Gruselspannung pur!
Dracomars Teufelsschergen
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Die Kriegsknechte johlten. Si...
8 downloads
338 Views
547KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gruselspannung pur!
Dracomars Teufelsschergen
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Die Kriegsknechte johlten. Sie schütteten einen Kessel mit flüssigem Pech über die Burgmauer. Den angreifenden Feinden entgegen. Und gleich darauf noch einen. Die Männer auf den Sturmleitern brüllten vor Schmerzen. Die glühendheiße Masse drang durch die Kettenhemden, blieb an ihren Körpern kleben, und fügte ihnen schwere Verbrennungen zu. Viele der Angreifer stürzten von den Leitern, wobei sie ihre Schwerter und Morgensterne verloren. Die Männer auf dem Wohnturm der kleinen Schelenburg schöpften Hoffnung. Sie waren in der Minderzahl. Die Attacke hatte im Morgengrauen begonnen. Nun war es bald Mittag. Und es schien, als ob sie die Getreuen des Grafen Bernstedt endlich zurückschlagen konnten… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
2
Einen Teil der Burg hatte das Belagererheer schon erobert. Die Kriegsknechte des Herrn von Schele hatten sich in den viergeschossigen Wohnturm zurückgezogen. Seine zwei Meter dicken Mauern hatten bisher jedem Angriff standgehalten. Und noch ein Kessel mit flüssigem Pech rann dampfend auf die behelmten Köpfe und die Körper mit den Kettenhemden. Nun schafften die Verteidiger es auch, zwei der Sturmleitern wegzustoßen. Der zarte Keim ihrer Hoffnung wurde zu einer kräftigen Knospe. Da erscholl plötzlich ein entsetzter Ruf. »Der Junker Totenbaum kommt! Der Ritter mit dem bösen Blick!!!« * Vergangenheit Jedes Kind zwischen Friesland und Westfalen hatte im ausgehenden 12. Jahrhundert schon von Bolko von Diepmoor gehört. Die meisten kannten den berüchtigten Teufelsanbeter allerdings nur unter seinem Spitznamen Junker Totenbaum. Sein Knappe trug ihm stets eine weiße Flagge mit roten Punkten voraus. Es hieß, diese Punkte würden für das Blut seiner besiegten Feinde stehen. Nun hatten auch die Belagerer gemerkt, wer ihnen da zu Hilfe kam. Auf seinem stämmigen Schlachtroß, einem Rappen mit tückischen Augen, kam der Junker Totenbaum ins Heerlager geritten. Doch eine rechte Freude über diese Unterstützung wollte bei den Kriegsknechten nicht aufkommen. Sie wandten dem Hünen in der Rüstung möglichst nicht ihre Gesichter zu. Und wer konnte, schlug heimlich ein Kreuzzeichen und murmelte ein Gebet. Denn jeder wußte, daß Bolko von Diepmoor mit dem Teufel im Bunde stand… Der Kampflärm ebbte ab, als sich der Ritter und sein Knappe zwischen den Belagerungsmaschinen und den Bogenschützen seinen Weg zur vordersten Front bahnte. Nur noch das Stöhnen der Verwundeten ertönte. Es klang wie ein unheimlicher Chor, der den Auftritt von Junker Totenbaum passend in Szene setzte. Graf Bernstedt erwartete seinen entsetzlichen Verbündeten bereits. Der Adlige war knapp über fünfzig Jahre. Im 12. 3
Jahrhundert, als viele Menschen durch Krankheiten und Gewalt noch nicht mal dreißig wurden, galt das bereits als greisenhaftes Alter. So erklärten sich seine Getreuen jedenfalls, warum er den Teufelsknecht Junker Totenbaum in seine Dienste genommen hatte. Sie munkelten, Graf Bernstedt wäre auf seine alten Tage nicht mehr ganz bei Trost… An diesem grauen Novembertag empfing der Heerführer den Unheimlichen auf dem Rappen jedenfalls in fast jugendlicher Frische. Er bebte förmlich vor Kampfeslust. Aber auch Graf Bernstedt vermied es sorgfältig, Blickkontakt mit Bolko von Diepmoor aufzunehmen. »Da seid Ihr ja, edler Junker«, polterte der Graf. Sein grauer Bart ragte aus dem offenen Visier seines Helmes. »Gemeinsam werden wir dieses elende Rattennest von Schelenburg dem Erdboden gleichmachen!« »Wie Ihr es wünscht.« Die Stimme von Junker Totenbaum schien aus weiter Ferne zu kommen. Vielleicht aus den Abgründen der Hölle. »Meinen Preis kennt Ihr…« »Gewiß.« Graf Bernstedt gab seinem Knappen ein Zeichen. Der holte einen großen Beutel aus einer Truhe, die sich auf einem Troßwagen befand. Der Kampf an der Mauer der Schelenburg war fast zum Erliegen gekommen. Nur einzelne Bogenschützen der Angreifer und der Verteidiger nahmen sich noch gegenseitig aufs Korn. Ansonsten schienen alle Kriegsknechte auf beiden Seiten beklommen darauf zu warten, was der ritterliche Teufelsknecht im Schilde führte… Der magere Knappe eilte auf das Pferd des Junkers zu. Dabei richtete er seinen Blick zu Boden, als müsse er seine Füße genau im Auge behalten. Er reckte die Arme hoch und reichte Bolko von Diepmoor den Beutel. Mit einem höhnischen Grinsen riß Junker Totenbaum das Säckchen an sich. Dann öffnete er das Band und ließ einige der Münzen herausrollen. Es klirrte, als sie in seine Hand fielen. Er war in voller Rüstung. Auch seine Hände befanden sich in Panzerhandschuhen. Eines der glänzenden Geldstücke steckte er zwischen seine gelben Zähne und biß einmal kräftig zu. »Gute echte Goldtaler! Wie abgemacht. Ich zähle jetzt nicht nach, edler Graf. Ich vertraue Euch.« Mit einem tückischen Unterton in der Stimme fügte er hinzu: »Ihr wißt ja, was mit jenen passiert, die mich betrügen wollen.« 4
Graf Bernstedt spürte, wie die Angst in ihm aufstieg. Natürlich ließ er sich nichts anmerken. Das paßte nicht zu dem Bild, das ein Ritter jener Zeit von sich selber hatte. Furcht war etwas für das einfache Volk. Aber trotzdem fiel ihm die Geschichte ein, der Junker Totenbaum seinen Spitznamen verdankte. Einer seiner tributpflichtigen Dorfschulzen war ihm Geld schuldig geblieben. Mißernten hatten der kleinen Bauernschaft schwer zugesetzt. Es war einfach nicht genug da, um auch noch Abgaben an Bolko von Diepmoor zu bezahlen. Das hatte den Unheimlichen nicht gekümmert. Er war in das Dorf geritten. Allein. Nur in Begleitung seines Knappen. Was genau dort geschehen war, konnte niemand sagen. Nachbarn aus weiter entfernten Orten wollten höllische Schreie gehört haben. Einige behaupteten sogar, sie hätten die Gestalt des Teufels über dem Dorf in den Wolken gesehen. Als am nächsten Morgen ein fahrender Händler kam, fand er ein Totendorf vor. Alle Einwohner waren erhängt worden. Männer, Frauen und Kinder. Ohne Ausnahme. Sie alle baumelten von einem einzigen Baum, einer mächtigen Eiche. Im ganzen Land war man sich einig, daß es nur einen Schuldigen geben konnte. Junker Totenbaum. »Ihr habt nun Euer Gold, Junker von Diepmoor«, brummte Graf Bernstedt. Er trat forscher auf, als er sich fühlte. »Laßt nun auch Taten folgen!« »Nichts lieber als das«, erwiderte der Unheimliche. »Komm, Knochenfresser!« Sein Ausruf galt dem Knappen an seiner Seite. Ein zwielichtiger Geselle von unbestimmbarem Alter. Krumm saß er auf seiner Schindmähre. Den tiefliegenden Augen in seinem bösartigen Gesicht schien nichts zu entgehen. Wenn er seine schmalen Lippen zurückzog, fielen sofort seine starken Zähne auf. Man konnte sich vorstellen, warum er Knochenfresser genannt wurde. Er trug über seinem Kettenhemd ebenfalls ein weißes Gewand mit roten Punkten. Der Ritter mit dem bösen Blick und sein kaum weniger unheimlicher Diener stürmten auf die Schelenburg los! *
5
Die Kriegsknechte des Grafen Bernstedt stoben zur Seite, als sie die donnernden Hufe des mächtigen Rappen sich nähern hörten. Noch viel größer als ihre Angst vor einem Tritt des Pferdes war allerdings die Furcht vor dem grauenvollen Reiter. Zu recht. Bolko von Diepmoor hob seinen Kopf. Er wandte sich den Verteidigern zu, die von der Krone des Wohnturms aus das Gemäuer verteidigten. Einer der Bogenschützen legte auf Junker Totenbaum an. Plötzlich schrie der Mann mit Pfeil und Bogen auf. Seine Kameraden, die dicht neben ihm standen, erschraken. Der Wahnsinn verzerrte sein Gesicht. Er schwenkte herum und jagte seinen Pfeil einem der anderen Verteidiger in den Rücken. Dann wälzte er sich mit Schaum vor dem Mund in Krämpfen auf dem Steinboden. Der Bogenschütze blieb nicht das einzige Opfer. Fast alle Kriegsknechte hinter den Zinnen schienen schlagartig den Verstand verloren zu haben. Keinem der Bogenschützen war es möglich, auf den herangaloppierenden Junker Totenbaum zu zielen. Statt dessen erschossen sie sich gegenseitig. Einige von ihnen stürzten sich gleich über die Mauer. Wobei sie sich entweder den Hals brachen oder von den Männern des Grafen Bernstedt in Stücke gehauen wurden. Ein Verteidiger stürzte sich in sein eigenes Schwert. Der scharfe Stahl drang durch das dünne Kettenhemd. Die Spitze trat am Rücken wieder aus. Einige Kriegsknechte lieferten sich mit ihren Morgensternen tödliche Duelle. Die stachelbewehrten Eisenkugeln sausten durch die Luft. Helme polterten zu Boden. Schädel brachen. Dem Herrn von Schele stockte der Atem. Entsetzt mußte er miterleben, wie sich seine Männer unter dem bösen Blick des Junkers Totenbaum in reißende Bestien verwandelten. Er selbst war bisher von der schwarzmagischen Kraft des nahenden Feindes verschont geblieben. Daß sich der dämonische Ritter überhaupt unterhalb seiner Mauern befand, hatte er nur den panischen Schreien seiner Leute entnommen. Plötzlich kam dem Herrn der Schelenburg eine verzweifelte Idee. Wenn das nichts half, dann würde er selbst mit allen seinen Mannen innerhalb einer Stunde zur Hölle fahren. Auch er kannte die Geschichten, die über den Junker Totenbaum erzählt wurden. »Hol den alten Einsiedler auf die Mauer!« befahl er seinem 6
Sohn, der ebenfalls noch normal geblieben war. »Schnell!« Während der Junge losrannte, versammelte der Herr von Schele die letzten Getreuen um sich, die noch nicht unter dem Bann des bösen Blicks standen. Es waren knapp ein halbes Dutzend. Nur mit Mühe schafften sie es, ihren Herrn gegen ihre rasenden Kameraden zu verteidigen. Endlos schienen sich die Momente in die Länge zu ziehen. Schon tauchten die ersten Helme der Angreifer zwischen den Zinnen auf. Es gab niemanden mehr, der sich ihnen entgegenstellen konnte. Die meisten Verteidiger waren tot oder zuckten unter den Krämpfen des Wahnsinns, der ihren Geist zerfraß wie Säure. Da kam der Sohn mit dem Einsiedler zurück. Der alte Mann war ein christlicher Asket, der allein mitten im Teutoburger Wald in einer windschiefen Hütte lebte. Dort suchte er im ständigen Gebet die Nähe zu Gott. Er lebte von den Beeren des Waldes und von dem Essen, das ihm von Bewohnern der umliegenden Dörfer gebracht wurde. Er galt bei ihnen als Heiliger, der Wunderdinge vollbringen konnte. Doch vor wenigen Wochen hatte ein Herbststurm seine Hütte vernichtet. Der Herr von Schele hatte ihn deshalb auf seine Burg eingeladen, bis im Frühjahr die Kate wieder aufgebaut werden konnte. »Hilf mir, heiliger Mann!« rief der Burgherr verzweifelt aus. »Der Junker Totenbaum greift uns an! Er schickt Dämonen in die Seelen meiner armen Männer!« Der Alte war trotz der Novemberkälte barfuß. Er trug nur einen löcherigen Kittel. Sein Körper war fast bis zum Skelett abgemagert. Aber er stellte sich der Gefahr entgegen. Aus Dankbarkeit gegen den Herrn von Schele, gewiß. Aber auch, weil er spürte, daß hier böse Kräfte am Werk waren, die unbedingt dorthin zurückmußten, wo sie hergekommen waren. In die Hölle nämlich. Der lange Bart des Einsiedlers sträubte sich, als er mit schriller Stimme die Erzengel anrief. Schwere Schritte erklangen. Der heilige Mann spürte die Nähe seines mächtigen Feindes. Junker Totenbaum kam offenbar auf einer der Sturmleitern herausgeklettert. Sehen konnte der Einsiedler den Ritter mit dem bösen Blick nicht. Denn er war seit vielen Jahren blind. Breitbeinig stand der Alte vor den Zinnen. Keiner der 7
wahnsinnigen Kriegsknechte oder der Männer von Graf Bernstedt wagte es, ihn anzurühren. Ihnen entging nicht die weißmagische Kraft, die der Mann im Bettlergewand ausstrahlte. Ein höhnisches Lachen erklang. »Kann dein Gott dir keine Schuhe schenken, alter Narr? Warte nur, ich schicke dich zu meinem Herrn hinunter. Das Höllenfeuer wird dir die Füße schon wärmen!« Die Stimme konnte nur zu dem Ritter mit dem bösen Blick gehören. Aber der Einsiedler ließ sich nicht beirren. Er machte weiter mit seinen Gebeten, in denen er um Beistand gegen das ewige Böse bat. »Ihr Erzengel!« brüllte er mit heiligem Zorn auf die Verderbtheit seines Gegners. »Kommt herbei!« Und die Erzengel kamen. Der alte Mann konnte sie natürlich nicht sehen. Aber er spürte ihre Gegenwart ganz deutlich. Ihre Kraft und die Wärme des Guten, die sie ausstrahlten. Tief in seinem Inneren wußte der Einsiedler auch, daß sie über Schwerter aus reinem Licht verfügten. Sie mußten riesig sein. Niemand konnte später genau sagen, was in diesem Moment auf der Mauerkrone der Schelenburg geschah. Die Kriegsknechte des Grafen Bernstedt berichteten von einem hellen Licht, das sie blendete. Erst Minuten später konnten sie wieder klar sehen. Junker Totenbaum hatte schon die Zinnen erreicht, als er abstürzte. Vielleicht durchbohrt von einem Lichtschwert. Jedenfalls reichte die schwarze Magie seines teuflischen Gönners nicht mehr aus, um ihn zu schützen. Bolko von Diepmoor stürzte vier Stockwerke hinab. Unterwegs verlor er seinen Helm. Sein Schädel wurde bei dem Aufprall auf dem gepflasterten Burghof zerschmettert. Als er wieder zu sich kam, loderten um ihn herum baumhohe Flammen. Eine merkwürdige Gestalt saß grinsend neben ihm. »Was soll das?« stieß Junker Totenbaum hervor. »Wer bist du? Wo bin ich überhaupt?« »In der Hölle natürlich. Und ich bin Dracomar, der Blutdruide. Genau wie du ein treuer Diener unseres Herrn Mephisto. Ich habe noch viel vor mit dir…« *
8
Gegenwart Der Schweiß lief mir in Strömen über das Gesicht. Ich wischte kurz mit der linken Hand über meine Stirn und strich mir mein blondes Haar zurück. Dann machte ich weiter mit den Klimmzügen. Irgendwann hatte ich aufgehört, mitzuzählen. Nun zog ich meinen Körper nur noch automatisch an der Trainingswand hoch. An diesem Morgen war ich fast allein in der Halle des Polizeisportvereins Weimar. Zeit genug, um mich fit zu halten, hatte ich ja. Irgendwann erlahmten meine Oberarmmuskeln. Ich kletterte von der Übungswand und ging hinüber zu einer der Beindrückmaschinen. Dabei dachte ich zurück an meine Zeiten als aktiver Zehnkämpfer. Noch zu DDR-Zeiten hatte ich mit dem Sport begonnen. Damals hatte man mich ganz groß herausbringen wollen. Aber ich hatte immer schon meinen eigenen Kopf. Deshalb hatte ich auch nach meinem Geschichtsstudium den angeblich so sicheren Job als Wissenschaftlicher Assistent wieder hingeworfen. Beim Museum für Völkerkunde. Ich konnte und wollte mich nicht jahrelang in den verkrusteten Strukturen der akademischen Hackordnung unterdrücken lassen. Ich war ein unruhiger Mensch, geplagt von den großen Geheimnissen in meinem Leben. Und von Alpträumen. Ich setzte mich in die Beindrückmaschine, stemmte meine Füße in den Sportschuhen gegen die Polster und spannte die Oberschenkel an. Ächzend setzte sich der Apparat in Bewegung. Ich war pleite. Den ganzen Freitagmorgen versuchte ich schon, diesen Gedanken zu verdrängen. Aber es hatte keinen Sinn. Mein Körper und mein Geist waren gut in Form. Aber meine Bankkonten litten an der galoppierenden Schwindsucht. Wieder mal. In der Hosentasche meiner Jogginghose rutschte ein einsames 5-DMStück hin und her. Mein letztes Bargeld. Ich hatte keine Idee, wie ich die nächste Miete für meine gemütliche Dachwohnung in der Florian-Geyer-Straße bezahlen sollte. Oder die nächste Tankfüllung für meinen BMW. Verbissen machte ich mit dem Training weiter. Wie war ich in diese Lage geraten? Indirekt war meine Bestimmung daran schuld. Es ist meine 9
große Aufgabe im Leben, gegen die Mächte der Hölle und das Böse in jeder Form zu kämpfen. Ich bin der Kämpfer des Rings. Ich stelle mich den Dämonen entgegen, wenn sie versuchen, in unserer Welt Fuß zu fassen. Und schütze die Menschen vor ihnen. Aber dafür werde ich von niemandem bezahlt. »He! Mark!« Mein Freund Pit Langenbach tauchte am Eingang der Halle auf. Als Hauptkommissar der Weimarer Kripo verfügt er nicht nur über einen imposanten Schnurrbart, sondern auch über ein sicheres Beamtengehalt. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn anzupumpen. Nicht nur, weil ich weiß, daß Polizisten in unserem Land nicht gerade üppig bezahlt werden. Sondern, weil es mir gegen den Strich gehen würde. Niemand hat mich dazu gezwungen, die unsichere Existenz eines freien Journalisten zu wählen und statt eine Festanstellung anzustreben, gegen Dämonen zu Felde zu ziehen. Pit trug Trainingsklamotten. Er hat meine Größe und ist ebenfalls ziemlich breitschultrig. Ihm verdanke ich, daß ich im Polizeisportverein kostenlos trainieren darf. »So früh schon munter, Mark?« Er ging an eine Hantelbank, nachdem er ein paar Dehn- und Streckübungen gemacht hatte. Wie alle anderen Freunde nannte er mich Mark. »Kannst du mir auflegen?« fragte Pit. Damit riß er mich aus meinen Grübeleien. Ich verließ die Beindrückmaschine und ging zu meinem Freund hinüber. Er brauchte jemanden, der ihm die Hantelscheiben auf die Kraftstange packte. »Wieviel willst du dir denn zumuten, alter Mann?« flachste ich. Der 34jährige Pit war nur unwesentlich älter als ich mit meinen 28 Lenzen. Aber ich hatte Lust auf Blödeleien. Damit er gar nicht erst merkte, wie sehr mir meine finanzielle Misere an die Nieren ging. »Leg ruhig noch eine mehr auf«, bat der Hauptkommissar. »Ich muß Kraft tanken. Für meinen aktuellen Fall.« Pit arbeitet in der Abteilung für Gewaltverbrechen. Und die hat selbst im idyllischen Weimar genug zu tun. Leider. Und das, obwohl unsere Stadt im Jahre 1999 zur Europäischen Kulturstadt erkoren wurde. Nur die Verbrecher interessiert das wohl nicht. »So schlimm?« fragte ich ernst. 10
»Kann man wohl sagen.« Ächzend stemmte der Hauptkommissar die Langhantel. Seine Muskeln und Sehnen traten hervor. »Ein junges Mädchen ist verschwunden. Spurlos. Ein verdammtes Rätsel. - Scheiße, ist das schwer!« Klirrend fiel das Sportgerät zurück in die Halterung. »Die Hantel oder das Rätsel, Pit?« »Beides.« Er umklammerte wieder das Eisen und pumpte nach oben. »Das Mädchen wurde zuletzt von ihren Eltern gesehen. Sie ging hoch auf ihr Zimmer, um Schularbeiten zu machen. Zum Abendessen kam sie nicht herunter. Ihre Mutter bemerkte, daß die Tür von innen abgeschlossen war. Sonja Henke - so heißt die Verschwundene - reagierte weder auf Klopfen noch auf Rufen. Die Eltern machten sich Sorgen. Also holten sie den Schlüsseldienst. Der öffnete die Tür, doch da war das Mädchen bereits aus dem Zimmer verschwunden.« »Vielleicht hat. sie sich durchs Fenster vom Acker gemacht«, meinte ich leichthin. »Weil ihre Eltern sie nicht in die Disko gelassen haben.« »Schön wär's, Mark. Aber das Fenster war ebenfalls von innen verriegelt.« Pits dunkelbraunes Kurzhaar wirkte nun durch den Schweißfluß fast schwarz. Aber er machte weiter mit dem Eisenpumpen. Ich runzelte die Stirn. Da hatten wir also ein typisches closed room mystery, wie es in alten Krimis genannt wurde. Das Geheimnis eines von innen verschlossenen Raumes. »Ist diese Sonja Henke denn wirklich völlig spurlos verschwunden?« »Nein.« Das Gesicht des Hauptkommissars verdüsterte sich. »Wir haben drei winzige Blutspritzer auf dem Teppich und neben ihrem Bett gefunden. Die Kollegen von der Spurensicherung sagen, die Flecken würden mit Sonjas Blutgruppe übereinstimmen.« * Der Ort hieß bei den alten Griechen Hades oder Tartaros. Die Ägypter der Antike nannten ihn schaudernd Amenti oder Duat. Aber es war immer die gleiche Stätte des Entsetzens damit gemeint. 11
Die Hölle! Hier bekamen grausame Menschen millionenfach die Qualen zurückgezahlt, die sie zu, Lebzeiten anderen zugefügt hatten. Es gab heiße Höllen und Kältehöllen. Diese böse Gegenwelt zum Himmel war unvorstellbar weiträumig und entsetzlich. Ganze Legionen von Teufeln waren ständig damit beschäftigt, sich neue Foltern für ihre Opfer auszudenken. Manche wurden in glühende Lava getaucht, andere mit Eiszapfen gepfählt. Die perverse Phantasie der Dämonen kannte keine Grenzen. Auch der Junker Totenbaum wurde bereits von einigen dunklen Gestalten mit Bockshörnern und schwarzen Klauen betastet. Sie schienen sich bereits auszumalen, wie sie ihn vor Schmerzen zum Brüllen bringen konnten… Doch die dämonische Gestalt, die sich als Dracomar vorgestellt hatte, fuhr dazwischen. »Haltet ein, ihr Schwefelfurzer! Dieser Mann wird noch gebraucht!« Die unbedeutenden Unterteufel fuhren zurück, als ob Bolko von Diepmoor mit elektrischem Strom geladen wäre. Sie wußten, daß man sich mit Dracomar besser nicht anlegte. Der Blutdruide zählte zu den mächtigsten Dämonen der Hölle. Dracomar wurde auch »der Alte des Schreckens« genannt. Schon zu keltischer Zeit hatten ihm die Priester das Blut ihrer Gefangenen geopfert. Nach der Schlacht im Teutoburger Wald wurden die römischen Legionäre von den germanischen Hohepriestern zu seinen Ehren niedergemetzelt. Junker Totenbaum betrachtete das Höllenwesen eingehend. Lange Fangzähne ragten aus dem Maul des Unheimlichen. In seinen rotglühenden Augen schien sich das Höllenfeuer zu spiegeln. Der Ritter mit dem bösen Blick wußte, daß er fast jedem Menschen seinen Willen aufzwingen konnte. Das sah der Teufelspakt vor. Doch bei dieser Kreatur wäre schon der Versuch vergebens. Aber Dracomar war ja auch kein Mensch… Das urböse Gesicht des Blutdruiden war durch einige Ätzwunden furchtbar entstellt. Mark Hellmann hatte sie ihm zugefügt, indem er Weihwasser auf seinen schwarzmagischen Gegner geschüttet hatte. Auch eines der beiden Augen war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Dafür hatte Dracomar dem Kämpfer des Rings 12
furchtbare Rache geschworen. Junker Totenbaum war immer noch verblüfft. Er wußte natürlich, daß sein Teufelspakt ihn in die Hölle bringen würde. Umsonst hatte Mephisto ihm schließlich nicht die Gabe des bösen Blicks verliehen. Aber daß es so früh geschehen war, wurmte ihn dann doch. Dieser verdammte alte Narr war an allem schuld! Dieses lebende Skelett, das die Erzengel herbeigerufen hatte! Dracomar schien die Gedanken seines »Schützlings« gelesen zu haben. Er stieß ein satanisches Kichern hervor. Es klang wie das Knarren eines Kerkertür. »Gräm dich nicht, edler Bolko von Diepmoor! Wenn du mir einen Dienst erweist, kannst du in die Welt der Menschen zurückkehren…« Das ließ sich Junker Totenbaum nicht zweimal sagen. Er dachte an all die Frauen, die er noch schänden wollte. An all die unschuldigen Menschen, an deren Todesschreien er sich erfreuen würde, wenn sein Schwert ihre Köpfe von den Leibern schlug. »Ich tue, was Ihr wollt, Dracomar - so lautet doch Euer Name?« Eifrig katzbuckelte der Ritter mit dem bösen Blick vor dem Blutdruiden. Er hatte schon verstanden, daß der andere ihm mit seinen schwarzmagischen Kräften weit überlegen war. Und daß er gut daran tat, sich bei ihm einzuschmeicheln. »Ich mache alles! Ich töte, wen ihr wollt!« »Auf keinen Fall! Du wirst niemanden töten!« schnauzte Dracomar den Junker Totenbaum an. Dieser blinzelte verblüfft. Was hatte er denn Falsches gesagt? Er hatte immer gedacht, feiger Mord wäre hier unten in der Hölle hoch angesehen. Sollte er sich so sehr getäuscht haben? Der Blutdruide merkte, daß er einen Fehler begangen hatte. Er mußte Bolko von Diepmoor in seine Pläne einweihen. Jedenfalls soweit, damit der Ritter mit dem bösen Blick nicht versagte. »Ich erkläre es dir«, begann Dracomar. »Es gibt da einen Mann, ein jämmerliches Menschlein. Er heißt Mark Hellmann. Und er soll sterben…« Junker Totenbaum glotzte begriffsstutzig. »Aber Ihr habt doch gerade gesagt, ich solle niemanden töten…« »Ich weiß, was ich gesagt habe!« blaffte der Blutdruide. »Du sollst ihn nicht töten, diesen Mark Hellmann. Aber du sollst ihn mit deinem bösen Blick in den Selbstmord treiben!« »Warum?« Dracomar schwieg grollend. Ihm selbst war die Lust vergangen, 13
sich mit dem Dämonenjäger aus Weimar anzulegen. Er schickte daher lieber jemand anderen vor. Außerdem hoffte der Alte des Schreckens, daß durch Hellmanns Selbstmord dessen weißmagischer Ring seine Kraft verlor. Dann wäre der Kämpfer des Rings ihm, Dracomar, ausgeliefert. Und er würde ihn dorthin bekommen, wo er ihn haben wollte. Hierher, in die Hölle… All das sagte er natürlich nicht zu Junker Totenbaum. Sonst hätte er ja auch seine eigene Feigheit eingestehen müssen. »Warum? Das geht dich nichts an, Ritter mit dem bösen Blick. Du wirst mir dienen, weil du dadurch in die Welt der Menschen zurückkehren kannst. Kapiert? Allerdings nicht in deiner Zeit. Ich werde dich in eine Welt schicken, die dir seltsam vorkommen wird. Aber es ist deine Menschenwelt. Allerdings am Ende des 20. Jahrhunderts. Keine Angst, es gibt dort immer noch Frauen, die du schänden, und Männer, die du töten kannst!« Er lachte dreckig. Junker Totenbaum stimmte mit ein. Die beiden abgrundtief bösen Wesen verstanden sich. Ihre Schlechtigkeit war ihr gemeinsamer Nenner. »Aber der Ort wird dir bekannt vorkommen«, meinte Dracomar abschließend. »Es ist die Schelenburg. Dort hast du dir damals das Genick gebrochen. Und dort wirst du Mark Hellmann dazu bringen, sein Leben mit eigener Hand zu beenden. Dann werde ich dich reich belohnen.« »Das will ich gerne tun, Dracomar. Habt Ihr - Dracomar? Hört Ihr mich?« Der Blutdruide erwiderte nichts. Junker Totenbaum konnte nicht wissen, daß es Dracomar zweimal gab. Die Gestalt, die in der Hölle zu ihm sprach, war nur ein feinstoffliches Trugbild. Dracomar konnte sich mit seinen beiden Körpern gleichzeitig in verschiedenen Zeiten und Dimensionen aufhalten. Sie waren durch ein schwarzmagisches Band miteinander verknüpft. Und der andere Leib des Blutdruiden war gerade im Weimar des Jahre 1999 gelandet. Dort hatte er sofort ein Opfer gefunden, das seinen unstillbaren Blutdurst befriedigen sollte. Kein Wunder, daß er sich deshalb nicht mehr auf das konzentrieren konnte, was Junker Totenbaum zu ihm sagte. Die Gier nach frischem Lebenssaft war einfach zu groß…
14
* Sonja Henke kicherte. Die Siebzehnjährige mit den langen, blonden Haaren drehte sich vor dem Spiegel in ihrem Zimmer. Die Tür hatte sie abgeschlossen. Sie haßte es, wenn sie bei ihrer »Modenschau« gestört wurde. So nannte es ihr nerviger kleiner Bruder Patrick. Sie konnte keine neuen Klamotten anprobieren, ohne sich seine dämlichen Kommentare anhören zu müssen. Daher schloß sie ab, wenn sie ihre Garderobe zusammenstellte. Ihre Eltern dachten wohl, sie würde jetzt Schularbeiten machen. Das Mädchen ließ sie in dem Glauben. Doch die Penne interessierte sie wenig bis gar nicht. Die Laufstege von Mailand, Paris und New York - das war die Welt, nach der sich die Siebzehnjährige sehnte. Nur raus aus dem miefigen Weimar! Und hinein in die High-Society der Modelbranche. Das Zeug dazu hätte ich, dachte das Mädchen wohl zum tausendsten Mal. Ihre Beine waren lang, die Brüste fest und nicht zu klein. Sonja schlüpfte in ein Super-Minikleid. Es war in einem Sechziger-Jahre-Dekor mit schreienden Farben gehalten. Dieses Fähnchen war allerdings etwas problematisch. Es war fast unmöglich, ohne Hilfe den Reißverschluß am Rücken zu schließen. Fluchend tastete das Mädchen mit beiden Händen nach dem auseinanderklaffenden Stoff und verrenkte sich, um über die Schulter zu schielen. »Soll ich dir helfen?« Sonja Henke blieb fast das Herz stehen, als sie plötzlich die Stimme vernahm. Sie war sicher gewesen, ganz allein in ihrem Zimmer zu sein. Aber als sie den Sprecher dann sah, erstarrte sie im Handumdrehen vor Entsetzen. Der unheimliche Besucher war riesig, mehr als zwei Meter groß. Er berührte mit seinem Kopf fast die Zimmerdecke. Aber was hieß schon Kopf! Es war ein widerwärtiger, von Verätzungen zusätzlich entstellter Schädel. Rote, böse Augen glühten auf. Und sein Mund öffnete sich. Entblößte lange, spitze Fangzähne. Das kann doch nicht sein! fuhr es Sonja durch den Kopf. Das ist doch nur ein übler Witz! Da steckt bestimmt Patrick dahinter! Doch es war kein Scherz ihres kleinen Bruders. Der Blutdruide 15
Dracomar war nur allzu echt. Das wurde ihr im nächsten Moment klar. Sonja Henke wollte einen schrillen Schrei ausstoßen. Aber der Alte. des Schreckens erstickte jeden Widerstand im Keim. Bevor sie auch nur ihre vollen Lippen auseinanderbekam, stürzte er sich wie ein Raubvogel auf sie. Sein schwarzer Mantel flatterte und erinnerte dabei an die Flügel eines Raben. An die Flügel des Totenvogels. Ein widerwärtiger Modergeruch ging von Dracomar aus. Seine rechte Kralle preßte mit übermenschlicher Kraft den Ober- und Unterkiefer des Mädchens zusammen. »Schön ruhig, meine Kleine!« hechelte der schwarzmagische Eindringling. »Du gefällst mir. Wirklich. Wie schön, daß ich noch etwas Zeit habe, bevor ich die Falle für Hellmann aufstelle!« Sonja Henke kannte niemanden, der Hellmann hieß. Sie verstand sowieso kein Wort von seinem Gefasel. Aber das schien ihn nicht zu stören. Der Blutdruide, redete sowieso mehr mit sich selbst. Seine Fratze war jetzt ihrem schlanken Hals sehr nahe. Sein böses schwarzes Herz schien vor Gier fast zu platzen. Das war der Moment, wo auch sein feinstoffliches Abbild in der Hölle nicht mehr bei der Sache war. Sonja war wie eine Puppe im Griff des Schwarzblüters. Mühelos bog er mit seiner rechten Kralle ihren Kopf zurück. Er sah, wie das Blut an der Halsschlagader pulsierte. Nun war es mit seiner Beherrschung endgültig vorbei. Dracomar biß zu. Der Alte des Schreckens saugte die Kraft aus der Siebzehnjährigen. Wärmte seine Leichenknochen mit der Energie ihres jungen Lebens. Sonja verdrehte die Augen so weit, daß nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Sie hing wehrlos in Dracomars Armen. Sie wäre zu Boden geglitten, hätte er sie nicht gehalten. »Du kommst jetzt mit mir, mein schwarzer Engel«, höhnte der Blutdruide. Er hatte ihr durch seinen Biß ebenfalls den vampirischen Keim eingepflanzt. »Wir beide werden noch eine Menge Spaß haben, bevor ich mir Hellmann vorknöpfe!« Er hüllte sie mit seinem schwarzen, rot gefütterten Mantel ein wie mit einem Kokon. Mit der linken Kralle drückte er seinen Schlapphut fester auf seinen Schädel. Im nächsten Moment war 16
der Alte des Schreckens mitsamt seinem Opfer verschwunden. Es blieb nichts zurück. Bis auf einige Blutstropfen. * Nach dem Training schlenderte ich unschlüssig durch die Weimarer Innenstadt. Der Fall mit dem verschwundenen Mädchen hatte mein Interesse geweckt. Wie kann ein Mensch aus einem geschlossenen Raum entweichen? Das roch förmlich nach schwarzmagischen Untaten. Ich merkte, wie ich sauer auf mich selbst wurde. Nun mach mal einen Punkt, Mark Hellmann! sagte ich zu mir. Es gibt keinen einzigen Hinweis, daß die Mächte des Bösen Sonja Henke haben verschwinden lassen. Willst du Pit die Arbeit wegnehmen? Er ist Polizist und macht seinen Job gut. Überleg dir lieber, wie du etwas Geld auftreibst! Da war ich wieder bei meinem leidigen Thema Nummer eins. Bisher hatte ich mich oft mehr schlecht als recht als freier Journalist durchs Leben geschlagen, seit ich den Job als Wissenschaftlicher Assistent gekündigt hatte. Meine Spezialität waren okkulte Themen. Doch bei der Weimarer Rundschau, meinem Haupt-Auftraggeber, war ich nach diversen Querelen in Ungnade gefallen. Dem Chefredakteur Max Unruh paßte plötzlich meine Nase nicht mehr. Ich kriegte von ihm keine Aufträge mehr. Und keines der Themen, die ich vorschlug, war gut genug. Den wahren Grund kannte ich natürlich. Die neue Sekretärin des alten Unruh, eine Urlaubsaushilfe, war unsterblich in mich verknallt. Sie hieß Steffie Hauptmann, verfügte über eine beachtliche Oberweite und war leidenschaftliche Kaugummikauerin. Ersteres fand ich interessant, letzteres nicht. Ich zeigte ihr also die kalte Schulter. Und das nicht nur, weil ich mich mit meiner Dauerfreundin Tessa Hayden zur Zeit bestens vertrug. Wir liebten uns. Nach Möglichkeit jeden Tag. Tessa arbeitet als Fahnderin bei der Weimarer Kripo und macht mir mit ihrer krankhaften Eifersucht das Leben oft schwer genug. Trotzdem, Mark Hellmann ist ihr treu! Zur Zeit jedenfalls. Max Unruh sah mich wohl als lästigen Konkurrenten an, den er 17
aus dem Weg schaffen wollte. »Sie brauchen nicht jeden Tag hier anzutanzen, Hellmann!« hatte er mir bei meinem letzten Besuch in der Redaktion unfreundlich an den Kopf geknallt. »Wenn wir was für Sie haben, rufen wir Sie an!« Wenn die Telekom bis dahin nicht meinen Anschluß gesperrt hat, hatte ich mit einem Anflug von Galgenhumor gedacht. Die letzte Telefonrechnung hatte ich jedenfalls noch nicht bezahlen können. Ich ging am Bauhaus-Museum vorbei über den Theaterplatz. Die Sonne kam am wolkenverhangenen Frühlingshimmel nun doch noch durch. Ich nahm das als ein gutes Vorzeichen. Bisher hatte mich das Glück noch nie ganz verlassen. »Mark Hellmann!« Ich stutzte, als ich die Stimme hinter mir hörte. Drehte mich nichtsahnend um. Und riß im nächsten Moment vor Erstaunen die Augen weit auf. Eine 2,50m große Thüringer Bratwurst wackelte auf mich zu! * Tessa Hayden brachte ihr Motorrad zum Stillstand. Schlagartig hörte das Dröhnen auf, mit dem der heiße Ofen der Fahnderin eben gerade noch die Ruhe des Dichterwegs in Oberweimar gestört hatte. Eine stille Wohngegend, in der Nähe des Friedhofs. Die dreißigjährige Polizistin bockte ihr Motorrad auf und nahm den Helm ab. Darunter verbarg sich eine kesse braune Kurzhaarfrisur. Die Freundin von Mark Hellmann war 1,72m groß, schlank und durchtrainiert. Sie beherrschte mehrere Kampfsportarten. In ihrem rauhen Dienstalltag beim Dezernat für Gewaltverbrechen hatte sie auch oft genug Gelegenheit, sie anzuwenden. Tessa war lässig in Jeans und Lederjacke gekleidet. Die Jacke reichte bis über ihren runden Po und verdeckte somit ihre Dienstwaffe der Marke SIG Sauer, die sie im Gürtelhalfter trug. Die Polizistin zog ein Gesprächsprotokoll aus der Tasche. Der diensthabende Kollege in der Telefonzentrale der Polizeidirektion Weimar hatte es aufgenommen. 10.12 UHR. ANONYMER NOTRUF DICHTERWEG. HILFESCHREIE. 18
ZIVILFAHNDUNG ERFORDERLICH. Tessa Hayden nickte sich selbst zu. Gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten Pit Langenbach suchte sie nach der verschwundenen Sonja Henke. Wenn das Mädchen entführt worden war, stammten die Hilfeschreie möglicherweise von ihr. Das Auftauchen eines Streifenwagens könnte die Täter nervös machen und das Opfer gefährden. Daher hatte Hauptkommissar Langenbach beschlossen, zunächst einmal seine Kollegin allein die Lage erkunden zu lassen. Die Fahnderin checkte die Hausnummer. Sie stimmte mit der auf dem Gesprächsprotokoll überein. Das Gebäude war ein kleines Einfamilienhaus mit roten Dachschindeln. Es stand inmitten eines winzigen Gartens. Tessa öffnete das Gartenpförtchen und schritt auf den Eingang zu. Über der schweren Eichentür war ein Marmorstein mit der Jahreszahl 1904 angebracht. Für sein Alter war das Haus sehr gut in Schuß. Es mußte erst vor kurzem renoviert worden sein. Nach der Wende, wahrscheinlich. Aber das war es nicht, was der jungen Frau ins Auge fiel. Sämtliche Fensterscheiben im Erdgeschoß waren kaputt! Die Polizistin richtete den Blick ihrer braunen Augen, über denen sie manchmal grüne Kontaktlinsen trug, auf den Schaden. Die Scherben lagen größtenteils in den Blumenbeeten vor dem Haus. Also mußten die Fenster von innen eingeschlagen worden sein. Es herrschte Grabesstille. Noch nicht mal die Vögel in den wenigen Bäumen machten ein Geräusch. Erst auf den umliegenden Grundstücken schien das Leben an diesem milden Frühlingstag weiter seinen normalen Gang zu gehen. Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre. Die Alarmsirenen in Tessas Innerem schrillten. Hier stimmte etwas nicht. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Tessa jeden Glauben an schwarzmagische und übersinnliche Kräfte als Ammenmärchen abgetan. Sie war in der DDR aufgewachsen, sozialistisch erzogen worden. Im Honecker-Staat wurde die Beschäftigung mit Magie noch nicht mal in der Phantasie gestattet. Deshalb gab es damals auch keine Gruselromane oder -filme. Jedenfalls nicht in Geschäften zu kaufen. Doch die Mächte der Hölle existierten. Sie waren hinter Mark 19
Hellmann her, ihrem Freund. Und wollten ihn vernichten. Durch ihre Beziehung zu dem Kämpfer des Rings hatte die junge Fahnderin oft genug schon selbst im Kreuzfeuer der Dämonenangriffe gestanden… Für einen Moment überlegte sie, ob sie nicht lieber Mark zu Hilfe holen sollte, bevor sie das Haus betrat. Er hatte mehr Übung und Erfahrung im Umgang mit den Kräften der Finsternis und zur Not noch seinen Einsatzkoffer mit den weißmagischen Waffen aufzubieten. Doch Tessa entschied sich dagegen. Sie war eine selbstbewußte, resolute Frau. Ich kann meinen Job allein machen, entschied sie. Inzwischen hatte sie sich bis auf zwei Meter der Haustür genähert. Drei ausgetretene Steinstufen führten zum Eingang hinauf. Die Tür war nur angelehnt. Das roch auf drei Meilen gegen den Wind nach einer Falle. Die Fahnderin war zwar mutig, aber nicht tollkühn. Sie fischte ihr Handy aus der Jackentasche. Dreißig Sekunden später hatte sie Pit Langenbach am Apparat. Mit knappen Worten schilderte sie ihm die Lage vor Ort. »Ich gehe jetzt hinein!« teilte sie ihm mit. »Was?!« Tessa konnte sich vorstellen, wie sich sein mächtiger Schnurrbart vor Aufregung sträubte. »Auf keinen Fall, Tessa! Du wartest auf Verstärkung. Du…« »Ich verstehe dich nicht«, behauptete sie. »Hier muß ein Funkloch oder so was sein. Bis später, Pit.« Tessa schloß die Finger ihrer rechten Hand um den Knauf der SIG Sauer. Dann stieß sie langsam und geräuschlos die Haustür auf. Vorher warf sie noch einen Blick auf das blankgeputzte Klingelschild aus Messing. J. FRANKE stand dort. * Die 2,50m große Thüringer Bratwurst war natürlich nicht echt. Sie bestand aus leichtem Schaumstoff. War also ein Kostüm. Jedenfalls schauten menschliche Füße, Arme und ein grinsendes Mädchengesicht aus der »Wurstpelle« hervor. »Struppy!« rief ich, als ich in ihre blaßblauen Hans-Albers20
Augen sah. Ich hatte die flippige Achtzehnjährige bei meinem Abenteuer mit der Blut-Schamanin kennengelernt (Siehe MH 32). Damals jobbte sie noch bei einer Babysitteragentur. Aber inzwischen schien sie eine neue Arbeit gefunden zu haben. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, daß sie zu ihrem Vergnügen in einem Wurstkostüm durch die Weimarer Innenstadt spazierte. Obwohl man das bei Struppy nie so genau wissen konnte. »Du kommst mir gerade recht, Mark«, meinte sie. »Ich habe jetzt Mittagspause. Trinkst du einen Kaffee mit mir?« Eigentlich hatte ich ja nur noch fünf Mark. Andererseits war die quirlige Göre genau die richtige Gesellschaft, um mich von trüben Gedanken abzulenken. »Okay«, willigte ich ein. »Dann gehen wir aber ins Resi. Die Adresse paßt jedenfalls zu deiner Haarfarbe…« Sie kicherte und stieß mir den Ellenbogen in die Rippen. Man mußte schon sowohl Weimar als auch Struppy kennen, um meinen Witz zu verstehen. »Resi« wird das Residenz Cafe am Grünen Markt genannt. Und grüngefärbt sind auch die Haare der Achtzehnjährigen. »Du mußt ja als Dämonenjäger jede Menge Freizeit haben, Mark! Wenn du hier am hellichten Tag durch die Stadt bummeln kannst… Sind diese Knochenonkels und Madenheinis wirklich nur um Mitternacht auf der Pirsch…?« Ich seufzte. Irgendwie mußte Struppy aufgeschnappt haben, daß ich gegen das Böse kämpfte. Aber sie schien es nicht recht ernst zu nehmen. Kein Wunder. Wie die meisten Menschen kannte sie das Entsetzen nur aus Horrorfilmen. Und nicht aus der Realität, so wie ich. Ich hoffte für sie, daß das auch so blieb. Als wir im Resi angekommen waren, richteten sich alle Blicke auf Struppy. Ich hatte es nicht anders erwartet. Sie schraubte sich aus dem Oberteil ihres Kostüms. Ihr Kopf und ihre nackten schmalen Schultern wurden sichtbar. Sie grinste einem älteren Herrn am Nebentisch zu. »Haben Sie noch nie eine Thüringer Bratwurst gesehen, Euer Hochwohlgeboren?« Der Senior murmelte etwas von unverschämter Jugend, widmete sich dann aber wieder seinem Kaffee. »Aufsehenerregend, dein neuer Job«, feixte ich. Wir bestellten Kaffee. 21
»Ja«, erwiderte die Grünhaarige ernsthaft. »Seit die Agentur die Kampagne gestartet hat, ist der Verzehr von Thüringer Bratwürsten um acht Prozent gestiegen. Unser Land unsere Wurst, verstehst du, Mark? Werbung ist alles.« Ich nickte, versuchte beeindruckt zu wirken. Bei Struppy wußte man nie so genau, ob sie einen auf den Arm nehmen wollte oder nicht. Vielleicht konnte sie das selbst ja gar nicht sagen. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter. »Mark Hellmann?« fragte eine tiefe Männerstimme hinter mir. Ich drehte mich um. Und erkannte den Sprecher auf Anhieb wieder. Obwohl wir uns bestimmt seit vier Jahren nicht gesehen hatten. »Jan Franke! Mann, dich gibt es auch noch?« * Das Sonnenlicht schien durch die zerschlagenen Scheiben in den Hausflur. Tessa Hayden konnte jede Einzelheit erkennen. Trotzdem lag eine düstere, verzweifelte Atmosphäre über dem Haus im Dichterweg. Die Fahnderin kannte das. Sie war schon oft genug mit Mark Hellmann zusammen an Plätzen gewesen, an denen das Böse gehaust hatte. Das hier war so ein Platz. Oder sie wollte nicht Tessa Hayden heißen. Mit der rechten Hand hielt sie ihre Dienstwaffe, die Mündung nach oben gerichtet. Sie konnte jederzeit die SIG in den Beidhandanschlag nehmen und feuern. Wie sie es auf dem Schießstand tausendmal geübt hatte. Das würde ihr allerdings nichts nützen, wenn sie es mit Schwarzblütern zu tun hätte. Denn mit silbernen Patronen hatte das Thüringische Innenministerium seine Beamten noch nicht ausgestattet… Tessa setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Verschaffte sich einen Überblick. Das kürzlich renovierte Haus war innen hochmodern eingerichtet. Designereinbauküche, dicker VeloursTeppichboden, italienische Möbel in Pastellfarben. An den Wänden hingen große künstlerische Fotos, die mehr oder weniger nackte Frauen zeigten. Das wäre was für Mark, dachte die Polizistin und schnaubte ironisch. Einerseits, weil ihr Freund ihr mit seinen ewigen Affären 22
das Leben schwermachte. Und andererseits, weil viele dieser Liebesabenteuer bloß in ihrer Phantasie stattfanden. In stillen Stunden gestand Tessa sich ein, daß sie krankhaft eifersüchtig war… Ein leises Knacken riß sie aus ihren Gedanken. War das der Wind gewesen, der einige Zweige gegen ein kaputtes Fenster geweht hatte? Oder… etwas anderes? Die Fahnderin reckte den Kopf, als würde sie die Nase in den Wind halten. Aber es gab nichts zu riechen. Kein Schwefelgestank. Mephisto war also nicht hiergewesen. Der Erzfeind von Mark Hellmann, der ihm ewige Verdammnis im Höllenfeuer geschworen hatte. Tessa checkte erst die Küche, dann das Wohnzimmer. Alles sah bewohnt aus. So, als ob dieser J. Franke mal eben Zigaretten holen gegangen wäre. J. Franke. Die Identität würde sie auf der Polizeidirektion checken müssen. Mann oder Frau? Lebte er allein hier? Was war mit ihm geschehen? Warum waren sämtliche Fenster eingeschlagen? Die Polizistin fand im Erdgeschoß nichts Verdächtiges. Also beschloß sie, in den ersten Stock hinaufzugehen. Der Gang neben der Treppe war sehr schmal. Unter den Stufen befand sich ein Wandschrank. Tessa trat auf eine knarrende Diele, die etwas nachgab. Die Polizistin wußte nicht, ob sich deshalb die Tür des Wandschranks plötzlich öffnete. Oder aus einem anderen Grund. Es war ihr egal. Denn plötzlich fiel ein großer kalter Körper gegen sie! Die Fahnderin war reaktionsschnell. Sie richtete ihre SIG gegen den vermeintlichen Angreifer. Aber bevor sie den Stecher durchziehen konnte, merkte sie, daß kein Leben in dem Mann war. Er glitt an ihr herab zu Boden. Und fiel auf den Rücken. Tessa Hayden biß sich auf die Lippen, weil sie nicht vor Entsetzen aufschreien wollte. Der Mann aus dem Schrank hatte kein Gesicht! * Jan Franke setzte sich zu Struppy und mir. »Das ist ein alter Studienkumpel von mir«, stellte ich ihn vor. 23
»Wir haben einige Semester zusammen in Geschichtsseminaren gehockt.« Noch mehr Zeit hatten wir allerdings in Studentenkneipen verbracht. Und damit, unseren weiblichen Kommilitonen nachzustellen. Aber das mußte ich ja dem grünhaarigen Girl nicht auf die Nase binden. Falls sie einen guten Eindruck von mir hatte, wollte ich ihn nicht mutwillig zerstören. Struppy und Jan Franke schüttelten sich die Hände. Jan war in meinem Alter, also auch achtundzwanzig. Er war ungefähr einen Kopf kleiner als ich, aber ebenfalls kräftiger gebaut. Sein Haar trug er jetzt kürzer als vor vier Jahren. Seine leichte Kurzsichtigkeit behob er durch eine teure Designerbrille mit rotem Gestell. Aus der Brusttasche seiner Lederweste ragte ein Handy. Nun, das besagt heutzutage gar nichts mehr. Es ist nicht länger das Symbol von erfolgreichen Menschen. Wenn sogar ein armer Dämonenjäger wie ich eins hat. Doch Jan Franke schien Erfolg zu haben. Das bemerkte ich nicht nur an seiner kostspieligen Kleidung. Sondern auch an seinem dicken Terminkalender, der fast aus den Nähten zu platzen schien. Trotzdem wirkte er unzufrieden auf mich. Fast gehetzt. »Probleme?« fragte ich ihn. Von früher her war ich es gewöhnt, offen mit ihm über alles zu sprechen. Und er rückte auch wirklich sofort mit der Sprache heraus. »Das kann man wohl sagen«, stöhnte er. »Ich habe mich selbständig gemacht, Mark…« »Und wer selbständig ist, muß selbst ständig arbeiten«, kicherte Struppy dazwischen. »Genau, grünhaarige Lady. Dabei läuft meine Sache eigentlich gut. Ich bin Veranstalter für Mittelalter-Feste. Deutschlandweit.« »Davon habe ich schon gehört«, ließ ich einfließen. Seit einigen Jahren waren diese Mittelalter-Feste groß in Mode gekommen. Auf einem Marktplatz oder auf Burgen oder Schlössern wurden Buden wie auf einem mittelalterlichen deutschen Markt aufgebaut. Dort waren dann Gaukler zu sehen, Hofnarren und ganz normale Handwerker. Alle natürlich in den Kostümen jener Zeit. Mittelalterliche Speisen wurden zubereitet und Met ausgeschenkt. Manchmal gab es sogar Ritterturniere mit Recken in echten Rüstungen auf bunt geschmückten Pferden. Lautenspieler sangen Lieder von Walther von der Vogelweide und anderen mittelalterlichen Minnesängern. Mit etwas Phantasie konnte man sich wirklich in die Zeit versetzt glauben. Ich weiß es, 24
denn ich habe das echte Mittelalter auf meinen eigenen Zeitreisen schon öfter erlebt. »Geil!« kommentierte Struppy. »Klingt nach einem abgefahrenen Job. Aber warum dann deine Leichenbittermiene?« »Mein Assistent hatte einen Unfall«, erzählte Jan Franke. »Er liegt in den Hufelandkliniken. Und am kommenden Wochenende steigt das nächste Mittelalter-Fest. Ich brauche einen Ersatzmann für ihn. Und zwar bis heute abend! Allein schaffe ich das nicht.« Plötzlich schien er eine Idee zu haben. »Was ist mit dir, Mark? Wir haben bisher nur über mich gesprochen. Was machst du jetzt so?« »Freier Journalist«, erwiderte ich knapp. Von meiner Berufung als Kämpfer des Rings erwähnte ich natürlich nichts. Ich kannte Jan Franke zwar gut. Aber so gut nun auch wieder nicht. Ich sah Struppy an, daß ihr eine diesbezügliche Bemerkung auf der Zunge lag. Unter dem Tisch trat ich ihr auf einen Fuß. »Kannst du mir nicht aushelfen, Mark? Ich meine, wenn es deine Auftragslage gerade erlaubt. Nur für dieses eine Wochenende?« Meine Auftragslage war mehr als bescheiden. Wenn ich meinen Kaffee bezahlt hatte, war ich völlig blank. Trotzdem hatte ich Bedenken. »Ich habe null Erfahrung im Festivalmanagement, Jan.« »Nicht weiter schlimm.« Er wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. Mein Studienkollege wirkte immer mehr wie ein Mann, der es gewöhnt ist, Anweisungen zu erteilen. »Am wichtigsten ist, daß ich dir hundertprozentig vertrauen kann. Du mußt vor allem mit den Budenbesitzern abrechnen. Ich bekomme nämlich eine Provision von ihrem Umsatz. Das heißt, du wirst an die zwanzigtausend DM mit dir rumschleppen. In bar. Das geht nur mit einem Assistenten, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde.« Ich nahm einen Schluck Kaffee. Ganz überzeugt war ich immer noch nicht. »Sag ja, Mark!« drängte mich Jan Franke. »Ich zahle dir fünfzehnhundert für das Wochenende. Kost und Logis extra. Ich bin wirklich in der Klemme…« »Also gut!« Ich bot ihm meine Hand. Er schlug ein. War da ein heimtückisches Aufleuchten in seinem Blick? Ich sah noch einmal genauer hin. Automatisch prüfte ich auch meinen Siegelring. 25
Doch er erwärmte sich nicht und leuchtete auch nicht auf. Also kein Anzeichen von dämonischer Aktivität. Jan Franke strahlte mich einfach nur glücklich an. Ich mußte mich getäuscht haben. »Wo findet das Mittelalter-Fest eigentlich statt?« fragte ich. »Oh, auf einer schönen alten Burg. Im westlichen Niedersachsen, in der Nähe von Osnabrück. Das Gemäuer heißt Schelenburg…« * Pit Langenbach stürmte mit gezogener Dienstwaffe in das ruhige Haus am Dichterweg. Tessa blickte auf. Wie hypnotisiert hatte sie in den vergangenen fünf Minuten den Mann ohne Gesicht angestarrt, der nackt auf dem Boden zwischen Treppe und Wand lag. »Was ist hier los?« rief der Hauptkommissar. Langsam löste sich die Fahnderin aus ihrer starren Haltung. Überwand den Schock, den ihr die Berührung mit dem kalten, nackten Körper versetzt hatte. Sie berichtete ihrem Vorgesetzten, was geschehen war. Pit kniete inzwischen neben dem leblosen Körper. Er tastete nach der Halsschlagader und legte sein Ohr an den Brustkorb des Gesichtslosen. »Wer immer das sein mag, er lebt! Ich fühle einen ganz schwachen Puls. Ruf den Notarzt, Tessa!« Die Polizistin griff nach ihrem Handy. »Ich werde oben nachsehen«, bestimmte der Hauptkommissar. Tessa hatte ihm berichtet, daß sie die Räume im ersten Stock noch nicht gecheckt hatte. Pit Langenbach war auf alles gefaßt. Oft genug hatte er in Begleitung seines Freundes Mark Hellmann dem Bösen Auge in Auge gegenübergestanden. Doch der Dämonenjäger war in diesem Moment nicht da. Immerhin verfügte Pit über geweihte Silberpatronen für seine SIG Sauer. Der Polizeibeamte mit dem imposanten Schnurrbart war am oberen Ende der Treppe angekommen. Für einen Mann seiner Größe und seines Gewichts bewegte er sich fast lautlos. Systematisch kämmte er ein Zimmer nach dem anderen durch. Einen Abstellraum. Ein Gästezimmer. Ein ziemlich luxuriös 26
eingerichtetes Bad. Schließlich das Schlafzimmer. Die Jalousien in diesem Raum waren heruntergelassen. Das Bett bestand aus Kirschholz, war wie alle anderen Möbel in diesem Haus sehr modern geschnitten. Links davon befand sich eine Schrankwand mit einem Spiegelschrank. All das konnte Pit erst überprüfen, nachdem er die Deckenbeleuchtung angeknipst hatte. Plötzlich überkam ihn ein unangenehmes Gefühl. Ein Urinstinkt, tief aus seinem Inneren. Eine Scheu, die der Mensch immer schon vor den Geschöpfen der Nacht empfunden hat. Deshalb war der Hauptkommissar gewarnt, als plötzlich ein Arm unter dem Bett hervorschoß und sein Fußgelenk umkrallte. * Pit Langenbach verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, um nicht umgeworfen zu werden. Nun erschien auch das Gesicht des Wesens, das seinen Fuß mit übermenschlicher Kraft zusammenquetschte. Vor nicht allzu langer Zeit mochte diese nackte Kreatur dort ein ganz normales Mädchen gewesen sein. Nun aber war es vom Keim des Bösen infiziert. Ein schrecklicher Verdacht kam dem Hauptkommissar, während er mit seiner SIG direkt zwischen die Augen der Bestie zielte. Gleich darauf wurde die Ahnung zur Gewißheit. Der Nachzehrer riß sein Maul auf und entblößte höhnisch seine Vampirzähne! Mit diesen Wesen kannte sich Pit Langenbach aus. Er hatte zusammen mit Mark Hellmann gegen den vampirischen Blutdruiden Dracomar um das Leben seiner eigenen Tochter gekämpft (MH 1). Bei einer anderen Gelegenheit war er selbst in der Parallelwelt der Vampire gewesen (MH 12) und hatte dort etliche dieser widerwärtigen Kreaturen vernichtet. Gnadenlos zog der breitschultrige Mann den Stecher seiner Waffe durch. Es gab nichts, was er sonst für diesen ehemaligen Menschen tun konnte. Die geweihte Silberkugel würde die Bestie von ihrer untoten Existenz erlösen. Aber die Vampirin war schlau. Als Pit schoß, zog sie noch einmal an seinem Fußgelenk. Wie alle Schwarzblüter verfügte sie über unmenschlich große Kräfte. 27
Deshalb verlor der Hauptkommissar für einen Moment das Gleichgewicht. Die Patrone verfehlte ihr Ziel. Mit einem irrsinnigen Kreischen stürzte sich die Nachzehrerin auf ihren menschlichen Gegner. Pits Gedanken wirbelten durcheinander, während er erneut zielte. Die Vampirin konnte tagsüber in einem abgedunkelten Raum aktiv werden. Das war ungewöhnlich. Normalerweise sind die Blutsauger tagsüber zum totenähnlichen Schlaf in einem Sarg verdammt. Diese junge Frau mußte also von einem ganz besonders starken Nachtgeschöpf infiziert worden sein. Pit Langenbach kam ein schlimmer Verdacht. Aber im Moment mußte er sich ganz auf das Überleben konzentrieren. Als er wieder feuern wollte, hebelte die Vampirin seinen Arm nach oben. Trotz seiner harten Muskeln gab er ihrem Stoß nach, als ob er ein vierjähriges Kind wäre. Der Hauptkommissar konnte mit seinen menschlichen Kräften der schwarzmagischen Energie einfach nicht genug entgegensetzen. Die schrillen Schreie der Nachzehrerin ließen seine Trommelfelle fast platzen. Sie hob ihn mit beiden Armen auf. Und warf ihn wie eine Puppe gegen die Wand. Pit sah sich selbst, wie er zu Boden krachte. Gleichzeitig wich jeder Schatten eines Zweifels, es wirklich mit einer Vampirin zu tun zu haben. Denn im Schlafzimmerspiegel sah er nur sein eigenes Bild. Nicht das der jungen Frau. Sie griff ihn wieder an. Instinktiv mußte sie bemerkt haben, daß ihr von seiner SIG Sauer mit den Silberkugeln eine tödliche Gefahr drohte. Sie packte seinen Unterarm so brutal, daß Pit Sterne sah und einen Knochenbruch befürchtete. Ihr Gesicht war weniger als einen Meter von seinem entfernt. Da verstand Hauptkommissar Peter Langenbach von der Weimarer Kripo die ganze furchtbare Wahrheit. Diese Vampirin war vor ihrer Verwandlung die verschwundene Sonja Henke gewesen. Das Mädchen, nach dem er hatte fahnden sollen. Nun hatte er sie gefunden. Oder sie ihn. »Sonja…«, keuchte er. »Sonja…« »Ich höre nicht mehr auf diesen Sklavennamen!« schleuderte sie ihm entgegen. »Ich bin frei und werde ewig leben. Und das verdanke ich nur meinem Meister Dracomar…« Pit wollte etwas erwidern. Doch er fühlte, wie er vor ihrer vampirischen Kraft die 28
Waffen strecken mußte. Die SIG polterte zu Boden. Seine Finger waren taub und ohne Gefühl. Mit ihrer freien Hand bog die verwandelte Sonja seinen Kopf zurück. Nun lag sein Hals frei. Für ihren Biß. Ich will nicht schrie es in Pit Langenbach. Er sah seine Frau Susanne vor sich, ihre langen, blonden Haare und ihre grauen Augen. Und seine kleine Tochter Anna, die von allen nur Floh genannt wurde. Er wollte nicht zum Vampir werden, nicht Unglück über sie und andere Menschen bringen… Der Hauptkommissar fühlte, wie die Vampirin vor Gier zitterte. Ein Schuß bellte auf! Gleich darauf noch einer! Der untote Körper der Vampirin zuckte zusammen und wurde schlaff. Sonja Henke war nur kurze Zeit eine Untote gewesen. Daher zerfiel ihr Körper nicht so, wie man es von jahrhundertealten Nachzehrern erwarten konnte. Sie verwandelte sich in eine ganz normale Leiche. Das Mädchen war tot. Aber ihre Seele hatte Frieden gefunden. Pit erkannte Tessa, die mit seiner SIG Sauer in den Fäusten zwei Schritte neben ihm stand. Sie mußte die Pistole vom Boden aufgehoben und im letzten Moment abgefeuert haben. »Als der erste Schuß krachte, bin ich sofort hochgekommen«, berichtete sie stolz. »Aber ich konnte erst eben eingreifen. Vorher war die Gefahr zu groß, dich zu treffen. Außerdem habe ich ja keine Spezialmunition in meiner Knarre!« Pit Langenbach nickte geistesabwesend und fummelte einen Zigarillo aus seiner Hemdtasche. Er rauchte hastig ein paar Züge, um seine flatternden Nerven zu beruhigen. Auch Tessa steckte sich eine Zigarette an. Das war an einem Tatort zwar nicht erwünscht, aber man rettete ja auch nicht jeden Tag seinen Vorgesetzten vor einer Vampirin. »Ich verdanke dir mein Leben«, sagte Pit leise. »Weißt du, wer das war?« Die Fahnderin inhalierte tief. »Sonja Henke, oder? Ich habe das Foto gesehen, das ihre Eltern uns gebracht haben. Wir werden es ihnen mitteilen müssen.« »Was ist denn hier los!?« Eine herrische Stimme riß die beiden Beamten hoch. Der Notarzt in seiner weißen Kluft mit der orangefarbenen Einsatzjacke stand breitbeinig in der Tür. »Da unten liegt ein fast toter Mann ohne Gesicht! Können Sie 29
mir mal verraten, wie wir den künstlich beatmen sollen?« Dann stutzte er. Der Anblick des toten Mädchens mit den Vampirzähnen schien ihn aus der Bahn zu werfen. »Ach du lieber Hippokrates! So was gibt's doch nur in Horrorfilmen!« »Schön wär's«, bemerkte Pit Langenbach. * Ich packte schnell ein paar Sachen für das Wochenende in eine Reisetasche. Dann rief ich bei meinen Eltern an und gab ihnen Bescheid, daß ich wegfuhr. Ich wollte nicht, daß sie sich Sorgen machten. Mein ständiger Kampf gegen die Kräfte der Hölle ging vor allem meiner Mutter an die Nieren. Mein Vater hingegen unterstützte mich mit Informationen, wo er nur konnte. Seit er Rente bezog, hatte er sich ein umfangreiches Archiv über schwarzmagische Vorfälle zugelegt. Er pflegte Kontakte mit ernstzunehmenden Okkultisten in aller Welt. Auch bei Tessa wollte ich mich »abmelden«. Doch zu Hause war sie nicht. Auf ihrer Dienststelle erfuhr ich, daß sie einen Einsatz hatte. Also sprach ich ihr auf den Anrufbeantworter. Außerdem konnte sie mich ja auf meinem Handy jederzeit erreichen. Jan Franke erwartete mich schon ungeduldig. Er saß am Steuer seines großen Volvo-Kombis. Vor meiner Wohnung in der FlorianGeyer-Straße hatte er geparkt. Wir nahmen seinen Wagen. Das konnte mir nur recht sein. So sparte ich den Sprit für meinen BMW. Die Reise verlief ruhig. Obwohl es Freitagabend war, konnten wir die schlimmsten Staus umgehen. Wir fuhren von Weimar Richtung Köln. Bevor ich verhungert, war, machten wir eine Pause an einer Raststätte. Mein alter Studienkollege lud mich zum Essen ein. Verhungern brauchte ich also nicht. Es gab zwar nur Selbstbedienungsfutter, aber es war meine erste Mahlzeit an dem Tag. Entsprechend bombig war meine Stimmung. Ich konnte ja nicht ahnen, was für einer Katastrophe ich entgegenfuhr… * 30
Der Notarzt hieß Dr. Keppler. Ein noch junger Mann mit Stirnglatze und dicker Brille. Doch trotz seiner brummigen Art war er ein Typ, mit dem man reden konnte. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, bekannte er freimütig, auf den Gesichtslosen deutend. »Eigentlich kann es so etwas nicht geben.« Gallig fügte er hinzu: »Genausowenig wie die Tote mit den Draculazähnen.« Pit Langenbach nickte. Dort, wo andere Menschen Augen, Nase und Mund haben, war bei dem nackten Mann nichts. Buchstäblich nichts. Eine weißliche Fläche, die unter elektrischer Spannung zu stehen schien. Ein schwarzmagisches Kraftfeld? »Was würden Sie sagen, wenn ich behaupte, daß Magie im Spiel ist?« fragte der Hauptkommissar. Auf Dr. Kepplers Gesicht erschien ein dünnes Grinsen. »Ich würde sagen, Sie sind verrückt, Herr Langenbach.« Er machte eine Pause. »Aber ich würde Ihnen zustimmen.« Die beiden Rettungssanitäter standen wie Säulenheilige im Flur herum. Sie warteten auf eine Anweisung des Arztes. »Nehmen Sie ihn zur Beobachtung in die Hufeland-Kliniken auf«, raunte der Hauptkommissar dem Doktor zu. »Und sorgen Sie dafür, daß ihn möglichst wenig Leute zu sehen bekommen. Ich werde einen Mann herbeischaffen, der vielleicht helfen kann.« Pit Langenbach dachte dabei natürlich an seinen Freund Mark Hellmann. »Einen Zauberer, wie?« spottete Dr. Keppler. Aber dann sagte er: »In Ordnung. Ich mache es. Aber sehen Sie zu, daß Ihr Experte bald erscheint. Lange werde ich meine lieben Kollegen nicht von dem Gesichtslosen fernhalten können. Und wenn die Presse davon Wind bekommt - dann gnade uns Gott!« Der Polizeibeamte nickte düster. Obwohl Mark Hellmann und auch dessen Freund Vincent van Euyen als Journalisten ihr Brot verdienten, hatte Pit Langenbach keine allzu gute Meinung von den Medien. Zu oft waren schon Halbwahrheiten und glatte Lügen verbreitet worden. Besonders über die Polizei. Der Arzt stellte nun den Totenschein für Sonja Henke aus. »Was geschieht mit der Leiche?« raunte er dem Hauptkommissar zu. »Wir schaffen sie erst mal ins gerichtsmedizinische Institut. Dann sehen wir weiter.« 31
Pit Langenbach kam es vor allem darauf an, den dämonischen Verursacher für diese Untaten festzustellen. Die Sanitäter legten den Mann ohne Gesicht auf eine Trage und brachten ihn weg. Tessa kam aus dem Wohnzimmer herüber. »Der Bewohner dieses Hauses scheint ein gewisser Jan Franke zu sein, Pit. Jedenfalls liegen überall Verträge und Dokumente mit diesem Namen herum. Er veranstaltet wohl Mittelalter-Stadtfeste oder so was.« »Bin gespannt, ob dieser Franke der Mann ohne Gesicht ist«, brummte Pit. »Wenn es einer herausfinden kann, dann Mark.« Der Hauptkommissar tippte die Handynummer des Dämonenjägers in sein Mobiltelefon. Aber es kam nur die automatische Ansage: »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« »Heute morgen habe ich ihn noch beim Polizeisportverein getroffen«, meinte der Hauptkommissar nachdenklich. »Da schien er nichts Besonderes vorzuhaben. Jedenfalls hat er nichts gesagt.« »Vielleicht wissen ja seine Eltern, wo er ist.« Kaum hatte Tessa diesen Gedanken ausgesprochen, als sie auch schon die Nummer der Hellmanns anwählte. Sie hatte sofort Ulrich am Apparat. »Hallo, Tessa! Hat Mark dich nicht erreicht? Er wollte über das Wochenende wegfahren, um bei einem Mittelalter-Burgfest oder so was Ähnlichem mitzuhelfen. Das wird von einem seiner Studienkollegen veranstaltet, einem gewissen Frank.« Tessa fühlte, wie ihr Adrenalinspiegel stieg. »Frank? Nicht vielleicht Franke? Jan Franke?« »Ja genau.« Marks Vater spürte die Besorgnis in ihrer Stimme. »Was ist mit diesem Franke? Ich kenne ihn nicht. Was ist los, Tessa?« »Ich weiß noch nichts Genaues, Ulrich. Aber es sieht ganz so aus, als ob Mark in eine Dämonenfalle getappt wäre.« * Wir fanden in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Mit dem Fahren wechselten wir uns ab. Ich versuchte, Jan Franke mit Erinnerungen an unsere gemeinsame Uni-Zeit bei Laune zu 32
halten. Aber er wurde immer einsilbiger. Fast schien es, als ob wir keine gemeinsamen Erlebnisse zwischen Seminaren, Bierkellern und Kommilitoninnenbetten gehabt hätten. Aber das war natürlich Unsinn. Jedenfalls dachte ich das zu dem Zeitpunkt… Die Schelenburg befindet sich in dem Dörfchen Schiedehausen bei Osnabrück. Der Morgen dämmerte bereits, als ich den Volvo durch die totenstillen Straßen steuerte. Wir hatten eine gute Wegbeschreibung ans Armaturenbrett geheftet. Ich bog hinter dem Hotel Böving links ab und fuhr dann langsam an der Feuerwehr und dem Friedhof vorbei. Die Schelenburg sah ich schon von weitem. Es war ein relativ kleines Gebäude. »Die Burg steht auf mehr als tausend Eichenpfählen im Sumpf der Wierauniederungen«, erklärte Jan Franke. Ich hatte ihn schon im Studium als detailversessen erlebt. »Erstmals wurde sie im Jahre 1090 urkundlich erwähnt…« »Schon gut«, meinte ich. »Du bist hier nicht in einem Seminar, Jan.« Mein Blick löste sich von den Mauern, die vor uns aufragten. Ich näherte mich dem offenstehenden Tor im Fußgängertempo. Meine Aufmerksamkeit wurde durch eine andere Attraktion gefangengenommen. Und die war nicht aus Stein. Ungefähr sechs Meter vor unserer Kühlerhaube steckte ein Mädchen mit ihrem Absatz fest. Zwischen die Bruchsteine, mit denen der Burginnenhof gepflastert war, hatte sich der Stöckelabsatz gebohrt. Fluchend versuchte sie sich zu befreien. Dabei bückte sie sich und streckte uns ihren Hintern entgegen. Dieser Anblick fesselte mich so sehr, daß ich beinahe den steinernen Torpfosten gerammt hätte. Kein Wunder. Was der Minirock nicht bedeckte, war perfekt und faszinierend. Eigentlich war es ein Wunder der Physik, daß der Rock in dieser Stellung immer noch ihren Hintern verhüllte. Was hätte wohl Albert Einstein dazu gesagt? Obwohl ich bezweifelte, ob der Nobelpreisträger angesichts dieser Kehrseite an seine genialen Formeln gedacht hätte… »Hey, ihr Spanner! Könnt ihr mir mal helfen, wenn ihr mir lange genug unter den Rock gegafft habt?« Auf den Mund gefallen war die Frau mit dem bewunderungswürdigen Hinterteil auch nicht. Sie starrte an ihren 33
eigenen Beinen vorbei hinter sich, als sie das Motorengeräusch des Volvos gehört hatte. Seufzend konzentrierte ich mich auf das Einparken. Ich stellte den großen Wagen mit der Schnauze zur Burgmauer hin ab. Dann stiegen wir aus. »Wir haben nicht gespannt!« versicherte ich, während Jan und ich uns der dunkelhaarigen Schönheit näherten. »Ich habe nur ein Verkehrshindernis gesehen und habe natürlich gebremst…« Sie grinste ironisch. »Ich sehe schon, an welche Art von Verkehr du gedacht hast, Blondy!« Und sie taxierte meinen Körper mit ihren Blicken. Zumindest vom Gesicht bis zu den Hüften. Dort schienen ihre Augen ein Ziel gefunden zu haben. Während dieses kurzen Geplänkels hatte sich mein Studienkollege schnell hingekniet und ihren Schuh mit einem Ruck zwischen den Steinen hervorgezogen. Mir fiel auf, wie sachlich er der Frau gegenübertrat. Früher war er einem kleinen Flirt nie abgeneigt gewesen. Aber jetzt schien er wie ausgewechselt zu sein. »Ich bin Jan Franke, der Veranstalter des Mittelalterfestes«, sagte er steif. »Und das ist mein Assistent Mark Hellmann. Wir kommen aus Weimar.« Die dunkelhaarige mit dem kessen Po und dem schönen Gesicht nickte uns zu. Dabei wandte sie sich mir stärker zu als Jan Franke. Ihre Körpersprache verriet, zu wem sie sich mehr hingezogen fühlte. Mir wurde kalt, dann heiß, ich kriegte wohl Fieber, Stangenfieber. »Ich heiße Claudia Petersen und komme aus der Gegend hier, aus Westerkappeln. Die alten Schlösser und Burgen sind sozusagen mein Hobby. Darum bin ich heute zu dem Fest gekommen. Um zu sehen, wie ihr das Mittelalter Wiederaufleben laßt…« »Du wirst zufrieden sein«, versprach ich, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, was genau ablaufen sollte. Es wäre eher Jan Frankes Job gewesen, die Werbetrommel zu rühren. Aber er benahm sich immer mehr wie ein Zombie. Das hätte mich eigentlich mißtrauisch machen sollen. Aber ich war so froh, endlich etwas Geld verdienen zu können. Außerdem hatte mir der kesse Anblick von Claudia Petersen etwas den Kopf verdreht. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich vielleicht einiges 34
von dem verhindern können, was an diesem Tag auf der Schelenburg geschah… * Dracomars zweite Gestalt in der Hölle schien ins Nichts zu starren. »Es funktioniert«, verkündete das Trugbild. »Ich habe Hellmann da, wo ich ihn haben will. In der Schelenburg. Er ist meinem anderen Körper gefolgt, ohne Verdacht zu schöpfen.« Der Ritter mit dem bösen Blick stutzte. »Ich dachte, Hellmann wäre Euer Todfeind?« Der Blutdruide seufzte. »Ist er auch, Dummkopf. Ich habe mich in der Gestalt seines Freundes Jan Franke an ihn herangemacht. Hellmann hat einen verdammten weißmagischen Ring, der ihn vor Wesen wie uns warnt. Aber ich bin mächtig genug, um diesen Zauber außer Kraft zu setzen!« Stolz warf er sich in seine schmale Brust. Der Junker Totenbaum hatte sein Schwert bereits gezückt. Ungeduldig wartete er darauf, in seine Welt zurückkehren zu können. Auch wenn es ein paar Jahrhunderte nach seiner Zeit war. Hinter ihm lauerte ein kleines Gefolge. Dracomar hatte dafür gesorgt, daß der Ritter mit dem bösen Blick nicht ganz allein gegen Mark Hellmann antreten mußte. Der Alte des Schreckens hatte seine eigenen Kämpfe mit dem Mann aus Weimar noch in schlechter Erinnerung. Deshalb hatte er Junker Totenbaum noch einige Höllenwesen zur Seite gestellt. Allen voran sein ehemaliger Knappe Knochenfresser. Auch dieser üble Patron war für seine bösen Taten in der Hölle gelandet. Außerdem ein halbes Dutzend Kriegsknechte. Sie waren Zombies, lebende Leichen. Unter ihren Helmen leuchteten rote Augen. Ihre verwesenden Fäuste umklammerten Schwerter, Morgensterne und Armbrüste. Unter ihren Kettenhemden ragten teilweise Knochen und Rippen hervor. Dort, wo sie einst in der Schlacht ihre tödlichen Wunden erhalten hatten. »Vergiß nicht«, schärfte Dracomar dem Ritter mit dem bösen Blick ein, »Hellmann muß sich selbst umbringen! Du kannst ihm deinen Willen aufzwingen. Wenn der Kämpfer des Rings 35
Selbstmord begeht, landet er direkt hier bei mir! So will es die Prophezeiung.« Der Blutdruide krümmte seine widerwärtigen Krallen. Voller sadistischer Vorfreude verzerrte sich sein böses Maul. »Und ich weiß ganz genau, was ich mit ihm anfangen werde, mit dem verdammten Bastard Hellmann…!« Junker Totenbaum nickte nur. Für Haß und Zorn hatte er immer Verständnis. »Seid ihr bereit?« fragte Dracomar, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Bereit zum Zuschlagen, Meister!« Der Ritter mit dem bösen Blick packte sein Schwert fester. Der Alte des Schreckens breitete seinen Mantel aus. Er murmelte uralte Zauberformeln. Er rief die Herrscher der Hölle an, sogar Luzifuge Rofocale, den Höllenkaiser! Durch ihre geballte Macht wurde der dämonische Stoßtrupp auf den Planeten Erde zurückgeschleudert. Er landete auf der Schelenburg im nördlichen Deutschland, im Frühling des Jahres 1999… * Der Glatzkopf ging in die Knie. Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß. Der Glatzkopf hob seinen mächtigen Schädel, um eine lange Flammenzunge in den wolkenverhangenen Himmel über der Schelenburg zu senden. Das machte mich nicht mißtrauisch. Denn dieses Muskelpaket war ganz offensichtlich kein Schwarzblüter, sondern ein Feuerschlucker. Ich ahnte überhaupt nichts Böses. Dafür war ich viel zu beschäftigt. Außerdem verhielt sich mein Ring neutral. Innerhalb von einer Stunde hatte sich der Innenhof der Schelenburg in einen bunten Jahrmarkt verwandelt. Mit etwas Phantasie konnte man sich wirklich ins Mittelalter versetzt glauben. Zumal die meisten Autos auf einen Parkplatz außerhalb des Geländes verbannt worden waren. Geübte Hände hatten die Buden und Zelte aufgestellt oder waren noch dabei. Den Auto-Nummernschildern nach zu urteilen kamen die »mittelalterlichen« Schausteller aus allen Teilen Deutschlands. Es war ein buntes Völkchen, das sich hier 36
zusammenfand. Ein Bäcker hatte deftiges Brot nach einem uralten Rezept mitgebracht. Im 10. Jahrhundert war Brot noch ein Leckerbissen und fast ausschließlich für die Reichen erschwinglich gewesen. Erst dreihundert Jahre später wurde es auch zum Grundnahrungsmittel für das Volk. In der Bude nebenan wurde Spießbraten zubereitet. Ein Mundschenk gab Met und Wein in großen Zinnhumpen aus. Gaukler und Artisten in ihren bunten Gewändern erinnerten mich an Till Eulenspiegel, den ich bei einer Zeitreise kennengelernt hatte (MH 24). Bärenführer übten mit ihren zottigen Tieren Kunststücke ein. Und es gab auch jede Menge Leute, die sich einfach nur im Stil der Zeit verkleidet hatten. Als Büttel, Mönche, Bettler, wohlhabende Bürger, als Gelehrte oder als Ritter. »Liebe machen, schöner Fremder?« Ich drehte mich um, als ich die helle Stimme hörte. Überrascht blinzelte ich die »Hure« an. Gleichzeitig wurde mir klar, wie züchtig doch eine Prostituierte des Mittelalters im Vergleich zu den Frauen des 20. Jahrhunderts gekleidet war. Claudia Petersen zeigte sich mir im Gewand einer Venusdienerin der damaligen Zeit. Ihr dunkles Haar war unter einer Haube verborgen. Die langen Beine verhüllte ein Rock, der fast bis zum Boden reichte. Nur die nackten Schultern und der tiefe Ausschnitt deuteten auf die Lust hin, die sie den Männern für harte Taler gewähren würde… Ich grinste sie an. »Für die Liebe bin ich immer zu haben, holde Maid. Wo ist denn Euer Gemach?« Sie knuffte mir den Ellenbogen in die Rippen. »Lüstling! Das war doch nur ein Witz. Warum bist du übrigens noch nicht verkleidet? Das Gewand eines Henkersknechts wäre das Richtige für dich…« Ich sah mich um. Jan Franke hatte ich irgendwie aus den Augen verloren. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Der Betrieb um mich herum schien auch ohne mich zu laufen. Jeder wußte anscheinend, was er zu tun hatte. Meine Arbeit hätte kaum leichter sein können. »Von einem Kostüm weiß ich nichts, Claudia. Und wieso Henkersknecht? Hat die Schelenburg so eine blutige Vergangenheit?« »Nicht blutiger als die der meisten Burgen.« Sie holte tief Luft. 37
Ihr Busen hob sich dabei ein Stück aus der Bluse. Sie war wirklich eine tolle Frau. »Aber es gab hier mal eine ziemlich gruselige Begebenheit.« »Wirklich?« Ich war ganz Ohr. Das war schließlich mein Spezialgebiet. »Tatsache, Mark. In den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts wurde die Schelenburg mal wieder belagert. Von einem gewissen Grafen Bernstedt. Er holte sich zur Unterstützung den Junker Totenbaum. Damals nannten ihn alle nur den Ritter mit dem bösen Blick.« Claudia genoß es sichtlich, mir diese Geschichte zu erzählen. Gespannt hörte ich sie mir an. »Was war mit ihm los?« »Er hatte eben den bösen Blick. Vom Teufel verliehen oder was weiß ich. Als er auf die Burg zumarschierte, wurden die Kriegsknechte des Herrn von Schele gleich reihenweise wahnsinnig. So steht es in alten Chroniken. Die Verteidiger brachten sich gegenseitig um oder stürzten sich gleich in den Tod.« »Konnte er die Burg erobern, Claudia?« »Eben nicht. Der Herr von Schele hatte zum Glück einen heiligen Mann zu Gast, einen blinden Einsiedler. Der kannte sich aus mit weißer Magie. Er stellte sich dem Ritter mit dem bösen Blick entgegen. Und er schaffte es irgendwie, daß der Junker Totenbaum von der Zinne stürzte und sich den Hals brach.« Unwillkürlich warf ich einen Blick auf meinen Siegelring. Wenn es hier irgendwo in der Umgegend dämonische Aktivität gab, würde er mich davor warnen. »Spukt dieser Junker Totenbaum noch hier herum?« fragte ich. Claudia Petersen zuckte mit den nackten Schultern. »Nicht, daß ich wüßte.« Sie kicherte und deutete auf einen rundlichen Mann in Ritterrüstung. »Vielleicht ist es ja der da.« Ich ging auf ihre Flachserei ein. »Der sollte sich lieber Junker Birnenbaum nennen«, raunte ich ihr zu. Und spielte damit auf die birnenförmige Figur des kleinen dicken Ritters an. Wir kicherten. Im nächsten Moment brach das Entsetzen über uns herein! * Tessa Hayden und Pit Langenbach arbeiteten zügig, aber nicht 38
oberflächlich. Sie forsteten die Unterlagen von Jan Franke durch und wollten herausfinden, wo am Wochenende das nächste Mittelalter-Fest stattfand. Sie hatten sich halbwegs zusammengereimt, was geschehen sein mußte. Eine dämonische Macht hatte Jan Franke sein Gesicht genommen. Diese Macht hatte unter einem Vorwand den Kämpfer des Rings aus Weimar weggelockt. Vermutlich zu dem nächsten Mittelalter-Festival. Dort stand er dann allein gegen die Schergen der Finsternis. Ohne seine Freunde und ohne seinen Einsatzkoffer… »Ich hab was, Pit!« rief die Fahnderin triumphierend. Sie schwenkte ein Fax in der Hand. Es war eine Buchungsbestätigung für ein Quartett, das mittelalterliche Lautenmusik spielte. Als Datum war der kommende Tag angegeben, ein Samstag. Auftrittsort: Innenhof Schelenburg, Schiedehausen bei Osnabrück. Der Hauptkommissar riß seiner Mitarbeiterin das, Papier aus der Hand. »Das ist im südlichen Niedersachsen. Ich könnte die Kollegen verständigen…« Tessas Blick sprach Bände. »Und was willst du denen erzählen, Pit? Daß höllische Dämonen ein Mittelalter-Fest veranstalten?« Der Hauptkommissar biß die Zähne zusammen. Marks Freundin hatte recht. Man würde ihm nicht glauben. »Zumindest kann ich die örtliche Polizei bitten, ein Auge auf das Fest zu haben«, sagte er lahm. »Außerdem hat Mark seinen Ring, der ihn vor dämonischer Aktivität warnt.« »Stimmt. Normalerweise. Wenn der Gegner nicht zu mächtig ist. So wie Mephisto. Oder Dracomar«, bemerkte Tessa gallig. Die beiden Beamten saßen im Wohnzimmer von Jan Franke. Der Wind, der durch die zerschlagenen Fenster wehte, zauste in ihren Haaren. »Ich habe Samstag und Sonntag frei!« Entschlossen stand die Fahnderin auf. »Ich fahre einfach hin und mache diesem Dämon Dampf. Bevor er auch noch Mark das Gesicht klaut!« * Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches an dem Ritter, der mit seinem Gefolge plötzlich auf dem Innenhof der 39
Schelenburg erschien. Woher er gekommen war, konnte niemand sagen. Aber alle waren sich einig, daß er und seine Mannen die besten Kostüme hatten. Sogar Applaus brandete auf, als die Schausteller den Ritter mit dem bösen Blick kommen sahen. Das änderte sich, als er näher kam. Die Menschen spürten die abgrundtief böse Aura, die von ihm ausging. Sie wollten weglaufen. Aber sie waren wie gelähmt. Zielsicher suchte sich Junker Totenbaum seinen Weg zwischen den Buden und bunt gestreiften Zelten. Dracomar hatte ihm gesagt, er würde in eine andere Zeit versetzt. Aber es sah fast alles so aus, wie er es gewöhnt war. Außer, daß dieses Marktvolk gut genährt war. Und daß die Bettler nicht die entsetzlichen Verstümmlungen aufwiesen, wie sie im Mittelalter üblich gewesen waren. Der Knappe Knochenfresser kicherte vor sich hin, als ob er nicht ganz bei Trost wäre. Er konnte es immer noch nicht glauben, einstweilen der Hölle wieder entronnen zu sein. »Prächtige Gewänder, Herr! Und schöne Weibsbilder!« Er rieb sich lüstern seine dreckigen Pfoten. Junker Totenbaum nickte nur. Er hielt seine Augen offen nach dem Mann, dem er indirekt seine Rückkehr in die Welt zu verdanken hatte. Mark Hellmann. Der Blutdruide hatte ihn genau beschrieben. Außerdem spürte der Ritter mit dem bösen Blick die Ausstrahlung des geheimnisvollen Siegelrings, den dieser Hellmann am Finger tragen sollte. Für ihn als Abgesandten der dunklen Mächte war die Aura des Kleinods ziemlich unangenehm. Trotzdem bewegte er sich darauf zu. Er wollte seinen Auftrag erfüllen. Solche Begriffe wie Treue und Ehre waren zwar Fremdwörter für ihn. Aber er unterwarf sich Dracomar, weil dieser den stärkeren Zauber besaß. Und dann plötzlich stand er Hellmann gegenüber. Er mußte es einfach sein. Ein blonder Hüne mit breiten Schultern, fremdartig gekleidet. Ins Gespräch mit einer gutaussehenden Hure vertieft. An seiner linken Hand den verfluchten weißmagischeh Ring. Junker Totenbaum richtete seine ganze Kraft auf den Gegner.
40
* Mein Ring warnte mich vor dem Ritter. Der Mann mit dem Schnauzbart und den braunen, mittellangen Haaren mußte unter schwarzmagischem Einfluß stehen. Oder selbst ein Dämon sein. Jedenfalls erwärmte sich der Ring an meinem Finger leicht und glühte auf. Ein untrügliches Zeichen für dämonische Aktivität in meiner Nähe. Doch nun passierte etwas Seltsames. Ich betrachtete meinen Ring mit einer Gleichgültigkeit, die mir jetzt noch unerklärlich ist. Es war, als ob ich neben mir stehen würde. Als ob. nicht ich es gewesen wäre, der dort fast gelangweilt mit Claudia Petersen schäkerte. Obwohl das Böse zum Greifen nahe war. Das Mädchen spürte die Ausstrahlung des Ritters stärker als ich. »Ein unheimlicher Typ! Und seine Begleiter sehen auch aus, als wären sie nicht ganz echt! Was meinst du, Mark?« Ich antwortete nicht. Normalerweise wären in meinem Kopf alle Alarmglocken geschrillt. Die Augen der Kriegsknechte glühten dämonisch auf. Ihre untoten Körper stammten gewiß aus höllischen Gefilden. Man mußte kein Dämonenjäger sein, um zu erkennen, daß sie nicht von dieser Welt waren. Aber was tat ich? Ich glotzte sie an, als ob sie nur im Fernsehen auftreten würden. Und nicht in der Realität. Es war dieser Blick des Ritters. Der Mann in der Rüstung tat etwas mit mir, gegen das ich mich nicht wehren konnte. Und in dem Moment wurde es mir überhaupt nicht bewußt. Ich hielt seinem Starren stand. Mein Ring glomm weiter auf. Plötzlich näherte sich ein Possenreißer mit Narrenkappe purzelbaumschlagend dem Ritter. »Was steht Ihr hier herum und haltet Maulaffen feil, edler Herr?« witzelte er. Offenbar versuchte er, die gedrückte Stimmung, die sich schlagartig verbreitet hatte, aufzulockern. Das wurde ihm zum Verhängnis. Ohne dem Störenfried größere Aufmerksamkeit zu schenken, zog der Ritter sein Schwert und hieb den jungen Mann ohne Vorwarnung nieder! Blutüberströmt brach der Narr zusammen. Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Einige Menschen 41
schrien vor Angst. Jeder konnte sehen, daß hier ein scharfes Schwert zum Einsatz gekommen war. Der Schelm wand sich stöhnend in einer Blutlache. »Der spinnt wohl!« entrüstete sich Claudia Petersen. »Wir müssen etwas unternehmen, Mark. - Mark?« »Ich unternehme was«, murmelte ich. Dann wandte ich mich von dem Mädchen und dem Ritter ab. Und ging mit schweren Schritten auf den viergeschossigen Wohnturm der Schelenburg zu. * Als Tessa Hayden auf ihrem Motorrad quer durch Weimar brauste, um zu ihrer Wohnung zu gelangen, lief ihr Struppy über den Weg. Die Fahnderin erkannte das grünhaarige Girl sofort. Denn Struppy hatte inzwischen ihr Wurstkostüm abgelegt. Sie hatte Feierabend. Tessa wußte, daß die Kleine zum Bekanntenkreis ihres Freundes zählte. Seltsamerweise war Struppy die einzige Frau, auf die Tessa nicht eifersüchtig war. Sie selbst hatte es einmal so ausgedrückt: »Die Kleine ist keine Frau, sondern ein Kobold!« Marks Freundin brannte die Zeit unter den Nägeln. Sie wollte schnell noch einige Klamotten und eine Straßenkarte einpacken, bevor sie sich Richtung Schelenburg auf den Weg machte. Trotzdem wechselte sie noch einige Worte mit Struppy. »Hast du Mark heute gesehen?« »Logo!« antwortete die stets gutgelaunte Achtzehnjährige. »Habe sogar Kaffee mit ihm getrunken. Und mit diesem komischen Vogel, diesem Jan Franke!« Tessa war ganz Ohr. »Komischer Vogel? Wieso?« »Ich hatte das Gefühl, er würde uns auflauern«, meinte Struppy. Dabei versuchte sie, so detektivisch wie Miß Marple zu wirken. Der Versuch mißlang. »Er hat Mark diesen Assistentenjob für sein Mittelalter-Fest förmlich aufgezwungen. Ich habe ja schon viele Arbeitgeber gehabt, Tessa. Aber noch nie hat einer eine Arbeit so angeboten wie sauer Bier.« Tessa nickte grimmig. Struppys Worte erhärteten ihren Verdacht nur noch. Mark war in eine Falle gestolpert. Erneut 42
versuchte sie, ihren Freund über Handy zu erreichen. Wieder vergeblich. Die Leitung war tot. Hoffentlich ist wirklich nur die Leitung tot! dachte die Fahnderin in einem Anfall von Verzweiflung. * Die Pforte zum Wohnturm war offen. Ich zog den Kopf ein. Im Mittelalter hatten nur wenige Männer meine Statur. Dann verschwand ich hinter den zwei Meter dicken Wänden. Die ganze Burg war erstklassig in Schuß gehalten. Jan Franke hatte mir auf der Fahrt erzählt, daß man hier im Sommer sogar regelmäßig Schloßkonzerte gab. Aber das war mir jetzt egal. Als ich die schmalen, steilen Treppen des Wohnturms hochstieg, dachte ich über mein verpfuschtes Leben nach. Mark Hellmann! Wer war ich schon? Was war ich schon? Ein Nichts? Mein Studium - sinnlos? Sollte ich mich mit tausenden von arbeitslosen Historikern um die wenigen offenen Stellen prügeln? Mein Job als Reporter - demütigend, zur Zeit jedenfalls. Ständig auf die gute Laune eines Chefredakteurs angewiesen, der mich jederzeit fallenlassen konnte. Meist pleite, das war ich! Kam wohl nie auf einen grünen Zweig. Und meine Berufung als Kämpfer des Rings? Wie konnte ich mir einbilden, es allein mit den Kräften der Hölle aufzunehmen? War ich größenwahnsinnig? Stufe für Stufe arbeitete ich mich nach oben. Und je weiter ich ging, desto trüber wurden meine Gedanken. Unerbittlich zog ich Bilanz. Mein Privatleben. Da sah es nicht besser aus. Tessa Hayden ein willensstarkes Persönchen, das mir mit ihrer Eifersucht das Leben zur Hölle machte. Meine Eltern wurden alt. Hatten sie was vom Leben gehabt? Pit Langenbach, mein bester Freund - ein spießiger Bulle? Vincent van Euyen - ein fetter Naschkater? Tränen des Selbstmitleids standen in meinen Augen. Woher kam ich überhaupt? Im Alter von zehn Jahren war ich in Weimar gefunden worden. An meine frühe Kindheit hatte ich keine Erinnerung. Wen würde es kratzen, wenn ich plötzlich nicht mehr da wäre? »Ich komme aus dem Nichts, ich gehe ins Nichts«, sagte ich laut zu mir selbst. Inzwischen war ich ganz oben in dem 43
Wohnturm angelangt. Ich stieß eines der schmalen Fenster auf. Es war so eng, daß ich mich kaum in den Rahmen zwängen konnte. Aber ich stieg auf die Fensterbank und schaute hinunter. Auf den Burginnenhof weit unter mir. Wie viele Menschen mochten hier schon runtersprungen sein, um sich das Leben zu nehmen? * Das höhnische Lachen von Junker Totenbaum hallte über die Schelenburg. Das ging ja leichter, als er gedacht hatte! Nur kurze Zeit hatte er sich diesen Hellmann vorgeknöpft. Und ihm mit seinem bösen Willen den Wunsch eingepflanzt, Selbstmord zu begehen. Der Ritter mit dem bösen Blick hatte es sich eigentlich schwieriger vorgestellt. Aber es war fast ein Kinderspiel. Hellmann war brav in den Turm getrabt, um sich von der Spitze aus in den Tod zu stürzen. Der Auftrag war so gut wie erfüllt. Junker Totenbaum freute sich auf die Belohnung, die ihm Dracomar versprochen hatte. Doch einen kleinen Vorgeschmack auf zukünftige Freuden wollte er sich selber holen. Mit einigen schweren Schritten kam er auf Claudia Petersen zu. Seine Rüstung klirrte, als er sie mit seinem Panzerhandschuh packte und zu sich hinzog. Lüstern leckte sich der Ritter die Lippen unter seinem Schnurrbart. »Komm her, du feines Hürchen!« sabberte er. »Noch nicht mal in der Hölle gibt es so feine Kätzchen wie dich!« Die junge Frau kniff die Augen zusammen und wandte sich ab. Instinktiv spürte sie, daß sie ihm auf keinen Fall in die Augen schauen durfte. Sonst wäre sie auf der Stelle verloren. Und würde alles tun, was er wollte. Und das sollte ihr auf keinen Fall passieren… »Sträubt Euch nicht, schönes Weib!« hechelte Knochenfresser. Wie ein Hund war er auf alle Viere hinabgesunken und hob plötzlich Claudias langen Rock hoch. Er zitterte vor Gier, als er ihre wohlgeformten Oberschenkel sah. Die junge Frau konnte sich immer noch nicht aus dem Griff des Ritters lösen. Aber sie 44
verpaßte dem Knappen automatisch einen Tritt, der ihn nach hinten fliegen ließ. Der bucklige Knochenfresser kam sofort wieder auf die Beine. Der Blick aus seinen tiefliegenden Augen war nun noch tückischer als vorher. »Überlaßt Ihr sie mir, wenn Ihr mit ihr fertig seid, Herr? Ich will die Metze Gehorsam lehren…!« »Erst bin ich an der Reihe!« sagte Junker Totenbaum. Mit der linken Faust hielt er die Handgelenke seines Opfers fest. Mit der rechten griff er nun in den Halsausschnitt ihrer Bluse. Claudia Petersen bekam eine Gänsehaut, als sie das kalte Metall des Ritter-Handschuhs auf ihrer nackten Haut fühlte. Er brauchte nur einen kleinen Ruck, um den dünnen Stoff zu zerreißen. Dann würde sie oben ohne vor diesen geilen Kerlen stehen. Und niemand machte auch nur den Versuch, ihr zu helfen. Alle schienen wie gelähmt vor Entsetzen. Oder war da vielleicht noch etwas anderes im Spiel? Magie? »Wollen doch mal sehen, was diese Kleine zu bieten hat«, meinte Junker Totenbaum mit heiserer Stimme. »Ich kaufe nicht gerne die Katze im Sack!« Knochenfresser stieß wieder sein hohes Kichern auf. Er schob seinen widerwärtigen Schädel vor, um Claudias Brüste aus nächster Nähe betrachten zu können. Der Ritter mit dem bösen Blick wollte die Bluse zerreißen. Da ertönte eine donnernde Stimme. »Finger weg, ihr Rattengesindel!« * Mein Siegelring rettete mir das Leben. Ich war schon in den Knien eingeknickt und beugte mich vor, um in den Tod zu springen. Da glühte mein Ring so stark auf wie nie zuvor. Er wurde so heiß, daß die Haut an meinem Finger verbrannte. Der Schmerz brachte mich wieder zur Besinnung. Verwirrt taumelte ich zurück. Fiel rückwärts auf den Hintern. Fand mich auf den glatten Steinfliesen des Wohnturms wieder. Da erst wurde mir klar, was ich vorgehabt hatte. Selbstmord! 45
Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden für die Gedanken, die ich auf der Treppe gehabt hatte. Denn ich liebe mein Leben, und ich liebe meine Eltern und meine Freunde. Und natürlich Tessa, wenn sie auch manchmal schwierig ist und ich ihr nicht immer treu gewesen bin. Niemals würde ich mich freiwillig umbringen wollen. Da wurde mir klar, was geschehen sein mußte. Dieser Ritter mit dem weißen Hemd und den roten Punkten. Sein Blick. Er mußte das haben, was man früher den bösen Blick nannte. Damit wollte er mich in den Freitod treiben. Er hatte die Fähigkeit, mir seinen Willen aufzuzwingen. Und dieser Willen war so stark, daß mein Ring in dem Moment keine Abwehr dagegen aufbauen konnte. Doch die weißmagische Kraft war im letzten Moment doch wieder stärker geworden. Ich betrachtete das Kleinod. »Danke, Ring!« murmelte ich. Dann drückte ich den Ring leicht gegen das siebenzackige Mal, das ich in Herzhöhe auf der linken Brusthälfte habe. Es ist ungefähr so groß wie ein Fünfmarkstück und absolut schmerzunempfindlich. Früher nannte man so etwas ein Hexenmal. Mit seiner Hilfe kann ich die magischen Hilfskräfte des Ringes aktivieren. Es funktionierte auch diesmal. Ein kräftiger Strahl, einem Laser ähnlich, kam blau schimmernd aus dem Inneren des Rings. Mit diesem Strahl schrieb ich in altgermanischen Runenbuchstaben aus dem Futhark-Alphabet das keltische Wort für »Mauer« auf meinen eigenen Körper. Damit würde ich mich vor dem bösen Blick schützen können. Doch ich brauchte auch noch eine Waffe, um mich gegen meine dämonischen Feinde zu verteidigen. Meinen Einsatzkoffer hatte ich ja in Weimar gelassen, weil ich völlig arglos zur Schelenburg gereist war. Zum Glück hing ganz in meiner Nähe ein großes mittelalterliches Schwert als Wandschmuck zwischen zwei Türen. Ich nahm es herunter. Es war ein schwerer Beidhänder. Natürlich keine weißmagische Waffe. Aber mit Hilfe des magischen Strahls konnte ich es für kurze Zeit in eine solche verwandeln. Ich aktivierte noch einmal den Ring. Diesmal schrieb ich mit dem blauen Licht das keltische Wort für »Waffe« auf das mächtige Schwert. Es war ein gutes Gefühl, den kalten Stahl des Griffs in den Händen zu spüren. Ich war der Kämpfer des Rings! Meine höllischen Feinde hatten 46
sich diesmal eine ganz besondere Teufelei ausgedacht, um mich zu vernichten. Aber nun würde ich den Spieß umdrehen. Und vor allem die Menschen dort unten vor den Mächten der Hölle beschützen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich sprang die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Die Angstschreie hörte ich schon, bevor ich den Hof wieder erreichte. Mit einem Blick erfaßte ich die Lage. Ein junger Mann lag in einer Blutlache. Ob tot oder nur verletzt, konnte ich nicht erkennen. Und der Ritter und seine Spießgesellen drangen auf Claudia Petersen ein. Es sah aus, als wollten sie ihr die Kleider vom Leib reißen. Ich merkte, wie die Wut in mir hochkochte. Mit beiden Händen packte ich den Griff des langen Schwertes. Und brüllte: »Finger weg, ihr Rattengesindel!« * Der Marin in der Rüstung wandte mir seinen Blick zu. Seinen bösen Blick. Wahrscheinlich versuchte er wieder, mich gefügig zu machen. Aber das funktionierte nicht mehr. Auf die Blockade, die mein Ring aufgebaut hatte, konnte ich mich verlassen. »Wer wagt es, uns Rattengesindel zu nennen?« Immerhin ließ er die Frau los. Ich gab ihr mit den Augen ein Signal, wegzulaufen. Geistesgegenwärtig tat sie es auch. Breitbeinig kam ich auf die Gruppe zu. Nun durfte ich keine Angst zeigen. Sonst war ich verloren. »Ich, Mark Hellmann aus Weimar. Und wer seid Ihr, Hurenbock in Blech?« Der Ritter schnaubte. Ob Schurke oder nicht, er war es nicht gewöhnt, so angeredet zu werden. Diese Beleidigung schrie nach einem Duell. Genau darauf hoffte ich. Ich wollte den Zorn der unheimlichen Besucher auf mich lenken. Damit die Teilnehmer des Mittelalter-Festes fliehen konnten. »Ich bin Bolko von Diepmoor, du lächerlicher Wurm! Man kennt mich auch als den Junker Totenbaum!« Junker Totenbaum! Die Geschichte von Claudia Petersen ging mir wieder durch den Kopf. Das war also der Ritter mit dem bösen Blick, der einst von einem heiligen Mann hier auf der 47
Schelenburg besiegt worden war. Irgend eine höllische Macht mußte ihn und seine untoten Begleiter in unsere Zeit geschafft haben. Und zwar jemand, der es ausgerechnet auf mich abgesehen hatte. Doch darüber konnte ich mir in diesem Moment keine Gedanken machen. Denn nun griffen die Schergen von Junker Totenbaum an! * Schon zu ihren Lebzeiten waren die Kriegsknechte sicher nicht gerade sanft mit ihren Opfern umgesprungen. Im Mittelalter herrschten rauhe Sitten. Doch nun, als Höllenwesen, kannten sie endgültig keine Gnade und kein Erbarmen mehr. Sie fielen über die hilflosen Festivalbesucher her. Ihre schartigen Schwerter und rostigen Morgensterne hieben in Körper und schlugen Schädel ein. Ich warf mich ihnen entgegen. Denn außer mir konnte diesen Satansbraten niemand etwas entgegensetzen. Es war meine verdammte Pflicht, die Menschen zu beschützen. Und wenn ich selbst dabei drauf gehen sollte! Ich sprang mitten zwischen die rotäugigen Zombies in den Kettenhemden und mit den Helmen auf den verwesenden Schädeln. Sie waren als Soldaten im Schwertkampf natürlich geübter als ich. Doch auch meine Fechtkünste hatten sich verbessert, seit ich öfter in die Vergangenheit gereist bin. Der erste Gegner parierte meine Vorstöße. Doch dann fintete ich und rammte seitwärts meinen Beidhänder von schräg oben in seinen untoten Leib. Blaues Licht glomm auf, als der Kriegsknecht verging. Doch so leicht würden es mir seine Kameraden nicht mehr machen. Sie hatten nun gesehen, welche Wirkung mein Schwert auf sie hatte. Das machte sie vorsichtig. Ich durfte sie nicht unterschätzen. An Kraft war mir vermutlich jeder einzelne von ihnen überlegen. Denn sie trugen die dämonischen Funken der Hölle in sich. Immerhin war ich größer als der längste von ihnen und hatte mit meinem Beidhand-Schwert eine gute Reichweite. Damit konnte ich sie mir vom Leib halten. Doch sie kesselten mich ein. Sie alle waren erfahrene Soldaten. 48
Auf das Kämpfen verstanden sie sich. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. Plötzlich zitterte die Luft über der Schelenburg. Ich kannte dieses Geräusch. Fand es zwar unangenehm, aber nicht bedrohlich. Doch bei diesen Männern des Mittelalters sorgte es für Entsetzen. Ein Kampfflugzeug der Bundeswehr donnerte im Tiefflug über die Ortschaft hinweg. Es flog so niedrig, daß ich die Hoheitsabzeichen auf den Seiten genau erkennen konnte. Normalerweise finde ich Tiefflüge über Wohngebieten überhaupt nicht gut. Doch in diesem Moment rettete mir der Pilot dort oben, ohne es zu wissen, das Leben. Jammernd und schreiend ließen die Kriegsknechte von mir ab. Starrten auf den Düsenjet, von dem bald nur noch die Kondensstreifen zu erkennen waren. Der Ritter mit dem bösen Blick hatte sich als erster wieder gefaßt. »Ihr Narren! In der Hölle seid ihr gewesen - und fürchtet euch vor diesem faulen Zauber? Schlagt endlich Hellmann in Stücke!« Ich hatte den Moment ihrer Erstarrung genutzt und den Belagerungsring durchbrochen. Wild hieb ich mit dem Beidhänder um mich. Ein weiterer untoter Kriegsknecht verging, als meine Klinge in seinen verrotteten Körper hieb. Plötzlich ertönte ein meckerndes Lachen, das mir nur allzu bekannt vorkam. Ich schaute nach links. Dort, an einen steinernen Torpfosten gelehnt, konnte ich meinen alten Studienkollegen Jan Franke erkennen. Doch im selben Augenblick veränderte sich sein Körper. Und einen Augenblickt später stand Dracomar vor mir. Der Blutdruide. Der Alte des Schreckens. Unbändige Wut stieg in mir auf. Dracomar hatte mich nach allen Regeln der bösen Kunst hereingelegt! Nur ein mächtiger Dämon wie er war in der Lage, die Warnfunktion meines Rings vorübergehend außer Kraft zu setzen. Allein der Gedanke daran, daß ich nichtsahnend eine Nacht lang mit dem Blutdruiden im Auto gesessen hatte, verursachte mir Übelkeit. »Diesmal entkommst du mir nicht, Hellmann! Du bist allein. Und ich kann jederzeit Verstärkung bekommen. Aber ich gebe dir noch eine Chance. Wenn du dich jetzt selbst tötest, bleibt dir ein grauenhafter Foltertod erspart…« Dracomars Blick wanderte hinüber zum Junker Totenbaum und 49
dessen Knappen. Die beiden sahen so aus, als wenn sie liebend gerne höchstpersönlich die Martern übernehmen würden. Ich schwieg. Fieberhaft suchte mein Verstand nach einem Ausweg. Aber ich fand keinen. Dracomar hatte recht. Ich war allein, ohne Freunde. Meine einzige weißmagische Waffe war das breite Schwert in meinen Händen. »So, du zögerst noch?« Die Fratze des Blutdruiden war von sadistischer Bosheit verzerrt. »Dann werden wir uns schon mal mit diesen Menschlein dort befassen! Auf, Junker Totenbaum! Macht sie alle nieder! Es darf keine Zeugen geben!« Das ließen sich die höllischen Kreaturen nicht zweimal sagen. Sie wandten sich den verängstigten Budenbesitzern und Künstlern zu. Wie eine Schafherde hatten sich die Gaukler, Feuerschlucker, Gastwirte, Bauernmaiden, Minnesänger und Ritter in einer Ecke des Burginnenhofes zusammengedrängt. Es mochten vielleicht fünfzig oder sechzig Menschen sein. Die Bewaffneten der Hölle schwärmten aus und marschierten teuflisch lachend auf sie zu. Es würde ein furchtbares Blutbad geben. Die Opfer hatten keine Chance zu entkommen. »Halt ein, Dracomar!« brüllte ich. Und: »Pfeif deine Bluthunde zurück!« »Warum sollte ich das tun?« höhnte er. Aber er gab dem Dämonentrupp ein Handzeichen. Sie stoppten unwillig. Ich machte einige schnelle Schritte und stellte mich schützend vor die Menschen. »Du willst nur mich, Dracomar! Diese Leute haben nichts damit zu tun. Laß sie gehen - und wir beide rechnen ab!« Der Blutdruide weidete sich an seiner stärkeren Position. »Ich könnte dich töten, Hellmann. Und diese Menschenwürmer dort trotzdem abschlachten lassen! Das macht mir nämlich Spaß. So wie ich dieser Sonja Henke in Weimar ihr Blut ausgesaugt habe. Ich habe sie im Haus deines Freundes Jan Franke zurückgelassen. Und dem habe ich sein Gesicht genommen. Er lebt noch. Aber schade - ohne Augen, Mund und Nase wird er wohl seines Lebens nicht mehr froh werden…« Er kicherte wie ein Verrückter. Ich biß die Zähne zusammen. Der Alte des Schreckens konnte es an Niedertracht wirklich mit seinem Herrn und Meister Mephisto aufnehmen. Da fiel mir eine Lösung ein. Ich schritt auf den Junker Totenbaum zu. 50
»Bolko von Diepmoor!« rief ich. »Ich fordere Euch zum ritterlichen Zweikampf. Zu einem Turnier. Als Preis setze ich mein Leben. Wenn ich Euch unterliege, so will ich durch meine eigene Hand sterben!« Der böse Blick des Ritters richtete sich auf mich. Dadurch konnte er mir keinen Schaden mehr zufügen. Aber ich sah, wie es in seinem Gehirnkasten arbeitete. »Und was ist, wenn du gewinnst, Hellmann? Das ist zwar sehr unwahrscheinlich…« »Wenn ich gewinne«, sagte ich, »dann kehrt ihr alle sofort dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid. In die Hölle!« Schweigen senkte sich über den Burghof. Nur einige der Festival-Teilnehmer weinten. Ihre bunten Kostüme wirkten wie ironische Kommentare zu der todernsten Lage, in der wir Menschen uns befanden. Instinktiv spürte ich, daß Dracomar zu feige war, sich noch einmal selbst mit mir anzulegen. Deshalb hatte er ja überhaupt den Ritter mit dem bösen Blick vorgeschickt. Da war ich mir sicher. Der Blutdruide war es schließlich auch, der die Entscheidung traf. »Junker Totenbaum wird dich gewiß in Stücke hauen, Hellmann!« Er wandte sich an den Ritter. »Aber achte darauf, daß Hellmanns rechte Hand übrigbleibt! Damit er sich zum Schluß noch den Dolch ins Herz stoßen kann!« Bolko von Diepmoor verbeugte sich schäbig grinsend. »So sei es, Herr!« Ich drehte mich zu den Leuten um, die atemlos verfolgt hatten, wie ich die Hölle herausforderte. »Ich brauche einen Knappen, der mir zur Hand geht!« Nach einigen bangen Minuten trat ein halbwüchsiger Bursche vor. Er mochte vielleicht achtzehn sein. Totenbleich im Gesicht. Aber er nahm anscheinend seinen ganzen Mut zusammen. »Ich heiße Olaf. Ritterspiele sind mein Hobby. Ich habe schon vielen edlen Recken in den Sattel geholfen. Aber das hier ist Ernst, oder?« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Du kannst mich Mark nennen. Ja, es ist blutiger Ernst.« *
51
Claudia Petersen glaubte, sich in einem Alptraum zu befinden. Der entsetzliche Anblick der Höllengestalten, die ihr an die Wäsche wollten, hätte andere Menschen des 20. Jahrhunderts in den Wahnsinn getrieben. Aber die Frau aus Westerkappeln beruhigte sich recht schnell wieder. Und das hatte seinen Grund. Durch ihr Interesse für die Burgen und Schlösser ihrer Heimat kannte sie viele Geistergeschichten. Ja, so manches Mal hatte sie selbst schon unheimliche Erlebnisse gehabt. Zwar war keines so beängstigend gewesen wie das mit diesem Teufelsritter. Aber Claudia war fest davon überzeugt, daß es eine Wirklichkeit jenseits des Sichtbaren gab. Zwischen den anderen Festivalbesuchern erlebte sie mit, wie Mark Hellmann sein Leben einsetzte, um die anderen Menschen zu retten. Sie empfand eine tiefe Dankbarkeit. Und Sympathie. Nicht nur, weil er sie selbst vor den perversen Zudringlichkeiten des Ritters und seines Pagen bewahrt hatte. Die Dunkelhaarige mußte sich eingestehen, daß sie sich ein wenig in den großen Blonden aus Weimar verguckt hatte… Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihm helfen konnte. Er stand allein gegen diese dämonische Schar. Wenn er sich auch in magischen Dingen auszukennen schien, würde er es allein wohl nicht schaffen. Was konnte sie nur tun? Claudia Petersen bezweifelte, daß sich die Höllenknechte an die Abmachung halten würden. Selbst, wenn Mark Hellmann das Duell gewinnen sollte. Sie wußte nicht viel über die Mächte des Bösen. Aber Lug und Trut gehörten bei denen zum guten Ton. Soviel war ihr bekannt. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie drängte sich zwischen den mittelalterlich gekleideten Menschen hindurch, in die hinterste Ecke des Burghofes. Dort, zwischen der Rückwand eines hölzernen Verkaufsstandes und der Burgmauer, war sie unbeobachtet. Claudia Petersen kniete nieder. * Der
erste
Durchgang
des
Turniers
bestand
aus
einem 52
Lanzenstechen zu Pferd. Dabei war ich natürlich ganz klar im Nachteil. Junker Totenbaum hatte vermutlich in seiner Zeit schon Dutzende solcher Duelle ausgefochten. Es gehörte zur Erziehung eines Ritters, daß er sich in den Turnierkünsten übte. Ich hingegen konnte nur einigermaßen reiten. Meine Kenntnis von Ritterturnieren beschränkte sich auf ein Seminar in meinem Geschichts-Studium zu dem Thema. Außerdem hatte ich natürlich einige Hollywood-Schinken über edle Recken gesehen. Ich muß gestehen, daß ich die Filme unterhaltsamer gefunden hatte. Zum Glück hatte ich ja Olaf. Der magere Teenie war im Hauptberuf Bäckerlehrling. Aber seine Freizeit verbrachte er mit Büchern über das Mittelalter. Außerdem hatte er, als Knappe verkleidet, schon an vielen Mittelalter-Festen teilgenommen. An seinen Fachkenntnissen ließ er mich nun teilhaben. »Du mußt seine Lanze an deinem Schild abprallen lassen, Mark«, erklärte er. »Wenn er deine Brust trifft, bist du erledigt. Bei unseren Ritterspielen haben die Ritterdarsteller immer nur auf den Schild des Gegners gezielt. Aber dieser Typ wird wohl Blut sehen wollen. Was ist hier überhaupt los? Woher kommen diese Gruselkerle?« »Aus der Hölle«, erklärte ich ernst, während ich meinen Schild in Empfang nahm. Auf ihm war eine große Sonne abgebildet. Wie passend. Hellmann, der helle Mann. Der Sonnenkrieger. Nun, ich kämpfte ja auch für das Licht. Und gegen die ewige Finsternis. »Olaf, diese Kreaturen sind wirklich Dämonen. Stell mir bitte keine weiteren Fragen. Dafür ist die Zeit zu knapp.« Der Junge nickte ernst. Dann reichte er mir meine Lanze. Ich aktivierte noch einmal meinen Ring. Das war nicht schwer bei der vielen dämonischen Energie, die von Dracomar und seinen Genossen ausging. Staunend beobachtete mein Knappe, wie ich das keltische Wort für »Waffe« mit dem blauen Lichtstrahl auch auf meine Lanze schrieb. Nun hatte ich schon zwei weißmagische Waffen. Das Schwert und die Lanze. »Bis du so eine Art Exorzist?« Ich grinste. »Sagen wir: Ich kenne Mittel, um das Böse zu bekämpfen.« Damit gab er sich zunächst zufrieden. Wir suchten nach weiteren Ausrüstungsgegenständen für mich. Diesmal war meine Größe von Nachteil. Es gab keine Rüstung, in die ich auch nur annähernd hineingepaßt hätte. Der dickliche Ritterdarsteller, den 53
Claudia und ich »Junker Birnenbaum« getauft hatten, war mehr als einen Kopf kleiner als ich. Schließlich stellte der gute Olaf aus einigen Einzelstücken eine Art Rüstung für mich zusammen. Es paßte zwar alles hinten und vorne nicht. Aber ich wollte ja auch keinen Schönheitswettbewerb für den Preis des »Mr. Blechbüchse« gewinnen. Sondern einfach nur so lange wie möglich im Kampf gegen den Junker Totenbaum überleben. Ihn vielleicht sogar besiegen. Einer der anderen Männer brachte das Pferd, auf dem ich kämpfen sollte. Es war ein Falbe mit schönen Augen. Der Sattel und die Zierdecken an den Flanken wiesen ihn als Turnierpferd aus. Alle Teilnehmer des Festes versuchten mir zu helfen, so gut sie konnten. Sie spürten, daß ihr Leben davon abhing, wie ich mit Junker Totenbaum fertig würde. Mit routinierten Bewegungen zog Olaf ein Seil unter meinen Armen durch. Einige starke Kerle faßten mit an. Ich wurde an einer Art Holzgalgen auf mein Pferd gehievt. Die Rüstung war zu schwer, deshalb konnte ich nicht aus eigener Kraft aufsteigen. Ich sah, daß der Ritter mit dem bösen Blick am anderen Ende des Burghofes fast im gleichen Moment im Sattel landete wie ich. Er lachte und deutete mit spöttischen Gesten auf mich. Es war klar, daß er mich als Gegner nicht ernst nahm. Nun reichte mir Olaf die Lanze. Den linken Arm hatte ich bereits durch die Schlaufen des Schildes geführt. Bevor ich die lange Holzwaffe entgegennahm, schloß ich das Visier meines Helmes. Es saß ziemlich knapp auf meinem Kopf. Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch eine Art Blechgitter zu sehen und zu atmen. In leichtem Trab tänzelte mein Falbe zu seiner Position. Für das Pferd war die Situation viel normaler als für mich. Die schwere Rüstung zog mich nach unten. Obwohl ich nicht gerade ein Schwächling bin, fiel mir die Handhabung der langen und unhandlichen Lanze sehr schwer. Weit vor mir sah ich den Junker Totenbaum seine Stellung einnehmen. Er saß viel selbstsicherer im Sattel seines Rappen als ich. Kein Wunder. Für ihn war ein Turnier so normal wie für mich ein Einkauf im Supermarkt. Aber es ging um Leben und Tod. »Vorwärts!« brüllte Dracomar. Der Ritter mit dem bösen Blick legte seine Lanze ein und 54
galoppierte auf mich zu. Bevor ich meinen Falben antreiben konnte, setzte er sich ebenfalls schnell in Bewegung. Der Boden schien unter den Hufen der beiden Tiere zu donnern. Auch ich senkte nun meine Lanze. Die Eisenspitze von Junker Totenbaums Waffe war direkt auf meine Brust gerichtet! * Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stießen wir zusammen. Für einen Moment sah ich überhaupt nichts mehr. Handelte nur noch instinktiv. Ich spürte, wie Blut aus meiner Nase floß. Mein Helm war verrutscht. Darum konnte ich nur noch mit einem Auge sehen, was vor sich ging. Mein Schild war verbeult. Und da ich noch lebte, konnte die Lanze des Gegners auch nicht meinen Oberkörper durchbohrt haben. Mein Falbe wieherte aufgeregt, ging dann aber vom Galopp in einen ruhigeren Trab über. Braves Tier. Ich wußte überhaupt nicht, was los war. Das zeigte sich am anderen Ende der Turnierbahn, wo Olaf auf mich wartete. Er nahm mir den Helm ab. Mir dröhnte der Schädel. »Was ist passiert?« »Du hast die erste Runde geschafft, Mark!« rief er begeistert. Er schien es kaum glauben zu können, daß ich nicht aufgespießt worden war. Ehrlich gesagt, ich auch nicht. »Du hast seine Lanze abgleiten lassen!« Mein Knappe war immer noch ganz aus dem Häuschen. »Und das hier soll dein erstes Turnier sein? Ich kann es nicht fassen!« Ich wollte etwas erwidern, aber dafür blieb keine Zeit. Denn Junker Totenbaum schien sofort nachholen zu wollen, was er gerade versäumt hatte. Er hatte seinen Rappen auf der Hinterhand herumgerissen und jagte erneut auf mich zu. Es war keine Zeit mehr, den Helm auf den Kopf zu stülpen. Mir blieb gerade noch Zeit, die Lanze einzulegen und den Schild hochzureißen. Diesmal zielte der Ritter auf meinen Kopf. Er wollte es ausnutzen, daß ich nicht mehr durch einen Helm geschützt war. Die Eisenspitze näherte sich meinem Gesicht. Ich zielte mit 55
meiner weißmagischen Lanze auf die Brust des Junkers Totenbaum. Und versuchte gleichzeitig, der Lanzenspitze zu entkommen. Es gelang mir im letzten Augenblick, meinen Oberkörper zur Seite pendeln zu lassen. Die Lanze sauste an mir vorbei. Aber der Ritter mit dem bösen Blick reagierte geistesgegenwärtig. Er ließ die Waffe fallen und rammte aus vollem Galopp seinen gepanzerten Ellenbogen gegen meinen Brustpanzer. Das war mehr, als mein Gleichgewichtssinn ertragen konnte. Die starre Rüstung zog mich unerbittlich nach unten. Ich wurde aus dem Sattel gehoben. Und knallte mit voller Wucht auf die Bruchsteine des Hofes. * Für Momente ging bei mir das Licht aus. Rasende Schmerzen in meinem Hinterkopf brachten mich wieder zur Besinnung. Zu groß war die Versuchung, einfach liegenzubleiben. Aber das hätte meinen sicheren Tod bedeutet. Und ich wollte leben. Es gab Menschen, die mich brauchten. Und außerdem war es meine Bestimmung, als Kämpfer des Rings dem Bösen die Stirn zu bieten. Ich schlug die Augen auf. Keine Sekunde zu früh. Über mir stand breitbeinig der Ritter mit dem bösen Blick. Er hatte einen Beidhänder in den gepanzerten Fäusten. Hoch über seinem Kopf erhoben. Seine Visage war von Haß verzerrt. Vergessen schien die Ermahnung seines Meisters Dracomar, mich soweit zu schonen, daß ich noch Selbstmord begehen konnte. Junker Totenbaum wollte mir den Schädel spalten! Gerade noch rechtzeitig erwachten meine Kampfinstinkte aufs Neue. Ich lag auf dem Rücken wie eine Schildkröte. Mit beiden Ellenbogen stieß ich mich von den Steinen unter mir ab. Gleichzeitig säbelte ich mit meinem linken Bein gegen die Knie meines Gegners. Eine Kung-Fu-Technik, mit der die Standfestigkeit des Feindes beeinträchtigt werden soll. Es gelang. Zehn Zentimeter neben meinem Kopf krachte der Beidhänder auf die Bruchsteine. Funken sprühten. Junker Totenbaum war ins Straucheln geraten. Er stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. 56
Ich wunderte mich erst jetzt, daß ich seine Sprache überhaupt verstehen konnte. Das Mittelhochdeutsch seiner Zeit war in unserer Gegenwart kaum verständlich. Bei meinen Zeitreisen sorgte die Magie meines Rings dafür, daß ich die Sprache der jeweiligen Zeit und Gegend verstand und selbst beherrschte. Aber diese Höllenwesen waren ja in unsere Zeit, die Gegenwart, gekommen. Wahrscheinlich hatte Dracomar mit seinen starken Dämonenkräften dafür gesorgt, daß mein Feind und ich uns gegenseitig verstanden. Er ließ keine Gelegenheit aus, seine Gegner auch mit Worten zu demütigen. Doch das interessierte mich jetzt nur am Rande. Ich mußte versuchen, vom Boden hochzukommen. Und zu meinem eigenen Schwert zu greifen, das in einer Scheide an meinem Gürtel baumelte. Da kamen mir die Teilnehmer des Festes zu Hilfe. Instinktiv mußten sie erkannt haben, welche Gefahr mir drohte. Wie auf Kommando begannen sie plötzlich, Junker Totenbaum mit Gegenständen zu bewerfen. Brotleiber, Pokale, Stoffballen, Keramiken und andere Dinge prasselten auf den wütenden Ritter ein. Natürlich schadeten sie ihm damit nicht. Aber sie verschafften mir die nötigen zwei Minuten Pause, um wieder auf die Beine zu kommen und mein Schwert zu ziehen. Nie wieder, schwor ich mir, werde ich mich in eine Ritterrüstung zwängen! Doch im nächsten Moment war ich froh, in Eisen gekleidet zu sein. Denn die breite Klinge von Junker Totenbaum säbelte seitwärts gegen meine Brust. Eine tiefe Kerbe blieb in meinem Panzer zurück. * »Stirb, Hellmann!« grölte Bolko von Diepmoor. »Stirb, verfluchter Weißmagier!« Das Atmen fiel mir schwer. Aber es war kein Blut an seiner Klinge. Ich würde später wohl einen ordentlichen Bluterguß bekommen. Wenn es ein Später für mich geben sollte… Ich steppte zur Seite. Bevor er seinen nächsten Treffer landen konnte, riß ich mein breites Schwert hoch. Die Klingen kreuzten 57
sich. Blitze zuckten, als die schwarzmagische Energie der Höllenwaffe und die weißmagische meiner Eisenklinge klirrend aufeinanderprallten. Ich beglückwünschte mich innerlich für jeden Klimmzug, den ich jemals in meinem Leben gemacht hatte. Und für jede Stunde, die ich mit Eisenpumpen auf der Hantelbank verbracht hatte. Wenn meine Muskeln schwächer gewesen wären, hätte mir schon dieser erste Angriff von Junker Totenbaum das Schwert aus den Händen geprellt. Doch auch so setzte er mir hart zu. Schwarze Magie hatte ihn in meine Gegenwart versetzt. Dracomar hatte den Ritter mit dem bösen Blick aus der Hölle zurückgeholt, um mich zu vernichten. Wenn ich ihm zu seinen Lebzeiten gegenübergestanden hätte, wären meine Chancen besser gewesen. So aber hatte ich keinen Menschen als Gegner. Sondern ein untotes Monstrum. Eine Kreatur mit einem tödlichen Schwert. Immer schneller kamen die Hiebe des Junkers Totenbaum. Sie prasselten nur so auf mich herab. Ich war zwar kein übler Fechter, aber dieser Ansturm schaffte mich. Ich konnte immer nur meine Waffe hochreißen, um die Attacken im letzten Moment zu parieren. Der Ritter mit dem bösen Blick trieb mich geradezu vor sich her. Er spie ununterbrochen Beleidigungen und Schmähungen aus. Das gehörte zur »psychologischen Kriegsführung«. Ein Begriff, den es im Mittelalter noch nicht gegeben hatte. Aber ich hörte nicht auf sein Gefasel. Das lenkte mich nur von der Verteidigung ab. Und sollte es wohl auch. Ich ging rückwärts. Grölend und lärmend feuerten die höllischen Kriegsknechte ihren Herrn und Meister an. Dracomar sagte überhaupt nichts. Er rieb sich nur seine widerwärtigen Vampirkrallen. Wahrscheinlich zählte er die Minuten, bis er sein Ziel erreicht hatte. »Junker Totenbaum!« rief der Alte des Schreckens, wobei er den Waffenlärm übertönte. »Der Dolch in deinem Gürtel! Damit wird sich Hellmann selbst die Kehle durchschneiden!« Und er wollte sich ausschütten vor Lachen. So, als ob er einen guten Witz gemacht hätte. Meine Muskeln schmerzten. Ich konnte das Schwert kaum noch halten. Von links und rechts kamen die Hiebe. Ich mußte mir 58
eingestehen, daß mir dieser Junker Totenbaum als Fechter überlegen war. Ihn zu besiegen, schien mir aussichtsloser denn je. Ich fühlte, wie mein Ring unter dem Panzerhandschuh glühte. Er zeigte mir nur allzu deutlich die Urkraft des Bösen, von der mein Gegner angetrieben wurde. Instinktiv, schien Bolko von Diepmoor zu spüren, wie er Oberwasser gewann. Dadurch verdoppelte er nur noch seine Anstrengungen. Sein Lachen klang wie das widerwärtige Bellen eines Höllenhundes. »Dein Kopf rollt in den Sand, du bist der Deinen Schand…«, röhrte er. Seine Kriegsknechte applaudierten johlend und fielen in den schaurigen Singsang mit ein. »Dein Kopf rollt in den Sand…«, dröhnte es aus den Kehlen der untoten Höllensoldaten. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Ich bin der Kämpfer des Rings. Wenn es mir nur einmal gelang, mit meinem weißmagischen Schwert den Junker Totenbaum zu treffen, würde seine untote Existenz sofort vergehen. Jedenfalls hoffte ich das. Deshalb startete ich mit letzter Kraft einen Gegenangriff. Als ich gerade wieder einmal einen seiner. Hiebe pariert hatte, drehte ich mich zur Seite und fintete. Bolko von Diepmoor fiel darauf herein. Sein Schwert kam an der falschen Seite hoch. Nun lag sein Oberkörper für einen Moment ohne Deckung vor mir. Das war die einmalige Chance, meine weißmagische Waffe in seinen Hals zu rammen! Es wurde nichts daraus. Ich kämpfte schließlich gegen die Kräfte der Hölle. Und für die war Fairneß ein Fremdwort. Auch Dracomar hatte erkannt, was ich vorhatte. Er richtete seinen Zeigefinger auf mich und murmelte einige Worte. Bevor mein Schwert den Junker Totenbaum treffen konnte, zuckte eine Feuersäule aus dem Nichts vor mir auf. Ich schrak zurück. Spürte die glühende Hitze durch meine Rüstung. Für Sekundenbruchteile lenkten mich die Flammen ab. Junker Totenbaum ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Er bewegte seinen Beidhänder in einem weiten Halbkreis auf mich zu. Meine Armpanzerung verbeulte, als die Klinge meinen Unterarm traf. Ein stechender Schmerz zog bis in das 59
Schultergelenk. Die Kraft wich aus meinen Fingern. Der Panzerhandschuh öffnete sich. Mein weißmagisches Schwert klirrte zu Boden! Mit einem Triumphschrei drang Bolko von Diepmoor weiter auf mich ein. Nun war ich waffenlos. Automatisch steppte ich rückwärts, um nicht von den mächtigen Hieben des Beidhänders getroffen zu werden. Aber hinter mir loderte das geheimnisvolle Feuer, das direkt aus der Hölle zu kommen schien. Mein Ring glühte förmlich. Aber das nützte mir jetzt nichts. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn an meinem Mal unter der Rüstung zu aktivieren. Junker Totenbaum würde wohl kaum ruhig danebenstehen, während ich eine neue Waffe weißmagisch auflud. Außerdem - woher sollte ich ein anderes Kampf gerät nehmen? »Schlag ihm die Beine und einen Arm ab!« forderte Dracomar brüllend. »Mit dem zweiten Arm soll sich Hellmann dann selbst in die Hölle befördern!!« Der Ritter mit dem bösen Blick senkte den Kopf. Gab damit das Zeichen, daß er verstanden hatte. Hoch erhob er das Schwert über seinen Schädel… * In diesem Moment schien sich die Luft um uns herum in flüssiges Blei zu verwandeln. Alle Bewegungen wurden wie, in Zeitlupe durchgeführt. Sogar die Geräusche klangen langgezogen und verzerrt. So, als ob die ganze Schelenburg plötzlich in eine andere Dimension geschleudert worden wäre. Das Schwert des Junkers senkte sich, um mir mein rechtes Bein abzuhacken. Aber die Klinge fuhr nicht mit einem einzigen Hieb nieder, sondern Millimeter für Millimeter. In der Atmosphäre zwischen dem Ritter und mir materialisierte sich plötzlich ein feinstoffliches Wesen. Es war nur undeutlich zu erkennen. Wie ein Schwarzweißfernsehbild bei schlechtem Empfang. Aber seine Stimme konnte ich klar hören. Wenn ich auch nicht wußte, ob sie nur in meinem Kopf zu mir sprach. »Du bist in großer Gefahr, Mark Hellmann. Aber ich werde dir beistehen!« »Wer bist du?« Ich kann nicht sagen, ob meine Lippen diese 60
Frage formten. Oder ob sie sich nur in meinem Bewußtsein stellte. Doch der Geist ließ mit einer Antwort nicht lange auf sich warten. »Als ich ein Mensch war, hieß ich Jasper von Schele. Ich gehörte zu den Doctores der Theologie, war Zeit meines Lebens ein Diener Gottes. Ich war ein Schüler des großen Mannes, der Deutschland die Reformation gebracht hat.« »Von Martin Luther?« Während wir sprachen, hatte sich das Schwert des Bolko von Diepmoor weiter gesenkt. Aber nur um ungefähr einen Zentimeter. »Von Martin Luther, genau. Ich habe in Schiedehausen und Umgebung die Reformation verbreitet. Das war vor vielen Jahrhunderten. Meinen himmlischen Frieden habe ich schon lange gefunden. Aber ich bin heute zurückgekehrt, weil mich eine Maid um Hilfe angefleht hat.« »Wer?« fragte ich, obwohl ich mir die Antwort selber geben konnte. »Sie nennt sich Claudia Petersen. Aber wir haben nicht viel Zeit, Mark Hellmann. Ich stehe zwar auf der Seite des Guten, aber auch meine Kräfte sind begrenzt. Ich werde die Verzögerung des Geschehens gleich wieder aufheben müssen. Der Ritter mit dem bösen Blick hat von den Teufeln übermenschliche Kräfte bekommen. Ich werde diese Kräfte aufheben. Dann müßt ihr Mann gegen Mann kämpfen. Das ist alles, was ich im Moment für dich tun kann.« Ich atmete tief durch. Dieser gute Geist gab mir eine letzte Chance. »Ich danke dir, Jasper von Schele!« »Viel Glück, Mark Hellmann!« Die verschwommene Gestalt löste sich ganz auf. Im nächsten Augenblick war auch die Luft wieder so klar, wie man es an einem kühlen Frühlingstag erwarten konnte. Der Beidhänder sauste schnell und mit voller Wucht nieder! Aber ich war darauf vorbereitet. Machte eine Rolle seitwärts. Und kickte meinen Fuß in dem Blechstiefel gegen das Kinn des Ritters. Junker Totenbaum stolperte rückwärts, als wäre er vor ein Auto gelaufen. Es war ein gutes Gefühl, sich wieder auf die eigene Stärke verlassen zu können. Jasper von Scheles Hilfe hatte gewirkt. Der Ritter besaß keine übermenschlichen Kräfte mehr. Ich konnte ihm nun mit meiner eigenen Muskelkraft und meinen Kampfsport61
Tricks beikommen. Ich erhob mich vom Boden und ging zum Angriff über. Er hatte bereits wieder sein Schwert erhoben. Ich kreuzte meine gepanzerten Unterarme vor meinem Gesicht und riß sie hoch. Dadurch prallte sein Schwertarm gegen meine Blockade. Nicht umsonst trainiere ich im Polizeisportverein regelmäßig Kampfsport. Allerdings hatte ich meine Fähigkeiten noch nie in einer schweren Ritterrüstung anwenden müssen. Immerhin konnte ich mich damit trösten, daß ein Ritter aus dem Mittelalter wohl kaum die passenden Abwehren parat haben würde. Und so war es auch. Während ich mit dem linken Arm seine Waffenhand wegdrückte, ballte ich die rechte Faust und ließ sie, ohne Schwung zu holen, gerade auf seine Nase krachen. Es schmerzte mich, weil mein rechter Arm durch den Schwerttreffer von vorhin in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber ihn schmerzte es mit Sicherheit noch viel mehr. Ein lautes Knacken ertönte. Junker Totenbaums Nasenbein war gebrochen. Blut spritzte aus seinen Nasenlöchern. Dracomar tobte und kreische vor Wut. »Stümper! Versager! Mach ihn endlich fertig, den Ringträger!« Ich mußte den Ritter mit dem bösen Blick erledigen, bevor der Blutdruide auf die Idee kam, ihn erneut mit schwarzmagischer Energie »aufzuladen«. Auch konnte ich nicht sagen, ob überhaupt jemand außer mir selbst das Erscheinen des Jasper von Schele mitbekommen hatte. Über diese Dinge konnte ich mir später Gedanken machen. Jetzt zählte nur eins. Den Kampf zu gewinnen. Ich zog den linken Fuß so hoch es ging. Das war gar nicht so einfach mit den schweren Beinschienen und den Blech-Gelenken. Aber mein Gegner war ja auch nicht beweglicher als ich. Dann ließ ich meinen Stiefel vorschießen wie eine Kanonenkugel. Dabei mußte ich höllisch aufpassen, daß ich mit dem rechten Bein das Gleichgewicht hielt. Mein Tritt in die Leistengegend traf den Junker Totenbaum wohl ziemlich überraschend. Jedenfalls taumelte er zur Seite wie ein Kreisel. Ich setzte nach und ließ ein Feuerwerk aus rechten und linken Schwingern und Geraden auf sein Kinn niederprasseln. Der Ritter mit dem bösen Blick versuchte mir auszuweichen. Nun trieb ich ihn vor mir her. Das war ein gutes Gefühl. Noch einmal schaffte er es, sein Schwert hochzureißen. Aber ich sprang 62
ihn an und verdrehte seinen Waffenarm so lange, bis der Beidhänder zu Boden fiel. Mit seiner freien Faust prügelte Junker Totenbaum auf mich ein. Aber er war nur ein brutaler Schläger, dem es an Technik und Wissen fehlte. Deshalb konnte ich die meisten seiner Hiebe gut blockieren. Ich rammte meinen linken Ellenbogen rückwärts und traf sein Kinn. Der Ritter mit dem bösen Blick spuckte Blut und ging zu Boden. Ein Ruf der Enttäuschung ging durch die Reihen seiner Mannen. Aber noch war Bolko von Diepmoor nicht besiegt. Er riß das Messer aus seinem Gürtel. Er stach mir die Klinge entgegen, während ich mich auf ihn fallen ließ, um ihn unten zu halten. Da kam mir mein weißmagisches Schwert in die Finger, das unweit von uns auf den Bruchsteinen des Hofes lag. Ich parierte sein Messer mit dem Beidhänder. Immer noch hatte der Ritter gewaltige Kraft in seinen Armen. Wir drückten die Klingen gegeneinander. Ich kniete auf seiner Brust. Wenn sein Messer abglitt, würde es meinen Kehlkopf durchbohren. Wie Kabel traten die Adern auf Junker Totenbaums Stirn vor Anstrengung heraus. Bei mir würde es kaum besser aussehen. Es war wie ein tödliches Armdrücken. Keiner von uns konnte es sich leisten, jetzt loszulassen. Aber dann rutschte doch einer von uns ab. Es war der Ritter mit dem bösen Blick. Sein Arm knickte zur Seite. Dadurch hatte mein Druck keinen Widerstand mehr. Tief hieb mein Beidhänder in den Hals von Junker Totenbaum. Ich hatte ihm den Kopf fast ganz vom Körper abgetrennt. * Dracomar schäumte vor Wut. Natürlich war dem Alten des Schreckens nicht entgangen, daß ein weißmagischer Geist zugunsten Hellmanns eingegriffen hatte. Und der Blutdruide hatte auch kapiert, wem er diese Einmischung zu verdanken hatte. Claudia Petersen. Dracomar schob seine unheimliche Gestalt durch die Menge der Menschen, die atemlos den Kampf verfolgten. Sie wichen panisch vor ihm zurück. Sein Anblick mit der zerfressenen Gesichtshaut über dem Maul und mit den Vampirzähnen war nur etwas für 63
starke Nerven. Man mußte kein Dämonenexperte sein, um zu verstehen, daß man hier ein Höllenwesen vor sich hatte. Der Alte des Schreckens brauchte nicht lange, um die dunkelhaarige Schönheit zu finden. Sie kauerte immer noch in einer Ecke des Schloßhofs, die Hände zum Gebet gefaltet. Der Anblick der betenden Hände verursachte der Höllenkreatur Widerwillen. Aber Dracomar war zu stark. Er ließ sich davon nicht abschrecken. Deshalb trat er hinter sie und packte brutal ihren Oberarm. Riß sie auf die Beine. »Schluß mit dem Quatsch, Betschwester! Wir beide haben noch etwas vor!« »Laß mich in Ruhe, du Ungeheuer!« Claudia Petersen hieb mit beiden Fäusten auf die verwüstete Visage von Dracomar ein. Aber davon ließ sich der mächtige Dämon nicht beeindrucken. Er schleifte die sich wie wild Wehrende hinter sich her. Auf den viergeschossigen Wohnturm zu… * »Mein Herr! Mein Herr ist tot!« kreischte der Knappe. »Ich, Knochenfresser, werde den blonden Bastard vernichten!« In seinen tiefliegenden Augen glomm die Mordlust, als er seinen Morgenstern hob und auf mich losstürmte. Der Rest der dämonischen Kriegsknechte folgte ihm auf dem Fuß. Ich hätte das Duell mit Junker Totenbaum gewonnen. Allerdings war ich zu keiner Zeit so naiv gewesen, zu glauben, daß sich die Mächte der Hölle an die Abmachung halten würden. Nun mußte ich mich dem Rest der Meute stellen. Aber mein Sieg hatte mir neuen Auftrieb gegeben. Zwar schmerzte mein rechter Arm immer noch, aber ich konnte ihn gebrauchen. Und das war die Hauptsache. Der Knappe namens Knochenfresser sprang um mich herum wie ein wildgewordener Affe. Ich mußte mich vorsehen. Denn Knochenfresser trug über seinem Wams und seiner engen Hose nur ein leichtes Kettenhemd. Dadurch war er viel beweglicher als ich. Und da durchbrach sein Morgenstern auch schon meine Deckung! 64
Meine Ohren klingelten, als die stachelbewehrte Kugel auf meinem Brustpanzer aufkam. Es gab ein Geräusch, als ob ein Gong geschlagen worden wäre. Immerhin hatte meine Rüstung standgehalten. Doch wenn mich der Morgenstern am Kopf getroffen hätte, wäre das mein Ende gewesen. Ich schlug mit dem Beidhänder nach dem Knappen. Doch er sprang mit einem, wilden Schlachtruf zur Seite. Drang gleich darauf erneut auf mich ein. Er ließ die Kugel seines Morgensterns wirbeln. Mit dieser Waffe schien er vertraut zu sein. Im letzten Moment sah ich eine Bewegung neben mir. Eine Lanze wurde nach mir gestoßen. Einer der Kriegsknechte mit den dämonisch glühenden Augen hatte auf meinen Hals gezielt. Ich machte einen Schritt zur Seite. Ein Hieb meines Beidhänders traf auf seinen Rippenbogen. Weil ich überrascht worden war, steckte nicht viel Kraft hinter meiner Abwehrbewegung. Bei einem Menschen wäre die Verwundung harmlos gewesen. Aber nicht bei einem Untoten. Durch die Berührung der weißmagischen Waffe sackte der Soldat augenblicklich in sich zusammen. Kaum hatte ich ihn erledigt, als ich mich wieder mit Knochenfresser beschäftigen mußte. Der Knappe konnte noch einen Treffer landen. Diesmal erwischte er meine linke Schulter. Ich hörte vor Schmerzen die Engel im Himmel singen. Eine saftige Prellung war das mindeste, was ich davontragen würde. Mit der linken gepanzerten Faust erwischte ich Knochenfresser eben noch am Kopf, bevor er wieder in Deckung springen konnte. Es war nur eine leichte Ohrfeige. Aber ich hatte einen Eisenhandschuh an. Für einen Moment hatte ich den Knappen aus dem Konzept gebracht. Ich machte einen Ausfallschritt in seine Richtung und stieß den großen Beidhänder vor. Die Spitze des Schwertes drang durch sein Kettenhemd. Knochenfresser riß seinen breiten Mund auf, als ob er mich mit seinen starken Zähnen totbeißen wollte. Doch dazu kam er nicht mehr. Der Knappe aus höllischen Gefilden würde keinem lebenden Menschen mehr weh tun können. Sein Körper wurde zu einer modrigen, fauligen Masse, die innerhalb von zehn Sekunden in sich zusammensank. Eine Atempause war mir nicht vergönnt. Nun drangen die 65
übriggebliebenen Dämonenknechte auf mich ein. Es waren noch vier Mann. Mit Schwertern und Lanzen bewaffnet. Das war ihr Vorteil. Mit den Lanzen konnten sie mich auf Distanz halten. Ich kam mit meinem Schwert nicht nahe genug an sie heran. Ich suchte Deckung hinter einer Bude, als einer von ihnen seinen Speer nach mir stieß. Drehte mich in der Hüfte und zerschlug den Holzschaft. Mit dem nächsten Hieb streckte ich den Mann nieder. Die Besucher des Festes schrien entsetzt auf, als sich der dämonische Körper direkt vor ihren Augen in eine ekelhafte Masse verwandelte. Es stank wahrhaft höllisch. Ich spürte, wie ich ermüdete. Lange würde ich den Kampf nicht mehr durchhalten können. Ich war doch ganz schön angeschlagen. Die drei Kriegsknechte waren jetzt auf der Hut. Sie hatten schließlich gerade gesehen, was mit ihrem Kameraden geschehen war. Die Dämonen mit den Helmen und Kettenhemden umtänzelten mich wie japanische Stockkämpfer. Ich befand mich nun in der Mitte eines Dreiecks und drehte mich um die eigene Achse. Horchte. Aber sie atmeten natürlich nicht. Es waren ja lebende Tote. Wenn sie gleichzeitig angriffen, war ich erledigt. Einen konnte ich zur Not besiegen. Vielleicht auch zwei. Aber der dritte hätte dann garantiert genug Zeit, um mir mit seinem Schwert den Schädel zu spalten. Oder mit seiner Lanze meine Kehle zu zerfetzen. Glühende Augen starrten mich heimtückisch an. Ich wartete auf den Moment der Entscheidung. »Achtung, Mark!« Der gellende Schrei kam von Olaf. Ich fuhr herum. Und dann geschah alles wie in Zeitlupe. Mein »Knappe« war auf eine niedrige Mauer geklettert. Er hatte es anscheinend nicht mehr ausgehalten, mich so eingekreist zu sehen. In seinen Händen hielt er einen schweren Stein. Einen kleinen Findling. Er hob ihn hoch über den Kopf und ließ ihn auf einen der Kriegsknechte fallen! Der Schädel der Kreatur wurde zertrümmert. Trotz Helm. Olaf hatte genau den richtigen Augenblick abgepaßt. Denn genau in diesem Moment wollten die drei angreifen. Nun waren sie nur noch zu zweit. Mein Beidhänder sauste durch die Luft. Mit seiner strahlenden weißmagischen Kraft vernichtete er einen der Kriegsknechte 66
mitten im Lauf. Mit unmenschlichem Gebrüll löste er sich in seine Bestandteile auf. Der dritte konnte noch seine Lanze in Richtung meines Bauches stechen. Sie glitt aber zum Glück an der Rüstung ab. Durch die Wucht seines eigenen Ansturms kam er auf mich zu. Mitten in die Klinge meines Schwertes hinein. Der Stahl drang durch den Helm des Höllenwesens. Tief in seinem Schädel entfaltete die Magie des Guten ihre ganze Macht. Auch seine schwarzmagische Existenz erlosch für immer. Schwer atmend sah ich mich um. Da kam noch der letzte Kriegsknecht angewankt. Olaf hatte seinen Kopf zertrümmert. Doch das reichte nicht aus, um den dämonischen Keim in ihm zu vernichten. Ich stach dem Wesen in die Brust. War der Kampf nun vorbei? Jetzt merkte ich erst, wie erledigt ich wirklich war. Meine Wunden begannen wie auf Kommando gleichzeitig zu schmerzen. Aber noch hatte ich meine Aufgabe nicht erfüllt. Wo war Dracomar? * Jubelnd kamen sie heran, die Mägde und Gaukler, die Bierbrauer und Feuerschlucker, Huren und Minnesänger. Sie alle hatten sich verkleidet für ein Fest, das sie ins finstere Mittelalter zurückführen sollte. Wohl keiner von ihnen hatte damit gerechnet, daß sie einen der übelsten Schurken dieser Zeit live erleben würden… Sie beglückwünschten mich zu meinem Sieg und dankten mir für die Rettung. Fielen mir um den Hals und klopften mir auf die Schulter. Aber ich hatte jetzt andere Sorgen. Der junge Mann, der vorhin von Junker Totenbaum verwundet worden war, hatte ein paar Notverbände angelegt bekommen. »Kann jemand einen Rettungswagen rufen?« fragte ich. »Das Opfer braucht dringend ärztliche Hilfe. Und wo ist diese vampirische Kreatur mit dem schwarzen Mantel geblieben?« Ich meinte natürlich Dracomar. Einige Umstehende blickten betreten zu Boden. So, als ob sie sich dafür schämen würden, nicht gegen den Alten des Schreckens gekämpft zu haben. Doch das erwartete ich von 67
keinem normalen Menschen. Von niemandem, der nicht diese Berufung hat und auf ein magisches Hilfsmittel zurückgreifen kann. So wie ich. »Die Bestie ist im Wohnturm«, sagte schließlich ein älterer Mann mit weißem Bart, der als Medicus verkleidet war. »Und sie hat die dunkelhaarige Frau mitgeschleppt.« Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Claudia Petersen in der Gewalt von Dracomar! Sie war es gewesen, die den guten Geist des Jasper von Schele angefleht hatte. Ihr verdankte ich somit mein Leben. Klar, daß sich der Alte des Schreckens dafür entsetzlich an ihr rächen würde… Ich mußte eingreifen. Wenn es nicht schon zu spät war. Olaf half mir, mich aus der Rüstung zu schälen. Jetzt war sie mir eher hinderlich als nützlich. Gegen Dracomar würde sie sowieso nichts bringen. Seine schwarzmagischen Kräfte konnten auch durch den dicksten Stahl dringen. Ich umklammerte den Beidhänder, der immer noch mit der Energie des Guten aufgeladen war. Und dann betrat ich den Wohnturm der Schelenburg. Zum zweiten Mal an diesem Frühlingsmorgen. * Verzweifelte Schreie drangen an mein Ohr. Eine weibliche Stimme. Der Alte des Schreckens mußte Claudia Petersen in eines der oberen Stockwerke verschleppt haben. Ich biß die Zähne zusammen, während ich immer gleich drei der steilen Stufen auf einmal nahm. Gleichzeitig redete ich mir selbst zu, mich nicht verrückt machen zu lassen. Ich kannte den Blutdruiden inzwischen gut genug. Er wollte mich aus der Reserve locken. Damit ich einen Fehler beging. Daß es ihm Freude machte, die junge Frau zu quälen, war für ihn in diesem Moment wohl zweirangig. In erster Linie wollte er mich. Ich mußte Claudia Petersen so schnell wie möglich aus seinen Klauen befreien. Und dabei trotzdem einen kühlen Kopf bewahren. Das war gar nicht so einfach. Denn die Wut kochte in mir hoch, als ich in der zweiten Etage eintraf. Und den Blutdruiden und sein hilfloses Opfer erblickte. 68
Dracomar hatte der dunkelhaarigen Schönheit die Kleider vom Leib gerissen. Ihre Handgelenke waren mit einem Strick zusammengebunden. Diesen hatte die Höllenbestie über einen Deckenbalken geworfen. Claudias Zehen hingen nur einen Zentimeter über dem Fußboden. Gerade hoch genug, um ihr gemeine Schmerzen in Armen und Händen zuzufügen. Dracomar stand direkt neben ihr. Er riß sein böses Maul weit auf, als er mich heranstürmen sah. Dann versetzte er der hängenden Frau einen leichten Stoß. Weinend pendelte sie hin und her. »Laß sie in Ruhe, du Abschaum!« brüllte ich. »Das ist eine Sache zwischen dir und mir!« »Wirklich?« höhnte der Alte des Schreckens. Aber immerhin trat er vor. Weg von Claudia. »Diese Betschwester hat ihr Leben verwirkt. Aber erst mal bis du an der Reihe, Hellmann!« »Wirklich? Hast du nicht noch einen Blechonkel auf Lager, hinter dem du dich verstecken kannst?« erwiderte ich spöttisch. In diesem Moment war ich ganz ruhig. Ich packte das breite Schwert mit beiden Händen. Mein Ring glühte wild auf. Kein Wunder. Die dämonische Macht von Dracomar war jetzt sehr stark. »Menschenwurm!« donnerte der Blutdruide. Er schlich auf mich zu, seine widerwärtigen Vampirkrallen zum Angriff bereit. Er hatte keine Waffe. Die brauchte er auch nicht. Er konnte sich ganz auf die übersinnlichen Kräfte seines dämonischen Körpers verlassen. Wie ein Geier streckte er seinen vom Weihwasser zerfressenen Schädel vor. Seine langen Fangzähne waren bereit, sich in meine Hals-Schlagader zu bohren. Aber ich ließ mich von dem bedrohlichen Anblick nicht einschüchtern. Denn ich wußte, daß Dracomar Angst vor mir hatte. Sonst hätte er nicht den Ritter mit dem bösen Blick vorgeschickt, um mich zu vernichten. Trotzdem war der Alte des Schreckens kein Gegner, den man unterschätzen durfte. Unentrinnbar wie ein Alptraum kam er über mich. Seine Attacke erfolgte so schnell, daß ich kaum das Schwert hochreißen konnte. Die Klinge fetzte nur durch seinen weiten schwarzen Umhang. Dann drangen seine Klauen in mein Fleisch. Ich hätte am liebsten aufgeschrien. Aber diesen Triumph wollte ich ihm nicht gönnen. Der Pestgestank der Hölle nahm mir fast den Atem. Zum Glück schreckte mein Siegelring mit dem 69
stilisierten Drachen den Alten des Schreckens ab. Das verschaffte mir für einen Moment Luft. Von unten her versuchte ich das Schwert in seinen schwarzmagischen Körper zu stoßen. Doch Dracomars Kraft machte mir einen Strich durch die Rechnung. Er war einfach zu mächtig. Mit einem Tritt beförderte er mich wie eine Puppe quer durch den Raum. Mein Schädel krachte gegen die Mauer. Stöhnend hielt ich mir mit beiden Händen den Hinterkopf… Mit beiden Händen? Ich erschrak. Wo war das weißmagisch aufgeladene Schwert? Da lag es. Am anderen Ende des Gemäuers. Zwischen der Waffe und mir stand der Blutdruide. Sie war so unerreichbar für mich, als ob sie auf dem Mars wäre. Schreckens seine Klauen aus. »Ich werde es langsam machen, Mark Hellmann. Sehr langsam. Du wirst den Tod noch herbeisehnen, bevor ich mit dir fertig bin!« Entsetzliche Kopfschmerzen tosten durch meinen Schädel. Aber darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich mußte auf die Beine kommen. Weiterkämpfen. Irgendwie. In dieser verzweifelten Situation bemerkte ich, wie sich Claudia Petersens Lippen lautlos bewegten. Plötzlich wurde das Licht um uns herum wieder gelblich. Der Blutdruide bewegte sich weiter auf mich zu. Aber er war extrem langsam geworden. So, als ob er in Watte gepackt wäre. Eine feinstoffliche Gestalt erschien. Jener Geist, der sich mir schon als Jasper von Schele vorgestellt hatte. »Dieses eine Mal kann ich dir noch helfen, Mark Hellmann«, sagte seine Stimme, die aus dem Nirgendwo kam. »Aber dieser Dämon ist sehr stark. Ich kann nur die Zeit verlangsamen. Doch vertreiben mußt du ihn selbst.« »Ich danke dir, Jasper von Schele!« sagte ich laut. Zum Glück wußte ich, wie ich Dracomar zumindest zeitweise vertreiben konnte. Das hatte ich schon erfolgreich ausprobiert, als ich König Ludwig IL von Bayern vor dem Blutdruiden retten mußte (MH 27). Ich aktivierte meinen Ring an meinem siebenzackigen Mal auf der Brust. Ein starker blauer Strahl schoß aus dem Kleinod mit dem stilisierten Drachen und den Buchstaben M und N. Kein Wunder, denn die dämonische Kraft, auf die der Ring ansprach, war nun sehr stark. Dracomar war keine zwei Meter mehr von mir 70
entfernt. Verzweifelt schien er zu versuchen, schneller zu werden. Aber es ging nicht, Jasper von Scheles gute Energie bremste ihn irgendwie. Mit dem blauen Strahl schrieb ich in altgermanischer Runenschrift das Wort DAIRTHECH auf den Fußboden zwischen Dracomar und mir. DAIRTHECH ist ein altes keltisches Wort und bedeutet soviel wie »heiliger Hain«. Dadurch wurde der Raum um uns herum vorübergehend zu einer Stätte, die für Höllenwesen wie den Blutdruiden tabu war. Damit hatten sich schon in vorchristlicher Zeit die guten Druiden gegen ihre höllischen »Kollegen« geschützt. Plötzlich schien der ganze Turm der Schelenburg in ein grelles weißes Licht gehüllt worden zu sein. Es war, als würde man direkt in die Blitzlampe einer Kamera starren. Ein langgezogener Schmerzensschrei gellte auf. Aber diesmal kam er nicht von Claudia Petersen. Sondern von Dracomar. Der Alte des Schreckens wußte vor dem Bann des Guten zurückweichen. Solange ich das Wort DAIRTHECH mit meinem Ring schreiben konnte, war ich für den Moment sicher vor dem Blutdruiden. Nur vernichten konnte ich ihn auf diese Art und Weise nicht. Wie das ging, würde ich später einmal herausfinden müssen. Jetzt gab es erst einmal Wichtigeres zu tun. Ich raffte mich auf. Blut lief aus meiner Nase. Meine Augen brannten. Jetzt zeigten sich die Folgen des Kampfes mit dem Junker Totenbaum erst so richtig. Trotzdem brauchte die junge Frau dringend meine Hilfe. Ich griff nach dem Schwert. Während ich Claudias nackten, zitternden Körper mit dem linken Arm vorsichtig festhielt, hieb ich mit rechts das Seil durch: Halb ohnmächtig sackte sie zusammen. Ich löste die Fesseln von ihren zerschundenen Gelenken. Dann nahm ich sie auf die Arme und trug sie hinaus. Zuvor bedeckte ich ihre Blöße mit einigen Stoffetzen, so gut es ging. Dracomar hatte ihre Kleider offenbar förmlich in Fetzen gerissen. Als wir aus dem Wohnturm traten, hörte ich ein vertrautes Geräusch. Tessa Haydens Motorrad. Meine Freundin bahnte sich auf ihrer Maschine vorsichtig den Weg durch die Menge. Die Menschen standen immer noch wie 71
gelähmt herum. Alle schienen gebannt auf den Ausgang meines Kampfes gegen Dracomar gewartet zu haben. Tessa schaltete den Motor aus und nahm den Helm ab. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte sie mich an. Ich öffnete den Mund, um die Lage zu erklären. »Sag nichts!« meinte die Fahnderin. »Laß mich raten. Du hast hier gegen Dämonen aus der Hölle gekämpft, einer furchterregender als der andere. Diese Bestien haben die Frau da als Geisel genommen und ihr die Kleider vom Leib gerissen. Du hast sie unter Einsatz deines Lebens aus den Fängen der Schwarzblüter befreit. Stimmt's?« »Stimmt…«, röchelte in diesem Moment Claudia Petersen mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen. Sie mußte instinktiv erfaßt haben, daß Tessa und ich ein Paar waren. »Sie haben also keinen Grund, um eifersüchtig zu sein!« Tessa, Claudia und ich betrachteten uns gegenseitig. Unsere Blicke wanderten hin und her. Dann brachen wir alle drei wie auf Kommando in ein befreiendes Lachen aus. * Jan Frankes Körper war ein beängstigender Anblick. Mein alter Studienkollege lag in einem Hospitalbett der Hufeland-Kliniken in Weimar. Man hätte ihn für tot halten können, so bleich war seine Haut. Fast durchscheinend. Aber das Gräßlichste war sein Gesicht. Dort; wo andere Menschen Augen, Nase und Mund hatten, wies sein Kopf eine weißliche Fläche auf. »Ich frage mich, warum Dracomar das getan hat«, sagte ich. »Er kann die Gestalt von jedem Wesen annehmen. Auch ohne jemandem das Gesicht zu stehlen.« Ich hatte meine Worte an niemand Bestimmten gerichtet. Außer mir befanden sich noch Tessa, Pit Langenbach, Ulrich Hellmann und Dr. Keppler in dem Raum. Der Arzt hatte es wirklich geschafft, diesen geheimnisvollen Patienten »unter Verschluß« zu halten. Mein Vater ergriff das Wort. Ihn mit seinem umfassenden Hintergrundwissen über magische Phänomene hatten wir als »Gutachter« hinzugezogen. »Das Böse braucht nicht immer einen Grund für seine Handlungen, Mark. Das weißt du selbst am 72
besten. Es hat dem Blutdruiden wahrscheinlich einfach Freude gemacht, Jan Franke sein menschliches Antlitz zu nehmen.« »Blutdruide…«, wiederholte Dr. Keppler. Aber er klang dabei nicht spöttisch, wie so viele seiner Standeskollegen. Sein Tonfall ließ eher auf Furcht schließen. »Sie scheinen sich mit diesen Dingen auszukennen.« Mein Vater nickte knapp. Weder er noch ich hatten Lust, zuviel zu erklären. Wir wollten uns nicht selbst in den Vordergrund stellen, sondern helfen. Jan Franke mußte zurückverwandelt werden'. Aber wie? Ulrich legte die Stirn in Falten. »Dein Ring, Mark. Er besitzt Fähigkeiten, die du bisher noch nicht einmal annähernd ausgeschöpft hast.« Ich schwieg. Ließ seine Worte auf mich wirken. Ich konnte mit meinem Siegelring Zeitreisen unternehmen, Dämonen verjagen, tödliche Wunden heilen und normale Waffen weißmagisch »aufladen«. Wenn diese Eigenschaften das Potential des Kleinods noch nicht einmal annähernd ausschöpften. Wie Ulrich gesagt hatte - was würde mich dann noch erwarten? Mein Vater schien mehr zu wissen, als er bisher zugegeben hatte. Auch mir gegenüber. Aber dieses Krankenzimmer war nicht der Ort, um darüber zu sprechen. Diese Dinge waren nicht für die Ohren von Dr. Keppler bestimmt. Ich rieb mir nachdenklich über das Kinn. »Wir müssen es einfach probieren, Vater. Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Ulrich Hellmann nickte ernst. Dann drehte er seinen Kopf zu dem Arzt herum. »Was jetzt geschieht, müssen Sie auf jeden Fall für sich behalten, Herr Doktor. Versprechen Sie es mir!« Dr. Keppler nickte nur stumm. Er konnte sich der Autorität des alten Mannes mit dem vollen, weißen Haar und dem dichten Schnurrbart nicht entziehen. Ich knöpfte mein Hemd halb auf, bis ich an das Muttermal auf meiner Brust herankam. Es war kein Problem, den Ring zum Leben zu erwecken. Das schwarzmagische Kraftfeld auf Jan Frankes Kopf hatte ihn schon lange aufglühen lassen. Ich warf noch einen Blick in das Buch mit dem altgermanischen Futhark-Alphabet, das sich in meinem Einsatzkoffer befand. Dann schrieb ich das keltische Wort für »Gesicht« mitten auf die weißliche Fläche über den Schultern meines Uni-Freundes. Ein Funkenregen schien zu entstehen, als schwarze und weiße 73
Magie aufeinanderprallten. Jans Körper begann zu zucken. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Seine Beine schienen von Krämpfen geschüttelt zu werden. Mein Puls raste. Wenn ich einen Fehler begangen hatte, dann konnte es das Ende für den jungen Mann bedeuten. Sein Organismus war bereits sehr geschwächt, wie mir Dr. Keppler mitgeteilt hatte. Würde er die Aufregung der Rückverwandlung aushalten können? Wenn es überhaupt eine Rückverwandlung war… Endlos schienen die Minuten zu verstreichen. Das EKG, an das mein Freund angeschlossen war, brannte durch. Die Linien wurden immer wilder. Dann gab die Maschine mit einem lauten Knall den Geist auf. Für die moderne Apparatemedizin war Jan Franke nun tot. Aber da ertönte ein herzzerreißender Schrei. Der »Gewittersturm« über dem Kopf des Patienten ließ langsam nach. Ich schöpfte Hoffnung. Wenn das Gebrüll nicht aus einer anderen Dimension gekommen war, mußte zumindest der Mund meines Freundes wieder funktionieren. Und so war es auch! Die weiße Magie hatte ihre Arbeit getan. Einige Sekunden später flogen keine Funken mehr. Auf dem weißen Kissen erkannte ich das völlig erschöpfte Gesicht von Jan Franke. Augenbrauen, Augen, Nase, Mund, Ohren. Nichts fehlte. Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war, als hätte er noch gestern in einem Seminar neben mir gesessen. Bis auf eine Einzelheit. Das Haar des achtundzwanzigjährigen Jan Franke war schneeweiß geworden! »Was für ein Alptraum…«, stöhnte er. »Da war dieses Monstrum mit den Vampirzähnen…« »Meinst du mich?« Wir fuhren herum. Zwischen Fenster und Spind schwebte Dracomar! In seiner bekannten Gestalt, mit Schlapphut, schwarzem Umhang und von Weihwasser verätztem Gesicht. Er starrte mich an. Ich wollte zu meinem armenischen Silberdolch greifen. Aber da erkannte ich, daß uns der Alte des Schreckens nur in seiner feinstofflichen Form erschien. Er konnte sich in ein körperliches und in ein körperloses Wesen aufteilen. Letzteres war nicht in der Lage, selbst Schaden anzurichten. »Du glaubst wohl, du hättest gewonnen, Hellmann?« höhnte er. 74
»Aber da täuschst du dich. Ich habe ja noch nicht mal angefangen, mich mit dir zu befassen! Wir sehen uns bald wieder - in der Hölle!!!« Mit einem schaurigen Lachen löste sich die geisterhafte Gestalt in Luft auf. Wir entspannten uns. Mein Ring zeigte »Entwarnung« an. Ulrich Hellmann tippte Tessa auf die Schulter. »Wir sollten eine Krankenschwester verständigen. Der Doktor ist in Ohnmacht gefallen…« * Das Mittelalter-Fest auf der Schelenburg mußte ausfallen. Aber Jan Franke war so glücklich darüber, sein Gesicht wieder zurückgewonnen zu haben, daß er den Einnahmeverlust leicht verschmerzte. Ihm stand das Wasser ja auch finanziell nicht bis zum Hals. So wie mir. Warum war ich sturer Hund aber auch zu stolz, um mir Geld zu pumpen? In seiner Dankbarkeit hätte er sich bestimmt nicht lumpen lassen. Mir fehlte wirklich das Talent zum Abzocker. Zum Glück besaß Tessa Hayden Fähigkeiten, die mich meine miese Lage wirklich vergessen ließen. Einige Tage nach dem Abenteuer mit dem Junker Totenbaum erwachte ich morgens in meiner Wohnung. Genauer gesagt, ich wurde durch ein FaustTrommelfeuer auf meinen Rücken geweckt. Brummig schlug ich die Augen auf und drehte den Kopf zur Seite. Tessa kniete über mir. Sie war nur mit einem weißen Spitzenbody bekleidet, während ich völlig nackt war. »Guten Morgen«, brummte ich. Meine Laune war nicht die beste, denn die Vorräte in meiner Küche neigten sich allmählich dem Ende zu. »Was soll das werden, Tess? Willst du mich schon vor dem Frühstück totschlagen? Habe ich im Schlaf von anderen Frauen geschwärmt?« »Blödsinn!« erwiderte meine Freundin. »Du verkennst meine guten Absichten, Mark.« Zack! Schon landete wieder eine ihrer Fäuste auf meinem Schulterblatt. Mann, hatte die Frau einen Schlag am Leib! »Ich will dir was Gutes tun«, behauptete sie. »Das hier ist Shiatsu!« »Shiatsu?« 75
Ihre Fäuste trommelten von hinten gegen meinen Rippenbogen. »Genau. Japanische Heilmassage. Du bist total verspannt und verkrampft.« »Und bei wem hast du das gelernt?« witzelte ich. »Bei Rene Weller?« »Doofmann!« fauchte sie. »Shiatsu ist wirklich Klasse. Das hilft gegen Krämpfe und Versteifungen…« Ihr Satz blieb ihr im Mund stecken, als ich mich umdrehte. Tessa bekam große Augen. Ihre Blicke wanderten an meinem Körper herab. »Gegen Versteifungen?« vergewisserte ich mich unschuldig. »Na, wenn das so ist…« Sie wollte etwas erwidern, aber daraus wurde nichts. Tessa kniete immer noch breitbeinig über mir. Ich richtete mich auf und zog sie näher zu mir. Mit einem heißen Kuß verschloß ich ihre sinnlichen Lippen. Ihre geballten Fäuste öffneten sich. Sie schien den Rest der Shiatsu-Behandlung auf später verschieben zu wollen. Ich schälte ihren durchtrainierten Körper aus dem hautengen Body. Mit einem leisen Stöhnen bog sie ihren Rücken durch und warf den Kopf in den Nacken. Ich küßte ihren zarten Schwanenhals. Bemerkte, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten und mir sehnsüchtig entgegenreckten. Tessa blieb auf mir sitzen. Ihr gefielen fast alle Positionen für Liebesspiele. Es kam immer gerade auf ihre Stimmung an. Ihre Lippen berührten meine Brust dicht neben dem Mal. Zentimeter für Zentimeter glitt sie tiefer. Nun war ich an der Reihe, laut aufzustöhnen. Wir liebten uns so wild und leidenschaftlich wie beim ersten Mal. Meine Freundin vergrößerte die Liste meiner Verletzungen noch um einige blutige Kratzer, die sie mir mit ihren Fingernägeln über den Rücken schrammte. Aber das bemerkte ich erst, als mir schon alles egal war. Als mich die Lust in das Sekunden-Nirvana des Höhepunktes katapultierte… Tessa schrie ihre Befriedigung so laut heraus, daß ich schon fürchtete, sie würde damit meinen nervtötenden Hauswirt aus seinem Bau locken. Mit diesem Typ namens Arthur Stubenrauch lag ich in einem ständigen Kleinkrieg. Dauernd fand er etwas, weswegen er an mir herumnörgeln konnte. Und wirklich. Wenige Minuten, nachdem wir uns keuchend 76
voneinander gelöst hatten, klingelte es an meiner Wohnungstür Sturm. Fluchend sprang ich auf und griff nach meinem Bademantel. Wenn dieser kleine Sachse Stubenrauch sexuell frustriert war und deshalb die Liebesgeräusche anderer Menschen nicht ertragen konnte, dann war das sein Problem. Ich wollte ihm gehörig den Marsch blasen, ähem, ihm also die Meinung sagen. Doch ich hatte mich ganz umsonst aufgeregt. Draußen vor der Tür stand nicht der Vermieter, sondern ein ziemlich durchnäßter Paketbote der Deutschen Post. »'nterschreibn«, nuschelte der maulfaule Mann in Uniform und hielt mir einen Liste unter die Nase. Ich quittierte den Empfang eines kleinen Päckchens, das mindestens ebenso naß war wie sein Überbringer. Ich bedankte mich und schloß die Tür wieder. Auf dem Weg ins Schlafzimmer streifte ich den Bademantel von meinen Schultern. Denn ich kannte diesen hungrigen Blick, den Tessa in ihren braunen Augen hatte. Sie wünschte sich eine zweite Runde. Und auch bei mir wuchs dieser Wunsch, binnen Sekunden! Aber zuerst wollte ich sehen, was in den Päckchen war. Als Absender stand nur C. Petersen auf dem Packpapier. Aufgegeben worden war die Sendung in Osnabrück. Meine Freundin hatte sich aufgerafft und linste mir neugierig über die Schulter. Ich hatte mich auf die Bettkante gesetzt und riß das Papier auf. »Bestimmt eine Ampulle mit Viagra!« giftete Tessa. »Von einer anonymen Verehrerin!« Ich blickte sie schräg von der Seite an. »Habe ich so etwas nötig? Bist du mit meinem Stehvermögen nicht zufrieden?« fragte ich und öffnete den Bademantel. Diese »Antwort« sagte mehr als tausend Worte. Das Päckchen enthielt kein Viagra. Sondern einen schweren goldenen Siegelring. Erstaunt hielt ich ihn gegen das Licht. Das Kleinod ähnelte ein wenig meinem eigenen Ring. Allerdings war auf ihm kein stilisierter Drache abgebildet, sondern ein Auge. Die »Pupille« des Auges bestand aus einem roten Edelstein. Vielleicht einem Rubin. Umrahmt wurde das Auge von einem verschnörkelten Buchstaben. Einem D. Ich entfaltete den kurzen Brief, der dem Ring beigefügt war. »Lieber Mark! Ich kann immer noch nicht glauben, was ich auf 77
der Schelenburg erlebt habe. Aber meine Handgelenke tun mir immer noch weh. Wenn ich auch nicht ernsthaft verletzt worden bin. Und das habe ich Dir zu verdanken. Ohne Dich wäre ich wahrscheinlich tot. An der Stelle, wo Du diesen dämonischen Ritter vernichtet hast, habe ich den beiliegenden Ring gefunden. Keiner der anderen Leute auf der Burg hat Ansprüche angemeldet. Als Hobby-Altertumsforscherin habe ich etwas meine Fühler ausgestreckt. Dieser Bolko von Diepmoor, wie sich der Ritter ja wohl nannte, hat keine lebenden Nachfahren mehr. Darum schicke ich Dir den Ring des Ritters mit dem bösen Blick. Mach damit, was Du für richtig hältst. Ich hoffe, daß wir uns einmal wiedersehen. Deine Claudia.« »Da hast du ja einen Fan fürs Leben gefunden«, moserte Tessa. Aber ihre Eifersucht war diesmal nur halb ernst gemeint, das spürte ich. Ich prüfte das Kleinod mit meinem eigenen Siegelring. Seltsamerweise schien der Ring des Junkers Totenbaum nicht schwarzmagisch aufgeladen zu sein. Vielleicht, weil ich seinen Besitzer endgültig vernichtet hatte? Ich wußte es nicht. Es war mir auch egal. Ich zog lieber Tessa zärtlich an den Schultern nach hinten. Diesmal lag ich oben. Einige Stunden später betrat ich frisch geduscht und glattrasiert in meinem besten Anzug das Geschäft eines angesehenen Juweliers in der Kaufstraße. Gleich um die Ecke vom Weimarer Rathaus. Der Inhaber bediente mich höchstpersönlich. »Ich möchte ein Kleinod aus dem Mittelalter verkaufen«, sagte ich und zog den Ring aus der Hosentasche. Ich hatte ihn in ein sauberes Tuch eingewickelt. Der Juwelier klemmte sich seine Speziallupe ins Auge und hielt den Ring des Junkers Totenbaum unter die Lampe. »Den wollen Sie wirklich verkaufen?« vergewisserte er sich. »Ein ungewöhnlich gut erhaltenes Stück. Ich zahle Ihnen…« Und er nannte eine Summe. Ich willigte ein, ohne zu handeln. Ich wußte genau, daß er den Ring wahrscheinlich zum zehnfachen Preis an einen Sammler weiterverkaufen würde. Nun, meinen Segen hatte er. Ich bin der Kämpfer des Rings. Eines anderen Rings. Mein Ring beschützt die Menschen vor den Mächten des Bösen. Und das ist mir wichtiger als alles andere. 78
Es war trotzdem ein gutes Gefühl, mit prall gefüllter Brieftasche den Laden zu verlassen und einen Bummel durch die herrliche Weimarer Innenstadt zu beginnen.
ENDE Stralsund. Nacht. Totenstille. Andi beäugte prüfend das im Mondlicht liegende ehemalige Fabrikgelände. Das Unkraut wucherte kniehoch. Das zweiflüglige Tor total verrostet und nur provisorisch mit einer Eisenkette gesichert. Echt genial, dachte Andi. Wenn das nicht der ideale Ort für ein abgefahrenes Techno-Event ist, dann ich will nicht länger DJ Andi sein! Doch was so toll geplant wurde, endete in einer Katastrophe! Nachzulesen im 35. Hellmann-Roman von C.W. Bach. Titel:
Disconacht - Horrorlicht
79