Robert Moore Williams
Zukunft in falschen Händen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein ...
12 downloads
578 Views
687KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Robert Moore Williams
Zukunft in falschen Händen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2882 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE DARKNESS BEFORE TOMORROW Übersetzt von Ingrid Rothmann Originalausgabe
Umschlagillustration: Szarfan/NAL Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1962 by ACE Books, Inc. Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02882 9
Ein unerklärlicher Mordfall und eine ebenso rätselhafte Rettung aus größter Gefahr brachten dem Wissenschaftler George Gillian ungewöhnliche Gesellschaft: einen Mann, der schon seit fünf Jahren hätte tot sein müssen; ein Wesen, das nicht von diesem Planeten stammte; eine schöne Frau, die die Gabe der Telepathie besaß; und einen Gangster, der im Besitz von Waffen war, die es auf diesem Planeten nicht geben durfte. Und als George Gillian das Geheimnis dieser Personen erforschen will, wird er in eine Auseinandersetzung kosmischen Ausmaßes verwickelt – in den Kampf zwischen einem Affen, der von weltweiter Macht träumt, und einer fremdartigen Intelligenz, die nur ein Ziel kennt: die Erde zu erobern.
In jener Galaxis, die ihre Bewohner Milchstraße nennen und die von anderen anders bezeichnet wird, im Riesenraum des Alls, in dem die Sterne wie funkelnde Diamanten gleißen, von lässiger Hand auf schwarzen Samt verstreut, im dritten Spiralnebelarm, ganz weit draußen, fast am Rande, ist eine Sonne. Manche meinen, es sei eine große Sonne. Andere, denen die wirklich großen Sonnen des Alls ein Begriff sind, nennen sie eine kleine Sonne. Einige wiederum sagen, daß es eine geächtete Sonne sei, die wegen aufrührerischer Tendenzen innerhalb ihres Systems an die äußerste Grenze der Galaxis geschleudert worden war. Von anderen wird behauptet, der Grund ihrer großen Entfernung vom Kern der Galaxis wäre in höchst gefährlichen und heiklen Versuchen zu suchen, die in diesem Sonnensystem im Gange sind, Versuche, die die Lebenskraft selbst betreffen, ihre möglichen Modifizierungen und Mutationen, die so große Veränderungen zur Folge haben könnten, daß die Geschichte der ganzen Galaxis einen anderen Verlauf nehmen könnte, falls die Versuche erfolgreich verlaufen. Groß ist die Galaxis jedenfalls. Und in manchen ihrer Sonnensysteme wird an anderen Versuchen gearbeitet. Hin und wieder gehen diese Experimente schief, es kommt zu Zwischenfällen. Weit draußen, in Richtung Arcturus, hat es einen solchen Zwischenfall gegeben. Auf den Planeten dieser kleineren Sonne gab es einige Unruhe, ein Treffen auf höchster politischer Ebene fand statt, Entschlüsse wurden gefaßt und Anweisungen zur Durchführung dieser Entscheidungen gegeben, die mit weitreichenden Folgen verbunden waren. Auf Grund einer dieser Entscheidungen wurde ein großes Raumschiff in eine Umlaufbahn um den dritten Planeten geschickt. Es umkreiste den Planeten in so großer Höhe, daß eine zufällige Entdeckung durch ein Teleskop äußerst
unwahrscheinlich blieb. Um es aber gegen eine etwaige Entdeckung doppelt abzusichern, wurde die Umlaufbahn so gewählt, daß sich das Raumschiff immer auf der Nachtseite des Planeten befand und immer wieder in diese Dunkelheit hineinglitt. Und was die kleineren Schiffe betraf, die auf der Oberfläche des Planeten landeten, so hatten die sich über Jahrhunderte erstreckenden Versuche gezeigt, daß es überhaupt nichts ausmachte, wenn sie gesichtet wurden. Die Menschen, die sie gesehen hatten, wurden von denen, die sie nicht gesehen hatten, schlicht und einfach als verrückt erklärt. Aus dem Innern des großen Schiffes wurde an einer wie Silber glänzenden Kette – oder war es ein Kabel? – eine Kristallkugel heruntergelassen. Die Kugel hatte die Größe eines kleinen Hauses. Trat der Mechanismus, der sich im Inneren des Schiffes befand, in Tätigkeit, begann die Kugel wie ein Pendel zu schwingen. Hin und her, hin und her – wie das Pendel einer riesigen alten Perpendikeluhr, welche die Zeit in die Leere, in der sich das Pendel bewegte, verrinnen ließ. Von Zeit zu Zeit änderte das Schiff seinen Standort. Dadurch geriet jeweils ein anderes Stück der Oberfläche des Planeten direkt unter das schwingende Pendel. Manchmal verringerte das große Schiff seinen Abstand zum Planeten, es hielt sich jedoch immer auf der Nachtseite verborgen. Das Riesenpendel blieb dauernd in Bewegung – hin und her, hin und her – wie eine Riesenuhr, die die Sekunden des Schicksals beiseite wirft, so langsam, als bliebe ihr reichlich Zeit, um die Ziele, die sich ihre Impulsgeber gesteckt hatten, zu erreichen. Das große Schiff verblieb ständig in Planetennähe, in Abständen von zehn Jahren wurde jedoch die Besatzung ausgetauscht. Neue Leute kamen, die alten kehrten heim.
1
Wenn die Todesstunde kommt, ist dafür jedes beliebige Versteck gut genug. Der Mann hatte sich im Eingang eines geschlossenen Lebensmittelladens verkrochen, den Kopf in die Hände gebettet, und war dort gestorben. Er war Mitte zwanzig. Sein schwarzes Haar war wirr, das Gesicht schmal und abgemagert. George Gillian ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Leichnam gleiten und untersuchte ihn so schnell und gründlich, wie es ihm, ohne den Toten zu entkleiden, möglich war. Keine Verwundung. Gillian hatte keine erwartet. Wenn sich jemand in einen solchen Winkel unter Aufbietung der letzten Kräfte verkrochen hatte und so zusammengekauert gestorben war, dann war es weder Schußwaffe noch Messer, die seinem Leben ein jähes Ende bereitet hatten. Gillian hatte im letzten Vierteljahr drei solcher Leichen zu sehen bekommen. Bei zweien davon hatte es sich offensichtlich um Verbrecher gehandelt, die auf unerklärliche Weise ein Ende gefunden hatten. Der dritte war ein Student gewesen. Sein Tod war ebenso unerklärlich. Der Anblick von Toten wurde ihm langsam allzu vertraut. Er war diesen Anblick nicht gewohnt gewesen, er hatte mit Leichen nichts zu schaffen gehabt und empfand in ihrer Nähe heimlichen Abscheu. Hier, nur eine Querstraße von seinem Privatlabor entfernt, hatte er nicht erwartet, die vierte Leiche aufzufinden. Genausowenig hatte er erwartet, Geräusche eines Kampfes auf der Straße zu hören. Und erst recht hatte er nicht damit gerechnet, hinter sich eine Stimme zu hören, die ihn etwas fragte. »Sie ihn getötet?«
radebrechte die Stimme. Gillian richtete sich aus der Hocke auf und drehte sich um. Dabei hielt er die Taschenlampe nach unten, so daß der Lichtstrahl auf den Gehsteig fiel. Diesem Mann war es vielleicht lieber, wenn sein Gesicht im Dunkeln blieb. Der Mann war klein von Gestalt und unauffällig gekleidet. Die Art, wie er den Hut trug, war merkwürdig. Am Kinn eine Spur von Bart. Beide Hände steckten in den Taschen. »Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Gillian. »Ich habe ihn hier gefunden.« Der Mann sah ihn einen Augenblick lang aufmerksam an. Seine Stimme verriet einen fremden Akzent. Er hörte sich wie ein Ausländer an. »Ich gehe jetzt.« Er wandte sich nach rechts und verschwand in den Schatten der Nacht, aus denen er aufgetaucht war. Bevor der Fremde sich abwandte, hatte Gillian einen Blick auf dessen Augen geworfen, die im Licht der von links einfallenden Straßenbeleuchtung aufleuchteten. Der Anblick war furchteinflößend. Diese Augen gehörten keinem menschlichen Wesen. Es war etwas Ziegenähnliches in ihnen. Ja, das waren die Augen einer Ziege. Ein Schauer überlief Gillian, während er im Schatten des Eingangs des Lebensmittelladens stand, einen Toten hinter sich, neben sich einen Fremden mit merkwürdigem ausländischem Akzent, der eben im Schatten der Nacht verschwand. Als der Fremde nicht mehr zu sehen war, fiel Gillian ein, wie vernehmbar schwer diesem das Atmen gefallen war. Links abseits von Gillians Standort verrieten Flüche und ein dumpfer Schlag, daß der Kampf noch nicht beendet war. In weiter Ferne heulte eine Sirene durch die Nacht. Vielleicht war der Einsatzwagen der Polizei schon auf dem Weg hierher, vielleicht fuhr er woanders hin. Die Polizei war überlastet. Sie sah sich einem gewaltigen Ansteigen der
Kriminalität, besonders der Jugendkriminalität, gegenüber. Außerdem waren in und um Los Angeles in letzter Zeit zu viele Tote ohne Wunden gefunden worden. Wenn man George Gillian ansah, glaubte man, einen Berufsboxer vor sich zu haben. Dieser Eindruck täuschte. In Wirklichkeit war er Forscher, einer der besten unter den jüngeren Köpfen, die die wilden Siebzigerjahre hervorgebracht hatten. Selbst bei Berücksichtigung seiner außerordentlichen Qualitäten war er mit seinen achtundzwanzig Jahren wohl viel zu jung, um ein eigenes Forschungsinstitut zu besitzen. Dennoch – er besaß eines, und soweit die Öffentlichkeit informiert war, war er sowohl Eigentümer des Labors als auch der darin befindlichen Apparate. Nur Gillian selbst wußte natürlich, daß dieses Labor in Wirklichkeit ein Geschenk war. Ein Geschenk mit der definitiven und speziellen Auflage, für die GFU jeden verlangten Forschungsauftrag durchzuführen. Die GFU – Gruppe für Forschung und Untersuchung – ging mit dem Geld ihrer Mitglieder sehr großzügig um und gab es für Wissenschaftler, für Labors, in denen diese Forscher arbeiten konnten, und für die technische Ausrüstung dieser Labors aus. Einigen Mitgliedern der GFU stand außerdem sehr viel Geld zur Verfügung – Gillian wußte also, was er tat, als er das großzügige Geschenk der GFU annahm. Von links kam wieder das Geräusch eines Zusammenpralls. Gillian lief in diese Richtung, blieb aber unvermittelt stehen, als er die junge Frau zwischen zwei Autos am Straßenrand liegen sah. Sie konnte sich noch bewegen. Gillian kniete neben ihr nieder und legte eine Hand unter ihren Kopf. Sie versuchte ihn zu beißen. »Hören Sie auf! Ich möchte Ihnen doch bloß helfen!« »Verschwinden Sie. Mir kann niemand helfen. Das gilt für alle, die für Ape Abrussi arbeiten.« Zynismus und die
Anstrengung, Schmerzen zu unterdrücken, ließen ihre Stimme gepreßt klingen. »Das tut mir leid«, sagte Gillian. »Von diesem Abrussi habe ich noch nie gehört. Gleich wird die Polizei mit einem Krankenwagen da sein.« »Der Krankenwagen, in den ich einsteige, macht auf dieser Seite der Hölle nicht mehr halt!« Ihre Worte taten ihm direkt weh. Er schätzte die Frau auf Mitte zwanzig. Sie war blond. Ihr früher sicher sehr schickes Kleid war jetzt völlig zerfetzt. »Was ist passiert?« fragte Gillian. »Ihr Kleid sieht aus, als hätte man Sie die Straße entlang geschleift.« Tief innen, hinter den Sorgen, die er sich um die junge Frau machte, lauerte die Hoffnung, sie könnte ihm etwas Brauchbares mitteilen. »Terry hat mich mit seinem kleinen Renner überfahren. Er hat mich die Straße entlanggeschleift«, kam die flüsternde Antwort. »Meine Wirbelsäule ist kaputt… und mein Inneres gräßlich zugerichtet.« »Wer ist dieser Terry?« »Wir waren mal befreundet. Das war, bevor Joe kam und bevor sich Terry mit Ape Abrussi zusammentat. Es war wohl hauptsächlich meine Schuld, daß er mich überfahren hat. Ich habe ihn kommen gesehen und versucht, ihn zu bluffen, indem ich ihm in den Weg sprang. Er hat mich erkannt und wollte anhalten, aber der Kerl neben ihm hat ihn gezwungen, weiterzufahren. Ich heiße Mary.« Dann legte sie den Kopf zurück auf den Betonrandstein, als wollte sie sich ausruhen, ehe sie weitersprach. »Wer ist dieser Abrussi?« »Ein Menschenaffe, der aussieht wie ein Mensch. Gott hat ihm keine menschliche Seele geschenkt, daher ist Abrussi der Meinung, alle sollten Affen sein. Er ist schlecht, sogar sehr schlecht. Seine Leute waren aber gar nicht hinter mir und Joe her, sie wollten vielmehr Eck, der mit uns zusammen war.
Aber auch Eck war nicht ihr eigentliches Opfer. Sie glauben, wenn sie ihn kriegen, könnten sie Sis zwingen, ihnen etwas zu geben, was nur sie hat. Das wollen sie im Grunde – was Sis hat.« Wieder wurde Mary matt und legte den Kopf auf den Randstein. Gillian notierte sich im Geiste rasch alle Namen. Dann kam ihm urplötzlich ein Gedanke. Er stellte ihr eine Frage, die er nie gestellt hätte, wäre ihm mehr Zeit zur Überlegung geblieben. »Hatte Joe einen schwarzen Haarschopf und ein schmales, abgehärmtes Gesicht?« »Genau das ist mein Joe«, gab Mary zur Antwort. »Lieber Gott, mir tut alles weh! In mir wütet ein Feuer. Sagen Sie, Mister – « Plötzlich war sie imstande, an etwas anderes als an den Schmerz, der in ihr wühlte, zu denken. »Sagen Sie, Mister, woher kennen Sie eigentlich Joe? Sie kenne ich nicht – und ich kenne doch schließlich alle von Joes Bekannten – « Gillian schwieg. Er wünschte, er hätte seine Frage nicht gestellt. Es hatte keinen Sinn, Mary zu sagen, daß Joe tot war und keine fünfzehn Meter weit entfernt von ihr lag. »Wissen Sie irgend etwas von einer neuartigen Waffe, die tötet und keine Wunde hinterläßt?« fragte er. »Hat man das heute angewendet?« Sie schien erstaunt. »Soviel wir wissen, läßt Abrussi fast niemals jemand anderen an diese Waffe heran!« Mit einem Mal spürte sie, welche Bedeutung hinter dieser Frage steckte. Sie richtete sich mühsam auf. »Hat man Joe damit getötet, Mister? Stimmt’s? Haben etwa Sie ihn damit umgebracht? Wenn ja, dann werde ich aus der Hölle zurückkommen und Sie heimsuchen, das schwöre ich Ihnen!« Sie stützte sich auf die Ellbogen und starrte ihn an, als wollte sie sich sein Gesicht für immer ins Gedächtnis einprägen. »Ich habe ihn nicht umgebracht«, sagte Gillian rasch. »Ach.« Sie las in seinen Augen, daß er die Wahrheit sagte. »Man sieht Ihnen
an, Mister, daß Sie in Ordnung sind. Deswegen sage ich Ihnen, daß Joe und ich – heiraten werden, sobald – « Ihre Stimme verstummte, als ihr einfiel, wo sie sich befand, und sie sich bewußt wurde, was diesen Heiratsplänen im Wege stand. »Ich versuche wenigstens, anständig zu sein«, sagte Gillian. »Manchmal weiß man selbst nicht, warum. Aber was diese Waffe betrifft, diese Waffe – «Er war ihren Qualen gegenüber nicht gleichgültig, konnte sie aber nicht lindern. Inzwischen mußte er immer mehr daran denken, daß es noch größeres Leid und ein größeres Problem gab als jenes, dem sich Mary gegenübersah. »Es ist keine richtige Schußwaffe. Am ehesten könnte man es als merkwürdiges Glasding beschreiben.« Sich auf die Ellbogen zu stützen, wurde ihr zu anstrengend. Sie legte sich wieder auf den Randstein zurück. Ihre Augen blickten ins Leere, als eine Welle von Schmerz durch ihren Körper zog. Aus der Ferne Sirenengeheul, jetzt schon etwas näher. Ihr Blick wurde wieder klar. Unter Aufbietung aller Kräfte zwang sie sich zum Sprechen. »Reden Sie mit Sis Randolph, Mister. Mit Sis und mit Eck. Sis – Sis weiß etwas.« Wieder verschleierte sich ihr Blick. Sie schien bereits in eine andere Welt zu blicken. Plötzlich huschte ein Hauch von Glückseligkeit über ihr Gesicht. Ihre Stimme klang freudig erregt. »Joe! Joe – du warst ja die ganze Zeit über hier neben mir – und ich habe dich gar nicht bemerkt! Joe, Liebster – « Die Stimme verstummte, diesmal für immer. Der glückliche Schimmer blieb noch eine kleine Weile auf ihrem Gesicht. Im Sterben hatte sie den Mann Joe neben sich gesehen. Als er sich ihre Worte noch einmal vergegenwärtigte, war Gillian leicht verwirrt. War das bloß Halluzination gewesen, oder hatte sie tatsächlich in eine andere Welt geblickt, in der Joe auf sie wartete? Gillian wußte es nicht. Ganz sicher wußte er hingegen
– und darüber konnte auch kein Zweifel bestehen –, daß Joes Leichnam im Eingang zu einem Lebensmittelladen lag, keine fünfzehn Meter entfernt. Er sah auf das Mädchen nieder. Ihr Körper war auf der Straße zusammengesunken, als hätte sie das geborgenste Plätzchen gefunden, das Mutter Erde je einem ihrer Kinder gewährt hatte. Ehe Gillian aufstehen konnte, hörte er, wie sich laute Schritte näherten – entlang der Reihe der am Straßenrand geparkten Wagen. Jemand rief: »Sucht Eck!« Ein hochgewachsener junger Mann hatte sich mit einem Baseballschläger in der Hand zwischen den geparkten Autos durchgezwängt und hätte Gillian um ein Haar niedergeschlagen, als dieser sich eben aufrichten wollte. Zwei hart aussehende Männer, mit Totschlägern in der Hand, suchten den jungen Mann von der Straße her anzugreifen. Wumm! Der Baseballschläger hatte einen der Totschlägerschwinger erwischt. Zack! Gillian holte im Aufstehen zu einem Haken aus, den er am Kiefer des zweiten Angreifers landen konnte. Der Mann, der schon bewußtlos war, bevor er auf dem Straßenpflaster aufschlug, fiel rücklings um. »Danke, Kamerad, wer Sie auch sein mögen«, hörte Gillian die Stimme Ecks. »Sie können Ihre Ganglien blitzschnell aktivieren und führen eine beinharte Faust – « »Überlegen konnte ich gar nicht«, wehrte Gillian ab. »Ich habe einfach den Nächststehenden angegriffen.« »Wenn Sie so zuschlagen können, ohne nachzudenken, was könnten Sie dann, wenn – « Eck verstummte jäh, als er auf die ausgestreckte Hand der Toten trat. Er sah hinunter und bemerkte, worauf er getreten war. Sein Gesicht wurde starr. Er stieß ein einziges scharfes Wort hervor. »Mary!« »Ich fürchte, sie kann nicht mehr antworten«, sagte Gillian. »Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie das Mädchen auf dem Gewissen?« Eck hob drohend den Baseballschläger.
»Langsam bekomme ich es satt, daß man mir Morde in die Schuhe schiebt, die ich gar nicht begangen habe«, gab Gillian zurück. »Ich habe sie hier gefunden. Sie lag im Sterben. Das ist – Achtung!« Zwei weitere Männer näherten sich ihnen vom Gehsteig her. Da Gillian ihnen näher war, holte er als erster aus und verpaßte dem vorderen der beiden einen soliden Hieb in den Magen. Der Kerl sagte bloß »Uff!« und verlor jedes weitere Interesse an dem Kampf. Dann kam der Baseballschläger von hinten über Gillians Schulter hinweggesaust und traf den Schädel des zweiten. Der griff sich an den Kopf und drehte sich noch um die eigene Achse, bevor er zu Boden ging. »Mit dem Schläger können Sie tadellos umgehen«, sagte Gillian. Dabei ließ er die Männer nicht aus den Augen, um sicherzugehen, daß keiner Anstalten machte, sich wieder aufzurappeln. »So wie Sie mit Ihrer Pranke«, sagte der junge Mann. Er bückte sich und untersuchte die Leiche der jungen Frau. Dann sah er Gillian an. »Wo ist Joe?« »Da unten – in dem Ladeneingang.« »Tot?« »Ja.« Eck sah Gillian anerkennend an. »Jetzt fange ich an, Ihnen zu glauben.« »Danke«, war die lakonische Antwort Gillians. Eck stand hochaufgerichtet da und überblickte die Reihe der Wagen und die ganze Straße. »Runter!« Ohne zu fragen duckte sich Gillian. »Was ist?« »Der Affe kommt die Straße entlang«, zischte Eck. »Er hat die gemeinste kleine Waffe, die man sich denken kann. Ich habe ihn jetzt nur ganz flüchtig sehen können. Glaube nicht, daß er uns bemerkt hat. Wenn ja, dann brauchen wir mehr als bloß Fäuste und Baseballschläger, um uns hier rauszuhauen.«
»Heißt er Abrussi?« fragte Gillian. »Mary hat jemanden dieses Namens erwähnt.« »Ja«, antwortete Eck. »Hm.« Gillian lauschte und wies dann mit einem Kopfnicken in die andere Richtung. »Die Sirenen kommen näher.« »Die kommen zu spät, falls er uns entdeckt.« Eck lugte hinter dem Kühler eines Wagens hervor. »Er hat die Sirenen ebenfalls gehört und kann sich nicht entschließen, ob er gleich davonlaufen oder sich vorher noch umsehen soll. Er möchte, wenn möglich, seine Armbandjungs natürlich von hier wegschaffen, bevor die Bullen kommen.« »Was sind Armbandjungs?« »Sklaven«, antwortete Eck. Anscheinend meinte er, seine Antwort nicht näher erklären zu müssen. »Warum sollte er türmen, wenn er die tollste kleine Waffe hat?« fragte Gillian. Er wußte zu wenig über die Waffe, um sie anders charakterisieren zu können. »Weil er sie nicht anwenden will, wenn er es irgendwie vermeiden kann. Er begreift die Waffe selber nicht, hat sogar Angst davor. Er möchte damit auch keinen Streifenwagen voller Polizisten ausschalten, weil kein Mensch glauben würde, daß alle gleichzeitig am Herzschlag gestorben sind.« »Könnte er denn wirklich eine ganze Wagenladung Bullen damit umbringen?« »Und wie«, sagte Eck und schnippte mit den Fingern. Wieder lugte er um die Stoßstange. »Er kommt langsam in unsere Richtung. Wenn er mit dem Wagen, der vor uns steht, auf gleicher Höhe ist, schleichen wir uns auf die Straße hinaus. Wir wollen versuchen, ihn von hinten zu packen.« »Und wenn es schiefgeht?« »Sis wird uns begraben«, gab Eck zurück. Jetzt hatte auch Gillian den Affen erspäht. Er war klein, gedrungen und hatte lange Arme. Als der Affe beim Wagen angekommen war,
schlichen Gillian und Eck vorsichtig um das Fahrzeug herum auf die Straße. Die Sirenen erklangen schon viel näher, waren aber immer noch zu weit weg. Hinter Abrussi erspähte Gillian noch einen. Der Kerl war zwar wie ein Schatten, doch an der Art, wie er den Hut trug, erkannte Gillian, daß dieser Schatten der mit den Ziegenaugen sein mußte. War er ein Verfolger, der hinter Abrussi her war? Abrussi, der jetzt den Schatten ebenfalls entdeckt hatte, blieb stehen. Gillian hatte ganz den Eindruck, daß Abrussi zwar selbst ein Jäger war, daß sich aber an dem Spiel ein zweiter Jäger beteiligte. Reifen quietschten auf dem Asphalt. Abrussi mußte gewittert haben, daß es die Reifen eines Polizeiwagens waren, der ohne Sirenengeheule herangekommen war. Er verdrückte sich in einer Mauerlücke zwischen zwei Häusern. Der Mann mit dem Hut ging weiter, als wäre nichts geschehen. Das alles nahm Gillian mit einem einzigen Blick wahr. Dann kreischten wieder Reifen. Motorengeräusch war keines zu hören, dennoch drehte sich Gillian um. Der Wagen war ein neues Modell mit Elektroantrieb. Von diesem Wagen konnte die Werbung mit Recht behaupten: »Was Sie hören, ist das Rauschen des Fahrtwindes.« Der Wagen war ein Cabrio mit offenem Verdeck. Ein Zweisitzer. Hinten war ein Spezialsitz angebracht. Dort saß und riß an ihrer Leine die größte Dogge, die Gillian je gesehen hatte. Der Anblick des Riesentieres hatte ihn so aus der Fassung gebracht, daß er die Frau kaum bemerkte, die am Steuer des Wagens saß. Er wußte auch nicht, ob sie sie überfahren würde oder nicht. Sie kam auf sie zugerast und brachte alle vier Reifen zum Qualmen, als sie unvermittelt auf die Bremse trat. »Stehen Sie nicht ‘rum und starren Löcher in die Luft«, flüsterte Eck Gillian ins Ohr. »Einsteigen!«
Noch bevor Gillian merkte, was eigentlich gespielt wurde, fand er sich auf den Sitz des Wagens gezwängt, der eigentlich nur für zwei Personen eingerichtet war. Keine angenehme Lage. Das Gefühl des Unbehagens wurde noch durch die Tatsache verstärkt, daß die Dogge ihm ins Genick sabberte. »Brutus mag Sie«, sagte die junge Frau seelenruhig. »Sonst hätte er Ihnen den Kopf abgebissen.« Wieder quietschten die Reifen, als sie anfuhr. Blitzendes Rotlicht und Sirenengeheul kamen ihnen entgegen. Sie lenkte das Cabrio an den Randstein, hielt an und entnahm ihrer Handtasche eine Zigarette, während die zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei an ihnen vorbeibrausten. Gillian hätte fast seine gute Erziehung vergessen und reichte ihr erst im letzten Moment Feuer. »Danke«, sagte sie. Die Wucht, mit der sie wieder anfuhr, riß Gillian fast den Kopf vom Hals.
2
»Sis – « Der junge Mann beugte sich an Gillian vorbei vor und redete auf die Fahrerin ein. »Sis, das ist – « Er zwinkerte verlegen, als ihm einfiel, daß er den Namen seines Kampfgefährten gar nicht kannte. »Eck, hast du schon wieder jemanden von der Straße aufgelesen?« »Er hat mir das Leben gerettet«, widersprach er. »So.« Ein Schimmer von Dankbarkeit glitt über das Gesicht der jungen Frau. Dieser Ausdruck war im Nu wieder weg. Sie zuckte die Achseln. »Na, vielleicht hatte er im Moment nichts Besseres vor.« »Achten Sie bloß nicht auf sie«, mahnte ihn Eck. »Sie liebt mich innig, neigt aber wie alle Schwestern dazu, mir den Kopf zu waschen und mir ihn so oft wie möglich zurechtzusetzen. Wie heißen Sie übrigens?« Gillian nannte seinen Namen. Eck beugte sich wieder vor. »Sis, das ist George!« rief er der Fahrerin ins Ohr. »Sie heißt eigentlich Kate. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund läßt sie sich lieber Sis nennen«, sagte er, wieder zu Gillian gewandt. Sis warf Gillian einen Blick von der Seite zu. Es war der flüchtige prüfende Blick einer Frau, mit dem sie mehr über ihn in Erfahrung brachte als ihm lieb war. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Fahrbahn zu. Gerade noch rechtzeitig, um rasch nach rechts auszuweichen und sich zwischen Gehsteig und einem anderen Wagen einreihen zu können – ein Manöver, das den Fahrer des entgegenkommenden Wagens veranlaßte, ihr mit geballter
Faust zu drohen. »Seid ihr wirklich Geschwister?« fragte Gillian. »Eck ist mein lieber kleiner Bruder«, antwortete Sis. Mit einem Kopfnicken deutete sie in den Fond. »Und hinter Ihnen sitzt mein zweiter kleiner Bruder.« »Sie meint Brutus«, erklärte Eck, als Gillian ein überraschtes Gesicht machte. »Übrigens sehr respektlos, von einem edlen Tier so zu sprechen. Warum bist du zu spät gekommen, Sis?« »Ich wußte nicht genau, wo du warst. Und dein Notruf – « Sie schien sehr beunruhigt, als sie jetzt am Straßenrand anhielt. »Wo sind Mary und Joe? Konnten sie entkommen?« Eck reagierte mit einem Brummen. Diese Reaktion schien für Gillians Ohren eher gleichgültig zu klingen. Für Sis hatte der Ton offenbar eine andere Bedeutung. Sie erbleichte. »Meinst du das im Ernst, Eck?« Das klang verzweifelt. »Sind sie wirklich tot?« »Mary ist tot, das weiß ich genau.« Ecks Stimme war völlig tonlos. »Joe habe ich selbst nicht gesehen, aber George hat gesagt – « »Ich habe einen Toten mit wirrem schwarzen Haar und schmalem Gesicht im Eingang eines Ladens tot aufgefunden.« Gillian beobachtete Sis, während er das sagte. »Ich habe Grund zur Annahme, daß es der Mann ist, von dem Sie sprechen. Soviel ich sehen konnte, wies sein Körper keine Verletzungen auf. Eine sichtbare Todesursache war nicht feststellbar.« Sis beugte sich vor und sah ihren Bruder an. Entweder erwartete sie seinen Rat, was als nächstes zu tun wäre, oder sie suchte Hilfe bei ihm, um den Schlag zu verwinden, den diese Nachricht für sie bedeuten mußte. »Das ist hart, Sis. Das ist sehr hart.« Ecks Stimme klang zwar traurig, dennoch spürte man seine ungebrochene innere Festigkeit. »Du darfst dich davon nicht unterkriegen lassen. Es sind nicht die ersten Toten und werden auch nicht die letzten sein, wenn mich meine Vermutung nicht trügt.«
»Aber wir waren doch gute Freunde – « »Nicht so enge wie Mary und Joe.« »Ich weiß.« Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Brutus, der ihre Gefühle offenbar verstand, versuchte über Gillians Schulter hinweg ihre Wange zu lecken. Sie hob die Hand und liebkoste die Riesenschnauze. »Schon gut, Brutus.« Sie drehte sich um und sah Gillian an. Ihre Augen sprühten Feuer. »Wie war das doch gleich – keine Wunde an der Leiche?« Gillian wiederholte seinen Bericht. Ihre Augen funkelten noch stärker. »Wie haben Sie das feststellen können? Wieso haben Sie das Fehlen einer Wunde bemerkt? Und wenn – wieso erscheint es Ihnen wichtig genug, das zu erwähnen?« Gillian machte nicht den Versuch, ihren Blicken auszuweichen. »Ich halte es aus mehreren Gründen für wichtig. Erstens, weil Mary kurz vor ihrem Tod mit mir gesprochen hat.« »Ach so.« »Mary hat gesagt, sie hielte mich für einen anständigen Kerl«, fuhr Gillian fort. »Da muß ich ihr beipflichten«, sagte Sis. »Wäre dem nicht so, dann hätte ich Brutus schon längst von der Leine gelassen und auf Sie gehetzt.« Gillian wählte die nächsten Worte mit großem Bedacht. »Mary hat gesagt, ich solle mich auf die Suche nach Sis begeben und mit ihr reden. Sie hat gesagt, Sis wüßte etwas.« Er sah ihr fest in die noch immer funkensprühenden Augen. Es waren aufrichtige blaue Augen, die ihn aus der Fassung brachten, wie es ihm noch nie passiert war. Ihr Haar war nicht blond und nicht rot, sondern eine Mischung aus beiden Farben. Die großen blauen Augen schätzten ihn ab und maßen ihn. »Weiter«, sagte sie.
»Ich nehme an, Sie sind jene Sis, von der Mary gesprochen hat.« »Das bin ich.« »Dann möchte ich mich mit Ihnen unterhalten«, sagte Gillian leise. Er bemühte sich, Worte und Stimme nicht drohend klingen zu lassen. Wenn er sie freundlich darum bat, würde sie vielleicht reden. Wenn er ihr drohte oder es mit Zwang versuchte, würde er wahrscheinlich auf dem Pflaster landen und ihrem kleinen Renner nachstarren, wie er in der Dunkelheit verschwand. Sie beugte sich vor und sah an Gillian vorbei ihren Bruder an. Keiner sprach ein Wort. Dann brach Eck das Schweigen. Er nickte zustimmend. »George hat mir das Leben gerettet. Er ist in Ordnung. Setz deinen Käfer wieder in Bewegung.« Sis nickte und startete. »Außerdem«, fuhr Eck fort, »möchte ich folgendes sagen: Einen Burschen, der so zulangen kann wie George – und das mit beiden Pranken – möchte ich näher kennenlernen.« Wieder nickte Sis. »Außerdem muß ich für dich einen Ehemann auftreiben«, sagte Eck. »Die Lösung dieses Problems überläßt du wohl lieber mir selbst«, sagte sie wütend, mit hochroten Wangen. Eck grinste. Brutus leckte Gillians Nacken. Gillian wußte jetzt, daß er akzeptiert war. Eine ganze Weile war als einziges Geräusch das Abrollen der Reifen auf dem Asphalt und das Pfeifen des Windes, der an der Windschutzscheibe entlangstrich, zu hören. Sie fuhr so schnell, daß Brutus seinen Schädel schutzsuchend auf Gillians Schulter legte. Sis war eine gute und rasante Fahrerin. Sie war äußerst vorsichtig, was rote Ampeln und vorbeikommende Polizeiwagen betraf. Gillian gewann den Eindruck, daß sie deswegen so schnell fuhr, um ihre Gedanken von unerwünschten Themen abzulenken. Vielleicht wollte sie nicht daran denken müssen, wo Joe und Mary jetzt waren.
Doch es gab etwas, das viel bedeutsamer war als tote Freunde – etwas so Wichtiges, daß zwei Menschenleben gar nichts bedeuteten. Mit einem Blick aus den Augenwinkeln schätzte er ihr Alter. Siebenundzwanzig meinte er. Die Reife vollerblühter Weiblichkeit unterstrich ihre Schönheit. »Achtundzwanzig«, sagte Sis plötzlich, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Wie?« Für Gillian ergab ihre Bemerkung keinen Sinn. »Ich bin achtundzwanzig und nicht siebenundzwanzig«, gab sie zurück. »Vielen Dank auch, weil Sie mich schön finden.« »Was?« Gillian blieb die Luft weg. Neben ihm ließ Eck ein kritisches Brummen hören. »George, sie kann Gedanken lesen.« »Was?« wiederholte Gillian. »Sie kann Gedanken lesen«, erklärte Eck. »Manchmal glückt es ihr, manchmal auch nicht. Sie werden lernen müssen, ihr das auszutreiben.« Gillian beschloß hastig, seine Gedanken besser im Zaum zu halten. Er wußte natürlich von der Existenz der Psi-Kräfte. Er wußte überdies, daß man Millionenbeträge für deren Erforschung aufgewendet hatte und noch aufwendete, ohne daß man zu wirklich klaren und zufriedenstellenden Ergebnissen hatte kommen können. Die GFU hatte Millionen für diese Forschungsarbeiten ausgegeben. Es war also nicht die Tatsache des Gedankenlesens, die ihn erschreckt hatte, sondern die Tatsache, daß er so gar nicht darauf gefaßt gewesen war. Dann war ihm plötzlich klar, warum sie mit ihrem Cabrio so plötzlich zur Stelle gewesen war. »Sie erwähnten etwas von einem Notruf?« »Ja, George, so muß man auf sie reagieren«, sagte Eck anerkennend. »Bringen Sie sie mit unerwarteten Fragen aus der Fassung. Sie wird mit der Suche nach einer Antwort so beschäftigt sein, daß sie keine Zeit hat, Gedanken zu lesen. Nur keine ruhige Minute, sonst schaltet sie sich auf Sie ein wie
ein Fernsehgerät auf den Sendekanal. Ja, sie hat meinen gedanklichen Notruf aufgefangen und ihre Reifen verschlissen, um mir zu Hilfe zu kommen. Das heißt aber noch lange nicht, daß Sis alles weiß oder daß es ihr jederzeit gelingt. Heute abend müssen Sie und ich ihr dankbar sein, daß es ihr geglückt ist.« »Eck, du kriegst eins über den Schädel, wenn du nicht endlich aufhörst ununterbrochen zu quasseln«, sagte Sis. Sie beschleunigte noch mehr, und damit erstarb für den Moment jede Unterhaltung. Auch als sie in eine Gasse hinter einer Reihe alter, an einem Hang liegender Villen einbog, verlangsamte sie das Tempo nicht. Mit voller Geschwindigkeit brauste sie auf die riesigen Doppeltüren einer großen Garage zu, die in einen Hang gebaut war. Kurz davor drückte sie auf einen Knopf neben dem Lenkrad. Gillian wollte sich verzweifelt ducken, weil er einen Zusammenstoß kommen sah – als die Tore nach oben schwangen und Sis den kleinen Wagen keine zehn Zentimeter vor der Rückwand der Garage zum Stehen brachte. »George, ich versichere Sie meines Mitgefühls«, sagte Eck. »Jedesmal, wenn Sis mit Vollgas in die Garage rast, sehe ich mit Sicherheit einen schrecklichen Krach voraus. Aber bis jetzt haben die Tore noch immer auf das Funksignal reagiert. Nur Brutus ist imstande, das zu ertragen.« »Brutus ist eben ein hochintelligenter Hund, der voll und ganz meiner Fahrweise vertraut! Er weiß, daß er den Kopf nicht einzuziehen braucht.« Sie löste die Leine. Brutus sprang aus dem Wagen und jagte ihnen voran eine Treppe hinauf. Sie folgten ihm. Oberhalb der Garage lag eine Wohnung, die man offenbar aus ehemaligen Personalräumen geschaffen hatte. Neben der Garage befand sich eine große herrschaftliche Villa. Von der Straße fiel
genügend Licht herüber, um unten, in den traurigen Überresten eines Ziergartens, ungestutzte Hecken sehen zu können. »Das Gemäuer da vorn ist in Wirklichkeit ein Mietshaus. Opa würde sich wahrscheinlich im Grabe umdrehn, wenn er wüßte, was aus seinem schönen Haus geworden ist«, sagte Sis. Als sie den fragenden Blick Gillians bemerkte, fuhr sie fort: »Unser Großvater hat das Haus um die Jahrhundertwende für seine Braut erbauen lassen. Eck und ich haben uns diese kleine Wohnung eingerichtet. Wir wohnen nicht ständig hier, und wenn man bloß ein paar Tage bleiben will, ist die Wohnung recht gemütlich.« »Zumal wenn wir nicht von Leuten angetroffen werden wollen, die wir nicht kennen«, fügte Eck hinzu. »Kommen Sie, gehen wir ins Wohnzimmer.« Der Wohnraum hatte normale Ausmaße. Die Fenster gingen auf die Gasse hinaus, durch die Sis sie vorhin mit JetGeschwindigkeit katapultiert hatte. Weiter unten, sanft abfallend und sich in der Ferne verlierend, tanzten in hellem, farbigem Schimmer die Lichter von Los Angeles. An der linken Seite des Raumes lag eine Diele, am Ende eines Ganges das Badezimmer. Weitere Türen führten offenbar in Schlafräume. An einer Wand hing das Foto eines lächelnden Mannes, Anfang dreißig. Auf der einen Schulter trug er einen kleinen Jungen, an der anderen Hand hielt er ein etwas größeres Mädchen, das der Kamera gerade den Rücken zuwandte. Von der Ähnlichkeit betroffen, sah George Sis an. »Immer erkennt man Sis zuerst«, sagte Eck. »An ihrer Kehrseite.« »Ich werde Brutus auf dich hetzen. Er soll dich bei lebendigem Leib fressen.« »Brutus schläft schon«, sagte Eck. Die Riesendogge lag, den Schädel zwischen den Pfoten, auf dem Boden. »Ihr Vater?« fragte Gillian und wies auf das Foto. »Ja«, sagte Sis.
Eine Wohnzimmerwand war mit signierten und gerahmten Fotos behängt. Gillian betrachtete sie interessiert. Er staunte, als er feststellte, daß es sich um Aufnahmen der bedeutendsten Wissenschaftler der Welt handelte. »Die Bilder haben Vater gehört«, sagte Sis. »Es waren seine Freunde.« »Ach so«, sagte Gillian. Seih Blick wanderte zu dem letzten Bild an der Wand. Er sah hin, sah noch einmal hin und blieb dann wie angewurzelt stehen. »Sie sind jetzt innerlich aufgewühlt«, sagte Sis. »Was ist denn an dem Bild, daß Sie sich benehmen, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« »Ja, hm… also.« Gillian brachte Stimme und, wie er hoffte, seine Gefühle erfolgreich in seine Gewalt. »Das – das ist doch Samuel Ronson.« »Ja. Haben Sie ihn gekannt?« »Ich hatte nie das Glück, ihn kennenzulernen«, antwortete Gillian. »Er war aber – « Er wollte ursprünglich etwas anderes sagen, nun aber, übermannt von unterdrückten Gefühlen, die seine Brust zu sprengen drohten, sagte er: »Ronson war für mich ein Held. Mehr noch – « »Was gibt es denn noch mehr?« fragte Sis leise. »Noch dazu, wenn Sie ihn nie kennengelernt haben.« »Als ich vierzehn war und ich mir klar zu werden versuchte, was ich werden wollte, sah ich dieses Bild von Ronson in einer Zeitschrift. Ich schnitt es aus und klebte es an die Wand meines Kellerlabors. Das war eines jener kleinen, scheinbar unwichtigen Dinge, die für einen Jungen in Wirklichkeit sehr wichtig sein und den Wendepunkt seines Lebens bedeuten können. Damals waren einige meiner Freunde zu einer Bande jugendlicher Verbrecher gestoßen. Sie wollten, daß auch ich mitmache. Aber jedesmal, wenn ich das Bild Samuel Ronsons ansah, gemahnte es mich an etwas, das mir das
Erstrebenswerteste auf der Welt erschien. Und statt mich der Bande anzuschließen, schlug ich den anderen Weg ein.« »Den Weg, der Sie Wissenschaftler werden ließ?« fragte Sis. »Ich weiß, Sie haben an der Technischen Hochschule von Kalifornien promoviert, ich weiß auch, daß Sie ein eigenes Versuchslabor haben und daß Leute, die etwas davon verstehen, Sie als einen der hellsten Köpfe der jungen Generation von heute ansehen.« Gillian starrte diese bemerkenswerte Frau verständnislos an. »Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie müßten sich angewöhnen, keine Gedanken im Kopf zu wälzen, sonst liest Sis Ihre Gedanken und kommandiert Sie herum«, sagte Eck. »Sie wird Ihre Gedanken lesen und Ihnen die Hölle heiß machen, falls es keine anständigen Gedanken sein sollten.« Gillian atmete aus. Bis jetzt hatte er gar nicht gemerkt, daß er den Atem angehalten hatte. Mit leisem Lachen beugte sich Sis vor und strich über eine nicht vorhandene Falte an Gillians Jackenaufschlag. »Ich bin nicht so schlimm, wie Eck mich hinstellt. Übrigens gefällt mir das, was ich in Ihren Gedanken lesen kann: Aufrichtigkeit, völlige Integrität und das verzehrende Verlangen nach Wahrheit.« Die blauen Augen waren jetzt etwas verschleiert. »Geben Sie acht, wenn Sis über Ihren Jackenaufschlag streicht«, warnte Eck. Sis lachte leise auf und nahm ihre Hand von Gillians Jacke. »Also wurde das Bild eines Wissenschaftlers zum Wendepunkt in Ihrem Leben. Und was ist aus den Jungen geworden, die zu der Bande gestoßen sind?« »Einer wurde bei einem versuchten Raubüberfall von einem Polizisten getötet. Ein anderer hat sich loslösen können und führt jetzt eine Tankstelle. Die anderen hat es irgendwohin verschlagen. Sie lassen sich treiben«, antwortete Gillian. »George, wo ist Ronson jetzt?« fragte Sis.
»Weg, verschwunden, angeblich seit fünf Jahren tot«, sagte Gillian. »Das haben jedenfalls die Zeitungen behauptet.« Plötzlich faßte er nach ihrer Schulter. Sie versuchte nicht, sich seinem Griff zu entziehen. »Haben Sie Grund zur Annahme, daß er nicht tot sein könnte? Reden Sie – oder ich schüttle Ihnen die Antwort heraus!« Sie erblaßte unter dem Schmerz, den ihr Gillians Griff verursachte. Sie gab jedoch keine Antwort. »Immer mit der Ruhe«, sagte Eck in Gillians Ohr. »Sie wecken sonst Brutus auf.« »Verdammter Brutus!« »Sie tun mir weh. Bitte, loslassen!« bat Sis. Erst jetzt wurde Gillian bewußt, was er getan hatte. Hastig ließ er sie los und stammelte eine Entschuldigung. Sis massierte ihre Schulter und tat seine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß, was Sie fühlen. Bis zu einem gewissen Grad hegen Eck und ich dieselben Gefühle. Samuel Ronson war Vaters bester Freund. Er war Ecks Taufpate.« »So?« Gillian sah den hochgewachsenen Mann mit plötzlichem Respekt an. Eck konnte also nicht nur mit einem Baseballschläger sehr gut umgehen. Mit einem Mal wußte Gillian, daß dieses Geschwisterpaar, auf das er so unerwartet gestoßen war, von seiner eigenen Art war. »Ihr Vater war auch Wissenschaftler?« »Ja, aber bei weitem nicht so bedeutend wie Ronson, obwohl Eck und ich ihn trotzdem für den besten Menschen gehalten haben.« Wieder merkte man Sis an, wie schmerzlich sie von der Erinnerung berührt war. »Wissen Sie, wo Ronson ist?« »Nein. Aber so viel weiß ich wenigstens: tot ist er nicht!« Sie schüttelte den Kopf, als sie merkte, daß Gillian sie mit Fragen bestürmen wollte. »Es handelt sich bei mir um eine psychische Erkenntnis. Tatsachen habe ich nicht. Ich kann mich irren. Ich glaube aber nicht recht an einen Irrtum.« Gillian seufzte. War
Ronson noch am Leben, so mußte man ihn finden. Soviel man wußte, war er einfach verschwunden. Was tatsächlich mit ihm geschehen war, gehörte zu den großen Geheimnissen. »Und Ihr Vater –?« »Ja, George.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Was ihn betrifft, sind wir ganz sicher. Er ist tot.« »Das tut mir leid. Wollen Sie damit sagen – « Er starrte die Frau mit wachsendem Entsetzen an. Sie beantwortete seine unausgesprochene Frage mit einem Nicken. »Man hat ihn tot – ohne Verletzungen – aufgefunden. Seit jenem Tag haben Eck und ich herauszufinden versucht, wer ihn getötet hat – und vor allem wie. Das ist auch der Grund, warum wir uns für Ape Abrussi interessieren. Wir wissen, daß er eine Waffe besitzt, die tötet, ohne eine Wunde am Körper des Opfers zu hinterlassen. Wir wissen weder, woher er das Ding hat, noch wie es funktioniert, aber wir werden es herausbekommen.« Aus ihrer Antwort war eiserne Entschlossenheit herauszuhören. Er sah von Sis zu Eck und wußte: Diese beiden Menschen würden ihre Suche niemals aufgeben. Das gefiel Gillian. Er gehörte zum gleichen Schlag. »Ich glaube, George, Sie wissen eine Menge über diese Waffe und über viele andere Dinge. Sie gehören einer Gruppe an – « »Der GFU«, sagte Gillian. »Ich habe davon gehört«, sagte Sis. »Aber eigentlich wollte ich sagen, daß ich und Eck vielleicht auch etwas wissen. Eines steht fest: Die Interessen von uns dreien gehen in derselben Richtung, mögen auch unsere Motive verschieden sein. Wenn wir drei unser Wissen, unsere Fähigkeiten und Mittel zusammentun, könnten wir das Ziel erreichen. Vielleicht ist die ganze menschliche Rasse – ohne es zu wissen – auch auf der Suche nach diesem Ziel.«
»Ich muß Ihnen in allem recht geben«, sagte Gillian. »Ich mache in allen Punkten mit.« Er meinte jedes Wort so, wie er es gesagt hatte. Sis und Eck hatten verstanden. »Auch wenn wir Joe und Mary verloren haben, jetzt haben wir Sie als Ersatz bekommen«, sagte Sis. »Es kann zwar niemand die Stelle toter Freunde einnehmen – « Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. »– aber wir haben jetzt einen neuen Freund. Dafür sind Eck und ich dankbar.« »Danke«, sagte Gillian. Sie sah ihren Bruder an und nickte. Als hätte er verstanden, was sie meinte, ging Eck auf das Bild Samuel Ronsons zu. Er schob es beiseite. Die Wand dahinter schien leer, doch bei der Berührung einer verborgenen Feder glitt ein Wandteil zur Seite und gab den Blick auf ein kleines Safe frei. Eck entnahm diesem Safe ein Bündel Papiere, das er auf das Kaffeetischchen legte. Er lud Gillian ein, sie sich anzusehen.
3
Die Zeichnungen wirkten wie das Gekritzel eines Menschen, der einem lästigen Vertreter am Telefon zuhört. Ein wenig ähnelten sie auch Zeichnungen an den Wänden eines Irrenhauses; vielleicht hatten sie auch ein wenig Ähnlichkeit mit den verzweifelten Bemühungen eines von einem entfernten Planeten Gekommenen, in aller Eile ein Verständigungsmittel mit einem menschlichen Schwachsinnigen herzustellen. Ganz oben auf dem Blatt war die Skizze eines Pendels, so viel erfaßte Gillian. Stirnrunzelnd versuchte er, dem Rest des Gekritzels auf den Grund zu kommen. Er konnte nichts daran entdecken, das die Bedeutung, die Sis und Eck den Zeichnungen offenbar beimaßen, gerechtfertigt hätte. Die Zeichnungen stellten Pläne dar. Ein Netz feiner Linien, die wie Spinnweben aussahen, zeigte einen Energiestrom an. Eine Vorrichtung, die wie eine Linse aussah, schien dem Zweck zu dienen, entweder Licht oder eine andere Strahlung zu brechen oder zu bündeln. Und über allem das Pendel. Es ähnelte ein wenig dem Senkblei eines Geometers. Davon ausgehende Pfeile schienen anzuzeigen, daß es in Bewegung war. »Woher haben Sie diese Zeichnungen?« fragte Gillian. Eck wies auf Sis. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und täuschte Ruhe vor, während sie eine Zigarette rauchte. Diese gespielte Ruhe konnte niemanden täuschen, und das wußte sie. »Sis hat das alles gezeichnet. Aus dem Kopf – oder von sonstwoher.«
Sie beugte sich vor und tippte mit einem sorgfältig manikürten Nagel auf die Blätter. »Das sind die Skizzen eines Todesstrahls, der größten kleinen Waffe, die es je gegeben hat. Ich habe die Zeichnungen angefertigt, während ich zusah, wie ein Techniker eine solche Waffe auseinandernahm, sie reparierte und wieder zusammensetzte.« Ihre Worte jagten Gillian einen Schauer über den Rücken. »Wo war das?« »Hier, in diesem Raum. Ich habe diese Zeichnungen an diesem Tischchen, in einem Zustand von Halb-Trance gemacht. Fragen Sie mich bloß nicht, wer dieser Techniker war. Ich weiß es nicht.« »Ach«, sagte Gillian. Jetzt begriff er, daß die Zeichnungen das Ergebnis einer der vielen Psi-Funktionen war. Für den einen Teil seines wissenschaftsorientierten Verstandes wurde dadurch ihre Echtheit in Frage gestellt und verdunkelt. Ein anderer Teil seines Bewußtseins hielt ihn jedoch ab, darin bloß etwas in Dunkelheit Verhülltes zu erblicken. Schließlich hatte Sis seine Gedanken genügend deutlich erraten und damit bewiesen, daß derartiges möglich war! Wer konnte wissen, wie ihr Bewußtsein funktionierte, wer konnte wissen, wo die Grenzen lagen? »Ich war den ganzen Tag allein gewesen, hatte an Vater gedacht und mich gefragt, wer ihn getötet und welche Waffe man dazu verwendet haben könnte.« Sie sprach jetzt ganz monoton. Sie fuhr fort, von dem Erlebnis zu berichten. »Da drängte sich das Bild des Technikers in meine Gedanken. Bis zu einem gewissen Grad habe ich alles mit seinen Augen gesehen. Das läßt sich schwer in Worte fassen. Ich hatte das Gefühl, als sähe ich, was er sah, fühlte, was er fühlte, begriff, was er begriff. Ich sah sowohl mit seinen Augen, als auch von einem anderen Standpunkt aus. Er arbeitete an dieser Waffe und wußte, wie sie funktionierte. Damals verstand auch ich sie.
Ich zeichnete auf, was ich sah. Damals war mir das Gesehene völlig klar. Doch als der tranceähnliche Zustand vorbei war, saß ich da und starrte auf verrückte Zeichnungen, die ich nicht mehr begriff. Ich wußte bloß, es waren Zeichnungen des Todesstrahles, mit dem Vater getötet worden war.« Erschöpft sank sie zurück auf die Couch. Eck machte ein besorgtes Gesicht. Brutus schreckte aus seinem Schlaf auf. Er stand auf, kletterte auf die Couch und leckte Sis das Gesicht. Sie drückte seinen großen Schädel auf ihren Schoß und langte nach einem Taschentuch, um sich das Gesicht zu trocknen. »Eines steht fest, wenn man von einer Dogge einen Kuß bekommt, dann lohnt es sich wenigstens.« »Und was diesen Techniker betrifft – « kehrte Gillian zum Thema zurück. »Sein Körper wirkte menschlich«, sagte Sis, »doch die gelben Augen waren Ziegenaugen.« »Wie um alles in der Welt – « begann Eck. »Ich habe nicht gesagt, daß er von unserer Welt war«, unterbrach ihn Sis. »Vielleicht befand er sich in einem Raumschiff oder auf einem anderen Planeten, vielleicht sogar auf einem Planeten, der um eine andere Sonne kreist.« »Ziegenaugen – « sagte Gillian. »Heute abend habe ich einen Mann mit Ziegenaugen gesehen. Ich stand über Joe gebeugt. Da kam er von hinten heran und fragte mich, ob ich Joe getötet hätte.« Sie setzte sich aufrecht hin. »Was ist mit ihm? Wohin ist er gegangen?« »Als letztes habe ich ihn gesehen, wie er Abrussi verfolgt hat.« »Also halten sich wirklich solche Kreaturen hier auf der Erde auf!« sagte Eck erregt. »Wir sind da einer Sache auf der Spur! Aber – warum wohl hat er Abrussi verfolgt?«
»Keine Ahnung«, sagte Gillian. »Verdammt!« stieß Sis hervor. »Er wird sicher wiederkommen. Darauf wette ich meinen Kopf.« »Dann werde ich hoffentlich etwas Besseres als bloß einen Baseballschläger in der Hand haben«, sagte Eck. »Hat er einen Todesstrahler bei sich gehabt?« »Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt«, sagte Gillian. »Könnten Sie diese Waffe nachbauen?« fragte Eck. »Das möchte ich gar nicht«, antwortete Gillian. Sis schien sich über seine Antwort zu freuen. Sie konnte es anscheinend verstehen, warum kein Mensch aus freiem Antrieb eine tödliche Waffe konstruieren wollte. Gleichzeitig schien sie besorgt. »Wir brauchen die Waffe, wenn wir am Leben bleiben wollen«, sagte Eck ungeduldig. »Sie und ich wissen, daß es auf der Erde eine oder mehrere dieser Waffen gibt. Sie sind in den Händen von Mördern, von Gangstern. Diese Leute verlangen nach immer mehr von diesen Waffen. Ihr Ziel ist es, die Macht an sich zu reißen.« »Die Waffen stammen aus nicht-menschlichen Quellen«, sagte Sis. »Und das ist ein großer Unterschied.« »Ich gebe Ihnen recht«, sagte Gillian. »Das ist wirklich ein großer Unterschied. Solange wir mit Waffen gekämpft haben, die wir selbst erfinden und auf Erden herstellen konnten, waren es bloß Familienzwistigkeiten auf unserem Planeten. Sobald ein Stamm einen besseren Bogen erfand, dauerte es nicht lange und auch die anderen Stämme hatten diesen Bogen. Wenn sich aber ein Stamm der Menschen – oder eine Verbrecherbande – dieser neuen Waffe bemächtigt – « Er warf die Zeichnungen auf den Tisch. »– dann haben die anderen Stämme keine Chance mehr. Um dieses Ding zu konstruieren, bedarf es eines so hohen Standes an technischem Wissen, daß die anderen Stämme tot oder versklavt sein werden, ehe sie eine Chance haben, eine ähnliche Waffe zu entwickeln.«
»Also werden Sie die Waffe konstruieren, George?« fragte Eck abermals. »Zwischen diesen Skizzen und einem funktionierenden Prototyp klafft eine riesige Lücke«, antwortete Gillian. »Diese Lücke können wir überbrücken. Falls Sie Hilfe brauchen, werden Sis und ich Sie auf jede erdenkliche Weise unterstützen.« »Danke«, sagte Gillian mit einem Lächeln. »Es gibt noch mehr Menschen, die mich mit allen Mitteln unterstützen. Die Frage ist nur, ob die besten Köpfe der Welt zusammen genügend Wissen mitbringen. Was Sie von mir verlangen, ist nicht einfach.« »Werden Sie es versuchen?« fragte Eck. »Wenn es sein muß – « gab Gillian zur Antwort. Das Telefon auf dem Schreibtisch gab einen leisen Summton von sich. Eck warf seiner Schwester einen Blick zu, hob ab und meldete sich. Mit einer Hand das Mundstück des Hörers verdeckend, sagte er: »Es ist Terry. Er möchte herkommen und mit uns reden.« »Frag ihn, woher er die Nummer hat«, forderte ihn Sis auf. »Sie steht nicht im Telefonbuch.« »Er sagt, Mary hätte sie ihm vor einigen Jahren gegeben«, berichtete Eck. »Er – weint, Sis.« »Vermutlich weiß er, daß Mary tot ist. Er soll kommen.« Gillian lehnte sich zurück und steckte sich eine Zigarette an. Er war etwas ungehalten, weil er beim Studium der Zeichnungen unterbrochen worden war. Eck nahm die Pläne und legte sie ins Safe zurück. Dann rückte er das Bild Ronsons wieder sorgfältig zurecht. Auch das, was er als nächstes sagen mußte, verdroß Gillian. »Ich glaube, daß ich es Ihnen sagen muß«, begann er langsam. »Mary hat mir kurz bevor sie starb noch mitgeteilt, daß sie von einem Wagen angefahren worden war, der von einem gewissen Terry gesteuert wurde.« Im Raum wurde es nach diesen Worten so still, daß man das Schwirren
eines Lufttaxirotors irgendwo draußen über den Dächern hören konnte. »Außerdem hat sie gesagt, sie wäre dem Wagen direkt in den Weg gesprungen und hätte versucht, Terry zu bluffen. Terry hätte auch sein Bestes getan, ihr auszuweichen. Ich verstehe die Beziehungen nicht. Ebensowenig begreife ich, warum Terry jetzt weint und warum er herkommen will.« Nach dieser Erklärung schien das Eis im Raum ein wenig aufzutauen. Sis und Eck wirkten zwar noch immer betroffen, doch wich die Betroffenheit allmählich einer Erleichterung. Sis fand als erste wieder Worte: »Terry und Mary waren vor einigen Jahren befreundet. Sie waren auch mit uns befreundet. Als Mary sich in Joe verliebte, brach sie ihre Beziehungen zu Terry ab. Das hat ihn sehr schwer getroffen, und in weiterer Folge hat er sich der Gruppe um Abrussi angeschlossen. Wir haben versucht, ihn davon abzuhalten, aber er war wohl zu tief verletzt. Trotzdem halte ich seinen Schmerz um Mary für echt. Terry stand vor der gleichen Wahl wie Sie vor längerer Zeit – in Ihrer Jugend, wie Sie sagten. Nur lag es bei ihm anders: er hatte eine schwere Kränkung erfahren müssen und hatte nicht das Bild Samuel Ronsons vor sich, das ihn mahnte, welchen Weg er einschlagen sollte.« »Ich verstehe«, sagte Gillian. »Ich glaube, Terry wußte gar nicht, daß Mary heute abend mit Eck und Joe zusammen war. Als er es entdeckte, mochte er gefühlt haben, daß er sie immer noch liebte und hat wohl auf seine Art sein Bestes getan, um sie nicht zu verletzen.« »Sie hat es auch angedeutet – « Sis nickte. »Heute abend hatte man eigentlich auf Eck Jagd gemacht. Sie wollten ihn gegen mich als Druckmittel verwenden und mich auf diese Weise zwingen zu tun, was sie wollten. Aber mich persönlich wollten sie eigentlich auch
nicht. Sie sind vielmehr hinter diesen Skizzen her.« Sie wies auf das Bild Samuel Ronsons. Als es einige Zeit später an der Wohnungstür klopfte, ging Eck hinaus, um zu öffnen. Der Mann, der eintrat, war klein, untersetzt und schwarzhaarig. Seine Haut war braun, die Augen dunkel. Er begrüßte Sis mit sichtlicher Befangenheit und bedachte Gillian mit einem Nicken, als ihm dieser vorgestellt wurde. Auf der Armlehne eines Sessels hockend, machte Terry dreimal den Versuch, sich eine Zigarette anzuzünden. »Mir tut das mit Mary sehr leid.« Die Worte zeugten von tiefer Qual. »Bevor wir hinkamen, wußte ich nicht, auf wen man es heute abgesehen hatte. Mary sprang mir vor den Wagen, und ich konnte nicht rasch genug ausweichen. Später habe ich versucht, sie zu holen, aber die anderen drängten mich, erst den Unfallwagen wegzubringen.« Sis und Eck schwiegen mit unbewegter Miene. Ihre Gedanken schienen weit weg. Obwohl vor ihm im Aschenbecher noch eine Zigarette glühte, zündete sich Terry eine zweite an. »Mir wäre es sehr lieb, wenn ihr Joe sagen würdet, wie leid es mir tut«, fuhr Terry fort. »Sagt ihm auch, daß ich mich wegen des tödlichen Verkehrsunfalls der Polizei stellen werde.« »Warum willst du dich stellen?« fragte Eck. »Das bedeutet zwei oder drei Jahre Zuchthaus.« »Hoffentlich«, antwortete Terry. »Soll das heißen, du willst unbedingt ins Gefängnis?« »Ja«, sagte Terry. Der Schmerz hatte ihn unbarmherzig in der Gewalt. »Bis dahin wird mich Ape vielleicht vergessen haben.« Es wurde still im Raum. Ganz deutlich: dieser Mann litt unendlich. Er schüttelte das linke Handgelenk, als schmerze ihn etwas. Gillian sah Metall unter dem Jackenärmel
aufblitzen. Terry stand schwerfällig auf. »Richtet bitte Joe mein Mitgefühl aus«, bat er Sis. »Tut mir leid, Terry.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht übernehmen. Du scheinst nicht zu wissen, daß Joe ebenfalls tot ist.« »Joe tot?« Terry schluckte schwer, als er diese Neuigkeit hörte. »Mr. Gillian hat ihn gefunden. Er sagt, an Joes Leiche habe es keinerlei Wunden gegeben.« Terry drehte sich um und sah Gillian an. Wieder wurde es ganz still. »Das wußte ich nicht«, sagte Terry. Erneut schüttelte er die linke Hand. »Das hat mir niemand gesagt. Keine Wunde, sagst du?« Seine Gedanken schienen in die Ferne zu schweifen. »Es war heute also noch ein dritter Wagen unterwegs, einer, von dem ich nichts gewußt habe. Sicher ist in diesem Wagen der Affe gewesen.« »Terry, woher hat er die Waffe?« Dem Tonfall von Sis’ Stimme nach zu schließen, hatte sie eben eine völlig nebensächliche Frage gestellt. Nur ihren Augen, die auf Terrys Gesicht gerichtet blieben, sah man an, wie wichtig die Sache war. »Ich weiß es nicht«, antwortete Terry. »Ich bin doch nur ein kleiner Fisch. Ab und zu fungiere ich als Fahrer. In wirklich wichtige Dinge bin ich nicht eingeweiht. Ich habe bloß gehört, wie einer der Jungs gesagt hat, er hätte das Ding gefunden, an einem Ort in der Nähe des Mad Mountain. Ich selbst war noch nie dort. Ich weiß nur, daß einige seiner Leute ständig in der Nähe des Mad Mountain sind und dort etwas suchen.« »Wo soll das sein?« »Diese Richtung, etwa hundert Kilometer.« Terry zeigte nach Südosten. »Mir tut es um Joe und Mary so leid!« Dann ging er zur Tür.
»Geh noch nicht, Terry«, sagte Sis. Terry blieb stehen und sah sie an. »Terry, möchtest du nicht einen Auftrag übernehmen, einen Auftrag, der dir die Möglichkeit gibt, die Schuld an Marys Tod abzutragen?« »Was soll ich tun?« »Geh zurück zu deiner Gruppe und tu so, als wäre nichts vorgefallen. Niemand hat gesehen, wie du Mary überfahren hast, also wird die Polizei auch nicht nach dir fahnden. Falls etwas passiert, kannst du uns anrufen.« Terry ließ sich offenbar den Plan durch den Kopf gehen. Er gefiel ihm nicht. »Als dreckiger Spion also?« »Ein Spion auf seiten der Anständigkeit, ein Spion auf seiten der Zukunft«, antwortete Sis. »Aber – ich muß dich warnen – « »Ich weiß.« Seine Stimme wurde leiser. »Es kostet mich den Kopf, falls sie mich erwischen.« Er sah sich im Zimmer um, als suche er nach etwas. Sein Blick fiel auf Gillians Füllfederhalter auf dem Tischchen. Er griff danach und nahm ein Stück Papier. »Sagt kein lautes Wort mehr«, schrieb er. »Um Marys willen werde ich es tun.« Als alle diese Zeilen gelesen hatten, zerknüllte er das Papier in seiner Hand und schickte sich zum Gehen an. »Es wird euch nicht gelingen, aus mir einen verdammten Spion zu machen!« knirschte er. »Aber – « setzte Gillian an. Er brach ab, als Eck ihm einen Rippenstoß versetzte. Terry hielt jetzt den linken Arm hoch. Ein Stück unter dem Ärmel war auf dem Unterarm ein Metallarmband zu sehen, etwa zwei Zentimeter breit und einen Zentimeter dick. »Und daß keiner versucht, mir zu folgen! Ich bin bloß hergekommen, weil ich euch sagen wollte, wie leid mir die Sache mit Mary tut. Schließlich habe ich sie einmal gut gekannt.« Terrys letzte Worte hatten unfreundlich geklungen, doch als er die kleine
Wohnung verließ, war sein Gang der eines Mannes, der ein neues Leben begonnen hatte. »Er trägt eines von Abrussis Armbändern«, flüsterte Eck. »Armer Teufel! Möchte wissen, ob das Armband eine Abhöranlage enthält! Vielleicht hat er deswegen seinen Entschluß aufgeschrieben und ihn nicht ausgesprochen.« »Du weißt, daß es so ist«, sagte Sis. Erst jetzt fiel beiden auf, daß Gillian sie verwirrt anstarrte. »George, wir wissen nicht genau, was es mit den Armbändern auf sich hat«, versuchte Eck zu erklären. »Abrussis Leute tragen diese Dinger erst seit kurzem, und wir haben uns noch keines verschaffen können, um es zu untersuchen und zu sehen, was es eigentlich ist. Aber was immer auch dahinterstecken mag, die Dinger bedeuten für den, der sie trägt, nichts Gutes.« »Mad Mountain?« flüsterte Sis. Sie stand unvermittelt auf und ging hinaus. Als sie wiederkam, brachte sie einen Stoß Landkarten mit, die sie eilig durchblätterte. »Das sind Vaters alte Karten. Er hat sie aus irgendeinem Grund, den er uns nie mitgeteilt hat, aufbewahrt. Ich habe sie nur behalten, weil sie ihm gehört haben. Das da ist eine Karte des Gebietes, von dem Terry gesprochen hat.« Sie legte das Blatt auf den Tisch. Die Spitze ihres Fingernagels wanderte über die Karte. »Hier ist Mad Mountain – es gibt also tatsächlich ein Gebiet dieses Namens. Es ist sogar mit einem roten Kreis bezeichnet.« Das klang erstaunt. »Hat Vater diesen Kreis eingezeichnet? Er muß es wohl gewesen sein. Warum aber hat er um diesen Berg einen Kreis gezogen?« Gillian beugte sich über die Karte. Eine fein punktierte Linie führte vom roten Kreis an den Rand der Karte. An diesem Rand standen in kleinen Zeichen Zahlen. »Das ist Vaters Handschrift«, sagte Sis mit erregter Stimme. »Diese Ziffern geben Kompaßrichtung und Höhe an«, sagte Gillian.
Sie starrten einander bestürzt an. »Warum hat Vater einen Kreis um den Berg gezogen, von dem Terry eben gesprochen hat? Jetzt frage ich mich – soll das am Ende bedeuten, daß er gewußt hat, daß sich dort etwas Wichtiges befindet?« »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Gillian.
4
Gillian beobachtete den Höhenmesser des Helikopters. Dank seiner Kreditkarte und seines Flugscheines hatte er den Apparat mieten können. Eck hielt unentwegt ein starkes Fernrohr ans Auge gedrückt. Sis hatte einen Feldstecher in der Hand. Brutus lag auf dem Boden. Das alles war ihm ungemein langweilig. Besonders verärgert war er über das von den Rotorflügeln stammende Ultraschallgeräusch, das ihn am Einschlafen hinderte. Mad Mountain war eine ebene Hochfläche, die jetzt in einer Entfernung von etwa achtzig Kilometern vor ihnen lag. Während Gillian den Höhenmesser im Auge behielt oder zum Mad Mountain hinübersah – wobei er sich die Frage stellte, wie dieser wohl zu seinem Namen gekommen sein mochte – , beobachtete er stets auch aus Sicherheitsgründen den Himmel. In einigen Kilometern Entfernung war ein zweiter Blechvogel unterwegs, der jedoch für sie keinerlei Interesse zeigte. Touristen, vermutete er, oder Fotografen oder vielleicht sogar Prospektoren, die mit magnetischen Suchgeräten unterwegs waren, um die Erde nach Bodenschätzen abzusuchen, die anderen Suchern entgangen waren. »Ich sehe hinüber«, sagte Eck, ohne das Teleskop von den Augen zu nehmen. »Die uns zugekehrte Seite ist zunächst ein Schuttkegel. Dann kommt eine Felswand mit einem Überhang, der eine natürliche Höhle bildet. In Utah und Arizona habe ich an ähnlichen Stellen Felsbehausungen gesehen. Hier sehe ich gar nichts.« Das klang ziemlich enttäuscht. »Wahrscheinlich gibt es hier nicht viel zu sehen. Was es auch sein mag, das wir suchen – es wird sicher nicht so auffallend in die Höhe ragen
wie ein wunder Daumen. Sonst wäre es längst von einem Helikopter entdeckt worden.« »Woher wissen wir, daß es nicht schon entdeckt wurde?« fragte Sis. »Vielleicht ist es bereits gefunden worden – und der Entdecker hat seine Entdeckung mit dem Leben bezahlen müssen.« »Eine heitere Schwester habe ich, nicht?« brummte Eck. »Ich sage bloß die Wahrheit, das weißt du genau. Hier lauern eben Gefahren.« Sie sah Gillian an. »Ich denke, wir müssen genau die richtige Stelle in der richtigen Höhe anvisieren, um das Ding zu finden.« »Unter dem Felsüberhang sehe ich eine Öffnung!« rief Eck. »Könnte es das sein, was wir suchen?« Gillian drehte bei, bis sie nur noch fünfzehnhundert Meter von der Hochfläche des Mad Mountain trennten. Er nahm das Fernglas von Sis entgegen und studierte das Gelände. Eine in den Berg führende Öffnung war das einzige, was er sehen konnte. »Ich habe das merkwürdige Gefühl, wir sollten uns von der Luft aus nicht weiter nähern«, sagte Sis. »Ich glaube, es wäre am besten, wir landen oben und gehen den Abhang hinunter zu Fuß.« »Sie haben recht«, pflichtete Gillian bei. »Wollen wir in das Loch schauen?« fragte Eck. »Wahrscheinlich ist es ohnehin bloß ein alter Bergwerksschacht.« »Wir werden uns in jedem Fall diese Öffnung näher ansehen«, sagte Gillian. Er näherte sich der Hochfläche, indem er große Kreise flog. Aus der Nähe sah man, daß die ebene Fläche eine Täuschung war, der man nur auf große Entfernung zum Opfer fallen“ konnte. Die Fläche war vielmehr eine Masse von Geröll und es gab nur sehr wenig Möglichkeiten für eine sichere Landung. Gillian suchte die am besten geeignete Stelle und setzte auf.
Draußen vor den Fenstern gab es ein paar verkümmerte Zedern und einsame Kakteen – die einzigen sichtbaren Anzeichen von Leben. Es war kaum vorstellbar, daß sich ein Ort von dieser Wildheit und Einsamkeit so nahe dem wimmelnden Bevölkerungskomplex befand, den Südkalifornien im Jahre 1980 darstellte. Gillian nahm das Jagdgewehr aus der Halterung, lud es und öffnete die Tür. Brutus war als erster draußen. »Sehr üppig ist es hier ja nicht, aber der nächste Baum steht da drüben«, sagte Sis zu dem Riesentier. Die Dogge ging auf Erkundung aus. Die drei Menschen waren vorsichtiger. Behutsam suchten sie sich ihren Weg die Schutthalde hinunter, bis sie den Felsgrat erreichten, der zu dem Überhang führte, unter dem die mysteriöse Öffnung lag. Als sie dem Felsloch immer näher kamen, blieb Brutus merklich zögernd zurück. Sis mußte den Hund locken, damit er überhaupt weiterging. »Vielleicht hat Brutus mehr Verstand, als ich ihm zugetraut habe«, sagte Eck. Jetzt hatten sie die Felsöffnung erreicht. Sie lag tief unter dem Überhang verborgen, in einem Winkel, der eine Entdeckung aus der Luft fast unmöglich machte. Etwa vier Meter im Durchmesser maß die Öffnung. Der Stollen mit glatten Wänden führte hinunter in die Finsternis. Der Öffnung entströmte eine Strahlung, in deren Wirkungskreis sich Menschen bloß unbehaglich fühlten. Das empfindliche Nervensystem eines Hundes jedoch wurde völlig durcheinandergebracht. Brutus weigerte sich, näher als drei Meter heranzukommen. Er setzte sich hin und heulte. Die drei schenkten ihm keine Beachtung mehr. »Vielleicht war das früher einmal wirklich ein Bergwerksstollen«, meinte Eck.
»Man sieht keine Abraumhalden«, antwortete Gillian. »Hätte man hier geschürft, so müßten doch hier irgendwo Geröllhalden sein.« »Sis, was glaubst du?« fragte Eck. »Ich stimme mit Brutus überein«, gab sie zurück. »Ich wünschte, wir wären wieder in Los Angeles und säßen gemütlich beim zweiten Frühstück – « Jetzt wurde ihr Lächeln grimmig. »Das heißt aber nicht, daß ich türmen will. Das heißt nur, daß ich Angst habe.« »Da sind Sie nicht die einzige«, meinte Gillian. »Können Sie denn keine außersinnlichen Eindrücke empfangen?« »Ich spüre Schwingungen, so stark, daß sie alles andere überlagern.« Sis schwieg eine Weile. »Jetzt höre ich ein Geräusch. Es kommt aus der Öffnung.« Aufmerksam lauschend merkte Gillian, daß ein Ächzen aus der Öffnung drang. Seine erregte Phantasie gaukelte ihm das Bild eines Ungeheuers vor, daß sich unter Schmerzen von seinem Lager erhob. Er wußte, diese Vorstellungen waren falsch. Trotzdem schien Brutus, der jetzt wieder zu jaulen begann, sie für bare Münze zu nehmen. Sich zu einem Crescendo steigernd, wurde das Ächzen zu einem Heulen. Sis packte Brutus und drückte ihn zu Boden. Eck und Gillian, letzterer mit dem Gewehr im Anschlag, warfen sich neben sie auf den Boden. Das Heulen wurde zum Schrillen. George Gillian sah jetzt, daß aus der in den Berg führenden Öffnung etwas herauskam. Es war ein Flugkörper – nach einem Modell geschaffen, das nie auf einem irdischen Zeichenbrett konstruiert worden war. Das Ding war entweder aus kondensiertem Licht oder aus einem lichtdurchlässigen Metall. Gillian konnte folglich die Außenhülle des Körpers nicht deutlich sehen, das Innere jedoch sehr gut. Er sah das Pulsieren der Strahlen, die in Schichten den Innenraum durchflossen, glühende Farben, die von einer Energiequelle
ausgingen. Er sah den Steuermechanismus – und den einzigen Insassen des Luftschiffes, den Piloten. Der Pilot steckte in einem schlichten Anzug aus schimmerndem Material, das sich an seinen Körper eng anschmiegte. In Größe und Körperbau entsprach er ungefähr menschlichen Dimensionen. Sein Kopf jedoch war merkwürdig geformt. Oben hatte er Beulen, die wie kleine Hörner aussahen. Am Kinn sproß ein Bärtchen. Als das Schiff aus der Öffnung herauskam, wandte der Pilot den Kopf und sah die drei Menschen auf dem Boden an. Und Gillian erkannte jetzt ganz deutlich, daß der Pilot Ziegenaugen hatte. Als der Pilot die Menschen bemerkte, lag Überraschung in seinem Blick. Allzu groß war sein Staunen jedoch nicht. Der Ausdruck seiner gelben Augen schien vielmehr anzuzeigen, daß er über diese niederen Lebewesen gut informiert war und wußte, was mit ihnen zu geschehen habe, wenn sie ihren Käfigen entwischten. Und dann war das Schiff weg. Mit zunehmender Geschwindigkeit verschwand es im wolkenlosen Himmel Kaliforniens über dem Mad Mountain. Einen Augenblick später flutete das Echo einer Schallwelle zurück. Sis zupfte Gillian am Ellbogen. »George, es saß doch jemand drin! So wie der, den ich beim Reparieren der Waffe beobachtet habe, damals, als ich die Zeichnungen machte. Derselbe hat in diesem Flugschiff als Pilot gesessen.« Gillian stand auf, trat zum Eingang des Tunnels und spähte hinein. Sis und Eck stellten sich neben ihn. Er beachtete sie nicht weiter. Aus dem Tunnel strömte heiße Luft. Das Glühen der Wände wurde allmählich schwächer. Gillian hätte sich jetzt einen Geigerzähler gewünscht. Er versuchte noch weiter ins Innere des Tunnels zu spähen, konnte aber nichts sehen. Jetzt nahm er
Kugelschreiber und Notizblock aus der Tasche und kritzelte hastig Nummer und Name auf ein Blatt, riß das Blatt ab und reichte es Eck. »Sollte ich nach einer Stunde nicht zurück sein, dann gehen Sie zum Helikopter zurück und rufen Sie diese Nummer an. Nennen Sie meinen und Ihren Namen. Mein Name genügt zur Identifizierung. Sie müssen genau erklären, was wir zusammen erlebt haben, was mir zugestoßen ist und wo Sie sich befinden. Versuchen Sie nicht, den Helikopter zu fliegen. Sie sind kein Pilot. Bleiben Sie beim Helikopter. Eine Stunde nach dem Anruf wird Hilfe kommen.« »Das klingt ja ganz danach, als wollten Sie sich in den Tunnel hineinwagen«, sagte Eck und nahm den Zettel. »Stimmt genau«, antwortete Gillian. Sis wollte etwas sagen, doch Gillian kam ihr zuvor: »Nein, Sis, sagen Sie jetzt bloß nicht, ich würde in das Rohr einer geladenen Kanone kriechen. Das weiß ich ohnehin. Aus zwei Gründen möchte ich, daß Sie beide hierbleiben. Erstens, um nach einem weiteren Raumschiff Ausschau zu halten, wie es jenes war, das wir eben gesehen haben. Zweitens möchte ich, daß jemand über dieses Gebiet hier bei jener Nummer, die ich Eck gegeben habe, Bericht erstattet. Falls ich nicht wiederkomme, wird das Ihre Aufgabe sein.« »Aber«, setzte der Große an. »Sollte meine Stunde geschlagen haben, bin ich bereit«, fuhr Gillian fort. »Wie Sie wissen, haben ja andere vor mir schon daran glauben müssen. Anderen wiederum steht es noch bevor. Es ist nicht so wichtig, ob ich sterbe, sehr wichtig aber ist, daß zwei Personen, denen ich vertrauen kann, diese Informationen an die Nummer, die ich Ihnen gegeben habe, weitermelden.« Keiner sagte ein Wort. Nur ihre Mienen verrieten den Aufruhr der Gefühle. Gillian nahm von Sis den Feldstecher entgegen. Brutus kam dahergetrottet und leckte ihm die Hand. Gillian
drehte sich um und lief in den Tunnel hinein. Jene Strahlenfrequenz, die draußen sein Nervensystem erschüttert hatte, schien nicht mehr wirksam zu sein. Hatte der Start des Raumschiffes sie verursacht? Vor ihm auftauchendes Licht zeigte das Ende des Tunnels an – es kam unvermittelt, und er mußte stehenbleiben. Er hielt sich verborgen, so gut es ging, und beobachtete alles, was sich jetzt seinen Blicken bot. Ein Affe, der unversehens in ein Strahlenlabor gerät, wird sich vermutlich über Bedeutung und Zweck des Wirrwarrs, das er zu sehen bekommt, wundern. Er wird das Gesehene wahrscheinlich überhaupt nicht begreifen. Er hat keine Möglichkeit, Bedeutung und Zweck der Einrichtungen zu erfassen. Die Wellen auf einem Dschungelteich kennt er aus eigener Erfahrung. Doch Wellen, die sich unzählige Millionen Male schneller fortpflanzen, als jene auf dem Urwaldtümpel, existieren für den Affen nicht. George Gillian kannte jene Wellen, die pro Sekunde unzählige Millionen Male schwangen, sehr gut. Er kannte ihre Frequenz. In seinem Labor standen Apparate, die sowohl Schwingungsfrequenz, als auch Wellenlänge messen konnten. Existierten außerdem noch Wellen, die sich von den ihm bekannten so unterschieden, wie letztere von den Wellen auf einem Affenteich? Gillian vermutete zwar, daß es solche Wellen gab, doch hätte er seine Vermutung durch kein Experiment erhärten können. Es war noch nicht gelungen, einen Apparat zu konstruieren, der solche Wellen messen konnte. Die Wellen entzogen sich gleichsam hohnlachend allen bekannten Instrumenten, flitzten ungehindert durch alle Fallen und tanzten durch den Raum. Trotzdem aber bildete sich bei allen Wissenschaftlern die Annahme, daß diese Wellen Wirklichkeit waren und daß sie eine ungeheuer wichtige Rolle spielten – nicht nur bei außersinnlichen Erscheinungen,
sondern für alle Erscheinungsformen des Lebens, das menschliche Leben inbegriffen. Während Gillian in die sich weitende Höhle spähte, fühlte er sich wie der Affe, der in das Strahlenforschungslabor getappt ist. In seiner Kehle formte sich ein Klumpen. Die Verwunderung wuchs. Er mußte den Klumpen hinunterwürgen. Auf der linken Seite standen nebeneinander aufgereiht einige kleine Raumschiffe, ähnlich dem, das er vorhin gesehen hatte. Hier wirkten sie wirklicher, ein wenig gegenständlicher als jenes Schiff, das er beim Verlassen des Tunnels beobachtet hatte. An einem der Schiffe machten sich Techniker zu schaffen. Sie machten es offenbar startklar. Durch sein Fernglas sah er, daß diese Männer Auswüchse, die wie stumpfe Hörner aussahen, auf dem Kopf hatten. Dann ließ er seinen Blick nach oben schweifen. Die Höhle war mehrere Stockwerke hoch. Auf verschiedenen Höhen gab es kleine Öffnungen, vor denen Balkons angebracht waren. Und dann erblickte Gillian die Kugel! Sie bestand entweder aus Licht oder glühendem Metall. Zuerst glaubte er, sie schwebe frei in der Luft. Sie bewegte sich sehr langsam, und nun bemerkte er auch die lange Gliederkette, die oben das schwere Kabel hielt. Jetzt wußte er: er hatte jenes Pendel vor sich, das Sis zu zeichnen versucht hatte, als sie sich in ihrem seltsamen Zustand befunden hatte. Sie hatte also über weite Entfernungen hinweg sehen können. Der Anblick war gigantisch! Die Kugel aus glühendem Metall maß mindestens drei Meter im Durchmesser. Die Kette, an der sie hing, war an die vierzig Meter lang. Die Bewegung war ganz langsam und majestätisch, wie die Pendelbewegung an einer riesigen Standuhr. George Gillian hatte nicht die leiseste Ahnung, welchem Zweck das Pendel diente.
Er sah, daß es beim Abwärtsschwingen ganz knapp an einer Plattform vorbeipendelte, die man über dem Höhlenboden errichtet hatte. Auf dieser Empore stand eine Vielzahl von Instrumenten. Sie dienten offensichtlich dazu, die Arbeit des Pendels zu bestimmen, zu kontrollieren und zu überwachen. Auf der Plattform stand auch ein Mensch – zumindest sah das Wesen aus dieser Entfernung wie ein Mensch aus. Der große runde Bauch gemahnte an eine Karikatur. Als das Pendel langsam an der Plattform vorbeischwang, inspizierte er die Instrumente sehr genau und nahm einige Einstellungen vor. Gillian stellte sein Fernglas schärfer auf dieses wie ein Mensch aussehende Wesen ein. Er erwartete ein Lebewesen mit kleinen Beulen auf der Stirn zu sehen. Während die starken Gläser die Person ihm immer näherrückten, war er auf die gelben Augen einer Ziege gefaßt. Was er wirklich zu sehen bekam, bereitete ihm einen Schock. Der Mensch auf der Plattform – war wirklich ein Mensch! Gillian glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Jetzt aber blieb ihm für weitere Beobachtungen keine Zeit. Ein immer stärker werdendes Dröhnen in der Höhle nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er sah, daß die Techniker das Schiff auf die aus dem Tunnel führende Startrampe geschoben hatten. Das Dröhnen kam aus dem Innern des Schiffes. Es sollte wohl für den Flug warmlaufen. Gillian drehte sich um und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Ausgang des Tunnels. Hinter ihm wurde das Dröhnen immer lauter. Er spürte bereits den steigenden Luftdruck im Tunnel. Jetzt wußte er, daß das Schiff gestartet war. Vor ihm lag das Licht. Er lief darauf zu. Und er schaffte es. Draußen warf er sich zu Boden und ließ sich, mehrmals überschlagend, wegrollen. Einen Sekundenbruchteil später zischte hinter ihm das Schiff aus dem Starttunnel und dröhnte
an ihm vorbei. Dann erst erreichte ihn die Schallwelle. Er hörte sie kaum. Er begnügte sich damit, still dazuliegen und seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Und zu wissen, daß er noch am Leben war. Er spürte, daß er einen Kuß bekam, und wußte nicht, ob er von Brutus oder Sis oder von beiden stammte. Er merkte, daß Eck ihm auf die Beine helfen wollte. Erst als Gillian wieder festen Boden unter den Füßen spürte, wurde ihm bewußt, was er jetzt zu tun hatte. »Kommt! Wir müssen weg von hier!« Eck und Sis wollten ihm Dutzende von Fragen stellen. Er hörte gar nicht hin. Hastig kletterten sie die Geröllhalde hinauf. Brutus voran. Die Toroblätter schwirrten, als Gillian mit dem Helikopter abhob. Als sie in der Luft waren, langte er nach dem Radiotelefon und nannte der Vermittlung eine Nummer. »Das ist doch die Nummer, dich ich anrufen sollte, falls Sie nicht wiedergekommen wären«, sagte Eck. »Richtig«, sagte Gillian und sprach dann, als die Verbindung hergestellt war, ins Telefon. »Hier George Gillian. Ja. So heiße ich. Übermitteln Sie diese Nachricht sofort an Mr. Strong.« Eck und Sis hörten gespannt zu, als er einen kurzen Bericht über seine Erlebnisse durchgab. Falls die Person am anderen Ende Zweifel hegte, so äußerte sie diese nicht. »Was ich jetzt sagen werde, ist von größter Wichtigkeit! Mir ist es egal, wo Mr. Strong im Moment ist oder was er macht. Diese Nachricht muß in zehn Minuten, nachdem ich meinen Bericht beendet habe, übermittelt werden! Jetzt die Nachricht!« Wieder machte Gillian eine Pause. »Samuel Ronson lebt! Er befindet sich im Mad Mountain. Sagen Sie Mr. Strong, er soll nichts unternehmen, bevor er nicht mit mir gesprochen hat. Ja, ich habe gesagt Samuel Ronson! Ich habe auch gesagt, daß er lebt und sich im Mad Mountain aufhält. Sie finden den Berg auf jeder Karte. Auf Wiederhören!«
Der Mann auf der erhöhten Plattform, der die Bewegung des Riesenpendels überwacht hatte, war Samuel Ronson gewesen. Gillian legte den Hörer auf und brachte den Helikopter auf Direktkurs nach Los Angeles. Dann streichelte er Sis’ Wange. »Meine Liebe, manchmal erweisen sich Ihre übersinnlichen Talente als überaus präzise! Ja, Samuel Ronson lebt! Das Pendel, das Sie gezeichnet haben, existiert. Und die Techniker mit den Ziegenaugen wimmeln dort unten sehr zahlreich herum!« Dankbar sah sie ihn an. »Aber was soll das alles?« fragte Eck. »Weiß ich nicht«, antwortete Gillian. »Ich habe es für nicht sehr klug gehalten, unten zu bleiben und die Leute zu fragen, was sie dort treiben.« »Da muß ich Ihnen recht geben«, antwortete Eck. »Aber – « »Ich nehme an, die ganze menschliche Rasse stellt sich die Frage, was es mit gewissen Geschehnissen auf sich hat.« Gillian hielt inne. Er überlegte, wie man die Geschichte von fünfzig Jahren in wenigen Worten wiedergeben könnte. »Daß etwas vor sich geht, ist ganz offensichtlich! Was es ist, weiß kein Mensch. Ich nenne nur einige Symptome. Erstens: Auf dem Gebiet des Sports sind die Ergebnisse ständig und laufend verbessert worden. Rekorde wurden immer wieder überboten. Vielleicht sind bessere Trainingsmethoden die Ursache dieses Aufschwunges, sicherlich sind sie aber nicht der einzige Grund. Es wird hier noch ein anderer Faktor wirksam. Er bringt die besten Sportler hervor, die es gibt, seitdem wir angefangen haben, Rekorde aufzuzeichnen. Aber gehen wir doch von den Muskeln zum Gehirn über. Auf dem Gebiet der reinen Wissenschaft hat sich ähnliches zugetragen. Was die Wissenschaftler lange Zeit für die Wahrheit hielten, ist längst in der Mülltonne gelandet. Und niemand wagt vorauszusagen, was die Wissenschaft von morgen bringen wird. Ideen ändern
sich heutzutage so schnell, daß es keiner wagt, ein Denkmodell als unabänderlich hinzustellen. Ist derselbe unbekannte Faktor, der die sportlichen Rekorde in die Höhe trieb, auch für den Fortschritt der Wissenschaften verantwortlich? Wenn ja, wie ist seine Wirkungsweise? Was ist es überhaupt? Ist es eine unbekannte Frequenz, die unsere Erbanlagen beeinflußt, unsere Gene modifiziert und hier Änderungen hervorruft? Sind diese Änderungen wiederum Ursache für das Entstehen fähigerer menschlicher Wesen?« Am Horizont kam Los Angeles als verschwommener Fleck sehr rasch näher. Ungeduldig versuchte Gillian das Tempo noch zu steigern, doch hatte er bereits die Höchstgeschwindigkeit erreicht. »Es gibt noch einen anderen Aspekt unserer Situation, von dessen Vorhandensein die meisten Menschen nichts wissen. Sämtliche Psi-Funktionen haben sich vermehrt. Heute haben wir mehr und bessere Medien als je zuvor, und was das Wichtigste ist, diese Medien lernen sich selbst zu akzeptieren, und wir lernen, sie zu akzeptieren, mit ihnen und ihren Fähigkeiten zusammenzuarbeiten. Wir hoffen sogar, sie eines Tages begreifen zu können.« Während er sprach, sah er Sis an. Sie lächelte ihm zu. »Wenn Sie das schon früher gesagt hätten, hätte ich mich viel wohler gefühlt. Ich befürchtete, Sie würden mich schlicht und einfach für verrückt halten.« »Niemals, meine Liebe! Ich muß zugeben, daß ich diese Fähigkeiten nicht durchschaue, doch habe ich zu oft feststellen müssen, daß sich das Zeug später als wahr erwiesen hat. Ich kann also nicht mehr an der Existenz solcher Fähigkeiten zweifeln. Viele fähige Wissenschaftler verfügen selbst über Psi-Kräfte. Und Sie können sicher sein, daß diese Leute das Gebiet so gründlich als nur möglich durchforschen, nur um sich selbst Gewißheit zu verschaffen, daß sie nicht verrückt sind – wenn schon aus keinem anderen Grund.«
»Na ja«, mischte Eck sich ein, »ganz gut zu wissen, daß meine Schwester nicht jeden Tag in der Klapsmühle landen kann.« »An Ihrer Stelle würde ich mir deswegen keine Sorgen machen.« »Ach, das tue ich ja gar nicht«, antwortete Eck. »Ich mache doch nur Spaß, um nicht eingestehen zu müssen, daß ich jetzt eine Heidenangst bekommen habe.« »Sie haben ganz recht, daß es etwas gibt, vor dem wir Angst haben sollten«, sagte Gillian sehr ernst. »Das Bild hat nämlich auch seine Schattenseiten. Wir haben heute mehr, größere und vor allem vollere Irrenanstalten; wir haben mehr jugendliche Verbrecher, mehr Erwachsenenkriminalität, mehr Gewaltverbrecher, mehr Scheidungen und mehr allgemeine Gesetzesübertretungen als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Menschheit scheint jeden Begriff von Moral oder ethischem Verhalten verloren zu haben.« Wieder wollte Gillian die Geschwindigkeit steigern, schneller ging es aber wirklich nicht. Sie überflogen auch schon die Stadt und sahen von weitem die Landebahn. Eck und seine Schwester waren still geworden. »Was bedeutet das alles?« fragte Sis verwundert. »Es bedeutet einen Konflikt, der vielleicht der größte in der menschlichen Geschichte sein wird. Ein Kampf zwischen übermäßigem beschleunigtem Wachstum und jenen Kräften, die versuchen, das Wachstum zu hemmen oder aufzuhalten. Es bedeutet auch einen schweren Konflikt zwischen Individuen, die versuchen, aus dieser wirren weltweiten Situation Vorteil zu ziehen, um Macht und Reichtum für sich selbst zu gewinnen. Ich nehme an, daß der Affe Abrussi zu diesen Typen gehört. Gegenwärtig befinden sich diese Kräfte in einem Zustand sehr unsicheren Gleichgewichtes. Ich glaube nicht, daß jemand auf Erden heute weiß, wie leicht dieses Gleichgewicht durch einen Zufall
umkippen kann. Wenn es sich zur falschen Seite neigt, wenn der Affe Abrussi sich in den Sattel schwingen kann – na, dann haben wir sicherlich genügend Wasserstoffsprengköpfe, um die gesamte menschliche Rasse vom Planeten zu pusten! Sollte sich aber alles zur guten Seite neigen, dann werden wir vielleicht in das Goldene Zeitalter wahrer Humanität eintreten.« Aus Gillians Worten klang – ganz schwach zwar – Hoffnung heraus. Er setzte den Helikopter auf dem Landeplatz auf und unterschrieb die Rechnung der aufgelaufenen Spesen. Als sie bereits im Wagen saßen, hatte Sis noch immer Fragen auf dem Herzen. »Welche Rolle spielen Sie persönlich in dieser Sache?« wollte sie wissen. »Eine sehr kleine«, antwortete Gillian. »Wie Sie schon wissen, gehöre ich zufällig zu einer Gruppe sehr öffentlichkeitsbewußter Menschen, zur Gruppe für Forschung und Untersuchung. Diese Gruppe hat mein Labor finanziert. In gewissem Sinne arbeite ich für sie. Als ich vorhin die Rechnung unterschrieb, habe ich Geld dieser Gruppe verbraucht. Diese Gruppe ist eine ordnungsgemäß eingetragene Gesellschaft. Mit den ihr zur Verfügung stehenden großen Summen und den Menschen tut sie ihr Bestes, um herauszufinden, was eigentlich vorgeht. Stimmt die Entwicklung der Weltlage mit den von der Organisation angestrebten Zielen überein, wird sie alles tun, um eine solche Entwicklung zu fördern. Andernfalls wird sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen ankämpfen. Die Gruppe verfügt in unserem Land auf hoher militärischer und politischer Ebene bis hinauf zum Präsidenten über großen Einfluß. Sie kann die Dinge in Fluß bringen – aber bis jetzt weiß man noch nicht, was man unternehmen soll.«
Er duckte sich unwillkürlich, als die Garagentore vor ihnen hochschwangen. Sis stoppte wieder einmal so, daß die Stoßstange knapp zehn Zentimeter Abstand von der Garagenwand hatte. Brutus war als erster auf der Treppe. Sein Heulen eilte ihnen voran. »Brutus!« rief Sis scharf. Sie betraten das Wohnzimmer. Und erstarrten. Der Raum war fast völlig demoliert. Ein Loch in der Wand zeigte an, wo das Bild Samuel Ronsons gehangen hatte. Das aber war es gar nicht, was Brutus in Aufregung versetzt hatte. Er hatte den Mann angeknurrt, der ruhig auf der Couch saß. Jetzt schnüffelte er an dessen Schuhen und sah seine Herrin an, als ginge das alles über sein Fassungsvermögen hinaus. Der Mann war Terry. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Terry sah aus, als würde er schlafen. Terry sah auch nicht auf, als sie eintraten. Er stand nicht auf, um sie zu begrüßen. Sie wußten sofort, daß Terry nie wieder aufstehen würde. Ebenso wußten sie, daß kein Leichenbestatter eine Wunde an seinem Körper finden würde und daß bei jeder Autopsie ein Herzversagen als Todesursache diagnostiziert werden würde. Aus der Kehle der großen Dogge drang Geheul, während sich das Tier der Tür zuwandte, die zu den Schlaf räumen führte. Die Tür stand offen. Ein Mann stand in der Tür. Er war klein und dunkel, mit glühenden Augen. In der Hand hielt er eine kleine Waffe, die aussah, als wäre sie aus Glas. »Stillgestanden, alle!« sagte er. »Abrussi!« flüsterte Eck. »Ja! Stillgestanden. Und haltet den verdammten Hund fest – « Auf ihren Riesenpranken, mit gefletschten Zähnen, trottete die Dogge auf den Eindringlich zu.
Die Waffe in Abrussis Hand gab ein kleines Geräusch von sich. Brutus starb lautlos. Er brach einfach zusammen und fiel zu Boden. Abrussi sah vom toten Hund zu den Menschen. Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Terry hat mehr preisgegeben als er ahnte, während er sich hier mit Ihnen unterhielt«, sagte Abrussi. »Mein Apparat hat alles aufgenommen. Terry hat eingesehen, daß es seinen Interessen am dienlichsten wäre, wenn er mit mir hierher zurückkehrte. Als ich das Safe hinter dem Bild entdeckte, hat er den Kopf verloren.« Abrussi zuckte die Achseln. Terry hatte also den Kopf verloren! Vermutlich hatte er versucht, den Affen umzulegen. Terry existierte nicht mehr. »Geben Sie acht, daß nicht jemand von Ihnen auch noch den Kopf verliert!« drohte Abrussi. Die kleine Glaswaffe in seiner Hand war auf sie gerichtet.
5
Abrussi schien Sis und Eck Randolph zu kennen. Doch Gillian hatte er nie zuvor gesehen. Seine schwarzen Augen waren auf Gillian geheftet. »Wer zum Henker sind Sie?« Seinem Tonfall war anzumerken, daß er rasch eine Antwort hören wollte. Gillian empfand beim Anblick des Mannes heftige Abscheu. Er mußte sich beherrschen. »Nur ein Freund«, gab er höflich zurück. »Diese Antwort genügt mir nicht«, brauste Abrussi auf. »Ich möchte Namen und Anschrift.« In der Annahme, es würde Abrussi ohnehin nichts sagen, gab Gillian seinen richtigen Namen und die Adresse an. »Noch nie von Ihnen gehört.« So wie Abrussi das sagte, klang es, als verurteile die Tatsache allein, daß er noch nie von ihm gehört hatte, Gillian zur Bedeutungslosigkeit. »Aber ich werde Sie noch kennenlernen.« Er hob das linke Handgelenk an den Mund. An dem Gelenk war, versteckt angebracht, ein Armband, ähnlich dem, welches Terry getragen hatte – nur breiter und massiver. »Schafft den Wagen sofort her«, sprach er ins Armband. »Ja, Sir«, kam die Antwort. Abrussi schraubte an dem Armband herum und sprach dann wieder hinein. »Ich möchte alles über George Gillian, 2131 Columbine Street wissen!« Abrussi brauchte nicht lange zu warten. Aus dem Armband ertönte ein schrilles Pfeifen. »Über einen George Gillian haben wir nichts.«
»Gut, sucht weiter«, antwortete Abrussi. »Ich möchte alles möglichst vollständig. Irgendwo muß etwas über ihn vorliegen. Ich möchte es wissen!« »Ja, Sir«, ertönte die Antwort aus dem Armband. Unten auf dem Asphalt quietschten Reifen. Ein Motor heulte auf, als die Garagentore aufschwangen. »Wir werden eine kleine Fahrt unternehmen«, sagte Abrussi zu den drei Gefangenen. Ein Mann mit fliehendem Kinn kam die Treppe herauf und betrat die Wohnung. Er sah Abrussi an, der auf Terrys Leiche wies. »Wickle ihn in ein Laken und steck ihn in den Kofferraum.« Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Riesendogge. »Und den Hund in ein anderes Laken.« Sein Blick ging zu Sis, als sie eine Bewegung machte. Sofort war die kleine Glaswaffe wieder auf sie gerichtet. »Stillgestanden, Sis!« Sie ignorierte die Waffe und ging an Abrussi vorbei in die Diele. Abrussi blieb ihr auf den Fersen. Sie verschwand in einem der Schlafzimmer. Sein Gesicht wurde grimmig. Da kam sie mit einer Daunendecke wieder. Ohne Hilfe zuzulassen, hüllte sie den Kadaver der Dogge in die Decke. Als sich Sis wieder aufrichtete waren ihre Augen feucht. Ihr Kinn drückte Entschlossenheit aus. Sie blickte Abrussi in die Augen. »Na gut, Affe«, sagte sie. »Wir unternehmen eine Fahrt mit dir. Eines Tages werden wir uns revanchieren – und dich ausführen!« Abrussis Augen sprühten Feuer. Dann zuckte er die Achseln. »Wer Abrussi auf eine Fahrt mitnehmen will, muß morgens zeitig dran sein«, sagte er. »Sie gehen jetzt vor mir die Treppe hinunter – und versuchen Sie ja nicht, durch die Hintertür zu entkommen! Ich habe ein paar Jungs in der Garage postiert.« Er machte mit der kleinen Waffe eine kleine Bewegung.
Neben dem Sportwagen stand eine riesige siebensitzige Limousine. Daneben wirkte der kleine Wagen wie ein Käfer. Am Steuer saß ein Chauffeur, ein zweiter Mann stand am Wagenschlag. Abrussi bedeutete seinen Gefangenen, auf den hinteren Sitzen Platz zu nehmen. Als sie der Aufforderung nachgekommen waren, setzte sich der Mann, der ihnen die Tür offengehalten hatte, auf einen erhöhten Sitz im Fond des Wagens. Sein Gesicht war ihnen zugewandt. Abrussi stieg vorn ein. Er setzte sich so, daß ihm keine ihrer Bewegungen entging. »Daß mir da hinten keiner den Kopf verliert«, sagte er drohend. Der Mann mit dem fliehenden Kinn kam eben die Treppe heruntergelaufen. Er schleppte ein schweres, in ein Laken eingeschlagenes Bündel. Das Bündel warf er in den Kofferraum und lief wieder ins Haus zurück. Das nächste Bündel war in eine Daunendecke gehüllt. Sis hatte Tränen in den Augen. Schwer schlug die Tür des Kofferraumes zu. Der. Mann mit dem fliehenden Kinn stieg vorn ein und setzte sich neben den Affen. »Also los«, kommandierte Abrussi. Reifen quietschten, als der Wagen losfuhr und die Straße entlangraste. Aus der Richtung des Vordersitzes ertönte ein schrilles Pfeifen. Abrussi hob das Armband an sein Ohr. »Gut«, sagte er. »Ende.« Er wandte sich um und sah George Gillian anerkennend an. »Also – Sie sind einer unserer hellsten jungen Köpfe?« »Habe ich nicht behauptet«, antwortete Gillian. »Aber jemand, der Bescheid weiß, hat es behauptet«, sagte Abrussi. Plötzlich war er überaus freundlich geworden. »Freut mich, Sie hier bei mir zu haben. Helle junge Köpfe kann ich immer brauchen.«
Gillian gab keine Antwort. Er betrachtete Abrussis kurzen, breiten Hals und fragte sich, ob er genügend Kraft in seinen Händen hätte, um diesen Kragen umzudrehen. Der Wagen brachte sie zu einem kleinen privaten Flughafen. Sie wurden in einen großen Helikopter verfrachtet, wo sie in einer gesonderten Kabine untergebracht wurden. Abrussi, der jetzt der Sorge wegen eines Fluchtversuches enthoben war und offenbar anderes zu tun hatte, nahm neben dem Piloten Platz. Er war mit dem im Armband verborgenen Sendegerät beschäftigt. Der Helikopter hob ab und nahm Kurs auf eine im Osten liegende Bergkette. Gillian saß in Schweigen versunken da. Eck ballte und öffnete nervös die Hände. Sis hatte noch immer den entschlossenen Zug um das Kinn – die Tränen in ihren Augen konnte sie nicht verbergen. Der Helikopter setzte auf einer Landefläche auf, an die sich ein weitläufiges Haus anschloß, das den größten Teil eines Plateaus einnahm. Gillian sah aus dem Fenster. Nirgends war eine Zufahrt zu entdecken. Der Bau einer Straße schien in diesem Falle alles andere als wünschenswert zu sein – es handelte sich also wieder um ein Felsennest, das nur mit Helikopter zu erreichen war. »Eines meiner Häuser«, erklärte Abrussi mitteilsam, als sie ausstiegen. Die kleine Glaswaffe war in einem Halfter in seiner Jacke verschwunden. Diener rissen eilfertig Türen vor ihm auf. Er führte sie in einen kleinen Raum und eröffnete ihnen sehr höflich, er wolle sich so rasch als möglich wieder mit ihnen befassen. Er wies auf ein Telefon und lud sie ein, sich an Essen und Trinken zu bestellen, was ihr Herz begehrte – aber ja keinen Fluchtversuch zu machen! Dann ließ er sie allein. »Sis, Brutus war doch nur ein Hund«, sagte Eck mitfühlend. »Er war mein Freund«, antwortete sie. Gillian klopfte ihr auf die Schulter. »Also los, heulen Sie sich ordentlich aus, wenn Ihnen danach zumute ist!«
»Danke, George!« Sie nahm Gillians Taschentuch und putzte sich die Nase. »Woher kommt bloß das Geld, mit dem er diese Anlage hier unterhält?« wunderte sich Gillian. »Rauschgift, Glücksspiel und Mädchen«, antwortete Eck. Gillian war fassungslos. »Na ja, ich habe eben in mancher Hinsicht wirklich ein viel zu zurückgezogenes Leben geführt – « »Haben Sie denn geglaubt, Rauschgift, Spiele und Prostitution wären in unserer modernen Welt aus der Mode gekommen?« fragte Eck und fuhr fort: »Ich meine, daß diese Dinge zu den Schattenseiten jenes Bildes gehören, das Sie uns entworfen haben, als wir vom Mad Mountain zurückkamen. Heute sind diese Laster häufiger als je zuvor.« Gillian ging ans Telefon und hob in der vagen Hoffnung ab, ein Freizeichen zu hören, ohne dies aber ernstlich zu erwarten. Es gab kein Freizeichen. Eine Mädchenstimme sagte: »Ja, Sir?« Während Sis und Eck hoffnungsvolle Mienen machten, sagte Gillian entschlossen: »Ich möchte eine Amtsleitung.« »Ja, Sir«, sagte das Mädchen in der Zentrale. Während Gillian den Atem anhielt, hörte er ein Klicken und dann meldete sich wieder das Mädchen von der Zentrale. Sehr freundlich sagte sie, daß alle Leitungen vorübergehend besetzt seien. »Und wann bekomme ich eine Verbindung?« fragte Gillian. »Ich fürchte, daß Sie das zuerst mit Mr. Abrussi klären müssen.« Gillian seufzte. Sis und Eck, die seinen Gesichtsausdruck sahen, waren enttäuscht. »Mr. Abrussi hat gesagt, wir könnten bestellen, was wir wollen«, fuhr Gillian in seinem Telefongespräch fort. »Schicken Sie einen Krug mit Orangensaft, eine Riesenkanne Kaffee, Steaks, Rühreier und Bratkartoffeln. Für drei Personen!«
»Das kann ich gern für Sie tun«, kam die Antwort. »Sofort.« Gillian probierte an den Türen. Sie waren versperrt. Er versuchte es an den Fenstern. Sie ließen sich ein Stück hinauf und herunterschieben. Er sah hinaus und stellte fest, daß es ihnen gar nichts nützen würde, wenn sich die Fenster ganz öffnen ließen. Darunter war nämlich ein Steilabfall von mindestens dreißig Meter. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, lag genau am Rand einer Klippe. »Was ist mit der GFU?« wollte Eck gerade beginnen. Noch während er das sagte, wurde die Tür leise geöffnet. Ein riesiger Neger, auf den Händen ein Tablett, trat ein. Er sah Eck scharf an. Falls er mitbekommen hatte, daß dieser die GFU erwähnt hatte, war seiner Miene jedenfalls davon nichts anzumerken. Als er das Tablett absetzte, glänzte an seinem linken Handgelenk das Armband. »Orangensaft und Kaffee«, sagte er. »Steaks, Rühreier und Bratkartoffeln werden frisch gemacht.« Er grinste sie an. »Ich heiße Washington Moses. Falls Sie etwas brauchen, sagen Sie der Dame am Telefon, sie soll mich ‘raufschicken. Ich werde alles für Sie erledigen.« »Wir möchten eines, Washington«, sagte Sis voller Hoffnung. »Ja, Miss«, sagte er höflich und aufmerksam. »Und das wäre?« »Wir möchten raus«, sagte Sis. Sein dunkles Gesicht verdüsterte sich. Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie brauchen einen mächtigeren Moses als ich es bin, um aus diesem Land hinausgeführt zu werden.« Sein Lächeln war wie weggeblasen, als er ging. Später kam er mit dampfenden Schüsseln wieder. Sie waren mit dem Essen bereits fertig, als er zum drittenmal wiederkam. »Der Boss ist bereit, Sie zu empfangen. Ich bringe Sie zu ihm.« In seinem riesigen Arbeitszimmer, ebenfalls am Rande des Steilabfalles, mit einer atemberaubenden Aussicht über Südkalifornien, saß Abrussi allein und war ganz Lächeln, als er
sie empfing. Washington Moses entließ er mit einem herablassenden Nicken. Dann wandte er sich ihnen zu. Ohne Zweifel, Abrussi war in mancher Hinsicht ein mächtiger Mann und wirkte auch physisch als solcher. Außerdem verfügte er über ein anziehendes und gewinnendes Wesen, wenn er es bewußt darauf anlegte. Und er hatte sich entschlossen, diese Seite seines Wesens jetzt ins Spiel zu bringen. »Ich nehme Sie in meine Organisation auf«, sagte er. Sein Tonfall ließ sie spüren, daß das die größte Chance war, die sich ihnen jemals geboten hatte. »Jeder von Ihnen fängt mit fünfzigtausend jährlich an. Natürlich ist das nur ein Anfang. Wenn wir erst richtig im Sattel sitzen, gibt es keine Begrenzung nach oben.« Sein Lächeln war vieldeutig. Gillian schätzte in Gedanken die Chancen ab, Abrussis dicken Hals umzudrehen. Eck, der eher an Erwürgen dachte, ballte und öffnete nervös die Hände. Sis ergriff das Wort. »Und was sollen wir für das viele Geld tun?« fragte sie. »Frauen denken doch immer praktisch«, sagte Abrussi strahlend. Er zog eine Lade seines Schreibtisches auf und nahm jenen Stoß Skizzen heraus, den Gillian zuletzt in dem Safe hinter Samuel Ronsons Bild gesehen hatte. »Eigentlich wollte ich das da.« Er sah Sis und Eck an. »Hätten Sie damals schon Vernunft angenommen, als ich sie darum bat, dann hätte es uns allen viel Ärger erspart.« Das klang ganz so, als wolle er ihnen die Schuld zuschieben, daß er sich hatte die Mühe machen müssen, Joe und Terry zu töten. »Sis, ich möchte, daß Sie diese Zeichnungen in allen Einzelheiten erklären und daß Sie, Gillian, bei der Auswertung der technischen Details helfen.« »Hm«, war Gillians einzige Reaktion. »Ich möchte, daß Sie unverzüglich damit anfangen. Es hängt sehr viel davon ab! Ich möchte keine Zeit verlieren. Was die Ausrüstung betrifft, so können Sie haben, was Sie nur wollen. Sie bekommen auch Unterkunft und ein Hausmädchen. Mein
Koch wird persönlich für Sie sorgen. Und um Ihnen zu beweisen, daß ich es ehrlich meine, werde ich Ihnen ein Monatsgehalt im voraus auszahlen.« Jetzt zog er eine andere Lade auf und holte ein dickes Bündel Hundert-Dollar-Scheine hervor. Er fing an zu zählen, gab es dann aber auf. »Zählen macht zuviel Mühe. Für den ersten Monat sind es glatte fünftausend Dollar für jeden.« Er teilte das Bündel in drei etwa gleich hohe Päckchen und schob sie ihnen über die Schreibtischplatte zu. Das Lächeln, das sich dabei auf seinem Gesicht breitmachte, war sehr wohlwollend. »Das ist sehr viel Geld«, sagte Sis. »Ja«, grinste Abrussi. Keiner trat vor, um sein Päckchen zu nehmen. Langsam erstarb das Lächeln auf dem Gesicht Abrussis. Plötzlich tanzten harte glitzernde Pünktchen in seinen Augen. Kobraschnell fuhr Abrussis Hand in die Innentasche seiner Jacke. Sie tauchte mit der kleinen Glaswaffe wieder auf. Keiner rührte sich. George Gillian schien es, daß eine Ewigkeit verging, während er auf das plötzliche Geräusch wartete, das er von dieser Waffe gehört hatte, als Brutus dran glauben mußte. Er wußte, daß Sis und Eck das Dahinschleichen der Zeit ähnlich empfanden, während sie auf den Tod warteten. Langsam dämmerte Gillian, daß Abrussi bloß bluffte. Auch Sis merkte es allmählich. »Zur Hölle mit Ihnen!« sagte sie. Abrussi explodierte in einem wilden Wutausbruch. »Ihr drei Dreckstücke glaubt wohl, ihr könnt mich bluffen«, brüllte er. »Wenn Sie uns erschießen, haben Sie niemanden, der Ihnen die Skizzen erläutert«, erklärte sie kaltblütig. Abrussi hatte das die ganze Zeit über auch gewußt. Und als er merkte, daß es seine Opfer ebenfalls wußten, wich der heiße Zorn aus seinem
Blick und machte kalter Wut Platz. Aus seiner Stimme war das Zischen einer Schlange herauszuhören, als er wieder Worte fand. »Also gut. Wenn Ihnen die harte Tour lieber ist –!« Laut rief er: »Doc Muzzy soll kommen, aber rasch!« Aus einem verborgenen Lautsprecher antwortete eine Stimme: »Sofort, Sir.« Abrussi beäugte die drei Menschen, die vor seinem Schreibtisch standen. »Ich würde an Ihrer Stelle doch die weiche Tour wählen«, sagte er. »Doc Muzzy ist Psychiater. Er ist an heißen Schnee geraten und konnte sich nicht mehr genug davon verschaffen. Jetzt arbeitet er für mich. Er kennt Mittel und Wege, Menschen zum Reden zu bringen, Methoden, die sogar mit einen Schauer über den Rücken jagen.« Er sah die drei erwartungsvoll an. Wieder war es Sis, die das Wort ergriff. »Wie ich schon sagte, können Tote keine Skizzen mehr erklären.« »Tot werden Sie nicht sein«, antwortete Abrussi, »Sie werden bloß den Tod herbeiwünschen.« Die Tür ging auf, zwei Männer traten ein. Zwischen ihnen ein dritter, den sie unter den Armen stützten. An den Gelenken der drei Männer schimmerten Armbänder. Der Mann in der Mitte fesselte ihre Aufmerksamkeit. Er hatte eine Schürze umgebunden, die einst weiß gewesen sein mochte, jetzt aber fleckig war. Er ging vornübergebeugt. Aus dieser Stellung schien er durch dicke Brillengläser auf eine Welt zu spähen, die zum größten Teil ihre Bedeutung für ihn verloren hatte. »Das ist Dr. Muzzy«, sagte Abrussi und machte sich nicht die Mühe, seine Verachtung zu verbergen. Er wies auf Eck, Sis und Gillian. »Doc, die gehören Ihnen!« »Ja – ah, Sir.« Muzzy sah sich suchend im Zimmer um, ehe er die Personen ausmachen konnte, die sein Boss ihm gezeigt hatte. Dann starrte er sie an, als könne er sich nur schwer zu
einer Meinung über sie durchringen. »Was – ah, soll ich mit ihnen machen, Sir?« »Verpassen Sie ihnen die stille Behandlung«, befahl Abrussi. »Ja – ah, Sir.« Eine Grimasse, die wohl als Lächeln gedacht war, huschte flüchtig über Muzzys Gesicht und war sogleich verschwunden, als fielen ihm einige Schwierigkeiten ein. »Aber – wir – ah, haben bloß zwei Zellen und hier sind drei Personen. Der Sinn des – ah – ganzen Experimentes wäre vertan, wenn man zwei in eine Zelle steckte.« Abrussi überlegte den Einwand. Es war ein Problem, das er lösen konnte. »Die Frau soll durch die Fenster zusehen«, befahl er. »Ja, Sir«, sagte Muzzy. »Bringt sie einzeln.« Er drehte sich um und verließ – diesmal ohne Hilfe – das Zimmer. Gillian fand sich in einer kleinen, kahlen und leeren Zelle wieder, die außer einem hoch oben an die Zimmerdecke grenzenden Fenster keine Öffnung nach außen aufwies. Aus einer in der Decke verborgenen Quelle drang Licht. Wände, Decke und Boden waren mit einem Material verkleidet, das alle Geräusche zu schlucken schien. Der Belag war in Bodennähe aufgerauht und zerkratzt. Mißtrauisch sah sich Gillian die zerkratzten Stellen an. Das sah aus, als hätte ein früherer Zelleninsasse versucht, sich mit seinen Händen einen Weg hinauszugraben. »Sollten Sie Ihre Meinung ändern und sich entschließen, doch mit Mr. Abrussi zusammenzuarbeiten, dann zeigen Sie es mir mit einem Kopfnicken zum Fenster hin an«, sagte Muzzy. »Aber geben Sie nicht zu rasch nach – sonst könnte ich Sie für unaufrichtig halten!« Dann schloß sich die Tür hinter ihm und seinen zwei Helfershelfern mit einem leisen, saugenden Geräusch. Es war nicht mehr zu erkennen, daß sich an dieser Stelle eine Tür befand. Bis auf das Fehlen jeglicher Einrichtung schien der Raum harmlos zu sein. Still war es hier. Gillian rief laut nach
dem Psychiater. Der Raum schien seine Stimme, die zu einem schwachen Flüstern herabsank, zu absorbieren. Jetzt ging ihm der Sinn von Abrussis Worten ›Stille Behandlung‹ auf. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was er über solche Räume schon gelesen hatte – und was mit den Menschen geschehen war, die sich darin zu experimentellen Zwecken einige Stunden lang aufgehalten hatten. An alle Einzelheiten konnte er sich nicht erinnern, doch war er sicher, daß die Ergebnisse höchst unerfreulich gewesen waren. Das menschliche Ohr, tagsüber – und bis zu einem gewissen Grad auch während des Schlafes – an Geräusche gewöhnt, benahm sich sehr merkwürdig, wenn plötzlich jedes Geräusch ausfiel. Jetzt wurde Gillian auch der Grund für die zerkratzten Stellen in Bodennähe klar. Ein früherer Insasse hatte sich offenbar aus der Stille des Raumes befreien wollen – nachdem er vorher übergeschnappt war. Das war für Gillian ein Schock, ein größerer Schock, als seine Entdeckung im Mad Mountain. Eine Bewegung am Fenster zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah hinauf und erblickte Sis. Sie machte ihm Zeichen, die er dahingehend deutete, daß sich Eck in einer anderen Zelle befand und daß man sie zwinge, beide zu beobachten, wie sie den Verstand verloren. Ihr Blick drückte Grauen aus, ihr Mund Entschlossenheit. »Nicht nachgeben!« rief Gillian ihr zu – es war ein schwaches Flüstern in dem geräuschschluckenden Zimmer. Das Gesicht verschwand jetzt vom Fenster. Auf dem kleinen Gang vor den Zellen wurde Sis von Abrussi in ein Gespräch gezogen. »Die könnten es sich leicht machen«, sagte er. Hinter ihm standen zwei Leibwächter, neben ihm Dr. Muzzy, der sich die Hände an seiner fleckigen Schürze abwischte. Während sie Abrussi mit ihren Blicken maß, erfuhr Sis Randolph zum
erstenmal in ihrem Leben, was Haß bedeutete. Sie haßte diesen Mann. Sie haßte alles, was er verkörperte. Sie haßte, was man mit Eck und Gillian machte. Sie haßte das, was mit ihr geschah. Aber mehr als alles haßte sie das, was eintreten würde, wenn Abrussi noch größere Macht gewänne, besonders, daß sie ihm dazu noch verhelfen sollte. »Ich sage immer noch – fahren Sie zur Hölle!« Abrussi verlachte ihre Verachtung. War er doch der festen Überzeugung, sie würde schließlich doch weich werden. Warum sollte er sich in der Zwischenzeit nicht den Spaß machen und sie verspotten? Er wies auf die zwei Fenster in der Wand. »Ihr Bruder ist in der einen Zelle, Ihr Freund in der anderen.« »Er ist nicht mein Freund«, antwortete Sis. »Er ist ein wunderbarer und hervorragender Mensch, also etwas, das Sie nie begreifen werden – nämlich ein Gentleman!« »Wenn Dr. Muzzy mit ihm fertig ist, werden Sie sehen, was für ein Gentleman er ist«, antwortete Abrussi belustigt. »Eher sehe ich zu, wie die zwei sterben, als daß ich Ihnen die Zeichnungen erkläre«, sagte Sis. Ihre Stimme klang fest entschlossen. »Werden Sie auch zusehen, wie die beiden verrückt werden?« fragte Abrussi. Sis hielt den Atem an. An diese Möglichkeit hatte sie nicht gedacht. Die Schockwelle, die sie jetzt durchflutete, zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Wieder grinste Abrussi. »Sollten Sie Ihre Meinung ändern, dann sagen Sie es dem Doktor.« Damit wandte er sich zum Gehen, blieb aber stehen, als Muzzy seinen Arm umklammerte und aufhielt. »Nein, Doc. Jetzt keinen Stoff mehr. Später, wenn Sie hier fertig sind, bekommen Sie, was Sie wollen.« Hilflos ließ Muzzy Abrussis Arm los und starrte ihm nach. Als sich Muzzy wieder umdrehte, merkte Sis, welch völlig
hilflosen Eindruck dieser Mann machte. Am linken Gelenk glänzte das Armband. Sie ließ Muzzy stehen und trat an das zweite Fenster. Eck sah zu ihr herauf, winkte und lachte. In ihrer Kehle ballte sich ein Klumpen zusammen. Eck, der selbst dringend Mut gebraucht hätte, versuchte ihr Mut zu machen. Sie ging an das zweite Glasfenster. Gillian hockte auf dem Boden. Auch er lachte und winkte. Wieder fühlte sie das erstickende Gefühl in der Kehle, jetzt noch viel stärker. Sie wandte sich nach Muzzy um, fest entschlossen, ihm, wenn nötig mit Gewalt, die Schlüssel zu den Zellen abzunehmen. Der Psychiater war jedoch schon durch die Tür geschlüpft. Im Schloß der zu dem kleinen Gang führenden Tür wurde jetzt ein Schlüssel umgedreht. Sis war darauf eingestellt, sich auf Muzzy zu stürzen. Es war Washington Moses. Sie mußte also von ihren Angriffsabsichten ablassen. Das dunkle Gesicht des Mannes war ausdruckslos, als er sie ansah. »Ich wollte nur nachsehen, ob Sie etwas brauchen, Miss – « er machte eine Pause. »Ihren Namen habe ich leider nicht verstanden.« »Randolph«, sagte Sis. »Und die Herren da drinnen?« Er wies auf die Glasfenster. »Einer ist mein Bruder, Eck Randolph. Der andere ist George Gillian. Washington!« Sie zögerte bei dem Versuch, eine Bitte in Worte zu fassen und an einen Mann zu richten, der Abrussis Armband trug. »Washington, Sie sehen wie ein anständiger Mensch aus.« »Ich bemühe mich, anständig zu sein, Miss Randolph. Möchten Sie etwas aus der Küche bestellen?« »Ich habe keinen Hunger.« Er wandte sich zum Gehen, während sie noch nach Worten rang. Sie wußte, es hieß – jetzt oder nie. »Washington.« Verzweiflung übermannte sie. »Sind Sie gewillt, uns zu helfen?«
Er sah auf das Armband an seinem linken Handgelenk herab und breitete seine Hände in einer Geste der Hilflosigkeit aus. Seine dunklen Augen musterten sie. Hatte sie in den Tiefen dieser Augen Mitleid gesehen? »Wir sind unschuldige Menschen! Wir müssen hier heraus!« Ihre Verzweiflung wuchs. »Es sind so viele von uns unschuldig, Miss Randolph.« Er öffnete die Tür. »Warten Sie einen Moment, Washington.« Sie deutete auf die Zellen. »Die da drin sind hungrig.« »Ich habe Auftrag, Ihnen aus der Küche zu bringen, was Sie wünschen. Ich habe keinen Auftrag die Herren betreffend. Tut mir leid, Miss Randolph.« Hinter ihm schloß sich die Tür. Washington Moses war verschwunden. Sie spürte es gar nicht, als ihr Körper hinfiel. Als sie später auf dem Boden liegend erwachte, wußte sie, daß sie in Ohnmacht gefallen war.
6
Als er erst kurze Zeit in der schallschluckenden Zelle saß, glaubte Gillian noch, daß das Fehlen jeglicher Geräusche eine Bagatelle sei. Stunden später wußte er es besser. Noch viel weniger hatte er von der Tatsache gewußt, deren Entdeckung ihn jetzt freute. Er entdeckte, daß sich die Ohren während des Lebens daran gewöhnt hatten, Geräusche zu hören. Mal laut, mal leise, mal bewußt, dann wieder unbewußt, Vogelgezwitscher, entferntes Pfeifen, das Heulen eines Düsenflugzeuges am Himmel, ungeduldige Hupzeichen – immer war eine Geräuschkulisse vorhanden, an die sich die Ohren gewöhnt hatten. Die von dieser Geräuschkulisse zum erstenmal abgeschirmten Ohren reagierten zunächst mit einer Art Verwunderung. Gillians Nervensystem übersetzte dieses Fehlen eines gewohnten Reizmittels zunächst bloß als ein Nichtvorhandensein. Dann aber wurde dieses Nichtvorhandensein zu etwas überaus Wichtigem. Angstgefühle stellten sich ein. Die Ohren gierten nach Geräuschen. Da keine Geräusche kamen, fingen die Ohren an, danach zu suchen. Als das nicht gelang, begannen sie, die Geräusche selbst zu erzeugen. Das Ergebnis waren Halluzinationen. Die Ohren hörten jetzt Geräusche, die in ihrer unmittelbaren Umgebung gar nicht existierten. Das Nervensystem wurde immer mehr in Alarmbereitschaft versetzt. Schließlich wurden die Geräusche, die die Ohren gar nicht hörten, vom alarmierten
Nervensystem in Stimmen verwandelt. Wenn dieser Zustand eintrat, versuchte die gesamte Neurostruktur auf der Basis halluzinierter Stimmen in Aktion zu treten: die Stimmbänder versuchten zu beantworten, was die Ohren zu hören vorgaben, der Verstand versuchte in jenen Begriffen zu denken, die ihm die Ohren vorgaukelten und die die Stimmbänder als Antwort formulierten. Da einiges von dem Gehörten furchteinflößend war, begannen die Nebennierendrüsen zu arbeiten, erzeugten ein Angsthormon und ließen es in den Blutstrom einfließen. Der Herzschlag wurde beschleunigt, der Atem ging schneller, die Lungen rangen nach Luft. Während sich dieser ganze große Komplex aufbaute, geriet das Individuum in Panik. Wie weit diese Panik unter Umständen gehen konnte, sah Gillian an den zerkratzten Stellen an der Zellenwand, knapp über dem Boden. Irgendein armer Teufel hatte versucht, sich den Weg in die Freiheit zu scharren. Gillian bemühte sich, sein Nervensystem besser in der Gewalt zu behalten. Er mußte jedoch entdecken, daß er den eingebildeten Stimmen einfach lauschen mußte, egal, was er dagegen unternehmen mochte. Die Tatsache, daß er wußte, es handelte sich bloß um Einbildung, änderte nichts daran. Er hörte die Stimmen trotzdem. Lange lauschte er den Stimmen und erkannte sie als hörbar gewordene Erinnerungen wieder. Stimmen längst verstorbener Freunde aus der Kindheit, die Stimmen seiner Eltern. Einige Stimmen schienen aus der Babyzeit zu stammen. Er fragte sich, ob er überhaupt das Recht hatte, sich ihrer zu erinnern. Sollte er müde werden, den Stimmen zuzuhören, so konnte er zum Glasfenster hinaufsehen und das blasse Gesicht, das sich dort ab und zu zeigte, betrachten. Zunächst war er sicher, daß das Gesicht dort oben Sis Randolph gehöre. Dann begannen Zweifel an der Identität des Gesichtes. Wer immer aber die Frau am Glasfenster auch sein mochte – sie schien ihm nicht
glücklich. Wenn ihm einfiel, daß es Sis war, tat sie ihm sehr leid. Er wußte ja, daß die Folter für sie härter war als für ihn, der sie jetzt durchzustehen hatte. Er war aber sicher, sie würde eher sterben, als Abrussi die Informationen zu liefern, die er haben wollte. Sie besaß etwas, was man Prinzipien nannte. Und für diese Prinzipien war sie gewillt zu sterben. Er gewann auch den Eindruck, daß Sis versuchte, ihm Mut zu machen. Insgeheim segnete er sie dafür. Als ihm ein Erinnerungssplitter eine kürzlich erlebte Szene vorstellte, fiel ihm ein, daß Mary in ihrer Todesstunde Joe auf der anderen Seite warten gesehen hatte. Würde er drüben, auf der anderen Seite, Sis vorfinden, wenn er jetzt sterben mußte? Oder würde er auf sie warten müssen? Diese Überlegungen waren natürlich nicht sehr tröstlich. Um sie sich wieder aus dem Kopf zu schlagen, konzentrierte er sich auf die Stimmen. Es war viel besser, den Stimmen zuzuhören, als Sis anzusehen. Ihr Anblick bereitete ihm zu große Qualen. Die Zeit verging. Gillian wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war – vielleicht waren Stunden vergangen, vielleicht ein Tag und eine Nacht, vielleicht war die Zeit überhaupt stehengeblieben. Er versuchte zu schlafen. Seine mit wachsender Gier nach Geräuschen suchende Ohren steigerten das Volumen der angeblichen Stimmen. Je mehr er sich bemühte, einzuschlafen, desto heller war er wach. Er befand sich in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Undeutlich hörte er sich fragen, wieviel er noch aushalten konnte, ohne aufzuspringen und wild gegen die Wand zu treten. Stunden vergingen. Dann und wann sah er zum Fenster hinauf. Kannte er die Frau, deren Gesicht sich dort zeigte? Als er versuchte, ihr zuzuwinken, entdeckte er, daß er kaum genügend Kraft besaß, den Arm zu heben. Sein Atem ging schwer. Hatte man die
Luftzufuhr in die Zelle gesperrt? Hatte man giftiges Gas mit der Luft vermengt? Beunruhigt stand er auf. Sein Herz fing so wild zu schlagen an, als wolle es die Rippen sprengen. Panik erfaßte ihn. Er schrie. Der Aufschrei verlor sich in der Stille des Raumes. Wieder schrie er auf. Er mußte hier heraus! Er mußte! Wo war die Tür? Als er keine Tür entdecken konnte, begann er gegen die Wandverkleidung zu treten. Diese Anstrengung bewirkte, daß der Herzschlag alarmierend schnell wurde. Sein Körper war schweißgebadet. Die Frau am Glasfenster deutete ihm, sich hinzulegen. Was für ein Unsinn! Er mußte hier heraus! Wieder trat er gegen die Wand. Diese Anstrengung erschöpfte ihn völlig. Er fiel hin. Wieder überkam ihn jener Zwischenzustand, der weder Schlaf noch Wachsein war. Noch einmal fingen die Stimmen an. Er hörte zu. Die Sprache, in der die Stimmen sprachen, machte ihn neugierig. Er wußte nicht, welche Sprache gesprochen wurde. Englisch war es nicht. Vielleicht war es Spanisch. Vielleicht Italienisch. Vielleicht Französisch. Deutsch war es nicht. Dafür enthielt die Sprache zu viele Zischlaute. Er versuchte sich zu erinnern, ob er diese Sprache jemals zuvor im Leben gehört hatte, und mußte verneinen. Jetzt kam ein Segment rationalen Denkens ins Bewußtsein zurück. Er fragte sich, warum er wohl in einer ihm unbekannten Sprache halluzinierte. Das Problem interessierte ihn, er war aber zu schwach, um weiter darüber nachdenken zu können. Wenn sich die Stimmen in einer fremden Sprache unterhalten wollten, so konnte er nichts tun, um sie davon abzuhalten. Wenn seine Ohren unbedingt Geräusche erfinden wollten, die sein Nervensystem in eine fremde Sprache verzerrte, war er dagegen machtlos. Sowohl Ohren als auch Nervensystem schienen einen eigenen Verstand zu besitzen. Er ließ diesem Verstand seinen Willen. Ganz langsam, so, daß er es nicht
merkte, wann es eigentlich begann, fing er zu sehen an. Sehr merkwürdig. Er hielt die Augen geschlossen. Er wußte, daß sie geschlossen waren. Aber – geschlossen oder nicht – er sah etwas. Dann erkannte er, was es war. Es war ein Kabel, das viele Kilometer lang zu sein schien. Am unteren Ende hing ein großer Ball. Er bewegte sich so langsam, daß man nicht sicher war, ob er sich überhaupt bewegte. Bei näherer Beobachtung merkte er, daß Kabel und Kugel Bestandteile eines Riesenpendels darstellten. Dieses Pendel schien sich im leeren Raum zu bewegen. Wo, das wußte er nicht. Auf der Erde war es jedenfalls nicht. Es war irgendwo draußen am Himmel, irgendwo draußen jenseits der Erde, aber nicht so weit entfernt wie der Mond. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoß, merkte er, daß er sowohl Erde als auch Mond sehen konnte. Die Erde war eine gigantische dunkle Masse, die den größten Teil des Himmels verdunkelte. Die Sonne war nicht zu sehen. Er nahm an, daß sie hinter dem Planeten stand. Das Pendel schien wie eine riesige Standuhr im leeren Raum die Zeit zu schlagen. Die alte oder die neue Zeit? Vergangenheit oder Zukunft? Schwach und undeutlich erfaßte ihn ein Gefühl des Entsetzens. Dieses Gefühl schien von der dunklen Erdenmasse, die so tief unter ihm lag, herzurühren. Eine ganz besondere Strahlung schien sich im All auszubreiten. Sogar auf diese Entfernung konnte er die Ausstrahlung spüren. Ihm war, als würde die Erde ächzen, während sie sich drehte. Der ganze Planet schien Folterqualen auszustehen. Phantastische Ideen jagten Gillian durch den Kopf. Der ganze Planet kam ihm wie ein riesiges Geschwür vor. Während es bei jeder Berührung Folterqualen litt, wurde das Geschwür, das der Planet darstellte, aufgeschnitten. Die Erde drehte und wand sich vor Schmerzen, die ihr diese Himmelschirurgie verursachte. In seiner Alptraumwelt glaubte Gillian, das
Pendel wäre ein Messer, das sich in die Beule, die ein Planet war, bohrte. Den Mittelpunkt des Pendels konnte er nicht sehen. Gillian selbst schien an diesem Punkt zu stehen und hinunterzusehen. Um ihn war Stimmengezischel. Sie unterhielten sich in der unbekannten Sprache. Er hörte nicht auf das, was sie sagten. Vielmehr stellte er das Pendel ein und nahm kleine Korrekturen an der Schwingungsbahn vor, damit sich das Pendel schneller und exakter in die Beule des Planeten senken konnte. Oder war das Pendel gar die Ursache des Geschwürs? Dieser Gedanke versetzte Gillian in Erregung. Fast wäre er erwacht. An seine überanstrengten, hungrigen Ohren drangen jetzt echte Geräusche mit der Wucht eines unvermuteten, schmerzhaften Hiebes ein. Eine Stimme brüllte ihn an. »Aufwachen! Aufwachen!« Um den Schrecken des Geräusches zu mildern, hielt er sich die Ohren zu. Laut befahl eine Frau der ersten Stimme, doch endlich still zu sein. Es folgte Schweigen. Dann bat ihn die Frauenstimme ebenfalls, aufzustehen. Sie tat es aber viel sanfter. Er hielt sich die Ohren noch fester zu. Auch eine leise Stimme jagte einen schmerzhaften Schock durch sein Nervensystem, welches Geräusche allzu lange entbehrt hatte. Gillian wollte nicht aufwachen. Er wollte bleiben wo er war und das Pendel beobachten, wie es am Nachthimmel die Universalzeit anzeigte. Sanfte Hände zerrten an seinen Händen und versuchten, sie von den Ohren zu lösen. Er ließ es nicht zu. Andere Stimmen kamen. So laut, daß er sie durch die schützenden Hände hindurchhörte. Merkwürdig, sie klangen wie das Feuer einer automatischen Waffe. Dann kam ein Knall wie die Explosion einer Handgranate und versetzte Gillians Ohren und Nervensystem in einen derartigen Schock, daß er
zusammenzuckte. Dieser Schock brachte ihn jedoch dazu, die Augen zu öffnen. Unmittelbar über ihm war das Gesicht von Sis. Sie war es, die auf ihn eingeredet hatte. Sie bemühte sich, seine Hände wegzuzerren. Über sie gebeugt stand ein Mann in scheckig-grüner Kluft, auf dem Kopf einen Helm, in der Hand ein Gewehr. Auf dem Helm drei Streifen. Matt überlegte Gillian, daß der Mann wohl ein Sergeant sein müßte. Der Sergeant machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist denn mit ihm los, Miss? An seinem Körper ist keine Verletzung festzustellen. Ich habe nachgesehen.« »Er ist total erschöpft und befindet sich noch in einem Schockzustand«, versuchte Sis zu erklären. Die Zellentür stand offen. Zwei Männer, ebenfalls uniformiert und behelmt, traten ein. In ihrer Mitte schleppten sie einen Mann. Sis sprang auf und fiel diesem Mann in die Arme. Auch er versuchte sie zu umarmen. Sie schien in seinen Armen zusammenzubrechen. Undeutlich erkannte Gillian in diesem Mann Eck wieder. Er hatte jetzt einen dichten Schnurrbart. Er versuchte ein Grinsen, doch blieb es bei einem nicht sehr erfolgreichen Versuch. Aus der Ferne hörte man Maschinengewehrfeuer. Gillian hielt sich wieder die Ohren zu und versuchte sich aufzusetzen. Der Versuch war nicht erfolgreicher als Ecks Bemühen um ein Lächeln. Sis glitt aus den Armen Ecks und setzte sich unvermittelt neben Gillian auf den Boden. Sie lachte und weinte gleichzeitig und winkte den drei Uniformierten zu. »George, es ist Marineinfanterie!« »Marine?« George tat seine eigene Stimme weh. »Wie kommen die denn her?« »Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal«, sagte Sis. Ein Mann im Kampfanzug, auf dem Helm einen Adler, betrat die Zelle.
Er sah den Sergeanten an, der strammstand. Dann wanderte sein Blick zu Sis, Eck und Gillian. »Zwei Männer und eine Frau sollen angeblich hier sein. Sind das die drei?« »Ich glaube ja, Colonel. Zumindest haben wir sie hier gefunden.« »Sind sie in Ordnung?« »Ich denke schon, Sir.« »Dann soll die Sanitätsabteilung schleunigst mit einer Tragbahre herkommen. Sobald der Arzt den Transport erlaubt, verfrachten Sie die drei in einen Helikopter und bringen sie ins Krankenhaus.« »Ja, Sir.« Der Sergeant ging hinaus, und man hörte ihn nach dem Sanitätskommando rufen. Der Colonel beugte sich über Sis. »Sind Sie soweit in Ordnung?« »Nein, Sir«, gab sie zur Antwort. Dieselbe Frage stellte er Gillian und Eck. Von beiden erhielt er die klare Antwort, daß es ihnen gut gehe. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er ihnen keinen Glauben schenkte. Er ging in der Zelle umher, trat gegen die Wände, stieß Schreie aus und hörte, wie seine eigene Stimme verschluckt wurde, und das, obwohl die Tür offenstand. »Wer hat das gemacht? Wer hat Sie hierhergeschafft? Wie lange waren Sie da drin?« Er schüttelte den Kopf, als Gillian zum Reden ansetzte. »Nein, machen Sie sich nicht die Mühe, mir zu antworten. Wenn wir den Mann erwischen, der das hier angelegt hat, dann werde ich persönlich dafür sorgen, daß er sich wünscht, er wäre nie geboren worden!« Das Gesicht des Colonel wirkte hart und entschlossen, als er das sagte. Ein Mann mit dem roten Kreuz auf dem Helm trat ein. Zuerst beugte er sich über Sis. Männer mit Tragbahren folgten ihm. »Hier wimmelt es von gefährlichen Menschen«, sagte Gillian. »Es wimmelt von gefährlichen Ratten, meinen Sie
wohl«, antwortete der Colonel, während man von draußen Maschinengewehrfeuer hörte. »Meine Leute sind hinter ihnen her und treiben sie in die Enge. Wir möchten den Rattenvater fangen.« »Sie meinen wohl Abrussi«, sagte Eck. »Ich möchte Sie warnen – « »Wir wissen über seine Waffe Bescheid.« Der Colonel konnte seinen Ingrimm nicht verhehlen. »Wir möchten diese Waffe in die Hände bekommen. Ich habe Befehl, die Anlage, wenn nötig, bis auf die Fundamente zu zerlegen, um die Waffe zu finden.« »Hoffentlich haben Sie Erfolg«, meinte Gillian. »Dem Transport steht nichts im Wege«, meldete der Mann mit dem roten Kreuz auf dem Helm. »Bettet sie auf die Bahren und schafft sie hinaus«, befahl der Colonel. Sis legte gegen das Getragenwerden keinen Protest ein. Gillian und Eck jedoch, die sich wieder tadellos auf den Beinen fühlten, winkten ab. Sie könnten zu Fuß gehen. Jeder versuchte einen Schritt – und brach zusammen. »Das reicht«, sagte der Mann mit dem Kreuz am Helm. »Haltet jetzt bloß still!« Gillian spürte kaum, wie sich die Nadel in seinen Arm bohrte. Er sah, daß man Sis und Eck derselben Behandlung unterzog. Alle drei wurden auf Tragbahren hinausgetragen. Vor der Tür auf dem Gang lag ein Mann auf dem Rücken, der eine schmutzige Schürze anhatte. Dr. Muzzys Augen waren starr nach oben gerichtet. Er sah nichts mehr. In der Mitte der Stirn war ein Loch. »Er hat Widerstand geleistet«, sagte der Sergeant. Dr. Muzzys Gesichtsausdruck verriet, daß dies das Beste war, was ihm seit langem zugestoßen war.
Als sie ins Freie kamen, begann der Colonel plötzlich lästerlich zu fluchen. Gillian sah, daß soeben ein Helikopter abheben wollte. Ein Marineinfanterist rief dem Colonel etwas zu. Dieser faßte nach der Waffe des Sergeanten. Jetzt war der Helikopter bereits in der Luft. Der Colonel schoß hinter ihm das Magazin leer. Der Helikopter schwirrte unbeirrt weiter. Da entriß der Colonel einem Mann in Kampfausrüstung das Maschinengewehr, lief an den Rand des Steilabfalles, kniete dort nieder und fing zu feuern an. Einmal sackte der Helikopter wie nach einem Treffer ab und verlor an Höhe. Er war jedoch schon seitlich von der Bergspitze, konnte seinen Kurs korrigieren und einen Aufprall verhindern. Er flog weiter. Der Colonel sah ihm nach und gebärdete sich, als wollte er ihm die Waffe nachwerfen. Dann stand er auf. »Da drin sitzt Abrussi! Er ist uns entwischt«, sagte er. Auf dem Weg zum Landeplatz sahen sie an der Reihe von Toten in Kampfanzügen, welchen Weg Abrussi genommen hatte. Er wußte, daß man bei Untersuchung der Toten keine Verwundungen würde entdecken können. »Das sind Luftlandetruppen, George«, hörte Gillian Eck undeutlich sagen. »Wer hat sie hierher abkommandiert?« fragte Gillian benommen. Die Injektion begann zu wirken. Er sah, daß Sis auf ihrer Tragbahre bereits eingeschlafen war. Und dann war auch Gillian, ohne es zu merken, eingeschlafen. Es war kein natürlicher Schlaf, gaukelte ihm jedoch wenigsten keine Alpträume von kilometerlangen Pendeln vor. Als er erwachte, befand er sich in einem Krankenhaus. Er erkannte es am Geruch. Ein Anstaltsarzt mit gewollt ruhiger Miene stand über ihn gebeugt. Am Fußende des Bettes stand ein strammer junger Mann mit Armeehaarschnitt. Er stand so, daß man das Schulterhalfter unter seiner Jacke sah. Gillian hustete, dann würgte er, dann schien sich das ganze Bett umzudrehen. Er
versuchte den Arzt zu bitten, er solle doch das Bett festhalten. Wieder mußte er husten – jetzt richtete sich das Bett wieder auf. »Wo ist Sis?« Bloße Füße tappten über den Plastikboden. Sis schlängelte sich zwischen den weißen Paravents hindurch. Der junge Mann mit dem Armeehaarschnitt sah erschrocken drein. Ihr Anblick brachte sogar den Arzt etwas aus der einstudierten Fassung. Sis trug außer einem superkurzen Hemd nichts am Leibe. Sie stützte sich auf die Bettkante und sah auf Gillian nieder. »George, geht es Ihnen gut? Sie und Eck – ihr wart einfach wunderbar! Ihr habt euch unter der Folter fabelhaft gehalten.« Sie sah ihn mit glühender Bewunderung an. Er wollte dasselbe tun, als das Gesicht einer verärgerten Schwester zwischen den Abschirmungen auftauchte. Sie faßte mit festem Griff nach dem kurzen Hemd, und Sis mußte mitgehen. Der Arzt räusperte sich und versuchte, seine aus den Fugen geratene Fassung wiederzugewinnen. »Ich bin Dr. Adams. Sie scheinen sich ja schon tadellos zu fühlen?« »Danke«, sagte Gillian. »Wer ist das?« Er zeigte in Richtung des Bettendes. Der Kurzhaarige langte in die Tasche und zog ein kleines graviertes Kärtchen mit den Buchstaben GRI heraus. »Mr. Strong möchte Sie sprechen, sobald es Ihnen möglich ist.« »Es ist möglich«, sagte Gillian. »Und ich würde es tun, wenn es auch nicht möglich wäre.« Als der Arzt zustimmend nickte, wand sich der junge Mann zwischen den Paravents durch. Nach einigen Minuten kam er mit einem kleinen, kahlen Mann, der wie ein Gnom aussah, wieder. Doch es war ein sehr gutmütiger Gnom, der in der Welt eine echte Macht darstellte – eine finanzielle und politische Macht.
»Ich nehme an, die Marineinfanterie haben wir Ihnen zu verdanken«, sagte Gillian. Hugo Strong zeigte Anzeichen von Verlegenheit. Er besaß tatsächlich Macht, war aber immer peinlich berührt, wenn jemand diese Tatsache erwähnte. »Na ja – ich habe den Vorschlag gemacht – « »Ich weiß schon«, nickte Gillian. »Sie haben bloß einen Vorschlag gemacht. Und wie weit oben mußten Sie intervenieren, bis Sie die Truppen in Bewegung gesetzt haben?« »Zu weit oben«, kam die prompte Antwort von Hugo Strong. »Der Mann, mit dem ich mich in Verbindung setzte, hat ausdrücklich Befehl gegeben, daß ich bei dem Unternehmen nicht mitmachen darf. Verdammter Kerl! Er wollte mich nicht einmal vorübergehend wieder aktivieren lassen.« Einen Augenblick lang verdüsterte sich Strongs Miene darüber, was man ihm angetan hatte. Dann konzentrierte sich sein Unwille auf Gillian. »Sie sind ein junger Mensch und noch sehr draufgängerisch! Solche Dinge muß man mit Fingerspitzengefühl und Finesse angehen. Trotzdem möchte ich Sie nicht anders haben«, fügte er hinzu. »Woher wußten Sie denn, wo wir waren?« fragte Gillian geradeheraus. Hugo Strong warf dem jungen Burschen einen Blick zu. Der trollte sich auch sofort. Strong sah dann den Arzt an, der den diskreten Wink ebenfalls verstand. »Wir hatten schon seit einiger Zeit einen Mann eingeschleust«, sagte Strong endlich. »Wen denn? Konnte er entkommen? Dort haben doch alle diese verdammten Armbänder getragen.« »Ja, er konnte entkommen.« Der Gnom lächelte. »Er ist sogar hier!« »Bringen Sie ihn herein, damit ich mich bei ihm bedanken kann«, bat Gillian.
Zwischen den Wandschirmen tauchte Washington Moses auf. Das dunkle Gesicht lächelte. »Diese stillen Zellen sind nicht gut. Geht es Ihnen schon besser?« »Ja«, sagte Gillian. »Und vielen Dank auch!« Moses lächelte. »Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit wir die Zukunft besser gestalten. Sie brauchen mir nicht zu danken. Ich bin froh, daß ich meinen Teil geleistet habe.« »Und Ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben«, ergänzte Gillian. »Haben Sie denn weniger gewagt?« antwortete Washington Moses mit einer Gegenfrage. Gillian war jetzt in Verlegenheit gebracht und sagte nichts mehr. Hugo Strong nickte beifällig. »So muß man mit diesem hitzigen jungen Mann reden, Washington. Dann wird er gleich still.« »Ja, Sir.« Washington Moses drehte sich um und verschwand wieder hinter den Wandschirmen. Sie hörten, wie Sis nach Washington rief und erkannten daran, daß sie zugehört hatte. Undeutlich hörte man ihr Dankesgemurmel. Auch Eck rief nach Washington und sie hörten, wie er sich bedankte. »Abrussi führte jetzt die Liste der am dringendsten gesuchten Männer an. Jedenfalls ist es ihm nicht geglückt, samt den Zeichnungen der jungen Dame zu entkommen. Wir haben sie«, sagte Strong. »Gut«, meinte Gillian. »Sobald Sie sich wieder kräftig fühlen, schaffen Sie diese Skizzen in Ihr Labor, würde ich vorschlagen. Wir werden für entsprechende Bewachung sorgen. Wir müssen über diese Waffe alles in Erfahrung bringen. Wir müssen ihre Herkunft feststellen, und wir müssen die Prinzipien, nach denen sie funktioniert, kennenlernen«, sagte Strong im Flüsterton. »Im Mad Mountain – « fing Gillian an. »Wir haben Ihren Bericht darüber aufgezeichnet. Man geht der Sache nach.«
»Hoffentlich sehr vorsichtig! Samuel Ronson ist im Mad Mountain! Ob als Gefangener oder nicht, weiß ich nicht.« »Wir geben uns sehr große Mühe, die Situation dort nicht zu stören. Also wenn die junge Dame und ihr Bruder bereit sind, Sie in ihr Labor zu begleiten und Ihnen zu helfen – « Er sah auf und zwinkerte, als Sis zwischen den Wandschirmen auftauchte. »Die junge Dame ist gewillt, alles zu tun, was nur möglich ist«, sagte sie. »Ich glaube, ich kann auch für Eck sprechen.« Jetzt kroch Eck selbst zwischen den Schirmen durch. »Ich möchte für mich selbst sprechen. Ich komme mit – auch wenn ich bloß als Laufbursche eingesetzt werde.« »Gut«, meinte Hugo Strong. »Und falls Sie einen Freiwilligen in Betracht ziehen – « fuhr Eck fort. Strong schien dieser Vorschlag in Unruhe zu versetzen. »Freiwillige können wir nicht so ohne weiteres annehmen. Wir müssen bei allen den Hintergrund sorgfältig durchleuchten.« Zwischen den weißen Schirmen tauchte wieder ein schwarzes Gesicht auf. Strong zwinkerte. »Meinen Sie mit Freiwilligen jemanden wie Washington Moses?« »Natürlich«, antwortete Eck. »Dann ist alles in Butter«, strahlte Strong. Jetzt erst schien ihm die Kürze der Hemden von Sis und Eck aufzufallen. Er blinzelte, als er zu beiden hinsah. »Schon gut«, sagte Sis hastig. »Eck ist mein Bruder. Wir sind aneinander gewöhnt. Ich muß ohnehin ins Bett zurück, bevor mich die Schwester – « Die Schwester hatte inzwischen tatsächlich entdeckt, daß ihre Patientin weg war und hatte sich auf die Suche gemacht. »Ich komme schon«, sagte Sis im Gehen. »Eine sehr bemerkenswerte junge Dame«, meinte Hugo Strong.
»Das können Sie ruhig nochmal sagen«, meinte Gillian. »Also – sollen wir morgen früh in meinem Labor anfangen?« »Das wäre ausgezeichnet«, sagte Strong. »Es werden Ihnen die besten Leute, die ich in der Eile auftreiben konnte, an die Hand gehen. Sind Sie übrigens ganz sicher, daß Sie schon so bald anfangen können? Sie haben schließlich ein sehr qualvolles Erlebnis hinter sich.« »Doch, ich kann«, sagte Gillian. »Ich auch«, schloß sich Eck an. »Und ich auch«, ertönte Sis’ Stimme von irgendwo jenseits der Abschirmungen. Hugo Strong lächelte und wandte sich zum Gehen. Der junge Mann mit dem Armeehaarschnitt kam wieder und nahm seinen Platz am Fußende des Bettes ein. Seine Miene gab zu verstehen, daß er Befehl hatte, hier zu bleiben, solange es sich als nötig erwies. »Gute Nacht, Sis«, rief Gillian laut. »Gute Nacht, George und Eck«, gab sie zurück. Es klang schon sehr müde.
7
Beim Anblick des Metallungeheuers auf dem Boden seines Labors bemühte sich Gillian so zu tun, als hätte ihm seine Schöpfung nicht den geringsten Schreck eingejagt. Sie nannten das Ding Z-Generator. Bei einer Höhe von fast zwei Meter betrug der Basisumfang fast acht Meter. Das Gewicht hatte man nicht überprüft. Es lag wohl bei zwei Tonnen. Dieses Ungeheuer stellte den ersten praktischen Versuch dar, Sis Randolphs Zeichnungen in Metall und Kraft zu übersetzen. Mehr als einen Monat hatten die besten Köpfe wie Sklaven an dieser Konstruktion geschuftet. Jetzt, am Spätnachmittag, hatten sie sich um das Ding versammelt. Sie begutachteten ihr Werk, ein wenig eingeschüchtert von dem Potential, das es darstellte, auch ein wenig besorgt, wie wohl das Ergebnis des ersten Testes ausfallen würde – und ziemlich verstimmt wegen seiner Größe. Leise lachend stand Sis hinter Gillian. Sie faßte die Gedanken, die alle beherrschten, in Worte. »Na ja, George, es ist wirklich etwas mehr geworden als bloß eine Handvoll.« »Verdammt, das wissen wir ohnehin«, sagte Gillian ärgerlich. »Wir haben unser Bestes getan bei unserem ersten Versuch, Ideen der Supertechnik in ein Modell zu übersetzen, das irdische Technik zu produzieren vermag. Außerdem waren es ja Ihre Zeichnungen, die wir zum Ausgangspunkt genommen haben. Obwohl Sie besten Willens waren, haben Sie uns bei der Auswertung der Pläne nicht mit neuen Ideen weiterhelfen können.« »Ich konnte doch nichts dafür«, sagte sie zerknirscht. »Ich kann eine Steigerung meines Wahrnehmungsvermögens nicht
einfach an- und abstellen, wie ich es möchte. Ich muß akzeptieren, was kommt. In diesem Fall ist nichts gekommen.« Sis und Eck bewohnten jetzt jene Räume über dem Labor, die Gillian früher für sich allein gehabt hatte. Auf dem Dach befand sich ein privates Solarium, nach oben hin offen, in dem man herrliche Sonnenbäder nehmen konnte. Sis hatte diese Gelegenheit genützt, doch weder Eck noch Gillian hatten für solche Vergnügungen Zeit. Draußen waren Beamte vom Geheimdienst postiert. Washington Moses leitete die Überwachung. Wie seine Zeit es ihm erlaubte, kam und ging Hugo Strong. Wäre es nach Strong gegangen, so hätte er seine gesamte Zeit hier verbracht, doch hatte er noch andere Verpflichtungen. Darunter fiel der Einsatz aller erreichbaren Dienststellen für die Suche nach Ape Abrussi. Abrussi war verschwunden. Vielleicht hatte eine der Kugeln des Colonel ihr Ziel getroffen und der Affe war tot, doch wollte sich Hugo Strong damit nicht zufriedengeben, ehe man Abrussis Leiche nicht gefunden und mit Sicherheit identifiziert hatte. Als Kopf einer geheimen weltweiten Rauschgiftorganisation boten sich Abrussi sehr viele Verstecke. Der Mad Mountain wurde täglich volle vierundzwanzig Stunden überwacht. Es war klar, daß dieser Berg und die ziegenäugigen Wesen Hugo Strong Grund zu tiefer Besorgnis gaben. Hohen Kreisen aus Armee und Politik bereiteten sie noch größere Sorgen. Bis jetzt war über die ziegenäugigen Wesen nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Man würde es wohl dabei belassen. In einer empfindsamen Welt konnten die Behörden nichts zulassen, was der Öffentlichkeit zusätzlich Grund zur Beunruhigung geben konnte. Während Gillian das Monstrum in seinem Labor betrachtete, fragte er sich, wie wohl die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn sie wüßte, daß dieses Ding existierte. Jetzt war das erste
Modell fertiggestellt, testbereit – und furchterregend. In der Vergangenheit hatten Wissenschaftler ihre Nase in viele höchst merkwürdige Dinge gesteckt, und das Resultat war manchmal verheerend gewesen. »Meine Herren, sind wir bereit?« fragte Gillian. Rings um das Monstrum, besonders am Instrumentenbrett, das Energieverbrauch – und Erzeugung messen sollte, wurden die Männer plötzlich lebendig. Gillian betätigte einen Schalter. Damit war das Ungeheuer an Strom angeschlossen. Im Inneren des Riesenapparates ertönte ein Beben. Die im Labor brennenden Lichter wurden schwächer. Eine ungeheuere Menge Strom wurde jetzt verbraucht. Eine Messung ergab, daß den Generator nur eine Energiemenge, die weniger als einem einzigen Watt entsprach, verlassen hatte. Als Gillian eine durchgebrannte Isolierung roch, sperrte er hastig die Stromzufuhr. Er sah die Männer im Labor an. Es bedurfte gar nicht ihres Kopfschüttelns, um ihm klarzumachen, wie das Ergebnis ausgefallen war. Der Z-Generator hatte so viel Strom verbraucht, daß man damit eine Kleinstadt hätte beleuchten können. Und hatte nicht einmal soviel Energie reproduziert, um eine kleine Glühbirne zu speisen. Die Nadel des Meßgerätes hatte kaum einen Ausschlag gezeigt. »Da hat sich allerhand abgespielt«, flüsterte Sis hinter Gillian. »Es ist hier eine besondere Art von Energie erzeugt worden, die sich so rasch verflüchtigen konnte, daß sie von den Meßgeräten gar nicht erfaßt und verzeichnet werden konnte!« Gillian fühlte, daß sich ein Wunder in ihren Worten offenbarte. Theoretisch galt die Lichtgeschwindigkeit als Grenzwert der Geschwindigkeit. Ihre Worte deuteten jedoch die Möglichkeit an, daß Strahlen existierten, mit denen verglichen die
Lichtgeschwindigkeit ein langsames Kriechen war. Gillian hätte gern gewußt, ob sich auf dem Mars etwas ereignet hatte, als er den Z-Generator in Betrieb gesetzt hatte. Hatte es gar auf dem Mond eine Erschütterung gegeben, hatte die Venus einen Hauch jener Energie gespürt, die in diesem Labor ihren Ursprung hatte? »Aus diesem Generator ist etwas entströmt, das durch das gesamte Weltall gerast ist.« Sie suchte nach einem passenden Wort, um jenen kleinsten Sekundenbruchteil auszudrücken, in dem es geschehen war. »Es war schon eher dort, bevor es von hier ausging«, schloß sie. Die Männer hörten ihr gespannt zu. Sie respektierten sie. Hatten doch ihre Zeichnungen die Konstruktion des Generators ermöglicht. Sie umdrängten sie und bestürmten sie mit Fragen. Sis versuchte, die Fragen zu beantworten, ihre Stimme zeigte Unsicherheit. »Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was ich gefühlt habe, als der Generator lief. Und Instrumente, die es beweisen werden, was ich mit Worten nicht ausdrücken kann, hat man bis jetzt noch nicht erfunden. Sie werden erst erfunden werden, wenn – « Ihre Augen suchten Gillians Gesicht. »– wenn einige der heute geborenen Wissenschaftler genügend lange und genügend hart gearbeitet haben werden – und vor allem in der richtigen Richtung.« »Wir werden alle möglichen Testkontrollen machen«, sagte Gillian. »Sie haben alle sehr hart gearbeitet, meine Herren. Deswegen schlage ich vor, Sie nehmen sich den Abend frei.« Die im Labor Versammelten sahen ihn bei diesen Worten dankbar an. Als sie weg waren, kam Washington Moses herein. Er sah das Monstrum zweifelnd an. »Eck hat im Restaurant um die Ecke etwas zum Essen geholt. Sicher reicht es für vier Personen«, sagte Gillian. »Kommen Sie doch mit hinauf und leisten Sie uns Gesellschaft beim Essen.«
Washington Moses nahm die Einladung dankend an. Oben im Speisezimmer erwartete sie bereits Eck. »Was ist passiert?« fragte er. »Fast nichts – wenn man nach dem Meßapparat urteilt«, berichtete Gillian. »Sis meint allerdings, man hätte unseren Generator oben auf dem Mars zu spüren bekommen.« »Dann erwarte ich als nächsten Besucher einen Marsbewohner«, sagte Eck. Nach dem Essen gingen sie hinauf ins Solarium. Sie waren müde und suchten Entspannung. Gillian, dem das Versagen des Generators nicht aus dem Kopf gehen wollte, hing jedoch immer noch seinen Gedanken nach und kam gar nicht zu einer Entspannung. Die Sonne war schon verschwunden. In der Ferne funkelten die Lichter der Riesenstadt. Gemächlich schwirrten Helikopter am Himmel. »Haben Sie schon etwas über Abrussi erfahren?« fragte Gillian Washington Moses. »Nirgends auch nur eine Spur von ihm«, antwortete der dunkelhäutige Mann. »Das klingt, als ob Sie sich deswegen Sorgen machten.« »Das stimmt. Der Affe hat noch lange nicht aufgegeben. Er hält sich bloß verborgen und wird wieder auftauchen. Wenn schon aus keinem anderen Grund, dann deswegen, um sich mehr von diesen kleinen Glaswaffen zu verschaffen. Er braucht noch eine, damit er sie für seinen persönlichen Gebrauch behalten kann.« Das hatte sehr verbittert geklungen. »Er glaubt, daß die Waffe, die er jetzt hat, voll geladen war als er sie erwischte – wie eine Pistole mit vollem Magazin. Und jetzt weiß er nicht, wie oft er daraus noch schießen kann.« »Woher hat er sie?« fragte Eck. »Sicher weiß ich es nicht. Ich habe es nur gerüchtweise gehört. Angeblich ist ein fremdes Raumschiff in der Wüste zerschellt und explodiert. Abrussi hat die Glaswaffe bei dem
toten Piloten gefunden. Er gleicht einem Wilden, der ein geladenes Gewehr in den Trümmern eines im Dschungel zerschellten Flugzeuges findet. Er weiß, daß man diese neue Waffe dazu benutzen kann, um Menschen zu töten. Mehr weiß er nicht, nur daß er mehr davon möchte.« »Und ich weiß, daß wir nicht viel mehr wissen«, meinte Gillian trocken. »Es bedarf noch vieler Verbesserungen, bis unser Z-Generator zu einer Größe zusammenschmilzt, um in einer Pistole Platz zu finden, die wiederum in einer Hand Platz hat.« Ungeduld und Ärger erfüllten ihn. War denn die Wissenschaft auf dieser Erde so weit zurück, daß sie nicht einmal begreifen konnte, auf Grund welcher fundamentaler Prinzipien die Glaswaffe funktionierte?
Das Schiff kam von oben. Das Solarium hatte kein Dach, also konnte es direkt innerhalb der Brüstung landen. Bis auf ein leises Zischen – so, als würde in ziemlicher Entfernung eine Luftbremse betätigt – war es völlig lautlos. So wie die Schiffe, die aus dem in den Mad Mountain führenden Tunnel gegen den Himmel gebraust waren, blieb es wenige Zentimeter über dem Boden schwebend stehen. Ein Pilot mit Ziegenaugen sah zu ihnen heraus. Er trug nicht den Anzug aus schimmerndem Metall, den die Piloten der anderen Schiffe getragen hatten, sondern einen gewöhnlichen Tagesanzug. Fest auf den Kopf gestülpt saß ein Filzhut. Als sie aufsprangen, öffnete er die Tür des Schiffes und stieg aus. In der Hand hielt er eine Glaswaffe. Gillian erkannte den Piloten – und zwar an dem Hut. Er hatte ihn erst unlängst gesehen. Damals hatte der Kerl ihn gefragt, ob er einen Mann namens Joe getötet hätte, und war dann in
einer Gasse verschwunden, in der sich vermutlich Ape Abrussi versteckt gehalten hatte. Dieser Pilot war der dunkle Schatten in jener Nacht gewesen, als Eck, Sis und Gillian einander zum erstenmal begegnet waren. Die kleine Glaswaffe war auf Washington Moses gerichtet. »Wirf die Waffe auf den Boden«, sagte der Pilot. Widerstrebend nahm der dunkle Mann die Waffe, die er eben hatte ziehen wollen, aus dem Halfter. Vorsichtig warf er sie auf den Boden. Sein Gesicht blieb maskenhaft unbewegt. Der Pilot bückte sich und hob die Waffe auf. Er begutachtete sie und rümpfte die Nase über ihre Primitivität. Dann steckte er sie in die Tasche. Aufmerksam sah er die vier Menschen an. Sie schienen ihm keinen besseren Eindruck zu machen als die Waffe, die er eben Moses abgenommen hatte. »Wo ist es?« fragte er. Es klang wie das leise Zischen einer wütenden Schlange, die zum Angriff übergeht. »Wo ist was?« fragte Gillian. »Ter antere – ter antere Jednar.« Sein Zeigefinger deutete auf die Waffe, die er in der Hand hielt. »Sie… ihn… haben. Sie… ihn eben… benutzt. Ich gesehen auf… was Sie Radar nennen. Ich vill es. Ich vill es sofort!« Sein Akzent war fürchterlich, doch die Bedeutung des Gesagten völlig klar. Viel zu klar. Er glaubte, sie hätten eine der kleinen Glaswaffen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Wir haben keinen – was Sie Jednar nennen. Wir – « Gillian hielt sich noch rechtzeitig zurück, um nicht zu verraten, daß sie versuchten, einen nachzubauen. »Aber Sie… ihn benutzt«, sagte der Pilot mit Bestimmtheit. »Ich ihn orten können!« »Sie können ihn nicht orten, wenn wir keine solche Waffe haben!« widersprach Gillian. Die Glaswaffe wurde auf ihn gerichtet. »Ich verde Sie töten«, drohte der Pilot. »Entveder ich kriegen den Jednar, oder ich Sie alle töten. Dann ich ihn selbst finden.« Er schien bei dieser
Drohung eiskalt zu bleiben. Sein Verhalten deutete an, daß er die Tötung von vier Menschen nicht höher wertete als das Zerquetschen von vier Fliegen. »Aber wir haben doch keinen Jednar«, brach es aus Sis heraus. Diese Worte brachten ihr die nachdenkliche Aufmerksamkeit der Ziegenaugen unter der Hutkrempe ein. »Sie müssen eine Frau sein, ein Weibchen. Ab und zu ich welche gesehen, wenn ich unter euch gelebt habe.« Sein Ton deutete an, daß er die Frauen, die er zu Gesicht bekommen hatte, sehr gering schätzte und sie geringer achtete als Moskitos. »Und doch – Sie haben einen Jednar!« »Nein, wir haben keinen«, sagte Sis. »Wir versuchen nur, einen nachzubauen.« »Ach!« Sein Ausruf drückte Verstehen, nicht aber Billigung aus. »Sie vollen einen bauen? Bevor ihr vißt, wie gefährlich eine solche Waffe in falschen Händen sein kann, vollt ihr eine bauen?« »Das ist ja unser Problem«, antwortete Sis. »Ein Jednar ist tatsächlich in falsche Hände geraten. Wir müssen die Waffe nachbauen, um uns selbst zu schützen.« »Oh!« Zeigte sich in den Ziegenaugen gar ein Schimmer von Mitleid? »Also – ein anderer hat die Waffe?« »Ganz entschieden«, sagte Gillian. »Ein Mann namens Abrussi. Waren Sie damals, als ich Sie zum erstenmal sah, hinter ihm her?« »Ich suchte jemanden, der eben den Jednar benutzt hatte«, sagte der Pilot. »Seinen Namen habe ich nicht gekannt. Wo ist dieser Abrussi?« »Das möchten wir auch gern wissen«, sagte Sis. Der Pilot schien die Situation zu überdenken. Er war ein wenig konfus und wußte scheinbar nicht genau, was er tun sollte. »Das kommt später«, sagte er. »Momentan ich wissen, daß ich die Strahlen eines Jednar von dieser Stelle aus empfange.«
»Die stammen vom Z-Generator«, sagte Sis. »Ach!« Jetzt hatte der Pilot begriffen. »Dann zeigen Sie was Sie ZGenerator nennen.« Er machte eine Bewegung mit der kleinen Glaswaffe. »Sie gehen voraus und zeigen mir den Jednar – den Z-Generator. Denken Sie daran, ich Sie töten, wenn nötig!« Ohne sich weitere Gedanken über sein Schiff zu machen, stieg der Pilot aus. Die Wände des Solariums schützten es vor Entdeckung von der Straße her. Wahrscheinlich hatte auch kein Mensch die Landung beobachtet. Das Schiff war nämlich viel zu rasch gekommen, um in der Dunkelheit beobachtet zu werden. Im Labor studierte der Ziegenäugige den Z-Generator sehr sorgfältig. Ohne seinen Blick von den vier Menschen abzuwenden, ohne ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihn zu überrumpeln, schaffte er es, das Monstrum gründlich zu untersuchen. Als er fertig war, hatte er dafür nur eine Bemerkung übrig – ein abfälliges Knurren. »Das ist bloß das erste Modell«, sagte Gillian. »Bei den Tejanern würde ein Kind darüber lachen.« »Spätere Modelle werden schon viel besser ausfallen.« »Glaube kaum, daß es weitere Modelle geben wird«, sagte der Pilot. »Bitte – zurücktreten!« Er langte in eine Tasche und zog ein kleines Stäbchen heraus, das wie ein Kugelschreiber aussah. Nachdem er das Stäbchen sorgfältig eingestellt hatte, legte er es auf den Z-Generator. »Schnell auf die Treppe«, befahl er. Im Solarium befahl er ihnen, in das Schiff einzusteigen. Mit dem drohend auf sie gerichteten Jednar vor Augen, blieb ihnen keine andere Wahl, als zu gehorchen. Das kleine Schiff hob mit jenem leisen Zischen ab, mit dem es gelandet war. Es stieg fast senkrecht in die Höhe. Washington Moses lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Vorgänge auf der Erde. Er deutete erregt nach unten. Das Labor stand in Flammen.
Das kleine Metallstäbchen, das der Pilot auf dem Z-Generator hinterlassen hatte, hatte also seinen Zweck erfüllt. Auch dieser Lichtschimmer verlor sich in dem funkelnden Teppich aus Lichtern, den die Stadt bildete, und zwar innerhalb eines kurzen Augenblickes. So groß war die Geschwindigkeit, mit der sich das Schiff vorwärtsbewegte. Falls die Menschen da unten eine Schallwelle am Himmel hörten, so war ihnen das so vertraut, daß keiner weiter darauf achtete. Der Pilot sah sich nach seinen vier Gefangenen um. »Ich heiße Umbro«, sagte er. »Ihre Namen bitte.« Er war ganz ruhig und auch überaus höflich. Jetzt hielt er nicht einmal mehr den Jednar in der Hand, weil sich das Schiff in der Luft befand. Das Ding steckte wieder in einem Halfter unter der Jacke. Sie nannten ihre Namen. Umbro machte sich keine Notizen. Offenbar vertraute er auf sein Gedächtnis, das die Informationen speichern würde, falls sie überhaupt wichtig waren, gespeichert zu werden. Als Sis verlauten ließ, daß Entführung ein schweres Verbrechen sei, zuckte er bloß die Achseln. Millionen von Menschen tummelten sich tief unter ihnen auf dem Planeten. Was machten vier mehr oder weniger schon aus? »Dieser Abrussi«, sagte Umbro. »Wo kann ich ihn finden?« »Das wissen wir nicht«, antwortete Gillian. »Sie wollen damit sagen, der Mann ist ein Verbrecher und Sie können ihn nicht finden?« Umbro schien erstaunt. »Er hat einen Jednar – und Sie nehmen ihm das Ding nicht weg?« »Ihnen scheint es ja auch nicht geglückt zu sein«, sagte Sis mutig. »Ich nehme an, Sie haben auch nach ihm gesucht.« »Das habe ich«, antwortete Umbro. »Aber ich habe nicht gewußt, wen ich suchte.«
»Hilft es Ihnen weiter, wenn Sie jetzt seinen Namen kennen?« fragte Sis hartnäckig. Umbro beantwortete diese Frage wieder mit einem Achselzucken. »Früher oder später – er wird den Jednar wieder anwenden – dann ich ihn finden.« Er legte den Finger auf ein Instrument des kleinen Schiffes. »Das da zeigt an, wenn er die Waffe benutzt.« »Dann hat dieses Instrument auch angezeigt, daß wir den Generator laufen ließen?« fragte Gillian. »Aber ja!« antwortete Umbro. »Wie sonst wäre ich Ihnen auch auf die Spur gekommen?« »Ich wußte ja, ein Marsbewohner würde kommen«, sagte Eck. »Ein Marsbewohner?« fragte Umbro und schüttelte den Kopf. »Nicht doch – die Tejaner kommen nicht vom Mars.« »Woher kommen sie denn?« fragte Gillian. »Was machen sie hier auf der Erde? Was steckt hinter all dem?« Umbro schien zu überlegen. »Ich bin nur das, was Sie einen Polizisten – einen Detektiv – nennen«, antwortete er dann. »Man gibt mir einen Job, den erledige ich. Ich gehöre nicht dem Rat der Tejaner an. Solche Fragen beantworte ich nicht.« »Aber Sie müssen über diese Dinge Bescheid wissen«, widersprach Sis. Die gelben Augen sahen sie ruhig an. »Wissen Sie denn, was in den Köpfen Ihrer Führer vor sich geht, im Kopf dessen, den Sie Präsident nennen? Kennen Sie seine Geheimnisse? Wissen Sie, was er tut und warum er es tut?« »Nein«, mußte sie zugeben. »Bei mir ist es ähnlich«, sagte Umbro achselzuckend. »Ich weiß bloß, daß auf uns alle vielleicht etwas sehr Gefährliches zukommt. Deswegen haben sich die Tejaner Ihrem Planeten genähert. Mein Chef sagt mir, geh dorthin, geh dahin – suche den Jednar. Er sagt mir nicht, warum.« So etwas wie ein trübes Lächeln huschte über das unbewegte Gesicht. »Er sagt, wenn
ich den Job nicht tadellos erledige, wird er mir die Hörner abschneiden.« Er schob den Hut zurück, so daß man die Knoten sehen konnte. »Natürlich macht er nur das, was Sie einen Scherz nennen. Wenn ich den Jednar nicht bald finde, wird er mir nicht die Hörner, sondern den Kopf abschneiden.« Das Bild, das Umbro von sich entwarf, war das eines kleinen Rädchens in einer Riesenmaschine. Es war ein Bild, das seine vier Gefangenen verstehen konnten. Sie waren schließlich auch nur kleine Rädchen in einer großen Maschine, in einem riesigen Kulturkomplex. Doch was war der Zweck der großen Tejaner-Maschinerie? Entweder kannte Umbro den Zweck nicht zur Gänze, oder er wollte nicht sagen was er wußte. Immerhin war er der Pilot dieses Schiffes und mußte schließlich wissen, wie es funktionierte. Gillian begann, ihn über das Schiff auszufragen und mußte feststellen, daß Umbro auch darüber nur sehr wenig wußte. Er wußte nur, wie man es steuerte. Darin war er Fachmann. »Wissen Sie denn, wie das funktioniert, was Sie Auto nennen?« Er sah dabei Sis an. »Sie können starten, lenken und anhalten. Bei mir ist es ähnlich. Ich weiß, wie man das Raumschiff fliegt. Fliegt es einmal nicht, dann rufe ich jemanden herbei, der es repariert.« »Wo haben Sie Englisch gelernt?« fragte Eck. »Zum Teil aus Radionachrichten. Unsere Sprachexperten haben diese fremden Geräusche studiert und haben festgestellt, daß es sich um Sprache und Gespräche irgendwelcher Art handeln müsse. Sie haben dann die Sprache erlernt und lehren sie jenen Tejanern, die auf die Erde geschickt werden. Ich unterhalte mich oft mit Menschen auf eurem Planeten. Die immer glauben, ich bin Ausländer. Ich lasse sie nicht sehen die Hörner auf dem Kopf. So einfach ist das.« Sein Achselzucken vermittelte den Eindruck, daß es nicht schwer wäre, unter den Menschen zu leben und von ihnen als einer der ihren akzeptiert zu werden.
»Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu verschaffen, was Sie Geld und was Sie Liebe nennen, um zu bemerken, was rund um Sie herum vorgeht«, sagte Umbro. Wieder grinste er. »Ich könnte den ganzen Planeten klauen, die würden nicht mal merken, daß er weg ist!« Während des Sprechens schien er mit dem Schiff am Himmel einen blitzschnellen Kreis zu beschreiben. Sie hatten dabei nicht das Gefühl der Beschleunigung. Das bedeutete also, daß die Tejaner ein Problem bereits gelöst hatten, an dem die besten Köpfe der Erde noch rätselten. »Wohin bringen Sie uns?« fragte Eck. »Sie warten, dann sehen«, antwortete Umbro. Sis merkte als erste, wohin die Reise ging. »Wir fliegen auf das Loch im Mad Mountain zu.« Es war fast ein Aufschrei. »Er will es in der Dunkelheit ansteuern! Wenn er es verfehlt – « »Ruhig«, sagte Umbro. »Ich nicht verfehlen.« Obwohl wieder nichts von der Beschleunigung zu spüren war, wußte Gillian, daß das Schiff auf dem langen Abwärtsflug die Geschwindigkeit enorm steigerte. Auch Eck versuchte sich gegen den Anprall einer Bruchlandung zu wappnen. Von diesen Schiffen war mindestens eines abgestürzt. Aus diesem Absturz hatte sich ja Abrussi die kleine Glaswaffe verschafft, die seine dunklen Triebe als Quelle unendlicher Macht erkannt hatten. Gillian und Sis hielten den Atem an. Wumm! Jetzt war das Schiff in dem Loch, das ins Innere des Mad Mountain führte. Da die automatische Steuerung in Bruchteilen von Sekunden arbeitete, verlor das Schiff rasch an Geschwindigkeit und landete weich auf der Landerampe in der Höhle. Umbro schob den Hut aus der Stirn. Jetzt konnte man deutlich die zwei Knoten auf der Stirn sehen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste. »Sie sehen! Umbro
schafft es!« Als er ausstieg, war er sehr von sich eingenommen. Hinter dem nächsten Schiff kam ein Schatten hervor. Krach! Ohne zu wissen, was ihn getroffen hatte, ging Umbro zu Boden. Der Schatten war ein Mensch. Über Umbro gebeugt, riß der Mann unter der Jacke des Tejaners den Jednar heraus. Er hielt ihn in die Höhe und schrie laut und triumphierend: »Jetzt habe ich auch einen!« Andere kamen hinter dem Schiff hervor. Am Gelenk des Mannes, der den Jednar in die Höhe hielt, sah Gillian das Schimmern eines Metallarmbandes. Sie hatten Ape Abrussi also gefunden! Die Männer, die das Schiff jetzt umringten, waren Abrussis Leute. Sie waren mit Maschinenpistolen ausgerüstet. Jetzt entdeckten sie, daß das eben gelandete Schiff auch noch Passagiere gebracht hatte. »Aussteigen, ihr da drin!« Bedroht von dem Jednar in der Hand des Mannes, der Umbro niedergeschlagen hatte, bedroht von den Maschinenpistolen, und mit der Gewißheit, daß die kleinste verdächtige Bewegung den sofortigen Tod bedeutet hätte, stiegen die vier hintereinander aus. Sie wurden durchsucht. Das leere Halfter unter Moses Jacke erregte Verdacht, der ein wenig besänftigt wurde, als die dazu gehörende Waffe in Umbros Tasche entdeckt wurde. »Wer seid ihr und woher kommt ihr?« Gillian versuchte zu erklären, daß sie Gefangene wären und daß Umbro eine Art Detektiv der Tejaner sei. Das rief Gelächter hervor. »Er ein Schnüffler?« Das brachte dem bewußtlosen Umbro einen Tritt in die Seite ein. Damit wurde die Verachtung für alle Detektive ausgedrückt. Gillian seinerseits fragte die Männer, wer sie denn wären.
»Wir sind die Jungs von Ape Abrussi«, lautete die Antwort. »Ape hatte dieses Versteck hier schon lange im Auge. Jetzt hat er den Laden übernommen.« Einerseits fühlten sie sich erleichtert. Gillian hatte schon befürchtet, daß Abrussi und die Tejaner zusammenarbeiteten. Andererseits kamen jetzt große Gefahren auf sie zu. Statt Gefangene der Tejaner zu sein, waren sie wieder in dem Händen Abrussis. Bei diesem Handel hatten sie also nichts gewonnen. Das merkte Gillian sofort. Aus einiger Entfernung hörte man Maschinengewehrfeuer. »Die Jungs räumen noch auf«, erklärte man ihnen. Auf geringe Entfernung war eine Maschinenpistole ebenso tödlich wie ein Jednar. »Bringt sie zum Boss«, wurde befohlen. »Er wird schon wissen, was mit ihnen geschehen soll.« Tote – Menschen und Tejaner – lagen durcheinander auf dem Boden. Die Tejaner hatten zwar gekämpft, waren aber überrumpelt worden. Vielleicht waren sie von ihren eigenen Fähigkeiten zu sehr überzeugt gewesen und hatten die Schnelligkeit und Gemeinheit unterschätzt, mit der die menschlichen Tiere angreifen konnten und auch wirklich angegriffen hatten. In der Höhle war das große Pendel noch in Bewegung. Es erinnerte Gillian an etwas, das er einst im Traum gesehen hatte. Wie eine Standuhr, die die Zeit der Unendlichkeit anzeigt, so bewegte sich die große Kugel am Ende der großen Kette, in einem langsamen und majestätischen Rhythmus. Abrussi hatte sich sein Hauptquartier in einem großen Raum eingerichtet. Seine Eliteschutztruppe aus Auserwählten – jeder mit einem Armband ausgerüstet – war auch da. Andere Bandenmitglieder richteten eine Sendeanlage ein. Obwohl der Kampf um die Höhle vorbei war, befehligte Abrussi seine Leute immer noch wie ein Feldmarschall auf einem
Schlachtfeld, das eben das Geschick von Nationen entschieden hat. Für Abrussi war das ein Augenblick voller Glanz und Triumph. Zu diesem Glanz trug ein Mann an seiner Seite beträchtlich bei. Dieser Mann hatte den runden Kugelbauch einer Karikatur. Die Karikatur hörte den Worten Abrussis mit großer Ehrerbietung zu. Und was bedeutsamer war, die Karikatur war mit allem einverstanden. Beim Anblick dieser Figur, die Ape Abrussi so ehrerbietig gegenüberstand, empfand George Gillian tief im Inneren Übelkeit. Die Karikatur war Samuel Ronson. Als Gillian an Ronsons linkem Handgelenk das Armband schimmern sah, steigerte sich der Ekel so, daß er bis auf den Grund seiner Seele zu reichen schien.
8
Abrussi drehte sich von Ronson weg und sah jetzt die Gefangenen, die seine Leute ihm brachten. Washington Moses war der erste. Beim Anblick des Negers verwandelte sich Abrussis Gesicht. Als seine Hand in die Jacke fuhr, war es eine affenartig schnelle Bewegung. Die kleine Glaswaffe spuckte Washington Moses an. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank der Mann auf dem Boden zusammen. Seine Miene drückte Staunen darüber aus, daß er den Tod so leicht gefunden hatte. »Verdammter Verräter!« rief Abrussi. Sein Gesicht war ein Affengesicht, doch aus der Stimme war das Knurren eines Tigers herauszuhören. Sein Blick wanderte weiter zu Gillian und Eck und blieb dann an Sis haften. »Sie?« sagte er erstaunt. »Ich sage immer noch: Zur Hölle mit Ihnen!« sagte Sis. Samuel Ronson stellte sich mit einer raschen Bewegung schützend zwischen die Mündung des Jednar und Sis. Damit rettete er ihr das Leben. »Was zum Henker soll das, Ronson?« fragte Abrussi zurückweichend. »Sie haben doch gehört, wie sie mich beleidigt hat!« »Das Kind ist überanstrengt, Mr. Abrussi.« Schweiß glänzte auf Ronsons Gesicht. »Sie weiß nicht, was sie redet.« »Verdammt!« Jetzt war der Jednar auf Ronson gerichtet. »Bitte, vergeben Sie ihr, Mr. Abrussi! Sie und ihr Bruder sind meine Patenkinder.« »Was?« »Ich war mit ihrem Vater sehr befreundet. Es gehört zu meinen Pflichten, mich um sie zu kümmern.« Ronson schien
sich um den Jednar gar nicht mehr zu kümmern. »Ich stehe in Zukunft für ihr Benehmen ein. Außerdem wird es ja keinen Ärger mehr geben, wenn Sie sie einmal eingetragen haben.« Noch immer lag das lauernde Mißtrauen einer Kobra in Abrussis Blick, als er Ronson ansah. Es wäre besser und auch sicherer, diesen Wissenschaftler und auch die anderen drei zu vernichten. Aber er brauchte den Wissenschaftler, er brauchte auch die anderen. Und es war ein glücklicher Zufall, daß er sie nach ihrem Entkommen wieder in seiner Gewalt hatte. »Ich brauche sie«, sagte Abrussi. Ronson atmete auf. »Doc, Sie nehmen die drei mit und lassen sie eintragen«, befahl Abrussi Ronson. Seine Augen sprühten. »Und sollte es auch nur den leisesten Verdacht einer zweiten Doppelspionage geben, dann wird keinem von euch Zeit bleiben zu erklären, wie es dazu kam – weil ihr tot sein werdet!« »Ja, Sir«, sagte Ronson. »Ihr geht mit«, wies Abrussi zwei seiner Leute an. »Sollten sie einen Fluchtversuch machen, bevor sie eingetragen sind, dann knallt sie nieder!« Sie gingen, zwei Bewacher hinter sich, einen Bogen um die Leiche von Washington Moses machend. Ronson bot Sis seinen Arm an. »Wenn du nicht mein Taufpate wärst, würde ich auch dir empfehlen, zur Hölle zu fahren«, sagte sie zu ihm. »Bitte, meine Liebe«, sagte Ronson im Flüsterton. »Ich tue mein Bestes, um euer Leben zu retten.« Wieder bot er ihr den Arm an, den sie zuerst ausgeschlagen hatte. Diesmal nahm sie an. »Was wird man mit uns machen? Was heißt eigentlich ›eintragen‹?« »Was es auch bedeuten mag – füge dich und überlebe«, flüsterte Ronson. In einem großen Raum waren bereits merkwürdige Apparate installiert. Abrussi war nicht nur für den Sieg gerüstet, sondern
auch mit Mitteln, diesen Sieg zu festigen. Die ganze Einrichtung diente dazu, die Armbänder anzulegen. ›Eintragen‹ hieß, daß am linken Handgelenk ein Armband befestigt wurde. In dem Raum befanden sich bereits einige Tejaner. Ihre gelben Augen waren scheinbar geblendet. Ein plötzlicher Überfall, den sie nicht vorhergesehen hatten, hatte sie samt ihrer überragenden Technik überwältigt. Sie konnten einfach nicht begreifen, wie so ein Affe aus dem Dschungel daherkommen und sie überwältigen konnte, bevor sie überhaupt merkten, was mit ihnen geschah. Ronson stellte sich mit den drei menschlichen Gefangenen ans Ende der Reihe. Sein Gesicht war plötzlich um viele Falten reicher geworden. »Bitte, weigert euch nicht«, flüsterte er zu den dreien. »Glaubt mir, die würden euch töten. Wenn wir uns jetzt fügen, werden wir vielleicht noch den Tag des Kampfes erleben.« Er machte den verzweifelten Versuch, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Plötzlich schüttelte er wie wild den linken Arm und krümmte sich vor Schmerzen. Sein Armband war in Aktion getreten. Gillian kam als erster dran. Das Armband wurde ihm angelegt, zugehakt und versiegelt. »Versuchen Sie ja nicht, es abzulegen«, sagte das verhutzelte Männchen, das diese Operation ausführte. »Sie würden nicht mal lange genug leben, um es herunterzunehmen.« Gillians Handgelenk wurde unter einen starken elektronischen Strahl gehalten, der die in das Armband eingebauten Instrumente aktivierte. Das verhutzelte Männchen nahm ein starkes Vergrößerungsglas zur Hand. »Eintragung«, sprach er in ein Mikrophon. »Seriennummer 1719.« Er wandte sich an Gillian und erkundigte sich nach dessen Namen, den er in das Mikrophon wiederholte. »Test eins«, rief er dann laut. Gillian hätte vor Schmerz fast auf gebrüllt, als ein elektrischer
Schlag vom Armband den Arm entlang bis zum Ellbogen schoß. Jetzt wurde ihm klar, warum Terry und die anderen sich auch so gekrümmt hatten. Sie hatten ebenfalls elektrische Schläge abbekommen. Bevor noch der Schmerz abgeklungen war, rief das Hutzelmännchen schon nach dem zweiten Test. Diesmal lief der Schlag vom Armband hinauf bis zur Schulter. Er war so stark, daß Gillian fast gelähmt wurde. Er faßte nach der Schulter und unterdrückte den Schmerz mit aller Gewalt. »Hört mir jetzt alle drei gut zu«, sagte der Verhutzelte. »Ich werde es euch nur einmal sagen. Diese Armbänder enthalten eine Sendeanlage. Alles, was Sie sprechen, wird in unsere Zentrale übertragen. Dort sind ununterbrochen Monitoren am Werk, um zuzuhören. Wenn ihnen nicht gefällt, was ihr sagt, verpassen sie euch den Test-eins-Schlag als Warnung. Wenn ihr dadurch nicht eure Meinung ändert, kommt der Test-zweiSchlag. Nützt das auch nichts, dann wird die Sache Mr. Abrussi gemeldet. Wenn ihm nicht gefällt, was ihr gesagt habt, kommt der Test-drei-Schlag. Ihr könnt ihn überleben, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall wird man für zwei oder drei Stunden außer Gefecht gesetzt. Der Test-drei-Schlag trifft nämlich mitten ins Herz!« Während Gillian sich noch die Schulter hielt, mußte er mit ansehen, wie Sis und Eck die Prozedur über sich ergehen ließen – das Anpassen der Armbänder und die Elektroschocks, als die Apparate in den Metallreifen aktiviert wurden. Samuel Ronson stand neben ihm. Der Schmerz war ihm vom Gesicht abzulesen. »Was machen die Tejaner auf der Erde?« fragte Gillian leise. »Das ist von großer Wichtigkeit«, fing Ronson an und verstummte dann, weil ihm einfiel, daß die Monitoren vielleicht mithörten, was er sprach. »Obwohl ich das Gefühl hatte, es wäre besser, wenn ich meine Verbindung zu den
Tejanern geheim hielt, empfand ich es doch als große Ehre, mit ihnen zusammenzuarbeiten.« »Sie haben freiwillig mit ihnen zusammengearbeitet?« fragte Gillian. »Junger Mann, Sie stellen sehr unkluge Fragen.« »Das hat Hugo Strong auch gesagt«, warf Gillian ein. »Sie kennen ihn? Kennen Sie die Gruppe – « Wieder brach Ronson ab, doch sein Blick schien Gillian zu durchbohren. Jetzt gesellte sich Sis zu ihnen. Sie hielt sich den Arm, war aber sehr tapfer. Ronsons Besorgtheit um ihr Wohlbefinden tat sie mit einer Handbewegung ab. »Ich glaube, ich muß euch miteinander bekanntmachen«, sagte sie. »Besonders da es dein Foto war, lieber Pate, das im Leben von George Gillian den Wendepunkt markiert hat.« »Ach? Wie war das?« fragte Ronson. Sie erklärte es ihm. Als Ronson die Geschichte angehört hatte, verdunkelten sich seine Augen. »Ich fühle mich geehrt, daß ich, ohne es zu wissen, einen Jungen dahingehend beeinflußt habe, daß aus ihm der Mann geworden ist, der vor mir steht«, sagte er zu Gillian. »Ich bin nicht nur an meinen Patenkindern schuldig geworden. Teilweise trage ich die Schuld, daß Sie, lieber George, jetzt hier sind. Ich werde mein Bestes tun, um den Glauben zu rechtfertigen, den Sie in mich gesetzt haben, ohne mich zu kennen.« Als ihm wieder die Monitoren einfielen, sagte er hastig: »Sicherlich werden Sie die Zusammenarbeit mit Mr. Abrussi ebenso lohnend und befriedigend finden, wie ich sie mir vorstelle.« Das Armband an Ronsons Arm sandte einen scharfen Ton aus. »Mr. Abrussi braucht Sie«, sagte der kleine Lautsprecher. »Er möchte außerdem 1719,1720 und 1721.«
»1721 – das bin ich«, sagte Sis. »Nur einen Moment noch – « begann Ronson. »Dalli, dalli«, kam es aus dem winzigen Lautsprecher. »Wenn Mr. Abrussi jemanden zu sehen wünscht, dann muß es sofort sein!«
9
Abrussi hielt sich in der Haupthöhle auf, umgeben von einer aus vier Mann gebildeten Leibgarde. Er sah zu dem Riesenpendel hinauf. »Was soll das Ding, Doc?« fragte er Ronson. »Das ist ein Sekundärresonator«, antwortete der Wissenschaftler. »Ein Sekundär – was?« fragte Abrussi stirnrunzelnd. »Er bewegt sich im Rhythmus eines Primärresonators. Dabei wirkt eine bestimmte Strahlung intensiver auf ein begrenztes Gebiet ein«, erklärte der Forscher. »Was tut das Ding?« Ronson machte nach dieser Frage ein betretenes Gesicht. »Mr. Abrussi, mit einigen Worten läßt sich das schwer erklären. Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht in Anspruch nehmen, indem ich mich in unwichtigen Details ergehe. Nun, dieser Resonator hat viele Aufgaben. Eine der wichtigsten ist es, gewisse Hochfrequenzstrahlen auf die menschlichen Gene einwirken zu lassen – « »Was ist Gene?« fragte Abrussi. »Ein Gen ist die Einheit der menschlichen Erbanlage«, erklärte Ronson. »In ihrer Gesamtheit beinhalten sie gewisse Tendenzen, die in der nächsten Generation auftreten können. Ihrer Kombination gemäß bestimmen die Gene, wie ein Individuum aussieht, sie bestimmen die Augenfarbe, Haar und Haut. Auch Körperbau, Größe und – man nimmt an – auch die Ausbildung von Gehirn und Nervengewebe hängen von den Genen ab.« Abrussi schüttelte den Kopf. Das alles ging weit über seinen Horizont, doch hatte er nicht die Absicht, es zuzugeben. »Das weiß doch jeder, Doc«, unterbrach er Ronson. »Aber ich
möchte wissen, wozu das verdammte Ding da dient!« Ronson suchte nach Worten, die so wenig als möglich verraten, jedoch den Eindruck vermitteln sollten, als sagten sie viel. »Die gegenwärtige Situation wird von so vielen Faktoren bestimmt, daß man den Wert dieses Pendels unmöglich abschätzen kann. Auch wenn das Experiment erfolgreich verläuft – eine Garantie für den Erfolg gibt es nicht – , dann wird dieses Pendel enormen Wert haben. Schlägt das Projekt fehl, dann ist es völlig wertlos. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß die Zukunft der gesamten menschlichen Rasse, vielleicht die Zukunft des Planeten, ja die Zukunft des gesamten Sonnensystems von diesen und ähnlichen Pendeln abhängt. Aber wie diese Zukunft aussehen wird – das kann man nicht sagen. Es ist wie beim Glücksspiel, Mr. Abrussi, wie beim Würfeln. Kein Mensch weiß, welche Zahlen kommen werden.« »Die spielen also Würfel mit uns?« »Ganz und gar nicht. Das ist ein Spiel, das wir spielen müssen. Uns bleibt in dieser Sache keine Wahl – wobei nicht sehr viel Hoffnung besteht, den Ausgang beeinflussen zu können. Doch die ganze Zukunft des Planeten – « »Großartig, was?« Abrussi sah das Pendel jetzt mit respektvollerem Blick an. Er hatte nicht einmal ein Zehntel dessen verstanden, was er eben gehört hatte, doch er fühlte, daß ein Fünkchen Wahrheit darin lag. Seine Kiefer gerieten nachdenklich in Bewegung, während er einen Weg durch das Gehörte kaute und den einzigen Aspekt der Situation herausfilterte, der ihn persönlich interessierte. »Wenn es so großartig ist, dann wird jemand sicher reichlich dafür zahlen!« »Sie würden also einen ganzen Planeten erpressen, um persönlichen Vorteil daraus zu ziehen?« Unwillkürlich waren dem Professor diese Worte entschlüpft.
»Wer redet hier von Erpressung?« fragte Abrussi aufgebracht. »Das ist doch etwas ganz anderes. Wenn die Sache wirklich groß ist, könnten wir damit einen guten Handel machen.« »Sie haben zwar den Wortlaut, nicht aber die Tatsachen geändert.« Jetzt wurde Ronson wütend. »Sie würden doch glatt versuchen, eine Gruppe oder eine Nation zu erpressen, bevor Sie zulassen, daß eine bessere Zukunft Wirklichkeit wird. Sie – « Abrussi hob das Armband an den Mund. »Bringt dem Doc Manieren bei!« sagte er hinein. »Verpaßt ihm den Schulterschlag!« Bevor Ronson Protest einlegen konnte, war der Elektroschock bereits vom Armband den Arm hinaufgeschossen. Ronson faßte nach der Schulter und wurde totenblaß. »Aufgepaßt, Doc!« drohte Abrussi. »Ich habe jetzt sechs Raumschiffe. Sollten noch mehr von der Sorte in den Tunnel hereinkommen, sind meine Leute bereit, sie ebenfalls zu schnappen. Ich habe jetzt an die tausend dieser kleinen Glaswaffen.« Er tippte auf die Jacke, wo der Jednar im Halfter steckte. »Das ist ziemlich viel. Mit sechs Schiffen und tausend kleinen Glaswaffen kann ich allerhand anfangen. Meine Leute werden lernen, wie man die Schiffe lenkt. Ich selbst werde es auch lernen. Wenn wir wollen, können wir auf jeden Fleck der Erde vom Himmel fallen. Wenn es uns gefällt, können wir Fort Knox überfallen. Nichts auf Erden kann mich aufhalten. Noch eines möchte ich Ihnen sagen – ich dulde keinen Widerspruch von einem wissenschaftlichen Klempner! Verstanden, Doc?« »Ja, Sir«, sagte Ronson. »Wenn ich das Ding da verhökern will – « Er wies auf das Pendel »– so ist das ausschließlich meine Sache. Wenn ich von einem wissenschaftlich ausgebildeten Klempner wissen will,
was man damit machen soll, dann werde ich ihn fragen. Verstanden, Doc?« »Ja, Sir.« Allmählich nahm sein Gesicht wieder Farbe an. »Doc – Sie sind nur aus einem einzigen Grund noch am Leben! Nicht etwa, weil Sie als Techniker einen großen Namen haben, sondern, weil Sie herausfinden können, wie diese kleinen Glaswaffen funktionieren. Verstanden?« »Ja, Mr. Abrussi.« Abrussi zeigte jetzt auf Gillian, Eck und Sis. »Und die sind ebenfalls aus einem einzigen Grund noch am Leben! Weil Sie gesagt haben, sie könnten Ihnen dabei helfen. Verstanden, Doc?« »Ja, Sir.« »Dann trollt euch alle schleunigst und macht euch an die Arbeit!« schloß Abrussi. Im Weggehen sahen sie, wie Abrussi, die Hände in die Hüften gestützt, dastand und zu dem Riesenpendel hinaufsah, welches langsam und majestätisch durch die Höhle schwang. Ronson wählte einen Raum als Forschungslabor und teilte seine Unterkunft mit den drei anderen. Sie standen unter ständiger Bewachung. Mindestens einer von Abrussis Leuten stand immer mit einer Maschinenpistole hinter ihnen. Offensichtlich traute Abrussi seinen Armbändern und Monitoren doch nicht so ganz. Für George Gillian waren die nun folgenden Tage in mancher Hinsicht ärger als die verzweifelten Stunden in der Zelle des Schweigens. Dort waren seine Gedanken alptraumhaft gewesen. Hier waren seine Gedanken eine einzige Folter, weil er die Geheimnisse des Jednar enthüllen sollte und das für einen Menschen, den er verachtete. Sis mußte ähnliches durchmachen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, sie verlor an Gewicht. Eck schien seine Witze völlig vergessen zu haben.
Er magerte so stark ab, daß er aussah wie ein hastig in Kleider gehülltes Skelett. Samuel Ronson versuchte verzweifelt, einen Hoffnungsschimmer am Leben zu erhalten. Das wirkte so gezwungen, daß es wehtat, also gab er den Versuch bald wieder auf. Ihre wahren Gefühle wagten sie nicht laut auszusprechen. Der Mechanismus in den Armbändern vermittelte prompt jeden verratenen Gedanken an ungesehene Ohren. Man entdeckte einen Techniker der Tejaner namens Troon, einen Experten für die Reparatur von Jednars, und teilte ihnen den Mann als Hilfe zu. Das Auftauchen Troons gab Sis viel Grund zur Überlegung. »Er ist die – hm – Person, die ich gesehen habe, als ich die Zeichnungen machte«, flüsterte sie Gillian zu. »Ich habe ihn bei der Arbeit an einem Jednar gesehen. Damals wußte ich noch nicht, was das ist.« »Ihre hellseherische Begabung hat sich also bewährt«, war die geflüsterte Antwort Gillians. Das heiterte sie ein wenig auf. Gillian fragte sich, was und wieviel er jetzt sagen dürfte. »Können Sie jetzt nicht ein wenig in die Zukunft sehen? Können Sie nichts über die Vorgänge hier herausfinden? Wie alles enden wird?« Sie schloß die Augen und blieb ganz still. Dann schlug sie die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Es ist alles so durcheinander. Ich bin nicht sicher, ob es eine Zukunft geben wird – sowohl für uns, als auch für alle anderen.« Gillian sagte nichts, versuchte vielmehr, den Sinn ihrer Worte zu ergründen. Sis fuhr fort: »Es ist ein Gefühl, als wäre über die Zukunft noch nicht entschieden worden, als wäre alles noch in Schwebe. George, ich habe ja solche Angst.« Das war ein kaum hörbares Flüstern.
Mitfühlend nahm er sie in die Arme und streichelte sie sanft. In ihren Augen bemerkte er schmerzliche Tiefen, die er noch nie gesehen hatte. »Immer mit der Ruhe, meine Liebe«, flüsterte er. »Es wird alles wieder gut.« »George – Sie sind ein Pfundskerl. Aber im Moment sind Sie ein schrecklicher Lügner. Jetzt haben Sie ebenso große Angst wie ich, daß es gar keine Zukunft mehr gibt – für uns und die anderen.« Sie preßte ihr Gesicht an seine Jacke und schaute, dann zu ihm auf. »Trotzdem vielen Dank für das Anlügen! Jetzt fühle ich mich ein wenig sicherer.« Auch Troon hatte man mit Abrussis Armband ausgestattet. Das erbitterte ihn über alle Maßen. Fünf Tage lang weigerte er sich standhaft, mit irgendeinem Menschen auf irgendeine Weise zusammenzuarbeiten. Er sprach fast kein Englisch und schien das Gefühl zu haben, Ronson sei auch nicht vertrauenswürdig, da er doch wußte, daß dieser schon in der Höhle gewesen war, als sie noch in Händen der Tejaner war. Troon haßte das Armband, er haßte Abrussi. Und so, wie er Ronson, Sis und Eck ansah, schien er alle Menschen zu hassen. »Soviel ich verstehe, sagt er, daß er uns nicht helfen will«, meinte Ronson zu Gillian. »Er sagt, er würde lieber sterben.« Als die Stromstöße aus seinem Armband, die ihn zur Mitarbeit zwingen sollten, unerträglich wurden, stand Troon noch immer zu seinem Wort. Das Sterben schien ihm nicht schwerzufallen, er schien sich davor auch nicht zu fürchten. Troon konzentrierte seinen Blick einfach auf das nächstliegende helle Objekt – in diesem Falle ein kleines Stück Glas, in dem sich das Licht spiegelte – holte tief Luft und schloß die Augen. Wenige Sekunden später fiel sein Körper vom Sessel, auf dem er gesessen hatte. Das war alles. Andere Tejaner schafften den Toten weg.
Ronson bedauerte ihn zutiefst. Aber in seiner Hand lag mehr als bloß ein Leben. Hastig meldete er Abrussi, daß Troon tot sei. »Fangt einen anderen«, sagte Abrussi. »Und behelligen Sie mich in Zukunft nicht, wenn ich mich eben für eine Flugstunde in einem meiner neuen Schiffe bereitmache.« Sis wandte sich jetzt an Ronson. »Wir könnten die Tejaner etwas fragen – nämlich, woher sie eigentlich kommen.« »Vom Merkur«, antwortete Ronson. »Da er der Sonne am nächsten ist, hat der Merkur offenbar eine der höchsten Lebensformen im Sonnensystem entwickelt.« »Bilden Sie sich ja nicht ein, Sie könnten auch die Augen schließen und zu atmen aufhören«, mengte sich Gillian, zu Sis gewandt, ein. »Das tue ich sicher nicht«, sagte sie rasch. Dann nahm ihr Blick einen seltsamen Ausdruck an – sie schien ganz in die Ferne entrückt zu sein. »Ich glaube, ich könnte es – es ist eine Sache der intensiven Konzentration in die richtige Richtung«, sagte sie. »Die einzige richtige Richtung heißt hierbleiben und kämpfen!« »Glauben Sie denn, es wird noch Kämpfe geben?« flüsterte sie. »Die Gruppe für Forschung und Untersuchung existiert immer noch, Hugo Strong existiert ebenfalls. Ich existiere. Es wird also etwas geschehen«, flüsterte Gillian und behielt dabei das Armband an seinem Gelenk im Auge. Abrussi trieb einen anderen Tejaner auf, der ein Jednar-Spezialist war. Seinen Namen gab er mit Telso an, wolle aber darüber hinaus nichts verraten. Nach ein paar Stromstößen aus dem Armband nahm Telso einen defekten Jednar auseinander. Ronson und Gillian sahen dabei aufmerksam zu. Abrussi hatte die ständige Wache um einen Mann verstärkt. Die zwei Wachen sahen den
Reparaturen ebenfalls zu. Telso ging sehr langsam zu Werke. Ronson und Gillian betrachteten ihn mit großer Sympathie und hofften inständig, er würde nicht den Tod wählen. Als die Waffe zerlegt war, fing Gillian an, die Bestandteile mathematisch genau aufzuzeichnen. Bald hatte er einige Seiten vollgeschrieben. Ronson folgte der Aufstellung der Gleichungen mit größtem Interesse. Als die Gleichungen aufgelöst waren, sah er Gillian voller Hochachtung an. »Was Sie eben gemacht haben, ist sehr bemerkenswert«, sagte der Wissenschaftler. »Ich würde es als eine große Ehre ansehen, wenn ich den Mann, der diese Gleichungen aufgestellt und gelöst hat, zu meinem Forschungsteam zählen dürfte – wenn ich ein Labor hätte.« »Danke«, sagte Gillian. Ein Kompliment von Samuel Ronson war ein besonderes Lob. »Unter anderen Umständen – « Ronson sah vom Armband an seinem Gelenk zu den zwei Wachen, »– na ja, die Umstände sind eben anders.« »Diese Gleichungen stellen nicht die vom Jednar ausgehende Energie dar«, fuhr Ronson fort. »Sie beschreiben das Kraftfeld dieser Energie, das die Energie in Grenzen hält, das ihr die Richtung gibt – wie der Lauf eines Gewehrs, der die gewaltige Explosion in Grenzen hält und ihr die Richtung gibt. Ohne Lauf würde das Pulver in alle Richtungen explodieren und eher den Schützen töten als die Person, auf die er zielt!« »Ich weiß«, sagte Gillian. Hinter ihnen räusperte sich einer ihrer Bewacher. »Was soll das unverständliche Gequatsche?« wollte er wissen. »Wir besprechen diese Gleichungen«, antwortete Gillian und wies auf die beschriebenen Bogen. »Ich finde, das sieht aus wie ein Hühnergescharre«, sagte der Bewacher nach einem flüchtigen Blick. »Woher soll ich wissen, daß es keine Geheimschrift ist?«
»Mathematik ist die Sprache der Naturwissenschaft«, sagte Ronson. »Daran ist nichts Geheimnisvolles. An jeder Universität kann man Vorlesungen in Mathematik hören.« Der Bewacher brummte. Gillian mußte insgeheim lachen. Er griff zum Stift und schrieb rasch eine zweite Folge von Gleichungen auf. Ronson studierte sie sorgfältig, brummte und langte dann selbst zum Stift. »Sie haben sich da und dort geirrt«, sagte er. Inzwischen hatte er selbst eine Reihe von Gleichungen aufgestellt. Gillians inneres Lächeln wurde breiter. Er mußte sich beherrschen, um sich nicht zu verraten. Ronson hatte völlig verstanden, was er gemeint hatte und hatte auf dem gleichen Wege geantwortet. Direkt vor der Nase ihrer Bewacher hatten sie ihr ureigenes Verständigungsmittel mittels der Symbole der höheren Mathematik geschaffen. Die Bewacher konnten zwar sehen, was da niedergeschrieben wurde, verstanden den Sinn jedoch nicht. Die durch die Armbänder lauschenden Monitoren bekamen – außer dem Kratzen des Stiftes auf dem Papier – gar nichts zu hören. Auf diese Weise erfuhr Gillian Einzelheiten der Geschichte der Tejaner. Er wußte bereits, daß sie vom Merkur stammten. Jetzt erfuhr er, warum sie auf die Erde gekommen waren. Es war eine Geschichte, die ihm Ängste einjagte, besonders das damit verbundene Wissen, daß Leben sich nicht auf einen Planeten, nämlich die Erde, beschränkte, sondern auf Planeten im ganzen Sonnensystem existierte. Die Sonne war der große zentrale Generator, der innerhalb der Reichweite ihrer Strahlen allem Leben verlieh. Auf merkwürdige und unglaubliche Weise waren die Sonne und Planeten selbst auch Ausdrucksformen der Lebenskraft, obgleich hier die Berechnungen Ronsons sich ins Irrationale verloren. Die Tejaner waren nicht als Eroberer gekommen. Sie waren als geheime Retter der Erde und gleichzeitig als Retter ihrer Rasse gekommen. Sie hatten sich bisher verborgen gehalten und würden sich auch in Zukunft so
lange verborgen halten, bis die Erdenbewohner darauf vorbereitet waren, sie zu empfangen. Eine offene Ankunft hätte außerordentlich gefährliche politische, wirtschaftliche und religiöse Auswirkungen gehabt, die die Tejaner um jeden Preis vermeiden wollten. Während sie den Bericht, wie er sich aus den von Ronson aufgestellten ›Gleichungen‹ herauslesen ließ, auslegten, war Gillian überzeugt, daß jeder Augenblick der Heldenverehrung, den er als Halbwüchsiger an diesem Forscher verwendet hatte, jetzt überreich vergolten wurde. Dann fing Gillian an, seine eigenen Gleichungen aufzustellen. Sie kamen zu Ergebnissen, die ihn und Ronson in Erregung versetzten. »Zwischen dem Begrenzungsfeld des Jednar und dem Kraftfeld um die Schiffe der Tejaner besteht eine definitive Wechselbeziehung. Das beweisen diese Gleichungen. Das heißt also, daß wir den Antriebsmechanismus eines der Schiffe untersuchen müssen.« »Die Schiffe sind aber Mr. Abrussis ganzer Stolz«, meinte Ronson. »Fragen könnten wir ihn doch wenigstens«, beharrte Gillian. »Wozu ist das denn notwendig?« wollte Abrussi wissen, als sie sich an ihn wandten. »Weil zwischen dem Feld des Jednar und dem von den Schiffen während des Fluges erzeugten Kraftfeld eine Wechselwirkung besteht«, erklärte Gillian. »Feld? Was ist das?« fragte Abrussi. Als man ihm dies demonstrierte, indem ein mit Eisenspänen bestreutes Blatt Papier über einen kleinen Magneten gehalten wurde, hatte er gleich eine Antwort parat: »Wozu soll das gut sein?« »Als Teil der Elektromechanik dieses Universums ist es sehr wichtig«, warf Ronson ein. »Die Naturwissenschaft vermutet schon lange, daß das gesamte Universum aus überaus komplexen Kraftfeldern verschiedener Art besteht.«
»Na schön, Doc, wenn Sie es sagen«, gab Abrussi widerwillig ihrem Wunsch nach. »Sie bekommen zwei Bewacher mit, während Sie in meinen Schiffen herumschnüffeln. Und sollten Sie einen Fluchtversuch machen –« Umbro war bei den Schiffen beschäftigt. Auf einer Kopfseite trug er einen Verband, am linken Handgelenk ein Armband. Die gelben Ziegenaugen nahmen Gillians und Ronsons Anwesenheit kaum zur Kenntnis, bis er bemerkte, daß auch sie Armbänder trugen. Da wurde er zugänglicher. »Man hat mir das Pilotentraining übertragen«, erklärte er. Die Art, wie er das sagte, deutete an, daß es auf einem der Flüge – am liebsten während er Abrussi unterrichtete – zu einem Versagen des Piloten kommen würde. Er erklärte ihnen, wie der Antriebsmechanismus des Schiffes funktionierte. Aufgeregt schrieb Gillian seitenweise Gleichungen nieder, die Ronson sehr sorgfältig überprüfte. »Ja«, erwiderte er in mathematischen Symbolen. »Es kann kein Zweifel bestehen, daß das Kraftfeld des Schiffes den Sendemechanismus der Armbänder stört. Aber was bedeutet das?« »Das bedeutet, daß – wenn es uns gelingt, in eines der Schiffe einzudringen und es zu starten – die Armbänder versagen werden«, antwortete Gillian mittels hingeworfener Gleichungen. »Mhm«, sagte Ronson laut. Ringsum in der ganzen Höhle waren Abrussis Leute emsig am Werk. Auf dem Bergplateau hatten sie Fernsehkameras installiert, die direkt mit dem großen Raum verbunden waren, den Abrussi als Kommandozentrale benutzte. Andere Bandenmitglieder wurden im Gebrauch des Jednar unterwiesen. Es wurde eine regelrechte militärische Organisation aufgezogen, die Männer in Kommandogruppen
zusammengefaßt und ein Kommandosystem eingeführt, welches von der Gruppe bis hinauf zu Abrussi reichte. Am Ende der Laderampe, versteckt, aber einsatzbereit, war eine Alarmeinheit postiert, welche auf die Ankunft weiterer Schiffe lauerte. Abrussis Absicht war es, sowohl Schiffe, als auch die Insassen zu schnappen. Doch die Schiffe blieben aus. Gillian versuchte mit Umbro ins Gespräch zu kommen. Der Tejaner war sehr niedergeschlagen. »Ich fürchte, er wird denselben Weg wählen wie Troon«, meinte Gillian. Ronson nickte. Insgeheim hatte er Verständnis dafür. »Vielleicht werden viele von uns den Weg Troons gehen, ehe hier alles vorbei ist«, flüsterte er. Plötzlich wurde die Stille der großen Höhle gestört. Über das kürzlich angelegte Lautsprechersystem ertönte das Heulen einer Sirene. Dann kam Abrussis Stimme, seine brüllenden Kommandorufe. »Alle Einheiten Achtung! Achtung! Plan A rollt sofort ab! Sofort!« Es folgte ein Augenblick der Stille. Die Höhle schien erschrocken den Atem anzuhalten. Dann plärrte Abrussis Stimme: »Luftlandetruppen landen auf dem Gipfel!«
10
»Doc Ronson! Ich möchte Sie und Ihre Leute sofort sprechen!« quäkte Abrussis Stimme aus dem Lautsprecher. »Marsch, Marsch!« Wieder heulte die Sirene. Sie beeilten sich, seiner Aufforderung nachzukommen. Die militärische Organisation erwachte nun in der Höhle zum Leben. Die mit Jednars und Maschinenpistolen bewaffneten Männer liefen in langen Reihen zu ihren Stellungen. Als wäre es von alledem völlig unberührt, fuhr das riesige Pendel fort, die unendliche Zeit zu messen. Damit schien es auszudrücken, daß Tiere, die sich für Menschen hielten, ruhig ihr Leben im Kampf wegwerfen sollten, wenn sie es unbedingt wollten. Das Pendel ließ sich davon nicht stören. Es maß eine längere Zeiteinheit, als nur die Lebensspanne eines Menschen. In dem als Kommandozentrale eingerichteten Raum spielte Abrussi den Feldmarschall. Um ihn waren in einem Halbkreis Fernsehapparate aufgebaut. Vor ihm ein Mikrophon. Eine Reihe von Lautsprechern übermittelte ihm Berichte über die einzelnen Kampfeinheiten. »Doc, ich möchte, daß Sie sich das ansehen«, rief Abrussi, als sie eintraten. »Ich hatte doch tatsächlich das Gefühl, die Gegenseite würde wieder Luftlandetruppen einsetzen. Diesmal bin ich auf sie vorbereitet.« Sein von einem Ohr zum anderen reichendes Grinsen zeigte ihnen den wahren Grund an, warum er sie hatte rufen lassen. Er wollte, daß sie Zeugen seines militärischen Genies wurden. Hinter ihm hatte seine Leibgarde Stellung bezogen. Auf den Bildschirmen sah man, wie die Hochebene von riesigen Flugzeugen überflogen wurde. Jede
Maschine, die im Tiefflug herunterstürzte, spuckte Fallschirme aus, an deren Gurten Männer in Kampfausrüstung baumelten. Abrussis Leute hatten mit den Jednars bereits auf der Hochfläche Stellung bezogen. Noch ehe sie auf dem Boden auf traf en, hingen an vielen Fallschirmen nur mehr Tote. »Jungs, gebt’s denen ordentlich!« rief Abrussi seinen Leuten aufmunternd zu. Der Pilot eines der Truppentransporter wurde getroffen. Die Maschine stürzte ab und zerschellte. Ein zweiter Pilot wurde getroffen. Seine Maschine sackte ebenfalls ab und endete zwischen dem Geröll der Hochfläche. Offenbar wurde vom Kommandanten einer höher fliegenden Maschine der hastige Befehl gegeben, den Angriff zu stoppen. Die Truppentransporter blieben jetzt aus. »Haben Sie gesehen, wie ich sie erledigt habe, Doc?« rief Abrussi. Sein Triumph war nur von kurzer Dauer. Der Absprung der Fallschirmspringer war als Überraschungsangriff geplant gewesen. Eine plötzliche Explosion auf der Hochfläche zeigte die zweite Phase des Angriffs an. Auf einem der Bildschirme sah man Rauch und wirbelnde Trümmer. »Einsatz schwerer Artillerie!« meldete ein Sprecher. Abrussi fuhr auf. »Was haben die denn gemacht – eine Division herauf geschafft?« Als Antwort auf seine Frage zeigten nun die am Rand der Hochfläche aufgestellten Kameras, die die felsigen Zugänge kontrollierten, Fußtruppen, die sich vorsichtig ihren Weg nach oben bahnten. Männer im Kampfanzug, die jedes Stückchen Deckung nützend, vorwärtsstürmten und wieder in Deckung gingen. Unaufhaltsam drangen sie über die felsigen und zerklüfteten Pfade zur Hochfläche herauf. Die Feldartillerie,
welche die Hochfläche unter Beschuß hielt, konnten die Kameras nicht einfangen. »Die können die Hochfläche oder die Bergflanken meinetwegen bis zum Jüngsten Tag bombardieren!« sagte Abrussi. »Sie richten keinen Schaden an. Wenn sie das Sperrfeuer einstellen, damit ihre Leute angreifen können, werden meine Jungs sie gebührend in Empfang nehmen.« »Er hat recht«, flüsterte Gillian Ronson zu. »Es ist reiner Selbstmord, den Berg heraufzukommen und ins Feuer der Jednars zu laufen. Sollte der Angriff wider Erwarten doch erfolgreich sein, dann braucht Abrussi sich nur in ein Schiff zu setzen. Er kann türmen oder das Gemetzel aus der Luft fortsetzen. Auf der Erde gibt es kein Kampfflugzeug, das den kleinen Schiffen der Tejaner gewachsen wäre.« Ronsons Blick war anzusehen, daß er dazu noch Fragen auf dem Herzen hatte. »Wenn wir überhaupt einen Fluchtversuch unternehmen wollen, dann ist jetzt der geeignetste Zeitpunkt«, fuhr Gillian in leisestem Flüsterton fort. »Ich denke, der Schlachtenlärm wird verhindern, daß uns die Monitore verstehen können. Wenn es uns glückt, bis zu den Schiffen zu kommen – « »Wir wissen doch nicht, wie man damit umgeht.« »Umbro ist ja auch noch da. Wenn wir ihm einreden könnten, daß wir den Antriebsmechanismus des Schiffes auf der Startrampe besichtigen wollen – das haben wir doch schon einmal gemacht – erinnern Sie sich?« sagte Gillian. »Aber Mr. Abrussi braucht doch Publikum.« Ronson schien sich in Sekundenbruchteilen entschieden zu haben. »Ich werde es versuchen«, sagte er. Er trat vor und nahm in ehrerbietiger Haltung vor Abrussi Aufstellung. »Was zum Teufel wollen Sie, Doc?« Das Sperrfeuer auf der Hochfläche hatte aufgehört. Die angreifenden Truppen rückten wieder vor. Es konnte nur mehr Sekunden dauern und sie
würden in Reichweite der Jednars geraten. Abrussi beobachtete die vor ihm abrollende Szene. »Sehr gut geplant und ausgeführt, Mr. Abrussi«, sagte Ronson. »Und wie! Ich werde der militärischen Führungsspitze dieses Landes einen Denkzettel verpassen!« sagte Abrussi feixend. »Aber was wollen Sie eigentlich, Doc?« »Sir, ich habe das Gefühl, daß der Ausgang des Kampfes dank Ihres militärischen Genies nicht in Frage steht. In meiner Abteilung aber ist ein sehr dringendes Problem aufgetaucht, als Sie uns rufen ließen. Ich bin sicher, es ist in Ihrem Sinn, wenn wir die Entwicklung der Jednars nicht verzögern. Schließlich haben Sie ja noch größere Pläne als dieses Scharmützel hier.« »Was wollen Sie also?« unterbrach ihn Abrussi. »Es ist ungeheuer wichtig, daß wir uns weitere Daten über den Antriebsmechanismus der Schiffe verschaffen«, fuhr Ronson fort. »Darf ich vorschlagen, daß wir jetzt gehen?« »Die Schiffe!« Jetzt war Abrussi in heller Aufregung. »Warum wollen Sie wieder in meinen Schiffen herumschnüffeln? Sie haben sie doch schon einmal inspiziert.« »Das war bloß eine oberflächliche Untersuchung, Sir.« Ronson war überaus respektvoll. »Und die Zeit drängt, Sir.« »Feuer!« rief Abrussi in den Lautsprecher. Auf den Bildschirmen sah man den beginnenden Rückzug der Soldaten auf den Berghängen, als die Jednars in Aktion traten. Die Soldaten wußten nicht, was auf sie abgefeuert wurde. Es gab kein Kugelgeräusch, keine Explosion. Sie sahen nur, daß ihre Kameraden umfielen und nicht mehr aufstanden. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, und mit Ihrer ausdrücklichen Genehmigung, werde ich meine Leute mitnehmen und den Antrieb eines der Schiffe sofort untersuchen.« »Okay«, sagte Abrussi.
Ronson machte kehrt. Gillian, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, holte tief Luft. Jetzt erst hatte er gemerkt, daß er aufgehört hatte zu atmen. »Halt, Doc!« rief Abrussi plötzlich. Ronson fuhr herum. »Aber Sie haben doch Ihr Einverständnis gegeben – « »Ihre Leute können gehen, Doc, Sie bleiben hier!« Samuel Ronson zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. »Selbstverständlich, Sir, wenn Sie es wünschen«, sagte er zu Abrussi. »Machen Sie weiter«, sagte er zu Gillian gewandt. »Aber – « »Ich habe gesagt, Sie machen weiter!« Das war ein Befehlston, den Gillian von Ronson noch nie zu hören bekommen hatte. Ohne jede weitere Frage gehorchte Gillian. Auf dem Weg zum Ausgang sagte er zu Sis und Eck: »Kommt mit. Und seht euch nicht um!« Seine Stimme enthielt den gleichen Befehlston, den auch Samuel Ronson gebraucht hatte. Sie gehorchten. Aber Ecks Gesicht war ausdruckslos und die Augen von Sis waren feuchte Tiefen von Verzweiflung. Noch im Gehen hörten sie im Lautsprecher eine plötzliche Explosion. Gillian warf einen Blick zurück und sah, daß nun Düsenjäger die Hochfläche bombardierten. In der Haupthöhle sahen sie, daß das große Pendel seine majestätische Schwingung merklich verlangsamt hatte. »Wahrscheinlich haben die Bomben den Mechanismus gestört«, sagte Gillian. »Ich glaube, es hält an, weil die Zeit für uns stillsteht – und für die ganze menschliche Rasse«, flüsterte Sis. »Ich glaube, daß der Kampf, der jetzt stattfindet, die Zukunft der Menschheit auf Generationen hinaus, vielleicht für Jahrhunderte bestimmen kann.« Ihre Augen hatten sich von Tiefen der Verzweiflung zu Tiefen des Entsetzens gewandelt. »Ich sehe Dinge, die ich nicht sehen möchte«, fuhr sie fort. »Ich sehe Welten in
Trümmer geschlagen, ganze Planeten in Auflösung. Ich sehe – in eine mögliche Zukunft.« Auf dem Weg zu den Schiffen hielt sie mit Gillian und Eck Schritt, schien aber in einem Trancezustand zu gehen. Gillian faßte nach ihrem Arm. Ihre Haut war eiskalt. »Meine Liebe«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, ob diese Zukunft wirklich eintreten wird. Es ist möglich, aber es muß nicht dazu kommen.« Sie schien weder Gillians Hand auf ihrem Arm, noch seine Anwesenheit zu bemerken. Ihr Geflüster war in ein monotones Gemurmel übergegangen. »Ein Affe ist aus dem Dschungel gekommen. Er hat Menschen gesehen und gemeint, es müsse herrlich sein, als Mensch zu leben. Er hat sich den Körper eines Menschen geschaffen und als Mensch unter Menschen gelebt. Sie haben ihn für einen Menschen gehalten. Sie wußten nicht, daß er im Inneren ein Affe geblieben war. Dann hat er eine gewaltige Waffe gefunden. Damit hat er seine Eroberung begonnen!« »Wach auf, Sis! Aufwachen!« flüsterte Eck warnend. Sie sah ihren Bruder an, als würde sie ihn nicht kennen. Gillians Griff wurde fester. Langsam erkannte sie ihn wieder. Langsam merkte sie, wo sie sich befanden. Sie griff nach Gillians Arm. Vor dem Schiff hielt sie ein Posten auf. »Wir möchten den Antrieb nochmal ansehen«, sagte Gillian. »Umbro soll uns helfen.« »So?« sagte der Posten. »Wir haben die Erlaubnis von Mr. Abrussi!« fügte Gillian hinzu. »Na schön«, sagte der Posten. »Warten Sie hier draußen.« »Aber – « »Ich muß mich bei Mr. Abrussi vergewissern«, sagte der Posten. »Befehl ist Befehl.« Er hob sein Armband an die Lippen. »Solange der Kampf im Gange ist, wird es vielleicht einige Zeit dauern, bis ich mit ihm Verbindung bekomme.« Er
nahm Sis genauer in Augenschein. »Was ist denn los mit der Dame? Ist sie betrunken?« »Der Bombenangriff geht ihr an die Nieren«, antwortete Eck. In Abrussis Kommandozentrale mußte Samuel Ronson ebenfalls warten. Die Bildschirme zeigten, daß der Angriff der Bodentruppen gestoppt worden war. Er konnte sich die Verwirrung in den Befehlsständen da draußen vorstellen. Die Leute fielen, und wußten nicht wie. Die Truppen wurden zurückgenommen, das sah man auf den Bildschirmen. Aus einem Augenwinkel beobachtete Ronson die Höhle. Er sah, daß das Pendel langsamer wurde, sah auch, daß Gillian, Sis und Eck vor dem Schiff von einem Posten aufgehalten worden waren. Aus dieser Entfernung sahen sie wie Spielzeugfiguren aus. Ronsons herzliche Gefühle für die beiden drückte sich in seinem Gesicht nicht aus. Sis und Eck waren seine Patenkinder und Gillian – hätte er je einen Sohn gehabt, er hätte sich keinen besseren als Gillian wünschen können. Bei dem Gedanken daran fühlte er, wie ihm die Kehle eng wurde. Als Junge hatte Gillian sein Bild gehütet. Ronson hatte ihm nie gesagt, wieviel ihm diese einfache Geste bedeutet hatte. Sein Leben lang war er so sehr in der Wissenschaft aufgegangen, daß er beinahe vergessen hatte, was herzliche persönliche Beziehungen bedeuten konnten. Die drei, die sich jetzt mit dem Posten unterhielten, hatten ihm dieses Wissen geschenkt. »Doc, meine Leute haben sie ordentlich vermöbelt!« rief Abrussi ihm zu. »Sie haben die Truppen vom Plateau glatt weggefegt!« »Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte Ronson. »Sie haben heute Ihr militärisches Genie unter Beweis gestellt!« »Jetzt werden sich die mit mir einigen müssen«, fuhr Abrussi fort. »Wenn die von meinen Schiffen erfahren, müssen sie mit mir einen Vertrag schließen, so, als wäre ich eine ausländische Regierung!«
Der Affe kostete seinen Triumph gründlich aus. Er empfand ihn wie ein berauschendes Getränk. Aus dem Kommandoarmband, das er um das Handgelenk trug, drang ein Pfeifton. »Bin beschäftigt«, rief er zurück. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen – « sagte Ronson. »Nein, Doc, bleiben Sie da!« Wieder pfiff das Armband. Diesmal nahm er sich die Zeit zur Antwort. »Hm! Bei meinen Schiffen?« Er schien erschrocken. »Ach ja, ich habe es ihnen erlaubt. Es ist okay. Geht mit und gib acht, daß sie keine krummen Sachen machen.« Er sah Ronson an. »Das waren Ihre Leute. Meine Jungs haben sie aufgehalten.« »Ihre Leute sind sehr tüchtig, Sir«, antwortete Ronson. Er sah durch die in die Haupthöhle führende Öffnung hinaus. Die Spielzeugfiguren waren wieder in Bewegung geraten. Als sie sich noch weiter entfernten und auf das Schiff auf der Startrampe zugingen, wurden sie noch kleiner. Mit dem Posten waren es vier winzige Figuren. Ein Radiomechaniker trat ein. »Sir, jemand versucht, Sie von außen über Funk zu erreichen«, sagte er zu Abrussi. »Ja? Wer denn?« »Er weigert sich, seine Identität bekanntzugeben, Sir. Soll* ich ihn mit Ihrem Gerät verbinden?« »Gut. Ich rede selbst mit ihm.« Abrussi war wohl der Meinung, der Befehlshaber der angreifenden Truppen wolle mit ihm Verbindung aufnehmen und einen Waffenstillstand vereinbaren. Diesem Ordenshengst wollte er es gehörig zeigen! Der Mechaniker wieselte hinaus. Aus einem der Lautsprecher drang plötzlich eine neue Stimme. »Abrussi?« sagte die Stimme. »Das bin ich! Wer zum Teufel sind Sie und was wollen Sie?« Die Stimme setzte zur Antwort an, hüstelte dann aber statt dessen, als wäre dem Sprecher etwas durch den Kopf
gegangen, was den Wortlaut des zu Sagenden änderte. »Ich bin Hugo Strong«, meldete sich die Stimme wieder. »Und ich will Ihre bedingungslose Kapitulation!« Ton, Name und Forderung bewirkten, daß Abrussi fast die Augen aus dem Kopf quollen. Er wußte, wer Hugo Strong war. Das wußte jeder. Abrussi hatte sich in Sekundenbruchteilen wieder gefaßt. Dann explodierte er. »Also schön, Sie sind Hugo Strong!« brüllte er ins Mikrophon. »Wieso sind Sie der Meinung, daß Hugo Strong mir Befehle erteilen kann und mit welchem Recht legen Sie die Bedingung einer Kapitulation fest?« Je mehr ihm die Bedeutung der Worte Strongs klar wurde, desto wütender wurde er. »Persönlich ist Hugo Strong gar nichts.« Die aus dem Lautsprecher dringende Stimme war ruhig und selbstsicher. »Aber im Augenblick ist Hugo Strong vom Präsidenten der Vereinigten Staaten zum General der Streitmächte ernannt worden!« »Also hat man Ihnen wieder einen Rang gegeben!« rief Abrussi. »Man hat Sie vorübergehend zum General ernannt. Na und?« »Hören Sie!« antwortete Hugo Strong. »Genau in diesem Augenblick sitze ich über Ihnen in einem Bomber. Wir sind bereit, jede Minute mit der Bombardierung zu beginnen. Unser Ziel ist der Mad Mountain!« »Ihr habt den Mad Mountain schon bombardiert!« schrie Abrussi. »Meinetwegen versucht es wieder! Seht euch an, was es nützt!« »Mr. Abrussi, Sie scheinen die Lage zu verkennen!« Noch immer war die Stimme ganz ruhig. »Die einleitende Bombardierung, die Fallschirmspringer, die Geländeangriffe sollten bloß dazu dienen, Sie aus der Reserve zu locken. Hätten sie Erfolg gehabt – na gut. Wenn nicht – «
»Sie haben nichts ausgerichtet!« Abrussis Stimme wurde noch schriller. »Meine Jungs haben Ihre Truppen weggepustet! Wir können noch zehnmal so viele wegpusten!« »Können Sie eine H-Bombe auch wegpusten, Mr. Abrussi?« fragte Hugo Strong. »Denn genau die haben wir hier oben in unserem Bomber, und wir sind bereit, sie abzuwerfen, falls Sie nicht bereit sein sollten, bedingungslos zu kapitulieren.« Der plötzlich ganz blaß gewordene Abrussi schaltete das Mikrophon ab. Der Mad Mountain konnte jedem konventionellen Bombenangriff standhalten, doch eine HBombe würde ihn in einen Lavasee verwandeln – jedenfalls war Abrussi dieser Meinung. »Kommen Sie her, Doc!« brüllte er Ronson an. »Halten Sie Strong auf, bis ich ein Schiff flottbekomme und den verdammten Bomber abschieße!« »Ja, Sir.« Aus dem Augenwinkel warf Ronson einen Blick durch die Höhle. Er sah, wie vier Spielzeugfigürchen sich mit zwei weiteren Spielzeugfigürchen am Einstieg des Schiffes auf der Startrampe unterhielten. Auf diese Entfernung konnte er nicht mit Sicherheit unterscheiden, ob eines davon Umbro war. Er vermutete es jedenfalls. Das andere war wahrscheinlich der Wachtposten vor dem Schiff. Also zwei Posten! Abrussi war aus seinem Sessel aufgestanden und wollte zu den Schiffen, als Ronson ihm zurief: »Ich würde dringend empfehlen, Sir, daß Sie hierbleiben!« Das war ein verzweifelter Versuch, Abrussi aufzuhalten. »Hier bleiben und bombardiert werden?« rief Abrussi aus. »Die Gefahr ist nicht unmittelbar«, beharrte Ronson. »Man braucht schon einige Zeit, um die Bombe zum Abwurf bereitzumachen.« »Doc – «
»Ich brauche Sie hier. Nicht nur damit Sie meine Identität bestätigen, wenn ich Mr. Strong hinhalten soll. Sie sollen auch Ihre Autorität bei den Verhandlungsgesprächen in die Waagschale werfen«, sagte Ronson. Seine Stimme war ebenso gelassen, wie vorhin die Stimme Strongs. Er drückte den Knopf, mit dem das Mikrophon wieder angeschlossen wurde. »Ja, Sir, Mr. Strong, hier Samuel Ronson. Ja, Mr. Strong… ich weiß, Sie haben eigentlich mit Mr. Abrussi gesprochen. Er steht neben mir, Sir.« Er schaltete das Mikrophon wieder ab und sagte jetzt zu Abrussi gewendet in geradezu befehlendem Ton: »Ja, Mr. Abrussi, als Oberbefehlshaber haben Sie Ihren Platz genau hier, von wo aus Sie Ihre Kampftruppen befehligen.« Abrussi zögerte. Dann nahm er seinen Kommandoposten wieder ein. Er bebte und war totenbleich. Es war nicht vorauszusehen, wie lange man ihn hier festhalten konnte. Doch im Moment war er hier. Als Samuel Ronson wieder einen Blick hinüber warf, sah er, daß die Verhandlungen der Spielzeugfiguren vor dem Schiff noch im Gang waren. Würden die vier denn überhaupt nie an Bord gehen? Er schaltete das Mikrophon ein und wappnete sich für ein Gespräch mit Hugo Strong.
11
»Was Sie wollen?« fragte Umbro. Er trug noch immer einen normalen Tagesanzug, nicht aber den Hut. Die Hörner auf der Stirn waren nun deutlich sichtbar. Er machte den Eindruck, als wolle er jemanden auf die Hörner nehmen – wen, das war ihm egal. »Wir möchten mit Ihnen reden«, sagte Gillian beschwörend. Da er Sis und Eck verboten hatte, sich nach dem Kommandoraum, wo Ronson mit Abrussi zurückgeblieben war, umzusehen, hatte er das Gefühl, er sollte sich auch nicht umdrehen. »Keine Zeit zum Reden«, antwortete Umbro. »Da oben zu viel Rummel. Zu laut. Kann nicht mal überlegen.« »Dort oben ist ein kleines Gefecht im Gange«, sagte Gillian. »Wir können uns dadurch nicht von der Arbeit abhalten lassen.« »Gefecht? Tejaner angekommen?« In den gelben Augen blitzte Hoffnung auf und verblaßte jäh. »Nein, nicht Tejaner. Wenn die kommen, dann kein Gefecht, sondern sofort Sieg.« »Menschen kämpfen miteinander«, sagte Gillian. »Pah!« Das war bloß ein verächtliches Knurren. »Sollen sie kämpfen, sollen sie einander töten. Dafür sind sie gut.« »Nicht alle Menschen sind schlecht, Umbro«, versuchte Eck ihn zu besänftigen. »Sie mir zeigen einen guten«, antwortete Umbro. »Nur einen.« Er wandte sich ab. »Verschwindet!« sagte er über die Schulter hinweg. Gillian sah Eck und dann Sis an. Er widerstand dem Verlangen, sich nach dem Kommandoraum umzusehen.
Gillian wandte sich an den Posten, der sie begleitet hatte. »Mr. Abrussi hat gesagt – « »Ich verstehe«, sagte der erste Posten. Er verhandelte dann mit dem zweiten Posten, der in dem auf der Rampe stehenden Schiff Dienst tat. Beide wandten sich sodann an Umbro. »Wir möchten keinen Widerstand Ihrerseits«, sagte der erste. »Wenn der Boss will, daß etwas gemacht wird, dann wird es gemacht, verstanden?« »Kein Gerede«, antwortete Umbro. »Wir möchten, daß Sie die Haube über dem Antriebsmechanismus öffnen«, sagte Gillian und wies auf das Schiff auf der Rampe. »Wir müssen Gleichungen aufstellen, die die Wechselbeziehung zwischen dem Kraftfeld des Antriebes und dem Restriktionsfeld des Jednars darstellen.« »Haut ab«, sagte Umbro. Er war nicht in der Stimmung, jemandem zu helfen, der auch nur wie ein Mensch aussah. Der erste Posten hob sein Armband an die Lippen. »Wir haben hier einen kleinen Widerspruchsgeist. Verpaßt ihm einen Schulterstoß.« »Sehr gern«, antwortete die Stimme des unsichtbaren Monitors. Umbro faßte nach der Schulter. Seine Gesichtsfarbe wechselte von hellgelb zu Weiß. Von den Knoten auf seiner Stirn schienen bläuliche Strahlen auszugehen. »Werden Sie tun, was der Boss verlangt?« fragte der Posten. »Werde tun«, formte Umbro mit den Lippen. Die gelben Augen aber gaben zu verstehen, daß er es als besonderen Vorzug ansehen würde, ein paar Worte unter vier Augen mit dem Posten zu wechseln, sollte sich je die Möglichkeit ergeben. Er drehte sich um und ging an Bord des Schiffes. Gillian, Eck und Sis folgten ihm. Auch die zwei Posten gingen mit. Mit ihren Maschinenpistolen nahmen sie drinnen Aufstellung.
»Vorüber Sie sprechen wollen?« fragte Umbro. »Öffnen Sie den Deckel des Antriebsaggregates«, sagte Gillian. Er warf einen flüchtigen Blick zurück in die Höhle. Im innersten seines Herzens hoffte er, er würde jetzt Samuel Ronson kommen sehen. »Hier spricht Samuel Ronson, Hugo«, sprach der Forscher ins Mikrophon. »Sie können sich an mich natürlich erinnern.« »Ich, hm – « stotterte es aus dem Lautsprecher. »Ich denke mit großer Hochachtung und Zuneigung an einen Samuel Ronson zurück, aber ich weiß nicht, ob Sie diese Person sind.« »Mr. Abrussi steht neben mir«, sagte Ronson. »Er kann mich identifizieren.« »Na klar, es ist Doc Ronson«, brüllte Abrussi ins Mikrophon. »Er ist der größte lebende Forscher der Erde. Wenn Sie die verdammte H-Bombe abwerfen, wird er es nicht überleben. Das garantiere ich Ihnen.« Auf diese Drohung hin wurde es still im Lautsprecher. Hugo Strong war da irgendwo am Himmel offenbar in eine Situation geraten, die seine Pläne durcheinanderbrachte – absichtlich würde Strong das Leben des größten Forschers der Welt nicht aufs Spiel setzen. »Na, wo bleiben denn jetzt Ihre Kapitulationsbedingungen?« brüllte Abrussi ins Mikrophon. »Jetzt müssen Sie selbst kapitulieren!« Abrussi hatte seinen Vorteil erkannt. Und er war gewillt, ihn soweit als möglich auszunützen. Langsam wandte Samuel Ronson den Kopf, so daß er wieder die Höhle überblicken konnte. Die Spielzeugfigürchen hatten das Schiff auf der Rampe betreten. Doch die Wachtposten hatten seine Schützlinge begleitet. Die Einstiegluke stand noch offen.
Ronson wußte nicht, wann die Luke des Schiffes sich schließen würde. Aber er hatte volles Vertrauen zu George Gillian und Eck Randolph. Jetzt wurde es im Lautsprecher wieder lebendig. »Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Angelegenheit«, sagte Hugo Strong. »Da haben Sie verdammt recht!« rief Abrussi. »Jetzt habe ich das Steuer übernommen. Wenn Sie Ihre verdammte Bombe abwerfen, dann töten Sie damit auch Ronson. Und das werden Sie nicht tun, nicht wahr, Strong?« »Ich muß – hm – « Strongs Stimme wurde unsicher. »Ich muß die Gewißheit haben, daß der Mann in der Höhle wirklich Samuel Ronson ist.« »Doc, dann geben Sie sich endlich zu erkennen«, befahl Abrussi.
Im Schiffsinneren entfernte Umbro langsam den Deckel des Antriebsaggregates. »Hoffentlich werden Sie voll und ganz mit uns zusammenarbeiten«, sagte Gillian zu ihm. »Huh!« war die Antwort Umbros. »Möchten Sie noch einen Schlag?« fragte der erste Posten. Diese Frage bewirkte, daß Umbro sich mit der Arbeit sputete. Aber es war sonnenklar, daß er immer noch viel langsamer war als nötig. Gillian wischte sich Schweiß vom Gesicht. »Heiß hier drinnen«, sagte er. »Dasselbe habe ich eben auch gedacht«, pflichtete ihm Eck bei. Sis sagte gar nichts. Als hätte sie kaum mehr Kraft, um aufrecht zu stehen, hatte sie sich an die Innenwand des Schiffes gelehnt. »Fast zu heiß«, sagte sie jetzt und fächelte sich Kühlung zu. Dabei ging sie einen Schritt näher zur Tür. »Nicht so heiß, daß Sie es nicht aushalten könnten, Süße«, sagte der erste Posten.
»Nennen Sie mich nicht Süße!« fuhr sie ihn an. »Keiner von euch beiden!« »Schwer zu verstehen«, sagte der zweite Posten. »Schwer, aber nicht unmöglich«, antwortete Sis. Der erste Posten grinste sie an. Gillians Faust traf ihn am Übergang vom Kiefer zum Nacken. Es war ein saftiger Hieb, hinter dem Gillians ganze geballte Kraft steckte. Der Posten wußte gar nicht, wie ihm geschah. Als er nach hinten kippte, bekam Gillian die Maschinenpistole zu fassen. Er drehte sich um und hob den Lauf, um ihn dem zweiten Posten unter die Nase zu halten. Eck hatte mit blitzartiger Geschwindigkeit den Solarplexus des zweiten Postens getroffen. Auch er kippte um. Eck versetzte ihm noch zusätzlich einen Kinnhaken und riß ihm die Waffe aus der Hand. Sis schloß leise die Tür und versperrte sie. Gillian wandte sich an Umbro. »Sie werden jetzt die Güte haben und mit uns zusammenarbeiten«, sagte er zu dem erschrockenen Tejaner. »Hm?« »Indem Sie Dampf dahintersetzen und die Maschine schleunigst die Rampe ‘raufjagen!« sagte Gillian. Einen Augenblick lang zögerte Umbro. Hoffnung flackerte in seinen gelben Augen auf. Er warf dann einen Blick auf die beiden Posten und sah dann Gillian und Eck an. Vielleicht gab es wirklich ein paar Menschen, die doch zu etwas nütze waren. Dann fiel sein Blick auf das Armband an seinem Handgelenk. Stumm hielt er es in die Höhe. »Das Kraftfeld des Schiffes wird die Verbindung der Armbänder mit der Zentrale völlig abschneiden«, beantwortete Gillian diese Geste. »Bringen Sie das Schiff also schleunigst in Schwung! Sonst werde ich es selbst fliegen!« Als er die Lage begriffen hatte, machte sich Umbro wirklich zügig ans Werk.
Tief im Inneren des Schiffes ertönte ein Grollen, als er den Antrieb einschaltete.
Als er sah, wie sich die Luke des Raumschiffes schloß, huschte ein Lächeln über Samuel Ronsons Gesicht. Er hatte gewußt, daß er sich auf Gillian und Eck verlassen konnte. Er wußte zwar nicht sicher, was mit den zwei Wachtposten geschehen war, die mit ihnen zusammen an Bord gegangen waren, doch hatte er allen Grund anzunehmen, daß die zwei eine unerwartete Reise mitmachen würden. Hatte das Schiff einmal die Höhle verlassen, dann waren drei Menschen, die dem Forscher sehr nahestanden, in Sicherheit. Das war das Allerwichtigste. Zu wissen, daß sie in Sicherheit waren, machte das Leben lebenswert – und auch sterbenswert. Sie repräsentierten die Zukunft. Sie repräsentierten die Hoffnung auf etwas Besseres, das innerhalb der menschlichen Rasse Wirklichkeit werden sollte. Ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen waren jedes Opfer wert. Obwohl keiner der beiden es zu merken schien, wußte er, daß Sis und Gillian bis über beide Ohren ineinander verliebt waren. Ihre Kinder und Kindeskinder würden mithelfen, das Dunkel zu lichten, das zwischen dem Heute und dem Morgen lag. »Also los, geben Sie sich zu erkennen, Doc«, wiederholte Abrussi. »Ach ja, jawohl, Sir.« Samuel Ronson mußte seine Gedanken gewaltsam von der Zukunft losreißen, die vor seinem geistigen Auge erstanden war. Er nahm das Mikrophon zur Hand, stellte sich aber so hin, daß er das Schiff beobachten konnte, während er sich zum Sprechen bereitmachte. Die Lukentür war zu, doch das Schiff hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ronson wollte das Schiff in Bewegung sehen. »Hugo?« sagte er ins Mikrophon.
»Ja, Samuel – das heißt, wenn Sie Samuel Ronson sind«, kam Strongs Stimme über den Lautsprecher. »Ja, ich bin Samuel Ronson. Ich werde es Ihnen beweisen.« »Gut, ich höre.« Aus dem Hintergrund hörte man im Mikrophon ganz gedämpft das Dröhnen eines schweren Bombers. »Ich werde es also beweisen«, wiederholte Ronson, während seine Blicke noch immer an dem Schiff hingen. Hatte es sich bereits in Bewegung gesetzt? Wenn es erst einmal in Bewegung war, würden die Insassen vor der Todesenergie sicher sein, die durch die Armbänder ausgelöst werden konnte. Jetzt sah er, wie sich das Schiff in Bewegung setzte. »Ich werde also beweisen, daß ich Samuel Ronson bin, indem ich Sie um einen Gefallen bitte«, sagte der Forscher. Seine Stimme blieb gelassen. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. »Einen Gefallen?« Strongs Stimme klang zweifelnd. »Welchen Gefallen?« »Tun Sie mir den Gefallen und werfen Sie die Bombe ab, Hugo«, sagte Samuel Ronson. »Wenn Sie die Bombe abwerfen –« »Die Bombe abwerfen?« schrie es aufgeregt aus dem Lautsprecher. »Da würden wir Sie ja verlieren. Sie sind der größte Forscher der Erde. Wir brauchen Sie!« Ronsons Blick haftete noch immer auf dem Schiff. Jetzt war es ganz eindeutig in Bewegung. »Weit Bessere als ich werden geboren werden«, sagte er. »Werfen Sie die Bombe ab, Hugo! Radieren Sie dieses Affennest aus!« Ronson wußte, daß Abrussi, der jetzt wütend aufkreischte, den Jednar gezogen hatte. Dem Forscher war es gleichgültig. Er hatte es erwartet. Es geschah jetzt aber etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er sah zwischen Schiffsbug und Tunneleingang, der in die Freiheit führte, eine Explosion. Wie gebannt starrte er hin und mußte mitansehen, wie das Schiff anhielt. »Werfen Sie die
Bombe ab, Hugo – « wiederholte Samuel Ronson ganz mechanisch, als Abrussi die kleine Waffe in Anschlag brachte, die keinen Einschuß hinterließ. Abrussi drückte ab. Ronson spürte nicht das Leben aus seinem Körper schwinden – so wie es aus Washington Moses geschwunden war, aus einer großen Dogge namens Brutus und aus vielen anderen. Und hätte er gespürt, wie das Leben ihn verließ, so wäre es Ronson gleichgültig gewesen. Er hatte seine Identität beweisen können! Und er hatte sein Bestes getan, das Leben von dreien, die er liebte, zu retten. Wenn er dafür mit seinem Leben bezahlte, so hatte er es für eine große Sache hingegeben. Und Leben war ja schon für größere Ziele, als dieses, vielfach hingegeben worden. In dem großen Bomber oben am Himmel herrschte Bestürzung. Dann sagte Hugo Strong mit der schrecklichen Stimme eines rächenden Engels: »Er hat bewiesen, wer er war. Und was er war. Klinkt die Bombe aus!« Befehlsgemäß ging der große Bomber auf Zielkurs. So schnell ihn seine Beine trugen, lief Abrussi aus seiner Kommandozentrale und rief seiner Leibwache zu, ihm zu folgen. Er wußte, daß eine Bombe fallen würde und wollte außerhalb der Höhle sein, wenn sie einschlug. Sein Ziel waren die Schiffe.
12
Umbro stoppte das Schiff und starrte nach vorn, wo die Explosion direkt vor seinen Augen hochging. Als die Fahrt des Raumschiffes gestoppt wurde, traten die Armbänder wieder in Aktion. Die Monitore wußten nicht, was sich wirklich ereignete, sie wußten bloß, daß etwas schiefgegangen war. Da sie Abrussi im Augenblick nicht erreichen konnten – er beantwortete die Anrufe nicht – handelten sie auf eigene Faust. Umbro, im Pilotensitz, spürte den Schmerz bis zum Ellbogen. Die gelben Augen wurden trübe. Auch Gillian, Eck und Sis bekamen es zu spüren. »Das Schiff muß in Fahrt bleiben«, zischte Gillian. Umbro deutete auf den Rauch, der nach der Explosion aufgestiegen war. »Das war eine Granate«, sagte Eck. Es war nur eine Annahme, doch war er sicher, daß diese Annahme richtig war. »Ein Fallschirmjäger hat die Tunnelmündung entdeckt und wirft Handgranaten!« »Was ist, wenn wir unsere Fahrt fortsetzen und uns eine Granate direkt vor den Bug geknallt wird?« fragte Umbro. »Seriennummer 1719«, quäkte die Stimme eines Monitors aus dem Armband an Gillians Arm. »Berichten Sie!« »Ja, Sir«, antwortete Gillian. »Sofort.« »Was geht da vor?« wollte der Monitor wissen. »Ein Fallschirmjäger wirft Granaten in den Tunnel«, erklärte Gillian. Zu Umbro gewandt zischte er: »Setz’ das Schiff in Bewegung – und wenn es sich nur Zoll für Zoll vorwärtsbewegt!« »Ach«, sagte der Monitor. Eine Sekunde lang schien er befriedigt. Dann kam die nächste Frage. »Was machen Sie
denn im Tunnel? Dort haben Sie gar nichts zu suchen! Wo ist – « Aus dem Schiffsinneren drang wieder ein Dröhnen, als Umbro den Antrieb auf Langsamgang schaltete. »1719 antworten!« verlangte der Monitor. »Jetzt kommt ein Schlag bis zur Schul – « Die Stimme verblaßte und wurde verzerrt, als das Kraftfeld des Schiffes die Verbindung störte. Der elektrische Schlag kam noch, jedoch nur als sehr gemilderter Schockstoß. George Gillian hätte vor Erleichterung am liebsten geheult. Wenigstens ein Problem war gelöst! Umbro deutete die Startrampe hinauf. Wieder war eine Granate explodiert. »Nur weiter! Irgendwie weiter!« rief Gillian. Er grub die Finger unter die Armbandkante an seinem Handgelenk. Mit einem Ruck, in dem die ganze Kraft seines Armes steckte, zerbrach er den Metallreifen. Beim Zerbrechen züngelten ihm blaue Flammen entgegen. Gillian warf das Armband gegen die Bordwand. Während Eck und Umbro wie verrückt an ihren Armbändern zerrten, konnte sich Gillian Sis widmen. Sie sah ihn an, als erkenne sie ihn nicht. »Er ist tot«, sagte sie. »Ich habe gespürt, wie er starb.« Gillian packte ihren Arm. Mit starken Fingern fuhr er unters Armband und zog mit aller Kraft daran. Sie krümmte sich vor Schmerz und schrie auf – dann ging das Armband los. Wieder züngelten Gillian blaue Flämmchen entgegen. Sie glichen dem Giftzahn einer verendenden Schlange, die sich noch im Todeskampf wehren will. »Meine Liebe!« Er nahm sie in die Arme. »Er ist tot«, wiederholte sie, »weil er uns eine Chance zu leben geben wollte.« »Ich habe gewußt, daß er das vorhatte«, sagte Gillian. »An seiner Stelle hätte ich dasselbe getan.« »Ape Abrussi hat ihn getötet«, fuhr sie fort. »Ebenso hat er Washington Moses getötet, weil er getan hat, was Abrussi ein ›Doppelspiel‹ genannt hat.«
Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Wie kommt es, daß der Dienst am Höchsten vom Niedrigsten Doppelspiel genannt wird?« »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, flüsterte Gillian. Der von seinem Armband ebenfalls befreite Umbro hielt das Schiff in minimalster Vorwärtsbewegung. Er sah, wie sich der Rauch vor ihm langsam verzog. »Wenn wir weiterfahren und wieder eine Granate herunterkommt – « flüsterte er. »Kurz bevor er starb, hat er Hugo Strong gebeten, die Bombe abzuwerfen«, fuhr Sis fort. »Mr. Strong wird es tun. Irgendwo dort oben fliegt ein Bomber sein Ziel an.« Sie sah zu dem so weit entfernten Himmel empor. »Ape Abrussi wird sterben«, fuhr Sis fort. »Wir auch.« Ihre Stimme verstummte und tauchte aus einem blassen Lächeln ihres Gesichtes wieder auf. »Möchte wissen, ob mich drüben – auf der anderen Seite – Brutus erwartet und mich mit einem Bellen begrüßt?« In diesem verrückten Augenblick fiel es einem schwer zu entscheiden, wo die Phantasie aufhörte und die Tatsachen begannen. Sis wies auf das andere Ende der Höhle. »Jetzt kommt Ape Abrussi.« Gillians Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger und sah nun Abrussi und seine Leute auf die Schiffe zulaufen. Sie bewegten sich so schnell vorwärts, wie Affen eben laufen können. Das Riesenpendel hatte seine Schwingungen eingestellt. »Für die menschliche Rasse steht die Zeit still«, sagte Sis. Abrussi wies auf das Schiff, das über die Rampe glitt. Er hatte gemerkt, was da vor sich ging und gab seinen Leuten den Befehl zu schießen. An der Bordwand des Schiffes ertönte ein Trommeln wie von Hagelkörnern. Die Wachen der anderen Schiffe hatten das
Feuer mit Maschinenpistolen eröffnet. »Nichts wie raus!« sagte Gillian zu Umbro. »Aber dalli!« Der Tejaner nickte. Obwohl er keinen Hut trug, schien er ihn im Geiste fest über die Stirnknoten zu drücken, so daß weder Wind noch Explosion ihn auf der Fahrt durch den Tunnel wegwehen konnten. Dieses symbolische Zurechtrücken eines eingebildeten Hutes war ein Hinweis auf die Geschwindigkeit, mit der Umbro jetzt das Schiff einer eventuellen Granate entgegenjagen wollte. Er ging auf Höchstgeschwindigkeit. Wumm! Das war kein Fliegen in den Starttunnel – es war ein Hineinschnellen. Schnellen und Fliegen kam so blitzartig, daß der Fallschirmjäger da draußen gar keine Zeit hatte, die Granate, die er bereits in der Hand hielt, den Tunnel hinunterzuwerfen. Ihm blieb bloß Zeit, sie nach hinten, über den Felsrand zu werfen, wo sie explodierte und keinen Schaden anrichtete. »Dort unten haben wir ein Wespennest aufgescheucht!« rief er seinem Kameraden zu. »Hast du die Wespe gesehen, die eben ausgeschlüpft ist?« fragte der zweite Fallschirmjäger. »Beeil dich, wir müssen hinunter!« Der Befehl zum Rückzug hatte die beiden offenbar nicht erreicht. Nun, als sie schnell den Berg hinunterliefen, traf sie eine vom Wolkenhimmel reflektierte Schallwelle. Nun liefen sie noch schneller – und das hatte ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet. Umbro verlangsamte das Tempo nicht und nahm keine Kursänderung vor, bis der Mad Mountain nur mehr ein Punkt auf der Erde unter ihnen war. Dann beschrieb er mit der kleinen Maschine einen großen Bogen. Umbro wies hinaus ins Blaue. Ein großer Bomber schwebte in den unermeßlichen Tiefen des Himmels. Die
Bombenschächte waren geöffnet. Die Maschine setzte zum Anflug zur Bombardierung an. Sie sahen, wie etwas aus dem Bauch des Bombers fiel. Der Gegenstand fiel langsam, ganz langsam hinunter. Es war eine H-Bombe auf dem Weg zum Ziel. Ihr Ziel war der Mad Mountain. Mit einem tejanischen Fluch auf den Lippen deutete Umbro wieder hinaus – diesmal auf den Berg hinunter. Vom Plateau schwirrten Flugkörper hoch, die aus dieser Höhe wie Zwergenfahrzeuge wirkten. »Die Schiffe der Tejaner!« rief Umbro. »Abrussi nimmt Reißaus!« Hugo Strong im großen Bomber sah nicht, wie die Schiffe der Tejaner hinauf in den Himmel blitzten, er wußte nicht, daß sie Abrussi und viele seiner Leute in Sicherheit brachten. Während Strong der Bombe nachsah, die immer tiefer und tiefer fiel, füllten sich seine Augen mit Tränen. Die Bombe traf ihr Ziel. Wo vorher noch das Bergmassiv zu sehen war, erhob sich eine pilzförmige Rauchwolke. Dieser Bombenabwurf tötete viele Tejaner, unter ihnen Telso, und ebensoviele von Abrussis Leuten.
Aus ihrem kleinen Schiff beobachteten Gillian, Umbro, Eck und Sis, wie die Wolke sich formte. Sis mußte wegsehen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Umbro schüttelte den Kopf. »Nicht gut«, sagte er. »Der radioaktive Abfall wird auf eurem ganzen Planeten Unheil anrichten.« »Und was das Schlimmste ist, Abrussi hat es gar nicht erwischt«, sagte Gillian. »Wohin wird er sich verkriechen?« Umbros gelbe Augen blitzten. »Ich weiß nicht, wohin er gehen
wird. Aber eines weiß ich – er wird wieder den Jednar benutzen. Dann ich werde wissen, wo er ist. Dann ich werde ihn finden!« »Dann werden wir ihn finden«, berichtigte Eck ihn. Umbros gelbe Augen blickten zu dem hochgewachsenen Mann auf. Sie schienen zu billigen, was sie sahen. »Wir werden ihn finden!« bestätigte er. »Und ich möchte eines wissen – wohin fliegen wir?« fragte Sis. Umbro machte eine Handbewegung, die besagte, daß dieses Problem leicht zu lösen wäre. Er hantierte an der Steuerung, das kleine Schiff schoß mit Blitzesschnelle in die unendlichen Weiten des Himmels hinein. »Dorthin?« fragte Sis zweifelnd. »Dorthin!« antwortete Umbro entschlossen.
13
Die Zeitungen brachten den Bericht in allen Einzelheiten und, wie sie glaubten, auch mit allen Einzelheiten. Die Überschriften lauteten: Bombe während Manöver abgeworfen H-Bombe fällt in Wüste Die nächsten Zeilen brachten nähere Erklärungen: Teil des Übungsprogramms für Militär- und Zivilstreitkräfte. General meldet: Übung erfolgreich. Keine Menschenleben zu beklagen. Spätere Ausgaben korrigierten diese Behauptung und meldeten geringe Verluste an Menschenleben. Ziemlich versteckt waren in den Berichten zusätzliche Informationen enthalten, die andeuteten, daß der radioaktive Abfall sehr hoch war, daß es an der Ostküste Erdbeben gegeben habe und daß das Magnetfeld der Erde geschwirrt hätte, wie die Saite eines Riesenbogens. Über dem Schauplatz des Bombenabwurfes schwirrten bussardgleich mit Fernsehkameras bestückte Helikopter. Der Mad Mountain war einmal eine Hochfläche gewesen. Jetzt bestand er aus einer Masse geborstener Felsen, wahllos über der Wüste ausgespien. Kuriositätensammler hätten diese Felsbrocken sicherlich zum großen Teil weggeschleppt, hätte man nicht die versprengte Fallschirmtruppe dazu abkommandiert, das ganze Gebiet abzuriegeln, da es zu sehr radioaktiv verseucht und für Menschen nicht mehr sicher war. Der Mad Mountain selbst, das Zentrum der Explosion, würde noch einige Zeit heiß sein. Dort mußte man also mit Untersuchungen zuwarten.
Es gab Menschen, die sehen wollten, was vom Mad Mountain übriggeblieben war. Einer davon war Hugo Strong. Er wußte nicht, ob seine Bombe Abrussi vernichtet hatte. Er neigte zwar zu dieser Annahme, war sich aber seiner Sache nicht ganz sicher. Unter den in alle Winde verstreuten, geborstenen Felsen, die einst das Massiv des Mad Mountain gebildet hatten, war auch sonst vieles begraben, was Strong interessiert hätte. Hohe politische und militärische Kreise wollten ebenfalls wissen, wie es dort aussah. Falls zu diesem Zeitpunkt auf höchster Ebene die größte Konferenz der Geschichte im Gange war – sie war es auch – so wurde dieses Geheimnis vor der Öffentlichkeit jedenfalls um jeden Preis geheimgehalten. An leitender Stelle war niemand gewillt zuzugeben, daß Wesen von einem anderen Planeten regelmäßig die Erde besuchten. Das war ein Geheimnis, das vor der Öffentlichkeit um jeden Preis geheimgehalten werden mußte – obwohl der Großteil der informierten Öffentlichkeit bereits die Wahrheit wußte oder ahnte. In den Vereinigten Staaten, ja auf der ganzen Welt, herrschte größte Unruhe. Ein gewaltiges Bildungsprogramm wurde angekündigt. Eine neue Welle der Kriminalität brandete auf. Was war auf dem Planeten im Gange? In welche Richtung drehte sich diese Welt? Niemand schien diese Fragen beantworten zu können. Ape Abrussi las in den Blättern, die man ihm per Raumschiff brachte, den Bericht über die Bombardierung des Mad Mountain. Diese Artikel brachten ihn gewaltig in Rage. Er wußte, daß die Bombe eigentlich den Zweck gehabt hatte, ihn zu vernichten. Mit der Wahrheit konnte er nicht herausrücken. Über den Verlust des Riesenpendels war er ebenfalls äußerst erbost. Sicher hätte er es jemandem verkaufen können. Immerhin – es waren ihm noch fünf Schiffe geblieben, er hatte
zahlreiche Jednars und hatte seine Kerntruppe behalten. Damit ließ sich noch allerhand anfangen. Abrussi hatte sich wieder auf einem Berggipfel verkrochen. Diesmal lag der Berg in Mexiko. Abrussi bewohnte einen Palast, den ein spanischer Grande vor Jahrhunderten erbaut hatte. Obwohl in den Papieren ein anderer Name stand – dies nur, um den mexikanischen Gesetzen Rechnung zu tragen – , war der Besitz mit Abrussis Geld erworben worden. Seine Leute – Amerikaner und Mexikaner – bildeten das Personal. Abrussi begegnete den Mexikanern mit tiefer Verachtung, ein Gefühl, das von ihnen erkannt, ebenso erwidert wurde. Seine fünf Schiffe verbarg Abrussi in großen Gewölben unter dem Niveau des Palastes. Jenem Grande, der den Palast gebaut hatte, dienten diese Gewölbe zum Trocknen von Tabak. Abrussi hatte sie früher zur Aufbereitung von Mohn, aus dem Opium gewonnen wurde, verwendet. Groß und weitläufig, bildeten sie ein ideales Versteck für die Schiffe der Tejaner. Das Schloß lag weit vom Schuß, es war einsam und – was am wichtigsten war – es lag in Mexiko! Eine Landung von Fallschirmtruppen war nicht zu erwarten. Sollte Hugo Strong je erfahren, daß Abrussi noch am Leben war und sollte er eine Aktion gegen ihn planen, so würde sich eine solche Aktion zunächst über diplomatische Kanäle vortasten müssen. Und Abrussi hatte guten Grund anzunehmen, daß sich solche Aktionen jahrelang hinauszögern würden. Abrussi hatte keine Ahnung, wohin es Gillian, Eck und Sis verschlagen hatte. Er nahm an, sie wären im Schiff geflohen und damit auf irgendeinem Landeplatz in den Vereinigten Staaten gelandet und hatten die Maschine der Air Force überlassen. Wahrscheinlich stand das Schiff jetzt in einer streng bewachten Versuchsstation, während erstaunte Wissenschaftler dahinterzukommen versuchten, wie es funktionierte. Wahrscheinlich waren Gillian, Sis und Eck bei Hugo Strong.
Abrussi wünschte, sie wären in der Hölle gelandet. Er wünschte ihnen überhaupt das Allerübelste – und das von ganzem Herzen. Drei volle Tage nach seiner Ankunft in Mexiko verkroch sich Abrussi ins Bett. Die hautnahe Begegnung mit dem HBombentod war ihm so in die Glieder gefahren, daß weder Alkohol, noch sein eigenes Opium die zerrütteten Nerven auch nur annähernd wieder beruhigen konnten. Nach drei Tagen verschwand die Angst von selbst. Dann kam Wut. Als ihm immer klarer wurde, daß die Bombe ihr Ziel, nämlich ihn, verfehlt hatte, verwandelte sich die Wut in mörderischen Haß. Er hatte beinahe wie ein König geherrscht! Hätte ihn Ronson nicht hintergangen, wären Gillian und die anderen nicht auf und davon, hätte Hugo Strong nicht seine Atombombe abgeworfen… Als er bedachte, wie nahe er dem Sieg gewesen war und wie knapp er ihn verfehlt hatte, wurde er zu einem tollwütigen Tier. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine ganze Erscheinung so schrecklich, daß ein mexikanischer Diener, der eben eine frische Flasche Brandy brachte, erschrocken die Flasche fallenließ und davonlief. Abrussi zog den Jednar. Die kleine Glaswaffe gab den kleinen tödlichen Schnapplaut von sich. Diese Tat überzeugte Abrussi von seiner immer noch vorhandenen Bedeutung. Er befahl der Dienerschaft, den Toten wegzuschaffen. Brüllend erklärte er, er hätte diesen Peon getötet und würde sie alle töten, wenn sie ihm nicht gehorchten. Er drohte ihnen – und der mexikanischen Regierung – falls sie ihn wegen Mordes belangen sollten. Er war fast wahnsinnig vor Wut, doch es war jene Art Wahnsinn, die ihm seinen verlorenen Mut wiedergab. In dieser Stimmung ließ er seine Leibwache zum Appell im inneren Schloßhof antreten. Wie die meisten Häuser Lateinamerikas hatte auch dieser Bau einen Patio. Da es sich in
diesem Falle um ein Schloß handelte, war auch der Innenhof entsprechend größer ausgefallen. Er umschloß ein Stück Rasen, das für einen Tennisplatz gereicht hätte, blühende Bäume, etliche Springbrunnen und Blumen in allen Farben. Als seine Ehrengarde angetreten war, machte sich Abrussi an die Inspektion. Sein Mut war wiedergekehrt. Er hatte die Absicht, die Leute in seine Zukunftspläne einzuweihen. Jeder trug ein Armband, jeder hatte einen Jednar. Obwohl klein an Zahl, verliehen die Jednars in Verbindung mit den kleinen Raumschiffen durchschlagende Kampfkraft. Sie konnten jede beliebige Stelle der Erde angreifen und in wenigen Minuten wieder weg sein. Sie konnten das Nervenzentrum einer Nation zerstören und längst über alle Berge sein, ehe sich ein Widerstand organisiert hatte. Eine Truppe wie diese konnte trotz ihrer geringen Mannschaftsstärke die Regierungen des Planeten wie ein Wolfsrudel nach Belieben überfallen. Wenn er so seine Leute musterte und an das Potential dachte, das die Schiffe darstellten, wurde ihm wieder bewußt, daß er auf der Erde eine Macht bedeutete. »Wir haben einen kleinen Rückschlag erlitten«, erklärte er vor seinen Leuten. »Aber es ist uns genug geblieben. Wir werden aus jedem Kampf, der sich ergeben könnte, siegreich hervorgehen. Sollen sich doch die anderen für höchst schlau halten, weil sie uns eine Bombe auf den Kopf geworfen und uns in die Flucht geschlagen haben. Doch es wird der Tag kommen, da werden wir denen ebenfalls etwas auf den Kopf werfen. Und dann werden wir zusehen, wie sie laufen. Es gibt drei Menschen, die ich in die Hände bekommen möchte – George Gillian, Eck Randolph und seine Schwester«, fuhr Abrussi in ganz anderem Ton fort. »Sie halten sich irgendwo versteckt. Ich möchte, daß ihr sie findet und herschafft. Wie, das ist eure Sache!«
Aus einem Augenwinkel sah Abrussi das kleine Schiff vom Himmel herunterstürzen. Sein erster Gedanke war, daß es sich um eines seiner eigenen Schiffe handle. »Wer hat eines meiner Schiffe genommen, ohne mich zu fragen?« Von blitzartiger Geschwindigkeit innerhalb Sekundenbruchteilen in einen sofortigen Stillstand übergehend, landete das Schiff. Bewaffnete Tejaner unter der Führung Umbros sprangen heraus. Abrussi wollte seinen Jednar ziehen und seinen Leuten den Befehl geben, dasselbe zu tun, als er sah, daß bereits Jednars auf ihn gerichtet waren. Da änderte er sein Vorhaben. Denn ein Blick in Umbros Gesicht sagte ihm, daß ihn dieser Tejaner gnadenlos töten würde. Umbro voraus gingen zwei in schimmernde Gewänder gekleidete Tejaner. Ein zweiter Blick zeigte Abrussi, daß die beiden keine Tejaner waren. Es waren George Gillian und Eck Randolph. Ein dritter Blick zeigte ihm, daß sie seine Armbänder nicht mehr trugen. Bei ihrem Anblick schoß Abrussi ein einziger Gedanke durch den Kopf: Verdammte Verräter! Durch ihre Flucht hatten sie Verrat an ihm begangen. So verkehrt liefen seine Gedanken. In seiner Welt brachte das nur eine einzige Konsequenz mit sich. Abrussis Reflexe waren sehr schnell. Er langte nach dem Jednar, der in einem Halfter unter seiner Jacke steckte. »Zuerst überlegen!« sagte Gillian. Als Abrussi Umbro hinter ihnen sah, hielt er mitten in der Reflexbewegung inne. Der Jednar war nun gezogen, aber noch nicht auf die Gegner gerichtet. Da er sich der Waffe in Umbros Hand gegenübersah, fürchtete er, eine Bewegung zu machen. Er wäre tot gewesen, ehe er auch nur den Jednar in Anschlag bringen konnte. Umbro würde ihn bei der leisesten Bewegung töten.
Das Ergebnis war ein totaler Stillstand in der Bewegung. Abrussi konnte jetzt weder zielen, noch die Waffe fallenlassen. So wie Mohammeds Sarg auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde schwebt, so hing der Jednar nun in der Luft. Auch Umbro hielt mit dem Schießen zurück. Jeder der Gegner konnte töten – aber keiner konnte sein eigenes Leben retten. Gillian und Eck traten zur Seite, so daß Umbro freie Schußlinie hatte. Die Garde Abrussis hatte nicht einmal den Versuch unternommen, die Waffen zu ziehen. Das Schiff war so überraschend gelandet, daß dazu nicht genug Zeit blieb. Abrussi wußte, jetzt war die Zeit gekommen, zu reden und zwar schnell zu reden. Wenn er sie ein paar Minuten hinhalten konnte, würde ihre Wachsamkeit vielleicht nachlassen. »Wie – wie haben Sie mich gefunden?« keuchte er. »Sie haben einen Fehler gemacht«, antwortete Gillian. »Sie haben ihren Jednar einmal zuviel benutzt. Sie haben zweifellos jemanden getötet. Wen denn?« »Das – das ist eine Lüge!« keuchte Abrussi. »Der Jednar Nr. 6A 743 wurde vor kurzem benutzt. Wahrscheinlich ist es ohnehin der, den Sie im Augenblick in der Hand halten. Wenn Sie mir den Jednar geben, werde ich Ihnen die tejanische Nummer zeigen.« Gillian streckte die Hand nach der Waffe aus. »Nein, nicht!« antwortete Abrussi. »An die Waffe kommt ihr nur heran, wenn ihr mich tötet. Und wenn ihr das versucht, dann nehme ich euch mit!« Sein Blick glich dem eines gefangenen Tigers. »Sie werden auch sterben, Mr. Abrussi«, sagte Gillian. Sein Ton war überaus höflich. Viel zu höflich, dachte Abrussi bei sich. »Jagd beendet«, brummte Umbro. »Was meinen Sie mit Jagd?« fragte Abrussi. »Die Tejaner machen schon seit langem
Jagd auf Sie«, erklärte Gillian. »Wenn ein Jednar benutzt wird, schickt er einen starken Impuls aus. Jeder Jednar arbeitet auf seiner eigenen individuellen Frequenz. Wenn einer irgendwo eingesetzt wird, wissen die Tejaner genau, welcher Jednar es gewesen ist. Sie können auch den Ort des Einsatzes der Waffe mit großer Genauigkeit feststellen. Jedesmal, wenn Sie mit dem Jednar getötet haben, haben Sie einen Beweis hinterlassen. Umbro hat Jagd auf Sie gemacht, aber bis jetzt ist es Ihnen immer gelungen zu entschlüpfen.« Dieser Gedanke erschütterte Abrussi. Ohne es zu wissen, war er also dem Tod schon sehr oft nahe gewesen. Wenn es ihm nicht gelang, sich aus dieser Situation herauszureden, dann war der Tod ihm jetzt so nahe, daß er bereits den Moder auf seinem Leichengewand zu riechen glaubte. »Was haben Sie denn mit diesen – Ziegen – zu schaffen?« fragte er Gillian verächtlich. »Sie sind doch ein Mensch. Wenn es hart auf hart geht, müssen Sie zu Ihrer eigenen Gattung halten.« Umbro erfaßte die Verachtung, die in diesen Worten lag. »Jagd beendet«, wiederholte er nachdrücklich. Auf eine Handbewegung Gillians hin, schwieg Umbro. »Vielleicht habe ich einen Mexikaner erschossen«, sagte Abrussi. »Es war Notwehr.« »Hat Washington Moses auch auf Sie angelegt?« fragte Gillian. »Er hat mich betrogen!« »Hat Samuel Ronson als erster auf Sie angelegt?« fuhr Gillian fort. »Er hat mich auch hintergangen!« schrie Abrussi. Er schäumte. »Was treiben diese Ziegen auf der Erde? Dieser Planet gehört uns!« »Diese Ziegen, wie Sie sie zu nennen belieben, sind die am höchsten entwickelte Rasse im Sonnensystem. Sie wollen uns
helfen, unseren Planeten für uns und für unsere noch weit entfernten Enkel zu retten.« »Enkel!« antwortete Abrussi. »Es wird keine Enkel mehr geben, wenn wir uns nicht schützen!« »Genau«, sagte Gillian. »Das ist auch der Grund, warum wir uns vor Ihnen schützen müssen!« Abrussi gefiel dieser Ton gar nicht, noch weniger gefiel ihm der Ausdruck in Umbros Augen. Langsam rückte Abrussi Zoll für Zoll zur Seite, um Gillian zwischen sich und Umbro zu bringen. »In etwa fünfhundert Jahren wird das gesamte Sonnensystem mit einem dunklen Stern kollidieren. Um diesen Zusammenstoß zu verhindern, bedarf es besserer Gehirne in verbesserten Körpern und zwar in größerer Zahl, als es sie heute gibt. Nicht nur auf der Erde, sondern im ganzen Sonnensystem. Hier, auf diesem Planeten, erzwingen die Tejaner eine Evolution, um diese besseren Köpfe in besseren Körpern zu produzieren. Unglücklicherweise bringt dieser Prozeß auch viel Verbildetes hervor, Menschen, die sich dem Wandel der Zeit nicht anpassen wollen oder können, Menschen, die eigentlich einen Rückfall auf die tierische Stufe der Menschheitsentwicklung bedeuten. Wenn die Tejaner – und auf lange Sicht wir hier auf der Erde – dies zulassen, dann können diese Rückfälle den gesamten großen Plan aufhalten oder überhaupt zunichtemachen.« »Sollen doch die Menschen in fünfhundert Jahren ihre Probleme selbst lösen!« antwortete Abrussi. Wieder rückte er einen kleinen Schritt gegen Gillian vor. »Mit Relaispendeln – wie Sie eines in der Höhle gesehen haben – die ihre Energie von einem Zentralpendel erhalten, taucht man unseren Planeten in Strahlen, die im Laufe der Zeit das gewünschte Ergebnis erbringen.« Gillian, der natürlich bemerkt hatte, daß Abrussi sich in eine Position manövrieren
wollte, die ihm einen Schuß auf Umbro ermöglichen sollte, merkte, daß Eck ebenfalls zollweise vorrückte. Er hatte Eck nichts dergleichen aufgetragen, noch waren solche Anweisungen überhaupt notwendig. Eck wußte ganz intuitiv, was zu tun war. Mit echtem Stolz dachte Gillian, daß er und Eck ein tolles Team bildeten. Es gab noch ein drittes Teammitglied – doch man hätte Sis aufgetragen, sich im Hintergrund zu halten. Es hatte der vereinten Überredungskünste von Gillian und Eck bedurft, um dieses Ergebnis zu erreichen. »Heute brauchen wir auf der Erde jeden Menschen«, fuhr Gillian fort. »Es spielt keine Rolle, wer oder was er ist. Wenn er bloß gewillt ist, zu lernen, bedeutet er für uns eine Hilfe.« Er fragte sich, ob wohl Samuel Ronson auch diese Worte gewählt hätte und entschied, daß der Forscher sicher dasselbe gesagt hätte. Ronson hatte die Evolution von einem sehr weiten Blickwinkel aus gesehen und darauf beharrt, daß sogar Tiere sich mit der Zeit weiterentwickeln sollten. Diese Auffassung trug mit Schuld an seinem Tod. »Verschont mich mit diesem Missionarsgewäsch«, gab Abrussi zurück. »Sie wollen mich doch bloß ablenken, bis Sie mir den Jednar wegnehmen können.« Nur noch ein einziger Schritt und er würde Gillian zwischen sich und Umbro haben. »Wirklich?« fragte Gillian. »Ja. Es wird Ihnen aber nicht gelingen.« Mit dem letzten nötigen Schritt lenkte Abrussi seine Waffe so, daß sie direkt auf Gillian zielte. »Sagen Sie dieser Ziege hinter Ihnen, daß Sie mitgehen, falls er versucht, mich umzulegen!« »Drücken Sie doch Ihren Jednar ab!« forderte ihn Gillian auf. »Was?« schnappte Abrussi erstaunt nach Luft. »Drücken Sie nur ab!« forderte Gillian ihn auf. Abrussi starrte ihn an. »Der Jednar wird nicht funktionieren«, sagte Gillian. »Ich habe Ihnen gesagt, daß jeder Jednar seine eigene Frequenz hat, so
wie bei Ihren Armbändern jedes eine eigene Frequenz hat. Die Tejaner haben die Seriennummern aller in Ihrem Besitz befindlichen Waffen. Bis jetzt hat man diese Frequenzen eingeschaltet gelassen, weil das der einzige Weg war, Ihren Aufenthaltsort festzustellen. Die Tejaner wollten ihre Jednars zurück haben, um zu verhindern, daß Sie hinter ihre Geheimnisse kommen. Doch jetzt haben wir Sie geschnappt und jeder Jednar in Ihrem Besitz – der in Ihrer Hand eingeschlossen – ist nur mehr wertloses Glas.« »Wieder eine Lüge!« kam Abrussis Antwort. »Meine Armbänder werden von einer Zentralstelle aus dirigiert. Aber wo ist die Zentralstelle der Jednars?« »Dort«, antwortete Gillian und wies nach oben. Trotz aller Konzentration, es nicht zu tun und in der Meinung, daß es bloß ein Trick wäre, mußte Abrussi jetzt dennoch seinen Blick nach oben wenden. Dort oben am Himmel schwebte das große Hauptschiff der Tejaner und ging langsam tiefer. Es war länger als der längste Ozeandampfer, größer als der größte Flugzeugträger und durchschnitt doch den Himmel mit einer Leichtigkeit, die scheinbar keiner Antriebskraft bedurfte. Darunter hing das große Pendel. Es bewegte sich in dem majestätischen Rhythmus, der dem großen All entspricht. Obwohl das Pendel in der Höhle des Mad Mountain nicht mehr existierte, war dieses größere Pendel noch in Schwung und kämpfte mit aller Kraft darum, die Zeit für den Planeten nicht stillstehen zu lassen. In dieses Schiff hatte Umbro Gillian, Sis und Eck gebracht. Sis befand sich noch an Bord! Auf ihr und Millionen anderer junger Frauen ruhten die Hoffnungen der Tejaner für die Zukunft der Erdbevölkerung. Für George Gillian war dieses Schiff ein gewaltiger Traum, der am Himmel schwebte – der größte und schönste Traum, den er je gehabt hatte. Tief im Herzen wußte er, daß Samuel Ronson denselben Traum gesehen hatte.
»Dort ist das Hauptpendel«, sagte Gillian. »In diesem Schiff befindet sich auch die Hauptschaltstelle für alle Jednars. Sie können nämlich nicht selbst Energie erzeugen und erhalten sie von der Hauptstelle im Schiff.« Für Gillian existierte noch ein Grund zur Verwunderung. Der Z-Generator, den er in seinem Labor gebaut hatte und den er verächtlich Monstrum getauft hatte, war in Wirklichkeit das Gegenstück zu dem großen Hauptgenerator im Hauptschiff der Tejaner. Der Z-Generator war also doch kein Fehlschlag gewesen! Qualifizierte tejanische Wissenschaftler hatten respektvoll zugehört, während er ihnen Bericht erstattet hatte und die vermeintlichen Fehler aufzählte. Was er als Fehlschlag angesehen hatte, war in Wirklichkeit ein großer Erfolg gewesen. Das hatten sie ihm bestätigt. In der Tatsache, daß eine irdische Frau die Skizzen für den Z-Generator beschaffen und irdische Männer ihn nachbauen konnten, hatten die Tejaner den unwiderlegbaren Beweis gefunden, daß ihr großer Plan, verbesserte Gehirne in verbesserten Körpern aufzubauen, Erfolg gezeitigt hatte. Der Z-Generator war dieser Beweis! Abrussi drückte ab. Es geschah gar nichts. Abrussi mußte also der Tatsache ins Auge sehen, daß Gillian ihm die Wahrheit gesagt hatte. Er mußte auch der noch viel bittereren Tatsache ins Auge sehen, daß er innerlich ein Affe war, ein Affe, der unter Menschen gelebt und so getan hatte, als wäre er ein Mensch. Diese Tatsache ertrug Abrussi nicht. Er ließ den Jednar fallen. Seine Hand fuhr in die Tasche, wo er jene kleine Waffe versteckt hatte, die er vor der Auffindung des Jednar benutzt hatte. Wenn die Waffen der Tejaner nicht funktionierten – eine gewöhnliche Pistole würde sicher losgehen. Als Abrussis Hand in der Tasche verschwand, sprang Eck auf ihn zu. Eck packte die Hand, die nach der Waffe greifen wollte. Gleichzeitig
schlug Gillian von vorn zu. Gillians Faust landete auf Abrussis Kinnspitze. Es folgte ein kurzer Knacklaut. Eck ließ einen leblosen Körper aus den Händen gleiten. Gillians Kinnhaken war so gewaltig ausgefallen, daß er damit Abrussi das Genick gebrochen hatte. Umbro beugte sich über den Körper, um den Eintritt des Todes sicher festzustellen. Als er aufsah, glänzten die gelben Augen. »Jagd beendet«, sagte er. Als er George Gillian und Eck Randolph ansah, fingen seine Augen zu glühen an. Vielleicht gab es schließlich und endlich doch gute Menschen! Umbro signalisierte der Tejanischen Besatzung, sie solle die Jednars von Abrussis Garde einsammeln und die versteckten Waffen suchen. George Gillian und Eck Randolph sahen zu dem Schiff hinauf. Sie wußten, bald würden sie an Bord zurückkehren. Das Schiff ging immer höher, weil es seine normale Position auf der Nachtseite der Erde ansteuerte, in ihren Herzen wuchsen Träume, Träume von Dingen, die erst kommen sollten. Beide fühlten, daß ihnen Sis vom Schiff her zulächelte. Beide waren glücklich, und zwar verschieden glücklich und vor allem aus verschiedenen Gründen glücklich – im Wissen um dieses Lächeln.