells. Christina Campbell hatte die beiden Familien auf ewig miteinander verflochten.
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Fünftes Kapitel
D
as Leben von Cluain floß dahin, und ich fühlte, wie ich immer tie fer in seine Strömung geriet und von ihr abgeschliffen und gesto ßen, beruhigt und eingelullt wurde wie ein Stein in einem Flussbett. Es gab Felsen, die stärker waren als ich und unverrückbar. Das ganze Ge füge wurde durch Gewichte und Gegengewichte zusammengehalten, durch Bräuche und lebenslängliche Angewohnheiten meines Großva ters. Es war das Cluain, das er geformt und das ihn geformt hatte. Manchmal wurde ich gegen einen dieser Felsen geschleudert und ver letzte mich, aber das störte mich nicht mehr; es gehörte zum Lauf der Dinge. Ich war dankbar für die gleichmäßige Routine, sie gab mir ein Gefühl der Dazugehörigkeit. Ich wurde hingenommen, nicht in allem, nicht von allen, nicht ohne Vorbehalte. Aber ich sah an der ganzen Art derer, die mich umgaben, daß vielleicht einmal die Zeit käme, wo auch ich zu den Felsen von Cluain zählen würde. Das Turmzimmer gab mir einerseits einen willkommenen Abstand zu Cluain, andererseits führte es mich in sein Leben und Treiben ein. Von diesem Zimmer aus sah ich vieles und lernte vieles. Morgens wur den die Kühe zum Melken geführt und dann wieder am Abend. Der Rhythmus des Arbeitstages blieb immer der gleiche. Ich sah die schma le Gestalt Mairi Sinclairs bei der Arbeit im Garten; die weiße Katze schlich um sie herum oder spielte Versteck mit den Schmetterlingen zwischen den Pflanzen. Ich sah auch das stete Kommen und Gehen der Leute, die bei ihr Hilfe suchten. Es war eine schweigende Prozes sion, die ich da von meiner hohen Warte aus beobachten konnte. Im mer gab es jemanden, der geduldig an der Küchentür wartete, um sich irgendein Kräutermittel oder eine Salbe von Mairi Sinclair zu erbitten. Oft sah ich in dem Zimmer, wo sie ihre Arzneien mischte, noch spät 88
in der Nacht Licht brennen. Die schwarzgekleidete Gestalt flößte mir jetzt Achtung ein, aber mehr auch nicht, und obwohl es keine Wieder holung der nächtlichen Szene gab, kein Hassverzerrtes Gesicht, keine Verwünschungen, keine Schreie, die mir die Ruhe raubten, vergaß we der ich noch sie die Gegenwart der anderen. Wir hatten zwar eine Art von Demarkationslinie zwischen unseren Lebenskreisen gezogen, aber wenn ich in Cluain bleiben sollte, mußte ich diese eines Tages durch brechen. Das war mir klar, nur war die Zeit noch nicht reif dafür. Morag hielt die Verbindung zwischen den beiden Territorien auf recht. Sie brachte das heiße Wasser, die sauberen Handtücher, meine frisch gebügelten Kleider. Sie machte das Bett und legte die Wärmfla sche hinein, sie verwöhnte mich ein wenig und stellte mir wissbegierig tausend Fragen über China. Sie war weder gehemmt wie Mairi noch verbittert wie mein Großvater. Sie wollte zuhören und selbst erzählen. Sie ließ ihrer Zunge freien Lauf, auch wenn sie alle Hände voll zu tun hatte, und ohne sie hätte ich wahrscheinlich viel weniger über Cluain erfahren. Einmal, als wir zusammen mein Bett machten, fragte ich sie, warum es im Haus weder Bilder noch irgendwelche anderen schmük kenden Gegenstände gäbe, die auf die Gegenwart einer Frau hindeu teten; denn schließlich waren doch Mutter und Großmutter hier auf gewachsen, und Großmutter war noch nicht sehr lange tot. Hatten sie ihr ganzes Leben in dieser Kargheit verbracht? Und woher kam der Spiegel, den Morag an meinem ersten Abend in Cluain so schnell auf getrieben hatte? Es war übrigens der einzige, den es im Hause zu ge ben schien. »Kommen Sie, Miß, ich werde Ihnen was zeigen. Mrs. Sinclair ist in der Molkerei, und da wird sie wohl noch eine Weile bleiben. Sie kon trolliert immer selbst, ob die Butterfässer auch richtig sauber sind, be vor die neue Milch hineingegossen wird.« Und schon folgte ich Morag die Treppe ins erste Stockwerk hinunter, unfähig, ihrer bittenden Stimme zu widerstehen. »Warten Sie hier, Miß, ich muß erst die Schlüssel holen.« Sie lief fort, war aber wenige Sekunden später wieder zurück. »Nun schnell, Miß, ich werde nur aufschließen, und dann muß ich 89
den Schlüssel wieder zurückbringen, zuschließen werde ich später.« Sie öffnete ein Zimmer, das ich früher nie betreten hatte, und verschwand. Ich blickte mich in dem Raum um und entdeckte eins nach dem ande ren all die Dinge, die ich so vermisst hatte. Da standen sie, die Fami lienporträts, Miniaturen und Bilder, viele einfach gegen die Wand ge lehnt; und die verschiedenen Schmuckgegenstände, die früher wahr scheinlich den Kamin des Salons verschönert hatten. »Das war das Schlafzimmer Ihrer Großmutter«, hörte ich plötzlich Morags Stimme dicht hinter mir sagen. »Hier bin ich praktisch aufge wachsen. Sie war oft krank – und von jeher sehr anfällig. Sie mußte je manden haben, der ihr alles brachte, und ich war damals noch ein Kind und dazu wie geschaffen. In diesem Zimmer gab sie mir meistens auch Unterricht. Sie las viel. Die endlos langen Wintertage, an denen es zu kalt für sie war, um auszugehen, verbrachte sie hier im Bett. Im Kamin brannte ein großes Feuer, und um sie herum türmten sich die Bücher, aus denen sie mir jeden Tag ein oder zwei Stunden lang etwas beibrach te. Sehen Sie – sogar die großen Bücherschränke hat man hier aufge stellt, weil sie in den letzten Jahren nicht mehr so oft nach unten kam.« Wortlos ging ich im Zimmer auf und ab. Ein solches Durcheinan der gab es in keinem anderen Raum in Cluain. Die Bücher, die Bilder an den Wänden waren noch erklärlich, aber warum hatte man all die anderen Dinge hier zusammengepfercht? Meissner Tassen und Teller, Silbergefäße, Delfter Wasserkrüge, gravierte Kristallgläser – sicher al les Gegenstände, die zur Einrichtung gehörten, bevor Angus Macdo nald Cluain übernahm. Auf dem Schreibtisch lagen gerahmte Daguer reotypien, aber mit der Bildseite nach unten. Als ich sie umdrehte, sah ich Gesichter, die mir jetzt bekannter vorkamen als mein eigenes. Sie waren der einzige Schmuck im Pekinger Studierzimmer meines Va ters gewesen – ein Foto meiner Mutter, die mich als Baby auf den Kni en hält; ein anderes von meinem Vater, zusammen mit William, und schließlich wir vier zusammen, als ich schon ohne Hilfe stehen konn te. Meine Großmutter mußte sich wahrscheinlich die Bilder oft ange sehen haben; sie hatten sicher nicht immer verkehrt herum auf dem Tisch gelegen. 90
Ich schaute mir ein paar der Gemälde an, die gegen die Wand ge lehnt standen; dörfliche Szenen, die früher wahrscheinlich unten im Salon und im Esszimmer hingen, und Porträts von Vorfahren, die ich nicht kannte. Dann gab es noch Teppiche und Läufer, natürlich zu sammengerollt, und vier Spiegel verschiedener Größe, einer davon in einem prächtigen Goldrahmen und bestimmt wertvoll. »Was soll das, Morag? Warum hat man all die Sachen hier abge stellt?« »Ja, es ist nicht recht zu verstehen, Miß; nach dem Tode von Mrs. Macdonald wurden die Bilder und all der andere Kram allmählich hierher gebracht. Mrs. Sinclair sagte, sie wären hier gut aufgehoben, keiner könnte sie zerbrechen oder abnützen. Und der Herr – ich glau be, der hat es noch nicht mal gemerkt, oder es ist ihm egal. Er selbst betritt dieses Zimmer nie. Mrs. Sinclair denkt wahrscheinlich, daß es eine Sünde ist, all diesen Zierrat um sich zu haben, obwohl ich nicht ganz begreife, warum ein Bild oder ein Teppich sündhaft sein soll. Aber sie findet halt, das Leben darf nicht zu angenehm sein. Das ist so ihre Art, und man gewöhnt sich daran. Aber eins muß ich Ihnen sagen, Miß, Ihre Großmutter hat mir die erste Zeit nach ihrem Tode sehr gefehlt. Ich war zehn damals, es ist jetzt acht Jahre her, und ich hab mehr an ihr gehangen als an meiner eigenen Mutter. Einmal die Woche muß ich hier abstauben, und dabei denke ich sehr oft an Ihre Großmutter – sie war eine sehr gute Dame, Miß Kirsty, und immer so traurig, daß sie ihre beiden Enkel nie sehen konnte.« Morags freundliches Geplauder war so anheimelnd wie das Plät schern des Flusses von Cluain. Ich stand an einem der beiden großen Erkerfenster und stellte mir jenes andere, heitere, liebenswürdige Clu ain vor, das Haus, in dem meine Großmutter geherrscht hatte. Ja, Morag mußte sie entbehren, so wie ich sie entbehrt hätte. Ich drehte mich um, aber ich war allein im Zimmer, es war nett von Morag gewesen, mir auch diese andere Seite von Cluain zu zeigen und sich dann mit ihrem angeborenen Taktgefühl zurückzuziehen, damit ich ungestört herumschnüffeln konnte. Später, im Turmzimmer, packte ich die Bil der, die ich aus Vaters Studierzimmer mitgenommen hatte – dieselben, 91
die auch in Großmutters Zimmer lagen –, aus und stellte sie auf den Schreibtisch. Ich wußte, daß ich damit zum ersten Mal einen gewissen Anspruch auf Cluain erhob, und Mairi Sinclair konnte sich dabei den ken, was sie wollte. Ich machte mich weiter mit Cluain und seiner Umgebung vertraut. Ich ging ziellos Wege entlang, die mich manchmal durch leicht ab schüssige Gerstenfelder führten, manchmal zu den höher gelegenen Wiesen, wo im Sommer die Rinder grasten, manchmal durch schwie riges, raues und steiles Gelände, wo es nur noch schmale Pfade gab, die im Moorland endeten. Dort gab es viele gefährliche Stellen, wo William möglicherweise gestürzt war, aber auch viele geschützte Plätze, wo er hätte unterschlüpfen können. Ich habe meinen Großvater nie gebe ten, mir den Ort zu zeigen, wo man William gefunden hatte – so ge nau wollte ich es gar nicht wissen. Angus Macdonald wußte natürlich von meinen Wanderungen. Ge legentlich kam ich zu spät zum Mittagessen. Er wartete nie auf mich und stand auch nicht auf, um mir meinen Teller zu bringen. »Es tut mir leid«, sagte ich in solchen Fällen, »ich bin vom Weg ab gekommen.« »Eines Tages wirst du dich verlaufen.« Und mit einer Handbewegung zur Anrichte hin: »Dein Essen steht dort.« Eines Tages kam Morag mit dem Auftrag, ich möge doch bitte sofort zu ihm auf den Gutshof kommen. Ich fand ihn dort mit einem Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Neben ihm stand eine Hochlandstu te, die er am Zügel hielt. Ein graues, wohlgenährtes Tier, das mich aus ruhigen, treuen Augen ansah. »Meinst du, du kannst sie reiten, Mädchen?« fragte Großvater. »Ich kann's ja versuchen.« »Gut, reite sie hier auf dem Hof einmal im Kreis rum, und dann wer den wir ja sehen, wie ihr euch vertragt.« Es war klar, daß es ihm wichtiger war, wie ich dem Pferd gefiel, als umgekehrt. Es war nicht groß, und ich schwang mich ohne Hilfe in den Damensattel. Meine Beine fanden zwar nicht viel Halt, aber der Rücken war so breit, daß ich mich trotzdem sicher fühlte. Das etwas 92
plump aussehende Tier hatte einen unerwartet gleichmäßigen Gang und ein weiches Maul, und es war willig und erfahren. Ich spürte, daß es mich akzeptiert hatte und mir treu dienen würde, solange ich es mit Respekt behandelte. »Sie werden mit ihr zufrieden sein, Miß«, sagte der Mann, »sie ist nicht mehr jung, aber ausdauernder als viele andere und so trittsicher wie eine Gemse. Sie werden mit ihr keine Unannehmlichkeiten ha ben.« »Wie heißt sie?« »Ihr Name ist Ailis, aber wenn Sie ihr einen anderen geben wollen, so wird sie nichts dagegen haben.« »Sie soll ihren alten behalten – Ailis.« Ich strich über die graue Mäh ne. Das Pferd stand ruhig und geduldig da und ließ sich meine bau melnden Beine und meine fremde Hand gefallen. »Verkaufen Sie es denn?« »Ich muß, Miß, weil meine Frau und ich auswandern. Aber wir möchten Ailis in guten Händen wissen und in der ihr gewohnten Um gebung.« »Die Gegend ist ihr allerdings vertraut«, sagte Großvater. »Es gibt wohl keinen Pfad, den sie nicht kennt, nicht wahr, Mr. Ross?« »Ja, Mr. Macdonald, das kann man wohl sagen. So 'n Klepper, der 'nem Steuereinnehmer gehört, der kommt überallhin. An die entle gensten Orte hat er mich gebracht, und nicht einmal ist er gestrauchelt. Schnelligkeit dürfen Sie von ihm nicht verlangen, aber zäh ist er wie 'n Karrengaul, nur zehnmal klüger.« »Gut, abgemacht. Kirsty, führ sie in den Stall in den hintersten Stand. Reib sie ab, gib ihr Wasser und Futter. Du wirst dich selbst um sie kümmern, verstehst du? Und jetzt, Mr. Ross, kommen Sie mit ins Büro, damit wir das Geschäft bei einem Glas Whisky erledigen – ver steuerter Whisky – versteht sich«, fügte er in einem für ihn so selte nen scherzhaften Ton hinzu. Der Mann strich dem Tier scheu über die Mähne, dann entfernte er sich schnell. Ich glitt aus dem Sattel und sah Ailis in die Augen. Sie beantwortete meinen Blick, dann drehte sie langsam den Kopf zum Stall, als ob sie 93
genau wüsste, wohin sie jetzt gehöre und wie üppig von nun an die Ha ferportionen ausfallen würden. Der Kauf dieses zuverlässigen Tieres war der sprechende Beweis für das, was mein Großvater nicht ausspre chen wollte. Es sollte mich sicher auch durch das unwegsamste Gelän de tragen und hatte mich wohlbehalten wieder nach Hause zu bringen. Williams Unfall würde sich nicht wiederholen. Ich führte sie in ihren Stand. Der Stallknecht John half mir, sie ab zureiben, und zeigte mir im Geschirraum die Haken, auf die ich ihr Zaumzeug hängen sollte. Er half mir auch beim Tränken und Füttern und freute sich offensichtlich, mit dieser gutmütigen, plumpen Krea tur zu tun zu haben. »Ein nettes kleines Mädchen«, sagte er, »mal was anderes, Miß, sonst habe ich ja nur mit diesen Riesenburschen zu tun.« Dabei wies er auf die großen, schweren Zugpferde, die vor die Bren nereiwagen gespannt wurden, um die Whiskyfässer zur Eisenbahn station nach Ballinaclash zu bringen. Er zeigte auch auf die jetzt lee ren Stände der Ackergäule, die die Pflüge und während der Ernte die Getreidewagen zogen. Außer den Zugpferden gab es im Cluainer Stall nur ein unansehnliches Pony, zum Spaß ›Der Sonntagsjunge‹ genannt. Er wurde von Angus Macdonald benützt, wenn er im Zweisitzer das Gut verließ. Während die schweren Clydesdaler prachtvoll waren in ihrer strotzenden Kraft, war mit dem Sonntagsjungen und dem Zwei sitzer nicht viel Staat zu machen. Sie erfüllten wohl ihren Zweck, aber neidische Blicke würden ihnen kaum folgen. Trotz seines Namens wurde das Pony an Sonntagen selten bemüht. Nur einmal kurz nach meiner Ankunft hatte sich Angus Macdonald dazu herbeigelassen, die Neugierde der Gemeinde zu befriedigen, und war mit mir in die Kirche gefahren, wo man mich auch gebührend an starrte. Wie Lady Campbell schon erzählt hatte, begleitete uns Mairi Sinclair nicht – Großvater forderte sie nicht einmal dazu auf. Als der Zweisitzer vor der Haustür stand und ich fragend ihren Namen mur melte, sagte er: »Ach, die hat sicher schon den halben Weg hinter sich, im Sommer wie im Winter, bei Hitze oder Kälte ist sie immer als erste in der Kirche und als erste wieder draußen, und dafür will sie weder Menschen noch Tieren danken müssen. Lass sie in Ruhe, Mädchen.« 94
Wir saßen ganz vorn auf den Familienstühlen, direkt Margaret und Jamie gegenüber, und es war mir peinlich, allen Blicken so ausgesetzt zu sein. Der Knabe lächelte und winkte mir zu, dann stieß er seine Mutter an, die sich sofort umdrehte und uns zunickte. Gavin Campbell saß auf der Orgelbank und spielte die einfachen Hymnen, für die das Instrument viel zu mächtig war. Als ich der Predigt lauschte, ver stand ich, warum er es vorzog, dort oben zu sitzen und nicht auf den Familienstühlen. Als endlich alles vorbei war, nahm die Gemeinde noch einmal die Gelegenheit wahr, mich genau unter die Lupe zu nehmen. Der Geist liche schüttelte mir betont kühl die Hand; dann sprach ich kurz mit Margaret Campbell und Jamie, die auf Gavin warteten. Mir schien, als ob er absichtlich lange fortblieb. Während wir uns noch unterhielten, kam mein Großvater; er zog aber nur den Hut und ging, ohne stehenzubleiben, zu der Stelle, wo er den Sonntagsjungen angebunden hatte, und ich eilte hinter ihm her, noch bevor Gavin Campbell erschien. Nach einer halben Meile holten wir Mairi Sinclair ein. Aber Groß vater verlangsamte nicht einmal das Tempo, sondern tippte nur ganz flüchtig mit dem Zeigefinger an den Hut – das einzige Zeichen, daß er die große, hagere schwarze Figur im roten Sinclair-Plaid überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Ich legte ihm die Hand auf den Arm, aber er sagte bloß: »Es ist schon recht so, lass es sein.« Ich hatte mir zur Regel gemacht, möglichst keine Fragen zu stellen, aber jetzt erlaubte ich mir eine. »Geht Callum Sinclair manchmal in die Kirche?« »Callum Sinclair?« Großvater versetzte dem Sonntagsjungen einen leichten Hieb mit den Zügeln. »Woher soll ich wissen, was Callum Sin clair tut? Es geht mich nichts an, und dich übrigens auch nicht.«
Das Geschenk meines Großvaters, die Stute Ailis, gab mir die Mög lichkeit, die Welt von Cluain ausgiebiger zu erforschen. Das stämmige kleine Tier trug mich viel weiter, als meine eigenen Beine es gekonnt 95
hätten. Wir erreichten Hügel, die mir früher unerreichbar erschienen waren, und an den steilen Hängen war sie so trittsicher wie ein Maul tier. Wir gaben zusammen nicht gerade ein sehr elegantes Bild ab. Ich trug meinen alten Sergerock und als Umhang ein Plaid, mit dem ich auch bei plötzlichen Regengüssen meinen Kopf bedeckte. Aber ich war frei – wunderbar frei, und die Stute schien meine Freude darüber nicht nur zu verstehen, sondern auch zu teilen. Wenn ich morgens zu ihr in den Stall kam, nahm sie den mitgebrachten Zucker dankbar entgegen und ließ sich willig satteln. Vielleicht gefiel ihr das Abwechslungsrei che unserer Ausflüge. Wenn wir uns aufmachten, hatte ich nie ein be stimmtes Ziel im Auge, ich ritt, wohin die Nase mich führte. Manch mal überließ ich sogar ihr die Wahl, und ich glaube, das schmeichel te ihr. Aus uns wurde ein Paar, und es war Ailis, die mich zu Callum Sinclair führte. Auf dem Brennereihof sah ich ihn nur sehr selten, und wenn ich ihm begegnete, ging er mit einem gemurmelten Gruß an mir vorbei oder winkte mir zu, so beiläufig, wie man einem Kind zuwinkt. Nie blieb er stehen, und ich fand keinen Vorwand, ihn dazu zu veranlassen. Oft sah ich ihn, wie er mit Giorsal und dem Hund die Straße entlangritt, die an Cluain und Ballochtorra vorbeiführte. Allmählich mußte ich mir eingestehen, daß ich bei all meinen Rit ten nur Callum Sinclair suchte. Ich wußte jetzt, daß es sein Cottage war, das ich, abgesondert von allen anderen, bei einem meiner ersten Spaziergänge entdeckt hatte. Mit einer Dreistigkeit, die mich selbst er staunte, beschloß ich hinzureiten, aber als ich ankam, war er nicht dort, die Tür geschlossen und der Stall leer; ich versuchte es zwei Wochen lang; manchmal, wenn ich nicht zu spät kam, stieg noch der Rauch aus dem Schornstein, aber immer herrschte tiefes Schweigen. Und dann kam der Morgen, an dem ich mich so früh aufgemacht hatte, daß ich das helle Klingen der Axtschläge schon jenseits der Schlucht vernahm. Er war derart in seine Arbeit vertieft, daß er uns nicht einmal kommen hörte. Erst als der Hund wütend zu bellen be gann, drehte er sich um. Er richtete sich auf, lehnte sich auf die Axt und beobachtete, wie wir uns auf dem Pfad jenseits des Baches näher 96
ten. Mit einer Handbewegung brachte er den Hund zum Schweigen. Ich blickte ihn über den rauschenden Bach hinweg an. »Werden Sie mich nicht hineinbitten?« Einen Augenblick rührte er sich nicht, dann öffnete er achselzuk kend das Tor des Gartenzauns, und Ailis schritt unaufgefordert durchs Wasser. »Wenn es Sie amüsiert.« »Amüsieren? Was soll mich amüsieren?« »Ihre Pächter zu kontrollieren. Wollen Sie sich nicht wenigstens an erkennend über meinen Arbeitseifer äußern? Oder schickt Sie Angus Macdonald zu mir, weil ich zu lange der Brennerei fernbleibe?« Ich übersah geflissentlich seine ausgestreckte Hand, als er mir beim Absteigen helfen wollte. »Sie wissen nur zu gut, daß ich keine Boten gänge für meinen Großvater mache. Übrigens würde er mich auch gar nicht schicken.« »Nein, das würde er nicht tun. Aber was verschafft mir sonst die Ehre Ihres Besuches – Neugier?« »Möglich«, gab ich zu. »Sie sind nicht sehr höflich, Callum Sinclair.« »Warum sollte ich auch, im Salon von Cluain wäre ich wohl kaum ein gerngesehener Gast.« »Vielleicht bilden Sie sich das bloß ein«, sagte ich über die Schulter hinweg, gab ihm aber keine Zeit zu einer Erwiderung. »Also, laden Sie mich in Ihren Salon ein? Ich bin tatsächlich neugierig.« »Bin ich dazu da, Ihre Neugier zu befriedigen? Eines Mannes Haus ist sein Eigentum, und er hat sogar das Recht, unhöflich zu sein, wenn er das will.« Erneutes Achselzucken. »Na gut, kommen Sie rein, wenn Sie schon mal da sind. Mit dem Holzhacken bin ich sowieso fast fertig, und es ist Zeit für 'ne Tasse Tee. Den können Sie kochen, während ich das Holz hier aufschichte.« Und so betrat ich Callum Sinclairs Haus allein. Er ging zu seinem Holzhaufen zurück und ließ mir meinen Willen – wie einem neugie rigen Kind. Von außen glich sein Cottage nicht den üblichen Bren nereiarbeiterhäuschen, die wie die Lagerhäuser aus Stein und Schie fer waren. Es wirkte viel älter und stand wahrscheinlich schon so lan ge wie Cluain selbst. Das Strohdach war neu, und die Fenster waren 97
größer als üblich; vielleicht hatte Callum sie umgebaut. Es fehlten auch die unvermeidlichen Hühner, die sonst vor den Türen kratzten. Dieses Haus sah ordentlich, beinah unheimlich ordentlich aus, fast so, als ob es niemand bewohne. Aber als ich hineinging, war ich erstaunt, wie heimelig die Wohnkü che aussah. Callum Sinclairs Genügsamkeit schien Grenzen zu haben. Vor dem Kamin stand ein gemütliches Ledersofa und an der gegen überliegenden Wand neben dem Fenster ein Rollpult. Vorhänge und Kissen waren rot, und auf dem Holzfußboden lag ein ziemlich neuer türkischer Teppich. Ich wußte eigentlich nicht, was ich erwartet hat te – vielleicht eine ähnliche kahle Ordnung, wie sie bei Mairi Sinclair herrschte. Es war direkt erholsam, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Sofa zu entdecken und daneben einen kunterbunten Bücherhaufen, für den die einfachen Regale, die an einer Wand standen, nicht ausreich ten. Ein zweites Buch lag offen neben dem unabgewaschenen Früh stücksgeschirr auf einem großen, mit Brotkrümeln übersäten Tisch. Ich nahm den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. »So wörtlich habe ich es nicht gemeint. Ich bin gastfreundlicher, als Sie denken; ich mache den Tee schon selbst.« »Sie glauben wohl, ich kann's nicht?« Er ging zum Abwaschbecken und wusch seine Hände. »Woher soll ich das wissen? Über Bischofstöchter bin ich nur ungenügend informiert. Nach meiner Vorstellung leben sie mit ihren Vätern in Palästen.« »Paläste ist wohl etwas übertrieben. Das Einkommen eines Bischofs richtet sich nach der Wohlhabenheit seiner Diözese, und obwohl die meines Vaters viele tausend Quadratmeilen groß war, hatten die paar christlichen Chinesen so wenig zu essen, daß er sie zu ernähren ver suchte – mit den Missionsgeldern, die in England gesammelt wurden. Für ihn selbst blieb da wenig übrig. Als einzigen Luxus hat er sich er laubt, William auf die Universität zu schicken, die er dann nicht mal beenden konnte.« »Und was hat er für Sie getan?« Er trocknete seine Hände ab und zog eine Tweedjacke an. Hier, in seinem eigenen Haus, wirkte er weniger zurückhaltend und kratzbürstig. Es war an allem zu merken: statt der 98
Lammfelljacke trug er eine Tweedjacke; sein Hemdkragen stand of fen – die ganze Art, mit der er das Geschirr vom Tisch abräumte und mit einem Lappen die Krümel wegwischte, hatte etwas Ungezwunge nes. Er brachte saubere Tassen auf einem Holztablett und stellte sie auf den Tisch neben dem Herd, dann goß er schnell und geschickt den Tee auf. Seine Bewegungen waren vielleicht das anziehendste an ihm. Je der seiner Handgriffe war wohlüberlegt und präzise, und als er nichts mehr zu tun hatte, setzte er sich gelassen hin und wartete. »Für mich? Für mich brauchte er nichts zu tun, ich hatte ihn und William. Mehr kann man nicht verlangen. Wir hingen sehr aneinan der. Und dann hatten wir unsere Bücher und sogar Dienstboten, aber die hat jeder in China. Ich war wahrscheinlich die am wenigsten ele gante der europäischen Frauen, aber das machte mir nichts aus. Mein Vater war oft direkt schäbig angezogen, doch das störte niemand.« Er stand auf und goß den Tee ein. »Sie wohl auch nicht.« Seine Au gen glitten über meinen alten Rock, über die schmutzbespritzten Stie fel und den Plaid, den ich jetzt wie die Frauen im Hochland trug – als Allzweckkleidungsstück. Seine Augen verrieten nichts. Seine Worte konnte ich so auffassen, wie ich wollte. »Nehmen Sie ein Brötchen. Sie kommen aus Cluain und stehen Ih nen sozusagen zu.« Ich schüttelte den Kopf und blickte ihn über die Teetasse hinweg an. »Sie sind ein gebildeter Mann, Callum Sinclair. Können Sie also mit diesem Unsinn nicht aufhören? Ich bin weder die Herrin von Cluain, noch sind Sie ein Angestellter.« Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, fast wi derwillig, so wie schwaches Sonnenlicht durch einen Winterhimmel bricht, aber sofort umwölkten sich seine Züge wieder; er schien wie mein Großvater keine große Übung im Lächeln zu haben. »Gut, ich werd's mir merken, oder besser gesagt, ich werd zu vergessen versu chen, daß Sie die Enkeltochter von Angus Macdonald sind.« »Wenn Sie so zu ihm stehen, warum sind Sie nach Cluain zurück gekehrt? Ich bin überzeugt, Sie hatten andere Möglichkeiten, wo Sie nicht …« 99
Er hob seine Augenbrauen. »Sie meinen, wo ich keine Handarbeit hätte verrichten müssen? Ja, das hätte ich sicher finden können. Aber das ist es ja gerade, ich arbeite gerne mit meinen Händen, und vor al lem liebe ich diese Gegend! Ich bin hier aufgewachsen, und ich könn te nirgendwo anders leben. Für Angus Macdonald zu arbeiten war die einzige Möglichkeit, an diesem Ort zu bleiben und meine Unabhän gigkeit zu wahren. Ich hätte natürlich in eine andere Brennerei gehen können, aber … es wäre nicht Cluain gewesen. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, nach Kanada oder Australien auszuwandern – so viele von uns Hochländern sind gezwungen, es zu tun. Ich würde wahrscheinlich in Australien Schafe hüten oder in Kanada Pelztiere jagen und gewissermaßen der Herr-Diener-Beziehung entgehen; aber es wäre nicht mein Zuhause. Außerdem ist keiner ein Diener, der sich nicht als solcher fühlt. Und deshalb blieb ich hier – ein Grund ist gut wie der andere.« »Bleiben ist nicht das richtige Wort«, sagte ich. »Sie kamen zurück.« »Ich kam zurück, weil Angus Macdonald mich darum bat. Der wich tigste Mann in der Brennerei wurde durch ein Fass getötet, das vom Wagen auf ihn fiel. Es gab natürlich andere, die ihn hätten ersetzen können, aber Angus Macdonald war der Meinung, daß nur ich die Nase, das Auge und das richtige Gefühl für Whisky hätte. Er wäre nur zu gerne ohne mich ausgekommen, denn wir haben uns nie gut vertra gen. Aber er hat mich zurückgeholt, und da habe ich eben meine Be dingungen gestellt. Ich versprach, die Brennerei zu führen, und für die fühle ich mich auch verantwortlich. Aber die Sommermonate gehören mir. So war es abgemacht vor drei Jahren, und so ist es auch eingehal ten worden.« »Aber es wird nicht ewig so bleiben.« »Warum nicht?« »Die meisten Männer heiraten. Sie nehmen sich Frauen, sie kriegen Kinder.« Er machte eine ungeduldige Bewegung. »Alles zu seiner Zeit. Ich habe noch keine Frau gefunden, für die ich all das aufgeben würde, was ich jetzt habe.« 100
»Auch Sie werden heiraten«, wiederholte ich, »und damit Ihr Glück verpfänden.« »Ich? Wie kommen Sie darauf!« Er fuhr hoch, wie von der Tarantel gestochen, und seine biegsame Gestalt wurde plötzlich steif. »Heiraten! Mir freiwillig Fesseln anlegen?« Er stellte seine Teetasse klirrend auf den Kaminsims. »Vergessen Sie nicht, daß ich der Sohn meiner Mutter bin. Wenn sie es nicht nötig hatte, in die Achtbarkeit der Ehe zu flüch ten, warum dann ich? Wenn sie die Einsamkeit ertragen konnte und ein Kind gebären, ohne ihm den Namen des Vaters geben zu können, warum sollte dann ich als Mann mich anketten lassen …?« Ich war irgendwie gerührt, ihn auf diese Art von seiner Geburt spre chen zu hören. Er war empfindsam und jähzornig und hielt dieselbe kühle Distanz zu Menschen wie Mairi Sinclair. Mir gefiel es, daß er für sie keine Entschuldigungen suchte und daß ihr Mut ihn stolz machte. Die beiden mochten sich zwar gelegentlich zanken, aber sie waren tat sächlich aus demselben Holz geschnitzt. »Die meisten Frauen sehnen sich nach dem Gefängnis der Ehe, aber sie werden ja schon von Kindesbeinen an darauf gedrillt. Sie tragen Kinder aus und pflegen kranke Ehegatten, und das, ohne groß zu kla gen …« »Und was könnten sie anderes tun?« fragte er mit beleidigender männlicher Herablassung. »Welche Wahl bleibt ihnen schon?« »Manche ziehen es vor, sich ganz ohne Zukunftsversprechungen hinzugeben!« War ich von Sinnen? Meinte er jetzt etwa, ich spielte auf seine Mutter an? Ein nachdenklicher Blick streifte mich. »Ja, solche gibt es auch, und es sind die einzigen, die zu lieben es sich lohnt. Kommen Sie, ich zeig Ihnen was.« Er ergriff spontan meine Hand und zog mich hoch. Meine Tasse rutschte fast vom Tablett, als ich aufsprang und ihm folgte. Er öffne te die Tür des Cottage und ließ sie krachend hinter uns zufallen. Dann packte er mich bei den Schultern und stellte mich gegen die Hausmau er. »So, und hier bleiben Sie stehen, aber möglichst bewegungslos. Er ist an Menschen gewöhnt und wird nicht gleich mit den Flügeln schla 101
gen, aber es kommt selten ein Fremder hierher, und Ihre Anwesenheit könnte ihm missfallen. Bleiben Sie also ruhig. Er wird sich schon an Sie gewöhnen.« Und damit ging er in den Schuppen neben dem Stall. Ich drückte mich flach gegen die Mauer, hoffend, daß ich mit dem Schatten eins würde, den das überhängende Strohdach warf. Ich war ganz still, wie er befohlen hatte, aber mein Puls hämmerte, und meine Kehle war so trocken, daß mir das Schlucken schwer fiel. Als er wiederkam, saß der Falke auf seiner behandschuhten Hand. Der Vogel hatte ein rotes Federkapüzchen auf dem Kopf, das ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Callum stand nicht weit von mir entfernt, und ich sah die roten Riemchen, die den Falken an seine Finger ban den. Mit der rechten Hand lockerte er jetzt vorsichtig die Lederschlau fen, die das Kapüzchen festhielten, und schließlich streifte er es ab. Der Falke sah mich sofort, und sekundenlang fürchtete ich, daß er aufflie gen würde. Aber er bewegte sich nur ein wenig unruhig und spreiz te seine kräftigen Klauen. Er drehte den Kopf hin und her, und seine Augen suchten den Himmel ab. Dann richtete er seinen dunklen Blick auf mich, und ich begriff sofort, rein aus dem Gefühl heraus, das diese Augen in mir weckten, daß ich einen richtigen Raubvogel vor mir hat te. Er lebte vom Töten, aber er tötete nur, um zu fressen. Obwohl ich wußte, daß ich dem Vogel meine Angst nicht zeigen durfte, konnte ich sie nicht unterdrücken. Ich hätte mich am liebsten aus dem Staub ge macht wie eins seiner Beutetiere, um diesen furchtbar scharfen Augen, diesen mächtigen Klauen zu entgehen. Er kam mir riesig vor; er schien Callums Arm vom Ellbogen bis zu den Fingern ganz zu bedecken. Auf dem Rücken waren seine Federn blauschwarz, am Bauch weißlich und grau gestreift. Er saß da, als sei er sich seiner Kraft voll bewußt und be reit, sie auch zu erproben. »Er ist sehr schön«, flüsterte ich. »Giorsal.« Callum sprach ständig mit dem Tier, und ich versuchte seinen Tonfall nachzuahmen. Als ich seinen Namen sagte, hüpfte Giorsal auf Callums Handschuh auf und ab und blickte mich an, als wollte er sich mit der fremden Stimme vertraut machen. 102
»Ja«, sagte Callum ruhig, »er ist mehr als schön.« Er löste vorsichtig die roten Riemchen von der Faust. Einen Moment lang blieb der Vogel noch sitzen und hob vorsichtig die Klauen, so daß die Glöckchen an sei nen Beinen bimmelten und das Rauschen des Baches übertönten. Dann spreizte er die Flügel, stieß sich ab, daß Callums Arm zitterte, und hob sich in die Lüfte – schnell, aber nicht sehr hoch. Eine Weile umkreiste er unentschlossen das Cottage und die nähere Umgebung, aber schließ lich stieg er mit kräftigen Flügelschlägen höher und immer höher. Ich versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch bald war er nur noch ein Pünktchen in der Sonne, das meinem Blick entschwand. »Sie lassen ihn einfach so frei fliegen?« Er sah mich erstaunt an, aber sogleich fiel ihm ein, daß ich mich mit Falken nicht auskannte. »Ja, das ist das Großartige. Er kommt zurück, er ist zahm, hier ist sein Zuhause. Ich habe ihn vor drei Jahren ge funden, im ersten Sommer nach meiner Rückkehr. Ein Wildhüter aus Ballochtorra hatte die Falkenmutter abgeschossen. Als ich davon hör te, zog ich los, das Nest zu suchen. Als ich es fand, waren seine beiden Brüder schon tot. Giorsal hatte ihnen das Fleisch von den Knochen abgenagt, wäre aber trotzdem fast verendet. Er war noch zu jung zum Fliegen und konnte nicht mal Mäuse jagen. Er war so matt, daß er sich nicht sträubte, als ich ihn in Lappen wickelte, um ihn in der Jagdtasche nach Hause zu tragen. Ich hatte Fleischbrocken für ihn bereit und füt terte ihn, und es vergingen mehrere Tage, bis er kräftig genug war, sich gegen die Gefangenschaft aufzulehnen. Und das war der große Augen blick. Ich mußte ihn zähmen, oder ich würde ihn verlieren. Ich setz te ihn auf meine behandschuhte Hand und brachte ihm bei, nur das zu fressen, was ich ihm reichte. Er sträubte sich zwei Nächte und drei Tage lang, die Fleischstücke aus meiner Hand zu fressen. Ich war halb tot. Die ganze Zeit saß er auf meiner Hand, und ich trug ihn überall mit herum. Ich habe den Arm auf die Sofalehne gelegt und laut gele sen, um mich wach zu halten und ihn an meine Stimme zu gewöhnen. Endlich gab er nach, und das war der Anfang unserer Freundschaft. Wenn man einen solchen Kampf durchgestanden und gewonnen hat, legt man keinen Wert mehr auf leichte Beute.« 103
Er erzählte mir an diesem Tag noch mehr, aber alles habe ich nicht be halten. Was ich vom Falken hörte, vermischte sich mit dem, was ich für den Mann empfand. Er sprach über Giorsal wie ein stolzer, zärtli cher Liebhaber, und das verwirrte meine Gedanken und Gefühle. Ich war froh, als der Falke wieder in Sicht kam und Callum ihm seine ganze Aufmerksamkeit zuwandte; so sah er mich wenigstens nicht an, während er mit mir redete. Der Falke kreiste jetzt über uns, aber verhältnismäßig niedrig, so daß wir die Eleganz seines Gleitfluges, das Herabstoßen auf eine fik tive Beute deutlich beobachten konnten. Im Tal herrschte tiefe Stille. Der Raubvogel schwebte über seinem Revier, und alles übrige Getier verkroch sich vor dem schönen, todbringenden Schatten. »Er spielt«, sagte Callum, »er hat schon am Morgen seine Beute erlegt und ist satt. Er liebt sein Element, und doch kommt er zu mir zurück.« Und er kam zurück. Müde vom Spiel, umflog er das Haus und be äugte die für ihn unbekannte, an der Hausmauer lehnende Gestalt. Ich stand unbeweglich da, genauso wie Callum. Dann ließ sich der Vogel eine Weile auf einem Baum ganz in der Nähe nieder. Das Vertrauen zwischen den beiden war erstaunlich: Er schien genau zu wissen, daß Callum ihn warnen würde, wenn ich eine Gefahr darstellte. Schließ lich landete er mit einem letzten kräftigen Flügelschlag auf der aus gestreckten Hand seines Herrn. Ruhig ließ er zu, daß ihm wieder die Fußriemchen angelegt und das Kapüzchen übergestülpt wurden. Die Schlaufen der Kapuze mußte Callum zwischen die Zähne nehmen, um sie mit der freien Hand verknoten zu können. Dann brachte er den müden, nunmehr blinden Giorsal zurück in den Schuppen. Aber sogar jetzt bewegte ich mich nicht. Ich war wie gelähmt von meinen Empfindungen für den Mann, aber auch von dem klaren Fal kenblick. Als Callum wieder erschien, fühlte ich mich wie gerädert und hatte keine Lust, ins Cottage zurückzugehen. Ich wollte allein sein, da mit mein Gesicht und meine Stimme nicht meine Schwäche verrieten. Callum brachte Ailis, die neben dem Stall angebunden war, und ehe ich mich's versah, hob er mich in den Sattel, als wäre ich so leicht wie ein Kind. 104
»Ist es wohl möglich …« Meine Stimme bebte, und meine Hände zit terten, als ich die Zügel ergriff. »Was soll möglich sein?« »Meinen Sie – ich dürfte mal zusehen, wie der Falke jagt? Wie er frei und kühn auf seine Beute herabstößt und dann doch wieder auf Ihre Hand zurückkommt? Ich möchte es so gerne sehen …« »Wirklich? Das bedeutet aber einen langen Ritt. Wir müssen hin auf ins Moorland, wo man alles gut überblicken kann, sonst sehen Sie nichts. Aber wenn Sie unbedingt wollen …« »Es macht nichts, wenn es weit ist.« »Nun gut, dann nehme ich Sie mit. Auf Wiedersehen, Kirsty.« Wie ich nach Cluain zurückgekommen bin, weiß ich nicht – jeden falls war ich noch vor dem Mittagessen zu Hause. In meinem Gedächt nis waren die Bilder von dem Falken und von Callum für ewig einge graben. In diesem Bunde wäre ich gern der dritte.
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Sechstes Kapitel
G
enauso unmerklich, wie ich in den Bannkreis von Cluain gezogen wurde, geriet ich in den von Ballochtorra. Ich wußte, mein Groß vater sah es nicht gern, daß ich hinging, aber ich tat es doch. Das erste mal, als ich dort war, fühlte ich mich etwas unsicher, aber diese Scheu war schnell überwunden. Margaret Campbell empfing mich mit einer fast rührenden Dankbarkeit. Als ich in dem großen, konventionellen Salon, wohin der Butler mich geführt hatte, auf sie wartete, hörte ich schon von der Treppe ihre aufgeregte Stimme und eilenden Schritte. Gleich darauf stürmte sie ins Zimmer. »Oh, Sie sind gekommen! Wie nett, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben! Ich habe gehört, daß Sie in der ganzen Gegend auf ei nem kleinen plumpen Pferd herumreiten, und war schon ganz belei digt, daß Sie nie vor unserer Tür haltmachten.« »Es ist ein bißchen schwer, herauszufinden, vor welcher Tür man haltmachen soll. Ich weiß gar nicht, was mich mehr einschüchtert, Ballochtorra oder Ihr Butler. Und außerdem fürchte ich, daß mein ar mes kleines Pferd sich nicht sehr gut in Ihrem Stall neben den Vollblü tern ausnimmt.« »Ach, jetzt reden Sie schon fast wie Ihr Großvater, und das dürfen Sie nicht tun. Was ist er doch für ein schroffer, hochmütiger Mann! Ich weiß, Ballochtorra wirkt zuerst ein wenig überwältigend, aber das gibt sich schnell. Und der Butler – vor dem habe ich ja noch viel mehr Angst als Sie. Ich gebe zwar ihm, der Haushälterin und dem Gärtner meine Anweisungen, aber sie werden nur ausgeführt, wenn es ihnen paßt. Ich kann noch nicht einmal einen Rosenbusch dorthin pflanzen, wohin ich will. William hat sich oft darüber amüsiert. Aber kommen Sie, dieses Zimmer bedrückt mich zu Tode, wenn es nicht voller Men 106
schen ist. Gehen wir in mein kleines Boudoir! Es ist viel gemütlicher, und wir trinken dort Tee.« Das Boudoir konnte man nur im Vergleich mit dem Salon als klein bezeichnen, aber es hatte Atmosphäre und strahlte mit seinen zarten Farben und der zurückhaltenden Eleganz den Charme seiner Besit zerin aus. Überall standen silbergerahmte Fotografien von Hausbäl len oder Jagdgesellschaften, die meisten auf dem Flügel. Auf einem der Bilder erkannte ich die massive, bärtige Gestalt des Prince of Wales wieder. Und eines Tages, dachte ich, wird hier auch die Aufnahme ste hen, von der – wie Großvater sagt – James Ferguson träumt: Marga ret Campbell in hermelinbesetzter Robe, mit der Tiara einer Marchio ness. »Spielt Ihr Mann Klavier?« »Selten. Gavin kommt nicht oft in dieses Zimmer. Er gibt Jamie Mu sikstunden auf seinem eigenen Flügel im Studierzimmer, das in einem der Türme liegt. Wir mußten ein Fenster ausheben, anders konnten wir das Instrument nicht hereinbringen.« Tee und Gebäck wurden serviert, und Margaret lachte darüber, wie armselig es aussah, wenn man es mit Mairi Sinclairs verglich. Dabei türmten sich die delikaten Brötchen und winzigen marzipanüberzo genen Kekse auf dem Silbertablett. Die Köchin in Ballochtorra war of fensichtlich mehr darauf geeicht, verwöhnte Gaumen zu reizen, als hungrige Mägen zu sättigen. Margaret fuhr über den Tisch, auf dem das Tablett stand, und ein wenig Staub blieb an ihrem Finger haften. »Ich werde wieder ein Wört chen mit Mrs. Macgregor reden müssen, obwohl die Arme ja nichts dafür kann, solange die Bauarbeiter im Haus sind.« »Ja, ich hörte hämmern.« »Das ganze Tal hört das Hämmern, es ist einfach furchtbar. Aber mein Vater hat es sich in den Kopf gesetzt, die beiden leerstehenden Räume unten in ein großes Billardzimmer umzuwandeln, bevor der Prince of Wales uns besucht. Die Arbeiter hat er sich eigens aus Lon don kommen lassen, sogar einen Kunsttischler für die Paneele. Au ßerdem hat Papa erklärt, die Bibliothek sei schäbig, so daß ich nun die 107
ganzen Möbel neu beziehen muß und die meisten Bücher frisch ein binden. Und das schönste dabei ist, daß der Prinz nie ein Buch in die Hand nimmt, nicht einmal an verregneten Tagen. Aber die neuen Le dereinbände sehen schon prächtig aus.« Ihr hektisches Geplapper war unbeschreiblich oberflächlich, gleich zeitig aber merkte man dabei so deutlich den Wunsch, zu gefallen, daß man es ihr nicht übel nehmen konnte. Und warum sollte es ihr schließlich keinen Spaß machen, Geld auszugeben; es war ja schließ lich da. Und mich amüsierte diese neue Umgebung, weil sie das genaue Gegenteil von Cluain war. Von der Sparsamkeit und dem Pflichtbe wusstsein meines Großvaters oder von dem verbissenen, fast religiösen Arbeitseifer Mairi Sinclairs war hier nichts zu merken. Ich kuschel te mich fast wollüstig in die weichen Seidenkissen und hörte mir ver gnügt die Klatschgeschichten von Margaret Campbell an, die sie gele gentlich durch ihr mädchenhaftes Gekicher unterbrach. Ich war wie der völlig ihrem Charme verfallen, und plötzlich, während ich sie be obachtete, fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß in Cluain nie mand lachte, nicht einmal Morag. Mein Großvater hätte mir auf die sen Gedanken wahrscheinlich geantwortet, daß man am vielen La chen die Narren erkennt. »Spielen Sie eigentlich, Kirsty?« fragte Margaret Campbell, indem sie auf den Flügel zeigte. »Nein«, sagte ich sofort, um nicht zugeben zu müssen, daß ich sehr schlecht spielte. Hier brauchte ja keiner von meinen kläglichen Klim perversuchen, diesem Alptraum meiner Kindheit, zu erfahren. »Oh, das ist aber schade! Es war so nett, mit William vierhändig zu spielen. Er spielte recht gut – aber nicht sehr seriös. Gavin fand uns, glaub ich, albern. Er nimmt seine Musik so ernst. Am liebsten spielt er, wenn ihm niemand zuhört. Er verbringt Stunden in dieser trost losen kleinen Kirche da oben, wo er allein mit seiner Musik ist, sogar im Winter, wenn man vor Kälte mit den Zähnen klappert. Gavin hält mich … ja, er hält mich für dumm.« »Das bilden Sie sich doch nur ein«, versuchte ich ihr zu widerspre chen. 108
»Vielleicht unbewußt. Aber wenn er allein in diese Kirche geht, weiß ich, er wünschte, er wäre das geworden, was er eigentlich werden woll te. – ein Organist in irgendeiner Domstadt, mit einem ausgefüllten Ar beitstag und einem Kirchenchor, mit dem er Hymnen einüben müßte, und einer liebenden Gattin, die zu Hause auf ihn wartet. Im Grunde mag er Ballochtorra nicht, wenigstens nicht so, wie es jetzt ist. Ehrlich gesagt, ich mag es auch nicht. Am Anfang unserer Ehe ging alles sehr gut. Ballochtorra war damals eine verfallene Burg, aber schön in ih rer Wildheit.« Bislang hatte ihre Stimme leicht traurig geklungen, aber jetzt fuhr sie in einem gezwungen optimistischen Tonfall fort: »Na ja, so denkt jeder, der sehr jung ist, aber das ist man nicht lange. Und ab gesehen davon, bekam dann Papa seine Bausucht, und Ballochtorra wurde so groß, daß Gavin sich hier ganz verloren vorkommt. Er liebt das Moor und das Gebirge, und ich glaube, er wäre glücklicher in ei nem Cottage. Wenn wir allein sind und ich sehe ihn am anderen Ende des langen Esstisches sitzen, denke ich immer, er wünschte, ich wäre nicht da. Dann könnte er bei seiner Musik und seinen Büchern bleiben und müßte keine Konversation mit mir machen.« Sie lächelte bei diesen Worten, und ihre gefleckten Bernsteinaugen blitzten. Merkte sie nicht, daß sie über ihre Ehe eben das Todesurteil gefällt hatte? Aber dann sah ich ihr zerknülltes Taschentuch, das mir die Wahrheit verriet. Sie sprach jetzt hastig weiter: »Es ist nicht seine Schuld. Er hätte sich nie freiwillig Ballochtorra und meinen Vater auf den Hals geladen. Und nun soll er außerdem diesen anderen Titel er ben, der ihn noch viel mehr belasten wird. Dabei liebte er mich, wissen Sie – er liebte mich wirklich. Und das alles steht jetzt wie eine Mauer zwischen uns; ich kann direkt fühlen, wie alle Dinge, die er mag, jen seits dieser Mauer sind, und diesseits steht meines Vaters Geld. All mählich trennt uns viel mehr, als uns verbindet. Wir können nicht mehr miteinander reden. Gavin will arbeiten, aber mein Vater findet, der Ehemann seiner Tochter dürfe sich nicht die Finger mit Geld be schmutzen. Er muß ein Gentleman sein und auf seinen Titel warten, damit der kleine Junge aus den Glasgower Slums, der mein Vater einst war, für immer seine Herkunft vergessen kann. Jamie wird höchst 109
wahrscheinlich nie eine Brennerei betreten, und es macht Gavin ganz wild, daß er seinen Sohn auf das wirkliche Leben, das sich jenseits die ser Mauer abspielt, nicht vorbereiten kann. Papa behauptet, daß sich das Whiskygeschäft immer mehr ausdehnen wird und daß man ge nug fähige Leute findet, die es führen können. Jamie wird als Direktor auf den Briefköpfen stehen, aber er wird nie selbst etwas tun müssen. Im Grunde genommen dreht sich alles nur ums Geld, verstehen Sie? Das Geld, das meinen Vater mächtig gemacht hat und das ich auszu geben liebe, ruiniert Gavin. Wenn das Haus in London fertig ist, wird sich Gavin dort nicht mehr als ein paar Wochen im Jahr aufhalten – auf keinen Fall länger, als unbedingt nötig ist, um die Form zu wahren. Er wird in Ballochtorra bleiben, und ich – ich werde die lustigste, hei terste Gastgeberin in London sein, und bei meinen Dinnerparties wird der Prince of Wales erscheinen. Und meinen Mann wird man zu die sen unbequemen schottischen Hochadligen zählen, deren Abwesen heit jeder begrüßt, weil sie nur Spielverderber sind.« Ihre Stimme zitterte. »Und das merkwürdigste an allem ist – ich glaube, Gavin wäre ein sehr guter Geschäftsmann, wenn man ihm nur eine Chance böte. Verzeihen Sie mein Geplapper, aber ich mußte mich einfach mal aussprechen. Die Menschen beurteilen mich falsch – sie glauben, ich sei so dumm, daß ich nicht merke, was Gavin fühlt. Aber wer schert sich darum, was ich fühle? Schließlich kann ich nichts für meinen Vater, so wie ich auch nichts dafür kann, daß sein Geld mich hier so einsam macht. Ist es da ein Wunder, daß ich nach London flie hen will und mein Haus mit Gästen füllen? Ich brauche nun einmal Zerstreuung, sonst drehe ich durch. Ich war selig, als William hier auf tauchte; er brachte mich zum Lachen, ließ mich dies alles vergessen. Er konnte so viel … und er wußte so viel.« »Haben Sie mit ihm auch so offen gesprochen? Ich meine, über Ih ren Mann?« »Nein, ich brauchte ihm gar nichts zu erzählen, er wußte es einfach, er sah die Dinge. Er war sehr reif für sein Alter. Deshalb vertraue ich Ihnen ja dies alles an – weil es fast so ist, als sei William zurückge kehrt. Ich schwatze nicht ohne weiteres mit jedem. Papa wäre wütend, 110
wenn er mich jetzt hörte. Er weiß zwar, wie sich die Leute benehmen, mit denen ich verkehre – die diskrete Zimmerverteilung bei den Wo chenendparties und so weiter, aber solange der Schein gewahrt wird, hat er nichts dagegen; für ihn ist nur wichtig, daß die Gäste Titel haben und nicht geschieden sind. Ich weiß, es klingt verderbt, aber so ist es. Papa ist eben ehrgeizig – geradezu verrückt ehrgeizig. Er selbst wür de sich nie so benehmen und es auch bei mir nicht billigen, schon weil Gavin nicht mitmachen würde. Aber er will, daß ich eine berühm te Gastgeberin werde, und deshalb muß ich diese Leute einladen, und wenn gelegentlich über sie geklatscht wird – dann ist es ihm gleichgül tig. Es gehört eben zum Spiel.« Plötzlich zerrissen die langen, zarten Finger das Spitzentaschentuch mit erstaunlicher Kraft und Leidenschaft. »O Gott, Sie müssen mich verachten!« »Warum sollte ich? Was berechtigt mich dazu?« Ihre Augen weiteten sich. »Sie sind eine Bischofstochter!« »Ich bin in China aufgewachsen und habe zu oft gesehen, wie man junge Mädchen verkauft und missbraucht … Hat William nie davon erzählt?« »Ja … andeutungsweise. Aber ich habe nie so offen mit ihm gespro chen. Er war schließlich ein Mann und hätte es …« »Missverstehen können?« »Vielleicht. Ich habe an William sehr gehangen … wie an einem guten Freund. Er wußte, wie einsam ich war; weitere Erklärungen brauchte er nicht. Entschuldigen Sie, ich rede zuviel; ich will nicht, daß Sie meinen Vater hassen – er kann ja nichts dafür. Ich habe die Slums gesehen, in denen er aufgewachsen ist.« Ein Zittern lief durch ihren Körper. »Ich selbst … ich würde alles, aber auch alles tun, um aus solchem Elend herauszukommen. Nein, ich kann ihm nichts vor werfen. Er hat mir eine gute Erziehung gegeben und glaubt, in mei ner Welt müsse man sich sein Recht nicht mehr mit den Ellbogen er kämpfen. Er wird aber nie verstehen, daß die Welt, in der ich lebe, ge nauso intrigenreich und hart ist wie die, aus der er selbst stammt. Und das schlimmste ist …« 111
»Was ist das schlimmste?« Sie hätte es gesagt, auch wenn ich sie nicht dazu ermuntert hätte. »Gavin weiß es bis heute nicht. Papa hat sich genau über seine Fa milie informiert, bevor er mir die Erlaubnis zur Heirat gab. Ich könn te schwören, daß Gavin den Namen des Marquis of Rossmuir nur vom Hörensagen kannte. Aber Papa wußte, daß er große Chancen hatte, den Titel zu erben, obwohl vor ihm zwei andere darauf Anspruch hat ten – und deswegen durfte ich Gavin überhaupt heiraten. Es war natür lich ein Glücksspiel, aber Papa liebt Glücksspiele, und das war bislang sein größter Treffer. Vor zehn Jahren hatte er noch nicht genug Er folg und Geld, um ohne weiteres einen hochadligen Ehemann für sei ne neureiche Tochter kaufen zu können. Gute Titel sind nun mal teu er. Es klingt korrupt, nicht wahr? Aber es ist nicht so gemeint. Ich lieb te Gavin – ja, ich liebte ihn wirklich.« Sie stand auf, und eine Weile lang hörte ich im Raum nur das Ra scheln ihres Seidenkleides, als sie nervös auf und ab ging. Dann sah sie mich an. »So, nun wissen Sie alles. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemand soviel erzählt. Ich weiß nicht, was über mich gekom men ist, verzeihen Sie mir. Aber ich glaube, Sie … Sie mögen mich.« »Natürlich, sogar mehr als das.« »William mochte mich auch.« »Ganz gewiß. Wer nicht?« Plötzlich wirbelten wir beide herum. In der Tür stand Gavin Campbell und lächelte. Sein Lächeln sagte uns nichts. Es war unmöglich zu erraten, wieviel er gehört hatte, und vermutlich würden wir es nie er fahren. Genau wie William wußte er immer mehr, als man ahnte. Er betrat das Zimmer. »Ich hoffe, es ist noch etwas Tee für mich da.« Seltsamerweise wurde Margaret nervös. »Aber natürlich, ich werde gleich nach frischem läuten.« »Nein, mach bitte keine Umstände. Du hast doch sicher noch einen Rest in der Kanne; ich habe nichts dagegen, wenn er stark ist.« »Nein, es ist nichts mehr drin. Ich habe dich nicht erwartet … Du kommst ja so selten.« »Ja … ja, das stimmt wohl. Lass, ich brauch keinen Tee. Man hat mir 112
gesagt, Miß Howard sei hier. Und ich war doch neugierig zu hören, warum wir so lange auf ihren Besuch warten mußten.« »Wahrscheinlich war ich einfach zu schüchtern.« »Ach, Williams Schwester und schüchtern. Soso, das Mädchen, das ganz allein von China nach Schottland reist, ist also schüchtern?« Er lachte. »Das glaubt Ihnen keiner! Margaret, bitte klingle nicht. Ich kann dieses ganze Getue nicht vertragen. Gleich werden sechs Mädchen und ein Butler angelaufen kommen.« Ohne sich zu setzen, nahm er ein Brötchen und aß es. »Aber ich bitte dich, Gavin.« Margaret sah ihn flehend an. »Du kommst so selten hierher, und ich kann dir noch nicht einmal eine Tasse Tee anbieten.« Er antwortete ihr nicht, sondern sagte, zu mir gewandt: »Mairi Sin clair richtet so einen Tee sicher ganz anders an.« »In Cluain ist alles viel einfacher«, sagte ich, »und es sind nur ein paar Schritte von der Küche zum Esszimmer, und Morag …« »Ja – einfacher. So müßte es sein. Margaret und ich sind die Gefan genen der Leute, die dafür bezahlt werden, uns zu bedienen, und Jamie wächst auf, ohne zu wissen, wie man einen Schnürsenkel bindet.« »Aber, Gavin, du bist ungerecht. Er gibt sich große Mühe …« »Ja, sogar mehr als das. Es ist ein wahres Wunder, daß der Junge noch nicht zu einem verzogenen Geck geworden ist. Und das ist haupt sächlich dein Verdienst.« Er sah mich an. »Margaret hat die seltene Be gabung, über sich selbst lachen zu können, und die hat sie ihrem Sohn vererbt. Sie erinnert ihn immer wieder daran, woher Großvater kam. Ich rechne das Margaret hoch an.« Mit diesen Worten ging er plötzlich zum Flügel, setzte sich und be gann zu spielen. Ich war erstaunt, eine so bekannte, fast abgedroschene Melodie zu hören. Sie paßte gar nicht zu einem ernsten Musiker. »Ich habe das Gefühl, daß Kirsty singen kann – William hatte eine gute Stimme«, sagte Gavin, ohne im Spiel innezuhalten. Man hatte mir zwar immer gesagt, daß ich eine ganz nette Stimme hätte, doch das Singen bedeutete mir nicht viel. Jetzt aber verspürte ich plötzlich Lust dazu. Ich ging zum Flügel, stellte mich hinter Ga 113
vin und warf einen flüchtigen Blick auf die Noten; ich kannte sie aus wendig. »Wenn zwei einander treffen
mitten im Gerstenfeld …«
Er sang ebenfalls gut, mit kräftiger, dunkelgefärbter Stimme, die zu seinem blonden Haar und hellen Augen nicht zu passen schien. Mar garet Campbell saß am anderen Ende des Zimmers, und ihre schönen Hände zerrten wieder nervös an ihrem Spitzentaschentuch. »Ach, Ga vin, ich habe dich nie ein solches Lied spielen hören.« Er schüttelte den Kopf, wie um ihr zu bedeuten, sie solle ihn nicht unterbrechen. Plötz lich hörte ich mich allein singen: »Wenn Jungens mich anlächeln
mitten im Gerstenfeld …«
Er drehte sich um und sah mich mit diesem eigentümlich durchdrin genden Blick an, der mir schon bei unserem ersten Zusammentreffen auf dem Bahnhof von Ballinaclash aufgefallen war. Es war ein Blick, der die Umwelt auszuschließen schien. »Ja, dachte ich's mir doch, Sie haben eine schöne Stimme.« Mit einem lauten, triumphierenden La chen wiederholte er: »Ja, mein Gott, eine schöne Stimme.« Ich wußte nicht, warum ihm das wichtig sein sollte, aber sein Blick und die Worte schlossen sogar Margaret Campbell aus. Wir hätten ebensogut allein sein können.
Bei diesem ersten Besuch begleitete mich Gavin durch die langen Gän ge von Ballochtorra bis zu den Ställen. An diesen Wandelgängen sah man, wie alt das Haupthaus war; ich fühlte mich nach Cluain zurück versetzt. Aber als Gavin die Tür öffnete, die direkt in den Stallhof führ te, waren alle Mauern neu; der Efeu hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu 114
überwuchern. Ein mächtiger Turm beherrschte den viereckigen Hof mit seinen pompösen Pferdeställen und einer Schmiede, deren Ein gang die traditionelle Form eines Hufeisens hatte. »Wie eine schlech te Opernkulisse«, murmelte Gavin und schlug die Tür hinter sich zu. »Es gibt hier genug Vollblüter für einen König mit Gefolge, und ich wäre nicht erstaunt, plötzlich einen als Stallknecht verkleideten Prin zen auftauchen zu sehen.« »Aber es sind doch Ihre Pferde.« »Von Rechts wegen schon, und ich muß gestehen, daß ich nicht die Charakterstärke hatte, auch nur eines dieser herrlichen Tiere zurück zuweisen. Warum sollte ich auch? Das Geld würde nur für was anderes hinausgeworfen. Eins muß ich Mr. Ferguson allerdings lassen: auf gute Pferde versteht er sich und liebt sie auch. Ich wünschte nur, sie gefielen ihm aus denselben Gründen wie mir, dann hätten wir wenigstens ein gemeinsames Gesprächsthema.« »Es kommt selten vor, daß verschiedenen Leuten die gleichen Dinge aus den gleichen Gründen gefallen.« »Solche Bemerkungen machte William oft, und dann hatte ich im mer das komische Gefühl, mit jemand zu sprechen, der älter ist als ich.« Ich lachte nur, weil ich nicht näher darauf eingehen mochte. Der Gefühlsausbruch von Margaret hatte mich etwas erschreckt, und ich wollte ein zu persönliches Gespräch mit Gavin unbedingt vermeiden. »Die Chinesen lieben Sprichwörter. Als Kinder pflegten wir aus Spaß unsere eigenen zu machen – je sinnloser, desto besser. Zum Beispiel: Die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten ist der längste Weg nach Hause.« »Wissen Sie, Miß Howard, in so was steckt mehr Weisheit, als Sie vielleicht ahnen.« Während wir noch auf den Stallknecht warteten, der mir die kleine Ailis bringen sollte, hörten wir eine Stimme aus der dunklen Schmie de. Wir drehten uns um und sahen einen Mann in brauner Tweedjak ke mit dazu passender Mütze. Er war nicht sehr groß, aber kräftig ge baut und ein wenig untersetzt. Die rötliche Farbe des Backenbarts und 115
die bernsteingefleckten Augen waren das einzige, was an seine Toch ter erinnerte. »Miß Howard, darf ich Ihnen meinen Schwiegervater, Mr. James Ferguson, vorstellen?« Er nahm die Mütze ab. Obwohl seine Kleider offensichtlich von ei nem teuren Schneider stammten, verrieten das zu energische rote Ge sicht und die kaltblitzenden Augen seine niedrige Herkunft. Er wirkte so protzig wie der Stallhofsturm und trug seine Selbstzufriedenheit of fen zur Schau, aber das schien ihm zu gefallen. »Ach, Angus Macdonalds Enkeltochter. Ja, Sie sehen ihm ähnlich, Ih rem Bruder übrigens auch. Können Sie's denn mit ihm aufnehmen?« »Das wird die Zeit zeigen, Mr. Ferguson, oder vielleicht auch nicht. Wir Frauen haben es nicht leicht in einer Männerwelt, und es ist unge recht, Vergleiche zu ziehen.« »Na, die scharfe Macdonald-Zunge haben Sie jedenfalls mitgekriegt. Aber Ihr Bruder, der war auch lustig und charmant.« Mir blieben vor Wut fast die Worte in der Kehle stecken. »Ich wer de versuchen, mich zu bessern, Mr. Ferguson. Aber zu der Zeit, als Sie William trafen, waren wir alle noch sehr viel glücklicher …« Ich sah, wie sich Gavins Hand, die Ailis am Zügel hielt, zur Faust ballte. Gut, daß die Stute nicht nervös war. »Mr. Ferguson, bitte vergessen Sie nicht, daß Miß Howard erst vor sehr kurzer Zeit den Bruder und den Vater verloren hat. Sie können kaum erwarten, daß sie sehr heiter ist …« »Ja, ja, ich weiß. Es war ja auch nicht so gemeint, Miß Howard. Sie haben viel durchgemacht. Aber ich seh schon, daß Sie hart im Nehmen sind und wahrscheinlich zäh wie Leder. Schade, daß Sie kein Junge sind – Angus Macdonald hätte noch mal 'ne Chance. Aber wer weiß, als Tochter von 'nem Bischof können Sie vielleicht 'ne gute Partie ma chen – besonders mit Cluain als Mitgift …« »Zum Teufel«, platzte Gavin los, »können Sie nicht gefälligst den Mund halten. Auch wenn Ihnen Ballochtorra gehört, verlange ich, daß meine Gäste höflich behandelt werden.« »Miß Howard wird schon nicht gleich in Ohnmacht fallen, Gavin. 116
Die weiß genau, was ich meine. Ich vergeude meine Zeit nicht mit blu migen Reden – hab auch nie gelernt, welche zu halten. Sie weiß das und du auch. Bevor ich abfahre, hab ich was mit Angus Macdonald zu besprechen –« »Sie fahren also fort?« fragte Gavin. »Ja, übermorgen, aber ich komme noch mal zurück vor dem Prin zenbesuch, um zu sehen, daß auch alles klappt. Ich will nicht zu lange von Glasgow weg sein. Sonst geht da was schief. Die Leute sollen nicht den Eindruck haben, daß ich hier meine Zeit vertrödele …« »Niemand hat Zeit vertrödelt!« rief Jamie, der gerade aus dem Stall angelaufen kam. »Es hat nur so lange gedauert, weil wir noch die Sat telgurte geprüft haben, damit uns Miß Howard ja nicht vom Pferd fällt.« Der abrupte Wechsel in Mr. Fergusons Ausdruck war erstaunlich; die ganze Vulgarität fiel von ihm ab und machte Stolz und Zärtlichkeit Platz. Es war ihm auch gleichgültig, ob jeder merkte, daß er seinen En kelsohn vergötterte. »Von dem breiten Rücken wird sie kaum runterfallen, mein Junge. Ein nettes, zuverlässiges kleines Pferd, aber mit deinem Milky nicht zu vergleichen.« »Nein, aber ich hätte lieber Ailis. Sie ist eine Berühmtheit. Sie hat Mr. Dougal Ross, als er hohes Fieber hatte, im schlimmsten Schnee sturm aller Zeiten sicher nach Hause gebracht. Sie hat ganz allein ih ren Weg gefunden, fast zehn Meilen weit, und man konnte die eigene Hand nicht vor den Augen sehen. Alle wollten Ailis haben, aber Mr. Ross hat sie Mr. Macdonald verkauft.« Ferguson musterte Ailis mit ausgesprochenem Missvergnügen. »Kei ne Rasse, Jamie, mein Junge. Du mußt doch zugeben, daß du nie ein hässlicheres kleines Pferd gesehen hast.« »Das darfst du nicht vor ihr sagen, Opa. Ailis versteht nämlich al les, weißt du.« »Nichts versteht sie! Seid ihr alle miteinander verrückt geworden? Sie ist ein mieser alter Klepper, und ich hoffe, mein Enkelsohn muß nie auf so was reiten.« 117
»Ich mag sie aber …« »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Mr. Ferguson«, sagte ich, »daß Ailis mir gehört.« Während die drei sich noch wütend anstarr ten, schwang ich mich ohne Hilfe in den Sattel. Ailis setzte sich be reitwillig in Bewegung, als ob auch sie froh wäre, wegzukommen. Sie trabte gleichmäßig davon. Die Aufregung, die sie zurückließ, brach te sie ebenso wenig aus der Ruhe wie meine Wut, die sie sicher spür te. Ohne mein Zutun schlug sie die Straße nach Cluain ein, nachdem wir das schmiedeeiserne Tor mit dem Schwan als Wappen hinter uns gelassen hatten. Sie freute sich auf ihren Stall, und auch ich wußte, wo ich hingehörte.
Nur sehr langsam und nur durch mein eigenes Zutun ließ man mich am geschäftigen Leben von Cluain teilnehmen. Jeden Tag inspizierte Großvater das Gut, beaufsichtigte die Arbeiter, beobachtete den Stand der Gerste auf den Feldern und schnüffelte die Luft nach Regen ab wie ein Tier. Er fahndete nach Löchern in den Zäunen, damit die Rinder und die Schafe nicht in die kostbaren Gerstenfelder einbrachen; er be fahl, die fehlenden Ziegel auf den Scheunendächern zu ersetzen; er kontrollierte, ob die Pferche schneedicht waren, und paßte die richti ge Zeit für die Heuernte ab. Er ritt ein Pferd, das ebenso alt und breit aussah wie er selbst, das ihn aber bis zu den entlegensten Gebirgshüt ten brachte, wo die Hirten im Sommer hausten. Er wirkte für sein Alter immer noch ungemein vital. Nur gelegentlich, wenn ihn Erinnerungen befielen, nahm sein Gesicht einen finsteren, fast melancholischen Ausdruck an – Erinnerungen an die Vergangenheit, als das Leben für ihn zwar härter, aber auch noch lohnender gewesen war. In solchen Momenten wagte ich nicht mit ihm zu sprechen. Eines Tages, als ich mit ihm ausritt, war er wieder in einer seiner dü steren Stimmungen. Da ich ihn um etwas bitten wollte, wartete ich, bis wir nach Cluain zurückgekehrt waren, die Pferde in die Ställe gebracht und die Geschirre aufgehängt hatten, ehe ich mit ihm zu reden be 118
gann; denn nichts ärgerte ihn mehr, als wenn man die Regeln durch brach, die er aufgestellt hatte. Wir standen an der Pumpe, wo ich Was ser für die beiden Pferde holte. »Großvater«, sagte ich ein wenig keuchend, denn das Pumpen war ziemlich anstrengend, »Großvater, kann ich dir nicht irgendwie hel fen?« »Helfen?« Er war sofort mißtrauisch und in Abwehrstellung. »Wie stellst du dir das vor?« Ich seufzte, hob meine Eimer und wollte gehen. Manchmal schien alles genauso schwierig zu sein wie am ersten Abend, obwohl doch seitdem schon Wochen verstrichen waren. »Ich dachte, im Büro. Ich pflegte Vater bei Schreibarbeiten zu helfen, und vielleicht könnte ich auch dir nützlich sein.« Ich versuchte mit meinem freien Ellbogen die Tür zu Ailis Stand zu öffnen, stellte aber dabei den Eimer so hart auf den Boden, daß die Hälfte des Wassers überschwappte. »Du betonst doch immer wieder, daß in Cluain jeder arbeitet.« »Du willst wohl in meinen Sachen herumschnüffeln?« »So, das ist also alles, was dir dazu einfällt.« Ich ergriff wieder den Eimer und vergoss aus Wut noch mehr Wasser auf meine Schuhe. Am liebsten hätte ich ihm die ganze Ladung ins Ge sicht geschüttet. »Dann vergiß meinen Vorschlag. Ich dachte, du könn test mir die unwichtigeren Briefe diktieren. Ich erwarte kein Vertrau en von dir.« »Ruhig, Mädchen, reg dich ab. Du bist immer so hastig. Ja, vielleicht könntest du ein paar Briefe und Rechnungen schreiben und die Wo chenlöhne für die Arbeiter ausrechnen. Ein- oder zweimal im Monat kommt Samuel Lachlan aus Inverness, um die Bücher zu prüfen. Zwi schendurch könnte man verschiedenes in Ordnung bringen … Na, wir können's ja mal versuchen«, schloß er mürrisch. Ich wußte nicht recht, ob ich ihm jetzt danken sollte, entschloß mich aber, nichts zu sagen und Ailis schweigend ihr Wasser zu geben. Als ich sie abrieb, ließen mein Ärger und meine Empörung etwas nach. Ihr Fell glänzte, und sie sah prächtig aus – zumindest etwas, worauf ich stolz sein konnte. 119
Ganz allmählich wurde ich in Großvaters Büro heimisch, in die sem kalten schmalen Zimmer, das in der Ecke des Hauptgebäudes der Brennerei lag. Es roch nach gärendem Malz – ein eigentümlich saurer Geruch von abgestandenem Alkohol, der sogar das Papier und die le dergebundenen Geschäftsbücher durchtränkte. »Warum auch nicht«, sagte Großvater, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Es ist nur na türlich, daß es bei uns nach den Produkten riecht, die wir herstellen. Wir sind schließlich keine Konditorei.« Samuel Lachlan war anfangs nicht sehr glücklich über meine An wesenheit in Großvaters Büro, und jedes Mal wenn er kam, wurde ich ausgesperrt. Es hatte sich schon seit Jahren eingebürgert, daß er nicht nur als Rechtsanwalt von Cluain, sondern auch als Hauptbuchhalter fungierte. Am Anfang hatte er wohl seine Geldanlagen im Auge be halten wollen, aber allmählich war Cluain zum Hauptinteresse seines Lebens geworden. An die Geschäftsbücher von Cluain ließ er keinen heran; er betrachtete sie als sein persönliches Eigentum. Bei jedem Be such brachte er sie mit seiner akkuraten, gut lesbaren Schrift auf den letzten Stand. Er wurde alt mit Cluain und Angus Macdonald, und ich bedeutete eine unwillkommene Neuerung. Außerdem war ich eine Frau, für die es in einem Geschäft keinen Platz gab. Aber ich spürte, daß sich hinter seinem häßlichen, mageren Gesicht, dem gebeugten Rücken und abgetragenen schwarzen Anzug eine Leidenschaft für das Wohlergehen Cluains verbarg, die nicht schwächer war als die meines Großvaters. Das flößte mir eine gewisse Achtung ein, und ich versuch te diesen seltsamen Mann zu verstehen. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, vermied er es, mir in die Augen zu sehen, und murmel te: »Ein Jammer, das mit Ihrem Bruder, ein großer Jammer.« Aber er selbst und Cluain taten ihm leid, nicht ich. Einmal war ich allein im Büro, als Samuel Lachlan kam, weil man Großvater wegen eines kranken Bullen geholt hatte. Er runzelte die Stirn beim Anblick der offenen Geschäftsbücher. »Ihr Großvater läßt Sie einen Teil der Arbeit machen?« »Sehr wenig. Ich versuche eigentlich nur, seine Notizen etwas zu ordnen und ein paar Rechnungen zu verschicken oder den Einkäu 120
fern die Termine zu bestätigen. Ich helfe auch mit den Lohnabrech nungen.« Er trat näher heran und beugte sich über mich, so daß mir der Mief seines schwarzen Anzugs in die Nase stieg. »Verstehen Sie denn was davon?« »Ich habe meinem Vater bei Büroarbeiten geholfen, um den Hilfs geistlichen zu entlasten.« »Sprechen Sie Chinesisch?« »Ja, Mandarinchinesisch – die offizielle Sprache. Aber ich spreche es besser, als ich es schreibe, denn das ist sehr schwer und kompliziert. Oft mußte ich Vaters Bürovorsteher um Hilfe bitten – er war es, der William und mir Chinesisch beibrachte. Ich kannte mich auch in der Buch haltung ein wenig aus, und in China mußte man ein bißchen Schum melei immer mit einkalkulieren. Vater war froh, damit nichts zu tun zu haben. Er war … Na, er war eben kein Geschäftsmann. Und wenn er in England geblieben wäre, glaube ich nicht, daß man ihn zum Bi schof gemacht hätte. Kathedralen hätte er sicher nicht gebaut …« »Ich mag keine Kathedralen«, sagte Samuel Lachlan. »Alles Schein und hinausgeworfenes Geld. Und was haben Sie sonst in China ge lernt?« Ich redete drauflos und vergaß ganz, mit wem ich sprach. Die ser einsame Mann saugte meine Worte geradezu auf, ohne sich seiner Neugierde bewußt zu werden, und ich konnte freier mit ihm sprechen als mit Großvater. Wir unterhielten uns noch immer, als Morag kam, um uns zum Mit tagessen zu holen. Samuel Lachlan war ein gern gesehener, hochge schätzter Gast in Cluain, und das Essen war stets besonders üppig, wenn er kam, und das Feuer im Kamin besonders groß. Es gab im mer seine Lieblingsgerichte – große Scheiben Roastbeef oder Lamm, duftende Kräutersaucen und unvermeidlich einen Apfelkuchen mit Schlagsahne. Außerdem bekam er bei seiner Abfahrt einen Korb voll von Mairi Sinclairs Küchenerzeugnissen mit. »Es ist schrecklich«, pflegte er zu sagen, »was sie einem in Inverness für eine Semmel ab verlangen.« Er behauptete, Mairis Speisen seien ebenso wohltuend für seinen kranken Magen wie das Stärkungsmittel, das sie für ihn brau 121
te. »Samuels Gesichtskreis ist sehr begrenzt«, sagte Großvater, ohne sich wahrscheinlich Rechenschaft darüber abzulegen, daß sein eige ner nicht viel größer war. »Wir versuchen ihm etwas Abwechslung zu verschaffen, wenn er herkommt. Sein Leben besteht nur aus Ar beit. Er war nie verheiratet, und soweit ich weiß, hat er nur einen Ver wandten – einen Großneffen, von dem er nicht viel hält. Cluain ist sein Kind, und er ist stolz darauf, denn es bedeutet den besten Whisky des schottischen Hochlandes. Es ist nicht das Geld allein, das ihn mit Clu ain verbindet.« Morag rümpfte das Näschen und zuckte die Achseln, als ich ihr hel fen wollte, das Zimmer, das Samuel Lachlan in Cluain immer bewohn te, herzurichten, und lachte, als ich einen Blumenstrauß auf den Ka min stellen wollte. »Ach, lassen Sie das, Miß – der alte Mann wird sie nicht mal bemer ken. Sein Häuschen in Inverness riecht nur nach abgetretenen Läu fern. In den unteren Räumen arbeiten drei Buchhalter, die weder genü gend Platz noch Licht haben, und Mr. Lachlan selbst wohnt im oberen Stock. Man sagt, er sitze schon um sechs Uhr früh am Schreibtisch – sommers wie winters. Ich habe das Haus gesehen, weil der Herr mich mal nach Inverness geschickt hat, um einen dringenden Brief per sönlich abzugeben. Ich möchte um nichts in der Welt da wohnen; die Fensterscheiben sind so schmutzig, daß man kaum durchsehen kann. Sein Essen bringt man ihm aus einer Kneipe von nebenan, und es ist scheußlich. Und doch sagen die Leute in Inverness, daß er die halbe Stadt kaufen könnte, soviel Geld hat er. Seine Angestellten sind unter bezahlt und überarbeitet, und trotzdem reißen sich die jungen Män ner darum, bei ihm angestellt zu werden. Jeder will von ihm lernen, wie man Geschäfte macht und sich ein großes Vermögen erwirbt. Ja, er kann auswählen! Nur die Gescheitesten und Schnellsten kommen bei ihm unter, das können Sie mir glauben, Miß.« Ich glaubte es ihr und hatte mit ihm desto mehr Mitleid. Die ganze Geschichte von Cluain stand hier in den Büchern, von ihm säuberlich eingetragen: die ersten bescheidenen Produktionsziffern, sein Darle hen für den Bau der Brennerei und die Höhe der Zinsen, die Ausga 122
ben für die ersten Whiskyfässer, der Preis des Zauns, der in jenen Ta gen der einzige Schutz von Cluains kostbarer Produktion gewesen war. »Wir behaupteten zwar, wir hätten ein Lagerhaus, das sich unter Zoll verschluß befand«, erzählte Großvater einmal, »aber bewacht wurde es nur von ein paar Hunden und dem Gewehr, das neben meinem Bett lag. Damals schlief ich schlecht – die Zollbehörde verlangt ihre Abga be für jedes Fass, ob es gestohlen wurde oder nicht. Erst als ich mei ne soliden Lagerhäuser baute, eins nach dem andern, weil ich sie sonst nicht hätte bezahlen können, und das Zöllnerhaus bei der Mauer, habe ich die ersten ruhigen Nächte verbracht. Es war schon sehr angenehm, zu wissen, daß meine Fässer fest verschlossen hinter soliden Mauern lagen.« So erfuhr ich bruchstückweise die Geschichte von Cluain, aber ein voller Einblick wurde mir nicht gewährt. Die tägliche Post öffnete Großvater selbst, und es gab viele Briefe, die er persönlich beantworte te und dann in den verschließbaren Schubladen seines Schreibtisches verschwinden ließ, damit sie ja niemand sah – außer Samuel Lachlan natürlich.
Die kleine restaurierte Kirche jenseits des Flusses und Ballochtorras hatte für mich einen großen Reiz, und wenn Ailis und ich in der Nähe waren, machten wir oft einen Umweg, um sie zu besuchen. Ich hängte die Zügel immer lose über denselben Pfosten des Kirchhoftors und ging dann den Weg entlang, der zu den beiden Granitgrabstei nen führte. Manchmal hörte ich Orgelmusik und setzte mich an Wil liams Grab, um den Klängen der Hymnen und Fugen, der Kantaten und Choräle zu lauschen. Einmal, als ich, den Kopf an den rauen Gra nitstein gelehnt, im Sonnenschein saß, mußte ich bei den weichen Tö nen eines Musikstückes, das ich früher nie gehört hatte, eingeschla fen sein. Es herrschte eine besondere Stille an diesem Tag, kein Wind hauch, kein Kuhglockengeläute, kaum ein Vogel. Gavins Finger wie derholten immer wieder eine kleine melodische Stelle, aber jedes Mal 123
in einem anderen Tempo. Es war angenehm, dem Spiel zuzuhören; ich konnte die Melodien schon fast nachsummen. Meine Lider fielen zu. Als ich plötzlich erwachte, blickte er mit einem amüsierten Gesichts ausdruck auf mich herunter. »Wie ich sehe, ist Ailis unzufrieden. Sie hat schon das ganze Gras im Umkreis gefressen. Sind Sie oft allein hier?« Ich wollte nicht sagen, wie oft ich herkam. »Von Zeit zu Zeit habe ich Sie spielen gehört, es gefällt mir.« Er hockte sich neben mich. »Aber es schläfert Sie ein.« »Nur heute. Ist das so schlimm? Was Sie eben gespielt haben, hör te sich an wie ein Wiegenlied. Aber Sie wissen ja, ich versteh nicht viel von Musik.« »Das ist auch nicht nötig. Hauptsache, Sie lieben sie. Nächstesmal müssen Sie zu mir heraufkommen.« »Mir gefällt es hier draußen.« »Aber ich würde mich freuen, Sie zu sehen. Ich könnte Ihnen sagen, was ich spiele; Sie brauchten nicht mehr zu raten.« Das nächstemal hörte ich die Orgel schon aus der Ferne, und so be trat ich die Kirche durch den Seiteneingang. Ich ging aber nicht zu Ga vin auf die Empore, sondern setzte mich auf die hinterste Kirchen bank, wo er mich nicht sehen konnte. Die brausenden Klänge des In struments schienen die bescheidene Enge dieser kleinen Kirche zu sprengen. Kein Wunder, daß der Pfarrer nicht wollte, daß Gavin in Anwesenheit der Gemeinde diese Art von Musikstücken spielte. Die se Harmonien hatten nichts mit den kalten Tugenden zu tun, die um ihrer selbst willen geübt werden, noch mit dem Verdammungsfeuer. Sie waren reich, großartig und sehr menschlich. Ich schlich nach oben und kauerte mich in eine Ecke, wo ich sicher war, daß Gavin mich nicht sehen konnte. Aber als er zu spielen aufhörte, drehte er sich so fort nach mir um. »Woher wissen Sie, daß ich hier bin?« »So etwas spürt man, die Klänge verändern sich.« Er lachte. »Ich weiß immer, wenn ich Zuhörerschaft habe. Hat Ihnen die Musik gefallen?« »Ich fand sie wunderbar, und sie klang ganz unkirchlich.« 124
»Ich versuche meine eigene Transkription von Verdis Requiem zu machen … ein paar der Stimmpartien durch die Orgel zu ersetzen. Dem Geistlichen wird es kaum gefallen. Verdi – ein italienischer Ka tholik! Kommen Sie her und singen Sie für mich.« »Ich? Zur Orgel? Mit Ihnen?« »Warum denn nicht? Sie haben doch Ihr ganzes Leben lang Hymnen und Psalmen gesungen, nicht wahr?« »Ja … aber … nein, ich kann nicht.« »Na, singen Sie schon, ich weiß, daß Sie es können.« Seine Finger zo gen schnell an den Registern, und nun kamen Töne, die so weich wa ren wie das Flüstern eines Kindes. Ja, diesen Psalm hatte ich allerdings mein ganzes Leben lang gesungen. Vielleicht tat ich ihm leid, weil ich weder William, der hier draußen begraben lag, noch meinen Vater hatte sterben sehen. Er wiederholte die Introduktion dreimal, bevor ich fähig war, den Mund zu öffnen, aber dann, als ich einsetzte, klang meine Stimme erstaunlich stark, als ob mich die heilende Gnade der Musik befreit hätte. »Gott ist mein Hirte …« Als der Psalm zu Ende war, blickte ich ihm direkt ins Gesicht, und erst dann fing ich an zu weinen. Es schien ihn weder zu erschrecken noch zu stören, er sagte kein Wort. Ich nahm mein Plaid, ging die Stu fen hinunter und schloß die Seitentür leise hinter mir zu. Ailis stand ruhig am Tor und hob ihren Kopf zum Gruß. Ich schwang mich auf ihren Rücken, und sie trabte in ihrem gewohnten gemächlichen Gang von dannen. Als wir die steil abfallende Stelle vor der BallochtorraBrücke erreichten, waren meine Tränen versiegt. Ich fühlte mich frisch wie der junge Tag und doch irgendwie älter geworden. Und bevor wir zum ebenso steilen Aufstieg ansetzten, blickte ich zum Himmel und vermeinte einen Moment lang weit über mir Giorsals Gleitflug zu se hen. War er es wirklich? Oder war es ein anderer Falke, der sich in sein Gebiet gewagt hatte? Aber dann ritt ich tiefer in die Schlucht, und die steilen Felsen nahmen mir die Sicht. Wir trafen uns nie auf Verabredung in der Kirche, sondern überlie ßen unsere Begegnungen weiterhin dem Zufall. Wenn Gavin da war, setzte ich mich zu ihm auf die Empore, er spielte, erklärte mir hin 125
und wieder etwas und überredete mich manchmal, eine der einfachen Hymnen, die ich auswendig kannte, mitzusingen. »Können Sie die se Noten lesen? Versuchen Sie mal!« pflegte er zu sagen. Ich versuch te es, obwohl die Musik stets weit über mein Verständnis ging. Aber es machte mir Freude. Ich ging, wann ich wollte, ohne mich groß zu verabschieden. Aber zu den Gedanken, die mich den ganzen Sommer lang bewegten, gesellte sich ein neuer hinzu. Ich dachte weniger an Gavin selbst als an sein Orgelspiel, das einmal weich wie eine Brise, einmal niederschmetternd wie Donner war. Wenn die Sommerstürme durchs Tal fegten oder der Wind über die reifende Gerste strich, wenn ich in der Morgendämmerung erwachte und die ersten Vögel zu sin gen begannen, dachte ich an Gavins Musik.
Aber über diesen ganzen Sommerwochen in Cluain, über meinem Denken und Trachten hing das Bild Callum Sinclairs, der mich mied. Wenn ich ihn treffen wollte, mußte ich zu seinem Cottage reiten, und ich hatte jedes Mal den Eindruck, daß er nicht sehr begeistert war, mich zu sehen, falls er überhaupt da war. Denn oft war sein Cottage leer, so wie bei meinen ersten Besuchen, weil ich mich nicht mit ihm verabreden konnte. Es war nicht Stolz, was mich abhielt, beim Cot tage einen Zettel zu hinterlassen – ich fing schon an zu glauben, daß ich keinen Stolz mehr besaß, wenn es sich um Callum Sinclair han delte –, sondern eher das Gefühl, daß ich ihm lästig fiele, daß er mich daran hindern wollte, die Grenzen der Selbstachtung zu überschreiten. Es sah fast so aus, als wollte er es mir ersparen, durch eine Ablehnung erniedrigt zu werden. Manchmal begegnete ich ihm in der Brennerei, wo er unerwartet erschien, wenn irgendeine Reparatur nötig war. In solchen Fällen sprach er mit mir wie mit einer Fremden – distanziert und gleichgültig. Ob er Angst hatte, ich würde mich vor aller Welt bla mieren? Oder wollte er mir etwa mit Absicht Schmerz zufügen? Ich konnte diesen Callum nicht mit dem anderen in Einklang bringen, der sich gelegentlich dazu herabließ, mich mitzunehmen, der durch das 126
hügelige Land ritt, Giorsal auf der Hand und den Hund dicht neben sich. Manchmal kam ich mir fast wie sein Hund vor, der glücklich war, seinem Herrn zu folgen, und der nur auf einen Blick, eine Geste, ein freundliches Nicken wartete und sich damit abfinden mußte, wenn er unbeachtet blieb. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. War das wirk lich ich, Kirsty, die sich so benahm? Hatte ich denn meine ganze Un abhängigkeit, meinen Stolz, ja sogar mein Schamgefühl verloren? Er brauchte nur die Hand zu heben, und ich kam – leichter gezähmt als sein Falke und vielleicht deswegen soviel geringer geschätzt. Er hatte mich vor langen Ritten gewarnt, als er mir versprach, daß ich den Falken bei der Jagd beobachten dürfte, und er hatte nicht über trieben. Es gab seltene Tage – an denen ich auf Ailis vor dem Cottage erschien und Callum zum Himmel aufblickte, kurz nickte und auf den Stall wies: »Ich glaube, heute wird es nicht regnen, und es ist auch nicht zu windig. Wollen Sie mit uns reiten?« Ich machte nicht einmal den Versuch, meine Freude zu verbergen – es war mir unmöglich, Callum anzulügen. »Ja, bitte! Ist der Wind denn so wichtig?« Er hob die Achseln. »Vermutlich nicht. Aber ich bin immer etwas nervös, wenn es zu stark weht. Sogar nach all dieser Zeit kann ich es noch immer nicht ganz glauben, daß Giorsal zu mir zurückkommt. Meine ständige Angst ist, daß er keine Lust hat, gegen heftigen Wind anzufliegen, und sich einfach von ihm forttragen läßt. Er ist ein frei es Geschöpf der Lüfte und dem Adler verwandt. Wie kann ich erwar ten, daß er immer meinem Lockruf folgt und auf meine Hand zurück kommt?« »Aber diese Hand füttert ihn doch?« »Giorsal kann sich selbst ernähren. Außerdem – lieben wir denn im mer die Hand, die uns füttert?« »Nein, nicht immer.« Auf solche Ritte nahm er für uns beide Verpflegung mit. Einmal folgte ich ihm so weit aufs Moor, daß ich unmöglich zum Mittagessen wieder in Cluain sein konnte. Es war mir gleichgültig. Ich nahm gerne Großvaters Vorwürfe in Kauf, um neben Callum im feuchten Ginster 127
zu sitzen, grobes Brot, Käse und Äpfel zu essen und Bier aus dersel ben Flasche zu trinken. An jenem Morgen bot uns der Falke ein groß artiges Schauspiel. Er brachte seine erlegte Beute sozusagen aus Höf lichkeit erst zu Callum. Beide verstanden natürlich, daß sie Giorsal ge hörte, aber immerhin – er hatte sie ihm gebracht, ehe er sich verzog, um sie zu säubern und zu fressen. Callum sagte, daß er später, gesät tigt und schläfrig, bereitwillig auf seinen Handschuh zurückkommen würde, um sich zu Hause auf seiner Stange auszuruhen. In der Zwi schenzeit plauderten wir bei Brot und Käse. »Sie könnten so vieles tun, Callum«, sagte ich. »Sie sollten mit Groß vater zusammensitzen, wenn er über die Qualitäten des einen oder des anderen Whisky Jahres spricht. Aber Sie sind störrisch, Sie verweigern Großvater auch nur den kleinsten Gefallen. Und dabei wäre es auch wichtig für Sie.« Während ich dies sagte, begriff ich plötzlich, daß ich ihn zu etwas überreden wollte, und ich begriff auch, warum. »Vielleicht ist die einzige Freiheit, die ein Mann hat – zu tun, was er will, und zu sein, was er will …« »Und wie lange gedenken Sie dieses Leben noch zu führen, Callum? Die Tage meines Großvaters sind gezählt. Möchten Sie auch unter ei nem anderen Herrn in Cluain arbeiten?« Und wieder ein Achselzucken. »Ich lebe nicht für die Zukunft. Manchmal denke ich, daß ich überhaupt keine Zukunft habe, und merkwürdigerweise beunruhigt mich das nicht. Ich will nur an dieses Jahr denken, an diesen Sommer.« »Auch an diesen Tag?« Er saß auf einen Ellbogen gestützt da und sah an mir vorbei auf die Stelle, wo Giorsal seine Beute verzehrte. So war er ganz unvorbereitet, als ich ihn heftig am Arm zog. Er verlor das Gleichgewicht und stieß gegen mich, was auch meine Absicht gewesen war, und wir fielen zu sammen hinterrücks in den Ginster, sein Körper gegen meinen. Ich umschlang seinen Hals, und meine Lippen trafen die seinen. »An die sen Tag, Callum, werden Sie an diesen Tag denken?« Einen Moment lang blieb er liegen und wehrte sich nicht und erwiderte sogar mei nen Kuß. Ich spürte die Verbindung zwischen uns wie etwas Lebendi 128
ges, und ich schwöre, sie war auch da, sie war keine Einbildung. Einen Augenblick – einen unvergesslichen Augenblick gehörte er mir. Und dann war es vorbei. Er richtete sich auf, befreite sich mit einem ver zerrten, fast verzweifelt beschämten Gesicht aus meiner Umarmung. »Warum haben Sie das getan?« Ich blieb liegen und fühlte mich gar nicht beschämt. Schließlich hat te ich nur etwas gegeben, was er sich nicht von selbst nehmen würde, weil sein unbeugsamer Stolz ihn daran hinderte. Ich wollte Callum Sinclair, und ich wollte, daß er es wußte. »Warum nicht? Muß ich neben Ihnen sitzen, neben Ihnen reiten, Ih nen überallhin folgen und dann so tun, als ob ich Sie nicht küssen und nicht von Ihnen geküßt sein will? Aber ich will es!« Ich richtete mich auf und sah ihm gerade in die Augen. »Und ich will mehr als das: Ich will, daß Sie mich lieben. Und wenn Sie denken, daß ein wohlerzoge nes junges Mädchen so was nicht sagen darf, dann müssen Sie trotz all Ihrer Klugheit noch viel dazulernen.« Aber noch während ich ihm in die Augen blickte, stieg in mir eine furchtbare Angst hoch. Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand. Mit Vernunft hatte es nichts zu tun. Doch plötzlich wußte ich, was ich nicht in Worte kleiden konnte: zwischen uns gab es etwas Dunkles. Ich sah es in seinen Zügen, und es spiegelte sich in meinem Inneren wider. Ich sah die verzweifelte, verzerrte Qual eines Mannes, die nichts mit Schamgefühl zu tun hatte, sondern weit darüber hinausging, und ich konnte sie weder erfassen noch verstehen. Und doch formten meine zuckenden Lippen die fatalen Worte; ob wohl ich im voraus wußte, daß ich ihn damit auf ewig von mir stieß, konnte ich sie nicht unterdrücken: »Ich will Sie, Callum. Ich will Sie als Herrn von Cluain sehen. Ich will Sie heiraten.« »Schweigen Sie …« Seine Stimme war ein einziger wütender Schrei. »Um Gottes willen, lassen Sie mich in Ruhe! Für Sie und für mich gibt es keine Zukunft. Nie … hören Sie … nie und niemals!« »Lieben Sie eine andere? Wer? Wer ist es?« »Wer? Und selbst wenn ich jemanden liebe, haben Sie kein Recht, mich zu fragen.« 129
»Vielleicht nicht, aber ich will es wissen. Ich will es wissen, und ich werde warten. Ich versteh mich aufs Warten. Und ich werde Sie be kommen!« Er schnitt mir das Wort ab. »Warten Sie nicht. Vergeuden Sie Ihre Tage nicht, Ihre Jahre. Es hat keinen Zweck. Für Sie und für mich gibt es keine Zukunft. Nicht jetzt und niemals.« »Aber Sie haben mich geküßt – ich habe es doch gespürt!« »Ja, und es hat mir gefallen. Ich gebe es zu, aber ich werde Sie nie wie der küssen.« »Wollen Sie mich nicht, Callum?« »Darauf gibt es keine Antwort. Keine Antwort …« Er wandte sich von mir ab und ging über den Ginster zu der Stelle hin, wo die Pfer de angebunden waren. Ich lief hinter ihm her; mein Rock war mir im Weg, und ich blieb hängen, einmal stolperte ich und fiel. Ich stand keuchend auf und lief weiter und schrie in den Wind. »Keine Antwort, nur Stolz, ist es das? Sie können es nicht ertragen, etwas von Angus Macdonald anzunehmen, und wenn es seine Enkel tochter wäre, die Sie liebt! Sie wollen mich nicht haben … mich nicht und auch nicht Cluain. Callum, warten Sie! … Hören Sie … Bitte!« Aber er schwang sich aufs Pferd und zog sich den Handschuh an. Als Giorsal es sah, flog er herbei wie auf Befehl – ein schneller schwarzer Schatten vor meinen Augen – und setzte sich auf die Faust; der Hund lief schon voran. Dann drehte sich Callum noch mal im Sattel um. »Vergessen Sie es, Kirsty. Für Ihren eigenen Seelenfrieden, vergessen Sie, was Sie gesagt haben. Vergessen Sie diesen Tag!« Seine weiteren Worte verloren sich, als er sein Pferd antrieb und in einem halsbrecherischen Galopp da vonritt. Der Falke schwankte und flatterte auf seiner Hand, aber er hielt sich, obwohl die Riemchen und das Kapüzchen fehlten. Er klam merte sich an Callum, als ob er ohne ihn nicht leben könne. So wie ich, so wie ich! – Nein, diesen Tag würde ich nie vergessen! Das Dunkle, das sich plötzlich zwischen uns geschoben hatte, das wür de ich vergessen, und warten würde ich, so wie ich es versprochen hat te. Zu lieben ist nicht jedem vergönnt. Ich würde lieben und warten, 130
trotz allem. Mein Warten würde alles überdauern, auch jene andere Liebe, die ihn im Augenblick gefangen hielt. Die Leere, die mich nach Vaters und Williams Tod befallen hatte, füllte sich jetzt mit neuem In halt. In diesem Augenblick schwor ich mir, auf ihn zu warten – wenn nötig ein Leben lang. Ich hatte meine Ruhe wiedergewonnen, klopfte Ailis freundlich auf den Hals und ritt besonders vorsichtig. Ich versuchte auf die Wegzei chen aufzupassen, um mich nicht zu verirren, obwohl Ailis dies nie zulassen würde. Was mich am meisten beschäftigte auf diesem Rückritt, war das Gefühl, daß die Zukunft wieder einen Sinn hatte. Ich hat te Callum meine Liebe erklärt und mußte ihn jetzt von ihrer Dauer haftigkeit überzeugen. Eines Tages würde er merken, wie ernst ich es meinte und daß ich auf ihn wartete, daß Cluain auf ihn wartete und vieles andere auch. Trotz der Schroffheit, mit der er mich abgewiesen hatte, spürte ich diese Gewissheit in mir, und sie wurde immer grö ßer. Ich kam aus einer zähen Familie. Christina Campbell, die in ih rem Grabe neben meinem Bruder lag, hatte es bewiesen. Wir wußten, wie man wartet und wie man mit Leidenschaft liebt. Aber was ich mir damals nicht vorstellen konnte, war, wie lange ich noch zu warten ha ben würde.
Vielleicht sah Großvater, wie ich an diesem Nachmittag – nach einem der für hier typischen starken Regengüsse – durchnäßt durch den Hof ritt. Vielleicht hatte er sich auch darüber geärgert, daß ich nicht zum Mittagessen erschienen war. Nach dem Abendbrot holte er nicht wie üblich das Schachbrett hervor, sondern wandte sich mir, kaum hatte Morag abserviert, mit schlecht verhehlter Wut zu: »Man erzählt mir, du reitest mit Callum Sinclair aus?« »Und wer ist ›man‹?« »Sei nicht frech, Mädchen. Ich weiß, wem ich glauben kann.« »Nun gut, ich reite mit Callum Sinclair aus, das heißt, wenn ich ihn finden kann. Er stellt sich mir genauso wenig zur Verfügung wie dir.« 131
»Dann wirst du es nicht mehr tun.« »Warum nicht?« »Weil es sich nicht gehört! Meinst du, ich will von meiner Enkeltoch ter hören, daß sie einem Brennereiarbeiter nachläuft?« »Mein Großvater war ein Brennereiarbeiter und ist es noch. Willst du mich etwa standesgemäß verheiraten wie James Ferguson seine Toch ter? Suchst du für Cluain einen Titel oder Geld? Durch mich wirst du weder das eine noch das andere bekommen.« »Ich suche für Cluain, was Cluain braucht. Callum Sinclair ist nichts für dich.« »Aber du behältst ihn – du brauchst seine Dienste. Du erlaubst ihm, was du keinem andern Arbeiter erlaubst, weil er für Cluain wichtig ist.« »Meine Abmachung mit Callum Sinclair geht dich nichts an, so wie auch Callum Sinclair selbst dich nichts angeht. Ich verbiete dir, ihn wieder zu sehen. Ich werde mit ihm reden, und wenn ich …« »Nein!« Ich sprang vom Stuhl auf, lehnte mich über den Tisch und starrte in sein altes Gesicht. Es verriet mir wenig. Die Augen ver schwanden fast in den tiefen Falten. Weshalb diese Reaktion? Aus Är ger oder Angst oder einfach aus Dünkel? Ließ sein Stolz es nicht zu, daß der Sohn eines unbekannten Vaters sein Lebenswerk fortsetzen würde? Der Sohn der Frau, die in seiner Küche wirtschaftete? Aber er hatte mir schon am ersten Abend gesagt, ich solle einen Ehemann finden, der imstande sei, Nachfolger in Cluain zu werden. Keiner war dazu fähiger als Callum. Und Callum war eben der Mann, den ich wollte. Weshalb wollte Großvater das nicht verstehen? »Du wirst nicht mit Callum Sinclair über mich sprechen. Du wirst ihn nicht so erniedrigen.« »Ich werde das tun, was ich für richtig halte. Ich werde ihn sogar von hier fortschicken.« »Fortschicken!« Mich fröstelte bei dem Gedanken. Aber als ich end lich fähig war, weiterzureden, klang meine Stimme betont ruhig und beherrscht. »Das wird nicht nötig sein, ich kann es dir versprechen. Callum Sinclair will mich nicht. Frag mich nicht, woher ich das weiß, 132
aber glaub mir. Für ihn existiere ich gar nicht. Er will mich nicht, ich schwöre es dir.« Der alte Kopf nickte. Die Augen öffneten sich etwas weiter, und ich vermeinte in ihnen eine Art von Erleichterung zu entdecken. Oder war es nur die Befriedigung darüber, daß er gesiegt hatte, daß der Sturm vorbei war? »So ist es auch richtig. Er ist gescheit und weiß, wohin er gehört.« »Du bist ein Narr!« Ich hörte, wie meine Stimme lauter wurde, und wußte, wie unklug das war. »Callum Sinclair ist überall am richtigen Platz, hier in Cluain – sogar in der Gesellschaft von Königen, wenn es ihm Spaß macht. Aber er trifft seine eigene Wahl. Er ist wie sein Falke. Er fliegt fort, oder er kommt zurück, wie es ihm gefällt. Aber zu mir kommt er nicht!« Mit diesen Worten verließ ich ihn schnell, damit er meine feuchten Augen nicht sah. Es war seltsam; auf dem Rückritt war ich so sicher ge wesen, und jetzt – jetzt hörte ich, wie ich genau das wiederholte, was Callum Sinclair mir klarzumachen versucht hatte, und nun stiegen in mir Zweifel und Ängste auf wie die Schatten aus der Schlucht von Bal lochtorra. Am Morgen hatte ich nicht geweint, aber jetzt, als ich vor dem Kamin im Turmzimmer saß, stürzten mir die Tränen aus den Augen. Die Flammen schienen keine Wärme zu spenden; mich fröstel te, und ich hielt meine Hände vors Feuer, aber es half nichts. Alles, was ich sah, war das Bild des davonjagenden Callum; alles, was ich hörte, waren seine geschrienen Worte: »Vergessen Sie diesen Tag, Kirsty …«
Callum versuchte mich zu meiden, und ich stellte ihm nach. Es war eine richtige Verfolgungsjagd. Ich mußte mir ausrechnen, wohin er wohl gehen würde, und die Stellen suchen, wo er sich aufhalten könn te. Ich erfand nicht einmal mehr Ausreden für mein ständiges Her umstehen zwischen der Brennerei und den Ställen. Ich striegelte Ailis so oft, daß sogar sie mich allmählich erstaunt ansah. Sie warf mir for schende Blicke zu, als ob sie mich daran erinnern wollte, daß für ein 133
gewöhnliches kleines Pferd soviel Pflege übertrieben sei. Aber sie war gutmütig und nahm es mir auch nicht übel, wenn ich sie hastig sattel te, weil ich dachte, daß Callum die Brennerei verlasse, obwohl ich nicht mal genau wußte, ob er überhaupt dort gewesen war. Wie oft machte ich mich auf, um nach dieser dunklen Gestalt zu Pferde Ausschau zu halten! Ich gab vor, stets im Damensattel zu reiten, nahm aber statt dessen einen gewöhnlichen Sattel, und sobald ich außer Sichtweite des Hau ses und der Brennerei war, schwang ich ein Bein über Ailis' breiten Rücken. Im Herrensitz war es viel einfacher, die steilen Pfade zu be wältigen, die Callum vielleicht gewählt hatte, und ich brauchte über haupt keine Rücksicht mehr auf unebenes Gelände zu nehmen. Den Rest überließ ich Ailis; sie führte mich dahin, wo ich früher nie gewe sen war. Oft verließ sie den Weg, um einer schmalen Spur entlang ei nes Baches zu folgen, und sie kletterte mit der Sicherheit einer Ziege über Steine und Geröll tief im Schatten der überhängenden Felsvor sprünge. Sie kannte keine Furcht, keine Unsicherheit, und die ganze Umgebung war ihr so bekannt wie ihre eigene Weide. Sie führte mich ins offene Moorland und über Wiesenhänge, und immer wußte sie, wo sich eine Schlucht auftat und welcher Weg uns am schnellsten hö her und weiter weg führte. Hatte sie all dies in den Jahren gelernt, als sie mit Mr. Ross das Land nach Schwarzbrennereien absuchte? Wäre sie nicht eine stumme Kreatur gewesen, der nach allgemeiner Ansicht jeglicher Verstand fehlte, hätte ich schwören können, daß sie mein Ziel kannte. Während der Ritte unterhielt ich mich mit ihr. »Werden wir ihn heute finden, Ailis? Paß auf Giorsal auf! Wenn wir sehen, wohin er zurückfliegt, wissen wir auch, wo Callum ist.« Gelegentlich fanden wir ihn. Er begrüßte uns ohne sichtbares Ver gnügen, aber er schickte uns auch nicht weg. Nur blieb ich jetzt im mer im Sattel sitzen; wir beobachteten den Flug des Falken, bewunder ten seine Grazie und Schnelligkeit und sein Gleiten im Wind, wenn er über seinem Revier kreiste. Gelegentlich war ich die aufgeregte Zeu gin eines unglaublich schnellen Niederstoßens, nach dem die Federn des Beutetieres auseinander stoben. Callum beachtete mich kaum, ließ 134
Giorsal Zeit, seine Beute zu vertilgen, trieb dann plötzlich, ohne ein Wort des Abschieds, sein Pferd an und ritt davon. Ein paar Mal ver suchte ich, ihm nachzujagen, aber sein Pferd war geschwinder als mei nes. Schnell war er hinter einem niedrigen Hügel oder in einer Ge birgsschlucht verschwunden, und wenn ich an die Stelle kam, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er wie vom Erdboden verschluckt. Nur wenn es sehr feucht war und die Hufe einsanken, konnte ich ihm fol gen, aber selbst dann eilte er mir davon. Nach einiger Zeit gab ich die Hoffnung auf, ihn einholen zu können, und von da ab erlaubte ich Ai lis, gleich nach Cluain in ihren Stall zurückzukehren. Sie schien so wie ich zu wissen, wann das Spiel verloren war. Nie wieder kam ich zu spät zum Mittagessen – es gab keinen Grund mehr dazu. »Lassen Sie es sein, Kirsty«, sagte mir Callum einmal. »Es ist falsch von Ihnen, mich auf diese Art zu verfolgen.« »Wer sagt, daß ich das tue?« Wie kläglich war dieser kleine Versuch, meine Sehnsucht zu verbergen. »Darf ich nicht reiten, wohin ich will? Und wenn ich Giorsal sehe …« »Vergessen Sie Giorsal, Kirsty. Vergessen Sie auch mich.« »Und was soll ich mit meinen Tagen anfangen?« Ich versuchte Spott in meine Stimme zu legen, so als wäre es nicht ernst gemeint, aber es gelang mir nicht. Er verlor die Geduld. »Zum Donnerwetter, fangen Sie mit Ihren Tagen an, was Sie wollen. Was geht es mich an? Aber kreuzen Sie nicht dauernd meine Wege. Ich will nicht verfolgt und be obachtet … ich will nicht gejagt werden.« Ich wußte, daß ich unrecht hatte und er recht. Wenn ich ihn weiter so verfolgte, würde er verschwinden – nur herbeigelockt würde er viel leicht kommen. Aber würde ich je eine Lockung für ihn sein? Er ritt fort, und ich blickte ihm lange nach; lähmende Zweifel nagten an mei nem Herzen und quälten mich. Was wollte Callum Sinclair? Welcher Lockung würde er erliegen?
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An diesen sommerlichen Spätabenden kam oft Morag mit einem Korb voll Scheiten und Torf und mit einem Krug heißen Wassers zu mir ins Turmzimmer, wenn ich vor dem Kamin oder am Fenster saß und in dem langwährenden Dämmerlicht des schottischen Hochlandes las. »Sie lesen viel«, sagte sie. »Ja, Ihr Vater muß ein gelehrter Mann ge wesen sein. Ich kann mich erinnern, daß Master William auch oft über seinen Büchern hockte, das heißt, wenn er nichts Besseres zu tun hatte. Aber von einem Mann erwartet man das. Er stand ja vor seinem Ex amen. Männer haben es leichter, nicht wahr, Miß Kirsty?« Während sie plauderte, ging sie im Zimmer umher, schlug das Bett auf, stell te den Krug mit dem heißen Wasser auf den Waschtisch und legte die herumliegenden Kleidungsstücke in den Schrank. Ihre Hände waren immer beschäftigt, auch ihre Zunge, aber sie sagte nie etwas Gehäs siges. »Master William hat viel Zeit in Ballochtorra zugebracht, und doch würde ich nicht sagen, daß er mit Sir Gavin sehr eng befreundet war …« Dann schnalzte sie mit der Zunge. »Ach, Miß, dieser Rock – schauen Sie her, er ist schon ganz vertragen und speckig vom vielen Reiten. Kann ich bei meiner Tante, die Schneiderin ist, einen anderen bestellen? Ich könnte die Maße nehmen. Und wo wir schon dabei sind, einige neue Hemdblusen wären auch ganz nützlich. Ihre sind schon ganz verwaschen. Ich bin sicher, der Herr wird nichts gegen die Ausga be haben. Schließlich wollen Sie ja keine teuren Seidenkleider.« »Ja, vielen Dank, Morag, es wäre nett von Ihnen, wenn Sie das arran gieren könnten. Aber Sie brauchen meinem Großvater nichts davon zu sagen, ich habe mein eigenes Geld.« »Natürlich, eine Bischofstochter. Mr. Lachlan sagt, daß in China gro ße Vermögen gemacht werden.« Ich wurde ärgerlich. Immer wieder stieß ich auf dieselben Klischees. Das Gerede vom Opiumhandel, von den Eisenbahnaktien hing mir zum Halse heraus. Immer wurde angenommen, daß jeder in China Profite macht. Ich dachte an unser relativ bescheidenes Leben, und die Vorstellung, daß man mich für reich hielt, war mir zuwider. »Morag, was Sie sagen, trifft nur auf einige wenige zu. Und bitte, legen Sie das in den Koffer zurück.« 136
Sie hielt einen langen, weiten Mantel aus Affenpelz in der Hand, den ich während der rauhen Winter in Peking getragen hatte, wo einem der kalte Wüstenstaub fast den Atem verschlägt. »Soll ich ihn nicht aufhängen?« »Nein, das ist nicht nötig. Der mit Zedernholz ausgelegte Kabinen koffer hält die Motten fern.« »Ja, gut, Miß, ich leg ihn zurück«, sagte sie wieder ganz respektvoll. »Ich habe noch nie so einen Pelz in der Hand gehabt. Sie werden im Winter froh darum sein. Das alte Plaid, das Sie jetzt tragen, genügt nicht. Und es wird sowieso bald verschlissen sein, weil Sie zuviel rei ten …« »Wie meinen Sie das?« »Sie sind doch auf der ständigen Suche nach Callum Sinclair, nicht wahr?« Sie sah mich fast bittend an. »Ach, Miß, seien Sie mir nicht böse, ich weiß, ich habe nicht das Recht … Aber Callum Sinclair geht seine eigenen Wege – so war es immer, und so ist es auch jetzt. Und die Frau, nach der er sich sehnt, schwebt hoch über ihm wie sein Falke. Sie ist unerreichbar, aber sie lockt und sie foppt ihn, und der arme Narr sieht es nicht. Er ist halt ein Mann, und die können noch so klug sein, irgendwann setzt der Verstand aus. Vielleicht kommt er zu sich, wenn der Sommer vorbei und sie wieder fort ist.« »Morag?« »Ich weiß, Miß, ich sollte mir ein Schloß vor den Mund legen. Es steht mir nicht zu, über Höhergestellte zu klatschen. Aber manchmal scheint mir, sie tun Sachen ungestraft, die mir den Kragen kosten wür den. Auch wenn sie sich mit Callum Sinclair in den Schluchten und auf dem Moor trifft und sich ihm sogar eine Zeitlang hingibt, für immer wird sie ihm nie gehören. Eines Tages wird er aus allen Wolken fallen, und es wird ein jäher, tiefer Sturz sein. Und er wird daliegen und auf die Hand warten, die ihn aufhebt.« »Wessen Hand?« Sie zuckte die Achseln und sah mich nicht an. »Wer weiß. Aber er müden Sie nicht Ihr Pferd, und verderben Sie sich nicht Ihren Rock, indem Sie ihm nachreiten. Alles braucht Zeit, und die Zeit heilt vie 137
les. Diejenigen, die warten, können auch noch ein wenig länger war ten.« Sie legte den zusammengefalteten Affenpelz sorgfältig in den Koffer zurück. »Ach, was für ein schönes Kleid Sie da haben, genau das Richtige, wenn Seine Königliche Hoheit zu Besuch nach Ballochtorra kommt. Alle reden schon davon, was für ein tolles Fest es geben wird! Ja, Sie werden in diesem Kleid hübsch aussehen, Miß.« »Woher wissen Sie, daß ich eingeladen bin?« Sie lachte. »Wer weiß es nicht? Was im Salon von Ballochtorra be sprochen wird, ist schnell in der Küche bekannt. Die ganze Umgebung weiß, daß Sie und der Herr eingeladen sind, aber auch, daß er abge sagt hat. Und nun sind wir gespannt, ob er Ihnen verbieten wird, hin zugehen.« »Er kann mir nichts verbieten. Ich mach, was ich will.« Sie drehte sich zu mir um, und ihr sonst schnippisches und selbst bewusstes Gesichtchen hatte jetzt einen weichen, fast traurigen Aus druck. »Wie schön, wenn man das von sich sagen kann, Miß. Möge es immer so bleiben! Aber für Freiheit muß man zahlen. Jeder von uns – jeder, der in diesem Tal auf einsamen Wegen reitet. Es gibt verschiede ne Wege; die einen treffen zusammen, die anderen gehen auseinander. Freiheit und Macht haben einen hohen Preis, Miß. So, und jetzt nehm ich den Rock mit und notiere die Maße für meine Tante. Morgen früh haben Sie ihn wieder.« Fort war sie, und ich blieb am Fenster stehen und dachte über ihre Worte nach. Würde Callum auch heute abend durch Cluain reiten, ohne seine Augen zum Turmfenster zu heben? Waren denn seine Ge danken immer bei der Frau in Ballochtorra? Denn nur sie konnte es sein, von der Morag gesprochen hatte. Ritt er aus, um Margaret Campbell heimlich in den Schluchten und Mooren zu treffen? Nein, es konn te nicht sein – es war nicht Margaret Campbells Stil. Aber dann sah ich wieder ganz deutlich die dunkle, auffallende Gestalt zu Pferde vor mir mit dem Falken auf der behandschuhten Hand. Wenn dieses Bild auf mich einen so unauslöschlichen Eindruck gemacht hatte, warum nicht auch auf sie? Vielleicht war sie auf ihrer unsteten Suche dem gleichen Bild verfallen? Würde sie ihn vergessen können, wie Morag gesagt hat 138
te, wenn sie mit dem ersten Herbstschnee nach London entschwand? Spielte sie mit ihm, um ihre Langeweile zu vertreiben, und glaubte er, daß es kein Spiel war? Plötzlich stieg ein Verdacht in mir hoch. Ich holte mir schnell Willi ams Rolle aus dem kleinen Kasten, der unten im Kleiderschrank stand. Wieder folgten meine Finger den unsicheren Pinselzeichen, die nach meiner Meinung von einem sehr kranken Mann stammten. Aber was war seine Krankheit gewesen? »Sie hat gemordet …« Hatte ich mich vielleicht getäuscht? War etwa ein seelischer Mord gemeint? Und war der Grund Margaret Campbell?
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Siebentes Kapitel
D
er Prinz kommt! Das ganze Tal wußte es, hörte und spürte es. Es schien, als ob keine Stunde verging, ohne daß ein Wagen, ein of fener Zweisitzer oder eine Kutsche über die Brücke von Ballochtorra rollte. Es war das zusätzliche Personal aus Edinburgh, aber auch Kü chenchefs, Zofen und Lakaien aus London. Sie fröstelten im kühlen Hochlandsommer und waren unzufrieden, weil keine Stadt in der Nähe war, wo sie ihre freien Stunden verbringen konnten. Sie betrach teten die Landschaft mit angeekelten, feindseligen Blicken, und wie man hörte, waren sie entsetzt, daß der schöne Ausblick von Balloch torra durch eine hässliche Brennerei verschandelt wurde. Nicht der richtige Ort für den Prinzen, sagten sie – aber auch nicht der richtige Ort für sie. In diesen letzten Tagen vor dem Prinzenbesuch sah ich Margaret Campbell nicht; ich selbst wollte nicht nach Ballochtorra rei ten, wie ich es so oft während der letzten Wochen getan hatte, weil ich annahm, daß sie keine Zeit zum gemütlichen Plaudern haben würde. Außerdem hatte ich keine Lust, jetzt mit ihr allein zu sprechen, schon aus Angst, daß ich mehr erführe, als mir lieb wäre. Ich wollte einfach nicht das glauben, was ich zu wissen vermeinte. Aber dann sah ich sie doch noch einmal; allerdings nur aus der Ferne. Es war am späten Nachmittag ganz kurz vor der Ankunft des Prinzen. Sie ritt allein die Straße entlang, die durch Cluain führte, und blickte starr geradeaus, als ob sie hoffte, ich sei nicht zu Hause oder würde sie nicht bemerken, so daß sie nicht anzuhalten brauchte. Sie ritt, so wie ich sie noch nie zuvor reiten sah, als ob sie sich klein und unsichtbar machen wollte – ein vergebliches Unterfangen bei ihrer Figur und dem wunderbaren Pferd. Sie saß aufrecht wie immer, mit hocherhobenem Kopf; sie schien nicht so sehr ihre Gegenwart wie ihren Ausdruck verheimlichen zu 140
wollen. Aber wie konnte eine Erscheinung wie Margaret Campbell un bemerkt bleiben! Solche Frauen sind dazu geboren, aufzufallen. Sie ritt an Cluain vorbei, und aus meinem Turmzimmer sah ich, wie sie von der Straße in einen Seitenweg einbog, der so verwildert war, daß nicht einmal ein Bauernwagen durchgekommen wäre. Auch ohne Morags Erzählung hätte ich mich gefragt, warum eine Frau, deren Haushalt sich in Aufruhr befand, um den Thronfolger zu empfangen, einige Stunden vor seiner Ankunft einen einsamen Ritt in unwegsames Ge lände unternahm. Eine vornehm gravierte Einladung lag schon seit mehreren Wochen in der Schublade meines Schreibtisches. Ich hatte sie schriftlich beant wortet, obwohl Margaret ohnehin wußte, daß ich kommen würde und mein Großvater nicht. Es war sehr nett von ihr gewesen, mich einzula den. Dutzende Male nahm ich mein Kleid, das mir nach Morags Mei nung so gut stehen würde, aus dem Koffer. Ich schüttelte es hin und her, um etwas Leben in die müden Rüschen zu bringen, was kaum ge lang. Aufsehen würde ich jedenfalls nicht damit erregen, obwohl der große Ausschnitt meine Schultern und Brüste gut zur Geltung brach te, die, so wußte selbst ich, des Zeigens wert waren. Die dazu passen den silbernen Schuhe waren ein wenig abgetragen, aber andere hat te ich nicht. Und darüber der Affenpelz – zum Lachen, aber ich hatte keine andere Wahl. Und als Fahrzeug mußte der Zweisitzer mit dem Sonntagsjungen herhalten. Mein Großvater war voller Verachtung, als einer der Brennereiarbeiter bei ihm erschien und fragte, ob er und sei ne Frau mich hinfahren und wieder zurückbringen dürften. Sie woll ten im Stallhof warten und der Musik zuhören, und vielleicht könnten sie sogar einen Blick auf den Prinzen werfen. »Haben die Leute denn keinen Stolz im Leibe?« fragte mich Angus Macdonald am Tag, als ich Margaret Campbell vorbeireiten sah, beim Abendbrot. »Sie sind doch keine Dienstboten – kein Großstadtgesin del, das mit offenem Maul jeden Zirkus anstarrt. Es ginge ja noch an, wenn es ein Stuart-Prinz wäre, aber dieser fette Hannoveraner! Sie sind doch unabhängige Menschen, die frei sind, zu tun und zu lassen, was sie wollen, und vor niemandem dienern müssen!« 141
»Vielleicht sind sie einfach nur hilfsbereit – und ein wenig neugie rig«, sagte ich. »Und was sollte ich ohne sie tun? Den Sonntagsjungen selbst fahren und durch die Stalltür in den Ballsaal kommen? Viel leicht wollten sie Cluain diese Schande ersparen. Vielleicht haben sie mehr Stolz, als du denkst, und außerdem kann das Leben hier lang weilig werden, wenn man tagaus, tagein dasselbe tut.« »Für mich ist es hier nie langweilig gewesen!« Angewidert wandte er mir seinen Rücken zu. »Du bist zu weich, Mädchen. Sie leben gut hier, und sie sollten es wissen. Zerstreuungen braucht man nicht. Sie sind eine Zeit- und Geldverschwendung. James Ferguson allerdings würde mir nicht zustimmen, er wirft das Geld nur so zum Fenster hinaus.« »Und wenn er Menschen damit glücklich macht …« Er blickte mich scharf an. »Glück! Was weißt du von Glück?« »Sehr wenig, Großvater, sehr wenig.« Er grunzte und schwieg, wahrscheinlich weil er nicht fragen wollte, was mir zu meinem Glück fehlte. Schließlich sagte er: »Wenn du im stande bist, den Firlefanz von Ballochtorra für eine Weile zu vergessen, wirst du vielleicht die Güte haben, mich mit einer Schachpartie zu be ehren. Bitte bring das Brett, und versuche dich zu konzentrieren – ein zu leichter Sieg macht mir keinen Spaß.« Aber konzentrieren konnte ich mich nicht, und der Sieg fiel ihm leicht.
Der Tag, an dem das Fest stattfinden sollte, ging bald zu Ende, und die Schatten im Tal wurden länger. Ein weißer Mond ging an dem noch hellen nördlichen Himmel auf. Mein Großvater beobachtete be friedigt, wie die Wolken allmählich den Mond verdunkelten. »Es wird noch regnen heut nacht.« »Unsinn«, sagte Morag, als ich ihr Großvaters Wettervorhersage wie derholte. Sie war gerade dabei, das weiße Kleid mitzunehmen, um die welke Pracht mit einem heißen Bügeleisen etwas aufzufrischen. »Es 142
wird einen wunderbaren Abend geben und eine schöne Nacht. Die halbe hiesige Bevölkerung ist auf den Beinen, um sich das Fest anzu sehen.« »Gehen Sie auch hin, Morag?« Ich merkte sofort, daß ich sie beleidigt hatte. »Ich, Miß? Nein, ich nicht.« Sie hob energisch ihr kleines Kinn. »Ich habe Phantasie genug, um mir vorzustellen, was da vor sich geht. Ich gehöre nicht zu denen, die draußen vorm Fenster stehen und hineinschauen. Das ist nicht meine Art.« »Aber es gibt doch sicher eine Menge junger Männer, die sich darum reißen, Sie zu begleiten?« Sie drückte ungeduldig die Türklinke herunter. »Keiner, der mir ge fällt, Miß. Jetzt gehe ich das Kleid bügeln.« Ich aß so wenig wie möglich mit Großvater. Das Abendbrot in Clu ain wurde unmondän früh serviert, am Ende eines harten Arbeitsta ges, während der untätige Landadel erst sehr viel später zu Tisch ging. Heute saß ich nur aus Höflichkeit da und stocherte unlustig in meinem Essen herum. Großvater merkte es. »Iß ordentlich, Mädchen. In Ballochtorra wird es zu viele Gänge ge ben und zu viele Lakaien, die alles gleich wieder abräumen, sobald Sei ne Königliche Hoheit die Gabel hinlegt, und zuviel Gerede nach rechts und nach links; du wirst kaum Zeit haben, auch nur einen Bissen her unterzuschlucken. Und leere dein Glas, ehe du gehst, es wird dir Mut machen. Und rühr ja keinen Wein an! Schnaps und Wein soll man nie mischen. Trink deinen Whisky hier in Cluain, und nimm während des Dinners nur Limonade. Es wäre mir angenehmer, wenn du überhaupt nicht hingingest, aber da du es nun einmal tust, repräsentierst du Clu ain. Benimm dich also so, daß du uns Ehre machst.« An diese Worte dachte ich, als ich nach oben ging. »Du repräsen tierst Cluain.« Er wollte stolz auf mich sein. Ich wußte, daß ich mir sei netwegen, Williams wegen, meines Vaters wegen keine Blöße geben durfte und nichts tun durfte, was man mir später vorwerfen könnte. Ich mußte so sein, wie sie mich haben wollten. Aber als ich die Treppe hinaufstieg, fühlten sich meine Glieder schwer an. Ich hatte nie richtig 143
tanzen gelernt – in Peking verschwendete man darauf nicht viel Zeit. Es war noch früh, aber die schrägen Sonnenstrahlen warfen schon ihre Schatten ins Turmzimmer. Zuerst ging ich zum Kamin, wo Morag ein kleines Feuer angezündet hatte – wahrscheinlich auch, um mir Mut zu machen –, dann zum Waschstand, wo ich mich im Spiegel betrachtete. Ich sah recht verwildert aus, vor allem mußte ich mich frisieren. Plötz lich spürte ich irgend etwas Ungewohntes; ich blickte mich im Zim mer um, konnte aber nichts Auffallendes entdecken, bis ich Mairi Sin clairs weiße Katze sah; sie lag nicht wie sonst, wenn sie bei mir war, zusammengerollt auf der Bank vorm Feuer oder auf dem Bett, son dern sie saß oben auf dem großen Kleiderschrank. Ihre farblosen Au gen musterten mich feindlich und böse. Noch nie hatte sie mich so an gesehen. Dann fiel mein Blick aufs Bett. Es stand im Dunklen, und zuerst sah ich nur, daß Morag das frisch gebügelte Kleid dorthin gelegt hatte. Als ich das Zimmer betrat, hatte ich nicht besonders auf das Kleid geach tet, aber jetzt, beim näheren Hinsehen, erkannte ich, was man ihm an getan hatte. Ich ging zum Bett hin – zögernd, weil ich nicht sehen wollte, was ich schon wußte. Was noch eine Stunde zuvor ein weißes Ballkleid mit Rüschen und Bändern gewesen war, war jetzt ein Fetzen. Scharfe Kral len hatten die Spitzen und Rüschen am Mieder zerrissen, und auch auf der weichen Seide des Rockes waren Krallenspuren zu sehen. Hier hat te ein wütender, bösartiger Geist gewaltet. Das Kleid war untragbar für mich und jeden anderen. Ich stand da, ungläubig und unfähig, mich zu rühren. Das Fest war für mich zu Ende, ehe es begonnen hatte. Ich konnte nicht nach Bal lochtorra fahren. Ich ging zum Kleiderschrank und starrte von unten die Katze an. »Warum hast du das getan, Katze? Hasst du mich so? Oder gefiel dir das Kleid nicht? Du hast doch noch nie etwas angestellt! Du bist doch eine friedliche Katze! Was ist los mit dir?« Ich zog vor Angst den Atem ein, als sie sprang. Aber statt sich bösar tig an mir festzukrallen, wie ich erwartet hatte, landete sie ganz sanft 144
auf meiner Schulter und hielt sich nur mit den angerauten Flächen ih rer Pfötchen fest. Ich zog sie nur widerwillig und zaudernd näher an meinen Hals und nahm ihr Köpfchen in die Hand, aber was ich sah, waren nicht die zornfunkelnden Augen, die ich mir im Halbdunkel vorgestellt hatte, sondern ein angstvoller, trostheischender Blick. Ich streichelte sie, und zum ersten Mal kuschelte sie sich an mich und schnurrte. Es war, als ob man einen Stummen sprechen hörte, und sie hatte noch nie mit mir gesprochen. Geistesabwesend streichelte ich sie. Ich dachte, daß mein Platz am großen Esstisch von Ballochtorra nun leer bleiben würde, obwohl ich zu den Privilegierten gehörte, die eingeladen waren, mit dem Prinzen zu speisen, anstatt nur danach am Tanz oder noch später am kalten Büfett teilzunehmen. Mir fiel ein, daß ich eine kurze Absage schicken müßte und daß diese Margaret Campbells Tischarrangement durch einander bringen würde. Und dann kam mir eine Idee. Die älteste Bediente meines Vaters – eine Chinesin, die über zwanzig Jahre für ihn und uns Kinder gesorgt hatte, hatte mir ein Abschiedsgeschenk gemacht. Gott weiß, wieviel ih rer Ersparnisse sie darauf verwendet hatte! Für einen Europäer war es vielleicht ein seltsames Geschenk, aber sie hatte nie verstehen können, warum wir so entsetzlich unbequeme Kleider trugen, die dazu noch einen unanständigen Schnitt hatten. Und so ließ sie mir aus einer kost baren Rolle weißer Seide mit zartrotem Pflaumenmuster eine feierli che Robe im Mandarinstil machen: hoher Kragen, weite Ärmel, leich te Andeutung der Taille und ein weiter Rock. Sie versicherte mir, daß die alte Kaiserin ein ähnliches Gewand bestellt hatte, und ich mußte es ihr glauben. Noch immer die Katze im Arm, ging ich zur Tür und halb die Wen deltreppe hinunter. »Morag, Morag, schnell!« Ich mußte sie mehrmals rufen, bevor sie mich hörte, dann kam sie angelaufen. In der Zwischenzeit wühlte ich in meinen Kleidern, bis ich die Robe fand. Als Morag ins Zimmer kam, hielt ich noch immer die Katze. »Ist der Herd noch warm?« 145
»Er ist immer warm. Aber warum …« Ihr Blick fiel auf das zerfetz te Kleid. »Ach du lieber Himmel! Was ist geschehen? Ich habe es so vorsichtig hingelegt, Miß – ach, diese schreckliche Katze! Sie hat sich eingeschlichen, ohne daß ich es gemerkt habe. Sie streicht hier immer herum, das verfluchte Biest! Werfen Sie sie raus, Miß! Wahrschein lich war es ihr nicht recht, daß etwas auf dem Bett lag, wo sie immer schläft. Ach, das schöne Kleid! Was sollen wir bloß tun? Man kann es doch nicht mehr tragen, und Sie haben nichts anderes. Sie müssen ab sagen – ach, wie scheußlich! Jetzt können Sie nicht gehen!« »Ich gehe aber trotzdem. Wollen Sie mir bitte dieses Kleid schnell aufbügeln, Morag? Aber passen Sie auf, daß das Eisen nicht zu heiß ist, die Seide ist sehr empfindlich!« Sie nahm das chinesische Gewand und hielt es hoch. Auf ihrem Ge sicht spiegelten sich Abscheu und Entsetzen. »Ist das Ihr Ernst, Miß? Wollen Sie dieses Kleidungsstück vor Seiner Königlichen Hoheit tra gen? Das ist ganz unmöglich. Sie sehen darin aus wie eine Heidin, das ist fast eine Beleidigung!« »Ich werde es anziehen, Morag. Wollen Sie es für mich bügeln, oder soll ich es selbst tun?« »Na gut, aber es ist eine wahre Schande!« »Morag!« Sie ging langsam zur Tür. »Ja, Miß?« »Morag, bitte nehmen Sie die Katze mit! Wenn sie den Schaden an gerichtet hat …« Sie wandte sich halb um und schrie: »Ich will das Tier nicht anrüh ren, es ist ein Scheusal!« Damit verschwand sie, und ihre Absätze machten ungewöhnlich viel Lärm auf der Treppe. Ich streichelte die Katze weiter; ich wußte, sie hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Ich hörte den Zweisitzer vor der Eingangstür vorfahren. Ich war jetzt völlig ruhig – das Schlimmste lag hinter mir. Der Rest des Abends 146
konnte gegen das Vorangegangene nur noch abfallen. Da stand ich, bereit, dem Prinzen vorgestellt zu werden in dem eigentümlichsten Kleid, das er je im ganzen Land gesehen hatte. Mein Gesicht hatte ich dem hohen Stehkragen entsprechend geschminkt, mein Haar glattge bürstet und keine Brennschere benützt. Es lag weich, glänzend und dunkel um meinen Kopf, und im Nacken hatte ich es zu einem tief sit zenden Knoten aufgesteckt. Ich fand, daß meine ganze Erscheinung so wenigstens einheitlich aussah und nicht allzu komisch wirkte. An meinem Handgelenk hing ein chinesischer Elfenbeinfächer an einem roten Band. Die langen weißen Handschuhe, die eigentlich die nack ten Arme bedecken sollten, verloren sich in den weiten Ärmeln. Als ich die Treppe hinunterging, dachte ich an die alte Chinesin, die mir diese schimmernde Seide geschenkt hatte, und es tat mir leid, daß sie nie er fahren würde, bei welcher Gelegenheit ich es getragen hatte. Erstaunlicherweise war die Katze bei mir geblieben, als ich mich an zog; sie hatte sogar auf dem Tisch gesessen, während ich mich kämm te, als ob sie meine Gegenwart bis zur letzten Minute genießen woll te. Jetzt lief sie vor mir die Treppe hinunter. Unten in der großen Halle warteten alle auf mich – Großvater, Mairi Sinclair und Morag; die bei den Frauen standen im Gang, der zur Küche führte. Mairi Sinclair sprach als erste. »Wenn die Katze Schaden angerichtet hat, wird sie bestraft werden, und ich ersetze das Geld für das Kleid.« Die Worte kamen nervös und überstürzt heraus, als ob sie sie auswen dig gelernt hätte und sie möglichst schnell loswerden wollte. »Es wäre ungerecht, sie zu bestrafen, Mrs. Sinclair. Wenn sie es wirk lich getan hat, dann nur weil sie gereizt wurde oder Angst bekam. Sie ist sehr oft im Zimmer und hat sich immer brav benommen. Und was das Kleid angeht, bitte reden wir nicht mehr darüber. Ich mache mir nichts mehr aus aufgeputzten Jungmädchenkleidern.« Mairi Sinclair antwortete nicht. Sie stand im Schatten des massi ven Türbogens, und ich konnte deshalb nicht beurteilen, ob sich ihr Ausdruck verändert hatte; das einzig Sichtbare waren die verarbeite ten roten Hände auf dem schwarzen Kleid. Die Katze rieb sich an ih rem Schienbein. 147
Ich ging auf Großvater zu, der mich prüfend ansah. »Keine Trä nen?« »Meine Tränen spare ich mir für Wichtigeres auf. Ich bin anständig, wenn auch unüblich angezogen. Seine Königliche Hoheit wird entwe der schockiert oder amüsiert sein – das kann er halten, wie er will. Lei der wird er nie erfahren, was es eine chinesische Bäuerin gekostet hat, mir dieses Kleid zu schenken. Ich bin stolz, es zu tragen.« Sein altes Gesicht verzog sich, aber es war unmöglich, seine Ge danken zu erraten. Plötzlich nickte er wie nach einem gefassten Ent schluß. »Hier ist etwas anderes, was zu tragen du hoffentlich auch stolz sein wirst.« Er ging an den langen Tisch in der Halle und sagte: »Komm her, Mädchen.« In seinen Händen hielt er ein sehr fein gesticktes lan ges Seidenband in den Farben des Macdonald-Clans. Vorsichtig legte er es unter meinen rechten Arm und befestigte es auf der linken Schul ter, so daß das Ende lose über meinen Rücken hing. »Deine Urgroß mutter Christina hat es gestickt und sehr selten getragen. Und hier –« Er befestigte ein weiteres Band mit einer Silberbrosche auf meiner lin ken Schulter; er zeigte sie mir, ehe er sie in den Stoff einstach, und sie sah so aus, als ob Morag oder Mairi Sinclair sie eben geputzt hätte. »Das Clanranald-Wappen, Kirsty.« Er übersetzte das Motto aus dem Gälischen: Meine Hoffnung in Gott ist unerschütterlich. Dann brachte er noch eine zweite Spange, und ich erkannte sie sofort. Sie war Chri stinas eigene mit dem Wappen der Campbells of Cawdor. »Sie brach te sie mit, als sie hierher kam«, sagte Großvater. »Du hast das Recht, beide zu tragen. Und wenn der Hannoveraner über sein Königreich etwas informiert ist, wird er das Clanranald-Muster erkennen. Aller dings bezweifle ich stark, daß dieser Ausländer über Wappen Bescheid weiß. Aber du sollst diese Clanzeichen stolz und in Ehren tragen und dabei wissen, daß du so vornehm bist wie jede andere dort auf dem Fest in Ballochtorra.« Zum ersten Mal in Cluain war ich fast zu Tränen gerührt. Er be gleitete mich zum Zweisitzer, wo der Brennereiarbeiter und seine Frau schon warteten, und half mir hinein. Aber er blieb nicht an der Tür 148
von Cluain stehen, um uns abfahren zu sehen – das wäre zu weit ge gangen.
Ballochtorra war strahlend beleuchtet, in allen Räumen brannten die Kerzen und elektrischen Lichter, obwohl die nördliche Dämmerung noch nicht hereingebrochen war. Während der Sonntagsjunge in den Stall geführt wurde, stieg ich allein die Treppen hinauf und wurde von Wilson, dem Butler, begrüßt. Er sah so aus, als ob ihm die vielen frem den Lakaien, die nie zuvor in Ballochtorra gewesen waren, sehr lä stig fielen. Ich gab meinen Affenpelz einer Zofe, die ich noch nie gese hen hatte und die ihn verächtlich musterte. Dann blieb ich einen Mo ment vor einem Spiegel in der umgebauten Garderobe stehen. Ich glät tete automatisch mein Haar und sah mich zum ersten Mal seit Mona ten wieder in voller Größe. Die gestickten, dunkelfarbigen Clanbänder passten nicht zu der prachtvollen chinesischen Robe. Aber als ich mich etwas bewegte, brachte das Licht die Pflaumenblüten zur Geltung, und die beiden silbernen Broschen glitzerten. Aus dem Augenwinkel sah ich den spöttischen Blick der Garderobiere. Im Salon waren schon an die dreißig Leute versammelt, und als mein Name vom Zeremonienmeister aufgerufen wurde, eilte Gavin mir ent gegen. Er nahm meine Hand. »Lassen Sie sich bloß nicht einschüch tern«, sagte er. »Es ist eine Farce, über die wir später hoffentlich lachen werden.« Und dann fügte er schnell hinzu: »Wie schön Sie aussehen.« Die Namen der nächsten Gäste wurden angesagt, und er mußte mich stehen lassen. Ich stand verloren herum, aber sofort erschien ein Lakai mit einem Silbertablett; er bot mir eine bleiche strohfarbene Flüssig keit an, die mir unbekannt war, aber wie Champagner aussah. »Danke, nein.« Aber dann war meine Neugierde stärker als Großvaters War nung, und ich sagte schnell: »Vielleicht doch.« Er senkte das Tablett, so daß ich mich bedienen konnte. Ich blickte mich im Saal um und sah, daß nur sehr wenige Frauen ein Glas hielten und dann meistens nur die älteren, die saßen und von vielen Männern umringt waren. Um 149
mich kümmerte sich keiner. Niemand schien mich zu bemerken oder auch nur ein höfliches Wort an mich richten zu wollen. Mehr Menschen kamen. »Lord und Lady …« Das neu angekomme ne Paar bewegte sich frei und sicher; es kannte wohl die meisten. »Ma jor James MacCulloch-Johnstone …« Vielleicht war es der Mann, den Margaret für mich eingeladen hatte. Es muß ihr großes Kopfzerbre chen bereitet haben, einen geeigneten Junggesellen für mich zu finden. Und noch immer kam keiner, um mit mir zu sprechen. Plötzlich ging eine Art Zittern durch die Gesellschaft, obwohl kein Wort fiel. Die Lakaien verschwanden, die Gläser auch. Wie auf Befehl erhob sich die Gesellschaft; die älteren Damen hielten sich nach dem Aufstehen so steif, daß ich fürchtete, sie würden sich nie wieder setzen können. Ich hatte noch immer mein Glas in der Hand, aber weit und breit war kein Lakai zu sehen, der es mir abnehmen konnte. Nun stell ten sich die Geladenen auf einer Seite des Raumes in einer langen Rei he auf. Mich hatte man beiseite geschoben, und ich lief eilig die Rücken entlang, um weiter hinten in der Reihe noch einen freien Platz zu fin den. Plötzlich fiel mir wieder das verdammte Glas ein, und ich stellte es schnell auf einen Tisch, ohne den schäumenden Champagner auch nur gekostet zu haben. Ungefähr im zweiten Drittel der Reihe fand ich noch eine Lücke. Die Türen waren geschlossen, aber alle standen bereit. »Seine Königliche Hoheit, der Prince of Wales!« Ich renkte mir den Hals aus, um ihn sehen zu können. Ich glaube, ich war die einzige, die sich in dieser wie erfroren wirkenden Reihe be wegte. Ob das Protokoll wohl vorschrieb, so zu tun, als ob er gar nicht da wäre, bis er dicht vor einem stand? Die Damen am Anfang der Rei he versanken im Hofknicks, die Männer verbeugten sich tief. Dabei fie len mir die tausend Kleinigkeiten der chinesischen Etikette ein, die ich nie zu beherrschen gelernt hatte. Der untersetzte Mann schritt lang sam die Reihe ab, nickte jedem zu, den er schon kannte, und machte einen Moment halt vor denen, die ihm an diesem Abend von Margaret Campbell vorgestellt werden sollten. Sie ging neben ihm her; ihr Kleid, die Haut, das Haar, alles an ihr schimmerte golden bis auf das Grün der feurigen Smaragde am Hals und in den Ohren. Aber sie hätte kei 150
nen Schmuck gebraucht – sie selbst war schöner als jedes Juwel. Dann näherten sie sich dem Platz, wo ich stand. Gavin ging hinter den bei den, und ich versank automatisch in den halbvergessenen, komplizier ten Hofknicks, allerdings nicht sehr tief. »Darf ich Eurer Königlichen Hoheit Christina Howard vorstellen.« Er blieb stehen, meine Knie zitterten, und ich fürchtete umzufallen. Mußte ich in der Stellung verharren, oder durfte ich mich aufrichten? Ich wußte es nicht und blieb, wie ich war. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, und obwohl ich es nicht wagte, hochzusehen, fühlte ich sei nen auf mich gerichteten Blick. Aber nicht ich, sondern das Kleid hat te seine Aufmerksamkeit erregt. »Wie ungewöhnlich.« Meine Lider flatterten, und ich sah ihm in die Augen. Ich fühlte, wie ich aus Ärger errötete, aber ich durfte nichts antworten. Dann spürte ich zu meinem Erstaunen, wie mich sein wei cher, dicker Finger unter dem Kinn berührte; er hob mein Gesicht, was mich fast aus der schon sehr prekären Balance brachte. »Wie char mant.« Die Worte versöhnten mich, und ich lächelte dankbar. Aber darf man ein Mitglied der königlichen Familie anlächeln? Margaret flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er nickte. »Ach ja, die Tochter unseres hochgeschätzten Bischofs. Sehr tragisch. Er hat für China viel Gutes getan.« Ich wußte, daß mein Vater nie im Leben dem Prinzen begegnet war und daß dieser wiederum nicht ahnen konn te, daß nach Vaters Meinung die Christen für China sehr wenig Gutes getan hatten. Er war darüber immer empört gewesen. Aber die Wor te des Prinzen waren nett gemeint und sollten mich beruhigen. Und außerdem konnte ich nur noch daran denken, ob meine Knie wohl durchhalten würden. Doch zum Glück gingen der Prinz und Margaret bereits weiter. Als ich mich mühsam aufrichtete, traf mich Gavins starrer Blick. Ich war überzeugt, daß er meine Gedanken erriet. Plötzlich war ich ganz einer Meinung mit Großvater. Ich wußte, daß ich nicht hätte herkommen sollen, und ärgerte mich, daß mich dieser fremde Mann, so hoch ste hend er sein mochte, derart gönnerhaft behandelt hatte, wenn er auch nur nett zu dieser komisch angezogenen Frauensperson sein wollte. 151
Meine Dankbarkeit verschwand. Ich hatte genug von Knicksen und Umherstehen und wünschte, am Kamin von Cluain zu sitzen. Und ir gendwie verstand Gavin das alles. Der Rest des Abends war eine Qual. Wie ich schon vorausgesehen hatte, wurde ich von Major James MacCulloch-Johnstone zu Tische geführt. Er gab sich alle Mühe, Konversation zu machen, aber leider sprach er von lauter Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte – sei nem Regiment, seinen Gewehren, seiner Familie, die, wie er mir zu ver stehen gab, sehr vornehm war. Er legte sich wirklich ins Zeug, wahr scheinlich weil mich der Prinz aus irgendeinem Grunde ausgezeichnet und mich charmant genannt hatte. Ich hörte selbst, wie kümmerlich meine kurzen Antworten klangen. Ich war missgestimmt, aber vor al lem fühlte ich mich verlassen – schrecklich verlassen. Gavin saß weit weg von mir, und das Fest würde sich noch lange hinziehen; in Clu ain zündete man erst jetzt die Lampen und Kerzen an. Dort gab es kei ne Verschwendung, während hier Silberleuchter neben Silberleuchter stand, den ganzen Tisch entlang. Und das Essen, das man servierte, hätte einen Monat lang für eins der Missionshäuser meines Vaters ge reicht. Ich kam zu der Erkenntnis, daß ich meinem Großvater sehr ähn lich war: ich liebte Großzügigkeit, ich hasste Verschwendung. Ich hing mit allen Fasern meines Herzens an meiner energischen MacdonaldFamilie, die auf ihrer kargen Insel mit größter Mühe existiert hatte. An diesem Abend entdeckte ich meine Persönlichkeit; ich wurde zu ei ner Schottin und einer Macdonald. Ein unbändiger Stolz packte mich, und ich richtete mich kerzengerade in meinem Stuhl auf. Als sich mein Tischherr schließlich gelangweilt von mir abwandte und mein Nach bar zur Linken, ein Engländer mit einem Titel, den ich nicht behalten hatte, mit mir zu sprechen anfing, nahm ich das Gespräch in die Hand und begann wie ein Wasserfall über Gerstenernte und Whisky zu re den. Das Thema muß ihm sehr vulgär vorgekommen sein, denn ich sah, wie er seine Augenbrauen immer höher zog, was sein schon von Natur aus langes Gesicht noch länger machte. »Sagen Sie, Miß … Howard, wie vertreibt man sich so seine Zeit in China?« 152
»Ach, wissen Sie, da ist immer etwas los … Revolutionen, Enthaup tungen, Seuchen, man sieht Menschen, die auf der Straße vor Hunger tot umfallen …« Er war unsagbar schockiert. In seinem Gesicht spiegelten sich deut lich zwei Gedanken wider: Erstens, daß ich nur durch ein schreckli ches Versehen in diese illustre Gesellschaft geraten sein konnte, und zweitens, daß ich schon in der nächsten Minute über das Frauen stimmrecht zu reden anfangen würde. Er wandte sich hastig von mir ab, und den Rest des Essens verbrachte ich schweigend. Aber er hat te gewissermaßen recht, es war zwar kein Versehen, aber ein schreck licher Fehler gewesen, daß ich hergekommen war. Das Diner nahm kein Ende; Gang folgte auf Gang. Die Kerzenlichter schwammen mir vor den Augen; von seinem Platz aus winkte mir James Ferguson zu, das Gesicht von Wein und Triumph gerötet. Er war auf dem Gipfel seines Glücks angelangt; wahrscheinlich konnte auch der größte Ge schäftserfolg ihm nicht dieses Hochgefühl geben, das er heute abend empfand. Seine Tochter, umstrahlt vom Glanz der Smaragde, der Seide und der eigenen Schönheit, als Gastgeberin des Prince of Wales! Das nächste Ziel war, den Titel einer Marchioness für sie und den Grafen titel für seinen Enkelsohn zu erlangen. Und dann – würde sein Ehr geiz dann endlich befriedigt sein? Von James Ferguson wanderte mein Blick zu Gavin. Er saß am anderen Ende des Tisches und sprach weder mit der Dame zur Rechten noch mit der zu seiner Linken. Sein Gesicht trug denselben Ausdruck müder Gelassenheit der mir schon aufgefal len war, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Er starrte seine Frau an, aber in seinem Blick lag kein Triumph, sondern eher eine Art von trauriger Strenge, als ob das, was er sah, für ihn fast unerträglich wäre. Aber was sah er? Das Diner war endlich vorbei, und die Damen zogen sich zurück. Ich fühlte mich noch ausgeschlossener als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. Margaret führte uns nach oben, und im Vorbeigehen lächelte sie mich mit ihrem üblichen, strahlend kindlichen Lächeln an, als wolle sie mir bedeuten, daß sich mein heutiger Besuch von al len früheren nicht unterscheide, daß sie aber im Moment wegen ih 153
rer schwierigen anderen Gäste keine Zeit für mich habe und ich ihr nicht böse sein solle. Ich war es nicht, aber es half mir auch nicht, die Zeit zu verkürzen, die ich warten mußte, bis ich vor den großen Spie gel treten und meine eigentümliche Erscheinung betrachten konnte. Schon allein die Fülle der Rüschen und Falten um mich her, die her vorquellenden gepuderten Brüste über den zu eng geschnürten Tail len, der Glanz der Brillanten und Smaragde und die kostbaren Rubi ne genügten, daß mir ganz schwindlig wurde, und dazu kam noch die stickige, parfümschwere Luft, der greifbare Geruch des Geldes, des ho hen Ranges und des Luxus. Ich fühlte keinen Neid, aber mir ekelte vor mir selbst, und ich schämte mich, daß ich mich auf dieses Fest gefreut hatte. Und plötzlich fiel mir Callum ein, und die Welt schien wieder in Ordnung. Ich liebte – und ich liebte den richtigen Mann. Ich stellte mir vor, wie seine Lippen sich verächtlich kräuseln würden beim An blick von uns allen, die wir hier zusammengepfercht umherstanden. Fast hätte ich lauthals gelacht, doch da fing ich eine Bemerkung auf, die eine Frau zu einer anderen machte, als wir in den Salon zurückgin gen, wo die Herren auf uns warteten. Mir war klar, daß es kein Zufall war, daß ich sie hörte: »Ich wußte gar nicht, meine teure Lady Amelia, daß hier gleichzeitig ein Maskenball stattfindet! Wie originell und spa ßig! Eine chinesische Schottin!« Einige der Herren gesellten sich zu uns, nachdem der Portwein ser viert worden war, aber die meisten verzogen sich in das neue Billard zimmer oder in einen kleineren Raum dicht daneben, wo Kartentische aufgestellt waren. Man erzählte sich, daß der Prinz keinen Gefallen mehr am Tanzen finde, aber keiner war so unhöflich, hinzuzufügen, daß der Grund wahrscheinlich in seiner Körperfülle zu suchen war. Auf der Galerie des Hauptsaales, unsichtbar hinter großen Palmentöp fen, spielte diskret ein kleines Orchester. Ich saß allein im Salon. Kei ne der anderen Damen sprach mit mir, und sie fanden es wahrschein lich sehr eigentümlich, mich so allein zu sehen. Mir war es gleichgül tig. Ich mußte hier so lange sitzen, bis man mit Anstand gehen konnte, das heißt, nicht ehe der Ehrengast das Haus verlassen hatte. Was stand doch auf den Einladungskarten – Die Equipagen um drei Uhr früh! Der 154
arme Sonntagsjunge würde bis dahin vor Ungeduld geplatzt und das Arbeiterehepaar aus der Brennerei über seinem Essen in der Gesinde stube eingeschlafen sein. Und da die Bedienten nach dem Rang ihrer Herrschaften platziert wurden, hatte man die Armen wahrscheinlich ganz unten an den Tisch gesetzt. Hoffentlich protestierten sie wenig stens; sie waren schließlich keine Dienstboten. James Ferguson ging an meinem Sessel vorbei. »Guten Abend, Miß Howard. Ich hoffe, Sie unterhalten sich gut.« »Sehr gut«, log ich. Wir wußten beide, daß es nicht stimmte. »Es ist ein sehr gelungenes Fest.« »Ja, nicht wahr, sehr vornehm. Mein kleines Mädchen ist eine groß artige Gastgeberin«, sagte er angeberisch. Dann wurde sein Blick hart; er musterte das chinesische Kleid, die Clanbänder und Broschen und sagte: »Wann wird sich Angus Macdonald entschließen, Cluain zu ver kaufen?« Ich hob den Kopf. »Mein Großvater wird Cluain niemals verkaufen.« »Na, ewig wird er nicht leben. Ich höre, es ging ihm letzten Winter nicht gut. Und wenn er nicht mehr da ist, muß Cluain verkauft wer den.« »Seien Sie nicht so sicher, Mr. Ferguson.« »Was denn, Mädchen, wollen Sie es für sich haben? Cluain ist nichts für eine unerfahrene Frau – auch nichts für einen unerfahrenen Mann. Sagen Sie Angus Macdonald, daß James Ferguson jederzeit bereit ist, den Preis zu zahlen, den er fordert!« »Sagen Sie ihm das selbst, Mr. Ferguson.« Ich stand auf und schob ihn beiseite. »Ich bin kein Botenjunge.« Dann ging ich schnell durch die Halle, konnte aber weder Margaret noch Gavin entdecken. Mir war jetzt alles gleichgültig; ich wollte nur noch fort. Aber dann kamen mir Bedenken. Mein Großvater würde si cher von mir erwarten, daß ich alle Misslichkeiten des Abends durch stände, und ich durfte ihn nicht enttäuschen. Außerdem wäre mein frühes Weggehen ein Eingeständnis meiner Niederlage. Es würde sich bei allen Leuten herumsprechen, daß ich mich vorzeitig davongeschli chen hatte. Das ganze Tal würde davon erfahren. 155
Ich vermied die Räume, wo sich Menschen aufhielten und wo man Karten spielte. Keiner tanzte. Allmählich erschienen auch alle die Gä ste, die erst nach Tisch eingeladen worden waren. Der große Raum war überfüllt. Das riesige Diner war noch nicht lange vorbei, und schon deckte man wieder für das späte Abendessen. Die Gesellschaft wirk te lebhaft, aber merkwürdig freudlos. Wo blieben die traditionellen schottischen Tänze mit den Männern im Paradekilt und Spitzenjabots und den Frauen mit Tartanbändern? Wo war der Dudelsackpfeifer? Aber vielleicht hatte Seine Königliche Hoheit bereits genug solche Vor führungen gesehen und wollte nur noch Karten spielen. Obwohl vie le der Geladenen alte schottische Namen trugen, war es eine englische Gesellschaft. Ich fand den kleinen Raum, den ich suchte; er lag fast am Ende des Ganges, der durch das ganze Hauptgebäude lief, und war eine Art An bau zur Hauptbibliothek, die die Ecke dieses Flügels einnahm. Ich war bislang nur einmal hier gewesen und hoffte ihn leer zu finden, und er war es auch. Hier konnte ich ungestört warten, bis die ersten Equipa gen vorfuhren, und dann meinen Affenpelz nehmen und nach Hause nach Cluain zurückkehren – nach Hause. »Sind Sie auch müde, Kirsty?« Ich wirbelte herum. »Gavin!« Er saß in einem tiefen Sessel gegenüber dem großen Fenster. Der Mond hing nun als gelbe Scheibe am Him mel, und das letzte bißchen Tageslicht zeichnete scharf die Konturen der gegenüberliegenden Berge nach. »Sollten Sie nicht bei Ihren Gästen sein?« »Sollten Sie sich nicht großartig amüsieren? Alle haben doch gehört und gemerkt, daß der Prinz Sie charmant fand. Weniger als das genüg te anderen Frauen, um eine brillante Karriere zu machen.« »Gavin, lachen Sie mich nicht aus – Sie nicht.« Er erhob sich langsam. »Sie auslachen! Das wäre wohl das letzte in der Welt, was ich tun würde. Sie sind eine stolze und mutige Frau, Kir sty. Wenn Sie nur wollten, könnten Sie jeden Mann hier bezaubern und all diese Juwelen und teuren Kleider in den Schatten stellen.« »Ach, als die Unschuld vom Lande? Nein, Gavin, diese Rolle kann 156
ich nicht spielen, sie steht mir nicht. Und meinem Großvater würde sie auch nicht gefallen.« »Sie haben recht. Die Rolle ist unter Ihrer Würde. Und deshalb ver ziehen Sie sich wie ich selbst, bis alles vorüber ist. Na, allzu lange wird es nicht mehr dauern.« Ich stand an einer der Balkontüren, die auf die Hauptterrasse des neuen Gebäudeteils führten, und sah auf den alten Turm hinab, der weiter unten, näher am Fluss stand und trutzig an frühere Zeiten ge mahnte. Die Musik kam nur leise zu uns herüber – fast gespenstisch. »Nehmen Sie Weiß, dann sind Sie am Zuge, Kirsty.« Ich drehte mich nach ihm um. Zwischen den Fenstern befand sich ein marmorner Schachtisch, an dem er jetzt saß. Ich setzte mich ihm gegenüber und betrachtete eine Weile lang die Figuren. Ähnliche hatte ich schon früher gesehen; sie standen auf ineinander gefügten kleinen Kugeln feinsten indischen Elfenbeins und waren in China gearbeitet – eher Figuren zum Ansehen denn zum Spielen. Ich hielt eine davon ge gen das Licht und erfreute mich an der zauberhaften Feinheit, mit der eine Kugel in die andere gesetzt war – eine chinesische Eigenart, die immer ein Geheimnis bleiben würde. »Wie schön«, sagte ich, »richtig schön.« »Das Schachspiel gehört zu den wenigen Dingen in Ballochtorra, die mir gehören. Es stammt noch von meinem Vater. Nehmen Sie die wei ße Dame, Kirsty.« »Wieso wußten Sie, daß ich Schach spiele?« »Schließlich sind Sie Williams Schwester.« Ich nickte, stellte die Figur, die ich in der Hand hielt, an ihren Platz auf das Brett und machte den ersten Zug. Er beantwortete ihn sofort. Die nächsten Züge tat ich fast ohne zu überlegen, so als würden sie mir diktiert, und er machte die entsprechenden Gegenzüge. Wie un ter Zwang bewegte ich die Bauern, die Springer, die Läufer. Gavins Po sitionen kamen mir nur zu bekannt vor. Und dann erreichten wir die Phase des Spiels, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. »Schach Ihrer Dame, Kirsty.« Ich blickte ihn an. »Haben Sie mit William gespielt?« 157
»Sehr oft.« »Dieselbe Partie mit den gleichen Zügen?« »Nein … ich weiß nicht … ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube aber nicht. Warum?« »Weil …« Plötzlich fröstelte mich. Williams Gegenwart wurde fast greifbar. Ich blickte Gavin scharf an, wie um mich zu überzeugen, daß er ein lebendiger, unabhängiger Mann war und nicht das Werkzeug eines Toten, auch nicht ein alter Mann wie mein Großvater oder eine trauernde Schwester wie ich, die diese Partie immer wieder durch spielte. »Kirsty …« »Ja?« »Kirsty, ich gehe fort, dies ist eine Art Abschied – ich kann ja schwer lich nach Cluain kommen.« »Sie gehen – nach London? Wenn das Haus dort fertig ist?« »Nein, nicht nach London. Nein. Ich gehe fort, Kirsty.« »Wohin?« »Das weiß der Himmel, aber ich muß fort, ich muß gehen, um meine Seele zu retten, … ob es sich lohnt oder nicht. Sobald diese kleine Farce vorbei ist und Seine Königliche Hoheit meine Frau zur schönsten, lie benswürdigsten Gastgeberin in ganz England erklärt hat – dann gehe ich. Ich verlasse Ballochtorra, verlasse alles, was mir lieb und wert ist, auch meinen Sohn – Gott möge mir verzeihen.« »Das können Sie nicht tun!« »Ich muß. Seinen Sohn zu verlassen ist immer noch besser, als sich vor seinen Augen zu erniedrigen. Sehr bald wird er wissen, daß Ja mes Ferguson hier alles zahlt, und außerdem wird er merken, wie es um seine Eltern steht. Die Idee ist mir unerträglich. Ich würde lieber tot sein, als diese wissende Verachtung in den Augen meines Sohnes zu sehen.« Ich verstand ihn und wußte, daß ich ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen konnte, nicht abbringen wollte. »Wohin werden Sie gehen? Was werden Sie tun?« »Ich weiß es nicht. Irgendwohin. Es ist mir gleichgültig. Es ist mir 158
auch gleichgültig, was ich tun werde. Als Organist werde ich nicht un terkommen, aber überall in der Welt werden Männer gebraucht, die Gräben graben, Steine schleppen oder dergleichen. Ich will bloß fort von hier, auf Nimmerwiedersehen.« »Nein, Gavin … nicht auf Nimmerwiedersehen, nein, bitte nicht …« »Für meine Familie ja. Margaret wird mich eine Zeitlang vermis sen – ich bin ihr bequem. Ich werde nie offiziell meinen Sitz im Ober haus einnehmen, was mein Schwiegervater mir verübeln wird. Aber mein Sohn kann es ja später tun, wenn er erwachsen ist. Vielleicht wird er dann auch seinen Vater verstehen. Meine einzige Hoffnung ist, daß er einmal verstehen wird, warum ich gehen mußte. Aber es han delt sich nicht nur um ihn, Kirsty, sondern auch um mich. Ich habe die Achtung vor mir selbst verloren; wie kann ich erwarten, daß mein Sohn sie behält?« »Aber können Sie ohne ihn leben?« »Ich werde es versuchen müssen. Es wird leichter sein, als von ihm verachtet zu werden.« »Andere Männer hätten keine solchen Bedenken; sie heiraten Geld und machen keinen Hehl daraus. Sie geben den Titel und erhalten da für eine reiche Frau – ein absolut fairer Handel, nicht nur in den Augen James Fergusons, sondern auch in denen vieler anderer.« Warum ver suchte ich ihn zurückzuhalten? Ich wußte doch die Wahrheit. »Damals, als wir heirateten, war es kein Handel. Aber irgend etwas ging schief. Wenn ich nur wüsste, was, Kirsty, und warum? Wie konn te ich es zulassen?« »Konnten Sie es verhindern?« »Ja, wenn ich aufmerksamer gewesen wäre. Ich war zu jung, als die ses Problem an mich herantrat. Die erste Geldsumme, die wir von Ja mes Ferguson annahmen, war der Anfang vom Ende unserer Ehe. Ich hätte wissen müssen, daß ich von einer Frau wie Margaret nicht ver langen konnte, in Armut zu leben und glücklich zu sein. Dafür ist sie nicht geschaffen.« »Es wird einen Skandal geben.« 159
»Natürlich – aber keinen Eklat. Margaret wird behaupten, ich sei in irgendein exotisches Land gereist, und die Leute werden erst allmäh lich dahinter kommen, daß ich nicht mehr zurückkehre. Aber bis da hin wird Margaret längst eine Londoner Berühmtheit sein, und nie mand wird mich vermissen.« »Man wird Sie vermissen.« Ich starrte auf das Schachbrett. »Sie sind zu extrem, Gavin. Es ist gar nicht notwendig … Sie könnten in Bal lochtorra bleiben, wenn Sie den ganzen gesellschaftlichen Rummel nicht mitmachen wollen.« »Ausgehalten von James Ferguson? Nein, dagegen hätte ich mich schon vor Jahren wehren sollen, und wenn ich noch länger warte, brin ge ich nicht mehr den Mut zum Gehen auf. Ich kann zwar nirgend wo anders als hier glücklich sein, aber mit jedem Tag, den ich zögere, nimmt meine Entschlossenheit ab. Ich werde nach immer neuen Vor wänden suchen und sie auch finden, so wie ich es jetzt schon tue. Ich habe mir gesagt, daß ich Margaret dieses Fest nicht verderben will. Später werde ich sagen, daß ich noch einen Sommer mit Jamie verbrin gen möchte, bevor sie ihn auf eine Internatschule schicken und einen Fremden aus ihm machen. Und dann werde ich mir eine neue Ausre de zurechtlegen …« Ich drehte die Figur der weißen Dame zwischen den Fingern. »Aus diesem Schach kommt man nicht heraus. Ich habe dieselbe Partie zu oft gespielt. William …« »Ja, William …« Ich blickte ihm in die Augen. Es war mittlerweile dunkel geworden und der Mond die einzige Beleuchtung. »War William ihr Geliebter, Gavin?« Mit einer Handbewegung fegte er die Schachfiguren vom Brett, und sie fielen klirrend zu Boden. War das seine Antwort? Mir brach es fast das Herz, als er das zarte Elfenbein knirschend unter seinen Füßen zertrat. Es war furchtbar, was er tat; in seiner Verzweiflung zerstörte er seinen liebsten Besitz, einen Teil seiner selbst. Er hielt die Hand halb vors Gesicht, als wollte er sich gegen einen Schlag abschirmen. »Ich weiß es nicht. Das ist vielleicht das schlimmste, daß ich es nicht 160
weiß. Und deshalb muß ich fort, ich kann diese Ungewissheit nicht er tragen. War er es? Oder jener oder ein anderer? Wann? Wo? War Wil liam einer von ihnen? Ich weiß es nicht!« Ich wandte mich schaudernd ab. Die Briefe, die so wenig gesagt hat ten, fielen mir wieder ein, und ich spürte den bitteren Geschmack von Verrat auf den Lippen. William … was hast du getan? Aber vielleicht hatte er sie geliebt, unbesonnen, allen Bedenken zum Trotz. Ich glaub te, ihn jetzt besser verstehen zu können, weil ich Callum Sinclair lieb te. Blieb ich nur seinetwegen in Cluain oder weil ich an Cluain hing? Wie war es bei William gewesen? Hatte er Großvater oder vielleicht gar sich selbst etwas vorgemacht, als er sagte, er bliebe nur wegen Cluain in Schottland? »Hier gibt es eine schöne Zauberin.« Der Satz fuhr mir durch den Sinn. Hatte sie ihn verzaubert? War auch er – wie ich jetzt – vor Sehnsucht fast krank und des Verstandes beraubt gewesen? Waren wir beide – jeder auf seine Art – demselben Wahnsinn erlegen? Glaub te ich deshalb, seine Hand würde mich lenken; spürte ich deshalb sei ne Gegenwart, wo immer ich war, und zwar so stark, daß ich wieder und wieder diese verdammte letzte Schachpartie durchspielen mußte? Es war, als versuchte er mir zu sagen: »Du auch, kleine Schwester? Aus dem Schach kommst du nicht heraus! Was immer du tust – du ver lierst. Jeder Zug ist verhängnisvoll.« Aber William hatte das nie gesagt. Meine Phantasie spielte mir Streiche. Die Wellen von Gavins Verzweif lung trugen auch mich fort. Warum sollte meine Liebe zu Callum ver hängnisvoll sein? Sie war doch echt und aufrichtig und ohne Falsch – ohne Falsch und ohne Sünde. Warum streifte mich ein eisiger Luft zug, als ob Williams kalte Hand über das Schachbrett nach der mei nen griffe? Es war keine Warnung, sondern eine grauenvolle Bestäti gung, daß auch ich unweigerlich verlieren würde. »Schach der Dame, Kirsty.« Die Hand, die die meine berührte, war nicht Williams, sondern Ga vins Hand. »Hören Sie was?« Der einsame Klang eines Dudelsacks durchbrach die mitternächtli che Stille unter dem vollen Mond. Die Musik kam aus dem tiefer ge 161
legenen alten Teil des Hauses, nicht weit von uns entfernt. Wir gingen zur Balkontür; das zertretene Elfenbein knirschte unter unseren Fü ßen. Gavin riß die Tür auf. Die eindringende Nachtluft trug jetzt das Pfeifen des Dudelsacks lauter zu uns herüber. Der Mond verlieh der ganzen Szene etwas Unwirkliches. Die weiß schimmernden Felsvorsprünge setzten sich scharf gegen die tiefblau en Schatten der Schluchten ab. In dem fahlen Licht verschwammen die Umrisse des alten und neuen Gebäudes in eins, so daß es wirkte wie ein in bleiches Gold getauchtes Märchenschloß aus uralter Zeit. Auf den oberen Terrassen des neuen Flügels öffneten sich die Türen, und die Gäste strömten ins Freie. Seide und Juwelen glitzerten im Mond schein wie zuvor beim Kerzenlicht. Die untersetzte Gestalt des Prin zen war leicht zu erkennen; er trat, umringt von den andern, dicht an die Balustrade. Der Anblick, der sich uns bot, versetzte uns um Jahrhunderte zu rück. Das flache Dach des alten Turmes lag direkt unter uns und war deutlich zu sehen. Der Mond schlug Feuer aus dem blitzenden Stahl der zwei gekreuzten Schwerter, die im rechten Winkel zueinander auf dem Dach lagen, und spiegelte sich in den Baßpfeifen des Dudelsacks und den silbernen Clan-Zeichen. Der Dudelsackpfeifer und der Tän zer trugen beide Festkleidung; Samtjacken, Spitzenkrausen an Hals und Ärmeln, und in den Strümpfen steckten schmucksteinbesetzte Dolche. Nur die Muster ihrer Plaids und Kilts waren verschieden. So gar aus dieser Entfernung erkannte ich sofort die Sinclair-Farben wie der, aber auch ohne sie hätte ich gewußt, wer da stand. Meine Lippen formten lautlos seinen Namen. »Callum!« Der Schwertertanz wurde mit vollkommener Präzision aufgeführt. Zum Pfeifen des Dudelsacks glitten seine weichbeschuhten Füße zwi schen den Schwertklingen hin und her; der Kilt und das Plaid wehten um seinen Körper, die Arme waren an den Ellbogen angewinkelt. Es war so hell, daß ich die Grazie seiner nach oben gespreizten Finger se hen konnte. Der Platz auf dem alten Festungsturm war so knapp be messen, daß er keine Fehler machen durfte; außerdem hätte das Pu blikum sie ihm auch nicht verziehen. Aber Callum berührte kein ein 162
ziges Mal die Schwertklingen mit seinen Füßen. Es war ein atembe raubendes Bild. Das anfängliche Gemurmel der Zuschauer verstumm te. Sogar diese verwöhnte Gesellschaft war von seiner Leistung be eindruckt. Vom Dudelsack angelockt, kamen bald auch aus den Kü chen und Ställen und dem ganzen Haus die Leute herbeigerannt. Vie le von ihnen kannten den Schwertertanz, aber den Auswärtigen wie mir war er ganz neu. Bestimmt bedeutete er für die meisten den Hö hepunkt des Abends wohl war er als Unterhaltung für den Prinzen ge dacht; aber er traf auch den Volksgeschmack – ein traditioneller Tanz, in höchster Vollendung dargeboten. Aber der dort tanzte, war nicht der Callum, den ich kannte; es war nicht der Mann, der es höhnisch abgelehnt hätte, einen Prinzen zu amüsieren. Wer war der Fremde, der die praktische Hochlandklei dung gegen dieses romantisch verspielte Kostüm ausgetauscht hatte? Nie hätte ich gedacht, Callum je in solcher Verkleidung zu sehen, und nie hätte ich gedacht, daß er vor einem Publikum tanzen würde. Bei einer Hochzeit, ja – möglicherweise – wenn der Whisky schon öfters die Runde gemacht hatte und andere Füße den Rhythmus des Dudel sackpfeifers stampften. Vielleicht auch vor dem großen Kaminfeuer in der alten Halle von Cluain. Aber hier – wie ein bezahlter Varietekünst ler? Die Grazie und das Können erstaunten mich nicht, wohl aber sei ne Anwesenheit überhaupt. »Ist er betrunken?« flüsterte ich endlich Gavin zu. Es war die einzi ge Erklärung. »Nein – betrunken nicht.« »Was denn?« »Verrückt.« Er sagte es entschieden, hart und verbittert. Der Dudelsack ver stummte mit einem klagenden Ton, der Tanz war zu Ende. Die Leu te, die aus den Tiefen des Hauses gekommen waren, ermunterten Cal lum mit Bravorufen zu weiteren Darbietungen. Dann hörte ich höfli ches Händeklatschen von den Gästen, die um den Prinzen standen. Der Prinz paffte weiter an einer halb aufgerauchten Zigarre und blieb stehen, als ob auch er auf eine Zugabe wartete. Vielleicht hatte ihm der 163
Tanz ehrlich gefallen; zumindest hatte er die Neuheit des Unerwarte ten gehabt, und der Rahmen hätte nicht vollkommener sein können. Aber Callum Sinclair hätte nicht daran teilnehmen sollen. Nun war es vorbei, und ich war froh, daß er sich wenigstens nicht verbeugte, um für den Applaus zu danken. Ich wünschte, ich hätte mich nicht für ihn geschämt – man soll sich nicht für jemand schä men, den man liebt. Aber ich tat es. Ein Schmerz mehr, den ich an die sem nicht enden wollenden Abend erdulden mußte, an diesem Abend, wo ich den bitteren Preis meiner Selbstwerdung erfuhr. Mit einer Art von selbstmörderischer Faszination, als ob ich ausloten wollte, wie tief mein Schmerz ging, beobachtete ich, wie sich Callum behende über die Brustwehr des Turmes schwang und auf die Balustrade der unteren Terrasse sprang. Wahrscheinlich hatte er schon gefährliche re Sprünge über die glatten Steine der Bergbäche gewagt, aber die ser Augenblick, als sich seine Gestalt gegen den Himmel abhob, war dramatisch und leicht theatralisch. Ein paar Damen stießen kleine Schreie aus. Aber da lief er schon leichtfüßig die Stufen zur oberen Terrasse hinauf, direkt auf den Prinzen zu. Dann verlangsamte er sei ne Schritte. Ich traute meinen Augen nicht. Konnte das Callum Sin clair sein, der stolze, einsame Mann, der niemand um einen Gefallen bat? Und nun kam er angelaufen, um sich vor dem Prinzen zu verbeu gen, um ein paar Dankesworte zu hören, mit denen er später protzen konnte? Es war wie ein zerbrochener Traum. Ich starrte ins Tal, um den Sturz meines Idols nicht ansehen zu müssen. Aber dann zwang mich empörtes Gemurmel, den Blick wieder auf die Szene zu richten. Der Prinz hatte den Fuß vorgesetzt, um leutselig die Verbeugung ent gegenzunehmen, wahrscheinlich auch, um die paar erhofften Wor te zu äußern. Aber Callum ging an ihm vorbei, als ob er nicht exi stiere. Statt dessen machte er vor Margaret halt, die neben dem Prin zen stand. Die Gäste wichen ungläubig zurück, so daß Margaret und Callum einen Augenblick völlig allein in diesem Halbkreis standen. Dann verbeugte er sich tief vor ihr, und sie reichte ihm, als sei sie all ihrer Sinne beraubt, die Hand, statt eine auffordernde Geste in Rich tung des Prinzen zu machen. Ich hätte nie gedacht, daß er sich so tief 164
über eine Frauenhand beugen würde, um sie zu küssen, aber er tat es – vor den Augen der ganzen Welt. Dann ging er schnell die Terrasse entlang, den Rücken dem Prin zen zugekehrt, lief die Stufen hinunter und sprang wieder mühelos über die Balustrade. Die Schwerter wurden eiligst weggenommen, und der Dudelsackpfeifer und Callum verschwanden durch die Falltür, die zum Turm führte. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt, zwei Ge spenster der Nacht, die Entsetzen und Verwirrung hinterließen – und Schmerz, was mich betraf. Gibt es wohl einen bestimmten Moment, wo man zum ersten Mal den Wunsch fühlt, zu sterben? Erinnert man sich an ihn? Vielleicht nicht jeder, aber ich! Doch der Tod kommt nicht auf Wunsch. Man überlebt die nächsten Sekunden, die Minuten und schließlich die Tage. Vielleicht war es für Gavin noch schlimmer als für mich, aber ich be zweifelte es. Er hatte schon gelernt, mit Enttäuschungen zu leben. Also hatte sie auch Sinclair verführt. Gab es denn niemanden, den sie in Ruhe ließ, niemanden, den sie nicht für sich wollte? Hatte sie denn nie genug? Wie viele noch – wie viele? Gavin nahm meine Hand und führte mich zurück in den dunklen Raum, wo die zerbrochenen Schachfiguren die letzte schmerzliche Er innerung an William waren. »Ich werde Ihnen helfen, Ihren Mantel zu suchen, und werde nach Ihrer Kutsche schicken. Vergessen Sie die Etikette, in diesem Hause wird sie ohnehin nicht gewahrt! Das Fest ist aus.«
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Achtes Kapitel
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ie letzten August- und die ersten Septembertage blieben sommer lich, und die Gerste stand hoch und golden im Feld. Dann bräun te sie und fühlte sich trocken an, wenn ich mit den Fingern die schwe ren Ähren berührte. »Es wird Zeit, mit der Ernte zu beginnen«, sagte Großvater. Diesen Satz hörte man auf jedem Gut in der ganzen Umge bung, und alle suchten nach Helfern. Der Ruf nach den Wanderarbei tern erging in die fernsten Täler, und sie kamen mit ihren Familien herbei. Die älteren Kinder, die stark genug waren, arbeiteten neben den Erwachsenen; die kleinen tummelten sich barfuss auf den Stoppel feldern und folgten den langen Reihen der Arbeiter, die ihre Sicheln im Rhythmus schwangen. Es war kein leicht verdientes Brot, stundenlang gebeugt in der Sonne zu stehen, aber die meisten schienen die Ernte zu genießen – die Tage waren warm, sie hatten Gesellschaft, sie sangen Lieder, die Verpflegung war gut. Mittags schickte man Wagen auf die Felder, und abends aßen sie gemeinsam in den Scheunen, wo jetzt die Wanderarbeiter schliefen und wo später die Gerste gespeichert würde. Mairi Sinclairs Küche lief auf Hochtouren, und sie beschäftigte zusätz lich ein paar Frauen aus dem Dorf. Auch ich hatte meine Hilfe angebo ten, aber sie war mit einem kurzen Achselzucken abgelehnt worden, und so verliefen diese Wochen höchster Geschäftigkeit für mich unna türlich ruhig und langweilig. Großvater kam erst zum Abendessen, nachdem der letzte Erntehelfer das Feld verlassen hatte. Ich beobachte 166
te die Cluain-Arbeiter auf ihrem Heimweg und die Wanderarbeiter, wenn sie sich in den Scheunen versammelten. Am Ende jedes Tages bekam jeder einen Schluck Whisky, und die erschöpften Frauen summ ten Wiegenlieder, wenn sie ihre müden Kinder zu den Schlafstellen trugen. Großvater war der Ansicht, daß der Whisky die Rücken schmerzen erleichtere und eine gute Nachtruhe gewährleiste. »Aber man darf ihnen nicht zu viel geben, gerade genug, um die Herzen zu wärmen, sonst verschlafen sie morgens die Zeit.« Großvater sparte bei der Ernte weder am Essen noch am Whisky. Und beides war immer das Beste, was Cluain zu bieten hatte. Normalerweise hätte es für mich eine glückliche Zeit sein müssen. Ich hätte mich, wie all diese Leute, dem sich ewig wiederholenden Kreislauf des Tales anpassen und mich über die gute Ernte freuen sol len. Aber ich fühlte mich so trocken und brüchig wie die Garben auf den kahlen Feldern. Natürlich war ich wegen Callum Sinclair unglücklich. Seit dem Abend, an dem er Margaret Campbells Hand auf der Terrasse von Bal lochtorra geküßt hatte, war ich ihm nicht mehr begegnet. Im ganzen Tal und darüber hinaus sprach man über nichts anderes als über die se verrückte Geschichte, über diese Prinzenbeleidigung – am meisten aber über Margaret Campbells Gelassenheit, über die Ruhe, mit der sie das Ganze hingenommen hatte. Man erzählte sich, daß der Prinz nur einen Moment lang erstaunt aufgeblickt hätte, aber mehr amüsiert als beleidigt. Trotzdem hatte Margaret sehr viel aufs Spiel gesetzt, als sie Callum nicht in seine Grenzen wies. Callum war der einzige Mann in Cluain, der sich an den Erntear beiten nicht beteiligte. Und da kein Wort darüber fiel, mußte es wohl ein Teil seines Abkommens sein. Natürlich würde er nach Einbrin gung der Ernte, wenn das Destillieren anfing, wieder in Cluain auf tauchen, aber nicht vorher. Er ritt gelegentlich die Straße entlang, die an Cluain vorbeiführte, als ob nichts vorgefallen wäre; er zeigte kei ne Reue über sein Verhalten in Ballochtorra und war so rätselhaft wie zuvor. Ich hatte inzwischen erfahren, daß es noch viele andere Wege durchs Tal gab, die Cluain nicht berührten; so konnte man beispiels 167
weise den Fluss entlangreiten. Aber Callum Sinclair würde sich nie verstecken, um Gerede zu vermeiden. Ich glaube auch nicht, daß je mand gewagt hätte, sein Benehmen direkt zu bemängeln. Sein Blick allein hielt die Leute in Schach. Und so ritt er seines Weges wie seit Jahr und Tag, und ich war mir seiner Gegenwart deutlicher als je be wußt. Ich schien sein Kommen vorauszuahnen, und jedes Mal, wenn seine vertraute Gestalt tatsächlich auftauchte, krampfte sich mir der Magen zusammen vor Schmerz und Neid. Margaret Campbell wußte natürlich, wann er wo war und wohin er ging. Aber eines mußte ich ihr zugestehen: Sie kümmerte sich so wenig wie Callum um Klatsch und Skandal. Aber sie ritt zumindest nie an Cluain vorbei; ich jeden falls habe sie nicht gesehen. Großvater berührte nur einmal das Thema, das mein ganzes Den ken beherrschte. Es war zwei Tage nach dem Empfang in Ballochtor ra. Ich saß schweigend da und stocherte in meinem Essen herum und sagte nichts. »Halt den Kopf hoch, Kirsty! Oder willst du der ganzen Welt zeigen, wie ein verliebtes Mädchen aussieht, das sich nach einem Mann sehnt, der ihrer nicht würdig ist? Er hat sich schamlos und lächerlich benom men und seiner Mutter Schande bereitet und die anmaßende Frauens person da oben bloßgestellt …« »Genug, Großvater! Ich wäre dir dankbar, wenn du nichts mehr über Callum Sinclair sagen würdest. Zu dem, was er getan hat, gehörte Mut. Ein toller Mut, wenn du willst. Er hat der Welt gezeigt, daß er eine Frau liebt. Aber er hat nie gesagt, daß er mich liebt! Du weißt so gut wie ich, daß er mich nicht haben will. Und ich war eine Närrin, zu glau ben, daß er mich auch nur bemerken würde, solange es eine Margaret Campbell gibt.« »Margaret Campbell ist eine verheiratete Frau und sollte mehr An stand und Stolz haben. Wie steht sie jetzt da vor der Welt – und vor ih rem Sohn? Die beiden sind zum Gespött der Leute geworden, aber sie mehr als er.« »Was geht es dich an?« schrie ich. »Es ist ihre Sache. Margaret Campbell hat sich selbst nicht geschadet, aber sie wird Callum zerstören. Sie 168
wird nach London gehen und ihn hier zurücklassen, und dann ist er ein gebrochener Mann!« »Und du wirst warten, bis er aus seinem Traum erwacht? Und wirst dich mit den Resten zufrieden geben?« »Es wird keine Reste geben. Wenn Margaret Campbell weggeht, wird Callum Sinclair noch lange nicht von ihr frei sein. Ich glaube nicht, daß er sie je vergessen kann. Vielleicht geht er auch fort – nicht mit ihr, aber ihretwegen. Vielleicht wird er sie nie wieder sehen, aber vergessen wird er sie nie. Wenn jemand wie er sich bindet, wird er nicht wieder frei. Vermutlich wird er Cluain verlassen.« »Meinetwegen soll er gehen. Wenn nicht seine Mutter wäre, würde ich …« »Ich will nichts mehr hören!« schrie ich und schlug mit dem Gabelrücken auf den Tisch. »Ich will nie mehr über Callum Sinclair spre chen! Und ich halte den Kopf hoch – ich habe ihn nie höher gehalten. Du wirst mich nicht weinen sehen. Ich leide mehr als nach Williams oder Vaters Tod, aber niemand wird mich weinen sehen. Und ich hof fe, er geht fort! Für mich würde es leichter sein! Aber wenn er bleibt, so werde ich auch damit fertig werden.« »Sei vorsichtig, Kirsty. Es hat keinen Sinn, daß auch du dir das Leben zerstörst.« Seine Stimme klang begütigend, und tatsächlich war er in den nächsten Tagen netter zu mir. Wir sprachen zwar nur über geschäftliche Dinge, und ich versuchte mich auf die Büroarbeit zu konzentrieren. Aber selbst wenn ich am Schreibtisch mit dem Rücken zum Fenster saß, erkannte ich den Hufschlag von Callums Pferd, und obwohl ich mir vorgenommen hatte, nicht aufzusehen, drehte ich mich jedes Mal um. Wenn Großvater nicht da war, stell te ich mich ans Fenster und blickte ihm nach, bis er verschwand. Nie vergoss ich dabei eine Träne, doch in meinem Inneren herrschte eine schmerzliche Stille. An diesen Abenden spielte ich mit verbis sener Anstrengung Schach, um wenigstens für einige Zeit die Erin nerung an die Szene auf der Terrasse zu verdrängen. Großvater hat te keinen leichten Stand; ich gewann eine Partie nach der anderen. Aber ich wollte nicht überall verlieren; irgendwie mußte ich meinen 169
nagenden Schmerz lindern, und wenn es mit Siegen beim Schach spiel war. Während der Erntezeit beobachtete ich das geschäftige Hin und Her der Wagen, die mit Verpflegung beladen zu den Arbeitern fuhren. Ich selbst aber ging nur gelegentlich auf die Felder, um meine Gegenwart fühlbar zu machen, um gesehen zu werden; aber ich blieb nie lange, aus Angst, ungewollt Gerede aufzuschnappen, das ich nicht hören wollte. Ich ritt gewöhnlich neben meinem Großvater, und seine Erscheinung allein genügte, um die wildesten Kinder zum Schweigen zu bringen. Meine Achtung vor ihm stieg. Er war gerecht, keineswegs gefühllos, und sogar großzügig, wenn seine Hilfe gebraucht wurde. Und doch er froren die Scherze auf aller Lippen, wenn er vorbeikam. Ich dachte oft, daß der Geistliche in der kleinen Kirche dort oben neidisch sein könn te auf den Respekt, den man Angus Macdonald zollte, ohne daß er ein Wort sagte. Gavin Campbell schien wie vom Erdboden verschwunden. Der Prinz war nach den vorgesehenen vier Tagen abgefahren, und kurz danach verließ auch die Dienstbotenschar Ballochtorra. Eine unheimliche Stil le senkte sich über das Schloß. Wie ich von Morag hörte, ritt Gavin je den Morgen in aller Frühe mit Jamie und einem Reitknecht aus und jagte den ganzen Tag auf dem Moor. Manchmal hörten wir in Cluain Gewehrschüsse, aber sie kamen nicht immer aus derselben Richtung. Es gab viele Jäger in der Umgebung; einige von ihnen kamen von weit her und hatten nur eine Jagd gepachtet. Wenn sie die Straße entlang kamen, blickten sie neugierig auf Cluain und die Brennerei und ge rieten in heftige Gespräche. Aus irgendeinem Grund schien der An blick sie zu empören. Für mich waren es Fremde wie die angeheuerten Dienstboten, während mir die Gesichter der Ortsansässigen immer vertrauter wurden. Ich dachte fast mit Vergnügen an den kommenden Winter, wenn alle Fremden wieder abgereist wären. Doch dann wür den auch Margaret Campbell und Gavin fort sein, Gavin wahrschein lich für immer – und vielleicht auch Callum. Diese letzten Sommerta ge waren eine Zeit des Wartens. Was würde aus mir und meinem Le ben werden, wenn sie zu Ende gingen? 170
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I
rgend etwas war im Gange – mein Großvater kehrte mehrmals frü her von den Feldern zurück, und Samuel Lachlan kam für ein paar Stunden aus Inverness und blieb nicht wie üblich über Nacht. Der klei ne Mann schien mir grau und sorgenvoll, als ich einmal allein mit ihm im Esszimmer in Cluain zu Mittag aß und ihm dann beim Tee Gesell schaft leistete, weil Großvater wieder hatte ausreiten müssen. Keiner der beiden erwähnte in meiner Gegenwart die Gründe für die so un übliche Geschäftigkeit – sie sprachen von der Ernte, vom Wetter und von der Jagdsaison, und Samuel Lachlan wollte alle Einzelheiten über den Prinzenbesuch hören. Ich gab ihm einen kurzen, sehr unvollkom menen Bericht, wohl wissend, daß Großvater auf jedes Wort aufpasste, das mir über die Lippen kam. Was immer es für eine Bewandtnis mit den langen Unterredungen hatte, die in Großvaters Büro stattfanden, oder mit den Telegrammen, die Samuel Lachlan herbeiriefen – eins wußte ich: das Ganze drehte sich um James Ferguson. Und irgendwie hatte ich auch den Eindruck, als ob sich das selbst sichere Gehaben dieses bulligen Mannes fast unmerklich verändert hatte. Während des Prinzenbesuches war er nur eine Nacht geblie ben; vielleicht wollte er vermeiden, daß man seine Tochter zu eng mit der ›Geschäftswelt‹ in Verbindung brachte, was ihrer sozialen Stel lung geschadet hätte. Außerdem jagte er nicht und fühlte sich ver loren in dieser Gesellschaft, die fast von nichts anderem sprach. Ich hätte für mein Leben gern gewußt, wie die Szene auf der Terrasse auf ihn gewirkt hatte, die zu Margarets Glück gut für sie ausgegangen war. Die Geschichte würde, natürlich mit den nötigen Ausschmük kungen versehen, in allen Londoner Salons kolportiert werden, des sen war ich sicher. Aber das konnte Margaret gleichgültig sein, so 171
lange sie so hoch in der Gunst des Prinzen stand. Aber James Fergu son mußte in diesen paar Minuten gedacht haben, daß seine Tochter alles wegwarf, was er mühsam geplant und geschaffen und mit viel Geld erkauft hatte. Doch der Prinz geruhte zu lächeln, statt die Stirn zu runzeln – seine Gastgeberin mußte ihm schon sehr gefallen ha ben! Und so verließ James Ferguson Ballochtorra am Tag nach dem Empfang, vielleicht nicht in bester Stimmung, aber zumindest beru higt. Doch schon wenige Tage nach dem Prinzenbesuch erschien er wieder, und irgendwie hatte es mit meinem Großvater zu tun. Fer guson verbrachte die Nacht in Ballochtorra und wartete, bis Samu el Lachlan aus Inverness kam; dann schlossen sich alle drei fast ei nen ganzen Tag lang in Großvaters Büro ein, und James Ferguson fuhr nur kurz zum Mittagessen nach Ballochtorra. Am Nachmittag war er wieder in Cluain und wurde erst am Abend von dem Wagen aus Ballochtorra abgeholt und zur Station gebracht. Samuel Lachlan nahm denselben Zug, aber nach ihrem Benehmen zu urteilen, wür den sie nicht im selben Abteil reisen. Außerdem fuhr Samuel Lach lan eisern zweiter Klasse. In der darauf folgenden Woche trafen die drei wieder zusammen; dieselben Sitzungen im Büro, dieselben getrennten Mittagessen, nur daß James Ferguson nicht einmal in Ballochtorra übernachtete. Als ich ihn zufällig auf dem Gutshof traf, nickte er mir abwesend, fast brüsk zu, als ob er sich kaum erinnerte, wer ich war. Irgend etwas an seinem Äußeren verblüffte mich – er wirkte gar nicht mehr wie ein prahleri scher, aufgeblasener Geschäftsmann, sondern eher gedrückt, aber als er meinen neugierigen Blick spürte, straffte er sich automatisch und lä chelte gezwungen. Später, als er abfuhr, zog er betont höflich den Hut. Mir kam es vor, als ob es ihm unangenehm war, daß ich ihn in einem unbewachten Moment überrascht hatte. Diese Nacht blieb Samuel Lachlan in Cluain. Wir hatten spät zu Abend gegessen, weil die Ernte schon im Gange und Großvater nach Fergusons Abfahrt noch einmal auf die Felder geritten war. Dann setz ten wir uns zu einer Partie Schach hin – Lachlan war schon zu Bett ge gangen –, und es fiel mir nicht schwer, zu gewinnen. Ich stand auf und 172
räumte das Brett weg, ohne abzuwarten, daß er es mich tun hieß; erst dann wagte ich mit meiner Frage herauszurücken. »Großvater, versucht James Ferguson Cluain zu kaufen? Er hat mir gesagt …« Er unterbrach mich. »James Ferguson wird Cluain nie kaufen. Au ßerdem ist es nicht deine Sache, Kirsty.« Ich war nicht beleidigt und zündete betont langsam meine Kerze an. »Er hat mich einmal gebeten, dir etwas auszurichten, und ich habe mich geweigert. Ich habe ihm dasselbe gesagt wie du eben – Cluain stehe nicht zum Verkauf.« Er blickte mich lange und prüfend an. »Darin hattest du recht. Zwar stand es dir nicht zu, es zu sagen, aber bei Gott, du hattest recht.« Das gute Wetter hielt an. Die Gerste war gemäht, und die Garben trockneten auf den Feldern. Das Einfahren in die Scheunen sollten die Leute aus Cluain allein besorgen, nachdem die Wanderarbeiter fort waren. Am letzten Abend wurde im sauber gefegten Gutshof ein lan ger Tisch aufgestellt, und aus der Küche kamen solche Berge von Nah rung, wie ich sie noch nie gesehen hatte: riesige Hammelkeulen und Schweinsbraten, ganze Schinken, Puten und Gänse, Blaubeeren- und Apfelkuchen, Sahne und Zucker, Eistorte mit Kognak. Alle, die an der Ernte teilgenommen hatten, saßen um den Tisch herum, auch die klei nen Kinder, die nur hinter ihren Eltern hergelaufen waren. Whisky und Bier gab es unbegrenzt. »Sie können ja ihren Rausch ausschlafen«, sagte Angus Macdonald. »Aber der Abend wird ihnen in guter Erinne rung bleiben, und wenn ich sie nächstes Jahr brauche, kommen sie alle wieder. Die Faulen habe ich mir gemerkt, die waren zum letztenmal in Cluain!« Warum mußte er aus seiner Großzügigkeit immer einen Nut zen ziehen? Ich beobachtete, daß er sich selbst an diesem Abend nicht leutselig gab; er gönnte ihnen nicht einmal ein väterlich stolzes Lä cheln. Nie würde sein Gesicht so triumphierend strahlen wie das von James Ferguson an jenem Abend in Ballochtorra. Angus Macdonald betrachtete die Welt am Abend genauso kühl wie am Morgen. Morag nahm nicht am Essen teil. Nachdem sie beim Servieren und Abräumen geholfen hatte, stand sie mit einem undurchdringlichen 173
Gesicht dicht hinter meinem Stuhl. Ihr Haar schimmerte rostrot im Licht der Laternen. Sie sah schön aus, aber hart. »Warum sind Sie nicht bei den anderen, Morag?« Der Whisky war schon reichlich geflossen; von irgendwoher hörte man Gesang; auch ein Dudelsackpfeifer war da, und die Paare drehten sich etwas unge stüm zu den Klängen der Hochlandtänze. »Ich mag nicht, Miß, die jungen Männer nehmen sich zuviel heraus, wenn sie Whisky getrunken haben.« »Eines Tages werden Sie sich für einen dieser jungen Männer ent schließen müssen, Morag. Sie wollen doch nicht Ihr Leben lang ledig bleiben – Sie nicht!« »Nein, das will ich sicher nicht, aber ich nehme nur den Mann, den ich will – den und keinen anderen.« Sie beugte sich im Halbdunkel über mich und senkte inmitten der fröhlichen Schreie der Tänzer ihre Stimme zu einem Flüstern. »Warten Sie noch immer auf ihn, Miß? Tun Sie es nicht! Er ist nicht der Richtige für Sie – wird es nie sein. Aber das müssen Sie allmählich selbst gemerkt haben.« Ich hätte fortgehen und sie stehen lassen sollen, aber ich brachte es nicht fertig. »Ich warte auf niemanden, Morag.« »Sie warten, Miß, leugnen Sie es nicht! Sie denken noch immer, daß er zu Ihnen kommt, wenn sie fort ist. Aber es hat keinen Zweck. Haben Sie sein Gesicht in den letzten Wochen gesehen?« »Nein.« »Wenn Sie es gesehen hätten, wüssten Sie, daß ich recht habe. Er ist einem Wahn verfallen, man sieht es ihm an. Er ist nicht mehr er selbst. Er war immer schon anders als die anderen Männer, aber der Unter schied ist jetzt noch größer. Er geht herum, aber er fühlt und sieht nichts … nichts außer ihr! Er reitet nur aus, um sie zu treffen. Sie kom men und gehen getrennt, aber sie treffen sich. Die nächsten paar Tage wird er ohne sie auskommen müssen – ein Vorgeschmack der Qual, die ihm bevorsteht. Sie ist mit Sir Gavin nach Cawdor gefahren; der Chef des Hauses Campbell gibt dort ein großes Fest. Eine solche Ge legenheit läßt sie sich natürlich nicht entgehen, nur wegen eines Ge liebten hier aus dem Tal. Außerdem wird Seine Königliche Hoheit si 174
cher auch nach Schloß Cawdor kommen. Und Callum muß warten. Für Lady Campbell ist es ein netter Zeitvertreib, aber ihm bricht es das Herz. Sie sehen ja, er ist nicht einmal heute abend hierher gekom men. Er verbringt seine ganze Zeit auf dem Moor und läßt seinen Fal ken fliegen und wartet, daß sie zurückkommt. Sie treffen sich in der alten Hütte seines Großvaters – Mairi Sinclairs Vater. Callum hat das Dach ausgebessert. Der Pfad, der dorthin führt, ist so unwegsam und verwildert, daß keiner ihn je benützt; er beginnt gleich oberhalb sei nes eigenen Cottage und führt weit in die Berge hinauf, bis jenseits des Wasserfalles.« »Woher wissen Sie denn das so genau?« Die Frage würgte in mei ner Kehle, aber ich konnte sie nicht unterdrücken. Alles um mich her um versank – der Feuerschein, die Dudelsäcke, die Lieder, die Rufe der Tänzer. Ich hörte nichts außer dem Flüstern an meinem Ohr. »Ich habe Verstand und Augen im Kopf, Miß. Ich bin in Cluain ge boren. In der ganzen Gegend kenne ich jeden Bach und jede Schlucht fast so gut wie Callum Sinclair. Ich bin nicht dumm.« Ich drehte mich zu ihr um und blickte sie an. »Aber Sie halten mich für dumm.« Ein kleines müdes Lächeln spielte um ihren Mund. »Ich glaube nicht, daß Sie leicht eine Dummheit begehen.«
Augenscheinlich hatte Morag keinen jungen Mann gefunden, mit dem sie bis spät in die Nacht bei Whisky und Bier sitzen geblieben war, denn sie war am nächsten Morgen schon früh auf, noch ehe die Kühe zum Melken kamen. Ich sah sie vom Turmfenster aus. Sie hatte sich ganz in ihr Plaid gehüllt, denn die Morgenwinde waren schon frostig und kühl, aber ich erkannte sie an dem schnellen, leichten Gang und an der roten Haarlocke, die ihr ins Gesicht hing. Ich fragte mich nicht, wohin sie wohl zu dieser ungewöhnlich frühen Stunde ging; manch mal war sie Mairi Sinclair nicht unähnlich – beide taten sie ihre Arbeit, aber über ihr Kommen und Gehen legten sie keinem Rechenschaft ab. 175
Und so sah ich sie den Hof überqueren, ohne mir große Gedanken zu machen, auch ohne zu beobachten, welchen Weg sie einschlug. Meine Augen suchten den Himmel nach Giorsal ab, aber die Wolken waren zu niedrig. Der Nebel, der sich vom Ballochtorra-Felsen ins Tal senk te, roch nach Regen und kündete eine Wetterveränderung an. Groß vater würde seine Leute antreiben müssen, das Getreide schnell unter Dach und Fach zu bringen. Aber Cluain und Angus Macdonald hat ten wieder einmal Glück gehabt; die Gerste war zumindest schon ge mäht und würde rasch eingefahren sein. Als der Nebel dichter wurde, dachte ich, daß bald Herbst sein und daß Callum Sinclair wieder hier in der Brennerei arbeiten würde. Aber sofort verfluchte ich diese eit len Gedanken. Doch wie konnte ich nicht an Callum denken – den ganzen Som mer lang hatten meine Gedanken ihn umkreist, während ich versuch te, mich der Welt von Cluain anzupassen. Hatte der Wahn schon am Abend meiner Ankunft begonnen, als ich ihn zum ersten Mal unter den Birken unweit von Ballochtorra sah? Das war nicht möglich – eine vernünftige Frau verliebt sich nicht in einen unbekannten Mann, der im Schatten eines Baumes steht. Aber war Liebe je vernünftig? Doch warum hatte sich mir dieses Bild so unauslöschlich eingeprägt? Und wenn ich jetzt darüber nachdachte, dann war er damals vielleicht ge rade von einem Ausritt mit Margaret Campbell gekommen und hatte zufällig die Rückkehr ihres Mannes beobachtet, die unweigerlich ihre Zusammenkünfte erschweren müßte. Der Gedanke schmerzte mich, und ich hörte wieder Morags geflüsterte Worte. »Sie treffen sich in der alten Hütte seines Großvaters.« Ich glaubte ihr nicht; sie konnten kein ständiges Versteck haben, sie konnten sich nur zufällig begegnen im hohen Ginster oder in den tiefen Felsspalten von Ballochtorra. Aber ich war wie ein Tier, das seine Wunden leckt und den Schmerz nicht zu lindern vermag. Ich wollte alles wissen.
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An diesem Tag blieb ich nach dem Mittagessen noch sitzen und trank Tee, nachdem Großvater schon in sein Büro zurückgekehrt war. Die Wanderarbeiter hatten allmählich ihr nächtliches Fest ausgeschlafen und machten sich mit ihrem Lohn in den Taschen und dem letzten Proviant aus Cluains Küche auf den Weg ins nächste Tal. »Das Wetter schlägt um«, bemerkte Morag, während sie das Ge schirr abräumte. »Ihre nächsten Brotgeber werden nicht soviel Glück haben wie unser Herr.« Ich sah, wie der Steuerbeamte den großen Bil ly und seine Gänseschar wieder aus dem Stall bei den Lagerhäusern herausließ. Der Gänserich griff die letzten Nachzügler mit der ganzen Wut an, die er in den Tagen der Gefangenschaft in sich aufgespeichert hatte. »Viele sind schon in aller Herrgottsfrühe fort, um noch einen Arbeitstag herauszuschinden.« »Sie waren auch sehr zeitig auf den Beinen, Morag.« Sie blickte nicht von ihrer Arbeit auf, sondern belud weiter das Ta blett mit der Terrine, den Tellern, den Messern und Gabeln so laut los und geschickt wie immer. »Die Frau eines der Wanderarbeiter hat te ein krankes Kind, und Mrs. Sinclair schickte mich mit Medizin für den Kleinen zu ihr. Die Familie brach früh auf, und Mrs. Sinclair hat noch gestern abend die Tinktur für sie zubereitet. Ich erledige oft sol che Gänge für sie. Obwohl sie soviel von Kräutern versteht, hat sie eine ungeschickte Art, mit Fremden umzugehen.« Ich nickte. Sicher stimmte es. »Merkwürdig«, sagte ich – eigentlich nur, um nicht unhöflich zu wirken –, »all die vielen Menschen fortzie hen zu sehen. Es wird einsam im Tal sein, wenn sie weg sind.« »Ach nein«, erwiderte Morag und warf leicht den Kopf zurück, als sie das Tablett hochhob, »in den nächsten Wochen gibt es hier noch Men schen genug, solange die Jagdsaison andauert. Erst später, wenn es zu schneien beginnt, dann wird es ruhig im Tal. Der Landadel geht nach dem Süden, und Ballochtorra wird bis zum Spätfrühling leer stehen. Sir Gavin wird vielleicht zurückkommen, aber allein, er macht sich nichts aus mondänen Veranstaltungen, aber Lady Campbell ist voller Pläne für die großen Pferderennen.« Mit diesen Worten schloß sie, das Tablett auf einer Hand balancierend, die Tür hinter sich und ließ mich allein. 177
Allein mit meinen quälenden Gedanken, die mir immer unerträg licher wurden. Ich nahm mein Plaid, ging in den Kräutergarten und schritt ihn nach allen Richtungen ab – hin und zurück, hin und zu rück. Der hohe Thymian und der Lavendel nickten mir im Winde zu; aber die Blätter der Heckenrosen fingen schon an zu welken und ab zufallen. Die weiße Katze lief vor mir her. Im Freien wirkte sie ver spielt und jung. Sie versteckte sich zwischen den Beeten und warte te sprungbereit, um mit ihren Pfötchen die wehenden Enden meines Plaids zu erhaschen, aber sie krallte sich nie daran fest. Ich dachte an mein zerfetztes Ballkleid. Wie hatte Mairi Sinclair ein so unschuldiges Wesen als scheinbares Werkzeug der Zerstörung hinstellen können? Was hatte sie wirklich benutzt? Die Klauen eines Kaninchens oder Vogels? Damit hätte sie natürlich jeden täuschen können, der Katzen nicht mochte und ihr Verhalten nicht kannte. Ich blieb nachdenklich stehen. Während ich hier auf und ab ging, hatte ich von Zeit zu Zeit einen Blick in die Küche geworfen und auf die schwarze Gestalt im Stuhl neben dem Küchenherd. Sie war so vertieft in ihre Bibel, daß sie meine Gegenwart anscheinend nicht bemerkte. Es war das erste mal, daß ich sie je sitzen sah, aber schließlich war sie ein Mensch wie wir alle und mußte erschöpft sein. Die Erntezeit war schwer für sie ge wesen, und außerdem hatte sie viele kranke Arbeiter behandelt. Morag wusch im Küchenvorraum die Teller ab und sang dabei. Die Katze zupfte wieder spielerisch an meinem Plaid, und plötzlich fiel mir ein – ich hatte ja gar keinen Beweis, daß gerade Mairi Sinclair ihre Wut an meinem Kleid ausgelassen hatte. Mairi Sinclair, die Katzen liebte und wußte, wie sie sich verhalten. Nein, so plump wäre sie nicht vorgegan gen. Mein Blick wanderte von der in sich gekehrten schwarzen Gestalt am Herd zu dem leuchtendroten Haarschopf am Fenster des Küchen vorraums. Morag liebte Katzen nicht, sie hatte es selbst gesagt. Aber Morag sagte viel und wußte viel. Sie wußte auch, wo sich Callum und Margaret trafen. Ich faßte einen Entschluß. Ich trug mein Plaid, meine hohen Stie fel und den neuen Sergerock, den Morags Tante mittlerweile geschickt hatte. Mehr brauchte ich nicht. Ich öffnete die selten benutzte Tür, die 178
aus dem Kräutergarten auf die Straße und weiter in den Stallhof führ te. Beide Frauen – die eine am Küchenherd und die andere am Fenster des Vorraums – mußten das Zuschlagen der Tür gehört haben. Der Gesang brach ab. Ailis' große Augen begrüßten mich, als ob sie unser Ziel bereits ahn te – wenn dem so war, mußte sie mich für verrückt halten. Ich legte ihr den Herrensattel auf und beeilte mich, ihn festzuschnallen, ehe mir der Stallknecht zu Hilfe kam. Wenn der Weg wirklich so steil war, wie Morag ihn beschrieben hatte, und man den Bach in der Nähe des Was serfalls durchwaten mußte, dann konnte ich unmöglich im Damen sattel reiten, sondern würde beide Steigbügel brauchen. Der große Bil ly verhielt sich ruhig, als ich an den Lagerhäusern vorbeitrabte. Entwe der hatte er sich schon in der Frühe verausgabt, oder er hatte kein In teresse mehr für mich.
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lles war genauso, wie Morag gesagt hatte. Gleich hinter Callums Cottage verengte sich der Weg zu einer schmalen Spur, die steil anstieg und sich zwischen Geröll und Steinen am Bachufer entlang zog. Nach dem langen trockenen Sommer floß das Wasser nur spär lich, aber ich konnte mir vorstellen, wie reißend es nach dem Tauwet ter im Frühjahr oder nach einem Gewitterregen sein mußte. Wir klet terten immer höher; das Tal wurde schmäler, fast schluchtartig, und das Wasser floß grünlich über den moosbedeckten Felsengrund. Je nä her ich der Hütte kam, desto karger wurde die Erde. Es war ein armes, ausgehungertes Land, von dem Mairi Sinclairs Vater hatte leben müs sen. Der Wasserfall war nur ein kümmerliches Geriesel, aber beim Aufschlagen bildete sich doch ein schäumender kleiner Strudel. Die verkrüppelten Bäume zu beiden Seiten des Baches berührten sich fast. 179
Ich wunderte mich, die dunklen, sichelblättrigen Schildfarne und die empfindlichen Lorbeerblätter hier zu sehen; der Platz mußte sehr ge schützt sein. Die Furt lag etwas unterhalb des Strudels, und wäre Ailis nicht so trittsicher und das Wasser so niedrig gewesen, wäre ich nur ungern durch, den Bach gewatet, denn unterhalb der Furt fielen die Felsen gleich wieder steil ab. Aber Ailis trug mich ruhig und besonnen hinüber, als ob sie den Weg kannte, und fand auf der anderen Seite auch sofort die Fortsetzung des Pfades. Der Boden war hart wegen des trockenen Wetters; trotzdem merkte man, daß der Weg benutzt wur de. Endlich kamen wir aus der Schlucht heraus in Gelände, das baum los, windverweht, nur mit Ginster bewachsen war. Der Ginster war so hoch, daß ich nicht über ihn hinwegsehen konnte, und ohne den kaum sichtbaren Pfad hätte ich die Hütte nie gefunden. Es war eine winzige Hochlandhütte, die aus zwei Zimmern bestand. Die Ritzen zwischen den unbehauenen Steinen waren mit Lehm ge füllt. Die scharfen Winde und der Regen hatten über die Jahre den größten Teil des weißen Zementbewurfs abgetragen. Der Ginster wuchs fast bis vor die Tür. Ehe ich absaß, blickte ich lange und auf merksam um mich und dachte an Mairi Sinclair, die hier geboren war, die ihr ganzes Leben lang diesen steilen Pfad heraufgegangen war. Ich entsann mich, daß ihr Vater sie nach Morags Schilderung fast totge prügelt hatte, und dachte, wie schrecklich der steile Abstieg durch die Furt unter der Last des noch ungeborenen Kindes gewesen sein mußte. Jetzt, nachdem ich diese grimmige, karge Umgebung sah, wo sie vom Kind zur jungen Frau herangewachsen war und wo man ihr diese gra nitartige Härte anerzogen hatte, verstand ich vieles an ihr besser. Ihre Härte und Leidenschaft, das Festhalten an ihren Ansichten, an dem, was sie liebte, an dem, was sie hasste. Ich glitt von Ailis' Rücken herunter und führte sie zum hinteren Teil der Hütte, der provisorisch als Stall diente; das spitz zulaufende, halb verfallene Dach war hier flüchtig mit Stroh ausgebessert. Der Stall war vor kurzem benützt worden – das bezeugten die frische Strohunter lage und der frische Pferdekot auf dem Boden –, der ordentliche Cal lum würde ihn nie für lange Zeit liegenlassen. Zwei Ringe waren in die 180
dicke Mauer eingelassen, die die Hinterseite des Kamins im anderen Zimmer bildete. Sogar ein Sack mit Futter war vorhanden. Der Bogen, der vom Stall zum Zimmer führte, war erst kürzlich zugemauert und mit Lehm beworfen worden. Ich band Ailis lose an und ging zur Ein gangstür, von der törichten Idee besessen, alles sehen zu müssen. Das morsche Holz der Tür war ersetzt und die Türbalken abgestützt wor den; sogar ein neuer Riegel war da, obwohl es kein Schloß gab. Das In nere war leer – aber es war eine Leere, die erfüllt war von der Gegen wart derjenigen, die vor kurzem hier gewesen waren. Das Strohdach war an ein paar Stellen undicht, aber an anderen wirkte es ganz solide; offenbar genügte es, um den Sommerregen abzuhalten. Die Steinmau ern waren neu geweißt und ohne Staub und Spinnweben. Der Boden bestand aus hartgetretener Erde, war aber mit einer sauberen Stroh schicht belegt. Die winzigen alten Fenster waren abgedichtet, damit keine Vögel oder Kriechtiere eindringen und das Innere beschmut zen konnten. Ich betrachtete das alles mit stummer Resignation; am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, aber ich konnte es nicht. Ich brauchte nicht einmal die Asche im Kamin zu berühren, um zu wis sen, daß sie frisch und fein wie Pulver war: In der Luft hing noch der Geruch von kürzlich verbranntem Torf. Ich sah Margaret und Callum so deutlich vor mir, als ob sie hier seien, Hand in Hand, ihre weißen Körper auf dem sauberen Stroh, die Leidenschaft auf ihren Gesichtern. Ich verließ die Hütte und zog die Tür sorgfältig hinter mir zu. Später konnte ich mich nicht erinnern, wie lange ich noch draußen gestanden hatte, um das Gesehene zu verdauen. Die letzten Illusionen und Zweifel waren geschwunden. Margaret Campbells Gefühle waren mir gleichgültig, aber daß Callum so weit gegangen war, bewies mir nur, daß er sich selbst verloren hatte. Meine Annahme, daß er mir ge hören würde, wenn ich nur lange genug warten würde, war falsch ge wesen. Für mich würde er nie den Erdboden liebevoll mit Stroh ausle gen, für mich würde nie im Kamin Torf brennen. Ich begriff das alles, vorerst nur vage und verschwommen, aber ich wußte, daß mit der Zeit der Schmerz immer stärker und unerträglicher werden würde. Halb blind und unsicher schwankend wie eine Idiotin ging ich zum Stall 181
und riß mit einer groben Bewegung Ailis' Kopf aus dem Futtersack; irgendwie war ich empört, daß sie etwas fraß, was ich ihr nicht gege ben hatte. »Du gieriges Biest! Als ob du nicht genug in Cluain hast!« Sie sah mich entrüstet an und verließ den Stall betont langsam, als wollte sie mich für meine Ungeduld strafen. Aber als ich auf ihrem breiten Rük ken saß, schlang ich die Arme um ihren Hals, lehnte mich nach vorn und küßte sie leicht zwischen die Ohren. »Ich verstehe dich, Ailis, auch für mich hat Cluain nicht genug.« Wir waren bereits fast an der Furt, als ich spürte, was ich normaler weise schon früher gemerkt hätte: die Stute zitterte an allen Gliedern. Ihr gleichmäßiger Gang wurde immer unsicherer; sie schleppte sich nur noch mühsam vorwärts, als wären ihre Hufe bleischwer, als hät te sie Angst vor dem nächsten Schritt. Am Bach angelangt, sträubte sie sich, ins Wasser zu gehen; sie schüttelte verneinend den Kopf, ihre ganze Kraft schien sie verlassen zu haben. Ich glitt von ihrem Rücken und streichelte sie. Ich konnte nicht begreifen, weshalb ich nicht schon früher den Schweiß auf ihrem Fell gesehen hatte. »Ailis, was ist los mit dir?« Die sonst so wissenden, klugen Augen blickten mich müde und verständnislos an. Ich führte sie unendlich vorsichtig über die Steine der Furt; mein Rock wurde klitschnass. Sie zögerte bei jedem Schritt. Irgend etwas mußte sie zu Tode erschreckt und verwirrt haben. Das Wasser sah plötzlich tiefer aus und die Felsen jenseits der Furt höher und drohen der. Aber wir gelangten ans andere Ufer, vor uns lag der stark abschüssige Weg. Ich zitterte jetzt nicht weniger als Ailis, spürte aber eine nervöse, verzweifelte Energie in mir, die sie nicht hatte. Ich wagte weder aufzu sitzen noch das Tempo zu beschleunigen. Der Weg war so uneben, daß ich fürchtete, ich könnte ihren schweren kleinen Körper nicht mehr hochziehen, wenn sie ausglitte. Ich nahm mein Plaid, faltete es und legte es ihr über den Rücken. Während des langen Abstieges betete ich, daß ich Callums Hund bellen hören und Rauch aus dem Schornstein aufsteigen sehen würde. 182
Doch sein Haus war so leer und still wie zuvor. Ich rief ein paar Mal laut seinen Namen, aber als ich keine Antwort erhielt, setzte ich mei nen Weg fort, ohne Zeit zu verlieren. Ailis folgte mir gehorsam, und ich hatte das Gefühl, daß wir unter keinen Umständen stehenbleiben durften, sonst würde ihr der Wille zum Weitergehen fehlen. Ihre Au gen drückten nur müdes Erstaunen aus, als wir endlich die Kreuzung erreichten, wo der Pfad von Callums Cottage auf die Straße einmün dete. Trotz ihres Zustandes erkannte sie die Stelle wieder, und viel leicht gab ihr die Oberfläche der Straße, von der sie wußte, daß sie di rekt nach Cluain und zum Stall führte, etwas Mut. Sie hob den Kopf und blickte mich an. Ich flüsterte ihr aufmunternd zu: »Bald sind wir zu Hause, Ailis, zu Hause!« Aber auf der ebenen Straßenoberfläche war ihr unsicherer Gang noch deutlicher zu merken. Die Leute traten aus den Türen ihrer Häuser, als wir vorbeikamen, und viele boten mir an, Ailis zu beherbergen. Aber ich wußte, daß sie ihr eigener Stall am ehesten beruhigen würde, und so zwang ich sie zum Weitergehen. Eine Frau schickte ihren Sohn mit, um mich das restliche Stück des Weges zu begleiten. Mit seiner starken jungen Schulter stützte er Ailis auf der einen Seite und ich auf der anderen. Endlich gelangten wir an den Lagerhäusern vorbei in den Stallhof. Ich hatte den Jungen vorausgeschickt, um Bescheid zu sagen, und so war die Stalltür schon offen und Ailis' Stand mit frischem Stroh ausgelegt. Der Stallknecht rannte uns entgegen und nahm ihr den Sattel und das Zaumzeug ab. »Ruhig, meine Gute, ruhig«, murmelte er und dann zu mir gewandt: »Was ist los, Miß?« Ich schüttelte den Kopf. »Bitte, John, legen Sie sie hin! Geben Sie ihr vorläufig nichts zu fressen, und auch kein Wasser.« Und dann rannte ich los, als ob ich meine ganze aufgespeicherte Un geduld und Angst dadurch loswerden könnte. Ich riß die Küchentür auf. Mairi Sinclair deckte gerade den großen, gescheuerten Tisch, an dem sie und Morag zu essen pflegten. Sie blickte mich an. »Mrs. Sinclair, bitte kommen Sie sofort. Es ist Ailis. Mit ihr ist irgend etwas Schreckliches geschehen, sie ist krank!« 183
Die dunklen Augen musterten mich ein paar Sekunden lang, dann nickte sie. Ihre Ruhe gab mir eine wunderbare Sicherheit. »Ich hole nur das Notwendige.« Ihr Blick verriet weder Wissen noch Erstaunen. Sie reagierte instink tiv und paniklos wie jeder erfahrene Helfer; statt dessen stieß Morag einen erstickten Schrei aus, aber es war nur ein kleiner Schmerzens laut, weil sie mit der Hand eine heiße Pfanne berührt hatte, nicht ein Ausdruck von Mitgefühl. Aber ich hatte die Küche schon wieder ver lassen; Mairi Sinclair griff nach den Schlüsseln zum Kräuterzimmer und legte ihr Plaid um. Zum ersten Mal, seit ich in Cluain war, verfolgten wir einen gemein samen Zweck … Wir verbrachten die ganze Nacht bei Ailis – Mairi Sinclair und ich. Zuerst hockte sie sich neben das Tier, befühlte es, öffnete ihm Maul und Augenlider und legte ihre Hand und ihr Ohr an Ailis' Herz. Dann richtete sie sich auf und blickte eine Weile wortlos auf die kranke Stute, aber sie nahm keine Arzneien aus dem Korb, den sie aus dem Kräuter zimmer mitgebracht hatte. Sie hob den Kopf erst, als der Schatten An gus Macdonalds auf sie fiel. »Ich weiß nicht, was es ist, Herr. Die Symptome sind ganz eigenartig bei dem Tier – das eine widerspricht dem anderen. Das Herz schlägt schnell, und dabei ist sie matt. Ich wage ihr nichts zu geben, das Ganze übersteigt mein Wissen, und was ich nicht verstehe, erschreckt mich. Sie müssen nach einem Tierarzt schicken, Herr.« »Aber wieso, Mrs. Sinclair? Wo bleibt Ihr Mut? Sie haben doch schon so viele Tiere gerettet, die von den Tierärzten aufgegeben waren.« Sie ließ sich nicht erweichen. »Ich gebe meine Arzneien, wenn ich zu wissen glaube, was dem Tier fehlt. Wenn ich keine Ahnung habe, sage ich es. Und jetzt sage ich, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Sie sehr an ihm hängen.« »Meine Enkeltochter hängt sehr an Ailis, Mrs. Sinclair. Ich vertraue auf Ihr Können. Wir werden bis zum Morgen warten, ehe wir den Tierarzt holen. Heut abend wird er sowieso nicht mehr kommen, und wenn er zu tief in die Flasche geguckt hat, ist es besser, er kommt überhaupt nicht.« 184
»Sie bürden mir eine große Verantwortung auf, Herr.« Er blickte auf sie hinunter, und sein Gesicht war hart. »Und wann hätte Ihnen Cluain keine Verantwortung aufgebürdet, Mistreß? Das ist nichts Neues.« Und damit verließ er uns. Ich erinnere mich, daß Morag uns etwas zu essen brachte und einen heißen Tee. Mein Großvater schickte sogar eine Flasche Whisky mit, den Mairi Sinclair ablehnte, aber ich nicht. Wir saßen auf Hockern im Stall, und als es dunkel wurde, kam der Stallknecht mit einer Later ne, die er zwischen uns stellte. Bevor Morag schlafen ging, brachte sie Mairi Sinclair die Bibel, und sie las darin, die Seiten dicht unter das Licht haltend. Aber schon nach kurzer Zeit sah ich, daß sie aufgehört hatte zu lesen; ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie auswen dig die endlosen Verse aufsagte. Sie brauchte kein Lampenlicht. Ailis vermochten wir nicht zu helfen; wir konnten ihr nur unsere Ge genwart spürbar machen. Ihr Zustand blieb unverändert. Von Zeit zu Zeit zitterte sie, ihre Augen blieben geschlossen, und sie schwitzte hef tig unter den Decken. Mehrere Male stand Mairi Sinclair auf, kniete ne ben dem Tier nieder, um die Herzschläge abzuhören und die Augenli der hochzuziehen. Dann ging sie zu ihrem Hocker zurück und nickte mir kurz zu. »Sie hält noch durch.« Wenn ich mich über Ailis beugte, um ihren schwitzenden Körper zu streicheln, bewegte sie schwach ein Augenlid, und einmal versuchte sie sich sogar aufzurichten. Aber so fort war Mairi Sinclair neben ihr, und zusammen zwangen wir sie, sich wieder hinzulegen. Als sie sich beruhigt hatte, ging ich in den dunklen Stallhof, um mir die Beine zu vertreten und meine kalten, verkrampften Glieder aufzuwärmen. Mairi Sinclair schien keine Bewegung zu brau chen. Einmal in der kältesten Stunde der Nacht nahm ich einen kräfti gen Schluck Whisky und erwartete, daß die Augen der Frau mich miss billigend ansehen würden, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie hatte ihr Plaid um den Kopf geschlagen und wirkte wie die zeitlose Figur ei ner Frau am Krankenbett, die weiß, daß nur die Zeit über Leben oder Tod entscheiden kann. So hatte sie sicher oft in ihrem Leben gewartet. Dann stellte ich ihr über den Schein der Laterne hinweg die geflü sterte Frage: »Saßen Sie so bei William?« 185
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Bruder mochte mich nicht, Miß, es be ruhigte ihn nicht, mich an seinem Bett zu wissen.« Sie sagte es so, als ob es selbstverständlich war, daß ihre Gegenwart für gewisse Men schen nicht gut war. Sie nahm es stoisch hin wie alle anderen Dinge. »Es war Morag, die bei ihm saß und ihn pflegte. Ich dachte, es wür de ihm etwas helfen, ein junges Gesicht um sich zu sehen. Sie war sehr aufopfernd.« Mehr sagte sie nicht. Ich hockte auf meinem Schemel, in ein Plaid und eine Decke gehüllt. Vor der Morgendämmerung mußte ich einge schlafen sein. Ich erwachte erst, als ich die Hand von Mairi Sinclair auf meiner Schulter spürte und sie sich nahe zu mir beugte. Ich erschrak. »Ailis?« »Sie hat's geschafft. Sie schläft gut, das Herz schlägt normal, und sie schwitzt nicht mehr. Ich kann ihr jetzt einen Brei aus Kleie kochen, un ter den ich ein kleines Beruhigungsmittel mische. Die nächsten vier undzwanzig Stunden soll sie sich ausruhen. Nachdem ich sie gefüttert habe, werde ich Morag sagen, daß sie Ihr Bett anwärmt, Miß. Auch Sie haben Ruhe nötig.« Mein Großvater kam aus seinem Zimmer, als ich die Treppe hinauf ging. Ich hatte ihn noch nie zuvor in seinem langen Flanellnachthemd gesehen; statt eines Morgenrocks hing ein Plaid von seinen Schultern. Vielleicht hatte er die Nachtstunden am Fenster seines Schlafzimmers verbracht und das Licht im Stallhof beobachtet; vielleicht sah er nur die Tränenspuren auf meinem Gesicht und ein Gemisch von Erleich terung und Müdigkeit. »Es wird nicht die letzte lange Nacht sein, die du in Cluain schlaflos verbringst, Kirsty. Du hast noch vieles zu lernen, Mädchen.«
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ch kam erst zum Mittagessen, nachdem Großvater schon fort war. Meine Augenlider waren noch immer schwer, und ich fühlte mich merkwürdig gefühllos. Am liebsten hätte ich meiner Müdigkeit nach gegeben, um nicht denken zu müssen; denn die Gedanken erweckten nur Erinnerungen, und die Erinnerungen brachten den Schmerz zu rück. Ehe ich mich zum Essen niedersetzte, besuchte ich Ailis im Stall. Sie stand schon wieder ziemlich fest auf den Beinen, sah aber leicht be kümmert aus. Wahrscheinlich hatte ihr Mairi Sinclair am Morgen das Futter knapp bemessen, und sie war hungrig. Ich wagte nicht, ihr Ha fer zu geben, sondern strich ihr nur über die Nüstern und gab auswei chende Antworten, als der Stallknecht John sich über die möglichen Gründe ihrer Krankheit ausließ. Mir fiel wieder ein, daß mich Mairi Sinclair in der Nacht nur danach gefragt hatte, ob Ailis irgendwo auf dem Wege gegrast hätte, und das hatte ich wahrheitsgetreu verneinen können. Ich wußte, ausgiebigere Fragen würden noch kommen, und dann müßte ich vielleicht zugeben, wo ich gewesen war. Aber nachdem sich Ailis wieder erholt hatte, fühlte ich mich nicht mehr verpflichtet, jemand von meinem Ritt zu der Hütte über dem Wasserfall zu erzäh len – auch nicht Großvater oder Mairi Sinclair. Ich war vom Laut fallenden Regens erwacht – ein typischer Landre gen, der ohne Wind kommt und nicht mit den Wolken verschwindet. Der Hof war voller Pfützen, die Brennerei wirkte wie ausgestorben, und auch der große Billy schien seine Gänse im Stall zu halten. Als ich aus dem Stall zurückkam, schüttelte ich in der Küchenvorhalle mein großes nasses Cape ab und hatte ein schlechtes Gewissen, Mairi Sin clairs saubergeschrubbten Fliesenboden zu verunreinigen. An solchen Tagen wird man schmutzig, wo man geht und steht. 187
Morag brachte mir heiße Suppe und Schmorfleisch; beides hatte sie auf dem Herd für mich warmgehalten. Es war schon ziemlich spät, und der Nachmittag kam mir nach den goldbesonnten Erntetagen be sonders dunkel vor. Ich konnte mir jetzt gut vorstellen, wie es hier im Winter aussehen würde. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, nickte Morag in der Rich tung des Fensters und des herabrauschenden Regens. »Ja, Miß, ich glaube, der Sommer ist vorbei. Gut, daß die Gerste schon eingebracht ist. Jetzt werden die Tage schnell kürzer.« Sie nahm den leeren Suppen teller weg und legte mir das Fleisch auf. »An solchen Tagen bleibt je der gern zu Hause.« Als sie den Teller vor mich hinstellte, antwortete ich mutiger, als ich mich fühlte: »Ja, weiß Gott, es ist heute wirklich kein Vergnügen, drau ßen zu sein.« Ich machte mich über das dampfende Fleisch her. »Aber nicht alle lassen sich abschrecken. Ich sah gerade Lady Campbell auf ihrer Stute den Fluss entlangreiten. Sie muß ganz durchnäßt sein, die Arme. Vielleicht macht sie sich gar nicht soviel aus Festen, wie Sie den ken, Morag. Sir Gavin und sie müssen gleich nach dem Empfang in Cawdor wieder abgefahren sein.« »Lady Campbell?!« Der Topfdeckel klapperte, als sie das Fleisch wie der zudeckte. »Lady Campbell? Sind Sie sicher, Miß? Ich lass das Fleisch hier für Sie stehen, für den Fall, daß Sie noch etwas haben wollen. Ich muß das Gemüse fürs Abendbrot putzen.« Als ich jedoch das Geschirr durch die Küche in den Vorraum trug, war sie nicht zu sehen. Die Mohrrüben und der Kohl lagen unberührt da. Aber ihr Plaid hing nicht auf dem Haken im Küchengang.
Vielleicht war ich an diesem Nachmittag vor dem Kamin eingedöst. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, daß ich das Feuer angezündet und mich davor gesetzt hatte, irgendeine Handar beit im Schoß, die mich langweilte. Ich trug meine roten Hausschu he und hatte mir den Kaschmirschal um die Schultern gelegt; so woll 188
te ich warten, bis Großvater heimkam. Es war merkwürdig, daß ich gerade diesmal Callums Kommen nicht hörte, wo ich doch sonst sein Auftauchen immer vorausahnte. Ich fuhr erst hoch, als ich ein lautes Klopfen an der Eingangstür vernahm. Die Handarbeit glitt zu Boden; ich wartete nicht, bis Mairi oder Morag öffnete, sondern rannte selbst zur Tür. Callum saß auf seinem Pferd. Er war barhäuptig, und der Regen strömte ihm über das Gesicht. Der triefendnasse, schmutzige Hund winselte und preßte sich mit hängendem Schwanz schutzsuchend ge gen die Eingangstür. Ich hob langsam den Kopf, und meine Augen blieben auf Callums Gesicht haften. Ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen; seine Züge waren zu einer grauenvollen Maske des Lei dens erstarrt. »Die Stute hat sich das Bein gebrochen. Sie liegt an der Furt und schreit und kann leicht ertrinken. Schicken Sie jemand mit einem Ge wehr hin, um sie zu erlösen. Am besten John, er wird wissen, wo es ist – genau unter dem Wasserfall auf dem Weg zur alten Sinclair-Hüt te, oberhalb von meinem Cottage. Sagen Sie, er soll die Stute erschie ßen und sie liegenlassen; ich schaffe sie selbst weg.« Ich brachte kein Wort heraus. Seine linke Hand hielt die Zügel, im rechten Arm lag eine reglose Gestalt. Das Tweedcape, in dem ich sie früher am Nachmittag den Fluss entlangreiten sah, bedeckte jetzt ih ren Kopf und ihr Gesicht. Unter dem mir so bekannten rotbraunen Reitkleid sahen die beschmutzten Spitzen des Unterrocks hervor. Die eleganten Reitstiefel, die sich den zarten Knöcheln weich anschmieg ten, hingen schlaff herab. Nie werde ich den trostlosen Anblick verges sen, wie der Regen von den Absätzen rann. »Margaret …?« »Tot. Ich bringe sie nach Ballochtorra.« Er zog die Zügel an, und das Pferd setzte sich langsam in Bewegung; wie immer lief der Hund hinterher, aber nicht ganz so dicht wie sonst, um den Schmutz zu vermeiden, der von den Pferdehufen aufspritz te. Sie verschwanden im Regen wie hinter einem dichten Vorhang. Ich blieb wie versteinert in der Tür stehen; aus der Dachrinne tropfte das 189
Wasser auf mein Haar. Ich öffnete den Mund. Ein unheimlicher ge dehnter Laut entrang sich meiner Kehle; es klang fast wie das Jaulen eines Hundes.
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Neuntes Kapitel
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n den nächsten zwei Tagen regnete es noch immer, aber nicht mehr so stark wie an dem Tag, an dem Margaret verunglückt war; es war nur noch ein sanftes Nieseln. Allmählich gelangten die Gerüchte auch bis zu uns, aber sie wurden in Cluain totgeschwiegen. Schließlich be trafen sie Mairi Sinclairs Sohn, und sogar Morag hütete ihre Zunge. Auch Großvater sprach noch weniger als sonst, und unsere mit wüten der Konzentration gespielten Schachpartien gingen schnell zu Ende. Ich sagte früher als üblich gute Nacht, und wenn ich ins Turmzimmer kam, hatte Morag schon alles hergerichtet und erfand auch keinen Vorwand, um ein wenig zu plaudern. Auch tagsüber hörte man keinen Gesang mehr aus dem Küchenfenster dringen, und es kam seltener je mand, um sich bei Mairi Sinclair Rat zu hören. Es schien, als scheuten sich die Leute, über diesen neuen schrecklichen Schicksalsschlag mit ihr zu sprechen oder ihr auch nur in die Augen zu sehen. Und dennoch war Mairi Sinclair noch in der Nacht desselben Tages, an dem Callum Margarets Leiche an die Tür gebracht hatte, im strömenden Regen fortgegangen, um der jungen Frau eines Brennereiarbeiters bei der Niederkunft zu helfen. In dem Häuschen wußte niemand von dem Vorfall, und man unterhielt sich ganz normal – so normal, wie es eben in Gegenwart der geachteten, aber auch gefürchteten Haushälterin von Cluain möglich war. Sie war so ruhig und geschickt wie immer gewe sen, hatte aus Cluain ihr eigenes sauberes Leinen mitgebracht, von dem 191
sie ein Laken in eine Karbollösung tauchte und in die Türöffnung zu dem kleinen Zimmer hängte, in dem das Kind geboren wurde. Die Großmutter beklagte sich über das viele Wasser, das heiß gemacht wer den mußte, und war empört, daß sie die Mutter nicht berühren durfte, ehe sie sich die Hände gewaschen oder den von Mairi Sinclair mitge brachten Leinenkittel angezogen hatte. Als die junge Frau in Wehen schrie, gab ihr Mairi Sinclair zur Beruhigung Bilsenkrauttee. In der Morgendämmerung – so erzählte man sich –, als das Neuge borene schon gebadet war und friedlich schlief, klopfte Callum Sin clair bei dem Häuschen des Arbeiters an die Tür. Er lehnte es ab, ein zutreten, und Mairi Sinclair stand im Regen auf der Straße, um kurz mit ihm zu sprechen. Als sie wieder ins Haus kam, schien sie unverän dert – aber wann konnte man ihr schon etwas ansehen! Sie kümmerte sich weiter um die Mutter, wusch und legte sauberes Leinen bereit, und schließlich braute sie noch einen heißen Trunk, damit die junge Frau einschlafen und sich erholen konnte. Vor dem Weggehen rückte sie die Wiege so, daß der Blick der Mutter beim Erwachen auf das Baby fiele. Die junge Frau lag nun entspannt und ohne Schmerzen da und sagte zu Mairi Sinclair: »Ich werde ihn Callum nennen.« »Nein, nicht Callum, jeder andere Name ist besser.« Sie erklärte die se Antwort nicht. Beim Abschied gab sie dem Vater des Kindes noch die notwendigen Anordnungen: er solle das Feuer nicht ausgehen lassen, die Fenster of fen halten und aufpassen, daß seine Mutter nicht ihre Pfeife über der Wiege rauche und daß niemand die Mutter oder das Kind anfasse, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben. Der junge Vater ergriff dankbar ihre Hand und bot ihr stotternd ei nen schwarzen Schal als Geschenk an, den seine Frau gestrickt hat te, weil sie wußte, daß Mairi Sinclair kein Geld annahm. Aber Mairi schüttelte ablehnend den Kopf. »Ihre Mutter wird ihn diesen Winter gebrauchen können.« »Dann erlauben Sie mir, daß ich Sie nach Cluain zurückbegleite.« Mairi Sinclair sah ihn einen Moment lang an, und er schwor später, daß er diesen Blick bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. In 192
ihren Augen, sagte er, hätte ein Schmerz gebrannt, der größer gewe sen wäre als der seiner Frau in den schlimmsten Wehen. »Nein, vie len Dank, ich gehe allein. Es wird schon hell. Und was kann mir noch passieren …?«
Ich hörte diese Geschichte vom Stallknecht John und vom Zollbeam ten Neil Smith, aber auch von anderen, die nicht direkt mit Cluain zu tun hatten und vielleicht hofften, daß ich ihnen meine Version von Mairi Sinclairs Äußerungen oder Gedanken geben würde – als ob ir gend jemand wüsste, was sie dachte. Die meisten Geschichten kamen zuerst aus Ballochtorra von den Dienstboten und wurden dann von Haus zu Haus weitergegeben und ausgeschmückt, bis sie Cluain er reichten. Den Anfang dieser Geschichte bildete natürlich Callums Auftau chen in Ballochtorra, als er mit Margaret im Arm in den Stallhof ge ritten kam und Hilfe herbeirufen mußte, weil er nicht allein vom Pferd steigen konnte. Sie erzählten, er hätte ihre Leiche erst aus den Armen gelassen, als er sie auf ihr Bett legte. Er hatte selbst ein Handtuch ge nommen, das kalte, feuchte Gesicht abgetrocknet und auch versucht, das Haar zu ordnen. Dann war er nach unten gegangen, um auf Gavin zu warten. Was zwischen den beiden Männern gesprochen wurde, als man Gavin endlich gefunden hatte, hat keiner gehört, nicht einmal der aufmerksamste Lauscher. Keiner der beiden Männer erhob auch nur einen Moment lang die Stimme – was meiner Meinung nach nichts Gutes verhieß. Das Gespräch kam zu einem abrupten Ende, als Jamie plötzlich aufschrie. Er hatte erfahren, was mit seiner Mutter gesche hen war, noch bevor Gavin Zeit gefunden hatte, es ihm zu sagen. Die ser Schrei muß Callum noch in den Ohren gegellt haben, als er schon wieder auf der dunklen Straße war. Aus dem Stall von Cluain und ei nem der Häuser nahm er sich je einen Jungen mit und ritt mit den bei den zu der Stelle unter dem Wasserfall, wo Margarets Stute lag. John hatte sie schon ein paar Stunden früher mit einem von Großvaters Ge 193
wehren erschossen und wartete nun im Cottage auf Callum. Zu viert machten sie sich auf, um nicht weit von Callums Cottage ein tiefes Loch zu graben. Es war bei dem strömenden Regen eine harte Arbeit, und der Boden der Grube war bald mit Wasser bedeckt. Callum ging zu seiner Hütte zurück und brachte für die anderen Whisky – auch die Jungen bekamen ihren Teil; aber er selbst, erzählte man sich, habe kei nen Tropfen getrunken. Als die Grube gegraben war, schickte Callum alle drei nach Hause und sagte, er würde das übrige allein machen. Er habe Gavin Campbells Erlaubnis, die Stute zu begraben. Das hatte ich gehört, und das wußten alle, aber das andere wußte nur ich – und Mairi Sinclair. Sie kam am nächsten Morgen zu mir, als ich länger als sonst am Frühstückstisch saß. Morag hatte alles außer meiner Tasse Tee ab geräumt und mehr Torf als üblich aufs Feuer gelegt, weil es draußen schon recht kalt war. Sie hatte fast nichts gesagt, was ungewöhnlich für sie war. Ich blieb sitzen und hoffte, die endlosen Stunden des Ta ges würden leichter zu füllen sein als die schlaflosen Stunden der ver gangenen Nacht. Sollte ich nach Ballochtorra reiten, um Gavin zu se hen? Davor schreckte ich zurück. Sollte ich einfach nur ausreiten, bis ich müde wurde, damit ich schlafen könnte? Aber Ailis war noch nicht ganz gesund. Ich fühlte ein trockenes Prickeln unter den Augenlidern und versuchte sie zu schließen, aber es gelang mir nicht. Und da fiel mir die einzige Person ein, die mir helfen konnte. Sie hatte in ihrem Kräuterzimmer Mittel, die mir Schlaf geben und meinen Schmerz et was lindern würden. Aber gerade sie wollte ich um nichts bitten; ich brachte es nicht über mich. Aber sie kam von selbst. Sie betrat ruhig das Esszimmer und schloß geräuschlos die Tür. Sie beugte sich über mich und sprach sehr leise. Ich wußte natürlich, wo sie die ganze vorige Nacht gewesen war – Morag hatte es beim Abendessen erzählt, während sie am Morgen nur kurz berichtet hatte, daß sich die junge Mutter wohl fühle, das Kind gesund und kräftig sei und daß Mrs. Sinclair vor dem Frühstück zu rückgekommen und schon wieder bei der Arbeit in der Küche sei. Mai ri Sinclairs Hagerkeit rührte vermutlich von den schlaflosen Nächten 194
her, die sie auf diese Weise verbracht hatte, ohne sich hinterher ein we nig Ruhe zu gönnen. »Miß, kann ich einen Moment mit Ihnen reden?« Unwillkürlich stand ich auf – die Situation schien es zu verlangen. »Was ist denn, Mrs. Sinclair?« »Ich habe heute morgen in aller Frühe mit meinem Sohn gesprochen. Er hat mir dies hier übergeben.« Sie hob ihre Hand, und ich erkannte den Lederbeutel wieder, in dem Callum das Fleisch für Giorsal aufhob, für den Fall, daß der Falke keine Beute fing und zurückgelockt werden mußte, um gefüttert zu werden. »Was soll das heißen? Ist er fort? Wohin? …« »Ich habe ihn nicht gefragt. Es ist seine Sache. Er wird zurückkom men; er kann gar nicht anders.« Mehr brauchte ich nicht zu hören; sie meinte also, eine polizeiliche Untersuchung sei unvermeidlich. Sie fingerte nervös an dem Beutel herum, und ich dachte, wie verhaßt ihr diese Unterredung mit mir sein mußte. »Er bittet Sie, Miß …« »Ja?« Ich wußte, es klang zu eifrig. »… ob Sie die Güte hätten, hinzugehen und den Vogel zu füttern. Er sagt, der Vogel kennt Sie und würde von Ihnen das Fleisch anneh men. Aber Sie müssen vorsichtig sein und auf der rechten Hand einen Handschuh tragen; es liegt noch einer im Schuppen. Und Sie möchten ihm das Kapüzchen bitte nicht abnehmen.« Sie legte den Beutel auf den Tisch. »Er muß jeden Tag gefüttert wer den, bis Callum zurückkommt. Aber das wissen Sie ja, Sie sind die ein zige, die er darum bitten kann; es gibt niemand mehr außer Ihnen, der den Vogel so gut kennt wie Callum …« Wir dachten beide an Margaret und wußten es. Ich nickte nur kurz und blickte zu Boden, um ihr eine Geste der Dankbarkeit zu erspa ren. Alles, was ich hörte, war das leise Schließen der Tür. Ich ging zum Tisch und strich über den Beutel. Wie gut, wie grausam gut Callum mich kannte. Er nützte mich aus, wie es ihm paßte, aber nicht für das, was ich wollte.
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In dem Augenblick, als ich die Tür zum Schuppen aufmachte, wo Gi orsal auf seiner Stange hockte, flatterte er an seinem Riemchen hoch und krächzte mich an. Ich blieb unbeweglich an der Tür stehen, bis er sich beruhigt und wieder auf die Stange gesetzt hatte. Zum Glück ge lang ihm das, denn wenn er das Gleichgewicht verloren und mit dem Köpfchen nach unten an seinen Riemen hängen geblieben wäre, dann hätte ich ihn in die Hände nehmen müssen, um ihn auf die Stange zu rückzusetzen. Als er endlich still war, sprach ich mit ihm, leise und zärtlich – er schien meine Stimme wieder zu erkennen, obwohl ich es kaum glauben konnte. Ich rief ihn immer wieder beim Namen und begann ihm sogar von Callum zu erzählen – von Callum und Marga ret, die sich das Genick gebrochen hatte und nun tot war, und von dem Baby, das in der letzten Nacht geboren wurde. Aber auch davon, was es heißt, zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden. Was soll man sonst schon einem Falken erzählen? Ich erklärte ihm, daß eine unerwider te Liebe genauso schlimm sei, wie wenn er nie mehr fliegen, wie wenn seine schönen Flügel, die er so stolz spreizte, ihn nicht mehr tragen könnten und er in die Tiefe stürzen würde. Nach einer Weile fing das Köpfchen unter der kleinen Kapuze zu nicken an, dem Rhythmus mei ner Stimme folgend. Ich trat näher, nahm die lange Feder in die Hand, mit der Callum ihn zu liebkosen pflegte, und redete weiter, während ich ihm gleichmäßig über das Gefieder strich. Er hörte auf, unruhig hin und her zu hüpfen, und saß nun ganz still, fast wie hypnotisiert, auf seiner Stange. Als ich in Callums Handschuh schlüpfte, war es, als würde ich mir einen Teil seiner Persönlichkeit überstreifen. Ich holte ein Stückchen von dem geschnittenen Fleisch aus dem Beutel. Zuerst wollte Gior sal die Stange nicht verlassen und zerrte nur an dem Fleisch. Dann aber faßte er Vertrauen, oder vielleicht überwog einfach das Hunger gefühl – auf jeden Fall hüpfte er auf meine Hand und verschlang gierig die Fleischbissen, ungeduldig auf das nächste Stück wartend, das ihm meine behandschuhten Finger reichten. Der Vogel war so schwer und die Bewegungen, mit denen er seine Nahrung verschlang, so heftig, daß meine Hand ihn nur mit Mühe trug. Aber das Schwierigste kam 196
erst, als ich ihm die Brust des Waldhuhns geben mußte, die zuunterst im Beutel lag. Die Falken – ich erinnere mich, daß Callum mir das einmal gesagt hatte – brauchen Federn in ihrem Futter, die ihre Mä gen säubern. Obwohl ich oft beobachtet hatte, wie Callum eine dicke Taube an ihn verfütterte, an Tagen, wo es zu windig oder feucht war, um ihn selbst jagen zu lassen, hatte ich nie erwartet, daß ich selbst ein mal in diese Lage kommen würde. Durch den Handschuh hindurch spürte ich plötzlich die Schärfe seines Schnabels und die fürchterli che Kraft seiner Krallen, als er sich fester an mich klammerte, um das Fleisch zu zerreißen. Das Kapüzchen schien ihn beim Fressen zu stö ren, aber ich wagte nicht, es abzunehmen. Schließlich war er darauf dressiert, mit der Kapuze zu fressen, und die Geschicklichkeit, sie ihm wieder aufzusetzen, traute ich mir nicht zu. Wie immer erwartete Cal lum viel von mir. Endlich hatte der Falke alles verschlungen, was im Beutel war, und als er spürte, daß es nichts mehr gab, flatterte er miß mutig auf die Stange zurück. Erleichtert ließ ich meinen schmerzen den Arm sinken. Ich war froh, daß es immer noch regnete, und fragte mich, ob Cal lum wohl von mir erwartete, daß ich Giorsal bei gutem Wetter ins Freie nähme, seine Riemchen um mein Handgelenk schlänge, damit der Vogel im Bach baden und in der frischen Luft trocknen könnte. Er würde alles von mir erwarten, dachte ich, nur nicht, daß ich seinen Falken verlöre. Nein, ins Freie durfte ich Giorsal nicht nehmen, das konnte ich einfach nicht wagen, er mußte eben ohne Bad auskommen, bis Callum zurückkehrte. Ich hatte keine Ahnung von Falknerkno ten, mit denen ich seine Riemchen hätte an meinem Gelenk befestigen müssen, und wenn mir der Vogel mit zusammengebundenen Beinen entwischte, könnte er leicht gegen einen Baum oder Felsen stoßen und sich tödlich verletzen. Nein, Callums Absicht war bestimmt, daß ich Giorsal im Cottage ließe, ihn jeden Tag fütterte und seine Stange sau ber hielte. Der Falke mußte in seiner ruhigen, langweiligen Finsternis bleiben, bis Callum wieder zurück wäre. Er liebte diesen Vogel noch mehr, als er Margaret geliebt hatte – Margaret, die seine Leidenschaft und sein Wahn gewesen war. 197
Als alles vorbei war und ich die Tür der Hütte hinter mir geschlos sen hatte, lehnte ich mich dagegen und merkte plötzlich, daß ich vor Müdigkeit und Angst zitterte. Aber ich hatte Callums Falken auf mei ner Hand gehalten. In mir stieg eine leise Hoffnung und eine unwahr scheinliche Freude hoch.
2
A
m nächsten Tag regnete es weiter, und als Margaret Campbell be graben wurde, mühten sich die Trauergäste ungeschickt mit ihren Regenschirmen ab. Der Boden des Friedhofs war glitschig, als wir aus der Kirche zum offenen Grab schritten. Es lag genau gegenüber Chri stinas und Williams Grab, jenseits des Weges – eine neue marmorne Gedenktafel in der langen Reihe der Campbells. Während des Gottes dienstes, bei dem Gavin sich jede Musik verbeten hatte, und danach am offenen Grab wagte keiner, ihn anzusehen. Die ganze Zeit über – in der Kirche wie auf dem Friedhof – hielt er Jamies Hand fest und ließ sie nicht einmal in dem traurigen Moment los, als er Erde auf den Sarg warf. Es gab keine Blumen außer den Septemberrosen, die Jamie hielt und die aus dem Garten von Ballochtorra stammten. Goldene Septem berrosen – Margarets Farbe. Jamie legte sie neben das offene Grab, da mit man sie später auf den Grabhügel stellen konnte. Erst dann, zum ersten Mal, preßte er sein Gesicht gegen den Arm seines Vaters und fing an zu weinen. Beide gingen eilig den Pfad hinunter zu den warten den Wagen. Gavin hatte während der ganzen Trauerfeier weder nach rechts noch nach links geblickt und geflissentlich die vielen Hände übersehen, die sich ihm entgegenstreckten. Weder er noch Jamie trugen das zu er wartende Schwarz; nicht einmal ein schwarzes Band am Hut oder am Jackenärmel. Gavin hatte es auch abgelehnt, den Pferden, die den Lei 198
chenwagen zogen, schwarze Federbüsche aufzusetzen, und man flü sterte sich zu, daß sich wegen dieses mangelnden Trauerzeremoniells eine schreckliche Szene zwischen Gavin und James Ferguson abge spielt hatte. Gavin hatte sich geweigert, die Kondolierenden in Balloch torra zu begrüßen, und so empfing James Ferguson sie allein in dem verdunkelten Salon. Man erzählte sich auch, daß am Tag vor dem Be gräbnis Gavin mit Jamie den ganzen Tag aufs Moor geritten war und, als der Wagen mit dem Oberhaupt des Clans, dem Grafen von Cawdor, in Ballochtorra vorfuhr, keiner dagewesen sei, ihn willkommen zu hei ßen. Die Gerüchte über Gavins merkwürdiges Benehmen verbreiteten sich schnell im ganzen Tal. Ich sah Gavin und Jamie nach, als sie den Pfad entlangschritten. Sie stiegen sofort in den Wagen und mußten auf James Ferguson warten, der sich nicht beeilte. Er war es, der all die vielen Hände schüttelte und die Beileidskundgebungen entgegennahm. Seine robuste Gestalt wirk te merkwürdig zusammengeschrumpft, und die Falten in seinem ro ten, aufgedunsenen Gesicht hatten sich noch vertieft. Er sah mehr ner vös als traurig aus und fuhr sich dauernd mit der Zunge über die Lip pen. Er sprach noch immer mit den Trauergästen, als zum allgemeinen Entsetzen Gavin die Tür des Wagens plötzlich zuschlug und dem Kut scher befahl, loszufahren. James Ferguson würde im zweiten Wagen neben seinem Rechtsanwalt Platz nehmen müssen. Es war bekannt, daß Gavin niemanden aufgefordert hatte, mit ihm nach Ballochtorra zu kommen. Aber James Ferguson lud jeden, der ihm irgendwie wich tig erschien, zu einem Imbiss und einem Glas Whisky ein; sogar in diesem tragischen Augenblick konnte er seine Natur nicht verleugnen. »Komm, Kirsty, lass uns schnell verschwinden«, flüsterte mir Großva ter ins Ohr. Wir versuchten, möglichst unbemerkt an den vielen Leu ten am Friedhofstor vorbeizukommen, aber wir hatten nicht mit James Ferguson gerechnet. »Sie werden doch auch kommen, Macdonald? Ich seh Sie in Balloch torra?« »Nicht heute, Mr. Ferguson; mein eigenes Ende steht mir zu nah be vor. Ich habe dem Herrn von Ballochtorra in meinem und meiner En 199
keltochter Namen kondoliert und möchte auch Ihnen mein Beileid aus sprechen.« Ferguson sah plötzlich merkwürdig fahl aus. Er trat dicht an uns heran, und obwohl seine Worte nur für meinen Großvater be stimmt waren, hörte ich, was er sagte. »Telegrafieren Sie Lachlan, er soll kommen. Ich werde morgen früh in Cluain sein.« Großvater runzelte die Stirn. »Mir scheint, es ist nicht der geeigne te Moment, über Geschäfte zu reden. Wollen Sie nicht ein paar Tage warten …?« Ferguson fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen. »Die Sa che brennt mir auf den Nägeln, ich hab keine Zeit, zu warten.« Wir fuhren schweigend nach Cluain zurück. Die trübselige Stim mung hing so schwer über uns wie die Regenwolken über den Ber gen von Ballochtorra. Es war noch kein Jahr her, daß Großvater auf demselben Friedhof an Williams offenem Grabe gestanden hatte. Ich schüttelte meinen durchnässten Mantel aus und hängte ihn im Kü chengang auf, dann ging ich ins Turmzimmer, um in meine Haus schuhe zu schlüpfen. Der Torf im Kamin war aufgeschichtet, aber nicht angezündet. Ich war müde, und mir war kalt. Ich war an diesem Morgen früh aufgestanden, um den Lederbeutel zu holen, den Mai ri Sinclair mir in der Speisekammer gefüllt hatte, und es war nicht leicht gewesen, auf den durchweichten Wegen bis zu Callums Haus zu gelangen, um Giorsal zu füttern. Diesmal hatte er sofort auf mei ne Stimme reagiert und ungeduldig auf sein Fleisch gewartet, das er mir gierig Stück für Stück aus meinen behandschuhten Fingern riß. Ich fragte mich, wie lange der Vogel die dunkle Stille der Hütte und die lockenden Rufe seiner Artgenossen ertragen könnte, ohne kräch zend seine Freiheit zu verlangen, um im freien Flug die Beute zu ja gen – was ja schließlich seiner Natur entsprach. Fast beneidete ich die Tiere, die instinktiv genau wußten, was ihre Bestimmung ist. Sie ken nen keine Zweifel, keine Wahl. Mein Vater hätte mich für diese Ge danken gerügt; er glaubte an die freie Wahl der Seele, die Liebe geben kann, auch wenn sie zurückgewiesen wird. Sogar zu leiden ist besser, als nichts zu fühlen, war einer seiner Lieblingsaussprüche. Und Cal 200
lum hätte ihm zugestimmt und, um gerecht zu sein, auch Margaret Campbell.
Mein Großvater wartete – noch immer in seinem Sonntagsanzug – im Esszimmer aufs Mittagessen. Er wirkte nervös, und als er mich sah, erschien ein fast erleichterter Ausdruck auf seinem Gesicht. »Da bist du ja, hier, trink einen Whisky, er wird dich aufwärmen.« Ich nahm das Glas dankend an, aber gegen die Kühle des Todes war sogar der Whisky machtlos. Ich sah wieder das abweisende Gesicht Gavins vor mir und die goldenen Rosen, die im Matsch und Regen auf dem Grab verwelkten. Und wie vorhin auf dem Friedhof, lief ein Zittern durch meinen Körper. Die Zeitung aus Inverness lag auf der Anrichte, und Großvater machte nicht einmal den Versuch, sie vor mir zu verstek ken. Auf der Titelseite war ein Foto von Margaret, und nicht einmal der schlechte Zeitungsdruck konnte ihre klaren, schönen Züge verwi schen. Frau eines Baronets durch Sturz vom Pferd getötet. Die Tochter von James Ferguson … Die Nachricht war kurz und diskret. Erwähnt wurde nur noch, daß Gavin der Erbe des Marquis of Rossmuir sei, und zum Schluß folgte ein langer Bericht über den Prinzenbesuch, der gleiche, der erst kürzlich im selben Blatt erschienen war. Kein Wort über den Skandal oder über die Gerüchte, die in der ganzen Umge bung kursierten und sogar schon die Londoner Zeitungen erreicht hat ten. Kein Wort darüber, wo und wie sie gestorben war und wer sie nach Ballochtorra gebracht hatte. »Es wird eine Untersuchung geben«, sagte Großvater. »Ja.« Ich wollte über den ganzen Fall nicht reden, aber er blieb be harrlich. »Im Totenschein steht, daß sie sich beim Sturz das Genick brach. So weit wäre alles in Ordnung. Aber ich höre, daß die Polizei Nachfor schungen anstellt und daß sie möglicherweise eine Untersuchung vor dem Sheriff verlangt. Callum Sinclair wird erscheinen müssen.« »Ja.« Ich hatte das Gefühl, daß er nur sprach, um mich auf das 201
Schlimmste vorzubereiten. Mir graute vor den Menschen. Sie würden alles noch hässlicher machen; sie würden die Berghütte beschmutzen, die Callum so sauber hielt, weil er Margaret liebte; sie würden Gift ver spritzen und Callum die Worte im Munde umdrehen.
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Zehntes Kapitel
1
A
m nächsten Tag, als ich zum Cottage ging, um Giorsal zu füttern, hatte der Wind die Wolken verjagt und die Regentropfen von den Birken geschüttelt, deren Blätter jetzt goldbraun schimmerten. Der Herbst war gekommen, gelegentlich brach die Sonne durch, und ihre schrägen Strahlen fielen in tiefe Gebirgsspalten, so daß die umliegen den Felsen, die mir früher gar nicht aufgefallen waren, unerwartet scharf hervortraten. Man hörte keine Gewehrschüsse mehr auf dem Moor; überall herrschte tiefe Stille, die nur von dem Rauschen des Windes unterbrochen wurde. Ich kam erst kurz vor dem Mittagessen nach Cluain zurück. John rieb den Sonntagsjungen ab, nachdem er Samuel Lachlan von der Sta tion abgeholt hatte. Die Tür zu dem Zimmer, das er immer in Clu ain bewohnte, stand offen, und im Vorbeigehen sah ich, wie Morag das Bett aufschlug. Augenscheinlich erwartete man, daß die Unterre dung mit James Ferguson lange dauern würde. Der offene Zweisitzer aus Ballochtorra stand im Hof, dicht bei den Ställen, aber so versteckt, daß man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Das hieß also, daß Ferguson schon hier war, aber vermeiden wollte, daß die ganze Ge gend von seinem Besuch in Cluain erfuhr. Er aß auch nicht wie sonst in Ballochtorra zu Mittag. Noch während ich mich ein wenig zurechtmachte, bevor ich zum Es sen nach unten ging, erschien Morag in der Tür. Sie hatte einen merk 203
würdig lautlosen Gang und eine Art, plötzlich da aufzutauchen, wo man sie am wenigsten erwartete. »Entschuldigen Sie, Miß, der Herr speist mit Mr. Lachlan und Mr. Ferguson zusammen, und sie möchten ungestört bleiben. Mrs. Sinclair läßt Ihnen sagen, daß für Sie im Salon gedeckt ist.« »Im Salon – aber ich kann doch in der Küche essen.« Wir gingen die Treppe hinunter, und bei meinen Worten drehte sich Morag schnell auf der Stufe um und sah mich an. Ihr Blick verriet ein gewisses Mitleid über meine Naivität. »Das ist unmöglich, Miß. Mrs. Sinclair würde es nie zulassen, und auch dem Herrn wäre es nicht recht.« Und so wurde ich wieder einmal auf meinen Platz verwiesen – in Morags Augen vielleicht auf einen unverdient hohen, aber eine Zu rechtweisung blieb es. Auf dem mit einem weißen Tischtuch bedeck ten Salontisch stand ein großes Silbertablett mit allerlei Speisen. Ich setzte mich in einen der hochlehnigen Stühle und aß mechanisch. Ich wußte, daß mich der lange Gang zum Cottage hungrig gemacht hat te, aber das Essen hatte für mich allen Geschmack verloren, seit Cal lum mit Margarets Leiche im Arm an der Haustür erschienen war. Aus dem Fenster des Salons überblickte man die Straße nach Ballochtor ra. Ich dachte über Gavin und Jamie nach, aber auch über James Fer gusons Anwesenheit in Cluain. Irgend etwas war im Gange. Aber was es war, konnte ich nur erfahren, wenn Großvater geruhte, es mir zu er zählen. Dann fiel mir ein, daß Gavin jetzt, nach Margarets Tod, die Gegend nicht mehr zu verlassen brauchte, und plötzlich wußte ich, wie alles kommen würde: Er würde kein Geld mehr von James Ferguson annehmen, und wenn Margarets ganze Mitgift an ihren Vater zurück gehen oder mündelsicher für den Sohn angelegt würde, so wäre ihm das ganz recht, das wußte ich. Um seine Freiheit zu erlangen, müßte er vielleicht sogar James Ferguson die Schlüssel von Ballochtorra vor die Füße werfen und mit Jamie ausziehen, aber auch das würde ihm nichts ausmachen. Ich erinnerte mich, daß er mir einmal von einem Stück Ackerland erzählt hatte, das er immer so gerne trockengelegt hätte. Vielleicht würde der zehnte Baronet von Ballochtorra und Titelerbe des Marquis of Rossmuir sich mit dergleichen beschäftigen und sich 204
von der Welt zurückziehen – ein Exzentriker, aber endlich ein freier Mann mit einem Sohn, der ihm gehörte. Die Besprechung der drei Männer dauerte den ganzen Nachmittag. Zweimal sah ich Morag mit einem beladenen Tablett über den Hof ins Büro gehen, aber kurz vor der Abendbrotzeit hörte ich endlich, wie der Zweisitzer aus Ballochtorra vorfuhr. Großvater und Samuel Lachlan begleiteten Ferguson zum Wagen – sie sprachen zwar höflich mitein ander, schüttelten sich aber zum Abschied nicht die Hände. Ferguson drehte sich noch einmal um, als der Wagen anfuhr, aber die beiden an deren waren schon wieder so ins Gespräch vertieft, daß sie seine Ab fahrt gar nicht zu merken schienen. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf Großvaters Haar, und es leuchtete silbern auf. Ich sah den beiden nach, bis sie im Haus verschwunden waren, ließ meine Blicke über den Hof schweifen und sah dann, daß sich in den Ecken kleine Blätterhau fen angesammelt hatten. Als ich ins Esszimmer kam, machten mir Großvater und Lachlan den Eindruck von zwei alten Männern am Ende eines langen Arbeits tages. Sie hatten ihren ersten Whisky schon fast ausgetrunken, und mir kam es so vor, als ob sie ihn wortlos geleert hätten, als ob sie dank bar für die Stille wären. Samuel Lachlans schwarzer Anzug schimmer te grünlich im abendlichen Licht. Er stand sofort auf und rückte sei nen Kneifer zurecht – der einzige Ausdruck der Zufriedenheit, den er sich je erlaubte. Er sagte zu mir, was ich auch zu ihm hätte sagen können: »Sie sehen müde aus, Kirsty.« Großvater antwortete für mich: »Ach, das ist die Ernte und diese verdammte Geschichte in Ballochtor ra.« Und dann, als ob das Thema damit endgültig erschöpft sei, fuhr er fort: »Der Wind trocknet die Felder aus, wir brauchen es nach dem Regen.« Und wie um seine Worte zu bestätigen, klirrten plötzlich die Fensterscheiben. Das zweite Glas tranken sie langsamer, aber Großvater nahm nicht seinen üblichen Platz auf dem Stuhl vor dem Kamin ein. Statt dessen ging er auf eine für ihn ganz untypische Art nervös im Zimmer auf und ab, und wenn er zur Anrichte kam, wo sein Glas stand, nahm er jedes Mal einen Schluck. Es war eine Unruhe in ihm, wie ich sie nie zu 205
vor an ihm beobachtet hatte. Entweder war er verärgert oder sehr auf geregt. Beides war mir zuwider; ich sehnte mich nach ein wenig Ruhe und Frieden – besonders wenn ich daran dachte, was uns noch alles bevorstand, worauf die Zeitungen angespielt hatten … Endlich brach Samuel Lachlan das Schweigen. »Kirsty, wir haben Ih nen etwas zu sagen …« Großvater, der am Fenster stand, drehte sich abrupt um. »Noch nicht, Samuel, noch nicht …« Lachlan blinzelte hinter seinen Augengläsern. »Aber wir waren uns doch einig, daß sie es erfahren soll, Angus.« »Ja, ja, ich weiß, aber lass uns doch wenigstens austrinken. Wir ha ben eine kleine Ruhepause wohl verdient.« »Christina muß es wissen.« »Ja doch, Samuel, aber wart noch einen Moment.« Morag brachte die Teller herein, und Samuel Lachlan nahm schnell am Tisch Platz. Wie mußte er sich auf die Mahlzeit in Cluain freuen nach dem schlechten Essen, das man ihm in Inverness aus der Kneipe holte. Aber als der gefüllte Teller schließlich vor ihm stand, schien sein Interesse zu erlahmen. Er aß langsam und vergaß die Sauce und sogar das Salz, das er sonst in Mengen gebrauchte. Er trödelte so lange, daß Morag mehrmals den Kopf durch die Tür streckte, um zu sehen, ob sie den zweiten Gang anrichten könnte. Endlich sprach er wieder, und Großvater schien froh zu sein, daß er es nicht zu tun brauchte. »Kirsty, Ferguson steht vor dem Bankrott.« »Steht vor …« In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Morag erschien wieder. Sie räumte die Fleisch- und Gemüseschüsseln ab, und ich ging zur Anrichte, um den Apfelkuchen zu holen, den Samu el Lachlan so liebte. Er goß sich geistesabwesend so viel Sahne darüber, daß sie fast vom Teller floß. Als wir wieder allein waren, wiederholte er: »Ja, vor dem Bankrott.« Ich konnte es kaum fassen – wie kann man Schlösser und Jachten be sitzen und trotzdem bankrott gehen? James Ferguson war doch mit al len Wassern gewaschen, ein richtiger Selfmademan. So jemand konnte doch nicht getäuscht werden. Er kannte doch sicher jeden Trick. 206
»Und wie ist das passiert?« »Er hat sich übernommen. Mehr als zwei Dutzend Brennereien ha ben ihm viel zu lange Kredit gewährt. Er hat Bestellungen für Millio nen von Gallonen aus Amerika angenommen, zum Teil mit Voraus zahlungen, und jetzt kann er seine Verbindlichkeiten nicht erfüllen. Er hat zu viel von seinem eigenen patentierten Kornwhisky hergestellt, hat ihn gelagert, eine Riesenreklame gemacht und seine Verkäufer in der ganzen Welt herumgeschickt. Und jetzt liegt das ganze Malz, das er für seinen Verschnitt braucht – vom billigsten bis zum besten –, in den Lagerhäusern unter Verschluss. Und er kann es nicht auslösen, weil er kein Geld hat, nicht einmal die staatliche Alkoholsteuer kann er zahlen. Selbst wenn die Brennereibesitzer stillhalten würden, hül fe ihm das nicht aus der Patsche, denn die Steuerbehörde Ihrer Maje stät gibt keinen Kredit. Außerdem macht die Steuer den größten Teil der Rechnung aus.« »Aber hat er denn das nicht vorausgesehen?« »Natürlich hat er das, aber er hat es zu sehr auf die leichte Schulter ge nommen. Er stand in Verhandlungen mit Londoner Banken, die ihm Geld vorstrecken sollten, aber sie haben Herrn Fergusons Geschäfte mal genauer unter die Lupe genommen und die Anleihe dann abge lehnt. Nun sitzt er da mit lauter Gläubigern und keinem Geld. Und es kann sich nur noch um Tage handeln, bis alle wissen werden, daß er die Anleihe nicht bekommen hat. Er war überall im Hochland, um sich Kredite zu erbetteln und die Brennereien zu überreden, ihm die Steuergelder für den Whisky vorzustrecken, den er aus den Lagerhäu sern nimmt. Und wenn das alles erst mal herauskommt, dann ist die Katastrophe da. Die Aktionäre werden versuchen, ihre Anteile mög lichst schnell abzustoßen, und wenn sie einmal damit beginnen, dann kann er die Aktien nur noch als Tapetenpapier für Ballochtorra ver wenden. Wenn er früher gehandelt hätte, dann hätte er seine eigenen Anteile beleihen können, aber das geht jetzt auch nicht mehr, weil sie durch einen Massenverkauf genauso an Wert verlieren, und deswegen geht er bankrott.« »Was schuldet er denn Cluain?« 207
Hier mischte sich Großvater ein. »Niemand schuldet Cluain etwas. Keiner hat je auch nur einen Penny Kredit von Cluain bekommen. Ich schufte mich schließlich nicht ab, um unbezahlten Whisky in meinen Lagerhäusern zu haben. Meine Käufer zahlen buchstäblich bar auf die Fässer. Sogar der große James Ferguson mußte zahlen. Ich lagere den gekauften Whisky für meine Kunden, und wenn die gesetzlich festge setzte Gärungszeit abgelaufen ist, können sie sich ihre Fässer abholen und die Steuern zahlen.« »Aber wenn Ferguson seinen Whisky gezahlt hat und du lagerst ihn nur für ihn, warum nimmt er ihn nicht?« »Weil er keinen bei mir hat. Nicht eine Gallone. Er hat ihn längst ab holen lassen, schon voriges Jahr, alles, was ihm gehört, bis aufs letzte Fass. Er hat mir immer gesagt, daß seine Geschäfte mit England und Amerika so glänzend gehen, daß er seinen Verschnitt so jung wie nur irgend möglich verkauft, um den Bestellungen nachzukommen. Aber ich hatte schon längst den Verdacht, daß es einfach der einzige Whis ky war, für den er bar bezahlt hatte. Ich hatte sogar Schwierigkeiten, die Fässer von ihm zurückzukriegen.« »Aber wenn er dir nichts schuldig ist, warum kommt er dann so oft? Über was redet …« Morag unterbrach uns schon wieder. Sie servierte die Kuchenteller ab und brachte den Käse und den Tee. Sie bewegte sich lautlos und ge schickt wie immer, aber mir kam es seltsam vor, daß sie so oft her einkam. Wenn Samuel Lachlan da war, räumte ich gewöhnlich zum Schluß alles ab, weil er es aus irgendeinem Grund gerne hatte, wenn ich mich um ihn kümmerte. Lachlan nahm in aller Ruhe von dem Ched darkäse, der aus Mairi Sinclairs Molkerei stammte, und legte haufen weise Butter auf die hausgemachten braungoldenen Kekse. Für seine armen falschen Zähne war es eine harte Arbeit. Wortlos schlürfte er seinen Tee, und so blieb auch mir nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, bis er seine Mahlzeit beendet hatte. Aber ich hatte schon jetzt genug Stoff zum Nachdenken. Nicht nur war ich erleichtert, daß James Fergusons Wahnsinn Cluain nicht berührte, sondern mir wurde auch plötzlich klar, wie wichtig mir Cluains Unabhängigkeit war. Natürlich 208
hatte auch sie ihre Haken, denn sie bestärkte Großvater in dem gefähr lichen Stolz, den er zur Schau trug, und in der Verachtung, mit der er die Menschen behandelte. Er ertrug nicht, jemand Dank zu schulden. Aber er hatte für Cluains Selbständigkeit gearbeitet – o ja, das hatte er. Und James Ferguson? Er stand jetzt hilflos vor den selbstverschulde ten Trümmern seines Lebens. Als ob Lachlan meine Gedanken gele sen hätte, sagte er plötzlich: »Ja, so geht's einem, wenn man tiefer in Verpflichtungen steckt, als man selbst ahnt.« Er war endlich mit seinem Käse und Tee fertig, stand auf und stellte sich wieder vor den Kamin. Großvater goß sofort für beide noch einen Whisky ein. »Ja«, fuhr Lachlan fort, als ob er nie auf gehört hätte zu reden, »ja, wenn einer Schlösser baut, Kirsty, Kirchen restauriert, einen privaten Eisenbahnwaggon und ein Haus im fein sten Viertel von London hat, dann muß schon was sehr Solides dahin terstecken. Ich habe seine Karriere mit Interesse verfolgt.« Er rieb sei ne dünne Nase. »Ja, mit großem Interesse sogar. Er war schon ziemlich reich, als seine Tochter Campbell heiratete, aber für das, was er sich dann auflud, hätte er sehr – aber sehr viel reicher sein müssen. Gut, er hatte den Ruf eines geborenen Geldverdieners; er zahlte große Di videnden, und seine Aktien standen hoch im Kurs. Aber dann nahm er sich zuviel vor, vergrößerte ständig das Geschäft und baute wie ein Verrückter. Ich persönlich bin nie in Versuchung gekommen, auch nur eine Ferguson-Aktie zu kaufen. Nicht eine!« Er sprach langsam und bedächtig, als ob er sich alles wieder ins Gedächtnis zurückrufen woll te, vielleicht aber auch, damit ich aus seinen Erfahrungen lernen könn te. Geldverschwendung hatte er von Jugend auf verabscheut, und doch konnte ich bei der ganzen Erzählung keinen Unterton von Schaden freude heraushören. Der Sturz von James Ferguson freute ihn nicht. Jedes zusammenfallende Gebäude war eine Gefahr für die bestehen de, von Gott gewollte Gesellschaftsordnung. Er trank schweigend sei nen Whisky und wartete, bis Morag die Teller abgeräumt hatte; erst als sie die letzten Krümel vom Tisch gefegt und das Tablett hinausgetra gen hatte, sprach er weiter. »Ja, Kirsty, wir haben lange Unterredungen geführt, und ich bin we 209
gen James Ferguson viel herumgereist – zuviel für mein Alter. Aber ich vertraue mich ungern dem Papier an und ziehe es vor, meine Auskünf te mündlich einzuholen. Ein ruhiges Gespräch bei einem Glas Whisky ist aufschlussreich und diskret und hinterlässt keine Spuren. Ich fuhr hin und her zwischen den Camerons und Macquaries, zwei Brenne reibesitzer, die leider unbequem weit auseinander wohnen. Aber bei de sind sie grundsolide Geschäftsleute, und ihre Brennereien sind Fa milienbesitz. Sie halten ihre Bücher in Ordnung und machen gute Ge schäfte. Bei denen gibt's keine Schlösser, und sie halten sich keine Voll blüter. Die jungen Männer heiraten vernünftig, ihre Frauen führen ein gutes, aber kein großes Haus. Sie mästen ihre eigenen Schweine, und Seidenkleider werden nur sonntags getragen. Ja, die sind solide.« Mir gefiel dieser Lobgesang nicht sonderlich. Wo gab es in dieser ganzen ehrbaren Solidität Raum für einen Falken? Für einen Falken, der seine Flügel ausbreitet, in die Lüfte aufsteigt und auf seine Beu te niederstößt? Hätten solche Leute meinem Großvater eine Chance gegeben, als er arm von seiner Insel kam? Hätten sie ihm seine Frei heit und Selbständigkeit gelassen? Oder waren die Zeiten der Freiheit und Selbständigkeit vorbei? Nein, diese ehrbaren, soliden Leute gefie len mir nicht. »Aber was will denn James Ferguson von euch? Warum haben Sie denn für ihn mit den Camerons und Macquaries verhandelt, wenn er doch Cluain kein Geld schuldet?« »Ich habe nicht für James Ferguson verhandelt. Ich traute ihm ein fach nicht über den Weg. Er sprach im Namen von anderen und saß selbst in der Klemme …« »Aber wozu?« Samuel Lachlan wies auf Großvater, wie um zu zeigen, daß es eigent lich die Sache des Herrn von Cluain sei, jetzt weiterzusprechen, aber dann fuhr er doch selbst fort: »Ferguson schlägt vor, daß die Came rons, die Macquaries und Cluain gemeinsam sein ganzes Geschäft übernehmen sollen. Wenn diese drei Brennereien dazu bereit sind, dann braucht die restliche Welt nie zu erfahren, daß er pleite gegangen ist. Cameron und Macquarie sind größer als Cluain, und so würden 210
wir einen Minderheitsanteil haben, aber einen ziemlich beträchtlichen. Für Ferguson ist eine solche Übernahme die einzige Möglichkeit, sein Gesicht zu wahren, und es würde seine Aktionäre von den katastro phalen Massenverkäufen abhalten – zumindest nimmt er das an. Ja mes Ferguson würde einen Sitz im Vorstand erhalten, aber nur nomi nell und ohne Stimmrecht. Er hat sich damit schon mündlich einver standen erklärt, ist aber auch bereit, es schriftlich zu bestätigen, wenn wir uns einig werden. Später, ungefähr nach sechs Monaten, würde er dann aus dem Vorstand ausscheiden und als Grund seinen schlechten Gesundheitszustand und den Tod seiner Tochter angeben. Alles nur eine reine Formsache. Die Firma würde zwar noch Fergusons Namen tragen, aber Cameron, Macquarie und Cluain gehören.« Ich traute meinen Ohren nicht. »Aber die Ferguson-Firma ist doch enorm groß, nicht wahr? Um sie weiterzuführen, braucht man viel Geld? Kann sich Cluain …« Ich wagte nicht, den Satz zu beenden. Samuel Lachlan antwortete mir. »Leicht wird es nicht sein – darüber gibt es keinen Zweifel. Aber wir würden Fergusons Firma zusammen mit der ganzen Verschnitt- und Vertriebsorganisation für einen Pap penstiel bekommen – und Verschnitte werden immer stärker gefragt werden, Kirsty – was auch die Malzwhiskyfabrikanten sagen mögen. Und was Cluain betrifft, natürlich, wir müßten sehr knapp kalkulie ren. Aber denken Sie ja nicht, daß Cluain keine Reservefonds hat. Wir haben sie uns in jahrelanger Arbeit geschaffen und sie umsichtig ver waltet. Wie bei den Camerons und Macquaries liegen nicht alle unsere Aktiva in der Fensterauslage … nicht wahr, Angus?« »Nein, sondern in gutem, abgelagertem Whisky. In den letzten zehn Jahren haben wir einen Teil der Produktion zurückbehalten; es sind jetzt Hunderttausende von Gallonen. Sie liegen in meinem eigenen La gerhaus, in nummerierten Fässern, damit die Arbeiter nicht wissen, an welche Brennerei sie verkauft sind. In Wirklichkeit sind sie aber gar nicht verkauft, sondern gehören Cluain. Der feinste zwölfjähri ge Malzwhisky; der erste Schub ist gerade reif, und jedes Jahr kommt neuer hinzu. Aus den laufenden Gewinnen habe ich Geld gespart, um die staatliche Alkoholsteuer zahlen zu können. Das und das Lager sind 211
Cluains Kapital. Und dann ist schließlich auch noch Samuel da: Er wird mir das Kapital vorstrecken, wenn ich mich entschließe, in das Geschäft einzusteigen. Weder die Camerons noch die Macquaries wol len mitmachen, wenn wir es nicht tun; wenn wir also nein sagen, geht Ferguson offiziell bankrott, schon weil ihm die Zeit fehlt, neue Verbin dungen anzuknüpfen.« Mein Großvater hatte im Gegensatz zu Lachlan noch nicht einmal den Versuch gemacht, seine Schadenfreude zu unterdrücken. Ich preßte die Hände zusammen und rückte näher ans Feuer. »Und noch vor wenigen Wochen hat er mir gesagt, daß er jederzeit Cluain kaufen und den höchsten Preis zahlen könnte. Was der Prinzenbesuch allein ihn gekostet haben muß! Und dabei hat er die ganze Zeit auf die Anleihe gewartet, ohne die es gar nicht weiterging.« »Eine Art Wahnsinn«, sagte Lachlan. »James Ferguson hat zwar nie Karten gespielt oder auf Pferde gewettet, aber im Grunde ist er eine Spielernatur. Er hatte sich daran gewöhnt, daß ihm alles gelang, was er anfasste, und so konnte er sich keinen Einhalt mehr gebieten. Er gab Geld aus wie ein Irrer, obwohl die Kassen schon leer waren. Ein gefährlicher Mann – er gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen, die mit ihm zu tun haben. Das Geld der Aktionäre hat er nicht nur für seine Geschäfte gebraucht, und wenn wir ihm nicht aus der Patsche helfen, kann er froh sein, ohne Gefängnisstrafe davonzu kommen.« Plötzlich schaute ich Großvater an. »Und warum – warum in Got tes Namen bist du bereit, dich mit ihm zu assoziieren? Was erwartest du dir davon?« »Was ich erwarte?« Ich zeigte auf den Raum, auf die ganze Welt von Cluain, die sich vor dem Fenster ausbreitete, und meine Stimme wurde lauter. »Ist dir das nicht genug? Was willst du noch mehr?« »Genau das hab ich gefürchtet. Du hast nichts verstanden. Ich hat te gehofft, du hättest etwas mehr Sinn fürs Geschäft. Begreifst du denn nicht, Kirsty – es ist eine einmalige Chance, Ferguson aufzukaufen und eine Weltfirma zu werden. Und …« 212
»Bist du auch schon wahnsinnig?« schrie ich ihn an. »Aus welchem Grund macht denn Ferguson bankrott? Doch nur, weil er eine Welt firma werden wollte, und das hat er ja auch erreicht. Aber gleichzeitig steht er vor dem Ruin, nicht nur geschäftlich, persönlich auch; er ist so erledigt, daß er nicht mal um sein einziges Kind trauern kann. Die Firma ist sein Kind. Die Firma und sein eigener Ruf, das sind die ein zigen Dinge, die ihn interessieren! Und ihr zwei alten Männer …« Es war grausam, und ich sah, wie sich Großvaters Gesicht vor Ärger rö tete, aber ich fuhr fort: »Ihr sagt mir, ihr wollt in seine Fußstapfen tre ten! Wozu? Ist Cluain nicht eure Welt, die ihr zusammen aufgebaut habt und wo euch keiner reinreden kann? In diesen Lagerhäusern liegt ein Haufen Gold, und den wollt ihr nun aufs Spiel setzen? Willst du ein zweiter James Ferguson werden, Großvater? Du bist der alleinige Herr von Cluain, seit dem Tag, an dem du deinen Prozess gegen die Camp bells gewonnen hast. Und nun willst du Cluain an irgendeine kleine Firmengruppe geben, die auch noch unter dem Namen Ferguson ar beitet? Du sagst mir, es gibt junge Männer bei den Camerons und Mac quaries. Meinst du, sie werden dir nicht dreinreden? Du glaubst doch selbst nicht, daß du den Ferguson-Betrieb so leiten kannst wie Cluain, ohne Kompromisse, ohne Verschlechterung der Qualität. Dein kost barer zwölfjähriger Whisky wird zu minderwertigem Verschnitt ver dünnt werden. Der Name von Cluain wird nichts mehr bedeuten. Es wird Fergusons Firma sein. Diese jungen Männer, diese soliden jungen Männer werden hierher kommen und herumschnüffeln und sich aus deinen Lagerhäusern das holen, was sie für ihre Produktion brauchen. Es wird dir das Herz brechen, aber du wirst an Händen und Füßen ge bunden sein und nicht widersprechen können. Du wirst tun müssen, was sie sagen, und wozu das alles? Vergiß Ferguson – warum willst du dein Erbe an die Camerons und Macquaries verschenken?« Mir kam es so vor, als ob er zusammenzuckte, aber sein Gesicht war von mir ab gewandt. Er sagte: »An wen soll ich mich sonst wenden? Ja, wenn William noch am Leben wäre … aber er ist tot. Es gibt nur dich – und du bist eine Frau.« Jetzt blickte er mich an, und sein Ton klang fast bittend. 213
»Ich tue es doch hauptsächlich für dich. Du hast eben gesagt, wir wä ren zwei alte Männer – und das sind wir auch. Was wirst du tun, wenn keiner von uns mehr da ist?« Er machte eine Pause. »Es ist nicht leicht für eine Frau, ein Geschäft zu führen. Es ist kein Frauenberuf. Aber es gibt einen Ausweg … siehst du, einer von den jungen Cameron-Söh nen ist noch unverheiratet. Samuel sagt, er ist nett und klug und viel gereist, Kirsty.« Sein Ton wurde energischer. »Er war in Amerika, in Paris und Rom, und man sagt, er sei sehr geschäftstüchtig. Er wür de einen guten Ehemann für jede junge Frau abgeben. Es könnte dir Schlimmeres passieren, Kirsty, und Cluain …« »Nein!« Ich schlug mir mit der Hand auf den Mund und versuch te die Worte zu unterdrücken, die mir auf der Zunge lagen, aber dann schleuderte ich sie heraus, als ob man mich geschlagen hätte. »Nein! Bist du verrückt … Seid ihr beide verrückt geworden? Glaubt ihr, ich würde jemand heiraten, nur weil er euch in den Kram paßt? Sagen Sie, Mr. Lachlan, haben Sie vielleicht auch darüber bei Ihren vielen Besu chen verhandelt? Mein Gott, ich dachte, so was kommt nur in China vor! Was meinst du, was mein Vater dazu gesagt hätte …« »Es ist nichts Ungewöhnliches«, erwiderte Großvater kurz angebun den. »Heiraten sind unter weit schlimmeren Bedingungen arrangiert worden.« Er stand steif und verlegen da. Der Wert des Eigentums war angezweifelt worden, der Wert von Cluain wurde gegen die Launen ei ner jungen Frau abgewogen. Ich begann den Sinn in diesem Unsinn zu begreifen – zu Williams Lebzeiten wäre das nicht passiert. Zwei alte Männer, hatte ich gesagt – wie wahr! Und ich stand zwischen ihnen als einzige Zukunft – ich, unverheiratet, kinderlos und ohne Sohn. Großvater sagte: »Cluain ist keine schlechte Mitgift, Kirsty.« »Mitgift! Ich habe nie eine Mitgift gewollt, und ganz bestimmt nicht unter der Bedingung, daß ich einen netten, soliden, vielgereisten jun gen Mann heirate, der wahrscheinlich auch noch gutgeschnittene An züge trägt.« »Was haben Sie gegen gutgeschnittene Anzüge?« warf Samuel Lach lan ein. »Nichts …« Ich schloß die Augen und sah einen Mann im ausgefran 214
sten Kilt und einer regendurchnäßten Lammfelljacke vor mir. »Nichts habe ich dagegen … nur, daß ich keinen gutgeschnittenen Anzug hei raten will.« »Du bist zu hastig, Mädchen. Lass dir Zeit zum Nachdenken.« »Hab ich denn Zeit zum Nachdenken?« fragte ich scharf. »Du hast doch selbst gesagt, daß Ferguson nur noch wenige Tage Frist hat. Soll ich in dieser kurzen Zeit entscheiden, ob ich jemand heirate, den ich nie gesehen habe und der mich nicht kennt? Habt ihr mich in die Bi lanz von Cluain eingesetzt? Es würde mich doch interessieren, wie ihr mich bewertet habt!« »Es war keine Bedingung, nur ein Vorschlag. Der junge Cameron hat anscheinend über dich von anderen gehört. Solche Ehemänner liegen nicht auf der Straße. Es wäre nur vernünftig von dir, ihn in Betracht zu ziehen …« »Im Moment bin ich vernünftiger als je in meinem Leben. Kannst du dich an deine Mutter Christina erinnern? Hat sie etwa den gehei ratet, den man ihr vorschlug? Hat sie nicht mit dem Mann ihrer Wahl eine neue Familie gegründet und sie nach seinem Tod ernährt? Wirst du mir zugeben, daß sie nicht nur den Mut von einem Mann, sondern gleich von dreien gehabt hat? Und was wärst du ohne sie geworden? Ich kann dir nur eins sagen: Ich will nicht Teil einer Geschäftsbilanz sein. Wenn du dich mit Cameron und Macquarie zusammenschließen willst, dann tu es, aber ohne mich. Ich will nicht mit den Lagerhäusern und der Brennerei verschachert werden. Und wenn ich morgen Cluain verlassen muß – gut, dann geh ich! Was ich nie besessen habe, kann ich auch nicht verlieren. Du kannst mir nichts wegnehmen.« »Bravo, Miß. Wer hätte je gedacht, daß Sie so in Feuer geraten könn ten.« Wir drehten uns alle um. Während unseres Gesprächs war es drau ßen dunkel geworden, und nur der im Kamin brennende Torf beleuch tete unsere Gesichter. Es war auch gut so, denn in den letzten Minuten hatte keiner Lust gehabt, den anderen anzusehen. Aber jetzt wandten wir uns alle um. In der offenen Tür stand Morag mit einer Kerze. Sie kam mit leichten Schritten ins Zimmer und stellte den Leuchter auf die 215
Anrichte. Sie trug keine Haube, und ihr herrliches rotes Haar fiel ihr üppig bis auf die Schultern. »Wie recht haben Sie, Miß. Man kann nichts verlieren, was man nie besessen hat.« Einen Augenblick war Großvater vor Wut sprachlos, aber dann brüllte er los: »Was nehmen Sie sich heraus, Miß, was geht Sie das al les an?« »Es geht um Cluain, Herr, und um Callum Sinclair.« »Und wieso geht Sie das etwas an? Was wissen Sie darüber?« »Ich weiß alles. Glauben Sie, ich bin blind und taub? Hab ich nicht die ganzen letzten Wochen das Essen ins Büro getragen? Hab ich nicht Sie und Mr. Ferguson von morgens bis abends bedient? Und ich soll nicht wissen, was hier vorgeht? Wenn Frauen Männer bedienen, Herr, so will das noch lange nicht heißen, daß sie dumm sind. Und Miß Kir stys feine Rede darüber, was sie alles nicht tun will, war bis in die Kü che zu hören. Frauen scheinen Sie dauernd in Erstaunen zu versetzen, Herr.« »Seien Sie nicht frech, Miß! Was bilden Sie sich ein! Wo ist Mrs. Sin clair? Kann sie keine Ordnung in ihrer Küche halten?« »Mrs. Sinclair ist in ihrem Zimmer, Herr. Sie hat in der letzten Zeit bis spät nachts gearbeitet und braucht Ruhe. Aber in ihrer Küche herrscht Ordnung. Ich habe sehr viel von ihr gelernt. Eigentlich soll te ich jetzt die Teller abwaschen. Aber es gibt Momente, wo die Ar beit warten muß und die Befehle von Mrs. Sinclair besser nicht befolgt werden. Sie kann so wenig über mich verfügen wie Sie, Herr!« Großvater holte tief Atem, als ob er sich mit Geduld wappnen woll te. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er aufgestanden wäre und Morag eine Ohrfeige versetzt hätte. Eine Sekunde lang blickte er auf mich und dann wieder auf Morag. Vielleicht dachte er, daß unter den Weibern von Cluain eine Art Wahnsinn ausgebrochen sei. Seine ganze wohlgeordnete Welt schien aus den Fugen zu geraten. »Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe, Miß. Was wollen Sie eigentlich? Was haben Sie da für einen Unsinn über die Frauen gesagt? Was geht es Sie an, was wir hier oder im Büro besprechen?« 216
»Wenn Sie nicht immer selbst reden würden, Herr, hätten Sie meine Antwort gehört. Ich habe gesagt, es geht um Cluain und deshalb auch um Callum Sinclair. Muß ich noch deutlicher werden, Herr? Wollen Sie jetzt endlich das gutmachen, was Sie vor Jahren versäumt haben? Oder muß ich Sie dazu zwingen? Wollen Sie selbst das Buch aufschla gen, Herr? Ich habe auf diesen Moment gewartet – viele Jahre! Aber erst war Ihr Enkelsohn hier, und als er starb, kam dieses Mädchen – Ihre Enkeltochter. Aber Callum Sinclair ist auch noch da. Wollen Sie jetzt endlich reden, Herr?« Im Schein der Kerzen wirkte Großvaters Gesicht plötzlich fahl. Es war nicht mehr sein Zorn, den er zu beherrschen versuchte, sondern ein innerer Gefühlssturm, der ihm fast die Sprache verschlug. Seiner Kehle entrangen sich ein paar gurgelnde Laute. Einen Augenblick faß te er sich an die Brust, als hätte er Schmerzen, dann umklammerte sei ne Hand wieder die Stuhllehne. Er würde Morag bestimmt nicht ohr feigen – nach meiner Meinung war er unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Endlich gewann er seine Fassung wieder und sagte atemlos: »Kirsty – schnell, ruf Mrs. Sinclair!« Ich lief. Er wirkte krank, aber es steckte noch mehr dahinter. Ich hat te vergessen, eine Kerze mitzunehmen, und das Licht, das durch den Türspalt fiel, reichte nur bis zur Hälfte der Treppe. Von dort aus mußte ich mich weitertasten; der Korridor im oberen Stockwerk wurde noch schwach vom Dämmerlicht erhellt. Ich zählte die Türen ab, bis ich an die von Mairi Sinclair kam. Ich klopfte laut, um sie zu wecken. »Mrs. Sinclair, bitte … bitte, kommen Sie schnell … mein Großva ter braucht Sie.« Aber sie schlief nicht; die Tür öffnete sich sogleich, und ich blickte in ein fast leeres, schmuckloses Zimmer. Es gab zwar einen Kamin, aber sie hatte ihn nicht angezündet. Auf einem kleinen Tisch lag aufgeschlagen neben einer Kerze das wohlbekannte schwar ze Buch, und davor stand ein harter hochlehniger Stuhl, der einzi ge im Raum. Sie trug dasselbe lange weiße Nachthemd und dasselbe Plaid wie an jenem ersten Abend, als ich ihr unter so merkwürdigen Umständen auf der Treppe begegnet war. Das schwarze, mit Silberfä 217
den durchzogene Haar hing ihr wie bei Morag lose und glänzend auf die Schultern. »Fehlt dem Herrn etwas?« »Nein … nein, krank ist er nicht, aber er bittet, Sie mögen sofort kommen.« Ohne ein weiteres Wort nahm sie die Kerze vom Tisch, hielt schüt zend die Hand vor die Flamme und leuchtete mir die Stufen hinunter. Dann blieb sie, fest in ihr Plaid gewickelt, an der Eßzimmertür stehen und wollte nicht eintreten. »Kommen Sie herein, Mrs. Sinclair, setzen Sie sich.« Sie trat ins Zimmer, blieb aber stehen. »Was ist passiert?« Er antwortete mit einer hilflosen Geste: »Es betrifft Sie.« »Es betrifft Cluain, Herr«, mischte sich Morag ein, »und es betrifft Callum Sinclair.« Sie stand noch genauso da, wie ich sie verlassen hat te, und fixierte die beiden Männer herausfordernd, ohne das gering ste Zeichen von Verlegenheit. Ich hatte sie nie so schön gesehen, mit dem zarten Gesicht und den funkelnden Augen. Während alle schwie gen, ging sie zum Tisch, auf dem die große Bibel lag. Mir war diese Bi bel immer als Teil des Raumes vorgekommen, so unverrückbar wie die schweren Möbelstücke selbst. Aber Morag hob das Buch auf, das selbst für ihre starken Arme schwer war, und legte es genau in die Mit te des Esstisches vor mich, so daß die metallbeschlagenen Ecken par allel zur Tischkante lagen. Mairi Sinclair verfolgte die Szene mit em pörten Blicken. Sie hob instinktiv die Hand, als ob auch sie das Mäd chen ohrfeigen wollte, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Was fällt dir ein!« sagte sie scharf. »Du weißt doch, daß niemand das Buch anrüh ren darf.« »Und ich rühre es trotzdem an, weil Sie es nicht wagen, Mrs. Sinclair. Für Callum Sinclair wage ich alles!« »Und was hast du mit meinem Sohn zu tun? Was hat dies alles mit ihm zu tun?« »Oh, sehr viel, Mrs. Sinclair, und ich werde jetzt für Ihren Sohn das tun, was Sie seit Jahren versäumt haben, weil es höchste Zeit ist und ich 218
es so will. Haben Sie den Mut verloren? Oder haben Sie geglaubt, daß Cluain ihm zufallen muß, weil es ihm zusteht, weil er ein Recht dar auf hat? Haben Sie etwa auf das Anstandsgefühl dieses alten Mannes vertraut? Auf seinen Gerechtigkeitssinn? Wenn ja, dann haben Sie sich getäuscht. Er hat keins von beiden. Zusammen mit Mr. Lachlan macht er Zukunftspläne für Cluain, und der Name Ihres Sohnes wurde dabei nicht mal erwähnt.« Mairi Sinclair blickte langsam von einem zum anderen. »Was im mer der Herr mit Cluain tut, ist seine Sache und hat mit meinem Sohn nichts zu tun.« Morag warf den Kopf zurück, so daß die Kerzenflammen im Luft zug flackerten. »Närrin! Sie sind eine Närrin! Wenn Sie diesen Mo ment versäumen, wenn Sie jetzt nicht sprechen, ist alles für immer ver loren! Fordern Sie Ihr Recht! Sein Recht! Sonst verkaufen die beiden al ten Männer Cluain! Sie sind Ihr ganzes Leben lang eine Bediente ge blieben, Sie haben es selbst so gewollt. Aber Sie können doch nicht wol len, daß Ihr Sohn ein Angestellter bleibt. Sie können nicht zulassen, daß er so betrogen wird. Wie können Sie ins Himmelreich kommen, wofür Sie doch täglich beten, wenn Sie Ihrem eigenen Fleisch und Blut so schaden? Es ist Pech, daß Callum Sinclair fort ist; wenn er jetzt hier stünde, dann möcht ich mal sehen, wer es wagen würde, ihn zu über gehen! Nun, Herr, wollen Sie endlich reden? Wollen Sie die Bibel hier aufschlagen, damit alle es selbst lesen können, oder soll ich sagen, was dort geschrieben steht?« »Miststück!« schrie er, »gieriges, hinterlistiges, kleines Miststück. Wie sind Sie an das Buch herangekommen?« »Die Schlüssel, Herr – die kostbaren Schlüssel von Cluain! Sie tragen sie zwar immer bei sich, aber manchmal haben Sie sie Mrs. Sinclair und sogar mir anvertraut. Verstehen Sie denn nicht, daß alles Verschlosse ne immer Neugierde erweckt? Solange die Herrin lebte, war das Buch nie verschlossen, und als ich ein kleines Mädchen war, hat sie mir oft hier in diesem Zimmer aus dieser Bibel vorgelesen und mich auch drin lesen lassen. Ich erinnere mich genau, daß sie mir die Stelle gezeigt hat, wo die Namen Ihrer beiden Enkelkinder eingetragen sind. Ich sah den 219
Namen Ihrer Tochter – den Tag, an dem sie geboren wurde, den Tag, an dem sie geheiratet hat, den Tag, an dem sie gestorben ist. Es steht al les da. Damals haben mir die Namen nichts bedeutet, aber ich wußte, daß sie dort standen. William und Christina, und dann starb die Her rin, und das Buch wurde verschlossen. Und nie wieder aufgemacht – nie wieder! Erinnern Sie sich, als Sie krank waren, Herr, schickten Sie mich nach einem Glas Whisky. Sie gaben mir die Schlüssel und sag ten, ich solle sie gleich zurückbringen. Sind Sie nie auf die Idee gekom men, daß ich den Bronzeschlüssel mit dem komischen Bart wieder er kennen würde? Er hat mir als kleines Kind großen Spaß gemacht, und die Herrin hat mir gezeigt, wie man die vielen komplizierten Zacken geschickt in das kleine Schlüsselloch einpassen muß. Kinder vergessen solche geheimnisvollen Dinge nicht. Ich war vierzehn Jahre alt, als Sie mir zum ersten Mal die Schlüssel anvertrauten. Zweifellos dachten Sie, ich sei wie Mairi Sinclair. Aber ich bin nicht wie sie. Ich sah den klei nen Bronzeschlüssel und öffnete das Buch und schlug die letzte Seite auf, wo all die Namen stehen. Ich behielt mein Wissen für mich und wartete. Soll ich jetzt reden, Herr, ist es noch nötig?« »Warum, Herr?« Mairi Sinclair rang verzweifelt die Hände. »Warum haben Sie das getan. Was für ein Wahnsinn! Ich habe Sie angefleht, es nie … nie zu tun.« Aber er schüttelte den Kopf. »Als Sie mich darum baten, war es schon geschehen. In der Nacht, als meine Frau starb, setzte ich mich hin, um ihren Tod einzutragen, und da ich sie nun nicht mehr verletzen konn te, trug ich auch das andere Datum ein. Was ich mir davon erhofft habe, weiß ich nicht. Zwar standen die Namen meiner beiden Enkel kinder da, aber sie waren weit weg in China, vielleicht für immer, viel leicht würde ich sie nie sehen …« Bevor er in die Tasche griff, um den Schlüsselbund herauszuholen, sah ich, daß er sich wieder die Hände an die Brust preßte. Dann reichte er mir die Schlüssel mit unendlich müder Geste. »Da, Kirsty, schlag das Buch auf und lies selbst! Ich habe genug von Morags üblem Gerede.« »Angus …«, fing Lachlan an. 220
»Es ist schon so, Samuel, und was geschehen ist, kann nicht unge schehen gemacht werden. Kirsty, schlag das Buch auf.« Ich setzte mich an den Tisch, auf den Morag die Bibel gelegt hatte. Der Schlüssel war wegen seiner eigentümlichen Form leicht erkennbar, obwohl er sehr klein war, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn ins Schloß gesteckt hatte. Morag hatte ruhig eine andere Kerze ange zündet, als ob es zu ihren normalen Pflichten gehörte, und sie auf die andere Seite der Bibel gestellt. Das Schloß schnappte auf. Morag konnte ihre Ungeduld nicht bezähmen. »Hier ganz am Ende stehen die Namen!« sagte sie, über mich gebeugt. Mit einem Griff schlug sie die Bibel auf der unbedruckten Rückseite auf. »Sehen Sie, da ist der ganze Stammbaum der Macdonalds.« Ihr Finger glitt über die endlose Reihe der Namen, die viele Generationen in verschiede ner Schrift eingetragen hatten. »Sie können sich bis auf Ranald zu rückführen, den jüngeren Sohn von John, dem ersten Lord auf der In sel. Die Herrin hatte mir alles erklärt, sie war sehr stolz auf ihre Fa milie. Schauen Sie, wie schnell sie sich immer weiterverzweigten; bald war es unmöglich, alle Seitenzweige zu verfolgen, und so wurden nur noch die direkten Nachkommen des Hauses Macdonald eingetragen. Aber die sind alle da, hier der Urgroßvater des Herrn, sein Großvater, sein Vater, sein Bruder, er selbst, alle mit Geburts- und Sterbedaten. Und hier seine Tochter, ihre Geburt in Cluain und ihr Tod – und da Ihr Bruder, geboren in China, und Sie selbst, und schließlich ganz am Ende – sein eigener Sohn, geboren in Cluain; dem Geburtsdatum nach müßte er natürlich vor Ihnen und Ihrem Bruder stehen …« Die letzte Eintragung war in Großvaters Hand: Callum Sinclair Mac donald. Und das Geburtsdatum lag fast dreißig Jahre zurück. Ich blickte langsam von der Bibel auf und sah Großvater an. »Ist es wahr?« Er nickte bejahend. »Es ist wahr.« Mich durchfuhr ein fast unerträglicher Schmerz. Ich preßte die Lip pen zusammen, um nicht aufzuschreien, aber ich konnte nicht ver hindern, daß ich am ganzen Körper zu zittern begann. Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gelaufen, aber ich fürchtete, daß meine Bei 221
ne mich nicht tragen würden; ich wagte nicht einmal vom Stuhl aufzu stehen. Wie konnte ich den starrenden Blicken der Anwesenden entge hen? Ich drehte den Kopf von einer Seite zur anderen wie ein gehetz tes Tier. Mein Gefühl, daß in meiner Beziehung zu Callum irgend et was nicht stimmte, daß sie irgend etwas Verbotenes hatte, beschattet wurde von einem Geheimnis, war jetzt auf die grausamste Weise be stätigt. Wir waren ganz nahe Blutsverwandte, und doch war ich der Erfüllung meiner geheimsten Wünsche noch nie so nahe gewesen wie damals, als ich ihn im Ginster an mich gezogen hatte. Ich hatte ihn ei nen ganzen Sommer lang im Tal und in den Bergen verfolgt. Er hatte versucht, mir meine Liebe zu ihm auszureden, doch das war ihm nicht gelungen. Was für ein perverser Wahnsinn hatte sich meiner bemäch tigt – sich wie ein bösartiges Schlinggewächs um meine Seele gerankt? Er war der Halbbruder meiner Mutter, und doch sehnte ich mich nach ihm wie nach einem Geliebten und hatte gehofft, er würde mich heira ten. In welchem Maße können natürliche Wünsche und Gelüste ent arten – selbst wenn sie der reinsten Unschuld entspringen? Ich hat te geglaubt, ich könne auf ihn warten, bis seine Gefühle für Marga ret erloschen wären. Ja sogar seine Liebe zu Margaret hatte mich nicht schwankend gemacht, weil ich wußte, daß ich stark genug war, diese Liebe zu ertragen, sogar zu vergessen. Das Warten war jetzt sinnlos ge worden, aber die Sehnsucht war geblieben. Und sie würde auf immer ungestillt bleiben – auf immer. Ich hatte nicht nur die Hoffnung verlo ren, sondern auch das Recht auf Liebe. Ich durfte sie weder in meinem Herzen hegen, noch durfte sie je erwidert werden. Stumpf las ich noch einmal die Eintragung über Callum Sinclair Macdonald. Sie war nicht auszulöschen. Warum war ich eigentlich so erstaunt? Wäre ich nicht wie mit Blindheit geschlagen gewesen, hätte ich die Wahrheit längst erkennen müssen. Wahrscheinlich hatte mich die große Ähnlichkeit Callums mit Mairi Sinclair irregeführt, denn wie anders war es zu erklären, daß ich nicht gesehen hatte, wie sehr er Großvater, William und mir glich? Warum hatte ich nur Williams Augen, Haare, Gesichtszüge bei mir wieder gefunden, wenn ich in den Spiegel sah. Warum nicht Callums? Ja, Liebe macht blind. 222
Schließlich fand ich die Kraft, aufzustehen. Ich konnte ihnen jetzt sogar in die Augen sehen, und nun schämte ich mich plötzlich, daß ich nur an mich selbst gedacht hatte – als ob die anderen keine Gefüh le hätten. Ich erkannte, daß sie alle litten. Die verheerende Wirkung von Morags Enthüllung war auf allen Gesichtern abzulesen. Schließ lich stand Samuel Lachlan auf und trat hinter mich, um in die Bibel zu sehen, denn ich hatte die Eintragung nicht laut vorgelesen. Nachdem er über meine Schulter geblickt hatte, schlurfte er zurück zu seinem Stuhl und zitterte so stark wie ich selbst. Dann fragte er für sich – aber auch für mich: »Warum haben Sie uns das nicht früher gesagt, Angus? Es hätte vieles verändert.« »Ja … hätte.« Großvater sah uns alle an. »Ja, es hätte vieles verän dern können, wenn ich von Anfang an richtig gehandelt hätte. Aber ich war zu feige und habe mich von Mairi Sinclair überreden lassen, die Sache zu vertuschen. Sie wollte meine Frau und Tochter nicht in ei nen Skandal verwickeln. Vielleicht hätte ich nicht mal gemerkt, daß sie schwanger war, wenn ihr Vater sie nicht so furchtbar geschlagen hätte, daß die ganze Gegend davon redete. Natürlich sprach man auch über den Grund dieser Misshandlung. Sie wollte weg von hier, aber meine Frau bestand darauf, sie aufzunehmen, und ich hatte nicht den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen. Mairi Sinclair drohte, sie würde fortgehen, wenn ich nicht schweigen würde – nach Glasgow oder sonst wohin –, und niemand würde sie je wieder sehen. Nachdem ich sie schon so ins Unglück gestürzt hatte, wollte ich ihr und dem Kind das Leben nicht noch mehr erschweren. In Cluain hatte sie wenigstens ihr Auskommen und war gut untergebracht. Ich habe zu Gott gebetet, daß sie ein Mäd chen zur Welt bringt. Für ein Mädchen ist es leichter zu sorgen. Aber es wurde ein Sohn – mein einziger Sohn, und ich durfte ihn nicht an erkennen. Durch meine Feigheit verlor ich das, was ich mir am sehn lichsten auf der Welt gewünscht habe.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen; die Vergangenheit, die nie ganz tot ist, wurde auf erschreckende Art wieder lebendig. »Es passierte damals, als ich noch manchmal nachts in den Hirtenhütten übernachtete. Ich hatte viel weniger Arbeitskräfte als jetzt und mußte 223
gelegentlich selbst nach dem Vieh sehen, damit einer von den älteren Leuten zu seiner Familie ins Tal gehen konnte. Mairi Sinclair lebte dort oben, und vielleicht sollte ich Scham empfinden über das, was ich tat – aber ich schäme mich nicht und hab mich nie geschämt, sie geliebt zu haben. Wir waren nur diesen einen Sommer zusammen, und seit sie in diesem Haus wohnt, lebt sie allein. Als meine Frau starb, wollte ich sie heiraten und ihren Sohn adoptieren. Aber sie hat sich strikt geweigert; sie wollte aus ihrer Sünde nicht Kapital schlagen, sagte sie, was immer das hieß. Und so vergingen die Jahre. Es wäre nur eine formelle Heirat gewesen, und das lehnte sie als verlogen ab. Was konnte ich ihr erwi dern? Und was die Sünde betrifft – das junge Mädchen von damals hat nicht gesündigt. Sie war siebzehn und unschuldig und dabei klug und belesen, weit über ihren Bildungsstand hinaus. Sie hatte langes schwar zes Haar … Sie sagte, ich hätte kein Recht, mich einzumischen – we der in ihr Leben noch in das Leben ihres Sohnes. Und ich habe es auch nicht getan. Ein Mann, der so gehandelt hat wie ich, hat sein Recht ver loren. Er kann bitten, aber nicht fordern.« Samuel Lachlan hielt mir sein leeres Glas hin; ich goß ihm noch ei nen Whisky ein und verschüttete die Hälfte dabei; doch keiner schien es zu bemerken, und mir war es gleichgültig. Er sagte: »Aber ein Sohn, Angus! Ein Sohn für Cluain! Ich entsinne mich, daß ich sehr dagegen war, als Ihre Frau Mairi Sinclair in Cluain aufnahm. Aber Ihre Frau konnte bei aller Nachgiebigkeit sehr bestimmt sein. Ich kann mich auch noch an den Tag erinnern, an dem das Kind gebo ren wurde. Wenn ich damals gewußt hätte … warum haben Sie mir nicht die Wahrheit gesagt, Angus? Ich hätte doch Mrs. Sinclair davon überzeugen können, daß sie ihrem Sohn nicht die Zukunft verbauen darf. Und dieses Mädchen hier …«, er wies auf Morag, und seine Mie ne drückte eine Mischung von Verachtung und Respekt aus, »hat voll kommen recht. Von ihren Beweggründen will ich nicht sprechen, aber sie hat recht. Wir können nicht über Cluains Zukunft entscheiden, ohne Callum Sinclair zu fragen. Er hat einen Anspruch auf Cluain, vielleicht keinen gesetzlichen – aber einen rein menschlichen.« »Ja, Samuel, aber gerade menschlich sind wir uns nie nahe gekom 224
men. Es war, als ob Callum vom ersten denkenden Moment seines Le bens an gewußt hätte, daß ich ein Feigling und Ehebrecher bin. Er wuchs in diesem Haus auf, und doch war er mir fremder als meine Enkelkinder in China, die ich nie gesehen hatte. Vergessen Sie nicht, Samuel, als meine Frau starb, war er schon ein erwachsener junger Mann, den ich nicht mehr beeinflussen konnte. Er nahm nichts von mir an, nicht das kleinste Geschenk, nicht die geringste Hilfe. Das ein zige, was ich ihm geben konnte, war mein Wissen, und das hat er al lerdings bis zum letzten ausgeschöpft. Er lernte von mir alles, was ich ihm beibringen konnte: die Gutsverwaltung und die Whiskyherstel lung. Aber er lernte nicht nur von mir, er lernte von jedem; er hat die Intelligenz seiner Mutter. Er ist ihr überhaupt sehr ähnlich – unab hängig, stolz, trotzig … nein, eigensinnig. Oft habe ich gedacht, daß er mich hasst, und vielleicht tut er es auch. Eines Tages ging er fort von hier, erst auf die Schule von Inverness und dann nach Edinburgh. Aber nicht ich habe dafür bezahlt, sondern seine Mutter. Keinen Pfennig wollte Mrs. Sinclair von mir annehmen, außer dem Geld, das ihr für ihre Arbeit zusteht – und zwar doppelt und dreifach zusteht. So ist es bis heute. Die Sonderrechte, die er zu haben scheint, sind ihm vertrag lich zugesichert. Als ich ihn bat, nach Cluain zurückzukommen, wuß ten wir beide, daß er die Bedingungen diktieren würde. Er nimmt von mir keine Vergünstigungen an und erwartet auch keine. Und wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sagte und ihm einen Teil von Cluain anböte, so wüsste er genau, daß ich es nicht etwa täte, weil ich ihn liebe, so wie ein Vater seinen Sohn lieben soll, sondern weil ich ihn dringend für Clu ain brauche. Ich habe versucht, ihn zu lieben – aber es kam nicht wirk lich von Herzen. Und in dem Moment, wo er das begriffe und auf Ra che sänne, könnte er sie auch sehr einfach befriedigen, indem er Clu ain verweigert. Das wäre der sicherste Weg …« »Und er würde es tun, Herr. Ich kenne meinen Sohn.« Hatten wir alle Mairi Sinclair vergessen, nur weil sie schwieg? Sie stand hochaufgerichtet da, majestätisch und ehrfurchteinflößend; ihre Augen wirkten noch dunkler als sonst im trüben Kerzenlicht. Man konnte sich gut vorstellen, was für eine unwiderstehliche Anziehungs 225
kraft sie als Siebzehnjährige auf Großvater ausgeübt haben mußte. Sie war damals sicher sehr schön und anderen Mädchen ganz unähn lich gewesen, so wie sie jetzt allen anderen Frauen unähnlich war. Ich sah sie deutlich vor mir – dort oben bei den Hirtenhütten, immer ab seits stehend, wenn sich die anderen um das flackernde Feuer schar ten und mit den Jungen lachten und ihre Scherze trieben. Und dann kam im letzten Aufleuchten der Dämmerung der Herr von Cluain und wurde ihr Begleiter. Nicht der Mann, der jetzt vor uns stand, sondern ein anderer, dreißig Jahre jüngerer, der noch zu kämpfen hatte, des sen Träume und Hoffnungen noch nicht zerstört waren. Und das glei che hatte vielleicht auch für jenes schwarzhaarige, kluge, vielseitig be gabte Mädchen gegolten, dessen Stolz noch größer war als seine Ar mut. Kein Mädchen zum Tändeln oder zum Verführen, aber auch kein Mädchen, das später den Namen seines Liebhabers verriet, nicht ein mal unter dem Hagel fast tödlicher Schläge, sondern sein Kind aus trug, auch wenn es keinen Vater hatte. Wie hatten wir sie vergessen können – auch nur ein paar Sekunden lang? »Sie hätten seinen Namen nie eintragen sollen, Herr! Wenn ich es ge wußt hätte, so hätte ich das Buch, sogar dieses heilige Buch, vernich tet. Aber es wäre nicht einmal nötig gewesen, es gibt Mittel, die jede Schrift löschen, und dann hätten die neugierigen Augen dieser kleinen Intrigantin nur noch einen Schatten entdeckt. Sie hätten es nicht tun dürfen, Herr.« Er seufzte. »Vielleicht tat ich es aus Reue darüber, daß ich meiner Frau nichts davon gesagt hatte; sie war eine großzügige Frau und hätte mir sicher verziehen. Vielleicht tat ich es aber auch, um meinen Letz ten Willen kundzutun. Wenn diese unbekannten Enkelkinder nie auf tauchen sollten, dann wüsste man wenigstens nach meinem Tode die Wahrheit.« »Herr, es wäre eine unnütze Grausamkeit gewesen, der Herrin die Wahrheit zu sagen. Und vergessen Sie nicht, damals, als Sie mich zwan gen zuzugeben, daß ich Ihr Kind in mir trage, sagte ich Ihnen, daß ich und das Kind Cluain sofort verlassen würden, wenn die Herrin etwas erführe. Wie konnten Sie mit zwei Frauen, die Sie zu lieben vorgaben, 226
unter einem Dach leben? Wie hätte ich unter solchen Umständen blei ben können? Am Anfang war es für mich jedes Mal eine Strafe, wenn ich der Herrin in die Augen sehen mußte; aber ich blieb, weil mein Sohn hier und nicht in irgendeinem städtischen Kellerloch aufwach sen sollte. Er sollte nicht unter meinem Fehltritt leiden, aber er soll te auch nicht Ihr Sohn sein, sondern nur meiner. Und doch denke ich manchmal, daß er die Wahrheit weiß. Als er erwachsen wurde, scheint er es gemerkt zu haben, ohne daß ich je mit ihm darüber sprach. Wie Sie sagen, Herr: Es ist, als ob er es von seinem ersten denkenden Mo ment an gewußt hätte und dieses Wissen dazu benützte, Ihnen das zu verweigern, was Sie sich am sehnlichsten wünschten, nämlich ei nen Sohn. Und wenn er von Ihnen nie ein Geschenk annahm, dann nur, weil er es nicht über sich bringen konnte, Ihnen dafür zu dan ken. Callum kann niemandem danken – ein schlimmer Fehler, un ter dem auch ich leide. Ich kann nicht danken, aber ich will auch kei nen Dank hören. Ich tue, was ich kann, was ich für richtig halte, was Gott mir eingibt. Als Ihr Enkelsohn kam und so umgänglich und lie benswürdig war und Sie so gut mit ihm auskamen, als ob er und nicht Callum hier aufgewachsen sei, war ich fast rasend vor Eifersucht und Neid. Ich wollte, daß alle Ihre Gedanken Callum gehörten. Ich bete te nächtelang, um meine Seele von diesen bösen Gedanken zu befrei en, und ich dachte, es wäre mir gelungen. Und als Ihr Enkelsohn starb und ich sah, wie verzweifelt Sie waren, hatte ich das Gefühl, Gott hät te uns beide gestraft. Aber dann kam dieses Mädchen, um seinen Platz einzunehmen, und wieder litt ich unter meiner Eifersucht und mei nem Neid. Und wieder kämpfte ich dagegen an und betete und ver stand allmählich, daß mein Sohn keinen Gewinn aus meinem Fehltritt ziehen dürfe. Und ich wußte, was für ein Unrecht er mit dieser Frau beging – ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht. Es schien wie ein Fluch; als hätte ich den Samen des Bösen in ihn gesenkt. Und was mei ne eigenen Sünden betrifft, so kann ich nur noch beten, daß sie mir vergeben werden.« »Und ich sage zum Teufel mit Ihren Gebeten, Mairi Sinclair!« schrie Morag mit der ganzen Kraft ihrer angestauten Wut. »Sie und dieser 227
alte Mann hier – und das ganze Gewäsch über Seele und Gewissen. Jetzt geht es um Ihren Sohn. Sagen Sie ihm die Wahrheit! Geben Sie ihm seinen rechtmäßigen Platz in diesem Haushalt. Wollen Sie Ihrem Sohn das Erbe rauben, um Ihre Seele zu retten, Mrs. Sinclair? Und Sie, Herr, werden Sie es zulassen, daß Cluain mit irgendwelchen Firmen verschmolzen und Ihr eigener Sohn übergangen wird, weil Sie vor vie len Jahren nicht den Mut hatten, ihn anzuerkennen? Schätzen Sie sich selbst so niedrig ein, daß Sie es sich nicht leisten können, eine große Geste zu machen? Ist der Herr von Cluain so machtlos, daß er andere nicht dazu zwingen kann, seinen eigenen Sohn zu akzeptieren? Den ken Sie darüber nach, Herr, denn wenn Sie ihm nicht die Wahrheit sa gen, dann tue ich es. Und die Anwesenden sind meine Zeugen; sie ha ben alle die Eintragung gesehen!« »Aber man braucht ihm gar nicht die Wahrheit zu sagen!« Ich hatte endlich meine Sprache wieder gefunden. »Er kennt sie! Selbst wenn sie ihm niemand gesagt hat, er kennt sie!« Morag sah mich an. »Sind Sie sicher?« »Ja, ganz sicher, so sicher, wie eine Frau nur sein kann. Ich werde es vor euch allen sagen, weil ich mich dessen nicht schäme – nicht schämen kann. Wenn er mich gewollt hätte, wäre Callum Sinclair jetzt mein Ehemann. Ja, ich wollte ihn heiraten. Aber er wollte nichts von mir wissen. Er ging seine eigenen Wege und liebte eine andere. Aber auch ohne Margaret Campbell hätte er mir nie gehört. Ich begreife jetzt alles – Dinge, die mir früher unverständlich waren. Er versuch te, sie mir zu erklären; er versuchte, mir meine Liebe auszureden – als ob das möglich wäre! Ich verstand ihn nicht. Ich liebte ihn weiter und nährte meine Hoffnungen. Jetzt weiß ich, was uns trennte, und weiß auch, daß es nie eine Hoffnung gab.« Mir war alles gleichgültig; sie sollten ruhig wissen, wie sehr ich Cal lum liebte, sie sollten wissen, was für eine Gefahr ihnen von dieser dunklen, verbotenen Liebe gedroht, wie dicht ich vor dem Abgrund gestanden hatte. Die Worte, die er mir damals im Gebirge beim Weg reiten zugerufen hatte, fielen mir wieder ein: »Vergessen Sie diesen Tag, Kirsty, vergessen Sie ihn!« Sein Instinkt hatte versucht, mich zu retten; 228
wenn er seiner Sache ganz sicher gewesen wäre, hätte er sich deutlicher ausgedrückt. Aber in einem waren wir uns ähnlich, Callum und ich – wenn wir liebten, liebten wir gegen jegliche Vernunft und Hoffnung. Ich studierte noch einmal aufmerksam die Eintragungen in der Bi bel, dort standen unsere Namen – Williams und mein eigener und Callums, aber zum Schluß, obwohl er datenmäßig vor den unsrigen stehen müßte. »Ich sehe, Großvater, daß du etwas korrigieren mußt. Solange William noch lebte, verstehe ich, daß du auf einen legalen Erben für Cluain hofftest – obwohl die Legalität eine große Ungerechtigkeit einschloss. Aber nach Williams Tod, Großvater, kannst du keinen neuen lega len Erben und keine Ausrede mehr finden. Du solltest dich schämen, mehr denn je, über eine Verbindung mit den Camerons und Macqua ries zu reden und sogar über eine günstige Heirat für mich, wenn dein eigener Sohn übergangen wird.« »Er wird Cluain verweigern. Er hat nie etwas von mir angenommen.« »Das kann sein, aber ich will es von Callum selbst hören. Wir alle wollen es hören. Ich werde ihm die Wahrheit sagen, wenn du es nicht tust; wir brauchen nicht Morag dazu. Ich werde alles sagen, was ich weiß, und dann Cluain verlassen! Ich habe ihn geliebt. Weißt du, was Liebe ist, Großvater? Ich bezweifle es. Meine Liebe war unerlaubt – Verwirrung und junges Leid, aber trotzdem könnte ich nicht hier blei ben und ihn jeden Tag sehen, den verlorenen Traum jeden Tag vor meinen Augen haben. Aber bevor ich gehe, sage ich ihm die Wahr heit, ich schwöre es dir! Und ohne seine Einwilligung will ich Cluain nicht verschachert sehen. Vielleicht stimmt er der Zusammenlegung zu, aber dann soll er es sagen. Aber vergiß bei allem, was du jetzt für Cluain tust, nicht, daß nach deinem Tod die Camerons und die Mac quaries keine Ruhe geben werden. Sie werden sich nach und nach alles aneignen, was du geschaffen hast, ganz egal, welche Versprechungen gegeben, welche Verträge unterschrieben werden. Verstehst du nicht, daß du gegen die Camerons und die Macquaries nur ein großes Ge gengewicht hast – und das ist Callum. Er ist dein Sohn, und er ist ein Mann!« 229
Dann konnte ich nicht mehr. Ich vergrub mein Gesicht in beide Hän de und betete zu Gott, daß ich nicht anfangen würde zu weinen, hier und jetzt, über meinen Verlust und meine Selbsterniedrigung. Callum war für mich verloren – für immer und ewig. Aber dem nicht genug: Durch meine schwungvolle Rede hatte ich auch noch Cluain verloren. Ich fühlte eine entsetzliche Leere in mir – ich hatte alles aufgegeben, alles, was ich liebte. »Gibt es ein Glas Whisky in diesem Haus? Ich komme gerade aus Edinburgh – und aus Ballochtorra.« Callums Stimme; ich hob den Kopf, und das Blut strömte zu meinem Herzen, aber nur einen Augenblick lang – dann versank ich wieder in Hoffnungslosigkeit. Er stand gegen die Tür gelehnt, völlig erschöpft. Noch nie hatte er seiner Mutter so ähnlich gesehen. Seine Augen wa ren durch Schlaflosigkeit tief in die Höhlen gesunken; vermutlich hatte er seit Margarets Tod kaum etwas gegessen. Sein Gesicht war eingefal len und seine Lippen weiß. Niemand sprach, als er sich unaufgefordert an den Tisch setzte. Seine Anwesenheit schien uns von einem Zauberbann zu erlösen. Ich stieß ungestüm meinen Stuhl zurück, stand auf und lief zur Anrichte, um die Whiskykaraffe zu ergreifen. Aber Morag war schneller gewesen als ich, und ich hätte fast ein Glas zerbrochen, als ich sie ihr aus der Hand riß. »Überlassen Sie das mir!« sagte ich scharf. Ich hatte genug von Morag. Sie war zwar im Recht gewesen, als sie Callums Ansprüche gel tend machte, aber sie hatte es nicht aus schierer Nächstenliebe getan. Ich fragte mich plötzlich, warum ich nicht schon längst den glühenden Ehrgeiz hinter diesen hellen, forschenden Augen und der ständigen Wissbegier gespürt hatte. Für ein junges Mädchen aus dieser stillen, genügsamen Gegend wußte sie erstaunlich viel und hatte das Wichtig ste für sich behalten, bis sie es geschickt für sich ausnützen konnte. Ich goß viel Whisky ins Glas und wenig Wasser und stellte es vor Callum auf den Tisch. Er führte es langsam an die Lippen, trank und setzte es wieder ab. »Sie müssen hungrig sein«, sagte ich. »Morag wird Ihnen etwas zu essen bringen.« 230
»Nein, Morag bleibt hier, ich brauche nichts zu essen.« Er nahm noch einen Schluck. »Ich stehe seit fast einer halben Stunde an dieser Tür, und wenn je mand aufgeblickt hätte, hätte er mich leicht sehen können. Ich habe mich nicht bemerkbar gemacht, weil die Unterhaltung viel zu interes sant war, um sie zu unterbrechen. Es passiert nicht oft, daß ein Mann Gelegenheit hat, die Wahrheit über sich selbst zu hören – die angeneh me wie auch die unangenehme, aber die unangenehme schien zu über wiegen …« »Wenn Sie Anstand hätten …«, fing Großvater an. Eine müde Geste Callums unterbrach ihn. »Sie wollen jetzt noch von Anstand reden, Mr. Macdonald?« Er schaute uns alle an. »Man kann ruhig sagen, daß eigentlich nichts ungesagt geblieben ist. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht soviel scheinheiliges Gerede gehört – nein, wirklich nicht.« Er drehte sich zu mir, ergriff meine Hand und zwang mich, mich auf den Stuhl neben ihm zu setzen. »Es tut mir leid, Kirsty, Sie waren nicht gemeint. Für mich war dieser Sommer der Hö hepunkt meines Lebens, aber für Sie war er die Hölle. In einer sol chen Hölle lebe ich jetzt. Ja, ich habe versucht, Sie von mir fernzuhal ten, aber wie kann man jemand die Liebe verbieten? Ich wollte Ihnen eine Enttäuschung ersparen, aber ich wußte nicht, wie tief Ihre Gefüh le gingen. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen verweigert habe, was ich für mich selbst in Anspruch nahm, indem ich Margaret liebte. Ich tat Ihnen unrecht. Wenn ich geahnt hätte, daß es bei Ihnen mehr war als nur eine leichte Verliebtheit, hätte ich mit Ihnen gesprochen. Ich wuß te, daß ich am Ende des Sommers, nach Margarets Abreise, Cluain verlassen würde. O nein …« Er machte eine abwehrende Handbewe gung. »Ich wäre ihr nicht nach London gefolgt wie ein verliebter Kna be, obwohl ich mich genauso benommen habe, aber ich konnte auch nicht hier bleiben und auf den nächsten Sommer warten; ich wußte, daß ich es nicht ohne sie aushielte. Ich wollte fort aus der Gegend und hoffte, daß Sie, Kirsty, mich vergessen und einen anderen lieben wür den und alles in Ordnung käme. Wie dumm das jetzt klingt … alles in Ordnung … aber das waren meine Überlegungen. Wenn ich nur ge 231
ahnt hätte, daß Sie so leiden – nichts hätte mich davon abgehalten, Ih nen die Wahrheit zu sagen.« »Wußten Sie es denn … das mit meinem Großvater?« »Mein Vater!« Es war, als ob wir allein im Raum wären. Alles Tren nende zwischen uns war wie fortgeblasen. Unser erstes freies, unge hemmtes Gespräch fand vor Zuhörern statt. Aber das machte nichts aus. Alles war plötzlich klar und offen. Die Liebe war noch immer da und konnte ebenso wenig ausgelöscht werden wie der Name in der Bibel – nicht einmal durch die Schärfe des Schmerzes, obwohl sich auch dieser seltsam gewandelt hatte. Ich sah Callum mit anderen Au gen an – aber liebte ihn dafür nicht weniger. »Mein Vater! Ja, ich wußte oder besser ahnte es, obwohl nie darüber gesprochen worden ist. Eine derartige Intensität der Gefühle kann es nur zwischen zwei Menschen geben, die so eng miteinander verwandt sind wie wir. Ein Fremder hätte mich nie so tief verletzen können; er wäre gar nicht erst an mich herangekommen. Ich glaube, ich kann nur lieben oder hassen. Die meiste Zeit dachte ich, ich hasste ihn – er war so hochmütig und arrogant, so erfüllt von sich und Cluain. Und dann gab es Momente, wo er mir leid tat, weil er allein seine Abende ver brachte, allein alterte. Und meine Mutter, die denkt, daß sie ihre Seele gerettet hat, indem sie ihn nicht heiratete, hätte lieber in ihrem Herzen nach etwas christlichem Mitleid suchen sollen. Trotz aller ihrer Gebete hat sie weder ihm noch sich verziehen. Meine Mutter hatte ihre eigene Rache, die sie Buße nennt. Doch obwohl sie es zu verneinen versucht, hoffte sie all diese Jahre, daß Cluain mir zufallen würde. Wen außer mir gab es? Wir zankten uns zwar, der alte Mann und ich, aber dann mußte er mich doch zurückrufen. Ich war froh, als William kam. Der alte Mann hatte Gesellschaft und schöpfte neue Hoffnung – und ich war frei. Ich stand nicht mehr unter dem Alpdruck einer Zukunft, die mir vorgeschrieben schien. Ich brauchte nicht mehr Cluain anzuneh men oder es zu verweigern. Dann änderte sich alles wieder; William starb, und Margaret kam zu mir. Alles schien plötzlich auf dem Kopf zu stehen, und ich hatte Mühe, mich in der neuen Lage zurechtzufin den und nicht ganz den Verstand zu verlieren. Ich lebte wie in einem 232
Freudennebel, solange ich Margaret um mich hatte, und sah nicht, was Sie fühlten. Ich wußte, der Verlust von Margaret würde mich töd lich treffen. Und ich sterbe jetzt auch einen kleinen Tod. Es tut mir leid, Kirsty. Ich hätte es nie zulassen dürfen, daß es mit Ihnen so weit kommt, aber ich steckte zu tief in meinem eigenen Glück und dann in meinem eigenen Schmerz.« Er sah mich freundlich an wie nie zuvor. Ich legte meine Hand leicht auf seine. Ich hätte William nicht anders angefasst. »Wir werden es bei de überleben«, sagte ich, »man stirbt nicht so schnell. Ich werde Cluain verlassen, und Sie werden bleiben, weil Sie es müssen. Aber wir werden beide überleben.« »Ich bleibe nicht in Cluain«, sagte er. »Um nichts in der Welt. Ich will weder diesem alten Mann helfen noch das annehmen, was er mir geben kann. Wie ich gehört habe, wurde hier über einen Zusammen schluss mit den Camerons und Macquaries gesprochen. Auch des wegen bleibe ich nicht. Es gibt nichts, was man mir jetzt noch geben kann. Und so sind Sie es, Kirsty, die bleiben muß, Sie sind es, die für Cluain zu kämpfen haben wird. Man wird versuchen, eine Heirat für Sie zu arrangieren. Aber lassen Sie sich nichts aufdrängen, keine Ver antwortung und auch keinen Menschen. Folgen Sie nur Ihrem eige nen Herzen. Nachdem Sie wissen, was Liebe ist, werden Sie sie entwe der finden oder ohne sie leben müssen. Geben Sie sich nicht zufrieden mit einer Liebe, die nur scheinbar Liebe ist – nicht für Geld, nicht für Vorteile und auch nicht um des Friedens willen. Denn Sie und ich, Kir sty, wir sind nicht für Kompromisse geschaffen – sie sind kein Teil un seres Familienerbes.« Samuel Lachlan konnte nicht mehr an sich halten. Sein Kneifer fiel herunter, und seine Hand zitterte so stark, daß er sich den halben Whis ky über die Hose goß. »Wollen Sie etwa sagen, Sinclair – Callum –, daß Sie nicht in Cluain bleiben? Daß Sie Ihr Erbe verweigern, angenom men, Ihr Vater bietet es Ihnen an? Ist das Ihr Ernst, Sie würden Cluain nicht übernehmen, wenn … ich meine … später, wenn …« Callum schien ihn nicht zu hören. Er schaute mir in die Augen, so wie damals, als wir uns zum ersten Mal trafen. Seine Blicke glitten über 233
mein Gesicht, zärtlich und mitleidig. Dann fühlte ich, wie seine Hand, die unter der meinen lag, ruhig und fest meine Finger umschloß, so als wollte er mich seiner Hilfe versichern. »Es tut mir leid, Kirsty«, sagte er wieder. »Ich überlasse Sie keiner leichten Zukunft. Cluain ist kein Ge schenk – es ist eine Last. Es tut mir leid.« Erst jetzt blickte er zu den beiden Männern hinüber. »Nein, ich blei be nicht. Meine Dienstjahre in Cluain sind zu Ende. Wir – mein Vater und ich – können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Für uns beide ist es zu spät. Wir können uns beide nicht mehr ändern, und so, wie wir sind, können wir nicht zusammenleben. Also machen Sie nur Ihre Pläne – aber bitte ohne mich. Ich werde gehen, sobald Sie ei nen Ersatz für mich finden.« »Sind Sie sicher?« fragte Großvater, er sah Callum an, und seine Züge waren hart und verbittert. Er sah sehr erschöpft aus; die tiefen Fur chen wirkten wie eingemeißelt in dem alten Gesicht. Vermutlich hat te er die letzten dreißig Jahre bewußt oder unbewußt damit gerechnet, daß, wenn alle Pläne misslängen, noch immer Callum da wäre. Und nun waren die dreißig Jahre um und Callum fort. Der einzige Mensch, der ihm blieb, war ich. »Alles wird zu Asche«, sagte er. »Ein Mann arbeitet sein Leben lang, und wofür? Samuel, für wen haben wir beide gearbeitet, Sie und ich?« Samuel wirkte noch verwirrter als zuvor. Die Grundpfeiler seiner Existenz: die Ehrfurcht vor der Arbeit, die Unantastbarkeit des Besit zes, die ganze gottgewollte Gesellschaftsordnung, gerieten ins Wan ken. In den letzten paar Minuten hatte er mit anhören müssen, wie zwei junge Leute einen Besitz ablehnten, den er und Angus Macdo nald in einem langen, arbeitsreichen Leben aufgebaut hatten. Wortlos schüttelte er den Kopf. »In diesem Fall, Callum Sinclair«, sagte Großvater, »wollen wir Sie nicht halten. Schließlich bin ich noch imstande, eine Brennerei zu füh ren. Wir fangen bald mit dem Malzen an, und davon verstehe ich was. Das Auge und die Nase für guten Whisky gehen einem auch im Alter nicht verloren. Sie können gehen, wann immer Sie mögen. Wenn Clu ain Ihnen nicht paßt, wollen wir Sie nicht aufhalten. Wir finden leicht 234
Ersatz für Sie. Es gibt viele, die froh sein werden, in Cluain arbeiten zu dürfen. Machen Sie sich also keine Sorgen, wir werden weiterhin gu ten Whisky produzieren, auch ohne Ihre Hilfe.« Es war eine endgülti ge Kündigung. Mairi Sinclair hob eine Sekunde ihre Hand, wie zum Protest, als ob sie Callum zurückhalten oder ihn irgendwie warnen wollte. Aber dann ließ sie sie gleich wieder fallen. Also würde auch sie ihn verlieren; auch sie würde in Cluain viele Jahre lang ohne ihn leben müssen. Doch dann kam ein lauter Protest – aber von Morag. »Callum, sind Sie verrückt? Begreifen Sie denn, was Sie tun? Sie kön nen doch nicht Cluain ablehnen! Was will ein Mann mehr als solch ei nen Besitz! Ein schönes Haus, ein schönes Gut, eine berühmte Bren nerei. Schauen Sie sich doch die beiden alten Männer da an. Ein Wink von Ihnen – auch jetzt noch –, und Cluain gehört Ihnen. Glauben Sie ihm doch nicht, wenn er von Entlassung spricht. Er würde Sie mit Freuden behalten. Er braucht Sie. Der Tod dieser Frau hat Ihnen den Verstand geraubt. Mit der Zeit … schon sehr bald … werden Sie zu sich kommen und verstehen, daß sie gar nicht so wichtig war … diese fri vole, leichtsinnige Person. Sie werden sich selbst wundern, wieso Sie Ihre Gedanken und Ihre Zeit an sie verschwendet haben. Außer ihrem guten Aussehen war nichts an ihr dran …« Callum drehte sich langsam zu ihr um. Nach unserem Kampf um die Whiskykaraffe war Morag zur Tür zurückgegangen, dorthin, wo Callum gestanden hatte, bevor wir ihn bemerkt hatten. Im Kerzen licht war sie jetzt fast unsichtbar, vielleicht mit Absicht, damit man sie nicht wegschickte. »Und was geht es Sie an, Morag, was ich mit mei ner Zeit tue und wem ich meine Liebe schenke? Ich war glücklich, bei des zu geben, und Margaret gab mir das, was keine Frau mir je zuvor gegeben hat. Und das kann mir auch ihr Tod nicht nehmen, das bleibt für immer.« »Dann sind Sie ein doppelter Narr! Ihr Verstand sitzt in Ihren Len den und nicht in Ihrem Kopf. Sie fragen mich, was es mich angeht? Es geht um mein Leben! Seit Sie zurückkamen, seit ich fünfzehn Jahre alt war, habe ich auf Sie gewartet, Callum Sinclair. Ich habe gewartet und 235
habe gelernt, eine Frau zu werden, die Ihrer würdig ist. Glauben Sie etwa, andere liefen mir nicht nach? Aber ich habe mich für Sie aufge spart, für den Tag, an dem Sie mich bemerken werden. Ja, bemerken! Hätte ich die Kleider von Margaret Campbell und ihre weichen Hän de und ritte eine Vollblutstute – Sie hätten mich längst bemerkt. Meine Hände sind zwar rau, aber nicht mein Gesicht und nicht mein Körper. Für mich gab es nie jemand außer Ihnen, Callum. Ich kann nicht ein fach zusehen, wie Sie Cluain fortwerfen. Ich habe mit Ihnen gerechnet. Cluain sollte unsere gemeinsame Zukunft werden. Sogar Angus Mac donald hätte das einsehen müssen. Ich und Sie, Callum, wir zusam men können Kinder bekommen – Söhne für Cluain! Ich bin bereit, Ih nen alles zu geben – Ihnen und Cluain, das mich genauso braucht wie Sie. Nein, Sie können Ihr Erbe nicht fortwerfen! Ich werde es nicht zu lassen. Ich will nicht, daß alles, was ich getan habe, umsonst war!« »Und was haben Sie getan, Morag?« Eine Zeitlang schwieg sie, und ich sah sie fasziniert an. Es war ein vollkommen anderes Wesen, das sich da vor meinen Augen offenbarte: Die roten Lippen waren voll und leidenschaftlich; das gewinnende Lä cheln war verschwunden – die Frau, die dort stand, war selbstbewusst und zielstrebig und bereit, für ihre ehrgeizigen Wünsche zu kämpfen. Wie verschieden von der welken, resignierten Kompromissbereitschaft eines Samuel Lachlan oder eines Angus Macdonald! Morag wollte kei nen Kompromiss, sie wollte Cluain. »Was ich getan habe?« wiederholte sie endlich. »Ich habe Sie geliebt, Callum Sinclair. Das ist es, was ich getan habe. Ich habe Sie wirklich geliebt. Ich bin nicht so leichtfertig wie diese Frau, Margaret Campbell, die nur einen fröhlichen Sommer mit Ihnen verbringen wollte und Ih nen zum Spaß den Kopf verdreht hat. Sie brauchte einen neuen Lieb haber nach Master Williams Tod, der ihr die Zeit vertrieb. Aber mei ne Liebe ist anders – auch anders als die Liebe dieses Mädchens hier, die jemand liebte, den sie nicht lieben durfte. Gut, es war nicht ihre Schuld, aber sie ist eine Närrin und hörte nicht auf mich, als ich ihr erklären wollte, daß Sie beide nicht füreinander bestimmt sind. Aber ich – ich liebe Sie wie eine richtige Frau, ich bin bereit, für Sie alles zu 236
tun. Verstehen Sie nun, daß Sie kein Recht haben, Cluain zu verlas sen – mich zu verlassen!« Callum nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas. »Wie alt sind Sie, Morag?« Sie richtete sich hoch auf. »Alt genug – fast achtzehn.« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben Ihre Zeit vergeudet, Morag. Sie glauben, ich hätte Sie nicht bemerkt? Sie irren sich. Ich habe Sie oft ge nug in der Küche meiner Mutter gesehen, aber was ich sah, war keine liebende Frau, sondern ein Kind mit einem ränkevollen Herzen. Es ist keine Unschuld in Ihnen, Morag. Sie schimpfen über Margaret Campbell, aber was wissen Sie von ihr? Böse Zungen wie die Ihre haben sie verleumdet und beschmutzt. Aber sie war nicht so, wie man sie hin stellte. Sie war unfähig, auch nur einen berechnenden Gedanken zu hegen. Sie war schlicht – fast naiv, trotz allem, was man über sie er zählte. Sie hat einfach nie darüber nachgedacht, daß eine fröhliche, be schwingte Freundschaft mit einem Mann in Liebe umschlagen kann. Aber als es geschah, nahm sie diese Liebe an wie ein Geschenk, dank bar und glücklich, obwohl sie wohl nie ganz begriff, wieviel sie mir be deutete. Aber diese Art von Liebe verstehen Sie nicht, Morag, weil Sie nicht wissen, was Liebe ist. Sie haben gewartet und Pläne geschmie det. Warum? Für wen? – Ich weiß es nicht. Wenn Sie es für mich taten, dann haben Sie allerdings Ihre Talente vergeudet. Wenden Sie sich ge eigneteren Objekten zu; denn ich gehe.« »Ich habe Ihnen schon gesagt, Callum Sinclair«, mischte sich Angus Macdonald ein, »daß wir Sie hier nicht brauchen.« Wie kalt und müde seine Stimme klang! Ich fühlte direkt, wie der Zorn über Callums Ab weisung an ihm nagte. »Ich gehe, sobald man es mir erlauben wird«, antwortete Callum. »Aber vielleicht gibt es noch eine gerichtliche Untersuchung, die mei ne Anwesenheit hier erfordert.« »Eine Untersuchung?« sagte Großvater verächtlich. »Das ist doch nur eine leere Formalität. Der Sheriff ist ein Freund der Campbells, und er wird die Sache so schnell wie möglich erledigen. Natürlich werden Sie den ganzen Verlauf genau beschreiben müssen, da Sie der einzige Zeu 237
ge sind, und so vorsichtig Sie Ihre Worte auch wählen mögen, wird je der im Tal von nichts anderem sprechen. Ihre Beziehung zu Margaret Campbell hat schon genug Staub aufgewirbelt, und vor Gericht kön nen Sie schlecht behaupten, daß Sie ihr Reitknecht waren.« »Ich würde nie behaupten, daß ich irgend jemands Reitknecht war. Aber es geht um mehr als um eine routinemäßige Erledigung des Fal les. Die Todesursache ist ganz einfach: Margaret brach sich das Ge nick, als die Stute auf dem felsigen Gestein unterhalb des Wasserfalls ausrutschte und sie abwarf. Sie war sofort tot. Aber die Stute fiel nicht einfach – ich ritt hinter Margaret her und habe es ganz deutlich gese hen. Das Pferd glitt nicht versehentlich aus, es torkelte – und das an ei ner gefährlichen Stelle. Ich merkte, daß etwas nicht in Ordnung war, und rief Margaret zu, sie solle absitzen. Aber sie befolgte selten Rat schläge und ritt weiter. Und ausgerechnet in der Mitte der Furt brach die Stute plötzlich zusammen, und Margaret fiel auf die spitzen Fel sen.« »War die Stute krank?« fragte Großvater, sich vorlehnend. »Das wür de mich wundern; in Ballochtorra läßt man kein krankes Tier aus dem Stall.« »Die Stute war vollkommen gesund, als sie den Stall verließ. Ich sag te Ihnen schon, ich komme gerade aus Ballochtorra. Ich habe mit Ga vin Campbell gesprochen, wie ich es auch gleich nach dem Unfall tat, weil ich ohne seine Erlaubnis nicht handeln konnte. Bevor ich die Stu te neben meinem Cottage begrub, habe ich ihr den Magen herausge nommen und ihn zu einem Pathologen nach Edinburgh gebracht – er ist ein Schulfreund von mir. Ich habe ihm nicht die genauen Umstän de mitgeteilt, aber er vertraute mir, weil er wußte, daß ich seine Unter suchungsresultate nicht missbrauchen würde. Nach dem Gesetz hätte ich nicht selbständig handeln dürfen. Aber ich war meiner Sache nicht ganz sicher, und wenn ich mich geirrt hätte, dann wäre Margarets Sohn grundlos noch schlimmerem Gerede ausgesetzt gewesen. Und hätte ich die Polizei aus der nächsten Stadt alarmiert, wäre die ganze Gegend schon bei ihrem Erscheinen in Aufruhr geraten. Ich habe ge hofft, daß ich mich irrte. Aber ich hatte recht.« 238
»Was hat denn der Mann gefunden?« »Schierling, ziemlich viel Fingerhut, aber auch Bilsenkraut. Der Schierling allein hätte genügt, die Stute zu töten. Sie muß das Zeug ge fressen haben, während wir – Margaret und ich – in der Hütte waren. Der Pathologe hat mir gesagt, der unsichere Gang wäre die Folge eines Schwindelanfalls gewesen, der wiederum eine typische Vergiftungser scheinung ist.« Seine Stimme wurde immer leiser, während er sich die Einzelheiten der Szene wieder ins Gedächtnis rief. Er lehnte sich zurück und nahm noch einen Schluck Whisky. »Ich habe die eine Hälfte der Hütte zu ei nem primitiven kleinen Stall umgebaut, um die Tiere vor Unwetter zu schützen, aber auch vor neugierigen Blicken, obwohl dieser Pfad nur sehr selten benutzt wird. Ich habe nie einen Futtersack in dem Stall ge lassen, aber an diesem Tag, als ich die Stute und mein Pferd anband, hing ein Sack mit Hafer dort. Margaret war schon abgesessen und in die Hütte gegangen. Ich habe ihr nichts von dem Futtersack gesagt, weil ich dachte, daß sich irgend jemand, der über uns Bescheid wuß te, einen bösen Scherz erlaubt hatte. Dabei war nichts Böses an unse rem Zusammentreffen, aber ich wollte nicht, daß es Margaret so vor kam. Es war unverzeihlich von mir, den Futtersack in der Reichwei te der Stute zu lassen. Sie hat aus ihm gefressen – darüber gibt es kei nen Zweifel.« »Was für ein Unsinn!« rief Morag. »Jetzt denken Sie sich eine gro ße, tragische Geschichte aus, nur weil Ihre Geliebte umkam und Sie jemand anderem die Schuld zuschieben wollen. Die ganze Gegend ist voll von Schierling. Wo man ihn nicht wegschneidet, wuchert er wie wild. Das weiß jedes Kind.« Da mischte sich Mairi Sinclair ein. »Über Bilsenkraut weiß ich nicht genau Bescheid, aber von dem Schierling muß eine Menge im Hafer gewesen sein. Die Tiere aus den Ställen von Ballochtorra würden den wilden, unvermischten Schierling nicht anrühren. Es ist eine übel rie chende, abstoßende Pflanze, und nur sehr hungrige Pferde würden ihn vielleicht fressen. Bei Mäusen wäre das was anderes, weil sie am Schierling herumnagen, aber Pferde tun das nicht. Die Stute ist ein 239
wandfrei vergiftet worden. War sie tot, als John hinkam, um sie zu er schießen?« Callum schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie schrie nicht und warf sich auch nicht herum, wie Tiere es sonst tun, die sich etwas gebrochen haben oder unter Schmerzen leiden. Bis John kam, hatte das Gift Zeit genug, sich im ganzen Körper auszubreiten. John sagte mir, daß sie ganz still dalag und kaum die Augen öffnete, als er an sie herantrat. Ich bat ihn, nichts von dem Vorfall zu sagen, und er versprach es, weil auch er mir vertraute. Ich hatte selbst an den Hafer gedacht, und am näch sten Morgen noch vor Sonnenaufgang ging ich zur Hütte, um den Fut tersack zu holen, aber er war nicht mehr da. So habe ich keinen Beweis, daß die Stute den Schierling, das Bilsenkraut und das Digitalis zusam men mit dem Hafer fraß. Was ich aber erfahren möchte, ist, wer davon wußte, daß Margaret und ich uns dort trafen. Wenn es eine Warnung von irgendeinem engstirnigen Eiferer war, daß der Tod der Sünde Sold ist, dann hat er allerdings erreicht, was er wollte. Aber das Gift war nur für die Stute gedacht, und jetzt ist Margaret tot. Mein Gott, wenn sie doch nur meinen Rat befolgt hätte! Wär sie doch bloß nicht durch die se Furt …« Er wischte sich über die Stirn. »Die Untersuchung wird au ßer diesen Tatsachen vielleicht nichts ergeben, denn ich kann den Fut tersack nicht als Beweisstück vorlegen. Aber ich werde diese Gegend erst verlassen, nachdem ich erfahren habe, wer davon wußte, daß Mar garet und ich uns dort oben trafen. Und ich werde es erfahren.« »Ich wußte es«, sagte ich, »ich wußte es und war einen Tag vor Mar garets Tod in der Hütte.« Callum schüttelte ungläubig den Kopf. »Kirsty! Sie konnten doch nicht …« »Nein, ich tat es auch nicht. Ich sage Ihnen nur, daß ich es wußte. Ich ging hin, weil ich mir Gewissheit verschaffen wollte; selbst nach der Nacht des Prinzenempfangs wollte ich es noch immer nicht glauben. Aber als ich die Hütte sah, mußte ich es glauben. Der Futtersack war bereits da, und während der paar Minuten, die ich an der offenen Hüt tentür stand, hat auch Ailis aus dem Sack gefressen – aber nur wenig, weil die Zeit zu kurz war, und so blieb sie am Leben.« 240
»Aber wie haben Sie es erfahren, Kirsty – das mit der Hütte?« »Morag hat es mir erzählt.« Sie zuckte nicht mit der Wimper. Sie stand hochaufgerichtet da und glühte vor Zorn und Leidenschaft. »Ja, ich wußte es, das halbe Tal weiß es.« »Aber ich erfuhr es von Ihnen, Morag. Während des Erntefestes flü sterten Sie es mir zu und erklärten mir auch ganz genau, wie man hin kommt. Und am nächsten Morgen beim ersten Tageslicht verließen Sie Cluain. Ich habe Sie gesehen. Später sagten Sie mir, Mrs. Sinclair hät te Ihnen irgendeine Arznei für das kranke Kind eines Erntearbeiters gegeben.« »Das stimmt nicht.« Die Stimme Mairi Sinclairs klang scharf und trocken. Morag warf den Kopf zurück. »Nun gut, dann eben nicht. Aber wen geht es was an, wohin ich gehe? Habe ich kein Recht auf ein Eigenle ben? Ist Callum Sinclair der einzige, der ein Stelldichein haben darf?« Callum legte beide Arme auf den Tisch und rieb sich müde sein Kinn. Er blickte Morag nicht mehr an. »Und was soll das ganze Gere de, daß Sie sich für mich aufgespart haben?« Er seufzte, und ich sah, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Morag, Morag, lügen Sie nicht! Gingen Sie zu einem kranken Kind oder nicht? Trafen Sie sich mit einem Liebhaber oder nicht?« Als Morag keine Antwort gab, sprach ich. »Sie hatte es auf mich abge sehen. Sie hat mir die Beschreibung der Hütte an diesem Abend wie ei nen Köder hingehalten, und am nächsten Morgen hängte sie den Fut tersack im Stall auf. Sie wußte, daß ich der Versuchung nicht widerste hen könnte, mich selbst von der Richtigkeit ihrer Worte zu überzeu gen. Für Frauen wie Morag bin ich eine Närrin, aber wer benimmt sich nicht närrisch, wenn er liebt. Und wie sie vorausgesehen hatte, ging ich auch hin. Sie versuchte nicht, mich zu vergiften – so plump war sie nicht. Nein, sie versuchte es bei Ailis. Jeder weiß, daß Ailis alles frisst, was in ihre Reichweite kommt, und wenn ihr erst einmal schwind lig war, konnte ja vieles passieren – zum Beispiel konnte sie auf dem schmalen Pfad stolpern, die Schlucht ist steil und voller Geröll – sehr 241
gefährlich für eine mäßige Reiterin, wie ich es bin. Ein Sturz und Ai lis zu krank, um sich bis Cluain zu schleppen, oder sogar tot. Und ich selbst … Vielleicht verletzt, vielleicht eine Nacht im Freien, und mit et was Glück noch ein starker Regenguß. Wer weiß, ob ich nicht ähnlich wie William zugrunde gegangen wäre? Man brauchte doch drei Tage und zwei Nächte, bis man ihn fand.« »Und was hat das alles mit Margaret zu tun?« fragte Callum scharf. Er zwang sich, gerade im Stuhl zu sitzen. »Ja … was?« Einen Augenblick lang wurde ich selbst unsicher und versuchte, mir den genauen Ablauf des Tages ins Gedächtnis zurück zurufen – jenes Tages, an dem Callum an die Haustür hämmerte und der Regen von Margarets herabhängenden Reitstiefeln tropfte. »Ich erinnere mich, daß ich spät aufstand – an dem Tag. Wir – Mrs. Sinclair und ich – hatten die Nacht im Stall bei Ailis verbracht. Und als ich mich anzog, sah ich Margaret, die am Fluss entlangritt. Ich war erstaunt, sie zu sehen, denn Morag hatte mir gesagt, daß sie und Ga vin in Cawdor wären. Das Wetter war furchtbar, es regnete in Strö men. Ich erriet Margarets Ziel, und nur um Morag zu zeigen, daß ich nicht so litt, wie sie meinte, erzählte ich ihr, daß ich Margaret gesehen hätte. Morag richtete schnell mein Essen an und sagte, sie müsse noch Gemüse putzen. Aber als ich dann in den Küchenvorraum kam, war sie nicht da.« »Was erzählen Sie da für lange Geschichten, Kirsty?« fragte Callum ungeduldig. »Drücken Sie sich um Gottes willen deutlicher aus.« »Das versuch ich ja gerade«, fuhr ich ihn an. Ich wünschte selbst, ich hätte schon alles hinter mir. »Aber ich glaube, Sie werden mich gleich verstehen.« Ich blickte auf Morag. »Es war für mich bestimmt, nicht wahr, Morag – für Ailis? Margaret war gar nicht so wichtig. Sie konnte Callum nie heiraten, und außerdem ging sie bald fort. Aber ich blieb, und in Ihrer Vorstellung stand ich Callum im Wege – meinetwegen würde er Cluain nicht erben. Sind Sie nicht an jenem Nachmittag ei ligst in die Hütte gelaufen, nachdem Sie von mir gehört hatten, daß Margaret zurück war? Sie wußten doch so gut wie ich, wohin Marga ret an einem so verregneten Nachmittag ritt! Liefen Sie hin, um den 242
Futtersack zu holen, bevor Margarets Stute oder Callums Pferd an ihn herankonnten? Sie haben doch die beiden nicht so schnell dort oben erwartet – Sie dachten ja, Margaret sei in Cawdor. Aber Margaret und Callum waren vor Ihnen da, und Margarets Stute fraß den Hafer. Und dann stürzte die Stute, und Margaret brach sich das Genick.« »Klagen Sie mich etwa an? Sie haben nicht die geringsten Beweise.« »Nein, die habe ich nicht. Aber war es für Sie nicht genauso leicht, Mrs. Sinclairs Kräuterzimmer zu öffnen wie die Bibel? Und um Schier ling in den Hafer zu mischen, bereitet man am einfachsten Schierlings saft zu, um eine starke Dosis zu erhalten. Und um sicherzugehen, tut man noch ein bißchen Digitalis und Bilsenkraut dazu.« »Soso, der Schierling soll jetzt aus Mrs. Sinclairs Kräuterzimmer stammen, ja? Und warum ist es dann nicht Mrs. Sinclair gewesen, die den Hafersack da oben hängen ließ, warum ich? Sie hatte doch Grund genug, Margaret Campbell zu hassen – die Frau, die ihren Sohn ver führt hat –, und das Wissen, wie man Gift zusammenbraut, hat sie auch, und die Schlüssel zum Kräuterzimmer sind immer bei ihr und nicht bei mir.« Callum sagte: »Der Pathologe behauptet, die Mischung sei dilettan tisch gemacht gewesen, zu stark, als daß man hinterher hätte behaup ten können, die Stute habe aus Versehen beim Grasen Schierling ge fressen. Wenn meine Mutter wirklich jemand hätte vergiften wollen, so hätte sie es geschickter angefangen.« »Nichts ist stichhaltig«, sagte Samuel Lachlan. »Es ist ein Knäuel von Annahmen. Und was haben Sie gemeint, Kirsty, als Sie sagten, daß Morag hoffte, Sie würden wie William zugrunde gehen?« »Man hat doch gedacht, daß William Aussichten hatte, am Leben zu bleiben, als man ihn fand und nach dem Jagdunfall nach Hause brach te. Er war jung, stark und lebensfroh. Also mußte es an der Pflege ge legen haben.« Großvater fuhr in seinem Stuhl hoch. »Was sagst du da! Mein Enkel sohn hatte die denkbar beste Pflege! Wir haben alles für ihn getan.« »Ja, ich weiß, ein Chirurg aus Inverness hat die Kugel herausoperiert, sogar ein Arzt aus Edinburgh ist gekommen, und erfahrene Hände ha 243
ben ihn gepflegt. Aber er starb. Ich glaube – ich glaube, er starb, weil Morag wußte, wie man an die Schlüssel zum Kräuterzimmer heran kommt. Ein paar Kenntnisse hat sie von Mrs. Sinclair aufgeschnappt – genug, um Unheil anzurichten. Vergiß nicht, Williams Name stand in der Bibel vor Callums – wie auch meiner. Ich halte es nicht für möglich, daß sie den Unfall mit dem Gewehr arrangiert hat. Das scheint mir un wahrscheinlich. Aber nachdem es einmal passiert war, nützte sie ihre Chance. Erinnere dich, daß Mairi Sinclair William gar nicht gepflegt hat. Sie bereitete nur das Essen und die Medizin vor, die die Ärzte ver schrieben hatten, und ihre eigenen Arzneien. Aber es war Morag, die ihm alles brachte und die bei ihm im Turmzimmer saß. Mrs. Sinclair hat mir selbst erzählt, daß William sie nicht um sich haben wollte. Ich denke, Morag hat zu den Medizinen und Arzneien immer ein bißchen von diesem und jenem Gift hinzugefügt – genug jedenfalls, um den Ablauf der Krankheit ungünstig zu beeinflussen, aber auch nicht zu viel, um die Ärzte und Mrs. Sinclair mißtrauisch zu machen. Um ei nen Gesunden zu töten, hätte sie zu starke Dosen gebraucht, das war zu gefährlich, aber bei einem geschwächten Kranken genügen kleine, unauffällige Mengen …« Morag lachte schrill auf. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Was fällt Ihnen ein, mich mit diesen verrückten Anklagen zu überschütten, ohne daß Sie den ge ringsten Beweis haben! Was ist denn wirklich passiert? Ein kleines Pferd war krank und hat sich wieder erholt, und Margaret Campbells Stute hat giftige Pflanzen gefressen. Und daraus machen Sie eine Mör dergeschichte, die mit Master Williams Tod endet? Ihre unglückliche Liebe hat Ihren Verstand verwirrt. An Ihrer Stelle wäre ich vorsichti ger. Solche Anklagen wollen bewiesen werden, und ich werde sie mir bestimmt nicht ruhig anhören.« »Es gibt Beweise. Callum hält seinen Beweis jedenfalls für belastend genug, um ihn bei der Untersuchung vorzulegen.« »Das, das ist kein Beweis gegen mich! Wenn jemand etwas getan hat, dann ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß es Mrs. Sinclair war und nicht ich. Und mit dieser Meinung werde ich nicht allein dastehen. 244
Und was Ihren Bruder betrifft, wissen Sie denn mehr als die Ärzte? Waren Sie dabei, als er starb?« »Ich habe nur den Beweis, den er mir geschickt hat. Ich kam nicht unaufgefordert und ungebeten nach Cluain, nur weil ich kein Dach über dem Kopf hatte. Mein Bruder ist keines natürlichen Todes gestor ben. Der Beweis, den ich von ihm erhielt, ist leider Gottes nicht sehr direkt, aber vielleicht war es alles, was er mir schicken konnte. Es ist schwer für einen Mann, der den Tod nahen fühlt, ein Beweisstück zu finden, das nicht als solches erkannt und deshalb nicht zerstört wird. Es wurde mir nach China geschickt, und deshalb kam ich nach Clu ain!« Nun hatte ich alles auf eine Karte gesetzt. Williams Botschaft wür de immer unklar bleiben. Hatte er in seinem Fieberwahn an Margaret gedacht, an das entsetzliche Unheil, das sie auf ihre seltsam unschuldi ge Art angerichtet hatte, oder waren die Worte buchstäblich gemeint? Wie konnte ich seine Gedanken nach seinem Tode erraten? Ich konn te nur versuchen, Morag zur Rede zu stellen. »Es gibt keinen Beweis – keinen einzigen Beweis!« »Doch, Morag, es gibt einen Beweis –« »Es gibt keinen!« Ihre Stimme klang schrill, fast panisch. »Ich habe genau aufgepaßt – es gab keinen Brief, nichts Schriftliches …« »So … Sie haben genau aufgepaßt, Morag? Auf was denn? Wenn es nichts zu verheimlichen gab? Aber es gibt etwas Schriftliches, nur daß Sie es nicht lesen können. Und es ist kein Brief, denn den hätten Sie für verdächtig halten und vernichten können. Nein, was mein Bruder mir mitzuteilen hatte, steht in Mandarinchinesisch auf dem Rand ei ner Schriftrolle mit der Zeichnung eines Vogels, der auf einem kargen Zweig sitzt. Sie werden sich daran erinnern. Sie haben die Rolle selbst verpackt und sie mir nach China geschickt. Sie haben mich nach Clu ain geholt.« Großvater erhob sich und schritt langsam und drohend auf Morag zu. Aber sie zuckte nicht zurück. »Mein Enkelsohn und ich haben Ih nen vertraut! Geschah hier ein Mord, damit Sie Cluain für den Mann sichern konnten, den Sie heiraten wollten?« 245
»Mord?« Morag warf ihren Kopf zurück. »Fragen Sie doch Mairi Sin clair! Ich weiß ja nicht, was sich Ihre Enkeltochter einbildet, in den Händen zu halten, aber ich glaube ihr kein Wort. Sie hätte nie so lan ge gewartet, wenn sie einen stichhaltigen Beweis hätte. O nein, Herr, mich können Sie nicht einschüchtern. Klagen Sie mich nur ruhig an, bis Ihnen die Luft ausgeht – ich werde nichts zugeben. Ich werde auf Mairi Sinclair hinweisen, die mindestens ebenso starke Gründe hat wie ich, einen Mord zu begehen – immer vorausgesetzt, daß einer be gangen worden ist.« Der panische Ton von vorhin war aus ihrer Stimme gewichen. Ihre eigenen Argumente schienen ihre Sicherheit zu stärken. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich tue meine Arbeit in Cluain und führe die Anordnungen aus, die mir Mrs. Sinclair gibt. Ich pfeife darauf, was auf einer heidnischen Rolle geschrieben oder nicht geschrieben steht. Auf jeden Fall wird es kein Beweis sein, daß ich etwas Unrechtes getan habe. Ich gebe zu, daß ich die Bibel geöffnet und die Eintragung gele sen habe, mehr nicht. Das gebe ich zu und auch das Verbrechen, Cal lum Sinclair zu lieben.« »Sie haben selbst gesagt, daß Sie beim Packen von Williams Sachen genau aufgepaßt haben, daß keine schriftlichen Beweisstücke mitge hen«, sagte Callum. »Kirstys Anklage war also nicht aus der Luft ge griffen.« Morag blickte mich forschend an. »Steht mein Name drin? Ja oder nein?« Ich konnte nur den Kopf schütteln. »Nein, kein Name.« »Ach – ist das Ihr ganzer Beweis? Warum posaunen Sie ihn nicht in alle vier Himmelsrichtungen? Das würde eine schöne Geschichte ge ben. Vielleicht würde man die Leiche Ihres Enkelsohnes wieder aus dem Grab holen, Herr, um zu sehen, ob man Gift bei ihm findet. Wie würde Ihnen das gefallen? Sie und die Campbells würden vor Gericht in Verbindung mit einem Dienstmädchen genannt werden, dem man gleich zwei Morde anhängt, falls Callum auch noch den Stutenmagen ins Spiel bringt. Oder wird am Ende Mairi Sinclair angeklagt? Nun, dann wird wenigstens jeder erfahren, daß Sie ein Verhältnis mit ihr 246
hatten. Wirklich ein netter Skandal für Ihre letzten Lebensjahre. Und dabei würde sich nichts ändern – Ihren Enkelsohn würde es jedenfalls nicht zurückbringen …« Samuel Lachlan unterbrach sie; er wandte sich direkt an mich. »Wie steht es mit dem Beweis, von dem Sie sprechen, Kirsty? Hat William eine Anklage erhoben oder eine bestimmte Person genannt?« »Nein, Morag hat recht. Es ist nur ein Fragment und, den Zeichen nach zu urteilen, von William bei hohem Fieber geschrieben. Kein Name – kein Verbrechen, an das sich ein Gericht halten könnte. Des halb habe ich auch nie davon gesprochen. Ich hoffte, mehr herauszu finden … irgendeinen Anhaltspunkt. Im kalten Licht der Tatsachen gesehen, haben wir nichts in der Hand. Gut, es gibt den Bericht des Pa thologen, den Callum gebracht hat, aber keinen Futtersack. Auf Wil liams Rolle steht nur ein Satz: ›Sie hat gemordet …‹, aber kein Name. Und er ist unklar formuliert. Sogar der Übersetzer meines Vaters war nicht ganz sicher …« Ich hörte zu sprechen auf, weil Samuel Lachlan den Kopf schüttelte. »Das genügt nicht.« Er rieb sich nachdenklich die Nase. »Selbst wenn wir genug Beweismaterial sammeln könnten, um eine dieser beiden Frauen vor Gericht zu bringen – was ich bezweifle –, das Urteil wür de lauten: Nicht bewiesen – ein Urteil, das es nur im schottischen Ge setz gibt. Es würde immer eine offene Frage hinterlassen, egal, wie si cher wir sind, daß Mrs. Sinclair unfähig ist, einen Mord zu begehen. Wenn Sie nicht einen Zeugen finden, der dieses Mädchen am fragli chen Tag auf dem Weg zur Hütte oder in der Hütte selbst sah, so wer den Sie nichts erreichen. Aber selbst dann? Was hat sie schließlich ge tan? Ein Pferd vergiftet. Und die Sache mit William ist noch schwie riger. Zwei Ärzte haben ihn behandelt, und keiner von beiden hat ir gendeinen Verdacht geschöpft. Bekanntlich mögen es die Ärzte nicht, wenn ihre Diagnosen angezweifelt werden. Aufgrund der wenigen Worte, die William geschrieben hat, wird es schwierig sein, eine Ex humierung zu erwirken. Hat er die Nachricht datiert? Hat er sie unter schrieben?« »Nein.« 247
Er schüttelte wieder den Kopf. »Nein, das Ganze steht auf schwachen Füßen. Es bleibt schon beim Untersuchungsrichter stecken. Und wol len Sie, daß es vor Gericht geht? Wollen Sie es, Angus?« »Ich will es«, unterbrach ihn Callum, aber Lachlan brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Und Sie, Angus? Sie müssen vieles bedenken, bevor Sie irgendwel che Schritte unternehmen. Den Ruf von Mrs. Sinclair. Den guten Na men von Cluain. Den unvermeidlichen Skandal bei einem Prozess, in dem ein Name wie der von Lady Campbell genannt wird. Jede Zei tung in England wird ihre Reporter schicken, wenn die Anklage pu blik wird – sogar schon, wenn die vorhandenen Tatsachen bekannt werden, und dann haben Sie keine ruhige Minute mehr.« »Wollen Sie damit sagen«, mischte sich Callum ein, »daß man das Ganze wegen eines möglichen Skandals vertuschen soll?« »Was wollen Sie, Callum, Rache oder Gerechtigkeit?« fragte Lach lan. »Denken Sie an Ihre Mutter und was Sie ihr zumuten. Gerechtig keit ist etwas sehr Abstraktes, aber Rache kann sich zu einem Unge heuer auswachsen, das sich selbst auffrisst. Die Toten kehren nicht zu rück, aber die Lebenden werden leiden, und überdies bleibt die Schul dige möglicherweise unbestraft. Wägen Sie das ab, Callum! Vielleicht ist der Gerechtigkeit besser gedient, wenn man Ihrem Freund in Edin burgh sagt, daß die Stute wirklich giftige Pflanzen fraß.« »Also erwarten Sie von mir, daß ich bei der Untersuchung aufstehe und sage, daß die Stute vor meinen Augen in der Mitte der Furt strau chelte und mit Margaret zu Boden stürzte? Das soll ich also sagen? Und Sie wagen, sich einen Vertreter des Gesetzes zu nennen?« »Es wäre ja auch die Wahrheit. Und gerade weil ich ein Vertreter des Gesetzes bin, halte ich mich auch für einen Mann von Vernunft. Ra che ist sinnlos, Callum, Sie haben Ihre …«, er stotterte, weil er nach der richtigen Bezeichnung suchte, »eine Frau verloren, die Sie liebten, und Ihr natürlicher Instinkt ist es, Rache zu üben. Aber denken Sie auch an die anderen, die Sie dabei verletzen! Und dieses Mädchen, wenn sie schuldig ist … ja, ich fürchte, man würde sie freisprechen. Diese Art von Mädchen kommt ungestraft davon. In den Händen eines guten 248
Rechtsanwalts würde sie eine höchst eindrucksvolle Zeugin abgeben. Geschworene sind leicht zu beeinflussen. Stellen Sie sich vor, man setzt dieses Mädchen neben Ihre Mutter – es tut mir leid, Mrs. Sinclair, aber es muß gesagt werden –, dann wird man von Ihrer Mutter als von der gewesenen Geliebten Angus Macdonalds sprechen, und man wird das Mädchen mit Lady Campbell vergleichen, und es wird neben ihr so unschuldig wirken wie ein neugeborenes Kind! Ich kenne Geschwore ne, sie richten zwar, aber sie sprechen nicht immer Recht.« »Ich halte viel aus«, sagte Mairi Sinclair. »Nehmen Sie keine Rück sicht auf mich. Gesegnet sind die, denen es nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, weil …« »In diesem Fall ist die Bibel abstrakt und nicht die Gerechtigkeit«, sagte Callum. »Du lieber Gott – ich muß wohl endlich an dich denken, nachdem du nie an dich selbst denkst.« Morag ging langsam zur Tür, und als sie sie erreicht hatte, hob sie die Arme, hielt sich an der oberen Leiste fest und bog sich ein paar Mal selbstbewusst nach hinten und vorn; ihre Sicherheit war grenzen los. »Na schön, dann überlasse ich euch euren Betrachtungen! Hof fentlich nehmt ihr die vernünftigen Vorschläge von Mr. Lachlan an. Denn glaubt mir, ich kann euch allen das Leben sehr schwermachen. Ich würde mich genauso verteidigen, wie Mr. Lachlan vorausgesagt hat, nur noch besser. Und ihr würdet alle den Tag verfluchen, an dem ihr eure Stimme gegen mich erhoben habt.« Aber dann gewann ihre Verachtung die Oberhand. »Ihr seid alle Narren, lächerliche Narren! Aber du, Callum – du bist der größte Narr von allen. Du hast nicht ein mal gesehen, was vor deinen Augen lag. Du hast dich nicht einmal ge bückt, um das aufzuheben, was für dich bereit lag. Cluain und ich, was wolltest du mehr! Beides war dein, du hättest nur ein Wort zu sagen brauchen. Aber was hast du statt dessen getan in deinem verblende ten Stolz? Du hast Cluain verschenkt – bloß weil du meinst, du könn test dich nicht noch ein paar Jahre länger mit diesem alten Mann ver tragen. Und ich – ich war dir nicht fein genug, du hast diese leichtfer tige Person vorgezogen, die dir nur ihren Körper geben konnte. Du hast mich und die Wirklichkeit nicht gesehen, weil du in den Wolken 249
lebtest wie dieser Falke, den du so liebst. Nun gut, du bist so stolz wie dein Vogel, aber du wirst eines Tages zu Boden stürzen, und dein Sturz wird nicht von fluggewohnten Schwingen gebremst werden, glaub mir, du wirst tief fallen!« Bei den letzten Worten senkte sie die Arme und ging hinaus. Die Tür fiel hörbar hinter ihr ins Schloß. Nachdem sie fort war, trat Mairi Sinclair wie mechanisch an den Ka min, um das Feuer anzufachen. Wir sahen alle wortlos zu, wie sie in der noch glühenden Asche stocherte und mehr Torf und Holz aufleg te. Dann kam sie zum Tisch zurück, wo die Bibel noch immer offen dalag. Sie klappte sie zu, verschloss sie und überreichte den Schlüssel bund meinem Großvater. »Die Schlüssel, Herr.« Es war, als ob sie damit zu verstehen gäbe, daß das Ritual von Cluain weiterging, weitergehen mußte, weil es stärker war als die gegenwärti gen Stürme. Dann setzte sie sich wieder an ihren Platz und wartete. Callum sagte müde: »Kirsty … Kirsty, sind Sie dafür den langen Weg aus China gekommen … dafür …?« Ich reichte ihm meine Hand, und er nahm sie wieder. Aber unse re Finger berührten sich nicht begierig und lüstern, sondern mit einer Geste der Freundschaft und des Verstehens. Ich begriff, daß er mich liebte, zwar anders, als ich gehofft hatte, aber ich wußte, ich konnte ihm vertrauen. »Ja, dafür … aber es hat sich gelohnt.« Wie kann man das Ende einer Beziehung und den Anfang einer neu en beschreiben? Aber uns war dieser Übergang irgendwie gelungen, ohne daß wir ein Wort sagten – Callum und mir. Und es war gut so, denn uns war nur noch eine kurze Zeit vergönnt. Großvater setzte sich wieder in seinen Stuhl vor den Kamin und starrte ins Feuer. »Das ist also Ihre ehrliche Meinung, Samuel – wir sollen keine Anklage erheben – keinen Versuch machen, das Mädchen vors Gericht zu bringen?« »Ja.« Er seufzte. »William ist tot. Vielleicht ist es besser, seinen Frieden 250
nicht zu stören.« Der Seufzer klang wie das Echo des Windes – ein stöh nender, lang gezogener Laut. »Vielleicht ist es auch für uns besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen und uns Frieden zu gönnen. Ich glau be, wir sagen den Camerons und Macquaries, daß wir nicht mitma chen. Kirsty hat recht – wenn wir uns vergrößern, werden wir nur zu einem zweiten Ferguson. Was wir brauchen, ist etwas Ruhe. Schließlich habe ich nicht mehr sehr lange zu leben. Ich werde mich also beschei den, aber vielleicht gewinne ich dadurch meine Selbstachtung wieder, die ich vor vielen Jahren verloren habe. Wäre ich nicht so feige gewesen, dann hätte ich jetzt einen Sohn – aber ich habe keinen …« Er runzelte seine buschigen Augenbrauen, als er Callum ansah. »Nicht wahr, Cal lum, ich habe keinen Sohn?« Es war eine endgültige Frage. Callum stand auf, griff zur Whiskykaraffe, goß sich das Glas voll und leerte es in einem Zug. »Nein, Mr. Macdonald, Sie haben keinen Sohn. Ich werde gehen, sobald ich von hier fort kann. Ich muß. Ich kann nur atmen, wenn ich frei bin, zu tun und zu lassen, was ich will. Mein Fal ke gehört mir auch nur, solange er will. Wenn es ihm eines Tages ein fällt, mit dem Wind zu fliegen und nicht zurückzukommen, so habe ich ihn verloren. Das ist die Basis unserer Beziehung – wir sind beide ungebunden, und nur so kann ich leben. Und wenn ich stürze, werde ich tief stürzen, wie Morag sagt. Ich weiß es, und ich rechne damit. Ich kann mich nicht an Cluain binden; diese Fesseln muß Kirsty tragen.« Er stellte sein Glas hin. »Und nun, Mr. Macdonald, gehe ich in mein Cottage und warte, bis ich von Ihnen höre. Sie müssen jetzt zu Gavin Campbell gehen und ihm Ihre Gründe erklären, warum Sie die Sache weiterverfolgen oder nicht weiterverfolgen wollen. Ich habe ihm alles erzählt, was ich weiß. Und wozu Sie sich auch entschließen, was immer für Gründe Sie vorbringen, die endgültige Entscheidung muß er tref fen. Wenn er sagt, daß ich bei der Untersuchung die ganze Geschichte aufrollen soll, dann tue ich es, und wir müssen alle die Folgen tragen. Aber wenn Sie den Frieden erhalten wollen, nach dem Sie sich plötzlich so sehnen, dann wird Cluain diesmal gemeinsame Sache mit Balloch torra machen müssen. Sie müssen sich irgendwie mit Gavin Campbell einigen. Gute Nacht, Mr. Macdonald.« 251
An der Tür drehte er sich noch einmal um und sah mich an. »Gute Nacht, Kirsty, gute Nacht.« So wie er es sagte, konnte es ebensogut ei nen Abschied für immer bedeuten. Aber er blieb zögernd stehen, so als ob noch nicht alles gesagt sei. Plötzlich wurde die Küchentür aufgerissen und schlug mit einem lau ten Knall gegen die Wand. Der Wind fegte durchs Haus, und die Ker zen im Zimmer begannen unruhig zu flackern. Neil Smith, der Zollbe amte, kam mit hochrotem Gesicht angerannt und starrte uns an. »Ha ben Sie denn alle keine Ohren? Oder hat der Whisky Sie betäubt? Los, kommen Sie! Trommeln Sie die Leute zusammen! Hört denn niemand das laute Pferdegewieher? Der Stall brennt!« Vermutlich fingen wir alle gleichzeitig zu rufen und zu brüllen an, ich erinnere mich nicht mehr, ich weiß nur, daß ich »Ailis!« schrie.
2
E
s war unverständlich, daß wir das angstvolle Pferdegewieher nicht gehört hatten, obwohl es sich mit dem Heulen des Windes ver mischte. Der Aufruhr unserer Herzen war so groß gewesen, daß wir die Außenwelt vergessen hatten; vielleicht waren wir auch betäubt, wie der Zollbeamte gesagt hatte, aber nicht vom Whisky. Neil Smith rief uns noch zu, daß er die Flammen vom Fenster seines Häuschens aus gesehen habe; wir hatten sie wegen der hohen Gartenmauer nicht be merkt. »Zuerst die Pferde!« schrie Callum. »Ums Löschwasser kümmern wir uns später.« Er schien die Sache in die Hand zu nehmen – Groß vater war zu verwirrt, um zu handeln. »Und Sie, Kirsty, laufen Sie zu Johns Cottage und holen Sie ihn. Er soll auch gleich alle anderen Leu te benachrichtigen, wir brauchen hier jeden Mann.« Als er dem Zollbeamten nachrennen wollte, um ihm beim öffnen der 252
Stalltüren zu helfen, faßte ich ihn am Ärmel. Er machte eine ungedul dige Bewegung. »Zuerst Ailis!« rief ich. »Gut – zuerst Ailis!« Großvater hatte sich plötzlich gefaßt; er eilte hinter den beiden her. Eine Sekunde lang blieb ich stehen und sah ihnen nach. Ob sie es schaf fen würden? Zum Glück waren die Cluainschen Ställe aus Stein wie die Brennerei und die Lagerhäuser und hatten Schieferdächer. Jeder Stand ging direkt zum Hof hinaus und lag nicht an einem gemeinsamen Mit telgang, wie es in größeren Ställen üblich ist. Die Gefahr war das Heu, das unter dem Stalldach lagerte. Die Halme wurden vom Wind hoch gewirbelt und fielen brennend auf die Strohunterlagen der vor Angst fast wahnsinnig gewordenen Pferde. Die meisten waren nicht ange bunden, aber es gehörte viel Geschicklichkeit dazu, die verschreck ten Tiere rückwärts aus ihren Ständen zu ziehen, zumal sie durch ei nen Feuerregen von brennendem Heu mußten, um den rettenden Hof zu erreichen. Um die Halfter der angebundenen Pferde loszumachen, mußte man sich an den Tieren vorbeiquetschen. Bevor ich lief, den Stallknecht zu holen, sah ich, wie Callum seinen Mantel auszog und ihn einem der schweren Zugtiere von hinten überwarf, um das von Panik ergriffene Pferd zu bändigen. Mir blieb fast das Herz stehen: ein einziger Schlag von diesen kräftigen Hufen genügte, um einen Men schen zu töten. Aber im Weiterlaufen sah ich noch etwas anderes: Morag. Sie stand allein in der Mitte des Stallhofes, vom Schein des Feuers hell beleuchtet. Sie rührte sich nicht. Um sie herum schrien die Män ner in ihren Plaids, und die befreiten Pferde galoppierten an ihr vor bei. Sie beobachtete das Ganze wie irgendein Schauspiel, das sie nichts anging. Vielleicht ging es sie jetzt auch nichts mehr an. Sie schaute mir nach, als ich an ihr vorbeilief, aber machte keinen Versuch, mir zu fol gen oder irgendwie zu helfen. Ich wußte, es wäre müßig, sie darum zu bitten. Noch bevor ich Johns Cottage erreichte, öffnete sich die Tür, und er kam herausgestürzt, die Hose über dem Nachthemd zuknöpfend. »Ich habe schon die beiden Jungen die Straße runtergeschickt, Miß«, rief er mir zu, »damit sie alle anderen holen. Die Pferde werden wir rauskrie 253
gen, aber es wird schwer sein, das Stallgebäude zu retten. Die Pumpe steht schon bereit, aber wir müssen noch die Schläuche damit verbin den …« Der Rest seiner Worte wurde vom Sturm verschluckt. Seine Frau stand in der Tür. »Ich zieh mich an, Miß, die Jungen werden auch die Frauen holen – nur die natürlich, die ihre Babys allein lassen kön nen. Das Feuer darf auf keinen Fall in die Nähe der Brennerei kom men.« Die Katastrophe betraf alle, die ganze Welt von Cluain. Jeder einzelne kam, denn ihr Arbeitsplatz, ihr Lebensunterhalt war gefähr det. Und nicht nur das: sie hingen auch mit den Herzen an Cluain. Als ich John nachlief, sah ich, wie in Ballochtorra die ersten Lichter angin gen; auch von dort würde man uns zu Hilfe kommen. Als ich das erste Lagerhaus erreichte, hörte ich das empörte und ängstliche Geschnatter der Gänse, aber sie waren außerhalb der Gefahrenzone, auf der ande ren Straßenseite, und Neil Smith würde nie den Gänserich und seine Herde im Stich lassen. Und plötzlich, in der Dunkelheit, die der Flam men wegen nicht mehr undurchdringlich war, spürte ich einen sanf ten Stoß an meiner Seite, und ein Paar weiche Nüstern rieben sich an meiner Wange. »Ailis!« Sie war also gerettet. »Gib acht, meine Brave. Aber lauf nicht zu weit fort!« Ich wollte sie auf keinen Fall an irgendein Tor oder einen Pfahl anbinden, frei herumzulaufen war ihr sicher an genehmer, und daß sie sich verirrte, war ausgeschlossen.
Als man die Schläuche an die Pumpe angeschlossen hatte, kamen auch die Männer aus Ballochtorra – das Stallpersonal, die Kutscher und Gärtner, sie schienen alle genau zu wissen, was sie zu tun hatten, als ob man das Feuerlöschen oft mit ihnen geprobt hätte. Das Haus personal des Schlosses dagegen störte mehr, als es half, und ich hör te, wie mein Großvater den einen oder anderen von ihnen beschimpf te. Die große Handpumpe auf Rädern war, wie alles in Cluain, in gu tem Zustand. Nach dem Regen hatte der Fluss zum Glück viel Was ser, so daß die Pumpe gut arbeiten konnte. Was dagegen Schwierig keiten machte, war der Wasserdruck; der Strahl mußte die Dächer des 254
Haupthauses und der Brennerei erreichen, um sie nass zu halten. Ich begriff plötzlich, wie vorausschauend es gewesen war, die Lagerhäuser auf die andere Straßenseite zu bauen, denn Entfernungen spielten jetzt eine wichtige Rolle. Sie waren ein Vorteil, aber auch ein Nachteil. Die verhältnismäßig große Distanz zum Fluss zum Beispiel, die das Haus und die Brennerei vor Überschwemmung schützte, war jetzt sehr stö rend; denn es war unmöglich, das Wasser hoch genug zu pumpen, um den Turm, in dem ich wohnte, nass zu halten; andererseits war die ab seitige Lage der Lagerhäuser ein großer Vorteil. Das Heu war jetzt ver brannt, aber nun stand das Holz in Flammen. Unter den vielen Ge sichtern, die durch den Rauch hindurch zu erkennen waren, sah ich auch das von Gavin Campbell. Er lief an mir vorbei zum Fluss hin unter, bemerkte mich aber nicht, und ich hielt ihn nicht auf. Ich stand eine Zeitlang neben Samuel Lachlan, der sich zitternd an die Garten mauer lehnte. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er schüttelte nur unentwegt den Kopf. »So ein Verlust! So ein Verlust! Wenigstens sind die Tiere alle gerettet … Sinclair hat es nicht leicht mit den schweren Pferden gehabt … Angus überanstrengt sich … er ist zu alt … zu alt für so was. Ich bin auch zu alt. Man sollte noch eine Pumpe haben … Angus hätte sich eine zweite Pumpe anschaffen sollen …« »Aber es gibt gar nicht genug Leute, um sie zu bedienen«, sagte ich. »Eine zweite Pumpe«, wiederholte er. »Ach, ich bin zu alt.« Und er war es auch. Sein gebrechlicher Körper zitterte noch von der Anstren gung, die es ihn gekostet hatte, die Stalltüren aufzumachen, um die Pferde zu befreien. Aber er zitterte auch vor Aufregung und Angst. Endlich konnte ich ihn dazu überreden, seinen Posten an der Garten mauer aufzugeben und auf die Straße vors Haus zu gehen. Dort wur de er in einen der Sessel gesetzt, die man aus dem Salon herausge schafft hatte. Mairi Sinclair, die jetzt einen schwarzen Mantel über ih rem Nachthemd trug, befehligte eine kleine Gruppe von Frauen – zum Teil Frauen von Brennereiarbeitern, zum Teil jüngere Dienstmädchen aus Ballochtorra –, die aus Neugierde gekommen waren. Sie ließ die besten Möbelstücke aus den unteren Räumen des Hauses ins Freie tra gen, was keine geringe Aufgabe war. Den großen Tisch in der Halle 255
mußte sie stehen lassen – man hätte acht Männer gebraucht, um ihn zu heben –, ebenso die Anrichte aus dem Esszimmer. Ich selbst holte die Bibel heraus und legte sie auf eine Bank gegenüber von Samuel Lach lan. »Passen Sie gut darauf auf, Mr. Lachlan«, sagte ich. »Soll ich jetzt die Geschäftsbücher und Akten aus dem Brennereibüro holen? Nein, ich kann es nicht, die Schlüssel sind bei Großvater.« »Die Brennerei! Die Brennerei soll nicht brennen!« Lachlan rief es fast flehend aus. »Nur als Vorsichtsmaßnahme!« »O ja, dann natürlich.« »Da Sie schon hier sind, Mr. Lachlan«, sagte Mairi Sinclair, »würden Sie so gut sein, auf diese Sachen achtzugeben? Dem leichtsinnigen Pack aus Ballochtorra könnte das eine oder das andere Stück zu gut gefal len.« Mit diesen Worten belud sie die Bank mit Silbertabletts, Teekes seln und Krügen. Unter der Bank lagen die Feuerböcke mit dem Caw dorschen Wappen und Großvaters Schachspiel. »Ja, Mistreß, ja«, sagte Samuel Lachlan. Ich hatte nie so einen unter würfigen Ton bei ihm gehört. Der ganze Stall qualmte jetzt, und nicht einmal der Wind konnte den Rauch vertreiben. Es war ein gefährlicher Rauch, weil er die Flammen verbarg, die noch immer am Gebälk hoch züngelten. Während ich neben Samuel Lachlans Sessel stand, schoß ein Wasserstrahl, der aufs Dach gerichtet war, es aber nicht erreicht hatte, über die Gartenmauer und traf mich frontal. Ich schnappte nach Luft und merkte, daß ich klitschnass war, und da die Hitze des Feuers nach gelassen hatte, fror ich erbärmlich. Ich ließ Samuel Lachlan sitzen, der zum Glück von dem Wasser verschont geblieben war, und ging um die Ecke der Gartenmauer. Das schwelende Gebäude war kaum zu sehen; der Wind trieb mir den Rauch in die Augen, so daß sie tränten. »Die Pferde sind alle raus, Kirsty«, sagte Callums Stimme neben mir. Ich blickte auf. »Ailis war die erste, aber ich habe sie später nicht mehr gesehen.« »Ailis ist in Ordnung, sie paßt auf sich selbst auf.« Seine eine Gesichtshälfte war furchtbar geschwollen. Die Prellung war deutlich zu sehen, obwohl er ganz rußgeschwärzt war, und am Haaransatz und über dem linken Auge klebte dickverkrustetes Blut. 256
»Sie sind verletzt.« »Nicht schlimm, ich wurde gegen einen Pfosten geschleudert, als ich eins der schweren Zugpferde herausholte. Aber kein einziges Pferd kam um, Kirsty, und das ist das wichtigste. Ihr Großvater wird neue Ställe bauen müssen, aber sein Herz wird nicht gebrochen sein. Wenn wir durchhalten, bis der Wind sich gelegt hat und wir den Wasserdruck im Schlauch aufrechterhalten können, sind die Brennerei und das Haus gerettet. Wir können nur hoffen oder beten – Mr. Lachlan scheint es gerade zu tun –, daß kein Funke auf die Brennerei über springt. Da ist jedes Stück Holz mit Alkohol durchtränkt.« »Wie hat das Feuer angefangen?« »Über die Frage können wir uns später unterhalten, wenn die Gefahr vorbei ist. Bis dahin kann alles warten.« »Callum …« Aber er hatte sich schon von mir abgewandt, um irgendeine Frage von den Männern zu beantworten. Großvater wollte den Schlauch ver längert haben, aber dann würde sich der Druck verringern. »Callum …« Fort war er. Seine Gestalt verschwand in der Gruppe, die um den Schlauch herumstand. Ich wußte gar nicht, was ich ihm ei gentlich hatte sagen wollen; meine Gedanken waren genauso chaotisch wie alles um mich. Von dem, was in dieser Nacht vorging, sah und er fasste ich nur einen Teil. Meine Eindrücke zerstoben wie das brennen de Heu im Winde. Der Rauch kam mir direkt ins Gesicht. Die Leute zündeten Laternen an, nachdem das Heu nicht mehr brannte; es wirkte wie eine Ironie. Der Wind trieb die Wolken vor sich her. Sie ziehen zu schnell vorbei, dach te ich, um Regen zu bringen. Regen würde uns helfen, aber auch die Ar beit erschweren. Am Fluss würden sie im Schmutz und Schlamm aus rutschen. Ich fragte mich, wo Gavin Campbell war und ob ich meinen Großvater um die Büroschlüssel bitten sollte. Aber ich wußte nicht, wo er war – oder Callum. Ich ging auf eine Gruppe Männer zu, die vor dem abgebrannten Stall standen. Als ich den Hof überquerte, hörte ich die verzweifelte Stimme des Steuerbeamten – sie klang wie die eines Man nes, der die Grundlagen seiner Existenz zusammenbrechen sieht. 257
»Allmächtiger Gott! Schauen Sie, Macdonald! Schauen Sie … das letzte Lagerhaus … da, ganz am Ende!!!« Ich lief mit allen anderen auf die Straße, und tatsächlich – im letz ten Lagerhaus in der Reihe, das am weitesten vom Hof und der Bren nerei entfernt lag, sah man ein rotes, Unheil verkündendes Glühen, ge gen das sich die Eisengitter an den hohen kleinen Fenstern scharf ab zeichneten.
Ich rannte zusammen mit Neil Smith und den anderen auf das Lager haus zu. Die Tore waren weit aufgerissen – ich glaube, Neil und ich be freiten gemeinsam den großen Billy und seine Herde. In den ersten Minuten biss der große Gänserich in alle verfügbaren Beine, weil er der festen Überzeugung war, daß sich das Großfeuer einzig und allein gegen ihn und seine Gänseschar richtete. Denn nun war es ein Großfeuer. Wasser ist nutzlos, wenn Alkohol brennt. Es wäre nutzlos gewesen, den Schlauch zu verlängern oder die Männer am Fluss zum stärkeren Pumpen anzutreiben. Das Wasser konnte den brennenden Alkoholstrom nur verdünnen, aber vielleicht auch verbreitern. Die mit Sherry und Whisky voll gesogenen Fässer waren explodiert. Der tödliche Feuerstrom floß ungehindert und ent zündete Träger und Balken, die durch ihre Nähe zu den Fässern eben falls mit Alkohol durchtränkt waren. Aber nicht nur das – die großen Tore, hoch und breit genug, um die Brennereiwagen durchzulassen, standen alle offen und bildeten eine Art von natürlichem Trichter, in dem sich der Wind fing und die Flammen immer wieder aufs neue an fachte. Man hatte den Eindruck, ein riesiger Blasebalg würde dauernd betätigt, und Feuer nährte sich von Feuer. Neil Smith kam aus seinem Cottage gelaufen und sah völlig verzwei felt aus. Ich erinnere mich an den eisenharten Griff, mit dem seine Hand meinen Arm umklammerte, und an die brüchigen alten Nägel, die sich schmerzhaft in mein Fleisch gruben. »Gott helfe mir! Ich habe vergessen, die Schlüssel von den Lagerhäusern mitzunehmen, als ich 258
ins Haupthaus lief, um Alarm zu schlagen. Sie sind gestohlen worden! Jemand ist gekommen und hat sie vom Brett genommen. Ich bin ein ruinierter Mann!« Erst jetzt merkte er, daß er meinen Arm festhielt, und fügte hinzu: »Und auch Cluain ist ruiniert, Mädchen!« Großvater befahl, die verlängerten Schläuche die Straße heraufzuzie hen und die Dächer der Lagerhäuser zu bespritzen. Aber die Katastro phe im Inneren war nicht aufzuhalten. Der dünne Wasserstrahl kam gegen die riesigen Funkengarben nicht an. Im letzten Lagerhaus fand plötzlich eine zweite große Explosion statt, und der brennende Alko holstrom floß durch die unteren Entlüftungslöcher direkt in die Ab flussrinnen und ergoss sich in den Bach, der an den Gebäuden vor beifloß. Nun fing auch der Bach, der sich mit Whisky aus den explo dierten Fässern füllte, zu brennen an. Obwohl ich es mit meinen eige nen Augen sah, konnte ich es nicht fassen – ein feuriger Bach, der un ter dem schwarzen Bogen der Brücke durchfloss, sich auf der anderen Seite fortsetzte und erst verlosch, als er den stark schäumenden Fluss erreichte. Plötzlich hörte ich Callums Stimme dicht neben mir. Das Geprassel des Feuersturms war jetzt weit ohrenbetäubender als zuvor beim Stall brand. »Der Hauptbrandherd ist im letzten Lagerhaus. Wir müssen die Tore irgendwie zukriegen – es ist unsere letzte Hoffnung! Wenn es mir gelingt, können wir sie so unter Wasser setzen, daß sich das Feuer nicht ausbreitet. Laufen Sie zu Ihrem Großvater, und sagen Sie ihm, er soll die Schläuche möglichst nah an die Lagerhäuser heranbringen. Ich will versuchen, die Tore zu schließen, eins nach dem anderen.« Fort war er, meine Hände griffen ins Leere, meine Rufe blieben un beantwortet. Neil Smith und ich beobachteten, wie er durch das offe ne Haupttor der Lagerhäuser lief. Zwischen den Fässern, die zu bei den Seiten hoch aufgestapelt waren, wirkte er fast zwergenhaft. Und … dann – gerade als er das massive Tor des letzten Lagerhauses erreich te, das er mit aller Kraft gegen den gewaltigen Luftzug schließen muß te, den das Feuer einsog – sahen wir eine Gestalt. Oder war es nur ein Phantasiegebilde? Wir beide glaubten, die schlanke Silhouette einer Frau mit rotem Haar zu sehen, die sich dunkel gegen das helle Feuer 259
abhob und erst zu rennen begann, als die Flammen sie zu verschlingen drohten. Hatte auch Callum sie gesehen? Wenn nicht – warum war er durch das Tor, das er schließen wollte, hindurchgerannt ins offene Flammenmeer? Wir haben es nie erfahren, Neil Smith und ich. Aber wir beide glaubten später, Callum und eine andere plötzlich sich ab zeichnende menschliche Gestalt gesehen zu haben, die gut Morag hät te sein können und die hilflos von den Flammen erfasst wurde – eine Schlafwandlerin, die zu spät erwacht war. Wie dem auch sei – einen Moment nachdem Callum durch das Tor gelaufen war, erfolgte eine weitere Explosion im hinteren Lagerhaus, und alles ging in Flammen auf. Ein enormer Feuerball schoß in die Höhe, und das Dach stürzte ein. Die schreckliche Feuersglut schien die Luft einzusaugen. Schiefersteine krachten auf die brennenden Fäs ser nieder; die Entlüftungslöcher waren verstopft, so daß der Alkohol zurückfloss und in die übrigen Lagerhäuser rann. Zum Schluß brann te alles lichterloh. Das Feuer raste wie der Wind, Explosion folgte auf Explosion, die Dachziegel regneten auf die Männer herunter, die hilfund wortlos auf der Straße standen. Ich fühlte nichts mehr außer den Fingern von Neil Smith, die sich immer tiefer in meinen Arm bohr ten. Es gab nicht einmal mehr Rauch, nur noch Flammen, die Flam men verschlangen. »Callum …?« Es dauerte nur Minuten, bis alles zu Asche verbrannt war. Der gan ze Reichtum von Cluain wurde vor unseren Augen vernichtet und mit ihm der Mann, der seine Zukunft hätte sein können. Mein Großvater setzte die Löscharbeit fort. Ich weiß nicht, aus wel cher Quelle er die Kraft schöpfte. Sein Lebenswerk war zerstört, vier zig Jahre vergeudet, aber er hatte noch die Energie, anzuordnen, daß die Männer den Schlauch zurück zur Brennerei brächten, um sie wei ter mit Wasser zu bespritzen. Das Haus wurde nur kurz besprengt; die Brennerei war wichtiger. Die Funken von den Lagerhäusern flogen in den Himmel, und ich zitterte vor Angst, daß sie auf die Brennerei über springen könnten. Aber das Feuer war so mächtig, daß es sich selbst verzehrte. Nachdem es die Lagerhäuser vernichtet hatte, verlosch es 260
fast so schnell, wie es aufgelodert war. Großvater überwachte aufmerk sam die Brennerei, als ob die Feuersbrunst ihn nichts anginge, als ob es nicht sein Eigentum wäre, das da verloren ging. Auch die Schreie von Neil Smith, der sein hübsches Häuschen unmittelbar neben dem La gerhaus abbrennen sah, schienen keinen Eindruck auf ihn zu machen. Ich wartete, bis das Feuer im Lagerhaus nur noch glomm und der Bach aufgehört hatte, ein Feuerstrom zu sein – erst dann sagte ich ihm, daß Callum in den Flammen umgekommen sei. Als er das hörte, schien er plötzlich jegliches Interesse zu verlieren. Er ließ alles fallen und betrau te auch niemand mit der weiteren Leitung der Löscharbeiten. Er ging einfach ins Haus, obwohl Samuel Lachlan versuchte, ihn zurückzuhal ten. Schließlich trafen wir uns alle im Esszimmer, aber keiner sprach. Großvater stand mit dem Rücken zu den Fenstern, so daß die rote Glut des langsam ausgehenden Feuers für ihn nur mehr ein Schattenspiel auf den Wänden war. Wir – Mairi Sinclair und ich – trugen einige Stühle von draußen her ein; dann legten wir neue Torfstücke in den Kamin und zündeten sie an. Ich kann mich erinnern, daß ich Großvater zwang, sich in einen Sessel zu setzen, mit dem Rücken zum Garten, so daß er nicht den vom Feuer geröteten Himmel sah. Gavin Campbell kam kurz herein. Ich glaube nicht, daß er etwas sagte, aber er nahm Großvaters Hand und hielt sie einen Moment lang in der seinen. Großvater schien sich seiner Gegenwart nicht recht bewußt zu werden. Ich half Mairi Sinclair, Brot und Schinken aus der Küche zu bringen, und wir servierten das Es sen auf gewöhnlichen Küchentellern. Das gute Porzellan und das Sil berservice, das noch draußen auf der Straße aufgestapelt stand, schien sie im Augenblick nicht zu interessieren. Ich half ihr auch, das Essen zu den Männern zu bringen, die im Stallhof noch immer die Brenne rei mit Wasser bespritzten. In der Küche gab es zwar genug Frauen, die das ebensogut hätten machen können, aber ich hatte das Gefühl, daß ich mich bei den Leuten zeigen mußte, nachdem Großvater ausgefal len war. Dann ging ich ins Esszimmer zurück und goß Whisky in die Gläser, die eine von den Frauen von der Straße hereingebracht hatte. Ich ließ 261
den Whisky herumgehen und bediente auch Neil Smith, der immer noch in der Tür stand, auf halbem Wege zwischen uns und den Leu ten im Hof. Er gehörte eigentlich nirgendwohin; seine Welt war genau so zusammengebrochen wie die unsere. »Großvater«, sagte ich, »ich habe den Männern zum Essen auch Whisky gebracht. Es wird kalt, und sie bespritzen noch immer die Brennerei.« Er blickte mich aus umflorten Augen an. »Du hast recht. Spar nicht damit, Kirsty. Ich habe noch einige Fässer im Keller – die Steuern sind bezahlt, Neil Smith!« Dann erhob er sich und goß sich mehr Whisky ein. »Nein, heute sparen wir nicht. Samuel, Ihr Glas.« Der alte Mann rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her und stieß ab und zu kleine, stöhnende Laute aus – vielleicht war es seine Art zu weinen. »Und Sie, Campbell, trinken Sie den Whisky von Cluain heute abend, und wohl bekomm's. Denn wenn diese wenigen Fässer geleert sind, wird es lange keinen mehr geben. Und sagen Sie Callum Sinclair – sa gen Sie … Callum Sinclair – mein Gott! Callum …« Seine Stimme brach. Er stand an der Anrichte und kehrte uns den Rücken zu. Seine Bewegungen waren so langsam, daß ich genau sah, wie das Glas seiner Hand entglitt und zerbrach und der Whisky eine dunkle Lache auf dem Boden bildete. Er stemmte die Arme auf die Anrichte, doch nur sekundenlang, dann stürzte sein schwerer Körper zu Boden, er fiel in die Scherben, in das verschüttete Elixier seines Le bens.
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Elftes Kapitel
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wei Tage später begruben wir Angus Macdonald zwischen seiner Frau und seiner Mutter Christina. Neben Christinas Grab war Williams und neben seinem das Grab von Callum Sinclair. Mairi Sinclair versuchte zu protestieren. »Sie können es nicht tun. Es ist nicht richtig, jetzt, nach allem, was wir getan haben, um das Ge heimnis zu wahren …« »Und wann soll es richtig sein, wenn nicht jetzt? Ist es nicht an der Zeit, daß wir alle unseren Stolz und unsere Furcht vergessen und end lich die Wahrheit zugeben? Ich will, daß Callum neben William und in der Nähe seines Vaters liegt. Und auf seinem Grabstein soll der Name Callum Sinclair Macdonald stehen, so wie Großvater ihn in die Bibel eingetragen hat. Es ist höchste Zeit, daß die Welt Bescheid weiß. Er ist tot – sollen wir ihn etwa in irgendeiner Friedhofsecke begraben? Er muß bei seiner Familie liegen.« Gavin schickte den Landauer, um uns zum Friedhof zu bringen. Wir mußten uns ein Fahrzeug leihen, weil der Zweisitzer von Cluain ver brannt war. Aber den Sonntagsjungen hatte man wieder gefunden, und wir spannten ihn vor und nicht eines der Ballochtorra-Pferde. Ga vin kam nach Cluain, um uns in die Kirche zu begleiten. Ich mußte schon wieder mit Mairi Sinclair kämpfen, weil sie wie immer zu Fuß gehen wollte und ich darauf bestand, daß sie mit mir fuhr. »Heute, Mrs. Sinclair, begraben wir Ihren Sohn und meinen Groß 263
vater im selben Familiengrab und setzen auf die Grabsteine dieselben Namen. Wollen Sie, daß ich Sie auf der Straße überhole, wenn Sie zu Fuß zum Begräbnis Ihres Sohnes gehen? In Cluain wird sich von nun an vieles ändern, und auch Sie müssen sich damit abfinden.« »Ja, es wird sich vieles ändern … ich weiß, daß ich mich damit ab finden muß. Ich packe morgen meine Sachen, Miß, aber ich wäre Ih nen dankbar, wenn Sie meine Bücher noch eine Zeitlang behielten, bis ich eine neue Stellung gefunden habe. Für meine anderen Sachen ge nügt ein Koffer vollauf.« »Ihre Bücher werden in Cluain bleiben, und Sie selbst auch, Mrs. Sin clair. Ich fürchte, der Kummer hat Sie um den Verstand gebracht …« »Ich kann nicht bleiben. Sie können mich nicht hier haben wollen. Ich brauche Ihr Mitleid nicht!« »Von Mitleid ist auch gar nicht die Rede. Cluain braucht uns bei de, Sie wissen das so gut wie ich. Und Sie werden kein leichtes Leben haben: Cluain wird uns beide voll in Anspruch nehmen. Sie gehören nach Cluain – ebenso wie Großvater und Callum von hier nicht fort zudenken waren. Wir haben sehr viel verloren – lassen Sie uns nicht mehr verlieren, als nötig ist.« Ihre einzige Antwort war ein kurzes, zustimmendes Nicken. Aber als der Landauer aus Ballochtorra vorfuhr, stand sie in der Halle – wie immer in ihr Plaid gehüllt – und wartete auf mich. Auf dem Weg zum Friedhof wechselten wir kein einziges Wort, auch nicht auf dem Rück weg. Beide Begräbnisse waren eine Qual. Cluain hatte keinen Anker mehr und fast keine Hoffnung. Ich fragte mich, an wen ich mich jetzt wen den sollte. Ich hielt Samuel Lachlan beim Arm, um ihn zu stützen, und fühlte, wie er zitterte. Und dann blickte ich über Callums offenes Grab in Gavins Gesicht, und mir fiel wieder ein, daß hinter den Men schen, die uns jetzt umringten, auf der anderen Seite des Weges, Mar garet in ihrem noch frischen Grab lag – dicht bei den zwei Männern, die sie so geliebt hatte. Gavins und meine Augen trafen sich. Wir bei de schienen die Gedanken des anderen zu erraten, und es waren die selben Gedanken. 264
Gavin begleitete uns nach Cluain zurück, und Samuel Lachlan bat ihn, als ob er sich vor der leeren Stille des Hauses fürchtete, hereinzukom men. »Angus war mehr als zehn Jahre jünger als ich«, sagte Lachlan. »Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn überleben würde.« Dann nahm er die Zeitung aus Inverness, die während unserer Ab wesenheit angekommen war. Auf der Titelseite war ein Foto von den verwüsteten Lagerhäusern und ein Bericht über den Brand, den ich nicht lesen wollte. Aber die fette Überschrift war für etwas anderes re serviert: PANISCHER AKTENVERKAUF!. IST FERGUSON BANK ROTT? Er gab Gavin die Zeitung. »Was sagen Sie dazu?« »Was ich dazu sage? James Ferguson tut mir leid, aber ich selbst tu mir nicht leid und mein Sohn auch nicht.« »Wollen Sie etwa sagen, es ist Ihnen egal?« Samuel war starr vor Stau nen. Wie war es möglich, daß jemand dem Zusammenbruch eines Großunternehmens gleichgültig gegenüberstand? »Für meinen Sohn kann es nur gut sein. Ferguson hat seinen An spruch auf ihn verloren. Er kann weder ihn noch irgend jemand an ders mehr kaufen. Ohne sein Geld ist Ferguson machtlos; menschliche Beziehungen versteht er nicht. Und so wird er meinen Sohn in Ruhe lassen. Jamie wird das sein, was ich bin: ein armer Mann. Um so bes ser für ihn.« »Aber Ballochtorra …?« »Ich kann Ballochtorra nicht halten. Die Leute haben ihre Kündi gung längst bekommen, schon an dem Tag, als meine Frau begraben wurde, noch bevor ich etwas über Fergusons Schwierigkeiten wuß te. Wenn Fergusons Firma bankrott geht, wird der Konkursverwalter auch sein Recht auf Ballochtorra geltend machen – auf die Pferde und das Mobiliar. Das Haus und das Land gehören selbstverständlich mir. Vielleicht finde ich für das Haus einen Käufer; das Land muß ich für Jamie behalten – natürlich ohne Wildhüter. Aber die Wildhühner im Moorland wird es immer geben, obwohl die Jagd nicht so verlockend ist, daß der Prince of Wales nochmals herkommt. Vielleicht kann ich 265
sie doch an irgend jemand verpachten, der weniger anspruchsvoll ist. Na, wir werden's ja sehen.« »Und Sie selbst – was werden Sie machen?« Samuel war durch die Ereignisse der letzten Tage so aus dem Geleise geworfen, daß er seine ganze Zurückhaltung zu vergessen schien. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er solche direkten Fragen an jemand richten würde, den er fast nicht kannte. Gavin nahm den Tee, den ich ihm reichte, und kaute hungrig an ei nem Schinkenbrot. »Ich? Ich werde tun, was ich schon immer tun woll te. Ich habe ein bißchen Geld; das fehlende werde ich mir borgen müs sen, und dann werde ich das einzige urbare Stück Ballochtorra-Land trockenlegen. Vielleicht kann ich dort Gerste anbauen, aber auf jeden Fall reicht es für eine Viehweide, Hunger werden wir nicht leiden müs sen, Jamie und ich, und wohnen können wir im Pförtnerhäuschen.« »Im Pförtnerhäuschen!« Samuel Lachlan war wie versteinert. »Aber Sie erben doch den Titel des Marquis of Rossmuir!« Gavin lachte. Ich hörte es mit Freuden – endlich war die bedrücken de Stille des Hauses unterbrochen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als könnte es wieder eine Zukunft geben. »Ich glaube, der heutige Marquis of Rossmuir wäre froh, wenn er ein so bequemes Plätzchen hätte. Das Pförtnerhäuschen genügt für mich und Jamie vollkommen, bis wir Ballochtorra verkauft oder vermietet haben, und dann können wir uns aus dem Erlös ein kleines Haus auf dem Stück Land bauen, das ich trockenlegen will. Kleine Häuser sind viel wärmer als große. Ich kenne sogar schon die Stelle, wo ich es hin bauen möchte. Man kann von dort aus Ballochtorra nicht sehen, was ein großer Vorteil ist. Jamie wird im Fluss fischen, und wir werden uns ein oder zwei Gewehre leisten können. Wir werden es schon schaffen, Jamie und ich. Und er wird nicht nach England auf die Schule müs sen – das ist die einzige Neuigkeit, die ihn gefreut hat in den letzten furchtbaren Tagen. Ein Pferd wird er auch haben, allerdings kein Voll blut wie bisher, sondern ein kräftiges Pony, wie man sie hierzulande züchtet. Was er sich natürlich ersehnt, ist, daß ich Ailis für ihn kau fe.« 266
»Ich werde Ailis nie verkaufen.« »Glauben Sie etwa, das wüsste ich nicht? Aber lassen Sie ihm seinen Traum. Mit der Zeit wird er sein eigenes Pferd lieb gewinnen, zumal er es selbst wird pflegen müssen. Sie sehen also, Mr. Lachlan, daß Fergu sons Bankrott zwar ein schwerer Schlag für James Ferguson selbst ist, aber keine Katastrophe für mich oder seinen Enkelsohn.« »Aber … aber er wird doch ein Graf werden!« Und wieder Gavins Lachen. Warum freute es mich so, es zu hö ren? Es klang so jung und hoffnungsvoll, so nach Frühling und neu em Leben. Er schien nur Gutes für sich und Jamie vorauszusehen. Ich schlürfte meinen Tee und dachte über die Bemerkung nach, die er über kleine Häuser gemacht hatte; schließlich hatte die Größe von Balloch torra viel zur Entfremdung zwischen ihm und Margaret beigetragen. »Ja, ein Graf. Ich glaube, sein Großvater hat bei ihm den Eindruck erweckt, daß er plötzlich wie durch einen Zaubertrick eine Grafenkro ne bekommen wird – eine richtige goldene Grafenkrone. Aber Kinder vergessen schnell. Wenn Jamie erst in seinem Fluss Fische fängt und auf seinem eigenen Pferd über sein eigenes Moor reitet, dann wird er an die goldene Grafenkrone nicht mehr denken. Sein Großvater wird natürlich erstaunt sein, daß sein einziges Enkelkind so unstandesge mäß aufwächst, und das tut mir irgendwie leid, aber dem alten Mann ist nicht zu helfen. Ich werde alles tun, damit Jamie nicht so wird wie er.« Damit nahm er seinen Hut und ging. Ich sah, wie er den Kutscher bat, ihm die Zügel zu übergeben. Das mürrische Benehmen des Man nes verriet, daß auch er, zusammen mit allen anderen, seine Kündi gung bekommen hatte und sicher ebenfalls dachte, daß Sir Gavin sehr unstandesgemäß lebte und gar keinen Grund hätte, so zufrieden aus zusehen. »Ich werde morgen John mit dem Landauer herüberschicken«, rief ich ihm nach, »er kann den Sonntagsjungen dann zurückbringen.« »Behalten Sie den Wagen, solange Sie wollen, Fergusons Firma wird Ihnen diese kleine Gefälligkeit sicher gerne erweisen. Ich glaube nicht, daß der Konkursverwalter schon morgen bei uns auftauchen wird.« Ich ging zu Samuel Lachlan zurück, der in seinem Sessel am Kamin 267
saß; er sah schmächtiger aus denn je. Wie leer und still das Haus wirk te, ohne Morags Geplauder. Eine unerklärliche Angst erfasste mich plötzlich; die Einsamkeit schien mich zu erdrücken, und ich hatte das Gefühl, daß der Kampf eigentlich erst jetzt beginne. Ich versuchte, meine Niedergeschlagenheit abzuschütteln. Wie gut hätte ich jetzt Ga vins Fröhlichkeit gebrauchen können, die Zuversicht, die er ausstrahl te. Statt dessen mußte ich mich um den griesgrämigen alten Mann kümmern und ihm Mut zusprechen. »Unverständlich«, murmelte Samuel. »Ich glaube, er meint es wirk lich.« »Meint was?« »Ich glaube, Geld bedeutet ihm wirklich nichts. Stellen Sie sich vor – er muß jetzt ganz ohne Fergusons Hilfe auskommen, und es scheint ihn gar nicht zu bedrücken.« »Ja, es gibt auch solche Menschen. Callum war genauso; er wollte Cluain nicht haben! Er hätte eher alles, was er liebte, aufgegeben, als zu einem James Ferguson zu werden. Ja, Mr. Lachlan, auch so etwas gibt es.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe die Welt nicht mehr. Geben Sie mir etwas Whisky, Kirsty, auf dem Friedhof war es kalt.« Vielleicht dachte er an Großvaters Worte, daß nur noch wenige Fäs ser da waren und daß, wenn sie zu Ende gingen, die neue Produktion lange Zeit nicht trinkbar sei. Und wann ich, wenn überhaupt, damit beginnen könnte, war mir momentan völlig unklar.
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elbst bei einer gründlichen Suche wurde Morag Macphersons Lei che nicht in den Trümmern der Lagerhäuser gefunden. »Aber ich habe sie gesehen, ich habe sie gesehen …«, wiederholte Neil Smith im 268
mer wieder, wenn er mit den Polizisten und den anderen Steuerbeam ten sprach, die gekommen waren, um den Brand zu untersuchen. »Sie stand im hintersten Lagerhaus, wo das Feuer ausbrach. Und das Feuer wurde gelegt … jemand hat die Tore mit einer ganz bestimmten Ab sicht aufgemacht … Miß Howard wird Ihnen genau dasselbe sagen, sie stand neben mir …« Aber ich mußte ihnen sagen, daß ich es nicht beschwören konnte, Morag Macpherson in diesen wenigen Sekunden gesehen zu haben – wir hatten zwar beide den Eindruck gehabt, daß sich die Silhouette ei ner Frau vor den Flammen abzeichnete, aber die Hitze war so stark ge wesen, daß uns die Augen getränt hatten. Ich wußte nur eines genau, daß ich Callum durch das Tor des brennenden Gebäudes laufen und nicht mehr herauskommen sah. »Wenn sie es gewesen wäre«, sagte einer der Steuerbeamten, »hät ten wir ihre Überreste finden müssen. Sie hätte sich unmöglich ret ten können, wenn sie dort stand, wo Sie glauben, sie gesehen zu haben. Und wenn es Brandstiftung war …« »Es war Brandstiftung! Ich sage euch, dieses Mädchen hat zuerst die Ställe angezündet, um uns alle abzulenken, und dann hat sie auf einen unbewachten Augenblick gewartet, um mir die Schlüssel zu stehlen und das Feuer zu legen, das Cluain wirklich zerstört hat.« Neil Smith war empört und sehr beschämt, daß er in der Aufregung die Schlüssel im of fenen Cottage hatte hängen lassen, statt sie in die Tasche zu stecken. Später, nachdem er zum Haus eines Brennereiarbeiters gegangen war, bei dem er vorübergehend wohnte, sagte der Steuerbeamte zu mir: »Wir wußten alle, daß Neil Smith mehr als pensionsreif war. Aber er hat sich in all diesen Jahren den Ruf eines sehr zuverlässigen Beam ten erworben; es herrschte Ruhe hier, und er hatte sich so gut einge lebt in Cluain, und getrunken hat er auch nie, und so hat man ihn eben weitermachen lassen, aber aus dem Haus zu laufen und die Schlüs sel zu vergessen, das durfte ihm nicht passieren, ganz gleich, was ge schah … auch wenn der Himmel eingestürzt wäre, zuerst hätte er an seine Schlüssel denken müssen. Das geht schlecht für ihn aus, Miß Howard. Er kann nicht mehr im Dienst bleiben.« 269
»Aber er wird in Cluain bleiben«, sagte ich. »Keiner kann sich vor stellen, daß er je von hier fortgeht.« »Also wollen Sie wieder von neuem anfangen?« Der Mann blickte mich mit offener Neugier an. »Wollen Sie die Produktion wiederauf nehmen?« »Warum denn nicht?« antwortete ich. »Die Brennerei steht doch noch! Und die Arbeiter haben ja schließlich nicht über Nacht ihre Kenntnis se verloren. Und Lagermöglichkeiten werde ich schon finden.« »Vielleicht, aber die Vorschriften sind sehr streng, Miß Howard. Un versteuerte Ware muß sicher gelagert werden, und eine Unterkunft für den Steuerbeamten müssen Sie auch stellen. Es ist nicht mehr so wie damals, als Mr. Macdonald zu arbeiten anfing. Man erzählt sich, am Anfang hätte er nur einen Zaun und ein Gewehr gehabt. Heute würde das nicht mehr genügen.« »Keine Sorge, es wird alles so sein, wie es sein muß«, sagte ich. »Clu ain hat noch nie Unannehmlichkeiten mit der Steuerbehörde gehabt, nicht wahr? Und so wird es auch bleiben.« Der Steuerbeamte starrte mich verwundert an; wahrscheinlich fragte er sich, wie ich es anstellen wollte, den Vorschriften zu genügen – leider wußte ich das selbst nicht. Er sagte nichts mehr, denn schließlich ging es ihn nichts an. Aber bald würde der ganze Zolldienst erfahren, daß An gus Macdonalds Enkeltochter die Zähigkeit und Ausdauer des Alten ge erbt hatte. Aber ich war nicht Angus Macdonald, und die Welt war nicht mehr einfach und verlässlich wie vor vierzig Jahren, als man noch klein anfangen und in aller Ruhe wachsen konnte. Die Brennerei war zwar noch da – das stimmte, aber das war auch alles. Wie sollte ich sie wie der in Schwung bringen? Und wo sollte ich die Fässer sicher lagern? Ich wußte, die Antworten auf diese Fragen konnten nur von mir kommen. Aber als ich mich zwang, an etwas anderes als nur an die schreckli chen Ruinen der Lagerhäuser zu denken, fand ich meine Ruhe wieder. Die Welt von Cluain war zwar beschädigt, aber im Grunde genom men dieselbe geblieben. Die wohlgenährten Rinder grasten auf den Flusswiesen, und die Gerste war in den Scheunen. Dieses handfeste Erbe hatte mir Angus Macdonald immerhin hinterlassen. 270
Als ich nach diesem Gespräch mit dem Steuerbeamten und der Po lizei nach Hause schlenderte, dachte ich über Morags Schicksal nach. Hatten wir sie wirklich gesehen, Neil Smith und ich? Oder waren wir durch irgendeine Halluzination, durch ein merkwürdiges Spiel der züngelnden Flammen getäuscht worden? Man hatte in den Trüm mern keine verstümmelten, halbverkohlten Überreste eines jungen Mädchens gefunden. Aber andererseits war es undenkbar, daß sie dem Flammenmeer entkommen war. Ich sah sie wieder vor mir; sie hat te gelassen im Stallhof gestanden und unbeteiligt zugesehen, wie alle um sie herumliefen, um die Pferde zu befreien. War es möglich, daß sie sich die Aufregung zunutze gemacht hatte, um sich in Neil Smiths Häuschen die Schlüssel zu holen? Und war sie von da aus gleich zum letzten Lagerhaus gelaufen, wo man am schwersten mit den Wasser schläuchen hingelangte und wo man das Feuer am spätesten entdek ken würde? Und hatte sie dann den Brand gelegt, von dem sie wußte, daß er um sich greifen würde, und schließlich mit derselben unheimli chen Ruhe alle Tore geöffnet, damit der Wind das Feuer anfachte? Und angenommen, sie hatte das alles getan und sich dann aus dem Staube gemacht – wo war sie jetzt? War sie zu Fuß zur nächsten Bahn station gelaufen und hatte den ersten Frühzug genommen, noch ehe sich die Nachricht von dem Brand herumgesprochen hatte und nach einem jungen rothaarigen Mädchen gefahndet würde? Wenn sie ihr Gesicht halb unter dem Plaid versteckt gehalten hatte, würde sie nie mandem aufgefallen sein. Ich dachte über sie und ihre Zukunft nach. Wenn sie noch lebte, war sie wahrscheinlich in den Glasgower Slums untergetaucht. Dort könnte sie unentdeckt abwarten, bis man die Su che nach ihr aufgab. Und dann? Sie mochte die überfüllten Städte nicht; also würde sie vielleicht später nach Kanada oder nach Austra lien auswandern. Sie war klug und schätzte sich selbst richtig ein; sie würde sich Zeit lassen und mit Bedacht einen Gatten aussuchen; bei ihrer Schönheit würde ihr das nicht schwerfallen. Wieviel Wut und Hass mußten sich in ihrem Herzen aufgespeichert haben, um das zu tun, was sie getan hatte! Es war schrecklich, an dieses anmutige Ge sicht zu denken – an die weiße Haut, die vor Aufregung und Leiden 271
schaft geglüht hatte, die glänzenden roten Locken – und gleichzeitig zu wissen, wie Gier und Hinterlist wie eine Art von Wahnsinn an ihr genagt hatten. Sie hatte geträumt, die Herrin von Cluain und Callums Frau zu werden. Und ich? Hatte ich nicht denselben Traum geträumt? Wo war der Unterschied? Es war ein ernüchternder und erniedrigen der Gedanke. Ich fröstelte, als ich den Hof überquerte. Der Septemberwind weh te mir ein paar Regentropfen ins Gesicht. Nein, ich glaubte nicht, daß Morag Macpherson in den Flammen umgekommen war. Nein, sie leb te sicher irgendwo unter einem anderen Namen und schmiedete ehr geizige Pläne für eine neue Zukunft, die noch besser sein müßte als die in Cluain. Und so wie ich sie kannte, hatte sie alle Chancen, ihr Ziel zu erreichen.
3
A
n diesem Abend hatte ich meine große Auseinandersetzung mit Samuel. Wir saßen vor dem Kamin. »Mr. Lachlan«, fing ich an, »ich habe den Brennereiarbeitern gesagt, daß sie bleiben könnten. Ich habe ihnen auch gesagt, daß wir die Whiskyproduktion vielleicht die sen Winter ausfallen lassen müßten, aber daß sie während der Zeit an dere Arbeiten für Cluain übernehmen könnten – Bau- oder Landar beit. Ich habe ihnen versprochen, daß sie ihre Häuser nicht verlassen müßten und daß sie denselben Lohn bekämen, als wenn sie in der Brennerei arbeiteten. Ich kann sie nicht gehen lassen – ich brauche sie später dringend, wenn wir zu der vollen Produktion zurückkehren.« »Und woher wollen Sie das Geld nehmen?« »Sie werden es mir leihen, Mr. Lachlan.« »Und welche Sicherheiten können Sie mir geben?« »Cluain.« 272
»Ich verlange hohe Zinsen, und was würde ich mit Cluain anfangen, wenn es schief geht?« »Wenn es schief geht, besitzen Sie ein schönes Gut und die Bren nereigebäude – die ganzen Aktiva von Cluain.« »Die Aktiva von Cluain decken nicht die Summe, die Sie bei mir lei hen müssen, um wieder neu anzufangen. Mit den Versicherungsgel dern können Sie gerade die Käufer befriedigen, deren Whisky in den Lagerhäusern verbrannt ist. Aber der Reichtum Cluains lag in den un verkauften Fässern, die Angus Macdonald für sich zurückbehielt. Ha ben Sie eine Ahnung, wieviel Geld Sie von mir haben wollen?« »Nein, ich dachte, Sie würden es mir sagen können.« »Sie erwarten also von mir, daß ich Makler und Bankier in einer Per son für Sie sein soll. Sie verlangen aber viel, junge Frau.« »Ja, ich verlange viel. Mein Großvater verlangte auch viel von Ihnen an dem Tag, als er in Inverness in Ihrem Büro erschien und Sie bat, seinen Prozess zu übernehmen – ohne Honorar, nur weil das Recht auf seiner Seite stand. Und dann lieh er Geld von Ihnen, um anzufan gen. Hat er damals wirklich weniger von Ihnen verlangt, als ich es jetzt tue?« »Nein, aber er war … nun, er war eben Angus Macdonald.« »Und ich bin Angus Macdonalds Enkeltochter. Sie werden mir gleich sagen, daß eine Frau nicht imstande sei, eine Brennerei zu führen. Hat es je eine versucht?« »Wenn Sie verheiratet wären …« »Wenn ich verheiratet wäre, könnte ich mit einem Trottel verheira tet sein, der Ihr Geld sinnlos verschwenden würde. Auch Männern misslingt vieles, Mr. Lachlan. Fergusons Firma zum Beispiel ist in den Händen eines Konkursverwalters. Hätten Sie das noch vor einem Jahr für möglich gehalten?« »O ja, ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich Ferguson immer auf merksam beobachtete. Man hat mir allerlei Geschichten, zugetragen, und ich habe mich nie mit einer einzigen Aktie an seinem Unterneh men beteiligt.« »Aber Sie haben sich an Angus Macdonalds Geschäft beteiligt. Schau 273
en Sie mich an, Mr. Lachlan! Sehen Sie nicht etwas von Angus Macdo nald in mir? Die Arbeiter werden bei mir bleiben, und ich werde von ihnen lernen, Mr. Lachlan. Ich bin zwar ahnungslos, aber andere wa ren es auch und haben es gelernt. In Großvaters Büro liegen alle seine Geschäftsbücher; ich werde sie genau studieren. Ich weiß, daß ich Tage und Nächte arbeiten muß, aber das macht mir nichts aus. Sie werden hier kein üppiges Leben sehen, Mr. Lachlan, und auch keine Seide – nicht einmal sonntags. Also, wie wär's, Mr. Lachlan?« »Es ist ein Risiko – ein enormes Risiko. Und weshalb sollte ich es ein gehen? Ich bin alt, vielleicht bin ich schon tot, noch bevor Sie Ihr erstes Fass verkauft haben!« »Ja, es ist ein Risiko, Mr. Lachlan. Aber Sie fragen, weshalb Sie es eingehen sollten? Klingt es zu überheblich, wenn ich sage, daß Sie sich durch Ihre Hilfe das Recht erwerben, dort zu sitzen, wo Sie jetzt sit zen, an Cluains Kamin, und Cluain zu leiten, so wie Sie es vierzig Jahre lang getan haben? Natürlich können Sie immer zurück nach Inverness gehen, Mr. Lachlan – und ich könnte bestimmt einen anderen Käufer finden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß es für ein schönes Gut und eine Brennerei mit hochqualifizierten Arbeitern Käufer ge ben wird. Oh, ich bin überzeugt, man würde mir Cluain aus den Hän den reißen, angefangen mit den Macquaries und Camerons. Die ken nen den Wert von Cluain, den Wert seines Namens und seines Rufes. Ja, ich bin sicher, ich könnte es sehr günstig verkaufen, aber dann hät ten wir beide, Mr. Lachlan – Sie und ich – Cluain verloren. Ich hätte zwar Geld in der Tasche und keine Schulden, und Sie hätten nichts ris kiert, aber was dann?« »Man wird Sie betrügen. Die Männer werden Sie zu betrügen versu chen, weil Sie eine Frau sind.« »Sollen sie es versuchen! Ich habe in China gelernt, um wieviel je dermann betrügen durfte. Das erforderte Geschick, Mr. Lachlan, das man nicht in einem Anwaltbüro lernt. Ich werde sicher Fehler machen auf dem Gut – aber ich werde auf Ratschläge hören. Kannten Sie nicht auch Männer, die ihre Ernte zu lange auf den Feldern stehen ließen? Passierte es ihnen nie, daß ein Sturm ausbrach, ehe die Ernte einge 274
bracht war? Es wäre viel leichter für mich, wenn ich alles aufgäbe. Ich hätte Geld und ein sorgloses Leben, und mit der Zeit würde ich be stimmt einen Ehemann finden, dem meine Mitgift gelegen kommt. Und Sie, Mr. Lachlan, würden im Besitz Ihres Geldes bleiben und es weiterhin so sicher anlegen wie bisher. Entweder gehen wir den Weg des geringsten Widerstandes, oder wir behalten Cluain. Was ist Ihnen lieber, Mr. Lachlan?« »Sie bedrängen mich hart, sehr hart!« »Ich bin Angus Macdonalds Enkeltochter, Mr. Lachlan. Würden Sie von mir etwas anderes erwarten?« »Ja – Sie sind Angus Macdonalds Enkeltochter. Und darauf setze ich mein Geld.« Ich holte ihm einen Whisky. »Solange es noch einen Tropfen von Cluains Whisky gibt, ist er für Sie allein da, Mr. Lachlan. Wir anderen werden uns in den ersten Jahren mit einer schlechteren Qualität be gnügen müssen. Sie werden noch lange leben, und wenn Sie das letzte Fass geleert haben, wird schon der neue Whisky aus Cluain trinkbar sein. Sie sind wie Ailis. Sie werden uralt werden – und das in Cluain.« »Ach!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde ver dammt wenig Zeit haben, um in Cluain Whisky zu trinken. Ist es Ih nen nicht klar, Kirsty, wieviel ich zu tun haben werde, um das Geld zu sammenzukratzen, das ich Ihnen borgen muß? Morgen muß ich nach Inverness fahren, um die Papiere vorzubereiten. Alles muß seine Ord nung haben. Am Wochenende bin ich wieder da.« Ja, dachte ich, nächstes Wochenende und jedes Wochenende werden Sie kommen, Mr. Lachlan. Und immer muß ein Platz am Kamin von Cluain für Sie frei sein – egal, wie alt und wie mürrisch Sie sein wer den. Aber man wird Sie in Cluain stets herzlich willkommen heißen – dafür wird die Enkeltochter von Angus Macdonald Sorge tragen.
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Zwölftes Kapitel
A
m nächsten Morgen ritt ich auf Ailis zu Callums Cottage, um Gi orsal zu füttern, wie ich es seit dem Unglück jeden Tag getan hat te. John, der Stallknecht, hatte mir jeden Morgen ein Kaninchen oder eine Taube für ihn geschossen, und der Vogel war immer zahmer und zutraulicher geworden. Es waren die einzigen Momente gewesen, wo ich mich ausweinen konnte – allein dort oben in dem leeren Cottage, wo niemand mich sah und hörte. Ich konnte es mir nicht erlauben, meinen Kummer zu zeigen. An diesem Morgen lag eine frisch erlegte Taube im Lederbeutel; Gi orsal rührte kein Fleisch an, das nicht ganz frisch war. Der Falke be grüßte mich krächzend und hüpfte auf seiner Stange auf und ab. Er hatte es sich abgewöhnt, hochzuflattern, wenn er mich kommen hörte. Meine Anwesenheit bedeutete Nahrung für ihn und brachte Abwechs lung in seine Gefangenschaft. Er war in der letzten Zeit immer unruhi ger geworden; es waren schon zu viele Tage vergangen, seitdem er ge badet und sich selbst gereinigt hatte. Nun tänzelte er in gieriger Erwar tung seine Stange entlang und breitete seine Flügel aus, als ob er mich daran erinnern wollte, daß er sie benutzen wollte. Ich zog den Hand schuh über und holte aus dem Beutel das erste Stück der Taube her vor. Ohne jegliches Zögern sprang er auf meine Faust und fing an, mit den Klauen und dem Schnabel an dem Fleisch zu reißen, das ich zwi schen den Fingern hielt. Ich beobachtete ihn dabei; der Anblick war mir nicht mehr unangenehmer, als ein Stück rohes Fleisch in der Kü che von Cluain zu sehen. Es war Giorsals natürliche Nahrung und er hielt ihn gesund. Aber die ganze Taube konnte er nicht auffressen. Er hüpfte auf die Stange zurück, obwohl ich noch weitere Bissen für ihn in der Hand 276
hielt. Auf der Stange fing er an, nervös von einer Klaue auf die an dere zu treten, und auch als ich ihn mit der Feder streichelte, kam er nicht zur Ruhe. Er wandte den Kopf in meine Richtung und stieß ei nen merkwürdigen Schrei aus. »Komm, Giorsal, es ist an der Zeit!« Als erstes nahm ich ihm das Ka püzchen ab. Es war leichter, solange er noch auf der Stange saß und ich beide Hände frei hatte. Die Geschicklichkeit von Callum, der die Schlaufen des Kapüzchens mit einer Hand und den Zähnen lösen konnte, besaß ich nicht. Als das Kapüzchen abfiel, ließ ich ihn ein paar Minuten sitzen, damit sich seine Augen an das dämmrige Licht im Schuppen gewöhnten, und sprach die ganze Zeit mit ihm. Ich schwitz te vor Aufregung, als ich die Riemchen von der Stange knüpfte und sie um meine Finger wickelte. Die ganze Zeit versuchte ich mich an Cal lums Handgriffe zu erinnern. Der Vogel verstand meine Absicht nicht sofort, und ich mußte ihn erst mit einem weiteren Stück Fleisch auf meine Faust locken. Dann, während er an dem Fleischstück zerrte und zog, machte ich die ersten zögernden Schritte auf die Tür zu. Er hör te erstaunt auf zu fressen und begann mit den Flügeln zu schlagen. Ich hatte furchtbare Angst, daß er von meiner Hand hochfliegen und sich in den Riemchen verheddern würde, denn dann könnte er nach vorn überkippen und mit dem Köpfchen nach unten an den Riemchen hän gen. Er durfte nicht spüren, wie unsicher ich war. Ein verängstigter, zögernder Falkner mußte jeden Falken verwirren. Ich nahm mich zu sammen, so gut ich konnte, um in diesen nächsten Minuten ja keinen Fehler zu machen. Ich mußte erreichen, daß der Falke mir vollkom men vertraute, und hoffte nur, daß ich Callums Art, mit ihm umzuge hen, gut genug beobachtet hatte, um das Tier ohne Gefahr ins Freie zu bringen. Vor allem durfte er nicht schon im Schuppen die Flügel aus breiten und mir zu entkommen versuchen, sonst könnte er sich die Flügel beschädigen und für immer im Fluge behindert sein. Wenn ich ihm aber das Kapüzchen wieder überstülpte, würde er sich zwar be ruhigen, doch dann müßte ich es ihm draußen wieder abziehen, was ja so mühsam war. Ich öffnete unendlich behutsam die Tür, so daß er nicht gleich zuviel vom Himmel sehen konnte. Aber schon das biß 277
chen Licht blendete ihn, und die Pupillen seiner großen Augen zogen sich eng zusammen. Er spreizte die Flügel, und ich fühlte den kräfti gen Ruck an meiner Hand, aber wir waren zum Glück schon aus dem Schuppen heraus und im Freien. Doch nun kam der gefährlichste und komplizierteste Teil der gan zen Operation. Wenn ich jetzt ungeschickt war, konnte er sich die Flügelenden verletzen, und dann würde er unweigerlich in Baumzweigen oder im Unterholz hängen bleiben und ein klägliches Ende nehmen. Ich zog vorsichtig ein Stück Moorhuhn aus dem Beutel, das ich mir eigens für diesen Moment aufgespart hatte; das Huhn war am frühen Morgen illegal auf Ballochtorras Moor geschossen worden. Dieses Stück Fleisch steckte ich zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand, auf der der Falke saß, und bewegte meine Fin ger ein bißchen, damit er es auch sah. Seine Augen schweiften zwar schon in die Ferne, und er war auch schon satt, aber der Geruch stieg ihm doch in die Nase, und er fing an, faul an dem Leckerbissen her umzuzerren. Während er damit beschäftigt war, griff ich ganz sanft mit meiner freien Hand in die Tasche und zog eine Schere heraus. Zu erst schnitt ich die dünnen Lederstreifen durch, an denen die Glöck chen hingen. Das Glöckchen, das an Giorsals linkem Bein befestigt war, fiel leise bimmelnd zur Erde. Das zweite Glöckchen loszuschnei den war schon schwieriger, weil es an dem Bein hing, mit dem Gior sal das Fleisch hielt. Aber endlich gelang es mir, die Schere zwischen sein Bein und das Band zu schieben, und ich schnitt das Leder durch. Auch das zweite Glöckchen fiel zu Boden und rollte zwischen die Stei ne. Bei diesem Laut hörte er auf zu fressen, blickte sich nur kurz um und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Fleisch zu. Jetzt mußte ich nur noch die Riemchen durchschneiden, die ihn an meiner Hand festhielten; wenn mir das gelang, hatte ich meine Aufgabe er füllt. Ich fing bei der Klaue an, mit der er am Fleisch zerrte. Er hörte wieder zu fressen auf und blickte sich nach mir um, als versuchte er, mein merkwürdiges Verhalten zu verstehen. Ich kam aber gut an das Bein heran, und das Riemchen fiel zu Boden. Mit dem zweiten war es einfacher, weil der Falke auf das riemenlose Bein starrte und erstaunt 278
die Klauen spreizte. Nun fiel auch die letzte Fessel, die ihn an eine Menschenhand band, und er war frei! »Leb wohl, Giorsal …« Ich hob meinen Arm mit derselben Bewe gung, die Callum immer gemacht hatte, wenn er ihn fliegen ließ. Der Falke öffnete weit die Flügel, aber zögerte einen Augenblick, als ob er nicht recht wüsste, was er mit seiner Freiheit anfangen sollte. Doch dann streifte sein Gefieder meine Wange, und er flog auf. Er flog erst langsam und nicht sehr hoch, als ob er die Kraft seiner Flügel prüfen wollte, und kreiste dann ein paar Mal über der Lichtung, bevor er sich für eine bestimmte Richtung entschloß. Nach Beute brauchte er heu te nicht zu jagen. Er konnte hoch in den Lüften schweben und auf klei nere Vögel herabstoßen, um sie zu erschrecken. Später würde er wahr scheinlich baden, und morgen, wenn er Hunger verspürte, würde er tö ten. Er schraubte sich immer höher über die Bäume der Lichtung, über Felsen, als ob er sich sein Revier in Erinnerung bringen wollte. Aber dann machte er plötzlich kehrt und kam auf mich zugeflogen – so un erwartet, daß ich gerade noch Zeit hatte, meine behandschuhte Hand zu heben. Er landete darauf und blieb ein paar Sekunden mit ausge breiteten Flügeln dort sitzen; seine schwarzen Augen bohrten sich in meine. Dann stieg er wieder, diesmal schnell und steil, zum Himmel auf und schwebte hoch in der Luft, bis er als kaum erkennbarer Punkt in der Schlucht von Ballochtorra verschwand, wo er geboren war. Ich ließ die Hand fallen. Er war fort! Der schönste aller Vögel, dieses edle Geschöpf der Lüfte, war fort. Aber er war wenige verzauberte Se kunden auf meine Hand zurückgekommen, um mir für das Geschenk seiner Freiheit zu danken. Meine Augen blickten noch suchend über den Himmel hin, als aus dem Schatten der Bäume eine Gestalt trat. Sie sah Callum nicht ähn lich, und doch lag in der ganzen Haltung etwas, was mich an ihn erin nerte. Ich hatte früher nicht bemerkt, wie groß er war. Er trug den grü nen Cawdor-Kilt mit den passenden Strümpfen und eine blaßgrüne Tweedjacke, die sich den Farben der Landschaft anzugleichen schien. Er trug keinen Hut, und ich sah die fast weißblonden Strähnen in sei nem blonden Haar und den merkwürdigen Glanz in seinen blauen 279
Augen. Nein, Gavin sah nicht wie Callum aus, aber eines hatten sie ge meinsam: die Vertrautheit mit dem Gelände, mit der Natur. Beide hat ten den federnden Gang der Hügelbewohner, ihre sparsamen Bewe gungen und die gelassene Ruhe. »Er hat Ihnen den höchsten Dank gezollt, nicht wahr, Kirsty? Cal lums Falke kam auf Ihre Hand zurück.« »Er war an mich gewöhnt. Ich habe ihn gefüttert.« »Das erklärt nicht alles! Ich hielt den Atem an, als er zurückkam. Ohne Riemchen, ohne Glöckchen, eine freie Kreatur! Der Falke kam auf Ihre Hand zurück, Kirsty! Vergessen Sie das nie! Es war so, als ob Cal lum einen Augenblick zu Ihnen zurückgekommen wäre. Solche Dinge soll man nicht vergessen, Kirsty. Liebe soll man nicht vergessen – auch nicht, wenn sie unglücklich war. Liebe lohnt sich immer – egal zu wel chem Preis.« Seine Stimme wurde leiser. »Wie war doch die Falknerre gel … ein Adler für einen Kaiser, ein Falke für die Dame …« »Für einen König …«, unterbrach ich ihn. »Ein Falke für eine Dame, Kirsty, und eine Dame sind Sie – eine gro ße Dame, die über ihr Gebiet herrscht wie der Falke über seins. Es gibt Wesen, die von Natur aus edel sind, und dazu gehören Sie und der Fal ke. Diese Wesen sind nicht für kleinliche Dinge geboren, sie kennen nur große Freuden, große Lieben – große Leiden. Wenn sie fliegen, fliegen sie hoch und sicher und schnell, und wenn sie fallen, dann stol pern sie nicht, sondern stürzen tief, und damit rechnen sie auch. Sie und der Falke, Kirsty. Nie werde ich dieses Bild vergessen.« Ich holte Ailis aus dem Stall, und Gavin und ich ritten zusammen den Pfad hinunter. Die Natur um uns herum war wild und schön. Ich würde das Moorland und die tiefen Schluchten sehr vermissen, aber das naive junge Mädchen, das einen Sommer lang auf Ailis durch das ganze Tal geritten war, gab es nicht mehr. Was für eine Frau aus mir werden würde, wußte ich nicht. Eine Geschäftsfrau, die Cluain nach bestem Wissen und Vermögen führen würde? Eine Frau, die mit ih ren Aufgaben wachsen und in ihrem Herzen nicht nur für Callum und William und Angus Macdonald Platz finden würde, sondern auch für andere, die Anspruch auf ihre Zuneigung erheben könnten? 280
Ich blickte Gavin an. »Sagen Sie Jamie, daß ich ein Geschenk für ihn habe.« »Was ist es?« »Ailis.« Ich war froh, daß er nicht protestierte. Er beugte sich nur zu mir herüber, unsere beiden Pferde standen dicht beieinander. »Ailis ist das Kostbarste, das Jamie je besitzen wird.« Dann streckte er die Hand aus und legte sie kurz auf meine. »Und für mich, Kirsty, wird es auch für mich einmal ein Geschenk geben?« Ich entzog ihm meine Hand und blickte zum Himmel auf; meine Augen suchten Giorsal, aber ich konnte ihn nicht finden. Der Wind hatte die Wolken in die Höhe getrieben, und in der Ferne auf den Gip feln des Gebirges sah ich plötzlich Schnee schimmern. Der Winter kündigte sich an. »Wer weiß … vielleicht … vielleicht bald einmal.«
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Epilog
S
o wurden Cluain und Ballochtorra durch Gavin und mich selbst wieder vereint. Der alte Mann, der so lange in Edinburgh dahinge siecht war, hatte das Zeitliche gesegnet, und so war ich es und nicht Margaret, die das Recht gehabt hätte, während der Krönungsfeierlich keiten für Edward VII. in der Westminsterabtei zu sitzen und die Tia ra einer Marchioness zu tragen. Aber Gavin und ich fuhren nicht hin. Gavin hatte nie offiziell seinen Sitz im Oberhaus eingenommen, und wir dachten nicht daran, das Geld für extravagante Kleidung und für die teure Reise auszugeben. Samuel Lachlan fragte Gavin fast flehent lich, ob er ihm nicht erlauben würde, die Kosten zu tragen, aber wir zogen es nicht einmal in Betracht. In Cluain wurde unentwegt gebaut, und das kostete viel Geld. Und selbst wenn wir Samuel Lachlan für uns hätten zahlen lassen, so hätten wir für eine so lange Reise keine Zeit gehabt. Ich glaube, er war sehr enttäuscht – er hatte sich schon im vor aus auf die Klatschgeschichten gefreut, die wir zurückbringen würden. Wir feierten den Krönungstag mit einem Picknick auf dem Moor, an einer Stelle, die leicht erreichbar und doch einsam war. Wir fuhren im Zweisitzer hin, weil Samuel Lachlan nicht mehr gut gehen konnte und weil ich mein erstes Kind erwartete. Nur Jamie sprach über die Zeit, als der Prinz, der jetzt König wurde, in Ballochtorra zu Besuch geweilt hatte. Aber auch als meine Kinder zur Welt kamen, behielt Jamie sei nen ganz besonderen Platz in meinem Herzen – ich liebte ihn wie mei ne eigenen Söhne, vielleicht sogar noch mehr. Durch seine Mutter war er eine Verbindung zu William und Callum. Jamie war immer ein hübscher Knabe gewesen, und er wuchs zu einem schönen jungen Mann heran. Wir gaben ihm das Turmzimmer in Cluain – ich selbst war nach dem Tode von Angus Macdonald in das Zimmer meiner 282
Großmutter umgesiedelt. Ich wollte nicht mehr den weiten Ausblick über das ganze Tal bis nach Ballochtorra hinauf vor Augen haben, und ich glaube, auch Gavin war nicht unglücklich, daß die Sicht auf Bal lochtorra versperrt war. Wir lebten beide mit unseren Erinnerungen – Gavin und ich. Die neuen Lagerhäuser, die sich stetig vermehrten, nahmen die Whiskyfässer auf. Gleich zwei Steuerbeamte mit ihren Familien er setzten Neil Smith, weil wir uns so schnell vergrößerten. Obwohl die Anleihe nur zur Hälfte abbezahlt war, nahmen wir – Gavin und ich – eine zweite auf, um ein neues Brennereigebäude mit vier Destillations apparaten zu errichten. Das bedeutete weitere Lagerhäuser. »Seien Sie vorsichtig, Kirsty«, sagte Samuel Lachlan. »Sie werden noch zu einem zweiten James Ferguson.« Aber er streckte das Geld vor, und wir zahl ten es ihm weiterhin pünktlich samt den Zinsen zurück. Er kam jetzt immer häufiger nach Cluain, und er wurde uralt, wie ich es vorausge sagt hatte. Er liebte die eigens für ihn reservierten Fässer des Cluain schen Whiskys, und die neue Produktion war schon gut abgelagert, bevor er sie probierte. Ich glaube, die Aktivität, die Schwierigkeiten, die kleinen Triumphe machten ihm große Freude, obwohl er sie nur auf seine brummige Art zu zeigen vermochte. Es gefiel ihm, Gavin und mich zusammen in Cluain zu sehen, wo es nicht mehr so friedlich zu ging wie zu Großvaters Zeiten. Kleine Kinder machen Lärm und brau chen Platz zum Spielen – und meine Kinder spielten um ihn herum wie kleine Hunde, und er genoß es, und nie werde ich den Tag verges sen, kurz nach meiner Heirat, als er in einer dunkelrötlichen Tweedjak ke nach Cluain kam, weil Jamie ihn wegen seines schwarzen Anzugs geneckt und gesagt hatte, er sähe aus wie die Krähen auf den Mooren. Samuel Lachlan liebte Jamie über alles. Und Jamie erwiderte diese Lie be ganz unbewußt. Die Atmosphäre von Cluain, die Wärme und die Freundschaft, die ihm entgegengebracht wurden, vergoldeten das Al ter von Samuel Lachlan. Mairi Sinclair blieb in Cluain, aber die Jahre milderten kaum ihre Strenge; sie verlor nichts von ihrer ehrfurchtgebietenden Würde und hielt trotz aller Veränderungen, die in Cluain vor sich gingen, an ih 283
ren spartanischen Gewohnheiten fest. Das Haus war jetzt mit Büchern und Bildern, mit Musik und Blumen gefüllt, dafür aber auch etwas unordentlich. Doch als meine Kinder zu laufen begannen und ihre er sten Schritte machten, merkte ich, daß sie nach ihrem Rock oder ih rer Hand genauso zutraulich griffen wie nach meiner. Sie hatten zwar einen gesunden Respekt vor ihr, aber keine Angst. Manchmal, als ich Mairi Sinclairs Augen auf die Kinder gerichtet sah, schien es mir doch, als ob ihr Gesichtsausdruck nicht mehr ganz so gespannt und streng wäre. Ich hatte den Eindruck, daß auch sie mit den Jahren glücklicher und zufriedener wurde. Jamie wurde unter wütendem Protest seinerseits auf die Schule nach Edinburgh geschickt und machte später auf der dortigen Universität sein Diplom als Chemiker. Samuel Lachlan wollte ihm ein Studium in Cambridge bezahlen, aber Jamie lehnte ab. »Edinburgh hat die be ste Universität im Land«, sagte er mit dem Chauvinismus der Jugend. »Und außerdem ist Cambridge zu weit weg von zu Hause.« Er über raschte uns alle, als er mit dem Diplom in der Tasche nach Hause kam und erklärte, er wollte in Cluain bleiben und in der Brennerei arbei ten. Samuel Lachlan hatte seine Zweifel. »Es sieht natürlich gut aus, ei nen gräflichen Namen auf dem Firmenpapier zu haben – aber wir ha ben doch schon einen Marquis! Außerdem, kann denn ein Graf in ei ner Brennerei arbeiten?« Doch er tat es, und die Brennereiangestellten nannten ihn nie an ders als Master Jamie. »Whisky ist jetzt das Getränk in der ganzen Welt, Mr. Lachlan«, sagte Jamie so ernst, als ob wir eben erst das Ge tränk entdeckt hätten. »Ich will das Geschäft von der Pike auf lernen.« Er arbeitete seine vollen Stunden in der Brennerei, und in der freien Zeit ritt er auf dem Pferd aus, das ihm Samuel Lachlan nach Ailis' Tod geschenkt hatte. Er fischte im Fluss und jagte auf dem Moor. Von Ga vin lernte er das Orgelspielen: Er spielte gut, aber ohne die väterliche Feinfühligkeit. Als Orgelreparaturen nötig wurden, bezahlte sie Sa muel Lachlan. Er pflegte den Orgelstunden, die Gavin Jamie gab, bei zuwohnen und fing sogar an, Gavin beim Spielen zuzuhören. Er ent deckte die Musik erst spät in seinem Leben. 284
Und dann fiel Jamie 1916 an der Somme, und sein Grab lag in Flan dern. In der Kirche von Ballochtorra wurde nur eine einfache Gedenk tafel aufgestellt. Nach Jamies Tod ging es mit Samuel Lachlan schnell zu Ende. Er liebte zwar auch meine Kinder, aber nicht so sehr, wie er Jamie geliebt hatte. »Ich bin zu alt zum Leben, und Jamie war zu jung zum Sterben«, sag te er. Der Gram des alten Mannes war schlimmer mit anzusehen als Gavins Trauer. Ich bestand darauf, daß er endlich seine Behausung in Inverness – das Symbol seiner Unabhängigkeit – aufgab und nach Cluain umsiedelte. Nach längerem Sträuben gab er nach, aber er hat Jamie nicht lange überlebt. Als das Testament vorgelesen wurde, war mir ganz seltsam zumute. Gavin und ich hatten hart gearbeitet, um die Schuld mit Zinsen abzahlen zu können – denn darauf hatte Samu el Lachlan schon aus Prinzip bestanden, und ich hatte es ja auch ver sprochen. Aber in seinem Testament, das er sofort nach Jamies Tod aufgesetzt hatte, ernannte er mich zur Alleinerbin. Wir begruben ihn auf dem Friedhof von Ballochtorra und stellten einen weiteren Granit grabstein auf. Das Moorland von Ballochtorra konnten wir jedes Jahr als Jagd ver pachten, aber das Schloß hat niemand gekauft, und Gavin hielt seinen Verfall nicht auf. Als Samuel Lachlan es ihm einmal vorwarf, antwor tete Gavin: »Soll ich meine Kinder zu Bettlern machen, nur um eine Fassade zu wahren, die keiner mehr braucht? Ballochtorra war zuerst eine kleine Burg. Das übrige ist James Fergusons Werk. Aus welchem Grund sollte ich wohl das für die Nachwelt bewahren?« Gavin hat seinen alten Traum verwirklicht und die Wiesen am Fluss unterhalb Ballochtorras trockengelegt – dort grasen jetzt ebenso wohl genährte Rinder wie auf den Weiden von Cluain. Und so wuchert das Unkraut in den Terrassengärten von Balloch torra, und die Büsche schlagen ihre Wurzeln in den Mauerritzen. Der Gips an den Fensterrahmen wird brüchig, und die Scheiben fallen her aus und zerbrechen. Regen und Schnee haben das Dach beschädigt. Der Efeu macht sich breit. Die Krähen nisten auf den hohen Zinnen, und ihre rauhen Schreie sind ein Teil unseres Lebens geworden. Fast 285
jeden Sonntag gehen Gavin und ich mit den Kindern auf den Friedhof von Ballochtorra, und ich sehe mir die Grabsteine an. Jeden Frühling, wenn der Schnee taut, schneide ich das hohe Gras auf diesen Gräbern, um den wilden Blumen Luft und Licht zu verschaffen. Jeden Früh ling blicke ich den Falken nach, die in die Schlucht von Ballochtor ra fliegen, um ihren Jungen Futter zu bringen. Ich hoffe, Giorsal hat ein Weibchen gefunden und sich ein Nest gebaut – irgendwo in der Nähe des Felsens, der sein Geburtsort war. Ich stelle mir gerne vor, daß seine Nachkommen hier bleiben und ihre Nester bauen werden. Gelegentlich habe ich einen Falken gesehen, der als kaum erkennbarer Punkt hoch in der Luft schwebte, und dann habe ich mich jedes Mal an den verzauberten Augenblick erinnert, als ein Falke namens Gio rsal freiwillig auf meine ausgestreckte Hand zurückkam. Gavin hat recht. Man soll nicht vergessen! Wir haben unsere Kinder nicht zu Bettlern gemacht, wir haben auch keine Fassade gewahrt. Vielleicht haben wir zum Schluß doch den richtigen Sinn des Cawdorschen Mottos erfasst – Sei achtsam.
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