Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 666 Die Namenlose Zone
Duell der Unerbittlichen von Peter Griese
Chybrain...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 666 Die Namenlose Zone
Duell der Unerbittlichen von Peter Griese
Chybrains Weg zu den Zyrtoniern
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Dann, mit knapper Mühe dem »Kerker der Ewigkeit« entronnen, kehrt Atlan mit seinen Kreuzern im Juli 3808 wieder in das Normaluniversum zurück, – gerade rechtzeitig, um die Solaner und die Vulnurer vor dem Untergang zu bewahren. Indessen ist Chybrain in der Namenlosen Zone aktiv. Er stellt sich dem DUELL DER UNERBITTLICHEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Chybrain ‐ Das Wesen aus Jenseitsmaterie wird zum Gejagten. Katzulla ‐ Page und Wissenschaftler der Zyrtonier. Milorah ‐ Katzullas Lebensgefährtin. Parfran ‐ Emulator der Jukkas. Kennery ‐ Ein alter Jukka.
1. 666‐Page Katzulla: Ich war müde und niedergeschlagen, denn ich hatte nun zwei Nächte ohne größere Pause durchgearbeitet. Milorah, die Gute, hatte mich nicht einmal gestört. Dafür war ich ihr dankbar. Nun trug mich der Antigravlift aus den unterirdischen Labors nach oben in mein Wohnhaus. Die robotischen Einrichtungen würden die begonnenen Experimente überwachen. Sie würden mich alarmieren, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen sollte. Dinge, die nicht der Norm entsprachen, gab es nur bei meinen Forschungsarbeiten, nie aber mehr im Alltagsleben. Auf den Welten des Zyrton‐Systems ging alles seinen geregelten Gang. Dafür sorgten die Pagen, die auf Zyrton selbst weilten. Auch ich gehörte eigentlich zu diesem auserwählten Kreis der 1000 Berufenen, die den Gesamtrat bildeten. Mich beorderte man aber nicht zu den Sitzungen, denn es gab nichts, wofür man mich gebraucht hätte. Die hohe Politik bestimmte das Geschehen in der Namenlosen Zone. Wissenschaftler wurden nur selten in den Rat gerufen. Als 666‐Page war ich zum letzten Mal vor über 20 Persijigg‐Jahren auf Zyrton gewesen. Damals waren die letzten Maßnahmen zur endgültigen Stabilisierung der Schockfronten getroffen worden. Da hatte man mich noch benötigt. Inzwischen lief alles seinen geregelten Gang. Normale Zyrtonier versahen die Arbeiten.
Und das war gut so, denn ich sehnte mich nicht nach den geheimen Orten, an denen die Anlagen aufgestellt worden waren. Wer dort seine Aufgabe versah, kehrte nie zurück. Die obersten Pagen wollten das so, denn nie sollten die Geheimnisse ihrer Macht an die Öffentlichkeit gelangen. Eigentlich war mein Leben eintönig geworden. Meine Studien und Untersuchungen über neue Energieformen füllten mich zwar aus, und in Milorah besaß ich eine Lebenspartnerin, wie ich sie mir immer erträumt hatte. Aber eigentlich fehlte etwas in meinem Leben. Ich war noch zu jung, um schon in die Eintönigkeit zu verfallen. Als ich die Oberfläche erreichte, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne ging über dem fernen Horizont von Persijigg auf. Es war früh morgens, aber ich hatte das Gefühl, es wäre abends. Das mußte an meiner Müdigkeit liegen. Persijigg war eine schöne Welt, der siebte Planet unseres Heimatsystems. Bestimmt war er attraktiver als die anderen Wohnwelten, Gautan und Munntson, die die Nummern fünf und acht des Zyrton‐Systems waren. Ich hatte diese Welten oft besucht, und jedesmal hatte ich große Sehnsucht nach Persijigg entwickelt. Hier war ich zu Hause, auch wenn ich mit Gewißheit sagen konnte, daß Persijigg nicht meine eigentliche Heimat sein konnte. Nur wenige Zyrtonier waren sich darüber im klaren, daß auch Zyrton, der sechste und damit der zentrale Planet des Sonnensystems, nicht unser Ursprungsort war. Das lehrte man zwar in den Schulen, aber als 666‐Page wußte ich, daß es nicht stimmte. Keiner der Planeten, die die Sonne Zyrton umkreisten, war unsere Heimat. Der Regierungsplanet Zyrton, der den gleichen Namen trug wie unser Zentralgestirn, war in ein Geheimnis gehüllt. Eigentlich betraf dieses Geheimnis alle elf Planeten. Worin es bestand, wußte fast niemand. Ich war mir sicher, daß 1‐Page bis 32‐Page über diese Dinge Bescheid wußten. Oder gar der Null‐Page, dessen Existenz mehr ein Gerücht war.
Ich glitt durch die unteren Etagen meines Hauses und blickte dabei in die andere Richtung, wo der Raumhafen lag. Es herrschte eine große Aktivität auf der Landefläche. Mindestens ein halbes Dutzend Schiffe schwebte in der Luft. Das mochte Zufall sein, und so schenkte ich diesem Umstand keine weitere Aufmerksamkeit. Wir Zyrtonier besaßen keine eigentliche Heimat, das wußte ich von einem früheren Pagen mit sehr kleiner Zahl. Er war ein entfernter Verwandter von mir gewesen, und er hatte es mir gesagt, als ich noch ein Heranwachsender gewesen war. Die Erinnerung daran war verblaßt. Sie lebte aber noch in mir. Woher unser mächtiges Volk wirklich kam, hatte auch er mir nicht verraten können. In mir lebte der Traum, daß es irgendwo in den Weiten des Kosmos, in der Namenlosen Zone oder außerhalb davon, ein wirkliches Heimatsystem geben würde. Vielleicht war das nur ein Traum. Es war nicht auszuschließen, daß unsere Herkunft eine ganz andere Quelle besaß. Noch bevor ich die Wohnetage erreichte, schlug der Alarmsensor an, der zwischen den Nackenschuppen befestigt war. Ich tastete ohne Erregung mit einem Arm nach oben und stellte den Summer ab. Es kam von Zeit zu Zeit vor, daß es einen Fehlalarm gab. Gelegentlich würde ich das Gerät durch ein neueres ersetzen müssen. Der Alarm wiederholte sich sofort. Das war ungewöhnlich, denn es konnte tatsächlich bedeuten, daß ein echter Anruf vorlag. Da dies in den letzten 25 Persijigg‐Jahren nicht einmal geschehen war, vermochte ich es nicht zu glauben. Daher schaltete ich den Empfänger endgültig ab. Durch den schlauchförmigen Korridor verließ ich den Lift und steuerte direkt den mittleren Wohnraum an. Meine Gedanken wechselten von dem Nachsinnen über unsere wirkliche Herkunft hin zu Milorah und einem ausgiebigen Mahl. Hier war die Wirklichkeit meines Lebens. Die Träumereien über Zyrton, die Pagen mit den niedrigen Zahlen oder eine vermeintliche
Heimatwelt brachten mich nicht weiter. Und doch, so fiel mir ein, wir besaßen keine wirkliche Geschichte unserer Vergangenheit. Wir besaßen keine Evolution, wie wir sie bei allen anderen Völkern beobachten konnten. Wir waren einfach da. Wir veränderten uns nicht, wir entwickelten uns nicht. Es hatte den Anschein, daß wir schon immer so waren wie heute. Und das konnte nicht stimmen, denn es widersprach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Milorah kam mir aufgeregt entgegen. Ich spürte, daß sie etwas bedrückte. Dennoch nahm sie sich die Zeit, um sich auf dem hinteren Beinpaar aufzurichten und ihre Kopfstacheln zärtlich an den meinen zu reiben. Ein unruhiges Flackern lag in ihren schönen Facettenaugen. »Du hast mich vermißt?« fragte ich. »Ja.« Sie sank wieder zu Boden. »Aber das ist nicht der Grund meiner Erregung. Hast du den Alarmruf nicht vernommen?« »Alarmruf? Ich hielt das für den üblichen Fehlalarm. Du willst doch nicht sagen, daß ich tatsächlich …« »Doch«, unterbrach sie mich. »Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, aber der Ruf kam von 209‐Page, also von Zyrton.« »209?« rätselte ich laut. »Du hast recht. Er ist ein Aktiver. Was will er von mir?« Sie lief wortlos zum Stollen, der in das Mehrzweckzimmer führte, in dem auch die Kommunikationsanlagen installiert waren. Ich folgte ihr. Innerlich lag ich im Widerstreit. Einerseits freute ich mich über die Abwechslung aus dem täglichen Trott, die der Alarm bewirkt hatte. Andererseits beschlich mich ein ungutes Gefühl, denn ich hatte keine Ahnung, was dieser Ruf zu bedeuten hatte. Die Signale zeigten an, daß die Verbindung nach Zyrton noch geschaltet war. Nun bestand endgültig die Gewißheit für mich, daß ich gebraucht wurde. Meine Müdigkeit und mein Hunger waren verflogen. Daran änderte sich auch nichts, als Milorah auf das Tablett deutete, auf dem sie die leckersten Happen zubereitet hatte. Mein alter zyrtonischer Stolz brach durch. Erst mußten die
Pflichten erledigt werden. Wenn es galt, der Erfüllung des großen Planes zu dienen, der uns die Herrschaft über das Universum bringen würde, hatten alle anderen Dinge zu warten. Das mußte auch Milorah einsehen. Sie tat das nicht, wie ihrer Miene zu entnehmen war. Für sie zählten diese Dinge wenig. Sie beugte sich aber schweigend meinem Verhalten. Ich gab meinen persönlichen Kode in das Gerät ein, und sofort darauf erschien das Bild eines Pagen. »Katzulla, gut, daß du dich so schnell meldest«, begann er ohne Begrüßungsformel. »Du bist nicht 209‐Page«, antwortete ich mit einem plötzlich erwachenden Unwillen. »Ich kenne Lydt.« »Natürlich, natürlich.« Er gab sich leutselig, dieser junge Fant. Manchmal war es mir ein Rätsel, welche Typen alles zu Pagen berufen wurden. »Lydt hat schon vor einer ganzen Weile das Zeitliche gesegnet. Ich bin der neue 209, und mein Name ist Corder. Finde dich damit ab.« »Muß ich wohl«, brummte ich. Milorah machte außerhalb der Aufnahmeoptik eine Geste, die meinen Unwillen gegenüber diesem Corder nur noch verstärkte. »Du erinnerst dich sicher, Katzulla«, fuhr 209‐Page unbeirrt fort, »daß sich schon Lydt mit undefinierbaren Energieechos der Namenlosen Zone befaßt hat.« »Ja, und?« Ich verbarg meine Unlust nicht, aber Corder schien das entweder nicht zu spüren oder er ignorierte diese Tatsache einfach. »Sie sind in jüngster Zeit wieder verstärkt in der Namenlosen Zone aufgetreten. Einmal konnten wir die Quelle sogar ausmachen, aber unsere Kräfte wurden abgeschlagen.« »Abgeschlagen?« höhnte und zweifelte ich. »Welcher Narr führte das Kommando?« »Das spielt keine Rolle mehr.« Nun wurde auch 209‐Page ärgerlich. Seine Geduld war von mir wohl schon genügend
strapaziert worden. »Die Tatsache allein zählt. Damit wurde nämlich bewiesen, daß die alten Legenden richtig sind. Dieser Störfaktor richtet sich eindeutig gegen die Zyrtonier. Und er ist mächtig. Er hat eine halbe Ewigkeit geruht, aber er ist noch da.« Nun wurde mein Interesse tatsächlich geweckt. Es gab eine alte Sage. In ihr hieß es, daß unsere Vorfahren ein Erbe hinterlassen hatten, das unsere Macht eines Tages brechen würde. Natürlich glaubte keiner der Pagen wirklich an diesen Unsinn, denn wer wollte unserer hochstehenden Technik und der fortgeschrittenen Kultur etwas anhaben? Niemand war dazu in der Lage. Zugegeben, unsere Macht reichte noch nicht aus, um den Überfall auf das äußere Universum zu wagen. Das war aber nur eine Frage der Zeit. »Ich kenne die Sage über das böse Erbe«, erklärte ich 209‐Page. »Gut.« Er wirkte tatsächlich nervös. »Wir haben einiges über den Störfaktor in Erfahrung bringen können. Er befindet sich in der Namenlosen Zone, aber er verbirgt sich in der Regel der Ortung. Er hat einen Platz auf einem raumschiffsähnlichen Körper, den man ›Basis des Ersten Zählers‹ nennt. Und er ist in der Lage, dank seiner Körper‐Materie‐Form, Jenseitsmaterie herzustellen. Unsere Berechnungen haben ergeben, daß wir diesem Störfaktor noch nichts anhaben können. Ein Rat arbeitet bereits an einer Lösung.« »Dann ist ja alles in Ordnung«, wiegelte ich ab. »Ich werde nicht benötigt, wenn man sich der Sache schon angenommen hat.« »Falsch, Katzulla. Diese Störquelle besitzt mindestens einen Ableger. Das steht fest. Ein zweiter Ableger, der allerdings relativ harmlos zu sein scheint, wird vermutet. Der erste Faktor ist jedoch gefährlich. Um ihn sollst du dich kümmern.« »Ich verspüre wenig Lust dazu«, erklärte ich offen. »Es gibt fähigere Zyrtonier als mich. 51‐Page ist ein ausgezeichneter Wissenschaftler. Und er hat eine viel niedrigere Nummer als ich.« »51‐Page sitzt im Rat, der sich um die eigentliche Störquelle auf der Basis kümmert. Du wirst gebraucht.«
»Was wißt ihr über den Ableger?« heuchelte ich Interesse. Zu frech durfte ich nicht werden. Andererseits hätte man mir höchstens meinen Status als Page aberkennen können, und das wäre auch nicht weiter von Bedeutung gewesen. Ich konnte auch als Nicht‐ Page mit Milorah ein ausgefülltes Leben führen. »Er wird angeblich Chybrain genannt. Was das bedeutet, wissen wir nicht. Seine Energiebahnen durchziehen die Namenlose Zone. Er sucht uns. Er verfügt über ungewöhnliche Kräfte, denn seine Körpersubstanz besteht aus der Jenseitsmaterie der Quelle von der Basis.« »Jenseitsmaterie kann man bändigen oder stumpf machen«, antwortete ich. »Natürlich, Katzulla.« Corder wippte unruhig mit seinem Kopf. »Aber wer beherrscht diese Energien vollkommen? Es sind nur wenige, und du bist einer davon.« Alles klang irgendwie verlockend. Es entsprach auch meinem Wunsch nach Abwechslung, den ich mir jahrelang nicht hatte erfüllen können. Und doch zögerte ich. Dabei wußte ich nicht einmal, warum ich nicht sofort zusagte. Waren es Milorahs flehende Blicke? Sie war sich darüber im Klaren, daß ich sie für unbestimmte Zeit allein lassen würde. Und das wollte sie nicht. Die Pagen mit den niedrigen Nummern konnten mich zwingen, den Auftrag zu übernehmen. Das wußte ich. Ein solches Verfahren war jedoch die Ausnahme. »Ich setze mich nicht gern mit riesigen Mächten auseinander«, sagte ich zu 209‐Page. »Riesig?« Corder lachte zwischen seinen kräftigen Zähnen. »Zugegeben, Chybrain verfügt über Macht, aber riesig ist er nicht. Er ist kleiner als dein Kopf.« »Du scherzt.« »Durchaus nicht. Er besitzt wahrscheinlich die Form eines Eies, und sein größter Durchmesser entspricht der Länge deiner Kopffühler.«
»Dann genügt eine kleine automatisierte Raumzecke, um ihn aufzuspüren und zu vernichten«, behauptete ich. »Das haben wir auch einmal gedacht. Aber da haben wir uns getäuscht. Mit solchen Dingen wird der Ableger der alten Quelle spielend fertig. Mehr noch. Er benutzt die Spur der auf ihn angesetzten Sonden, um ihren Weg zurück zu uns zu verfolgen. Wir mußten gewagte Täuschungsmanöver einleiten, um ihn vom Zyrton‐System abzulenken.« »Der undurchdringliche Wall unseres Heimatsystems ist auch für ihn ein ewiges Hindernis«, behauptete ich. »Anders kann es nicht sein, denn noch nie gelangte ein lebendes Wesen ohne den Willen des Rates der Pagen nach Zyrton.« »Wir sind uns in diesem Punkt nicht mehr so sicher.« 209‐Page wiegte besorgt seinen schuppigen Leib. »Chybrain entzieht sich ständig wieder unseren Ortungen. Die Quelle kann das auch. Also müssen beide mit Energien arbeiten, die den unseren gleichen oder ihnen gleichwertig sind.« »Oder überlegen«, folgerte ich emotionslos. »Vielleicht«, gab 209‐Page zu. »Wo steckt dieser Bursche jetzt?« »Wir wissen es nicht.« Corder streckte alle Fühler von sich. »Dann hat die Suche nach ihm keine Eile«, meinte ich. »Das glaube ich nicht. Er tummelt sich wahrscheinlich schon seit mehr als 150 Zyrton‐Jahren in der Namenlosen Zone. Und er kann diese verlassen und betreten, wie er will. Er stellt eine Gefahr dar.« »Ich brauche zehn Tage für meine Entscheidung«, erklärte ich hart. »Ich habe eine wissenschaftliche Exkursion nach Gautan eingeplant, um meine derzeitigen Arbeiten erfolgreich abzuschließen. Diese Arbeit muß beendet werden. Danach werde ich dir mitteilen, wie ich mich entschieden habe.« »Ich bedaure diese Verzögerung«, antwortete 209‐Page unwillig. »Aber ich beuge mich ihr. Solltest du eher zu einem Entschluß kommen, dann laß es mich wissen. Inzwischen lasse ich das
KRAFTEI startklar machen.« »In Ordnung.« Ich unterbrach die Verbindung und begab mich zu der Platte mit den Nahrungsmitteln, die Milorah zubereitet hatte. Herzhaft biß ich in den Schneckensalat. Meine Gefährtin schenkte mir zu trinken ein. »Ich wußte nichts von einer Reise nach Gautan«, bemerkte sie wenig später. »Du wirst mich also so oder so verlassen?« »Nein.« Ich stellte den Becher ab und lächelte ihr zu. »Von der Exkursion wußte ich bis jetzt auch noch nichts. Sie wird jedoch stattfinden. Allerdings beabsichtige ich nicht, Gautan aufzusuchen, sondern Zyrton selbst. Und außerdem möchte ich, daß du mich begleitest.« Das Knirschen ihrer Kiefer war die schönste Zustimmung und der netteste Ausdruck der Zufriedenheit, die sie mir schenken konnte. Wir aßen in Ruhe die leckeren Bissen. Dann legte ich mich zur Ruhe, während Milorah die Reisevorbereitungen traf. Sie war ein guter und zuverlässiger Partner. Mit dem Gedanken, was ich wohl ohne sie wäre, schlief ich ein. 2. Chybrain: Ich war eigentlich total verärgert. Nichts klappte, und nichts stimmte. Mich ärgerte, daß es Atlan nicht gelungen war, die Solaner zu einer richtigen Attacke gegen die Macht der Namenlosen Zone zu bewegen. Er hatte das wohl ganz aufgegeben. Seine Menschen bedeuteten ihm wohl mehr als ich, obwohl er oder sein Extrasinn an meiner Entstehung ein gewaltiges Wörtchen mitzureden hatten. Es war eben auf niemand Verlaß. Sie nennen sich Zyrtonier, diese Kerle. Ich habe ihnen ein paarmal eins ausgewischt, sagte ich mir in meinen Gedanken. Aber gefunden hatte ich sie nicht. Sie besaßen gut getarnte Sonden überall in der
Namenlosen Zone. Sie überwachten ihr Herrschaftsgebiet in aller Heimlichkeit, um den großen Schlag gegen das Universum selbst vorzubereiten. Das hatte ich herausgefunden. Dennoch stand ich vor schier unüberwindlichen Schwierigkeiten. Sie begannen damit, daß ich trotz aller Versuche und Modifikationen meiner inneren Struktur nicht in der Lage war, Systeme hinter Schockfronten zu erkennen. Diese Buhrlos von der SOL konnten das ohne besondere Mühe! Und ich tappte durch diesen Raum wie ein Blinder. Das war eine weitere Frechheit der kosmischen Kräfte, und das ärgerte mich auch zutiefst. Für mich war klar, daß ich mit einer herkömmlichen Methode – herkömmlich in meinem Sinn! – den Ort der Zyrtonier nur durch Zufall finden konnte. Zufälle brauchen Zeit, manchmal zehntausend oder hunderttausend Jahre. Diese Zeit hatte ich nicht, denn ich war ungeduldig. Das Herumtappen ärgerte mich, und die ständig wachsende Unzufriedenheit ärgerte mich auch. Ich schaukelte mich langsam, aber sicher in eine immer tiefere Krise, aus der ich keinen Ausweg sah. Es mußte etwas geschehen, das den Dingen eine neue Richtung gab. Aber was sollte das sein? Manchmal erinnerte ich mich an das Bild aus Atlans Gedanken, wenn er von einer Stecknadel in einem Heuhaufen sprach. Dieses Bild traf für mich teilweise zu. Allerdings war ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß in dem Heuhaufen, in dem ich suchte, gar keine Stecknadel war. Wieder wägte ich alle Fakten ab, die ich gesammelt hatte. Die Zyrtonier konnten theoretisch auch außerhalb der Namenlosen Zone ihren Ursprungsort besitzen. Vielleicht suchte ich an der falschen Stelle. Zweifel über Zweifel. Und kein Silberstreif am Horizont. Die Namenlose Zone blieb in das Dunkel ihrer Geheimnisse gehüllt. Ihre Substanz ruhte hinter den unfaßbaren Schockfronten, die sich meinen Sinnen entzogen.
Eine Unverschämtheit! tobte ich in meinen Gedanken. Natürlich verbargen sich diese Zyrtonier auch hinter einer solchen Schockfront. Anders konnte es gar nicht sein. Möglicherweise verfügten sie sogar noch über andere Sicherungsmaßnahmen, von denen ich gar nichts wußte. Ich bildete wieder aus einem Stück meines Leibes nach der mir hinreichend bekannten Struktur der Buhrlos ein solches Wesen. Es sah etwas unfertig aus, aber es verfügte über alle Sinne des Originals. Ich blickte durch seine Augen und mit seinen Sinnen – und sah nichts von Schockfronten oder Sternen oder Planeten. Es war ein Jammer. Willkürlich raste ich durch die Namenlose Zone. Dabei hinterließ ich ganz bewußt eine energetische Spur, um die Aufmerksamkeit der Zyrtonier auf mich zu lenken. Irgendwann mußte es mir gelingen, mit einer ihrer Sonden zum Ausgangsort zurückzukehren. Dann würde ich keinen Atlan und keine Solaner mehr brauchen, um diesen Saustall von Namenloser Zone zu säubern. Ich gab mir gegenüber zu, als ich eine ruhigere Minute hatte, daß ich zu impulsiv, zu stürmisch und zu ungeduldig war. Es ging mir alles nicht schnell genug. Aber dafür gab es gute Gründe. Einer war, daß ich viele Zeiten vergeudet hatte, um meine Schöpfer zu finden. Damals war ich aber noch sehr jung und unreif gewesen. Das entschuldigte meine vielen Irrfahrten. Heute war ich anders. Ich wußte, was ich wollte. Die Unfaßbaren jenseits aller normalen Räume, die man Kosmokraten oder die Hohen Mächte nannte, sie sollten erfahren, welch wertvolles Mitglied auf der Seite der ordnenden und positiven Kräfte sie in mir besaßen. Sie sollten den Makel eines Bastards oder unerlaubten Produkts von mir wischen und mir Aufgaben übertragen, die angemessen waren. Ich wollte es ihnen zeigen, und ich wußte ganz sicher, daß mir das gelingen würde.
Das Chaos der Namenlosen Zone und das Machtstreben der verborgenen Zyrtonier waren dafür die richtige Spielwiese. Es mußte einfach klappen! Das Filigran fiel mir wieder ein. Ich hatte es erschaffen, um Atlan wenigstens ein bißchen zu helfen. Meine Unrast erlaubte es mir nicht, mich selbst um ihn zu kümmern. Er machte genügend Fehler. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir alle zusammen, die SOL, Atlan und ich in die Namenlosen Zone gegangen, um die Zyrtonier aufzuspüren und von der kosmischen Bühne zu fegen. Oder dachte ich in diesem Punkt anders als die Kosmokraten? Ich wurde etwas unsicher, denn mir wurde bewußt, daß sie im Fall von Anti‐ES auch anders gehandelt hatten. Ihr Ziel war es offenbar allein gewesen, diesem Überwesen einen Wandel aufzudrücken. Aber nein! Bei Hidden‐X war das Ende auch die Vernichtung gewesen. Das war ein wirkungsvolles Rezept! In der Namenlosen Zone war alles anders. Hier überwog das Chaos, obwohl selbst ich unmittelbar davon nichts sah. Die drei Welten, die zufällig meinen Weg gekreuzt hatten, hatten das bewiesen. Hier gab es nur Völker hinter Schockfronten, die zu einem Kampf rüsteten, der ihnen Macht bringen sollte. Daß diese Völker in Wirklichkeit nur für die Ziele der Raumzecken arbeiten sollten, hatte ich erst spät erkannt. Dann gab es noch solche Völker, die sich selbst in den Untergang geführt hatten. Sie siechten dahin, und ein endgültiges Ende war absehbar. Ich empfand kein Mitleid mit diesen Lebewesen, denn letztlich waren sie an ihrem Schicksal selbst schuld. Hätten sie nicht vor langer Zeit die Pfade der Tugend verlassen, wären sie gar nicht erst in die Namenlose Zone gelangt. Es geschah ihnen recht. Nun hielt zum großen Teil ein künstlicher Mechanismus die alten Gesetze der Namenlosen Zone aufrecht. Die Zyrtonier hatten schnell aus den hiesigen Verhältnissen gelernt, die Naturgesetze dieser Dimension der Verbannung begriffen und sie nachgeahmt.
Sie mußten teuflisch schlau sein, denn was sie vollbracht hatten, war Anti‐ES nur zu einem Bruchteil gelungen. Und Hidden‐X hatte es erst gar nicht fertiggebracht, in die Namenlose Zone zu gelangen! Ich wischte den Gedanken weg, mich mit einer zu mächtigen Ballung angelegt zu haben. Zweifel an meinem eigenen Wesen konnten mir nur schaden. Warum kehrte das Filigran nicht zurück? Es gab verschiedene Antworten. Es mußte Atlan gefunden haben, daran zweifelte ich nicht. Aber ob es der Macht der Zyrtonier gewachsen war, konnte ich nicht mit letzter Bestimmtheit sagen. Oder hatte Atlan es am Ende gar geopfert? Das wäre bedauerlich, denn allmählich schwanden meine Energiereserven, so daß ich kein zweites Filigran mehr erzeugen konnte. Der Kampf zwischen Wöbbeking und Anti‐ES hatte an meiner Substanz gezehrt, und ich hatte mich noch nicht wieder zur Gänze regenerieren können. Die endlosen Flüge durch die Namenlose Zone forderten auch ihren Tribut. Es wurde Zeit, daß ich wieder eine Sonne fand, in deren Spektrum geeignete Energiestrahlungen enthalten waren, um mich aufzufrischen. Zur Not konnte ich noch auf meine Jenseitsmaterie zurückgreifen, aber darauf verzichtete ich, wenn immer es ging. Schließlich baute ich damit meine wirkliche Substanz ab. Im Fall des Kampfes zwischen Wöbbeking und Anti‐ES war das erforderlich gewesen. Auch für das Filigran hatte ich eine Portion verwenden müssen, denn schließlich hatte es ein Paket intelligenter Programme mitgenommen. Der Hohlraum, der in meinem Körper dadurch entstanden war, besaß schon die Größe einer Menschenfaust. Weiter durfte es nicht gehen, denn ich kannte das Ende. Ich würde meine Intelligenz behalten, aber zu einem schäbigen Klumpen Nickel werden, der sich nicht mehr bewegen konnte. Das Filigran kam nicht wieder. Ich besaß so keine Information über Atlan und seine Aktionen. Damit mußte ich mich abfinden.
Der Aufprall war plötzlich, aber nicht ungewohnt. Ich war wieder einmal gegen eine Schockfront gerast. Da ich automatisch auf alle Sperren reagierte, wurde ich durch meine eigene Kraft zurückgeworfen. Ich speicherte die Koordinaten blitzschnell und schickte mich dann an, meine überlichtschnelle Bewegung abzubremsen. Das dauerte nur Sekunden. Ich stand still und aktivierte alle Sinne, auch den nachgeahmten Buhrlosinn. Obwohl ich nur wenig tausend Kilometer von der Schockfront entfernt war, gewahrte ich absolut nichts. Zorn und Enttäuschung mischten sich in meine Überlegungen. Behutsam beschleunigte ich und hielt auf die Stelle zu, von der ich mich reflektiert hatte. Bilder aus der fernen Vergangenheit drangen in mich, als ich damals mit Schockfronten kollidiert war, ohne deren Sinn und Wesen zu kennen und zu verstehen. Heute kannte ich den Sinn. Die energetische Struktur der Schockfront war mir jedoch ein Geheimnis geblieben. Schmerzlich wurde ich mir bewußt, daß mir die Zyrtonier Grenzen aufzeigten. Ich hatte das damals schon vermutet. Das war auch der Grund dafür gewesen, Atlan und die SOL zu zwingen, mir durch den Junk‐ Nabel zu folgen. Ich hatte einfach die Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst für mich behalten. Wöbbeking war im Bewußtsein seines Untergangs nicht mehr in der Lage gewesen zu verhindern, daß ich dieses Wissen an mich nahm. Und Atlan würde diesen Daten nachjagen, bis er sie bekam oder unterging. Im Fall der Solaner hatte ich mich getäuscht. Dieses kleine Völkchen dachte gar nicht daran, sich blindlings in ein vages Abenteuer zu stürzen. Ich hätte das erkennen müssen, denn schließlich hatte Atlan seine Freunde zur Genüge strapaziert und ihnen viele Opfer abverlangt. Ein paar hundert folgten ihm auch jetzt noch. Mein Potential an Hilfskräften war dadurch aber gegenüber meinen Vorstellungen geschrumpft. Die Schockfront nahm mich nun, da ich ohne Sicherheitsreflektor und mit Unterlichtgeschwindigkeit flog, in sich auf. Sie war weicher
als alle Sperren, denen ich bisher begegnet war, und sie war auch dünner. Noch konnte ich nur darüber rätseln, was das zu bedeuten hatte. Die Lichtquelle der Basis des Ersten Zählers fiel mir ein. Ich hatte in den letzten Zeiten gespürt, daß sie wieder gewisse Aktivitäten entwickelt hatten, aber ich hatte sie nicht finden können. Vor ihr mußten meine Möglichkeiten versagen, denn meine Körpersubstanz bestand aus ihrem Stoff. Meine Sinne erfaßten einen Stern. Es handelte sich um eine hellblaue Riesensonne. Also hatte ich die Schockfront ohne besondere Umstände passieren können. Im Innern der abgeschotteten Zone war alles normal. Ich brauchte nur Sekunden, um festzustellen, daß es hier 27 Planeten gab, von denen ein einziger intelligentes Leben trug. Ich änderte meine Anfangsrichtung und steuerte diesen Himmelskörper an. Gleichzeitig prüfte ich die Hyperstrahlung der Sonne. Es waren geringe Anteile darin enthalten, die ich als Energie speichern konnte. Viel war es nicht, aber es war besser als gar nichts. Um meine Reservoirs zu füllen, würde ich Wochen oder gar Monate brauchen. Diese Zeit hatte ich nicht. Mit halber Lichtgeschwindigkeit stürzte ich auf den achtzehnten Planeten zu. Es würde 48 Stunden dauern, bis ich in seine Atmosphäre gelangen würde. Ich hätte die Strecke in Sekundenbruchteilen überwinden können, aber einen Teil meiner Energiereserven wollte ich doch auffüllen. Ich wußte ja noch nicht, was mich dort erwartete. Außer den Vorsorgemaßnahmen schaltete ich alle Aktivitäten ab und ließ mich mit der einmal eingenommenen Geschwindigkeit treiben. Auch meine Gedanken wurden auf das Minimum reduziert. Ich nahm noch ein paar Mentalimpulse auf und prägte mir als Namen dieses Planeten das Wort Jukk ein.
3. Parfran, Emulator der Jukkas: Die Sonne Gumb sank wie ein zäher Tropfen Mehlbrei durch die fernen Wolkenbänke, die am Horizont unregelmäßige Muster über die Wüste zauberten. Ihre blaßblauen Strahlen huschten ein letztes Mal durch das Dorf, in dem schon die abendliche Ruhe eingekehrt war. Aus den Fenstern der Hütten schimmerten die ersten Kerzenlichter, und unten am Bach sang die Mühle ungleichmäßiges Lied. Die Aggregate waren abgeschaltet worden, denn in der Nacht wurden sie nicht benötigt und in dieser Jahreszeit meistens auch nicht am Tag. Es war Sommer auf Jukk. Vielleicht war es der letzte Sommer, den der Rest meines kleinen Volkes erleben würde. Die Zeichen der Zeit standen nicht zu unseren Gunsten. Die Mentalströmungen, die mich von Zeit zu Zeit erreichten, versprachen neue Unruhen, vielleicht sogar die endgültige Besiegelung unseres Schicksals. Ein lauer Wind strich durch die Buschreihen, zwischen denen ich mit langsamen Schritt meinen Hügel erklomm. Dort oben würde ich die Helligkeit des Tages ein paar Atemzüge länger genießen können. Die Büsche hingen voller saftiger Früchte. Die Natur beschenkte uns im Überfluß, seit wir so arg dezimiert worden waren. Aber das war nicht der Grund. Wir hatten uns gewandelt. Wir hatten einen neuen Lebensweg gefunden, in dem Rauben und Morden keinen Platz mehr besaßen. Deshalb war uns die Flora wohlgesinnt. Ich wußte, daß es so war, auch wenn mein Verstand es nicht begriff. Meine übersensiblen Sinne verrieten es mir. Als ich den höchsten Punkt des Hügels erreicht hatte, hockte ich mich auf den Stein, dem ich den Namen des Jukkas gegeben hatte, der ihn hier errichtet hatte: Tyman.
Der weise Regent lebte schon lange nicht mehr. Heute gab es unter uns keinen Regenten mehr. Wir zählten noch einige tausend Seelen, und für eine so kleine Schar brauchte man keinen Führer, wenn man den richtigen Lebensweg gefunden hatte. Es mochte sein, daß weit unten im Süden noch andere Jukkas lebten, die den alten Sitten frönten und sich gegenseitig die Köpfe abschlugen, die Weiber raubten oder die Häuser ansteckten. In unserer Siedlung gab es solche Dinge nicht mehr. Meine jahrelangen Predigten hatten Früchte getragen. Mochten die anderen sich gegenseitig umbringen, ich konnte es nicht ändern, auch wenn ich der Emulator der Jukkas war. Meine Kraft reichte nicht so weit. Ich durfte mich glücklich schätzen, wenigstens eine kleine Kolonie rechtschaffener Jukkas aufgebaut zu haben. Wenn ich auf Tyman hockte, empfing ich immer besonders leicht die Gedanken aus den Fernen der Namenlosen Zone. Es waren andere Emulatoren, die ihre Mitteilungen blindlings und oft ungewollt in den Raum schickten. Vieles war verwirrend gewesen, als ich begonnen hatte, diese Bilder zu sondieren. Heute wußte ich mehr. Ohne überheblich wirken zu wollen, konnte ich sagen, daß ich die Zusammenhänge besser erkannt hatte als die überwiegende Zahl der anderen Emulatoren. Es kribbelte in meinem mageren, lederhäutigen Körper, wenn ich meine Hände auf die steinernen Lehnen Tymans legte. Manchmal vermeinte ich dann seine verblichene Seele zu hören, die mir aufmunternde Worte zuflüsterte. Vielleicht war das nur Einbildung oder Wunschdenken denn wie hätte er in diesem toten Stein existieren können. Sicher, er hatte ihn mit seinem schöpferischen Geist geformt und mit eigener Hand an diesen Ort gebracht. Niemand hatte ihm dabei geholfen. Ich wäre heute nicht einmal in der Lage, Tyman auch nur eine Handbreit zu bewegen. Er war ein großer Jukka gewesen, der Mann, dem wir unsere neue
Existenz zu verdanken hatten. Das war so, auch wenn heute meine Freunde behaupteten, daß allein meine Lehren die Veränderungen herbeigeführt hätten. Sie irrten sich, denn auch einem Emulator sind Grenzen gesetzt. Seine unnatürliche Lebensfähigkeit weckte Bewunderung oder Neid. Sie war aber letztlich nur ein Ausdruck einer tieferen natürlichen Notwendigkeit. Jedes Volk der Namenlosen Zone brauchte einen Hoffnungsschimmer. Wenn die Waagschale mit dem Bösen den Boden berühren würde, weil auf der Gegenseite überhaupt nichts mehr war, dann war es zu spät. Dann hätte man auch auf die künstliche Verstärkung der Schockfronten verzichten können, denn dann hätte sich die kosmische Natur selbst geholfen und für die Abkapslung gesorgt. So aber gab es jenen positiven Rest in nahezu jedem Volk, und die Zyrtonier mußten mit ihrer unfaßbaren Technik für die Erhaltung der Schockfronten sorgen. Sie verfolgten schlimme Ziele. Das hatte ich im Lauf meines langen Lebens erkannt. Mit den Jukkas konnte ich darüber nicht sprechen. Ich hätte nur Unglauben geerntet oder Furcht und Mißtrauen geweckt. Diese Dinge mußte ich allein tragen, allein durchdenken. Tyman war mein stummer Gesprächspartner bei diesen Gedanken, die den Großteil der Wahrheit unseres weiteren Lebensraumes beschrieben. Ich glaubte noch heute, daß es früher einmal ganz anders gewesen war, denn von Anbeginn aller Schöpfung konnte es die Zyrtonier nicht gegeben haben. Irgendwann waren sie aber da gewesen, und das mußte ziemlich plötzlich geschehen sein. Vielleicht entstanden sie durch einen Zufall, durch einen unwahrscheinlichen Evolutionssprung und in großer Zahl. Darüber konnte ich nur Mutmaßungen anstellen, denn die anderen Emulatoren wußten auch nichts darüber. Ganz früher mußten meine Jukkas auch anders gewesen sein. Ich dachte an die Zeichen der Vergangenheit, die auf eine blühende Kultur hinwiesen. Dann war hier etwas geschehen, was kaum
faßbar war. Das Böse hatte triumphiert. Die Dummheit und der Egoismus hatten Siege gefeiert. Es gab auch Zeugnisse aus jener Zeit. Ich hatte sie in den verfallenen Museen der großen Städte gesehen. Schon damals, es mochte vor 200 oder 300 Umläufen gewesen sein, hatte sich niemand mehr für die Vergangenheit interessiert. Die kostbaren Kulturgüter unserer Geschichte waren schon damals verrottet. Wir sind einmal ein tüchtiges Raumfahrervolk gewesen. Das stand fest. Dann war die Unmoral heimlich in unsere Herzen geschlichen. Die Natur war verachtet worden, dann der Andersartige, der Nachbar, der verbliebene Rechtschaffene und schließlich alles, was nicht direkt dem persönlichen Vorteil diente. Diese für mich unbegreifliche Entwicklung gipfelte in einer radikalen Veränderung, der nichts und niemand gewachsen gewesen war. Unser ganzes Sonnensystem war schlagartig vom restlichen Universum abgeschnitten worden. Eine undurchdringliche Wand, die Schockfront, hatte Gumb, Jukk und die anderen Planeten eingehüllt. Heute wußte ich, daß dies nur ein Teil der damaligen Beobachtungen gewesen war, denn alle Himmelskörper waren auch an einen anderen Ort versetzt worden. In die Namenlose Zone, in eine unwirkliche Region des Alls. Das Grauen hatte begonnen. Der seltsame Mechanismus hatte aber auch noch etwas anderes bewirkt. Ein Jukka wurde geboren, der nichts mit dem bösen Treiben gemeinsam haben wollte, ein Emulator. Sein Name war Parrenz gewesen, und er war mein Vorläufer. Ich wußte nicht, aus welchem Grund er sich das Leben genommen hatte, denn eines natürlichen Todes hätte er ebensowenig sterben können wie ich. Parrenz hatte viele tausend Umläufe lang das Geschehen auf Jukk und den systematischen Niedergang unseres Volkes beobachtet. Er hatte alles aufgezeichnet, und daraus hatte ich gelernt, noch bevor ich die Mentalimpulse empfangen konnte.
Unsere Siedlung am Rand der Wüste war der letzte Hoffnungsschimmer eines ehemals glorreichen Volkes, das seine Seelen an das Böse verloren hatte. Wir hatten einen Keim für eine bessere Zukunft gelegt. Wie diese jedoch wirklich aussehen würde, vermochte auch ich nicht zu sagen. Gumb war hinter dem Horizont verschwunden. Die Wolken färbten sich tiefblau. Die Dämmerung ergriff von der Landschaft Besitz, aber ich wußte, daß sie bald das Ringen mit der Schwärze der Nacht verlieren würde. Meine Hände glitten über Tymans Lehne, und mein Oberkörper richtete sich auf. Ich war ungewöhnlich wach. Meine Sinne aktivierten sich automatisch, denn ich spürte förmlich, wie sich ferne Mentalimpulse in meine Gedanken tasteten. Wenn es anderswo noch Emulatoren gab, so tröstete ich mich, dann war noch nicht alles verloren. Der kleine Rest, der sich hartnäckig gegen die Allmacht des Chaos wehrte, bestand noch. Ich war ein winziges Fragment davon, und meine bekehrten Jukkas auch. Die erwarteten Gedanken blieben jedoch aus. Sollte ich mich so sehr getäuscht haben? Meine Hände glitten durch das stoppelbärtige Gesicht, als wollten sie die Schatten zur Seite wischen, die sich über meine Sinne legen wollten. Es war die Nacht, die nach mir griff, aber sie schenkte mir keine Müdigkeit. Unten in der Siedlung jaulten die Kauzunde, bis jemand sein Haus verließ und ihnen ein paar Brocken verfaulter Nahrung hinwarf. Ich hörte Kennerys Stimme, die die Tiere beruhigte. Dann verschwand der Alte wieder in seiner Hütte. Ich beobachtete nachdenklich, wie das helle Rechteck seines Fensters sich in eine dunkle Höhle verwandelte. Die Kauzunde jedoch heulten weiter. Das stört meine Selbstbesinnung und insbesondere die Fähigkeit, die Mentalströmungen anderer Emulatoren zu empfangen. Für den heutigen Abend mußte ich es aufgeben, neue
Informationen zu bekommen. Meistens waren die Nachrichten verschwommen. Oder ihnen haftete ein Wust an wirren Gefühlen an, wenn der betreffende Emulator nicht gezielt dachte. Ich wollte mich aus Tyman erheben, aber es war, als ob ich mit dem Stein eins geworden war. Er ließ mich nicht los. Meine Hände ruderten durch die Luft. Dann stützte ich mich auf den Lehnen ab, aber das verstärkte nur das seltsame Kribbeln. »Tyman!« stieß ich hervor und versuchte ein Lächeln auf mein runzliges Gesicht zu zaubern. »Laß das!« Nüchtern betrachtet, war es so, daß, ich mich nur noch sehr begrenzt bewegen konnte. Ich konnte meine Arme ausstrecken und krümmen. Ich konnte den mageren Oberkörper zur Seite neigen, aber den Rumpf selbst ließ der steinerne Sessel nicht los. Die aufkeimende Unsicherheit wühlte sich endgültig durch meine Gedärme und packte fest in mein Bewußtsein. Sollte ich um Hilfe rufen? Die meisten Jukkas würden schon schlafen, aber hören würden sie mich trotz des anhaltenden Jaulens der Kauzunde. Ein wütender Schrei schreckte mich auf. Er kam aus der Siedlung. Es war mittlerweile so dunkel geworden, daß die Häuser nur schwarzen, sich duckenden Unwesen glichen, die wieder in den heiß ersehnten Tag springen wollten. Jemand schrie die Kauzunde an, sie sollten endlich ihre triefenden Mäuler schließen. Ich zuckte innerlich zusammen, denn solche Worte liebte ich nicht. Es war aber wohl unvermeidbar, daß es immer wieder zu kleineren Rückfällen in die schändliche Vergangenheit kam. Die Kauzunde schwiegen tatsächlich, aber ich wußte, daß diese Ruhe nicht lange anhalten würde. Es lag etwas in der Luft. Ein fremder Schwaden kroch durch das Land. Er verbarg sich in der schützenden Dunkelheit und tastete sich in alles, auch in mich. Der kleine Zwischenfall unten zwischen den Häusern hatte mich etwas ernüchtert. Ich war automatisch in die Lehne Tymans gesunken, und ich fühlte mich wieder frei. Jetzt würde ich mich
erheben können. Die rauhe Realität mußte den fremden Zauber gebannt haben. Dann sah ich das Licht über der Siedlung. Es war fern und nah. Es war siedend heiß und erschreckend kalt. Es flackerte wie eine Wachskerze im Frühlingswind, und seine Flamme war so starr wie das glitzernde Eis in den tiefen Wintertagen. Es loderte empor wie die gierigen Flammenzungen, die Tyman dahingerafft hatten, und es versank zu einem jämmerlichen Häufchen Asche, das zu gering glühte, um noch eine frierende Hand zu erwärmen. Es kam näher und entfernte sich. Es tauchte die Landschaft in einen Schein, der keine Schatten warf. Ich schloß die Augen, aber das Licht durchdrang meine Lider. Ich öffnete die Augen, und es war verschwunden. Tyman spie mich aus dem Sessel, so daß ich stolperte. Ich kannte hier jede Erhöhung, jeden Stein, jede Mulde, jeden Busch. Und doch prallte ich gegen etwas, was eigentlich nicht da sein konnte. Das Gejaule der Kauzunde hob erneut an und füllte die Nacht mit einem Stakkato verrückter Dissonanzen. Ich versuchte wieder festen Boden unter meinen Füßen zu bekommen, aber so einfach war das nicht. Als Tyman mich von sich geschleudert hatte, hatte ich die Orientierung verloren. Und die Nacht war nun schwärzer als die schmutzigste Seele eines noch vielleicht lebenden Südjukkas. Ich hörte etwas, aber meine Sinne weigerten sich, es aufzunehmen. Furcht empfand ich nicht, denn die Vergangenheit hatte bewiesen, daß das Böse an sich mir auch nicht mit Waffengewalt beikommen konnte. Meine Sorge galt nicht mir. Die Gedanken eilten hinunter in die Siedlung, in den Silberstreifen am fernen, unerreichbaren Horizont, zu den Wesen, denen ich eine bessere Zukunft wünschte, zu meinen Jukkas. Schließlich fand ich doch auf meine Beine zurück. Ich schwankte noch etwas, und ein paar Glieder schmerzten vom Aufprall. Zufällig erwischte ich den Stamm eines Baumes mit der einen Hand. Das gab mir nicht nur Halt und Sicherheit. Ich wußte nun auch wieder, wo
ich war. Tyman hatte mich rückwärts aus dem steinernen Stuhl gefeuert. Es mußte eine Erklärung für diesen Vorgang geben. Etwas Ähnliches hatte ich noch nie erlebt. Als ich noch mit meinen Gedanken kämpfte und die Wogen der Verwirrung zu glätten versuchte, huschten die fernen Impulse in mein Bewußtsein. Sie waren von seltener Klarheit und so deutlich wie die smaragdgrünen Kieselsteine auf dem Grund der Gebirgsbäche. Sie kamen aus einer anderen Richtung als das seltsame Licht, das die Auseinandersetzung mit der Nacht aufgegeben hatte. Ein Emulator war erwacht! Es war kein Element der Ordnung. Es entstand das sichere Gefühl, daß der Ursprungsort dieser Informationen älter war als ich, als die Jukkas, ja, fast so alt wie die Namenlose Zone selbst. Die ersten Impulse waren sehr allgemein. Ich erkannte nur Angst. Dann bildeten sich Begriffe heraus. Sie schälten sich aus der Anhäufung der Gedanken so behutsam wie ein Jukkakind seine Frucht von der Schale befreit, um in den Genuß des weichen Kerns zu kommen. Ich hörte klare Begriffe, von denen ich einige kannte.. Zyrton … Untergang … Chance (das war eine Frage!)… DER Emulator … Flucht in die Vergangenheit des Guten … unmöglich … Dann folgten unverständliche Begriffe oder Namen. Vielleicht waren sie mir nur einfach unbekannt, denn ihre deutliche Wahrnehmung war frei von allen Zweifeln. Futurboje … Vulnurer … Atlan … Chybrain … Und dann: Arme Jukkas! Ich zuckte zusammen, wie ich es bei den vielen Toden getan hatte, die mich nicht von dieser Welt hatten beseitigen können. Meine Sorgen bestanden zu Recht! Danach:
Die Zyrtonier merzen die Reste des Ordnenden aus. Arme Jukkas, arme … (Es folgten weitere mir unbekannte Namen). Ich tastete mich durch die schwarzen Gewänder der Nacht, bis ich Tymans Rückenlehne erfaßte. Darauf stützte ich mich ab. Die Mentalimpulse klangen langsam ab. Ich spürte Reue und Verzweiflung, als die letzten Fetzen der Gedanken verwehten. Eins war mir klar. Das Ende meiner kleinen Welt stand bevor. Nichts anderes konnte diese Botschaft bedeuten. Ihr Absender mußte ein starker Emulator gewesen sein. Und einer, den ich noch nie vernommen hatte, weil das Dumpfe der Namenlosen Zone alles verschluckt hatte oder weil er verborgen bleiben wollte. Ich empfand Dankbarkeit für diese Warnung, auch wenn sie wenig nützen würde. Meine Jukkas besaßen keine Waffen! Ich versuchte die letzten Impulse zu einem Namen zu sortieren, um dem Absender ein Bild zu geben, das ich in mir tragen konnte. Es gelang mir nur unvollkommen, und Zweifel blieben. Aber es war etwas, was auf ‐tier endete, mit einem Tier jedoch wahrlich nichts zu tun hatte. Und noch etwas bemerkte ich mit aller Deutlichkeit. Die Lichterscheinungen, die ich vor dem Empfang der Botschaft wahrgenommen hatte, hatten nichts mit dieser selbst zu tun. Die Fessel, die mich in den steinernen Sessel Tymans gezwungen hatte, war ebenfalls ganz anderer Natur. In der Siedlung stimmten die Kauzunde erneut ihr Lied an. Wütende und besänftigende Schreie aus den Holzhütten mischten sich ungeschickt in das Jaulkonzert. Übergangslos kehrte Stille ein. Ein fahles Licht lag über dem Hügel. Ich sah Tymans steinernen Stuhl, weil der vage Schein die nähere Umgebung in einen warmen Schimmer tauchte. »Entschuldigung«, sagte jemand in meiner Nähe. »Ich habe mich wohl etwas ungeschickt verhalten. Außerdem habe ich dich bei etwas gestört, das ich nicht begreifen konnte. Ich habe nämlich nichts gehört. Verzeih mir bitte, Parfran.«
Ich drehte mich langsam um und sah das Wesen. Sie ähnelte uns Jukkas, denn sie war schlank und einfach. Zweifellos war es ein weibliches Wesen, denn die Gesichtszüge waren zu glatt und zeigten keinen Ansatz eines Bartwuchses. Das Gewand war ein einfacher einteiliger Stoffumhang, unter dessen Saum zwei blanke Füße lugten. Die fünf Zehen bewegten sich unruhig und krümmten sich wie ein Pflanzensprößling, der die ersten Sonnenstrahlen einfangen wollte. Die Haare waren hell. Sie reichten über die Schultern, und sie wiesen keine Wellen auf. Damit stand fest, daß dies keine Jukka sein konnte. »Ich habe diesen Lichtzauber verursacht«, kam es sanft aus dem schmallippigen Mund. »Es war auch nur ein Ausdruck meiner Verwirrung. Kannst du mir verzeihen, Emulator Parfran?« »Natürlich«, antwortete ich spontan. »Bist du ein anderer Emulator? Ich weiß, daß es einige gibt, die gewaltige Räume überwinden können. Ich kann das nicht.« »Ich bin kein Emulator«, gab das weibliche Wesen offenherzig zu. »Aber du kommst von außerhalb?« »Ja. Von außerhalb.« »Und was suchst du hier, Fremde?« »Hilfe.« »Bei uns? Hilfe?« Ich konnte ein Auflachen nicht vermeiden. »Ich bedaure, daß ich dich da sehr enttäuschen muß.« »Du irrst dich, Parfran.« Das weibliche Wesen wirkte plötzlich sehr selbstsicher. »Es ist nur eins erforderlich. Alle wohltuenden Kräfte müssen sich ergänzen. Ich helfe euch mit meinen Fähigkeiten, auch wenn du mir deine Hilfe verweigerst.« Ich zuckte zusammen, als hätte mich einer der Kristallpfeile des Wüstensands in die nackte Haut getroffen. Das war keine Beleidigung. Es war ein berechtigter Vorwurf. »Verzeih mir!« bat ich. »Ich gewähre dir selbstverständlich jede Hilfe, die du möchtest. Meine Ablehnung war darin begründet, daß
ich mir nicht vorstellen kann, wie ich jemand helfen könnte, der nach seinem eigenen Willen auf Jukka erscheint.« »Verständlich. Vergiß jede Anschuldigung, ja?« Ich beugte mich als Zeichen meiner Bereitwilligkeit und meiner Einsicht nach vorn. »Arbeiten wir zusammen?« fragte die Fremde. »Gern.« Ich fand zu mir zurück, als ich die Kauzunde sah, die aus der Siedlung auf den Hügel gekommen waren und freundliche Grunzlaute ausstießen, als sie um die Fremde herumschlichen. »Es wird Veränderungen in der Namenlosen Zone geben«, sagte die Fremde. Das klang mehr als ein Versprechen. »Es kommt nur darauf an, daß sich viele Ordnende finden. Die Hohen Mächte brauchen ein Zeichen.« »Wer sind die Hohen Mächte?« Ich verstand diese Worte nicht. Offensichtlich war mein Wissen doch geringer als das Wasser draußen in der ewigen Wüste. »Und wer bist du?« »Ich weiß nicht, wer oder was die Hohen Mächte sind«, bedauerte die Erscheinung in der Nacht. »Und du? Besitzt du keinen Namen?« Sie zögerte. »Es ist gleichgültig, wie du mich nennst, Parfran. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, wie ich geboren wurde und wer meine Erzeuger sind. Aber ich weiß nicht, warum ich da bin.« »Keinen Namen?« »Wenn du einen haben möchtest.« Sie lachte. »Dann nenne mich Cara. Oder Cara Doz.« Das klang ähnlich im Gefühlsinhalt wie das, was ich von dem fernen und mächtigen Emulator aufgenommen hatte. Es mußte da eine Verbindung geben, aber Cara schien das selbst nicht zu wissen. Das »‐tier« und sie? Es war irgendwie unwahrscheinlich. Und doch mußte da etwas mehr dran sein als an den überladenen Büschen, deren Früchte auf den Hügel tropften, den Tyman zierte. Die Gefahr wurde mir wieder bewußt. Die Gefahr für mein
Häuflein Redlicher, das ich vor dem Frevel des eigenen Volkes hatte retten können. Die Gefahr für meine Jukkas. Die Ausmerzung durch die Zyrtonier stand bevor. Ich teilte Cara Doz dies mit. »Stimmt das?« fragte sie, und dabei lebte sie auf wie ein Samenkorn, das der erste Regenstrahl umhüllt. »Spürst du nicht«, fragte ich zurück, »daß ich nur die Wahrheit sage?« »Doch, ja.« Sie hüllte sich enger in das einfache Gewand. »Verzeih mir noch einmal, aber ich kann deine Gedanken nicht genau erfassen. Du bist ein starkes Wesen. Daß du dich vor mir verschließen kannst, ist sehr ungewohnt für mich.« »Wenn ich meinen Geist öffnen könnte«, ich neigte mich wieder nach vorn, um meine guten Absichten zu unterstreichen, »dann würde ich es tun. Aber darüber kann ich nicht verfügen. Die Zyrtonier werden kommen, Cara. Ich weiß es, denn ich habe es vernommen. Sie wollen die letzten Reste der Kräfte, die sich gegen das Chaos stemmen, von allen Welten fegen. Und wir wenigen Jukkas hier am Rand der ewigen Wüste gehören dazu. Es geht nicht um mich, Cara Doz. Es geht um die dort unten in den Hütten. Denn sie sind auf dem richtigen Weg, und sie sind unschuldig.« Ich hoffte inbrünstig, daß sie mich verstand. Statt dessen lachte sie wie ein ungezogenes Gör. »Das ist ja wunderbar.« Sie klatschte in die Hände. »Wenn sie wirklich an diesen Ort kommen, dann ist das die Chance, die ich mehr herbeigesehnt habe als den neuen Anfang aller Äonen. Sollen sie kommen, diese Zyrtonier. Morgen wird es ja nicht sein. Und bis dahin wirst du mir erzählen, was du an Mentalinformationen über sie gesammelt hast.« Sie lachte wie ein kleines Kind, das die erste Murmel geschenkt bekommt. Und ich war fassungslos. Ihre Gestalt löste sich vor mir auf, und die endlosen Schatten nahmen wieder Besitz von der Umgebung und mir. Ich atmete tief
durch, um meine Gedanken zu beruhigen. In der Siedlung war alles still. Die Kauzunde waren so stumm wie die Fische in den Bächen. Die Nacht sang ihr lautloses Lied von Leid, Untergang und Hoffnung. Hoffnung? Gab es die noch? Cara wirkte verwirrend und ansteckend. Ansteckend, ich tastete mich über Tymans abgegriffene Oberfläche, bis ich die Mulde fand, in die ich bei Tageslicht die Beeren und Nüsse legte. Dann streichelten meine alten Hände über das kalte Gestein. Kalt? Ich spürte Wärme. »Heh, Tyman«, hörte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung fragen. »Was hältst du von allem und von dieser Cara?« Und der steinerne Sessel antwortete: »Viel und nichts. Finde du heraus, was stimmt.« Ich verstand nur noch eins. Die natürliche Müdigkeit hüllte mich in ihren Mantel aus Samt und wies mir den Weg zu meiner Hütte. Mit Gedanken, die einen Pfad durch das Labyrinth der Unordnung suchten, stieg ich den Hügel hinab. Daß ich Tyman leise lachen hörte, war sicher eine Täuschung meiner überreizten Sinne. Die harten Balken der Hüttenwände nahmen mich in ihren schützenden Schoß. Die alten und speckigen Felle der Liege luden mich zu einem traumlosen und erholsamen Schlaf ein. Die nächsten Tage würden zeigen, ob ein Emulator in die geistigen Verwirrung fallen könnte. Ich wußte, daß es nicht so war, aber ich glaubte fest an das Gegenteil. »Es ist gut«, schrie Tyman vom Hügel herab, und seine Stimme tobte durch die hölzerne Verschalung meiner Hütte, als wäre diese aus verrottetem Pergament, »daß du dich auch einmal irrst! Das bringt dich auf vernünftige Gedanken.« Seltsam, überlegte ich, während der Schlaf mich in sein Reich riß, zu seinen Lebzeiten hatten Tyman nie so gesprochen.
4. 666‐Page Katzulla: Zyrton als Welt war mir fremd. Das spürte ich schon bei unserer Ankunft. Die Transmittersysteme funktionierten hier besser als auf Persijigg. Wartezeiten gab es nicht. Und die Abfertigung war in einem Maß automatisiert und perfektioniert, daß ich Schwierigkeiten bekam, alle Anweisungen schnell zu befolgen oder zu verstehen. Milorah – wie immer wenn ich unsicher wurde – fächerte mir ihr Lächeln zu. Sie konnte sich in dieser Umgebung besser bewegen als ich, denn mir waren die Laborschalen vertraut, die in den Boden eingelassenen Steuereinrichtungen, die pn‐hyp‐energetischen Berechnungen, aber keine Raumhäfen oder Abfertigungshallen von Transmitterstrecken. Sie wieselte durch den flachen Gang voraus, erfaßte schnell und sicher die Symbole der Wegweiser und die Stimme der Automaten, während ich mit meinen Gedanken noch an einem Experiment mit trans‐hyp‐Strömungen herumbastelte, das ich schon seit langem vor mir her schob. 209‐Page Corder hatte ich aus meinen Überlegungen verdrängt. Der Wunsch, hier auf Zyrton ein paar Tage auszuspannen und doch gleichzeitig zu versuchen, etwas über unsere höchst nebulöse Vergangenheit zu erfahren, beherrschte mich. Die Erfüllung dieses Traumes hatte mich schon lange bewegt. Oft hatte ich mit Milorah darüber gesprochen. Sie hatte mich immer verstanden und meinem Begehren vorbehaltlos zugestimmt. Gedrängt hatte sie jedoch nie. Um so schöner war es, daß auch ihr Wunsch nun in Erfüllung ging. Das beflügelte sie. Die Panzerschuppen auf ihrem herrlichen Rücken glänzten matt, ein deutliches Zeichen ihrer berechtigten Euphorie. Es erfüllte mich mit Glücksgefühlen, daß sie sich freute. Wehmütige Gedanken mischten sich hinein. Eigentlich war es so,
daß ich sie sehr lange vernachlässigt hatte. Oft waren mir meine Forschungen wichtiger gewesen als ihre Bedürfnisse. Ein wenig schämte ich mich. Damit verband sich der Wunsch auf ein paar schöne Tage auf Zyrton und auf das Ausbleiben jeglicher Störungen durch den Rat der Pagen. Mochten die Tausend tagen und sich beraten. Es würde keine Rolle spielen, wenn einer fehlte. 999 führende Zyrtonier waren nicht schlechter als das volle Tausend. Abgesehen davon, sagte ich mir, hatte der volle Rat nur einmal während meines Lebens getagt. Das war gewesen, als das Fremde in die Namenlosen Zone gebracht worden war, das sich Anti‐ES nannte. Als der Gesamtrat gemerkt hatte, daß sich dieses Konglomerat aus verwirrten Bewußtseinsinhalten sich nicht um uns kümmerte, sondern nur nach draußen strebte, war der Beschluß einstimmig gewesen. Machen lassen, ziehen lassen! Anti‐ES hatte sich irgendwie aufgelöst. Wir wußten nicht wie. Es interessierte uns auch nicht. »Willst du nicht einsteigen, du Träumer?« Milorahs Gedanken rissen mich in die Wirklichkeit zurück. Sie hatte irgendwo ein Quartier ausgemacht, denn normale Hotels wie auf Persijigg gab es auf Zyrton nicht. Das Gleitfahrzeug nahm uns auf. Ich drückte mich an Milorah, denn diese Umgebung war nicht meine Welt. Ohne Rucken setzte sich das Gefährt in Bewegung. Es verschwand sofort im Untergrund, und so sah ich gar nichts mehr von Zyrton. »Warum nehmen wir keinen Transmitter?« maulte ich. Das Knirschen ihrer Kiefer verriet, daß sie sich amüsierte. »Ein Wissenschaftler in einer halbwegs normalen Welt – und ich bezeichne Zyrton nicht als normal –, das ist schlimmer als die a‐dyt Komponente im Energiefeld des Norma‐pn‐Spektrums«, antwortete sie. »Heh«, knirschte ich, aber das Leuchten in ihren Facettenaugen
beruhigte mich schnell. Sollte sie sich ruhig über mich lustig machen. »Dieses Transportmittel fährt wahlweise jeden Ort auf Zyrton an«, erklärte sie dann. »Ich habe mich erkundigt. Und alle paar Rufweiten kann man auf einem Planeten, der die Geschicke unseres Volkes lenkt und der der Ort der Verwirklichung des Großen Planes ist, keinen Transmitter installieren. Sieht das mein Liebster ein?« Ich sah es ein. Natürlich verkniff ich mir jede Bemerkung, als wir ausstiegen und unser Gepäck fehlte. Milorah schien das nicht zu merken. Sie steuerte zielsicher den Flachbau an und schwenkte ihre Fühler, als sie zwei Gestalten sah, die ihr ebenfalls zuwinkten. Als ich in den Eingangsschächten des Hauses unser Gepäck sah, begangen meine Rückenschuppen merkwürdig zu kribbeln. Ich tat so, als wäre alles eine Selbstverständlichkeit. Es war keine, denn ich merkte, wie einseitig ich war. Und wie sehr ich Milorah jetzt und weiterhin brauchte. Diesmal schämte ich mich ganz richtig. Ich überlegte mir, daß sie das merken mußte, aber sie deutete es mit keiner Geste an. Sie war eben wunderbar. * Am nächsten Morgen starteten wir früh zur ersten Exkursion. Zwenks, unser Gastgeber, den Milorah ausfindig gemacht hatte, weil er um siebzehn Ecken mit ihr verwandt war, hatte eine Perskarte besorgt, die auf persönliche Wünsche des Benutzers reagierte. Ich wußte, was ich hier wollte. Milorah war eine Abwechslung so recht wie die andere. »Tabus; Orte, die nicht aufgesucht werden; Plätze, die unsere Vergangenheit berühren; seltsame Dinge; Außergewöhnliches«, sagte ich zu der Perskarte.
»Auskünfte nur an Pagen möglich«, kam als Schriftzug die Antwort. »Ich bin Page«, erklärte ich. Milorah lud inzwischen die Ausrüstung für drei Tage in den Mietgleiter (der mich auch nichts kostete, weil ich 666 war). »Ausweisen!« verlangte die Karte. »Rechts Eckfenster.« Ich fummelte zwischen meinen Rückenschuppen herum, in denen ich allerlei nützliches Gerät verbarg. Dann schoben sich die vorderen Armpaare in die Umhängetaschen und suchten dort. Irgendwann vor einer halben Ewigkeit hatte ich die Identkarte einmal benutzt. Wußten die Mächte jenseits der Namenlosen Zone, wo ich sie hingesteckt hatte! Am rechten Eckfenster der Perskarte blinkte verlangend ein Licht. Es würde erlöschen, wenn ich nicht schnell eine Lösung fand. »Hier, bitte!« sagte Milorah. Sie hielt mir meine Karte entgegen und zeigte nicht, daß sie sich amüsierte. Wahrscheinlich amüsierte sie sich wirklich nicht. Dankbar nahm ich das Ident an und legte es auf die Perskarte. »Manchmal bist du mehr wert als die noch immer unbekannte Formel, die die Energien aus der Namenlosen Zone nach oben zu den anderen Mächten öffnen könnte«, versuchte ich ihr zu schmeicheln. »Manchmal?« Ihre Fühler vibrierten rhythmisch. »Immer«, brachte ich schnell heraus. »Immer, Liebste.« »666«, sagte die Perskarte. »Gut. Ich markiere die Orte.« Der Gleiter ruckte an, und auf der Karte erschienen drei Zeichen. Sie waren unterschiedlich hell. Ich tippte auf das hellste. Sofort änderte das Gefährt seine Richtung. Hier war alles perfekt. Perskarte und Mietgleiter arbeiteten fast so gut zusammen wie Milorah und ich. Da ich die Perfektion aus meinen Labors auf Persijigg kannte, dachte ich mir nichts dabei. Mein Interesse wuchs, je näher wir dem bezeichneten Ort kamen. Auf der Perskarte leuchtete der Name Ressawchoh. Das klang
fremdartig, und damit war es das, was ich wollte. Nachdenklich ruhten meine Blicke auf Milorah. Sie war ruhig und gelassen. Sie überwachte jede Geste von mir und alles, was um uns herum geschah. Und dennoch ließ sie sich das nicht anmerken. Sie war nicht typisch zyrtonisch. Sie war anders. Etwas davon sprang auf mich über. Ich erinnerte mich daran, als kleiner Zyrtonier einmal ein Märchenbuch besessen zu haben, in dem allerlei andersartige Gestalten abgebildet gewesen waren. Eine davon hatte es mir besonders angetan. Sie hatte ausgesehen wie eine der Ameisen, die wir auf Zwerskant gefunden hatten, nur war sie viel größer gewesen und aufrecht gegangen. Die Ameisen auf Zwerskant besaßen die Größe meiner Fühlerspitze und waren Tiere. Die aus dem Märchenbuch waren so groß gewesen, wie ich lang war. Sie konnten sprechen. Der Eindruck dieser Bilder hatte ein nachhaltiges Echo in mir hinterlassen. Mit der Ameise aus dem Märchenbuch verglich ich Milorah. Sie war schön und lieb. Die Ameise besaß aber mehr. Oder besser gesagt, etwas anderes, das mich tief im Innersten berührte. Eigentlich war das eine unverständliche Gefühlswallung. Da sie aber da war, mußte ich mit ihr leben. »Die Stätten der Vergangenheit liegen links jenseits der Parkflächen und Erfrischungsmulden«, sagte die Perskarte. »Wir halten hier an.« Ich blickte mich um. Die Umgebung war fremd. Auf Zyrton strahlte etwas, was mich erschaudern ließ. Milorah schien das nicht zu merken. Sie wirkte unbeschwert wie immer. Hinter einem dünnen Saum aus knorrigen alten Bäumen leuchtete das Gemäuer eines verfallenen Bauwerks im Sonnenlicht. Ich besaß eigentlich keine große Hoffnung, etwas durchschlagend Neues zu finden, aber ich wollte den Versuch machen. Schließlich forschte kaum jemand in unserer Vergangenheit, weil das aktuelle
Geschehen und die Zukunft allein Bedeutung besaßen. Wir würden die Herren des Kosmos werden, so wurden die Kinder schon früh gelehrt. Und eine wirkliche und lange Geschichte hatten wir nicht. Das Märchenbuch mit der großen Ameise fiel mir wieder ein, als ich meine Ausrüstung überprüfte und aus dem Fahrzeug kletterte. Eines Tages war es verschwunden gewesen. Ich erinnerte mich noch gut daran, daß ich tagelang danach gesucht hatte, ohne es zu finden. Ich hatte es erst aufgegeben, als mir einer der Erzieher gesagt hatte, er habe es weggenommen. Später erfuhr ich, daß solche Bücher verboten worden waren. Die großen Ameisen besaßen angeblich eine teuflische Ausstrahlung, die den Geist der jungen Zyrtonier verwirren konnte. Es war mir bis heute ein Rätsel geblieben, wie das geschehen sollte. Während meiner ersten Ausbildung zum Pagen hatte ich diese Frage einmal angeschnitten. Das hatte mir eine Menge Ärger eingebracht, und von da an hatte ich dieses Thema tunlichst vermieden. Sicher, das Bild der Ameise hatte auf mich gewirkt. Und wenn ich heute daran dachte, so war mir, als ob ich mich vor ihr schämen müßte. Da half es auch nicht, daß mein geschulter Verstand diese Erkenntnis empört von sich wies. »Ich denke«, meine Milorah, »wir trennen uns für eine Weile. Ich verspüre wenig Lust, in einem alten Gemäuer herumzustöbern. Die Perskarte weist aus, daß hier in der Nähe romantische Wasserfälle sind. Die werde ich mir in Ruhe besehen.« Ich war damit sehr einverstanden, denn ich wollte ihr das mühsame Gekletter in der Ruine wirklich ersparen. So machten wir eine Zeit aus, zu der wir uns wieder hier treffen wollten. Der Pfad durch die Büsche zu dem alten Gebäude war überwuchert von allen möglichen Pflanzen. Ich erkannte, daß hier schon eine Ewigkeit Lang kein Fuß mehr den Boden berührt hatte. Die Unsinnigkeit meines Versuchs wurde mir bewußt. Was würde ich hier schon finden!
Die Perskarte hatte ich nicht mitgenommen, denn sie hatte mir über Ressawchoh keine weiteren Informationen geben können. Ich war hier wirklich allein auf meine Findigkeit angewiesen. Über die Schutthalde erklomm ich den Hügel, auf dessen Gipfel das alte Gemäuer in die Höhe ragte. Die oberen Etagen waren verschwunden. Auf dem ebenerdigen Niveau stand ein Eingangstor weit offen. Dahinter war noch eine Decke erkennbar, durch deren Löcher aber das Tageslicht schien. Ich blickte von hier oben zurück. Das Rauschen des Wasserfalls, den Milorah besichtigen wollte, klang leise an meine Ohrenpaare. Auch die Schallsensoren in meinen Gliedmaßen nahmen die Schwingungen auf. Unser Fahrzeug war nur als kleiner Punkt hinter der Baumreihe erkennbar. Weit und breit rührte sich nichts. Das einzig Besondere an Ressawchoh war wohl, daß es in der Nähe dieses Ortes keine Einrichtungen unserer Regierung gab. »Begrüße dich«, knarrte etwas in meiner Nähe. Unter einem Haufen Gestein kletterte eine metallische Gestalt ins Freie. Sie schüttelte sich die Reste Sand vom Körper und richtete sich unbeholfen auf. »Goseman«, sagte die Maschine. Ihre Stimme klang rostig. »War hier früher mal der Führer. Als noch jemand kam. Dann hat man mich vergessen.« »Erstaunlich«, entfuhr es mir. »Wirklich erstaunlich.« Der Roboter besaß nicht die charakteristische Form unserer Körper. Er war höher als breit und lang. Und er verfügte nur über zwei Beine. Seine Erscheinung stand in so krassem Widerstand zu der Perfektion, die ich auf Zyrton erlebt hatte, daß mein Mißtrauen geweckt wurde. Auch vermeinte ich mich zu erinnern, daß im freien Gelände schon seit langem keine Roboter mehr verwendet werden durften, die nicht unser Aussehen besaßen. »Wie alt bist du, Goseman?« wollte ich wissen. »Vergessen. Habe viele Speicher abgeschaltet und auslaufen lassen, um Energie zu sparen.«
»Kannst du mich durch Ressawchoh führen?« »Versuche es. Was willst du sehen?« »Den Ort, an dem die Ameisenähnlichen leben.« »Verboten«, knarrte Goseman. »Und verschüttet.« »Ich habe alle erforderlichen Werkzeuge bei mir.« So schnell gab ich nicht auf. »Und Verbote gelten für mich nicht. Ich bin Page, 666‐ Page, um es genau auszudrücken. Mein Name ist Katzulla.« »Page?« echote die Maschine. »Was ist das?« »Du scheinst tatsächlich sehr alt zu sein oder alles vergessen zu haben«, staunte ich. »Die Pagen sind die Angehörigen des führenden Rates von Zyrton.« »Kenne ich nicht. Führe dich aber. Komm.« Etwas stimmte hier nicht, aber ich war so von meiner Neugier getrieben, daß ich blindlings dem uralten Roboter folgte. Der bewegte sich scheppernd in das Innere des Gebäudes. Ein paarmal schwankte er bedenklich, wenn er seine klobigen Füße über große Steinbrocken hob. Über eine Treppe, die für mich als Zyrtonier viel zu schmale Stufen besaß, ging es in die Tiefe. Es roch modrig. Ich kam nur langsam voran. An der nächsten Abbiegung mußte ich eine Lampe einschalten, was Goseman mit einem erstaunten Ausruf registrierte. Ich stellte mir unwillkürlich vor, daß die Ameisenwesen aus meinem Märchenbuch diese Treppe sehr leicht bewältigt hätten. »Was bedeutet eigentlich Ressawchoh?« wollte ich von meinem Führer wissen. Goseman blieb stehen. Er schien unschlüssig zu sein, aber dann antwortete er ganz plötzlich: »Ort der Herkunft des Lebens, Page.« Für einen kurzen Moment schien es mir, als habe sich Goseman diese Informationen erst von außerhalb der Ruine besorgt. Ich konnte nicht sagen, warum ich gerade auf diesen Gedanken kam. Also mußte es Unsinn sein. Ich begann schon Gespenster zu sehen, sagte ich mir. Die fremde und ungewohnte Umgebung mußte die
Ursache sein. »Komm!« Der zweibeinige Roboter winkte mir mit einem Stummelarm, aus dem lose Drähte hingen. »Hinter dieser Wand könnte das sein, was du suchst. Ich kann sie aber nicht öffnen.« »Kein Problem. Tritt zur Seite!« Ich holte einen Desintegrator hervor und trug Schicht für Schicht das Mauerwerk ab. Schließlich war die Öffnung groß genug, um hineinzukriechen. Der Roboter zog es vor, mir nicht zu folgen. Er reagierte nur mit einem Knirschen seiner verrosteten Gelenke auf meine Worte. Der Geruch von Fäulnis erfüllte den Raum. Ich leuchtete erst den Boden und die Decke ab. Als ich stabiles Mauerwerk sah, tastete ich mich weiter. Der Lichtstrahl fiel auf die Wände des ovalen Raumes. Sofort verharrte ich, denn dort waren seltsame Muster zu erkennen. Der Staub von Jahrhunderten mochte alles unkenntlich gemacht haben, aber ich war auch auf diesen Fall vorbereitet. Zuerst fertigte ich eine Reihe von Bildern des ursprünglichen Zustands. Danach setzte ich den kleinen Desintegrator so sanft ein, daß der Staub abgetragen wurde, ohne die Reliefs zu beschädigen. Ohne Mühe erkannte ich Bilder von Zyrtoniern. Zwischen diesen standen aufrecht gehende Wesen – die Riesenameisen aus meinem Märchenbuch! Diese Entdeckung war so unglaublich, daß es mir fast den Atem verschlug. Es mußte sie also wirklich geben, diese Ameisen, und sie waren kein Produkt irgendeines schöpferischen Geistes. Und es mußte etwas geben, was uns mit den Ameisen verband! Vielleicht hatten sie früher einmal Zyrton bewohnt, und unsere Vorfahren hatten sie beseitigt. Mir war ja klar, daß wir nicht aus diesem System stammten. Darüber gab es eine sichere Überlieferung. Herumrätseln half mir nicht weiter. Ich machte Bilder von allem, was ich vor das optische Gerät bekam. Dann rief ich Goseman.
»He, alter Roboter!« Ich befand mich in einem Freudentaumel über diese so schnelle und bedeutungsvolle Entdeckung. »Ich habe Bilder von den Ameisen gefunden.« »Was gefunden?« fragte Goseman abgehackt zurück. Sein Kopf tauchte in der von mir geschaffenen Öffnung auf. »Da!« Ich zeigte mit den vorderen Fühlern auf die freigelegten Reliefs. Goseman sagte nichts mehr. Alles geschah dann so schnell, daß ich es später nicht mehr vollständig rekonstruieren konnte. Mein körpereigenes Kontaktgerät sprach an. »Kontrollsektor Zauk‐14 an 666‐Page Katzulla. Höchste Dringlichkeit! Melde dich!« Das tat ich. »Du bist der Gefährte von Milorah. Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß dein Lebenspartner an den Wasserfällen tödlich verunglückt ist.« »Was?« schrie ich. Im gleichen Moment stürzte die Decke über mir herab. Goseman wurde unter den Trümmern begraben. Ich packte meine Ausrüstung und rannte auf den Ausgang zu. Unterwegs traf mich etwas Hartes in der Nackenpartie und raubte mir das Bewußtsein. 5. Chybrain: Ich ließ Parfran zwei Jukk‐Tage warten, bis ich wieder bei ihm erschien. Diese Zeit nutzte ich, um weiter Energie aufzutanken und um mir ein genaues Bild von diesem Planeten zu machen. Insbesondere interessierte mich die Struktur der hiesigen Schockfront, die von den bisher beobachteten abwich.
Es galt aber auch, die Zivilisation der Jukkas zu studieren. Schon die kleine Schar, die Parfran um sich gesammelt hatte, stellte offensichtlich in der Namenlosen Zone eine Ausnahme dar. Dem Emulator und seinen Helfern, zu denen ich auch den verstorbenen Tyman zählen mußte, war es tatsächlich gelungen, aus einem alten Volk der Verwerflichkeit einen positiven Sproß zu züchten. Das verdiente mehr als Bewunderung und Anerkennung. Es galt, diese Tatsache aufmerksam zu verfolgen, denn ich hegte keinen Zweifel daran, daß diese Entwicklung bei den Zyrtoniern auf größtes Mißtrauen stieß. Und wenn Parfran sich nicht getäuscht hatte, dann planten die Zecken bereits einen Gegenschlag. Leider war es mir nicht möglich gewesen, die angeblichen Gedankensendungen direkt zu empfangen. Ich besaß die Informationen nur aus den Überlegungen des Emulators, und in diese waren verschiedene eigene Vorstellungen, Wünsche und Ängste gemischt. Auf dem Südkontinent, wo Parfran weitere Jukkas vermutete, fand ich tatsächlich ein paar letzte Überlebende dieses Volkes. Es handelte sich ausschließlich um körperlich oder geistig kranke und vollkommen heruntergekommene Gestalten. Jede Hilfe kam hier zu spät. Ich hatte Jukk gefunden, als die Zivilisation seiner Bewohner buchstäblich in den letzten Atemzügen lag – abgesehen von Parfrans einfacher Siedlung am Rand der Wüste. An anderen Stellen des Planeten sah es nicht viel anders aus. Verfallene Städte ohne Leben gab es zuhauf. Die Gesamtzahl der noch lebenden Jukkas betrug weniger als 500 – wiederum abgesehen von der Siedlung des Emulators. Ich fand aber noch zwei ähnliche Ansammlungen von Jukkas, die sich in Abkehr von der früheren Gepflogenheiten der Selbstzerstörung eine neue Zukunft aufbauten. Der ganze Planet besaß nun wieder einige tausend Neu‐Jukkas. Die Zahl der Sterbenden der früheren Generationen verblaßte dagegen. Sie war
bedeutungslos für die Zukunft, sicher aber nicht für die Zyrtonier. Mehr aus einer Laune heraus begab ich mich noch einmal in das All. Ursprünglich wollte ich noch die Verhältnisse auf den anderen 26 Planeten untersuchen, aber die Schockfront zog mich wie magisch an. Sie stellte ein Geheimnis dar, das es noch zu lösen galt. Ich erlebte wieder einmal, wie mir deutliche Grenzen aufgezeigt wurden. Auch ohne Einsatz eines eigenen Willens wies mich die unsichtbare Grenze des Systems ab! Das war schockierend. In einer Trotzreaktion warf ich mich erneut gegen das Hindernis, das von dieser Seite aus ganz anders auf mich wirkte als von außerhalb des Gumb‐Systems. War ich hier einem neuen Geheimnis auf der Spur? Mir war, als tauchte ich in einen dicken Brei, der mich dann umschloß und in seine energetischen Strudel reißen wollte. Ich kämpfte dagegen an, und der Druck ließ nach. Bizarre Funkenstürme umgaben mich, als ich schließlich den Leerraum erreichte. Sie ebbten schnell ab. Ich sah mich um und tastete von außen in die Schockfront. Sie war unverändert gegenüber dem ersten Auftreffen. Das galt aber nur für die Wirkung, die sie nach außen abgab. Während ich behutsam um mich tastend wieder ins Innere glitt, überlegte ich, warum mich diese Wand von innen nicht nach außen lassen wollte. Gut, ich hatte es unter entsprechender Kraftanstrengung geschafft, aber das besagte wenig. Die Erkenntnis der Wahrheit traf mich erneut wie ein Schock. Die Antwort war so einfach und eindeutig, daß es keiner anstrengenden Gedanken bedurfte. Ich hatte sie nur aus einem Grund nicht gleich erkannt, weil ich nämlich die nackte Tatsache nicht glauben wollte. In mir steckte ein negativer Teil, ein geistiges Fragment, das in die natürliche Wechselwirkung mit der Schockfront trat. Diese verbot mir, das Gumb‐System zu verlassen, so wie sie es den Jukkas untersagte oder all den anderen Völkern der Namenlosen Zone. Langsam trieb ich auf Jukk zu. Ich grübelte über mein Ich nach.
Bislang hatte ich mich stets als Teil der ordnenden und positiven Kräfte verstanden. So sollte es auch bis in alle Ewigkeiten bleiben. Was war denn schlecht an mir? Der Schabernack oder die Täuschungsmanöver, mit denen ich manchmal arbeitete? Der Schreck, den ich Parfran eingejagt hatte, als ich ihn an seinen steinernen Sessel gefesselt und die Stimme Tymans nachgeahmt hatte? Meine Weigerung, Atlan die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst zu übergeben? Ich schüttelte mich innerlich. All das konnte es nicht sein, denn schließlich verfolgte ich konsequent ein Ziel, das die Hohen Mächte auch sehen mußten, die Bereinigung der Namenlosen Zone. Oder war ich zu vermessen gewesen, als ich diese selbstgestellte Aufgabe anpackte und einfach annahm, daß ich damit den Kosmokraten gefallen würde? Oder war ich tatsächlich in ihren Augen ein Bastard oder ein unerlaubtes Produkt und schon deswegen aus dem Kreis der Ordnenden ausgeschieden? Es waren viele Fragen und viele Möglichkeiten. Eine eindeutige Antwort fand ich nicht. Ich würde sie vielleicht dann bekommen,
wenn ich das Rätsel der Namenlosen Zone zur Gänze gelöst und alles Übel von ihr beseitigt haben würde. Vielleicht! sagte ich mir, denn plötzlich empfand ich eine große Unsicherheit. Die Macht der Zyrtonier war groß. Und wie die Hohen Mächte wirklich reagieren würden, war auch ungeklärt. Ein peinigender Gedanke bohrte sich in meine Überlegungen. Ich konnte nicht ausschließen, daß sie mich auch weiter ignorieren würden. Es gab die Möglichkeit, daß sie meine Aktivitäten gar nicht verfolgten, weil sie sie nicht interessierten. Ich stellte mir diese Unfaßbaren von jenseits der Materiequelle vielleicht zu »normal« vor. Dabei waren ihre Wege auch für mich undurchschaubar. Entmutigt und innerlich erschöpft und verwirrt, erreichte ich Jukk. Dort wartete ich noch eine Weile, bis ich mich zu Parfran begab. Als ich seine Gedanken aufsuchte, packte mich ein neuer Schmerz. Der Emulator schickte sich an, sich das Leben zu nehmen. * Parfran starrte mich lauernd und abwartend zugleich aus seinen tiefliegenden Augen an. Ich empfand tiefes Mitleid mit dem Jukka, was nicht nur von seinen Gedanken herrührte. Er bot einen jämmerlichen Anblick. Er war noch als Hominide zu bezeichnen, denn er verfügte über einen Rumpf, einen Kopf und zwei Paare an Extremitäten. Aber schon seine geringe Körpergröße unterschied ihn deutlich von den Solanern. Parfran war viel magerer als seine normalen Artgenossen, fast ein Strich in der Landschaft. Seine Haut war grau und ledern und verrunzelt. Der Kopf zeigte noch ein paar Reste eines früheren Haarwuchses, und in seinem Gesicht standen die Bartstoppeln kreuz und quer. Sein Fellumhang war durchlöchert und erinnerte kaum mehr an ein Kleidungsstück. Parfran legte auf Äußerlichkeiten wenig Wert.
Seine Stärke lag in seiner geistigen Größe. »Du bist tatsächlich noch einmal gekommen«, sagte er nach einer Weile leise. »Ich hätte das nicht gedacht, Cara.« Ich setzte mich auf seine Liege. »Natürlich, Parfran. Wir haben doch ein Bündnis geschlossen. Du lieferst mir alle Informationen, die du besitzt. Und ich helfe euch, wenn die Zyrtonier kommen sollten.« »Ich stehe zu meinem Versprechen, aber es ist alles sinnlos.« Er nahm einen Schluck Wasser aus einem rostigen Becher und reichte mir das Gefäß. »Danke.« Ich lächelte. »Ich bin nicht auf solche Art der Nahrungsaufnahme angewiesen. Und was deine Resignation betrifft, so solltest du noch einmal alles überdenken.« »Wer bist du?« fragte er. Ich beschloß, ihm meine wahre Gestalt zu zeigen. Er verzog keine Miene, als ich als leuchtendes Ei vor ihm schwebte. »Laß dir sagen, Cara«, meinte er dann, »was ich an Neuigkeiten in Erfahrung gebracht habe. Dann habe ich meinen Teil des Versprechens erfüllt und dir zugleich bewiesen, daß mein Aufgeben der richtige Weg ist.« »Bitte sprich!« forderte ich ihn auf. Während er redete, sondierte ich seine Gedanken. Das war schwieriger als bei unserer ersten Begegnung, denn seine Gefühle überdeckten die klaren Gedanken. Ich erkannte aber, daß er nicht von der Wahrheit abwich, »Von der Gefahr, die uns droht, weißt du bereits. Die Zyrtonier schicken sich an, die etwas aus den Fugen geratene Namenlose Zone wieder zu stabilisieren. Sie entfernen das, was das von ihnen gewünschte Ungleichgewicht gefährdet. Dazu gehören auch die wenigen Jukkas, die sich hier eine neue Zukunft aufbauen wollten. Ich habe neue Informationen von anderen Welten hinter den Schockfronten, daß dort bereits Schreckliches geschehen ist. Andere Völker, denen die Zyrtonier wohlgesinnt sind, wurden auf Planeten gebracht, wo das Böse zu versiegen drohte. Die
dortigen Emulatoren haben sich geopfert, aber auch das hat nichts mehr geholfen. Ihre wenigen Gefolgsleute wurden beseitigt. Die Zyrtonier können Systeme aufspüren, in denen das Ungleichgewicht schwankt oder das Pendel bereits zur anderen Seite ausgeschlagen ist. Sie greifen aktiv ein. Jukk steht in Kürze auf ihrem Aktionsplan. Das weiß ich sicher. Und da es hier nichts mehr gibt, was das Chaos stärken könnte, werden sie unseren Planeten buchstäblich in die Luft jagen. Es gibt keinen Ausweg.« Er schwieg. Widersprechen konnte ich ihm nicht, denn das, was er sagte, entsprach der Wahrheit. »Was weißt du noch?« drängte ich ihn, denn seine Gedanken drehten sich wieder im Kreis und waren nicht klar erfaßbar. Ich war auf seine verbalen Aussagen angewiesen. »Die Zyrtonier werden eines nicht mehr allzu fernen Tages in der Lage sein, schlagartig alle Schockfronten abzubauen und die Barrieren zum eigentlichen Universum zu fällen. Dann werden sie die angestaute Wut der Völker hinter den Schockfronten loslassen und nur noch indirekt steuern. Das große Chaos wird über den Kosmos hereinbrechen und wie ein eisiger Wintersturm das letzte Leben hinwegfegen. Eine lange Zeit der Not wird folgen, bis alle ordnenden Kräfte ausgemerzt sind. Dann werden sich auch die Völker der Namenlosen Zone aufgerieben haben, und die Zyrtonier selbst werden auf der Bildfläche erscheinen. Haben sie bis zu diesem Zeitpunkt nur unauffällig aus dem Hintergrund das Geschehen gelenkt, so werden sie dann ihre Macht offen zur Schau stellen. Das wird die letzte Hoffnung verschwinden lassen.« »So wird es nicht kommen, Parfran«, entgegnete ich voller Überzeugung. »Die Dinge stehen augenblicklich so, daß es so geschehen wird. Es müßten ganz neue und unbekannte KRÄFTE in das Geschehen eingreifen, um noch eine Wende zu bewirken.« »Es gibt diese Kräfte. Ich bin ein Teil davon.« »Du überschätzt dich, Kristallei. Da ich die Sinnlosigkeit meines
Handelns eingesehen habe, wähle ich den Tod. Meine Jukkas werden mich verstehen, denn sie haben mich immer verstanden. Aber überleben werden sie deswegen nicht.« »Noch ist nicht aller Tage Abend.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein, denn Parfrans Worte paßten zu meinen Mißerfolgen und meinem Unbehagen. Der Emulator reagierte nicht auf meine Worte. Er zeigte auch keine Regung, als ich wieder die Gestalt von Cara Doz annahm. »Du solltest mit deiner unsinnigen Absicht, dir das Leben zu nehmen, wenigstens warten, bis ich dir beweise, daß ich den Zyrtoniern gewachsen bin«, verlangte ich. »Das werde ich nicht.« Er blieb stur. »Und niemand kann mich daran hindern, das zu tun, was mir richtig erscheint. Außerdem werde ich mir nicht das Leben nehmen. Ich werde nur einen unnatürlichen Zustand beenden. Das ist ein wichtiger Unterschied. Das ist wie ein Baum, der im Herbst seine Blätter abwirft. Scheinbar ist er dann tot, aber in Wirklichkeit lebt er weiter.« »Du meinst«, fragte ich, »du stirbst nicht wirklich?« »Meine Seele wird nie vergehen. Das meine ich.« »Dein kleines Volk wird dich vermissen, Parfran. Ohne dich kann es nicht existieren.« »Du überschätzt meine Möglichkeiten und Fähigkeiten.« Er nahm wieder einen Schluck Wasser aus dem Metallbecher. »Außerdem spielt es für die Neu‐Jukkas keine Rolle, ob ich da bin oder nicht. Ihr Ende ist schon vorgezeichnet. Es wird daher nach meinem Tod auch keinen neuen Emulator mehr auf Jukk geben. Die Macht des Bösen ist hier gebrochen. Ein Emulator ist überflüssig. Das Gute hat gesiegt, aber das wirkliche Böse wird es hinwegfegen. Es ist alles unsinnig.« »Keinen Emulator mehr?« hakte ich ein. »Woher willst du das wissen?« »Kein Volk, kein Emulator«, lautete die lakonische Antwort. »Willst du noch etwas wissen?«
»Nein.« Ich strahlte als Cara Doz sicher nicht die Zuversicht aus, die jetzt notwendig war. Daher wählte ich wieder meinen eigentlichen Körper. »Aber ich möchte dir etwas sagen. Sieh mich an! Ich bestehe praktisch nur aus Jenseitsmaterie. Das sollte dir ein Zeichen sein, daß du und deine Neu‐Jukkas sich nicht vor den Zyrtoniern zu fürchten brauchen. Laß diese Burschen ruhig kommen. Was deine Leute aber dringend brauchen, um nicht den Mut zu verlieren, bist du! Du darfst nicht einfach gehen.« »Willst du den Versuch wagen, mich daran zu hindern?« Parfran lachte auf. »Ich verstehe die Kräfte deines Geistes nicht«, gab ich zu. »Aber ich weiß, daß wir gemeinsam den Zyrtoniern gewachsen sein werden. Du hast selbst einmal gesagt, daß es auf jeden positiven Impuls ankommt. Wenn du dich verschenkst, neigt sich das Ungleichgewicht weiter zur negativen Seite.« »Du siehst diese Kräfte zu kraß, Fremder oder Fremde.« Der rostige Becher entglitt Parfrans Händen. Der Rest des Wassers bildete eine kleine Pfütze auf dem Lehmboden. »Vielleicht wollen die Mächte, die alles bestimmen, vielleicht wollen die, die du die Kosmokraten oder die Hohen Mächte genannt hast, daß die Seite verschwindet, zu der ich mich gezählt habe. Das All besteht nicht einfach aus dem Guten und dem Bösen, aus dem Ordnenden und dem Chaos, aus Positivem und Negativem. Es muß irgendwo andere Gesetze geben, die sich auch vor dir verschließen. Lebe wohl! Ich wünsche dir eine Zukunft.« Bevor ich etwas antworten konnte, wandelte sich sein Körper zu Staub. Der alte und löchrige Fellumhang fiel zu Boden. Ein Holzlöffel kullerte daraus hervor und verlor sich in einer Spalte im Lehm. Parfran hatte seine Ankündigung wahr gemacht. Es war nichts mehr von ihm da außer dem Staub, der sich unsichtbar verteilte. Auch nicht der Hauch eines geistigen Impulses. Ich hatte wieder einmal versagt.
In der Namenlosen Zone geschahen Dinge, vor denen ich wahrlich kapitulieren mußte. 6. Kennery: Sie nannten mich den Alten, weil ich außer drei anderen, jedoch wesentlich jüngeren Jukkas der einzige unter uns war, der die früheren Zeiten noch aktiv miterlebt hatte. Das bedeutete, daß ich in den Augen der neuen Generation unserer Siedlung am Rand der Wüste einmal ein Verbrecher gewesen war. Und das stimmte sogar. Meine Schandtaten hatte ich nicht vergessen, aber ich dachte nicht mehr bewußt daran. Meine Läuterung hatte ich Freunden zu verdanken, wie Tyman einer gewesen war und Parfran es noch heute darstellte. Dem wirklich Alten verdankte ich mein neues Leben. Ich wußte, daß mir nicht mehr viel Zeit blieb, meine früheren Taten durch bessere Werke auszugleichen. Ganz würde ich das nie schaffen, da blieben nicht mehr Jahre genug. Das durchschnittliche Alter eines Jukkas hatte ich längst überschritten. Da ich aber in jeder Phase meines neuen Lebens zu spüren bekam, daß mir kein Angehöriger unseres neuen Volkes etwas vorwarf oder nachtrug, fühlte ich mich beflügelt. Das Bewußtsein, in einer Gesellschaft zu leben, in der nicht jeder dem anderen mißtraute, nach seinem Besitz oder seinem Leben trachtete, um die eigene Macht auszubauen, schenkte mir im hohen Alter eine zweite Jugend. Manchmal bereute ich, daß ich erst so spät Parfran begegnet war. Damit mußte ich aber leben, denn die Vergangenheit ändern konnte keiner – auch der Emulator mit seiner Weisheit und Geduld nicht. Wir hatten in Neu‐Jukk, wie wir inoffiziell unsere Siedlung nun nannten, eine Gruppe von Führern gewählt, die sich um die Geschicke kümmern sollten. Es galt, Aufgaben zu verteilen; um die
Zukunft erfolgreich zu gestalten. Gegen meinen Willen war ich in diesen Kreis gelangt. Ich schämte mich ein wenig, teils wegen meiner Vergangenheit, teils wegen des Vertrauens, das mir entgegengebracht wurde. Daß ich einer der wenigen unter uns war, der noch technische Kenntnisse besaß, hatte bei meiner Wahl nicht gezählt. Ich kümmerte mich um die Aggregate, wartete sie und verlegte Leitungen in die neuen Häuser, damit wir für den Winter gewappnet waren. Wärme und Licht waren für das Überleben erforderlich. Unsere Vorräte an Brennstoffen waren knapp, aber irgendwann würden die Jüngeren eine Expedition in die ausgestorbenen Städte im Süden wagen, wenn die Sommerhitze verschwunden war. Der Weg durch die Wüste war beschwerlich, aber wir waren sicher, daß wir dort das finden würden, was zum Betrieb der Aggregate notwendig war. An diesem Nachmittag beabsichtigte ich, mit Parfran über ein paar Neuerungen zu sprechen, die mir eingefallen waren. Auf die drei Energieaggregate konnten wir uns auf lange Sicht nicht verlassen. Daher hatte ich Aufzeichnungen gefertigt, wie aus dem angestauten Wasser der Mühle auch Energie gewonnen werden könnte. Die Natur unserer Heimat würde uns auch hier helfen. Sie war uns freundlich gesinnt, seit wir uns nicht mehr gegen sie stellten. Selbst in der nahen Wüste wuchsen plötzlich Gräser aus dem ewigen Sand. Ich näherte mich der Hütte des Emulators. Es war typisch für ihn, daß er das schäbigste Häuschen der ganzen Siedlung bewohnte. Es war nicht nur der kleinste Bau, es war auch der älteste. Parfran hatte immer darauf bestanden, daß an seiner Wohnstatt nichts verändert wurde. Er brauchte diese Umgebung, um die Stimmen aus der Ferne zu hören, die ihm vom geheimnisvollen Geschehen in der Namenlosen Zone berichteten. Wir respektierten dieses Begehren. Ich tat dies in besonderem Maße, denn ich war einer der ganz wenigen, denen gegenüber sich der Emulator schon einmal äußerte.
»Die anderen brauchen die äußere Wahrheit nicht zu wissen, Kennery«, pflegte er mir mit seinem weisen Lächeln oft zu sagen. »Es würde sie nur verwirren und verunsichern und von den wichtigen Aufgaben ablenken.« Seine Hütte und Tyman, der steinerne Stuhl, das waren Parfrans Symbole, aus denen er Kraft schöpfen konnte. Und das Lachen der Kinder unserer neuen Generation, fügte ich in meinen Gedanken hinzu. Oben auf dem Hügel regte sich nichts. Also mußte er in seiner Hütte sein. Ich wartete in gebührendem Abstand, denn meistens ahnte der Emulator mein Kommen. Dann kam er mir von allein entgegen. Diesmal rührte sich nichts. Vielleicht meditierte er. »Parfran!« rief ich, denn ich wußte, daß er das nicht als Störung empfinden würde. »Ich würde dir gern ein paar Vorschläge unterbreiten.« Es polterte in der Hütte, aber ich warf keinen Blick durch die offene Tür. Er würde wissen, wann er kommen sollte. Auch ein zweiter Ruf war überflüssig. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis er aus der Öffnung trat. Er warf mir den warmen Blick zu, den ich erwartet hatte, und kam auf mich zu. »Kennery«, sagte er in seinem gewohnten Gleichmut, der so intensiv Zuversicht ausstrahlte, daß mir warm ums Herz wurde. »Wir haben Zeit. Gehen wir zu Tyman und sprechen dort?« Ich breitete meine Hände als Zeichen meines Einverständnisses aus. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, seiner Bitte zu widersprechen. Er eilte voraus, fast etwas ungewöhnlich schnell. Und als ich das dachte, bremste er ab und wartete auf mich. Wie fast bei jedem Gang zu Tyman, hielt er an den Büschen an, pflückte eine Handvoll Beeren und teilte sie mit mir. Dann saß er in dem steinernen Sessel unseres ehemaligen
Regenten, dem ersten Jukka, der Parfrans Ruf in eine bessere Zukunft gefolgt war. Ich hockte, auch das gehörte zu unserem kleinen Zeremoniell, das ohne große Worte entstanden war, auf einem Baumstumpf direkt gegenüber. Ich trug ihm vor, was ich mir zur Sicherung unseres Energiebedarfs überlegt hatte. Er hörte mir schweigend zu und wartete, bis ich alles gesagt hatte. Dann betrachtete er nachdenklich die Zeichnungen, die ich aus meiner Jacke holte und vor ihm ausbreitete. »Sehr gute Gedanken, Kennery«, stimmte er mir zu. »Und zweifellos wird alles so funktionieren, wie du es geplant hast. Ich verstehe zwar nichts von diesen technischen Dingen, aber mein Gefühl sagt, daß du wieder einmal auf dem rechten Weg bist.« Ich atmete erfreut durch. »Und doch melde ich einen Zweifel an«, fuhr Parfran nachdenklich fort. »Wir sind nicht genügend Leute, um diese Aufgabe, den Bau eines von der Natur betriebenen Energiewerks, vor dem nächsten Winter zu bewältigen.« »Ich verstehe dich nicht«, gab ich offen zu. »Wir haben über 200 Jukkas, die noch auf eine Aufgabe warten. Und für dieses Werk benötige ich höchstens ein Dutzend.« »Das ist richtig. Du weißt nicht, daß wir noch andere Aufgaben zu erfüllen haben. Und dafür sind alle Neu‐Jukkas vielleicht nicht genug.« Ich zuckte zusammen, denn solche Worte hörte ich zum ersten Mal. Er sah meine Zweifel. Ich konnte nur hoffen, daß er mir meinen Unglauben nicht verübelte. »Niemand zürnt dir.« Er lächelte in seinem runzligen Gesicht, und wieder war der Funken der Zuversicht da, der von ihm zu mir herüber sprang. »Du kannst nicht alles wissen, Kennery. Daher werde ich dir sagen, welche beiden Aufgaben auf uns warten.« »Ich höre.« »Wir müssen ein großes Haus bauen, in dem wir Vorräte für den
Winter einlagern. Wenn wir das nicht tun, müssen wir in den Süden ziehen und unsere Siedlung aufgeben, wie wir es vor den letzten Kälteperioden taten. Das aber will ich nicht, denn wir sollten den Ort unserer neuen Heimat nicht mehr verlassen. Und mit deinen Aggregaten allein schaffen wir es nicht. Denk an die vielen Kinder, die in diesem Jahr geboren wurden.« »Das ist richtig«, gab ich zu. »Die Gewählten haben über diesen Punkt auch schon gesprochen. Ich denke, daß zwei Dutzend von uns für diese Aufgabe ausreichen. Dann bleiben noch genügend für meinen Plan.« »Du irrst dich.« Seine Stimme klang sanft, aber eindringlich. »Wir werden alle Männer und Frauen brauchen, um die zweite Aufgabe zu erfüllen.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und so schwieg ich. »Die Stimmen der fernen Emulatoren haben mir in den letzten Tagen wichtige Neuigkeiten vermittelt«, fuhr Parfran fort. »Die böse Macht der Namenlosen Zone, von der ich dir gegenüber schon gesprochen habe, schickt sich an, alles Unangenehme zu beseitigen.« »Ich verstehe dich nicht. Wir sind doch nicht unangenehm.« Seine knochigen Hände fuhren über die Armstützen Tymans. Dann nahm er eine Beere aus der Mulde und schob sie zwischen seine Lippen. »Was du und ich und unser Volk als angenehm empfinden, Kennery«, erklärte er mir dann, »kann für andere Mächte genau das Gegenteil bedeuten. Du müßtest das verstehen, wenn du dich an deine Vergangenheit erinnerst.« Ich zuckte zusammen und lenkte meinen Blick zu Boden. Es war das erste Mal, daß er mich direkt auf diesen Punkt ansprach. »Du hast keinen Grund, dich zu schämen«, folgte sein Trost sogleich. »Die Macht, die unseren Raum beherrscht, empfindet uns nicht nur als unangenehm. Es ist mehr. Wir sind ihr ein Dorn im Auge, ein Hemmnis bei der Verwirklichung ihrer Pläne, ein übler Störfaktor, etwas ganz und gar Überflüssiges.«
»Das bedeutet …« »Das bedeutet, daß sie uns in ihren Pranken zermalmen wird, bis wir weniger sind als ein Sandkorn in der Wüste.« Ich breitete wieder meine Arme zustimmend aus. Und empfand plötzlich eine abgrundtiefe Furcht. Sollten unsere ganzen Bemühungen für einen neuen Beginn umsonst gewesen sein? »Nein«, sagte der Emulator geduldig. Er schien meine Gedanken erraten zu haben. »Wir müssen uns nur wappnen. Mit roher Gewalt würden wir nichts gegen diese Macht erreichen. Außerdem sind das nicht die Waffen, mit denen wir kämpfen wollen und können. Alles, was wir haben, sind wir selbst.« Ich fühlte mich in die Defensive gedrängt, denn ich verstand Parfran nicht mehr. »Wir müssen uns auf diese Auseinandersetzung einstellen«, fuhr er unbeirrt fort. »Jeder von uns. Jeder! Nur die vereinigte Kraft unseres Geistes kann uns noch helfen. Andernfalls werden nicht nur wir weggefegt, auch Jukk wird zu Staub verwandelt werden.« »Das hört sich schauerlich an, Parfran«, keuchte ich. »Es ist schauerlich, Kennery. Aber es gibt einen Ausweg. Und auf diesen müssen wir uns vorbereiten. Wenn die Zeit reif ist, werde ich euch sagen, was zu tun ist. Du aber solltest unser kleines Volk vorbereiten und die Bereitschaft zur Verteidigung unserer Existenz wecken.« »Das will ich tun.« Er gab mir neue Hoffnung nach diesen entsetzlichen Erklärungen. »Wer ist diese Macht? Wie nennst du sie? Wann wird sie kommen?« »Man nennt sie Zyrtonier. Es sind skrupellose, aber hochintelligente und starke Wesen. Sie gleichen den Käfern, die manchmal über unsere Beerensträucher herfallen, aber sie sind viermal so groß wie wir. Und wann sie kommen? Ich weiß es nicht genau, aber mehr als zehn Tage werden wohl nicht vergehen. Vielleicht sind sie schon morgen hier, um unsere Körper in Dörrfleisch für ihre Vasallen zu verwandeln.«
So hatte ich den Emulator noch nie reden gehört. »Wenn ich mit unseren Leuten rede«, erhob ich einen sanften Einwand, »dann werde ich nicht nur zustimmende Reaktionen wecken. Viele werden resignieren, wenn sie diese schauerlichen Wahrheiten hören. Sie werden verzagen, Emulator.« »Wer verzagt – und das kannst du allen sagen –, der ist kein Helfer für seine und unsere Zukunft. Wer die Macht des Bösen sprengen will, muß ein unerschütterliches Selbstvertrauen haben. Die innere Macht der Gefühle allein ist die Waffe, die die Mächte der ewigen Finsternis bannen kann.« »Deine Worte sind ein schwacher Trost.« Parfran erhob sich, aber er ließ seine Hände auf den Lehnen des steinernen Sessels ruhen. »Dann, Kennery«, lächelte er mir zu, »nimm diesen Trost mit. Die fernen Stimmen haben mir auch mitgeteilt, daß unsere Chance real ist. Wenn wir alle wie ein Mann zusammenstehen, wird in der Stunde der Entscheidung Tyman erwachen und uns helfen, die Feinde in die Flucht zu schlagen.« Der Funke war wieder da, der Funke der Überzeugung. Ich vergaß mein Naturkraftwerk, den Winter, die Vorräte, mich. Ich dachte nur noch an unsere Zukunft und an die Zyrtonier. Ich würde mit meinen Freunden reden. Viel Zeit hatte ich nicht. Es wunderte mich, daß Parfran in Anbetracht dieser Bedrohung noch so gelassen reagierte, aber er war eben anders als wir. Ich würde seine Gedanken zu den Seelen unserer Siedlung bringen. Schon jetzt war ich mir sicher, daß ich alle überzeugen würde. »Es wird kleine Kugeln geben«, erklärte mir Parfran, ohne daß ich verstand, was er wirklich meinte. »Jeder wird zwei bekommen. Sie werden seinem Willen gehorchen, wenn die Zyrtonier da sind. Wenn das funktioniert, wird auch Tyman erwachen. Denke daran! Wir wollen unsere Feinde nicht töten oder hinwegfegen. Wir wollen nur, daß sie eine solche Lektion erhalten, daß sie uns bis in alle
Ewigkeiten meiden.« »Du sprichst seltsame und ungewohnte Worte«, stieß ich hervor. »Ungewöhnliche Kräfte verlangen einen ungewöhnlichen Geist, mein Freund. Nun geh und vertraue der Zukunft. Ich bitte dich darum.« Es gab für mich nichts mehr zu sagen. Ich stand wortlos von dem Baumstumpf auf und fühlte mich beschwingt. Das stand im Widerspruch zu meinen Gedanken, aber ich nahm es dankbar an. Bevor ich die Kuppe des Hügels verließ, drehte ich mich noch einmal um. Parfran stand unbewegt vor dem Sessel Tymans, aber er hatte die Hände vor der schmalen Brust gekreuzt. Der Stein aber schwebte hinter ihm eine Armlänge über dem Boden Jukks in der Luft. Dann rannte ich den Hügel hinunter. Du hast nun eine Aufgabe, wisperte Tymans Stimme in meinem Kopf. Der Emulator hat sie genannt. Ich werde euch nicht enttäuschen, wenn es soweit ist, denn in mir schlummern die guten Geister der Verstorbenen. Und wir waren früher einmal ein starkes Volk. * Sie kamen am siebten Tag nach dem denkwürdigen Gespräch auf dem Hügel. Sie setzten ein Zeichen, das den Weltuntergang verkündigte und jedem Jukka deutlich machte, daß unser Emulator die Wahrheit erkannt hatte. Ob dies früh genug geschehen war, wußte ich nicht. Es war in der zweiten Stunde des Vormittags, als sich die Sonne Gumb verdunkelte. Erst waren es nur die Schatten der gewaltigen Flotte, dann legten sie einen Schirm um Gumb, der keinen Lichtstrahl mehr auf Jukk gelangen ließ. Getreu meinen Anweisungen versammelten sich alle Neu‐Jukkas schweigend auf Tymans Hügel. Parfran hockte in seinem steinernen
Sessel und ließ seine Funken der Zuversicht auf uns überspringen. Es paßten nicht alle in seine Nähe. Die Masse von uns stand zwischen den Beerenbuschreihen in der plötzlichen Dunkelheit. Dunkelheit? Da war ein Lichtschein. Er war rot und grün zugleich. Er kam von nirgendwo und war überall. »Verteile die Kugeln«, forderte mich der Emulator auf. Er hielt mir seine verkrümmten Hände entgegen, in denen winzige graue Bällchen lagen. Es mochten vielleicht zwanzig oder dreißig sein. Ich nahm sie an und gab sie weiter. Daß jeder zwei behalten sollte, hatte ich in den vergangenen Tagen immer wieder betont. Rasch wurden die winzigen Metallkugeln weitergereicht. Alle Jukkas standen zusammen im Vertrauen auf den Emulator. Die Kauzunde heulten wegen der plötzlichen Dunkelheit. Sie suchten Schutz in unserer Nähe. Es gab genügend Jukkas, die sich ihrer tröstend annahmen. Das im Wechselspiel zwischen einem blassen Rot und einem noch blasseren Grün wechselnde Licht blieb erhalten. Als ich mich wieder zu Parfran umdrehte, streckte er mir wieder die knochigen Hände voller Metallkugeln entgegen. Ich nahm die Gabe an und reichte sie weiter. Mein Vertrauen in den Emulator war ungebrochen, auch wenn ich nicht verstand, was er beabsichtigte. Die Dunkelheit und der fahle Schimmer in unserer Nähe hielten an. Das war auch noch so, als Parfran mir seine leeren Hände zeigte und lächelnd sagte, daß nun jeder von uns das habe, was er aus seinem Leib geschnitten hatte. Am fernen Horizont glitt ein glühender Ball einer gewaltigen Explosion in die Atmosphäre. Seine Helligkeit überdeckte den fahlen Lichtschimmer. Die Jukkas stießen entsetzte Rufe aus, aber Parfrans Stimme, so brüchig sie auch klingen mochte, übertönte alles. »Das war eine der anderen Siedlungen der Neu‐Jukkas. Meine Kraft reicht nicht aus, um allen von uns den Weg der Rettung zu
zeigen. Dort starben soeben tausend Seelen. Und weitere tausend oder mehr werden folgen. Ihr könnt euch retten, wenn ihr wollt! Übertragt euren Willen auf die kleinen Nickelkugeln! Sie werden euch gehorchen.« Ich betrachtete nachdenklich die kleinen Kugeln, während der Glutball in der Ferne verblühte. Die Jukkas waren unruhig. Die Nacht am Tag und die Geschehnisse blieben nicht ohne Folgen. An mir selbst merkte ich das am besten. Schwarze Schatten huschten über uns vorbei. Sie waren gewaltig, riesig und schnell. Einer tauchte kurz in den rot grünen Dämmerschein unserer Umgebung. Das Ding war länger als unser größtes Haus. Es besaß die Form eines Krabbelinsekts. Oder die Form, die Parfran uns genannt hatte. Kleinere Körper der gleichen Form begleiteten sie. Kaum waren sie verschwunden, da tauchten andere auf. Sie verharrten über uns. Ein Blitzstrahl zuckte herab, und einen Gedanken später war unsere halbe Siedlung ein Flammenmeer. Ein Schrei der Empörung brandete auf Tymans Hügel auf. »Ist keiner, der handelt?« fragte Parfran. Ich verstand. »Kugel!« stieß ich hervor und betrachtete sinnend die beiden kleinen Körper in meiner Hand. »Eine von euch soll das vernichten, was unsere Häuser in Flammen gesetzt hat.« Mein Nachbar starrte mich an, als sei ich übergeschnappt. Eine Kugel in meiner Hand verfärbte sich. Das metallische Grau wich einem rot‐grünen Wechselspiel. Dann schoß das winzige Ding vor den Augen der Umherstehenden davon. Gedanken später erfolgte ein greller Lichtblitz über uns, und einer der Schatten flammte auf. Als ich die Trümmer sah, die auf uns niederstürzten, wähnte ich unser Ende. »Letzte Kugel!« würgte ich heraus. »Schütze uns vor den glühenden Brocken!«
Das winzige Ding erstrahlte und verschwand. Eine Wand wölbte sich über uns, die schier undurchdringlich schien. Ich hörte das Krachen von Metall auf Metall. Ich sah, wie die glühenden Trümmer zur Seite gefegt wurden. Und meine Jukkas sahen es auch. Die Kunde raste durch unser kleines Volk. Gedanken später jagten sie ihre Kugeln hinaus, und ein Käferschatten nach dem anderen verschwand. Es gab viele unter uns, die ihre Kugeln dafür einsetzten, daß niemand starb, der in den riesigen Käfern war. Ich hörte das. Ich empfand das als gut, aber ich bezweifelte, daß dies irgendwo gesehen wurde. Irgendwo außerhalb unserer kleinen Welt. Dann herrschte Stille, obwohl wir nicht einmal ein Viertel der aufleuchtenden Kugeln verbraucht hatten. »Die Käfer sind in die Flucht geschlagen worden«, wandte ich mich an Parfran, der unbewegt in Tymans Sessel hockte. »Es sind keine Käfer«, antwortete der Emulator. »Es sind Raumzecken. Und die, die ihr in die Flucht getrieben habt, sind nicht einmal ein Hundertstel, derer, die im Gumb‐System dafür sorgen wollen, daß hier keine positive Kraft entsteht.« Ich zuckte zusammen und starrte in meine leeren Hände. »Weitere Kugeln aus Jenseitsmaterie kann ich dir nicht geben«, sagte Parfran traurig. »Jetzt müssen wir uns auf den Rest verlassen, bis die ganze Flotte der Zyrtonier kommt. Und auf Tyman.« Der Funke war noch immer da. Ich nahm ihn mit, als ich mich in die Reihen meiner Freunde begab, um ihnen zu sagen, was sie erwartete und was sie zu tun hatten. Als eine zweite Glutwolke in der Ferne in den Himmel stieg und kurz danach der Krach der ersten unsere Ohren erreichte, waren meine Worte fast überflüssig. Sie verstanden auch ohne weitere Erklärungen, daß sie nur wenig mehr als eine kleine Vorhut besiegt hatten. Diejenigen, die noch alle zwei Kugeln hatten, gaben eine an die ab, die beide verbraucht hatten. Untereinander sprach man sich ab, wie
man am zweckmäßigsten reagieren sollte. Es herrschte schnell Einigkeit. Die Kinder wurden abseits gebracht und durch ein paar erfahrene Jukkas gesichert. Die Kinder, das war unsere Zukunft – wenn es uns gelingen sollte, die Zyrtonier zu vertreiben. »Ich will eine Zukunft für uns«, erklärte ich Parfran, als alle Vorbereitungen getroffen waren. »Ich auch«, antwortete er. Als die Schatten der Raumzecken auftauchten, leuchtete der Emulator rot und grün. Er schrumpfte zusammen, bis er die Form eines kopfgroßen Eis besaß. »Wir werden es schaffen.« Er lachte. »Und ich bekomme meine Spur.« Was er meinte, war mir egal. Verstehen konnte ich es sowieso nicht. Dann erhellten die Explosionen die Nacht am Tag. Und mit jedem Flammenmeer am dunklen Firmament wurde Gumb wieder etwas heller. Wir würden es schaffen. Ich riß einem Zögernden die letzte Kugel aus der Hand und befahl ihr, die kümmerlichen Reste unserer Siedlung zu schützen. Das Ding verschwand und baute einen schwach leuchtenden Schirm über den noch unversehrten Häusern auf. Dann war der große Schatten da. Er überdeckte alles. Ich erkannte, daß das das Ende war und daß unsere Gegenwehr völlig umsonst gewesen war. Die gewaltige Raumzecke legte sich wie ein tödliches Gespenst über die Landschaft. Sie erstreckte sich vom Rand der Wüste über die Siedlung und Tymans Hügel bis fern in das Hinterland. Die Kugeln meiner Freunde verpufften wirkungslos an den mächtigen Abwehreinrichtungen. Das war das Ende. Mein Blick ging zu Parfran, aber ich sah nur noch den leeren Sessel Tymans. Auch von dem Ei, der letzten Form, die unser Emulator angenommen hatte, war nichts mehr zu sehen.
7. Chybrain: Ich empfand erstmals wieder seit meiner frühesten Jugend, die von Unsicherheiten geprägt gewesen war, ein Gefühl, das ich längst vergessen hatte. Ich hatte Angst! Das riesige Schiff der Zyrtonier, das so plötzlich am Ort des Geschehens aufgetaucht war, war meiner Ortung entgangen. Auch jetzt widersetzte es sich meinen Versuchen, mich in es hineinzutasten. Es sonderte eine Menge von unbekannten Energien ab, die mich fast lähmten. Die Jukkas gaben den Kampf in Anbetracht des riesigen Schattens auf und flüchteten in alle Himmelsrichtungen. Ich verkroch mich im Sessel Tymans, sondierte weiter die Lage und vergab so wertvolle Sekunden. Schließlich aber raffte ich mich auf. Ich wollte diese Niederlage nicht. Die Angst zerrte an meinem Bewußtsein. Sie zeigte mir deutlicher die Grenzen meines Daseins, als dies die Insektoiden in dem riesigen Schiff konnten. Die Verzweiflung gewann schließlich doch die Oberhand über die unerbittliche Furcht. Ich hatte die Jukkas liebgewonnen. Sie durften nicht umkommen. Ich hatte ihnen die Sicherheit versprochen. Mit dem steinernen Sessel und seiner unbegreiflichen Aura schwang ich mich in die Höhe. Die verbliebenen Jukkas stießen schrille Rufe aus, als das leuchtende Gefährt in den Himmel raste, auf das gewaltige Schiff zu. Zeigen durfte ich mich nun nicht mehr. Meine Theaterspielerei war nicht nur überflüssig geworden. Sie war gefährlich. Der Steinsessel zerbröckelte in abertausend Fetzen, als ich das Schiff berührte. Aber ich durchstieß alle energetischen Abschirmungen.
Drinnen opferte ich einen letzten, fast faustgroßen Brocken meiner Jenseitsmaterie. Gemäß meinem Befehl zerlegte sich dieses Stück in 1024 kleine Bröckchen, die selbständig den Weg zu allen neuralgischen Punkten des Schiffes zu suchen begannen. Der Vorgang schwächte mich so sehr, daß an eine Flucht aus dem Leib der Riesenzecke nicht mehr zu denken war. Ich verkroch mich in einer Wand und schaltete alle aktiven Sensoren ab. Nun konnte ich nur noch hoffen. Die Zeit tröpfelte dahin, bis endlich die erste Explosion aufflammte. Ich vernahm dies nur an den Panikstrahlungen, die die verwirrten Gemüter der Zyrtonier abgaben. Danach ging es Schlag auf Schlag. Weitere Explosionen dröhnten auf. Ich konnte es wagen, wieder aktiv in die Umgebung zu blicken. Was ich sah, erfüllte mich mit Zufriedenheit. Meine Jenseitsmaterie hatte schon zur Hafte lohnende Ziele gefunden. Nichts hatte sie aufhalten können. Die Zerstörungen waren erheblich. Das Ende des riesigen Schiffes war absehbar. Die Zyrtonier ergriffen die Flucht. Die kleineren Einheiten folgten der angeschlagenen Riesenzecke, in der neue Detonationen aufbrandeten. Der Sieg war doch noch gelungen, aber er hatte ganz erheblich an meiner Substanz gezehrt. Am schlimmsten jedoch war die geistige Niederlage, die ich erlitten hatte. Ich krümmte mich vor Wut und Ärger in mir selbst zusammen, um die Scham abfließen zu lassen. Das gelang mir nicht, und so vergaß ich den Blick für die Umgebung. Erst als wir schon weit außerhalb des Gumb‐Systems waren, hatte ich einen wachen Moment, denn der von mir ausgelöste Brand griff nun nach mir selbst. Ich ließ mich mit einer letzten Kraftanstrengung durch die glühenden und zerberstenden Wände des Schiffes fallen, bis mich der Leerraum aufnahm. Dann schaltete ich mich vollkommen ab, weil in mir keine Kraft mehr war, das
Geschehen zu verfolgen. Mit den letzten Eindrücken von den fliehenden Zyrtoniern versank ich in einen unwirklichen Traum. Der Rest meines Körpers fiel ziellos durch die Namenlose Zone, und mein Verstand begann, alles zu vergessen, um dem Wahnsinn keinen Platz zu lassen. Ich hatte gewonnen. Und doch verloren! * 666‐Page Katzulla: Das Erwachen war ohne körperlichen Schmerz. Aber mein Verstand tobte. Ich hatte Milorah verloren, die mir mehr bedeutet hatte als meine Arbeit oder die Verwirklichung des großen Planes von Zyrton. Ich lag in einer Antigravschale. Um mich herum erkannte ich die technischen Einrichtungen einer Klinik. Als ich in meinen Nacken tastete, fühlte ich das Pulsieren eines lebenden Verbandes. Die Folgerungen waren klar. Ich war durch das herabstürzende Trümmerstück im Ressawchoh verletzt worden. Aber ich würde überleben. Unsere Medizin stand auf einem hohen Niveau. Milorah, die Gute, hatte einmal eins der hinteren Beinpaare verloren. Das war zwar nun lange her. Aber man hatte es damals ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt, daß die verlorenen Gliedmaßen wieder nachwuchsen. Ich konnte einfach nicht glauben, daß sie nun tot sein sollte. Unsere Welten waren zu sicher für tödliche Unfälle. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür drang an meine Hörnerven. Ich drehte mich in der Schale, um besser sehen zu können. Zwei Zyrtonier standen vor mir. Den einen kannte ich nicht, aber aus seiner Körperausrüstung schloß ich, daß er ein Mediziner war.
Der andere war 209‐Page Corder. »872‐Page«, stellte sich der Mediziner vor. »Du hast Glück gehabt, Katzulla, daß man dich schnell aus der Ruine geholt hat. Sonst wärst du nicht mehr am Leben.« 209‐Page wedelte zustimmend mit dem vorderen, kurzen Armpaar, sagte jedoch nichts. »Was ist mit Milorah?« Das war alles, was mich wirklich interessierte. »Deiner Gefährtin konnten wir nicht mehr helfen.« Die Worte des Mediziners drückten ehrliche Betroffenheit aus. Sein Mitgefühl vermittelte auch die dunkelgrüne Färbung seines Rückens, die kurz aufleuchtete. »Ein Felsbrocken zermalmte sie. Wir haben alles versucht, aber drei entscheidende Lebenszentren können wir nicht auf einmal ersetzen.« Ich drehte mich in die waagrechte Lage zurück. »Laßt mich allein«, bat ich leise. Die Geräusche verrieten, daß man meiner Aufforderung sofort Folge leistete. Ich rief all die Jahre in mein Gedächtnis zurück, die ich mit Milorah verbracht hatte. Manchmal war ich sicher etwas schwierig oder launisch gewesen, aber ihre Geduld und Fürsorge hatten mich stets wieder ins Gleichgewicht gebracht. Stundenlang grübelte ich vor mich hin, bis ich erkannte, daß mein Nachdenken den inneren Schmerz nur vergrößerte und mir Milorah auch nicht wiederbringen konnte. Mein Leben hatte seinen eigentlichen Sinn verloren. Ich mußte ihm einen neuen Sinn geben. Als ich das gedacht hatte, verdrängte ich alle Erinnerungen an sie. Ganz gelang das natürlich nicht, aber ich war wieder in der Lage, sachlich zu empfinden. Ich wußte, welche Aufgabe mich aus meiner seelischen Enge führen konnte. Corder war sicher noch im Haus. Hatte er nicht gesagt, daß er und der Rat mich brauchten, um diesen energetischen
Schatten Chybrain zu finden? Mein Leben hatte wieder einen Sinn! * Am nächsten Tag wurde ich entlassen, denn meine Gesundheit war wieder vollkommen in Ordnung. Ich beauftragte einen Freund von Persijigg, sich um mein Labor und meine Unterkunft zu kümmern. Er bot sich an, auch die Überführung Milorahs und ihre Beisetzung zu veranlassen, als er von meinem Schicksalsschlag und dem neuen Vorhaben hörte. Mir war das sehr recht, denn jede Erinnerung an die Verunglückte drohte mich nur zu verwirren. Für meine neue Aufgabe wäre das nur schädlich gewesen. In mir erwachte wieder die alte Kämpfernatur, und ich tröstete mich mit so verrückten Gedanken wie der Aussage, daß Milorah mich jahrelang eingelullt habe. 209‐Page unterstützte meine Aktivitäten mit allen Möglichkeiten, über die er verfügte. Manchmal war er mir direkt unheimlich. Von Zyrton aus reiste ich über die systeminternen Transmitterstrecken nach Munntson, wo die gute alte KRAFTEI bereits überholt und auf neuen Glanz aufpoliert wurde. Mit dem 600 Körperlängen großen Schiff hatte ich vor Jahren zahlreiche Forschungsfahrten durch die Namenlose Zone unternommen. Das war zu den Zeiten gewesen, zu denen 666‐Page noch gebraucht worden war. »Diese Zeiten haben einen neuen Beginn gefunden«, sagte ich zufrieden zu mir, als ich vor dem Schiff stand. Wie praktisch alle unsere Raumer, Sonden und Roboter war es nach der Körperform meines Volkes geformt. Die technischen Einrichtungen entsprachen meinem Fachgebiet, den überdimensionalen und hyperverzahnten Energien, mit denen wir die Natur der Namenlosen Zone in unsere Hände genommen hatten.
Ich machte einen Streifzug durch die KRAFTEI und traf Kemmenau, den alten Schiffsführer, der nichts von seiner Frische verloren hatte. Er hatte sich in all den Jahren rührend um das Schiff und seine Einrichtungen gekümmert. Waffen im herkömmlichen Sinn besaß die KRAFTEI kaum. Es gab welche, aber über die wußte ich nicht Bescheid. Sie waren auch bedeutungslos, denn damit würde ich den Energieschatten Chybrain weder aufspüren noch fangen oder vernichten können. Kemmenau führte mich stolz in die Zentrale, die im Kopfteil untergebracht war. Hier glänzte alles in der Frische, die ich aus der Vergangenheit gewohnt war. Vergessen waren meine Träume von den Riesenameisen, vom Ressowchah, das mir nur Unglück gebracht hatte, und – von meiner guten Milorah. Ich war wieder der alte, unerbittliche Forscher, den man auf ein Objekt angesetzt hatte. Schon jetzt war ich mir sicher, daß es meinen Fängen nicht entkommen würde. Chybrain! Der Name brannte in mir wie das Feuer, das in den Kraftwerken der KRAFTEI darauf wartete, durch meine Schaltungen in die Energieformen überführt zu werden, denen niemand entgehen konnte. Sie war schon einmalig, die KRAFTEI. Und diese Einmaligkeit und die Erinnerung an die Vergangenheit mit dem Schiff, die ein positives Ende gefunden hatte, ließ mich die Einmaligkeit Milorahs vergessen. »Wann starten wir?« wollte Kemmenau wissen. Er schien von meiner Ungeduld angesteckt worden zu sein. »Vielleicht schon morgen, alter Freund. Ich habe noch eine Konferenz im Rat. Dort legen wir die weiteren Schritte fest. Und dann geht es wieder hinaus in den Raum.« Der Schiffsführer warʹs zufrieden. Ich besah mir noch den Rest der Mannschaft. Er bestand aus 59 Zyrtoniern, die ich gut zur Hälfte noch aus den alten Zeiten kannte. Ferner gehörten 200 Spezialroboter dazu, die die Aufgabe hatten, unter meiner
Anleitung die technischen Geräte zu bedienen. Zyrtonier verstanden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu wenig von der hochkomplizierten Technik. Die Aufgabenteilung war damit geregelt. Kemmenau führte im wesentlichen seine 59 Zyrtonier und ich meine Roboter. Ich war noch nicht zur Hälfte mit der Schiffsbesichtigurig zu Ende, als mich ein dringender Ruf von Zyrton erreichte. Kemmenau teilte mir mit, daß 4‐Page Objount mich sofort zu sprechen wünschte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem ganzen Leben, auch nicht zu den Zeiten, als ich noch aktiv im Rat tätig gewesen war, von einem Pagen mit einer einstelligen Nummer gerufen worden zu sein. Selbst die Erneuerung des undurchdringlichen Walles um das Zyrton‐System war »nur« von 27‐Page durchgeführt worden und den Kode hatte 18‐Page festgelegt. Kemmenau krümmte sich voller Verlegenheit, weil ich nicht sofort reagierte. Mit flehenden Fühlern deutete er auf das Kommunikationsgerät in unserer Nähe, auf dem das Symbol des Pagen leuchtete und Empfangsbereitschaft signalisierte. »4‐Page«, dachte ich laut. »Da muß etwas Außergewöhnliches passiert sein.« Geh doch endlich hin flehten die Facetten seiner Augen. Ich mußte mir einen Stoß geben, denn plötzlich war Milorah wieder in meinen Gedanken. Wie schnell hatte sich doch mein Leben innerhalb weniger Tage verändert. Der Sender sprach auf meine Berührung an. »Hier spricht 666‐Page Katzulla«, meldete ich mich. Das Gesicht eines Zyrtoniers, den ich noch nie gesehen hatte, erschien auf dem Bildschirm. Darunter wurde das Symbol des Pagen erkennbar, aus dem ich die Zahl Vier entschlüsseln konnte. »Du begibst dich sofort nach Zyrton in den Rat, den 209 anführt«, erklärte 4‐Page Objount ohne Begrüßung. »Die Vorbereitungen der KRAFTEI müssen von deinen Leuten auf Munntson allein mit höchster Dringlichkeit abgeschlossen werden. Keine Einwände!«
Seine Stimme erlaubte keinen Widerspruch und keine Frage. Ich gab ein Zeichen der Zustimmung. Es mußte in der Tat etwas Ungeheuerliches geschehen sein. Als ich mich wieder Kemmenau zuwandte, hatte dieser schon die erste Transmitterstrecke schalten lassen. In wenigen Atemzügen würde ich auf Zyrton sein und 209‐Page Corder gegenüberstehen. * »Wir sind mit ihm zusammengestoßen«, begann auch Corder ohne Begrüßung. »Mit Chybrain. Die Messungen sind eindeutig. Sieh dir diese Aufzeichnungen an.« Ein Film spulte auf einem übergroßen Schirm ab. Ich erkannte ein Planetensystem und eine unserer großen Flotten, die unterwegs waren, um eine gefährliche Zelle zu beseitigen. Flaggschiff war die mir zur Genüge bekannte DORSORS, die als bestes Schiff meines Volkes galt. Ihre Größe und Bewaffnung wurde von keiner anderen Einheit übertroffen. Die kleinen Begleitschiffe wurden bei dem Angriff abgeschlagen. Sie explodierten reihenweise ohne erkennbaren Grund. Als dann die DORSORS zur Stelle war, schien sich das Blatt zu wenden. »Achte auf die Energiereflexe!« 209‐Page deutete auf einen Punkt, der von dem Wohnplaneten in die Höhe stieg. Das Unbegreifliche geschah! Der schimmernde Punkt drang in das Riesenschiff ein. Schon wenig später erfolgen dort unverständliche Detonationen. Die Energieauswertung gab keine vernünftigen Werte mehr an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die DORSORS dem unheimlichen Angreifer erliegen würde. Das Schiff wandte sich zur Flucht, und die Begleitschiffe, die noch nicht zerstört worden waren, schlossen sich ihm an. Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die schauerlichen Bilder und auf die Werte der Energieauswertung. Der fremde Reflex
blieb in der DORSORS, bis diese in tausend Fetzen gerissen wurde. Und danach existierte er noch immer! »Chybrain!« stieß 209‐Page aus. Meine Blicke folgten dem Schattenecho, bis es irgendwo in der Nähe des Systems verschwand, weil die Aufnahmeschiffe schon zu weit entfernt waren, um es noch zu registrieren. Weitere Daten wurden eingeblendet: Gumb‐System, Planet Jukk, das Volk der Jukkas, das nicht dem Plan gefolgt war. »Noch einmal alle Energieechos« bat ich. Die Muster und Werte erschienen nun allein auf dem Bildschirm. »Nun?« fragte 4‐Page von einem anderen Bildschirm herab. »Was sagst du dazu, 666?« »Es ist fraglich«, antwortete ich, um noch etwas Zeit zum Studium der Werte zu gewinnen, denn die Analyse war auch für mein geschultes Gehirn außerordentlich problematisch, »ob er noch an diesem Ort ist. Eure Eile war jedenfalls sehr berechtigt.« »Mit welchen Energien arbeitet dieser Chybrain?« drängte Corder. »Es ist Jenseitsmaterie. Er muß ein Ableger des Echos aus der Vergangenheit sein.« »Du kennst deinen Auftrag?« fragte 4‐Page. »Natürlich.« Das Jagdfieber und der Reiz des Problems packten nach mir. Sie ließen mich vergessen, daß hier unserem glorreichen Volk erstmals eine Niederlage schwersten Ausmaßes zugefügt worden war. »Ich werde diesen Chybrain finden und fangen oder vernichten. So wahr ich Katzulla und 666‐Page bin!« 8. Chybrain: Ich konnte nicht einmal sagen, wieviel Zeit verstrichen war, als ich mich wieder aktivierte. Die schwachen Strahlen der nahen Sonne Gumb hatten mich mit einem bescheidenen Maß an Energien
aufgefüllt, so daß ich wieder normal reagieren konnte. Den erheblichen Verlust an Jenseitsmaterie, den ich erlitten hatte, konnten auch sie nicht ersetzen. Ich orientierte mich erst einmal. Was hatte meine Rückkehr in die Wirklichkeit bewirkt? Drohte mir oder den Jukkas eine neue Gefahr? Schmerzlich wurde mir bewußt, daß ich einen erneuten Angriff dieser Schwere nur unter Aufgabe meines ganzen Körpers bewerkstelligen können würde. Auf Jukk war alles ruhig. Die Freunde lebten. Sie hatten begonnen, die entstandenen Schäden zu beseitigen. Von den Schiffen der Zyrtonier war kein einziges mehr in Reichweite meiner Sinne. Ich unterdrückte den aufkeimenden Triumph, denn solche Gefühle wollte ich mir nicht mehr erlauben. Ich hatte buchstäblich – wie Atlan es ausgedrückt hätte – in ein Wespennest gefaßt. Das sollte mir eine Lehre für die Zukunft sein. Neue Überheblichkeit wäre jetzt sicher ganz verkehrt gewesen. Plötzlich zuckte ich zusammen. Etwas Fremdes war in meiner Nähe. Sofort schnellte meine Wachsamkeit in die Höhe. Ich verstärkte meinen Unsichtbarkeitsschirm bis zu den äußersten Werten, so daß mein Geist zu schmerzen begann. Behutsam ließ ich mich treiben, auf das Fremde zu. Als ich in seine Nähe kam, vermied ich jegliche Berührung und jedes aktive Tasten. Nur die passiven Sensoren arbeiteten in mir weiter. Allmählich gewannen sie ein Bild von dem Körper, der hier mit geringer Geschwindigkeit durch den Raum glitt. Er besaß die Form einer Raumzecke! Das allein genügte schon, um Panik in mir zu wecken. Es handelte sich nicht etwa um einen lebenden Zyrtonier, auch nicht um einen Toten und nicht um einen Roboter. Es war nichts da, und doch war etwas da. Das fremde Ding verbarg sich hinter einem Schutzschirm, den es zu ergründen galt. Oder sollte ich besser von hier verschwinden? Ich war unschlüssig.
So folgte ich dem Körper, der nur wenig kleiner war als die Zyrtonier, die ich auf dem Riesenschiff geortet hatte. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn ich einfach durch dieses Ding geflogen wäre. Dann hätte ich seinen Charakter sofort verstanden. Davon sah ich ab. Nach einer Weile stellte ich fest, daß das fremde und unsichtbare Ding sich in gerader Linie auf einen Nachbarplaneten Jukks zubewegte. Damit war es eigentlich uninteressant für mich. Ich schwenkte aus meiner ursprünglichen Richtung auf Jukk zu und ließ das Objekt hinter mir zurück. Schon nach einer kurzen Distanz spürte ich es nicht mehr. Am vernünftigsten war es wohl, zu meinen Freunden auf Jukk zurückzukehren. Dort gab es bessere Verstecke, wenn mir wirklich eine neue Gefahr drohen sollte. Meine Gedanken lagen im Widerstreit. Hatte ich nun einen endgültigen Sieg errungen oder nicht? Hätte ich das fremde Objekt nicht doch besser untersuchen sollen? Andererseits war es so, daß im Fall einer wirklichen Gefahr auch die Jukkas bedroht waren. Insofern war es besser, wenn ich den Planeten besuchte und dort ausforschte, ob noch ungewöhnliche Sachen geschehen waren. In meinen Gedanken ließ die Aufmerksamkeit etwas nach. So merkte ich fast zu spät, daß das fremde Ding plötzlich wieder in meiner Nähe war. Ich konnte nicht mehr verhindern, daß ich auf es prallte. Im gleichen Moment erkannte ich zwei wesentliche Dinge. Erstens handelte es sich hier um den gleichen Körper wie vorhin, nicht jedoch um denselben! Es mußte also mehrere, ja vielleicht ein paar tausend solcher Unsichtbaren geben. Zweitens berührte ich eine Schockfront. Sie besaß die typische Ausstrahlung, die mir bekannt war. Nur handelte es sich hier um eine kleine und sehr begrenzte Schockfront, die einzig und allein das Ziel hatte, den in ihr enthaltenen Körper zu verbergen. Nun war mir klar, warum ich zuvor keinen genauen Eindruck von meinem
Gegenüber erhalten hatte. Die letzte Erkenntnis unterstrich aber den Verdacht, daß ich auf ein Objekt meiner Feinde gestoßen war. Das wiederum verwirrte mich. Noch bevor ich handeln konnte, flammte in meiner unmittelbaren Nähe eine Explosion auf, die ein mittleres Raumschiff zum Verglühen gebracht hätte. Ich ließ die Energie durch mich hindurchgleiten, um keine verräterischen Impulse zu erzeugen. Aus den Trümmern rekonstruierte ich das Bild einer Raumzecke mit eindeutig robotischem Charakter. Sie waren mir also auf den Fersen! Sie hatten getarnte Roboter geschickt, um mich aufzuspüren. So leicht würde ich es ihnen nicht machen! Mein alter Trotz kam wieder zum Durchbruch. Aber ich behielt auch einen kühlen Verstand. Zweifellos würden sie über kurz oder lang den Verlust dieses Roboters erkennen und daraus die richtigen Schlußfolgerungen ziehen. Sie würden wissen, daß ich noch in der Nähe Jukks war! Ich überlegte weiter, wie sie denken würden. Normalerweise müßte ich jetzt die Flucht ergreifen. Also würde ich das Gegenteil tun. Gewehrt hatte ich mich ja nicht. Also war ich feig oder angeschlagen und müde. Das entsprach ja auch den Ereignissen der jüngsten Zeit. Und sie würden hier nachsehen, obwohl sie sich denken konnten, daß eine primitive Robotersonde, selbst wenn sie in eine kleine Schockfront gehüllt war, mir nichts anhaben konnte. Ich verfluchte den Moment, in dem ich das große Schiff zerstört hatte. Wäre ich da nicht so erschöpft und verwirrt gewesen, wäre ich jetzt schon auf Zyrton, der Quelle allen Übels der Namenlosen Zone. Ich hatte die ersehnte Spur zu diesem geheimen Ort gehabt, aber ich hatte den entscheidenden Moment versäumt. Wie einfach wäre es gewesen, mich heimlich an Bord eines ihrer kleineren Zeckenschiffe zu begeben, um so nach Zyrton zu gelangen!
Ich schalt mich einen übereifrigen Narren, der sich im Taumel des Kampfes nur um eins gekümmert hatte, nämlich um den Sieg. Mein eigentliches Ziel hatte ich darüber vergessen. Nun half das auch nichts mehr. Sie mußten in der Nähe sein, sagte ich mir. Aber ich fühlte mich zu unsicher, um mit aktiven Mitteln nach ihnen zu suchen. Erst mußte ich in Erfahrung bringen, mit welchen Tricks sie noch aufwarten konnten. Und dann galt es, mit der gebotenen Vorsicht zu handeln. Eigentlich, so sagte ich mir, während ich schon durch die Atmosphäre Jukks glitt, war die Explosion des Roboters eine Dummheit gewesen. Dadurch hatten sich die Zyrtonier verraten und mich zugleich gewarnt. Sie warteten sicher irgendwo außerhalb des Gumb‐Systems darauf, daß ich fliehen würde. Genau diesen Gefallen tat ich ihnen nicht! Ich ging zu meinen Freunden zurück. Dort sollten sie mich erst einmal finden. Notfalls, so wurde mir schmerzlich bewußt, würde ich die Jukkas aufgeben müssen, denn wenn die Zyrtonier dort erschienen, durfte ich mich nicht verraten. Ich glitt bis über die Siedlung am Rand der Wüste und dort schnell und unsicher in die Tiefe. Gleichzeitig sandte ich beruhigende Impulse an die Haustiere der Jukkas, die Kauzunde, aus, damit diese nicht wieder zu kläffen begannen. Diese Tiere besaßen ein sicheres Gespür für alles Fremde. Hinter der Hütte Parfrans nahm ich dessen Gestalt an. Ganz leicht fiel mir das nicht, denn irgendwie war ich noch immer geschwächt. Als Parfran trat ich unter dem Schatten einer Buschgruppe hervor, geradewegs auf eine Gruppe Jukkas zu, unter denen ich auch Kennery erkannte. Sie begrüßten mich mit erstaunten Rufen. »Mit deiner Rückkehr hatten wir nicht gerechnet.« Kennery schlang seine Arme um mich und drückte den dünnen Körper. Ich machte mich frei. Aus ihren Blicken erkannte ich, daß sie eine
Erklärung erwarteten. »Ich begreife die Energien nicht«, stieß ich matt hervor, »die meine Existenz lenken. Auch weiß ich nicht, wo ich war.« »Du bist da.« Der alte Kennery lachte herzlich. »Allein das zählt. Der furchtbare Feind hat sich nicht mehr blicken lassen. Wir haben viele Tote zu beklagen, aber es gibt auch erfreuliche Nachrichten.« Er deutete auf zwei Jukkas jüngeren Alters, die mir unbekannt waren. »Das sind Dausen und Nau. Sie konnten dem Inferno ihrer Siedlung entkommen und zu uns gelangen.« »Das große Glück stand euch bei«, versuchte ich den früheren Parfran nachzuahmen. »Ich freue mich wie die Vögel, wenn die ersten Frühlingswinde wehen.« Dann begutachtete ich den Zustand der Siedlung. Kennery und die beiden Neuen begleiteten mich, bis ich einen sehnsuchtsvollen Blick auf den Hügel warf, wo Tymans Stuhl gestanden hatte. »Wir werden einen neuen Stein meißeln«, versprach Kennery, »sobald die Aufräumungsarbeiten abgeschlossen sind.« Ich winkte ihm dankbar zu. »Das hat keine Eile. Vorerst werde ich mich mit dem weichen Gras begnügen.« Ich ging mit langsamen Schritten durch die Jukkas hindurch, die mir freundlich zulächelten. Dann nahmen mich die Reihen der Beerenbüsche auf, als ich den Hang erklomm. Der alltägliche Lärm des Dorfes blieb hinter mir zurück. Ein paar Kauzunde balgten sich um einen Brocken verfaulten Fleisches, und … … da waren Schritte hinter mir. Ich drehte mich um. Wenn ich der wahre Parfran gewesen wäre, hätte ich nun gelächelt oder eine passende Äußerung von mir gegeben. So aber witterte ich in allem eine Gefahr, so daß ich fast zusamenzuckte. Die Beruhigung trat jedoch schnell wieder ein, denn es handelte sich nur um Dausen und Nau, die beiden jungen Jukkas aus der anderen Siedlung, die wohl zur Gänze ein Opfer der Zyrtonier
geworden war. »Ihr wollt sicher mit eurem Emulator sprechen«, erklärte ich sanft. »Das freut mich. Seid willkommen auf Tymans Hügel.« »Wir wollen mir dir reden«, antwortete Nau. Ich erkannte erst jetzt, daß er fast noch ein Kind war. Nach den Maßstäben der SOL wirkte er wie ein Vierzehnjähriger. Er betonte das »Dir« merkwürdig. »Kommt!« Ich winkte in Richtung des Platzes, an dem der steinerne Stuhl gestanden hatte. Dausen eilte sofort an mir vorbei. Mir fiel auf, daß er mich dabei keines Blickes würdigte. Auch empfand ich es als Parfran etwas merkwürdig, daß er sich vor mir ins Gras hockte. Nau folgte mir langsam. Er schwang einen Stock in der Luft und starrte in den blauen Himmel des Nachmittags. Ich ließ mich neben Dausen ins Gras sinken. »Panik? Angst?« Nau schwang seinen Stock über meinem Kopf. Ich mußte mich ducken, um nicht getroffen zu werden. »Der Frohsinn der Jugend«, antwortete ich zögernd. »Er erhellt die traurigsten Zeiten, selbst die, in denen der Tod reiche Ernte macht.« »Du kannst dir dein geschwollenes Geplapper sparen, Parfran oder Chybrain oder wie du dich immer nennen magst. Einmal hast du dich gegenüber den Jukkas auch als Cara Doz ausgegeben. Oder nur gegenüber dem echten Parfran? Wie war das?« Dausen packte mich an der Brust. Seine Augen funkelten mich böse an. Ich verhielt mich so, wie es die von Parfran übernommenen Verhaltensschemata auswiesen. »Ihr versucht mich zu provozieren.« Ich gab dem Druck nach und wehrte mich nicht. Aber allmählich dämmerte mir, daß mit den beiden etwas nicht stimmte. Ich wagte es aber nicht, sie sofort gründlich auszuforschen. Ich mußte meine Rolle konsequent weiterspielen, so wie ich es früher als Cara Doz auch oft gemacht hatte. »Was habe ich euch getan?« »Uns? Nichts!« höhnte Nau und hieb mir seinen Stock auf die
rechte Schulter. »Wir wollen nur wissen, wer du wirklich bist.« »Ich bin Parfran, der Emulator der Jukkas. Woher kennt ihr den Namen Chybrain? Ein Unsichtbarer mit diesem Namen hat sich kürzlich mit mir unterhalten.« »Wir werden dich töten!« drohte Nau, ohne auf meine Frage einzugehen. Mir wurde erst in diesem Moment bewußt, daß keiner der Jukkas meinen wirklichen Namen kennen konnte. Das bedeutete … … Gefahr! Und Gefahr bedeutete Zyrtonier. Sie waren also schon hier! Ich fuhr einen aktiven Sinn aus und berührte damit Dausen. »Er fühlt nach mir!« schrie der gepeinigt auf. »Hört ihr? Nau, Colditz! Er fühlt nach mir!« Da war also noch ein Dritter, der sich bislang verborgen hielt! Ich ließ meine Fühler im Kreis schwenken und stieß damit auf eine Schockfront von kleinsten Ausmaßen, ähnlich wie ich sie draußen im Raum bemerkt hatte. Als Parfran tat ich so, als ob ich nichts getan und bemerkt hätte. Für mich wertete ich die Erkenntnisse schnell aus. Es gab keinen Zweifel. Hier handelte es sich um drei zyrtonische Roboteinheiten, von denen zwei geradezu perfekt als Jukkas getarnt waren, während die dritte sich hinter der für mich kaum erkennbaren Schockfront verbarg. »Ihr könnt mich ruhig töten«, sagte ich gelassen. »Ihr wißt, daß ein Emulator unsterblich ist. Ich werde wieder entstehen, selbst wenn ihr mich zur Asche verwandelt.« »Das werden wir herausfinden. Dafür ist es aber erforderlich, daß du uns begleitest.« Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin ein Teil dieser Welt. Ich bin ein Teil dieses Volkes. Unsere Feinde könnten noch einmal erscheinen, und dann werden meine Jukkas mich brauchen.« »Eure Feinde sind bereits hier.« Nau lachte gehässig. »Wir sind
eure Feinde. Hast du das noch nicht verstanden?« »Ihr seid Jukkas der alten Sorte«, antwortete ich unter sturer Beibehaltung meiner einmal eingenommenen Rolle. »Ihr seid bösartig und gemein. Ihr sucht das Schlechte an sich, ihr verkörpert es. Ihr werdet aussterben wie alle anderen Bösen.« »Er ist ein Verrückter«, behauptete Dausen. »Was wollen wir machen? Soll ich den Pagen schon benachrichtigen?« Die Antwort gab der Unsichtbare. »Ich sende bereits.« Tatsächlich nahm ich eine schnelle Folge von Hyperimpulsen auf. Ich speicherte die Werte, weil ich sie nicht sofort verstehen konnte. »Bis die Antwort eintrifft«, fuhr Colditz fort, »halten wir ihn bei uns fest. Ihr achtet darauf, daß die Narren aus dem Dorf uns nicht in die Quere kommen. Die Vernichtung dieses Brutnests ist nicht unsere oder des Pagen Aufgabe.« So sah die Sache also aus. Einer der geheimnisvollen Pagen war in der Nähe. Er hatte offensichtlich seine Helfer geschickt, um die Lage zu testen und nach mir zu forschen. Und ich war ihnen direkt in die Arme gelaufen. »Du bist unser Gefangener!« Nau baute sich mit seinem Stock vor mir auf. Grelle Funken sprühten aus dessen Ende und verrieten mir, daß es sich bei dem harmlos aussehenden Objekt um eine Waffe handelte. Wirklich gefährlich konnte mir diese trotz meines angeschlagenen Zustands nicht werden. Das Problem lag an einer anderen Stelle. Ich wußte nicht, mit welchen Waffen der Page noch aufwarten würde. Ich stand in einem Zwiespalt. Einerseits wollte ich zu den Zyrtoniern, um die Hintergründe über dieses Volk in Erfahrung zu bringen. Andererseits wollte ich weder die Jukkas in Gefahr bringen, noch mich selber. Was ich brauchte, war eine Portion Hyperenergien, um meine Jenseitsmaterie vollständig aufzuladen. Meine Substanz reichte durchaus noch aus, um allen Feinden zu widerstehen. Trotz der Opfer, die ich gebracht hatte.
Ich reagierte nicht auf Naus Worte und den funkensprühenden Stock. Gelassen hockte ich auf dem Boden und stützte den Kopf in die Hände. Unterdessen entwickelte ich unbemerkt ein Programm zur Entschlüsselung des Hyperfunkspruchs, den Colditz ausgestrahlt hatte. Als das gelungen war, sah ich klarer. Der Text lautete: »Koordinationsrobot XK‐15 an 666‐Page Katzulla. Wir haben einen Jukka aufgestöbert, der äußerst verdächtig ist. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß er entweder der gesuchte Chybrain ist oder daß sich dieser in dem Jukka verbirgt. Wir halten den Burschen fest, bis weitere Anweisungen eingehen.« Diese Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Da sie im gleichen Kode formuliert war, konnte ich sie simultan mithören. »Katzulla an XK‐15. Haltet den Kerl fest und seid wachsam. Ich komme selbst mit der KRAFTEI.« Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Instinktiv erkannte ich, daß ich hier auf einen unerbittlichen Gegner gestoßen war. Nun galt es, diesen in die Irre zu führen, die Jukkas zu schonen und selbst unversehrt nach Zyrton zu gelangen. Chybrain, sagte ich zu mir selbst, jetzt mußt du einmal zeigen, was in dir steckt. Und dann handelte ich. 9. Kennery: Ich blickte mehr zufällig als neugierig durch das glaslose Fenster des Wohnhauses, das ich mit den anderen Alten teilte. Im Augenblick war ich allein. Parfran stand mit den beiden Neuen unserer Gemeinschaft oben auf dem Hügel. Die Silhouetten der drei zeichneten sich deutlich gegen den blauen Nachmittagshimmel ab.
Da geschah etwas Unfaßbares. Parfran erhob sich und streckte seine dünnen Arme Dausen und Nau entgegen. Aus den Händen sprühten grelle Flammen, die meine beiden neuen Freunde einhüllten. Dann fuhr Parfran herum und sprang mit einem gewaltigen Satz durch die Luft. Er landete in einem weiteren Flammenmeer. Drei Explosionsgeräusche erreichten unmittelbar hintereinander meine Ohren. Dann waren Feuer und Rauch auf dem Hügel auch schon verweht. Von den Gestalten zeigte sich keine Spur mehr. »Ich mußte es tun, Kennery.« Ich fuhr herum. Parfran stand direkt hinter mir. Mein Blick war fassungslos, und ich war zu keiner Reaktion mehr fähig. Der Emulator aber lächelte. »Es gibt für alles eine vernünftige Erklärung, alter Freund.« Parfran deutete durch das Fenster auf den Hügel. »Auch für das, was dort geschehen ist. Auch dafür, daß niemand im Dorf etwas davon gesehen oder gehört hat – außer dir. Ich habe es so gewollt.« »Du bist mächtig, Parfran«, stieß ich hervor. Ein bißchen empfand ich dabei ein Grauen, das meine Bewunderung überwog. »Ich bin nicht Parfran«, antwortete der Emulator. »Parfran beendete sein Leben am Tag des Angriffs der Zyrtonier, weil er seine Existenzberechtigung verloren hatte. Die Jukkas brauchten keinen Emulator mehr. Niemand außer mir hat davon etwas erfahren. Ich nahm nur seine Gestalt an und führte euch zum Sieg. Es war ein fragwürdiger Sieg.« »Ich verstehe dich nicht«, gab ich zu. »Wer bist du dann?« »Man nennt mich Chybrain. Ich komme von sehr weit her, um dem Guten in diesem Abschnitt des Universums zu seiner bleibenden Existenz zu helfen. Mehr möchte ich dir dazu nicht sagen, denn die Zeit drängt. Ihr seid in Gefahr. Ich bin in Gefahr. Und ich brauche deine Hilfe.« »Zeige mir deine wahre Gestalt«, verlangte ich. »Dann werde ich tun, was du verlangst.«
»Ich verlange nichts.« Der Emulator schrumpfte zusammen. »Ich bitte dich nur um etwas, was dir, deinem Volk und mir die Rettung bedeuten könnte.« Er hatte seine Worte noch nicht beendet, da schwebte ein kopfgroßes Ei von bestechender Schönheit vor mir. In seine Oberfläche waren Sechsecke eingelassen, die in hellroten und blaßgrünen Tönen in einem immerwährenden Wechselspiel glänzten. Der ganze Körper erinnerte mich an einen überdimensionalen Kristall. Seine Stimme klang nun weicher, und sie erschien direkt in meinem Bewußtsein. »So sehe ich aus. Und das darf niemand wissen, denn wenn die Zyrtonier es erfahren, könnte das mein Ende bedeuten. Und meine Bitte an dich ist die: geh sofort hinaus in die Wälder, möglichst weit fort von eurer Siedlung. Kümmere dich mindestens drei Tage nicht um das, was hier geschieht. Wenn die drei Tage vorbei sind, kannst du zurückkehren. Findest du dann dein Dorf und seine Bewohner unversehrt vor, so weißt du, daß ich Erfolg gehabt habe. Wenn nicht, so verzeih mir, denn dann war ich zu schwach.« »Ich gehe«, antwortete ich spontan. »Aber ich hätte gern gewußt, warum ich gehen muß.« »Du wirst eine Antwort erhalten.« Seine Stimme strahlte Zuversicht und Stärke aus. Ich nahm ein Tuch, wickelte die notwendigsten Dinge hinein und schritt zur Tür. Chybrain verhielt sich regungslos. Ich drehte ihm den Rücken zu und trat in den Türrahmen. Meine Neugier übermannte mich, denn noch fehlte die versprochene Antwort. Daher warf ich noch einen Blick zurück. Und nun verstand ich. Mitten im Raum stand ich und lächelte mir zum Abschied freundlich zu. Unbemerkt verließ ich das Dorf, das ich so sehr liebte. Ich hätte noch ganz andere Opfer gebracht. Und das leuchtende Kristallei besaß mein Vertrauen.
Die Wälder nahmen mich auf, die Wälder, die schon einmal meine Heimat gewesen waren, als ich den Stätten des Verfalls und der Niedertracht den Rücken gekehrt hatte. »Viel Glück, Chybrain«, flüsterte ich. »Ich schätze, du kannst es gebrauchen.« Als ich zwei Stunden gegangen war, huschte der riesige Schatten über mich hinweg. Chybrain hatte die Wahrheit erkannt! * 666‐Page Katzulla: »Keine Sorge, Kemmenau!« Meine Fühler fächerten dem Schiffsführer Vertrauen zu. »Er hat XK‐15, RK‐12 und RK‐13 vernichtet. Dazu gehört nicht viel, wenn man über Jenseitsmaterie verfügt. Er hat schon jetzt so schwere Fehler gemacht, daß er mir nicht entkommen kann.« Der alte Zyrtonier lag auf seiner Kommandantenliege. Seine Augen verrieten Zweifel. Die Werte an den Anzeigen verrieten, daß wir bereits tief in die Atmosphäre von Jukk eingedrungen waren. »Ich habe seine Ortungswerte, Alter. Ich kenne die Koordinaten, an denen er sich aufgehalten hat. Es ist einfach, seine Spur zu finden. Und anhaben kann er uns nichts. Wir sind besser gewappnet als die DORSORS. Und wir kennen die Energiestruktur des Feindes.« Kemmenau antwortete nichts. Seine Anweisungen an das Personal kamen jedoch mit der gewohnten Präzision, so daß ich mir über ihn keine Gedanken zu machen brauchte. XK‐1, den ich auch den Unbeweglichen nannte, weil er fest mit der KRAFTEI verbunden war (im Gegensatz zu allen anderen Robots), hielt mir seine 800 Sensortasten entgegen, damit ich jederzeit Anweisungen durch Handgriffe oder verbale Order geben konnte.
Auf seinen drei Bildschirmen wurde das Dorf abgebildet, in dem XK‐15 das Ende gefunden hatte. Ich schaltete zwei Bilder aus und ließ mir dann darauf noch einmal alle Werte der Energieanalyse zeigen. Meine erste Vermutung auf Zyrton war richtig gewesen. Chybrain arbeitete mit Jenseitsmaterie. Ich kannte diesen Stoff zwar nur aus der Theorie, aber ich wußte, wie man ihn bändigen konnte. Daher war meine Zuversicht berechtigt. Wieder schaltete ich einen Bildschirm an XK‐1 um. Dann forderte ich alle Spurenechos an. Der Schirm blieb leer. Das war ein eindeutiger Beweis dafür, daß Chybrain diesen Ort noch nicht verlassen hatte. »Halte über dem Dorf an, Kemmenau«, bat ich den Schiffsführer. Der setzte diese Aufforderung sofort in die entsprechenden Befehle an seine Mannschaft um. »Abwehrfelder?« fragte ich XK‐1. »Trans‐hyp steht auf 85 Prozent. Norma‐pn‐Energie auf Vollast.« »Anteil der atta‐dyt Komponente?« Mir fiel plötzlich ein, daß dies eins der letzten Worte gewesen war, die ich von Milorah gehört hatte. Sofort verdrängte ich den Gedanken wieder. »Hundert Prozent«, antwortete der Unbewegliche. »Reziprokkomponente ebenfalls.« Es gab keinen unsicheren Punkt. Was würde Chybrain tun, wenn er das erfahren sollte? Es war sein Problem. Ich hatte mein Ziel, und ich würde es ohne Gnade verfolgen. »Zielposition eingenommen«, meldete Kemmenau. »Wir halten.« »Gut.« Ich studierte die Bilder. Dort unten rannten die Jukkas hin und her, denn sie hatten die KRAFTEI natürlich bemerkt. Auch wenn sie nicht so groß war, wie die DORSORS es gewesen war, so mußte ihnen doch ein gehöriger Schreck in die Glieder gefahren sein. »Sperrfelder um das ganze Dorf«, befahl ich. »Keiner darf mehr hinaus. Es muß ein Kugelfeld sein, das auch ins Erdreich ragt. Wer
Jenseitsmaterie beherrscht, kann auch durch Normalmaterie gehen.« »Steht bereits«, antwortete der Unbewegliche spontan. »Entspricht deinem Basisplan B.« »Gut. AK‐20 bis AK‐80! Ausschleusen! Treibt die Jukkas in der Dorfmitte auf einem Haufen zusammen!« Auch dieser Befehl wurde sofort ausgeführt. Die Roboter regneten aus der KRAFTEI auf den Boden hinab. Noch immer zeigte sich kein einziges Spurenecho. Wer Jenseitsmaterie mit sich führte, mußte dieses Echo hinterlassen. Darin war ich mir sicher. Daß allerdings nur die technischen Einrichtungen meiner Labors auf der KRAFTEI dieses Echo aufnehmen konnten, war eine andere Sache. Nicht umsonst hatte ich mein halbes Leben der Energieforschung gewidmet. »Chybrain«, murmelte ich. »Du sitzt in der Falle. Es gibt kein Entkommen mehr für dich.« Ich wartete, bis alle Jukkas in der Dorfmitte zusammengetrieben worden waren. AK‐20 meldete über XK‐1, daß alle Häuser durchsucht worden waren. Keiner fehlte. Ich rechnete damit, daß mein Feind nicht unter den Jukkas war, denn ganz sicher würde er sich auch vor meinen Robotern verbergen können. Seine Möglichkeiten konnte ich abschätzen. Das besagte aber nicht, daß ich sie genau kannte. »XK‐2«, rief ich. »Wir steigen aus.« Mein zweitwichtigster Roboter nach dem Unbeweglichen kroch heran. Er besaß auch meine Körperform, ja, er glich mir auf die letzte Panzerschuppe. Seine Innereien bestanden jedoch nur aus Hochleistungsaggregaten für Trans‐hyp, Norma‐pn und einige gängige Hyperenergien. Sie würden mich jedenfalls gegen jeden Angriff meines Gegners Chybrain schützen. »Bereit«, meldete XK‐2. Er besaß sogar meine Stimme. Notfalls würde ich ihn als Katzulla ausgeben und opfern können, um mich selbst zu retten. Ein Intellektmodulator sorgte außerdem dafür, daß er meine Bewußtseinsstrahlung ausschickte. Für
normaltelepathische Wesen war ohnehin weder von ihm, noch von mir, noch von einem anderen Pagen etwas konkret zu erfassen. Das bedurfte anderer Geisteskräfte. Er faßte mich in sein Gravofeld. Gemeinsam sanken wir im Mittelschacht nach unten und durch die Schleuse nach draußen. Wir landeten am Rand der angstschlotternden Jukkas. Irgendwo hier mußte er sein. Das Duell trat in seine entscheidende Phase. Ich beschloß, sofort aufs Ganze zu gehen. »Verstärker!« signalisierte ich XK‐2. Dann sprach ich. »Chybrain oder wie du dich nennen magst! Ich weiß, daß du hier irgendwo steckst. Vielleicht unsichtbar, nicht ortbar, vielleicht in einem der Jukkas, vielleicht im Boden, in einem Baum oder sonst irgendwo. Ich weiß auch, daß du meine Worte hören wirst.« Ich machte eine Pause und hörte zu meinem Erstaunen eine Stimme in meinem Kopf. Ich höre dich recht gut, Katzulla. Du brauchst nicht so zu brüllen! Du erschreckst nur meine Jukkas. Ich warf XK‐2 einen Blick zu, aber der reagierte nicht. Ganz offensichtlich hatte er nichts wahrgenommen. Ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, würde die Sache also nicht werden. Natürlich nicht! Was glaubst du, 666, wen du vor dir hast? Er hörte mich also nicht nur, er erfaßte auch meine Gedanken! »Du weißt, was ich will, Chybrain«, fuhr ich unbeirrt fort. »Dich. Es ist für mich einfach, dich zu lähmen. Meine KRAFTEI verfügt über die technischen Möglichkeiten. Der Haken an der Sache ist nur, daß beim Einsatz des JM‐Neutralisators alle Jukkas automatisch sterben werden.« Ich weiß. »Du meinst, du könntest sie opfern?« Der verdammte Kerl brachte mich tatsächlich von meinem Plan ab! Daß ich nicht kichere, Katzulla. Ich meine, daß in dem Moment, in dem du den Befehl zum Einsatz des Neutralisators der Jenseitsmaterie gibst,
deine KRAFTEI nur noch ein Haufen Schrott ist. Überlege dir also, was du tust! »Du bluffst!« Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Kerl lachte. Du mußt es selbst entscheiden. »Ich gehe das Risiko ein und gebe den Befehl.« Ich mache dir einen besseren Vorschlag, der auch für dich viel ungefährlicher ist. Ich begebe mich freiwillig in deine Gewalt. Du kannst mich nach Zyrton bringen und dort deine Untersuchungen mit mir anstellen. Ich kenne deine wissenschaftliche Neugier, Katzulla. Allerdings verlange ich eine sofortige Gegenleistung. Ich hatte längst die primitiven Lautsprecher abgeschaltet, um mich nicht vor XK‐2 und den anderen Robotern zu blamieren. Dieser Chybrain verstand meine Gedanken ja trotz aller energetischen Schutzmaßnahmen. »Sprich!« forderte ich ihn auf. Du darfst nach meiner Gefangennahme mit mir machen, was du willst, aber du darfst mich nicht töten. Und zweitens: du mußt die Jukkas verschonen. Niemand weiß von unserem Gespräch, Katzulla. Es ist dir ein leichtes, dem Rat etwas zu erzählen, damit mein Volk noch leben kann. Das ist alles. Ich fühlte mich verdammt unwohl, aber ein unnötiges Risiko durfte ich nicht eingehen. Wenn er erst an Bord der KRAFTEI war, konnte er sich meinem Willen sowieso nicht mehr entziehen. Stimmt, sagte er. Wie sieht es mit deinem Versprechen aus? »Ich bin einverstanden.« Ich warte auf einen Schwur. Schwöre es bei der Liebe, die Milorah dir geschenkt hat! Das war ein harter Schlag. Er traf einen wunden Punkt, der mich ins Wanken brachte. Ich leistete den Eid. »Gut, Katzulla.« Ein alter Jukka, der direkt vor mir stand, löste sich aus dem Kreis der Zusammengetriebenen und kam auf mich
zu. »Hier bin ich. Soll ich schon einmal vorgehen? Oder nimmt XK‐2 mich in seine Gewalt?« Ich brauchte einen Moment, um diesen erneuten Seitenhieb zu verdauen. Wieder reagierte XK‐2 nicht, ein deutliches Zeichen, daß er die klar gesprochenen Worte nicht gehört hatte. Wieder zögerte ich einen Moment. Denk an den Schwur! Noch kann ich frei reagieren! Ich nahm einen Sensortaster aus meinem Rückentornister, richtete mich auf und hielt das Gerät dem alten Jukka an die Brust. Die Anzeige für JM schnellte in die Höhe. In dem Alten steckte tatsächlich dieses Chybrain! Sicher plante er irgend etwas, aber an Bord der KRAFTEI würde ich ihm schon auf die Schliche kommen. »AK‐20«, befahl ich. »Schaffe diesen Jukka an Bord und sperre ihn in Kammer K!« Der Roboter tat, was ihm befohlen worden war. Er verschwand mit dem Alten. Ich wollte völlig sichergehen und wartete. Unterdessen ließ ich an XK‐1 die erforderlichen Befehle übertragen. Als der Alte in Kammer K war, wurde dort der JM‐Neutralisator eingeschaltet. Da die Kammer vom übrigen Schiff abgetrennt war, bestand nun kein Risiko mehr. Über XK‐2 sprach ich mit XK‐1. »Blicke mit dem pn‐Opto in Kammer K und sage mir, was du siehst!« Die Antwort befriedigte mich zutiefst. »Ich sehe einen eiförmigen Klumpen, der offensichtlich aus Nickel besteht. Er rührt sich nicht mehr.« Ich hatte Chybrain gefangen. Alles weitere würde nun ein Kinderspiel sein. Eine entscheidende Gefahr war gebannt. Den großen Schatten würde ich auch noch kriegen. Und ich war mir sicher, daß 209 schon an einem Plan arbeitete, um ihn zu fassen oder zu vernichten. Klar war auch, daß die KRAFTEI und ich dabei eine Rolle spielen würden.
Ich befahl, daß alle Roboter an Bord zurückkehren sollten. Dann folgte ich mit XK‐2. Den verwirrten Jukkas schenkte ich keinen Blick mehr. Das Versprechen band mich. Ich wollte nicht den Teil der Ehre verlieren, den ich vor mir selbst zu rechtfertigen hatte. Das galt auch unter dem Gesichtspunkt, daß kaum ein anderer Page so denken und handeln würde. Sollte dieses Völkchen leben und sich vermehren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sich unangenehm bemerkbar machen würde. Dann würde sein Ende besiegelt sein. Während die KRAFTEI startete, schaltete ich eine Verbindung zu dem Nickelklumpen. Ich gab ihm gerade soviel Freiraum, daß er sprechen konnte. »Du bist nun mein Gefangener«, eröffnete ich das Gespräch. »Wer bist du wirklich?« Seine Stimme war kläglich und leise. »Parfran als Emulator der Jukkas. Chybrain als Energieschatten, der durch die Namenlose Zone reiste, um euch zu finden. Mein einziges Ziel war, den guten Rest meines Volkes zu retten.« »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll, Chybrain.« »Es ist mir egal, Katzulla, was du glaubst. Zum Lügen habe ich nun keinen Grund mehr. Mich interessiert nur, ob du dein Versprechen noch hältst.« »Ich halte es, wenn du darüber schweigst.« »Ich werde schweigen.« »Dann, Chybrain, werde ich jetzt die kleine Zivilisation von Jukk scheinbar vernichten lassen, damit ich auf Zyrton keine Probleme mehr habe.« Er gab mir keine Antwort. Ich unterbrach die Verbindung, begab mich in eins meiner Labors und rief von dort Kemmenau. »Warte noch, bevor wir in den Überraum gehen. Ich habe noch eine Kleinigkeit in diesem System zu erledigen.« Dann schleuste ich eine meiner Anti‐trans‐hyp‐Bomben aus und
ließ sie über Jukk detonieren. Die Sensoren an Bord der KRAFTEI zeichneten alle Werte auf, die der Trans‐hyp‐Vernichtung entsprachen. Aber ich allein wußte, daß die Anti‐Komponente nur ein Schauspiel bot, das nicht der Wirklichkeit entsprach. Sollten sie leben, diese Jukkas! Ich hatte meinen Erfolg. Und was mehr zählte, ich besaß ein Objekt, das für meine weiteren Forschungen von höchstem Interesse war. Die KRAFTEI versank im Überraum und nahm Kurs Zyrton. 10. Chybrain: Ich war mir durchaus bewußt, daß ich mich auf ein verdammt riskantes Spiel eingelassen hatte. Nüchtern betrachtet, hatte ich mich aller realen Chancen beraubt. Eine andere Lösung hatte es aber nicht gegeben. Ich hatte durch meinen Bluff immerhin zwei Ziele erreicht. Zum einen waren die Jukkas für eine Weile sicher vor den Verfolgungen durch die Zyrtonier. Dem wunden Punkt, den ich in Katzullas Psyche entdeckt hatte, ihm allein war das zu verdanken. Zum anderen würde ich nach Zyrton gelangen. Der Preis, für den ich diese beiden Vorteile erkauft hatte, war ein sehr hoher. Er war meine Freiheit. Das bedeutete auch, daß meine Zukunft äußerst ungewiß war. Ein bißchen liebäugelte ich schon jetzt mit Atlan und den Solanern. Vielleicht würde es dem Arkoniden und seinen pfiffigen Helfern, insbesondere den Mutanten, gelingen, eine Bresche in die Macht der Zyrtonier zu schlagen. Ich hatte das Duell mit Katzulla vorerst verloren. Ob meine Festsetzung der letzte Akt in diesem Drama war, würde sich noch zeigen. Groß waren meine Hoffnungen nicht.
Ich lag nun bestens gesichert in einem winzigen Raum, dessen Wände aus reiner Energie bestanden. Ferner war meine Körpersubstanz, die Jenseitsmaterie, in stumpfes Nickel verwandelt worden. Das bedeutete, daß ich zu keinen aktiven Handlungen mehr fähig war. Oder genauer ausgedrückt, ich konnte mich weder bewegen noch einen aktiven Sensorarm erzeugen, der mir Erkenntnisse beschaffen konnte. Ich war ein wertloser Klumpen Nickel, in dem noch der Funke eines Bewußtseins arbeitete. Und dennoch dachte ich nicht daran aufzugeben. Irgendwann würde sich eine Chance bieten. Oder Atlan würde mich heraushauen. Ich hatte gar keine andere Wahl gehabt, als diesen Weg zu gehen. Schon das erste Abtasten der Wissensspeicher der drei von mir auf Jukk vernichteten Roboter XK‐15‐Colditz, RK‐12‐Dausen und RK‐ 13‐Nau hatte mir so viele Informationen geliefert, daß ich eigentlich hätte resignieren müssen. Mit der Kraft der Jenseitsmaterie hätte ich gegen Katzulla nichts erreichen können. Und auch für eine Flucht war es zu spät gewesen, abgesehen davon hätte sie das Ende meiner Freunde auf Jukk bedeutet. Im rechten Moment hatte ich mich auf andere Fähigkeiten besonnen, auf die, die Atlan mit Vorliebe praktizierte, auf das Taktieren, auf das Ausnutzen der Kräfte der Intelligenz, auf den Bluff. Das war nun auch das einzige, was mir geblieben war, mein ganz persönliches Bewußtsein. In meiner jetzigen Lage ohne die gewohnten Möglichkeiten wurde mir erstmals in meinem Dasein klar, daß ich diese Kräfte nie richtig beurteilt, entwickelt oder eingesetzt hatte. Dabei schlummerten in mir die Fähigkeiten von Atlans Extrasinn und die geistige Kraft der früheren Positivkomponente von Anti‐ES. Das alles zusammen war eine geballte Ladung an Energie im weitesten Sinn, die Katzulla nie beherrschen konnte. Was mir geblieben war, war mein Ego. Ich war nur noch ich – gefesselt an einen Klumpen Nickel.
Es galt nun, diesen noch lebenden Teil zu aktivieren. Viel würde ich damit nicht erreichen, denn die aktiven Komponenten waren nicht allein durch ein Bewußtsein zu ersetzen, das an einen Ort gebunden war. Noch während des Fluges nach Zyrton begann ich mein Ego zu trainieren. Nach Stunden gelang es mir erstmals, einen winzigen Teil davon aus meinem Gefängnis zu schleusen. Die absperrenden Wände stellten kein eigentliches Hindernis dar. Das Hindernis war ich selbst. Das ausgeschickte Bewußtseinsfragment schnellte stets nach wenigen Minuten in den Nickelbrocken zurück, als hinge es an einem unzerreißbaren Gummiband. Immerhin gewann ich so eine Erkenntnis von Bedeutung. Katzulla und seine robotischen Einrichtungen bemerkten nichts von diesen Aktionen. Die ersten klaren Erkenntnisse waren dürftig. Die KRAFTEI durchquerte etwas, was als »undurchdringlicher Wall« bezeichnet wurde, bevor sie in das Zyrton‐System gelangte. Für die Durchquerung dieser energetisch‐geistigen Sperre bedurfte es eines bestimmten Kodes, dessen Art und Inhalt ich allerdings nicht ausforschen konnte, weil im entscheidenden Moment mein Bewußtseinsfragment wieder zu mir zurückschnellte. Ich gewahrte etwas von elf Planeten der Sonne Zyrton, die wohl den gleichen Namen trug wie die Hauptwelt, der sechste Planet. Drei weitere Planeten wurden von den Zyrtoniern bewohnt, Gautan, Persijigg und Munntson. Die leisen Berührungen meines Zentralbewußtseins ließen den Schluß zu, daß das Zyrton‐System außer von dem »undurchdringlichen Kode‐Wall« auch noch von einer dreifach gestaffelten Schockfront umgeben war. Nun war mir klar, warum ich nie eine Spur dieser Festung der Namenlosen Zone entdeckt hatte. Ich kam mir klein und kümmerlich vor, als wir auf dem Planeten Zyrton landeten. Man schaffte mich mitsamt der Gefängniskammer
und den dazugehörigen Energieaggregaten in ein Gebäude, das selbst mit ähnlichen oder zusätzlichen Schutzmaßnahmen versehen war. Als ich mich erneut nach draußen tasten wollte, stieß ich auf eine weitere Schockfront, die auch für mein untrainiertes Bewußtseinsfragment undurchdringlich war. Ich saß wirklich in einer perfekten Falle, im totalen Gefängnis. Mein Zeitgefühl ging verloren, und manchmal beschäftigte ich mich mit der Überlegung, mich selbst zu töten. Dabei wußte ich nicht einmal, ob ich das konnte. Irgendwann dann vernahm ich eine Stimme, die mich aus der drohenden Lethargie riß. Über ein unbegreifliches Instrument sprach Katzulla zu mir. »Chybrain, hörst du mich?« »Ja.« Meine Antwort klang matt. »Ich habe dich untersucht. Du hast nichts gemeinsam mit einem Jukka. Dein Märchen vom Emulator dieses Volkes kannst du vergessen. Du warst mir nicht gewachsen, obwohl du mit deinem Bluff einen Erfolg erzielt hattest.« »Ja.« Zu einer weiteren Äußerung, war ich nicht fähig. »Hast du den Plan der Zyrtonier erkannt?« »Nein.« Mein Interesse war gering. »Wir haben den natürlichen Mechanismus des Kosmos entschlüsselt, untaugliche Welten in die Namenlose Zone zu versetzen und hier abzukapseln. Wahrscheinlich erging es meinem Volk in der Vergangenheit auch einmal so, aber wir haben uns die Schockfronten zunutze gemacht. Wir beherrschen die Schockfronten. Die in ihnen gefangenen Völker sollen sich daran aufreiben, damit sich ihre Wut auf alles andere Leben draußen im normalen Kosmos ins Unermeßliche steigert. Dann werden wir eines Tages ihre Schockfronten auflösen und ihnen den Weg zurück freigeben. Ihre Wut wird alles hinwegfegen, was uns daran stören könnte, die Macht überall zu übernehmen.« »Vielleicht«, wagte ich einen halben Widerspruch.
Katzulla lachte. »Ich werde mit dir experimentieren, um das Geheimnis der Jenseitsmaterie zu entschlüsseln. Oder willst du es freiwillig preisgeben?« »Ich sage dir alles, was du willst, wenn du mir eine Portion Hyperenergie gibst. Ich leide schrecklich.« »Bitte.« Ich fühlte einen Strom in mich gleiten, der mich belebte, die Fesseln aber um keine Nuance lockerer machten. »Ich warte auf deine Antwort, Chybrain.« »Das Geheimnis der Jenseitsmaterie kenne ich nicht. Ich bekam den Stoff bei meiner Geburt von einem Objekt, das man Lichtquelle oder die Quelle der Jenseitsmaterie nennt. Das ist etwas, was aus Geist und Maschine besteht und wahrscheinlich von einem Volk erschaffen wurde, das wie große, aufrecht gehende Ameisen aussieht.« Ich bekam keine Antwort. Auch stellte Katzulla keine weiteren Fragen. Er unterbrach den Kontakt. Irgend etwas mußte ihn getroffen haben. Es dauerte sehr lange, bis er sich wieder meldete. Nach meinem Gefühl waren Tage vergangen. »Chybrain, was weißt du noch über dieses Volk der Riesenameisen?« »Mehr Energie«, verlangte ich, und er erfüllte diesen Wunsch. »Sie nennen sich Vulnurer, und sie leben irgendwo im normalen Universum auf drei großen Raumschiffen, die GESTERN, HEUTE und MORGEN genannt werden. Ein nettes Völkchen, das von einem seltsamen Bekehrerwahn befallen ist. Warum sie etwas bekehren oder ändern wollen, weiß ich nicht. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, Katzulla.« Er unterbrach wieder den Kontakt. Fast hatte ich das Gefühl, daß ich ihm erneut einen Schock versetzt hatte. Die frischen Energien waren wohltuend. Ich konzentrierte sie auf
einen winzigen Teil meines Bewußtseins und schickte diesen auf eine ungewisse Reise. Ich hoffte auch weiterhin, daß Katzulla diese Aktion nicht bemerken würde. Das Fragment durchstreifte den Rat der Pagen, der nur unweit meines Gefängnisses seinen Hauptsitz hatte. Es sammelte alle erreichbaren Informationen ein und brachte sie zu mir zurück. Ich sortierte in meiner Einsamkeit die neuen Kenntnisse. Sie bestätigten eigentlich nur, was ich schon von Katzulla wußte oder was ich mir selbst zusammengereimt hatte. Hier war das Zentrum der Macht. Ich war an mein Ziel gelangt, aber ich war ohnmächtig. Und dann stieß ich auf eine Information, die die ganze Niedertracht der Pagen zeigte, zugleich aber auch ein Bild auf Katzulla warf. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich diese Erkenntnisse an Katzulla weiterreichen. Nun verstand ich auch, wie sehr dieser zyrtonische Wissenschaftler an seiner Gefährtin Milorah gehangen hatte. Katzulla kam, und ich sagte, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Er erwiderte zunächst nichts. Als er dann sprach, klang seine Stimme betreten, obwohl er den wunden Punkt gar nicht erwähnte. »Ich habe den Ausflug eines Teiles von dir wohl bemerkt, Chybrain. Nun sind die Absperrungen so verändert, daß dir auch das nicht mehr möglich sein wird. Nicht das winzigste Fragment deines Ichs kann noch agieren. Ich werde dich ständig auf einem so niedrigen Energieniveau halten, daß du zu nichts mehr fähig sein wirst!« Ein Sog raste durch meinen Körper und mein Bewußtsein. Es war, als ob mir der letzte Lebensimpuls genommen werden würde. Es blieb aber ein Rest. Eine Mitteilung nach draußen oder ein Ausschicken eines Bewußtseinsfragments waren aber unmöglich. Ich mußte mich noch mehr in mich selbst verkriechen und abkapseln. Meine Hoffnungen auf Hufe durch Atlan konnte ich begraben, denn wie sollte er etwas gegen diese Macht erreichen?
So dämmerte ich lange vor mich hin, versuchte Verschiedenes, aber nichts gelang. Irgendwann aber – ich besaß nun überhaupt kein Zeitgefühl mehr – trat etwas von mir in eine undefinierbare Wechselwirkung mit den umgebenden Energiefeldern und den seltsamen Strömungen, die mich aus der Zukunft erreichten. Ich konnte diese Bilder nicht deuten oder verstehen, aber eins war klar. Die seltsamen Szenen meiner Gegenwart, die eine Art Zukunft war, enthielten teilweise bekannte Figuren. Und eine dieser Figuren war der Arkonide! Die Bilder hatten nichts mit mir zu tun. Vielleicht besaß ich keine Zukunft. Ich nahm die unregelmäßig ankommenden Gedanken, für die die energetischen Absperrungen nicht zu existieren schienen (weil es sie vielleicht in der Zukunft nicht gab?), und strahlte sie wieder ab. Meine kümmerlichen Restenergien verzehrten sich dabei mehr und mehr. Für fünf oder sechs solcher Informationen würden sie vielleicht noch ausreichen. Die entscheidenden Fragen aber lauteten anders. Würde es Empfänger für diese Nachrichten geben? Und wenn es sie gab, würden sie die Bilder richtig interpretieren? Würden sie erkennen, daß sie von einem fast toten Restbewußtsein kamen, das in einem schrumpfenden Nickelbrocken und in einem energetischen Gefängnis saß, aus dem es kein Entkommen gab? Irgendwann erloschen die Bilder. Und dann erloschen auch meine Gedanken. * 666‐Page Katzulla: Eine tiefe Unruhe erfüllt mich. Chybrain sitzt fest in den Fesseln. Seine Aktivitäten sind erstorben. Er wirkt, als sei er nicht mehr hier. Und doch ist er da. Ich darf ihn
nicht sterben lassen, weil ich es geschworen habe. Ich will ihn nicht sterben lassen, weil ich ihn für meine Experimente noch brauche. Er ist die Spur, die zur Quelle der Jenseitsmaterie führt. Seine Mitteilungen waren schockierend. Meine Vorstellungen von der Bedeutung des Ameisenvolkes wurden erhärtet. Die Zusammenhänge blieben mir aber auch jetzt noch unklar. Sicher war nur, daß er nicht mehr darüber wußte. Vielleicht ist er auch ein Teil der Spur, die zu den Rätseln der Vergangenheit meines Volkes leitet. Zumindest muß jene Lichtquelle etwas damit zu tun haben, die von den ameisenähnlichen Vulnurern erschaffen worden ist. Es ist eine Tatsache, daß die Ameisen das einzige Objekt sind, das etwas über unsere Vergangenheit aussagen könnte. Und die wird ängstlich totgeschwiegen! Chybrains wirkliche Enthüllungen haben mich noch schwerer getroffen. Ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln, denn er hat keinen Grund, mich zu belügen. Sein Fragmentbewußtsein, das ich noch rechtzeitig bemerkte, hat unter anderem auch 209‐Page Corder aufgesucht. Was es von dort an Informationen mitgebracht hat, trifft mich hart. Es gab und gibt auf Zyrton zwar das Ressawchoh, aber 209‐Page hatte keine Ahnung von den Reliefs in den verschütteten Gemäuern gehabt. Und Goseman war nichts weiter als eine Maschine gewesen, die Corder dort plaziert hatte, um mich für einige Zeit an diesen Ort zu binden. Corder hatte meinen Ausflug genau verfolgt. Über die Perskarte war er über alle meine Schritte informiert gewesen. Daß ich tatsächlich eine Spur der Ameisenwesen fand, die ich jetzt Vulnurer nennen kann, war Zufall. Ein unvorhergesehener Zufall in den Augen Corders. Er hatte schnell reagiert, um mich von diesem Ort zu vertreiben. Bis zu diesem Punkt hatte ich Chybrains Bericht mit geringem Interesse gelauscht. Dann offenbarte er mir den Grund dieses Geschehens.
Ich hatte meinen Unwillen ob der Änderung meines gewohnten Lebens geäußert. Ich hatte 209‐Page wissen lassen, daß ich an dem Auftrag, den Energieschatten zu jagen, wenig Interesse hatte. Von dem Augenblick an hatte Corder nichts anderes im Sinn gehabt, als mich gefügig zu machen. Sie kennen mich, die höheren Pagen. Sie kennen meine wissenschaftlichen Fähigkeiten und meine Liebe für Milorah. Was lag da näher, als Milorah zu beseitigen? Das Ressawchoh war ein Ablenkungsobjekt gewesen, um ungestört während meiner Abwesenheit Milorah zu töten. Es hatte sich leicht ausrechnen lassen, daß ich mich dann mit Begeisterung in die vorgesehene Aufgabe stürzen würde. Der Erfolg seines Planes, trotz des unvorhergesehenen Zwischenfalls, gibt 209‐Page Corder recht. Die Skrupellosigkeit, mit der er gehandelt hat, erschüttert mich. Irgendwie bin ich nicht so ganz Zyrtonier wie die anderen Pagen. Ich weiß, daß ich gegen die Macht des Rates und gegen seine Machenschaften nichts ausrichten kann. Ich glaube auch an die Richtigkeit des großen Planes, uns das Universum Untertan zu machen. Ich will weiter für unsere Sache arbeiten. Ich will Chybrain erforschen und die Rätsel unserer Herkunft. Aber in mir nagt ein böser Kummer. Ich will nämlich noch etwas anderes, nun, da ich weiß, warum Milorah sterben mußte. Ich will Rache! Nur habe ich keine Möglichkeit, darüber zu sprechen. Nicht einmal Chybrain darf das wissen. Wenn ich in einen Spiegel blicke und der Zorn aus meinen Fühlern sprüht, dann wünsche ich mir, so zu sein wie die Riesenameise aus dem Märchenbuch, wie ein Vulnurer.
ENDE Auch im nächsten Atlan‐Band schreiben wir den August des Jahres 3808. Trotz der Vernichtung des Junk‐Nabels, des Übergangs zwischen Normaluniversum und Namenloser Zone, gibt es eine überraschende Möglichkeit, wieder in letztere zu gelangen. Der unerwartete Weg zurück öffnet sich den BRISBEE‐Kindern durch ihr Heimweh nach der Namenlosen Zone … HEIMWEH NACH DER NAMENLOSEN ZONE – das ist auch der Titel des von Hubert Haensel verfaßten Atlan‐Romans der nächsten Woche.