EDMUND AUE
Zweimal zum Tode verurteilt
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen erzählt
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EDMUND AUE
Zweimal zum Tode verurteilt
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen erzählt
1.-70. Tausend
© Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin, 1976 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Vorauskorrektur: Rita Abraham Korrektur: Johanna Pulpit Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Demokratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
EVP 0,50 Mark
Die Akte An einem Spätsommertag des Jahres 1963 sitzt ein Oberst über eine Akte gebeugt. In den Gängen des Stabsgebäudes sind schon lange die letzten Schritte verhallt. Der Oberst hört weder das monotone Rauschen des Windes noch das leise Rascheln des Ahornbaumes vor dem breiten Fenster seines Dienstzimmers. Ein Offizier sollte eine hohe Auszeichnung erhalten. Man hatte dem Oberst den Auszeichnungsvorschlag gegeben. „Überprüfe das mal, Genosse Bentheim, bring deine Meinung zu Papier." Der Name machte ihn stutzig: Wolfgang Mertens, Major der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik. Mertens? Und dann der Vorname! Der Oberst erinnerte sich an einen Soldaten der faschistischen Wehrmacht, der so hieß. Also hatte sich Bentheim die Akte bringen lassen. Und nun sitzt er und blättert in den Papieren, die über einen Major Mertens aussagen. Immer wieder sieht er sich das Paßbild an, zweifelnd, nachdenkend. Doch bald vergehen alle Zweifel; der, von dem die Akte spricht, ist wirklich jener Wolfgang Mertens, von dem er, Bentheim, ganz genaue Vorstellungen hat. Er war ihm das erstemal
in einem Lazarett in Galizien begegnet. Wann war das doch? Ja, neunzehnhundertdreiundvierzig, kurz vor Weihnachten. Sie hatten nebeneinandergelegen und sich über Persönliches und Allgemeines unterhalten, doch über die Politik und den Krieg hart auseinandergesetzt. Dieser Soldat Mertens war ein fanatischer Hitlerjunge gewesen. „Blut und Ehre!" Das war ihm eingeimpft worden, das saß fest in ihm. Diesen Wolfgang hatten die Faschisten zum blinden Werkzeug ihrer Politik gemacht. Ihn, Bentheim, hatten diese Gespräche über Krieg und Heldentum zur Weißglut gebracht. Doch er hatte gelernt, sich zu beherrschen, und er konnte diesem Jungen nicht die Schuld geben. Im Grunde genommen war sein Wesen sauber und ehrlich; das glaubte wenigstens der damalige Soldat Bentheim. Aus dem Lazarett waren dann beide in eine Fronteinheit gekommen. An einem heißen Tag passierte es: Sie stritten sich heftig über Sinn und Zweck des Krieges. Bentheim hatte alle Vorsicht vergessen und Mertens zornig erklärt, daß er nie auf einen Russen schießen würde. ,,Sie haben mir nichts getan. Eher drehe ich die Knarre um, gegen die, die meinen Vater zum Krüppel geschlagen haben!" Noch heute vermag er sich das empörte Gesicht seines Kameraden vorzustellen. Er erinnert sich aber auch daran, wie sehr er über seine eigenen Worte erschrocken gewesen war. Doch zurücknehmen konnte er sie nicht mehr.
Mertens hatte sich von ihm abgewandt, erst etwas ratlos, dann erregt und wütend. Und er, der Ältere, machte sich danach Vorwürfe. Wie konnte er nur zu einem Menschen, der ganz auf „seinen Führer" eingeschworen war, so offen sein! Er kannte ihn nicht einmal richtig, wußte aber, daß sich der Junge vorzeitig freiwillig an die Front gemeldet hatte. Und nun? Diese Worte hätten ihn Kopf und Kragen gekostet, wenn ihn Mertens bei seinem Kompaniechef gemeldet hätte! Ich muß ihn wiedersehen, schießt es dem Oberst durch den Kopf, ja, ich muß ihn sehen, diesen Jungen, der ein paar Tage nach jenem Gespräch kopflos auf dem Hügel davongelaufen war.. Panik und Entschluß Der Morgen stieg dunstig aus dem Birkenwald, breitete sich über die von Brand und Rauch schwärzliche Wiese aus und griff nach der Höhe, auf der sie lagen. Am Vortag waren sie noch neunzig Mann gewesen, nun kaum noch die Hälfte. Es war unschwer abzusehen, wie es am nächsten Tag um sie stehen würde. Tagelang schon war um diesen Hügel gekämpft worden. Gefallene beider Seiten lagen um und auf dem Hügel, auch in den Schützengräben. Nun, im Morgengrauen, hockten die Soldaten der faschistischen Einheit völlig erschöpft in den
Gräben, kauten Brot, zogen gierig an den Zigaretten. Der Rausch, „für Führer und Volk" zu sterben, war lange schon vergangen. Die Männer beseelte nur noch ein Wunsch: überleben! Bentheim lag nahe bei Mertens, ein alter Soldat neben ihnen. Ob Mertens noch an das Gespräch dachte? Bentheim wußte darauf keine Antwort. Beide hatten seit jenem Tag kaum miteinander gesprochen. Aber Bentheim glaubte nicht mehr daran, daß ihn der Jüngere bei Oberleutnant Scharnowski denunzieren könnte. Er blickte Mertens an. Die Ereignisse schienen auch an dem Jungen nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Bentheim wünschte, Mertens möge sich jetzt daran erinnern, daß er, Bentheim, auf keinen Russen schießen werde. Er beobachtete den Jungen, der auf die Toten starrte. „Du darfst nicht immer hinsehen", sagte der alte Soldat zu ihm. „Man gewöhnt sich nur schwer daran, aber man gewöhnt sich." Er kramte aus seinem Brotbeutel eine harte Wurst hervor, von der er ein Stück abbrach und es Mertens reichte. „Iß, mein Junge! Mit vollem Magen stirbt es sich leichter. Das ist Hausmacher, gewissermaßen Friedenswurst. Meine Alte macht sie selbst. Schweinefleisch und Ziege. Das gibt eine Dauerwurst! Probier mal." Mertens nahm das Stück, aber er bekam es nicht herunter.
Den Vormittag über blieb alles ruhig. Am späten Nachmittag dröhnte plötzlich eine Lautsprecherstimme zu ihnen herüber. „Hier sprechen Deutsche zu Deutschen. Landsleute! Deutsche Soldaten! Dieser Krieg ist nicht euer Krieg! Ihr nur müßt ihn mit eurem Leben bezahlen. Legt die Waffen nieder! Schießt nicht auf euresgleichen, auf russische Arbeiter und Bauern! Macht dem sinnlosen Morden im fremden Land ein Ende!" Schon nach den ersten Worten hatte Scharnowski einem Unteroffizier befohlen, das Birkenwäldchen, aus dem die Lautsprecherstimme kam, unter Granatwerferfeuer zu nehmen. Wenig später heulten und barsten die ersten Wurfgranaten. Der Lautsprecher schwieg. „Nun sei der Herr unserer armen Seele gnädig", meinte der Alte zu Mertens und Bentheim. „Das lassen die sich nicht gefallen. Bald wird der Regen auf uns niedergehen!" Es dauerte auch nicht lange, da heulten die gefürchteten Salvengeschosse heran. Eine Feuerlawine brach über sie herein. So gewaltig war kein Schlag zuvor gewesen. Dröhnen, Krachen, Heulen, Pfeifen — Stöhnen, Jammern, Todesschreie. Bentheim wurde an die gegenüberliegende Seite des Grabens geschleudert. Für Sekunden war er wie benommen. Als er sich aufrichtete, seine Augen auswischte und sich umblickte, fand er dort, wo der alte Soldat gelegen hatte, nur ein tiefes Loch. Ein
Stück weiter lag regungslos Mertens. Ich muß ihm helfen, dachte Bentheim, vielleicht lebt er noch. Mit schmerzenden Gliedern und dröhnendem Kopf kroch er auf Mertens zu — und prallte entsetzt zurück. Vieles hatte er in seinen Soldatenjahren schon sehen müssen, doch das hier war das schrecklichste: Ein Geschoß hatte den alten Soldaten getroffen und seinen Kopf vom Rumpf getrennt. Er lag nun neben dem von Mertens. Bevor aber Bentheim bei dem Kameraden war, hatte dieser die Augen aufgeschlagen, und Bentheim sah, wie der Blick des Jungen langsam klar wurde, doch dann maßloses Entsetzen seine Züge verzerrte. Er rief Mertens an. Doch der hörte ihn nicht. Dann ein Schrei voller Qual, voller Ekel, und Mertens sprang auf, lief wie gehetzt davon. Bentheim sah ihn in Qualm und Feuer verschwinden. Wohin rennt der Junge? Bentheim versuchte, sich zu konzentrieren. Dann winkte er mit der Hand resignierend und doch hoffend ab und murmelte: „Vielleicht wird er diesem Chaos entgehen. Und ich?" Ersetzte sich in den Graben, der ein Bild des Todes bot. Keiner wird mich jetzt aufhalten, sagte er sich, keiner! Jetzt ist die Gelegenheit da, günstig wie noch nie! Wie oft hatte er eine solche Situation herbeigesehnt, überlaufen zu können! Nun war seine Stunde gekommen. Er mußte schnell handeln. Nach dem Geschoßwerferfeuer beginnt vielleicht der sowjetische
Sturmangriff! Ich muß weg von hier! Schnell weg! Ja, ich laufe zu den Russen! Dicht an den Boden gepreßt, kroch Bentheim dem Birkenwald zu, getrieben von der Furcht, die sowjetische Artillerie könnte plötzlich verstummen und einer von Scharnowskis Leuten ihn entdecken und aufs Korn nehmen. Er ließ mehr und mehr alle Vorsicht außer acht; Abstand gewinnen mußte er, rasch Abstand gewinnen! Die Hälfte der Strecke war zurückgelegt, als plötzlich Stille eintrat, die nach dem gerade zu Ende gegangenen Toben beängstigend wirkte. Bentheim sprang auf, lief ein Stück. Dann hörte er eine MPi-Garbe hinter sich. Bevor er sich hinwerfen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz im Oberschenkel. So nah am Ziel, dachte er, und zwischen den Fronten. Ein sowjetischer Sturmangriff erfolgte, nicht. Auch Scharnowskis Soldaten warteten ab. Bentheim lag zwischen Birkenwald und Hügel und verband sich notdürftig die Wunde mit einem Verbandpäckchen. Der Deutsche, der mich angeschossen hat, meint vielleicht, er habe mich erledigt. Ist es so, dachte Bentheim, dann steht für mich alles gut. Er wartete, bis es dunkel geworden war, und robbte auf die sowjetischen Stellungen zu. Als er ihnen nahe war, sang er Kinderlieder, andere fielen ihm nicht ein; vielleicht kamen ihm die Lieder, die er mit der Mutter gesungen hatte, völlig
unbewußt auf die Lippen, vor Glück, sich bald gerettet zu wissen. Er erreichte die ersten Schützenlöcher und wurde aufgenommen... Das Wiedersehen Reichlich zwanzig Jahre ist das her. Oberst Bentheim lächelt. Der Soldat Bentheim war auf die Seite des Rechts übergelaufen, auf die Seite der Roten Armee. Und aus diesem Soldaten war ein Kämpfer der Bewegung „Freies Deutschland" geworden. Heut ist er Oberst. Aus Mertens ist ein Major der Grenztruppen geworden. Und dieser Major soll nun eine hohe Auszeichnung erhalten, die ich bestätigen muß. Ja, ja, dieser Mertens! Ich muß ihn sehen, mich mit ihm unterhalten. Weiß er denn überhaupt, daß ich lebe? Bentheim hatte doch auch geglaubt, Mertens sei tot. Hatte ihm doch, dem Beauftragten des Nationalkomitees, damals ein sowjetischer Aufklärungsoffizier gesagt, ein Wolfgang Mertens sei zum Tode verurteilt worden, die Faschisten hätten das Urteil auch vollstreckt. Ein gefangener Unteroffizier habe ausgesagt, Mertens sei viele Tage nach dem Angriff auf jene Höhe bei einer russischen Familie aufgegriffen und danach verurteilt worden. Als Stabsangehöriger soll der Unteroffizier gesehen haben, wie Mertens gleich
nach der Verurteilung mit zwei Gefreiten und einem Obergefreiten zur Hinrichtung geführt worden wäre. Die russische Familie aber sei von der SS bei der Festnahme an Ort und Stelle ermordet worden. Nun liest der Oberst in der Akte, daß Mertens zweimal zum Tode verurteilt wurde. Und nun lebt er doch! Bentheim freut sich darüber. Unter welchen Umständen mag er nur dem Tode entronnen sein? Der Oberst starrt auf das Paßbild. Zwanzig Jahre! Das ist das halbe gelebte Leben für uns beide. Aber was ist in diesen Jahren aus uns geworden? Wer der Soldat Mertens war, weiß ich; was aus ihm geworden ist, das muß ich erfahren! Es geht schon auf zweiundzwanzig Uhr zu. Der Oberst schließt die Akte in den Panzerschrank und verläßt das Objekt mit dem Vorsatz, Major Mertens zu besuchen. Anfang Oktober fährt ein Wartburg auf der Autobahn Richtung Schkeuditzer Kreuz. Es ist ein regnerischer Tag. Frühzeitig sind Oberst Bentheim und sein Fahrer aufgebrochen. Nun sind es nur wenige Kilometer bis zur Raststätte. Der Regen veranlaßt den Fahrer, ein entsprechendes Tempo zu fahren. Sprühregen. Der Scheibenwischer ist pausenlos in Bewegung; der Fahrer muß aufpassen. Bentheim ist auf dem Weg zur Staatsgrenze West, zu Major Mertens. Der Oberst will dem" Major möglichst unbefangen gegenübertreten. Doch das wird nicht so einfach sein; beide kennen
ja einander nur aus dem Krieg. Trotzdem, hätte Mertens ihn damals denunziert, dann würde jetzt das Auto noch im Kfz-Park stehen. Der Oberst hofft auf ein freudiges Begegnen, auf ein frohes Gesicht. Er weiß, daß von der ersten Reaktion viel abhängt. Der Oberst lehnt sich in die Wagenpolster, dreht trotz des kalten, nassen Windes das Fenster herunter. „Genosse Oberst, wollen wir eine Rast machen?" Der Fahrer blickt durch den Rückspiegel den Vorgesetzten an. „Wie Sie wollen, Genosse Gefreiter." „Dann fahren wir bis Hermsdorfer Kreuz durch. Dort möchte ich einen Kaffee trinken, wenn Sie erlauben." „Warum soll ich es Ihnen verwehren? Von dem Kaffee hängt möglicherweise unser beider Sicherheit ab." „Danke, Genosse Oberst," Bentheim lächelt. Es vergehen kaum zwei Minuten, da fahren sie an der Raststätte vorüber, vorbei an großen Fernlastzügen aus Leipzig, Budapest und Berlin. Bentheim schließt die Augen; er versucht etwas zu schlafen. Doch die Gedanken an den Major, an die gemeinsame Zeit während des Krieges lassen ihn. nicht zur Ruhe kommen. In seine Gedanken hinein
fragt der Fahrer: „Gestatten Sie, Genosse Oberst, daß ich rauche? Der Qualm könnte abziehen." „Gewiß doch, Sie dürfen", antwortet der Oberst und beobachtet den Fahrer, wie er sich eine Zigarette anzündet, denkt, daß der zweite Satz überflüssig war, nicht zur militärischen Form gehörte und doch zeigt, wie rücksichtsvoll der Fahrer ist. Erst als Bentheim das Fenster geöffnet hatte, ist die Frage ausgesprochen worden, und „der Qualm könnte abziehen" war schon Begründung. Aus einer heiteren Laune heraus sagt Bentheim: „Und wenn ich das Fenster wieder schließen würde?" Der Fahrer zögert etwas, dann meint er: „Darf ich Sie etwas fragen?" Bentheim ist gespannt. „Bitte." „Sind Sie Raucher oder Nichtraucher?" „Nichtraucher." Der Fahrer drückt den Rest der Zigarette im Aschenbecher aus. „Dann bitte ich um Entschuldigung, Genosse Oberst." Bentheim, überrascht, sagt: „Aber ich hatte es Ihnen doch erlaubt." „Danke, Genosse Oberst. Es war ja nur noch die Kippe." Der Fahrer lächelt durch den Rückspiegel den Oberst an. Bentheim lacht auch und rekelt sich. Als sie in Osterfeld sind, klärt sich der Himmel auf. Der Fahrer summt ein Lied vor sich hin. Der Oberst ist nun doch eingenickt.
Keine halbe Stunde mehr, und sie sind am Hermsdorfer Kreuz angelangt. Als sie aus dem Wagen steigen, fängt es wieder an zu regnen. ,,Nun, Genosse Gefreiter, ein Kaffee wird uns gut tun." „Hoffentlich ist er stark genug." Nach etwa vierzig Minuten fahren sie wieder los, lassen bald Triptis hinter sich, Dittersdorf, Schleiz. Bei Göritz verlassen sie dann die Autobahn und nehmen die Fernverkehrsstraße 90, Richtung Lobenstein. Immer näher kommen sie dem Ziel ihrer Fahrt. Die Sonne neigt sich dem Horizont zu, als sie vor einem modernen Objekt der Grenztruppen halten. Hinter breiten Fenstern mustern sie neugierig Soldaten. Der diensthabende Offizier kontrolliert Bentheims Papiere und erstattet Meldung. Bentheim dankt. Nachdem die Schranke hochgegangen ist, erkundigt sich der Oberst beim Offizier vom Dienst nach dem Kompanieführer. Der Leutnant antwortet: „Major Mertens ist zur Postenkontrolle, Genosse Oberst. Er ist nicht vor vier Uhr zurück. Soll ich ihn von Ihrem Hiersein verständigen?" „Ja, tun Sie das. Teilen Sie ihm mit, daß ich zu ihm an die Grenze komme. Mein Name tut nichts zur Sache." „Zu Befehl, Genosse Oberst." Bentheim läßt sich Zeit, obwohl es ihn drängt, Mertens gegenüberzustehen. Aber er sieht sich erst einmal die Unterkünfte an. Aufmerksam schaut er in ein, zwei Räume, mustert belustigt die Mädchen-
porträts über fast jedem Bett. Hier und da nimmt er ein Buch aus einem Regal, blättert darin, findet manchen lesenswerten Titel. Vor der Wettbewerbstafel bleibt er länger stehen. Das Bestenabzeichen wollen viele erwerben, um die Verbesserung der Disziplin und um die ständige Erhöhung der Gefechtsbereitschaft geht es da. Bentheim spricht mit Soldaten, hört ihnen aufmerksam zu, was sie ihm erzählen. Er freut sich, daß ausnahmslos alle Soldaten von Mertens' Kompanie keinen ,,Autoritätskomplex" haben, sondern mit dem Oberst frei und offen sprechen. Im Kompanieklub trifft er auf einen Gefreiten, der selbstvergessen an einer Gipsplatte werkelt. Bentheim lächelt über den Eifer des Jungen, aber er ärgert sich über das Motiv, das da im Entstehen ist. „Eine saubere Arbeit", lobt er. Der Gefreite freut sich. „Nur das Motiv", fügt der Oberst hinzu, „dieses bißchen Südsee, die Kokospalme... Man findet so etwas überall. Wissen Sie nichts Persönliches? Ein bißchen Heimat vielleicht?" Der Gefreite wird ernst, unsicher. Die Unsicherheit verliert sich aber bald. „Das mit der Motivwahl, Genosse Oberst, hat der Kompaniechef auch schon beanstandet. Aber es ist wegen der Romantik, verstehen Sie, wegen dem ,bißchen Südsee', wie Sie sagen." Bentheim lacht. „Meinetwegen diese Süd-
seelandschaft. Aber ein andermal vielleicht doch ein Stückchen Heimat?" „So ähnlich hat sich Major Mertens auch ausgedrückt. Er meinte, unser Grenzdienst biete auch romantische Motive." „Da hat er recht, Ihr Kommandeur. Kümmert sich Genosse Mertens um die Freizeit der Soldaten?" „Worum kümmert der sich nicht! Selbst in der Kulturgruppe macht er mit." „Scheint ja viel Zeit zu haben?" „Na ja, eigentlich nicht, Genosse Oberst, aber unser Major nimmt sich nicht nur viel Zeit für unsere Ausbildung, sondern auch für unsere Freizeit. Ich kann das sagen; dort, wo ich vorher war, habe ich so etwas nicht kennengelernt. Da sah es trüb um die Kultur aus." Gegen vierundzwanzig Uhr geht Bentheim in Begleitung eines Leutnants an die Grenze. Man wollte ihn mit einem Kübelwagen hinausfahren, doch er hat das mit der Begründung abgelehnt, er wolle etwas für seine Gesundheit tun. Die Nacht ist mondhell, aber schwül. Von Norden her schiebt sich eine Gewitterfront heran. Mit Unbehagen stellt Bentheim fest, daß er seinen Regenumhang im Auto gelassen hat. Bald erreichen sie den Wald. Bentheim fühlt sich wie zu Hause. Alles erinnert ihn an die Wälder des Oberlausitzer Berglandes, in denen er aufgewachsen ist. Das leise rhythmische Rauschen
der Bäume, der herbe Fichtennadelduft. Er staunt über sich und diesen Wald, denn sein Bewußtsein erkennt doch den Grenzwald, weiß um die Gefahren, die er birgt. Ich bin zu lange nicht in Wäldern spazierengegangen, sagt er sich. Fernes Donnergrollen lenkt seine Gedanken in eine andere Richtung. Er blickt hoch. Durch die Baumwipfel kann er nur wenig erkennen, doch er sieht, daß die Wolkenwand den Mond noch nicht erreicht hat, dessen Licht so stark ist, daß die Äste Schatten werfen. Mitten im Wald, nichts deutet auf Menschen hin, bleibt der Leutnant stehen. „Wir sind am Ziel, Genosse Oberst. Ein Stück weiter vorn liegt Major Mertens mit zwei Soldaten." Bentheim blickt auf seine Uhr. Es bleiben noch einige Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Da sieht er einen Schatten auf sich zukommen, Eine große Gestalt tritt ins helle Mondlicht. Mertens? Dann steht Mertens vor ihm, strafft sich und meldet: „Genosse Oberst! Während der Zeit meiner Postenkontrolle keine besonde..." Er bricht hart ab, starrt Bentheim an. Nach ein paar Sekunden sagt er leise: „Ist denn so etwas möglich?" ,,. ..ren Vorkommnisse!" beendet Bentheim lächelnd die Meldung. „Vorkommnisse hast du vergessen zu sagen, Wolfgang!" Er geht auf ihn zu, packt ihn bei den Schultern und blickt ihm in das verdutzte Gesicht.
„Gert Bentheim!" sagt Mertens langsam. „Das gibt es also. Solche Zufälle gibt es." „Das ist das Zusammentreffen vieler ungewöhnlicher Zufälle. Ja, so etwas soll es schon geben." „Das sagt der Oberst!" Mertens befreit sich etwas aus der Umklammerung. „Gert, ich freue mich sehr!" „Zufällig kam ein Schreiben auf meinen Tisch. Der Name machte mich stutzig, setzte Erinnerungen frei, und ich nahm deine Akte zur Hand. Du warst es. Und hier bin ich." Mertens lächelt. „Reichlich zwanzig Jahre ist das her, und du konntest dich an mich erinnern?" ,,Ich habe mir damals das Gesicht eingeprägt", erwidert Bentheim, ,,es war mir einfach sympathisch." „Und dabei hat dir dieser Kerl eine Menge Kummer gemacht, damals." Mertens blickt in die Nacht. „Dieser blöde Hammel!" „Ach was, du warst nur zu jung." Die Wolkenwand schiebt sich vor die Mondscheibe; allmählich wird es ringsum dunkler. „Gehen wir, Major Wolfgang Mertens", sagt Bentheim. „Wir haben einander viel zu erzählen." „Wie Sie befehlen, Genosse Oberst", erwidert Mertens gut gelaunt. Während sie den Weg entlanggehen — der Leutnant ist mit den beiden Soldaten an der Grenze
geblieben —, wird es stockdunkel. Im Wetterleuchten treten die Fichtenstämme kurz aus dem Dunkel und verschwinden wieder. Mertens nimmt Bentheim am Arm. „Komm, schnell, gleich wird es losgehen! Dort drüben ist eine Holzfällerhütte, da sind wir geschützt und ungestört." Kaum haben sie die Hütte erreicht und es sich auf einer Wandbank bequem gemacht, bricht das Unwetter herein. Unaufhörlich rollt der Donner, pausenlos zucken Blitze, beleuchten die kleine Lichtung vor dem Häuschen. Der Regen rauscht, trommelt auf das Dach. „Ein Glück, daß es die Hütte gibt", meint Bentheim leichthin. „Ich nehme dem Himmel das Unwetter übel. Aber die Hütte macht einiges wieder gut, nicht wahr?" „In ähnlichen Unterkünften habe ich einige Jahre hin und wieder zubringen müssen." „Was? Warst du Holzfäller oder Forstarbeiter?" Bentheim lächelt. „Wenn du es richtig meinst, dann nur im weiten Sinn. Ich habe versucht, mit anderen Genossen und Antifaschisten solche Menschen wie den Soldaten Mertens vor dem bitteren Ende zu retten. Ich war Beauftragter des Nationalkomitees ,Freies Deutschland'." „Du bist also auch — aber bewußt! — übergelaufen?" „Ja, Wolfgang. Damals auf dem Hügel. Und es ist
verhältnismäßig glücklich abgelaufen. Allerdings hat mir einer von Scharnowskis Leuten den Oberschenkel durchschossen. Aber bei den Freunden bin ich gut aufgenommen worden." „Ich wollte auch dem Chaos entrinnen, nur: Ich war damals zu schwach, verstehst du?" „Ich verstehe das, du warst ja ein ganz besessener Hitlerjunge, da war mit dir einfach nicht zu reden. Aber, Wolfgang, du kannst es mir glauben, immer habe ich gewünscht, daß ich dich noch einmal sehen und mit dir sprechen könnte..." „Mir ging es auch so, Gert. Und unser Wunsch ist, wie du siehst, in Erfüllung gegangen." „Nun, du siehst, ich lebe. Und du bist der Vollstreckung des Todesurteils durch viele ,glückliche Umstände' — so hat es jemand in deine Kaderakte geschrieben — entkommen." „Weißt du, das ist eine lange Geschichte." Mertens blickt zum Fenster hinaus, als wolle er sich konzentrieren. Das Licht der Blitze zuckt über sein Gesicht. Dann steht er auf und tritt vor das Fenster. Bentheim starrt auf den Rücken des Freundes. Leise sagt er: „Ich habe mit den Freunden gemeinsam die letzten Monate gegen die Faschisten gekämpft. Ein deutscher Kriegsgefangener hat damals ausgesagt, er hätte dich gesehen, als man dich mit drei anderen zur Erschießung abführte. Aufgegriffen hätten sie dich bei einer Familie, die von der SS ermordet wurde."
Menschlichkeit Mertens steht regungslos. Das Schweigen breitet sich in der engen Hütte aus, verdichtet sich bis ins Unerträgliche. Das Gewitter ist schon weitergezogen, doch die Blitze und die Schläge haben noch Kraft. Endlich bricht Mertens das Schweigen. „Der Mann hat falsche Angaben gemacht, unwissentlich. Bis auf die letzten Worte — und die stimmen auch nur zur Hälfte. Ja, ihren Großvater haben sie geprügelt und dann erschossen..." „Ihren Großvater?" „Ihren Großvater, ja", sagt Mertens schwer. Bentheim spürt, daß er jetzt nicht weiterfragen darf. Er würde sicher alles erfahren, wenn er ihm nur Zeit gab. Mertens redet gegen die Fensterscheibe. „Ihr Großvater war dagegen gewesen, mich aufzunehmen." Bentheim begreift noch immer nichts, aber er fragt auch nicht. Er fühlt, wie schwer es dem anderen fällt. „Aber sie hatte mich aufgelesen und in ihre Hütte geschleppt. Völlig entkräftet war ich. Ich hatte hohes Fieber. Ich wußte nicht, wo ich mich befand..." Mertens unterbricht sich, dreht sich zu Bentheim um und lächelt. ,,Entschuldige, Gert. Ich spreche von Personen, die du nicht kennst, ich sage dir Ergebnisse, ohne die Ursachen zu nennen. Aber das andere, das davor, und wie es dazu gekommen ist, ist so unwichtig in der Erinnerung, ist die Vergangenheit vor der Vergangenheit: der
Kopf des alten Soldaten neben meinem Gesicht, die Panik, die Flucht, dann die Furcht, ergriffen zu werden. Und ich floh auch vor mir selber in die Wälder. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage ich mich in den Wäldern verborgen hielt, weit hinter der Front schon. Der Hunger hat mich in die Nähe eines Dorfes getrieben, der Hunger und das Fieber. Eine Lungenentzündung war es vermutlich; ich habe keinen Doktor konsultiert.'' Ironisch lächelt er. Bentheim schweigt, blickt den Freund nur an. „Von den letzten Stunden im Wald weiß ich nur noch, daß ich in einen hohlen Baum gekrochen bin. Wie lange ich dort gelegen habe, ehe mich Nadja fand, werde ich nie sagen können. Nadja schleppte mich in die Scheune bei einer Hütte, die sie mit ihrem Großvater teilte. Wo ihre Eltern waren, erfuhr ich erst viel später." Wieder macht Mertens eine lange Pause. Das Gewitter ist verzogen, es regnet nicht mehr. Der Mond bescheint kalt die Lichtung vor dem Holzfällerhaus. Mertens blickt durch das Fenster hinüber zum Waldrand. Bentheim, der auf die Fortsetzung der Geschichte wartet, steht leise auf und öffnet die Tür. Frische Kühle strömt in den Raum. Er bleibt, an die Tür gelehnt, stehen und atmet die würzige Luft tief ein. Erst als Mertens wieder zu sprechen anfängt, tritt er in die Hütte zurück und setzt sich wieder auf die Holzbank, die Arme auf den Brettertisch gestützt.
„Gert, es ist eine unglaubliche Geschichte. Kein Wort würde ich glauben, wenn mir einer erzählte, was ich zu berichten habe. Es sei denn, es wäre ein guter Freund, von dem ich genau weiß, daß er mich nicht belügt." „Erzähle nur, Wolfgang." „Also, Nadja hat mich zu sich geschleppt. Lange habe ich bewußtlos gelegen. Als ich erwachte, fand ich mich auf einer Strohschütte mit einer groben Decke zugedeckt. Ich ahnte, daß ich in einer Scheune lag, spürte etwas auf meiner Stirn. Wenn ich daran denke und die Augen schließe, ist mir noch heute, als würde alles in diesem Moment geschehen. Seltsam, nach reichlich zwanzig Jahren. Ich habe das ja alles nur im Unterbewußtsein wahrgenommen, Gert, dennoch sehe ich die Tenne vor mir, spüre, wie mir das Tuch von der Stirn rutscht. Auch die Schüssel auf dem Hocker sehe ich genau, und auf dem anderen Hocker sitzt Nadja, in sich zusammengekauert." Mertens schweigt wieder. Bentheim sieht, wie er lächelt, glücklich und gut. Plötzlich dreht sich Mertens vom Fenster weg, kommt zum Tisch und setzt sich neben den Freund. „Also, Gert, daß mich Nadja fand und gesundpflegte, das war ein glücklicher Umstand. Der andere, daß ich nicht hingerichtet wurde. Dazwischen geschah der Mord an Nadjas Großvater. Er war anfangs gar nicht einverstanden, daß seine Enkelin den halbtoten Landser angeschleppt brachte und ihn noch dazu in seiner Scheune verbarg.
Ich hatte gerade mein Bewußtsein wiedererlangt und war dabei, mich gründlich umzusehen, Nadja hatte es noch nicht bemerkt, sie schlief, da hörte ich Schritte, die sich der Scheune näherten. Ich rührte mich nicht und tat so, als ob ich schliefe. Der Alte trat auf das Mädchen zu, weckte es, redete eindringlich auf Nadja ein. Zwischen den schmal geöffneten Lidern sah ich, wie der Alte auf mich deutete und immer heftiger wurde. Doch das Mädchen schien dagegen zu sprechen, sehr beharrlich, zwar leiser als der Alte, doch ihre Stimme war fest und klang entschlossen. Schließlich winkte der Großvater resignierend ab, forderte das Mädchen auf, ihm zu folgen. Der Alte kam auf mich zu, glaube mir, ich hatte plötzlich Angst. Der Großvater hob die Decke an meinen Füßen hoch, und ich spürte, wie sich ein kalter Lappen um meine Waden legte. Danach zog er schimpfend ab. Ich war wieder allein mit dem Mädchen. Ich machte mich bemerkbar, stöhnte ein wenig; das fiel mir nicht schwer, denn ich war wie gerädert. Sie schrak auf, beugte sich über mich. Ich hörte: ,Nicht aufstehen! Du liegen!' Die Mahnung war überflüssig, denn ich war viel zu schwach dazu. Aber Durst hatte ich, unbändigen Durst. Ich bat Nadja um Wasser. Sie brachte mir einen großen Becher voll. Gierig trank ich. Du glaubst ja nicht, Gert, wie Wasser schmecken
kann!" Mertens macht eine Pause und fährt dann fort: „Ich gehe wohl zu sehr ins Detail? Mitternacht ist längst vorbei, und der Morgen wird da sein, ehe ich dir die Hälfte von allem erzählt haben werde." Auf der Lichtung äsen zwei Rehe. Frieden liegt über der Landschaft. Bentheim deutet mit der Hand zum Fenster. „Sehr hübsch, das da draußen. Ein wenig Spitzweg, ein wenig Richter." Der Oberst erinnert sich dabei an die Südseelandschaft in Gips, die er bei dem Gefreiten gesehen hat. „Und deine Leute schwärmen für Südseeinseln mit Palmen." Bentheim lächelt. Mertens horcht auf. „Du warst also schon in der Kompanie, bevor du zu mir kamst?" „Ein paar Stunden nur, Wolfgang. Ich habe ja gesagt, daß man dir etwas Freundliches antun will. Nun ja, und da habe ich mich halt ein bißchen umgeschaut. Eine Menge guter Dinge habe ich dabei gehört und gesehen. Ein Gefreiter war des Lobes voll." „Ein Gefreiter bloß? Das ist wenig", meint Mertens trocken. „Ich habe nur mit wenigen gesprochen. Nur, dein Gefreiter hatte so eine wunderschöne Landschaft in Gips." „Ja, in Gips... In Gips?" wiederholt sich Mertens leise. „Du, haben sie dein Bein damals in Gips legen müssen?" Bentheim versteht nicht. „Wieso? Ach so! Ja. Ich
habe aber nicht lange zu liegen brauchen. Alles verlief ohne Komplikationen. Naja, dann wollte ich ja auch an die Front, gegen die Nazis kämpfen." „Das kann ich verstehen, heute kann ich dich verstehen. Damals war ich nicht soweit. Auch dann noch nicht, als mich Nadja gesundgepflegt hatte und der Großvater auch nicht mehr soviel herumknurrte. Daß meine Anwesenheit ihm nicht behagte, hatte sicher Gründe. Er wußte, daß junge Menschen in einer solchen Lage einander nicht lange gleichgültig bleiben können. Bestimmt hat der Alte es deutlicher als wir gesehen, was sich da anbahnte. Eher als wir deutete er die Gesten und Blicke von uns beiden, sah, daß meine Dankbarkeit gegenüber Nadja nicht mehr nur Dankbarkeit war und Nadja nicht nur aus Mitleid so behutsam mit mir umging. Nur mit den Augen verrieten wir unsere Gefühle zueinander. Mehr durfte nicht sein zwischen dem russischen Mädchen und dem deutschen Soldaten, der in ihr Land eingefallen war. Doch der Alte kannte das Leben, und so wußte er, daß mehr sein würde, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Und trotzdem, das war es nicht allein, weshalb er mich von seinem Gehöft haben wollte. Ein paar Tage später wußte ich es genau. Der Großvater hatte mit Partisanen in Verbindung gestanden. Den Kontakt hatte er aufgeben müssen, nachdem ich aufgetaucht war, denn die Partisanen sollten durch meine Anwesenheit nicht gefährdet
werden. Ich wurde gesund, und er nahm die Verbindung zu ihnen wieder auf. Doch davon wußte ich nichts. Nadja war beauftragt worden, mich gründlich auszufragen, meine Haltung und mein Denken zu erforschen. In den Gesprächen mit mir hatte sie auch ihr Deutsch, ein Schul- und Studentendeutsch, verbessert. Um die beiden nicht zu gefährden, wollte auch ich fort. Doch wohin sollte ich? Eines Tages sagte mir Nadja: .Großvater hat Weg gefunden. Ich bringe dich zu unseren Leuten in den Wald. Du dort bleiben, bis der Krieg zu Ende ist.' Da wußte ich, daß mit den ,Leuten' die Partisanen gemeint waren. Ich willigte in ihren Vorschlag ein. Aber so ganz wohl war mir nicht in meiner Haut." „Es muß ein schwerer Entschluß für dich gewesen sein, Wolfgang." Der Oberst stößt den Genossen an. Er lächelt. „Jedenfalls für den Soldaten Mertens, den ich kannte." Nach einer Weile des Besinnens meint Mertens: „Die Entscheidung war schwer, Gert. Schließlich war ich aus der Armee geflohen, in die ich mich, kaum siebzehn, freiwillig gemeldet hatte. Im Kopf war ich immer noch recht wirr; von bewußtem Handeln konnte nicht die Rede sein. Manchmal habe ich an deine Worte gedacht — ,eher drehe ich die Knarre um!' —, aber ich konnte sie in ihrer ganzen Konsequenz noch nicht begreifen." Bentheim schweigt, da er weiß, wie schwer es dem
Genossen fällt, über nicht gewollte Niederlagen seiner Jugend zu sprechen. Erst als gereifter Mensch vermag ein Mann wie Mertens sich ehrlich und ohne alle Beschönigung einzuschätzen. „Wir bereiteten uns also auf den Marsch zu den Partisanen vor." „Hat man euch entdeckt? Seid ihr verraten worden? — Du sagst das so, als würde da noch etwas kommen, was nicht in die Vorbereitungen hineinpaßt." „Es war kein Verrat, sondern ein ganz gewöhnlicher Zufall. Am frühen Morgen sollte es losgehen, um in der Dämmerung schon tief im Wald zu sein. Es war gegen drei Uhr..." Der Mord „Du, aufstehen!" Nadja rüttelt Mertens an der Schulter. „Aufstehen! Es geht los!" Mertens dehnt sich, reibt sich den Schlaf aus den Augen und steht auf. Neben dem Lager hatten Nadja und er am Abend schon die Rucksäcke zurechtgelegt. Mertens zieht sich die Stiefel an, hängt sich eine Decke um, packt den Sack und will zur Tür. Da hält ihn das Mädchen zurück. ,,Ruhig! Hörst du!" Tatsächlich, Motorengeräusch, das näher kommt. Schon sehen die beiden durch die Ritzen in der Scheunenwand einen Scheinwerferkegel auf Großvaters Haus einschwenken. „Die Deutschen!" Nadja ist weiß im Gesicht.
„Deduschka ist noch drüben, im Haus. Oh, was wird jetzt werden?" Sie schleicht sich zur Scheunentür, öffnet sie einen kleinen Spalt breit. Mertens, der an der Rückwand der Scheune einige lockere Bretter weiß, die man ohne Geräusch herausnehmen kann, tritt zu Nadja. „Wir müssen weg. Da hinten, durch die Wand. Es sind nur wenige Schritte bis zum Wald." Aber da sieht er den Panzerspähwagen, der von Kradschützen eskortiert wird. Jetzt hält er vor dem Haus. Heraus springen SS-Männer, die auf das Haus zugehen. Die Kradschützen steigen von den Motorrädern. Der Wagen fährt ein paar Meter zurück. Mertens sieht, wie der MG-Turm auf das Haus einschwenkt. „Wen wollen sie? Muß ich wissen!" sagt Nadja. „Wir müssen weg! Großvater ist vielleicht schon hinten durch das Fenster, Nadja." „Ich muß wissen, wen sie wollen, die Hunde!" Nadja blickt zu Mertens, Haß und Verzweiflung liegen in ihrem Blick, auch gegen Mertens, der erschrocken ist und nicht weiß, was er nun tun soll. In diesem Moment hören sie kräftige Schläge gegen die Haustür. Die Tür wird geöffnet, heraus tritt Nadjas Großvater. Die SS-Männer packen den Alten, zerren ihn weiter in den Hof. Nadja unterdrückt einen Schrei, klammert sich an Mertens fest. Sie hören, wie der eine SS-Mann den Großvater fragt:
„Wo sind die Partisanen, he, Alter. Du führst uns jetzt zu ihnen, dalli!" Der Faschist will den Großvater zum Wagen zerren. Dabei schlägt er ihn, brüllt: „Wo sind die Banditen! Rede, Russki!" Der Großvater sagt kein Wort, er schüttelt nur den Kopf. Wieder schlagen die Faschisten auf den Großvater ein. Da verliert Nadja die Nerven, reißt die Tür auf und will sich auf den SS-Mann stürzen. Ein Schuß bricht wie ein Gewitterdonner herein. Der Großvater stürzt rücklings zu Boden. Der SS-Schurke dreht sich zu Nadja um, grinst, wehrt sich vor ihren Schlägen, lacht. Dann hört Mertens, den gleichzeitig Furcht und der Wille beherrschen, Nadja zu helfen, aber nicht weiß, wie er das machen soll, den Mörder zynisch sagen: „Was ist uns denn da für ein Vögelchen zugeflattert." „Ihr Hunde, ihr Mörder!" schreit ihn Nadja an. „Und das Vögelchen zwitschert gar auf Deutsch!" Der Mann hält das Mädchen fest. „Lassen Sie mich los, Sie Mörder!" Nadja versucht, sich aus der Umklammerung des starken Mannes zu lösen. In ihrer Verzweiflung beißt sie ihm in den Handrücken. „Verfluchte Bestie!" Der Mörder läßt Nadja los. Schon will sie entfliehen, da packt sie ein anderer, und der Mörder des Großvaters schlägt brutal mit dem Kolben seiner MPi auf sie ein. Wieder gelingt es dem Mädchen, sich loszureißen ,
da stellt ihr der SS-Henker ein Bein. Sie fällt. Wutentbrannt reißt der Mörder sie hoch, reicht dem anderen seine Maschinenpistole und zerrt Nadja grob mit sich. „Komm, du Katze! Mit dir beschäftige ich mich viel lieber als mit dem Alten. Los, dalli!" Mertens sieht das alles mit an. Er weiß, was jetzt passieren wird. Er liebt Nadja, doch hat er es ihr noch nicht sagen können. Er weiß, auch Nadja ist ihm zugetan. Was soll er tun? Er muß Nadja retten! Behutsam schleicht er sich zu der hinteren Scheunenwand, hört, daß hinter der Wand ein verzweifelter Kampf stattfindet. Der Faschist flucht, Nadja keucht. Da hat Mertens die Latten beiseitegedrückt, stürzt hinaus, wirft sich auf den SS-Mann, der, überrascht, Nadja losläßt, und schlägt wild auf ihn ein. ,,Nadja, schnell in den Wald!" schreit Mertens. Doch das Mädchen hört ihn nicht mehr, es läuft schon im schützenden Wald, voller Furcht, die Mörder könnten sie verfolgen. Mertens merkt, daß ihn seine Kräfte verlassen, doch er umklammert den Hals des SS-Mannes in letzter Verzweiflung. Plötzlich, der Faschist bewegt sich kaum noch, spürt Mertens einen Schlag auf dem Kopf. Wie im Traum löst er die Finger. Alles dreht sich um ihn, dann verliert er das Bewußtsein. In einem Schuppen wacht er auf. Es stinkt nach Dieselöl und Rost, nach alten Decken und
vergammeltem Stroh. Langsam unterscheidet er in dem Dunkel des Raumes Gestalten. Immer deutlicher sieht er Soldaten in zerrissenen Lumpen, bleiche Gesichter. Einige nur in Hemd und Hose, manche, wie er, in eine Decke gehüllt. Ihn fröstelt; er stöhnt, sein Kopf schmerzt. „Ruhig, Junge, sei still. Wir alle wollen still sein." Ein etwa Vierzigjähriger hat es gesagt. Mertens dreht sich zu ihm herum. „Wo bin ich", fragt er. „Bei den Todeskandidaten. Ich heiße Fritz Bergemann. Bin aus Dresden. Ich wollte nicht auf Frauen und Kinder schießen. War nämlich zu einem Exekutionskommando bestimmt worden. Ich weigerte mich. Nun bin ich hier und warte auf mein Urteil. Es kann nur Tod heißen. Und du hast also einen von der SS fast erwürgt, sagten uns die Kettenhunde." „Hat man mich allein gebracht?" „Ja, wieso?" „Ach nichts. Übrigens, ich heiße Wolfgang Mertens. Danke, daß du mir gesagt hast, wo ich mich befinde." Nadja ist ihnen also entkommen, und das ist im Moment das wichtigste! Mertens freut sich darüber, schläft beruhigt ein. Als der Morgen heraufdämmert, öffnet sich' knarrend die Tür des Schuppens. Herein schiebt sich ein behelmter Kopf, danach die Schultern
eines Obergefreiten. „Sie kommen euch holen! Verzeiht mir. Ich kann nichts daran ändern. Ich bin ein alter Mann." Der Obergefreite tritt wieder hinaus, schließt die Tür hinter sich zu. Stille. Mertens hört hinter sich Schluchzen und verhaltenes Weinen. Bergemann steht zuerst auf und sagt: „Was soll das, Männer!" In diesem Moment kommen Schritte auf das Gebäude zu. Ein Kommando ertönt. „Gruppe, halt! Rührt euch!" Kurz darauf wird die Tür aufgerissen. „Na, dann wollen wir mal." Plötzlich: „Raustreten, ihr Verräter, Feiglinge! Ein bißchen dalli!" Ein Feldwebel tritt in den Raum, stößt Bergemann an. „Na los! Wird's bald!" Draußen sieht Mertens erstaunt, daß sie nur vier sind; in der Nacht glaubte er, sie wären viel mehr. Deiner kommt dazu, sich Gedanken zu machen. Die Kommandos des Feldwebels treiben sie zusammen. Bald setzt sich der seltsame Zug in Bewegung. An der Spitze fährt ein Panzerspähwagen mit dem Kriegsgerichtsrat, dem Stabsarzt, einem Oberleutnant und dem Erschießungskommando. Hinter ihm marschieren die vier Delinquenten, gefolgt von einer Gruppe Bewachungssoldaten. Es duftet nach Jasmin und frischer Erde, wie nach einem Regen. Mertens und Bergemann gehen zusammen. Man führt sie einem Wald zu. Immer
stärker überkommt Mertens eine unaussprechliche Schwäche. Ihm zittern die Beine. Die Gedanken an den bevorstehenden Tod beherrschen ihn ganz; er ist verzweifelt und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Da fühlt er zwei kräftige Hände; Bergemann stützt ihn. „Nicht schwach werden, Junge. Nur kurz ist der Weg. Reiß dich zusammen. Besser ein sauberer Tod als ein dreckiges Leben!" Diesen Satz hat Bergemann lauter als gewollt gesagt. Apathisch nickt Mertens mit dem Kopf. Hört nur ganz von fern das Schnauzen des Feldwebels. „Halt dein Maul!" Aber deutlich vernimmt er Bergemanns Worte: „Wer weiß, wie die krepieren werden, später!" Mertens erinnert sich plötzlich an jenen Satz von der Höhe: ,,... eher drehe ich die Knarre um gegen die, die meinen Vater zum Krüppel geschlagen haben!" Und er denkt an den Großvater, und er sieht Nadja. Die Furcht verläßt ihn. Der Kamerad braucht ihn nicht mehr zu stützen. Er lächelt, stößt Bergemann an. „Ich danke dir. Die Schwäche ist vorüber." Sie haben den Waldrand fast erreicht, als sie eine Granate auf sich zuorgeln hören. Bergemann schreit: „Hinlegen!" Alle schmeißen sich auf die Erde. Schon krepiert die Granate zwischen Panzerspähwagen und Kolonne. Die vier werden von einer heißen Dreckfontäne überschüttet. Noch
bevor sich die anderen überhaupt klarwerden, was da auf sie hereinbrach, brüllt Bergemann: „Dort! Russische Panzer!" Er reißt Mertens mit sich hoch. „Ab, Junge, ehe die zur Besinnung kommen!" Doch da werden sie von einer gewaltigen Detonationswelle erfaßt und von der Straße geschleudert. Mertens findet sich in einer Weißdornhecke wieder. Er sieht, wie eine dritte Granate den Panzerspähwagen zertrümmert. Noch herrscht Panik. Der Feldwebel will sich erheben. Doch die nächsten Granaten zwingen ihn wieder auf die Erde. Da hört Mertens neben sich die Stimme Bergemanns. „Los, weg hier! Das ist unsere einzige Chance! Bevor hier wieder alles ruhig ist, müssen wir weit sein!" Der Boden dröhnt. Eine Granate folgt der anderen. Die Wachmannschaft ist entweder getroffen oder liegt in Deckung. Plötzlich eine Stichflamme und ein gewaltiges Getöse — Tank und Treibstoffkanister sind explodiert. Vom Panzerspähwagen ist nur noch ein qualmendes Wrack zu sehen. „Los, weg! Unsere Todesurteile haben die russischen Panzergranaten zerfetzt." Beide schleichen sich durch das Gebüsch, robben entlang den Büschen, die die Straße säumen, auf den Waldrand zu. Es dauert nicht lange, da haben
sie den Wald erreicht. Hinter einem Haselnußgesträuch verhalten sie. „Geschafft, Fritz!" „Noch nicht ganz, Wolfgang." Sie blicken sich nach dem Dorf um, aus dem sowjetische T-34 und eine Selbstfahrlafette herauskommen. Doch von der rechten Seite her werden sie von deutschen Panzern angegriffen. Dort, wo die beiden noch vor zehn Minuten waren, sehen sie den Feldwebel mit der MPi gestikulieren. Er ist allein. Keiner erhebt sich. Mertens meint leise: „Er und wir haben es überlebt." Dann schlagen sie sich tiefer in den Wald, immer weiter hinein. Sie wissen nicht, in welche Richtung sie laufen. Bald ist der Tag vorüber. Die Nacht kommt, und mit ihr ein starkes Gefühl der Geborgenheit, des Schutzes... Irrend und hoffend Major Mertens hat seine Geschichte beendet und blickt wieder in den heraufkommenden Morgen. Dann sagt er: „Immer weiter liefen wir, tiefer in den Wald. Tagelang verbargen wir uns, ernährten uns von dem, was der Wald hergab. Wir hatten mit unserem Leben abgeschlossen und liefen nun um unser Leben." „Und so sind die glücklichen Umstände' erklärt", sagt Bentheim. „Deine Geschichte geht dem Ende zu, denn der Wald hat dich wieder, und im Wald
wartet Nadja auf dich." Bentheim lacht. „Das ist wie im Märchen. Aber ich glaube dir diese unglaublichen Erlebnisse, weil ich gehört habe, wie du erzählt hast. So erzählt man nichts Erfundenes. „Aber wenn nun Nadja nicht wartet?" Mertens stockt, schweigt, murmelt etwas vor sich hin, sagt dann laut: „Oder, Gert, wenn da einer nicht den Weg gefunden hat?" Der Major steht auf, dehnt sich etwas in den Schultern, gähnt. „Eigentlich sollten wir schlafen gehen. Denn das, was ich bisher berichtet habe, das ist erst die Hälfte des ,Märchens'. Aber der letzte Teil ist schneller erzählt." „Wegen des ,Märchens', Wolfgang — entschuldige. Aber es ist unglaublich. Man muß es erst begreifen können. Erzähle weiter." „Bergemann und ich wollten ostwärts. Aber wir liefen immer im Kreise. Als wir es bemerkten, schlugen wir eine andere Richtung ein. Wir wußten nicht, daß wir uns nun nach Westen wandten. Tagelang hielten wir uns von den Dörfern fern. Und dann merkten wir, daß wir völlig die Orientierung verloren hatten. Der erste Schnee fiel. Hunger und Durst trieben uns in die Nähe menschlicher Behausungen. Doch wir getrauten uns nicht, sie aufzusuchen. Die Lage wurde immer unerträglicher. Wir gingen in ein zerstörtes Dorf in der Hoffnung, auf Menschen zu stoßen, Wärme zu finden, etwas Trinkbares, etwas zu essen. Doch
keine Menschenseele war zu sehen. Wir versteckten uns in einem zerstörten Haus am Dorfrand. In einem Bottich fanden wir grobe Kleie. Während Bergemann einen Brei aus der Kleie anrührte, machte ich das Feuer. Du glaubst nicht, wie uns dieses Zeug geschmeckt hat! Dann löschten wir das Feuer und krochen in ein paar alte, zerlöcherte Pferdedecken und schliefen bald tief und fest. Am Morgen weckte uns MG-Feuer und MPi-Garben. Wir verhielten uns still. Allmählich begriffen wir, daß wir mitten in der Frontlinie lagen. Noch hofften wir, daß die Front über uns hinwegrollen könnte und wir so in Gefangenschaft geraten würden. Wir wollten uns gerade aus dem Raum in eine unter dem Fußboden ausgegrabene, kellerartige Vertiefung zurückziehen, als die Tür aufgestoßen wurde. Ein Unteroffizier stürzte herein, brüllte, daß die Russen kämen und wir uns auf die Socken machen sollten, und er befahl uns, sofort aufzubrechen. Wir schwankten. Eine Ausrede fiel uns nicht ein. Wir hätten den Unteroffizier niederschlagen können. Aber wir waren so überrascht, daß wir zu keiner Tat fähig waren. Wir kamen nicht zu Ende mit unseren Gedanken. Granaten heulten heran, die Erde bebte von den zahlreichen Einschlägen, Splitter pfiffen durch die Luft, schlugen klatschend in die Wände. Wir stürzten hinaus, statt in das Kellerloch, mitten hinein in die Woge zurückflutender Soldaten. Ja,
Gert, und da war es zu spät! In dem Gewühl verlor ich Bergemann aus den Augen; nun war ich hilflos wie zuvor. Ich ging mit den Einheiten zunächst Richtung Westen. Bald erfuhr ich, daß sie zur Heeresgruppe Mitte gehörten. Tage und Nächte entfernte ich mich von meinem Ziel Und ich ging mit jenen, vor denen ich geflüchtet war. Manchmal hatte ich die Absicht auszuscheren, mich einfach in irgendeine Mulde fallen zu lassen, dort zu bleiben, bis alles an mir vorüber war. Aber es gelang mir nicht; mir fehlte dazu die Kraft, das Wollen in die Tat umzusetzen. Inzwischen waren wir bis nach Oberschlesien zurückgeworfen worden; das war Anfang 'fünfundvierzig." Mertens beugt sich über den Tisch, stemmt die Fäuste auf und blickt finster zu Bentheim. „So war das mit dem Soldaten Wolfgang Mertens. Soll ich mich kürzer fassen, Gert?" ,,Da hast du also bis zuletzt für .Großdeutschland' gekämpft? Das paßt nun gar nicht in die Geschichte. Aber sie ist ja noch nicht zu Ende. Und hast du je wieder etwas von Nadja gehört?" „Also muß ich doch etwas weiter ausholen." Mertens setzt sich wieder auf die Bank. „Ganz so lange habe ich nicht mitgekämpft..." „Mach es nicht so spannend, Wolfgang." „In der neuen Einheit hatte ich mich mit einem Rheinländer angefreundet. Böttner hieß er. Er schimpfte auf die Nazis, auf den Krieg und auf die
Unteroffiziere. Wir verständigten uns schnell. Und als wir dann eines Nachts losgeschickt wurden, um aus einem zurückliegenden Bunker Munition zu holen, suchten wir das Weite. In der Nähe einer kleinen Siedlung verbargen wir uns im Wald. Wir hofften, dort bald von der Front überrollt zu werden. Aber unsere Rechnung ging nicht auf. Der Druck der Roten Armee hatte in diesem Abschnitt nachgelassen. Die Armeen gruppierten sich um. Unsere Lage wurde kritisch. Wir hatten zwar noch einige Nahrungsmittelvorräte und lagen in einer von Fichten verdeckten Höhle, in der wir es uns ziemlich gemütlich gemacht hatten. Doch Brot und Wurst, Zwieback und Kaffee waren nur für zwei bis drei Tage berechnet. Wir teilten alles streng ein. Aber dann gingen unsere Vorräte zu Ende. Hunger und Durst begannen uns zu plagen. Schließlich wurde Böttner krank. Er bekam Fieber. Und so entschlossen wir uns, im Dunkeln doch in das Dorf zu gehen, um etwas Eßbares und ein paar Medikamente aufzutreiben. Wir klopften an die erste Tür. Sie wurde geöffnet. Wir gaben uns als Versprengte aus, die ihre Einheit suchen, sprachen von Böttners Krankheit und baten um Hilfe. Aber wir hatten an der falschen Tür geklopft." „Sie haben euch abgewiesen", fragt Bentheim den Genossen. „Nein, schlimmer. Sie baten uns freundlich in die Küche. Zur Stärkung etwas zu essen, das hätten sie
gleich, und Medizin wollten sie auch besorgen, von Bekannten, sagten sie. Der alte Mann ginge sie holen. Wir aßen, waren froh und in bester Erwartung. Und dann kam der Mann zurück und brachte an Stelle der Medizin zwei Feldgendarmen mit. Wir wurden abgeführt." Mertens fährt sich mit der Linken über seine Augen, als wolle er die düsteren Erinnerungen wegstreichen. Er schlägt die Faust auf den Tisch und sagt leise: „Und ob du es glaubst oder nicht, was jetzt kommt, das hatten wir schon!" „Das ist nicht möglich!" Bentheims Stimme klingt belegt. „Es ist geschehen. Der Fahnenflucht für schuldig befunden, zum Tode verurteilt, zu vollstrecken in vierundzwanzig Stunden." „Aber du lebst! So viel Glück kann es nicht geben, nicht so viele Zufälle!" „Wie du siehst, gibt es sie", meint Mertens belustigt. Die Erschießung „Du kannst es mir glauben. Beim zweitenmal war es ein Gnadengesuch, das mich rettete. Ein älterer Soldat riet mir, formal zu bereuen, Affekt und so. Der Kommandeur habe zwei Söhne im gleichen Alter wie ich an der Front. Und er sei gar nicht so. Ich bereute, schrieb das Gesuch. Ich nahm nicht an, daß jemand von meinem ersten Todesurteil etwas
wissen könnte. Böttner bat nicht um Gnade. ,Bei denen nicht', sagte er. Ich hörte nichts von meinem Gesuch. Doch am nächsten Morgen glaubte ich zu wissen, wie es beurteilt worden war. Zwei Feldwebel mit den Blechschildern auf der Brust kamen in die Zelle. Uns wurden die Hände auf den Rücken gebunden. Dann stießen sie uns auf einen Lastkraftwagen. Zu beiden Seiten der Ladefläche saßen Soldaten mit Stahlhelmen und Karabinern. Es war alles genauso wie beim erstenmal, nur wurden wir jetzt gefahren. In einer Sandgrube, die rings mit kahlem Gestrüpp bewachsen war, banden sie uns an zwei Pfähle und wickelten uns einen schwarzen Schal um den Kopf, der die Augen bedeckte. Dann hörte ich, wie das Exekutionskommando die Gewehre durchlud, hörte den Befehl: ,Legt an! - Feuer!' Die Salve dröhnte. Ich wunderte mich, daß ich noch lebte, und wartete, bis sie noch einmal durchladen würden. Doch nichts rührte sich. Totenstille ringsum. Ich kann dir nicht sagen, was ich in jenen Minuten empfunden habe. Aber glaube mir, es war scheußlich! Dann hörte ich Schritte näher kommen. Das Tuch wurde mir von den Augen gerissen. Der Leutnant des Erschießungskommandos grinste mir ins Gesicht. Nachdem er seitwärts ausgespuckt hatte, meinte er, Gnade sei vor Recht gegangen, und ich hätte verdammt Schwein gehabt. Ja, so hatte er sich
ausgedrückt. Dann winkte er zwei seiner Leute heran, befahl ihnen, mich loszubinden. Mir war hundeelend. Ich hätte den Leutnant, der immer noch grinsend zusah, wie sie mich losbanden, anspeien mögen. Ich brach zusammen. Die zwei hielten mich aufrecht. Der Leutnant las etwas vor, von dem ich nur behielt: ,... begnadigt zu fünfzehn Jahren Festungshaft'. Sie führten mich zum LKW zurück. Vom Wagen aus sah ich die Gestalt Böttners zusammengesunken am Pfahl. Um mich drehte sich alles. Ich hörte nicht einmal mehr den Wagen anfahren." Bentheim, der aufmerksam, ja gebannt zugehört hat, springt hoch. „Gert, das gibt es nicht!" Er legt seinen Arm um die Schultern des" Genossen. „Es ist nicht möglich, daß einer das zweimal durchmachen muß! Einmal ist da schon zu viel. Zweimal zum Tode verurteilt..." ,,... und einmal erschossen", ergänzte Mertens den Satz. „Gert, wenn mir das einer erzählt, ich würde sehr skeptisch sein." „Man sieht nicht jeden Tag einen, der zweimal zum Tode verurteilt und zweimal zur Hinrichtung geführt worden ist, und der trotzdem lebendig vor einem steht. Man kann es nur schwer glauben." Ironisch lächelt Mertens Bentheim an. „Du wirst es glauben müssen. Es gibt welche, die einiges davon miterlebt haben, Gert." Bentheim sieht den Genossen fragend an.
„Ich schleppe sie nicht mit mir herum. Du wirst sie aber noch kennenlernen. Heute noch." „Also, wenn du mir das nicht erzählt hättest, ich würde es von mir weisen. Aber dir glaube ich auch ohne deine Zeugen. Aber nun erzähle deinen Roman bis zum Ende. Festungshaft also, und wie weiter?" Festungshaft „Meine Begnadigung war noch nicht endgültig. General Schörner mußte sie noch bestätigen. Doch der hatte andere Sorgen. Ihm setzte die Rote Armee hart zu. Mir war alles gleich. Ich fühlte nichts mehr, ich dachte nicht mehr, ich sah vor mir nur immer den erschossenen Böttner. Drei Tage ließ man mich allein in der Zelle. Dann wurde ich zur Bahn gebracht, mit zwei anderen Häftlingen. Man transportierte uns nach Glatz. Vom Glatzer Bahnhof prügelten sie uns bis zur Burg. Als ich die jahrhundertealten und meterdicken Mauern passierte, wußte ich, daß dieser Krieg für mich zu Ende war. Ob ich ihn überleben würde, das wußte ich nicht. Was man in einer Festung als Häftling durchzumachen hat, das wird dir bekannt sein. Nach wenigen Wochen war ich jedenfalls so geschwächt, daß ich mein feuchtes, stinkiges Strohlager nur noch kriechend verlassen konnte, um meine Notdurft auf dem Eimer zu verrichten,
der alle drei Wochen geleert wurde. Eines Tages, ich glaube, es war Mitte April, wurde ich, vorbei an Grotten, die mit Eisenstangen abgetrennt waren, nach oben geschleppt, vorbei an Gesichtern, die gestorben schienen, Augen, in denen der Wahnsinn saß. Ohne mich zu warnen, stellten sie mich direkt in das grelle Sonnenlicht. Schmerz stach mir in die Augen. Sie lachten und ließen mich stehen. Ich brach zusammen. Ich preßte mein Gesicht in den Schnee. Das linderte den Schmerz. Dann packten sie mich. Ich wurde auf eine Art Lager geworfen, aber es waren wohl nur noch ein paar nasse Strohhalme, von vielen Körpern plattgelegen. Die Tür knallte ins Schloß, ein Schlüssel quietschte. Ich war allein. Da sägte einer neben mir zu einem anderen: ,Doktor ein Neuzugang. Sie haben ihn geblendet.' Aus einer entfernten Ecke kam eine hohle Stimme: ,So, so. Bin gleich bei euch.' Ich hörte jemanden zu mir kriechen. Dann bemühte sich jemand um mich. Das Halbdunkel tat den Augen wohl. Langsam begann ich wieder zu sehen. Ich unterschied in einer Felsengrotte mehrere Gestalten. Später dann lernte ich den Mann kennen, den sie ,Doktor' nannten. Er erzählte mir, er sei zu lebenslänglicher Festungshaft verurteilt worden, weil er bei Tarnopol einem schwerverwundeten Sowjetsoldaten seine letzte Blutkonserve zugeführt hatte. Viele waren aus ähnlichen menschlichen Gründen hier. Und sie alle sahen schlimm aus.
Aber was soll ich darüber reden. Es gab eine Solidarität unter den Häftlingen, die nicht nur mir geholfen hat zu überleben." Mertens steht wieder auf, läuft langsam von einer Wand zur anderen, setzt sich wieder, springt auf, geht wieder von einer Wand zur anderen. „Einige hatten schon den Verstand verloren, bellten wie Hunde, ahmten das Rattern von Maschinengewehren nach. Aber das Schrecklichste wußte ich noch nicht. Aber dann erlebte ich es, diesen grauenvollen Spaziergang. Gottlob nur einmal." Mertens schüttelte sich, und Bentheim sieht, daß es eine unfreiwillige Reaktion ist. „Entschuldige", brummt Mertens leise. „Es ist der einzige Reflex, der geblieben ist. An die Hundegeschichte darf ich gar nicht denken. Monatelang habe ich davon träumen müssen." „Wenn du nicht weitererzählen willst,dann laß'." „Gladiatorenkämpfe nannten sie es, die Wärter und SS-Sadisten. Es war ihre beliebteste Unterhaltung. Aber es waren keine Kämpfe, es war ein verzweifeltes Sichwehren eines zusammengedrängten Haufens zum Umfallen geschwächter Leiber. Die am Rande des Haufens blieben, wurden von den Hunden so zugerichtet, daß sie daran kaputtgingen. Aber selbst hier herrschte ein ungeschriebenes Gesetz gegenseitiger Hilfe. Das habe ich auch zu spüren bekommen. Da war ein Kommunist aus unserem Verlies. Ihm bin ich mein Leben lang dankbar. Er hatte sich so um
mich gesorgt, als wäre ich sein Sohn. Und damals, während des grauenvollen Spaziergangs, zog er mich vom Rande weg, als die Hunde auf uns gehetzt wurden. Er zog mich zu sich, in die Mitte des Haufens. So lebe ich noch." „Was ist aus dem Genossen geworden? Lebt er noch?" „Ja. Er war stärker als die anderen, ich meine, was den Geist und sein Wollen betrafen. Die Gefangenen achteten ihn. Was soll ich dir von ihm erzählen? Wir besuchen uns häufig. Er ist Abteilungsleiter der Bezirksleitung der Partei." Mertens lächelte. „Ja, mein Lieber, einer der Zeugen." Er öffnet das Fenster. Vögel zwitschern. Tief atmet Mertens die würzige, frische Luft ein. „So war das damals, Gert. Und als wir Mitte April evakuiert wurden, waren wir froh, obwohl die nächste Station nicht besser war. Die Front war näher gekommen. Wir begannen wieder zu hoffen, trotz der sich mehrenden Erschießungen. Wir kamen nach Prag. Große Zellen statt der Katakomben. Eisenbetten statt Strohschütten. Aber laufend Erschießungen. In den letzten Tagen errichteten sie auch noch eine Guillotine. Ich wußte noch immer nicht, ob Schörner die Umwandlung meines Todesurteils in fünfzehn Jahre Festungshaft bestätigt hatte. Ich habe die letzten Tage des Krieges nur in Furcht und Hoffnung verbracht. Jedesmal, wenn sich Schritte näherten, zitterte ich am ganzen Leibe. Die Faschisten hatten schon viele
aus unseren Zellen geschleppt. Keiner kam je zurück. Immer quälte mich die Frage: Wann werden sie mich holen? Doch dann drehte sich der Schlüssel zum letztenmal im Schloß. Die Tür wurde aufgerissen, und eine freundliche Stimme, die das Deutsche mit dem typisch tschechischen Akzent sprach, forderte uns auf, die Zelle zu verlassen, wir seien frei. Keiner von uns begriff den Mann in der fremden Uniform. Wir sahen ihn an und trauten ihm nicht, wir witterten hinter dem gütigen Ton und der Aufforderung eine erneute Gemeinheit irgendwelcher SS-Bestien. Noch einmal sagte der fremde Soldat: ,Nun, ihr wollt nicht heraus? Ihr frei, Brüder!' Langsam begriffen wir. Die Szene, die dem folgte, brauche ich dir wohl nicht zu schildern." Die Begegnung Der Oberst sieht, wie sich der Major von einer Last befreit hat. „Es war wohl richtig, daß du mir alles erzählt hast. Man möchte nicht die Vergangenheit hervorholen, aber man braucht das wohl manchmal." „Ich spreche nicht gern davon. Aber dir mußte ich es erzählen. Als ich dich vor Mitternacht wiedererkannte, war die Vergangenheit wieder da. So war das, Genosse Oberst, es ist unglaublich, doch so ist es geschehen."
„Ich glaube es dir, man sieht es auch an deinem Haar, es ist schon ganz grau." „Deines wohl nicht! Wir sind halt nicht mehr die Jüngsten, trotzdem sind wir jung geblieben." Beide stehen an der Tür und blicken auf die Lichtung hinaus, über die langsam der Morgen kommt. Die Vögel zwitschern, der Wald rauscht. Die beiden Freunde sehen einander an. „Wie lange bist du denn schon dabei?" fragt Bentheim den Major. Mertens weiß sofort, was Bentheim meint. „Nach den dritten Weltfestspielen habe ich mich gemeldet. Bei Herrnburg habe ich die alten Schläger wieder in Aktion gesehn..." „Ich war nicht weit von Herrnburg damals. Du brauchst nichts zu erklären." „Vielleicht das eine noch", meint Mertens und grübelt. Dann sagt er: „Ich habe mir damals gedacht, durch glückliche Umstände bin ich zweimal am Leben geblieben; nun sollte ich eigentlich selbst dafür sorgen, Leben zu erhalten. Mehr wußte ich damals noch nicht, mehr wollte ich auch nicht, denn es war wohl schon etwas Vernünftiges. Ich wollte nie mehr ein Gewehr in die Hand nehmen, und dann nahm ich doch eins in die Hand und kam an die Grenze." „So ähnlich war es wohl bei den meisten, glaube ich", sagt Bentheim. „Es gibt kurze Nächte, die einem sehr lang vorkommen, und lange Nächte
können einem manchmal sehr kurz vorkommen." Bentheim blickt Mertens an. Beide gehen hinaus in den beginnenden Tag. „Wir trinken einen guten Mokka bei mir, Gert. Wenn du möchtest." „Ich bin gespannt auf dein Zuhause. Bist du schon lange verheiratet?" „Schon zehn Jahre", meint Mertens. Er lächelt hintergründig, geht einen Schritt schneller als der Freund. „Du wirst meine Frau kennenlernen und ihren Mokka auch." Bald erreichen sie die Grenzkompanie. Mertens gibt seine Waffe ab. „Ich reinige sie heute nachmittag.'' Dann meldet er sich bei seinem OvD ab. „Ich bin zu Hause, wenn etwas ist. Sollte jemand Oberst Bentheim verlangen; er wohnt bei mir." Das kleine Einfamilienhaus von Mertens liegt nicht weit vom Objekt entfernt. Bentheim gefällt das Zimmer, in das er geführt wird. Regale mit vielen Büchern; Blumen, viel Blumen. „Das ist das Arbeitszimmer", sagt Mertens und. da die Tür geöffnet wird und eine dunkelhaarige, freundliche Frau eintritt, meint er dann schmunzelnd: ,,... und das meine Frau." Bentheim geht auf die Hausfrau zu, will ihr die Hand drücken. Mertens stellt vor: „Das ist Gert Bentheim, ich habe dir von ihm erzählt. Und nun ist er Oberst." Das Gesicht der Frau, erst nachdenklich noch, hellt
sich auf. Plötzlich sagt sie: „Ehe ich auf die Russen schieße, drehe ich die Knarre um — ist er das?" Ihr Mann nickt. Bentheim steht zwischen beiden, ist überrascht, daß die Frau diesen Satz kennt. Wie oft mochte ihr Wolfgang ihrer beider Geschichte erzählt haben. Zwei schmale Falten zeigen sich auf seiner Stirn, er kann sie nicht so ohne weiteres wegzaubern; ärgert er sich über etwas, dann sind sie da, dann gehen sie nicht gleich weg. Sekunden vergehen. Er möchte etwas sagen, aber er ist verwirrt. Und als er endlich einen Satz zusammen hat, kommt er nicht dazu, ihn zu artikulieren. Die Frau kommt auf ihn zu; die große Freude in ihrem Gesicht macht ihn hilflos. Wie ein Klotz stehe ich da, denkt er, als ihn die Frau umarmt, ihm auf russische Art den Bruderkuß gibt. Völlig verwirrt begreift er noch immer nicht, ahnt es nur, sieht, wie Mertens lacht, und er lächelt ihm zu. Der Freund fragt: „War dir die Begrüßung zu temperamentvoll? So begrüßt Nadja nur ganz selten Gäste." Erst jetzt wird Bentheim klar, daß Mertens ihm ja das Ende seiner Geschichte vorenthalten hat. Da habe ich seine Akte doch nicht genau gelesen! Er braucht einige Zeit, um sich in die Situation hineinzufinden. Mertens legt einen Arm um seine Frau. Sie stehen vor dem Oberst, der noch immer keine Worte gefunden hat. Mertens sagt übermütig: „Darf ich
vorstellen Nadja Mertens, geborene Tschelochowa." Endlich hat der Oberst sich gefangen. In komischer Verzweiflung stammelt er: „Was bist du doch für ein hinterhältiger Kerl." Er schiebt den Freund zur Seite. „Die Begrüßung war nur halb." Er umarmt Nadja und küßt auch sie auf die Wangen. „Nun ist sie ganz vollzogen, Wolfgang Mertens. Aber ich möchte nun doch noch das Ende dieses Romans erfahren. Nicht einmal die DEFA würde euch diesen Stoff abkaufen, um ihn zu verfilmen. Lachen würde man über diese Story." „Weißt du, Genosse Bentheim", sagt Nadja spöttisch, „das Leben ist manchmal so wahr, daß es keinem Schriftsteller, keinem Dramatiker gefällt, es in Kunst umzusetzen. Oft ist es voller Ironie, oft voller Unsinn, man versteht es nicht, dann aber wieder häufen sich Zufälle, die Menschen ins Unglück oder auch in ihr Glück rennen lassen, und hinterher fragt man sich: Ist das auch wahr? Aber ich weiß auch, daß vieles, was im Leben passiert, für den Betrachter unwahrscheinlich ist... Aber wir kommen da ins Philosophieren, ich glaube, ein Kaffee täte uns jetzt gut." Lächelnd geht die Frau in die Küche. Die beiden Männer stehen, erstaunt und nachdenklich dem kleinen Vortrag nachhängend, in der Stube, rühren sich nicht vom Fleck. Und dann sitzen sie zusammen an dem kleinen Klubtisch. Mit Genuß schlürfen sie den Mokka, trinken hin und wieder einen Kognak, und
Bentheim erfährt nun das Ende der Geschichte: Ende September 1955, zwölf Tage nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, hat ein sowjetischer Kommandeur zu einem Bankett der Waffenbrüderschaft eingeladen. Anlaß dazu gab der Abschluß des Vertrages über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Moskau und dessen Billigung durch die Volkskammer der DDR. Zu diesem Freundschaftstreffen zwischen Angehörigen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und der bewaffneten Organe der DDR war auch der Oberleutnant der Deutschen Grenzpolizei, Wolfgang Mertens, eingeladen. Mertens erzählt: „Es war ein schönes Fest. Eine junge Frau in Leutnantsuniform stand mir gegenüber. Nach dem ersten ,Na starowje' sahen wir uns." Lachend fällt Nadja ihrem Mann ins Wort. „Und standen und starrten uns an." „Wir merkten nicht", ergänzt Mertens, „daß alle anderen schon lange saßen und uns beide erstaunt oder interessiert anblickten." „Wie im Film war das", meint Nadja, „nur haben wir sicherlich dümmere Gesichter gezogen, als es die Filmhelden bei solchen Gelegenheiten tun." ,,Ja, Gert, und dann verloren wir uns nicht mehr aus den Augen. Ich erfuhr, daß Nadja..." Wieder unterbricht Nadja ihn. „Wolfgang, was
danach alles geschehen ist, ist wieder eine andere Geschichte. Sie zu erzählen würde zu lange dauern." Sie erhebt ihr Glas, sagt: „Auf unser aller Gesundheit. Mögen es unsere Kinder und Enkel besser haben, wenn sie sich finden, wenn sie sich lieben. Na starowje!" Ernst, aber glücklich prosten sich die drei Menschen zu, deren Schicksal nicht alltäglich ist.