Gruselspannung pur!
Dracomars Rückkehr
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Der König muß sterben!« Mephistos W...
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Gruselspannung pur!
Dracomars Rückkehr
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Der König muß sterben!« Mephistos Worte übertönten das Geschrei der Kinderschänder und Vergewaltiger, die gerade von seinen Unterteufeln entsetzlich gequält wurden. Knietief standen die Verdammten in kochender Lava, manche seit tausenden von Jahren! Mephisto konnte sich dennoch nicht so richtig freuen; er war in Gedanken versunken und schaute erst auf, als im Höllenfeuer einer seiner Getreuen wiederholte: »Ja, der König muß sterben!« Höllenherrscher Mephisto blickte in eine schaurig entstellte Fratze, die von Säure zerfressen schien. Doch es war Weihwasser gewesen. Und die vampirische Kreatur hatte nicht vergessen, wem sie diese Schmach zu verdanken hatte: Mark Hellmann! Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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»Ich bin Dracomar!« rief der Entstellte und schlug sich mit seiner dürren Faust an seine halbzerfetzte Brust. Mit Schlapphut und schwarzem Umhang hatte er wieder seine gewohnte Gestalt angenommen. »Der mächtige Blutdruide! Generationen von Menschenwürmern haben vor mir gezittert! Aber du hältst mich seit dieser Geschichte in Weimar hier in der untersten Hölle gefangen wie einen Sklaven. Warum nur, o mächtiger Mephisto?« (Siehe Mark Hellmann, Band 1) Aus tückischen gelben Augen warf der Höllenherrscher einen Seitenblick auf den klagenden Blutdruiden. Mephisto konnte jede beliebige Wesensform annehmen. An diesem Tag zeigte er sich wieder als ein mittelalterlicher Jäger. Im Wams, eine Samtkappe mit Feder auf dem Schädel. Die Beine steckten in hohen Stiefeln und Pumphosen. Sein dreieckiges, unendlich bösartiges Gesicht wurde von einem roten Spitzbart umrahmt. Mephisto deutete mit seinem Zeigefinger auf Dracomar. Ein feuerroter Blitz zischte aus der Hand des Megadämons. Mitten in das Gesicht des Blutdruiden. Dracomar jaulte vor Schmerzen auf. Der Blitz hatte ihn in sein gesundes Auge getroffen. Das andere war seinerzeit durch Hellmanns Weihwasser-Angriff zerstört worden. »Das ist die Strafe«, meinte Mephisto tückisch. »Ich kann es nicht leiden, wenn meine Weisheit in Frage gestellt wird. Kapiert?« »J. ja, Meister.« Dracomar war ein blutgieriges Monstrum, eine wahre Bestie. Aber er wußte, daß er gegen die überlegene Magie von Mephisto keine Chance hatte. Außerdem verdankte er ihm seine untote Existenz. Solche Gefühle wie Dankbarkeit gab es in der Hölle nicht. Aber Mephisto kramte trotzdem noch einmal die alte Geschichte aus Weimar hervor. »Hältst du mich für einen Idioten, Dracomar? Natürlich mußtest du erst mal auf >Tauchstation< gehen. Hast du schon vergessen, was in dem Luftschutzbunker bei der Kaiserlinde passiert ist? Dieser selbsternannte Dämonenjäger Mark Hellmann hat dir einen Eichenpflock ins Herz gejagt!« Für einen Moment nahm Mephisto die Gestalt von Mark Hellmann an. Er liebte solche Spielchen. Er fuchtelte mit seinem Satansdolch herum und tat so, als wollte er sich auf Dracomar stürzen. Unwillkürlich wich der Alte des Schreckens zurück. Der Kampf gegen den jungen Mann aus Weimar war ihm immer noch 3
in unguter Erinnerung. Einen Wimpernschlag später war der Mega-Dämon wieder in seinem Jäger-Kostüm zu sehen. Er lachte höhnisch über die Reaktion des Blutdruiden. »Siehst du, Dracomar? Selbst Hellmanns Anblick läßt dir das Herz in die Hose rutschen. Wenn du ein Herz hättest, hehehe. Als dir der Weimarer damals den Pflock ins Herz treiben wollte, habe ich dich in letzter Sekunde hierhergeholt. Hellmann wurde durch eines meiner magischen Trugbilder getäuscht. Er glaubt jetzt, dich vernichtet zu haben. Er ist sogar fest überzeugt davon. Denn er hat gesehen, wie du dich in ein Häufchen Staub aufgelöst hast. Ich wollte ihn in Sicherheit wiegen. Damit du deine Chance zur Rache bekommst.« Dracomars entstelltes Gesicht verzerrte sich zu einer noch widerwärtigeren Fratze. »Gib mir diese Chance, o Meister des Bösen! Ich werde dir beweisen, daß ich nicht feige bin. Ich werde Hellmann jeden Knochen einzeln brechen! Ich reiße ihm den Kopf vom Leib! Ich nehme sein Herz und.« »Ich habe schon meine Pläne gemacht«, versicherte Mephisto und rieb sich die Hände. »Der König wird sterben - und Hellmann wird sterben. Und beides zusammen wird ein grandioser Sieg der Hölle sein!« * »Ich grüße die Werktätigen unserer sozialistischen Republik!« Erich Honecker winkte mit der rechten Hand. Das Parteiabzeichen an seinem Sechziger-Jahre-Anzug blitzte. Der Saal tobte. Applaus und Gelächter sorgten für eine höllische Lärmkulisse. Ich blinzelte ungläubig angesichts der perfekten Show. Natürlich stand dort oben auf der Bühne der Mehrzweckhalle am Rande Weimars nicht der echte »Staatsrats- und Parteivorsitzende« der DDR. Old Erich war ja schon länger nicht mehr existent. Genau wie der Staat, den er verkörpert hatte. Ich, Mark Hellmann, befand mich in dieser Nacht auf einer >Ostalgie-PartyZeitreisen< in die Vergangenheit der 4
Renner. Ich war eigentlich eher widerwillig mitgegangen. Meine Freundin Tessa Hayden hatte mich hierher geschleppt. Sie meinte, wir müßten unbedingt mal wieder zusammen ausgehen. Die Veranstalter hatten sich wirklich Mühe gegeben. Schon am Eingang wurde man von Türstehern in den Uniformen der DDRGrenztruppen empfangen. Vorbei an einem Meer von Partei- und FDJ-Fahnen gelangte man zu einer Bar, die sich >Getränkestützpunkt< nannte. Dort gab es selbstverständlich nur Ostgetränkemarken. Viele Gäste hatten sich verkleidet. Sie trugen DDR-Chic von damals. Oder gleich ihr altes FDJUniformhemd. Und aus den Boxen dröhnte ehemals >volkseigener< Rock von den Puhdys, von Karat und von City. Hunderte von Kids bewegten sich auf der Tanzfläche, nachdem sie von dem Honecker-Double so stilgerecht begrüßt worden waren. Wie ich hörte, hatten die Veranstalter auch noch Doppelgänger von Erich Mielke und Schalk-Golodkowski in der Hinterhand. Ich nahm einen Schluck von meinem Thüringer Bier. Gegen den Tresen gelehnt versuchte ich, in Partystimmung zu kommen. Aber so recht wollte es mir nicht gelingen. Vielleicht lag es daran, daß ich schon echte Zeitreisen gemacht hatte. Und zwar, ohne mir dafür ein FDJ-Hemd anziehen zu müssen. Mein Blick blieb an dem Siegelring hängen, den ich an der rechten Hand trug. Mit Hilfe dieses geheimnisvollen Kleinods konnte ich in die Vergangenheit reisen. Das hatte ich herausgefunden. Aber ich wußte nicht, warum ich diesen Ring besaß. Er hing an einem Lederband um meinen Hals, als ich im Alter von etwa zehn Jahren nach der Walpurgisnacht in Weimar gefunden wurde. An die Zeit vorher habe ich keine Erinnerung. »Mark! Du Langweiler!« Die schnippische Bemerkung riß mich aus meinen Grübeleien. Meine Freundin Tessa stand plötzlich vor mir, wie aus dem Boden gewachsen. Sie reicht mir nur bis zum Kinn. Aber ich bin ja auch einsneunzig groß. Die Polizistin mit der kecken braunen Kurzhaarfrisur trug in dieser Nacht ihre grünen Kontaktlinsen, mit denen sie ihre haselnußbraunen Augen manchmal tarnt. Das gab ihrem Blick etwas Katzenhaftes. Empört hatte sie die Hände in ihre schmalen Hüften gestemmt. Ihre Figur ist eher sportlich als üppig. Ihr Job bringt es eben mit sich, daß sie kein Kilo zuviel mit sich rumschleppte. 5
Tessa hatte sich wirklich Mühe gegeben, den passenden Ostalgie-Touch zu bekommen. Sie trug eine dünne Bluse aus der Kunstfaser Dederon. Eine DDR-Eigenentwicklung. Und auch ihr Super-Minirock stammte garantiert aus einem der ehemaligen VEBs. »Halt dich hier nicht an deinem dämlichen Bier fest! Tanz lieber mit mir!« Sie versuchte, mich mit beiden Händen auf die Zappelfläche zu ziehen. Seufzend strich ich mir durch mein Haar. Und trottete hinterher. Ich wollte ihr ja den Spaß nicht verderben. Schließlich hatten wir beide in letzter Zeit viele üble Dinge erlebt. Immer wieder versuchten die Mächte der Finsternis, mich zu vernichten. Es war meine Bestimmung, als Kämpfer des Rings für das Gute in der Welt einzutreten. Und die Menschen vor dämonischen Gefahren zu beschützen. Soviel hatte ich inzwischen herausbekommen. Mephisto war der stärkste und mächtigste meiner Feinde. Er hatte es ganz besonders auf mich abgesehen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich bei dieser Ostalgie-Party nicht wirklich amüsieren konnte. Den ganzen Abend hatte ich schon das Gefühl, verfolgt zu werden. Seit wir vor meiner Wohnung in der Florian-Geyer-Straße in meinen stahlblauen BMW gestiegen waren. * Bei einem langsamen Stück preßte Tessa ihren schlanken Körper an mich. Ich spürte, wie ich augenblicklich scharf auf sie wurde. Sie war schon ein tolles Mädchen. Wenn da bloß nicht ihre krankhafte Eifersucht gewesen wäre. Als hätte der Teufel die Hand im Spiel, fing ich in diesem Moment den Blick einer üppigen Blondine auf. Sie drehte sich ein Stück weit entfernt von uns mit einem bulligen Schnauzbarttypen. Die Brüste der Blonden schienen die FDJ-Bluse jeden Augenblick sprengen zu wollen. Das nächste Lied war wieder etwas schneller. >King vom Prenzlauer Berg.< Das hatten wir schon zu DDR-Zeiten auf jeder Schulfete gehört. Nach meinem rätselhaften Auftauchen war ich als Zehnjähriger von dem Ehepaar Ulrich und Lydia Hellmann adoptiert worden. Ich liebte sie wie meine richtigen Eltern, die ich 6
ja nicht kannte. Die Initialen meines Siegelrings MN regten die Hellmanns dazu an, mich Markus Nikolaus zu taufen. Doch allgemein werde ich nur Mark genannt. Zum Glück, denn der Nikolaus und ich hatten ja nichts gemein. »Mark!« Aus Tessas Mund klang mein Name eher wie eine Verwünschung. Nun war das geschehen, was ich schon seit Minuten befürchtet hatte. Meine Freundin hatte spitzgekriegt, daß mir die vollbusige Blonde schöne Augen machte. Ich hatte wirklich versucht, nicht zurückzuflirten. Ehrlich. Aber so unschuldig konnte ich überhaupt nicht sein, daß Tessa nicht zur Furie wurde. Sie fletschte die Zähne. Warf mir einen vernichtenden Blick zu. Und ließ mich dann mitten auf der Tanzfläche stehen. Einige Partyvögel lachten. Sie hatten die Szene mitbekommen. Ich sah, wie Tessas Gestalt in der Menge verschwand. Es mußten mindestens zwölfhundert Leute auf dieser Ostalgie-Fete sein. Halb Weimar schien sich auf die Socken gemacht zu haben. Inzwischen ging es auf Mitternacht zu. Ich war erst mal restlos bedient. Mit den Ellenbogen bahnte ich mir den Weg zur Theke. Doch dort standen die durstigen Trinker schon in Dreierreihen, um ein Bier zu ergattern. Inzwischen war die Luft zum Schneiden. Die Klimaanlage rebellierte gegen die Wolken von Zigarettenqualm. Natürlich ganz ostalgisch von Lungentorpedo-Marken wie »Club« und »Karo.« Aber ich war schon zu DDR-Zeiten Nichtraucher gewesen. Als durchtrainierter Ex-Zehnkämpfer hatte ich dem Tabak noch nie etwas abgewinnen können. Mein Kopf glühte. Ich wollte nur noch raus. In der Nähe des Ausgangs gab es einen »Souvenirstand«. Dort konnte man Volksarmee-Mützen, Porträtfotos von Erich Honecker und Aschenbecher mit Hammer und Zirkel erwerben. Der ExDDR-Kitsch kannte keine Grenzen. Hier waren es vor allem Wessis, die sich mit dem Kram eindeckten. Wer wie ich in der DDR aufgewachsen war, hatte noch genug davon auf dem Speicher rumliegen. Endlich war ich draußen. An der klaren und kalten Herbstluft ging es mir sofort besser. Ich machte ein paar Schritte über den halb im Dunkel liegenden Parkplatz. Irgendwo dort rechts vor mir mußte ich den BMW geparkt haben. Ich hatte nicht übel Lust, 7
einfach ohne Tessa abzudampfen. Warum mußte sie mir immer wieder eine Szene machen? Okay, manchmal hatte ich ihr dafür schon Anlaß gegeben. Aber diesmal war ich so unschuldig wie ein gerade geborenes Baby. Ich hatte wirklich versucht, den Blick der Blonden nicht zu erwidern, verdammt noch mal! Ich begann mich zu fragen, ob es wirklich so weitergehen konnte mit Tessa und mir. Doch dann verlor ich den Gedankenfaden. Denn jemand warf von hinten ein schwarzes Tuch über mich! * Der Zorn rauschte wie eine Droge durch die Blutbahnen von Tessa Hayden. Sie verzog sich erst einmal auf die Damentoilette, um sich zu beruhigen. Aber wollte sie sich überhaupt wieder einkriegen? Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker steigerte sie sich in ihre Eifersucht hinein. Es war aber auch wirklich zum Mäusemelken! Egal, wo sie mit Mark Hellmann auftauchte. Irgendein Weibsstück gab es immer, das auf ihn flog. Kunststück, sagte sich die brünette Polizistin. Sie wußte, daß ihr Freund ein wahrer Modellathlet war. Man schien ihm anzusehen, daß er vor nicht allzu langer Zeit ein sehr erfolgreicher Zehnkämpfer gewesen war. Nein, Mark wirkte nicht wie ein wissenschaftlicher Assistent im Museum für Völkerkunde. Vielleicht war das ja mit ein Grund dafür, warum er diesen sicheren Job nach so kurzer Zeit hingeworfen hatte. Und sich jetzt als freier Journalist durchs Leben schlug. Tessa hatte sich auf diesen Abend gefreut. Nach den Abenteuern der letzten Zeit war sie der Meinung gewesen, daß Mark und sie selbst mal ein wenig Spaß brauchten. Die ständige Bedrohung durch die höllischen Legionen von Mephisto und anderen Dämonen war sonst einfach zu nervenaufreibend. Die Polizistin war anfangs sehr skeptisch gewesen. Früher hatte sie nie an übersinnliche Dinge geglaubt. Bis sie selbst nur allzu schmerzlich mitbekommen hatte, wie verschlagen und unmenschlich diese schwarzmagischen Gestalten sein konnten. Tessa atmete tief durch. Zog ihren Lippenstift nach. Betrachtete ihr Spiegelbild. Eine schöne junge Frau, die von der Eifersucht zerfressen wurde. 8
Selbstironisch streckte sie sich selbst die Zunge heraus. Links und rechts von ihr bastelten andere Mädchen und Frauen an ihrem Make-up. Einige von ihnen waren so jung, daß sie die DDRZeit nur als Kleinkinder miterlebt haben konnten. Aber das spielte wohl keine Rolle. Die Ostalgie-Feten waren in erster Linie ein Spaß. Ein Spaß, der noch dadurch verstärkt wurde, daß sich so viele Westdeutsche darüber ärgerten. Von guten Vorsätzen begleitet verließ die Polizistin die Damentoilette. Sie wollte sich mit Mark versöhnen. Sich vielleicht sogar entschuldigen für ihren idiotischen Eifersuchtsanfall. Und dann, in seiner kleinen Dachwohnung in der Florian-GeyerStraße, würde sie ihm schon zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Das tat sie immer wieder gerne. Und mit derselben Begeisterung wie beim ersten Mal. Plötzlich packte sie jemand brutal am Oberarm. Tessa fuhr herum. Sie dachte schon an einen von Mephistos Höllenknechten. Als Freundin vom »Kämpfer des Rings« stand sie natürlich auch im Kreuzfeuer der dämonischen Mächte. Aber dieser Typ schien eine allzu irdische Nervensäge zu sein. Er war breit gebaut, trug halblange Haare und ein FDJ-Hemd. Außerdem war er voll wie eine Strandhaubitze. »Ta- tanz mit mir, schöne Pionierin!« lallte er. »Verschwinde!« zischte Tessa. Sie spürte, wie ihre Wut zurückkehrte. Der Kerl sollte besser seine Knochen numerieren. Aber der Besoffene war so abgefüllt, daß er nichts mehr mitzukriegen schien. Nun grabschte er mit seiner anderen Hand nach ihrem Busen. Tessa Hayden machte kurzen Prozeß. Sie bohrte ihm ihren linken Pfennigabsatz in den Fuß. Gleichzeitig rammte sie ihm ihren Ellenbogen in den Magen. Vollführte eine Drehung um die eigene Achse. Und landete noch einen Treffer auf seinem Schädel. Der Kerl ging jammernd zu Boden. Da kamen auch schon einige Rausschmeißer, um ihn an die frische Luft zu setzen. Das konnte Tessa nur recht sein. Als Polizistin konnte sie zwar auch Verhaftungen vornehmen, wenn sie nicht im Dienst war. Doch nun war der Anmacher-Typ schon weg. Und sie mußte sich nicht mit ihm rumärgern. Außerdem wollte sie jetzt zu Mark Hellmann. Sich bei ihm entschuldigen. Aber wo war er? 9
Auf der Tanzfläche suchte sie ihn vergebens. Das wunderte Tessa nicht. Mark war noch nie ein begeisterter Tänzer gewesen. Es gab drei Theken in der großen Halle. Die Brünette klapperte eine nach der anderen ab. Marks Größe war ein Vorteil. Er ragte aus jeder Menschenmenge heraus wie ein Turm in der Schlacht. Tessa erblickte zwar einige andere lange Kerle. Aber keine Spur von ihrem Freund. Langsam begann sie unruhig zu werden. War ihm etwas zugestoßen? Hatte Mephisto ihm wieder eine seiner üblen Fallen gestellt? Tessas Bewegungen wurden hastiger, während sie sich zwischen den lachenden und flirtenden Partygängern Platz verschaffte. Wo war Mark, verdammt noch mal? Er hatte sowieso keine große Lust auf diese Ostalgie-Fete, sagte sie sich. Wenn er nun allein nach Hause gefahren ist.? Tessa lief hinaus auf den Parkplatz. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie den stahlblauen BMW gefunden hatte. Er stand unberührt da. Genauso wie Mark ihn eingeparkt hatte, als sie vor über zwei Stunden angekommen waren. Sicherheitshalber legte die Polizistin ihre Hand auf den Kühler. Nichts. Dieser Wagen war in der letzten halben Stunde nicht bewegt worden. Ein älterer Parkwächter trottete heran. »Kripo Weimar!« Tessa präsentierte ihren Dienstausweis. Sie hätte natürlich auch einfach so nach Mark Hellmann fragen können. Aber die meisten Menschen gaben sich mehr Mühe, wenn sie es mit einer Behörde zu tun hatten. Traurig, aber wahr. Sie zog außerdem ein Foto von ihrem Freund aus der Schultertasche. Sie hatte es erst vor wenigen Wochen auf der Kulturmeile von Weimar selbst aufgenommen. Aber das sagte sie dem Wächter natürlich nicht. »Haben Sie diesen Mann gesehen?« Wie erwartet prüfte der Alte den Schnappschuß sehr sorgfältig. Dann schüttelte er traurig den Kopf. »Die Veranstalter rechnen mit zweitausend Gästen heute nacht. Da kann ich mir nicht alle Gesichter merken. Kann sein, daß dieser Mann heute hier war. Kann auch nicht sein. Ist das ein Verbrecher?« setzte er neugierig hinzu. »Nein«, sagte Tessa gedankenverloren, »das ist kein Verbrecher.« Ganz im Gegenteil, dachte sie melancholisch. Er ist der Kämpfer des Rings. Und momentan spurlos verschwunden. 10
* Sie waren mindestens zu viert. Es mußten Profis sein. Stahlharte Finger hielten meine Oberarme fest. Ich konnte unter dem schwarzen Tuch absolut nichts sehen. Es war ein Gefühl, als ob ich in ein lichtloses Universum gestoßen worden wäre. Ich hörte nur die leisen Stimmen der Männer, die mich überfallen hatten. Wie ein Berserker kämpfte ich, um mich zu befreien. Ich keilte aus und traf mit meinem Stiefelabsatz ein Schienbein. Jedenfalls folgerte ich das aus dem unterdrückten Schmerzensschrei hinter mir. Als Ex-Zehnkampfmeister trainiere ich meinen Körper immer noch regelmäßig. Ich beherrsche Boxen ebenso wie Kung Fu, Karate und andere asiatische Kampftechniken. Das kam mir jetzt zugute. Es gelang mir, meinen rechten Arm aus der Umklammerung zu reißen. Ich drosch meine Faust dorthin, wo ich die Stimmen der Angreifer hörte. Einen oder zwei von ihnen traf ich. Meine Knöchel prallten auf unrasierte Wangen oder Kinne. Gleichzeitig wehrte ich mich auch mit Tritten. Während mein linkes Bein wie verwurzelt auf dem Asphalt des Parkplatzes stand, versuchte ich mir mit rechts diese Typen vom Leib zu halten. Doch es waren zu viele. Und ich sah absolut nichts. Als ich versuchte, mir das Tuch abzustreifen, reagierten sie besonders allergisch. Die Männer wollten wohl um keinen Preis erkannt werden. Männer? Oder nichtmenschliche Wesen, Dämonenknechte von Mephisto? Das glaubte ich nicht. Denn mein Siegelring erwärmt sich, wenn Schwarze Magie in der Nähe aktiv ist. Doch das Kleinod blieb kalt. Ich weiß nicht, wie lange wir stumm miteinander rangen. Wahrscheinlich waren es nur Minuten. Schließlich bezwang mich die Übermacht. Ich lag am Boden. Sie fesselten meine Handgelenke und Beine. Immer noch war das Tuch über meinen Kopf gezogen. Da fiel mir das Naheliegendste ein. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? Ich füllte meine Lungen mit Luft und schrie, so 11
laut ich konnte: »Hilfe!!« Die Idee war vielleicht nicht schlecht, kam aber zu spät. Einige Sekunden nach meinem Ruf hörte ich, wie Autotüren schlugen. Die Angreifer hoben mich auf. Bugsierten mich offenbar auf den Rücksitz eines Wagens. Ich spürte links und rechts von mir, wie zwei von ihnen ebenfalls Platz nahmen. Die Autotüren wurden zugeknallt. Jemand ließ den Motor an. Und dann rollte die Karre vom Parkplatz. Ich, Mark Hellmann, steckte wieder einmal tief im Schlamassel. * »Nein, bei uns ist er nicht.« Pit Langenbach klang am Telefon kaum genervt. Obwohl Tessa Hayden ihn nachts um halb drei aus dem Schlaf geklingelt hatte. Aber erstens war er als Hauptkommissar der Weimarer Kripo gewöhnt, zu den unmöglichsten Zeiten geweckt zu werden. Zweitens war er der beste Freund von Mark Hellmann. Und drittens hatte er schon oft genug mit Mark und Tessa zusammen gegen die Mächte der Finsternis gekämpft. Tessa hörte, wie Pit sich einen Zigarillo anzündete. Aus dem Hintergrund kam ein schwacher Protest seiner Frau Susanne. Seit Jahren wollte sich der 34jährige das Rauchen abgewöhnen. Aber bei seinem aufregenden Job wurde nie etwas daraus. »Ich mache mir Vorwürfe, Pit. Wir haben uns wieder gezofft. Das heißt, eigentlich habe nur ich Rot gesehen. Wegen so einer dickbusigen Schnalle.« »Wo seid ihr denn gewesen, Tessa?« »Bei der großen Ostalgie-Fete in der Albertini-Halle.« »Ach, mit Honecker & Co.« Der Hauptkommissar lachte. »Und wo bist du jetzt?« »Immer noch auf der Party. Ich stehe draußen. Bei dem Lärm drinnen kam man ja nicht telefonieren.« »Und Mark hat keine Nachricht hinterlassen?« Tessa seufzte. Sie verfluchte sich selbst wegen ihrer Unbeherrschtheit. Vielleicht war der Kämpfer des Rings in eine Falle gegangen - nur weil sie ihm eine Szene gemacht hatte. Pit schien zu spüren, was in ihr vorging. »Mach dir keine Vorwürfe, Kollegin. Mark ist alt genug, um auf 12
sich selbst aufzupassen. Er hat seinen magischen Ring. Wahrscheinlich macht er einen Zug durch die Gemeinde. Und hat morgen früh einen so dicken Schädel, daß er damit nicht durch die Tür kommt!« Tessa lachte höflich über den Witz von Pit. Die beiden verabredeten, nach Tagesanbruch noch einmal zu telefonieren. Dann wählte die Polizistin die Nummer von Vincent van Euyen. »Ja?« Tessa war überrascht, daß Vincent schon nach dem zweiten Klingeln abnahm. Es war schließlich mitten in der Nacht. »Hier ist Tessa Hayden, Vincent. Ist Mark bei dir?« »Nee, Tessa. Wir sind zwar sozusagen Kollegen. Aber seit Mark nur noch dann und wann für die Weimarer Rundschau was schreibt, muß ich alte Reporterseele mir die ganzen interessanten Stories allein aus den Fingern saugen. Was ist denn passiert?« Mit ein paar knappen Sätzen berichtete die junge Frau, daß ihr Freund verschwunden war. »Kein Grund zur Beunruhigung«, meinte Vincent van Euyen. Der Bildreporter hatte holländische Vorfahren, von denen er seine unerschütterliche Ruhe geerbt hatte. Vielleicht ließen ihn ja auch die Unmengen von Lakritz, die er verzehrte, das Leben gelassener betrachten. Oder es lag an seiner geliebten Stinkpfeife. »Mark wird in einer Kneipe sitzen«, vermutete der Journalist. »Oder er liegt längst im Bett.« Wenn auch nicht in seinem eigenen, hätte er beinahe noch hinzugefügt. Aber er biß sich noch rechtzeitig auf die Zunge. Auch er wußte von Tessas Eifersucht und wollte ihre in den vergangenen Wochen stabilisierte Zweisamkeit nicht gefährden. Die Polizistin merkte, daß sie auch bei ihm nicht weiterkam. »Wieso bist du eigentlich noch so spät auf, Vincent?« »Ich hänge im Internet. Suche mir ein paar Informationen zusammen. Vielleicht findet mein Computer ja auch ein paar Dinge, die für Mark spannend sein könnten. Sag ihm doch, er soll mich mal anrufen, wenn er wieder auftaucht.« »Mach ich.« Tessa beendete das Gespräch. Wenn er wieder auftaucht. Vincent van Euyens Satz echote in ihrem Gehirn. Ein Anruf blieb ihr noch. Aber sie wollte nicht mitten in der Nacht Marks Eltern aus dem Schlaf reißen. Ulrich Hellmann war vor seiner Pensionierung selbst Kripo-Beamter gewesen. Trotz 13
einer leichten Behinderung war er sehr belastbar, auch seelisch. Aber seine Frau Lydia ängstigte sich sowieso schon ständig um Mark, den sie liebte wie ihr eigenes Kind. Es wäre nicht fair von Tessa, die beiden alten Leute mitten in der Nacht hochzuschrecken. Jedenfalls traf sie diese Entscheidung. Also kämmte sie noch einmal systematisch die gesamte PartyHalle durch. Schickte sogar einen Kellner in die Herren-Toilette. Um zu checken, ob Mark dort vielleicht ohnmächtig geworden war. Nichts. Schweren Herzens rief sie sich ein Taxi und fuhr in die FlorianGeyer-Straße. Mark Hellmanns kleine Wohnung lag völlig verwaist da. Nichts deutete darauf hin, daß der Mieter zuhause war. Mutlos ging Tessa wieder hinunter. Sie hatte den Taxifahrer angewiesen, zu warten. Er brachte sie nun in ihr eigenes kleines Apartment. In dieser Nacht fand die Polizistin kaum Schlaf. Von Alpträumen gequält erwachte sie schon beim ersten Morgengrauen. Wankte ins Bad, um zu duschen. Ich darf jetzt nicht ausflippen, sagte sie sich. Ich muß weiter funktionieren. Damit ich Mark helfen kann! Nach der Dusche fühlte sie sich etwas besser. Tessa schob zwei Toastscheiben in den Röster und trank von dem frisch aufgebrühten Kaffee. Dann hörte sie das Klappern des Briefkastens. Der Zeitungsjunge brachte die Weimarer Rundschau. Das wird mich ablenken, dachte Marks Freundin. Als der Kaffee fertig war, holte sie die Zeitung herein und setzte sich zum Frühstück nieder. Die erste Toastscheibe bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Und checkte gleichzeitig die Neuigkeiten. Krieg auf dem Balkan, Unruhe in Rußland, Unwetter in Amerika, Arbeitslosigkeit in Deutschland. Und: 22 Prozent aller Deutschen träumten davon, ein Buch zu schreiben. Zu denen gehöre ich auch, dachte Tessa. Ich brauchte bloß zu notieren, was ich mit Mark Hellmann so erlebe. Bloß würde mir das keiner glauben. Sie blätterte um. Dann ließ sie die Zeitung mit einem leisen Schmerzensschrei fallen. Die Polizistin fühlte sich, als hätte man sie mit heißem Wasser übergössen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. 14
Eine große Todesanzeige hatte jemand ins Blatt gesetzt. Als Todesdatum war der heutige Tag angegeben. »Er ist plötzlich und unerwartet von uns gegangen«, hieß es darin. »MARKUS NIKOLAUS HELLMANN. Die trauernden Hinterbliebenen. Ulrich und Lydia Hellmann. Tessa Hayden. Peter Langenbach und Familie. Vincent van Euyen.« Tessas Augen füllten sich mit Tränen. * Meine Entführer hatten das schwarze Tuch nicht von meinem Kopf und Oberkörper genommen. Zum Glück war das Gewebe luftdurchlässig, so daß ich ohne Probleme atmen konnte. Ich roch die After Shaves der Männer neben mir. Teure Marken. Auch der Wagen, in dem ich entführt wurde, schien keine alte Klapperkiste zu sein. Dafür sprachen der leise Motor, die gute Straßenlage, die Federung und nicht zuletzt das bequeme Polster. Ich tippte auf einen neuen Mercedes. Meine gefesselten Hände drohten einzuschlafen. Ich bewegte die Finger, um die Blutzirkulation anzuregen. Wenn ich eine Chance zur Flucht bekam, würde ich meine Fäuste sofort gebrauchen. Doch momentan sah es nicht so aus, als ob ich entkommen könnte. Der Wagen beschleunigte. Danach schien er ein größeres Tempo zu halten. Waren wir auf einer Autobahn? »Was wird hier eigentlich gespielt?« Meine laut in den Innenraum geworfene Frage war als Versuchsballon gedacht. Bisher hatten sich die Männer als so schweigsam wie Fische erwiesen. »Ihr redet wohl nicht mit jedem?« spottete ich. »Warum habt ihr nicht einen entführt, der genauso maulfaul ist wie ihr?« »Weil Sie derjenige sind, den wir haben wollten, Herr Hellmann.« Ich horchte auf. Der Mann links von mir hatte diesen Satz gesagt. Er kannte meinen Namen. Das wunderte mich nicht. Ich hatte nicht angenommen, daß ich zufällig aufgegriffen worden war. Die Entführer mußten mir aufgelauert haben. Daher meine Vorahnung, verfolgt zu werden. Mein Instinkt hatte mich wieder einmal nicht im Stich gelassen. Nur nutzte mir das in diesem 15
Moment überhaupt nichts. »Warum haben Sie sich nicht von meiner Sekretärin einen Termin geben lassen?« fragte ich selbstironisch. Natürlich hatte ich überhaupt keine Sekretärin. Ich war froh, wenn ich jeden Monat die Miete für meine Wohnung zusammenkratzen konnte. Als freier Journalist schlug ich mich mehr schlecht als recht durchs Leben. Und für meine eigentliche Aufgabe, als Kämpfer des Rings, hatte es in der Vergangenheit nur selten Geld gegeben. Aber immerhin, so arm wie eine Kirchenmaus war ich nun nicht mehr. Der Unbekannte ging nicht auf meinen flapsigen Tonfall ein. »Wir wollten sicher sein, daß Sie nicht ablehnen, Herr Hellmann. Und daß Sie diskret sind. Haben Sie keine Angst. Es wird Ihnen nichts geschehen.« So seltsam es klingt, ich glaubte ihm. Die Entführer hatten mich zwar gefangen, aber nicht verletzt. Obwohl ich um mich geschlagen hatte wie Axel Schulz, hatte mich kein einziger Hieb oder Tritt getroffen. Obwohl sie in der Überzahl waren. Sie hätten mich krankenhausreif prügeln können. Aber sie hatten es nicht getan. Ich versuchte, noch mehr Informationen aus dem Mann neben mir herauszuholen. Aber er wurde zunehmend einsilbiger. Wollte mir nicht sagen, wohin die Reise ging. Bat mich nur immer wieder um Geduld. Schließlich gab ich auf. Irgendwann würde der Mercedes sein Ziel erreichen. Wer mich wohl gekidnappt hatte? Der Tonfall des Unbekannten klang nach einem Bayern, der hochdeutsch zu reden versucht. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann nickte ich ein. Obwohl meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. * Jasmin Mertens war nackt. Die attraktive Siebzehnjährige schlief stets ohne einen Faden am Leib. Von dieser Gewohnheit ließ sie auch bei dieser Klassenfahrt nicht ab. Gähnend schlug sie die Bettdecke zurück. Sie teilte sich ihr Zimmer in der Jugendherberge mit Claudia Hofmann. Einer Klassenkameradin aus dem Kant-Gymnasium in 16
Erfurt. Die dunkelhaarige Claudia lag noch in den Federn und schnarchte, als ob sie das ganze Bayerische Alpenvorland absägen wollte. Jasmin gähnte erneut. Warf ihre blonden Haare zurück. Ein weiterer langweiliger Tag lag vor ihr. Diese Klassenreise an den Starnberger See war das Ödeste, was sie sich vorstellen konnte. Außer vielleicht einer Mathearbeit. Warum konnte diese Jugendherberge nicht in München stehen? Das Mädchen träumte davon, wie sie durch die coolsten Boutiquen der Bayerischen Landeshauptstadt schlenderte und nachts die Discos von Schwabing unsicher machte. Statt dessen sollte sie mit ihren Kameraden in diesem Kaff am Starnberger See versauern! Schicksalsergeben stand sie auf und trottete zu der kleinen Naßzelle. Ein Geräusch am Fenster ließ sie zusammenfahren. Plötzlich wurde ihr wieder klar, daß sie splitternackt war. Automatisch hielt sie den linken Unterarm vor ihren Busen. Drehte sich zum Fenster. War da etwas gewesen? Ein Schatten? Die Sonne würde bald über dem Starnberger See aufgehen. Noch war es draußen dämmerig. Was soll denn da gewesen sein? beruhigte sie sich selbst, während sie ihren Weg ins Bad fortsetzte und schließlich die Duschtür hinter sich zuzog. Es sei denn, Dirk oder Marco haben sich als Spanner betätigt. Grinsend dachte sie an ihre beiden Verehrer. Das heiße Wasser rieselte angenehm über ihren wohlgeformten Körper. Dirk Müller. Ein As in Mathe und Physik. Der ruhige, etwas trockene Junge träumte von einer Karriere als Offizier bei der Bundeswehr. Natürlich am liebsten bei einer High-Tech-Einheit, wo er den ganzen Tag an Schaltkreisen und Funktionssystemen herumbasteln konnte. Und Marco Wiese. Ein Spinner mit Vorliebe für schwarze Klamotten und Horrorgeschichten. Er war nicht so gut in der Schule, außer in Englisch, das liebte er, weil er nur so diese KultGruselromane im Original lesen konnte. Die beiden Jungen hatten nicht sehr viel gemeinsam. Außer, daß sie beide hinter Jasmin herwaren wie der Teufel hinter der armen Seele. Das Mädchen fühlte sich durch dieses Interesse ziemlich 17
geschmeichelt. Plötzlich hörte sie wieder ein Klappern. War da etwas am Fenster? Schnell frottierte sie sich ab und patschte mit ihren nackten Füßen zur Badezimmertür. Nichts. Glaubte Jasmin. Sie ahnte nicht, daß sie nur für den Moment vom absoluten Grauen verschont geblieben war. * Dracomars Vampirkrallen bohrten sich in die Fensterbank der Jugendherberge. Er hatte genug gesehen. Seit Mephisto ihm erlaubt hatte, die unterste Höllenebene zu verlassen, trieb er sich wieder auf der Erde zwischen den Menschen herum. Ein Jagdaufseher in Eichendorf und ein Obdachloser in der Nähe von Ottobrunn waren seiner Blutgier seitdem zum Opfer gefallen. Doch der Alte des Schreckens war viel vorsichtiger geworden. Entgegen seiner früheren Gewohnheit hatte er die Leichen gut versteckt. Niemand durfte bemerken, daß am Starnberger See ein Vampir sein Unwesen trieb. Nicht bevor er sein großes Ziel erreicht hätte. Dracomars halb verweste Zunge fuhr über seine zerfasernden Lippen. Die Gier nach Jasmin Mertens' Blut peitschte durch seine dämonischen Adern. Aber noch konnte er sich beherrschen. Dieses Mädchen würde zu seinem willenlosen Werkzeug werden. Ihm dabei helfen, Mephistos Wünsche zu erfüllen. Und dann, wenn das Böse wieder triumphierte, würde er seine langen Fangzähne in den Hals der blonden Schönen schlagen. Bei diesem Gedanken lief ein bösartiger Schauer durch den Körper des Blutdruiden. Er sprang von der Außenwand der Jugendherberge herunter und war mit einigen unmenschlich weiten Sprüngen im Unterholz des Seeufers verschwunden. Nur einige Hasen und Igel hörten sein irres Kichern. * »Diese Anzeige sehe ich zum ersten Mal!« Der Druckereichef der Weimarer Rundschau ließ seine müden 18
Augen zwischen den wütenden Gesichtern von Tessa Hayden und Pit Langenbach hin- und herwandern. Auch Langenbachs Morgenzeitung hatte die Todesanzeige von Mark Hellmann enthalten. Der Hauptkommissar und die Polizistin hatten kurz telefoniert und waren dann zum Redaktionsgebäude der Weimarer Rundschau gerast. Unter Marks Kollegen wußte niemand etwas von der Todesanzeige. Verständnislos hatte man die beiden in die Druckerei geschickt. Pit Langenbach hatte bereits einen Verdacht. Aber er mußte sich Gewißheit verschaffen. »Können wir die Druckvorlage sehen, bitte?« »Meinetwegen.« Der Druckereichef lud in seinem Computer eine neue Datei. Tessa und Pit traten hinter ihn und linsten ihm über die Schulter. »Das ist die Seite mit den Todesanzeigen. Die Ausgabe, die heute früh erschienen ist.« Alle drei lasen die am Computer montierte Seite. Es waren überwiegend alte Menschen, die hier per Anzeige betrauert wurden. Der Name Mark Hellmann fehlte jedenfalls komplett. »Haben Sie vielen Dank«, sagte Tessa mit unsicherer Stimme. Dann schob Pit sie aus dem Büro hinaus. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Druckereichef eine Flasche Weinbrand aus seinem Schreibtisch zog. Wahrscheinlich war er der Meinung, gerade von zwei Verrückten belästigt worden zu sein. Pit strich sich nervös über seinen mächtigen Schnurrbart. »Ein übler Scherz.« »Ein übler dämonischer Scherz!« ergänzte Tessa. »Wie anders als mit Schwarzer Magie kann man eine schon fertige Druckvorlage noch verändern? Ich bin zwar keine Zeitungsexpertin, aber ich weiß nicht, wie so was anders funktionieren sollte!« »Mephisto?« Die beiden Kripo-Beamten gingen Seite an Seite auf den Ausgang zu. »Wahrscheinlich. Pit, jagen wir eine Großfahndung raus?« »Na klar, Tessa. Ich rufe außerdem bei Marks Eltern an. Ich kann mir vorstellen, daß seine Mutter mit den Nerven runter ist, wenn sie diese satanische Anzeige ebenfalls gelesen hat.« Schweigend stiegen Marks Freundin und sein bester Freund in 19
den Dienstwagen. Unausgesprochen lastete noch etwas anderes zwischen ihnen. Was, wenn die Anzeige gar kein Scherz gewesen war? Wenn Mark Hellmann seit der vergangenen Nacht nicht mehr lebte? * Ich wachte mit Kopfschmerzen auf. Das war allerdings auch kein Wunder. Es ist nicht gerade bequem, im Sitzen mit gefesselten Händen zu schlafen. In einem Auto, das mit unbekanntem Ziel dahinrast. »Wir sind gleich da, Herr Hellmann«, verkündete der Wortkarge, den ich für einen Bayern hielt. »Ich erwarte Chefarztbehandlung für meine Kopfschmerzen«, witzelte ich. Niemand lachte. Bald darauf wurde der Mercedes wirklich langsamer und hielt schließlich an. Meine Beinfesseln wurden gelöst. Aber noch immer nahmen mir die Entführer das Tuch nicht ab. Starke Arme schafften mich aus dem Wagen. Dann wurde ich über einen Weg geleitet. Der Duft von Nadelhölzern und Harz bewies mir, daß es hier irgendwo Wald geben mußte. Der Pfad unter meinen Stiefelsohlen war etwas unwegsam. Mehrfach strauchelte ich. Und wurde jedes Mal von meinen Begleitern abgestützt. Plötzlich roch es feucht. Die Wald-Geräuschkulisse verschwand. War es Beton, der sich nun unter meinen Füßen befand? »Wir nehmen Ihnen jetzt das Tuch ab«, verkündete jemand. Gleich darauf blinzelte ich in das Licht von Neonröhren, die unter der Decke verliefen. Ich war in einem fensterlosen Gang. Es roch nach einem scharfen Reiniger. »Wo bin ich hier?« »Ungefähr fünfzig Meter unter der Erde«, erwiderte ein breitschultriger Mann mit einem offenen, sympathischen Gesicht. »Im Inneren des Natternbergs. In der Nähe von Deggendorf. In Niederbayern.« Ich schaute mir meine Kidnapper an. Es waren wirklich vier Mann, wie ich vermutet hatte. War ich von Wahnsinnigen entführt worden? Aber sie wirkten alle so normal. Wie biedere Familienväter in den mittleren Jahren. Einer trug sogar eine 20
Trachtenjacke und Kniebundhosen. Ansonsten waren sie völlig unauffällig angezogen. Die Handfessel nahmen sie mir noch immer nicht ab. »Folgen Sie mir bitte«, sagte der Wortkarge, den ich an der Stimme erkannte. »Habe ich eine Wahl?« Darauf erwiderte er nichts. Das war Antwort genug. Bald kamen wir an eine breite Treppe, die hinunter in ein natürliches Höhlensystem führte. Ich konnte nicht erkennen, wie diese geräumigen Grotten erleuchtet wurden. Hier gab es jedenfalls keine Neonröhren. Schließlich löste der Bayer die Stricke um meine Handgelenke. »Versprechen Sie, daß Sie keine Dummheiten machen«, sagte er. Diesmal schwieg ich. Aber da ich allein wahrscheinlich niemals aus diesem unterirdischen Labyrinth herausgefunden hätte, kam ein Frontalangriff sowieso nicht in Frage. Mein Ring blieb kalt und leuchtete auch nicht. Keine dämonische Aktivität in der Nähe. Mein Begleiter klopfte an eine schwere Flügeltür aus Eichenholz. »Herein!« rief die Stimme eines alten Mannes. Der Bayer hielt mir die Tür auf. Ich betrat einen großen Raum. Er war eingerichtet wie eine Bibliothek aus dem 19. Jahrhundert. Einige offenbar echte Ölgemälde hingen an den mit kostbaren Stofftapeten bespannten Wänden. Ein Fenster gab es natürlich nicht. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch erhob sich die kleine Gestalt eines Greises. Er hatte schulterlanges, schneeweißes Haar und einen dünnen Kinnbart von derselben Farbe. Doch er hielt sich kerzengerade. Sein dünner Körper steckte in einer prächtigen Uniform mit Schulterstücken, Schärpe und Degen. Der Wortkarge machte eine tiefe Verbeugung. »Auftrag ausgeführt, Euer Majestät!« Und zu mir: »Herr Hellmann, ich möchte Ihnen Ludwig II. vorstellen. Den König von Bayern!« * Jasmin Mertens bemerkte nicht, wie und warum sie unter dämonischen Einfluß geriet. Denn Dracomar war schlau. Er hatte einen Armreif des Mädchens gestohlen, als er sie nachts besucht 21
hatte. Wertloser Modeschmuck. Aber es war ein Stück aus Jasmins Besitz. Und es reichte dem mächtigen Schwarzblüter völlig aus, um sie in seinen Machtbereich zu bringen. Der Blutdruide lenkte das Mädchen wie eine Marionette. Daß sie an diesem Tag ihren kürzesten Minirock und ihr knappstes Top angezogen hatte, war vielleicht noch nicht so verwunderlich. Aber als sie sich nach dem Frühstück in der Jugendherberge freiwillig für ein Geschichtsprojekt meldete, verdrehte ihre Zimmerkameradin Claudia Hofmann die Augen. »Was ist denn mit dir los, Jasmin? Ist dir die bayerische Bergluft zu Kopf gestiegen?« Claudia wußte, daß ihre blonde Klassenkameradin normalerweise Deutsche Geschichte so anziehend fand wie einen Pickel auf der Nase. Ihre Noten in dem Fach waren entsprechend miserabel. Jasmin hätte selbst nicht sagen können, warum ihre Hand hochgeschnellt war, als es um ein Referat über König Ludwig II ging. Es war einfach passiert. Herr Kornelius stand breitbeinig mitten im Raum. Zwischen den inzwischen abgeräumten Frühstückstischen. Auch der Lehrer wunderte sich über ihren plötzlichen Lerneifer. Doch er freute sich. Und konnte nicht ahnen, wie er ungewollt den Kräften der Hölle zuarbeitete. Kaum hatte sich Jasmin für die Aufgabe gemeldet, als auch schon Dirk Müller und Marco Wiese ebenfalls an dem Geschichtsprojekt teilnehmen wollten. Darüber wunderte sich nun allerdings niemand. Jeder wußte, wie scharf die beiden auf ihre blonde Mitschülerin waren. »Ludwig II. war ein geheimnisvoller König«, sagte Herr Kornelius bei der Aufgabenverteilung. »Hier am Starnberger See ist er ums Leben gekommen, im Jahre 1886. Besorgt euch alles an Informationen über ihn, was ihr bekommen könnt. Die Bibliothek der Jugendherberge hat einige Bücher über ihn. Oder fragt die Leute im Ort. Nur ins Schloß Berg dürft ihr nicht. Es gehört noch heute dem Hause Witteisbach und ist nicht zur Besichtigung freigegeben.« Jasmin nickte wie in Trance. Sie nahm den Aufgabenzettel entgegen und eilte dann hüftenschwenkend hinaus. Dirk Müller und Marco Wiese folgten ihr wie zwei treue Hunde. 22
»Wie fangen wir an?« fragte der pflichteifrige Dirk. Jasmin Mertens schien geistesabwesend. Es war, als ob sie auf Stimmen in ihrem Inneren hören würde. Die beiden Jungen bemerkten, daß ihr Schwärm nicht bei der Sache war. Plötzlich schien es, als sei das Mädchen aus tiefer Hypnose erwacht. »Wir sehen uns im Schloß Berg um«, bestimmte sie. »Schließlich hat Ludwig II dort gelebt. Dort und in anderen Schlössern. Aber dieses ist am wichtigsten.« »Warum?« fragte Marco, der wieder einmal ein schwarzes Hemd trug. Weil ich es spüre, hätte die Blondine antworten müssen. Aber sie beschränkte sich auf ein geheimnisvolles Lächeln. »Herr Kornelius hat aber gesagt, daß wir Schloß Berg nicht betreten durften«, beharrte der korrekte Dirk Müller. »Das weiß ich«, erwiderte Jasmin mit ihrem süßesten Lächeln. »Deshalb werden wir auch nachts losmarschieren. Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn du Schiß hast.« * Der alte Monarch bat mich auf ein unbequem aussehendes Barocksofa. Ich folgte seiner Einladung und fühlte mich wie in einem seltsamen Traum. Wenn dieser alte Mann dort wirklich Ludwig II. von Bayern war, mußte er über 150 Jahre alt sein! Ich kramte in meinem Gedächtnis. Wieder einmal zahlte sich mein Studium der Völkerkunde und Geschichte nachträglich aus. Auch wenn ich meinen Job als Assistent am Museum für Völkerkunde hingeworfen hatte, mein Wissen blieb mir natürlich erhalten. Wenn ich mich nicht täuschte, war Ludwig II. 1845 geboren worden. Der schöne junge Herrscher galt schon zu Lebzeiten als eine Art »Märchenkönig«. Er ließ wunderbare Schlösser wie beispielsweise Neuschwanstein und Herrenchiemsee bauen. Sein Interesse galt nicht dem Krieg und den Eroberungen, sondern der Kunst und schönen Frauen. Das machte ihn mir besonders sympathisch. Allerdings sollte er auch geisteskrank gewesen sein. »Ich bin nicht verrückt!« Ludwig II. schien in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch gelesen zu haben. Während ein Diener 23
im Frack Frühstück für zwei Personen servierte, sah mich der König blinzelnd an. Seine Augen wirkten weise. So, als ob er viel gesehen hätte. Das mußte er wohl auch, wenn er 150 Jahre alt war. »Aber man hat Sie für gestört gehalten, äh - Majestät.« Ich wußte nicht genau, wie ich ihn anreden sollte. Schließlich bin ich in der DDR aufgewachsen. Dort hatte man es nicht so oft mit gekrönten Häuptern zu tun. »Es sind damals böse Dinge passiert. Die Legende von meinem Tod kennen Sie?« Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und verschlang ein halbes Brötchen mit Marmelade. Mein Hunger siegte fast über meine Neugier. »Ich denke - ja. Euer Majestät sollen im Starnberger See ertrunken sein. Zusammen mit Eurem Psychiater.« »Ermordet wurde ich!« donnerte Ludwig II mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das heißt, nicht ich, sondern mein Doppelgänger. Sie wissen sicher, daß bekannte Persönlichkeiten manchmal solche Personen beschäftigen. Nun, mein ersäufter Doppelgänger wurde am 18. Juni 1886 in der Michaelskirche zu München beigesetzt. Die Straßen waren schwarz von trauernden Menschen.« Mit seiner Serviette tupfte sich der Greis eine Träne aus dem Augenwinkel. Als er sich gefaßt hatte, fuhr er fort. »Ich entkam lebend. Obwohl ich bis heute nicht weiß, wie. Seitdem verstecke ich mich hier im Natternberg. Wie ein flüchtiger Verbrecher. Aber das ist nun vorbei. Ich will wieder hinaus. Und vor mein Volk treten. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe!« Ich hätte beinahe meinen Kaffee über den Perserteppich geprustet. »Ich verstehe ehrlich gesagt kein Wort.« Ludwig II. lächelt nachsichtig. »Sie werden verstehen, Mark Hellmann. Was glauben Sie, wer damals meine Ermordung befahl?« »Vielleicht politische Gegner, ausländische Mächte oder.« »Es war Mephisto!« Nun fiel ich wirklich aus allen Wolken. Wieder hatte mein alter Erzfeind seine schwarzmagischen Krallen im Spiel. Und der alte Monarch mußte seinerseits wissen oder vermuten, daß Mephisto es auch auf mich abgesehen hatte. »Sind Sie sicher?« Ich war jetzt so aufgeregt, daß ich ihn ganz 24
normal anredete. Es schien Ludwig II. nicht weiter zu stören. »Todsicher, Mark Hellmann. Es war seine Rache.« »Rache - wofür?« »In den Kellergewölben von Schloß Berg am Starnberger See befand sich eine schwarzmagische Weihestätte. Für Rituale des Bösen. Sie verstehen, was ich meine. Nun, ich habe dafür gesorgt, daß dieser unheilige Platz mit einem weißmagischen Gegenzauber überzogen wurde. Der Bann ist bis heute aktiv.« Langsam kapierte ich. »Mephisto will dieses Kellergewölbe wieder in seinen Besitz bringen. Und hat Ihnen den Tod geschworen. Aber weshalb sind Sie hier im Natternberg vor ihm sicher?« »Weil auch der Natternberg weißmagisch abgeschirmt ist.« Verwirrt sah ich mich um. »Mir ist immer noch nicht klar, warum Sie meine Hilfe brauchen, Majestät. Warum Sie mich haben entführen lassen.« Der König lehnte sich zurück. »Ich lebe hier zwar im Inneren eines Berges, aber ich bekomme viel mit. Mein Nachrichtendienst funktioniert immer noch. Ich habe meine Getreuen. Es sind die Enkel und Urenkel von Männern, die mir damals gedient haben. Ihr Schweigegelübde ist nie gebrochen worden. Draußen ahnt niemand, daß ich noch lebe. Aber ich habe viel über Sie gehört, Mark Hellmann. Es heißt, Sie sollen in der Zeit reisen können.« Warum sollte ich es leugnen? Ich vertraute diesem seltsamen alten Mann. »Ja, das kann ich.« Der König stand auf und legte mir seine schmalen Hände auf die Schultern. »Dann bitte ich Sie von ganzem Herzen: Reisen Sie ins Jahr 1886! Finden Sie heraus, was damals am Starnberger See wirklich passiert ist! Verhindern Sie den Anschlag auf mich!« * »Das - das ist unmöglich!« Es tat mir leid, dem alten Mann die Wahrheit ins Gesicht sagen zu müssen. Aber warum sollte ich ihm etwas vormachen? »Weshalb?« Ludwig II. hatte wieder Platz genommen. Er saß auf der vordersten Sesselkante. Wie ein Kind, das es im Kasperletheater vor Spannung kaum noch aushält. Ich suchte nach den richtigen Worten. »Wissen Sie, was ein 25
Zeitparadoxon ist?« »Nicht genau.« »Ein Zeitparadoxon entsteht, wenn in der Vergangenheit etwas verändert wird, das Einfluß auf die Gegenwart hat. Wenn ich zum Beispiel in der Vergangenheit aus Versehen meinen Großvater töte, was geschieht dann? Dann werde ich nie geboren. Aber wenn es mich nicht gibt, wie kann ich den Großvater dann umgebracht haben? Das ist ein Zeitparadoxon.« »Ich glaube, ich verstehe.« Enttäuscht senkte der König den Blick. Ich wollte es noch plastischer machen. »Wenn Sie wirklich damals dem Attentat entgangen wären, wären Sie auf dem Bayerischen Thron geblieben. Hätte es dann das Deutsche Reich in seiner bekannten Form geben können? Vielleicht nicht. Vielleicht wäre Bayern selbständig geblieben. Hätte der Erste Weltkrieg stattgefunden? Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es vielleicht die Russische Revolution nie gegeben. In Moskau würde immer noch ein Zar sitzen. Und ohne den Kommunismus wäre die Welt nicht in Ost und West aufgeteilt worden. Oder.« »Hören Sie auf!« rief Ludwig II. und faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen. »Ich war nie verrückt! Aber ich werde es bald, wenn Sie noch länger weiterreden, Mark Hellmann!« Der Monarch tat mir leid. In diesem Moment wirkte er unendlich müde. Als wenn er noch viel älter wäre als 150 Jahre. Winzig und zusammengesunken hockte er in seinem Sessel. Ich überlegte, wie ich ihm helfen könnte. »Es gibt eine einzige Möglichkeit, Majestät«, sagte ich nach langem Schweigen. »Ich kann in das Jahr 1886 zurückkehren. Aber nur, um herauszufinden, was damals am Starnberger See wirklich passiert ist. Mehr nicht. In die Geschichte eingreifen - das kann und will ich so massiv nicht.« Die Augen des Königs leuchteten wieder. »Gut, Mark Hellmann, sehr gut. Vielleicht ist das ja wirklich alles, was ein alter Mann verlangen kann.« Plötzlich schien er wieder voller Tatendrang zu sein. Er sprang von seinem Sessel auf, als wäre das Jahrhundert spurlos an ihm vorübergegangen. Ich erhob mich ebenfalls. Es gab eine Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte. »Ich will nicht aufdringlich sein, Majestät. Aber wie haben Sie es geschafft, so alt zu werden. Ich meine.« 26
»Das ist kein Geheimnis«, meinte Ludwig II. lächelnd. »Es gibt eine sehr teure und sehr seltene Geheimtinktur, die in der Inneren Mongolei hergestellt wird. Davon nehme ich regelmäßig ein paar Tropfen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: >Wer jünger stirbt als mit 115, der stirbt eines unnatürlichen TodesRing der Nibelungen