Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 01
Zwischen den Dimensionen von Bernhard Kempen
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 01
Zwischen den Dimensionen von Bernhard Kempen
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Den relativ unsterblichen Arkoniden Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheit wirkt, verschlägt es mit der exotisch schönen Varganin Kythara in die Galaxis Dwingeloo, wo sie den Kampf gegen die mysteriösen Lordrichter aufnehmen. Diese haben zuletzt in der Milchstraße und in Dwingeloo mit Hilfe ihrer Truppen finstere Pläne verfolgt. Nachdem Atlan und Kythara den Dunkelstern in Dwingeloo zerstören konnten, gelingt ihnen in letzter Sekunde die Flucht aus dem Inferno an einen unbekannten Ort. Kurz darauf erhalten die beiden Kontakt zu einer Widerstandsgruppe, die Atlan um Hilfe bittet. Da er als einziges Wesen in der Lage ist, die ultimate Waffe gegen die Lordrichter, nämlich den Flammenstaub, zu bergen, tritt er seine Reise in die geheimnisvolle Intrawelt an. Atlan, der nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt den Flammenstaub nun in sich trägt, verweigert der Konterkraft die Herausgabe des Staubes. Der Arkonide ist davon überzeugt, dass die Anführer der Widerstandsgruppe zu schwach sind, um damit umzugehen. Der Unsterbliche beschließt, die Wirkung des Flammenstaubs zunächst selbst zu ergründen, und gerät dabei ZWISCHEN DIE DIMENSIONEN …
Zwischen den Dimensionen
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide entdeckt die Macht des Flammenstaubs. Garshwyn - Ein Zaqoor zweifelt an der Wirklichkeit.
Die Chaostheorie beschreibt Vorgänge, bei denen winzigste Ursachen Folgen von enormer Tragweite haben können. Ich erinnere nur an den Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Hurrikan auslösen kann. Was bedeutet der chaotische Faktor in dieser Kausalitätskette? Verletzen die komplexen Bewegungen der Luftmoleküle, die sich schließlich zu einem Sturm aufschaukeln, die Gesetze einer mechanistischen Kausalität, oder sind sie nur zu komplex für unser Verständnis? Stellt die unbestimmte Kausalität des Chaos eine Grenze der Physik oder eine Grenze unserer Wahrnehmung dar? Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
1. Eine gewaltige Explosion blühte in dem lang gestreckten Hangar des Golfballraumschiffs auf. Garshwyn sah durch die dicke Panzerglasscheibe zunächst nur mittelbare Anzeichen dafür, dass die TROD-AHAN von einer neuen Schockwellenfront getroffen wurde. Zunächst wirkte es sich nur wie eine Störung des Sichtfelds aus: Die gegenüberliegende Wand des röhrenförmigen Hangars wölbte und verzerrte sich, als würde sie von einer unsichtbaren Riesenhand wie eine plastische Masse geknetet. Dann konzentrierte sich der hyperdimensionale Effekt zu einer flirrenden Lichtwolke, die das mittlere der geparkten Beiboote einhüllte. Nur wenige Sekunden später verging das kleine Raumschiff in einem blendenden Feuerball. Der Zaqoor in der Hangar-Kontrollzentrale hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen. Doch als er die Augen wieder
öffnete, sah er, dass das Panzerglas gehalten hatte. War es eine zufällige Überlagerung der Druckwellen, die genau dort, wo die Kontrollzentrale in die Wand des Hangars eingelassen war, eine Interferenzzone der Sicherheit geschaffen hatte? Garshwyn konnte es nicht sagen. Außerdem hatte er jetzt ganz andere Sorgen. Es war nämlich noch keineswegs gewiss, dass das Glück auch in den nächsten Sekunden und Minuten auf seiner Seite stand. Die Verwüstung ging weiter. Das explodierte Raumschiff wirkte wie der Treibsatz eines Projektilgeschützes: Der Feuerball dehnte sich aus und katapultierte das vordere Beiboot durch das offene Hangartor in den Weltraum. Dann sah Garshwyn nur noch einen grellen Lichtschein, der von rechts in den Hangar fiel. Das kleine Schiff, das sich in ein Geschoss verwandelt hatte, schien nicht weit vom Mutterschiff entfernt detoniert zu sein. Das dritte Beiboot, das hinterste in der Reihe, wurde durch den Explosionsdruck gegen die Rückwand des Hangars geschleudert und bohrte sich in die Innereien der TROD-AHAN. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Mutterschiff vollständig in Stücke gerissen wurde. Die Ausmaße des Feuerballs würden das, was Garshwyn hier beobachtete, um ein Vielfaches übertreffen. Wenn dieser Fall eintrat, konnte er nicht mehr darauf hoffen, dem Tod durch eine Laune des Zufalls zu entkommen. Er musste selbst etwas unternehmen, wenn er das drohende Inferno überleben wollte. Garshwyn warf einen letzten Blick in den Hangar, der von Trümmerfetzen und verkohlten Gestalten in Schutzanzügen übersät war. Dann wandte er sich ab und hetzte zu den Rettungskapseln. Mit einem Schutzanzug hätte er deutlich bessere Chancen gehabt, aber dieses Privileg
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stand nur dem Personal zu, das unmittelbar im Hangar arbeitete. Allerdings hatten die Anzüge, die nur über minimale Ausstattung verfügten, die meisten seiner Kollegen nicht vor der Vernichtung bewahrt. Garshwyn erreichte den Korridor, an dem die Einstiegsluken zu den Rettungskapseln lagen. Mit einem Blick wurde ihm klar, dass die Explosion im Hangar den größten Teil der Kapseln zerstört hatte. Ein Notfallschott riegelte den Korridor ab, sodass von hier aus nur noch vier Rettungseinheiten erreichbar waren. Die Lichtsymbole an den Einstiegsluken machten Garshwyn keine große Hoffnung. Zwei waren völlig ausgefallen, eins flackerte bedenklich, und nur noch ein einziges zeigte volle Bereitschaft an. Der Zaqoor drückte die große Taste, mit der die Rettungskapsel aktiviert wurde. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis die einfachen Schaltkreise den Öffnungsmechanismus in Gang setzten. Als die Luke endlich mit einem leisen Klacken aufsprang, hörte Garshwyn Schritte, die sich durch den Zugangskorridor näherten. »Garshwyn!«, hörte er eine abgehetzte, aber vertraute Stimme, deren Klang ihn fassungslos erstarren ließ.
* Es war Fatuqar, eine Kollegin aus der Hangar-Reparaturkolonne – und eine Frau, mit der Garshwyn schon viele aufregende Nächte verbracht hatte. Welche Laune des Schicksals hatte dafür gesorgt, dass ausgerechnet sie beide sich hier in diesem Korridor trafen? »Wie hast du die Explosion überlebt, Fatuqar?« »Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich konnte mich rechtzeitig in einen Lagerraum flüchten. Als es etwas ruhiger wurde, habe ich mich wieder nach draußen gewagt. Aber jetzt sollten wir nicht lange diskutieren, sondern zusehen, dass wir die TROD-AHAN so schnell wie möglich verlassen!«
Garshwyn sah die Frau mit merkwürdigem Blick an. »In einer Rettungskapsel kann es zu zweit ziemlich eng werden«, sagte er. »Willst du dich etwa mit mir duellieren und gewaltsam die Entscheidung erzwingen, wer von uns diese Kapsel besteigen darf?« Als Garshwyn schwieg, schien Fatuqar klar zu werden, dass seine Bemerkung nicht nur so dahingesagt war. In der folgenden Sekunde gingen dem Zaqoor tatsächlich die unterschiedlichsten Möglichkeiten durch den Kopf. Der Atemluftvorrat einer Rettungskapsel reichte sechs Tage – wenn sie mit einer Person besetzt war. Mit zwei Insassen halbierte sich die Spanne auf drei Tage. Die Chance, dass die Kapsel von einem Raumschiff aufgelesen wurde, bevor der Sauerstoff verbraucht war, stieg und fiel entsprechend. Zu zweit konnte es in der winzigen Kabine recht eng werden, aber in Gesellschaft ließ sich die Wartezeit bis zur Rettung sicherlich angenehmer verbringen. Schließlich gehörte Fatuqar zu den sexuell aktivsten und phantasievollsten Frauen, die Garshwyn jemals kennen gelernt hatte. Wenn er nur ihren schlanken, wunderbar knochigen Körper betrachtete, fielen ihm sofort ganz neue Spielarten ein, mit denen sie sich vergnügen konnten. Außerdem mochte es sein, dass die Rettungskapsel nie geborgen wurde, ob sie nun mit einem oder mit zwei Passagieren besetzt war. In diesem Fall würde Garshwyn die Zeit bis zum Ende lieber mit Fatuqar als in Einsamkeit verbringen. Doch was war, wenn die Kapsel nach vier oder fünf Tagen entdeckt wurde? Bevor Garshwyn zu einer Entscheidung gelangen konnte, schüttelte eine neue Explosion das Mutterschiff durch. Beide Zaqoor wurden von den Beinen gerissen. Zum Nachdenken blieb jetzt keine Zeit mehr. Garshwyn handelte. Er konnte sich am Rahmen der Einstiegsluke festhalten und zog sich ins Innere der Rettungskapsel. Er hatte sich nicht vergewissert, was aus Fatuqar geworden war. Im kleinen Ausschnitt
Zwischen den Dimensionen des Korridors, den er durch die Luke überblicken konnte, war nichts von ihr zu sehen. Er zögerte noch einen Sekundenbruchteil, um ihr eine allerletzte Chance zu geben, vielleicht doch noch in die Kapsel zu springen, dann drückte er den Knopf, der die Luke verriegelte und den Startvorgang einleitete. Die Treibsätze der Kapsel zündeten, und Garshwyn wurde gegen die Rückwand gepresst. Das primitive Rettungsgefährt war nur mit den allernotwendigsten Systemen ausgerüstet und besaß keine Schwerkraftgeneratoren oder Andruckabsorber. Als die kurze Beschleunigungsphase vorbei war und die Kapsel in den freien Fall überging, zog sich Garshwyn zu einer kleinen Sichtluke hinüber. Vor dem Hintergrund des Weltraums, der von einem unheimlichen Wetterleuchten erfüllt zu sein schien, war die TROD-AHAN zu erkennen. Während sich die Kapsel immer weiter entfernte, sah Garshwyn das Mutterschiff schließlich in ganzer Größe. Fassungslos sah er, dass es brannte. Obwohl es im luftleeren Raum eigentlich unmöglich war, schlugen gewaltige Flammen aus dem Rumpf des großen Raumschiffs. Vielleicht wurde brennbares Material zusammen mit Atemluft ins All geschleudert. Oder es war eine Auswirkung der Schockfronten, für die nur Hyperphysiker eine plausible Erklärung liefern konnten. Garshwyn sah auch, dass weitere Rettungskapseln vom Schiff davontrieben. Eine davon folgte ungefähr seiner Bahn und driftete verhältnismäßig langsam zur Seite ab. Das konnte nur bedeuten, dass sie nicht weit von seiner eigenen gestartet war. Hatte Fatuqar es geschafft, sich rechtzeitig in die andere, noch halbwegs funktionsfähige Rettungseinheit zu flüchten? War sie dem drohenden Inferno entkommen? Vielleicht würde Garshwyn es erfahren, wenn er das Funksystem aktivierte und versuchte, mit anderen Überlebenden oder Rettern Kontakt aufzunehmen. Doch bevor er dazu kam, stach eine grelle
5 Lichtflut durch die Sichtluke. Garshwyn glaubte zu erkennen, wie plötzlich ein dunkler Schatten hinter der TROD-AHAN auftauchte, bevor das Mutterschiff von einer gewaltigen, lautlosen Explosion zerrissen wurde. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie sich die weiß glühende Energieballung zu einer rötlich leuchtenden Wolke ausbreitete. Allmählich erlosch das Feuer, bis nur noch ein Schwarm aus materiellen Trümmern übrig blieb. Doch damit war die Gefahr für Garshwyn und alle anderen Zaqoor, die dem unmittelbaren Inferno entkommen waren, keineswegs vorbei. Ein metallisch schimmernder Brocken, der vielleicht einmal ein Stück des Raumschiffsrumpfes gewesen war, trieb genau auf die kleine Rettungskapsel zu. Garshwyn starrte gebannt darauf, doch er konnte keine seitliche Bewegung erkennen. Das Trümmerstück wurde nur größer und schien ansonsten auf der Stelle zu verharren. Alles deutete auf einen exakten Kollisionskurs hin. Garshwyn schloss erneut die Augen und sprach im Geist die Litanei von Trodar, während er auf das Ende wartete. Im nächsten Moment ging ein heftiger Ruck durch die Kapsel, und der Zaqoor wurde gegen die Wand geschleudert. Stechender Schmerz jagte durch seinen Schädel. Dann wurde alles schwarz um ihn.
2. Der Verfolger kam immer näher. Wahllos tippte ich Zahlen in den Navigationscomputer, den ich zuvor so programmiert hatte, dass er darauf mit winzigen Kursänderungen reagierte. Dadurch raste die DYS-116 auf einem Schlingerkurs dahin und entkam den meisten Energiesalven, die das Keilraumschiff auf mich abfeuerte. Der Rest wurde vom Schutzschirm absorbiert. Gelegentliche Treffer konnte die Hülle aushalten, aber wenn es dem Verfolger gelang, mich unter Dauerbeschuss zu nehmen, wur-
6 de es kritisch. Mir war immer noch nicht klar, warum mich das Schiff ins Visier genommen hatte. Vor ein paar Tagen hatte ich mich in die Nähe des explodierten Dunkelsterns gewagt und eine Szene der Verwüstung vorgefunden. Nichts war mehr feststellbar von der halborganischen Anaksa-Station, der Schwarzen Substanz oder dem Durchgang in den Mikrokosmos. Alles verschwunden, erloschen, davongewirbelt ins unendliche All, was mich so lange umgetrieben hatte. Alles. Auch Kythara, die um meinetwillen gestorben war, die dem Missbrauch der Hinterlassenschaften ihres Volkes hatte Einhalt gebieten wollen. Ich spürte Tränen der Erregung in meine Augen schießen. Überall trieben Trümmer der Flotte der Lordrichter von Garb, die einst aus 15.000 Einheiten bestanden hatte. Die wenigen Schiffe, die der unmittelbaren Vernichtung entkommen waren, kämpften darum, sich mit beschädigten Triebwerken vor den hyperdimensionalen Schockwellenfronten in Sicherheit zu bringen, die noch immer das Umfeld des Dunkelsterns heimsuchten wie Todeszuckungen der Unheil bringenden Schwarzen Substanz. Nach Auskunft des Bordrechners war der Keilraumer mit Roschech bemannt, einem reptiloiden Garbyor-Volk, mit dem ich bisher noch keine nähere Bekanntschaft gemacht hatte. Da das kleine Zaqoor-Beiboot, mit dem ich unterwegs war, zumindest dem äußeren Anschein nach zu den Truppen der Lordrichter gehörte, hätte man eigentlich freundlicher auf mich reagieren müssen. Aber die Roschech hatten ohne Vorwarnung oder vorherigen Funkkontakt das Feuer auf die DYS-116 eröffnet. Vielleicht hätte mein Extrasinn eine Vermutung beisteuern können, aber er hatte sich allem Anschein nach immer noch nicht von der Konfrontation mit dem Seelenhorter Peonu erholt. Die nur 20 Meter durchmessende DYS-
Bernhard Kempen 116 wurde durchgerüttelt, als ein weiterer Strahlschuss in den Schutzschirm schlug. Es wurde Zeit, dass ich den Keilraumer abschüttelte. Ich hatte gar nicht erst versucht, mit den Bordgeschützen des kleinen ZaqoorBeiboots etwas gegen das dreieckige Schiff mit einer Spannweite von gut 1500 Metern auszurichten. Ich brauchte eine Taktik. Mein Fluchtkurs führte mich gefährlich nahe an eine der Schockwellenfronten heran. Sie hing wie ein rötlich leuchtender Ringnebel im Weltraum. Dabei kam mir eine Idee. Ich gab dem Bordrechner den Befehl, die Ereignisse der letzten fünf Minuten holografisch darzustellen. Es sah gar nicht so schlecht aus. Es gab zwar einen kleinen Unsicherheitsfaktor, aber die räumlichen Verhältnisse ließen meinen Plan aussichtsreich erscheinen. Ich schaltete auf manuelle Steuerung um und ließ die DYS-116 langsam vom bisherigen Kurs abdriften. Für die Roschech musste es aussehen, als wolle ich der ringförmigen Schockwellenfront ausweichen, die inzwischen eine Ausdehnung von 20.000 Kilometern erreicht hatte. Im Abstand von etwa 5000 Kilometern änderte ich abrupt den Kurs und flog mitten in den Ring hinein. Ich warf einen besorgten Blick auf die Energieortung, aber es sah tatsächlich danach aus, dass sich der Raum im Zentrum wieder stabilisierte. Sonst wäre mein Schiff von den entfesselten hyperdimensionalen Gewalten zerrissen worden. Das Keilraumschiff benötigte wie erwartet nur eine knappe Sekunde, um mein Manöver zu durchschauen und die Verfolgung fortzusetzen. Es war mir wieder dicht auf den Fersen, als ich das Loch innerhalb des Rings aus unvorstellbaren Energien passierte. Im nächsten Moment gab ich erneut Vollschub und drehte scharf ab. Ohne Andruckneutralisatoren wäre ich zu einem dünnen Schmierfilm an der Rückwand der DYS-116 zerquetscht worden. Aber ich wusste, dass ich mich auf die Technik verlassen konnte. Direkt vor mir tauchte ein Golfballraumer
Zwischen den Dimensionen der Zaqoor auf. Er befand sich genau dort, wo ich ihn vermutete. Ich hatte ihn kurz gesehen, als er hinter dem Schockwellenring verschwunden war. Meine Verfolger hatten ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bemerkt, weil sie sich aus einem leicht verschobenen Winkel genähert hatten. Auf diesen Faktoren beruhte mein Plan. Ich raste knapp am Golfballraumer vorbei, der offensichtlich schwer unter den Schockwellen gelitten hatte. Knapp entkam ich einer Trümmerwolke, die langsam von einem Hangar wegdriftete, aus der glühende Funken strömten, als wäre sie zu einer Triebwerksdüse umfunktioniert worden. Der zweifellos sehr fähige Pilot des Keilraumschiffs brauchte eine Schrecksekunde länger als ich, um auf die plötzlich aufgetauchte Gefahr zu reagieren. Und das war genau eine Sekunde zu viel. Während ich mit Maximalbeschleunigung in den freien Weltraum flüchtete, bohrte sich der Keilraumer mit der Spitze des dreieckigen Bugs in das große ZaqoorSchlachtschiff. Ich kniff die Augen zusammen, denn im nächsten Moment vergingen beide Einheiten in einer gigantischen Explosion.
* Ich stieß den angehaltenen Atem aus und ließ mich in den Sitz zurückfallen. Für einen kurzen Moment dachte ich an die vielen Zaqoor und Roschech, die in diesem Moment gestorben waren. Was hätte ich tun sollen? Wenn jemand alles daransetzte, mich ins Jenseits zu befördern, durfte er sich nicht beklagen, wenn er am Ende selber den Kürzeren zog. Und das Golfballraumschiff war bereits so schwer angeschlagen gewesen, dass die Besatzung ohnehin kaum eine Überlebenschance gehabt hatte. Es gab Momente, in denen man zuerst an sich selbst denken musste. Jetzt ging es für mich zunächst einmal darum, mich neu zu orientieren.
7 Die Truppen der Lordrichter rund um den Dunkelstern waren größtenteils vernichtet. Damit war bereits ein erheblicher Teil der Gefahr ausgeschaltet, die der Galaxis Dwingeloo und in letzter Konsequenz auch der Milchstraße drohte. Derzeit ließ sich jedoch nicht sagen, was die Lordrichter von Garb noch in der Hinterhand haben mochten. Allerdings verfügte ich seit kurzem über ein Mittel, das die entscheidende Wende im Kampf bringen konnte. Mit Unterstützung der Konterkraft, einer Widerstandsorganisation aus den Reihen der Garbyor, hatte ich in der Intrawelt den geheimnisvollen Flammenstaub in mich aufgenommen. Doch bevor ich mich am Treffpunkt blicken ließ, den ich mit dem Daorghor Reshgor-1 vereinbart hatte, wollte ich zunächst mehr über diesen Stoff erfahren. Immerhin war es denkbar, dass die Konterkraft nur eine List der Lordrichter war und sie den Flammenstaub für ihre eigenen Ziele einsetzen wollten. Der Rhoarxi Tuxit, der mir bei der Beschaffung behilflich gewesen war, hatte ihn als ultimatives Mittel bezeichnet, mit dem der Träger die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses beeinflussen konnte. Ich hatte noch keine genaue Vorstellung davon, wie sich das in der Praxis auswirkte. Vielleicht hatte ich den Einfluss bereits bei der glücklich überstandenen Flucht vor dem Keilraumschiff zu spüren bekommen. Andererseits hatte ich mich während meines langen Lebens schon oft gegen jede Wahrscheinlichkeit aus brenzligen Lagen retten können. Eines vermochte selbst der Flammenstaub nicht, wie ich aus schmerzhafter Erfahrung wusste: Er konnte die Toten nicht wieder auferstehen lassen. Obwohl ich es mir inständig gewünscht hatte, war es mir jedoch nicht gelungen, Kythara zu retten. Sie war während der Rückkehr aus der Intrawelt in meinen Armen gestorben, und das machte meinen vordergründigen Sieg schal. Solche Szenen hatte ich im Verlauf meiner über zehntausendjährigen Lebenszeit schon viel zu oft miterleben müssen. Entge-
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gen landläufigen Vorstellungen war es nur selten geschehen, dass Frauen an meiner Seite alt geworden und nach Ablauf der natürlichen Frist gestorben waren, während mein Zellaktivator mich scheinbar nicht altern ließ. In den meisten Fällen waren meine Gefährtinnen bereits viel früher aus meinem Leben verschwunden, und viel zu häufig hatte ich ihren vorzeitigen, gewaltsamen Tod mit ansehen müssen. Jedes Mal war damit auch ein Teil von mir gestorben. Vielleicht war das die wahre Bedeutung der relativen Unsterblichkeit. So viel zum Vorurteil, dass Unsterbliche nicht alterten. So viel zur Ultimaten Macht des Flammenstaubs. In diesem Moment riss mich ein akustisches Signal des Bordrechners aus meinen Gedanken. Ich studierte die fremdartigen Anzeigen des Zaqoor-Beiboots, mit denen ich inzwischen recht gut vertraut war. Und während ich mir die Ortungsergebnisse ansah, kam mir wieder eine Idee …
3. Bevor Garshwyn zu einer Entscheidung gelangen konnte, schüttelte eine neue Explosion das Mutterschiff durch. Fatuqar wurde gegen den Zaqoor geworfen und klammerte sich an ihm fest. Garshwyn blickte in die Augen der Frau. Er überlegte für einen Sekundenbruchteil, ob er ihr eine Chance geben sollte. Doch dann entschied er sich für das Leben. Für sein Leben. Er stieß Fatuqar von sich weg, sprang in die Kapsel und drückte den Knopf, der die Luke verriegelte und den Startvorgang einleitete. Die Treibsätze der Rettungseinheit zündeten, und Garshwyn wurde gegen die Rückwand gepresst. Im nächsten Moment ging ein heftiger Ruck durch die Kapsel … … und Garshwyn kam wieder zu sich. Keuchend schnappte er nach Luft und hielt sich den schmerzenden Schädel, während
sich sein Sichtfeld langsam klärte. Dann drang ihm immer deutlicher ein Geräusch ins Bewusstsein, das nicht hierher gehörte. Es war ein beständiges Zischen. Ein Geräusch, das für jeden Raumfahrer die gleiche Bedeutung wie eine schrille Alarmsirene hatte. Ein schneller Blick auf die Kontrollen bestätigte ihm, dass der Luftdruck in der Rettungskapsel besorgniserregend niedrig war. Er zwang sich, Ruhe zu wahren, schloss die Augen und breitete die Arme aus. An der rechten Hand spürte er einen Luftzug. Er öffnete den Schrank mit der Notverpflegung, zog einen Nahrungsriegel heraus, riss die Verpackungsfolie ab und warf sie ungefähr in die Richtung, in die sich der Luftzug bewegte. Die Folie schien einen Moment lang unschlüssig in der Schwerelosigkeit zu schweben, dann nahm sie plötzlich Fahrt auf und klatschte etwa einen halben Meter von der Einstiegsluke entfernt an die Wand. Garshwyn klappte den Werkzeugschrank auf, suchte ein pistolenförmiges Gerät heraus, holte noch einmal so viel Luft wie möglich und hangelte sich zum Leck hinüber. Die Hülle der Kapsel war genau hinter einer Verstrebung über eine Länge von mehreren Zentimetern aufgeplatzt. Der Zaqoor richtete die Pistole auf die undichte Stelle, drückte den Abzug und bestrich das Leck mit der Dichtungsmasse. Sie quoll schäumend auf und war nach drei Sekunden ausgehärtet. Schlagartig hörte das Zischen auf. Mit jedem Atemzug spürte Garshwyn, dass ihm das Luftholen leichter fiel. Erschöpft wandte er sich den Kontrollen der Rettungskapsel zu. Der Atmosphärendruck hatte fast wieder den normalen Wert erreicht. Im nächsten Moment sah er, dass es ein weiteres Problem gab. Die Funkanlage war ausgefallen. Wenn seine Rettungskapsel keinen Notruf aussandte, kam vielleicht kein Schiff der Zaqoor auf die Idee, ihn zu bergen, weil niemand sie
Zwischen den Dimensionen von einem der zahllosen umherfliegenden Trümmerstücke unterscheiden konnte. Garshwyn holte ein Diagnosewerkzeug aus dem Schrank und öffnete die Verkleidung, hinter der sich die technischen Systeme der Kapsel verbargen. Jetzt kam ihm zugute, dass sie so primitiv wie irgend möglich ausgelegt waren. Bereits nach kurzer Zeit hatte er den Fehler lokalisiert. Es war nicht mehr als ein Kontakt, der sich gelockert hatte und sich ohne besondere Schwierigkeiten reparieren ließ. Mit dem Werkzeug schickte er einen Impuls in die Funkanlage, die normalerweise durch den Startvorgang der Kapsel automatisch aktiviert wurde. Garshwyn vergewisserte sich, dass sie tatsächlich den Sendebetrieb aufgenommen hatte, und atmete erleichtert aus. Als unmittelbar darauf ein Warnsignal ertönte, glaubte der Zaqoor zunächst, dass der Notrufsender erneut ausgefallen war. Aber diesmal war es der Kollisionsalarm, wie er mit einem Blick auf die Anzeigen feststellte. Was hatte die Ewige Horde für ihn vorgesehen? Sollte die Serie der Schwierigkeiten denn niemals aufhören? Garshwyn schaltete die holografische Darstellung der Passivortung ein. Da das einfache System die Umgebung nicht aktiv abtasten konnte, war es schwierig, die matten Schemen zu deuten. Er musste die Anzeigen mit dem abgleichen, was er mit eigenen Augen durch die Sichtluken sehen konnte. Als er schließlich erkannte, wovor der Kollisionsalarm ihn warnen wollte, erstarrte der Zaqoor vor Entsetzen. Seine bisherigen Probleme waren nur der Auftakt zu dem gewesen, was jetzt auf ihn zukam.
* Die DYS-116 hatte ein schwaches Notrufsignal empfangen. Der Bordcomputer ordnete es einer Rettungskapsel zu, die sich in gerader Linie von der Stelle fortbewegte, wo
9 Golfball- und Keilraumschiff explodiert waren. Offenbar hatten mehrere Zaqoor versucht, der drohenden Vernichtung zu entkommen. Doch die anderen Rettungseinheiten waren energetisch tot, nachdem sie von der Explosionswolke überrollt worden waren. Aus den Speichern des Zaqoor-Beiboots rief ich die Blaupausen einer solchen Kapsel ab. Meine Vermutung bestätigte sich. Normalerweise wurde der Notruf automatisch gesendet, sobald eine Rettungskapsel das Raumschiff verlassen hatte. Vielleicht war die Funkanlage beim rabiaten Start beschädigt worden und hatte sich erst jetzt eingeschaltet. Die Selbstreparatursysteme beherrschten jedoch nur sehr einfache Routinen. Damit bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass jemand aktiv nachgeholfen hatte. Jemand, der in dieser Kapsel überlebt hatte. Doch wie es schien, würde diese Person sehr viel Glück benötigen, um auch die nächste Minute zu überleben. Denn ein sehr massiv wirkender Trümmerbrocken von knapp hundert Metern Durchmesser trieb genau auf die winzige Kapsel zu. Er war sehr schnell und näherte sich aus einer ganz anderen Richtung, wodurch sich die relative Geschwindigkeit beider Objekte addierte. Ich wies den Bordcomputer an, die Bahnen holografisch zu extrapolieren, und wieder bestätigte sich etwas, das ich bereits intuitiv erkannt hatte. Der große Brocken würde die Rettungseinheit in genau 26 Sekunden zerquetschen wie eine Fliege, die auf der Windschutzscheibe eines Hochgeschwindigkeitsgleiters landete. Wobei der Vergleich nicht völlig zutreffend war. Eine Fliege hatte die Möglichkeit, sich mit eigener Kraft aus der Gefahrenzone zu bringen, doch diese Kapsel verfügte über keinerlei Antriebssystem. Nachdem sie das Mutterschiff verlassen hatte, konnte der bedauernswerte Insasse nur noch darauf hoffen, möglichst bald von gnädigen Rettern aufgelesen zu werden.
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Allerdings gab es da noch einen zweiten Faktor. Ein anderes, wesentlich kleineres Trümmerteil trudelte hinter der Rettungskapsel her und würde sie voraussichtlich zwei bis drei Sekunden vorher treffen. Wenn der Aufprall in einem günstigen Winkel erfolgte, würde die Rettungskapsel ein Stück zur Seite geschubst werden und hatte eine gute Chance, dem Zusammenstoß mit dem großen Brocken zu entkommen. Hektisch wies ich den Bordcomputer an, eine Prognose zu erstellen. Aber er sah sich nicht imstande, ein eindeutiges Ergebnis vorherzusagen. Der größte Unsicherheitsfaktor war die Rotation des kleinen Trümmerstücks, die keine zuverlässige Aussage über den Aufprallwinkel zuließ. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kapsel heil davonkam, lag ziemlich genau bei fünfzig Prozent. Die Sache stand sprichwörtlich auf des Messers Schneide. Ich machte mich bereit für das Experiment.
* Garshwyn starrte gebannt durch die kleine Sichtluke auf den Trümmerbrocken, der sich wie ein Asteroid durch die Schwärze des Weltraums heranwälzte. Nur gelegentlich schimmerten schwache Reflexe auf der Oberfläche und ließen undeutlich erkennen, dass die Masse aus verbogenem und stellenweise geschmolzenem und wieder erstarrtem Metall bestand. Der Zaqoor war ganz auf den unvermeidlichen Zusammenstoß konzentriert; der sein Ende bedeuten würde. Als der erste Schlag aus einer ganz anderen Richtung kam, war er völlig überrascht. Er hatte sich nur locker mit den Händen an der Wand neben dem Fenster abgestützt und ließ den Rest des Körpers in der Schwerelosigkeit der Kapsel hängen. Plötzlich wich die Wand abrupt vor ihm zurück, und der Zaqoor prallte mit voller Wucht gegen die Wand hinter ihm. Noch während er scheinbar durch die
Kapsel geschleudert wurde, begriff er, was wirklich geschehen sein musste. Nicht er, sondern nur die Kapsel hatte einen Bewegungsimpuls erhalten, sodass ihm nun quasi der Boden unter den Füßen weggezogen wurde – auch wenn dieser Vergleich in der Schwerelosigkeit nicht ganz angebracht war. Der Aufprall war schmerzhaft, aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Garshwyn konnte durch die Sichtluke erkennen, dass sich der Metallbrocken weiter näherte. Es war noch nicht vorbei. Der Zaqoor schloss die Augen, machte sich auf den Tod gefasst und suchte Heil in der Litanei der Horden von Garb. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Garshwyn spürte kaum etwas, als die Rettungskapsel mit dem Metallbrocken zusammenstieß. Es ging viel zu schnell. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zerschellte das winzige Gefährt mit dem einsamen Insassen an der massiven Oberfläche. Kurz blitzte es auf, dann blieb nur noch eine schwach nachglühende Scharte im Metall zurück … Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Garshwyn und Fatuqar klammerten sich in der engen Kapsel aneinander. Er war froh, dass er die Frau im letzten Moment doch noch mitgenommen hatte. Nun würden sie wenigstens nicht allein sterben. Gegenseitig trieben sie sich ein letztes Mal einem orgiastischen Höhepunkt entgegen, um vereint in den Tod zu gehen … Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Garshwyn geriet in Panik. Er konnte einfach nicht tatenlos abwarten, bis der Tod zu ihm kam. Er war ein Garbyor, ein Kämpfer! Er würde sich dem Schicksal nicht hingeben, sondern es selbst in die Hand nehmen. Entschlossen zerrte er den kleinen Energiestrahler aus dem Werkzeugschrank, setzte die Mündung an die Schläfe und drückte ab … Es gibt keine Freude, außer in Trodar. Garshwyn starrte ins Leere, während die Kapsel immer weiter in die Tiefe des Weltraums davontrieb. Wie durch ein Wunder war er knapp der Vernichtung entronnen.
Zwischen den Dimensionen Doch nun erwartete ihn kein schneller, sondern ein langsamer Tod. Um ihn herum war nichts mehr. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor Sauerstoffmangel besinnungslos wurde …
* Wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses ermitteln lässt, sagt das nichts darüber aus, ob dieses Ereignis in einer konkreten Situation tatsächlich eintreten wird. Dass im Würfelspiel dreimal hintereinander die gleiche Zahl erscheint, ist genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie jede andere Kombination. Diese Tatsache widerspricht nur deshalb unserem intuitiven Verständnis, weil es im Gesamtspektrum der Möglichkeiten nur wenige Kombinationen aus gleichen Zahlen gibt. Oder um es anders zu formulieren: Es gibt keine Zufälle. Wir sind es, die in völlig normalen Ereignissen erstaunliche Muster erkennen. Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
4. Ich konzentrierte mich auf die kleine Rettungskapsel. Dann wünschte ich mir, dass das trudelnde Trümmerstück ihr genau den Bewegungsimpuls versetzte, den sie brauchte, um aus der Flugbahn des großen Brockens geworfen zu werden. Noch zehn Sekunden … Gebannt verfolgte ich die Annäherung der beiden Objekte, während ich mich anstrengte, keinen Augenblick in meiner Konzentration nachzulassen. Für einen kurzen Moment verschwamm meine Sicht, aber ich zwang mich dazu, fest an ein kleines Wunder zu glauben. Kontakt! Die Rettungskapsel erhielt einen verhältnismäßig sanften Schubs und änderte leicht die Flugrichtung. Dann rollte der dicke Brocken heran, und
11 schon zwei Sekunden später war alles vorbei. Unwillkürlich stöhnte ich auf. Auf meinen Befehl spielte der Bordrechner die Szene noch einmal in Zeitlupe und maximaler Vergrößerung ab. Tatsächlich. Die Kapsel war dem Zusammenstoß um Haaresbreite entgangen. Ein oder zwei Millimeter daneben, und die Rettungseinheit hätte zumindest eine böse Schramme davongetragen. Hätte sich die Geschichte nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Atmosphäre abgespielt, hätte die Kapsel jetzt große Probleme mit der Verwirbelung bekommen. Erneut stieß ich seufzend den Atem aus. Die Angelegenheit hatte mich offenbar mehr mitgenommen, als ich für möglich gehalten hatte. Ich fühlte mich völlig ausgelaugt. Mit einer kleinen Dagor-Übung sammelte ich neue Kraft, während der Zellaktivatorchip in meiner Schulter belebende Impulse durch meinen Körper sandte. Hatte das Experiment funktioniert, oder war die Sache einfach nur so abgelaufen, wie es der Zufall gewollt hatte? Schwer zu sagen. Vielleicht sollte ich mich bei Gelegenheit um ein geeigneteres Versuchsobjekt kümmern. Dann hielt ich inne und horchte in mich hinein. Zunächst war ich mir nicht sicher, was los war. Es war ein Gefühl, als hätte ich etwas vergessen, eine Überlegung, die ich nicht zu Ende geführt hatte. Du hättest die Rettungskapsel ohne Schwierigkeiten mit dem Traktorstrahl aus der Gefahrenzone holen können! Nein, es war nicht der Extrasinn, der diesen Einwurf vorbrachte. Dieser Teil meines Gehirns, der wahlweise die Rolle einer geschwätzigen Enzyklopädie, eines Kontracomputers oder eines mahnendes Gewissens spielte, schwieg weiterhin. Aber es war ungefähr die Bemerkung, die ich jetzt vom Extrasinn erwartet hätte. Im Laufe der Jahrtausende hatte ich mich so sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, dass mir seine lautlose Stimme regelrecht fehlte. Natürlich konnte ich den Einwand mühe-
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los entkräften. Wenn in der Rettungseinheit tatsächlich ein lebendes und atmendes Wesen steckte, durfte es sich glücklich schätzen, dass ich mich zumindest bemüht hatte, ihm eine Überlebenschance zu geben. Und das, obwohl es sich nur um einen Zaqoor handeln konnte, den Vertreter eines der vielen Völker, aus denen die Lordrichter ihre Truppen rekrutierten. Und die Garbyor hatten nie gezögert, im Auftrag der Lordrichter Tod und Verderben über ganze Galaxien zu verbreiten. Ich hatte wirklich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, den Zaqoor zu retten. Das war es unter anderem, was mich von den Garbyor unterschied. Andererseits, so wurde mir nun bewusst, hatte ich mich während des Experiments völlig sicher gefühlt, dass die Sache gut ausgehen würde. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und schloss diese Überlegungen ab. Ich wusste nicht, was sich in mir verändert hatte, ob es am Schweigen des Extrasinns lag oder ob der Flammenstaub irgendeinen Einfluss auf mich ausübte. Aber ich würde es herausfinden.
* Vorsichtig dirigierte ich die DYS-116 an die kleine Rettungskapsel heran. Ein spürbarer Ruck ging durch das Beiboot, als die Lüftschleusen miteinander verkoppelt wurden. Ich musste mir eingestehen, dass es richtiggehend Spaß machte, die Arbeit nicht den Syntrons oder Positroniken zu überlassen, sondern das Manöver per Hand durchzuführen. Die ganze Situation besaß etwas Nostalgisches, geradezu Archaisches. Schließlich ging es darum, ein Rendezvous zwischen einem zwanzig Meter durchmessenden, tropfenförmigen Kleinstraumschiff und einer nur drei Meter großen, kugelförmigen Einheit durchzuführen. Nachdem das Kopplungsmanöver abgeschlossen war, machte ich mich auf den Weg zur Schleuse. Lebte der Passagier noch,
und war es tatsächlich ein Zaqoor? Ich hatte versucht, Funkkontakt aufzunehmen, aber nur den stur wiederholten Notruf empfangen. Die Werte der Energieortung deuteten darauf hin, dass die Systeme intakt waren. Ob in der Kapsel noch jemand am Leben war, hatte ich mit meinen Mitteln nicht feststellen können. Warum hatte ich nun doch beschlossen, die Rettungskapsel zu bergen? Immerhin hätte ich kurz zuvor ihre Vernichtung in Kauf genommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Schlechtes Gewissen? Der Versuch, es wenigstens im Nachhinein wieder gutzumachen? Schließlich konnte sich die Sache als böser Fehler erweisen. Was war, wenn hinter der Luftschleuse ein Garbyor lauerte, der sich ohne Zögern auf den nächstbesten Feind stürzen würde? Auf mich? Natürlich war es genauso möglich, dass die Kapsel leer war. Sie konnte während der Vernichtung des Golfballraumers abgesprengt worden sein, worauf sie unbeirrt ihrer automatischen Programmierung gefolgt war. Das wäre allerdings eine … wie sollte ich es ausdrücken? … ziemlich blöde Sache gewesen. Dann hätte ich die Mühe der Bergung ganz umsonst auf mich genommen. Ideal wäre es, wenn sich ein halbwegs friedlich gesinnter Zaqoor an Bord befand. Kaum zu hoffen wagte ich, dass er sich möglicherweise sogar zu einem Verbündeten im Kampf gegen die Lordrichter entwickelte. Inzwischen hatte ich den kleinen Raum vor der Luftschleuse erreicht und die Hand nach dem großen Knopf ausgestreckt. Während mir noch einmal alle Möglichkeiten durch den Kopf gingen, flimmerte es wieder für einen kurzen Moment vor meinen Augen. Kurz darauf hatte ich mich wieder gefasst und aktivierte voller Zuversicht den Öffnungsmechanismus.
*
Zwischen den Dimensionen Als Garshwyn die Augen aufschlug, brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Dann fügten sich die optischen Einzelinformationen zu einem Bild zusammen. Allem Anschein nach befand er sich in der medizinischen Versorgungsnische eines kleinen Zaqoor-Beiboots. Auf diese Erkenntnis folgte Verwirrung. Wie war er hierher gelangt? Er glaubte sich erinnern zu können, dass er eine Rettungskapsel bestiegen hatte, bevor die TROD-AHAN explodiert war. Oder hatte er das alles nur geträumt – die Trennung von Fatuqar, die Vernichtung des Mutterschiffs, die Beinahekollision mit dem riesigen Trümmerbrocken? Zumindest der dumpfe Schmerz in seinem Hinterkopf passte zu seinen Erinnerungen. Und die Umgebung deutete darauf hin, dass seine Hoffnung Wirklichkeit geworden war. Offenbar war seine Kapsel von Zaqoor entdeckt und geborgen worden. Er spürte einen Stich in der Herzgegend. Wenn er geahnt hätte, dass er schon nach so kurzer Zeit gerettet wurde, hätte er sich anders entschieden. Nun machte er sich bittere Vorwürfe, dass er Fatuqar im Stich gelassen hatte. »Wie geht es dir?«, hörte er eine fremdartig klingende Stimme. Garshwyn wollte sich aufrichten, musste jedoch feststellen, dass ein Fesselfeld ihn daran hinderte, die Medo-Liege zu verlassen. »Damit möchte ich nur vermeiden, dass du dich zu unbedachten Reaktionen hinreißen lässt«, sagte der Fremde. »Wenn du mir glaubhaft versichern kannst, dass du zur friedlichen Zusammenarbeit bereit bist, lasse ich dich frei.« In diesem Moment trat der Sprecher in Garshwyns Blickfeld. »Der Arkonide!«, keuchte er verblüfft. Er hatte ihn sofort erkannt. Sein Bild war oft genug in den Informationssendungen für die Garbyor gezeigt worden. »Du darfst mich Atlan nennen«, sagte der Fremde. »Und wie ist dein Name, Zaqoor?« Garshwyn war fassungslos. Ausgerechnet
13 der Feind der Lordrichter hatte ihn gerettet! Allerdings war ihm bewusst, dass es eine besondere Bewandtnis mit diesem Mann haben musste. In den Sendungen war die ausdrückliche Direktive ausgegeben worden, ihn zwar mit allen erlaubten Mitteln zu fassen, ihn aber auf keinen Fall zu töten oder ernsthaft zu verletzen. Aus welchen Gründen die Lordrichter so sehr am Arkoniden, an Atlan, interessiert waren, wurde natürlich nie erwähnt. »Wenn du nicht mit mir reden möchtest, bringe ich dich gerne in deine Rettungskapsel zurück.« »Nein!«, beeilte sich Garshwyn zu erwidern. »Ich … Mein Name ist Garshwyn.« »Gut«, sagte Atlan. »Kann ich dir vertrauen, oder sollte ich das Fesselfeld vorsichtshalber eingeschaltet lassen?« Garshwyn riss sich zusammen. Wenn er überleben wollte, musste er mit diesem Mann reden. Auch wenn er ihm sehr fremd vorkam. Mehr als einen Kopf kleiner als ein Zaqoor, aber mit stärker ausgeprägten Muskel- oder Fettpaketen – und mit dem auffälligen langen weißen Haar. »Warum sollte ich gegen dich kämpfen?«, fragte Garshwyn. »Mein Schiff ist vernichtet, die Flotte der Garbyor existiert praktisch nicht mehr. Du hast mich gerettet. Dafür danke ich dir.« »Gern geschehen«, sagte Atlan und senkte den Blick. Ohne ein weiteres Wort trat er ein Stück zur Seite und hantierte mit den Kontrollen der Medo-Nische. Das Fesselfeld erlosch. Im ersten Moment war Garshwyn verwundert. Mehr war nicht nötig, um den Arkoniden von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen? Aber er durfte sich keinen Illusionen hingeben. Es wäre ein Fehler, diesen Mann zu unterschätzen, auch wenn der Zaqoor ihm auf den ersten Blick körperlich überlegen schien. Der Humanoide hatte sogar die Bordschwerkraft auf etwa die Hälfte des Wertes heruntergeregelt, die Garshwyn gewohnt war. Wenn es nur eine Frage der Muskelkraft wäre, hätte der Zaqoor leichtes
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Spiel mit ihm gehabt. Allerdings hatte Garshwyn gehört, dass sich Atlan mehr als einmal erfolgreich gegen die Garbyor zur Wehr gesetzt hatte. Er selbst war nur ein Hangartechniker, der im Ernstfall höchstens als einfacher Fußsoldat eingesetzt wurde. Ihm entging nicht, dass die rechte Hand des Arkoniden mit scheinbarer Lässigkeit neben dem kleinen Energiestrahler an seinem Gürtel hing. Wenn Garshwyn die vermeintliche Gelegenheit zum Angriff nutzte, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Überraschung erleben. Mit bedächtigen Bewegungen schwang er sich von der Liege. Er wollte nicht nur jegliche Provokation vermeiden, sondern sich zunächst einen Eindruck von seinem körperlichen Zustand machen. Dann fiel ihm wieder etwas ein, worüber er im ersten Moment nicht genauer nachgedacht hatte. »Was ist mit der Varganin? Ist sie auch an Bord?« Atlans Kopf ruckte herum. »Woher kennst du Kythara?«, fragte er schroff zurück. »Jeder Garbyor kennt dein Gesicht und das deiner Begleiterin.« »Du meinst das Gesicht des Feindes.« »Du bist der Feind der Lordrichter. Mir hast du das Leben gerettet.« Atlan atmete einmal tief durch. »Die Varga… Kythara lebt nicht mehr.« »Das tut mir Leid«, sagte Garshwyn, obwohl er dieses Empfinden eigentlich nicht verspürte; nicht einmal Fatuqars Tod berührte ihn sonderlich, dazu war er zu stark Zaqoor, zu sehr Garbyor. Atlan sah ihn lange wortlos an. Dann sagte er ein einziges Wort: »Gut.« Und, eine Ewigkeit später: »Vielleicht gibt es noch andere Überlebende.«
* Warum ließ ich Garshwyn frei umherlaufen? War es Mitgefühl für jemanden, der gerade so dem Tod entronnen war? Oder für jemanden, der plötzlich alleine in einer
fremden Galaxis war? Mein Extrasinn hätte mich verspottet, wenn er bereits wiederhergestellt wäre, so viel war sicher. Auf jeden Fall würde ich genau beobachten, was der Zaqoor tat, und nach Hinweisen Ausschau halten, ob ich ihm vertrauen konnte. Ich hatte Garshwyn den Zugang zum Bordrechner gestattet, allerdings nur in begrenztem Umfang. Er konnte Navigationsdaten abrufen und Flugbahnen berechnen, aber das Schiff selbst um keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgte ich, wie er sich in der holografischen Projektion den Augenblick darstellen ließ, als sein Mutterschiff explodiert war. Dann stutzte ich, weil er eine ganze Weile nur auf das Bild starrte, ohne einen Finger zu rühren. »Du hast die TROD-AHAN vernichtet«, sagte er schließlich. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. »Ja«, bestätigte ich. Es hätte keinen Sinn gehabt, etwas abzustreiten, was Garshwyn sich in allen Einzelheiten ansehen konnte. »Dadurch habe ich mein Leben gerettet.« »Ich verstehe.« Wieder blickte er eine Zeit lang schweigend auf die Szene. »Ein bewundernswertes Manöver.« »Ich hatte einfach nur Glück, dass sich dein Schiff genau dort befand, wo es sich befand.« »Es gibt nichts, was ich dir zum Vorwurf machen könnte«, sagte er. »Jeder von uns muss zuerst an sich selbst denken.« Ich wollte ihm widersprechen, aber dann sah ich ein, dass er meine moralische Rechtfertigung vermutlich gar nicht verstehen würde. Wenn ich mit ihm diskutierte, würde er mit seinem Standpunkt vielleicht sogar Recht behalten. Garshwyn hatte sich wieder seiner Aufgabe zugewandt. Überlebende suchen. Ich musste wahnsinnig sein, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, weitere Schergen der Lordrichter an Bord zu nehmen. Und dennoch: Das Leben an sich war ein
Zwischen den Dimensionen Wert, den zu bewahren zu den vornehmsten Aufgaben eines intelligenten Wesens zählte. Nach einigen Minuten lehnte er sich zurück und zeigte auf die holografische Projektion. Ein Ausschnitt in Form eines abgesägten Kegels war farblich markiert. »Der letzte Sektor.« »Gut«, sagte ich und setzte mich an die Kontrollen. »Dann werden mir mal nachschauen, ob wir dort etwas finden.« Als wir uns langsam dem markierten Raumsektor näherten, wurden die Ortungsreflexe allmählich deutlicher. »Da!«, rief Garshwyn plötzlich. »Das könnte eine Rettungskapsel sein!« Fast genau im Zentrum des stumpfen Kegels wurde ein Objekt erkennbar, dessen Durchmesser mit umgerechnet drei Metern angegeben war. Kurz darauf hatte der Computer es zweifelsfrei als Rettungskapsel der Zaqoor identifiziert. Ich ließ die DYS-116 weitertreiben und musste den Kurs nur auf den letzten paar Kilometern leicht korrigieren. Ich konzentrierte mich scheinbar ganz auf die Navigation, während ich meinen Passagier ständig aus dem Augenwinkel beobachtete. Garshwyn wurde zwar zunehmend aufgeregter, je näher wir kamen, aber er ließ keine feindseligen Absichten erkennen. Als die Rettungskapsel angedockt war, sah ich den Zaqoor an. »Nach dir!«, sagte ich. Er richtete sich zu seiner vollen Körpergröße von gut zweieinhalb Metern auf und machte sich auf den Weg zum Schleusenraum.
* Die Kapsel war leer. Kein Garbyor, der mit gezückter Waffe heraussprang – nicht einmal mal eine erstickte Leiche. Garshwyn war die Enttäuschung deutlich anzumerken, falls er eine solche verspürte. »Vielleicht gibt es noch andere Kapseln«, sagte ich. »Nein«, entgegnete er ohne Zögern. »Es
15 gibt keine anderen Überlebenden.« Seine Miene wirkte versteinert. »Was ist?« Er grunzte unwillig. Schließlich rang er sich zu einem Geständnis durch, das ich so nicht erwartet hatte: »Es gab da eine … weibliche Zaqoor. Sie war bei mir, als …« »Warum hast du sie nicht in deiner Kapsel mitgenommen?« Garshwyn starrte eine ganze Weile reglos auf den Boden und schwieg. Ich wollte mich bereits erkundigen, was mit ihm los war, als er langsam den Kopf hob und mich mit einem merkwürdigen Blick ansah. »Weil ich …«, setzte er stockend an. »Weil ich nur an mich selbst gedacht habe.« Jetzt war ich es, der schwieg. Es gab nichts, was ich darauf hätte erwidern können. Ich konnte ansatzweise nachempfinden, was in ihm vorging. Im Laufe meines langen Lebens hatte ich immer wieder den Tod anderer in Kauf nehmen müssen, um meine Ziele zu erreichen. Natürlich nie aus Eigennutz, sondern um höhere Ziele zu erreichen. Zumindest redete ich mir das ein. Oder bemühte mich, nicht allzu gründlich darüber nachzudenken. Dann ging mir plötzlich etwas ganz anderes durch den Kopf. »Vielleicht ist es meine Schuld«, sagte ich leise. »Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, erwiderte er. »Wenn du nicht dafür gesorgt hättest, dass die TROD-AHAN vom Roschech-Schiff gerammt wird, hätte die Zeit vielleicht gereicht. Aber ich kann es dir nicht zum Vorwurf …« »Das meine ich gar nicht«, unterbrach ich ihn. »Ich meine Schrödingers Katze.« »Wie bitte? Dieser Begriff ist mir nicht bekannt.« Natürlich nicht. Er konnte auch nicht wissen, dass es einen Planeten namens Terra gab, der in mehreren Millionen Lichtjahren Entfernung um eine unscheinbare gelbe Sonne kreiste. »Schrödinger war ein Physiker, der vor langer Zeit in meiner Heimatgalaxis lebte«,
16 erklärte ich. »Er suchte nach einem Beispiel, das anschaulich die Unbestimmtheit der Quantenwelt beschreibt. In diesem Gedankenexperiment geht es um einen Kasten, in dem man eine Vorrichtung installiert, die nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne mit genau fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein tödliches Gift freisetzt. Dann sperrt man ein Tier in diesen Kasten, verschließt den Deckel und wartet, bis die Zeitspanne abgelaufen ist. Und wenn man den Deckel wieder öffnet, passiert etwas sehr Interessantes.« »Wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte Garshwyn, »ist das Tier nach Ablauf der Zeitspanne entweder tot, oder es lebt. Was soll daran interessant sein?« »Es geht darum, dass sich erst in dem Augenblick, wenn der Deckel geöffnet wird, entscheidet, ob die Katze überlebt hat oder nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt existiert die Katze in einem unbestimmten Zwischenzustand. Sie ist erst dann eindeutig tot oder lebendig, wenn ein Beobachter die Unbestimmtheit zusammenbrechen und eine konkrete Wirklichkeit entstehen lässt.« »Eine ähnliche Geschichte habe ich während meiner Ausbildung gehört, als es um Quantenphysik ging. Aber so verhalten sich doch nur winzig kleine Elementarteilchen und keine größeren Gegenstände oder Tiere.« »Streng genommen gilt dasselbe für alles, was existiert. Etwas wird erst dann real, wenn es von jemandem beobachtet wird. Zumindest kann niemand beweisen, dass es davor existiert hat.« »Es sei denn, jemand anders hat schon vorher heimlich in den Kasten geschaut und gesehen, dass das Tier tot ist.« »Damit hätte er nur den Zeitpunkt der Beobachtung vorverlegt.« »Stimmt«, sagte Garshwyn nachdenklich. »Du meinst also, dass es genauso war, als ich nicht wusste, ob Fatuqar sich mit der Kapsel retten konnte?« »Für mich war es genauso, als ich deine Kapsel geborgen habe. Auch ich wusste
Bernhard Kempen nicht, was mich hinter der Luke erwartet.« »Ich selbst war mir zeitweise nicht sicher, was wirklich mit mir geschehen war. Ich glaube, ich kann nachempfinden, wie es dem Tier des Physikers ergangen sein muss.« War Garshwyn klar, was er da gerade gesagt hatte? Aber ich wollte nicht genauer darauf eingehen. Ich hatte schon mehr preisgegeben, als ich wollte. »Glaubst du, dass der Beobachter einen Einfluss darauf hat, was in einer solchen unbestimmten Situation geschieht?«, fragte der Zaqoor. »Wie kommst du darauf?« »Weil du vorhin von Schuld gesprochen hast.« »Ach ja …« Ich überlegte, wie ich aus dieser Zwickmühle wieder herauskam. »Ich weiß nicht, ob Schrödingers Experiment jemals mit Katzenliebhabern und -hassern durchgeführt wurde. Aber wenn ich bedenke, wie oft ich in meinem Leben schon tödlichen Gefahren entronnen bin … Manche Leute behaupten, ich hätte mehr Glück als Verstand gehabt, wie es in einer Redensart meiner Heimatgalaxis heißt.« »Hast du dir gewünscht, dass Fatuqar sich nicht retten konnte?« Verdammt, der Bursche war hartnäckiger, als ich ihm zugetraut hätte! Das mit der Schuld war mir einfach so rausgerutscht. Ich wollte ihn nicht mit der Nase darauf stoßen, dass ich möglicherweise im Besitz einer Superwaffe war, deren Wirkung sich kaum abschätzen ließ. Wie konnte ich ihn davon abbringen, diese Gedanken weiterzuverfolgen? In diesem Moment heulte die Alarmsirene in der Zentrale der DYS-116 los. Das konnte nur Ärger bedeuten. Einen Moment lang war ich unschlüssig, ob ich fluchen oder mit Erleichterung reagieren sollte.
5. Die Ortung hatte fünf Keilraumschiffe erfasst. Wenn sie den Kurs beibehielten, wür-
Zwischen den Dimensionen den sie unserer derzeitigen Position ziemlich nahe kommen. Anscheinend hatten sie das kleine Beiboot noch nicht bemerkt, aber das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Garshwyn, der mir in die Zentrale der DYS-116 gefolgt war, keuchte entsetzt auf, als er die Einheiten in der holografischen Projektion erkannte. Ich blickte mich kurz zu ihm um. »Gibt es vielleicht einen speziellen Grund, warum die Roschech das Feuer auf wehrlose kleine Zaqoor-Beiboote eröffnen?« »Mein Volk ist bei ihnen nicht sehr beliebt«, erklärte Garshwyn. »Die Roschech sind starke und rücksichtslose Kämpfer, aber sie neigen dazu, im Eifer des Gefechts den Überblick zu verlieren. Deshalb werden sie nur selten und ausschließlich in untergeordneter Stellung in den Einsatz geschickt.« »Und jetzt nutzen sie die willkommene Gelegenheit, sich an ihren Unterdrückern zu rächen.« »Richtig.« »Dann sollten wir zusehen, dass wir so schnell wie möglich von hier …« Ich sprach nicht weiter, weil in diesem Moment alle fünf Keilraumer gleichzeitig den Kurs änderten. Die Daten ließen keinen Zweifel, welchem neuen Ziel sie sich zugewandt hatten. Der DYS-116. »Verdammt, das hat uns gerade noch …« »Es gibt eine kleine Chance«, unterbrach Garshwyn meine einsetzende Schimpfkanonade. »Bist du ein guter Schütze?« »Leidlich. Auch wenn ich mit den Waffen dieses Schiffs noch nicht allzu viel Erfahrung …« »Die Roschech-Schiffe besitzen eine Art Vernichtungsschalter für den Notfall. Wenn sie im Kampf keine Befehle mehr entgegennehmen, lassen sie sich verhältnismäßig einfach eliminieren. Ich habe es bei einem Einsatz miterlebt, als sie …« »Sag mir doch einfach, was ich tun soll!« »Mit einem gut gezielten Schuss auf die kuppelförmige Erhebung rechts neben dem Bug feuern.«
17 »Was ist mit den Schutzschirmen?« »Durch einen speziellen Interferenzeffekt sind sie genau an dieser Stelle durchlässig, unabhängig von der Richtung, aus der sie getroffen werden.« »Und wie soll ich mit diesem winzigen Beiboot fünf riesige Schlachtschiffe auf einmal ausschalten?« »Wie gesagt, es ist eine kleine Chance, mehr nicht.« Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Garshwyn die Wahrheit sagte. Die Alternative wäre eine panische Flucht, bei der ich nicht darauf hoffen konnte, meinen früheren Trick noch einmal durchzuziehen. Dummerweise war gerade keine ringförmige Turbulenz in der Nähe. Also steuerte ich die DYS-116 mit hochgefahrenem Schutzschirm direkt auf die Keilraumer zu. Ich beschloss, auf die Unterstützung des Bordrechners zu verzichten, da es zu lange gedauert hätte, ihn mit einer so komplexen Schussfolge zu programmieren. Beziehungsweise hätte ich erst einmal überlegen müssen, wie ich ihm erklärte, was ich im Sinn hatte. Also entschied ich mich für die Variante, die im Augenblick die einfachere war. Ich schaltete die Waffenkontrollen auf manuelle Bedienung und konzentrierte mich. Für einen Moment verschwamm wieder alles vor meinen Augen, bis ich nur noch durcheinander wirbelnde Keilraumschiffe sah. Aber ich ließ mich nicht beirren und feuerte in schneller Folge fünf Schüsse hintereinander ab. Ich hätte genauso gut die Augen zukneifen und blind schießen können. Und ohne den Flammenstaub hätte das Ergebnis schon vorher festgestanden. Als sich mein Sichtfeld wieder klärte, sah ich fünf Roschech-Raumschiffe, die nacheinander explodierten. Fassungslos starrte ich auf die Feuerbälle im Weltraum, die sich langsam in eine einzige langgezogene Trümmerwolke verwandelten. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Gars-
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hwyn leise, als er endlich die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich dachte, du würdest vielleicht ein Schiff vernichten und den anderen einen Schrecken einjagen, damit sie sich zurückziehen.« »Ich bin eben ein Glückskind«, antwortete ich mit ungewohnt krächzender Stimme. »Aber jetzt sollten wir uns wirklich von diesem ungastlichen Ort entfernen und uns ein wenig Entspannung gönnen.« Ich programmierte den Bordrechner mit einem neuen Kurs, sicherte die Kontrollen und zog mich in die kleine Kabine zurück.
* Nach dieser Aktion fühlte ich mich völlig ausgelaugt, obwohl die Anstrengung eigentlich nicht der Rede wert gewesen war. Normalerweise neigte ich nicht dazu, in Stressoder Gefahrensituationen zusammenzuklappen. So etwas steckte mein durchtrainierter Körper mit Unterstützung des Zellaktivatorchips locker weg. Aber jetzt brauchte ich unbedingt etwas Ruhe. Erleichtert streckte ich mich auf der Liege in der Kabine aus. Bekam ich nun die Auswirkungen des Flammenstaubs zu spüren, vor denen Tuxit mich gewarnt hatte? Immerhin war ich mir nun einigermaßen sicher, dass ich über eine neue, mir bisher nicht bekannte Fähigkeit verfügte. Ich war in der Lage, Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen. Die Flucht vor dem Keilraumschiff, der knappe Vorbeiflug der Rettungskapsel, der erstaunlich umgängliche Zaqoor – all das ließ sich mit Zufall oder Glück erklären. Solche Situationen hatte ich schon tausendfach erlebt. Aber dass ich mit getrübtem Blick fünf stecknadelgroße Ziele erwischte, indem ich einfach losballerte – das war etwas anderes! Natürlich bestand immer eine – wenn auch verschwindend geringe – Möglichkeit, mit geschlossenen Augen ins Schwarze zu treffen. Doch in der Praxis sorgte die aus-
gleichende Gerechtigkeit der Statistik dafür, dass so etwas in den meisten Fällen danebenging. Ich dachte an all die anderen seltsamen Fügungen. Die zweite Rettungskapsel, die leer war, weil ich nur ungern einen weiteren potenziellen Gegner an Bord genommen hätte. Die Roschech-Schiffe, die genau im richtigen Moment aufgetaucht waren, als das Gespräch mit Garshwyn in eine unangenehme Richtung abgedriftet war. Auch wenn sich daraus ein neues Problem entwickelt hatte. Das ich wiederum mit Bravour gemeistert hatte. Für mich gab es keinen Zweifel mehr. Ich besaß die Fähigkeit, relativ unwahrscheinliche Ereignisse Wirklichkeit werden zu lassen. Konnte ich vielleicht sogar Unmögliches leisten? Obwohl Tuxit dies kategorisch abgestritten hatte? Ein verlockender Gedanke!
* Garshwyn zog sich instinktiv in einen Winkel der kleinen Zentrale zurück und kauerte sich auf den Boden. Allmählich wurde der Fremde ihm unheimlich. Zu Anfang hatte er sich ein paarmal dabei ertappt, dass er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Er hatte sogar begonnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, mit einem Feind der Lordrichter Freundschaft zu schließen. Ihm war bewusst, dass eine derartige Verbrüderung ein gefährliches Unterfangen war. Alle Untertanen der Lordrichter waren mit einem Implantat ausgestattet, das ihnen bei Ungehorsam einen tödlichen Impuls versetzte. Hätte es nicht längst aktiviert werden müssen, als Garshwyn an Bord des Beiboots gegangen war? Und erst recht, als er mitgeholfen hatte, die Roschech-Schiffe zu vernichten? Vielleicht hatte mit dem allgemeinen Zusammenbruch der Ordnung auch das Todesimplantat seine Wirkung verloren. Oder war es möglich, dass sein Lebensretter über
Zwischen den Dimensionen Mittel verfügte, es zu neutralisieren? Garshwyn verstand nicht, was in Atlan vor sich ging. Der Weißhaarige schien von einem unbegreiflichen Geheimnis umweht zu sein. Es waren nicht nur die Augen, die den Eindruck erweckten, dass sie mehr als ein Normalsterblicher gesehen hatten. Als er mit einer lässigen Handbewegung die Roschech-Schiffe ausgelöscht hatte, schien er auf eine andere Ebene entrückt zu sein. Garshwyn glaubte sogar, in diesem Moment so etwas wie eine Aura des Bösen gesehen zu haben, eine Wolke aus grau flirrendem Staub, die Atlan umgeben hatte. Der Zaqoor fühlte sich unendlich einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Mit der TROD-AHAN hatte er auch ein Stück Heimat verloren – ganz zu schweigen von Fatuqar … Selbst die Auflösung der Machtstrukturen der Garbyor-Flotte hatte eine unausgefüllte Leere in ihm hinterlassen. Obwohl Garshwyn sicher nicht zu den fanatischsten Anhängern der Trodar-Philosophie gehörte. Er hätte sich gerne etwas mehr Freiheit für die Gestaltung seines Lebens gewünscht. Andererseits hatte die Macht der Lordrichter seinem Dasein ein klares Ziel gesetzt. Und nun hatte er alles verloren. Und in dieser Situation musste er mit einem Wesen zurechtkommen, das ihm trotz der humanoiden, zaqoorähnlichen Gestalt fremdartiger als ein Roschech oder Daorghor vorkam. Garshwyn beschloss, vor diesem Atlan auf der Hut zu sein.
6. Nach dem letzten Abenteuer versteckte ich die DYS-116 wieder im Ortungsschutz eines ausgebrannten Raumschiffswracks. Es konnte nicht schaden, mein Glück nicht allzu sehr zu strapazieren. Außerdem kostete es mich in meinem besonderen Fall eine Menge Kraft, und etwas Ruhe würde mir jetzt gut tun. Mithin blieben wir in Deckung und verlegten uns aufs Beobachten. Immer noch regierte das Chaos im einst-
19 mals mächtigen Flottenverband der Garbyor, auch wenn die hyperenergetischen Entladungen und Raumverzerrungen allmählich nachließen. Die mehreren tausend Schiffe hatten sich zu einem kugelförmigen Trümmerfeld verteilt, das inzwischen etwa zehn Lichtminuten weit vom Dunkelstern entfernt war – also etwas mehr als die Distanz, in der die Erde ihre Sonne umkreiste. Der Explosionsdruck trieb die Wolke aus Schrott, die auf gut dreißig Kilometer Dicke zusammengestaucht war, mit einer Geschwindigkeit von fast 3000 Stundenkilometern nach außen. Die wenigen Schiffe, die nach dem Inferno noch manövrierfähig waren, hatten längst den Schauplatz verlassen. Garshwyn vermutete, dass sie zu anderen Sammeloder Stützpunkten geflogen waren, um sich neu zu formieren. Eigentlich hätte langsam Ruhe auf dem Weltraumfriedhof einkehren müssen. Wenn nicht die Roschech gewesen wären. Sie schienen die Reste der Garbyor-Flotte als willkommenes Jagdrevier zu betrachten. Sie tauchten überall auf, wo sich noch Leben regte – und wenn es sich nur um ein Energieaggregat handelte, das mit einem letzten Aufblitzen den Geist aufgab. Sofort waren die Roschech zur Stelle und schossen alles kurz und klein. »Was weißt du noch über die Roschech?«, fragte ich Garshwyn, der an meiner Seite die Szenen betrachtete, die sich um uns herum abspielten. »Nicht sehr viel«, antwortete der Zaqoor. »Sie sind reptiloid und etwa so groß wie du. Sie haben einen sehr grazilen Körper, einen länglichen Schädel und einen langen Schweif. Ich selbst bin nie einem Vertreter dieses Volks begegnet. Ich habe gehört, dass man ihre Raumschiffe nur mit Atemmaske betreten sollte. Sie lieben ein feuchtwarmes Klima, in dem sich sehr schnell unangenehme Gerüche bilden.« »Ich stelle mir gerade bildlich vor, wie sie durch die Dschungel und Sümpfe ihrer Heimatwelt stapfen und mit ihren langen Zungen Insekten im Flug fangen.«
20 »Zu ihrer Herkunft kann ich dir nichts sagen. Und wie sie sich ernähren, habe ich auch nie beobachtet. Sie haben nicht viel Kontakt zu den anderen Garbyor-Völkern gehabt.« »Diese Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, sagte ich. »So scheint es.« Ich wandte mich wieder der Holoprojektion zu, weil ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte. »Da draußen scheint sich etwas zu tun. Was bezwecken deine Freunde mit diesem Manöver?« »Ich vermute, sie sammeln sich, weil es hier nichts mehr zu holen gibt. Sie haben ihren Zorn an allen Zaqoor ausgelassen, die sich in der Nähe des Dunkelsterns aufgehalten haben.« »Allen bis auf einen«, schränkte ich ein. Er sah mich an. »Vergiss nicht, dass auch du in einem Zaqoor-Beiboot sitzt.« Nach kurzer Zeit hatten sich in etwa einer Lichtminute Entfernung knapp zweihundert Keilraumer der Roschech versammelt. Es kamen noch ein paar Nachzügler dazu, dann schien die Flotte komplett zu sein. Offenbar hatten sie jetzt tatsächlich genug, denn kurz darauf setzten sie sich in Bewegung und gingen in den Überlichtflug. Aber nicht etwa in einem koordinierten Manöver, sondern jedes Schiff einzeln. Jeder Keilraumer wählte einen eigenen Zeitpunkt für den Abflug und sein eigenes Tempo – wie es sich für eigensinnige Kämpfernaturen gehörte. Nur die Richtung, in die sie aufbrachen, war in allen Fällen dieselbe. »Was glaubst du, wohin sie fliegen?«, wollte ich von Garshwyn wissen. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich kann mich nur erinnern, dass der Hauptteil ihrer Flotte bei Letrasch stationiert war.« Ich beugte mich über die Konsole, um eine dreidimensionale Sternkarte abzurufen. Dann wies ich den Bordrechner an, den Kurs zu extrapolieren und alle Systeme in der Umgebung anzuzeigen. »Nun rate mal, wel-
Bernhard Kempen ches System genau in dieser Richtung liegt.« »Letrasch?« »In einer Entfernung von nur siebenundneunzig Lichtjahren. Ein Katzensprung.« Garshwyn sah mich mit verdutztem Ausdruck an. »Was hat das Tier in der Kiste damit zu tun?« »Eigentlich gar nichts. Das ist nur eine Redensart, die ich von einem mir recht gut bekannten Barbarenvolk übernommen habe. Purer Zufall, dass darin dasselbe Tier eine Rolle spielt.« Garshwyns Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er immer noch nichts verstanden hatte. »Ich würde mir die Sache gerne aus der Nähe ansehen«, wechselte ich das Thema und ließ das Beiboot Fahrt aufnehmen. »Was hast du vor?« »Ich beabsichtige, mich in die Höhle des Löwen zu wagen«, verkündete ich. »Das ist eine weitere Redensart mit einem anderen Tier, das zufällig ein naher Verwandter der Katze ist. Nur wesentlich größer und gefährlicher.« Jetzt sagte Garshwyn vorläufig gar nichts mehr.
* In gebührendem Abstand ging die DYS116 auf Unterlicht und trieb im freien Fall auf den bläulichen Stern zu, der mich an die Sonne meines Heimatsystems erinnerte. Zwischen drei ausgeglühten Gesteinsbrocken und vier schon etwas verblassten Gasriesen zog ein etwa erd- oder arkongroßer Sauerstoffplanet seine Bahn. Letrasch. Den Ortungsdaten zufolge musste es sich um eine Welt handeln, auf der es sowohl Arkoniden als auch Zaqoor aushalten konnten. Genauere Werte bekam ich aus dieser Entfernung nicht herein. Auch in der Datenbank des Bordrechners fanden sich keine näheren Angaben über die Beschaffenheit dieses Planeten. Also mussten wir uns überraschen lassen.
Zwischen den Dimensionen Ich steuerte den Schatten hinter dem innersten Gasriesen an, der zufällig gerade günstig stand, und nutzte den Ortungsschutz, um der Sache ein gutes Stück näher zu kommen. Dann ließ ich das Beiboot zwischen den zahlreichen Monden und Planetoiden treiben und richtete die technischen Sinnesorgane der DYS-116 auf Letrasch. Jetzt erhielt ich etwas aussagekräftigere Daten. Hohe Anteile von Sauerstoff, Kohlendioxid und Wasserdampf in der Atmosphäre, eine Durchschnittstemperatur von etwa 25 Grad Celsius und ein Lichtabsorptionsspektrum, das auf jede Menge Photosynthese hinwies. Also ein Treibhausklima, in dem es vor Leben strotzen musste. Von den Roschech-Schiffen jedoch weit und breit keine Spur. Ich fühlte mich ermutigt, mich noch etwas näher heranzuwagen. An die mutmaßliche Höhle der Roschech. Im Schatten eines Mondes ließ ich das Beiboot beschleunigen, dann trieben wir im freien Fall und mit heruntergefahrenen Systemen auf Letrasch zu. Da wir uns von »außen« näherten, sahen wir den Planeten nur als schmale Sichel neben dem blau strahlenden Sonnenball. Plötzlich meldete die Ortung etwas Ungewöhnliches – eine hohe Konzentration exotischer Metalle an der Oberfläche. Die Stelle gelangte durch die Rotation erst jetzt in den Erfassungsbereich der Sensoren – genau dort, wo es auf der schmalen Sichel gerade Abend wurde. Offenbar waren sämtliche Roschech-Schiffe auf Letrasch gelandet. Wir konnten nur hoffen, dass sie Besseres zu tun hatten, als den Nachthimmel nach verdächtigen Bewegungen abzusuchen. Vor allem nicht nach wehrlosen kleinen Zaqoor-Beibooten. Die parabelförmige Bahn führte uns immer näher an den Planeten heran, und nun wurden auch erste Details auf der Oberfläche erkennbar. Wie es schien, hatte ich mit meiner aller-
21 ersten Vermutung voll ins Schwarze getroffen. Diese Welt war mit einem Flickenteppich aus Land und Wasser übersät. Ich konnte noch nicht sagen, ob es ein Meer mit vielen Inseln oder eine Landfläche mit vielen Seen war. Vermutlich lief es letztlich auf dasselbe hinaus. Auf jeden Fall war alles mit sattem Grün bedeckt, sogar die Wasserflächen. Da unten breitete sich ein einziger dampfender Dschungel aus. Eine brodelnde Ursuppe. Die Atmosphäre nahm so viel Energie von der Sonne auf, dass sich allein auf der Hemisphäre, die uns zugewandt war, gleichzeitig über zwanzig Wirbelstürme austobten. Sowohl entlang des Äquators als auch an den Polen. Dann stutzte ich. Nein, eigentlich durfte es mich nicht überraschen, dass meine Vermutung bestätigt worden war. Wenn weder Garshwyn noch der Bordcomputer gewusst hatten, wie es auf dieser Welt aussah, waren alle Möglichkeiten offen gewesen. Wenn ich dann eine konkrete Vorstellung hatte, war die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass sich genau das als Wirklichkeit entpuppte. Es passte. Aber es war schon ein eigenartiges Gefühl. Hätte sich Letrasch wirklich als trister Wüstenplanet erwiesen, wenn ich mir zuvor ein entsprechendes Bild veranschaulicht hätte? Nein, das hätte nicht gepasst. Weil Garshwyn mir vom feuchtwarmen Klima erzählt hatte, das die Roschech bevorzugten. Aber diese Überlegungen brachten mich auf eine ganz neue Idee. Ich konnte diese Erkundung für ein weiteres Experiment nutzen. Wenn es funktionierte, wäre es ein weiterer Beweis für die verblüffende Macht des Flammenstaubs.
* Natürlich hatte ich die ganze Zeit daran gedacht, auf Letrasch zu landen. Sofern sich eine günstige Gelegenheit ergab. Somit kam das schwere Gewitter, das sich dem Standort der Roschech-Flotte näherte, buchstäblich wie gerufen. Die dichten Wol-
22 kenmassen und zuckenden Blitze ließen sich hervorragend als Ortungsschutz nutzen. Schließlich senkte sich das Zaqoor-Beiboot im prasselnden Regen auf die Oberfläche von Letrasch. Unter dem Raumschiff knickten ein paar Bäume mit riesigen gefiederten Blättern ein, dann versank die DYS116 etwa zwei Meter tief im Matsch. Das erste Teilexperiment war nur zur Hälfte erfolgreich verlaufen. Ich hatte mir während des Eintritts in die Atmosphäre vorgestellt, dass die vorherrschende Baumspezies von Letrasch riesige lappenförmige Blätter hatte. Jetzt wurde mir klar, warum dieser Wunsch nur schwerlich in Erfüllung gehen konnte. Die häufigen Stürme hätten solche Blätter sehr schnell in kleine Fetzen oder Streifen gerissen. Aber die großen gefiederten Blätter waren immerhin ein guter Kompromiss. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Garshwyn. »Ich schlage vor, wir warten ab, bis es hell wird und sich der Sturm verzogen hat. Danach werden wir uns ein wenig umsehen.« »Du willst nach draußen gehen?«, kam es entsetzt von Garshwyn zurück. »Es kann nicht schaden, wenn wir uns ein wenig frische Luft um die Nase wehen lassen. Es ist schon fast eine Woche her, seit ich das letzte Mal festen Boden unter den Füßen hatte.« »Frische Luft? Ich will gar nicht wissen, wie es auf diesem Planeten riecht! Ich würde es vorziehen, wenn du dich allein in dieses Abenteuer stürzt.« Ich sah den Zaqoor nachdenklich an. »Wie oft hast du dich in deinem Leben schon auf der Oberfläche eines Planeten aufgehalten?« »Lass mich überlegen … dreimal. Aber das letzte Mal stand ich eigentlich nur in der Schleuse und habe die Oberfläche gar nicht betreten.« Etwas in dieser Richtung hatte ich mir gedacht. »Ich vermute, du bist sogar an Bord eines Raumschiffs geboren.«
Bernhard Kempen »Natürlich! Alles andere wäre viel zu unhygienisch.« »Oder ist das nur ein Trick, damit du allein mit dem Beiboot verschwinden kannst, während ich draußen herumstapfe?« »Nein! Bitte glaub mir, Atlan!« Garshwyn sah mich mit verzweifelter Miene an. »Fessle mich, betäube mich – mach, was du willst! Ich bin zu allem bereit. Aber zwing mich nicht, auch nur einen Fuß auf diesen Dreckklumpen zu setzen!«
* Das Phänomen der Unbestimmtheit scheint auf den ersten Blick nur den Bereich des sehr Kleinen zu betreffen. Subatomare Partikel existieren in einem nicht klar definierten Zustand. Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Aufenthaltsort und selbst die Frage, ob sie Werte aus reiner Energie oder materielles Teilchen darstellen, sind nicht eindeutig festgelegt. Dies geschieht erst, wenn sie mit anderer Materie interagieren. In diesem Augenblick realisiert sich eine von vielen Möglichkeiten. Die Konfrontation zwingt sie dazu, sich für einen Zustand zu »entscheiden«. Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
7. Garshwyn hatte sich ohne Gegenwehr auf der Medo-Liege ausgestreckt und sich ein Fesselfeld anlegen lassen. Mein Angebot einer Paralyse oder Narkose zur Verkürzung der Wartezeit hatte er ausgeschlagen. Ich stellte die Kontrollen so ein, dass das Fesselfeld nach zwölf Stunden automatisch abgeschaltet wurde. Wenn ich dann noch nicht zurückgekehrt war, hatte ich andere Probleme. Dann konnte Garshwyn selbst entscheiden, ob er mich heraushauen oder sich lieber aus dem Staub machen wollte. Nach kurzer Überlegung sorgte ich für einen zweiten Fall vor. Nun würde der
Zwischen den Dimensionen Zaqoor auch dann die Freiheit zurückerhalten, wenn die Ortung der DYS-116 eine Gefahrensituation erkannte – wenn das Schiff beispielsweise vom Boden oder aus der Luft oder dem Weltraum angegriffen wurde. Ich wollte ihn nicht zur Tatenlosigkeit oder zum Tod verurteilen. Aber ich hatte auch noch nicht genug Vertrauen, um völlig auf solche Vorsichtsmaßnahmen zu verzichten. Nicht genug Vertrauen in Garshwyn und in die Fähigkeiten, die mir der Flammenstaub verlieh. Danach öffnete ich das Schleusenschott. Vorsichtig prüfte ich den Schwall warmer Luft, der mir entgegenschlug. Die Systeme des Zaqoor-Beiboots hatten sie zwar als atembar klassifiziert, aber wie die Geruchsmischung auf arkonidische Nasen wirkte, hatte der Bordrechner nicht beurteilen können. Die Luft von Letrasch war ein würziger, beinahe betörender Duft, der nach einer Woche im Weltraum sofort meine Sinne belebte. Experiment geglückt. Ich hatte zuvor beschlossen, dass es so sein sollte. Weil es hier entweder nicht so stank wie an Bord eines Roschech-Raumers oder weil Zaqoor-Nasen auf andere Geruchsnoten reagierten als die von Arkoniden. Dann trat ich durch die Schleuse auf die Oberfläche des Planeten. Das hieß, zuerst wäre ich beinahe darin versunken. Hastig rettete ich mich auf einen Baumstamm, der durch die Landung des Beiboots umgeknickt war. Ich balancierte auf dem Stamm weiter, bis ich einigermaßen festen Untergrund erreicht hatte. Es stellte sich heraus, dass sich überall Sandrücken oder Felsbuckel durch den Dschungel zogen, was mir ein gutes Vorankommen ermöglichte. Der Wald bestand hauptsächlich aus den Bäumen mit den großen gefiederten Blättern, und auch im Unterholz herrschte keine besonders große Artenvielfalt. Moosteppiche, farnähnliches Gestrüpp, ineinander verschlungene Blattgewächse mit blassblauen
23 Blüten. Genau so hatte ich mir die Umgebung vorgestellt, in der sich die Roschech wohl fühlen mussten. Von größeren Tieren war bislang nichts zu sehen. Ich riss mich zusammen und verdrängte das Bild eines mehrere Meter langen schleimigen Wurms, das unverhofft aus meinem Unterbewusstsein aufgetaucht war. Nein, hier gab es nur harmlose kleine Tierchen! Frösche, Eidechsen, Nagetiere und dergleichen. Ein filigranes Insekt näherte sich surrend und landete auf meiner Hand. Ich betrachtete es neugierig, doch schon im nächsten Moment zuckte ich zusammen und schüttelte es hektisch ab. Was in aller Welt hatten bissige Blutsauger oder Schlimmeres hier zu suchen? Ich erinnerte mich, dass in meiner ersten Vision von Letrasch Insekten vorgekommen waren. Erfahrungsgemäß erwiesen sie sich nur selten als niedliche Kuscheltierchen. Also musste ich jetzt wohl oder übel damit leben. Zumal ich sie in meinen zweiten, etwas konkreteren Wunsch hinsichtlich der Tierwelt nicht ausdrücklich eingeschlossen hatte. Mir ging ein altes Sprichwort durch den Kopf: Überlege dir genau, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen! Ein guter Rat.
* Nach einer Stunde hatte ich mich etwa zwei Kilometer vom Beiboot entfernt. Während der nicht ganz einfachen Wanderung war es zu keinen weiteren Zwischenfällen gekommen. Nur einmal hatte ich dicht unter der Oberfläche eines trüben Tümpels etwas gesehen, was Ähnlichkeit mit einem mehrere Meter langen schleimigen Wurm hatte. Aber zum Glück hatte es nicht das Bedürfnis verspürt, an Land zu kriechen und einen ortsfremden Eindringling zu bedrohen. Ich hatte mich in die Richtung des Landeplatzes der Roschech-Schiffe bewegt, die
24 selbst noch etliche Kilometer entfernt waren. Doch schon hier sah ich den ersten Roschech. Ich ging hinter einem Farnstrauch in Deckung und beobachtete, wie der Reptiloide die kleine Lichtung betrat. Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass er genauso aussah, wie Garshwyn beschrieben hatte. Eine etwa zwei Meter große, aufrecht gehende, schlanke Eidechse mit langem Schwanz. Er blieb auf der Lichtung stehen und schaute sich unschlüssig um. Ich hatte keine Ahnung, was der Roschech hier suchte. Die Szene lag in einem seltsamen blassen Licht, das durch die Wolken des sich verziehenden Gewitters gefiltert wurde. Als nicht allzu weit entfernt ein käferähnliches Insekt vorbeisummte, sprang er unvermittelt auf, ließ eine lange Zunge hervorschnellen und fing das Tierchen im Flug. Unglaublich! Es war exakt so, wie ich es dahingesagt hatte, als ich mit Garshwyn über die Roschech spekuliert hatte. Ich beschloss, das Experiment fortzusetzen. Diesmal jedoch bemühte ich mich, meine Vorstellungen nicht zu sehr an üblichen Klischees auszurichten, die gemeinhin mit reptiloiden Wesen in Verbindung gebracht wurden. Diese Spezies sollte ein paar Besonderheiten aufweisen, die im Universum nicht allzu häufig anzutreffen waren. Dann wartete ich gespannt ab. Wenig später trat ein zweiter Roschech auf die Lichtung. Die beiden näherten sich vorsichtig und schlichen eine Weile lauernd umeinander herum. Dann stürmte der Neuankömmling unvermittelt los und stürzte sich auf den ersten Roschech. Sie rauften miteinander und stießen dabei ein helles Quieken aus. Und da war es schon, mein erstes AntiKlischee: Diese Reptilien fauchten nicht, sie quiekten wie terranische Schweine! Die Rauferei war keineswegs ein Kampf auf Leben oder Tod, sondern hatte eher etwas Spielerisches. Nur kurze Zeit später ließen sie voneinander ab und belauerten sich wieder.
Bernhard Kempen Schließlich erschien noch ein weiterer Roschech auf der Lichtung. Das Spiel begann erneut, nur dass sie sich diesmal zu dritt balgten. Ich konnte nicht allzu viele Details erkennen, aber es war nicht zu übersehen, dass sich die drei Individuen hinsichtlich des Körperbaus in Kleinigkeiten unterschieden. Das ließ sich noch mit individuellen Abweichungen erklären. Recht auffällig waren jedoch die drei Knochenleisten, die ihre Köpfe zierten. Hier traten die Unterschiede am deutlichsten hervor. Beim ersten Roschach waren sie nur andeutungsweise ausgeprägt, beim zweiten bildete die mittlere Leiste eine Art Kamm, und beim dritten hatten sich die beiden äußeren Leisten am stärksten entwickelt. Als sie sich gegenseitig die braunen Monturen vom schuppigen Leib rissen und die Angelegenheit intensiver wurde, nutzte ich ihre Ablenkung, um mich dezent zurückziehen. Ich hatte genug gesehen – auch das dritte Geschlecht, das ich mir für die Roschech vorgestellt hatte, war gegeben! Genauer wollte ich es gar nicht wissen. Ich stapfte ein Stück weiter durch den Dschungel, bis ich an eine Gruppe von Bäumen kam, in deren Nähe nur niedriges Unterholz wuchs. Es sah danach aus, dass dieser Ort regelmäßig von den Roschech besucht wurde, sodass sprießende Keimlinge sofort niedergetrampelt wurden. Die Bäume wiesen noch eine weitere Besonderheit auf. An den Ästen hingen schlauchförmige Gebilde von schmutzig weißer Färbung. Sie waren etwas über einen halben Meter lang und maßen im Querschnitt etwa dreißig Zentimeter. Da ich keine Roschech in der Nähe sah, wagte ich mich näher heran. Ich berührte eins dieser Gebilde und überzeugte mich, dass sie eine sehr stabile Hülle besaßen. Sie waren um und über die Äste gelegt, geschlungen oder gewunden, damit sie nicht gleich beim nächsten Sturm herunterfielen. Dann fand ich eins, an dem sich etwas tat. Ich kam näher und beobachtete, wie an ei-
Zwischen den Dimensionen nem Ende plötzlich die Hülle aufbrach. Nach einer kurzen Atempause schlüpfte etwas heraus – ein Bündel aus schuppigen Armen, Beinen und einem langen Schwanz. Geschickt schlang es sich um den nächsten Ast und streckte sich auf seine volle Länge von etwa fünfzig Zentimetern. Ein junger Roschech. Bevor er auf mich aufmerksam werden konnte, zog ich mich zurück. Das Experiment war ein voller Erfolg gewesen.
* Ich hatte mir vorher überlegt, dass die Roschech zur Abwechslung dreigeschlechtlich waren und ihre Eier nicht in Nester legten, sondern an Bäumen aufhängten. Alles andere wäre zu normal gewesen. Nachdem die Kleinen zur Welt gekommen waren, tollten sie eine Weile zwischen den Ästen herum, bis sie groß genug waren, am Boden den aufrechten Gang zu üben. Die Sache mit den Knochenleisten hatte allerdings noch einen zusätzlichen interessanten Aspekt. Das 0-1-2-Kämme-System war meine Idee gewesen, aber bei der realen Umsetzung hatte sich so etwas wie ein Wahrscheinlichkeitsfaktor eingeschlichen. Die Lösung mit den drei Leisten, die bei allen Geschlechtern vorkamen, entsprach genau dem Prinzip, mit dem die natürliche Evolution geschlechtsspezifische Merkmale entstehen ließ. Eine elegante kleine Anpassung, die meiner Ausgangsidee etwas mehr Glaubwürdigkeit verlieh. Das Faszinierendste an dieser Geschichte war, dass ich entschieden hatte, wie die Roschech lebten! Sie waren so, wie sie waren, weil es mir so in den Sinn gekommen war. Ich hatte die Macht, das Universum zu verändern, es nach meinen Vorstellungen zu gestalten. Dass es eine Welt namens Letrasch gab, hatte schon vorher festgestanden. Aber wie es hier aussah und was die Roschech hier
25 trieben – das war ganz allein mein Werk gewesen! Die Konsequenzen waren kaum zu fassen. Damit nicht genug. Mit meiner Schöpfung musste ich noch viel mehr bewirkt haben. Wenn die Lordrichter wussten, dass diese Spezies dreigeschlechtlich war, dann wussten sie es nur, weil ich es so bestimmt hatte! Zweifellos hatten schon andere Intelligenzwesen Kontakt mit den Roschech gehabt. Doch in diesen Momenten hatte ich entschieden, was dabei über die Lebensweise der Reptiloiden bekannt geworden war. Ich hatte bestimmt, welche Art von Aufzeichnungen es über diese Begegnungen gab. Wenn ich eines Tages an Bord eines Garbyor-Schiffs oder anderswo entsprechende Daten finden würde, mussten sie natürlich mit meinen Beobachtungen übereinstimmen. Ein atemberaubendes Gefühl! Mir war natürlich klar, dass ich mit der Macht des Flammenstaubs nicht alles bewirken konnte. Ich konnte mir nicht wünschen, dass die Lordrichter nie existiert hatten – womit meine derzeitigen Probleme auf einen Schlag hinfällig gewesen wären. Meine Fähigkeit erstreckte sich nur auf die Beeinflussung unbestimmter Ereignisse, die ich in eine bestimmte Richtung lenken konnte. Aber ich musste nun in der Lage sein, mich aus nahezu jeder Schwierigkeit zu retten. Weil es immer eine Möglichkeit gab, mochte die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering sein. Wahnsinn!
* Ein Stück weiter stieß ich auf eine Felskuppe, die sich knapp hundert Meter über den ansonsten recht ebenen Boden erhob. Ich kletterte hinauf, und ganz oben bestieg ich den höchsten Baum. Mit dem Energiestrahler, den ich auf minimale Leistung stellte, sägte ich ein paar Äste ab, bis ich freie Sicht hatte. Es hatte sich gelohnt.
26 Ich blickte über das grüne Blätterdach des Dschungels, das sich bis zum Horizont erstreckte. Nur links von mir konnte ich weit im Süden gerade noch den Rand einer schimmernden Wasserfläche erkennen. Doch viel interessanter war die Szenerie, die sich unmittelbar vor mir ausbreitete. In unregelmäßigen Abständen ragten gewaltige dunkelbraune Dreiecke aus dem Grün. Wie die Bauwerke einer untergegangenen Kultur, deren Städte von der Natur zurückerobert worden waren. Die Roschech-Schiffe hatten mit der breiten Heckseite auf dem Boden aufgesetzt, sodass die Bugspitze etwa 700 Meter hoch in den Himmel ragte. Ein ungewöhnliches Zusammentreffen von Natur und Technik. Eigentlich war das Bild viel zu beeindruckend, um es zu zerstören. Aber darauf durfte ich keine Rücksicht nehmen. Ich machte mich für ein weiteres Experiment bereit. Mit der Macht des Flammenstaubs konzentrierte ich mich auf die Keilraumschiffe und stellte mir vor, dass es plötzlich zu einer Fehlfunktion in den Energiesystemen kam. Irgendeine Panne, die zu einer unkontrollierbaren Kettenreaktion führte. Etwas, das sie mit einem Schlag vernichtete. Wieder wurde mein Sichtfeld unscharf, und ich sah so etwas wie Geisterbilder, die sich über das reale Bild legten. Aber sonst tat sich nichts. Ich strengte mich etwas mehr an, und nun erkannte ich den Ansatz einer Möglichkeit, die ich wahr werden lassen konnte. Ich holte das entsprechende Geisterbild näher heran, doch dann sah ich die Schemen startender Keilraumschiffe, die aus dem Dschungel aufstiegen. Ich drängte das Bild zurück, weil es nicht das war, was ich bewirken wollte. Immerhin leuchtete mir ein, was das bedeutete. Die Wahrscheinlichkeit eines Starts der Raumer war höher als eine spontane Explosion. Also musste ich mich noch stärker konzentrieren. Ich versuchte es erneut und drang tiefer
Bernhard Kempen als je zuvor in die Schichten der sich überlagernden Geisterbilder ein. Dann sah ich in weiter Ferne die Andeutung einer Szene, die meinen Vorstellungen entsprach. Ich strengte mich an, aber es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Mit einem letzten Schub aus mentaler Kraft riss ich das Bild heran, das Wirklichkeit werden sollte. Doch bevor ich es aus den Tiefen der Unwahrscheinlichkeit holen konnte, geschah etwas anderes. Ein stechender Schmerz durchbohrte meinen Kopf, und mir wurde schwindlig. Die Welt kippte, und mit dem letzten Rest meines Bewusstseins konnte ich verhindern, dass ich vom Baum fiel.
* Der Macht des Flammenstaubs schienen Grenzen gesetzt zu sein. Aus irgendeinem Grund war das, was ich mir gewünscht hatte, zu unwahrscheinlich gewesen. Um es wahr werden zu lassen, hätte ich mehr Kraft aufbringen müssen, als mir zur Verfügung stand. War die Technik der Keilraumschiffe so sicher und unverwüstlich, dass sie praktisch nie versagte? Meine Erfahrung – auf die ich mir einiges einbilden konnte – sprach dagegen. Jede Technik war gegen Störungen anfällig. Höchstens der Standard der Kosmokraten kam dem Ideal der Unverwüstlichkeit nahe. Alles, was von normalen Intelligenzwesen zusammengebaut wurde, ging irgendwann kaputt. Daran konnte es also nicht liegen. Ich ließ mir noch einmal durch den Kopf gehen, was ich über Wahrscheinlichkeit und Statistik wusste, und schließlich dämmerte mir, wo ich einen Denkfehler begangen hatte. Ich zwängte mich in eine Astgabel des Baumes, um mir einen sicheren Stand zu verschaffen, und machte mich für ein weiteres Experiment bereit. Ich hatte mich noch gar nicht richtig von der Anstrengung erholt, aber diesmal wollte ich nicht so weit gehen
Zwischen den Dimensionen wie beim letzten Mal. Für den nächsten Versuch beschränkte ich mich auf eine bescheidenere Variante meines Wunsches. Wenig später verwandelte sich eins der Keilraumschiffe in einen grellen Feuerball, der sich mit geradezu majestätischer Anmut aus dem Dschungel erhob. Mehrere Sekunden darauf erreichte mich der grollende Donner der Explosion. Von meinem Standort konnte ich etwa dreißig Roschech-Schiffe überblicken. Sich die totale Vernichtung aller Keilraumer zu wünschen war vielleicht etwas zu größenwahnsinnig gewesen. Aber die Chance, dass es in einem dieser Raumschiffe zu einer fatalen technischen Störung kam, war durchaus realistisch. Ich beobachtete eine Weile das brennende Wrack inmitten des schwarzen Flecks, den die Explosion im Dschungel hinterlassen hatte. Zu einem flächendeckenden Waldbrand kam es nicht. Dazu schienen Boden und Vegetation zu viel Feuchtigkeit gespeichert zu haben. Dann fiel mir ein, wie ich mein Werk auf einfachere Weise fortsetzen konnte. Ich zog meinen Energiestrahler, stellte ihn auf engste Bündelung ein und visierte einen Keilraumer an, der günstig stand und nicht zu weit entfernt war. Unter normalen Umständen wäre ich nie auf die Idee gekommen, mit einer Handwaffe auf ein Objekt zu zielen, das mehrere Kilometer entfernt war. Aber ich wollte es wenigstens versuchen. Nach einer Weile hatte ich mich auf das leichte Schaukeln des Baumes eingestellt und drückte ab. Der Energiestrahl, der im Grund nicht mehr als ein Nadelstich war, schlug genau in die Kuppel neben dem Bug. Ich wünschte mir, dass dieser winzige Impuls trotzdem ausreichte, um die Vernichtungsschaltung auszulösen. Ein zweiter Feuerball erblühte über dem Dschungel von Letrasch. Ich nahm noch ein drittes und viertes Keilraumschiff ins Visier, und jedes Mal wurde die Landschaft von neuen Detonatio-
27 nen erschüttert. Zufrieden bewunderte ich mein Werk. Dabei ließ ich es bewenden. Die übrigen Schiffe waren zu weit entfernt oder standen in einem ungünstigen Winkel, sodass ich nicht an die Kuppel herankam. Außerdem hatte mich die Anwendung des Flammenstaubs inzwischen so sehr ausgelaugt, dass ich kaum noch die Hand mit der Waffe ruhig halten konnte. Obwohl mir jetzt eine längere Ruhepause gut getan hätte, beeilte ich mich, vom Baum herunterzukommen und mich möglichst weit vom Hügel zu entfernen. Immerhin war es denkbar, dass die Roschech herausfanden, von wo die Schüsse gekommen waren. Meine Vorsicht war angebracht. Nur wenige Minuten später hörte ich hinter mir ein lautes Krachen. Durch die dichte Vegetation konnte ich nicht sehen, was passiert war. Aber alles deutete darauf hin, dass ein Schütze an Bord eines Keilraumschiffs den Hügel ins Visier genommen und Vergeltung geübt hatte. Trotz meiner Erschöpfung machte ich mich unverzüglich auf den Weg zum Beiboot.
* Um meine Kräfte zu schonen, hatte ich immer wieder längere Verschnaufpausen eingelegt. Von den zwölf Stunden waren erst drei vergangen, sodass ich mir noch keine Sorgen wegen Garshwyn machen musste. An meiner letzten Raststätte war ich tatsächlich für einen Moment eingenickt. Das war ein deutliches Anzeichen, dass ich bereits meine letzten Energiereserven angegriffen hatte. Ich musste aufpassen, dass ich mir nicht zu viel zumutete. Ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Ich hielt den Atem an und sah mich um. Dann entdeckte ich sie. Nicht weit entfernt strichen drei Roschech durchs Unterholz. Sie bewegten sich mit großer Vorsicht und reckten immer wieder die langen Hälse. Ihr Verhalten ließ keinen
28 Zweifel, dass sie etwas suchten. Der Verdacht lag nahe, dass sie nach mir suchten. Beziehungsweise nach dem Unbekannten, der ihre Raumschiffe vernichtet hatte. Es mochte durchaus sein, dass es dieselben drei Individuen waren, die ich vor einer Weile beim hemmungslosen Treiben beobachtet hatte. Aber sicher sein konnte ich mir nicht. Letztlich spielte es auch keine Rolle. Ich rutschte langsam und möglichst unauffällig den Baumstamm hinunter, gegen den ich mich gelehnt hatte, und rollte mich ins Dickicht. Offenbar ging ich dabei nicht unauffällig genug vor. Oder die Echsenwesen waren ausgezeichnete Späher. Jedenfalls drehte sofort einer der Roschech den Kopf in meine Richtung. Er quiekte seinen Kollegen etwas zu und hob eine Waffe. Ein Energiestrahl schlug in den Baumstamm und hinterließ ein verkohltes Loch im Holz. Genau dort, wo sich eine Sekunde zuvor noch mein Kopf befunden hatte. In dieser Sekunde war ich weitergerollt und im dichten Gestrüpp in Deckung gegangen. Ein zweiter Schuss zischte zwei Meter von mir entfernt ins Farndickicht. Das bedeutete entweder, dass mein Gegner mich aus den Augen verloren hatte oder ein lausiger Schütze war. Angesichts seines ersten Schusses schien dies aber nicht zuzutreffen. Ohne meine Deckung zu verlassen, hob ich den Energiestrahler, konzentrierte mich und wartete. Als ich einen der Roschech rufen hörte, drehte ich die Waffe ein kleines Stück zur Seite, bis die Richtung ungefähr stimmte, schloss die Augen und drückte auf den Auslöser. Der Energiestrahl schnitt zischend durch die Farnwedel, und im nächsten Moment ertönte ein abgehackter Schrei. Hastig wechselte ich erneut meinen Standort, obwohl ich mich am liebsten vor Schmerzen am Boden gewälzt hatte. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn in eine
Bernhard Kempen altertümliche Schraubzwinge geklemmt. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Deshalb war es ratsamer, wenn ich in nächster Zeit versuchte, mich durch bloßes Kampfgeschick statt exzessive Anwendung des Flammenstaubs aus der Affäre zu ziehen. Was mich mehrere Jahrtausende am Leben gehalten hatte, würde auch in dieser Situation genug sein. Hoffte ich. Ich wagte es, für einen kurzen Moment aus dem Farngestrüpp aufzutauchen, um mich zu orientieren und zwei Schüsse auf meine noch übrigen Gegner abzugeben. Beide Schüsse gingen daneben. Anschaulicher hätte mir kaum demonstriert werden können, wozu ich nur mit Hilfe des Flammenstaubs imstande war. Trotzdem ließ ich es darauf ankommen und hetzte weiter. Ich ging hinter einem dicken Baumstamm in Deckung und wartete ab. Als ich etwas hörte, schob ich mich vorsichtig an der Rinde entlang, bis ich ein Ziel hatte. Ich bemühte mich, die Hand ruhig zu halten, und drückte ab. Jetzt war nur noch ein Roschech übrig. Wieder horchte ich. Eine Weile blieb es ruhig, dann waren plötzlich Schritte zu hören, die sich hastig entfernten. Sofort sprang ich hinter dem Baum hervor, zielte, und schoss dem flüchtenden Echsenwesen in den Rücken. Problem gelöst. Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchte die Frage auf, ob das vielleicht nicht ganz fair gewesen war. Auf jemanden zu schießen, der sich ganz offensichtlich dem weiteren Kampf entzog. Ich wollte diesen Einwand nicht gelten lassen. Wenn der letzte Roschech seine Artgenossen alarmiert hätte, wäre der Kampf erst richtig losgegangen. In der nächsten halben Stunde konnte ich meinen Weg ungehindert fortsetzen. Ich dachte schon, ich würde das Beiboot ohne weitere Zwischenfälle erreichen, als es neuen Ärger gab.
Zwischen den Dimensionen
8. Garshwyn schreckte aus dem Schlaf hoch, als die Alarmsirene durch das Beiboot schrillte. Anfangs hatte er sich bemüht, wach zu bleiben, damit er auf keinen Fall Atlans Rückkehr verpasste. Er hatte versucht, sich Fatuqars Halbexistenz in einer Rettungskapsel vorzustellen. Ein geschlossener Raum, in dem sich eine Person aufhielt und zugleich nicht aufhielt. Dann der Augenblick, als die Kapsel geöffnet wurde. Als die Entscheidung zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein getroffen wurde. Wie eine fallende, sich drehende Scheibe, die schließlich auf einer definitiven Seite landete. Er stellte sich vor, wie sich das Universum in diesem Moment verzweigte. Auf der einen Seite ein Universum, in dem Fatuqar in der Kapsel war, auf der anderen eines, in dem sie es nicht war. Dann waren die Gedanken allmählich in einen wirren Strudel aus Bildern übergegangen, die in einen noch wirreren Traum mündeten. Garshwyn brauchte nach dem Aufwachen ein paar Sekunden, um sich wieder zu orientieren. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er den Oberkörper aufgerichtet hatte. Dass er ungehindert hochgeschreckt war. Das Fesselfeld war desaktiviert worden. Da Atlan offenbar noch nicht zurückgekehrt war, konnte das nur bedeuten, dass der Notfall eingetreten war, für den der Arkonide vorgesorgt hatte. Garshwyn sprang von der Medo-Liege und lief zur Zentrale. Er setzte sich an die Konsole und rief einen Statusbericht ab, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Bordcomputer meldete, dass sich während der vergangenen zwei Stunden vier Explosionen in mehreren Kilometern Entfernung ereignet hatten. Die Positionen und die Energiewerte legten den Verdacht nahe, dass es sich um vernichtete Keilraumschiffe handelte. Was hatte der wahnsinnige Arkonide da draußen angestellt?
29 Doch das war es nicht, was den Bordalarm ausgelöst hatte. Seit einigen Minuten wurde in nur zweihundert Metern Entfernung vom Beiboot mit leichten Energiewaffen geschossen. Der Computer hatte das Vorkommnis als Gefährdung für das Schiff eingestuft und gleich die entsprechenden Notmaßnahmen eingeleitet. Garshwyn überzeugte sich, dass er in vollem Umfang Zugriff auf die Funktionen der DYS-116 hatte. Was sollte er tun? Den durchgedrehten Arkoniden aus seiner mutmaßlichen Notlage befreien? Das hatte Atlan nicht verdient. Wenn er in Schwierigkeiten steckte, hatte er es sich selbst zuzuschreiben. Wer konnte sagen, welche Untaten wider Garb er als Nächstes anrichten würde? Es wäre das Klügste, wenn Garshwyn ihn seinem Schicksal überließ und sich so schnell wie möglich aus dem Staub machte – solange er noch die Gelegenheit dazu hatte.
* Es konnten nur noch wenige Schritte bis zum Zaqoor-Beiboot sein, von dem in der dichten Dschungelvegetation allerdings noch nichts zu sehen war. Ich erinnerte mich sogar an den Felsbuckel, hinter dem ich in Deckung gegangen war. Auf dem Hinweg hatte ich ihn benutzt, um einer sumpfigen Stelle auszuweichen. Doch all das half mir im Moment nicht weiter. Wieder schlug ein Energiestrahl in die Felsen über meinem Kopf und sprengte kleine Gesteinssplitter heraus, die mir um die Ohren flogen. Ich tauchte kurz an einer anderen Stelle auf als beim letzten Mal und feuerte mit meiner Waffe ins Grün. Nichts deutete darauf hin, dass ich einen Roschech getroffen hatte. Im Gegenteil. Sofort wurde das Feuer erwidert. Zum Glück hatte ich längst wieder den Kopf eingezogen. Ich wagte es immer noch nicht, den Flammenstaub einzusetzen, weil ich mich gerade
30 so weit erholt hatte, dass ich wieder einigermaßen klar denken und handeln konnte. Benutze deinen Verstand! Du hast schon viele solcher Schießereien erlebt – und überlebt. Vielleicht hätte der Extrasinn mir einen guten Tipp geben können. Doch er hatte sich immer noch nicht zurückgemeldet. Ich blieb bei meiner bisherigen Taktik, indem ich aufsprang und eine längere Salve ins Dickicht feuerte. Diesmal war mir, als hätte ich mehrere Schmerzensschreie gehört. Immerhin etwas. Obwohl es mindestens ein Dutzend Roschech sein mussten, die mich in die Zange genommen hatten. Als ich hinter mir Äste knacken hörte, dachte ich zuerst, dass es zu Ende war. Mit gezückter Waffe fuhr ich herum … … und starrte verdutzt auf ein kleines Zaqoor-Beiboot, das sich seinen Weg durch die Baumwipfel bahnte. Es mochte im Vergleich zu anderen Raumschiffstypen winzig sein, aber wenn man am Boden kauerte und sah, wie sich ein Metallklotz von zwanzig Metern Durchmesser auf einen herabsenkte, wirkte es trotz allem verdammt groß. Ich rollte mich instinktiv herum, als unvermittelt die Energiekanonen der DYS-116 feuerten. Natürlich war nicht ich das Ziel, sondern meine Gegner. Das Prasseln und der Hitzeschwall verrieten mir auch mit geschlossenen Augen, dass hinter mir der Dschungel in Flammen aufging, wo sich die Echsenwesen verschanzt hatten. Obwohl ich zugeben musste, dass ich für einen Sekundenbruchteil an der Zuverlässigkeit meines Zaqoor-Freundes gezweifelt hatte. Das Beiboot senkte sich auf den lautlos arbeitenden Antigravfeldern noch etwas tiefer herab und drehte sich ein Stück, bis genau vor mir die offene Schleuse gähnte. Ich überlegte nicht lange, sondern sprang auf und hechtete mit einem Satz hinein. Ohne noch einmal zurückzuschauen, drückte ich auf den Knopf und hörte das dumpfe
Bernhard Kempen Klacken, mit dem das Schleusenschott zufiel. Ich hielt die Augen geschlossen und atmete dreimal tief durch. Nur eine winzige Verschnaufpause, aber ich hatte sie dringend nötig. Erst danach konnte ich mich dazu aufraffen, mich zur Zentrale zu begeben.
* Garshwyn hatte die DYS-116 gewendet und entfernte sich in geringer Höhe von der Kampfzone. Er hörte, wie Atlan in die Zentrale kam, und drehte sich zu ihm um. »Danke für die Rettung in letzter Sekunde«, sagte der Arkonide und ließ sich erschöpft auf den Kopilotensitz fallen. »Gern«, erwiderte der Zaqoor. »Betrachtest du damit eine Art Lebensschuld als getilgt, oder kann ich mich weiterhin auf deine Unterstützung verlassen?« »Das kommt darauf an, was du von mir erwartest.« Die Ortung meldete sich mit einem akustischen Signal. Das Holo zeigte, wie sieben Keilraumer vom Dschungelboden abhoben. »Im Augenblick erwarte ich, dass du einfach nur tust, was ich sage«, erklärte Atlan. »Möchtest du die Kontrollen übernehmen?«, fragte Garshwyn. Der Arkonide schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte der Zaqoor gelernt, dass diese Geste Verneinung bedeutete. »Ich möchte, dass du scharf nach links abdrehst und hinter der gebogenen Bergkette dort drüben zurückfliegst.« »Warum soll ich wieder in Richtung der Roschech-Schiffe …?« »Weil ich einen Plan habe. Aber wenn wir zuerst ausführlich darüber diskutieren, erhalten wir vielleicht nicht die Gelegenheit, ihn auszuführen.« Garshwyn schwieg und führte das Manöver exakt nach Atlans Wünschen aus. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, aber rief sich ins Gedächtnis, dass der Arkonide schon aus viel verzwickteren Situationen in Dwingeloo entkommen war.
Zwischen den Dimensionen Die Keilraumer nahmen Kurs auf die DYS-116. »Geht es dir gut?«, fragte Garshwyn mit einem Seitenblick auf Atlan. »Ging mir schon schlechter«, erhielt er die brummige Antwort. »Lass mich in Ruhe planen, während du die Arbeit übernimmst.« »Sie kommen näher.« »Gut«, sagte Atlan. »Flieg ein bisschen langsamer.« Garshwyn verkniff sich eine verdutzte Nachfrage und tat, was der Arkonide von ihm verlangte. Die Keilraumer legten sich in die Kurve, um das kleine Zaqoor-Beiboot nicht zu verlieren. Atlan beugte sich vor und rief einen Datensatz aus dem Speicher ab. »Übernimm diesen Schlingerkurs«, sagte er. »Damit konnte ich die Roschech schon einmal austricksen.« Das vorderste Schiff eröffnete das Feuer. Die DYS-116 wurde kurz gestreift, aber der Schutzschirm hielt. »Jetzt flieg genau auf die gelandeten Schiffe zu!«, ordnete Atlan an. Als Garshwyn das Manöver ausführte, verstand er endlich den Sinn des Plans. Nun befand sich das Beiboot genau zwischen den Keilraumern am Boden und denen in der Luft. Was zur Folge hatte, dass die Gegner das Feuer einstellten, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. »Verdammt!«, sagte der Arkonide mit einem Blick auf die holografische Darstellung. »Das hatte ich bei der Planung nicht berücksichtigt.« »Was?« »Die Kuppeln.« Garshwyn bemerkte, was Atlan meinte. »Die Roschech haben den Bug ihrer Schiffe hochgezogen.« »Um die Selbstvernichtungskuppeln zu schützen«, führte Atlan den Gedanken zu Ende. »Aber dieses kleine Problem werden wir mit einer leichten Abwandlung des Plans lösen.« Atlan beugte sich erneut vor und über-
31 nahm die Waffenkontrollen. »Zum Glück haben wir den Bordcomputer inzwischen mit einer Routine programmiert, die automatisch die Kuppeln als Ziel erfasst. Ich möchte mich nicht schon wieder nur auf mein Glück verlassen.« »Was hast du vor?«, fragte Garshwyn. »Wenn ich ›jetzt‹ sage, ziehst du das Beiboot senkrecht hoch.« Der Abstand zu den gelandeten und den fliegenden Keilraumern wurde immer geringer. »Achtung … jetzt!« Garshwyn tat wie befohlen. Die DYS-116 schoss steil nach oben. Im nächsten Moment eröffnete Atlan das Feuer auf die vorderen zwei Roschech-Schiffe. Da sie nicht schnell genug auf die Kursänderung des Beiboots reagierten, lagen die Kuppeln im freien Schussfeld des Beiboots. Die Keilraumer explodierten und regneten als brennende Trümmerwolken auf den Dschungel von Letrasch. Garshwyn wartete darauf, dass Atlan auch die anderen Keilraumer abschoss. Aber die Waffen der DYS-116 schwiegen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Arkonide sich im Kopilotensitz zurückgelehnt hatte. Garshwyn blickte sich zu ihm um und erschrak. Atlans Gesichtsausdruck wechselte zwischen höchster Konzentration und tiefster Qual. Gleichzeitig wurde er wieder von diesem seltsamen grauen Staub umweht. Der Zaqoor kam gar nicht dazu, sich zu fragen, was mit ihm los war. Denn nun wurde seine Aufmerksamkeit von dem beansprucht, was sich am Himmel über der Dschungelwelt abspielte. Gleichzeitig begriff er, warum der Arkonide das Feuer eingestellt hatte. Den fünf hinteren Schiffen der RoschechStaffel blieb nicht genug Zeit, den Feuerbällen auszuweichen. Sie rasten mitten in die Trümmerwolken hinein. Die Gewalt der Explosionen reichte zwar nach wenigen Sekunden nicht mehr aus, um die übrigen Keilraumer auf der Stelle zu ver-
32 nichten. Aber die Schiffe kamen auch nicht ungeschoren davon. Sie wurden aus der Bahn geworfen, gerieten ins Trudeln und erlitten schwere Beschädigungen. Eins brach in der Mitte durch. Der rechte Flügel überschlug sich und stieß mit dem letzten Schiff in der Staffel zusammen, das die Sache bis zu diesem Zeitpunkt noch relativ heil überstanden hatte. Die Zerstörung breitete sich immer mehr aus, bis von der kleinen Flotte nur noch ein Schwarm aus größeren und kleineren Trümmerstücken übrig war, die sich in einer ballistischen Kurve langsam dem Boden entgegenneigten. Atemlos verfolgte Garshwyn das Geschehen in der holografischen Darstellung, während sich das Beiboot immer weiter vom Planeten entfernte. Die Trümmer stürzten genau über dem weitläufigen Landeplatz der Keilraumer ab. Einige Stücke gingen im Dschungel nieder, ohne weiteren Schaden anzurichten, aber die meisten krachten gegen die Schiffe am Boden und rissen sie mit ins Verderben. Drei Roschech-Raumer verwandelten sich in Glutbälle. Die Druckwellen breiteten sich aus und brachten andere Schiffe aus dem Gleichgewicht. Es wirkte beinahe majestätisch, wie sie langsam umkippten und die Vegetation auf einer dreieckigen Fläche von etwa einem Quadratkilometer einebneten. Wieder blitzte es auf, als die noch intakten Einheiten von umherfliegenden Trümmern getroffen wurden. Schließlich vereinigten sich die Feuerbälle zu einem einzigen Inferno. Die DYS-116 hatte inzwischen den Weltraum erreicht, aber die glühende Wunde auf der Oberfläche des Planeten war immer noch deutlich als leuchtender Fleck im Grün zu erkennen. Garshwyn ließ sich gegen die Lehne zurückfallen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann blickte er sich wieder zu Atlan um und erkannte, das seine Worte ohnehin auf taube Ohren gestoßen wären.
Bernhard Kempen Der Arkonide war bewusstlos in seinem Sitz zusammengesackt.
* Garshwyn hatte mich zur kleinen MedoNische gebracht und auf die Liege verfrachtet. Die Diagnoseeinheit hatte jedoch vor meinem Organismus kapituliert, der nicht ganz dem entsprach, was sie von ZaqoorPatienten gewohnt war. Daraufhin hatte mein Begleiter entschieden, mich einfach schlafen zu lassen und zu hoffen, dass sich das Problem von selbst behob. Als ich gut zwölf Stunden später auf noch leicht wackligen Beinen in die Zentrale trat, saß Garshwyn mit Grüblermiene vor dem Holo. Mit einem Blick erfasste ich, dass wir uns immer noch im Letrasch-System befanden. Allerdings hatte sich die DYS-116 ein Stück zurückgezogen und hielt sich wieder im Ortungsschutz eines kleinen Mondes des innersten Gasplaneten auf. »Der Stützpunkt der Roschech wurde vollständig vernichtet«, sagte Garshwyn ohne weitere Einleitung. »Da unten können höchstens ein paar Roschech überlebt haben, die zufällig weit genug vom Explosionsort entfernt waren.« »Die Roschech sind die Feinde der Zaqoor.« »Die Roschech sind Garbyor!« Nun drehte sich Garshwyn zu mir um. »Auf welcher Seite stehst du?«, wollte ich von ihm wissen. »Darum geht es nicht. Du machst es dir zu einfach. War es wirklich nötig, ein ganzes Volk auszulöschen?« »Was soll das heißen?« Er senkte den Blick. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, weil ich es nur von anderen Garbyor gehört habe. Angeblich waren die Roschech, die den Lordrichtern dienten, die Letzten ihres Volkes. Vor der Katastrophe am Dunkelstern bestand ihr Kontingent aus dreihundert Keilraumern. Auf Letrasch hatten sich etwa zweihundert
Zwischen den Dimensionen versammelt. Es könnte sein, dass du die letzten Individuen dieser Spezies ausgerottet hast.« »Wer um sein Leben fürchtet, sollte nicht in den Kampf ziehen«, erwiderte ich kühl. »Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass die Roschech an mein Verständnis für ihre schwierige Lage appelliert haben.« Garshwyn sagte nichts, sondern sah mich nur an. Ich wusste immer noch nicht, was ich von diesem Burschen halten sollte. Dass ein Zaqoor und ein Arkonide zu dicken Freunden wurden, war angesichts der allgemeinen Lage kaum vorstellbar. Aber bisher hatte ich mich trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten stets auf ihn verlassen können. Immerhin hatte er mir auf Letrasch aus der Patsche geholfen, obwohl er die Gelegenheit gehabt hätte, sich einfach mit der DYS-116 abzusetzen. Würde er sich genauso verhalten, wenn er irgendwann vor einer schwierigeren Entscheidung stand? Mir blieb keine andere Wahl. Vorläufig musste ich ihn weiterhin gut im Auge behalten. Ich schüttelte den Kopf, trat vor und setzte mich neben ihn an die Konsole. »Jetzt sollten wir zusehen, dass wir von hier verschwinden«, sagte ich. »Falls doch noch überlebende Roschech auftauchen, sollen sie hier ungestört ihre friedliche Existenz weiterführen.«
* In der Quantenphysik hat sich gezeigt, dass der Beobachtungsvorgang und damit auch das beobachtende Subjekt einen entscheidenden Einfluss auf das Objekt, die sogenannte Realität, ausübt. Damit entdeckte die Naturwissenschaft ein Dilemma wieder, das bereits die alten Philosophen beschäftigt hatte. Wenn es ein Ereignis gibt, das von niemandem beobachtet wird und das auch keine Spur hinterlässt, die jemals von einem Beobachter gedeutet werden kann – hat dieses Ereignis dann wirklich stattgefunden?
33 Ist letztlich nur das real, was ich wahrnehme? Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
9. In den nächsten Tagen kreuzten wir ohne besonderes Ziel durch Dwingeloo – die 16 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernte Galaxis, die von den Varganen und den Garbyor Gantatryn genannt wurde. Uns bot sich das Bild einer Galaxis im Aufruhr. Am chaotischsten schien es in den Raumsektoren zuzugehen, die durch die Experimente der Lordrichter mit dem Mikrokosmos betroffen waren. Die hyperdimensionalen Energien, die sich dort austobten, waren schon auf weite Entfernung anzumessen. Vorsichtshalber wichen wir diesen Bereichen weiträumig aus. Überall, wo wir auf GarbyorTruppenverbände stießen, bot sich uns das gleiche Bild. Die Einheiten irrten planlos umher, immer wieder brachen Kämpfe aus. Auch an Bord einiger Raumschiffe schien alles zusammengebrochen zu sein. Sie trieben führungslos dahin, und niemand unternahm etwas, wenn sie auf Monde, Planeten oder Sonnen zustürzten. Inzwischen hatten wir uns über 8000 Lichtjahre vom Dunkelstern entfernt und näherten uns der Sonne Varlin. Hier sah die Situation ganz anders aus. Genau 183 Raumschiffe hatten in vorbildlicher Formation Stellung um eine Raumstation bezogen, die in einer stabilen Umlaufbahn um die planetenlose Sonne kreiste. Vielleicht erhielt ich hier die Gelegenheit, mehr über die neuen Pläne der Lordrichter zu erfahren. Auf den ersten Blick wirkte die Station, als hätte ein kleines Kind wahllos die unterschiedlichsten Elemente aus einem Spielzeugbaukasten zusammengefügt. Doch dann erkannte ich das Prinzip der Konstruktion.
34 Die Grundlage bildete eine etwa fünf Kilometer durchmessende scheibenförmige Werftplattform rund um eine Kugelzelle, die die typischen Merkmale eines Golfballraumers der Zaqoor aufwies: Der Durchmesser von 1350 Metern stimmte, und auf der gewölbten Oberfläche waren deutlich die Dellen zu erkennen, hinter denen die Hangarröhren lagen und denen diese Schiffe ihre Bezeichnung verdankten. An den Seiten der Plattform waren weitere Raumschiffselemente angeflanscht oder eingelassen. Ich konnte tropfenförmige Konstruktionen identifizieren, die dem bevorzugten Design der Torghan oder Daorghor entsprachen, daneben sah ich Bauteile, die an die Käferraumer der Shiruh erinnerten, oder gänzlich andere, vermutlich dem Design mir bislang unbekannter Garbyor-Völker entlehnt. Die Station war so etwas wie eine Schnittstelle für unterschiedliche technische Systeme, gewissermaßen ein riesiger Universaladapter. Die Auswertung der abgehörten Funksprüche bestätigte meine weitergehenden Vermutungen. Nach anfänglichem Zögern hatte sich Garshwyn bereit erklärt, mir dabei zu helfen – vor allem bei der Entschlüsselung der interessanteren Sendungen. Die Raumstation trug den Namen Trodemlyor und stand unter dem Kommando eines gewissen Tolgoruk, der den Rang eines Marquis bekleidete. Damit nahm er in der Hierarchie der Garbyor eine Mittelstellung zwischen den einfachen Soldaten und den Lordrichtern ein. Kein großer Feldherr, aber durchaus jemand, der etwas zu sagen hatte. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte ich Garshwyn. Er sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. Wahrscheinlich überlegte er, ob er die offensichtliche Gegenfrage stellen sollte. Was ich ihm in Anbetracht der Umstände nicht einmal übel nehmen konnte. »Was soll ich sagen oder tun, um dich davon zu überzeugen?«, erwiderte er schließlich. »Ich würde mir diese Station gerne von
Bernhard Kempen innen ansehen.« »Es wäre kein Problem für mich, dich an Bord zu bringen. Du müsstest dich nur darauf einstellen, dass man dich nicht ohne weiteres wieder gehen lässt.« Ich lachte leise. Damit hatte er genau die richtige Antwort auf meine einleitende Frage gegeben. »Das lass meine Sorge sein.« »Es dürfte nahezu unmöglich sein, sich unbemerkt einzuschleichen«, sagte er. »Wenn wir uns zu erkennen geben, das heißt, wenn ich Kontakt mit der Station aufnehme, wird man einen kampftauglichen Garbyor mit einem funktionsfähigen Raumschiff bestimmt nicht zurückweisen.« »Und ich wette, wenn du mich als Gastgeschenk präsentierst, wird man dich mit offenen Armen empfangen«, setzte ich hinzu. »Versuchen wir es!«
* Garshwyn wusste überhaupt nicht mehr, was er vorn Weißhaarigen halten sollte. War Atlan lebensmüde geworden? Schwer vorstellbar. Also konnte er nur unter Größenwahn leiden oder wieder einen seiner berüchtigten Pläne verfolgen. Vielleicht trafen sogar beide Vermutungen zu. Dem Zaqoor konnte es letztendlich egal sein. Wenn Atlan sich verrechnete und von Tolgoruk dingfest gemacht wurde, konnte Garshwyn seine Rolle weiterspielen und sich rühmen, einen Feind der Lordrichter gefangen genommen zu haben. Und wenn nicht … Er beschloss, einfach abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Wie erwartet wurde das kleine Beiboot nicht von einem der Golfballraumschiffe eingeschleust, sondern direkt zur Raumstation gelotst. Nachdem Garshwyn mit einem einfachen Garbyor Funkkontakt aufgenommen und die Lage erklärt hatte, war er sofort mit einem Kommandeur verbunden worden. Noch während des Gesprächs hatte der Offizier Befehle erteilt und angekündigt, unver-
Zwischen den Dimensionen züglich dem Marquis Meldung zu machen. Damit bestätigte sich Atlans Vermutung, dass Tolgoruk seine Truppen fest im Griff hatte. Hier hatte jemand die Initiative ergriffen und versuchte, eine Insel der Ordnung im Chaos zu schaffen, das sich unter den Garbyor ausgebreitet hatte. Die DYS-116 dockte am kugelförmigen Zentralelement der Station an, dann begaben sich Garshwyn und Atlan zur Schleuse. Der Arkonide hatte sich von ihm ein Fesselfeld anlegen lassen, das er jederzeit durch einen gesprochenen Befehl desaktivieren konnte. Schließlich baute sich der Zaqoor mit erhobenem Energiestrahler neben ihm auf, während sich das Schott öffnete. Sie wurden von einem Kommandeur und sieben Trobyor mit schweren Energiewaffen in Empfang genommen. Atlan ließ sich widerstandslos abführen. Den Arkoniden brachte man in eine Arrestzelle, und einer der Soldaten begleitete Garshwyn zu einem schlicht eingerichteten Raum. Der Mann postierte sich neben der Tür und gab nur einsilbige und nichtssagende Antworten auf Garshwyns Fragen. Eigentlich hatte er sich die Rückkehr in den Kreis seiner Artgenossen etwas freundlicher vorgestellt. Aber nun kam er sich vor, als wäre er selbst ein Gefangener. Nach einer knappen Stunde kam ein anderer Zaqoor im Dienstrang eines Kommandeurs und begann mit dem Verhör.
* Eine wichtige Stütze meines Plans war die Tatsache, dass die Lordrichter mich lebend haben wollten. Das hatte sich immer wieder gezeigt, wenn die Garbyor in brenzligen Kampfsituationen trotz meiner heftigen Gegenwehr eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag gelegt hatten. Schließlich war mir dieser Punkt auch von Garshwyn glaubhaft bestätigt worden. Der Ablauf der Gefangennahme hatte beinahe etwas Skurriles. Als ich von einem Kommandeur und sechs Zaqoor abgeführt
35 wurde und mich völlig friedlich verhielt, ließen die Soldaten schon nach kurzer Zeit in ihrer Wachsamkeit nach. Schließlich waren es nur noch zwei Bewaffnete und der Offizier, die mich das letzte Stück bis zur Zelle begleiteten. In diesem Moment hätte ich ohne Schwierigkeiten das Fesselfeld abschalten, einen Energiestrahler an mich reißen und die drei Zaqoor erschießen können. Natürlich tat ich es nicht, weil damit mein Plan hinfällig gewesen wäre. Außerdem wäre dann die übrige Besatzung dieser Station schlagartig in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Nachdem man mich in die Zelle gesperrt hatte, die nur eine Pritsche und eine zweite Sitzgelegenheit enthielt, dauerte es gar nicht lange, bis sich die Tür wieder öffnete. »Tatsächlich! Der Arkonide!«, sagte Tolgoruk mit sichtlichem Erstaunen, als er meiner ansichtig wurde. Ich kannte sein Gesicht aus den entschlüsselten Sendungen, die wir abgefangen hatten. Der ranghöchste Offizier an Bord von Trodemlyor – und vielleicht sogar im Umkreis von mehreren tausend Lichtjahren – gab sich höchstpersönlich die Ehre. Ich schwieg. Tolgoruk setzte sich auf den Stuhl und sah mich eine Weile ebenfalls schweigend an. »Wie hast du es geschafft, dich von einem simplen Trobyor, einem Hangartechniker, gefangen nehmen zu lassen?«, fragte er schließlich. Ich sagte nichts, sah ihn aber mit starrer Miene an. »Keine Antwort ist auch eine Antwort«, stellte der Zaqoor fest. »Es ist nur bedauerlich, dass …« Ich wartete ab, doch er sprach nicht weiter. »Also scheint das Gerücht zu stimmen, das ich vernommen habe«, ergriff ich schließlich das Wort. »Dass Lordrichter Yagul Mahuur nicht mehr unter den Lebenden weilt.« Tolgoruk sah mich mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an. »Erwartest du
36 etwa eine Antwort auf diese Frage?« »Es war keine Frage«, entgegnete ich. »Wie du meinst«, sagte Tolgoruk und erhob sich sodann. »Dann werden wir uns eine … andere Gesprächstaktik überlegen.« Dabei sah er sich wie zufällig den kleinen Energiestrahler genauer an, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Jetzt wusste ich alles, was ich wissen wollte. Nämlich, dass Tolgoruk gar nichts wusste. Er war zweifellos ein fähiger Befehlshaber. Das musste er sein, wenn es ihm gelungen war, einen Teil der Garbyor-Flotten zu reorganisieren. Aber ohne die Führung der lordrichterlichen Macht stand er letztlich auf verlorenem Posten. Er hoffte, dass sich Yagul Mahuur zurückmeldete oder ein anderer Lordrichter das Heft in die Hand nahm, weil er ohne die komplette Befehlskette hilflos war. Weil er keine Ahnung hatte, wofür er die Ordnung aufrechterhalten sollte. Ohne Führung wusste er nicht, wofür er eigentlich kämpfen sollte. Damit hatte er für mich jeden Nutzen verloren. »Tolgoruk!«, sagte ich und stand von der Pritsche auf. Er blieb kurz vor der Tür stehen und drehte sich halb zu mir um. »Vielleicht bin ich doch bereit, dir ein Geheimnis anzuvertrauen.« Wortlos wandte er sich mir ganz zu und wartete ab. Der Narr schien tatsächlich keinen blassen Schimmer zu haben, was auf ihn zukam. Ich konzentrierte mich, bis sich wieder der Flimmereffekt einstellte. Inzwischen beherrschte ich den Flammenstaub so gut, dass ich den Vorgang viel bewusster als zu Anfang wahrnahm. Für mich sah es aus, als würden sich mehrere Bilder übereinander legen. Ich beobachtete Tolgoruks Gesicht, das ich gleichzeitig in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen sah. Er blickte mich regungslos an, er lachte, er weinte, er riss erstaunt den Mund auf, er
Bernhard Kempen schrie vor Schmerzen. Auf dieses letzte Bild richtete ich meine ganze Willenskraft. Zuerst verschwand das Lachen, dann die Trauer und schließlich alle anderen Fratzen, bis nur noch der gepeinigte Ausdruck übrig war. Tolgoruk fasste sich an den Brustkorb und keuchte schmerzerfüllt auf. Der Energiestrahler fiel ihm aus der Hand, er wankte, dann brach er zusammen. Er war tot. Er hatte überraschend einen Herzinfarkt erlitten. Es war ein relativ unwahrscheinlicher Zufall, dass es ihn ausgerechnet während der Befragung eines Gefangenen erwischte, aber unmöglich war es nicht. Wenn ich den Flammenstaub einsetzte, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zufall auf dramatische Weise. Seelenruhig ging ich zu ihm hinüber und schaltete unterwegs das Fesselfeld aus. Dann bückte ich mich und nahm seinen Energiestrahler an mich.
10. »Wie konntest du den Arkoniden überwältigen?«, lautete die erste Frage des Zaqoor. Garshwyn hörte deutlich die Ungläubigkeit, die in den Worten des Kommandeurs mitschwang. Keine Spur von Dankbarkeit oder gar Bewunderung. Er hatte sich nicht einmal nach seinem Namen und seiner Stellung erkundigt. »Ich konnte mich mit einer Rettungskapsel in Sicherheit bringen, als die TRODAHAN explodierte …« Garshwyn hatte beschlossen, so nahe wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, um sich nicht zu sehr in Widersprüche zu verwickeln. Dann erzählte er, wie er vom Arkoniden aufgelesen worden war und ihn schließlich in einem günstigen Moment überrumpelt hatte. »Er mag ein großartiger Kämpfer sein«, schloss er seine Geschichte ab. »Aber ich
Zwischen den Dimensionen habe sehr schnell seinen Schwachpunkt entdeckt. Er ist zu leichtgläubig. Es hat mir nicht die geringste Mühe bereitet, sein Vertrauen zu gewinnen. Ich musste mich nur eine Weile friedlich verhalten, mit ihm reden, ihn ein paarmal in Sicherheit wiegen – und schon hat er mir gegenüber jegliches Misstrauen abgelegt.« »Wo ist seine Gefährtin?«, fragte der Kommandeur. Es war, als hätte er Garshwyn gar nicht zugehört. Vermutlich wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass eine solche Taktik erfolgreich sein konnte. Sie war eines Garbyor, eines wahren Kämpfers, einfach unwürdig. »Darüber hat er nicht geredet«, antwortete Garshwyn daher vorsichtshalber. »Wie ist er an das Beiboot gekommen?« »Auch das wollte er mir nicht verraten. Obwohl ich ihn danach gefragt habe. Aber dann kam irgendetwas dazwischen, und später habe ich nicht mehr daran gedacht, ihn noch einmal …« »Ist dir etwas … Ungewöhnliches am Arkoniden aufgefallen?« »Abgesehen von seiner Zwergwüchsigkeit scheint er sich kaum von einem Zaqoor zu unterscheiden. Seine Haut ist hell, sein Haar ist weiß, seine Augen sind rot. Er ist …« Der Kommandeur unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. »Ich meine nicht das, was jeder auf den ersten Blick sieht! Sondern etwas … wirklich Ungewöhnliches.« »Zum Beispiel?« »Ich stelle hier die Fragen!« »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.« »Erzähl mir noch einmal ganz genau, wie du ihn überwältigt hast.« Garshwyn seufzte innerlich und machte sich auf ein langwieriges Verhör gefasst.
37 riegelung zu sorgen, sondern klopfte einfach an die Tür. Die Wachen waren unverzüglich zur Stelle, um ihren Marquis aus der Arrestzelle treten zu lassen. Ihnen blieb höchstens eine Sekunde, sich darüber zu wundern, dass kein Zaqoor, sondern ein schmächtiger Arkonide vor ihnen stand. Ein Arkonide, der einen Energiestrahler in der Hand hielt. Ich stieg über die Leichen der beiden Wachen hinweg. Die Brandlöcher in ihrer Brust waren kein schöner Anblick, aber leider hatten sie für die falsche Seite gearbeitet. Dann sah ich mich um und setzte meinen Weg fort. Noch war alles ruhig, aber das konnte sich bald ändern. Andererseits war es durchaus möglich, dass in absehbarer Zeit niemand bemerkte, was in und vor der Arrestzelle vorgefallen war. Dann hielt ich inne und ging noch einmal zurück. Ich erteilte mir einen Verweis, weil der Flammenstaub mich nachlässig werden ließ. Schließlich besaß ich noch andere Mittel, um die Wahrscheinlichkeit einer baldigen Entdeckung der Leichen zu verringern. Ich benutzte meine Hände, um die Wachen in die Zelle zu schleppen, und ließ dann die Tür zufallen. Jetzt würde der Vorfall so lange unentdeckt bleiben, bis jemand es wagte, sich nach dem Verbleib des Marquis zu erkundigen. Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Nun konnte ich mich meinem nächsten Vorhaben widmen. Denn es gab da noch eine Kleinigkeit, die ich erledigen wollte, bevor ich von hier verschwand. Undankbarkeit gehörte sicher nicht zu meinen Charaktereigenschaften. Schließlich war ich kein Unmensch!
* Ich machte mir gar nicht die Mühe, für einen kurzzeitigen Energieausfall der Ver-
* Garshwyn blickte auf, als sich die Tür zu
38 dem Raum öffnete, den er die ganze Zeit nicht hatte verlassen dürfen. Erstaunt sah er, dass Atlan eintrat. Hinter dem Arkoniden lag ein Zaqoor-Soldat am Boden. Der Mann rührte sich nicht. Garshwyn konnte aus seiner Perspektive keine tödliche Verletzung erkennen, aber etwas sagte ihm, dass er nicht mehr am Leben war. Der Kommandeur bemerkte den verdutzten Blick seines Gegenübers und drehte sich um. Garshwyn duckte sich instinktiv, als ein Energiestrahl aus Atlans Waffe den Kopf des Kommandeurs zerfetzte. Dann sah er den Arkoniden mit starrem Blick an und wartete auf den folgenden Schuss. Doch er kam nicht. »Begleitest du mich, oder wäre es dir lieber, wenn sich hier unsere Wege trennen?«, fragte Atlan. »Was soll das bedeuten?«, stieß Garshwyn hervor. »Was hast du …?« »Eine schnelle Entscheidung wäre jetzt angebracht. Ich möchte nicht mehr allzu viel Zeit vertrödeln.« Garshwyn musterte den Weißhaarigen. Bildete er es sich nur ein, oder war seine Haarfarbe plötzlich ins Graue gewechselt? Auch die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer geworden zu sein, und die rötlichen Albinoaugen, die auf einen Zaqoor ohnehin einen ungesunden Eindruck machten, schimmerten nun in einem dunklen Violett. Was Garshwyn in diesen Augen sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Hatte er tatsächlich die freie Wahl? Wenn sich der Zaqoor dafür entschied, bei seinen Artgenossen zu bleiben, wurde er für Atlan automatisch zum Feind. Damit erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein zweiter Schuss aus dem Energiestrahler lösen würde. Doch wenn er mit Atlan ging, wenn er sich darauf verließ, dass der Arkonide weiterhin das Glück auf seiner Seite hatte, würde er leben. Auch wenn er sich nicht vorstel-
Bernhard Kempen len konnte, wie es weitergehen sollte. Aber er würde leben – und vielleicht irgendetwas bewirken können. Garshwyn benötigte kaum länger als eine Sekunde, um all diese Überlegungen abzuschließen. »Ich komme mit«, sagte er.
* Die Versuchung war groß, aber ich bemühte mich, den Flammenstaub nicht einzusetzen und dem Zaqoor die freie Wahl zu lassen. Obwohl es für mich durchaus von Vorteil war, einen Verbündeten aus den Reihen des Feindes an meiner Seite zu haben. Ich konnte nicht beurteilen, ob dieser unterschwellige Wunsch Garshwyns Entscheidung beeinflusste. Aber im Augenblick zählte sowieso nur das Ergebnis. Als er seine Wahl getroffen hatte, nickte ich nur knapp und wandte mich wieder um. Ich konzentrierte mich und wünschte mir, dass uns auf dem Weg zur DYS-116 zufällig kein einziger Zaqoor über den Weg lief. Damit schien ich wohl doch etwas zu viel von der Unwahrscheinlichkeit verlangt zu haben. Hinter der dritten Biegung stießen wir auf zwei Torghan, die nicht zu wissen schienen, wie sie auf unseren Anblick reagieren sollten. Es bereitete mir keine Mühe, die Insektoiden zu erschießen. Wenig später wurde Alarm in der Station gegeben. Offenbar war die Chance zu gering, dass Tolgoruks Tod über längere Zeit unentdeckt blieb. Daraufhin tauchten gelegentlich kleinere Garbyor-Trupps auf, die es offensichtlich auf uns abgesehen hatten. Einmal wurde den Soldaten der Weg versperrt, als unverhofft die Decke über ihnen einstürzte. Ansonsten musste ich nur mit dem Energiestrahler in die ungefähre Richtung feuern, und schon fielen die Feinde reihenweise um. Ein wunderbares Gefühl, wenn einem alles so leicht von der Hand ging! Endlich hatten wir den Hangar mit den
Zwischen den Dimensionen Andockschleusen für die kleineren Raumschiffe erreicht. Das Zugangsschott fiel zu und ließ sich durch eine bedauernswerte technische Panne nicht mehr ohne weiteres öffnen. Die Garbyor waren ausgesperrt. Nur ein paar Techniker kamen verdutzt aus dem Kontrollraum und schraken zurück, als sie den Zaqoor und mich sahen. Als ich die Waffe heben wollte, hielt Garshwyn meinen Arm fest. »Atlan!«, sagte er in eindringlichem Tonfall. »Es ist nicht nötig, dass du blindlings jeden meiner Artgenossen tötest! Diese Männer und Frauen sind unbewaffnet.« Ich wollte zwar kein unnötiges Risiko eingehen, aber er hatte natürlich Recht. Außerdem war es durchaus möglich, dass sich diese Leute, die nur harmlose Hangartechniker waren, friedlich verhielten. »Gut«, sagte ich, während mir plötzlich eine verrückte Idee durch den Kopf schoss. »Ich bin überzeugt, dass sie keine Dummheiten anstellen werden.« Die Idee ließ mich nicht mehr los. Sie kam mir immer reizvoller vor. Würde es mir gelingen, sie Wirklichkeit werden zu lassen? Hier im Hangar waren wir zumindest vorläufig in Sicherheit. Und wenn sich etwas daran änderte, mussten wir nur in die DYS116 springen und die Notstartautomatik aktivieren. Ich konnte mir also einen kleinen Spaß erlauben.
* Die Vorstellung unendlich vieler Paralleluniversen beantwortet die alte Frage, warum wir in der »besten aller Welten« leben. Eine geringfügige Änderung der Voraussetzungen, der elementaren Naturkonstanten, und in unserer Welt gäbe es keine stabilen Atome und damit auch kein Leben. Wir existieren in diesem Universum, weil wir nur in einem Universum existieren können, das Leben hervorbringen kann. Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität«
39 Les Zeron (408 NGZ)
11. »Fatuqar!«, stieß Garshwyn mit fassungslosem Keuchen hervor. »Wie hast du die Vernichtung der TROD-AHAN überlebt?« Er starrte die Frau, die plötzlich aus dem Hangar-Kontrollraum getreten war, wie eine Geistererscheinung an. Die Szene war so unwirklich, dass er mit einem Teil seines Verstandes fest davon überzeugt war, alles nur zu träumen. Aber sosehr er sich auch sagte, dass es nicht real sein konnte, was er zu erleben glaubte – der Moment des Aufwachens kam nicht. »Ich wusste, dass du ein Verräter bist, der nur an seinen eigenen Nutzen denkt!«, sagte Fatuqar. Ihr Gesicht zeigte tiefen Hass. »Zuerst stößt du mich zurück, und jetzt hast du dich mit dem Feind verbündet!« »Nein, es war ganz anders! Ich …« Garshwyn gab es auf, weil sie ihm ohnehin keine seiner Rechtfertigungen geglaubt hätte. In diesem Moment wurde ihm klar, wovor er die ganze Zeit die Augen verschlossen hatte. Zwischen Fatuqar und ihm konnte es nie wieder so sein, wie es einmal gewesen war. Dazu hätte er sich in einem bestimmten Moment eindeutig für sie entscheiden müssen. Jetzt war es zu spät, irgendetwas wieder gutzumachen. Er zwang sich dazu, in sachlichem, aber eindringlichem Tonfall weiterzusprechen. »Sag mir bitte, wie du aus der TRODAHAN entkommen konntest.« »Warum fragst du mich das? Was interessiert es dich überhaupt?« »Bitte! Ich muss es wissen!« Fatuqar seufzte. »Ich bin zurückgelaufen und konnte mich einer Gruppe anschließen, die zu einem Beiboot geflüchtet ist. Ein Techniker wusste, wo sich noch ein intaktes Schiff befindet. Wir haben es buchstäblich in letzter Sekunde geschafft, das Mutterschiff mit der TROD-116 verlassen, während hinter uns alles zusammenbrach. Derselbe Typ und dieselbe Nummer wie das
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Beiboot, mit dem du gekommen bist. Seltsam, nicht wahr? Dann wurden wir von einem Schlachtschiff aufgenommen, das uns nach Trodemlyor brachte. Bist du jetzt zufrieden?« Garshwyn drehte sich mit einer hilflosen Geste zu Atlan um. »Wie ist so etwas möglich?« Der Arkonide lächelte nur, obwohl er immer deutlichere Spuren der Erschöpfung zeigte. Er machte beinahe den Eindruck, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Zaqoor empfand die Einsamkeit und Leere tiefer als je zuvor. In der Not hatte er sein Schicksal einem Humanoiden anvertraut, der sich nach und nach in ein Monstrum verwandelte. Dadurch hatte er sich so weit seinen eigenen Artgenossen entfremdet, dass die Kluft vermutlich nie mehr zu überbrücken war. Er war dazu verdammt, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. »Lass uns aufbrechen«, sagte er zu Atlan und ging zur Einstiegsluke des Beiboots. »Willst du deine Freundin nicht mitnehmen?«, fragte der Arkonide. »Ich glaube nicht, dass sie noch auf meine Gesellschaft Wert legt.« »Verschwinde von hier, Verräter!«, fauchte Fatuqar ihm hinterher. »Leb wohl«, sagte Garshwyn leise. Es tat ihm unendlich Leid, dass es so gekommen war, aber jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern.
* Ich spürte, dass mich das Abenteuer in der Station sehr erschöpft hatte. Außerdem drängte sich eine Sache immer mehr in den Vordergrund, die ich bis jetzt erfolgreich ignoriert hatte. In meinem Schädel breiteten sich bohrende Kopfschmerzen aus. Etwas, mit dem ich als Zellaktivatorträger normalerweise keine Schwierigkeiten hatte. Es sei denn, ich war einer schweren psionischen Attacke ausge-
setzt oder erhielt einen handfesten Schlag auf den Kopf. Aber das war es nicht. Es war ein hartnäckiger, migräneartiger Schmerz, wie ich ihn seit meiner lange zurückliegenden Jugendzeit nicht mehr erlebt hatte. Deshalb war ich froh, dass wir in aller Ruhe und ungehindert das Beiboot besteigen und von der Station ablegen konnten. Doch sobald wir von Trodemlyor wegtrieben, setzten sich ein paar Golfballschiffe in Bewegung und hefteten sich uns an die Fersen. Es war klar, dass man uns nicht ohne weiteres entkommen lassen würde. Auch wenn nach Tolgoruks Tod unter den Garbyor eine gewisse Unschlüssigkeit über das weitere Vorgehen herrschen dürfte. Vorläufig verhielten sie sich friedlich. Offenbar wollten sie uns wirklich nur im Auge behalten, während sie auf neue Befehle warteten. Ich wischte mir über die Augen, um erfolglos, die Schmerzen und die Erschöpfung zu vertreiben. Es war so schlimm, dass ich für einen Moment genauso wenig wie unsere Gegner wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Schließlich erhob ich mich ächzend aus dem Pilotensessel, in dem ich zusammengesunken war, beugte mich vor und ließ die DYS-116 Fahrt aufnehmen. Die Verfolger wurden ebenfalls schneller. Als ich seitlich abdrehte und noch einen Zahn zulegte, setzten sie mir einen Warnschuss vor den Bug. Konnte ich mich darauf verlassen, dass sie das Beiboot nicht ernsthaft beschädigen würden, weil sich darin jemand aufhielt, den die Lordrichter unbedingt lebend fassen wollten? Die Unentschlossenheit der führungslosen Garbyor mochte mich vor dem Tod schützen, aber wenn sie sich dazu aufrafften, eigene Entscheidungen zu treffen, konnte es schlagartig verdammt gefährlich werden. Ich brauchte einen Plan.
*
Zwischen den Dimensionen Garshwyn war im kleinen Schleusenraum des Beiboots zurückgeblieben, während der Arkonide mit schweren Schritten zur Zentrale weitergestapft war, ohne sich noch einmal zu ihm umzuschauen. Der Zaqoor brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Für ihn stand nun zweifelsfrei fest, dass Atlan über eine unglaubliche Fähigkeit verfügte. Inzwischen hatte er sogar eine ziemlich genaue Vorstellung, was es damit auf sich hatte. Dazu musste er nur zusammenzählen, was er erfahren hatte: das Gespräch über Wahrscheinlichkeiten und das tote Tier in der Kiste, die gehäuft auftretenden glücklichen Zufälle und nicht zuletzt die Fragen des Kommandeurs im Verhörraum. Als er im Hangar unverhofft Fatuqar wieder begegnet war, hatte er zunächst geglaubt, der Arkonide hätte ihn mit einer Sinnestäuschung konfrontiert. Dass er seine Macht dazu eingesetzt hatte, den Geist der Frau aus der Ewigen Horde zurückzuholen oder ihm die Illusion zu vermitteln, er würde wirklich zu ihr sprechen. Doch nun stand für Garshwyn fest, dass diese Begegnung ein absolut reales Ereignis gewesen war. Bis zu diesem Augenblick war ihre Rettung von der TROD-AHAN ein extrem unwahrscheinlicher Fall gewesen. Aber Garshwyn hatte keine letzte Gewissheit über ihr Schicksal gehabt. Also waren für Atlan die nötigen Voraussetzungen gegeben, um diese Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Garshwyn wusste nicht, ob er dem Arkoniden dafür danken oder ihn hassen sollte. Einerseits erleichterte es ihn, dass Fatuqar aus der Unbestimmtheit erlöst worden war und nun wieder eindeutig existierte. Sie war keine Illusion gewesen. Was der Arkonide mit seiner unheimlichen Fähigkeit geschehen ließ, war mit allen Konsequenzen real. Andererseits war es durch das Wiedersehen zum endgültigen Zerwürfnis gekommen. Was er Fatuqar nicht einmal verdenken konnte. Aus ihrer Sicht hatte Garshwyn alles verloren, was ihn für sie einmal begehrenswert gemacht hatte.
41 Trotzdem war er froh, dass sie lebend aus der TROD-AHAN entkommen war. Nicht zuletzt, weil er damit sein schlechtes Gewissen ein wenig beruhigen konnte. Sein Fehler, ihr den Zugang zur Rettungskapsel zu verweigern, wurde dadurch nicht korrigiert. Aber nun musste er sich wenigstens keine Vorwürfe mehr machen, dass er ihren Tod verschuldet hatte. Garshwyn raffte sich auf und machte sich auf den Weg in die Zentrale der DYS-116.
* Erst als Garshwyn zu mir trat, fiel mir auf, dass er sich mehrere Minuten Zeit gelassen hatte, mir zu folgen. Wahrscheinlich hatte er sich erst einmal vom Schock erholen müssen. Die Wiederbegegnung mit seiner Gefährtin – falls es so etwas bei den Zaqoor überhaupt gab – war wohl etwas anders ausgefallen, als er sich erhofft hatte. Aber es passte. Zum einen hatte er angedeutet, sich nicht ganz korrekt verhalten zu haben, bevor er sich mit der Rettungskapsel davongemacht hatte. Also hatte die Gute eigentlich gar nicht anders reagieren können. Zum anderen hätte es mir nicht so recht in den Kram gepasst, wenn sich die beiden ihrer Liebe versichert hätten und ich zwei Zaqoor im Auge behalten musste. Also hätte ich mich schon sehr anstrengen müssen, um zu bewirken, dass die Frau ihm überglücklich um den Hals fiel. Ich schob die Überlegungen zu Garshwyns Liebesleben zur Seite. Erstens ging es mich im Grunde nichts an, und zweitens zeichnete sich gerade ein ganz anderes Problem ab. Die zehn Zaqoor-Schiffe, die uns verfolgten, ließen sich einfach nicht abschütteln. Außerdem gaben sie nun keine Warnschüsse mehr ab, sondern nahmen gezielt den Schutzschirm des Beiboots ins Visier. Die Sorgfalt, mit der sie vorgingen, ließ nur einen Schluss zu. Sie wollten den Schutzschirm mit wohldosierten Salven zum
42 Zusammenbruch bringen und die DYS-116 manövrierunfähig schießen. In der Hoffnung, mich einigermaßen unversehrt aus dem Wrack einsammeln zu können. Aber ich war nicht bereit, mich ein weiteres Mal von den Garbyor gefangen nehmen zu lassen. Abrupt änderte ich immer wieder den Kurs und suchte nach einer Möglichkeit, ihre Taktik zu durchkreuzen, die ich schnell durchschaut hatte. Sie achteten darauf, dass ich mich nicht allzu weit von der Hauptflotte und der Raumstation im Sonnenorbit entfernte. Während ich mir den Raumsektor in der holografischen Darstellung ansah, nahm der Umriss eines Plans immer konkretere Gestalt in meinem Kopf an. So konnte es klappen. Ich würde einfach die Taktik des Feindes zum eigenen Vorteil ausnutzen. Es war ein Manöver, das letztlich nur eine leichte Abwandlung des Tricks war, mit dem ich am Dunkelstern den Roschech-Keilraumer ausgeschaltet hatte. Zunächst ließ ich mich von den Zaqoor ein Stück in Richtung Trodemlyor zurücktreiben, dann scherte ich plötzlich aus und raste direkt auf die Sonne Varlin zu. Diese Seite hatten die Garbyor natürlich nicht gesichert, weil ihr Plan darauf hinauslief, mich zwischen der Raumstation und dem Stern in die Zange zu nehmen. Ich fuhr den Schutzschirm auf Maximalleistung hoch, während wir der glühenden Sonnenoberfläche näher kamen. Varlin war ein recht aktiver Stern, aber die übliche Abschirmung eines Raumschiffs reichte normalerweise völlig aus, um sich vor der Glut des Fusionsfeuers zu schützen. Solange man der Sonne nicht zu nahe kam. Ich hatte jedoch vor, so nahe wie nur irgend möglich heranzufliegen. Es sollte danach aussehen, als wollte ich mich auf die andere Seite der Sonne flüchten, um dort sozusagen wieder ins Freie zu gelangen. Wenn die Verfolger mich nicht verlieren
Bernhard Kempen wollten, mussten sie mir auf den Fersen bleiben. Mit den üblichen Beschleunigungswerten würden sie es nicht schaffen, einen weiten Bogen um die Sonne zu fliegen und mich auf der Rückseite abzufangen. Die Zaqoor taten genau das, was ich von ihnen erwartete. Ich steuerte eine verhältnismäßig ruhige Zone in der ansonsten mehrere Millionen Grad heißen Sonnenkorona an. Dabei näherte ich mich der Oberfläche bis auf gut 50.000 Kilometer. Das klang nach einer recht großen Entfernung, aber im Verhältnis zur Sonne, die einen Durchmesser von gut anderthalb Millionen Kilometern hatte, war das doch verdammt nahe dran.
* Garshwyn hatte atemlos Atlans Ausweichmanöver verfolgt und seine Fähigkeiten als Pilot bewundert. Ihm wurde klar, dass es dabei nicht nur um Glück ging. Der Arkonide war ein ausgezeichneter Taktiker. Das konnte selbst ein schlichter Hangartechniker auf den ersten Blick erkennen. Doch als er dann genau auf die Sonne zuraste, wurde der Zaqoor doch etwas unruhig. Eine winzige Kursabweichung oder ein unvorhersehbarer Strahlungsschauer, und von der DYS-116 bliebe nur ein Hauch aus verwehender Asche. »Was hast du vor?«, fragte er besorgt. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie von Trodemlyor abgeflogen waren. Atlan drehte sich mit einem triumphierenden Grinsen zu ihm um. »Wart's ab«, sagte er. »Gleich wird dir buchstäblich ein Licht aufgehen!« Das Beiboot hatte jetzt den Punkt der größten Annäherung an die Sonnenoberfläche und eine mit technischen Mitteln nahezu unmögliche Beschleunigung erreicht. Der Sturz in die Schwerkraftsenke wirkte wie ein Schleudereffekt und würde das Schiff an der Sonne vorbei in den freien Weltraum katapultieren.
Zwischen den Dimensionen »Jetzt achte darauf, was mit deinen Freunden passiert«, sagte Atlan und zeigte mit dem Finger in die Holoprojektion. Garshwyn fiel es schwer, ausschließlich die Zaqoor-Schiffe zu beobachten, weil sich in diesem Moment wieder ein anderer unheimlicher Effekt bemerkbar machte. Das Gesicht des Arkoniden war vor Konzentration angespannt, und gleichzeitig verwandelte es sich in das Gesicht eines alten oder kranken Mannes. Der Zaqoor schrak zurück, als in seiner unmittelbaren Nähe wieder grauer Staub in der Luft materialisierte. Wie eine böse Aura, die mit einem Mal sichtbar wurde. Dann wurde Garshwyns Blick von dem angezogen, was sich hinter der DYS-116 abspielte. Fassungslos starrte er auf das unwahrscheinliche Geschehen.
12. Es hatte wieder einmal funktioniert! Genau in dem Moment, als wir der Sonnenoberfläche am nächsten waren, stieg plötzlich eine ungewöhnlich starke Protuberanz aus dem glühenden Inferno auf. Unser Beiboot entfernte sich rasend schnell von der Stelle, sodass wir längst außerhalb der Gefahrenzone waren. Für die zehn Zaqoor-Schiffe sah die Sache jedoch ganz anders aus. Die Eruption, eher ein explosiver Flare als eine gemächlich aufsteigende Protuberanz, schoss mit einer Geschwindigkeit von mehreren tausend Kilometern pro Sekunde empor. Der Ausbruch war eine glühende Lanze aus harter Strahlung und extrem heißer Sonnenmaterie. Kurz darauf hatte der Flare unsere Verfolger erreicht. Die Garbyor-Raumer versuchten auszuweichen, aber sie hatten keine Chance. Sie wurden einfach von der Glut verschluckt. Es war nicht mehr zu erkennen, ob die Schiffe explodierten. Die winzigen Lichtblitze wären in der heißen Strahlung einfach untergegangen. Nur einem einzigen Schiff gelang es, der
43 völligen Vernichtung zu entkommen. Doch als es sich weit genug von der Eruption entfernt hatte, erkannte ich an den Ortungswerten, dass es nur noch ein ausgeglühter Metallklumpen war. Zunächst sah es danach aus, als würde es uns weiter auf den Fersen bleiben, doch dann neigte sich die Flugbahn allmählich der Sonnenoberfläche zu. Als es in die Glut eintauchte, bestand es nur noch aus einzelnen Atomen, die jeglichen Zusammenhalt verloren hatten. Obwohl ich mich völlig ausgelaugt fühlte, schaffte ich es, die Faust in die Luft zu recken und einen krächzenden Jubelschrei auszustoßen.
* Mit einem Mal zweifelte Garshwyn wieder daran, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich auf die Seite des Arkoniden zu schlagen. Es schockierte ihn, mit welcher Kaltblütigkeit Atlan die Besatzungen von zehn Zaqoor-Schiffen zum Tod in der Protuberanz verurteilt hatte. Nicht, dass sich die Garbyor bei der Wahl ihrer Mittel durch besondere Rücksicht auf das Leben auszeichneten. Aber diese Verfolger hatten durch ihre Taktik deutlich gemacht, dass sie Atlan lebend fassen wollten. War es wirklich nötig gewesen, zu solch brutalen Maßnahmen zu greifen? Für Garshwyn stand fest, dass Atlans unheimliche Fähigkeit die plötzliche Eruption auf der Sonnenoberfläche bewirkt hatte. Eine Fähigkeit, die ihm der Flammenstaub verlieh. Vermutlich handelte es sich dabei um die graue halbstoffliche Substanz, die den Arkoniden wie eine Staubwolke umgab, wenn er die Wahrscheinlichkeit manipulierte. Und sie hatte anscheinend auch etwas mit seinem ungesunden Zustand zu tun. Das ehemals schulterlange weiße Haar war nun eindeutig grau geworden. Seine Züge wirkten eingefallen, die Haut war von Pickeln und verfärbten Stellen übersät, und seine Augenbrauen waren zusammengezogen, als
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hätte er körperliche Schmerzen. Nach einer Weile schien er seine Entkräftung zumindest teilweise überwunden zu haben und richtete sich wieder auf. Seine müden Augen belebten sich mit einem rötlichen Funkeln, und er sah Garshwyn mit einem selbstbewussten Lächeln an. »Es wird Zeit, dass ich den Garbyor eine nachhaltige Lektion erteile«, verkündete er. »Genug gespielt! Jetzt wird es ernst!« »Was willst du tun?«, fragte Garshwyn besorgt. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Nein, mein Freund«, erwiderte Atlan kopfschüttelnd. »Wenn ich dir meinen Plan verrate, würde ich uns doch den ganzen Spaß verderben. Lass dich überraschen!«
* Ich empfand gleichzeitig eine tiefe Erschöpfung und eine selten erlebte Hochstimmung. Es kostete mich jedes Mal eine Menge Kraft, wenn ich den Flammenstaub einsetzte, aber der Erfolg und die Gewissheit, wozu ich fähig war, vermittelten mir ein unglaubliches Machtgefühl. Es reizte mich, bis an die Grenze zu gehen. Ich wollte unbedingt wissen, wie viel in dieser geheimnisvollen Substanz steckte. Mit einem kurzen Überlichtmanöver entfernte ich mich ein paar Lichtminuten von der Sonne und ließ die DYS-116 dann auf einer exzentrischen Bahn weitertreiben. Ich fuhr alle nicht benötigten Systeme herunter und hoffte, dass meine Gegner das kleine Beiboot nicht sofort bemerkten. Langsam kamen Trodemlyor und die Garbyor-Flotte wieder hinter der Sonne in Sicht. Die Schiffe bildeten immer noch eine schützende Kugel rund um die Station. Sehr gut! Das kam meinem Plan entgegen. Dann konzentrierte ich mich. Mir war klar, dass ich mir diesmal sehr viel vorgenommen hatte. Ein solches Ereignis war unter normalen Umständen ziemlich unwahrscheinlich. Im Grunde nahezu unmöglich.
Meines Wissens war auch noch nie beobachtet worden, dass es plötzlich und ohne vorherige Anzeichen eintrat. Aber ich zwang mich, ganz fest daran zu glauben. Es musste einfach möglich sein. Und wenn nicht, musste es trotzdem funktionieren! Wenig später gab die Ortung ein leises akustisches Signal von sich. Das war es! Ich hatte vorher sämtliches Beiwerk aus der holografischen Projektion ausgeblendet, sodass sie jetzt nur noch ein normales Bild zeigte. Natürlich war es nicht ganz das, was man mit unbewaffnetem Auge durch eine Sichtluke des Beiboots hätte erkennen können. Die Darstellung war vergrößert, die Sonne abgedunkelt und die Raumstation in einem gesonderten Ausschnitt hervorgehoben. In dieser Ansicht musste der Effekt am eindrucksvollsten wirken. »Was ist passiert?«, fragte Garshwyn. »Du musst dich noch etwa … zweieinhalb Minuten gedulden«, sagte ich. »Bei dieser Entfernung braucht das Licht eine gewisse Zeit, bis es unseren Standort erreicht hat.« Denn es war längst passiert. Wir konnten es nur noch nicht sehen. Während die letzten Sekunden bis zum großen Augenblick verstrichen, blieb ich völlig gelassen. Wenn das Experiment wider Erwarten doch nicht funktioniert hatte, bestand kein Grund zum Jubel. Aber wenn ich tatsächlich etwas Derartiges vollbringen konnte, stand es mir nicht zu Gesicht, aufgeregt auf dem Sessel hin und her zu rutschen oder wie ein Irrer durch die Zentrale zu toben. Dann war es so weit. Plötzlich schossen fast gleichzeit drei grelle Flares aus der uns zugewandten Sonnenscheibe. Sie schleuderten Materie und Energie in gigantischen Protuberanzen ins All. Nach einer Atempause von wenigen Sekunden folgte ein gutes Dutzend weiterer Eruptionen. Die Automatik regelte bereits die Helligkeit der optischen Darstellung herunter.
Zwischen den Dimensionen Aber das war erst der Anfang. Kurz darauf schien die Sonne regelrecht zu zerplatzen. Die Ausbrüche erfassten die gesamte Oberfläche und vereinigten sich zu einer glühenden Aura aus Gas, die sich rasend schnell ausdehnte. Die Sonne schien sich aufzubäumen, als wollte sie sich überschüssiger Materie entledigen. Während die glühende Sphäre allmählich verblasste, nahm die Helligkeit im Zentrum erneut zu. Dann wurde Varlin von einer noch gewaltigeren Explosion zerrissen. Die zweite Glutwolke überholte die verwehenden Reste des ersten großen Ausbruchs und verschluckte alles, was sich in der Umgebung befand. Die Raumstation Trodemlyor und die Flotte der Garbyor wurden wie Staubkörnchen in einer Feuersbrunst ausgelöscht. Sie verschwanden einfach aus dem Bild, weil alles von der Glutwolke überstrahlt wurde. Es war unglaublich! Ich hatte es geschafft, einen Stern zur Supernova werden zu lassen! Mit tiefer Befriedigung sonnte ich mich buchstäblich im Glanz dieser unvorstellbaren Macht. Selbst die totale Erschöpfung, die mich gleichzeitig überkam, konnte nichts an diesem wunderbaren Gefühl ändern. Nur am Rande bemerkte ich, dass sich Garshwyn, der die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, plötzlich bewegte. Im Grunde interessierten mich solche Kleinigkeiten überhaupt nicht mehr, aber dann sah ich etwas, das mich innehalten ließ. Ich machte mir klar, dass auch ein Unbesiegbarer in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn er in seiner Wachsamkeit nachließ.
* In den ersten Momenten war Garshwyn vom Anblick der Zerstörung wie gelähmt. Er musste erst einmal verarbeiten, was sich in ein paar Lichtminuten Entfernung abspielte. Als sein Denkvermögen wieder einsetzte, wusste er genau, was er jetzt tun musste. Es gab einfach keinen anderen Ausweg.
45 Atlan war so sehr von den Bildern gefesselt, dass es für Garshwyn ein Leichtes war, nach dem Energiestrahler zu greifen, den der Arkonide wieder an der Hüfte trug. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er darauf reagierte. Langsam drehte er sich zum Zaqoor um und sah ihn an. Garshwyn erschrak. Der Arkonide erinnerte ihn an einen Fieberkranken, der innerlich vor Energie zu glühen schien, dem aber die Auszehrung deutlich anzusehen war. Atlan wirkte gleichzeitig unvorstellbar mächtig und schwach. »Was soll das?«, fragte er. »Warum fällst du mir plötzlich in den Rücken? Ist das der Dank, dass ich dir das Leben gerettet habe?« Er streifte die Waffe, die Garshwyn auf ihn gerichtet hielt, nur mit einem flüchtigen Blick. »Es ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass du jeden Respekt vor dem Leben verloren hast.« »Erwartest du, dass ich Rücksicht auf einen Feind nehme, der ganze Galaxien unter seine blutige Herrschaft bringen will?« »Ich erwarte, dass du bei der Wahl deiner Mittel nicht das Augenmaß verlierst.« »Ich verstehe«, sagte Atlan. »Es geht dir also nur um deine Freundin.« Er schüttelte den Kopf. »Was interessiert dich ihr weiteres Schicksal? Sie hat dir deutlich gesagt, dass sie nichts mehr von dir wissen will.« »Das ist ihr Recht, und jetzt ist sie in Ehren bei der Ewigen Horde. Einer Ehre, die du nicht kennst.« »Dir scheint nicht klar zu sein, welche Bedeutung die Wiederbegegnung mit ihr hatte. Du hast es nur mir zu verdanken, dass sie aus der Ungewissheit in die Existenz zurückgekehrt ist.« »Mir ist völlig klar, welche Rolle du in dieser Geschichte spielst. Du und der Flammenstaub. Deswegen halte ich diese Waffe in der Hand.« Es schien den Arkoniden nicht im Geringsten zu beeindrucken, dass Garshwyn sein Geheimnis durchschaut hatte. »Aber du scheinst nicht erkannt zu haben,
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dass du keine Chance gegen mich hast«, sagte er. »Ich werde es einfach nicht für möglich halten, dass mir von dir eine Gefahr droht.« »Es wird dich vielleicht überraschen, aber das sehe ich genauso«, erwiderte Garshwyn. »Ich werde mich nicht gegen den wahrscheinlichsten Ausgang dieser Geschichte sträuben. Ich werde genau das tun, was sowohl für dich als auch für mich das Beste ist. Wach auf, Atlan!« Garshwyn hob den Energiestrahler und …
* Mit der Unbestimmtheit der Quantenfluktuationen hat sich der Determinismus aus der Physik verabschiedet. Nicht jede Ursache hat eine eindeutig vorhersagbare Wirkung. Damit ist die Idee aufgekommen, dass sich unsere Welt in jedem unbestimmten Moment in neue alternative Universen aufspaltet, die allesamt »real« existieren, auch wenn sie sich außerhalb unserer erlebten Wirklichkeit befinden. Je weiter die Abspaltung zurückliegt, desto fremdartiger erscheinen uns diese Universen. Auch Paralleluniversen mit gänzlich anderen Naturgesetzen sind nur Facetten der Metarealität des Multiversums. Sie sind zu einem noch ferneren, »früheren« Zeitpunkt aus den unendlichen Möglichkeiten des »Ur-Universums« hervorgegangen. Aus »Vorlesungen über die Grundlagen der physikalischen Realität« Les Zeron (408 NGZ)
13. In diesem Moment sah ich wieder mehrere Bilder, die sich gegenseitig überlagerten, wie ein Stapel durchsichtiger Folien, die sich laufend ineinander verschoben. Garshwyn führte die unterschiedlichsten Bewegungen gleichzeitig aus. Hinzu kamen noch ganz andere Bilder, deren Bedeutung ich überhaupt nicht verstand. Dieser Moment war ein entscheidender
Wendepunkt. Hier und jetzt entschied sich, ob ich überlebte oder ob eine mehrtausendjährige Existenz zu Ende ging. Atlan von Arkon, geboren als Mascaren, Kristallprinz des arkonidischen Imperiums, von einer Superintelligenz mit der relativen Unsterblichkeit beschenkt, der Einsame der Zeit, erbitterter Feind und schließlich bester Freund des Terraners Perry Rhodan, der Ritter der Tiefe ohne Erinnerung an die Zeit hinter der Materiequelle und noch so vieles mehr … Der Flammenstaub verlieh mir die Fähigkeit, alles gleichzeitig zu sehen – die erstarrte Gegenwart, den langen Fluss der Vergangenheit und die Möglichkeiten der Zukunft. Ich konzentrierte mich auf die Facetten der wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Welten, suchte verzweifelt nach der richtigen Variante, nach dem Ausgang der Geschichte, die den Zeitablauf wieder ins Lot brachte … Facette 1.0 Garshwyn hob den Energiestrahler und drückte ab. Ich sah noch das Aufblitzen der Thermoladung, doch den Schmerz spürte ich nicht mehr. Es war vorbei. Facette 1.2 Garshwyn hob den Energiestrahler und ließ ihn kraftlos wieder sinken. »Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« »Schon gut.« Ich stand auf, ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Kann ich mich jetzt darauf verlassen, dass du mich bedingungslos im Kampf gegen die Lordrichter unterstützt?« »Selbstverständlich, Atlan!«, sagte er und blickte mich an. In seinen Augen stand plötzlich ein Funkeln – das Zeichen, dass er endlich ins Leben zurückgekehrt war. »Ich bin kein Zaqoor mehr!«, verkündete er. »Ich kenne nur noch den Kampf für die Gerechtigkeit!« »Nichts anderes hatte ich erwartet«, gab ich zurück. »Ich weiß auch schon, wie wir
Zwischen den Dimensionen unseren Feinden die entscheidende Schlappe beibringen können.« »Sag mir, was ich tun soll!« Garshwyn sah mich erwartungsvoll an. Ich lächelte, denn nun wusste ich, dass ich mich auf meinen neuen Gefährten und Freund verlassen konnte. Und ich wusste, dass es jetzt nichts mehr gab, was meinen Siegeszug noch aufhalten konnte. Wer bewirken konnte, dass ein Stern zur Supernova wurde, war auch in der Lage, eine ganze Galaxis in den Strudel der Vernichtung zu reißen! Facette 41.3 Garshwyn hob den Energiestrahler, doch bevor er abdrücken konnte, war ich aufgesprungen und hatte ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Es war so schnell gegangen, dass er von meinem Gegenangriff völlig überrascht wurde. Nur so konnte ich etwas gegen ihn ausrichten. Da der zweieinhalb Meter große Zaqoor mir an Kraft um einiges überlegen war, konnte ich nur auf meine Schnelligkeit und mein Kampfgeschick setzen. Im nächsten Moment spürte ich die Auswirkungen meiner Erschöpfung. Garshwyn bekam mich am Arm zu fassen und riss mich herum. Ich rutschte über den Boden der kleinen Zentrale und krachte gegen die Wand. Benommen schüttelte ich den Kopf. Dann sah ich, wie der Zaqoor nachsetzte. Er nahm Anlauf, um sich auf mich zu werfen und mich wie eine Fliege zu zerquetschen. Mit einem Blick erkannte ich meine einzige Chance. Ich drehte mich seitlich herum und stieß mich mit den Füßen von der Wand ab. Schneller, als er reagieren konnte, schoss ich zwischen seinen Beinen hindurch und streckte die Hand aus. Ich schnappte mir den Energiestrahler, wo er zu Boden gefallen war, und rollte mich gleichzeitig auf den Rücken. Ohne Zögern drückte ich ab. Garshwyn, der zuerst sein eigenes Volk und dann
47 mich verraten hatte, brach tödlich verwundet zusammen. Ich ließ die Arme sinken und blieb noch eine Weile schwer keuchend auf dem Boden liegen. Wenn ich mich ein wenig erholt hatte, würde ich die Leiche entsorgen und mir meine nächsten Schritte überlegen. Ich wusste noch nicht, wie ich den Kampf gegen die Lordrichter fortsetzen würde, aber eins war gewiss: Von nun an würde ich nicht mehr zulassen, dass sich mir irgendwer in den Weg stellte! Ich würde jeden einzelnen Garbyor, vom Kommandeur bis zum letzten Lordrichter, mit bloßen Händen oder mit der Kraft meines Willens töten! Facette 0.1 Wolken aus fein verteilter Materie trieben durch das Universum. Es wies nur einen verhältnismäßig winzigen Unterschied zu anderen Universen auf, in denen sich komplexe chemische Strukturen und Leben entwickelt hatten. In dieser Version der unendlichen Möglichkeiten der Existenz wiesen die Grundkräfte – die starke und die schwache Wechselwirkung, die Gravitation und die elektromagnetische Kraft – leicht gegeneinander verschobene Werte auf. Elementarteilchen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Neutronen hatten, stießen zusammen, lösten sich wieder und setzten ihre Bahnen fort. Nur hier und dort bildeten sich unter dem Einfluss der schwachen Gravitation dichtere Ballungen. Doch schon ein einziges heranrasendes Neutron genügte, um sie wie einen Schwarm Billardkugeln zu sprengen. Nirgendwo in diesem Universum entstand etwas, das auch nur entfernt an Sterne und Planeten, an Atome oder Moleküle erinnerte. Die Kräfte waren zu schwach, um dauerhafte oder komplexe Bindungen entstehen zu lassen. Nur winzige Neutronen bewegten sich durch den Raum, stießen zusammen und lösten sich wieder voneinander …
48 Facette 1.0 Garshwyn hob den Energiestrahler und drückte ab. Die Thermoladung traf meinen Brustkorb und verglühte mein Herz zu einem Haufen Asche. Dann wurde es dunkel um mich. Es war vorbei. Facette 0.7 Die Horden von Gohrbesh unter dem Kommando der Tiefenritterin Atlana setzten zum Sturm auf die Milchstraße an. Der Entscheidungskampf gegen die neulemurianischen Truppen stand kurz bevor. Das letzte Aufgebot unter der Führung des Höchsten Tamrats Periordan sammelte sich, eine unüberschaubare Armada aus Kugelschiffen. Doch Atlana wusste, dass ihr ehemaliger Geliebter keine Chance gegen die Fliegenden Festungen der Horden hatte. Nur durch den Verrat des Zaqoriers Gohrshwyn war es den Neulemurern überhaupt möglich gewesen, so lange Widerstand zu leisten. Atlana strich sich das lange weißblonde Haar aus dem Gesicht und sah den Vargonen Kytharon mit siegessicherem Lächeln an. Sie beschloss, auf große Reden zu verzichten und es endlich hinter sich zu bringen. Ein Wort von ihr genügte, um die gigantische Schlachtflotte in Bewegung zu setzen. Sie atmete einmal tief durch, dann sprach sie das Wort. »Angriff!« Facette 1.1 Garshwyn hob den Energiestrahler, setzte ihn an seine Schläfe und drückte auf den Auslöser. Tödlich getroffen brach er zusammen. Ich saß reglos da und konnte nicht glauben, was geschehen war. Plötzlich war Ruhe eingekehrt. Es war, als wäre ich mit einem Boot durch tosende Stromschnellen gerast, die unverhofft in einen breiten, ruhig dahinströmenden Fluss mündeten. Nachdem das Chaos der unbestimmten Wirklichkeiten überwunden war,
Bernhard Kempen lief die Zeit wieder in ihrem üblichen gemächlichen Tempo ab. Ich hatte diese Szene immer wieder gesehen und versucht, sie durch eine andere Realität zu ersetzen. Doch jedes Mal war ich vor diesen alternativen Realitäten zurückgeschreckt. Oder sie waren so unwahrscheinlich gewesen, dass es mich zu viel Kraft gekostet hätte, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Manchmal musste man zuerst an sich selbst denken. Ich erkannte, dass dies die einzige Lösung des Dilemmas war. Ich hätte Garshwyn vor dem Tod bewahren können, doch damit wäre meine eigene Überlebenschance auf einen minimalen Wert gesunken. Entweder richtete er den Energiestrahler auf mich oder setzte seinem eigenen Leben ein Ende. Entweder ich ließ zu, wozu er fest entschlossen war, oder die Kraft, die ich zur Änderung der Wirklichkeit hätte aufbringen müssen, hätte mich schließlich selbst vernichtet. All das erkannte ich nun, denn in diesem Moment geschah das, wozu Garshwyn mich mit seinen letzten Worten aufgefordert hatte. Ich wachte auf. Ich sah nun, wie der Flammenstaub mich verändert hatte. Hat der Narr schließlich doch Einsicht bewiesen? Sieh an! Da war also noch jemand, der unverhofft wieder aufgewacht war. Schön, dass mein Quälgeist wieder zur Stelle ist, dachte ich zurück. Was hat dir so lange die Sprache verschlagen? Kümmere dich lieber um deine dringlicheren Probleme, riet mir der Extrasinn. Wenn du die DYS-116 nicht bald aus der Gefahrenzone bringst, wird das Feuerwerk, das du da draußen veranstaltet hast, auch dich verschlingen. Wie konnte er sich so schnell einen Überblick über die Situation verschaffen? Hatte er sich die ganze Zeit als stummer Beobachter im Hintergrund meines Bewusstseins aufgehalten, ohne selbst aktiv werden zu können?
Zwischen den Dimensionen Narr! Selbstverständlich kann ich jederzeit auf dein komplettes fotografisches Gedächtnis zugreifen! Diese Aussage deutete darauf hin, dass der Extrasinn tatsächlich über einen längeren Zeitraum vollständig ausgeschaltet gewesen war. Aber ich verzichtete darauf, mich nach den näheren Einzelheiten zu erkundigen. Vermutlich hätte ich ohnehin keine erschöpfende Antwort erhalten. Ich horchte in mich hinein und wartete auf eine schlagfertige Erwiderung, doch sie kam nicht. Keine Antwort war auch eine Antwort.
* Ich versetzte das Beiboot wieder in den vollen Betriebszustand und ließ es gerade genug Fahrt aufnehmen, dass ich von den Auswirkungen der sich weiter ausdehnenden Explosionswolke verschont blieb. Zum Glück hatte ich immer noch meinen varganischen Raumanzug und war nicht auf die Bestände der DYS-116 angewiesen. Im einem zweieinhalb Meter langen Zaqoor-Anzug hätte ich vermutlich keine besonders vorteilhafte Figur gemacht. Aber das war im Augenblick meine geringste Sorge. Ich trug Garshwyns Leiche zum kleinen Schleusenraum. Die Anstrengung kostete mich die letzten Reserven meines verausgabten Körpers. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, ihn mit technischer Unterstützung zu transportieren, aber ich wollte es selbst tun. Zumindest das war ich ihm schuldig. Ich wartete, bis die Atemluft aus der Schleusenkammer gepumpt war, dann öffnete ich das Schleusenschott. Blendendes Licht stach mir in die Augen. Ich verringerte die Durchlässigkeit des Helmvisiers, bis ich die Wolken aus glühender Materie rund um die Supernova erkennen konnte, zu der die Sonne Varlin geworden war. Das Gebilde schimmerte rötlich und hatte die Form eines Traubenbündels angenommen.
49 Dann blickte ich in Garshwyns Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, als wollte er nichts mehr von dem sehen, was die Zukunft für ihn bereithielt. Sein Mund war im Ausdruck der Entschlossenheit zusammengepresst und vom Ansatz eines tiefen Schmerzes verzerrt. Ich konnte nicht anders, ich musste ihm in allem Recht geben, was er gesagt hatte und was er mir durch seinen Tod vor Augen hielt. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren – und über das, was der Flammenstaub mir ermöglichte. Ich hatte mich Schritt für Schritt in ein Monstrum verwandelt, das sich schließlich für ein gottgleiches Wesen gehalten hatte. Weil es die Macht besaß, in das Schicksal des Universums einzugreifen. »Leb wohl, mein Freund«, sagte ich. Alle weiteren Worte wären überflüssig gewesen. Ein letztes Mal hob ich seine Leiche auf und stieß sie durch die offene Schleuse. Lange blickte ich ihm nach, wie er geradezu anmutig der Explosionswolke der Supernova entgegenschwebte. Bald würde er wieder mit seiner Freundin Fatuqar vereint sein. Auch wenn ich nicht sagen konnte, ob es wirklich das war, was er sich gewünscht hätte. Aber es hatte durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Epilog Der Besucher trat ein und wartete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ergriff das Wort. »Was sollen wir jetzt tun?« Der Angesprochene wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Wir dürfen nicht aufgeben. Das ist das wichtigste Gebot der Stunde!« Der Besucher ließ nicht locker. »Die Lage ist verzweifelt. Der Dunkelstern ist zerstört und die Schwarze Substanz eliminiert. Damit ist die Brücke in den Mikrokosmos endgültig zusammengebrochen.« Der Angesprochene ließ sich nicht beir-
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Bernhard Kempen
ren. »Wir müssen eine neue Möglichkeit finden. Wir werden einen neuen Weg finden!« Damit wollte sich der Besucher nicht zufrieden geben. »Welche Möglichkeiten bleiben uns noch? Veschnaron ist tot, und alle unsere Pläne sind hinfällig geworden. Der Arkonide hat in der Intrawelt den Flammenstaub in sich aufgenommen. Jetzt haben wir ihm nichts mehr entgegenzusetzen!« Der Angesprochene sah den Besucher mit eindringlichem Blick an. »Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Trotzdem dürfen wir auf keinen Fall aufgeben!« »Was sollen wir jetzt tun?«
»Beobachten … einschätzen … einen neuen Plan ausarbeiten. Wir werden eine Möglichkeit finden!« Der Besucher wartete auf einen Vorschlag, eine Idee, einen Befehl, doch der Angesprochene schwieg. Er schien das Gespräch als vorläufig beendet zu betrachten. Unzufrieden wandte sich der Besucher um und ging. ENDE
ENDE
Hauch des Todes von Michael Marcus Thurner Atlan erkennt, dass ihm jede Benutzung des Flammenstaubs körperlich sehr zusetzt und selbst sein Zellaktivator die zerstörerische Wirkung nicht aufhalten kann. Dennoch ist er nicht gewillt, davon abzulassen: Mit zunehmender Beherrschung setzt er sich immer größere Ziele im Kampf gegen die Lordrichter.