OUSMANE SEMBÈNE
Xala Die Rache des Bettlers Aus dem Französischen von Karin Boden und Monique Lütgens Mit einem Nachwo...
10 downloads
501 Views
500KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
OUSMANE SEMBÈNE
Xala Die Rache des Bettlers Aus dem Französischen von Karin Boden und Monique Lütgens Mit einem Nachwort von Heinz Hug
Peter Hammer Verlag
Titel der Originalausgabe: Xala erschienen bei Présence Africaine, Paris 1973 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ousmane Sembène: Xala: die Rache des Bettlers / Ousmane Sembène. Aus dem Franz. von Karin Boden und Monique Lütgens. Mit einem Nachw. von Heinz Hug. – Überarb. Neuausg. – Wuppertal: Hammer, 1997 Einheitssacht.: Xala ‹dt.›
ISBN 3-87294-748-6 © Ousmane Sembène © Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1997 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Wolf Erlbruch Lektorat: Gudrun Honke Satz: Data System, Wuppertal Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau GmbH
In dieser wilden und lustigen Satire auf die moderne afrikanische Bourgeoisie zeigt Sembène wie die weiße Ausbeutung ein schwarzes Gesicht angenommen hat. Der Held der Geschichte ist ein selbstzufriedener verwestlichter senegalesischer Geschäftsmann, der plötzlich von Xala getroffen wird, einem alten senegalesischen Fluch, der ihn impotent macht. Seine vergebliche Suche nach einer Kur wird zu einer Metapher für die Unmöglichkeit für die Afrikaner ihre Befreiung zu erlangen, indem sie sich auf westliche Technologien und bürokratische Strukturen verlassen.
Sembène wurde 1923 in der Casamance, der südlichen Provinz Senegals geboren. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, sein Vater war ein Fischer muslimischen Glaubens. Nach der Koranschule besuchte er die Kolonialschule in Dakar, wurde aber nach nur einem Jahr der Schule verwiesen, weil er den Schulleiter nach einer rassistischen Bemerkung geohrfeigt hatte. Als Schulabbrecher schlug er sich die nächsten Jahre mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1942 wurde er von der französischen Kolonialarmee eingezogen und kämpfte in Italien, Frankreich und Deutschland. Nach der Entlassung aus der Armee kehrte er nach Senegal zurück, wo er sich als Gewerkschafter an dem großen Streik der Dakar-Niger-Eisenbahner 1947/48 beteiligte, dessen Teilnehmern er später in seinem bekanntesten Roman, „Gottes Holzstücke“ (1960), ein Denkmal setzen sollte. 1948 kehrte er illegal nach Frankreich zurück, wo er zunächst in einer Citroën-Fabrik in Paris und dann zehn Jahre als Hafenarbeiter in Marseille arbeitete. Dort engagierte er sich in der Gewerkschaft CGT und trat der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) und der antirassistischen Bewegung MRAP bei. Er nahm an den Protestbewegungen gegen den Indochinakrieg (1953) und den Koreakrieg teil und setzte sich für die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN ein. In dieser Zeit begann Sembène seine schriftstellerische Tätigkeit, zunächst in französischer Sprache. Sein erster Roman, Le docker noir (1956), beschreibt die Erfahrungen von Entrechtung, aber auch die beginnende Solidarität unter den schwarzen Hafenarbeitern in Marseille. Es folgten die Romane „Meines Volkes schöne Heimat“ (1957), in dem er von einem aus Frankreich nach Senegal zurückkehrenden, selbstbewussten Arbeiter erzählt, der beim Versuch, in Senegal eine Landwirtschafts-Genossenschaft zu gründen, sowohl mit
den französischen Händlern als auch den einheimischen Bauern in Konflikt gerät, und „Gottes Holzstücke“ (1960), sein großes episches Werk über den Eisenbahnerstreik in Senegal. Anfang der 1960er Jahre, zur hohen Zeit der schwarzafrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, bereiste er Afrika. Er war während der kurzen Amtszeit von Patrice Lumumba als Journalist im Kongo. In Senegal musste er erfahren, dass er mit seinen Büchern nur einen sehr kleinen Teil der Menschen erreichte – die meisten seiner Landsleute waren des Französischen nicht mächtig, viele konnten nicht einmal lesen – und beschloss, sich dem Filmemachen zuzuwenden.
Die »Geschäftsleute« hatten sich versammelt, um zu feiern und den Tag rot im Kalender anzustreichen, denn das Ereignis war gewichtig. Noch nie zuvor in der Vergangenheit Senegals hatte ein Afrikaner die Industrie- und Handelskammer geleitet. Zum ersten Mal bekleidete ein Senegalese das Präsidentenamt. Dieser Sieg ging auf ihr Konto. Zehn Jahre lang hatten die tatkräftigen Männer gekämpft, um ihren Gegnern diese letzte Bastion der kolonialen Ära zu entreißen. Aus unterschiedlichen Kreisen stammend, hatten sie einen »Verband der Geschäftsleute« gegründet, um dem Zuwachs von Unternehmen unter ausländischer Leitung entgegenzuwirken. Ehrgeizig trachteten sie danach, die Wirtschaft des Landes in die Hand zu bekommen. Ihr Bestreben, sich gesellschaftlich zu etablieren, hatte sie sehr kämpferisch werden lassen, mit leisen Untertönen von Fremdenfeindlichkeit. Im Laufe der Jahre war es ihnen mit Unterstützung der Politik gelungen, sich im Einzelhandel, im Zwischenhandel und teilweise im Import- und Export einzunisten. Profitgierig, wie sie waren, hatten sie auch die Verwaltung der Banken im Visier oder wollten wenigstens daran beteiligt sein. In mehreren Verlautbarungen benannten sie die Schlüsselbranchen der nationalen Wirtschaft, die ihnen von Rechts wegen zustanden: der Großhandel, der Straßenbau, die Apotheken, die Privatkliniken, die Bäckereien, die Textilfabriken, der Buchhandel, die Kinos und so weiter. Ihr Mangel an Bankguthaben belebte, verschärfte gar in ihnen nationalistische Gefühle, einhergehend mit großbürgerlichen Wunschträumen. Die Ernennung eines Mannes aus ihren Reihen zum Präsidenten der Handelskammer ließ sie hoffen. Für die Männer, die sich hier versammelt hatten, war dies mehr als vielversprechend. Der Weg zum sicheren Reichtum war nun
für sie frei. Sie erhielten Zugang zu Geschäften großen Stils, zur Finanzwelt; sie konnten nun hoch erhobenen Hauptes einhergehen. Was gestern noch ein Traum für sie war, heute wurde er wahr. Die ganze Tragweite dieses Tages würde sich in der nahen Zukunft erweisen. Er verdiente, seiner Bedeutung entsprechend gefeiert zu werden. Der Präsident hielt inne. Er strahlte vor Genugtuung und ließ den Blick über seine Zuhörerschaft gleiten: ein Dutzend Männer in teurer Kleidung. Die maßgeschneiderten Anzüge aus englischem Tuch, die eleganten Hemden brachten ihren Ehrgeiz deutlich zum Ausdruck. »Liebe Kollegen«, ergriff der Präsident gelassen wieder das Wort, zufrieden lächelnd. »Liebe Kollegen, das ist wirklich ein Ereignis! Seit der Besetzung unseres Landes durch die Fremden hatten weder unsere Großväter noch unsere Väter jemals das Recht, der Kammer vorzustehen.« Vielleicht aus Größenwahn sprachen diese Männer nie von der »Industrieund Handelskammer«, sondern immer nur der »Kammer«. »Unsere Regierung hat Mut bewiesen, als sie mich auf diesen äußerst verantwortungsvollen Posten berief, und in einer Zeit sich verschlechternder Handelsbeziehungen bekundet sie damit ihren Wunsch nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Wir nehmen an einem historischen Ereignis teil. Wir müssen unserer Regierung und dem Mann an ihrer Spitze dankbar sein.« Von allen Seiten brandete Beifall auf, man beglückwünschte sich, siegesbewußt, hocherfreut. Dann Hüsteln, Stühlerücken, und es trat wieder Ruhe ein. »Wir sind die führenden Geschäftsleute in diesem Lande. Wir tragen große Verantwortung. Sehr große! Wir müssen uns des Vertrauens würdig erweisen, das unsere Regierung in uns setzt. Um diesen denkwürdigen Tag angenehm zu beschließen, möchte ich daran erinnern, daß wir alle zur Hochzeit unseres
Bruders El Hadji Abdou Kader Bèye eingeladen sind. Wir sind für Modernität, aber das heißt nicht, daß wir uns von unserer afrikanischen Identität losgesagt hätten. Ich erteile El Hadji das Wort.« El Hadji Abdou Kader Bèye, zur Rechten des Präsidenten sitzend, erhob sich. Seine gut fünfzig Jahre steckte er locker weg. Sein kurzgeschnittenes Haar zeigte hier und da weiße Stellen. »Liebe Kollegen, zu dieser Stunde« – er warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr – »wird die Ehe in der Moschee besiegelt. Nunmehr bin ich verheiratet.« »Wieder-wieder-wiederverheiratet! Zum wievielten Male?« warf Laye, in der Gruppe für seinen trockenen Humor bekannt, fragend ein. »Das wollte ich gerade sagen, Laye. Ich bin jetzt bei der dritten Ehefrau. Ich bin ein ›Kapitän‹, wie das Volk sagt. Wir sind Afrikaner. Ich bitte euch alle, mir die Ehre zu erweisen, meine Gäste zu sein, Herr Präsident.« »So werden wir den Tag mit einem glanzvollen Fest beschließen. Meine lieben Kollegen, die Frauen erwarten uns. Gehen wir!« Die Sitzung war beendet. Draußen wartete eine Kolonne Nobelkarossen. El Hadji Abdou Kader Bèye nahm den Präsidenten beiseite: »Fahr du an der Spitze des Konvois! Ich muß meine beide anderen Frauen abholen.« »In Ordnung.« »Bis bald«, sagte El Hadji und nahm in seinem schwarzen Mercedes Platz. Modu, der Chauffeur, fuhr los. El Hadji Abdou Kader Bèye war ein ehemaliger Lehrer, der wegen seiner Tätigkeit in der Gewerkschaft zur Zeit der Kolonialherrschaft den Schuldienst hatte quittieren müssen.
Nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst hatte er sich zunächst als Lebensmittelhändler verdingt, sich dann als Immobilienmakler versucht. Als er seine Beziehungen zu den libanesischen Händlern ausbaute, fand er unter ihnen einen Geschäftspartner. Über Monate, sogar ein ganzes Jahr lang, hielten sie das Marktmonopol für den Verkauf von Reis, einem Grundnahrungsmittel. Durch diesen glücklichen Umstand gelangte er an die Spitze der kleinen Subunternehmer, von denen es nur so wimmelte. Dann erhielt das Land seine Unabhängigkeit. Mit dem kleinen Vermögen, das er angesammelt hatte, und seinen Beziehungen machte er im Alleingang weiter. Er bahnte sich einen Weg nach Süden, zum Kongo: Import von Dörrfisch. Eine Goldgrube! Er schipperte zwischen zwei Ufern hin und her: Senegal und Kongo. Aber eine mit besseren Schiffen und soliden Beziehungen ausgerüstete Konkurrenz zwang ihn zur Aufgabe. Dynamisch, wie er war, wandte er sich Europa zu, und zwar mit dem Export von Schalentieren. Mangels Bankkrediten und Unterstützung kehrte er an seinen Ausgangspunkt zurück. Weil er jedoch sehr bekannt war und einen gewissen Namen hatte, benutzten industrielle Kreise ihn gegen Entlohnung als Strohmann. Er machte das Spiel mit. Er war auch in drei oder vier ortsansässigen Firmen Mitglied des Aufsichtsrates. Am Ende eines jeden Geschäftsjahres unterschrieb er Sitzungsprotokolle. Das Gesetz fand nichts dabei. Aber allen war die Wahrheit bekannt. In aller Bescheidenheit waren auf seiner Visitenkarte aus Bristol-Papier seine Posten und Ämter aufgeführt. Von seinen ersten größeren Einnahmen nahm er als guter, aber nicht praktizierender Muslim seine erste Frau auf eine Pilgerfahrt nach Mekka mit. Daher sein Titel »El Hadji«, der Pilger, und für seine Frau »Adja«, die Pilgerin. Mit dieser hatte er sechs Kinder, die älteste, Rama, besuchte die Universität.
El Hadji Abdou Kader Bèye war gewissermaßen das Produkt zweier Kulturen. Europäisch-bürgerliche Ausbildung, afrikanisch-feudale Erziehung. Wie seinesgleichen verstand er es, sich geschickt dieser beiden gegensätzlichen Pole zu bedienen. Die totale Verschmelzung war aber noch nicht erfolgt. Seine zweite Frau, Oumi N’Doye, hatte ihm fünf Kinder geschenkt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte El Hadji Abdou Kader Bèye zwei Frauen und einen Schwarm Kinder. Elf. Jede der Familien verfügte über eine Villa. Als praktisch veranlagter Afrikaner hatte er für Besorgungen und den Transport der Kinder zu den verschiedenen schulischen Einrichtungen in der Stadt einen Lieferwagen angeschafft. Die dritte Hochzeit hob ihn in den Rang der Oberen Zehntausend. Gleichzeitig war damit ein sozialer Aufstieg verbunden. Was den traditionellen Teil dieser dritten Hochzeit betraf, so fand er bei den Eltern des jungen Mädchens statt. Hier hatte man sich an die Sitten und Gebräuche gehalten, mehr noch, die alten Regeln waren wiederbelebt worden. Schon früh am Morgen war das Haus voller Leute. Grioten und Griotinnen walteten ihres Amtes, indem sie die weiblichen Gäste und Verwandten, die Freundinnen empfingen. Sie wurden mit Speisen und Erfrischungen vollgestopft. Sich darauf berufend, daß sie von Adel, königlichen Blutes wären oder von einem vornehmen und reichen Geschlecht abstammten, überboten sich alle Gäste, Männer wie Frauen, in Großzügigkeit und warfen mit Geldscheinen nur so um sich. Ein jeder, ob Mann oder Frau, protzte mit seiner Ausstaffierung, seiner Haartracht und seinem Schmuck. Bubus mit Silber-Lamé, Goldfäden, Ketten und Armbänder aus Silber und Gold blinkten in der Sonne. Die weit ausgeschnittenen Bubus der Frauen gaben auberginefarbene, samtig schimmernde Schultern frei. Das
Lachen, das In-die-Hände-Klatschen, der weiche und schmeichelnde Ton der weiblichen Stimmen und der volle Klang der Männerstimmen vermischten sich zu einem fröhlich lärmenden Durcheinander, volltönend wie das Rauschen in einer Muschel. Auf einem behelfsmäßigen Tisch in der Mitte des Hauses waren die Hochzeitsgeschenke des Bräutigams ausgestellt, von jeder Sorte ein Dutzend: Damenunterwäsche, Toilettennecessaires, Schuhe in unterschiedlichen Modellen und Farben, Perücken von blond bis rabenschwarz, feine Taschentücher, Seife. Der Clou waren die Autoschlüssel, die mitten auf dem Tisch in einer roten Schatulle lagen. Um diese Ansammlung von Liebesbeweisen standen wie angewurzelt die Gäste, mehr oder weniger bewundernde Kommentare abgebend. Eine junge Frau, das Handgelenk mit einer »Goldwoche« behangen, einem aus sieben Goldringen bestehenden Armband, wandte sich an ihre Nachbarin: »Zusätzlich zu dem Auto hat ihr El Hadji auch noch zehntausend Liter Super versprochen.« »Unter einer Bedingung, meine Liebe«, überbot sie die Nachbarin, die mit einer Handbewegung den weiten Ärmel ihres Bubus aus bestickter Seide zurückschob. »Bedingung oder nicht, ich würde diesen El Hadji heiraten, selbst wenn er eine Haut wie ein Kaiman hätte.« »Ha, du bist aber keine Jungfrau mehr, meine Liebe!« »Glaubst du?« »Und deine Kinder?« »Und die Jungfrau Maria?« »Sag sowas nicht! Das ist Gotteslästerung!« konterte sie trotzig, ihren Zeigefinger auf die Nasenspitze der anderen gerichtet. Die beiden fixierten sich einen Moment lang. Eine stumme Auseinandersetzung.
»Ich habe nur einen Scherz gemacht«, lenkte die erste mit leichtem Bedauern in den Augen ein. »Das ist auch besser so«, meinte die andere, sie war katholisch. Mit siegessicherem Lächeln zeigte sie mit gestrecktem Arm auf die Geschenke und fuhr fort: »Ich möchte jedenfalls keine von El Hadjis Frauen sein.« »In alten Töpfen lassen sich gute Suppen kochen«, murmelte die andere, wobei sie den Stoff eines Unterrocks zwischen den Fingern rieb, um zu prüfen, ob er aus Seide oder Tergal war. »Nicht mit neuen Kartoffeln«, erwiderte die zweite. Beide lachten schallend und wandten sich einer anderen Gruppe Frauen zu. Die Badiène, Schwester des Brautvaters und Tante der Braut, sie hieß Yay Bineta und war die Zeremonienmeisterin, dirigierte alles sehr gekonnt. Die Badiène, mit kurzen Beinen und breitem Hinterteil, dunkelhäutigem fetten Gesicht und listigen Augen, achtete darauf, in diesem Dschungel von Persönlichkeiten die Rangfolge zu wahren. Sie war die Ehestifterin »ihrer Tochter« gewesen. Nach traditionellem Recht ist die Tochter des Bruders auch die Tochter der Schwester des Vaters, oder, anders gesagt, die Nichte gilt als die Tochter ihrer Tante. Viele Monate vor diesem großen Tag, bei einer Familienversammlung, hatte die Mutter des Mädchens ihre Schwägerin ins Vertrauen gezogen, denn die Badiène, die Schwester des Mannes, nimmt den Rang eines Ehemanns ein. Die Mutter des Mädchens hatte ihre Sorgen ohne Umschweife vor der Badiène ausgebreitet. Das junge Mädchen, inzwischen neunzehn Jahre alt, war zweimal bei der Prüfung für den Mittelschulabschluß durchgefallen. Die mittellosen Eltern konnten ihr keine weiteren Unterrichtsstunden bezahlen, mit denen sie ihre Ausbildung hätte fortsetzen können.
»Wenn das Mädchen keine Arbeit hat«, sagte die Mutter, die in ihrem Innersten glaubte, daß ihre Tochter über genügend Kenntnisse verfügte, um eine gute Sekretärin zu werden, »dann ist das eben der Wille Yallas, Gottes. Also muß sie verheiratet, muß ein Mann für sie gefunden werden. Sie ist im richtigen Heiratsalter. Noch nie hat es in unserer Familie ledige Mütter gegeben, aber heutzutage, unter unserer Sonne – ich möchte niemandem etwas Übles nachsagen – kann man schon fast sagen, daß ledige Mütter in Mode sind.« Der alte Babacar, Familienoberhaupt im Ruhestand, hieß das Vorhaben seiner Frau gut. Mit den paar Sous, die er alle drei Monate als Rente ausbezahlt bekam, konnte er seine zahlreiche Brut, sieben Kinder an der Zahl, nicht ernähren. »Habt ihr schon jemanden im Auge?« erkundigte sich Yay Bineta, die Badiène, ihre bohnenförmigen Augen auf den Bruder gerichtet. Ihr Bruder – der alte Babacar – senkte den Blick mit der heuchlerischen Demut der Frommen. Nein, niemanden. Die Macht seiner Frau war grenzenlos. Seine Altersgenossen sagten, daß bei Babacar die Frau die Hosen anhätte. Auch die Tatsache, daß er niemals eine zweite Frau genommen hatte, reichte aus, ihn der männlichen Häme preiszugeben. »Yalla ist mein Zeuge, wenn unsere Tochter N’Goné einen Ehemann fände, wäre ich sehr glücklich darüber. Aber das ist alles eine Frage von Glück, und Gott allein ist des Glückes Schmied«, sagte er voller Bedacht. »Yalla! Yalla! Man muß sein Feld selbst bestellen«, erwiderte seine Frau hitzig und blickte Yay Bineta ins Gesicht, wodurch sie ihren Mann zum Schweigen brachte. »Ich verheimliche dir nicht, was für einen Umgang N’Goné hat«, fuhr sie fort. »Bis zum heutigen Tage, zu dieser Stunde, hat noch kein einziger ehrenwerter, ernsthafter Mann aus gutem Hause unsere Schwelle überschritten. Nur junge Leute ohne
Manieren und in Hosen wie Vogelscheuchen sehe ich um sie herumstreichen. N’Goné geht andauernd mit ihnen ins Kino oder zum Tanzen. Keiner dieser jungen Männer arbeitet. Allesamt arbeitslos. Ich sehe schon mit Bangen dem Monat entgegen, wo sie ihre Wäsche nicht in der Nacht wäscht.∗« »Ich habe verstanden«, sagte Yay Bineta. »Die Schlange junger Mädchen, die auf einen Ehemann warten oder hoffen, reicht glatt bis nach Bamako. Und es heißt, an ihrem Kopfende stehen die Krüppeligen.« Die beißende Ironie dieser Bemerkung brachte Babacar zum Lachen. Sein Lachen reizte Mam Fatou, die Mutter: »All das ist Sache der Frauen«, sagte sie in schroffem Ton zu ihrem Mann. Zornesröte stieg in ihrem Gesicht empor und blitzte in ihren Augen. Kleinlaut zog sich der alte Babacar unter dem Vorwand zurück, es sei Zeit für das Gebet. Als die beiden Frauen allein waren, bat Mam Fatou flehentlich: »Yay Bineta, du bist in ganz N’Dakarou, in ganz Dakar, bekannt. N’Goné ist deine Tochter. Du kennst wohlhabende Leute. Leute, die uns Hilfe leisten, uns unterstützen können. Sieh nur, wie wir leben. Wie Vieh in einem Pferch. Und wenn N’Goné oder ihre jüngere Schwester uns ein paar Bastarde ins Haus bringen, was soll dann aus uns werden? Heutzutage muß man dem Glück auf die Sprünge helfen.« Tage, Wochen, Monate vergingen. Eines Morgens steckte Yay Bineta N’Goné in adrette Kleider. Sie begaben sich zum Laden-Büro von El Hadji Abdou Kader Bèye. Yay Bineta und El Hadji kannten sich seit vielen Jahren. Ohne lange Einleitung sondierte Yay Bineta sogleich das Terrain: »El Hadji, ich stelle
∗
Seine Wäsche nachts waschen: Menstruationszeit. Die Wäsche, die Frauen an diesen Tagen tragen, wird niemals bei Tag getrocknet. Man verbirgt sie vor den Männern.
dir meine Tochter N’Goné vor. Sieh sie dir gut an. Könnte sie nicht ein Maß sein? In Größe oder Fähigkeit?« »Sie ist zart. Ein Tautropfen. Sie ist ebenso vergänglich. Ein wohltuender Anblick für die Augen«, antwortete El Hadji, der seit dem Männerhaus in diese Ausdrucksweise initiiert war. »Du sagst ›für die Augen‹? Du sprichst im Plural. Ich spreche aber im Singular. Ein einziger Besitzer…« »Also ein Einäugiger«, unterbrach sie der Mann, entspannt und lachend. »Man gibt einem Einäugigen nicht den Rat, ein Auge zuzudrücken.« »Ebenso wenig, wie man der Hand zeigt, wo der Mund ist.« »Man muß für die Hand vorbereiten, was sie zum Mund führen soll.« Mit dieser spielerischen Ausdrucksweise vertraut, redete Yay Bineta mit dem Mann in der alten, esoterischen Sprache. N’Goné, ein Kind des Zeitalters von Flaggen und Nationalhymnen, begriff nichts von ihrem verschlüsselten Dialog. El Hadji beendete das Wortgeplänkel, als das Telefon klingelte. Die Badiène gab vor, sie suche Arbeit für ihre Tochter. Der Mann versprach, etwas für sie zu tun. Seinem Ruf, ein großzügiger Mensch zu sein, nachkommend, beschenkte er sie mit einem Schein von tausend Francs CFA für die Heimfahrt mit dem Taxi. Weitere Besuche fanden statt, belanglose Gespräche, allesamt gleich. Die Badiène machte sich über El Hadji lustig, forderte ihn heraus: »Du hast Angst vor deinen Frauen! Die Frauen haben bei dir zu Hause wohl das Sagen, haben sie die Hosen an? Warum kommst du uns nicht besuchen, he? Warum nicht?« In seinem Stolz, an seiner empfindlichen Stelle getroffen und in seiner Ehre als echter Afrikaner gekränkt, war El Hadji Abdou Kader Bèye es sich schuldig, die Herausforderung anzunehmen. Niemals, sagte er sich, würde er
sich von einer Frau vorschreiben lassen, was er zu tun und zu lassen hätte. Um zu beweisen, daß er Herr im Hause war, begleitete er das Mädchen zu seinen Eltern zurück. Und weiter? N’Goné machte es sich zur Gewohnheit, allein in sein Büro zu kommen, vor allem nachmittags. Sie kam, um sich zu erkundigen, ob El Hadji Arbeit für sie gefunden hätte. Das war ein Alibi der Badiène. Der Mann ließ sich allmählich auf die sanfte Tour einwickeln. Eine Veränderung seiner Gefühle vollzog sich. Eine Gewohnheit entstand. Das Verlangen, die Begierde nach dieser Blume, diesem vergänglichen Geschöpf, wuchs. Bei den regelmäßiger werdenden Besuchen führte El Hadji sie aus, ging mit ihr in die Konditoreien, manchmal ins Restaurant. Ein- oder zweimal nahm er sie zu Cocktails der »Geschäftsleute« mit. N’Goné, das muß gesagt sein, hatte die Süße einer Frucht, die seine Frauen schon seit langem verloren hatten. Das feste, glatte Fleisch, der frische Duft machten sie anziehend. Wenn er an seine beiden Frauen dachte und an die täglichen Anforderungen seiner Geschäfte, dann erschien ihm N’Goné als die friedliche Oase bei der Durchquerung der Wüste. N’Goné gab ihm auch allen Grund, stolz zu sein. Ein junges Mädchen verführen! Yay Bineta, die Badiène, im Verborgenen lauernd, lenkte das Manöver. El Hadji Abdou Kader Bèye wurde im Hause des Mädchens nobel empfangen: Die Mahlzeiten waren schmackhaft, Weihrauchduft erfüllte N’Gonés kleine, durch Holzwände abgeteilte Kammer mit Wohlgeruch. An alles hatte man gedacht, um den Mann in den richtigen Gemütszustand zu versetzen. Wie eine Spinne webte die Badiène eifrig an ihrem Netz. Im Viertel wußte jeder oder hatte es an der Wasserstelle erfahren, daß El Hadji Abdou Kader Bèye, der großzügige Geschäftsmann, ein Auge auf N’Goné geworfen hatte und ernste Absichten hegte. Geschickt hatte die Badiène die Reihen
der jungen Männer in der Umgebung des jungen Mädchens gelichtet. Die Verlobung fand offiziell statt. El Hadji war reif. Nun würde die Badiène ihn pflücken. An jenem Tag sollte El Hadji mit N’Goné zu einem großen Empfang gehen. Am Tag zuvor hatte er das Mädchen von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Der Vater, die Mutter und die Badiène empfingen ihn. Während er darauf wartete, daß N’Goné fertig würde, kam ein Palaver in Gang, das die Badiène wie folgt eröffnete: »El Hadji Abdou Kader Bèye, du hast Mekka besucht, das Haus des Propheten Mohammed. Friede sei mit ihm und mit allen Menschen! Du bist ein ehrenwerter Mann, und wir, die hier versammelten Eltern, kennen deine noblen Absichten N’Goné gegenüber. Was uns angeht, so können wir dir versichern, daß unsere Tochter nur mit deinen Augen sieht und nur mit deinen Ohren hört. Und du weißt, daß sie jung ist, sehr jung. Im Viertel wird geklatscht. Gewiß, wir sind nicht reich an Centimen, aber wir sind anständige Leute und reich an Würde. Soweit man auch zurückgehen kann, in unserer Familie gibt es keinen erblichen Makel. An diesem heutigen Tag sollst du wissen, daß es nur von dir, einzig und allein von dir, abhängt, daß N’Goné für den Rest ihres Lebens dir gehört.« Da hatte es El Hadji kalt erwischt. Bisher hatte die Möglichkeit einer eventuellen Heirat mit N’Goné noch kein einziges Mal seine Gedanken gestreift. In den Fängen der Badiène gab er verschwommene Antworten. Stammelnd berief er sich auf seine beiden Frauen. Yay Bineta hatte nun Oberwasser und gab ihm wild entschlossen die Sporen: War er denn nicht ein Muslim? Nicht der Sohn eines Muslim? Warum wies er zurück, was Yalla wünschte? War er etwa ein Tubab, ein Europäer, daß er die Meinung seiner Ehefrauen einholen mußte? Gab es im Lande keine Männer
mehr so wie früher? Tapfere Männer, deren Blut doch auch in seinen Adern floß? Wie immer bei solchen Streitgesprächen willigte derjenige, der weniger schamlos war, schließlich ein. El Hadji Abdou Kader Bèye gab aus Schwäche nach. Rechtfertigte er sich unter dem Deckmantel des Korans? Was seine Frauen betraf, so schuldete er ihnen keine Erklärung; er hatte sie lediglich von seiner Entscheidung zu informieren. In den darauffolgenden Wochen trieb Yay Bineta die Vorbereitungen für die Hochzeit voran. Mam Fatou, N’Gonés Mutter, zeigte sich bisweilen unwillig, als sie sah, welche Wendung die Dinge nahmen und welche Hast und Eile die Badiène an den Tag legte. Sie war grundsätzlich gegen die Polygamie. Sie hätte es lieber gesehen, wenn El Hadji seine beiden Frauen verstoßen hätte. »Mam Fatou, versteh doch!« sagte ihr die Badiène, erschüttert über das Verhalten ihrer Schwägerin. »El Hadji ist zwar polygam, aber seine Frauen haben jede eine Villa zu ihrer Verfügung, und das im reichsten Viertel der Stadt. Jede Villa ist fünfzig- oder sechzigmal soviel wert wie eure Bruchbude hier. Für uns ist das eine gute Partie! Und für N’Goné bedeutet das eine sichere Zukunft für sie und ihre zukünftigen Kinder.« »Ich gebe zu, das habe ich nicht bedacht«, gab die Mutter kleinlaut bei.
Das Übrige regelte die Badiène, bis zu besagtem Tag. Laute Ausrufe und Händeklatschen. Eine Gruppe Griotinnen umringte eine Frau, die Geld verteilte. »Das ist die schönste Hochzeit des Jahres«, meinte eine Frau, ihre ausladenden Brüste mit Geldscheinen geschmückt, die sie als Geschenk erhalten und mit Nadeln festgesteckt hatte.
Ihre Gefährtin neben ihr schätzte die Beute mit einem neidischen Blick ab und sagte: »Ich habe heute kein Glück. Ich gerate heute nur an arme Schlucker.« »Der Tag ist noch nicht zu Ende«, munterte die erste sie auf, ging und suchte sich ihr nächstes Opfer. Über die verschiedenartigsten Kopfbedeckungen hinweg, zu den wogenden Gesängen der Grioten wurden Behältnisse gereicht: Schalen voller Krapfen, Plastikeimer und -töpfe voller fein aromatisiertem Ingwer. In Gruppen zu sechst, sieben, acht, bis zehn und zwölf hockten die Leute um eine Reistafel mit verschiedenen Fleischsorten und ließen es sich schmecken. Nachdem sie die Brautleute in deren Abwesenheit verheiratet hatten, kamen die Männer, die als Ehestifter tätig geworden waren, von der Moschee zurück und betraten nun das Haus. Mehr als zehn festlich gekleidete Notabein wurden von der Badiène empfangen, die ihnen einen Platz zuwies, ihnen daraufhin reichlich Erfrischungen, Kolanüsse, verschiedene Gerichte und jedem einen Berg Krapfen servierte. »Allbamdoullilab«, sagte derjenige, der der geistige Führer zu sein schien. »Yallas Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Die beiden sind von Yalla vereinigt worden.« »Ein Akt, der heutzutage in unserem Land nur noch selten vollzogen wird«, bemerkte sein Nachbar mit gewichtiger Miene. In einiger Entfernung von den übrigen Gästen lästerten die Alten über die Zeiten heutzutage. In einem winzigen Nebenraum drängten die Brautjungfern und Brautführer, alle europäisch gekleidet, darauf, endlich aufzubrechen. »Die Ehe ist geschlossen, worauf warten wir noch?« rief eine Brautjungfer, die neben der Tür saß.
»Hier drin erstickt man ja! Es wird Zeit, daß wir aufbrechen«, schrie ein junger Mann, seine schwarze Fliege zurechtzupfend. »Und die Schallplatten?« »Ich sag’s dir noch mal, es ist ein Orchester da.« »Und die Braut?« »Bei ihrer Mutter, mit den Marabuts, wegen der Gris-Gris.« Alle zusammen fingen sie an, gegen die Barackenwand zu trommeln, pfiffen und johlten. Nach den letzten Ratschlägen, den Gebeten und Wünschen für ein glückliches Eheleben übergaben der Vater, die Mutter, die Badiène, die ehrwürdigen Alten N’Goné – in weißem Crêpe de Chine, mit ihrem Diadem, mit ihrem weißen Schleier – ihren Begleitern und Begleiterinnen; wie aus einem Munde hob der Chorgesang an: Es war wie im Tollhaus. Die Badiène jubelte, sie spulte ein Loblied auf ihre Vorfahren ab. Die Griotinnen stimmten ein, indem sie den Refrain aufnahmen. Von der Schwelle des Zimmers bis zur Eingangstür wurden kostbare Pagnen ausgebreitet. Ein Ehrenteppich. Die Braut und ihr zahlreiches Gefolge schritten darüber hinweg. Auf der Straße warteten ein Dutzend Autos und, am äußersten Ende, auf einem offenen Lastwagen, das Hochzeitsgeschenk, ein Coupé, wie ein Osterei mit einer weißen Schleife verziert. Mit einem Hupkonzert setzte sich der Zug in Bewegung. Die Fahrzeugkolonne fuhr durch die Straßen Dakars, wobei sie ihre mechanische Serenade ertönen ließ. An jeder Kreuzung der Hauptverkehrsadern klatschte die gaffende Menge Beifall und wünschte der Braut viel Glück. Am Ende der Kolonne fahrend, wirkte der Lastwagen mit seinem Coupé wie eine Trophäe.
Jede Villa war auf den Namen der Ehefrau getauft worden. Das Haus der Ersten, »Adja Awa Astou«, lag an der östlichen Peripherie des Villenviertels von Dakar. Flammenbäume säumten die asphaltierten Straßen. Eine Ruhe wie am ersten Morgen der Schöpfung hüllte diesen Stadtteil ein, in dem paarweise die Hüter der öffentlichen Ordnung gemächlich Streife gingen. Eine gepflegte Bougainvillea-Hecke wuchs an der Hauswand empor, und am schmiedeeisernen Eingangstor war auf einem Emailleschild »Villa Adja Awa Astou« zu lesen. Die Türglocke hatte einen asiatischen Klang: ein gedämpfter Gong. In dem mit Möbeln überladenen Salon wartete die erste Frau mit ihren beiden ältesten Kindern. Die Mutter, Adja Awa Astou, hatte trotz ihres Alters, sie war zwischen sechsunddreißig und vierzig, trotz ihrer sechs Kinder ihre schlanke Figur bewahrt. Von samtschwarzem Teint, eine hohe Stirn, eine zierliche, ein ganz klein wenig platte Nase, ein Gesicht, das von zurückhaltendem Lächeln belebt wurde, ein treuherziger Blick aus Mandelaugen, strahlte diese Frau trotz ihrer zerbrechlichen Erscheinung eine grenzenlose Willenskraft und Zähigkeit aus. Seit ihrer Rückkehr von der heiligen Stätte, der Kaaba, kleidete sie sich nur noch in Weiß. Auf der Insel Goree geboren und dem christlichen Glauben zugehörig, war sie aus Liebe vom Glauben abgefallen, um die reinen Freuden des Ehelebens besser teilen zu können. Zum Zeitpunkt ihrer Heirat war El Hadji Abdou Kader Bèye nur Lehrer gewesen. Mit einem mehr als nachdrücklichen Blick unterbrach Adja Awa Astou in gemessenem Tonfall die Stille und sagte zum wiederholten Male: »Wir müssen an dieser Zeremonie teilnehmen, und zwar in Begleitung meiner Mitfrau. Euer Vater wünscht es so. Außerdem…«
»Mutter, du willst uns doch nicht etwa erzählen, Mactar und mir, daß du einverstanden bist, daß Vaters dritte Eheschließung mit deiner Zustimmung stattfindet!« Erhobenen Hauptes, die Haare zu kurzen Zöpfen geflochten, fühlte Rama, die älteste, Zorn und Auflehnung wie ein Feuer in ihrem Innersten auflodern. »Du bist noch jung. Dein Tag kommt noch, so Yalla will. Dann wirst du mich verstehen.« »Ich bin kein kleines Mädchen mehr, Mutter. Ich bin zwanzig Jahre alt. Niemals werde ich meinen Mann mit einer anderen Frau teilen. Eher lasse ich mich scheiden.« Eine Weile herrschte Schweigen. Mactar, der Bewunderung für seine große Schwester empfand, wandte seinen Blick zum Fenster, über die Blumen hinweg, in die Ferne. Er wich dem Blick seiner Mutter aus. Die Stiche, die er in seinem Herzen verspürte, wurden stechender, schärfer. Trotz ihrer direkten Sprache ging Rama mit ihrer Mutter sanft um. Das Mädchen war im Trubel des Unabhängigkeitskampfes groß geworden, als ihr Vater mit seinen Kameraden für die Freiheit aller kämpfte. Sie hatte an den Straßenschlachten und nächtlichen Plakataktionen teilgenommen. Sie war Mitglied demokratischer Vereinigungen und gehörte jetzt an der Universität zu einer Gruppe, die sich für die Wolofsprache einsetzte. Die dritte Heirat ihres Vaters hatte sie überrascht und enttäuscht. »Leicht gesagt, Rama, sich scheiden zu lassen«, nahm die Mutter das Gespräch zögernd wieder auf. Was sie sagen wollte, war das Ergebnis langer, reiflicher Überlegungen. »Du rätst mir, ich soll mich scheiden lassen? Wo könnte ich denn hingehen, in meinem Alter? Wo fände ich einen anderen Mann? Einen Mann in meinem Alter, der noch Junggeselle ist? Wenn ich euren Vater verließe und mit Glück und Yallas Hilfe
einen neuen Ehemann fände, wäre ich die dritte oder die vierte Frau. Und ihr, was würde dann aus euch?« Als sie zu Ende gesprochen hatte, veränderte ein leichtes Lächeln ihre Miene. Hatte sie Rama überzeugt? Diese Frage stellte sie sich nicht. Adja Awa Astou hatte keine Geheimnisse vor ihren beiden Kindern. In hilfloser Wut wetterte Rama: »Mutter, begreifst du nicht, daß diese Villa dir gehört? Was sich hier befindet, gehört alles dir. Vater besitzt hier nichts.« »Rama, das weiß ich auch. Aber es war euer Vater, der mir all das zum Geschenk gemacht hat. Ich kann ihn nicht vor die Tür setzen.« »Ich gehe nicht zu dieser Hochzeit.« »Ich schon. Ich muß mich dort sehen lassen. Sonst wird man sagen, ich sei eifersüchtig.« »Mutter, die neue Frau meines Vaters, diese N’Goné, ist so alt wie ich. Sie ist ein Miststück. Du gehst bloß wegen der Leute hin, aus Angst, daß sie dich sonst schlecht machen.« »Sprich nicht so!« wurde sie von der Mutter unterbrochen. »Diese N’Goné ist so alt wie du, das stimmt schon. Aber sie ist ein Opfer.« Die Türglocke läutete mit ihrem asiatischen Klang. »Das ist euer Vater.« El Hadji Abdou Kader Bèye erschien im Salon, in aufgeräumter Stimmung. »Ich grüße euch«, sagte er, an die beiden jungen Leute gewandt. »Bist du fertig?« fragte er seine Frau. »Ja.« »Und du, Rama?« »Ich komme nicht mit, Vater.« »Warum?« »Vater, rückst du mal fünftausend Francs für die Schule raus?« Mactar, der jüngste Sohn, ging zu seinem Vater. El
Hadji zog ein Bündel Banknoten hervor, zählte fünf ab und gab sie ihm. Rama stand aufrecht. Sie fing den Blick ihrer Mutter auf und sagte: »Ich bin gegen diese Heirat. Ein Mann, der Polygamist ist, kann niemals aufrichtig sein.« Die Ohrfeige traf Ramas rechte Wange. Sie taumelte und stürzte zu Boden. »Wagst du es etwa zu sagen, daß ich ein Betrüger bin?« brüllte der Vater. Er wollte erneut über Rama herfallen. Da warf sich Mactar, ihr jüngerer Bruder, dazwischen. »Deine Revolution, die kannst du an der Universität oder auf der Straße machen, aber nicht bei mir zu Hause.« »Das hier ist nicht dein Zuhause. Du besitzt hier gar nichts«, gab Rama zurück; ein dünner Faden Blut sickerte aus ihrem Mundwinkel. »Brechen wir auf! Gehen wir, El Hadji«, sagte die Mutter und zog den Mann zur Tür. »Wenn du das Mädchen richtig erzogen hättest…«, warf El Hadji seiner Frau vor. »Du hast ja recht. Vergiß nicht, daß man dich erwartet. Es ist dein Hochzeitstag.« Als die Eltern draußen waren, wagte Mactar ein »Der Alte wird immer reaktionärer«. Rama stand auf und ging in ihr Zimmer. Im langsam dahinfahrenden Mercedes sprachen der Mann und seine erste Frau kein Wort miteinander, jeder blickte in eine andere Richtung, den Kopf voller Sorgen.
Die Villa der zweiten Frau unterschied sich von der ersten Villa nur durch die Hecke. Neme-Sträucher warfen ihren Schatten auf die Fassade. An der Haustür blinkte ein Emailleschild in gotischen Lettern: »Villa Oumi N’Doye«.
Modu, der Chauffeur, brachte das Auto vor dem Eingang zum Stehen; er öffnete seinem Chef die Wagentür. El Hadji Abdou Kader Bèye stieg aus, er wartete einen Augenblick auf dem Bürgersteig, beugte sich dann ins Wageninnere und forderte Adja Awa Astou auf: »Steig doch bitte aus!« Adja Awa Astou ließ ihren Blick über das Gesicht ihres Mannes gleiten und schüttelte verneinend den Kopf. Ihre Augen verrieten keinerlei Groll. Eine solch tiefe innere Gelassenheit, daß man hätte denken können, sie sei zu keiner Reaktion fähig. In ihren Augen lag ein Gefühl der Stärke, die Flamme des beherrschten passiven Widerstandes. El Hadji ertrug diesen Blick nicht. Er wich ihm aus. Dann, geradeso, als würde er sich einer anderen Person zuwenden, bat er sie mit drängender Stimme: »Adja, du gehst eben kurz rein und gleich wieder raus. Was soll Oumi N’Doye von dir denken?« Adja Awa Astou hatte ihren Blick nicht gesenkt. Etikette? Sie hielt sich im Zaum, um nicht zu explodieren. Wie eine tosende Brandung tobte in ihrem Inneren die Enttäuschung. Tief gläubig, wie sie war, beherrschte sie sich, bezwang ihren Zorn, flehte Yalla um Beistand an. Einen Wortschwall unterdrückend, sagte sie: »El Hadji, zunächst einmal bitte ich dich um Verzeihung. Aber du scheinst zu vergessen, daß ich deine Awa∗ bin. Ich setze keinen Fuß in dieses Haus. Ich werde hier warten.« El Hadji Abdou Kader Bèye kannte nur zu gut seine erste Frau, ihren Stolz. Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da nahm sie wieder ihre abweisende Haltung ein, das Gesicht zur Seite abgewandt. Ihr Ehemann stieß das Eingangstor zur Villa auf. Er ging durch den Garten und betrat das Wohnzimmer, das reich mit Möbeln ausgestattet war, zumeist mit dem ∗
die erste Ehefrau; arabischer Name der ersten Frau auf Erden
Markenzeichen »Möbel aus Frankreich«. Überall thronten Kunstblumen. Kaum hatte er den Salon betreten, da fiel ihm Mariem, seine jüngste Tochter, fünfzehn Jahre alt, im Minikleid, sehr groß für ihr Alter, erfreut um den Hals. »Du bist nicht in der Schule?« fragte der Vater. »Nein, ich habe mir freigeben lassen. Ich komme mit ein paar Freundinnen zur Hochzeit. Vater, kannst du mir mit einem Tausender aus der Klemme helfen, ich bin pleite.« »O. K. Und deine Mutter?« Verschmitzt zeigte Mariem ihm mit dem Daumen die Richtung. Beim Verlassen des Zimmers drückte der Vater ihr drei Scheine in die Hand. Oumi N’Doye erblickte El Hadji in ihrem Spiegel. Sie steckte mit Hilfe von Haarnadeln ihre schwarze Perücke fest. »Ich stehe in einer Minute zu deiner Verfügung«, sagte sie auf Französisch. »Mit wem bist du im Mercedes gekommen?« »Adja Awa. Sie ist im Wagen geblieben.« »Warum kommt sie nicht herein?« erkundigte sich Oumi N’Doye lebhaft und wandte sich ihm zu. »Mariem! Mariem!« rief sie. Mariem steckte den Kopf zur Tür herein. »Ja, Mutter?« »Hol Adja Awa herein. Sie sitzt im Auto. Sag ihr, ich bin unter der Dusche.« Mariem ging hinaus. »Ist sie wütend?« »Wer?« fragte El Hadji, der sich auf das Bett setzte. »Adja Awa Astou.« »Nicht daß ich wüßte«, antwortete er, in einer Frauenzeitschrift blätternd. »Sie hat dich dazu getrieben, diese Dritte zu heiraten! Einzig und allein aus Eifersucht. Weil ich jünger bin als sie, die alte Schachtel.«
Hatte der Seitenhieb gesessen? El Hadji reagierte nicht. Sie hatte mit schneidender Stimme gesprochen, zwischen den Zähnen. Da sie keine Antwort erhielt, fuhr sie fort: »Jetzt freut sie sich wohl, deine Alte. Sie wartet draußen auf mich, weil sie sehen will, wie ich mich verhalte, was? Ich werde den Konkurrenzkampf mit deiner alten vertrockneten Schachtel aufnehmen. Ganz klar, daß sie sich mit dieser N’Goné zusammentun wird, bloß um mich zu nerven, aber wir werden ja sehen!« »Hör gut zu, Oumi! Ich will keinen Streit, weder hier noch dort. Wenn du nicht mitkommen willst, dann ist das deine Sache. Aber halte gefälligst den Mund!« »Hab ich’s doch gewußt! Nun drohst du mir auch noch! Sag doch gleich, daß du mich dort nicht dabeihaben willst. Vielleicht will es ja auch deine Adja nicht. Sie steckt dahinter, was? Deine Dritte, N’Goné, ist auch nicht anders gebaut als wir alle!« Sie hatte sich vor dem Mann aufgepflanzt und sagte mit drohender Stimme: »Glaub mir, ich geh nicht hin, zu deiner DRITTEN, um mich rumzustreiten. Da kannst du ganz beruhigt sein!« »Gib mir was zu trinken! Ich habe schrecklichen Durst«, sagte El Hadji, um sie abzulenken. »Es ist kein Evian im Haus.« El Hadji trank ausschließlich Evian-Wasser. »Willst du Leitungswasser?« fragte Oumi N’Doye spöttisch, mit herausfordernder Miene, wodurch sich Fältchen um ihre zusammengekniffenen Mundwinkel bildeten. El Hadji Abdou Kader Bèye verließ das Zimmer. Draußen rief er Modu, den Chauffeur. »Chef?« »Bring mir das Evian.« Beim Mercedes stehend, legte Mariem, das jüngste Kind seiner zweiten Frau, allen Charme in ihre Stimme, um Adja
Awa Astou dazu zu bewegen, das Fahrzeug zu verlassen, ins Haus zu kommen. »Mariem, sag deiner Mutter, daß ich lieber hier warte.« »Mutter Adja, wenn du wüßtest, wie lange meine Mutter braucht, um sich zurechtzumachen! Sie ist unter der Dusche«, wiederholte das junge Mädchen. Verwirrt, von Adja Awa Astous Lächeln besiegt, gefolgt von Modu mit der Kühlbox in der Hand, schloß Mariem das Eingangstor hinter sich. Als Oumi N’Doye über die Türschwelle schritt, um hinauszugehen, flüsterte sie El Hadji die Frage ins Ohr: »Wer von uns beiden, sie oder ich, darf sich mit dir hinten ins Auto setzen?« El Hadji hatte keine Zeit zu antworten, so schnell fügte sie hinzu: »Nun gut, alle drei! Denn sie ist gar nicht an der Reihe mit dem Moomé.∗« Oumi N’Doye nahm im Mercedes Platz und erkundigte sich bei Adja Awa Astou, wie es ihren Kindern ging. Sehr distanziert, mit viel Ehrerbietung unterhielten sich die beiden Frauen. Jede machte der anderen Komplimente über ihre Kleidung und ihr Aussehen. »Du willst also keinen Fuß in mein Haus setzen!« »Glaub mir, du brauchst keine Hintergedanken dabei zu haben. Ich war hier gut aufgehoben im Wagen. Aber ich gehe sowieso selten aus, mir wird immer schwindelig«, sagte Adja Awa Astou entschuldigend. El Hadji Abdou Kader Bèye, im Fond des Wagens zwischen seinen beiden Frauen sitzend, hörte ihnen mal zu, mal ließ er seine Gedanken umherschweifen. In der Ferne konnte man das Orchester hören, es spielte Schlagermusik. Auf dem Bürgersteig tanzte eine Horde Jugendlicher. Zerberusse hielten am Eingang Wache, die Gäste ∗
Anzahl der Tage, die ein mit mehreren Frauen verheirateter Mann mit jeder einzelnen verbringt; Synonym: Ayé
zeigten ihre Einladungskarten vor. Auf dem zementierten Boden des Hofes drängten sich die Paare. Unter der Veranda legte sich ein Kora-Spieler, von zwei Sängerinnen begleitet, laut singend ins Zeug, sobald das Orchester eine Pause machte. Die dritte Villa, erst kürzlich erbaut, lag außerhalb des ärmeren Viertels, ein zukünftiger Vorort für die Superreichen. Der Mercedes hielt. Zwei Schritte vor seinen Frauen hergehend, durchquerte El Hadji unter Beifallrufen und wilden Trommelwirbeln der Musiker den Hof; der Kora-Spieler entlockte seinem Instrument Töne, die im Lärm untergingen. Als erste, noch vor der Braut eingetroffen, empfing Yay Bineta, die Badiène, als Hausherrin die beiden Frauen und führte sie in einen Raum, wo die illustren weiblichen Gäste versammelt waren. In weltmännischer Manier machte die Badiène mit den beiden anderen Ehefrauen höflich Konversation: »Ihr gebt den jungen Mädchen ein Beispiel? Gute Mitfrauen müssen untereinander einig sein.« »Keine Sorge, wir sind das gewohnt! Wir sind ein und dieselbe Familie, in den Adern unserer Kinder fließt das gleiche Blut«, gab Oumi N’Doye unverzüglich zurück, ohne Adja Awa Astou Zeit zu lassen, ein Wort zu sagen. »Ich nehme mir unsere älteste, Adja, zum Beispiel. Ich danke Yalla, daß er mich auf die Probe stellt, damit auch ich beweisen kann, daß ich weder eifersüchtig noch egoistisch bin.« »Eure Anwesenheit hier und heute spricht für euch. Ganz Dakar kennt euch. Euer beider guter Ruf bedarf keines Beweises mehr.« Yay Bineta wußte ebenso gut wie die Mitfrauen, daß sie nur für das Publikum redeten. Sich in euphemistischen Äußerungen ergehend, wappneten sie sich für die kommenden echten Feindseligkeiten. Die Badiène verließ sie und ging zu El Hadji ins Brautzimmer. Das Zimmer war ganz weiß
getüncht, die Einrichtung bestand im Moment lediglich aus einer Matratze, die in einer Ecke lag, einem großen, umgestülpten Mörser und einem Stößel. »Es ist Zeit, daß du dich umziehst, El Hadji«, befahl die Badiène dem Mann. »Mich umziehen? Weshalb?« »Du mußt dich in einen Kaftan kleiden, ohne Hosen, und dich auf den Mörser da setzen, den Stößel zwischen den Füßen, bis die Ankunft deiner Frau verkündet wird.« »Yay Bineta, auch du glaubst an derlei Dinge! Ich habe zwei Ehefrauen, und noch nie habe ich mich mit solchem Zeug lächerlich gemacht. Und auch heute werde ich nicht damit anfangen!« »Du bist kein Tubab! Was mich persönlich betrifft, so bin ich sehr skeptisch. Die Liebenswürdigkeit deiner beiden Ehefrauen beunruhigt mich. Meine kleine N’Goné ist noch unschuldig. Sie ist noch nicht im Alter für einen Konkurrenzkampf. Zieh wenigstens deine Hosen aus und setz dich hin. Ich komme zurück, um dir die Ankunft deiner Frau anzukündigen.« Daß eine Frau in einem so schroffen Ton zu ihm sprach, war kaum nach El Hadjis Geschmack. Er war zu zivilisiert, um solchem Aberglauben Beachtung zu schenken. »Nein«, gab er barsch zurück und ließ die Badiène allein.
Adja Awa Astou und Oumi N’Doye, die beiden Ehefrauen, hatten beobachtet, mit welcher Schliche die Badiène ihrer beider Mann in das Brautzimmer gelotst hatte. Derselbe Gedanke war ihnen durch den Kopf gegangen. Nachdenklich fragte Oumi N’Doye zaghaft: »Was haben wir in diesem Hause verloren?« Adja Awa Astou beugte sich wegen des Lärms zu ihr hinüber: »Was meinst du?«
Oumi N’Doye blickte prüfend um sich, ob nicht irgend jemand indiskret lauschte oder sie beobachtete. »Was haben wir beide hier verloren, du und ich?« »Wir warten auf die Ankunft unserer Wëjë, unserer Mitfrau«, antwortete Adja, die Augen auf den Hals der zweiten Frau gerichtet. »Du bist die Awa, und du tust nichts. Du bist also für diese dritte Ehe. Du hast El Hadji deinen Segen gegeben, was?« Oumi N’Doye streckte den Kopf vor. Das durch die Tür hereinfallende Tageslicht erhellte ihr Gesicht, das vor Eifersucht glühte. Sie kniff die Lippen zusammen. »Du willst, daß wir gehen?« fragte Adja in vertraulichem Ton. »Ja, verschwinden wir!« antwortete Oumi N’Doye und wollte schon aufstehen. Adja Awa Astou hielt sie am Knie fest, als ob sie sie auf dem Sessel festschrauben wollte. Oumi N’Doye blickte in dieselbe Richtung wie sie. Auf der Schwelle der anderen Tür stand Yay Bineta und belauerte sie. Intuitiv erkannte die Badiène, daß die beiden Frauen von ihrer Nichte sprachen. Die Badiène verzog sich. Einen Augenblick später nahm Adja Awa Astou das Gespräch wieder auf: »Du bist diejenige, die mit Yay Bineta im Wettstreit ist. Ich? Ich hab die Arena nie betreten. Ich bin nicht fähig zu kämpfen, zu rivalisieren. Das weißt du selbst. Als du jung verheiratet warst, hattest du vergessen, daß es mich gab. Seit beinahe zwanzig Jahren bin ich nun die Awa. Und du, seit wie vielen Jahren bist du seine Frau und meine Zweite?« »Ich? Seit siebzehn Jahren, glaube ich.« »Weißt du, wie oft wir uns gesehen haben?« »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht«, gestand Oumi N’Doye.
»Siebenmal! Nun, seit den mehr als fünfzehn Jahren, die du seine zweite Ehefrau bist, verläßt mich dieser Mann, der gleiche Mann, jeden dritten Tag, verbringt drei Nächte mit dir, pendelt zwischen deinem Schlafzimmer und meinem hin und her. Hast du schon jemals darüber nachgedacht?« »Nein«, unterbrach sie Oumi N’Doye. »Und du hast mich nie besucht!« »Obwohl du mich mehrmals aufgesucht hast. Ich muß zugeben, ich weiß nicht, warum ich nicht zu dir zu Besuch gekommen bin.« »Weil du mit mir im Wettstreit lagst.« »Ihr habt ja noch gar nichts getrunken! Bedient euch doch! Ihr seid hier zu Hause«, unterbrach sie die Badiène, die ein Tablett mit Getränken vor ihren Füßen abstellte. Adja Awa Astou trank. Oumi N’Doye steckte, bevor sie das Glas an die Lippen führte, ihren linken kleinen Finger hinein und verspritzte ein paar Tropfen. Schockiert zog sich Yay Bineta schleunigst zurück. »Die Braut! Die Braut!« Der Rest des Satzes ging im allgemeinen Tumult unter. Das Hupkonzert schallte durch die Luft. Eine stämmige Frau, einen Schuh in der Hand, stürzte zur Tür. Sie stieß mit jemandem zusammen und fiel hin; ihr stramm über den Hüften sitzendes Kleid platzte auf. Ein langer waagerechter Riß, und ihr Hinterteil war entblößt. Nachdem zwei andere Frauen ihr wieder auf die Beine geholfen hatten, schimpfte sie verächtlich auf die Männer, die keine Manieren hatten, keinerlei Rücksicht auf Frauen nahmen. Yay Bineta, die Badiène, trieb energisch die Leute auseinander. Wie der Brauch es wollte, geleitete der Präsident des »Verbandes der Geschäftsleute« El Hadji, der seiner Braut entgegenging.
El Hadji Abdou Kader Bèye hatte sich eine Pagne um den Kopf gewickelt. Die beiden Mitfrauen begaben sich zur Freitreppe. Von dort oben beobachteten sie die ganze Zeremonie. Zu ihrer Zeit und zu Beginn ihres ehelichen Lebens hatten sie diesen Augenblick selbst erlebt, das Herz voller Glück und voller Versprechen. Nun wurden sie Zeuginnen des Glücks einer anderen, einer Rivalin, und die Erinnerung an ihre eigenen Flitterwochen gab dem Ganzen einen gallebitteren Beigeschmack. Sie verspürten grausame Stiche der Bitterkeit. Eingehüllt in ihre gemeinsame Verlassenheit, vereinsamt, standen sie schweigend beieinander. El Hadji war schon auf der Tanzfläche und tanzte mit der Braut, womit er das Zeichen für den Beginn des Festes gab, das die ganze Nacht dauern sollte. Das Orchester spielte die obligatorische Comparsita. Dem Tango folgte der Jerk; die jungen Leute stürmten die Tanzfläche. Die Stimmung versprach gut zu werden. Zwölf Männer, jeder beladen mit einem Méchoui, hielten ihren Einzug. Die Gäste griffen nach allen möglichen Gegenständen und trommelten darauf, um ihrer Freude Ausdruck zu geben; andere klatschten Beifall. Adja Awa Astou mühte sich mit gezwungenem Lächeln ihre Enttäuschung zu verbergen. »Oumi«, sagte sie leise, »ich verzieh mich.« »Bleib noch ein bißchen. Ich bin sonst ganz allein.« »Die Kinder sind allein in der Villa.« Mit diesen Worten schüttelte sie ihrer Mitfrau die Hand, ging die Stufen hinunter, an der Tanzfläche vorbei auf die Straße hinaus, wo zahlreiche Autos parkten. Modu, der Chauffeur, der sie bemerkt hatte, öffnete ihr die Wagentür. »Fahr mich zur Villa zurück.«
Wieder zu Hause, überkam Adja Awa Astou ein leichtes Unwohlsein. Sie ließ ihre Kinder nichts merken, die sie mit Fragen nach dem Verlauf der Hochzeitsfeier bestürmten. Die Eifersucht, so hatte sie geglaubt, sei aus ihrem Herzen verbannt. Als ihr Ehemann vor langer Zeit eine zweite Frau nahm, verbarg sie ihren Kummer. Ihr Schmerz war damals nicht so groß: Es war das Jahr ihrer Pilgerfahrt nach Mekka. Als Konvertitin war sie von den Lehren ihrer neuen Religion tief durchdrungen. Nunmehr Adja, trachtete sie danach, aus ihrem Herzen – das rein, unbefleckt sein sollte – jedes Gefühl des Hasses, der Niedertracht anderen gegenüber zu verbannen. Mit großer Willenskraft brachte sie jeden Anflug von Haß gegenüber der zweiten Frau zum Verstummen. Sie wollte eine Ehefrau sein, wie es der Islam vorschreibt: fünf Gebete pro Tag, absoluter Gehorsam ihrem Mann gegenüber. Die Religion, die Erziehung ihrer Kinder wurden ihr Lebensinhalt. Die wenigen Freundinnen, die sie noch hatte, oder die Freunde ihres Mannes sprachen von ihr als einer vorbildlichen Ehefrau. Nachdem sie ihren Kindern das Abendessen bereitet hatte, nahm sie inbrünstig ihre Gebetskette zur Hand. Ihre Eltern kamen ihr wieder in den Sinn. Sie wünschte, sie könnte ihren Vater wiedersehen, der noch auf Goree lebte. Seit ihrem Übertritt zum muslimischen Glauben hatte sie ihre Familie immer seltener besucht. Nach der Beerdigung ihrer Mutter vollzog sie den völligen Bruch. Ihr Vater – Papa Jean, wie ihn alle Inselbewohner nannten – war ein kompromißloser Christ aus der dritten Generation des afrikanischen Katholizismus. Stets eifrig mit seiner ganzen Sippschaft bei den Messen anwesend, viel gerühmt für seine Frömmigkeit, besaß er beträchtlichen Einfluß auf seine Kollegen. Zur Zeit der Kolonialherrschaft war er mehrere Jahre lang gewähltes Mitglied im Stadtrat. Als er erfuhr, daß
seine Tochter auf dem Festland mit einem Muslim verkehrte, wollte er sich darüber Gewißheit verschaffen. Bei einem seiner täglichen Spaziergänge, in Begleitung seiner Tochter, stieg er den Steilweg hinauf zum Plateau von Castelle. Zu ihren Füßen schlug das Meer wild und schäumend gegen die Klippen. »Renée«, sagte er. »Ja, Vater?« »Wird dieser Muslim dich heiraten?« Renée – Adja Awa Astou – senkte den Blick. Papa Jean war sicher, keine Antwort zu erhalten. Papa Jean wußte sehr viel über diesen Muslim, über seine gewerkschaftlichen Aktivitäten. Man hatte ihm von dessen Reden über die Präsenz der Franzosen, deren Verbündete, die Assimilierten, berichtet, die er bei politischen Versammlungen hielt. Er sah in ihm keinen Schwiegersohn und litt schon im voraus bei dem Gedanken, daß er eines Tages seiner Familie angehören könnte. »Wirst du dann Muslimin?« Diesmal wurde die Frage in weitaus schärferem Ton gestellt. Renée flirtete mit diesem Lehrer, dem Helden der jungen Leute, ohne jeden Hintergedanken. Ihr war der Gegensatz zwischen den Religionen auch nicht bewußt. »Liebst du ihn?« Papa Jean beobachtete seine Tochter von der Seite, auf eine Antwort wartend. Die, so hoffte er tief in seinem Innern, »nein« lauten würde. »Renée, antworte mir!«
Die Rückkehr von Rama, ihrer ältesten Tochter, unterbrach den Strom der Erinnerungen. »Ich dachte, du schläfst«, sagte Rama, während sie sich auf einen Stuhl setzte. »Hast du gegessen?« fragte die Mutter. »Ja. Waren viele Leute auf Papas Hochzeit?«
»Bei dem, was er ausgegeben hat! Du kennst die Stadt und weißt, wie die Leute sind.« »Und Oumi N’Doye?« »Ich habe sie dort zurückgelassen.« »Sie war bestimmt unausstehlich!« »Nein. Wir waren zusammen.« Rama bemerkte immer, wenn ihre Mutter Kummer hatte, und war er auch noch so gering. Die Atmosphäre dieses Abends eignete sich nicht für ein Gespräch. Der Lichtschein der Wandlampe ließ das Gesicht ihrer Mutter in ihrem weißen Schal schmaler wirken. Winzig kleine leuchtende Pünktchen glitzerten in ihren Pupillen. Am Kranz ihrer Wimpern glaubte Rama Tränen gesehen zu haben. »Ich werde noch ein bißchen arbeiten, ehe ich schlafen gehe«, erklärte Rama und erhob sich. »Was hast du zu tun?« »Ich muß eine Übersetzung in Wolof machen. Verbringe die Nacht in Frieden, Mutter.« »Du auch.« Die Tür, die sich schloß, ließ die Mutter einsamer als zuvor zurück, so wie andere sich durch Drogen von der Umwelt isolieren. Adja Awa Astou fand in der Religion die tägliche Dosis, die sie brauchte. Jerk und Pachanga wechselten einander ab. Die Tänzer – ausschließlich junge Leute – verließen die Tanzfläche nicht einen Augenblick. Das Orchester gab sich alle Mühe, bei seinem Soul-Sound zu bleiben. Die Hochzeitsfeier hatte ihre feierliche Atmosphäre eingebüßt und den Charakter eines wüsten Gelages angenommen. Der »Verband der Geschäftsleute« bildete eine Clique für sich. Dort wurde lebhaft diskutiert, man sprang von einem Thema zum anderen, von der Politik zur Geburtenbeschränkung, vom Kommunismus zum
Kapitalismus. Auf dem Tisch vor ihnen, den Ehrengästen, waren sämtliche Sorten Alkohol zu finden, Flaschen in allen möglichen Formen, die Reste der Hochzeitstorte, die Überbleibsel des Méchoui. El Hadji Abdou Kader Bèye schwirrte gesprächig von einem zum anderen. Die Braut tanzte mit einem jungen Mann. El Hadji trat lachend zu seinen Kollegen. »Ziehst du dich zurück? Geh und vernasch deine Jungfrau«, empfing ihn doppelzüngig der Verbandspräsident; sein Atem stank, hin und herschwankend legte er einen Arm um El Hadjis Nacken und wandte sich mit schwerer Zunge an die anderen: »Liebe Kollegen, unser Bruder El Hadji wird gleich, in wenigen Augenblicken, bei seiner Hübschen den Bohrer ansetzen…« »Ein delikates Unterfangen«, übertraf ihn der Abgeordnete der Nationalversammlung, der sich mühsam von seinem Stuhl erhob. Nach ein paar übelriechenden Rülpsern, die die Luft verpesteten, fuhr er fort: »El Hadji, wir sind bereit, dir dabei Hilfe zu leisten, das kannst du uns glauben.« »Jawohl«, schrien die anderen. Und jeder fügte noch seinen eigenen Senf dazu. »Hast du das Zeug genommen, El Hadji?« fragte Laye, der sich zu ihnen gesellt hatte. Sein lüsterner Blick klebte an den prallen Pobacken eines jungen Mädchens, das »jerkte«. Er flüsterte El Hadji ins Ohr: »Ich versichere dir, daß es wirkt. Dein Pimmel wird die ganze Nacht über steif sein. Ich habe dir das Zeug aus Gambia mitgebracht.« Die Unterhaltung erging sich nun über Aphrodisiaka. Jeder gab sich als Experte auf diesem Gebiet aus; jeder hatte sein ganz besonderes Rezept. Der Tänzer lieferte die Braut wieder ab. N’Gonés Erscheinen ließ das Palaver schlagartig verstummen. Mit einem Male ging das Licht aus. Schreie,
vermischt mit »Oh!«, »Licht!«, »Das Eintrittsgeld zurück!« ertönten. Als das Licht wieder anging, war das Brautpaar verschwunden. Im Brautzimmer hatte Yay Bineta, die unermüdliche Badiène, ihres Amtes gewaltet. Sie wartete auf den letzten Akt. Das Bett war mit weißen Laken überzogen. »Wie glücklich ich doch bin, meine Kinder«, sagte sie. »Die ganze Familie, die Brüder, Cousins, Cousinen, Neffen, Tanten, Nichten und Verwandten, alle waren da. Ein großer Tag für uns alle! Ihr seid sicher müde.« »Ich nicht«, antwortete N’Goné. »Ich helfe dir bei deinen Vorbereitungen«, sage die Badiène zu ihrer Nichte. Sehr mütterlich begann die Badiène mit der weißen Brautkrone, die sie einer Schneiderpuppe auf den Kopf setzte. Sie sprach: »Fürchte nichts. Es wird ein bißchen weh tun, aber sei fügsam in den Armen deines Ehemannes. Gehorche.« Ob aus Scham oder aus Schüchternheit, N’Goné weinte. El Hadji Abdou Kader Bèye hatte sich ins Badezimmer zurückgezogen. Nachdem er geduscht hatte, schluckte er Aufputschmittel. Die Hände in den Taschen des Pyjamas, parfümiert, trat er wieder in das Zimmer. In einem duftigen Nachthemd lag N’Goné hingebungsvoll auf dem Bett. Die Badiène hatte sich zurückgezogen. Der Mann betrachtete den Körper mit gieriger Zudringlichkeit.
Der sanfte, frische Morgenwind wehte von dieser Seite der Stadt her. Die Rufe der Muezzins zum Morgengebet waren zu hören. Im Osten erhellte sich der Himmel in breiten Streifen zwischen den Hochhäusern, über den Wipfeln der Baobabs und Kapokbäume.
Eine Frau in hohem Alter, von Kopf bis Fuß verhüllt, zwischen den letzten Schatten herhuschend, trat ans Tor der Villa. Die Badiène, die schon seit einer Weile nach ihr Ausschau hielt, öffnete ihr. Sie wechselten ein paar kurze Worte miteinander; gemeinsam begaben sie sich zum Brautgemach. Ya Bineta klopfte an die Tür. Keine Antwort. Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Die beiden Frauen sahen einander an. Ihr Blick verriet eine gewisse Verwirrung. Die Badiène drückte auf die Klinke, öffnete unendlich vorsichtig die Tür. Zögernd steckte sie den Kopf hinein. Blaue Helligkeit empfing sie. Sie runzelte die Brauen; ihre Augen wanderten durch das ganze Zimmer. N’Goné lag auf dem Bett, im Nachthemd; am Fußende saß El Hadji Abdou Kader Bèye, den Kopf in den Händen, den Nacken gespannt, den Rücken gekrümmt. Yay Bineta trat ein, gefolgt von der anderen Frau mit ihrem Hahn in der Hand. Mit einem Blick inspizierte die Badiène das Laken, nach Blutspuren suchend. Dann packte sie den Hahn, um ihn zwischen N’Gonés Beinen als Opfer zu schlachten. »Nein! Nein!« entfuhr es N’Goné, die Beine wie eine große Schere schließend. Sie schluchzte, fuchtelte mit dem Arm ins Leere, um den Hahn abzuwehren. »Was ist geschehen?« fragte die Badiène mit schneidender Stimme. N’Gonés Gejammer klang durch die Stille. »El Hadji, mit dir rede ich. Was ist vorgefallen?« »Yay Bineta, ich konnte nicht!« N’Goné stieß einen Schrei aus, einen Schrei wie ein Tier in Not. Vom Schrecken überwältigt, hielten die beiden Frauen sich gleichzeitig die Hand vor den Mund. Der Hahn entwischte, krähte sein Kikeriki.
»La illaha illallab! Großer Gott! Jemand hat dich verhext.« Die Badiène murrte. Die andere Frau versuchte, auf allen vieren kriechend, ihren Hahn einzufangen. Das Federvieh ergriff die Flucht. Die Badiène, immer mehr in Wut geratend, legte los: »Ich hatte es dir gesagt! Du und deinesgleichen, ihr haltet euch für Tubab. Hättest du gestern auf mich gehört, dann sähe es für dich heute morgen anders aus. Was für eine Blamage! Was hätte es dir schon ausgemacht, dich auf den Mörser da zu setzen?« Sie zeigte mit der Hand darauf. »Wo es nun so mit dir steht, weißt du wenigstens, was du zu tun hast? Du mußt dich behandeln lassen, einen Marabut aufsuchen.« Die Frau erwischte ihren Hahn an den Beinen, er hatte sich hinter dem Mörser, nahe der Schneiderpuppe verkrochen, die noch das Hochzeitskleid trug. Sie ging auf El Hadji zu: »Das ist nicht schlimm, so ein Xala! Was eine Hand gepflanzt hat, kann eine andere wieder ausreißen. Steh auf! Du brauchst dich nicht zu schämen.« Ein Xala! El Hadji Abdou Kader Bèye war fassungslos. Er konnte einfach nicht glauben, daß ihm so etwas widerfahren war. Wenn sie unter Männern darüber gesprochen hatten, konnte er immer darüber lachen. An diesem Morgen aber war er völlig am Boden zerstört. Wie vor den Kopf geschlagen, war El Hadji innerlich leer. Erkannte er seine Lage? Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan, die Begierde war aus seinem Körper gewichen, die Nerven hatten sich von seinem Nervenzentrum losgelöst. Die Badiène tröstete die Braut: »Hör auf zu weinen! Du hast dir nichts vorzuwerfen! Dein Mann ist es, der nun Maßnahmen ergreifen muß. Ich bin sicher, daß du noch Jungfrau bist.« »El Hadji, rühr dich! Steh auf! Es muß etwas getan werden! Du mußt was tun. Du solltest dich behandeln lassen«, riet ihm die Frau, ihren Hahn fest umklammernd.
Verstört ging El Hadji ins Badezimmer. Während seiner Abwesenheit wühlte Yay Bineta unter dem Kopfkissen, auf der Suche nach dem Kraftfahrzeugschein und den Schlüsseln des geschenkten Autos. Fündig geworden, gab sie ein paar Bosheiten über die Mitfrauen von sich. El Hadji erschien wieder, angekleidet. Draußen war heller Tag. Im Hof lagen leere Flaschen, zerbrochene Gläser, umgekippte Tische und Stühle. Schwärme von Fliegen schwirrten umher. Modu, der Chauffeur, wartete auf seinen Chef. Als er ihn kommen sah, warf er seine Zigarette fort. El Hadjis zerknitterten Gesichtsausdruck führte Modu auf die ermüdende Nacht seines Chefs zurück – nicht jedoch auf den wahren Tatbestand. Als er im Mercedes saß, wußte El Hadji Abdou Kader Bèye nicht, was er tun sollte. Er wäre gern zu Adja Awa Astou gefahren. Zweimal verwarf er diesen Gedanken. Was sollte er zu Adja sagen? Er hatte seine fünf Sinne nicht mehr beisammen. Welche seiner Frauen hatte diese Sache ausgeheckt, ihm »einen Knoten geknüpft«? Und warum? Welche von beiden? Adja Awa Astou? Unmöglich. Sie, der nie ein böses Wort über die Lippen kam! Also die Zweite, Oumi N’Doye? Der Xala konnte von ihr sein. Sie war sehr eifersüchtig, neidisch. Seit sie von dieser Heirat wußte, waren die Moomé bei Oumi die reinsten Höllennächte. Trotzdem, im Grunde seines Herzens wies El Hadji diese Möglichkeit von sich. Oumi N’Doye war nicht so gemein. Seine Überlegungen kreisten wie besessen immer wieder um seine Frauen. Modu brachte den Wagen vor dem Import-Export-GeschäftBüro zum Stehen. Beim Anblick ihres Chefs hielt die Sekretärin-Verkäuferin inne, die Flytox-Pumpe gegen Insekten zu betätigen, und beeilte sich, ihm zu gratulieren. »Das war wunderbar, gestern! Meinen Glückwunsch!«
»Danke, Madame Diouf«, antwortete El Hadji und zog sich in den Verschlag zurück, den er sein Büro nannte. Madame Diouf nahm ihren harten Kampf gegen die Fliegen, die Kakerlaken, die Geckos wieder auf, von denen es im Laden wimmelte. El Hadji Abdou Kader Bèye war schrecklich deprimiert. Er stierte die Tür seines Büros an, ohne zu bemerken, wie schlecht sie zusammengezimmert war. Der Straßenlärm, der bis zu ihm drang, unterbrach seinen Gedankenstrom. Der monotone bruchstückhafte Gesang eines Bettlers, direkt von der gegenüberliegenden Straßenseite, irritierte ihn. Allmählich kam er wieder zu sich, wie ein Ertrinkender, der wieder Luft bekommt. Zu seiner eigenen Überraschung bedauerte er seine dritte Ehe bereits. Sollte er sich noch heute morgen scheiden lassen? Er wies diese Lösung weit von sich. Liebte er N’Goné? Eine sehr vage Frage. Er konnte sich von ihr trennen, ohne groß zu leiden. Aber sie so einfach zu verlassen, nach all den Ausgaben, die er gehabt hatte, das erschien ihm wie eine Nötigung. Und das Auto? Die Villa? Die Kosten? Sie verstoßen, das würde seiner Männlichkeit Abbruch tun. So gern er diese Entscheidung auch getroffen hätte, so hätte er es doch nicht über sich gebracht, sie in die Tat umzusetzen. Was würden dann die Leute über ihn sagen? Er sei kein Mann mehr. Seinerzeit hatte er Liebe – zumindest Begierde – für N’Goné empfunden. Er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt. Und jetzt? Was sollte aus ihm werden? Was tun? Modu, El Hadji Abdou Kader Bèyes Chauffeur, saß auf einem Schemel, an die Mauer gelehnt, und beaufsichtigte den kleinen Jungen, der den Wagen wusch. Der Junge, mit nacktem Oberkörper, war mit einem Naturschwamm bewaffnet, den er eifrig über die ganze Karosserie kreisen ließ. Für ihn war Modu ein guter Kunde, denn sein Chef war ein »Monsieur«. An der Ecke dieser sehr belebten, vielbefahrenen
Straße leierte der Bettler, im Schneidersitz auf einem abgewetzten Schaffell sitzend, sein Klagelied herunter. Seine durchdringende Stimme übertönte für Augenblicke das Getöse. Vor seinen Knien häuften sich kleine Nickel- und Bronzemünzen, eine milde Gabe der Passanten. Modu lauschte genußvoll den Gesangspassagen. Das Lied schraubte sich spiralförmig empor, stieg an, sackte dann wieder zu Boden, als ob es die Vorübergehenden begleiten wollte. Der Bettler gehörte zum Straßenbild, genauso wie die schmutzigen Mauern, die alten Lastwagen, die Waren transportierten. Der Bettler war an dieser Kreuzung sehr bekannt. Der einzige, der ihn lästig fand, war El Hadji. El Hadji hatte ihn wiederholt von der Polizei abführen lassen. Wochen später kehrte er wieder an seinen angestammten Platz zurück. Eine Ecke, für die er eine besondere Vorliebe zu haben schien.
Alassane, der Chauffeur und Diener, der El Hadjis Kinder zu den verschiedenen Schulen zu fahren und wieder abzuholen hatte, kam an diesem Morgen verspätet. Auch er hatte gestern abend tüchtig gefeiert und dem Bier ordentlich zugesprochen. Die morgendliche Tour begann wie üblich an der Villa Oumi N’Doye. Sobald Alassane hupte, stürzten die Kinder mit ihren Schulranzen heraus. »Alassane!« rief ihm Oumi N’Doye, noch im Morgenrock, von der Tür aus zu. »Madame?« »Hast du Monsieur heute morgen gesehen?« »Nein, Madame«, antwortete Alassane, während er den Kindern beim Einsteigen behilflich war.
»Alassane, komm nach der Schule wieder her, und zwar schnell.« »Ja, Madame«, sagte er und fuhr los. Oumi N’Doyes Kinderschar nahm ihre Plätze ein. Der rückwärtige Teil des Wagens war zweigeteilt. Jede Familie hatte ihre eigene Sitzbank. Diese Trennung hatten nicht die Mütter veranlaßt, sie hatte sich vielmehr spontan bei den Kinder ergeben.
In seinem »Büro« schimpfe El Hadji Abdou Kader Bèye wie wild auf den Bettler, diesen Lumpenkerl. Er hatte seine Sekretärin gebeten, den Präsidenten des Verbandes anzurufen. Die Wartezeit kam ihm endlos vor. Er verspürte einen schweren Druck auf den Schultern. Das Telefon klingelte. Hastig griff er nach dem Hörer. »Hallo! Ja, ich bin es, El Hadji. Ich brauche dich, Präsident. Sehr dringend, ja! Sehr sogar. In meinem Büro. In einer Stunde? O. K.« Er legte auf und rief: »Herein.« Es war Madame Diouf, die Sekretärin-Verkäuferin. »Ihre zweite Frau ist am Apparat. Auf dem zweiten Anschluß.« »Danke. Verbinden Sie mich.« Als die Sekretärin den Raum verlassen hatte, nahm er den Hörer ab: »Oumi! Ich höre. Ich bin es. Ich hatte heute morgen zu tun. Ich muß wirklich schuften. Was? Bei dir vorbeikommen? Jetzt? Das kann ich nicht. Was? Geld? Du übertreibst!« El Hadji hielt den Hörer ein wenig von seinem Ohr entfernt. Am anderen Ende der Leitung tobte Oumi N’Doye: »Ich bin nicht Adja Awa. Nach allem, was du für diese Hochzeit ausgegeben hast, könntest du auch mal an deine Kinder denken. Ich schicke Alassane!«
»Nicht nötig!« brüllte El Hadji. »Ich komme heute nachmittag vorbei. Ja, ich verspreche es dir. Ja, ja.« Nervös stellte El Hadji das Telefon auf seinen Platz zurück, zog sein Taschentuch heraus, um sich sein feuchtes Gesicht abzuwischen. Oumi N’Doye brachte ihn zur Raserei. Diese Frau war sehr verschwenderisch. Erst vorgestern hatte er ihr eine große Summe gegeben. Was hatte sie damit gemacht? Sein Verdacht regte sich wieder gegen sie. War sie nicht doch verantwortlich für seinen Xala? Warum hatte sie ihn im Geschäft angerufen? Es klopfte wieder an der Tür. »Herein!« Es war der Präsident, mit einem zuckersüßen Lächeln. »Ich dachte, du wärst völlig erschöpft. Das Rezept, das Zeug hat also gut gewirkt?« fragte er und machte es sich in dem auf einer Versteigerung gebraucht erstandenen Sessel gemütlich. »Darum geht es gar nicht, mein Alter«, sagte El Hadji, um den Schreibtisch herumgehend. »Ich habe ein Problem. Und ich habe nur zu dir Vertrauen. Ich habe den Xala.« Der Präsident fuhr hoch, zu El Hadji aufsehend, der vor ihm stand. »Bei der Kleinen, ich sage es dir ganz offen, hab ich keinen hochgekriegt. Dabei hatte ich einen stehen, als ich aus der Dusche kam. Aber sobald ich mich ihr genähert habe… nichts. Aus.« Der Präsident saß regungslos da, mit offenem Mund, ohne einen Ton von sich zu geben. Der Gesang des Bettlers, als ob er im Raum wäre, stieg um eine Oktave. »Heute morgen hat mir die Badiène geraten, einen Serigne, einen Marabut, aufzusuchen.« »Hast du denn keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen?«
»Was für Vorsichtsmaßnahmen? Ich habe noch nie an diesen Hokuspokus geglaubt«, sagte El Hadji nervös. Sein Tonfall änderte sich, seine Stimme klang gebrochen. »Obwohl die Badiène wollte, daß ich rittlings einen Mörser besteige.« »Wann hast du zuletzt gevögelt?« »Vorgestern. Mit der Zweiten.« »Du hast niemanden im Verdacht? Eine deiner Ehefrauen?« »Welche?« fragte sich El Hadji, während er zum Fenster ging und es schloß. »Diese Bettler, man sollte sie alle für den Rest ihres Lebens hinter Schloß und Riegel bringen.« »Adja Awa Astou, zum Beispiel?« El Hadji wandte sich zu ihm um. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, lediglich seine Pupillen bewegten sich. »Adja Awa Astou?« dachte er laut. Er konnte von sich aus nicht behaupten, nicht sagen, daß diese Frau für sein Mißgeschick verantwortlich war. »Nein«, antwortete er mit bekennender Stimme. Er fuhr fort: »Wir haben nur sehr selten Geschlechtsverkehr miteinander. Und sie beklagt sich nie darüber.« »Dann also die Zweite?« Die Stirn gerunzelt, dachte El Hadji laut nach: »Warum sollte Oumi N’Doye so etwas tun? Ich verwöhne sie mehr als die Awa.« »Ein Grund mehr, dir ›einen Knoten zu knüpfen‹. Solange sie die Nummer eins war, hatte sie nichts gegen Polygamie, nichts gegen Rivalinnen. Jetzt verliert sie das Privileg, die Jüngste zu sein. Sie wäre nicht die erste Frau, die sich so verhält, die ihrem Mann den Xala anhängt.« Die Argumente des Präsidenten beeindruckten El Hadji. »Du meinst also, daß es Oumi N’Doye ist?« »Nein, nein, ich habe deine Zweite nicht beschuldigt. Ich weiß nur, daß alle Frauen zu so etwas fähig sind.«
»Ich bin Muslim! Ich habe ein Recht auf vier Frauen. In dieser Hinsicht habe ich keiner etwas vorgemacht.« Dem Präsidenten war klar, daß sein Kollege mehr zu sich selbst sprach. »Du mußt unbedingt zu einem Serigne gehen!« »Deshalb habe ich dich ja gebeten, herzukommen«, warf El Hadji eilends ein. »Ich kenne einen Marabut! Aber er ist sehr teuer.« »Ich zahle jeden Preis.« »Also los!« Auf der Straße sagte der Präsident etwas zu seinem Chauffeur, einem dicken Mann mit geröteten Augen, die von einer lang andauernden Bindehautentzündung in der Kindheit herrührte; er nickte unentwegt mit dem Kopf. Anschließend nahm der Präsident neben El Hadji in dessen Mercedes Platz.
Zur gleichen Zeit, wie der Präsident und El Hadji in dem Mercedes über die Hauptverkehrsstraße fuhren, die in die Vororte führte, verließ Yay Bineta, die Badiène, die Hochzeitsvilla. Sie fühlte sich durch und durch wie eine Frau, die getäuscht worden war. Diesen Xala mußte vielleicht der Mann physisch erleiden, sie jedoch war das moralische Opfer, und ihr Traum war verpufft. »Ich weiß mich zu wehren! El Hadjis Ehefrauen wollen uns kaltstellen? Uns erniedrigen? Ich schwöre bei den Seelen unserer Vorfahren, daß die Mitfrauen binnen drei Monaten verstoßen sein werden, fallen gelassen wie alte Putzlumpen. Oder sie werden sich wie Sklavinnen vor meiner N’Goné auf die Knie werfen«, sagte sie sich immer wieder. Sie ging an dem Coupé-Auto-Hochzeitsgeschenk vorbei, das noch immer mit seiner weißen Schleife da oben auf dem Lastwagen thronte. In ihrer Pagne hatte sie den Schlüssel und den Kraftfahrzeugschein des Wagens. Sie zweifelte an der Ehrlichkeit des Mannes.
Die Straße überquerend, hielt sie ein Taxi an. Um diese Frau zu verstehen, muß man ihre Vorgeschichte kennen. Yay Bineta war vom Pech verfolgt, vom ay gaaf. Sie hatte zwei Witwenschaften zu verbuchen: zwei Männer begraben müssen. Und nach Meinung der Traditionalisten würde sie das Maß der Toten auch noch voll kriegen: mit einem dritten Opfer. Das dritte Opfer fehlte noch. Kein Mann wurde bei ihr vorstellig, aus Angst, das nächste Opfer zu sein. In solchen Kreisen gelingt es einer Frau selten, das Ruder herumzureißen. Als Männer verschlingende Inkarnation eines vorzeitigen Todes nahmen die Männer vor ihr Reißaus, und die verheirateten Frauen in ihrem Alter zogen es eher vor, sich scheiden zu lassen, als an ihrer Seite Witwe des gleichen Mannes zu werden, eben wegen ihres ay gaaf. Innerlich litt Yay Bineta unter dieser Situation. Sie sah sich dazu verurteilt, für den Rest ihres Lebens Witwe zu bleiben. Ihre Eltern waren sogar so weit gegangen, sie sozusagen zu verschenken, nur um den Schein zu wahren, aus Sorge um ihr seelisches Gleichgewicht. Aber immerzu schlugen die Männer das Angebot aus. Die Hochzeit der Tochter ihres Bruders war demnach auch ihre Hochzeit. Nach den üblichen Begrüßungsworten betrat sie das Wohnzimmer, das auch Schlafzimmer der Kinder und Enkel ihres Bruders war. Babacar, der Bruder, saß auf einer Matte und las wie so oft den Koran. N’Gonés Mutter, Mam Fatou, war sogleich auf die Badiène zugestürzt: Sie wollte wissen, was es Neues in Bezug auf ihre Tochter gab. Hatte ihre Tochter sich gut bewahrt? Mam Fatou hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. »Kann ich sprechen?« sagte die Badiène. »Ja«, erwiderte N’Gonés Mutter, wegen dieser Frage neugierig geworden.
»Man hat uns eine Beleidigung zugefügt! El Hadji hat die Ehe nicht vollzogen.« »Was? Was sagst du da?« Der alte Babacar unterbrach seine Lektüre. »Ja, wirklich. El Hadji hat den Xala.« Alle drei sahen sich an, stumm. »Babacar, hast du das gehört?« unterbrach Mam Fatou die Stille. Der alte Mann, unter der Einwirkung dieser Überraschung, nickte mit dem Kopf. »Was tun?« sagte Mam Fatou. »El Hadji ist bereits unterwegs, um sich nach einem Heiler zu erkundigen«, sagte Yay Bineta. »Die Mitfrauen sind böse, schlimmer als Keuchhusten für einen Erwachsenen.« »Sehr wahr, diese Heirat hat mir von Anfang an mißfallen, zu einfach, zu glatt für heutige Zeiten«, sagte Mam Fatou, ihren Mann ansehend. Bedrückende Stille folgte dieser Bemerkung. »Sag das noch mal!« brüllte die Badiène, wie eine Tigerin zum Sprung bereit. »Das hättest du vorher und offen sagen sollen. El Hadji Abdou Kader Bèye hat uns doch nicht gezwungen.« Die Badiène sprach in bitterem Ton, ihre Schwägerin mit böser Miene und verschlossenem Gesicht fixierend. »Wir haben uns mißverstanden! Ich bin beunruhigt wegen unserer N’Goné«, begann die Mutter von neuem, sie wollte einen Streit mit der Badiène vermeiden. Yay Bineta fühlte eine Aversion gegen die Frau ihres Bruders. Sie haßte diese Frau, weil sie aus ihrem Bruder einen Waschlappen gemacht hatte. »Babacar, du mußt zu El Hadji gehen, ihm beistehen«, ordnete Mam Fatou an, sich an ihren Mann wendend. »Wo finde ich ihn?« fragte der Mann.
»In seinem Büro. Eine Frau kann mit einem Mann nicht über solche Sachen reden«, sagte N’Gonés Mutter. »Sie hat recht«, stimmte die Badiène zu. Der alte Mann klappte seinen Koran zu, stand auf und faltete seine Matte zusammen. »Und das Auto?« »Es steht vor der Tür. Schlüssel und Papiere sind hier. Es ist ihr Hochzeitsgeschenk. Das Auto gehört N’Goné«, erklärte die Badiène. Babacar, in seinen Babuschen, entfernte sich. Allein zurückgeblieben, berieten sich die beiden Frauen. Sie schluckten ihre gegenseitige Abneigung hinunter und beschlossen, den Kampf gegen die Bösartigkeit der Mitfrauen aufzunehmen. Ein leerer, wolkenloser Himmel, drückende, erstickende Hitze, die Luft stand. Die Kleider klebten an der feuchten Haut. Mit dem Wiederbeginn der Arbeit nach der Mittagspause herrschte reger Verkehr. Motorräder, Fahrräder, Fußgänger strömten alle in die gleiche Richtung, zum Geschäftsviertel. Der alte Babacar war wiedergekommen; heute vormittag hatte er vergeblich auf El Hadji Abdou Kader Bèye gewartet. Nach dem Mittagsgebet hatte Mam Fatou, die Mutter der Braut, ihn gedrängt: »Es ist schließlich dein Schwiegersohn«, hatte sie zu ihm gesagt. Babacar ging unter den Vordächern, den Baikonen her, um sich vor der stechenden Sonne zu schützen; er hoffte darauf, El Hadji anzutreffen. Die Sekretärin-Verkäuferin erkannte ihn wieder. Sie hielt ihn für einen Schnorrer, der sich seinen Anteil an der Hochzeitsfeier abholen wollte. Sie wies ihm einen Platz an und machte sich an ihre Arbeit. Sie mußte drei Kunden bedienen. Weitere folgten. Stunde um Stunde verstrich. Der alte Babacar hörte aufmerksam dem Lied des Bettlers zu.
Er war verzaubert. »Was für eine herrliche Stimme«, sagte er sich. Die zweite Frau, Oumi N’Doye, trat ein und wandte sich ohne lange Vorrede im Befehls ton und auf Französisch an die Sekretärin. »Ist er da?« Madame Diouf, die Sekretärin, sah auf, eine widerspenstige Haarsträhne ihrer schwarzen Perücke fiel ihr über die Stirn. Sie erkannte die Angekommene. Mit dem Zeigefinger schob sie die Strähne zurück. »Nein, Madame.« »Hat er nichts für mich hinterlassen?« »Nein, Madame. Aber wenn Sie auf ihn warten wollen. Der Herr da wartet auch.« Oumi N’Doye setzte sich auf den Stuhl, schlug die Beine übereinander, blätterte in der Frauenzeitschrift, die sie gerade gekauft hatte. Beflissen drehte die Sekretärin den Ventilator in ihre Richtung. Den kühlen Windhauch verspürend, bedachte die zweite Frau sie mit einem Lächeln, süßsauer wie Süßkartoffeln mit Piment. Oumi N’Doye kannte sich bestens aus, wenn es um Frauenmode aus dem Ausland, große Modeschöpfer und Filmstars ging. Ihre tägliche Lektüre bestand aus Fotoromanen. Sie verschlang sie, glaubte daran und träumte von den herzergreifenden Liebesgeschichten, die sie gern selbst erlebt hätte. Seit dem gestrigen Tag fühlte sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Die dritte Heirat ihres Mannes war ihr unerträglich, zehrte an ihr. Der Gedanke, daß sie eine Zweite, eine xBeliebige war, machte sie rasend. Die mittlere Position, diese Zwischenstation, war für eine Wëjë, eine Mitfrau, nicht tragbar. Die erste Frau setzt eine Wahl voraus, sie ist eine Auserwählte. Die Zweite ist beliebig. Die Dritte? Sie erfreut sich großer Wertschätzung. Für die Moomé-ayé ist die zweite Ehefrau so etwas wie ein Zwischenglied. Sie hatte ihre
Stellung in diesem Rotationszyklus des Mannes zwischen den anderen Ehefrauen überdacht, es war ihr klar, daß sie in Ungnade gefallen war. Oumi N’Doye konnte ihre feindseligen Gedanken gegen Adja Awa Astou nicht loswerden. »Warum tut sie nichts gegen diese Verbindung? Sie freut sich jetzt bestimmt, die alte Affenhaut«, sagte sie vor sich hin. Ihr, Oumi N’Doye, hatte El Hadji immer den Vorzug gegeben. Zu ihrer Zeit hatte sie den Mann viel länger bei sich behalten, als es ihr die Vorschriften der Polygamie eigentlich gestatteten. Zu ihrer Zeit, auf dem Gipfel ihrer Macht als Favoritin, hatte sie Adja Awa Astou Tage und Nächte gestohlen. Und nie hatte sich die erste Frau beklagt, nie das eingefordert, was ihr zustand. Zum Schluß hatte Oumi N’Doye sich als die »einzige« Ehefrau gefühlt und betrachtet. Ungeniert begleitete sie El Hadji zu allen Festlichkeiten, selbst wenn sie mit ihrem Moomé gar nicht an der Reihe war. Mit Adja Awa Astou war ein polygames Leben für sie akzeptabel, aber das Hinzukommen einer Dritten ließ in ihr diese uralte Wunde unserer muslimischen Frauen aufbrechen. Sie war frustriert. Einen Moment lang hatte sie eine Scheidung ins Auge gefaßt. »Dich scheiden lassen, warum? Einer alleinstehenden Frau, ohne Unterstützung eines Mannes, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich zu prostituieren, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Hier in unserem Land ist das nun einmal so. Das ist das Los aller Frauen«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, um sie von diesem Plan abzubringen. »Wenn du wenigstens eine Arbeit hättest, könnte man verstehen, daß du dich gegen eine dritte Ehefrau wehrst. Deine Erste stammt aus einer katholischen Familie, wie kannst dann du, eine gebürtige Muslimin, es wagen, nein zu sagen? Außerdem hat dein Mann genug Geld, um für euer aller Unterhalt zu sorgen. Schau dich doch bloß mal um!«
Durch diese Ratschläge aufgeheitert, beklagte sich Oumi N’Doye nicht länger bei ihren Eltern. Sie lehnte es ab, wie eine eingesperrte, eine vergessene Frau zu leben, eine, die ihren Mann nur zur Begattung traf. Das Telefon klingelte wieder. »Hallo! Ja… nein«, sagte die Sekretärin. »Ich notiere es. Ich weiß nicht, wann der Chef zurückkommt. Einverstanden. Ja. Ja.« Madame Diouf legte den Hörer auf, sah auf ihre Armbanduhr: »Madame, ich muß jetzt schließen. Es ist höchste Zeit«, sagte sie zu Oumi N’Doye, die näher getreten war. »Wo ist El Hadji?« fragte letztere. »Ihre Frage kann ich nicht beantworten, Madame. Der Chef ist seit heute morgen mit dem Präsidenten unterwegs.« Babacar hatte sich erhoben und blieb auf Distanz. »Junge Frau, ich bin der Vater von N’Goné, seiner Dritten! Sobald du ihn siehst, sag ihm, daß ich ihn bei mir zu Hause erwarte.« Tief gekränkt verließ Oumi N’Doye die beiden, ohne Abschiedsgruß. Ihr Blick hatte sich mit dem des Mannes gekreuzt. Feindseligkeit lag in ihren Augen. Der Alte hatte unterschwellig so etwas wie Verlegenheit empfunden. Er sah der Frau nach, wie sie sich entfernte. »Wer ist das?« »Das ist die zweite Frau von El Hadji.« »La illaha illallah! Ich hätte gern ihre Bekanntschaft gemacht«, sagte der alte Mann, seine Schritte beschleunigend, um sie einzuholen. Um diese Stunde schlossen die Geschäfte und Büros. Die Menge strömte Richtung Medina, in die Schlafstädte der Vororte. Babacar suchte die Straße mit den Augen ab. Er entdeckte Oumi N’Doye in der Ferne, gerade, als sie sich in ein Taxi schwang. Dann wurde er auf den Bettler aufmerksam. Er warf ein Geldstück auf sein Schaffell und ging von dannen.
Alassane, der Chauffeur-Diener, hatte Adja Awa Astous Kinder abgesetzt und war nun, vor Oumi N’Doyes Villa, den anderen Sprößlingen beim Aussteigen behilflich. Ihre Mutter traf im Taxi ein, winkte schon von weitem mit dem Arm. »Alassane, Alassane, warte!« machte sie den Fahrer auf sich aufmerksam. Während sie noch den Taxifahrer bezahlte, rief sie ihre Tochter: »Mariem! Mariem! Hör mir zu! Komm her!« Das Mädchen kam. »Geh und hol mir deinen Vater. Er ist bei seiner Dritten. Sag ihm, daß ich mit ihm reden muß.« »Mutter, warte, ich muß mir noch das Gesicht waschen.« »Tu, was ich dir sage. Alassane, fahr sie hin.« »Ja, Madame.« Alassane fuhr mit dem Mädchen los. Im Wohnzimmer öffnete Oumi N’Doye den Radioschrank. Sie hörte immer nur das internationale Programm, das ausschließlich in französischer Sprache sendet. Sie erkundigte sich bei dem Dienstmädchen, ob »Monsieur« nicht während ihrer Abwesenheit gekommen sei. Nein, er war nicht gekommen. Mariem war schon wieder zurück. »Vater ist da nicht. Den ganzen Tag über hat ihn noch keiner gesehen.« »Hast du meine Nachricht hinterlassen?« »Hmm«, machte die Tochter und griff wie die anderen zu. Das Dienstmädchen hatte den Kleinen als Nachmittagsvesper Weißbrot mit Butter, Marmelade und Plätzchen hingestellt. Mactar, der älteste, die Beine halb in der Luft, hatte einen Hustenanfall. Die Mutter schwenkte die silberne Tischglocke. Das Dienstmädchen erschien. »Bring Mactar ein Glas Wasser.« »Er ißt zu schnell, dieser Vielfraß«, sagte Mariem, die Mühe hatte, ihr Brot aufzuessen.
Das Dienstmädchen kam mit dem Glas Wasser zurück, das sie dem Jungen reichte. Der trank. »Einen kleinen Schluck nach dem anderen«, riet ihm die Mutter, wobei sie ihn wohlwollend ansah. Mactar bekam endlich wieder Luft, seine Lungen weiteten sich, er machte »uff«, wischte ein paar unfreiwillige Tränen weg. »Was wolltest du sagen?« fragte Oumi N’Doye in mütterlichem Ton. »Vater muß uns auch ein Auto kaufen. Mutter Adja Awa Astou hat eins, die Dritte von Vater hat ein nagelneues. Und wir…« »Weil der Herr hier Rama in ihrem Fiat gesehen hat, meint er, daß ihm als ältestem auch ein Auto zusteht«, spottete Mariem und schnappte sich eine Zeitung. »Na und? Ich bin doch ein Mann.« »Und? Frauen fahren auch Auto. Wenn jemand ein Auto braucht, dann Mutter für ihre Einkäufe.« »Danke, meine Tochter, daß du an mich gedacht hast. Mactar, du hast recht. Ich habe noch gar nicht daran gedacht. Ich gebe mein ganzes Geld für Taxis aus.« Oumi N’Doye verstummte. Der Gedanke war neu für sie. Sie sagte sich: »Adja Awa Astou hat ein Auto, die Dritte auch. Und ich? Nichts!« »Ich habe als erster von Autos gesprochen«, mischte sich Mactar wieder ein. »Das ist wahr, mein Sohn! Ich werde mit eurem Vater darüber reden. Auch ihr habt ein Anrecht darauf, in einem Privatwagen zur Schule zu fahren, statt euch wie alle anderen in den Lieferwagen zu zwängen. Im Gegenzug wirst du nun für mich etwas erledigen: Geh zu Adja Awa Astou! Wenn dein Vater dort ist, sag ihm, daß ich mit ihm reden muß. Es ist sehr dringend.«
»Versprichst du mir, daß du mir das Auto leihst?« »Versprochen.« Mactar rannte zufrieden hinaus.
Auch er hatte den Vater nicht angetroffen. Oumi N’Doye machte sich langsam Sorgen. El Hadji Abdou Kader Bèye hatte ihr gesagt, daß er vorbeikommen würde. Für gewöhnlich hielt er seine Zusagen ein. Er fing also schon an, sie zu vernachlässigen. Nach dem Abendessen, das sie allein mit den Kindern eingenommen hatte, zog sie sich mit ihrem Lesestoff in ihr Schlafzimmer zurück, voller Hoffnung. Ihre weiblichen Reize waren einsatzbereit. Sie nahm sich vor, den Mann einen beträchtlichen Teil der Nacht bei sich zu behalten. Ausgestreckt auf ihrem Bett liegend, begehrenswert, achtete sie auf das kleinste Geräusch, tauschte das helle Licht gegen eine geeignetere Nachttischlampe aus. Nichts… Sie nahm ihre Lektüre wieder auf. Manchmal schien es ihr, als höre sie das Motorengeräusch eines Wagens. Das Geräusch wurde in dem Maße, wie der Wagen näher kam, lauter und dann, zu ihrer großen Enttäuschung, wieder schwächer. Auf ihrem Wecker war es kurz nach eins. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie fühlte sich bedroht.
Spät in der Nacht traf El Hadji Abdou Kader Bèye bei seiner Dritten ein. In der Villa war alles still und ruhig. Ein Lichtstrahl fiel unter der Tür hindurch. El Hadji klopfte. »Wer ist da?« »Ich bin es, El Hadji«, antwortete er. Er hatte die Stimme Yay Binetas, der Badiène, erkannt. Sie öffnete. »Habt ihr den Tag in Frieden verbracht?« fragte er.
»Jawohl«, sagte die Badiène, seinen Gruß erwidernd, und fügte hinzu: »N’Goné ist sicher noch nicht eingeschlafen.« El Hadji begriff, daß er erwartet wurde. »Hast du zu Abend gegessen?« »Ja.« »Wenn du noch Hunger hast, dein Essen steht da. Hast du dich um dein Problem gekümmert?« »Ja, ich war bei einem Marabut.« »Allhamdoullilah. Gott sei Dank.« El Hadji betrat das Brautgemach. Nichts war verändert worden. Das Bett stand am gleichen Platz. Die Schneiderpuppe war angekleidet. Wie am Abend zuvor lag N’Goné im Nachthemd da, bereit. Die Nachttischlampe warf ihren sanften Schein auf den zarten, wohlgeformten Körper. Das starke Verlangen, das er nach N’Goné hatte, verflog. Mit wilder Entschlossenheit versuchte er wie gestern, sich im Kopf in Erregung zu bringen. Nicht ein einziger Nerv in ihm vibrierte. Er fühlte sich unwohl. Er schwitzte. Er, der Hengst, der über die Weibchen herfiel, war heute kraftlos. Bitterkeit und Zorn erfüllten sein Herz. Galle stieg in ihm hoch. Er fühlte und konnte ermessen, wie schwer seine gegenwärtige Situation, seine verletzte Männlichkeit, auf ihm lastete, er war orientierungslos. In den Armen der einen oder anderen seiner Ehefrauen hatte er von diesem Augenblick geträumt: mit N’Goné allein zu sein. Er hatte N’Goné aus seinem tiefsten Innern heraus begehrt. Siegreich, wie ein Raubvogel, hatte er seine Beute ins Nest gebracht. Aber sich nun über sie herzumachen, schien ihm unmöglich, wenn nicht sogar verboten.
Der Xala, gestern noch vertrauliche Angelegenheit, über die man hinter vorgehaltener Hand sprach, war im Laufe der Tage und Wochen allgemeines Gesprächsthema geworden. El Hadji Abdou Kader Bèye hatte zahllose Facc-katt, zahllose Heiler, konsultiert. Jeder hatte sein eigenes Rezept verschrieben. Man rieb seinen Körper mit Safara∗ ein; man ließ es ihn trinken; man gab ihm Xatim, esoterische Schriften, die er als Fetisch um die Hüften tragen mußte; man rieb ihn mit Salben ab; man verlangte von ihm, einem knallroten Hahn den Hals umzudrehen. In der Hoffnung auf seine Genesung machte er alles mit. Beim Anblick seines Mercedes, der vor den Strohbehausungen oder den wackeligen Baracken hielt, und seiner europäischen Kleidung erkannte jeder Facc-katt, daß sein Patient einen hohen Lebensstandard hatte. Alle verlangten sie recht hohe, saftige Honorare. Er zahlte bar. Jeder der Quacksalber fand eine Erklärung. Die einen sagten, er sei das Opfer der Eifersucht einer seiner Ehefrauen. Man gab ihm eine vage Beschreibung: eine Frau mittlerer Größe oder gar klein. Derart beeinflußt, zweifelte er nicht länger: Es war Oumi N’Doye. Ein anderer Scharlatan nannte und mißbrauchte den Namen Yallas. Den Kopf unter einen dicken Turban gezwängt, sich unentwegt seinen fischschwanzförmigen Bart streichend, mit knochigem Gesicht, feuchten Schafsaugen, jeden Satz von einem servilen Lächeln begleitet, starrte er lange auf eine Champagnerflasche voll schwärzlichen Wassers und versicherte ihm, der Xala sei das Werk eines Kollegen. Ein Freund, der ihm Böses wolle. El Hadji ging im Geiste alle »Geschäftsmänner« durch. Vergebliche Mühe. Der Typ räusperte sich auf unmanierliche Weise, versank wieder in die Betrachtung seiner Flasche. Kein Zweifel, er sah ∗ Trank, den der Heiler durch Waschung der auf den Alluba, den Brettchen, aufgeschriebenen Koranverse erhält
den Urheber des Xala: ein kräftiger Bursche mit schwarzer, aber nicht zu schwarzer Haut. Weitere Tage, Wochen vergingen. El Hadji Abdou Kader Bèye saß oft lange geistesabwesend, in Gedanken versunken, in seinem »Büro«. Er wich dem Blick Madame Dioufs, seiner Sekretärin-Verkäuferin, aus. Wenn sie ihm früher den Rücken zuwandte, hatte er ihre beiden prallen Pobacken, ihr geschwungenes Hinterteil betrachtet. In seinen Kreisen war der Hintern seiner Sekretärin Gegenstand derber Späße und Witze. El Hadji litt ganz fürchterlich unter seinem Xala. Seine Bitterkeit hatte sich in einen Minderwertigkeitskomplex seinen Kollegen gegenüber verwandelt. Er glaubte, er sei die Zielscheibe allen Spotts und Hauptgesprächsthema. Er ertrug nicht länger das Gekichere, das Gerede hinter seinem Rücken, die bohrenden Blicke. Sein – vielleicht nur vorübergehendes – Gebrechen machte ihn unfähig zu irgendeinem Gespräch mit seinen Angestellten, seinen Frauen, Kindern und Kollegen. Wenn er sich einen Augenblick der Ruhe gönnte, zog er sich in sich selbst zurück, fand sich kindisch, leichtfertig. Gewissensbisse überfluteten ihn, wie die Schlammassen das Reisfeld. Dachte er an diese dritte Eheschließung, fand er keine Erklärung dafür. Hatte er geliebt? Oder hatte ihn einfach das Alter zu frischerem Fleisch getrieben? Oder weil er reich war? Schwäche? Ausschweifung? Epikurismus? War denn das Eheleben zwischen seinen beiden Frauen so unerträglich gewesen? Bei all diesen Fragen weigerte er sich, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ein dumpfer Haß ergriff von ihm Besitz und machte ihn blind. Mit einem Schlag war er gealtert. Zwei tiefe Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunter, wo sie sich verbreiterten. Das Kinn war kantiger geworden. Der Mangel an Schlaf ließ seine Lider anschwellen, legte einen rötlichen Schimmer um seine Augen, deren
Aderchen je nach Ort und Zeit die Farbe von altem Palmöl annahmen. El Hadji Abdou Kader Bèye hatte beim Präsidenten des Verbandes der Geschäftsleute ein mitfühlendes Ohr gefunden. Dieser sparte nicht mit verbalem Zuspruch. Über den Xala sprach er mit El Hadji nur in gedämpftem und mitfühlendem Ton, den man in unserem Lande anzuschlagen pflegt, wenn man ein gutes Werk tun will. »Wir werden einen richtigen Serigne finden«, nahm der Präsident nach dem Scheitern des ersten Besuches das Gespräch wieder auf. Als sein »Freund« ging er alle Wunderheiler mit ihm durch. El Hadji, am Boden zerstört, weinte sich bei ihm aus. Dichter Nebel umhüllte El Hadjis Gehirn. Alles wankte. Ein nicht enden wollendes Knäuel von Fragen wickelte sich in seinem Kopf ab. Vor der berüchtigten Hochzeitsnacht hatte El Hadji sich von seinen beiden Ehefrauen dreißig Nächte freigeben lassen, um sie mit der Dritten zu verbringen. Dreißig Nächte Sex im Überfluß, sagte man. Jetzt mußte er die Moomé wieder aufnehmen. Jeder ihr Ayé. Adja Awa Astou war als erste an der Reihe. Yay Bineta, die Badiène, hatte ihren Segen gegeben: »Vielleicht werden wir mit der Wiederaufnahme der Moomé erfahren, welche die Urheberin des Xala ist.« Beschämt nahm El Hadji die immergleiche Rotation wieder auf. Die Erste, Adja Awa Astou, zeigte sich als treu ergebene Ehefrau nach den Vorschriften der Religion. Die Unterhaltung ging nicht über die Gartenhecke hinaus. Die Kinder waren während seiner »Abwesenheit« brav gewesen. Weniger mitteilsam in ihrer Art, sprach die Frau den Xala nicht an. Hatte sie davon erfahren? Der Ehemann sprach auch nicht darüber. Die zwei folgenden Nächte dasselbe. Kein Geschlechtsverkehr. Der Mann hatte nicht den Wunsch dazu
geäußert. Als ihr Ayé zu Ende war, sah Adja Awa Astou ihren Mann fortgehen, um die nächsten sechs Nächte anderswo zu verbringen, bei den Mitfrauen. Adja Awa Astou hatte keine Freundinnen. Sie war allein, sehr allein, isoliert. Hätte sie sich jemandem anvertrauen, ihr übervolles Herz ausschütten wollen, sie hätte keine Menschenseele dazu gehabt. In dieser Einsamkeit dachte sie wieder an ihren Vater. Papa Jean fehlte ihr unendlich. Früher hatte sie jeden Freitag, nach dem Großen Gebet, das Grab ihrer Mutter auf dem katholischen Friedhof besucht. Der Friedhofswärter war erstaunt, weil sie jede Woche regelmäßig kam, weil sie immer auf die gleiche Weise gekleidet war, den Kopf in einen weißen Schal gehüllt. Mißtrauisch beobachtete er sie aus der Ferne. War das eine Verrückte? Eine ehemalige Nonne? Eine Diebin? Dann, eines Sonntags, suchte Papa Jean, den er gut kannte, ihn auf, weil jemand die Immortellen vom Grab genommen hatte. »Die Dame in Weiß hat sie dahin gelegt, hinter die Mauer«, antwortete der Friedhofswärter und zeigte ihm die Blumen. »Renée«, flüsterte Papa Jean. Und mit lauter Stimme: »Kommt die Dame Sonntagvormittags?« »Nein, freitagnachmittags. Ihr Chauffeur hat mir gesagt, daß es das Grab ihrer Mutter ist.« Papa Jean fuhr auf seine Insel zurück. Auch er hätte seine Tochter gern gesehen, mit ihr gesprochen. An einem Freitag im Fastenmonat Ramadan wartete der Friedhofswärter am Ausgang auf Adja Awa Astou und sprach sie an. »Madame, ich sehe Ihren Herrn Vater gar nicht mehr. Es ist doch nichts Ernstes?« Adja Awa Astou schaute ihn mit ängstlichem Blick an: »Seit wann kommt Vater nicht mehr?« »Das Datum weiß ich nicht, Madame, aber es ist schon etliche Sonntage her.«
»Danke«, sagte sie, ihm einige Münzen in die Hand drückend. Zurück in ihrer Villa, gab sie ihrer ältesten Tochter Rama den Rat, ihren Großvater zu besuchen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. So kam es, daß Rama zwischen den beiden hin- und herpendelte und dem einen berichtete, was der andere ihr gesagt hatte. Verschämt sprach Adja Awa Astou mit niemandem über den Xala ihres Ehemannes. Sie kam ihrer Tochter wieder näher. So war ihr seit einigen Tagen aufgefallen, daß Rama mehr mit ihr zusammen war. Rama kam abends früh nach Hause, um ihr Gesellschaft zu leisten. Sie fühlte sich weniger allein. An diesem Abend suchte die Mutter das Mädchen in ihrem Zimmer auf. Sie wollte ihr Herz ausschütten. »Mutter! Setz dich«, bat Rama und legte ihr Buch beiseite. Adja Awa Astou betrachtete eingehend die an den Wänden aufhängten Gegenstände. »Ich sehe Vater gar nicht mehr, weißt du.« »Dein Vater ist im Moment sehr beschäftigt«, antwortete die Mutter, nach einem Buch greifend. Mit dem Buch in ihren Händen fühlte sie sich mutig. Dennoch zögerte sie zu sprechen. Sie mochte eine noch so gute Ehefrau sein, gehorsam, eine vorbildliche Familienmutter, dennoch konnte sie ihren Schmerz nicht länger verbergen. In sich überstürzenden Worten stellte sie die Frage, die ihr auf den Lippen brannte: »Was sagt man im Viertel?« Rama sah ihrer Mutter ins Gesicht. Befangen, ihre Worte genau abwägend, sagte sie langsam: »Man redet von Vaters Xala.« Adja Awa Astou senkte das Kinn, den Blick auf das Buch gerichtet. Ein Moment Schweigen. »Also wissen alle Bescheid«, sagte sie zu sich selbst. Langsam hob sie den Kopf und schaute ihre Tochter wieder an: »Was soll ich tun?«
Die flehentliche Bitte der Mutter war aufrichtig. Rama verharrte in Schweigen. Sie war innerlich im Zwiespalt. Grundsätzlich war sie gegen Polygamie. Sie wußte, warum die Mutter an diesem Status festhielt: ihrer Kinder wegen. Sie verzieh diese Schwäche, konnte sie aber nicht gutheißen.
Zwei oder drei Tage vorher hatte Rama wie gewohnt Pathé, ihren Verlobten, am Krankenhaus abgeholt. Pathé hatte sein Psychiatriestudium vor einem Jahr abgeschlossen. Er praktizierte nun. Es war später Nachmittag. Der Krankenpfleger kam auf Pathé zu: »Doktor, der Chef braucht dich. Es ist dringend.« Pathé ging den Flur entlang. Vor der Tür zum Wartezimmer stieß er beinahe mit El Hadji Abdou Kader Bèye zusammen. Die beiden Männer kannten sich. »Nichts Ernstes?« erkundigte sich Pathé routinemäßig. »Nein, nichts«, erwiderte El Hadji eilig. Dann: »Doktor, ich sehe dich gar nicht mehr bei Adja. Ich hoffe, du hast dich nicht mit Rama verkracht?« Der Arzt lächelte. Er wirkte sehr jung. Sein früher beruflicher Erfolg war Gegenstand der Bewunderung seiner Vorgesetzten. »Nein. Ich hatte jede Menge Arbeit.« »Das ist mir lieber so. Bis bald.« Pathé stieß die Tür zum Zimmer des Chefarztes auf. »Hast du ihn getroffen?« fragte der Chef, während er seinen Schreibtisch aufräumte. »Wen?« »El Hadji Abdou Kader Bèye.« »Ja. Hat er eine Spende für die Kranken überbracht?« »Das hätte ich mir gewünscht. Er war aus einem ganz anderen Grund hier: seine dritte Frau.« »Schon schwanger?«
»Leider, leider, nein. Du bist sehr ironisch! Seit Nächten kriegt er schon keinen mehr hoch. Er glaubt, daß jemand ihm ›einen Knoten geknüpft‹ hat; er hat, auf Wolof gesagt, den Xala. Er kam, um sich wieder ›hochbringen‹ zu lassen – das sind seine Worte.« Die beiden lachten. »Ein klarer Fall psychischer Ursachen«, meinte Pathé. »Mag sein! Vor seiner Hochzeitsnacht war er normal. Am Abend der Hochzeit konnte er die Ehe nicht vollziehen. Und jetzt ist er überzeugt, daß er den Xala hat. Weißt du, was das ist?« »Ich hab davon gehört.« »Jedenfalls hast du nun einen Xala-Fati.« »Was kann ich tun? Er ist nicht zu mir in die Sprechstunde gekommen. Wenn du meinst, daß die Wissenschaft machtlos ist…« »Nicht so hastig, Pathé. Du solltest wissen, daß die Wissenschaft nie machtlos ist. Aber es gibt Bereiche, die noch nicht erforscht sind. Außerdem sind wir in Afrika, und hier läßt sich nicht alles mit einer biochemischen Therapie ergründen oder lösen. Bei uns regiert das Irrationale. Würdest du dich wohl etwas näher mit ihm befassen, damit wir herausfinden, welche Serigne er konsultiert?« »Wir sind nicht so gut miteinander bekannt. Sicher, ich gehe mit seiner Tochter…« »Das ist doch schon was! Da bist du bereits mit einem Fuß in der Festung. Das war’s, danke. Bis morgen.« Im Weggehen kaute Pathé auf seinem Ärger herum. Eine Menge Gedanken brüteten in seinem Kopf. Sollte er Rama davon erzählen? Rama wartete am Krankenhauseingang. Sie hatte ihren Vater bemerkt, als er die Klinik verließ.
»Schöner Mann, ich bin da – nur für dich, trotz deiner Verspätung«, sagte sie, als Pathé näher kam; er hatte sich inzwischen umgezogen: Tergalhose, Anango-Hemd mit kurzen Ärmeln und Stickereien am Kragen. »Entschuldige die Verspätung.« »Du mußt Strafe zahlen! Du hast mit mir Französisch gesprochen.« Pathé vergaß diese Regel oft, die ihre Sprachgruppe aufgestellt hatte. Jedes Gruppenmitglied, das sich in dieser Sprache ausdrückte, mußte eine Strafe zahlen. »Was verlangst du?« »Später.« Rama löste die Handbremse. Sie hatte eine Schwäche für Geschwindigkeit. Sie startete wie eine Rakete. An einem Zebrastreifen konnte sie gerade noch einem Fußgänger ausweichen und schleuderte dabei gegen den Bordstein. Ein Sicherheitsbeamter kam auf sie zu. Sehr höflich sagte er auf Französisch: »Ihre Papiere bitte, Madame!« Rama beobachtete Pathé, wandte sich mit weiblichem Charme dem Polizisten zu und sagte auf Wolof: »Mein Bruder, was willst du?« »Ihre Papiere«, wiederholte der Polizist auf Französisch. »Mein Bruder, entschuldige bitte, aber ich verstehe nicht, was du sagst.« »Du verstehst kein Französisch?« fragte er auf Wolof. »Ich verstehe kein Französisch, mein Bruder.« »Wie bist du dann an deinen Führerschein gekommen?« Rama riskierte einen Blick zu Pathé hinüber. Letzterer vermied es, irgend etwas zu sagen, und unterdrückte sein Lachen. »Gib mir deine Papiere!« verlangte der Polizist in äußerst autoritärem Ton auf Wolof.
Rama wühlte in ihrer Handtasche und reichte ihm die Papiere. Sich nach vorn beugend, warf der Polizist einen forschenden Blick auf Pathé und rief mit einem Male lauthals: »Doktor! Doktor! Kennen Sie mich nicht? Sie haben meine zweite Frau behandelt. Sehr gut sogar.« »Mag sein«, sagte Pathé bescheiden. »Ich habe Sie sofort erkannt. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll! Meiner Frau geht es jetzt sehr gut.« »Wissen Sie, im Krankenhaus behandeln wir jeden Tag so viele Leute.« Rama beugte sich zu Pathé hinüber und gab ihm mit einer kleinen Geste zu verstehen, daß er gegen die Regeln ihrer Sprachgruppe verstieß. »Ist das Ihre Gattin, Doktor?« fragte der Polizist auf Französisch. »Nein… eine Schwester. Ich muß ihre Mutter untersuchen.« Rama versetzte ihm mit dem Ellenbogen mehrere Rippenstöße. »Ich hoffe, ihr Mann wird sie zurechtweisen.« »Ich hoffe und wünsche es sogar«, bestärkte ihn Pathé mit ernster Miene. »Bedanke dich bei dem Doktor, daß er mit dir zu deiner kranken Mutter fährt, um sie zu behandeln. Wenn er nicht wäre, würde ich dir jetzt den Führerschein abnehmen. Du kannst weiterfahren«, sagte der Polizist zu Rama, auf Wolof. In seiner Gutmütigkeit hielt der Polizist den 2 CV an, der aus der Gegenrichtung kam, und ließ Rama an ihm vorbeifahren. Als sie ein Stück weg waren, außer Sichtweite, platzten sie beinahe vor Lachen. Sie fuhren zum Sumbëjin. Die Sonne, zu dieser Jahreszeit dämmrig blaß, schickte ihre ockerfarbenen Strahlen schräg über das Meer. Auf der Terrasse der Bar saßen ein paar Gäste und genossen die sanfte Brise, die dann und wann aufkam.
»Warum hast du so viele Lügenmärchen erzählt?« fragte Rama, als sie sich setzte. »Ich dachte, du verstehst kein Französisch.« »Gut gekontert, schöner Mann.« Sie brachen wieder in Lachen aus. Der Kellner, auf der Hotelschule bestens gedrillt, wartete in steifer Haltung, ohne die Miene zu verziehen. Rama bestellte eine Coca-Cola, Pathé ein Bier. »Ausländisches, Monsieur?« »Hiesiges«, antwortete Pathé. »Meinst du, daß wir eines Tages heiraten werden?« Von der Frage überrumpelt und weil er in ihr keinen Zusammenhang zu dem Zwischenfall erkennen konnte, schwieg Pathé, aus der Fassung gebracht. Dann: »Was spricht dagegen?« »Das ist keine Antwort. Ich möchte wissen, ob du, ja oder nein, noch geneigt bist, mich zu heiraten?« Der Kellner brachte die Getränke. »Ich antworte dir: ja.« »Du mußt wissen, daß ich gegen die Polygamie bin.« »Was ist los?« »Weißt du über die dritte Heirat meines Vaters Bescheid?« »Ja.« »Kennst du auch die Fortsetzung, von den ungeheuren Kosten mal ganz abgesehen?« »Nein«, antwortete der Doktor, sich daran erinnernd, was der Chefarzt ihm vor noch nicht ganz zwei Stunden gesagt hatte. »Für diese Hochzeit hat mein Vater ein Vermögen ausgegeben, plus ein Auto für seine Dulzinea, unter der Bedingung, daß sie noch Jungfrau ist. Unberührt. Ich bin mir aber sicher, daß sie genauso unberührt ist wie ich.« Sie schwieg, trank ihre Coca.
Pathé, den unvorhersehbaren Reaktionen des jungen Mädchens mißtrauend, wartete auf die Fortsetzung. Mit der rechten Hand verscheuchte er die Biene, die um sein Glas herumschwirrte. Rama beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm mit dem Zeigefinger zu verstehen, er solle mit seinem Kopf näher kommen. Sie hatte den Ellbogen auf den Tisch aufgestützt, den Unterarm senkrecht aufgerichtet, die Hand baumelte schlaff hin und her. »Was ist das?« fragte Pathé. Sie schaute den Arzt an. »Was das ist? Der Xala meines Vaters«, sagte sie, sich wieder zurücklehnend. »Wie hast du das erfahren?« Hatte sie ihren Vater nicht aus dem Krankenhaus kommen sehen? Das bestätigte, was sie gehört hatte. Ohne seinem Blick auszuweichen, mit spöttischer Miene und einem Anflug von Lächeln in den Mundwinkeln, beugte sie sich wieder zu ihm hinüber: »Der Alte hat mich als Facc-katt konsultiert und mir gesagt: ›Rama, meine liebe Tochter, ich habe den geknüpften Knoten.‹« »Wie hast du das erfahren?« »Aha, du weißt es also auch?« Überrumpelt stammelte Pathé etwas vor sich hin. »Ich habe gesehen, wie der Alte aus dem Krankenhaus kam«, sagte sie. »Über diese Hochzeit weiß ganz Dakar Bescheid und auch, was sich jetzt hinter den Kulissen abspielt.« »Tatsächlich hat dein Vater den Chef konsultiert. Aber was sagt deine Mutter dazu?« »Schöner Mann, bist du wirklich intelligent? Meine Mutter? Die ist doch von vorgestern. Hat sie nicht schon die zweite Ehefrau erduldet?« »Und dein Vater?« Rama zeigte ihm ihre Wange, wo sie die Ohrfeige erhalten hatte: »Das letzte Mal, als ich meinen Vater gesehen habe,
bekam ich seine Hand hier zu spüren… hier. Und das am Tag seiner Hochzeit.« »Ein wohlverdientes Geschenk.« »Du bist wirklich intelligent, schöner Mann. Als Strafe möchte ich noch eine Cola.« Pathé rief den Kellner und bestellte eine zweite Runde. »Wegen meiner Mutter bin ich derart in Rage. Sie wird von Schuldgefühlen geplagt. Wenn wir heiraten, werde ich alles tun, damit sie sich scheiden läßt und bei uns lebt.« Eine kühle Brise, die nach Jod schmeckte, wehte vom offenen Meer herüber. Der Xala sollte ihr einziges Gesprächsthema bleiben. Rama dachte nur an ihre Mutter. »Was soll ich tun?« Die Frage ihrer Mutter hallte wie Glockengeläut in ihrem Kopf wider. Rama rief sich ihr Gespräch mit Pathé in Erinnerung. Vielleicht konnte die Wissenschaft ihren Vater retten? Sie zweifelte daran. Aber sie konnte nicht sagen warum. Sie hätte ihrer Mutter gern etwas Positives gesagt, ihr gar ein wenig Hoffnung gemacht. Und wenn es anders kam? Wenn ihre übergroße Anteilnahme, die Liebe zu ihrer Mutter die Hoffnung nun steigen ließe, wie Hefe den Teig? Die Enttäuschung wäre dann nur noch größer, der Sturz nur noch schmerzlicher. Sie beobachtete ihre Mutter. Aus ihren Augen sprach tiefe Verwirrung. Das Buch wanderte unentwegt von einer Hand in die andere. Ihre Handflächen waren feucht. »Du mußt gar nichts tun, Mutter.« Rama hatte sehr behutsam gesprochen; sie versuchte, das Feuer zu ersticken, das ihre Mutter verzehrte. »Ich kann nicht einmal mehr aus dem Haus gehen. Man schaut mich an, als ob…« Der Rest ihrer Worte ging in einem erstickten Schluchzen unter. »Hast du diesen Xala verursacht, Mutter?«
Herzenskälte? Oder ein Anflug purer Zärtlichkeit? Rama wußte es nicht zu erklären oder zu entscheiden. Sie wandte keinen Blick von ihrer Mutter. Adja Awa Astous schmales Gesicht wurde zum Kinn hin noch länger. Ihre schmalen, schrägen Augen verengten sich; silbrige Pünktchen, so groß wie Stecknadelköpfe, glitzerten in ihrem linken Auge. Ihr Unterlippe hing herunter, zitterte einen kurzen Augenblick. Sie sagte: »Ich schwöre dir im Namen Yallas, ich bin es nicht.« »Warum fühlst du dich dann schuldig?« »Ganz einfach, ich bin seine Frau. Die Awa. In derartigen Fällen wird immer die erste Frau beschuldigt.« »Du hättest bei deinem Ayé mit Vater darüber reden sollen.« »Über so etwas kann ich nicht mit ihm sprechen.« »Möchtest du, daß ich mit ihm darüber rede?« »Du hast kein Schamgefühl«, stieß Adja Awa Astou in heftigem Ton hervor und erhob sich. Das Buch fiel vor ihren Füßen zu Boden. Wütend fügte sie hinzu: »Wie kannst du mit deinem Vater über so etwas sprechen!« Beim Hinausgehen schlug sie die Tür hinter sich zu. Verdutzt starrte Rama auf die geschlossene Tür.
El Hadji Abdou Kader Bèye befolgte alle Anweisungen der Serigne, schluckte Absude, rieb sich mit Salben ein, trug seine Xatim um die Lenden. Trotz alledem, oder gerade deswegen, gab es keinerlei Anzeichen einer Besserung. Er war nochmals zum psychiatrischen Krankenhaus gegangen. Ohne Hemmungen vertraute er sich dem Chefarzt an; er sprach mit gebrochener Stimme. Er hatte Lust, »es mit einer Frau zu treiben«, aber seine Nerven spielten ihm einen Streich. Dabei hielt er sich doch an alle Verordnungen. Der Chefarzt nahm es zur Kenntnis und bat ihn wiederzukommen. Tage, Nächte vergingen, und die beständige Qual ließ seine beruflichen
Aktivitäten einrosten. Wie ein am Flußufer mit Wasser vollgesogener Kapokbaum versank El Hadji immer tiefer im Morast. Erschöpft zog er sich aus dem Kreis seiner Kollegen zurück, in dem geschäftliche Transaktionen eingefädelt, besiegelt wurden. Schwerfällig geworden, verlor er seine Behendigkeit, sein Geschick bei der Abwicklung seiner Geschäfte. Unmerklich ging es mit seinem Laden bergab. Er mußte seinen aufwendigen Lebensstil, seinen Lebensstandard aufrechterhalten: drei Villen, ein Fuhrpark an Autos, seine Frauen, Kinder, Haus- und Büroangestellte. Gewohnt, alles per Scheck zu bezahlen, machte er weiterhin von diesem Zahlungsmittel Gebrauch, um alte Schulden und die Haushaltskosten zu begleichen. Er gab viel aus. Sein Soll überstieg allmählich das Haben. Sein Schwiegervater, der Vater der Dritten, der alte Babacar, kannte einen Seet-katt, einen Seher. Er wohnte in einem Vorort. Sie begaben sich dorthin. Der Mercedes konnte nicht bis zum Haus des Wahrsagers vorfahren. Nichts als sandige Wege. Sie setzten den Weg zu Fuß fort, versanken im Sand. Die Häuser, teilweise aus Holz, teilweise in Stein gebaut, waren mit Wellblech, Teerpappe, Pappkarton gedeckt; das Ganze war mit Kieselsteinen, Eisenstangen, Wagenachsen und Radfelgen aller Automarken beschwert. Barfüßige Jungen spielten mit einem selbstgebastelten Ball Fußball. Vom gegenüberliegenden Abhang des Brachlandes kamen Frauen, Schüsseln, Plastikeimer auf dem Kopf tragend, in einer langen Reihe von der Wasserstelle auf der anderen Seite des Viertels, wo die eigentliche Stadt lag, zurück. Der Seet-katt, ein großer, verwegen aussehender Kerl mit linkischen Bewegungen, ausgedörrter, faltiger Haut, braunen Augen und wilden Haaren, trug lediglich eine kurze, nach türkischer Art geschnittene Hose. Er führte sie in einen für die
Konsultationen hergerichteten Innenhof. Ein Stück Jute diente als Tür. Auf der Rückseite, der Innenseite, war diese Tür rot, darauf waren Tierzähne, Katzenpfoten, Vogelschnäbel, zusammengeschrumpfte Felle, Amulette genäht. Dieser Ort war mit einer Sammlung seltsam geformter Tierhörner umzäunt. Der Boden, aus feinkörnigem Sand, war sauber. Der Seet-katt, ein mystischer Einsiedler, konnte sich in Ruhmesglanz sonnen. Seine seriöse Arbeit fand über die Grenzen des Viertels hinaus Anerkennung. Seinen dürren Arm ausgestreckt, forderte er sie auf, auf einem Ziegenfell Platz zu nehmen. Den europäisch gekleideten El Hadji brachte das in Verlegenheit: Er setzte sich hin, so gut er eben konnte. Der alte Babacar ließ sich im Schneidersitz nieder. Der Seet-katt breitete zwischen ihnen ein leuchtend rotes Stück Stoff aus, holte aus einem Beutel Kaurimuscheln. Bevor er seines Amtes waltete, sprach er Zauberformeln; mit einer abrupten Bewegung warf er die Kaurimuscheln. Blitzschnell sammelte er sie mit einer Hand wieder ein. Steif und aufrecht sitzend, musterte er seine Kunden. Brüsk streckte er ihnen den Arm entgegen, die Faust geschlossen, die sich, wie eine Anemonenblüte an dem mageren Gliedmaß, langsam öffnete. Der alte Babacar, tief beeindruckt, wies mit seinem Finger auf El Hadji. »Nimm und blase über das, was dich hierher geführt hat«, befahl der Seet-katt, der zum ersten Mal das Wort an sie richtete. El Hadji, die Kauris in der flachen Hand, murmelte. Er blies über die Kaurimuscheln und gab sie ihm zurück. Die Augen geschlossen, lautlos die Lippen bewegend, konzentrierte sich der Seet-katt. Dann warf er sie unter gutturalem Gebrüll auf das Stück Stoff. Wie ein Funkenregen in der Dunkelheit tauchte an der Oberfläche das verschüttete geistige Universum seiner frühen
Kindheit auf. El Hadji Abdou Kader Bèye war überwältigt: Eine von bösartigen Geistern, Gnomen und Djinns bevölkerte Welt schlich sich in sein Unterbewußtsein. Der Seet-katt zählte die Kaurimuscheln. Einmal… zweimal… dreimal! Was? Er sah auf, seine Augen, die die Farbe von Tabakblättern hatten, blickten auf den Patienten. Er suchte ihn zu ergründen. El Hadji wurde von Furcht ergriffen. Warum musterte er ihn so durchdringend? Der Wahrsager sammelte seine Kauris wieder ein, warf sie aufs Neue. »Seltsam«, murmelte er zwischen den Zähnen. Niemand sagte etwas zu ihm. Bevor er sie wiederum warf, ergriff er eine mit einem roten Stoff umwickelte Klaue, die er unter die übrigen Kaurimuscheln mischte. Sein Gesicht verfinsterte sich, sein Blick wurde stechend. Gelenksteife? Die Absicht, Eindruck zu schinden? Professionelles Gehabe? Tatsache war, daß er seine Körperhaltung veränderte. Er beugte den Oberkörper vor, dann richtete er sich wieder auf. Ein zufriedenes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Dieser Xala ist seltsam«, erklärte er. El Hadji empfand maßlose Freude. Sein ganzes Wesen wurde von wohltuender Wärme durchflutet. Euphorische Nebel hüllten ihn ein. Er sah seinen Schwiegervater zufrieden an. Er selbst hatte vorher noch niemals etwas von diesem Seet-katt gehört. »Wer hat den Xala herbeigeführt?« fragte der alte Babacar. Der Seher war wieder in Kontemplation versunken. Von ferne drang der Lärm der Kinder herüber, in der Nähe war Musik zu hören: Irgend jemand ging außerhalb des Grundstücks mit einem Transistorradio vorüber. »Ich kann es nicht genau erkennen. Ein Mann? Eine Frau? Sehr schwer zu sagen. Obwohl ich dich genau sehe. Du bist da, du bist zugegen.«
»Ich will gesund werden«, stieß El Hadji hervor. Ratlos harrte er einer Antwort. »Ich bin kein Facc-katt, kein Heiler, sondern ein Seet-katt, ein Wahrsager. Meine Aufgabe ist es zu ›sehen‹.« »Wer hat mir das angetan?« erkundigte sich El Hadji. Der Ausdruck auf seinem gealterten Gesicht erinnerte an eine Baulemaske. »Wer?« wiederholte der andere fragend. Der Seet-katt spannte seine Finger über die fächerförmig ausgebreiteten Kaurimuscheln, als wollte er die Saiten einer Gitarre zupfen. Seine Augen wie seine Finger folgten einer unsichtbaren Linie. Er wiederholte: »Wer? Die Form ist undeutlich. Aber ich kann dir bestätigen, daß es jemand aus deiner Umgebung ist. Dein Xala ist nachts ins Werk gesetzt worden.« »Sag mir, wer es ist; ich gebe dir alles, was du willst. Ich will gesund werden. Wieder ein Mann werden. Sag mir, wieviel du willst«, rief El Hadji aufgewühlt. Seinen Worten die entsprechende Geste folgen lassend, zog er seine Brieftasche heraus. »Ich nehme nur, was mir zusteht«, antwortete der Seet-katt in äußerst selbstgefälligem Ton. Sein Blick kreuzte den El Hadjis, er fügte hinzu: »Du hast mich nur nach dem Namen dessen gefragt, der dir den ›Knoten geknüpft‹ hat?« »Ja, das habe ich über die Kauris geflüstert«, bekannte El Hadji schweren Herzens. »Aber du kannst mich behandeln, mich heilen. Heile mich«, flehte El Hadji, die Banknoten in der Hand. Der Seet-katt sammelte behutsam seine Utensilien ein, faltete den Stoff zusammen, ohne ihnen noch weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Sein ganzes Verhalten drückte nun alles andere als Achtung aus.
»Wieviel schulden wir dir?« fragte der alte Babacar. »Fünfhundert Francs CFA!« El Hadji gab ihm einen Tausendfrancschein. Mangels Wechselgeld überließ er ihm den Rest. Nachdem El Hadji von ihm gegangen war, blieb der Satz »Es ist jemand aus deiner Umgebung« in seinem Gedächtnis haften. So wie die Natur mit kleinen Unkrautbüscheln nach und nach auf Ruinen ihren Lebensraum zurückerobert, so erwachte der von den Vorvätern ererbte Fetischismus in El Hadji wieder. Wie ein Sturzbach ließ sein Mißtrauen eine Flut von Namen hervorbrechen, skizzenhafte Silhouetten und verschwommene Gesichter. Um sich herum sah er nur noch gegen ihn gerichtete Heimtücke und Mißgunst. Seit seinem Besuch bei dem Seet-katt war er reserviert, argwöhnischer. Die Niedergeschlagenheit drückte wie ein weiteres Gewicht auf seine Schultern. Die Worte des Wahrsagers spukten ihm im Kopf herum. Es war der Moomé von Oumi N’Doye. El Hadji schob die Rückkehr so lange wie nur möglich hinaus; er war sich von vornherein sicher, daß er sich bei ihr nicht vor der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten drücken könnte. Endlich, zu so später Stunde wie möglich, kehrte er in den heimatlichen Stall zurück. Oumi N’Doye hatte ihr Ayé wettkampfmäßig vorbereitet. Ein Versöhnungsessen. Ein vollständiges Menü, wie sie es in einer französischen Frauenzeitschrift gelesen hatte. Sie wollte ihn die letzte Mahlzeit, die er bei der Mitfrau eingenommen hatte, vergessen machen. Auf dem herrschaftlich dekorierten Tisch: verschiedene Hors d’oeuvres, Kalbskoteletts, eine Flasche Rosé »Côtes de Provence« in einem Eiskübel, daneben die Flasche Evian; am anderen Tischende pyramidenförmig aufgebaute Äpfel und Birnen. Um die Suppenschüssel herumdrapiert verschiedene Käsesorten in der
Originalverpackung. Für die zweite Frau stellte diese Inszenierung den Versuch dar, das verlorene Terrain zurückzuerobern, die Wertschätzung ihres Mannes wiederzugewinnen. Eine ihrer Freundinnen, großzügig mit guten Ratschlägen, hatte ihr erst heute eingeflößt: »Um die Gunst ihres Ehemannes zu erlangen, muß eine Frau, die mit anderen im Konkurrenzkampf steht, die beiden verwundbaren Stellen des Mannes anvisieren: den Bauch und das Geschlechtsteil. Und sie muß es ebenso verstehen, sich begehrenswert zu machen, weiblich zu sein mit einem Hauch von Sittsamkeit. Und im Bett hemmungslos: Hemmungen bringen nur Reue.« Oumi N’Doye hatte sich die Haare nach der Xasonké-Mode über der Stirn geflochten, einen gewundenen Goldreif über den mittleren Zopf gezogen, der bis in den Nacken reichte. Auf jeder Seite ihres Kopfes, von den Ohren ausgehend, verliefen fächerförmig fünf Zöpfe, die mit flachen, herzförmigen Perlmuttperlen abschlossen. Ein Hauch Tusche betonte die schwarzen Augenbrauen und Wimpern. Ihrem Mann gegenübersitzend, plauderte sie, die Unterhaltung bei diesem Tête-à-Tête ganz allein bestreitend. Von Zeit zu Zeit rief sie durch Läuten der Tischglocke das Dienstmädchen herein. »Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet!« sagte sie lachend. »Dabei bin doch auch ich deine Frau, nicht wahr? Ein bißchen älter als deine N’Goné, das ist wahr. Obwohl, wenn wir nebeneinander stehen, könnte man uns für Schwestern halten«, schloß sie munter, und ihre Wimpern flatterten wie ein Schmetterlingspaar, das zum Abflug anhebt. Das Licht fiel auf ihr Gesicht, ein Auge glänzte wie glasiertes Porzellan. El Hadji zwang sich zu einem Lächeln. Er aß kaum etwas. Er hatte keinen Hunger. Das Gefühl, das Wohn-Eßzimmer würde sich um ihn zusammenziehen, hämmerte an seine Schläfen.
»Jetzt machst du mir etwas vor. Du willst mich wohl reinlegen, was? Du hättest mich anrufen können. Oh, nicht meinetwegen. Ich weiß, wo mein Platz ist. Aber wegen der Kinder. Wenn eins von ihnen krank wäre. Toi, toi, toi! Man kann nie wissen. Ich? Ich weiß, wann mein Ayé ist. Ich verlange nichts. Ein einziger Gedanke, das ist doch nicht zuviel verlangt. Ein kleiner Gedanke, und man freut sich.« El Hadji Abdou Kader Bèye klammerte sich an seine fixe Idee: »Vielleicht war sie es?« Oumi N’Doye schwatzte. Wirklich ein Glücksfall, solches Fleisch zu bekommen. Kalbskoteletts aus Frankreich. Die einheimischen Metzger haben keine Ahnung, wie man Fleisch richtig zerlegt. Meinst du nicht auch? Beim Lebensmittelhändler gab es doch tatsächlich unreife Avocados. Gerade gut genug für die Tubab. Was für Tubab es doch gibt, heutzutage! El Hadji hatte sich vom Tisch erhoben. Im Sessel sitzend, streckte er die Beine aus, lockerte seine Krawatte, legte den Kopf zurück. Das grelle Licht der Eckleuchte vergröberte seine gealterten Gesichtszüge. Sein Haar, kurz und weiß wie Flachs, glänzte. »Natürlich, wenn man an zwei verschiedenen Tafeln speist, gibt man einer den Vorzug«, meinte Oumi N’Doye, die noch am Tisch saß, in bitterem Ton. Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr sie dann mit gedämpfter, sanfter Stimme fort: »Du sollst wissen, daß, wenn ich dir etwas sage, es auch immer für die Kinder ist. Du mußt Sinn für Gerechtigkeit haben, wie es der Koran vorschreibt. In jedem deiner Häuser gibt es ein Auto, nur in diesem nicht. Warum?« El Hadji hörte nicht zu. Er war ganz mit seinem Xala beschäftigt. Seine Gedanken klammerten sich an Adja Awa Astou. In diesem Moment wußte er die Schweigsamkeit der
ersten Frau zu schätzen. Als würde er in flagranti bei einer schändlichen Tat ertappt, fürchtete er sich vor dem Augenblick des Zubettgehens. Sein Herz schlug heftig. Er hatte Lust, Oumi N’Doyes Moomé zu überspringen. Er würde die Nacht woanders verbringen, weit weg von ihr. Er wußte im voraus, daß die Frau Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um ihn zurückzuholen. »Antworte mir!« »Ich habe nicht zugehört. Was sagtest du?« Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie ihren Ehemann streng an: »Niemand ist tauber als der, der nicht hören will. Ich wiederhole, daß meine Kinder auch ein Auto brauchen. Eins ist bei Adja, ein anderes bei deiner Dritten. Ich möchte auch zum Tandem gehören, aber nicht als Ersatzrad. Du bist schuld, wenn die Kinder Komplexe kriegen.« »Du brauchst nicht zu brüllen. Du weckst die Kinder auf!« »Gib zu, daß ich recht habe. Alles für die anderen. Nichts für mich und meine Kinder.« »Reich mir das Evian!« Der Zorn war nur Strohfeuer. Oumi N’Doye brachte ihm die Flasche und ein Glas: »Ich lasse dir ein Bad ein«, sagte sie. Das hatte sie gerade in einer ihrer Frauenzeitschriften gelesen. El Hadji traute seinen Ohren nicht. Er sah die Frau prüfend an, angenehm überrascht. »Ja, danke.« Sie verschwand. Nach dem Bad begab El Hadji sich zu Bett. Oumi N’Doye gesellte sich gleich danach zu ihm. Das ganze Zimmer duftete nach ihrem Parfüm. Sie schmiegte sich an ihn, knöpfte seinen Schlafanzug auf, ihre Hand glitt von oben nach unten über seinen Körper, erkundete ihn mit Kennerschaft; ihre fiebrig tastenden Finger suchten den Mann.
El Hadji Abdou Kader Bèye ließ die Tortur über sich ergehen. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Früher hatten diese Zärtlichkeiten seine Begierde auf den Höhepunkt getrieben. Heute abend ließ ihn die Hand, die ihn liebkoste, ein Martyrium erleiden. Er war völlig durchnäßt, seine Nerven gelähmt! Es fehlte ihm einfach der Mut – der bescheidene Mut alltäglichen Heldentums –, sich dieser Qual zu entziehen, die ihn wie eine Glut verzehrte. Völlig niedergeschmettert, stiegen aus seinem tiefsten Inneren Tränen empor. Oumi N’Doye legte das Verhalten ihres Ehemannes als erstes Anzeichen ihrer Ungnade aus. Sie kochte. Ihr wortreiches Vokabular, voller Anzüglichkeiten bei jeder Schimpftirade, traf genau ins Ziel, vergiftete El Hadjis Herz. Aber auch sie litt. »Deine alte Adja hat dich geschafft. Oder ist es deine N’Goné? Jung und ein guter Reiter muß man sein, wenn man zwei Stuten gleichzeitig besteigen und ihnen auch noch die Sporen geben will«, sagte sie resignierend und kehrte ihm den Rücken zu. Langsam zur Ruhe kommend, das Gehirn leer, fiel El Hadji in einen unruhigen Schlaf. Jedesmal, wenn er aus dem Schlaf hochfuhr, wurde er vom Gesang des Bettlers heimgesucht. Am nächsten Morgen, nachdem die Kinder zur Schule gefahren waren und El Hadji, frischrasiert und umgezogen, beim Frühstück saß, kam Oumi N’Doye und setzte sich neben ihn. Die Spuren der unerfüllten Nacht zeigten sich in ihren glanzlosen Augen. Eine Mauer der Verlegenheit stand zwischen ihnen. El Hadji, unter dem Zwang, sich zu rechtfertigen, gab Erklärungen ab. Er führte seine übermäßig viele Arbeit ins Feld. Um für sein Benehmen in der vergangenen Nacht Verzeihung zu erlangen, schenkte er der Frau einen Batzen Geld. Beim Anblick des Bündels Banknoten zeigte Oumi N’Doye sich nachsichtig.
»Heute mittag komme ich nicht.« »Wo wirst du essen?« »Mit dem Präsidenten. Wir haben eine Verabredung mit Geschäftsleuten und werden den Tag zusammen verbringen.« Während er noch sprach, sah El Hadji zur Tür. Wie Balsam verschaffte ihm diese Lüge Erleichterung. »Dann komm wenigstens früh nach Hause. Wir sind schon seit ewigen Zeiten nicht mehr ins Kino gegangen.« »O. K.«, lenkte er ein und verließ sie.
Modu, der Chauffeur, hatte sehr wohl bemerkt, wie sein Chef dahinsiechte: die Stimme, die ausweichenden Blicke, der schwere, schleppende Gang. Früher war El Hadji für ihn wie ein Großvater gewesen. Seit seiner dritten Heirat war er anders, abweisend. Nachdem er ihn abgesetzt hatte, ließ sich Modu auf seinem Schemel nieder und hörte dem Bettler zu. Der Autowäscher machte sich wie jeden Morgen um den Wagen herum zu schaffen. Die Stunden verstrichen. Kunden gingen im Geschäft ein und aus. Yay Bineta, die Badiène, erschien, in Begleitung der Frau mit dem Hahn. Sobald sie El Hadji gegenüberstand, fing die Badiène an zu salbadern: »Wie geht es dir zur Zeit?« »Yalla sei Dank. Gut.« »Wirklich gut?« fragte sie. El Hadji vermied, in Gegenwart einer Fremden zu antworten. »Erkennst du sie nicht wieder? Wirklich nicht? Nun ja, an jenem Morgen warst du wohl mit deinen Gedanken woanders. Das ist doch die Frau, die wegen der ›Pagne der Jungfräulichkeit‹ gekommen war.«
El Hadji verspürte ganz kurz einen Anflug von Haß. Aber auch Verwirrung. Die Anmaßung dieser Badiène ging langsam zu weit. »Und mit den anderen Ehefrauen?« »Das gleiche.« Die Badiène öffnete den Mund. Unwillkürlich. Sie warf ihrer Begleiterin einen verstohlenen Blick zu. »Jam! Das ist wirklich ein Fall«, meinte sie feststellend. Mitgefühl? Der Beginn von Feindseligkeit? Noch ganz durcheinander, unentschlossen, hielt sie sich zurück. Ihr flinker, in solchen Angelegenheiten bewanderter Verstand arbeitete. Sie taxierte ab. Eine Frage brannte ihr auf den Lippen. Den Blick abwendend, schaute sie zum Fenster, tat so, als lausche sie dem Lied des Bettlers. Dann: »Bist du mit deinen anderen Frauen zusammen gewesen? Um es zu versuchen?« »Nichts.« »Nichts«, wiederholte sie, runzelte die Stirn und sah die Frau mit dem Hahn an. Das Schweigen dauerte eine ganze Weile. Die lebhafte Phantasie der Badiène blühte: Wenn die Ehefrauen sich nicht beklagen, dann nur, weil sie diesen Xala eingefädelt haben. Sie sind nicht bloß eifersüchtig, sondern sehr gefährlich für meine N’Goné. In den Zwischenpausen ihres inneren Monologs kam ihr eine Idee. Ihre lange Lebenserfahrung brachte sie dazu, an der Wahrhaftigkeit der Worte des Mannes zu zweifeln: Ist er wirklich ein Mann? Ist er der Vater seiner Kinder? Heutzutage nehmen die Frauen für Geld alles in Kauf. Frauen sind nicht aus Holz. Wie die Wahrheit in Erfahrung bringen? Die genaue Wahrheit?
Dann bewies Yay Bineta Takt und Diskretion, indem sie das Thema wechselte: »Ich war bei Babacar. Du sollst zu ihm kommen. Er kennt einen guten Seet-katt.« »Wir waren schon dort.« »Ach so«, sagte sie betont freundlich, mit gespielter Überraschung. Ein boshafter Schimmer leuchtete in ihren Augen. El Hadji Abdou Kader Bèye war sicher, daß der alte Babacar seiner Schwester und seiner Frau alles über den Besuch bei dem Seet-katt erzählt hatte. Warum setzte diese Frau ihm so zu? Es ist jemand aus deiner Umgebung, sagte er sich wieder. Warum nicht sie? Diese Frau überschritt alle Grenzen des Anstands. Wollte sie sein Leben bestimmen? Sollte er ihr über seine intimsten Angelegenheiten Auskunft geben? »Du mußt schnellstens etwas tun, ehe es zu spät ist. Wir warten ungeduldig auf unseren Moomé.« »Dieser Zustand darf nicht noch länger andauern«, bestätigte die andere Frau. El Hadji verstand die Anspielung, erkannte aber nicht die darin enthaltene Drohung. »Du darfst uns nicht vergessen, uns nicht vernachlässigen«, sprach Yay Bineta weiter. »Eine jung verheiratete Frau braucht ihren Mann. Die Liebe nährt sich von der Anwesenheit des anderen.« Mit diesen Worten standen sie auf. El Hadji wies Modu an, sie nach Hause zu fahren. »Du kommst uns besuchen, heute abend. Ein Höflichkeitsbesuch. Sechs Tage Warten, das ist lange.« »Ja«, versprach er, während Modu bereits anfuhr. Warum war sie gekommen, um ihn an N’Gonés Moomé zu erinnern? War nicht er der Ehemann? »Etwas tun, ehe es zu spät ist!« Was wollte sie damit sagen? Und der drohende Ton! Diese Frau widerte ihn an.
El Hadji Abdou Kader Bèyes Geschäfte erlitten einen Rückschlag. Seit dem Tag nach seiner Hochzeit hatte er keine neuen Waren mehr eingekauft. Dazu muß man wissen, daß all diese Leute, die sich die hochtrabende Bezeichnung »Geschäftsmann« zugelegt hatten, in Wirklichkeit nur Zwischenhändler, eine neue Art Handelsgehilfen waren. Die ehemaligen Handelskontore aus der Kolonialzeit, die sich der neuen Situation nach der afrikanischen Unabhängigkeit angepaßt hatten, lieferten ihnen die Waren zum Weiterverkauf im Groß- und Einzelhandel. Das Import-Export-Geschäft, das El Hadji sein »Büro« nannte, lag im Zentrum des Geschäftsviertels. Eine große Lagerhalle, die er von einem Libanesen gemietet hatte. Zu ihren Glanzzeiten war sie bis zum Bersten voll mit Reissäcken aus Siam, Kambodscha, South Carolina und Brasilien, mit Haushaltsartikeln, mit importierten Lebensmitteln aus Frankreich, Holland, Belgien, Italien, Luxemburg, England, Marokko. Bis zur Decke stapelten sich Utensilien aus Plastik, Weißblech und Zinn. Süßigkeiten, Tomatenkonserven, Pfeffer, Milch, Säcke voller Zwiebeln, deren Duft sich mit dem Schimmel an den Wänden vermischte, zwangen die SekretärinVerkäuferin, jede Woche zwei Dosen Frischluftspray zu versprühen. In einem Winkel hatte er sich einen Verschlag abgetrennt – sein Büro – und mit Schubladenschränken aus Metall eingerichtet, an denen die Monate und Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten. Madame Diouf kam, um ihm zu sagen, daß es Mittag war. Seit die Badiène gegangen war, käute er die immergleichen Gedanken wieder. Er hatte keine Verabredung zum Essen. Er wollte allein sein. Wenn er allein war, ging es ihm gut, war er entspannt. Er begab sich in »sein« Restaurant. Hier ging er hin, wenn er mit Geschäftsfreunden aß oder wenn er ein Mädchen
aufgegabelt hatte. Der Besitzer, ein Franzose, der ihn gut kannte, begrüßte ihn mit übertriebener Freundlichkeit, beglückwünschte ihn zu seiner Hochzeit und spendierte ihm den Aperitif. Während er ihn zu seinem Tisch geleitete, raunte er ihm zu: »Wirklich, Afrika wird immer einen Vorsprung vor Europa haben. Sie haben Glück, Sie können sich so viele Frauen nehmen, wie Sie brauchen.« Die Mahlzeit war einfach: gegrilltes Fleisch mit Salat, ein Viertel Rosé d’Anjou und ein Cantal. Nach dem Kaffee hätte er sich gern eine Siesta gegönnt. Wo? Bei der Dritten? Bei der Zweiten? Bei der Ersten, in der einzigen Villa, wo er sich wohlfühlen würde? Wenn er es sich recht überlegte, wäre er eigentlich im Hotel besser aufgehoben. Modu, der Chauffeur, war nach Hause gefahren. Zu Fuß gehen! Es war sehr heiß, und er könnte auf seinem Weg Bekannten begegnen. Er nahm ein Taxi. »El Hadji!« begrüßte ihn der Geschäftsführer, ein Syrer, indem er ihm, wie bei Muslimen üblich, beide Hände entgegenstreckte. »Dein Zimmer mit Klimaanlage ist frei. Welcher Name, falls nach dir gefragt wird?« Bei seinen Seitensprüngen kam El Hadji immer hierher. »Ich bin heute allein«, antwortete er und nahm den Fahrstuhl. »Krank?« »Nein. Ich muß nachdenken.« »Du bist hier zu Hause.« Im Zimmer schaltete er die Klimaanlage ein. Der Raum füllte sich mit kühler Luft. Er schlummerte sofort ein. Wie lange hatte er geschlafen? Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sieben Uhr abends! »So lange!« sagte er sich. Als er in die Hotelhalle hinunterkam, wartete Modu auf ihn. Das Verhalten seines Chefs überraschte ihn. Wie kann man zum Schlafen in ein Hotel gehen, wenn man drei Villen, drei Ehefrauen hat? Wenn El Hadji ein Rendezvous mit einem
Mädchen gehabt hätte, dann wäre er, Modu, auf dem Laufenden gewesen! Vom Hörensagen wußte er über den Xala Bescheid. In der Nähe seines Dorfes lebte ein guter Serigne. Aber wie sollte er ihn darauf ansprechen? »Ist das Büro schon geschlossen, Chef?« fragte Modu, um in Erfahrung zu bringen, wo er ihn absetzen sollte. Sie sahen sich ins Gesicht. Modu, ein einfacher, bodenständiger Mensch, las die Verzweiflung in seinem Blick. Kleine Fältchen, Zeichen der Erschöpfung, hatten sich um seine Augen gebildet. Die Augäpfel hatten das fahle Gelb afrikanischen Elfenbeins angenommen. Der Chauffeur ließ seinem Chef den Vortritt und öffnete ihm die Wagentür. Der Mercedes fuhr in Richtung des Dorfes N’Gor. Unterhalb der Bergkuppe bat El Hadji ihn hochzufahren: Das Auto folgte der Straße, die sich bis zum Leuchtturm hinaufschlängelte. El Hadji stieg aus, ging ein paar Schritte den Pfad entlang. Er starrte in die Ferne, mit bedrückter Miene, hängenden Schultern; dort unten glitzerte wie ein riesiger See die Meeresoberfläche. Die Gischt, gleich einem feinen, von unsichtbarer Hand bewegten Tüllschleier, kräuselte sich schimmernd, um sich dann wieder zu glätten. Das aufgewühlte Meer tobte. Bedächtigen Schrittes machte er kehrt, ging um die Behausung des Leuchtturmwärters herum. Er blieb erneut stehen. In der Ferne Dakar! Die modernen Hochhäuser, die Dächer, die Grünflächen vermittelten aus dieser Entfernung den Eindruck, als sei die Stadt in ihrer ungleichmäßigen Auszackung, mit ihren Schattenflächen, ihren vom Mond beschienenen Fassaden in einen einzigen weißlichen Steinblock gehauen. In einer langen Lichterkette funkelten entlang einer Hauptverkehrsader die glockenförmigen Lampen der Straßenlaternen. Im Azurblau schwebten Geier.
El Hadji Abdou Kader Bèye hatte dort oben ohne bestimmte Absicht Halt gemacht. Modu, der am Steuer sitzen geblieben war, wurde von Panik ergriffen. Er wollte sich doch nicht umbringen? Der Gedanke ließ ihn nicht los, zwang ihn, sich ihm zu nähern, ihn zu belauern, bereit einzugreifen, sollte er den Versuch unternehmen, sich in die Tiefe zu stürzen. Die Zeit verstrich. In der Stadt gingen die Lichter an. Über ihrem Kopf glitt das Lichtbündel des Leuchtturms in regelmäßigen Abständen vorüber. El Hadji wandte sich dem Fahrer zu und sagte: »Fahre mich zu N’Goné.« Er hatte der Badiène versprochen, heute abend vorbeizukommen. Auf der beleuchteten Veranda saßen Leute. Kannten sie ihn? Völlig unwichtig. Die Badiène stellte sie vor: ein Junge von zwölf, seine Schwester, neun Jahre alt. Geschwister N’Gonés, die bei ihrer älteren Schwester wohnen sollten. Es war selbstverständlich, daß N’Goné jetzt an der Reihe war, sie aufzuziehen. Sie müßte ihren Eltern die Last abnehmen, diese Münder zu stopfen, erklärte Yay Bineta, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Im voraus dankte sie dem Mann. Unter einem Sturzbach von Komplimenten, was für ein großzügiger, guter und rechtschaffener Mann er wäre, gelangte er zum Schlafzimmer. Das noch immer hochzeitlich hergerichtete Bett, ganz in Weiß, ein Reinheitssymbol, wartete darauf, befleckt zu werden; die Schneiderpuppe, mit ihrem Brautkleid und ihrem Krönchen, stand noch immer im Raum. N’Goné, auf dem Bett sitzend, den Oberkörper nach hinten gebeugt, sich auf einen Arm stützend, war bemüht, die Atmosphäre zu entspannen: »Seit neulich habe ich auf deinen Besuch gehofft. Wie geht es deinen Frauen? Deinen Kindern?«
Bei diesem banalen Geplauder, dem jeder Tiefsinn, jede Subtilität fehlte, ging El Hadji auf, daß er mit N’Goné nur auf Sand gebaut hatte. Auch er hatte nicht die Fähigkeit, eine gehaltvolle, geistreiche oder witzige Unterhaltung zu führen. Diese in unserem Land existierende Sorte Mann, diese »Gentry«, die von ihrer Rolle als Herr und Meister – der Rolle, das Weibchen auszustatten und zu bespringen – durchdrungen war, hatte im verbalen Umgang mit ihrer Partnerin für stilvolle Feinsinnigkeit nichts übrig. Der Mangel an der Fähigkeit zu einem Gespräch machte aus diesen Männern reine Zuchthengste. Geistig beschränkt und borniert, war El Hadji auch nicht intelligenter als die anderen. Nur seine augenblickliche Verfassung hinderte ihn daran, lang und breit hohle, geistlose Phrasen mit N’Goné zu wechseln. Das plötzliche Auftauchen der Badiène, die Erfrischungen brachte, machte dem Gefasel der Braut ein Ende. »Ich hoffe, ich störe euch nicht? El Hadji wird Durst haben. Ein Mann hat immer Durst, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt«, meinte sie, indem sie ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Limonade vor sie hinstellte. Sie wandte sich an N’Goné: »Kümmere dich um deinen Mann. Die jungen Frauen heutzutage kennen ihre Pflichten nicht mehr.« N’Goné füllte die Gläser. »Auf dein Wohl, Liebling«, sagte sie auf Französisch. »Ich muß gehen«, sagte El Hadji nach dem ersten Schluck. Das unbehagliche Schweigen und die Badiène störten ihn. Sein Mißmut wuchs, ließ ihn schwerfällig wirken. »Schon?« wunderte sich N’Goné, die sich immer näher an seine Schulter lehnte. »N’Goné, erinnere El Hadji an das Auto«, trällerte die Badiène listig. Sie stand neben der Schneiderpuppe, da es keinen Stuhl gab.
»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht, Badiène«, sagte N’Goné auf Französisch. »Ich verstehe dein Kauderwelsch nicht«, sagte die Badiène vorwurfsvoll. Sie wandte sich an N’Goné: »Du wirst schon sehen, daß dein Mann der gleichen Meinung ist wie ich. Nicht wahr, El Hadji?« »Ja«, stimmte El Hadji zu, ohne zu wissen, wovon eigentlich die Rede war, nur, um das Wohlwollen dieser Frau zu erlangen und so schnell wie möglich zu verschwinden. »Was habe ich dir gesagt? Du hast wirklich Glück, mit einem so guten Mann verheiratet zu sein.« Yay Bineta legte eine Pause ein, so als hätte sie den Faden verloren. Sie sah El Hadji an. »Ja, also, um auf das Auto zurückzukommen, N’Goné kann noch nicht fahren. Sie braucht einen Chauffeur. Es gibt Besorgungen zu erledigen. Außerdem leben jetzt ihr Bruder und ihre Schwester bei ihr. Ihre Schule befindet sich am anderen Ende der Stadt. Und das ist weit.« »Ich möchte fahren lernen.« »Der Chauffeur, den dein Mann einstellen wird, bringt dir das Autofahren bei. Viele junge Frauen fahren Auto«, unterbrach sie die Badiène. Dann, sehr mütterlich: »El Hadji, entscheide du zwischen uns!« »Ich werde gleich morgen einen Chauffeur einstellen. Bei ihm kannst du fahren lernen.« »Ich gehe lieber in eine Fahrschule. Da kann ich es richtig lernen.« »Gehorche! Eine Frau muß gehorchen«, polterte Yay Bineta mit einem sanften Unterton und entfernte sich bedächtig. Als beide allein waren, hielt N’Goné einen langen Vortrag über die Vorzüge von Fahrzeugen und ihre unterschiedlichen Marken. Früher, wenn er mit diesem Mädchen – inzwischen seine Ehefrau geworden – zusammen war, vergaß er seine anderen
Frauen. Er schätzte ihre jugendliche und unbekümmerte Wesensart. Sie unterbrach die stagnierende Eintönigkeit seines Daseins. Gleichzeitig brachte sie irgendwie Schwung in sein Leben, eine zweite Jugend. In den Wochen vor der Hochzeit hatte es ihn bei den seltenen Gelegenheiten, die er mit N’Goné allein war, Mühe gekostet, sich zurückzuhalten, so sehr war er von dem Verlangen besessen, sie zu besitzen. Jetzt, wo sie sich ihm darbot, war N’Goné nichts weiter als die Verkörperung geistiger und körperlicher Verfolgung. Sie klammerte sich an ihn, ergriff die Initiative, äußerst ungeschickt, als habe sie ihre Lektion nicht begriffen. Sie keuchte, warf ihn auf das Bett, legte sich auf ihn. Er entwand sich ihr vorsichtig, erhob sich und rückte seine Krawatte zurecht. Er blickte auf N’Goné hinunter. »Ich bin am Ende«, sagte er sich, in Traurigkeit versunken. Der erneute Schlag hämmerte wieder durch seinen Kopf; ein Schlag, der auf ein grenzenloses Ufer zurollte und es überflutete. »Ich muß gehen. Es ist Zeit«, sagte er mit bedrückter Stimme und tiefem Bedauern. Enttäuscht rollte sich N’Goné auf dem Bett zusammen, den Kopf zwischen den Armen. Mit einem Ruck warf sie sich dann auf den Rücken, spreizte die Beine auseinander. Sie starrte den Mann mit einem herausfordernden, provozierenden Blick an. »Ich komme wieder«, murmelte El Hadji, der, stehend, dem lodernden Feuer in ihrem Blick auswich. N’Goné blieb regungslos in der gleichen Position liegen, mit verschlossener Miene. Nach einem Augenblick des Wartens, auf dem das Schweigen lastete, ging El Hadji hinaus.
Oumi N’Doye, festlich gekleidet, war für den Kinobesuch bereit. Sie war fröhlich, unterhaltsam, plauderte unbeschwert. Sie gingen in ein Premierenkino, in dem das Publikum zum
größten Teil aus Europäern bestand. Jedesmal, wenn sie auf Bekannte – Afrikaner – traf, unterhielt Oumi N’Doye sich mit ihnen. In ihren Augen war dieser gemeinsame Abend ein Zeichen für wiedererwachtes Interesse, Wertschätzung. Sie stellte den Mann zur Schau und zeigte damit, daß sie nicht fallen gelassen worden war, zumindest nicht im Moment. Im Saal blieb sie nicht unbemerkt. Sobald die Filmvorführung begann, lehnte sich El Hadji Abdou Kader Bèye bequem in seinem Sessel zurück. Mit dem Film konnte er nichts anfangen. Er hatte andere Sorgen. Er wünschte, der Abend nähme kein Ende. Nach dem Kino wollte Oumi N’Doye tanzen. Sie wären schon so lange nicht mehr in einem Nightclub gewesen, sagte sie. Sie gingen in ihren Club, aus der Zeit, als die Zweite seine Favoritin gewesen war. Auf El Hadji wartete dort »seine« Flasche Whisky. Im Halbdunkel wirkten die Paare wie dahingleitende Schatten, die sich im Rhythmus afroamerikanischen Souls wiegten. Die zweite Frau war glücklich, ließ nicht einen einzigen Tanz aus. Sie gab sich weiblich, nach Galanterien lechzend. Sie kehrten sehr spät heim, ein wenig beschwipst. El Hadji glaubte, er würde jetzt seine Ruhe haben, daß die Frau völlig erschöpft wäre. Nachdem er ein Bad genommen hatte, ging er als erster ins Bett, löschte das Licht. Allein und im Dunkeln würde er seinen Xala vergessen und schlafen. Wann war sie zu ihm ins Bett gekommen? Er schlief bereits den Schlaf des Gerechten, als er von ihren tastenden Händen auf seinem Körper geweckt wurde. Sie liebkoste ihn begierig. Der Mann reagierte nicht. »Was hast du?« El Hadji antwortete nicht, in seiner männlichen Würde gekränkt. Der schnelle und heiße Atem der Frau fuhr ihm über das Gesicht.
»Sag mir, was hast du«, flüsterte sie forschend, während sie das schlaffe Glied des Mannes hielt. »Ich bin nicht in Form.« »Und gestern?« sagte sie heftig. »Ich bin nicht aus Holz, wie die Franzosen sagen. Du solltest wissen, daß auch ich woanders hingehen kann!« Drohung? Erpressung? El Hadji wußte, daß seine zweite Frau niemals zwei Nächte hintereinander übersprang, daß sie hitzig und von unersättlicher Begierde war. Sie stieß das Glied des Mannes von sich, erging sich in einer langen Litanei über ihre Rechte als Ehefrau nach den Gesetzen der Polygamie.
Am nächsten Morgen. Donnerstag. Vollzählig versammelt, saßen sie mit den Kindern um den Tisch beim Frühstück. Die Sprößlinge, die ihren Vater nur hin und wieder sahen, nutzten das aus: Der älteste, Mactar, machte einen erneuten Vorstoß hinsichtlich des Autos. Er erhielt von seiner Mutter Schützenhilfe. Oumi N’Doye schürte das Ansinnen ihres Sohnes mit aufgebrachten Worten: »Zwischen den Familien und den Kindern muß Gleichheit herrschen. Warum verfügen nicht auch wir über unser eigenes Auto? Oder sind meine Kinder etwa unehelich? Bastarde?« Mariem, die Zweite, durch dieses Gespräch aufgestachelt, sprach das Thema Kleidung an, erklärte, daß sie nackt ins Gymnasium gehen müsse, daß sie sich im Lieferwagen ihre Kleider zerreißen würde.∗ ∗
Ein paar Worte zur Lebensweise der polygamen Städter, die man, im Unterschied zur Polygamie in ländlichen Regionen, wo alle Ehefrauen und Kinder auf dem gleichen Hof leben, geographische Polygamie nennen kann: In der Stadt, wo die Familien verstreut leben, haben die Kinder wenig Kontakt zu ihrem Vater. Letzterer, der aufgrund seiner Lebensweise von
Jeder stellte Forderungen. El Hadji, von allen Seiten bestürmt, machte Versprechungen. Um Ruhe zu haben, gab er den Kindern Geld für die Matineevorstellung im Kino. Das Dienstmädchen kam, um ihm zu melden, daß Modu auf ihn wartete. Oumi N’Doye suchte den Blick ihres Mannes. Sie waren beide von der gleichen Zwangsvorstellung besessen. Verdruß verfinsterte das Gesicht der Frau. Sie stand da, mit verschränkten Armen, verfolgte mit dem Blick die Gesten ihres Mannes. »Verbringt einen angenehmen Tag«, sagte El Hadji, den Kopf hebend. Seine Augen begegneten denen seiner Frau. Plötzlich wurde El Hadji von Gewissensbissen geplagt, er hätte ihr gern alles erklärt. Bis zur Tür hoffte er, sie würde ihm irgend etwas sagen, freundliche oder auch beleidigende Worte. Er wäre zu ihr zurückgekehrt, hätte sie in ihr Schlafzimmer gezogen. Mit müder, demütiger Stimme hätte er zu ihr gesagt: »Oumi, ich habe den ›geknüpften Knoten‹. Ich bitte dich, wenn du es warst, dann erlöse mich davon. Ich kaufe dir das Auto. Ich lasse mich von N’Goné scheiden, wenn es das ist, was du willst. Im Namen Yallas flehe ich dich an, erlöse mich.« An der Türschwelle wandte er sich noch einmal um und sah die Frau an. Oumi schwieg, bot ihm herausfordernd die Stirn. Sie reckte stolz das Kinn vor, das Weiße in ihren Augäpfeln hatte einen öligen Glanz. Mit Bedauern entschloß sich El Hadji zu gehen. Modu verfolgte die Sorgen seines Chef voller Mitgefühl. Er hatte Angst, ihn zu kränken, wenn er als erster das Thema Xala anschneiden würde. Während der Fahrt erzählte Modu, unter Haus zu Haus, von Villa zu Villa pendelt, kommt nur abends zum Schlafen. Folglich ist er, vorausgesetzt, er hat Arbeit, nur eine Geldquelle. Was die Erziehung der Kinder angeht, so ist dafür die Mutter verantwortlich. Die Schulleistungen sind sehr oft mittelmäßig.
Herzklopfen und weit ausholend, von einem Serigne, der in seiner Heimatregion wohnte. Er, Modu, verbürge sich für diesen Serigne, für seine Kenntnisse.
Drei Tage später. Kurzstämmige Baobabs mit dicken, blattlosen Ästen; hoch aufragende, kerzengerade, schlanke Borassuspalmen, mit großen Wedeln gekrönt; Akazien, ihr Blätterdach jetzt in der trockenen Jahreszeit wie ein Schirm aufgespannt, Zufluchtsort für Tiere, Hirten, Bauern, Rastplatz für Vögel; gelb gewordenes, vertrocknetes Gras, oberhalb der Wurzel abgebrochen; Hirse- und Maisstoppeln am Rande der alten Felder; gespenstisch aufragende Baumstümpfe, von ständigen Buschfeuern versengt. Unter der glühenden Sonnenhitze, die wie ein Gewicht auf Coronn lastete, lag die Natur unter einer dünnen Schicht gräulichen Staubs, an der sich die rauhe Zunge der Passatwinde rieb. Die Landschaft war von Strenge und grandioser, stiller Harmonie geprägt. Modu fuhr, ohne in den Kurven die Geschwindigkeit zurückzunehmen, jedenfalls kaum. Der Mercedes brauste in vollem Tempo dahin, die Reifen quietschten an jeder Abzweigung. Von Ort zu Ort wechselte die Landschaft: grauer Boden, übersät mit Termitenhügeln verschiedenster Formen, die, in der Morgen- wie in der Abenddämmerung, die Phantasie, das einfache Gemüt der Einheimischen beflügelten. Stacheliges Gestrüpp, mit Dornen gespickt, säumte die Felder. Pfade verwoben miteinander, begleiteten und trennten sich wieder, führten zu Dörfern und Brunnen. Imposante Kapokbäume mit dicht über dem Boden verlaufendem wirren Wurzelwerk türmten sich nebeneinander zu Mauern auf.
Als der Wagen die Asphaltstraße verließ, gelangte er auf die staubige Piste. El Hadji kurbelte die Scheiben hoch. Nach dieser Wegstrecke erreichten sie gegen Mittag einen Weiler. Unter dem Bintanier schliefen Leute. Vom Motorengeräusch geweckt, hoben einige mit fragenden Blicken den Kopf. Die Unerschrockensten kamen näher. Kleine Jungen begutachteten voller Bewunderung den Wagen. Modu wandte sich an einen alten Bauern mit vernarbtem Gesicht, der nichts anderes als eine alte Hose trug. Der Bauer fuchtelte beim Sprechen mit seinen langen Armen in allen Richtungen herum, als suche er seine Hände. Ein anderer, sehr großer Mann mit zerknautschtem Gesicht hatte sich hinzugesellt. Modu ging zurück zum Wagen und wandte sich an El Hadji: »Serigne Mada hat sich im neuen Dorf niedergelassen. Um dorthin zu gelangen, müssen wir einen Pferdewagen mieten.« »Wie das?« fragte El Hadji, der im Auto geblieben war. »Das Dorf liegt mitten in der Ebene. Mit dem Auto kommt man da nicht hin.« »O. K.«, willigte er ein, kletterte aus dem Mercedes und blickte in die Runde. Er wechselte ein paar höfliche Worte mit den Leuten. Er selbst wurde einer peinlich genauen Prüfung unterzogen: »Das ist ein wichtiger Mann«, hörte er wiederholt sagen. Man lud ihn ein, auf dem Baumstamm, der als Sitzbank diente, Platz zu nehmen. Der Mann mit dem Narbengesicht kam mit einem Pferdekarren. Das Pferd war klapperdürr, hatte rötliches Fell und blau verfärbte Wunden. Er forderte den »Chef« auf, neben ihm Platz zu nehmen. Modu saß hinten, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Schon nach einigen Metern plauderte der Fuhrmann mit Modu. Sie stellten fest, daß sie gemeinsame Bekannte hatten. Der Bauer verabscheute die Stadt wegen der Fahrzeuge. »Dieses irre Tempo«, sagte er. Serigne Mada war
der Ruhm des Dorfes. Ein Gelehrter. Er arbeitete nur für »Chefs«. Übrigens wollte ihn einer sogar mit in die Stadt nehmen, ihn dort nur für sich in Beschlag nehmen. »Was sagst du dazu? Da muß man schon ziemlich egoistisch sein.« El Hadji Abdou Kader Bèye spürte stechende Schmerzen im Kopf. Er war schweißgebadet. Die Mittagssonne schickte ihre brennenden Strahlen auf seinen Schädel. Er wischte sich unentwegt mit seinem Taschentuch aus feinem Leinen das Gesicht ab. Die Hitzeschwaden, die dampfend zum wolkenlosen Himmel aufstiegen, peinigten seine lichtempfindlich gewordenen Augen. Das Tier ging im Schritt unter den aufmunternden Rufen des Bauern, der bei jedem Huf schlag erklärte: »Jetzt ist es nicht mehr weit.« Als sie eine Schlucht hinaufkamen, sahen sie Kegeldächer aus grauschwarzem Stroh, von einer dunklen Schicht überzogen, mitten in einer kahlen Ebene am Horizont auftauchen. Umherziehende, ausgemergelte Rinder mit bedrohlichen Hörnern mühten sich ab, etwas zum Abweiden zu finden. Als undeutliche Silhouetten in der Ferne machten sich ein paar Leute um den einzigen Brunnen herum zu schaffen. Auf vertrautem Terrain, begrüßte der Fuhrmann alle Leute, die ihren Weg kreuzten. Serigne Madas Anwesen war herrschaftlich in seiner Ausdehnung, aber ansonsten aus dem gleichen Baumaterial wie alle anderen. Es lag in der Mitte des Dorfes. Die Häuser standen im Halbkreis, mit einem einzigen zentralen Zugang. Im Ort gab es weder einen Laden, noch eine Schule, keine Krankenstation und nicht eine Attraktion. Die Dorfbewohner übten Solidarität untereinander. Sie wurden mit der Höflichkeit empfangen, wie es sich in diesem Milieu schickt, um so mehr, als El Hadjis Ausstaffierung als Tubab ihn als Fremden und Mann mit Geld
auswies. Man führte sie in ein Haus, das mit nichts anderem als sehr sauberen Strohmatten ausgestattet war, die den Boden bedeckten. Eine weitere Tür führte auf einen zweiten Hof, der von einer Hecke aus Hirsehalmen begrenzt war. Dahinter versperrte ein rechteckiges Dach aus frischem Stroh den Ausblick. Ungeduldig, wie er war, hätte El Hadji gern gewußt, was dahinter vor sich ging. Er hatte das unangenehme Gefühl, ein Eindringling zu sein. Eine adrett gekleidete junge Frau mit blitzend weißen Zähnen brachte ihnen Wasser, damit sie ihren Durst löschen könnten. Sie hatte sich niedergekniet, ehe sie die Kalebasse hinstellte und sie ansprach. Das Wasser war glasklar, auf der Oberfläche schwammen ein paar Wurzeln. Nachdem die junge Frau sich entfernt hatte, reichte Modu El Hadji das Gefäß. »Dieses Wasser ist gut. Ganz rein.« »Ich habe keinen Durst«, antwortete El Hadji, auf der Matte sitzend. Modu, ein einfacher Mann, trank ausgiebig, dann lehnte er sich an die Wand zurück. Er schlief sogleich ein, fing sogar an zu schnarchen. Die unschicklichen Geräusche mißfielen El Hadji. Er richtete seine Aufmerksamkeit in die Ferne, spitzte die Ohren. Das letzte Stück Weges hatte ihn erschöpft. Er löste die Schnürsenkel, zog seine Schuhe aus, lockerte seine Krawatte, wobei er immer wieder einen kurzen Blick auf seinen Chauffeur warf. An den Pfahl gelehnt, dachte er nach. Er mißtraute allen diesen Scharlatanen. Alle zogen sie ihm doch nur das Geld aus der Tasche. Er wußte nicht mehr, wieviel er schon ausgegeben hatte. Der einzige, dem er traute, war der Seet-katt. Als Modu ihm von Serigne Mada erzählt hatte, waren seine Vorbehalte gegen diese Wunderheiler noch sehr groß gewesen. Aber die Argumente seines Angestellten wogen schwer. Halb überzeugt, war er ihm dann eben bis hier
in dieses Zimmerchen gefolgt. Und nun schlummerte Modu wie ein Felsbrocken in tiefer Nacht. Kurz darauf schlief er selbst ein. Der Muezzin hatte zum Takkusan, dem Spätnachmittagsgebet, zum Timis-Gebet bei Sonnenuntergang gerufen, und auch das Géewé-Abendgebet war bereits beendet. Die Schatten wurden dunkler. Von den Dingen ringsum waren nur noch undeutliche Formen zu erkennen. Hoch oben am Firmament ging ein Stern nach dem anderen auf. Es herrschte völlige Dunkelheit, als El Hadji aus dem Schlaf hochfuhr. »Modu! Modu!« rief er aufgeregt. Dann fragte er ihn: »Hast du Streichhölzer?« Er hörte das Geraschel von Stoff. Modu wühlte in seinen Taschen, ließ kurz darauf ein spitzes Flämmchen aufleuchten. Es wurde unten breiter, begann eigensinnig zu flackern, erwachte zu neuem Leben und züngelte tänzelnd in die Höhe, eine kleine blaue Krone an der Spitze. El Hadji warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir haben fest geschlafen, Chef.« Das Zimmer versank wieder in Dunkelheit. »Wir brauchen Licht«, donnerte El Hadji, der seine Schuhe wiedergefunden hatte. »As-salam aleikum! Ihr seid wach?« fragte eine weibliche Stimme von der ersten Tür her. In einer Hand hielt sie eine Sturmlampe. Man sah nur ihre Beine, die unter der Pagne hervorlugten. Der Oberkörper lag im Dunkeln. Sie stellte die Lampe nahe der Türschwelle und der Kalebasse auf den Boden. Sie fuhr fort: »Wir wollten euch nicht wecken. Im Hof findet ihr Wasser, wenn ihr baden wollt. Wir haben euch etwas zu essen gebracht. Entschuldigt unsere einfache Küche.« Hinter ihr trat ein kleines Mädchen ein und setzte eine mit einem geflochtenen Deckel verschlossenen Holzschüssel ab. Sie gingen wieder, ließen die Lampe zurück.
»Wir werden doch wohl nicht die Nacht hier verbringen«, sagte El Hadji. »Chef, man muß warten können. Serigne Mada weiß, daß wir hier sind.« El Hadji bedauerte, in diesem Ton gesprochen zu haben, entschuldigte sich mit der Lüge: »Ich habe in Dakar zu tun.« Schwärme von Leuchtkäfern schwirrten um die Lampe herum. Modu war zur Toilette gegangen. Allein zurückgeblieben, fühlte sich El Hadji, als würde er von der Stille erdrückt. Als Modu wieder zurückkam, stellte er die Schüssel zwischen sie, nahm den geflochtenen Deckel ab: Es war Kuskus mit Hammelfleisch. El Hadji lehnte ab: »Ich habe keinen Hunger. Aber wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich darauf eingerichtet.« »Du hast den ganzen Tag noch nichts zu dir genommen, Chef. Trink wenigstens etwas! Ich versichere dir, es ist Trinkwasser!« El Hadji hatte großen Durst. Die Kühlbox mit den Flaschen Evian war im Mercedes geblieben. Modu, Kind des Landes, ließ es sich schmecken. Der Kuskus war sehr gut zubereitet, die Körner klebten nicht aneinander. Das trübe Licht vergröberte ihre Gesichtszüge. Die Erde strömte warmen Geruch aus. In den beiden einander gegenüberliegenden Türöffnungen war ein Ausschnitt des sternen-übersäten Himmels zu sehen. Von der anderen Seite des Tapate-Zauns war Geflüster zu vernehmen. Man holte sie ab, um sie zu Serigne Mada zu führen. Sie durchquerten zwei Innenhöfe, ehe sie zu ihm gelangten. Er erwartete sie auf einer Matte am Boden sitzend. Eine Petroleumlampe, die etwas weiter entfernt hinter ihm stand, warf von hinten Licht auf seine Gewänder. Serigne Mada selbst verschmolz mit der Dunkelheit.
»Bissmi Lahi! Im Namen Gottes!« Er bat sie, ihm gegenüber auf der Matte Platz zu nehmen. Modu, der die Regeln des Protokolls kannte, hatte die Schuhe ausgezogen, drückte ehrerbietig mit beiden Händen Serigne Madas Hand und küßte sie. El Hadji machte es ihm ostentativ nach. Nach einer langen Begrüßungszeremonie entschuldigte sich Serigne Mada in salbungsvollem Ton. Eine dringende Angelegenheit habe seine Anwesenheit erfordert. Sofort nach seiner Rückkehr sei er gekommen, um sie »zu besuchen«. Sie schliefen. Der Schlaf ist sehr gesund für den Körper. Schade, daß er uns Yalla vergessen läßt. Er, Serigne Mada, schlief nicht mehr. Er wandte sich an Modu: »Sind es ehrliche Absichten, die eure Schritte zu meinem bescheidenen Anwesen gelenkt haben?« »Nur ehrliche Absichten, Serigne. Der hier vor dir sitzt, das ist mein Chef! Aber auch ein ›Mehr-als-Freund‹. Seit Wochen, seit Monaten schon hat er den Xala. Einzig und allein dieser Xala ist der Grund für unsere Anwesenheit hier. Wir sind untertänigst als deine Anhänger vor dir erschienen, um deine erhabene Hilfe zu erbitten.« Modu nannte Einzelheiten über das Leben seines »Mehr-alsFreundes«, als ob er der Patient wäre. El Hadji bestätigte die Angaben seines Angestellten mit zustimmenden Lauten. »Diese Art von Verhexung ist sehr komplex. Sehr. Ihr müßt wissen, verstehen, daß die Kenntnisse solcher Dinge wie Brunnen sind. Und nicht alle Brunnen haben die gleiche Tiefe, ihre Wasser nicht alle den gleichen Geschmack. Diese Art Verhexung ist meine Spezialität. Nur Yalla kann etwas tun. Ich werde es versuchen. Aber ich bitte euch, mit mir zu beten. Laßt uns Yallas milde Hand anflehen.« Nach diesen Worten rief er einen seiner Schüler, der aus dem Dunkel neben dem großen Haus auftauchte. Der Meister
murmelte etwas in sein Ohr. Der Junge zog sich zurück. Sich an den Patienten wendend, erklärte er ihm, daß er für die Opferhandlung eine Färse benötige, ein junges Rind, und setzte die Höhe seines Honorars fest. Sie einigten sich auf die Gesamtsumme. El Hadji hatte kein Bargeld bei sich. Serigne Mada wußte, was ein Scheck ist. Die Lampe wurde näher herangeschoben. El Hadji stellte ihm einen Scheck aus. Leute aus der Stadt wie El Hadji bezahlten ihn auf die gleiche Weise. Der Schüler brachte eine Pagne, die Serigne Mada, wie er erklärte, von dem Heiligen erhalten hatte, der weit, sehr weit von hier, nahe der Ausläufer des Hohen Atlas lebte. Er forderte El Hadji auf, sich vollkommen zu entkleiden, selbst seine GrisGris abzulegen. El Hadji zögerte den Bruchteil einer Sekunde, entblößte sich dann. Wie gut, daß es Nacht ist, sagte er sich. Der Gläubige legte ihn auf den Rücken, deckte ihn bis zum Kinn mit der Pagne zu. Neben El Hadjis Kopf niederkauernd, betete er seine Gebetskette herunter. El Hadji lauschte dem Geräusch der Perlen, die in regelmäßigen Abständen eine nach der anderen herunterrutschten. Mit weit geöffneten Augen betrachtete er das Himmelsgewölbe über sich. Ganz plötzlich wurde er nervös. Eine seit langem vergessene Empfindung ließ ihn stoßweise erschaudern. Ein gewaltig anschwellender Saft strömte durch alle Fasern seines Körpers, der ihn bis zu seinem glühenden Kopf anzufüllen schien. Die Wirkung dauerte an, wurde zu einem stechenden Schmerz. Er hatte das Gefühl, als würde sich sein ganzes Sein entleeren. Nach und nach entspannte er sich, etwas Flüssiges durchströmte seine Venen, hin zu seinen Beinen. Sein ganzes Sein konzentrierte sich auf seine Lendengegend. Die aufkommenden Wallungen ließen ihn hochfahren. Stoßartig richtete sich sein Glied auf, wurde steif. Mit erhobenem Kopf, den Nacken gespannt, starrte er dorthin, wo die Pagne ihn bedeckte.
»Modu! Modu! Sieh doch«, rief er, völlig verblüfft. »Allhamdoullilah!« wiederholte Modu, hocherfreut, so als handele es sich um seine eigene Erlösung. Weiter seines Amtes waltend, strich Serigne Mada mit der flachen Hand über El Hadjis Schädel, über sein Gesicht. Dieser weichen Hand entströmte ein starker, schwerer Duft nach Moschus. »Bewege deine Ohren«, befahl Serigne Mada. El Hadji gehorchte. Er war auf dem Gipfel der Freude. Er entdeckte, daß er Ohren hatte. Belebende Schwingungen durchfuhren seinen ganzen Körper. »Es ist vorbei! Die Verzauberung ist gelöst«, sagte Serigne Mada zu ihm. El Hadji kleidete sich wieder an. Er war voller Dankbarkeit für den Meister. »Ich habe deinen Scheck. Was ich fortgenommen habe, kann ich genauso schnell wieder zurückgeben«, fügte der Serigne hinzu, seinen anfänglichen Platz wieder einnehmend-wortreich versprach ihm El Hadji Abdou Kader Bèye goldene Berge. Er schwor, daß sein Bankkonto gut gepolstert wäre. Die Nacht war weit fortgeschritten. El Hadji hatte es eilig, nach Dakar zurückzukehren. Er fühlte sich wie neugeboren, dachte an seine dritte Ehefrau. Der Fuhrmann wurde geweckt. Er kam mit seinem Klepper. In Hochstimmung plauderte El Hadji auf dem Rückweg mit dem Fuhrmann. Sein Blut war heiß.
Als sie Dakar erreichten, war es Tag. Beim Anblick zweier Gendarmen verringerte Modu das Tempo. Er teilte die gute und unbeschwerte Laune seines Chefs, der ihm nun, heiter gestimmt und ohne Scham, von seinen grauenvollen Wochen und Monaten erzählte. Ausgelassen,
jovial, mit übertriebenen Worten, beschrieb er die verhängnisvollen Folgen des Xala. Er war wieder ganz der Alte, strotzte vor Kraft. Er hatte Mühe, seine Begierde zu zügeln. Während sie durch die Stadt fuhren, bewunderte er die Gebäude, die Passanten und das vielfache Farbenspiel. »Bei welcher soll ich dich absetzen, Chef? In welchem Hafen?« fragte Modu neckisch. Dieses »Bei welcher?« hatte ihn überrascht, den glühenden Strom seiner inneren Erregung unterbrochen. Ja, er verfügte über drei Villen, drei Frauen, aber wo war sein wahres Zuhause? Bei jeder war er nur auf der Durchreise. Drei Nächte für jede! Nirgendwo hatte er einen Winkel, wohin er sich hätte zurückziehen können, wo er allein sein konnte. Mit jeder fing alles im Bett an, hörte alles im Bett auf. Sollte er das alles rückgängig machen? Noch einmal gründlich überlegen? Diese plötzliche Erkenntnis hinterließ bei ihm einen Nachgeschmack des Bedauerns. »Bei welcher?« wiederholte er. Bei Adja Awa Astou? Nichts war einfach bei der Einfachheit dieser Frau. Tief gläubig, nach den Geboten ihres muslimischen Glaubens lebend, kam sie allen ehelichen Pflichten nach, eine sehr folgsame Ehefrau. Bei Oumi N’Doye, der Zweiten? Ein Vulkan! Sie würde aus einem unvorhergesehenen Besuch Nutzen schlagen, darin ein Zeichen besonderer Zuneigung sehen und viel öfter derlei Besuche fordern. Bei N’Goné, der Dritten? Bei ihr hatte er einen Affront zu bereinigen. Die Badiène verhöhnte ihn. Die ganze Familie lebte nur von ihm, wie Zecken. Wie war diese dritte Ehe eigentlich zustande gekommen? Eine plötzliche Erkenntnis durchfuhr ihn: Gewiß, N’Goné ist liebreizend. Aber was hatte ihn an diesem Mädchen gefesselt? War es der dritte Frühling? War er ein Lüstling?
Er fand keine Antwort. Jedenfalls war er sich jetzt darüber im klaren, daß er nie mit ihr auf einer Wellenlänge gewesen war. Eigenliebe? Er erforschte sein Inneres, ergötzte sich daran, der Gefahr getrotzt und sie bezwungen zu haben. Er machte Pläne: Schluß mit N’Gonés Jungfernkranz, der ihn viel zu teuer kam. »Zur Dritten.« »Endlich«, rief Modu aus und gab Gas. Die Badiène sah ihn als erste aus dem Mercedes steigen, in seinem zerknitterten Anzug, die Haare zerzaust, das Gesicht schmutzig, die Schuhe, wie der Wagen, staubbedeckt. Ein kurzer, prüfender Blick, und sie wußte, daß der Mann seine Virilität wiedergefunden hatte. »Allbamdoullilah«, sagte sie mit gewichtiger Miene. »Ich wußte, daß du dich ›befreien‹ würdest. Wie ist es passiert? Welche deiner Frauen war es?« »Allhamdoullilah«, antwortete er und sprang mit einem kühnen Satz auf die Veranda. Yay Bineta, die Badiène, heftete sich an seine Fersen. »El Hadji, hör mir zu! N’Goné hat in der letzten Nacht gewaschen«, sagte die Badiène, die ihm ins Schlafzimmer nachgelaufen war. Sie ließ die Tür halb offenstehen. Ein greller Lichtstrahl erleuchtete das Zimmer bis hin zur Schneiderpuppe im Kleid. Man hatte nichts verändert. N’Goné war wach geworden. »Was sagst du?« fragte El Hadji, starrte die Badiène an. »Ich wiederhole, N’Goné ist dieser Tage nicht verfügbar. Sie hat in der vergangenen Nacht ›gewaschen‹. N’Goné, sag du es ihm selbst.« »Das stimmt. Ich habe seit gestern meine Tage. Deshalb habe ich übrigens auch Bauchschmerzen«, erklärte N’Goné auf Französisch. El Hadji schenkte ihren Worten keinen Glauben. Aufgebäumt wie ein Hengst, stellte er sich der Badiène in einem stummen Duell entgegen. Die latent vorhandene starke Abneigung, die
er für diese Frau empfand und die er immer unterdrückt hatte, brach erneut mit aller Gewalt hervor. Seine Aversion offenbarte sich erbarmungslos in seinem Blick. Diese Frau war bei seiner dritten Heirat die Drahtzieherin gewesen, sagte er sich. Sie war auch das Hindernis dafür gewesen, daß er N’Goné nicht schon vor der Hochzeit besessen hatte. Wenn N’Goné ihm bei allen sich bietenden Gelegenheiten entgleiten konnte, dann deshalb, weil sie, im Hintergrund lauernd, ihre Ratgeberin war. El Hadji machte sich Vorwürfe, schwach, sehr schwach gewesen zu sein. »Soll ich dir die Binde zeigen?« sagte die Badiène, schon vorher wissend, daß der Mann nicht so weit gehen und verlangen würde, daß man ihm diesen Lappen vorzeigte. El Hadjis strenger Blick ging von einer zur anderen. »Es ist jemand aus deiner Umgebung.« Von diesem Gedanken beherrscht, eilte er aus dem Zimmer. Yay Bineta rannte hinter ihm her. »El Hadji, glaub uns! Es ist wahr! Hör doch, ich muß mit dir sprechen.« Im Auto wies er den Chauffeur an: »Zu Oumi N’Doye.« Er hörte nicht mehr, was die Badiène sagte. Bei seiner zweiten Ehefrau stieß sein Kommen auf keinerlei Überraschung. Oumi N’Doye zog ihn in ihr Schlafzimmer. Sie verbrachten den ganzen Tag und die ganze Nacht im Bett, zur großen Befriedigung der Frau.
Am nächsten Morgen speiste El Hadji – frisch rasiert, Prinzvon-Wales-Anzug, blank geputzte schwarze Schuhe – mit gutem Appetit: zwei frisch gepreßte Orangen, Eier mit Schinken, Milchkaffee, Brot mit Butter. Das Dienstmädchen entfernte sich, nachdem sie die Flasche Evian hingestellt hatte. Die Kinder waren in der Schule. Oumi N’Doye bewunderte
den Heißhunger ihres Mannes. Sie war im siebten Himmel, glücklich über diese Abwechslung außerhalb ihres Moomé. »Soll ich dir das Neueste erzählen, El Hadji?« fragte sie, den Kopf leicht auf eine Hand gestützt, die Ellenbogen auf dem Tisch. El Hadji Abdou Kader Bèye richtete voller Selbstsicherheit den Blick auf die Frau. Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und sagte: »Ich höre dir zu.« »Mir ist zu Ohren gekommen, du hättest den Xala.« El Hadji unterließ es, sofort zu antworten. Er schenkte sich mit sicherer Hand etwas zu trinken ein, wobei er die Frau nicht aus den Augen ließ: »Wer hat dir von diesem Xala erzählt?« »Die Leute.« »Welche Leute?« »Im Viertel.« »Und was meinst du dazu, du als meine Ehefrau?« »Oh!« rief sie aus und spitzte die Lippen, die Lider verschämt gesenkt. Und wieder aufsehend: »Die Leute haben böse Zungen. Warum bleibst du nicht und ruhst dich heute noch aus? Du arbeitest zuviel. Du bekommst schon weiße Haare.« »Ich muß ins Büro«, sagte er und erhob sich. »Kommst du heute abend wieder? Wenigstens kurz?« »Oumi, du bist nicht an der Reihe mit deinem Ayé.« Mit diesen Worten verließ er sie.
Der treue Modu saß am Steuer. Der Mercedes war noch nicht gewaschen worden. »Ich bitte um Entschuldigung, Chef, wegen des Autos.« »Ins Büro! Danach kannst du das Nötige tun.« Sich gemütlich auf dem Rücksitz in der rechten Ecke zurücklehnend, blickte El Hadji mit Optimismus und Selbstsicherheit in die Zukunft. Die Scheidung von N’Goné
ging ihm unablässig durch den Kopf. Nachtragend, wie er war, wollte er unbedingt seine Rachegelüste befriedigen. Wenn er zusammenrechnete, was diese Hochzeit ihn gekostet hatte, blieb kein anderer Ausweg, als sie zu schwängern und sie anschließend zu verstoßen. Die Vermutung, daß die Badiène ihm seinen Xala angehängt hatte, war ihm zur Gewißheit geworden. Diese Familie hatte seine Mannesehre beleidigt. Und dafür gesorgt, daß die ganze Stadt über sein Unglück Bescheid wußte. Ein Glück, daß er jetzt wieder in Form war. Der Autowäscher stand, einen Eimer Wasser zu seinen Füßen, am Rand des Bürgersteigs und schaute zu, wie Modu manövrierte, um einzuparken. Davor hatte Rama, Adja Awa Astous älteste Tochter, ihren Fiat geparkt. Auch sie schaute dem Fahrer bei seiner Arbeit zu. Vater und Tochter gingen ins Geschäft. »Beim Gürtel meines Vaters, Modu, heute mußt du mir fünfhundert Francs bezahlen«, sagte der Autowäscher, nachdem er um den Wagen herumgegangen war. »Zweihundert Francs und keinen Centime mehr!« »Du bist Chauffeur bei einem Chef, Modu. Da soll man nicht knausrig sein.« »Laß, dann wäscht heute ein anderer den Wagen!« versetzte Modu und ging hinein. Er kam mit einem Schemel in der Hand wieder heraus. »Modu, fürchte Yalla! Ich wasche ihn dir jeden Tag für hundert Francs. Heute mußt du mir mindestens tausend Francs geben. Schau dir den Dreck an! Bei den Tubab müßtest du über zweitausend zahlen.« Der Junge strich mit dem Zeigefinger über den Kotflügel. Eine lange Spur blieb zurück. Er zeigte sie Modu. »Also gut, ich gebe dir dreihundert Francs«, erklärte sich Modu einverstanden und ließ sich nicht weit vom Bettler nieder.
»Bist du es, Modu?« »Ja.« »Du warst zwei Tage nicht da.« »Ich war auf dem Land, mit dem Chef.« »Nichts Ernstes, hoffe ich?« »Nichts.« »Allbamdoullilah«, sprach der Bettler. Kein einziges Mal hatte er sich umgedreht. Modu sah von ihm nur seinen gebeugten Rücken, seine abstehenden Ohren, seinen mageren Nacken. Der Bettler fuhr fragend fort: »Ist El Hadji in seinem Büro?« »Hmm.« »Dann werde ich meine Stimme senken.« Er stimmte erneut sein Klagelied an die Heiligen an. Er modulierte den ewiggleichen Gesang mit ausdrucksvoller weicher Stimme. Modu streckte die Beine aus und zündete sich eine Zigarette an. Den Kopf an die Mauer gelehnt, träumte er vor sich hin. Im »Büro« gab Rama sich Mühe, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Sie war außer sich. Das junge Mädchen wußte, daß sie gegen die Wortfluten ihres Vaters machtlos war, die vor Lügen trieften, die sie einfach nicht ertragen konnte. Sie hielt die Lider gesenkt, während ihr Vater mit ihr sprach. El Hadji sah nur ihre schmale, leicht gewölbte Stirn, die ihn an seine erste Frau erinnerte, und die glänzenden Haarscheitel zwischen den Zöpfchen. Der Vater sprach in stockendem Ton, die Worte kamen nicht leicht. Er rang mühsam nach ihnen. »Ich verstehe! Deine Mutter hat dich geschickt«, sagte er mehrmals, als ob er eine Verschwörung zwischen Mutter und Tochter andeuten wollte. »Ich sag es dir noch mal: nein. Mutter weiß nichts davon. Ich bin von mir aus gekommen. Ich weiß, daß sie sich Sorgen macht. Im Moment wird sie von ich weiß nicht welchen
Schuldgefühlen geplagt. Du mußt einsehen, daß ich alt genug bin, um über gewisse Dinge Bescheid zu wissen.« »Worüber Bescheid wissen?« fragte der Vater, der seinen Xala im Sinn hatte. Rama verweigerte die Antwort, weil sie dachte, daß ihre Mutter es büßen müßte. Sie war nahe daran, ihm ins Gesicht zu sagen, was sie ihm vorwarf, die dritte Hochzeit, den Xala. Zur Seite blickend, beobachtete sie einen Kakerlak, der sich in Richtung Akten vorwärts bewegte. »Ich weiß, daß Mutter schrecklich leidet«, sagte sie, wobei ihr die ganze Heuchelei, die Doppelzüngigkeit in ihrem Satz bewußt war und daß sie sich selbst belogen hatte. »Ist deine Mutter krank?« »Körperlich? Nein.« »Ich werde vorbeikommen. Sag ihr das.« Ihre Blicke begegneten sich. »Ich werde ihr das nicht sagen. Mutter weiß nicht, daß ich dich aufgesucht habe. Ich gehe jetzt.« »Brauchst du nichts?« Rama war schon an der Tür. Sie wandte sich zu ihm um. Die Schabe schob sich zwischen die Kartons, verschwand. »Nein danke, Vater. Aber Mutter braucht dich.« Wenige Tage vorher hatte Rama, in der Begleitung von Pathé, ihren Großvater auf Goree besucht. Für gewöhnlich fuhr sie jeden zweiten Sonntag dorthin, verbrachte manchmal die Nacht dort. Die Anwesenheit des jungen Mädchens brachte frischen Wind in das alte, im Kolonialstil erbaute Haus mit seinem Holzbalkon. Papa Jean hatte sie wie üblich im Garten begrüßt, weit entfernt von den Touristen, die auf der Insel einfielen. Es war dort kühler. »Maam, Großvater, deine Tochter läßt dich grüßen«, sagte Rama wieder einmal.
»Du sagst jedesmal das gleiche. Renée…« »Maam, warum findest du dich nicht damit ab, daß deine Tochter eine Abtrünnige ist, seit über zwanzig Jahren? Sie hört nicht mehr auf den Namen Renée. Und obendrein war sie in Mekka: Sie ist Adja Awa Astou.« »Und deshalb hat dein Vater eine zweite und eine dritte Ehefrau genommen. Bist du für die Polygamie?« »Ich bin dagegen. Und das weiß er auch.« »Obwohl du Muslimin bist.« »Ja, eine moderne Muslimin. Aber Maam, da liegt doch gar nicht das Problem. Es geht um deine Tochter. Die kennst nicht einmal deine drei jüngsten Enkelsöhne.« »Als Afrika noch Afrika war, war es an den Jungen, den Alten einen Besuch abzustatten. Es ist mehr als zwei Jahre her, daß ich meinen Fuß auf das Festland gesetzt habe.« »Dann besuchst du selbst an Allerheiligen nicht mehr Großmutters Grab. Auf Goree gibt es keinen Friedhof.« »Ich werde meine letzte Überfahrt also mit den Füßen voran antreten. Renée kann mir entgegenkommen und mich begleiten.« »Leider nicht! Die Musliminnen begleiten die Toten nicht.« »Dann werden wir uns vor Gott wiedersehen«, sagte der alte Mann. Und an Pathé gewandt: »Ich habe Ihnen nichts angeboten, Doktor.« »Du übertreibst, wenn du so zu ihm sprichst«, sagte Pathé zu Rama, als der Großvater in den Innenräumen verschwunden war. Rama streckte ihm die Zunge heraus und sagte: »Maam, ich helfe dir.« Pathé blieb allein, zündete sich eine Zigarette an. Rama kam zurück; sie trug ein Tablett, Papa Jean den Eiseimer. Der Großvater und seine Enkelin nahmen jeder einen Pastis, Pathé ein Bier.
»Auf euer Wohl«, sagte der Alte, der ein paar Tropfen auf den Boden fallen ließ, ehe er das Glas an die Lippen setzte. Die Unterhaltung verlief heiter. Papa Jean verbreitete sich über das Leben auf der Insel. Er brachte die alten Zeiten in Erinnerung, das Fest des Heiligen Charles. Er hatte gehofft, Rama wäre gekommen, um ihn zur Kirche zu fahren. In diesem Jahr war das Fest nicht wie früher gefeiert worden; nichts hatte diesen Sonntag von anderen Sonntagen unterschieden. Die Sommergäste waren gekommen, darunter viele Europäer, um sich am Strand in den warmen Sand zu legen. Papa Jean verstand gar nichts mehr. Die Europäer ließen das Gotteshaus zugunsten des Farniente im Stich. Dabei hatten doch sie die katholische Religion in dieses Land gebracht! Der Großvater beschrieb nostalgisch die Pracht, mit der das Fest des Heiligen Charles früher gefeiert wurde. Damals strömten die Leute, Mann und Frau, Jung und Alt, aus allen vier Himmelsrichtungen herbei und drängten sich in der kleinen Kirche. Sie kamen zu ihrem Gemeindefest, das auch das Fest der allerorten geschmückten Insel war. Die belebten Straßen hallten wider von der Musik der Fanfarenkapelle, die durch ganz Béer∗ zog und spielte. Die Damen im langen Kleid, mit Handschuhen bis zum Ellenbogen und eleganten Hüten wie auf einer englischen Garden Party, die Herren in Frack und Zylinder, einen Spazierstock mit Goldknauf in der Hand, begaben sich nach der Messe ins Rathaus zum Aperitif. Das waren noch schöne Zeiten! Bei der Erinnerung an diese einstigen Lustbarkeiten wurde Papa Jean traurig, seine alten Augen füllten sich mit Tränen. Heute überließen die alteingesessenen Familien ihre Häuser den Fremden. Und die Europäer, die Experten, die Direktoren, die Geschäftsführer der Firmen, die auf der Insel wohnten, gingen nicht zur Kirche. ∗
Name der Insel Goree auf Wolof
Als der Großvater sie zurück zur Fähre begleitete, wollte Rama ihn dazu überreden, ihre Mutter zu besuchen. Sie war überzeugt, daß beide nur aus sinnlosem Stolz auf ihren Positionen verharrten. »Und dein Vater, wie geht es ihm?« fragte Papa Jean. Rama überlegte hin und her; sie wußte nicht, was sie antworten sollte. War die Frage eine Falle? Die Rache eines alten, verbitterten Mannes? Milde? Ob der Großvater von El Hadjis Xala Wind bekommen hatte? Aufrecht, den Kopf erhoben, wartete Papa Jean auf die Beantwortung seiner Frage. »Seit seiner dritten Heirat habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen.« »Wohnst du nicht mehr bei deinen Eltern?« »Doch. Aber ich sehe meinen Vater nicht mehr.« »Also weißt du nichts von seinem Xala?« »Ich weiß, daß Mutter im Moment schrecklich leidet. Wenn du sie jetzt besuchen kämst, wäre sie sehr glücklich.« »Warum kommt Renée nicht zu mir und lebt hier?« Papa Jean schwieg. Er war stehen geblieben. Die jungen Leute taten es ihm gleich. »Das Haus hier gehört ihr! Sie kann dorthin zurückkehren, wann sie will. Meine letzte Überfahrt mache ich mit den Füßen voran«, wiederholte Papa Jean und ging weiter. Bis zum Ponton wechselten sie kein Wort mehr. Sie gingen an Bord. Der einsame alte Mann legte den Rückweg allein zurück, versunken in seinen Stolz gehüllt. Rama blieb still, geschlagen. Pathé begriff das Drama. Er sagte nichts, auch er nicht.
Als seine Tochter gegangen war, konnte El Hadji Abdou Kader Bèye sich nicht länger vor der Tatsache verschließen, daß Rama eine junge Frau im heiratsfähigen Alter geworden war.
Worauf wartete der Doktor noch, um ihn um Ramas Hand zu bitten? El Hadji sah sich in der Rolle des großzügigen Schwiegervaters. Er würde ihm die Hand seiner Tochter geben, ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen, und er würde sich sogar gegen übermäßige Unkosten sperren. Und die Feier? Nur einige intime Freunde einladen. »Ob Rama wohl noch Jungfrau ist?« fragte er sich. Schnell schob er die Frage wieder beiseite. Eine Flucht. Seit über drei Monaten, seit jenem Nachmittag seines Hochzeitstages, an dem er Rama eine Ohrfeige gegeben hatte, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Es war heute das erste Mal, daß sie ernsthaft miteinander geredet hatten. Rama war die einzige gewesen, die es gewagt hatte, seine dritte Ehe zu verdammen. Schade, daß sie ein Mädchen war! Aus einem Jungen hätte er jemanden gemacht! Er war schicksalsgläubig. Daher fand er auch das Zusammentreffen der beiden Begegnungen mit seiner Tochter seltsam: das letzte Mal am Abend vor seinem Xala und heute am Morgen nach seiner Heilung. Er würde zu Adja Awa Astou fahren. Sie hatten schon sehr lange nicht mehr zusammen geschlafen. Diese Frau war so schweigsam, so gleichgültig allen Dingen des Lebens gegenüber, daß man sie wahrscheinlich lebendig begraben könnte, ohne einen Klagelaut von ihr zu vernehmen. Nachdem er diesen Gedanken nachgehangen hatte, ließ El Hadji Madame Diouf, seine Sekretärin-Verkäuferin, kommen, um Inventur zu machen. Es war höchste Zeit, sich um konkrete Dinge zu kümmern. Madame Diouf zeigte ihm die Lücken und Mängel auf. Das Wiederauffüllen des Lagers war dringend notwendig: keine Vorräte mehr. Und da waren auch die Gehälter der Angestellten. Sie, Madame Diouf, war seit über zwei Monaten nicht mehr bezahlt worden. Wie, warum hatte sie ihn nicht daran erinnert? Er ließ den Chauffeur kommen. Bei ihm war es das gleiche. Sie nahmen sich den Bereich
Haushaltsausgaben vor: unbezahlte Rechnungen von den Tankstellen, von den Lebensmittelläden (jede Frau hatte ihr Stammgeschäft), die Hausangestellten, Wasser, Strom. Nur dank des Einschreitens eines Cousins von Madame Diouf waren Wasser und Strom noch nicht gesperrt worden. Noch heute mußten Wasser und Strom unbedingt bezahlt werden. Was den Laden anging, so war er leer. Die Einzelhändler kauften woanders ein. Die Hersteller, die lokalen Betriebe, die Lieferanten weigerten sich, ihn zu beliefern. Die Lage war düster. Zum Schluß blieb Madame Diouf nur noch, ihn davon zu unterrichten, er habe eine sehr dringende Aufforderung erhalten, sich heute abend mit seinen Kollegen in der »Kammer« einzufinden. Wenn das Gerücht stimmte, so wollten sie sich ihn vorknöpfen. Wer? Und wieso? Sie wußte es nicht. El Hadjis Gesicht glühte vor Zorn. Er beschloß unverzüglich, sich Zutritt beim Präsidenten zu verschaffen. Da der Autowäscher noch mit dem Mercedes beschäftigt war, winkte Modu ihm ein Taxi herbei. Er sprang hinein. In der großen Empfangshalle des Sitzes des Verbandes der Geschäftsleute standen zwei Omas und drei Männer sich die Beine in den Bauch. Die Sekretärin des Präsidenten kannte El Hadji als einen galanten Mann, so daß er sie von der Dringlichkeit seines äußerst wichtigen Besuches überzeugen konnte. Sobald der Weg frei war, drängelte El Hadji sich vor, ohne auf das Murren der anderen Wartenden zu achten. Die von der Klimaanlage erzeugte Kühle überfiel ihn; es war ein riesiger Raum mit Nippes an den Wänden, Möbeln aus lackiertem Mahagoni. »Du hättest mich anrufen können«, ließ der Präsident vernehmen; er hatte ein schwarzes, pausbäckiges Gesicht. »Heute ist die Sprechstunde für die Öffentlichkeit.«
»Um so besser«, gab El Hadji entschieden zurück. »Sag mir, was los ist. Warum wird meinetwegen eine Sitzung einberufen?« »Zuerst einmal: Wie steht es mit deinem Xala?« »Vorbei. Weg.« »Das freut mich sehr für dich. Was die Sitzung angeht… nichts Ernstes. Deine Kollegen wollen den Schaden begrenzen, den du ihnen zufügst. Ein sehr beträchtlicher Schaden.« »Was für ein Schaden?« »Beruhige dich. In der Geschäftswelt muß man britische Selbstbeherrschung, amerikanischen Spürsinn und französische Höflichkeit an den Tag legen. Wir sind unter uns. Du kennst mich persönlich. Aber unter euch Geschäftsleuten bin ich nur Schiedsrichter. Nun sind deine Kollegen auf Schwierigkeiten gestoßen, für die du ihrer Meinung nach verantwortlich bist: erstens die ungedeckten Schecks und zweitens…« »Was?« »Laß mich ausreden! Ich informiere dich ja nur. So kannst du dich heute abend verteidigen, wenn es nötig ist. Die Nationale Lebensmittelgesellschaft hat mich als Präsidenten des Verbandes persönlich damit befaßt, daß du zwei Wochen vor deiner dritten Heirat einen Zuteilungsschein über dreißig Tonnen Reis erhalten hast. Diesen Schein hast du weiterverkauft. Was normal ist. Aber wo ist das Geld? Du hast die Lebensmittelgesellschaft nicht zum vereinbarten Termin bezahlt. Die Gesellschaft weiß über deine enormen Ausgaben Bescheid, und nachdem sie Nachforschungen über deine Person angestellt hat, sperrt sie dem Verband die Kredite. Die Wirkung läßt nicht auf sich warten. Wir verlieren alle Vorteile, die wir bisher hatten. Nur deinetwegen. Kein einziger deiner Kollegen bekommt seine Zuteilung ohne Barzahlung. Die Nationale Lebensmittelgesellschaft erwartet, daß entweder die
dreißig Tonnen Reis bezahlt werden, oder sie erhebt Klage, bzw. sie strebt einen Prozeß gegen dich an.« Der Präsident hatte diese Erklärungen mit ruhiger Stimme abgegeben, so wie ein pedantischer Professor Stummen eine Algebrastunde erteilt. El Hadji hatte brav zugehört. Am Anfang starrte er nur auf die Hand des Präsidenten, die einzelne Punkte mit einer lebhaften Geste unterstrich. Je länger er sprach, desto düsterer wurde sein Blick; sein fassungsloser Gesichtsausdruck verriet seine Qualen. »Präsident, du kennst meine Lage! Meinen Xala! Glücklicherweise bin ich jetzt geheilt! Ich bitte dich, verschiebe die Sitzung um eine Woche. Gerade lange genug, damit ich das Ruder herumreißen kann. Nur soviel Zeit brauche ich, um das Blatt zu wenden«, bat El Hadji verschlagen und kriecherisch. »Wir erwarten dich heute abend! Und es empfiehlt sich, daß du erscheinst«, schloß der Präsident im Befehlston. Als er das Präsidentenbüro verlassen hatte, dachte er nach. Die eben vernommenen Worte waren das Ergebnis von Unterredungen des Präsidenten mit seinen Kollegen. Er wußte genau, welche Drohungen damit gegen ihn ausgesprochen worden waren. Er hatte sich selbst genauso verhalten gegenüber einem von ihnen, den sie seinerzeit ausschalten wollten. Jetzt war er an der Reihe, jetzt befand er sich in der gleichen Situation. Seine zufriedene Laune von heute morgen war geschmolzen wie Karitébutter an der Sonne. Er war so erschüttert, daß er die Passanten gar nicht bemerkte. Er ging zu Fuß zu seinem »Büro« zurück. Ein Besuch bei seiner Bank drängte sich auf. Eine Anleihe, um das Loch zu stopfen! Die Summe für die dreißig Tonnen Reis. Dem stellvertretenden Direktor schrieb man das Emporkommen der Geschäftsleute zu. Er rief ihn an. Umgehend erhielt er einen Termin für den
frühen Nachmittag. Die Schnelligkeit, mit der er den Termin erhalten hatte, schien ihm ein gutes Omen zu sein. Er zählte doch noch etwas! Er war doch noch wer! Madame Diouf, die Sekretärin-Verkäuferin, hatte die Schecks ausgefüllt, um die Gehälter, Wasser, Strom, Benzin und die Mieten zu bezahlen. El Hadji honorierte sie mit seiner schönen Unterschrift, die Frucht tage- und nächtelanger Übungen. Mittags fuhr er, um sich von der sehr bewegten Nacht zu erholen, die er mit Oumi N’Doye verbracht hatte, und sich für den Besuch bei der Bank zu wappnen, zu Adja Awa Astou. Seine erste Frau erwartete ihn nicht. Sie zeigte sich weder besonders begeistert noch unangenehm berührt über das Erscheinen ihres Mannes. Ihr gleichgültiges Verhalten weckte in El Hadji Abdou Kader Bèye Mitleidsgefühle. Adja Awa Astou war dünn geworden, die Wangenknochen standen hervor, das Weiß ihrer Augen schien ihr schmales Gesicht zu beherrschen. Die Unterhaltung blieb oberflächlich. Der Vater fragte zweimal nach Rama. Sie kam mittags nicht mehr nach Hause, aber abends war sie immer zeitig da. Der Vater fand, daß seine älteste Tochter zuviel Freiheit genoß. Als Vater, wie ein Moralapostel, hielt er der Mutter eine Strafpredigt. Nach dem gewohnten Mittagsschlaf, mit seinem Diplomatenkoffer ausgerüstet, fuhr Modu ihn zur Bank. Der stellvertretende Direktor, ein Mann in mittleren Jahren, mit glattem, schwarzem Gesicht, die Augen hinter einer Brille mit Goldgestell verborgen, wohlfrisiertem Haar, in weißem Oberhemd und dunkler Krawatte, empfing ihn sehr leutselig und forderte ihn auf, in einem Sessel neben dem niedrigen Tisch, auf dem eine Packung Zigaretten und ein vergoldetes Feuerzeug herumlagen, Platz zu nehmen. Dieser junge leitende Angestellte hatte an den Grands Ecoles in Frankreich studiert. Anschließend hatte er Praktika in den afrikanischen Filialen der Bank absolviert, deren Hauptniederlassung in Paris war.
Seine Aufgabe bestand darin, einem afrikanischen Mittelstand von Geschäftsleuten auf die Beine zu helfen. Ganz »fair play«, half er El Hadji über die Befangenheit hinweg, indem er ihn »mein Großer« nannte, eine Abkürzung für »großer Bruder« und ein Zeichen der Achtung. El Hadji Abdou Kader Bèye wandte sich mit übertriebener Vertraulichkeit, in einschmeichelndem Ton an ihn. Überschwenglich und wortreich erkundigte er sich nach seiner Familie und sparte nicht mit »Cous« – der Kurzform von »Cousin« –, als ob ihre verwandtschaftlichen Bande keines Beweises bedürften. Der stellvertretende Direktor gab sich größte Mühe, sich in Wolof auszudrücken. Mangels Übung schlichen sich in seine Sprache Parasitenworte ein, so daß er dann schließlich ganz zum Französischen überging. »Großer, ich weiß, daß ich nicht zu deinen engsten Freunden zähle. Und zu deiner dritten Hochzeit hast du mich nicht eingeladen. Obwohl ganz Dakar davon redet…« »Cous, du weißt doch, wie unzuverlässig unsere afrikanischen Sekretärinnen sind. Dein Name steht auf meiner Adressenliste ganz oben.« Der stellvertretende Direktor steckte eine Zigarette in seine Zigarettenspitze und zündete sie an. Die Unterhaltung zog sich in die Länge. Eine Ausflucht! Sie sprachen verschiedene Themen an, zögerten, vermieden, auf das Wesentliche zu kommen. »Ich höre, Großer«, sagte der Banker. Mit dem Finger rückte er seine Brille zurecht. Wollte er ihn überraschen? Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. El Hadji verstummte. Dann bemerkte er: »Gut, gut«, zögerte einen kurzen Moment, suchte nach dem besten Weg, das Problem zur Sprache zu bringen. Einen Augenblick später begann er: »Cous, ich brauche Betriebskapital. Bloß fünfhunderttausend Francs. Ich
habe da ein Expansionsvorhaben und eine Marktstudie für das Einheimischenviertel.« »Wofür dieses Kapital?« »Wofür?« wiederholte El Hadji. »Zum Arbeiten. Wirf einen Blick auf das Einzelhandelsregister der Stadt.« »Ich habe hier eine dicke Akte über dich. Du hast schon zweimal einen Blankokredit von jeweils einer halben Million erhalten. Du hast die zulässige Grenze für Überziehungskredite überschritten. Was hast du mit den dreißig Tonnen Reis von der Nationalen Lebensmittelgesellschaft gemacht? Verkauft. Wo ist das Geld geblieben? Dein Lebenswandel übersteigt deine finanziellen Verhältnisse: drei Villen, Autos auf Kredit. Seit deiner dritten Heirat türmen sich die ungedeckten Schecks.« El Hadji Abdou Kader Bèye fand keine Worte zu seiner Verteidigung. Kleinlaut, mit unterwürfiger Miene, blies er eine Rauchwolke nach der anderen aus seiner Zigarre. »Also, Großer«, sagte der junge Mann mit überlegenem Lächeln, um das Schweigen zu brechen. In versöhnlicherem Ton fuhr er fort: »Was gedenkst du zu tun, Großer? Du weißt, daß eine Bank kein Wohltätigkeitsverein ist.« »Stimmt, Banker sind keine Mäzene«, gab El Hadji mehr als Herausforderung als aus einem anderen Grund zurück. Er wußte sein Wort zu setzen, wenn es sein mußte. Eine große Schnauze zahlt sich in diesem Land immer aus, dachte er sich. Und laut: »Also, Cous, was hast du jetzt mit mir vor?« »Wir befürworten die Förderung selbständiger Geschäftsleute. Wir sind die einzige Bank im Land, die mit euch arbeitet, die euch vertraut. Aber du mußt zugeben, daß es Grenzen gibt.« »Cous, da sagst du mir nichts Neues! Es stimmt, ihr seid die einzige Bank, die uns unterstützt. Dennoch, ohne zu sehr in die Details zu gehen, ernten wir, die Geschäftsleute, nur die
Brosamen. Wir, die Söhne des Landes, sind Fremde in der Geschäftswelt, sind von den richtigen Geschäften, die etwas einbringen, ausgeschlossen.« »Vielleicht, Großer. Ist das aber ein Grund, geliehenes Geld zu vergeuden? Eine Bank hat ihre Vorschriften. Wir können nur Leuten Geld leihen, die Garantien bieten.« »Soll das heißen, daß ich keine mehr bieten kann?« »Großer, das denke ich nicht.« »Ich spreche ganz offen mit euch. Ich weiß, daß ihr keine Altruisten seid. Cous, du mußt etwas für mich tun.« »Großer, ich kann nichts versprechen. Ich muß meinen Boss fragen, das mußt du verstehen. Wieviel brauchst du deiner Meinung nach?« »Eine halbe Million.« Der Banker nahm die Akte an sich und fügte an: »Klingle morgen gegen Mittag mal durch, Großer.« »Cous, ich baue auf dich. Bis morgen.« »Bis morgen, Großer.« El Hadji sagte sich, daß er noch zubeißen konnte. Er war nicht besiegt. Dieser Besuch bei der Bank, das war so, als hätte man ihm seine Existenz verlängert. Wegen der ungedeckten Schecks machte er sich keine Sorgen. Es ist noch keiner wegen Ausstellung ungedeckter Schecks gerichtlich belangt worden, dachte er. Mißtrauisch und auf der Hut rief er einen alten Kumpel an, der Richter war. Es lag nichts gegen ihn vor. Beim Handelsgericht? Nichts. Er erkundigte sich beim Gerichtsvollzieher. Auch dort lag keine Klage gegen ihn vor. El Hadji Abdou Kader Bèye fühlte sich erleichtert.
Die Lampen auf dem Platz und die beiden Kugelleuchten, die die monumentale Treppe auf jeder Seite flankierten, spiegelten sich auf den in einer Reihe vor der Kammer geparkten Autos
wider; die Chauffeure standen in Gruppen beieinander und hielten ein Schwätzchen. Bei ihrem Anblick wußte El Hadji sofort, daß er erwartet wurde. Der Mercedes war kaum zum Stehen gekommen, da stürzte El Hadji los, die Stufen der Eingangshalle hinaufstürmend. Als er den Konferenzsaal betrat, verstummten die Gespräche. Er ging um den großen grünen Tisch herum, wo einige Platz genommen hatten, und schüttelte Hände. Sie kannten sich alle; es waren dieselben wie am Tag seiner Hochzeit. Ein von der Decke hängender Kronleuchter warf seinen Lichterglanz auf die versammelten Häupter. »Ich glaube, wir sind vollzählig oder zumindest beschlußfähig«, sagte der Präsident, indem er die Sitzung eröffnete. Einige Minuten Nörgeleien wegen der Benennung des Schriftführers für diese Sitzung, der Unterschrift auf der Anwesenheitsliste und der Vollmachten für die Schlußabstimmung; dann endlich fing die Debatte an. Alle Wortmeldungen drehten sich um El Hadji. Schlamperei. Unaufrichtigkeit. Moralischer Schaden. Sie forderten, ein Exempel zu statuieren, um ihren in Mißkredit gebrachten Ruf wieder herzustellen. Es war noch gar nicht lange her, daß einer der Ihren das schwere Amt des Präsidenten der Kammer übernommen hatte. Und die Neokolonialisten, die nicht nachgaben, sannen auf nichts anderes als auf die Wiedereroberung eben dieser Kammer. Kébé, ein Kerl mit dem Teint einer reifen Banane, schmales Gesicht, zarte Stimme, sprach weiter: »Des guten Rufes – unseres guten Rufes – wegen muß El Hadji Abdou Kader Bèye aus unserer Familie ausgeschlossen werden. Wir haben ohnehin schon zu viele Hindernisse auf unserem Weg. Die Banken werfen uns Beleidigungen und unangenehme Beschuldigungen an den Kopf: feudaler Lebenswandel,
Fahrlässigkeit, mangelnde Fähigkeiten und so weiter. Warum? Und nun beschmutzt uns El Hadji durch sein ungebührliches Verhalten, befleckt unseren Verband. Meiner Meinung nach sollte er ausgeschlossen werden.« Kébé schwieg. In der anhaltenden Stille war das Kratzen eines Streichholzes zu hören. »Einverstanden«, meldete sich Diagne mit seinen eckig hervorstehenden Kieferknochen. Seine gutturale, dröhnende Stimme erfüllte den Saal. Er warf sich in die Brust und fuhr fort: »Wir wissen, daß El Hadji die dreißig Tonnen Reis verkauft hat. Was hat er mit dem Geld gemacht? Er hat sich eine dritte Frau genommen! Seinetwegen, einzig und allein seinetwegen, kann keiner von uns, seit Wochen schon, irgendetwas auf Kredit bekommen. Blankokredit? Betriebskapital? Nichts! Wir wissen, wieviel Ehrlichkeit unser Geschäft erfordert. Was seine Gewissenlosigkeit im Umgang mit Schecks angeht, da sind die Banken und die Kreditnehmer zuständig. Nur eines ist zu tun: uns von ihm trennen.« »Das sprichst zu schnell, Diagne«, ließ sich der Schriftführer vernehmen. Diagne schnaufte ein wenig, sein fetter, wulstiger Nacken legte sich in Falten. El Hadji glaubte sich vor Gericht gestellt. Er war wie benommen. Seine Kollegen verhielten sich ihm gegenüber, als sei er für sie ein gänzlich Unbekannter. »Ich höre«, verkündete der Federfuchser, einen Lichtfleck auf der Stirn. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte Diagne, der El Hadji gegenübersaß. »Uns von ihm trennen… trennen.« »Danke, Schriftführer. Uns von ihm trennen! Der Bank schreiben, sie wissen lassen, daß El Hadji nicht mehr Mitglied unserer Gruppe ist. Was die Nationale
Lebensmittelgesellschaft angeht, so werden wir verlangen, daß sie die Strafverfolgung einleitet. Unser Verband ist es sich selbst schuldig, diesen schwarzen Fleck von seiner Weste zu tilgen.« Ein anderer ergriff das Wort. Auch er zog über ihn her. Wie alle sorgte er sich um das Wohlergehen des Volkes. El Hadji hatte den Eindruck, er sei ein Geschwür auf einem gesunden Organismus, das man herausschneiden mußte. Er durfte sich äußern. »Wir hören!« Er war verwirrt. Ein paar Sekunden lang hatte er Mühe zu sprechen, von den Zweifeln, welche Haltung er einnehmen sollte, hin- und hergerissen. Nahezu murmelnd begann er; er konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. »Wer beschuldigt mich? Und wessen beschuldigt man mich?« Nicht zu glauben! Keiner antwortete ihm. Dieser Moment der Überraschung gab ihm wieder Selbstvertrauen. Selbstsicher ließ er einen fragenden Blick über die Runde gleiten: »Wer sind wir? Erbärmliche Kommissionäre, noch weniger als Zwischenhändler. Wir tun nichts anderes als weiterzuverteilen. Die Reste verteilen, die die Großhändler uns freundlicherweise überlassen. Sind wir Geschäftsmänner? Ich für meinen Teil antworte: nein. Bloß Bauerntölpel.« »Ich protestiere, Präsident!« intervenierte Laye. »Er beleidigt uns. Du frißt an der gleichen Futterkrippe wie wir. Spar dir deine Ratschläge für andere auf!« Allgemeiner Tumult brach aus, alle wollten gleichzeitig etwas sagen. El Hadji beherrschte sich. Eine angenehme Wärme durchflutete ihn. Diese innere Freude weckte alte Erinnerungen in ihm an die Zeiten, als er politisch aktiv gewesen war. Gewiß, der Kampfeswille von damals war durch die Autos, die Villen, das Bankkonto, das Evian-Wasser
abgestumpft, doch er wußte, daß er einen empfindlichen, wunden Punkt seiner Kollegen getroffen hatte. Das Spiel war gefährlich, aber er mußte es riskieren. »Ruhe, meine Herren, Ruhe!« schrie der Präsident, mit seinem kleinen Hammer auf den Tisch klopfend. »Ruhe! Hören Sie, meine Herren! Es besteht kein Grund zur Aufregung!« »El Hadji wähnt sich noch in der Kolonialzeit. Die Zeiten, in denen er dem Volk betrügerische Reden hielt, sind vorbei, längst vorbei. Wir sind unabhängig. Jetzt regieren wir. Und du arbeitest mit dem herrschenden System zusammen. Hör also auf mit deinen hohlen, dämlichen Phrasen ausländischer Observanz.« »Präsident, kann ich ausreden?« fragte er, ganz Herr seiner selbst. »Ja, El Hadji.« »Wirklich, Laye?« »Schweif nicht ab! Lege deinen Fall dar«, donnerte Laye. »Gut! Wir sind Bauerntölpel! Wem gehören die Banken? Die Versicherungen? Die Fabriken? Die Betriebe? Der Großhandel? Die Kinos? Die Buchhandlungen? Die Hotels und so weiter und so fort? Von alldem und noch vielen anderen Dingen kontrollieren wir nichts. Hier sind wir nur Krabben in einem Korb. Wir wollen den Platz der ExBesatzungsmacht. Wir haben ihn. Diese Kammer ist der Beweis dafür. Und was hat sich geändert, im allgemeinen wie im besonderen? Nichts. Die Kolonialmacht ist stärker geworden, mächtiger, steckt in jedem von uns, in uns allen, die wir hier versammelt sind. Sie verspricht uns die Reste vom Festmahl, wenn wir brav sind. Wehe dem, der es wagt, ihre Verdauung zu stören, der einen größeren Anteil am Profit haben möchte. Und wir? Bauerntölpel, Kommissionäre,
Subunternehmer, die wir uns aus Überheblichkeit ›Geschäftsleute‹ nennen. Geschäftemacher ohne Kapital.« »Diese Tirade ist zu lang, El Hadji«, unterbrach Diop, ein kahlköpfiger Mann, mit buckligem, glänzendem Schädel. »Wir sind hier nicht im Theater. Monsieur steckt bis zum Hals im Dreck, und er erteilt uns eine Lektion in revolutionärer Gesinnung. Daran hätte er vorher denken sollen. Laßt uns zum Schluß kommen! Stimmen wir für seinen Ausschluß!« Das Stimmengewirr hob wieder an, steigerte sich. Sie redeten alle auf einmal. Nach Diops verbalem Ausfall war El Hadji aus der Fassung geraten. Seine Gedanken wurden diffus. Er versuchte verständnisvolle, solidarische Blicke auszumachen. Er sah Cheikh Ba etwas hinkritzeln. Cheikh Ba war kein Mensch, der seine Zeit vergeudete. Man munkelte, daß er bei den Großen des Landes ein- und ausging. Er hörte auf zu schreiben. Die Reise dieses Stücks Papier, das von einer Hand zur anderen ging, brachte ihn aus der Ruhe. Das Papier langte beim Präsidenten an, er faltete es auseinander. El Hadji erschauderte vor Unruhe. Er durchbohrte den Präsidenten mit Blicken. Unmöglich, ihn zu durchschauen und an seinem Gesichtsausdruck den Inhalt zu erahnen. El Hadji war sich von vornherein darüber im klaren, daß, wenn er nur Cheikh Ba auf seiner Seite hatte, diese ganze Geschichte keine nachteilige Auswirkung auf seine Geschäfte haben würde. »El Hadji, bist du fertig?« fragte der Präsident. »Nein.« »Wir hören.« »Nach alldem werde ich mich kurz fassen«, sagte er mit dumpfer, tonloser Stimme, die nichts mit seinem normalen Tonfall gemein hatte. Er warf einen flüchtigen Blick auf Cheikh, ehe er weitersprach: »Wir alle, die wir hier versammelt sind, wir haben ungedeckte Schecks ausgestellt,
wir haben alle illegalen Handel betrieben mit Warenbons, mit Nahrungsmitteln.« »Genug der Beleidigungen! Präsident, sag uns, auf welcher Seite du stehst!« »Steckte hinter Layes Frage eine Drohung?« fragte sich der Präsident. Hatte er El Hadji nicht zu lange reden, ihn Dinge sagen lassen, die man nur in seinen eigenen vier Wänden zu äußern wagt? »Gut! Bevor wir zu einem Beschluß kommen, habe ich hier noch einen Vorschlag unseres Freundes Cheikh Ba«, sagte der Präsident, einen Rückzieher machend. »Ich bitte um Entschuldigung, Präsident, wenn ich Sie unterbreche. Es ist wirklich ein Vorschlag. Ich möchte Sie auf einige Punkte aufmerksam machen, die wichtig sind zu Ihrer Information.« Wenn Cheikh Ba in diesem Kreis von »Punkten, die zur Information wichtig sind« sprach, wußten alle, daß sie richtungsweisend waren für die Auffassung der Allgemeinheit. »Wir können, aus den uns bekannten Gründen, die Aufhebung seiner Import- und Exportgenehmigung beantragen, aber auch unsere… kurz und gut, El Hadji hat seit sehr langer Zeit keine Abgaben mehr gezahlt. Sein Ausschluß aus unserem Verband hängt von uns ab. Der heikelste Punkt sind ohne Zweifel unsere künftigen Beziehungen zur Nationalen Lebensmittelgesellschaft. Wenn wir uns entschlossen zeigen, unbeirrbar in den Entscheidungen, die gleich getroffen werden, wird, meine ich, die Nationale Lebensmittelgesellschaft uns nichts vorwerfen können. Dann werden wir wieder zu unserer früheren Position zurückfinden. Was die Angelegenheit mit den ungedeckten Schecks angeht, so fällt sie nicht in unsere Zuständigkeit. Soweit ich weiß – das sind Gerüchte –, ist seine diesbezügliche Akte ziemlich dick
und in guter Hand. Präsident, das waren die paar Punkte, die ich zur Information beizusteuern hatte.« Cheikh Bas Redebeitrag schloß die Debatte. El Hadji hatte nicht reagiert. Einstimmig beschlossen sie seinen Ausschluß aus ihrem Verband. Leere breitete sich um ihn herum aus. Würdevoll stieg er ganz allein die Treppe hinunter. »Zu Adja«, befahl er Modu. Im Auto fühlte er sich nicht wohl. Dieser schwindelerregende Absturz schlug ihm auf den Magen. Ohne sich genau an den Anlaß der Diskussion mit Rama zu erinnern, kam ihm ein Satz ins Gedächtnis zurück: »Unser Staat ist eine Plutokratie.« In der Villa Adja Awa Astou saßen Mutter und Tochter im Salon. Aus dem Radio ertönte kongolesische Musik. »Guten Abend«, sagte er. »Guten Abend«, antworteten sie. El Hadji trat zu seiner Tochter und sah ihr über die Schulter. »Was ist das?« »Wolof.« »Du schreibst in Wolof?« »Ja. Wir haben eine Zeitschrift: Kaddu, und wir lehren es jeden, der will.« »Glaubst du, daß sich das Land dieser Sprache bedienen wird?« »85 % der Bevölkerung sprechen sie. Sie müssen sie nur noch schreiben lernen.« »Und das Französische?« »Ein historischer Unfall. Das Wolof ist unsere Nationalsprache.« El Hadji lächelte und ging zu seiner Frau. »Wie geht es dir?« »Ich danke Yalla.« »Bitte gib mir etwas zu trinken.«
Adja Awa Astou erhob sich und verschwand Richtung Küche. »Ich bin da«, sagte El Hadji, sich an seine Tochter wendend. »Ich sehe es, Vater.« Adja Awa Astou, mit einer Flasche Evian und einem Glas zurück, schenkte ihrem Mann ein. Dann teilte sie ihm mit: »Yay Bineta war hier, um dich zu sprechen.« »Was wollte sie?« »Sie wollte dich sprechen.« »Morgen fahre ich hin.« »Sie hat mich wissen lassen, daß ›sie‹ warten werden, wenn es sein muß, die ganze Nacht.« Rama sammelte ihre Bücher und Hefte ein. »Verbringt die Nacht in Frieden.« »Verbringe die Nacht in Frieden, du auch«, antwortete ihr die Mutter. »Ich fahre morgen hin, um mit ihnen zu reden«, versetzte der Vater, laut, damit Rama es hörte. Adja Awa Astou sagte nichts. Sie ging als erste schlafen, ihren Mann allein zurücklassend. El Hadji Abdou Kader Bèye war etwas früher als gewöhnlich aufgewacht. Er war zugegen, als die Kinder zur Schule aufbrachen. Alassane, der Chauffeur-Diener, war den Kindern behilflich, sich im Lieferwagen niederzusetzen. Der Wagen der Müllabfuhr fuhr vorbei. »Papa«, rief ihn Mariem, die älteste Tochter von Oumi N’Doye, der zweiten Ehefrau. Der Vater näherte sich ihnen. Jedes der Kinder seiner zweiten Frau reichte ihm die Hand. »Wie geht es eurer Mutter?« »Es geht ihr gut«, antwortete Mariem. »Papa, denkst du an das Auto für Mama?« fragte der kleine Junge.
In eben diesem Augenblick trat Rama nervös zweimal auf das Gaspedal. »Ich denke daran. Ich habe es eurer Mutter versprochen.« »Für wann?« »Wann?… bald«, antwortete El Hadji ohne Überzeugung und trat zurück. »Vater führt uns immerzu hinters Licht«, meinte Mariem zu ihrem Bruder, als der Wagen fortfuhr. Modu setzte El Hadji an seinem »Büro« ab. Sie waren zur selben Zeit wie die Sekretärin-Verkäuferin angekommen. Sobald er sich niedergesetzt hatte, rief El Hadji bei der Bank an. Er konnte nicht bis Mittag warten. Er war ungeduldig. Man ließ ihn wissen, daß der stellvertretende Direktor der Bank sehr beschäftigt sei, und riet ihm, in der nächsten Woche wieder anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren. Ja, man wußte, wer er war. Die weibliche Stimme legte ihm, sehr höflich, nahe, Ruhe zu bewahren. Er insistierte, aber vergeblich. Nach einem Fünfzehn-Minuten-Gespräch mußte El Hadji sich den Tatsachen beugen: Man wollte ihn nicht empfangen. Madame Diouf, die Sekretärin, kam, ihm einen Besuch zu melden. »Wer?« »Ein Tubab von der Automobil-Kreditbank.« Er empfing ihn. Der Europäer trug ein Baumwollhemd, eine Khakihose, in der Hand trug er eine große Aktentasche aus Schlangenleder. »Kennen Sie mich noch wieder?« fragte er, nachdem er sich El Hadji gegenübergesetzt hatte. »Aber sicher!« »Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh überfalle. Aber ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen. Ich komme zur Sache.«
Seine Aktentasche öffnend, holte er eine sich in einem Ordner befindliche Akte hervor, die er auf seinen Schoß legte. Mit einer Handbewegung verscheuchte er die Fliegen. »Monsieur El Hadji Abdou Kader Bèye, seit über drei Monaten haben Sie keine Rate mehr für Ihre Autokredite überwiesen. Deshalb bin ich hier.« »Stimmt!« bestätigte El Hadji in dem Versuch, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Es stimmt, Sie haben recht. In den letzten Monaten hatte ich viel zu tun, ich bitte Sie, den Rückstand zu entschuldigen. Ich habe Ihre Mahnungen erhalten. Aber soweit ich weiß, belaufen sich die Verzugs gebühren in solchen Fällen auf 5%.« Mit diesen Worten zog El Hadji das Scheckheft für sein Privatkonto heraus. »Ich bitte Sie, Monsieur El Hadji Abdou«, sagte der Weiße mit einer leichten Handbewegung und einer geheimen Kraft im Ton, die stark genug war, El Hadji mitten in der Bewegung innehalten zu lassen. »Ich bitte Sie, Monsieur«, wiederholte er, ein angedeutetes Lächeln in den Mundwinkeln. »Monsieur, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß wir über Ihre finanzielle Lage informiert worden sind.« Sie saßen reglos da, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren. El Hadji las im Gesicht des Weißen die Entschlossenheit, ihn unterzukriegen, ihn auf die Knie zu zwingen. Als sich der spöttische Gesichtsausdruck des Vertreters legte, verspürte El Hadji den Schock noch heftiger. Er unterzog den Kerl wieder einer genauen Prüfung, begriff aber nicht so recht, was in ihm vorging. Das Klagelied des Bettlers war zu hören. »Können Sie mir sagen, von wem Sie Ihre Informationen haben?« fragte El Hadji. »Sie wissen doch, daß man am Telefon kein Gesicht sieht.« »Die Stimme? Der Akzent?«
El Hadji war sich sicher, daß man ihm Bananenschalen auf den Weg legte. Er lächelte, ein skeptisches Lächeln, das seinen Mund verzog. Der Weiße betrachtete ihn einen Augenblick lang und wich der Frage aus. »Ich wollte Sie nur vorwarnen. Je früher Sie Ihre Schulden begleichen, desto besser wäre es, Monsieur.« »Was heißt das: je früher?« »Drei Tage.« »Können Sie mir eine längere Frist einräumen?« »Ich verstehe. Unglücklicherweise bin ich nur ein Befehlsempfänger. Ich gehorche.« Als ihn der Vertreter der Automobil-Kreditbank verließ, bewahrte El Hadji sein zorniges Schweigen. Er machte eine Bestandsaufnahme seiner Beziehungen: Jemand in einer hohen Position oder jemand, der großen Einfluß hatte, mußte intervenieren. Wie eine Maus in der Falle suchte er nach einem Ausweg. Von den Gedanken an seinen Xala, an seine dritte Heirat war er nicht länger besessen. Wie ein sich von der Garnrolle abwickelnder Faden spulte sich in seiner Erinnerung sein Aufstieg ab. Er hatte getrickst, fieberhaft gekämpft, um zu einem eigenen Haus und Wohlstand zu kommen, jemand zu sein. Und nun geriet alles ins Wanken, stürzte alles in sich zusammen. Nachdem sie sehr zögerlich angeklopft hatte, kam Madame Diouf zaghaften Schrittes herein. »Chef!« sagte sie. El Hadji hob den Kopf und sah sie mit einem müden Blick an. »Ja?« Sie war verlegen: »Chef, die Bank hat mir den Scheck zurückgegeben«, sagte sie, den Kopf gesenkt, indem sie den Scheck auf den Schreibtischrand legte. »Hm«, sagte er, die Augen niedergeschlagen. »Sie wissen, daß ich Geld brauche. Seit über zwei Monaten lebe ich mit meiner Familie nur auf Kredit. Ich muß meine
Miete bezahlen. Wenn ich sie nicht diese Woche bezahle, werde ich mit meiner Familie, werden wir, wir…« Ihre Stimme erstarb, sie verstummte. »Geben Sie mir zwei Tage, Madame Diouf. Ich mache im Moment eine schwere Zeit durch. Sind Sie einverstanden? Wären Sie so nett?« Durch ein Kopfnicken antwortete sie mit Ja. »Herein!« schrie El Hadji. Es war Modu, in der Begleitung eines Mannes, der einen abgetragenen Kaftan in verblichenem Blau und eine Mütze aus schwarzer Wolle mit einer zur Seite herunterhängenden Troddel trug. Ringe aus geflochtenem Leder lagen eng um seinen Hals. Er hatte gerötete, lebhafte Augen. »Ich bin der Abgesandte Serigne Madas«, verkündete er auftrumpfend, in einiger Entfernung vom Schreibtisch. Sein Benehmen grenzte an Verachtung für seinen Gesprächspartner. Madame Diouf zog sich zurück. »Serigne Mada?« wiederholte El Hadji, den Eindringling, der ihm völlig unbekannt war, musternd. Er fragte ihn: »Wer ist Serigne Mada?« Der Kerl mit der Wollmütze zuckte zusammen, riß seine Augen auf, starrte Modu an. Modu senkte den Kopf wie ein treuer Hund vor seinem Herrchen. »Der, der dich behandelt hat, der deinen Xala geheilt hat.« »Ach so, ach so…« Diese »Ach so« waren El Hadjis Mund entschlüpft, der nun hochschnellte und den anderen bat, Platz zu nehmen. »Ich hoffe, es geht ihm gut! Genau, gerade fällt mir ein, ich muß ihn sprechen, ihn unbedingt treffen! Wie ist sein Befinden?« »Allhamdoullilah.« Freude und Hoffnung sprudelten aus seinem tiefsten Innern hervor. El Hadji hatte Vertrauen zu Serigne Mada. Er war der
einzige, der ihm aus dieser Lage heraushelfen konnte. Warum hatte er nicht schon eher daran gedacht? »Setz dich, mein Freund, mein Bruder. Verzeih mir meine Unachtsamkeit! Du weißt sicherlich, welche Hölle das Leben in N’Dakarrou ist. Du kommst im rechten Augenblick. Ich brauche Serigne Mada dringend. Wir werden zusammen in sein Dorf fahren. Während deines Aufenthaltes in N’Dakarrou bitte ich dich, mein Gast zu sein. Modu wird dich zu meiner Zweiten bringen… Nein… Nein, Modu, fahr ihn zu Adja Awa Astou. Das ist meine Erste. Sie ist sehr gläubig. Eine mustergültige Frau! Setz dich und sag mir, was Serigne Mada will«, schloß er wortreich seine Frage. »Dir das zurückgeben«, sagte das Individuum und hielt ihm den Scheck hin. »Ich komme von der Bank. Erinnere dich, Serigne Mada hatte dir gesagt: ›Was er herausgerissen hat, das kann er wieder einpflanzen.‹« El Hadji Abdou Kader Bèye ging um den Schreibtisch herum. Er verstrickte sich in verschwommene Erklärungen. Der andere, mit großen Augen, den vielen Bitten gegenüber gleichgültig, legte den Scheck neben den von Madame Diouf und zog sich zurück. »Chef, hast du Serigne Mada nicht erkannt? Das war er selbst«, sagte ihm Modu nach dessen Weggang. »Ja? Serigne Mada?« »Ja. Vor der Tür hat er mir untersagt, ihn vorzustellen.« El Hadji Abdou Kader Bèye stürzte nach draußen. Er sah ihn nicht. Er war starr vor Entsetzen. Er hörte nicht den Lärm der Lastwagen, der Handkarren, das Geschrei. Ausgelaugt von dem, was sich soeben abgespielt hatte, abgespannt, schlurfenden Schrittes, kehrte er in sein »Büro« zurück. In einem Taxi holte Serigne Mada seine Gebetskette aus seiner Tasche hervor. Eine lange Gebetskette mit Perlen aus Ebenholz, mit eingelegten Silberfäden verziert. Er betete sie
voller Wut herunter. Seine Lider waren geschlossen, seine Lippen bebten. Er knüpfte El Hadji Abdou Kader Bèye wieder den Knoten.
Modu nahm wieder seinen Platz auf dem Hocker ein, sein Blick wanderte unbestimmt hin und her. »Was geht hier vor, Modu?« fragte der Bettler. »Das war Serigne Mada, der da gerade weggegangen ist.« »Ein Höflichkeitsbesuch?« »Wenn man so will«, antwortete der Chauffeur, den Hinterkopf an die Mauer gelehnt, die Beine ausgestreckt. »Drück dich deutlicher aus, Modu.« Modu setzte sich gerade, zog seine Beine an, beugte sich zu dem Bettler hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Weißt du es, oder weißt du es nicht? El Hadji hatte seit seiner dritten Hochzeit den Xala. Serigne Mada hat ihn behandelt. Nun hat er nicht das nötige Kleingeld, um ihn zu bezahlen. Ich bin sicher, daß ihm Serigne Mada bis spätestens heute abend den Xala wieder angehängt hat.« »Ich kenne Serigne Madas Renommee. Man sagt, daß er ein Mann von Wort ist. Der Xala, was ist das schon! Ich kann ihn fortnehmen.« Modu setzte ein äußerst skeptisches Lächeln auf. Er musterte den Bettler prüfend von hinten. Als dieser den spähenden Blick spürte, setzte er sich aufrecht hin. »Du glaubst mir nicht, was, Modu?« »Darum geht’s nicht«, antwortete der Chauffeur. »El Hadji hat nicht einen Sou mehr, um dich zu bezahlen.« »Ich verlange nichts von ihm.« »Du würdest den Xala von ihm fortnehmen und nichts dafür nehmen? Umsonst, einfach so?«
»Das hab ich nicht gesagt. Ich würde kein Geld von ihm fordern, das ist wahr. Aber ich würde verlangen, daß er mir gehorcht.« »Du beunruhigst mich, weißt du?« »Wenn El Hadji tut, was ich von ihm verlange, wird er geheilt. Er wird wieder ein Mann sein wie du und ich.« Mehr und mehr stutzig geworden, starrte Modu auf den Nacken des anderen. Der Bettler stimmte sein Klagelied an, in reservierter, stolzer Haltung.
El Hadji Abdou Kader Bèye hatte seinen Xala wieder. Hilflos angesichts einer solchen Häufung von Widrigkeiten hatte er bei seiner ersten Ehefrau Zuflucht gesucht. In einer Familie, bei seiner Awa fühlte er sich in Sicherheit, atmete er auf. Wie üblich hatte Adja Awa Astou ihm keine Fragen gestellt. Sie hatte ihn begrüßt, als habe sie diese schnelle Rückkehr erwartet. Sie hatte den Kindern gesagt, daß ihr Vater krank sei, daß er Ruhe brauche. Folgsam schlichen die Kleinen nur auf Zehenspitzen im Haus herum. Tagelang saß El Hadji auf dem Ecksofa, die Arme seitlich ausgestreckt. Er war oft lange geistig abwesend. Seine Gläubiger gingen im Sturmangriff auf ihn los. Die Nationale Lebensmittelgesellschaft strengte einen Prozeß an, die Automobil-Kreditbank erwirkte einen Pfändungsbeschluß für das Auto-Hochzeitsgeschenk, den Häusliche-DiensteLieferwagen und den Mercedes. Die Immobiliengesellschaft schickte ihm Gerichtsvollzieher auf den Hals, um die Villen zu enteignen. Es waren trostlose Tage für diesen Mann, der gewohnt war, einen gewissen Lebensstil zu pflegen. Jeden Morgen oder nachmittags war er zugegen, wenn die Kinder zu Fuß zur Schule aufbrachen. Rama, deren Fiat nicht
gepfändet worden war – weil auf ihren Namen zugelassen –, verausgabte sich für ihre jüngeren Brüder. Madame Diouf, die Sekretärin-Verkäuferin, hatte ihn beim Arbeitsgericht verklagt. El Hadji blieb zwei Schlichtungsterminen fern. Gerichtlich belangt, wurde er in Abwesenheit verurteilt und die Sache einem Gerichtsvollzieher übergeben. Letzterer zeigte sich unnachgiebig und gewährte keinerlei Aufschub. Adja Awa Astou verkaufte ihren Schmuck, um das Loch zu stopfen. Von allen Beteiligten bedrängt, in die Isolation gezwungen, fand er nur noch Modu an seiner Seite. Der Chauffeur, ein Mann von Herz, wollte ihn nicht verlassen, wollte nicht das Schiff fliehen, das von einer Sonne zur anderen, von einer Nacht zur anderen tiefer sank. Yay Bineta, die Badiène, war gekommen, um zu hören, »was es Neues gäbe«, wie sie erklärte. Adja Awa Astou empfing sie mit den traditionellen Wolof-Höflichkeitsbezeugungen, zog sich dann unter dem Vorwand zurück, sie habe noch zu tun. Mit El Hadji allein, überschüttete die Badiène ihn mit Worten, die sich vor Anspielungen aufblähten. Geschwätzig ließ sie sich über ihren Zorn aus, ihren eigenen wie auch den N’Gonés. Nacht um Nacht fror seine junge Frau allein in ihrem Bett. War er nicht der Ehemann? Was waren seine geheimen Absichten? Während sie so redete, beobachtete die Badiène verstohlen den Mann. Ihr Instinkt – der Instinkt einer Witwe, einer vereinsamten alten Frau – spürte den Geruch alter, zäher Haut eines männlichen Wesens, neben dem sie am Tisch saß. Zwischen ihren Augen, oberhalb der Nase, bildeten sich Spottfalten. »Man will uns das Wasser und den Strom sperren – wegen säumiger Zahlung. Ist das wahr?« Ein Vertreter des Gesetzes hatte sie aufgesucht, um die Villa in Augenschein zu nehmen. Die Ehe, das Leben zu zweit, bestand nicht nur aus lëf, nicht
nur daraus. Die in seinem Falle bewilligte Frist war längst überschritten. Was gedachte er zu tun? Sie spielte auf den Xala an. El Hadji antwortete nicht. Er rief sich die Worte des Seet-katt ins Gedächtnis zurück: »Es ist jemand aus deiner Umgebung.« Am selben Tag, unmittelbar nach ihrem Besuch bei El Hadji, zog Yay Bineta mit der dritten Frau um. Die Frauen mieteten ein Lastwagen-Taxi, stapelten die Möbel, das Geschirr darauf, ließen die Türen hinter sich weit offen stehen. Die Ehefrau ging, wenn schon mit leerem Unterleib, so doch wenigstens nicht mit leeren Händen, um eine gängige Redensart zu gebrauchen. Was die zweite Frau, Oumi N’Doye, anging, so ließ sie sich, ohne ihren Mann davon in Kenntnis zu setzen, mit ihrer Kinderschar bei ihren Eltern nieder, die in einem ärmeren Viertel wohnten. Die mit der Pfändung beauftragten Beamten, die morgens erschienen waren, setzten sich über ihren Auftrag hinweg und teilten ihr mit, daß sie ihr Geschäft am nächsten Tag zu Ende führen würden. Als gewiefte Frau räumte auch sie, noch in derselben Nacht, im Schutze der Dämmerung und mit Hilfe ihrer Brüder, Schwestern und Cousins die Villa bis auf den letzten Vorhang, Kühlschrank, Teppich usw. aus. Das väterliche Haus, das sehr beengt war, konnte ihre Möbel, ihre Nippessachen gar nicht alle fassen. Für die Kinder, an einen gewissen Komfort gewöhnt, waren die Bruchbude der Großeltern, die winzigen Räume, der sandige Hof, die Mahlzeiten auf der Matte – Tag für Tag, morgens und abends Reis, den alle zusammen aus derselben Schüssel aßen – Anlaß, sich ständig untereinander und mit den kleinen Cousins zu streiten. Mariem machte ihrer Mutter, offen ins Gesicht und am hellichten Tag, Vorhaltungen wegen der öffentlichen Verkehrsmittel, des Essens, der fehlenden Ruhe für die Hausaufgaben, der Flöhe und Wanzen. Langsam zerfiel der
Zusammenhalt von früher, als sie in der Villa Oumi N’Doye gewohnt hatten. Und der älteste sprach davon, vom Gymnasium abzugehen und in den Polizeidienst oder die Armee einzutreten. Oumi N’Doye bedrängte ihren Ehemann, die Zukunft seiner Kinder sicherzustellen. El Hadji, ohne Stellung, wußte nicht was tun. »Sie zu dir nehmen, bei Adja Awa Astou«, schlug Oumi N’Doye vor. Als El Hadji, wieder bei Adja, mit seiner Ersten und vor seiner Tochter die Sache zur Sprache brachte, widersetzte Rama sich dem entschieden mit der Begründung: »Wir haben nicht die nötigen Mittel dazu. Dieses Haus gehört unserer Mutter. Es kommt nicht in Frage, hier Halbbrüder oder Halbschwestern aufzunehmen.« Adja Awa Astou betrübten die harten Worte ihrer Tochter, aber im Grunde ihres Herzens gab sie ihr recht. Ihre gegenwärtige Lage ließ nichts Ermutigendes für die kommenden Tage erhoffen. Zum Statisten degradiert, stattete El Hadji seiner zweiten Ehefrau keine Besuche mehr ab. Oumi N’Doye, ihrer einstigen wirtschaftlich starken Position beraubt, wollte sich als moderne Frau erweisen und ging von Büro zu Büro, von Firma zu Firma, um Arbeit zu finden. Dieser Schicksalsschlag brachte ihr die Bekanntschaft mit anderen Männern, die das leichte Leben liebten. Männer, die wußten, wie man sich mittels Geld überaus angenehme Augenblicke verschafft. Und diese galante Gesellschaft verführte Oumi N’Doye dazu, die Nächte außer Haus zu verbringen. Mond und Sonne wechselten einander ab, spannen den Lebensfaden fort. Und unter einer dieser Sonnen wurde El Hadji Abdou Kader Bèye zu einem Palaver bei den Eltern
N’Gonés, seiner dritten Ehefrau, geladen. N’Goné wollte »ihre Freiheit wiedergewinnen«, wie die entsprechende volkstümliche Redensart lautete. Modu stand seinem Ex-Chef als Freund hilfreich zur Seite. Mit Ramas Fiat begaben sie sich zu dem Schwiegervater, dem alten Babacar. Im Wohn-Eßzimmer waren drei Notabein, die zur Gemeinde gehörten, versammelt, die Mutter des Mädchens und Yay Bineta. Die Männer hatten an der religiösen Hochzeitszeremonie in der Moschee teilgenommen. In der äußersten Ecke des Zimmers stand die Schneiderpuppe mit ihrem Brautkleid. »El Hadji, du mußt den Grund für dieses Gespräch verstehen oder vielmehr bereits erraten haben. N’Goné wünscht ihre Freiheit wiederzugewinnen«, begann der Sakristan. »Wir werden uns nicht ewig bei diesem Kapitel aufhalten«, unterbrach ihn Yay Bineta, die Badiène, trügerisch, mit schneidender Stimme. Ihre Augen sprühten vor unbeugsamer Entschlossenheit. »Wir haben unsere Tochter – ein unschuldiges junges Mädchen – an El Hadji Abdou Kader Bèye verheiratet. Nun ist El Hadji aber seit über vier Monaten nicht fähig gewesen zu beweisen, daß er ein Mann ist. Seit dem Tag der Eheschließung flieht uns El Hadji, versteckt sich Tag und Nacht vor uns. So hat er uns ohne Wasser und ohne Strom sitzen lassen. All das machen wir ihm nicht zum Vorwurf. Wir schämen uns dermaßen wegen der Folgen, die diese Hochzeit gehabt hat, daß niemand in dieser Familie es noch wagt, bei Tageslicht aus dem Haus zu gehen. Nun verlangen wir von ihm unsere Freiheit.« Modu musterte die Badiène mit bösen Blicken, die gehässigen Worte herunterschluckend, die ihm auf der Zunge lagen. Diese Frau erinnerte ihn an eine Tante, die den Spitznamen »die Termite« trug, weil sie das Innere der Leute zerfraß, bis nur noch die äußere Hülle ihrer Opfer übrig blieb.
Beschwichtigend sagte er: »Yay Bineta, du bringst nichts in Ordnung, wenn du so redest. Yalla liebt nur die Wahrheit! El Hadji hat N’Goné nicht verstoßen. Wahr ist, daß El Hadji… seit seiner Heirat mit eurer Tochter…« »Sag doch offen, daß El Hadji kein Mann ist«, schnitt Yay Bineta ihm das Wort ab. »Das kann jedem Mann passieren. Es verhält sich nun einmal so, daß El Hadji diesen Xala durch einen unglücklichen Umstand ausgerechnet bei eurer Tochter erwischt hat.« »Willst du damit andeuten, daß wir dafür verantwortlich sind?« »Beschuldige uns nicht«, kreischte die Mutter, die Hand vor Modus Gesicht erhoben. »Wenn ihr keine Männer seid… Und überhaupt, seid ihr jemals Männer gewesen? Man hebt sich ein junges Mädchen nicht wie einen Louisdor auf. Selbst wenn man eine Goldmünze hat, zieht man sie nicht aus dem Verkehr.« Modu war verstummt. Er kochte vor Wut. Er beherrschte sich. Dort geboren, wo das Wort ein brennendes Stück Holz ist, sagte er ohne Umschweife in Wolof: »Ihr scheint eure Freiheit, koste es, was es wolle, wiedergewinnen zu wollen. Bei eurer Flucht habt ihr nichts zurückgelassen. Ihr habt alles weggeschafft.« »He, he! Das habe ich erwartet. Auch wenn er noch so lange im Fluß liegt, wird sich ein Baumstamm niemals in einen Kaiman verwandeln. Was haben wir mitgenommen? Das Auto? Ihr habt es nicht bezahlt. Geht zur AutomobilKreditbank. Die Brautausstattung? Da ist sie.« Die Badiène zeigte mit dem Finger auf die Schneiderpuppe. »Bineta, du überschreitest die Grenzen der Höflichkeit«, griff der Sakristan mit der Autorität seines Amtes ein. »Ich wende mich an El Hadji. El Hadji Abdou Kader Bèye, deine Frau,
N’Goné, bittet dich, sie freizugeben. Unter uns gesagt, du kennst das Warum und den Grund dieses Ersuchens.« El Hadji sank in sich zusammen. Er starrte auf seine Finger. Ein langes, tiefes Schweigen. »El Hadji, du bist angesprochen. Wir warten auf deine Antwort«, hakte einer der Notabein nach, der einen Fes mit roter Troddel trug. Er fuhr fort: »Nach dem islamischen Eherecht hat diese Frau das volle Recht, die Trennung zu fordern. Niemand kann sie zwingen, deine Frau zu sein oder zu bleiben, um so weniger, als du, ja, du, sie nicht zu deiner Frau machen kannst.« »Was uns betrifft«, antwortete Modu, El Hadjis Verteidigung übernehmend, »so bestreiten wir gar nicht die Rechte, nicht einmal die Prinzipien. Nur möchte ich darauf hinweisen, daß hier, in diesem Hause, bevor wir überhaupt anwesend waren, das Urteil bereits gesprochen wurde: die Scheidung.« »Was wollt ihr? Daß man euch die Kosten erstattet?« »Yay Bineta, ihr besitzt kein Geld, das ihr uns zurückerstatten könntet. Hat man jemals erlebt, daß die Termite der Schildkröte ihre Gastfreundschaft anbietet?« »Du bist nur ein Diener, Modu. Wirklich, dein Platz ist nicht bei uns.« Modu sah auf El Hadji, den Blick voller Mitgefühl. Für El Hadji waren die Streitereien von keinerlei Tragweite. Oder er erfaßte zumindest nicht ihre Bedeutung. Er schaute sie an, ohne sie zu sehen. Die Schneiderpuppe im Brautkleid, ihr Krönchen weckten keinerlei Erinnerung mehr in ihm. Nichts. Erinnerte er sich, wie sie den Stoff ausgesucht hatten, seiner Unterhaltung mit N’Goné, des Feuers in seinem Herzen, seiner Erregung? Fragte er sich, ob sein Empfindungsvermögen abgestumpft, geschwunden war? Er wollte sprechen, etwas sagen, aber die Worte verhedderten sich in seiner Kehle.
»El Hadji, sag uns, was du zu tun gedenkst. Scheidung oder nicht?« fragte ihn der Sakristan noch einmal. El Hadji ließ seinen Blick langsam von einem zum anderen gleiten. Jeder wartete. Mit einem Ruck stand El Hadji auf. Modu folgte ihm auf dem Fuße. Sie nahmen in dem Fiat Platz, als Yay Bineta, die Badiène, kam, um die Schneiderpuppe, so gut es eben ging, auf El Hadjis übereinander geschlagenen Knien zu verstauen. »Nehmt mit, was für euch übrig bleibt«, sagte sie. Die beiden Männer schwiegen. Da kam N’Goné auf sie zu, Hand in Hand mit einem jungen Mann in einem taillierten Hemd; die Hose zwängte sein Hinterteil ein. Sie gingen in das Haus. Der Wagen setzte sich in Bewegung, die Schneiderpuppe mit sich fortführend. Sie fuhren zum Geschäft. Das Geschäft war versiegelt: wegen Konkurs geschlossen. An der Ecke schmetterte der Bettler sein Lied. Modu parkte auf gleicher Höhe. Der Chauffeur erklärte El Hadji, daß der Bedürftige ihn von seinem Xala heilen könnte. Sie diskutierten darüber. Modu stieg aus, kniete sich vor ihm hin. Nach einer ganzen Weile stieg Modu wieder in den Wagen und fuhr davon. Mit schriller, anschwellender Stimme stimmte der Bettler seinen Gesang an.
Zwei Tage später. Der Lastwagen der Müllabfuhr holte den Morgenmüll ab, hielt vor jeder Villa. Zwei Polizisten machten friedlich ihre Runde. In seinem Bruchbuden-Lebensmittelladen verkaufte der Händler einem Kunden einen Laib Brot. Über den Hecken blühender Bougainvillea kamen die Fontänen morgendlichen
Gartenbesprengens hin- und hergeflogen, hier und da den Bürgersteig benetzend, die »Boys« und »Boyessen« holten die geleerten Mülleimer herein. Zu dieser frühen Morgenstunde atmete das Viertel die Wohltaten, die ein Leben voller Seelenruhe mit sich bringt. Ein Kindermädchen, neben dem ein kleines Mädchen hertrippelte, kam an der Straßengabelung an. Im selben Moment stieß das Kind einen Schreckensschrei aus, klammerte sich an das Kindermädchen. Beide schrien gemeinsam, ihre schrillen Schreie alarmierten die Nachbarschaft. Türen, Fenster öffneten, schlossen sich schleunigst wieder. Nachdem sie die erste Schrecksekunde überwunden hatten, ergriffen die Frau und das kleine Mädchen die Flucht, um Hilfe rufend. Promenadenmischungen bellten und verzogen sich. Die beiden Polizisten stürmten zu der Kreuzung. Sie blieben plötzlich stehen, legten instinktiv ihre Hand an den Revolver und wichen in kleinen Schritten zurück. »Ruf schnell das Revier an! Ruf an! Das ist ein Aufruhr«, sagte derjenige, der der Vorgesetzte zu sein schien. Der zweite Polizist kam dem Befehl nach. Der Händler schloß hastig seinen Laden, wobei er seinen Kunden hinausdrängte, der sein Portemonnaie in die Tasche steckte und seine Schritte beschleunigte. Von vorn, die ganze Breite der Böschung einnehmend, rückte eine Prozession Hinkender, Blinder, Aussätziger, Beinloser, Einbeiniger, Männer, Frauen, Kinder unter der Führung des Bettlers vor. Insektensurren schwebte über ihnen. Der Vormarsch hatte etwas Grauenhaftes, ließ den ekelerregenden Geruch ihrer zerlumpten Kleidung in der Luft hängen. Der Sicherheitsbeamte, die Hand auf der Waffe, gezwungen, bis zur Hecke zurückzuweichen, ließ sie an sich vorbeiziehen. Ekel und Abscheu ließen ihn schaudern.
Vor der Villa Adja Awa Astou klingelte der Bettler… klingelte noch einmal. Es verging einige Zeit. Das Dienstmädchen kam und öffnete. Sie fuhr zusammen, wich zurück und wäre fast hintenüber gefallen auf die Stufen der Außentreppe. Der Bettler stieß als Anführer die Tür auf. Nach ihm brach sein ganzes Gefolge in das Haus ein. Kriechend kletterten einige auf die Terrasse; sie gelangten in den Salon und ließen sich dort königlich nieder. Ein Beinloser, der sich auf seinen Handflächen und Knien fortbewegte und mit der schwarzen Erde im Garten eingeschmiert war, ließ wie eine riesige Nachtschnecke seine schwärzliche Spur hinter sich. Mit seinen kräftigen Armen zog er sich empor und setzte sich in einen roten Samtsessel, mit einfältiger Miene, siegesbewußt, so breit lächelnd, daß alle Zahnstummel zu sehen waren, und mit herunterhängender Unterlippe. Ein anderer, mit narbenzerfressenem Gesicht und aufgerissener, unförmiger Nase, den Körper mit Wunden bedeckt, die durch die Löcher in seinen Lumpen sichtbar waren, griff sich ein weißes Hemd, zog es an und bewunderte sich im Spiegel, wobei er über seine Mimik in Begeisterung geriet. Eine Frau mit Zwillingen riß, von den andern ermutigt, die Sofakissen auf und wickelte eines der Babys darin ein. Sie hatte den Fuß mit rissiger Ferse und verkümmerten Zehen auf das zweite Kissen gestellt. Der Bucklige schlich vorsichtigen Blickes um die Schneiderpuppe herum. Er zog das Modell aus, setzte sich die Krone auf seinen flachen, rachitischen Schädel. Er war im siebenten Himmel und rief aus: »Bewundert mich!« Ein Hinkebein, mit dem Gesicht eines Schwachsinnigen und Triefaugen, stopfte das Geschirr in einen Sack, den er über die Schultern gehängt trug. Sein Gegenüber, ein Einarmiger, stapelte mit seinem einzigen gesunden Gliedmaß vor sich alles auf, was glänzte.
Adja Awa Astou und El Hadji Abdou Kader Bèye erschienen im Salon und blieben ob des ungewöhnlichen Schauspiels wie versteinert stehen. »Ich bin es, mit meinen Freunden«, stellte sich der Bettler El Hadji vor. Der Anblick dieser Gestalten nagelte sie am Boden fest. Adja Awa Astou stand starr wie eine Statue, wie angewurzelt, unfähig, ein Wort herauszubringen. An ihren Waden streifte sie ein Krüppel ohne Arme und Beine. Bebend vor Angst, stieg ein Schauder des Entsetzens bis in ihre Haarspitzen. Ihr ganzes Wesen wurde von einem Brechreiz gepackt. Eine der Humpelnden riß ihr mit einer schnellen Bewegung ihren Schal herunter und umhüllte damit ihren Kopf, was allgemeines Gelächter hervorrief. Adja Awa Astou setzte zu einer Bewegung an – ein Verteidigungsreflex –, El Hadji hielt sie zurück. Verdattert von soviel Dreistigkeit und Unverfrorenheit, sah er dem allen zu, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen. Mit Befremden, wie gelähmt, richtete er den Blick auf den Bettler. »Sag nichts! Gar nichts, wenn du geheilt werden willst!« wiederholte der Bettler wie ein Mann, der schon immer solche Unternehmungen geleitet zu haben schien. Zufällig entdeckte ein Einbeiniger die Lebensmittel; umherhüpfend, sich wie ein Sieger gebärdend, beschaffte er sich einen Stuhl. Er saß kaum, da griffen schon zwei fremde Hände, die Fingerkuppen vom Aussatz zerstümmelt, in den Teller. Die Mutter der Zwillinge bettelte: »Gib den Kleinen etwas.« Man reichte ihr ein paar Bissen, die sie weiterverteilte. Ein nur aus einem Rumpf bestehender Mann stibitzte mit geschlossenen Augen eine Dose Büchsenmilch. Neben ihm band ein Junge die Töpfe zusammen. Ein Aussätziger leerte die Evian-Flaschen, nachdem er sie mit argwöhnischer Miene
untersucht hatte, und füllte mit den leeren Flaschen einen Korb. »Ich weiß, wo man solche Flaschen verkaufen kann«, sagte er in näselndem Tonfall zu seinem Nachbarn. »Was ist denn in diesen Flaschen?« fragte der Nachbar. »Weißt du es etwa?« »Ich bin Muslim. Ich trinke nicht.« »Diese Leute sind Ungläubige! Alkoholiker!« erklärte der Aussätzige mit vollem Ernst. Nahe dem großen Kühlschrank, der offen stand, bemächtigte sich ein Jugendlicher, der sich seitwärts wie ein Krebs fortbewegte, eines Bechers Joghurt und brach den Deckel auf. Erst probierte er mit dem Zeigefinger; überzeugt, daß es genießbar war, stützte er sich mit dem Rücken ab, wobei die rechte Hüfte herausragte, öffnete den Mund und schüttete den Inhalt gierig in sich hinein. Dann forderte er per Geste einen anderen Jungen auf, es ihm gleichzutun. Der Aufgeforderte zog ein Bein nach, am Schienbein verbreitete eine infizierte Wunde, die mit einem von einen Bindfaden gehaltenen Zinkplättchen bedeckt war, Fäulnisgestank. Er riß ein Stück Butter an sich und humpelte vom Kühlschrank weg. »Helft mir! Helft mir!« Das war der zappelige Rumpf, der sich alle Mühe gab, auf das Bett zu gelangen. Man half ihm, indem man ihn hinaufwarf. Er verschwand in den Laken wie ein Ertrinkender in den Fluten. Er tauchte mit dem Kopf wieder auf und versuchte Luftsprünge auf dem Bett zu machen. Mit jedem Sprung flog er hoch und fiel dann wieder herunter, dabei vergnügt unartikulierte Laute ausstoßend. Aus ihrem Zimmer kommend, sah sich Rama, noch im Nachthemd, von zwei abscheulichen Burschen umringt, die sie mit begehrlichen Blicken verschlangen und nicht mehr von
ihren Fersen wichen. Sie ging zu ihrer Mutter, und beide starrten sich fragend an. El Hadji Abdou Kader Bèye protestierte: »Das ist Raub!« »Nein! Ich nehme mir meine Bezahlung«, erwiderte der Anführer, der noch immer an der gleichen Stelle stand. »Wofür?« fragte ihn El Hadji. »Wofür? Das ist doch wohl offensichtlich! Warum dieser Xala? Und ich lasse mich im voraus bezahlen.« »Ihr seid Diebe! Ich werde die Polizei rufen«, sagte El Hadji. Furcht umwölkte sein Gesicht. Der Mann erinnerte ihn an irgend etwas, er wußte nicht was. Beim Wort »Polizei« erhob sich ein großer Trubel. Wie ein Windstoß fuhr ein Erschrecken über die Gesichter. Ein Kerl mit einem großen weißen Hornhautfleck, der auf einem Teller herumrührte, hielt furchtsam in seiner Bewegung inne. Er schielte nach allen Seiten wie ein Zicklein, auf der Suche nach einem Fluchtweg. »Wenn du wieder normal werden willst, dann mußt du gehorchen. Du hast nichts mehr. Überhaupt nichts mehr, nur noch deinen Xala. Erkennst du mich wieder? Natürlich nicht!« Er stellte sich in die Mitte. Die Worte fielen in eine tiefe Stille. Er fuhr fort: »Unser Streit liegt schon ziemlich lange zurück. Es war kurz vor deiner Heirat mit dieser Frau hier. Du erinnerst dich nicht mehr? Dessen war ich mir sicher. Das, was ich jetzt bin, ist deine Schuld. Erinnerst du dich, daß du ein großes Stück Land in Diéko verkauft hast, das unserem Clan gehörte? Nachdem du unter Beihilfe hochgestellter Persönlichkeiten die Clannamen gefälscht hast, hast du uns enteignet. Trotz unserer Beschwerden und obwohl wir beweisen konnten, daß das Land unserem Clan gehört, wurden unsere Klagen vor den Gerichten abgewiesen. Nicht damit zufrieden, daß du dir unser Eigentum angeeignet hast, ließest du mich verhaften und ins Gefängnis werfen. Warum?«
Die Frage blieb ohne Antwort. Bevor er weitersprach, wich er bis zum Tisch zurück. Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, liefen die Falten seines Halses herunter. Er hustete. Ein schleimiger Husten, von einem Pfeifton begleitet. Er mußte ausspucken, blickte eilends um sich, dann schluckte er den Auswurf wieder herunter. Eine Weile stand er schweigend da, mit gesenktem Kopf, dann sah er wieder auf. »Warum? Ganz einfach, weil du uns bestohlen hast. Bestohlen auf eine scheinbar legale Weise. Weil dein Vater der Clanchef war, weil das Land im Grundbuch auf seinen Namen eingetragen war. Aber du, du wußtest, daß dieses Land nicht einzig und allein deinem Vater, deiner Familie gehörte. Nach meiner Freilassung bin ich zu dir gekommen. Wieder hat es eine Auseinandersetzung gegeben. Auch diesmal bin ich von deinen Freunden an der Macht ganz einfach geschlagen worden. Leute wie du leben von nichts anderem als vom Diebstahl.« »Und nehmen die einfachen Leute aus«, warf eine dröhnende Stimme ein. »Dein ganzes früheres Vermögen – denn jetzt hast du nichts mehr – hast du durch Gaunereien erworben. Du und deine Kollegen, ihr baut auf dem Unglück der kleinen und anständigen Leute. Um euch ein gutes Gewissen zu verschaffen, gründet ihr Wohlfahrtseinrichtungen, oder an den Straßenecken gebt ihr den Leuten Almosen, die vom Glück stiefmütterlich behandelt worden sind. Und wenn wir so viele sind, daß wir lästig werden, ruft ihr eure Polizei, um…« »um uns wie Fäkalien wegzuschaffen«, stimmte der Kerl mit dem weißen Hornhautfleck geschwind bei und streckte drohend den Arm. »Guck mich an! Guck mich an! Wer bin ich?« fragte die Mutter der Zwillinge, die sich vor Adja Awa Astou aufgestellt hatte. Und selbst die Antwort gebend: »Eine Frau, meinst du?
Nein. Ich bin nur ein Fortpflanzungsobjekt. Und diese Babys, womit soll ich sie durchbringen? Sieh sie dir an!« Mit der rechten Hand faßte sie Adja Awa Astou beim Kinn. »Und ich? Ich werde niemals ein Mann sein. Es war ein Typ wie du, der hat mich mit seinem Auto überfahren. Er hat Fahrerflucht begangen und mich allein liegen gelassen.« Ein gräßliches Lachen zerriß den Augenblick der Ruhe. Auf dem Sofa stehend, erklärte der Aussätzige in seinem näselnden Tonfall: »Ich bin ein Geizhals. Aber ich bin es für mich. Für mich allein. Du jedoch, du hast eine Krankheit, die für uns alle ansteckend ist. Der Keim kollektiven Aussatzes.« Adja Awa Astou zog verzweifelt ihre Gebetskette hervor und betete sie ab. Rama stützte sie. Rama selbst spürte, daß sie kurz davor war, in Zorn auszubrechen. Gegen wen? Ihren Vater? Die Armen? Sie, die nur Begriffe wie »Revolution« und »neue soziale Ordnung« im Kopf hatte, fühlte in ihrer Brust, ganz tief in ihrem Innern, wie sich so etwas wie ein Stein schwer auf ihr Herz legte, es erdrückte. Sie wandte ihre Augen nicht vom Gesicht ihres Vaters ab. »Damit ich dich heilen kann, wirst du dich nackt ausziehen, ganz nackt, El Hadji. Ganz nackt vor uns allen. Und jeder von uns wird dreimal auf dich spucken. Der Schlüssel für deine Heilung liegt in deiner Hand. Entscheide dich. Ich kann es dir jetzt sagen, ich bin derjenige, der dir ›den Knoten geknüpft hat.‹« Fast zwei Minuten vergingen in völliger Stille. El Hadji hatte aufmerksam zugehört. Er dachte an den Seet-katt, der ihm gesagt hatte: »Es ist jemand aus deiner Umgebung.« Man hörte eine Polizeisirene näher kommen. Heftiges Abbremsen, dann dröhnten Schritte; schrille Pfiffe zerrissen die Stille. Die Klingel läutete gedämpft.
Die menschlichen Wracks drängten sich aneinander; Furcht stand in ihren Gesichtern. Die Mutter der Zwillinge hob mit einer reflexartigen Bewegung das eine Baby auf ihren Rücken und nahm das andere auf ihren Arm. Der Aussätzige machte ein paar Schritte zum Fenster hin, legte die Hand auf den Griff. Der Torso-Bursche auf seinem Karren suchte einen Ausweg durch diesen Wald aus krummen Beinen. »Was tun wir?« fragte einer von ihnen, der die gestohlenen Kleider, die er sich übergestreift hatte, von sich warf. Seine Frage richtete sich an alle. »Wir kommen alle ins Gefängnis.« »Rühren wir uns nicht«, befahl der Bettler. »Wir sind El Hadjis Gäste. Er will geheilt werden.« Ein Polizeioffizier stieß die Tür auf. Hinter ihm im Türrahmen tauchten Köpfe mit Polizeimützen auf. Sie hielten sich die Nasen zu. »Guten Tag, El Hadji«, sagte der Vorgesetzte auf Französisch. »Was ist los bei dir?« Alle Gesichter waren verschlossen. »Nichts, Chef«, antwortete Rama. »Wieso, nichts?« Rama ging auf den Polizisten zu. »Das sind Papas Gäste. Einmal im Monat gibt Vater den Armen ein Almosen.« Der Polizeioffizier war nicht überzeugt. »Wir haben Telefonanrufe aus der Nachbarschaft erhalten, daß hier ein Aufruhr stattfände.« »Das ist nicht wahr. Sehen Sie selbst: Ich halte sie frei«, erklärte El Hadji. »Wie auch immer. Wir achten die Privatsphäre. Wir bleiben draußen«, sagte der Polizist und zog sich mit seinen Gehilfen zurück. Draußen umstellten sie die Villa.
»Ich will hier weg«, rief der Kleine mit der ewigen Wunde aus. »Ihr habt selbst gesehen, daß wir der Polizei nichts gesagt haben. Ihr werdet nun verschwinden! Ihr werdet niemanden anspucken. Wenn ihr euch weigert, hole ich die Polizei zurück«, sagte Rama, wobei sie sich an den Bettler richtete. »Mädchen, weißt du denn nicht, daß es einem Gefangenen hier in diesem Land besser geht als einem Arbeiter oder einem Bauern? Du mußt keine Steuern bezahlen, und dazu wirst du noch ernährt, untergebracht und im Krankheitsfall behandelt. El Hadji, wir warten auf dich.« Es verstrich eine Zeit, dann wagte El Hadji Abdou Kader Bèye einen Blick auf seine Frau und seine Tochter. Alles wartete. Irgend jemand schob El Hadji einen Stuhl vor die Füße. »Steig darauf! Steig darauf!« befahl er. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Jeder schien seinen Atem anzuhalten. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, kletterte El Hadji auf den Stuhl. Sie alle überragend, ging sein Blick in die Runde. »Wenn du wieder ein Mann werden willst, dann mußt du tun, was ich dir sage.« »Und wenn das gar nicht stimmt?« fragte ihn Rama. »Ich habe nicht einen einzigen Sou verlangt. Man kann sich darauf einlassen oder es sein lassen. El Hadji, du hast die Wahl.« Bedächtig knöpfte El Hadji seine Pyjamajacke auf. Die erste Spucke traf ihn ins Gesicht. »Du darfst es nicht abwischen!« Adja Awa Astou senkte die Augen. Sie weinte. Eine Behinderte schubste sie an und sagte grob: »Spuck, wenn du willst, daß er noch einmal sein Glied in dich hineinsteckt.« Mit einem Satz versetzte Rama der Frau einen kräftigen Stoß, so daß sie neben dem Rumpf-Mann zusammensackte. Zwei
Handstümpfe mit Fingerstummeln schoben eine Barriere zwischen Rama und ihre Mutter. Der Aussätzige füllte sich die Backen mit Spucke und zielte gekonnt auf El Hadji. Die umgestoßene Behinderte kam wieder auf die Beine und verabreichte Rama eine schallende Ohrfeige. Dann nahm sie sich etwas Zeit, ehe sie den Inhalt ihres Mundes auf El Hadji ablud. »Jetzt bist du dran, um deiner Mutter einen Gefallen zu tun«, sagte sie. Adja Awa Astou und Rama hatten Tränen in den Augen. El Hadji war mit Spucke bedeckt, die an ihm herunterlief. Er hatte seine Hose ausgezogen. Wie eine Trophäe ging die Hose von Hand zu Hand. Derjenige, der die Brautkrone geraubt hatte, setzte sie El Hadji auf den Kopf. Der Tumult wurde größer.
Draußen brachten die Ordnungskräfte ihre Waffen in Schußposition.
Nachwort
Beim Übergang vom kolonialen Status zur Unabhängigkeit wies die Gesellschaft Senegals eine sehr komplexe Struktur auf: Eine maßgebliche Rolle spielten die traditionelle Gesellschaft mit ihrem Feudal- und Kastenwesen, die übergreifende Organisation der Muslime (rund 90 % der Bevölkerung) in Bruderschaften mit den von Marabuts geführten religiösen Dynastien, eine durch die Integration in den Weltmarkt entstandene klassenmäßige Hierarchisierung, die sich in Land und Stadt deutlich unterschied, sowie eine starke Verflechtung von staatlicher und wirtschaftlicher Elite, in denen Staatsfunktionäre und eigenständige Unternehmer – besonders im Handel – eine wichtige Funktion und nach wie vor auch Ausländer – Franzosen, Libanesen – Einfluß hatten. Die Lage der städtischen Mittel- und Unterschichten verschlechterte sich, u. a. durch eine schnelle Urbanisierung; das Stadt-Land-Gefälle nahm infolge einer einseitigen Politik laufend zu. Ousmane Sembène ist der senegalesische Autor, der sich am eingehendsten mit den Problemen dieser Übergangsgesellschaft befaßt hat. 1960, als Senegal formal unabhängig wurde, war er 37 Jahre alt und veröffentlichte gerade seinen dritten, bisher erfolgreichsten Roman, Les bouts de bois de Dieu (dt.: Gottes Holzstücke, 1988). Er hatte als »tirailleur« am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, dann zwölf Jahre in Frankreich gelebt und gearbeitet. Die Tätigkeit in Gewerkschaft und Kommunistischer Partei bedeutete für den Autodidakten, der wegen einer Ohrfeige aus der Schule geflogen war, eine politische und philosophische Schulung.
Als er nach Afrika zurückkam, erschreckte ihn, wie wenig hier seine Bücher gelesen wurden – ein Grund, sich dem Kino zuzuwenden. 1963 schuf er mit Borom Sarret seinen ersten Film. Diese kurze Geschichte eines mittellosen Karrenfahrers zeigt einen wichtigen Aspekt der urbanen Gesellschaft: den Gegensatz zwischen den Habenichtsen und der »Europäerstadt«. Drei seiner Werke kann man als Trilogie der Übergangsgesellschaft bezeichnen: Vébi Ciosane O BlancheGenèse (1965, dt.: Weiße Genesis, 1983), die sich mit der feudalen Gesellschaft bzw. der Staatsklasse befaßt; Le Mandat (1965, dt.: Die Postanweisung, 1988), die Konfrontation eines Vertreters der städtischen Unterschicht mit der staatlichen Bürokratie, sowie Xala (1973), in dessen Zentrum die städtische Bourgeoisie steht, die allerdings nur bedingt als solche bezeichnet werden kann. Guelwaar (1995), Sembènes jüngstes Werk, das gleichzeitig mit dieser Neuübersetzung von Xala auf Deutsch erscheint, nimmt viele Motive der Trilogie wieder auf und fügt ihnen einige neue – Religion, westliche Hilfe – hinzu. Die Welt des El Hadji Abdou Kader Bèye, des »Verbandes der Geschäftsleute«, der »Kammer« wird in der wissenschaftlichen Literatur als periphere Bourgeoisie bezeichnet. Eine Bourgeoisie wie in den Industrieländern stellt sie deshalb nicht dar, weil sie ihre Gewinne nicht im industriell-produktiven Sektor erzielt und sie dort auch nicht re-investiert. Sie schafft keinen eigentlichen Mehrwert, ihre Gewinne stammen vom Verkauf von anderswo produzierten Waren; Kapital beschafft sie sich durch Kredite und oft durch zweifelhafte Geschäfte, Korruption und Betrügereien. Die Reichtümer, die sie anhäuft, verwendet sie für eine luxuriöse Lebensführung, die ihre soziale Stellung geradezu verlangt. In der Übergangsgesellschaft übernimmt sie, wie Sembène in
einem Interview sagte, »den Platz der Kolonialisten und verhält sich auch entsprechend«. Diese soziale Gruppe in Xala entspricht durchaus der peripheren Bourgeoisie Senegals in den sechziger und siebziger Jahren. 1973, in dem Jahr, als das Buch erschien, waren 62 Prozent der senegalesischen Unternehmer im Handel tätig. Sembène interessieren die kulturellen Aspekte dieser komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse. El Hadji nennt er »das Produkt zweier Kulturen, europäisch-bürgerliche Ausbildung, afrikanisch-feudale Erziehung«. Thema allerdings wird nicht die Frage, ob die Tradition oder die Moderne besser für die Entwicklung der senegalesischen Übergangsgesellschaft sei. Sembène beschreibt einen Zustand: den Umgang vieler Senegalesen und Senegalesinnen seiner Zeit mit der Tatsache der Bikulturalität, die sich je nach Gutdünken und unmittelbarer Bedürfnislage an der einen oder der anderen orientieren. El Hadji gibt sich europäischbürgerlich, wenn es um Aussehen, um Hochzeitsgeschenke, um Geschäfte usw. geht, doch er rekurriert auf afrikanische Elemente – z. B. Rhetorik, traditionelle Heilmethoden –, wenn ihm dies dienlicher erscheint. Zu einer bewußt gewählten Synthese beider Kulturen, wie sie Sembène in Interviews immer wieder gefordert hat, findet El Hadji nicht. Teil der afrikanisch-feudalen Welt bildet der »Xala«. In Wolof, der in Senegal verbreitetsten Landessprache, hat das Wort eine doppelte Bedeutung: Es meint »sexuelle Impotenz«, aber auch »le mauvais sort« (im Deutschen könnte man am ehesten vom »bösen Blick« sprechen), das von jemand »Übelwollendem« einem Menschen angehängt wird und dessen Opfer die Virilität verliert. In der traditionellen afrikanischen Kultur, die synkretistische Züge (Islam und afrikanische Tradition) trägt und in der solche Praktiken zum Alltag gehören, bestehen klare Prozedere, ihnen zu begegnen.
Fachleute mit übernatürlichen Kräften sind daran beteiligt: der »seet-katt« – katt = Mensch, seet = betrachten, untersuchen –, der die Herkunft des »bösen Blicks« ausfindig macht, sowie der »facc-katt« – face = aufbrechen –, der das Übel heilt. Beigezogen werden auch religiöse Spezialisten: In Xala verwendet Sembène den Begriff »Serigne«, der sehr unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Sembène tut den Xala nicht als Aberglauben ab, er schließt sich nicht der Meinung der Psychiaters Pathé an – »ein klarer Fall psychischer Ursachen«. Zwar bleiben viele Konsultationen El Hadjis ohne Ergebnis, doch nur weil er an Scharlatane geraten ist, die hauptsächlich auf Geld aus sind. Sowohl der von Babacar empfohlene seet-katt (»jemand aus deiner Umgebung«) als auch der Serigne Mada haben Erfolg. Wie dieser Erfolg zustande kommt, ist eine andere Frage: Beide Male scheint das Unbewußte in El Hadji angesprochen zu werden. El Hadjis Schwäche darf nicht allein individuell verstanden werden, die Impotenz betrifft seine soziale Gruppe insgesamt. Daran besteht kein Zweifel: Was der Kaufmann sein Büro nennt, bezeichnet Sembène als »einen Verschlag«. An der letzten Sitzung läßt er seinen Protagonisten deutlich sagen, was er von seinesgleichen hält. Als Schwäche – zur Solidarität – kann auch interpretiert werden, daß sie ihn kurzerhand fallen lassen, als er ihre Gewinnmöglichkeiten beeinträchtigen könnte. Ihre Abhängigkeit vom Geld ist total. Wird jemand vom Xala oder einem anderen Übel befallen, so stellt sich sofort die Frage, wer der Urheber des »bösen Blicks« sein könnte. In Xala fällt der Verdacht auf die beiden Ehefrauen und verschärft damit das in dieser polygamen Familie bereits bestehende Mißtrauen. Sembènes Darstellung scheint eine grundsätzliche Ablehnung dieser gesellschaftlichen Institution zu bedeuten. In anderen Werken
aber finden sich gut funktionierende und harmonische polygame Familien, etwa in Die Postanweisung. Spezifisch an der Polygamie in Xala ist, daß sie ihre traditionelle Bedeutung völlig verloren hat. Die ursprüngliche Funktion, eine Erhöhung der Arbeitskraft sowie die Erweiterung des sozialen Zusammenhangs, existiert nicht mehr. Die Funktion der städtischen Polygamie – jede Frau wohnt mit ihren Kindern in einem eigenen Haus, für den Unterhalt ist der Mann zuständig – besteht allein in der Erhöhung des sozialen Prestiges. Geheiratet wird, wenn genügend Geld vorhanden ist, bzw. das Geld wird für die Heirat beschafft, wenn die Möglichkeiten zur Erhöhung des Ansehens gut sind. Triebkraft dafür sind nicht bloß die Bedürfnisse des Mannes; zum Verlust von familiärer Solidarität und von emotionaler Wärme tragen ebenso die gesellschaftlichen Werte und die Frauen bei. Daß El Hadjis Beziehung zu Adja Awa Astou eine andere ist, liegt hauptsächlich daran, daß er sie vor seinem sozialen Aufstieg geheiratet hat. In einem Interview betont Sembène, in Xala handle es sich um eine von der peripheren Bourgeoisie geschaffene Form von Polygamie. »Vom alltäglichen Leben des Volkes und seiner Größe sprechen«, nennt Sembène als wichtigstes Anliegen seiner künstlerischen Arbeit. Damit das Volk seine Werke versteht, schreibt er eine einfache Sprache. Auch ein europäisches Leseund Filmpublikum soll Zugang zu ihnen finden, geht es ihm doch auch darum, den bestehenden, verzerrten Afrikabildern authentischere entgegenzusetzen. Diese Haltung führt dazu, daß seine Werke im allgemeinen auch hierzulande nicht besonders erklärungsbedürftig sind. Viele deutschsprachige Leser und Leserinnen wird allerdings der Schluß von Xala befremden: die Szene, in er eine »Prozession Hinkender, Blinder, Aussätziger, Beinloser, Einbeiniger…« in El Hadjis Haus eindringt, sich darin ausbreitet und ihn am Ende
bespuckt. Es handelt sich dabei um die späte Rache eines durch El Hadji Entrechteten. Doch die Passage ist – wie vieles in Sembènes Werken – mehrschichtig. El Hadji wäre durch den Xala ja genügend gestraft, denn er zerstört seine gesamte Existenz. Zudem stellt der Bettler das Prozedere als Heilung dar, und man ist geneigt, ihm zu glauben. Um diese Heilung geht es. Als erstes meint sie die Gesellschaft. Mit dem Auftreten der Bettler und Behinderten wird auch ein soziales Unrecht wieder gutgemacht. Verschiedentlich beschreibt Sembène, wie sehr sich El Hadji vom Bettler gestört fühlt; er hat ihn schon mehrmals von der Polizei verhaften lassen, er möchte die »Bettler für den Rest ihres Lebens hinter Schloß und Riegel bringen«. Sembène hat tatsächliche Ereignisse in Senegal im Sinn: Mitunter – in Erwartung der Touristen, anläßlich der afrikanischen Fußballmeisterschaften etc. – ließen die Behörden die Straßen der Hauptstadt Dakar von den zahlreichen Bettlern und bettelnden Behinderten »säubern«, sie behandelten sie nicht nur als »menschlichen Abfall«, sondern nannten sie auch so. In Xala erlaubt Sembène den Ausgeschlossenen eine Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft und damit die Revalorisierung von solidarischer Humanität, welche der afrikanischen Gesellschaft in Berührung mit der kapitalistischen Welt verloren ging. Die zweite Heilung ist eine kulturelle. Die Rückkehr der Bettler trägt symbolische Züge: die Rückkehr des Verdrängten, die Wiederkehr der lebendigen Kräfte Afrikas, der solidarischen Gemeinschaft, das Wiederauftauchen jenes Afrikas, das El Hadji und seinesgleichen so gern vergessen würden und das er in vielem tatsächlich verloren hat – z. B. »weiß« er nicht mehr, daß der seet-katt nicht heilen kann, auch mit Geld nicht. Die Bettler nehmen ihm, worauf er seine »Identität« gebaut hat: das europäische Mobiliar, das Evian-
Wasser. Auf die Wiederkehr des Verdrängten verweist auch die Forderung des Bettlers, die europäischen Kleider bis zur Nacktheit abzulegen – wie Mada, der nur so bis zu El Hadjis Unbewußtem vorstoßen konnte. In Sembènes Verfilmung von Xala (1976) wird die Symbolhaltigkeit noch deutlicher: Im Unterschied zur Bourgeoisie reden die Bettler nicht nur Wolof. Der Sprachlosigkeit El Hadjis und seiner Familie treten sie auch mit kraftvollen Wolof-Gesängen – von Sembène selbst geschriebenen »Volksliedern«, die in einer recht rüden Weise zur Revolte aufrufen – entgegen. In gewisser Weise finden die Bettler eine Verbündete in Rama, El Hadjis ältester Tochter. Auch wenn sie sich abzugrenzen versteht, schützt sie die Bettler vor der Polizei. Eine Verbündete ist sie vor allem auch auf der Ebene der Sprache. Sie gehört einer Gruppe an, die an der Verbreitung des Wolof und damit am Zurückdrängen der Kolonialsprache arbeitet, u. a. indem sie die Zeitschrift Kaddii herausgibt. In dieser Hoffnungsträgerin porträtiert Sembène ein Stück weit sich selbst: Auch er hat in solchen Sprachgruppen mitgearbeitet, und lange Jahre war er der Mitherausgeber einer Wolof-Zeitschrift mit dem Titel Kaddù. Heinz Hug