MARGARET BARKER
DR. FARRADAY – MANN MEINER TRÄUME
Vor elf Jahren war die damals 15 jährige Jennie Warner Patientin d...
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MARGARET BARKER
DR. FARRADAY – MANN MEINER TRÄUME
Vor elf Jahren war die damals 15 jährige Jennie Warner Patientin des jungen, brillanten Orthopäden Dr. Richard Farraday. Ihm gelang es, ihren Fuß so erfolgreich zu behandeln, daß sie ohne Behinderung aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ihre Bewunderung für diesen einfühlsamen Arzt motivierte sie, sich ebenfalls für diesen Beruf zu entscheiden. Endlich sind alle Examen geschafft – und als Jennie erfährt, daß in Sri Lanka für sechs Monate eine Ärztin an dem Krankenhaus, an dem Richard Farraday arbeitet, gesucht wird, bewirbt sie sich sofort. Tatsächlich bekommt sie den Job – glücklich reist Jennie zu dem Mann, den sie nie vergessen konnte. Ihre Ankunft verläuft äußerst enttäuschend: Richard erkennt sie anfangs gar nicht. Doch mit der Zeit stellt sich die alte Vertrautheit wieder ein, Jennie weiß, daß er der Mann ist, den sie unbedingt heiraten möchte…
O 1994 by Margaret Barker
Unter dem Originaltitel: „Lakeside Hospital“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd. London
in der Reihe LOVE ON CALL
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
Übersetzung: Gerlinde Supplitt
1. KAPITEL Er hat sich nicht verändert, dachte Jennie. Ich würde ihn überall wiedererkennen, und dabei ist es bestimmt elf Jahre her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe. Elf Jahre, in denen aus einer fünfzehnjährigen Schülerin eine richtige Ärztin wurde. Na ja, auf den ersten Blick glaubt man mir das vielleicht nicht, sagte sie sich und warf einen kritischen Blick in den Spiegel in ihrem Zimmer im Ärztewohnhaus des Lakeside Hospital. „Miniaturausgabe“ oder „Dreiviertelstarke“, so und anders lauteten die mehr oder weniger liebevollen Bezeichnungen, mit denen ihre Freunde sie bedachten, weil sie es eben nur auf knappe ein Meter sechzig gebracht hatte. Sie strich sich die kurzen blonden Locken aus der Stirn. Im Medizinstudium hat mich meine Größe nie beeinträchtigt, dachte sie. Da war ich genauso gut wie die Zweimetermänner. Dabei fällt mir ein… Sie trat wieder ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Er war immer noch da: Dr. Richard Farraday, und er sah genauso gut aus wie damals, als er sich zum ersten Mal über sie gebeugt und behutsam ihren linken Fuß abgetastet hatte. „Wie geht es der kleinen Prinzessin?“ hatte er gefragt. O ja, sie erinnerte sich selbst jetzt an den Ton seiner Stimme. Er hatte sie für jünger gehalten, als sie war. Erst ein Blick in ihre Akte sagte ihm, daß sie schon fünfzehn Jahre alt war und man sie nur deshalb auf die Kinderstation verlegt hatte, weil auf der orthopädischen Frauenstation kein Bett frei war. Wieviel Zeit hatte sie in Krankenhäusern verbracht! Jennie seufzte. Aber es hatte sich gelohnt. Nach all den jahrelangen Behandlungen und zahllosen Operationen war ihr inzwischen nicht mehr anzumerken, daß sie mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen war. Sie warf einen Blick auf die Uhr: Gleich sollte sie Richard Farraday in seiner offiziellen Rolle als orthopädischer Konsiliararzt des Krankenhauses begegnen. Doch wie sie ihn so im warmen, spätnachmittäglichen Sonnenschein in diesem Krankenhausgarten in Sri Lanka Spazierengehen sah, drängte es sie, ihm ungezwungener gegenüberzutreten. Mit seiner Sekretärin hatte sie zwar einen Termin um sechs Uhr in seinem Büro verabredet, aber sie mochte nicht mehr warten. Noch einmal drehte Jennie sich zum Spiegel um und strich glättend über ihr weißes Leinenkleid. Sie rümpfte die Nase: Hätte ich geahnt, daß hier alle Krankenschwestern weiße Baumwollkleider tragen, hätte ich mich für das Erstgespräch anders angezogen, dachte sie. Hoffentlich werde ich nicht dazu abgestellt, die Bettpfannen auszuleeren, bevor ich mich als Ärztin zu erkennen geben kann! Als Hinweis auf ihre ärztlichen Aufgaben hängte sie sich ihr Stethoskop um und nickte sich aufmunternd zu: Ja, so sehe ich bestimmt zwei Jahre älter aus, dachte sie. Schade, daß ich keine hochhackigen Schuhe tragen kann, aber das macht mein Fuß nun einmal trotz aller Behandlungen nicht mit. Richard Farraday machte sich inzwischen langsam auf den Rückweg in sein Büro. Er war nicht weit von Jennies Zimmer entfernt. Durch die Terrassentür trat sie hinaus. „Dr. Farraday?“ Rasch ging sie ihm über den schmalen Plattenweg entgegen. Der große, dunkelhaarige Mann blieb stehen und sah zu der kleinen Person im weißen Kleid hinüber, die auf ihn zukam. Wahrscheinlich eine Krankenschwester, die mich noch etwas fragen möchte, dachte er. Man muß es ihnen lassen, die Lernschwestern in diesem Land, vor allem an diesem Krankenhaus, sind
wißbegierig. Wahrscheinlich ist ihnen klar, wie bevorzugt sie dadurch sind, daß sie gerade hier lernen und arbeiten dürfen. Am späten Vormittag hatte er vor Schwesternschülerinnen im ersten Lehrjahr einen Vortrag gehalten und war anschließend noch fast eine Stunde lang mit Fragen bestürmt worden. Diese kleine Person, die jetzt auf ihn zukam, war ihm dabei allerdings nicht aufgefallen. Sie konnte nicht aus Sri Lanka stammen, dazu war sie zu hellhäutig und zu blond… und wieso trug sie ein Stethoskop? „Dr. Farraday… erinnern Sie sich an mich?“ „Ich bedauere, Sie waren sehr zahlreich, und…“ „Ja, und es ist lange her“, warf Jennie ein. Sie lächelte, um die kleine Enttäuschung zu verbergen, daß er sie nicht gleich erkannte. Der Konsiliararzt sah sie erstaunt an. „Nun, so lange ist es doch noch nicht her! Mein Vortrag dauerte bis zwölf, und dann setzte sich die Diskussion rund eine Stunde lang fort. Vielleicht sagen Sie mir kurz Ihren Namen und Ihren Wunsch, Schwester, ich habe nämlich einen Termin.“ „Entschuldigen Sie, ich fürchte, wir haben uns mißverstanden“, unterbrach Jennie ihn mit einem nervösen Lachen. „Ich bin Jennie Warner, Ihre neue Assistenzärztin.“ Über Richard Farradays Gesicht zog ein strahlendes Lächeln. Er streckte Jennie die Hand entgegen und sagte mit aufrichtiger Freude: „Dr. Warner! Ich hatte Sie nicht erkannt. Durch Ihr weißes Kleid habe ich Sie für eine Krankenschwester gehalten, und außerdem sind Sie jünger, als ich erwartete.“ Jennie spürte den Druck seiner warmen festen Hand, und all die Bewunderung, die sie als Teenager für diesen Mann gehegt hatte, war mit einem Schlag wieder da – und außerdem noch etwas ganz anderes, ein viel erwachseneres Gefühl. „Ich werde immer für jünger eingeschätzt, das läßt sich nicht ändern“, erwiderte sie lächelnd. „Gelegentlich behindert es die ärztliche Autorität.“ * „Fassen Sie sich in Geduld“, entgegnete er lachend. „In zehn Jahren freuen Sie sich darüber. Wenn ich mich richtig an Ihren Personalbogen erinnere, sind Sie jetzt sechsundzwanzig Jahre alt. Stimmt das?“ . „Ja, elf Jahre älter als bei unserer letzten Begegnung.“ „Sind wir uns denn schon einmal begegnet, Dr. Warner?“ Eine steile Falte erschien über der Nasenwurzel des Konsiliararztes. Wie hatte Jennie auf den Augenblick gewartet, da sie ihm eröffnen konnte, wer sie war! Als Arzt und Patientin hatten sie sich so gut verstanden – er würde sich bestimmt freuen, sie jetzt als Kollegin wiederzusehen. „Sie waren orthopädischer Oberarzt an St. Celine in London, als ich dort wegen meines Klumpfußes behandelt wurde. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Die orthopädische Frauenstation war belegt, deshalb wurde ich auf die Kinderstation eingewiesen.“ Sekundenlang betrachtete Richard Farraday Jennie nachdenklich, dann sagte er kaum hörbar: „Jennie Warner. Darauf war ich nicht gefaßt.“ „Dann erinnern Sie sich also an mich?“ Unbefangen lächelte Jennie zu ihm auf. Natürlich erinnerte er sich an sie. Hatte er sie nicht seine „Lieblingspatientin“ genannt? „Ja, ich erinnere mich an Sie“, antwortete er. Seine Stimme klang ruhig und sehr förmlich. Das Lächeln war erloschen, seine Miene war streng. Jennie bemerkte diese Veränderung natürlich und wurde nervös. Um ihre Unsicherheit zu überdecken, redete sie drauf los: „Sie haben mir damals die Zeit im Krankenhaus leichtgemacht und an meinem Fuß wirklich Wunder getan. Sehen Sie nur, er ist fast normal.“
Sie schlüpfte aus dem linken Schuh und führte ihm ihren Fuß vor, an dem zahllose Narben an die vielen Operationen erinnerten. Doch als sie dann wieder zu Richard Farraday aufsah, begegnete sie einem keineswegs freundlichen Blick. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen anderen Mann, der durch den Garten auf sie zukam. Vielleicht findet Richard es unpassend, daß ich mich in der Öffentlichkeit so produziere, dachte sie. In dem Fall hätte er sich sehr verändert… schade. Rasch zog sie ihren Schuh wieder an. Falls der andere Mann ein Kollege war, wollte sie ihn nicht auf ihre einstige Behinderung aufmerksam machen. Das war einer der Punkte gewesen, die sie mit Dr. Farraday besprechen wollte: Sie wollte ihn bitten, den Kollegen gegenüber ihre Krankengeschichte zu verschweigen. „Sie sehen, wenn ich Schuhe trage, merkt niemand, welche Probleme ich in meiner Jugend hatte.“ „Ist ein Zweitgutachten gefragt?“ Der andere Mann war herangekommen. Im blendenden Licht der Nachmittagssonne sah Jennie eine untersetzte Gestalt und helles Haar über einem gebräunten Gesicht. Nach dem Akzent zu schließen, war der Mann Australier. „Darf ich vorstellen: Mike Denver, einer meiner orthopädischen Oberärzte. Dies hier ist Jennie Warner, unsere neue Assistenzärztin. Nein danke, Mike, ich brauche keine weitere Einschätzung. Anscheinend gehöre ich zu den Ärzten, die Dr. Warner in ihrer Jugend operierten.“ Jennie spürte, wie sich etwas in ihr auflehnte. Erstens hatte Richard Farraday ganz uneinfühlsam ihr Geheimnis preisgegeben. Zweitens war sie verstimmt über die Art, wie er sie behandelte, seit er wußte, wer sie war. Vor allem aber störte es sie, wie beiläufig er über seine Rolle in ihrem Leben sprach: Hatte er ihr nicht durch einige der schlimmsten Augenblicke ihrer Jungmädchenzeit geholfen? War er sich inzwischen zu gut, um sich mit ehemaligen Patienten zu befassen? „Das kann noch nicht so lange her sein“, sagte Mike Denver lächelnd, bückte sich und tippte mit einer Fingerspitze auf Jennies linkes Fußgelenk. „Darf ich einmal sehen?“ „Selbstverständlich“, entgegnete Jennie kurz. Es war ohnehin alles verloren, sie konnte nur noch gute Miene zum bösen Spiel machen. „Das war vermutlich einmal ein Sichelfuß als Symptom eines pes vara“, sagte Mike Denver. „Vorzügliche Arbeit. Haben Sie das gemacht, Richard?“ „Anscheinend“, erwiderte der Konsiliararzt. „Ich hatte keine Ahnung, daß ich eine ehemalige Patientin als Assistenzärztin bekomme.“ „Wieso sind Sie Ärztin geworden?“ fragte Mike Denver. Jennie lächelte betont selbstbewußt, um ihre Verlegenheit nicht zuzugeben. Wie hätte sie auch eingestehen können, daß sie sich damals, als Fünfzehnjährige im Krankenhaus, bis über beide Ohren in Richard Farraday verliebt hatte? Aber mehr noch: Die Art, wie er mit seinen Patienten umging, das Verantwortungsbewußtsein gegenüber seiner Aufgabe hatten sie tief beeindruckt und in ihr den Entschluß reifen lassen, Ärztin zu werden. Nichts davon verriet sie jetzt. In kokettem Ton antwortete sie: „Ich war in meiner Kindheit und Jugend so oft im Krankenhaus – liegt es da nicht nahe, daß ich Ärztin wurde? Ich kenne die andere Seite des Geschäfts, das wird meinen Patienten zugute kommen.“ „Die Aufgaben eines Arztes verlangen mehr als Einfühlungsvermögen in die Befindlichkeit des Patienten, Dr. Warner“, wandte Richard Farraday gleichmütig ein. „Warum sind Sie übrigens nach Sri Lanka gekommen?“ Schnell überdachte Jennie ihre Antwort. In Wahrheit hatte sie mit diesem Mann
zusammenarbeiten wollen, aber das konnte sie ihm natürlich nicht eingestehen, schon gar nicht in Gegenwart eines Kollegen. „Ich las im Ärztejournal einen Artikel über die Arbeit, die Sie hier leisten. Es hieß, das Lakeside Hospital werde zunehmend ein Zentrum für Orthopädie, das wegen seiner herausragenden Leistungen von Kollegen aus vielen Ländern aufgesucht wird. Eine mehrmonatige Mitarbeit an diesem Haus erschien mir als Bereicherung meiner Berufserfahrungen. Außerdem ist Sri Lanka für sein wunderbares Klima bekannt, vor allem hier in den Bergen, und ich bin nun einmal an fremden Ländern sehr interessiert und hoffe…“ „Ich auch“, unterbrach Mike Denver sie. „Und wenn unser Chef mir eine Stunde frei gibt, führe ich Sie zu einer der glanzvollsten touristischen Sehenswürdigkeiten in diesem Teil der Welt: Bei Sonnenuntergang gehen wir in den Dalada MaligawaTempel und sehen uns das berühmte Kästchen an, in dem ein Zahn des Buddha verwahrt wird.“ „Mike, ich wollte in der nächsten Stunde ein Anstellungsgespräch mit Dr. Warner führen…“ „Ach Richard, das ist doch überflüssig, sie ist doch schon angestellt. Sie können mit Ihrer Assistenzärztin reden, wann immer Sie wollen, aber Buddhas Zahn kann man nur bei Sonnenuntergang betrachten.“ „Also schön, aber eine Stunde und nicht mehr, dann erwarte ich Sie wieder im Dienst, Mike“, stimmte der Konsiliararzt eisig zu. Jennie blickte mißmutig von einem Mann zum anderen. Es wäre mehr als höflich, wenn mich jemand fragte, ob ich meinen neuen Kollegen überhaupt begleiten will, dachte sie. Soll das der Ton sein, in dem hier mit mir umgegangen wird? Heute spiele ich mit, denn Buddhas Zahn wollte ich mir ohnehin ansehen, aber ansonsten… „Kommen Sie, wir müssen uns beeilen, ich höre schon die Musik aus dem Tempel“, drängte Mike Denver. Jennie spürte einen Stich im Herzen, denn Richard Farraday drehte sich wortlos um und ging ins Krankenhaus zurück. Warum ist er so abweisend, seit er weiß, wer ich bin? überlegte sie und sah ihm nach. Äußerlich hatte er sich nicht verändert. Er war natürlich älter geworden, was sich an den feinen Fältchen um seine braunen Augen zeigte. Der Zug um seinen Mund, der Entschlußkraft, ja Hartnäckigkeit verriet, war damals nicht so ausgeprägt gewesen, aber im übrigen wirkte er unverändert. Jennie erinnerte sich an die ansteckende Lebensfreude, die er damals ausgestrahlt und die ihr in dunklen Augenblicken so sehr geholfen hatte. Wie locker war er damals gewesen – und wie innerlich gespannt wirkte er jetzt! Jennie erinnerte sich an die Nacht nach einer ihrer Operationen. Sie hatte nicht schlafen können, und schließlich hatte die Nachtschwester Richard auf die Station gebeten, der zum Glück Rufbereitschaft hatte. Er war sofort gekommen. Er war noch verschlafen gewesen, trug nur Jeans und ein leicht zerknittertes Hemd, und er nahm Jennie die Störung seiner knapp bemessenen Nachtruhe nicht übel. Er hatte zwei Becher Kakao aus der Stationsküche besorgt, Jennie ein Schmerzmittel gegeben und sich an ihr Bett gesetzt und gewartet, bis das Medikament wirkte. Dann hatten sie im Halbdunkel zusammen gesessen, sich halblaut unterhalten, um die anderen nicht zu stören, und irgendwann war Jennie eingeschlafen… „Sie sind so schweigsam“, sagte Mike Denver und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Ich will Sie am ersten Tag nicht überanstrengen. Hatten Sie einen guten Flug?“ Jennie schüttelte die Erinnerung ab und verlängerte ihren Schritt, um zu
beweisen, daß sie ganz und gar nicht müde war. „Ich traf gestern in Colombo ein und bin im Tasch Samudra abgestiegen.“ „Oha, das nenne ich Stil.“ „Ich habe lange darauf gespart“, entgegnete Jennie lachend. „Heute vormittag habe ich mich von einem Mietwagen hierher bringen lassen. Mit anderen Worten, ich habe eine angenehme Reise hinter mir, wenn man von diesen entsetzlichen Straßen absieht.“ „Die Straßen sind einer der Gründe, weshalb es dieses orthopädische Zentrum gibt: Die Unfallrate ist astronomisch.“ „Das habe ich schon gehört.“ „Sehen Sie… da drüben? Das ist der Dalada MaligawaTempel.“ Jennie schützte ihre Augen mit einer Hand, denn die Strahlen der tiefstehenden Sonne lagen blendend über dem Eingangsbereich des alten Tempels. Von drinnen tönten Trommeln und seltsame Blasinstrumente. Es war ein bezwingender Klang. Im Hof vor dem Tempel stand eine Gruppe von Touristen und wartete geduldig darauf, eingelassen zu werden. „Wir müssen uns die Schuhe ausziehen“, sagte Mike Denver. „Den Tempel darf man nur barfuß betreten. Geht das in Ordnung mit Ihnen? Ich meine…“ „Selbstverständlich.“ Sofort streifte Jennie ihre Schuhe ab und ging auf die Gruppe der Wartenden zu, um zu beweisen, daß sie auf bloßen Füßen ebenso sicher war wie in Schuhen. „Tapfer, tapfer“, sagte Mike anerkennend und folgte ihr. Innerlich wand Jennie sich bei diesem gönnerhaften Ton, aber sie verbiß sich eine Bemerkung. „Nobel vom Chef, daß er mir freigegeben hat“, setzte Mike Denver das Gespräch fort und legte Jennie wie unabsichtlich einen Arm um die Taille. Jennie streifte seine Hand mit Nachdruck ab, doch das schien ihn gar nicht zu stören. Unbekümmert fuhr er fort: „Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen. Geben Sie mir einen Wink, und ich tue für Sie, was ich kann. Ich arbeite schon seit sechs Monaten an diesem Haus, und ich kann Ihnen sagen, Richard Farraday ist manchmal ziemlich anspruchsvoll. Er ist ein Perfektionist und erwartet von seinen Mitarbeitern die gleiche Einstellung zur Arbeit. Trotzdem haben wir genügend Freizeit, und ich würde mich freuen, wenn wir wieder zusammen ausgehen könnten. In dieser Gegend gibt es viel zu sehen. Wie steht’s? Nehmen Sie mich als Reiseführer?“ Jennie fühlte sich von diesem hartnäckigen Kollegen überrannt, doch sie wollte nicht gleich am ersten Tag unhöflich erscheinen. Sie würde ihm allmählich klarmachen, welche Art von Beziehung sie sich vorstellte. „Das wird sich mit der Zeit ergeben“, erwiderte sie ausweichend. „Ich bin natürlich an den Sehenswürdigkeiten des Landes interessiert, aber in erster Linie bin ich wegen der Orthopädie gekommen.“ „Der Mensch kann nicht immer nur arbeiten“, wandte Mike Denver vergnügt ein. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Sie widmen sich Ihrer Arbeit, und ich sorge für das Vergnügen.“ Jennie antwortete nicht. Bei Mike Denver mußte sie vorsichtig sein, das war ihr schon jetzt klar. Sie stellten ihre Schuhe vor einem langgestreckten hölzernen Gebäude ab, wo ein Wächter sie gegen einen kleinen Betrag aufbewahrte, bis die Besucher den Tempel wieder verlassen hatten. „Wie kommt es eigentlich, daß hier ein Zahn Buddhas aufbewahrt wird?“ fragte Jennie, während sie die weißen, von der Sonne noch erwärmten Steinstufen zum Tempel hinaufstiegen. Tausende von Besuchern hatten die Steine ausgetreten.
Man mußte aufpassen, um nicht zu stolpern.
„Der Legende zufolge wurde dieser Zahn im vierten Jahrhundert hierhergebracht.
Eine Prinzessin hatte ihn in ihrer Frisur versteckt. Seither ist er das Ziel
unzähliger buddhistischer Pilger. Der Zahn wird in einem geheiligten Raum im
Inneren des Tempels aufbewahrt, der früher nur den Königen und ausgewählten
Mönchen zugänglich war. Seit einiger Zeit ist auch die Öffentlichkeit zu
bestimmten Tageszeiten zugelassen.“
Ehrfürchtig betrachtete Jennie das berühmte, goldverzierte Kästchen, in dem die
Relique aufbewahrt wurde. Mehr allerdings bekam sie nicht zu sehen.
„Das hier ist nur das äußere Kästchen“, erklärte Mike Denver. „Da drinnen
stecken noch sechs andere. Alle sind mit großer Kunstfertigkeit gearbeitet und
mit Gold und Juwelen verziert, heißt es.“
Die Besuchermenge schob Jennie und Mike Denver langsam an der Relique
vorbei. Allmählich ging Jennie die fremdartige Musik auf die Nerven, und die
vielen Menschen, die sie meist um mehr als einen Kopf überragten, gaben ihr das
Gefühl, eingesperrt zu sein.
„Reicht es Ihnen?“ fragte Mike.
Jennie nickte und trat gleichzeitig einen Schritt beiseite, damit er ihr nicht wieder
den Arm um die Taille legen konnte. Dieser Mann war einfach zu aufdringlich!
Der Besuch des Tempels hatte sie beeindruckt, aber jetzt sehnte sie sich nach
frischer Luft. Sie atmete tief durch, als sie den Tempel verließen. Inzwischen war
die Sonne hinter den Hügeln von Kandy versunken.
Nebeneinander, aber doch so weit getrennt, daß Mike Denver sie nicht wieder
umfassen konnte, gingen Jennie und ihr Kollege zum Krankenhaus zurück. Sie
hatten gerade den Garten betreten, als ihnen ein einheimischer Bediensteter im
Laufschritt entgegenkam.
„Dr. Denver, kommen Sie sofort! Dr. Farraday will Sie sehen“, rief er ihnen zu.
„Um was geht es?“
„Dr. Farradays kleine Patientin Sriyani, das Mädchen mit den Knochenbrüchen“,
erwiderte der Mann. „Sie ist wieder da und verlangt nach Dr. Farraday. Er sagte,
Sie müssen seinen Dienst übernehmen, damit er sich um sie kümmern kann.“
„Aber wir haben Sriyani gerade erst entlassen.“
„Ich weiß, aber sie ist wieder da, Sir.“
„Ich bin schon unterwegs.“ Mike Denver blickte auf Jennie herab. „Wollen Sie
nicht mitkommen? Dann wissen Sie gleich, wie hier die Pferde laufen.“
Jennie nickte stumm. Wie immer, wenn sie eine neue Aufgabe übernahm, hatte
sie Lampenfieber.
Sie folgte Mike durch lange weiße Flure in einem weitläufigen, niedrigen
Krankenhausgebäude am See. Von außen hatte sie es wenig beeindruckend
gefunden, doch die Inneneinrichtung, das erkannte sie jetzt, war hochmodern.
Offensichtlich wußten die Verantwortlichen, worauf es bei einem Krankenhaus
ankam.
Die kleine Sriyani lag in der Kinderstation auf der Untersuchungscouch. Richard
Farraday hatte sich über sie gebeugt. Als Mike Denver und Jennie eintraten,
richtete er sich auf.
„Bitte setzen Sie die Visite für mich fort, Mike. Die Schwester sagt Ihnen, wie
weit ich gekommen bin.“ Er warf Jennie einen strengen Blick zu: „Meines Wissens
sind Sie erst ab morgen im Dienst, Dr. Warner.“ Sein Ton war eisig höflich.
„Ich dachte, Sie könnten vielleicht Unterstützung gebrauchen“, entgegnete sie
nicht weniger eisig.
In den Augen des Konsiliararztes blitzte es auf.
„Sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Ich bin sicher, es gibt etwas für Sie zu tun, wenn
Sie bleiben möchten.“ Wieder beugte er sich über das Kind. Jennie stand ein wenig verloren im Raum, andererseits war sie froh über die kleine Atempause, denn sie begriff immer noch nicht, wieso Richard Farraday sich ihr gegenüber so sonderbar verhielt. Wollte er ihr klarmachen, daß sie jetzt Kollegen waren? Aber mit den anderen Mitarbeitern sprach er doch in völlig anderem Ton. Offensichtlich hegte er eine ganz persönliche Abneigung gegen sie, wenngleich sie sich das nicht erklären konnte. „Was hast du denn diesmal angestellt, Sriyani?“ erkundigte der Arzt sich jetzt freundlich bei dem kleinen Mädchen auf der Untersuchungscouch. Sriyanis Mutter, eine kleine, gepflegte Frau in einem grün und braun gemusterten Sari, antwortete in perfektem Englisch: „Sie ist nur gestolpert und gegen den Tisch gefallen, Herr Doktor. Dabei hat sie sich den Arm verletzt.“ Richard drehte sich zu Jennie um: „Welche mögliche Diagnose legt sich Ihnen nahe, Dr. Warner?“ „Da kommt verschiedenes in Frage“, erwiderte Jennie rasch. „Fragilitas Ossium wäre denkbar, wenn das soziale Umfeld abgeklärt ist.“ Sie zögerte und setzte dann so leise hinzu, daß die Mutter des Mädchens nicht mithören konnte; „Ich meine, wenn ausgeschlossen ist, daß das Kind mißhandelt wurde.“ „Die Menschen in Sri Lanka lieben ihre Kinder, Dr. Warner“, entgegnete der Konsiliararzt genauso leise. „In dieser Hinsicht haben wir es hier mit unserer Diagnose leichter als in England. Ich sehe schon, Sie müssen noch viel lernen. Ich schlage vor, Sie nehmen sich einige der Lehrbücher über die Kultur Sri Lankas vor, die in unserer Bücherei stehen, sonst könnten Sie gelegentlich trotz Ihrer englischen medizinischen Ausbildung recht hilflos sein. Ihrer Diagnose kann ich im übrigen zustimmen.“ „Welche Variante?“ fragte Jennie sofort. Sie wußte, was das für die Zukunftsaussichten des Kindes bedeutete. Richard Farraday betrachtete sie nachdenklich. „Welche Varianten kennen Sie?“ fragte er. Jennie wich seinem Blick nicht aus. „Da gibt es einmal den juvenilen Typ mit schwerem Verlauf und ungünstiger Prognose und dann den adoleszenten Typ, bei dem während der Wachstumsphase multiple Knochenbrüche auftreten, der aber mit der Pubertät zum Stillstand kommt.“ „Sriyani leidet unter dem adoleszenten Typ.“ Der Arzt wandte sich an die Krankenschwester: „Wir können jetzt röntgen, Schwester.“ Die Röntgenaufnahme zeigte einen komplizierten Bruch der beiden Unterarmknochen knapp über dem Handgelenk. „Ich glaube, diesen Bruch müssen wir unter Allgemeinnarkose richten“, sagte Richard Farraday und erklärte seiner kleinen Patientin, was als nächstes geschehen würde. „Sie machen das doch, Herr Doktor, nicht wahr?“ fragte das Kind. Mit der gesunden Hand hatte es den Arm des Arztes umklammert. „Vielleicht hilft die neue Dame?“ Fragend sah Jennie zu ihrem Chef auf. Er zögerte einen Augenblick, dann nickte er, und sie wandte sich lächelnd an das Kind: „Natürlich helfe ich, Sriyani. Wo hast du so gut englisch sprechen gelernt?“ „In der Schule wird englisch gesprochen“, antwortete die Mutter für ihre Tochter. Während Richard Farraday alle erforderlichen Formalitäten vor der Operation erledigte, beendete Mike Denver die Visite und kam gleichfalls in den Vorbereitungsraum, weil Richard auch ihn zur OP bestellt hatte. Er war überrascht. „Wieso brauchen Sie in diesem Fall zwei Assistenten, Richard?“
„Es wäre nicht gerade fair, eine neue Kollegin ins kalte Wasser zu werfen, kaum daß sie eingetroffen ist.“ Die Operation war kompliziert. Jennie hatte dabei nichts zu tun. Sie stand hinter der OPSchwester, so daß sie alles beobachten konnte, aber außer einigen kleinen Handreichungen war sie unbeschäftigt. Richard Farraday richtete den Bruch vorsichtig und legte dann einen Unterarmgips an. „Etwa eine Woche lang bleibt der Gips offen, damit die Schwellung abklingen kann“, erläuterte er. „Sobald das eingetreten ist, wird der Gips geschlossen und bleibt dann für fünf bis sechs Wochen am Arm.“ Diese Worte waren in erster Linie an Jennie gerichtet, das merkte sie und freute sich. Richard Farraday mag von mir halten, was er will, ich werde hier nach Kräften lernen, nahm sie sich vor. Es war schon fast Mitternacht, bis Sriyani endlich auf die Kinderstation zurückgebracht werden konnte. Todmüde und mit bleiernen Füßen ging Jennie durch die Flure zum Hinterausgang des Krankenhauses. Hinter sich hörte sie plötzlich Schritte: Richard Farraday. Sie hatte keine Lust auf seine Gesellschaft, denn seine ihr unerklärlich frostige Art ärgerte sie, andererseits konnte sie nicht gut so tun, als bemerkte sie ihn nicht. Immerhin war er ihr Vorgesetzter, und sie konnte und wollte eine Menge von ihm lernen. Schweigend verließen sie nebeneinander das Gebäude. „Das hier ist eine Abkürzung“, sagte Richard plötzlich. Er führte sie einen schmalen Weg zwischen Büschen hindurch, deren Blätter im Mondlicht silbrig glänzten. „Wohnen Sie auch hier?“ fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen. Er blieb stehen und sah auf sie herab. Im Dunkeln konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen. Was mag er denken? überlegte sie. Wäre es ihm lieber, wenn ich mich nicht um diese Stelle beworben hätte? Empfindet er mich als Last? „Wohnen Sie auch hier?“ wiederholte sie. „Ja, meine Wohnung liegt am anderen Ende des Gebäudes. Sie müssen jetzt hineingehen, Jennie. Bleiben Sie in der Dunkelheit nicht allein im Garten. Gute Nacht.“ Er drehte sich um und ging fort. Über den nahen See klang seltsame, fremde Musik. Eine leichte Brise ließ die Blätter der Palmen rascheln. In diesem winzigen Augenblick, in dem Richard Farraday Anteilnahme an ihr gezeigt hatte, erkannte Jennie den Mann wieder, den sie jahrelang verehrt hatte. Warum nur war er so abweisend? Was hatte ihn verändert?
2. KAPITEL Im Krankensaal der Kinder herrschte geräuschvolle Aktivität, als Jennie am nächsten Vormittag auf die Station kam. An der einen Seite des riesigen Raums standen die Betten für die kleinen Patienten aus der Inneren Medizin und aus der Chirurgie, auf der anderen Seite lagen die orthopädischen Patienten. Es hatte sich herumgesprochen, wie gut die Orthopädie am Lakeside Hospital war, und deshalb schickten die Eltern, wenn eben möglich, ihre Kinder hierher. In Begleitung der Stationsschwester, Katia de Sylva, ging Jennie die Reihe der Betten entlang und machte sich mit den Fällen der Kinder vertraut. Es würde eine Weile dauern, bis sie mit allen kleinen Patienten bekannt war. Sie war sehr davon beeindruckt, wie die Kinder von ihren Angehörigen unterstützt wurden: Fast jedes Kind war in Begleitung der Mutter oder der Großmutter ins Krankenhaus gekommen. Zwischen den Kinderbetten wurden nachts Pritschen aufgestellt oder Matratzen ausgerollt, damit die Angehörigen schlafen konnten. „Es bekommt den Kindern gut, wenn sie einen Menschen ihres Vertrauens um sich herum haben, und den Schwestern erleichtert es die Arbeit erheblich“, erläuterte Schwester Katia. „Die Angehörigen futtern und waschen die Kinder, so haben wir Schwestern für die medizinische Versorgung mehr Zeit. Davon profitieren vor allem unsere kleinen Langzeitpatienten.“ Jennie spürte sofort, daß sie mit dieser bodenständigen Krankenschwester sehr gut zurechtkommen würde. Schwester Katia de Sylva mußte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein und war ungefähr so groß wie Jennie. Nachdem Schwester Katia ihr eine halbe Stunde lang theoretisch erklärt hatte, wie die Station geführt wurde, nahm sie sich jetzt noch Zeit, Jennie herumzuführen. Hier lief eben alles viel geruhsamer und entspannter ab als in den Londoner Krankenhäusern, in denen Jennie noch bis zur vergangenen Woche gearbeitet hatte. Es machte sie zufrieden, daß sie hier für ihre Patienten Zeit haben würde. Die entspannte Atmosphäre auf der Station hatte natürlich auch etwas damit zu tun, daß Vollschwestern und Lernschwestern in ausreichender Anzahl zur Verfügung standen – aber nicht zuletzt auch mit der freundlichen, umgänglichen Art der Frauen von Sri Lanka, fand Jennie. Am letzten Bett blieb sie stehen. Absichtlich war sie erst zum Schluß zu Sriyani gegangen, denn sie wollte sich dem Kind ganz besonders widmen. Sriyanis Bett stand an der hinteren Schmalseite des Raumes, ganz nahe beim Schreibtisch der Stationsschwester. Dorthin wurden grundsätzlich die schwierigeren Fälle gelegt, damit die Schwester sie jederzeit im Auge hatte. Die neunjährige Sriyani saß im Bett. Den verletzten, eingegipsten Arm trug sie in einer Schlinge. Ihrer Miene nach zu schließen, ging es ihr nicht gerade gut. Irgend etwas bekümmerte sie offenbar. Noch größere Sorgen schien sich Sriyanis Mutter zu machen, die auf einem Schemel neben dem Bett ihrer Tochter saß. Jennie wünschte Mutter und Tochter einen guten Morgen, dann wandte sie sich an das Kind. „Hallo, Sriyani! Wie geht es dir?“ Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante und nahm behutsam die gesunde Hand des Kindes, um die zerbrechlichen Knochen nicht durch einen festen Händedruck zu gefährden. Bei Patienten wie Sriyani war das eine gebotene Vorsicht. Wenn ich ein Kind mit dieser Krankheit hätte, würde ich es in Watte packen, dachte sie, während sie aufmerksam ihre kleine Patientin betrachtete. „Es geht mir nicht sehr gut“, antwortete Sriyani mit ruhiger Stimme, aber ihre Lippen bebten, als müßte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Jennie wollte dem Mädchen gerade tröstend über die Wange streicheln, da leuchteten Sriyanis Augen auf. „Wo waren Sie denn so lange, Herr Doktor?“ Jennie drehte sich um und stellte fest, daß Richard Farraday hereingekommen war. Für Sriyani war er ganz offensichtlich der wichtigste Mensch in diesem Krankenhaus. Er kam an das Bett des Mädchens und nickte Jennie kurz zu. „Guten Morgen, Dr. Warner.“ Jennie stand auf, denn für zwei Personen war auf der Bettkante natürlich nicht genug Platz. „Ich mußte ein bißchen schlafen, Sriyani, ich kann mich auch nicht ständig um dich kümmern“, erklärte der Konsiliararzt und lächelte seiner Patientin zu. „Außerdem war ich doch in der Nacht einmal bei dir, hast du das vergessen?“ „Ich habe es nicht vergessen, aber ich wollte, daß Sie bei mir bleiben“, erwiderte Sriyani schmollend. „Dr. Farraday hat auch noch andere Patienten außer dir“, warf Schwester Katia freundlich ein. „Und manchmal muß auch er sich ausruhen.“ „Würden Sie Sriyanis Arm bitte stützen, während ich ihn untersuche, Dr. Warner?“ fragte Richard, ohne aufzusehen. Jennie war erleichtert, daß er sie in die Behandlung mit einbezog. Mit beiden Händen stützte sie den eingegipsten Arm des Kindes. „Wie lautet Ihre Einschätzung, Dr. Warner?“ fragte Richard Farraday. Jennie beugte sich ein wenig weiter vor, um besser sehen zu können. „Die Finger sind immer noch geschwollen. Ich denke, intensive Physiotherapie ist angeraten.“ „Ich stimme zu“, erwiderte der Konsiliararzt, der bereits die einzelnen Finger des Mädchens bewegte. „Du mußt deine Finger ständig bewegen, Sriyani. Ich werde eine Krankengymnastin zu dir schicken, damit sie dir dabei hilft.“ Sriyanis Mutter versprach, ihre Tochter immer wieder an die Übungen zu erinnern, damit die Durchblutung der Hand gewährleistet war. Schließlich stand Richard Farraday auf, verabschiedete sich und erklärte, er müsse sich jetzt um seine anderen Patienten kümmern. „Möchten Sie mich begleiten, Dr. Warner? Nein, vielen Dank, es geht auch ohne Ihre Unterstützung, Schwester“, wehrte er das Angebot von Schwester Katia ab. „Ich habe keine offizielle Visite vor, ich möchte Dr. Warner nur mit unseren Patienten vertraut machen.“ So ging Jennie also noch einmal die Reihe der Betten entlang, beantwortete die Fragen, die der Konsiliararzt ihr stellte und bemühte sich, so viel wie möglich über jeden kleinen Patienten zu lernen. Abgesehen von den Unfallopfern lag in der orthopädischen Abteilung auch eine Reihe Kinder mit angeborenen Mißbildungen, unter anderem ein zauberhafter Dreijähriger mit beidseitigem Klumpfuß. Jennie betrachtete Ravindralals geschiente Beine und fragte Richard Farraday, in welchem Stadium die Behandlung des Kindes sei. „Die Sichelfußstellung wurde spät diagnostiziert“, erwiderte der Arzt so leise, daß der Junge ihn nicht verstehen konnte. „Beide Füße sind deformiert. Sechs Wochen lang habe ich täglich durch Übungen versucht, die Beweglichkeit zu erhöhen, dann erst wurde die Gipsschiene angelegt. Ich nehme sie täglich ab und bewege die Füße weiterhin, aber wenn mich nicht alles täuscht, werde ich doch operieren müssen. Wie würden Sie in diesem Fall vorgehen, Dr. Warner?“ Einen Augenblick lang brachte diese Frage Jennie aus dem Gleichgewicht, doch dann erinnerte sie sich an einen kleinen Patienten in ihrem Londoner Krankenhaus und an die Operation, durch die seine beiden Füße wieder in die Normalstellung gebracht worden waren.
„Ich würde beidseitig mit einem Schnitt um den Knöchel die Sehnen durchtrennen und verlängern, um damit eine Normalstellung der Füße zu ermöglichen.“ „Und postoperativ?“ Aufmerksam sah Richard Farraday sie an. Jennie holte tief Luft. „Zwei oder drei Wochen Gips, damit die Sehnen heilen.“ Sie wagte einen Blick in die forschenden braunen Augen und meinte, so etwas wie Anerkennung darin zu erkennen, doch gleich setzte er seine Befragung in kühlem, sachlichem Ton fort. „Ist das eine Antwort nach dem Lehrbuch oder haben Sie praktische Erfahrungen mit solch einem Fall?“ „Ich habe bei entsprechenden Operationen einige Male assistiert“, erwiderte Jennie rasch. „Sehr schön. Würden Sie mir assistieren, wenn ich Ravindralal operiere?“ „Selbstverständlich“, antwortete Jennie mit Nachdruck. „Ich bin froh über jede chirurgische Erfahrung, die ich hier machen kann. Deshalb bin ich schließlich gekommen, denn ich wußte ja, daß Sie einer der besten orthopädischen Chirurgen sind und…“ Sie sprach nicht weiter, denn wieder bemerkte sie in Richard Farradays Miene diesen sonderbaren Ausdruck von Wachsamkeit, als müsse er sich vor irgend etwas in acht nehmen. Kann ich denn meine Zunge nicht im Zaum halten? fragte sie sich ärgerlich. Es ist doch klar, daß er keinerlei persönliche Beziehung will. Aber warum nur? Warum, wir waren doch einmal richtig gute Freunde! Sie holte tief Luft und zwang sich zu einem sachlichen Ton. „Wieso wurde die Diagnose so spät gestellt, Dr. Farraday?“ Der Chirurg drehte seinem kleinen Patienten den Rücken zu. „Ravindralals Mutter starb bei seiner Geburt, der Vater lebt offenbar nicht in der Familie. Die Großmutter brachte das Kind ins Krankenhaus. Sie ist allerdings ein bißchen merkwürdig und will nicht bei dem Jungen bleiben. Sie sagte damals bei der Erstaufnahme, sie hätte gedacht, die Füße würden sich schon auswachsen.“ „Armer kleiner Kerl“, flüsterte Jennie. Laut setzte sie hinzu: „Spricht der Junge englisch?“ „Er lernt es sehr schnell, nicht wahr, Ravindralal?“ „Guten Morgen, Herr Doktor. Wie geht es Ihnen?“ erwiderte der Junge und strahlte über das ganze Gesicht. „Na bitte, was habe ich gesagt?“ „Ausgezeichnet“, erwiderte Jennie. Erleichtert bemerkte sie, daß Richard Farraday sie immerhin als Kollegin ernst nahm, wenn er sie schon nicht freundschaftlich behandelte. Damit komme ich zurecht, dachte sie. Nur diese eisige Atmosphäre zwischen uns ertrage ich nicht. „Ich wollte, ich würde deine Sprache so gut sprechen, wie du englisch sprichst, Ravindralal“, sagte sie aufrichtig. „Haben Sie ein wenig Sinhala gelernt, Dr. Warner?“ fragte Richard Farraday. „Leider hatte ich keine Zeit, einen Intensivkurs zu belegen, aber ich versuche, aus Büchern das Notwendige zu lernen. Außerdem hatte man mir gesagt, der größere Teil der Bevölkerung in Sri Lanka spreche ein bißchen englisch, deshalb…“ „Solange Sie sich hier in Kandy aufhalten, kommen Sie mit Englisch zurecht. Auf dem Land sind Sie allerdings verraten, wenn Sie nicht wenigstens einige Brocken Sinhala sprechen.“ „In Colombo hat man es da besser.“ „Das stimmt.“ Plötzlich lächelte der Arzt, und Jennie kam es vor, als ginge die Sonne auf. Aber
es war ein amüsiertes, beinahe ironisches Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, so als lachte er insgeheim über einen Scherz. Sie hätte zu gern gewußt, woran er dachte. „Die kleine Jennie Warner“, sagte er kaum hörbar. Jennie hielt den Atem an, um das Einverständnis nicht zu stören, das plötzlich zwischen ihnen entstanden war. „Wer hätte gedacht, daß die kleine Jennie Warner einmal Ärztin wird?“ Er sagte das mehr zu sich selbst als zu Jennie. Im nächsten Augenblick erlosch sein Lächeln, auf seinem Gesicht lag wieder der Ausdruck eiserner Konzentration. Er wandte sich von Jennie ab und seinem Patienten zu, und sie fragte sich, ob sie ihn überhaupt richtig verstanden hatte. „Also, Ravindralal, zeig mir einmal die Übungen, die du gestern mit der Krankengymnastin gemacht hast“, forderte er das Kind auf. Behutsam nahm er die Gipsschienen ab. Jennie beobachtete ihn, wie er fachkundig die Füße des Kindes bewegte. Ich kann von Glück sagen, daß die Fehlbildung meines linken Fußes gleich bei der Geburt bemerkt und die Behandlung sofort eingeleitet wurde, dachte sie dankbar. Richard Farraday schien ihre Gedanken zu erraten, denn während er sich mit dem Jungen beschäftigte, wies er darauf hin, die Sichelfußstellung bei pes vara sei natürlich viel leichter zu korrigieren, wenn die Behandlung sofort einsetzte. „Glücklicherweise wird die Therapie heutzutage kaum noch verschleppt“, sagte Jennie. „Jedenfalls nicht in England, aber hier befinden wir uns in Sri Lanka, Dr. Warner. Sie werden einige Ihrer Vorstellungen und Ansichten berichtigen müssen, wenn Sie hier erfolgreich arbeiten wollen.“ Vor allem werde ich mir künftig unerwünschte Anmerkungen ersparen, nahm Jennie sich vor: Die nächsten Stunden verbrachte sie im Operationssaal und machte sich mit unterschiedlichen Geräten, Techniken und Verfahrensweisen vertraut. Richard Farraday und sein Team leisteten in diesem Krankenhaus eine wirklich beeindruckende Arbeit, die den anerkennenden Artikel im Ärztejournal durchaus rechtfertigte, fand sie. Im Verlauf des Vormittags setzte er einem Patienten ein künstliches Hüftgelenk ein. Jennie stand am OPTisch und bewunderte ihn für die gelassene, selbstverständliche Art, in der er operierte. Sie kannte Chirurgen, die das ganze OPTeam mit ihrer Überaktivität in Spannung und Nervosität versetzten. Richard Farraday war ganz anders. Er wirkte entspannt und irgendwie zufrieden. Zum erstenmal erlebte Jennie den Mann wieder, den sie als junges Mädchen ins Herz geschlossen hatte. Da das Lakeside Hospital ein Lehrkrankenhaus war, nahmen auch immer einige Medizinstudenten an den Operationen teil. Nachdem Richard Farraday Sinn und Zweck bestimmter Vorhaben erläutert hatte, fragte einer der jungen Leute: „Verzeihung, Sir, setzen Sie eine FarradayProthese ein?“ „Aber selbstverständlich.“ Die Augen des Arztes blitzten amüsiert über der Maske. „Ich habe doch nicht fünf Jahre lang an der Vervollkommnung meines Verfahrens gearbeitet, um jetzt auf eine minderwertige Methode zurückzugreifen.“ Die Studenten kicherten. „Dr. Warner, reichen Sie mir bitte die Prothese!“ Mit Vergnügen, dachte sie. Ihre Hände in den OPHandschuhen berührten sich flüchtig, als sie ihm die Prothese reichte. Fasziniert sah sie zu, wie der Chirurg den neuen trochanter major fixierte. Sie war um die halbe Welt gereist, um
diesen Mann bei der Arbeit zu beobachten. Jetzt wußte sie, daß es sich gelohnt hatte. Ich werde durchhalten und so viel lernen wie ich kann, auch wenn er mich wie eine Fremde behandelt, nahm sie sich vor. Die Operation war langwierig, und ohne die Klimaanlage hätte Jennie es im OP Saal wohl kaum so lange ausgehalten. Als sie gegen Mittag das Gebäude verließ, traf die Hitze sie wie ein Schlag. Man hatte ihr gesagt, die Kantine sei den ganzen Tag hindurch geöffnet, deshalb mußte sie sich mit dem Mittagessen nicht beeilen und konnte in ihrer Pause die Sonnenstrahlen genießen. Sie hatte am Nachmittag keinen Dienst und freute sich auf die Freizeit. Sie überlegte gerade, ob sie das Mittagessen nicht ausfallen lassen und statt dessen einen Spaziergang um den See machen sollte, als sie fast mit Schwester Katia de Sylva zusammengestoßen wäre. „Wohin so eilig, Dr. Warner?“ fragte die Krankenschwester. „Haben Sie schon gegessen?“ „Nein. Ich…“ „Gut, ich auch nicht. Wollen wir zusammen essen? Wieviel Zeit haben Sie?“ „Ich habe den ganzen Nachmittag frei. Ehrlich gesagt hatte ich eben überlegt, ob ich das Essen nicht ausfallen lasse, um mich ein bißchen umzusehen.“ „Nein, das Essen sollten Sie nicht ausfallen lassen! Kommen Sie mit mir ins Queen’s Hotel. Das ist eine sehr beliebte Sehenswürdigkeit. Anschließend kann ich Sie ein bißchen herumführen, ich habe heute nachmittag nämlich auch frei.“ „Ach ja, das wäre schön“, stimmte Jennie zu. „Dann treffen wir uns in zehn Minuten am Haupttor“, schlug Schwester Katia vor. „Ich möchte nur meine Uniform ausziehen.“ Jennie folgte dem Beispiel der Krankenschwester, ging in ihr Zimmer und wechselte die Kleidung. Sie zog leichte Baumwollhosen, ein lockeres Hemd und Leinenschuhe an. Das Queen’s Hotel lag nicht weit von dem Tempel entfernt, den Jennie am Abend zuvor besichtigt hatte. Es war ein weitläufiges, weißes, aus Steinen errichtetes Gebäude, ein Überrest aus der Kolonialzeit. Jennie und ihre Begleiterin gönnten sich ein Glas eisgekühlten Fruchtsaft an der Bar neben dem Swimmingpool, bis ein Kellner sie an ihren Tisch im eleganten Speisesaal bat. „Wie passend, daß wir beide heute den Nachmittag frei haben“, sagte Jennie und ließ den Blick zufrieden über die umfangreiche Speisekarte gleiten. „Das ist der Vorteil eines personell gut ausgestatteten Krankenhauses“, erwiderte Schwester Katia. „Unser Haus ist im ganzen Land bekannt, deshalb reißen sich alle um eine Stellung bei uns, und wir haben ein sehr viel besseres Verhältnis von Patienten zu medizinischem Personal als Sie in England. Aber so etwas müssen Sie sich ja gedacht haben, sonst hätten Sie die lange Reise von England hierher nicht unternommen. Genau gesagt: Warum wollten Sie eigentlich bei uns arbeiten?“ Sie gab dem Kellner die Bestellung auf, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Jennie zu. „Ich hatte von Richard Farradays herausragender Arbeit an diesem Haus gehört.“ „Und außerdem waren Sie einmal seine Patientin, wie Mike Denver erzählte. Er hat das übrigens nicht nur mir erzählt, sondern jedem, der es hören wollte. So etwas macht er immer, wenn er eine interessante Neuigkeit aufgegabelt hat. Wären Sie auch nach Sri Lanka gekommen, wenn Sie Richard nicht schon gekannt hätten?“ „Moment, Moment, Schwester…“ „Ich heiße Katia. Darf ich Sie Jennie nennen? Ich schätze, ich bin zehn Jahre älter als Sie, meine Liebe, und ich wurde in diesem Land geboren. Wenn ich richtig einschätze, wie unser Herr Konsiliararzt Sie behandelt, dann brauchen Sie von
Zeit zu Zeit einen guten Rat.“ Der Kellner brachte den ersten Gang. Sorgsam löste Jennie eine große Krabbe aus ihrem Chitinpanzer und aß genußvoll. Sie spürte den exotischen Gewürzen nach und wußte, daß sie dieses Land und seine freundlichen Menschen schon jetzt ins Herz geschlossen hatte. Katia de Sylva schien ihr mehr als freundlich, aber wahrscheinlich brauchte sie eine Vertraute, mit der sie alles besprechen konnte, falls Richard Farraday sein Verhalten ihr gegenüber nicht änderte. Sie beschloß daher, offen zu sein. „Genau gesagt, war es so, Katia: In einem englischen Ärztemagazin las ich über die Arbeit, die Richard Farraday hier leistet. Ich war absolut fasziniert. Aber wenn ich nicht zu seinen ehemaligen Patienten gehörte, wäre ich sicherlich nicht nach Sri Lanka gekommen, um mit ihm zu arbeiten. – Das bleibt bitte unter uns.“ „Selbstverständlich.“ Impulsiv legte die ältere Frau Jennie eine Hand auf den Arm: „In Ihrem eigenen Interesse möchte ich Sie etwas fragen, Jennie: Wie alt waren Sie, als Richard Sie behandelte?“ „Fünfzehn. Wieso…?“ „Gab es während Ihrer Zeit im Krankenhaus irgendeinen Vorfall oder Zwischenfall, der Richard Farraday in Schwierigkeiten gebracht haben könnte?“ „Nein, ganz bestimmt nicht… jedenfalls, soweit ich weiß. Warum fragen Sie?“ Katia de Sylva zögerte einen Augenblick lang, dann sagte sie freundlich: „Mir ist aufgefallen, wie vorsichtig er mit halbwüchsigen Mädchen umgeht – Mädchen in dem Alter, in dem Sie waren, als er Sie behandelte. Kindern gegenüber ist er völlig entspannt, und die Kleinen vergöttern ihn. Zu Teenagern dagegen hält er Abstand. Grundsätzlich ist ein zweiter medizinischer Mitarbeiter im Raum, wenn er sich mit ihnen befaßt. Ich habe mich gefragt, ob zwischen Ihnen und ihm damals irgend etwas vorgefallen ist…“ „Wir hatten ein blendendes Verhältnis von Arzt zu Patientin, das ist alles.“ Beim besten Willen erinnerte Jennie sich an nichts, worauf Katia anspielen konnte. „Entschuldigung, es war ja auch nur eine Vermutung. Ich bin erleichtert, daß es damals nicht Ihretwegen Probleme gegeben hat, denn sonst hätte ich Ihnen empfohlen, sofort nach England zurückzufliegen. Richard Farraday ist ein brillianter Chirurg. Wir in Lakeside schätzen ihn und bemühen uns, ihm keine Steine in den Weg zu legen. Wir wollen ihn nicht verlieren.“ „Assistenzärzte dagegen sind ersetzbar, nicht wahr?“ „Jedenfalls sind sie leichter zu finden als herausragende Chirurgen“, erwiderte Katia de Sylva. „Sie waren also keine… sagen wir, schwierige Patientin?“ „Nein, das glaube ich nicht. Wir haben uns blendend verstanden. Deshalb begreife ich ja auch nicht, weshalb er mich jetzt so abweisend behandelt.“ Die Miene der Krankenschwester verriet Jennie, daß auch Katia de Sylva mit dieser Veränderung nichts anfangen konnte. Glaubte sie ihr wenigstens? Von welchem Vorfall in Richard Farradays Leben war überhaupt die Rede? Jennie beschloß, das Thema zu wechseln. Glücklicherweise hatte ihr ungeklärtes Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten ihr nicht den Appetit verschlagen. Mit Genuß aß sie als Hauptgang ein Hühnercurry mit Reis und bestellte sich zum Nachtisch frische Ananas und Mango. Nach dem Essen schlenderten die beiden Frauen zum See, bestiegen am Anlieger ein Boot mit Außenbordmotor und unternahmen eine kleine Rundfahrt. „Sie sollen doch wissen, wo Sie zur Zeit leben und was Sie sich unbedingt noch ansehen müssen“, rief Katia Jennie über den Motorenlärm hinweg zu. „Es ist wunderschön, ich bin hell begeistert! Was ist das da drüben?“ „Das ist das Kloster Malawatta, und ein Stückchen weiter unten steht das ‚Hotel Schweiz’.“
Jennie hörte fasziniert zu, während Katia ihr all die Sehenswürdigkeiten beschrieb, die sie während ihres Aufenthalts in Sri Lanka besuchen sollte. Ob die sechs Monate neben ihrer Arbeit dafür reichen würden? Die Sonne stand schon tief, als sie ins Krankenhaus zurückkamen. Jennie ging in ihr Zimmer und zog sich für den Dienst um. Als sie wenig später den Haupteingang des Krankenhauses betrat, kam ihr die Empfangsdame eilig entgegen. „Doktor Warner, Sie werden in der Notaufnahme der Unfallabteilung erwartet. Doktor Farraday bat mich, das gesamte orthopädische Team zusammenzurufen: Auf der Straße nach Kegalle sind zwei Lastwagen frontal zusammengestoßen. Es gibt zahlreiche Verletzte.“
3. KAPITEL Jennie schloß noch eilig die Knöpfe ihres weißen Ärztekittels, während sie schon die Unfallabteilung betrat. Dort sah es wie auf einem Schlachtfeld aus: Da lag mindestens ein Dutzend Patienten, alle männlich, alle Einheimische, und alle brauchten Erstversorgung. „Kommen Sie hierher, Dr. Warner“, rief Richard Farraday ihr zu. „Legen Sie diesem Patienten bitte einen Tropf an. Anschließend ist die Blutgruppe zu bestimmen, und wir brauchen eine Kreuzprobe. Mit diesem Patienten hier dasselbe…“ Jennie wusch sich rasch die Hände, zog ein Paar sterile Handschuhe über und machte sich an die Arbeit. Ihr Patient stöhnte, als sie seinen Arm nach einer Vene für die Infusionsnadel abtastete. Er hatte offensichtlich einen Splitterbruch des Oberschenkelknochens erlitten, und aus dem schwachen, raschen Puls schloß sie zudem auf innere Verletzungen. Behutsam fixierte sie das verletzte Bein mit einer Schiene. Nach der Erstversorgung der Verletzten bat Richard Farrady Jennie, mit ihm in den OPSaal zu kommen. Lampenfieber stieg in ihr auf, während sie ihm eilig über den Flur folgte. „Haben Sie Erfahrung mit orthopädischer Notfallchirurgie?“ fragte der Arzt und hielt ihr die Schwingtür auf, die zu den Operationsräumen führte. Jennie nickte. „Kurz vor meiner Abreise nach Sri Lanka gab es einen Massenunfall auf der Autobahn. Ich habe in drei Stunden mehr gelernt als in meiner ganzen Ausbildung zuvor.“ „Das wird Ihnen jetzt zugute kommen.“ Richard Farraday blieb vor der Tür des Vorbereitungsraums stehen und betrachtete Jennie mit einem kühlen, strengen Blick: „Sie müssen unter Umständen schnell und entscheidungsfreudig sein, um das Leben eines Patienten zu retten. Ich bin selbstverständlich immer in Ihrer Nähe, aber wenn ich mich gerade mit einem anderen Patienten befassen muß, bin ich nicht unbedingt abkömmlich, und es kann um Sekunden gehen. Fühlen Sie sich dem gewachsen?“ Jennie war ein bißchen kurzatmig, denn es war ihr nicht leichtgefallen, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Trotzdem antwortete sie ruhig und fest: „Selbstverständlich bin ich dem gewachsen.“ Hoffentlich nimmt er mir meine Selbstsicherheit ab, dachte sie dabei. Sie sah zu ihm auf, und sekundenlang schien ihr sein Blick weicher zu werden. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte, denn das Surren des Ventilators war zu laut. Bestimmt bilde ich mir nur ein, daß er so etwas wie „tapferes Mädchen“ von sich gibt, dachte sie. Solch eine unprofessionelle Bemerkung würde er sich nie erlauben… Nachdem Jennie einmal mit der Arbeit begonnen hatte, blieb ihr keine Zeit mehr für private Gedanken. Alle Mitglieder des Teams arbeiteten mit voller Konzentration. Zum ersten Mal an ihrem neuen Arbeitsplatz wurden Jennie all ihre ärztlichen Fähigkeiten abverlangt. Dabei erkannte sie sehr schnell, daß in dieser Situation kaum mehr als eine chirurgische Erstversorgung vorzunehmen war, denn die Patienten waren größtenteils so schwer traumatisiert, daß die entscheidenden, wiederherstellenden Eingriffe noch gar nicht vorgenommen werden konnten. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousien blinkten, merkte sie erst, daß sie die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte. Sie lehnte sich an einen Rollwagen im Aufwachraum und atmete tief durch. Wenn ich mich nicht gleich wieder bewege, schlafe ich im Stehen ein, dachte sie.
Der junge Patient neben ihr auf dem Bett kam langsam wieder zu sich. Behutsam entfernte Jennie den Tubus aus seiner Luftröhre. Der Mann hustete und stöhnte und schlug zögernd die Augen auf. Jenny lächelte ihm aufmunternd zu. „Schwester, Sie können den Patienten jetzt auf die Station bringen“, sagte sie über ihre Schulter hinweg. Das war erst einmal der Letzte, dachte sie erleichtert, nachdem der junge Mann hinausgerollt worden war. Erschöpft lehnte sie sich an eine Untersuchungsliege. Ihr linker Fuß schmerzte so stark, daß sie mit den Tränen kämpfen mußte. Das kannte sie schon, das passierte immer, wenn sie zu lange gestanden hatte. Sie setzte sich auf die Liege und streifte die Schuhe ab. Oh, welche Erleichterung! Ich lege einen Augenblick lang die Füße hoch, dachte sie… Als zwei Stunden später die Schwestern der Tagschicht in den Aufwachraum kamen, entdeckten sie dort zu ihrer Verwunderung die neue Assistenzärztin der Orthopädie in tiefem Schlaf. OPSchwester Sarah Mawatha fühlte routinemäßig den Puls der jungen Frau und warf dann einen Blick auf ihren linken Fuß. Mike Denver hatte ja herumerzählt, was die Ärztin hinter sich hatte. Die Schwester wunderte sich nicht, daß Doktor Warner nach ihrem nächtlichen Einsatz erschöpft war. Durch die Berührung aus ihrem tiefen Schlaf geweckt, reckte und streckte Jennie sich, und als sie die Augen aufschlug, sah sie in besorgte Gesichter. „Alles in Ordnung, Frau Doktor?“ fragte die OPSchwester. Erschrocken richtete Jennie sich auf. „Ich bin eingeschlafen! Warum haben Sie mich nicht geweckt? Ich muß mich doch um die Unfallpatienten kümmern.“ „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Doktor“, erwiderte die OPSchwester lächelnd. „Sie waren sehr müde und brauchten Ihren Schlaf. Es ist alles in Ordnung: Dr. Denver und Dr. Farraday sind auf der orthopädischen Männerstation und machen Visite.“ „Du meine Güte, ich muß sofort zu ihnen…“ Sie kam nicht weiter, denn Schwester Sarah legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Die beiden Herren kommen auch ohne Sie zurecht. Übernehmen Sie sich nicht, Frau Doktor! Sie haben die ganze Nacht lang gearbeitet, Sie haben Anspruch auf Ruhe. Wenn ich Ihnen raten darf, gehen Sie auf Ihr Zimmer und schlafen Sie. Wir benachrichtigen Sie sofort, falls Sie gebraucht werden.“ Die anderen Schwestern nickten beifällig. Jennie gab nach, auch wenn es gegen ihre Grundsätze war. „Also schön, dann ziehe ich mich zurück und schlafe noch eine Stunde.“ Die OPSchwester lächelte, wandte sich ab und wies ihre Kolleginnen in die Aufgaben des Tages ein. Jennie rutschte von der Liege und schlüpfte in die Schuhe. „Vielen Dank, Schwester Sarah“, sagte sie. „Es wird wohl noch ein bißchen dauern, bis ich mich an die Arbeitseinstellung in Sri Lanka gewöhnt habe. Ihre Kolleginnen in London hätten ganz anders reagiert, wenn sie mich schlafend im Aufwachraum angetroffen hätten. Ganz bestimmt hätte mir niemand empfohlen, mir einige Stunden frei zu nehmen.“ „Hier sind Sie in Sri Lanka, Frau Doktor, nicht in London“, entgegnete die OP Schwester lächelnd. „Sri Lanka ist das Land der ,Serendibität’.“ Da Jennie sie verständnislos ansah, erklärte sie: „Früher einmal hieß unsere Insel ,Serendib’. Einer Ihrer Landsleute dachte an unser Land und an die Bedeutung des ähnlich klingenden, lateinischen Wortes ,Serenitas’: Heiterkeit. Er prägte das Wort
,Serendibität’, die Kunst, im Leben unerwartete, erfreuliche Erlebnisse zuzulassen und zu genießen. Nehmen Sie sich selbst nicht zu ernst, Frau Doktor! Entspannen Sie und seien Sie offen für das, was kommt. Als ich im Jahr nach meinem Examen in England arbeitete, fiel mir auf, daß alle Leute ihr Leben auf Tage, Wochen, manchmal sogar auf Jahre hinaus im voraus planten. Wenn sich etwas Unerwartetes und Erfreuliches ergab, hatten sie dafür keinen Raum mehr und keine Zeit. Hier bei uns ist das Leben anders. Versuchen Sie, sich dem anzupassen… es wird Ihnen guttun.“ Nachdenklich betrachtete Jennie die Frau. Sie war älter, als sie auf den ersten Blick gedacht hatte, aber in ihren dunklen Augen funkelte eine Lebenslust, als wäre sie ein junges Mädchen. „Serendibität“, wiederholte Jennie leise. Wie hübsch das klang! „Ja, das will ich versuchen, solange ich hier bin.“ „Und wenn Sie es gelernt haben, nehmen Sie es mit nach Hause“, ergänzte die OPSchwester. „Nehmen Sie es mit in Ihr Land – auch wenn es unter Ihrem grauen Himmel nicht so leicht zu leben ist.“ „Es ist schwieriger, aber nicht unmöglich“, bestätigte Jennie. Sie ging in ihr kleines Apartment zurück. Das Zimmer war in der Zwischenzeit gereinigt, das Bett frisch überzogen worden, und jemand hatte einen Strauß farbenprächtige, duftende Blüten auf den Tisch gestellt. Jennie duschte, stellte dann die Klimaanlage ab, öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft hereinzulassen, und streckte sich auf dem Bett aus. Das schrille Klingeln des Telefons riß sie irgendwann aus dem Schlaf. „Könnten Sie sich vielleicht in absehbarer Zeit wieder zum Dienst begeben, Dr. Warner?“ klang Richard Farradays strenge Stimme aus dem Apparat. „Ja… ja, selbstverständlich“, stammelte sie. „Ich war sehr müde, und Schwester Sarah meinte…“ „Darüber können wir reden, wenn Sie im Krankenhaus sind, Dr. Warner.“ Er legte auf. Jennie schnaubte: So viel zum Thema Serendibität! Als sie wenige Minuten später die orthopädische Station betrat, kam ihr ihr Vorgesetzter schon entgegen: „Kommen Sie bitte in mein Büro“, forderte er sie mit unheilverkündender Ruhe auf. Er ging ihr voraus und öffnete ihr die Tür. „Bitte nehmen Sie Platz.“ Jennie verwünschte seine übertriebene Höflichkeit. Sie war froh, sich setzen zu können, denn ihre Knie waren weich. „Ich werde Sie Jennie nennen“, begann er beiläufig. „Warum auch nicht, das haben Sie…“ Sie brach ab. Er will doch nicht an die Vergangenheit erinnert werden, ermahnte sie sich. Wir sind jetzt Kollegen, und er will mich behandeln wie die anderen auch – was in diesem Fall bedeutet, mich zur Ordnung zu rufen. „Jennie, ich ersuche Sie nachdrücklich, aus dem Problem mit Ihrem Fuß kein Kapital zu schlagen. Denn wenn Sie es darauf anlegen, werden die einheimischen Krankenschwestern Sie verhätscheln…“ „Was nehmen Sie sich heraus?“ Jennie bebte vor Zorn. Gleichzeitig fragte sie sich, woher sie den Mut nahm, sich in solchem Ton gegen ihren Vorgesetzten zu wenden. „Ich habe niemals um irgendwelche Rücksichtnahme gebeten. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich schont. Ich hatte Sie bitten wollen, keinen meiner Kollegen über meine einstige Behinderung zu informieren, aber dazu kam es gar nicht, denn gleich am ersten Tag weihten Sie Mike Denver ein, und nun weiß das ganze Krankenhaus Bescheid.“ Atemlos hielt sie inne. Richard Farradays Gesicht war wie eine Maske. Jetzt bin
ich zu weit gegangen, dachte sie. Aber es mußte sein. Solch eine Unterstellung kann ich nicht unwidersprochen lassen. „In einer orthopädischen Abteilung läßt sich ein Befund wie bei Ihnen gar nicht verheimlichen, Jennie. Ich habe aber verstanden“, sagte der Konsiliararzt, ging zum Fenster und starrte hinaus. „Ich möchte nur sicherstellen, daß sich so etwas nicht wiederholt.“ „Seien Sie unbesorgt, es wird sich nicht wiederholen.“ Jennie stand auf. Richard Farraday drehte sich heftig um und maß sie mit einem scharfen Blick. „Ich fühle mich verantwortlich für Sie! Immerhin gehörte ich zu dem orthopädischen Team, das Sie damals behandelte – erfolgreich behandelte, wie wir beide wissen. Zur vollständigen Rehabilitation eines Patienten gehört es aber, daß er im Alltag keine Vergünstigungen erwartet.“ „Ich dachte, Sie wollen nicht daran erinnert werden, daß Sie einmal mein Arzt waren? Zumindest habe ich Sie so verstanden, nachdem ich Ihnen am ersten Tag meiner Anwesenheit im Lakeside Hospital sagte, wer ich bin.“ Sie hörte, wie er Luft holte. Er kam auf sie zu und blieb so nahe vor ihr stehen, daß sie glaubte, seinen Herzschlag hören zu können. „Es muß Ihnen klar sein, daß Sie auch als meine ehemalige Patientin keine Sonderbehandlung erwarten können.“ „Das tue ich auch nicht, ich dachte, das wäre bereits klar. Ich bin an dieses Haus gekommen, um mich im Fach Orthopädie bestmöglich fortzubilden.“ „Wirklich? Ist das wirklich Ihr Beweggrund? Denn wenn…“ „Bilden Sie sich nicht ein, ich wäre Ihretwegen hergekommen. Ihre Methoden, Ihre neuen Vorstellungen zur Operationstechnik: Das interessiert mich, sonst nichts.“ „Es freut mich, das zu hören. Solange wir beide als fähige Vertreter unseres Fachs zusammenarbeiten, wird es keine Probleme geben. Ich erkenne durchaus das Potential, das Sie besitzen, Jennie, und ich möchte, daß Sie das Beste daraus machen. Das liegt mir wirklich am Herzen.“ Jennie hörte die Begeisterung in seiner Stimme, und ihr Herz schlug schneller: So hatte sie diesen Mann kennengelernt, so hatte sie ihn ins Herz geschlossen! „Lassen Sie mich nicht im Stich, Jennie, und vor allem, machen Sie mir – und sich selbst – keine unnötigen Schwierigkeiten“, setzte er hinzu. Dann wandte er sich ab. Sie wollte ihn fragen, was er mit dieser letzten Bemerkung meinte, aber er gab ihr dazu keine Chance, sondern fuhr fort: „Bitte gehen Sie jetzt auf die Kinderstation. Sie kennen unsere kleinen Patienten ja inzwischen. Überprüfen Sie, ob Ravindralal geübt hat, und arbeiten Sie weiter an der Mobilisierung der Füße. Alle erforderlichen Angaben finden Sie in seiner Akte verzeichnet. Ach ja, und dann sagen Sie Sriyani bitte, ich hätte sie nicht vergessen, ich würde im Verlauf des Tages zu ihr kommen. Wenn Sie bei den Kindern fertig sind, kommen Sie bitte auf die Männerorthopädie. Ich werde vermutlich den Mann mit dem OberschenkelTrümmerbruch heute noch operieren.“ Sein knapper, sachlicher Ton sagte Jennie eindeutig, daß er das Gespräch als abgeschlossen betrachtete. Für sie war das längst noch nicht der Fall, es waren viel zu viele Fragen offengeblieben, aber sie verließ kommentarlos sein Büro und eilte auf die Kinderstation. Dabei wäre sie fast mit Mike Denver zusammengestoßen. „Hallo, meine Schöne!“ „Ich bin nicht Ihre Schöne!“ „Oh, ich sehe schon: Ein Sturm zieht auf! Hat der Chef aller Chefs Sie zu sich beordert? Kommen Sie, erzählen Sie dem Onkel Mike bei einer Tasse Kaffee, was
Ihnen das Herzchen drückt.“
„Geht nicht, ich muß auf die Kinderstation.“
„Dann suche ich Sie dort in einer Stunde auf. Wir können auch dort einen Kaffee
trinken, und dabei erzählen Sie mir dann von Ihrem Kummer.“
Jennie hatte länger als erwartet auf der Kinderstation zu tun. Die kleinen
Patienten ließen keine Eile zu, und das war ja auch gar nicht Sinn der Sache.
Jedes einzelne Kind versuchte, sie so lange wie möglich an seinem Bett zu
halten. Jennie freute sich natürlich darüber und empfand es auch als
entspannend und befriedigend, sich den Kindern mit mehr Zeit widmen zu
können.
Nach etwas mehr als einer Stunde kam Mike Denver und winkte ihr ungeduldig.
„Schluß jetzt, der Kaffee ist fertig. Wenn Sie keine Grenzen setzen, läßt diese
Bande Sie nie mehr hinaus.“
Widerstrebend verließ Jennie ihre kleinen Patienten und folgte Mike in den
anheimelnden Aufenthaltsraum auf der Station. Über der Arbeit mit den Kindern
hatte sie ihren Ärger über Richard Farradays Umgang mit ihr vergessen, und sie
hatte wenig Lust, die ganze Sache wieder aufzuwärmen, um Mike Denver einen
Gefallen zu tun.
Eine Stationshelferin brachte ihnen den Kaffee, und kaum hatte sie den Raum
wieder verlassen, da fragte Mike: „Also, was wollte der Boß von Ihnen?“
Jennie nippte an ihrem Kaffee und überlegte, was sie ihrem Kollegen mitteilen
wollte. Von Schwester Katia wußte sie ja, daß Mike Denver die größte
Klatschbase im Krankenhaus war.
„Es gab eine Meinungsverschiedenheit, aber die ist ausgeräumt. Das ist alles.“
„Das mag glauben wer will – ich glaube es nicht! Sie sind aus seinem Büro
gekommen mit einem Gesicht, so finster wie der Himmel vor einem Taifun, und
nun behaupten Sie…“
„Mike, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten
kümmerten.“
„Aber es ist meine Angelegenheit, wenn Kollegen sich mit etwas herumschlagen.
Unser guter Chef kann ein echtes Ekel sein, wenn er sich auf jemanden
eingeschossen hat. Allerdings begreife ich nicht, weshalb er ausgerechnet Sie
ausgesucht hat. Ich meine, schließlich sind Sie eine ehemalige Patientin. Ich
hätte gedacht…“
„Mike, hören Sie auf zu bohren.“
„Warum? Liegt da ein dunkles Geheimnis in der Tiefe?“
„Wenn es da läge, würde ich es Ihnen ganz bestimmt nicht anvertrauen.“
„Alle Achtung! Ich mag es, wenn eine Frau Charakter beweist. Gehen Sie heute
abend mit mir essen“, erwiderte Mike ungerührt.
„Ich habe Dienst.“
„Ich auch. Anschließend, meine ich.“
„Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.“
„Dr. Warner, Telefon bitte.“ Die Stationsschwester hatte unbemerkt die Tür
geöffnet. „Dr. Farraday ist am Apparat.“
„Wenn man vom Teufel spricht“, knurrte Mike.
Jennie ging ans Telefon. Richard Farraday klang ungehalten. „Ich hatte Sie
gebeten, auf die Männerorthopädie zu kommen. Wo bleiben Sie?“
„Ich bin schon unterwegs.“ Sie hängte ein.
Mike war neben sie getreten:
„Sie brauchen keinen Schönheitsschlaf! Wir beide gehen heute abend…“
„Heute abend nicht!“
„Dann ein andermal.“ Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Wir werden sehen“, entgegnete sie unbestimmt und eilte davon.
Die Sonne stand schon nicht mehr hoch am Himmel, sondern sandte ihre
Strahlen schräg durch die Jalousien, als Jennie auf die orthopädische
Männerstation kam.
Richard Farraday stand über einen jungen Mann gebeugt. Als er Jennie kommen
hörte, winkte er sie zu sich.
„Halten Sie bitte einmal diesen Streckverband, ich glaube, wir müssen den Zug
verringern… so!“ Er lächelte seinem Patienten zu: „Besser so?“
Der junge Mann runzelte fragend die Stirn, und der Arzt wiederholte seine Worte
in Sinhala. Da lächelte der Patient zustimmend.
Während sie das Zimmer verließen, bat Richard Farraday Jennie, in einer halben
Stunde im Operationssaal zu sein. Draußen auf dem Flur blieb er stehen und
lehnte sich gegen die Wand.
„Ich werde den Trümmerbruch richten und nageln. Ich möchte die Sache erledigt
haben, bevor morgen die Routineoperationen anstehen. Haben Sie eine Ahnung,
wo Mike Denver ist?“
„Vor kurzem war er noch auf der Kinderstation.“
„Wie kommen Sie beide zurecht?“
Auf diese Frage war Jennie nicht vorbereitet. Da unterhielten sie sich eben über
Operationsvorbereitungen, und jetzt dieser private Einwurf. Verblüfft sah sie ihn
an.
„Ganz gut. Warum fragen Sie?“
Plötzlich war sein Blick weich, beinahe zärtlich, wie sie es noch nie bei diesem
Mann gesehen hatte.
„Nehmen Sie sich in acht, Jennie. Ich möchte nicht, daß Sie sich weh tun. Mike
ist ein guter Arzt, aber…“ er sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick kam
Mike Denver den Flur entlang und musterte seine beiden Kollegen mit einem
feindseligen Blick. „Ach, da sind Sie ja, Mike“, sagte Richard Farraday ungerührt.
„Wir operieren den Trümmerbruch. Ich erwarte Sie in einer halben Stunde im OP
Saal.“
Wenn Blicke töten könnten! dachte Jennie, als Mike Denver nur kurz nickte und
seinen Weg fortsetzte.
4. KAPITEL Jennie lebte jetzt seit einem Monat in Kandy und hatte allmählich das Gefühl, sich in der Stadt und der Umgebung auszukeimen. Wann immer sie frei hatte, besichtigte sie die vielen touristischen Sehenswürdigkeiten der Gegend und lehnte regelmäßig Mike Denvers Angebote ab, sie dabei zu begleiten. Sie habe einen guten Reiseführer, erklärte sie ihm jedesmal wieder, damit finde sie sich überall zurecht. Sie hatte sich die Elefanten in Polunnaruwa angesehen, mehrfach den Königspalast besucht und sich mit dem reichen kulturellen Erbe des Landes vertraut gemacht. Stundenlang war sie durch die kleinen Straßen der Stadt gestreift, hatte die Atmosphäre auf den Märkten und in den kleinen Geschäften in sich aufgesogen. Seit dem schweren Verkehrsunfall in ihrer ersten Woche im Lakeside Hospital war der Arbeitsanfall auf den orthopädischen Stationen ein wenig zurückgegangen. Zu Jennies Erleichterung hatten alle zwölf Verletzten den Unfall überlebt. Sechs der Männer waren inzwischen nach Hause entlassen worden und kamen nur zur regelmäßigen, ambulanten Versorgung in die Klinik, während die anderen noch immer stationär behandelt werden mußten. Eines Abends, als Jennie gerade Dienstschluß hatte, traf die Nachricht ein, es sei auf den unsicheren Straßen zu einem weiteren schweren Verkehrsunfall gekommen. Es war ein schwacher Trost, daß es diesmal nur drei Verletzte gab: Ein englisches Touristenehepaar mit seinem kleinen Sohn hatte sich in Colombo ein Auto gemietet, um Kandy zu besichtigen. Auf der Rückfahrt in die Hauptstadt war der Pkw von der Straße abgekommen und in einen Graben gefahren. Leider hatten alle drei Wageninsassen anscheinend schwere Verletzungen bei dem Unfall erlitten. „Wir bringen den Jungen besser auf die Intensivstation“, sagte Richard Farraday und hob die kleine, bewußtlose Gestalt behutsam von dem blutbefleckten Rollwagen. „Offenbar hatte er auf dem Rücksitz gesessen und ist nach vorne, gegen die Lehne geschleudert worden. Wir müssen den Schädel röntgen lassen. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es ansonsten keine Knochenbrüche.“ Jennie ließ sich mit der Kinderstation verbinden. Schwester Katia war am Apparat. „Ich komme sofort“, versprach sie. Der Fahrer des Wagens hatte einen Beckenbruch erlitten. Richard bat Mike Denver, den Operationssaal für eine Untersuchung unter Allgemeinnarkose herzurichten. Die Röntgenaufnahmen bestätigten den Beckenbruch und zeigten eine Verschiebung der Knochen, was zur Verletzung der anliegenden Organe geführt hatte. Richard Farraday wollte das ganze Ausmaß des Schadens abschätzen können, bevor er den Patienten in einer Beckenschale fixierte. „Soll ich die Blutgruppenbestimmung und die Kreuzprüfung vornehmen?“ fragte Jennie und richtete einen Glukosetropf her. „Der Mann braucht bestimmt viel Blut.“ „Das kann die Schwester übernehmen“, wehrte Richard Farraday ab. „Kommen Sie bitte einmal her.“ Jennie trat an die Untersuchungsliege, wo eine junge Frau lag, die Mutter des verletzten Kindes. Richard Farraday hob gerade einen Verband über ihrem rechten Bein ab. Die Sanitäter hatten das Bein abgebunden, um den Blutverlust aus der Beinarterie zu mindern, denn das Bein war in grauenhafter Weise zerschmettert.
Scharf zog Jennie die Luft ein. Ein hoffnungsloser Fall, dachte sie im ersten Augenblick. Ein derartig schwer verletztes Bein läßt sich nicht retten. Sie hatte so etwas früher schon einmal gesehen, und in solchen Augenblicken fragte sie sich, weshalb sie Fachärztin für Orthopädie geworden war. Doch diese Schwäche war schnell überwunden, denn sie wußte, daß es immer eine Hoffnung gab. Sie würden die Operation methodisch planen und mit aller Kunstfertigkeit vorgehen und im Prozeß entscheiden, wieviel von dem Bein zu retten war. Nie würden sie dabei vergessen, daß ihre Patientin für den Rest ihres Lebens an den Folgen ihrer Entscheidung tragen würde. „Wissen wir, wie alt unsere Patientin ist, Doktor Farraday?“ fragte sie. Der Arzt schüttelte den Kopf. „Als die Rettungsmannschaft zum Unfallort kam, war nur der Mann bei Bewußtsein, litt aber unter derartig schweren Schmerzeh, daß sie ihm eine hohe Dosis Morphium geben mußten. Vermutlich findet sich am Unfallort eine Handtasche mit den Ausweisen, aber das hat Zeit. Ich schätze die Frau auf Mitte Zwanzig.“ „Ja, das denke ich auch“, sagte Jennie. Es überlief sie kalt. „Wir bringen sie sofort in den OP“, ordnete der Chirurg an. Als die langwierige Operation endlich abgeschlossen war, fühlte Jennie sich körperlich und seelisch ausgelaugt. Richard Farraday hatte auf ein Wunder gehofft, um das Bein der jungen Frau doch noch retten zu können – vergeblich! Bei einer genaueren Untersuchung der zerschmetterten Knochen wurde offensichtlich, daß jeder Versuch zum Scheitern verurteilt war, das Bein zu retten, ja daß man das Leben der jungen Frau gefährden würde, wenn man nicht sofort amputierte. Jennie blieb nach der Amputation im Aufwachraum bei ihrer Patientin. Eine Vollschwester war natürlich zur Spezialversorgung abgestellt worden, doch Jennie mochte die junge Frau nicht allein lassen, bevor sie nicht ganz sicher war, daß sie alles menschenmögliche getan hatte. „Ihr Dienst ist jetzt beendet, Jennie“ sagte Richard Farraday, als er den OPSaal verließ, wo er noch die Beckenschale für den Fahrer des Wagens angefertigt hatte, und Jennie im Aufwachraum antraf. Sie stand auf und zog sich die Kappe vom Haar. „Warum muß so etwas einer jungen Frau in der Blüte des Lebens zustoßen?“ fragte sie traurig. Richard Farraday streckte eine Hand aus und streichelte kurz ihre Wangen. „Sie dürfen es nicht an sich heranlassen, Jennie“, meinte er freundlich. „Wir können uns die Probleme unserer Patienten nicht zu eigen machen. Wir haben getan, was wir konnten, das müssen wir akzeptieren. Jetzt legen Sie sich schlafen, denn wenn Ihre Patientin wieder zu sich kommt, braucht sie eine starke Ärztin als Rat und Beistand und nicht jemanden, dem vor Müdigkeit die Augen zufallen.“ Seine kurze Berührung war wie ein Stromstoß durch Jennie gegangen. Im vergangenen Monat war er ihr gegenüber sehr viel umgänglicher geworden, aber von Vertrautheit zwischen ihnen konnte immer noch nicht die Rede sein. Noch immer gab es da eine unsichtbare Barriere. Alle anderen ärztlichen Mitarbeiter nannten ihn beim Vornamen, nur sie redete ihn immer noch mit „Doktor Farraday“ an. Jetzt verließ auch Mike Denver den OPSaal. „Wie wär’s mit einem verspäteten Abendessen, Jennie? Sie haben zwar immer eine Ausrede, aber heute bin ich sicher, daß Ihnen der Magen auf den Füßen hängt.“
„Ich bin nicht hungrig“, log Jennie. „Ich muß nur schlafen.“ Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Wie hartnäckig dieser Mike Denver ist, dachte sie. Wann wird er endlich begreifen, daß ich außerdienstlich nichts mit ihm zu tun haben will? Am ersten Abend, als er mich zum Tempel mitnahm, hat er sich ja halbwegs ordentlich benommen, aber inzwischen weiß ich, mit wem ich es zu tun habe: Er ist im ganzen Krankenhaus als Frauenheld bekannt, und ich habe keine Lust, mich unter seine Eroberungen einzureihen. Außerdem ist da noch diese versteckte Warnung, die Richard Farraday mir in der ersten Woche gab. Mike Denver ist ein guter Arzt, aber was Frauen betrifft, ist ihm nicht über den Weg zu trauen, hatte er angedeutet. Er wollte verhindern, daß mir etwas zustößt, das hat er ausdrücklich gesagt. Sie verschränkte die Arme unter dem Kopf und sah zur Decke hinauf. Richard Farraday macht sich meinetwegen Gedanken – das ist schön, aber er hat eine merkwürdige Art, seine Anteilnahme zu zeigen! Er fordert mich bis zum letzten, viel härter als die anderen ärztlichen Mitarbeiter. Andererseits hat er mich eben vom Dienst entbunden, obwohl es sicherlich auch in der nächsten Stunde noch genug zu tun gäbe. Er hätte mich auch bis zum Zusammenbruch arbeiten lassen können. Sie mußte lachen, denn plötzlich hatte sie ein sonderbares Bild vor Augen: Sie sah sich selbst als Packesel und Richard Farraday als Treiber, der ihr mehr und immer mehr Lasten aufbürdete, mit der Peitsche knallte und schrie: Weiter! Vorwärts! Nicht schlappmachen! Ich bekomme Halluzinationen, ich sollte wirklich etwas essen, sagte sie sich nüchtern. Zu dumm, daß ich behauptet habe, ich sei nicht hungrig, sonst könnte ich jetzt in die Kantine gehen. Sie stand auf, ging barfuß durch den Raum und füllte den elektrischen Wasserkocher mit Wasser. Dann wühlte sie in dem kleinen Schrank, aus dem im wesentlichen ihre Kochnische bestand, in der Hoffnung, irgendwo noch eine Packung Kekse zu finden. Sie zuckte erschrocken zusammen, als es an der Tür klopfte. „Wer ist da?“ „Richard Farraday.“ Bingo! dachte Jennie. Was will der Chef um diese Uhrzeit von mir? Warum hat er nicht angerufen? Wie gut, daß ich mich noch nicht ausgezogen habe. Rasch ging sie zur Tür und öffnete. Ihr Lächeln wirkte ein wenig gezwungen, mit dem sie ihn begrüßte. „Das ist eine Überraschung! Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?“ „Ich habe Ihnen ein Paket Sandwiches aus der Kantine mitgebracht. Ich hörte ja mit an, wie Sie Mike Denvers Einladung zum Abendessen ablehnten, und ich wollte verhindern, daß Sie vor Magenknurren nicht einschlafen können.“ Er reichte ihr die Brote und wandte sich schon wieder zum Gehen. „Sie müssen Gedanken lesen können.“ „Das kann ich nicht, aber ich kann beobachten. Und wie gesagt, ich möchte nicht, daß meine Mitarbeiter verhungern.“ „Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich brühe mir gerade eine Tasse Tee auf.“ Wer war in diesem Augenblick wohl überraschter – Richard Farraday über die Einladung oder sie selbst über ihren Mut, sie auszusprechen? „Ja gern. Vielen Dank.“ Er trat ein. Rasch nahm Jennie einige Zeitschriften von dem einzigen bequemen Sessel in ihrem Zimmer und bat ihren Chef, dort Platz zu nehmen. Dann ging sie in ihre Kochnische zurück, hängte zwei Teebeutel in die kleine Porzellankanne und goß Wasser auf. Sie stellte die Kanne und zwei Tassen auf ein Tablett und setzte es
auf ihrem Schreibtisch ab. Während der Tee zog, hockte sie sich auf einen Holzschemel und stützte das Kinn in eine Hand. „Dr. Farraday, ich…“ begann sie, doch er unterbrach sie. „Nennen Sie mich doch Richard. Die anderen Kollegen tun das auch.“ „Ich dachte, das wäre Ihnen nicht recht… Bisher waren Sie immer so besonders höflich und sachlich mir gegenüber.“ „Kommt Ihnen das so vor?“ „Ja. Hatten Sie es anders gemeint?“ „Nein, es stimmt schon. Manchmal ist es ratsam, die kollegialen Umgangsformen zu wahren.“ Jennie beugte sich über die Kanne, prüfte den Tee und schenkte ihn dann ein. Erst nachdem sie Richard Farraday eine Tasse gereicht hatte, fuhr sie fort: „Ich stimme zu, aber man muß die Sache doch nicht übertreiben. Man kann kollegial und trotzdem entspannt miteinander umgehen. Denken Sie doch an unsere Beziehung, als Sie mein behandelnder Arzt waren: Sie waren für mich eine unbestrittene Autorität, und trotzdem hatten wir viel Spaß miteinander. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mit Ihnen über alles reden und…“ „Jennie, damals waren Sie ein Kind.“ „Und jetzt? Was hat sich denn so geändert? Müssen wir so tun, als wären wir Fremde? Ich möchte doch nur, daß Sie umgänglich mit mir sind, sonst nichts. Ich erwarte keine Vergünstigungen. Ich will meine Arbeit tun, so gut es in meinem Vermögen steht, aber nicht ständig mehr und immer mehr gefordert werden.“ „Wenn ich Sie besonders fordere, dann ausschließlich in Ihrem eigenen Interesse. Ich möchte, daß Sie Erfolg haben. Ich möchte, daß Sie begreifen, was in Ihnen steckt.“ Verblüfft sah Jennie ihn an. Er klang ganz aufrichtig, so als ob ihm wirklich an ihr gelegen sei. „Ich täte das nicht, wenn ich Ihnen nicht zutraute, eine hervorragende orthopädische Chirurgin zu werden, Jennie. Zugegeben, Sie werden immer auf eine Kiste klettern müssen, um an den OPTisch heranzukommen…“ Er sprach nicht weiter. Jennie sah, wie es vergnügt in seinen Augen blitzte. Sie hatte das Gefühl, das Eis zwischen ihnen brechen zu hören. Sie wagte kaum zu atmen, um ihn nur nicht zum Rückzug zu bringen. Eigentlich hatte sie wegen ihrer offenen Worte mit einer herben Kritik gerechnet – statt dessen machte er ihr Komplimente. Das war schon erstaunlich. „Glauben Sie wirklich, ich könnte eine gute Chirurgin werden, Richard?“ fragte sie und reichte ihm das Sandwichpaket, denn sicherlich hatte auch er Hunger. „Sie haben durchaus die Fähigkeiten dazu, aber es liegt noch viel Arbeit vor Ihnen. Und Sie müssen sich Ihrer Aufgabe vorbehaltlos widmen. Es bringt Sie nicht weiter, wenn Sie nebenher an Ehe und Familie denken, wie so viele andere junge Frauen in Ihrem Alter. Der Beruf des Chirurgen und die Ehe vertragen sich nicht miteinander. Ich weiß, wovon ich rede.“ Sein Ton war bitter, und sie horchte auf. „Sie haben es also versucht? Die Ehe, meine ich.“ „Ja, ich habe es versucht… es hat nicht geklappt“, erwiderte er langsam. „Und ist Ihre Ehe wirklich an der Chirurgie gescheitert, Richard?“ Sie nannte ihn jetzt zum zweitenmal beim Vornamen, und plötzlich kam es ihr ein bißchen verrückt vor, wie sie da mitten in der Nacht zusammen in ihrem Zimmer saßen, Tee tranken und miteinander redeten, wie damals, als er ihr Arzt gewesen war. Er sah ihr ernsthaft in die Augen. „Die Chirurgie hat es jedenfalls nicht leichter gemacht…. Immer diese Notfälle
mitten in der Nacht… Aber Sie haben natürlich recht, da gab es auch noch anderes.“ „Das kann ich mir vorstellen. Wissen Sie, als ich noch ein Kind war, riet meine Mutter mir, nie zu heiraten und Kinder zu haben, weil die auch mit einer Behinderung geboren werden könnten. Ich hatte das damals akzeptiert, aber es hat schrecklich weh getan.“ Selbst jetzt in der Erinnerung spürte sie noch den Schmerz, und sie mußte sich räuspern^ bevor sie weiterreden konnte. „Als ich dann die medizinische Hochschule besuchte, erfuhr ich, daß so etwas wie ein Klumpfuß sich so gut wie nie vererbt Ich war überglücklich! Ich kam mir vor, als wäre ein vernichtendes Urteil widerrufen worden, denn ich wußte ja, wie sehnlich ich mir Kinder wünschte. Mit anderen Worten, ich hoffe, einmal Beruf und Familie miteinander verbinden zu können: irgendwann später, nicht jetzt natürlich“, setzte sie rasch hinzu. Er sah sie nachdenklich an. „Das wird bestimmt nicht leicht.“ „Leicht ist nichts, worum es lohnt“, entgegnete sie philosophisch. „Jennie, versprechen Sie mir, daß Sie sich in der nächsten Zeit auf Ihren Beruf konzentrieren“, bat Richard. Sie spürte, wie aufrichtig seine Teilnahme an ihrem beruflichen Schicksal war. Das rührte sie, gleichzeitig kam sie sich vor wie ein Kind, und sie wollte nicht die Zuwendung eines Erwachsenen für ein Kind. Sie wollte etwas anderes – aber was eigentlich? „Natürlich konzentriere ich mich in nächster Zeit auf meinen Beruf. Deshalb bin ich schließlich hergekommen: Ich war sicher, bei Ihnen viel lernen zu können.“ Ein Schatten zog über sein Gesicht, er schien sich wieder zurückzuziehen. Ich habe schon wieder zuviel gesagt, dachte Jennie. Ich darf ihm keine Komplimente machen… er erträgt es nicht. Warum nur? Es entstand eine lange Pause, die Richard schließlich unterbrach. „Ich wußte gar nicht, daß Ihre Mutter solche überholten Ansichten hat. Ich hielt sie für eine einsichtige, intelligente Frau, sehr bodenständig und gleichzeitig ihrer Tochter von Herzen zugewandt. Wie geht es ihr eigentlich?“ Jennie zögerte, denn die Erinnerung schmerzte immer noch. Endlich sagte sie: „Meine Eltern starben vor drei Jahren. Sie hatten seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht, weil sie ihn sich nicht leisten konnten, wie sie sagten. Dann wurde Dad an seinem Arbeitsplatz ausgezahlt, und sie beschlossen, sich von dem Geld einen schönen Urlaub zu gönnen. Sie flogen auf eine der griechischen Inseln und mieteten dort ein Motorrad, um die Gegend zu erkunden. Ausgerechnet ein Motorrad, das gefährlichste Verkehrsmittel auf diesen Straßen! Sie hatten einen Zusammenstoß mit einem PKW und waren beide sofort tot.“ „Jennie, das tut mir aufrichtig leid. Sie waren so liebevolle Eltern, wie ich mich erinnere.“ „Ja, das waren sie“, stimmte Jennie gepreßt zu. „Sie haben auch eine gute Ehe geführt, obgleich ihre finanziellen Mittel immer knapp waren. Dad war Fernfahrer und hatte natürlich unmögliche Arbeitszeiten. Oft war er tagelang nicht zu Hause, manchmal kam er mitten in der Nacht zurück. Mum wartete auf ihn und hatte immer eine heiße Suppe oder eins seiner anderen Lieblingsgerichte bereit. Schwierige Arbeitszeiten können eine gute Ehe nicht zerstören… Ich bin sicher, Richard, die Arbeitszeit des Chirurgen Farraday hat seine Ehe nicht unterwandert. Eine gute Ehe zerbricht nicht an so etwas.“ Wieder entstand ein langes Schweigen, in dem die nächtlichen Geräusche aus dem Garten plötzlich sehr laut erschienen. Jennie und Richard betrachteten sich nachdenklich. Ob er jetzt denkt, ich will ihn über seine Ehe aushorchen?
überlegte sie. Neugierig bin ich schon, das muß ich zugeben. Wenn er nur etwas
sagen wollte…
„Es stimmt, es gab auch andere Probleme in meiner Ehe“, sagte er schließlich mit
rauher Stimme. „Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Ich bin nur
vorbeigekommen, damit Sie etwas Ordentliches zu essen haben.“
Er stand auf. Jennie schien es, als wollte er die Barriere zwischen ihnen wieder
aufrichten. Sie streckte die Hand nach ihm aus, überlegte es sich aber gleich
wieder und versteckte sie hinter dem Rücken.
„Sie haben noch gar nicht ausgetrunken“, sagte sie nur.
Er hob die Tasse an die Lippen und leerte sie.
„Ich erinnere mich, daß wir in den langen Nächten, wenn Sie nicht schlafen
konnten, gemeinsam Kakao getrunken haben.“
„War ich eine schwierige Patientin?“ fragte sie und erinnerte sich an Schwester
Katias Bemerkung.
Er zauste sie zärtlich an den kurzen, blonden Locken.
„Nein, Sie waren nicht schwierig. Sie waren ein beherztes kleines Ding.“
Solche Bemerkungen mochte Jennie eigentlich gar nicht, aber diesmal hatte sie
nichts dagegen. Es kam gut, wie er das sagte, mit seiner dunklen, ein wenig
rauhen Stimme.
„Und jetzt sind Sie erwachsen… und ich kann mich darauf nicht so recht
einstellen“, setzte er hinzu.
Er machte einen Schritt auf sie zu, beugte sich ganz langsam zu ihr herab und
küßte sie auf die Wange.
Jennifer schloß die Augen und genoß diesen Augenblick. Als sie wieder zu ihm
aufsah, betrachtete er sie mit einem sonderbaren Bück.
„Gute Nacht, Jennie“, sagte er, drehte sich rasch um und verließ das Zimmer.
Wie gern hätte Jennie ihn noch für einige Minuten bei sich behalten! Sie schloß
die Tür hinter ihm ab und lehnte sich dagegen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Ich habe es nicht gewollt, dachte sie. Aber ich habe es passieren lassen… ich
habe es schon dadurch passieren lassen, daß ich hierher gekommen bin, um mit
Richard zusammenzuarbeiten. Ich wußte von vornherein, daß ich nicht nur
berufliche Wertschätzung für ihn hege.
Sie ging wieder zu ihrem Bett und streckte sich aus. Ich bewundere ihn heute in
einer Weise, wie ich es vor elf Jahren noch nicht gekonnt habe, sagte sie sich.
Ich darf das nicht zulassen. Ich darf so etwas nicht für ihn empfinden. Er hat mir
unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß ich für ihn nur eine Kollegin bin,
und er gibt sich größte Mühe, dieses kollegiale Verhältnis zu erhalten.
Aber falls er jemals andere Saiten anschlägt, was machst du dann? fragte eine
innere Stimme. Wie verhältst du dich dann?
Sie seufzte und ließ ihre Phantasie ein wenig schweifen. Immerhin hatte er sie ja
gerade geküßt.
Allerdings nur auf die Wange, sagte die vernünftige Stimme. Es war alles andere
als ein leidenschaftlicher Kuß.
Wie prüfend hob sie ihre Finger an die Stelle, wo seine Lippen ihre Wange
berührt hatten. Dann sprang sie heftig auf, lief ins Badezimmer und wusch sich
gründlich das Gesicht.
5. KAPITEL Eine Woche lang beanspruchte die junge Familie, die in den Autounfall verwickelt gewesen war, alle Aufmerksamkeit des Personals der orthopädischen Abteilung. Sobald die drei Personen nicht mehr in Lebensgefahr schwebten, kündigte Richard an, er werde sich nun wieder schwerpunktmäßig der Behandlung der anderen Patienten widmen. Insbesondere die Operation von Ravindralal, dem dreijährigen Patienten mit beidseitigem Sichelfuß, sei vorrangig. Richard hatte diese Operation in der Hoffnung hinausgeschoben, durch die tägliche Krankengymnastik ließen sich die Füße des Jungen so weit mobilisieren, daß er auf den Eingriff verzichten konnte, doch diese Hoffnung erwies sich als vergeblich. Ungeduldig schüttelte er den Kopf. „Ravindralal ist einfach zu spät ins Krankenhaus gekommen. Es hat keinen Sinn, die Operation zu verschieben“, sagte er resigniert. Sie waren bei der Vormittagsvisite auf der Kinderstation: Jennie, Schwester Katia, Richards Sekretärin und vier Medizinstudenten. Richard trug an diesem Vormittag unter seinem offenen, weißen Ärztekittel einen leichten, hellgrauen Anzug. Jennie konnte sich vorstellen, wie warm ihm in dieser förmlichen Kleidung war, denn selbst ihr klebte der Stoff am Körper, obgleich sie unter dem Ärztekittel nur einen Hauch von Unterwäsche trug. Es war noch früh am Morgen. Die heiße Sonne schien durch die Jalousien, die Kinder auf der Station spielten und lachten. Es herrschte eine heitere Atmosphäre, Jennie jedoch war in trüber Stimmung. Die junge Frau mit dem amputierten Bein hatte eine derartig schlechte Nacht verbracht, daß die Krankenschwestern Jennie gebeten hatten, ihr ein stärkeres Beruhigungsmittel zu verabreichen. Statt zu einem Medikament zu greifen, hatte Jennie sich ans Bett von Mandy Spencer gesetzt und sich alle Besorgnisse und ihren Kummer angehört. Die junge Frau hatte verständlicherweise Angst vor der Zukunft, vor allem aber machte sie sich um ihren kleinen Sohn Sorgen. Sie fragte Jennie, ob der Kleine bleibende Schäden davontragen werde. Unter keinen Umständen sollte er sie in ihrem jetzigen Zustand besuchen, denn sie wollte nicht, daß er beim Anblick ihrer Verletzung erschrak. Ihre eigene Verletzung: Ob ihr Mann sie immer noch liebte? Jennie hatte zugehört, beruhigt und so gut wie möglich beschwichtigt, ohne schönzufärben. Sie hatte sich bemüht, ihrer Patientin klarzumachen, wie aus medizinischer Sicht die Zukunft der Familie aussah. Insgesamt war es ein niederdrückendes Gespräch gewesen, und die Aussicht, daß der kleine Ravindralal nun doch operiert werden mußte, hob ihre Stimmung nicht gerade. „Wird Ravindralal je wieder normal laufen können, Sir?“ fragte einer der Medizinstudenten. „Das soll Ihnen Dr. Warner beantworten“, erwiderte Richard. „Sie ist in dieser Beziehung Expertin.“ Jennie holte tief Luft. Sie mochte es nicht, wenn Richard sie auf solche Weise in den Mittelpunkt schob. Andererseits war ihr klar, daß sie Ravindralals Fall im Interesse der Studenten aus ihrem ganz persönlichen Blickwinkel beleuchten sollte. „Ich selbst wurde mit pes vara mit Sichelfußstellung geboren, war aber von Anfang an in Behandlung. Bei unserem kleinen Patienten wurde die Diagnose spät gestellt, deshalb dürfte er kaum vergleichbare Chancen haben. Ich vermute, er wird sich nie ganz normal bewegen können. Ich dagegen, wie Sie sehen, habe keine Gehbehinderung zurückbehalten. Nur wenn mein gnadenloser Vorgesetzter
mich stundenlang im Operationssaal stehen läßt, muß ich Beschwerden hinnehmen.“ Sie warf Richard einen Blick zu, und ihre Zuhörer schmunzelten. Auch Richard lächelte, und Jennie freute sich: Erstens hatte sie zum erstenmal in aller Öffentlichkeit über ihre angeborene Behinderung gesprochen, und zweitens hatte sie in Richards Gegenwart eine ironische Bemerkung über ihn gemacht. Noch vor zwei Wochen, bevor sie gemeinsam in ihrem Zimmer gesessen und Tee getrunken hatten, hätte sie sich das nie herausgenommen. Das Eis war gebrochen, aber wie lange würde das Tauwetter anhalten? Sie sah zu Ravindralal hinüber, der mit seinen geschienten Unterschenkeln auf dem Boden kniete und begeistert einen Kipplaster herumschob. Es interessierte ihn offensichtlich überhaupt nicht, welche Sorgen die Erwachsenen sich seinetwegen machten. „Ich werde morgen vormittag operieren“, erklärte Richard. „Ich lege einen Schnitt um die Fußgelenke herum, durchtrenne die Sehnen und bringe die Füße in eine korrekte Position. Dann lege ich für zwei bis drei Wochen Gips an. Auch anschließend wird Ravindralal noch Schienen tragen müssen, damit es keine fehlerhafte Rückbildung gibt. Doch, eine sorgfältige Nachbehandlung vorausgesetzt, wird er sich irgendwann ohne diese Hilfen bewegen können. Die Nachsorge stellt eins der größten Probleme dar: Solange der Junge bei uns im Krankenhaus ist, wird er sachgerecht betreut. Seine Großmutter hat jedoch bereits erklärt, sie fühle sich überfordert. Sollen wir ihn in ein Waisenhaus geben, bis er erwachsen ist? Und wenn, welches steht zur Auswahl? In diesem Land sind Waisenhäuser nicht gerade dicht gesät, denn normalerweise kümmert sich die Familie um verwaiste Kinder. In diesem Fall ist das leider nicht möglich.“ Fragend sah er seine Zuhörer an. Auch die Medizinstudenten und die Krankenschwestern wußten keine Antwort. „Wie wäre es mit dem Rehabilitationszentrum in den Bergen bei Nuwara Eliya?“ fragte einer der Studenten schließlich. „Ja, daran hatten wir auch schon gedacht“, erwiderte Richard. „Aber wie lange soll der Junge dort bleiben? Eine Dauerlösung ist das auch nicht, erstens weil dieses Sanatorium zu teuer ist, und zweitens weil es für Kinder nicht eingerichtet ist. Für einen kürzeren Zeitraum könnten wir Ravindralal dorthin geben, aber danach müßten wir eine andere Lösung finden.“ Er machte eine Pause, um seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken zu geben. „Na ja, als erstes müssen wir ihn operieren“, fuhr er schließlich fort, als niemand einen guten Einfall äußerte. „Alles andere kommt später.“ „Dürfen wir bei der Operation zusehen, Sir?“ fragte ein anderer Student. „Selbstverständlich. Dr. Warner wird mir assistieren. Sie haben die Gelegenheit zu beobachten, wie beherzt sie mit dem Skalpell umgeht, während sie auf der Trittleiter steht.“ Jennie lächelte. Dieser gutmütige Schlagabtausch zwischen ihr und Richard zeigte ihr, daß er sie als vollwertige Kollegin akzeptierte. Aber wie wird es weitergehen? Beim Gedanken an die Zukunft spürte sie einen Stich im Herzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was nach den vier Monaten kam, die ihr noch am Lakeside Hospital blieben. Sie hatte herausgefunden, daß bereits ein anderer Assistenzarzt für ihre Stelle vorgesehen war. Viele junge Ärzte bewarben sich um die Chance, in der orthopädischen Abteilung dieses Krankenhauses Erfahrungen zu sammeln, deshalb gab es für Jennie keine Aussicht auf Verlängerung ihres Arbeitsvertrags. Andererseits wurde ihr auch ihr Platz an St. Celine nur freigehalten, wenn sie einen Monat vor Ablauf ihres Vertrages mit Sri Lanka ihre Rückkehr bestätigte. Es gab keinen Ausweg: So
schwer es ihr auch fallen mochte, sie mußte Sri Lanka verlassen und nach London zurückgehen, als wäre nichts passiert. Na ja, es ist ja auch nichts passiert, sagte sie sich selbstkritisch. Noch nicht, wandte eine innere Stimme ein. Hör damit auf, ermahnte sie sich gleich darauf. Sei nicht unvernünftig und mach dir das Leben nicht schwerer als nötig. Konzentriere dich lieber auf deine Arbeit! Die kleine Gruppe aus Ärzten und Krankenschwestern trat ans nächste Bett, wo der kleine Junge lag, der bei dem Verkehrsunfall eine schlimme Schädelverletzung erlitten hatte. Inzwischen wußte man auch etwas mehr über ihn und seine Familie. Der Junge hieß Jonathan Spencer und war sechs Jahre alt. Seine Eltern waren Mandy und Gordon. Jonathan war einige Tage lang bewußtlos gewesen, jetzt aber machte er gute Fortschritte. Der Schädelbruch lag nicht kompliziert und heilte rasch, den jüngsten Röntgenbildern zufolge. „Das sieht gut aus“, sagte Jennie und deutete mit dem Zeigefinger auf die zarte Linie, die den Bruch andeutete. Dann lächelte sie dem Jungen zu: „Wie geht es dir, Jonathan?“ „Darf ich aufstehen und mit dem Jungen da drüben spielen? Er hat genauso einen Kipplaster wie ich… Ich habe einmal eine ganze Ladung Sand auf Mammis Teppich ausgekippt, das fand sie gar nicht lustig…“ Richard beugte sich vor und zauste dem Jungen zärtlich das Haar. Dabei prüfte er mit den Fingerspitzen behutsam die Wunde, die das Kind sich bei dem Unfall zugezogen hatte. Sie war hervorragend vernarbt. Wie gut, daß Kinder so widerstandsfähig sind, dachte er. „Morgen darfst du aufstehen, Jonathan, aber nicht zu lange, nur ein paar Minuten lang.“ „Wann darf ich zu Mum und Dad?“ „Bald, Jonathan“, versprach Richard. „Sie sind beide noch sehr müde. Ihr hattet einen schweren Unfall, es wird eine Weile dauern, bis es deinen Eltern wieder richtig gut geht.“ „Ich weiß gar nichts von dem Unfall“, erwiderte der kleine Junge vergnügt. „Wir hatten einen tollen Tag! Daran erinnere ich mich genau. Ich durfte den kleinen Elefanten füttern, und ich durfte auch auf einem Elefanten reiten.“ Wie gut, daß er sich nur an die schönen Stunden dieses schicksalhaften Tages erinnert, dachte Jennie, als sie zum nächsten Bett weitergingen. Für seine Eltern ist das ein Trost – und Trost brauchen sie in ihrer schwierigen Situation ganz bestimmt. „Darf ich heute nach Hause, Dr. Farraday?“ fragte Sriyani. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett und hielt ein Schulbuch auf den Knien, aber sie beobachtete schon seit längerem die Gruppe der Ärzte. Sie wollte sichergehen, daß sie nicht übersehen wurde. „Willst du denn nicht mehr bei mir bleiben, Sriyani?“ neckte Richard. Dann wurde er ernst. „Laß mich bitte deinen Arm sehen.“ Auch Jennie beugte sich vor, um den Arm genau zu betrachten, der einen Tag zuvor aus dem Gips befreit worden war. „Machst du deine Übungen auch fleißig?“ fragte Richard. „Die Finger sind immer noch ein bißchen geschwollen. Du mußt jeden Tag üben, nicht nur, wenn die Krankengymnastin zu dir kommt, versprichst du mir das? Ellenbogen und Schultern mußt du auch bewegen.“ „Ich verspreche es, aber darf ich dann morgen nach Hause? Morgen habe ich nämlich Geburtstag.“ „Sriyani wird morgen zehn Jahre alt“, warf Jennie ein. „Ihre Mutter ist schon
vorausgefahren und bereitet die Feier vor.“ Richard lächelte das kleine Mädchen an. „Na, in dem Fall bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, da müssen wir dich gehen lassen. Aber denk an deine Übungen. Ich komme heute abend noch einmal zu dir.“ Mit diesem letzten Besuch am Krankenbett war die Visite beendet. Während Richard mit der Stationsschwester besprach, wann Ravindralal für die Operation fertig gemacht werden sollte und welche Prämedikation er bekommen mußte, beobachtete Jennie ihn voller Sympathie. Sie spürte, daß ihm das Schicksal des kleinen Jungen naheging. Ganz offensichtlich bedeutete dieser Patient ihm viel… so wie sie ihm einmal viel bedeutet hatte. In Gedanken erlebte sie wieder jenen Tag vor elf Jahren, als ein Pfleger sie auf den Rollwagen gehoben und von der Kinderstation in den Operationstrakt des Krankenhauses gefahren hatte. Wie nervös sie damals gewesen war! Diese endlose Fahrt durch die langen Korridore, dann der Fahrstuhl… Zu ihrer Erleichterung hatte Richard im Vorbereitungsraum gestanden und sie erwartet. Er sprach ihr Mut zu, versprach, während der ganzen Operation bei ihr zu bleiben und auch da zu sein, wenn sie aus der Narkose aufwachte… „Ja, Dr. Warner wird mir assistieren, Schwester. Doktor Denver muß also die Vormittagsvisite machen. Folgen Sie mir, Dr. Warner?“ Jennie schrak zusammen. Richard hatte gemerkt, daß sie in Gedanken ganz woanders war. „Selbstverständlich, Sir. Wann soll die Operation beginnen?“ „Ich wußte doch, daß Sie nicht bei der Sache sind…“ Da war er wieder, dieser ungeduldige, gespannte Mann – so ganz anders, als sie ihn von damals kannte. Während der folgenden Stunden kümmerte Jennie sich um die ambulanten Patienten. Mit Richard hatte sie nur gelegentlich zu tun, wenn es eine Behandlungsfrage zu besprechen gab. Nachdem der letzte Patient gegangen war und sie gerade begonnen hatte, die Patientenakten zu sortieren, kam er zu ihrer Überraschung in ihr Büro und sagte: „Was halten Sie von einer Mittagspause? Ich habe das Gefühl, ich muß dem Krankenhaus den Rücken kehren und auftanken, damit ich morgen für Ravindralals Operation fit bin.“ „Richard, Sie sind doch nicht etwa nervös?“ fragte Jennie neckend. „Diese Operation ist eine Herausforderung“, entgegnete er. Jennie schüttelte lächelnd den Kopf. „Doch nicht für Sie, den berühmten orthopädischen Chirurgen! Ich hätte nie gedacht, daß Sie noch Lampenfieber haben.“ Er kam um den Schreibtisch herum zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Selbstgefälligkeit ist in unserem Beruf gefährlich, Jennie. Jede Operation ist anders, und die, die ich morgen vor mir habe, wird besonders schwierig – vor allem, weil ich den kleinen Kerl ins Herz geschlossen habe“, setzte er aufrichtig hinzu. „Manche Patienten stehen einem eben näher als andere.“ „So wie ich damals?“ Sie spürte, wie er sich spannte, und sah einen merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen. „Ja, ich gebe es zu: Sie waren etwas Besonderes – in den Augen aller Mitarbeiter“, setzte er hastig hinzu. „Aber schwierig war ich doch nicht?“ fragte Jennie weiter. „Nein, schwierig waren Sie nicht. Das haben Sie schon einmal gefragt… warum?“ „Ach, nur so“, erwiderte sie ausweichend. Ich wollte, ich hätte den Mut und könnte ihn nach diesem Vorfall fragen, auf den Katia anspielte, dachte sie.
Inzwischen hegte sie selbst einen ähnlichen Verdacht. Erst am Vormittag hatte Richard sie zu sich ins Behandlungszimmer gerufen, während er den Arm eines sechzehnjährigen Mädchens untersuchte. Der Arm war gebrochen, aber keinesfalls so kompliziert, daß er dafür einen zweiten Kollegen hätte hinzuziehen müssen. Nachdem die Krankenschwester, die das Mädchen ins Behandlungszimmer begleitet hatte und dann unerwartet auf die Station gebeten worden war, wieder zurückkam, bedankte Richard sich bald bei Jennie und entließ sie. „Also, wie steht’s? Begleiten Sie mich zu einem therapeutischen Lunch irgendwo außerhalb der Stadt, Jennie?“ wiederholte Richard seine Frage. „Das hängt davon ab, wohin Sie fahren wollen und wie lange wir dafür brauchen“, entgegnete sie. „Mein Fahrer soll uns nach Katugastota bringen. Ich kenne dort ein hervorragendes kleines, Restaurant. Es liegt nahe dem Badeplatz der Elefanten, wohin die Mahouts ihre Tiere nach einem Arbeitstag zum Abkühlen bringen. Am frühen Abend sind wir zurück. Bis dahin kommt Mike Denver allein zurecht.“ „Ich brauche zehn Minuten, um mich umzuziehen, dann bin ich fertig“, erwiderte Jennie und ging im Geist ihre Garderobe durch. Glücklicherweise hatte das Zimmermädchen gerade am Morgen ihre steinfarbene SafariKombination frisch gewaschen und gebügelt zurückgebracht. Das war genau das Richtige für einen Lunch mit dem Chef. Als der Wagen die Stadt verließ, atmete Jennie durch. Sie und Richard saßen auf den Rücksitzen der bequemen Limousine. Die Klimaanlage im Wagen ließ sie die Nachmittagshitze vergessen. Einmal, als der Fahrer ein anderes Fahrzeug mit viel Schwung überholte, legte Richard Jennie beruhigend seine Hand auf den Arm. „Seien Sie unbesorgt, Jennie, Savundra ist ein guter Fahrer. Wer in Sri Lanka ein Auto lenken will, muß sich gut mit den hiesigen Straßen auskennen. Meiner Meinung nach sollte man es lieber den Fachleuten überlassen.“ „Ist es wirklich billiger, Auto und Fahrer zu mieten als ein Auto allein?“ fragte Jennie. Richard nickte. „Die Versicherungsgesellschaften sehen es nicht gern, wenn Ausländer auf diesen Straßen fahren, und außerdem ist der Stundenlohn eines Fahrers niedrig. Schade, daß die Familie Spencer sich nicht daran gehalten hat – sie wären jetzt nicht im Krankenhaus. Aber soweit ich verstanden habe, ist Gordon Spencer Taxifahrer, und diese Leute lassen sich nun einmal nicht gern von anderen chauffieren.“ Das Restaurant, von dem Richard gesprochen hatte, befand sich in einem weiß gestrichenen, flachen Gebäude aus der Kolonialzeit und lag am Ufer des Flusses. Während Savundra den Wagen parkte, gingen Jennie und Richard um das Gebäude herum und traten auf die weite Terrasse, wo sie vom Besitzer empfangen wurden. Das besonders freundliche Willkommen zeigte Jennie, daß Richard oft hierher kam und gern gesehen war. Sie wurden an einen Tisch am Rand der Terrasse geführt, von wo aus sie einen herrlichen Ausblick über den Fluß genossen. Von den anderen Tischen wehte der Duft von Curry herüber. „Hm, ich glaube, das möchte ich auch essen – und viele Beilagen dazu.“ „Da mache ich mit“, sagte Richard. „Das Hühnercurry ist hier besonders gut, und das Mangochutney macht der Koch nach eigenem Rezept.“ Ein Kellner brachte eine Flasche gekühlten Chablis und füllte die Gläser. Jennie nahm einen kleinen Schluck und blickte gedankenverloren auf den Fluß, in dessen Wasser sich die Sonnenstrahlen brachen.
Es wird mir nicht leichtfallen, Sri Lanka… und Richard zu verlassen, dachte sie. Im Dienst verlangt er viel von mir, manchmal fast ein bißchen zu viel, aber ich weiß ja, weshalb er das tut. Ich begreife nur immer noch nicht, weshalb er diesen Abstand zwischen uns hält. Wann immer ich ihm ein bißchen zu nahe komme, sind die Barrieren gleich wieder da. Ich frage mich, wieso er mich zum Lunch eingeladen hat. Jedenfalls muß ich auf der Hut sein, ich darf nicht familiär werden… Nach dem Essen tranken sie einen starken, schwarzen Kaffee und lauschten zufrieden dem Zwitschern der vielen bunten, tropischen Vögel, die die Bäume im Garten bevölkerten. Die anderen Gäste waren längst gegangen, es herrschte eine friedliche, entspannte Stimmung. „Wenn Sie ausgetrunken haben, gehen wir zum Badeplatz der Elefanten am Fluß“, schlug Richard vor. Wenig später standen sie am Flußufer und sahen zu, wie die Elefanten gemächlich in das kühle Wasser stiegen, um sich nach der Tagesarbeit abzukühlen. Jennie spürte, daß Richard mit den Gedanken weit fort war. Inzwischen kannte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht, der das anzeigte. Plötzlich drehte er sich um und sah sie mit einem fragenden Blick an. „Sie sind es wirklich… Ich kann es noch immer nicht glauben, daß Sie die kleine Jennie Warner sind.“ Ein Lächeln huschte um seinen Mund. „Ich muß mir immer wieder sagen, daß Sie jetzt erwachsen sind, aber leicht ist es nicht.“ „Habe ich mich denn so verändert?“ Er kam einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände. „Nein, Sie sehen genauso aus wie früher… immer noch klein und zart, aber voller Leben und Freude…“ Sein Gesicht war jetzt ganz nah vor ihr. Jennie hielt den Atem an, doch im letzten Augenblick, so als hätte er es sich ganz schnell noch anders überlegt, küßte er sie nicht auf die Lippen, sondern nur auf die Wange. Dabei umklammerten seine Finger ihre Schultern so fest, daß Jennie ein Schauer über die Haut lief. Einen Augenblick lang waren sie einander ganz nahe, dann trat er einen Schritt zurück und sah sie voller Zärtlichkeit an. „Es ist schwer zu glauben“, murmelte er kaum hörbar. „Aber es ist wahr“, erwiderte Jennie leise. Oh, warum kann er mich nicht ernst nehmen, dachte sie. Ihr Inneres schmerzte unerträglich. Irgend etwas passierte mit ihr. Es kam ihr vor, als fiele sie einen tiefen, tiefen Schacht hinunter, aber sie wußte gleichzeitig, daß dies ein besonderer Sturz war. Lange hatte sie es nicht wahrhaben wollen, doch jetzt ließ es sich nicht mehr leugnen: Sie war dabei, sich bis über beide Ohren in diesen Mann zu verlieben. Da nahm er ihren Ellenbogen, sagte, es sei Zeit, in die Klinik zurückzufahren, und half ihr, das steile Ufer hinaufzuklettern. Jennie schien es, als müßte er vor allem sich selbst überzeugen. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als der Fahrer sie vor dem Haupteingang des Krankenhauses absetzte. Als sie über die Stationen gingen und nach ihren Patienten sahen, kam es Jennie vor, als wären sie nie fort gewesen. Doch in der Zusammenarbeit merkte sie, daß sie einen Schritt in die richtige Richtung getan hatten: Ein Hauch der Vertrautheit, die sie am Flußufer gespürt hatte, war immer noch da. Sie verstanden einander auch ohne Worte, wenn sie sich über das Bett eines Patienten hinweg einen Blick zuwarfen. Ja, die Arbeitsbeziehung war durch diesen gemeinsam verbrachten Nachmittag sicherlich besser geworden, doch der wirkliche Richard war ihr immer noch
unbekannt. Es schien, als könnte er sich in ihrer Gegenwart nicht vollständig
entspannen.
Spielt das eine Rolle? fragte sie sich, als sie spätabends auf ihrem Bett lag,
nachdem sie sich eine erfrischende Dusche gegönnt hatte. Unsere
Arbeitsbeziehung ist hervorragend, und seit ich mich an Richards Tempo gewöhnt
habe, macht mir die Zusammenarbeit wirklich Spaß. Außerdem ist sie eine
Herausforderung.
Doch im Grunde, das wußte sie genau, wollte sie mehr… viel, viel mehr!
6. KAPITEL Ravindralals Operation am nächsten Tag dauerte mehr als drei Stunden. Es war bereits früher Abend, als der kleine Patient endlich auf die Station zurückgebracht werden konnte. Er hatte lange im Aufwachraum bleiben müssen, doch schließlich war Jennie sich sicher, daß er auch ohne weitere Sauerstoffgaben normal atmen würde. „Geht es mir besser, Frau Doktor?“ fragte das Kind schwach. Jennie lächelte zuversichtlich. „Du machst das sehr gut.“ „Darf ich mit dem Lastwagen spielen?“ „Ich glaube, Jonathan spielt gerade damit, aber bestimmt läßt er dich mitspielen.“ Jonathan war nur allzugern bereit, mit Ravindralal zu spielen. Er brachte den
Laster und ließ ihn auf der Bettkante des kleinen Jungen hin und herfahren.
„Du darfst nur nicht an das Schutzgestänge über Ravindralals Füßen kommen“,
mahnte Jennie.
„Sind seine Füße jetzt in Ordnung, Frau Doktor?“ wollte Jonathan wissen.
Jennie nickte. „Ja, Dr. Farraday hat sie wieder in Ordnung gebracht, aber sie sind
noch nicht wieder ganz gesund.“
„Sie meinen, der Leim ist noch nicht fest? Wenn Dad und ich basteln, dauert es
immer Stunden, bis der Leim hält.“
„Na, in diesem Fall wird es einige Wochen dauern“, warf Richard ein, der
unbemerkt hereingekommen war.
„Das ist aber lange“, sagte Jonathan ehrfürchtig. „Wird Ravindra… wird mein
Freund sich nicht langweilen?“
„Vielleicht kannst du ihn ja ein bißchen unterhalten“, schlug Jennie vor. „Er heißt
übrigens Ravindralal, aber bestimmt darfst du ihn Ravi nennen, wenn du das
leichter aussprechen kannst. Er ist erst drei Jahre alt, und du bist schon sechs,
du könntest ihm also wirklich helfen.“
„Was ist das denn für ein Leim, den Sie um seine Füße getan haben?“ wollte
Jonathan wissen.
Richard warf Jennie einen vergnügten Blick zu und antwortete dann ernsthaft:
„Das ist kein Leim, Jonathan. Ich habe besondere Schrauben und einen
Spezialgips verwendet, um die Füße auszurichten.“
Jetzt kam Schwester Katia und ermahnte Jonathan, es sei Bettzeit.
„Aber morgen kann ich wieder mit Ravi spielen, ja?“ fragte der Junge.
„Selbstverständlich“, antwortete Richard. „Ich glaube, Ravi wird sich sehr
darüber freuen.“
Einige Zeit später, als sie im Aufenthaltsraum der Ärzte zusammensaßen und
eine Tasse Kaffee tranken, fragte Jennie: „Sind Sie mit dem Ausgang der
Operation bei Ravindralal zufrieden, Richard?“
Mike Denver, der in ihrer Nähe saß, stand auf, zog seinen Stuhl heran und setzte
sich zu ihnen.
„Ja, wie ist es denn gelaufen?“ warf er ein. „Ich war ja von der Operation
ausgeschlossen. In letzter Zeit bekommt Jennie mehr zu tun als ich, das fällt mir
doch auf.“
„Sind Sie eifersüchtig?“ neckte Jennie, obgleich sie die Bemerkung des Kollegen
gar nicht komisch fand. Es war nicht das erste Mal, daß Mike darauf anspielte,
Richard bevorzuge sie.
„Ich bewundere einfach Ihr Durchhaltevermögen! Ich frage mich, wie Sie das
machen, Sie Zwerg. Wer Sie sieht, würde denken, der erste Windstoß pustet Sie
um.“
„Die körperliche Größe ist nicht ausschlaggebend“, warf Richard gleichmütig ein. „Ich bin sehr damit zufrieden, wie Jennie sich herausmacht.“ Jennie schluckte, Richard hätte sich nie zu diesem Lob durchgerungen, wären sie allein gewesen, das wußte sie wohl. Sie sah die steile Falte über Mikes Nasenwurzel, als er jetzt aufstand und sich mit beiden Händen auf die Stuhllehne stützte. Einen Augenblick lang betrachtete er sie mit ziemlich finsterer Miene. Ja, er ist eifersüchtig, dachte sie. Er ist eifersüchtig auf die vielen Chancen, die Richard mir einräumt. Aber er ist noch aus einem anderen Grund eifersüchtig. Im ganzen Krankenhaus wird herumerzählt, daß Richard mich neulich zum Essen ausgeführt hat. Mike dagegen habe ich schon so oft einen Korb gegeben, ich kann es nicht mehr zählen. Sie ahnte, was ihren Kollegen so ungehalten machte. Mike hatte zwar keinen Mangel an weiblichen Bekanntschaften, ganz im Gegenteil, aber allein die Tatsache, daß Jennie sich ihm entzog, machte sie in seinen Augen besonders begehrenswert. Sie war für ihn wie die verbotene Frucht. Sie sah den Glanz in seinen Augen und schauderte: Sie ahnte, was das bedeutete, und sie hoffte von Herzen, sie würde niemals mit diesem Mann allein sein. „Um Ihre Frage zu beantworten, Mike: Soweit man bisher sagen kann, ist die Operation gut verlaufen“, sagte Richard, offensichtlich darum bemüht, die Spannung zwischen Jennie und Mike abzubauen. „Aber wie Sie wissen, ist die Nachsorge entscheidend. Ich habe Jennie gebeten, sich so oft wie möglich um Ravindralal zu kümmern. Sie kann sehr gut mit Kindern umgehen, und da sie selbst eine ähnliche Operation durchgemacht hat, kann sie sich in den Jungen auch einfühlen.“ „Unser Goldmädchen“, sagte Mike so leise, daß nur Jennie ihn hören konnte. „Ich muß jetzt auf die Station zurück“, sagte sie, denn die Situation wurde ihr ungemütlich. Rasch verließ sie den Aufenthaltsraum. Voller Erleichterung darüber, die spannungsgeladene Atmosphäre hinter sich lassen zu können, ging sie mit raschem Schritt den Flur entlang und überlegte dabei, was sie als nächstes tun wollte. Sie beschloß, Mandy Spencer aufzusuchen, die ihr nach wie vor Sorgen machte. „Wie geht es meinem kleinen Jonathan?“ fragte ihre Patientin, kaum daß Jennie an ihr Bett getreten war. „Es geht ihm gut, Mandy“, versicherte Jennie. „Er ist Herz und Seele der Station und kümmert sich ganz rührend um andere Kinder, die das Bett nicht verlassen können.“ „Er ist ein lieber Junge. Ich vermisse ihn sehr“, erwiderte die junge Mutter mit einem traurigen Lächeln. „Ich kann ihn jederzeit herbringen“, bot Jennie an. „Nein, noch nicht!“ In Mandys Stimme schwang panische Angst mit. „Ich will nicht, daß er sieht…“ Sie deutete auf das Schutzgestell über ihrem amputierten Bein. „Aber Mandy, Jonathan würde…“ „Nein, noch nicht! Geben Sie mir noch ein paar Tage, bis ich mich daran gewöhnt habe… Wie geht es Gordon?“ „Er macht Fortschritte… und er fragt nach Ihnen. Aber in diesem Fall werden Sie sich auf den Weg machen müssen, denn er kann natürlich nicht aufstehen, er muß noch eine Weile in der Beckenschale liegen. Sobald Sie aufstehen dürfen, setzen wir Sie in einen Rollstuhl und…“ „Ja, aber noch nicht jetzt“, unterbrach Mandy sie schnell. Jennie beschloß, nicht weiter in die Frau zu dringen, denn das konnte nur noch mehr Schaden anrichten. Mandys Rehabilitation verlief schwieriger, als sie
erwartet hatte. Sie nahm sich vor, mit Richard darüber zu sprechen. Sie blieb noch eine Weile bei ihrer Patientin, dann ging sie auf die Männerstation und trat an Gordon Spencers Bett. Zu ihrer Erleichterung und Freude war er guter Laune. Nach einem schwierigen Anfang hatte er sich damit abgefunden, daß er noch einige Zeit an sein Gipsbett gefesselt sein würde. „Wie geht es Mandy?“ fragte er und sah erwartungsvoll zu Jennie auf. „Wann kommt sie mich besuchen? Sie liegt doch am Ende des Flures, sie könnte doch einmal herkommen!“ „Sie ist noch nicht bereit, irgend jemanden zu sehen, Gordon“, antwortete Jennie freundlich. „Es war ein schrecklicher Schock für sie.“ „Es war auch für mich ein Schock, aber ich habe die Tatsachen akzeptiert! Sagen Sie ihr, ich liebe sie! Es ist mir ganz egal, ob sie ein Bein hat oder zwei Beine. An meinen Gefühlen für sie ändert das überhaupt nichts, sie ist immer noch meine Mandy. Sagen Sie ihr, sie soll mich besuchen. Es ist ganz egal, wie sie aussieht. Ich möchte sie nur sehen, ich möchte ihr einen Kuß geben und ihr sagen: Es ist alles nicht so schlimm. Zusammen schaffen wir es schon, wir haben es immer geschafft. Ich weiß noch, wie Jonathan mit dem Fahrrad stürzte und sich das Bein brach. Damals dachten wir, das ist der Weltuntergang, aber…“ „Sie müssen geduldig sein, Gordon. Geben Sie ihr Zeit. Sie läßt Ihnen sagen, wie sehr sie Sie liebt.“ „Hat sie das wirklich gesagt?“ In seinen Augen leuchtete Hoffnung auf. „Ja.“ Jennie log ihre Patienten nicht gerne an, aber in diesem Fall schien es ihr gerechtfertigt. Sie war sich ja auch ganz sicher, daß Mandy ihren Mann liebte und ihm ihre Grüße gesandt hätte, wäre sie nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Als sie die Station wieder verließ, schrieb sie in ihr Notizbuch: Ther. für M. Sie wollte Richard empfehlen, für Mandy ein therapeutisches Gespräch zu arrangieren. Es war schon nach neun Uhr, als Jennie endlich zum Abendessen in die Kantine gehen konnte. Nach dem Besuch auf der Männerstation hatte sie noch fast eine Stunde bei den Kindern verbracht, in erster Linie bei Ravindralal. An diesem Abend beschloß sie, keine Experimente zu wagen und ein schlichtes englisches Abendessen zu sich zu nehmen. Wegen der späten Stunde hatten die meisten Mitarbeiter des Krankenhauses schon gegessen, die Kantine war relativ leer. An einigen Tischen saßen Krankenschwestern und einige Ärzte beisammen und ruhten sich bei einer Tasse Tee aus. Jennie war zu müde, um sich an irgendwelchen Gesprächen zu beteiligen, deshalb suchte sie sich einen kleinen Tisch am Rand des Speiseraumes an einem Fenster. Durch die Dunkelheit blinkten die Lichter einiger Ausflugsboote auf dem See zu ihr herüber. Das gegrillte Hähnchen, das sie sich zum Abendessen holte, schmeckte zwar nicht so wie in England, aber es war delikat, und das frische Obst war ein köstlicher Nachtisch. Zufrieden verließ Jennie nach einem geruhsamen Abendessen die Kantine. Über ihr spannte sich ein samtschwarzer, mit Sternen übersäter Himmel. Die Luft war angenehm warm und mit exotischen Düften geschwängert. Jennie ging durch den Garten und dachte an den Roman, den sie sich an einem Bücherstand auf der Straße gekauft hatte. Merkwürdig, daß ich gerade hier, in diesem wunderschönen Land, plötzlich Sehnsucht nach einem altmodischen, englischen Liebesroman habe, dachte sie. Warum muß es überhaupt eine Liebesgeschichte sein? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Natürlich wußte sie, weshalb, auch wenn sie es sich nicht eingestehen mochte: Sie war dabei, sich zu verlieben, in einen unnahbaren,
anspruchsvollen Mann!
Was war das? Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich überrascht um.
„Mike! Sie haben mich erschreckt. Ich hatte Sie nicht gesehen.“ Ihr Herz begann
zu rasen. Genau diese Art von Begegnung hatte sie vermeiden wollen.
„Ich war am See… Ich habe auf Sie gewartet.“
„Ach ja?“
Der Teil des Gartens, in dem sie standen, wurde noch von den Lichtern aus dem
Krankenhaus erleuchtet. Jennie war entschlossen, keinen Schritt weiterzugehen,
bevor Mike sie nicht in Ruhe gelassen hatte.
„Ich möchte mit Ihnen reden. Wollen Sie mich nicht auf eine Tasse Tee zu sich
einladen, wie Sie es neulich mit Richard getan haben?“ In seiner Stimme lag ein
drohender Ton. Er machte einen Schritt auf Jennie zu. Sie wich zurück.
„Nein, das habe ich nicht vor. Es ist recht spät, Mike. Kommen Sie zur Sache,
und dann lassen Sie mich in Ruhe. Was wollen Sie?“
„Ich will verhindern, daß Sie sich selbst zum Narren machen. Jeder kann sehen,
daß Sie sich in Richard verlieben.“
„Unfug! Aber selbst wenn: Was geht es Sie an?“
Eine leichte Brise blies vom See herüber und ließ die Palmblätter rascheln. Jennie
stand hochaufgerichtet, die Fäuste geballt, um nicht zu beben. Sie mochte keinen
Schritt tun. Irgend jemand muß doch bald vorbeikommen, dachte sie nur.
„Wußten Sie, daß es in seinem Krankenhaus in London mit einem Teenager zu
einem unerquicklichen Zwischenfall gekommen ist?“ fragte Mike hämisch.
„Was meinen Sie damit?“ entgegnete Jennie.
„Oh, ich meine, was so passieren kann, wenn es um einen älteren Mann und ein
minderjähriges Mädchen geht.“
Jennie war froh, daß die Dunkelheit sie schützte. Zumindest konnte Mike nicht an
ihrem Gesicht ablesen, wie bestürzt sie über seine Worte war.
„Wie können Sie so etwas nur sagen?“
„Einer meiner Freunde arbeitete damals in eben jenem Krankenhaus. Es wurde
natürlich alles unter den Teppich gekehrt, aber es ist passiert. Ist Ihnen noch
nicht aufgefallen, wie vorsichtig er bei jugendlichen Patientinnen ist? Und warum
ist er überhaupt nach Sri Lanka gekommen? Ein erstklassiger Chirurg wie Richard
Farraday würde…“ Er sprach nicht weiter, denn jetzt kam jemand den Plattenweg
entlang.
Welch ein Glück! Jennie lief auf die Person zu und bemerkte mit einer Mischung
aus Erleichterung und Schrecken, daß es Richard war. Unmittelbar vor ihm blieb
sie stehen.
„Alles in Ordnung, Jennie?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie drehte sich um, aber Mike war nicht mehr da.
Richard kam auf sie zu und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Zärtlich sah
er auf sie herab.
„Sie zittern ja, Jennie… bei dieser Wärme! Hoffentlich haben Sie sich keinen
Infekt zugezogen. Ich sollte…“
„Nein!“
Hastig trat sie einen Schritt zurück. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Was ging ihr in diesem Augenblick nicht alles durch den Kopf! Wo Rauch ist, ist
auch Feuer, dachte sie. Ja, irgend etwas muß damals vorgefallen sein, aber war
es so schlimm, wie Mike andeutete? Ich kann es nicht glauben… ich will es nicht
glauben. Andererseits, warum sollte er lügen?
„Ich begleite Sie zu Ihrem Zimmer“, bot Richard an. Seine Stimme klang fest. Er
legte Jennie einen Arm um die Schultern und zog sie an seine Seite.
Ich muß ihm glauben, dachte sie. Ich hatte noch nie Grund, ihm zu mißtrauen.
Sie fühlte sich sehr klein und schutzbedürftig, wie sie so neben ihm herging. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sie versuchte, sich an irgendeinen Augenblick aus ihrer Patientenzeit im Krankenhaus zu erinnern, zu dem Richard sich unprofessionell verhalten hätte. Sie hatte ihn als locker und entspannt, humorvoll und aufmunternd in Erinnerung – und als einen Erwachsenen, der nie vergaß, daß er in allererster Hinsicht ihr Arzt war. Jetzt bin ich selbst erwachsen, dachte sie. Was soll ich von diesem scheußlichen Vorwurf halten, den Mike da gemacht hat? „Geben Sie mir Ihren Schlüssel. Lassen Sie künftig das Außenlicht an, dann finden Sie das Schlüsselloch leichter. Bitte schön, die Tür ist offen.“ Seine Stimme klang beruhigend, dabei ganz sachlich, so als wäre sie wieder ein junges Mädchen und seine Patientin. Jennie erschauerte. Jetzt war sie fest entschlossen, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Es gab viel zu viele undurchsichtige Anspielungen. „Ich nehme an, Sie haben sich noch keine dieser wundervollen Teesorten gekauft, die es in Sri Lanka gibt. Wo verwahren Sie Ihre englischen Teebeutel?“ Richard nahm die Situation in die Hand. Bereitwillig setzte Jennie sich in ihren Sessel und deutete auf die Blechdose auf ihrem Schreibtisch. Richard füllte den Wasserkocher. „Ich gieße Ihnen eine Tasse Tee auf und lasse Sie dann allein. Falls es Ihnen morgen früh immer noch nicht besser geht…“ „Bitte bleiben Sie und trinken Sie eine Tasse Tee mit mir, Richard“, warf sie rasch ein. „Ich möchte mit Ihnen sprechen.“ Er kam zu ihr und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. Er betrachtete sie einen Augenblick lang besorgt, dann sagte er: „Wenn ich richtig sehe, sind Sie nicht körperlich krank. Irgend etwas hat Sie verstört, stimmt’s?“ Jennie nickte. „Genau gesagt: Jemand hat mich verstört.“ „Ich verstehe.“ Seine Stimme klang gefaßt. „Es ist nicht schwer, zu erraten, um wen es sich handelt. Mike, nicht wahr?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Ich habe bemerkt, wie er Sie ansieht. Hat er versucht…?“ „Er hat gar nichts versucht. Er hat mir etwas von Ihnen erzählt.“ „Über mich?“ War das echte Überraschung? Jennie holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen. „Er sagt, er habe einen Freund, der mit Ihnen zusammen an einem Londoner Krankenhaus arbeitete, als es dort zu einem unerfreulichen Zwischenfall mit einer jugendlichen Patientin kam.“ Wie froh wäre sie gewesen, hätte er das rundheraus abgestritten, aber er wandte sich ab, und sie hörte, wie sein Atem schneller ging. „Sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist“, bat sie rasch. „Ich habe Mike nicht geglaubt, aber…“ „Er hat kein Recht, in der Vergangenheit zu graben!“ Heftig wandte Richard sich um. Seine Augen loderten vor Zorn. „Ja, es stimmt, es gab da einen Vorfall, aber nicht das, was er meint.“ „Bitte erzählen Sie mir, was vorgefallen ist, Richard“, bat Jennie flehentlich. Ich muß es wissen, dachte sie. Ich muß wissen, wer Richard wirklich ist. Sie sah den gequälten Ausdruck in seinen Augen und betete zum Himmel, er würde sie nicht verlassen, bevor er ihr nicht alles erzählt hatte. Sie konnte und wollte nicht weiter mit ihm zusammenarbeiten, ohne zu wissen, was sich in seiner Vergangenheit abgespielt hatte.
Richard stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Mit beiden Händen umklammerte er das Fensterbrett. Jennie sah, wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu wahren. „Es passierte einige Jahre, nachdem Sie entlassen worden waren. Becky Saunders, ein fünfzehnjähriges Mädchen, war wegen ihres Sichelfußes eingewiesen worden. Vom ersten Augenblick an erinnerte sie mich an Sie.“ „An mich?“ sagte Jennie erstaunt. „Wieso?“ „Sie sah Ihnen ähnlich… Sie war Idein und blond, sie war munter, redete viel, lachte gern… Sie beklagte sich nie. Ich ging genauso mit ihr um, wie damals mit Ihnen, aber sie muß es falsch verstanden haben. Ich war überhaupt nicht auf das vorbereitet, was dann passierte.“ Es war ganz still im Zimmer. Jennie wartete ab. Sie wagte nicht zu sprechen, um Richard nicht abzulenken. „Es passierte am Abend vor ihrer Entlassung. Ich ging noch einmal auf die Station, um mit ihr zu besprechen, wann sie in die Ambulanz kommen sollte, und was sonst zu regeln war. Plötzlich ergriff sie meine Hand, zog mich zu sich und begann zu weinen. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und fragte sie, was ihr fehlte. Sie rief, sie liebe mich, ich sei nicht zu alt für sie, sie sei sich ganz sicher, ich liebte sie wieder und…“ Er brach ab und ging mit langen Schritten durch den Raum. Spontan streckte Jennie eine Hand nach ihm aus. Er ergriff sie und setzte sich wieder auf die Armlehne ihres Sessels. „Was haben Sie getan, Richard?“ Er atmete schwer. Jennie spürte, wie er jenes Erlebnis nacherlebte. „Ich rief die Stationsschwester herbei. Sie war bereits unterwegs, denn sie hatte Becky gehört. Gemeinsam brachten wir das Mädchen zur Ruhe, und ich sagte ihr, sie dürfe sich so etwas nicht einbilden, ich sei ihr Arzt, mein Interesse an ihr sei rein fachlich. Sie schien das zu akzeptieren. Die Stationsschwester verhielt sich vorbildlich. Sie sagte mir, ich könne die Station verlassen, sie werde sich um Becky kümmern. Es sah aus, als wäre alles ausgestanden.“ „Aber es war nicht ausgestanden, ja?“ Er hielt immer noch ihre Hand. Sie fühlte, wie seine Finger sich verkrampften. „Nach Mitternacht wurde ich wieder auf die Station gerufen. Becky war hysterisch geworden. Als ich das Krankenzimmer betrat, rannte sie zum Fenster, kletterte auf das Fensterbrett und drohte, sich hinauszustürzen.“ „Du meine Güte!“ rief Jennie aus. „In welchem Stockwerk lag ihr Zimmer?“ „Im vierten“, erwiderte er trocken. „Die Nachtschwester drückte den Alarmknopf, und ich ging zum Fenster. Betty stand inzwischen draußen, nur ihre Füße waren noch auf dem inneren Fensterbrett. Sie hielt sich nur mit einer Hand fest. Sie sagte, sie wolle nicht leben, wenn ich sie nicht liebte. Sie verlangte, daß wir den Krankensaal räumten, und drohte, sie werde in die Tiefe springen, sobald wir die Feuerwehr riefen.“ Wieder machte er eine Pause und strich sich mit der Hand durch das dunkle Haar. Jennie wartete. „Alle Patienten waren inzwischen natürlich wach. Der Saal wurde geräumt, und ich verbrachte den Rest der Nacht ganz allein mit diesem Mädchen. Sie schluchzte und flehte, während ich versuchte, vernünftig mit ihr zu reden. Kurz vor Morgengrauen wurde sie müde. Ganz vorsichtig näherte ich mich ihr, und als ihr die Augen zufielen, griff ich zu und zog sie ins Zimmer. Ich gab ihr ein Beruhigungsmittel, dann übernahm die Nachtschwester. Das Mädchen wurde auf die psychiatrische Station verlegt.“ Er holte tief Luft. „Sie hat sich in wenigen Monaten vollständig erholt – ich muß zugeben, ich habe länger gebraucht.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Jennie beobachtete ihn und bemerkte zu ihrer Überraschung, wie sich seine Miene plötzlich veränderte. Es war, als ob er den dramatischen Zwischenfall einfach ausblendete. „Jetzt habe ich es hinter mir, und ich bin froh, daß es nicht tragisch endete. Meine Mitarbeiter waren der Meinung, daß mir keine Schuld zu geben sei. Ich konnte nicht wissen, was in Becky vorging.“ „Und immerhin haben Sie ihr das Leben gerettet“, warf Jennie ein. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihn zu bestätigen. „Das stimmt. Trotzdem bin ich seither bei jungen Mädchen sehr vorsichtig. Ich will kein Risiko eingehen. Sie, Jennie, waren ganz anders. Sie bildeten sich keine Verrücktheiten ein. Als Sie allerdings nach so vielen Jahren hier in Sri Lanka auftauchten, fragte ich mich, ob dafür nicht doch so eine völlig unangebrachte Heldenverehrung eine Rolle spielte.“ Jennie lachte auf, aber in ihren eigenen Ohren klang es nicht ganz echt. „Was bilden Sie sich ein! Sie wissen doch, wie ich war: Für mein Alter war ich naiv, ich war noch ein Kind. Nein, ich habe mich einfach nur gefreut, wenn Sie in mein Zimmer kamen und mich wieder aufmunterten.“ Sie stand auf und ging ans Fenster. Richards Bericht hatte sie tief betroffen. „Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen“, sagte sie ruhig. „Ich bin auch froh, daß es damals keine Tragödie gab…“ Sie konnte nicht weitersprechen. Mit wenigen Schritten war Richard bei ihr und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Jennie drehte sich um und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Sie spürte seinen Herzschlag. Nach wenigen Sekunden wollte sie sich frei machen, aber er hielt sie fest. „Jennie, was ist los?“ „Ich mußte an das arme Mädchen denken. Hat sie sich wirklich vollständig erholt?“ „Die Kollegen in der Psychiatrie rieten mir, mich nicht mehr um sie zu kümmern, ich habe sie deshalb nicht mehr gesehen, aber ich bekam regelmäßig ihre Krankenberichte. Sie hatte wohl von Geburt an in einem Kinderheim gelebt und meine ärztliche Zuwendung einfach falsch verstanden. Drei Jahre nach dem Vorfall, sie war gerade achtzehn Jahre alt, heiratete sie und hat jetzt eine Familie. Psychiatrische Probleme scheinen nie wieder aufgetreten zu sein. Sie sehnte sich damals einfach nach Liebe… Ein Mensch wie Sie, jemand aus einem liebevollen Elternhaus…“ „Nein, ich war nie in Gefahr, mich in Sie zu verlieben. Für mich waren Sie einfach ein guter Freund und…“ Sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund… ganz leicht, aber es nahm ihr fast den Atem. Richard schloß die Arme fester um sie und zog sie an sich. Es dauerte alles nur wenige Sekunden, doch als er sie dann losließ, kam es Jennie vor, als habe sie eine lange Reise gemacht. Von nun an würde zwischen ihnen alles anders sein, das wußte sie mit Sicherheit. Er hielt sie noch immer in den Armen und ließ sie auch nicht los, als sie versuchte, einen Schritt zurückzutreten. „Meine kleine Jennie“, flüsterte er. „Es ist sehr schwer, zu begreifen…“ Er sprach nicht weiter. „Was?“ fragte sie. „Ich muß jetzt gehen, sonst…“ Wieder brach er ab. „Alle diese unvollendeten Sätze“, neckte sie. „Was wollen Sie sagen, Richard?“ Er küßte sie auf die Stirn. „Ich glaube, das können Sie erraten. Aber wir wissen auch beide, daß es nicht gutgehen würde. Gute Nacht, Jennie.“
7. KAPITEL Während der nächsten Wochen bemühte Richard sich offensichtlich um einen leichten Umgangston mit Jennie. Zwar verlangte er nach wie vor sehr viel von ihr und war in allen beruflichen Situationen überaus höflich, aber in ihrer Freizeit trafen sie nicht mehr zusammen. Jennie lag des Nachts oft schlaflos und überlegte, warum Richard sich so merkwürdig verhielt. Wie kam er nur auf den Gedanken, sie beide wüßten, daß es zwischen ihnen nicht klappen würde? Sie war sich da gar nicht so sicher. Er sprach nur für sich selbst. Er wird einfach nicht damit fertig, daß ich kein Kind mehr, sondern inzwischen eine Frau mit ganz normalen Gefühlen bin… Gefühlen, die ihm vielleicht unheimlich sind. Er hat ja sogar gesagt, daß er wegen seiner schlechten Erfahrungen keine dauerhafte Beziehung mehr will. Fürchtet er, ich könnte seinen Entschluß gefährden? Ich habe ihm schließlich selbst erzählt, daß ich eines Tages heiraten und Kinder haben möchte. Vielleicht macht ihm das angst. Er weiß, daß ich mich nicht mit einer Affäre begnügen würde… natürlich nicht! Es sei denn, du wärst hoffnungslos verliebt, flüsterte eine innere Stimme. Sei still, befahl Jennie, jetzt wird geschlafen! Als sie an einem der nächsten Vormittage den Dienst antrat, wurde ihr plötzlich klar, daß die Hälfte ihres Aufenthaltes in Sri Lanka bereits verstrichen war. Sie nahm sich vor, von nun an jeden Augenblick zu genießen. Ihre kleinen Patienten auf der Kinderstation begrüßten sie begeistert wie immer. Jennie ging zu jedem einzelnen Kind, sprach mit ihm, streichelte es, untersuchte es dabei und tat alles, um die Kleinen aufzumuntern. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Richard hereinkam. Sie tat, als bemerkte sie ihn nicht, bis er sie an Ravindralals Bett rief. „Ravindralal macht gute Fortschritte“, sagte er. „Wir können ihn demnächst entlassen. Ich denke, eine Ortsveränderung wird ihm guttun. Hätten Sie Lust, die eine oder andere Woche mit ihm zusammen im Sanatorium in Nuwara Eliya zu verbringen? Das Sanatorium ist bereit, ihn zu behalten, bis wir eine andere Unterbringungsmöglichkeit gefunden haben. Es gibt dort zwar einen Orthopäden, aber es wäre doch hilfreich, wenn Sie die Schwestern in die Betreuung einweisen könnten. Mike wird in dieser Zeit eben ein bißchen mehr arbeiten müssen.“ „Das dürfte ihn nicht stören, er hatte sich doch ohnehin beklagt, er komme kaum noch zum Operieren.“ „Damit wollte er Ihnen nur eins auswischen, Jennie. Wie verhält er sich eigentlich Ihnen gegenüber?“ „Einwandfrei“, entgegnete Jennie. „Er hat über den Vorfall, von dem wir neulich sprachen, übrigens nichts mehr gesagt.“ Er hat auch seine übrigen Anspielungen nicht wiederholt, setzte sie in Gedanken hinzu. Wie sollte er auch? Richard und ich sind ja in der Freizeit nicht mehr zusammengewesen. Vielleicht ist das auch ganz gut so, denn wenn wir uns körperlich so nah sind wie jetzt an Ravindralals Bett, ist die Spannung fast mit Händen greifbar. „Na schön. Ich überlasse Mike die Leitung der Station, während wir nach Nuwara Eliya fahren“, sagte Richard. Er ließ Jennie dabei nicht aus den Augen. „Fahren Sie denn mit?“ Ein Schauer der Vorfreude überlief sie. Ob Richard das bemerkte? Seine dunklen Augen funkelten. „Ich bleibe nur für das Wochenende. Ich war schon längere Zeit nicht mehr im Sanatorium, und es gibt dort einiges zu regeln. Das kann ich erledigen, während
Sie dafür sorgen, daß Ravindralal sich gut einlebt. Im Verlauf des Sonntags fahre ich zurück. Ich hoffe nur, daß es hier auf der Station ruhig bleibt.“ „Wie lange wird Mike eigentlich noch in Sri Lanka arbeiten?“ „Ungefähr so lange wie Sie. Was werden Sie tun, wenn Sie wieder in England sind, Jennie?“ „Ich werde weiter arbeiten wie zuvor, man hat mir meine Stelle freigehalten“, antwortete sie rasch, denn sie wollte nicht daran denken, wie bald sie wieder im kalten England sein würde. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, länger in Sri Lanka zu bleiben… „Wahrscheinlich sind Sie froh, endlich aus der Hitze herauszukommen.“ „Ach nein, inzwischen habe ich mich akklimatisiert“, erwiderte Jennie, setzte sich auf die Bettkante und deckte Ravindralals Füße auf. Richard trat hinter sie. „Haben Sie hier viel gelernt? Ich meine, war es den Aufwand wert, nach Sri Lanka zu kommen? Hätten Sie in London nicht ebenso viel lernen können?“ Jennie sah zu ihm auf. Um seine Lippen spielte ein spöttisches Lächeln. Er stellt mich auf die Probe, dachte sie. Sie erwiderte seinen Blick scheinbar unbewegt. „Ich habe hier in den bisherigen drei Monaten mehr gelernt, als ich je für möglich gehalten hätte“, antwortete sie. Rasch wandte sie sich dann dem kleinen Jungen zu: „Zapple einmal mit den Zehen, Ravindralal… noch ein bißchen mehr.“ Sie hörte, wie Richard zur Tür ging und atmete auf. Sie wußten beide Bescheid, sie konnten sich gegenseitig nicht hinters Licht führen. Es blieb nur noch so wenig Zeit. Wenn ich wieder in England bin, werde ich ihn vergessen… sofort… Na ja, es kann ein bißchen dauern, aber irgendwann gelingt es mir bestimmt. Am frühen Sonntagvormittag verließen sie Kandy. Richard saß auf dem Platz neben dem Fahrer, Jennie und Ravindralal auf dem Rücksitz. Der kleine Junge trug für die Dauer der Reise seine Schienen an den Beinen. Kurz nach Mittag erreichten sie auf den holprigen Straßen die kleine Stadt Nuwara Eliya, die sich am Fuß des Berges Pidurutalagala in eine bewaldete Senke schmiegte. „Diese Gegend erinnert mich an den Lake District in England“, sagte Jennie und betrachtete bewundernd die Gebäude, die die Hauptstraße der Stadt säumten. Sie waren in den beliebtesten englischen Baustilen errichtet und von wohlgepflegten, sehr englisch wirkenden Gärten umgeben. „Englische Kolonialbeamte haben sich hier zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts angesiedelt“, erklärte Richard. „Wir sind hier ziemlich hoch, deshalb wird es nie sehr heiß. Es ist die ideale Umgebung für Kuren und Genesungsaufenthalte. Unsere Landsleute haben das natürlich erkannt und kamen aus Colombo hierher, um sich zu erholen.“ Er deutete auf ein großes, gemauertes Gebäude, das in einem Park über dem See lag. „Das ist Treetops, unser Sanatorium.“ Vor dem Haus erstreckte sich ein sorgfältig gepflegter, mit hohen Laubbäumen bestandener Rasen, die breite, kiesbestreute Auffahrt war von Blumenrabatten gesäumt. Das ganze Anwesen erinnerte Jennie an einen englischen Landsitz. „Wunderschön! Gefällt es dir hier, Ravindralal?“ fragte sie. Der kleine Junge nickte eifrig. „Aber du bleibst doch hier, Frau Doktor? Du gehst doch nicht weg?“ „Ich bleibe zwei Wochen lang bei dir“, versprach Jennie. Hoffentlich wissen wir bis dahin, was später mit dir werden soll, setzte sie in Gedanken hinzu. Die Zukunftsaussichten des Jungen machten ihr Sorge, denn inzwischen hatte sie erfahren, daß Ravindralals Großmutter wegen einer Herzschwäche in einem
Krankenhaus in Colombo behandelt wurde.
Als Richards Wagen vor dem Haupteingang hielt, kam eine große, etwas füllige
Frau heraus, um sie zu begrüßen.
„Herzlich willkommen in Treetops! Das ist also der junge Mann, der bei uns
bleiben will. Die Schwester soll ihm gleich zeigen, wo er wohnt… oh, ich sehe
schon: Frau Doktor, wenn Sie den Jungen begleiten wollen…?“
Ravindralal hatte Jennies Hand umklammert und war ganz offensichtlich nicht
bereit, sie wieder loszulassen. Deshalb folgten sie gemeinsam einer
einheimischen Krankenschwester, die sie in den Tagesraum führte, wo schon
zwei andere Kinder spielten.
„Wir haben hier normalerweise kaum Kinder, Frau Doktor“, erklärte die
Krankenschwester. Sie lächelte Ravindralal zu, setzte sich auf einen Stuhl und
hob ihn auf ihre Knie. „Deshalb freuen wir uns besonders über dich. Bald gibt es
Lunch, du kannst dich zu den beiden anderen Jungen an den Tisch setzen.“
Ravindralal sah zu den beiden Jungen hinüber, die ungefähr in seinem Alter
waren und mit einem Kipplaster spielten. Er rutschte von den Knien der
Krankenschwester und ging zu den beiden Kindern, um sich davon zu
überzeugen, ob ihr Laster so schön war wie der, den er in seinem Gepäck hatte.
„Ich glaube, Sie können mir Ravindralal überlassen, Frau Doktor. Falls es
irgendwelche Schwierigkeiten gibt, rufe ich Sie“, sagte die Krankenschwester
leise.
„Ich glaube, wir werden keine Probleme haben“, stimmte Jennie lächelnd zu.
Eine andere Krankenschwester führte sie in den Speisesaal des Personals.
Richard saß dort neben der Oberschwester am Tisch. Es gab kaltes,
aufgeschnittenes Fleisch, dazu Tomaten und Brot und sauer eingelegtes Gemüse,
zum Nachtisch wurde Obst serviert.
„Wir nehmen unsere Hauptmahlzeit abends ein“, sagte die Oberschwester, an
Richard gewandt. Außer ihr und den beiden Gästen saß niemand am Tisch.
Vermutlich hatten die übrigen Mitarbeiter bereits gegessen.
„Ich wollte Dr. Warner heute abend zum Essen in den Hill Club ausführen“,
entgegnete Richard und schenkte der Oberschwester sein charmantes Lächeln.
„Dieses Erlebnis möchte ich ihr nicht vorenthalten.“
„Ganz richtig“, stimmte die Oberschwester zu, aber es entging Jennie nicht, daß
sie mit dieser Unternehmung nicht ganz einverstanden war. „Ich hatte allerdings
gehofft, Sie heute abend bei uns zu haben, Herr Dr. Farraday – Sie natürlich
auch, Dr. Warner. Wir sind ein kleiner Kreis von Mitarbeitern und freuen uns
immer über Gäste. Wie lange werden Sie bei uns bleiben, Dr. Farraday?“
„Ich muß leider morgen schon nach Kandy zurückfahren“, erwiderte Richard. „Ich
bin mir nicht ganz sicher, ob mein Stellvertreter mit der Stationsleitung
zurechtkommt. Dr. Warner darf zwei Wochen lang hier bleiben.“
„Wie schön, Dr. Warner! Kommen Sie in zwei Wochen zurück und holen Dr.
Warner wieder ab, Dr. Farraday?“
„Wenn mein Dienstplan es erlaubt, Schwester“, entgegnete Richard.
Jennie hob ihre Kaffeetasse an die Lippen. Es wäre ganz nett, wenn mich auch
jemand um meine Meinung fragte, dachte sie. Es ist mir neu, daß Richard mit mir
zum Dinner gehen will. Ach, ich will mich nicht beklagen. Ich werde genießen,
was mir geboten wird, und erst einmal dafür sorgen, daß die Krankenschwestern
lernen, wie sie Ravindralal behandeln müssen.
Jennie hatte gerade ihr Makeup beendet, als das Telefon auf ihrem Nachttisch
klingelte. Richard war am Apparat.
„Brauchen Sie noch lange, Jennie? Ich habe den Tisch im Hill Club für acht Uhr
bestellt, und ich denke, wir sollten vorher einen Drink nehmen.“
„Ich bin in zwei Minuten fertig, Richard.“ Sie hatte länger als geplant gebraucht, um die Krankenschwestern in ihre Arbeit einzuweisen. Danach hatte sie ein ausführliches Bad genommen, und als sie sich dann anziehen wollte, hatte sie festgestellt, daß ihr neues Seidenkleid im Koffer recht zerdrückt worden war und gebügelt werden mußte. Da sie kein Reisebügeleisen bei sich hatte, mußte sie das Zimmermädchen rufen und warten, bis ihr das Kleid zurückgebracht wurde. „Sehr hübsch“, sagte Richard anerkennend, als sie wenig später die Treppe herunterkam. Er wartete an der Eingangstür des Sanatoriums. „Haben Sie dies Kleid in Kandy gekauft?“ „Selbstverständlich, für ein Seidenkleid in England reicht mein Gehalt nicht.“ Die Bewunderung in Richards Augen ließ ihre Haut prickeln. Sie fand ihn im übrigen überwältigend gut aussehend in seinem dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und einem breiten Seidenschlips. „Sie sind so förmlich angezogen, Richard. Haben wir ein gesellschaftliches Ereignis vor uns?“ fragte sie, während er ihren Arm nahm und sie zur Tür hinausführte. „Im Hill Club ist man traditionsbewußt und ziemlich förmlich“, erwiderte Richard und öffnete ihr die Wagentür. Er setzte sich zu ihr auf den Rücksitz. „Man benimmt sich dort ein bißchen wie zu Kolonialzeiten. Die Herren zum Beispiel müssen Schlips tragen. Es ist ein Erlebnis ganz eigener Art, dort zu dinieren. Wenn Sie wieder in England sind…“ Er sprach nicht weiter. Im Halbdunkel des Wagens trafen sich ihre Blicke. Dann nahm er ihre Hand. Jennie saß ganz still. Ob er ahnte, wie weh es ihr tat, daran zu denken, daß sie binnen kurzem Sri Lanka – und ihn – verlassen mußte? „Wenn Sie wieder in England sind, werden Sie sich gern daran erinnern“, beendete er seinen Satz. Bestimmt werde ich mich daran erinnern, dachte Jennie. Ich werde diesen Abend bis zu meinem Lebensende nicht vergessen. Aber jetzt will ich mich einfach nur freuen, daß ich mit dir zusammen bin. An die Zukunft will ich nicht denken. Sie gingen in den Salon des Hill Club, nahmen auf einer einladenden Ledercouch Platz und warteten, bis ein Kellner ihnen auf einem silbernen Tablett ihre Getränke brachte. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, sagte Jennie, hob ihr Glas an die Lippen und sah sich bewundernd um. Die Atmosphäre in diesem hohen Raum mit hölzernen Deckenbalken, dicken Teppichen und bequemen Möbeln atmete gepflegte Gastlichkeit. Nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, führte ein Kellner sie in den Speisesaal an einen Tisch, auf dessen blendend weißer Damastdecke das silberne Besteck im sanften Licht der Kerzen schimmerte. Als Vorspeise wurde geräucherter Lachs aus Schottland serviert. „Da sitzen wir auf einer tropischen Insel, deren Küstengewässer vor Fischen wimmeln, und essen Lachs aus Schottland“, sagte Jennie kopfschüttelnd. Richard lachte. „Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?“ „Nein, ich stelle es nur fest. Es ist köstlicher Lachs.“ „In diesem Club wird nur das Beste serviert. Immerhin hatte man es Generationen lang mit anspruchsvollen Essern aus England zu tun.“ Als Hauptgang wurde geröstete Ente in Orangensauce gereicht, und zum Nachtisch gab es ein Orangensorbet. Den Kaffee nahmen sie wieder im Salon ein. Jennie sah durch die hohen Fenster hinaus. Am Himmel stand eine helle
Mondsichel, und unendlich viele Sterne funkelten in der samtschwarzen Nacht. Sie war glücklich und zufrieden und bereit, diesen Abend als eine einmalige, unwiederbringliche Gelegenheit zu erleben. Was machte es schon, daß sie Richard wahrscheinlich nie wiedersehen würde? Sie würde damit zurechtkommen. Sie war bisher mit allem zurechtgekommen… „Woran denken Sie?“ fragte Richard. „Ich habe in Gedanken meine Zukunft geplant“, antwortete Jennie. „Ihre Zukunft mit dem Mann Ihrer Träume?“ neckte er. „Traulich in Ihrem Liebesnest, zusammen mit zwei Komma vier Kindern?“ „Wie haben Sie das erraten?“ Sie sprach in leichtem Ton. Nur keine gefühlsgeladene Stimmung aufkommen lassen, ermahnte sie sich. „Und Sie? Haben Sie noch andere Perspektiven, als sich bei höllischen Temperaturen über den Operationstisch zu beugen?“ „Nein, ich glaube, das wär’s dann auch schon. Ich habe den Beruf, den ich mir gewünscht hatte. Was will ich mehr?“ Er nahm einen Schluck Cognac. „Ich lebe gern hier in Sri Lanka – wen würde das wundern? Hier oben in den Bergen fühle ich mich immer wie im ewigen englischen Frühling. Als ich das erste Mal hierherkam, war ich noch ein Kind.“ „Sie waren schon einmal hier?“ fragte Jennie verwundert. „Ja, aber nicht als Gast in diesem Haus, das hätten wir uns damals nicht leisten können. Mein Vater mußte damals etwas reparieren, ich weiß nicht mehr genau, was. Meine Mutter war krank, deshalb hatte er mich mitgenommen.“ „Erzählen Sie mir von ihm… von Ihrem Vater, meine ich.“ Richard lehnte sich zurück und schwenkte den Cognac im Glas. „Mein Vater war ein großartiger Mensch! Er war Installateur. Er und meine Mutter kamen kurz nach ihrer Heirat nach Sri Lanka. Meine Mutter arbeitete als Krankenschwester am Allgemeinen Krankenhaus in Colombo. Mein Vater war für den öffentlichen Dienst tätig. Nach meiner Geburt gab meine Mutter ihre Arbeit auf. Ich erinnere mich noch an diese Zeit: Ich durfte auf Elefanten reiten, wir waren im Meer schwimmen, ich spielte im Sand… Es war sehr, sehr schön.“ Er räusperte sich und fuhr fort: „Ich war gerade fünf Jahre alt, als man bei meiner Mutter Brustkrebs entdeckte. Da man die Krankheit hier nicht behandeln konnte, mußten wir nach England zurückkehren. Es war aber schon zu spät: Sie starb wenige Monate später.“ Er schwieg. Jennie wagte nicht, ihn in seinen Erinnerungen zu stören. „So waren Dad und ich also allein. Er arbeitete schwer, um mich durchzubringen. Während der Schulferien durfte ich ihn zur Arbeit begleiten. Wenn er Badezimmer oder Küchen reparierte, gab er mir Schrauben, Draht oder ähnliches zum Spielen. Ich bastelte gern mit diesen Dingen herum. Er lobte mich für das, was ich zustande brachte und sagte, wenn ich fleißig sei, würde ich es als Installateur einmal weit bringen.“ „Aber für Sie war die Orthopädie dann doch interessanter“, warf Jennie ein. Er nickte und lächelte. „Letzten Endes hat mich mein Vater zur Orthopädie gebracht. Er litt an schwerer Arthritis und brauchte schließlich ein künstliches Hüftgelenk. Leider war die Operation nicht erfolgreich. Ich war damals dreizehn Jahre alt und erinnere mich, wie ich ihn zur ambulanten Versorgung begleitete. Sein Arzt erklärte mir bereitwillig, welche Operation er ausgeführt hatte, aber als ich anmerkte, vielleicht hätte die Prothese, die er eingesetzt hatte, mit einer kleinen Abänderung besser gepaßt, beendete er das Gespräch ziemlich unvermittelt. Er fand mich vermutlich naseweis.“ Er lachte, aber Jennie ahnte, daß es ihm damals sehr ernst gewesen war.
„Das war dann vermutlich der Anfang der FarradayProthese?“
„Ja. Ich brachte meinen Einfall zu Papier und schickte ihn zwei Jahre später zu
einem medizinischtechnischen Wettbewerb ein. Man dankte mir mit einem
höflichen Brief und der Anmerkung, meine Vorstellung sei nicht umsetzbar.“
„Und Ihr Vater?“
Richard seufzte.
„Er litt unter ständigen Schmerzen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und
nahm eine Überdosis Schlafmittel. Damals hatte ich gerade einen Studienplatz an
der medizinischen Hochschule erhalten. Möchten Sie wirklich keinen Cognac?“
Jennie schüttelte den Kopf.
„Vielen Dank, aber wenn ich noch etwas trinke, schlafe ich auf der Stelle ein. Es
war ein langer Tag.“
„Das stimmt, und ich sollte dafür sorgen, daß Sie ins Bett kommen. Hat die
Oberschwester Ihnen überhaupt erlaubt, so lange auszubleiben?“
„Ich fürchte, ich muß auf Ihre Schultern klettern und dann über die Gartenmauer
springen“, erwiderte Jennie lachend.
„Das wird lustig!“
Jennie ging immer noch nach, was er ihr erzählt hatte, und so sagte sie plötzlich
wieder ganz ernst: „Heiter und humorvoll muß das Leben sein, nicht wahr?“
Nun wurde auch Richard ernst. Er nahm ihre Hände und sah ihr tief in die Augen.
„Das gilt nicht für jedermann, Jennie! Sie haben einen Traum… Sie wollen
beruflich erfolgreich sein und trotzdem Kinder haben. Inzwischen glaube ich, daß
sie es schaffen können. Sie sind intelligent und können durchhalten. Ich weiß,
vor einigen Monaten habe ich noch ganz anders geredet, aber jetzt weiß ich, was
Sie sich abverlangen können…“
„… sofern ein gnadenloser Chef mich nicht zur Ruhe kommen läßt“, warf sie ein.
„Sei’s drum“, erwiderte er und verzog das Gesicht. „Ich meine: Sie können
beides haben, also nehmen Sie es sich auch.“
„Was soll ich mir nehmen?“
„Karriere und Familie – wenn Sie dem richtigen Mann begegnen.
Ich möchte, daß Sie glücklich werden, ich will Ihnen nicht im Wege stehen.“
„Wie sollten Sie das auch anstellen?“
Sie sah ihm in die Augen und erkannte darin dasselbe Verlangen, das sie auch in
sich spürte.
„Ich möchte Ihnen nicht die Zukunft verstellen. Man lebt nur einmal.“
„Ich glaube, ich verstehe Sie“, sagte Jennie leise. „Wie heißt es in den
Geschäften so treffend: Bitte berühren Sie nur, was Sie auch kaufen wollen’.“
Richard zog sie an sich. Jennie hielt den Atem an, so voller Zärtlichkeit war sein
Blick. Und dann küßte er sie auf den Mund, ohne sich um die Kellner zu
kümmern, die durch den Raum eilten. Schließlich lehnte er sich zurück.
„Das Dumme ist, daß wir beieinander Gedanken lesen können. Kommen Sie, wir
wollen gehen, bevor ich meinen Beschluß zurücknehme.“
Als sie im Wagen auf dem Rücksitz saßen, zog er sie wieder an sich. Jennie
schmiegte sich an ihn und genoß den Druck seines kräftigen Körpers. Bevor sie
vor dem Sanatorium ausstiegen, beugte er sich noch einmal über sie und küßte
sie.
„Jennie, meine kleine Jennie“, flüsterte er zärtlich. „Wenn du mir etwas weniger
bedeutetest, würde ich dich auf mein Zimmer mitnehmen…“
Er ließ sie los und öffnete die Wagentür. Draußen nahm er ihren Arm und führte
sie ins Sanatorium. Es schien ihm nicht aufzufallen, welchen Widerspruch er da
eben von sich gegeben hatte.
8. KAPITEL Nebeneinander gingen Jenny und Richard die Treppen hinauf. Jenny entgingen
die interessierten Blicke des medizinischen Personals natürlich nicht. Die
Oberschwester war aus ihrem Büro gekommen und hatte ihnen einen Abenddrink
angeboten, den Richard jedoch höflich abgelehnt hatte.
„Lädst du mich noch zu dir ein?“ fragte er, als sie vor Jennys Tür standen.
„Warum sollte ich?“ Sie umklammerte ihren Türschlüssel. „Gerade eben hast du
geheimnisvoll angedeutet, weshalb du mich nicht mit auf dein Zimmer nimmst –
warum sollte ich dich jetzt zu mir bitten?“
Richard stand ganz nahe hinter ihr und legte ihr beide Hände auf die Schultern.
„Ich sehe da einen entscheidenden Unterschied: Die Einladung käme von dir. Ich
dagegen kann unmöglich ein junges Mädchen auf mein Zimmer einladen, für das
ich die Verantwortung trage.“
„Ich bin kein junges Mädchen mehr, und du bist nicht für mich verantwortlich. Es
wäre schön, wenn du das endlich begreifen könntest!“ So, nun war es endlich
heraus. Sie drehte sich heftig zu ihm herum und sah das Erstaunen in seinem
Blick.
Nach einer langen Pause sagte er: „Ich würde wirklich gern hereinkommen,
Jenny. Ich glaube, wir sollten miteinander reden, vielleicht etwas trinken…“
„Ich habe meine Teebeutel nicht mitgenommen“, entgegnete Jenny. Es war der
hilflose Versuch, die Situation ein wenig zu entspannen.
Während sie mit bebenden Fingern die Tür aufschloß, sagte sie sich: Warum
machst du es dir so schwer? Du willst es doch, oder etwa nicht? Willst du
vielleicht nach England zurückkehren, nachts schlaflos in deinem Bett liegen und
dir immer wieder sagen:
„Ach, hätte ich doch…“?
Sie drehte sich zu Richard um, nahm seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
Kaum war die Tür ins Schloß gefallen, nahm Richard Jennie in die Arme, zog sie
fest an sich und küßte sie zärtlich. Mit einer Hand stützte er ihren Kopf, die
andere glitt liebkosend über ihren Rücken. Jennie fühlte die Erregung wie eine
Flut in sich aufsteigen.
„Ich dachte, du wolltest reden“, flüsterte sie zwischen zwei Küssen.
„Wulst du das?“
Ihre Antwort blieb unverständlich, denn Richard nahm sie auf seine Arme und
trug sie zum Bett, das frisch mit duftenden Laken bezogen auf sie zu warten
schien.
Jennie schmiegte sich an ihn. Auf diesen Augenblick hatte sie gewartet, sie
würde ihn nicht ungenutzt verstreichen lassen, sie würde sich nicht zieren. Sie
spürte, daß er genauso erregt war wie sie.
Unvermittelt jedoch richtete Richard sich schwer atmend auf. Er kämpfte um
Selbstbeherrschung.
„Jennie, entschuldige… Ich hätte dich nicht überreden dürfen. Wir wissen beide…“
„Das hast du schon einmal gesagt. Was wissen wir beide?“ Sie setzte sich auf,
strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn und zog das Bettuch um sich. Sie war
wütend vor Enttäuschung, wütend über diesen unmöglichen Mann, der mit ihren
Gefühlen Achterbahn fuhr.
„Meine kleine Jennie!“ Er streichelte ihre Wange.
„Ich bin nicht die kleine Jennie, merk dir das endlich!“ Sie stieß seine Hand fort.
„Ich bin eine erwachsene Frau, hast du das noch nicht gemerkt?“
Er stand auf und knöpfte sein Hemd zu.
„Deshalb wollte ich ja auf kleiner Flamme kochen“, erwiderte er trocken. „Gleich
bei unserem ersten Zusammentreffen hier in Sri Lanka wußte ich, was auf dem Spiel stand. Zwischen uns hat es im ersten Augenblick gefunkt. Ich erkannte, wie du mich ansahst, und wußte, daß meine Bewunderung für dich sich leicht in Liebe verwandeln konnte – und das ist auch geschehen.“ „Was ist daran so schlimm?“ „Ich bin nicht der richtige Mann für dich, nicht der Mann, den du dir wünschst, Jenny. Du willst keine Affäre, du willst Verbindlichkeit. Was hast du davon, wenn wir ein Techtelmechtel anfangen? Ich kann dir das nicht antun, Jennie. Am besten du vergißt, was heute abend passiert ist. Laß uns ganz von vorn anfangen.“ „Das heißt, du willst mich wieder bis zur Erschöpfung mit Arbeit überhäufen und…“ Er kam zu ihr zurück und zog sie in seine Arme. „Nein, natürlich nicht! Wir wollen für den Rest deines Aufenthalts in Sri Lanka gute Freunde sein. In wenigen Wochen fliegst du nach England zurück und wirst den Mann aus deiner Vergangenheit schnellstens vergessen.“ Er ließ sie los, hob seinen Schlips auf und hängte ihn sich über die Schulter. „Ich möchte nur, daß du glücklich wirst, Jennie“, sagte er mit rauher Stimme. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schlug Jennie mit Fäusten auf ihr Kopfkissen ein. Vor Wut und Enttäuschung liefen ihr die Tränen über die Wangen. Er will einfach nicht begreifen, daß ich erwachsen bin, dachte sie. Aus irgendeinem Grund getraut er sich nicht, seine Gefühle für mich zu zeigen. Gute Freunde! Er selbst bringt das nicht fertig. Ich spüre doch, wie es in ihm brodelt… Sie sprang auf und trat ans Fenster. Vor ihr breitete sich der Rasen aus, die Wipfel der Bäume standen wie Schattenrisse vor dem Nachthimmel. Er kann nicht vergessen, daß er einmal mein Arzt war, sagte sie sich. Er fühlt sich immer noch für mich verantwortlich, als wäre ich das junge Mädchen von einst. Seufzend warf sie sich in ihren Sessel und starrte blicklos vor sich hin. Natürlich, als Kind habe ich für ihn geschwärmt, das ist wahr. Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihn mit meinen Gefühlen zu belästigen, so wie diese Becky es getan und ihn damit regelrecht traumatisiert hat. Eins ist leider sonnenklar: Wenn Richard die Vergangenheit nicht überwindet, gibt es für uns keine gemeinsame Zukunft. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Jenny erwachte. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht und war erst kurz vor Morgengrauen eingeschlafen. Deshalb fühlte sie sich auch müde und zerschlagen, als sie zum Frühstück in den Speisesaal ging. Vor allem aber ging es ihr schlecht, weil sie nicht wußte, wie sie Richard gegenübertreten sollte. Die Oberschwester saß noch am Frühstückstisch und begrüßte Jennie mit einem liebenswürdigen Lächeln. „Kommen Sie, meine Liebe, setzen Sie sich zu mir. Ist es nicht schade, daß Dr. Farraday schon abreisen mußte? Nehmen Sie ein englisches Frühstück oder bevorzugen Sie es leichter? Ich finde, nach einem ausführlichen, gehaltvollen Frühstück ist man dem Tag ganz anders gewachsen.“ „Heute möchte ich nur Kaffee und Toast, wir haben gestern ja spät gegessen. Was ist mit Dr. Farraday?“ erkundigte Jenny sich im Ton höflichen Interesses und setzte sich der Oberschwester gegenüber. „Ach, wissen Sie das noch nicht? Nun ja, es war ja auch schon spät… Ich saß noch im Salon und gönnte mir meinen Cognac vor dem Schlafengehen, da kam Dr. Farraday herunter und sagte, er sei nach Kandy zurückgerufen worden. Anscheinend hatte sein Stellvertreter aus der Klinik angerufen. Es muß wichtig
gewesen sein, sonst hätte er nicht bei Dunkelheit die Rückfahrt angetreten. Das ist nicht ganz ungefährlich, müssen Sie wissen. Manchmal nächtigen Tiere auf den Straßen. Oft muß man scharf bremsen, und das ist bei dem lockeren Straßenbelag nicht ohne Risiko. Sein Fahrer war vermutlich nicht gerade begeistert. Haben Sie gut geschlafen?“ Jennie nahm zu einer Notlüge Zuflucht. Sie hatte Kopfschmerzen, und der muntere Plauderton der Oberschwester ging ihr gründlich auf die Nerven. Sobald es die Höflichkeit gestattete, stand sie auf und ging zu Ravindralal. Sie verbrachte den ganzen Vormittag mit dem Jungen, überzeugte sich davon, daß er medizinisch richtig versorgt wurde und stellte erleichtert fest, daß er sich mit den beiden anderen Kindern, die sich zur Erholung nach schweren Infektionskrankheiten im Sanatorium befanden, bereits angefreundet hatte. Nach dem Lunch suchte sie Dr. Chang auf, den chinesischen leitenden Arzt der orthopädischen Abteilung. Er führte sie durch die Behandlungsräume und erläuterte die physikalische Therapie, die in seiner Abteilung durchgeführt wurde. Jennies Angebot, ihn bei Bedarf zu unterstützen, nahm er gern an, denn er unterhielt in der Stadt noch eine Privatpraxis und hatte deshalb immer viel zu tun. Die erste Woche verging schnell. Am Sonnabend saß Jennie gerade mit den anderen Mitarbeitern beim Lunch, als sie ans Telefon gerufen wurde. Richard war am Apparat, und Jennies Hände bebten, als sie seine Stimme erkannte. Er klang besorgt. „Schlechte Nachrichten! Ravindralals Großmutter ist leider verstorben.“ „Ach, wie bedauerlich!“ „Offenbar ist der Todesfall schon einige Tage her, aber wir wurden erst jetzt benachrichtigt. Zur Beerdigung in Colombo kamen Verwandte, die anscheinend lange im Ausland gelebt hatten. Es sind Onkel und Tante «von Ravindralal, wenn ich recht verstanden habe. Sie erfuhren von der Existenz des Jungen und kamen gestern zu uns nach Kandy, um ihn kennenzulernen. Sie sind kinderlos und würden Ravindralal gern adoptieren.“ „Wie findest du sie? Ich meine, sind sie jung oder alt? Kannst du dir vorstellen, daß er sich bei ihnen wohl fühlen würde?“ Jenny spürte ihren Vorbehalt. Sie hatte viel Zeit mit Ravindralal verbracht und das Kind ins Herz geschlossen. Sie wollte ihn nicht in die Hände von Leuten geben, denen vielleicht gar nichts an ihm lag. „Ich fand sie sympathisch“, beschwichtigte Richard, der ihre Besorgnis spürte. „Sie sind beide Mitte Dreißig, schätze ich. Der Mann ist Lehrer und arbeitet in Colombo.“ „Sind sie über das Ausmaß von Ravindralals Behinderung informiert?“ „Ja, ich habe sie aufgeklärt und die Prognose des Jungen mit ihnen erörtert. Das heißt, sie wissen auch über die erforderliche weitere orthopädische Behandlung Bescheid. Jenny, mach dir nicht zu viele Gedanken. Ist ansonsten alles in Ordnung?“ „Ich kann nicht klagen. Ich möchte nur sichergehen, daß Ravindralal in gute Hände kommt.“ „Deshalb rufe ich an. Ich möchte das Ehepaar am kommenden Wochenende nach Treetops mitnehmen. Wärst du damit einverstanden?“ „Selbstverständlich.“ Unfaßlich, wie wir miteinander reden, dachte sie. Als wären wir nichts als Kollegen, freundschaftlich miteinander verbundene Kollegen! „Es tut mir leid, daß ich neulich so unvermittelt abreisen mußte. Ich habe dich nicht mehr selbst benachrichtigt, weil ich dachte, du würdest schon schlafen.“ Wenn du wüßtest, wann ich an diesem Abend eingeschlafen bin, dachte Jennie, aber sie sagte nur: „Sehr rücksichtsvoll. Was war denn los? Warum mußtest du
abreisen?“ „Mike rief an: Mandy Spencer hatte eine Überdosis Beruhigungsmittel genommen. Man hatte ihr schon den Magen ausgepumpt, und sie befand sich auf dem Weg der Besserung, aber er fand, ich sollte Bescheid wissen. Es schien mir angebracht, mich eingehend mit ihr zu beschäftigen, und deshalb bin ich sofort abgereist.“ „Wie ist sie denn an die Tabletten gekommen?“ fragte Jennie gereizt. „Anscheinend hat sie das Schlafmittel nicht eingenommen, sondern aufgespart, das sie jeden Abend bekam. Das ist natürlich eine Nachlässigkeit der Krankenschwestern, die sich ja davon überzeugen müssen, daß ein Patient die verordneten Medikamente auch wirklich einnimmt.“ „Wie geht es ihrem Sohn?“ „Gut. Wir werden ihn noch diese Woche ins Flugzeug setzen und zu seinen Großeltern nach England schicken. Ich habe ihn neulich zu seinem Vater mitgenommen und ihm erklärt, weshalb Gordon immer noch nicht aufstehen darf. Mandy weigert sich weiterhin hartnäckig, Mann und Kind zu sehen. Sie sagt, sie will nicht mehr leben.“ „Ich werde mit ihr reden, wenn ich wieder in Kandy bin“, versprach Jennie. „Ich kann nachempfinden, was sie fühlt, ich habe selbst solch eine Phase durchlebt.“ „Wann war das?“ fragte Richard teilnahmsvoll. „Ach, da war ich noch klein, ungefähr fünf Jahre alt. Ich mußte immer Schienen tragen und konnte nie richtig mit den anderen Kindern spielen. Sie hänselten mich wegen meines Fußes. Ich war traurig und verzweifelt. Meine Mutter hat mich dann wieder aufgerichtet. Sie sagte, ich sei anders als andere Kinder, ich hätte Begabungen, um die andere mich einmal beneiden würden, und ich sollte doch einmal darüber nachdenken, was in meinem Leben alles schön sei. Da setzte ich mich hin und schrieb auf, woran mein Herz hing… und das war ziemlich viel.“ Sie brach ab. „Entschuldigung, ich hatte vergessen, daß wir telefonieren.“ „Das ist in Ordnung, Jennie“, sagte Richard rauh. „Ich glaube, du könntest Mandy wirklich helfen.“ „Soll ich den kleinen Ravindralal auf den Besuch des Ehepaars vorbereiten?“ „Das wäre gut. Ich bin sicher, du, kannst ihm viel Angst vor der Zukunft ersparen.“ Die zweite Woche in Treetops verging quälend langsam, obgleich Jennie mehr als genug zu tun hatte. Dr. Chang beanspruchte sie viel, aber sie ließ es widerspruchslos zu: Auch hier sammelte sie wertvolle Erfahrungen, die ihr einmal zugute kommen würden. Dem Wochenende sah sie mit gemischten Gefühlen entgegen. Zum einen war sie auf Ravindralals mögliche Adoptiveltern gespannt, zum anderen… Sie wußte noch nicht, wie sie Richard begegnen sollte. Der erste Kontakt am Telefon war nicht schwierig gewesen, zumal sie ja ausschließlich über ihre Patienten gesprochen hatten. Doch würde sie ihre Gefühle im Zaum halten können, wenn sie ihm gegenüberstand? Es war Samstagvormittag, Jennie saß bei Ravindralal im Tagesraum und machte mit ihm Übungen für seine Füße, als sie Richards Wagen in der Auffahrt sah. Sie schloß die Übungen ab und ließ den Jungen wieder mit seinen Freunden spielen. Die Kinder waren ganz vertieft und bemerkten die Erwachsenen nicht, die wenig später eintraten. Jennie begrüßte die Ankömmlinge, aber sie sah Richard bei der Begrüßung nicht in die Augen. Nachdem er Jennie und Ravindralals Verwandte miteinander bekannt gemacht hatte, hob Richard den kleinen Jungen auf die Arme und stellte ihn Onkel und Tante vor. Schüchtern lächelte das Kind, doch als die Frau eine Hand nach ihm
ausstreckte, ließ er sich von ihr auf den Arm nehmen. Richard und Jenny traten einen Schritt zurück und beobachteten, wie das Ehepaar sich mit dem Jungen unterhielt. „Schade, daß ich kein Wort verstehe“, flüsterte Jennie. „Sie sagen Ravindralal, sie wünschen sich, daß er ihr Kind wird“, faßte Richard das Gespräch zusammen. „Anscheinend hat Ravindralal nichts einzuwenden, im Gegenteil.“ Nach einer Weile fragte die Tante des kleinen Jungen, ob sie mit ihm im Garten Spazierengehen dürften. Mit Tränen der Rührung in den Augen sah Jennie zu, wie ihr Schützling an der Hand der beiden Erwachsenen langsam hinausging. Es war schmerzlich und gleichzeitig erleichternd, daß sie die Verantwortung für dies Kind abgeben konnte. „Während der Fahrt haben die beiden mich gefragt, ob sie den Jungen schon zu sich nehmen können, während die Adoptionsverhandlungen noch laufen“, sagte Richard. „Der Mann hat eine Anstellung in Kandy gefunden, sie sind umgezogen und könnten Ravindralal regelmäßig zur Therapie in unsere Klinik bringen.“ „Das klingt sehr gut“, erwiderte Jennie. „Jetzt muß ich aber…“ „Jennie!“ Richard hielt sie am Arm fest. „Wie geht es dir?“ „Gut. Warum fragst du?“ „Es ist so vieles ungesagt geblieben, als wir uns zuletzt sahen.“ „Da bin ich anderer Meinung. Ich finde, wir haben vieles geklärt. Du warst der irrtümlichen Meinung, du seist immer noch der Held meiner Jungmädchentage und ich erträumte mir eine tiefe, komplizierte Beziehung mit dir. Weit gefehlt! Ich kann durchaus einen unbeschwerten Abend mit einem Mann verbringen und keine weiteren Erwartungen daran knüpfen. Zur Zeit ist der Beruf für mich vorrangig, und ich will mir keine Chancen vergeben.“ „Braves Mädchen!“ „Da genau liegt dein Fehler, Richard: Ich bin kein braves Mädchen. Bitte nimm endlich von dieser gönnerhaften Haltung Abstand und behandle mich wie eine Erwachsene.“ „Dann mußt du dich auch so benehmen.“ „Du bist unverschämt, du…“ Jennie sprach nicht weiter, denn die Oberschwester öffnete die Tür und kam herein. Sie begrüßte Richard mit einem strahlenden Lächeln. „Dr. Farraday, wie schön, Sie wiederzusehen. Sie essen doch mit uns zu Mittag?“ „Selbstverständlich, ich muß zuvor nur noch eine Kleinigkeit mit meinem Patienten Ravindralal und seinen Angehörigen regeln.“ „Einige unserer Mitarbeiter lassen fragen, ob Sie heute abend an einem gemeinsamen Ausflug teilnehmen. Sie wollen den AdamsBerg ersteigen. Ihnen ist das sicherlich nicht neu, Dr. Farraday, aber für Dr. Warner wäre es ein Erlebnis.“ „Wir müssen gleich morgen früh nach Kandy zurückfahren, Schwester.“ „Ich nehme an, Ihr Stellvertreter wird die Station an einem Wochenende wohl leiten können, Dr. Farraday. Außerdem steht ihm qualifiziertes Pflegepersonal zur Seite. Nun, besprechen Sie die Sache mit Dr. Warner und geben Sie mir beim Lunch Bescheid.“ Nachdem die Oberschwester den Raum verlassen hatte, lächelte Richard auf Jennie herab. Die Unterbrechung hatte die Spannung zwischen ihnen abgebaut. „Was wolltest du vorhin gerade sagen?“ fragte er. „Ich wollte sagen, du kannst vergessen, daß du einmal mein Arzt warst. Stell dir vor, du hättest mich noch nie zuvor gesehen, wir wären Kollegen und nichts weiter.“
„Nun denn, Frau Kollegin: Hast du Lust, mit mir zusammen auf diesen Gipfel zu steigen, von dem die Oberschwester sprach? Es ist eine anstrengende Tour, aber sie sollte dich nicht überfordern. Ich war schon ein paarmal oben und kann dir versichern, daß es sich lohnt.“ „Warum muß es ein Abendausflug sein? Finden wir überhaupt den Weg?“ „Du mußt wissen, der AdamsBerg gilt bei allen vier Hauptreligionen in Sri Lanka als heiliger Berg. Für die meisten Bergsteiger ist der Weg hinauf sozusagen eine Pilgerfahrt. Ich glaube, es wird dir gefallen.“ „Meinst du nicht, der Weg ist für meinen Fuß zu schwierig?“ Jennie blickte zweifelnd auf ihren linken Fuß herab. „Laß mich einmal sehen.“ Richard hockte sich neben sie, und nachdem Jennie aus dem Schuh geschlüpft war, prüfte er die Beweglichkeit ihres Gelenks. Bei seiner Berührung lief Jennie ein Schauer über den Rücken. Sie sah auf seinen dunklen Kopf herab und hätte am liebsten mit allen zehn Fingern in seinem Haar gewühlt – aber sie beherrschte sich natürlich. Da sah Richard schmunzelnd zu ihr auf. „Alles bestens. Du hattest einen hervorragenden Chirurgen.“ „Er war ganz ordentlich“, entgegnete Jennie. „Ich bin also fit? Dann erzähl mir mehr über diese BergPilgertour.“ „Der Weg zum Gipfel ist ziemlich steil und mit groben Stufen in den Fels gehauen. Man steigt nachts auf, um bei Sonnenaufgang oben zu sein, denn dann bietet sich einem ein atemberaubender Anblick.“ „Du hast mich überzeugt. Werden wir nicht müde sein, wenn wir gleich anschließend nach Kandy zurückfahren müssen?“ „Wir werden hundemüde sein – und es überleben. Ich habe es so eilig, weil ich Mike nicht gern auf der Station allein lasse. Im Ernstfall käme er mit dem Personal nicht zurecht, davon bin ich überzeugt.“ „Warum hast du ihn eigentlich eingestellt, wenn du so viele Vorbehalte gegen ihn hegst?“ „Er stand als Dritter auf meiner Liste. Der erste Bewerber mußte aus familiären Gründen kurzfristig absagen, und der zweite hatte inzwischen bereits an anderer Stelle zugesagt. Blieb nur noch Mike. Er ist ein guter Arzt, aber für die Stationsleitung völlig ungeeignet, fürchte ich.“ „Gut, dann fahren wir also morgen schnellstens zurück. Ich freue mich übrigens auf die Klinikarbeit und auf die Operationen. Zur Sanatoriumsärztin bin ich nicht geboren, habe ich gemerkt.“ „Zu langweilig?“ Er sah mit einem Ausdruck auf sie herab, den sie noch aus ihren Teenagertagen kannte. Er wird sich nicht von heut auf morgen ändern, dachte sie seufzend. Er braucht Zeit, und gerade die wird knapp. Kann ich ihn in zweieinhalb Monaten bekehren, oder sollte ich besser aufgeben und es hinnehmen, daß ich den falschen Mann liebe – so wie er davon überzeugt ist, die falsche Frau zu lieben? Jennie befolgte Richards Rat und legte sich nach dem Lunch zum Mittagsschlaf, um sich auf den anstrengenden Aufstieg vorzubereiten. Sie hatte ein bißchen Lampenfieber, wollte aber nicht zurückziehen, denn wenn Richard meinte, sie sei der Anstrengung gewachsen, wollte sie es wagen. Es waren insgesamt zehn Personen aus Treetops, sechs medizinische Mitarbeiter und vier Patienten, die schließlich am Abend in den alten Landrover stiegen und sich über die holprigen Straßen bis zum Fuß des Berges fahren ließen. Als sie den Aufstieg begannen, wurde Jennie selbstbewußter: Sie waren nicht die einzige Gruppe, und viele der anderen Wanderer waren schon recht alt. „Hier gibt es Schlangen, bleiben Sie also bitte auf dem Pfad“, mahnte Richard,
bevor sie sich auf den Weg machten.
Nachdem sie etwa eine Stunde lang gegangen waren, erreichten sie eine Art
bewirtschafteter Hütte, die den Pilgern als Rastplatz diente. An diesem
„ambulans“ machten sie halt und erfrischten sich mit starkem, süßem Tee.
Simon, einer der Patienten aus dem Sanatorium, ließ sich schwer atmend auf der
Bank neben Jennie und Richard nieder.
„Für einen Mann in meinem Alter ist das ein ziemlich strapaziöser Spaziergang“,
seufzte er.
„Wie alt sind Sie denn?“ fragte Richard.
„Ich werde demnächst fünfzig.“
„Das ist ja noch kein Greisenalter“, sagte Richard schmunzelnd, setzte dann aber
ernst hinzu: „Wenn Ihnen der Weg zu anstrengend ist, können Sie gern hier auf
uns warten.“
„Ich glaube, das mache ich. Man muß sich ja nicht quälen“, stimmte Simon zu.
„Warum ist Simon in Treetops?“ fragte Jennie, nachdem die Gruppe wieder
aufgebrochen war.
„Er hatte mehrere Malariaanfälle, von denen er sich hier erholen sollte. Die
Oberschwester meinte, er sei wieder gesund, aber anscheinend reichen die
Kräfte doch noch nicht.“
„Ich fand ihn auffällig kurzatmig“, sagte Jennie.
„Ja, das habe ich auch bemerkt. Ich werde es den Kollegen mitteilen, wenn wir
wieder im Sanatorium sind. Du hältst dich übrigens wirklich tapfer“, setzte er
anerkennend hinzu und nahm Jennies Hand.
Sie sah zu ihm auf. Sein Gesicht schimmerte im Mondlicht, und sein Blick ließ ihr
Herz schneller schlagen.
„Bereust du es, daß du dich zu dieser Nachtwanderung hast überreden lassen,
Kleines?“ fragte er leise.
Zum erstenmal hatte Jennie gegen diese Anrede nichts einzuwenden, denn
Richards Stimme klang so sanft und zärtlich… beinahe liebevoll.
Sie blieb stehen und atmete tief durch. O nein, sie bereute nichts. Der Aufstieg
war anstrengend, aber sie hatte das Gefühl, an der Seite des über alles geliebten
Mannes in ein verzaubertes Land zu steigen, das nicht mehr von dieser Welt war.
9. KAPITEL Der letzte Teil des Aufstiegs bestand aus einer steilen Felstreppe. Von weit oben, vom Gipfel, hörte Jennie den Klang einer Glocke. Die Wegbeleuchtung war auf dieser Strecke in großen Abständen angebracht, so daß eine ganz unwirkliche, zauberische Atmosphäre entstand. Als die Gruppe aus Treetops den Gipfel erreichte, war Jennie körperlich müde, aber alle ihre Sinne waren hellwach. Richard führte sie in den kleinen, steinernen Tempel. Voller Bewunderung sah sie sich um und fragte sich, wie Menschen so etwas errichteten, nachdem sie solch einen langen Marsch aus dem Tal bis hier hinauf hinter sich gebracht hatten? Ein ehrfürchtiger Schauer überlief sie, als sie den berühmten Fußabdruck in einem Felsen betrachtete, von dem die Mitglieder von vier Religionen behaupteten, er stamme von einem ihrer Begründer. Dann stieg langsam die Sonne über die Berge im Osten. Richard nahm Jennies Hand und deutete in die Weite und hinunter ins Tal, wo jetzt der dreieckige Schatten des AdamsGipfels lag. „Ich fühle mich wie jenseits der Welt“, flüsterte sie. Richard faßte ihre Hand fester und zog sie an sich. Sie standen inmitten einer Gruppe indischer Studenten, die ihrer Begeisterung über das Naturschauspiel lauthals Ausdruck gaben. Die Weggefährten aus Treetops waren zur anderen Seite des Gipfels gegangen. Jennie sah zu Richard auf, und die Zärtlichkeit in seinem Blick machte ihr die Knie weich. „Ich bin stolz auf dich, Jennie“, flüsterte er. „Ich hätte nie gedacht, daß wir einmal zusammen auf einem Berggipfel stehen würden. Es war ein langer, mühevoller und für dich oft schmerzvoller Weg, aber er hat sich gelohnt.“ Jennie atmete tief ein. Er ist immer noch bei der Vergangenheit, dachte sie. Aber das soll mich nicht mehr stören, so lange er nicht vergißt, daß ich jetzt eine erwachsene Frau bin. Die indischen Studenten räumten munter plaudernd den Platz. Jennie und Richard standen einen Augenblick lang allein. Richard legte ihr einen Arm um die Taille, mit der anderen Hand hob er ihr Kinn ein wenig an, und dann küßte er sie auf den Mund. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, aber Jennie kam es vor, als wären sie allein in der Ewigkeit. Schweigend sahen sie einander in die Augen. Dann hörten sie Schritte auf sich zukommen und lösten sich voneinander. „Richard, Jennie, haben Sie diesen unglaublichen Sonnenaufgang gesehen? Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten!“ Felicity, eine der Krankenschwestern, und Peter, einer der anderen Ärzte in ihrer Gruppe, kamen heran. Jennie blinzelte, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Der kostbare Augenblick war vorbei. Es wurde Zeit, den Rückweg anzutreten. Die Sonne stieg schnell am Himmel empor, ihre Strahlen wurden wärmer, das Licht gleißend. Der Abstieg war schwieriger als der Aufstieg, denn auf dem steilen Pfad mußte man ständig aufpassen, um nicht auf losen Steinen auszurutschen. Richard empfahl, erst zu rasten, wenn die Gruppe das ,ambulans’ erreicht hatte, wo Simon sie erwartete. Alle waren einverstanden. Sie hatten die Raststätte fast erreicht, gingen gerade um eine Wegbiegung, da schrie Jennie auf: Quer über dem Pfad lag eine Gestalt. „Simon“, stieß Richard hervor und war mit wenigen Sprüngen bei dem Mann, der langsam die Augen öffnete, als er Schritte hörte. „Ich wollte euch entgegengehen, aber…“ Seine linke Hand verkrampfte sich über seiner Brust.
„Immer mit der Ruhe, Simon“, sagte Richard beschwichtigend und rollte den
Mann auf den Rücken.
Jennie schob ihm ihren kleinen Rucksack unter den Kopf. Um Simons Mund und
Nase zeigte sich ein bläulicher Schimmer, der sich rasch über das gesamte
Gesicht ausbreitete. Sie fühlte nach dem Puls.
„Schnell und unregelmäßig“, sagte sie.
Da fiel der Kopf des Mannes auch schon zur Seite, er verlor das Bewußtsein und
hörte auf zu atmen.
„Wiederbelebung“, sagte Richard nur.
Inzwischen waren die übrigen Mitglieder der Gruppe aus Treetops und auch
andere Wanderer herangekommen.
„Machen Sie Platz und halten Sie Zuschauer fern“, bat Richard seine Kollegen.
Die Gruppe aus Nuwara Eliya bildete einen Kreis um Simon, Richard und Jennie,
die inzwischen mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen hatten. Jennie
führte MundzuMundBeatmung durch, während Richard mit gezieltem Druck auf
Simons Brust versuchte, das Herz des Mannes wieder zum Schlagen zu bringen.
Nach einer quälend langen Zeit sagte Peter: „Ich fühle einen Puls.“
Richard unterbrach die Herzmassage und löste Jennie bei der Beatmung ab.
Einige Minuten später schlug Simon die Augen auf, sah sich um und fragte
verwundert: „Was geht hier vor?“
Jennie hockte sich auf die Fersen und lächelte erleichtert.
„Wir bringen Sie nach unten“, sagte Richard nur. „Die Leute aus dem ,ambulans’
leihen uns eine Trage. Sie müssen nur still liegen, nicht reden und Ihre Kräfte
schonen.“
Gemeinsam bewältigten sie den schwierigen Abstieg: Die Männer trugen die
Trage, die Frauen paßten auf, daß Simon halbwegs bequem lag. Am Fuß des
Berges brachten sie ihren Patienten in die gut ausgerüstete Rettungsstation.
Richard legte Simon eine Sauerstoffmaske über das Gesicht, und nach wenigen
Minuten erholte sich der Mann sichtlich.
„Wir sollten Simon im Krankenwagen auf die Herzstation des Allgemeinen
Krankenhauses in Colombo bringen lassen“, empfahl Richard.
Peter und Felicity stimmten zu, bestanden aber darauf, den Mann zu begleiten.
„Er ist schließlich ein Patient unseres Hauses“, sagte Peter. „Außerdem müssen
Sie nach Kandy zurückfahren, soweit ich weiß.“
Richard nickte zustimmend, dann wandte er sich an Simon.
„Hatten Sie früher schon einmal Herzprobleme?“
„Noch nie. Ich war immer fit, aber die Malaria hat mir doch wohl stärker
zugesetzt, als ich dachte.“
„Seien Sie unbesorgt, die Kollegen in Colombo bekommen das schon hin. Wir
werden uns nach Ihnen erkundigen. Auf Wiedersehen und alles Gute, Simon.“
„Auf Wiedersehen, Richard und Jennie. Vielen Dank! Ich verdanke Ihnen mein
Leben, das werde ich nie vergessen. Wenn Sie nicht gewesen wären…“
„Dann hätten Ihnen andere geholfen“, warf Richard rasch ein. „Sechs Mediziner
in einer Gruppe – besser hätten Sie es gar nicht treffen können.“
Die Sonne versank schon hinter den Hügeln am See von Kandy, als Richard und
Jennie vor dem Krankenhaus vorfuhren. Jennie hatte den größten Teil der Fahrt
hindurch geschlafen, den Kopf an Richards Schulter gelehnt. Sie schreckte auf,
als der Fahrer die Handbremse anzog.
„Möchtest du dich erst noch duschen und umziehen?“ fragte Richard.
„Erst? Erwartest du etwa, daß ich heute abend Dienst tue?“
„Ich fürchte, es geht nicht anders. Wir haben morgen vormittag eine lange OP
Liste. Wir müssen uns von Mike berichten lassen, wie das Wochenende verlaufen
ist.“
„Sklaventreiber“, maulte Jennie und stieg aus. Sie fühlte sich müde und
zerschlagen, aber im Grunde freute sie sich auf die Arbeit.
Richard hatte bereits das Krankenhaus betreten.
Laut Operationsliste für den folgenden Vormittag würde Richard zusammen mit
einem einheimischen Arzt arbeiten, während Mike und Jennie im zweiten OPSaal
operieren sollten.
Jennie war ein bißchen nervös, denn sie hatte Mike noch nie assistiert, aber im
Verlauf des Vormittags beruhigte sie sich. Mike arbeitete konzentriert und hatte
auch gar keine Zeit für anzügliche Bemerkungen oder gar Annäherungsversuche.
Nachdem der letzte Patient in den Aufwachraum gefahren worden war, streifte
Mike Kappe, Maske und Kittel ab, warf alles in den Wäschekorb und nahm
Jennies Arm.
„Gut gemacht, Kleines! Darf ich Sie von Ihrem Podest heben?“
„Nicht nötig.“ Jennie schüttelte seine Hand ab.
„Ich weiß, was Sie jetzt brauchen, mein Kind: ein ordentliches Mittagessen. Ich
kenne da ein kleines Restaurant…“
„Mike, wann werden Sie begreifen?“ Jennie wollte noch mehr sagen, aber gerade
in diesem Augenblick trat Richard ein.
„Alles in Ordnung?“ erkundigte er sich.
„Selbstverständlich“, erwiderte Mike.
„Bei Ihnen auch, Dr. Warner?“
„Ja, danke“, bestätigte Jennie.
Sie verließ rasch den Raum, denn sie wollte eine Auseinandersetzung vermeiden.
Doch als sie im Vorbereitungsraum stand, fragte sie sich plötzlich: Warum
eigentlich nicht? Warum sollte ich nicht mit Mike zu Mittag essen? Zumindest
sieht Richard dann, daß ich meine eigenen Wege gehe. Es ist heller Tag, die
Restaurants sind voll, da muß Mike sich benehmen. Vielleicht ergibt sich die
Gelegenheit, ihm ein für allemal zu sagen, daß ich von ihm in Ruhe gelassen
werden will.
Sie wollte gerade zurückgehen, da betrat Mike den Vorbereitungsraum.
„Ich habe es mir überlegt, ich gehe mit Ihnen essen“, sagte sie rasch und sah ihn
fest an. „Welches Restaurant hatten Sie im Sinn? Mehr als eine Stunde kann ich
nämlich nicht erübrigen, ich habe heute nachmittag alle Hände voll zu tun.“
Der Kellner im Lake View Hotel führte Jennie und Mike an einen Tisch am
Fenster. Im Geist klopfte Jennie sich auf die Schulter: Gut gemacht, das war die
richtige Entscheidung!
Sie nippte an ihrem alkoholfreien Cocktail aus tropischen Fruchtsäften, ließ den
Blick über die herrliche Landschaft schweifen und dachte, wie schön es wäre,
wenn jetzt nicht Mike, sondern Richard ihr gegenübersäße.
„Kommen Sie häufiger her?“ fragte sie und begann, ihre Consomme zu löffeln,
die der Kellner gerade serviert hatte.
„Das kann man wohl sagen! Das Restaurant liegt nahe genug beim Krankenhaus.
Wenn der Chef mich rufen läßt, bin ich in wenigen Minuten da. Manchmal ist er
ein richtiger Sklaventreiber. Als er aus Nuwara Eliya zurückkam, hat er nur an
mir herumgemäkelt. Was ist bei euch passiert? Haben Sie ihn auflaufen lassen?
Ich kam mir vor wie ein Galeerensträfling.“
„Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, wie Sie mit der Stationsleitung
zurechtkamen, und war deshalb schlecht gelaunt“, gab Jennie zu bedenken. „Sie
hatten sich neulich übrigens geirrt. Ich meine, in der Sache mit dem Mädchen
und Richard an dem Londoner Krankenhaus. Ich habe Richard danach gefragt. Er
hat mir alles erzählt: Die Schuld lag ausschließlich bei der Patientin.“
„Klar, was sollte er sonst sagen?“ Mike legte den Löffel ab, stützte die Ellenbogen auf und musterte Jennie aus zusammengekniffenen Augen. Sie fröstelte unter seinem Blick. Nur gut, daß es draußen hell ist, dachte sie. Ich war mutig, seine Einladung anzunehmen… vielleicht sollte man eher von Leichtsinn reden. „Ich glaube Richard aufs Wort“, sagte sie fest. Mike versuchte ihre Hand zu nehmen. Als sie sich entzog, lehnte er sich zurück und zuckte abfällig die Schultern. „Sie sind vernarrt in diesen Mann. Wollen Sie sich die Karriereleiter nach oben schlafen?“ Jennie warf ihre Serviette auf den Tisch, schob ihren Stuhl heftig zurück und stand auf. Der Stuhl fiel um. Glücklicherweise saß niemand hinter ihr. Ein Kellner eilte herbei. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Madame?“ „Danke, nein. Ich gehe.“ Jennies Stimme klang beherrscht. Mit hoch erhobenem Kopf verließ sie den Speisesaal. Erst als sie am See entlang zum Krankenhaus zurückging, brach sich die Empörung Bahn, und sie bebte am ganzen Körper. Sie ging auf ihr Zimmer, duschte und zog sich um. Erst dann hatte sie das Gefühl, die unerfreuliche Szene mit Mike hinter sich zu haben. Er mag ja ein guter Arzt sein, dachte sie, als sie durch den Garten zum Krankenhaus zurückging. Als Mann dagegen ist er unberechenbar und tendenziell gewalttätig. Ich muß mich vor ihm in acht nehmen. Als sie durch den Eingang der Notaufnahme die Klinik betrat, wurde ein Rollwagen an ihr vorbeigeschoben. „Sriyani! Was ist denn nun wieder passiert?“ rief Jennie erschrocken und nahm die Hand des Mädchens. 1 „Sie hat im Garten gespielt, ist gestolpert und hat sich den rechten Fuß verletzt“, antwortete die Mutter für ihre Tochter. So ein Pech, dachte Jennie und betrachtete den angeschwollenen Fuß des Kindes. „Wir röntgen sofort“, wies sie den Sanitäter an. Wenig später lag das Mädchen auf dem Röntgentisch, und wiederum einige Minuten später hielt Jennie die Aufnahmen gegen das Licht. „Vier Mittelfußknochen! Wir legen dich in einen Gehgips, Sriyani, dann kannst du bald wieder laufen. Die nächsten Tage mußt du allerdings bei uns bleiben, bis wir wissen, ob alles in Ordnung ist.“ In diesem Augenblick kam Richard herein. Bevor er sich Sriyani zuwandte, ließ er Jennie wissen, es sei nicht hinzunehmen, wenn seine beiden Kollegen ohne Ankündigung das Klinikgelände verließen. Im übrigen erwarte er, daß Jennie sich jetzt um die Frischoperierten kümmere. Ohne Kommentar verließ sie den Raum. Nachdem sie auf der orthopädischen Männerstation nach dem Rechten gesehen hatte, eilte sie in den Gipsraum, wo Sriyani saß und darauf wartete, daß der Gips trocknete. Jennie ließ einen Pfleger mit einem Rollstuhl kommen und begleitete das Mädchen auf die Kinderstation. Schwester Katia hatte an diesem Nachmittag besonders viel zu tun, deshalb bot Jennie an: „Machen Sie nur weiter, Schwester. Ich bleibe gern bei Sriyani, ich möchte ohnehin mit ihrer Mutter reden.“ Sie hatte nämlich schon bei der Begrüßung gespürt, daß Sriyanis Mutter Unterstützung brauchte. Die arme Frau litt mindestens so sehr wie ihre Tochter. Jennie setzte sich zu Sriyani auf die Bettkante und legte der Mutter behutsam eine Hand auf den Arm. „Es ist schwer für Sie, das kann ich gut verstehen“, begann sie. „Verlieren Sie nicht die Hoffnung! Bald hat Sriyani diese Krankheit hinter sich, und sobald sie
erwachsen ist, kann sie ein normales Leben führen.“ „Sie wird niemals ein normales Leben führen… Sie darf nicht heiraten.“ Die Frau entzog Jennie ihren Arm und maß sie mit einem flammenden Blick. „Das habe ich ihr auch schon gesagt“, fuhr sie gleich darauf beherrscht fort. „Sie ist zwar erst neun Jahre alt, aber sie muß begreifen, daß sie keine Kinder auf die Welt bringen darf, die so leiden würden, wie sie gelitten hat.“ In Jennies Kopf schrillten die Alarmglocken. Dieses Argument kannte sie, das hatte auch ihre Mutter gebraucht. Wie ihre eigene Mutter war auch Sriyanis Mutter falsch informiert und deshalb auf dem Weg, ihrem Kind in bester Absicht unendliches Leid zuzufügen. Jennie dachte nach. Sie suchte nach den richtigen Worten, um Sriyanis Muter von ihrem Irrtum zu überzeugen. Sie war so konzentriert, daß sie nicht bemerkte, wie Richard den Krankensaal betrat. „Sriyani leidet an einer Krankheit, die mit Beginn der Pubertät abebbt“, sagte sie schließlich ernst. „Dann ist ihr Leiden ausgestanden. Ich kann mir vorstellen, wie schwer die vergangenen Jahre für sie waren, aber Ihr Kind hat ein normales Leben vor sich. Vor allem aber: Diese Krankheit ist nicht erblich! Sriyanis Kinder werden nicht…“ „Sriyani wird keine Kinder haben“, unterbrach die Frau Jennie heftig. „Sie wird nicht heiraten. Dieses Versprechen habe ich ihr abgenommen.“ „Aber sie ist doch noch ein Kind“, wandte Jennie ein. Sie wußte, sie bewegte sich auf gefährlichem Grund. Sie durfte sich keine Gefühlsausbrüche leisten, aber sie mußte der Frau klarmachen, wie sehr sie selbst unter dem Irrtum ihrer eigenen Mutter gelitten hatte, damit Sriyanis Mutter begriff, was auf dem Spiel stand. „Ich wurde mit einem Klumpfuß geboren. Meine Mutter dachte, diese Behinderung sei erblich, aber das stimmt nicht. Ich erfuhr das erst, als ich mit dem Medizinstudium begonnen hatte. Ich war unbeschreiblich glücklich, denn plötzlich wußte ich, daß ich heiraten und Kinder haben durfte, und das war, als hätte man ein vernichtendes Urteil von mir genommen. Machen Sie Ihrer Tochter das Leben nicht schwer! Lassen Sie sie unbeschwert heranwachsen und frei entscheiden, wie sie leben will.“ „Haben Sie geheiratet, Frau Doktor?“ fragte die Frau. „Noch nicht, aber wenn die Zeit reif ist und wenn ich den richtigen Mann treffe…“ Sie brach ab, denn sie spürte plötzlich, daß jemand im Raum war. Als sie sich umdrehte, begegnete sie Richards Blick. „Ich übernehme jetzt hier, Dr. Warner“, sagte er ruhig. „Bitte gehen Sie auf die orthopädische Männerstation zurück und beenden Sie dort Ihre Arbeit.“ Wortlos stand Jennie auf. Sie fühlte sich gemaßregelt. Sie wußte natürlich, daß sie sich sehr weit vorgewagt hatte, aber sie fand das gerechtfertigt… gerechtfertigt in Sriyanis Interesse. Aber es gab noch etwas anderes, was ihr Sorgen machte: Sie hatte in Richards Gegenwart bestätigt, wie wichtig ihr Ehe und Familie waren. Jetzt sind wir also wieder Lichtjahre voneinander entfernt, dachte sie traurig. Und ich hatte gehofft, wir könnten doch noch zueinanderfinden. Vor der Tür zur Männerstation blieb sie stehen und atmete tief durch. Nimm dich zusammen und vergiß deine persönlichen Angelegenheiten, ermahnte sie sich. Deine Patienten haben Vorrang. „Der Chef will Sie sprechen.“ Auf Mikes Gesicht lag ein hämischer Ausdruck. Er beobachtete Jennie, die schon seit längerem versuchte, den Streckverband eines Frischoperierten besser einzustellen. „Ich mache hier fertig, dann…“
„Er will Sie sofort sehen. Anscheinend haben Sie etwas angestellt. Fragen Sie mich nicht, worum es geht. Lassen Sie, ich mache das hier, das übersteigt ohnehin Ihre Körperkräfte.“ Mit einem Ruck, der den Patienten vor Schmerz zusammenzucken ließ, regulierte er den Streckverband. Dann drehte er sich zu Jennie um und flüsterte: „Beeilen Sie sich, lassen Sie den Boß nicht warten. Ich nehme Ihnen Ihren Abgang von vorhin übrigens nicht übel. Ich mag kernige Frauen.“ Wortlos verließ Jennie den Raum. Dieser Mann ist unverbesserlich, dachte sie. Was hat Richard mit mir zu bereden? überlegte sie, während sie über den Flur eilte. Wie er mich vorhin angesehen hat, das war nicht gerade freundlich und vielversprechend. Es paßt ihm bestimmt nicht, daß ich die Rolle der persönlich unbeteiligten Ärztin verlassen und einer Angehörigen von meiner eigenen Problematik, von meinen Gedanken und Vorstellungen erzählt habe. Aber was sollen die Vermutungen? In wenigen Minuten werde ich wissen, was er mir zu sagen hat. Richard saß am Schreibtisch, als sie sein Büro betrat. Er bat sie, im Sessel gegenüber Platz zu nehmen. Jennie setzte sich und faltete die Hände im Schoß, denn ihre Finger zitterten. „Weshalb wolltest du mich sprechen?“ fragte sie scheinbar gelassen. „Ich wollte dir sagen, daß du die Situation heute nachmittag sehr gut bewältigt hast. Dieses Gespräch mit Sriyanis Mutter hätte kritisch werden können.“ „Du bist einverstanden mit dem, was ich gesagt habe?“ fragte Jennie ungläubig. „Ich dachte, du würdest mir deswegen jetzt eine Generalpredigt halten. Vorhin schien mir, du seist ganz und gar nicht einverstanden.“ „Nun ja…“ Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte. „Ich bin nicht in allen Punkten einverstanden. Du bist eine gute Ärztin, Jennie, aber für die Zukunft empfehle ich dir, Beratungsgespräche den Experten zu überlassen. Wir haben an unserem Haus ein gutes Team dafür.“ „Aber ich finde, Erfahrungen aus erster Hand sind viel eingängiger“, wandte sie ein. „Erfahrungen aus erster Hand?“ Es war ihm anzuhören, wie anmaßend er diese Worte fand. Gefaßt fuhr er jedoch fort: „Es ist dir ja nicht unbekannt, daß Ärzte mit ihren Patienten einen sachlichen Umgang pflegen sollten. Du kannst nicht alle deine persönlichen Erfahrungen in die Behandlung einfließen lassen.“ „Wie reimt sich diese Aussage mit deinem Umgang mit jugendlichen Patientinnen?“ fragte Jennie scharf. Sie wollte seine Kritik nicht widerspruchslos hinnehmen, vor allem, da er sich schließlich auch widersprüchlich verhielt. „Dein Erlebnis mit Becky hat dich so mißtrauisch gemacht, daß du dich ohne Anstandsdame nicht mehr in die Nähe eines jungen Mädchens wagst.“ Alles Blut wich aus seinen Wangen. Jetzt bin ich zu weit gegangen, dachte sie. „Das ist etwas anderes“, entgegnete er. „Dieses Verhalten rührt aus einer unerfreulichen Erfahrung, aus der ich viel gelernt habe: Man darf die Einbildungskraft junger Mädchen keinesfalls unterschätzen.“ Langsam stand er auf und ging ans Fenster. Jennie betrachtete seinen breiten Rücken und entschuldigte sich in Gedanken dafür, daß sie das leidige Thema wieder hervorgeholt hatte. Andererseits hatte er ihr kaum eine Wahl gelassen – selbstgerecht und verbohrt, wie er sich ihren Überzeugungen gegenüber zeigte. „Auch ich habe viel aus meinen Erfahrungen gelernt. Kannst du dir vorstellen, wie ich als junges Mädchen gelitten habe, als meine Freundinnen von ihrer Zukunft mit Ehemann und Kindern schwärmten?“ „Es wundert mich, daß du überhaupt studiert hast“, warf er bissig ein. Heftig
drehte er sich zu ihr herum. Seine Augen sprühten Funken. „Im Studium erfuhr ich die Tatsachen“, erwiderte Jennie nicht weniger heftig. „Daraufhin habe ich beschlossen, beides zu erleben, Karriere und Kinder. Jetzt allerdings…“ Sie brach ab. Wir führen eine fachliche Auseinandersetzung, sagte sie sich. Das ist nicht der Augenblick, ihm einzugestehen, daß dieser Traum in weiter Zukunft liegt und daß ich in der Gegenwart leben will. Wenn Richard mit meiner Zukunft auch nichts zu tun haben will, so können wir doch jetzt Liebhaber sein. Ich will die letzten Wochen in Kandy nicht in diesem nervenzerreißenden Schwebezustand verbringen. „Aber jetzt?“ fragte er nach. Seine Stimme klang sanft. Ganz langsam durchquerte er den Raum, bis er vor Jennie stand. Sie schluckte schwer, aber sie wich seinem Blick nicht aus. „Sag mir, was jetzt ist, Jennie“, bat er mit belegter Stimme und nahm ihre Hände. Er ahnte, welchen Kampf sie mit sich ausfocht. „0 Jennie“, flüsterte er. „Ich sehne mich so sehr nach dir, aber ich will deinen Traum nicht gefährden. Du bist so jung und unschuldig und…“ Jemand klopfte an die Tür. Jennie entzog Richard ihre Hände. „Ich bitte um Entschuldigung für die Unterbrechung“, sagte Mike mit einem boshaften Unterton. „Ich brauche Ihre Einschätzung, Sir.“ Jennie spürte die Heimtücke hinter Mikes höflichem Ton. Früher oder später macht er uns Ärger, dachte sie und es schauderte sie. „Ich komme gleich“, antwortete Richard. Als Mike in der halb geöffneten Tür stehenblieb, setzte er schroff hinzu: „Schließen Sie die Tür bitte hinter sich.“ Jennie atmete auf, als sie wieder allein waren. Richard setzte sich an seinen Schreibtisch. „Laß uns noch einmal zur Sache kommen: Beratungsgespräche solltest du den dafür ausgebildeten Kollegen überlassen, mehr wollte ich dir nicht sagen, Jennie. Ich wollte unsere private Beziehung nicht mit der beruflichen vermischen.“ Er machte eine lange Pause und sah sie eindringlich an. „Kommst du heute abend mit mir essen, wenn ich eine Vertretung für uns finde?“ „Ja, gern.“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. „Gegen neun Uhr müßten wir beide fertig sein. Mike soll übernehmen.“ Wieder schwieg er und musterte sie. „Wie war eure Verabredung?“ „Diese Erfahrung brauche ich nicht zu wiederholen“, erwiderte sie vielsagend. „Ich hatte dich gewarnt. Wenn dir etwas zugestoßen wäre…“ Er stand auf, kam zu ihr und legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Jennie, du bist eine so begehrenswerte Frau. Ich möchte mit dir ins Bett gehen und dich die ganze Nacht lang lieben, aber dann fällt mir ein, daß du dich für deinen wunderbaren Traum aufhebst, und ich halte mich zurück.“ „Laß es, Richard“, sagte Jennie zu ihrer eigenen Verwunderung ganz ruhig. „Wir haben so wenig Zeit. Der Traum kann sich erst in ferner Zukunft erfüllen – leben müssen wir heute.“ Sie sah ihm in die Augen und erkannte darin das gleiche Verlangen, das auch sie erfüllte. Er küßte sie unendlich zärtlich auf den Mund. Als er sie zu sich hochzog und fest an sich drückte, wußte sie, daß auch er vor Erregung und Verlangen brannte. Es war sicher: An diesem Abend würden sie miteinander schlafen, und alles würde gut sein. „Ich möchte dich sehen“, flüsterte er. „Du bist schön, so schön… Wollen wir das Abendessen ausfallen lassen und uns ein Sandwich aus der Kantine holen… für später?“ „So eine merkwürdige Unterredung habe ich noch nie geführt“, erwiderte Jennie
lächelnd. „Erst bläst du mir den Marsch, dann nimmst du mich in die Arme.“
Wieder klopfte es an die Tür.
„Neun Uhr“, flüsterte Richard.
10. KAPITEL Jennie sah sich in Richards Apartment um. Im Vergleich mit ihrem Zimmer bewohnte er luxuriöse Räume. „Es hat schon Vorteile, wenn man Konsiliararzt ist“, sagte sie anzüglich und strich mit den Fingerspitzen bewundernd über die geschnitzten Verzierungen einer singhalesischen Truhe. Richard lachte. „Immerhin ist das hier mein Zuhause! Ich hätte mir auch ein Haus irgendwo in der Stadt suchen können, wie es sich für einen Mann von meinem Stand gehört, aber ich zog es vor, auf dem Krankenhausgelände zu wohnen. Im Notfall kann man mich auf diese Weise jederzeit erreichen. Da ich keine Familie habe, reicht dies Apartment meinen Ansprüchen vollkommen.“ Bei den letzten Worten Mang seine Stimme gepreßt. Jennie wußte, daß ihr Gespräch sich auf unsicherem Grund bewegte, deshalb ging sie auf seine Bemerkung auch nicht weiter ein. Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Der Ausblick war ähnlich wie von ihrem Zimmer aus, aber mehr Ähnlichkeit hatten ihre Wohnungen auch nicht. Sie drehte sich wieder um. Richards singhalesischer Bediensteter hatte inzwischen verschiedene Stehlampen eingeschaltet, die den Salon in ein sanftes, indirektes Licht tauchten. Durch eine Türöffnung konnte Jennie in einen anderen Raum sehen: das Schlafzimmer. Ihr Herz begann zu rasen. Rasch setzte sie sich auf das weiße Sofa aus Nappaleder und nahm dankbar das Glas Champagner entgegen, das Richard ihr reichte. „Weißt du, ich war noch nie zuvor mit jemandem verabredet, um mit ihm ins Bett zu gehen“, sagte sie aufrichtig und nippte an dem perlenden Getränk. „Ganz ehrlich: Ich habe Lampenfieber.“ „Ach Jennie, liebste Jennie!“ Richard setzte sich neben sie auf das Sofa, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf einem niedrigen, polierten Eichentisch ab, dann nahm er sie in die Arme. „Nichts zwingt uns, heute miteinander zu schlafen. Ich will dich zu nichts überreden, was du später vielleicht bereust. Auch für mich ist die Situation neu: Ich kann es noch immer kaum glauben, daß du hier bei mir bist.“ „Ich möchte aber mit dir schlafen, Richard“, wandte Jennie ein und hob den Kopf, so daß er sie küssen konnte. Er öffnete ihre Lippen und küßte sie tief. Jennie erschauerte. Unbeherrschbar mächtig wuchs die leidenschaftliche Erwartung in ihr an. Da nahm Richard sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Er legte sich zu ihr auf das einladende, weiße Bett, und während er mit einer Hand in ihren Locken spielte, versuchte er, mit der anderen die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. „Gar nicht so einfach“, sagte er schmunzelnd. „Laß mich helfen.“ Jennie richtete sich halb auf und knöpfte sein Hemd auf. Ihre Kleidung lag in einem Haufen auf dem Teppich. Richard zog Jennie fester an sich. Sie spürte seinen Atem warm und feucht auf ihrer Haut, während seine Lippen ihren Körper liebkosten und seine Hände in ihr eine leidenschaftliche Erregung erweckten, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie fühlte eine Sehnsucht in sich brennen, die nur Richard stillen konnte. Sie spürte sein Drängen, und mit einem leisen Stöhnen öffnete sie sich ihm. Sie schmiegte sich so fest an ihn, als wollte sie mit ihm verschmelzen. Als er schließlich zu ihr kam, hielt sie den Atem an, so unbeschreiblich, so überwältigend waren die Empfindungen, die er in ihr auslöste, bis sie gemeinsam einen berauschenden Höhepunkt erreichten.
Anschließend lag sie in seinem Arm, bis ihr Atem sich nach dieser herrlichen Anstrengung beruhigt hatte. „Ich war der erste, nicht wahr?“ fragte er unendlich zärtlich. Jennie nickte stumm. „Wolltest du dich aufheben?“ Sie drehte den Kopf und sah ihm in die Augen. „Und wenn es so wäre? Spielt es eine Rolle?“ „Was meinst du?“ „Mach dir keine unnützen Sorgen, Richard. Ich bin nicht ganz unerfahren, ich habe nur den letzten Schritt bisher noch nie getan. Ich hatte immer das Gefühl…“ „Du wolltest es mit dem Mann erleben, den du heiraten würdest, nicht wahr?“ „Ja. Ich weiß, es klingt ein bißchen altmodisch, aber ich hatte wirklich diese idealistische Vorstellung. Du weißt ja, wie wichtig Ehe und Kinder für mich sind.“ Jennie sprach langsam und nachdenklich. „Aber wir leben in der Gegenwart, und heute wollte ich mit dir Zusammensein.“ Richard zog sie fester an sich. „Dann hat dein Traum von Liebe, Ehe und Kindern keinen Schaden genommen?“ „O nein, ganz bestimmt nicht.“ Er küßte sie so sanft und zärtlich, daß ihr fast die Tränen kamen. Nein, er hatte ihren Traum nicht zerstört, denn sie hatte ja den wunderbarsten Mann der Welt kennengelernt. Ihr Traum hatte sich nur verändert: Jetzt wollte sie unter allen Umständen den Rest ihres Lebens mit Richard verbringen – und das war aussichtslos, wie sie wußte. Er wünschte sich nichts als eine unbeschwerte Affäre, das war ihm genug. Es blieb ihr nichts übrig als sich anzupassen und zu genießen, was sich ihr bot und so lange es dauerte. Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Richard stöhnte und meldete sich. „In Ordnung, Schwester, ich bin gleich bei Ihnen.“ Er legte auf. „Verkehrsunfall.“ Sanft küßte er Jennie auf die Lippen, dann stand er auf und griff nach seinen Kleidern. „Soll ich mitkommen?“ „Ich komme schon zurecht, es ist anscheinend nur ein Verletzter. Aber da Mike nicht auf den Pieper antwortet, wie die Schwester sagte, und du auch nicht zu erreichen warst, wäre es wohl ganz gut, wenn du noch auf die Station kämst. Laß dir Zeit und geh zum Hintereingang aus dem Haus.“ Er hatte sich inzwischen angezogen, stand an der Tür und warf Jennie eine Kußhand zu. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, ließ Jennie sich in die Kissen sinken. „Wir müssen uns diskret verhalten“, sagte sie laut. Ich bin nur ein erfreuliches Abenteuer für ihn. Will ich das? Nein, ich will mehr, viel mehr. Kurz entschlossen stand sie auf und ging ins Badezimmer. Es war weiß gekachelt und hatte vergoldete Armaturen über der Badewanne und dem Waschbecken. Auch die flauschigen Handtücher und die exquisite Seife atmeten einen Hauch von Luxus. Insgeheim erleichtert vermerkte Jennie, daß die ganze Atmosphäre ohne Einschränkung männlich war. Kein Hinweis auf eine Frau… Sei nicht so besitzergreifend, tadelte sie sich. Das paßt nicht zu einer unbeschwerten Affäre. Wie stellt man das eigentlich an, eine unbeschwerte Affäre zu haben? fragte sie sich gleich darauf. Ich habe damit keine Erfahrung, und meine Gefühle für Richard sind einfach übermächtig. Sie füllte die Wanne, stieg in das heiße Wasser, schloß die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. Du brauchst ihn ja außerhalb des Dienstes nicht mehr zu treffen, sagte eine innere Stimme. Dann wird ihm bald klar, daß er ohne dich nicht leben kann. Unfug, antwortete sie sich selbst. Innerhalb von zwei Tagen hätte er mich
vergessen. Nein, ich muß mich mit der zweitbesten Alternative zufriedengeben. So lange es hält, haben wir eine Affäre, und wenn es vorbei ist, sagen wir uns einfach „adieu“. Keine Gefühlsaufwallungen, keine Tränen. Sie stieg aus der Wanne und hüllte sich in ein flauschiges Badetuch. Werde nur nicht sentimental, wenn es wirklich soweit ist, ermahnte sie sich selbst. Wir werden einen klaren Schnitt setzen. Andere Leute schaffen das auch, warum sollte ich es nicht fertigbringen? Als Jennie kurz darauf in die Klinik kam, stand Richard über seinen Patienten gebeugt. Er blickte auf und begrüßte sie mit einem winzigen Lächeln, das jedem verraten mußte, was zwischen ihnen geschehen war. Wie sollen wir unser Verhältnis geheimhalten, wenn er mich so anlächelt? dachte sie. Mir soll es egal sein. Meinetwegen dürfen es alle wissen. Richard legt die Spielregeln fest, wenn er es so will… „Wir haben es mit mehreren gebrochenen Rippen und Schnittverletzungen durch Splitter der Windschutzscheibe zu tun, Dr. Warner“, sagte Richard in neutralem Ton. „Bitte helfen Sie mir beim Bandagieren und versorgen Sie anschließend die Schnitte.“ Der Patient war ein junger, singhalesischer Taxifahrer, der seine Fahrgäste zum Glück gerade abgesetzt und sich auf der Rückfahrt befunden hatte, als sein Wagen ins Schleudern kam und in eine Böschung rutschte. Durch den Aufprall auf das Steuerrad hatte er sich die Rippen gebrochen. Jennie arbeitete Richard zu. Sie standen dabei sehr nahe beieinander, und das kostete sie all ihre Selbstbeherrschung. Sie war geradezu erleichtert, als er schließlich den Raum verließ und sie die Schnittverletzungen versorgen konnte. Anschließend begleitete sie ihren Patienten auf die Männerstation, legte seine Karte an und verordnete ihm ein Schmerzmittel. Der junge Mann bedankte sich mit rührender Höflichkeit: „Sie sind so nett zu mir, Frau Doktor! Es tut mir leid, daß ich Sie mitten in der Nacht gestört habe.“ „Das ist schon in Ordnung, Mumata. Das gehört dazu, wenn man Arzt sein will.“ Das gehört dazu! wiederholte sie, während sie durch den stillen Krankenhausgarten zu ihrem Zimmer ging. Gehört es auch dazu, sich hoffnungslos in den Chef zu verlieben? Hoffnungslos ist es wirklich. Unsere Liebe hat keine Zukunft. Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Im Dienst fand Jennie mit Richard einen Ton, der die Mitte zwischen kühler Fachlichkeit und Vertrautheit traf. Anfangs glaubte sie, ihre Kollegen über ihr Verhältnis mit ihrem Chef täuschen zu können, doch bald sah sie ihren Irrtum ein. Jedes Täuschungsmanöver mußte scheitern, denn schließlich verbrachten sie jede freie Minute miteinander und wurden dabei natürlich von den Mitarbeitern gesehen. Einmal sahen sie sich abends eine Vorführung der Tanzgruppe aus Kandy an. Die Tänzer in ihren kostbaren Kostümen bewegten sich zu den fremdartigen Klängen der singhalesischen Musik wie Gestalten aus einer anderen Welt. Ein andermal fuhren Richard und Jennie zum DegaldoruwaHöhlentempel mit seinen herrlichen Wandgemälden, die den Alltag der Bevölkerung vor etlichen Jahrhunderten wiedergaben. Selbstverständlich besuchten sie auch eine Teeplantage, damit Jennie ihre englischen Teebeutel durch etwas Besseres ersetzen konnte. „Das ist Geschmack“, seufzte Richard, als sie nach diesem Ausflug die neuen Sorten probierten. Jennie lächelte. Sie saßen in Richards Küche und tranken den Tee aus kleinen Porzellantassen, die er sich einmal in Colombo gekauft hatte. „Diese Art der Teezubereitung ist ein bißchen aufwendiger und zeitraubender als einen Teebeutel in heißes Wasser zu tunken, aber ich werde mich daran
gewöhnen“, bestätigte sie. „Es bleibt mir ja schließlich auch nichts anderes übrig,
denn Teebeutel scheint es in diesem Land nicht zu geben.“
„Denen wirst du erst wieder zu Hause begegnen“, stimmte Richard zu.
Jennies Lächeln erlosch. Sie wandte den Blick ab. Noch in der laufenden Woche
mußte sie London anrufen, denn man erwartete ihre Rückmeldung einen Monat
vor Ablauf ihres Vertrages mit dem Lakeside Hospital. Sie würde sich doch
zurückmelden, oder? Sie hatte keine Wahl, es sei denn, sie fände eine andere
Anstellung in Sri Lanka.
Das sähe aus, als würde ich Richard nachlaufen, dachte sie. Wenn ihm daran
gelegen wäre, daß ich bleibe, hätte er etwas in die Wege leiten können. Ich habe
auch meinen Stolz, ich werde ihn nicht darum bitten.
„Ich muß leider noch einmal in die Klinik zurück und mich um die
Neueinweisungen kümmern“, sagte Richard bedauernd. „Wartest du hier auf
mich?“
Jennie schüttelte den Kopf.
„Ich bin müde, ich möchte früh schlafen.“
Er nahm sie in die Arme und wiegte sie. Sie spürte seinen Duft und schloß
sehnsüchtig die Augen.
„Verlange ich zuviel von dir?“ flüsterte er. „Im Dienst kommst du kaum zum
Luftholen, unsere Unternehmungen sind oft auch anstrengend… und unsere
herrlichen Nächte… Uns bleibt so wenig Zeit.“
„Ja, uns bleibt wenig Zeit“, bestätigte Jennie und machte sich frei. Woran liegt
das wohl? dachte sie bitter. Wir könnten ein ganzes Leben vor uns haben. Du
müßtest es nur wollen.
In den folgenden Tagen war sie betont kühl. Falls Richard das auffiel, sagte er
jedenfalls nichts dazu. Jennie versuchte, Abstand zu gewinnen, sich an den
Gedanken zu gewöhnen, daß ihre Affäre sich dem Ende näherte, wie das eben bei
perspektivlosen Verhältnissen früher oder später so ist.
Irgendwann in dieser Zeit arbeitete sie gerade in der Ambulanz, als Ravindralal
mit seinen Angehörigen in die Klinik kam.
„Die Adoptionsvorbereitungen sind fast abgeschlossen, es gab keinerlei
Probleme“, teilte die künftige Mutter Jennie stolz mit.
„Das sind gute Nachrichten.“ Jennie freute sich aufrichtig.
Der kleine Junge ließ seine offensichtlich heißgeliebte neue Mutter nicht los, als
Jennie seine andere Hand nahm und mit ihm zusammen zu Richard ging.
Sie mußten kurz warten, bis Richards Patient das Sprechzimmer verlassen hatte.
Ravindralal plauderte vergnügt und erzählte, wie schön es in seinem neuen
Zuhause sei.
Jennie blieb bei der jungen Familie, während Richard die Füße des Jungen
untersuchte und ihn sehr für seine Fortschritte lobte.
„Unglaublich, was wenige Monate verändern können“, sagte Jennie, nachdem die
Familie wieder gegangen war.
Richard schwieg und sah sie nachdenklich an. Schließlich fragte er rauh: „Mußt
du dich nicht wieder um deine Patienten kümmern?“
Sie kannte diesen Ton. Sie ergriff die Flucht, bevor sie ihre professionelle
Fassung verlieren und sich Richard in die Arme werfen konnte.
Zu ihrer Überraschung fand sie Sriyanis Akte auf ihrem Schreibtisch vor.
„Das dürfte ein Irrtum sein, Schwester“, sagte sie. „Die Patientin geht zu Dr.
Farraday.“
„Die Mutter hat ausdrücklich darum gebeten, Sie zuerst zu sprechen“, erwiderte
die Krankenschwester.
Jetzt bin ich gespannt, dachte Jennie. Sie nahm sich vor, das Gespräch diesmal
streng auf medizinische Themen zu begrenzen.
Sie ging Mutter und Tochter entgegen und bat sie, auf den Stühlen vor ihrem
Schreibtisch Platz zu nehmen.
„Du gehst einwandfrei, Sriyani. Dein Fuß ist anscheinend gut geheilt“, sagte sie.
Das Mädchen strahlte.
„Ich habe mir schon lange nichts mehr gebrochen. Mutter meint, vielleicht werde
ich erwachsen und die Krankheit ist vorbei.“
„Das wäre schön. Ich würde es dir von Herzen gönnen.“ Jennie überflog die Akte
und sah Sriyanis Mutter an. „Ihre Tochter ist zwar erst zehn Jahre alt, aber
heutzutage kommen die Kinder früher in die Pubertät. Wie ich Ihnen neulich
erklärte, ist für Sriyani damit das Schlimmste überstanden.“
Die Mutter schien nach Worten zu suchen. Endlich sprudelte es aus ihr heraus:
„Ich habe nachgedacht, Frau Doktor… Ich meine darüber, daß Sriyani ganz
normal Kinder haben kann. Anfangs konnte ich es nicht glauben. Ich bin froh,
daß Sie mich aufgeklärt haben. Sriyani ist ja mein einziges Kind, und ich hätte so
gern Enkelkinder.“
Das Mädchen sah verschämt zum Fenster hinaus.
„Können wir jetzt zu Dr. Farraday gehen?“ fragte sie rasch.
„Selbstverständlich. Ich will nur sehen, ob er Zeit hat.“ Jennie winkte der
Krankenschwester ab. „Ich gehe selbst, ich habe noch etwas mit ihm zu
besprechen.“
Richard saß am Schreibtisch und las in einer Patientenakte, während die
Krankenschwester hinter dem Vorhang dem Patienten beim Auskleiden half.
„Sriyani und ihre Mutter möchten dich sprechen. Sie sind in meinem Zimmer“,
sagte Jennie.
„Nanu?“ Es blitzte in seinen Augen. „Normalerweise kommen sie immer zu mir.“
„Ich habe mich auch gewundert.“
„Hat Sriyanis Mutter etwas gesagt? Spielt sie immer noch Schicksal?“
„Schön, daß du darüber scherzen kannst, ich fand es nämlich neulich gar nicht
lustig. Trotzdem bin ich froh, daß ich damals die Grenzen überschritten und
meine Meinung gesagt habe… Es hat offensichtlich gewirkt.“ Sie brach ab.
„Sriyani soll als nächste hereinkommen. Ich bin jetzt für unseren Patienten
bereit, Schwester.“
Er machte sich an die Arbeit, und Jennie verließ das Zimmer.
Während der folgenden Wochen gab es im Krankenhaus derartig viel zu tun, daß
die Ärzte kaum noch Freizeit hatten. Richard lud Jennie zwar einigemal zu sich
nach Hause ein, aber sie lehnte immer mit der Begründung ab, sie sei zu müde.
Je seltener sie sich allerdings privat trafen, desto gereizter und frustrierter wurde
sie. Sie sagte sich zwar, das sei die richtige Vorbereitung auf den endgültigen
Abschied, aber zufrieden war sie damit natürlich nicht.
Sie hatte inzwischen einen weitreichenden Schritt getan: Nach langen
Überlegungen war ihr klargeworden, daß sie nicht einfach nach England
zurückkehren und weiterleben konnte wie zuvor. Ihre Liebe zu Richard hatte alles
verändert.
So telefonierte sie also mit der Krankenhausverwaltung in London und teilte mit,
sie habe eine andere Stelle im Ausland und werde nicht nach England
zurückkehren.
Das war sogar nur halb gelogen. Da sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, ihr
Gehalt in Sri Lanka auszugeben, und zusammen mit dem Ersparten in England
über ein gewisses finanzielles Polster verfügte, konnte sie ein Jahr lang ohne zu
arbeiten davon leben, wenn sie sparsam war.
Davon wollte sie Richard nichts erzählen. Sie wollte aus Kandy abreisen, ohne
eine Adresse zu hinterlassen und irgendein anderes südostasiatisches Land aufsuchen. Sie wollte viel reisen und dabei den Mann ihres Herzens vergessen. Inzwischen konnte sie sich eingestehen, daß sie ursprünglich wirklich aus einer Art jugendlicher Heldenverehrung nach Sri Lanka gekommen war. Nun hatte sie Richard kennengelernt, schätzte ihn als Kollegen und liebte ihn als den einzigen Mann, den es je in ihrem Leben geben würde. Sie hatten herrliche Stunden miteinander verbracht, Augenblicke, die sie bis an ihr Ende nicht vergessen würde. Es hat sich gelohnt, sagte sie sich. Diese Erinnerungen kann mir niemand nehmen. Jetzt muß ich nur noch lernen, ohne ihn zu leben. Am nächsten Tag schlug Richard vor, nachmittags einige Stunden frei zu nehmen und in die berühmten Edelsteinminen von Ratnapura zu fahren. „Du bist ein unerschöpflicher Fremdenführer“, neckte Jennie, als sie gegen Mittag ins Auto stiegen. „Mir wurde plötzlich klar, wie knapp die Zeit wird. Du sollst das Land nicht verlassen, ohne die beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten dieser Region zu kennen.“ Jennie wurde traurig. Ja, der Abschied kam näher. Manchmal schien es ihr, als ob auch Richard nur ungern daran dachte… Der Fahrer lenkte den Wagen in eine schmale Straße, und wenig später sahen sie auf einem weiten Feld Arbeiter, die bis zu den Knien in weicher Erde standen und diese durch flache Siebe schüttelten. „Sie durchsieben den ganzen Boden nach dem kleinsten Edelsteinsplitter“, erläuterte Richard. „Das sieht nach harter Arbeit aus“, antwortete Jennie und betrachtete teilnahmsvoll die gebückten Gestalten in ihren von der feuchten Erde durchnäßten Baumwollhosen. Sie hatte diese Gestalten immer noch vor Augen, als sie später das Edelsteinmuseum und die Verkaufsabteilung besichtigten, wo geschliffen und poliert erstrahlte, was die armen Männer dem Boden abgerungen hatten. „Ich möchte, daß du dir einen Stein zur Erinnerung aussuchst“, sagte Richard plötzlich. „Aber ich…“ „Guten Tag, meine Herrschaften!“ Ein Mann im eleganten, grauen Anzug war hinzugetreten und lud sie ein, vor einem Tisch Platz zu nehmen, unter dessen Glasplatte eine Vielzahl von Edelsteinen lag. Er erläuterte, woran man den Wert eines Edelsteins erkannte und bemaß. Für Jennie war das alles neu, denn aus Mangel an Finanzen hatte sie sich nie um Edelsteine gekümmert. Plötzlich erinnerte sie sich, daß sie ihre Wahl treffen mußte. „Handelt es sich um ein besonderes Geschenk?“ fragte der Mann im grauen Anzug. „Es ist ein Abschiedsgeschenk“, antwortete Richard. Warum mußt du mich immer wieder daran erinnern? dachte Jennie. Ich will kein Abschiedsgeschenk… Warum nicht? fragte sie sich gleich darauf. Später einmal wirst du den Stein betrachten und dich an Richard erinnern. „Ich glaube, ich möchte einen Rubin“, sagte sie ganz ruhig. „Einen Rubin zur Erinnerung.“ Sie sah auf und begegnete Richards Blick. Er betrachtete sie liebevoll. „Das ist eine gute Wahl, Jennie.“ „Denken Sie an die Fassung in einem Ring?“ fragte der Verkäufer.
„Ja. In einem Goldring“, erwiderte Richard, bevor Jennie verneinen konnte. „Wenn ich dann bitte bei Madame Maß nehmen dürfte…“ Jennie streckte dem Mann ihre Hand hin – die linke Hand, denn den rechten Ringfinger wollte sie sich freihalten… für etwas, das in weiter Ferne lag. „Er ist wunderschön!“ Sie saßen wieder im Wagen und ließen sich zu einem späten Lunch in ein kleines Restaurant fahren. Jennie hatte das Kästchen geöffnet und den Ring an den Finger gesteckt. Der Rubin fing die Strahlen der Sonne ein und leuchtete wie aus einem inneren Feuer. Nach dem Lunch schlug Richard vor, die neue Buddhastatue zu besichtigen, die auf einem Hügel oberhalb der Stadt aufgestellt worden war. Anschließend fuhren sie noch zu dem alten Tempel Maha Saman und lauschten den Musikern, die im Hof vor dem Tempel spielten. Die Sonne versank schon hinter den Hügeln, als der Wagen wieder vor dem Krankenhaus hielt. Jennie zog den Ring vom Finger und bettete ihn sorgsam auf den Samt des Kästchens. „Im Dienst kann ich ihn nicht tragen“, sagte sie fast entschuldigend, obgleich Richard das natürlich wußte. Sie sah ihm nicht in die Augen. „So habe ich es gern“, sagte Richard einige Tage später zufrieden. Gerade hatten er und Jennie ein Gespräch mit Mandy und Gordon Spencer geführt, die binnen kurzem in die Heimat zurückkehren konnten. Mandy hatte mit Hilfe eines Psychotherapeuten ihre Krise überwunden und war nun überzeugt, an der Seite ihres Mannes auch dem veränderten Leben noch viel abgewinnen zu können. „Das Leben ist es immer wert, gelebt zu werden. Ich freue mich, daß sie das begriffen hat“, entgegnete Jennie. „Du bist ja so philosophisch. Wie kommt es dazu?“ Richard blieb stehen und nahm sie bei den Schultern. Begreifst du das nicht? dachte sie traurig. Dann kann ich es dir auch nicht sagen. „Wahrscheinlich macht sich der nahende Abschied bemerkbar“, sagte sie ausweichend. „Mein Leben wird sich grundlegend ändern.“ „Du kehrst doch nur nach England zurück, heim zu Freunden und Bekannten und den Kollegen.“ Da sie schwieg, fuhr er fort: „Komm mit zu mir!“ Sie hörte sein Drängen und hätte für ihr Leben gern nachgegeben, aber sie nahm sich vor, fest zu bleiben. „Entschuldige mich, ich bin müde.“ „Du bist in letzter Zeit immer müde. Willst du mir damit etwas sagen, Jennie?“ „Ich glaube, ich ziehe den Abschied nur ein wenig vor. Es ist besser so, Richard.“ Sie trat einen Schritt zurück, und als er ihr folgen wollte, schüttelte sie energisch den Kopf. „Nein, Richard, laß mich gehen.“ Sie sah, wie verletzt er war, aber wie sollte sie ihm helfen? Verletzte er sie nicht auch jedesmal, wenn er ihrer Liebe die Zukunft verweigerte? Sie mußte sich schützen… Eilig ging sie durch den Garten zu ihrem Zimmer. Das Licht über ihrer Zimmertür brannte, wie immer, seit Richard es ihr empfohlen hatte. Nur noch wenige Meter… Sie hörte Schritte hinter sich. Wenn Richard mir nun doch nachkommt, kann ich nicht widerstehen, dachte sie. Halb lächelnd drehte sie sich um. „Richard, ich…“ Es war nicht Richard. Erschrocken schlug sie sich die Hände vor den Mund. „Aha, du dachtest, jetzt kommt der Schatz, ja?“ Mike Denvers Atem roch widerlich nach Alkohol. Er schwankte auf den Füßen und hatte Mühe, seinen Blick zu fixieren. „Ich dachte, du liegst längst mit dem Boß im Bettchen“, fuhr er gehässig fort. „Das ist ja eine ganz unerwartete Überraschung. Willst du mir nicht
einen Drink anbieten, Kleines?“
„Ich denke, Sie haben schon genug getrunken, Mike“, erwiderte Jennie streng.
„Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“
„Tu’ ich nicht!“ Breitbeinig stellte Mike sich vor sie und versperrte ihr den Weg.
„Los, Jennie, sei nicht gemein. Nur ein Tröpfchen.“
„Gehen Sie auf Ihr Zimmer und lassen Sie mich in Ruhe, Mike.“
„Nein!“ Er streckte die Hände nach ihr aus.
Jennie duckte sich, war mit einem Sprung an ihm vorbei und rannte zu ihrer Tür.
Er hatte sie eingeholt, gerade als sie den Haustürschlüssel herausholte.
„Also gut“, willigte sie ein, denn sie hoffte, ihn damit zu besänftigen. „Aber es
gibt nur eine Tasse Tee. Und lassen Sie mich los.“
Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür einen Spaltbreit und
schlüpfte ins Zimmer – doch sie war nicht schnell genug.
Mike durchschaute ihre Absicht, und bevor sie die Tür von innen angedrückt
hatte, warf er sich dagegen und schleuderte Jennie ins Zimmer.
„So leicht wirst du mich nicht los“, drohte er und kam schwankend herein.
11. KAPITEL Davor habe ich seit Wochen Angst, dachte Jennie, als sie Mike in ihrem Zimmer
gegenüberstand: Allein in der Nacht mit Mike! Ich muß aufpassen, ich darf ihn
nicht aus den Augen lassen.
Vorsichtig wich sie ihm aus und erreichte rückwärts gehend die Tür. Mit beiden
Händen umklammerte sie den Türgriff. Mike kam näher und stützte sich mit einer
Hand über ihrem Kopf an die Tür.
„Spiel nicht den Unschuldsengel“, sagte er lallend. „Damit führst du mich seit
dem ersten Tag an der Nase herum, aber das nehme ich dir nicht mehr ab…
Dabei hast du längst was mit dem Boß, gehst in seinem Schlafzimmer ein und
aus…“
„Hören Sie auf!“ unterbrach Jennie ihn heftig. „Wie können Sie es wagen, über
meine Liebe zu Richard zu lästern?“
„Liebe?“ Mike lachte höhnisch. „Du liebst ihn ja vielleicht, aber bei ihm kannst du
keine Gefühle erwarten. Der Mann ist kalt wie Eis. Heute in einem Jahr erinnert
er sich nicht einmal an deinen Namen, Kindchen. Versuch es lieber mit einem
Vollblutmann wie mir. Wir reisen beide demnächst ab, wir haben nichts zu
verlieren. Los, Jennie, sei kein Spielverderber!“
„Sie sind wahnsinnig! Verlassen Sie mein Zimmer!“
Statt einer Antwort nahm Mike sie um die Taille und zog sie an sich. Seine
Fingernägel zerkratzten ihre Haut, als er ihre Bluse aufriß. Sie ekelte sich vor
seinem Körpergeruch und vor seinem gierigen Blick.
Trotz ihrer Angst behielt sie einen kühlen Kopf. Sie wußte, daß schon manche
Frau eine drohende Vergewaltigung abwenden konnte, weil sie dem Täter
vorspielte, sich auf sein Verlangen einzulassen.
Ich muß versuchen, ihn abzulenken und vernünftig mit ihm zu reden, dachte sie.
Immerhin ist er ein intelligenter Mann, er muß doch einem Argument zugänglich
sein…
„Mike, machen Sie nicht so ein Theater“, sagte sie fest. „Wir können doch
darüber reden. Vielleicht macht es mir ja Spaß mit Ihnen, aber Sie müssen mir
eine Chance geben.“ Ganz behutsam drehte sie dabei den Türknopf.
Mike starrte aus glasigen Augen auf sie herab.
„Nimmst du mich wieder hoch?“
„Warum machen wir es uns nicht auf meinem Bett gemütlich?“ schlug Jennie
unter Aufbietung all ihrer schauspielerischen Fähigkeiten vor. Sie umklammerte
den Türgriff mit beiden Händen. Wenn Mike ihr nur ein klein wenig Raum gab,
konnte sie ein Knie hochziehen…
Er machte einen halben Schritt zurück, sie riß das rechte Knie hoch und stieß es
ihm mit aller Kraft in seine Leiste.
Er heulte vor Schmerz auf, packte sie und schleuderte sie zu Boden, dann warf er
sich über sie.
„Du Miststück! Du hast es gewollt, jetzt bekommst du es!“
Sie konnte unter seinem Gewicht kaum atmen. Er riß ihr den leichten
Baumwollrock von den Hüften, griff nach ihrem Schenkel.
Sie schrie.
Er hielt ihr den Mund zu.
Sie biß ihn in die Hand.
Er heulte auf, besah sich die verletzte Hand und schlug sie dann ins Gesicht.
Wieder schrie sie mit aller Kraft ihrer Lungen.
Die Tür ging auf, jemand kam herein. Jennie glaubte zu träumen, doch da war
Richard. Er trat nach Mike, dann riß er ihn hoch und drehte ihm einen Arm auf
den Rücken und zerrte ihn zur Tür. „Raus, Sie Untier. Wir sprechen uns morgen früh, und diesmal kommen Sie nicht so leicht davon.“ Einen Augenblick lang dachte Jennie, Mike werde sie beide angreifen, doch dann wischte er sich über seine blutenden Lippen und trollte sich. Richard schloß die Tür. „Jennie, Liebste, hat er dir etwas getan?“ „Nein, es ist gerade noch gutgegangen… du bist rechtzeitig gekommen.“ Es schauderte sie bei dem Gedanken, wovor er sie bewahrt hatte. Richard holte ihren Morgenmantel aus dem Badezimmer und hüllte sie darin ein, dann schloß er sie wieder fest in die Arme. Jennie schmiegte sich an ihn. Sie wußte, daß sie einen Schock erlitten hatte und nahm bereitwillig bei ihm Zuflucht. „Was meintest du mit ‚diesmal kommen Sie nicht so leicht davon’?“ fragte sie, nachdem der erste Schrecken überwunden war. „Ich hätte diesen Mann niemals anstellen sollen“, sagte Richard und streichelte ihr zärtlich über das Haar. „Als Student in Australien war Mike schon einmal wegen sexueller Belästigung vor Gericht. Damals hatte er einen geschickten Anwalt, der ihn herauspaukte. Seither ist in dieser Richtung nichts mehr vorgefallen, das weiß ich aus seiner Akte. Er ist zwar ein guter Arzt, aber ich werde dafür sorgen, daß er seine Zulassung verliert. Dieser Mann ist in einem Team untragbar. Wenn ich mir vorstelle, was er dir beinahe zugefügt hätte, o Liebste! Ich ging am Seeufer spazieren, da hörte ich dich schreien. Und in diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich dich für immer in meinem Leben halten will. Ich rannte über den Rasen und dachte nur eins: Hoffentlich ist es nicht zu spät…“ „Richard, was hast du da gesagt?“ „Jennie, ich kann dich nicht gehen lassen! Ich komme mit dir nach London. Ich hatte ohnehin mit einem Kollegen vereinbart, daß er mich hier für einen Monat vertritt, so kann ich dich begleiten. Wann fliegst du eigentlich?“ „Warum willst du das tun?“ flüsterte Jennie. Sie traute ihren Sinnen nicht. Richard lächelte schuldbewußt wie ein Schuljunge. „Diesen Urlaub hatte ich schon seit längerem geplant, ich hatte dir nur nichts davon erzählt. Ich wollte für uns beide noch ein bißchen Zeit herausschlagen… Ich glaube, im Grunde wollte ich unsere angebliche Affäre nicht enden lassen, aber als ich dich vorhin schreien hörte, da war es mir klar: Ich will mehr als eine Affäre mit dir, Jennie. Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Wenn du meinst, daß du es mit mir aushältst, dann bitte ich dich, mich zu heiraten. Glaubst du, du hast in deinem Traum Platz für mich? Du hast dich in den letzten Jahren sehr verändert – aber nicht so sehr, wie ich mich in den vergangenen Monaten verändert habe. Heute kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als einen Haufen Kinder, die alle aussehen wie du, meine Geliebte.“ Er drückte sie fest an sich, streichelte sie und flüsterte ihr ins Haar: „Ich habe mir alle Mühe gegeben, dich auf Abstand zu halten und meinen Gefühlen Zügel anzulegen, aber es war vergeblich. Ich habe mich rettungslos in dich verliebt.“ „Ich kehre nicht nach London zurück“, sagte Jennie. „Ich habe in St. Celine gekündigt. Ich hatte geplant, eine Weile zu reisen…“ „Das ist ja großartig! Ich dachte schon, ich würde im winterlichen London in einem Hotelzimmer hocken und darauf warten, daß du deinen Dienst beendest. Jetzt können wir einen Monat lang Urlaub machen. Wir können irgendwo heiraten und unsere Flitterwochen auf einer einsamen, tropischen Insel verbringen. Paßt das zu deinem Traum?“ Sekundenlang war Jennie so überrascht, daß ihr die Worte fehlten. Ihr Traum
wurde wahr: Sie konnte es nicht fassen.
„Und dann? Ich meine nach den Flitterwochen, was soll dann geschehen?“ fragte
sie plötzlich nüchtern.
„Kannst du dir vorstellen, in Sri Lanka zu leben? Ich kaufe uns ein Haus mit
Ausblick über den See.“
„Du bist dir aber sehr sicher! Und wenn ich nun ,nein’ sage?“
„Wenn mir etwas am Herzen liegt, kann ich sehr hartnäckig sein, ist dir das noch
nicht aufgefallen?“
Sie lachte hell auf.
„Ich habe mich sechs Monate lang mit deiner Hartnäckigkeit herumgeschlagen –
soll ich mir das ein Leben lang antun? Was ist übrigens mit meiner Karriere?“
„Also, eine Stelle für eine erfahrene orthopädische Chirurgin treibe ich immer
auf. Wenn du es dir zutraust, Tag und Nacht einem anspruchsvollen Ehemann zu
genügen, besorge ich dir eine Stelle. Allerdings darfst du keine Vergünstigungen
von mir erwarten – es sei denn, du bist schwanger. Dann werde ich natürlich
ganz besonders rücksichtsvoll sein.“
Er trug sie zum Bett. Jennie legte ihm die Arme um den Nacken und fühlte, wie
die Vorfreude in ihr aufstieg.
„Heute gibt es keine Vorkehrungen“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Wie wär’s? Machen
wir ein Flitterwochenbaby?“
ENDE