Edward W. Said
Am falschen Ort Autobiografie
Aus dem Englischen von Meinhard Büning
Berliner Taschenbuch Verlag
Ma...
101 downloads
1209 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Edward W. Said
Am falschen Ort Autobiografie
Aus dem Englischen von Meinhard Büning
Berliner Taschenbuch Verlag
Mai 2002 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel Out of Place. A Memoir bei Alfred A. Knopf, New York © 1999 Edward W. Said
Für die deutsche Ausgabe © 2000 Berlin Verlag, Berlin Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg Druck & Bindung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany • ISBN 3-442-76074-7
»Am falschen Ort ist die Geschichte eines oft schmerzhaften Heranwachsens zwischen mehreren Kulturen, beschrieben mit wunderbarer Leichtigkeit und schonungsloser Offenheit… Man erhält einen unvergesslichen Eindruck davon, was es in den vergangenen fünfzig Jahren bedeutet hat, ein Palästinenser zu sein.« So urteilt Salman Rushdie über die Kindheits- und Jugenderinnerungen Edward W. Saids. Am falschen Ort ist die ergreifende Beschreibung einer Kindheit und Jugend in einer inzwischen versunkenen arabischen Welt. Einprägsam schildert Said die einzelnen Stationen der zerrissenen Familiengeschichte in Jerusalem, Kairo, New York und Dhur. Edward W. Said, 1935 in Jerusalem geboren, lehrt an der Columbia University und ist Autor, Musikkritiker und Pianist. Er gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit.
VORWORT
»AM FALSCHEN ORT« IST DER BERICHT über eine im Wesentlichen verlorene oder vergessene Welt. Vor einigen Jahren wurde mir eine offenbar tödliche Diagnose gestellt, und so erschien es mir wichtig, einen subjektiven Bericht meines Lebens zu hinterlassen, das sich sowohl in der arabischen Welt abspielte, in der ich geboren wurde und meine prägenden Jahre verbrachte, als auch in den Vereinigten Staaten, wo ich zur Schule ging und College und Universität besuchte. Etliche der Orte und Menschen, an die ich mich hier erinnere, gibt es nicht mehr. Allerdings war ich oft erstaunt, wie viel von ihnen ich in häufig winzigen, wenn auch verblüffend konkreten Details noch in mir trug. Meine Erinnerung erwies sich als entscheidend wichtig, um in angsterfüllten Phasen entkräftender Krankheit und Therapie überhaupt arbeitsfähig bleiben zu können. Fast jeden Tag, auch wenn ich an anderen Texten schrieb, verschaffte mir das Stelldichein mit diesem Manuskript eine Ordnung und eine Disziplin, die angenehm und fordernd zugleich war. Meine anderen Schriften und meine Lehrverpflichtungen schienen mich weit von den verschiedenen Welten und Erfahrungen dieses Buches fortzutragen: Offensichtlich funktioniert die Erinnerung eines Menschen besser und freier, wenn sie nicht durch besondere, diesem Zweck dienende Mittel oder Tätigkeiten angeregt wird. Dennoch sind in diese Erinnerungen mit Sicherheit und mehr oder weniger unbemerkt auch meine politischen Schriften zur Situation der Palästinenser eingegangen, ebenso wie meine Studien zum Verhältnis von Politik und Ästhetik, insbesondere zu Oper und Prosa, und
meine Faszination für das Thema eines Buches über »späte Schaffensperioden« (beginnend mit Beethoven und Adorno). Nach der Fertigstellung des Manuskripts reiste ich im November 1998 nach Jerusalem und dann nach Kairo. In Jerusalem hielt ich mich auf, während ich an einer Konferenz über »palästinensische Landschaft« in Bir Zeit teilnahm, und nach Ägypten fuhr ich, um dabei zu sein, wie einer meiner begabtesten Studenten, der an der Universität von Tanta, achtzig Kilometer nördlich von Kairo, lehrt, seine Doktorarbeit verteidigte. Wieder einmal stellte ich fest, dass das einstige Netz aus Städten und Dörfern, in denen alle Angehörigen meiner erweiterten Familie gelebt hatten, nun zu einer Reihe israelischer Örtlichkeiten geworden war – Jerusalem, Haifa, Tiberias, Nazareth und Akkon –, in denen die palästinensische Minderheit unter israelischer Herrschaft lebt. In Teilen der Westbank und in Gaza besaßen Palästinenser die Selbstverwaltung oder Autonomie, aber die israelische Armee wachte weiterhin überall über die Sicherheit, nirgends deutlicher als an Grenzen, Kontrollpunkten und Flughäfen. Eine der Routinefragen israelischer Beamter (denn mein USPass enthielt die Angabe, dass ich in Jerusalem geboren sei) lautete, wann genau nach meiner Geburt ich Israel verlassen hätte. Ich antwortete, ich hätte Palästina im Dezember 1947 verlassen; dabei betonte ich das Wort Palästina. »Haben Sie irgendwelche Verwandte hier?«, hieß die nächste Frage, worauf ich antwortete: »Niemanden«, und das löste bei mir ein Gefühl der Trauer und des Verlustes aus, wie ich es so nicht erwartet hatte. Denn zu Beginn des Frühlings 1948 war meine gesamte erweiterte Familie aus dieser Gegend vertrieben worden und hat seither immer im Exil gelebt. 1992 konnte ich jedoch zum ersten Mal seit unserer Abreise im Jahr 1947 das Haus der Familie in Westjerusalem besuchen, in dem ich geboren wurde, sowie das Haus in Nazareth, in dem meine
Mutter aufwuchs, und das Haus meines Onkels in Zefat und so weiter. Alle waren jetzt von anderen Menschen bewohnt, und das machte es aus schrecklich hemmenden und nicht genauer zu bestimmenden emotionalen Gründen sehr schwer und praktisch unmöglich, diese Häuser noch einmal zu betreten, und sei es auch nur für einen flüchtigen Blick. Während meines Aufenthalts in Kairo im November 1998 besuchte ich unsere alten Nachbarn Nadia und Huda und ihre Mutter, Mrs. Gindy, die lange Jahre drei Stockwerke unter uns gelebt hatten, im zweiten Stock der Sharia Aziz Osman Nr. 1. Sie erzählten mir, Nr. 20, unsere alte Wohnung, stehe leer und solle verkauft werden. Nachdem ich einen Augenblick lang überlegt hatte, sie zu kaufen, verspürte ich jedoch keine Begeisterung, einen Ort zurückzugewinnen, den wir vor fast vierzig Jahren verlassen hatten. Einen Augenblick später sagten Nadia und Huda, vor dem Mittagessen warte noch jemand auf mich in der Küche. Würde ich ihn sehen wollen? Ein kleiner drahtiger Mann im dunklen Festtagsgewand (samt Turban) eines oberägyptischen Bauern betrat das Zimmer. Als er von den beiden Frauen erfuhr, dies sei der Edward, auf den er so geduldig gewartet habe, wich er zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, Edward war groß und trug eine Brille. Dies ist nicht Edward.« Ich hatte sogleich Ahmad Hamed erkannt, der fast dreißig Jahre lang unser sufragi (Diener) gewesen war, ein ironischer, geradezu fanatisch ehrlicher und loyaler Mann, den wir alle als Familienmitglied betrachtet hatten. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass ich es wirklich war und nach achtunddreißigjähriger Abwesenheit lediglich durch Krankheit und Alter verändert sei. Plötzlich fielen wir uns in die Arme und weinten über das Glück der Wiederbegegnung und aus Trauer über die unwiederbringliche Zeit. Er sprach darüber, wie er mich auf den Schultern getragen hatte, wie wir in der Küche geschwatzt hatten, wie die Familie Weihnachten
und Neujahr gefeiert hatte und so fort. Ich war erstaunt, dass Ahmad sich nicht nur genau an uns sieben erinnerte – Eltern und fünf Kinder –, sondern auch an jede einzelne meiner Tanten, an Onkel, Kusinen und meine Großmutter, sowie an einige Freunde der Familie. Und als so die Vergangenheit aus ihm herausströmte, einem alten Mann, der seinen Lebensabend in der entlegenen Stadt Edfu in der Nähe von Assuan verbrachte, wusste ich wieder, wie zerbrechlich, kostbar und vergänglich die Geschichte und Umstände waren, die nun nicht nur für immer vergangen, sondern auch im Wesentlichen vergessen und unaufgezeichnet geblieben waren, außer in gelegentlichem Erinnern oder beiläufiger Unterhaltung. Diese zufällige Begegnung vermittelte mir noch nachdrücklicher das Gefühl, dass dieses Buch als inoffizieller persönlicher Bericht über diese turbulenten Jahre im Nahen Osten einen gewissen Wert besitzt. Ich berichte darin so viel als nur möglich von meinem Leben zu jener Zeit, hauptsächlich aus den Jahren von meinem Geburtsjahr 1935 bis ins Jahr 1962, kurz vor Abschluss meiner Dissertation. Diese Geschichte meines Lebens spielt vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, des Verlustes Palästinas und der Gründung Israels, des Endes der ägyptischen Monarchie, der Nasser-Jahre, des Kriegs von 1967, der Entstehung der palästinensischen Bewegung, des libanesischen Bürgerkriegs und des Friedensprozesses von Oslo. In meiner Erinnerung spielt all das nur eine indirekte Rolle, auch wenn es hier und dort flüchtig aufscheint. Interessanter für mich als Autor war das Gefühl, das ich immer empfand, wenn ich Erfahrungen zu vermitteln suchte, die ich nicht nur in einer fernen Umgebung, sondern auch in einer anderen Sprache gemacht hatte. Jeder lebt sein Leben in einer vorgegebenen Sprache; alle Erfahrungen werden daher in dieser Sprache erlebt und erinnert. Der grundlegende Riss in
meinem Leben verlief zwischen dem Arabischen, meiner Geburtssprache, und dem Englischen, der Sprache meiner Ausbildung und späteren Arbeit als Wissenschaftler und Lehrer. Deshalb war es nicht leicht, den Bericht über das eine in der Sprache des anderen zu erstellen – ganz zu schweigen von den zahllosen Weisen, in denen sich die Sprachen für mich vermischten und in einzelnen Bereichen überschnitten. So war es etwa schwierig, auf Englisch die tatsächlichen Unterschiede (wie auch die reichen Assoziationen) zu erläutern, in denen das Arabische zum Beispiel zwischen Onkel väterlicher- und mütterlicherseits unterscheidet; da solche Nuancen in meinem frühen Leben aber eine eindeutige Rolle spielten, musste ich auch versuchen, sie hier wiederzugeben. Neben der Sprache liegt im Kern meiner Erinnerungen an diese frühen Jahre die Geographie – vor allem in der entfremdeten Form von Abreisen, Ankünften, Abschieden, Exil, Heimweh, Nostalgie, Zugehörigkeit und des Reisens selbst. Jeder der Orte, an denen ich lebte – Jerusalem, Kairo, der Libanon, die Vereinigten Staaten –, war von einem komplizierten, dichten Geflecht von Wertigkeiten geprägt, das mich in besonderer Weise in meinem Heranwachsen begleitete, in der Identitätsfindung, in dem Bemühen, ein Bewusstsein von mir selbst und anderen herauszubilden. Stets nehmen in dieser Geschichte die Schulen einen herausragenden Platz ein – Mikrokosmen der Städte, in denen meine Eltern diese Schulen für mich fanden. Da ich selbst unterrichte, war es nur natürlich, dass ich das ganze Umfeld der Schulen einer besonderen Darstellung für wert hielt, obwohl ich gar nicht damit gerechnet hatte, wie genau ich mich an die ersten von mir besuchten Einrichtungen erinnerte, und ebenso natürlich war es, dass die Freunde und Bekannten aus jener Zeit in stärkerem Maße zu einem Teil meines Lebens
geworden sind als diejenigen aus meinen Universitätstagen oder Internatsjahren in den Vereinigten Staaten. Eines der Dinge, die ich implizit zu erforschen suchte, ist der Einfluss, den diese sehr frühen Schulerfahrungen auf mich ausübten, die Frage, warum ihr Einfluss anhält und warum sie mir noch heute so faszinierend und interessant erscheinen, dass ich sie fünfzig Jahre später den Lesern vorstelle. Der Hauptgrund jedoch für diese Erinnerungen liegt natürlich in dem Bedürfnis, die schiere zeitliche und räumliche Distanz zwischen meinem heutigen und meinem damaligen Leben zu überwinden. Ich erwähne das hier nur als offensichtliche Tatsache, nicht um mich darüber auszulassen oder es zu diskutieren. Ich stelle lediglich fest, dass eines der Ergebnisse davon eine gewisse Distanz und Ironie in Haltung und Tonfall ist, wenn ich versuche, eine entlegene Zeit und Erfahrung zu rekonstruieren. Mehrere der hier beschriebenen Personen sind noch am Leben und werden meinen Porträts von ihnen und anderen wahrscheinlich weder zustimmen noch sie billigen. Sowenig ich den Wunsch hege, die Gefühle anderer zu verletzen – meine wichtigste Aufgabe bestand nicht darin, nett zu sein, sondern meine vielleicht eigenartigen Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle wahrhaft wiederzugeben. Ich und nur ich bin verantwortlich für das, was ich sehe und woran ich mich erinnere, kein Individuum in der Vergangenheit, das nicht wissen konnte, welche Wirkung es womöglich auf mich hat. Und schließlich wird hoffentlich auch deutlich, dass ich bewusst mir selbst weder als Erzähler noch als dargestellter Charakter ebendiese Ironien oder peinlichen Erinnerungen erspart habe.
Zur Schreibweise arabischer Personen- und Ortsnamen Eigennamen wurden weitgehend nach der Schreibweise von Edward Said beibehalten, da die jeweiligen Personen sich vermutlich in lateinischer Schrift so geschrieben haben. Daraus ergeben sich unterschiedliche und widersprüchliche Schreibweisen, je nachdem, ob sie aus ehemaligen englischen oder französischen Einflussgebieten stammen. Dasselbe gilt auch für Ortsnamen. Herrschernamen u. ä. wie Fuad und Faruq wurden der Umschrift aus dem Hocharabischen angepasst. Da es sich bei den wenigen arabischen Zitaten fast durchweg um Dialektwendungen handelt, wurden sie nicht nach der vom Duden vorgegebenen Umschrift, sondern ihrer Lautfolge entsprechend wiedergegeben, wobei »sh« für die deutsche Aussprache »sch« und »kh« für »ch« belassen wurden.
I
IN ALLEN FAMILIEN WERDEN KINDER und Eltern erfunden, wird jedem Einzelnen eine Geschichte, ein Charakter, ein Schicksal und sogar eine Sprache verliehen. Daran, wie ich erfunden wurde und in die Welt meiner Eltern und vier Schwestern passen sollte, war immer irgendetwas verkehrt. Ob dies nun daran lag, dass ich meine Rolle ständig missverstand, oder an einem tief sitzenden Makel meines Wesens, konnte ich während des größten Teils meiner Jugend nicht herausfinden. Manchmal gab ich mich kompromisslos und war stolz darauf. Zu anderen Zeiten schien ich dagegen überhaupt keinen Charakter zu haben, war ängstlich, unsicher, willenlos. Alles jedoch war bestimmt von dem Gefühl, immer fehl am Platz zu sein. So brauchte ich etwa fünfzig Jahre, um mich an »Edward« zu gewöhnen, oder genauer gesagt, um mich mit ihm nicht mehr so unbehaglich zu fühlen – einem albernen englischen Namen, der mit dem unverwechselbar arabischen Familiennamen Said zusammengekoppelt war. Zwar erzählte mir meine Mutter, Edward sei ich nach dem Prinzen von Wales getauft worden, der in meinem Geburtsjahr 1935 eine so gute Figur abgegeben hatte, und Said sei der Name verschiedener Onkel und Vettern. Aber diese logische Erklärung meines Namens verlor ihre Grundlage, als ich keine Großeltern namens Said entdecken konnte und versuchte, meinen ausgefallenen englischen Namen mit seinem arabischen Gegenstück zu verknüpfen. Jahrelang und je nach den Umständen überging ich »Edward« und hob »Said« hervor; manchmal machte ich es umgekehrt oder sprach beide so schnell hintereinander aus, dass keiner von beiden zu
verstehen war. Was ich absolut nicht ertragen konnte, sehr oft jedoch erdulden musste, war die ungläubige und daher nervenaufreibende Reaktion: Edward? Said? Die Last eines solchen Namens wurde zusätzlich erschwert durch ein gleichermaßen verwirrendes Dilemma, das die Sprache betraf. Ich habe niemals gewusst, welche Sprache ich als erste gesprochen habe, Arabisch oder Englisch, oder welche von beiden denn nun wirklich ohne jeden Zweifel die meine war. Ich weiß jedoch, dass die beiden in meinem Leben immer gemeinsam aufgetreten sind, wobei die eine in der anderen wiederklang, manchmal ironisch, gelegentlich nostalgisch, meistens einander korrigierend und kommentierend. Jede kann als meine Muttersprache gelten – keine von beiden ist es. Ich führe diese grundlegende Unsicherheit auf meine Mutter zurück, die in meiner Erinnerung sowohl englisch als auch arabisch mit mir sprach, obwohl sie mir immer auf Englisch schrieb – einmal die Woche, solange sie lebte, so wie auch ich an sie, solange sie lebte. Gewisse gesprochene Ausdrücke von ihr wie tislamli oder mish carfa shu biddi camal, oder ruhba, deren es Dutzende gab, waren arabisch, und ich kann mich nicht entsinnen, dass ich sie jemals bewusst hätte übersetzen müssen oder selbst in Fällen wie tislamli genau gewusst hätte, was sie bedeuteten. Sie waren Teil ihrer unendlich mütterlichen Ausstrahlung, nach der ich mich in Augenblicken großer Anspannung sehnte, verkörpert in dem sanft geäußerten Ausdruck »ya mama«, eine träumerisch verführerische, dann aber abrupt entrissene Ausstrahlung, die etwas versprach, was am Ende niemals gewährt wurde. Ihr Arabisch hatte gleichwohl englische Einsprengsel, »naughty boy« etwa, und natürlich meinen Namen, den sie »Edwaad« aussprach. Noch heute verfolgt mich die Erinnerung an diesen Klang ihrer Stimme, zum immer gleichen Zeitpunkt,
am immer gleichen Ort, an den Ruf »Edwaad«, der zur Schließungszeit des Fischgartens (eines kleinen Parks in Zamalek mit einem Aquarium) durch die Dämmerung schwebt, und an mich selber, der ich mich nicht entscheiden kann, ob ich ihr antworten soll oder lieber noch ein bisschen länger im Versteck bleibe und das Vergnügen genieße, gerufen zu werden und erwünscht zu sein, wobei sich der Teil von mir, der nicht Edward ist, durch sein Nichtantworten den Luxus einer Atempause verschafft, bis ich schließlich die Stille meiner Existenz nicht mehr ertragen kann. Ihr Englisch war geprägt von einer Rhetorik der Behauptungen und Normen, die mich niemals verlassen hat. Sobald meine Mutter vom Arabischen ins Englische überging, verfiel sie in einen objektiveren und ernsthafteren Ton, der gewöhnlich der nachgiebigen und musikalischen Intimität ihrer Muttersprache, des Arabischen, ein Ende machte. Mit fünf oder sechs Jahren wusste ich, dass ich unheilbar »unartig« war, und auch in der Schule, als »Zappler« und »Faulpelz«, war mein Verhalten nicht zu tolerieren. Sobald mir vollständig bewusst war, dass ich fließend, wenn auch nicht immer korrekt englisch sprach, bezog ich mich regelmäßig auf mich selbst nicht als »Ich«, sondern als »Du«. »Mami liebt dich nicht, du unartiger Junge«, sagte sie etwa, und ich antwortete dann halb als trauriges Echo, halb in trotziger Selbstbehauptung: »Mami liebt dich nicht, aber Tante Melia liebt dich.« Tante Melia war ihre ältliche unverheiratete Tante, die mich als sehr kleinen Jungen verwöhnte. »Nein, tut sie nicht«, beharrte dann meine Mutter. »Also gut, Saleh [Tante Melias sudanesischer Fahrer] liebt dich«, endete ich, um wenigstens etwas vor dem aufziehenden Trübsinn zu retten. Ich hatte damals keinerlei Vorstellung, woher das Englisch meiner Mutter stammte oder wer sie, in nationaler Hinsicht, eigentlich war. Dieser eigenartige Zustand der Unwissenheit
hielt sich bis zu einem relativ späten Zeitpunkt meines Lebens, als ich schon die höhere Schule besuchte. In Kairo, einem der Orte, an denen ich aufwuchs, war ihr Arabisch ein fließendes Ägyptisch; für meine schärferen Ohren jedoch wie auch für die ihrer vielen ägyptischen Bekannten war es zwar nicht eindeutig Shami, aber doch deutlich davon beeinflusst. Shami (Damaszenisch) ist das kollektive Adjektiv und Substantiv, mit dem Ägypter sowohl einen nicht ägyptischen Arabisch sprechenden als auch einen Menschen aus dem großsyrischen Raum bezeichnen, das heißt aus Syrien selbst, aus Palästina, dem Libanon, Jordanien. Zugleich bezeichnet »shami« auch den arabischen Dialekt eines Shami. In weit höherem Maße als mein Vater, dessen sprachliche Fertigkeiten im Vergleich zu den ihren primitiv waren, beherrschte meine Mutter das klassische Arabisch ebenso hervorragend wie das demotische – wenn auch nicht so gut, dass man sie für eine Ägypterin gehalten hätte, was sie ja auch nicht war. Sie war in Nazareth geboren und dann nach Beirut in ein Internat und aufs College geschickt worden. Sie war Palästinenserin, auch wenn ihre Mutter Munira Libanesin war. Ihren Vater lernte ich niemals kennen, aber wie ich herausfand, war er der baptistische Geistliche in Nazareth gewesen, obwohl er, mit einem Umweg über Texas, ursprünglich aus Zefat stammte. All die Verzweigungen und Lücken dieser Details, die eine einfache Abstammungsreihe komplizierten, konnte ich weder aufnehmen noch nachvollziehen, und ebenso wenig konnte ich begreifen, warum meine Mutter keine ganz normale englische Mama war. Dieses unsichere Gefühl mehrerer – weitgehend widerstreitender – Identitäten hat mich mein ganzes Leben lang begleitet, zusammen mit einer bohrenden Erinnerung an meinen verzweifelten Wunsch, eindeutig arabisch oder europäisch oder amerikanisch zu sein, oder christlich-orthodox oder muslimisch oder ägyptisch und so weiter. Ich kam zu dem
Schluss, dass mir zwei Alternativen offen standen, um alldem zu begegnen, was sich als Herausforderung, Anerkennung und Bloßstellung äußerte – Fragen und Bemerkungen wie »Was sind Sie?«, »Aber ist Said denn kein arabischer Name?«; »Sie sind Amerikaner?«, »Sie sind Amerikaner ohne einen amerikanischen Namen und niemals in Amerika gewesen?«, »Sie sehen aber gar nicht aus wie ein Amerikaner!«, »Wie kommt es, dass Sie in Jerusalem geboren wurden, aber hier leben?«, »Sie sind natürlich ein Araber, aber was für einer? Ein Protestant?« Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeine meiner Reaktionen auf solche Erkundigungen jemals zufrieden stellend oder bemerkenswert ausgefallen wäre. Meine Alternativen waren allein auf mich selbst abgestimmt: Die eine mochte etwa in der Schule funktionieren, aber nicht in der Kirche oder auf der Straße bei meinen Freunden. Die erste bestand darin, mir im draufgängerisch selbstbewussten Tonfall meines Vaters einzureden: »Ich bin amerikanischer Bürger«, und damit hatte es sich. Er war Amerikaner, weil er in den Vereinigten Staaten gelebt und während des Ersten Weltkriegs in der amerikanischen Armee gedient hatte. Diese Alternative erschien mir wenig überzeugend, unter anderem, weil so meine Erzeugung durch ihn einigermaßen unglaubhaft wurde. Wenn ich mitten im Krieg an einer englischen Schule im von britischen Truppen besetzten Kairo mit seiner vollständig homogen wirkenden ägyptischen Bevölkerung verkündete, »Ich bin amerikanischer Bürger«, dann war das ein tollkühnes Unterfangen, das ich in der Öffentlichkeit nur riskieren konnte, wenn ich ausdrücklich aufgefordert wurde, meine Staatsangehörigkeit zu nennen. Privat konnte ich das nicht lange durchhalten, denn bei ernsthafter Hinterfragung schwand die behauptete Selbstsicherheit rasch dahin.
Die zweite meiner Alternativen bot noch weniger Erfolgsaussichten. Sie bestand darin, mich dem äußerst wirren Zustand meiner wahren Geschichte und Ursprünge zu öffnen, so wie ich sie nach und nach herausfand, und dann zu versuchen, die einzelnen Teile in einer gewissen Ordnung wieder zusammenzusetzen. Niemals standen mir jedoch genügend Informationen zur Verfügung. Niemals gab es ausreichend funktionierende Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen, die mir bekannt wurden oder die ich irgendwie ausgraben konnte: Niemals war das Gesamtbild ganz stimmig. Die Schwierigkeiten schienen schon bei meinen Eltern zu beginnen, bei ihrer Vergangenheit, bei ihren Namen. Mein Vater, Wadie, ließ sich später William nennen. (Eine frühe Unstimmigkeit, die ich lange Zeit lediglich für eine Anglisierung seines arabischen Namens hielt. Bald jedoch vermutete ich, dass er auf diese Weise versucht hatte, eine andere Identität anzunehmen, wobei der Name Wadie – den nur noch seine Frau und seine Schwester verwendeten – aus nicht sonderlich achtbaren Gründen abgelegt worden war.) Er wurde 1895 in Jerusalem geboren, doch meine Mutter hielt das Jahr 1893 für wahrscheinlicher. Er berichtete mir nie mehr als zehn oder elf Details aus seiner Vergangenheit: eine Ansammlung stets gleicher glatter Phrasen, mit denen man kaum etwas anfangen konnte. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er mindestens vierzig Jahre alt. Er hasste Jerusalem, und obwohl ich dort geboren wurde und wir immer wieder für längere Zeit dort lebten, hatte er für die Stadt nur die Bemerkung übrig, sie erinnere ihn an den Tod. Irgendwann in seinem Leben war sein Vater ein Dragoman gewesen, der, weil er Deutsch konnte, Kaiser Wilhelm durch Palästina geführt hatte. Und mein Großvater – der nie bei seinem Namen genannt wurde, außer wenn ihn meine Mutter, die ihn niemals kennen gelernt hatte, Abu-Assad nannte – trug
den Nachnamen Ibrahim. In der Schule hieß mein Vater deshalb Wadie Ibrahim. Ich weiß immer noch nicht, woher »Said« kam, und niemand scheint es erklären zu können. Das einzige relevante Detail über meinen Großvater, das mein Vater für mitteilenswert hielt, lautete, Abu-Assad habe bei ihm erheblich härter zugeschlagen als er bei mir. »Wie konntest du das aushalten?«, fragte ich, worauf er mit einem vielsagenden Lächeln erwiderte: »Meistens bin ich weggelaufen.« Das gelang mir nie, und ich zog es nicht einmal in Erwägung. Meine Großmutter väterlicherseits blieb eine ebenso vage Gestalt für mich. Sie war eine geborene Shammas und hieß Hanne. Meinem Vater zufolge hatte sie ihn 1920 – er hatte Palästina 1911 verlassen – dazu überredet, aus den Vereinigten Staaten zurückzukehren, weil sie ihn in ihrer Nähe haben wollte. Vater sagte immer, er habe seine Rückkehr bedauert, obwohl er fast ebenso häufig beteuerte, das Geheimnis seiner erstaunlichen geschäftlichen Erfolge liege darin, dass er für seine Mutter »sorgte« und sie ihrerseits unablässig betete, die Wege unter seinen Füßen sollten zu Gold werden. Man zeigte mir niemals ein Bild von ihr, aber in Vaters Erziehungsplan für mich stand sie für zwei einander widersprechende Maximen, die ich nie miteinander versöhnen konnte: Mütter soll man lieben, sagte er, und bedingungslos für sie sorgen. Mit ihrer selbstsüchtigen Liebe können sie ihre Kinder aber auch von ihrer erwählten Laufbahn abbringen (mein Vater hatte in den Vereinigten Staaten bleiben und Anwalt werden wollen), und deshalb sollte man Mütter tunlichst auf Distanz halten. Das war und ist alles, was ich jemals über meine Großmutter väterlicherseits erfahren habe. Ich war sicher, dass es eine längere Familiengeschichte in Jerusalem gegeben hatte. Das schloss ich aus der Art, wie Nabiha, meine Tante väterlicherseits, und ihre Kinder an diesem Ort wohnten, als ob sie alle und insbesondere meine
Tante den ziemlich eigenartigen, um nicht zu sagen nüchternen und beschränkten Geist der Stadt verkörperten. Später hörte ich meinen Vater von uns als Khleifawis sprechen, was, wie man mir sagte, unser eigentlicher Clan-Ursprung sei. Doch die Khleifawis stammten aus Nazareth. Mitte der achtziger Jahre schickte man mir einige Auszüge aus einer veröffentlichten Geschichte Nazareths, und darin fand sich auch der Familienstammbaum eines gewissen Khleifl, bei dem es sich wahrscheinlich um meinen Urgroßvater handelte. Weil sie keiner gelebten oder auch nur angedeuteten Erfahrung entsprach, ist diese verblüffend unerwartete Information – die mir plötzlich einen ganzen Schwung neuer Vettern bescherte – für mich nur von geringer Bedeutung. Mein Vater, soviel weiß ich, besuchte die St. George’s School in Jerusalem und tat sich bei Fußball und Kricket hervor. Mehrere Jahre lang wurde er in beiden Sportarten in der ersten Schulmannschaft aufgestellt, als Mittelstürmer und Torhüter. Er erwähnte niemals, dass er in St. George’s besonders viel gelernt hätte, noch sprach er überhaupt viel von diesem Ort, außer dass er selbst berühmt war für seine Dribblings über das ganze Feld, die er dann mit einem Tor krönte. Sein Vater schien ihn gedrängt zu haben, Palästina zu verlassen, um der Einberufung in die türkische Armee zu entgehen. Später las ich irgendwo, dass um 1911 in Bulgarien ein Krieg ausgebrochen war, für den Truppen aufgeboten wurden, und ich stellte mir vor, er sei vor dem grausigen Schicksal davongelaufen, der Ottomanen-Armee in Bulgarien als palästinensisches Kanonenfutter zu dienen. Nichts von alledem wurde mir jemals zusammenhängend mitgeteilt, als seien die Jahre vor seinem Amerikaaufenthalt für meinen Vater ohne Belang für seine gegenwärtige Identität als Hildas Ehemann, als US-Bürger, als mein Vater. Eine der Geschichten, die in meiner Jugend immer wieder erzählt
wurde, handelte von seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten. Sie war eine Art offizielle Version und sollte seine Zuhörer im Stile Horatio Algers belehren und informieren, vor allem seine Kinder und seine Frau. Zugleich aber enthielt und strukturierte sie, was er von sich selbst aus der Zeit vor seiner Ehe berichten wollte und was jedermann wissen durfte. Es beeindruckt mich noch immer, dass er sich in den gesamten sechsunddreißig Jahren als mein Vater, bis zu seinem Tode im Jahr 1971, an diese Geschichte mit ihren wenigen Episoden und Details hielt und dass es ihm so gut gelang, all die anderen entweder vergessenen oder verleugneten Aspekte seiner Biografie in Schach zu halten. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tod fiel mir auf, dass er und ich nahezu im gleichen Alter und im Abstand von genau vierzig Jahren in die Vereinigten Staaten gekommen waren: Er, um ein neues Leben zu beginnen, ich gemäß dem von ihm entworfenen Drehbuch, das mein Leben bestimmte, bis ich mich von ihm löste und begann, auf eigenen Füßen zu stehen und zu schreiben. Mein Vater und ein Freund namens Balloura (seinen Vornamen erfuhr ich nie) gingen 1911 zunächst von Haifa nach Port Said, von wo aus sie mit einem britischen Frachter nach Liverpool fuhren. Dort blieben sie sechs Monate lang, bevor sie als Stewards auf einem Passagierschiff nach New York anheuerten. Ihre erste Aufgabe an Bord war es, die Bullaugen zu putzen, aber da keiner von ihnen wusste, was ein Bullauge war, obwohl sie sich doch »umfassender seemännischer Erfahrung« gerühmt hatten, um diese Arbeit zu bekommen, putzten sie alles Mögliche – außer den Bullaugen. Ihr Bootsmann wurde »nervös« (dieses Wort verwendete mein Vater regelmäßig, um Wut und allgemeine Erregung zu bezeichnen), warf einen Wassereimer um und befahl ihnen, den Boden aufzuwischen. Danach sollte Wadie an den Tischen bedienen, wovon ihm nur in Erinnerung blieb, dass er nach
dem Servieren des ersten Ganges nach draußen stürzte, um sich zu übergeben, weil das Schiff im Seegang stampfte, und dann wieder zurückstolperte, um den nächsten Gang zu servieren. Da sie bei ihrer Ankunft in New York keine gültigen Papiere besaßen, warteten Wadie und Balloura einen günstigen Augenblick ab, bevor sie unter dem Vorwand, sie wollten eine nahe gelegene Bar besuchen, das Schiff verließen, eine vorüberfahrende Straßenbahn bestiegen, »ohne die geringste Ahnung, wohin sie fahren sollten«, und bis zur Endhaltestelle sitzen blieben. Eine andere Geschichte, die mein Vater häufig erzählte, handelte von einem Schwimmwettbewerb des Vereins Christlicher Junger Männer an einem See im Staate New York. Sie lieferte ihm eine bleibende Moral: Er kam als letzter ins Ziel, hielt aber bis zum Ende durch (»Gib niemals auf«, lautete sein Motto) – das nächste Rennen hatte schon begonnen. Diese Moral des »Gib niemals auf« akzeptierte ich mit der gebührenden Ehrfurcht, ohne sie je zu hinterfragen. Erst spät, ich war schon über dreißig Jahre alt, dämmerte mir, dass Wadie so langsam und stur gewesen war, dass er in Wirklichkeit alle anderen nur aufgehalten hatte – was nicht unbedingt beispielhaft war. Niemals aufgeben, sagte ich meinem Vater einmal mit der Aufmüpfigkeit eines inzwischen wahlberechtigten, aber immer noch machtlosen Bürgers, könne sozial auch ein Ärgernis sein und andere behindern, das Programm verzögern, vielleicht sogar ungeduldige Zuschauer dazu bringen, den beleidigend langsamen und unnötig sturen Schwimmer auszubuhen. Mein Vater lächelte mich überrascht und leicht verlegen an, als hätte ich ihn in einem kleinen Punkt endlich in die Enge getrieben, und dann wandte er sich ohne ein Wort ab. Die Geschichte fand nie wieder Erwähnung. Er wurde Vertreter für die ARCO, eine Farbenfirma aus Cleveland, und studierte an der Western Reserve University.
Als er erfuhr, dass die Kanadier ein Bataillon entsenden wollten, um »gegen die Türken in Palästina zu kämpfen«, überquerte er die Grenze und meldete sich freiwillig. Er stellte jedoch fest, dass es gar kein solches Bataillon geben sollte, und so desertierte er kurzerhand. Danach meldete er sich zum Amerikanischen Expeditionskorps und landete im rauen Klima von Camp Gordon in Georgia, wo er wegen einer allergischen Reaktion auf mehrere Impfungen den größten Teil der Grundausbildung krank im Bett verbrachte. Anschließend folgte ein Szenenwechsel nach Frankreich, wo er in den Schützengräben Dienst tat. Meine Mutter besaß zwei Fotos von ihm in der Militäruniform jener Zeit, und auf einem hängt ihm ein Croix de Lorraine um den Hals und zeugt von seinem Dienst in Frankreich. Des Öfteren sprach er davon, er sei bei einem Gasangriff verwundet und dann in Mentone in Quarantäne interniert worden (er verwendete immer die italienische Aussprache). Als ich ihn einmal fragte, wie es im Krieg gewesen sei, erzählte er von einem deutschen Soldaten, den er im Nahkampf getötet habe – »er hob mit einem Schrei seine Hände hoch, bevor ich ihn erschoss«. Diese Episode habe ihm jahrelang Albträume bereitet. Nach seinem Tod fanden wir zufällig seine Entlassungspapiere (die ein halbes Jahrhundert verloren gewesen waren), und zu meiner Verblüffung entdeckte ich, dass ihm als Angehörigen einer Nachschubeinheit keine Teilnahme an militärischen Feldzügen bescheinigt war. Dies kann durchaus ein Irrtum gewesen sein, denn ich glaube immer noch an die Version meines Vaters. Nach dem Krieg kehrte er nach Cleveland zurück und gründete seine eigene Farbenfirma. Sein älterer Bruder Asaad (»Al«) arbeitete damals als Matrose auf den Großen Seen. Schon damals musste der jüngere Bruder »Bill« – der Namenswechsel erfolgte während seiner Zeit in der Armee – dem älteren mit Geld unter die Arme greifen. Den Eltern
schickte er die Hälfte seines Gehalts. Asaad bedrohte Bill einmal mit einem Messer. Er brauchte mehr Geld von seinem erfolgreichen jüngeren Bruder, weil er eine jüdische Frau heiraten wollte. Als er dann in den zwanziger Jahren plötzlich ebenfalls in Palästina auftauchte, hatte er sie verlassen – allerdings ohne Scheidung, wie mein Vater annahm. Seltsamerweise blieb von dem amerikanischen Jahrzehnt meines Vaters nichts außer seinen überaus mageren Erzählungen und solch eigenartigen Fragmenten wie der Liebe zum Apfelkuchen à la mode und ein paar häufig wiederholten Ausdrücken wie »hunkydory« und »big boy«. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass die Bedeutung seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten für sein späteres Leben vor allem in seiner Praxis der gezielten Selbsterschaffung lag – in allem, was er tat und was er seine Umgebung, vor allem mich, zu tun zwang. Er betonte immer wieder, Amerika sei sein Land, und wenn wir über Vietnam in heftigen Streit gerieten, zog er sich auf die bequeme Haltung zurück: »Ob Recht oder Unrecht: es ist mein Vaterland.« Von Freunden oder Bekannten aus dieser Zeit war jedoch niemals etwas zu hören oder zu sehen. Es gab ein winziges Foto von Wadie in einem CVJM-Lager sowie ein paar lakonische und wenig informative Einträge in einem Soldatentagebuch aus dem Kriegsjahr 1917/18. Das war alles. Nach seinem Tod fragte ich mich, ob er wie Asaad nicht vielleicht ebenfalls eine Frau und eine Familie in Amerika zurückgelassen hatte. Seine Geschichte bot jedoch so eindrucksvollen Lehrstoff für die Form, die meine Jugend unter seiner Hand annahm, dass ich mir, wenn ich mich recht erinnere, niemals eine kritische Frage gestattet habe. Nach Amerika wird die Geschichte konkreter und verliert sogar den Beigeschmack einer Horatio-Alger-Romanze: Es war, als habe sich William A. Said (einstmals Wadie Ibrahim), als er 1920 im Besitz der US-Staatsbürgerschaft nach Palästina
zurückkehrte, ziemlich unvermittelt in einen nüchternen Pionier, schwer arbeitenden und erfolgreichen Geschäftsmann und Protestanten verwandelt, einen Einwohner zunächst von Jerusalem, später von Kairo. Dies war der Mann, den ich kannte. Von der frühen Beziehung zu seinem älteren Vetter Boulos Said – der zugleich der Ehemann seiner Schwester Nabiha war – erfuhr ich nicht viel, obwohl offensichtlich Boulos die Palestine Educational Company gegründet hatte, in die Wadie nach seiner Rückkehr eintrat (und investierte). Die beiden Männer wurden gleichberechtigte Partner, auch wenn dann Wadie 1929 eine Filiale in Ägypten gründete, wo er innerhalb von nur drei Jahren die erfolgreiche Standard Stationery Company aufbaute, mit zwei Einzelhandelsgeschäften in Kairo, einem in Alexandria und verschiedenen Vertretungen und Untervertretungen für die Suezkanal-Zone. Allem Anschein nach gab es eine blühende syrische (Shami-)Gemeinde, von der er sich jedoch fernhielt. Er entschied sich stattdessen für harte Arbeit und ein gelegentliches Tennismatch mit seinem Freund Halim Abu Fadil. Nach seiner Schilderung spielten sie um zwei Uhr Mittags, zur heißesten Zeit des Tages, woraus ich den Schluss ziehen sollte, dass all sein Tun von eiserner Disziplin und unerbittlicher Strenge gegen sich selbst beherrscht war, sogar im Sport. Mein Vater erwähnte diese Jahre vor seiner Heirat im Jahre 1932 nicht sehr häufig, doch es scheint, als hätten ihn die Versuchungen des Fleisches – Kairos Rokoko-Nachtleben, seine Bordelle, Sex-Shows und alle möglichen Ausschweifungen für wohlhabende Ausländer – nur mäßig interessiert. Er lebte in einem tugendhaften Zölibat, ohne einen Hauch von Lasterhaftigkeit. Meine Mutter – die ihn damals natürlich noch nicht kannte – erzählte uns immer wieder, wie er in seine bescheidene Wohnung in Bab el-Luq heimkam,
einsam zu Abend aß und dann Platten mit klassischer Musik hörte, seine Klassiker aus der Home Library und Everyman’s Library las, darunter viele der Waverley-Romane sowie die Ethiken von G. E. Moore und Aristoteles (während meiner Jugend und später las er allerdings nur noch Bücher über Krieg, Politik und Diplomatie). 1932 war er so wohlhabend geworden, dass er heiraten und seine viel jüngere Frau – sie war achtzehn, er siebenunddreißig – auf eine dreimonatige Hochzeitsreise nach Europa führen konnte. Die Ehe hatte meine Tante Nabiha über ihre Kontakte in Nazareth vermittelt. In gewissem Maße hatte auch die Tante meiner Mutter in Kairo ihre Hand im Spiel gehabt – Melia Badr (Tante Melia) war eine eindrucksvolle alte Jungfer, die mit ihrem liebenswürdigen Chauffeur Saleh eine wichtige Rolle in meiner Kindheit spielte. All diese Details weiß ich von meiner Mutter, und ich gehe davon aus, dass sie sie ihrerseits als eine Art Vorbereitung auf die Ehe mit einem völlig unbekannten älteren Mann erfuhr, der an einem Ort lebte, von dem sie praktisch nichts wusste. Und dann verwandelte er sich in den Mustergatten und in den vorbildlichen Vater, dessen Vorstellungen, Werte und Erziehungsmethoden mich prägen sollten. Wie immer die wahren historischen Fakten aussahen – mein Vater verkörperte eine verheerende Kombination aus Macht und Autorität, rationalistischer Disziplin und unterdrückten Gefühlen. Und all das, so wurde mir später klar, hat mein ganzes Leben geprägt – mit einigen positiven, aber auch einigen schädlichen, wenn nicht gar zerstörerischen Folgen. Im Laufe der Zeit konnte ich diese Folgen ausgleichen, aber meine gesamte Kindheit über und noch in den Zwanzigern stand ich sehr stark unter seinem Einfluss. Mit Hilfe meiner Mutter versuchte er eine Welt zu schaffen, die einem gigantischen Kokon ähnelte. In diese Welt wurde ich eingeführt und dann, wie mir ein halbes Jahrhundert später klar
wird, zu einem maßlos hohen Preis darin festgehalten. Im Nachhinein beeindruckt mich nicht so sehr, dass ich das überlebte, sondern dass es mir mit der entsprechenden Ausdauer irgendwie gelang, die Stärken seiner Grundlektionen mit meinen eigenen Fähigkeiten zu verknüpfen, welche mein Vater offenbar weder beeinflussen noch überhaupt wahrnehmen konnte. Geprägt hat mich unglücklicherweise auch sein unablässiges Beharren darauf, etwas Nützliches zu tun, etwas zu Wege zu bringen, »niemals aufzugeben«. Ich habe keinen Begriff von Muße oder Entspannung und insbesondere kein Gefühl für allmähliche Entwicklung. Jeder Tag ist für mich wie der Beginn eines neuen Schuljahrs nach einem langen und leeren Sommer und vor einem ungewissen Morgen. Im Laufe der Zeit wurde »Edward« zu einem anspruchsvollen Aufseher, der mit ebenso viel Energie Listen von Mängeln und Fehlschlägen aufstellte wie von angesammelten Verpflichtungen und Aufgaben, wobei sich die beiden Listen ausglichen und gewissermaßen gegenseitig aufhoben. »Edward« muss noch heute jeden Tag ganz von vorne beginnen und hat am Abend gewöhnlich das Gefühl, dass ihm nur sehr wenig gelungen ist. Meine Mutter war in den ersten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens mit Sicherheit meine engste und nächste Vertraute. Selbst heute entdecke ich viele ihrer Ansichten und Gewohnheiten bei mir wieder: eine lähmende Furcht vor alternativen Handlungsmöglichkeiten; chronische, vorwiegend selbst auferlegte Schlaflosigkeit; eine tief sitzende Unruhe, begleitet von einem unerschöpflichen Vorrat an geistiger und körperlicher Energie; ein tiefes Interesse an Musik und Sprache wie auch an der Ästhetik von Aussehen, Stil und Form; einen womöglich überentwickelten Sinn für die soziale Welt, ihre Strömungen und Freuden, ihr Potenzial an Glück und Leid; und schließlich eine so gut wie unstillbare,
unglaublich vielfältige Kultur der Einsamkeit als einer Form sowohl der Freiheit als auch des Leidens. Wäre meine Mutter nur einfach ein sicherer Hafen gewesen, eine Art gelegentlicher Zuflucht im Ablauf des Tages, wer weiß, wie die Ergebnisse ausgesehen hätten. Doch ich kannte und kenne niemanden, dessen Ambivalenz gegenüber der Welt – und mir – so tief und unentschieden war. Trotz unserer Ähnlichkeit brauchte meine Mutter meine Liebe und Hingabe und gab sie doppelt und dreifach zurück. Sie konnte sich aber auch reichlich unvermittelt abwenden und in mir eine metaphysische Angst wecken, die ich mir noch heute nur mit beträchtlichem Unbehagen, ja mit Schrecken vergegenwärtigen kann. Zwischen dem stärkenden, sonnigen Lächeln meiner Mutter und ihrem kalten Unmut oder ihrer anhaltenden abweisenden Missbilligung lebte ich als Kind zugleich glücklich und hoffnungslos elend, niemals nur das eine oder das andere. Sie zeigte sich mir gegenüber als eine unkomplizierte, begabte, liebende und schöne junge Frau, und bis ich zwanzig war – sie war damals erst vierzig –, nahm ich sie auch als solche wahr. Wann immer sie plötzlich ein anderes Gesicht offenbarte, gab ich mir selbst daran die Schuld. Später litt unsere Beziehung beträchtlich. Aber während meiner frühen Lebensjahre befand ich mich in einem verzückten Zustand zeitweiliger und gefährdeter Übereinstimmung mit meiner Mutter, was so weit ging, dass ich tatsächlich keine Freunde in meinem Alter hatte und die Beziehung zu meinen jüngeren Schwestern Rosemarie, Jean, Joyce und Grace gespannt und jedenfalls für mich nicht sehr befriedigend war. Allein von meiner Mutter erwartete ich intellektuellen und emotionalen Austausch. Sie begründete ihre besondere Zuwendung und Sorge für mich oft damit, dass ihr erstes Kind im Krankenhaus kurz nach der Geburt gestorben sei. Dieser Überschuss konnte
gleichwohl nicht den starken Pessimismus verdecken, der tief in ihr steckte und häufig ihre überbordende Bejahung meiner Person neutralisierte. Meine Mutter enthüllte in meiner Jugend nur sehr wenig über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit, wenn auch aus anderen Gründen als mein Vater. 1914 geboren, war sie das mittlere von fünf Kindern. Die anderen vier waren Jungen, doch zu diesen Onkeln mütterlicherseits hatte ich ein sehr problematisches Verhältnis. Wer meine Mutter in Nazareth kannte, bestätigte ihre Behauptung, dass sie der Liebling ihres Vaters war. Obwohl sie ihn als einen »guten« Mann beschrieb, blieb er in meiner Vorstellung ohne Reiz – ein fundamentalistischer baptistischer Geistlicher, ein schroffer Patriarch und repressiver Ehemann. Hilda, meine Mutter, wurde ins Internat nach Beirut geschickt, in die Amerikanische Mädchenschule oder ASG, eine Missionsschule, die sie in ihrer Jugend und dann an ihrem Lebensabend an Beirut band, mit einem langen Zwischenspiel in Kairo. Dort und am Junior College (das heute die libanesisch-amerikanische Universität ist) war sie zweifellos ein Star, sie war populär und in den meisten Dingen brillant: die Beste ihrer Klasse. In diesem Leben spielten Männer keine Rolle, so durchweg unschuldig war ihre Existenz in diesen beiden stark religiös geprägten Schulen. Im Unterschied zu meinem Vater, der von allen frühen Bindungen außer jener an die Familie unabhängig schien, pflegte sie bis zu ihrem Tod enge Freundschaften zu Klassenkameradinnen und Gleichaltrigen. Ihr fünfjähriges Studium in Beirut bedeutete die glücklichste Zeit ihres Lebens, und mit einem Gefühl anhaltenden Vergnügens erinnerte sie sich an alles, was sie damals erlebt hatte, an jeden, den sie aus dieser Zeit kannte. Über eine Frau, deren Bekanntschaft sie in den Jahren nach dem Tode ihres Mannes genossen hatte, sagte sie enttäuscht und auf geradezu erbitternde Weise: »Wadad ist
nicht wirklich meine Freundin, denn sie war nicht mit mir in der Schule.« 1932 wurde sie aus einem wunderbaren – oder in der Rückschau verklärten – Leben und den Erfolgen in Beirut herausgerissen und kehrte in das langweilige alte Nazareth zurück, wo eine arrangierte Ehe mit meinem Vater auf sie wartete. Niemand vermag heute wirklich zu begreifen, wie diese Ehe funktionierte oder zu Stande kam. Mir brachte meine Mutter allerdings bei – mein Vater bewahrte zu diesem Punkt im Allgemeinen Stillschweigen –, das Ganze als eine zunächst schwierige Beziehung zu sehen, auf die sie sich allmählich, im Laufe von fast vierzig Jahren, einstellte und die sie zum Zentrum ihres Lebens machte. Sie sollte nie wieder arbeiten oder studieren, abgesehen von den Französischstunden, die sie in Kairo nahm, und vom Besuch einer geisteswissenschaftlichen Vorlesung an ihrem alten College in Beirut Jahre später. Manchmal erzählte sie von ihrer Anämie und Seekrankheit auf der Hochzeitsreise, stets begleitet von Kommentaren über die Geduld und Güte meines Vaters ihr gegenüber, der jungen, sehr verletzlichen und naiven Mädchen-Braut. Über Sex äußerte sie sich niemals ohne schaudernde Abneigung und Unbehagen. Mein Vater sprach dagegen häufig über den Mann als geschickten Reiter und die Frau als beherrschte Stute, was auf eine im Grunde widerwillige, wenn auch außergewöhnlich fruchtbare sexuelle Partnerschaft verwies, aus der sechs Kinder hervorgingen, von denen fünf überlebten. Im Übrigen zweifelte ich niemals daran, dass die Heirat mit diesem stillen und auf eigenartige Weise starken Mann mittleren Alters einen schrecklichen Schlag für sie bedeutete. Sie wurde aus einem glücklichen Leben in Beirut gerissen und – vielleicht als Gegenleistung für irgendeine Art Bezahlung an ihre Mutter – einem deutlich älteren Mann angetraut, der sie
umgehend in fremde Länder mitnahm und sich dann mit ihr in Kairo niederließ, einer gigantischen und verwirrenden Stadt in einem fremden arabischen Land, in dem auch ihre unverheiratete Tante Emelia (»Melia«) Badr lebte. Melia war Anfang des Jahrhunderts nach Ägypten gekommen und hatte sich, wie das auch meine Mutter auf ihre eigene Art tun sollte, auf fremdem Terrain ein eigenes Leben aufgebaut. Melias Vater (mein Urgroßvater), Yousif Badr, war der erste einheimische evangelische Pfarrer im Libanon gewesen, und wahrscheinlich hatte Melia über ihn eine Stelle als Arabischlehrerin beim American College for Girls in Kairo erhalten, das im Wesentlichen eine Missionseinrichtung war. Sie war eine sehr kleine Frau, besaß jedoch von allen mir bekannten Menschen den stärksten Willen. Sie brachte die Amerikaner dazu, sie Miss Badr zu nennen (im Gegensatz zum gönnerhaften »Lehrerin Melia«, wie es für die Einheimischen sonst üblich war), und demonstrierte schon früh ihre radikale Unabhängigkeit, indem sie nicht zu den Gottesdiensten ging, die einen integralen Bestandteil des Schul- und Missionslebens bildeten. »Gibt es einen Gott?« fragte ich sie 1956, kurz vor ihrem Tod. »Das bezweifle ich sehr stark«, antwortete sie müde und fast abschätzig, mit der ihr eigenen Entschiedenheit, die sie zeigte, wenn sie sich mit dem jeweiligen Thema nicht mehr abgeben mochte. Melias Rolle im Familienleben der Saids, vor und nach meiner Geburt, war von zentraler Bedeutung. Wir lebten nicht mit unseren Verwandten zusammen, nicht einmal in ihrer Nähe. Als Familie waren wir in Kairo allein, wenn man von Melia absieht und später – in den vierziger Jahren – von ihrer Schwester, meiner Großmutter Munira, die bei uns lebte. Melia half meiner Mutter, das komplizierte gesellschaftliche System Kairos zu begreifen, das sich so gänzlich von allem unterschied, was Hilda jemals als behütetes Mädchen in
Nazareth und Beirut kennen gelernt hatte. Im Übrigen führte Melia meine Eltern bei verschiedenen ihrer Freunde ein, vorwiegend Kopten und Syrern (»Shawam«, Plural von »Shami«), deren Töchter sie unterrichtete. Für meine Schwestern schien sie sich nicht besonders zu interessieren, aber mich verwöhnte sie, obgleich sie sich niemals wirklich so gehen ließ, wie das normalerweise bei weiblichen Familienangehörigen der Fall war: keinerlei Überschwänglichkeit, keine ausgedehnten Umarmungen oder übertriebenen Beteuerungen ritueller Sorge. Mir stand beispielsweise das besondere Vorrecht zu, ihr Fragen zu stellen wie »Bist du mit Saleh verheiratet?« – dem Chauffeur, der mehr oder weniger mit ihr zu leben schien, und gelegentlich durfte ich sogar ihre kleine Handtasche durchwühlen. Zwischen den Jahren 1945 und 1950 sah ich sie mehrere Male bei ihrer Arbeit im College. Schmal und kaum ein Meter fünfzig groß, war sie immer schwarz gekleidet, hatte einen schwarzen Turban auf dem Kopf, und an den Füßen trug sie niemals etwas anderes als zierliche schwarze Lacklederpumps. Ihre Gesten waren extrem sparsam, niemals erhob sie ihre Stimme, niemals verriet sie das leiseste Zögern oder die geringste Unsicherheit. Sie hatte eine jeweils eigene Art im Umgang mit jeder sozialen Schicht, aber allem lag ein Gefühl für Förmlichkeit zu Grunde, das nicht verletzt werden durfte, wie auch eine sorgfältig gepflegte und kühl gewahrte Distanz, die niemanden über einen gewissen Punkt hinaus an sie heranließ, und diesen Punkt bestimmte sie allein. Sie versetzte Dienstmädchen und Schüler in Angst und Schrecken, zwang sogar hochgestellte Persönlichkeiten unter den Eltern, darunter mindestens zwei Premierminister, ihre kritischen Bemerkungen und Urteile als unanfechtbar und endgültig zu akzeptieren. Durch ihre Hartnäckigkeit, ihre Erfahrung und ihre Aura der Unfehlbarkeit zwang sie die amerikanischen
Lehrerinnen (alte Jungfern wie sie), sich ihr anzupassen statt umgekehrt. Über ein halbes Jahrhundert hinweg wurde sie am College – wo sie auch lebte und ihr Stockwerk wie eine Königin beherrschte – von niemandem übertroffen. Noch vor meiner Geburt beendete sie die Tätigkeit als Lehrerin und wurde »Direktorin« des College, eine Position, die auf Grund ihrer Fähigkeit geschaffen worden war, ägyptische Schüler und Angestellte auf eine Weise zu regieren, wie das keinem Amerikaner möglich war. Tantchen Melia nahm Hilda an die Hand, zeigte ihr, wo sie einkaufen konnte, wohin sie ihre Kinder in die Schule schicken sollte, mit wem sie reden musste, wenn sie etwas brauchte. Sie versorgte sie mit Dienstmädchen, Klavierlehrern, Tutoren, Namen von Ballettschulen, Schneiderinnen und natürlich mit endlosen, sehr diskret erteilten Ratschlägen. Sie kam immer dienstags zum Mittagessen, eine Gewohnheit, die sie schon vor meiner Geburt angenommen hatte und beibehielt, bis sie 1953 Ägypten für eine kurze Zeit der Pensionierung im Libanon verließ, wo sie dann 1956 starb. Ich war besonders von zwei Dingen an ihr fasziniert. Das eine war ihre Art zu essen. Vielleicht hatte sie schadhafte Backenzähne – jedenfalls platzierte sie mit großer Sorgfalt winzige Nahrungsbröckchen zwischen ihrem Gaumen und ihren Vorderzähnen; sie gelangten nicht dorthin zurück, wo sie hätten gekaut und dann verschluckt werden können. Stattdessen bearbeitete sie die Bissen im vorderen Teil des Mundes, indem sie sie mit der Zunge hinunterdrückte, um dann eine winzige Portion Saft und vielleicht ein Reiskorn oder ein winziges Fleischstück herauszusaugen, das sie unvermittelt und fast unmerklich hinunterschluckte. Was übrig blieb (und mir immer ziemlich unzerkaut vorkam), holte sie mit der Gabel heraus und legte es säuberlich am Tellerrand ab. Nach dem Essen, das sie immer als letzte beendete, enthielt ihr Teller sieben oder acht kleine
Haufen, säuberlich rings um den Teller verteilt, als hätte sie ein arglistiger Küchenchef dort drapiert. Das zweite, was mich an ihr fesselte, waren ihre Hände, die immer in schwarzen oder weißen Spitzenhandschuhen steckten, je nach Jahreszeit. Sie trug Armbänder, aber keine Ringe. In der linken Handfläche, neben dem Daumen, hielt sie stets ein kleines zusammengerolltes Taschentuch, das sie den ganzen Tag über aus- und wieder einrollen konnte. Wenn sie mir Süßigkeiten anbot – die sie bastilia nannte –, kamen sie immer aus dem Taschentuch, rochen immer nach Lavendelwasser, waren immer in Zellophan eingewickelt, hatten immer einen leichten, dezenten Geschmack von Quitte oder Tamarinde. Ihre rechte Hand trug entweder die Tasche oder ruhte darauf. Tantchen Melias Beziehung zu meinem Vater war sehr korrekt, respektvoll, manchmal sogar herzlich. Sie unterschied sich damit deutlich von seiner Haltung zu ihrer Schwester, der freundlichen, geduldigen und hoffnungslos guten Munira, die er mart cammi nannte, Schwiegermutter (wörtlich »die Frau meines Onkels väterlicherseits«), und grundsätzlich mit einer Art spielerischer Herablassung behandelte. Für seine vier Schwäger schien er eine bedingte Zuneigung übrig zu haben, und ansonsten eine ganze Menge Kritik. Hildas Brüder – Munir, Alif, Rayik und Emile – lebten in Palästina, wo wir sie regelmäßig besuchten. Nach 1948 kamen sie immer wieder nach Kairo, oft als Flüchtlinge, unterschiedlich »schlecht dran«, wie mein Vater zu sagen pflegte – hilfsbedürftig. Sie waren zahlreicher als die Verwandten meines Vaters, besonders wenn man zur palästinensischen Verwandtschaft noch einen ganzen Schwarm von Hildas libanesischen Verwandten hinzurechnete. Eine der eisernen Regeln meines Vaters lautete, sich niemals auf Diskussionen über die SaidFamilie einzulassen, und er erzählte mir oft, die Familie eines
Mannes sei seine Ehre. Er hatte jedoch keinerlei Bedenken, über die Familie seiner Frau zu reden, für die er (das muss das Leben meiner Mutter sehr beschwert haben) nach seinen Angaben eine unerschöpfliche Kreditquelle zu sein schien. Er war immer wohlhabend, Hildas Brüder dagegen nicht. Einer von ihnen lieh sich von meinem Vater Geld, um heiraten zu können. Die anderen borgten Geld für verschiedene erfolglose geschäftliche Unternehmungen, und man ließ mich in dem Glauben, dass diese Summen niemals zurückgezahlt wurden. Mein Vater erzählte mir all das mit Verachtung in der Stimme, und auf Grund dieses Wissens muss ich unbewusst ein Gefühl des Unbehagens und milder Missbilligung entwickelt haben, das meine Beziehung zu ihnen, während ich heranwuchs, belastete und nicht gerade angenehm machte. Sein über viele Jahre wichtigster Einwand ihnen gegenüber hatte seinen Ursprung jedoch in der Zeit der Eheschließung mit Hilda. Ich erfuhr niemals alle Einzelheiten, doch es hatte etwas mit der Tatsache zu tun, dass der älteste Bruder meiner Mutter, Muniras Lieblingssohn, das kleine Stück Land der Familie verkauft hatte, um heiraten zu können. Damit hatte er die verwitwete Munira wie auch Hilda und seine anderen drei Brüder einer angemessenen Lebensgrundlage beraubt. Lange (und vielleicht zu Unrecht) war ich davon überzeugt, dass ein Teil der Ehevereinbarung zwischen Hildas Familie und meinem Vater auch Vorsorge für Munira enthielt. Sie lebte schließlich viele Jahre bei uns, aber es war für uns durchaus normal, Geschichten über ihre schlechte Behandlung im Haus des ältesten Sohnes mit anzuhören, oder über die Unfähigkeit ihrer anderen Söhne – mein Vater nannte es immer Unwillen –, zu ihrem Unterhalt beizutragen. Mein Vater war sehr mit sich zufrieden, als er einen seiner Schwäger überreden konnte, mit meiner Großmutter einmal die Woche ins Groppi Eis essen zu gehen.
Für meinen Vater stellte all dies ein klassisches, um nicht zu sagen definitives Beispiel dafür dar, wie Söhne ihre Mutter nicht behandeln sollten – nach 1948 begann er auch regelmäßig zu sagen: »ihre Schwester«. Diese Redensarten im lakonischen Stil meines Vaters durchdrangen in meinen Augen die Familienatmosphäre sowohl allgemein als auch ganz persönlich. Sie umgaben die Familie meiner Mutter nicht nur mit einer Aura ständiger Missbilligung und grundsätzlicher Abwertung – auch als Bruder und Sohn empfand ich deutliches Unbehagen. Der implizite Syllogismus, gemäß dem ich aufwuchs, lautete so: »Edward« ähnelt seinen Onkeln mütterlicherseits (der arabische Ausdruck dafür ist talihh mikhwil; er enthält darüber hinaus den Gedanken, dass mit zunehmendem Alter auch die Ähnlichkeit größer wird), seine Onkel sind unabweisbar schlechte Söhne und Brüder, darum ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass »Edward« wie sie enden wird und deshalb von seinem Weg abgebracht, umerzogen, reformiert werden muss, damit er nicht so wird wie sie. Für meine Mutter war das natürlich schrecklich. Weil ihr Sohn, ihre Mutter (die sie in meiner Gegenwart immer mit einer fast höhnischen, kalten Abneigung behandelte) und ihre Brüder einem solch Darwinschen Schicksal überantwortet waren, nahm sie eine unerträgliche Doppelrolle ein: Sie verteidigte die Familie ihrer Herkunft und befolgte zugleich die Gebote meines Vaters in ihrer neuen Familie. Für mich war sie damit Anklägerin und Verteidigerin zugleich. Was immer sie tat, fiel gleichzeitig in diese drei Urteilskategorien und verunsicherte sie schließlich selbst – mit sehr verwirrenden Konsequenzen für mich, ihren bewunderten, aber dennoch leider aus der Art geschlagenen Sohn, das Kind, in dem sich die schlimmsten Eigenschaften ihrer Herkunft wiederfanden.
Ihre Liebe zu mir war zugleich intensiv und zurückhaltend und außerdem unendlich geduldig. Ich wuchs auf, indem ich – so wie ich die Haltung meines Vaters zu mir einschätze – zwischen der Rolle des ungehorsamen Sohnes und der des allzu gehorsamen Neffen meiner Onkel hin und her wechselte. Ich nannte meinen Vater bis zu seinem Tode Daddy, aber ich empfand diesen Namen zugleich stets als unpassend, denn es erschien mir im Grunde ungehörig, mich als seinen Sohn zu denken. Nie habe ich ihm ohne große Anspannung oder stundenlange verzweifelte Vorbereitung eine Frage gestellt. Das Schrecklichste, was er jemals zu mir sagte – ich war damals zwölf –, lautete: »Du wirst niemals etwas von mir erben. Du bist nicht der Sohn eines reichen Mannes«, obwohl ich es in Wirklichkeit natürlich war. Als er starb, hinterließ er seinen gesamten Besitz meiner Mutter. Von dem Augenblick an, an dem ich mir meiner selbst als Kind bewusst wurde, erschien es mir unmöglich, mich als einen Menschen ohne diskreditierende Vergangenheit und unmoralische Zukunft zu begreifen. Mein ganzes Selbstwertgefühl im Verlauf der mich prägenden Jahre empfand ich ausschließlich in der Gegenwart, da ich mich wie wahnsinnig abmühte, um einen Rückfall in ein bereits festgelegtes Muster oder den Absturz in den sicheren Untergang zu vermeiden. Ich selbst zu sein bedeutete nicht nur, niemals ganz in Ordnung zu sein, sondern mich auch niemals entspannt zu fühlen. Ich lebte in der ständigen Erwartung, unterbrochen oder korrigiert zu werden, meine Privatsphäre verletzt, meine unsichere Persönlichkeit angegriffen zu sehen. Ewig fehl am Platze, ließ mir das extreme und starre Regiment aus Disziplin und außerschulischer Ausbildung, das mein Vater mir verordnete und in dem ich von meinem neunten Lebensjahr an gefangen
blieb, keine Fluchtmöglichkeit, kein Selbstwertgefühl jenseits seiner Regeln und Muster. Und so wurde ich »Edward«, ein Geschöpf meiner Eltern, deren tägliche Mühen ein ganz anderes, aber vorwiegend passives inneres Ich zwar wahrnehmen, aber meistens nicht teilen konnte. »Edward« war in erster Linie der Sohn, dann der Bruder und schließlich der Junge, der zur Schule ging und erfolglos versuchte, all die Regeln zu befolgen (oder sie zu ignorieren und zu umgehen). Seine Erschaffung war notwendig, weil seine Eltern selbst Eigenschöpfungen waren: zwei Palästinenser mit extrem unterschiedlichem Hintergrund und Temperament, die im kolonialen Kairo als Angehörige einer christlichen Minderheit in einem großen Sammelbecken von Minderheiten lebten, die sich nur gegenseitig unterstützen konnten und für ihr Tun keine Vorbilder fanden außer einer eigenartigen Kombination palästinensischer Vorkriegsgewohnheiten. Es war eine Mischung aus amerikanischen Gebräuchen, die willkürlich aus Büchern und Magazinen und während des zehnjährigen Aufenthalts meines Vaters in den Vereinigten Staaten zusammengelesen waren (meine Mutter besuchte die USA erst 1948), aus dem Einfluss der Missionare, unvollständiger und daher exzentrischer Schulbildung, außerdem aus britisch-kolonialen Einstellungen, die sowohl die Herren wie auch die allgemeine Richtung der von ihnen regierten »Menschheit« repräsentierten, und schließlich dem Lebensstil, den meine Eltern in ihrer Umgebung in Ägypten wahrnahmen und den sie ihren besonderen Umständen anzupassen suchten. Konnte »Edward« da jemals etwas anderes sein als am falschen Ort?
II
OBWOHL MEINE ELTERN 1935 in Kairo lebten, sorgten sie dafür, dass ich in Jerusalem zur Welt kam – aus Gründen, über die in meiner Kindheit häufig gesprochen wurde. In einem Krankenhaus von Kairo hatte Hilda bereits einen Sohn geboren, der Gerald hatte heißen sollen; er zog sich jedoch eine Infektion zu und starb bald nach der Geburt. Als radikale Alternative zu einer weiteren Katastrophe im Krankenhaus reisten meine Eltern im Sommer nach Jerusalem, und am 1. November brachte mich eine jüdische Hebamme, Madame Baer, zu Hause zur Welt. Solange ich klein war, kam sie regelmäßig vorbei, um mich zu besuchen. Sie war eine große, derbe Frau von deutscher Herkunft, die kein Englisch sprach, sondern vielmehr ein eigenartig fehlerhaftes Arabisch mit starkem Akzent. Wenn sie zu Besuch war, gab es viele Umarmungen und herzliche Knüffe und Klapse, aber sonst ist mir von ihr nicht viel in Erinnerung geblieben. Bis 1947 spielten sich unsere gelegentlichen Aufenthalte in Palästina ausschließlich im Rahmen der Verwandtschaft ab – das heißt, wir unternahmen buchstäblich nichts als Kleinfamilie, sondern waren immer mit anderen Angehörigen des erweiterten Clans zusammen. In Ägypten war es genau umgekehrt: Weil wir dort, in einer Umgebung, zu der wir keine echte Verbindung hatten, auf uns selbst angewiesen waren, entwickelten wir ein weit stärkeres Gefühl inneren Zusammenhalts. Meine frühen Erinnerungen an Palästina selbst sind eher alltäglicher Art und angesichts meiner späteren tiefen Verstrickung in palästinensische Angelegenheiten eigenartig normal. Es war ein Ort, den ich als gegeben
betrachtete, als das Land, aus dem ich kam, wo Familie und Freunde (so scheint es mir in der Rückschau) mit selbstverständlicher Leichtigkeit zusammenlebten. Das Haus unserer Familie lag in Talbiya, einem nur spärlich besiedelten Viertel Westjerusalems, erbaut und bewohnt ausschließlich von palästinensischen Christen wie uns. Es handelte sich um eine eindrucksvolle zweistöckige Villa mit vielen Zimmern und einem schönen Garten, in dem ich mit meinen beiden jüngsten Vettern und meinen Schwestern spielte. Es gab keine Nachbarschaft, von der sich zu reden lohnte, obwohl wir in dem noch nicht eindeutig definierten Bezirk jeden kannten. Vor dem Haus lag ein leerer rechteckiger Platz, auf dem ich Fahrrad fuhr oder spielte. Unmittelbare Nachbarn hatten wir nicht, aber etwa fünfhundert Meter entfernt stand eine Reihe ähnlicher Villen, in denen die Freunde meiner Vettern lebten. Heute ist der leere Platz zu einem Park umgestaltet, und aus dem Viertel ist eine grüne, dicht besiedelte Wohngegend der jüdischen Oberschicht geworden. Wenn wir bei der Schwester meines Vaters, meiner verwitweten Tante Nabiha, und ihren fünf erwachsenen Kindern zu Gast waren, dann trottete ich gewöhnlich hinter den Zwillingen Robert und Albert her, die etwa sieben Jahre älter waren als ich. Für sie spielte ich keine eigenständige Rolle außer der des jüngeren Vetters, der gelegentlich als gedankenloser, blind gehorchender Lautsprecher eingesetzt wurde, um von einer Mauer herab ihre Freunde und Feinde mit Beleidigungen und Schimpfworten zu überschütten, oder ein bereitwillig nickendes Publikum für ihre fantastischen Geschichten abgab. Für mich kam Albert mit seiner flotten Art und seinen Späßen einem älteren Bruder oder guten Freund am nächsten. Wir fuhren auch zu wochenlangen Besuchen nach Zefat, zu meinem Onkel mütterlicherseits. Munir, ein Arzt, und seine
Frau Latifeh hatten zwei Jungen und ein Mädchen etwa in meinem Alter. Zefat war Teil einer anderen, weniger entwickelten Welt: das Haus verfügte über keine Elektrizität, die engen Straßen – ohne Autos, mit steilen Treppen – waren herrliche Spielplätze, und meine Tante kochte wunderbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg boten mir unsere Besuche in Jerusalem und mehr noch in Zefat eine Zuflucht aus der Disziplin, die sich in Kairo bereits unter täglich wachsendem Druck herausbildete. Die Besuche in Zefat waren für mich meistens idyllische Zeiten, nur gelegentlich unterbrochen durch Schule oder Einzelunterricht, aber niemals für sehr lange. Als wir zunehmend mehr Zeit in Kairo verbrachten, gewann Palästina für mich einen trägen, fast traumartigen Aspekt. Dort war mir die Einsamkeit nicht so quälend bewusst, die ich später, mit acht oder neun Jahren, zu fürchten begann, und obwohl ich durchaus wahrnahm, dass Raum und Zeit nicht so streng organisiert waren wie in Ägypten, konnte ich meine relative Freiheit in Jerusalem nicht wirklich genießen. Ich weiß noch, dass mir der Aufenthalt in Jerusalem als angenehm erschien, aber auch als quälend offen, als vorläufig oder gar flüchtig, wie es ja später auch wirklich war. Die bedeutsamere und stärker belastete Geographie und Atmosphäre Kairos konzentrierte sich für uns in Zamalek, einer Insel im Nil, zwischen der Altstadt im Osten und Gizeh im Westen, bewohnt von Ausländern und wohlhabenden Einheimischen. Meine Eltern zogen 1937 dorthin um, als ich zwei Jahre alt war. Im Unterschied zu Talbiya, wo eine weitgehend homogene Gruppe wohlhabender Kaufleute und Angehöriger freier Berufe lebte, war Zamalek keine echte Gemeinschaft, sondern eine Art kolonialer Außenposten, dessen Ton von Europäern bestimmt wurde, mit denen wir wenig oder gar keinen Kontakt hatten. Wir richteten uns darin
unsere eigene Welt ein. Unser Heim war eine geräumige Fünfzimmerwohnung in der Sharia Aziz Osman Nr. 1, von der aus man den so genannten Fischgarten überblickte, einen kleinen, umzäunten Park mit einem künstlichen Felsenhügel (gabalaya), einem winzigen Teich und einer Grotte. Seine kleinen grünen Rasenflächen waren mit gewundenen Pfaden, großen Bäumen und im Bereich der gabalaya mit künstlich geschaffenen Felsformationen und abschüssigen Hängen durchsetzt, zwischen denen man ohne Unterlass hin und her rennen konnte. Außer an Sonn- und öffentlichen Feiertagen verbrachte ich im Garten, wie wir ihn nannten, meine ganze Freizeit, ständig überwacht, in Rufweite meiner Mutter, deren melodische Stimme für mich und meine Schwestern immer hörbar blieb. Dort spielte ich Robinson Crusoe und Tarzan, und wenn meine Mutter mich begleitete, machte ich mir einen Spaß daraus, ihr davonzulaufen und erst nach einiger Zeit wieder zu ihr zurückzukehren. Gewöhnlich war sie fast überall dabei in unserer kleinen Welt – einer kleinen Insel, die in einer anderen eingeschlossen war. In den ersten Jahren besuchten wir eine Schule nur wenige Blocks von unserem Haus entfernt: die GPS, die Gezira Preparatory School. Für den Sport gab es den Gezira Sporting Club und am Wochenende den Maadi Sporting Club, wo ich schwimmen lernte. Jahrelang waren die Sonntage gleichbedeutend mit Sonntagsschule. Diese sinnlose Quälerei fand zwischen neun und zehn Uhr morgens an der GPS statt, gefolgt von Morgenandachten in der All Saints Cathedral. Abends gingen wir in die Amerikanische Missionskirche in Ezbekieh, und an zwei von drei Sonntagen zum Vespergottesdienst in die Kathedrale. Schule, Kirche, Sportclubs, Garten, Haus – ein eingeschränktes, sorgfältig umgrenztes Segment der großen Stadt: das war meine Welt bis zur Pubertät. Und sobald der Zeitplan meines Lebens rigider
und anspruchsvoller wurde, bildeten die gelegentlichen Abweichungen exakt bemessene Pausen, die seine Anforderungen nur noch unterstrichen. Zu den wichtigsten Erholungsritualen meiner Jahre in Kairo gehörte, was mein Vater »ausfahren« nannte, im Unterschied zu seiner täglichen Fahrt zur Arbeit. Über dreißig Jahre lang besaß er eine Reihe schwarzer amerikanischer Wagen, jeder größer als sein Vorgänger: einen Ford, dann eine Plymouth Deluxe-Limousine, 1948 schließlich eine enorme ChryslerLimousine. Er beschäftigte immer Fahrer, und mit zweien von ihnen, Faris und Aziz, durfte ich nur in seiner Abwesenheit sprechen: während der Fahrt zur Arbeit oder von dort nach Hause bestand er auf völligem Schweigen. Wenn ich ihn begleitete, begann er die Fahrt in einer sozusagen häuslichen Stimmung, war einer Unterhaltung nicht abgeneigt und gönnte mir vielleicht sogar ein Lächeln, bis wir die Bulaq-Brücke erreichten, die Zamalek mit dem Festland verband. Dann versteifte er sich zusehends und verfiel in Schweigen, zog einige Papiere aus seiner Aktentasche und fing an, sie durchzusehen. Hatten wir die Kreuzung cAsa caf und Mixed Courts erreicht, hinter der Kairos europäisches Geschäftszentrum begann, verschloss er sich völlig, beantwortete keine Frage mehr und nahm mich nicht mehr zur Kenntnis. Er hatte sich nun in den eindrucksvollen Geschäftsmann verwandelt, eine Gestalt, die ich mit Abneigung und Furcht zu betrachten lernte, denn sie wirkte wie eine noch größere und unpersönlichere Version des Mannes, der mein Leben überwachte. Abends und an Feiertagen machte er seine »Ausfahrten« mit uns, ohne Fahrer, plaudernd und scherzend, ganz der unterhaltsame Patriarch, was ich halb bewusst vor allem für ihn als Befreiung empfand. Ohne Jackett und Schlips, im Sommer hemdsärmelig, im Winter mit Sportjacke, fuhr er zu
einer Hand voll vorab feststehender Vergnügungsziele. An Sonntagnachmittagen war es das Mena House, um Tee zu trinken und ein bescheidenes Konzert anzuhören. Samstagnachmittags fuhren wir zum Barrages, einem winzigen, von den Briten erbauten Damm im Delta. Dort konnten wir stundenlang durch grüne Parks wandern, durch die sich ein einfaches Trolley-System zog, dessen geheimnisvoller Zweck immer meine Fluchtfantasien beflügelte (aber auch ihre Unmöglichkeit erwies). Hier aßen wir ein Sandwich, dort einen Apfel. An Feiertagen fuhren wir unweigerlich in Richtung der Pyramiden hinaus in die westliche Wüste, um dort an einem beliebigen Meilenstein Rast zu machen, unsere Decken auszubreiten, einen wohlgefüllten Picknick-Korb auszupacken, mit Steinen nach Zielen zu werfen, Seil zu hüpfen, Ball zu spielen. Immer nur wir fünf, sechs oder sieben, so wie die Familie wuchs. Niemals, außer zum Mena House, besuchten wir einen öffentlichen Ort wie ein Café oder ein Restaurant. Niemals mit anderen. Niemals war das Ziel ein erkennbarer Ort – stets einfach nur ein Fleck abseits der Wüstenstraße. An Feiertagen fuhren wir abends die Straßen südlich von Bab elLuq entlang, wo die meisten Regierungsgebäude standen. Von Tausenden rötlichgelber Glühbirnen und hellgrünen Neonlampen erleuchtet, boten uns diese Gebäude zum Geburtstag des Königs oder zur Parlamentseröffnung »die Illumination«, wie mein Vater das nannte. Diese Grenzen der Gewohnheit und exakt geplanter Ausflüge schienen mir eine Welt fernzuhalten, die uns jederzeit überfallen, verschlingen, ja davonfegen konnte, so geschützt und behütet fühlte ich mich in dem kleinen Universum, das meine Eltern geschaffen hatten. Kairo war Anfang der vierziger Jahre eine ziemlich überfüllte Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs waren hier Tausende alliierter Truppen stationiert, außerdem gab es zahlreiche Exilgemeinden von
Italienern, Franzosen, Engländern, dazu die ansässigen Minderheiten der Juden, Armenier, Syro-Libanesen (der Shawam) und Griechen. In ganz Kairo konnte man jederzeit unangekündigte Aufmärsche und Truppenparaden erleben, und mein Vater sprach gelegentlich davon, mich zu einer offiziellen Parade mitzunehmen, aber dazu kam es nie. In Jerusalem wie auch in Kairo sah ich britische und australischneuseeländische Truppen marschieren, unablässig gellten ihre Trompeten, dröhnten ihre Trommeln, aber damals habe ich nie verstanden, warum und für wen. Ich nahm an, ihr Zweck im Leben sei weitaus gewichtiger als der meine, und deshalb zu bedeutsam, als dass ich ihn begreifen könnte. Mir fiel zwar auf, dass verbotene Restaurants und Kabaretts mit Schildern wie »Alle Ränge zugelassen« versehen waren, aber auch deren Bedeutung blieb mir unverständlich. Eines dieser Etablissements, das Sauld’s, im Immobilia-Gebäude in der Innenstadt, lag zufällig in der Nähe des Papiergeschäfts meines Onkels Asaad (das ein Geschenk meines Vaters gewesen war), und er nahm mich oft dorthin mit. »Gib dem Jungen zu essen«, sagte er dann zu einem schläfrig wirkenden Verkäufer, und ich schlang Käsesandwiches und eingelegte Rübchen in mich hinein. Zuerst glaubte ich, »alle Ränge« bedeute, dass auch Zivilisten wie ich eintreten dürften, musste aber bald erkennen, dass ich überhaupt keinen Rang besaß. Das Sauld’s und Onkel Al, wie wir ihn nannten, standen für einen vorübergehenden, nur allzu kurzen und angesichts der rigiden Ernährungsvorschriften meiner Mutter überaus flüchtigen Augenblick der Freiheit. 1943 hatten meine Eltern ihr erzieherisches Regiment so vollständig durchzusetzen begonnen, dass Onkel Als herzliches »Gib dem Jungen zu essen« im Jahr 1951 – bei meiner Abreise aus Ägypten in die Vereinigten Staaten – bereits eine nostalgische unwiederbringliche Süße gewonnen
hatte, töricht und glücklich zugleich. Als Onkel Al vier Jahre später in Jaffa starb, war auch das Sauld’s längst verschwunden. Während der ersten Phase des Krieges hielten wir uns länger als gewöhnlich in Palästina auf. Im Sommer 1942 mieteten wir ein Haus in Ramallah, nördlich von Jerusalem, und kehrten erst im November nach Kairo zurück. Dieser Sommer veränderte unser Familienleben auf dramatische Weise, denn in unseren sonst ziemlich unvorhersagbaren und mühseligen Reisen zwischen Kairo und Jerusalem trat eine Veränderung ein. Gewöhnlich fuhren wir mit dem Zug von Kairo nach Lydda – mit mindestens zwei Dienern, einem großen Haufen Gepäck und in einer Stimmung freudiger Erregung; die Rückfahrt war immer etwas leichter und verlief in weniger gehobener Laune. 1942 jedoch fuhren meine Mutter, meine beiden Schwestern Rosemarie und Jean, mein Vater und ich nicht mit dem Zug, sondern mit dem Auto. Statt in Kairos Bahnhof Bab-el-Hadid den luxuriösen Schlafwagenzug für die zwölfstündige nächtliche Reise nach Jerusalem zu besteigen, flohen wir im Mai jenes Jahres in Vaters schwarzem Plymouth mit abgedunkelten Scheinwerfern vor der schnell näher rückenden deutschen Armee, die hastig gepackten Lederkoffer auf dem Gepäckträger aufgetürmt und im Kofferraum verstaut. Die Fahrt in die Suezkanalzone dauerte viele Stunden, weil uns zahlreiche britische Konvois entgegenkamen, die aus allen Richtungen auf Kairo vorrückten. Wir mussten an den Rand fahren und warten, während Panzer, Last- und Mannschaftswagen an uns vorbei in die Niederlage fuhren, der dann die britische Gegenoffensive folgen sollte, die schließlich im November in der Schlacht von El-Alamein gipfelte. Wir legten die lange Fahrt durch die Nacht in vollständigem Schweigen zurück. Mein Vater suchte sich seinen Weg über die unmarkierten Straßen des Sinai, nachdem wir den
Suezkanal ohne Formalitäten oder Schwierigkeiten an der Brücke von Qantara überquert hatten – als wir gegen Mitternacht dort ankamen, lag der Zollposten verlassen. An dieser Stelle begegneten wir dem einzigen zivilen Wagen, der in die gleiche Richtung fuhr, einem Kabriolett. Am Steuer saß ein jüdischer Geschäftsmann aus Kairo, ohne Beifahrer, nur mit ein paar Flaschen Eiswasser und einem Revolver als Gepäck. Er erkannte meinen Vater und schlug sogar vor, etwas von der Ladung des Plymouth zu übernehmen, woraufhin ihm mehrere große Koffer übergeben wurden. Dafür bat er, hinter uns her fahren zu dürfen. Ich erinnere mich noch deutlich an den abgespannten, müden Ausdruck im Gesicht meines Vaters, als er dieser einseitigen Vereinbarung zustimmte, und so fuhren wir schweigend weiter durch die Nacht, der zweite Wagen dicht hinter dem ersten. Meinem Vater blieb es allein überlassen, die sandüberwehte, gewundene enge Straße in der schwärzesten aller schwarzen Nächte zu finden und nicht nur den Druck seiner kleinen Familie im Wagen zu ertragen, sondern hinter uns auch den ägyptisch-jüdischen Geschäftsmann, der uns ständig vorwärts drängte, in der festen Überzeugung, dass er um sein Leben fuhr. Schon früher in diesem Winter hatte ich die Sirenen »Alarm« und »Entwarnung« heulen hören. Während eines nächtlichen Bombenangriffs der Deutschen hatte mich mein Vater in Decken gewickelt in den Luftschutzraum in der Garage getragen, und ich empfand eine vage Ahnung, dass »wir« bedroht waren. Die politische und erst recht die militärische Bedeutung unserer Situation konnte ich mit meinen sechseinhalb Jahren natürlich nicht erfassen. Mein Vater muss als Amerikaner in Ägypten, wo der deutsche Vormarsch unter Rommel zunächst gegen Alexandria, dann gegen Kairo erwartet wurde, einem unangenehmen Schicksal entgegengesehen haben. Eine ganze Wand in unserem
Hausflur war mit großen Karten von Asien, Nordafrika und Europa bedeckt. Jeden Tag steckte mein Vater rote Nadeln (für die Alliierten) und schwarze (für die Achsenmächte) ins Papier, um die Vormärsche und Rückzüge der kriegführenden Seiten nachzuvollziehen. Auf mich wirkten die Karten eher beunruhigend als informativ, und obwohl ich meinen Vater gelegentlich um eine Erläuterung bat, schien ihm das schwer zu fallen: er wirkte unkonzentriert, verstört, abwesend. Und dann befanden wir uns plötzlich auf jener schwierigen Nachtfahrt nach Jerusalem. An dem Tag, an dem er sich zur Abfahrt entschlossen hatte, kam er zum Essen nach Hause und sagte zu meiner Mutter lediglich, sie solle packen und sich bereit machen, und um fünf Uhr nachmittags waren wir unterwegs, fuhren langsam durch Kairos halb verlassene Straßen. Ein trostloser, verwirrender Moment: Auf unerklärliche Weise ließen wir meine vertraute Welt hinter uns und fuhren in die freudlose Dämmerung hinein. Das Bild von meinem Vater, schweigend und in sich gekehrt in diesem langen, beunruhigenden und eigenartigen Sommer in Ramallah, verfolgte mich noch jahrelang. Er saß auf dem Balkon, stierte in die Ferne und rauchte dabei ununterbrochen. »Mach keinen Lärm, Edward«, sagte dann meine Mutter. »Du siehst doch, dass dein Vater Ruhe braucht.« Dann gingen sie und ich eine Weile spazieren durch die grüne und behagliche, überwiegend christliche Stadt nördlich von Jerusalem, und ich hielt mich nervös an ihrer Seite. Das Haus in Ramallah besaß keinen Reiz für mich, aber es war dennoch der perfekte Rahmen für die Stille und Leere der geheimnisvollen Qualen meines Vaters. Eine steile Außentreppe führte seitlich vom Garten herauf, der in der Mitte durch einen Steinpfad geteilt war; auf beiden Seiten erstreckten sich Flecken brauner Erde, wo lediglich ein paar Brombeeren wuchsen. Zwei hagere Quittenbäume standen neben dem Haus am Balkon der ersten
Etage, wo sich mein Vater fast ständig aufhielt. Das Erdgeschoss war abgeschlossen und stand leer. Da ich nicht über die nackte Erde laufen durfte, blieb mir als Spielplatz nur der kärgliche Steinpfad vom Tor zur Treppe. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was los war, aber in Ramallah hörte ich zum ersten Mal den Ausdruck »Nervenzusammenbruch«. Eng damit verbunden war der Schutz für den »Seelenfrieden« meines Vaters, ein Ausdruck, den er aus einem Buch gleichen Namens übernommen hatte und der zum Thema vieler Gespräche mit seinen Freunden wurde. Die ermüdende Stumpfheit unseres Sommers in Ramallah verschloss sich jeder Untersuchung und Erklärung, die ich als aufgeweckter Sechseinhalbjähriger ganz natürlich brauchte. Hatte Daddy Angst vor etwas, wollte ich als erstes wissen: Warum sitzt er dort so lange herum und sagt nichts? Dann trug man mir irgendwelche nützlichen oder disziplinierenden Arbeiten auf, oder man warf mir zur Antwort ein paar rätselhafte und unvollständige Brocken hin. So war die Rede von extremer Angst wegen seines plötzlich gestiegenen Blutdrucks. Außerdem gab es auch Hinweise darauf, dass er meine Vettern Abie (Ibrahim) und Charlie – Onkel Asaads Söhne – nach Asmara geschickt hatte, wo sie, wie mein Vater sich nun sorgte, ums Leben kommen könnten. Schließlich soll ein zwielichtiger Geschäftsmann aus Kairo versucht haben, meinen Vater mit irgendeinem Kriegsgewinnlergeschäft in Versuchung zu führen. (Ich hörte heraus, dass er abgelehnt hatte.) Aber reichten diese Ereignisse aus, um einen Nervenzusammenbruch auszulösen? Aus welchem Grund auch immer: Sobald wir nach Kairo zurückkehrten, begann sich mein Leben zu verändern, und insbesondere meine Mutter machte mir deutlich, dass eine glücklichere, weniger problematische Zeit vorüber war. Ich verfiel mehr und mehr einem umfassenden Müßiggang – »Du
bist sehr aufgeweckt!«, sagte man mir immer wieder, »aber du hast keinen Charakter, du bist faul, du bist ungezogen« und so weiter. Man erinnerte mich auch an einen früheren Edward, von dem manchmal als »Eduardo Bianco« die Rede war, dessen Taten, Begabungen und Erfolge aus der Zeit vor 1942 mir als verheißungsvolle Zeichen vor Augen geführt wurden – und diese Verheißung hatte ich verraten. Von meiner Mutter erfuhr ich, der frühere Edward habe mit anderthalb Jahren 3 8 Lieder und Kinderreime perfekt auswendig singen und aufsagen können. Oder als Vetter Abie, der sehr gut Harmonika spielte, bewusst eine falsche Note in seine Wiedergabe von »John Peel« einschmuggelte, habe dieser Edward seine Fäuste geballt, die Augen geschlossen und zunächst seinen Ärger über den Fehler und sodann die richtige Version hören lassen. Oder dass Edward mit fünfzehn Monaten, abgesehen von dem eigenartigen Gebrauch von »du« für »ich«, perfekte Sätze auf Englisch und Arabisch gebildet habe. Oder dass er mit zweieinhalb oder drei Jahren schon recht gut einfache Texte lesen konnte. Oder dass ihm mit drei oder vier Jahren Mathematik und Musik so selbstverständlich zugeflogen seien wie Acht- oder Neunjährigen. Geschickt, munter, außergewöhnlich schnell und aufgeweckt habe dieser kleine Edward wilde Spiele mit seinem glücklichen Vater genossen. Ich selbst erinnerte mich an nichts dergleichen, aber die häufigen Wiederholungen meiner Mutter, dazu eine Reihe von Fotoalben aus diesen Jahren – darunter auch von einem idyllischen Sommer in Alexandria – bekräftigten diese Behauptungen. Nichts davon hatte, außer als unliebsame Erinnerung, die dunklen Tage von 1942 überlebt. Im November, nach der Schlacht von El-Alamein, kehrten wir nach Kairo zurück. Ich besuchte wieder die GPS und wurde ein regelrechtes Problemkind, an dem ein unangenehmes Heilmittel nach dem
anderen erprobt wurde, bis ich mit neun Jahren und dann bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag nach der Schule und an den Wochenenden ständig in private Therapien eingebunden war: Klavierstunden, Turnen, Sonntagsschule, Reitunterricht, Boxen und nicht zuletzt die geisttötende Strenge unnachgiebig beaufsichtigter Sommer in Dhur el-Shweir. Nach 1943 fuhren wir jeden Sommer in dieses trostlose libanesische Bergdorf, zu dem mein Vater sich allem Anschein nach stärker hingezogen fühlte als zu jedem anderen Ort auf Erden. Meine Eltern standen im Zentrum des gesamten Systems, das meine Zeit Minute für Minute festlegte und die Einstellung meines Vaters zu mir für den Rest seines Lebens prägte. Es war ein System, das mir nur winzige Ruhepausen gönnte, die ich genießen und in denen ich mich außerhalb seiner Klauen wähnen mochte. Er konnte Schroffheit, unergründliches Schweigen und gelegentliche Zuneigung mit überraschender Großzügigkeit verbinden, so dass ich nie genau wusste, woran ich bei ihm war. Bis vor sehr kurzer Zeit schien mir dieses Verhalten noch immer bedrohlich und unbegreiflich. Aus den Verheerungen des Jahres 1942 sollte sich der Kern dieser disziplinären Struktur meines Lebens herausbilden, und die ständig drohende Gefahr, die verschiedenen Vorschriften nicht einzuhalten, erzeugte in mir schließlich die Angst, in irgendeinen entsetzlichen Zustand völliger Unordnung und Verlorenheit zurückzufallen – eine Angst, die mich noch heute verfolgt. Dieser gefährliche Zustand nahm für mich alsbald in den materiellen und moralischen Versuchungen Kairos Gestalt an, die unmittelbar jenseits der sorgfältig entworfenen, streng überwachten Routine meines Lebens lagen. Ich ging niemals mit Mädchen aus. Nie durfte ich Orte öffentlicher Zerstreuung oder Restaurants besuchen, geschweige denn frequentieren. Und immer wieder ermahnten mich meine Eltern, Menschen
im Bus oder in der Straßenbahn nicht zu nahe zu kommen, nichts in einem Laden oder an einem Stand zu essen oder zu trinken und vor allem unser Heim und unsere Familie als einzige Zuflucht vor dem riesigen Sündenpfuhl um uns herum zu begreifen. Mich vor dem zu retten, was bereits geschah: Das war das Paradox, in dem ich lebte. Schlimmer konnte in meinen Augen nur noch der totale Zusammenbruch sein, vielleicht in der Art, wie ihn mein Vater im Sommer 1942 erlebt hatte. Danach begann er mit der schwierigen Aufgabe, Geschäft und Muße neu zu organisieren, mit erheblich stärkerem Gewicht auf Letzterer, da sich sein Vermögen beträchtlich vermehrt hatte. Von 1951 an ging er nach dem Mittagessen überhaupt nicht mehr zur Arbeit. Stattdessen begann er Bridge zu spielen, was zu einer Manie wurde: Er spielte sieben Tage die Woche, jede Woche im Jahr, außer wenn er verreist war. Um halb zwei Uhr mittags kam er zum Essen nach Hause, danach schlief er bis vier und fuhr dann in den Club, um bis halb acht oder acht Uhr abends zu spielen. Manchmal spielte er auch nach dem Abendessen weiter. Nach unserem Sommer in Ramallah tauchten überall in der Kairoer Wohnung Ely-Culbertson-Bücher auf, dazu mehrere Solo-Bridge-Sets und neue grüne Filzbezüge für unsere beiden zusammenklappbaren Spieltische. An den Dienstagabenden begab sich mein Vater zum Bridgespielen zu Philip Souky, dessen Haus in der Nähe der Pyramiden lag. Als wir unseren ersten Sommer in Dhur el-Shweir verbrachten, spielte er morgens Bridge im Café, dann wieder am Nachmittag, und schließlich leitete er abends ein Spiel bei uns zu Hause oder bei einem Freund. Die Distanz zwischen uns vergrößerte sich noch, als ich und leider auch er entdeckten, dass ich für Bridge weder Talent noch das geringste Interesse hatte. Er schien eine phänomenale Begabung für alle Arten häuslicher Spiele zu
besitzen, von denen ich keines jemals beherrschte. Er versuchte mir Backgammon oder tawlah beizubringen, doch ohne jede Aussicht auf Erfolg. Nachdem er mir ungeduldig dabei zugesehen hatte, wie ich mühsam die Felder zählte, nahm er mir den Spielstein aus den Fingern und stellte ihn schnell an die richtigen Stellen: »Warum zählst du so« – er ahmte mein Zählen nach, indem er sein Gesicht idiotisch verzerrte, als wäre ich ein Trottel, der vergeblich von drei bis vier zu zählen versuchte – »wenn es so gemacht werden sollte?« Später forderte er mich manchmal zu einem Spiel auf, aber letztlich spielte er dann die ganze Partie für mich. »So geht es schneller!« Ich sollte ihm einfach nur gegenübersitzen und gar nichts tun: Er spielte beide Seiten. Es gab kein Kartenspiel, das er nicht kannte, kein KasinoRitual, das er mir nicht vergeblich beizubringen versuchte. Obwohl er es mir dreißig Mal erklärte, kann ich dennoch weder Poker noch Bakkarat. Im Sommer 1953 – ein Jahr lang hatte ich in meinem amerikanischen Internat Poolbillard gelernt – glaubte ich, ihn in einem Café in Dhur raffiniert zu einem Spiel 8-Ball überreden zu können. Sein anfängliches Zögern schrieb ich der Sorge zu, ich könne ihn schlagen. Später wurde mir klar, dass er sein Zögern und sogar ein bisschen Bewunderung nur vorgetäuscht hatte, um mich anzutreiben. »So spielen wir es in den Staaten«, krähte ich wie ein Profi gegenüber einem Anfänger. »Wenn man den Ball an der Seite trifft, nennt man das englisch.« Ich versenkte zwei Kugeln, die dritte verpasste ich. Mein Vater ergriff das Queue und schien plötzlich von einem demütig nickenden Anfänger in einen Furcht einflößenden Profi verwandelt. Es war überhaupt kein Wettkampf, auch nicht, nachdem wir zum französischen Billard nebenan übergewechselt waren, wo ich mir eine bessere Chance ausrechnete. Ich war bald völlig verwirrt und gab erst dem Queue die Schuld, dann dem
spottenden Kellner, der mangelnden Übung. »Englisch nennt man das also«, sagte mein Vater auf dem Heimweg sarkastisch, und das musste ich mir von einem Spieler sagen lassen, dem scheinbar jedes Effet zu Gebote stand. Beim Spiel brauchte er nicht viel zu reden oder mehr als minimale Gefühle zu investieren. Vielleicht wurde deshalb das Kartenspiel zu einer Manie, zu einer offenbar lebenserhaltenden Gewohnheit. Es bot ihm eine Möglichkeit, seine Ängste in einem Bereich des Lebens zu sublimieren, in dem die Regeln feststanden und die Ordnung der Routine herrschte: einen Fluchtweg aus jeder Art Konfrontation mit Menschen, Geschäften oder Problemen. Bridge und Kartenspiele insgesamt waren Teil seiner Erholung von den Verheerungen des Jahres 1942. »Es ist eine Entspannung«, sagte er ein paar Mal im Laufe der Jahre und beschrieb damit einen Zeitvertreib, der in den Sommerferien mindestens zwölf Stunden täglich in Anspruch nahm und bis zu vier Stunden während seiner Arbeitsperioden. Ich glaube nicht, dass ich je wieder solch leere Niedergeschlagenheit empfand wie damals, als ich ihm, ein junger Bursche, dabei zusehen musste. Während ich neben ihm saß, verkündete jede auf den Tisch geschnippte Karte, jede Erhöhung, jeder lakonische Kommentar nach jeder einzelnen Partie meine geistige wie moralische Unterwerfung und verstärkte das Gefühl, dass ich seiner Autorität unterlag. Weder sprach er bei diesen Gelegenheiten mit mir, noch wies er darauf hin, was an einer ausgeteilten Hand hätte interessant sein können. Es gab nur die endlose Monotonie des Kartenspiels und seinen ausdrücklichen Wunsch, ich solle dabei zuschauen, aus Gründen, die ich niemals ganz begriffen habe. Wenn ich während der ersten paar Jahre nach 1942 neben ihm stand oder saß, war dies eine Strafe für Fehlverhalten. Darin spiegelte sich die primitive Vorstellung meiner Eltern,
wie sie mich außerhalb der Schule, und schlimmer noch während des Sommers im Libanon, vor Schwierigkeiten bewahren könnten. Ihm stundenlang ohne Unterbrechung beim Bridge oder tawlah zusehen zu müssen, war ein geisttötendes Erlebnis. Diese Phasen aufgezwungener Langeweile waren frühe Vorboten größerer Pläne, wie mein potenzielles Fehlverhalten eingeschränkt werden könnte. »Wadie, nimm doch bitte den Jungen mit«, sagte dann meine Mutter entnervt. »Er macht mir nichts als Ärger.« Wenn Wadie nicht zur Verfügung stand, schickte meine Mutter mich entweder auf einen langen und sinnlosen Botengang oder sagte mit Betonung: »Zieh dich aus und geh sofort ins Bett.« Im Bett waren Bücher, Musik, Ablenkungen jeder Art verboten, ebenso Essen und Trinken. Ich durfte die Schlafzimmertür nicht abschließen, so dass meine Mutter urplötzlich und unangekündigt ins Zimmer treten konnte, um nachzuprüfen, ob ich gehorchte. Diese besonders langweilige Strafe besaß den einzigen Vorteil, dass ich drei Schachfiguren, die ich in einer Schublade gefunden hatte, in die Luft warf, wieder auffing und mir so das Jonglieren beibrachte. Die frühen Erziehungsmethoden meiner Eltern verbinde ich in erster Linie mit den langen Ferien, in denen längere Phasen der Muße meinem neugierigen und radikal ungezogenen Ich gestatteten, überall hinzugehen, wo eine Übertretung riskant sein mochte. Sie erstreckten sich bald auch auf mein Leben in Kairo. Ich hatte eine erstaunlich erfinderische Neugier auf Menschen und Dinge. Häufig wurde ich ausgescholten, weil ich Bücher las, die ich nicht lesen sollte, und schlimmer noch: Oft wurde ich dabei ertappt, wenn ich in den Autogramm- und Notizbüchern, den Heften und Comics, den gekritzelten Botschaften und Notizen meiner Schwestern, Schulkameraden und Eltern herumstöberte. »Neugier bringt die Katze um«, hieß es dann, aber ich wollte aus all den Käfigen entkommen, in die
ich mich gesperrt fühlte und die mich so unzufrieden und sogar mir selbst zuwider machten. Während ich meine Schularbeiten erledigen oder etwa Fußball spielen musste (wobei ich besonders erfolglos war) und während ich ein pflichtbewusster Kirchgänger, Sohn und Bruder sein sollte, fand ich bald ein geheimes Vergnügen daran, Dinge zu sagen und zu tun, die gegen die Regeln verstießen oder mich über die von meinen Eltern gesetzten Grenzen hinausführten. Immer spähte ich durch halb offenstehende Türen, ich las Bücher, um herauszufinden, was der Anstand vor mir verborgen hielt, und ich stöberte in Schubladen, Schränken, Bücherregalen, Umschlägen, Papierfetzen, um aus ihnen soviel wie möglich über Charaktere in Erfahrung zu bringen, deren sündige Lüsternheit meinen Begierden entspräche. Bald genoss ich es, lesend eine neue Welt zu entdecken. Etwa die Hälfte unseres Familiengeschäfts in Palästina – der Palestine Educational Company – bestand aus dem Verkauf und zu einem geringen Teil dem Verlegen von Büchern. In Ägypten jedoch leitete mein Vater (in Partnerschaft mit seinem Vetter Boulos und dessen Kindern) eine Firma ausschließlich für Büroausstattung und Papierwaren, wovon einiges auch in Jerusalem und Haifa verkauft wurde. Wann immer ein Mitglied unserer Jerusalemer Familie zu Besuch kam, erhielt ich ein passendes Buch geschenkt, das samt Preisschild und Inventaretikett aus dem Regal genommen worden war. Diese genehmigten Bücher schienen gemeinhin aus zwei Kategorien zu stammen: Kinderbücher nach Art von A. A. Milne und Enid Blyton sowie nützliche Bücher voller Informationen wie das Collins Junior Book of Knowledge, das ich bekam, als ich zwischen neun und zehn Jahre alt war. Es bot mir Unterhaltung für lange Stunden, in denen ich versuchte, den Geheimnissen einer gewissen Kalita auf die Spur zu kommen, einer FakirFrau, die im Bertram Mills Zirkus Wunder an Stärke und
Selbstüberwindung vollbrachte. Ich war noch nie in einem Zirkus gewesen – der Circo Togni sollte erst vier Jahre später in Kairo auftreten –, und außer den jugendfreien Hinweisen in Blytons Zirkusbüchern um Mr. Galliano hatte ich auch nicht die geringste Vorstellung davon, wie das Leben in einem europäischen Zirkus aussehen mochte. Es genügte mir, dass Kalita von geheimnisvoller Herkunft war. In den winzigen, grobkörnigen und verwischten Fotografien im Text trug sie anscheinend ein zweiteiliges Kostüm, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, und sie konnte mit ihrem Körper erstaunliche, unvorstellbare Dinge vollführen. All dies verstieß gegen die Gesetze von Respektabilität und Anstand, unter denen ich litt. Kalitas Verrenkungen widersprachen außerdem der Natur, aber das trug nur zu meiner Erregung bei. So wurde beschrieben, wie sie auf dem Rücken lag, mit einem gigantischen Steinquader auf dem nackten Bauch. Ein riesiger halbnackter Mann mit einem Turban stand mit einem gewaltigen Schmiedehammer über ihr und ließ ihn auf den Stein niederkrachen. Ein Bild von dieser Szene, der Hammer mitten im Herabsausen, bewies die geschilderte Leistung. Kalita konnte darüber hinaus mit bloßen Füßen über Glassplitter laufen, auf Nägeln liegen und bei ihrem wichtigsten Wagnis lange Minuten unterirdisch begraben liegen. Ein weiteres Foto zeigte sie in ihrem Badeanzug, mit einem deutlichen Lächeln von fast sinnlicher Befriedigung, in den Armen ein großes und überaus bedrohlich wirkendes Krokodil. Ich las die drei dicht bedruckten Seiten über Kalita wieder und wieder, und immer wieder untersuchte ich auch die beiden Fotos, die mich jedes Mal erneut in ihren Bann zogen, sobald ich das Buch aufschlug. Gerade ihre Unzulänglichkeiten – ihre winzige Größe, die Unmöglichkeit, den Körper der Frau genau zu erkennen, die entfremdende Distanz zwischen ihnen und
mir – fesselten mich auf paradoxe Weise über viele Wochen. Ich träumte davon, Kalita kennen zu lernen, in ihre »Karawane« aufgenommen zu werden, ein paar weitere schreckliche Taten mitzuerleben (zum Beispiel ihre Unempfindlichkeit gegenüber anderen Formen extremer Schmerzen und unbekannter Vergnügungen, wenn nicht gar ihre Freude daran, oder ihre Verachtung für das häusliche Leben, dass sie in ungeheure Tiefen tauchen, lebende Tiere und ekelhafte Früchte essen konnte) und mir von ihr berichten zu lassen, wie sie sich dem gewöhnlichen Gerede und den Pflichten des Alltags entzog. Aus meinen Erfahrungen mit Kalita entwickelte ich die Gewohnheit, in meiner Fantasie die in einem Buch erzählte Geschichte weiterzuspinnen, ihre Grenzen so weit zu dehnen, so dass ich Bestandteil der Geschichte wurde. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich zum Autor meiner eigenen Vergnügungen werden konnte, insbesondere jener, die mich so weit wie möglich aus den erdrückenden Beschränkungen von Familie und Schule davontrugen. Meine Fähigkeit zur Täuschung, so zu tun, als lernte ich, als läse ich ein Buch oder übte am Klavier, und zugleich über etwas völlig anderes, nur mir zugängliches nachzudenken, etwa über Kalita, war eine jener Besonderheiten meines Lebens, die Lehrer und Eltern irritierten, mich selbst aber beeindruckten. Für Geschichten, deren Grenzen ich erweitern konnte, gab es vor allem zwei Quellen: Bücher und Filme. Märchen und biblische Geschichten hatten mir meine Mutter und meine Großmutter vorgelesen, aber zu meinem siebenten Geburtstag hatte ich auch ein illustriertes Buch mit griechischen Mythen geschenkt bekommen. Es eröffnete mir eine völlig neue Welt, nicht nur die Geschichten selbst, sondern die herrlichen Verbindungen, die sich zwischen ihnen herstellen ließen. Jason und die Argonauten, Perseus und die Gorgo, Medusa, Herkules
und seine zwölf Aufgaben: Sie waren meine Freunde und Gefährten, Eltern, Vettern, Onkel und Mentoren (wie Chiron). Ich lebte mit ihnen und stellte mir genau ihre Burgen, Streitwagen und Dreiruderer vor. Ich malte mir aus, was sie wohl taten, wenn sie nicht gerade Löwen oder Ungeheuer töteten. Ich entließ sie in ein Leben von leichter Anmut, ohne abscheuliche Lehrer und lästige Eltern – Perseus, der Jason in einem luftigen Innenhof erzählte, wie es war, wenn man Medusa in seinem Schilde sah, Jason, der Perseus von den Schönheiten der Kolchis berichtete, und beide als staunende Beobachter, wie Herkules in seiner Wiege die beiden Schlangen erwürgte. Die zweite Quelle meiner Fantasien waren Filme, besonders jene, in denen wie in den Abenteuern aus Tausendundeiner Nacht regelmäßig Jon Hall, Maria Montez, Turhan Bey und Sabu mitspielten, dazu die Tarzan-Serie mit Johnny Weismuller. Wenn ich mit meinen Eltern gut stand, gehörte zu den Samstagsvergnügungen auch eine Kinovorstellung am Nachmittag, von meiner Mutter sorgsam ausgesucht. Französische und italienische Filme waren tabu, HollywoodFilme nur dann geeignet, wenn sie von meiner Mutter »für Kinder« freigegeben waren. Das waren Laurel und Hardy, Abbott und Costello, Betty Grable, Gene Kelly, Loretta Young, viele, viele Musicals und Familienkomödien mit Clifton Webb, Claudette Colbert und Jennifer Jones (akzeptabel in Das Lied von Bernadette, verboten in Duell in der Sonne), Walt-Disney-Fantasien und TausendundeineNacht-Filme, vorzugsweise nur mit Jon Hall und Sabu (Maria Montez wurde missbilligt), Kriegsfilme und einige Western. Während ich in den Plüschsesseln des Kinos saß, mehr noch als beim Betrachten der Hollywood-Filme selbst – die mir als eine eigenartige Form von Science-Fiction vorkamen und überhaupt nichts mit meinem Leben gemein zu
haben schienen –, genoss ich die sanktionierte Freiheit, zu sehen und nicht gesehen zu werden. Später entwickelte ich eine unwiderstehliche Zuneigung zu Johnny Weismullers gesamter Tarzan-Welt, besonders zu der fraulichen und zumindest in Tarzan und seine Gefährtin jungfräulich sinnlichen Jane in ihrem behaglichen Baumhaus, dessen raffinierte Annehmlichkeiten mir wie das reine, unkomplizierte Destillat unseres Lebens als isolierter Familie in Ägypten erschienen. Sobald in Tarzan findet einen Sohn oder Tarzans geheimer Schatz das Wort »Ende« auf der Leinwand auftauchte, begann ich mit meinen Grübeleien darüber, wie es denn wohl weiterging, was die kleine Familie in ihrem Baumhaus tat, über die »Eingeborenen«, mit denen sie sich anfreundeten und denen sie Kultur beibrachten, ob vielleicht einmal die Angehörigen von Janes Familie zu Besuch kamen, über die Tricks, die Tarzan Boy beibrachte, und so immer fort. Es war sehr eigenartig, aber mir kam niemals in den Sinn, dass all die Kino-Aladins, -Ali Babas und -Sindbads, deren Djinn, Bagdad-Kumpel und Sultane mir in meinen Fantasien gegen Schule und Lektionen zu Gebote standen, sämtlich mit amerikanischem Akzent sprachen, kein Arabisch beherrschten und eine geheimnisvolle Nahrung zu sich nahmen – vielleicht »Sweetmeats« oder eher Stew, Reis, Lammkoteletts? –, die ich niemals so recht identifizieren konnte. Einer der seltenen Augenblicke vollständiger Zufriedenheit vor meinem achtzehnten Lebensjahr fiel in mein erstes Jahr an der Cairo School for American Children (ich war zehneinhalb). Ich stand auf dem ersten Absatz einer großen Treppe, schaute hinunter auf einen Raum voller Gesichter und trug gekonnt Erzählungen vor, wobei ich die Geschichten von Jason und Perseus ausmalte. Ich genoss es, ausgeklügelte, endlose Details zu erfinden – die Identität der Argonauten, was das Goldene Vlies war, die Gründe für das schreckliche Schicksal der
Medusa, die späteren Erlebnisse von Perseus und Andromeda –, und erfuhr zum ersten Mal die Freuden des virtuosen und freien Umgangs mit Sprache, wie sie mir der Unterricht in Französisch und Englisch und in Geschichte, wo ich so schlecht war, vorenthielt. Ich verfügte beim Durchdenken und Erzählen dieser Geschichten über eine Gewandtheit und Konzentration, die mir ein einzigartiges Vergnügen bereiteten, wie ich es nirgends sonst in Kairo finden konnte. Daneben fing ich an, klassische Musik ernsthafter zu genießen; in meinem Klavierunterricht, den ich seit meinem sechsten Lebensjahr erhielt, waren meine Melodie- und Gedächtnistalente allerdings an den notwendigen Tonleitern und Czerny-Etüden zu Grunde gegangen, bei denen meine Mutter hinter mir stand oder neben mir saß. Später hatte ich das Gefühl, ich sei dadurch in der Entwicklung einer musikalischen Identität unterbrochen worden. Erst als ich fünfzehn war, konnte ich Platten kaufen und die Opern genießen, die ich mir selbst auswählte. Die musikalische Saison Kairos mit Oper und Ballett war mir noch nicht zugänglich, und so war ich angewiesen auf die Angebote der BBC und des ägyptischen Staatsrundfunks, wobei mein größtes Vergnügen das fünfundvierzigminütige Sonntagnachmittagsprogramm der BBC »Nights at the Opera« war. Mit Hilfe von Gustave Kobbes Complete Opera Book entdeckte ich ziemlich früh, dass ich Verdi und Puccini überhaupt nicht mochte, aber das wenige liebte, was ich von Strauss und Wagner kannte, deren Werke ich erst dann live in einem Opernhaus erlebte, als ich schon fast zwanzig war.
III
SCHULLEHRER, SO NAHM ICH AN, müssten Engländer sein. Auch Schüler konnten Engländer sein, wenn sie Glück hatten; wenn nicht, wie in meinem Fall, dann nicht. Ich besuchte die Gezira Preparatory School (GPS) vom Herbst 1941 bis zu unserer Abreise aus Kairo im Mai 1942, dann wieder von Anfang 1943 bis 1946, mit ein oder zwei längeren Zwischenspielen in Palästina. Während dieser Zeit hatte ich keinen einzigen ägyptischen Lehrer, noch war an der Schule überhaupt arabisch-muslimischer Einfluss zu spüren: Bei den Schülern handelte es sich um Armenier, Griechen, ägyptische Juden und Kopten, außerdem eine beträchtliche Zahl englischer Kinder, darunter viele Sprösslinge des Lehrpersonals. Von unseren Lehrerinnen will ich nur die beiden herausragendsten erwähnen: Mrs. Bullen, die Direktorin, und Mrs. Wilson, die allgegenwärtige Oberlehrerin, die in allen Funktionen einsetzbar war. Die Schule selbst befand sich in einer großen Villa in Zamalek, einstmals entworfen für ein Leben im großen Stil. Das Erdgeschoss war nun in mehrere Klassenräume unterteilt, in die man von einer imposanten zentralen Halle aus, mit einer Plattform am einen Ende und einem beeindruckenden Eingangsportal am anderen, gelangte. Die Halle ging über zwei Etagen und hatte ein Glasdach. Eine Balustrade umgab eine weitere Reihe von Räumen, die unmittelbar über unseren Klassenzimmern lagen. Ich besuchte sie nur ein einziges Mal, und der Anlass war kein besonders glücklicher. Sie erschienen mir wie verwunschene Orte, an denen geheimnisumwobene englische Versammlungen stattfanden und wo der gestrenge Mr. Bullen
residierte, ein großer, rotgesichtiger Mann, der sich nur selten auf der unteren Etage blicken ließ. Ich konnte damals nicht wissen, dass die Direktorin Mrs. Bullen, deren Tochter Anne eine Klasse über mir besuchte, nicht als Lehrerin in Ägypten war, sondern eine Schulkonzession für die GPS besaß. Nach der Revolution der freien Offiziere von 1952 verlor die Schule allmählich ihr europäisches Gepräge und hatte sich zum Zeitpunkt der SuezKrise von 1956 bereits völlig verändert. Heute ist es eine Sprachenschule für junge Erwachsene und zeigt keinerlei Spuren ihrer englischen Vergangenheit mehr. Mrs. Bullen und ihre Tochter tauchten später in Beirut noch einmal als Leiterinnen einer weiteren Schule nach englischem Muster auf, aber sie schienen dort noch weniger Erfolg gehabt zu haben als in Kairo, wo sie wegen Unfähigkeit und auf Grund der Trinkgewohnheiten Mr. Bullens entlassen worden waren. Die GPS lag bequemerweise am Ende der Sharia Aziz Osman, unserer relativ kurzen Straße in Zamalek, genau drei Blocks entfernt. Die Zeit, die ich für meinen Schulweg brauchte, bot immer neuen Anlass zu Diskussionen mit Lehrern und Eltern und wird in meinem Gedächtnis auf ewig mit zwei Worten verbunden sein: »trödeln« und »schwindeln«. Sie sind für mich gleichbedeutend mit dieser kurzen Strecke, die ich schlendernd und in Tagträumereien versunken zurücklegte. Zum einen wollte ich einfach meine Ankunft am anderen Ende hinauszögern. Zum anderen war es jedoch auch die schiere Faszination angesichts der Menschen, denen ich begegnete, oder der Ausblicke, die sich auf das Leben boten – hier ging eine Tür auf, dort fuhr ein Auto vorüber, und auf einem Balkon spielte sich eine kurze Szene ab. Da mein Tag um halb acht anfing, waren all meine Erlebnisse unweigerlich geprägt vom Ausklang der Nacht und dem Anbruch des Tages – die schwarz gewandeten ghafirs oder Nachtwächter, die sich
langsam aus ihren Decken und schweren Mänteln schälten, schläfrige sufragis, die sich träge zum Markt schleppten, um Brot und Milch einzukaufen, Chauffeure, die die Wagen ihrer Arbeitgeber bereitstellten. Selten sah man um diese Stunde andere Erwachsene, höchstens ab und zu ein GPS-Kind mit Mutter oder Vater, gekleidet in unsere Uniform aus Mütze, Hose und Blazer, alles in einem Grau mit hellblauen Verzierungen. Ich genoss es, während dieser Bummelei den sich mir bietenden kärglichen Erzählstoff auszuschmücken. Eine rothaarige Frau, die ich eines Nachmittags sah, überzeugte mich – nur im Vorübergehen – davon, dass sie eine Giftmischerin sein musste und außerdem (das Wort hatte ich erst kurz zuvor gehört, ohne mir besonders viel darunter vorstellen zu können) eine geschiedene Frau. Bei einigen Männern, die eines Morgens vorbeischlenderten, konnte es sich nur um Detektive handeln. Ich stellte mir vor, dass ein Paar auf einem der Balkone französisch sprach und sich gerade zu einem behaglichen Champagner-Frühstück niedergelassen hatte. Die Fantasievorstellungen über das Leben und vor allem die Häuser anderer wurden angeregt durch meine ziemlich rigide Abschottung in unserem eigenen Haus. Ich kann an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich in meiner Kindheit und Jugend die Wohnung oder das Haus eines Klassenkameraden von innen zu sehen bekam. Und ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass jemals einer meiner Freunde – »Freunde« ist wahrscheinlich ein zu starkes Wort für die Altersgenossen, mit denen ich Kontakt hatte – aus Schule oder Sportclub zu mir nach Hause gekommen wäre. Eine meiner frühesten und dauerhaftesten Leidenschaften war daher ein fast unwiderstehliches Verlangen, mir die Wohnungen anderer Menschen auszumalen. Sahen ihre Zimmer ähnlich aus wie unsere? Funktionierten ihre Küchen
so wie bei uns? Was hatten sie in ihren Schränken, und wie waren diese geordnet? Und so weiter, bis in die unbedeutendsten Details – Nachtschränkchen, Radios, Lampen, Bücherregale, Teppiche und so weiter. Bis ich 1951 Ägypten verließ, nahm ich an, mein abgeschottetes Dasein sei (auf eine sehr unbestimmte Weise) »gut« für mich. Erst später fiel mir auf, dass ich auf Grund jener Art von Disziplin, die meine Eltern für mich entworfen hatten, unser Leben und Heim als normal betrachten musste und nicht, wie es den Tatsachen näherkam, als absurd, auf beinahe experimentelle Weise isoliert. In Ausnahmefällen erhielt ich die Erlaubnis, am Samstagmorgen zum Schlittschuhlaufen auf eine Eisbahn zu gehen, zum Rialto an der Fuad al-Awwal-Straße in der Nähe der »B«-Filiale – einem kleinen Laden, den mein Vater behalten hatte, um vor allem Füllfederhalter und kostspielige Lederwaren zu verkaufen. Die Gegend war voller geschäftiger Läden und Kaufhäuser: Chemla und Cicurel gegenüber, der große Schuhladen Paul Favre neben der »B«-Filiale, wo uns ein müder armenischer Verkäufer mittleren Alters – er hatte einen gewaltigen Schnurrbart, trug eine Weste und einen grünen Augenschirm – mit Schuhen für den Sommer (Sandalen und leichte Schuhe) und Winter (geknöpft oder gebunden, schwarz und dunkelbraun) versorgte. Tennisschuhe und Mokassins waren »schlecht« und daher durchweg verboten. Die Schule begann immer mit dem Absingen der Hymnen in der großen Halle – »All Things Bright and Beautiful« und »From Greenland’s Icy Mountains« wurden am häufigsten gewählt –, begleitet am Klavier von der vielseitig begabten Mrs. Wilson und dirigiert von Mrs. Bullen, deren tägliche Ansprachen gönnerhaft und schwülstig zugleich waren. Ihre schlechten britischen Zähne und schmalen Lippen formten die
Worte mit unverkennbarem Ekel angesichts der uneinheitlichen Ansammlung von Kindern, die da vor ihr stand. Dann gingen wir im Gänsemarsch in unsere Klassenräume, um die Lektionen eines langen Morgens über uns ergehen zu lassen. Meine erste Lehrerin an der GPS war Mrs. Whitfield, die ich im Verdacht hatte, dass sie keine echte Engländerin war, obwohl sie so tat als ob. Außerdem beneidete ich sie um ihren Namen. Ihr Sohn Ronnie (Mrs. Wilson hatte einen Sohn, Dickie, und eine Tochter, Elizabeth; Mrs. Bullen hatte natürlich Anne) war ebenso wie die Wilson-Kinder Schüler der GPS. Alle waren älter als ich, und das trug zu ihrer privilegierten Distanz und sinnbildlichen Größe bei. Unsere Unterrichtsstunden und -bücher hatten einen verwirrenden englischen Einschlag. Wir lasen von Wiesen, Schlössern und Königen namens John, Alfred und Canute mit all der gebührenden Ehrfurcht, die unsere Lehrer uns immer wieder abverlangten. Ihre Welt ergab für mich keinen großen Sinn, außer dass ich sie bewunderte, weil sie die Sprache geschaffen hatten, in der ich, ein kleiner arabischer Junge, lernte. Unverhältnismäßig viel Beachtung fand die Schlacht von Hastings, verbunden mit langwierigen Erläuterungen über Angeln, Sachsen und Normannen. Edward der Bekenner ist in meiner Erinnerung ein ältlicher bärtiger Herr in einem weißen Gewand, der flach auf dem Rücken liegt – vielleicht hatte er sich zu etwas bekannt, das er nicht hätte tun sollen. Eine Verbindung zwischen ihm und mir war niemals herzustellen, trotz unseres gemeinsamen Vornamens. Diese Lektionen über den Ruhm Englands wurden begleitet von sich wiederholenden Übungen in Schreiben, Rechnen und Gedichtvortrag. Meine Finger waren immer schmutzig. Damals wie heute besaß ich eine fatale Vorliebe für Tintenfedern, die hässliches Gekritzel verursachten, verziert mit zahlreichen Flecken und Schmierereien. Vor allem Mrs.
Whitfield wies mich immer wieder auf meine unablässigen Verfehlungen hin. »Sitz gerade und mach deine Arbeit ordentlich« – »Zappel nicht herum«, fügte sie dann fast sofort hinzu. »Arbeite weiter.« – »Sei nicht so faul«, lautete gewöhnlich der Abschluss. Arlette, links neben mir, war eine Musterschülerin, und zu meiner Rechten saß der stets verbindliche und erfolgreiche Naki Rigopoulos. Überall um mich herum saßen Greenvilles und Coopers und Pilleys: steife kleine englische Jungen und Mädchen mit beneidenswert echten Namen, blauen Augen und klarem, unmissverständlichem Akzent. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich mich damals anhörte, jedenfalls nicht englisch – soviel ist sicher. Sonderbarerweise wurden wir zwar alle behandelt, als sollten (oder wollten) wir englisch sein, doch im Grunde war das Ganze auf Dick, Ralph und Derek ausgerichtet, weniger auf Einheimische wie Micheline Lindell, David Ades, Nadia Gindy und mich. All unsere Zeit außerhalb des Klassenzimmers verbrachten wir in einem kleinen ummauerten Hof, vollständig abgeschlossen von der Fuad al-Awwal, der geschäftigen Hauptstraße, in die die Aziz Osman – mit unserem Haus links am unteren Ende – einmündete. Die Fuad al-Awwal war von Geschäften und Gemüseständen gesäumt und belebt von einem kräftigen Verkehrsstrom wie auch von einer unglaublich lärmenden Straßenbahn und gelegentlich einem Bus. Sie war nicht nur eindeutig städtisch und voller Geschäfte, sie führte auch von den älteren Teilen Kairos her, von Bulak hinüber nach Zamalek, über die ordentliche Gezira-Insel mit ihrem ruhigen Wohlstand, wo wir lebten, und verschwand dann jenseits des Nils nach Imbaba, auch dies ein wimmelnder Gegensatz zu Zamalek mit seinen stillen baumgesäumten Straßen, den Ausländern und den sorgfältig angelegten Straßen ohne Geschäfte wie der Sharia Aziz Osman. Der »Spielplatz«
der GPS, wie er genannt wurde, bildete eine Grenze zwischen der einheimischen städtischen Welt und dem künstlichen kolonialen Viertel, in dem wir lebten, zur Schule gingen und spielten. Vor Unterrichtsbeginn stellten wir uns klassenweise im Hof auf und ebenso während der Pause, zum Mittagessen und zum Unterrichtsende. Der Eindruck dieser Übungen auf mich war so dauerhaft, dass für mich noch heute links die Seite zum Schulgebäude und rechts die zur Fuad al-Awwal bedeutet. Angeblich standen wir dort, um gezählt und begrüßt oder entlassen zu werden: »Guten Morgen, Kinder« oder »Auf Wiedersehen, Kinder«. Dies schien ein höfliches Ritual, um die Mühsal dieser Aufstellung zu tarnen, während der alle möglichen unangenehmen Dinge passierten. Da im Unterricht nur dann gesprochen werden durfte, wenn man eine Frage des Lehrers beantwortete, war der Hof zugleich Basar, Versteigerungshaus und Gerichtshof, wo die extravagantesten Angebote und Versprechungen ausgetauscht und wo die jüngeren Kinder von älteren Jungen eingeschüchtert und mit den schlimmsten Strafen bedroht wurden. Mein persönlicher Quälgeist hieß David Ades, ein Junge, der zwei oder drei Jahre älter war als ich. Dunkel und muskulös hatte er es skrupellos auf meine Schreibfedern, meine Bleistiftdose, meine Sandwiches und Süßigkeiten abgesehen und bemängelte auf einschüchternde Weise alles, was ich war oder tat. Er mochte meine Pullover nicht, hielt meine Socken für zu kurz, hasste meinen Gesichtsausdruck und verabscheute meine Art zu reden. Der Schul- und Heimweg stellte eine tägliche Herausforderung dar, den Fängen und Hinterhalten von David Ades zu entkommen, und während der Jahre an der GPS gelang mir das recht gut. Beim Aufstellen auf dem Hof konnte ich ihm dagegen niemals ausweichen, wo trotz der Aufsicht einer Lehrerin ein drängelndes, grobes Verhalten toleriert wurde und Ades seine Drohungen und seine allgemeine
Missbilligung über die Reihe zappelnder Kinder, die uns gnädig trennte, hinweg flüsterte und murmelte. Ich habe zwei Formulierungen von Ades in Erinnerung behalten. Die eine gab ich noch Jahre danach wie ein Papagei wieder: »Ich verspreche dir«; die andere habe ich nicht vergessen, weil er mir damit eine solche Angst einjagte: »Nach der Schule schlage ich dir die Fresse ein.« Beide wurden – manchmal getrennt, häufig im gleichen Atemzug – mit bedrohlicher, um nicht zu sagen inbrünstiger Ernsthaftigkeit ausgestoßen, auch wenn mir spätestens einen Monat nach seiner ersten Ankündigung klar geworden sein muss, wie leer und uneingelöst beide blieben. Trotz ihrer einschläfernden und manchmal repressiven Unterrichtsatmosphäre beschützte mich »die Schule«, nach deren Ende Ades mir die Fresse einschlagen wollte. Sein älterer Bruder Victor war ein berühmter Schwimmer und Kunstspringer, der das English Mission College (EMC) in Heliopolis besuchte. Ich bewunderte seine Leistungen bei Sportfesten in ganz Kairo, zu denen uns die GPS mitnahm, aber sein Aussehen gefiel mir ebenso wenig, wie ich jemals ein wärmeres Verhältnis zu David entwickelte, der sich gelegentlich zu einem Murmelspiel mit mir herabließ. Ich probierte beide Ausdrücke daheim aus – »Ich verspreche dir« bei meinen Schwestern, »Nach der Schule schlage ich dir die Fresse ein« vor einem Spiegel. (Ich wagte es nicht, Letzteren an einem wirklichen Menschen zu erproben.) In den zänkischen Streitereien mit den beiden nächstjüngeren Schwestern bedeutete »versprechen« den Versuch, etwas auszuborgen (»Ich verspreche dir, dass ich es dir wiedergebe«), oder harte Überzeugungsarbeit, damit sie eine meiner absurden Aufschneidereien glaubten (»Ich verspreche dir, ich habe heute die verrückte Giftmischerin mit dem roten Haar gesehen«). Aber ich konnte es nicht so oft verwenden,
wie ich wollte, weil Tantchen Melia sagte, ich solle die idiotische Unaufrichtigkeit und Monotonie dieses Ausdrucks ersetzen durch »Ich versichere dir«. Wegen irgendeines Vergehens im Unterricht wurde ich mit acht Jahren von einer der Lehrerinnen (es gab keine Lehrer) aus dem Raum geschickt. Sie wandten niemals körperliche Strafen an, abgesehen von ein paar gemäßigten Schlägen mit dem Lineal auf die Fingerknöchel. Die Lehrerin ließ mich vor der Tür stehen und rief dann Mrs. Bullen herbei, die mich mit mürrischem Gesichtsausdruck vor sich her zu einer Treppe schubste, die von der Haupthalle nach oben führte. »Jetzt komm schon, Edward. Du musst hoch zu Mr. Bullen.« Sie ging vor mir hinauf. Am oberen Treppenabsatz blieb sie stehen, legte die Hand auf meine linke Schulter und lenkte meinen Blick zu einer geschlossenen Tür. »Warte hier«, sagte sie und ging dann hinein. Einen Augenblick später war sie zurück und bedeutete mir einzutreten. Dann schloss sie die Tür hinter mir, und zum ersten und letzten Mal in meinem Leben befand ich mich in einem Raum allein mit Mr. Bullen. Ich fürchtete mich sofort vor diesem großen, rotgesichtigen, blonden und stillen Engländer, der mich zu sich winkte. Kein Wort fiel zwischen uns, als ich langsam zu ihm hinüber ans Fenster ging. Ich erinnere mich an eine blaue Weste und ein weißes Hemd, Wildlederschuhe und einen langen, biegsamen Bambusstock, etwas zwischen einer Reitgerte und einem Spazierstock. Ich hatte Angst, aber mir war auch klar, dass ich an diesem schrecklichen Tiefpunkt weder zusammenbrechen noch weinen durfte. Er zog mich am Nacken nach vorn und drückte mich von sich weg nach unten, so dass ich halb vornüber gebeugt stand. Mit der anderen Hand hob er den Stock und schlug mir drei Mal aufs Hinterteil. Es pfiff, als der Stock durch die Luft zischte, dann folgte ein gedämpftes Plopp beim Aufschlag. Bei jedem der schweigend verabreichten
Schläge durchzuckte mich nicht so sehr Schmerz als Wut. Wer war dieser hässliche Rohling, dass er mich so demütigend prügeln durfte? Und warum ließ ich es zu, dass ich so machtlos war, so »schwach« – das Wort begann in meinem Leben zunehmend an Bedeutung zu gewinnen –, dass ich ihn ungestraft über mich herfallen ließ? Diese fünfminütige Erfahrung war meine einzige Begegnung mit Mr. Bullen. Ich kannte weder seinen Vornamen noch wusste ich irgendetwas von ihm, außer dass er meine erste sichtbare Erfahrung mit einer unpersönlichen »Disziplin« verkörperte. Nachdem eine der Lehrerinnen meine Eltern über den Vorfall unterrichtet hatte, sagte mein Vater zu mir: »Da siehst du, wie ungezogen du bist. Wann wirst du das endlich lernen?« Aus seinem Tonfall klang nicht der geringste Einwand gegen die Unwürdigkeit der Strafe heraus. »Wir zahlen viel Geld, damit du in die besten Schulen gehen kannst; warum vergeudest du diese Gelegenheit so?« – als sei ihm gar nicht klar, dass er in Wirklichkeit die Bullens dafür bezahlt hatte, mich so zu behandeln. Mutter meinte nur: »Edward, warum bringst du dich immer wieder in solche Schwierigkeiten?« So wurde ich straffällig und entwickelte mich zum »Edward« der strafbaren Verfehlungen, der Faulheit und des Herumlungerns, bei dem man davon ausgehen konnte, dass er regelmäßig bei einer unerlaubten Tätigkeit ertappt wurde und darum mit Stubenarrest oder – als ich älter wurde – mit Prügeln durch einen Lehrer zu bestrafen war. Die GPS vermittelte mir die erste Erfahrung mit einem organisierten System, das die Briten als koloniales Unternehmen aufgezogen hatten. Die Atmosphäre war geprägt von bedingungsloser Zustimmung und zugleich von hasserfüllter Servilität der Lehrer wie der Schüler. Als Ort des Lernens war die Schule uninteressant, aber sie ermöglichte mir die erste längere
Bekanntschaft mit kolonialer Autorität – allein durch das »Britentum« ihrer Lehrer und vieler Schüler. Außerhalb der Schule hatte ich keinen dauerhaften Kontakt zu den englischen Kindern; ein unsichtbarer Kordon hielt sie in einer anderen, mir verschlossenen Welt verborgen. Mir war völlig bewusst, dass ihre Namen einfach stimmten, und wie sehr sich ihre Kleidung, ihr Akzent und ihre Empfindungen von den meinen unterschieden. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer von ihnen je von »daheim« gesprochen hätte, und dennoch brachte ich diesen Begriff mit ihnen in Verbindung, und im tiefsten Sinne war »daheim« etwas, von dem ich ausgeschlossen war. Obwohl ich die Engländer als Lehrer oder moralische Vorbilder nicht leiden konnte, war ihre Anwesenheit in meiner Straße weder ungewöhnlich noch beunruhigend. Es war einfach ein gewöhnliches Merkmal Kairos, einer Stadt, die ich immer gemocht, in der ich mich jedoch niemals zu Hause gefühlt habe. Ich entdeckte, dass unsere Wohnung gemietet war, und obwohl einige der GPS-Kinder uns für Ägypter hielten, war an uns (vor allem an mir) irgendetwas »verquer« und fehl am Platze, aber noch war mir nicht recht klar, was das wohl sein mochte. Mr. Bullen blieb in meiner Erinnerung haften – so unveränderlich wie ein Menschenfresser im Märchen. Er war die einzige Gestalt meiner Kindheit, deren Funktion allein darin bestanden hatte, mich zu verprügeln; vielschichtiger wurde er niemals. Genau fünfzig Jahre später blätterte ich bei einem kurzen Aufenthalt in Kairo in dem Buch eines ägyptischen Wissenschaftlers über zweihundert Jahre britischer Kulturbetätigung in Ägypten, und aus einer der Seiten sprang mir der Name Bullen entgegen. Die Rede war von Keith Bullen, dem Mitglied einer Gruppe zweitrangiger britischer Schriftsteller, die als die Salamander-Dichter bekannt waren und während des Krieges in Kairo lebten.
»Salamander« war eine Literaturzeitschrift, deren Name sich von Anatole France’ alberner Beobachtung ableitete, man müsse »ein Philosoph sein, um einen SALAMANDER zu sehen«. Ein gefälliger Freund aus Kairo schickte mir später eine Fotokopie der Ausgabe vom März 1943, die zu eben dem Zeitpunkt herausgekommen sein musste, als Mr. Bullen mich oder vielleicht auch gerade einen anderen Jungen verprügelte. Nachdem ich mich bereits vergewissert hatte, dass mein Bullen tatsächlich identisch mit dem Salamander Keith Bullen war, las ich seine freie englische Übertragung des Gedichts »Sommerstunden« eines gewissen Albert Samain. Der Anfang lautete folgendermaßen: Bring mir den goldenen Becher, Den Kristall, in Traumes Farben, Voll der Leidenschaften Düfte, Zum Äußersten mag unsre Lieb noch führen. Und weiter: Zerstoßen ist des goldnen Sommers Rebe Lass Pfirsichscheiben fleischesrosa Die weiße Pracht des Busens dir beflecken Düster sind die Wälder, leer und öd… Dies leere Herz, das keine Ruhe findt Gefangen ist’s in Schmerzensqual… Wie manieriert, ja preziös ist ein solcher Vers, mit seinen ausgefallenen Worten und Wortstellungen (»Pfirsichscheiben fleischesrosa«) und seinen übertriebenen, unrealistischen und abgedroschenen Gefühlen (»gefangen in Schmerzensqual«). Für mich legte die erste Zeile des Gedichts – »Bring mir den
goldenen Becher« – eine ausgefallene Version meiner Prügelerfahrung mit Mr. Bullen nahe: Hätte Keith diese Worte zu seiner Frau sagen können, als sie die Tür öffnete, um mich meiner Prügelstrafe zuzuführen, »voll der Leidenschaften Düfte… mag unsre Lieb noch führen«? Aber so viel Mühe ich mir auch gebe: Die stille, schreckerfüllte Unterwerfung, zu der ich während der Prügel körperlich gezwungen wurde, vermag ich nicht in Verbindung zu bringen mit dem affektierten Poeten, der mich am Morgen gezüchtigt hatte, um dann am Nachmittag die scheußlichen »Sommerstunden« zu verfertigen – zweifellos ein bewundernswerter Bursche, der des Abends den Klängen von Chaminade lauschte. Kurz nach der Züchtigung durch Mr. Bullen hatte ich eine noch heftigere und weitaus eindrücklichere Begegnung der kolonialen Art. Als ich in der Abenddämmerung über einen der großen Sportplätze des Gezira Club nach Hause ging, hielt mich ein Engländer an, in braunem Anzug, mit einem Tropenhelm auf dem Kopf und einer kleinen schwarzen Aktentasche am Lenker seines Fahrrads. Das war Mr. Pilley, der mir von Schriftstücken her als ehrenamtlicher Sekretär des Clubs bekannt war; außerdem war er der Vater von Ralph, einem meiner Klassenkameraden an der GPS. »Was tust du hier, Junge?«, herrschte er mich mit kalter, scharfer Stimme an. »Ich gehe nach Hause«, antwortete ich und versuchte, Ruhe zu bewahren, als er von seinem Fahrrad stieg und auf mich zukam. »Weißt du nicht, dass du hier nichts zu suchen hast?«, fragte er tadelnd. Ich wollte sagen, dass ich Mitglied sei, aber er schnitt mir erbarmungslos das Wort ab. »Keine Widerrede, Junge. Verschwinde einfach, und zwar schnell. Araber haben hier keinen Zutritt, und du bist ein Araber!« Hatte ich mich zuvor selbst noch nicht als Araber begriffen, so verstand ich nun unmittelbar die Bedeutung der Bezeichnung als wahrhaft entmündigend. Als ich meinem Vater erzählte, was Mr. Pilley
gesagt hatte, war er nur leicht befremdet. »Und er wollte noch nicht einmal glauben, dass wir Mitglieder sind«, beschwor ich ihn. »Ich werde mit Pilley darüber sprechen«, lautete seine unverbindliche Antwort. Das Thema kam nie wieder zur Sprache: Pilley wurde nicht zur Rede gestellt. Heute, fünfzig Jahre später, beunruhigt mich daran weniger, dass die Episode mir lange Zeit gegenwärtig blieb und damals ebenso schmerzte wie heute noch, sondern vielmehr, dass zwischen meinem Vater und mir eine fatalistische Übereinkunft über unseren notwendigerweise minderwertigen Status zu bestehen schien. Er wusste es bereits; ich entdeckte es offensichtlich zum ersten Mal, als ich Pilley gegenüberstand. Dennoch war damals keiner von uns beiden deshalb zu irgendeinem Kampf bereit, und diese Erkenntnis beschämt mich noch heute. Solche Widersprüche in Wahrnehmung und Realität wurden mir erst Jahrzehnte nach meinem Verlassen der GPS klar. Nur sehr wenig von dem, was mich an der Schule umgab – Unterricht, Lehrer, Schüler, Atmosphäre –, bot mir Stütze oder Hilfe. Die besten Erinnerungen aus meiner Zeit an der GPS stammen aus den Stunden nach der Schule, wenn meine Mutter für mich da war, um mit mir zu reden und mir zuzuhören, um für mich alle Geschehnisse des Tages zu interpretieren. Sie erklärte mir meine Lehrer, meinen Lesestoff und mich selbst. Abgesehen von Fächern wie Schönschrift und Kunst, war ich ein kluger, wenn auch unberechenbarer Schüler, schnell und von guter Auffassungsgabe, aber meine Mutter schien mich unbewusst meiner Erfolge zu berauben, indem sie mich zunächst lobte, dann jedoch sagte: »Natürlich bist du intelligent, aber« – und hier wurde ich in die Realität zurückgerissen – »das ist keine wirkliche Leistung, denn diese Gabe hat dir Gott verliehen.« Im Unterschied zu meinem Vater verströmte sie eine Art rührender Sanftheit und ein Gefühl des Rückhalts, das mir eine
Hilfe war, solange es andauerte. In ihren Augen, so spürte ich, war ich gesegnet, vollständig, wunderbar. Ein Kompliment von ihr über meine Aufgewecktheit, Musikalität oder mein Gesicht gab mir ein solch erhebendes Gefühl, dass ich für einen Augenblick glaubte, ich gehörte wirklich zu etwas Gutem und Solidem, obwohl mir leider bald wieder klar wurde, wie kurz dieses Gefühl sein würde. Dann begann ich sofort daran zu zweifeln, ob ich es wagen könnte, mich wirklich sicher zu fühlen. Ziemlich schnell verlor ich wieder meine Zuversicht, und die alten Unsicherheiten und Ängste gewannen erneut die Oberhand. Ich habe niemals daran gezweifelt, dass meine Mutter mich wirklich so liebte, wie sie beteuerte, aber als ich zwölf oder dreizehn war, wusste ich auch, dass sie mir auf eine unausgesprochene und rätselhafte Weise äußerst kritisch gegenüberstand. Sie hatte die außergewöhnliche Fähigkeit entwickelt, einen Menschen an sich zu ziehen, ihn von ihrer vollständigen Hingabe zu überzeugen, um dann, fast übergangslos, erkennen zu lassen, dass sie ihn beurteilt und für mangelhaft befunden hatte. Wie eng mein Verhältnis zu ihr auch sein mochte, sie konnte stets eine geheimnisvolle Zurückhaltung oder Sachlichkeit an den Tag legen, die sich niemals vollständig zu erkennen gab, gleichwohl aber harsche Urteile fällte und mich zugleich entmutigte und erbitterte. Wenn ich dann am Nachmittag heimkam, musste ich immer damit rechnen, dass mir ein telefonischer Bericht über meine Missetaten oder meine mangelhafte Vorbereitung auf den Unterricht vorausgeeilt war und mir die ersehnte Erholung von der schulischen Überwachung vergiftete. Auf diese Weise büßte ich allmählich mein Selbstvertrauen ein und behielt nur ein zerbrechliches Gefühl der Sicherheit mir selbst und meiner Umgebung gegenüber, was mich von der Billigung und Liebe meiner Mutter noch abhängiger machte als zuvor. Mein Vater spielte während der Woche eine mehr oder minder entfernte
Rolle. Er schien keinerlei häusliche Verpflichtungen zu haben, außer Obst und Gemüse einzukaufen – in enormen Mengen, die sämtlich durch Botenjungen ins Haus geliefert wurden und über die meine Mutter regelmäßig klagte. »Wir ertrinken in Orangen, Bananen, Gurken, Tomaten, Wadie. Warum hast du heute noch mal fünf Kilo eingekauft?« – »Du bist verrückt«, antwortete er dann manchmal kalt und vergrub sich wieder in seinem Abendblatt, außer natürlich in den Fällen, in denen ich von der Schule »gemeldet« worden war oder wenn mein monatlicher »Bericht« die üblichen Bemängelungen meines Fehlverhaltens, meiner Unaufmerksamkeit, meines Herumlungerns oder Zappelns aufzählte. Dann stellte er mich für ein paar schreckliche Augenblicke wütend zur Rede und zog sich schließlich wieder zurück. Später wurden diese Konfrontationen schlimmer, besonders als ich aufs Victoria College ging. Die GPS bescherte mir jedoch auch einige nachhaltige Augenblicke unerwarteten Wohlgefühls – von denen der bemerkenswerteste mit meiner ersten Bekanntschaft mit dem Theater Anfang 1944 zusammenhing. Es war seltsam, am späten Nachmittag in die Schule zurückzukommen, wenn die Klassenräume dunkel und leer waren und die zentrale Haupthalle nur matt beleuchtet dalag, wo sich allmählich die Zuschauer einfanden und die ordentlich aufgestellten Stühle besetzten. Das leicht erhöhte Podium, von dem aus Mrs. Bullen ihre morgendlichen Ankündigungen machte, hatte man in eine Bühne samt zerknittertem weißem Vorhang verwandelt. Es sollte eine Vorstellung von Alice im Wunderland geben. Das Buch hatte mir meine Mutter etwa zur gleichen Zeit zu lesen gegeben, aber ich fand es ermüdend kokett und weitgehend unverständlich, abgesehen von den Illustrationen, besonders dem Bild einer gegen den Strom schwimmenden Maus, die kleine Nase kaum über dem Wasser, das mich auf
seltsame Weise beschäftigte. Mutters ziemlich vage und enttäuschte Empfehlung, als ich das Buch nicht weiterlas – »Aber es ist für Kinder, Edward!« –, hatte meine Ansicht nicht ändern können, wenngleich ich gespannt war, ob ich vielleicht mehr aus dem Buch herauslesen könnte, sobald es auf der Bühne dargestellt wurde. »Ist es wie Kino?«, fragte ich einen älteren Jungen, der mich in eine der ersten Reihen drängte. Ich sehe noch und höre Szenen dieser Schulaufführung, besonders die Teeparty, die Rote Königin beim Krocketspielen, wenn sie »Kopf ab!« bellt, und dann vor allem Alice, wie sie in Situationen gerät, die uns komisch vorkamen, auf sie jedoch beunruhigend und verwirrend wirkten. Der Zusammenhang blieb mir unverständlich, aber mich beeindruckte, dass die Schauspieler, tagsüber wie ich selbst Kinder an der GPS, vollkommen verwandelt waren und in eine fremdartige Aura von unübertrefflichem Glanz gehüllt schienen. Das galt ganz besonders für Micheline Lindell, das Mädchen, das die Rolle der Alice spielte. Die anderen – der Verrückte Hutmacher, der Märzhase und die Herzkönigin – waren ältere Schüler, mit denen ich nicht viel zu tun hatte. Colette Amiel, ein ungewöhnlich großes Mädchen und für die Rolle der Königin wie geschaffen, war die Schwester von Jean-Pierre Amiel, einem gleichaltrigen Nachbarn von David Ades, und mir deshalb einigermaßen vertraut. Bei den anderen handelte es sich einfach um »große« Jungen und Mädchen, die ich an der Schule gesehen hatte. Micheline jedoch war nur ein Jahr älter als ich, und sie hatte im Französischunterricht einoder zweimal nur eine Reihe von mir entfernt gesessen, als aus irgendwelchen Gründen verschiedene Klassen zusammengelegt worden waren. Sie hatte einen Leberfleck an der linken Seite des Mundes, war etwa so groß wie ich, besaß eine sehr schöne klare Stimme und sprach fließend in perfektem Englisch und Kairo-Französisch. Als »Alice« trug
sie ein weißes Kleid mit langen weißen Strümpfen und weißen Ballettschuhen. Sie sollte jungfräulich unschuldig aussehen, aber das tat sie ganz und gar nicht, so kunstvoll drang ihre unterschwellig verführerische Botschaft durch die enge Förmlichkeit ihrer Kleidung, um sehr direkt auf einen vollkommen verzauberten und – wie man hinzufügen muss – verblüfften neunjährigen Jungen einzuwirken. Ich empfand keine eindeutig sexuelle Anziehung, da ich gar keine Vorstellung davon besaß, was Sex war, aber wenn ich Micheline ansah, fühlte ich mich aufgewühlt und erregt, weil sie so gänzlich verwandelt war und – noch erregender – weil sie während der drei Vorstellungstage so leicht zwischen zwei Zuständen hin und her glitt: einerseits eine von uns zu sein, durchschnittlich, ganz normal, uninteressant, andererseits aber ein Geschöpf mit einer so unverwechselbaren Aura von Glanz und Besonderheit. Tagsüber sah ich die gewöhnliche Micheline und staunte darüber, dass sie wie wir sprach, die Kritik der Lehrerinnen hinnahm, Schwierigkeiten mit ihren Aufgaben hatte. Ihre Erfolge als Schauspielerin schienen dabei völlig ohne Belang. Abends dann wurde sie das herausgehobene und begabte Mädchen, förmlich glühend vor Macht und Talent. Ich ging in jede Vorstellung, obwohl meine Eltern jedes Mal Einwände erhoben, um dann jedoch zögernd nachzugeben, weil, wie mein Vater es ausdrückte, »das ein Teil seiner Erziehung ist«. Ich stand dann still und unbemerkt vor dem Schultor, um sie fortgehen zu sehen. Ihre Augen glänzten vor Erregung, weil sie das Publikum für sich eingenommen hatte, während ihr weißes Kleid nur teilweise von dem schwarzen Mantel verdeckt wurde, den ihr Vater ihr um die Schultern gelegt hatte. Ich empfand eine gewisse Scham ob meiner »Heimlichtuerei«, aber sie wurde überlagert von der Spannung, aus meinem Versteck mit anzusehen, wie Micheline aus dem einen Leben in ein anderes glitt.
Für mich gab es solche Übergänge nicht. Irgendetwas in meinem Leben war offensichtlich falsch, weswegen man sich systematisch Heilmittel ausdachte, allesamt außerhalb der Schule, und viele davon deren Erweiterungen. Während meines letzten Jahres an der GPS (das war 1946) wurde ich für einige Monate an zwei Nachmittagen der Woche zum Haus der Greenwoods jenseits der Straßenbahnlinie geschickt, um Zusatzstunden und Sportunterricht zu nehmen. Wie alle englischen Kinder an der Schule, deren Eltern keine Lehrer waren, war auch Jeremy Greenwood der Sohn eines leitenden Firmenangestellten, dessen Villa in Zamalek, die ich niemals betrat, von einem großen Garten mit einer hohen Mauer umgeben war. Unter der Anleitung eines drahtigen ägyptischen Sportlehrers in untadeligem Kricketweiß mussten auf dem Rasen ein paar Jungen eine Stunde Gymnastik über sich ergehen lassen, gefolgt von Laufen und Ballwerfen. Ich lernte keine speziellen Fertigkeiten an diesen GreenwoodNachmittagen, aber ich erfuhr einiges über »Fairplay« und »Sportgeist«, ein Wort, das unser Sportlehrer mit einem stark rollenden R aussprach. Mir wurde klar, dass es bei beidem um den äußeren Eindruck ging. »Fairplay« hieß, sich bei Erwachsenen laut darüber zu beschweren, dass der Gegner irgendetwas getan hatte, was »nicht fair« war, und »Sportgeist« bedeutete, niemals die wahren Gefühle von Wut und Hass zu zeigen. Ich war an diesen GreenwoodNachmittagen der einzige nichtenglische Junge und fühlte mich entsprechend unwohl und verloren. Nach ein paar unglücklichen und ziellosen Übungswochen schickte man mich stattdessen zu den Pfadflnder-Wölflingen, deren kümmerlicher Kern – die Truppe schien niemals vollzählig – sich hinter einem Schuppen irgendwo auf dem Gelände des Gezira Clubs mit seinen beiden Führern traf. Man kauerte viel im Kreis und bellte in den Wind: »Akela wird
unser Bestes tun.« Auf dieses Loyalitätsritual war ich besonders stolz, weil es mich zum ersten Mal ausdrücklich auf eine Linie mit den englischen Jungen und zugleich dem abscheulichen Ades brachte, für dessen geflüsterte Drohungen ich in den Reihen der Wölflinge unerreichbar war. Wir trafen uns an Mittwoch- und Samstagnachmittagen, und ich trug dann stolz Khaki-Hemd und -Shorts, mein rotes Halstuch mit dem braunen Lederknoten und meine schicken grünen Strümpfe mit den roten Strumpfbändern. Meiner Mutter missfiel, was sie für eine Militarisierung meines Geistes hielt. Da sie mit mir zusammen von Mogli, Kaa, Akela und sogar Rikki-Tikki-Tavi gelesen hatte, konnte sie die Hierarchien und Autoritäten, die die Engländer ihrem Sohn aufzwangen, nicht akzeptieren, und deshalb kümmerte sie sich kaum um meine Uniform. Meine Schwestern Rosemarie und Jean, damals sieben beziehungsweise vier Jahre alt, verfielen angesichts meiner aufrüttelnden Schlachtrufe vorübergehend in ehrfürchtiges Staunen. Mein Vater äußerte sich nicht weiter bis zu dem Tag, an dem er mich den Eid üben hörte, insbesondere den Teil über Gott und den König. »Warum sagst du das?« fragte er mich, als hätte ich die Worte selbst verfasst. »Du bist Amerikaner, und wir haben keinen König, nur einen Präsidenten. Treu bist du dem Präsidenten. Gott und dem Präsidenten.« Zunächst war ich einen Augenblick lang verblüfft (ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wer der Präsident war oder welche Rolle er in meinem Leben spielte; der König dagegen war schließlich der letzte einer langen, mir inzwischen vertrauten Reihe, von Edward dem Bekenner bis zu den Plantagenets, den Stuarts und darüber hinaus) und stammelte ein paar zaghafte Einwände. »Gott und Präsident geht nicht«, versuchte ich als erstes. Dann jammerte ich: »Das kann ich nicht sagen, Daddy, das geht einfach nicht.« Meine pathetische Weigerung schien
ihn zu irritieren, da er sich offensichtlich nicht vorstellen konnte, was es für einen neunjährigen Jungen bedeuten musste, in einer wichtigen Frage der Loyalität die Autorität der Pfadfinder-Wölflinge in Frage zu stellen. Er wandte sich an meine Mutter, die wie immer in der Nähe war, und sagte zu ihr auf Arabisch: »Hilda, komm her, versuch mal herauszufinden, was mit deinem Sohn los ist.« Zum ersten Mal begriff ich, was es hieß, seinen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Bald folgte ein zweiter Anlass, ebenfalls in Zusammenhang mit den Wölflingen. An einem schönen Samstagnachmittag im März wurde eine Gruppe Wölflinge zu dem nahe gelegenen Fußballplatz an der anderen, offeneren Seite unseres Gezira Club-Schuppens geführt. Unser Spiel gegen die Heliopolis-Wölflinge war schon eine Woche zuvor angekündigt worden, und so hatte ich naiverweise meinen Vater – der dreißig Jahre zuvor in Jerusalem ein großer Fußballstürmer gewesen war – eingeladen, er solle doch zuschauen, wie ich die Familientradition fortführte. Mein Vetter Albert, wie sein Onkel Adie in der ersten Mannschaft von St. George’s, war geschmeidig, kräftig, sehr schnell – in Aussehen und sportlichen Interessen meinem Vater sehr ähnlich. Ich wäre gern wie er gewesen. Jedenfalls dachte ich bei Albert auch an meinen Vater als jungen Spieler und glaubte, von meinem liebenswürdigen Vetter nachhaltig unterstützt, mein Vater als großartiger Spieler müsse mein Spiel würdigen können. Komm doch bitte und sieh mir beim Spiel zu, bat ich, und erwartungsgemäß kam er tatsächlich. Der Wölflings-Führer und ich hatten die Frage der Fußballschuhe übersehen, so dass ich als einziger Spieler auf dem Platz mit tadellosen braunen Paul Favre-Schuhen erschien. Man stellte mich auf eine der beiden RückraumPositionen, doch mit einem Mal hatte ich nicht mehr die geringste Ahnung, was dort eigentlich meine Aufgabe war.
Noch mehr schockierte mich, als mir praktisch zum ersten Mal klar wurde, dass ich im Grunde niemals zuvor in einer Mannschaft gespielt hatte und dass mein Vater, der unbeweglich etwa zwanzig Meter von mir entfernt stand, nicht nur einen sehr unfähigen, sondern zweifellos auch einen beschämend unbeholfenen Sohn auf einer Position spielen sah, auf der er nichts zu suchen hatte. Meine Füße schienen mir die eines Riesen und zugleich schrecklich schwer. Ich trat nach dem ersten Ball, der mir über den Weg rollte, und verfehlte ihn – der perfekte Auftakt zu einer gründlich missratenen Vorstellung. »Said«, rief mir einer der Gruppenleiter zu, »beweg dich mal ein bisschen. Du kannst da nicht einfach bloß rumstehen!« Später warf er mir einen missbilligenden Blick zu, weil ich während der Halbzeit drei oder vier statt nur ein oder zwei Orangenscheiben nahm. In der zweiten Halbzeit war ich von Furcht und Verunsicherung gleichermaßen gelähmt. Wir verloren. Nach dem Gottesdienst am nächsten Tag fing mein Vater mich im Flur zum Esszimmer ab. Das Essen sollte gerade auf den Tisch kommen – gelegentlich hatten wir »Gäste«, will sagen Familie, zum sonntäglichen Mittagessen bei uns, was einen ansonst monotonen Tag erzwungener Frömmigkeit belebte –, aber ich spürte, dass die Begegnung mit meinem Vater nicht gerade angenehm sein würde. Er packte mich an der Schulter und drehte mich um, so dass wir beide den Flur entlangblickten. Dann schwang er sein rechtes Bein, um einen Schuss nachzuahmen, und sagte: »Ich habe dir gestern zugesehen.« Pause. »Du trittst gegen den Ball, und dann bleibst du stehen. Du musst hinterherlaufen, hinterherlaufen. Warum bleibst du stehen? Warum rennst du nicht hinterher?« Diese letzte Frage wurde begleitet von einem gewaltigen Schubs, mit dem er mich in der vorgeblichen Verfolgung eines nicht vorhandenen Balls den Flur hinunterscheuchte. Ich
konnte nur unbeholfen stolpern, als ich nicht sonderlich elegant mein Gleichgewicht wiederzufinden suchte. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Ich weiß nicht, ob mein Gefühl körperlicher Unfähigkeit, die Empfindung, weder mein Körper noch mein Charakter vermöchten den ihnen zugewiesenen Platz im Leben auf natürliche Weise einzunehmen, von dieser ziemlich unangenehmen Behandlung durch meinen Vater herrührte. Jedenfalls habe ich diese Gefühle immer auf dieses Ereignis zurückgeführt. Wie ich allmählich herausfand, waren Körper und Charakter austauschbar, wenn es um sein Urteil ging. Besonders unerbittlich kommentierte er von meiner frühen Jugend an bis zum Ende meiner Schulzeit die Neigung, niemals weit genug zu gehen, an der Oberfläche zu bleiben, nicht »mein Bestes zu geben«. Wann immer er mich auf ein solches Versagen hinwies, vollführte er mit den Händen eine besondere Geste: zunächst eine geballte Faust zurück an die Schulter gezogen, dann ein schneller Hieb von links nach rechts, zuletzt ein mahnender Finger. Meistens nahm er das Fußballspiel bei den Pfadfindern als Beispiel, um deutlich zu machen, was er meinte. Ich zog daraus den Schluss, dass mir die moralische Kraft fehlte, das zu tun, was für »mein Bestes« notwendig war. Ich war schwach in jedem Sinne des Wortes, ganz besonders aber (so mein unausgesprochener Gedankengang) ihm gegenüber. Etwas später in jenem Jahr (1942), in dem mich Micheline Lindell in Alice fesselte, war mir noch eine weitere außergewöhnliche Theatererfahrung beschieden. Meine Mutter verkündete, John Gielgud komme für ein Gastspiel nach Kairo, um am Opernhaus den Hamlet zu geben. »Da müssen wir hingehen«, sagte sie mit ansteckender Entschiedenheit, und so geschah es tatsächlich, obwohl ich natürlich keine Ahnung hatte, wer John Gielgud war. Ich war damals neun Jahre alt
und hatte gerade aus dem Band Shakespeare-Geschichten von Charles und Mary Lamb, den ich ein paar Monate vorher zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, ein wenig über das Drama erfahren. Mutter schlug vor, sie und ich sollten gemeinsam das Stück durchlesen. Zu diesem Zweck wurde eine schöne einbändige Shakespeare-Ausgabe vom Regal geholt. Der hübsche rote Saffianledereinband, das feine Dünndruckpapier schienen mir der Inbegriff dessen, was an einem Buch luxuriös und aufregend war. Die Pracht wurde noch gesteigert durch die Bleistift- oder Kohlezeichnungen, die die Dramen illustrierten. Hamlet war auf einem besonders spannenden Tableau von Johann Heinrich Füssli zu sehen: Der Prinz von Dänemark, Horatio und der Geist schienen miteinander zu kämpfen, sichtlich ergriffen von der Bekanntgabe des Mordes und ihrer erregten Reaktion darauf. Wir beide saßen im vorderen Empfangszimmer, sie in einem großen Sessel, ich auf einem Schemel neben ihr, und lasen gemeinsam Hamlet, während im Kamin zu ihrer Linken ein Feuer glimmte. Sie war Gertrude und Ophelia, ich übernahm Hamlet, Horatio und Claudius. Außerdem gab sie den Polonius, wie in stillschweigender Übereinkunft mit meinem Vater, der mir häufig mahnend zitierte: »Kein Borger sei und auch Verleiher nicht«, um mich daran zu erinnern, wie riskant es sei, mir Geld zur persönlichen Verwendung zu überlassen. Die gesamte Spiel-im-Spiel-Sequenz ließen wir aus, weil sie uns zu überladen und zu kompliziert erschien. Es muss mindestens vier, vielleicht sogar fünf oder sechs solcher Sitzungen gegeben haben, in denen wir gemeinsam aus dem Buch lasen und das Drama zu verstehen suchten, wir beide völlig allein in unserer Zweisamkeit – vier Nachmittage, von denen die Schule, Kairo, meine Schwestern und mein Vater vollkommen ausgeschlossen blieben.
Den Sinn der Verse verstand ich nur zur Hälfte, obwohl mir Hamlets Grundsituation, sein Zorn über den Mord an seinem Vater und die Wiederverheiratung seiner Mutter, seine endlosen Schwankungen, deutlich wurden. Ich hatte keine Vorstellung davon, was Inzest und Ehebruch sein mochten, konnte aber auch meine Mutter nicht fragen, deren Konzentration auf das Drama sie von mir entfernt zu haben schien. Vor allem erinnere ich mich an die Veränderung ihrer normalen Stimme hin zur neuen Bühnenstimme als Gertrude: sie wurde höher, geschmeidiger, außergewöhnlich fließend und nahm vor allem einen bezaubernd flirtenden und besänftigenden Ton an. »Wirf, guter Hamlet«, das sagte sie deutlich zu mir, nicht zu Hamlet, »ab die nächtge Farbe, Und laß dein Aug’ als Freund auf Dänmark sehn.« Ich hatte das Gefühl, sie spreche mein besseres, nicht gar so unfähiges und noch unerwecktes Ich an, vielleicht in der Hoffnung, mich aus der trübsinnigen Strafwürdigkeit meines Lebens herauszuholen, das schon jetzt mit so vielen Sorgen und Ängsten beladen war, die, dessen war ich nun sicher, auch meine Zukunft bedrohen würden. Die Lektüre von Hamlet, durch die ich mich in ihren Augen bestätigt fühlte und eben nicht als jemand wertloses, als den ich mich selbst inzwischen betrachtete, gehörte zu den großen Augenblicken meiner Kindheit. Wir waren zwei Stimmen, zwei glücklich verbundene Geister in der Sprache. Ich kannte nichts von der inneren Dynamik, die den verzweifelten Prinzen und die ehebrecherische Königin im Innern des Dramas verbanden, noch begriff ich wirklich die Wut der Szene, in der Hamlet Polonius tötet und Gertrude mit Worten peitscht. Wir lasen gemeinsam über all das hinweg, denn für mich zählte in einer eigenartig unhamletschen Weise, dass ich mich auf sie verlassen konnte, auf einen Menschen, dessen Gefühle und Affekte sich mit den meinen verbanden, obwohl sie doch im
Grunde genommen nur eine zutiefst mütterliche, beschützende und Ruhe spendende Person war. Anstatt zu spüren, dass sie mit ihren Verpflichtungen gegenüber ihrem Sohn leichtfertig umging, empfand ich diese Lesestunden als Bestätigung für die Tiefe unserer Verbundenheit. Noch auf Jahre hinaus behielt ich ihre höhere Stimmlage, die gelassene Ausgeglichenheit ihrer Haltung, die besänftigende, ganz und gar geduldige Aura ihrer Anwesenheit als ein Gut in Erinnerung, das um jeden Preis bewahrt werden musste, das mir aber immer seltener zuteil wurde, als meine Missetaten zunahmen und die zerstörerischen und sicherlich verstörenden Eigenschaften meiner Mutter mich in stärkerem Maße bedrohten. Als ich dann im Opernhaus das Drama sah, riss mich Gielguds Deklamation »Engel und Boten Gottes, steht uns bei!« förmlich aus dem Sitz und vermittelte mir das Gefühl einer wunderbaren Bestätigung dessen, was ich zu Hause mit meiner Mutter gelesen hatte. Die bebende Resonanz seiner Stimme, die abgedunkelte, zugige Bühne, die in der Ferne schimmernde Gestalt des Geistes – alles schien die FüssliZeichnung zum Leben erweckt zu haben, die ich so lange betrachtet hatte, und es steigerte meine sinnliche Wahrnehmung in einer Weise, wie ich sie wohl nie wieder so intensiv erlebt habe. Allerdings war ich auch entmutigt von den physischen Unterschieden zwischen mir und den Männern, deren grüne und scharlachrote Strumpfhosen wohlgerundete, perfekt geformte Beine zur Geltung brachten – gleichsam ein Hohn auf meine dürren Beine, meine unbeholfene Haltung, meine ungeschickten Bewegungen. Alles an Gielgud und dem blonden Mann, der den Laertes spielte, vermittelte Leichtigkeit und Selbstvertrauen – sie waren schließlich englische Helden – und warf mich daher auf einen minderwertigen Status zurück, was wiederum den Genuss des Dramas schmälerte. Einige Tage später lud mich ein angloamerikanischer Klassenkamerad
namens Tony Howard zu sich nach Hause ein, wo auch Gielgud zu Gast war. Ich brachte nur einen schwachen, wortlosen Händedruck zu Stande. Gielgud trug einen grauen Anzug, sprach jedoch kein Wort, als er mit der Andeutung eines olympischen Lächelns meine kleine Hand drückte. Es muss die Erinnerung an diese lang vergangenen HamletNachmittage in Kairo gewesen sein, die meine Mutter in den letzten zwei oder drei Jahren ihres Lebens dazu bewegte, sich noch einmal begeistert über unseren gemeinsamen Theaterbesuch zu äußern. Besonders deutlich erinnere ich mich an das eine Mal, als sie – ihr Krebsleiden machte sich bereits deutlich bemerkbar – auf ihrem Weg von Beirut zu einem Spezialisten in die Vereinigten Staaten in London Halt machte. Ich holte sie am Flughafen ab und brachte sie für eine Nacht im Brown’s Hotel unter. Obwohl ihr zum Umkleiden und für ein frühes Abendessen nur zwei Stunden Zeit blieben, sagte sie sofort zu, als ich ihr vorschlug, wir sollten uns Vanessa Redgrave und Timothy Dalton als Antonius und Cleopatra im Haymarket Theatre ansehen. Es war eine zurückhaltende, keineswegs opulente Produktion. Das lange Stück bezauberte meine Mutter auf eine Weise, die mich überraschte. Nach Jahren des Libanon-Krieges und der israelischen Invasion war sie voller Unruhe, häufig verdrossen, sorgte sich um ihre Gesundheit und wusste nicht recht, was sie mit sich selbst anfangen sollte. All dies jedoch verschwand, als wir Shakespeares Verse zitiert sahen und hörten – »In unserem Mund und Blick war Ewigkeit, Wonn’ auf den Brau’n, kein Tropfen Blut so arm, der Göttern nicht entquoll«. Es war, als erklängen sie wieder in den Betonungen wie damals in Kairo und als befänden wir uns ein allerletztes Mal in unserem kleinen Kokon, beide sehr still und konzentriert, in einer gemeinsamen Sprache und Verbundenheit trotz unseres Altersunterschieds und ungeachtet der Tatsache, dass wir
dennoch Mutter und Sohn waren. Acht Monate später begann die letzte, endgültige Phase ihrer Krankheit, die sie umbrachte, nachdem Metastasen im Gehirn ihren Verstand verwirrt hatten. Bevor sie in den beiden letzten Lebensmonaten zu völligem Schweigen verdammt war, sprach sie ängstlich von Verschwörungen um sie herum und äußerte dann den letzten eindeutig vertraulichen Satz, den sie jemals zu mir sagte: »Mein armes kleines Kind« – mit trauriger Resignation, wie eine Mutter, die von ihrem Sohn für immer Abschied nimmt. Als ich heranwuchs, wünschte ich mir immer, statt meines Vaters hätte sie mir beim Fußball oder Tennis zugesehen, oder sie allein hätte mit meinen Lehrerinnen gesprochen, ihrer Pflichten als Partnerin meines Vaters in dem gemeinsamen Programm zu meiner Besserung enthoben. Nach ihrem Tod, als ich ihr nicht mehr den wöchentlichen Brief schrieb und nicht länger (wie während ihrer Behandlung in Washington) täglich mit ihr telefonierte, blieb sie mir dennoch als stille Gefährtin gegenwärtig. In ihren Armen gehalten zu werden, wenn sie mich als kleinen Jungen hätscheln und streicheln wollte, war wirkliches Glück, aber eine solche Aufmerksamkeit konnte meinerseits niemals gesucht oder verlangt werden. Ihre Stimmungen prägten die meinen, und ich erinnere mich noch an eine der qualvollsten Empfindungen meiner Kindheit und frühen Jugend: den Versuch, sie ohne jeden Anhaltspunkt und Erfolg von ihrer Rolle als Aufseherin abzulenken und dazu zu bewegen, mir Zuneigung und Unterstützung zu geben. Eine gute Tat, eine anständige Note, eine gut gespielte Passage auf dem Klavier vermochten dennoch eine plötzliche Veränderung ihres Gesichtsausdrucks zu bewirken, eine dramatische Hebung ihrer Stimme, weit ausgebreitete Arme, wenn sie mich bezauberte mit einem: »Bravo, Edward, mein liebster Junge, bravo, bravo. Ich möchte dich küssen.« Aber meistens war sie von ihrem Pflichtgefühl
als Mutter und Vorsteherin des Haushalts so sehr erfüllt, dass mir ebenso eindrücklich die Stimme jener Jahre in Erinnerung geblieben ist, mit der sie ihre Ermahnungen aussprach: »Übe Klavier, Edward!«, »Mach deine Hausaufgaben«, »Verschwende deine Zeit nicht: fang jetzt endlich mit deinem Aufsatz an«, »Hast du deine Milch getrunken, deinen Tomatensaft, deinen Lebertran?«, »Iß deinen Teller leer«, »Wer hat die Schokolade gegessen? Eine ganze Schachtel ist leer, Edward!«
IV
DIE MORALISCHE UND KÖRPERLICHE Stärke meines Vaters beherrschte den ersten Teil meines Lebens. Er hatte einen kräftigen Rücken und eine Brust wie ein Fass, und obwohl er nicht besonders groß war, vermittelte er doch einen Eindruck von Unbezwingbarkeit und – mir jedenfalls – von überwältigendem Selbstvertrauen. Sein auffallendstes körperliches Merkmal war seine stocksteife, fast karikaturenhaft gerade Haltung. Und im Gegensatz zu meiner nervösen Furchtsamkeit und Schüchternheit besaß er eine Art Großspurigkeit: er schien sich niemals zu fürchten, irgendwohin zu gehen oder irgendetwas zu tun. Ich dagegen fürchtete mich immer. Nicht nur bewegte ich mich nicht vorwärts, wie bei dem leidigen Fußballspiel – ich wollte mich nicht einmal ansehen lassen, so bewusst waren mir meine unzähligen körperlichen Mängel, die allesamt, davon war ich überzeugt, nur meine inneren Missbildungen widerspiegelten. Es fiel mir ungeheuer schwer, die Blicke anderer zu ertragen oder gar zu erwidern. Als ich etwa zehn Jahre alt war, erwähnte ich das gegenüber meinem Vater. »Schau ihnen nicht in die Augen, schau ihnen auf die Nase«, sagte er und verriet mir damit eine geheime Technik, die ich dann jahrzehntelang angewendet habe. Noch Ende der fünfziger Jahre, als ich als Doktorand zu unterrichten begann, musste ich unbedingt meine Brille absetzen, damit sich die Klasse in einen Nebel verwandelte, in dem ich kein Gesicht erkennen konnte. Und bis heute empfinde ich es fast als unerträglich, mich selbst im Fernsehen zu sehen oder über mich zu lesen.
Als ich elf war, hinderte mich diese Furcht daran, etwas zu tun, was ich mir eigentlich sehr wünschte. Es war wohl bei meiner zweiten Opernvorstellung in Kairo, in dem Gebäude, das eine verkleinerte Kopie von Garniers übermächtigem Pariser Bauwerk war und die Aida berühmt gemacht hatte. Ich war ganz aufgeregt wegen der erhabenen Rituale der Bühne und den festlich gekleideten Menschen, aber auch wegen der Musik selbst, ihrer Inszenierung und Feierlichkeit. Besonders fesselte mich der Orchestergraben und in seiner Mitte das Pult des Dirigenten mit der enormen Partitur und dem langen Taktstock. Ich wollte mir das Ganze während der Pause genauer ansehen, doch von unseren Logenplätzen in der Mitte des Parketts aus hatte man keinen guten Blick darauf. »Kann ich mir das ansehen?« fragte ich meinen Vater. »Geh nur. Geh da runter«, antwortete er. Die Vorstellung, allein durch das Parkett zu gehen, schien mir plötzlich unerträglich: Ich schämte mich zu sehr, als zu verwundbar empfand ich meinen Körper unter den forschenden (vielleicht gar verurteilenden) Blicken. »Also gut«, sagte er gereizt. »Ich gehe.« Ich sah ihn selbstbewusst den Gang hinuntergehen, er stolzierte förmlich zum Podium, das er sehr langsam und bedächtig erreichte. Mein Unbehagen wuchs erst recht, als er dann so tat, als wolle er die Seiten der Partitur umblättern, mit einer Mimik ostentativer Neugier und Dreistigkeit. Ich verkroch mich tiefer in meinen Sitz und gestattete mir nur einen kurzen Blick über das Geländer, denn ich ertrug weder meine Verlegenheit, vielleicht gar Furcht angesichts dieses Auftritts meines Vaters, noch meine scheue Ängstlichkeit. Die häufig zarte Wärme meiner Mutter bot mir die seltenen Gelegenheiten, die Person zu sein, die ich meinem Gefühl nach war und die sich deutlich von jenem »Edward« unterschied, der in der Schule und beim Sport versagte und niemals der Männlichkeit meines Vaters zu entsprechen vermochte. Und
dennoch wurde meine Beziehung zu ihr zunehmend ambivalent, und ihre Missbilligung wirkte auf mich emotional viel verheerender als die Vorwürfe und die männliche Tyrannei meines Vaters. An einem Sommernachmittag im Libanon – ich war sechzehn und bedurfte ihrer Zuneigung mehr denn je – gab sie ein Urteil über alle ihre Kinder ab, das ich niemals vergessen habe. Ich hatte gerade das erste von zwei unglücklichen Jahren in Mount Hermon hinter mir, einem streng geführten Internat in Neuengland, und dieser besondere Sommer des Jahres 1952 war für mich von entscheidender Bedeutung, vor allem, weil ich mit ihr zusammen sein konnte. Wir hatten uns angewöhnt, an den Nachmittagen zusammenzusitzen, uns sehr vertraut zu unterhalten und Neuigkeiten und Meinungen auszutauschen. Und nun plötzlich sagte sie: »Alle meine Kinder haben mich enttäuscht. Alle.« Irgendwie brachte ich es nicht über mich zu sagen: »Aber doch bestimmt nicht ich.« Dabei war ich doch offensichtlich ihr Liebling gewesen, und zwar in einem Maße (wie meine Schwestern mir erzählten), dass sie während meines ersten Jahres in der Fremde bei festlichen Anlässen wie Weihnachten ein zusätzliches Gedeck für mich auflegte und nicht zuließ, dass Beethovens Neunte (mein Lieblingsstück) im Haus gespielt wurde. »Warum«, fragte ich, »warum denkst du so über uns?« Sie schürzte die Lippen und zog sich noch mehr in sich zurück, körperlich und geistig. »Sag mir doch bitte, warum?«, fuhr ich fort. »Was habe ich getan?« »Eines Tages wirst du es vielleicht wissen, vielleicht nach meinem Tod, aber mir ist sehr klar, dass ihr alle eine große Enttäuschung seid.« Einige Jahre lang wiederholte ich meine Frage, aber ohne Erfolg: Die Gründe für ihre Enttäuschung über uns und offensichtlich auch über mich blieben ihr bestgehütetes Geheimnis, zugleich aber auch eine Waffe in
ihrem Arsenal, mit der sie uns manipulieren konnte, aus dem Gleichgewicht brachte und mich gegen meine Schwestern und die Welt ausspielte. War es immer so gewesen? Warum hatte ich früher geglaubt, unsere Vertrautheit sei so tief, dass meine Position kaum anzuzweifeln und durch nichts zu gefährden war? Als ich nun auf meine offene und trotz des Altersunterschieds enge Bindung zu meiner Mutter zurückblickte, erkannte ich, dass ihre kritische Ambivalenz seit jeher bestanden hatte. Während der Jahre an der GPS begannen die beiden ältesten meiner jüngeren Schwestern, Rosy und Jean, und ich allmählich und fast unmerklich ein Konkurrenzverhältnis zu entwickeln, das den Fähigkeiten meiner Mutter, uns zu lenken und zu manipulieren, durchaus gelegen kam. Ich hatte mich als Beschützer von Rosy gefühlt: Weil sie um einiges jünger und körperlich ungeschickter war als ich, half ich ihr oft. Ich liebte sie zärtlich und umarmte sie häufig, wenn wir auf dem Balkon zusammen spielten, oder ich plapperte unaufhörlich auf sie ein, wodurch ich sie zum Lächeln und Kichern brachte. Morgens gingen wir zusammen in die GPS, aber dort trennten wir uns, da sie in einer tieferen Klasse war. Sie hatte viele kichernde kleine Freundinnen – Shahira, Nazli, Nadia, Vivette – und ich meine »rauflustigen« Klassenkameraden wie Dickie Cooper und Guy Mosseri. Schnell etablierte sie sich als ein »braves« Mädchen, während ich mit zunehmendem Unbehagen rebellisch, ziellos und einsam durch die Schule schlich. Nach der Schule fingen die Schwierigkeiten zwischen uns an. Sie gingen einher mit unserer erzwungenen körperlichen Trennung: keine gemeinsamen Bäder mehr, kein Herumtoben oder Umarmen, getrennte Zimmer, unterschiedliche Erziehungsformen, die meine eher körperbetont und disziplinierter als ihre. Wenn Mutter heimkam, verglich sie mein Benehmen mit dem meiner jüngeren Schwester. »Schau
dir Rosy an. Alle Lehrer sagen, dass sie sich sehr gut macht.« Bald verwandelte sich auch Jean – die mit ihren dicken kastanienbraunen Zöpfen außergewöhnlich hübsch war – von einer jüngeren, hinterhertrottenden Version Rosys in ein weiteres »braves« Mädchen mit seinem eigenen Kreis offenkundig gleichgesinnter Freundinnen. Und auch sie wurde von den Lehrerinnen an der GPS mit Komplimenten überhäuft, während ich weiterhin dauerhaft in »Schande« verharrte – ein Wort, das mich seit meinem siebten Lebensjahr begleitete. Rosy und Jean bewohnten ein gemeinsames Zimmer, meines lag etwas weiter den Gang hinunter, dazwischen das meiner Eltern. Joyce und Grace (die acht beziehungsweise elf Jahre jünger waren als ich) zogen von der verglasten Veranda in andere Zimmer um, als die Wohnung umgebaut wurde, um die heranwachsenden Kinder unterzubringen. Die geschlossene Tür von Rosy und Jeans Zimmer markierte eindeutig die räumliche wie auch emotionale Kluft, die sich langsam zwischen uns auftat. Einmal wurde mir sogar ausdrücklich und generell untersagt, dieses Zimmer auch nur zu betreten. Es war mein Vater, der dieses Verbot mit Nachdruck aussprach und gelegentlich überwachte. Er hatte sich jetzt offen auf die Seite der Mädchen geschlagen, als ihr Verteidiger und Patron. So wuchs ich allmählich in die Rolle ihres bösen Bruders hinein, eine Rolle, in der mir natürlich (aus Sicht meines Vaters) meine Onkel mütterlicherseits vorangeschritten waren. »Beschütze sie«, sagte man mir immer wieder, ohne jede Wirkung. Vor allem für Rosy war ich eine Art Raubtier, das mit Spott oder Schmeichelei in ihr Zimmer gelockt werden konnte, nur um mit Radiergummis beworfen, mit Kissen traktiert und gespielter oder echter Hysterie angeschrien zu werden. Meine Schwestern lernten augenscheinlich lernbegierig und fleißig, ob in der Schule oder zu Hause, während ich derlei hinausschob, um sie zu ärgern
oder sonst wie die Zeit zu vertrödeln, bis meine Mutter nach Hause kam – hinein in eine Kakophonie gegenseitiger Beschuldigungen, die durch echte blaue Flecken zum Vorzeigen oder echte Bissspuren zum Beweinen untermauert wurden. Wir entfremdeten uns jedoch niemals völlig, da wir in gewisser Weise die konkurrierende Rivalität genossen, die nie wirklich feindlich war. Meine Schwestern konnten ihre Schnelligkeit oder besonderen Fertigkeiten bei »Himmel und Hölle« unter Beweis stellen, und ich konnte versuchen, es ihnen gleichzutun. Bei denkwürdigen Gelegenheiten, wenn wir Blindekuh, Ringelreihen oder Fußball auf sehr engem Raum spielten, konnte ich meine Größe oder relative Stärke einsetzen. Nach einem Besuch im Circo Togni, dessen Löwenbändiger mich mit seinem herrischen Gehabe und seiner Großspurigkeit besonders beeindruckt hatte, wiederholte ich seine Vorstellung im Zimmer der Mädchen und schrie mit Befehlen wie »A posto, Camelia« auf sie ein, schwang dazu eine imaginäre Peitsche und stieß mit großer Geste einen Stuhl in ihre Richtung. Die Vorführung schien ihnen ganz gut zu gefallen, und sie brachten sogar ein niedliches Brüllen zu Stande, während sie mit nicht sonderlich katzenhafter Anmut auf das Bett oder die Kommode kletterten. Aber wir umarmten uns nie, wie das Brüder und Schwestern normalerweise wohl tun, denn gerade auf dieser unbewussten Ebene spürte ich eine beidseitige Scheu, bei mir vor ihnen wie auch bei ihnen vor mir. Diese körperliche Distanz besteht noch heute zwischen uns und hat sich durch den Einfluss meiner Mutter über die Jahre hinweg womöglich sogar noch vertieft. Wenn sie von ihren Nachmittagen im Cairo Women’s Club nach Hause kam, trat sie unweigerlich zwischen uns. Immer häufiger ernteten meine Missetaten ihre wütenden Vorwürfe: »Kann ich dich nicht einmal mit deinen Schwestern allein
lassen, ohne dass du Ärger machst?«, hieß es immer wieder, häufig gefolgt von dem gefürchteten Nachsatz: »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt.« Gerade weil uns Körperkontakt untersagt war, ohne dass dies offen ausgesprochen wurde, nahmen meine Übergriffe die Form von Attacken an, samt Schlägen, an den Haaren ziehen, Stoßen und einzelnen hinterhältigen Knüffen. Jedes Mal wurde ich »verpetzt«, fiel dann in »Ungnade«, und es erfolgte irgendein einschneidendes Verbot (eine weitere Einschränkung der Kinobesuche, eine deutliche Kürzung meines Taschengeldes, im schlimmsten Fall Prügel von meinem Vater). All dies verstärkte unser Gefühl, dass der Körper einen besonderen und problematischen Status besaß. Zwischen dem Körper eines Jungen und dem eines Mädchens lag ein Abgrund, der in den entscheidenden Jahren der Pubertät weder je diskutiert noch untersucht oder auch nur erwähnt wurde. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was Sex zwischen Männern und Frauen bedeutete, noch wusste ich überhaupt sehr viel von der entsprechenden Anatomie. Plötzlich jedoch wurden Worte wie »Schlüpfer« und »Unterhosen« nur noch in Anführungsstrichen verwendet. »Ich kann deine Unterhose sehen«, neckten meine Schwestern mich, und ich antwortete tollkühn: »Ich kann deinen Schlüpfer sehen.« Ich erinnere mich ziemlich deutlich daran, dass die Badezimmertür gegen Eindringlinge des anderen Geschlechts verriegelt werden musste, obwohl meine Mutter sowohl bei mir als auch bei den Mädchen zugegen war, wenn wir uns an- oder auszogen. Ich glaube, sie muss die Rivalität zwischen Geschwistern sehr gut verstanden haben, ebenso wie die Versuchungen der »polymorphen Perversion«, die uns umgaben. Aber ich vermute auch, dass sie mit diesen Impulsen und Trieben spielte und sie benutzte: Sie trennte uns, indem sie unsere
Unterschiede hervorhob; sie betonte unsere Mängel vor den jeweils anderen und ließ uns spüren, dass sie allein unser Bezugspunkt war, unsere vertrauenswürdigste Freundin, unsere kostbarste Liebe – was ich paradoxerweise auch heute noch glaube. Alle Beziehungen zwischen mir und meinen Schwestern mussten über meine Mutter laufen, und alles, was ich zu ihnen sagte, war beeinflusst von ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihrem Verständnis von richtig und falsch. Keiner von uns wusste natürlich jemals, was sie wirklich über uns dachte, abgesehen von flüchtigen, rätselhaften, verstörenden Augenblicken (als sie mir zum Beispiel sagte, wir alle hätten sie enttäuscht). Erst sehr viel später verstand ich, wie unzufrieden und zornig sie angesichts unseres Lebens in Kairo gewesen sein musste, und im Rückblick durchschaute ich seine geschäftige Konventionalität, seine erzwungenen Härten und die mangelnde Offenheit (bei ihr und ihren Kindern), die endlosen Manipulationen und vor allem die fehlende Aufrichtigkeit. Vieles davon war auf ihre fabelhafte Fähigkeit zurückzuführen, Vertrauen und ein Gefühl der Sicherheit zu wecken, obwohl man doch wusste, dass sie sich einen Augenblick später mit unvergleichlicher Wut und Erregung gegen einen wenden oder einen mit ihrem strahlenden Charme umgarnen konnte. »Komm und setz dich neben mich, Edward«, sagte sie dann, zog einen damit in ihr Vertrauen und vermittelte ein wundervolles Gefühl von Geborgenheit. Natürlich spürte man, dass sie auf diese Weise zugleich Rosy und Jean, ja sogar meinen Vater ausschloss. Sie war einerseits dämonisch Besitz ergreifend und verfügte gleichzeitig über eine unendlich nuancierte Sensibilität, die in mir nicht nur den Sohn, sondern einen Prinzen sah. Ich vertraute ihr einmal an, dass ich mich für besonders begabt und ungewöhnlich hielt, ungeachtet der fast komischen Reihe von Fehlschlägen und endlosen Schwierigkeiten, mit
denen ich es in der Schule und überall sonst zu tun hatte. Es war ein sehr ängstlich vorgetragenes Bekenntnis zur eigenen Stärke, vielleicht sogar zu einer anderen Identität hinter »Edward«. »Ich weiß«, sagte sie sanft zu mir, mit sehr leiser, vertraulicher und beruhigender Stimme. Doch wer war sie wirklich? Im Unterschied zu meinem Vater, dessen durchgängige Solidität und lapidare Äußerungen eine bekannte und feste Größe bildeten, war meine Mutter die Energie in Person, in allem und überall, im ganzen Haus, in unserem gesamten Leben. Unaufhörlich überprüfte und beurteilte sie und zog uns alle samt unseren Kleidern, Zimmern, verborgenen Lastern, Fehlern, Leistungen und Problemen in ihren sich ständig erweiternden Bannkreis. Doch was fehlte, war ein gemeinsamer emotionaler Raum. Stattdessen bestanden bilaterale Beziehungen zu meiner Mutter, wie zwischen einer Kolonie und ihrer Metropole, eine Konstellation, die nur sie vollständig überblicken konnte. Was sie mir zum Beispiel über sich selbst erzählte, sagte sie auch zu meinen Schwestern, und auf der Basis dieser Selbstcharakterisierung funktionierte sie: Sie war schlicht, sie war ein guter Mensch, der immer das Richtige tat, sie liebte uns alle bedingungslos, sie wollte, dass wir ihr alles erzählten, was nur sie vor allen anderen verborgen halten konnte. Ich glaubte das, ohne es zu hinterfragen. Die Außenwelt bot keine vergleichbare Befriedigung, diese Außenwelt mit einem Karussell wechselnder Schulen (und daher auch Freunden und Bekannten), in der ich als Nicht-Ägypter von gemischter, ungewisser, um nicht zu sagen verdächtiger Identität ständig fehl am Platze war, eine Person ohne erkennbares Profil und ohne eindeutige Richtung. Meine Mutter schien mein allgemeines Dilemma wahrzunehmen und mit mir zu
sympathisieren. Und das genügte mir. Es funktionierte als vorläufige Unterstützung, die ich ungeheuer genoss. Durch meine Mutter begann ich meinen Körper als eine unglaubliche Last und ein Problem wahrzunehmen – zunächst, weil sie auf Grund ihrer genauen Kenntnis meines Körpers besser in der Lage schien, seine potenziellen Mängel zu erkennen, und zweitens, weil sie niemals offen darüber sprach, sondern das Thema entweder mit indirekten Hinweisen anging oder – was beunruhigender war – über meinen Vater und ihre Brüder, die sie wie ein Bauchredner für sich sprechen ließ. Als ich ungefähr vierzehn war, sagte ich einmal etwas, das sie für ungeheuer witzig hielt. Mir selbst war damals gar nicht bewusst, wie ungewollt scharfsinnig ich war. Ich hatte die Badezimmertür unverschlossen gelassen (ein vielsagender Zufall, da ich mir als Heranwachsender eine gewisse Privatsphäre verschafft hatte, deren Verletzung ich aber gelegentlich provozierte), und sie trat plötzlich herein. Einen Augenblick ließ sie die Tür offen und betrachtete ihren nackten Sohn, der sich hastig mit einem kleinen Handtuch abtrocknete. »Geh doch bitte raus«, sagte ich gereizt, »und versuch doch nicht wiederzubekommen, was du bereits aufgegeben hast.« Dieser Befehl rettete die Situation: Sie brach in Gelächter aus, schloss schnell die Tür und ging eilig davon. Doch hatte sie jemals wirklich aufgegeben? Ich hatte schon viel früher begriffen, dass mein Körper und die Körper meiner Schwestern auf unerklärliche Weise tabu waren. Die grundlegende Ambivalenz meiner Mutter drückte sich auch in ihrem ungewöhnlich körperbetonten Umgang mit ihren Kindern aus: Sie überschüttete uns mit Küssen, Liebkosungen und Umarmungen, mit begeisterten Hymnen auf unsere Schönheit und körperlichen Vorzüge – und zugleich kommentierte sie auf verheerend negative Weise unser Erscheinungsbild. Als ich neun und Rosy sieben war, wurde
das Gewicht zu einem gefährlichen und allgegenwärtigen Thema. Weil meine Schwester zunahm, wurde das zu einem Diskussionspunkt, der sie ihre gesamte Kindheit, Jugend und ihr frühes Erwachsenenalter hindurch begleitete. Damit einher gingen eine verblüffend detaillierte Kenntnis von »dickmachenden« Nahrungsmitteln und endlose Verbote. Ich war ziemlich dünn, groß, wohlproportioniert, Rosy augenscheinlich aber nicht, und dieser Kontrast zwischen uns, dazu der Unterschied zwischen ihrem Geschick in der Schule und meinen kümmerlichen Leistungen dort, Vaters besondere Vorliebe für sie gegenüber der meiner Mutter für mich (sie leugneten immer, dass sie unter den Kindern Lieblinge hatten), ihre Fähigkeit, sich die Zeit einzuteilen und sich selbst anzutreiben, lauter Talente, die ich nicht besaß – all dies vertiefte die Fremdheit zwischen uns und verstärkte mein Unbehagen gegenüber unseren Körpern. Mein Vater machte sich nach und nach an die Aufgabe, meinen Körper umzuformen, vielleicht sogar neu zu erschaffen. Meine Mutter erhob nur selten Einwände und führte mich regelmäßig einem Arzt vor. Wenn ich auf das Körpergefühl zurückblicke, das ich seit meinem achten Lebensjahr besaß, dann sehe ich meinen Körper eingeschlossen in eine anspruchsvolle Reihe wiederholter Korrekturen, die sämtlich von meinen Eltern angeordnet waren und in der Mehrzahl die Wirkung hatten, mich gegen mich selbst auszuspielen. »Edward« steckte in einer hässlichen, widerspenstigen Form, an der fast nichts stimmte. Bis Ende 1947, als wir Palästina endgültig verließen, war unser Kinderarzt ein gewisser Dr. Grünfelder, wie die Hebamme Madame Baer deutsch-jüdischer Herkunft, der als der beste Arzt Palästinas galt. Seine Praxis lag in einem ruhigen, sauberen, ordentlichen und sehr grünen Viertel der ausgedörrten Stadt, das in meinen jungen Augen überaus
fremd wirkte. Er sprach englisch mit uns, obwohl ich von dem vertraulichen Geflüster zwischen ihm und meiner Mutter nur selten etwas mitbekam. Immer wieder wurden ihm drei Probleme vorgetragen, für die er seine eigenen charakteristischen Lösungen lieferte: Die Probleme selbst machen das Ausmaß deutlich, in dem bestimmte Teile meines Körpers einer geradezu mikroskopisch-genauen und unnötig intensiven Überwachung ausgesetzt waren. Das eine Problem betraf meine Füße, die schon im Kleinkindalter zu Plattfüßen erklärt wurden. Grünfelder verschrieb die metallenen Einlagen, die ich in meinen ersten Schuhen trug und die erst 1948 abgeschafft wurden, als ein energischer Verkäufer in einem Dr. Scholls-Laden in Manhattan sie meiner Mutter ausredete. Das zweite war meine eigenartige Gewohnheit, jedes Mal beim Wasserlassen für einen kurzen Augenblick krampfartig zu zittern. Natürlich wurde ich aufgefordert, dieses Zittern dem Arzt vorzuführen, und ebenso natürlich war ich unfähig, Wasser zu lassen oder zu erschauern. Meine Mutter beobachtete mich einige Wochen lang, dann brachte sie den Fall dem weltberühmten »Kinderspezialisten« zur Kenntnis. Grünfelder zuckte die Achseln. »Es ist nichts«, verkündete er, »wahrscheinlich psychologisch« – ein Ausdruck, den ich nicht verstand, der aber, wie ich merkte, meine Mutter noch ein wenig mehr beunruhigte, oder jedenfalls mich beunruhigen sollte, bis ich fast zwanzig war; erst dann wurde das Thema fallen gelassen. Das dritte Problem war mein Magen, der Ursprung zahlreicher Leiden und Beschwerden während meines ganzen Lebens. Es begann mit Grünfelders Skepsis gegenüber der Angewohnheit meiner Mutter, mir sommers wie winters eine kleine Decke um den Bauch zu wickeln und festzustecken. Sie glaubte, das werde mich gegen Krankheit, gegen die Nachtluft, vielleicht sogar gegen den bösen Blick schützen. Später erfuhr
ich von mehreren Freunden, dass derlei in Palästina und Syrien ganz gebräuchlich war. Einmal erzählte sie Grünfelder in meiner Gegenwart von diesem eigenartigen Vorbeugemittel, und ich erinnere mich deutlich an seine Reaktion. Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch und sagte: »Ich sehe dafür keine Notwendigkeit«, worauf sie ihm die zahlreichen Vorteile (meist präventiver Art) aufzählte, die mir daraus erwüchsen. Ich war damals neun oder zehn. Das Thema kam außerdem bei Wadie Baz Haddad zur Sprache, unserem Hausarzt in Kairo, und auch er versuchte, es ihr auszureden. Doch es dauerte noch ein weiteres Jahr, bevor das alberne Ding ein für alle Mal verschwand. Hilda erzählte mir später, ein weiterer Arzt habe sie davor gewarnt, meinen Leib so empfindlich zu machen, weil er dann für alle möglichen anderen Probleme anfällig würde. Meine Augen waren schwächer geworden, weil ich bei einem Frühlingskatarrh ein Trachom bekommen hatte, und so trug ich zwei Jahre lang dunkle Gläser zu einer Zeit, in der das sonst niemand tat. Mit sechs oder sieben Jahren musste ich täglich eine Stunde lang mit Kompressen auf den Augen in einem abgedunkelten Raum liegen. Ich wurde immer kurzsichtiger, aber meine Eltern vertraten den Standpunkt, eine Brille sei nicht »gut für mich«, und ausgesprochen schlecht sei es, wenn ich mich an sie »gewöhnte«. Im Dezember 1949, mit vierzehn Jahren, besuchte ich eine Aufführung von Shaws Helden in der Ewart Hall der American University of Cairo und konnte nichts von dem erkennen, was auf der Bühne vor sich ging, bis mein Freund Mostapha Hamdollah mir seine Brille lieh. Sechs Monate später, inzwischen hatte sich ein Lehrer beschwert, erhielt ich eine Brille mit der ausdrücklichen elterlichen Anweisung, sie nicht ständig zu tragen: meine Augen seien schon schlecht genug, bekam ich zu hören, und würden sonst noch schlechter.
Mit zwölf wurde mir mitgeteilt, die zwischen meinen Beinen sprießenden Schamhaare seien nicht »normal«, was mein ohnehin extremes Unbehagen an mir selbst erst recht steigerte. Die heftigste Kritik betraf jedoch mein Gesicht und meine Zunge, meinen Rücken, die Brust, die Hände und den Bauch. Ich bemerkte weder, dass ich angegriffen wurde, noch erlebte ich die Korrekturversuche und kritischen Bemerkungen als die Feldzüge, die sie in Wirklichkeit waren. Ich nahm an, all das sei Bestandteil der disziplinierenden Maßnahmen, denen man als Heranwachsender ausgesetzt werde. Letztlich bewirkten all diese Korrekturen bei mir allerdings tiefste Befangenheit und Scham. Der längste und erfolgloseste »Besserungsversuch« – schon fast eine Obsession meines Vaters – galt meiner Körperhaltung, die für ihn zu einem wichtigen Thema wurde, als ich in die Pubertät kam. Im Juni 1957, als ich in Princeton mein Examen machte, gipfelte das Ganze darin, dass mein Vater darauf beharrte, mich in ein orthopädisches Spezialgeschäft in New York mitzunehmen, um mir ein Korsett zu kaufen, das ich unter dem Hemd tragen sollte. An dieser Erinnerung peinigt mich am meisten, dass ich noch mit einundzwanzig Jahren meinem Vater widerspruchslos das Recht einräumte, mich einzuschnüren wie ein ungezogenes Kind, dessen schlechte Haltung von einem anstößigen Charakterzug zeugte, der eine wissenschaftliche Bestrafung erforderte. Der Verkäufer, der uns das Stück vorführte, verzog keine Miene, als mein Vater freundlich erklärte: »Siehst du, das funktioniert tadellos. Du wirst damit überhaupt keine Probleme haben.« Das weiße Korsett aus Baumwolle und Latex mit Schnallen über Brust und Schultern war die logische Folge der jahrelangen Versuche meines Vaters, mir eine »gerade Haltung« beizubringen. »Schultern zurück«, sagte er oft,
»Schultern zurück«, und meine Mutter – deren Haltung ebenso schlecht war wie die ihrer eigenen Mutter – fügte dann auf Arabisch hinzu: »Lass dich nicht hängen.« Als das Ärgernis hartnäckig bestehen blieb, gab sie sich mit dem Gedanken zufrieden, meine Haltung stamme von den Badrs, der Familie ihrer Mutter, und stieß für gewöhnlich einen Stoßseufzer aus, fatalistisch und missbilligend zugleich. Dem folgte ihre Bemerkung hadabit beit Badr oder »der Buckel der Badrs«. Das sagte sie zu niemandem im Besonderen, aber offensichtlich in der Absicht, die Schuld meinen Vorfahren zu geben, wenn nicht gar sich selbst. Ob es nun an den Badrs lag oder nicht, mein Vater ließ in seinen Bemühungen nicht locker. Später zählten dazu »Übungen« – zum Beispiel schob er einen seiner Spazierstöcke unter meine Achseln, wo ich ihn dann zwei Stunden lang tragen musste. Bei einer weiteren Übung musste ich vor ihm stehen und eine halbe Stunde lang auf seinen Befehl »Eins« hin meine Ellbogen so schnell und kräftig wie möglich zurückstoßen, was meinen Rücken stärken sollte. Wann immer ich ihm vor die Augen kam, rief er »Schultern zurück«, was mir natürlich peinlich war, wenn es vor anderen Menschen geschah, aber es vergingen Wochen, ehe ich den Mut zu der Bitte aufbrachte, mich auf der Straße, im Club oder gar beim Kirchgang nicht so laut zu ermahnen. Er nahm meinen Einwand einsichtig zur Kenntnis. »Dann mache ich es so«, sagte er besänftigend, »ich sage einfach nur ›zurück‹, und nur du und ich werden wissen, was es damit auf sich hat.« Und so ertrug ich sein »Zurück« über die Jahre bis hin zur Anschaffung des Korsetts. Der Kampf um meine Haltung berührte auch die Frage ihrer Auswirkung auf meine Brust, deren unverhältnismäßig großen Umfang und Wölbung ich von meinem Vater geerbt hatte. Schon früh in meiner Jugend bekam ich einen metallenen
Brustexpander samt Anleitung, wie er zu verwenden sei, um Umfang und Beschaffenheit meiner Brust auszubilden, die von meinem Haltungsfehler in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es gelang mir nie, die verrückten Federn des Geräts zu beherrschen, die einen bedrohlich ansprangen, wenn man nicht die Kraft hatte, sie gespannt zu halten. Der eigentliche Ärger, so erklärte ich einmal meiner Mutter, die voller Mitgefühl zuhörte, bestehe darin, dass meine Brust ohnehin schon zu groß sei. Wenn ich sie forsch herausstreckte, würde sie sogar noch größer und machte aus mir die groteske Karikatur eines gut entwickelten Mannes mit einer fassförmigen Brust. Ich schien gefangen zwischen den Optionen Buckel oder Fass. Meine Mutter verstand das und versuchte meinen Vater davon zu überzeugen, jedoch ohne sichtbares Ergebnis. Als er vor dem Ersten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten gewesen war, hatte ihn Gregory Sandow beeindruckt, der legendäre starke Mann, der sogar im Ulysses vorkommt, und Sandow hatte einen ausgeprägten Brustkorb und einen geraden Rücken. Was für Sandow gut sei, sagte mir mein Vater einmal, sollte »auch für dich« gut sein. Dennoch erzürnte ihn mein Widerstand gelegentlich so sehr, dass er mir schmerzhaft auf die Schultern schlug und einmal sogar kräftig mit der Faust in den Rücken. Er konnte physische Gewalt anwenden und versetzte mir kräftige Schläge auf Gesicht und Hals, während ich – wie mir schien, auf höchst beschämende Weise – mich duckte und auswich. Seine Stärke und meine Schwäche schmerzten mich unsagbar, aber ich reagierte oder protestierte nie, nicht einmal als ich noch mit Anfang zwanzig, als Doktorand in Harvard, von ihm auf demütigende Weise verprügelt wurde, weil ich, wie er sagte, grob zu meiner Mutter gewesen sei. Ich lernte vorauszuahnen, wann ein Schlag drohte: anhand der eigenartigen Weise, wie er seine Oberlippe einzog, und wenn er plötzlich heftig Luft
holte. Die bemühte Sorgfalt, die er auf Züchtigungen – mit einer Reitgerte – verwandte, war mir erheblich lieber als die bedrohliche, zornige und impulsive Gewalt seiner Schläge in mein Gesicht. Wenn meine Mutter einmal plötzlich die Fassung verlor, schlug auch sie auf Gesicht und Kopf ein, aber weniger häufig und erheblich schwächer. Während ich dies schreibe, bietet sich mir – sehr spät im Leben – die Gelegenheit, diese Erfahrungen als ein zusammenhängendes Ganzes aufzuzeichnen, das seltsamerweise keinerlei Zorn, ein wenig Trauer und überraschend viel verbliebene Liebe zu meinen Eltern hinterlassen hat. Neben all den korrigierenden Maßnahmen, die mein Vater mir aufbürdete, bewies er zugleich eine verblüffende Bereitschaft, mich später meinen eigenen Weg gehen zu lassen. Während meiner Zeit in Princeton und Harvard zeigte er sich ausgesprochen großzügig, ermutigte mich ständig zu reisen, weiterhin Klavier zu spielen, gesund zu leben, war immer bereit, die Rechnungen zu unterschreiben (auf seine eigene besondere Weise natürlich), auch wenn ich mich dadurch als einziger Sohn und einziger in Frage kommender Nachfolger für das Familiengeschäft von ihm entfernte. Er verkaufte die Firma stillschweigend im gleichen Jahr, in dem ich meine Promotion in Literaturwissenschaften abschloss. Was ich meinem Vater allerdings nicht gänzlich verzeihen kann, ist die Tatsache, dass sein Kampf um meinen Körper und sein System aus Korrekturmaßnahmen und körperlicher Züchtigung mir ein tiefsitzendes allgemeines Angstgefühl einflößten, mit dem ich mich einen Großteil meines Lebens auseinandersetzen musste. Noch immer sehe ich mich selbst manchmal als Feigling, auf den irgendeine gewaltige Katastrophe lauert, für Sünden, die ich begangen habe und für die ich demnächst bestraft werde.
Die Sorge meiner Eltern um meinen unvollkommenen und moralisch mangelhaften Körper betraf auch mein sonstiges Erscheinungsbild. Als ich etwa fünf war, wurde mein langes lockiges Haar zu einem nüchternen kurzen Bürstenschnitt gestutzt. Weil ich eine passable Sopranstimme besaß und meine begeisterte Mutter mich als »süß« betrachtete, spürte ich die Missbilligung, sogar Furcht meines Vaters, ich könnte »weibisch« werden – ein Wort, das mich bis in mein zehntes Lebensjahr begleitete. Ein seltsames wiederkehrendes Thema meiner Jugend war ein Angriff auf die »Schlaffheit« meines Gesichts, insbesondere der Mundpartie. Meine Mutter erzählte für gewöhnlich zwei Lieblingsanekdoten: Die erste handelte davon, dass Leonardo da Vinci den gleichen Mann als Modell zunächst für Jesus und dann, nach Jahren der Ausschweifungen, für den Judas benutzt hatte. In der anderen hatte Lincoln einen Mann wegen seines scheußlichen Aussehens verurteilt. Als ein Freund ihn darauf hinwies, niemand sei für seine Hässlichkeit verantwortlich, habe er geantwortet: »Für sein Gesicht ist jeder verantwortlich.« Wenn ich gescholten wurde, weil ich meine Schwestern gequält oder behauptet hatte, dass ich keine Süßigkeiten genascht hätte, oder wenn ich all mein Geld ausgegeben hatte, streckte mein Vater schnell die Hand aus, drückte Daumen und Zeigefinger fest in meine Mundwinkel und zerrte sie mehrfach energisch nach links und rechts, wobei er die ganze Zeit einen unangenehmen summenden Ton wie »mmmmmm« von sich gab, und dann hervorstieß: »dieser schlaffe Mund«. Ich entsinne mich, dass ich mich noch lange nach meinem zwanzigsten Geburtstag angeekelt im Spiegel betrachtete und Übungen vollführte (meine Lippen schürzte, die Zähne zusammenbiss, mein Kinn zwanzig oder dreißig Mal nach vorne reckte), um meine schlaffen Züge zu »kräftigen«. Glenn Fords Manier, die Kiefermuskeln anzuspannen, um moralische
Stärke und die Mühen des »Starkseins« zu verdeutlichen, war mir ein frühes Vorbild, das ich als Reaktion auf die Anklagen meiner Eltern zu imitieren suchte. Und es war nur ein Nebenaspekt meines schlaffen Gesichts und Mundes, dass meine Eltern mich keine Brille tragen lassen wollten. Meine Mutter, immer bereit, gleichzeitig zu verurteilen und zu loben, verkündete, eine Brille verdecke »dein schönes Gesicht«. Mein Oberkörper wurde kaum erwähnt, bis ich dreizehn war, ein Jahr bevor ich 1949 ans Victoria College kam. Mein Vater traf im Gezira Club einen gewissen Mr. Mourad, der kurz zuvor in einer Wohnung auf der Fuad al-Awwal in Zamalek eine Art Sportstudio eröffnet hatte, einen knappen Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Bald darauf war ich für wöchentlich drei Übungskurse angemeldet, zusammen mit einem halben Dutzend Kuwaitis, die zum Studium nach Ägypten gekommen waren. Zu diesen Übungen gehörten Kniebeugen, Hantieren mit dem Medizinball, »Klappmesser«, Joggen und Springen (alles in einem winzigen quadratischen Raum). Schon bald war ich die Zielscheibe unseres drahtigen Trainers, Mr. Ragab. »Streng dich mehr an«, rief er mir dann mahnend auf Englisch zu. »Rauf, runter, rauf, runter« und so fort. Nach einigen Wochen platzte schließlich die Bombe. »Komm schon, Edward«, sagte er verächtlich angesichts meiner »Klappmesser«, »wir müssen deinen Bauch wegkriegen.« Als ich entgegnete, der Anlass der Übungen sei doch mein Rücken, sagte er, das stimme, aber meine Bauchpartie sei nicht kräftig genug. »Außerdem wollen deine Eltern das so.« Es machte mich dermaßen verlegen zu wissen, was sie von meinem Bauch hielten, dass ich mit meinen Eltern niemals darüber gesprochen habe. Wieder hatte das Verhältnis zu meinem Körper einen neuen Riss bekommen. Und indem ich das Urteil akzeptierte, verinnerlichte ich die Kritik und wurde dadurch noch unbeholfener und unsicherer.
Die Eigenheiten meiner Hände wurden von meiner Mutter besonders kritisch begutachtet. Obwohl mir nur undeutlich bewusst war, dass ich körperlich weder den Saids besonders ähnelte (die kurz, untersetzt und sehr dunkel waren) noch ihrer Familie, den Musas (deren Mitglieder weißhäutig, von mittlerer Größe und Statur waren und ungewöhnlich lange Finger und Gliedmaßen hatten), war mir doch klar, dass ich über starke Seiten und athletische Fähigkeiten verfügte, die allen anderen versagt blieben. Mit zwölf Jahren war ich ein ganzes Stück größer als jeder andere in meiner Familie, und dank der eigenartigen Beharrlichkeit meines Vaters hatte ich Kenntnisse und Übung in zahlreichen Sportarten erworben, darunter Tennis, Schwimmen, Fußball (trotz meines notorischen Versagens), Reiten, Leichtathletik, Kricket, Tischtennis, Segeln und Boxen. In keiner tat ich mich besonders hervor, da ich zu schüchtern war, um einen Gegner besiegen zu wollen, aber ich hatte meine ohnehin beachtlichen natürlichen Anlagen weiterentwickelt. So konnte ich im Laufe der Zeit Stärke, bestimmte Muskeln und eine sehr ungewöhnliche Zähigkeit und Ausdauer entwickeln – die ich noch heute besitze. Vor allem meine Hände waren groß, außergewöhnlich sehnig und beweglich. Für meine Mutter waren sie einerseits Gegenstand anbetender Bewunderung (die langen, schmalen Finger, die perfekten Proportionen, die hervorragende Beweglichkeit) und andererseits häufig geradezu hysterischer Anklagen (»Deine Hände sind tödliche Werkzeuge«, »Sie werden dich noch einmal in Schwierigkeiten bringen«, »Gib gut Acht«). In Mutters Augen waren sie eigentlich alles Mögliche, nur keine Hände: Hämmer, Zangen, Keulen, Stahldrähte, Nägel, Scheren, und – wenn sie weder wütend noch erregt war – außerordentlich feine und sanfte Instrumente. Mein Vater nahm meine Hände nur zur Kenntnis, weil ich an den
Fingernägeln kaute, was er mir jahrzehntelang abgewöhnen wollte. Das ging so weit, dass er sie mit einer ekelhaft schmeckenden Medizin bestrich und mir eine raffinierte Maniküre im Chez Georges versprach, dem luxuriösen Friseurladen auf der Qasr el-Nil-Straße, den er regelmäßig besuchte. All das blieb erfolglos, obwohl ich mich häufig dabei ertappte, wie ich die Hände in den Taschen versteckte, so wie ich auch bemüht war, mich nicht dem Blick meines Vaters auszusetzen, damit nicht mein »Rücken« seine Aufmerksamkeit oder die anderer erregte. Das Moralische und das Körperliche gingen besonders unmerklich ineinander über, wenn es um meine Zunge ging – im Arabischen das Objekt einer ganzen Reihe metaphorischer Assoziationen, die meist negativ besetzt sind und in meinem besonderen Falle mit großer Häufigkeit wiederholt wurden. Im Englischen spricht man vor allem von einer »beißenden« oder »scharfen« Zunge, im Gegensatz zu einer »glatten«. Wann immer ich mit einer unangemessenen oder unpassenden Bemerkung herausplatzte, lag die Schuld bei meiner »langen« Zunge: sie war forsch, unangenehm, unkontrolliert. Die Bezeichnung ist im Arabischen gebräuchlich und beschreibt einen Menschen, der nicht über die gebotene Höflichkeit und Sprachgewandtheit verfügt – in den meisten arabischen Gesellschaften sehr wichtige Eigenschaften. Meine anhaltende Unterdrückung führte dazu, dass ich gelegentlich herausplatzte, womit ich zu sehr in die falsche Richtung kompensierte. Darüber hinaus verletzte ich alle möglichen Regeln, wenn es galt, Eltern, Verwandte, andere Erwachsene, Lehrer, Brüder und Schwestern auf angemessene Weise anzusprechen. Dies fiel meiner Mutter auf, die meine Übertretungen als schlimmes Omen für eine wahrhaft düstere Zukunft betrachtete. Außerdem war ich ungewöhnlich unfähig, Geheimnisse zu bewahren oder wie jeder andere zu
entscheiden, was ich nicht sagen wollte. In einem arabischen Umfeld galt mein Verhalten daher als anormal und ich als bösartiger Einzelgänger, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Vielleicht ging es in Wirklichkeit um Sexualität, oder genauer um den Versuch meiner Eltern, mein Leben vor ihr zu schützen, und als sie nicht länger abgewehrt werden konnte, sie zumindest zu bändigen. Selbst als ich 1951 in die Vereinigten Staaten fuhr, war ich noch in jeder Hinsicht unberührt, Bekanntschaften mit Mädchen gab es nicht. Filme wie The Outlaw, Duell in der Sonne, sogar das Kostümdrama Fabiola mit Michele Morgan, die ich unbedingt sehen wollte, waren als »für Kinder ungeeignet« verboten. Solche Verbote bestanden bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr. In jenen Tagen gab es keine offen angebotenen Sex-Magazine oder Porno-Videos, und die Schulen, die ich in Ägypten oder den Vereinigten Staaten bis zum Alter von siebzehneinhalb besuchte, infantilisierten und entsexualisierten alles. Das galt auch für Princeton, wo ich bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr auf dem College war. Überall war die Sexualität verbannt, selbst meine Lektüre unterlag der Zensur, obgleich sie hier auf Grund meiner Neugier und unserer umfangreichen Bibliothek unmöglich durchzusetzen war. Die Erfahrungen der Liebe beschrieb in überzeugenden Details Wilfred De SaintMande in seinen Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg. Er war ein britischer Offizier gewesen, von dem ich niemals mehr erfuhr, als dass er auf über sechshundert Seiten entweder auf dem Schlachtfeld kämpfte oder sexuellen Abenteuern nachging. Saint-Mande wurde tatsächlich einer der verschwiegenen und geheimen Gefährten meiner Jugend. Als Wüstling, blutrünstiger britischer Soldat und Barbar aus der Oberschicht bot er ein eher abstoßendes Rollenmodell, aber das machte mir nichts aus – mir gefiel er nur umso besser. Auf
diese Weise wurde ich von außen gesehen sorgfältig von allem ferngehalten, was sexuelles Interesse hätte wecken können, ohne dass dies jemals wirklich zur Sprache kam. Mein starkes Bedürfnis, mehr darüber zu wissen und eigene Erfahrungen zu machen, durchbrach schließlich die Beschränkungen meiner Eltern, bis es zu einer offenen Auseinandersetzung kam, die mich in der Erinnerung noch sechsundvierzig Jahre später erschauern lässt. An einem kühlen Sonntagnachmittag Ende November 1949, um drei Uhr, einige Wochen nach meinem vierzehnten Geburtstag, klopfte es laut an meine Schlafzimmertür, und gleich darauf wurde entschieden herrisch an der Klinke gerüttelt. Offensichtlich war dies alles andere als ein freundschaftlicher Elternbesuch. Es war dies der grundlegende Angriff auf meinen Charakter, der sich fast drei Jahre lang angebahnt hatte, und er wurde mit unanfechtbarer Rechtschaffenheit »zu deinem Besten« vorgetragen. Mein Vater stand einen Augenblick lang in der Tür, in seiner rechten Hand hielt er voller Ekel meine Pyjamahose, die ich, wie mir nun verzweifelt bewusst wurde, an diesem Morgen im Badezimmer liegen gelassen hatte. Ich hob die Hände, um das anstößige Kleidungsstück aufzufangen, rechnete damit, dass er mich wie schon ein oder zwei Mal zuvor rügen würde, weil ich meine Sachen herumliegen ließ (»Räum das bitte auf; lass es nicht herumliegen, bis es jemand anders aufhebt«). Die Dienstboten, fügte er dann gelegentlich hinzu, seien nicht zu meiner persönlichen Bedienung da. Da er die Hose in der Hand behielt, begriff ich, dass es sich um eine ernstere Sache handeln musste, und sank in angstvoller Erwartung des Angriffs ins Bett zurück. Als er halb im Zimmer war und gerade anfing, etwas zu sagen, erblickte ich dicht hinter ihm das angespannte Gesicht meiner Mutter im Türrahmen. Sie sagte nichts, aber sie hatte sich eingefunden,
um dem Verfahren das nötige emotionale Gewicht zu verleihen. »Deine Mutter und ich haben festgestellt« – und hier schwenkte er den Pyjama –, »dass du keine feuchten Träume hast. Das bedeutet, dass du dich selbst befleckst.« Das hatte er niemals zuvor anklagend gesagt, obwohl die Gefahren der »Selbstbefleckung« und die Tugenden der feuchten Träume bereits Thema mehrerer Unterweisungen gewesen waren. Zum ersten Mal hatte er mir das gepredigt, als wir im Juli 1948, auf dem Weg nach New York, über das Deck der Saturnia schlenderten. Diese Unterweisungen hatten stattgefunden, weil ich meine Mutter nach einem korpulenten kleinen Paar italienischer Opernsänger gefragt hatte, die ebenfalls Passagiere auf der Saturnia waren. Sie trug sehr hohe Absätze, ein enges weißes Kleid, und ihre Lippen waren stark geschminkt. Er trug einen glänzenden braunen Anzug und erhöhte Absätze, sein Haar war sorgfältig zurückgekämmt. Beide hatten eine starke sexuelle Ausstrahlung, die ich nicht einordnen konnte. In einem unbedachten Augenblick hatte ich meine Mutter verwirrt und nach Worten suchend gefragt, wie solche Leute es denn eigentlich »taten«. Ich hatte keine Worte für »es«, kein Wort für Penis oder Vagina, keines für Vorspiel. Ich konnte nur Begriffe wie Urinieren und Stuhlgang in meine Frage einflechten, die, wie ich irgendwie mitbekommen hatte, ebenfalls angenehme Dinge bezeichneten. Der besorgte und angeekelte Gesichtsausdruck meiner Mutter bereitete mich auf das »Männergespräch« mit meinem Vater vor. Ein großer Teil seiner eindrucksvollen Autorität und seiner bezwingenden Macht über mich speiste sich aus jener eigenartigen Verbindung aus Schweigen und der rituellen Wiederholung von Klischees, die er an verschiedenen Stellen aufgelesen hatte – dem Buch Tom Brownes Schooldays, dem CVJM,
Vertreterkursen, der Bibel, evangelischen Predigten, Shakespeare und so weiter. »Stell dir eine Tasse vor, die sich langsam mit Flüssigkeit füllt«, begann er. »Wenn sie dann voll ist« – hier formte er eine Hand zu einem Gefäß und strich mit der anderen den angenommenen Überschuss ab –, »fließt sie natürlich über, und du hast einen feuchten Traum.« Er machte eine kurze Pause. Dann fuhr er mit einem weiteren Gleichnis fort. »Hast du jemals ein Pferd ein Rennen gewinnen sehen, das nicht ein gleichmäßiges Tempo einhalten konnte? Natürlich nicht. Wenn das Pferd zu schnell startet, wird es müde und lässt nach. Das Gleiche gilt für dich. Wenn du dich befleckst, wird deine Tasse nicht überlaufen, das heißt, du kannst nicht gewinnen oder das Rennen auch nur beenden.« Bei einer ähnlichen Gelegenheit warnte er mich später noch vor einer Glatze und/oder Wahnsinn als Folge von »Selbstbefleckung«, die er nur sehr selten als Masturbation bezeichnete, ein Wort, das mit geradezu fürchterlichem Nachdruck ausgesprochen wurde: »Maaaasturbation« (die A’s klangen beinahe wie O’s). Mein Vater sprach nie vom Liebemachen, geschweige denn vom Vögeln. Als ich versuchte zu fragen, wie Kinder entstehen, war die Antwort schematisch. Die häufigen Schwangerschaften meiner Mutter und insbesondere ihr bedrohlich hervortretender Bauch boten jedenfalls keine befriedigende Erklärung. Ihre Antwort lautete immer: »Wir haben Jesus einen Brief geschrieben, und er hat uns ein Baby geschickt!« Nach seiner feierlichen Warnung vor der »Selbstbefleckung« hatte mich mein Vater auf dem Schiff lediglich mit ein paar Worten darüber abgespeist, wie ein Mann seine »Genitalien« in die »Genitalien« einer Frau steckt. Kein Wort über Orgasmus oder Ejakulation oder darüber, was »Genitalien« waren. Von Vergnügen war niemals die Rede. Und das Wort Küssen erwähnte er in all den Jahren, in denen
ich ihn kannte und mit ihm zusammenlebte, nur ein einziges Mal. Als ich auf dem College war, sagte er zu mir: »Du musst eine Frau heiraten, die noch keiner vor dir geküsst hat. Eine wie deine Mutter.« Nicht einmal das Thema Jungfräulichkeit kam zur Sprache – ein abstruser Begriff, von dem ich in der Sonntagsschule und dann im Katechismus gehört hatte und der für mich erst konkrete Bedeutung gewann, als ich etwa zwanzig war. Nachdem wir im Herbst 1949 aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt waren, gab es zwei, vielleicht drei Gelegenheiten, bei denen wir Gespräche von Mann zu Mann führten, die meinerseits zunehmend mit einem Gefühl der Bedrängnis und Schuld verbunden waren. Ich fragte ihn einmal, wie man wissen könne, dass der feuchte Traum passiert sei. »Das merkst du am Morgen«, war seine erste Antwort. Wie meistens, zögerte ich weiter zu fragen, aber ich tat es dann doch, als er das Thema beim nächsten Mal zur Sprache brachte und dabei einen noch stärker ausgeschmückten Bericht über die Schrecknisse der »Selbstbefleckung« lieferte (der Mann wird »unnütz« und zu einem »Versager«, wenn die Degeneration schließlich einsetzt). »Ein feuchter Traum ist ein nächtlicher Erguss«, sagte er. Der Ausdruck klang, als läse er ihn aus einem Buch ab. »Ist es wie zur Toilette gehen?«, fragte ich und benutzte den Euphemismus, den wir alle verwendeten (»Pipimachen« war die entschieden riskantere Alternative, die mir meine Mutter immer verbot: Ich benutzte sie, wenn ich versuchte, »ungezogen« zu sein, ähnlich wie das »Ich kann deinen Schlüpfer sehen!« gegenüber einer meiner Schwestern, als bewussten Akt der Auflehnung und Unnachgiebigkeit.) »Ja, mehr oder weniger, aber es ist dicker und klebt an deinem Pyjama«, sagte er dann. Deshalb also trug er den Pyjama anklagend in der linken Hand, als er ein paar Schritte
vor meinem Bett stand. »An diesem Pyjama ist überhaupt nichts dran«, sagte er zu mir mit einem Blick voller Zorn und Abscheu, »nichts. Habe ich dich nicht immer wieder vor den Gefahren der Selbstbefleckung gewarnt? Was ist los mit dir?« Es entstand eine Pause, in der ich verstohlen an meinem Vater vorbei hin zu meiner Mutter schaute. Obwohl ich im Innersten wusste, dass sie meistens mit mir sympathisierte, nahm sie selten eine andere Haltung ein als er. Nun konnte ich keinerlei Unterstützung bei ihr erkennen; lediglich einen scheu fragenden Blick, als wolle sie sagen: »Ja, Edward, was tust du?« wie auch in etwa »Warum tust du so hässliche Dinge und tust uns so weh?«. Ich wurde sofort dermaßen von Schrecken und einem Gefühl der Schuld und Verletzlichkeit erfasst, dass ich diese Szene niemals vergessen habe. Das Wichtigste an diesen Gefühlen ist die Art und Weise, wie sie sich auf meinen Vater konzentrierten, dessen kalte Denunziation mich vollkommen sprachlos und niedergeschmettert in meinem Bett zurückließ. Es gab nichts zu bekennen, was er nicht bereits wusste. Ich hatte keine Entschuldigung: Die feuchten Träume waren tatsächlich nicht passiert, obwohl ich im vorangegangenen Jahr mehrmals besorgt aufgewacht war und Bett und Schlafanzug nach irgendwelchen Hinweisen auf sie abgesucht hatte. Ich befand mich bereits auf dem Weg ins Verderben, vielleicht gar zur Glatze. (Nach einem Bad hatte ich einmal alarmiert festgestellt, dass mein nasses Haar, das normalerweise recht dick war, ein paar dünne Stellen aufzuweisen schien. Ich vermutete auch, dass das väterliche Drängen, ich solle mir häufig die Haare schneiden lassen, mit der Abwehr vorzeitiger Folgen der Selbstbefleckung zusammenhing. »Lass dein Haar oft und kurz schneiden wie dein Vater«, sagte er gewöhnlich, »dann bleibt es kräftig und voll.«) Mein Geheimnis war also enthüllt. Ich konnte nur daran denken, dass ich nirgendwohin
gehen könnte, wenn die schauerliche Strafe eintreten sollte. Irgendwie enthielt die verschwommene, aber auch überwältigende Angst, die ich empfand, ein äußerst konkretes Gefühl der Bedrohung, und für einen Augenblick fühlte ich mich, als klammere ich mich an »Edward«, um ihn vor dem endgültigen Untergang zu bewahren. »Hast du mir nichts zu sagen?« Ein schnelles Luftholen, dann der Höhepunkt. Mit, wie mir schien, übertriebenem Ekel schleuderte er die Pyjamahose in meine Richtung. »Also gut. Hol dir einen feuchten Traum!« Ich war über diesen entschiedenen Befehl so verwirrt (konnte man denn wirklich einen feuchten Traum haben, nur weil man es einfach wollte?), dass ich mich noch tiefer ins Bett verkroch. Dann – gerade als ich dachte, er wolle gehen – drehte er sich erneut zu mir um. »Wo hast du gelernt, dich selbst zu beflecken?« Wie durch ein Wunder bot sich mir ein rettender Ausweg. Blitzartig fiel mir ein, wie ich erst ein paar Wochen zuvor, gegen Ende der Sommerferien, in der Jungenumkleide im Maadi Club herumgelungert hatte. Obwohl es damals Vaters Lieblingsclub für Golf und Bridge war, kannte ich dort verhältnismäßig wenige Menschen, und mit meiner üblichen Schüchternheit ging ich in den Umkleideraum, um meine Badehose anzuziehen, ließ mir dabei aber auch stets Zeit in der Hoffnung, vielleicht eine Freundschaft anzubahnen oder einen flüchtigen Bekannten zu treffen. Mein Gefühl der Einsamkeit bestand nach wie vor. Diesmal jedoch drängte eine Schar älterer Jungen herein, noch nass vom Schwimmen. Angeführt wurden sie von Ehab, einem sehr großen und dünnen Jungen mit einer tiefen Stimme, die Selbstvertrauen ausstrahlte. Reich, sicher, daheim und am richtigen Ort. »Komm schon, Ehab, tu es«, drängten ihn die anderen. Ich hatte ihn schon früher gesehen, kannte ihn aber nicht wirklich, da unsere Väter nicht miteinander bekannt waren und ich noch immer abhängig von
dieser Art der Vorstellung durch die Eltern war. Ehab ließ die Badehose herunter, stellte sich auf die Bank, und während er über die Trennwand auf die Liegewiese des Clubs schaute, begann er zu onanieren. Ich hörte mich selbst herausplatzen: »Nimm dir Colette« – eine üppige junge Frau um die zwanzig, die immer einen schwarzen Badeanzug trug und meine eigenen privaten Fantasien beflügelt hatte. Niemand hörte mich, ich kam mir vor wie ein Esel und wurde knallrot, aber keiner schien es zu bemerken. Wir alle sahen Ehab dabei zu, wie er langsam seinen Penis rieb, bis er endlich, ebenfalls langsam, ejakulierte, und dann lachte er selbstgefällig und zeigte seine klebrigen Finger vor, als hätte er gerade einen Pokal gewonnen. »Es war im Club. Ehab hat’s getan«, platzte ich gegenüber meinem Vater heraus, der keine Ahnung hatte, wer Ehab war oder was ich ihm damit sagen wollte. Da begriff ich, dass er gar keine konkrete Auskunft wollte: Die Frage war rein rhetorisch gemeint. Natürlich war ich schuldig. Natürlich wusste er es jetzt. Meine Sünden waren auch meiner Mutter enthüllt worden, die kein einziges Wort sagte, aber Anzeichen von kaum fassbarem Entsetzen und sogar Trauer erkennen ließ. Mein Vater schien nicht wirklich daran interessiert, meiner Erklärung oder meinen unbeholfenen Versuchen, entschlossen Besserung zu geloben, auch nur ein paar Sekunden zuzuhören. Er war mir auf die Schliche gekommen und hatte mich als charakterschwach entlarvt. Er wusste, welchen Schaden ich mir selbst zufügte, und hatte mich für sowohl schwach als auch gänzlich unzuverlässig befunden. Das war alles. Er hatte mir von der Tasse und dem Rennpferd erzählt, von der drohenden Glatze und dem Wahnsinn. Er hatte mir diese Predigten vielleicht acht Mal gehalten, so dass er sie jetzt nur mehr wiederholen oder das Verbrechen »weise« (das Wort benutzte
er gern) zur Kenntnis nehmen und zur Tagesordnung übergehen konnte, wobei seine Autorität, sein moralisches Urteil völlig unangetastet blieben. Ich wurde weder bestraft noch weiter an mein geheimes Laster erinnert, hatte aber dennoch nicht das Gefühl, gut davongekommen zu sein. Dieses besondere Versagen, wie es in jener ausgesprochen theatralischen Szene zum Ausdruck kommt, war nun wie ein neuer und besonders giftiger Flecken in der ohnehin nur oberflächlich zusammenhängenden und verworrenen Struktur von »Edward«. Während der vielen Jahre, die wir in Kairo lebten, übte sich mein Vater noch in einer allgemeineren Form der Überwachung, denn er war – als einer der ersten in Ägypten – stolzer Besitzer einer 8-mm-Kamera von Kodak. So war er bemerkenswert eifrig damit beschäftigt, immer wieder die gleichen Szenen mit »Edward«, seiner Mutter, seinen Vettern, Tanten und Onkeln zu filmen (niemals mit Leuten, die nicht zur Familie gehörten), beim Spielen oder Ausruhen, allem Anschein nach glücklich, idyllisch und sorglos. Ich war fasziniert von dem flachen rechteckigen Gerät, das nach Plastik roch, seinem komplizierten Innenleben und dem mäandernden Laufweg der Filmrolle, der Geduld beim Laden, Einfädeln und Entladen erforderte. Weder meine Mutter noch mein Vater waren darin besonders geschickt – ein Mangel, den ich in praktischen Dingen geerbt zu haben scheine –, mein Vater jedoch war ganz besonders unbeholfen. Er kaufte Filme in winzigen Spulen und steckte sie so nachlässig in die Kamera, dass sie blockierten, woraufhin er einen neuen hervorholte, den alten wütend durch das Gerät zog und fortwarf, dann wurde der neue eingelegt, und endlich konnte er filmen. Alle paar Wochen ging er hinüber zu der Kodak-Filiale an der Adly Pasha-Straße, um eine Hand voll Filme zum Entwickeln zu bringen. Als ich acht war, begleitete ich ihn,
wenn er vier oder fünf von ihnen auf einer großen Spule abholte, ein bequemeres Format, mit dem er auf seinem Projektor dreißig Minuten Film ohne Pause vorführen konnte. Ein oder zwei Mal im Monat schlossen wir wie in einem Ritual die Läden der Wohnzimmerfenster, bauten den komplizierten, stets glänzenden Projektor auf dem kleinen modernen Kaffeetisch auf und hängten die Leinwand an ihren Ständer mit dem Dreifuß. Während der Geruch der polierten mechanischen Neuheit durch den Raum zog, drehten wir das Licht aus und ließen uns behaglich in den großen, dick gepolsterten Wohnzimmersesseln und Sofas nieder, um uns selbst zuzuschauen – im Zoo, bei einem Picknick in der Wüste oder bei den Pyramiden. Sechs Monate nach dem Tod meiner Mutter im Jahre 1990 fand man in einem ihrer Schränke in Beirut einen größeren Packen Filme, alle sorgsam in den weißen und blauen Kästen untergebracht, die mein Vater von seinem Ladenpersonal dafür hatte anfertigen lassen. Es müssen fünfunddreißig Rollen gewesen sein, mit 120 einzelnen Filmen, die zwischen 1939 und 1952 aufgenommen worden waren. Auf einigen stand in der Handschrift meines Vaters: »Kairo 1944«, »Jerusalem 1946«, »Yousifs Hochzeit« – und alle verströmten noch den Geruch und sogar das Gefühl jener so lang zurückliegenden Vorführabende. Ich nahm sie mit nach New York, wo sie ein paar Jahre in einer unauffälligen braunen Pappschachtel herumlagen und ab und zu meine Neugier weckten, welcher Anteil unseres alten Lebens wohl in ihnen aufbewahrt sein mochte, während sie langsam in Vergessenheit und endgültiger Nutzlosigkeit versanken. Ein Zufall brachte sie wieder ans Licht: Ein paar junge BBCRedakteure, die einen Dokumentarfilm über die Entstehung meines Buches Kultur und Imperialismus drehten, baten mich um einige alte Familienbilder, und dank irgendeines geheimnisvollen Impulses fiel mir die Schachtel mit den
geduldig wartenden Filmen ein. Die Filme wurden nach London gebracht und dort auf Videoband überspielt. Mich enttäuschte nicht so sehr, wie schlecht sie gedreht oder wie sprunghaft und unbefriedigend die Sequenzen waren, die Kopien zu hell oder zu dunkel, sondern vielmehr, dass die Filme so vieles ausklammern, dass sie gekünstelt und streng wirken, da sie im Grunde jeden Hinweis auf die Mühen und Unsicherheiten unseres Lebens ausblenden. Das Lächeln auf allen Gesichtern, das unglaublich fröhliche und manchmal sogar kräftige Erscheinungsbild meiner Mutter (die ich eher als schlank und schwermütig in Erinnerung habe) – all das betont nur den künstlichen Charakter unseres damaligen Lebens: einer Familie, die entschlossen war, sich zu einer kleinen Gruppe Pseudo-Europäer zu stilisieren, der ägyptischen und arabischen Umgebung zum Trotz, die nur gelegentlich in Form eines Kamels, eines Gärtners oder Dieners, einer Palme, Pyramide oder eines Chauffeurs mit Tarbusch in Erscheinung tritt, während sich die Kamera ansonsten maßgeblich auf die Kinder und verschiedenste Verwandte konzentriert. Die frühesten Filme zeigen Rosy und mich beim Spielen: Ich setze sie auf das eine Ende einer Wippe, renne auf die andere Seite, pumpe auf und ab, halte plötzlich inne, renne zu ihr zurück und küsse ihre Locken. Des Weiteren gab es eine ganze Reihe von Filmen, die unterhalb unseres Hauses auf der Gabalaya-Straße gedreht worden waren, die rechtwinklig von der Aziz Osman abzweigte und am Fischgarten entlangführte, dessen Zaun nun seit über fünfzig Jahren unverändert steht. Auf einer fast menschenleeren Straße – heute sind die gleichen Bürgersteige von parkenden Autos gesäumt, und die Straße ist ständig vom Verkehr verstopft – sieht man Edward und Rosy, sechs und vier Jahre alt, dreißig Meter von der Kamera entfernt stehen, zwei winzige, aufgeregte kleine Gestalten, die auf und ab hüpfen, während sie auf ein unsichtbares Stichwort von
jenseits der Kamera warten, die ihre grotesk vergrößerten Gesichter einfängt, wie sie auf alle mögliche Weise theatralisch lächeln. Dieselbe Szene wiederholt sich Dutzende von Malen: in Zamalek, Jerusalem, im Zoo, in der Wüste, im Club, auf anderen Straßen in Kairo. Stets das eifrige Rennen, die glücklichen Gesichter, der wenig überzeugende Schluss. Zuerst dachte ich und erinnerte mich auch daran, dass dies auf eine elementare Art und Weise den Unterschied zwischen einer Einbild- und einer Filmkamera demonstrierte. Es gibt eine Reihe von Sequenzen, die Edward mit zehn Jahren zeigen, wie er aus einer augenscheinlich unbewegten Pose vor der Kamera heraus auf seine älteren Vettern einschwatzt. In ihrer scheinbar endlosen Wiederholung wirken die Filme natürlich wie nach festen Regeln einstudierte Szenen, was sie für meinen Vater auch gewesen zu sein scheinen – wir spielten sie ihm vor, und er filmte unablässig. Er wollte uns immer mit dem Gesicht zur Kamera sehen. In diesen Filmen finden sich keine Profilaufnahmen, und daher bestand auch nicht das Risiko, dass einem von uns versehentlich ein unbedachter Blick oder eine unvorhersagbare Bewegung unterlief. Die Kamera war immer dabei, wenn wir das Haus für einen Spaziergang oder eine Ausfahrt verließen. Das Ganze war wohl auch der Versuch meines Vaters, das geordnete Reich der Familie einzufangen und zu stärken, das er geschaffen hatte und nun regierte. Ich weiß noch, dass mich nach und nach – spätestens mit elf oder zwölf Jahren – das Ritual der stets gleichen Handlungen vor der väterlichen Kamera zunehmend beunruhigte. Dieses Empfinden ging mit meinem Wunsch einher, auf irgendeine Weise körperlos sein zu können. In einer meiner wiederkehrenden Fantasien – Thema eines Schulaufsatzes, den ich mit zwölf Jahren schrieb – wollte ich ein Buch sein, dessen
glückliches Schicksal für mich darin bestand, dass es frei war von unliebsamen Veränderungen, Entstellungen und Kritik an seinem Aussehen. Gedrucktes verkörperte für mich eine seltene Kombination von stilistischem und inhaltlichem Ausdruck, absoluter äußerer Strenge und Integrität im Aussehen. Von Hand zu Hand gereicht, von Ort zu Ort wandernd, von einer Zeit in die nächste, konnte ich (als Buch) ich selbst bleiben, auch wenn ich aus einem Auto geworfen oder in einer Schublade vergessen wurde. Gelegentlich konnte es jedoch geschehen, dass ganz wenige exzentrische Einblicke in unser Leben dem unerbittlichen optischen Raster meines Vaters entgingen. Es gibt eine Szene aus dem Jahre 1947, in der herumlungernde Jungen (darunter auch ich) dabei zusehen, wie eine Braut und ein Bräutigam das richtige Schreiten auf der Treppe unseres Hauses in Jerusalem proben. Es scheint, als habe die Filmkamera meines Vaters die noch anspruchsvollere Strenge von Khalil Raad mit seiner verhüllten Dreifußkamera revolutioniert, der von meiner Tante und ihren Söhnen zu allen wichtigen Familienanlässen geladen wurde. Raad, ein schmächtiger weißhaariger Mann, ließ sich sehr viel Zeit, wenn er die große Gruppe der Familienangehörigen und Gäste zu einer annehmbaren Ordnung arrangierte. In solchen Augenblicken, die sich auf Grund der peinlichen Genauigkeit des Mannes und der völligen Missachtung seiner Objekte endlos in die Länge zogen, erschien das Stillstehen gleichsam wie eine unerlässliche Prüfung dieser formellen Familienfeiern. Niemand konnte damals ahnen, dass Raads Fotos später das wohl reichste Archivmaterial für das Leben der Palästinenser bis 1948 liefern sollten – »vor der Diaspora«, in den Worten Walid Khalidis. Das Interesse meines Vaters an Bewegung – vielleicht ein Ergebnis der Verzweiflung über Raad – bildet
einen weiteren, damals zufälligen Bestandteil dieses inoffiziellen Archivs. Schließlich gab es Szenen, in denen er meinen Onkel Boulos einfing, Tante Nabihas Mann (und ein Vetter ersten Grades), zusammen mit Ellen Badr Sabra, Onkel Munir und seiner Frau Latifeh, sowie meinem Vetter Albert: Lächelnd bewegen sie sich durch die Filme meines Vaters, während der Betrachter in der Rückschau eine Vorahnung des Todes empfindet, und in den verwischten Umrissen ihrer Gestalten scheinen sie sich tatsächlich zur Seite zu bewegen, von der Kamera fort, als schritten sie in einem anderen Rhythmus, aus einem anderen Grund als dem erwarteten. Niemand in den Filmen scheint informell oder leicht gekleidet, vielleicht weil mein Vater seine Aufnahmen im Winter machte, niemals in der erschreckenden Helligkeit der nahöstlichen Sonne. Die Frauen tragen schweren dunklen Satin und Wolle, die Männer immer dunkle Anzüge, die Kinder Pullover, Mützen, lange Strümpfe. Nur meine Mutter erscheint aus irgendeinem Grunde in ärmellosen, manchmal getupften Kleidern. Ihre runden Arme und ihr strahlendes Lächeln drücken gelegentlich den milden Protest aus, an den ich mich deutlich aus meiner Kindheit erinnere, wenn sie sich sanft dagegen verwahrte, dass mein Vater die ständig surrende Kamera auf sie richtete. Meine Großmutter (»Teta«) taucht überhaupt niemals auf, entsprechend ihrem dringenden Wunsch, niemals fotografiert zu werden. Ich weiß nicht, warum sie so empfand oder warum sie nie Schokolade essen wollte oder keinen Tee trank, wenn nicht schon vorher die Milch in die Tasse gegossen worden war. Genauso wenig wusste ich, warum jedes Teil ihrer persönlichen Besitztümer (Taschentücher, Briefpapier, Nachthemden, Stifte, Spielkarten etc.) in einem kleinen Tuchbehälter »wohnen« musste (wie sie selbst es nannte), den sie mit komplizierten Stickmustern
schmückte. Aber Teta waren all diese Dinge sehr wichtig, und sie widersetzte sich meinem Vater bis ans Ende ihres Lebens. Im Unterschied zu meiner Großmutter widersetzte ich mich niemals. Wie auch, wo ich doch körperlich wie moralisch ein Versager war? Sollten Eltern nicht Rollenmodelle liefern oder zumindest doch irgendeine konkrete Vorstellung davon, wohin all das Drängen und Zurechtkneten letztlich hinführen soll, und wo oder wann es aufhört? In den vielen, vielen Stunden VideoFilm gab es nur eine spannende Szene, die mir eine andere Version von »Edward« zeigte, meinem Kindheits-Ich. Sie war am Schwimmbecken des Maadi Clubs gedreht worden, wahrscheinlich an einem späten Sonntagvormittag im Juni, und zeigt eine wimmelnde, unordentliche Szene voller Schwimmer, Springer, zuschauender Eltern, die sämtlich an Vaters Kamera vorbeirasen, weil er, offensichtlich irritiert von all dem Getümmel um ihn herum, die Kamera schnell von Motiv zu Motiv herumreißt, hinauf in den Himmel und wieder herunter, und so das ohnehin beträchtliche Durcheinander am Schwimmbecken zu einem verwirrenden, betäubenden Gemenge aus Licht, Körpern und bedeutungslosem Raum fügt (Pflaster, Wand, Wolke). Das Ganze war ein Hohn für all die einstudierten ordentlichen Bilder, an die wir uns in unseren Bewegungen zur Kamera hin so sehr gewöhnt hatten. Als ich diesen Tumult betrachtete, entdeckte ich plötzlich mich selbst, einen kleinen Jungen in dunkler Badehose mit weißem Gürtel, der zwischen einer Phalanx viel größerer Körper hindurchschlüpft und nahezu ohne Spritzer ins Becken taucht. Es war, als hätte ich meinen Vater nichts ahnend ertappt. Die Kamera folgte mir schnell, nachdem sie mich abrupt erfasst hatte, aber ich scheine aus dem Blickfeld geschwommen zu sein. Der Blick der Kamera kehrt zu dem allgemeinen Getümmel zurück, und dann tauche ich aus einer unerwarteten Ecke auf, renne mit gesenktem Kopf und
ausgestreckten Armen auf ihn zu und verschwinde sofort wieder im Becken. Bei diesem zweiten Mal hatte er mich vollständig verpasst, obwohl ich natürlich für den Bruchteil einer Sekunde im Bild erscheine. Diese winzige, reichlich triviale Episode erfreut mich ein halbes Jahrhundert später, da ich versuche, die Umrisse und entscheidenden Details einer Geschichte wiederzugeben, in die ich mit den Plänen und Erwartungen meines Vaters eingetaucht war, seinen Methoden und Sprüchen, die mich formen und lenken sollten – mich, meine Schwestern und meine Mutter –, und zwar in der gleichen Weise, wie auch die Filme seinen niemals ruhenden Willen bezeugen, uns alle auf ihn zu konzentrieren, vorwärts marsch, während alles Überflüssige herausgeschnitten wird. Das große Paradox besteht darin, dass er in unserem Leben gleichzeitig eine so immens stützende Kraft war – niemand von uns musste sich auch nur einen Tag materielle Sorgen machen, die Schränke waren immer voller Nahrungsmittel, wir hatten die beste Ausbildung, waren gut gekleidet, unsere Häuser wurden von gutem Personal perfekt geführt, wir reisten immer erster Klasse –, dass ich ihn zu jener Zeit nie als unterdrückend empfand. Er bedrängte mich ständig auf seine lapidare Weise, und das begegnete mir wieder im seltsam episodischen, sich wiederholenden und reduzierenden Charakter seiner Filme. Aber dass es mir gelegentlich gelang, seiner erschreckenden Macht zu entkommen, wie in der kleinen Sequenz am Becken, zeigt mir nun, da ich meinen eigenen Weg gegangen bin: dass »Edward« nicht nur der straffällige und zugleich gehorsame Sohn war, der sich dem viktorianischen Entwurf seines Vaters ergab. Meine Mutter rechtfertigte ihn oftmals, indem sie seinem unnachgiebigen und kalten Äußeren einen Hauch von Wärme verlieh. Es war, als sei er eine Marmorstatue, und ihre Aufgabe
bestehe darin, ihm Worte in den Mund zu legen, die ihn sprachgewandt und fließend wirken ließen. Sie sprach stellvertretend für meinen Vater zu mir, zeigte alle Gefühle, die er niemals zum Ausdruck brachte, schmückte ihn so sehr aus, dass er zu einem liebevollen, fürsorglichen Mann wurde, der so gar nicht dem rauen, unnachgiebigen Menschen glich, welcher praktisch bis zu seinem Tode seine Autorität über mich walten ließ. »Du hättest hören sollen, wie er seinen Freunden von ›meinem Sohn‹ erzählte«, sagte sie. »Er ist so stolz auf dich.« Und dennoch konnte ich seine Hilfe niemals direkt in Anspruch nehmen, geschweige denn erbitten. Ich war kaum vier, als er mich zu einem Spaziergang in der Nähe des Fischgartens in Kairo mitnahm (ich glaube nicht, dass er jemals in diesen Garten hineinging, der ausschließlich meiner Mutter vorbehalten war). Ich trottete hinter ihm her, während er mit den Händen auf dem Rücken in flottem Tempo vorwärts drängte. Als ich stolperte, hinfiel und mir Hände und Knie übel aufschürfte, rief ich instinktiv nach ihm: »Daddy… bitte«, woraufhin er stehen blieb und sich langsam zu mir umdrehte. So stand er für ein paar Sekunden, dann wandte er sich wieder um und ging wortlos weiter. Das war alles. Genauso starb er auch, indem er ohne einen Laut das Gesicht zur Wand drehte. Hatte er, so frage ich mich, überhaupt jemals wirklich mehr sagen wollen, als er dann wirklich sagte?
V
IN DIE CAIRO SCHOOL FOR AMERICAN CHILDREN (CSAC) kam ich im Herbst 1946 als Sohn eines amerikanischen Geschäftsmannes, auch wenn ich mich nicht im Geringsten als Amerikaner empfand. Den ersten Tag erleichterte die Tatsache, dass der griechische Busfahrer, der mich sehr früh an einem sonnigen Oktobermorgen in Zamalek abholte und zusammen mit einer Schar völlig unbekannter, lärmender, selbstbewusster amerikanischer Kinder in fröhlich gemusterten Hemden, Röcken und Shorts zur Schule fuhr, ein Fahrer vom College meiner Tante Melia war. Er erkannte mich sofort und behandelte mich stets – wie es sonst niemand tat – mit respektvoller, aber ungezwungener Höflichkeit. Nie zuvor hatte ich eine solche Ansammlung oder Konzentration von Amerikanern gesehen. Vorbei war es mit den grauen Uniformen und dem gedämpften, verschwörerischen Geflüster der englischen und vorwiegend levantinischen Kinder der GPS, vorbei auch mit den englischen Namen wie Dickie, Derek und Jeremy, ebenso wie mit den frankoarabischen wie Micheline, Nadia oder Vivette. Nun gab es Marlese, Marlene, Annekje, mehrere Marjies, Nancy, Ernst, Chuck und jede Menge Bobs. Niemand schenkte mir auch nur die geringste Beachtung. »Edward Saijied« wurde aufgenommen, und bald gehörte ich auf irgendeine Weise dazu. Dennoch verspürte ich jeden Morgen beim Einsteigen in den Bus eine wachsende Panik, wenn ich die farbigen T-Shirts, gestreiften Socken und Slipper sah, die sie alle trugen, während ich in meinen steif und korrekt wirkenden grauen Shorts, weißem Hemd und
konventionellen europäischen Schnürschuhen daherkam. Während des Unterrichts verwandelte ich meine innere Verwirrung in eine überzeugende, wenn auch provisorische Identität: die des aufgeweckten, häufig aber unsteten Schülers. Wenn dann in der Pause alle die gleichen, sauber geschnittenen Weißbrotsandwiches mit Erdnussbutter und Gelee auspackten – beides hatte ich nie zuvor gegessen – und ich meinen Käse und Schinken in Shami-Brot, überkamen mich erneut Zweifel, und ich war beschämt darüber, dass ich, ein amerikanisches Kind, ein anderes Essen zu mir nahm, das niemals jemand probieren wollte oder auch nur zur Kenntnis nahm. Eines Abends saßen wir auf der Veranda, als mein Vater in seine Jackentasche griff und ein Paar gestreifte Socken hervorzog. »Die hat mir ein amerikanischer Pilot gegeben«, sagte er. »Willst du sie nicht tragen?« Es war wie eine plötzliche Rettungsleine hin zu besseren Zeiten. Ich zog sie am nächsten Tag an und am Tag danach wieder, und meine Lebensgeister hoben sich merklich. Im Bus nahm jedoch keiner davon Notiz, und die Socken mussten schließlich auch gewaschen werden. Mit nur einem einzigen Paar Socken, das meinem Anspruch, Amerikaner zu sein, Glaubwürdigkeit verleihen konnte, fühlte ich mich ausgesprochen blamabel. Ich versuchte meiner Mutter zu erklären, dass es vielleicht ganz schön wäre, wenn meine Sandwiches in Rechtecke geschnitten und mit Marmelade und Butter bestrichen würden, aber damit hatte ich wenig Erfolg. »Toast und Marmelade essen wir nur zum Frühstück. Ich will, dass du richtig ernährt wirst. Was soll denn mit unserem Essen nicht stimmen?« Die Cairo School for American Children war nach dem Krieg für die Kinder der Angestellten der amerikanischen Ölfirmen, der Wirtschaftsmanager und des Botschaftspersonals in Kairos sich neuerdings vergrößernder amerikanischer Gemeinde gegründet worden. Sie war in einem Haus an der äußeren
westlichen Peripherie von Maadi untergebracht, parallel zum Bahnhof und etwa anderthalb Kilometer vom großen Fluss entfernt. Wie bei der GPS, die nur eine Grundschule war, handelte es sich bei dem Gebäude um eine große Villa, diesmal aber mit einem fast einen Hektar großen Garten, einem Schuppen für den Gärtner und einem Aschenplatz von der Größe eines halben Fußballfeldes an der Südseite des Hauses. Während meines ersten Jahres 1946/47 (unterbrochen von einem langen Frühlingsaufenthalt in Jerusalem) wurde eine Hälfte des Spielfeldes asphaltiert und zum Basketballplatz umfunktioniert. Als eine Schule für jüngere Kinder hatte sich die GPS auf Netzball beschränkt, das als eine vereinfachte Abwandlung von Basketball in erster Linie für Mädchen gedacht war. Ansonsten war lediglich zu festlichen Anlässen wie dem Geburtstag des Königs der Tanz um den Maibaum aufgeführt worden – ein Vergnügen, das ich sowohl eigenartig (warum so viele Bänder, und was sollten sie bedeuten?) als auch idiotisch fand (im Rhythmus von Mrs. Wilsons Klatschen und einer extrem schrillen Aufnahme englischer Volksmusik im Kreis zu gehen, erschien mir als der Tiefpunkt disziplinierter körperlicher Bewegung). In der CSAC lernte ich nicht nur Basketball, sondern auch Softball kennen – Sportarten, von denen mein Vater überhaupt keine Ahnung hatte. Als ehrenamtlicher Vorsitzender des CVJM von Kairo, der Begegnungen zwischen Kairoer Mannschaften wie den Armenian Houmentmen oder den Jewish Maccabees und einem hervorragenden Gästeteam der US-Armee organisierte, nahm er uns zu Spielen mit, in denen er selbst keinerlei Erfahrung besaß. Softball interessierte mich immerhin so weit, dass ich ein anständiger Werfer und Schläger wurde, aber zum Glück zeigte mein Vater kein ernsthaftes Interesse dafür und wollte mir nie dabei zusehen, wie ich den prallen Ball mit einem Louisville Slugger-Schläger traf.
Das Nachkriegs-Kairo vermittelte mir zum ersten Mal ein Gefühl stark voneinander abgegrenzter sozialer Schichten. Die wichtigste Veränderung war die Ersetzung britischer Institutionen und Positionen durch die siegreichen Amerikaner: Das alte Empire machte dem neuen Platz, und mein Vater erzielte nun noch größere geschäftliche Erfolge. Bei GPSZeremonien wurde viel Aufhebens um Lady Baden-Powell oder Roy Chapman-Andrews gemacht, Symbole der britischen Autorität, die keines ägyptischen oder arabischen Gegenstücks bedurften, um ihre Besonderheit auf dem Podium zu unterstreichen: Britannien stand obenan, und uns allen erschien das ganz selbstverständlich. Der Auftritt von Shafiq Ghorbal, einem bekannten ägyptischen Historiker und hohen Beamten des Erziehungsministeriums, bei der ersten CSAC-Zeremonie, an die ich mich erinnere, markierte deutlich den Unterschied im imperialistischen Ansatz. Wir Amerikaner waren Partner der Ägypter, und deshalb war es völlig angemessen, sie bei Ereignissen wie etwa der Eröffnung des ägyptischen Parlaments oder König Faruks Geburtstag als Redner zu Wort kommen zu lassen – Anlässe, die an der GPS gar nicht zur Kenntnis genommen wurden. »All Things Bright and Beautiful« hatte sich auf das strahlende und schöne England bezogen, den weit entfernten Leitstern des Guten für uns alle. Damit war es nun vorbei, und die Hymne verschwand für immer aus meinem Repertoire. Mich verblüffte die Tatsache, dass die amerikanische Methode unter anderem darin bestand, das Arabische als Unterrichtsfach für alle Kinder einzuführen, und nachdem ich behauptet hatte, »Saijied« sei ein amerikanischer Name, erlebte ich im Arabischunterricht einige meiner schlimmsten Augenblicke. Irgendwie musste ich die perfekte Beherrschung meiner Muttersprache verbergen, um besser den idiotischen Formulierungen zu genügen, die man amerikanischen Kindern als gesprochenes (in Wirklichkeit
Küchen-) Arabisch präsentierte. Ich meldete mich nie, sagte selten etwas und saß meistens geduckt im hinteren Teil des Klassenzimmers. Es kam jedoch zu Provokationen, etwa als die hübsche junge Arabischlehrerin von ihren Erlebnissen im soeben eröffneten Vergnügungspark in Gezira berichtete und dabei besonders eine Flugattraktion namens »Saida« hervorhob, benannt nach der neu gegründeten ägyptischen Fluggesellschaft. In einer winzigen Klasse von vier Schülern baute sie sich vor mir auf und schilderte in allen Einzelheiten ihre Aufregung bei »Saida« – das Wort wiederholte sie ständig, als wolle sie das in meinem Namen lauernde Arabisch hervorlocken, obwohl ich ihn doch mühsam auf die vor herrschenden Normen amerikanischer Aussprache herunterzuspielen versucht hatte. »Nein, Edward«, sagte sie emphatisch, »wenn du nicht das Saida probiert hast, hast du das Beste verpasst. Weißt du, wie oft ich Saida gefahren bin? Mindestens vier Mal. Saida macht wirklich Spaß. Saida ist einfach groß artig.« Mit anderen Worten, hör auf so zu tun, als seiest du Saijied: Du bist Said, wie in Saida. Die Anspielung war nicht zu überhören. Ich wurde der sechsten Klasse zugeteilt, deren Klassenraum im zweiten Stockwerk lag und dessen Pflanzen und Blumenkästen dem Ganzen die Atmosphäre eines Wohnzimmers verliehen. Die Klasse wurde von der ersten regelrechten Leuteschinderin und Sadistin meines Lebens beherrscht, einer Miss Clark, deren gezielte Schikanen mein ohnehin unsicheres Selbstwertgefühl gänzlich ruinierten. Miss Clarks Verhalten war überaus zurückhaltend, ruhig und aufs Unangenehmste beherrscht. Sie war Mitte dreißig, und rückblickend schien sie mir aus dem protestantischangelsächsischen Nordosten der USA zu stammen, durch und durch ein Geschöpf der verwöhnten Bürger jener Welt – moralisch unbescholten, selbstsicher, durchweg herablassend.
Ich wusste nie, was sie eigentlich an mir störte, aber es dauerte nur eine Woche oder zehn Tage, bis sie in einer Klasse mit kaum einem Dutzend Jungen und Mädchen zu meiner erklärten Feindin geworden war. Gegenüber dem hierarchischen und starren englischen System war die amerikanische Schule in jeder Hinsicht informell. In den Klassenzimmern standen Tische und Stühle verstreut herum, während wir in der GPS an militärisch aufgereihten, eng stehenden kleinen Pulten und Bänken gesessen hatten. Außer in den Fächern Französisch, Arabisch und Kunst bestand das Lehrpersonal aus Amerikanerinnen (stark geschminkt und in grellen farbigen Kleidern, ganz anders als die ungeschminkten Gesichter und schlichten Röcke, wie sie Mrs. Wilson und ihr Gefolge vorgezogen hatten) sowie einem Mann, Mark Wannick, der auch als Softball- und Basketball-Trainer fungierte. Einmal trug er eine hellgelbe Basketballuniform von der Ohio State University, um an einem sengend heißen Kairoer Nachmittag mit uns zu spielen. Um uns herum braune Felder mit braunen Bauern in Galabiyab, die wie schon seit Jahrtausenden ihre Esel und Wasserbüffel im Kreis führten. Vor diesem Hintergrund bot Mr. Wannick mit seiner überwältigend bunten Aufmachung, seinen behaarten Armen und Beinen, dem militärischen Kurzhaarschnitt, schwarzen Turnschuhen und der zerbrechlichen randlosen Brille einen geradezu surrealen Anblick. Ich erlebte die amerikanische Erziehung als ein System, das attraktiv, bequem und auf das Niveau heranwachsender Kinder zugeschnitten war. Die Bücher an der GPS waren allesamt kleingedruckt, ohne Bilder und gnadenlos trocken im Tonfall. Geschichte und Literatur wurden zum Beispiel so nüchtern und sachlich wie möglich dargeboten, wodurch es einiger Anstrengung bedurfte, jede einzelne Seite auch nur
durchzulesen. Beim Rechnen wurden keinerlei Zugeständnisse an mögliche Erfahrungsbereiche gemacht: Man legte uns Zahlenkolonnen zum Addieren, Subtrahieren, Dividieren und Multiplizieren vor, dazu zahlreiche Formeln und Tabellen (Multiplikation, Maße und Gewichte, Entfernungen, Meter, Yards und Zoll), die wir auswendig lernen mussten. Alles zusammen hieß »Rechnen«, eine Aufgabe, deren Schwierigkeit ihrer programmatischen Langeweile entsprach. An der CSAC erhielten wir alle »Arbeitsbücher«, die sich deutlich von den »Schreibheften« der GPS abhoben, linierten Übungsheften so anonym wie ein Busfahrschein. Arbeitsbücher dagegen enthielten reizvolle Fragen im Plauderton, Illustrationen, Bilder, die gewürdigt, genossen und gegebenenfalls ausgemalt werden konnten. In eines unserer GPS-Schulbücher etwas hineinzuschreiben, wäre ein schwerer Verstoß gewesen. Amerikanische Arbeitsbücher waren darauf angelegt, dass man hineinschrieb. Noch attraktiver waren die Lehrbücher, die Miss Clark jeden Morgen austeilte. In jedem Fach schien hier eine Familie im Mittelpunkt zu stehen, mit der man erst einmal bekannt gemacht wurde. Da gab es immer eine Schwester, eine Mama und einen Papa, dazu die verschiedensten Familien- und Haushaltsangehörigen, darunter auch eine dicke dunkelhäutige Haushälterin, deren Gesichtsausdruck – stets höchst übertrieben – Trauer oder Entzücken verriet. Mit Hilfe dieser Familie lernte man addieren und subtrahieren, Staatsbürgerkunde oder amerikanische Geschichte (Literatur wurde gesondert behandelt). Dahinter schien der Gedanke zu stehen, Lernen solle ein schmerzloser Prozess sein, gleichbedeutend mit einem Tag auf einer Farm oder in einer Vorstadt von St. Louis oder Los Angeles. Die Hinweise auf Drugstores, Eisenwarenläden oder billige Warenhäuser verwirrten mich völlig, bedurften aber für meine
Klassenkameraden keiner Erläuterung, da sie alle schon an Orten wie St. Louis oder Los Angeles gelebt hatten. Nichts davon hatte jedoch mit meiner Erfahrungswelt zu tun, in der sowohl Erfrischungshallen als auch Eisbars fehlten, die beiden Dinge, die mich am meisten beschäftigten. Das alles sollte mir »Spaß« machen, und einen Monat lang tat es das auch. Aber ich wurde niemals von Miss Clark und den anderen Kindern in Ruhe gelassen, mit denen ich bald ziemlich zerstritten war. Nach dem ersten angenehmen Monat merkte ich, dass ich mich nach der GPS zurücksehnte, ihren klaren Autoritätsverhältnissen, ihren schablonenhaften Lektionen und den sehr strikten Verhaltensregeln. Bei den Lehrern an der CSAC gab es niemals körperliche Züchtigung, und sie drohten auch nicht damit, doch dafür gingen die männlichen Schüler extrem grob miteinander um, da die Jungen recht groß und jederzeit bereit waren, sich in Stärke und Entschlossenheit zu messen. Gegen Weihnachten wurde jeder Tag an der Schule zu einer Qual, wenn ich mir im Bus meinen Weg durch eine Gasse auf mich eindreschender Arme und Fäuste bahnen musste, denen im Klassenzimmer die eisigen Zurechtweisungen und heftigen Ermahnungen Miss Clarks folgten. Der demütigendste Augenblick in meinem ersten Jahr kam am Tag nach einem Ausflug der Klasse zu einer großen Zuckerraffinerie gegenüber von Maadi am anderen Ufer des Nils. Allein der Gedanke eines solchen Bildungsausflugs war mir völlig neu. Ich gebe zu, dass ich mich bereits nach den ersten zwanzig Minuten schlichtweg so langweilte, dass ich der Exkursion nicht mehr viel Aufmerksamkeit widmete. Ich hatte jedoch keine Wahl, als bei der Gruppe zu bleiben, die von den Siedebottichen zum Lagerhaus und weiter zum Schneideraum dirigiert wurde. Uns begleitete ein Führer, der seine eigenen Ausführungen sehr genoss – halbstündige
Erläuterungen, wo eine Minute ausgereicht hätte, ein Übermaß an technischen Spezialausdrücken, außergewöhnliche Selbstzufriedenheit –, was die Angelegenheit noch langweiliger machte. Es handelte sich um einen Herrn mittleren Alters, der einen Tarbusch trug und uns von einem der Ministerien ausdrücklich für diesen Ausflug zugewiesen worden war. Miss Clark war natürlich auch dabei. Ich achtete kaum auf sie – was sich als schwerer Fehler erweisen sollte. Als sie in mein Blickfeld geriet, sah ich sie nicken (war das Zustimmung oder Verständnis oder Zufriedenheit über diesen Sturzbach an Informationen über das Zuckerrohr, seine Geschichte und Struktur, die Chemie des Zuckers und so fort?), aber ich gab nicht weiter auf sie Acht. Der ganze Ausflug war so völlig anders als das, was englische Kolonialschulen anboten, dass ich noch nicht einmal begonnen hatte, mir Gedanken über die Unterschiede zwischen den autoritären Briten und den wohlwollenden Amerikanern zu machen, denen so viel mehr daran lag, den Ägyptern eine demokratische Chance zur Selbstverwirklichung zu bieten. Am nächsten Tag kamen wir wie üblich im Klassenzimmer zusammen. Miss Clark saß bereits hinter ihrem Pult und wirkte so beherrscht und undurchdringlich wie stets. »Wir wollen ein bisschen über den Ausflug von gestern reden«, begann sie und wandte sich dann sofort an B. J. ein Mädchen mit kurzen Haaren, dessen knapper Ton und sachliche Art sie schnell zur Klassenbesten gemacht hatten. B. J. lieferte eine detaillierte Darstellung der Ereignisse des Tages. »Willst du auch etwas sagen, Ernst?« fragte Miss Clark daraufhin Ernst Brandt, den größten und stärksten Jungen der Klasse, der sich allerdings nicht durch besondere Sprachgewandtheit hervortat. B. J.s umfassender Aufzählung war kaum noch etwas hinzuzufügen, und Ernst bemühte sich auch gar nicht erst darum. »Das war okay«, sagte er nur. Ich saß da und versank allmählich in
irgendeinen müßigen Tagtraum, und erneut schenkte ich Miss Clarks Raubtierinstinkten keine ausreichende Beachtung. »Ihr habt euch gestern alle sehr gut benommen: ich bin stolz auf euch«, sagte sie, und ich dachte, sie würde sich nun unseren englischen Hausaufgaben zuwenden. »Alle außer einem, genauer gesagt. Nur einer hat Ibrahim Effendis sehr hilfreichem und faszinierendem Vortrag keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Nur einer ist immer hinter der Gruppe zurückgeblieben. Nur einer hat die ganze Zeit gezappelt. Nur einer hat sich niemals die Maschinen und Bottiche angeschaut. Nur einer hat auf seinen Nägeln herumgekaut. Nur einer war die Schande der gesamten Klasse.« Sie schwieg einen Moment lang, während ich mich noch fragte, wer dieser eine gewesen sein mochte. »Du, Edward. Du hast dich abscheulich benommen. Ich kenne keinen, der so unfähig gewesen wäre, sich zu konzentrieren, so rücksichtslos, so sorglos und schlampig. Was du gestern getan hast, hat mich sehr zornig gemacht. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, und es gab nichts, was sich vielleicht zu deiner Entlastung anführen ließe. Ich werde mit Miss Willis [der Direktorin] über dich sprechen und sie bitten, deine Eltern zu einem Gespräch einzuladen.« Sie schwieg und betrachtete mich mit unverhohlenem Abscheu. »Wärst du einer der guten Schüler dieser Klasse«, begann sie von neuem, »dann hätte ich dir dein Verhalten vielleicht verziehen. Wenn du beispielsweise jemand wie B. J. wärst. Aber da du zweifellos der schlechteste Schüler der Klasse bist, ist das, was du gestern getan hast, einfach unverzeihlich.« Ihre eindeutigen Betonungen wurden leidenschaftslos mitgeliefert. Miss Clark hatte mich bewusst, zielgerichtet, geradezu penibel genau definiert, mich im Innersten ertappt, hatte mich gesehen, wie ich mich selbst nicht sehen konnte oder wollte, und sie hatte ihre Befunde nun öffentlich verkündet. Ich war
wie an meinen Stuhl genagelt, wurde knallrot und versuchte gleichzeitig traurig und stark auszusehen. Ich hasste die Klasse, die mittlerweile sehr konzentriert war und von der mich jeder Einzelne, das spürte ich, mit berechtigter Missbilligung und Neugier anstarrte. »Wer ist der Kerl?«, mochten sie sich fragen. »Ein kleiner arabischer Junge, und was tut er in einer Schule für amerikanische Kinder? Wo kommt der überhaupt her?« Inzwischen legte Miss Clark ihre Bücher und Stifte auf dem Pult zurecht. Dann kehrten wir zu unserer Übungsstunde zurück, als sei überhaupt nichts passiert. Obwohl ich zehn Minuten später verstohlen zu ihr hinschaute, ob sie vielleicht einen mitleidigen Blick für mich übrig hätte, war sie so unerschütterlich und unversöhnlich wie immer. Miss Clarks Predigt über mich hatte deshalb so viel Gewicht, weil sie darin all die negativen und kritischen Kommentare vereinte, die mich zu Hause und an der GPS nur locker umgeben hatten. Sie steckte alles in eine einzige unangenehme Schublade, in die ich genau passte. Ich hatte den Eindruck, als könne mich nichts in meiner Geschichte gegen Miss Clarks Urteil schützen oder mir die Kraft verleihen, mich meiner öffentlichen Schande zu widersetzen. Mehr noch als eine derartige passive Bloßstellung habe ich es immer gehasst und gefürchtet, plötzlich mit schlechten Nachrichten konfrontiert zu werden, denn das ließ mir keine Chance zur Reaktion, keine Möglichkeit, »Edward« mit all seinen bekannten Schwächen und Sünden von dem inneren Kern zu trennen, den ich gemeinhin als mein wirkliches oder besseres Ich begreife (das Undefiniert, frei, neugierig, schnell, jung, empfindsam, sogar liebenswert war). Das war mir jetzt verwehrt, da ich es nun mit einem einzigen, unweigerlich entwerteten und zum Untergang verurteilten Ich zu tun hatte: niemals ganz in Ordnung und im Grunde völlig verkehrt und fehl am Platze.
Allmählich verabscheute ich diese Identität, aber noch verfügte ich über keine Alternative zu ihr. Ich war so anrüchig geworden, dass ich natürlich Miss Willis aufsuchen musste, eine weißhaarige unaufdringliche Frau fortgeschrittenen Alters aus dem mittleren Westen, die angesichts meiner Missetat eher verwirrt als wütend zu sein schien. Miss Clark war bei dieser Unterredung nicht zugegen, aber es gab überhaupt keinen Vergleich zwischen Miss Clarks ontologischer Verdammung und Miss Willis’ weitschweifig verschwommener Vorlesung über die Tugenden guter Staatsbürger – eine undenkbare Formulierung in dem britisch-kolonialen Kontext, den ich soeben verlassen hatte und in dem wir bestenfalls Untertanen gewesen waren, und zwar ebenso gehorsam wie bedingungslos. Auch meine Eltern mussten kommen und bei Miss Clark und Miss Willis vorstellig werden. Erstere hinterließ bei meiner Mutter einen sehr tiefen Eindruck. In den eindringlichen Akzentuierungen der Frau vernahm sie einen ausgefeilteren und präziseren Bericht von den Schwächen ihres Sohnes als je zuvor. Was genau über mich gesagt wurde, habe ich nie erfahren, aber auf Jahre hinaus klang es in den Ermahnungen meiner Mutter wider. »Denk daran, was Miss Clark gesagt hat«, lautete der wiederkehrende Spruch, der sowohl meinem Mangel an Konzentration als auch meiner chronischen Unfähigkeit galt, das Richtige zu tun. Miss Clarks schlechte Meinung von mir lebte somit letztlich in meiner Mutter fort und erhielt durch sie zusätzliches Gewicht. Es kam mir niemals in den Sinn, meine Mutter zu fragen, warum sie sich so ohne jede Skepsis mit jemandem verbündete, der sich allem Anschein nach nicht von pädagogischen, sondern von sadistischen, instinktbetonten Impulsen leiten ließ. Ich sollte an der CSAC eigentlich unter meinesgleichen sein, musste aber feststellen, dass ich dort noch mehr die Rolle des Fremden einnahm als an der GPS. Es herrschte ein jovialer
Ton – »Guten Morgen« und »Hi« waren unter uns üblich, wie es an der GPS nie der Fall gewesen war –, und es wurde ziemlich viel Wert darauf gelegt, wer neben wem im Bus, im Klassenzimmer und beim Essen saß. Dennoch gab es eine verborgene, aber allgemein anerkannte Hierarchie unter den Jungen, die sich nicht auf das Alter oder die Stellung innerhalb der Klasse gründete, sondern auf Stärke, Entschlossenheit und sportliche Leistungen. Der Anführer an der Schule war Stan Henry, ein Schüler der neunten Klasse, dessen Schwester Paddy ein Jahr unter mir war. Sie waren die Kinder eines leitenden Angestellten der Standard Oil. Stan war über einen Meter achtzig groß, strahlte Selbstvertrauen und Intelligenz aus und war ein hervorragender Schwimmer und AllroundSportler. Er hatte ein wieherndes Lachen, hinter dem sich allerdings ein Scharfsinn verbarg, mit dem er unsere häufigen Pausen im Garten beherrschte. Der Größe nach war Ernst Brandt sein einziger Rivale. Einmal wurde ich Zeuge, wie Stan ihn demütigte, seine Hände packte und dann so lange seine Finger quetschte, bis er ihn zu Boden gezwungen hatte. Ernst stand auf und blieb regungslos stehen, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Da Stan auch ein »Anführer« war (das Wort lernte ich an der CSAC), dauerte es nicht lange, bis wir Übrigen seine Nähe suchten, obwohl die Rangfolge heftig umstritten blieb – Stans Vorherrschaft blieb unangefochten, während wir anderen ständig wechselten. Vor allem mit zwei Jungen befand ich mich in Dauerfehde: Alex Miller (seine Eltern waren an der Botschaft tätig, wenn ich mich recht erinnere) und Claude Brancart, einem Amerikaner belgischer Abstammung, dessen Vater die Firma Caltex in Ägypten vertrat. Beide hatten attraktive ältere Schwestern, die brünette Amaryllis und die blonde Monique, die mir eher wie reife Frauen erschienen denn wie Sechzehnbis Siebzehnjährige. Amaryllis saß manchmal im Bus neben
mir, war immer liebenswürdig, wenn nicht sogar freundlich, und verblüffte mich bei einem Schulausflug ins MaadiSchwimmbad mit einem zweiteiligen Badeanzug. Zum ersten Mal in meinem abgeschotteten Leben sah ich einen weiblichen Körper so entblößt, aber paradoxerweise schien das die Distanz zwischen uns zu vergrößern. Monique hatte eine vage, verträumte Art und bewegte sich leichtfüßig durch die Schule. Beide Mädchen gaben sich kaum mit ihren jüngeren Brüdern ab, die keineswegs meine Freunde waren, sondern vielmehr Gegner in einer endlosen Folge von Rangeleien und Prahlereien, deren eigentlicher Anlass im Dunkeln und unausgesprochen blieb. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich einmal war, als Alex und ich uns im Bus prügelten: Er stand auf der anderen Seite eines Sitzes und setzte seine Schläge geduldig, methodisch, fast langsam gegen meinen Kopf und Magen, während ich, der stets ungestüme und relativ unkontrollierte Kämpfer, ihn mit den Geraden und Schwingern traktierte, die ich von meinem Boxlehrer Sayed beim CVJM gelernt hatte, die ihr Ziel aber zumeist verfehlten. Es ist wirklich seltsam, dass eine ebenso sinnlose wie energiegeladene Szene so lange in meiner Erinnerung haften geblieben ist – wie eine Serie von Muybridge-Fotos: Worum ging es damals überhaupt, frage ich mich immer wieder, und warum ließ ich mich immer wieder auf solch intensive Feindschaften ein? Im Unterschied zur GPS, wo eine Schlägerei niemals länger als zehn Sekunden dauerte, bevor mehrere Lehrer einschritten, vertrat die CSAC eine radikal andere Philosophie: Sie bot einen sanktionierten Raum für Prügeleien und andere jungenhafte Verhaltensweisen, in denen sich überschüssige Energie verausgaben konnte. Ich kann mich weder an einen friedlichen Augenblick während der Mittagspausen erinnern noch an einen wohltuenden Moment der Kameradschaft.
Claude Brancart und ich waren Rivalen – doch worum es dabei ging, weiß ich nicht mehr. Wir waren ständig bereit, uns zu zanken oder ein Wettspucken, -werfen oder -prahlen zu veranstalten, wobei wir unsere Väter, im wirklichen Leben für solche Angelegenheiten denkbar ungeeignet, in imaginären Tennis-, Ring- oder Ruderwettbewerben aufeinander hetzten. Als Claude und ich einmal einen Höhepunkt unserer Feindschaft erreicht hatten, verlangte das nach einem richtigen Kampf, und wir machten uns auf dem staubigen Feld ans Werk: zerrend, stoßend und schließlich in enger Umarmung vereint fielen wir zu Boden. Es gelang ihm, sich auf mich zu setzen, er mühte sich heftig, mich festzunageln und zum Aufgeben zu zwingen. Einer der Zuschauer, Jean-Pierre Sabet, der in Maadi wohnte und aus mir unerklärlichen Gründen als Nicht-Amerikaner die CSAC besuchte, sagte an diesem Punkt ganz sachlich über mich: »Er versucht’s noch. Seht ihr nicht, dass er noch kämpft? Es ist noch nicht vorbei.« Er hatte Recht: In einem gewissen Sinne fühlte ich mich besiegt, denn »Edward« hatte aufgegeben und wurde nun von jemandem beherrscht, dem er zu Recht unterlag. Eigenartigerweise stieg jedoch ein anderes Ich in mir auf, gerade als »Edward« aufgegeben hatte und zu einem Gefangenen von Claude Brancart geworden war. Also kam dieses neue Ich aus irgendeiner Region in mir, von der ich zwar wusste, dass es sie gab, zu der ich aber nur selten Zugang hatte. Statt kraftlos und entmutigt unter Brancart liegen zu bleiben, begann mein Körper sich gegen ihn aufzulehnen, ich befreite zunächst meine Arme, dann schlug ich auf seine Brust und seinen Kopf ein, bis er sich verteidigen und seinen Griff lösen musste und schließlich zur Seite rollte, während ich mich aufrappelte und weiter auf ihn eindrosch. Schon nach kurzer Zeit war Mr. Wannick zur Stelle, zerrte uns auseinander und
schickte uns mit einem abschätzigen »Was ist denn mit euch beiden los?« zurück in das Schulgebäude. Ein Jahr zuvor hatte ich eine ähnliche Erfahrung von Niederlage und Wiedererstarkung erlebt, und erst heute begreife ich beide Erlebnisse als Beispiele für den gleichen unvorhersehbaren Willen, mich über Regeln und scheinbare Schlusspunkte hinwegzusetzen, die »Edward« bereits akzeptiert hatte. An einem Wochenende hatte ich im Schwimmbad von Maadi Guy Mosseri getroffen, einen kleinen schlanken Jungen, der in Maadi lebte, aber gleichfalls die GPS besuchte. Wir begannen Fangen zu spielen: Ich musste ins Wasser springen und schwimmen, aus dem Becken klettern, wieder hineinspringen und weiterschwimmen, und er sollte mich einholen. Ich begann in überschwänglichem Tempo und bahnte mir meinen Weg durch all die Schwimmer, Guy hinter mir her. Bald jedoch begannen meine Kräfte zu schwinden, während Mosseri zu meiner Verblüffung einfach weiter hinter mir her schwamm, unermüdlich, ausdruckslos. Die Jagd wurde noch grimmiger und gewann eine völlig überzogene Bedeutung, weil ich eine vernichtende Niederlage erahnte. Während er näher kam, wurde ich langsamer – ein Anzeichen dafür, dass »Edward« aufgegeben hatte, bis ich entdeckte, dass irgendeine neue Kraft meine Beine und Arme antrieb, so dass ich Mosseri immer weiter hinter mir ließ, der über die plötzliche Veränderung im Verhältnis zwischen Jäger und Gejagtem ganz verblüfft war. Nach ein paar Minuten gab er einfach auf. Solche Episoden waren selten. Die CSAC zwang mich, »Edward« stärker denn je als mangelhaftes, verängstigtes, unsicheres Gebilde wahrzunehmen. Meine alles beherrschende Empfindung war die einer lästigen Identität als Amerikaner, in dem eine andere, arabische Identität lauerte, aus der ich keine Stärke bezog, sondern nur Verwirrung und Unbehagen. In
meinen Augen besaßen Stan Henry und Alex Miller ein beneidenswertes felsenfestes Selbstverständnis, das mit der Realität übereinstimmte. Jean-Pierre Sabet, Malak Abu-el-Ezz, sogar Albert Coronel – der, obwohl er offensichtlich ägyptisch und jüdisch war, dennoch einen spanischen Pass besaß –, alle konnten sie selbst sein, hatten nichts zu verbergen und mussten keine amerikanische Rolle spielen. Als während meines zweiten Jahres dort ein schon älterer neuer Mitschüler auftauchte, Bob Simha, glaubte ich einen Gefährten gefunden zu haben, weil meine Eltern mir erklärten, der Name Simha sei arabisch und jüdisch. Ich versuchte, eine verborgene Gemeinsamkeit zwischen uns zu entdecken, aber meine Fragen nach möglichen Verwandten in Aleppo oder Bagdad schienen ihn zu verwirren. »Nee«, tat er ungeduldig meine Frage ab, »ich komme aus New Rochelle.« Von ihm lernte ich den Ausdruck »your father’s mustache«. Jeden Tag in der Schule verspürte ich die Kluft zwischen meinem Leben als »Edward«, einer falschen, gar ideologischen Identität, und meinem Leben daheim, wo der Wohlstand meines Vaters als der eines amerikanischen Geschäftsmanns nach dem Krieg weiter wuchs. Nach 1946 begannen er und meine Mutter, mindestens zweimal im Jahr nach Europa zu reisen, später auch nach Asien und Amerika, und weil ich der einzige Sohn war und mein Vater niemals seine weit gespannten Geschäftsinteressen vergaß, wurde von mir erwartet, dass ich mich für seine Unternehmen interessierte. Eine lange Reihe von Firmen, für die er als Generalvertreter (»Agent« hieß das damals) tätig war, hielten Einzug in unserem Leben, unserem Haus und den täglichen Gesprächen. Fast alle ihre Produkte fanden ihren Weg ins Apartment 20 der Sharia Aziz Osman Nr. 1, fünfter Stock: SheafferFüllfederhalter und Scripp-Tinte, Art-Metal-Stahlmöbel, Sebel-Stühle und -Tische, Chubb-Safes, Royal-
Schreibmaschinen, Monroe-Rechenmaschinen, rostfreie Scheren und Messer aus Solingen, Vervielfältigungsmaschinen von Ellams und A. B. Dick, Maruzen-Büromaterial, LettsKalender, 3M-Klebeband und Farben, DictaphoneAufzeichnungsgeräte, dazu englische Frankiermaschinen, eine schwedische Addiermaschine, eine Chicago-AutomaticSchreibmaschine und die neuesten Erzeugnisse der WeberCostello-Globenfabrik. Nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Vertreter lernten wir kennen, insbesondere Alex Kaldor, einen Ungarn (oder Rumänen: seine Herkunft blieb im Dunkeln und war Gegenstand umfangreicher Spekulationen) mit starkem Akzent. Er war ein Junggeselle etwa aus der Generation meines Vaters, ein Reisender für Royal-Schreibmaschinen, der auf der ganzen Welt erster Klasse lebte. Er tauchte mindestens zwei Mal jährlich in Kairo auf, kam gewöhnlich zu einem Drink vorbei und führte meine Eltern und – ungefähr von meinem vierzehnten Lebensjahr an – auch mich zum Essen aus. Kaldor war der erste hartgesottene Zyniker und Spesenritter, dem ich begegnete, aber ich mochte seine Art, so zu tun, als habe er schon alles erlebt (außer vielleicht der Ehe) und lasse sich von nichts mehr beeindrucken, nicht einmal von meinem Vater, den er mit gönnerhaftem Vergnügen behandelte. Er war sehr dick und offenbar süchtig nach MelbaToast. Ich fand ihn wohl deshalb faszinierend, weil er wie Bela Lugosi klang, dessen Filme ich zwar nicht sehen durfte (»für Kinder ungeeignet«), aber bruchstückhaft aus den Vorankündigungen vor den Kinderfilmen kennen gelernt hatte. Mein Vater begann nach dem Krieg regelmäßig zu den verschiedenen Büros und Fabriken seiner Auftraggeber, Lieferanten und Partner zu reisen. Er bemühte sich immer erfolgreich um Generalvertretungen, so dass er seinerseits diese Produkte an andere Händler und Kunden
weitervertreiben konnte. Als ich Ägypten verließ, war sein Geschäft das mit Abstand größte für Büromaterial im Nahen Osten. Auch ich entwickelte das gleiche heftige Konkurrenzgefühl, das er gegenüber rivalisierenden Produkten an den Tag legte, die wir wie persönliche Feinde behandelten: Olivetti, Roneo, Parker, Gestetner, Adler und andere, deren Minderwertigkeit gegenüber »unseren Produktlinien«, wie mein Vater das nannte, wir mit einiger Leidenschaft diskutierten. Ebenso vertraut waren uns die Verkaufs- und Abteilungsleiter im »Laden«, die, wenn sie auch nicht eigentlich zur Familie gehörten, jedenfalls mehr waren als nur Angestellte. Die meisten blieben im Nachhinein gesehen bemerkenswert lange. Nur Mr. Panikian, der Buchhalter, dessen Frau vorstehende Zähne hatte und bei ihren jährlichen Besuchen in unserem Haus ihr musikalisches Können am Klavier vorführte, wanderte 1946 mit den beiden Söhnen nach Australien aus. Laut seinem Nachfolger in Vaters Büro fehlte danach ein größerer Betrag in der Firmenkasse. Die übrigen Mitarbeiter blieben Jahr um Jahr, eine eigenartige Ansammlung levantinischer Minderheiten, ägyptischer Moslems und Kopten, nach 1948 auch einer wachsenden Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die Tante Nabiha meinen Vater einzustellen drängte, was er auch ohne Zögern tat. Mir wurde erst später klar, dass all das, was mein Vater mittels rationaler Organisation und Prämienanreizen für jeden Angehörigen seines ständig wachsenden Personals tat, nicht nur für ihn, sondern für den ganzen Nahen Osten einzigartig war: Lampas, ein redegewandter Grieche, der älteste Angestellte meines Vaters, war Prokurist; Peter, ein Armenier, leitete die Abteilung für Kopiergeräte; Hagop und Nicola Slim die für Rechenmaschinen; Leon Krishevsky die Schreibmaschinen; Sobhi, ein Kopte, Büromöbel; Farid Tobgy kümmerte sich um Kalender und Füllfederhalter; Shimy stand
dem Lager vor, Ahmad der Kasse. Jeder von ihnen kommandierte eine ganze Kompanie Gehilfen. In seinem Büro auf der anderen Straßenseite hatte mein Vater eine persönliche Sekretärin und einen arabischen Sekretär, Mohammed Abu cOof, einen kleinen bebrillten Mann mit unglaublicher Geduld und jener Art penibler Genauigkeit, die man mit einem überaus fleißigen, aber unbegabten Studenten verbindet, der niemals seinen Abschluss macht. In meiner Kindheit war die Sekretärin eine aufgeweckte, elegant gekleidete Miss Anna Mandel, die gelegentlich zum Tee kam, aber kurz nach der Schlacht von el-Alamein plötzlich verschwand. Sie hatte 1932 für meinen Vater zu arbeiten begonnen, ein Jahr vor seiner Heirat, und ich erinnere mich, dass er in meiner frühesten Jugend im Gespräch immer wieder »Miss Mandel« erwähnte. Später erfuhr ich, dass sie den Verlust ihres Arbeitsplatzes meiner Mutter verdankte, die, wie sie mir viele Jahre später ganz gelassen mitteilte, glaubte, Anna Mandel habe »deinen Vater heiraten wollen«. Hatten sie eine Affäre? fragte ich. »Das hätte sie gern gehabt. Nein, natürlich nicht«, war die Antwort. Ganz so sicher war ich mir da nie. Die meisten Frauen (es gab auch einige Männer), die in der Folge die Stelle mit Billigung oder stillschweigender Duldung meiner Mutter innehatten, waren entweder äußerst jung und unbeholfen oder übergewichtig und mittleren Alters, schwerfällig und langsam – also ganz anders als Miss Mandel, an die ich mich dunkel als eine schlanke, schöne Frau erinnere. Zwei weitere Abteilungen rundeten die kleine Armee des Personals ab: zum einen die Buchhaltung, die Asaad Kawkabani unterstand, den mein Vater von einer englischen Buchhaltungsfirma übernommen hatte und schließlich zu seinem Stellvertreter machte. Das hinderte meinen Vater allerdings nicht daran, Asaad wie einen Schwachkopf zu behandeln, wenn diesem etwas nicht einfiel oder wenn er
Rechnungen verlegte oder sich verrechnete. Asaad hatte seinerseits Mitarbeiter, die sich allesamt aufs Sorgfältigste an die Buchhaltungsmethoden hielten, die »Mr. Said«, wie jedermann meinen Vater nannte, festgelegt hatte. Schließlich gab es noch die Reparaturabteilung, die von einem Mann namens Hratch geleitet wurde, ebenso alt wie Lampas, ein extrem schweigsamer Armenier, den ich niemals ohne einen Lederschurz gesehen habe. Mein Vater hielt Hratch für ein Genie, das alles reparieren konnte, einschließlich unseres Spielzeugs und der Küchengeräte und -möbel meiner Mutter. In Reparatur- und später in Serviceangelegenheiten war mein Vater ebenfalls Vorreiter, weil er die Idee eines Wartungsvertrags für jedes verkaufte Gerät entwickelte. Auf diese Weise konnte er seine Konkurrenten unterbieten und dann die Differenz mit einigem Gewinn wettmachen, indem er die Kunden überredete, den Vertrag über mehrere Jahre abzuschließen. Hratch hatte über dreißig Mechaniker unter sich, die mit Motor- oder Fahrrädern ausgerüstet waren und in der ganzen Stadt praktisch alles betreuten, was die Standard Stationery Company – SSCo, wie wir sie nannten – verkauft hatte. Das Unternehmen beschäftigte außerdem eine ganze Heerschar »Diener«, wie mein Vater sie nannte, auf Arabisch farrashin, die als Boten, Kaffeekocher, Träger und Putzpersonal arbeiteten. Einige von ihnen fuhren ebenfalls auf Dreirädern und später in kleinen Lieferwagen durch Kairo. Über diesen ziemlich großen, ständig expandierenden Hoheitsbereich regierte mein Vater als absoluter Monarch, wie eine Dickenssche Vaterfigur: despotisch, wenn man ihn erzürnte, und im Übrigen wohlwollend. Er wusste mehr als jeder andere über die kleinsten Einzelheiten seines Reiches Bescheid, erinnerte sich an alles, gestattete keine Widerrede (er ließ sich niemals auf eine persönliche Diskussion mit
irgendjemandem auf seinem Gelände ein, wie er das nannte, nicht einmal mit Angehörigen seiner Familie) und verdiente sich die Achtung, wenn nicht gar Zuneigung seines Personals durch die Virtuosität und schier unfehlbare Kompetenz seines unternehmerischen Geschicks. Eine seiner Leistungen bestand darin, die ägyptische Regierungsbürokratie zu verändern, indem er Schreibmaschinen, Vervielfältiger und Aktenschränke einführte, die die veralteten Methoden mit Kohlepapier, Kopierstiften und Papierstapeln auf Fensterbrettern und Tischen ersetzten. Mit Hilfe meiner Mutter entwickelte er – das Wort »erfand« wäre ebenfalls durchaus angemessen – die arabische Tastatur für die Firma Royal, deren aristokratische amerikanische Eigentümer, die John Barry Ryans, er recht gut kennen lernte. Er hatte zwei hervorragende, unfehlbare Eigenschaften, die meiner Erfahrung nach niemand sonst besaß: die Fähigkeit, extrem komplizierte Rechenoperationen blitzschnell im Kopf durchzuführen, und ein perfektes Gedächtnis für das Kaufdatum und den Preis eines jeden Artikels (deren es viele Tausende gab) in seinem Geschäft. Es war einschüchternd, ihn hinter seinem Schreibtisch zu beobachten, umgeben von Asaad, zahlreichen Sekretären und Abteilungsleitern, die sämtlich Akten und Papiere durchforsteten, während er die gesamte Kauf- und Marketinggeschichte etwa eines bestimmten Aktenordners, einer Serie von Rechenmaschinen oder jedes Modells von Sheaffer-Federhaltern lückenlos aus dem Gedächtnis abrief. Das machte ihn nicht unbedingt zu einem geduldigen oder auch nur rücksichtsvollen Vorgesetzten, aber ich glaube, er war immer korrekt, fair und auch großzügig: So führte er für jeden Mitarbeiter Zulagen zu Weihnachten, Eid al-Adha oder Rosh Hashanah ein sowie Gesundheits- und Ruhestandspläne. Damals konnte mich all das nicht besonders beeindrucken. Ich
war zu sehr damit beschäftigt, mich verwalten zu lassen oder verfolgt zu fühlen, als dass ich seinen außergewöhnlichen Geschäftssinn richtig hätte würdigen können, den er aus eigener Kraft in einer provinziellen Hauptstadt der Dritten Welt entwickelt hatte, die noch immer im Sumpf kolonialer Wirtschaft, feudalen Landbesitzes und schlecht organisierten (wenn auch manchmal erfolgreichen) Groß- wie auch Kleinhandels steckte. Erst wenn ich heute auf seine Leistungen schaue, wird mir bewusst, wie erstaunlich und leider auch wie wenig gewürdigt und anerkannt sie waren. Er war im Grunde ein moderner Kapitalist mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zum systematischen und institutionellen Denken, der niemals Risiken oder Kosten scheute, wenn dafür langfristig Profit winkte. Er wusste Werbung und Öffentlichkeitsarbeit hervorragend einzusetzen, und vor allem organisierte und formte er gleichsam die Geschäftsinteressen seiner Kunden, denen er zunächst eine Beschreibung ihrer Bedürfnisse und Ziele lieferte und dann die notwendigen Produkte und Dienstleistungen, um diese Ziele zu erreichen. Eine seiner Neuerungen war ein jährlicher Katalog, der die gesamte Produktpalette enthielt, etwas, das in Ägypten buchstäblich noch niemand in seiner Branche vor ihm zu bieten hatte. Er erzählte mir einmal, sein Vetter und Partner in Jerusalem, Boulos, habe ihm wegen der damit verbundenen Kosten Vorhaltungen gemacht. Als sich das Geschäft ausweitete, gab er diese Praxis jedoch freiwillig wieder auf und druckte stattdessen für jede seiner größeren Produktlinien Listen »zufriedener Kunden«. Mit vergleichsweise geringen Kosten brachte er so seine Kunden dazu, mit ihm und für ihn zu arbeiten. Auf diese Weise wuchs und wuchs sein Geschäft, trotz häufiger schwerer Rückschläge. Seiner Familie ließ er in der ihm eigenen besonderen Art alle Vorteile des gewachsenen Reichtums und Einflusses zugute kommen.
Bevor ich 1951 in die Vereinigten Staaten abreiste, hatten meine Eltern dennoch keinen wirklichen Zugang zur höheren Kairoer Gesellschaft gefunden. Trotz ihres Reichtums blieb der Kreis ihrer Bekannten und Freunde im Großen und Ganzen auf verschiedene Einzelhändler und ein paar Familienangehörige beschränkt. Dazu zählten etwa Isaac Goldenberg, der Familienjuwelier, und Osta Ibrahim, der liebenswürdige Zimmermann mit seinem Fahrradlenker-Schnurrbart, dessen Werkstätten Möbel für das Haus und zunehmend auch für das Geschäft meines Vaters herstellten. Da gab es außerdem Mahmud, Osta Ibrahims Schwiegersohn (sein anderer Schwiegersohn war Mohammed Abu cOof); oder den jüngsten Bruder meiner Mutter, Emile, der inzwischen für meinen Vater arbeitete; Mourad Asfour, einen aufstrebenden jungen Angestellten des CVJM, der später meinem Vater Schulden in Höhe von Tausenden von Pfund aufhalste, als sein Sportgeschäft in Konkurs geriet und die von meinem Vater verbürgten Darlehen fällig wurden; und schließlich Naguib Kelada, einen genialen Kopten, der Generalsekretär des CVJM und ein wichtiger Partner meines Vaters war. Keladas Tochter Isis besaß eine phänomenale Altstimme und sang an der American Mission Church. Dieser Kreis von Leuten wurde vervollständigt durch einige Verwandte wie Tante Melia, Onkel Al und seine seltsame, kichernde Frau Emily, ihre beiden Söhne und ihre Tochter, dazu die Verwandten aus Palästina bei einem ihrer sporadischen Besuche in Kairo, meistens zum Einkaufen oder aus geschäftlichen Gründen. Diese Freunde und Bekannten kamen zu bestimmten Mahlzeiten und Wochentagen zum Essen (beispielsweise besuchte uns der Zimmermann jeden Samstag zum Frühstück), und so lernte ich sie am besten anhand ihrer Essgewohnheiten kennen – Osta Ibrahim zum Beispiel aß kein Weißbrot, liebte Knoblauch, zog ful (Fava-Bohnen) dem Fleisch vor. Ich
beobachtete sehr genau die winzigsten nebensächlichen Details und achtete noch intensiver darauf, als mir in jenem Jahr an der CSAC der Gegensatz zwischen dem amerikanischen und dem lokalen Umfeld zunehmend bewusst wurde. Warum trugen die Amerikaner farbige Socken, Ägypter und Araber aber nicht? Wir hatten keine T-Shirts, »sie« dagegen schon. Miss Clarks leidenschaftslose Abneigung und Missbilligung schüchterten mich auch zu Hause ein. Es gab ewig wiederkehrende Vorwürfe wegen meines Mangels an Konzentration, Eifer, Zielstrebigkeit und Charakterstärke. Ich lernte niemals etwas aus diesen Vorwürfen, da ich mir selbst beigebracht hatte, ihnen zu widerstehen, indem ich sie in Gedanken gleichsam zu hohlen Phrasen reduzierte. Alles, was ich tat, bedurfte einer Genehmigung, so dass ich es kaum genießen konnte. Ausgenommen davon waren von den Eltern abgesegnete Vergnügungen wie das Spiel mit meiner elektrischen Lionel-Eisenbahn, die mein Vater 1946 aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Sie war extrem kompliziert aufzubauen, der Esszimmertisch musste abgeräumt und ein Elektrofachmann zu Rate gezogen werden, weil die Verbindungen zwischen den Wagen nie richtig funktionierten. Ich durfte zwei und später dann drei Radiosendungen pro Woche hören: zwei aus der »Children’s Corner« am Sonntagnachmittag und Mittwochabend, die von entsetzlich sentimentalen »guten« Tantchen und Onkeln moderiert wurden, auf Englisch während des Krieges, auf Ägyptisch danach (alle mit schauerlich imitiertem britischen Akzent und unangenehmen Namen wie Tantchen Lulu und Onkel Fuad), sowie jeden Sonntagnachmittag um Viertel nach eins die BBCSendung »Nights at the Opera«, in der ich zum ersten Mal eine Oper in ganzer Länge hörte. Als Smetanas Verkaufte Braut gesendet wurde, war ich wie verzaubert, versuchte verzweifelt, mir in Gedanken eine tschechische Hochzeitsfeier
vorzustellen, und grübelte, was die völlig unverständlichen Worte, die mich über die Radiowellen erreichten und so glücklich machten, wohl bedeuten mochten. Musik bestand für mich zum einen aus dem verdrießlichen und langweiligen Drill der Klavierübungen, bei denen ich in geistlosen Wiederholungen an Burgmüller, Czerny und Hanon gekettet war, die meine Geläufigkeit nicht wirklich förderten. Zum anderen aus einer enorm reichen und willkürlich organisierten Welt herrlicher Töne und Anblicke, die sich nicht nur aus dem Gehörten zusammensetzte, sondern auch aus ausgeschmückten Versionen der Standfotos und Porträts in Gustav Kobbes Complete Opera Book und Ernest Newmans Opera Nights, beide aus der Bibliothek meiner Eltern, verbunden mit fantasierten Szenen zu den Klängen des Orchesters beim Stimmen vor der Vorstellung, die ich bei Radiosendungen zu schätzen lernte. Die Plattensammlung der Familie hatte keinerlei erkennbares System und enthielt eine eigenartige Mischung aus Jeanette MacDonald und Nelson Eddy, Richard Strauss, Paderewski, Paul Robeson und Bach, dazu Kuriositäten wie Deanna Durbin mit Mozarts Halleluja. Wenn ich mich dann ganz und gar der persönlichen Musikerfahrung hingab, hatte ich ein riesiges Theater vor Augen, mit vielen schwarzen Schlipsen und dekolletierten Frauen. (Mein Vater hatte sich angewöhnt, im Smoking zu den streng geheimen Treffen seiner Freimaurerloge zu gehen, und sobald sie regelmäßig die Abonnementsvorstellungen der Kairoer Opernund Ballettsaison besuchten, trug meine Mutter für gewöhnlich Abendkleider, die ihren stattlichen Busen und ihre weißen Schultern betonten.) All diese sinnlichen Eindrücke nährten meine ziellosen sexuellen Fantasien: die überladenen Inszenierungen ebenso wie die großartigen musikalischen Darbietungen. Sie waren manchmal orchestriert wie ein MGMFilm (schließlich war es die Glanzzeit von Jose Iturbi als
Maestro, eine Rolle, in der er einen riesigen, von einem blinkenden roten Licht gekrönten Taktstock herumschwenkte und damit die wildesten Wirkungen erzielte), manchmal opernhaft, wie es in sexuell anregenden Porträts, die ich bei Kobbe und Newman aufgespürt hatte, nur vage angedeutet war. Vor allem eines dieser Porträts, jenes von Ljuba Welitsch als Salome in einer Art Badeanzug, beschäftigte meine Fantasie und machte die Oper zum Inbegriff einer erotischen Welt, deren unverständliche Sprache, wilde Handlungen, entfesselten Gefühle und betäubende Musik mich ungeheuer erregten. Wagner blieb das große Geheimnis, das mich am stärksten in seinen Bann zog. Eine besonders rätselhafte 78-er Platte mit dem Titel »Hagens Wacht« auf der einen Seite und »Hagens Ruf« auf der anderen führte mich mit etwa zehn Jahren in den Ring ein, den ich dann erst 1958 hörte und sah, als ich zum ersten Mal nach Bayreuth kam. Hagen wurde von einem englischen Sänger gesungen – Albert Coates, soweit ich mich erinnere. Auf eine angemessen überzeugende Art bellte, knurrte und fauchte er Töne, die eine herrlich neblige Welt voller speertragender Schurken, schrecklicher Schwüre und blutrünstiger Taten heraufbeschworen, die so vollkommen anders war als die nüchterne Welt amerikanischer Kinder und des elterlich kontrollierten Lebens daheim. Diese willkürliche, umfassende und buntgemischte Plattensammlung, die niemals das ihr zu Grunde liegende Ordnungsprinzip preisgab und mir niemals systematisch die Geschichte der westlichen Musik mit ihren Schulen, Epochen und sich entwickelnden Genres enthüllte, diese Plattensammlung also war zweifellos meine Rettung. Ohne eine gelegentliche Vorstellung hier und da wäre ich von dem sterilen Drill, den Klavierstücken »für Kinder« und meinen überaus wohlmeinenden Lehrern erstickt worden, denen ich offiziell gehorsam war.
Während meiner Zeit an der CSAC war ich Schüler einer Miss Cheridjian geworden (die an die Stelle meiner ersten Klavierlehrerin getreten war, der gütigen und geduldigen Leila Birbary), deren wöchentliche Besuche zu unseren Klavierstunden (erst Jean, dann Rosy, dann ich) sich zu unangenehmen Auseinandersetzungen über meine Unfähigkeit entwickelten, ihren lauten Instruktionen zu folgen – Zähle ta fa ti fi, forte, piano, staccato. Letztere wurden von lautem Kaffeeschlürfen unterbrochen und davon, dass sie energisch den Kuchen kaute, den ihr Ahmed, unser ironischer Obersufragi, pflichtgemäß kredenzte. Cherry (wie wir sie nannten) gelang es lediglich, mich davon zu überzeugen, dass ich ein Faulenzer und gescheiterter Klavierspieler sei, während ich allein mit meinen Platten und Büchern eine ganze Menge über Opernhandlungen und einige Musiker wie Edwin Fischer, Wilhelm Kempf und Bronislaw Huberman lernte (Letzteren kannte ich von der Aufnahme der Violinkonzerte Beethovens mit George Szell) und im Übrigen meine üppig ausgeschmückten Konzertfantasien genoss. Ende der vierziger Jahre konnte ich endlich die ersten Opernaufführungen besuchen – die saison lyrique italienne, wie das hieß, und zwar in Kairos Opernhaus, das ursprünglich von Khedive Ismail zur Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 erbaut worden war. Das Abonnement meiner Eltern beinhaltete auch das französische Ballet des Champs-Elysees, denkwürdig geleitet von Jean Babilee und Nathalie Phillipart, die bis heute für mich das Vorbild einer betörenden, glanzvollen Art des Tanzens darstellen, eines Genres, in das ich auch die hinreißende Cyd Charisse einordnete, deren Filme ich alle gesehen hatte. Für mich war Tanz eine spektakuläre Art sexueller Erfahrung, die man nur indirekt und verstohlen genießen durfte. Kairo war damals eine internationale Stadt, deren kulturelles Leben, soweit ich das mitbekam, von
Europäern beherrscht war, die mein Vater zum Teil über sein Geschäft kannte. Ich hatte immer das Gefühl, ich sei mehrere Schritte entfernt von dem, was das eigentlich Erregende daran war, wenn ich auch schon sehr dankbar war, soviel wie möglich unter der Rubrik »Kunst« mitzubekommen. Die CSAC, an der ich das ganze Schuljahr 1948/49 blieb, rückte in den Hintergrund und war nicht mehr so schwierig, als ich bis zur neunten Klasse vorgedrungen war, intellektuell weniger anregend und immer stärker abgeschottet, eintönig, grau, leidenschaftslos, langweilig. Die Opernbesuche in den Wintermonaten erweiterten meine Musikkenntnis ernorm – ich lernte viel über Komponisten, Repertoire, Darsteller und Traditionen. Aus diesen Jahren stammt meine reizbare Ungeduld gegenüber den Büchern von Sigmund Spaeth, dem amerikanischen »Melodiedetektiv« mit seinen armseligen »Geschichten hinter der größten Musik der Welt«, aber auch gegenüber Kinderbüchern über die »großen Komponisten«, von denen wir viele besaßen. Nur Wagner blieb unnahbar: Eine Aufführung des Lohengrin auf Italienisch während der saison lyrique, an die ich mich erinnere, verwirrte und enttäuschte mich wegen ihrer unverständlichen Handlung, der buchstäblichen Dunkelheit eines endlosen zweiten Akts und der allgemeinen Atmosphäre von Verzweiflung und Verlorenheit. Der fette neapolitanische Lohengrin erschien mir als das Gegenteil dessen, was ich mir unter Adel und ritterlicher Haltung vorgestellt hatte. Die erste Oper, die ich sah (und seitdem nie wieder), war Giordanos Andre Chenier; damals war ich zwölf. Ich weiß noch, dass ich meinen Vater fragte, ob »sie« die ganze Zeit sängen oder ob es auch Pausen zum Sprechen gebe (wie in den Filmen und auf den Platten mit Nelson Eddy und Jeanette MacDonald, an die ich gewöhnt war). »Die ganze Zeit«, sagte er kurz angebunden, aber diese Antwort kam ein paar Wochen
nach einem ermüdenden Abend im Diana-Kino bei einem Konzert der Sängerin Om Kulthum – es begann erst um halb zehn und endete, ohne eine einzige Pause, weit nach Mitternacht. Sie hatte einen Gesangsstil, den ich in seiner eintönigen Melancholie und verzweifelten Trauer als schrecklich monoton empfand und der mir vorkam wie das endlose Stöhnen und Wimmern eines Menschen mit einem besonders langen Kolikanfall. Nicht nur konnte ich von ihrem Gesang kein Wort verstehen, ich vermochte auch keinerlei Umriss oder Form in dem zu erkennen, was sie, von einem großen Orchester in misstönender Gleichförmigkeit begleitet, hervorbrachte: All das kam mir lediglich unerträglich und langweilig vor. Im Vergleich dazu war Andre Chenier dramatisch, lebendig und besaß eine Handlung, die mich fesselte. Von einer unserer 78er Platten her kannte ich »Nemico della patria«, und so erwartete ich voller Ungeduld diese Arie, während sich das Drama entfaltete, konnte sie aber nicht wiedererkennen. Gino Bechi, regelmäßig Mitglied der gastierenden Operntruppe, deren Sänger aus Rom und Neapels San Carlo stammten, sang den Gerard mit einem Schwung und einer Intensität, die ich später nachzuahmen suchte, indem ich ganz für mich in meinem Zimmer herumsprang und -tanzte. Ich hatte keine Ahnung, warum die Darsteller überhaupt singen sollten, doch von dem Moment an, da ich diesem Mysterium auf der Bühne in Kairo begegnete, war ich davon überwältigt. Meine musikalischen Schlüsselerlebnisse kann ich jedoch fast auf die Minute genau datieren: Sie fanden alle im Stillen statt, weit weg von den lästigen Anforderungen des Klaviers, wie sie meine Mutter und Lehrerinnen wie Cherry stellten. Diese Kluft zwischen dem, was ich in der Musik fühlte und dem, was ich tatsächlich tat, scheint mein Gedächtnis sehr geschärft zu haben. Beispielsweise konnte ich mir eine
ansehnliche Zahl von Kompositionen für Orchester, Soloinstrument und Gesang zunächst einprägen und dann auch vor meinem inneren Ohr wiederholen, ohne viel von der jeweiligen Epoche oder dem Stil zu verstehen. Stets wühlte mich die Einmaligkeit, die unfassbare Kostbarkeit eines musikalischen »Live«-Erlebnisses auf, und deshalb suchte ich immer nach Möglichkeiten, dieses zu bewahren. Als ich mit dreizehn Jahren zum ersten Mal den Barbier von Sevilla sah, war ich von der Aufführung gefesselt und fühlte mich gleichzeitig seltsam unglücklich, denn ich wusste: Das, was ich miterlebte – Rossinis überbordende Fröhlichkeit und Respektlosigkeit, Tito Gobbis Witz und Bühnenbeherrschung, Ettore Bastianinis ironisch-feierliche »La Calunnia«-Arie –, würde sobald nicht wiederkommen, auch wenn ich darauf hoffen konnte, »Nights at the Opera« werde die eine oder andere Arie ausstrahlen, was dann jedoch nicht sobald der Fall war. Aber genau ein Jahr später, um die Weihnachtszeit, ahnte ich – als stets aufmerksamer, um nicht zu sagen schnüffelnder Beobachter des Zimmers meiner Eltern –, dass ich Platten geschenkt bekommen sollte. Gegen vier Uhr am Weihnachtsmorgen schlich ich in unser dunkles Wohnzimmer, tastete mich zu dem unnatürlich grünen künstlichen Baum vor, den meine Mutter vom Dachboden geholt, geschmückt und wie jedes Jahr in seiner Nische aufgestellt hatte, und entdeckte darunter ein Album mit acht Platten aus dem Barbier. Unter den Sängern waren Riccardo Stracciari, Dino Borgioli, Mercedes Capsir und Salvatore Baccaloni. Ich öffnete vorsichtig das Paket und hörte mir sofort alle Platten an, bei geschlossenen Türen, so leise wie nur möglich. Inzwischen dämmerte der Morgen und erhellte allmählich den düsteren Raum. Dass das Bühnenerlebnis, wie es mir in Erinnerung geblieben war, sich nun in einer so intimen und exklusiven Umgebung wiederholte, war das höchste Vergnügen. Doch
halb bewusst fühlte ich mich auch gefangen von dieser ganz besonderen Eigenheit eines Reichs der Stille und einer extremen Subjektivität, die zu bewahren mir nicht gelang. Mehr als jeder andere Komponist prägte Beethoven meine musikalische Selbsterziehung. Als Klavierspieler, so lautete das Urteil, war ich für seine Sonaten nicht reif (ich plagte mich mit Mozart), dennoch unternahm ich insgeheim mehrere Versuche, die »Sonate pathéthique« zu spielen. Dabei entwickelte ich einen Anspruch, vom Blatt zu spielen, der meine Fingerfertigkeit bei weitem überstieg. Vor der Schelte meiner stets wachsamen Mutter, die bemängelte, dass ich nicht die mir zugewiesenen Hanon- und Czerny-Etüden übte, flüchtete ich mich in Schallplatten und entzifferte heimlich Klavierstücke »für Erwachsene« von Mendelssohn, Faure und Händel, die meiner Meinung nach gegenüber dem »Müll«, den ich stundenlang üben musste, vernachlässigt wurden. Ich wurde einmal zu einem Konzert des Musica-VivaOrchesters in die Ewart Hall mitgenommen (einem Teil der American University of Cairo – das Auditorium war das größte seiner Art und wurde, damals wie heute, für wichtige Konzerte genutzt). An diesem Abend dirigierte ein gewisser Hans Hickman, ein sorgfältiger Taktschläger, der seinen Kopf in der Partitur vergrub wie in einem Kissen. Die Solistin im Ersten oder Zweiten Klavierkonzert von Beethoven war Muriel Howard, die Frau des Rektors der AUC und Mutter von Kathy, einer Schulkameradin an der CSAC. Mein Vater war gut bekannt mit Rektor Worth Howard (ein Name, dessen solider Klang für mich die ganze Macht des amerikanischen Kontinents beinhaltete) und bestand darauf, mich und meine Mutter ihm und seiner seltsam bescheiden wirkenden Frau vorzuführen, die gerade eine atemlos schnelle Wiedergabe des Konzerts hinter sich gebracht hatte. »Bravo«, sagte mein Vater, und dann wandte er sich sofort meiner Mutter zu, um
sich sein Urteil von ihr bestätigen zu lassen. »Wunderbar«, sagte sie, bevor sie sich abrupt mir zuwandte und mir einen mahnenden Blick zuwarf. Natürlich brachte ich kein Wort über die Lippen, stand da und schämte mich entsetzlich. »Siehst du«, sagte meine Mutter triumphierend zu mir, obwohl sie damit auch Muriel ansprach, »siehst du nun, wie wichtig es ist, deine Tonleitern zu üben, Edward. Tonleitern und Hanon. Nicht wahr, Mrs. Howard?« Die Pianistin nickte zustimmend, obwohl man an ihrem Gesicht ablesen konnte, dass Tonleitern das Letzte waren, worüber sie in diesem Augenblick sprechen wollte. Im Vergleich dazu begeisterte mich Stokowskis Aufnahme von Beethovens Neunter (der Chor sang Schillers Ode an die Freude auf Englisch – »Joy, thou daughter of Elysium«) mit ihrer Darstellung der Freiheit, dem unheimlichen Mysterium der offenen Quinten zu Beginn und durch die – wie ich neidvoll bemerkte – routinierte Leichtigkeit des Orchesters, das sich fehlerlos durch Tonfolgen und schwierige Verzierungen spielte, die ich im Geiste in Fingersätze zu transponieren versuchte, welche mir meine unerfahrenen Hände auf dem Klavier verweigerten. Ich genoss »Salomes Tanz«, wie er auf der braunen Plattenhülle angekündigt wurde, oder Paderewskis Aufnahme von Beethovens Nocturne in FisDur und dem Walzer in cis-Moll, die ich als das Höchste und zugleich als Gegenteil meiner eigenen miserablen Versuche am Klavier empfand. Die großartigsten musikalischen Erfahrungen meiner Jugendjahre in Kairo waren 1950 und 1951 die Gastspiele von Clemens Krauss und Wilhelm Furtwängler mit den Wiener beziehungsweise den Berliner Philharmonikern. Obwohl ich in beiden Fällen nur zu den Sonntagnachmittagsaufführungen mitgenommen wurde, die bei Krauss ausschließlich aus »Schmankerln« wie der Donna Diana-Ouvertüre und Strauss’
Pizzicato Polka bestand, verschwand doch jedes prosaische Gefühl angesichts des herrlichen Klangs, der eindrucksvollen Würde auf dem Podium und sogar des Zaubers der deutschen Namen (Wiener Philharmoniker zum Beispiel). Da ich nie zuvor solch unmittelbare opulente Virtuosität gehört hatte, ist mir meine Begeisterung in Erinnerung geblieben, und wie ich mit allen mir möglichen Mitteln versuchte, diese Erfahrung über die mageren zwei Stunden im Rivoli-Kino hinaus zu verlängern und auszudehnen. (Ich habe niemals verstanden, warum für Krauss und Furtwängler statt der angemesseneren seriösen Ewart Hall das Rivoli gewählt worden war, ein überladener Kinopalast mit einer neonbeleuchteten Theaterorgel mit heftigem Vibrato und dem englischen Organisten namens Gerald Peal, einem rosagesichtigen Effekthascher, dessen akrobatische Sprünge auf das sich majestätisch erhebende Instrument und wieder herunter mir mehr Vergnügen bereiteten als seine endlosen KetelbyWiedergaben und lahmen lateinamerikanischen Tanzrhythmen.) Das hieß vor allem, die Musik im Ohr zu behalten, ein imaginäres Orchester zu dirigieren, erfolglos nach für mich viel zu teuren Platten Ausschau zu halten, auf denen die gleichen Stücke des gleichen Orchesters mit dem gleichen Dirigenten zu finden waren. Ich war tatsächlich deprimiert, oftmals richtiggehend traurig, wie schnell solch seltene Vergnügungen vorbei waren und wie ich danach so viel Zeit damit verbrachte, sie nicht nur wiederzuerleben, sondern sie auch zu verankern, indem ich Bücher, Artikel, Menschen suchte, die mir etwas über sie erzählen konnten, ihre Wahrheit und ihren Genuss bestätigten, in mir wiederbelebten, was zu verschwinden drohte. Ein Jahr nach Krauss stand an einem Sonntagnachmittag auch Furtwängler auf dem Podium des Rivoli. Dies war das überwältigende musikalische Erlebnis meiner ersten
zweiundzwanzig Lebensjahre, dem annäherungsweise nur die Eröffnungstakte des Rheingold gleich kamen, die 1958 aus dem schwarzen Bayreuther Orchestergraben aufstiegen. Ich wusste überhaupt nichts von Furtwängler außer seinem Namen auf der roten HMV-Hülle seiner Aufnahme von Beethovens Fünfter. Mindestens fünf Jahre lang war diese Aufnahme mein Lieblingsstück, der Maßstab, den ich an alle anderen musikalischen Leistungen anlegte, der Gipfel einer unbeschreiblichen Kraft, die mich aus unserer Stewart-WarnerMusiktruhe unmittelbar anzusprechen schien. Zunächst lag die Quelle dieser Kraft im Namen Furtwängler selbst: Ich sprach ihn oft vor mich hin (ich konnte kein Deutsch) und stellte mir Furtwängler als einen herrlich gebauten, höchst kultivierten Menschen vor, für den Beethovens Musik ausdrücklich geschrieben war. Ich weiß noch, dass ich einmal ziemlich ungeduldig die laienhafte Annahme eines Vetters zurückwies, das Motto der Fünften sei »das Schicksal, das an die Pforte pocht«. Dank Furtwängler hatte ich in dem Stück etwas erkannt, wovon ich instinktiv glaubte, dass es mit einer solchen Auffassung nichts zu tun haben konnte. »Musik ist Musik«, antwortete ich, wie ich mich erinnere – teils aus Ungeduld, teils weil es mir nicht möglich war auszudrücken, was mich an dieser Musik so eigentümlich und unaussprechlich bewegte. Wir hatten immer die gleichen Plätze im Rang – in jenen Tagen schien der Rang reserviert für »die besseren Kreise«, wie mein Vater es nannte –, wie schon bei Krauss, dessen stämmige Gestalt im Rückblick an die eines Geschäftsmanns erinnerte. Übrigens war Furtwänglers Programm ebenso anspruchsvoll wie seine äußere Erscheinung: Schuberts »Unvollendete«, die g-Moll-Sinfonie von Mozart, Beethovens Fünfte. Sein anderes Programm, zu dem ich nicht mitgenommen wurde, umfasste Tschaikowskys Sechste und Bruckners Siebte. Meine Eltern waren offensichtlich zu dem
Schluss gekommen, dass nur das Nachmittagsprogramm für mich geeignet sei – vielleicht hatten sie sich von dem unbekannten »Bruckner« abschrecken lassen. Furtwänglers hagere, kantig-hochgewachsene und ungelenke Gestalt, gekrönt von einer majestätischen Glatze, machte auf mich gerade den richtigen Eindruck: Hier war ein asketischer Musiker aus einer anderen Welt, in dessen Gestalt sich jene Verwandlung ausdrückte, die eine Musik wie die Beethovens fordern musste. Mir fiel auf, dass Furtwängler im Unterschied zu dem gewandten Krauss gar nicht so sehr zu dirigieren schien (er hatte einen ungewöhnlich kurzen Taktstock, wie ich mich erinnere), sondern vielmehr die Musik mit seinen Schultern und schlaksigen langen Armen bewegte. Er dirigierte ohne Partitur, weshalb es auch kein Umblättern und pedantisches Taktschlagen wie bei Hans Hickman gab, dem ansässigen klassischen Orchesterleiter. Stattdessen hatte ich den Eindruck einer Musik, die sich mit einer unerbittlichen, vollkommen fesselnden und erfüllenden Logik entfaltete, ohne all die »Fehler«, die mich bei Cherry lähmten, ohne die Notwendigkeit einer Pause für den Plattenwechsel, ohne irgendeinen Ton außer dem Beethovens. Ich spürte außerdem, dass dies besser und daher seltener war als alles, was eine Platte vermitteln könnte, obwohl ich natürlich eine Art köstlichen Bedauerns empfand, als es vorbei war und niemals wiederholt werden konnte, außer durch die Annäherungen, die mir entweder mechanisch oder in meiner mangelhaften Erinnerung zur Verfügung standen. Wenn ich Furtwänglers Aufnahme der Fünften spielte, bereitete sie mir Vergnügen, aber nicht die Befriedigung, die ich im Konzertsaal verspürt hatte. Die Wiedergabe war ein für alle Mal durch das authentische Erlebnis übertroffen worden. Gleichwohl verehrte ich das Werk weiterhin als eine meiner Lieblingsplatten, die ich immer wieder abspielte.
Meine späteren Bemühungen, mehr über Furtwängler herauszufinden, waren im Kairo meiner Jugend kläglich zum Scheitern verurteilt. Es gab im Nachkriegs-Kairo keine deutschen Kreise, die mit den kulturellen Einrichtungen der siegreichen Briten, Franzosen oder Amerikaner hätten wetteifern können. Ich durchforschte die Zeitungen – die Ahram, Egyptian Gazette, Progres Egyptien wie auch Zeitschriften wie Rose el-Yousef und al-Hilal – nach Informationen über ihn, aber es war nichts zu finden. Die Stadt wurde zunehmend von amerikanischen Filmmagazinen wie Photoplay und Silver Screen überschwemmt, und während man über Janet Leigh und Tony Curtis alles erfahren konnte, gab es nichts Vergleichbares über die (für meine Freunde) eigenartigen Gestalten, die mich interessierten. Der Krieg war natürlich vorbei, aber eine Dokumentation dessen, was in Deutschland geschehen war (wo Furtwängler eine so bedeutende Rolle spielte), war nicht aufzutreiben. An meinem fünfzehnten Geburtstag, im Jahr 1950, hatten mir meine Eltern Percy Scholes’ Oxford Companion to Music geschenkt, das ich immer noch besitze. Darin fand sich auch ein winziger Eintrag zu Furtwängler (»Deutscher Dirigent, geboren 1866; siehe ›Deutschland und Österreich‹«), der sich in einem allgemein gehaltenen, aber sehr unklaren Absatz mit der Musik im Dritten Reich und Furtwänglers Rolle im Fall Mathis der Maler befasste. Das konnte nicht klären, warum er nach dem Krieg eine so umstrittene Persönlichkeit war oder warum die Frage von Moral und Kollaboration in seinem Fall so bedeutsam war. Einer der wichtigsten Gründe, warum ich Furtwängler relativ eingeschränkt wahrnahm, lag in meinem Gefühl der Zeit, die mir im Wesentlichen als etwas Primitives und Einengendes erschien. Die Zeit schien immer gegen mich zu sein, und außer einem kurzen morgendlichen Moment, in dem ich den vor mir
liegenden Tag als offene Möglichkeit wahrnahm, war ich von Stundenplänen, Verpflichtungen und Aufträgen förmlich eingekeilt, ohne eine Minute für müßiges Vergnügen oder Nachdenken. Mit elf oder zwölf Jahren erhielt ich meine erste Uhr, eine langweilig aussehende Tissot, die ich dann mehrere Tage lang wie besessen anstarrte, verwirrt darüber, dass ich ihre Bewegungen nicht erkennen konnte, und ständig in Sorge, ob sie nun stehen geblieben war oder nicht. Ich vermutete zunächst, sie sei nicht völlig neu, da etwas verdächtig Getragenes an ihr war, von meinen Eltern wurde mir aber versichert, sie sei wirklich neu, und ihr leicht vergilbtes (orangefarben getöntes) Zifferblatt sei charakteristisch für das Modell – Ende der Diskussion. Die Uhr wurde für mich jedoch zu einer Obsession. Zunächst verglich ich sie mit denen meiner CSAC-Schulkameraden, welche mir minderwertiger erschienen, außer den Modellen mit Mickymaus und Popeye, die das Amerika symbolisierten, dem ich nicht angehörte. Dann probierte ich aus, wie ich sie tragen sollte: mit dem Zifferblatt nach unten, über dem Ärmel, darunter, sehr fest gebunden, locker gebunden, vorwärts auf das Handgelenk geschoben oder an der rechten Hand. Schließlich trug ich sie am linken Handgelenk, wo sie mir lange Zeit das entschieden positive Gefühl gab, nunmehr gut angezogen zu sein. Stets aber beeindruckte mich ihre unaufhaltsame Vorwärtsbewegung, die auf fast jede erdenkliche Art zu meinem Gefühl beitrug, ich sei bei der Erledigung meiner Pflichten und Aufgaben zu spät dran. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich jemals besonders viel geschlafen hätte, aber sehr genau ist mir die tadellose Pünktlichkeit des Weckens in Erinnerung und das unmittelbar einsetzende Gefühl besorgter Eile, das ich schon beim Aufstehen empfand. Niemals blieb mir Zeit zu trödeln oder vor mich hin zu träumen, obwohl ich zu beidem neigte. Seit damals habe ich das Gefühl, permanent
unter Zeitdruck zu stehen und zugleich dagegen anzukämpfen. Daher versuchte ich, die mir verbliebene Zeit zu verlängern, indem ich in die wenigen Augenblicke vor dem unerbittlichen Ablauf der Frist immer mehr Tätigkeiten hineinpackte (verstohlen lesen, aus dem Fenster starren, nach einem überflüssigen Objekt wie einem Taschenmesser oder dem Hemd von gestern suchen). Manchmal war mir meine Uhr eine Hilfe, wenn sie mir zeigte, dass noch Zeit blieb, aber meistens beaufsichtigte sie mein Leben wie eine Schildwache, an der Seite einer äußeren Ordnung, die mir Eltern, Lehrer und starre Termine auferlegt hatten. Zu Beginn der Pubertät schon wurde meine Zeit von einem rigiden Terminplan bestimmt, was angenehm und belastend zugleich war und seither mein Leben prägt. In dieser Phase wurde auch ein Tagesablauf festgelegt, der sich bis heute nicht verändert hat. Um sechs Uhr dreißig stand ich auf (nur wenn etwas Dringendes zu erledigen war um sechs Uhr. Noch heute sage ich manchmal: »Ich werde um sechs aufstehen, um das abzuschließen.«). Ab sieben Uhr dreißig lief die Zeit – von diesem Zeitpunkt an beherrschten mich Stunden und halbe Stunden, die von Schule, Kirche, Privatstunden, Schularbeiten, Klavierüben und Sport bis zum Schlafengehen ausgefüllt wurden. Das Gefühl, dass mein Tag in bestimmte Arbeitsphasen aufgeteilt sei, hat mich nie verlassen, sondern sich im Laufe der Zeit sogar noch verstärkt. Um elf Uhr morgens habe ich noch immer das unangenehme Gefühl, der Morgen sei vergangen, ohne dass ich etwas zu Stande gebracht hätte – gerade jetzt, da ich dies schreibe, ist es zwanzig nach elf. Neun Uhr abends ist für mich nach wie vor gleichbedeutend mit »spät«. Diese Uhrzeit zeigt das Ende des Tages an, das Näherrücken des Zubettgehens, den Zeitpunkt, über den hinaus zu arbeiten bedeutet, zur falschen Zeit zu arbeiten, an dem Müdigkeit und ein Gefühl des Scheiterns
einsetzen, an dem die Zeit langsam ihren richtigen Raum verlässt – kurz: spät in allen Bedeutungen des Wortes. Meine Uhr lieferte den Rhythmus, der all dem zu Grunde lag, eine Art unpersönlicher Disziplin, die irgendwie das System aufrechterhielt. Muße gab es nicht. Ich erinnere mich mit verblüffender Klarheit an die Ermahnungen meines Vaters, ich solle nach den frühen Morgenstunden nicht mehr in Schlafanzug und Bademantel herumlaufen; vor allem Pantoffeln waren verpönt. Noch immer kann ich nicht längere Zeit in einem Morgenmantel verbringen, ohne von meinen Schuldgefühlen wegen Zeitverschwendung und ungehöriger Faulheit überwältigt zu werden. Im Kampf gegen diese Disziplin konnte Krankheit (manchmal vorgetäuscht, manchmal übertrieben) das Leben fern der Schule erträglich machen. Meine ganze Familie lachte über mich, weil ich mich über unnötige Verbände am Finger, an Knie oder Arm besonders freute, sie mir förmlich wünschte. Heute dagegen bin ich durch irgendeine teuflische Ironie mit einer tückischen, unversöhnlichen Leukämie geschlagen, die ich wie ein Vogel Strauß gänzlich aus meinen Gedanken zu verbannen suche, indem ich mich mit einigem Erfolg bemühe, in meinem Zeitsystem zu leben, arbeitend, im vollen Bewusstsein der ständigen Verspätung und drängender Termine, mit jenem Gefühl, ich hätte nichts zu Stande gebracht, das ich vor fünfzig Jahren gelernt und so bemerkenswert verinnerlicht habe. In einer weiteren eigenartigen Umkehrung frage ich mich dann insgeheim, ob dieses System von Pflichten und Fristen mich jetzt nicht vielleicht retten könnte, obwohl ich doch genau weiß, dass meine Krankheit unsichtbar voranschreitet, verstohlener und heimtückischer als die Zeit, die von meiner ersten Uhr angezeigt wurde.
Damals war mir nicht bewusst, dass sie meine Sterblichkeit maß, sie in perfekte, unveränderliche Intervalle unausgefüllter Zeit aufteilte, auf immer und ewig.
VI
DER 1. NOVEMBER 1947 – mein zwölfter Geburtstag – ist mir vor allem durch die beunruhigende Heftigkeit in Erinnerung geblieben, mit der Yousif und George, meine ältesten Vettern aus Jerusalem, diesen Tag, den Vorabend der Balfour-Deklaration, als »den schwärzesten Tag unserer Geschichte« beklagten. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen, merkte aber, dass es etwas von überwältigender Bedeutung sein musste. Vielleicht glaubten sie und meine Eltern, die um den Tisch mit meinem Geburtstagskuchen herumsaßen, eine so komplizierte Angelegenheit wie unser Konflikt mit den Zionisten und den Briten tauge nicht für meine Ohren. Meine Eltern, meine Schwestern und ich verbrachten den größten Teil des Jahres 1947 in Palästina, das wir im Dezember desselben Jahres zum letzten Mal verließen. Folglich fehlte ich mehrere Monate an der CSAC und wurde stattdessen an der St. George’s School in Jerusalem angemeldet. Die Anzeichen der herannahenden Krise waren überall zu spüren. Die Stadt war in Zonen aufgeteilt worden, wobei britische Armee- und Polizeiposten die Übergänge überwachten und Fahrzeuge, Fußgänger und Radfahrer kontrollierten. Die Erwachsenen in meiner Familie hatten allesamt Pässe, auf denen die für sie gültigen Zonen eingetragen waren. Mein Vater und Yousif besaßen Mehrzonen-Pässe (A, B, C, D); die Übrigen waren auf eine oder vielleicht zwei Zonen beschränkt. Vor meinem zwölften Geburtstag benötigte ich keinen Ausweis und durfte daher mit
meinen Vettern Albert und Robert ungehindert umherstreifen. Das graue und nüchterne Jerusalem war eine Stadt voller Spannungen, die ebenso von der Politik jener Zeit herrührten wie von der religiösen Konkurrenz zwischen den verschiedenen christlichen Gemeinschaften sowie zwischen Christen, Juden und Moslems. Meine Tante Nabiha schimpfte uns einmal tüchtig aus, weil wir in das Regent gegangen waren, ein jüdisches Kino (»Warum haltet ihr euch nicht an die Araber? Ist das Rex nicht gut genug für euch?«, fragte sie ziemlich schrill. »Schließlich kommen sie ja auch nicht in unsere Kinos!«), und obwohl wir später ernsthaft versucht waren, wieder das Regent zu besuchen, haben wir es doch nie getan. Unsere täglichen Gespräche in der Schule und zu Hause wurden durchgehend auf Arabisch geführt. Anders als in Kairo, wo ich zum Englischen angehalten wurde, »gehörte« unsere Familie in Jerusalem »dazu«, und überall herrschte unsere Muttersprache vor, selbst wenn wir uns über Hollywood-Filme unterhielten – Tarzan wurde zu »Tarazan« und Laurel und Hardy zu »al-Buns wal-rafic« (»Der Fette und der Dünne«). Jeden Morgen ging ich in die St. George’s School, gewöhnlich in Begleitung meiner Zwillingsvettern Robert und Albert. Albert war immer der Anführer, ein Mannschaftskapitän und Star an der Schule, eine Klasse über Robert, der kein Sportler war und sich eher in der Menge verlor. Man hatte mich in der siebten Klasse der Grundschule angemeldet, die gegenüber der angeseheneren Oberstufe meiner beiden Vettern lag. St. George’s war die erste reine Jungenschule, die ich erlebte, und zugleich die erste Schule, zu der ich eine tiefere Beziehung hatte als zu denen in Kairo, wo ich einfach ein Fremder war, der sein Schulgeld bezahlte. Mein Vater und, wie ich glaube, auch mein Großvater hatten diese Schule besucht, ebenso wie die meisten anderen männlichen
Angehörigen meiner Familie, außer Onkel Asaad (Al), der in Bishop Gobat’s gewesen war. In den ersten Tagen schien es mir, als sei die Atmosphäre an der Schule wegen der fehlenden Mädchen und Lehrerinnen etwas härter, rauer, körperbetonter, weit weniger höflich als die Einrichtungen, die ich in Kairo kennen gelernt hatte. Aber sehr bald fühlte ich mich vollkommen daheim, denn zum ersten und letzten Mal in meiner Schulzeit befand ich mich unter Jungen, die wie ich waren. Fast jeder Schüler meiner Klasse war meiner Familie bekannt – noch Wochen nach dem ersten Schultag fragten mich Eltern, Tanten und Yousif etwa nach »dem Saffoury-Jungen in deiner Klasse« oder machten beiläufige, wohlinformierte Bemerkungen über einen gewissen Dajani oder Jamal in meiner Klasse, mit dessen 107 Eltern oder Onkel und Tanten sie befreundet waren. Bei den Lehrern handelte es sich vorwiegend um Briten, mit zwei Ausnahmen: Michel Marmoura, etwas älter als Albert und Sohn des anglikanischen Pastors, sowie Mr. Boyagian, ein Armenier aus Jerusalem, den mein Vater noch aus seiner Jugend kannte. Die einzige Frau an der Schule war Miss Fenton, die gelegentlich den Englischlehrer vertrat. Die schwarzhaarige, Sandalen tragende Miss Fenton, eine schlanke Gestalt in weißer Bluse und marineblauem Rock, erschien mir überwältigend attraktiv. Ich hatte viel zu wenig mit ihr zu tun und viel zu wenig Gelegenheit, mich aus der rauen Jungenund Lehrerwelt zu entfernen, in der ich lebte. Und so blieb sie eine romantische Gestalt, deren Anmut mir ein stilles Vergnügen bereitete, wenn sie durch die Säulengänge der Grundschule schwebte oder wenn ich sie durch ein Fenster im Lehrerzimmer erspähte. Viele Jahre später entdeckte ich, dass sie die Tante des Dichters James Fenton war. Einen extremen Gegensatz zu ihr bildete Mr. Sugg, ein schwer gehbehinderter Brite: Wenn sein Name fiel, gab es jedes Mal Gelächter wegen
seines Aussehens und weil er stotterte. Er war einer der ersten weltfremden britischen Akademiker, denen ich begegnete – ein Mann ohne jede Verbindung zu den (vielleicht allzu) komplizierten Realitäten der Schule und zu seinen Schülern, die er erfolglos zu unterrichten suchte. Weder die Klasse noch ich nahmen seine eintönigen Geographielektionen zur Kenntnis oder ließen uns gar von ihnen fesseln. In seinem steifen Kragen und dem unweigerlich beigefarbenen Anzug war er ein Geschöpf aus einer anderen Welt voller Donaus, Themsen, Apenninen und antarktischen Schneewüsten, die bei den gleichgültigen und entschieden selbstbezogenen Jungen nicht den geringsten Eindruck hinterließen. Meine Klasse setzte sich zu gleichen Teilen vor allem aus Christen und Muslimen zusammen, aus Internats- und Tagesschülern. Der Mathematiklehrer Michel Marmoura gehörte einer Welt an, die schon bald in den Umwälzungen des Jahres 1948 in Auflösung und Exil ihr Ende finden sollte. Er war ein sanfter und scharfsinniger Lehrer, der uns mit beträchtlichem Geschick die Grundlagen der Bruchrechnung nahe brachte – und das trotz seiner Befangenheit wegen der Tatsache, dass er mit den Familien der meisten Schüler befreundet war (und zudem der Sohn des Dekans der Kathedrale war, der mich getauft hatte). Im Laufe der Jahre bin ich ihm immer wieder begegnet – in Madison, Wisconsin, in Princeton und später in Toronto, wo er heute noch lebt: Den Schmerz über seine zerbrochene Vergangenheit hat er niemals überwunden. Das übrige Lehrangebot von St. George’s hinterließ bei mir keinen tieferen Eindruck: Die Schule verband gleichgültigen Unterricht und eine oberflächliche Atmosphäre mit – wie mir nach fünfzig Jahren aus der Rückschau erscheint – einer allgemeinen Stimmung zielloser Routine, die sich zu behaupten sucht, während die Identität des Landes unwiderruflichen Veränderungen ausgesetzt ist. Als ich
zwölf wurde und selbst für den Schulweg einen Ausweis benötigte, war ich bereits sehr groß gewachsen und wirkte reifer und älter, als ich tatsächlich war, so dass die nervösen Tommys an der stacheldrahtbewehrten Barrikade meine Schulmappe durchstöberten und misstrauisch meinen Zonenausweis überprüften, während ihre unfreundlichen Ausländeraugen mich als potenziellen Störenfried einschätzten. Dieser Ausweis beschränkte mich zwar auf das Gebiet, in dem meine Schule lag, aber die Familie meiner Tante besaß einen hellgrünen Studebaker, den Albert und Robert benutzen durften, und so fuhren wir drei durch Talbiya spazieren und hielten hier und da an, um Freunden von ihnen einen Besuch abzustatten. War ich allein unterwegs, fuhr ich mit dem Fahrrad um den kleinen Platz unmittelbar westlich des Hauses. Zwei Blocks hügelaufwärts hinter dem Haus übte ein Trompeterkorps der britischen Armee in der erbarmungslosen Mittagssonne. An manchen Wochenenden, erinnere ich mich, kroch ich hinter die Felsen, um ihnen zuzuschauen, gebannt von ihren unverständlich geschrienen Kommandos, ihren großen schwarzen genagelten Stiefeln, die auf den schwarzen, in der Hitze fast schmelzenden Asphalt knallten, und ihren eigenartig wilden Trompetensignalen. Albert hatte eine Vorliebe für englische Dichtung, die er mit viel Augenrollen deklamierte – die Karikatur sowohl eines Englischlehrers wie auch eines Schauspielers in voller Aktion. »Half a league, half a league, / Half a league onward, / All in the valley of death / Rode the six hundred«, rezitierte er dann, während sich die rechte Hand zusammen mit seiner Stimme langsam hob. »Theirs not to make reply, / Theirs not to reason why, / Theirs but to do and die. / Into the valley of death / Rode the six hundred.« Ich begriff, dass auch wir edle Soldaten sein sollten, die vorwärts stürmten, nichts als unsere Pflicht im Sinn.
Alberts Stimme erhob sich noch weiter: »All the world wondered. / Honour the charge they made. / Honour the Light Brigade. / Noble six hundred.« Erst sehr viel später erfuhr ich überhaupt etwas von der Leichten Brigade, doch ich lernte das Gedicht allmählich auswendig, und wenn ich es mit meinem Vetter deklamierte, dachte ich, wie ich noch heute weiß, dass Worte alles Denken und Fühlen auslöschen können. »Theirs not to reason why« war eine unheimlich treffende Vorausschau auf eine Haltung, der ich zwar nie direkt begegnet war, die ich jedoch zwanzig Jahre später erkannte und von der ich mich in Bann schlagen ließ, als ich die ungeheuren ägyptischen Massen erlebte, die in der Hitze Kairos Gamal Abdel Nasser bejubelten und beklatschten. Die Familie meiner Tante Nabiha wurde nach und nach aus Jerusalem vertrieben, so dass zu Beginn des Frühjahrs 1948 nur mein ältester Vetter Yousif zurückgeblieben war. Er hatte das Haus in Talbiya verlassen, weil das gesamte Viertel an die Haganah gefallen war, und sich in eine kleine Wohnung in Upper Baqaa zurückgezogen, einem angrenzenden Bezirk in Westjerusalem. Doch selbst diese letzte Zuflucht verließ er im März, um ebenfalls niemals zurückzukehren. Ich erinnere mich deutlich, dass Talbiya, Katamon, Upper und Lower Baqaa von meinen frühesten bis zu meinen letzten Tagen dort ausschließlich von Palästinensern bewohnt zu sein schienen, von denen meine Familie die meisten kannte und deren Namen mir noch heute vertraut in den Ohren klingen – Salameh, Dajani, Awad, Khidr, Badour, David, Jamal, Baramki, Shammas, Tannous, Qobein. Sie alle wurden zu Flüchtlingen. Die neuerdings zugezogenen jüdischen Einwanderer sah ich nur anderswo in Westjerusalem, weshalb mir noch heute, wenn ich von Westjerusalem reden höre, immer nur die arabischen Viertel meiner Kindheit quälend in den Sinn kommen. Es fällt mir nach wie vor schwer zu akzeptieren, dass eben jene
Stadtviertel, in denen ich geboren wurde, in denen ich lebte und mich zu Hause fühlte, von polnischen, deutschen und amerikanischen Einwanderern übernommen worden sind, die die Stadt erobert und zum einzigartigen Symbol ihrer Souveränität gemacht haben. Palästinensisches Leben scheint nur noch auf die Oststadt beschränkt, die ich kaum kannte. Westjerusalem ist inzwischen ganz in jüdischer Hand, und seine vormaligen Einwohner waren Mitte 1948 für immer vertrieben. Das Jerusalem, das ich und meine Familie in jenen Tagen kannten, war erheblich kleiner, einfacher und vordergründig ordentlicher als Kairo. Die Briten hielten das Mandat, das sie 1948 plötzlich aufgaben – etwa sechs Monate nachdem meine eigene Familie die Stadt zum letzten Mal verlassen hatte. Überall begegnete man britischen Soldaten – aus Kairo waren die meisten bereits abgezogen –, und der allgemeine Eindruck war der eines überaus englischen Ortes mit sauberen Häusern und einem geordneten Verkehr, wo viel Tee getrunken wurde, ein Ort, dessen Einwohner – im Falle meiner Familie und ihrer Freunde – englisch erzogene Araber waren. Ich wusste nicht, was es mit dem Mandat wirklich auf sich hatte, und genauso wenig, was die palästinensische Regierung bedeutete, deren Name auf Geld und Briefmarken zu lesen war. Verglichen mit Kairo war Jerusalem kühler, ohne die Großartigkeit und den Reichtum Kairos mit seinen üppigen Häusern, teuren Geschäften, großen Autos und lärmenden Menschenmengen. Jerusalems Bevölkerung schien außerdem homogener zu sein und vorwiegend aus Palästinensern zu bestehen, obwohl ich mich an flüchtige Eindrücke von orthodoxen Juden erinnere. Bei einem Besuch in oder nahe Mea Shearim empfand ich eine Mischung aus Neugier und Distanz, ohne aber den so verblüffend anderen Eindruck der orthodoxen Juden mit ihren
schwarzen Anzügen, Hüten und Mänteln wirklich aufzunehmen oder zu verstehen. Ein Junge aus meiner Klasse ist mir deutlich in Erinnerung geblieben. David Ezra – sein Vater war Klempner – war, wie ich glaube, der einzige Jude in der siebten Klasse (in der Schule gab es ansonsten mehrere), und der Gedanke an ihn verfolgt und verwirrt mich nach wie vor im Lichte der späteren Veränderungen in meinem eigenen Leben wie in dem Palästinas. Er war kräftig gebaut, hatte dunkle Haare und sprach englisch mit mir. Er schien vom Rest der Klasse distanziert und wirkte selbstgenügsamer, weniger leicht zu durchschauen, weniger beteiligt als all die anderen. All das zog mich zu ihm hin. Ihm fehlte jede Ähnlichkeit mit den levantinischen Juden, denen ich an der GPS oder im Club in Kairo begegnet war, und dennoch hatte ich keinerlei Vorstellung davon, was seine jüdische Identität für uns bedeutete. Ich weiß nur noch genau, dass seine Anwesenheit unter uns nichts Besonderes war. Er war ein hervorragender Sportler, der mich mit seinen kräftigen Schultern und Waden und seinem aggressiven Spiel beeindruckte. Ezra ging niemals mit, wenn wir nach der Schule am Nachmittag in kleinen Gruppen nach Hause schlenderten, um die Kontrollpunkte in der Sicherheit der Menge zu passieren. Das letzte Mal sah ich Ezra oben an der Straße stehen und in meine Richtung schauen, während drei oder vier von uns gemeinsam nach Talbiya gingen. Als meine Familie kurz vor Weihnachten plötzlich beschloss, lieber nach Kairo zurückzukehren, wurde meine abgebrochene Beziehung zu Ezra bald zu einem Symbol für die unüberbrückbare Kluft zwischen palästinensischen Arabern und Juden, die mangels geeigneter Worte oder Begriffe verdrängt wurde, und für das schreckliche Schweigen, das unserer gemeinsamen Geschichte von diesem Augenblick an aufgezwungen war.
Als in Jerusalem der Herbst voranschritt, waren wir mehr und mehr auf unsere Familie zurückgeworfen, einen engen Kreis von Vettern, Onkeln und Tanten. Einmal besuchten wir das neue Haus meines Onkels Munir Musa in Jaffa, wohin er nach seiner Zeit in Zefat gezogen war. Es lag an einer öden sandigen Straße und besaß nichts von dem Charme und dem Geheimnis des höhlenartigen Hauses in Zefat, in dem ich mich so wohl gefühlt hatte. Als Neuankömmlinge schienen mein Onkel und seine Familie in der Nachbarschaft noch keine Freunde gefunden zu haben. In Jerusalem trafen wir häufig Onkel Shafeec Mansour, einen Vetter zweiten Grades meines Vaters, dazu Tante Lore, eine hübsche Stuttgarterin, die ein verblüffend flüssiges Arabisch mit starkem deutschem Einschlag sprach, sowie ihre Kinder, Nabeel und Erica Randa, etwa in meinem und Rosys Alter. Shafeec war Direktor der Jungenabteilung des Christlichen Vereins Junger Männer, und Lore arbeitete als seine Assistentin. Stets war er voller Enthusiasmus für seine Tätigkeit, für den CVJM, der ein paar Blocks von unserem Haus entfernt lag, und für seine Arbeit mit den Sport-, Handarbeits-, Sprachund Hauswirtschaftsprogrammen. In stärkerem Maße als die Kirche, gegen die ich wegen ihrer nüchternen und unverständlichen Gottesdienste eine deutliche Abneigung hegte, war der CVJM die große soziale Institution meiner letzten Jahre in Jerusalem. Dort gab es ein Hallenbad, Tennisplätze und ein wunderschönes Glockenspiel im Turm, und all das betrachtete ich unbewusst als »unseres«. Jeder in meiner Familie stand in irgendeiner Verbindung zum CVJM, sei es als Teilnehmer an einem Programm, Benutzer seiner Anlagen (ich sehe noch meinen Vetter George vor mir, wie er dort an einem sonnigen Nachmittag Tennis spielt) oder Angehöriger des Vorstands. Der CVJM lag jedoch im nachmals israelischen Jerusalem, und Onkel Shafeec und seine
Familie, die Anfang 1948 mit einem CVJM-Stipendium in die Vereinigten Staaten gegangen waren, konnten niemals wieder zurückkehren. Zunächst waren sie in Chicago gestrandet und dann unter deprimierenden Umständen im ländlichen Wisconsin. Eine Weile arbeitete der energische, redegewandte Leiter der Jungenabteilung als Garderobenwärter im CVJM von Chicago, dann ging er als Organisator von Lions Clubs im nördlichen Wisconsin auf Reisen. Seine Wut über die Ereignisse in Palästina und die Erlebnisse der Anfangszeit in Amerika minderte sich während der folgenden Jahre kaum, obwohl er aus seiner späteren Zeit in Amerika mehr Befriedigung und sogar Freude ziehen konnte als jeder andere meiner Verwandten. Dennoch vermochte er die beiden Hälften seines Lebens niemals miteinander zu versöhnen. In diesen frühen Jerusalemer Jahren gab es eine überaus schillernde Gestalt, die mich faszinierte, obwohl ich erst sehr viel später verstand, um wen es sich dabei wirklich handelte. Der unersättliche Appetit meines Vaters auf das Tawlah-Spiel wurde häufig von einem anscheinend älteren Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart befriedigt, der stets einen dunklen Anzug samt Tarbusch trug und unaufhörlich Zigaretten mit einer Elfenbeinmundspitze rauchte. Aus dem Rauch um seinen Kopf erscholl sein Husten mit beunruhigender Häufigkeit. Das war Khalil Beidas, ein Vetter meines Vaters und der Leiter des Arabischunterrichts am St. George’s. An der Schule sah ich ihn jedoch nie, und so wusste ich gar nicht, dass er dort arbeitete. Erst vierzig Jahre danach erzählte mir mein Vetter Yousif, Beidas sei sein Arabischlehrer gewesen. Daneben erfuhr ich später über Beidas, dass er der Vater von Yousif Beidas war, einem Mann, der einst für die Palestine Educational Company gearbeitet hatte, dann meines Vaters Trauzeuge gewesen und nach einer kurzen Beschäftigung bei der Arabischen Bank als Flüchtling nach Beirut gekommen
war, wo er innerhalb von etwa zehn Jahren zum mächtigsten Wirtschaftsmagnaten des Libanon aufstieg. Ihm gehörte die Intra-Bank, die enorme Beteiligungen an Fluggesellschaften, Werften und Geschäftshäusern (darunter ein Teil des Rockefeller Center) besaß. Er übte im Libanon einen mächtigen Einfluss aus, bis er ruiniert war und die Intra 1966 zusammenbrach. Ein paar Jahre darauf starb er in Luzern an Krebs, verlassen und am Ende gepflegt von Tante Nabiha, die ihrerseits kurz zuvor in die Schweiz gezogen war. Beidas’ erstaunlicher Aufstieg und Fall galt manchen als Vorbote der schrecklichen Auseinandersetzungen zwischen Libanesen und Palästinensern in den siebziger Jahren, mir erschien er jedoch eher als Symbol für den Bruch der Lebenslinie, der so vielen von uns durch die Ereignisse von 1948 aufgezwungen worden war. Später erfuhr ich, dass Khalil Beidas keineswegs nur ein Arabischlehrer war, sondern zunächst an der Schule der russischen Kolonie in Jerusalem (al-Maskowbiya, heute ein israelisches Verhör- und Gefängniszentrum vor allem für Palästinenser) und dann in Russland selbst ausgebildet worden war – als Mündel der russisch-orthodoxen Kirche. Als er dann Anfang des Jahrhunderts nach Palästina zurückkehrte, nahm er an der literarischen nadwa teil, einem ständigen Seminar, das in Nazareth an der dortigen al-Maskowbiya abgehalten wurde (heute liegt dort die israelische Polizeistation dieser Stadt). Erfüllt von den Ideen der russisch-christlichen Kulturnationalisten von Dostojewski bis Berdjajew, erlangte er im Anschluss an seine Rückkehr nach Jerusalem bald als Romanist und Literaturkritiker Anerkennung und sogar eine gewisse Berühmtheit. Während der zwanziger und dreißiger Jahre trug er zum Aufbau einer palästinensischen nationalen Identität bei, insbesondere in der Auseinandersetzung mit den eintreffenden zionistischen Siedlern.
Wie übermäßig behütet und abgeschirmt ich als Junge war und wie wenig ich über unsere politische Situation wusste, zeigt sich daran, dass ich überhaupt keine Vorstellung von Beidas’ wahrem Status in Palästina besaß und ihn nur als einen wunderlichen alten Mann mit einem quälenden Raucherhusten wahrnahm, der sich beim Tawlah-Spiel mit meinem Vater fröhlich und sehr jovial verhielt – doch wie ich ein paar Jahre später erfuhr, überlebte er mit alldem nicht den Verlust seines Landes. Im Unterschied zu seinen Kindern blieb ihm das Schicksal eines Flüchtlings erspart. Heute überwältigt mich das Ausmaß der Entwurzelung, die unsere Familie und Freunde erlebten und die ich, ein im Grunde unwissender Zeuge des Jahres 1948, kaum wahrnahm. Als Junge von zwölfeinhalb Jahren bemerkte ich in Kairo häufig die Trauer und Verzweiflung in den Gesichtern und im Leben von Menschen, die ich früher in Palästina als ganz normale Angehörige der Mittelschicht gekannt hatte. Allerdings konnte ich weder die Tragödie, die ihnen widerfahren war, wirklich begreifen, noch konnte ich mir all die verschiedenen fragmentarischen Berichte zusammenreimen, um zu verstehen, was in Palästina tatsächlich vorgefallen war. Meine Kusine Evelyn, Yousifs Zwillingsschwester, sprach einmal an unserem Esstisch in Kairo leidenschaftlich von ihrem Glauben an Kawukdshi – ein Name, der mir nichts sagte, als ich ihn zum ersten Mal hörte. »Kawukdshi wird kommen und sie rausschmeißen«, sagte sie mit entschiedenem Nachdruck, wohingegen mein Vater (den ich um Auskunft gebeten hatte) den Mann mit einiger Skepsis und sogar etwas geringschätzig als »einen arabischen General« bezeichnete. Tante Nabiha klang häufig klagend und empört, wenn sie die Schrecken von Ereignissen wie denen in Deir Yassin beschrieb – »nackte Mädchen auf Lastwagen durch ihre Lager gefahren…«. Ich dachte, sie spreche über die Schande
von Frauen, die männlichen Blicken ausgesetzt seien, und nicht nur über den Schrecken eines scheußlichen, kaltblütigen Massakers an unschuldigen Zivilisten. Ich hatte damals keine Ahnung und konnte mir auch gar nicht vorstellen, um wessen Blicke es überhaupt ging. Später, in Kairo, behielten die Beziehungen innerhalb der erweiterten Familie eine gewisse Förmlichkeit, wie das immer gewesen war, aber ich weiß noch, dass mir Bruchlinien auffielen, kleine Unstimmigkeiten und Entgleisungen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Wir alle schienen Palästina aufgegeben zu haben als ein Land, in das man niemals zurückkehren würde, das kaum erwähnt, aber insgeheim und leidenschaftlich vermisst wurde. Ich war alt genug, um zu bemerken, dass ein Vetter meines Vaters, Sbeer Shammas, der in Jerusalem eine patriarchalische Gestalt gewesen war, die Autorität und Wohlstand ausgestrahlt hatte, in Kairo nun wie ein viel älterer und gebrechlicherer Mann wirkte, immer im gleichen Anzug, mit dem gleichen grünen Sweater. Auf seinen krummen Stock gestützt, ließ er seinen großen schweren Körper langsam und unter Schmerzen auf den Stuhl sinken, auf dem er dann schweigend saß. Seine unverheirateten Töchter, Alice und Tina, waren attraktive junge Frauen, von denen die eine als Sekretärin in der Suezkanal-Zone arbeitete, die andere in Kairo. Ich mochte seine beiden lauten und widerspenstigen Söhne, deren neue Unsicherheit sich in Schimpftiraden gegen Ägypter, Briten, Griechen, Juden und Armenier entlud. Ihre Mutter Olga entwickelte sich zu einer gewaltigen Nörglerin. Ihre hohe Stimme wurde immer schriller angesichts der Schwierigkeiten, alle Rechnungen zu bezahlen, eine anständige Wohnung und Arbeit zu finden. Wir besuchten sie in einem vielstöckigen, verkommenen Wohnblock in Heliopolis, wo es keinen Fahrstuhl gab und der Putz von den Wänden fiel. Ich
erinnere mich, dass mich die Leere der Wohnung beunruhigte, und an die Atmosphäre der Verzweiflung, die sie ausstrahlte. Meine Mutter sprach nie darüber, was ihnen allen widerfahren war. Meinen Vater fragte ich nicht – mir fehlten die rechten Worte dafür, obwohl ich spüren konnte, dass irgendetwas von Grund auf im Argen lag. Nur einmal ließ sich mein Vater auf seine typisch verallgemeinernde Weise über die palästinensische Situation aus, als er zu Sbeer und seiner Familie anmerkte, sie hätten »alles verloren«, um einen Augenblick später hinzuzufügen: »Auch wir haben alles verloren.« Auf meine verwirrte Nachfrage, was er denn meine, da doch sein Geschäft, das Haus, unser Lebensstil in Kairo augenscheinlich unverändert geblieben seien, sagte er nur: »Palästina.« Zwar hatte er das Land niemals wirklich gemocht, aber diese besonders rasche einsilbige Anerkennung und das ebenso rasche Begraben der Vergangenheit waren für ihn charakteristisch. »Was vergangen ist, ist vergangen, unwiderruflich. Der kluge Mann hat genug mit dem zu tun, was in Gegenwart und Zukunft geschieht«, sagte er häufig und fügte schnell »Lord Bacon« hinzu, gleichsam als ein beglaubigendes Siegel, um ein Thema abzuschließen, über das er nicht weiter reden mochte. Ich war stets beeindruckt von dieser unerschrocken stoischen Haltung gegenüber der Vergangenheit, obwohl diese sich doch noch auf die Gegenwart auswirkte. Er weinte niemals und zeigte nie die Gefühle, die er in extremen Situationen empfunden haben muss. Ich weiß noch, dass ich meine Mutter förmlich anflehte, mir zu sagen, ob er beim Begräbnis seines Bruders Asaad in Jaffa geweint habe. »Nein«, sagte sie unerbittlich, »er hat seine dunkle Brille aufgesetzt, und sein Gesicht wirkte sehr rot. Aber geweint hat er nicht.« Da Weinerlichkeit zu meinen Schwächen gehörte, betrachtete ich das als beneidenswerte Stärke.
Zwei der Brüder meiner Mutter tauchten kurz nach Mitte Dezember 1947 in Ägypten auf. Emile, der jüngste, arbeitete in Tanta, der staubigen, aber großen Provinzstadt im Delta, wo er bei einer Glasfabrik angestellt war, die Malvina Fares gehörte, einer entfernten Verwandten meiner Großmutter. Mit ihrer schwarzen Augenbinde und ihrem halb wahnsinnigen Benehmen brachte sie uns alle aus der Fassung. Alif, der andere Bruder, war ein paar Jahre älter als meine Mutter, verheiratet und hatte vier Kinder. Er war eine sanfte, etwas passive Seele, die nichts mehr liebte, als riesige Puzzles zu legen, seine kleine Privatbibliothek immer wieder neu zu katalogisieren und Musik zu hören. In Nablus war er bei der Arabischen Bank angestellt gewesen, doch in Kairo und dann in Alexandria arbeitete er für die UNESCO. Nach seinem Umzug von Bagdad nach Beirut lebt er nun mit fünfundachtzig Jahren in Seattle, ein Opfer des Jahres 1948, der irakischen und ägyptischen Revolutionen und des entscheidenden Schicksalsschlags: des Bürgerkriegs im Libanon. In Kairo legten Alif und seine Frau Salwa eine Mischung aus ohnmächtiger Entrüstung und demütiger Passivität an den Tag, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Emiles ungeordnetes Leben, seine vielen Umzüge und Wohnungen, seine Klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und sonstige Schwierigkeiten erschütterten unsere olympische Entrücktheit und unseren scheinbar stabilen und bequemen Lebensstil. Emile wirkte wie ein ziemlich unglücklicher Junggeselle, der nach dem Fall Palästinas in Ägypten seinen Weg zu machen versuchte. Viele Jahre später erfuhr ich, dass er eine ägyptische muslimische Frau und zwei Töchter hatte, die vor uns geheim gehalten wurden, solange wir noch Kinder waren. Das Thema Palästina kam selten offen zur Sprache, wenngleich gelegentliche Kommentare meines Vaters Hinweise auf den katastrophalen Zusammenbruch einer
Gesellschaft und das Verschwinden eines Landes lieferten. Einmal sagte er über die Shammas, sie hätten zehn Fässer Olivenöl im Jahr verbraucht – »ein Zeichen von Wohlstand in unserem Land«, fügte er hinzu, denn wo es viel Öl gebe, da seien auch Olivenbäume und Land. Nun sei all das verloren. Dann waren da die Halabys, Mira und Sami, Nachbarn in Zamalek, deren winzige Wohnung und die überaus beengten Verhältnisse sich so stark von ihrem früheren Wohlstand in Jaffa unterschieden, dass immer wieder darüber gesprochen wurde. Ich bekam mit, dass Mira das Lieblingskind wohlhabender, prominenter Eltern gewesen war. Sie sprach Französisch (ungewöhnlich in unseren Kreisen, aber ein Hinweis auf eine privilegierte Schulbildung und viele Reisen nach Frankreich) und besaß eine natürliche Würde. Sie beeindruckte uns alle durch ihre hiobähnliche Gelassenheit, auch wenn meine Eltern nun gewöhnlich auf eine Weise von ihr sprachen, als sei sie unglücklich, verzweifelt und stehe unter ständigem Druck. Es gab noch andere Familien, nicht zuletzt jene, deren Väter und Mütter für uns arbeiteten, sei es zu Hause oder im Geschäft meines Vaters. Marika, eine einfache christliche Flüchtlingsfrau, wurde von meiner Tante dazu bewogen, die arabischen Gottesdienste in der All Saints Cathedral zu besuchen, eine sehr englische Veranstaltung, an der wir als Anglikaner regelmäßig teilnahmen. Marika wurde Dienstmädchen bei meiner Mutter. Vor allem jedoch sorgte meine Tante Nabiha dafür, dass uns das Elend Palästinas gegenwärtig blieb. Sie kam jeden Freitag zu uns zum Mittagessen – ihr energisches Auftreten stellte die ältere und inzwischen beträchtlich geschrumpfte Tante Melia in den Schatten – und beschrieb die Mühseligkeiten einer Woche, in der sie Flüchtlingsfamilien in Shubra besucht und gleichgültige Regierungsstellen belagert hatte, um Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für ihre Schutzbefohlenen zu
erlangen. Unermüdlich klapperte sie die verschiedensten Wohlfahrtsinstitutionen ab, um weitere Mittel aufzutreiben. Heute erscheint es mir unerklärlich, dass das Problem Palästinas und seines tragischen Verlusts, das unser Leben jetzt seit Generationen beherrscht, von dem so gut wie jeder unserer Bekannten betroffen war und das unsere Welt von Grund auf veränderte, bei meinen Eltern im Vergleich dazu so verdrängt und wenig diskutiert, ja kaum erwähnt wurde. Palästina war das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, auch wenn ihnen das Leben in Ägypten (und häufiger noch im Libanon) ein neues Umfeld bot. Als Kinder wurden meine Schwestern und ich von »schlechten Menschen« abgeschirmt wie auch von allem, was unsere »kleinen Köpfe« verwirren könnte, wie meine Mutter es häufig ausdrückte. Die Verdrängung Palästinas aus unserem Leben war jedoch Bestandteil einer umfassenderen Entpolitisierung auf Seiten meiner Eltern, die alle Politik hassten und ihr misstrauten und sich in Ägypten zu gefährdet fühlten, um sich aktiv einzumischen oder gar Diskussionen anzuzetteln. Politik schien immer nur andere Menschen zu betreffen, niemals uns. Als ich zwanzig Jahre später begann, mich politisch zu betätigen, stieß das bei meinen Eltern auf größtes Missfallen. »Es wird dich zu Grunde richten«, sagte meine Mutter. »Du bist Literaturprofessor«, meinte mein Vater. »Bleib dabei.« Seine letzten Worte an mich, wenige Stunden vor seinem Tod, lauteten: »Ich mache mir Sorgen darüber, was die Zionisten dir antun werden. Sei vorsichtig.« Mein Vater und wir Kinder waren vor der Politik Palästinas sämtlich durch unsere amerikanischen Pässe wie durch einen Talisman geschützt, so dass wir – verglichen mit den Schwierigkeiten ‘der weniger Privilegierten und Glücklichen in jenen Kriegs- und Nachkriegszeiten – mit scheinbar lächerlicher Leichtigkeit an
Zoll- und Grenzbeamten vorüberschlüpften. Meine Mutter jedoch besaß keinen Pass der Vereinigten Staaten. Nach dem Fall Palästinas gab sich mein Vater – bis zum Ende seines Lebens – alle Mühe, meiner Mutter irgendein USDokument zu verschaffen, allerdings ohne Erfolg. Als seine Witwe versuchte sie es ebenfalls bis zum Ende ihres Lebens, und auch sie scheiterte. Mit einem palästinensischen Pass, der bald durch einen Passierschein ersetzt wurde, erschien uns meine Mutter auf Reisen wie eine etwas sonderbare Last. Mein Vater erzählte gern die Geschichte (und meine Mutter wiederholte sie ebenso gern), wie ihr Dokument unter unseren Stapel ordentlicher grüner US-Pässe gelegt wurde, in der vergeblichen Hoffnung, der Beamte würde sie so mit uns durchlassen. Das trat niemals ein. Jedes Mal wurde ein vorgesetzter Beamter herbeigerufen, der mit ernster Miene und vorsichtigen Worten meine Eltern für Erklärungen zur Seite nahm, für kurze Belehrungen, gar Warnungen, während meine Schwestern und ich verständnislos und gelangweilt herumstanden. Wurden wir schließlich durchgelassen, erklärte man uns mit keinem Wort, dass die anomale Existenz meiner Mutter, die sich in einem peinlichen Dokument verkörperte, die Folge einer vernichtenden kollektiven Erfahrung der Enteignung war. Und sobald wir dann im Libanon waren, in Griechenland oder in den Vereinigten Staaten, war die Frage der Nationalität meiner Mutter binnen weniger Stunden vergessen, und der Alltag verlief wieder in den gewohnten Bahnen. Nach 1948 begann Tante Nabiha, die sich in Zamalek etwa drei Blocks von unserer Wohnung entfernt niedergelassen hatte, mit ihrer einsamen, aufreibenden Wohltätigkeitsarbeit für die palästinensischen Flüchtlinge in Ägypten. Zunächst besuchte sie die englischsprachigen Wohlfahrtseinrichtungen und Missionen der protestantischen Kirchen, darunter die
Church Mission Society (CMS) und die anglikanischen und presbyterianischen Missionen. Kinder und Krankheiten waren ihre vordringlichsten Themen. Später versuchte sie den Männern und in einigen Fällen auch den Frauen Arbeit in den Wohnungen und Geschäften von Freunden zu verschaffen. Bei Tante Nabiha erinnere ich mich am deutlichsten an ihr müdes Gesicht und ihre trübselig klagende Stimme, mit der sie vom Elend »ihrer« Flüchtlinge (wie wir alle sie nannten) ebenso berichtete wie von der noch größeren Mühsal, der ägyptischen Regierung, die keine Aufenthaltserlaubnisse für länger als einen Monat ausstellen wollte, Zugeständnisse abzuringen. Diese kalkulierte Schikane gegenüber wehrlosen, enteigneten und gewöhnlich sehr armen Palästinensern ließ meiner Tante keine Ruhe. Sie erzählte unaufhörlich davon und vermischte das Ganze mit herzzerreißenden Berichten über Unterernährung, Kinderruhr und Leukämie, über zehnköpfige Familien, die in einem Raum hausten, Frauen, die von ihren Männern getrennt waren, verzweifelte und bettelnde Kinder (was sie ganz besonders erbitterte), Männer mit unheilbarer Hepatitis, Bilharziose, Leber- und Lungenkrankheiten. Sie erzählte uns all das Woche für Woche über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren. Mein Vater, ihr Bruder, war ihr engster Vertrauter und Freund. Das Verhältnis zwischen ihr und meiner Mutter war stets von Höflichkeit, wenn auch nicht von Liebe geprägt. (»Sie war eifersüchtig auf mich, als ich ihn heiratete«, sagte meine Mutter.) Die beiden Frauen, die im Leben meines Vaters eine so wesentliche Rolle spielten, schlossen nach seiner Heirat offenkundig einen Pakt, der Zusammenarbeit, Gastfreundschaft, Gemeinsamkeit, aber keine Nähe erlaubte. Ich hatte mit ihr eine ganz besondere Beziehung – sie war auch meine Patentante –, die sich auf ihrer Seite in fast peinlichen Zärtlichkeiten äußerte, auf meiner Seite in dem Gefühl, dass es
eine lohnende Erfahrung war, sie zu sehen, ihr zuzuhören und bei der Arbeit zuzuschauen. Durch Tante Nabiha erfuhr ich Palästina zum ersten Mal als Geschichte und als Ursache für die Wut und Bestürzung, die ich angesichts des Leidens der Vertriebenen empfand, jener »anderen«, die sie in mein Leben einbrachte. Durch sie erahnte ich auch zum ersten Mal, welches Elend damit verbunden ist, kein Land, keinen Ort zu haben, wohin man zurückkehren könnte, von keiner nationalen Autorität oder Institution beschützt zu werden, der Vergangenheit keinen Sinn mehr abgewinnen zu können außer bitterer, hilfloser Trauer, ganz zu schweigen von der Gegenwart mit ihrem täglichen Schlangestehen, mit der angsterfüllten Suche nach Arbeit, voller Armut, Hunger und Demütigungen. Ich bekam einen sehr lebendigen Eindruck von alldem aus ihren Gesprächen und indem ich ihr tägliches, wahnwitzig hohes Arbeitspensum beobachtete. Sie hatte genug Geld für einen Wagen und einen außergewöhnlich geduldigen Fahrer: Osta Ibrahim in einem schicken dunklen Anzug, mit weißem Hemd und dunklem Schlips, dazu ein roter Fez, der Tarbusch, der von achtbaren Ägyptern der Mittelschicht getragen wurde, bis die Revolution von 1952 dem ein Ende machte. Um acht Uhr morgens begann er mit ihr den Tag, fuhr sie um zwei zum Essen nach Hause, holte sie um vier wieder ab und stand ihr bis acht oder neun Uhr abends zur Verfügung. Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen und Regierungsbehörden waren ihre täglichen Ziele. Am Freitag blieb sie gewöhnlich daheim und empfing Menschen, die von ihr gehört hatten und nun Hilfe und Unterstützung erhofften. Es war ein ziemlicher Schock, als ich eines Freitags bei einem Besuch kaum zur Tür ihres Hauses hereinkam. Sie wohnte im zweiten Stock eines Hauses an einer der verstopftesten, lärmendsten Kreuzungen der Fuad alAwwal-Straße. An der einen Ecke befand sich eine Shell-
Tankstelle und unter ihrer Wohnung ein bekannter griechischer Lebensmittelladen, Vasilakis, der das gesamte Erdgeschoss einnahm. Das Geschäft war immer voller Kundschaft, deren wartende Autos den Verkehr blockierten und ein wütendes, kakophones Dauerhupen auslösten, das zudem von heiseren Schreien und Ausrufen überlagert wurde. Aus irgendeinem Grund ließ sich meine Tante von diesem unglaublichen Lärm nicht stören, und in ihren seltenen freien Augenblicken zu Hause benahm sie sich, als sei sie in der Sommerfrische. »Wie ein Kasino«, sagte sie über den abendlichen Krach – für sie war ein »Kasino« kein Spielkasino, sondern erstaunlicherweise ein imaginäres Café im Grünen, in dem es immer ruhig und kühl war. Als ich versuchte, ins Haus zu gelangen, kam zu dem ohrenbetäubenden Straßenlärm noch das Geschrei, ja das Jammern von Dutzenden Palästinensern hinzu, die sich auf der Treppe bis zu ihrer Wohnungstür drängten, nachdem der mürrische und empörte sudanesische Pförtner in seiner Wut den Fahrstuhl außer Betrieb genommen hatte. In diesem wogenden, wimmelnden Menschenmeer gab es lediglich einen Hauch von Ordnung: Meine Tante weigerte sich, mehr als einen Bittsteller auf einmal einzulassen, mit dem Ergebnis, dass sich im Verlauf eines sehr langen Tages Größe und Ungeduld der Menge kaum verringerten. Als ich schließlich ihren Salon betrat, saß sie still auf einem Stuhl mit gerader Lehne, ohne einen Tisch oder irgendwelche Papiere vor sich. Sie hörte einer Frau mittleren Alters zu, die ihr mit tränenüberströmtem Gesicht eine elende Geschichte von Armut und Krankheit berichtete, die meine Tante nur zu größerer Energie und Entschlusskraft anzuspornen schien. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten diese Pillen nicht mehr nehmen«, sagte sie gereizt. »Die machen Sie nur benommen. Tun Sie, was ich sage, und ich werde Ihnen weitere fünf Pfund von der Kirche beschaffen, wenn Sie versprechen, die Pillen
abzusetzen und regelmäßig Wäsche zum Waschen anzunehmen.« Die Frau begann Einwände zu erheben, aber meine Tante schnitt ihr gebieterisch das Wort ab. »Das wär’s. Gehen Sie nach Hause und vergessen Sie nicht, Ihrem Mann zu sagen, dass er diese Woche wieder zu Dr. Haddad gehen soll. Ich werde besorgen, was er verschreibt. Aber sagen Sie ihm, er soll hingehen.« Die Frau wurde entlassen, und eine weitere kam herein, mit zwei Kindern im Schlepptau. Ich saß etwa zwei Stunden lang still dabei, während die traurige Parade unablässig weiterging. Gelegentlich holte meine Tante ein Glas Wasser aus der Küche, aber sonst saß sie unerschütterlich da und nahm einen verzweifelten Fall nach dem anderen in Angriff, verteilte Geld, medizinische und bürokratische Ratschläge zum Umgang mit den Behörden, half Kinder in Schulen unterzubringen, die sie hatte überreden können, diese verzweifelten, hilf- und verständnislosen Wesen aufzunehmen, vermittelte Frauen als Dienstmädchen oder Bürohilfen und Männer als Träger, Boten, Nachtwächter, Fabrikarbeiter und Krankenpfleger. Ich war damals dreizehneinhalb Jahre alt und erinnere mich noch heute an Dutzende Details, Gesichter, leidenschaftliche Beschwörungen, den sachlichen Ton meiner Tante, aber mir ist wohl niemals in den Sinn gekommen, dass dieses ganze traurige Schauspiel die unmittelbare Folge einer Politik und eines Krieges war, die auch meine Tante und meine eigene Familie betroffen hatten. Es war dies meine erste Begegnung mit dem Versuch, die Schwierigkeiten der palästinensischen Identität zu lindern, wie sie mir durch meine Tante und durch das Elend und die Machtlosigkeit der palästinensischen Flüchtlinge vermittelt wurden, deren Situation nach Hilfe verlangte, nach Mitgefühl, Geld und Zorn. Der beherrschende Eindruck aus dieser Zeit blieb der eines dauerhaften medizinischen Ausnahmezustands. Ohne
Unterstützung durch ein sichtbares Büro oder eine Institution erschien mir die Arbeit meiner Tante für die Menschen, die sie freiwillig unter ihre Fittiche nahm, wahrhaft hippokratisch: Sie war wie eine einsame Ärztin mit ihren Patienten, ausgestattet mit einer erstaunlichen Disziplin und der moralischen Aufgabe, den Kranken zu helfen. So viele dieser palästinensischen Flüchtlinge schienen zusammen mit ihrem Land auch ihre Gesundheit verloren zu haben. Die neue ägyptische Umgebung bot ihnen nicht nur keine Nahrung, sondern erschöpfte sie nur weiter, selbst als sowohl die vorwie auch die nachrevolutionären Regierungen immer wieder ihre Unterstützung für Palästina beteuerten und schworen, sie würden den zionistischen Feind vertreiben. Noch heute klingen mir die Radiosendungen in den Ohren, sehe ich die herausfordernden Zeitungsüberschriften auf Arabisch, Französisch und Englisch vor mir, die all dies einer im Grunde tauben Bevölkerung einhämmerten. Für mich zählte damals mehr das Detail, das vorgelebte Unglück der kranken, verwirrten Menschen, und das einzige Heilmittel dafür fand sich in dem persönlichen Engagement und jener Art unabhängigen Denkens, die es einer kleinen Frau mittleren Alters gestatteten, alle möglichen Hindernisse zu überwinden, ohne ihren Willen oder ihre Überzeugung zu verlieren. Über ihre politischen Vorstellungen, wie immer sie aussehen mochten, wurde in meiner Gegenwart kaum je gesprochen – sie schienen damals überflüssig. Von zentraler Bedeutung war der rohe, fast brutale Kern des palästinensischen Leidens, das sie jeden Morgen, Mittag und Abend zu ihrer Sache machte. Niemals predigte sie, niemals versuchte sie, andere für ihre Sache zu gewinnen. Sie arbeitete einfach ohne Hilfe und allein, aus eigenem Antrieb und eigenem Willen. Drei oder vier Jahre nach dem Beginn ihrer Arbeit tauchte ein schattenhafter junger Mann als persönlicher Sekretär auf, aber er wurde bald wieder
fortgeschickt, und erneut war sie allein. Niemand schien mit ihr Schritt halten zu können. Ihr medizinischer Partner war Dr. Wadie Baz Haddad, unser Hausarzt, ein gedrungener, kräftig gebauter silberhaariger Mann, der ursprünglich aus Jerusalem stammte, aber in Shubra, einem der ärmsten Viertel Kairos, gelebt hatte, seit er in Beirut sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Nach seinem Tod im August 1948 wurde sein Platz sofort von seinem Sohn Farid eingenommen. Meine Tante stützte sich außerdem auf Wadies jüngeren Bruder Kamil, der eine Apotheke auf der anderen Straßenseite besaß und die palästinensischen Mündel Tante Nabihas allem Anschein nach mit einer beträchtlichen Menge kostenloser oder fast kostenloser Medikamente versorgte. Dr. Wadie fand in keinem historischen Bericht über jene Zeit Erwähnung, doch unter Kairos Armen spielte er wegen seiner verblüffend wirksamen, aber nirgendwo gewürdigten wohltätigen Arbeit und – laut meiner Mutter und Tante Nabiha – wegen seinem Genie als Diagnostiker eine bemerkenswerte Rolle. Er unterhielt gute Beziehungen zum CMS-Krankenhaus (das damals an der Straße nach Maadi lag, unmittelbar hinter Qasr al-cAini, dem großen staatlichen medizinischen Ausbildungs- und Krankenhauskomplex) und ich gewann den Eindruck, dass meine Tante dank seiner Hilfe ihre Patienten dort günstig oder kostenlos unterbringen konnte. Ich kann mich noch an seine kurz angebundene Art erinnern, wenn er seine Stahlnadeln und gläsernen Spritzen in einem kleinen Metallkasten über einem winzigen zusammenklappbaren Spirituskocher sterilisierte, den er in seiner Tasche mit sich trug. War einer von uns krank, kam er immer zu uns nach Hause, verabreichte seine Medikamente und Ratschläge jedes Mal in großer Eile und ging wieder davon, ohne auch nur einen Schluck von dem angebotenen Kaffee oder der Limonade zu sich zu nehmen.
Meinem Vater zufolge war es außerdem stets so, dass er sich weigerte oder »vergaß«, eine Rechnung auszustellen. Dr. Haddad war ruhelos und allgegenwärtig. Telefonisch war er selten zu erreichen, aber wie bei meiner Tante wusste man, dass er an zwei oder drei Nachmittagen der Woche zu Hause war, und da Wohnung und Praxis im Grunde eins waren, sammelten sich Dutzende Menschen ohne Termin – allesamt arme Ägypter – vor seiner Tür. Als eher schweigsamer Mann ließ er sich niemals auf Geplauder ein, und er achtete darauf, nie so lange zu bleiben, dass dies erforderlich würde. Seine Frau Ida, eine hagere Deutsch-Schwedin, war eine Vorläuferin der heutigen Jesus-Freaks und erzählte den vorwiegend einheimischen Patienten ihres Mannes im Wartezimmer von Maria und Josef und ihrem kleinen Sohn. Frida Kurban, eine schon etwas ältere Libanesin, die bei jedermann als Tante oder Miss Frida bekannt war und als Hausmutter an einer örtlichen Mädchenschule arbeitete, kannte Frau Haddad ziemlich gut und wurde niemals müde, uns von den Bemühungen der verrückten alten Schwedin zu berichten, wie sie einen Haufen armer Bewohner von Shubra (ausschließlich Muslime) zu bekehren versuchte. Sie hatte sie von der Straße weg ins Wohnzimmer eingeladen, alle Lichter ausgeschaltet, sie mit einer Dia-Vorführung beglückt und dabei unermüdlich ihren Sermon von der Heiligen Familie, der Erlösung und den Vorzügen christlicher Tugend heruntergeleiert. Die gelangweilten und verwirrten Fremden, die begriffen hatten, dass die ältliche Ausländerin sie gar nicht wirklich wahrnahm, schnappten sich derweil alles, was nicht niet- und nagelfest war – eine Vase, einen Teppich, eine Schachtel –, und verschwanden aus Dr. Haddads bescheidenem Wohnzimmer. Nach etwa einer Stunde war das Zimmer leer geräumt, während der gute Doktor auf seiner Runde war und seine Frau beseelt weiterpredigte.
Im Verlauf unseres ersten Besuchs in den Vereinigten Staaten, im Spätsommer 1948, erhielt mein Vater ein Telegramm mit der Nachricht, dass der Doktor gestorben sei – er möge doch bitte Geld für das Begräbnis schicken. Dr. Haddad hatte seiner Familie keinen Pfennig hinterlassen, Ida war natürlich völlig überfordert, und Farid, der älteste Sohn, saß damals als Kommunist im Gefängnis. Er hatte gerade sein Medizinstudium abgeschlossen, als er verhaftet wurde. Immerhin ließ man ihn ein paar Monate später wieder frei. Sobald er konnte, wurde er der medizinische Helfer meiner Tante und lebte auf die gleiche selbstvergessen-engagierte Weise wie sein Vater, kümmerte sich weder um Geld noch um seine Karriere – nur dass er im Unterschied zu seinem Vater und bis zu seinem Tod im Gefängnis Ende 1959 ein zutiefst politischer Mensch war. Er stimmte mit meiner Tante perfekt überein. Sie schickte Palästinenser zu ihm, er behandelte sie kostenlos, und es hatte den Anschein, als würden die täglichen Sorgen, mit denen er zu tun hatte, ihn nicht erschüttern, sondern vielmehr stärken. Vierzig Jahre später entdeckte ich, dass selbst seine Freunde aus der Kommunistischen Partei ihn für einen Heiligen hielten, nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Dienste, sondern auch wegen seines stets ausgeglichenen, gütigen Temperaments. Während meines letzten Jahres am College Mitte der fünfziger Jahre begegnete ich Farid ziemlich oft (er war wie ich ein Absolvent britischer Kolonialschulen), aber er war übertrieben zurückhaltend, wenn er über seine Politik oder seine außermedizinische Tätigkeit sprechen sollte. Palästina kam in all unseren Gesprächen über mindestens ein Jahrzehnt niemals zur Sprache. Er war vielleicht zwölf bis fünfzehn Jahre älter als ich und hatte, noch sehr jung, Ada geheiratet. Er hatte zwei (oder vielleicht drei) Söhne und schaffte es irgendwie, sein häusliches Leben in Heliopolis, wo er seine Familie und eine
Praxis für Leute aus der Mittelschicht untergebracht hatte, seine wohltätige Arbeit in der alten Praxis in Shubra und dem CMS-Krankenhaus sowie seine zunehmend geheime politische Aktivität auseinander zu halten. Als ich mit etwa achtzehn mein erstes Jahr in Princeton verbrachte, wo meine Erscheinung auf eigenartige Weise das Bild eines kurzgeschnittenen amerikanischen Erstsemesters mit dem eines bourgeoisen kolonialen Arabers verband, der sich für die palästinensischen Armen interessierte, versuchte ich ihn darüber auszufragen, was seine Arbeit und sein politisches Leben »bedeuteten«. Ich erinnere mich noch an sein freudiges Lächeln. »Wir müssen eine Tasse Kaffee zusammen trinken, um darüber zu diskutieren«, sagte er, als er zur Tür ging. In Gesellschaft begegneten wir uns nie. Als ich mich jedoch allmählich mit arabischer Geschichte und Politik vertraut machte, konstruierte ich mir eine Erklärung für das, was ihm als einem Opfer der allgemeinen Unruhe und des aufgewühlten Nationalismus der frühen Nasser-Jahre widerfuhr. Er war ein Aktivist, überzeugtes Mitglied der Kommunistischen Partei, ein Arzt, der die Arbeit seines Vaters fortführte, und Parteigänger einer sozialen und nationalen Sache, die er und ich weder diskutieren noch, abgesehen von der Tatsache unserer Geburt, überhaupt benennen konnten. Ich hatte keine Ahnung, dass er 1958 zunehmend von seiner Familie und auch von der meinigen unter Druck gesetzt wurde, die Partei zu verlassen. Diese übte ihrerseits starken Druck auf ihn aus, sich ungeachtet der persönlichen Konsequenzen noch stärker zu engagieren. An jenem Tag Ende Dezember 1959, als er in seiner Wohnung in Heliopolis zur Vernehmung bei der Staatssicherheit abgeholt wurde, war ich weit fort auf dem College. Zwei Wochen später kam seine Frau Ada – aufgelöst und nur halb bekleidet – schreiend in die anglikanische Kirche von Heliopolis, wo sie den wöchentlichen arabischen
Gottesdienst unterbrach. »Sie sind an die Tür gekommen und haben mich aufgefordert, Farid an der örtlichen Polizeistation abzuholen. Ich dachte, sie würden ihn freilassen, aber als ich dort hinkam, sagte ein Mann hinter einem Schreibtisch, ich sollte mit drei oder vier Männern wiederkommen. Als ich nach dem Grund fragte, sagte er nur: um Farids Sarg zu tragen.« Sie war viel zu verzweifelt, um mehr berichten zu können, und wurde von einem Mitglied der Gemeinde nach Hause gebracht, während mein Vetter Yousif mit drei Freunden zur Polizeistation fuhr. Von dort führte man sie zu einem heruntergekommenen Friedhof in Abbasiya, wo ein Offizier und zwei Soldaten in Hemdsärmeln auf sie warteten. Diese bewachten ein offenes Loch, an dessen einem Ende eine einfache hölzerne Kiste stand. »Sie können den Sarg in die Erde lassen, aber einer von Ihnen muss zuerst eine Quittung unterschreiben. Sie dürfen die Kiste weder öffnen noch irgendwelche Fragen stellen.« Farids verwirrte palästinensische Freunde taten in ihrem Kummer, was man ihnen gesagt hatte, woraufhin die Soldaten schnell Erde in das Loch schaufelten. »Jetzt müssen Sie gehen«, sagte der Offizier kurz und verweigerte ihnen abermals ausdrücklich das Recht, den Sarg ihres Freundes zu öffnen. Farids Leben und Tod bilden jetzt seit über vierzig Jahren ein untergründiges Motiv in meinem Leben, auch wenn diese Jahre nicht immer Zeiten der Bewusstheit oder des aktiven politischen Kampfes waren. Da ich in den Vereinigten Staaten völlig außerhalb sozialer und politischer Kreise lebte, die in irgendeinem Kontakt zu Farid hätten stehen können, hatte ich das Gefühl, ich bräuchte nötigenfalls Jahre, um genau herauszufinden, was ihm nach seiner Verhaftung widerfahren war. 1973, bei einem Aufenthalt in Paris, machte mich ein palästinensischer politischer Vertreter dort mit zwei ägyptischen Kommunisten aus jener Zeit bekannt. Sie
berichteten, Farid sei ums Leben gekommen, nachdem man ihn im Gefängnis geschlagen habe. Sie hatten das Verbrechen freilich nicht mit eigenen Augen gesehen, waren sich aber »ihrer Quellen« sicher – ein Ausdruck, der die ganzen idiotischen Dritte-Welt-Posen, die Geheimnistuerei und die Atmosphäre verstohlener Wichtigtuerei jener Zeit enthielt. Als ich zwanzig Jahre später in Kairo war und zum ersten Mal an diesen Erinnerungen arbeitete, machte mich meine Freundin Mona Anis mit einem älteren Kopten, Abu Seif, und seiner Frau – »Tante Alice« – bekannt, engen persönlichen Freunden von Farid. Bei unserem Besuch wurde mir dann allerdings klar, dass Abu Seif sogar Farids unmittelbarer Vorgesetzter innerhalb der Parteihierarchie gewesen war. Mona und ich besuchten das betagte Paar, das nun zurückgezogen und vereinsamt in einer deprimierenden Erdgeschosswohnung nilaufwärts von Bulaq in einem großen Wohnblock im rumänischen Stil lebte, als sollten auch sie der Vergessenheit anheimfallen. Die Wohnung war dunkel, staubig und heiß, trotz der sorgfältig angeordneten Möbel und Tante Alices Tee und Keksen. Ich fragte sie, ob ihres Wissens Farids Frau und Söhne nach ihrer Auswanderung nach Australien irgendeine Adresse hinterlassen oder Kontakt mit ihren alten Freunden gesucht hätten. Beide verneinten traurig, so als wollten sie deutlich machen, dass das Kapitel mit Farids Tod abgeschlossen war. Alice holte ein sorgfältig aufbewahrtes Hochzeitsbild des jungen Paares – Farid in einem schicken Anzug, die untersetzte, hübsche Ada in einem weißen Taffetkleid –, so dass wir gemeinsam diesem flüchtigen Augenblick ehelicher Ruhe nachsinnen konnten, den die beiden einmal genossen hatten. Später bekam ich das Foto geschenkt, vielleicht wegen meines anhaltenden Interesses an der Sache, die so viele Jahre lang buchstäblich begraben gewesen war. »Er wurde direkt ins
Gefängnis gebracht – ich habe das selbst gesehen – und ausgezogen, wie wir alle. Ein Kreis von Wächtern stand um uns herum, die dann mit Keulen und Stöcken auf uns einschlugen. Das hieß bei allen nur die Begrüßungszeremonie. Farid wurde sofort zum Verhör geholt, obwohl, er bereits schwer verletzt war und unter Schock zu stehen schien, er war sehr wacklig auf den Beinen. Sie fragten ihn, ob er ein russischer Arzt sei – wir waren sämtlich Linke und Angehörige verschiedener kommunistischer Gruppen; seine und meine hieß ›Arbeiter und Bauern‹ –, und er antwortete: ›Nein, ich bin ein arabischer Arzt.‹ Der Offizier verfluchte ihn und schlug etwa zehn Sekunden auf Farids Kopf ein, dann war es vorbei. Farid fiel tot um.« Erst nach unserem Besuch bei den Abu Seifs fiel mir die Frage ein, ob sie wussten, dass Farids Vater Palästinenser gewesen war – doch da war es zu spät. Ich nahm an, dass er für sie in erster Linie ein Genosse gewesen war, Angehöriger einer christlichen Minderheit (wie sie). Vielleicht hielten sie ihn auch für einen Shami. Außerdem vermutete ich, dass angesichts der zahlreichen jüdischen Mitglieder in der ägyptischen kommunistischen Bewegung Farid wohl nicht viel über seine Herkunft gesprochen hatte, weil das zu Spannungen hätte Anlass geben können. Dass ich mit Farid zu seinen Lebzeiten niemals die Palästina-Frage diskutieren konnte, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie verdrängt Palästina als politisches Thema in meinem frühen Leben war. Eine noch problematischere, wenn auch ebenso unerklärliche Rolle spielte Palästina jedoch – auf Grund des allgemeinen Schweigens und in meinem Fall der teilweisen Unwissenheit – in dem sich langsam herausbildenden Konflikt zwischen meinem Vater und seinen Geschäftspartnern: meinen Vettern und meiner Tante Nabiha. George, ihr zweiter Sohn, und seine Frau Huda waren Mitte 1948, wenige Monate vor dem Fall
Palästinas, nach Kairo gekommen. Als kurz danach auch noch Yousif und seine Frau Aida auf dem Weg über Amman eintrafen, kam es zwischen den beiden jüngeren Männern und meinem Vater zu beträchtlichen Spannungen. Als Familie waren wir nun noch mehr zusammengedrängt, nun, da es kein Jerusalem mehr gab, in das man zurückkehren konnte. Aber die große Frage lautete: Wer leitet die Geschäfte, und diese Frage hatte ihren Ursprung in einer Geschichte, deren Interpretation sich zwischen ihrem Zweig der Familie und dem unseren stark unterschied. Für mich spielte meine Mutter die Rolle des Chefhistorikers und natürlich loyalen Interpreten. Es stimmte, sagte sie – Onkel Boulos (ein Vetter ersten Grades meines Vaters und Ehemann seiner Schwester) hatte um 1910 das Geschäft in Jerusalem gegründet. Aber es war nur ein kleines Bücher- und Papiergeschäft gewesen, bis Wadie um 1920 aus den Vereinigten Staaten zurückkam. Er steckte einiges Geld in die Palestine Educational Company seines Vetters – niemand wusste genau wie viel, denn er machte, wie meine Mutter immer betonte, niemals Aufzeichnungen –, und bald wurden sie gleichberechtigte Partner. Meiner Mutter zufolge brachte Wadie eine Menge neuer amerikanischer Ideen ein, führte das Unternehmen auf neue wagemutige Wege und zu unerwartetem Wohlstand. Einige Jahre später ging er nach Ägypten, weil Palästina ihm zu klein und eng erschien, gründete in Kairo Standard Stationery und verschaffte sich die Vertretungen für Firmen wie Royal-Schreibmaschinen, Sheaffer-Füllfederhalter, ArtMetal-Möbel und Monroe-Rechenmaschinen, die mir von Kindheit an vertraut waren. Bald übertraf Kairo Palästina in den Umsätzen. Während dieser Zeit (1929-1940), so behaupteten später meine älteren Vettern und wohl auch Tante Nabiha, habe Boulos immer die Leitung innegehabt. Zum Beweis hatten sie Hunderte Seiten von Boulos’
handgeschriebenen Briefen an meinen Vater in Kairo aufbewahrt. Ich erinnere mich, dass ich nur einen dieser Briefe gesehen habe, da mein Vater, der ganz in seiner Arbeit aufging, Aufzeichnungen für unnötig hielt – ganz im Gegensatz zu der fast jesuitischen Manie seines Vetters, erbarmungslos jede Kleinigkeit schriftlich festzuhalten und aufzubewahren. Meine Vettern besaßen offensichtlich die Durchschläge dieser ausführlichen Ergüsse, und damit konnten die beiden in der überhitzten Atmosphäre der Zeit nach 1948 zu ihrer Zufriedenheit belegen, dass mein Vater stets als ein untergeordneter Verwalter gegolten hatte, als ein Partner, der von einem älteren, klügeren Manager in Schach gehalten werden musste, welcher wirklich die Verantwortung trug und wusste, wie man ein Geschäft auch aus großer Entfernung richtig leitete. George und Yousif schienen im Verlauf dieser äußerst unschönen Auseinandersetzung eine Krise nach der anderen im Geschäft meines Vaters auszulösen. Vielleicht wurden sie dabei auch von meiner Tante angespornt, der es ihrerseits auf irgendeine Weise gelang, die enge Beziehung zu ihrem Bruder aufrechtzuerhalten. Wir erhielten nur wenig Einblick in das Ganze, und zwar nur durch die häufig anspielungsreichen und bewusst unvollständigen Darstellungen meiner Mutter. Angesichts der gleichsam Baconschen, ausweichenden, unausgesprochenen Abneigung meines Vaters, die Vergangenheit als einen Zustand zu betrachten, der dargestellt, analysiert und beurteilt werden musste, konnte er seine schockierten und sehr wütenden Reaktionen auf die Provokationen seiner Neffen vermutlich nur gegenüber seiner Frau zum Ausdruck bringen. Anscheinend warf man ihm ständig Dinge wie eine zu hohe Kreditaufnahme vor, oder dass er zu sehr »Verkäufer« sei – das Wort erhielt dabei eine hässliche, abschätzige Färbung – oder auch, dass er den beiden
jüngeren Männern nicht mehr Verantwortung übertragen wollte. Mein Vater fragte mich einmal – wobei er zweifellos auf die managerhaften Neffen und ihre Verunglimpfung von Verkäufern anspielte –, was zum Teufel wir denn eigentlich die ganze Zeit täten, wenn nicht verkaufen, unter Einsatz von Vertretern, die vor allem verkaufen konnten. Kurz nach seiner Ankunft in Kairo wurde Yousif die Leitung des Geschäfts in Alexandria übertragen, aber schon nach wenigen unglücklichen Monaten in der, wie er meinte, Provinz kehrte er in die Hauptstadt zurück. Trotz allem fanden während dieser ganzen Zeit weiterhin regelmäßige Familienzusammenkünfte statt – ein Ergebnis der besonders verschlossenen und formbewussten Einstellung der gesamten Familie: Mittagessen, Abendessen und Picknicks – in unserem Haus oder unter der Ägide meines Vaters –, ohne dass wir Kinder auch nur die geringste Spur von Spannungen hätten wahrnehmen können. Als ich 1951 Kairo verließ, um nach Amerika in die, wie mir schien, Verbannung zu ziehen, war das gesamte Verhältnis zwischen dem Kairoer und dem Jerusalemer Zweig unserer Familie unter Geschäftsaspekten irreparabel zerrüttet. Ich hatte damals das Gefühl, für all das sei der Verlust Palästinas verantwortlich, aber weder ich noch irgendein anderes Mitglied meiner Familie hätte genau angeben können, in welcher Weise oder warum. Irgendetwas lag von Grund auf im Argen, und das war uns allen, die wir als Ausländer in Ägypten lebten, ohne auf unsere eigentliche Herkunft zurückgreifen zu können, durchaus bewusst. Die Häufigkeit, mit der Begriffe wie Pässe, Aufenthaltserlaubnisse oder Personalausweise, Staatsbürgerschaft und Nationalität in den Gesprächen auftauchten, nahm im gleichen Maße zu wie unsere Verletzlichkeit auf Grund der politischen Entwicklung in Ägypten und der arabischen Welt. In den Jahren 1948, 1949 und 1950 ging der britische Einfluss in Ägypten zurück, und
ebenso wurden Macht und Prestige der Monarchie zunehmend beeinträchtigt. Im Juli 1952 kam es zur Revolution der Freien Offiziere, wodurch unsere Interessen als wohlhabende ausländische Familie unmittelbar bedroht waren, denn für Unseresgleichen hatte die ägyptische Gesellschaft nicht viel Unterstützung übrig. Mein Eindruck ist der, dass meine Vettern in Ägypten zu Beginn nicht so entfremdet waren wie mein Vater – vielleicht auf Grund ihrer Jugend, ihrer besseren Kenntnis des Arabischen oder auch ihrer (anfänglichen) Bereitschaft, sich mit der Situation zu arrangieren. Dies verstärkte die innerfamiliären Spannungen beträchtlich. Seinen eigenen Kindern sagte mein Vater so gut wie nichts, aber von meiner Mutter erfuhr ich einmal, dass George – der mir immer als wohlwollender, bebrillter, etwas professoraler Typ erschienen war, wenn er zum Essen kam und auf dem Klavier Chopins Grande Valse brillante in Es-Dur und Schuberts Militärmarsch spielte – sich sogar mit meinem Vater geschlagen hatte. Das fand ich ungeheuer aufregend, und ich war hin- und hergerissen zwischen der Befriedigung, dass auch ein anderer einmal meines Vaters Schläge hatte einstecken müssen, und der unrealistischen Hoffnung, dass vielleicht nun endlich auch mein Vater einmal zum Opfer eines stärkeren Gegners geworden war. Immer ging es um die Frage, wer das Recht habe, Entscheidungen zu fällen, und weil sich dieses Recht nicht (wie es Yousif versuchte) gänzlich aus Jerusalem und der Vergangenheit ableiten ließ, wirkte mein Vater immer kampfbereiter, während wir doch zur gleichen Zeit als Gruppe mit einem abweichenden nationalen Status (meine Tante, ihre Kinder und wir sieben) immer enger zusammenrücken mussten. Ich war mir bewusst, dass ich eine ganze Reihe von Themen – wie schon das Tabuthema Sex – nicht ansprechen oder auch nur irgendwie andeuten durfte: die Vergangenheit
meines Vaters, sein Geld (denn inzwischen konnte ich vor schuldbewusster Scham und auf Grund meiner Hemmungen mit ihm überhaupt nicht mehr über Geld reden – es verschlug mir dann buchstäblich die Sprache), Palästina und eben die schwelenden innerfamiliären Auseinandersetzungen. Meine Mutter erwähnte mehrfach, es sei doch sehr bedauerlich, dass »euer Vater« oder »Daddy« niemals auf Boulos’ schulmeisternde Briefe aus Jerusalem geantwortet habe und dass er so ein anständiger Mann sei, der die Briefe niemals aufgehoben habe, so dass es stets Yousif sei, der ihn mit dem Wortlaut eines dieser Briefe behelligen könne. Immer wieder geriet mein Vater dadurch in eine nachteilige Position, die Atmosphäre war erfüllt von Anspielungen und unausgesprochenen Vorwürfen und Gegenvorwürfen. Das ging so weit, dass wir ermahnt wurden, darauf zu achten, was wir in Gegenwart meiner Tante sagten, und keinerlei Einladungen zum Essen anzunehmen. Dann plötzlich, im späten Frühjahr 1948, während sich die Familienauseinandersetzungen verschärften und die politische Situation sich verschlechterte, verkündete uns mein Vater, wir alle würden nach Amerika fahren; nur meine beiden jüngsten Schwestern Joyce, fünf, und Grace, zwei Jahre alt, sollten zurückbleiben. Den außergewöhnlichen Schritt, den wir da unternahmen, begriff ich nicht wirklich. In jenem Frühjahr hatte ich an der CSAC noch intensiver mit amerikanischen Mitschülern zu tun, weil ich in einem von der Schule organisierten Musical überraschend eine Rolle erhalten hatte (wie ich vermutete, vor allem auf Grund meines südländischen Aussehens). Es hieß »Verzauberte Insel« und war eine reichlich sentimentale Amerikanisierung von Chopins Aufenthalt auf Mallorca mit George Sand. Das Liebesmotiv wurde dabei noch durch die Einführung einer spanischen Familie hervorgehoben, deren junge Tochter sich
vorübergehend in den weitläufigen und beneidenswert brillanten Chopin verliebt. Ich spielte Papa Gomez, Margaret Osborn, ein Mädchen aus der zehnten Klasse, war Mama Gomez, und den Chopin gab Bob Fawcett, ein verpickelter Amerikaner mit einer angenehmen Tenorstimme. Die ganze Idee einer Theateraufführung als »Schulaktivität« war mir neu. Auch an der GPS waren Stücke aufgeführt worden, aber dort hatten Diener den größten Teil der körperlichen Arbeiten erledigt. Das Spiel an sich war von einer Lehrerin scharf kontrolliert worden, und eine anmaßende Regisseurin aus dem Lehrkörper hatte die Schüler (sogar die begabte Micheline Lindell) wie Marionetten behandelt. Bei der »Verzauberten Insel« hatten dagegen selbst die jüngeren Kinder etwas zu tun und agierten als Bühnenarbeiter oder Statisten. Unter den Schülern gab es Zimmerleute und Maler, Souffleure und Chormitglieder. Wir alle wurden von Miss Ketchum beaufsichtigt (das Wort ist einen Hauch zu stark), einer energischen sechsundzwanzigjährigen Englischlehrerin mit großen Zähnen, die für alle möglichen Sonderaufgaben zuständig war. Ich erinnere mich voller Verlegenheit, dass ich einmal die Stille der »Arbeitsstunde« (eines Abschnitts des Schultags, wie man ihn an englischen Schulen nicht kennt) störte, indem ich sie ziemlich laut fragte, was das Wort »Vergewaltigung« bedeute. Miss Ketchum, die gelegentlich von der älteren, extrem nervösen Miss Guille unterstützt wurde, führte uns durch die Albernheiten der »Verzauberten Insel«, in der meine Rolle als ältlicher Vater der schmachtenden Conchita darin bestand, ihre Aufmerksamkeit von Chopin weg und hin zu einem leicht vertrottelten Dorfjungen namens Juan zu lenken, der als passende Partie galt. Jedem kurzen Dialog zwischen den einzelnen Figuren folgte eine »Nummer«, die (wie ich fand) auf abscheulich vereinfachten, banalen und hymnenähnlichen Versionen von
Chopins Berceuse, der »Militär«-Polonaise, der Valse Brillante in Es-Dur und der Des-Dur-Melodie aus dem Trauermarsch basierte, wobei Letztere in der »Verzauberten Insel« als munteres, wenn auch reichlich bizarres Liebesduett in Erscheinung trat. Das alles war unglaublich verwirrend für mich: ein zwölfeinhalbjähriger Junge, der einen Mann mittleren Alters spielte, einen Vater, Ehemann und Spanier, vor dem Hintergrund eines verstümmelten, verjazzten Chopin, ganz zu schweigen von der amerikanischen Gruppenatmosphäre, die mir mein Fremdheitsgefühl und mein Unbehagen noch deutlicher vor Augen führte als vor der Aufführung. Mitten in diesen Trubel fiel die Ankündigung unserer Reise, von der ich dann in meiner Einfalt den gleichgültigen Mitspielern berichtete. Es waren zwei Aufführungen des Stücks vorgesehen, und zur zweiten kamen auch meine Eltern, wobei meinen Vater, wie er sagte, besonders die Tatsache beeindruckte, dass ich bereits eine Frau hätte. Meine Mutter umarmte mich mit der für sie charakteristischen einhüllenden Wärme, während mich die Worte meines Vaters gleichermaßen irritierten und in Verlegenheit brachten. Wir standen mit den anderen Eltern und Schauspielern herum, tranken Punsch, plauderten nett mit verschiedenen aufgeregten Lehrerinnen. Nur die gestrenge Miss Clark bewahrte ihre gewichtige Würde und hielt sich rauchend und trinkend etwas abseits. Das kastanienbraune Haar hatte sie zu einem bedrohlich topplastigen Knoten aufgesteckt. Mein Vater verbrachte einige Zeit mit der vergeblichen Suche nach dem »amerikanischen Gesandten«, dem Leiter der »amerikanischen Gesandtschaft«, ein Lieblingsthema seiner Tischgespräche (es gab noch keine Botschaft; die Briten genossen in Kairo noch den stärkeren, wenn auch ständig abnehmenden Einfluss).
All dies war einen Tag vor unserer Einschiffung in Alexandria. Unsere Mutter scheuchte Rosemarie, Jean und mich von einem sonnenbeschienenen Pier voller Menschen eilig auf den italienischen Überseedampfer Saturnia. Mein Vater folgte uns und verteilte Trinkgelder und knappe Befehle an das kleine Heer lokaler Träger, die unsere zahlreichen Lederkoffer schleppten. Obwohl mir Schulfreunde von den italienischen Liniendampfern berichtet hatten, war mir noch nie etwas so Ausländisches, so Ungeheures und von Grund auf Unvertrautes begegnet. Alles daran faszinierte mich – von der Sprache bis zu den glänzenden weißen Uniformen der Stewards und Offiziere, von den schimmernden Tischgedecken und dem reichhaltigen nicht-arabischen Essen bis zu den raffiniert eingerichteten Kabinen mit ihren sauberen kleinen Bullaugen und höflich surrenden Deckenventilatoren. Kaum waren wir wieder auf Deck erschienen, um die majestätisch langsame Abfahrt des Schiffes mitzuerleben, als mir mein Vater (unter Verwendung des halb zärtlichen, halb spöttischen »Eddie boy«, das er benutzte, seit ich die CSAC besuchte) auch schon verkündete: »Deine Frau ist auch an Bord.« Seine Augen funkelten mutwillig, als er mir die gute Nachricht mitteilte – er wusste genau, wie verlegen mich das machte. Abgesehen von jener Art normaler Gemeinschaft, wie ich sie zwischen meinen Eltern und auch bei ihren Freunden wahrnahm, hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, was eine Ehefrau war, obwohl das Wort einen ungehörigen Beiklang bekam, sobald es auf mich angewendet wurde, auf einen lächerlichen Papa Gomez, dessen Bühnengattin Margaret Osborn zufällig ebenfalls auf der Saturnia mitfuhr. Ich begegnete ihr nur einmal, als sie auf einer Treppe an mir vorbei nach unten hüpfte, aber wir begrüßten uns nicht und gaben uns noch nicht einmal ein Zeichen des Wiedererkennens. Mein Vater fragte mich oft nach ihr, und das
vertiefte nur noch die Kluft zwischen uns. Meine Schwestern und ich waren uns kaum darüber im Klaren, dass unsere Reise in Wirklichkeit unternommen wurde, weil mein Vater sich behandeln lassen musste. Er hatte nie ein Wort über irgendeine Krankheit verloren, obwohl meine Mutter – in ihrer üblichen Art des »darüber solltest du dir deinen kleinen Kopf nun wirklich nicht zerbrechen« – geheimnisvolle Andeutungen über einen gewissen bedeutenden amerikanischen Arzt gemacht hatte, den sie konsultieren wollten. Der Grund für die Reise kam auf der Saturnia ansonsten niemals wieder zur Sprache. Mein Vater spielte viel Bridge, gesellte sich zum Mittag- oder Abendessen im geräumigen Speisesaal erster Klasse zu uns oder weitaus seltener auch zu einer warmen Brühe um elf auf dem Hauptdeck. Sobald ich an Bord war, erlebte ich abwechselnd Augenblicke der Sorge um die Gesundheit meines Vaters (was mir die beunruhigenden Tage von Ramallah im Sommer 1942 in Erinnerung rief), die durch seine plötzlichen Ausfälle und Predigten über die Gefahren der Selbstbefleckung, über meine immer schlechtere Haltung und meine Verschwendungssucht noch verschärft wurden, und andererseits längere Phasen selbstvergessenen Vergnügens am Luxus des Bordlebens. Ich spielte Shuffleboard, Tischtennis und fast jeden Abend Bingo und gestattete mir herrliche ausgedehnte Forschungsausflüge durch das großzügig ausgestattete Schiff, das ich eigenartigerweise als durchweg freundlich, ja wohlwollend weiblich empfand. Zu meiner großen Freude entdeckte ich, dass ich gegen die Verheerungen hohen Seegangs unempfindlich war. Als wir unter heftigem Stampfen die Straße von Messina passierten, blieb jedes andere Mitglied meiner Familie in elendem Zustand in seiner Kabine gefangen; ich dagegen konnte ungestört die Einsamkeit der leeren Salons, Bars, Erholungsbereiche und Decks genießen. Es gab jede Menge amerikanische Magazine,
jeden Abend Filme, eine kleine Tanzkapelle spielte in verlassenen Ballsälen, und Dutzende italienischer Stewards in weißen Uniformen, deren Anonymität der meinen wunderbar entsprach, sorgten für meine Unterhaltung und für sehr gutes Essen. Die Saturnia lief Athen, Neapel, Genua, Marseille und Gibraltar an. Abgesehen von Gibraltar fuhren wir jeweils einige Stunden lang durch jede der düsteren, vom Krieg verwüsteten Städte; es folgte ein undefinierbares Mittagessen in einem örtlichen Restaurant, bevor wir zum Schiff zurückkehrten und unsere Reise fortsetzten. Nur Neapel schien etwas Besonderes, denn nach einem hastigen Besuch in Pompeji, wo wir die für Kinder verbotenen Mosaike nicht betrachten durften, aßen wir in der Nähe des Hafens Spaghetti. Dort konnten wir auch einen Seemann »Santa Lucia« singen hören, ein Lied, dessen Aufnahme mit Caruso zu den Lieblingsplatten meines Vaters gehörte. Aber von all unseren Tagesausflügen blieb mir am stärksten das Gefühl in Erinnerung, dass wir eine abgeschlossene kleine Gruppe bildeten, eine Art Luftschiff, das über neuen fremden Orten schwebte: Wir suchten unseren Weg durch ausländische Städte, blieben jedoch von ihnen unberührt. Als wir zum ersten Mal nach New York kamen, rückte wieder einmal das Problem in den Vordergrund, dass meine Mutter nach dem Fall Palästinas zu einer Unperson geworden war. Vor allem hätte sie sich, um einen dauerhaften US-Pass zu erhalten, längere Zeit im Lande aufhalten müssen, und das wollte sie nicht. Bei jeder Regierungsbehörde, in jeder Anwaltspraxis, die wir in New York aufsuchten, bekam sie zu hören, der Daueraufenthalt sei unabdingbar. Meine Eltern waren dazu verständlicherweise nicht bereit, und in den folgenden sieben oder acht Jahren wurde die Suche nach irgendeiner Möglichkeit, das Erfordernis eines zweijährigen
Aufenthalts zu umgehen, mit unvermindertem Eifer fortgesetzt. Die Ironie der fruchtlosen Bemühungen meiner Mutter um eine Staatsbürgerschaft liegt darin, dass sie nach 1956 mit Hilfe des libanesischen Botschafters in Ägypten erfolgreich die libanesische Staatsbürgerschaft beantragte. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1990 reiste sie mit einem libanesischen Pass, auf dem geheimnisvollerweise ihr Geburtsort von Nazareth in Kairo umgeändert worden war. Schon in den fünfziger Jahren – die Saat des libanesischen Bürgerkriegs war bereits zwanzig Jahre vor seinem eigentlichen Ausbruch ausgesät – schien demnach eine ägyptische Herkunft offensichtlich weniger anstößig als eine palästinensische. Alles ging gut bis in die späten siebziger Jahre, als sie, fast ein Jahrzehnt nach dem Tod meines Vaters, wegen ihres libanesischen Passes in große Schwierigkeiten geriet, jedes Mal wenn sie Visa für Europa oder die Vereinigten Staaten bekommen und die Einwanderungsgrenzen überschreiten wollte: Libanesen galten plötzlich als Synonym für potenzielle Terroristen, und so sah sich meine überempfindlich stolze Mutter abermals auf ungehörige Weise stigmatisiert. Wieder einmal erkundigten wir uns nach der amerikanischen Staatsbürgerschaft – schließlich schien sie als Witwe eines Veteranen des Ersten Weltkriegs und als Mutter von fünf Bürgern dieser Ehre durchaus würdig –, nur um erneut gesagt zu bekommen, sie müsse ihren Wohnsitz in den Vereinigten Staaten nehmen. Wiederum weigerte sie sich und zog die Mühen eines Lebens ohne Telefon, Elektrizität und fließend Wasser in Beirut den Annehmlichkeiten New Yorks oder Washingtons vor. Dann brach erneut ihr Brustkrebs aus, der im Januar 1983 von einem Chirurgen in Beirut operiert worden war. Sie wusste vielleicht, dass das Ende nahe war, obwohl sie zugleich die Chemotherapie ablehnte – aus Furcht vor den
Nebenwirkungen, wie sie mir sagte. 1987 kaufte sie sich eine Eigentumswohnung in Chevy Chase im Staate Maryland und lebte dort – mit ihrem Besuchervisum – über immer längere Zeiträume. Regelmäßig suchte sie ihren Arzt auf, den sie mochte, dessen Ratschläge sie jedoch hartnäckig zurückwies. Als sie im März 1990 das Bewusstsein verlor, lief eines dieser Visa ab, und meine Schwester Grace, die bei ihr wohnte und sie selbstlos pflegte, musste sich während der allerletzten Lebenstage meiner Mutter mit Abschiebedrohungen herumschlagen. Dem machte schließlich ein zorniger Richter ein Ende: Er rügte den Anwalt der Einwanderungs- und Naturalisierungsbehörde, weil dieser eine im Koma liegende Frau von Mitte siebzig hatte abschieben wollen. Nachdem sie selbst einen kurzzeitigen Wohnsitz in dem Land abgelehnt hatte, starb meine Mutter schließlich in Amerika und wurde auch dort begraben, in jenem Amerika, das sie immer zu meiden versucht und im Grunde nie gemocht hatte, an das sie aber zunächst durch ihren Mann, dann durch ihre Kinder und schließlich durch ihre letzte Krankheit unausweichlich gefesselt war. All dies hatte begonnen, als wir Anfang Juli 1948 mit der Saturnia im Hafen von New York eingelaufen waren. Palästina war gefallen, und ohne dass wir es ahnten, wandten sich unsere Lebensläufe nun den Vereinigten Staaten zu, und dort begann der Prozess, in dessen Verlauf sich bei meiner Mutter wie bei mir der Krebs entwickelte, der unser beider Leben in der Neuen Welt beenden sollte. Ich habe von unserer Ankunft am Pier der italienischen Reederei in New York absolut kein klares Bild mehr vor Augen und weiß auch nicht mehr, was ich empfand, als ich die Umrisse des vollkommen fremden neuen Raums wahrnahm, den wir erstmals betraten. Ich erinnere mich nur an die wehmütige Verlorenheit des weiten Erste-Klasse-Salons, der in einen schäbigen Raum mit Schreibtischen und Stühlen für die
Zollinspektoren und die ziemlich große Gruppe der einreisewilligen Passagiere umgewandelt worden war – zum ersten und letzten Mal sah man sie hier alle zusammen. Im Gegensatz dazu blieb mir eindrucksvoll unser erster Anblick von Nordamerika in Erinnerung: wie unvorhergesehen, ja – einer Bemerkung meines Vaters entnahm ich das – wie enttäuschend dieser Eindruck war, denn Wind und Nebel hatten uns unerwartet weit nach Norden getrieben. Früh am Morgen, etwa zwei oder drei Tage vor der Ankunft in New York, gingen wir beide an Deck, während wir in den Hafen von Halifax einliefen. Der Nebel war sehr dicht, wir konnten kaum ein paar Meter über den Bug des Schiffes hinaus sehen, und in der Ferne läutete traurig klagend eine Glocke. In der Nähe der Brücke hing eine Karte mit unserer Überfahrtroute aus. Darauf konnte ich unseren gewundenen Weg nach Neuschottland verfolgen, der beträchtlich von unserem ursprünglich südlichen Kurs abgewichen war. Wir waren in jenem Westen angelangt, von dem ich geträumt hatte – wenn es auch weder Hollywood noch die mythischen Schluchten von New York City waren, sondern eine kleine, überaus stille und menschenleere Kleinstadt, deren Charakter man an diesem Morgen vom Deck der Saturnia aus unmöglich erkennen konnte. In New York stiegen wir in dem gut geführten und modernen Commodore Hotel an der East Forty-second Street ab. Mein Vater hatte 1946 dort gewohnt, denn es lag in der Nähe des Firmensitzes von Royal-Schreibmaschinen, Ecke Park Avenue und Thirty-fourth Street. Uns alle beeindruckten die weißen Handschuhe der Fahrstuhlführer und natürlich die ungeheure Geschwindigkeit, mit der wir zur 35. Etage hinauf und wieder hinunter expediert wurden. Der Hahn für Eiswasser rief gewaltiges Staunen hervor. (»Wadie«, sagte meine Mutter, »warum können wir das nicht auch in Kairo haben? Das Leben
wäre so viel leichter.« Er gab darauf einfach keine Antwort – so hatte er es sein Leben lang mit meiner Mutter und mir gehalten, wenn er eine Frage für dumm hielt.) Die schnurgeraden Straßen, der Wald hoher Gebäude, die lärmenden, aber schnellen Untergrundbahnen, die allgemeine Gleichgültigkeit und gelegentliche Grobheit der New Yorker Fußgänger – all dies stand in krassem Gegensatz zu Kairos verschlungenem, müßigem, chaotischerem und dennoch weniger bedrohlichem Stil. In New York schenkte uns niemand die geringste Beachtung, und wenn doch, so meinte meine Mutter, dann herablassend und gönnerhaft, als seien wir behindert durch unseren Akzent und unser allzu geschniegeltes Aussehen. Auch mir ging das so, als ich bei unserem fünften Besuch im Automatenrestaurant von Horn and Hardart an der Forty-second Street wiederholt zum Zapfhahn für Milch ging, zwei Mal vergaß, ein Glas darunter zu stellen (und mich lächerlich machte, als ich regungslos zusah, wie die Milch in den Abfluss strömte), zwei Mal »Buttermilch« mit normaler Milch verwechselte und zwei Mal das bereits bezahlte Glas ziemlich sinnlos auf dem Tresen stehen ließ. Eine Woche lang absolvierten wir das Touristenprogramm: Metropolitan Museum, Hayden Planetarium, St. Patricks Cathedral, Central Park. Nur Radio City Music Hall konnte mich beeindrucken, weniger auf Grund der überwältigenden Bühnenshow als vielmehr wegen des Films A Date with Judy, mit Jane Powell, George Brent, Carmen Miranda und Lauritz Melchior. Diese üppige Technicolor-Welt entsprach dem Bild, das ich mir von Amerika gemacht hatte. Während der Film vorüberflimmerte, vergaß ich, der ich in meinem tiefen Samtsessel in verführerischer Dunkelheit vergraben war, bald das reale Amerika da draußen. Das zeigte sich jetzt von einer erheblich problematischeren Seite, denn wir hatten erfahren, dass mein Vater im September operiert werden musste, und in
den bis dahin verbleibenden vier oder fünf Wochen musste eine Unterbringung für die Kinder gefunden werden. Ich erinnere mich an einen langen Besuch im Büro der Zeitschrift Parents an der Vanderbilt Avenue, wo meine Mutter zwei Kataloge für Sommerlager durchblätterte, einen für Jungen, einen für Mädchen: zwei wurden schließlich ausgewählt (Maranacook in Maine für mich, Moymadayo, ebenfalls in Maine, für Rosy und Jean). Die telefonischen Anmeldungen waren schnell erledigt, ein Einkaufstrip zu Best and Co. versorgte uns mit der erforderlichen Ausrüstung, und einen Tag später nahmen wir den Boston & Maine-Schlafwagenzug von Grand Central in Richtung Portland. An unsere Ankunft dort früh am nächsten Morgen kann ich mich nur vage erinnern: lediglich an eine gewisse Benommenheit, ein Gefühl dumpfer Machtlosigkeit. Zum ersten Mal in meinem Leben sollte ich für einen längeren Zeitraum von beiden Elternteilen getrennt sein. Ich verglich ihre beruhigende Kleidung, ihren Akzent und ihre Gestik mit dem jovialen, aber völlig unzugänglichen A. B. Dole (dem zweiten Lagerführer, auch kurz A. B. genannt) und mit Mr. Heilman. Beide trugen gestreifte Leinenanzüge und weiße Schuhe und holten uns in Portland ab, um mich in die Stadt Winthrop mitzunehmen, einige Kilometer vom Lager entfernt. Ich wurde in aller Eile abgeliefert – ein Kuss von meiner Mutter, sie drückte mich kurz an sich, dann die bärenähnliche Umarmung meines Vaters samt seinem »Viel Glück, mein Sohn«, und die Übergabe war erledigt. Wir fuhren in völligem Schweigen davon, ich auf dem Rücksitz des Kombiwagens, die beiden Männer vorne. Ich war einen Monat lang in Maranacook und erhielt in dieser Zeit vielleicht zwei Briefe und eine Postkarte von meinen Eltern (aus Chicago). Ich war in einer Hütte mit sechs anderen Zwölfjährigen und einem Gruppenführer untergebracht, dem
siebzehnjährigen Jim Murray, und merkte, dass ich die tägliche Routine von kleineren Arbeiten, Reiten, Schwimmen, Hufeisenwerfen, Softball, Kanufahren auf ganz angenehme Weise hinter mich brachte – eine unaufhörliche Abfolge von Ereignissen, in der sich mein verworrenes Leben in Kairo zu wiederholen schien. Da ich größer und stärker war als die meisten anderen Camper der »Mittelstufe«, erlangte ich schnell einen gewissen Ruf, ein Gewinn für das Schwimm- und Softball-Team zu sein. Ich war »Ed Said, der Wunderknabe aus Kairo«. Von meinen Hüttengenossen hinterließen nur zwei einen bleibenden Eindruck bei mir: ein freundlicher New Yorker namens John Page und der theatralische, nervöse und redegewandte Tom Messer, der jede Nacht ins Bett machte und deshalb mit zusätzlichen Laken versorgt werden musste. Das Lagerleben war geprägt von einer gewissen Eintönigkeit, bis mir eine Begebenheit erneut meine fremde, unsichere und überaus provisorische Identität vor Augen führte. An einigen Abenden fuhren wir mit Booten hinüber zu einer Insel inmitten des Lake Maranacook, um dort zu picknicken, am Lagerfeuer zu singen und Geschichten zu erzählen. Jener besondere Abend war trübe und bedeckt, kühl und feucht, unfreundlich. Wir standen herum und warteten darauf, dass die Feuer entzündet und die Marshmallows und Würstchen zum Rösten vorbereitet wurden, und ich selbst empfand eine einsame Ziellosigkeit. Wo war ich? Was tat ich hier in einer amerikanischen Umgebung, die überhaupt keine Beziehung aufwies zu dem, der ich war, oder auch nur zu dem, der ich nach drei Jahren an einer amerikanischen Schule in Kairo geworden war? Die Mahlzeit war kärglich: ein Würstchen, vier Marshmallows, ein Häufchen Kartoffelsalat. Nachdem das Essen ausgeteilt war, wanderte die Gruppe näher ans Ufer. Es wurde lustlos ein bisschen gesungen, dann begann einer der älteren Leiter – ein untersetzter Mann mittleren Alters mit
silberweißen Strähnen im Haar, der mich an bösartige amerikanische Indianer in Hollywood-Western erinnerte –, eine Geschichte von einer Kolonie roter Ameisen zu erzählen, die einem schlafenden Mann ins Ohr drangen und sein Gehirn zerstörten. Ruhelos schlenderte ich fort aus dem unangenehm schaurigen Kreis um den Geschichtenerzähler, hinüber zu der still vor sich hin glimmenden Holzkohle. Auf dem Tisch lagen noch ein paar Würstchen herum, ich war hungrig und dachte, es würde niemandem schaden, wenn ich schnell eines davon hinunterschlang, obgleich ich es verstohlen tat und dabei nicht gesehen werden wollte. Nachdem wir zurück zum Lager gerudert waren, gab mir Murray ein Zeichen, ihm zum See zu folgen. »Hör zu, ich habe gesehen, wie du das Würstchen genommen hast«, begann er, während ich voller Scham und in wortloser Verlegenheit vor ihm stand. »Das war gemein. Jeder von uns hat nur ein Würstchen bekommen. Wieso glaubst du, dass du dir einfach eines auf diese Weise klauen kannst?« Er schwieg ein paar Sekunden. Ich konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen, wusste aber, dass darin sein Zorn, seine Missbilligung, ja vielleicht sogar sein Hass geschrieben stand. »Wenn du dich nicht änderst und dich benimmst wie die anderen, dann werde ich Dole und Heilman sagen, dass sie dich heimschicken sollen. So etwas wollen wir hier nicht.« Ich fand mich bildlich gesprochen am Abgrund und brabbelte deshalb Entschuldigungen und idiotische Erklärungen und bat inständig, man möge mich nicht heimschicken, weil mir das schrecklichen Ärger einbringen würde. Ich stellte mir die Tränen meiner Mutter vor und bezeichnenderweise zugleich ihren beißenden Zorn. Ich malte mir aus, wie mich mein Vater in sein Zimmer winkte, um mich durchzuprügeln. In diesem Moment hatte ich keine Ahnung, wo meine Eltern gerade waren, aber ich stellte mir mehrere Tage grässlicher
Seelenqualen vor, falls sie zurück nach Portland kommen müssten, um mich abzuholen: noch mehr Schande, strengere Bestrafung, noch größere Scham und Angst. Aber mehr hörte ich nicht von Murray, der sich in die Nacht abgewandt hatte und es mir selbst überließ, in mein feuchtes, unbequemes Bett zurückzufinden. Erst Jahre später, als ich Stendhal las, erkannte ich die gleiche Art Deformation bei Julien Sorel, der ohnmächtig wird, als er plötzlich vom direkten Blick eines Priesters getroffen wird. Ich empfand mich als schmachvollen Außenseiter in einer Welt, aus der Miss Clark und Murray mich ausschließen wollten. Nationalität, sozialer Hintergrund, die wahre Herkunft und frühere Missetaten schienen sämtlich zu meinem Problem beizutragen. Ich sah keine Möglichkeit, die Geister los zu werden, die mich von Schule zu Schule verfolgten, von Gruppe zu Gruppe, von Situation zu Situation. So beschloss ich seit dieser Erfahrung zu leben, als sei ich eine einfache, durchsichtige Seele. Ich würde nicht über meine Familie oder meine Herkunft sprechen, außer wenn unbedingt nötig, und auch dann nur sehr zurückhaltend. Mit anderen Worten: Ich würde wie die anderen werden, so anonym wie möglich. Die Spaltung zwischen »Edward« (oder »Said«, zu dem ich bald wurde), meinem öffentlichen, äußeren Ich, und den verantwortungslosen, fantasiebeladenen, aufwühlenden Metamorphosen meines privaten Innenlebens war sehr markant. Später wurden die Eruptionen aus meinem Inneren nicht nur häufiger, sondern waren auch schwieriger zu kontrollieren. Die verbleibende Zeit in Maranacook verlief weitgehend in Routine, da ich mich dort überhaupt nicht mehr wohl fühlte und erst recht nicht mit meinen Lagergenossen. Murray sprach kaum noch mit mir wie auch ich nicht mehr mit ihm. In einem weiteren Erlebnis verdichtete sich gleichsam die Besonderheit
eines Lagersommers, der für mich Spaß und Sinn verloren hatte und stattdessen leer oder gar lästig geworden war: Meine Altersgruppe unternahm einen Kanutrip mit Übernachtung; dazu gehörten auch eine Tragestrecke von einem See zum nächsten durch die leeren Wälder Maines sowie lange Fahrtstrecken, auf denen wir unter sengender Sonne über Seen mit bräunlichem Wasser paddelten. In meinem Kanu saß ich im Heck und ein weiterer Camper im Bug. Zwischen uns, behaglich ausgestreckt, lag ein Gruppenleiter, Andy, mit einem langen tschechischen Namen, der in seinem glänzenden roten Badeanzug samt Mokassins stundenlang pfeiferauchend in einem Buch las, dessen Titel und Inhalt ich nicht entziffern konnte. Eigenartigerweise löste er, sobald er mit dem linken Zeigefinger schnell eine Seite herabgefahren war, das Blatt fein säuberlich aus dem Buch, knüllte es zu einer Kugel zusammen und warf es lässig in den See. Für einen kurzen Moment schaute ich zurück auf die Reihe tanzender Papieropfer von Andys zerstörerischer Lesegewohnheit und fragte mich, was das bedeuten mochte. Da ich keinen vernünftigen oder auch nur einsichtigen Grund entdecken konnte (außer dass er nicht wollte, dass nach ihm noch jemand anderes das Buch las), führte ich es auf einen Aspekt des amerikanischen Lebens zurück, den ich nicht zu durchschauen vermochte. Jedenfalls weiß ich noch, dass ich später dachte, dass dahinter der Wunsch stehen könnte, keine Spuren zu hinterlassen, ohne Geschichte oder die Möglichkeit einer Rückkehr zu leben. Zweiundzwanzig Jahre später fuhr ich an den Ort, wo meiner Meinung nach das Lager gelegen hatte. Ich fand nur noch die verlassenen Hütten vor, die zunächst ein Motel geworden waren, anschließend irgendeine Rentnerkolonie und dann gar nichts mehr, wie mir der ältliche Verwalter aus Maine sagte. Vom Lager Maranacook hatte er nie gehört.
Die zweite Augusthälfte und die ersten beiden Wochen des September verbrachten wir in New York. Während mein Vater im Harkness Pavillon des Columbia-Presbyterian Hospital untergebracht war, wohnten meine Mutter und ich in einer nahegelegenen Pension. Meine beiden Schwestern waren bei Emily einquartiert, der Witwe meines Onkels Al, und ihren drei Kindern Abe (Abie), Charlie und Dorothy, allesamt mehrere Jahre älter als ich und Pendler von Queens zu verschiedenen Arbeitsplätzen in Manhattan – Abie bei einer Bank, Charlie in Fosters Papiergeschäft an der Forty-second Street und Dorothy bei der Firma Donnelley (dem Telefonbuchverlag) in der Gegend der Wall Street. Die Nierenoperation meines Vaters stand im Mittelpunkt unserer gesamten USA-Reise, obwohl mir selbst das Risiko erst am Abend vor der Operation erschreckend klar wurde. Es war seine zweite gesundheitliche Krise, die ich in meiner Jugend miterlebte, aber zum ersten Mal wurde mir die Möglichkeit seines Todes und eines Lebens ohne ihn bewusst. Die dritte Krise, dreizehn Jahre später, war bei weitem die schlimmste, aber die des Jahres 1948 verwirrte mich sehr, erfüllte mich mit Sorge und der Vorstellung seiner Schmerzen und beschäftigte mich wegen des möglichen Ausmaßes an künftiger Verzweiflung und Einsamkeit. Meine Eltern hatten Fouad Sabra, damals ein begabter junger libanesischer Krankenhausarzt, der am Columbia-Presbyterian Hospital seinen Facharzt in Neurologie machte, in das Restaurant »Cedars of Lebanon« in der Twenty-ninth Street eingeladen. Es waren noch zwei Tage bis zur Operation, und deshalb hatte Fouad dafür gesorgt, dass meine Eltern nach dem Essen mit einem Kollegen sprechen konnten, einem Australier namens Fred, wie ich mich erinnere; er arbeitete in der Urologie unter dem berühmten John Latimer, der die Operation vornehmen sollte. Mit dem Eifer des angehenden
Fachmanns übernahm es Fred, uns alles vorzutragen, was schief gehen konnte – Infektionen, Herzkomplikationen, Blutmangel und alles Mögliche sonst noch. Auf meinen Vater hatte das eine erschreckende Wirkung. Seinem Charakter entsprechend betrachtete er die kommende Prüfung als vielleicht Besorgnis erregend, aber jedenfalls unvermeidlich, während meine Mutter und ich glaubten, man müsse diese Operation unter allen Umständen vermeiden oder verschieben. Der arme Fouad versuchte verzweifelt, seinen Freund zum Schweigen zu bringen oder ihn doch wenigstens zu mäßigen und den unbändigen Wunsch des Mannes, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, in eine andere Richtung zu lenken – alles ohne Erfolg. Noch Jahre später, als Fouad längst wieder im Libanon arbeitete und Ellen Badr geheiratet hatte, die junge Kusine meiner Mutter, und nun selbst ein bedeutender Professor und Fachmann für Neurologie an der Amerikanischen Universität von Beirut geworden war, galt dieser Abend mit Fred als sprichwörtliches Beispiel dafür, was man vor einer Operation nicht tun sollte – ein Vorfall, über den sich mein Vater und Fouad mit gewaltigem Gelächter und unbekümmerten Scherzen auslassen konnten. Die Operation war erfolgreich. In der Niere fand sich nur eine Zyste und kein Tumor, aber dennoch musste das gesamte Organ entfernt werden. Zurück blieb eine enorme Wunde, die von hinten nach vorn über den Rumpf meines Vaters verlief. Für die beiden Wochen, die er im Harkness Pavillon verbrachte, stellte meine Mutter einen kleinen englischen Krankenpfleger ein. Wenn die zwei Männer mit dem Rollstuhl ausfuhren, trottete ich neben ihnen her. Im Übrigen blieb mir nur stille Beobachtung, und so verbrachte ich lange Stunden im angrenzenden Wartezimmer, während meine Mutter am Bett meines Vaters saß. Was auf mich kurzzeitig wie die dramatische Eröffnung einer Tragödie gewirkt hatte, war nun
hinausgeschoben. Wie der Fall Palästinas trat es hinter die neue Situation nach der Operation zurück, in der die Gesundheit und der Heilungsprozess meines Vaters in den Vordergrund rückten, und binnen kurzem war es dann in den Rhythmen unseres Alltagslebens untergegangen. Ich wurde schnell zu einem Zuschauer am Rande und ging neben dem Rollstuhl her, während mein Vater und der Krankenpfleger einsilbig plauderten. Als wir dann für einen Monat für Wadies »Genesung« (ein neues Wort für mich; mein Vater schien es mit beträchtlichem Genuss auszusprechen) in eine Suite des luxuriösen Essex House gezogen waren und er anfing, seine Besucher von Monroe, Royal-Schreibmaschinen und SheafferFüllfederhaltern zu empfangen, bestand er auf meiner Anwesenheit, obwohl ich zu diesen Begegnungen nichts beizutragen hatte. Da kaum etwas daran lohnend oder interessant war, überließ ich mich Ablenkungen und Tagträumen. Ein besorgter Pförtner hatte uns vor Spaziergängen im Central Park gewarnt. Sobald ich mich den elterlichen Anforderungen entziehen konnte, suchte ich daher meine Zuflucht in den ordentlichen und (erst recht nach Maranacook) belebten Straßen New Yorks, zwischen den Fußgängern, den unzähligen Läden, den Theatern und Kinos mit ihren Markisen, den winzigen Wochenschau-Kinos, der überwältigenden Zahl neuer Autos und Busse, dem bemerkenswerten Gedränge in den U-Bahnen, dem Dampf, der aus den Kanaldeckeln quoll, den tüchtigen und hilfsbereiten Polizisten (in Kairo waren das bloß Bauernjungen, sagten meine Eltern, und deshalb kannten sie nicht einmal die Namen der Straßen, auf denen sie Streife gingen). New Yorks ungeheuerliche Ausmaße, seine aufragenden, schweigenden, anonymen Gebäude reduzierten mich auf ein belangloses Atom und führten mich zu der Frage, was ich gegenüber
alldem eigentlich war. Dabei verlieh mir die Bedeutungslosigkeit meiner Existenz ein gespenstisches, wenn auch flüchtiges Gefühl der Befreiung – zum ersten Mal in meinem Leben. Während unseres New Yorker Aufenthalts tauchte Palästina nur fast unmerklich in Anspielungen auf und verschwand dann ebenso schnell wieder. Als mein Vater eines Morgens im Essex House die Zeitungen durchblätterte, hörte ich zum ersten Mal von Präsident Trumans Unterstützung für den Zionismus. Von da an gewann der Name Truman eine böse, ominöse Kraft, die ich auch heute noch empfinde. Wie jeder Palästinenser der vergangenen drei Generationen mache ich ihm zum Vorwurf, dass er bei der Übereignung Palästinas an die Zionisten eine entscheidende Rolle spielte. Wir waren nach unserer Rückkehr kaum eine Stunde in Kairo, als mir schon einer meiner älteren geflüchteten Verwandten mit einem anklagenden Zittern in der Stimme sagte: »Wie gefällt dir dein Torman? Wie kannst du ihn bloß ertragen? Er hat uns vernichtet!« (Auf Arabisch ist tor das Wort für »Bulle« und wird verwendet, um einen ebenso verstockten wie böswilligen Menschen zu bezeichnen.) Einer meiner Onkel erzählte mir, am Rockefeller Center würden Teenager Geld sammeln und dabei Plakate mit der Aufschrift »Gib einen Dollar und töte einen Araber« hoch halten. Er war niemals in New York gewesen und wollte sich die Geschichte von mir bestätigen lassen, was mir nicht möglich war. Seit meiner endgültigen Rückkehr in die Vereinigten Staaten ein paar Jahre später empfinde ich hinsichtlich des amerikanischen Verhältnisses zu Israel eine weitaus deutlichere Distanz als meine palästinensischen Zeitgenossen, die die USA zwar schlicht und einfach als zionistische Macht begreifen, aber keinerlei Widerspruch darin sehen, ihre Kinder dorthin aufs College zu schicken oder Geschäftsbeziehungen
mit US-Firmen zu unterhalten. Bis 1967 konnte ich die Unterstützung der Vereinigten Staaten für Israel von der Tatsache trennen, dass ich ein Amerikaner war, der dort eine Karriere anstrebte und jüdische Freunde und Kollegen hatte. Die Ferne jenes Palästina, in dem ich aufgewachsen war, das Schweigen meiner Familie über seine Bedeutung, dann sein langes Verschwinden aus unserem Leben, das sichtliche Unbehagen meiner Mutter bei diesem Thema und ihre spätere aggressive Abneigung sowohl gegenüber Palästina als auch der Politik im Allgemeinen, die fehlenden Kontakte zu Palästinensern während meiner elfjährigen Ausbildung in Amerika: All dies gestattete es mir in den ersten Jahren, in weiter Distanz zu jenem Palästina ferner Erinnerungen, unerlöster Trauer und verständnisloser Wut zu leben. Truman mochte ich nie, aber das wurde ausgeglichen durch meine überraschte Bewunderung für Eisenhowers resolute Haltung gegenüber Israel im Jahre 1956. Eleanor Roosevelt stieß mich ab mit ihrer eifrigen Unterstützung des jüdischen Staates. Trotz ihrer vielgerühmten, ja angepriesenen Menschlichkeit konnte ich ihr niemals verzeihen, dass sie nicht einmal ein kleines bisschen davon für unsere Flüchtlinge aufzubringen vermochte. Das Gleiche galt später für Martin Luther King, den ich von Herzen bewundert hatte: Es war mir unmöglich, die Wärme seiner Begeisterung für Israels Sieg im Krieg von 1967 zu begreifen (oder zu vergeben). Wohl als Ergebnis jener Reise von 1948 bildete sich in unserem Leben in Kairo eine Art politischer Landschaft der Vereinigten Staaten heraus, auf die sich meine Eltern regelmäßig bezogen. Dorothy Thompson gewann als Autorin eine große Bedeutung für uns, zum Teil, weil sie zu irgendeinem Anlass in Kairo erschien, bei dem auch meine Eltern anwesend waren, zum anderen, weil meine Mutter das Ladies’ Home Journal abonniert hatte und darin Thompsons
gelegentliche pro-arabische Artikel las. Ich habe sie niemals gelesen, erinnere mich jedoch gut an den positiven Klang, den ihr Name hatte, ebenso wie der Eimer Bergers und, etwas später, der von Alfred Lilienthal – beide ausgesprochen antizionistische Juden. Aber all das war fern und trat nur gelegentlich in den Vordergrund. Viel lebendiger und unmittelbarer war meine Erinnerung an die zahlreichen Davega-Läden in der Innenstadt, in denen man Van HeusenHemden und Baseballs kaufen konnte, an die großen Hallen von Best and Co. an der Fifth Avenue, wo meine Schwestern und ich für die Sommerlager ausgestattet worden waren, an die vielen Schrafft’s Kaffeebars, in denen meine Mutter gern zu Mittag aß oder nachmittags Kaffee trank. Wir kehrten mit der Excalibur nach Ägypten zurück, einem Schiff der American Export Line mit nur einer Klasse, kleiner als die Saturnia und nicht so gut ausgestattet. Die Kabinen mit zwei übereinanderliegenden Kojen wirkten nüchtern und kahl; sie waren schlecht beleuchtet und boten nur wenige Sitzmöglichkeiten. Kaum hatten wir Ende September New York verlassen, als wir in einen heftigen tropischen Sturm gerieten. Nicht nur mein Vater, dessen Wunde noch kaum verheilt war, blieb an seine Koje gefesselt, auch meine Mutter und meine Schwestern litten unter der Seekrankheit. Dreieinhalb Tage lang war ich praktisch auf mich allein gestellt. Wieder einmal hatte der Seegang keinerlei Wirkung auf meinen Magen oder meine Gemütsverfassung. Allerdings wurde das Schiff straffer geführt als die Saturnia, so dass ich die Bibliothek oder den Salon nicht verlassen durfte, um mich auf das sturmumtoste Deck zu wagen. Meine Mahlzeiten aus Sandwiches und Milch musste ich allein in der Bar einnehmen, mit einem traurig und deprimiert wirkenden Barmann als einziger Gesellschaft. Die letzten Tage unserer Reise bis in den Hafen von Alexandria verliefen friedlich und ereignislos,
während die Vereinigten Staaten hinter uns zurückzubleiben schienen wie eine Zwischenstation, an der wir kurz angehalten hatten, bevor wir unsere eigentliche Reise nach Kairo und mehr und mehr in den Libanon wieder aufnahmen. Als verlorenes Land fand Palästina kaum noch einmal Erwähnung, mit einer Ausnahme während meines letzten Jahres an der CSAC. Unmittelbar nach einer lebhaften Debatte über Joe Louis und Jersey Joe Walcott begriff ich plötzlich, worauf sich mein Freund Albert Coronel bezog, als er verächtlich von »sechs gegen einen« sprach. Der Ausdruck rüttelte mich auf, denn er schien allem zu widersprechen, was ich insgeheim für selbstverständlich hielt: dass Palästina uns von den Europäern genommen wurde, die zusammen mit (wie auch nach) den Briten kamen und unvergleichlich mächtiger, besser organisiert und moderner waren als wir. Ich war verblüfft, dass der Fall Palästinas einem Menschen wie Albert nur als eine weitere antijüdische Episode erscheinen sollte – er war ein enger Freund, der wie seine ältere Schwester Colette eine Weile mit mir an der GPS zusammen gewesen war und nun die CSAC besuchte, weil seine Familie (Juden mit spanischen Pässen) nach 1948 die Gefahr für ihre Kinder in einer feindseligen arabischen Umgebung gespürt hatte. Ich erinnere mich bis heute an das abrupt einsetzende Gefühl von Verblüffung und Befremdung, das ich ihm gegenüber verspürte, aber zugleich an die verwirrte (und widersprüchliche) Empfindung, die ich mit ihm teilte: wie unfair und tyrannisch diese sechs waren. Was Palästina anging, litt ich selbst unter einer Bewusstseinsspaltung, die ich bis vor kurzem weder aufheben noch vollständig begreifen konnte – ehe ich es schließlich aufgab. Der unversöhnliche Gegensatz, den dieser Ort vermittelt – zum einen sein Verlust, der verworrene, schmerzliche, wütende, trauervolle Gefühle auslöst und sich in so vielen gebrochenen Lebensläufen
einschließlich dem meinen niederschlägt, und zum anderen sein Status als gelobtes Land für sie (aber natürlich nicht für uns) –, dieser Gegensatz ist stets schmerzlich spürbar und vermittelt mir das entmutigende Gefühl, allein und wehrlos zu sein, ungeschützt gegenüber dem Ansturm wichtig und bedrohlich wirkender Trivialitäten, gegen die mir keine Waffen zur Verfügung stehen. Mein letztes Jahr an der CSAC, 1948/49 in der neunten Klasse, war sowohl unter schulischen als auch sozialen Gesichtspunkten eine traurige und beschränkte Angelegenheit. Ich hatte etwa vier Klassenkameraden und nur eine Klassenlehrerin, Miss Breeze, eine ältere Frau, die unter beängstigenden Zuckungen litt, sobald sie sich aufregte. Sie unterrichtete uns in Biologie, Mathematik, Englisch und Geschichte, während Französisch und Arabisch von unbedeutenden Ortskräften erteilt wurden und auf dem Stundenplan eher Phasen der Erholung als solche des Lernens bezeichneten. Es gab keine zehnte Klasse, und so wurde entschieden, ich sollte im darauf folgenden Jahr eine Schule besuchen, in der ich »gefordert« würde, wie Miss Breeze das in einem Brief an meine Eltern ausgedrückt hatte. Das hieß, dass ich die Aufnahmeprüfung für die Englische Schule in Heliopolis absolvieren musste. Die Prüfungsfragen waren uninteressant, machten mir jedoch deutlich, wie sehr meine Kenntnis von Englands grünen Wiesen hinter dem geforderten Niveau zurückblieb: Die Jahre an der CSAC waren für diese so andersartige Umgebung nicht besonders nützlich gewesen. Besser als der feine, abweisende Außenposten der Englischen Schule erschienen mir da die raueren, ausschließlich männlichen Gefilde des Victoria College (das mich ohne große Schwierigkeiten aufnahm). Meine Fremdheit und Andersartigkeit versperrten mir den Zugang zu der privilegierten Exklusivität der Englischen Schule – im
Gegensatz zu meinen Schwestern, die glänzende Beispiele fleißiger Schülerinnen abgaben, wohlgelitten waren und viele Freundinnen hatten, die häufig daheim zum Tee oder zu Geburtstagsfeiern erschienen. Jener letzte Frühling an der CSAC erschöpfte mich stärker denn je. Die Schule ähnelte immer weniger einer realen Institution, sondern glich vielmehr einer einklassigen Dorfschule, die von der allgegenwärtigen und sprunghaften Miss Breeze hektisch geleitet wurde. Alle älteren Schüler – Stan Henry, Dutch von Schilling und seine Schwester, Bob Simha, Margaret Osborn, Jeanne Badeau – waren fort, ebenso die meisten Lehrer außer offensichtlich überalterten und unvermittelbaren Geschöpfen wie Blow, wie wir Miss Breeze nannten. Für meine moralische und geistige Charakterbildung sorgte derweil der wöchentliche Katechismusunterricht an der All Saints Cathedral in der Sharia Maspero. Die Kirche selbst war Bestandteil eines großen Gebäudekomplexes am Nil, etwas nördlich der Qasr el-Nil-Kaserne der britischen Armee (heute steht an dieser Stelle das Nile Hilton). Ein eindrucksvoller Vorplatz samt Auffahrt gestattete es, mit dem Auto am Haupteingang der Kathedrale vorzufahren – die gesamte Örtlichkeit vermittelte jenes Gefühl monumentaler Macht und absoluten Selbstvertrauens, das den britischen Einfluss in Ägypten so deutlich prägte. Auf beiden Seiten der Kathedrale standen Gebäude mit Büros und Wohnungen für das Personal, zu dem ein Bischof, ein Erzdiakon und mehrere Patres gehörten, allesamt Briten. Der ganze Komplex wurde Ende der achtziger Jahre abgerissen, als eine Brücke über den Nil gebaut wurde. Vor allem durch Pater Fedden, den mir meine Eltern als einen heiligmäßigen Mann beschrieben hatten, der von anderen sehr beneidet werde, und Bischof Allen, der nominell die Leitung
innehatte, lernte ich das Gebetbuch der anglikanischen Kirche und die lebendigen Teile der Evangelien, insbesondere Johannes, zu schätzen (und ich habe sie bis heute nicht vergessen). Fedden wirkte zugänglicher und menschlicher als die anderen, aber ich empfand stets die Kluft zwischen dem weißen Mann und dem Araber, die uns letztlich trennte – vielleicht weil er sich in einer Autoritätsposition befand und es seine Sprache war, nicht die meine. Ich habe nicht mehr die geringste Ahnung, was wir in den wöchentlichen Katechismusstunden behandelten, erinnere mich aber an den ernsthaften Gesichtsausdruck Feddens, wenn er etwa »Im Anfang war das Wort« intonierte, Aspekte der Dreieinigkeit oder das Apostolische Glaubensbekenntnis erläuterte: »Am dritten Tag erstand er von den Toten, fuhr auf gen Himmel und sitzet zur Rechten Gottes, des Allmächtigen.« Ich besitze aus der Zeit noch mein Anglikanisches Gebetbuch, lese allerdings nur noch gelegentlich darin, um mich von der Gewöhnlichkeit der neuen, überarbeiteten Standardausgabe (oder wie immer das jetzt heißen mag) zu erholen. Mein Mitkatechet war ein amerikanischer Universitätsstudent, der acht oder neun Jahre älter war als ich – ein bebrillter Kopte namens Jimmy Beshai, dessen Interesse an Psychologie ihn irgendwie in die Arme der anglikanischen Kirche getrieben hatte. Gelegentlich lieferte er sich Streitgespräche mit Fedden über Punkte, von denen Beshai glaubte, sie könnten »experienzieller« gestaltet werden (ein Wort, das ich damals nicht kannte, das er mir jedoch eines Tages nach dem Unterricht geduldig erklärte), weniger abhängig von Glaube oder Vision, woraufhin Fedden jedes Mal und schließlich voller Ungeduld das Mysterium, das Drama, die Unerklärlichkeit verfocht. Ich bewunderte Feddens Glauben, ohne ihn ganz akzeptieren zu können, denn die gesamte Angelegenheit schien nur deshalb wichtig, weil meine
Familie auf diesem Konfirmationsritual bestand, nicht weil Gott mich angerührt hätte. Bischof Allens seltene Auftritte waren streng sachlich und ernüchternd. Er war offensichtlich in Oxford Dozent oder irgendein achtbarer Geistlicher gewesen und im Laufe der Jahre dann zu Erzbischof Geoffrey Allen aufgestiegen, Oberhaupt der ägyptischen, sudanesischen und irgendeiner anderen Diözese, die ich vergessen habe (vielleicht der äthiopischen), ein Mann von beträchtlicher Macht und administrativem Gewicht. Wenn ich ihm begegnete, trug er immer mindestens einen Teil seiner scharlachroten Amtsgewänder und vermittelte eine Art überheblicher Distanz, ja Gleichgültigkeit sowie eine Ahnung einflussreicher Beziehungen zur Botschaft und anderen weltlichen Dingen. Er hatte eine äußerst geschäftsmäßige Art, die in völligem Gegensatz zu Feddens Begeisterung für religiöse Inhalte stand. Wenn ich die beiden zusammen sah, war deutlich, dass Allen seinen untergebenen Diakon als jemanden betrachtete, den man kaum zur Kenntnis nehmen musste. Wenn er uns prüfte (»Werfen wir nun einen Blick auf die Bedeutung der Sakramente«, fing er dann etwa an), schweiften seine Augen ungeduldig und neugierig umher, während er sich mit seinem Tee beschäftigte. Offensichtlich beherrschte er jedoch seinen religiösen Stoff und konnte konkrete Fakten und Besonderheiten über Jakob I. und Hooker abspulen, die in Feddens Darstellung nicht vorkamen. Und all dies geschah in einem Land, dessen eigene erstaunlich lange und dichte Geschichte, von den Pharaonen bis zu König Faruq, niemals auch nur zur Sprache kam. Ich wurde konfirmiert und erhielt mein erstes Abendmahl an einem Sonntag Anfang Juli 1949. Meine Patin, Tante Nabiha, stand neben mir im eindrucksvollen Querschiff der Kathedrale. Fedden war zwar anwesend, aber nur mit einer Nebenrolle
bedacht, während Bischof Allen die Zeremonie mit geradezu orientalischer Opulenz leitete. Kerzen, Gebete, Kreuze, Krummstäbe, gregorianische Gesänge, Orgel und Chor, Prozession, Auszug, am Rande mehrere Reihen niederer Geistlichkeit – alles nur für mich und Jimmy Beshai. Nachdem wir in die Gemeinschaft sowohl der Heiligen wie der normalen Gläubigen aufgenommen waren, bemühte ich mich, anders zu fühlen, empfand aber nur ein Missverhältnis. Meine Hoffnung, ich könnte eine tiefere Einsicht in das Wesen der Dinge erlangen oder ein besseres Verständnis für den anglikanischen Gott, erwies sich als trügerisch. Der heiße und wolkenlose Himmel Kairos, der riesige Hut meiner Tante Nabiha über ihrem kleinen Kopf und Körper, der Nil, der in seiner gelassenen Breite gemächlich vor uns dahinströmte, als wir auf dem großen Platz vor der Kathedrale standen: alles war unverändert geblieben, so unverändert wie ich selbst. Ich hatte wohl vage nach etwas Ausschau gehalten, das mich aus dem eigenartigen Zwischenreich hätte reißen können, in dem ich versunken war, da nun die Zeit an der CSAC zu Ende ging und im Oktober das Victoria College beginnen sollte. In der Konfirmation fand ich es jedenfalls nicht. Ich befand mich nun erst recht in einer beunruhigenden Position zwischen meiner Mutter und meinem Vater (der zunehmend distanziert und zugleich fordernd wirkte). Das Kairo jener Zeit war voll von Berichten über Morde und Verschwundene, und als sich im folgenden Jahr mein fünfzehnter Geburtstag näherte, klang die Stimme meiner Mutter noch besorgter, wenn sie mich ermahnte, nicht zu spät nach Hause zu kommen, mir nichts an den fahrbaren Garküchen zu kaufen, anderen Menschen in Tram oder Bus nicht zu nahe zu kommen – kurz, meine Zeit vorwiegend zu Hause zu verbringen. Währenddessen regte mich mein erwachtes sexuelles Interesse zu immer wilderen Träumen
davon an, was ich in Kairo tun wollte. Ein zwar anhaltendes, sich allmählich aber abschwächendes Motiv in unserem Leben war Tante Nabihas Palästinenser-Arbeit. Trotz der Spannungen zwischen ihren Söhnen und ihrem Bruder (meinem Vater) kam sie noch immer an jedem Freitag zum Essen, und ihr Interesse an meinem Katechismusunterricht blieb bestehen, wie der Goldring mit dem eingravierten ES bezeugt, den sie mir an jenem heißen und wolkenlosen Tag nach dem Gottesdienst schenkte und den ich noch heute trage.
VII
1943, IM SOMMER nach dem Nervenzusammenbruch meines Vaters, und die siebenundzwanzig Sommer danach verbrachten wir den größten Teil der Monate Juli, August und September in dem libanesischen Bergdorf Dhur el-Shweir (das bedeutet »am Rande von Shweir«). Mein Vater liebte dieses Dorf, und meine Mutter behauptete es zu hassen, obwohl die Familie ihrer Mutter, die Badrs, von dort stammte. Dhur war eine Sommerfrische, Häuser und Hotels standen aufgereiht an einer engen und ansteigenden Straße, die sich über drei kleine Berge des mittleren Libanon schlängelte. Shweir selbst war eine Kleinstadt an einer steil abfallenden Straße. Sie nahm ihren Anfang auf Dhurs einzigem größerem Platz, der saha, bog an der griechisch-orthodoxen Kirche scharf nach links ab und wand sich dann ins Tal hinunter zum eigentlichen Stadtkern, cAyn al Qassis, der »Quelle des Priesters«. Das ganz und gar christliche Shweir stellte die Ladenbesitzer und das Personal für die Saison in Dhur. Als Kind hatte ich angenommen, in den langen, dunklen und schneereichen Wintern säßen sie einfach zu Hause. Die libanesischen Verwandten meiner Mutter lebten und arbeiteten in Beirut und besuchten Dhur nur in der Sommersaison – außer Faris Badr, dem uralten Großonkel meiner Mutter, einem rotgesichtigen Herrn mit großem Schnurrbart, der das ganze Jahr über dort wohnte. Er hatte stets eine dunkle Brille auf, trug immer einen schwarzen Anzug mit Schlips und einen roten Tarbusch und hatte ständig einen sehr alten schwarzen Regenschirm bei sich. Wir verbrachten unseren ersten Sommer 1943 in Dhurs einzigem »Grand«-Hotel, dem Kassouf. Es thronte ziemlich
hochmütig und protzig auf einem Bergvorsprung am Ende der Straße, die von der saha aus zwei Meilen nach Osten in Richtung des nächsten Dorfes führte, nach Bois de Boulogne. Das Kassouf war offensichtlich einem Chateau nachempfunden. Mit seiner langen eleganten Treppe, seinen Balustraden und seiner eindrucksvollen steinernen Anmaßung beherrschte es Dorf und Tal. Im gediegenen Speisesaal des Kassouf lernte ich Rotwein und roten Essig kennen, und dort warf ich auch den ersten Blick in einen Roulette- und Bakkarat-Saal. Das Hotel schien voller wohlhabender syrischlibanesischer Touristen aus Ägypten (Shawam) zu sein, wohl durchweg Menschen aus unserer Schicht, für die Dhurs sonnige und relativ trockene warme Tage, seine kühlen, dunstigen Nachmittage und Abende einen erfrischenden Gegensatz zu Kairos drückender Sommerhitze bildeten. Diese Leute verbrachten wie wir einen guten Teil ihrer Zeit damit, dass sie auf den Terrassen des Kassouf spazieren gingen und nur gelegentlich einen Fuß auf die einzige ungepflasterte Straße setzten, die zu beiden Seiten steil abfiel und auf der man dem ständigen Risiko ausgesetzt war, von einem der vorbeirasenden Autos oder Busse überfahren zu werden. Zwischen dem Kassouf und der saha befand sich kein einziges Geschäft, und das Hotel lag gerade so weit entfernt, dass ein Spaziergang in die Stadt nicht in Frage kam. So blieben wir mit den anderen Kindern, ihren Kindermädchen und Eltern auf das Hotelgelände beschränkt. Meine Mutter war in jenem Sommer mit Joyce schwanger und schien die meiste Zeit auf ihrem Zimmer zu verbringen, während mein Vater – inzwischen eindeutig von der Bridgesucht gepackt – den größten Teil des Morgens an dem einen oder anderen Kartentisch verweilte, dazu die Nachmittage und mindestens drei Abende pro Woche.
Erst 1944 fing ich sehr allmählich an, die größeren Umrisse der elterlichen Pläne für den jeweiligen Sommer zu erkennen, die nach dem Schulende im Frühjahr Gestalt anzunehmen begannen. Ende Mai spürte ich das Nahen der Abreise, ohne dass man es mir hätte mitteilen müssen. Neue Shorts und Sandalen wurden angeschafft, und darauf folgte ein entsetzlich langer und irrsinnig pedantischer Fototermin der gesamten Familie bei zwei altjüngferlichen Schwestern in ihrem extrem heißen Fotoatelier im dritten Stock eines Hauses gleich um die Ecke vom Shepheards Hotel. Die beiden Frauen waren völlig taub und beschränkten ihre Kommunikation deshalb auf aufgeregtes Grunzen und eifriges Nicken. Dr. Haddad kam vorbei, um uns gegen Typhus zu impfen, und eines Tages waren dann plötzlich alle Möbel im Wohnzimmer und im kleineren Salon unter rosafarbenen, weißen oder hellgrünen Überzügen verschwunden. Bis 1948 versammelten wir uns am festgelegten Tag in der Lobby der Sharia Aziz Osman Nr. 1 und bestiegen eine Karawane von zwei oder (später, als wir mehr wurden) drei Autos, die uns samt einem oder zwei Dienstmädchen und dem Koch zum Bahnhof Bab-el-Hadid brachten, wo wir den Schlafwagenzug in die Suezkanal-Städte Ismailia oder al-Qantarah bestiegen. Von dort fuhren wir hinüber auf den Sinai für die lange Nachtfahrt nach Haifa, wo wir dann gegen Mittag des nächsten Tages ankamen. Die Zugreise war unbeschreiblich romantisch und angenehm. Ich liebte die polierten Holzwände, den hübschen Sitz am Fenster, den ich herunterklappen konnte, die blaubeschirmten Lampen, die in der Dämmerung angeschaltet wurden, die griechischen Kellner und den französisch angehauchten Schaffner, der am Ende des Ganges saß, an dem unsere drei oder vier Abteile lagen; nach dem Essen kam er vorbei, um die oberen Betten herunterzuklappen und die unteren herzurichten. Stets freute ich mich schon im Voraus auf den prunkvollen
Speisewagen mit seinem Tafelsilber und den perlenbehängten Lampenschirmen – wenn der Zug schwankte, klirrten sie, und ins Schwanken gerieten dann auch die weiß gekleideten sufragis und der italienische oder armenische Oberkellner im Smoking. Das Menü begann stets mit einem Reisgericht, dem ein zweiter Gang mit Lammfleisch und Soße folgte und schließlich eine kleine Schüssel viel zu süßer Karamelcreme – eine Speisenfolge, die sich deutlich vom rigoros gesunden Küchenzettel meiner Eltern unterschied, auf dem Spinat, Karotten, Sellerie und Erbsen nur gelegentlich durch Brathühnchen oder gegrilltes Kalbfleisch und die faden pastas ergänzt wurden, die in dem, was wir das »Regime« meines Vaters nannten, eine so bedeutende Rolle spielten. Wenn ich in die frischen Laken meiner straff bezogenen Oberkoje geklettert war, schaltete ich die Leselampe an und holte mein Buch aus dem seltsamen kleinen Netz an der Wand, in dem ich meine Besitztümer mit dem seltenen Gefühl von Privatsphäre verstauen konnte, sicher vor elterlichen Übergriffen. Der Schlaf kam dann sehr spät und die Dämmerung in der Wüste sehr früh. Die Melancholie der fahlen Wüste wirkte zusätzlich beruhigend, und in der Monotonie der Landschaft und in meiner Einsamkeit, während alle anderen schliefen, fiel jeder Druck von mir ab, besonders die ständige Angst, niemals etwas richtig zu machen. In Haifa erwarteten uns dann zwei siebensitzige Taxis der Firma el-Alamein, die uns entweder für eine Woche nach Jerusalem oder häufiger über die nordwestliche Straße aus Palästina über Akkon in das libanesische Grenzdorf Naqura brachten und von dort ein paar Kilometer weiter in das Fischerdorf al-Sarafand. Dort kehrten wir im Strandrestaurant ein. Es schien immer Stunden zu dauern, bis der Fisch zur Zufriedenheit meines Vaters gegrillt und mit der gebührenden Hochachtung verspeist war und wir über verlassene Straßen
nordwärts nach Tyrus und Saida weiterfahren konnten. Wir ließen Beirut links liegen und nahmen die Straße nach Dhur und Bikfaya, von der aus wir nach einem plötzlichen Anstieg auf Antelias und das dunkelblaue Mittelmeer hinabschauen konnten, das in all seinem schimmernden Geheimnis unter uns ausgebreitet lag. In den ersten Jahren nahm die Zahl der Autos, denen wir begegneten, meistens ab, je weiter wir die Straße mit ihren dramatischen Haarnadelkurven nach Bikfaya hinauffuhren, der großen Stadt direkt unterhalb von Dhur, von der mir vor allem ihre berühmten Pfirsiche und ein fantastisch rot- und goldfarbener Spielwarenladen namens »Kaiser Amer« in Erinnerung geblieben sind. Erst später, in den siebziger Jahren, erfuhr ich, dass die Stadt auch Wohnsitz der Familie Gemayel war. Pierre Gemayel hatte unter dem Eindruck der deutschen Schwarzhemden, die er bei den Olympischen Spielen von 1936 gesehen hatte, die extrem rechte Maroniten-Partei Phalanges Libanaises gegründet. Außerdem war er der Vater von zwei libanesischen Präsidenten – Bashir, dessen Ermordung im September 1982 Auslöser für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila war, die seine pro-israelischen Gefolgsleute verübten, und Amin mit seinem korrupten und unfähigen Regime. Bikfaya erlangte damals einen düsteren Ruf wegen seiner erbitterten Palästinenserfeindschaft, und ich habe diese Stadt und Dhur fast zwanzig Jahre lang gemieden. Oberhalb von Bikfaya wurde die Straße steiler und gefährlicher, es begegneten uns noch weniger Autos, und die Sicht war gewöhnlich durch die dichten Schwaden des Nachmittagsnebels getrübt, der über die Gipfel trieb, während wir mit unseren beiden schwer beladenen Autos die dramatisch steilen Steigungen hinaufknatterten. Kamen wir schließlich
durch die kleine Vorstadt Douar nach Dhur, überfiel mich stets eine Mischung aus Traurigkeit und drohendem Schrecken. Für unsere Sommer mieteten wir ein unmöbliertes Haus in Dhur, denn trotz seines Reichtums hegte mein Vater, wie er häufig betonte, kein Vertrauen in Grundbesitz, weshalb er außerhalb Palästinas konsequent in Mietwohnungen lebte. Das Ganze spielte eine wichtige Rolle in den Ferienplänen meiner Eltern, und die Häuser waren denkbar einfach, schmucklos und ohne Luxus. 1944 wurde bei unserer Ankunft im Juni gerade eine Ladung hölzerner Möbel angeliefert. In krassem Gegensatz zum Luxus und der Bequemlichkeit, die wir in Kairo zurückgelassen hatten, sah ich hier nun eine Ansammlung reichlich klappriger, splitternder, schlecht verarbeiteter hölzerner Schränke, Tische und Stühle, die mein Vater aus Beirut bestellt hatte. Diese hässliche spartanische Möblierung begleitete uns durch unsere verschiedenen Häuser in Dhur, bis wir 1946 die zweite Etage eines großen Hauses in eindrucksvoller Terrassenlage mieteten, die für die nächsten vierundzwanzig Jahre unsere Sommerwohnung sein sollte. Die sieben Betten hatten identische Metallgestelle, die man hastig in einem ständig abblätternden Weiß gestrichen hatte, sowie gewaltige Federn, die aussahen, als stammten sie aus einer mittelalterlichen Folterkammer. Im Wohnzimmer standen einige niedrige Tagesbetten, über die meine Mutter Stoffe breitete, die sie aus Kairo mitgebracht hatte; außerdem wurden noch ein paar Kissen an die Wand gelehnt. An den Wänden hing kein einziges Bild. Hinter alldem verbarg sich die Vorstellung einer nüchternen, ländlichen Existenz mit einem Minimum an Bequemlichkeit, ohne all die Annehmlichkeiten, die meinem Vater allzu städtisch oder luxuriös erschienen. Bis 1949 durften wir kein Radio im Haus haben. Ich erinnere mich lebhaft an den kühlen Augustnachmittag des Jahres 1949, an dem ich zum ersten Mal
das kleine Radio für mich hatte und über BBC die Nachricht vom Tode Richard Strauss’ vernahm, die dann unter Rauschen und Knistern verklang, und wie ich in Kairo nach unserer Rückkehr in meiner einbändigen Musikenzyklopädie das Datum neben seinen Namen schrieb. Etwa 1954 wurde ein Telefon zugelassen, und 1956 ein Auto. Abgesehen von unseren Dienstmädchen Ensaf und später ihrer Schwester Suad musste unser Koch Hassan (im Dorf von den Einheimischen abschätzig al-cabd genannt, »schwarzer Sklave«) fünf Jahre Dhur über sich ergehen lassen, bevor mein Vater meiner Mutter eine Ortskraft als Hilfe zugestand: eine verrunzelte alte Frau namens Um Nadshm, der die Wäsche und das Brotbacken oblagen; dazu kam jedes Jahr eine andere junge Frau für den allgemeinen Hausputz und als Küchenhilfe. Die Versorgung mit Strom und heißem Wasser war sehr unzuverlässig, und wenn man ein Bad nehmen wollte, musste man erst mehrere Stunden lang ein Holzfeuer in dem riesigen qazan oder Ofen schüren. 1953 wurde auf Drängen meiner Mutter ein Spinett für mich gemietet; aufgestellt wurde es jedoch in meinem Zimmer, weil man befürchtete, im Wohnzimmer wirke es zu zivilisiert. An Büchern hatten wir im Hause nur, was in streng bemessener Menge aus Kairo mitgebracht worden war, denn Gewicht und Platz spielten eine wichtige Rolle. Die einzige Buchhandlung in Dhur war eine Filiale von Stematazky, die in einer kaum hergerichteten Garage untergebracht war und von einem gelehrt und leicht klerikal wirkenden Mann mit offenen Sandalen und schwerer, schwarz geränderter Brille geleitet wurde. Er führte ein breites Sortiment an Comics und Filmmagazinen, dazu noch ein paar Taschenbuchkrimis, an denen ich niemals Geschmack fand. Ich durchstöberte die Häuser der Verwandten meiner Mutter nach Büchern und konnte mir später welche in Beirut kaufen. Dhur drängte mich weiter in die Welt des Gedruckten, die für mich, der ich in
Kairo so wenig Zeit zum Lesen hatte, zu einer kostbaren Zuflucht aus der abgründigen Leere meines dortigen Lebens werden sollte. Für meinen Vater verkörperte Dhur das Gefühl, in jeder Hinsicht so weit wie möglich von seinem Geschäftsleben in Kairo und allem, was damit zusammenhing, entfernt zu sein: von Autos, Angestellten, Telefonen, Bürokleidung, Papier und der Stadt. Ruhe, Ruhe, Ruhe. Für ihn war das gleichbedeutend mit zahllosen Stunden am Bridgetisch, entweder morgens im Hotel Salwa oder im Cirque Café am Nachmittag, mit Backgammon auf der Terrasse mit einem örtlichen Freund oder einem Besucher aus Beirut, Jerusalem oder gar Kairo. Ohne das ständige Drängen meiner Mutter hätte er niemals die Einheitskleidung gewechselt, die er jeden Tag vom frühesten Morgen bis in den späten Abend trug: das grüne oder kastanienbraune Sporthemd, die weiten beigefarbenen Hosen, die schäbigen braunen Schuhe, dazu Hut und Stock. Es gab keine Morgenzeitungen, die er hätte lesen müssen, und so wanderte er als Erstes in den Ort, um Nicola Touma zu besuchen, einen attraktiven und höflichen Mann mittleren Alters aus Shweir, dessen Clan der größte dort war. Toumas Lebensmittelladen führte praktisch alles, von Obst und Gemüse bis zu Toilettenpapier, Seife, Öl und Gewürzen. Aus mir unverständlichen Gründen bezahlten wir nie bar, sondern sagten: »Setzen Sie es auf die Rechnung.« Wenn dann alle zwei Wochen die Rechnung in die Hände meiner Mutter gelangte, war das Anlass für empörte Schreie: »Ist das ein Gauner! Ich kann mich an keine dieser Ausgaben erinnern.« Meinem Vater, normalerweise ein sehr hartnäckiger Geschäftsmann, war es gleichgültig, was Nicola auf die Rechnung setzte – ihre Beziehung war entschieden gesellschaftlicher Art. Mein Vater saß mit einem Tässchen türkischen Kaffee in der Hand an Nicolas Schreibtisch hinten
im Laden, überschaute lässig das Angebot, bestellte fünf Kilo von diesem oder jenem, zwei Wassermelonen, fünf Gläser Marmelade, ein Kilo Feigen (selten im Angebot) und drei Pfund Käse, was dann alles von einem schlanken Jungen geliefert wurde, der sein überladenes Lastdreirad den sehr steilen Anstieg zum Haus hinauf zumeist schieben musste. Nach seinem Besuch bei Nicola schlenderte mein Vater drei Häuser weiter zu Edmund Halabis ABC und bestellte massenweise Toilettenartikel, die keiner von uns brauchte. Als Nächstes war der Fleischer an der Reihe, dann der Kaffeehändler und schließlich die Apotheke: Für jeden dieser Ladenbesitzer müssen die verschwenderischen Bestellungen meines Vaters der Höhepunkt des Tages gewesen sein. Schließlich ließ er sich an einem Bridgetisch nieder, bis es Zeit war, zum Essen nach Hause zurückzukehren. Währenddessen musste meine Mutter – allein mit den Kindern, ohne Telefon oder Transportmittel – den scheinbar endlosen Strom der Botenjungen in Empfang nehmen, und bei jedem wurden die ärgerlichen und enttäuschten Schreie lauter. Viele Waren wurden zurückgeschickt, und wenn mein Vater schließlich zum Mittagessen auftauchte, begrüßte ihn meine Mutter mit einer sich täglich wiederholenden Schimpfkanonade in einem unbarmherzig jammernden Ton. Von seiner Seite folgte darauf nur gelegentlich eine einsilbige Reaktion, während er sein sehniges Huhn oder zähes Grillfleisch aß, offenbar gleichgültig gegenüber ihrer Wut. Nach einer Siesta stapfte er wieder davon, erneut auf der Suche nach einer Bridgepartie. Dieses Mal verzichtete er jedoch auf die müßigen Einkäufe, die er dann – so unvermeidlich wie der Sonnenaufgang – am nächsten Morgen wieder aufnahm. Mein Vater betrachtete Dhur als Möglichkeit, den anstrengenden Anforderungen seiner Position in Kairo als disziplinierender Vater und herrischer Vorgesetzter zu
entkommen. In Dhur wurde meine Mutter zu meiner Gefährtin, nur sehr gelegentlich unterbrochen von kurzlebigen und vorübergehenden Sommerfreundschaften mit Jungen meines Alters aus der Nachbarschaft. Ihr war die tägliche Verantwortung für den Haushalt überlassen, was ohne die Hilfe, wie sie ihr in Kairo zur Verfügung stand, eine anstrengende Angelegenheit war. Die Tatsache, dass es in der ersten Zeit weder ein Telefon noch ein Auto mit Fahrer gab, isolierte uns und zwang meiner Mutter eine Form von Machtlosigkeit auf, die sie zutiefst verabscheute. Da sie sich aber nur darauf verstand, ihre vorherbestimmte Rolle als Haushaltsvorstand auszufüllen, war sie unfähig, zu protestieren und meinen Vater um eine Verbesserung ihrer Situation zu bitten. Meine jüngste Schwester Grace wurde im März 1946 geboren, als Joyce erst zweieinhalb Jahre alt war, und so musste sich meine Mutter neben ihren älteren Kindern auch noch um zwei Babys kümmern. Das Jahr 1946 war für meine Mutter besonders schwierig. Mein Vater hatte entschieden, er müsse aus Geschäftsgründen nach Amerika reisen – zum ersten Mal, seit er 1920 die Staaten verlassen hatte, um nach Palästina zurückzukehren. Zwei Wochen nach unserer Ankunft in Dhur, wir hatten uns in dem höhlenartigen und abweisenden Haus kaum eingerichtet, nahm er die anstrengende Überlandroute via Jerusalem zurück nach Ägypten, und flog mit TWA, der ersten direkten Flugverbindung, von Kairo nach New York. Während seiner zweimonatigen Abwesenheit – nur gelegentlich schickte er Briefe und (vor allem) Postkarten – verfiel meine Mutter in einen panischen Aktionismus. Vor allem schien sie darauf erpicht, mich aus dem Haus zu haben und solange wie möglich von meinen lebhaften Schwestern fern zu halten. Dazu erfand sie eine nicht abreißende Serie von »Botengängen«, wie wir beide sie nannten, die ich mit meinen
zehneinhalb Jahren verabscheute. Gegen halb neun wurde ich zur Fleischerei Nocila und zum Bäcker geschickt. Um diese Zeit war noch nichts los – nicht einmal der grauhaarige, grobschlächtige Abu Bahbuha, dem mehrere Finger fehlten, hatte seinen Platz vor der Kirche eingenommen, wo er mit seiner schmutzigen Schürze über dem karierten Hemd an einem kleinen Wagen mit einem winzigen Schornstein heiße Erdnüsse verkaufte, und der alte Bu Fares, der immer die denkbar dunkelste Brille zu seinen unverwüstlichen Khakihosen trug, hatte gerade erst begonnen, neben der Kirche seine uralten Fahrräder zu polieren und für potenzielle Entleiher in Reih und Glied aufzustellen. Es dauerte noch ein weiteres Jahr, bevor ich selbst eines ausleihen durfte, obwohl es mein Vater auch dann noch nicht für »klug« hielt. Die morgendlichen Pendler nach Beirut waren bereits an der saha in ihre Taxis gestiegen, und so war außer Nadshib Farfars Ford aus dem Jahr 1936, der noch immer als örtliches Taxi von Dhur Dienst tat, kein weiteres Auto auf der Straße. Zu sehen waren nur ein paar Ladenbesitzer, ich und ganze Wolken summender Fliegen und Bienen, die von den Aprikosen im einen Laden zum rohen Fleisch im Eingang eines anderen wechselten. Etwa eine Stunde später trug ich lediglich ein paar Brotlaibe nach Hause. Sofort nach meiner Ankunft bat mich meine Mutter dann, dem Klempner (sankari) nachzujagen und ihn um die Reparatur eines lecken Wasserhahns in der Küche zu bitten. Waren schließlich Gemüse und Obst angeliefert, gab es immer zwei Tomaten, drei Auberginen, vier Zitronen und zehn Pflaumen, die zurückgebracht und durch bessere ersetzt werden mussten. »Dein Vater hat den Mann so verwöhnt, dass er glaubt, er könne uns seine schlechtesten Waren andrehen. Edward, sag ihm, dass ich sehr zornig bin!« Dieser dritte Botengang in die Stadt dauerte sogar noch länger – vor allem,
weil es mir überaus schwer fiel, dem freundlichen Nicola etwas Tadelndes zu sagen. Er schien all seine Freundlichkeit und gute Laune für meinen Vater, seinen besten Kunden, reserviert zu haben. Wenn ich ihm die beanstandeten Artikel auf den Tisch legte, blickte er kaum von einem seiner Rechnungsbücher auf. »Was ist damit?«, fragte er dann kalt. Ich versuchte mühsam ein paar Worte herauszubringen, spuckte aber nur irgendetwas Unzusammenhängendes aus, darunter auch die Worte »meine Mutter«, woraufhin er kühl antwortete: »Lass alles liegen. Ich schau’s mir später an.« Er wollte die Ware also nicht sofort ersetzen. Ich hatte nur die Möglichkeit, entweder mit leeren Händen nach Hause zu kommen und mich noch einmal losschicken zu lassen, oder mich dem scharfäugigen Lebensmittelhändler ohne große Hoffnung auf Erfolg selbst entgegenzustellen. Ich verfiel auf ein Ausweichmanöver, das mich noch heute wegen seiner unerwarteten Brillanz verblüfft. »Könnte ich bitte ein Sandwich mit Käse und Gürkchen haben?«, sagte ich in festem Ton zu Nicola, der gleichgültig einen seiner Gehilfen anwies, es mir zuzubereiten. »Und setzen Sie es auf die Rechnung«, fügte ich kess hinzu, während ich mit dem kostbaren Objekt in der Hand davontrabte. Später am Tag tauschte Nicola dann die beanstandete Ware aus, und ich wurde auf verschiedene weitere Botengänge geschickt, bis ich bei Sonnenuntergang völlig erschöpft war und gerade noch ein paar Seiten lesen konnte, bevor ich ins Bett ging. Der Zustand der Müdigkeit selbst war nicht so beunruhigend wie die alarmierende Distanz, die ich bei meiner Mutter verspürte. Unsere enge Beziehung war bald einer anderen gewichen, deren Wesen sich, wie ich heute glaube, in einer Szene ausdrückte, an die ich mich mit leidvoller Klarheit erinnere. An einem heißen Werktagsmorgen hatte sie mich den ganzen Weg bis zum Hotel Kassouf geschickt, wo ich einer
Freundin aus Kairo, die dort zu Besuch war, Eugenie Farajallah, ein elektrisches Bügeleisen bringen sollte, das in braunes Papier verpackt war. Ich kam eineinhalb Stunden später nach Hause, todmüde, durstig von dem langen Weg durch eine äußerst reizlose Gegend. Es gab keine Umwege, die man in Erwägung ziehen konnte, keine schattigen Flecken, keine Quellen, keine anderen Fußgänger, kein einziges Café oder Restaurant, während ich nach Osten über die endlose schmale Straße wanderte, die sich steil und öde dahinzog. Ich erinnere mich auch, dass dies das Jahr war, in dem mein Vater mir einen schweren khakifarbenen Tropenhelm gekauft hatte, den er mir zu tragen befahl. Ein Verkäufer bei Avierino’s, einem Herrenbekleidungsgeschäft im Kairoer Distrikt Esbekiya, hatte ihn meinem Vater empfohlen, als dieser selbst sich einen hübschen Panamahut kaufte. Das Innenband des Helms war ekelhaft schweißdurchtränkt, und das lächerliche Ding lastete schwer auf mir. Es war zu klobig, um es abzunehmen und in der Hand zu tragen, und so musste ich es auf dem Kopf behalten, während ich vor mich hin trottete. Als ich müde die lange staubige Treppe emporstieg, die von Dours einziger Straße zu unserem Haus hinaufführte, sah ich meine Mutter auf dem Balkon stehen, in einem unförmigen grauen Hauskleid, ohne Make-up, ihr Haar in den Turban gewickelt, den sie in jenen Jahren trug. Sie winkte mir – zur Begrüßung, wie ich hoffte, aber in Wirklichkeit wollte sie nur meine Aufmerksamkeit erregen, bevor ich den letzten Treppenabsatz zur Terrasse in Angriff nehmen konnte. In ihrer rechten Hand hielt sie ein schwarzes Elektrokabel. »Liebling«, sagte sie auf Englisch, was keineswegs immer ein gutes Zeichen war. »Ich habe vergessen, dir die Schnur für das Bügeleisen mitzugeben. Was muss Eugenie denken? Sei so gut und bring sie gleich ins Kassouf.« Mich überkam ein scheußliches Gefühl der Müdigkeit und Verzweiflung.
Die anhaltende innige Nähe, die etwa noch unsere Shakespeare-Lesungen geprägt hatte, schien sich plötzlich in etwas anderes zu verwandeln, auch wenn meine Mutter während der Monate in Dhur immerhin gelegentlich zeigte, dass Teile unseres früheren Lebens weiter Bestand hatten. Außer einem zerfledderten arabischen Liederbuch gab es im Haus in Dhur ein so genanntes »Familien-Liederbuch«, eine Sammlung vorwiegend englischer Lieder, die wir aus Jerusalem oder Kairo mitgebracht haben mussten. Da ich für einige der Lieder gut genug Noten lesen konnte, sang oder summte ich häufig leise »The Minstrel Boy« oder »John Peel« vor mich hin. Wenn meine Mutter in ihrem Zimmer mich hörte, rief sie mir liebevoll etwas Anerkennendes zu, was einen durchschnittlichen oder bloß uninteressanten Tag durch einen Augenblick des Glücks verschönte. Mein Zimmer, neben dem riesigen hohen Wohnzimmer und dem angrenzenden Esszimmer der einzige Raum auf der Küchenseite, steigerte noch mein Gefühl einer unerquicklichen Isolierung und blieb für mich stets ein Symbol für Dhurs grundlegend negative Atmosphäre. Daran änderten auch die kleinen Annehmlichkeiten im Garten nichts: eine Tischtennisplatte, ein Krocket-Spiel, eine quietschende Schaukel, die mein Vater widerwillig zu unserem Landleben zugelassen hatte. Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, kann ich erkennen, welch reale Angst mir der Rückzug meiner Mutter einflößte. Das Bedürfnis, die Beziehung zu ihr wiederaufzunehmen, wurde paradoxerweise durch eben die Hindernisse am Leben gehalten, die sie mir in den Weg stellte. Sie war zu einer Aufseherin geworden, deren Gebote ich befolgen musste. Mich irritierte die Leere, in die ich bei und nach meinen Botengängen fiel, wenn sie mir nur wenig Wärme oder Dank zuteil werden ließ. Das Verständnis in unserer Beziehung war vorübergehend geschwunden und in Dhur ersetzt durch die
Reihe von Aufgaben, mit denen sie mich allen vom Leibe hielt. Jahre später pflegte sie dann zu erzählen, wie viel Ärger ich ihr als Kind bereitet hätte und wie sie alberne, nur gelegentlich nützliche Botengänge für mich erfunden habe. Zum Plan meiner Eltern muss es gehört haben, mich im Sommer von den vermuteten (in Wirklichkeit niemals wahrgenommenen oder gar erlebten) Fleischtöpfen Kairos fern zu halten und mich an einem Ort ruhig zu stellen, wo keinerlei Versuchungen lockten und auch niemals locken konnten. Die einzigen Mädchen in diesen ersten Jahren in Dhur waren ein paar Freundinnen meiner Schwestern, die mir keine Beachtung schenkten. Gegen Ende Juli 1946 tauchte der jüngste Bruder meiner Mutter aus Palästina auf, und da er unternehmungslustiger war als seine Schwester, erbot er sich eines Abends, uns alle ins Café Nasr zu einer numero mitzunehmen, wie damals die Kabarettvorstellungen hießen, die in zwei Lokalen stattfanden, die einander etwa hundert Meter jenseits der saha gegenüberlagen; das andere war das Café Hawie. Beides waren Familienunternehmen – das Nasr wurde von Elias Nasr und seiner Schwester geführt, das Hawie von den Brüdern Iskandar und Nicola Hawie. Die beiden Etablissements schienen in einen tödlichen Konkurrenzkampf verstrickt. Das Nasr hatte den Einsatz erhöht, indem es »internationale« Varietekünstler aufbot, wie es in seiner Reklame hieß, vorwiegend Akrobaten und Tänzerinnen, deren Hauptattraktion, wenn ich heute zurückschaue, aus den sparsamen Kostümen der Frauen bestand. An jenem Abend drängten wir uns um einen kleinen Tisch in der zweiten Reihe vor der Tanzfläche. Der Höhepunkt war ein Akrobatenpaar, George und Adele, deren Nachname ungarisch klang. Er war ein kleiner, muskulöser Mann Mitte vierzig, sie eine nur unwesentlich jüngere Blondine in einer Art Bikini, der mich an
Kalita erinnerte, zumal sie ihren Körper auf ähnlich unnatürliche Weise verbog. Die Show war für neun Uhr abends als »Soiree« angekündigt, begann jedoch erst kurz nach elf, nach vielen scheinbaren Anfängen und Augenblicken vorgetäuschter Eile seitens der Kellner, die offensichtlich strenge Anweisung erhalten hatten, die Kunden zu umfangreicheren Bestellungen anzuregen, »bevor wir mit der numero beginnen«. Es war eine ermüdende Wartezeit für uns alle, bis endlich ein längerer Trommelwirbel die beiden Stars herauslockte, die ganz und gar in lange silberne Umhänge gehüllt waren und ein strahlendes, überbreites Lächeln aufgesetzt hatten, bei dem man lauter Goldzähne sah. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich von ihnen war, weil sie abgesehen von einigen nicht sonderlich aufregenden Posen – er hebt sie über seinen Kopf, sie lehnt sich zurück, er schwingt sie unter seinen Armen hindurch – nicht allzu viel zu Stande brachten: bis dann schließlich die Abschlussnummer kam, die, wie uns der armenische Kapellmeister warnte, überaus gefährlich sei und absolute Ruhe erfordere. Eine kurze Stange wurde auf die Bühne gebracht, und George stemmte Adele darauf hoch. Als er dann die Stange langsam um sich herum wirbelte, hielt sich Adele an deren Ende wie eine Fahne fest und wurde allmählich in einem rechten Winkel zur Stange herumgeschleudert – all dies, wie ich mich erinnere, unter den völlig überflüssigen Kommentaren des armenischen Maestro, der uns beschrieb, was wir doch mit eigenen Augen sahen. Gegen Mitternacht trotteten wir nach Hause, voller Bewunderung für die letzte Leistung des unerschrockenen Duos. Meine Mutter dagegen bewahrte auf dem Heimweg ein missbilligendes Schweigen. Auf nacktes Fleisch reagierte sie grundsätzlich mit Stirnrunzeln und einem »tsk« voll unverhülltem Ekel. Heute weiß ich, dass eine so von Grund auf banale Episode wie die Schlacht der numeros zwischen Hawie und Nasr, die
sich mit ihren wöchentlichen Programmen gegenseitig ausstechen wollten, viel interessanter wirkte, als sie tatsächlich war, weil in unseren ersten Sommern in Dhur ansonsten einfach nichts passierte. Ich erinnere mich an meine Gleichgültigkeit, wenn meine Mutter Gäste empfing – morgens zum Kaffee oder nachmittags zum Tee. Bei diesen Anlässen wurde ich dann zu einer flüchtigen Begrüßung aus meinem Zimmer geholt und anschließend entweder zurückgeschickt oder mit einem Botengang beschäftigt. All diese Besuche waren geprägt von einer ritualisierten Förmlichkeit. Gewöhnlich wurde am Tag zuvor ein Bote losgeschickt, um einen dieser Besuche anzukündigen – sie konnten allerdings auch ohne Warnung erfolgen. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, jede Familie besitze in jedem Sommer das Anrecht auf einen derartigen gesellschaftlichen Besuch einer Familie, zu der sie in irgendeiner Verbindung stand – darunter etwa der Zahnarzt, der Vetter eines Vetters, örtliche Persönlichkeiten, der protestantische Geistliche und so weiter. Vormittags war es immer gegen elf, wenn die Besucher – niemals kam jemand allein – den steinigen Pfad und die Steintreppe im Gänsemarsch zu unserem Haus hinaufstapften, vorneweg der Mann oder die Männer, dahinter schweigend die Frauen. Dann wurde Kaffee serviert, gefolgt von Schokolade oder – nachdem meine Mutter diese Praxis bei Marie Nassar kennen gelernt hatte – einem Stück Fruchtgelee zwischen zwei einfachen Keksen. Dies galt als etwas Besonderes. Etwas später kamen dann Gläser mit verdünntem Tamarinden- oder Maulbeer-Sirup und eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch. Nach einer Stunde rüsteten sich die Gäste zum Aufbruch, obgleich es als höflich galt, darauf mit einem »Jetzt schon? Es ist doch noch so früh« zu reagieren, was meine Mutter dann auch immer tat. Nachmittagsbesucher kamen um halb fünf und wurden mit Tee bewirtet. Bei diesen Gelegenheiten waren
auch die Männer zugegen, die nach ihrem Arbeitstag aus Beirut zurückgekehrt waren. Diese Besuche hatten etwas unnötig Starres – nicht nur, weil als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass meine Mutter tagaus, tagein daheim bleiben würde, um Gäste zu empfangen, sondern auch weil sie selbst ähnliche Besuche machen musste. Man hatte den Eindruck, irgendwo werde sorgfältig Buch geführt, ob ein Besuch bei Mrs. Haddad unterlassen worden war, obwohl sie doch ihren Besuch bei uns absolviert hatte. Dagegen war das Leben in Kairo in jenen Jahren trotz allem Durcheinander erheblich privater, auch wenn meine Mutter gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen gegenüber einer oder zwei Familien wie den Dirliks und den Gindys empfand. In Dhur dagegen schien meine Mutter geradezu besessen von der Frage, was man tat und nicht tat, was »die Leute« sagten oder sagen könnten, wie etwas auf andere wirken mochte. Als sie älter wurde, bekamen diese Angelegenheiten ein größeres Gewicht: Sie konnte weniger das tun, was sie mochte, und musste sich einer von außen auferlegten Norm anpassen, die sie – wie in Dhur – offensichtlich verabscheute, aber nichtsdestoweniger hartnäckig einhielt. In jenem Sommer fühlte sie sich ganz besonders eingesperrt, denn als mein Vater schließlich von seiner langen Reise zurückkam, gab er sich sofort wieder dem Bridge hin. Die Abneigung meiner Mutter gegenüber seinen vormittäglichen Bridgepartnern – die nie in unserem Haus auftauchten und zu denen Taxifahrer, Angestellte einer Wäscherei und dergleichen mehr aus den verschiedenen Cafés in der Stadt zählten – veranlasste ihn, für seine Bridgeabende zu Hause nach etwas respektableren Mitspielern zu suchen. Dazu gehörten regelmäßig Emile Nassar und sein Vetter Faiz, außerdem neue Freunde wie Anis Nassif und Salim Kurban, Tante Fridas Vetter aus Beirut. Gelegentlich schloss sich der nüchterne Anis
Makdisi an, ein Arabischprofessor von der Amerikanischen Universität in Beirut. Sein Haus lag direkt oberhalb von unserem am Berg, und dort begegnete ich zum ersten Mal Samir, seinem jüngsten Sohn, der genauso alt war wie Alfred Nassar, der später meine Schwester Jean heiratete. Meine Mutter machte sporadisch Anstalten mitzuspielen, indem sie Canasta und sogar ein Kartenspiel namens Concain erlernte, aber erst nach dem Tod meines Vaters wurde sie selbst zu einer ernsthaften, wenn auch nicht völlig sattelfesten Bridgespielerin. Die Ankunft meines Vaters aus den Vereinigten Staaten Ende August 1946 war aus höchst banalen Gründen wenig erfreulich. Er hatte meiner Mutter geschrieben, sie solle ihm unsere Maße in Zoll mitteilen, damit er uns Kleider bei Best’s kaufen konnte. Schließlich ließ er zwei riesige Kisten nach Kairo schicken, während er selbst von dort über Land nach Beirut reiste. Meine Mutter und ich holten ihn am frühen Nachmittag am Bahnhof Alamein in Zentral-Beirut ab, um dann zusammen nach Dhur zu fahren. Kaum hatten wir uns begrüßt, als er zu mir sagte: »Du bist wirklich ziemlich fett geworden, was?« Als ich mich überrascht zeigte, fügte er hinzu: »Du misst 34 Zoll um die Taille. Die Leute bei Best’s haben ziemlich gestaunt.« Das Maßband meiner Mutter lautete auf Zentimeter, und bei der Umrechnung in Zoll hatte sie bestenfalls über den Daumen gepeilt. Als zwei Monate später die Kisten in Kairo ausgepackt wurden, erinnere ich mich an nicht weniger als sechs Paar schwere braune Wollshorts – vollkommen ungeeignet für die Kairoer Hitze –, die meine Mutter wegwerfen musste, weil sie viel zu groß für mich waren. Wie sich zeigte, waren auch die übrigen Kleider, die er für uns gekauft hatte, zum größten Teil nicht zu gebrauchen. Offensichtlich hatte er genauso eingekauft, wie er bei Nicola Gemüse bestellte – ohne die geringste Rücksicht auf Quantität
oder Qualität. »Ist das eines von den Dingen, die ich bei Best’s für dich gekauft habe?«, fragte er mich regelmäßig im folgenden Jahr, worauf ich bloß nickte, obwohl ich natürlich niemals etwas davon trug. »Geh in den Wald spielen«, sagten meine Eltern zu mir, als seien die kümmerlichen Pinien und Dornbüsche ein natürlicher Spielplatz voller herrlicher und sogar lehrreicher Vergnügungen. Die Landschaft wirkte auf mich ungastlich, eine heiße Ödnis, in der riesige Pferdefliegen und bedrohliche Hummeln herumschwirrten. Das hervorstechende natürliche Merkmal an Dhur und seinem Umland voller Gestrüpp war der totale Wassermangel. Die Trockenheit, die durch keinen Teich, See, Fluss oder auch nur ein Schwimmbad gemildert wurde, verlieh dem Ort eine überaus unbehagliche Atmosphäre, die weder durch die gelegentliche kühle Brise aus den Bergen wettgemacht werden konnte noch durch die Tatsache, dass die Luft sauberer war als in der Stadt. Die Trockenheit des Sommers wurde nur ein Mal unterbrochen: für einen herrlich langen Tag Ende Juli, an dem wir auf unserem jährlichen Ausflug nach Beirut und ans Meer entkamen. Es begann immer mit einer mehrstündigen Taxifahrt nach Saint-Simon und Saint-Michel, zwei benachbarten Sandstränden unmittelbar südlich der Stadt, wo wir den ganzen Morgen im bewegten, aber ziemlich seichten Meer schwammen und manchmal auch auf einem gemieteten perissoire fahren durften – einer Art verlängertem Surfbrett mit einem Rumpf und einem Kajak-Paddel –, das im aufgewühlten Wasser ständig umkippte. Ich hatte immer das Gefühl, vom Mittelmeer könne ich gar nicht genug bekommen und seine schiere Weite und kühlen Fluten müssten als Erinnerung für das ganze restliche Jahr ausreichen. Weder mein Vater noch meine Mutter gingen ins Wasser, aber sie schienen zufrieden, den Tag unter dem schilfgedeckten
Sonnenschutz des Strandcafés zu verbringen, wo wir auch zu Mittag aßen. Gelegentlich wurden für diesen Tag unsere Freunde aus Kairo, die Dirliks, telegrafisch aus ihrem Sommeraufenthalt in Bharudoun eingeladen, so dass wenigstens meine Eltern bis in den frühen Nachmittag Gesellschaft hatten. Während eines Essens in Saint-Simon sprang mein Vater plötzlich von seinem Stuhl auf, als wolle er über einen jungen Mann herfallen, der an einem Nachbartisch saß. »Nein, Wadie, bitte nicht«, jammerte meine Mutter, klammerte sich an die kräftigen Arme ihres Mannes und hinderte ihn, auf den Jüngling loszugehen, der ihn provoziert hatte. »Ich reiße Ihnen die Augen raus«, schrie mein Vater dem Mann zu, während er sich wieder setzte. Dann wandte er sich zu mir und fügte hinzu: »Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand deine Schwester so anschaut.« Da ich das unlogisch fand, sagte ich, an Anschauen sei »doch nichts Schlimmes«, worauf Loris Dirlik weise einwandte: »Anschauen und anschauen sind zweierlei« – für jeden außer mir war klar, dass der Mann vom Nachbartisch eine imaginäre Grenze überschritten hatte. Meine Schwester Jean, der Anlass des Aufruhrs, wirkte ungerührt, wohingegen ich damals sicherlich dachte, die besitzergreifende Haltung meines Vaters nicht nachvollziehen zu können: Ich war viel zu gehemmt, um mich auf einen Kampf einzulassen; mir fehlte es viel zu sehr an den Worten und Empfindungen verletzter Ehre, als dass mir ein solches Vorgehen möglich gewesen wäre, und schließlich war ich auch viel zu gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass jemand meine Schwester angesehen hatte. Der Vorfall war schnell vorüber, aber ich weiß noch, dass ich damals das Gefühl hatte, er biete mir einen noch tieferen Einblick in die Furcht erregende Männlichkeit meines Vaters, vor der ich bestürzt zurückwich. Was, wenn sein Auge auf mich fiel – wer mochte
wissen, was er in meinen Gefühlen gegenüber meiner Mutter oder in meinen geheimen Vorstellungen beim Anblick der einen oder anderen weiblichen Verwandten entdeckt hätte. Ohne den Schutz der Schule und die tägliche Routine Kairos war ich der drohenden Aggressivität dieses Mannes ausgeliefert, der mit solch erschreckend vulkanischer Gewalt explodieren konnte. Gegen halb vier waren wir dann geduscht und angezogen und unterwegs nach Ras Beirut, um eine Badr-Kusine zu Tee und Keksen zu besuchen. Schließlich hielten wir ein letztes Mal bei der Patisserie Suisse an, einem kleinen Laden mit Café in Bab Edriss im Herzen der Stadt, wo wir uns mit chocolat mou voll stopfen durften und Eis mit Sahne auf unsere Teller häuften. Von der Sonne verbrannt, mehr als satt von Mittagessen, Tee und den Süßigkeiten des Nachmittags, ermüdet von dem einen seltenen Tag, an dem wir die Grenzen Dhurs verlassen und uns dem Glanz und der salzigen, wogenden Bläue des Mittelmeers aussetzen konnten, begaben wir uns auf unseren trostlosen Heimweg in das Dorf, um dort weitere Wochen ununterbrochener Untätigkeit zu verbringen. Sehr selten, vielleicht ein oder zwei Mal, fuhr mein Vater nach Beirut, um Geld zu wechseln (Dhur war auch in dieser Hinsicht zurückgeblieben: der Ort besaß nicht einmal eine Bank), und nahm mich auf einen Ausflug mit, der ausschließlich auf das grelle, schwitzende, stinkende und lärmerfüllte Zentrum der Stadt beschränkt blieb, so weit wie nur möglich von den Stränden entfernt. Unser Ziel war die Banque de Syrie et du Liban und dort wiederum ein seltsam unbehaarter, eunuchenähnlicher junger Mann, dessen hohe weibliche Stimme die nüchternen grauen Hosen und das weiße Hemd Lügen straften, die er mit einstudierter Lässigkeit trug. Es waren die Zeiten der riesigen Kreditbriefe: Der Angestellte schnitt mit der Schere mehrere kleine Kästchen von ihnen ab,
musste an einem halben Dutzend Schreibtischen Unterschriften einholen und kam schließlich mit einem dicken Bündel libanesischer Pfundnoten zurück, die er zunächst mit seinem gummibewehrten Daumen zählte und dann mit gewichtiger Miene unter dem Stahlgitter zu meinem Vater durchschob; der zählte den ganzen Haufen noch einmal nach, um sicherzugehen, dass er auch den richtigen Betrag erhalten hatte. Nach eineinhalb Stunden in der Bank gingen wir beide dann all das einkaufen, was es in Dhur nicht gab – geflochtene Körbe, Teller und Tassen, Laken und Handtücher, 20-KiloSäcke Zucker und Reis –, und heuerten einen der zahlreichen barfüßigen Träger in ihren sharwal an, die an der wichtigsten Trambahnlinie herumlungerten. Gewöhnlich wurden etwa 120 Kilo an solchen Waren sorgfältig in dem langen Korb des Trägers verstaut, den dieser dann auf seinen gepolsterten Rücken lud, wobei einer der Riemen über seine Stirn verlief. Ich hatte Angst, sie würde unter der Last platzen. Gewöhnlich machten wir einen Zwischenhalt beim Café Automatique mit seiner geschäftigen, scheinbar ausschließlich männlichen Kundschaft und dem fröhlich gemusterten Fliesenboden. Es wimmelte von Angestellten, Einkäufern, Bankangestellten und dergleichen, und nachdem ich einen schnellen Eisbecher und mein Vater eine kleine Tasse Kaffee bekommen hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Langsam trottete der Träger barfüßig neben uns her bis zum Haltepunkt der Taxis nach Dhur el-Shweir, am unteren Ende der Place des Canons, von wo aus wir zurück in die Berge fuhren. Ich erinnere mich an diese Ausflüge wegen der unangenehm stickigen Hitze des Tages, des fehlenden Durchzugs und der lähmenden, nur von den kleinen Vergnügungen unterbrochenen Langeweile während der vielen Stunden neben meinem Vater, in denen ich nichts zu tun hatte, als »dabei zu sein«, und nur die
allerknappste Konversation das Schweigen zwischen uns unterbrach. In unserem Terrassenhaus machten wir die Bekanntschaft der Familie Nassar, die unterhalb von uns wohnte. Die Nassars waren all das, was wir nicht waren. Der Patriarch war Emile Nassar, den man hinter seinem Rücken auch Lord Gresham nannte, weil er als lokaler Vertreter der Londoner Versicherungsgesellschaft Gresham unaufhörlich von der Firma sprach, für die er arbeitete, und ständig versuchte, seine Bridgepartner, einen Mitfahrer im Taxi oder einen Besucher zum Kauf einer Gresham-Police zu überreden. Morgens fuhr er bei anbrechender Dämmerung in sein Büro in Beirut und kehrte im Verlauf des Nachmittags zu einem späten Lunch, einer Siesta und einem Bridgespiel zurück. Im Unterschied zu meinem Vater trug er immer einen Anzug und stattete seinen Sommersitz wie seine Wohnung in der Stadt aus. Die Nassars hatten richtige Möbel, ein Telefon, einen Plattenspieler mit Radio (der bei ihnen »Pickup« hieß), Vorhänge vor den Fenstern, Teppiche auf dem Boden und einen unglaublich prächtigen schweren Esstisch, der zwei Mal am Tag für richtige gekochte Mahlzeiten gedeckt wurde – im Gegensatz zu unserer einzigen Mahlzeit einen Stock höher, einem »protestantischen Nachtmahl«, das immer kalt war und irgendwie medizinisch wirkte – Käse, Oliven, Tee, ein bisschen Obst und rohes Gemüse, dazu die trockenen Kekse, die irshalleh genannt wurden – ganz im Einklang mit dem sonstigen Puritanismus des Sommerlebens, den mein Vater eingeführt hatte. Das Leben der Nassars war auf interessantere Weise fortschrittlich. Die drei Nassar-Jungen, Radsha, Alfred und Munir, waren etwa zehn, sechs und drei Jahre älter als ich. Ihre »richtige« Mutter war ziemlich jung gestorben, und ihr Vater hatte sich wieder verheiratet, mit Marie, einer fröhlichen, Französisch
sprechenden Frau, deren Beziehung zu den Jungen ich niemals so recht auf den Grund kam. Dies war die erste zerfallene oder doch zumindest geteilte Familie, der ich je begegnet war. Es war mir niemals in den Sinn gekommen, dass eine Familie sich in ihrer Grundstruktur von der unseren unterscheiden könnte, und Scheidung hatte ich (ebenso wie meine beiden älteren Schwestern) mit Halbwelt und Verbrechen in Verbindung gebracht (die »geschiedene Frau« mit ihrer Zigarette und dem roten Haar, die wir auf unserer Straße in Kairo sehen konnten, lieferte das perfekte Beispiel). Radsha und Alfred nannten Marie Tante, Munir jedoch, der bei der zweiten Heirat seines Vaters noch sehr klein gewesen war, nannte sie Mama. Außerdem gab es die kleine Wadad, Maries Kind mit Emile, die von Munir wie eine jüngere Schwester, von den beiden älteren Jungen jedoch wie eine Nichte behandelt wurde. Sosehr ich sie mochte und mich zu ihnen hingezogen fühlte, empfand ich bei den Nassars doch immer ein gewisses Unbehagen – teilweise, weil wir so anders waren, teilweise aber auch, weil meine Eltern unaufhörlich nörgelten, ich solle mich dort nicht so viel aufhalten, weil ich, wie meine Mutter behauptete, sonst lästig fallen könnte. So hatte ich stets das Gefühl, ich sei ein Eindringling, obwohl sie niemals auch nur eine Andeutung machten, dass ich ihnen lästig fiel. Erst später wurde mir klar, dass diese elterlichen Ermahnungen uns psychologisch auf unseren eigenen engen Familienkreis beschränken sollten. Das Vergnügen, von Marie Nassar oder Munir zu einem leckeren Essen eingeladen zu werden, war jedes Mal begleitet von einem Unbehagen und dem Gefühl, eigentlich gar nicht dort sein zu dürfen. Ein solches Essen bestand aus viel Salat, Resten früherer Mahlzeiten wie kibbe oder einem Eintopf aus weißen Bohnen, Bergen von Reis und üppigen Nachspeisen – ich schlang alles gierig hinunter. Meine Mutter setzte gewöhnlich eine missbilligende Miene auf, wenn
ich nach einem solchen Essen die Treppe vom Haus der Nassars zu uns heraufkam. »Es ist nicht gut, abends so schwer zu essen«, sagte sie dann etwa, »du wirst nicht einschlafen können.« Und so kam es dann natürlich auch. Zu meiner Enttäuschung waren Munir und seine Brüder in den vierziger und fünfziger Jahren während der Woche nur selten da, weil sie entweder arbeiteten oder – im Falle Munirs – die Freiheit Beiruts und der dortigen Familienwohnung ohne die Eltern genossen. Sie gewährten mir jedoch großzügigen Zugang zu ihren Büchern. Während meiner Jahre an der High School befreundete ich mich mit Munir Nassar, dessen überschwänglich positive Empfindungen für seine Schule und Universität in Beirut ich als Außenseiter in meiner Schule niemals hätte teilen können. Die erhabenen Themen, die Munir für unsere ziemlich tiefschürfenden Diskussionen vorschlug – der Sinn des Lebens, der Kunst und der Musik zum Beispiel –, förderten mich intellektuell, sorgten aber auch dafür, dass wir uns nicht wirklich nahe kamen. Letzteres war uns beiden recht, glaube ich. Mit unseren Themen setzten wir uns sehr bewusst und ernsthaft auseinander. Da Munir und sein engster Freund Nicola Saab hart arbeitende Medizinstudenten waren, hatten unsere Gespräche den Vorzug, dass ich mir der Komplexitäten bewusst blieb, die das Leben in Dhur allem Anschein nach fast durchweg unterdrücken sollte. »Philosophie« war unser wichtigstes Thema. Ich kannte mich darin nicht aus, aber Munir stand unter dem Einfluss von zwei Amerikanern, Dick Yorkey und Richard Scott, die beide nicht von missionarischer Frömmigkeit, sondern von den weltlichen Geisteswissenschaften geprägt waren. Das eröffnete mir neue intellektuelle Möglichkeiten, auf die ich zunächst abwehrend, dann aber mit überraschendem Enthusiasmus reagierte. Bei diesen Diskussionen hörte ich zum ersten Mal von Kant, Hegel und Plato, und so wie ich mir, nachdem ich Furtwängler gehört
hatte, Bestätigung bei seinen Platten gesucht hatte, begann ich mir nun Munirs Buch mit Auszügen aus den großen westlichen Philosophen auszuborgen. Solche verhältnismäßig bescheidenen, fast unmerklichen Unterbrechungen der Langeweile und erzwungenen Monotonie unserer »Erholung« in Dhur vermittelten mir ein allmählich erwachendes Gefühl für Komplexität – Komplexität um ihrer selbst willen, ungelöst, unversöhnt, am Ende vielleicht nicht einmal wirklich zu eigen gemacht. Zu dem von meinen Eltern für mich entworfenen Leben gehörte es, dass alles in die vorgegebenen Formen gezwängt werden musste, die mein Vater so mochte und die in seinen Lieblingsermahnungen ihren Ausdruck fanden: »Spiel Kricket«, »Sei weder Borger noch Leiher«, »Sorge für deine Mutter«, »Beschütze deine Schwestern«, »Tu dein Bestes«. All das sollte »Edward« sein, obwohl meine Mutter immerhin gelegentlich Anreize bot, diese Grenzen zu überschreiten, die sie selbst jedoch in typischer Widersprüchlichkeit niemals explizit leugnete. Die Vorschriften meines Vaters entsprachen vielleicht nicht ihrem Stil, aber sie bekräftigte sie häufig mit Aussprüchen wie »Dein Vater und ich denken«. Dennoch blieb zwischen uns eine unausgesprochene Übereinstimmung bestehen, die mir in Musik, Literatur, Kunst und Lebenserfahrung Mut machte – trotz all der albernen Botengänge und beschränkten Klischees. Ich weiß noch, dass ich mit fünfzehn Jahren mit ihr über den Idiot gesprochen habe, nachdem ich von Munir und seinen Freunden von diesem Buch erfahren hatte. Sie hatte es gelesen und war von Myschkins reiner Güte sehr beeindruckt. Sie drängte mich, Schuld und Sühne zu lesen, was ich umgehend tat – auch dieses Buch borgte ich mir von Munir. Das Gefühl für Komplexität jenseits der beängstigenden Beschränktheit von Dhur entwickelte sich bei mir auch nach meiner Abreise in die Vereinigten Staaten 1951 weiter. Die
Saat dazu war jedoch paradoxerweise zur Zeit meiner größten Entbehrungen gelegt worden, als ich die öden Straßen der Sommerfrische entlangwanderte und mich oberflächlich nur die Hitze und eine allgemeine Unzufriedenheit zu beschäftigen schienen. Allmählich fand ich Wege, mir von verschiedenen Bekannten Bücher auszuleihen, und mit fünfzehn, sechzehn wurde mir klar, dass es mir einigermaßen leicht fiel, die Verbindungen zwischen verschiedenen Büchern und Ideen herzustellen. So machte ich mir zum Beispiel Gedanken über die Rolle der Großstadt bei Dostojewski und Balzac, stellte Analogien her zwischen verschiedenen Charakteren (Geldverleihern, Verbrechern, Studenten), denen ich in Büchern begegnete, die mir gefielen, und verglich sie mit Individuen, die ich in Kairo oder Dhur gekannt oder von denen ich gehört hatte. Meine größte Begabung lag in meinem Gedächtnis, mit dessen Hilfe ich mir ganze Absätze aus Büchern visuell in Erinnerung rufen, sie mir als Seite vorstellen und dann darin Szenen und Charaktere manipulieren konnte, um sie jenseits der Buchseiten mit imaginärem Leben zu füllen. Das verschaffte mir Augenblicke begeisterter Erinnerung, die es mir ermöglichten, den Blick über ein Meer von Details schweifen zu lassen, Muster, Ausdrücke, Worthäufungen zu erkennen, von denen ich mir vorstellte, sie erstreckten sich, miteinander verbunden, endlos in die Ferne. Ich wusste in diesem Alter noch nicht, was Struktur war oder wirklich bedeutete, nur dass es sie gab und ich ihr komplexes Wirken spürte und die lebendigen Beziehungen erfasste, die etwa zwischen Oberst Faiz Nassar und seinem Neffen Hani bestanden, zwischen der Badr-Familie und einer bestimmten Art von Möbeln, mir und meinen Schwestern und unseren Schulen, Lehrern, Freunden, Feinden, Kleidern, Stiften, Füllern, Papieren und Büchern.
Wenn ich im Geiste etwas miteinander verwob, dann geschah dies zwischen der trivialen Oberflächenrealität und einem tiefergehenden Bewusstsein von einem anderen Leben voll schöner, miteinander zusammenhängender Teile – Ideenbrocken, Passagen aus Literatur und Musik, Geschichte, persönlichen Erinnerungen, Alltagsbeobachtungen. Genährt wurde es nicht von jenem »Edward«, den meine Familie, meine Lehrer und Mentoren sich zu schaffen mühten, sondern von meinem inneren, weit weniger willfährigen und privaten Ich, das unabhängig von »Edward« lesen, denken und sogar schreiben konnte. Unter »Komplexität« verstehe ich eine Art Reflexion und Selbstreflexion mit einer ganz eigenen Kohärenz, auch wenn ich diesen Prozess mehrere Jahre lang nicht artikulieren konnte. Es war etwas Privates und Abgesondertes, das mir Stärke verlieh, wenn »Edward« zu versagen schien. Meine Mutter sprach oft von der »Kälte« der Badrs, einer Art Reserviertheit und Distanz, wie sie einige ihrer Vettern, Onkel und Tanten ausstrahlten. Es war viel von ererbten Besonderheiten die Rede (»Du hast den BadrBuckel«, sagte sie etwa, oder »Wie meine Brüder bist auch du kein guter Geschäftsmann, diese Art Intelligenz fehlt dir«). Ich verknüpfte dieses Gefühl von Distanz und Abgesondertheit mit dem Bedürfnis, eine Art Bastion zu errichten, zur Verteidigung jenes anderen Ich, das nicht »Edward« war. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich diesen Kern eisiger Distanz auf eine ambivalente Weise gepflegt und gelebt. Er schien unzugänglich für all die Drangsale von Verlust, Trauer, Labilität oder Versagen, die ich durchlebt habe. Eines Sommers traten zwei neue Freunde in mein Dasein in Dhur, die der zunehmenden, aber noch nicht wahrgenommenen Entwicklung meines Innenlebens entsprachen. John Racy, der älteste Sohn einer Klassenkameradin meiner Mutter, beherrschte wie ich die
englische Sprache ungewöhnlich gut, mochte Musik und war ein begabter Spieler und Handwerker. Die Racy-Familie verbrachte den Sommer 1947 in einem Haus hinter dem Hotel Medawar, links vom Hauptplatz, eine gute Meile von unserem Haus entfernt. Ich war beeindruckt von Johns wohlerwogenen, makellos gebildeten englischen Sätzen (er muss vier oder fünf Jahre älter als ich gewesen sein) und seiner außergewöhnlichen Selbstbeherrschung. Er erzählte mir viel über Bücher, Musik – er brachte mir Beethovens Klaviersonate in Es-Dur nahe, »Die Jagd«, in einer Aufnahme mit Claudio Arrau – und die feineren Züge beim Schach, einem Spiel, das ich weder beherrschte noch besonders genoss, außer wenn Johnny darüber und über Stefan Zweigs Schachnovelle sprach. Ich glaube, ich habe niemals mehr als ja oder nein gesagt und Johnny im Übrigen nur Fragen gestellt, damit er mehr redete, während ich wie in Trance zuhörte. Jahre später – er war Psychiater geworden, hatte eine amerikanische Krankenschwester geheiratet, lebte zunächst in Rochester (wo ich ihm 1956 am Strong Memorial Hospital begegnete), dann in Arizona, danach sah ich ihn niemals wieder – erinnerte mich seine Mutter Soumaya daran, dass ich 1949 oder 1950 traurig zu ihr gesagt hätte: »Aber wo ist Johnny? Er fehlt mir.« Vielleicht war das Ganze keine Freundschaft im engeren Sinne, weil es so einseitig war, doch Johnny eröffnete mir eine reiche Welt, die ich nirgends sonst in Dhur finden konnte. Mein anderer Freund, ebenfalls aus unseren ersten Tagen in Dhur, war Ramzy Zeine. Sein Vater Zeine Zeine, Geschichtsprofessor an der Amerikanischen Universität in Beirut, war ein Bahai, den wir in der Regel nicht in Dhur, sondern bei seinen jährlich zwei Besuchen in Kairo trafen. Professor Zeine, ein begabter Erzähler, verhalf mir zu meinem ersten Museumsbesuch: in das Kairoer Wachsfigurenmuseum, wo Zeine in den grabesstillen, leeren Räumen mit kunstvollen
Wachsszenen aus der modernen ägyptischen Geschichte fesselnd von Muhammad Ali, Bonaparte, Ismail Pascha, der Orabi-Rebellion oder dem Denshawi-Vorfall zu erzählen wusste. Seit der Zeit, als ich etwa sechzehn war, sah ich ihn nur noch selten, aber ich weiß, dass er während des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 offen gegen Muslime und Palästinenser eingestellt war und in den achtziger Jahren sein Haus nicht mehr verlassen wollte, bis er schließlich mit neunzig Jahren vereinsamt starb. Ramzy war wie ich ein einsames Kind, doch seine Familie hatte ihm in einem Weinberg, einen Steinwurf von unserem massigen Steinhaus entfernt, einen kleinen, grünen, ländlichen Bungalow aus Holz gebaut. So etwas hatte ich noch nie gesehen, aber mit seinen zahmen Kaninchen und seiner unfehlbaren kleinen Schleuder – von ihm selbst angefertigt aus einem Eichenzweig, den er vor seiner Tür gefunden hatte – erschien mir Ramzy als das, was ich gerne gewesen wäre: ein Kind der Natur, glücklich und in Dhurs reizloser Umgebung mit sich im Reinen. Er bereicherte den ansonsten ungastlichen Ort um eine ungewohnt idyllische Dimension. Wie bei Johnny währte Ramzys Aufenthalt in Dhur nur sehr kurze Zeit, doch als die Sommer sich dahinschleppten und ich sehnsüchtig Rückschau hielt, erschien mir diese Zeit mit ihm sehr kostbar. Über meine Jugend hinaus pflegte ich keine Beziehungen zu Johnny oder Ramzy, und beide verschwanden danach aus meinem Leben. Als wolle er seine lange Abwesenheit wettmachen, organisierte mein Vater nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten im Hochsommer 1946 eine Reihe von Familienausflügen durch den Libanon. Er hatte die Bekanntschaft von Jamil Yared gemacht, dem ein siebensitziges rosafarbenes Taxi gehörte. Mit diesem sehr langen, auffallenden Wagen fuhren wir zu den Wasserfällen
von Hamana, auf die Anhöhen von Suneen, zu dem ziemlich enttäuschenden Zedernwald im Norden, nach cAin Zahalta, Kasrwan, zur Höhle von Qadisha und nach Beiteddine. Sicherlich boten diese Ausflüge eine willkommene Gelegenheit, Dhur einmal zu verlassen, aber jedes Mal auf dem Hin- wie auf dem Rückweg drei bis sechs Stunden auf der Straße zu verbringen, irgendwo anzukommen und in einem von Yared ausgesuchten Restaurant zu essen, um dann wieder nach Dhur zurückzufahren, konnte wohl kaum als ein richtiges Picknick gelten. Meiner sechsjährigen Schwester Jean wurde während der Fahrt im Auto häufig schlecht, so dass ihr jämmerlicher Zustand die Reise beherrschte und uns allen irgendwie verdarb, außer meinem Vater, der seine gelassene Gleichgültigkeit beibehielt. Das Essen war fast immer gleich, nur lokale Besonderheiten sorgten für unterhaltsame Abwechslung: In cAin Zahalta war das Quellwasser so kalt, dass es eine Wassermelone zum Platzen brachte. Und in Becharre, wo wir einen flüchtigen viertelstündigen Rundgang durch Khalil Gibrans Haus machten, »wie er es hinterlassen hatte« – mit ungemachtem Bett und ungeleerten Papierkörben –, war das örtliche Restaurant auf gegrilltes Huhn spezialisiert. Während wir so herumfuhren, war es für mich ganz selbstverständlich, dass niemand eine Karte zu Rate zog, und tatsächlich schien es gar keine Karten zu geben. Meistens fuhr Yared der Nase nach, so dass wir häufig anhalten mussten, um nach dem Weg zu fragen. Im Libanon gab es damals keine Werbetafeln, Straßenschilder oder touristische Einrichtungen. Kam man nach Reyfoun, so war das, als käme man plötzlich in ein neues Land, in dem die Leute uns anstarrten und versuchten, die donquichottische Mischung aus ägyptischen und palästinensischen Dialekten bei meinem Vater zu verstehen, während meine Mutter vom Rücksitz aus sanft über seine sprachliche Unbeholfenheit spottete: »Wie kann er
glauben, dass diese Leute Worte wie halqait [auf Palästinensisch »jetzt«] oder badri [auf Ägyptisch »früh«] verstehen?« Wenn wir aus dem langen rosafarbenen Wagen quollen, müssen wir wie eine Familie eigenartig mitgenommener Fremder von jenseits des Meeres gewirkt haben, so übertrieben vorsichtig und reserviert reagierten die Menschen auf uns. Von diesen Ausflügen stammt meine in späteren Zeiten gepflegte Gewohnheit, mich stets anders als die Einheimischen zu kleiden, wo immer ich auch bin. Noch heute überrascht mich nicht nur die unverdrossene Häufigkeit dieser Reisen, sondern mehr noch, wie wenig wir daraus über den Libanon im Allgemeinen oder die von uns besuchten Orte im Besonderen erfuhren. Das lag vor allem an unserem Fahrer, dessen Kenntnisse bestenfalls lückenhaft und vorwiegend folkloristischer und gastronomischer Art waren: »Die Trauben sind hier besonders gut« oder »Ihre grünen Walnüsse sollten Sie unbedingt hier bestellen«. An Geschichtlichem schien es nicht viel Mitteilenswertes zu geben, und so waren wir schon mit geographischen »Tatsachen« zufrieden – etwa, dass Ain Zahalta tiefer liegt als Dhur. Gelegentlich konnte ich einem Gespräch zwischen meinen Eltern und einem Kellner oder Oberkellner entnehmen, ob ein bestimmtes Dorf maronitisch oder orthodox oder von Drusen bewohnt war. Die erhitzten sektiererischen Gefühle, die ich Mitte der fünfziger Jahre im Libanon erstmals bemerkte, lagen freilich noch unter der Oberfläche. Den protestantischen Verwandten meiner Mutter, den Badrs, schien ein eindeutiger Sonderstatus zuzukommen. Die eigenartigen späteren Bindungen an den Katholizismus wurden erst ab Ende der fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein sichtbar. Die Badrs stammten ursprünglich aus Khounchara, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten, und waren vor etwa zweihundert Jahren nach Shweir ausgewandert. Mein
Urgroßvater Yusef Badr war protestantischer Geistlicher – zuerst in Merdshaiun im Süden (heute unter israelischer Besatzung), später in Beirut. In den Memoiren des amerikanischen Missionars Jerry Jessup, Fifty-three years in Syria, wird er um 1880 als der erste »einheimische« protestantische Geistliche des Libanon beschrieben. Wie ihre protestantischen Verwandten in Palästina wahrten die Badrs ihre Bindung an die amerikanische protestantische Mission im Libanon, besaßen aber auch ein abwehrbereites, ja kampflustiges Gefühl dafür, was es bedeutete, in einem muslimischen Teil der Welt Christ zu sein. Die Vettern und Onkel meiner Mutter waren an der Amerikanischen Universität (dem ehemaligen Syrisch-Protestantischen College) ausgebildet worden. Alle waren betont religiös gewesen oder waren es noch und vertieften diese Bindungen durch häufige Reisen und Studienaufenthalte in den Vereinigten Staaten. Außerdem teilten sie, wie mir zurückblickend erscheint, allzu sehr die amerikanischen Einstellungen gegenüber dem Islam als einer verworfenen und sündhaften Religion. Es gab jedoch schon frühe Anzeichen dieser Feindseligkeit gegenüber dem Islam, die ich hinter der fröhlichen Atmosphäre der familiären Zusammenkünfte in Dhur wahrnehmen konnte. Sie schienen gleichsam Ausdruck einer bedingungslosen Begeisterung für das Christentum, wie sie selbst in der frommen Umgebung Jerusalems ungewöhnlich genug war. Als »Edward Said« fand ich mich im Libanon zu den Christen gezählt, obwohl ich auch heute noch, nach Jahren eines tödlichen Bürgerkriegs, bekennen muss, dass ich unfähig bin, mich überhaupt als vom Islam bedrohter Christ zu empfinden. Als Eva und Lily, Kusinen meiner Mutter und deren enge Freundinnen und frühere Klassenkameradinnen, sich ziemlich skeptisch über die Araber insgesamt und den Arabismus als Glaubensrichtung äußerten, war ich verblüfft,
weil ihre Sprache, Kultur und Erziehung, ihre Liebe zur Musik, ihr Festhalten an den Familientraditionen, ihre ganze Art, Dinge zu tun, mir im Vergleich zu uns so viel eindeutiger arabisch erschienen. Später dachte ich, diese aggressiv christliche Ideologie sei sehr paradox und schwer zu akzeptieren, sowenig verspürte ich oder irgendjemand in meiner engeren Familie ein Gefühl primär religiöser Feindschaft gegenüber Muslimen. Und dennoch waren unsere Beziehungen zu den libanesischen Verwandten meiner Mutter in den vierziger und frühen fünfziger Jahren von einer angenehmen Geselligkeit geprägt. Onkel Habib, Teta Muniras und Tante Melias Bruder, war ein freundlicher, stets leicht ironischer Herr, der mehrere Jahre mit Frau und Kindern im Sudan gelebt hatte. Seine Frau Hannah war eine überaus begabte und lebhafte Frau, wie ihr Mann bewundert und geschätzt. Ihr einziger Sohn Fouad, ein Vetter meiner Mutter, war der Liebling unserer gesamten Familie. Er war viel zu alt, um wirklich mein Freund sein zu können, aber wir hatten trotzdem eine enge Beziehung zueinander. Wir spielten in den fünfziger Jahren gemeinsame Tennisdoppel, und ich war stets beeindruckt von seiner forschen Art, seiner Ritterlichkeit gegenüber Frauen, seiner Freundlichkeit und seinem schrägen, selbstironischen Humor. Schließlich gab es noch drei andere Badr-Kinder aus der Generation meiner Mutter, die wir gelegentlich im Sommer in Dhur trafen: Lily und ihren Mann Albert (auch er ein Vetter meiner Mutter); Ellen, die Jüngste, mit ihrem Mann Fouad Sabra, Wadads Bruder und unser Freund seit der Erfahrung mit dem Columbia-Presbyterian Hospital; und zuletzt Eva, die Älteste, und ihren Mann, den Philosophen und Diplomaten Charles Malik, der für mein Leben und die Entwicklung meines Denkens in Dhur eine recht bedeutende Rolle spielen sollte.
Die lockere und freundliche Verbindung, die wir mit den Badrs im Libanon pflegten, sollte bald durch Krankheiten, Todesfälle, Reisen, Auseinandersetzungen und lange Unterbrechungen ausgehöhlt werden, aber solange sie in den vierziger und fünfziger Jahren bestand, erhellte sie die Nüchternheit und allgemeine Ode unseres Alltags in Dhur. Ein gelegentlicher Besuch bei meinem alternden Großonkel Habib bedeutete Schokolade und ein Glas Limonade, dazu einen interessanten Bericht über das Leben in Khartum unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Und wenn einige von ihnen zu uns zum Essen kamen, war der Tisch gedeckt mit köstlichen Speisen, es herrschte eine Art festlichen Überflusses und ein Gefühl, als würden Schranken fallen, was der dumpfen Atmosphäre des Sommers Leben einhauchte. Als meine Mutter 1947 nach einer Biopsie erfuhr, dass sie nicht den befürchteten Brustkrebs hatte, wurde die gute Nachricht mit einem üppigen Familienmahl gefeiert, das mein Vater in cAin al-Nacas veranstaltete, einer berühmten Quelle mit einem hervorragenden Restaurant in der Nähe von Bikfaya. Alle Badrs, jung und alt, waren eingeladen. Das war das vielleicht letzte harmonische Familienfest dieser Art vor dem Jahr 1948 und den verschiedenen darauf folgenden Ausbrüchen von Gewalt im Libanon. Alle tranken Arrak, ein paar rauchten narghila (Wasserpfeife), und mein Vater brachte in einer Ecke eine Bridgepartie zusammen. Uns beeindruckten besonders die Schaukeln im Nacas-Garten, denn sie hatten längere Ketten und tiefere Sitze, und wir kamen mit ihnen höher als mit jeder Schaukel in Dhur. In eben jenem Jahr, glaube ich, beschloss mein Vater, sich auf die Vogeljagd zu verlegen, nachdem ihm irgendjemand beim Bridge erzählt hatte, wie gut ihm das tun werde. Eines Abends kam er vom Bridge mit einer schmalen schwarzen französischen Flinte nach Hause, in der einen Hand eine
Schachtel Patronen, einen Gürtel in der anderen. Seine Begeisterung war beachtlich: »Sie sagen, es sei entspannend.« Unmittelbar nach unserem sehr zeitigen Frühstück am nächsten Morgen schnallte er seinen Gürtel um, schulterte die 9-Millimeter-Flinte und marschierte aus dem Haus. Sein Ziel war ein Feigengarten in mehreren hundert Metern Entfernung, wo er es auf einen besonders großen Vogel abgesehen hatte, der an solchen Stellen häufig vorkommen sollte und angeblich vorzüglich schmeckte. Ein oder zwei Stunden später kehrte er mit leeren Händen zurück, wechselte seine durchnässten Kleider und machte sich auf den Weg zur saha, um seine morgendliche Routine zu absolvieren. »Einer der Gärtner hat mir gesagt, dass ich auf zweierlei achten müsse: erstens schon gegen sechs zu kommen; zweitens auf der Suche nach den Vögeln nicht herumzulaufen, sondern mich ruhig unter einen Baum zu setzen und dort zu warten.« Am nächsten Morgen ging er früh los und nahm eines der orangefarbenen Wohnzimmerkissen meiner Mutter sowie ein Buch mit, denn er sah keinen Sinn darin, während seiner Wache unbequem zu sitzen oder untätig zu bleiben. Er hielt das wohl eine Woche lang durch, ohne jemals einen Vogel nach Hause zu bringen und seine Flinte mehr als ein paar Mal abgefeuert zu haben. An den ersten zwei oder drei Tagen verwendete er ein paar Minuten darauf, den Flintenlauf mit einer langen, in Benzin getränkten Bürste mit grünen Borsten zu reinigen, aber das gab er bald auf, als deutlich wurde, dass seine gelegentlichen Schüsse eine solche Mühe kaum erforderlich machten. Schließlich kam er zehn Tage später mit sechs feisten kleinen Vögeln nach Hause und wurde eilig von meiner Mutter abgefangen, die mit kaum verhülltem Ekel samt den toten Dingern schneller als üblich in der Küche verschwand. Wir bekamen die Tiere zum Essen vorgesetzt – winzige, zähe Geschöpfe in Froschgröße. Meine Schwestern, meine Mutter
und ich umringten meinen Vater wie einen Helden, so begeistert waren wir alle von seinem erstaunlichen, wenn auch sehr plötzlichen Erfolg. Als wir ihn drängten, Einzelheiten zu berichten, wo und wie er diese verblüffende Leistung zu Stande gebracht habe, antwortete er immer knapper und schien von unserer Beharrlichkeit irritiert; schließlich schüttelte er uns ab, indem er in seinem Zimmer verschwand. Später gestand er meiner Mutter, dass er die Vögel von einem jungen Jäger gekauft hatte, der mit etwas Bargeld mehr anfangen konnte als mit seinen sechs toten Vögeln. Diese Episode machte der kurzen Jagdleidenschaft meines Vaters schließlich ein Ende, und die Flinte wurde an mich weitergereicht. Das erste Jahr, in dem ich durch die Wälder hinter unserem Haus streifte, bestand mein Hauptproblem darin, dass ich mein eines Auge nicht zukneifen konnte. Meine Großmutter fertigte aus einem Taschentuch eine Binde, die ich über mein linkes Auge streifen sollte, wenn ich zum Schuss ansetzte, aber das war natürlich so umständlich, dass der Vogel längst weggeflogen war, wenn ich ihn endlich aufs Korn hätte nehmen können. Ich erinnere mich, dass ich stundenlang geübt habe, meine Augenbinde anzulegen. Dann verlegte ich mich darauf, meine linke Wange zu heben, um das Auge zu schließen. In den vier oder fünf Jahren, in denen ich das tat, gelangte ich nie über ein Anfängerniveau hinaus. Meine Mutter billigte es widerstrebend (sie betrachtete das Ganze als Ausweitung der zeitaufwendigen Botengänge), während mein Vater mir gelegentlich eine ermutigende Geste zukommen ließ. Ich hielt mich selbst nicht für einen geübten Jäger, obgleich ich ab und zu mit ein paar erbeuteten Vögeln zurückkehrte, was darauf hindeutete, dass ich besser abgeschnitten hatte als mein Vater. Ich lernte die verschiedenen Waldstücke in der Nähe des Hauses kennen, aber insgesamt fand ich diese Erfahrung reizlos und langweilig. Einmal gelang es mir, meine Schwester
Jean zum Mitkommen zu überreden, und sie genoss diesen Ausflug offensichtlich mehr als ich. Die erste Gelegenheit zur intellektuellen Weiterbildung während der Sommerferien bot sich 1949, als mir zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für das Victoria College im Herbst eine Art Nachhilfekurs in Geometrie verordnet wurde. Einer der Bridgepartner meines Vaters fand sich dazu bereit, und so fuhr ich an drei Tagen in der Woche morgens um neun mit dem Fahrrad zu einer zweistündigen Nachhilfesitzung in seinem Haus, das auf halbem Wege nach c Ain al-Qassis lag. Aziz Nasr war ein durchaus liebenswürdiger Mensch, ein pensionierter Ingenieur, der lange im Irak gearbeitet hatte, bevor er in sein Heimatdorf zurückgekehrt war. Außerdem war er, wie ich glaube, ein Vetter des Cafébesitzers – für mich eine reizvolle Empfehlung. Seine präzisen kleinen Gesten faszinierten mich weniger wegen der Klarheit der geometrischen Logik, die sie veranschaulichten, als wegen der unglaublichen Sorgfalt der Diagramme und Zeichnungen, die er dabei hervorbrachte. Mein Vater hatte sich eine Ausgabe des Prüfungstextes in Geometrie für die Aufnahme in Oxford und Cambridge verschafft – ein dickes graues Buch von erschreckender Ernsthaftigkeit, ohne Auflockerung durch irgendwelche netten Bilder, an die ich aus den Handbüchern der CSAC gewöhnt war –, und Mr. Nasr machte sich nun daran, mich hindurchzugeleiten, eine schreckliche Seite nach der anderen. Bei den vierzehntägigen Zwischenprüfungen bewies er eine unerklärliche Neigung, mir nicht die normalen Problemstellungen und Fragen vorzulegen, sondern die so genannten »Empfehlungen« – jene besonders schwierigen Aufgaben, von denen er meinte, ich sollte die Lösung herausfinden können. Das gelang mir nur sehr selten. Meistens verzettelte ich mich und wartete einfach ab, bis er meine
unzureichenden Bemühungen durchging, schließlich mit einer plötzlichen ungeduldigen Geste die betreffende Seite aus meinem Übungsheft herausriss und die Aufgabe auf einer neuen Seite löste – wie mir schien, sehr elegant. Nach etwa zehn Wochen schrieb er einen Bericht über meine sporadischen Fortschritte, in dem er meine Intelligenz lobte, aber auch auf meine mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu sprechen kam, meine fehlende Bereitschaft, immer mein Bestes zu geben, und so weiter. Dieser Bericht (unfairerweise war das Wort »Empfehlungen« darin nicht einmal erwähnt) trug mir den längst vertrauten Kommentar meines Vaters ein: »Du gibst niemals dein Bestes, Edward.« Meine Mutter sah meine Erfolgschancen in der neuen, vermutlich ernsthafteren und anspruchsvolleren Schule, in die ich eintreten sollte, dramatischer, ja geradezu apokalyptisch. »Was soll aus dir werden, Edward? Wirst du immer versagen und nur Schlechtes leisten? Denk an Miss Clark: sie hat dich so gut verstanden. Wann wird das endlich besser werden?« Ich bekenne mich zu einem ziemlich abscheulichen Benehmen während dieser Sommer in Dhur, das vorwiegend das Ergebnis der erzwungenen Einsamkeit in meinem freudlosen kleinen Zimmer war, wenn man mir gesagt hatte: »Zieh dich aus und geh sofort ins Bett – es wird nicht mehr gelesen!« Ich weiß noch genau, wie ich während der wachen Stunden im Bett einmal die Wand mit Spucke bepflasterte und die einladend leere weiße Fläche neben mir mit kleinen wohlgezielten Geschossen bedeckte. Und natürlich brachte das meine Mutter erst recht zur Weißglut. Während des langen Sommers gab es nicht viele Augenblicke der Zärtlichkeit. Die Beziehung zu meinen beiden älteren Schwestern Jean und Rosy war gewöhnlich dornig und von Zwistigkeiten geprägt, und ich hatte das Gefühl, als verlören wir allmählich die
vertraute Nähe, ja, als kämen wir überhaupt nicht mehr miteinander aus. Bis zu ihrem Todestag pflegte meine Mutter zu uns Geschwistern vor allem »bilaterale« Beziehungen – das heißt, sie ermutigte uns, miteinander gleichsam nur über sie als Vermittlerin in Kontakt zu treten. Ich war mir nicht bewusst, wann ich mich in ihrem Bannkreis befand oder Einlass begehrte, aber ich merkte, dass immer nur einer von uns ihre Gunst erfahren konnte. »Warum kannst du nicht fleißiger sein, so wie Rosy«, sagte sie etwa; oder andersherum: »Keine deiner Schwestern besitzt dein musikalisches Talent.« Jean hatte mehr Sinn für Humor als Rosy; Rosy war stärker als Jean; Edward benahm sich durchweg schlecht. Wir lebten nach den Mythen meiner Mutter und spielten die Rollen, die sie uns zugewiesen hatte. Ich bin heute noch nicht sicher, wie viele der ernsten, häufig traurigen Empfindungen, die ich ihr anvertraute, sie wirklich für sich behielt und wie viel davon sie meinem Vater oder meinen Schwestern weitererzählte. Ich musste mich ihr öffnen, wusste aber, dass mich das später für ihre Manipulationen anfällig machen würde. Immer wieder versuchte ich, ihr nahe zu kommen und ihre Zuneigung auf mich zu lenken. In Dhur ließ sie niemals von mir ab, und am Ende habe ich wohl ihre Besorgtheit, ihre unermüdliche Beschäftigung mit Details, ihre Unfähigkeit, jemals gelassen zu sein, ihre Art, sich ständig selbst zu unterbrechen und so eine anhaltende Aufmerksamkeit oder Konzentration zu verhindern, vollständig verinnerlicht. Meine Mutter besaß eine starke empfindsame Intelligenz, die mich anzog, die sie aber gern verbarg, um sich selbst als hilfloses, überlastetes Anhängsel der Stärke meines Vaters darzustellen. Ich erinnere mich, dass ich ihre wechselvollen und unvollständigen Bemühungen bewunderte, ihre Ausbildung in Französisch und den Geisteswissenschaften wie auch in Kurzschrift
abzuschließen, doch nachdem sie die Kartenmanie meines Vaters jahrelang nur widerwillig erduldet hatte, beschäftigte sie sich am Ende ernsthaft nur noch mit Bridge und wurde nach seinem Tode ebenfalls zu einer eingefleischten Spielerin. In seiner schlimmsten Erscheinungsform würde ich dies als das Dhur-Syndrom bezeichnen. Es trat auf, weil meine Mutter sich dazu verdammt sah, ungerechterweise allein zurechtzukommen – ein unfertiger Mensch, der verzweifelt, aber auch erfolglos versuchen musste, mit allem fertig zu werden, was sich vor ihm auftürmte: wie ein Zirkusjongleur, der zu viele Teller auf zu vielen Stöcken balanciert. Ich hatte gleichwohl nie Zweifel daran, dass sie mich wirklich verstand, trotz ihrer grenzenlosen Fähigkeit, uns ständig zu manipulieren. Instinktiv fand ich mich zu Personen in unserer Bekanntschaft hingezogen, die ihr verhältnismäßig unbekannt waren. Andere Leben, andere Lebensgeschichten aufzuspüren, entwickelte sich zu meiner Art, unbewusst nach Alternativen zur Dominanz meiner Mutter zu suchen. So wurden bald Dr. Faiz Nassar und seine zweite Frau Fina, eine kokette, fröhliche Frau, die mir überaus attraktiv erschien, zu besonders bevorzugten Quellen exotischer Kunde, weit entfernt vom tristen Alltag in Dhur. Wir hatten Fina und ihre beiden Kinder ursprünglich Anfang der vierziger Jahre in Kairo kennen gelernt. Sie war damals mit einem Ägypter verheiratet gewesen, der dann gestorben war. Als verwitwete Shami-Frau in Kairo begegnete sie dann Faiz und heiratete ihn. Später brachte er sie und ihre beiden Kinder nach Beirut. Emile Nassar, sein Vetter und unser Nachbar eine Terrasse tiefer, hatte ihn uns vorgestellt. Ich entwickelte eine Beziehung zu Faiz, seitdem er regelmäßig zu uns kam, um mit meinem Vater Bridge und Backgammon zu spielen. Wie die meisten Nassars, deren ungeheure Zahl meinem puritanisch protestantischen Blick damals ein gewaltiges Netz
schillernder und doch leicht anrüchiger Familienmitglieder mit vielen Geschiedenen und Stiefbrüdern suggerierte, war Faiz ein kleiner, ziemlich beleibter Mann mit einem sauberen Bürstenschnurrbart. Er sprach und bewegte sich mit anrührender Würde und Langsamkeit. Wir kannten ihn ursprünglich als »Dr. Faiz«, aber kurz nachdem er und mein Vater regelmäßig miteinander zu spielen begannen, stellte sich heraus, dass er Oberst in der ägyptischen Armee im Sudan gewesen war. Danach redete mein Vater ihn ziemlich jovial mit »Oberst« an, und bald nannte ihn jeder so. Trotz seines ernsthaften Auftretens und weil er niemals herablassend mit mir sprach, war er der einzige ältere Mann in Dhur, den ich wirklich als Freund betrachtete. Sein nachdenkliches Schweigen, seine Zurückhaltung faszinierten mich. Und oft verschob der Oberst mit Vergnügen eine abendliche Bridgepartie daheim, um einige Geschichten von der Großwildjagd zum Besten zu geben. Er erzählte sie in einem würdevollen Englisch, das mit kolonialen Ausdrücken und Phrasen wie »meine eingeborenen Träger« und »der alte Einzelgänger« gespickt war, in denen ein mythologisches Afrika durchschimmerte, wie ich es aus den Tarzan-Büchern und -Filmen kannte, die ich stets geliebt hatte. Als ich älter wurde, kam mir wohl der Verdacht, dass einige seiner Geschichten über »die Großkatzen« weniger eigenen Erfahrungen entstammten als seinem Vergnügen daran, mir etwas zu erzählen. Aber die feierliche Würde blieb immer gleich, und das galt auch für seine langen, gemessenen Pausen. Während meiner jüngeren Jahre hatte ich den Eindruck, dass er die Geschichten mit so vielen Unterbrechungen und einer solchen Überlegung erzählte, um die Spannung einer wirklichen Jagd im Urwald heraufzubeschwören, doch als wir beide älter wurden, stellte ich mit Bedauern fest, dass sein Gedächtnis und sein Geist ihn allmählich im Stich ließen.
Später erzählte mir einer seiner Verwandten – vielleicht nur in böser Absicht –, er habe sich eine schwarze sudanesische Geliebte gehalten und sei zudem als Leuteschinder berüchtigt gewesen. Strenge gehörte zweifellos zu seinem Charakter, aber für mich war sie Bestandteil seiner geheimnisvollen Würde, die in einer schwatzhaften Gesellschaft wie der unseren sehr selten war. Die Freundschaft des Oberst war eine Art Gegengift gegen die von meiner Mutter geschaffene Atmosphäre. In allem, was er bot, steckten Ordnung, Kenntnisse, Vergnügen. Im Laufe der Jahre schien sich unser Haushalt jedoch mit mehr Leben zu füllen – unter anderem, wie ich glaube, weil mehr Verwandte meiner Mutter die Gewohnheit entwickelten, in Dhur Häuser für die gesamte Saison zu mieten. Als der Oberst älter wurde, konnte man ihn sehen, wie er langsam über die ungepflasterten und schäbigen Bürgersteige Dhurs ging. Stets trug er seinen roten Tarbusch, der inzwischen völlig unüblich war, ebenso wie die kleine grüne Rosette, die er zum Schmuck ans Revers gesteckt hatte. Der Oberst schien nach und nach aus unserem Leben zu entschwinden, und an seine Stelle trat niemand seiner Art. Diesen Platz nahmen vielmehr jüngere Männer ein, mehr in meinem Alter, deren Gesellschaft ich fand, als Dhur selbst größer und weitläufiger wurde. Als ich zwölf, dreizehn war, besaß das alte Florida-Kino, das direkt neben dem Café Cirque lag, nur einen Projektor, was alle zwanzig Minuten eine Pause zum Rollenwechsel erforderlich machte, und die Filme zeichneten sich durch zahllose Risse, Tonkratzer und überbelichtete Einzelbilder aus. Um 1952 wurde das Kino durch das schickere und bequemere City Cinema ersetzt, das vergleichsweise neue Filme ohne Pausen vorführen konnte. Wenn drei von uns ins Kino gingen, trafen wir womöglich dort eine Gruppe unserer Vettern, jemand anderen, mit dem wir an
diesem Tag schon Tennis gespielt hatten, oder vielleicht einen der Nassar-Jungen in Begleitung eines Freundes aus Beirut. Die Stadt begann sich zu verändern: Ein oder zwei Billardsäle wurden eröffnet, es gab einen neuen Tennisplatz, ein paar neu eingerichtete Läden für Sportartikel und Hemden statt Feuerwerk und Strickwolle, und unter den Bewohnern fanden sich immer mehr Autobesitzer. All das hellte die gewohnte Düsternis des Ortes etwas auf. Mit jeder Erweiterung des Horizonts wurde ich freilich auf ernüchternde Weise daran erinnert, dass ich ein Außenseiter und weder in Dhur noch überhaupt im Libanon zu Hause war. So lud mich eines ungewöhnlich strahlenden Nachmittags Munir Nassar zu sich nach Hause ein, wo ich einen seiner Schulfreunde aus Beirut kennen lernen sollte, Nicola Saab, den klügsten Jungen seiner Klasse. (Zehn Jahre später, an der Schwelle zu einer glänzenden Arztkarriere, beging er Selbstmord.) Sie waren schon seit einigen Jahren eng befreundet und gebrauchten eine Art gemeinsamer Sprache mit etlichen bewusst geheimnisvollen und gesuchten Ausdrücken, von der Fremde wie ich ausgeschlossen waren. Ich erinnere mich an eine hitzige Diskussion bei unserem zweiten Zusammentreffen – über die Vorzüge des von beiden sehr geschätzten Brahms gegenüber Mozart, den wiederum ich lieber mochte. Ich hatte gerade Mozarts Linzer Sinfonie entdeckt und hielt die Klarheit ihrer Linien und ihre reine Eleganz für einen Höhepunkt des Ausdrucks. Ich vertrat meine Sache, so gut ich konnte, wurde jedoch von den beiden älteren Jungen überstimmt, die Mozart als »leicht« und gedankenarm abtaten. Das Wort, das mir als Urteil über Brahms deutlich in Erinnerung geblieben ist, lautete »tief«, ein Begriff, den ich weder völlig verstand noch zuvor jemals verwendet hatte. Tief, dunkel, beunruhigend, aufrüttelnd, bedeutungsvoll – so wurde Brahms Erste Sinfonie beschrieben, und als die Platte auf dem
»pickup« der Nassars abgespielt wurde, geschah das unter bedeutungsschwerem Nicken, Blickwechseln und erregten Gesten. Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen. Brahms war die anerkannte Wahl der Kenner, wohingegen Mozart und mir die Rolle der etwas gering zu schätzenden, nicht ganz ernst zu nehmenden Außenseiter blieb. Zum Schluss zeigte sich Saab mir gegenüber versöhnlich, als wolle er mich für die konzertierte, ja orchestrierte Polyphonie entschädigen, und verkündete: »Aber weißt du, Mozart ist durchaus tadellos.« Auch dies war ein ungebräuchliches Wort, dessen Bedeutung ich nicht ganz verstand: »tadellos« machte alles nur noch schlimmer, als sei das die letzte Zuflucht der Oberflächlichen. Als ich fast fünfzehn war, durfte ich mit Munir Nassar nach Beirut fahren. Er nahm mich mit zu dem zementierten und ziemlich kargen Strand der Universität, wo man sich schon die Füße verbrannte, wenn man nur ans Wasser wollte. Dort stellte er mich seinen Klassenkameraden vor, die mich herzlich begrüßten, danach jedoch jovial Witze und Anekdoten in einem arabischen Dialekt austauschten, der offensichtlich ihre Sprache war und ebenso offensichtlich nicht die meine. Es war wohl eine der ersten Gelegenheiten, bei denen ich Sprache als Hindernis erlebte, auch wenn ich verstand, was gesagt wurde. Ihr Akzent war Libanesisch, der meine – abgesehen von einem kärglichen Rest Palästinensisch – Ägyptisch; ihr Beirut war das meine nur, weil ich zufällig mit Munir zusammen war. Ich hielt mich zurück, während die anderen eifrig miteinander schwatzten. Als wir zu einer Filmmatinee ins Kino Capitol im Zentrum von Beirut gingen, verlieh mir die kühle Dunkelheit des Kinosaals noch mehr Unsichtbarkeit, während ich mich fragte, ob ich den beiden jungen Männern neben mir jemals ebenbürtig sein könnte. Ich erzählte später meiner Mutter, wie isoliert ich mich gefühlt hatte, während ich ihre Gespräche mit anhörte. »Hast du sie gefragt, worüber sie sprechen und warum
sie dich nicht mit einbeziehen?«, fragte sie mich und führte mir damit erst recht meine Schüchternheit vor Augen. Andererseits tat es mir gut, dass sie mir zu Hilfe gekommen war. Natürlich hatte ich nichts dergleichen getan und hätte eine solche Frage auch niemals in Betracht gezogen. Mitte der fünfziger Jahre, als wir in Dhur endlich ein Auto und auch ein Telefon hatten, studierte ich in meinen ersten Semestern in Princeton, und ziemlich plötzlich verschwand das Gefühl von Gefangenschaft und Langeweile, das seit jeher mit unseren Sommern verbunden gewesen war. Das Leben in Dhur war nicht mehr begrenzt auf die saha und ihre Umgebung, sondern erstreckte sich bis in die Stadt Broummana, zehn Kilometer südlich, und Mrouj, ein paar Kilometer jenseits des Hotels Kassouf. Der gesellschaftliche Mittelpunkt unserer neuen Betriebsamkeit war der Tennisplatz. Zunächst gab es da den Halabi-Platz, offen für jeden, der bereit war, den geringen Betrag dafür zu bezahlen. Der Platz war schlecht gewartet, aber dort lernte ich Sami Sawaya (einen entfernten Verwandten unseres Lebensmittelhändlers) und Shawqi Dammous kennen, einen kräftig gebauten Mann in den Vierzigern, der auch der Sportlehrer am International College war, der Vorbereitungsschule für die Amerikanische Universität. Sami war ein hochgewachsener, magerer junger Mann, etwa fünf Jahre älter als ich. Da er anscheinend seine ganze Zeit auf dem Halabi-Platz verbrachte und ein von Natur aus geselliger und liebenswürdiger Mensch war, arrangierte er für mich einen oder zwei freundschaftliche Sätze. Sami führte mich in die lärmende Atmosphäre des Platzes ein, die sich so sehr von der langweiligen Einsamkeit unterschied, wie ich sie gewohnt war. Ich erinnere mich an die ruppigen Vormittage dort: Es gab zahlreiche Wortgefechte, die immer wieder von dem
unermüdlichen, gerechtigkeitsliebenden Shawqi geschlichtet wurden, dessen majestätisch große Glatze schweißbedeckt war, wenn er lautstark zwischen verschiedenen Kandidaten auf dem Platz vermittelte. Mitunter kam es zu aufregenden, für mich in der Regel vernichtenden Grundlinienduellen zwischen mir und dem soliden Sami, gelegentlich auch zu einem spontanen Doppel mit jungen Mädchen, die ich dort kennen gelernt hatte. Und schließlich gab es die besonderen Anlässe, wenn Dhur, häufig vertreten durch meinen Vetter Fouad Badr, einen stattlichen Publikumsliebling, sich mit einem Team der IPC (Iraqi Petroleum Company) aus Tripoli oder einem Team aus Broummana einen Wettkampf mit mehreren Einzeln und einem oder vielleicht auch zwei Doppeln lieferte. Tennis eröffnete mir endlich einen Bereich, der von meinen Eltern in Dhur unabhängig und den kontrollierenden Blicken meiner Mutter entzogen war. Im Jahre 1954 ergab sich eine enorme Verbesserung unseres gesellschaftlichen Lebens, als eine große muslimische Familie, die Tabbarahs, ein hübsches Haus kaufte und daneben einen Tennisplatz anlegte, den sie dann in einen Club umwandelte, in dem erneut Shawqi Dammous die Hauptfigur war. Da der Club fast einen Kilometer hinter dem Kassouf lag, war ein Auto unverzichtbar, obwohl man im Allgemeinen auch vorüberfahrende Taxis oder Busse überreden konnte, einen zu einem Nachmittag voller Tennis, Tischtennis und Geselligkeit mitzunehmen. Bald nach der Entstehung des Tabbarah-Clubs begegnete ich den Emad-Schwestern, Eva und Nelly, den jüngsten Töchtern von Naief Pasha Emad, der ursprünglich aus cAini al-Sa-fasaf (einer Satellitenstadt von Shweir) stammte, inzwischen aber ein bekanntermaßen reicher Seifenfabrikant war, der in der Industriestadt Tanta im Norden von Kairo lebte, wo auch seine Fabriken standen. Die Emads lebten gegenüber dem TabbarahClub in einem riesigen, palastähnlichen Haus mit
unverwechselbaren grünen Läden, das von einer großen Steinmauer umgeben war. Ich habe das Haus niemals betreten und bin auch niemals Emad Pasha begegnet, obwohl ich mit einigen seiner Kinder gut befreundet war. Eva war etwas älter als Nelly und fast sieben Jahre älter als ich. Sie war unverheiratet, wohlhabend, gesellschaftlich von ihrer Umgebung isoliert und die erste Frau, der ich wirklich nahe kam, obwohl wir mehrere Sommer lang niemals allein waren, sondern uns immer nur im Rahmen der üblichen Gruppe begegneten, die morgens zum Tennis erschien, zum Essen nach Hause ging und sich am Nachmittag für noch mehr Tennis, lärmendes Kartenspiel und Tischtennis erneut einfand.
VIII
ICH KONNTE ES NATÜRLICH NICHT WISSEN, aber als ich im Herbst 1949 mit fast vierzehn Jahren in das Victoria College eintrat, waren damit auch meine beiden letzten Jahre in Kairo angebrochen. Zum ersten Mal wurde ich ausschließlich zu »Said«, wobei mein Vorname entweder ungenannt blieb oder zu »E« verkürzt wurde, und als einfacher »Said« betrat ich eine Welt mit den unterschiedlichsten Nachnamen sehr gemischter Herkunft – Zaki, Salama, Mutevellian, Shalom. An allen hingen nahezu bedeutungslose Initialen: Salama, C. und Salama, A. zum Beispiel, oder bei Zaki wurden dessen beide erste Initialen zu einem spöttisch umgedrehten und kakophonen Spitznamen – »Zaki A. A.« oder »Zaki Ack Ack«. Vor Beginn des Schuljahres hatte ich meiner Mutter erklärt, ich wolle vielleicht Arzt werden, woraufhin sie antwortete, mein Vater und sie würden mir sehr gerne meine erste Praxis kaufen. Uns beiden war klar, dass dieses Geschenk sich auf Kairo bezog, obwohl wir ebenso sicher wussten, dass diese Stadt langfristig nicht unsere Heimat sein konnte, so wie wir sie uns vorstellten. Berichte von geheimnisvollen Ermordungen und Entführungen vorwiegend prominenter Männer mit gut aussehenden Frauen zeugten von der Macht eines ebenso korpulenten wie lüsternen Königs, dessen nächtliche Ausschweifungen und lange Ferienaufenthalte in Europa das Land ebenso in Unruhe versetzt hatten wie die Skandale des Palästina-Kriegs von 1948, als schadhafte Waffen, unfähige Generäle und ein starker Feind nicht nur die ägyptische Armee aus dem Feld geschlagen, sondern den
taumelnden, immer noch nicht wirklich unabhängigen ägyptischen Staat zu einem neuen Tiefpunkt geführt hatten. Das plötzliche Auftreten der Muslim-Bruderschaften versetzte uns Araber, die wir weder Ägypter noch Muslime waren, in zusätzliche Unruhe. Ein anhaltender Guerillakrieg in der Suezkanal-Zone, in die sich die britischen Truppen zurückgezogen hatten, verlieh den gegen die Ausländer kämpfenden Guerillas oder fedayin (ein islamisches Beiwort, das Opferbereitschaft im Krieg bezeichnet) den Status von Helden und belastete unsere Kairoer Arbeitsbeziehungen zu englischen Ärzten, Krankenschwestern, Lehrern und Bürokraten mit erheblich stärkeren Spannungen als zuvor. All das wurde mir in dem Augenblick bewusst, in dem ich das Victoria College betrat, das der Erdkundelehrer Mr. Hill mir gegenüber später einmal als eine Schule bezeichnete, die das Eton des Nahen Ostens hatte werden sollen. Abgesehen von den Lehrern für Arabisch und Französisch bestand der Lehrkörper ausschließlich aus Engländern, obwohl es im Unterschied zur GPS keinen einzigen englischen Schüler gab. Mein Vater fuhr mich zur Schule – sie war vorübergehend in der ehemaligen italienischen Schule in Shubra untergebracht, in einem der am dichtesten besiedelten Viertel Kairos, fast schon einem Slum, nicht weit von Dr. Haddads Klinik – und ließ mich am ersten Tag mit seinem gewohnt fröhlichen »Viel Glück, mein Sohn« an der Eingangstür zurück, um dann mit seinem Chauffeur wegzufahren. Zum zweiten Mal in meinem Leben (nach der GPS) trug ich eine Schuluniform: Blazer, graue Hosen, einen blausilbern gestreiften Schlips und eine Mütze. Diese Uniform (bei Avierino gekauft) machte mich für jeden sichtbar zu einem VC-Schüler und erfüllte mich, während ich mir etwa fünf Minuten vor Ertönen der Schulglocke um halb neun meinen Weg durch das dichte Gedränge in den Gängen bahnte, mit einem Gefühl elender
Einsamkeit und tiefer Unsicherheit. Schüchtern warf ich einen Blick in ein Büro, weil ich mir einen Hinweis erhoffte, wie ich zum Klassenzimmer der Mittleren Fünf käme. Es war das Büro des Direktors, und ein gefälliger Diener (farrash) wies mich den Korridor hinunter, hinaus auf einen überfüllten Schulhof, an dessen gegenüberliegender Seite ein kleines Gebäude mit zwei Räumen stand. »Das ist es«, sagte er. »Die Mittlere Fünf ist das linke.« Als ich mich vorsichtig durch ein Fußballspiel, mehrere Ringkämpfe, ein intensives Murmelduell und eine kleine Gruppe wiehernder älterer Jungen drängte, fühlte ich mich von der schieren Fremdheit dieses Ortes, an dem nur ich allein neu und anders zu sein schien, angegriffen und verwirrt. Als ich das richtige Klassenzimmer gefunden hatte, saß dort ein ziemlich kleiner Junge an seinem Pult und schrieb eifrig aus einem großen Buch ab, das neben ihm lag. Zwei andere saßen nebeneinander und lasen schweigend, während drei weitere ihre Hausaufgaben verglichen. Schüchtern fragte ich den eifrigen Schreiber (er stellte sich mit seinem Nachnamen vor: »Shukri«), woran er arbeite. »Reserve«, antwortete er lakonisch. Auf meine Nachfrage erläuterte er, für eine normale Strafarbeit müsse man aus einem besonders langweiligen Buch wie dem Telefonbuch, einem Wörterbuch oder einer Enzyklopädie fünfhundert oder tausend Zeilen abschreiben. Wenn er jetzt ein paar vorbereite und in Reserve hielt, würde er es später bei der Strafarbeit leichter haben. In dem Moment wusste ich, dass diese Schule erheblich strenger war als alle anderen, die ich bis dahin besucht hatte. Der Druck würde größer sein, die Lehrer strenger, die Konkurrenz der Schüler untereinander hitziger, die Atmosphäre wäre angefüllt mit Herausforderungen, Strafen, Raufbolden und Risiken. Vor allem hatte ich das Gefühl, dass nichts zu Hause oder in meiner Familie mich darauf vorbereitet hatte: Ich war wirklich ganz auf mich allein gestellt, unbekannt, fremd und ständig in
Gefahr, im Getriebe einer erschreckend großen Institution verschluckt zu werden – sie war zehn Mal größer als jede der Schulen, die ich bis dahin besucht hatte. Jede Klasse der höheren Jahrgänge bestand aus zwei Parallelklassen, wobei in der A die relativ klugen und fleißigen Schüler versammelt waren, in der B die langsameren Jungen, die weniger zu Stande brachten und allgemein als Darwinsche Fehlschläge galten, die nichts Besseres verdient hätten. Diese Unterteilungen geschahen mit Blick auf die Vorbereitung auf die Universitätsberechtigung oder das einfache Abitur. Letzteres war den Jungen der Unteren Sechs vorbehalten, während die hervorragenden jungen Männer der Oberen Sechs sich um ein A-Niveau und die Zugangsberechtigung zur Universität bemühten. Diese jungen Männer schienen sämtlich Spitzensportler zu sein, Präfekte, Genies, und wurden von uns üblicherweise als »Captain« angesprochen, ein Titel, der durch die silbernen Paspeln an ihren Blazern und Mützen zusätzliche Glaubwürdigkeit erhielt. Die beiden höchstrangigen Schüler, die Captains Didi Bassano und Michel Shalhoub, waren zunächst unglaublich weit entrückte Gestalten, aber allmählich wurde uns insbesondere Shalhoub unangenehm vertraut – er war ebenso für seine Eleganz bekannt wie für seine strengen und erfinderischen Strafmaßnahmen gegenüber den kleineren Jungen. Um den etwa tausend Jungen des Victoria College einen Zusammenhalt aufzuzwingen, hatte die Schulleitung uns alle in »Häuser« aufgeteilt, das die Ideologie des Empire noch stärker einimpfen und verinnerlichen sollte. Ich gehörte zum Kitchener-Haus; andere Häuser hießen Cromer, Frobisher und Drake. Das VC von Kairo war alles in allem eine weniger vornehme Schule als das Mutterhaus in Alexandria, das bereits seit drei Jahrzehnten bestand und an Schülern und Lehrern weit bedeutendere Namen aufzuweisen hatte (unter anderen
König Hussein von Jordanien), dazu eine sehr hübsche Ansammlung von Gebäuden und Sportplätzen in der großen Sommerhauptstadt am Mittelmeer. Unser Schulgelände in Shubra wirkte dagegen zusammengestückelt. Ursprünglich war es während des Krieges nur angemietet worden, um überzählige Schüler aus Alexandria unterzubringen, denn die dortige Schule war in erster Linie ein Internat. Die meisten Jungen waren Tagesschüler aus Kairo, kamen aus nicht ganz so vornehmen Kreisen und waren vermutlich auch weniger beschlagen als diejenigen aus Alexandria. Die Klassenräume und die Aula waren schmuddelig und eng. Eine ständige Staubwolke schien über dem Gelände zu liegen, obwohl vier Tennisplätze und mehrere Fußballfelder uns Sportmöglichkeiten boten, wie ich sie zuvor nicht gekannt hatte. Während ich an diesem ersten Tag herumstand und auf den Beginn des Unterrichts wartete, füllte sich die Klasse allmählich mit schwatzenden Jungen, die allesamt riesige Taschen voller Bücher, Stifte und Hefte mit sich trugen. Als einziger Neuer war ich überzeugt, ich müsse auf Monate hinaus ein Außenseiter bleiben – so undurchdringlich schien das Netz der Bekanntschaften und Gewohnheiten, das meine fünfundzwanzig Klassenkameraden verband –, aber schon am Ende des ersten Tages fühlte ich mich ganz wie zu Hause. Mr. Keith Gatley, unser Klassenlehrer, war weißhaarig und korpulent, und eine enorme Narbe zog sich schräg über sein ganzes Gesicht. Wie die anderen Briten dort war Gatley ein Absolvent von Oxford oder Cambridge, der entweder nach dem Krieg in Ägypten hängen geblieben oder aus England hergekommen war, weil es daheim keine angemessenen Arbeitsmöglichkeiten gab. Die meisten Angehörigen des Lehrkörpers waren Junggesellen und galten unter den Schülern als perverse Päderasten, die ihre verbotenen Gelüste an den
zahlreichen Dienern und vielleicht sogar den jüngeren Schülern befriedigten. Gatley wurde »al-Khawal« genannt, »der Schwule«; seine scheußliche Narbe (so die Gerüchte) verdankte er dem Kampf mit einem Zuhälter, den er (den gleichen skurrilen Berichten zufolge) hatte betrügen wollen. Offensichtlich waren diese Angaben nicht nachprüfbar. Den größten Teil dieses »Hintergrunds« erfuhr ich bereits während der ersten Englischstunde, die Was ihr wollt gewidmet war – einem höchst ungeeigneten Stück für rohe Flegel, denen beim Stichwort »Liebe zur Musik« nur das rhythmische Geräusch einer masturbierenden Hand einfiel. Gatley forderte uns auf, mehrere Verse der ersten Szene vorzulesen und zu interpretieren, erntete jedoch lediglich grölendes Gelächter, unverständliches Gebrabbel und schauerliche arabische Obszönitäten, die als »klassische« Entsprechungen zum Text des Herzogs von Illyrien vorgetragen wurden. Sämtliche »welkt so hin« und »herabgesetzt« und »goldenen Pfeile« der Szene wurden mit kaum verhüllter Lüsternheit erläutert, während Gatley, dessen Kurzsichtigkeit ihn vor den meisten Gesten der Klasse schützte, dem, was er zu hören glaubte, lethargische Zustimmung und vage Billigung zukommen ließ. Innerhalb weniger Stunden fielen Jahre einer ernsthaften Erziehung von mir ab, als ich mich dem unaufhörlichen Hin und Her zwischen den Jungen anschloss, die sich als »Kanaken« solidarisch gegen ihre komischen und/oder verkrüppelten Lehrer, gegen grausame, unpersönliche und autoritäre Engländer zusammenschlossen. Allgemein herrschte die Überzeugung, die meisten dieser Herren seien Kriegsverletzte, die aus unserer völlig unbarmherzigen Sicht ihre Zuckungen, ihr Hinken und ihre spastischen Reaktionen verdient hätten. Gegen Ende der Stunde fuhr Gatley plötzlich auf, wobei sein dicker Wanst unter seinem engen Hemd und
über den fleckigen sackartigen Hosen hervorquoll. Aus seiner Erstarrung erwacht, schoss er auf zwei plappernde Schüler zu, die in ihrer Sorglosigkeit gar nicht bemerkten, welche Katastrophe da nahte. So etwas hatte ich noch nie erlebt: Ein untersetzter Mann schlug wild auf zwei kleine Jungen ein, traf sie gelegentlich und hatte alle Mühe, dabei nicht hinzufallen, während sie geschickt auswichen und lauthals »Nein, Sir, schlagen Sie mich nicht, Sir« schrien. Die Klasse hatte sich um die Kämpfenden versammelt und versuchte, Gatleys Schläge von den Opfern abzulenken. Unmittelbar darauf folgte eine Stunde Mathematik, die uns von einem gewissen Marcus Hinds eingetrichtert wurde. Er war in dem selben Maße drahtig und nervig wie Gatley schwerfällig und phlegmatisch. Mr. Hinds hielt sich für ziemlich gewitzt, wobei die offensichtliche Schärfe seines Geistes von einer beißenden Zunge unterstützt wurde, die weder Faulheit noch nachlässige Argumentation durchgehen ließ. Zumindest Algebra und Geometrie besaßen eine Präzision, wie sie in Gatleys sentimentalen Ergüssen über das, was wir für »ausländische« Poesie hielten, niemals zu finden war, so dass sich die Klasse schon nach wenigen Minuten ernsthaft an die Arbeit machte. Hinds’ Schweigen erwies sich letztlich als gefährlicher als Gatleys Lethargie. Ausgerüstet mit einem eigens angefertigten extra großen Tafelschwamm, dessen eine Seite mit einem zolldicken Stück Holz versehen war, fiel Hinds über Schüler her, die vielleicht mit einem Nachbarn geflüstert oder – ebenso schlimm – eine algebraische Formel nicht verstanden hatten, und schlug ihnen mit dieser schmerzenden Waffe auf Kopf, Schultern und Hände. In meiner ersten Stunde bei Hinds hatte ich Pech und fragte meinen Nachbarn George Kardouche, welches Textbuch von den dreien, die wir dabei hatten, wir benutzen sollten, woraufhin Hinds seinen Schwamm wie ein Geschoss nach mir
warf – eine erheblich wirksamere Methode, als in die hinterste Reihe zu wandern und mich dort mit Schlägen einzudecken. Da mein Verstoß verhältnismäßig geringfügig und ich außerdem neu in der Klasse war, begnügte er sich mit dieser Art telegrafischen Strafe, die mein linkes Auge knapp verfehlte und eine hässliche purpurrote Schwellung auf meiner Backe hinterließ. Da sich niemand um Hinds’ Übergriff kümmerte, schluckte auch ich meine Wut hinunter und rieb mir bloß die schmerzende Wange. Auf diese Weise waren also die Grenzen zwischen ihnen und uns festgelegt. Zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ich einer aufsässigen Schülergruppe an, da ich weder Engländer noch Ägypter, aber offensichtlich Araber war. Zwischen uns und ihnen, den Schülern und den Lehrern, bestand eine unüberbrückbare Kluft. In den Augen der importierten englischen Lehrkräfte waren wir entweder ein unangenehmes Tagwerk oder eine Gruppe von Straffälligen, die jeden Tag aufs Neue im Zaum gehalten und bestraft werden musste. Eine kleine Broschüre mit dem Titel »Das Schul-Handbuch« verwandelte uns kurzerhand in »Eingeborene«. Regel I verkündete kategorisch: »Die Schulsprache ist Englisch. Der Gebrauch anderer Sprachen wird streng bestraft.« So wurde Arabisch zu unserer Zuflucht – eine strafwürdige Sprache, in der wir uns von der Welt der Herren, der willfährigen Präfekten und anglisierten älteren Jungen befreiten, die als Vollstrecker der Hierarchie und ihrer Regeln über uns herrschten. Wegen Regel I sprachen wir eher mehr als weniger Arabisch – ein Akt trotzigen Widerstands gegenüber einem aus damaliger und erst recht heutiger Sicht lächerlich willkürlichen Symbol ihrer Macht. Was ich früher an der CSAC verborgen hatte, wurde hier zu einer stolzen aufrührerischen Geste: die Macht, Arabisch zu sprechen, ohne ertappt zu werden, oder, noch riskanter, der Gebrauch arabischer Worte im Unterricht,
um eine Frage korrekt zu beantworten und dabei zugleich den Lehrer anzugreifen. Bestimmte Lehrer waren für diese Technik besonders anfällig, vor allem Mr. Maundrell, der unglückliche und reichlich verwahrloste Geschichtslehrer, der womöglich unter einer Schützengrabenneurose litt. Seine gnomenhafte Lethargie wurde nur von einem Zittern belebt, während er einer von Grund auf teilnahmslosen und abgestumpften Klasse Details über die Tudor-Könige und Elisabethanische Sitten vorbetete. Auf eine seiner Fragen konnte ein Schüler dann etwa antworten, indem er mit höflicher Miene einen arabischen Fluch von sich gab (»kuss ummak, Sir«), dem unmittelbar eine »freie« Übersetzung folgte (»Mit anderen Worten, Sir«), die nicht das Geringste mit dem schmutzigen Ausdruck zu tun hatte (»die… Ihrer Mutter«). Wenn die Klasse vor Begeisterung johlte, fuhr Mr. Maundrell ängstlich und erstaunt zurück. Wir spielten auch »akher kilma« mit ihm und wiederholten im Chor das jeweils letzte Wort seiner Sätze. »Elisabeths Herrschaft zeichnete sich aus durch Kultur und Entdeckungsreisen«, eine seiner üblichen lähmenden Phrasen, erntete so das laute Echo des Wortes »Entdeckungsreisen«. Maundrell ignorierte das Ganze etwa sechs Sätze lang, bevor er mit brüllender, spastischer Wut explodierte, was bei uns wiederum heiteres Gelächter auslöste. Gegen Mitte des Schuljahrs hatte er es aufgegeben, mit uns kommunizieren zu wollen – er saß nur noch mürrisch auf seinem Stuhl und brabbelte über den Königsmord und Cromwells Revolution. Lehrer wurden demnach entweder als schwach (Maundrell und Mr. Hill, der Erdkundelehrer) oder als stark eingeschätzt (Hinds, gelegentlich auch Gatley), jedoch niemals auf Grund ihrer pädagogischen Leistungen beurteilt. Der Arabischunterricht wurde von einigen Ortskräften gegeben und war in Gruppen für Fortgeschrittene, Mittelstufe und Anfänger aufgeteilt. Soweit ich feststellen konnte, wurden die
entsprechenden Lehrer – mit einer einzigen Ausnahme – von den Schülern verachtet, nicht nur, weil sie in der Schule offensichtlich nur Bürger zweiter Klasse waren, sondern auch, weil wir fast alle die scheußlichen patriotischen Schmeicheleien für König Faruq, die uns als arabische Poesie dargeboten wurden, für den Schund hielten, der sie waren. Mein Lehrer in der Mittelstufe war ein koptischer Herr, den wir als Tawfiq Effendi kannten. Sein Gegenpart in der Gruppe für Fortgeschrittene war Dabc Effendi, der einzige Lehrer, dessen tiefe Achtung vor der Heiligkeit der Sprache ihm den Respekt, wenn nicht die Liebe seiner Klasse eintrug. Tawfiq Effendi war ein kriecherischer Mensch, der dringend einen Zusatzverdienst brauchte. Schon früh war er irgendwie zu der Überzeugung gelangt, ich sei der geeignete Kandidat für »Privatstunden«. Es gelang ihm, sich bei meiner Mutter einzuschmeicheln, und so kam er als mein Tutor zwei Mal in der Woche zu uns nach Hause. Nach einem halben Dutzend halbherziger Versuche, mir die Schwierigkeiten der Grammatik einzupauken – was mir für mehr als zwanzig Jahre die arabische Literatur verleidete, bevor ich mit einer gewissen Lust und Begeisterung zu ihr zurückkehren konnte –, verbrachten Tawfiq Effendi und ich unsere Stunden damit, über die Bücher zu schwatzen, statt sie zu studieren. Ihm ging es dabei lediglich um seine Entlohnung und eine Tasse Kaffee mit Keksen, die ihm Ahmed, unser Oberdiener, feierlich servierte. Anschließend brach er zur nächsten, zweifellos ebenso vergeblichen Nachhilfestunde auf. Ahmed und ich machten uns gewöhnlich über Tawfiqs rituelle Ablehnung lustig, sobald Kaffee und Kekse gereicht wurden – »Nein, vielen Dank, ich habe schon mit meinen Freunden im Groppi Kaffee getrunken«. Groppi war das elegante Café in der Innenstadt, als dessen Stammgast er sich erfolglos darzustellen
suchte. Dann akzeptierte er ebenso rituell das Dargebotene und machte sich mit Begeisterung darüber her. Dem Leben im Victoria College lag ein tiefer Widerspruch zu Grunde, der mir damals nicht bewusst war. Die Schüler galten als zahlende Angehörige einer vorgeblichen kolonialen Elite und wurden im Stil eines britischen Imperialismus ausgebildet, der sein Ende bereits hinter sich hatte, auch wenn uns Letzteres nicht klar war. Wir erfuhren von englischem Leben und Treiben, von Monarchie und Parlament, von Indien und Afrika, von Sitten und Idiomen, die wir weder in Ägypten noch sonst irgendwo verwenden konnten. Arabisch zu sein und zu sprechen galt am Victoria College als verwerflich, und dementsprechend erhielten wir niemals angemessenen Unterricht in unserer eigenen Sprache, Geschichte, Kultur und Geographie. Wir wurden geprüft, als seien wir englische Jungen, und jagten einem unklar definierten und stets unerreichbaren Ziel nach, von Klasse zu Klasse, von Jahr zu Jahr, während unsere Eltern sich gemeinsam in Sorge um uns verzehrten. In meinem Innersten wusste ich, dass das Victoria College meine Verbindungen zu meinem alten Leben unwiderruflich gelöst hatte und dass der von meinen Eltern aufgebaute Schutzschirm – die Behauptung, Amerikaner zu sein – zerbrochen war. Wir alle hatten das Gefühl, wir seien minderwertig und stünden einer angeschlagenen, aber gefährlichen Kolonialmacht gegenüber, die uns schaden konnte, während wir doch scheinbar gezwungen waren, ihre Sprache und Kultur als die in Ägypten vorherrschende zu lernen. Die schwindende koloniale Autorität verkörperte sich im Direktor, Mr. J. G. E. Price, dessen Anhäufung von Initialen eine affektierte Anmaßung von Abstammung und Bedeutung verriet, wie ich sie seither immer mit Briten verbunden habe. Ich weiß nicht, wo er und mein Vater sich kennen gelernt
hatten, aber diese Bekanntschaft mochte ein wenig zu der Herzlichkeit beigetragen haben, mit der er mir anfänglich begegnete. Price war ein kleiner, gedrungener Mann mit einem schwarzen Bürstenschnurrbart, der, wenn er mit seinem schwarzen Terrier um die Sportplätze herumwanderte, mechanisch seine Schritte setzte. Er lebte gleichsam entrückt – einerseits, weil er den Großteil seiner Autorität an Lehrer, Präfekten und Hausleiter delegiert hatte, andererseits, weil er allmählich immer kränker wurde. Schließlich musste er sein Amt aufgeben, nachdem er wochenlang gar nicht mehr aus seinem Arbeitsraum aufgetaucht war. Gegen Ende meines ersten Monats an der Schule hatte ich mir den Ruf eines Unruhestifters erworben, der während des Unterrichts schwatzte, mit anderen rebellischen und respektlosen Rädelsführern zusammensteckte und ständig eine ironische oder nichtssagende Antwort auf der Zunge hatte – eine Haltung, die ich als eine Art Widerstand gegen die Briten verstand. Paradoxerweise wurde ich jedoch gleichzeitig von allen möglichen Versagensängsten geplagt, fühlte mich in meinem plötzlich allzu männlichen Körper unwohl, sexuell unterdrückt und vor allem in ständiger Furcht vor Bloßstellung und Scheitern. Der Schulbetrieb war in seiner Intensität erschreckend. Der Unterricht dauerte von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr dreißig oder achtzehn Uhr und wurde nur von einer Mittagspause und Sport unterbrochen. Es folgte ein langer Abend mit Hausarbeiten, unter dem Diktat eines kleinen dicken Notizbuchs, das pflichtgemäß im Schulladen eingekauft worden war und in das sämtliche Aufgaben des Tages eingetragen wurden. Der Lehrplan bestand aus neun Fächern – Englisch, Französisch, Arabisch, Mathematik, Geschichte, Geographie, Physik, Chemie und Biologie – und war enorm gedrängt. Bald befand ich mich in einem Zustand ständiger
Angst und fühlte mich vollkommen unfähig, all den Fristen und Prüfungserfordernissen gerecht zu werden. Eines Tages zu Beginn des Schuljahres wurde ich erwischt, als ich während der Mittagspause mit Steinen warf, und sofort brachte mich ein Präfekt mit feuchten Händen zur Bestrafung in Prices Büro. In einem riesigen, neutral ausgestatteten Vorraum saß hinter einem der Schreibtische Prices Sekretär, ein stämmiger Einheimischer, den wir nur als Mr. Lagnado kannten. Er war emsig am Tippen. Der Präfekt flüsterte ihm etwas zu, und ehe ich mich versah, stand ich mit ihm im angrenzenden Zimmer vor Prices riesigem leerem Schreibtisch. »Was ist los, Lagnado?«, fragte der kränkliche Direktor verdrossen. »Was soll dieser Junge hier?« Lagnado ließ mich stehen, ging um den Schreibtisch herum und flüsterte, wie vor ihm der Präfekt, Price vertraulich ins Ohr. »Das können wir nicht zulassen«, sagte Price entschieden. »Komm ans Fenster, Junge«, meinte er kalt zu mir. »Beuge dich nach vorne. Sehr schön. Dann mal los, Lagnado.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Price seinem Angestellten einen langen Bambusstock reichte, und während Price mich am Genick festhielt, konnte ich sehen, wie Lagnado das unheilvolle Gerät hob und mir geschickt sechs heftige Schläge auf das Hinterteil verabreichte. Körperlich zu schwach, um mir selbst diese Ehre zu erweisen, beauftragte Price damit einen Einheimischen, der die Angelegenheit mit neutraler Effizienz ausführte, während der schweigende Direktor danebenstand und zu jedem Schlag beifällig nickte. »Das wär’s, Said«, sagte dann Price. »Geh jetzt und benimm dich in Zukunft besser«, lauteten seine Abschiedsworte, und als ich sein Heiligtum verließ, ging ich an Lagnado vorbei, der vor mir aus dem Zimmer geschlüpft war und schon wieder an seinem Schreibtisch auf die Tasten einhämmerte, als sei nichts geschehen. Der Schmerz war
scheußlich. Lagnado war ein kräftiger Bursche und hatte wirklich fest zugeschlagen – vielleicht, um seinem Herrn zu Gefallen zu sein, vielleicht aber auch, um einen »Araber« zu demütigen, denn Lagnado war ein europäisierter orientalischer Jude. (Zu einem armenischen Jungen, der sein Brot in die Soße tunkte, hatte ich ihn einmal sagen hören: »Ne mange pas comme les Arabes«.) Aber ich hatte das Gefühl, dass in einer Kriegssituation auch gar nichts anderes zu erwarten sei. Mich packte eine hemmungslose Wut, und ich schwor, »ihnen« das Leben zur Hölle zu machen und mich dabei nicht mehr erwischen zu lassen. Was sie auch zu bieten hatten, ich wollte es mir auf meine Weise holen, ohne einem von ihnen jemals nahe zu kommen. Obwohl mir nun praktisch eine ganze Schule voll Verbündeter und Komplizen zur Seite stand, übten die Regeln und Vorschriften meiner Eltern noch immer ihre Macht aus. Teilweise auf Grund der scheinbar nützlichen Erfahrungen mit der Geometrie-Nachhilfe durch Aziz Nasr in Dhur el-Shweir im Sommer zuvor entschieden meine Eltern, ich könne den harten schulischen Anforderungen des Victoria College besser gerecht werden, wenn Zahl und Art der Nachhilfestunden vermehrt würden (»Zusatzstunden« hieß das gewöhnlich). Obwohl ich für Mathematik und Naturwissenschaften durchaus begabt war, erhielt ich sowohl in Mathematik als auch Physik zusätzlichen Unterricht – unter anderem deshalb, weil meine Fertigkeiten im Rechnen weit hinter denen meines Vaters und meiner ältesten Schwester zurückstanden. Huda Said, die atemberaubend schöne Frau meines älteren Vetters George Said, erklärte sich bereit, sich um Mathematik zu kümmern, und für Physik verpflichtete mein Vater einen aufgeweckten jungen palästinensischen Flüchtling, der an der Amerikanischen Universität von Kairo studierte: Fouad Etayim. Huda und ich kamen hervorragend miteinander aus,
vor allem weil wir viel über Musik sprachen und nur sehr wenig für die Algebra taten, die ich ziemlich schnell begriff. Fouad studierte Journalistik – er war ein Kommilitone meines Vetters Robert (ebenfalls an der AUC) –, und anscheinend eignete er sich den Stoff mehr oder weniger mit mir zusammen an. Ich erinnere mich an viele langweilige Stunden, in denen wir mit Hitzeberechnungen und den britischen Wärmeeinheiten kämpften, aber das Interessante an den Stunden mit Fouad waren für mich die Diskussionen über den erbärmlichen Zustand des arabischen Journalismus. Ich hörte ihm zu, wie er mit beißendem Witz die leere Rhetorik und verkommene Ideologie der Autoren der Zeitungen Ahram und Akhbar auseinander nahm. Schließlich vertraute ich mich meiner Tante Melia an und schilderte ihr die wachsende Zahl meiner Leiden, mein Gefühl der Verlorenheit und Verwirrung in der Schule, die überwältigenden Sprach- und anderen Anforderungen, die zermürbende Atmosphäre, die unverhältnismäßig hohe Zahl an Nachhilfe-, Sport- und Klavierstunden, die mich auf sinnlose und öde Weise von morgens bis abends in Atem hielten, sieben Tage die Woche, in krassem Kontrast zu all den verbotenen Vergnügungen. Für mich war das alles zu viel, doch Tante Melia zeigte sich der Situation auf wundervolle Weise gewachsen. »Wenn du immer bloß denkst, alles muss jetzt sofort und auf einmal erledigt werden, dann machst du dich nur selbst fertig. Du musst es einfach nacheinander in Angriff nehmen, eins nach dem anderen, und das«, fuhr sie mit der Gewissheit desjenigen fort, der diesen Kampf bereits bestanden hat, »lässt die Belastung fast vollständig verschwinden. Du bist sehr klug und wirst das schon schaffen.« Ihre ruhigen, beinahe ungerührten, aber irgendwie fürsorglichen Worte sind mir in Erinnerung geblieben und haben sich als überraschend nützlich erwiesen in Zeiten
plötzlicher Krisen und drohender, wenn auch nur eingebildeter Katastrophen, wenn alle möglichen Fristen sich vor mir auftürmten. Ihre Ruhe und Autorität übten eine positive Wirkung aus, aber leider war dies das letzte Mal, dass sie und ich vertraulich miteinander sprachen: Ihre Pensionierung vom American College stand unmittelbar bevor, und nachdem sie ihren letzten Umzug in den Libanon bewerkstelligt hatte, war sie nie wieder der gleiche Mensch. Wen wundert es: Tante Melia hatte Recht, fast allzu Recht. Innerhalb von zwei Monaten freute ich mich auf die Schule nicht nur, weil sie eine Fluchtmöglichkeit in eine Realität bot, in der ich mich besser zurechtfand und die weniger gewichtige Ansprüche stellte als die eigentümliche Schauspielerei daheim. (Nachdem man entdeckt hatte, dass ich mich verbotenerweise »selbst befleckte«, wurden die Blicke meiner Eltern noch misstrauischer, und mein Verhalten und mein Zeitplan wurden noch schärfer überwacht und mit zahlreichen Aufgaben ausgefüllt.) Die Mittlere Fünf A stellte die bei weitem komplizierteste soziale und natürlich auch schulische Situation dar, mit der ich je zu tun hatte, und in vielerlei Hinsicht vermochte ich diese Anforderungen sogar zu genießen. Der Lehrstoff war von geringem Interesse: Es gab keine hervorragenden oder begabten Lehrer, obwohl einer von ihnen, Mr. Whitman, ein ziemlich anspruchsvoller älterer Mann, der in der Unteren Fünf A unterrichtete, ungewöhnlich stark an klassischer Musik interessiert schien und mich (und durch mich dann meine Eltern) überredete, ihm unsere Aufnahme von Strauss’ »Tanz der sieben Schleier« für den Club für klassische Musik zu leihen, den ich ab und zu aufsuchte. Im Übrigen befand ich mich in einem Zustand hellwachen Bewusstseins, meine ehemaligen Ängste und Sorgen hoben sich wie der frühmorgendliche Nebel und öffneten den Blick
auf eine Landschaft, die äußerste Aufmerksamkeit für soziale und in einem primitiven Sinne auch politische Details forderte. Meine eigene Klasse war in mehrere Cliquen und Untergruppen gespalten. Einer der Anführer war George Kardouche, ein kleiner, drahtiger Bursche mit beträchtlichen sportlichen Fähigkeiten und einer scharfen Zunge. Jeder mochte ihn leiden, und obwohl er, Mostapha Hamdollah, Nabil Abdel Malik und ich der gleichen Gruppe angehörten, konnte Kardouche dank seiner Schnelligkeit und seiner lockeren, reifen Art im Umgang mit älteren Schülern zwischen mehreren kleineren Cliquen hin und her pendeln. Er und ich saßen nebeneinander in der letzten Reihe, Hamdollah und ein oder zwei andere direkt vor uns. Anfang Dezember wurde eine unsichtbare Grenze überschritten, als Kardouche während einer der unerträglich monotonen Stunden bei Mr. Gatley eine Zigarette ausdrücken wollte und dabei versehentlich einen kleinen Haufen feuchten Papiers in seiner linken Schublade in Brand steckte. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir beide in große aufsteigende Wolken hässlichen grauen Rauchs eingehüllt, während er zuerst mit den Händen, dann mit seiner Schultasche die Flammen zu ersticken versuchte. Vorne murmelte der aufgedunsene Gatley weiter vor sich hin, doch plötzlich schien ihm etwas Ungewohntes in die Nase zu steigen. Für ihn völlig untypisch, hob er die Augen vom Buch und erblickte das erstaunliche Schauspiel eines rauchenden Pults. »Kardouche«, donnerte Gatley mit äußerst Furcht erregender Stimme, »was ist das für ein Rauch? Hör sofort damit auf, Junge!« Geistesgegenwärtig antwortete der heftig bedrängte Übeltäter, während er mit den Armen durch den Rauch wirbelte und zugleich hustete, keuchte, würgte und seine Augen schützte: »Rauch, Sir? Was für Rauch?« Woraufhin die gesamte Klasse im Chor einfiel: »Rauch? Was für Rauch? Wir sehen keinen Rauch!« Eingeschüchtert und
verblüfft zog Gatley es vor, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen, und fuhr mit den Jungen der vorderen Reihen in der Lektüre fort. Da Kardouche und ich in der Nähe der Tür saßen, gelang es uns schließlich nach einigem Tumult (schrillen Anweisungen, Verrücken der Pulte und dergleichen – alles von Gatley geflissentlich ignoriert), von draußen Sand hereinzuholen und das Feuer zu löschen. In der Klasse gab es auch eine Gruppe Französisch sprechender Jungen, von denen viele Juden waren und zu den intelligentesten Schülern gehörten: Andre Shalom, Andre Salama, Roger Sciutto, Joseph Mani, mit dem mich ein starkes Interesse an Walter Scott verband, und Claude Salama, der in dem Immobilia-Gebäude im Kern der schicken Kairoer Innenstadt wohnte. Dazu kam eine Gruppe vorwiegend Arabisch sprechender, nicht von westlichen Einflüssen geprägter Ägypter – Malawani, A. A. Zaki, Nabil Ayad, Shukry, Usama Abdul Haq und ein paar andere. An diesen sozialen Gruppierungen verwirrte und fesselte mich damals wie heute, dass keine von ihnen exklusiv war oder sich abschloss, weshalb ein ballettähnliches Gewirr von Persönlichkeiten, Sprechweisen, Hintergründen, Religionen und Nationalitäten zu Stande kam. Eine Zeit lang gehörte ein indischer Junge zu uns, Vashi Pohomool, dessen Familie einen großen Juwelierladen im oder nahe beim Shepheard V Hotel besaß. Außerdem kamen für einen Teil des Schuljahrs Gilbert Khoury, ein libanesischer Junge, der Halbamerikaner Ali Halim, dessen Vater albanischer Abstammung und ein Vetter von König Faruq war, Bulent Mardin, ein türkischer Junge aus Maadi, Arthur Davidson, der einen kanadischen Vater und eine ägyptische Mutter hatte, sowie Samir Yousef mit einem koptischen Vater und einer holländischen Mutter. Gemeinsam bildeten sie eine zusammengewürfelte, aber verblüffend aufregende Klasse, die
die schulisch-englische Seite der Dinge fast völlig ignorierte, obwohl wir doch in erster Linie ihretwegen hier waren. Die einzelnen Häuser hatten ihre eigenen Fußballmannschaften, in der unseren spielte ich jedoch eine sehr unauffällige Rolle. Dafür schnitt ich in der Leichtathletik besser ab. Unter den unnachsichtigen Blicken von Mr. Hinds entwickelte ich mich zu einem annehmbaren, wenn auch niemals glänzenden 100- und 200-Meter-Läufer. Ich weiß noch, dass ich ihn ständig nach meinen Chancen bei den bevorstehenden Schulmeisterschaften befragte. »Ich wäre überrascht, wenn du die Zweihundert gewinnst, aber ich wäre nicht überrascht, wenn du die Hundert gewinnst«, hatte er darauf geantwortet. Natürlich gewann ich keines der beiden Rennen. Der schlimmste Augenblick für mich kam im 100Meter-Lauf, als ich mit meinen hübschen schwarzen Spikeschuhen und meinen neuen, zu großen weißen Shorts – meine Mutter hatte auf dieser Größe bestanden – kurz nach dem Start bemerkte, dass mir die Hose rutschte. Während ich heftig daran zerrte und meine Beine tapfer, wenn auch vergeblich vorwärts stampften, hörte ich Hinds rufen: »Kümmere dich nicht um deine Hose, Said, lauf einfach weiter.« Tatsächlich lief ich noch ein oder zwei Meter, nur um eine Sekunde später auf der Nase zu landen, die verfluchten Shorts um meine Knöchel gewickelt, was bei den Schülern des Cromer-Hauses für höhnisch-triumphierendes Gelächter sorgte. So endete meine Karriere als Leichtathlet, wenn ich auch weiterhin Tennis spielte und außerhalb der Schule schwamm und ritt. Weder ein Siegertyp noch ein Star, hatte ich des Öfteren den Eindruck, kurz vor einem Durchbruch zu stehen, besonders im Tennis, aber regelmäßig standen mir die Zweifel und Unsicherheiten im Wege, die mir mein Vater in Bezug auf meinen Körper eingeimpft hatte. Stimmte es vielleicht
wirklich, fragte ich mich häufig nach einer bitteren Niederlage im Tennis, dass die Selbstbefriedigung meine Gesundheit und damit auch meine Leistungen beeinträchtigte? Zu alldem kam das Gefühl, ich würde wegen meines ungewöhnlich komplizierten familiären Hintergrunds, meiner Größe und Stärke (verglichen mit meinen Klassenkameraden) sowie meiner geheimen musikalischen und literarischen Neigungen aus dem Rahmen fallen. Mein eigentümlicher schulischer Status zeigte sich in jenem Jahr in Shubra besonders deutlich während einer Physikstunde im Frühjahr 1950. Die alte italienische Schule verfügte über keine Labors für den naturwissenschaftlichen Unterricht, und so wurde unsere Klasse zwei Mal wöchentlich mit dem Bus ins Koptische College nach Fagallah gefahren, eine schäbige Wohngegend der unteren Mittelschicht in der Nähe des Bahnhofs Bab-el-Hadid. Dort hatten wir (wenn ich mich recht erinnere) zunächst eine Chemiestunde bei einem halbverrückten Mann mittleren Alters, dessen Name ich vergessen habe. Er konnte kaum Englisch und verlieh seinen Ausführungen Nachdruck, indem er mit einem langen Riemen aus synthetischem Gummi um sich schlug. Azmi Effendi, unser Physiklehrer, war höflich und eiskalt und führte uns systematisch und in aller Ruhe durch Stoffe wie Mechanik, Licht, Schwerkraft und dergleichen, wovon ich das meiste mühelos aufnahm. Das Klassenethos erlaubte keine offene Unterwerfung unter den Willen des Lehrers – Azmi galt als eine Art Engländer in lokaler Verkleidung –, und so hielt ich mich bewusst zurück, wenn eine Frage zu diskutieren oder zu beantworten war. Als Azmi uns die halbjährlichen Prüfungsarbeiten zurückgab, leitete er das Austeilen der Examenshefte, die er fein säuberlich unter einer seiner Hände aufgestapelt hatte, mit einem beißenden Angriff auf die miserable Leistung der Klasse ein, auf ihre allgemeine
Unfähigkeit, ihren schändlichen Mangel an Aufmerksamkeit. »Nur ein Schüler hat überhaupt eine Ahnung von den Grundlagen der Physik, und er hat eine perfekte Prüfung hingelegt. Eine ausgesprochen glänzende Leistung. Said«, sagte er nach einer kleinen Pause, »komm nach vorne.« Ich saß weit oben in den ansteigenden Reihen des Hörsaals und weiß noch, dass mich der Junge neben mir anstieß. »Du bist gemeint«, sagte er, und schon stolperte ich die Stufen hinunter, ging zu Azmi, nahm meine »glänzende« Arbeit in Empfang und stolperte wieder zurück zu meinem Platz. Die gesamte Episode scheint bei meinen Klassenkameraden wie auch bei mir selbst keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, sosehr waren wir alle an meinen Status als Unruhestifter gewöhnt. Ich bin sicher, dass meine Abschlussnote in Physik ein respektables, aber kaum glänzendes B war, und ich entzog mich auch weiterhin jeglicher intellektuellen Auszeichnung. Was ich an kulturellen Fähigkeiten und Kenntnissen besaß, blieb hinter der schwierigen Aufgabe verborgen, den Klauen der Lehrer, Präfekten und Rowdys zu entgehen, jedes offensichtliche Versagen zu vermeiden und neben einem extrem langen Schultag auch noch den mörderischen Zeitplan zu Hause zu bewältigen. Ich genoss eine Schulaufführung von Goldsmiths She Stoops to Conquer, in der Michel Shalhoub (der spätere Omar Sharif) die Mrs. Hardcastle spielte und Gilbert de Botton (später ein bekannter internationaler Finanzmann) die Kate. Durch Samir Yousef und Arthur Davidson wurde ich in die ägyptische Volkskultur wie auch in die Pornografie eingeführt. Doch trotz meiner gewohnt verhärteten Widerstandshaltung gegen alles Kulturelle oder Pädagogische blieb ich ein ziemlich schüchterner und sexuell unbefriedigter Jugendlicher. Arthur Davidson gab uns gewöhnlich seine pornografischen Bücher zu lesen. Sie waren auf scheußlichem, obszön
wirkendem Papier gedruckt und in einem fürchterlichen Stil verfasst, der hastig hingeschludert und ohne jedes Sprachgefühl war, doch dafür war das Ganze randvoll mit höchst anschaulichen Beschreibungen. Später versorgte uns jemand mit grobkörnigen, schlecht entwickelten Fotos von kopulierenden Männern und Frauen. Das alles roch geradezu nach verbotenem, rohem Sex, aber da weit und breit keine Mädchen in Sicht waren, nutzten wir diese jämmerlichen sadistischen Schriften und Darstellungen für das, was wir für die Sprache erfahrener Lebemänner hielten. Ausdrücke wie »Ich will weißes Fleisch« oder »Sie ist feucht vor Geilheit« riefen gewaltiges Gelächter und Gejohle hervor, was zumindest bei mir ein Gefühl plötzlicher Unzufriedenheit und bohrender Frustration hinterließ. Im Laufe der Zeit fand ich heraus, wie ich mir meine eigene pornografische Literatur anfertigen konnte: Mit mir selbst als allwissendem und allmächtigem Erzähler erfand ich Episoden mit verschiedenen älteren Frauen, vorwiegend Bekannten der Familie und sogar Verwandten. Als wollte ich mein kompromittiertes, entwertetes Leben als – wie ich überzeugt war – sexuell Kranker auch zu Hause noch bekräftigen, versteckte ich meine Schriften an Stellen wie dem Brennholzstapel auf einem der Balkone oder in einer ungetragenen Jacke, in dem vagen Bewusstsein, mich so vielleicht noch stärker als zuvor bloßzustellen. Eigenartigerweise konnte mich auch der Hang meiner Mutter zum Herumstöbern – »Zufällig ist mir dieser Brief in die Hände gefallen« oder »Beim Aufräumen deines Zimmers hat Ahmed dieses Papier gefunden« hieß es jede Woche mindestens ein Mal – nicht davon abhalten, die belastenden Seiten an verschiedenen Orten zu verstecken. Einige vergaß ich ganz und gar, oder ich bekam während des Schulunterrichts Panik bei dem Gedanken, nichts gegen die Entdeckung tun zu können. Vermutlich wollte ich sogar
ertappt und mit meinen Sünden konfrontiert werden, um wirkliche Abenteuer in der wirklichen Welt zu erleben, ohne die elterlichen Zügel, die jede Bewegung an dieser Front außerordentlich erschwerten. Zu dieser Konfrontation kam es freilich nie, obwohl ich mich dunkel daran erinnere, dass meine Eltern bei verschiedenen Gelegenheiten andeuteten oder doch zumindest anzudeuten schienen, dass sie mich ertappt hatten und die belastende Prosa kannten. Das wiederum sorgte dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte, noch gereizter, noch mehr als Gejagter. Für meine aufgestauten Gelüste gab es außer dem Kino, dem Varietetheater und Kabarettvorstellungen nicht besonders viele Ventile. An einem schwülen Frühlingsabend des Jahres 1950 verschaffte uns Samir Yousef irgendwie einen Tisch im Freiluftcasino Badia, auf einer kleinen Mole direkt unterhalb des heutigen Giza Sheraton Hotel. Dort wurde ich von einer eindeutig erotischen Szene in einer Weise elektrisiert, wie ich es nie zuvor erlebt hatte: Tahia Carioca, die größte Tänzerin jener Zeit, wurde von dem sitzenden Sänger Abdel Aziz Mahmoud begleitet, um den herum sie wirbelte und sich wiegte, sich mit perfekter, kontrollierter Haltung drehte, wobei ihre Hüften, Beine und Brüste beredter und sinnlicher wirkten als alles, was ich in meiner banalen auto-erotischen Prosa erträumt oder fantasiert hatte. Ich sah auf Tahias Gesicht ein Lächeln uneingeschränkter Lust, ihr Mund war leicht geöffnet in einem Ausdruck ekstatischen Glücks, das durch Ironie und eine fast prüde Zurückhaltung gemäßigt wurde. Wir waren von dieser mitreißenden Widersprüchlichkeit völlig in Bann geschlagen, unsere Beine waren schwach vor zitternder Leidenschaft, unsere Hände, die die Armlehnen umklammerten, schienen vor lauter Spannung gelähmt. Sie tanzte etwa fünfundvierzig Minuten lang, eine ausgedehnte, ununterbrochene Komposition vorwiegend langsamer
Wendungen und Schrittfolgen, während die eintönige Musik mal lauter und mal leiser wurde. Ihr Tanz erhielt seine Bedeutung nicht aus den Wiederholungen und der banalen Lyrik des Sängers, sondern aus ihrer klaren, unglaublich sinnlichen Darbietung. Ähnliche, wenn auch weniger intensive Erfahrungen mit solch vermittelter Sexualität boten uns Musicals, vor allem mit Cyd Charisse, weniger mit Vera Ellen oder gar Ann Miller – Hollywood-Tänzerinnen aus einer Fantasiewelt, die im prosaischen Kairo absolut keine Entsprechung hatte. Viele Jahre später sagte Charisse in einem Interview mit der New York Times, Musicals wie Seidenstrümpfe hätten mit Hilfe des Tanzes die von der damaligen Zensur verbotene Sexualität eingeführt. Genau darauf reagierte ich als verwirrter, behüteter Jugendlicher mit ungestümer Leidenschaft. Meine Schulfreunde und ich verbrachten heimliche Stunden im Kino, wo wir uns Rita Hayworth, Jane Russell und sogar die langsam alternde Betty Grable anschauten – voller Begierde, den Nabel einer Frau zu sehen. Diese Begierde wurde allerdings enttäuscht, denn derart entflammende Ausblicke waren durch den Hays-Code verboten. Keine männlichen Schauspieler vermochten sich so in unser Fantasieleben zu drängen wie Tennisspieler. Zwei Mal im Jahr kamen ausländische Spieler nach Kairo – Jaroslav Drobny, Eric Sturgess, Budge Patty, der unvergleichliche Baron Gottfried von Cramm, Adrian Quist – und wurden sehr bald zu unseren Helden. In unserer Vorstellung war ihr Leben reich an luxuriösen Reisen und voller Vergnügen. Nicola Pietrangeli, Hoad und Rosewall sowie Tony Mottram standen für eine Welt der Eleganz, die unserer alltäglichen Wirklichkeit weit entrückt war. Daheim war das Leben inzwischen etwas weniger klösterlich und isoliert, da wir alle fünf nun unserer Kindheit entwachsen
waren. Außerdem hatte sich das gesellschaftliche Leben meiner Eltern beträchtlich ausgeweitet. Ein neuer Freundeskreis entwickelte sich um uns herum und blieb bis in die frühen sechziger Jahre hinein bestehen, bis Alter, politische Umstände und ökonomische Umwälzungen die kleine Gruppe für immer zerstreuten. Uns am nächsten standen die Dirliks, die wir gewöhnlich auch im Libanon trafen und die inzwischen eng mit meinen Eltern befreundet waren: Renee, die Mutter, eine witzige, intelligente Frau, die engste Freundin meiner Mutter, und ihr Ehemann Loris, seiner Ausbildung nach Apotheker, ein hervorragender Reiter und Koch und ein reizender Gefährte. Ihre beiden ältesten Kinder, Andre, etwa in meinem Alter, und Claude, seine jüngere Schwester, sahen wir seltener, weil sie französische Schulen besuchten und ihre eigenen Freundeskreise hatten. Noch heute erinnere ich mich außerordentlich gerne an die Dirliks. Ihre Besuche bei uns waren etwas Besonderes und unterschieden sich von Grund auf von der mürrischen palästinensischen Härte um uns herum oder der Schweigsamkeit der Bridgespieler (wie etwa der Herren Farajallah, Souky und Sabry), mit denen mein Vater lange Abende zusammensaß, was mich zunehmend wütend machte. Renee Dirlik, eine ehemalige Schülerin von Tante Melia, war die Tochter eines libanesisch-ägyptischen Vaters und einer armenischen Mutter; Loris war armenisch und türkisch. Beide waren Kosmopoliten – sie sprachen fließend Französisch und Englisch, nicht ganz so gut Arabisch –, und die Essen in ihrem Haus oder bei uns, die Opernabende, die gelegentlichen Restaurantbesuche im Kursaal oder im Estoril und schließlich die Ausflüge nach Alexandria gehören zu den angenehmsten Erinnerungen meiner Jugend. Wie wir waren freilich auch sie in ihrer weltlichen Kairoer Umgebung zum Untergang verurteilt. Diese Welt begann sich
bereits aufzulösen. Wir alle waren Shawam, amphibische levantinische Geschöpfe, deren grundlegende Verlorenheit für den Augenblick noch von einer Art Achtlosigkeit aufgehalten wurde, einer Art Tagtraum, wozu Dinnerpartys mit herrlichen Speisen ebenso gehörten wie Ausflüge in modische Restaurants, in die Oper, ins Ballett und zu Konzerten. Gegen Ende der vierziger Jahre waren wir nicht mehr einfach bloß Shawam, sondern khawagat – so die offizielle und respektvolle Bezeichnung für Ausländer, die bei muslimischen Ägyptern stets auch einen feindseligen Beiklang hatte. Obwohl ich wie ein geborener Ägypter sprach – und auch auszusehen glaubte –, schien mich irgendetwas zu verraten. Mir widerstrebte der Gedanke, dass ich irgendwie Ausländer sein sollte, während ich doch in meinem tiefsten Inneren wusste, dass ich, obwohl Araber, genau dies für sie war. Die Dirliks waren noch weniger in die Gesellschaft Kairos integriert. Das galt insbesondere für Loris und die Kinder, die in Verhalten und Sprache Europäer waren, sich deshalb aber offensichtlich nicht beeinträchtigt fühlten. Tatsächlich beneidete ich Andre um seine Weltgewandtheit und sein savoir faire – meine Mutter sprach gewöhnlich davon, er sei sehr debrouillard (findig), um mich zu mehr Wagemut in meinem Leben zu ermuntern, aber das bewirkte bei mir genau das Gegenteil. Er ging auf lange Tramptouren durch Europa und Asien, mit sehr wenig Geld in der Tasche, doch wenn er nach Hause kam, hatte er immer noch etwas übrig. Er schien die Bezeichnung khawaga für sich zu akzeptieren, während ich mich darüber ärgerte: zum einen, weil sich mein wachsendes Gefühl palästinensischer Identität (dank Tante Nabiha) diesem herabsetzenden Etikett verweigerte, zum anderen, weil ich mich selbst zunehmend als einen insgesamt komplexeren und authentischeren Menschen betrachtete und nicht mehr bloß als Kopie eines Kolonialisten.
Weitere Freunde aus unserem Kreis waren Kamal und Elsie Mirshak – er ein Shami-Ägypter der zweiten Generation, sie palästinensischer Herkunft, beide (wie ihr gesamter Kreis) jünger als mein Vater, beide moderner, eher »dabei«, wenn es um Nachtclub- und Restaurantbesuche ging. Trotz des Altersunterschieds waren Kamal und ich ziemlich gut befreundet, insbesondere weil er meine sexuellen Entbehrungen erahnte. Als ich siebzehn oder achtzehn war – ich ging bereits in den Vereinigten Staaten zur Schule, kam aber regelmäßig in den Sommer- und gelegentlich auch in den Weihnachtsferien nach Hause –, begann er mich zu ermuntern, Affären mit verheirateten Frauen in Betracht zu ziehen, eine Vorstellung, die mich enorm anregte, mangels Selbstvertrauen und geeigneter Kandidatinnen aber niemals verwirklicht wurde. Dann gab es da George Fahoum und seine Frau Emma (eine Kusine Kamals). George war ein auffallend athletischer, dunkelhäutiger, dünnlippiger Mann von beträchtlicher Eleganz und ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann. Zusammen mit Emmas Vater Elias Mirshak, einem ungewöhnlich wohlhabenden Grundbesitzer, war er in den Import und Verkauf von schwerem, vorwiegend landwirtschaftlichem Gerät eingestiegen. In den dreißiger Jahren, während seiner Collegejahre in Beirut, war George ein hervorragender Läufer und Leichtathlet gewesen, der im Sprint, auf den Mittelstrecken und im Weitsprung Rekorde aufgestellt hatte, die bis in die sechziger Jahre hinein Bestand hatten. Er war ein leidenschaftlicher Tennisspieler, dessen Fähigkeiten und arrogante Selbstsicherheit meinen Vater dazu provozierten, ihn – in meinem Namen – zu zahlreichen Matchs herauszufordern. Zu meiner großen Schande schlug mich George jedes Mal mit Leichtigkeit – auch wenn ich nach einem weiteren Jahr Spielpraxis an der Schule oder dem College in den USA überzeugt war, jetzt so viel besser geworden zu sein, dass ich
ihn schlagen könnte. Ich hasste es, wenn mein Vater mir das antat, mochte andererseits aber auch die Herausforderung und fühlte mich natürlich nach jedem Match beschämt. Es wurde immer in Fahoums National Club gespielt, wo er während unserer dreiviertelstündigen Begegnungen lässig mit den Balljungen und Trainern plauderte, die sich immer dazugesellten, um ihn siegen zu sehen. Emma war damals und ist heute noch eine liebenswürdige, umgängliche Frau, die trotz ihres Reichtums keinerlei Allüren oder prätentiöses Gehabe an den Tag legte. Ihre Schwestern Reine, Yvette und Odette waren mit Shawam einer insgesamt etwas bodenständigeren Art verheiratet und hatten wie Emma und George zahlreiche Töchter. Mit einigen von ihnen, wie Amira und Linda, war ich auf eine keusche, aber zaghaft flirtende Weise befreundet. Beide heirateten jung, was mich damals mit einem ärgerlichen Gefühl unerfüllter Leidenschaft zurückließ. Neuere Mitglieder der Gruppe waren die Ghorras – François und Madeleine, die mit jeder Sprache außer Französisch ihre Schwierigkeiten hatten (alle anderen hatten britische und amerikanische Schulen besucht). Madeleine war sehr gläubig. Ich muss gestehen, dass mich die Ghorras auf eigenartige Weise faszinierten, weil sie einer Welt – in Madeleines Fall der Welt des syro-libanesischen Großbürgertums – angehörten, zu der ich keinen Zugang hatte, in die ich jedoch bei unseren Besuchen kleine Einblicke gewann. Ich erinnere mich, dass ich dort die de Zogheibs und die de Chedids getroffen habe, Inhaber päpstlicher Titel. Etwa zehn Jahre später, auf dem Höhepunkt der Nasser-Jahre, schien es mir grotesk und unpassend, dass die Träger solcher Titel diese von Generation zu Generation weitergaben. Während dieser frühen Jahre verkörperten sie in meinen Augen jedoch eine Art Proustscher Romantik, zumal keiner von ihnen jemals vorgab, er habe viel
mit Ägypten oder ägyptischen Belangen zu tun. Ich selbst war noch nie in Paris gewesen, aber durch die Ghorras und ihre Freunde hatte ich mich gleichsam indirekt dort aufgehalten, auch wenn sie das stark akzentuierte Französisch der Levante sprachen, mit den gerollten R’s, dem gekünstelten Satzbau und den eingeflochtenen arabischen Worten und Ausdrücken wie »yacni« oder »yala«. Außerhalb der Schule war unser Leben auf eine maßlose und geradezu unschickliche Weise luxuriös und abgehoben. Die uns nahe stehenden Familien besaßen alle ihr eigenes Personal an Fahrern, Gärtnern, Dienstmädchen, Waschfrauen und einem Bügler, von denen einige allgemein bekannt waren. »Unser« Ahmed, der Hassan der Dirliks, der Mohammed der Fahoums – sie besaßen schon fast den Charakter eines Talismans und tauchten in unseren Gesprächen auf wie feste Größen auf unserem täglichen Speiseplan, wie der Garten oder das Haus, als seien sie unser Eigentum, wie alte Familienbedienstete bei Tolstoi. Wir wurden dazu erzogen, nicht allzu vertraut mit den Dienstboten umzugehen, was bedeutete, dass wir mit ihnen nicht sprechen und scherzen sollten. Es reizte mich jedoch unwiderstehlich, diese Regel zu übertreten. Ich erinnere mich, dass ich mit Ahmed gerungen, mit Hassan über den tieferen Sinn des Lebens und der Religion diskutiert und mit Aziz über Autos und Fahrer gesprochen habe, alles sehr zum Missfallen meiner Eltern. Ich hatte den Eindruck, ein wenig den Dienern zu ähneln, deren Energie immer kontrolliert war und während der vielen Dienststunden nicht zum Vorschein kommen durfte. Das Gespräch mit ihnen vermittelte mir jedenfalls ein Gefühl von – natürlich illusorischer – Freiheit und Erleichterung, das mich für die Dauer solcher Begegnungen glücklich machte. Unsere Familien kauften ihre Lebensmittel bei Groppi und unterhielten sich mit den offensichtlich griechischen oder ägyptischen Angestellten in der Delikatessenabteilung der
eleganten Teestube in einem eher gequälten Französisch, obwohl klar war, dass wir alle mit Arabisch viel besser zurechtgekommen wären. Ich war stolz auf meine Mutter, weil sie im Gespräch das Arabische benutzte, denn innerhalb der gesamten sozialen Gruppe, der wir angehörten, beherrschte allein sie diese Sprache wirklich, war in ihr belesen und schien mit ihr keine sozialen Nachteile zu verbinden, obwohl in der herrschenden Atmosphäre der Gebrauch des Französischen einen höheren (vielleicht sogar den höchsten) Status verlieh. Ich hatte an der GPS, am Victoria College und natürlich auch im Club schon früh gesprochenes Französisch aufgeschnappt, fühlte mich aber niemals sicher genug, es auch im Alltag einzusetzen, obwohl ich es perfekt verstand. Auch wenn Englisch so zu meiner Hauptsprache geworden war, zumal der Französischunterricht am Victoria College kaum erbaulicher war als der im Arabischen, befand ich mich in der eigenartigen Situation, über keine natürliche oder nationale Position zu verfügen, aus der heraus ich die Sprache hätte verwenden können. Die drei Sprachen wurden für mich im Alter von etwa vierzehn Jahren zu einem ausgesprochen heiklen Thema. Das Arabische war verboten und »kanakisch«, Französisch war die »Sprache der anderen«, nicht die meine, und Englisch wurde zwar gebilligt, war aber als Sprache der verhassten Briten nicht zu akzeptieren. Seit jener Zeit habe ich mich immer über Gebühr von dem schieren Mechanismus der Sprachen faszinieren lassen, wenn ich in meinem Geist automatisch zwischen drei Möglichkeiten hin und her schalte. Während ich Englisch spreche, höre und artikuliere ich häufig das arabische oder französische Pendant, und während ich Arabisch spreche, suche ich nach französischen und englischen Entsprechungen, binde sie an meine Worte wie Gepäck auf einen Gepäckträger – wo sie freilich schwer und lästig sind. Erst jetzt, mit über sechzig
Jahren, fühle ich mich behaglicher, muss ich nicht mehr zwanghaft übersetzen, sondern kann unmittelbar in diesen Sprachen sprechen oder schreiben – fast, aber doch niemals ganz so geläufig wie ein Mensch in seiner Muttersprache. Erst heute kann ich meine Entfremdung vom Arabischen überwinden, eine Folge von Erziehung und Exil, und an dieser Sprache Gefallen finden. Sowohl das Victoria College als auch der Tawfiqiya Club, in den mein Vater Ende 1949 eintrat, erweiterten meine Möglichkeiten, mich im Französischen zu üben. Die Mitglieder des Tawfiqiya bildeten eine außerordentlich gemischte Gruppe, eine verwirrende levantinische Mixtur aus griechischen, französischen, italienischen, muslimischen, armenischen, libanesischen, tscherkessischen und jüdischen Mitgliedern, ganz im Gegensatz zum durchweg englischen Charakter des Gezira Clubs. Der Club selbst war auf ein relativ kleines Gelände in Imbaba beschränkt, einem Industrie- und Arbeiterviertel östlich von Zamalek, am anderen Ufer des Flusses. Es gab kein Polo, keine Pferderennen, kein Fußball, Kricket, Rasenplätze oder Squash wie im Gezira, dafür aber etwa zwanzig Tennisplatze, ein recht großes Schwimmbecken und natürlich Bridge. Verschiedene meiner VC-Freunde – Claude und Andre Salama, die Settons, Mohammed Azab, Albert Coronel und Staffy Salem – waren dort Mitglieder, und da Arabisch nur mit den gehetzten und überarbeiteten Dienern gesprochen wurde, ist mir ein endloses Geplapper französischer Ausrufe und Phrasen im Ohr geblieben, das mich auf Jahre hinaus mit einem rudimentären Arsenal fertiger Ausdrücke für jede Gelegenheit versorgt hat, mit Grüßen und Obszönitäten, die zuweilen mit arabischen und englischen Brocken durchsetzt waren. Figure-toi. Ferme ta gueule. Je rentre en ville. Va te faire pendre. Crétin. Je suis esquinté. Je crève. Hinter der Fassade aus Fröhlichkeit und lärmenden
Späßen, vor der Männer und Frauen in kurzen Hosen und sehr knappen Badeanzügen zusammenkamen, spürte ich jedoch auch eine unterschwellige Unruhe angesichts der Entwicklung in Ägypten: Das Land brachte Ausländern nicht mehr allzu viel Gastfreundschaft entgegen, schon gar nicht privilegierten Enklaven wie dem Tawfiqiya, wo mehr oder weniger unberührt von äußeren Einmischungen ein extrovertiertes, nicht-arabisches, nicht-muslimisches Leben geführt wurde, das aber auch nicht gänzlich europäisch war, weil es an den Luxus, die Dienstleistungen und die Sinnlichkeit des Orients gekettet blieb. Das einzige Arabisch, das ich dort jemals hörte, waren die Befehle, die man nubischen sufragi nachbellte, wenn sie in ihren schweren weißen galabiya schwitzten und Limonade und riz financière herbeischleppten (ich beschwor meine Mutter, das auch einmal zu Hause zu kochen, aber sie weigerte sich) – alles für herrlich gebräunte Schwimmer wie Coco Hakim und seine Freunde, die neben der überfüllten piscine, wie selbst ich es zu nennen begann, tanzten und Tischtennis spielten. Unruhe: vorübergehend, kurzlebig, nicht dauerhaft, gefärbt von einer gewissen Feindseligkeit gegenüber Ägypten, einem Ort, der doch für Ausländer einst ein gastfreundliches, offenes, verschwenderisches und sinnliches Paradies gewesen war, wo sie das Wetter, die beispiellosen Bequemlichkeiten und vor allem die Unterwürfigkeit der Eingeborenen genießen konnten. Mitte der fünfziger Jahre, als ich in Princeton studierte, berichtete die Times von der israelischen Verschwörung, in Kairo Kinos und Bibliotheken, die mit Amerika in Verbindung standen, in die Luft zu sprengen, das Metro etwa und das USIA-Zentrum (wo unsere Freundin Leila Abu Fadil arbeitete, eine Tochter von Halim, dem alten Tennispartner meines Vaters), um so die Beziehungen zwischen Nassers neuer Regierung und den Vereinigten Staaten zu schädigen. Dabei handelte es sich um die Lavon-Affäre, an der Angehörige der
örtlichen jüdischen Gemeinde beteiligt waren, von denen ich einige vom Schwimmbad im Tawfiqiya her kannte. Vielleicht hat sich das auf meine Erinnerungen aus jener Zeit ausgewirkt, aber ich bin sicher, dass meine unguten Vorahnungen von damals einen realen Kern besaßen und dass in der schweren, aber irgendwie angenehmen Atmosphäre des Tawfiqiya schon der Anfang vom Ende unserer Gemeinschaft aus Shawam, Juden, Armeniern und anderen zu spüren war. Nach und nach begannen Angehörige dieser Gemeinschaft zu verschwinden – manche nach Israel, andere nach Europa, und ein paar in die Vereinigten Staaten. Die beklagenswerte Auflösung oder eher Entvölkerung der levantinischen Gemeinschaften Kairos setzte ein, als einige in Vorahnung der kommenden Ereignisse auswanderten. Andere mussten das Land später wegen des Suezkriegs und des Kriegs von 1967 ohne einen Pfennig verlassen. Das Victoria College und der Freundeskreis unserer Familie waren völlig unpolitisch. Das Vokabular des arabischen Nationalismus, des Nasserismus und des Marxismus sollte erst fünf oder sechs Jahre später auftauchen, zu einer Zeit, als wir noch ganz und gar in den Illusionen des Hedonismus, der britischen Ausbildung und einer luxuriösen Kultur gefangen waren. Niemals war Kairo kosmopolitischer. In der Loge meiner Eltern im Opernhaus erlebten wir die italienische Opernsaison, das Ballet des Champs-Elysees, die Comédie Française, im Rivoli hörten wir Krauss und Furtwängler und in der Ewart Hall Kempff und Cortot. In der Schule führten wir neben dem wirklichkeitsfremden britischen Unterricht ein zweites Leben, geprägt vom regelmäßigen Austausch von Tarzan-, Conan Doyle- und Dumas-Heftchen. Während uns Gatley betulich durch Micah Clarke führte, schwelgten mein Freund Hamdollah und ich in den SherlockHolmes-Geschichten und verkörperten abwechselnd Mycroft, Lestrade und Moriarty. Später entdeckten wir Wodehouse und
Jeeves. Vor allem aber das Vokabular der Tarzan-Romane eröffnete uns eine reiche Welt. »Deine Haut ist so glatt wie Histah, die Schlange«, sagte etwa einer von uns, worauf der andere antwortete: »Besser als Tantors massige Gestalt.« Mit Arthur Davidson führte ich lange und kenntnisreiche Diskussionen über die Welt von Captain Marvel. Ob Mary Marvel wohl sehr sexy sei? Nein, sagte er entschieden, ihre Möse sei bestimmt aus Eisen (kussaha hadid); Wonderwoman verspreche erheblich größere Wonnen. Über die Marvels, ihre verschiedenen Nachkommen und Verwandten sprachen wir weit häufiger als über unsere eigenen Familien. Letzteren, so scheint es mir heute, entflohen wir alle nur zu gerne, und wir wünschten uns, sie würden mehr den Figuren der Comic-Strips ähneln. An britischen Comics wie »Boys Own«, »Billy Bunter«, »George Formby« und »Sexton Blake« hatten wir einen Heidenspaß. Ich malte mir ein idyllisches Reich aus, irgendwo zwischen Bunters chaotischer und sadistischer Schule und den aufrechten und furchtlosen australischen »cobbers«, die »Boys Own« bevölkerten, ein Reich, das dem Victoria College weit entrückt war. Dem Autoritarismus der Schule begegnete ich immer wieder in der Gestalt des Schulsprechers, Shalhoub. Als unsere Klasse als Publikum zu einem Schulfußballspiel befohlen wurde, bei dem wir aber unsere eigenen Kleider tragen durften, erregte unsere zerzauste und schäbige Aufmachung den Zorn der säuberlich gekleideten Jungen der Oberen Sechs, die in ihrer offiziellen Schuluniform erschienen waren. Shalhoub ging direkt neben der Seitenlinie an uns vorbei und gebärdete sich wie ein Monarch, der eine heruntergekommene Ehrengarde inspiziert. Sein Gesicht konnte kaum den Abscheu und die Gleichgültigkeit verbergen, die sein stolzierender Gang erkennen ließ. Mit einer riesigen weißen Nelke im Knopfloch, säuberlich polierten schwarzen Schuhen und einem glänzenden
gestreiften Schlips gab er geradezu das Musterbeispiel des eingebildeten Schulsprechers ab. In dem Moment krähte Hamdollah ziemlich laut: »Herrje, du siehst heute aber hübsch aus, Captain Shalhoub«, woraufhin der erboste Shalhoub stehen blieb und Hamdollah und mir bedeutete, wir sollten vortreten und ihm folgen. Wir hatten eine Majestätsbeleidigung begangen. Shalhoub führte uns in sein Amtszimmerchen neben der überheizten Schwimmhalle. Nachdem er mich zwei Mal geohrfeigt hatte, begann er dem armen Hamdollah den Arm auf den Rücken zu drehen. Als Druck und Schmerz zunahmen, jammerte der viel jüngere Schüler, dessen Arm zu brechen drohte: »Warum tust du das, Captain?«, worauf Shalhoub in seinem tadellos fließenden Englisch erwiderte: »Weil es mir ehrlich gesagt Spaß macht.« Hamdollahs Arm brach nicht, und Shalhoub begann dieser ermüdende Zeitvertreib zu langweilen. »Zurück zum Spiel«, befahl er schließlich, »und ich möchte keinen Ton mehr von euch hören.« Ich kann mich nicht erinnern, ihn noch einmal gesehen zu haben, außer in einiger Entfernung am letzten Schultag, als wir mit einer kleinen Schar britischer Honoratioren das Ende des Schuljahrs feierten. Darunter war auch Roy ChapmanAndrews, eine bekannte Persönlichkeit aus dem Außenministerium, dessen offensichtlich hohes Amt (und die ungeheure Hochachtung, die ihm entgegengebracht wurde) ich niemals vollständig zu würdigen wusste. In solchen Situationen setzte man immer voraus, dass die Einheimischen es sofort bemerkten, wenn eine hoch gestellte Persönlichkeit sie mit ihrer Anwesenheit beehrte, auch wenn deren genaue Funktion nicht mitgeteilt wurde oder für besagte Einheimische schlicht irrelevant war. Shalhoub stand auf dem Podium und hielt eine kurze salbungsvolle und, wie ich fand, ziemlich kriecherische Rede, die von unserem kollektiven Glück
handelte, eine solch wunderbare englische Ausbildung genossen zu haben, und von der ehrenvollen Anwesenheit Chapman-Andrews’. Es folgten einige Hipp-Hipp-Hurras, natürlich kommandiert von Shalhoub (sein Adjutant Bassano hatte sich dekorativ neben ihm auf dem Podium aufgebaut), und dann drängelten wir alle nach draußen. Von Shalhoub hörte ich erst wieder ein Jahrzehnt später, als er Omar Sharif geworden war, Ehemann von Faten Hamama und ein Filmstar, der 1962 in David Leans Lawrence von Arabien sein Debüt in den USA gab. Meine Eltern schienen immer ganz erregt, um nicht zu sagen voll böser Vorahnungen, wenn sie von meiner Gleichgültigkeit gegenüber der Schule hörten, von meiner Unfähigkeit, über einen längeren Zeitraum gute Leistungen zu bringen, und von meiner Sorglosigkeit gegenüber Examen und Versetzung. Als mir im Frühjahr 1950 die Schule gleichgültig geworden war, erschien es mir unverständlich, mir einmal so große Sorgen über meine Zukunft gemacht zu haben, dass ich nicht hatte einschlafen können. Damals begann ich allmählich zu ahnen, dass meine Empfindungen gegenüber Familien, der eigenen wie anderen, nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Einerseits gab es natürlich meine allgemeine Abhängigkeit von meinen Eltern sowie meine lange, frustrierte, schon fast krankhafte Liebe und Sorge für meine Mutter. Andererseits stellte ich überrascht fest, dass ich davon abgesehen gegenüber meinen Geschwistern und anderen Mitgliedern der erweiterten Familie – die sowohl von meinem Vater als auch, wenn man ihnen glauben durfte, meinen Schwestern als »unsere Familie« hochgehalten wurde – nur wenig von jener organischen und anhaltenden Liebe und Loyalität empfand, die ich bei anderen wahrnahm. Es gab noch ein weiteres Beispiel für diese distanzierte und wählerische Haltung, die ich niemals habe
ändern oder mildern können. Trotz allem, was sie meinem Vater sagten und antaten, mochte ich meine Vettern immer noch, eben weil ich sie mochte und nicht weil sie gerade in seiner Gunst standen oder diese Gunst entbehrten, sobald sie mit ihm stritten, oder weil der Gedanke an die »Familie« mir ein bestimmtes Gefühl diktiert hätte. Das Gleiche galt für meine Einstellung zu Tante Nabiha, obwohl sie ihrem Bruder Wadie einige Zeit lang nicht die gebührende Loyalität entgegengebracht und damit meine Mutter erzürnt hatte. Von meiner Familie schien ich daher immer weniger Unterstützung zu erhalten. Ich nahm an, das sei früher anders gewesen und ich hätte sie irgendwie verloren, und ich gewann sie auch niemals zurück, außer in der gequälten und dennoch Kraft spendenden hypnotischen Dialektik der Beziehung zu meiner Mutter, die wir beide die meiste Zeit über pflegten und gerade nicht auflösten. Während meiner Zeit am Victoria College wurde mir allmählich die fast vollständige Trennung bewusst, die zwischen meinem Oberflächenleben in der Schule und meinem komplizierten, aber vorwiegend unartikulierten Innenleben bestand, das ich vermittels der Gefühle und Eindrücke aus Musik, Büchern und Erinnerungen, durchmischt mit Fantasien, liebte und lebte. Es schien, als müsse die erforderliche Integration und Befreiung meiner verschiedenen Ichs endlos hinausgeschoben werden, obwohl ich insgeheim fest davon überzeugt blieb, dass diese Integration eines Tages auf irgendeine Weise zu Stande käme. Mit George, Mostapha, Samir, Andy, Billy, Arthur und Claude bildete ich eine Art Rattenbande, die die Lehrer quälte und auf den Lehrplan pfiff. Wir hingen nur in der Schule zusammen, weil wir weit auseinander wohnten, manchmal trafen wir uns aber auch im Kino oder im Tawfiqiya Club. Wir waren eine Generation zu jung für ein Leben im Café, und Haschisch war ein sehr seltenes und schwer zu beschaffendes Vergnügen – so
begnügten wir uns mit den groben Spaßen des tahshish, der vorwiegend obszönen Einzeiler, die angeblich zwischen den halb bewusstlosen Anhängern des Krautes ausgetauscht wurden. Fast alle diese Sprüche brachten die passive Akzeptanz der eigenen Impotenz und allgemeinen Dummheit zum Ausdruck. So hingen wir in der Schule herum – zwischen den Unterrichtsstunden, in der Nähe des Süßwarenladens, im Speisesaal, als Zuschauer des einen oder andern Spiels. Die Schule lieferte keinerlei moralische oder intellektuelle Maßstäbe für die Beurteilung unserer Entwicklung – oder zumindest keinen, der wahrnehmbar gewesen wäre. Ich hatte oft den Eindruck, über uns alle sei das Urteil schon gefällt worden, bevor wir überhaupt an diesen Ort gelangt waren: mangelhaft oder auf irgendeine grundlegende Art und Weise minderes Menschenmaterial, nicht englisch, keine wirklichen gentlemen, des Unterrichts nicht wirklich würdig. Mir verschaffte das eine seltsame Erleichterung, denn so konnte ich endlich sein, wie ich war, ohne den Drang, besser zu sein oder mehr zu arbeiten. Jede Mühe war sinnlos. Das Ergebnis war ein eigenartig schwereloses Leben, ohne unbewusste oder moralische Prinzipien, die unter der Oberfläche lauerten. Ich erinnere mich an kein einziges persönliches Gespräch mit einem Lehrer oder älteren Schüler während meiner Jahre dort. Mein persönliches Leben war ausgeschaltet, ich existierte nur als Schüler der Mittleren, dann der Oberen Fünf. Der Rest war unwesentlich. Die Dirliks waren häufig bei uns zu Gast, und ich sah nicht den geringsten Grund, nicht ebenso entspannt wie sie zum Essen oder zum Tee »auszugehen«. Sie strahlten Vergnügen und Spaß aus, etwas, das im Leben meiner Familie, die nüchtern und explizit förmlich blieb, selten der Fall war. Andre war bereits ein Abenteurer, seine Beine waren voller Narben
von Wunden, die er sich an den Korallenriffen des Roten Meers zugezogen hatte. Loris war immer gut angezogen und kultiviert (wir alle bewunderten, wie präzise, fast chirurgisch, er ein zähes Huhn mit Messer und Gabel zerlegen konnte), und Renee war stets zu einem Spaß, einem Picknick oder dem Besuch des Freilichtkinos bereit. Zwar wurde ihr üppiger Lebensstil von Gerüchten beeinträchtigt, wonach die Familienapotheke, die Loris und sein Bruder von ihrem Vater geerbt hatten, trotz ihrer günstigen Lage an der Qasr el-NilStraße rote Zahlen schrieb, weil sie sich nicht um sie kümmerten. Das konnte unsere gemeinsame Zeit jedoch nicht trüben, bis dann Ende der fünfziger Jahre Loris für die Vereinten Nationen im Kongo arbeiten musste, weil die Apotheke Bankrott gegangen war. Er starb dort im Sommer 1962 ganz plötzlich und allein, was allen großen Kummer bereitete. Gegen Ende des Frühjahrs wurde das lang erwartete neue Schulgebäude fertig gestellt. Wo das Geld dafür herkam, weiß ich auch heute noch nicht, aber nach dem schmutzigen, engen, abgenutzten Shubra entpuppte sich das Ganze als ein üppiger, hervorragend ausgestatteter neuer Campus auf der Wüstenseite von Maadi. Das war noch immer ein exklusives Viertel, in dem vorwiegend Ausländer und Angehörige der Oberschicht wohnten, die ich sowohl vom Club als auch natürlich von der CSAC her kannte. Die Schule lag näher an Maadis beschaulichem Zentrum und dem Bahnhof. Mit einem Mal wurde mir klar, dass wir am Ende einer ganzen Epoche angelangt waren (ohne allerdings zu wissen, was das genau bedeutete), in einer Zeit, in der plötzliche, überraschende Ereignisse eintreten konnten und auf uns alle neue Herausforderungen warteten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in sonderlich individuellen Begriffen über mich selbst nachgedacht hätte – noch heute beeindruckt mich, dass unsere
Zusammengehörigkeit als Schulklasse, als Mittlere Fünf, nicht im Geringsten auf Familie oder sozialer Schicht beruhten, sondern auf einer kollektiven, wenn auch eng definierten Ansammlung von Objekten, Ausdrücken, ja einzelnen Worten, die unter uns zirkulierten, als befänden wir uns in einer (für mich jedenfalls) beruhigend sicheren Umlaufbahn. Da gab es zunächst den Kleidercode – Mützen, Schlipse, Blazer –, der in Shubra allmählich seinen Einfluss verlor. Dann die Aufgabenhefte mit ihren obligatorischen rosafarbenen Umschlägen, die ledernen oder hölzernen Federmäppchen, die verschiedenen Sorten Füllfederhalter (damals gab es noch keine Kugelschreiber), einschließlich einer billigen, häufig verwendeten Parker-Imitation, wie sie auf den Straßen von lärmenden Verkäufern angepriesen wurde (mit dem eingravierten Namenszug »P. Arker« – japanische Produkte galten damals als Inbegriff lächerlichen, verächtlichen Ramsches), sowie die blauen VC-Hefte. Des Weiteren mindestens ein Dutzend Schulbücher für Physik, Geschichte und Mathematik – Bücher, die ebenso farblos und unpersönlich waren wie ihre amerikanischen Entsprechungen an der CSAC geschwätzig und in eine Geschichte verpackt (z. B. »Morton gibt Shelly 12,23 Dollar in Münzen als sein Anteil am Klassenpicknick von 18 Schülern. Wie viel wäre es, wenn er geglaubt hätte, es seien 15 Schüler gewesen, und ein jeder müsste einen Anteil von… zahlen?«) –, plus zwei oder drei Literaturbücher, das für das jeweilige Schuljahr vorgesehene Shakespeare-Drama, ein englischer Roman aus dem zwanzigsten Jahrhundert wie etwa C. S. Foresters subliterarischer Kommodore, dazu ein »klassischer« Prosatext (Macaulays Essays) sowie eine Auswahl dessen, was uns als langweilige akademische Poesie erschien (Gedichte von Gray und Cowper). Vieles, wenn nicht alles wurde in eine braune Ledertasche mit zwei Schnallen gepackt, und der
Familienname (ohne Vorname) wurde sorgfältig in schwarzen oder blauen Großbuchstaben mit der Hand in die Innenseite der Klappe eingekratzt. Aufregender war eine ganze Reihe von Tausch- und Spielobjekten: Murmeln, darunter auch die hoch geschätzten marmorierten, Taschenmesser (beliebt, aber verboten), Tischtennisschläger, Armbänder, Spielzeugautos (noch heute besitze ich die rote Humber-Limousine, die ich bei irgendeiner albernen Wette um die Bedeutung des Ausdrucks »Greenwich Mean Time« gewonnen hatte – den hörten wir damals oft bei BBC, verstanden ihn aber kaum), Taschenkämme, kleine Fläschchen mit ägyptischem Chabrawichi-Kölnischwasser, Gummibänder und Schlüsselkettchen, neue Stifte mit glänzenden Kappen, Anspitzer und Radiergummis (das englische Wort rubber statt des amerikanischen eraser, das zu verwenden mein Vater mich unermüdlich anhielt), Schleudern, kleine runde draht- und papierverpackte Feuerwerkskörper (ebenfalls beliebt, ebenfalls verboten), verschiedene pornografische Bücher, schlecht gedruckt auf dem miesesten, schmutzigsten, abstoßendsten Papier, geschrieben in einem so bildhaften und vulgären Englisch, dass es die Erregung tatsächlich sogar abtötete, auch wenn wir diese laut und obszön vortäuschten, und schließlich grobkörnige verschwommene Fotografien von Männern und Frauen, die verlegen grinsend kopulierten. Ich weiß noch, wie jemand fragte: »Hast du da ein paar Diener für dich arbeiten lassen, Davidson?« Wie sich später herausstellte, hatte der geschäftstüchtige Junge sie bei einem Parkplatzwächter erstanden. Unsere gemeinsame Geisteswelt war kaum von Konkurrenzdenken geprägt, obwohl offiziell unaufhörlich die Noten, die Versetzungschancen und Fehlschläge in den Vordergrund gerückt wurden. Meine eigene Leistung war alles andere als denkwürdig – schwankend, erratisch, manchmal
hervorragend, normalerweise kaum mehr als passabel. Jahre später, als ich als Literaturkritiker bekannt geworden war, soll einer meiner ehemaligen Klassenkameraden gesagt haben: »Ist das unser Said? Er war doch wie wir alle – erstaunlich, dass etwas aus ihm geworden ist.« Ich bin immer noch überrascht, wie wenig die geistige oder intellektuelle Welt, in der wir lebten, mit Geist in jedem ernsthaften oder akademischen Sinne gemein hatte. Wie die Objekte, die wir mit uns herumschleppten und tauschten, war unser kollektives Sprechen und Denken beherrscht von einer kleinen Hand voll offensichtlich banaler Systeme, die sich aus Comics, Filmen, Serienheften, Werbung und populären Erzählungen speisten, im Wesentlichen auf Gossenniveau, und weder durch die Familie noch durch Religion oder Ausbildung beeinflusst waren. Die letzte erbauliche Spur von Sensibilität und relativ »hoher« Kultur vermittelten uns, wie ich mich deutlich erinnere, zwei religiöse Filme über französische Heilige: Bernadette von Lourdes und Johanna von Orleans – mit anderen Worten: Jennifer Jones und die kurz geschnittene Ingrid Bergman. Aus irgendeinem Grund sah ich den Bernadette-Film bei seiner zweiten oder dritten Vorführung im Diana Cinema, das damals einer griechischen Familie gehörte, den Raissis. Seine Lage am weniger mondänen Ende der Emad el-Din-Straße und seine im Allgemeinen mittelmäßigen Programme konnten nicht mit dem Glanz des Metro Cinema oder des Rivoli Cinema wetteifern, die sich als Einzige im gesamten Nahen Osten einer grell illuminierten Theaterorgel rühmen konnten. Das wichtigste Merkmal des Diana war, dass hier nicht nur weniger glanzvolle Hollywood-Filme gezeigt wurden, sondern zum Beispiel auch Um Kulthum ihre endlos langen Vorstellungen gab. Darüber hinaus fanden hier Benefizvorstellungen statt (meine Tante Nabiha mietete es einmal in ihren unermüdlichen Versuchen, Geld für die
palästinensischen Flüchtlinge aufzutreiben, für eine Wohltätigkeitsvorstellung von The Little Colonel, dem ersten und einzigen Shirley-Temple-Film, den ich jemals sah und den ich seither seiner kitschig-gefälligen, pseudo-naiven Wohlanständigkeit und seines Rassismus wegen immer verabscheut habe). Vor diesem Hintergrund flößten mir Johanna und Bernadette à l’americaine eine enorme, wenngleich ziemlich vage Begeisterung für etwas Unfassbares ein und brachten mich dazu, eifrig in literarischen und historischen Quellen zu schürfen, die sich meistens auf den weltlichen Bücherregalen meiner Eltern fanden. Ich las Franz Werfels Lied von Bernadette und auch seine Vierzig Tage des Musa Dagh, es folgten Autoren wie Chesterton (oder war es Hilaire Belloc?) und Harold Lamb über die Jungfrau von Orleans. Im Herbst 1950 holte uns der Schulbus früher als üblich ab, denn der Weg nach Maadi war doppelt so weit wie der nach Shubra. Unser erster Blick von weitem auf die neue, noch nicht ganz fertig gestellte Schule weckte in uns allen beträchtliche Hoffnungen. Drei große Gebäude waren in jenem Oktober fertig und für uns bereit. Es handelte sich um modernistische rechtwinklige Gebäude, alle auf Stelzen gebaut. Unser Unterrichtsgebäude besaß zwei lange Fensterreihen. Gegenüber lagen ein Speisesaal und die Sporthalle neben einem Gebäude für Internatsschüler, einer Krankenstation und rechtwinklig dazu den Wohnungen der Lehrer. An das Unterrichtsgebäude schloss sich ein quadratischer Anbau für die Verwaltung an. Das Gelände war riesig, mit mehreren Spiel- und Leichtathletikplätzen, Tennisplätzen sowie – da die Schule an die Wüste grenzte – einem gut ausgestatteten Stall mit Reitknechten und einer Pferderennbahn. Alles in allem war es die ansehnlichste Schule, die ich oder sonst jemand jemals
besucht hatte. Wir stiegen mit dem Gefühl aus dem Bus, vor einem neuen Anfang zu stehen. Nach kaum fünf Minuten konnten wir feststellen, dass die neue Schule wohl doch keine Verbesserung sein würde. Der knopfäugige und kahle Mr. Griffiths mit seiner Fliege war nun sowohl unser Lehrer für »zusätzliche Mathematik« wie Trigonometrie, Analysis und Stereometrie als auch stellvertretender Direktor. Er wurde bald zu meiner bête noire, dessen hartnäckiges Urteil über mich mir noch lange im Gedächtnis blieb, nachdem ich das Victoria College längst verlassen hatte. Das neue Gelände war grandios und präsentierte sich gleichsam pompös und ziemlich herablassend als britische Einrichtung, was unsere kollektive Entfremdung und Feindseligkeit noch steigerte. Darüber hinaus gab es weitere Veränderungen: Ohne den vermittelnden Einfluss von George Kardouche, der in die Englische Schule in Heliopolis entschwunden war, spalteten wir uns nach und nach in abgeschlossene Cliquen auf. Unser neuer Klassen- und Englischlehrer, Mr. Löwe, war ein großmäuliger, schwacher und unfähiger Lehrer. In den neuen Unterrichtsräumen lag hinter der Tafel eine kleine Kammer, in der Kreide, Übungsbücher und anderes Material aufbewahrt wurden. Die betreffende Tür, links von der Tafel, besaß ein Schloss, und direkt unter der Tafel war ein kleines Schiebefenster zum Klassenraum hin eingelassen. Ich hatte die Idee, Lowe darin gefangen zu setzen, auf die Tafel über dem Fensterchen »Ein Blick – fünf Piaster« zu schreiben und unseren unglückseligen Englischlehrer »in seinem natürlichen Lebensraum« zur Schau zu stellen, wie ich es ausdrückte, während ich den Marktschreier spielte. Ein Präfekt, der von Lowes Gebrüll und unseren aufgeregten Stimmen angelockt wurde, bereitete der Eskapade schnell ein Ende. Pflichtgemäß
wurde ich Griffiths gemeldet, der mich im Mathematikunterricht mit einem äußerst unangenehmen Glitzern in den Augen anstierte. »Viel Ärger hier gestern«, sagte er zur ganzen Klasse, fixierte dabei aber mich. Wochen später sollte Griffiths meinen Eltern mit einem gewissen Bedauern, wenn nicht sogar mit Erbitterung mitteilen, dass nur meine Intelligenz ihn daran hindere, mich rauszuschmeißen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ein Lehrer das Gefühl hat, ein aufgeweckter Schüler bedrohe seine Autorität. Die Kompaktheit des Geländes in Shubra, die uns mit anderen Klassen zusammengebracht hatte, wich nun einer ungewohnten Weitläufigkeit. Die Lehrer begannen auf den Gängen zu patrouillieren, was in Shubra mit seiner dezentralisierten Unordnung gar nicht möglich gewesen wäre, und allmählich gewann ich den Eindruck, bei der Planung des neuen Geländes hätten eher die Möglichkeiten kontrollierter Überwachung im Vordergrund gestanden als Nützlichkeit oder pädagogische Überlegungen. Es dauerte kaum einen Monat, bis ich mich in der neuen Schule nur noch unsicher fühlte: Die älteren Jungen bedrängten uns auf den Gängen, griffen uns an, beleidigten uns, drängelten, schubsten. Einer von ihnen, ein riesiger Fettwanst von mindestens dreihundert Pfund, Billy Fawzi, entwickelte eine starke irrationale Abneigung gegen mich, so dass ich ihm ständig ausweichen musste. Ich konnte ihm allerdings nicht immer aus dem Weg gehen, weil er mit seiner Masse einen Gang einfach versperren konnte. Einmal packte er mich mit einer seiner riesigen Hände im Nacken und sagte auf Arabisch: »Said, ich beobachte dich. Pass gut auf. Versuch nie, mich auszutricksen. Und [auf Englisch] werde ja nicht frech« – Cleverness und Frechheit gehörten zu den schlimmsten Sünden, die uns nicht nur die Lehrer, sondern auch die älteren (und stärkeren) Jungen vorwarfen.
Captain Billy war nur der Übelste unter den älteren Jungen, die mich bedrohten und schikanierten. Die meisten anderen waren für mich nicht einmal Namen, sondern gefürchtete Mächte mit fleckiger Haut und Übergewicht, die ausschließlich Arabisch sprachen. Aus irgendeinem Grunde nahm mich diese Gruppe, die den abgegangenen Shalhoub als inoffizielle Disziplinarkraft der Schule ersetzt hatte, mit offensichtlicher Billigung der Lehrer aufs Korn. Ich galt als aufgeweckt, immer in Schwierigkeiten und als passabler Schüler, und so sah ich mich während der Schulprüfungen ständig von einigen dieser Riesengeschöpfe umgeben, für die ich dann die Englischaufsätze schreiben musste, während ich zugleich verzweifelt an meinem eigenen arbeitete. Das Zuckerbrot lautete: »Said, sei ein guter Junge.« Viel effektiver war die Peitsche: »Tu es, oder ich ficke deine Mutter.« So musste ich immer ihre Prüfungsarbeiten schreiben. Feigheit und Willfährigkeit waren in diesem Fall überlebensnotwendig. Zu Weihnachten jenes Jahres wurde beschlossen, dass meine Mutter und ich zusammen den Zug nach Oberägypten nehmen sollten, um für ein paar Tage das Tal der Könige, Karnak und andere Stätten zu besichtigen, deren Stille und schrecklich brütende Leere mir das antike Ägypten auf ewig verleidet haben. Die vier oder fünf Tage waren idyllisch, eine Art träger Erholung vom Schulbetrieb und der großen Stadt, und es war überdies das letzte Mal, dass ich eine längere Zeit allein mit meiner Mutter verbrachte. An den langen Winternachmittagen und Abenden in den Salons des Cataract Hotels in Assuan lasen wir einander vor, ohne alle Spannungen oder Streitereien, ohne Programm, ohne Termine oder Pflichten, die erfüllt werden wollten. Meine Mutter entwickelte allmählich ein klareres Bewusstsein für ihre gesellschaftlichen Talente, und so wurden die ruhigen, erfrischenden, unkomplizierten Zeiten mit ihr nur allzu häufig dadurch vergällt, dass sie meinte, ihre
Zeit neuen amerikanischen Bekanntschaften aus dem Hotel widmen zu müssen. Ich erinnere mich an meine Verärgerung und Eifersucht, denke aber gerne an die Abgeschiedenheit dieser Tage zurück, die mir fürs ganze Leben eine – nie übertroffene, niemals überlagerte – Erinnerung an die erhabene Loslösung von den Mühen des Alltags am Victoria College verschaffte. Dieser Alltag sollte mich bald überwältigen und buchstäblich für immer aus dem elterlichen Haus vertreiben. Luxor und Assuan: die kurze Ruhe vor einem fürchterlichen Sturm. An einem Donnerstagnachmittag Anfang Februar forderte uns Mr. Lowe auf, den Shakespeare herauszuholen. Wir begannen im Chor zu rufen: »Wir wollen lieber Scott.« Er beschloss, nicht von Shakespeare zu lassen, und wagte sich in ungewohnt aggressiver Verfolgung seines Ziels bis zur ersten Tischreihe vor, schlug auf seine widerwilligen Schutzbefohlenen ein, beharrte gereizt auf seinem Willen, der mit seinem vorgeblichen Ziel, nämlich dem Lesen der Sonette Shakespeares, überhaupt nichts mehr zu tun hatte. Ringsum von einer erregten, aufrührerischen Klasse umgeben, wirkte Lowe wie Samson im Tempel der Philister: von Schlägen bedrängt und unfähig zu erkennen, wen er traf und wohin er (wenn überhaupt) vorrückte. Plötzlich schoss er nach vorne und packte den nächstbesten Jungen mit seinen überlangen Armen: Unversehens fand ich mich in seiner verschwitzten Umarmung gefangen, Schweißbäche flossen über sein gerötetes Gesicht, und sein schwerer fettleibiger Körper zog mich herunter, bis er auf mir lag. »Jetzt hab ich dich, Said«, spuckte er, »und jetzt erteile ich dir eine Lektion.« Er versuchte auszuholen, um mich zu schlagen, aber schnell fielen drei oder vier Schüler über ihn her, klammerten sich an ihn und stießen wilde arabische Flüche aus. »Aufhören«, kreischte er, »hört auf und lasst mich sofort los.« Vor lauter Verblüffung über diese erstaunliche Äußerung seiner angeschlagenen
Autorität zogen sich meine Helfer zurück. Als ich mich frei strampelte, packte er mich erneut, schob mich entschlossen zur Tür, warf mich aus der Klasse und knallte die Tür zu. Mein Blick fiel auf Griffiths, der dreißig Meter entfernt in seiner Bürotür stand, aber nichts sagte und mich nur ausdruckslos anstarrte. Zu Anfang der Pause während unseres Mathematikunterrichts am nächsten Morgen hieß uns Griffiths, sitzen zu bleiben. »Nun, Said«, sagte er beiläufig zu mir, der ich in der zweiten Reihe saß, »ich höre, du hast dich gestern Nachmittag schlecht benommen. Das stimmt doch, oder?« Da er mich vor dem Klassenzimmer hatte stehen sehen, wusste er, dass es stimmte. Ich sagte nichts. »WARUM ANTWORTEST DU NICHT, JUNGE?«, schrie er mich plötzlich an und verlor zum ersten Mal in unserer Gegenwart die Kontrolle über sich. »Jawohl, Sir«, antwortete ich unverbindlich. »Nun, das können wir hier nicht gebrauchen. Können wir nicht gebrauchen.« Wieder unverbindlich: »Nein, Sir.« Worauf er ganz nüchtern und sachlich sagte: »Dann solltest du besser gehen.« Da ich nicht recht verstand, was er meinte, fragte ich: »Gehen, Sir? Jetzt, Sir?« – »Geh einfach, Said. Mir ist es egal, wohin du gehst. Geh einfach. Sofort.« Mit der Präzision schockierter Überraschung und schaudernder Ungewissheit begann ich meine abgerissene Schultasche zu packen, während alle anderen in eisigem, unbeweglichem Schweigen dasaßen. Ich warf einen Seitenblick zu meinem Freund Hamdollah, der verlegen die Augen niederschlug. Isoliert, herausgehoben, gelähmt, hatte ich plötzlich jeden vertrauten Kreis verlassen. In der Schule war ich nicht mehr willkommen, und obwohl ich Angst vor dem Empfang zu Hause hatte, ohne Geld in den Taschen, ohne Aussichten auf die unmittelbare Zukunft außer einer Eisenbahnfahrkarte, schaffte ich es irgendwie, aus dem Klassenzimmer zu gehen. Ich fühlte mich eigenartig
unsichtbar, während Griffiths ungerührt an seinem Pult saß und darauf wartete, dass ich den Raum verließ. Ich weiß nicht mehr viel von dem drei Kilometer langen Weg zum Bahnhof, außer dass ich die Kanäle extrem bedächtig überquerte, müßig ein oder zwei Kiesel in ihre dunkle, algenfarbene Fläche kickte, dann zum nächsten Kanal weiterging, um dort dasselbe zu wiederholen. Ich kam erst um halb zwei nach Hause. Zuvor bummelte ich durch Bab el-Luq, um die Midan Ismailiya, über die Qasr el-Nil-Brücke, vorbei an den Moorish Gardens und der Rennbahn des Gezira Clubs, am kleinen Fischgarten vorbei – fünf Kilometer vom Bahnhof, ein Weg, auf dem ich bewusst alles aus meinen Gedanken verdrängte, was mir bevorstehen mochte. Ich empfand ein schwebendes, buchstäblich utopisches Gefühl, so als gäbe es mich gar nicht, als sei ich körperlos, aller normalen Belastungen, Verpflichtungen, Hemmungen entledigt. Nie habe ich mich so gefährlich frei und führungslos gefühlt wie damals. Nach Jahren voller Zeitpläne, Aufgaben, Botengänge und Hausarbeiten ging ich einfach nach Hause, ohne ein Ziel. Mir war lediglich klar, dass ich irgendwann dort ankommen müsste. Da man mir keine eigenen Schlüssel anvertraut hatte, musste ich klingeln. Ungewöhnlicherweise, denn diese Aufgabe war den Dienern vorbehalten, öffnete meine Mutter. »Edward«, sagte sie in einem überraschten Ton, der schnell der Besorgnis wich. »Was tust du denn hier? Stimmt etwas nicht? Bist du krank?« Sprachlos und verwirrt, wie ich war, holte sie mich herein, wo mich mein Vater schon erwartete. Sein Gesicht glühte vor Sorge und Wut. Ohne dass ich ein Wort hätte sagen können, nahm er mich mit in sein Zimmer, um mir mit seiner Reitgerte erst einmal eine Tracht Prügel zu verpassen. Keiner von uns sagte etwas. Ich ging in mein Zimmer und brach in Tränen aus, denn zu meinen körperlichen Schmerzen kam ein Gefühl elementarer Verzweiflung und Verlassenheit.
Zwei Wochen lang war ich zu Hause wie ein Schatten meiner selbst, während meine verwirrten und erbitterten Eltern mir Bücher, Musik, Umgang mit Freunden und jede Art von Vergnügen verwehrten und sich damit zufrieden gaben, darauf zu warten, bis Griffiths sich dazu herabließ, sie zu empfangen. Als sie von diesem Treffen zurückkamen, ergriff nur meine Mutter das Wort. Sie wiederholte im Wesentlichen Griffiths’ schlechte Meinung von mir: ich sei ein »Tunichtgut«. Außerdem schien er voller Bedauern beklagt zu haben, ich sei »zu aufgeweckt«, als dass man mich endgültig hinauswerfen könne, so gerne er das getan hätte. Wie Griffiths scheint meine Mutter meine Intelligenz, die mir bald als einzige Gewissheit verblieb, mit Widerwillen betrachtet zu haben, als Zeichen meiner Unverbesserlichkeit und hartnäckig bösartigen oder doch zumindest unbelehrbaren Natur. In ihren Augen hinderte mich nur meine Intelligenz daran, ein guter Schüler zu sein. Diesmal jedoch genügte sie, um mir widerwillig eine Bewährungsfrist zu gewähren. Ich dürfe zurückkehren, verkündete Griffiths, aber weiteres Fehlverhalten werde nicht geduldet. Griffiths hatte außerdem klar gemacht, dass meine Zukunft als Schüler und Student innerhalb des englischen Systems ungewiss sei. Er würde mir eine unbestimmte Empfehlung geben müssen, falls ich bleiben und mein GCE (das Hochschuldiplom für alle Absolventen britisch geführter Schulen) ablegen sollte, um mich dann in Oxford oder Cambridge (seiner Universität) zu bewerben. Mein Vater traf zweifellos bereits Vorbereitungen für meine Abreise in die Vereinigten Staaten, obwohl ich zunächst an das Victoria College zurückkehrte, ohne von diesen Plänen zu wissen. Als offizielle Version wurde mir schließlich mitgeteilt, ich müsse Ägypten verlassen, weil ich laut einem obskuren USEinwanderungsgesetz die Staatsbürgerschaft zwar von meinem
Vater geerbt hätte, mich jedoch, da ich nicht im Land selbst geboren sei, vor meinem einundzwanzigsten Lebensjahr mindestens fünf Jahre in den Vereinigten Staaten aufhalten müsse, um die Staatsbürgerschaft dauerhaft zu erwerben. Im November 1951 würde ich sechzehn werden, und daher sei ein Umzug dringend geboten. Vermutlich glaubte er, wenn er mich zu so anspruchsvollen und ausschließlich auf Männer beschränkten Einrichtungen wie Mount Hermon und später Princeton schickte, werde er mich nicht nur vor der Selbstbefleckung schützen, sondern auch vor dem überbordenden Gefühlsluxus, den mir meine Mutter mit ihren lähmenden Ungewissheiten und Tröstungen bot. Gerade als ich mich an den Plan meines Vaters gewöhnte, mich im Frühjahr 1951 in die Vereinigten Staaten zu schicken, erhielten wir plötzlich eine Postkarte von seinem lange Zeit verschollen geglaubten jüngeren Bruder David, den mein Vater im Jahr 1929 wegen unverbesserlicher Herumtreiberei aus Ägypten verbannt hatte. Er war später nach Brasilien ausgewandert und dann verschwunden. Davids Karte mit ihrer riesigen, kindlichen Schrift kam aus Lourdes und verkündete: »Ich bin geheilt. Ich komme zu Besuch.« Eine Woche später folgte ein Telegramm mit Flugnummer und Ankunftszeit in Kairo. Er war eine dunklere, lebhaftere und kompaktere Version meines Vaters mit einem gewaltigen LatinoSchnurrbart, eine Art Kreuzung aus einem Alter ego und einer Parodie seines Bruders Wadie. Davids amouröse Fähigkeiten galten als unwiderstehlich, vor allem für verheiratete Frauen, die die unmittelbare Ursache für seine damalige Verbannung gewesen waren. Er sprach eine bizarre Mischung aus einem ausgefransten und zerzausten Altarabisch, ein paar Dutzend amerikanischen Ausdrücken (»Herrje, Bill, du hättest sehen sollen, wie viel Geld ich mal an einem Abend in Bahia
eingesackt habe«) und einigen Brocken unverständlichem Portugiesisch. Wir alle waren von seiner unkomplizierten, überschwänglichen Art eingenommen: sein Bruder Wadie und seine Schwester Nabiha, ihre diversen Kinder und meine Mutter, der er auf charmante Weise mit ein paar unbeholfenen, aber galanten Versuchen Avancen machte. Er wohnte bei uns und blieb einen Monat in Kairo. Während dieser Zeit tat er nicht viel, aber es gelang ihm, meinen Vater zu überreden, sich Zeit für ihn zu nehmen, so dass die drei Geschwister oft zusammensaßen und über ihre Kindheit in Jerusalem plauderten. Die an Dostojewski gemahnenden Tiefen, die ich bei meinem Vater vermutete (aber niemals entdeckte), lagen bei David deutlich zu Tage – Melancholie, Zungenfertigkeit, extreme Stimmungsschwankungen von Begeisterung bis hin zu tiefster Niedergeschlagenheit – und wurden in seiner Beziehung zu den nüchterneren Geschwistern zwar im Zaum, aber doch niemals völlig in Schach gehalten. Ich fand nie heraus, was er in Brasilien eigentlich machte. Es war von Diamantgruben die Rede, aber auch von seiner Geschicklichkeit als Fremdenführer, wie bei seinem Vater. Er spielte und trank, trieb sich mit Frauen herum und streifte durch die brasilianische Provinz. Er gab uns einen Lederbeutel voller Halbedelsteine von geringem Wert, aber in ihrer glänzenden Fülle und Vielfalt verkörperten sie die Romantik eines ganzen Kontinents. Er und ich wurden gute Freunde: »ya dini« (»meine Religion«) nannte er mich häufig mit einem ungewöhnlichen Ausdruck. Jahre später erkannte ich, dass er mich in seiner exotischen, ungezügelten und geheimnisvollen Persönlichkeit an Romanfiguren von Joseph Conrad erinnerte – an einen Kurtz, einen Teilhaber von Geheimnissen oder einen Cunningham Graham im Gegensatz zu dem britischen Landedelmann, den mein Vater verkörperte. Am Ende verschwand er wieder nach Brasilien. Im September 1967 traf
ich ihn für eine Stunde in New York: er war in irgendeiner geheimnisvollen Funktion mit der brasilianischen Fußballnationalmannschaft unterwegs. Als Tante Nabiha, schon vom Krebs gezeichnet, ihn kurz vor ihrem Tod im Frühjahr 1972 besuchte, entdeckte sie »eine Art« Frau, Adela, sowie ein behindertes halbwüchsiges Kind, das möglicherweise adoptiert war. Eine Vergilsche Traurigkeit durchdrang Nabihas letzte Tage, als sie die Ruinen ihrer zerstreuten Familie vor sich Revue passieren ließ und ebenso ihre heroische Vergangenheit, die ihr in ihrem desorganisierten, zerfallenden Leben in Amman keine Hilfe mehr war. Dort starb sie Anfang April am selben Tag, an dem Kamal Nasir von den Israelis in Beirut ermordet wurde. Bei David, Nabiha und meinem Vater beobachtete ich ein Wirrwarr aus Aufbrüchen, Zeiten des Exils und der kurzen Rückkehr, und ich konnte nun besser den Versuch meines Vaters verstehen, eine wenig aussichtsreiche Mischung aus verborgenen, wilden Instinkten und bewusster viktorianischer Entschlossenheit in seinen Bemühungen um ein gutes Leben für seine Familie zusammenzuzwingen. Was den Glauben meines Vaters aufrechterhielt, war ein einfacher pädagogischer Imperativ, auf den er sich immer wieder berief. »Wenn es gut für deine Ausbildung ist«, sagte er gewöhnlich zu mir, »dann tu es.« Ich habe seitdem immer wieder versucht zu begreifen, was jenes »es« ist, und dieses Buch liefert den Beleg für diesen Versuch. Erst jetzt, Jahrzehnte nach seinem Tod, kann ich die beiden Seiten seiner Hinterlassenschaft erkennen, die unwiderruflich in einem absoluten, unauflösbaren Paradox aneinander gebunden sind: Unterdrückung und Befreiung. Sie bedingen einander auf eine Weise, die mir nach wie vor ein Rätsel ist, und erst jetzt beginne ich dieses Rätsel zu akzeptieren, wenn auch nicht ganz zu verstehen.
Nach dem Suez-Krieg von 1956 wurde das Victoria College verstaatlicht und in Victory College umbenannt. Ich hatte dann keine weiteren Kontakte mehr dorthin, bis ich mich 1989 mit meiner Familie auf eine Vortragsreise nach Ägypten begab und ihnen die Schule zeigen wollte, von der ich einst geflogen war. An einem Freitagmorgen Mitte März fuhren wir mit dem Bus hinaus nach Maadi, meinen alten Schulweg entlang. Ich war enttäuscht, als ich feststellen musste, dass auf dem Gebiet zwischen der Schule und der Wüste, hinter dem sich einst meilenweit leerer Sand erstreckte, nun Wohnblocks standen, voll von Menschen, aufgehängter Wäsche, Autos, Bussen und Tieren. Die Schule selbst war wegen des Freitagsfeiertags geschlossen, aber ich überredete den Pförtner, uns trotzdem hineinzulassen. Als wir in meinem alten Klassenzimmer standen, das erheblich kleiner war, als ich es in Erinnerung gehabt hatte, zeigte ich mein Pult, das Podest des Lehrers, von dem aus Griffiths mich hinausgeworfen hatte, und die kleine Kammer, wo wir den armen alten Mr. Lowe eingesperrt hatten. In diesem Augenblick platzte eine wütende Frau herein. Sie war im islamischen Stil gekleidet, trug ein Kopftuch und wollte wissen, was wir hier zu suchen hätten. Ich versuchte, die Umstände zu erläutern (»Setz deinen Charme ein«, sagte meine Tochter Naijla), hatte aber keinen Erfolg. Wir waren Eindringlinge, und in ihrer Eigenschaft als Schuldirektorin forderte sie uns auf, sofort zu gehen. Sie übersah meine ausgestreckte Hand, starrte uns mit einer übertrieben nationalistischen Feindseligkeit und einem rigorosen Fanatismus an, während wir uns ziemlich eingeschüchtert von ihrer offensichtlichen Wut zurückzogen. Das britische Eton in Ägypten war zu einer neuen Art privilegierten islamischen Heiligtums geworden, aus dem ich nach achtunddreißig Jahren zum zweiten Mal vertrieben wurde.
IX
IM SEPTEMBER 1991, genau vierzig Jahre nachdem ich aus dem Nahen Osten in die Vereinigten Staaten gekommen war, veranstaltete ich in London kurz vor der Madrider Friedenskonferenz ein Seminar für palästinensische Intellektuelle und Aktivisten. Nach der verhängnisvollen Parteinahme der palästinensischen Führung für Saddam Hussein während des Golfkriegs befanden wir uns in einer sehr schwachen Verhandlungsposition. Die Konferenz sollte dem Zweck dienen, eine gemeinsame Themenliste zu erarbeiten, die uns auf dem Weg hin zur Selbstbestimmung als Volk förderlich sein würde. Die Teilnehmer kamen aus der gesamten palästinensischen Welt – von der Westbank und aus Gaza, aus der palästinensischen Diaspora in verschiedenen arabischen Ländern, aus Europa und Nordamerika. Das Seminar entwickelte sich mehr und mehr zu einer ungeheuren Enttäuschung: die endlose Wiederholung längst bekannter Argumente, unsere Unfähigkeit, uns auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren, der offensichtliche Wunsch, nur uns selbst sprechen zu hören. Kurz, es kam nichts dabei heraus außer der vagen Vorahnung, dass die palästinensische Sache in Oslo scheitern werde. In einer Pause rief ich meine Frau Mariam in New York an, um mich nach den Ergebnissen des Bluttests zu erkundigen, den ich bei meinem jährlichen Gesundheitscheck hatte machen lassen. Ich hatte mir Sorgen wegen des Cholesterinwerts gemacht. Nein, sagte sie, da stehe alles zum Besten. Aber mit leichtem Zögern fügte sie hinzu: »Charles Hazei [unser Familienarzt und Freund] möchte mit dir sprechen, sobald du
wieder zu Hause bist.« Irgendetwas an ihrer Stimme ließ mich vermuten, dass nicht alles in Ordnung war, und so rief ich sofort Charles in seiner Praxis an. »Nichts, worüber du dich aufregen müsstest«, sagte er, »wir werden in New York darüber reden.« Da er sich mehrfach weigerte, mir zu sagen, was mir fehlte, wurde ich schließlich ungeduldig. »Du musst es mir sagen, Charles. Ich bin kein Kind, und ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.« Nach einer ganzen Reihe von Beschwichtigungen – es sei nichts Ernstes, ein Hämatologe könne das leicht in Ordnung bringen, es sei schließlich chronisch – sagte er mir, ich hätte chronische lymphozytische Leukämie (CLL). Ich brauchte eine Woche, um den ersten Schock der Diagnose zu verarbeiten. Das Krankheitsbild war untypisch, für eine genauere Diagnose bedurfte es jedoch der hoch entwickelten Techniken, die nur an einem großen New Yorker Krebszentrum zur Verfügung standen. Erst nach einem weiteren Monat begriff ich, wie sehr mich dieses über mir schwebende »Damoklesschwert«, wie das ein gefühllosgeschwätziger Arzt ausdrückte, wirklich erschütterte, und noch einmal sechs Monate vergingen, bis ich Kanti Rai gefunden hatte, den außergewöhnlichen Arzt, der sich seit dem Juni 1992 um mich gekümmert hat. Einen Monat nach der Diagnose ertappte ich mich dabei, wie ich einen Brief an meine Mutter schrieb, die seit eineinhalb Jahren tot war. Seit ich Kairo 1951 verlassen hatte, hatten wir diese Gewohnheit beibehalten, und so war der Drang, mit ihr zu kommunizieren, auf irgendeine Weise mächtiger als die Realität ihres Todes gewesen. Diese Erkenntnis bereitete meinem wunderlichen Tun mitten im Satz ein Ende und versetzte mich in leichte Verwirrung, ja Bestürzung. Ein vager Impuls zum Erzählen schien sich in mir zu regen, aber die Sorgen und die Unruhe meines Lebens mit CLL nahmen mich viel zu sehr in Anspruch, als dass ich das hätte wahrnehmen
können. Während jener Monate im Jahre 1993 erwog ich einige Änderungen in meinem Leben, das nun, wie mir ohne merkliche Angst deutlich wurde, kürzer und schwieriger sein würde. Ich dachte daran, nach Boston umzuziehen, weil ich an einen Ort zurückkehren wollte, an dem ich schon als Student gelebt und mich wohl gefühlt hatte. Bald jedoch musste ich mir eingestehen, dass ich – da Boston im Vergleich zu New York eine ruhige Stadt war – regressiv nach einem Ort zum Sterben gesucht hatte. Ich ließ die Idee wieder fallen. So viele Momente der Rückkehr, so viele Versuche, wieder zu Lebensabschnitten zu gelangen oder zu Menschen, die es nicht mehr gab: All dies waren ständige Reaktionen auf die zunehmenden Härten meiner Krankheit. 1992 reiste ich mit meiner Frau und meinen Kindern nach Palästina. Für mich war es das erste Mal seit fünfundvierzig Jahren; für sie war es der erste Besuch überhaupt. Im Juli 1993 fuhr ich allein nach Kairo und suchte anlässlich eines journalistischen Arbeitsbesuchs alte Lieblingsorte auf. Während dieser ganzen Zeit wurde ich auch ohne direkte Behandlung von Dr. Rai überwacht, der mich gelegentlich daran erinnerte, dass irgendwann eine Chemotherapie erforderlich werden würde. Als ich dann im Mai 1994 mit dieser Behandlung begann, wurde mir klar, dass ich wenn auch nicht die Endphase meines Lebens, so doch einen Wendepunkt erreicht hatte, nach dem es – wie bei Adam und Eva, nachdem sie den Garten Eden verlassen hatten – keine Rückkehr in mein früheres Leben mehr geben würde. Im Mai 1994 begann ich mit der Arbeit an diesem Buch. Diese Details sind wichtig, um mir und meinen Lesern verständlich zu machen, wie sehr die Zeit der Niederschrift dieses Buches mit der Zeit, den Phasen, dem Auf und Ab sowie den Veränderungen in meiner Krankheit zusammenhängt. Als ich schwächer wurde, nahm die Zahl der
Infektionen und Nebenwirkungen zu, und umso stärker eröffnete mir dieses Buch die Möglichkeit, etwas in Prosa zu schaffen, während ich mich gleichzeitig in meinem körperlichen und emotionalen Leben mit den Ängsten und Schmerzen des Niedergangs herumschlug. Beide Aufgaben hatten mit kleinen Schritten zu tun: Schreiben heißt von Wort zu Wort weitergehen, und eine Krankheit zu durchleben bedeutet, die winzigen Schritte zu durchlaufen, die einen Zustand von einem anderen trennen. Während ich bei anderen Formen meiner Arbeit – Essays, Vorlesungen, Lehren, Vorträge, Journalismus – die Krankheit beiseite schob, sie fast gewaltsam mit Fristen und Zyklen von Anfang, Mitte und Ende unterbrach, wurde ich bei diesen Erinnerungen geradezu weitergetragen von den Abschnitten der Behandlung, der Krankenhausaufenthalte, der körperlichen Schmerzen und geistigen Qualen. Sie waren es, die mir diktierten, wie und wann ich schreiben konnte, wie lange und wo. Reisephasen waren häufig produktiv, da ich mein handgeschriebenes Manuskript überallhin mitnahm und jedes Hotelzimmer, jede Wohnung von Freunden nutzte. Ich war daher selten in Eile, einen Abschnitt abzuschließen, auch wenn ich eine genaue Vorstellung von dem hatte, wovon er jeweils handeln sollte. Eigenartigerweise gehen die Niederschrift dieser Erinnerungen und die Phasen meiner Krankheit zeitlich einher, wenn auch die meisten ihrer Spuren in dieser Geschichte meines frühen Lebens getilgt sind. Diese Erzählung eines Lebens und der anhaltende Verlauf einer Krankheit (für die es, wie ich von Anfang an wusste, keine Heilung gibt) hängen – so könnte man sagen – eng zusammen: Sie sind gleich, und doch eindeutig verschieden. Und je deutlicher sich diese Beziehung herausbildete, desto wichtiger wurde sie für mich und desto stärker schien sich auch meine Erinnerung – gestützt lediglich von konzentriertem
Nachdenken und gleichsam archäologischem Stöbern in einer sehr fernen und im Wesentlichen unwiederbringlichen Vergangenheit – meinen häufigen aufdringlichen Besuchen gastfreundlich und großzügig zu öffnen. Trotz der Mühsalen der Krankheit, der Einschränkungen, die mir auferlegt waren, weil ich die Orte meiner Jugend verlassen hatte, kann ich mit dem Dichter sagen: »nor in this bower, / this little limetree bower, have I not mark’d / Much that has soothed me.« Bis in die frühen sechziger Jahre hinein hatte es eine Zeit gegeben, in der ich den Gedanken an meine Vergangenheit einfach nicht ertragen konnte, insbesondere die Erinnerung an Kairo und Jerusalem, die mir beide aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr zugänglich waren. Jerusalem war nun israelisch und Kairo mir durch einen jener grausamen Zufälle aus rechtlichen Gründen verschlossen. Da ich Ägypten in den fünfzehn Jahren zwischen 1960 und 1975 nicht besuchen durfte, ging ich sorgsam mit den frühen Erinnerungen an mein dortiges Leben um (sie waren sehr zerstückelt, voll atmosphärischer Details, die ein Gefühl von Wärme und Behagen vermittelten und in scharfem Gegensatz zu der herben Fremdheit standen, die ich während meines Lebens in New York empfand) und nutzte sie als Hilfe beim Einschlafen – denn das ist mir im Laufe der Zeit immer schwerer gefallen. Der Lauf der Zeit löste im Übrigen auch die Aura des Glücks auf, die die Erinnerung an mein früheres Leben umgab, so dass es nun als ein erheblich komplizierterer und schwierigerer Zeitraum zum Vorschein kommt. Um das wirklich zu begreifen, soviel wurde mir klar, würde ich sehr aufmerksam sein müssen, hellwach, und müsste jeden träumerischen Halbschlaf vermeiden. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, dieses Buch handele im Grunde überhaupt von der Schlaflosigkeit, von der Stille des Wachliegens und dem Bedürfnis nach bewusster Erinnerung und Artikulation,
die ein Ersatz für den Schlaf geworden sind. Ersatz nicht nur für den Schlaf, sondern auch für Ferien und Erholung, für all das, was in der Mittel- und Oberschicht für die »Muße« steht, der ich vor etwa zehn Jahren unbewusst den Rücken gekehrt habe. Als eine der wichtigsten Reaktionen auf meine Krankheit fand ich in diesem Buch eine neue Aufgabe – nicht einfach nur eine neue Art der Schlaflosigkeit, sondern ein Projekt, das von meinem beruflichen und politischen Leben so weit wie irgend möglich entfernt lag. Mein tieferes Motiv war einmal das Hervortreten eines zweiten Ich, das sehr lange Zeit unter der Oberfläche häufig gründlich erworbener und ausgeübter sozialer Charakteristika gelegen hatte, die das Ich bildeten, das meine Eltern aufzubauen versucht hatten, jenen »Edward«, von dem ich immer wieder spreche. Hinzu kam eine ungewöhnlich hohe Zahl von Aufbrüchen, die mein Leben von Anfang an in Unruhe versetzt haben. Meines Erachtens kennzeichnet mein Leben nichts Schmerzlicheres und paradoxerweise so Ersehntes wie die vielen Entwurzelungen aus Ländern, Städten, Wohnungen, Sprachen und Umgebungen, die mich all diese Jahre in Bewegung gehalten haben. Vor über zehn Jahren schrieb ich in After the Last Sky, dass ich bei Reisen immer zu viel mitnehme und schon für eine Fahrt in die Innenstadt eine Aktentasche packen muss, die mit erheblich mehr und größeren Gegenständen vollgestopft ist, als es die Fahrt erfordert. Damals kam ich zu dem Schluss, dass ich eine geheime, aber unausrottbare Angst hätte, nicht zurückzukehren. Seitdem habe ich entdeckt, dass ich Gelegenheiten zur Abreise förmlich herbeiführe und somit der Angst freiwillig Vorschub leiste. Beide, Abreise wie Angst, scheinen für meinen Lebensrhythmus absolut notwendig zu sein, und ihr Verhältnis hat sich mit meiner Krankheit dramatisch intensiviert. Ich sage mir: Wenn du diese Reise
nicht unternimmst, deine Mobilität nicht unter Beweis stellst und deiner Angst, du könntest verloren gehen, nicht widerstehst, wenn du jetzt nicht die normalen Rhythmen des häuslichen Lebens über den Haufen wirfst, wirst du das in Zukunft erst recht nicht mehr können. Auch die bange Abschiedsstimmung bei Abreisen ist mir vertraut, la melancolie des paquebots, wie es Flaubert nennt, die Bahnhofsstimmung auf Deutsch, ebenso wie der Neid gegenüber den Daheimgebliebenen, wenn ich bei meiner Rückkehr ihre Gesichter sehe, nicht gezeichnet von der Fremde und der erzwungenen Mobilität, glücklich mit ihren Familien, in bequemen Anzügen und Regenmänteln, für jeden sichtbar hier. Die Unsichtbarkeit des Abgereisten – man ist verschwunden und wird vielleicht sogar vermisst – sowie das intensive, wiederholte und vorhersagbare Gefühl der Verbannung, das einen aus allem herausreißt, was vertraut ist und Geborgenheit gibt: All das führt dazu, dass man auf Grund einer höheren, aber selbstgeschaffenen Logik die Notwendigkeit des Abschieds ebenso verspürt wie ein Gefühl des Entzückens. Immer jedoch hat die große Furcht vor der Abreise ihren Grund im Zustand der Verlassenheit, auch wenn man selbst derjenige ist, der geht. Im Sommer 1951 verließ ich Ägypten und verbrachte zwei Wochen im Libanon, drei Wochen in Paris und London und eine Woche auf der Nieuw Amsterdam während der Überfahrt von Southampton nach New York, um dann den Rest meiner Schulausbildung in den Vereinigten Staaten zu absolvieren. Dazu gehörten die High School und schließlich das Studium – insgesamt elf Jahre, nach denen ich für immer in den USA geblieben bin. Diese gesamte, sich in die Länge ziehende Erfahrung der Trennung und der Rückkehr während der Sommer wurden zweifellos vor allem durch meine komplizierte Beziehung zu meiner Mutter so quälend: niemals
hörte sie auf, mich daran zu erinnern, dass meine Entfernung von ihr ein unnatürliches (»Jeder andere hat seine Kinder um sich«) und doch auf tragische Weise notwendiges Schicksal für sie sei. Jedes Jahr im Spätsommer riss die Rückkehr in die Vereinigten Staaten alte Wunden von neuem auf und ließ mich meine Trennung von ihr so intensiv erfahren, als wäre es das erste Mal – ich war unsagbar traurig, blickte verzweifelt zurück und war im Hier und Jetzt enttäuscht und unglücklich. Den einzigen Trost boten unsere bekümmerten, aber doch redseligen Briefe. Noch heute spüre ich, wie ich Teile dieser Erfahrung aufs Neue durchlebe: dass ich lieber woanders wäre – an einem Ort, der näher bei ihr liegt und ihre Zustimmung findet, eingehüllt in ihre besondere Mutterliebe, in ewigem Vergeben, Opfern, Geben –, weil hier nicht der Ort war, an dem ich/wir sein wollten, sondern ein Ort des Exils, der Entfernung und ungewollten Entwurzelung. Doch stets war es gleichsam mit einer Bedingung verbunden, wenn sie mich bei sich haben wollte: Nicht nur sollte ich ihren Vorstellungen von mir entsprechen, ich sollte für sie da sein, während sie je nach ihrer Laune für mich da sein würde oder auch nicht. Nachdem ich trotz des gewaltigen Aufruhrs für den Rest des Schuljahrs 1950/51 an das Victoria College zurückgekehrt war, befand ich mich, wie Griffiths mir sofort zu verstehen gab, in einem Zustand der Bewährung. Im Grunde hieß das, dass jeder Lehrer von meinem bedrohten Status wusste und mich regelmäßig daran erinnerte, sobald ich ansatzweise widerspenstig wurde. In dieser unbehaglichen Lage saß ich ständig auf glühenden Kohlen, wurde von einigen meiner Klassenkameraden bedroht, verspottet oder gemieden. Nur Mostapha Hamdollah, Billy Abdel Malik und Andy Sharon schienen sich zu verhalten wie zuvor, so dass ich auf einen kleinen Kreis von Vertrauten beschränkt war, isoliert und voller Unruhe. Während dieser Zeit merkte ich, dass ich noch
mehr als sonst die Nähe zu meiner Mutter suchte. Mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, meine Stimmungen zu spüren, ja, sie zu lesen, ließ sie mir eben die Zärtlichkeit und innige Nähe zukommen, auf die ich so verzweifelt angewiesen war. Ein herausragendes Ereignis am Victoria College brachte uns in jenem Frühjahr einander näher. Zunächst waren da die Furtwängler-Konzerte, zu denen uns mein Vater – der nach eigener Aussage lediglich »Concertos« (wie sie die Berliner Philharmoniker nicht im Programm hatten) mochte – eher widerwillig begleitete. Ich weiß noch, dass ich mich während einer meiner Lieblingspassagen im langsamen Satz von Beethovens Fünfter und später bei der Überleitung zum letzten Satz zu meiner Mutter umwandte oder sie leicht anschubste, weil ich wieder jene besondere Mischung aus Intimität und Verständnis verspürte, die nur sie mir geben konnte, zumal in meiner bedrängten Situation als Halbausgestoßener an der Schule. Am Tag nach dem Sonntagskonzert versammelten sich ein paar von uns in der Pause am Rand des Hauptsportplatzes zum Kugelstoßen. Jeder Versuch wurde markiert, um die Platzierungen der sechs Teilnehmer zu ermitteln. Als ich gerade die Kugel für meinen Stoß aufheben wollte, verlangten drei Jungen der Unteren Sechs A, angeführt von Gilbert Davidson, der ebenso lärmend und rüpelhaft war wie sein jüngerer Bruder Arthur ruhig und zurückhaltend, Davidson solle nun die Kugel stoßen. »Nein«, sagte ich entschieden, »jetzt bin ich dran. Warte ab, bis ich gestoßen habe.« – »Du blöder Wichser, gib sie sofort her«, antwortete er wütend und stürzte auf mich zu, um mir die schwere Kugel zu entreißen. Er griff daneben, seine Hand verfing sich aber in meinem Hemd, das dabei zerriss, so dass die Knöpfe abflogen, der Stoff zerfetzt wurde und ich angesichts der plötzlichen, ungestümen Gewalt seines Angriffs das Gleichgewicht verlor. Taumelnd ließ ich die Kugel fallen und wandte mich ihm in genau dem
Augenblick zu, in dem er zum Schlag gegen meinen Kopf ausholte und mich in seiner inzwischen gänzlich unkontrollierten Wut verfehlte. Mit, wie ich mich erinnere, kühlster Entschlossenheit legte ich all meine Kraft in einen Schlag, der seine Nase traf und sofort einen alarmierenden roten Blutstrom auslöste. Davidson fiel auf den Rücken, wurde sofort von seinen Kameraden umringt und aufgerichtet und drohte, wenn er erst wieder stehen könne, werde er mich und meine Mutter umbringen. Ich wurde eilig von meinen Klassenkameraden weggebracht und schließlich durch das Pausenläuten gerettet. Später an jenem Nachmittag musste ich zum Krankenrevier, wo die ältliche schottische Krankenschwester einen medizinischen Bericht über den Vorfall schreiben sollte. Nachdem sie sich meine Hand angesehen hatte, sagte sie nur: »Du hast eine Faust wie ein Stück Eisen.« Davidson war in der Zwischenzeit nach Hause gebracht worden und tauchte erst eine Woche später wieder auf, um mich mit allen möglichen hässlichen Drohungen zu beschimpfen, die ich in meiner ungeheuren Verunsicherung ziemlich ernst nahm. Griffiths sagte über mich irgendetwas Geringschätziges und Ablehnendes. Ich sei wohl ein ziemlich hoffnungsloser Fall – »Wo du auftauchst, gibt es bloß Ärger, was, Said?« Es folgte keinerlei Bestrafung. Allerdings blieb ich den ganzen Monat nach dem Vorfall zu Hause bei meiner Mutter, sosehr war ich davon überzeugt, dass Davidson mich entweder selbst umbringen oder dies von ein paar Rowdys erledigen lassen würde. Die Erinnerung an die Zärtlichkeit meiner Mutter während jener letzten Wochen in Kairo ist nach wie vor außergewöhnlich klar und war eine Quelle des Trostes während meiner ersten Jahre in den Vereinigten Staaten. Von ihr fühlte ich mich zu alldem ermutigt, wovon unsere
Umgebung in Kairo keine Vorstellung hatte – zu Büchern und zur Musik, die mich weit von den geistlosen Vorschriften der Schule und der flatterhaften Banalität unseres gesellschaftlichen Lebens fortführten. Sie hatte mir ein paar russische Romane zu lesen gegeben, in denen ich während der Wochen meiner Abgeschiedenheit eine turbulente, aber letztlich in sich ruhende Welt entdeckte, ein Bollwerk gegen die Ängste der täglichen Realität. Bei der Lektüre der Brüder Karamasow hatte ich das Gefühl, eine ausführliche Darstellung des Familienstreits zwischen meinem Vater, seinen Neffen und meiner Tante zu lesen. Dieser Konflikt war inzwischen in seine Endphase getreten: Fast täglich kam es zu Zusammenstößen, Vorwürfen, lautstarken Szenen und Streitereien, sowohl mit Angestellten als auch ihretwegen. Mir wurde außerdem bewusst, dass trotz der Herzlichkeit unserer Freundschaften zu dem Shami-Kreis, in den wir hineingewachsen waren, in vielen ihrer Kommentare meinem Vater gegenüber und über ihn ein sanfter, aber unverkennbarer Spott zu spüren war – über sein Festhalten am Englischen (meine Mutter sprach inzwischen fließend Französisch und plauderte mit Emma Fahoum und Reine Diab in Ausdrücken wie ma chère, j’etais etonnée und so weiter), über seine unablässige Konzentration auf sein Geschäft, seinen Hang zu amerikanischem Essen wie Apfelkuchen und Pfannkuchen, das ihnen über alle Maßen vulgär erschien, seine eher nachlässige Kleidung, einschließlich alter Hemden und ausgefranster Hosenumschläge an Feiertagen. Wenn ich an diese letzte Zeit in Kairo zurückdenke, erinnere ich mich nur an die Geborgenheit und das Wohlgefühl, die ich aus der Fürsorge meiner Mutter zog. Offensichtlich dachte sie an meine nahende Abreise und versuchte, diese letzten Tage zu etwas Besonderem für uns beide zu machen, während ich, der ich mir den bevorstehenden tiefen Bruch gar nicht richtig
vorstellen konnte, diese Zeit als Befreiung von dem hektischen Terminplan genoss, dem ich sonst unterworfen war. Kein Tewfiq Effendi mehr, auch kein Fouad Etayim, das Reiten wurde eingestellt, die Übungen in Mourads Sporthalle hatten ein Ende. Wenn ich am späten Nachmittag aus der Schule heimkehrte, erwartete sie mich häufig auf der Terrasse, die den Fischgarten überschaute. Dann lud sie mich ein, mich mit einem Glas Rosenwasser-Limonade zu ihr zu setzen, legte mir den Arm um die Schulter und sprach von den alten Tagen, als »Edwardo Bianco« ein so bemerkenswert altkluger Junge gewesen war, und dass ich der Inhalt ihres Lebens sei. Wir hörten uns die Beethoven-Symphonien an, besonders die Neunte, die für uns eine besondere Bedeutung gewann. Ich erinnere mich, dass mich das Wesen ihrer Beziehung zu meinem Vater störte, ich mich aber auch davon besänftigen ließ, dass sie ihn in den Gesprächen mit mir immer »Daddy« nannte und wir so beide den gleichen Namen für Ehemann und Vater verwendeten. Dies alles war vielleicht ihre Art und Weise, mich schon vor meiner Abreise von Amerika zurückzugewinnen, ihre Art, mich den Plänen meines Vaters zu entziehen, die sie, als er mich in die Vereinigten Staaten schickte, immer missbilligte und bedauerte. Diese Nachmittage sorgten jedenfalls dafür, das Bild einer unzerstörbaren Verbindung zwischen uns zu stiften, das in meinem späteren Leben als erwachsener Mann alles in allem zu vernichtenden Ergebnissen führte, wenn es darum ging, eine Beziehung wachsender, sich entwickelnder, reifender Liebe zu anderen Frauen aufzubauen. Der entscheidende Punkt war nicht so sehr, dass meine Mutter in meinem Leben einen Platz besetzte, auf den sie kein Anrecht hatte, sondern dass es ihr gelang, sich für den Rest ihres Lebens und, wie mir oft scheint, auch noch danach Zugang zu dem meinen zu verschaffen.
Erst heute wird mir bewusst, dass diese Gespräche vor unserer Abreise in die Vereinigten Staaten eine Art Abschiedszeremonie bildeten. »Gehen wir noch einmal ins Groppi Tee trinken?«, fragte sie etwa, oder »Fändest du es nicht schön, wenn wir noch einmal vor deiner Abreise im Kursaal essen gingen?« Vieles davon fand freilich in einem eigenen, von ihr gestalteten Labyrinth statt. Dazu gehörten auch die Vorkehrungen, die sie für sich und meine vier Schwestern traf, mit denen sie nach meiner Abreise allein sein würde. Es war etwas schrecklich Hingebungsvolles an ihrer Haltung in der letzten Woche, bevor wir für den ersten Teil unserer Reise in den Libanon packten. Wie mir später klar wurde, war sie der Meinung, diese Hingabe geschehe einzig und allein aus uneigennütziger Liebe, während in Wirklichkeit natürlich ihr großes Ego eine wichtige Rolle in dem spielte, was ihr wirklich am Herzen lag: in einem sie einschränkenden Haushalt eine Möglichkeit zu finden, sich selbst auszudrücken und weiterzuentwickeln. Dies, denke ich, waren die tiefsten Bedürfnisse meiner Mutter, auch wenn sie das niemals offen sagen konnte. Ich war ihr einziger Sohn, besaß wie sie eine Fähigkeit zur Kommunikation und teilte ihre Leidenschaft für Musik und Worte, und das machte mich zu einem Werkzeug in ihrem Kampf gegen den eisernen, unbeugsamen, meistens wortlosen Willen meines Vaters. Auf meine Abwesenheiten reagierte sie mit dem plötzlichen Entzug ihrer Zuneigung, und davor hatte ich Angst. Von 1951 bis zu ihrem Tod im Jahr 1990 lebten meine Mutter und ich auf verschiedenen Kontinenten, und doch hörte sie in all den Jahren nicht auf, sich über die Tatsache zu beklagen, dass sie als Einzige unter ihren Freundinnen getrennt von ihren Kindern und insbesondere von mir leben müsse. Ich fühlte mich schuldig, weil ich sie verlassen hatte, auch wenn sie sich schließlich mit
der ersten und entscheidendsten meiner vielen Abreisen abgefunden hatte. Das Ausmaß der Bedeutung meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten im Jahr 1951 verblüfft mich noch heute. Ich habe nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie mein Leben hätte aussehen können, wäre ich nicht nach Amerika gegangen. Ich weiß, dass ich dort ein neues Leben begann, in gewissem Maße mich dessen entledigte, was ich zuvor gelernt hatte, mir Dinge von Grund auf neu aneignete, dass ich improvisierte, mich neu erfand, versuchte und scheiterte, experimentierte, aufgab und auf überraschende und häufig schmerzhafte Weise wieder von neuem begann. Bis heute habe ich das Gefühl, fern von zu Hause zu sein, so lächerlich das klingen mag. Und wenn ich mir wohl auch keinerlei Illusionen über das »bessere« Leben mache, das ich hätte führen können, wenn ich in der arabischen Welt geblieben wäre oder in Europa gelebt und studiert hätte, gibt es da trotzdem immer noch einen Rest von Bedauern. Das Schreiben an diesem Buch wiederholt in einem gewissen Sinne die Erfahrung von Abreise und Trennung, während ich das Drängen der hastig verrinnenden Zeit ständig vor Augen habe. Die Tatsache, dass ich trotz eines siebenunddreißigjährigen Aufenthalts in New York ein Gefühl der Vorläufigkeit empfinde, lässt eher auf meine Desorientierung schließen als auf eine Fülle von angenehmen Momenten. Ende Juni 1951 zogen wir wie jedes Jahr in den Libanon um und hielten uns zwei Wochen in Dhur auf. Dann, am 15. Juli, reisten meine Eltern und ich vom Flughafen Beirut (Khalde, wie er damals hieß) mit der Pan-American nach Paris. Von der Landung in Paris an bis zur Weiterfahrt nach London mit dem Nachtzug litt ich an beiden Augen unter Gerstenkörnern, so dass ich im Grunde nur noch durch zwei kleine Schlitze sehen konnte. Dies verschärfte das Gefühl des Dahintreibens und der
Unbestimmtheit, das meinem Weggang aus der vertrauten Welt folgte, das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was ich tat oder wohin ich ging. Innerhalb weniger Stunden nach unserer Ankunft in London, wo wir in großem Stil in einer eindrucksvollen Suite im Savoy logierten, wurde mein Vetter Albert aus Birmingham herbeizitiert, wo er Industriechemie studierte, und luxuriös bei uns im Hotel einquartiert. Allem Anschein nach wusste er nichts von den Spannungen, die zwischen meinem Vater und seinen Brüdern herrschten, so fröhlich und bewundernswert flott wie er wirkte, als er mit uns zusammen war. Ich verbrachte viele Stunden mit Albert, lernte durch ihn fish and chips kennen, besuchte den neuen Vergnügungspark von Battersea und ging mit ihm in zahllose Pubs – immer auf der Suche nach Aufregung und Mädchen. Die ganze Zeit über versuchte ich von ihm die Kunst zu erlernen, wie man sich amüsiert, ohne sich dabei schuldig oder einsam zu fühlen. Er war der einzige nähere Verwandte, dem ich in den ersten zwanzig Jahren meines Lebens nachzueifern suchte, weil er all das war, was ich nicht war. Er besaß eine aufrechte Körperhaltung, war ein hervorragender Fußballspieler und Läufer, schien viel Erfolg bei den Frauen zu haben, war eine natürliche Führungspersönlichkeit und ein hervorragender Student. London war so mit Sicherheit das angenehmste Zwischenspiel unserer Reise. Als Albert abfuhr, verschwand auch sein anregender Einfluss, und ich verfiel erneut in die angstvolle Schwermut der Reise. In Southampton bestiegen wir die Nieuw Amsterdam, eine größere, luxuriösere Version der Saturnia. Die sechstägige Überfahrt nach New York verlief ohne größere Vorkommnisse und war angefüllt mit üppigen Mahlzeiten, abendlichen Filmvorführungen und der Allgegenwart meiner Eltern. »Ich hasse Amerika und die Amerikaner«, sagte meine Mutter etwa.
»Was tun wir hier eigentlich, Wadie? Bitte erkläre mir einmal diese ganze verrückte Angelegenheit. Müssen wir denn den Jungen dorthin bringen? Du weißt doch, dass er nie zurückkommen wird. Wir berauben uns selbst.« Meine Mutter war unzufrieden und traurig, mein Vater dagegen genoss seine Pfannkuchen, seinen Kaffee und seinen Apfelkuchen à la mode und war ganz aufgeregt von der Aussicht auf Amerika, zumal er beschlossen hatte, nun, da ich dort zur Schule ginge, ein Haus zu kaufen. Ich merkte, wie ich außer beim Abendessen den widerstreitenden Stimmungen meiner Eltern auswich, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wohin ich ging oder für wie lange. Kaum waren wir in einem trüben, unangenehm düsteren und bedeckten New York angekommen, als meine Mutter auch schon meinen Vater dazu überredete, uns ihre Kusine Eva Malik in Washington besuchen zu lassen. Dort waren wir kaum eine Stunde im Hotel Mayflower, als auch schon Eva in der schwarzen Botschaftslimousine ihres Mannes vorfuhr und uns, ohne Widerspruch zu dulden, samt unserem herrschaftlichen Gepäck in das behagliche Botschaftsgebäude entführte. In seiner Eigenschaft als libanesischer Gesandter in den Vereinigten Staaten war Charles Malik zu einer UNVersammlung nach San Francisco geflogen, so dass wir Tante Eva einige Tage für uns hatten, mit ihr Besichtigungen unternahmen und uns einfach erholten. Sie bestand außerdem darauf, während meiner Zeit im Internat auf mich zu achten, ein Arrangement, das nicht nur meiner Mutter, sondern auch mir gefiel, da ich meine Ferien im Glanz der Residenz des libanesischen Botschafters verbringen würde, in einem Stil ähnlich dem, den ich glaubte in Kairo zurückgelassen zu haben. Mein Vater vermied jede klare Aussage – aus Gründen, die ich erst später durchschaute. Ich konnte jedoch spüren, dass meine Eltern den Aufenthalt baldmöglichst beenden wollten.
Ständig erinnerten sie Eva daran, dass wir ihr schon viel zu lange zur Last fielen, wohingegen unsere Gastgeberin, die allein und nicht durch häusliche Pflichten in Anspruch genommen war, unsere Anwesenheit sichtlich genoss. Beide Elternteile waren von der Vorstellung besessen, man dürfe, im arabischen Sinne, nicht zu »schwer« sein – was hieß, dass man nirgends länger als drei, höchstens vier Tage bleiben sollte, während der man die Gastgeber jeden Abend zum Essen ausführte, viele Blumen und Süßigkeiten kaufte und sich auf diese Weise »leichter« machte. Etwas überstürzt brachen wir nach Madison in Wisconsin auf, das in einem neueren Heft des National Geographic zur Freude meines Vaters als die »netteste« Stadt der Vereinigten Staaten beschrieben worden war. Wir hielten uns zwei Tage in dieser hübschen Stadt auf und besichtigten mit Immobilienmaklern ein eindrucksvolles Haus nach dem anderen. Jedes Mal versuchten wir, uns unser gemeinsames Leben darin vorzustellen. »Hier steht der Schreibtisch deiner Mutter«, sagte mein Vater und zeigte in eine unauffällige Ecke, in der ein heruntergekommener Bridgetisch stand. »Hier können wir das Klavier hinstellen«, meinte meine Mutter, deren Begeisterung mit der Zeit allerdings merklich nachließ. Wir sammelten große Mengen an Prospekten und Visitenkarten, die mein Vater noch am selben Abend kurzerhand in den Papierkorb des Hotels beförderte. Unsere Haussuche in Madison hatte etwas Abgehobenes und Gespenstisches an sich, aber meine Mutter und ich spielten brav mit, obwohl ich niemals begriff, welch fiktive Projektion Madison für meinen Vater darstellte – abgesehen von der Gelegenheit, wie ich in die Vereinigten Staaten zu kommen und sich hier niederzulassen, trotz der inzwischen vornehmeren häuslichen Umgebung, des blühenden Geschäfts und des ausgefüllten Lebens in Ägypten und dem Libanon.
Immer wieder sagte er, und meine Mutter wiederholte es oft: Wäre er nach dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Jahre jünger gewesen, er wäre in die Vereinigten Staaten gegangen. Als wir nach Madison kamen, war er bereits sechsundfünfzig, aber ich weiß, dass sein Interesse an den Vereinigten Staaten einerseits einem theoretischen Patriotismus entsprang, andererseits der Belebung, die er empfand, weil er nun dem Zugriff seiner Familie entzogen war. Hinzu kam aber auch der Wunsch, mir das Gefühl zu vermitteln, dass ich eine riesige Chance geboten bekam und dass meine hartnäckige Verdrossenheit und erwartungsvolle Furcht vor dem Alleinsein allmählich verschwinden würden. Er hegte einen geradezu ideologischen Hass auf Sentimentalitäten, wie er sie in dem stets bedauerten Drängen seiner eigenen Mutter zu seiner eigenen Rückkehr und im Verhalten meiner Mutter mir gegenüber unmittelbar vor unserer Reise zu erkennen glaubte. Wir kehrten über die Milwaukee Road Railroad und mit einem TWA-Flug vom Flughafen Midway nach New York zurück und bestiegen schließlich am Tag nach dem Labor Day einen Zug, der die Grand Central Station in Richtung Mount Hermon verließ. Der einzige Teil der langen Reise auf der White River Junction-Linie, an den ich mich erinnere, war unsere Ankunft auf dem winzigen, ausgesprochen ländlichen Bahnhof in Massachusetts, wo ein einsames Taxi wartete, um uns die letzten Meilen zur Schule zu bringen. Uns blieb kaum noch eine Stunde, weil meine Eltern den Zug zurück nach New York nehmen wollten. Als wir mein Zimmer gefunden und meine Eltern ein kurzes Gespräch mit dem Direktor geführt hatten, half mir meine Mutter noch eine Viertelstunde beim Auspacken und Bettenmachen (mein mir unbekannter Zimmergenosse hatte sich bereits eingerichtet). Dann brachen meine Eltern in aller Eile auf und entschwanden, während ich mit einem Kloß im Hals am Eingang von Crossley Hall,
meinem eindrucksvollen Wohnheim, zurückblieb. Die Leere, die mich plötzlich umgab und die ich, wie ich wusste, für das eine Schuljahr in Mount Hermon zu erdulden haben würde, wirkte unerträglich. Ich wusste, dass ich schnell in mein Zimmer zurückkehren musste, um mich noch einmal der Gegenwart meiner Mutter zu versichern – ihres Dufts, einer Spur ihrer Hände, vielleicht gar einer Botschaft. Ein blonder und blauäugiger Junge meines Alters begrüßte mich dort. »Hallo, ich bin dein Zimmergenosse, Bob Salisbury«, sagte er freundlich und ließ mir keine Gelegenheit, etwas von der entschwindenden Aura meiner Mutter zu retten. Da wurde mir klar, dass ich nun endgültig angekommen war. Die Mount Hermon School, Ende des neunzehnten Jahrhunderts von dem Prediger Dwight L. Moody gegründet, war größer als das Victoria College. Es war das männliche Gegenstück zum Northfield Seminary for Young Ladies – beide Einrichtungen erstreckten sich über mehr als tausend Hektar auf den einander gegenüberliegenden Ufern des Connecticut River. Eine zehn Kilometer lange Straße und eine Brücke verbanden die beiden recht unterschiedlichen, aber zusammengehörenden Schulen. Mount Hermon lag im Unterschied zu Northfield nicht in einer Stadt oder einem Dorf, sondern war völlig abgeschlossen und autark. Die ledigen Lehrer lebten mit den Schülern in den Wohnheimen, die verheirateten bewohnten mit ihren Kindern kleine Häuser, die über das gesamte Gelände verstreut lagen. Obwohl es sich um eine im traditionellen Bilderbuchsinne schöne, bewaldete, hügelige und herrlich gepflegte Neuengland-Landschaft handelte, erschien mir der Ort insgesamt fremd und trostlos. Crossley Hall war das größte Gebäude auf dem Gelände, ein langer, finsterer Klinkerbau im viktorianischen Stil, der ebenso gut auch eine Fabrik hätte sein können. Salisbury und ich wohnten im zweiten Stock. Die Toiletten und die Duschen, die
in einer offenen Reihe angeordnet waren, so dass man den Blicken seines Nachbarn ausgesetzt war, befanden sich im Erdgeschoss. Jeder Schüler musste wöchentlich zehn bis zwölf Stunden körperliche Arbeit leisten – eine Hinterlassenschaft Moodys, dessen Zitate ein frühes Gegenstück zum kleinen roten Buch des Vorsitzenden Mao bildeten und uns die »Würde der Handarbeit« einimpften. Mit vier anderen Jungen zusammen hatte ich die Aufgabe, den Kartoffeln die Augen auszustechen. Um die bei jedem Abendessen erforderliche Menge zusammenzubekommen, benötigten wir gute eindreiviertel Stunden, in denen wir ununterbrochen sangen, Witze rissen, uns im Übrigen aber völlig auf unsere Arbeit konzentrierten, die unmittelbar nach dem Frühstück um sieben Uhr fünfzehn begann und bis neun dauerte, bis kurz vor unserer ersten Schulstunde. Unser Aufseher hieß Eddy Benny und war ein kleiner, untersetzter Mann mittleren Alters, ein ehemaliger Feldwebel, der uns wie widerspenstige, um nicht zu sagen unfähige Rekruten behandelte, die man unablässig antreiben musste. Der Tagesablauf war nicht nur streng geregelt, sondern auch lang und immer gleichförmig. Außerdem gab es keine der städtischen Unterhaltungsmöglichkeiten, an die ich mich während der Zeit in Kairo gewöhnt hatte. Mount Hermon besaß ein Postamt und einen Laden, der jeden Tag nur für ein paar Stunden geöffnet hatte, in dem man Zahnpasta, Postkarten und Briefmarken ebenso kaufen konnte wie Süßigkeiten und eine kleine Auswahl von Büchern. Der Unterricht ging zunächst bis mittags. Vor allen Mahlzeiten wurde gebetet, und im Anschluss an das Mittagessen wurden Bekanntmachungen über Sport- und Clubtermine verlesen. Um eins machten wir für zwei Stunden Sport. Der Nachmittagsunterricht dauerte von vier bis sechs. Auf das Abendessen folgte unmittelbar eine kurze Freistunde.
Anschließend wurden wir zwischen acht und viertel nach zehn für eine Lernphase auf unsere Zimmer verwiesen (»eingeschlossen« wäre der bessere Ausdruck) und von Etagenschülern überwacht. Letztere waren Schüler, die diese Position nicht ihrem höheren Alter oder ihren schulischen Leistungen verdankten, sondern geheimnisvollen Gründen, die etwas mit »Führung« zu tun hatten, ein Wort, das ich in Mount Hermon zum ersten Mal hörte. Während der Lernstunden waren Gespräche verboten. Ab viertel nach zehn konnten wir eine Viertelstunde lang duschen und Zähne putzen, dann hieß es Licht aus und Bettruhe. Jeder Schüler durfte an zwei Samstagnachmittagen im Semester nach Greenfield gehen, einem armseligen kleinen Ort etwa zehn Meilen entfernt. Ansonsten waren wir, von den Ausflügen der Sportmannschaften abgesehen, drei Monate lang den erstickenden, klaustrophobischen Regeln Mount Hermons unterworfen. Telefonate waren selten und teuer. Bevor sie nach Kairo zurückkehrten, riefen mich meine Eltern aus New York an, um mir mitzuteilen, dass »Dr. Rubendall und wir der Ansicht sind, dass du dein letztes Jahr wiederholen solltest, auch wenn du genau genommen die Obere Fünf schon hinter dir hast«. Dann kam mein Vater an den Apparat. »Wenn du schon nächstes Frühjahr abgehen würdest, wärst du erst sechzehn. Für die Universität ist das zu jung. Deshalb darfst du zwei Jahre lang an dieser Schule bleiben« – den Namen der Schule vergaß er immer wieder. »Du hast Glück!«, fuhr er fröhlich und ohne jede Ironie fort. »Ich wollte, ich hätte deine Chancen gehabt.« Ich wusste, dass er das ernst meinte. Mir war aber auch klar, dass er als jemand, der es in seinem Leben früher schwer gehabt hatte, das privilegierte Leben, das er mir ermöglichte, zugleich auch ein bisschen übel nahm. Ich erinnerte mich an den Schock, den ich ein paar Wochen zuvor in London empfunden hatte: Nachdem er uns und Albert ohne
Rücksicht auf die Kosten im Savoy untergebracht und uns jeden Abend in vornehme Restaurants, in Theater und Konzerte ausgeführt hatte (darunter das denkwürdigste Musical, das ich je gesehen habe, Kiss Me Kate mit Alfred Drake und Patricia Morison, außerdem eine hervorragende Vorstellung von H. M. S. Pinafore mit Martyn Green im Savoy Theatre), machte er mir heftige Vorwürfe, weil ich sechs Pence für ein Theaterprogramm ausgegeben hatte. »Glaubst du, du wärst der Sohn eines reichen Mannes, dass du das Geld so zum Fenster hinauswirfst?«, sagte er grob. Als ich bei meiner Mutter Hilfe und Trost suchte, erläuterte sie: »Er musste so schwer arbeiten«, eine Antwort, die mich sprachlos und beschämt zurückließ. Ich war unfähig, auf die Kluft zwischen der Wut über einen Groschen und den ungeheuren Kosten für Luxushotels und Restaurants hinzuweisen. »Leb wohl, mein Liebling. Wenn du dich einsam fühlst«, beendete meine Mutter das Telefonat übereilt, »versuche nicht allein zu sein. Finde jemanden, dem du dich anschließen kannst.« Ihre Stimme begann beunruhigend zu zittern. »Und denke an mich und daran, wie sehr du mir fehlst.« Um mich herum breitete sich Leere aus. »Daddy sagt, wir müssen jetzt gehen. Ich liebe dich, mein Schatz.« Danach nichts mehr. Warum, fragte ich mich in der Stille, hatte man mich so weit weg an diesen scheußlichen, gottverlassenen Ort verschickt? Diese Gedanken wurden von der trockenen NeuenglandStimme von Mr. Fred McVeigh unterbrochen, dem Französischlehrer, in dessen winziger Wohnung in Crossley Hall ich gerade das Gespräch mit meinen Eltern geführt hatte. »Okay?«, fragte er lakonisch, als wolle er sagen: Wenn du fertig bist, geh bitte zurück auf dein Zimmer. Das tat ich auch, während mir die Erkenntnis dämmerte, dass es hier keine längeren, gehaltvollen Gespräche geben würde, sondern nur kurze und knappe Wortwechsel, die jedoch, wie ich
herausfand, auf ihre Art ebenso codiert und komplex waren wie diejenigen, die ich angeblich hinter mir gelassen hatte. Am nächsten Tag ging ich los, um mit Mr. Edmund Alexander zu sprechen, dem Tennistrainer und Englischlehrer. Abgesehen von Dr. Rubendall war »Ned« Alexander in Mount Hermon die einzige Verbindung mit Kairo. Freddie Malouf hatte mir von ihm erzählt, ein enger Freund der Familie, der mit Ned in eine Klasse gegangen war. Klein, dunkelhäutig und drahtig, in einem Tennispullover aus weißer Wolle, war Alexander alles andere als entgegenkommend. »Was ist?«, fragte er kurz angebunden. »Ich bin aus Kairo«, sagte ich enthusiastisch. »Freddie Malouf bat mich, Sie zu besuchen und von ihm zu grüßen.« In seinem harten, sonnengegerbten Gesicht zeigte sich keine Regung. »Ach ja, Freddie Malouf«, sagte er nur, ohne jeden weiteren Kommentar. Unverzagt ging ich zum Arabischen über, weil ich glaubte, unsere gemeinsame Muttersprache werde das Gespräch erleichtern. Doch damit bewirkte ich genau das Gegenteil. Alexander hob die rechte Hand und gebot mir mitten im Satz Schweigen. »Nein, Bruder« – ein sehr arabischer Ausdruck, dachte ich, wenn er es auch auf Englisch sagte – »kein Arabisch hier. Das habe ich alles hinter mir gelassen. Hier sind wir Amerikaner« – eine weitere arabische Formulierung statt »wir sind jetzt in Amerika« –, »und wir sollten wie Amerikaner reden und handeln.« Es war noch schlimmer, als ich geglaubt hatte. Ich hatte nur nach einem freundlichen Kontakt gesucht, nach einer Öffnung in dem ausgedehnten Geflecht aus Einsamkeit und Trennungsschmerz, das mich umgab. Alexander erwies sich nicht nur als unfreundlich, sondern sogar als eine Art Gegner. Er setzte mich umgehend auf die Tennisrangliste der jüngeren Spieler, so dass ich wochenlang Herausforderungsspiele bestreiten musste, mit denen die erste Mannschaft vor
Neuankömmlingen geschützt wurde, und als diese Spiele mit dem ersten Schnee Anfang November endeten, war ich (unfairerweise, wie ich glaubte) auf der Liste der Jüngeren etabliert. Dann hatte ich ein Jahr lang nichts mehr mit Alexander zu tun. Ich sah ihn nur gelegentlich, wie er mit seiner Frau, der Tochter des Landwirtschaftsleiters von Mount Hermon, in ihrem Kombi auf dem Gelände herumfuhr und sich so amerikanisch wie nur möglich gab. Ich wurde dem britischen Jugendtrainer und Lehrer für amerikanische Geschichte zugewiesen, Hugh Silk, gegen dessen »Training« ich all meine verbliebenen antibritischen Gefühle aufbot. Obwohl ich an Nummer eins hätte spielen müssen, setzte er mich an die Zwei, weil ich, wie er mich einmal mahnend belehrte, für die Eins nicht reif genug sei. Zu viele Gesten, zu viele Beschwerden, zu viele Temperamentsausbrüche seien der Beleg dafür, dass ich, wie er sagte, nicht »ausgeglichen genug« sei. Alexanders Verhalten bewies, wie zutreffend die bedrohliche Beobachtung meines Vaters gewesen war, dass man sich in den Vereinigten Staaten von den Arabern fernhalten sollte. »Sie werden niemals etwas für dich tun und dich immer herunterziehen.« Dabei hatte er seine Hände flach ausgebreitet und sie bis kurz über den Fußboden herabsinken lassen. »Sie werden dir immer im Wege stehen. Weder bewahren sie das Positive an der arabischen Kultur, noch zeigen sie sich untereinander solidarisch.« Er lieferte niemals Beispiele für seine Behauptung, aber die bildhafte Gebärde seiner Hände und sein entschiedener Tonfall ließen keine Ausnahme oder Einschränkung zu. Sowohl Alexanders Reaktion auf meine banale Eröffnung als auch Silks disziplinäre Methode der eisernen Faust im Samthandschuh erwiesen sich als eine subtilere Form des moralischen Drucks, den ich über Jahre als ständige brutale Konfrontation mit der britischen Autorität in
meinen ägyptischen oder palästinensischen Schulen erlebt hatte. Dort wusstest du wenigstens, dass sie deine Feinde waren. In Mount Hermon hieß die gültige Währung »gemeinsame Werte«, Sorge und Hilfe für den Schüler, Respekt vor solch ungreifbaren Werten wie Führungsqualitäten und staatsbürgerlichem Verhalten, Worte der Ermutigung, Ermahnung und des Lobes, die mit einer Betulichkeit verabreicht wurden, von der ich am Victoria College nicht einmal geträumt hätte. Dort hatte Krieg zum Alltag gehört, ohne dass die Herrschenden jemals Beschönigungen angeboten noch wir Schüler derlei akzeptiert hätten. In den Vereinigten Staaten wurden wir unablässig bewertet, aber diese Urteile verbargen sich hinter einem feinen Gewebe sanft dahinrollender Worte und Phrasen, die letzten Endes alle von der unanfechtbaren moralischen Autorität der Lehrer gestützt wurden. Bald lernte ich auch, dass man niemals herausfinden konnte, warum oder auf welcher Grundlage man als ungeeignet für eine Rolle oder einen Status beurteilt wurde, auf den man nach vergleichsweise objektiven Indikatoren wie Noten, Ergebnissen oder Siegen eigentlich Anspruch gehabt hätte. In meiner Zeit in Mount Hermon wurde ich niemals zum Etagenschüler ernannt, auch nicht zum Tischvorsteher, zu einem Mitglied des Schülerrats oder zur offiziellen Nummer eins oder Nummer zwei der Klasse mit dem Recht, die Begrüßungs- beziehungsweise Abschiedsrede zu halten, obwohl ich über die erforderlichen Qualifikationen verfügte. Und niemals kannte ich den Grund dafür. Stattdessen stellte ich bald fest, dass ich der Autorität mit Vorsicht begegnen musste. Ich war darauf angewiesen, einen gewissen Mechanismus und eine Entschlossenheit zu entwickeln, um mich nicht entmutigen zu lassen. Alles schien darauf angelegt, mich zum Schweigen zu bringen und von dem abzulenken, der
ich war, mich zu jemand anderem zu machen. Damit begann mein lebenslanger Kampf gegen die Launenhaftigkeit und Heuchelei einer Macht, deren Autorität sich ausschließlich auf ihre ideologische Selbstdarstellung stützte, der zufolge sie moralisch handele, im guten Glauben und mit den besten Absichten. Ihre Ungerechtigkeit beruhte meiner Meinung nach vor allem auf ihrem Vorrecht, die Grundlagen ihrer Urteile zu ändern. Man konnte an einem Tag als vorbildlich gelten, am nächsten aber als moralisch verwerflich, obwohl man sein Verhalten nicht geändert hatte. Zum Beispiel brachten uns Silk und Alexander bei, gegenüber unseren Tennisgegnern keine Kommentare wie »Guter Schlag!« oder dergleichen abzugeben. Gib ihnen nie einen Vorteil, mach ihnen keine Zugeständnisse, lass deinen Gegner extra schwer arbeiten. Aber ich erinnere mich auch, dass man mich einmal bei einem hart umkämpften Spiel gegen die Williston Academy beiseite nahm und tadelte, weil ich meinen Gegner einen Ball hatte aufheben lassen, der vielleicht näher bei mir lag. »Den einen Schritt hättest du ruhig gehen können«, hieß es nun, und das versetzte mich innerlich in Wut, weil so völlig unterschiedliche Maßstäbe angelegt wurden. Andererseits entwickelte ich in meinen Begegnungen mit der weitgehend heuchlerischen Autorität Mount Hermons einen überraschenden neuen Willen, der nichts mehr mit dem »Edward« der Vergangenheit zu tun hatte, sondern mit einer anderen Identität zusammenhing, die sich langsam unter der Oberfläche herausbildete. In meinem Heimweh begriff ich bald, dass ich – von den Ratschlägen in den wöchentlichen Briefen meiner Mutter abgesehen – in der Auseinandersetzung mit dem Alltag in Mount Hermon völlig auf mich allein gestellt war. Die schulische Seite bereitete mir kaum Probleme, manchmal machte es sogar Spaß. Während wir es am Victoria College nur mit dem trockenen Lehrstoff selbst zu tun hatten, nichts
davon verschönert oder nett »verpackt«, waren viele der Aufgaben in Mount Hermon durch ausgearbeitete vereinfachende Anleitungen aufbereitet. So führte uns unser eindrucksvoller und beredter Englischlehrer (und zugleich Golftrainer) Mr. Jack Baldwin einen Monat lang lesend und analysierend durch den Macbeth. Wir stellten genaue Untersuchungen über Charaktere, Motive, Diktion, Bildersprache und Handlungsaufbau an, wobei sämtliche Themen in Untergruppen und einzelne Schritte aufgeteilt waren, die nach und nach zu einem ganzen Heft voller Kurzessays führten, an dessen Anfang ein oder zwei zusammenfassende Absätze zur Bedeutung des Stückes standen. Dieses System war insgesamt rationaler und durchdachter, als ich es in meinen früheren Schulen kennen gelernt hatte. Es regte mich an und forderte mich heraus, insbesondere im Vergleich mit der anglo-ägyptischen Methode des Studiums literarischer Texte, bei dem wir lediglich die sehr eng definierten »korrekten« Antworten aufsagen mussten. In den ersten Wochen gab uns Baldwin ein nicht besonders vielversprechendes Essaythema vor: »Über das Anzünden eines Streichholzes«. Pflichtbewusst ging ich in die Bibliothek und wühlte mich durch Enzyklopädien, Industriegeschichten und chemische Handbücher auf der Suche nach dem Wesen des Streichholzes. Anschließend fasste ich mehr oder weniger systematisch alles zusammen, was ich gefunden hatte, und gab dann den Aufsatz ab. Ich war ziemlich stolz auf das Geschriebene. Baldwin forderte mich umgehend auf, während seiner Bürostunden zu ihm zu kommen, etwas völlig Neues für mich, da die Lehrer am Victoria College keine Büros hatten, geschweige denn Bürostunden. Baldwins Büro war ein heiterer kleiner Raum, dessen Wände mit Postkarten bedeckt waren. Als wir uns auf zwei Sesseln gegenübersaßen, äußerte er sich lobend über meine Forschungsarbeit. »Aber ist das wirklich
die interessanteste Art zu untersuchen, was passiert, wenn jemand ein Streichholz anzündet? Was ist, wenn er versucht, einen Wald anzustecken oder eine Kerze in einer Höhle, oder, metaphorisch gesprochen, wenn er ein Geheimnis aufdecken will, etwa das der Schwerkraft, wie es Newton getan hat?« Buchstäblich zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir ein Thema von einem Lehrer auf eine Weise nahe gebracht, die mich sofort erregte. Endlich war erwacht, was zuvor im Schulunterricht unterdrückt und erstickt worden war – unterdrückt, um gründliche und korrekte Antworten geben zu können, um einem genormten Lehrplan zu entsprechen und einer zur Routine gemachten Prüfung, die im Wesentlichen nur ein gutes Gedächtnis nachweisen sollte und eben nicht die Fähigkeit zu kritischem Urteil oder eine große Vorstellungskraft. Der komplizierte Prozess der intellektuellen Entdeckung (und Selbstentdeckung) wurde seither niemals wieder unterbrochen. Die Tatsache, dass ich mich in Mount Hermon nie zu Hause fühlte oder wenigstens in fast jeder Hinsicht am falschen Ort, lieferte mir den Anreiz, mein eigenes Reich zu schaffen, nicht sozial, sondern intellektuell. Der Leseraum in der Bibliotheksetage war mir eine Zuflucht aus der häufig unerträglichen Alltagsroutine. Dort gab es einen Plattenspieler (gerade erst waren die 33er Platten eingeführt worden) sowie mehrere Bücherregale voller Romane, Essays und Übersetzungen. Ich hörte immer wieder ein gewichtiges Album von drei Platten mit der Hochzeit des Figaro, unter der Leitung Karajans, mit Erich Kunz, Elisabeth Schwarzkopf, George London und Irmgard Seefried. Oder ich las einige der vielen Ausgaben amerikanischer Klassiker (Coopers Lederstrumpf, Twains Reiseberichte und Romane, Erzählungen von Hawthorne und Poe), die ich ziemlich aufregend fand, denn sie zeigten mir eine eigenständige
Parallelwelt zu der anglo-ägyptischen Welt, in der ich mich in Kairo befunden hatte. Der wichtigste Durchbruch fand für mich jedoch in der Musik statt, die neben der Religion eine wesentliche Rolle an der Schule spielte. Ich bewarb mich für den Kirchenchor und wurde aufgenommen, ebenso wie im ausschließlich weltlichen Singclub. Wir alle mussten vier Mal wöchentlich in die Kirche gehen (einschließlich sonntags), wo der Organist Carleton L’Hommedieu ein resolutes Vor- und Nachspiel zum Besten gab, gewöhnlich ein Stück von Bach, gelegentlich auch von zweitrangigen amerikanischen Komponisten wie John Knowles Paine und George Chadwick. Bei einem der ersten Gottesdienste kam ich plötzlich auf den Gedanken, zu L’Hommy zu gehen, wie ihn alle hinter seinem Rücken nannten, und ihn nach der Möglichkeit von Klavierstunden zu fragen. Meine verschwendeten Jahre am Victoria College hatten meiner Klavierlaufbahn ein Ende bereitet, aber das Plattenhören und L’Hommys Spiel inspirierten mich zu einem Neuanfang. L’Hommy war etwa einen Meter fünfundsiebzig groß und so mager wie ein Skelett, er trug gern karierte Fliegen und gestreifte Hemden und war immer sehr gut angezogen (man sah ihn niemals ohne Fliege oder in Shorts). Er hatte einen beunruhigend gezierten Gang, bei dem er häufig seine außergewöhnlich feinen und schlanken Hände (wie ein Kaninchen) ausstreckte – an den Tasten dagegen gab er eine sehr selbstbewusste, ja Respekt einflößende Figur ab. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mich ernst nahm und mit mir als Pianist niemals ungeduldig wurde. Dennoch war L’Hommy das Musterbeispiel des vorsichtigen, häufig pedantischen Lehrers, der immer versucht, den Schüler zurückzuhalten. Ungeachtet seines Lehrstils war ich begeistert von seinem hervorragenden Spiel und seinen Lektionen in
Musikgeschichte. Bald wurde Musik nicht nur zu einem Erlebnis, sondern auch zum Gegenstand eines alles verzehrenden Wissensdurstes: Zum ersten Mal in meinem Leben hörte, spielte, las und forschte ich systematisch (in der Bibliothek stand Grove’s Dictionary of Music and Musicians), und damit habe ich niemals wieder aufgehört. Aber dafür musste es auch, wie ich jetzt erkenne, einen L’Hommedieu geben, auf den ich reagieren konnte, weil er auf Grund seiner Kompetenz das Recht auf ein insgesamt »abgewogenes« (und eben nicht wild begeistertes) Urteil in Anspruch nahm. Wir gerieten nur selten wirklich aneinander, aber zumindest konnte mich das Ohr eines gestrengen Lehrers auf meinem Weg anspornen, auch gegen sein stets kontrolliertes Urteil, wenn er zum Beispiel, nachdem ich ihm die Gavotte aus Bachs Englischer Suite in g-Moll vorgespielt hatte, übertrieben höflich sagte: »O ja, Ed! Das war schon sehr schön. Aber glaubst du nicht auch, dass man bei den Unsicherheiten am Anfang etwas tun könnte« etc. und mich so ein bisschen zurechtstutzte. Ich erinnere mich an einen bewölkten Sonntagnachmittag, als ich bei offenem Fenster die Gavotte übte. Nachdem ich sorgfältig an all den kleinen Dingen, die mein Lehrer beanstandet hatte, gefeilt hatte, beschloss ich, alle Register zu ziehen und das Stück schwungvoll durchzuspielen, so wie ich es empfand. Im gleichen Moment gingen L’Hommy und Mr. Mirtz, ein älterer Englischlehrer, draußen am Fenster vorbei und hörten und sahen mich spielen. »Hey, das ist großartig, Ed«, rief Mirtz aus. »Uuh«, reagierte L’Hommy eher missbilligend. Ich spielte weiter und legte mich erst recht ins Zeug. Ich weiß noch, dass wir beim nächsten Mal abrupt von Bach zu einer (meiner Ansicht nach) harmlos geklimperten Haydn-Sonate in C-Dur übergingen. »Der sehr gute britische Pianist Solomon hat sie bei seinem letzten Konzert gespielt.« Das war es also – sein Solomon gegen meinen Rubinstein.
Der ermüdende Kampf gegen meinen Alltag in dem Internat mit seinen sechshundert Schülern war dennoch unangenehm und manchmal unerträglich. Es gab keinen kulturellen Hintergrund für Freundschaften der Art, wie ich sie am Victoria College gefunden hatte. Mit Bob Salisbury (er war eine Klasse unter mir) lebte ich zwei Jahre lang in einem Zimmer, ohne dass wir uns nennenswert näher gekommen wären. Ich empfand bei den Amerikanern keine Tiefe, keine innere Ruhe, nur die oberflächliche Scherzhaftigkeit und gute Laune von Mannschaftskameraden, die mich niemals befriedigte. Stets hatte ich den Eindruck, dass ich bei meinen amerikanischen Gefährten andere Sprachen – vor allem Arabisch – vermisste, in denen ich neben dem Englischen lebte, dachte und empfand. Sie schienen weniger gefühlsbetont und zeigten kaum ein Interesse daran, ihre Einstellungen und Reaktionen zu artikulieren. Darin zeigte sich die außergewöhnlich homogenisierende Kraft des amerikanischen Lebens, in dem die gleichen TV-Sendungen, die gleichen Kleider und die ideologische Gleichförmigkeit in Filmen, Zeitungen, Comics etc. den komplexen Alltag auf ein gedankenloses Minimum zu beschränken schienen, in dem Erinnerung keine Rolle mehr spielt. Ich selbst fühlte mich jedoch förmlich überladen mit Erinnerungen, und die besten Freunde, die ich in Mount Hermon fand, waren erst vor kurzem eingewandert, wie etwa Gottfried Brieger, ein extrem ironischer deutscher Schüler, und der ungehobelte, aber wissbegierige Neil Sheehan. Die Mythologie von D. L. Moody beherrschte die Schule und machte sie zu einer nicht ganz erstklassigen Einrichtung. Das ganze Getue um die »Würde der Handarbeit« etwa kam mir völlig blödsinnig vor. Die ungeheure Bedeutung des Mannes schien niemand in Frage zu stellen: Es war meine erste Begegnung mit einer begeisterten Massenhypnose durch einen
Scharlatan, denn abgesehen von zweien von uns äußerte kein einziger Lehrer oder Schüler auch nur den geringsten Zweifel daran, dass Moody allerhöchste Bewunderung verdiente. Der einzige weitere Andersdenkende war Jeff Brieger, der mich im Leseraum einmal in eine Ecke zog und sagte: »Mais c’est degoutant«, wobei er auf eine der vielen hagiographischen Abhandlungen zeigte, die wir durcharbeiten sollten. Nicht anders war es bei der Religion – Sonntagsgottesdienst, Abendgottesdienst am Mittwoch, Nachmittagspredigt am Donnerstag: scheußlich, pietistisch, konfessionsunabhängig (diese Art der Unentschiedenheit war mir besonders widerwärtig), voller Moralpredigten, Ratschlägen zur richtigen Lebensführung. Ganz gewöhnliche Beobachtungen wurden in Moodys handfestes Christentum gekleidet, in dem Worte wie »Dienst« und »Mühsal« eine magische (im Grunde aber völlig schwammige) Bedeutung erhielten, die unser Leben mit »moralischem Sinn« erfüllen sollte. Am Victoria College hatte es nichts dergleichen gegeben; jetzt bekam ich alles auf einmal. Und alles ohne Schläge, ohne terrorisierende Präfekten. Wir alle, sechshundert an der Zahl, waren HermonJungen, die hinter Moody und seinem getreuen Helfer Ira Sankey hermarschierten. Die Kleidung war ein Problem für mich. Jedermann trug Kordhosen, Jeans, Lumberjacks und Boots. Noch in London hatte mein Vater mich in einen Laden mitgenommen, der in einen Roman von Dickens gepasst hätte und direkt neben dem Savoy lag: Thirty Shilling Tailors. Er hatte mir dort einen sehr dunklen grauen Anzug gekauft. Außerdem besaß ich das VCSortiment an grauen Hosen, einem Blazer und ein paar Anzughemden, alles in zwei riesigen beigefarbenen Lederkoffern verpackt, zusammen mit einer Briefmarkensammlung, zwei Alben mit Familienfotos und einem anwachsenden Stapel Briefe meiner Mutter, die ich alle
sorgfältig aufbewahrte. Ich musste bei meinen Eltern schriftlich um die Erlaubnis bitten, eine angemessenere Garderobe zu kaufen, und im Oktober sah ich fast, aber eben nur fast, so aus wie alle anderen. Es dauerte einen weiteren Monat, bis ich das Unterrichtssystem vollständig durchschaute, und Ende November verblüffte ich mich und meine Klassenkameraden mit meinen guten Leistungen. Warum oder wie ich das schaffte, weiß ich bis heute nicht genau, denn da ich mich an die Ermahnungen meiner Mutter hielt, weder Heimweh zu haben noch einsam zu sein, litt ich folgerichtig unter beidem. Ich beteiligte mich auch nicht an den ausgedehnten Sitzungen in der Blauen Wolke (dem Rauchund Billardzimmer) und hielt mich von den kleinen Cliquen, die sich im Wohnheim herausbildeten, ebenso fern wie von den verschiedenen Sportmannschaften. Ich sehnte mich zurück nach Kairo, rechnete weiterhin die Zeitdifferenz von sieben Stunden ein (mein Wecker blieb auf Kairozeit eingestellt), und es fehlte mir das Kairoer Essen meiner Familie. Die Schulmahlzeiten boten ein wenig Appetit anregendes Menü, das am Montag mit einem Huhn à la king begann und mit kaltem Aufschnitt und Kartoffelsalat am Sonntagabend endete. Vor allem jedoch vermisste ich meine Mutter, und jeder einzelne Brief von ihr vertiefte die schmerzende Wunde aus Verlassenheit und Trennung. Manchmal zog ich einen der massiven Koffer unter meinem Bett hervor, blätterte in den Alben oder den Briefen und begann leise zu weinen, erinnerte mich dann aber schnell wieder an die Ermahnungen meines Vaters: »Reiß dich zusammen, Junge, sei kein Schwächling. Halt dich gerade.« Der Wechsel der Jahreszeiten von Herbst auf Winter wirkte auf mich erschreckend, denn da ich aus einem im Wesentlichen warmen und trockenen Klima kam, kannte ich derlei nicht. Ich habe niemals meinen Abscheu vor Schnee
verloren, den ich zum ersten Mal an meinem sechzehnten Geburtstag am 1. November 1951 sah. Seit dieser Zeit, so viel Mühe ich mir auch geben mochte, habe ich Schnee weder genießen noch bewundern können. Für mich bedeutet Schnee eine Art Tod. Vor allem jedoch litt ich unter der sozialen Leere im Umfeld von Mount Hermon. Mein gesamtes Leben hatte ich bis dahin in zwei reichen, von Menschen wimmelnden, geschichtsträchtigen Metropolen verbracht, in Jerusalem und Kairo, und jetzt gab es nur noch ländliche Wälder, Apfelgärten und das Tal und die Hügel des Connecticut River, Orte ohne jede Geschichte. Die nächstgelegene Stadt Greenfield erschien mir lange Zeit als Symbol für die erzwungene Trostlosigkeit des mittleren Amerika. Andererseits verschafften mir eine Hand voll Lehrer und Schüler, aber auch Fächer wie Literatur und Musik Augenblicke großer Freude, die gewöhnlich mit einer Prise Schuldgefühl vermischt war. »Vergiss nicht, wie sehr ich dich vermisse und liebe. Deine Abwesenheit lässt alles so leer erscheinen«, wiederholte meine Mutter immer wieder, über viele Jahre, und vermittelte mir so das Gefühl, dass ich mich nicht wohl fühlen dürfe, solange sie nicht bei mir war, und dass ich einen schweren Verrat beginge, wenn ich in ihrer Abwesenheit irgendetwas mit Freude tat. Das verlieh meiner Zeit in Amerika einen Hauch von Vorläufigkeit, und wenn ich auch drei Viertel des Jahres in den Vereinigten Staaten verbrachte, verband ich den Begriff Stabilität immer nur mit Kairo. Ein autorisiertes gesellschaftliches Leben gab es nur mit dem Northfield Seminary for Young Ladies, zehn Kilometer jenseits des Flusses. Lediglich Samstags durfte man ein Footballspiel, ein Kino besuchen oder sich zum Tanz verabreden, aber da ich ein unglaublich schüchterner und sexuell unerfahrener Neuling war, konnte ich nur sehnsüchtig
zuschauen, wie die anderen Händchen hielten, aneinander herumfummelten und sich küssten. Das war mir alles vollkommen fremd, denn Kairo hatte niemals etwas geboten, was sich mit dieser mehr oder minder erlaubten »Unzucht« vergleichen ließ (denn all das erschien meinen fiebrig unterdrückten Gedanken die Praxis des Petting). Ohne jede Bekanntschaft in Northfleld war ich allwöchentlich das Mauerblümchen, zusammen mit Brieger und ein, zwei anderen unglücklichen Seelen. Wenn ich dann endlich ein oder zwei Mädchen vorgestellt wurde, kam es nur selten zu einer zweiten Verabredung. Erst in meinem zweiten und letzten Jahr hatte ich einen gewissen bescheidenen Erfolg bei Mädchen. Bis Anfang Dezember 1951 war ich zu meinem Bedauern als »Ed Said« amerikanisiert, für alle außer Brieger. Mit seiner ungezügelten Ironie und seinem polyglotten Witz wuchs er mir täglich mehr ans Herz, während immer mehr von meiner Vergangenheit zu entschwinden schien, die langsam, aber unausweichlich von den amerikanischen Umständen unserer immer routinierter ablaufenden Tage und Abende abgeschliffen wurde. Selbst Tony Glockler, den ich schon bald kennen gelernt hatte und der in Beirut aufgewachsen war, hatte sich verändert. Wir hatten miteinander Arabisch und Französisch gesprochen, aber das hörte bald auf, und wir hatten nur noch wenig miteinander zu tun. Ohne enge Freunde bahnte ich mir meinen Weg, versuchte mit zunehmendem Erfolg, eine Sensibilität zu bewahren und zu entwickeln, die der bei so vielen meiner Klassenkameraden so wirkungsvollen amerikanischen Nivellierung und ideologischen Vereinheitlichung zu widerstehen vermochte. Es war nicht Heimweh nach Kairo, was mich antrieb, denn ich konnte mich nur allzu genau der Misstöne erinnern, die ich dort immer als Nicht-Araber, als nicht-amerikanischer Amerikaner, als Englisch sprechender und lesender Feind der
Engländer oder als herumgestoßener und verwöhnter Sohn erfahren hatte. Entscheidend war vielmehr eine neue, unabhängige, allmählich wachsende Stärke, die ich zum Beispiel empfand, wenn ich im Schwimmunterricht fünfzig Bahnen schaffte und meine Arme in bleierner Müdigkeit herabsinken spürte, mein Atem immer mühsamer ging und meine Beine schwer und schwerer wurden, während ich sie verzweifelt auf und ab bewegte. Diese Stärke war ein Keim, mit dessen Hilfe ich mir ausmalen konnte, wie ich für den Unterricht bei Baldwin aus Poes Erzählung »Das Fass Amontillado« ein Radiomanuskript anfertigen würde, wie ich die Stimmen, die Lautstärke und die Musik festlegen würde (dritter Satz der Kleinen Nachtmusik – mein Publikum sollte hinter der brechenden Stimme des armen eingemauerten Helden den höfischen Tanzrhythmus hören). Unabhängige Stärke oder neu erstehender Wille: das markierte den Beginn meiner Weigerung, der passive »Ed Said« zu bleiben, der fast widerstandslos von einer Aufgabe oder einem Termin zum nächsten trottete. Die meisten Schüler fuhren zum Thanksgiving Day nach Hause, einem Feiertag, der mir noch heute sehr wenig bedeutet, auch wenn mein Vater uns in Kairo ein Truthahnessen aufgezwungen hatte – aus »traditionellen Gründen«, wie er das nannte. Für die Planung der dreiwöchigen Weihnachtsferien setzte sich mein Vater mit den Söhnen seines ältesten Bruders, Abie und Charlie, in New York in Verbindung, die zusammen mit ihrer verwitweten Mutter Emily und ihrer Schwester Dorothy kurz nach Asaads Tod im Jahre 1947 nach Queens gezogen waren. Aus den Ferien in Washington wurde also nichts. Abie hatte helle Haare und war ein geselliger, offener, gütiger Mensch, etwa zehn Jahre älter als ich. Meine Mutter war der Meinung, er sei meinem Vater in punkto Großzügigkeit,
Loyalität und Ehrlichkeit sehr ähnlich. In der Familie meines Onkels Al gab es einen problematischen Zug, der durch Emily – sie war eine Saidah aus Jaffa – in die Familie gekommen war, und nur Abie schien von dieser vieldiskutierten Erblast verschont: eine gewisse Verschlagenheit, verbunden mit einem einigermaßen blödsinnigen Kichern, das ohne jeden Anlass auftrat. Ihre Wohnung in Jackson Heights, 72-42 Fifty-first Drive, lag im zweiten Stock eines Hauses in einer Reihe identischer Stadthäuser, von denen diese Straßen über viele Meilen gesäumt waren. In der Said-Wohnung wurde es äußerst eng, als ich mit meinen riesigen Koffern auftauchte (ich hätte sie auch in der Schule zurücklassen können, aber ich weigerte mich ebenso kategorisch wie neurotisch, auch nur einen Schritt ohne all meine Habe zu gehen). Meine Anwesenheit muss für meine Tante und ihre Kinder eine schreckliche Belastung gewesen sein, doch keiner von ihnen vermittelte mir das Gefühl, ich sei unwillkommen oder im Wege – was ich ihnen hoch anrechne. Abie und Charlie hatten inzwischen feste Arbeit in einer Bank bzw. einer Versicherungsagentur und besuchten abends Wirtschaftsvorlesungen an der New York University. Dorothy arbeitete immer noch als Sekretärin bei Reuben Donnelley, der riesigen Druckerei, die das Telefonbuch herstellte. Die drei verließen gegen halb acht das Haus und kehrten erst gegen acht oder neun Uhr abends zurück. Emily blieb während des größten Teils des Vormittags in der Wohnung, sprach ständig auf Arabisch vor sich hin, kicherte zwischendurch geheimnisvoll, machte die Betten (nicht das meine, um das ich mich sobald wie möglich selbst kümmerte), hob Kleidungsstücke auf und war in dem kombinierten KüchenEsszimmer mit viel Geklapper und Türenschlagen zugange, alles planlos und ohne erkennbares System. Sie schien
einigermaßen taub für die Geräusche um sie herum, so dass ich, wenn sie im Radio irgendeine scheußliche Talk- und Musikshow anschaltete, gewöhnlich auf WQXR umschalten konnte, auch wenn dieser hochnäsige Sender – seine »Klavierpersönlichkeiten« morgens um halb zehn waren meine Lieblingssendung – meiner Meinung nach allzu viele Werbeunterbrechungen für Barney’s und Rogers Peet zuließ. Diese erregten manchmal Emilys Aufmerksamkeit, die dann mitsang und später allein noch eine Zugabe lieferte: »Du sparst bei Barney’s, du sparst bei Barney’s« – offensichtlich wusste sie überhaupt nicht, was sie da sang. Gegen zehn Uhr fragte sie mich dann gewöhnlich, ob ich etwas zu essen haben wolle. Ich ging niemals allein zum Kühlschrank oder zum Brotkasten, hauptsächlich weil sie, selbst wenn sie gerade Betten machte oder das Badezimmer säuberte, ihre Arbeit plötzlich unterbrach und in die Küche zurückschoss wie ein Bulle zu seinem Lieblingsplatz. Ich bemerkte bald, dass sie sich nicht nur um die Küche kümmerte, sondern sie geradezu bewachte, als enthielte sie eine Art primitiven Stammesschatz. Gegen Mittag verkündete sie gewöhnlich, dass sie jetzt ausginge, womit sie mir zu verstehen gab, dass ich in ihrer Abwesenheit nicht allein zu Hause bleiben konnte. Ich nahm dann in der Regel den Woodside-Bus zur U-Bahn-Station Jackson Heights, fuhr zum Times Square, wo ich mir als tägliches Mittagessen einen Hotdog und einen Orangensaft bei Nedick’s gönnte. Anschließend wanderte ich umher, ging meistens in Wochenschauen und ältere Filme oder unternahm einen gelegentlichen Ausflug in Ripley’s »Glauben-Sie-es-odernicht«. Museen, Bibliotheken und sonstige erbauliche Orte gehörten anscheinend nicht zu meinem Tagesplan. Von Dorothy erfuhr ich, dass man Eintrittskarten für die Quizshows bekommen konnte, und so ging ich eine Weile zu solchen Shows ins Rockefeller Center, um dann wieder weitere Filme
und Wochenschauen (die damals ohne Unterbrechung liefen) zu besuchen, bevor ich am späten Nachmittag nach Jackson Heights zurückfuhr. An Weihnachten gab es ein kurzes Telefongespräch mit Kairo. Da aber meine Eltern auch Emily, meinen Vettern und meiner Kusine formelle Weihnachtsgrüße zukommen lassen wollten, bekam ich nur ein sehr kurzes, aber sehr befriedigendes, weil unglaublich warmes »Fröhliche Weihnachten, mein Liebling« meiner Mutter zu hören, und dann war es auch schon vorbei. Abie und ich waren an den Wochenendabenden, an denen er nicht von seiner Freimaurerloge in Anspruch genommen war, gewöhnlich gemeinsam unterwegs. Meine Vettern gehörten einer arabisch-protestantischen Kirche in Bay Ridge in Brooklyn an (zwei Stunden und mehrfaches Umsteigen mit der U-Bahn entfernt), die der »syrischen« Gemeinde, wie die Arabo-Amerikaner damals hießen, ein gesellschaftliches Zentrum bot, in dem man sich zu den baflas (Essen mit Tanz) bei Kibbeh und Hummus treffen konnte. Abie und ich gingen schließlich ohne die anderen dorthin, ich einigermaßen zögernd, denn die älteren Arabo-Amerikaner schienen mir in einer Welt des Handels gefangen – Teppichverkauf, Gemüse, Möbel. Sie waren seltsame, fast an Swiftsche Romanfiguren erinnernde Geschöpfe mit Sommerhäusern in Pocono, einem fragmentarischen Arabisch aus den zwanziger Jahren und einem bemüht patriotischen Amerikanismus: der Ausdruck »Onkel Sam« fiel regelmäßig in ihren Unterhaltungen, und sie sprachen (für die enttäuschten Ohren eines palästinensischen Jugendlichen) mehr über die »kommunistische Gefahr« als über Israel. Die Frauen waren nachlässig gekleidet und offenbar unglücklich, weil sie nicht mehr in ihren Dörfern lebten, sondern in Brooklyn gestrandet waren. Ihre Töchter waren übermäßig geschniegelte, Kaugummi kauende Schulmädchen mit schrillen Stimmen.
Mitunter gingen Abie und ich zu der wöchentlichen Vorführung arabischer Filme auf der Atlantic Avenue, samstags um Mitternacht, so dass wir erst morgens um vier völlig erschöpft zurück nach Queens kamen. Aber die Mühe lohnte sich für mich, weil ich erotische Schauspielerinnen wie Naeema Akif, Samia Gamal oder Tahia Carioca tanzen und Ismail Yassin seine liebenswert verrückten Einzeiler in die Menge werfen sah. Der Kairoer Zungenschlag in ihren Dialogen weckte in uns das Heimweh, wenn wir in dem leeren klappernden Zug nach Hause fuhren, aber nach etwa drei solchen Ausflügen hatten wir genug davon. Einmal während dieser Ferien fuhr ich allein nach Bay Ridge zu Tante Salimeh und Onkel Amin Badr. Sie war eine lebendige, witzige, hübsche und zweifellos sinnliche Frau in ihren Vierzigern, und er – Faris Badrs jüngerer Bruder, der seit mindestens fünfzig Jahren in den Vereinigten Staaten lebte – ein unglaublich präziser und sehr sorgfältig gekleideter Mann (niemals hatte ich so rasiermesserscharfe Bügelfalten und so sorgfältig gebügelte Hemden gesehen) Mitte siebzig, ein pensionierter Vertreter für Bettwäsche und Handtücher. Tante Salimehs Redseligkeit und Respektlosigkeit, die sie übertrieb, um den Altersunterschied zwischen ihr und Amin noch stärker hervorzuheben, amüsierten mich enorm und bildeten einen markanten Gegensatz zu meinem Leben in Queens. Im Übrigen betrachtete ich Salimehs Einheirat in die Familie meiner Mutter unbewusst als Gegengift gegen die Saidsche Nüchternheit der weit weniger farbigen Familie meines Vaters. Ich traf Salimeh in ihrem Laden an der Fourth Avenue, »Mrs. Beder – Büstenhalter und Korsetts«, wo sie mit zwei Gehilfinnen vom frühen Morgen bis zum Abend hinein schuftete. Meine Mutter war Kundin bei ihr, das wusste ich, ebenso Eva Malik, obwohl sie beide Salimehs ermüdende
Klagen über ihre offensichtlich ausgebeuteten Untergebenen komisch und zugleich unangemessen fanden. »Sie wollen dauernd mehr Geld von mir und einen Achtstundentag. Glaubst du, ich würde nur acht Stunden arbeiten? Hawdi« – so sagen die in den Bergen lebenden Libanesen für »das da« – »sind kommunistische Ideen«, meinte sie dann, aber niemals so entschieden, als dass ich nicht mehr für die Mädchen hätte eintreten können. »Du bist zu weich«, sagte sie dann lächelnd. »Du brauchst mehr von der Härte deines Vaters.« Was sie mir besonders liebenswert machte, war nicht nur ihr wunderbar üppiges Essen an jenem Abend, das bequeme Bett in einem eigenen Zimmer oder gar das fröhliche Streitgespräch zwischen ihr und dem »alten Knaben«, wie sie ihn nannte, sondern ihr Einfallsreichtum, mit dem sie ihr Geschäft voranbrachte. In ihrem Schaufenster stand eine kopf- und beinlose Schaufensterpuppe, deren üppiger Busen von einem ihrer knallig rosafarbenen Büstenhalter gebändigt wurde. Unter den beiden Brüsten hing ein Schild mit der spöttischen Aufschrift: »United we stand, divided we fall« – dem Motto auf den amerikanischen Münzen. »Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was ich da tue? Dein Onkel Amin findet das schockierend, aber du brauchst nicht zu denken, dass ich auf ihn höre. Er kommt nicht mehr in den Laden, aber warte nur, wenn ich erst meine Korsettauslage aufbaue!« Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, sie zur Arbeit, ich nach Jackson Heights, stopfte sie ein Glas Pickles, eine Dose grüner Oliven und eine große Tüte selbst gebackenen Spinatkuchen in meinen Beutel. »Grüße deine Leute von mir«, sagte sie, »besonders Abie. Das wäre ein guter Ehemann.« Erst einige Jahre später begann ich sie als eine Art »Weib von Bath« wahrzunehmen, elementar und ununterdrückbar, hoffnungslos fehl am Platze unter den betulichen syrischen Einwohnern von Bay Ridge. Sie wurde von einer seltenen
Energie und einem Humor angetrieben, die eine bis heute bestehende Verbindung zwischen uns geschaffen haben, auch wenn sie inzwischen als Rentnerin in Florida lebt und ihr Gedächtnis sie fast gänzlich im Stich lässt. Die tiefe Einsamkeit in Mount Hermon schien drei Wochen nach meiner Rückkehr an die Schule Anfang Januar sogar noch verschärft. Wir waren förmlich begraben in den Nachwehen eines weiteren gewaltigen Schneesturms. Fast überall standen die Bäume gebeugt in drei Meter hohen Schneewehen, die Temperatur lag nahe dem Nullpunkt, und das bei einer strahlenden Sonne, die die harte weiße Landschaft geradezu geisterhaft fahl erhellte. Ohne Kopfbedeckung ging ich vom Wohnheim zum Unterricht, zur Turnhalle, zum Esssaal, verfluchte nach Kräften das Gefühl des Eingesperrtseins und der Behinderung, das ich überall um mich herum verspürte, und war daher völlig unvorbereitet für die Botschaft, die mich erwartete, als ich am späten Nachmittag aus meiner Chemiestunde bei dem kleinwüchsigen, bebrillten Dr. Paul Bowman kam. Ein Schülerhelfer aus dem Büro des Direktors stand an der Tür und fing mich ab: »Dr. Rubendall möchte dich sofort sprechen.« Als wir uns zusammen auf den Weg machten, fragte ich mich etwas zerstreut, was ich denn nun wieder angestellt haben mochte, auch wenn mein Verhalten in Mount Hermon, wie ich meinte, alles in allem untadelig gewesen war. Es gab keine Schülercliquen, keine verhassten Lehrer, keine sich ständig ändernden politischen Situationen. Rubendall war der einzige weltgewandte und durchweg liebenswürdige Mensch an der Schule, teilweise auf Grund seiner angenehmen Erinnerungen an seine Zeit als Basketballtrainer in Kairo, teilweise, so dachte ich, weil er mit seinen ein Meter zweiundneunzig, einer massigen, aber dennoch anmutigen Erscheinung, und mit viel Charme ein Selbstvertrauen ausstrahlte, das nur wenig mit dem
Moody-Erbe zu tun hatte, das auf den anderen zu lasten schien. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er viel mit dem nüchternen Ned Alexander gemein hatte, obwohl Kairo ihren gemeinsamen Hintergrund bildete. Aber ich freute mich immer, wenn Rubendall mich aus der Menge herauspickte. »Ed«, sagte er dann etwa und benutzte meinen neuen amerikanisierten Namen, »wie läuft’s denn so? Ich hoffe, Hermon gefällt dir. Meine besten Grüße an deine Eltern und an Kairo. Komm abends mal vorbei«, was ich natürlich niemals tat. Die echte Freundlichkeit und Wärme des Mannes halfen mir ein großes Stück über den täglichen Trübsinn der Schule hinweg, obwohl ich während meiner beiden Jahre dort nur dieses eine Mal sein Haus betrat. Rubendall begrüßte mich herzlich. »Ich habe es gerade aus Kairo gehört, Ed. Deiner Familie geht es gut. Die Neuigkeiten, soweit sie uns bekannt sind, klingen ziemlich beunruhigend, aber jedenfalls sind alle in Sicherheit.« Ich wusste überhaupt nicht, wovon er sprach, da ich aber trotzdem alarmiert war, fragte ich nach weiteren Einzelheiten. »Es hat Unruhen gegeben, ein großer Teil der Stadt hat gebrannt, niemand weiß, wer dahinter steckt. Komm um sieben zu mir, dann werden wir sehen, was das Fernsehen bringt.« Das tat ich natürlich, aber der Empfang war außergewöhnlich schlecht: Bilder von Menschenmassen und brennenden Gebäuden wechselten sich ab mit undeutlichen Bildern von Regierungsmitgliedern, Generälen und Politikern, allen voran ein verschwommenes Foto von König Faruq aus der Zeit, als er noch nicht zur 350Pfund-Karikatur geworden war. Es war ein Montagabend: gebrannt hatte es zwei Tage zuvor, und irgendwie hatte mein Vater Rubendall telefonisch erreicht. Ich geriet ein wenig in Panik, zum einen wegen alldem, was in diesem beispiellosen Wirrwarr meinen Eltern, insbesondere meinem Vater, hätte passieren können, zum anderen weil ich
womöglich gar nichts mehr hätte, wohin ich zurückkehren könnte. Ich wusste, dass sich irgendetwas unwiderruflich verändert hatte. Die verblüffenden Szenen der Zerstörung, die etwa zwanzig Sekunden lang über den Bildschirm des Familienfernsehers flimmerten – Rubendall und seine Frau standen beschützend neben mir, während ich direkt vor der großen braunen Konsole saß –, mussten ihren Ursprung irgendwo anders haben, in etwas, das in meinem Bild von dem vertrauten Kairo meiner frühen Jugend nicht vorkam. »Unpersönliche Kräfte«? Wütende Volksmassen? Ausländische Spione? Ich konnte mir die Ursachen all dessen, was ich da vor mir sah, weder vorstellen noch sie artikulieren. Als ich am nächsten Tag in der Eingangshalle des Wohnheims die Dienstagsausgabe des Boston Globe las, entdeckte ich zu meiner Verblüffung in einem dreiseitigen Bericht, der detailliert die enormen Schäden des Schwarzen Samstags darstellte, auch den Namen meines Vaters. Zum ersten Mal hatte unsere Existenz eine so objektive und für mich schmerzhaft manifeste Form angenommen. »Die Firma Standard Stationery«, lautete der Absatz, »des amerikanischen Bürgers William A. Said wurde vom Mob vollständig verwüstet, als dieser sich die Malika Farida Street hinunterwälzte und den British Turf Club zerstörte, eine bekannte britische Institution in Kairo…« Auch andere vertraute Orte wurden erwähnt – Papazians Musikgeschäft, wo ich Musikbücher und Platten gekauft hatte, Kodak, Salon Vert, Gattegno: lauter bessere Geschäfte, offensichtlich ausländisch, mitten im Herzen der modernen kolonialen Stadt. Ein mutiger Polizeihauptmann an der Spitze einer Hand voll Männer (später wurde er deswegen entlassen) hielt den Mob direkt am Aufgang zur Qasr el-Nil-Brücke auf – die Brücke führte über den Nil nach Zamalek, mitten in unser Wohnviertel. Und wäre dieser Hauptmann nicht gewesen… Ich konnte gar nicht alles
aufnehmen, was dort vorgefallen war, obwohl der Brief meiner Mutter etwa zehn Tage später einige Lücken füllte. »Entscheidend war vor allem, dass unsere beiden Hauptgeschäfte (auch die B-Filiale wurde zerstört) in Trümmern lagen.« Einen Monat später schickten sie mir Bilder von den Schäden. Zu erkennen waren lediglich ein paar SebelTische und -Stühle, die zu surrealistischen Formen verdreht herumlagen, dazwischen Teile von Schreibmaschinen, Ellams Vervielfältigungsapparaten, ein großer, aber offenbar unbeschädigter Chubb-Safe (das Bild verwendete mein Vater später für sein Werbematerial) und riesige Mengen verkohltes Papier. Meine Mutter kommentierte traurig, gerade damals hätten meine Vettern und meine Tante meinem Vater mitgeteilt, sie wollten aus der Firma ausscheiden, so dass er all seine finanziellen Reserven mobilisiert und sie ausbezahlt hatte (ich habe niemals verstanden, wie er das geschafft hat). Und nun trug er allein die Verantwortung für ein vollständig ruiniertes Geschäft. »Na gut, Lampas«, zitierte meine Mutter ihn im Gespräch mit seinem alten Geschäftsführer, »dann krempeln wir eben die Ärmel hoch« – der Ausdruck ist sechsundvierzig Jahre lang in meiner Erinnerung haften geblieben – »und fangen von vorne an.« Und genau das taten sie: Mit ein paar getreuen Helfern räumten sie den Schutt fort, gaben bekannt, dass das Geschäft von dem unbeschädigten Büro gegenüber wie gewohnt weitergeführt werde, verschafften sich alle erforderlichen Bankkredite, dazu eine kleine Entschädigung von einer eilig zusammengestellten Regierungskommission, und begannen den Wiederaufbau in insgesamt größerem und luxuriöserem Maßstab. Als ich im Juni für die Sommerferien nach Hause kam, waren von den Auswirkungen des Feuers vom 26. Januar 1952, das offenbar von den Muslim-Bruderschaften gelegt worden war, nur noch einige Fotografien der Ruinen geblieben, die mein Vater
gerahmt und hinter der Kasse und in seinem Büro aufgehängt hatte. Noch heute staune ich über diese beinahe übermenschliche Leistung. Ich habe niemals gehört, dass er mit Bedauern über die Zeit vor dem Feuer gesprochen hätte, über seine Verluste oder darüber, was für eine Katastrophe das für ihn gewesen sei. Seine getippten Briefe kamen nach wie vor alle zwei Wochen an genau dem gleichen Tag an, als habe sich überhaupt nichts verändert, außer dass sie von ankommenden »Gütern«, wie er das nannte, berichteten, die seine europäischen und amerikanischen Lieferanten per Express an die SSCo geschickt hätten. Vielleicht wollte ich dem Geheimnis seiner überwältigenden Kraft auf die Spur kommen, als ich mich in einem Brief an meine Mutter darüber beklagte, dass seine formalen, getippten, offensichtlich diktierten Briefe mit der Unterschrift »Hochachtungsvoll, W. A. Said« mich eigenartig berührten. Ich könne »nicht verstehen«, warum er mir niemals einen wirklich persönlichen Brief schreibe. Ich machte mir Sorgen über den Druck, unter dem er stand, und wünschte mir irgendein menschliches Zeichen seines anhaltenden und gesicherten Einflusses auf mein Leben. »Lieber Edward«, hieß es in einem einseitigen Brief, der zwei Wochen später ankam und in seiner unordentlichen, krakeligen Schrift geschrieben war. »Deine Mutter sagt mir, Du magst meine getippten Briefe an Dich nicht, aber ich bin sehr beschäftigt, wie Du Dir vorstellen kannst. Jedenfalls ist das hier ein handgeschriebener Brief für Dich. Hochachtungsvoll, W. A. Said.« Ich habe den Brief mindestens zwanzig Jahre lang aufgehoben, da er meinen Vater und seine Einstellung zu mir perfekt zu verkörpern schien. Es war, als glaube er, dass ein Gefühl und sein Ausdruck niemals gleich oder austauschbar sein dürften, und falls sie es doch wären, könne mit einem oder mit beiden offensichtlich etwas nicht stimmen. So behielt er alles für sich,
sparte seine Kraft für das auf, was er tat, und schützte das Ganze mit dem Schweigen oder dem lapidaren Stil, die mich so erbitterten. Sein ganzes Leben lang äußerte sich mein Vater bewusst ausweichend über seinen Besitz oder Wohlstand. Als er sich nun jedoch stark verschulden musste, um sein Geschäft wiederaufzubauen, wurde er ungewöhnlich beredt, sobald es um seine finanziellen Verpflichtungen ging. »Könnt ihr denn nicht sehen«, sagte er häufig ärgerlich zu uns, »wie hoch meine Schulden sind?« »Schulden« belasteten uns tatsächlich (als Familie) drei oder vier Jahre lang, bis ich ihn einmal eines Nachmittags in seinem Büro vertrat und gelangweilt den Bericht seines Buchhalters für das gerade abgeschlossene Steuerjahr durchblätterte. Ich war erstaunt über die vielen tausend Pfund, die er im Vierteljahr umsetzte. Als ich ihn darauf ansprach, sah er mich sehr verächtlich an. »Rede keinen Unsinn, Edward. Vielleicht wirst du eines Tages lernen, wie man eine Bilanz liest. Bis dahin konzentriere dich auf deine Studien und überlass mir das Geschäft.« Es war jedoch nicht zu übersehen, dass meine Eltern Mitte der fünfziger Jahre häufiger und größere Partys veranstalteten, schöne Dinge kauften und aus der Wohnung in der Sharia Aziz Osman auszogen, um eine größere und luxuriös ausgestattete Wohnung in einem Gebäude mit Botschaftswohnungen zu beziehen. Dennoch hörten seine Klagen über »Schulden« niemals auf. Zu Beginn des Frühjahrs 1952 hatte ich meine lähmenden Einsamkeitsgefühle überwunden – das Fehlen meiner Mutter, meines Zimmers, der vertrauten Geräusche und Gegenstände, in denen sich die Anmut Kairos verkörperte – und konnte ein anderes, weniger sentimentales, weniger untaugliches Ich in den Vordergrund treten lassen. Als man vierzig Jahre später bei mir Leukämie diagnostiziert hatte und ich mich eine Weile
in den Fängen der schlimmsten Gedanken an unmittelbar bevorstehende Leiden und den Tod befand, setzte ein ähnlicher Prozess ein. Am meisten Angst hatte ich vor der Trennung von meiner Familie und dem Gebäude meines Lebens insgesamt, das ich, wie ich beim Nachdenken darüber erkannte, sehr liebte. Erst als mir klar wurde, dass diese düstere Perspektive im Zentrum meines Bewusstseins eine Lähmung hervorrief, konnte ich allmählich ihre Umrisse erkennen, was mir half, ihre Grenzen zunächst zu erahnen und dann zu bestimmen. Bald stellte ich fest, dass ich diesen lähmenden Block beiseite schieben und mich stattdessen, manchmal nur für sehr kurze Zeit, auf andere, weitaus konkretere Dinge konzentrieren konnte, zum Beispiel auf die Freude über etwas Erreichtes, auf Musik oder die Begegnung mit einem Freund. Zwar empfinde ich noch immer einen Rest jenes Gefühls akuter Verletzlichkeit durch Krankheit und Tod, das mich überfiel, als ich meinen Zustand entdeckte, aber ich kann inzwischen – wie bei meinem frühen Exil – alle Stunden und Aktivitäten des Tages (einschließlich der obsessiven Beschäftigung mit meiner Krankheit) als vorübergehend betrachten. Aus dieser Perspektive heraus kann ich einschätzen, welche Aktivitäten ich fortführen, zu Ende bringen und genießen will. In Mount Hermon habe ich niemals das Gefühl von Abneigung und Unbehagen verloren, aber ich lernte immerhin, seine Auswirkungen auf mich auf ein Minimum zu reduzieren. Gleichsam selbstvergessen stürzte ich mich auf die Dinge, von denen ich glaubte, ich könnte sie genießen. Das meiste davon, wenn nicht alles, war intellektueller Natur. Während meines ersten Jahres mussten wir einen reichlich naiven Kurs absolvieren (zweifellos eine Idee von Dr. Moody), der uns fromm machen sollte. Darin wurde nicht nur der Stoff behandelt, den ich bereits für meine Konfirmation durchgearbeitet hatte, sondern man verstieg sich zu einer
wortwörtlichen und geradezu fundamentalistischen Interpretation des Alten Testaments, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Arnos und Hosea, Jesaja und Micha sind mir in Erinnerung geblieben: Wir lasen nicht nur die Texte, ein Schüler nach dem anderen, sondern paraphrasierten sie auch wortgetreu und in fantasieloser Wiederholung. Wären meine Leistungen nicht so gut gewesen, hätte ich den gleichen Bibellehrer (Chester Soundso) auch noch im zweiten Jahr gehabt, als es um das Neue Testament ging. Ich durfte stattdessen jedoch den alternativen Kurs Bibel IV belegen, den der Schulkaplan und zweite Schwimmtrainer, Reverend Whyte, erteilte – wegen seiner Korpulenz, seiner roten Haare und seiner stets guten Laune hieß er bei allen bloß Bruder Tuck. Ich war siebzehn, aber dank seiner Offenheit und weil ihm jeder Dogmatismus abging, genossen wir einen hervorragenden Lektürekurs in klassischer Philosophie, von Plato und Aristoteles über die Aufklärung bis zu Kierkegaard. Als Sportler konnte ich nicht glänzen, sosehr ich mich auch bemühte. Ich bekam einen festen Platz in der Schwimm- und in der Tennismannschaft, und ich gewann auch bei Veranstaltungen und Spielen, aber der eigentliche Wettkampf verursachte mir häufig körperliche Übelkeit. Im Frühling des ersten Jahres ging ein Schüler der Oberklasse (der Präsident des Schülerrats und Kapitän der Fußballmannschaft, Dale Conley) beim Mittagessen von Tisch zu Tisch und legte kleine Papierzettel unter die Teller. Auf meinem stand nur: »14. von 157«. Das war meine Klassenbeurteilung, viel höher, als ich es für möglich gehalten hätte. Während des zweiten Jahres schwankte meine Beurteilung zwischen dem ersten und zweiten Platz, aber dennoch lag ich am Ende der Sommerferien, in der Nacht vor meiner Rückkehr in die USA, in einem eilig aufgestellten Bett im Schlafzimmer meiner Eltern in Dhur el-Shweir und flehte sie an, mich nicht
zurückzuschicken. Die unvermeidliche Abreise erfolgte in der Morgendämmerung, und in vollkommenem Schweigen fuhren wir nach Beirut. Als ich zurück in Mount Hermon war, bekam ich die verhasste Aufgabe, in der Wäscherei Hemden zu bügeln, aber nach einigem Wirbel und zum Teil auf Grund meiner schulischen Erfolge wurde ich gnädigerweise auf einen ruhigen Posten in der Bibliothek versetzt. Gegen Mitte dieses zweiten Jahres, als uns die Bewerbungen für die Colleges beschäftigten, hatte ich schließlich begriffen, dass es so bald keine Rückkehr nach Kairo geben würde. Ich beneidete meine Schwestern an der Englischen Schule in Kairo darum, dass sie zusammen und zu Hause sein konnten, und um ihre wohl ausgestattete Sicherheit, denn all das wurde mir nur bei den kurzen Aufenthalten im Sommer zuteil. Im Juli 1952 war es zur Revolution der Freien Offiziere gekommen, aber solange an deren Spitze der onkelhafte, pfeiferauchende General Mohammed Naguib stand – der König war nach Italien geschickt worden –, hatte ich ebenso wie meine Eltern und ihre Freunde das Gefühl, diese neue Situation unterscheide sich nicht allzu sehr von der vorherigen – nur dass jetzt jüngere, ernsthaftere Männer an der Macht seien und der Korruption ein Ende bereiteten. Ansonsten war wenig anders. Unsere kleine Gemeinschaft – die Dirliks, Ghorras, Mirshaks, Fahoums, allesamt Shawam, die viel Geld verdienten und einen unglaublichen Wohlstand genossen – setzte ihr Leben fort, als sei nichts geschehen. Und nachdem wir ein paar Juniwochen und die erste Julihälfte in Kairo verbracht hatten, zogen wir wie üblich für die lange triste Zeit nach Dhur. Während des Sommers erlebte ich den ägyptischen Teil meines Lebens auf eine gedankenlose, fast vorgetäuschte Weise, in die ich mit dem Moment meiner Ankunft in Kairo verfiel, während mein amerikanisches Leben dagegen allmählich eine dauerhaftere, unabhängigere Realität gewann und keine
Beziehung zu Kairo aufwies, zu meiner Familie und den vertrauten alten Gewohnheiten und Bequemlichkeiten, die meine Mutter für mich bereithielt. An einem schönen Frühlingsnachmittag des Jahres 1953, während des Tennistrainings, rief mir Bob Salisbury auf dem Rückweg von der Post zu, er habe gehört, die CollegeBescheide seien da. Ich rannte zur Post und stellte fest, dass sowohl Princeton als auch Harvard mich akzeptiert hatten, obgleich ich Letzteres niemals besucht hatte und mir kaum etwas darunter vorstellen konnte außer dem geschliffen eleganten Eindruck, den Skiddy von Stade bei mir hinterlassen hatte, als er das College für das Bewerbungsverfahren besucht hatte; L’Hommy hatte ihn als »Polospieler von Long Island« bezeichnet. Als ich mit meinen Briefen zum Tennisplatz zurückkehrte, sagte der Trainer Ned Alexander: »Gut. Jetzt wirst du im Team der Erstsemester von Harvard spielen«, aber aus den seltsamsten und, wie mir rückblickend erscheint, kümmerlichsten Gründen entschloss ich mich sehr schnell, nach Princeton zu gehen, das ich im Sommer vor meiner Aufnahme in Mount Hermon einmal mit meinen Eltern besucht hatte. Wir waren von New York aus dorthin gefahren, um Verwandte von Nachbarn aus Dhur el-Shweir zu sehen. Obwohl ich diese Leute später niemals wieder getroffen habe, waren es ihre Anwesenheit und der grüne beschauliche Nachmittag mit Tabbuleh und gefüllten Weinblättern in ihrem Haus, was mich nach Princeton zog. In meiner ungetrübten und oberflächlichen Vorstellung erschien mir Princeton als das Gegenteil von Mount Hermon: Es lag nicht in Neuengland, war voller Annehmlichkeiten, nicht so asketisch, idyllisch, eine Projektion des Lebens in Kairo auf die Vereinigten Staaten. Einen Monat später erfuhr ich, dass mein Vater unter enormen Kosten aus Kairo zu meiner Abschlussfeier kommen und danach mit mir und meinen Vettern Abie und Charlie in
ihrem 1951er Ford durch Neuengland fahren wollte. Diese Tour sollte mein Examensgeschenk sein. Während meiner letzten Wochen in Mount Hermon fiel mir auf, dass ich mich zwar in all meinen Aktivitäten ausgezeichnet hatte, mir aber dennoch eine Art lusus naturae bewahrt hatte, eine eigentümliche Außenseiterposition. Ich hatte Anerkennung gewonnen und bei wichtigen Wettkämpfen sowohl im Schwimmen als auch im Tennis gesiegt, hatte mich in meiner schulischen Arbeit hervorgetan und war inzwischen ein ausgezeichneter Pianist, und dennoch schien ich nicht die moralische Statur – mir fällt kein anderer Ausdruck dafür ein – erlangen zu können, die die Schule einem durch ihre Anerkennung verleihen konnte. Ich galt als kluger Kopf und als Schüler mit ungewöhnlicher Vergangenheit, aber ich war nicht wirklich Teil des kollektiven Lebens der Schule. Irgendetwas fehlte, etwas, das, wie ich feststellen sollte, »die richtige Einstellung« genannt wurde. Es gab Schüler wie Dale Conley oder in meiner Klasse Gordie Robb und Fred Fisher (im Unterschied etwa zu Brieger und mir), die keinerlei Kanten zu haben schienen: Sie erregten nirgendwo Anstoß, waren überall beliebt, hatten eine bemerkenswerte Fähigkeit, niemals etwas Falsches oder Beleidigendes zu sagen, und sie vermittelten mir den Eindruck, als würden sie auf ideale Weise zu den Verhältnissen passen. Kurz, sie waren bestens geeignet für verschiedene Ehrenämter und -titel: Mannschaftskapitäne, Mitglieder des Schülerrats, Etagenschüler oder Tischleiter (im Speisesaal). All dies hatte nichts mit ihrer offensichtlichen Intelligenz oder ihren schulischen Leistungen zu tun, die überdurchschnittlich, aber nicht herausragend waren. Dennoch wirkten sie auf eine gewisse Weise auserwählt und besaßen dadurch eine Aura, die mir offensichtlich fehlte. Dabei waren sie weder Lieblinge der Lehrer noch rührte ihr Status von Äußerlichkeiten her, von
erblichem Adel oder Reichtum, wie es in der Welt, aus der ich kam, durchaus möglich gewesen wäre. Eine Woche vor der Abschlussfeier klopfte Fred Fisher bei mir an, ein Mitglied des Schülerrats, der mit mir im Schwimmteam war. Er war Etagenschüler im Wohnheim und einer der am offenkundigsten erfolgreichen Jungen der Schule. Salisbury und ich saßen, wie ich mich erinnere, noch an unseren Semesterarbeiten. Obwohl ich kurz vor dem Abschluss stand, musste ich während der abendlichen Arbeitsstunde noch immer auf meinem Zimmer bleiben, während Fisher als Etagenschüler nach Belieben im Gebäude umhergehen konnte. »Hey, woz«, sagte er mit einem freundschaftlichen Ausdruck, der damals sehr beliebt war, »warst du nicht erster oder zweiter in der Klasse? Was die Noten angeht, meine ich.« Ich antwortete: »Ja, das hat zwischen Ray Byrne und mir gewechselt. Im Moment ist wohl er erster, aber ganz sicher bin ich nicht. Warum?« Fisher, der auf meinem Bett saß, war offensichtlich unbehaglich zu Mute. »Ich war noch nie besser als sechster oder siebter, aber sie haben mir gerade eben gesagt, ich solle die Begrüßungsrede halten und Byrne die Abschiedsrede. Ich werde daraus nicht schlau. Was ist da los?« Fishers Verwirrung angesichts seiner unerwarteten Beförderung war echt, aber ich war wie vom Donner gerührt. Ich konnte dem frisch gesalbten Fred nichts erwidern, und er verließ gleich darauf mit einem besorgten, ja perplexen Gesichtsausdruck den Raum. Ich fand, dass ich ein Anrecht auf eine solche Ehrung hatte und dass sie mir vorenthalten worden war, aber auf eine gewisse Weise wusste ich, dass das »passte« und dass ich sie gar nicht hatte bekommen sollen. Ich war verletzt und konnte die Ungerechtigkeit nicht ertragen. Ich konnte diese Entscheidung gegen mich, die womöglich doch gerechtfertigt war, weder anfechten noch nachvollziehen. Im Unterschied zu
Fisher war ich weder ein Anführer noch ein guter Bürger, weder fromm noch einfach durchweg akzeptabel. Ich erkannte, dass ich der Außenseiter bleiben sollte, ganz gleich, was ich tat. In diesem Moment hatte ich auch den Eindruck, dass meine Herkunft aus einem Teil der Welt, der sich in einem chaotischen Wandel zu befinden schien, zum Symbol dessen wurde, was an mir am falschen Ort war. Die Mount Hermon School war vorwiegend von Weißen besucht. Es gab eine Hand voll schwarzer Schüler, meistens begabte Sportler sowie einen ziemlich glänzenden Musiker und intellektuell hervorstechenden Schüler, Randy Peyton, aber alle Lehrer waren weiß (oder trugen doch, wie Alexander, eine weiße Maske). Bis zur erwähnten Fisher-Episode hatte ich mich als »farblos« empfunden, aber nun war ich gezwungen, mich selbst als Außenseiter, Nichtamerikaner, Entfremdeten und Gezeichneten zu begreifen, gerade in einem Moment, als die Politik der arabischen Welt eine immer größere Rolle im amerikanischen Leben zu spielen begann. Ich saß in der langweiligen Abschlussfeier mit Hut und Talar und empfand eine Gleichgültigkeit, die an Feindseligkeit grenzte: Dies war ihre Feier, nicht die meine, obwohl ich überraschend einen Preis in Biologie bekam – von dem ich fest überzeugt bin, dass es ein Trostpreis war. Mein Vater, der aus Kairo zu einem Ereignis gekommen war, das meiner Meinung nach eine Enttäuschung für ihn sein musste, fühlte sich ebenso froh wie geehrt. Ohne meine Mutter (die zu Hause bei meinen Schwestern hatte bleiben müssen) war er ungewöhnlich gesprächig und zuvorkommend: Er war keineswegs auf ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten angewiesen, sondern schien ohne meine Mutter sogar aufzublühen und verbrachte einige amüsante Momente mit dem sehr deutschen Vater Brieger, einem Professor an der Hahneman Medical School.
Der Schlüssel zur Stimmung meines Vaters schien in seiner fröhlichen Zufriedenheit mit einer Schule zu liegen, die aus mir endlich einen Bürger mit einem Abschluss gemacht hatte. Bei der anschließenden Gartenparty trug er ein großes rundes Paket in braunem Packpapier bei sich. Besonders überschwänglich verhielt er sich gegenüber Rubendall, der mit seinem außergewöhnlichen Charme alle bezauberte. Rubendall überragte meinen Vater und strahlte uns beide an. »Wie schön, dass Sie den ganzen Weg aus Kairo auf sich genommen haben. Es ist sehr schade, dass Mrs. Said nicht mitkommen konnte. Ist es nicht großartig, wie Ed abgeschnitten hat?« An diesem Punkt gab mir mein Vater sein Bowleglas und begann in seiner typischen ungeduldigen und unordentlichen Art das Einwickelpapier abzureißen, bis ein riesiger geprägter Silberteller zum Vorschein kam, den er und meine Mutter bei einem Silberschmied im Basar von Kairo bestellt haben mussten. In seinem besten Vertreterstil überreichte er ihn ziemlich pompös dem überglücklichen Rubendall. »Meine Frau und ich wollten Ihnen dies in dankbarer Dankbarkeit für das überreichen, was Sie für Edward getan haben.« Pause. »In dankbarer Dankbarkeit.« Ich war verlegen, weil sein Geschenk wie auch seine Begleitworte so übertrieben und exzentrisch waren, vor allem angesichts der Tatsache, dass Rubendall und seine Kollegen mich als für jeden Ehrentitel ungeeignet beurteilt haben mussten. Eine Woche lang bereisten mein Vater und ich mit Abie und Charlie (der meistens fuhr) Orte wie Keene in New Hampshire und Boston, wobei mein Vater alles bezahlte. Es war seine Art, die beiden jungen Männer für ihre Zeit und Mühe zu entschädigen. Ich wollte so schnell wie möglich nach Kairo und nach Hause zurück. Ich hatte genug von Motels und Wohnheimen, und selbst nach zwei weiteren Wochen in New York im gut
ausgestatteten Stanhope Hotel verspürte ich nur den überwältigenden Wunsch, in das Kairo zurückzukehren, das ich zwei Jahre zuvor verlassen hatte.
X
DIE RÜCKKEHR NACH KAIRO IM SOMMER bedeutete immer auch zugleich die Rückkehr nach Dhur. Und seit meinem ersten Studienjahr in Princeton bedeutete Dhur zugleich auch Eva Emad, auf deren Anwesenheit ich dort zählen konnte. Angesichts dessen, was sich nur wenige Jahre später im Libanon ereignete – der Bürgerkrieg von 1958, die palästinensischen Jahrzehnte der Siebziger und Achtziger, der katastrophale siebzehnjährige Bürgerkrieg nach 1975, die israelische Invasion 1982 –, ähnelten unsere regelmäßigen Sommeraufenthalte in Dhur vor diesen Umwälzungen einem in die Länge gezogenen Tagtraum, in dessen Zentrum seit meiner Begegnung mit Eva das unendlich langsame Reifen unserer Beziehung stand. Nichts, was ich tat, schien mich von ihr ablenken oder meine Konzentration auf die Treffen mit ihr beeinträchtigen zu können. Ich war fast den ganzen Tag mit ihr zusammen, außer an den Sonntagen. Wir wurden unmerklich zueinander hingezogen: Immer spielten wir zusammen Doppel, saßen nebeneinander, waren Partner beim Trump, einer schlichten Variante des Bridge, schenkten uns kleine Vertraulichkeiten. Als junge Frau aus einer konservativen arabischen Familie war Eva zurückhaltend und korrekt, wie es sich Mitte der fünfziger Jahre für Frauen ihres Alters gehörte. Ihre Ausbildung war mit der höheren Schule zu Ende gegangen, und auch wenn ich es damals nicht wahrnahm, war ihr Ziel die Ehe – eine andere Karriere kam nicht in Frage und wurde auch gar nicht in Betracht gezogen. Mir war zwar klar, dass sie mich stärker anzog als jede andere Frau zuvor, aber unsere Zukunft spielte in all meinen
Überlegungen oder Tagträumen nicht die geringste Rolle. Im Verlauf von drei oder vier Sommern fühlte ich mich immer stärker zu ihr hingezogen und war dennoch nicht in der Lage, mehr zu sagen oder zu tun, als dem informellen, täglichen Geplauder angemessen war. Es lag ein verbotener Reiz darin, ihr so nahe zu sein, ohne dass sich körperlich oder auch nur in Worten etwas Eindeutiges zwischen uns abspielte. Ich hatte das Gefühl, ich müsse sie jeden Tag sehen, und suchte in ihrer Gesellschaft unaufhörlich nach dem kleinsten Hinweis, dass ich ihr ebenso wichtig war. Unsere Zuneigung, so sprachlos sie auch sein mochte, war für die anderen doch erkennbar, auch wenn ihre Bemerkungen nur sehr beiläufig waren. »Haben Eva und Edward schon ihr Doppel gespielt?«, fragte Nelly etwa; »Du und Eva sitzt da drüben«, sagte vielleicht jemand im Kino, »Hat Eva schon deinen neuen Schläger gesehen?« Von unseren Eltern wusste niemand etwas von unserer Freundschaft. Obwohl wir neun Monate im Jahr getrennt waren – sie in Tanta, ich in Princeton –, nahmen wir jedes Mal in Dhur unsere Beziehung wieder auf, als hätten wir uns erst am Tag zuvor voneinander verabschiedet. Wir schrieben uns in unregelmäßigen Abständen herzliche und untadelige Briefe. Ich trug die ihren wochenlang in der Hosentasche mit mir herum und stellte mir vor, ich könnte ihr auf diese Weise näher sein. Es war unvermeidlich, dass meine Mutter von Eva erfuhr. Ich weiß noch, dass mein Vater über Evas Alter sprach: »Wenn du in deinen besten Jahren bist, ist sie eine sechzigjährige Frau. Weißt du, wie das sein wird?« Und dann fügte er noch eine jener vorgefertigten Phrasen hinzu, die den Zweck eines mahnenden Sprichworts erfüllen sollten: »Solange du Junggeselle bist, lädt dich jeder ein, aber sobald du verheiratet bist, schaut dich niemand mehr an.« Bei ihm wusste ich
immerhin, woran ich war. Bei meiner Mutter war es ganz anders. Zunächst ging sie sehr behutsam vor und ließ kaum mehr als eine Art neutraler Neugier auf Eva und meine Einstellung zu ihr erkennen. Allmählich verschärfte sich ihr Ton und klang leicht herausfordernd, etwa wenn sie fragte: »Und Eva war vermutlich auch da?« Dann schien Eva in ihren Augen irgendwelche Grenzen des Anstands und der Schicklichkeit überschritten zu haben, denn sie sagte: »Was glauben eigentlich ihre Eltern, was sie da tut, wenn sie all ihre Zeit mit jungen Menschen wie dir verbringt? Merken sie denn gar nicht, dass Eva sich alle Chancen verdirbt, einen Mann zu finden?« Als Eva und ich uns nach etwa drei Jahren und dem gletscherartigen Fortschreiten unserer Beziehung endlich gefunden hatten, war mir unterbewusst klar, dass ich jedes Gespräch mit meiner Mutter über Eva vermeiden, jede (noch so lakonische) Antwort auf ihre unerbetenen Beobachtungen unterdrücken musste. Evas Alter, ihr ganz anderer, weitgehend müßiger Lebensstil, ihre Religion (griechisch-orthodox) und ihre Frankophonie bereiteten meiner Mutter offensichtlich Sorgen, aber ich kam nicht auf die Idee, dass sie entschieden gegen die Fortführung meiner Beziehung sein könnte. Im Sommer 1956, ich war zwanzig und Eva fast siebenundzwanzig, veranstaltete der Tabbarah Club einen Strandausflug nach Beirut. Das Ganze unterschied sich erheblich von unseren Familienausflügen im Jahrzehnt zuvor – es waren keine Eltern dabei, und es mussten keine Zeiten eingehalten werden. In jenem Jahr war das Ziel unserer Gruppe das Schwimmbad des Eden Roc, ein nierenförmiges Becken im kalifornischen Stil, das zu einem Restaurant-Nachtclub auf einer Klippe über dem Meer gehörte. Ganz in der Nähe lag der »Pigeon Rock«, wo man auch den neuen Sporting Club unmittelbar unterhalb des Eden Roc in die Felsen gebaut hatte.
Dort gab es ein belebtes Café, zahlreiche Strände und eine Bar. Auf dem Gelände des »Sporting«, wie er genannt wurde, lagen mehrere kleine Buchten, von denen aus man bei ruhiger See ein Boot mieten und hinaus zum Pigeon Rock und den kühlen Grotten dahinter rudern konnte. Ich schlug Eva eben diesen Ausflug vor, denn das Meer war wunderbar ruhig, die Sonne strahlte vom Himmel, die ganze Szene war von einem Gefühl traumhafter, besänftigender Ruhe erfüllt. Eva saß mir gegenüber, als ich aus dem Gelände des Sporting hinaus und dann diagonal zurück in die riesigen Felsen ruderte, deren Schutz vor neugierigen Blicken uns beide zu locken schien. Eva trug ihren einteiligen Badeanzug und hatte nie begehrenswerter ausgesehen. Sie hatte glatte braune Haut, vollkommen gerundete Schultern, elegant geformte Beine und ein Gesicht, das vielleicht nicht schön im eigentlichen Sinne sein mochte, gleichwohl aber eine lebendige Empfänglichkeit besaß, die ich unwiderstehlich fand. Unter einem Felsvorsprung umarmten wir uns zum ersten Mal. All meine unterdrückten Gefühle wurden freigesetzt: Wir erklärten uns unsere Liebe und berichteten einander in einer Art plötzlicher Erleuchtung von unseren Jahren der Distanz und der unausgesprochenen Sehnsüchte. Ich war verblüfft von der Stärke meiner Leidenschaft. Wir kehrten noch am selben Nachmittag nach Dhur zurück und trafen uns am Abend mit dem Rest der Gruppe im City Cinema, wo wir im Dunkeln nebeneinander saßen und uns im Flüsterton immer wieder leidenschaftlich unsere Liebe beteuerten. Wohl wissend, dass alle auf uns achteten, verabschiedeten wir uns nach der Vorstellung ziemlich beiläufig voneinander, und Eva ging mit Nelly davon. Am nächsten Tag sollte ich abreisen, um sie neun Monate lang nicht zu sehen. Als ich mit meiner Schwester Rosy in den Wagen stieg, bekam ich auf einmal heftige Magenschmerzen. Am folgenden Tag
untersuchte mich unser Arzt – mein Magen war zwar empfindlich, wies jedoch keinerlei weitere Symptome auf. Ich bekam ein Attest für Princeton ausgestellt, demzufolge ich aus Krankheitsgründen erst eine Woche später zurückkehren könne. Ob die Liebe dafür verantwortlich war, weiß ich nicht – sicher ist, dass ich nicht sobald wieder von Eva getrennt werden wollte. Nachdem ich Eva an meinem nun wirklich letzten Abend mit ihr nach Hause gebracht hatte, wartete meine Mutter im Wohnzimmer auf mich. Die frühere Kargheit des Raumes war inzwischen durch ein paar gediegene Sessel gemildert. Auf dem Fußboden lagen Perserteppiche, und bei einem Kunsthändler in Beirut hatte meine Mutter einige Landschaftsgemälde des Libanon erstanden. Sie behauptete, sie habe sich Sorgen gemacht, weil ich auf Dhurs verlassenen und schlecht beleuchteten Straßen so lange ausgeblieben sei, obwohl ich doch am nächsten Tag früh aufstehen müsse, um meine zwanzigstündige Reise nach New York anzutreten. In ihrer Stimme lag ein unerwartet missbilligender Unterton, als sie fragte, wo ich gewesen sei. Normalerweise war ich nur allzu gern bereit, ihr über mein Kommen und Gehen Auskunft zu geben. Nun jedoch antwortete ich widerwillig und einsilbig, da ich mich und Eva schützen wollte. Wie aus einem anderen, unangenehmen Leben kehrte meine alte Verletzlichkeit wieder. »Und vermutlich hast du sie auch geküsst?«, fragte sie und verwandelte so die Erregung der ersten Liebe in ein Gefühl von Schuld und Unbehagen. Sie sprach voller Abscheu, in einem Ton, der mir vertraut war, wann immer das Thema Sex oder Sexualität zur Sprache kam. Ich reagierte wütend auf ihre Frage und meinte, das ginge sie nichts an, während ich zugleich versuchte, das nagende Gefühl zu ignorieren, dass es sie sehr wohl etwas anging. Die straff gezügelte Widersprüchlichkeit meiner Mutter war mit
einem Mal entfesselt. Ihre Liebe zu mir hatte zur Folge, dass sie jede andere emotionale Bindung als Schwächung ihres Einflusses auf mich betrachtete. Trotz ihres Abscheus vor Sex war sie zugleich äußerst konventionell in ihrer Überzeugung, dass Menschen heiraten sollten. Ich blieb zwei weitere Jahre in Eva verliebt, wobei ich mich die ganze Zeit auf geradezu kindliche Weise weigerte wahrzunehmen, dass für sie die logische Folge unserer Beziehung die Ehe war. Als ich 1957 meinen Abschluss in Princeton machte, versuchten mich mindestens zwei ihrer Freunde zu überreden, ernsthaft über eine Eheschließung nachzudenken. Das folgende Jahr (1957/58) sollte ich mich in Ägypten aufhalten, um anschließend für meine Doktorarbeit nach Harvard zu gehen. Eva lebte in Alexandria zusammen mit einer kürzlich verwitweten Schwester, und ich besuchte sie dort unter dem Vorwand, geschäftlich für meinen Vater unterwegs zu sein. Unsere körperliche Beziehung blieb leidenschaftlich, wurde jedoch niemals vollzogen, weil wir beide überzeugt waren, dass wir, sobald wir einmal diese Grenze überschritten hätten, in jeder Hinsicht ein verheiratetes Paar wären. Mit ihrer in meinen Augen stets tiefen Sensibilität und Liebe hielt mich Eva zurück und sagte, sie wolle nicht, dass ich diese Verantwortung übernähme. Während unsere Leidenschaft und unsere verschwiegenen Begegnungen in Alexandria andauerten, wuchs meine Bewunderung für Evas Stärke, ihre Intelligenz und ihre körperliche Attraktivität. Sie war keine Intellektuelle, bewies jedoch eine wunderbare Geduld und ein großes Interesse, wenn ich über die Dinge sprach, die ich gerade las und entdeckte. Als mein neuer Gesprächspartner trat Eva an die Stelle meiner Mutter, die bereits gespürt hatte, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr ihr, sondern dieser anderen Frau galt.
Im Jahr darauf waren wir durch enorme Entfernungen und Unterschiede in unserer Lebensweise voneinander getrennt – ich als Doktorand in Harvard, sie als letzte unverheiratete Tochter ihrer Familie in Tanta oder Alexandria. Wir sahen uns immer seltener. Mein Glück schwand im selben Maße, in dem mir klar wurde, welche Auswirkungen es auf Evas Leben haben würde, falls wir nicht heirateten. Ihre Familie machte ihr das Leben unerträglich und erlaubte ihr nur sehr widerwillig, ein paar Monate in Rom Zuflucht zu suchen, wo sie Kunstgeschichte und Italienisch studierte. Auf einer ihrer Rückreisen nach Ägypten, so erzählte mir Eva, hatte sie schließlich verzweifelt den Entschluss gefasst, meine Mutter in Kairo aufzusuchen und sie um ihre Zustimmung zu bitten. In Evas Augen war dies die einzige Möglichkeit, meine Unentschlossenheit hinsichtlich der Ehe zu überwinden. Als Eva in Kairo ankam, war ich gerade in Harvard. Meine Mutter begrüßte sie herzlich, aber in allem, was Eva, meine Mutter und eine meiner Schwestern mir später davon erzählten, erkannte ich die staunenswerte Virtuosität meiner Mutter. Eva begann das Gespräch, indem sie ihre Liebe zu mir gestand und wissen wollte, welche Einwände gegen sie bestehen könnten. Zurückhaltend und wie immer bescheiden vertrat sie ihre Sache in glaubhaften und überzeugenden Wendungen. Meine Mutter hörte geduldig und, wie sie später behauptete, voller Mitgefühl zu. Dann antwortete sie: »Ich will ganz offen zu dir sein. Du bist ein wunderbarer Mensch, der sehr viel zu bieten hat. Das Problem liegt nicht bei dir, sondern bei Edward. Du bist viel besser als er: er hat gerade erst einen Universitätsabschluss, weiß kaum, was er einmal machen wird, und wenn man seine Neigung bedenkt, entweder noch jahrelang weiter zu studieren oder einfach in den Tag hinein zu leben, wird er sich kaum selbst ernähren können, geschweige denn eine Frau und Familie.« Eva warf schnell ein, sie besäße
mehr als genug Geld für uns beide, aber meine Mutter zog es vor, diesen Punkt zu übergehen. »Du bist eine reife, überaus gebildete Frau, die ein ausgefülltes Leben vor sich hat. Edward ist mein Sohn, den ich sehr liebe, aber ich kann ihn auch objektiv einschätzen. Ich kenne ihn ganz genau. Er ist noch ungeschliffen, und angesichts seiner Unaufmerksamkeit und seiner mangelnden Konzentration muss ich sagen, dass ich beunruhigt bin, ja mir Sorgen darüber mache, was aus ihm werden soll. Ich kann dir nicht guten Gewissens raten, allzu viel Hoffnungen in ihn zu setzen, obwohl ich natürlich überzeugt bin, dass viel in ihm steckt. Warum willst du deine Zukunft an jemanden vergeuden, der so labil ist wie er? Höre auf meinen Rat, Eva, du kannst es viel besser haben.« Als ich meine Mutter deshalb mit Vorwürfen überhäufte, konnte ich mich kaum entscheiden, welche ihrer Bemerkungen mich stärker verletzt, erleichtert oder erregt hatten. In taktischer Hinsicht hatte sie Eva den Wind aus den Segeln genommen. Diese hatte geglaubt, sie müsse sich verteidigen, und stattdessen feststellen müssen, dass sie meine Mutter von den Vorzügen ihres eigenen Sohnes überzeugen musste. Es erboste mich, dass meine Mutter darauf beharrte, nur sie allein wisse auf Grund ihrer Liebe zu mir, wer ich wirklich sei, wer ich gewesen sei und immer bleiben würde. »Ich kenne meinen Sohn«, pflegte sie salbungsvoll zu verkünden und nagelte mich gleichsam fest mit ihrer Missbilligung und ihrer Bestimmtheit, zu wissen, was ich für immer sein würde: letzten Endes eine Enttäuschung. Jeder Versuch, ihr Gefühl deterministischer Gewissheit über mich zu erschüttern, war zum Scheitern verurteilt. Es ging mir gar nicht so sehr um ihre Milde. Vielmehr sollte sie zugeben, dass ich mich geändert haben könnte, und dementsprechend ihre Ansichten ändern, die sie mit einer solch bedrückenden Mischung aus heiterer Zuversicht und unangreifbarer Fröhlichkeit vertrat, als sei ihr
Sohn auf ewig in seinen Fehlern und Vorzügen gefangen, die sie als erste und befugteste Chronistin vermerkt hatte. Zugleich empfand ich jedoch auch eine kaum wahrnehmbare Erleichterung darüber, dass sie Evas Heiratspläne vereitelt hatte. Die unausgesprochene Leistung meiner Mutter bestand darin, dass sie mich in ihren Bannkreis zurückgeholt hatte, so dass ich mich weiterhin in ihrer Liebe sonnen konnte, so eigenartig und unbefriedigend das sein mochte, und dass sie gleichzeitig meine Beziehung zu Eva in ein neues, wenig schmeichelhaftes Licht rückte. Warum sollte ich jetzt die Verantwortung für eine Familie übernehmen (wobei meine Mutter die Ehe als einen nüchternen, freudlosen Zustand darstellte, der »ewig« dauern sollte), und warum konnten Eva und ich nicht einfach Freunde bleiben? Außerdem verbarg sich in den Warnungen meiner Mutter an Eva die implizite Billigung lockerer Beziehungen, die nicht die erschreckende Ernsthaftigkeit einer Ehe haben und ihre Beziehung zu mir in ihrer Dominanz unangetastet lassen würden. Einige Jahre später, in Dhur, zeigte mir meine Mutter eine Annonce aus der ägyptischen Tageszeitung al-Abram, die Evas Verlobung mit ihrem Vetter anzeigte. Mir kam der Gedanke, dass Eva vermutlich gehört hatte, dass ich meinerseits mit einer anderen Frau zusammen war und sie zu heiraten gedachte – was ich in eben jener Woche tat, in der ich Evas Verlobungsanzeige las. Dass meine erste Ehe von kurzer Dauer und unglücklich war, steigerte nur das deprimierende Gefühl, ich sei Evas nicht würdig. Ich habe sie in den seither fast vierzig Jahren nie wieder gesehen. Mitte Juli 1961 – Eva und ich sahen uns nicht mehr – musste sich mein Vater einer kleinen Operation unterziehen, um eine lästige Wucherung unmittelbar über seinem Knöchel entfernen zu lassen. Mehrere Jahre lang hatte er sie verschiedenen Ärzten
in Ägypten, den Vereinigten Staaten und im Libanon gezeigt, aber nur Farid Haddad hatte ihn schon früh gewarnt und ihn mindestens zwei Mal gedrängt, sie entfernen zu lassen. Da das meinem Vater widerstrebte, suchte er weitere Ärzte auf, bis die Wucherung sich schließlich entzündete und ziemlich schmerzhaft wurde. Er ging nach Beirut, um sie im American University Hospital operieren zu lassen. Ich war damals fünfundzwanzig und stand kurz vor meinem Abschluss in Harvard. Im Verlauf der Woche nach seiner kleinen Operation erfuhr mein Vater von dem Dermatologen, man habe bei der Biopsie ein bösartiges Melanom festgestellt, das bereits dabei sei, Metastasen zu bilden. In der folgenden Woche führte Sami Ebeid, ein junger, aber bekannter Chirurg, dessen Eltern wir aus Dhur kannten, eine gründliche Exzision am Bein durch und schnitt ein tiefes Loch, so dass mein Vater in der Folge humpeln musste; außerdem entfernte er ein großes Stück befallener Lymphknoten weiter oben am Körper. Eines späten Nachmittags, kurz nach der lokalen Exzision für die Biopsie und vor der Operation, stand ich mit Munir Nassar, der damals als Kardiologe im Krankenhaus arbeitete, vor unserem Haus in Dhur neben dem blühenden Kirschbaum. Munir schilderte mir sehr ernsthaft die Art des Melanoms und den wahrscheinlichen Verlauf der Angelegenheit. Ich wollte eine Bestätigung der Diagnose und erhielt sie auch, vor allem aber wollte ich von Munir wissen, ob dies für meinen Vater den Tod bedeutete. Ich las damals viel Conrad, Vico und Heidegger, neben anderen düsteren und strengen Autoren, die seitdem in meinem intellektuellen Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben, und dennoch war ich unerwartet erschüttert von der unheilvollen Nachricht von der Operation meines Vaters, von der Bestrahlung und den möglichen Komplikationen. Angetrieben von der gleichen morbiden Neugier, die ich schon als Zehnjähriger empfunden hatte, wenn
ich lange Stunden vor den Glaskästen im Landwirtschaftsmuseum in Kairo verbrachte und mir die detaillierten Wachsreproduktionen von entstellenden Krankheiten wie Elefantiasis, Bilharziose und Frambösie anschaute, fragte ich Munir schließlich, ob mein Vater überhaupt eine Überlebenschance habe. Er antwortete nicht. »Aber wird er sterben?«, beharrte ich, worauf er mit gesenkter Stimme sehr langsam antwortete, während sein Gesicht von der rasch hereinbrechenden Dunkelheit beschattet war: »Wahrscheinlich.« 1942 und 1948 hatte mich die Ernsthaftigkeit der Krankheit meines Vaters beunruhigt, aber ich hatte sie glücklicherweise nicht wirklich begriffen. Ich hatte damals noch keine Vorstellung von der Tatsache des Todes oder auch nur von einer langen, entkräftenden Krankheit. Ich weiß noch, dass ich bei diesen früheren Krankheiten meinen Vater wie aus einer geschützten Distanz betrachtet hatte – besorgt, aber letztlich unbeteiligt. Dieses Mal jedoch konnte ich mir in einer Reihe von Momentaufnahmen ausmalen, wie sein Körper von einer schrecklichen schleichenden Invasion bösartiger Zellen überfallen wurde, wie diese schreckliche, beinahe fiebrige Pein seine Organe langsam verschlang, sein Gehirn, seine Augen, Ohren und Kehle zerriss. Es war, als würden die sorgfältig errichteten Stützpfeiler meines Lebens plötzlich umgestürzt, so dass ich mich in einer sehr dunklen Leere wiederfand. Vor allem hatte ich das Gefühl, als drohte die direkte körperliche Verbindung zwischen mir und meinem Vater gänzlich abzureißen, so dass ich ungeschützt und verletzbar zurückbleiben würde – ungeachtet all meiner Abneigung gegen die fordernde und mahnende Gegenwart, die er so häufig verkörperte. Wie würde es mir ohne ihn ergehen? Was würde an die Stelle dieser Mischung aus zuversichtlicher Kraft und unzerstörbarem
Willen treten, an die ich unwiderruflich gefesselt war und von der ich, wie ich nun erkannte, unbewusst gezehrt hatte? Warum nahm ich den möglichen Tod meines Vaters als so erschreckend wahr, als einen so unerwünschten Unglücksfall, obwohl ich doch in diesem Augenblick das Potenzial einer Befreiung hätte erkennen können? »Es besteht aber doch die Chance, dass er die Operation übersteht und noch eine Weile lebt, oder nicht?«, fragte ich Munir fast flehentlich. Nach einer längeren Pause sagte er so etwas wie »Ich sehe, was du meinst: nach der Operation noch eine Weile weiterleben. Ja, natürlich. Aber ein Melanom ist sehr tückisch, der schlimmste Krebs, deswegen muss die langfristige Prognose« – er hielt wieder kurz inne – »schlecht sein.« Ich wandte mich schnell von ihm ab und stieg langsam die Treppe zu unserem dunklen, verlassenen Haus empor, in der Hoffnung, dass irgendjemand auftauchen würde, um meine einsame Verzweiflung zu lindern. Später erkannte ich, dass der Krebs der erste und unwiderrufliche Angriff auf die – trotz meiner Erfahrungen vermutete – unverletzliche Privatsphäre meiner Familie gewesen war. Meine drei älteren Schwestern reagierten ähnlich. »Es ist der schleichende Schrecken der Krankheit«, sagte Rosy einmal sehr gequält zu mir. Als Joyce bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen erfuhr, dass das Leben unseres Vaters in Gefahr war, brach sie unter der plötzlichen Last der Angst zusammen. Jean war die Einzige unter uns, die scheinbar dagegen gewappnet war: Während des dreimonatigen Krankenhausaufenthalts unseres Vaters blieb sie ständig an seiner Seite und bewies dabei eine außergewöhnliche Stärke, wie ich sie einfach nicht besaß. Seine spätere Operation zur Entfernung der Lymphknoten und des Rests des Melanoms wurde überschattet von den folgenden Ereignissen und Leiden. Mein Vater erholte sich
langsam von der Operation und schien eine Woche lang jeden Tag kräftiger zu werden. Seinen Zustand konnte man daran ablesen, ob er den fröhlichen kleinen Friseur empfing, der jeden Morgen gegen zehn bei ihm auftauchte. Ging es meinem Vater gut, ließ er sich rasieren, wenn nicht, ging der Friseur wortlos davon. Wenn jemand im Krankenhaus liegt, ist es in der arabischen Welt Sitte, dass Angehörige der Familie von morgens bis abends bei ihm sind. Die ständig eintreffenden Besucher wollen weniger den Patienten besuchen, als vielmehr Solidarität mit der Familie bekunden, wofür sie mit Schokolade oder Biskuits belohnt werden. Wir lebten in Dhur, kamen aber jeden Morgen gegen neun Uhr im Krankenhaus in Beirut an und blieben bis zum Abend. Der Zustand meines Vaters war so ernst, dass er vierundzwanzig Stunden am Tag von älteren armenischen Schwestern gepflegt werden musste. Eine von ihnen, Miss Arevian, blieb bis zum Tod meines Vaters zehn Jahre später eine enge Freundin der Familie. Im Sommer 1961 schien er etwa ein halbes Dutzend Mal dem Tode nahe. Wir mochten ihn gegen acht Uhr abends verlassen haben und wurden dann in Dhur von einem Telefonanruf um drei Uhr am nächsten Morgen geweckt. »Kommen Sie schnell«, sagte eine Stimme, »es geht zu Ende.« Wir drängten uns dann alle in ein Taxi und kamen kurz vor der Morgendämmerung im Krankenhaus an, wo wir ihn unter Schock oder im Koma fanden. Er schien jede nur mögliche Komplikation auf sich zu ziehen. Zuerst litt er unter einer üblen Entzündung der Harnwege. Dann erholte er sich auf wunderbare Weise, nur um eine schwere Magenblutung zu bekommen. Schließlich, zwei Tage später, saß er aufrecht im Bett und ließ sich von dem kleinen Friseur rasieren, während er angeregt mit ihm plauderte. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich unglaublich befreit an den Strand gehen oder sogar ins Kino, bevor ich mich am Abend von ihm verabschiedete
und nach Dhur zurückkehrte. Zwei Tage später kam wieder ein Anruf um vier Uhr morgens, und dieses Mal berichtete bei meiner Ankunft ein Arzt, mein Vater sei vier Minuten lang klinisch tot gewesen – sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ein junger Internist, Alex Zacharia, war zufällig in der Nähe seines Zimmers gewesen, war hingeeilt und hatte ihn ins Leben zurückgeholt. Eine Woche lang hing er zwischen dem Tod und einem unruhigen, halb bewusstlosen Zustand. Nach zwei weiteren Tagen ließ er sich wieder rasieren, als sei nichts geschehen. Auch sein autokratisches Wesen machte sich wieder bemerkbar. »Du musst zu diesem Essen bei Wadia Makdisi gehen«, sagte er eines Tages mit Nachdruck zu mir. »Du musst mich vertreten«, fügte er zur Rechtfertigung hinzu. Ich ging nicht hin, und als er das von meiner Mutter erfuhr, zeigte er mir einen Tag lang vom Bett aus die kalte Schulter. Mindestens zwei Wochen lang kam er immer wieder darauf zurück und ließ sich über mein Vergehen aus, als hätte ich mich schlecht benommen oder ihm getrotzt – ich, ein fünfundzwanzigjähriges Kind, er ein gestrenger Patriarch. Er beharrte auf dem Thema, mit den immer gleichen Fragen und Kommentaren, um plötzlich damit aufzuhören, als hätte er eine geheimnisvolle Grenze erreicht und als hätte er (oder die Situation) sich nun als ausreichend hartnäckig erwiesen. »Khalas«, das wär’s, genug, sagte er dann, überzeugt, dass das Problem nun zufrieden stellend behandelt sei. Als in einer späteren Phase seiner Krankheit eine meiner Schwestern Symptome einer akuten Depression zeigte, fragte er unablässig: »Aber warum tut sie das? Waren wir ihr keine guten Eltern?« Fünf Jahre lang stellte er solche Fragen immer wieder, während meine Schwester eine Krise nach der anderen durchlebte, eine Einrichtung nach der anderen aufsuchte, ohne großen Erfolg. Die chronische – und schon legendäre – Schwierigkeit meines Vaters mit unvertrauten Worten (»fita
beta« für Phi Beta Kappa, »Rutjers« für Rutgers und so weiter) zeigte sich besonders auffällig an dem Wort »Psychiater«, das als »psypsy« oder »pssppss« oder »Kiater« oder »dingster« herauskam, aber seine Fragerei hörte plötzlich auf, als es ihr besser zu gehen schien und er ihren Fall für erledigt hielt. »Khalas«, sagte er zu mir, »irtabna«, jetzt können wir uns Ruhe gönnen. Die Komplikationen seiner Krankheit hielten den ganzen August über an. Weitere Magenprobleme, weitere Infektionen der Harnwege, weitere Bestürzung auf den Gängen, weitere Anrufe nach Mitternacht, weitere Schocks, weitere Schwebezustände. Mein Musterungstermin war schon drei Mal verschoben worden, aber nun, auf Grund der Krise um die Berliner Mauer, zeigte sich die Behörde unerwartet hartnäckig und gewährte mir keinen weiteren Aufschub mehr. Also bereitete ich mich Ende August pflichtgemäß auf meine Abreise vor. Meinem Vater schien es sehr gut zu gehen, wenn er auch von den Leiden der vergangenen acht Wochen deutlich geschwächt war. Ich weiß noch, dass ich am Abend vor meiner sehr frühen Abreise nach Dhur zurückkehrte, meine Sachen packte, im Ort ein paar getrocknete Früchte und Nüsse einkaufte und gegen elf Uhr ins Bett ging, nachdem ich den Abend bei den Nassars verbracht hatte. Auch Dr. Faiz, der Oberst, war dort. Als ich erwähnte, ich sei überzeugt, dass es meinem Vater so gut gehe, dass ich reisen könnte, sagte er rührend und mit einem Zittern in seiner sehr schleppenden Stimme: »Als er letzte Woche unter Schock stand und ganz allein war, bin ich einen Augenblick in sein Zimmer gegangen, habe mich so auf den Boden gekniet« – er hob seine Arme sehr langsam über den Kopf und ließ sie ebenso langsam wieder sinken – »und zum Allmächtigen um Rettung für Wadie gebetet. Ich glaube, meine Gebete sind erhört worden«, schloss
er und sank in das ewige Schweigen seiner letzten Jahre zurück. Um drei Uhr morgens am Tag meiner Abreise wurden wir wieder einmal durch einen Anruf aus dem Krankenhaus geweckt und fuhren eilig nach Beirut. Ich weiß noch, dass ich vor meinem offenen Koffer stand, benommen und erschöpft vom ständigen Auf und Ab der Krankheit meines Vaters, und nur noch mein Gepäck auf dem Boden anstarrte – unsicher, ob ich nun fahren oder bleiben sollte. Leila, Munir Nassars Frau und eine gelernte Krankenschwester, war meine Rettung und drängte mich, meine Reisevorbereitungen abzuschließen. Sie half mir, meine Bücher und den Koffer in den Wagen zu laden, und meinte, ich solle auf meinem Weg zum Flughafen nur eine Stippvisite im Krankenhaus einlegen. Es war eine außergewöhnlich strahlende, kühle Nacht, der Himmel war erhellt von Tausenden ferner Lichtpunkte, und das dunkle Dhur schien gleichgültig gegenüber unseren Problemen und Beschwerlichkeiten. Wir alle lebten in einer Art betäubten Schweigens, denn diese erschreckende Krisenserie schien kein Ende zu finden. Wir fühlten uns angegriffen und ohnmächtig und eilten nur noch zwischen Dhur und dem Krankenhaus hin und her. Im berüchtigten »Tapline«-Flügel des Krankenhauses (benannt nach der Trans Arabia Pipeline-Firma, die diese kleine Zimmerflucht ausgestattet und mit Klimaanlagen versehen hatte) rang mein Vater mit dem Tod, schien kurzzeitig zu unterliegen, kämpfte sich wieder hoch. Als ich ins Zimmer trat, lag er halb im Koma und erkannte mich nicht. Mehrere seiner Ärzte – wegen der verblüffend großen Zahl von selten auftretenden Komplikationen war er inzwischen ein berühmter Fall – hatten ihn untersucht. »Ihr Vater wird bestimmt in die Fachliteratur eingehen«, sagte mir einer von ihnen voller Hochachtung.
Benommen fuhr ich zum Flughafen: In meiner Verzweiflung hatte ich meine Mutter lediglich überzeugen können, einen angesehenen britischen Chirurgen, Sir Rodney Maingott, aus London zu einer Notkonsultation herbeizurufen. Diese Idee stieß bei einigen der etwas überheblichen Ärzte des Hauses auf Widerstand (»Er wird erst in einigen Tagen ankommen, dann hat sich Ihr Vater wie üblich wieder erholt, und dann wird der Weiße Mann wieder einmal gegenüber dem Eingeborenen den Ruhm davontragen«), aber meine Mutter und ich gaben nicht nach. Im Verlauf des Vormittags, während ich bereits Europa überflog, erklärte sich Maingott zu einer Konsultation bereit. Sein Honorar betrug glatte tausend Pfund in bar, zuzüglich sämtlicher Spesen. Wie erwartet, hatte sich mein Vater bereits erholt, als Maingott sechsunddreißig Stunden später in Beirut eintraf, und der berühmte Arzt genoss ein sonniges Wochenende im Luxus des berühmten Hotels St. Georges. Von Cambridge, Massachusetts, aus verfolgte ich die fast vollständige Genesung meines Vaters mit wachsender Furcht, auch ich könne von bösartigen Geschwülsten befallen sein und werde wie er leiden müssen. Mehrere Hautwucherungen und Knoten diagnostizierte ich selbst als Symptome, die die Ärzte des Harvard Health Service, sichtlich gereizt, für harmlos erklärten. Die überwältigende Tiefe meiner Beziehung zu meinem Vater war mir ein Rätsel. Mein Vater war sehr schwach, seine Gliedmaßen (besonders seine Beine) waren unglaublich abgemagert, sein Gesicht war ziemlich eingefallen, sein Gleichgewichtssinn recht unsicher – doch nun, da er Krisen überlebt hätte, deren Bewältigung ihm niemand zugetraut hatte, beschloss er, wieder Zigaretten, Zigarren und Pfeife zu rauchen, noch mehr Bridge zu spielen und luxuriöse Reisen zu unternehmen. Ich wollte, dass es ihm wieder gut ging, damit wir auf das vertraute Gebiet der Herrschaft und des untergründigen Widerstands zurückkehren
konnten, dorthin, wo »Edward« ermahnt und beschimpft würde, während mein anderes diffuses und gewöhnlich verborgenes Ich seine Zeit abwartete und eigene Wege suchte, an der beherrschenden Gegenwart meines Vaters vorbei. Ich wusste aber auch, dass seine Kraft und bloße Anwesenheit, so unangenehm sie auch sein mochten, mir in einer Welt ständiger Veränderungen und turbulenter Umwälzungen einen festen, verinnerlichten Rahmen geboten hatten, und dass ich auf diese Art der Unterstützung nicht länger zählen konnte. Die Schwere seiner Krankheit war wie eine frühe Ankündigung, dass nicht nur mein Vater sterblich sei, sondern auch ich selbst. Zugleich wurde mir klar, dass auch die kleine Sphäre im Nahen Osten mit ihren wichtigsten Stützpunkten in Kairo, Dhur und Palästina, die er für uns als Heimat gewonnen hatte, als Schutz, als eine Art Zuflucht, in ähnlicher Weise von Brüchen und Untergang bedroht war. Als ich mich zwanzig Jahre nach seinem Tod während einer psychoanalytischen Sitzung mit meinen Klagen über die Einstellung meines Vaters zu mir auseinander setzte, erlebte ich eine Art Epiphanie. Ich überraschte mich selbst dabei, wie ich Tränen des Bedauerns vergoss, des Kummers um uns beide, um all die Jahre des schwelenden Konflikts, in dem seine alles beherrschende Urkraft und seine Unfähigkeit zu Gefühlsäußerungen sowie mein Selbstmitleid und meine Abwehrhaltung uns so weit voneinander entfernt hatten. Ich wurde von Gefühlen überwältigt, weil ich plötzlich erkannte, dass er all die Jahre darum gerungen hatte, sich auf eine Weise auszudrücken, die ihm nach Temperament und Hintergrund gar nicht zur Verfügung stand. Vielleicht hatte ich ihn aus ödipalen Gründen gehemmt, und vielleicht hatte ihn auch meine Mutter mit ihrem Geschick zu manipulierender Widersprüchlichkeit erschöpft. Ob all dies nun zutraf oder nicht – die Kluft zwischen meinem Vater und mir war durch ein lang anhaltendes Schweigen
besiegelt worden, und darüber vergoss ich in der Praxis meines Therapeuten Tränen und gestattete mir eine neue, eine erlösende Sicht auf ihn, trotz all seiner Unbeholfenheit und der groben, aber wahrnehmbaren Fürsorge, die er seinem einzigen Sohn hatte zukommen lassen. Der lange Niedergang meines Vaters in den letzten zehn Jahren seines Lebens bezeichnete das Ende einer Periode in unserer libanesischen Existenz. Die seismischen Verschiebungen, die den Nahen Osten erschütterten, begannen sich auch auf unseren Mikrokosmos in Dhur auszuwirken und veränderten unwiderruflich die Welt, in der wir lebten. Während der ersten Phase der ägyptischen Revolution (Juli 1952) wohnten wir noch in Kairo, und wir waren alle, abgesehen von meinem Vater, der sich abwartend verhielt, infiziert vom Geist und der Rhetorik der Versprechungen Gamal Abdel Nassers an sein Volk. Besonders meine Mutter wurde zu einer glühenden Anhängerin seines Nationalismus. In Dhur äußerte sie ihren Enthusiasmus bei all den langweiligen Höflichkeitsbesuchen, die sie machte und empfing, mit einem Schwung und einer Leidenschaft, die ihre Zuhörer beunruhigten. Ohne dass wir es bemerkt hatten, begannen die politischen Gruppierungen im Libanon – sektiererisch, byzantinisch und häufig unsichtbar –, auf Nassers neuen Status als arabische Übergröße zu reagieren. Unser kleiner christlicher Kreis in Dhur fing an – von uns unbemerkt –, ihn wie eine Erscheinung weniger aus Kairo als vielmehr direkt aus Mekka zu betrachten, als einen PanIslamisten mit schlimmen Absichten nicht nur gegen die israelischen Juden, sondern auch gegen die christlichen Libanesen. Im Sommer 1958 brach im Libanon ein kleiner Bürgerkrieg aus, ein Konflikt zwischen Anhängern des damaligen maronitischen Präsidenten Camille Chamoun, der seine Amtszeit (verfassungswidrig) verlängern wollte, und denen der
überwiegend muslimisch-arabistischen Parteien, die sehr bald die ausgesprochen schrille Unterstützung des Kairoer Senders »Voice of the Arabs« erhielten. Das war der einzige Sommer nach 1943, in dem wir nicht wie üblich nach Dhur fuhren. Die Hügel unmittelbar vor der Stadt waren voller amerikanischer Truppen, die John Foster Dulles dorthin entsandt hatte, um die »pro-westlichen« Kräfte von Chamouns Anhängern zu stützen, deren Gegner nach der übersteigerten Rhetorik jener Zeit als marxistisch-leninistische Agenten Russlands galten. Während früherer Sommer hatten meine Eltern und ich kurzerhand entschieden, dass wir trotz der Blutsverwandtschaft mit unseren libanesischen Verwandten, den Badrs, weder die muslimisch-christlichen Animositäten empfanden, von denen sie sich bedrängt fühlten, noch den arabisch-libanesischen Konflikt, der sie in eine solche Abwehrhaltung trieb. Zusätzlich – und um diese Angelegenheit noch weiter zu verwirren – stießen sie sich daran, dass auch wir Christen waren. Unser Pan-Arabismus und unsere fehlenden Vorurteile erschienen ihnen mindestens als mangelnde Loyalität, wenn nicht gar als Verrat. Inmitten dieses instabilen und häufig unbehaglichen Wirrwarrs von Strömungen erwarb sich meine Mutter bald den Ruf einer echten, bekennenden Nasser-Anhängerin, ein Spiegelbild ihrer nicht weniger doktrinären Vettern und Freunde aus den ultrarechten christlichen Gruppierungen. Gelegentlich konnte sie mit ihren häufigen Predigten über Nassers sozialistischen Pan-Arabismus sogar mich irritieren, und um die Sache noch zu verschlimmern, fiel mir einmal auf, wie einer ihrer Vettern sie in einem unbemerkten Augenblick mit einem Blick abschätziger Verachtung bedachte. Ich denke, dass diese hitzige Diskussion für sie zum Teil eine rein gesellschaftliche Angelegenheit war, denn ihr Leben war behaglich und nicht weiter von politischen Fragen betroffen.
Ihre Haltung verriet jedoch auch eine Unabhängigkeit des Denkens und eine Fähigkeit, über »unsere« Minderheitenprobleme hinauszudenken. »Wir zählen nicht«, sagte sie immer. »Für den Träger, den Fahrer, den Arbeiter haben Nassers Reformen das Leben verändert, sie haben ihnen Würde verliehen.« Es brauchte Mut, wenn sie sich gegen ihre Erziehung und ihre Familie stellen wollte. Nach 1958 wirkte Dhur noch fremder, unsere Freundschaften noch ungewisser, die Bruchlinien deutlicher: unsere Entfremdung lag auf der Hand. Von 1962 an und teilweise auf Grund der langsamen Erholung meines Vaters hatten meine Eltern und Schwestern eine möblierte Wohnung in Beirut genommen und Kairo verlassen, um sich gleichsam zusammen mit der allmählich verschwindenden Welt unserer Kindheit zurückzuziehen. Auch der polarisierende, charismatische Charles Malik trat in dieser Zeit in den Vordergrund. Er war nicht nur der ehemalige Botschafter des Libanon in den Vereinigten Staaten oder nur der Ehemann von Eva, der Kusine meiner Mutter, sondern auch Außenminister unter Chamoun. Als solcher war er unmittelbar an der Entscheidung beteiligt, Dulles um die Entsendung von US-Truppen in den Libanon zu bitten. Er war nicht sehr groß und vermittelte einen Eindruck von außerordentlicher Bedeutung und Schwere, den er in seinen Jahren als Lehrer, Diplomat und Politiker zu nutzen wusste. Er hatte eine dröhnende Stimme, ein offensichtliches Selbstvertrauen, eine anmaßende Haltung und eine wahrhaft überwältigende Persönlichkeit, die ich anfänglich attraktiv fand, die mich später aber zunehmend beunruhigte. In den siebziger Jahren war er – mit Unterstützung von Verwandten und Freunden meiner Mutter (und seiner Frau) in Dhur – zum Symbol und zur intellektuellen Galionsfigur für all das geworden, was besonders vorurteilsbehaftet, umstritten und vor allem nicht mit dem arabischen und vorwiegend
islamischen Nahen Osten in Einklang zu bringen war. Er begann seine öffentliche Karriere Ende der vierziger Jahre als arabischer Sprecher für Palästina bei den Vereinten Nationen, und er beschloss sie als der antipalästinensische Architekt der christlichen Allianz mit Israel während des libanesischen Bürgerkriegs. Wenn ich auf Maliks intellektuelle und politische Laufbahn zurückschaue, mit alldem, was sie für mich als seinen jugendlichen Bewunderer und Gefährten, als Verwandten und Angehörigen der gleichen Kreise bedeutete, dann betrachte ich sie als die große negative intellektuelle Lehre meines Lebens, als ein Beispiel, mit dem ich in den letzten drei Jahrzehnten ständig gerungen habe, das ich durchlebt und immer wieder mit Bedauern, Verblüffung und abgrundtiefer Enttäuschung analysiert habe. Zum ersten Mal trat Malik während des Kriegs in Kairo in mein Bewusstsein; seine verwitwete Mutter lebte dort. Er war damals Philosophieprofessor an der Amerikanischen Universität von Beirut und verheiratet mit Eva, der Kusine meiner Mutter. Er stand meinen Eltern ziemlich nahe. Mein Vater, erzählte mir Malik einmal, habe ihm seine erste Schreibmaschine geschenkt. Eva, die ihre Ferien in Nazareth im Elternhaus meiner Mutter verbracht hatte, war eine herzliche, hübsche Frau mit einer starken Persönlichkeit, zu der ich trotz des großen Altersunterschieds schnell eine enge Freundschaft entwickelte. Damals war an diesem Paar etwas irgendwie Kunstvolles und zugleich Grobgeschnitztes. Er hatte einen starken nordlibanesischen Dorfakzent (Kura) in einem sonoren europäischen Englisch, das an seine hervorragende Ausbildung erinnerte, die mich besonders beeindruckte. In den dreißiger Jahren hatte er bei Heidegger in Freiburg und bei Whitehead in Harvard studiert und sich sowohl auf Grund seiner Brillanz als auch wegen seiner religiösen Neigungen den Beinamen »der heilige Charles« erworben. Von Geburt
griechisch-orthodox, war er seiner Neigung nach römischkatholisch (und durch seinen Umgang Maronit). Eva, die Enkelin eines standfesten protestantischen Pastors, konvertierte während ihrer Ehe mit Charles zum Katholizismus, ebenso wie ihre jüngere Schwester Lily, die engste Freundin meiner Mutter unter den Verwandten. Nachdem er libanesischer Botschafter bei den Vereinten Nationen in Lake Success geworden war, übernahm Malik die zusätzliche Aufgabe als libanesischer Gesandter und später Botschafter in Washington. Als Evas Vater Habib und einige seiner Kinder anfingen, im Sommer nach Dhur zu kommen, fanden auch die Maliks dort ein Haus und kamen für ein paar Wochen aus Washington herüber. Ich fühlte mich stark zu ihnen hingezogen. In der unversöhnlichen Kargheit Dhurs förderten ihr Haus, Charles’ Gespräche und die offensichtliche Zuneigung meiner Tante meine Neugier auf die Ideen und großen Fragen von Glauben, Moral und menschlichem Schicksal, aber auch mein Verlangen nach einer ganzen Reihe von Autoren. »Im Sommer neunzehnhundertpaarunddreißig«, erzählte mir Malik einmal, »saß ich an den Ufern des Nil und verschlang alles von Hardy und Meredith. Aber ich las auch die Metaphysik des Aristoteles und die Summa von Thomas von Aquin.« Ich kannte damals niemanden sonst, der von solchen Dingen sprach. Als ich zwölf war, saß Malik, wie ich mich erinnere, mit einem dicken Buch auf seiner Veranda, die das dunstige Shweir-Tal überschaute. »Johannes Chrysostomos«, sagte er und hielt das Buch in die Höhe, »ein herrlicher, tiefsinniger Denker, ganz ähnlich wie Duns Scotus.« Etwa zu jener Zeit begann mich die Eigenart seiner Bemerkungen über Bücher und Ideen herauszufordern. Er hatte einen Hang (der mir damals gefiel), Namen und Titel zu erwähnen, die ich dann aufstöberte und mit denen ich mich befasste; er neigte aber auch dazu, sich auf Sprüche,
Bewertungen und vereinfachende Fragen zurückzuziehen. »Kierkegaard war sehr groß, aber glaubte er wirklich an Gott?«, »Dostojewski war ein großer Romancier, weil er ein großer Christ war«, »Um Freud zu verstehen, muss man die Pornoläden der Forty-second Street gesehen haben«, »Princeton ist ein Country Club, wo Harvard-Absolventen ihre Wochenenden verbringen«. Vielleicht hatte er das Gefühl, ich sei zu unerfahren, noch nicht reif für anspruchsvollere Diskussionen, wie er sie mit Heidegger und Whitehead an ihren Universitäten geführt haben mochte, aber ich spürte bei ihm auch eine gewisse Herablassung, die sich mit der pädagogischen Berufung zum Anleiten und Lehren vermischte. Während der frühen Nasser-Jahre ermunterte mich Malik, ihm von meiner Begeisterung für die Reformen des populären Führers zu berichten. Er hörte sich alles an, was ich zu sagen hatte, und meinte dann ernüchternd: »Was du gesagt hast, war sehr interessant. Das Pro-Kopf-Einkommen in Ägypten liegt jetzt bei achtzig Dollar jährlich, im Libanon bei neunhundert. Wenn all diese Reformen funktionieren, wenn alle Ressourcen genutzt werden, dann wird sich Ägyptens Pro-KopfEinkommen verdoppeln. Das ist alles.« Von Onkel Charles, wie wir alle ihn nannten, lernte ich, welche Anziehungskraft ein Dogma, die Suche nach der fraglosen Wahrheit und eine unumstößliche Autorität haben können. Er erzählte mir auch von dem Zusammenprall der Zivilisationen, vom Krieg zwischen Ost und West, Kommunismus und Freiheit, zwischen dem Christentum und all den anderen, minderen Religionen. So sprach er nicht nur zu uns in Dhur, sondern er spielte auch eine zentrale Rolle dabei, all dies für die Bühne der Weltpolitik zu formulieren. Zusammen mit Eleanor Roosevelt arbeitete er an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Namen wie Gromyko, Dulles, Trygve Lie, Rockefeller und Eisenhower bildeten die gemeinsame Währung seiner
Gespräche, ebenso wie Kant, Fichte, Russell, Plotin und Jesus Christus. Er verfügte über verblüffende Sprachkenntnisse – Englisch, Arabisch, Deutsch, Griechisch und Französisch waren für ihn sämtlich hervorragende Arbeitsinstrumente; in den drei ersten jedoch besaß er eine wahrhaft bemerkenswerte Meisterschaft. Mit seinem gewaltigen Schopf schwarzer Haare, seinen durchdringenden Augen, der Adlernase, seinem beträchtlichen Umfang und den großen, weit ausschreitenden Füßen beherrschte er den Raum ohne die Spur eines Zögerns oder lähmender Unsicherheit. In den vierziger und frühen fünfziger Jahren zogen wir Hoffnung aus Maliks beruhigender moralischer Gewissheit und unbändiger Kraft sowie aus seinem unauslöschlichen Glauben an das Ewige. Es war wie in Gorkis Bonmot, er könne besser schlafen, weil er wisse, dass in derselben Welt ein Tolstoi am Leben sei. Malik stieg immer weiter auf in der öffentlichen Welt der Nationen, aber er und Eva kehrten immer wieder nach Dhur zurück. Das Dorf glich der Heimat, von der Heidegger sprach, doch für Malik verkörperte der Ort auch eine erdverbundene libanesische Einfachheit. Er bewahrte stets eine anscheinend dauerhafte Bewunderung und Zuneigung für meinen Vater. »Ich habe niemals jemanden kennen gelernt«, sagte er mir einmal mit einem gewissen Erstaunen, aber auch mit Herablassung, »der ein so reiner Geschäftsmann ist wie er. Er besitzt den Geschäftsinstinkt in erstaunlichem Maße.« Später dachte ich, er habe damit andeuten wollen, mein Vater sei wirklich ein hervorragender Geschäftsmann, darüber hinaus aber nicht viel mehr. Vielleicht hatte ich das aber auch falsch verstanden. An einem sternenklaren Abend konnte ich auf unserer Veranda in Dhur einen bemerkenswerten Wortwechsel zwischen Charles und meinem Vater genießen. »Wie können sie [vermutlich Wissenschaftler] die Entfernung dieser Sterne von der Erde bestimmen?«, fragte sich mein Vater laut. »Weißt
du das, Charles?« – »Oh«, sagte der Philosoph, »das ist ziemlich einfach. Man nimmt einen festgelegten Punkt auf der Erde, leitet den Winkel ab und dann berechnet man die Entfernung«, lautete seine prompte, ein wenig abschätzige Antwort. Ein Kinderspiel. Mein Vater gab sich damit nicht zufrieden. Seine phänomenalen Fähigkeiten im Rechnen – oder jedenfalls sein Verständnis für die Prinzipien des Rechnens – regten ihn zu lautem Widerspruch an. »Nein, nein, ich meinte genau. Welcher Winkel? Wo? Da muss doch gewiss mehr dran sein.« Alle Anwesenden wurden still: Mein Vater hatte einen ungewohnten Angriff auf die Autorität unternommen. Auf Maliks Gesicht war gelinde Verwirrung und eine nicht sonderlich einnehmende Ungeduld zu erkennen, als versuche er zu verstehen, was der kleine Geschäftsmann da eigentlich wolle. Aber offensichtlich war er um die Antwort verlegen, nach der das echte Interesse meines Vaters verlangt hatte. Poltern half da nicht. Also lieber das Thema wechseln und über Berdjajew reden. Am Morgen der Beerdigung meines Vaters, fünfzehn Jahre später, kam er in unser Haus in Beirut, um uns sein Beileid auszusprechen. Am Trauergottesdienst nahm er jedoch nicht teil. »Ich habe ein sehr wichtiges Frühstück mit dem päpstlichen Nuntius«, sagte er zur Entschuldigung. Seine geistige Kraft, die einstmals Menschen zur Konversion bewogen hatte, glitt jetzt allerdings immer stärker in politische Vorurteile und Ressentiments ab – gegenüber allen, die weder die Vorstellung eines christlichen Libanon (da der Libanon multikonfessionell war, konnte es niemals mehr als eine Vorstellung sein) noch den eines arabischen Libanon im amerikanischen Lager akzeptieren konnten. In seinen frühen Tagen an der Universität muss er ein hervorragender Lehrer und Dozent gewesen sein. Seine Schwägerin Lily berichtete mir einmal, wie er nach seiner Rückkehr aus Harvard nach
Beirut Gespräche in Diskussionen über die Wahrheit, das Ideal, die Schönheit und das Gute verwandelte. Einer seiner Studenten in den vierziger Jahren war mein Vetter George gewesen, der zunächst für eine Geschäftskarriere bestimmt war, ein volles Jahrzehnt später aber alles aufgab, um zum Katholizismus zu konvertieren und in die Schweiz nach Fribourg zu ziehen. Zusammen mit einigen ähnlich gesinnten Malik-Schülern wollte er dort eine Kolonie gläubiger Männer und Frauen gründen, die sich darauf vorbereiten sollten, die islamische Welt zu Christus zu bekehren. All diese Menschen, die bis zum heutigen Tag in der Schweiz geblieben sind und deren grandios angelegte Mission traurig unerfüllt geblieben ist, zeugen von Maliks tiefem Einfluss als Intellektuellem, dessen Ziele im Sinne der Bibel nicht von dieser Welt waren. Auch ich spürte diesen Einfluss – nicht nur in den Perspektiven und Ideen, mit denen er mich bekannt machte, sondern auch in der Würde jener Art moralisch-philosophischer Fragestellung, die er zu seiner Sache gemacht hatte. In meiner formalen Ausbildung und meiner Umgebung gab es nichts dergleichen. Maliks informelle, fast der Familie zugehörige Position in Dhur ließ mich erkennen, dass ich niemals zuvor einen intellektuell herausragenden Lehrer gehabt hatte. Wann versiegte diese belebende Kraft, um einer anderen Platz zu machen, die sich so deutlich als das Gegenteil dessen entpuppte, was einst Offenheit, Mut, originelles Denken gewesen war? Manchmal denke ich, dass Dhur mit seiner vorgeblichen, aber letzten Endes falschen Verkörperung bukolischer Authentizität uns alle korrumpiert hatte. Seine unfruchtbare Kargheit, die kontrollierte Einfachheit des Lebens und die erzwungene christliche Einmütigkeit mochten auch bei Maliks späterer Wendung hin zu einem politischen Extremismus eine gewisse Rolle gespielt haben. Gleichzeitig denke ich jedoch,
dass der schläfrige Rückzug aus der Welt, den Dhur für die Sommermonate versprach, auch eine Negation seines eigenen arabischen Kontexts bildete. Noch lange nach der Kolonialzeit glaubten wir kollektiv, wir könnten nach dem Modell europäischer Erholungsorte ein Ersatzleben führen – ungeachtet dessen, was um uns herum vor sich ging. Meine Eltern versuchten, unseren Kairoer Kokon in die libanesischen Berge zu verlegen: Wer mochte ihnen das verübeln, angesichts unseres bedrohten Status als palästinensisch-arabischchristlich-amerikanische Bruchstücke, die von der Geschichte verstreut waren und nur teilweise von den geschäftlichen Erfolgen meines Vaters zusammengehalten wurden, die uns eine halb fantastische, bequeme, aber anfällige Randexistenz gestatteten. Und als die Unruhen des postmonarchistischen Ägypten das Land um uns herum auseinanderbrechen ließen, nahmen wir ihre Auswirkungen mit, wohin wir auch gingen, einschließlich Dhur. Dort wurde Malik zu unserem ersten Symbol des Widerstands: der Weigerung des christlichen Libanon, mit dem arabischen Nationalismus gemeinsame Sache zu machen, und der Entscheidung, auf der Seite der Vereinigten Staaten in den Kalten Krieg einzutreten, lieber zu kämpfen und sich zu verhärten, als sich Nassers begeisternden Beschwörungen anzuschließen und sich anzupassen. Ich erinnere mich nur mit großem Unbehagen an den Schock der vollständigen arabischen Niederlage von 1967. Ende Dezember dieses schicksalhaften Jahres fuhr ich hinauf zu Onkel Charles und Tante Eva in ihr beeindruckend großes, monolithisches Haus in Rabiyeh, einem hügeligen Vorort nordöstlich von Beirut. In diesem Haus hatten sie endlich all die Bücher, Möbel und Papiere unterbringen können, die sie viele Jahre über in Mietwohnungen, Botschaften und vorübergehenden Quartieren angesammelt hatten, einschließlich ihrer verschiedenen Wohnungen in Dhur. Die
Straße war mit frischem Schnee bedeckt, der Himmel dunkel, es blies ein scharfer Wind, die gesamte Atmosphäre wirkte düster und abweisend. Ich wusste gar nicht so genau, was ich bei Charles eigentlich wollte, außer ihn einigermaßen unbestimmt darum zu bitten, irgendwie an die Öffentlichkeit zu treten und dabei zu helfen, die Araber aus ihrer unglaublichen Niederlage herauszuführen. Eine dumme Idee vielleicht, aber damals schien sie durchaus einen Versuch wert. Auf seine für ihn ungewöhnlich passive Antwort war ich allerdings nicht vorbereitet: Dies sei nicht seine Zeit, er habe nicht das Gefühl, dass er noch eine Rolle zu spielen habe, und es müsse erst eine neue Situation eintreten, bevor er wieder in die Politik ginge. Das verblüffte mich – ich war erstaunt, dass das, was mir als gemeinsames Bedürfnis nach Widerstand und Wiederaufbau erschienen war, von einem Mann, auf dessen Ansichten und Überzeugungen ich nach wie vor vertraute, nicht geteilt wurde. Während des libanesischen Bürgerkriegs wurde Malik zu einem geistigen Führer der christlichen Rechten, und etliche Jahre nach seinem Tod im Jahr 1988 empfinde ich noch immer tiefes Bedauern über die ideologische Kluft, die uns trennen sollte, und über den enormen komplizierten Strudel arabischer Politik, der uns letztlich auseinander riss, so dass wir beide nur sehr wenig positive Erfahrungen aus unserem Verhältnis ziehen konnten. Es ist im Nachhinein schwierig, in unsere Jahre in Dhur nicht einzelne Elemente der verheerenden Verwüstungen des libanesischen Bürgerkriegs hineinzulesen. Der Bürgerkrieg begann 1975 und endete offiziell etwa siebzehn Jahre später. Isoliert von den widerstreitenden kommunalen und politischen Strömungen, die den Libanon seit Jahrzehnten zerrissen hatten, lebten wir ein pseudoidyllisches Leben dicht neben einem tiefen Abgrund. Hinzu kam das Gefühl meines Vaters, Dhur sei eine Zuflucht vor den zunehmenden Mühen des
Geschäftslebens in Nassers Ägypten. Anfang 1971, kurz vor seinem Tode, sagte er uns, er wolle in Dhur begraben liegen, aber das ließ sich niemals realisieren, weil kein Einwohner bereit war, uns ein kleines Stück Land zu verkaufen, auf dem wir seinen Wunsch hätten erfüllen können. Trotz seiner langjährigen Zuneigung, seiner vielen materiellen Beiträge zum Gemeindeleben, seiner Liebe zu Dhurs Menschen und Örtlichkeiten galt er auch nach seinem Tod noch zu sehr als Fremder, als dass man ihn hätte aufnehmen wollen. Die idealisierte pastorale Existenz, die wir zu genießen glaubten, besaß im kollektiven Bewusstsein der Stadt keinen realen Wert. Zu den bleibenden Bildern jenes gespenstischen, realitätsfremden Lebens, das wir in diesen siebenundzwanzig Jahren führten, gehört das von Emile Nassar, wie er abends allein an einem Tisch in seinem verlassenen Wohnzimmer sitzt und schreibt. Seine Bridgepartie mochte noch so spät enden, noch so viele Gäste mochten zum Essen gekommen sein – unermüdlich holte er seine großen, ledergebundenen Notizbücher und einen Stapel Zeitungen hervor und begann zu schreiben. Was genau er da schrieb, wussten wir nicht, bis mein Vater ihn eines Tages direkt fragte, ob er seine Memoiren verfasse. »Auf gewisse Weise ja. Ich schreibe Passagen aus den Tageszeitungen ab und erhalte so eine Chronologie der Geschehnisse«, antwortete Mr. Nassar. »Aber Sie fügen doch auch eigene Kommentare hinzu, oder nicht?« wollte mein Vater wissen. »Überhaupt nicht. Es ist nur eine getreue Aufzeichnung dessen, was geschehen ist.« Leicht gereizt, ganz der tüchtige Geschäftsmann, sagte daraufhin mein Vater: »Aber warum schneiden Sie die Artikel nicht einfach aus und kleben sie in Ihre Notizbücher ein, statt sich all die Mühe zu machen?« Nassar schien einen Augenblick lang von dieser Frage verblüfft, antwortete dann jedoch schnell, er tue das alles
für seine Söhne, damit sie nach seinem Tode eine bleibende Geschichte ihrer Zeit besäßen. Mein Vater ließ sich nicht abspeisen und wandte sich an Alfred, den mittleren der NassarJungen, der auf dem Sofa lag. »Wirst du diese Bücher nach dem Tode deines Vaters lesen?«, worauf Alfred ohne zu zögern antwortete: »Nein. Kein Gedanke.« Ich habe diese seltsame Szene all die Jahre in der Erinnerung behalten, weil sie sehr genau die Trivialität und Unbeständigkeit unseres Lebens in Dhur symbolisiert. Es war der unbelohnte, erfolglose Versuch, dazuzugehören und irgendwie einen Ort zu bewahren, der sich dann letzten Endes auf seinen eigenen Weg begab – als Teil eines Landes, das unbeständiger, zersplitterter, grausamer gespalten war, als irgendjemand von uns vermutet hätte. Uns Sommergästen blieben die Konkurrenzen und Fehden fremd, die Dhur seine besondere Identität verliehen. Unser Haus steht noch immer dort, unbewohnt und übersät mit Einschussnarben und klaffenden Löchern in den Wänden, wo es von Granatwerfern und Katjuscha-Raketen getroffen wurde. 1997, siebenundzwanzig Jahre nach unserem letzten Sommer dort, fuhr ich nach Dhur, um zu sehen, was davon übrig geblieben war. Es ist noch immer ein Stützpunkt der syrischen Armee, Soldaten und Offiziere sind dort einquartiert. Dhur ist einer der wenigen, einstmals beliebten Erholungsorte, die nicht wieder aufgebaut wurden, in den nach dem Bürgerkrieg keine neuen Einwohner strömten, um Beiruts lärmendem, ungestümem und chaotischem Bauboom zu entfliehen. Die meisten Häuser aus unserer Zeit liegen noch immer in Trümmern, die Cafés und Läden sind geschlossen oder nur noch ein Schatten früherer Zeiten. Meine Schwester Jean, ihr Mann und ihre Söhne haben ein Haus in Shweir gekauft und renoviert, unmittelbar neben dem Haus, in dem ich vor dreiundvierzig Jahren von Aziz Nasr meine Nachhilfestunden in Geometrie erhielt. Ihr Garten und
die sorgfältig geplante Inneneinrichtung mit allem modernen Komfort haben nichts gemein mit der rauen Kargheit unserer damaligen Unterbringung. Als ich mich für eine kurze Ruhepause am Nachmittag hinlegte, weckte dieser Gegensatz in mir die melancholische Erinnerung an die letzten Tage des Sommers, wenn wir uns auf die Rückkehr nach Kairo vorbereiteten und Dhurs sonnige Härte den kühlenden Nebeln des herannahenden Herbstes wich. Ich erinnerte mich sehr gerne an diese Tage gegen Ende der Saison: Die meisten der anderen Sommergäste hatten schon vor uns gepackt und waren abgereist, die Ladeninhaber der Stadt in ihren schäbigen Anzugjacketts waren ruhiger geworden, weil die Kundschaft weniger geworden war und weil sie vermutlich selbst damit beschäftigt waren, ihre Projekte und Pläne für das nächste Jahr zu berechnen. Ein wiederkehrendes Thema der Gespräche auf der saha war die Frage, ob es eine gute Saison gewesen war. Ich hörte einmal mit an, wie Mr. Affeish, der große lethargische Apotheker, und Bou Faris, der Inhaber des Fahrradverleihs, ziemlich deprimiert den vergangenen Sommer anhand der Zahl unvermieteter Häuser diskutierten. »Wenn Gott will, wird es nächstes Jahr voller«, sagten sie gleichzeitig zueinander. Nur der Taxifahrer Farfar blieb den ganzen September an der saha, sein heruntergekommener Ford und seine raue Stimme füllten die stille Luft mit ihrer lebensvollen Kakophonie. Seine Kollegen hatten Dhur verlassen, um ihren Geschäften auf Beiruts Straßen nachzugehen. Und am letzten Tag bei Tagesanbruch, unsere Koffer waren gepackt, das Frühstücksgeschirr zum letzten Mal beiseite geräumt, standen wir in der kalten Morgenluft, während die Fahrer die beiden riesigen Taxis beluden. Dann fuhren wir gemächlich an der Küste entlang nach Beirut, und von dort nach Jerusalem und Kairo. Nach 1948 flogen wir ab Beirut mit dem Flugzeug.
XI
ALS ICH NACH MEINEM STUDIENABSCHLUSS nach Kairo zurückkehrte, stellte ich bald fest, dass meine Erinnerung nicht mehr der Wirklichkeit entsprach: Die Stadt war nicht mehr jener Hort der Stabilität, als den ich sie während meines Exils in den Vereinigten Staaten empfunden hatte. Eine neue Unsicherheit griff um sich: Das heitere Paradies für Ausländer begann seine Dauerhaftigkeit zu verlieren. Wenige Monate später sollte General Mohammed Naguib als Regierungschef durch Gamal Abdel Nasser abgelöst werden, und was »unsere« Welt gewesen war, wurde nun zu der »ihren«, und »sie« waren Ägypter, denen wir politisch weniger Aufmerksamkeit geschenkt hatten als unserer eigenen trägen Bühnenwelt. Das wurde mir einige Jahre später anhand der Gedichte Kavafis deutlich – aus ihnen spricht die gleiche Indifferenz gegenüber einer als selbstverständlich hingenommenen Welt, in der privilegierte Ausländer wie wir ihre eigenen Ziele verfolgten und ihren Geschäften nachgingen, ohne sich sonderlich um die große Mehrheit der Bevölkerung zu kümmern. Ironischerweise begannen in den fünfziger Jahren die Geschäfte meines Vaters zu florieren, und sein Einfluss als Geschäftsmann nahm zu, da er sich nun von seinen Neffen und ehemaligen Partnern gelöst hatte (die ihrerseits in einer Vielfalt von Branchen tätig geworden waren, von der Herstellung von Waschmaschinen bis zum Export von Wurstdärmen und der Textilproduktion). 1955/56 eröffnete er eine Zweigstelle in Beirut, die allerdings unter einem schlechten Stern stand: Ständig musste er Geld nachschießen, ohne dass es sich jemals ausgezahlt hätte. In den Sommerferien während meiner Schul- und Collegezeit bezog er mich
zunehmend in unser ägyptisches Geschäft mit ein. An den Nachmittagen fungierte ich als sein Vertreter, ohne dass mir bestimmte Pflichten oder Verantwortungen übertragen worden wären. Dies war seine Methode, mich zunächst einzuladen und mir dann die Tür vor der Nase zuzuschlagen, indem er mir bewies, dass es für mich keine Funktion gab. In eine ähnlich paradoxe Situation geriet ich, wenn er und meine Mutter darauf bestanden, als Mann in der Familie sei ich für meine Schwestern verantwortlich, obgleich meine vier Schwestern mir in jeder Hinsicht gleichgestellt waren. Ich erhielt die Pflichten ohne die Rechte, und ich hatte sogar das Gefühl, dass meine Schwestern viel mehr Beachtung fänden. Weder akzeptierte ich die Last dieser Verantwortung, noch war ich mit dem Prinzip an sich einverstanden. Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater mir meine Schwestern häufig aus einer Art Ritterlichkeit heraus vorzog, und irgendwie galt das auch für seine verblüffende Versöhnung mit seinen Neffen und seiner Schwester nach den mehrjährigen Auseinandersetzungen. Sobald sie auf eigenen Füßen standen, wurden sie wieder ernsthaft zu den Neffen ihres Onkels, so dass einer von ihnen mir später erzählte, wie leid es ihm tue, was er während ihrer Geschäftsfehde gegen meinen Vater gesagt und unternommen habe. Als meine älteste Schwester während meines zweiten Jahrs in Princeton in die Vereinigten Staaten kam, um das College zu besuchen, fand ich es besonders schwierig, mit ihr zu kommunizieren und ein Verhältnis zu ihr aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings bereits erkannt, dass mir sowohl meine Familie als auch mein natürliches Umfeld in Kairo und im Libanon nicht mehr offen standen. Meine Jahre in den Vereinigten Staaten entwöhnten mich allmählich den Gewohnheiten Kairos – dem Denken, dem Verhalten, der Sprache und den Beziehungen. Nach und nach änderten sich
mein Akzent und meine Kleidung, meine Bezugspunkte in der Schule und später im College verschoben sich, und mein Sprechen und Denken erfuhren einen radikalen Wandel, der mich weit über die bequemen Gewissheiten des Lebens in Kairo hinaustrug. Das Leben meiner Schwestern an der Englischen Schule beispielsweise empfand ich als äußerst entlegen und fremd. Nach der Zeit in Mount Hermon ging ich im Herbst 1953, völlig auf mich allein gestellt, nach Princeton. Ich war nun weitaus unabhängiger und findiger als nur zwei Jahre zuvor und stellte überrascht fest, dass ich in kurzer Zeit an einem mir unbekannten Ort Möbel, Bücher und Kleidung beschaffen konnte. Mit drei schlecht zueinander passenden Zimmergenossen richtete ich mich in einer gemeinsamen Wohnung ein, aus der ich dann an Weihnachten in ein Einzelzimmer umzog. Die erste bezeichnende Erfahrung in Princeton hatte ich an meinem zweiten Tag, als ich auf der Suche nach dem Speisesaal von einem großen, leicht angeheiterten jungen Mann angehalten wurde. Er trug ein orange-schwarzes Polohemd, rosafarbene Bermuda-Shorts, einen Strohhut und blaue Tennisschuhe und schleppte einen riesigen Elchkopf mit sich. »Hey«, sagte er ausgelassen, »ich will mich von Sam hier ja eigentlich gar nicht trennen, aber in deinem Zimmer würde er sich wirklich prima machen.« Ich antwortete irgendetwas wie der Kopf würde nicht recht hineinpassen – mit seinem riesigen Geweih war er so groß wie ein Volkswagen –, aber der andere blieb hartnäckig. »Du brauchst mir nur zwanzig Dollar für Sam zu geben, dann bringe ich ihn in dein Zimmer, und wenn ich ihn mit einem Kran durch dein Fenster hieven muss.« Ich konnte ihn schließlich davon überzeugen, dass Sam und ich nicht füreinander geschaffen waren. Es war dies meine erste Begegnung mit einem Princeton-Humor, der kaum über das
Niveau einer Grundschule hinausging, von der PrincetonMischung aus Bier und profanen Kenntnissen einmal abgesehen. Ansonsten unterschieden sich beide Einrichtungen nur geringfügig. In den fünfziger Jahren war Princeton ausschließlich Männern vorbehalten. Autos waren verboten; das Gleiche galt für Frauen, außer an Samstagen bis sechs Uhr abends. Die große kollektive Errungenschaft unseres Jahrgangs in den Jahren von 1953 bis 1957 bestand darin, dass als Ergebnis studentischer Agitation an Samstagen »Sex nach sieben« gestattet wurde. Wollte man Mädchen treffen oder sich mit ihnen verabreden, mussten sie entweder aus Orten wie Smith und Vassar für das Wochenende eingeladen werden, oder man fuhr in der Hoffnung auf eine Verabredung selbst dorthin. In meinen beiden ersten Jahren war ich jämmerlich erfolglos, aber immerhin entschädigte mich meine Sommerromanze mit Eva für das, was Princeton mir vorenthielt. Weder konnte ich ein Mädchen überreden, nach Princeton zu kommen, noch hatte ich bei den erforderlichen Ausflügen die geringste Chance. Die Studentenschaft war weitgehend homogen. Es gab keinen einzigen Schwarzen, und die meisten ausländischen Studenten waren Doktoranden, darunter auch eine Hand voll Araber, mit denen ich mich gelegentlich traf. Meine Kommilitonen waren sämtlich aus dem gleichen Holz geschnitzt oder bemühten sich doch wenigstens darum. Wie in Mount Hermon trug fast jeder die gleiche Kleidung (weißer Buckskin, Gabardinehosen, Hemden mit geknöpften Kragen und Tweed-Jacketts), sprachen weitgehend auf die gleiche Weise und zeigten das gleiche Benehmen. Wir alle waren in einem fürchterlichen Netzwerk von Speiseclubs organisiert: Nach dem zweiten Jahr musste jeder in einen Club eintreten, wenn er nicht verhungern wollte. Die Clubzugehörigkeit wurde durch ein widerwärtiges
System namens Bicker geregelt. Das bedeutete, dass man im Februar des zweiten Jahres zwei Wochen lang ganze Abende in seinem Zimmer die Delegationen der Clubs empfangen musste. Bei manchen Kandidaten (Juden, Jungen aus schlechten Schulen, schlecht angezogene Jungen) nahm deren Zahl ab, bei den Sportlern (jocks), den Absolventen angesehener Schulen wie St. Paul’s und Exeter oder den Kindern berühmter Eltern (Batista, Firestone, DuPont) gaben sich die zunehmend aufdringlichen Abordnungen dagegen die Klinke in die Hand. Unter den siebzehn bestehenden Clubs herrschte eine strenge Hierarchie. Es gab die großen Fünf (Ivy, Cottage, Cannon, Cap and Gown, Colonial), eine mittlere Gruppe (Quadrangle, Tower, Campus, Dial, Elm etc.) und schließlich ein Bodensatz von Clubs, denen im Wesentlichen Mitglieder angehörten, die man heute als Ausgestoßene und Außenseiter bezeichnen würde – tatsächlich waren es vor allem Juden. Während Bicker passierten schreckliche Dinge, die sämtlich von der Verwaltung gebilligt oder sogar gefördert wurden. 1955 zum Beispiel, in meinem Bicker-Jahr, hatten die Clubpräsidenten und die Universitätsleitung beschlossen, jeder Student des zweiten Jahres, mochte er sozial noch so inakzeptabel sein, müsse das Angebot eines Clubs erhalten. Unvermeidlich gab es eine Gruppe von zwanzig, dreißig verschmähten Jungen, und diese »100-Prozenter« – die Studenten, die niemand wollte, überwiegend Juden – wurden nun in öffentlichen Versammlungen unter den verschiedenen edelmütigen Clubleitern aufgeteilt. Die ganze groteske Veranstaltung wurde dann mit allen saftigen Details in der Studentenzeitung wiedergegeben. Ebenso grauenhaft war es, wenn Studenten, die auf Grund ihrer Rasse, ihrer Herkunft oder ihrer Manieren keinerlei Aussicht auf den Club ihrer Wahl hatten, sich in Muster-WASPs verwandelten –
gewöhnlich mit Mitleid erregenden Ergebnissen. Beispielsweise waren in meinen beiden ersten Jahren ausgefranste Hemdkragen in Mode. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als ich beobachtete, wie zwei Studenten in einer benachbarten Wohnung mit Schmirgelpapier über die Kragen ihrer neuen blauen Hemden herfielen, um binnen weniger Minuten die abgetragen-aristokratische Wirkung zu erzielen, die ihnen zu einem besseren Club verhelfen sollte. Mich überraschte, wie selbstverständlich unsere Lehrer sich damit abfanden, dass während dieser beiden Bicker-Wochen niemand auch nur das Geringste arbeitete. Seit dem ersten Anklopfen an meiner Tür hatte ich erkennen können, dass ich für die herumwandernden Delegierten eine irritierende Anomalie darstellte: Meine Schule konnte man wohl nicht als vornehm bezeichnen, meine Kleidung und Akzent ließen sich kaum einer bekannten Herkunft zuordnen, und mein Name gab den meisten der feinen Sprösslinge der Oberschicht aus Darien und Shaker Heights ein Rätsel auf. Meine Eltern hatten sich auf der Andrea Doria beim Dinner und Bridge mit einem älteren Pensionärsehepaar aus Boca Raton und St. Croix angefreundet, und der alte Herr, ein Mitglied von Cap and Gown, hatte dafür gesorgt, dass eine Delegation dieses Clubs ein paar Mal zu mir kam. Allerdings waren wir offensichtlich nicht füreinander geschaffen. Mein damaliger Zimmergenosse, ein begabter, in sozialer Hinsicht aber leider unterentwickelter Musiker, trieb fast alle Delegationen in die Flucht, doch drei Clubs des mittleren Niveaus kamen trotzdem immer wieder zu mir. Sie setzten sich dann mit mir in eine Ecke unseres winzigen Wohnzimmers, während er traurig allein in der anderen Ecke kauerte. An dem Abend schließlich, als sich der gesamte Jahrgang auf den Weg machte, um die Offerten der Clubs entgegenzunehmen, erhielt ich drei Angebote, mein Zimmergenosse hingegen kein einziges.
Dann bot mir einer der Clubs durch seinen Sprecher, einen fetten jungen Mann, der auch ein hervorragender Golfer war, einen nicht sehr attraktiven Handel an: Ich sollte beitreten, und dafür würden sie als besonderen Anreiz auch meinen Zimmergenossen aufnehmen. Als ich dieses Angebot zurückweisen und gehen wollte, hörte ich hinter mir seine Stimme, die herzzerreißend flehte: »Oh, Ed, bitte, lass mich nicht im Stich. Nimm doch bitte an. Was soll denn sonst aus mir werden?« Und so akzeptierte ich die Mitgliedschaft, sollte mich in diesem Club jedoch niemals wohl fühlen. Mir erschien ein öffentlich sanktioniertes Universitätsritual, das Menschen auf solche Weise demütigte, befremdlich und beleidigend. Von dem Augenblick an war Princeton für mich nur noch ein Ort des Studiums. Seither habe ich dort mehrere Male Vorlesungen gehalten – ein neuer Lehrkörper, die schwindende Bedeutung der grässlichen Clubs und natürlich die Präsenz von Frauen und Minderheiten haben aus einem provinziellen, kleinkarierten College, wie ich es zwischen 1953 und 1957 erlebte, eine richtige Universität werden lassen. Abgesehen von der Gesellschaft einiger ungewöhnlich brillanter und begabter Mitstudenten, wie dem Komponisten John Eaton, Arthur Gold, Bob Miles und ein paar anderen, konnte mir nur eifriges Lesen und Schreiben als Heilmittel gegen die vergiftete soziale Atmosphäre Princetons dienen. Im Hauptfach belegte ich Geisteswissenschaften statt Literatur, ein Programm für Elitestudenten, in dem ich neben Englisch auch ebenso viele Kurse in Musik, Philosophie und Französisch belegen konnte. Alle waren streng chronologisch aufgebaut, randvoll mit Informationen und für mich ungeheuer aufregend, soweit es die Pflichtlektüre betraf. Zwei ausgezeichnete Professoren (von denen ich allerdings nur einen persönlich kannte und als Dozenten hatte) haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Der eine war R. P.
Blackmur, der Literaturkritiker und Englischprofessor (obwohl er weder promoviert hatte noch auch nur einen High-SchoolAbschluss besaß) – ein einzelgängerischer, nicht gerade leicht verständlicher Schriftsteller und Lehrer, dessen Genie in der Freilegung der einzelnen Bedeutungsschichten moderner Poesie und Prosa ich trotz seiner knorrigen und häufig unverständlichen Sprache als äußerst anregend empfand. Sein Beispiel erschloss mir die geheime Freude an der Interpretation als einem Vorgang, der sich nicht bloß auf Paraphrase oder Erläuterung beschränkte. Ich habe bei ihm niemals ein Seminar belegt und auch nie persönlich mit ihm gesprochen, aber ich verschlang seine Bücher und besuchte gelegentlich seine Vorlesungen über Poetik und moderne Literatur. Er war einer der beiden Gutachter meiner Abschlussarbeit über Andre Gide und Graham Greene – einer wirklich peinlichen Angelegenheit – und rühmte in seiner schriftlichen Beurteilung meine »hervorragenden Fähigkeiten in der Analyse«. Er starb 1965. Die andere herausragende Person war (und ist auch heute noch) der Philosophieprofessor Arthur Szathmary, eine sprühende, energische kleine Gestalt, die niemanden verschonte, gleichgültig, ob Student, Kollege oder großer Schriftsteller. Für eine ganze Reihe unzufriedener Außenseiter wurde Szathmary zum Inbegriff intellektuellen Lebens. Er war überaus skeptisch, stellte respektlose Fragen und vermittelte einem gemeinhin das Gefühl, es gebe nichts Wichtigeres als die präzise Benennung von Einwänden und Mängeln. Er besaß nichts von dem »Tweed«-Ethos Princetons, nichts an ihm deutete auf Karrierismus oder Interesse an irdischen Erfolgen hin. Seinen verschwommen europäischen Akzent wusste niemand einzuordnen. Später gab er uns gegenüber zu, dass er aus Massachusetts stammte und das Land niemals verlassen hatte, wenngleich er während des Kriegs japanische Kriegsgefangene verhört hatte. Sein Bruder war der
Schriftsteller und Schauspieler Bill Dana, der im Fernsehen mit der Rolle des Jose Jimenez bekannt wurde. Die geisteswissenschaftlichen Kurse waren unhinterfragt historisch ausgerichtet und wurden von höchst kompetenten und philologisch korrekten Männern abgehalten. Meine Lektüre in der Geschichte der Musik, der Literatur und Philosophie legte den Grundstein für alles, was ich seither als Wissenschaftler und Lehrer geleistet habe. Die leidenschaftslose Vollständigkeit des Lehrplans in Princeton bot mir die Möglichkeit, ganze Wissensbereiche ohne größere Ansprüche zu durchforschen. Erst als dieses Lernen mit der anregenden Kritik Szathmarys oder den visionären Fähigkeiten Blackmurs in Berührung kam, merkte ich, dass ich allmählich tiefer schürfte, über die formale akademische Leistung hinaus, und irgendwie für mich selbst eine kohärente und unabhängige Geisteshaltung auszuformen begann. In den ersten Wochen meines zweiten Jahres wurde mir bewusst, dass ich eine frühe Begeisterung für Komplexität und Unvorhersehbarkeit weiter entwickelte – insbesondere und dauerhaft in den vielfältigen Komplexitäten und Vieldeutigkeiten des Schreibens und Sprechens. Angeregt wurde das Ganze paradoxerweise von einigen der nach Ansatz und Temperament eher konventionellen Professoren, wie Coindrau in Französisch, Oates in klassischer Philologie oder Thompson, Landa, Bentley und Johnson in Englisch. In der Musik quälte ich mich durch den Hinderniskurs der Harmonielehre und des Kontrapunkts, dann weiter zu streng historischen und positivistischen Seminaren, insbesondere über Beethoven und Wagner, in denen Elliot Forbes und Ed Cone Musterbeispiele einer musikwissenschaftlichen und gelehrten Pädagogik lieferten. Ich empfand mich selbst sehr deutlich als intellektuell unreif, vor allem im Vergleich mit einem Menschen wie Arthur Gold,
dem brillantesten Studenten meines Jahrgangs, der ein hervorragendes literarisches Talent besaß, für die Interpretation ebenso wie für das Schreiben. Es grenzte an ein Wunder, dass ein Mensch wie er – und in geringerem Ausmaß auch ich – in der Atmosphäre des Princeton jener Tage intellektuell überleben konnte. Da wir mit dem lässigen, Pfeife rauchenden, selbstzufriedenen Anti-Intellektualismus vieler Lehrer und Studenten unzufrieden waren, erwogen wir beide in unserem dritten Jahr einen Wechsel nach Harvard. Während meiner letzten beiden Jahre in Princeton fühlte ich mich zwar in intellektueller Hinsicht sehr angeregt, ansonsten aber ziemlich isoliert. Ich hasste meinen Club – man musste dort essen gehen, weil es sonst außer teuren Restaurants nichts gab – und hatte keinen Bezug zu dem gesellschaftlichen Leben an den Wochenenden mit seinen Hauspartys, Waschbärmänteln und endlosen Saufgelagen. Princeton hatte bei mir einige tiefer liegende Strömungen ausgelöst, die meist einander widerstrebten und mich in vollkommen unterschiedliche Richtungen trieben. Ich konnte den Gedanken, nach Kairo zurückzukehren, ja sogar das Geschäft meines Vaters zu übernehmen, nicht völlig aufgeben, gleichzeitig wollte ich aber auch Wissenschaftler werden und an der Universität bleiben. Immer ernsthafter beschäftigte ich mich mit der Musik, tat zeitweise nichts anderes mehr, obwohl mein jahrelanger Klavierunterricht wenig zufrieden stellende Ergebnisse erbracht hatte. Das Princeton der fünfziger Jahre war unpolitisch, selbstzufrieden und selbstvergessen. Außer Fußballspielen, Versammlungen und Partys gab es in einem politischen Sinne kein gemeinsames Princeton. Am nächsten kam dem noch ein Vortrag von Alger Hiss, den mein Kommilitone Ralph Schoenman (später Bertrand Russells Sekretär und Sprecher) organisiert hatte. Die Veranstaltung lockte eine Menge
neugieriger Erstsemester und einige protestierende Demonstranten an. Bis zur Suez-Invasion im Herbst 1956 (die ich wie den Brand von Kairo aus einiger Entfernung, aber unter starker emotionaler Belastung erlebte, weil meine Familie dort war) beschränkte sich Politik für mich auf meine Gespräche mit Freunden unter den arabischen Doktoranden, vor allem mit Ibrahim Abu-Lughod, der erst kurz zuvor aus Palästina geflüchtet war und nun Orientalische beziehungsweise Nahost-Studien in Princeton betrieb. Abgesehen von diesen privaten Gesprächen konnte ich meiner wachsenden Sorge über das, was in Nassers Ägypten vor sich ging, keinerlei Ausdruck geben. Während der Suez-Krise entdeckte ich jedoch, was mir zwei Jahre lang nicht aufgefallen war: dass einer meiner Mitbewohner, Tom Farer, der mir immer ein Freund geblieben ist, ein Jude war, aber für Israel oder Israels Vorgehen keinerlei Verständnis aufbrachte. Ich erinnere mich an eine ziemlich hitzige und laute Diskussion mit Arthur Gold. Dabei ging es um die Ungerechtigkeit (mein Ausdruck) Israels gegenüber uns (den Palästinensern), wobei er den exakt entgegengesetzten Standpunkt vertrat – aber das Ganze war ein isoliertes Ereignis, das in keinerlei Zusammenhang mit dem stand, was ich damals in Princeton tat. Über die Jahre kamen sich unsere Ansichten dann allerdings zusehends näher. McCarthy wurde in Princeton als Bagatelle betrachtet. Unseres Wissens war kein PrincetonProfessor wegen kommunistischer Ansichten verfolgt worden. Überhaupt gab es in Princeton keinerlei linke Ansätze. Marx wurde selten als Lektüretext gewählt oder vorgegeben, und die meisten von uns begegneten der zeitgenössischen Geschichte nur in Gordon Craigs großer zusammenfassender Vorlesung über Hitler (samt einer Schrecken erregenden Imitation) in Geschichte I.
In Dodge Hall hatte ich ein sehr merkwürdiges Erlebnis. Es gab dort Arbeitsräume, einen Laden für Herrenbekleidung (den der Tennistrainer der Erstsemester führte), eine Cafeteria, ein kleines Theater und mehrere Büros für Studenten unterschiedlicher Religionen – Katholiken, Juden etc. Auf meinem Weg zur Cafeteria stand ich plötzlich dem Rabbi der Hillel Foundation gegenüber. Er kam gerade die Treppe von seinem Büro herunter, und unsere Blicke trafen sich. »Du bist aus Ägypten«, sagte er mit einem leicht scharfen Tonfall zu mir. Ich bejahte, verblüfft, dass er mich nicht nur kannte, sondern auch wusste, woher ich kam. »Was hast du vor, wenn du hier fertig bist?«, fragte er gebieterisch. Ich antwortete ausweichend und sagte etwas von Promotion oder gar einem Medizinstudium (denn mindestens in der Hälfte meiner Zeit in Princeton hatte ich mich im Nebenfach auf Medizin vorbereitet, obwohl ich im Hauptfach Geisteswissenschaften studierte), er aber unterbrach mich ungeduldig. »Nein, nein. Ich meine, wenn du deine gesamte Ausbildung abgeschlossen hast.« Ohne meine Antwort abzuwarten, predigte er weiter. »Du solltest zurückgehen. Dein Volk braucht dich. Es braucht Ärzte, Ingenieure, Lehrer. Bei den Arabern gibt es so viel Elend, Unwissenheit und Krankheit, dass Menschen wie du von entscheidendem Wert sind.« Dann marschierte er aus dem Gebäude, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Das war noch vor der Suez-Invasion, auf Grund derer ich mich bereit erklärte, für die Universitätszeitung aus arabischer Sicht einen Artikel über den Krieg zu schreiben. Der Artikel erschien, ohne die Art von Reaktion hervorzurufen, die er wohl nach 1967 geerntet hätte. Es war mein erster Versuch, über Politik zu schreiben. Die politischen Leidenschaften brannten damals noch auf so niedriger Flamme, und die zionistischen Positionen waren noch so zurückhaltend – schließlich hatte Eisenhower Israel letzten Endes zum Rückzug aus dem Sinai
gezwungen –, dass ich den Text ohne Schwierigkeiten veröffentlichen konnte. Da ich viel Zeit mit den Maliks in Washington verbracht hatte, waren mir die Spannungen des Kalten Kriegs und die Probleme der arabischen Welt durchaus bewusst. Während meiner Zeit in Princeton kam ich zum ersten Mal mit den politischen Strömungen und Fragen in Berührung, die nicht nur dem politischen Alltag entsprangen, sondern mich auf die eine oder andere Weise für den Rest meines Lebens intellektuell und politisch beeinflussen sollten. Damals belehrte mich Malik über Ideologie, den Kommunismus und den großen Kampf zwischen Ost und West. Er stand damals bereits John Foster Dulles nahe und begann im amerikanischen Leben jener Zeit eine gewisse Rolle zu spielen: Universitäten überschütteten ihn mit Ehrungen, er hielt Vorlesungen und war auch im gesellschaftlichen Leben sehr gefragt. Princeton und mir gegenüber legte er eine amüsierte Geringschätzung an den Tag, aber er war bereit, mir ausführliche Vorträge zu gewähren (abgesehen von meinen gelegentlich eingestreuten Fragen konnte von einem Gespräch nicht wirklich die Rede sein). Später verstand ich, dass das eigentliche Problem für Malik die Annäherung Nassers an die Sowjetunion, verbunden mit seiner Zugehörigkeit zum Islam, darstellte. Hinter dem Diskurs aus Statistiken und demographischen Trends lauerten schlicht Kommunismus und Islam. Dennoch war ich letztlich unfähig, irgendeine Art Gegenposition aufrechtzuerhalten: Maliks Art ließ mich nie vergessen, dass ich nur ein Student im zweiten Studienjahr war, während er in der wirklichen Welt lebte, mit bedeutenden Menschen zu tun hatte und eine so viel größere Weitsicht besaß, und so weiter. Seine Haltung, in der sich Politik mit Familie verband, beschäftigte mich sehr: Auf der einen Seite war da unser beider Gefühl von Gemeinschaft und einer wirklichen Beziehung, auf
der anderen gab es fremde Kräfte, von denen er (und auch, wie ich bemerkte, die meisten meiner Verwandten im Libanon) den Eindruck hatte, dass sie »uns« bedrohten. Letzteres konnte ich nicht nachempfinden, und ebenso wenig teilte ich die Ansicht, dass soziale Veränderungen und die Kultur der Mehrheit bekämpft werden müssten, um unseren Status als Christen zu bewahren, oder dass wir überhaupt irgendeinen besonderen Status besaßen. In jenen Diskussionen in Washington begann sich bei mir eine grundsätzliche Unversöhnlichkeit zwischen intellektueller Überzeugung und leidenschaftlicher Loyalität gegenüber Stamm, Sekte und Land herauszubilden. Diese Unversöhnlichkeit ist mir noch heute eigen. Ich habe niemals das Bedürfnis verspürt, diese Kluft zu überbrücken, sondern habe sie immer in ihrer Gegensätzlichkeit offen gehalten. Das intellektuelle Bewusstsein hatte für mich stets Priorität vor dem nationalen oder Stammesbewusstsein, so sehr einen das auch in die Einsamkeit treiben mochte. Obwohl ich sie immer deutlicher wahrnahm, hatte ich während meiner ersten Studienjahre Mühe, diese Gedanken zu formulieren. Ich verfügte nicht über das Vokabular oder die nötigen Begriffe und wurde allzu häufig von Gefühlen und Sehnsüchten überwältigt – die in der sozialen Wildnis von Princeton grundsätzlich unbefriedigt blieben –, als dass ich diese Unterscheidungen klar hätte treffen können, die später für mein Leben und meine Arbeit eine so zentrale Bedeutung gewinnen sollten. Nach dem unablässigen täglichen Druck meiner Kairoer Jahre herrschte in Princeton ein gleichermaßen intensives Gefühl des Getriebenwerdens: Ein Großteil meiner unbefriedigten emotionalen Energie floss in intensive Aktivitäten. Ich trieb weiterhin viel Sport, spielte Tennis und gehörte während meines zweiten Studienjahrs dem Schwimmteam an. Chor und Singclub, wo ich sowohl Sänger
als auch Instrumentalbegleiter war, nahmen viel Zeit in Anspruch, ebenso das Klavierspiel. Von den »Freunden der Musik« in Princeton hatte ich ein großzügiges Stipendium erhalten, um bei einem hervorragenden New Yorker Lehrer (gewöhnlich aus der Juilliard School) Unterricht zu nehmen. Nach dem plötzlichen Tod von Erich Itor Kahn, meinem ersten Lehrer, waren dies der Furcht erregende und gestrenge Edward Steuerman, der liebenswürdige Beveridge Webster und der linkische Frank Sheridan, doch sie alle brachten mich in ihrer fantasielosen Gleichförmigkeit nicht so weit voran wie Louise Strunsky, eine Frau aus Princeton mit großer Einsicht und Musikalität, bei der ich einige Monate Unterricht hatte. Während des letzten Abschnitts meiner Zeit in Princeton wurde mir mein Selbstbild als ein unreifer, schwankender, in verschiedene Teile gespaltener Mensch (Araber, Musiker, junger Intellektueller, einsamer Exzentriker, pflichtbewusster Student, politischer Außenseiter) drastisch vor Augen geführt. In Philadelphia begegnete ich einer Kommilitonin meiner ältesten Schwester Rosy, die uns zu einer Vorstellung von Tod eines Handlungsreisenden mit Mickey Shaugnessy in der Rolle des Willie Loman begleitete. Beide studierten im zweiten Jahr in Bryn Mawr, wobei meine Schwester zwar mit einiger Mühe ihr lähmendes Heimweh überwinden konnte, nicht jedoch ihre Abneigung gegen den Ort an sich. Ihre Freundin war eine blaublütige College-Größe, deren umwerfend sympathische Art und deren Charme jeglichen Vorbehalt, den man wegen ihres ungewöhnlichen, aber mäßig guten Aussehens hegen mochte, überwanden und aus dem Weg räumten. Sie war sehr groß gewachsen, hatte jedoch eine erstaunlich anmutige Haltung. Während der Vorstellung vergoss sie reichlich Tränen, borgte sich mein Taschentuch und versprach, es mir wieder zurückzugeben (was mich für sie einnahm).
Als ich sie einige Wochen später wieder traf, stellte ich fest, dass ich mit einer solchen Intensität und Leidenschaft von ihr gefesselt war, dass ich ständig mit ihr zusammen sein wollte – eine Begierde, die sich ebenso dauerhaft aus der Tatsache nährte, dass genau das nicht möglich war. Princetons Vorschriften, die Entfernung nach Bryn Mawr, komplizierte akademische Lehrpläne schränkten die Zahl unserer Begegnungen stark ein. Zugleich war dies auch die Zeit meiner Beziehung zu Eva, die nur während der Sommer in Dhur elShweir stattfinden und sich entwickeln konnte. So gehörte es zu meinem amerikanischen Leben, dass ich in meinem letzten Jahr in Princeton hinter meiner Bryn-Mawr-Liebe herjagte – nur etwa alle sechs Wochen mit Erfolg, und dann höchst frustrierend –, während Eva ein fester Bestandteil meines Lebens im Nahen Osten war. Beide Beziehungen, die sich mit teuflischer Regelmäßigkeit kontrapunktisch kreuzten, blieben keusch und unerfüllt. Eine ihrer Freundinnen erzählte mir zehn Jahre später, dass die erstaunliche Amerikanerin eine Diana-Figur sei, unendlich attraktiv und zugleich unendlich unerreichbar. Nachdem meine Beziehung zu Eva in den späten fünfziger Jahren geendet hatte, setzte ich die Beziehung zu dieser rätselhaften, eigentümlich leidenschaftlichen und doch zunehmend ausweichenden amerikanischen Frau in immer neuen Anläufen fort. Als meine unglückliche Ehe mit einer anderen Frau nach kurzer Zeit scheiterte, kehrte ich erneut zu meiner Bryn-Mawr-Freundin zurück. Wir lebten etwa zwei Jahre lang zusammen und waren echte Gefährten – nach etwa zwölf oder dreizehn Jahren einer immer wieder unterbrochenen Beziehung, die davon geprägt war, ja davon lebte, dass die sexuelle Begierde ständig wuchs und ebenso ständig und auf seltsamste Weise gedämpft wurde. Sie war weder eine Intellektuelle noch ein Mensch mit klar umrissenen
Zielen für das Leben. Wir verbrachten das erste Studienjahr 1958/59 in Harvard zusammen, sie studierte Pädagogik, ich Literaturwissenschaft. Während jenes Herbstes vertraute sie mir einmal ihre Probleme in der Beziehung zu einem anderen Mann an (das verletzte und irritierte mich, aber es gelang mir, Ruhe zu bewahren, ihr freundlich zuzuhören und sie zu beraten), aber gegen Mitte des Jahres trafen wir uns wieder regelmäßig. Sie ging nach New York, um eine Weile als Lehrerin an einer Privatschule zu arbeiten, dann nach Afrika, wo sie zwei, drei Jahre lang unterrichtete. Sie war stets an Theater und Film interessiert, und ich hatte den Eindruck, dass sie ihren Beruf trotz ihrer fantastischen Begabung im Umgang mit jungen Menschen bloß aus Nützlichkeitserwägungen ergriffen hatte, nicht aus innerer Überzeugung. Nur schwer lässt sich ihre ungeheure Anziehungskraft beschreiben, das Abenteuer ihres Körpers, das eine Zeit lang kurz vor der sexuellen Erfüllung stand, das überwältigende Vergnügen der Intimität mit ihr, die vollständige Unvorhersehbarkeit, mit der sie mich begehrte und zurückstieß, die schiere Freude, sie nach einiger Zeit wieder zu sehen. Das alles sollte mich viele Jahre lang an sie fesseln. Manchmal verkörperte sie jenen Aspekt eines idealen Amerika, der mich ganz gebannt vor seiner Pforte stehen ließ, ohne mir je Zugang zu gewähren. Sie hatte eine moralistische Ader, so dass ich mich mitunter noch fremder fühlte und gereizt mein bestes Benehmen vortäuschte. Außerdem war da ihre Familie (die später zentrale Bedeutung gewinnen sollte), die mir gegenüber als blaublütig und mehr oder weniger mittellos dargestellt wurde, weil ihr ungestümer Anwalt-Vater wie Don Quichotte in seinem Idealismus gegen so übermächtige Gegner wie das Verteidigungsministerium anrannte und sich damit ruinierte. Andererseits besaß die Familie, mit der ich erst spät bekannt gemacht wurde,
Geschmack, Stil, Eleganz und eine Art gesuchten Raffinements, die bei mir gelegentlich eine fast unterwürfige Haltung hervorrief. Ihre engste Bindung war die zu ihrem ältesten Bruder, einem berühmten Sportler, der genauso alt war wie ich, allerdings in Harvard studierte. Ich glaube, ich habe sie nur zwei Mal zusammen gesehen, aber in alldem, was sie mir im Laufe der Jahre von ihm erzählte, nahm ich eine durchaus unübliche Verbindung von Liebe, Ehrfurcht, Respekt und auch Leidenschaft wahr. Jahrelang hatte ich das dumpfe Gefühl, dass diese Beziehung uns von der Erfüllung abhielt, die ich ziemlich verzweifelt suchte und die unmöglich schien. In dieser Hinsicht, so kommt es mir heute vor, muss ich sehr willfährig gewesen sein. Nur mit Mühe kann ich mir heute noch die Empfindungen erschreckender Verlassenheit vor Augen führen, die sie auslöste, wenn sie mir wie so oft erklärte, sie wolle mich verlassen. »Ich liebe dich, aber ich bin nicht in dich verliebt«, meinte sie dann, wenn sie ihren Entschluss bekannt gab, mich nie wieder sehen zu wollen. Das geschah Ende des Frühjahrs 1959, kurz vor meiner Abreise nach Kairo für die langen Sommerferien. Ich studierte in Harvard und war noch immer abhängig vom Geschäft meines Vaters, das inzwischen unter Nassers sozialistischer Gesetzgebung zu leiden hatte, unter Verstaatlichungen und dem Verbot ausländischer Konten, die für unser Geschäft überlebensnotwendig waren. Als ich vom Flughafen in die Stadt kam, hatte ich das unmittelbare Gefühl einer Bedrohung, einer tiefen Unsicherheit, die meiner damaligen Überzeugung nach nur von der Empfindung herrühren konnte, wir würden unserer Wurzeln in Ägypten beraubt. Wohin würde unsere Familie gehen? Einige Tage später hatte der ewig gleiche Rhythmus der Stadt – die Menschen, der Strom, meine Bekannten aus dem Gezira Club, sogar der Verkehr und mit Sicherheit die Pyramiden, die
ich von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte – meine Stimmung gehoben. Schließlich, so hatte ein Freund meiner Eltern gesagt, sei dies der Osten, und alles gehe langsam vor sich. Keine abrupten Veränderungen. Keine Überraschungen, auch wenn, ironisch genug, täglich neue Gesetze des »arabischen Sozialismus« verkündet wurden. Allen Widersprüchen und Sorgen zum Trotz verfiel ich erneut in die Routine des Alltags und ging jeden Morgen in das Geschäft meines Vaters, wo ich nach wie vor kaum etwas zu tun hatte. Dann erreichte mich eine Postkarte aus Chartres. Sie kam von ihr, und zwei Wochen später fragte sie, ob sie mich in Kairo besuchen könne. Ich war selig, aber schon nach einer Woche machte sich wieder der Diana-Impuls bemerkbar. »Ich muss fort«, sagte sie und ließ sich nicht davon abbringen. Einige Wochen später waren wir wieder zusammen, dann wieder nicht, und so ging das immer weiter. Als sie einige Monate später nach Afrika ging, musste sie gleich in aller Eile wieder zurückfliegen, weil ihr Bruder krank geworden war. Drei Wochen später sollte er in ihren Armen sterben – an Leukämie, wofür es vor dreißig Jahren noch keine wirksame Therapie gab. Es war der schwerste Schlag in ihrem Leben, und obwohl sie dennoch zwei weitere Jahre in Afrika verbrachte, vermochte ich das Ausmaß und die Tiefe ihres Verlustes nicht richtig einzuschätzen. Später, als ich mein Studium in Harvard abschloss, die Arbeit an der Columbia aufnahm und meine erste Frau heiratete, verloren wir uns ein wenig aus den Augen. Als meine Ehe auseinanderbrach, kehrte ich zu ihr zurück, aber meine Gefühle für sie hatten sich verändert. All die Jahre des Wartens auf Diana hatten plötzlich ein Ende gefunden. Sie war ein derart intimer Teil meines Lebens gewesen, so notwendig für das ausgehungerte und unterdrückte Ich, das in mir verborgen lag, dass ich mir ein Leben ohne sie nicht hatte vorstellen können. Es war, als
würde sie diesen verborgenen Teil meiner Identität, den ich so lange für mich behalten hatte, direkt ansprechen – nicht den »Ed« oder »Edward«, der mir zugeteilt worden war, sondern jenes andere Ich, dessen ich mir zwar immer bewusst gewesen war, das ich aber niemals leicht oder unmittelbar zu fassen bekam. Wenn ich mit ihr zusammen war, schien sie Zugang zu diesem Teil von mir zu haben – aber dann plötzlich (genau genommen während einiger stiller Wochen im Libanon) erkannte mein zur Ruhe gekommener Geist, dass sie und ich nicht mehr weitermachen konnten. Unsere Zeit war vorüber. Und so setzten wir unsere Beziehung nicht fort. Im Juni 1957 machte ich meinen Abschluss in Princeton, während ich einen ausgewachsenen Fall von Röteln auskurierte. Meine Eltern kamen, um der Phi Beta KappaZeremonie beizuwohnen und danach mit einigen meiner Professoren zu sprechen. Obwohl ich sehr gut abgeschnitten hatte, fragte mein Vater meine Lehrer immer wieder, ob ich wirklich mein Bestes gegeben hätte, in einem Ton, der besagte, dass er das für unwahrscheinlich hielt. Meine Mutter versuchte mir später erfolglos zu versichern, wie stolz er auf meine Leistungen sei (darunter ein ansehnliches Stipendium für Harvard, das ich für ein Jahr aufschob). Die meisten Professoren murmelten irgendetwas Höfliches (wie es ihre bedauernswerte Gewohnheit ist). Nur Szathmary überfiel meine verblüfften Eltern mit einer kurzen Schimpfkanonade über den philosophischen Unsinn der logischen (oder vielmehr unlogischen) Form der Frage »Hat er sein Bestes getan?«. Welch ein Vorkämpfer kritischen Denkens, dachte ich in glühender Verehrung, und wie sehr wünschte ich mir, ihm nacheifern zu können. Ich war so zerrissen von unterschiedlichen Impulsen, dass ich schließlich mit meinen Eltern beschloss, für ein Jahr nach Kairo zurückzukehren. Ich wollte erproben, wie ich leben würde, falls – in meinem Leben
damals gab es immer ein »falls« – ich mich entschloss, das Geschäft zu übernehmen. Am Ende des Jahres (1957/58) sollte schließlich eine ganze Reihe von Türen verschlossen sein. Nein, ich konnte einfach nicht in einer Firma arbeiten, die meinem Vater gehörte und die er geschaffen hatte: Dies war sein Terrain, und ich hasste die Abhängigkeit, die ich empfand. Geld und Besitz waren zwei Dinge, von denen ich instinktiv wusste, dass ich sie ihm im offenen Wettkampf niemals abgewinnen konnte. Während meiner Jahre in Princeton und auch noch in Harvard, in denen er mich großzügig mit Geld versorgte, bedeutete der Tag meiner Heimkehr stets auch eine unangenehme Prüfung. Unablässig strich er nervös um mich herum und stellte dann, um seiner Unruhe ein Ende zu machen, die Frage: »Edward, wie wäre es mit unserem kleinen Gespräch?« Mindestens zehn Jahre lang verlief »unser kleines Gespräch« auf die immer gleiche Weise, mit Jahr für Jahr den gleichen Worten. Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und las eine Zahl ab, eine Summe in Dollar. »Dieses Jahr habe ich dir 4356 Dollar geschickt. Wie viel hast du noch übrig?« Da ich wusste, dass ich bei meiner Heimkehr diese Frage beantworten müsste, verbrachte ich auf der langen Flugreise zurück in den Nahen Osten so manche besorgte Stunde damit, eine Liste meiner Ausgaben aufzustellen, darunter Studiengebühren, Zimmermiete und Essen. Die Summe blieb jedes Mal weit unter dem Gesamtbetrag. Wenn ich ihm gegenüberstand, hatte ich also stets schreckliche Schuldgefühle, war sprachlos und kam mir ziemlich dumm vor. »Du sagst, du hast fünfzig Dollar für Haareschneiden ausgegeben. Ist dir klar, wie schwer ich dafür arbeiten muss? Wie viel hast du noch auf der Bank?«, sagte er dann, als wolle er mir eine Gelegenheit zur Rechtfertigung geben. Bis zum Beginn der Sommerferien hatte ich alles bis auf etwa zehn
Dollar abgehoben. Er machte mir wütende Vorwürfe. So ging das immer wieder, bis ich weit über zwanzig war. Ich vermochte das niemals mit seiner außerordentlichen Großzügigkeit in Einklang zu bringen – er zahlte für kostspielige Klavierstunden in Boston, 1958 durfte ich in Italien ein Auto kaufen, um eine lange Sommerreise durch Europa zu machen, Wochen in Bayreuth, Salzburg und Luzern zu verbringen und so weiter und so fort. Ich wusste, dass ich ihm nur dann eine Zustimmung abringen konnte, wenn ich meine Mutter um Unterstützung bat, denn seine blitzschnelle Antwort auf jede Bitte fiel unvermeidlich negativ aus. Im Übrigen war ich auch, das muss ich zugeben, meistens viel zu schüchtern, zu verängstigt und zu verlegen, um ihn direkt zu fragen. Obwohl er meine Ausbildung und all meine Vorhaben außerhalb des Lehrplans finanzierte, konnte ich mit ihm nicht über Geld sprechen, und er mochte es nicht, wenn mir allzu viel Geld zur Verfügung stand. Mein Vater, auch das muss gesagt werden, besaß offensichtlich ein Gefühl für Eigentum, wie ich es mir niemals erwarb und auf eine kaum merkliche, stillschweigende Weise wohl auch gar nicht erwerben durfte. Bis zum Fall Palästinas waren er und die Familie seines Vetters Boulos (Boulos war 1939 oder 1940 gestorben) die gemeinsamen Besitzer der Geschäfte in Ägypten und Palästina. Während jener Zeit nahm niemand von uns, am wenigsten mein Vater, jemals irgendetwas ohne Quittung aus dem Laden, nicht einmal einen Bleistift. Er war peinlich darauf bedacht, die gemeinsamen Interessen zu wahren. Mit dieser Gewissenhaftigkeit ging eine ungezügelte Wut einher, sobald er bei uns ein Anzeichen von Extravaganz oder unnötigen Ausgaben bemerkte. Über viele Jahre – in denen er enorme Maschinen- und Möbelverkäufe an die ägyptische Regierung, die britische Armee und große Konzerne wie Shell und Mobil Oil tätigte – beschimpfte er uns
immer wieder: »Ist euch klar, wie viele Bleistifte ich verkaufen muss, um die fünfzig Piaster zu verdienen, die ihr für Kuchen im Club verschwendet habt?« Bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr glaubte ich tatsächlich an diese erstaunliche Fiktion. Ich weiß noch, wie ich ihn schließlich mit den Worten herausforderte: »Von welchen Bleistiften redest du überhaupt? Du verkaufst doch gar keine Bleistifte; du verkaufst Monroe-Rechenmaschinen und verdienst bei einem Geschäft Tausende Pfund.« Das ließ ihn verstummen, aber das schlaue Lächeln auf seinem Gesicht verriet mir, dass es ihm im Grunde gefiel, dieses eine Mal übertrumpft worden zu sein. Mein Vater verkörperte buchstäblich das Geschäft und wurde schließlich dessen einziger Besitzer. Er spielte die Rolle des Alleineigentümers in jeglicher Hinsicht. Nichts entging seiner Prüfung, kein Detail war so klein, als dass er es hätte ignorieren können, keine Ecke in seinen Büros, in den Läden, Fabriken und Werkstätten war vor kritischer Überprüfung sicher. Die Arbeit begann um acht Uhr morgens, wurde um eins für die Mittagspause unterbrochen, um vier wieder aufgenommen (im Sommer, im Winter um halb vier) und um halb acht beendet; der Samstag war ein halber Arbeitstag, der Sonntag der wöchentliche Ruhetag. Mein Vater kam stets um halb zehn ins Geschäft, niemals am Nachmittag. An Festtagen ließ er die amerikanische Flagge hissen, eine Angewohnheit, die einen zu Besuch weilenden amerikanischen Orientalisten, den ich aus Princeton kannte, aufs Höchste erbitterte. Er belehrte mich, wie unangemessen derlei sei (ich glaube nicht, dass er sich jemals die Mühe machte, meinen Vater zu sehen, geschweige denn, ihm das selbst zu sagen). »Dies hier ist Ägypten«, sagte er tautologisch. »Diese Flagge zu hissen bedeutet eine Beleidigung für die Ägypter.« Seine zahlreichen ägyptischen Angestellten respektierten meinen Vater jedoch ganz selbstverständlich. Er kannte alle seine Kunden, und
wenn es kritisch wurde, tauchte er auf und kam einem erlahmenden Verkäufer zu Hilfe. Vor allem aber vermittelte seine unglaublich eindrucksvolle Gestalt, wenn er irgendwo auf dem Gelände an der Sharia Abdel Khaliq Sarwat oder in seinen Büros an der Sharia Sherif herumstand, etwas, das ich niemals besaß – die Gewissheit sicheren, unangefochtenen Eigentums. Ich war der Außenseiter, ein Fremdling auf Besuch. Natürlich nannten mich alle Angestellten, auch die ältesten Mitarbeiter, »Mister Edward«, ein Titel, der mir selbst immer lächerlich und peinlich erschien. Ich konnte in Bezug auf die Firma keine besitzanzeigenden Vokabeln wie »unsere« und »wir« verwenden, und ich hatte dort niemals eine klar umrissene Aufgabe. Mein Vater wollte offenkundig, dass ich als sein Sohn mit ihm zusammenarbeitete – in Wirklichkeit aber fuhr ich während jenes gesamten Jahres mit meinem Auto allein um acht ins Geschäft, verbrachte den ganzen Tag im Laden und Büro, blieb dort den Nachmittag über allein und hatte doch nie eine spezifische Funktion, hatte nichts zu erledigen, trug für keine Abteilung oder Dienstleistung die Verantwortung. Wenn ich ihn bat, mir eine regelmäßige Arbeit zuzuweisen, sagte er immer: »Mir genügt es, dass du da bist.« Selbst meine Mutter erhob ab und zu Einwände gegen diese außerordentlich verschwommene, in gewissem Sinne sogar geringschätzige Vorstellung von Arbeit – schließlich war ich doch bereits Bakkalaureus von Princeton und ein Phi Beta Kappa-Student –, aber ohne Erfolg. »Mir genügt es, dass du da bist.« Nach Weihnachten begann ich, morgens immer später zur »Arbeit« zu erscheinen. Den Nachmittag über blieb ich allein in seinem Büro, während er im Club Bridge spielte. Entweder las ich – ich weiß noch, dass ich eine Woche lang den gesamten Auden las, in einer anderen Woche die PleiadeAusgabe von Alain durchblätterte, in einer weiteren mich durch Kierkegaard und Nietzsche arbeitete, in wieder einer
anderen Freud las –, oder ich schrieb Gedichte (von denen ich einige in Beirut veröffentlichte), Musikkritiken oder Briefe an verschiedene Freunde. Von Ende Januar an blieb ich zu Hause und übte Klavier. Mein Vater blieb jedoch gelassen. Ich war viel zu unsicher, um ihn zur Rede zu stellen, und aus Gründen, über die ich mir immer noch nicht völlig im Klaren bin, fühlte ich mich nicht wie der älteste, ja einzige Sohn, der eigentlich ein Anrecht darauf hatte, sein Eigentum zu übernehmen. Die SSCo gehörte niemals mir. Er bezahlte mir in jenem Jahr das damals beträchtliche Monatsgehalt von zweihundert ägyptischen Pfund, bestand allerdings darauf, dass ich mich am letzten Tag eines jeden Monats mit den anderen Angestellten in einer Reihe aufstellte, den Empfang quittierte (aus Steuergründen unter dem Namen »Edward Wadie«) und mein Gehalt in bar entgegennahm. Kam ich dann nach Hause, bat er mich unweigerlich und sehr höflich, ihm das Geld zurückzugeben – das sei nur eine Sache der »Liquidität«, und ich könnte so viel Geld haben, wie ich benötigte. »Du brauchst es nur zu sagen«, meinte er. Pflichtgemäß und in ewiger Leibeigenschaft hielt ich mich natürlich daran. Schließlich war das alles sein Geld, seine Arbeit. Diese Tatsache machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich mir lediglich als nutzloses Anhängsel vorkam, als »der Sohn«, wie mich die Angestellten in meiner Vorstellung nannten. Geschäftsdinge hatten mit mir überhaupt nichts zu tun: Wenn ich da war, war ich eben zufällig da, aber das Geschäft ging auch ohne mich weiter, so wie immer. Gelegentlich konnte ich meinem Vater von Nutzen sein, vor allem im Sommer 1960, als Nassers »arabischer Sozialismus« Transaktionen in Devisen und die Importe, für die sie erforderlich waren, verbot. Mein Vater musste damals auf komplizierte Tauschgeschäfte um drei oder vier Ecken zurückgreifen, beispielsweise auf den Verkauf ägyptischer Erdnüsse an Rumänien, wofür dann
Lokomotiven aus Frankreich kamen, die ihrerseits den zusätzlichen Export von Frankiermaschinen an meinen Vater in Ägypten ermöglichten. Ich versuchte vergeblich, diese Arrangements zu durchschauen. Mein Vater konnte alle Berechnungen im Kopf durchführen (einschließlich Wechselkursen, Kommissionen, schwankenden Dollarkursen), während sein bevorzugter Mittelsmann, Albert Daniel, ihm mit einem Taschenrechner gegenübersaß. Sie machten ihre Geschäfte, während ich bloß zusehen konnte und mich fragte, wie legal das alles war, da es offensichtlich die Unbequemlichkeiten und die Hindernisse umgehen sollte, die Importeuren wie meinem Vater in den Weg gelegt wurden. Er hatte sich zum Beispiel bereits darauf verlegt, Büromöbel aus Stahl im Land selbst herzustellen, brauchte aber immer noch den Rohstoff aus dem Ausland. Dafür waren komplizierte Machenschaften erforderlich, aber er zeigte sich der Herausforderung gewachsen, und das Material stand bald zur Verfügung. Ich erinnere mich, dass ihm die Komplexität seines Tuns zu gefallen schien, aber sein sichtliches Vergnügen daran löste bei mir eher Verzweiflung und ein starkes Gefühl von Unzulänglichkeit aus. Ich hatte nie etwas Nützliches beizutragen, denn mein Vater und Daniel waren viel zu schnell, zu sicher und zu geschickt in ihren Transaktionen. Eines Nachmittags jedoch rief mein Vater aus dem Club an, was sehr selten vorkam. Ich saß vermutlich in seinem Büro und las eine Zeitschrift. »Heute Nachmittag werden dir noch ein paar Papiere gebracht, ein Vertrag. Ich will, dass du ihn unterschreibst und ihn dann mit dem Boten sofort wieder an Daniel zurückschickst.« Er habe mich zum Chef gemacht: »Schließlich bist du ja auch ein leitender Angestellter.« Mir kam das nicht sonderlich interessant vor: Ich war einfach »für ihn da« und leistete ihm gelegentlich den einen oder anderen
nützlichen Dienst. Den Vertrag, von dem er gesprochen hatte, unterzeichnete ich auch prompt eine Stunde später, und ich weiß noch genau, dass ich der Angelegenheit keinen weiteren Gedanken widmete. Wegen genau dieses Vertrags, den ich arglos unterzeichnet hatte, konnte ich jedoch in den nächsten fünfzehn Jahren nicht nach Ägypten zurückkehren, denn er galt als Verstoß gegen das Gesetz zur Kontrolle des Außenhandels. Mein Vater erzählte mir, Polizeibeamte hätten in seinen Büros nach mir gesucht, und einer von ihnen habe sogar gedroht, man werde mich in Handschellen aus dem Ausland zurückholen. Aber auch bei dieser Geschichte hatte ich lange Zeit nicht das Gefühl, mein Vater trage die Schuld an diesem überraschenden Fehlschlag, mit dem er seinen Sohn etwas von Grund auf Illegales begehen ließ. Ich ging immer davon aus, die Schuld liege bei der ägyptischen Polizei. Nur wegen ihres Übereifers, nicht wegen der offensichtlichen Gleichgültigkeit meines Vaters gegenüber meinem Schicksal sei ich die nächsten fünfzehn Jahre aus der einzigen Stadt der Welt verbannt worden, in der ich mich mehr oder weniger zu Hause fühlte. So begann unsere Kairoer Welt sich uns auf bedrohliche Weise zu verschließen und sogar zu zerfallen, als die Nasserschen Angriffe nicht mehr nur den privilegierten Schichten galten, sondern sich auch gegen linke Dissidenten wie Farid Haddad richteten. In meinem zweiten Jahr in Harvard (1959/60), nach Farids Tod und George Fahoums Prozess wegen »Wirtschaftskorruption«, wurde mir klar, dass unsere Tage als fremde Bewohner Ägyptens zu Ende gingen. Eine spürbare Atmosphäre von Angst und Depression umgab den Freundeskreis meiner Familie, von denen die meisten ihre Abreise in den Libanon oder nach Europa planten (und in der Regel auch in die Tat umsetzten).
Meine fünf Jahre als Literaturstudent in Harvard (1958-1963) waren eine intellektuelle Fortsetzung der Zeit in Princeton, soweit es um die formale Lehre ging. Eine konventionelle Vorstellung von Geschichte und ein farbloser Formalismus beherrschten die Fakultät für Literatur, so dass die Prüfungsvorbereitungen lediglich darin bestanden, eine Epoche nach der anderen bis zum zwanzigsten Jahrhundert abzuarbeiten. Ich erinnere mich an Stunden, Tage, Wochen gierigen Lesens, ohne dass sich diese Lektüre weit über das hinaus erstreckt hätte, was die Professoren uns lehrten oder was sie von einer weitgehend passiven Studentenschaft erwarteten. Nichts schien angetan, die studentische Beschaulichkeit zu irritieren – vielleicht hatten wir alle in Ermangelung eines intellektuellen Vorbilds, das uns gefordert und gefördert hätte, den Eindruck, wir seien fehl am Platze, oder fühlten uns an dieser Einrichtung unwohl. Meine eigenen intellektuellen Entdeckungen machte ich außerhalb der Erfordernisse des Lehrplans, gemeinsam mit jenen begabten Originalen, die es auch in Harvard gab, wie Arthur Gold, Michael Fried und Tom Carnicelli. Der Nahe Osten schwand immer weiter aus meinem Bewusstsein (schließlich las ich damals keinerlei arabische Texte, noch kannte ich irgendwelche Araber – mit Ausnahme des Jurastudenten Ralph Nader, der im Unterschied zu mir in Amerika geboren war und mir gegen Ende der Berlin-Krise 1961 dabei half, der Einberufung auszuweichen und schließlich zu entgehen), und so waren die bedeutendsten Ereignisse für mich Bücher wie Vicos Neue Wissenschaft, Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein, Sartre, Heidegger, Merleau-Ponty. Sie alle gingen in meine Dissertation über Conrad ein, die ich unter der wohlwollenden Aufsicht von Monroe Engel und Harry Levin schrieb. Zwei Mal versuchte ich, den alternden I. A. Richards zu hören, der in Harvard damals noch am ehesten
die Avantgarde verkörperte, und zwei Mal gab er seine Vorlesungen kurz nach der Hälfte auf – dann kam seine Sekretärin und verkündete, der Kurs sei beendet. Richards war eine komische Miniaturausgabe eines einstmals abenteuerlustigen Denkers – verschwommen, eitel und weitschweifig. Als ich sein Hauptwerk las, empfand ich es als dürftig, unfertig und wenig provozierend, wohingegen das Werk Blackmurs gehaltvoll und trotz seiner knorrigen Syntax äußerst anregend war. Gelegentlich sorgten Gastdozenten für positive Unruhe – es waren damals sehr wenige. Von Kenneth Burkes Vorlesungen über »Logologie«, wie er das nannte, war ich ganz aufgewühlt. Den bedeutendsten musikalischen Einfluss auf mein Leben übte, selbst während meiner Zeit in Harvard, Ignace Tiegerman aus, ein winziger polnischer Pianist (er war kaum ein Meter fünfzig groß), Konservatoriumsdirektor und Lehrer, der seit Mitte der dreißiger Jahre in Kairo lebte. Ich habe kaum einen anderen Menschen mit einer solchen Begabung als Pianist, Lehrer und Musiker gekannt. Er war Schüler von Lechetitzky und Ignaz Friedman gewesen. Als er auf einer Kreuzfahrt Ägypten besuchte, verliebte er sich in das Land und blieb kurzentschlossen dort, wohl wissend, was der Aufstieg des Nationalsozialismus für Juden wie ihn in Polen bedeuten würde. Er war im Grunde sehr faul, und als ich ihn kennen lernte, hatte er bereits mit dem Üben aufgehört und gab keine Konzerte mehr. Dafür hatte er die gesamte Klavier-Literatur vom Beethoven der mittleren Jahre bis hin zum frühen Prokofjew in Kopf und Fingern und konnte Stücke wie Gaspard de la nuit oder die Chopin-Etüden in Terzen und Sexten fabelhaft und äußerst ausgefeilt spielen. Die späten Brahms-Stücke oder Chopins Nocturnes, Mazurken, vor allem aber die Vierte Ballade, die Impromptus und die Polonaise Fantaisie habe ich nie wieder so gehört wie von Tiegerman,
mit einer solchen Perfektion in Ton und Phrasierung, im unfehlbar »richtigen« Tempo, mit Agogik und allem. Er ermutigte mich mehr, als ich sagen kann, weniger durch das, was er mir direkt sagte, als durch das, was er am zweiten Klavier tat, und indem er mir zeigte, was an meinem Spiel (das er perfekt nachzuahmen verstand) geändert werden könnte. Vor allem war er keine mahnende oder überwachende Autorität, sondern ein musikalischer Gefährte, für den die Musik buchstäblich ein Teil des Lebens war. Während unserer langen Gespräche an heißen Sonntagabenden in Kairo oder später in seinem kleinen Sommerhäuschen in Kitzbühel wechselten wir ganz natürlich zwischen Gespräch und Klavierspiel hin und her. Was die Musik betrifft, schwand mein Interesse an einer entsprechenden beruflichen Karriere, als ich feststellte, dass mich die physischen Erfordernisse täglichen Übens und die überaus seltenen Aufführungen intellektuell unbefriedigt ließen. Und leider musste ich mir auch eingestehen, dass meine Begabung, so wie sie nun einmal war, für die Art von Karriere, wie sie mir vorschwebte, niemals ausreichen würde. Ausgerechnet Tiegermans Beispiel, das in mir lebte und wirkte, brachte mich schließlich davon ab, am Klavier mehr zu suchen als das sinnliche Vergnügen, das ich mir für den Rest meines Lebens auf einem annehmbaren Niveau gönnen konnte. Ich spürte, dass ich die Schwelle zur schieren Befähigung nicht überschreiten könnte, die den guten Amateur vom wahrhaft begabten Künstler trennt. Bei Menschen wie Tiegerman oder Glenn Gould, dessen Boston-Konzerte ich zwischen 1959 und 1962 mit hingerissenem Entzücken besuchte, wirkt die Fähigkeit, zu transponieren oder vom Blatt zu spielen, verbunden mit einem perfekten Gedächtnis und der vollkommenen Koordination von Hand und Ohr, mühelos und selbstverständlich. Mir dagegen bereitete das alles wirkliche
Schwierigkeiten, es erforderte viel Anstrengung und zeitigte letzten Endes doch nur unsichere, zweifelhafte Erfolge. Immerhin gab ich Konzerte mit meinem Freund Afif (Alvarez) Bulos – er mit seinem glänzenden Bariton, ich am Klavier. Er stammte aus Jerusalem, war etwa fünfzehn Jahre älter als ich und strebte einen Abschluss in Linguistik an. Für die damalige Zeit war er ein ungewöhnlich offener Homosexueller, dessen Verhalten fast schon parodistische Züge trug. Er war einer der wenigen aus meinen Tagen in Harvard, mit dem ich auch in Beirut noch weiter verkehrte, wo er bis zu seinem entsetzlichen Tod im Frühling 1982 lehrte. Er wurde erstochen. Es war ein gespenstisches Zeichen, eine Vorwarnung der israelischen Invasion drei Monate später und des libanesischen Bürgerkriegs, der in Afifs Wohngegend in Ras Beirut besonders heftig tobte. In Cambridge übten Afif und ich gewöhnlich bei mir. Ich lebte am Ende der Francis Avenue bei meiner netten Vermieterin Thais Carter, deren Tochter mit Rosy zusammen in Bryn Mawr studiert hatte. Thais war eine geschiedene Frau mittleren Alters, die allein lebte. Nur in den Sommermonaten kam ihr Vater, Mr. Atwood, von seinem Wohnort in Florida auf Besuch. Sie vermietete zwei Zimmer in der obersten Etage, von denen ich eines drei Jahre lang bewohnte, rundum zufrieden dank ihres unterkühlten Witzes, ihrer Gastfreundlichkeit und ihrer Fähigkeit zur Freundschaft. Thais war etwa so alt wie meine Mutter, geduldig, wo meine Mutter ungestüm war, methodisch, wo meine Mutter sich in Überraschungen gefiel und jede Methode über den Haufen warf, gelassen weltklug, wo meine Mutter eine einzigartige Mischung aus Naivität und geschäftigem Intellektualismus an den Tag legte. Sie und meine Mutter wurden gute Freundinnen, obwohl man sich kein gegensätzlicheres Paar hätte vorstellen können. Thais war überaus tolerant und hegte eine amüsierte Zuneigung zu Afif mit seiner zur Schau
getragenen Homosexualität, während er meiner Mutter Unbehagen einflößte. Ich weiß noch, dass ich ihr 1959 von Afifs Homosexualität erzählte und dabei zu meiner Überraschung feststellte, dass sie keine Ahnung hatte, was das bedeutete, außer dass es ihr wie bei allen Erwähnungen von Sexualität einen sichtbaren Schauder über den Rücken laufen ließ. Ich betrachtete meine Mutter nach wie vor als meinen Bezugspunkt, meist auf eine Weise, die ich weder vollständig begriff noch konkret verstand. Als ich im Sommer 1958 durch die Schweiz fuhr, hatte ich einen fürchterlich blutigen Frontalzusammenstoß mit einem Motorradfahrer. Der Mann kam ums Leben, und ich war schwer verletzt. Noch heute höre ich das furchtbar laute und erschreckende Geräusch des eigentlichen Zusammenpralls, bei dem ich das Bewusstsein verlor, und erinnere mich noch an den Augenblick, als ich auf der Wiese zu mir kam, während sich ein Priester über mich beugte, um mir die Letzte Ölung zu geben. Einen Augenblick später, nachdem ich den aufdringlichen Geistlichen weggestoßen hatte, wusste ich mit unfehlbarem Instinkt, dass ich meine Mutter anrufen musste, die zu diesem Zeitpunkt gerade mit der übrigen Familie im Libanon war. Sie war der erste Mensch, dem ich meine Geschichte erzählte, nachdem ich ins Krankenhaus von Fribourg eingeliefert worden war. Meine Empfindung, dass alles mit meiner Mutter begann und endete, das Gefühl ihrer ständigen Anwesenheit und ihrer meiner Meinung nach unendlichen Fähigkeit, mich auf sanfte, kaum wahrnehmbare Weise zu lieben, verlieh meinem Leben über viele Jahre Sicherheit. In einer Zeit, in der ich selbst radikale Veränderungen – intellektueller, emotionaler, politischer Art – durchmachte, spürte ich, dass die idealisierte Gestalt meiner Mutter, ihre Stimme, ihre Schutz gebende mütterliche Fürsorge und Aufmerksamkeit das Einzige waren, worauf ich mich
wirklich verlassen konnte. Als ich mich von meiner ersten Frau scheiden ließ, war es meine Mutter, die mir in meiner schrecklichen Verwirrung am besten helfen konnte, trotz ihrer außerordentlichen Widersprüchlichkeit, die ich entweder übersah oder unbeachtet ließ: »Wenn die Dinge so schlecht zwischen euch stehen, dann ja, dann solltest du dich unter allen Umständen scheiden lassen.« Dem folgte sofort die Bemerkung: »Andererseits ist für uns [Christen] die Ehe von Dauer, ein Sakrament, heilig. Unsere Kirche wird die Scheidung niemals anerkennen.« Derartige Aussagen wirkten auf mich oft absolut lähmend. Dennoch gelang es mir jahrelang, ihre Unentschlossenheit zu überwinden und die Unterstützung zu erhalten, die sie mir bot, insbesondere nachdem ich Kairo verloren hatte und mehr und mehr den anhaltenden Verlust Palästinas in unserem Leben und dem anderer Verwandter zu realisieren begann. Das Jahr 1967 schien für mich die Entwurzelung schlechthin zu verkörpern, die alle anderen Verluste in sich barg: die verschwundenen Welten meiner Jugend und Erziehung, die unpolitischen Jahre meiner Ausbildung, den Glauben an ein distanziertes Lehrer- und Gelehrtendasein an der Columbia University, und so weiter. Ich war nach 1967 nicht mehr derselbe Mensch. Der Schock jenes Kriegs trieb mich dorthin zurück, wo alles begonnen hatte: zum Kampf um Palästina. In der Folge kam ich als Angehöriger der palästinensischen Bewegung, die sich in den späten sechziger und während der siebziger Jahre in Amman und dann in Beirut herausbildete, in die völlig verwandelte nahöstliche Landschaft zurück – eine Erfahrung, die sich aus der unruhigen, weitgehend verborgenen Seite meines früheren Lebens nährte: dem AntiAutoritarismus, dem Wunsch, ein aufgezwungenes Schweigen zu durchbrechen, vor allem jedoch dem Bedürfnis, sich auf eine Art Urzustand alles miteinander Unversöhnlichen
zurückzuziehen und dabei eine ungerechte etablierte Ordnung zu zerschlagen und zu verjagen. Ein Teil der hektischen Ruhelosigkeit meiner Mutter war eine Reaktion auf den Verlust meines Vaters und auf die vielen verwirrenden Veränderungen rund um sie herum, als die PLO in Beirut parallel zum libanesischen Bürgerkrieg erstarkte und an Bedeutung gewann. Die israelische Invasion von 1982 stand sie gefasst und mit bewundernswertem Humor durch. Sie kümmerte sich um das Haus, in dem meine jüngste Schwester Grace zusammen mit zwei Freunden lebte – Ibrahim AbuLughod und Sohail Meari, deren Wohnung zu Beginn des Kriegs von einer israelischen Rakete getroffen worden war. Sie bewies damit erstaunlichen Mut. Wenn ich jedoch versuchte, mit ihr über Politik zu sprechen, vor allem über meine abweichenden politischen Vorstellungen oder die komplexen politischen Realitäten, denen sie die täglichen Probleme seit ihrer Eheschließung verdankte, schalt sie mich aus: Geh zurück zur Literatur, Politik in der arabischen Welt wird ehrliche und gute Menschen wie dich nur vernichten, und so weiter. Nach dem Ende meiner Ausbildung sollten noch Jahre vergehen, bis ich erkannte, wie sehr sie sich – ob bewusst oder instinktiv, werde ich niemals wissen – nicht nur in die Angelegenheiten von uns Geschwistern eingemischt, sondern auch zwischen uns gestellt hatte. Meine Schwestern und ich leben noch immer mit den Folgen ihrer erschreckenden Geschicklichkeit – dornige Schranken stehen zwischen uns, die sich sicherlich auch aus anderen Quellen nährten, gleichwohl aber zuerst von meiner Mutter errichtet wurden. Einige dieser Schranken lassen sich nicht mehr beseitigen, und das bedaure ich. Vielleicht gibt es sie in allen Familien. Heute erkenne ich aber auch, dass unser eigenartiger Familienkokon damals kein Modell für ein zukünftiges Leben abgeben konnte, ebenso
wenig wie die Welt, in der wir lebten. Ich glaube, mein Vater muss das gespürt haben, als er unter unverhältnismäßig hohen Kosten das völlig Unerhörte tat und vier von uns zur Ausbildung in die Vereinigten Staaten schickte (meine Schwestern nur auf das College). Je mehr ich darüber nachdenke, desto fester bin ich davon überzeugt, dass er für mich nur dann eine Chance sah, wenn ich von meiner Familie abgeschnitten würde. Mein Streben nach Freiheit, nach dem Ich, das hinter »Edward« lag oder von ihm verdeckt wurde, konnte erst auf Grund dieses Bruchs beginnen. Deshalb betrachte ich ihn mittlerweile als Glücksfall, obwohl er mich für lange Zeit einsam und unglücklich machte. Heute erscheint es mir nicht mehr wichtig oder gar wünschenswert, am »richtigen« Ort zu sein (etwa zu Hause). Besser ist es, fehl am Platze durch die Welt zu wandern, kein Haus zu besitzen und sich nirgends allzu sehr zu Hause zu fühlen, schon gar nicht in einer Stadt wie New York, in der ich bis zu meinem Tode leben werde. Während ihrer letzten Lebensmonate klagte meine Mutter häufig, dass sie nicht einschlafen könne. Sie lebte in Washington, ich in New York. Wir telefonierten ständig und sahen uns etwa ein Mal im Monat. Ihr Krebs breitete sich aus, das wusste ich. Sie verweigerte eine Chemotherapie: »Ma biddi al-cad-haab«, sagte sie etwa. »Diese Qual will ich nicht.« Jahre später habe ich selbst erfolglos vier Jahre einer erschöpfenden Chemotherapie durchlebt. Sie jedoch gab niemals nach, fügte sich niemals dem Drängen ihrer Ärzte, ließ sich nie auf eine Chemotherapie ein. Nachts aber konnte sie nicht schlafen. Schmerzmittel, Schlaftabletten, beruhigende Getränke, Ratschläge von Freunden und Verwandten, lesen, beten: Nichts würde helfen, sagte sie. »Hilf mir einschlafen, Edward«, bat sie mich einmal mit einem Mitleid erregenden Zittern in der Stimme, das ich noch höre, während ich dies
schreibe. Dann jedoch griff die Krankheit auf ihr Gehirn über, und in den letzten sechs Wochen schlief sie ständig. Neben ihrem Bett zu sitzen und mit meiner Schwester Grace auf ihr Erwachen zu warten war die qualvollste und paradoxeste meiner Erfahrungen mit ihr. Es scheint mir, als sei meine eigene Unfähigkeit zu schlafen ihr letztes Vermächtnis an mich, ein Gegenstück zu ihrem Kampf um den Schlaf. Denn für mich ist der Schlaf etwas, das man so schnell wie möglich hinter sich bringt. Ich kann nur sehr spät zu Bett gehen und stehe im Morgengrauen auf. Wie ihr ist auch mir das Geheimnis langen Schlafs verschlossen geblieben, aber im Unterschied zu ihr habe ich den Punkt erreicht, wo ich ihn gar nicht mehr will. Für mich ist der Schlaf Tod, wie jede Minderung des Bewusstseins. Bei meiner letzten Behandlung – einer zwölfwöchigen Leidenszeit – störten mich am meisten die Medikamente gegen Fieber und Schüttelfrost, die man mir verabreichte, und erst recht die künstlich herbeigeführte Schläfrigkeit, das Gefühl der Infantilisierung, der Hilflosigkeit, wie ich sie vor vielen Jahren als Kind meiner Mutter und auf andere Weise meinem Vater gegenüber empfunden hatte. Erbittert kämpfte ich gegen die Schlafmittel an, als hinge meine Identität von diesem Widerstand ab (selbst gegen den Rat meines Arztes). Schlaflosigkeit ist für mich ein hoch geschätzter Zustand, den ich mir um fast jeden Preis wünsche: Nichts anderes finde ich so belebend wie den frühen Morgen, wenn ich das schattenhafte Halbbewusstsein einer verlorenen Nacht abschüttle, wieder Bekanntschaft schließe mit mir selbst oder wieder aufnehme, was ein paar Stunden zuvor vollständig verloren schien. Gelegentlich erlebe ich mich selbst als ein Gewirr fließender Strömungen. Ich ziehe das der Vorstellung eines festen, stabilen Ichs vor, jener Identität, der so viele so viel Bedeutung beimessen. Diese Strömungen fließen wie die
Themen eines Lebens durch die wachen Stunden und bedürfen im besten Fall keinerlei Versöhnung, keiner Harmonisierung. Sie sind »abwegig« und vielleicht am falschen Ort, aber zumindest sind sie immer in Bewegung – in Zeit und Raum, in allen nur möglichen eigenartigen, veränderlichen Kombinationen, die sich nicht unbedingt vorwärts bewegen und manchmal auch gegeneinander gerichtet sind –, kontrapunktisch, aber ohne zentrales Thema. Ich würde das gerne als eine Art von Freiheit verstehen, obwohl ich keineswegs wirklich davon überzeugt bin, dass es sich darum handelt. Auch auf diese Skepsis möchte ich nicht verzichten. In meinem Leben gab es so viele Dissonanzen, dass es mir inzwischen lieber ist, am falschen Ort zu sein.
BILDTEIL