ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden
Nr. 106 (113)
Die Rache des Androiden von Kurt Mahr
Auf den Stützpunkten d...
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ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden
Nr. 106 (113)
Die Rache des Androiden von Kurt Mahr
Auf den Stützpunkten der USO, auf den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Ende August des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte recht turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig bewiesen. Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Es gibt im Augenblick weder im Bereich des Inneren noch im Bereich des Äußeren Schwierigkeiten von Bedeutung. Kein Wunder daher, daß Perry Rhodan, der Großadministrator, Staatsgeschäfte Staatsgeschäfte sein läßt und zusammen mit seiner Frau Mory Abro, der Regierungschefin von Plophos, zu einer Expedition in ein weit entferntes Sonnensystem aufgebrochen ist. Dabei wäre, wie es sich plötzlich herausstellt, die Anwesenheit von Perry Rhodans Frau auf Plophos gerade jetzt dringend erforderlich! Denn Plophos, das zu einem Transplantationszentrum ersten Ranges geworden ist, wird von einer solchen Welle von Terrorakten heimgesucht, daß dem Stellvertretenden Obmann des Planeten nichts anderes übrigbleibt, als die USO zu alarmieren. Ein seltsames Spezialisten-Team der USO nimmt die Ermittlungen auf und durchforscht die Organ-Banken des Planeten nach Spuren der Verbrecher, die für den Terror auf Plophos verantwortlich sind. Währenddessen vollzieht sich an anderer Stelle ein echtes Drama – DIE RACHE DES ANDROIDEN ...
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ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden
Die Hauptpersonen des Romans: Jackmo Pappron – Ein Gefangener versucht zu fliehen. Algo, Olpa und Einstein – Drei Menschen aus der Retorte. Brado Tannach und Reng Lazear – Beamte der Staatspolizei von Plophos. Amlor Petrefa – Direktor eines Weltraumzirkus. Kinke Seiblad – Petrefas rechte Hand. Lille, Signe und Fesso Baffah – Eine Familie in Schwierigkeiten.
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ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden verließ Jackmo die Klinik, um als Geheilter in sein einsames, in den Bergen gelegenes Heim zurückzukehren. Schon nach wenigen Tagen jedoch spürte er, wie eine fremde Macht sein Bewußtsein zu beeinflussen versuchte. Suggestive Befehle trommelten auf ihn ein, die ihn dazu verleiten wollten, zu zerstören, zu töten, zu vernichten. Er hatte sich gegen diese Einflüsse erfolgreich gewehrt. In früheren Tagen war Jackmo Pappron ein hoher Beamter der plophosischen Regierung und, in seiner Eigenschaft als Bearbeiter geheimer Fälle, Mitglied der Solaren Abwehr gewesen. Man hatte ihn mentalstabilisiert. Diese Behandlung verhinderte, daß er unter suggestiven oder hypnotischen Einfluß genommen werden konnte. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, den Suggestivbefehlen zu widerstehen. Gewisse Hinweise und angestrengtes Nachdenken überzeugten ihn davon, daß nur das neue Herz, das man ihm vor kurzer Zeit in die Brust gesetzt hatte, die Quelle dieser Befehle sein könne. Das Organ war von Unbekannten präpariert worden. Zu welchem Zweck, das blieb Jackmo vorerst unklar. Es lag ihm daran, die Behörden über seinen Verdacht zu informieren, doch der unbekannte Feind war schneller gewesen. Man hatte ihn überfallen und paralysiert. Seit kurzem befand er sich an Bord eines riesigen ZirkusRaumschiffs, das dieser Tage in Plophos gastierte. Es gab keinen Zweifel darüber, was der Feind jetzt von ihm wollte: Er wollte das präparierte Herz zurückhaben, das in Jackmo Papprons Körper seinen Zweck nicht erfüllt hatte. Weil er aber wußte, daß der Verlust des Herzens – selbst wenn man bereit sein sollte, ihm statt dessen ein anderes einzupflanzen – unweigerlich zu seinem Tode führen würde, denn der geschwächte Körper würde zwei Transplantationen innerhalb so kurzer Zeit nicht verkraften, eben weil er das wußte, war er entschlossen, sich bis zum letzten Blutstropfen zu wehren. Als das Leuchtzeichen des 81. Decks auftauchte, bremste er seinen Aufstieg, indem er ein paarmal mit nach oben gerichteter Handfläche an einer der Haltestangen entlangstrich. Auf der Höhe des Ausstiegs endlich packte er zu und schwang sich in den Gang hinaus. Ei-
PROLOG Als Jackmo Pappron die drei Männer vor seinem Käfig auftauchen sah, wußte er, daß sein Ende gekommen war. Es lag an der eiskalten Gelassenheit, mit der sie arbeiteten, und an dem Reflex der absoluten Unbeteiligtheit, der auf ihren Gesichtern lag. Einer von ihnen öffnete das elektronische Schloß, mit dem sich Jackmo während der letzten Stunden erfolglos beschäftigt hatte. Er winkte mit der Strahlpistole, die er in der Hand hielt, und sagte: »Raus!« Jackmo Pappron trat aus dem Käfig. Er befand sich jetzt in einem Gang, der zwischen den Käfigen entlanglief. In den kleinen Abteilungen befand sich allerlei exotisches Getier. Der Gestank war nahezu unerträglich, obwohl die Belüftung auf Hochtouren lief. Die drei Männer hielten sich hinter Jackmo. Der Gang mündete unmittelbar in einen Zugang zum Antigravschacht, der die Längsachse des riesigen Zirkus-Raumschiffes bildete. »Nach oben!« befahl der Sprecher. »Einundachtzigstes Deck!« Jackmo schwang sich in den Schacht, hielt sich an einer der Griffstangen fest und stieß sich nach oben ab. Er tat es weder besonders hastig, noch besonders zögernd. Es kam ihm darauf an, den Eindruck eines Mannes zu machen, der völlig harmlos ist. Und dennoch hatte er vor, sein Leben bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Die drei kamen hinter ihm her. Ihre Geschwindigkeit war die gleiche wie die seine. Sie waren erfahren in solchen Dingen. Keine Zehntelsekunde lang wichen die Mündungen ihrer Waffen von seiner Gestalt. Die geringste unvorsichtige Bewegung, und er war ein toter Mann. Er wußte, worauf sie es abgesehen hatten. Vor wenigen Wochen hatte er in einer Transplantationsklinik in New Taylor, der Hauptstadt von Plophos, ein neues Herz erhalten. Sein ursprüngliches Herz hatte nicht mehr richtig mitgemacht. Es war zu Kreislaufstörungen gekommen, und einige Male hatte Jackmo Pappron am Rande des Grabes gestanden. Das neue Herz sollte diese Schwierigkeiten beseitigen. Die Operation war ohne Zwischenfälle verlaufen. Kurze Zeit später 4
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden mir von außen diktiert. Meine Taten sind für sich ohne Bedeutung und ergeben Sinn nur im Zusammenhang eines größeren Planes, den ich nicht kenne. Woher aber kommen die Gedanken, die den Zweifel in sich tragen? Dies ist mein zweites Leben. Es wird ebenso verlaufen wie das erste, ohne daß ich auf seinen Verlauf und auf seine Dauer auch nur den geringsten Einfluß habe. Die Erinnerung an mein erstes Leben ist schwach und undeutlich. Nur soviel weiß ich, daß es das Leben eines Hilflosen war, der nichts aus eigener Kraft tat. Wie aber komme ich dazu, aus eigener Kraft über diese Dinge nachzudenken? Niemand befiehlt mir, zu denken. Ich denke von selbst. Meine Gedanken sind trostlos; aber sie sind mein eigen. Ich stehe von meinem Lager auf. Es ist ein einfaches, primitives Lager in einem kleinen, einfachen Raum. Ich befinde mich an Bord eines Raumschiffs. Es gibt einen kleinen Nebenraum, der den Zwecken der Hygiene dient. In diesem Nebenraum gibt es einen Spiegel. Ich betrachte mich darin. Ich bin – das weiß ich von irgendwoher – einen Meter und achtundsiebzig Zentimeter groß. Ich habe blaue Augen und eine gleichmäßig blasse Haut. Nirgendwo an meinem Körper wächst Haar. Ich halte es für notwendig, das zu erwähnen, weil ich weiß, daß ich mich durch Hautfarbe und Haarlosigkeit von anderen Wesen unterscheide. Aus dem Spiegel blicken mir meine eigenen Augen mit dem Ausdruck der Hilflosigkeit, der Leere entgegen. Woher aber kenne ich Begriffe wie Leere und Hilflosigkeit, die in meinem Verhaltensschema nicht identifiziert sind und deren Kenntnis mir wider die im Schema festgehaltenen Verhaltensmaßregeln von außen her vermittelt worden sein muß? Ich kehre in meine Kammer zurück. Die Gewißheit, daß mein zweites Leben ebenso leer und nutzlos sein wird wie das erste, ist nicht mehr so zwingend wie zuvor. Irgend etwas hat mich verändert. Ich muß darüber nachdenken. Mein Name ist Algo. Ich bin vielleicht doch etwas ...
ner der drei Männer war unmittelbar hinter ihm und befahl: »Stehenbleiben!« Da ließ Jackmo Pappron sich einfach fallen, rückwärts, dorthin, wo der Mann stand, der als erster nach ihm aus dem Schacht gestiegen war. Die Bewegung kam so überraschend, daß der Bewaffnete nicht rasch genug reagierte. Jackmos stürzender Körper prallte ihm gegen den Leib und schleuderte ihn in den Schacht zurück, wo soeben seine zwei Genossen sich durch den Ausstieg hangeln wollten. Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung. Die drei Bewaffneten hatten im schwerelosen Innern des Schachts die Orientierung verloren, rotierten um sich selbst und hatten Mühe, den Ausgang wiederzufinden. Diese kurze Zeitspanne nutzte Jackmo Pappron. Er huschte davon und bog um die nächste Ecke. Die Gänge des 81. Decks waren hell erleuchtet. Er wußte nicht, wo er sich hier befand. Aber vielleicht gelang es ihm, die drei Häscher im Kreis herum in die Irre zu führen und wieder zum Antigravschacht zurückzukehren. Dann konnte er hinab bis zum Arenadeck fahren und sich womöglich davonschleichen. Vielleicht fand im Augenblick eine Zirkusvorstellung statt, die es ihm ermöglichte, sich unter die Zuschauer zu mischen. Er lief, so rasch er konnte. Hinter sich hörte er den Lärm der drei Männer, die ihn aus den Augen verloren hatten. Das Geräusch kam näher. Sie schlossen auf, obwohl sie nicht wußten, wohin er sich gewandt hatte. Er bog um eine weitere Ecke und – stand unmittelbar vor einem Mann, der eine schußbereite Strahlpistole trug, und die Mündung auf Jackmos Stirn gerichtet hielt. Jackmo warf die Arme in die Höhe und schrie voller Entsetzen: »Nicht ...!« Er blickte in einen riesigen Feuerball, der ihn einhüllte. Der Prozeß des Sterbens vollzog sich so schnell, daß Jackmo Pappron nicht einmal Schmerz verspürte. 1. Mein Name ist Algo. Ich bin nichts ... Ich bin ein wertloses Geschöpf, das aus eigener Kraft nichts vermag. Was ich tue, wird 5
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden geht?« »Soweit ich durfte, Chef, sicher. Sie wissen ja, daß die Behörden der Bevölkerung nicht rückhaltlos mitteilen wollen, was für Schwierigkeiten sich im Anschluß an TransplantOperationen seit kurzem entwickelt haben.« »Ja, ich weiß«, reagierte Tannach ungeduldig. »Was für eine Operation hatte der Mann?« »Drüsen«, antwortete Reng Lazear trocken. Tannach warf ihm einen fragenden Blick zu, den der Sergeant mit einem Hochziehen der Brauen beantwortete. »Verheiratet«, sagte er dazu. »Frau etwa zwanzig Jahre jünger als er, beiderseits erste Ehe, zwei Kinder. Name: Baffah.« »Hat er Schwierigkeiten gehabt?« »Womit – mit der Frau oder der Operation?« »Mit den Folgen der Operation!« »Entweder gab es keine, oder er will es nicht zugeben«, antwortete Lazear. »Ich habe mich bei der Informationszentrale über ihn erkundigt. Es gibt keine Aufzeichnungen von Gewalttätigkeit oder Zerstörungswut. Das sind doch gewöhnlich die ersten Symptome.« Brado Tannach nickte nachdenklich. »Behalte den Mann im Auge«, trug er dem Sergeanten auf. »Leute, die sich vor der Registrierung scheuen, haben in acht von zehn Fällen andere als Gewissensgründe.«
* »Hör auf zu fressen!« knurrte Brado Tannach. »Eines Tages gibt es einen lauten Knall, und du bist geplatzt!« Der Empfänger dieser ärgerlichen Mahnung, ein Mann von geringer Körpergröße, aber beachtlichem Leibesumfang, grinste und schob sich das letzte Stück eines Fruchtriegels in den Mund und kaute genüßlich darauf herum. Reng Lazear, Sergeant der plophosischen Staatspolizei, wußte, was er von derartigen Verstößen seines Vorgesetzten zu halten hatte. »Zu Befehl, Chef«, antwortete er stramm, nachdem er, der Etikette gemäß, den Mund geleert hatte. »Was liegt an?« Brado Tannach, groß, jung und mit der Gestalt eines durchtrainierten Athleten, war soeben von einer Besprechung des Ausschusses zur Untersuchung der Schwierigkeiten von Transplantations-Patienten (AUSTRAP) zurückgekehrt. Diese Besprechungen, gewöhnlich geleitet von Alvmut Terlahe, dem Vorsitzenden des Ausschusses, pflegten Brado Tannach zu irritieren. »Nichts Erschütterndes«, antwortete Reng Lazear auf Tannachs Frage. »Ich habe mir mit Hilfe des Rechners noch einmal die Liste der Leute vorgenommen, die sich auf Plophos innerhalb der jüngsten Monate einer Transplant-Operation unterzogen haben. Dabei stieß ich auf einen Mann, der sich bis heute weigert, den Aufruf zur Registrierung zu befolgen, den die Regierung erlassen hat.« »Mit anderen Worten: Er hat sich nicht gemeldet?« versuchte Brado Tannach zu interpretieren. »Genau.« »Welche Gründe gibt er an?« Lazear schmunzelte. Mit dieser Frage gab Tannach zu verstehen, für wie selbstverständlich er es hielt, daß sein Untergebener sich mit dem Fraglichen bereits in Verbindung gesetzt hatte. Es befriedigte den Sergeanten, daß er Tannach nicht zu enttäuschen brauchte. »Er behauptet, eine Transplantation sei jedermanns eigene Sache und die Regierung habe kein Recht, sich da einzumischen.« »Hast du ihm auseinandergesetzt, worum es
* Der Mann auf dem Bildschirm hatte dicke Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Die vollen Lippen waren in höchstem Zorn aufgestülpt: »Wo ist Seiblad?« donnerte es aus dem Empfänger. Der Wachhabende in der Kommunikationszentrale des Zirkusschiffes ORBAG MANTEY zuckte unwillkürlich zusammen. Er sah auf die Uhr. Kinke Seiblads Gewohnheiten waren jedem Mitglied der Besatzung vertraut. »Er befindet sich wahrscheinlich in den Gehegen, Sir«, antwortete er dem Wütenden vorsichtig. »Sie wissen, gewöhnlich um diese Zeit sieht er zu, wie seine Lieblingsschlange ein lebendes Kaninchen verspeist.« »Er soll zu mir kommen!« donnerte der 6
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden deutlich eine Vorliebe für den sogenannten Plastischen Realismus, eine intensive Reaktion auf die Hunderte verschiedener Strömungen der abstrakten oder surrealistischen Kunst, deren Prinzip darin bestand, am darzustellenden Objekt reale und weniger reale Züge zu unterscheiden und die ersteren übertrieben darzustellen, so daß die Produkte dieser Kunst eine Art grotesker Lebensnähe besaßen, die den Zuschauer mehr erschreckte als begeisterte. Kinke Seiblad verstand selbst nichts von Kunst. Aber soviel sah er: daß Amlor Petrefas Skulpturen ihrem Besitzer äußerst ähnlich sahen – ähnlich natürlich in einem übertragenen Sinne, indem sie alle von derselben Art faunischer Vitalität erfüllt waren wie Petrefa selbst. »Die Macht ist mit den Vorgängen auf Plophos unzufrieden«, erklärte Amlor Petrefa mit Stentorstimme. Seiblad schauderte. Die Macht, das war ein unbekannter, unheimlicher Faktor im Hintergrund, der das Leben aller Menschen an Bord dieses Riesenraumschiffs dirigierte. »Wir können kaum etwas daran ändern«, antwortete er kleinlaut. »Sicherlich kann die Macht nicht von uns erwarten, daß wir gegen den Entschluß der plophosischen Regierung die Organ-Kliniken wieder eröffnen, selbst wenn das in unserer Macht läge, wie?« »Wenn die Macht unzufrieden ist«, sagte Petrefa, »dann muß etwas getan werden, um die Zufriedenheit wieder herzustellen. Wie verlaufen unsere Vorbereitungen? Wenn auf Plophos eine Zeitlang Ruhe herrscht, wird Awrusch seine Anordnungen womöglich widerrufen. Sobald die Transplant-Kliniken ihre Türen wieder öffnen, müssen wir in massiver Weise aktiv werden. Wieviele Androiden stehen zur Verfügung?« »Fünfundsechzig, Herr«, antwortete Seiblad. »Läßt sich mehr schaffen?« »Nein. Wir haben sogar Algo wieder zum Leben erweckt.« »Algo, Algo? Wer ist das?« fragte Petrefa irritiert. »Ein Androide, dem nur das Herz entnommen wurde. Andere Teile konnten nicht mehr verwertet werden, da die Sperrung der Kliniken dazwischenkam. Das präparierte Herz
Mann auf dem Bildschirm. »Sonst lasse ich ihn morgen höchstpersönlich seiner Lieblingsschlange vorwerfen.« Augenblicke später hatte der Wachhabende Kinke Seiblad am Interkom. Seiblad war zunächst empört, daß man ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu stören wagte. Als rechte Hand des Zirkuseigentümers spielte er an Bord der ORBAG MANTEY eine gewichtige Rolle. »Sie brauchen sich an mir nicht abzureagieren«, unterbrach der Wachhabende Seiblads zornigen Wortschwall. »Der Alte will Sie sprechen, und zwar sofort. Das ist alles!« Wenige Minuten später trat Kinke Seiblad in den Arbeitsraum des nahezu allmächtigen Amlor Petrefa Eigentümer und Generaldirektor des Weltraumzirkus ORBAG MANTEY. Petrefa war ein Mann von mittlerer Größe, jedoch ungeheuer wuchtigem Körperbau. Dicke Augenbrauenwülste, eine breite Nase und dicke Lippen verliehen seinem Gesicht den Ausdruck rücksichtsloser, Machtlüsternheit, vor dem Kinke Seiblad gelegentlich zu erschrecken pflegte. Seiblad selbst, klein, schmächtig, jedoch mit einem unförmigen, haarlosen Schädel ausgestattet, war bis hinunter auf den Grund seiner Seele der Typ des Subalternen, dem der zweite Platz stets erstrebenswerter schien als der erste. »Wenn ich dich brauche, hast du hier zu sein«, fuhr Amlor Petrefa ihn an, sobald er sich durch die Türöffnung geschoben hatte. »Jawohl, Chef«, antwortete Seiblad unterwürfig. »Ich werde es nicht wieder vergessen.« Petrefas Arbeitsraum war luxuriös ausgestattet. Manches Tier, das eigentlich in der Manege die Zuschauer hatte in Begeisterung versetzen sollen, hatte vorzeitig sein Leben lassen müssen, so daß das kostbare Fell Wände oder Boden von Amlor Petrefas Büro schmücken konnte. Der Arbeitstisch und die Sessel waren aus wertvollen exotischen Hölzern gefertigt. Es gab verborgene Servomechanismen, die auf Petrefas Wink die erstaunlichsten Kunststücke vollführten Amlor Petrefa war Kunstliebhaber. An sorgfältig ausgewählten Stellen standen auf kunstvollen Podesten die Skulpturen der verschiedensten Sternenvölker. Amlor Petrefa zeigte dabei 7
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Wesen hielten das weit unter ihnen stand und mit dem sie machen konnten, was sie wollten. Ich bemerkte, daß es in meinem Bewußtsein eine Kraft gab, die mich dazu zwang, ihren Befehlen zu folgen. Ich konnte mich nicht widersetzen, obwohl ich das gerne getan hätte. Ich trat auf den Gang hinaus. Die beiden Männer trieben mich vor sich her bis zu einem Antigravschacht, durch den wir in die Tiefe schwebten. Die Umgebung kam mir vage bekannt vor. Ich wußte, daß ich mich an Bord eines Raumschiffs befand. Es war ein Zirkusschiff, das von Planet zu Planet kreuzte, um auf jeder Welt einige Tage oder Wochen zu verweilen und die Bewohner durch Darbietungen der Zirkuskunst zu unterhalten. An mehr erinnerte ich mich vorläufig nicht. Auf einem tieferen Deck stiegen wir aus dem Antigravschacht. Meine Begleiter führten mich in einen großen Raum, in dem zu langen Reihen gestaffelt einfache Liegen standen. Fast auf jeder Liege hatte sich ein Wesen ausgestreckt, das mir, wie ich vor kurzem im Spiegel gesehen hatte, überaus ähnlich sah: Die Haarlosigkeit, die bleiche Hautfarbe und der leere Blick waren allen gemeinsam. Ich erschrak, ohne zu wissen warum, und gleichzeitig erkannte ich diesen Ort wieder. Hier hatte ich den größten Teil meines ersten Lebens verbracht. Die Begleiter blieben an der Tür zurück, die sich bald darauf wieder schloß. Ein innerer Zwang bewegte mich dazu, auf eine der leeren Liegen zuzugehen und mich dort niederzulegen. Ich schob die Hände unter den Kopf und starrte zur Decke hinauf. Das lange Nachdenken hatte mich in einen Zustand merkwürdiger Erregung versetzt, wie ich ihn vorher niemals kennengelernt hatte. Ich fühlte, ich war einem Geheimnis auf der Spur und kam ihm mit jedem Gedanken näher. Dabei wußte ich nicht einmal, was ich zu ergründen suchte. War es, warum sich andere Wesen von mir unterschieden und mich aufgrund ihrer Verschiedenheit als eine Armseligkeit betrachteten, die sie nach Belieben herumschieben, verhöhnen und beleidigen konnten? Oder wollte ich wissen, warum sich mein zweites Leben von meinem ersten unterschied? Oder war es gar die Frage nach dem
wurde jedoch verwendet. Es wurde einem Mann namens Jackmo Pappron eingepflanzt. Sie erinnern sich?« »Ja, ich erinnere mich. Der Mann wurde gefangen, nicht wahr?« »Er konnte nicht beeinflußt werden. Alle Versuche waren vergeblich. Wir wissen nicht warum. Man nahm ihn fest und schleppte ihn an Bord. Ein präpariertes Herz ist ein wertvolles Organ. Der Mann wurde vergangene Nacht bei einem Fluchtversuch auf dem Wege zur Operation erschossen. Das Herz wurde Algo zurückgegeben. Er erholt sich jetzt von der Einpflanzung und steht ab morgen wieder voll zur Verfügung.« Amlor Petrefa fuhr mit der Hand durch die Luft. Aus dem Leib einer kamashitischen Statue, die die sterbende Weltmutter darstellte, löste sich ein durchsichtiger Becher mit einer grünlich gefärbten Flüssigkeit und glitt auf dem unsichtbaren Strahl eines künstlichen Schwerefeldes bis auf Petrefas Arbeitstisch. Petrefa nahm den Becher auf und leerte ihn in einem Zug. »Gut«, sagte er. »Einige Tage können wir noch warten; aber dann muß etwas geschehen. Du kannst gehen!« * Zwei Männer kamen in meine Kammer. Ich schlief. Plötzlich standen sie vor mir. Ich kannte sie nicht. Einer sagte: »Steh auf, Retortenengel! Du bist kräftig genug, um zu den andern zu ziehen.« Seine Tonart war die, an die ich mich schon in meinem ersten Leben gewöhnt hatte. Jetzt auf einmal störte sie mich. Und was ist ein Retortenengel? Warum gab er mir diesen Namen? Ich sagte nichts, sondern stand auf und wollte in den Nebenraum gehen, um ein Bad zu nehmen, wie ich es jeden Tag nach dem Aufwachen tue. Da stand aber schon der zweite Mann in der Tür, tippte mir mit dem Finger auf die Brust und wies zum Ausgang. »Die vornehmen Tage sind vorbei, Ohnehaar«, sagte er. »Von jetzt an leben wir wieder im Gemeinschaftsquartier.« Ich spürte aus seinen Worten dieselbe Verachtung, die auch der andere kundgetan hatte. Es war unverkennbar, daß sie mich für ein 8
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden selbst über die Fülle meiner Gedanken erstaunt war, mußte ich ihn eher als mich selbst für ein typisches Spezimen unserer Art halten. Unserer Art. Wie das klang! Wer waren wir eigentlich? Die Leute mit den Haaren und dem lebhaften Ausdruck in den Augen wurden Menschen genannt. Wir, die Bleichhäutigen, Haarlosen, waren sicherlich keine Menschen. Retortenengel, Haarlose Synthobabys und wie man sie sonst noch nannte, das waren alles Schimpfnamen. Wie hießen wir wirklich? Und wodurch unterschieden wir uns von den Menschen? Ich nahm mir vor, auf alle diese Fragen eine Antwort zu finden. Um dies zu erreichen, mußte ich mit Menschen sprechen. Wenn sie mich in meiner eigentlichen Gestalt sahen, würden sie mich auslachen und wieder in diesen Saal zurückschicken. Ich mußte mich also verkleiden. Wenn ich auszog, um mit Menschen zu sprechen, mußte ich aussehen wie ein Mensch. Dazu bedurfte es umfangreicher Vorbereitungen. Ich brauchte Haare – zumindest da, wo man sie am ehesten zu sehen erwartete, nämlich auf dem Kopf. An der Hautfarbe würde sich wahrscheinlich nicht viel ändern lassen; aber vielleicht war das nicht zu schlimm. Der weitaus schwerwiegendste Unterschied zwischen Menschen und uns schien der Ausdruck der Augen zu sein. Ich mußte mich darauf trainieren, ebenso lebhaft dreinzublicken wie die Menschen. Ich hatte zwar vorläufig noch keine Ahnung, wie ich das anfangen sollte; aber irgendwie, dessen war ich sicher, würde es mir gelingen.
Sinn meines Lebens, die mich beunruhigte? Ich erschrak, als ich diese Gedanken zu Ende gedacht hatte. Ich erschrak vor meiner eigenen Kühnheit, vor der geheimnisvollen Kraft, die mir Ideen eingab, die ich früher nie zu erfassen vermocht hätte. Ich zwang mich zur Ruhe. Wichtig erschien mir zunächst, zu erfahren, ob die mehr als fünfzig Wesen in diesem Raum, die mir äußerlich so ähnlich sahen, genauso dachten und empfanden wie ich. Waren sie mir auch innerlich gleich, oder bildete ich in ihren Reihen eine Ausnahme? Ich richtete mich auf. Ich schwang die Beine von der Liege, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Mein Nachbar warf mir einen kurzen Blick zu. Er war leer und hoffnungslos. »Wie heißt du?« fragte ich. Er blickte mich ein zweites Mal an. Ich wiederholte meine Frage. »Olpa«, antwortete er. Ich an seiner Stelle hätte geantwortet: Olpa, und du? Aber er wollte meinen Namen nicht wissen. In dieser Hinsicht unterschied er sich also von mir. »Was tust du hier?« fragte ich als nächstes. Diesmal sah er mich nicht einmal an. Er antwortete ganz einfach nicht. »Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht«, wollte ich wissen, »was du mit deinem eigenen Leben anfangen könntest, wenn man dich ließe?« Er antwortete auch darauf nicht. Ich stellte noch mehr Fragen und wurde dabei immer eifriger und immer lauter. Schließlich richteten sich auf den Liegen ringsum andere Leute auf und sagten: »Ruhe, Ruhe, Ruhe ...« Ich erschrak. Sie hatten ein Anliegen. Der laute Klang meiner Stimme störte sie. Sie wollten, daß ich schwieg. Aber mit welcher Stimme brachten sie diesen Wunsch hervor! Sie leierten die Worte mehrmals hintereinander herunter und legten sich dann wieder hin, als bedürfe es allein ihres Geleiers, um mich zum Schweigen zu bringen. Trotzdem schwieg ich. Ich hatte erfahren, daß meinem Nebenmann keine Antwort auf die Fragen zu entlocken war, die mich seit einiger Zeit so brennend beschäftigten. Er dachte nicht so, wie ich dachte; und da ich
2. Die Ruhe, die gegenwärtig auf Plophos herrschte, war trügerisch. Das gab sogar Jalzaar Awrusch zu, der sich sonst so überaus optimistisch gab, während er in Mory Rhodan-Abros Abwesenheit die Amtsgeschäfte des Obmanns führte. Es war die Ruhe vor dem Sturm, so pflegte Alvmut Terlahe zu sagen, der, von Natur aus pessimistisch, als Vorsitzender des Ausschusses zur Untersuchung der Schwierigkeiten von Transplantations-Patienten fungierte. Nur wußte eben niemand, aus welcher Ecke der Wind blasen würde. Der Ausschuß und die ihm assoziierte 9
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden sämtlicher Organbanken in jüngster Zeit in gefährlicher Weise manipuliert worden war. Im Durchschnitt zehn Prozent der gelagerten Organe waren im Laufe der vergangenen Wochen ausgetauscht und durch neue ersetzt worden. Man untersuchte einige der eingeschmuggelten Organe und machte eine sensationelle Entdeckung: Eingebettet in das Gewebe eines jeden Organs fanden sich winzig kleine Kügelchen aus Protoplasma, von derselben Art wie man sie in hybriden Rechnerspeichern verwendete, sogenannte Kaschkarits oder »Speichererbsen«. Obwohl man sich nicht erklären konnte, wie die Kaschkarits einen Menschen zum Amoklauf zu bewegen vermochten, bestand kein Zweifel daran, daß die winzigen Speichererbsen für die erstaunlichen Vorgänge der jüngsten Zeit verantwortlich waren. Jetzt auch begriff man die Bedeutung der Serie von Einbrüchen, bei denen nichts abhanden gekommen war: Sie hatten lediglich dem Zweck gedient, einen gewissen Prozentsatz der in den Banken gelagerten Organe durch solche, die mit Kaschkarits gespickt waren, zu ersetzen. Es handelte sich bei den Vorfällen der letzten Wochen also um einen gesteuerten Vorgang, mit dem irgendein Unbekannter eine bestimmte Absicht verfolgte. Welches diese Absicht sein könne, blieb vorläufig Sache der Spekulation. Es gab Leute, die den Frieden und das Mächtegleichgewicht der Milchstraße bedroht sahen, und solche, die an den Streich eines Verrückten glaubten. Zu der letzteren Ansicht neigte auch Jalzaar Awrusch, der Obmann-Stellvertreter, der sich beharrlich weigerte, Mory RhodanAbro über die Vorgänge auf Plophos in Kenntnis zu setzen. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß nicht nur auf Plophos Ansässige in diese Vorgänge einbezogen waren, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch Patienten, die von weit entfernten Welten gekommen waren und Plophos nach erfolgter Operation wieder verlassen hatten. Welches auch immer das Ziel sein mochte, das der Unbekannte verfolgte – als Werkzeuge dienten ihm nicht nur solche Menschen, die auf Plophos lebten, sondern auch die Bürger anderer, ringsum verstreuter Welten. Ganz untätig allerdings wollte Jalzaar Aw-
Polizei entwickelten eine hektische Aktivität, die jedoch mangels greifbarer Ziele nur zu Frustrationen führte. Vor Wochen war es losgegangen: Hier und dort hatten zunächst Individuen, später Gruppen von Menschen Amok zu laufen begonnen. Im Banne dämonischer Zerstörungswut vernichteten sie alles, was sie zu greifen bekamen. Es kam zu örtlich begrenzten Aufständen gegen die Ordnungsmacht, deren die Behörden nur mit Mühe Herr wurden. Nicht im Zusammenhang damit zu stehen schien anfangs eine Serie von Einbrüchen in plophosische Organkliniken, die die Polizei in arge Verwirrung stürzte, weil bei keinem der Vorgänge etwas gestohlen oder geraubt worden war. Plophos hatte in den vergangenen Jahrzehnten begonnen, sich als Welt der Transplantationskliniken einen Namen zu machen. Der Bedarf an Ersatzorganen war, seitdem man die chirurgische Technologie der Transplantation fest im Griff hatte, galaxisweit ständig im Ansteigen begriffen, und mit ihm stieg auch die Nachfrage nach Fachleuten, die Transplant-Operationen durchzuführen verstanden. Ohne daß die Regierung einen Einfluß darauf genommen hätte, hatten sich immer mehr Transplant-Kliniken auf Plophos angesiedelt. In ihrem Kielwasser schwammen die Transplant-Experten und die »Vermittler«, die im ersten Fall risikofreie Operationen und im zweiten die reibungslose Versorgung mit Ersatzorganen gewährleisteten. Von zehn Patienten, die sich im Einflußbereich des Solaren Imperiums einer Transplant-Operation unterzogen, kamen acht nach Plophos. Die Polizei war erstaunt zu erfahren, daß all diejenigen, die in jüngster Zeit infolge ihrer plötzlich erwachten Zerstörungswut mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, sich vor kurzer Zeit einer Transplant-Operation unterzogen hatten. Es gab keine einzige Ausnahme. Man begann daraufhin, den TransplantKliniken besondere Aufmerksamkeit zu schenken, und beschäftigte sich insbesondere mit den Organbanken, die die Kliniken unterhielten und in denen Ersatzorgane bis zum Zeitpunkt ihrer Einpflanzung in den Körper eines Patienten gelagert wurden. Dabei stellte sich heraus, daß der Inhalt 10
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden und in meinem Bewußtsein herumkramte, fand ich überhaupt einen überraschenden Reichtum an Wissen, der mir bisher verborgen gewesen war. Ich begann, meine Gedanken als eine Art Messer zu betrachten, das mit kühnen, manchmal schmerzhaften Schnitten nutzloses Gewebe entfernte und mit Wissen vollgepfropfte Schichten zum Vorschein brachte. Der Prozeß, in dessen Verlauf ich immer neue Wissensschichten freilegte, versetzte mich in einen merkwürdigen Zustand, in dem ich mich nie zuvor befunden hatte. Plötzlich fiel es mir schwer, still zu liegen. Ich empfand einen nahezu unwiderstehlichen Drang, aufzustehen und mich zu bewegen. Ich verstand das nicht. Der Zustand, in dem ich mich befand, hatte keinen Namen. Ich suchte nach einem Begriff, der ihn treffend beschrieb, fand jedoch keinen. Alles, was ich von ihm wußte, war, daß er mir Unruhe verursachte. Ich hatte mir vorgenommen, während der nächsten Dunkelheitsperiode auf die Suche zu gehen. Noch immer war es eine Suche ohne bestimmtes Ziel. Ich mußte mich zunächst orientieren. Es gab viele Dinge, die ich erfahren wollte. Aber zunächst galt es herauszufinden, wo sie in Erfahrung zu bringen waren. Das Massenquartier, in dem wir alle untergebracht waren, umfaßte außer der Halle, in der die Liegen standen, auch noch einige Nebenräume. In einem davon stand ein langer Tisch, an dem wir alle Platz hatten und auf dem zu gewissen Zeiten von unsichtbaren Mechanismen Speisen und Getränke aufgefahren wurden, an denen wir alle teilhatten. Außerdem gab es noch einen großen Hygieneraum, in dem man baden, turnen und sonstigen Verrichtungen nachgehen konnte. Allerdings gab es nirgendwo einen Spiegel. Ich konnte nicht sehen, wie es mit dem Ausdruck meiner Augen stand. War er immer noch so leer wie zuvor, oder zeigten sich schon die Anfänge der Lebhaftigkeit, die den Blick der Menschen beseelte? Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wurde noch eine Mahlzeit serviert. Wir aßen gemeinsam, schweigend wie immer. Danach herrschte ein großes Gedränge im Hygieneraum. Ich war einer der ersten, der wieder die Pritsche bezog. Kurze Zeit später ging das
rusch auch nicht verharren. Seine Weigerung, den Obmann zu alarmieren, entsprang nur zum Teil seiner geringschätzigen Meinung von dem Gewicht der jüngsten Vorgänge, zum anderen Teil aber der Absicht, das Geheimnis aus eigener Kraft zu entschleiern. Wenn der Fall gelöst war, dann sollte es heißen: Jalzaar Awrusch hat das gemacht. Ihm verdanken wir die Aufklärung des Verbrechens. Awrusch ließ zunächst einen Ausschuß bilden, der sich mit diesen Dingen beschäftigte. Der Ausschuß jedoch kam nicht so rasch vom Fleck, wie Awrusch es sich vorgestellt hatte. Bald sah er sich zu drastischeren Schritten gezwungen. Er bat die USO um Entsendung eines Spezialisten-Teams und verbot bis auf weiteres alle Transplant-Operationen auf Plophos. Er legte allerdings Wert auf die Feststellung, daß das USO-Team sich, solange es auf Plophos arbeitete, seinen Anweisungen zu unterwerfen habe. Er nahm die Hilfe der USO gerne in Anspruch, aber den Ruhm, den Fall gelöst zu haben, sollte sie ihm nicht streitig machen. Gleichzeitig wurde ein Aufruf erlassen, der alle auf Plophos zeitweise oder dauernd Ansässigen, die sich im Laufe des vergangenen Jahres einer Transplant-Operation unterzogen hatten, aufforderte, sich zu melden und registrieren zu lassen. Damit schien alles getan, was vorläufig getan werden konnte. Man mußte warten, bis entweder AUSTRAP oder das Spezialisten-Team der USO in ihren Ermittlungen weitere Fortschritte machten. Im Augenblick war es auf Plophos wieder ruhig. Aber die Ruhe war, wie selbst Jalzaar Awrusch zugab, trügerisch. * Es gab im Innern des großen ZirkusRaumschiffs Perioden der Helligkeit und der Dunkelheit. Man nannte sie »Tag« und »Nacht«, in Anlehnung an die natürlichen Vorgänge, die sich auf der Oberfläche eines Planeten abspielten und mit der Eigendrehung des Planeten um seine Achse zu tun hatten. Ich wußte das, ohne jedoch zu wissen, woher mir diese Erkenntnis kam. In diesen Stunden, in denen ich reglos auf meiner Pritsche lag 11
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden den zu sein. Über die Richtung, die ich einschlagen sollte, war ich mir nicht im klaren. Es mußte in diesem riesigen Raumschiff eine Stelle geben, an der alles Wissen der Menschen konzentriert war. Einen Computer nannte man das. Ich hatte keine Ahnung, wie man mit einem Computer umgeht. Aber allein der Glaube, daß es eine solche Maschine in der Nähe geben müsse, versetzte mich wieder in jenen unbeschreiblichen Zustand, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Ich erinnerte mich an die Fahrt durch den Antigravschacht mit den beiden Männern, die mich gestern von meiner Kammer abgeholt hatten. Ich war damals noch nicht so wach gewesen wie im Augenblick; aber es schien mir doch, als hätte es in dem Schacht eine Stelle gegeben, an der der Verkehr sich in besonderer Weise konzentrierte. Solange man sich abwärts zu dieser Stelle hin bewegte, floß der größte Teil des übrigen Verkehrs in derselben Richtung. Sobald man jedoch an der Stelle vorbei war, kam der Verkehr einem in der Hauptsache entgegen. Das war gestern gewesen. Jetzt würde ich die Fahrt in umgekehrter Richtung antreten, und die Stelle, auf die sich der Verkehr konzentriert hatte, lag über anstatt unter mir. Unangefochten erreichte ich den Schacht. Ich schwang mich hinein, nachdem ich geraume Zeit in beide Richtungen geblickt und niemand bemerkt hatte. An zwei Haltestangen stieß ich mich ab. Rasch glitt ich in die Höhe. Ich wußte nicht genau, wo sich die Stelle befand, die ich suchte; aber so ungefähr glaubte ich sie zu kennen. Über den Ausstiegen des Schachtes leuchteten in großen Ziffern die Nummern der Decks. Ich konnte sie lesen, das hatte ich schon gestern bemerkt. Ich war auf der Ebene des 67. Decks zugestiegen. Die erste Nummer, die ich vom vergangenen Tag her noch in Erinnerung hatte, war 80. Irgendwo zwischen dem 80. und dem 67. Deck lag der Ort, den ich suchte. Ich nahm mir vor, auf der Höhe des 74. Decks auszusteigen. Als ich die Ziffer 74 über mir auftauchen sah, bremste ich meinen Aufstieg, indem ich mit den Handflächen an den Haltestangen entlangstrich. Das war eine so automatische Bewegung, daß ich mich zu fragen begann,
Licht aus. Nur eine kleine rötliche Lampe in der Nähe des Ausgangs blieb brennen. Ich hatte in den vergangenen Stunden festgestellt, daß der Ausgang nicht bewacht war. Ich fragte mich, ob es schwierig sein würde, die Halle zu verlassen. Als ich hierhergebracht wurde, hatte ich gesehen, wie einer meiner Begleiter einfach vor die Tür hintrat und diese sich daraufhin von selbst öffnete. Das war von draußen gewesen. Würde es von innen ebenso leicht gehen? Innerhalb kurzer Zeit waren die Genossen rings um mich herum eingeschlafen. Ich erhob mich leise von der Pritsche und horchte einen nach dem andern ab. Sie atmeten tief und regelmäßig. Das bedeutete, daß sie schliefen. Ich kroch auf den Ausgang zu. Wenn ich mich dicht am Boden entlang bewegte, konnte mich niemand sehen. Es war möglich, daß der eine oder andere immer noch wach war. Ich hatte sie nicht alle abhören können. Ich glaubte zu wissen, daß niemand etwas gesagt hätte, selbst wenn ich bemerkt worden wäre. Aber es gab in meinem Bewußtsein eine Stimme, die mir einredete, daß es besser war, wenn mich niemand sah. Ich gehorchte dieser Stimme, ohne zu wissen, woher sie kam. Später lernte ich erkennen, daß es einer meiner Sinne war, der zu mir sprach, der Sinn für Gefahr, für Selbsterhaltung, der Sinn der Angst. Vor dem Ausgang richtete ich mich auf. Ich befand mich jetzt im Lichtkreis der roten Lampe. In diesem Augenblick war ich für jedermann, der die Augen offen hatte, deutlich zu sehen. Dann öffnete sich die Tür, und ich huschte hinaus. Auch draußen auf dem Gang war die Tagesbeleuchtung ausgeschaltet worden. Das graue Halbdunkel tat mir wohl. Die warnende Stimme in meinem Bewußtsein wurde schwächer. Ich konnte mich bewegen, ohne daß sie mich dazu zwang, mich jeden Augenblick umzusehen. Dabei wußte ich nicht, wonach ich mich eigentlich umsah. Ich glaubte nur ganz einfach zu wissen, daß mir Übles widerfahren würde, wenn man mich entdeckte. Ich war ziemlich sicher, daß die Menschen wollten, daß meine Genossen und ich die Halle nicht verließen, ohne dazu aufgefordert wor12
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Der andere sah sich um. Er blieb stehen. Als er seinem Nebenmann die Hand auf den Arm legte, schwieg dieser. Ich wußte nicht, warum der Mann stehengeblieben war; aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß er mich gesehen hatte. Ohne zu wissen, was ich tat, lief ich davon. Hinter mir rief einer der beiden Männer aufgeregt: »He! Stehenbleiben!« Ich bog in einen Seitengang ab. Nur einen Atemzug lang blieb ich stehen, um zu horchen. Die Schritte der beiden Männer kamen hinter mir her. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich kannte mich hier nicht aus. Wo ging es zum Antigravschacht zurück? Oder sollte ich eines der Schotte öffnen, die zu beiden Seiten in den Wänden des Ganges lagen? Ich rannte weiter. Wenige Sekunden später bemerkte ich, daß die beiden Männer immer noch hinter mir her waren. Sie hatten gesehen, daß ich zur Seite hin abgezweigt war. Ich vollführte eine weitere Schwenkung und bewegte mich jetzt wieder in der ursprünglichen Richtung. Aber das Geräusch der Schritte war immer noch hinter mir. Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Vor mir im Boden des Ganges tat sich plötzlich ein Loch auf. Ich wäre beinahe hineingestürzt. Im letzten Augenblick erst kam ich zum Stehen. Ein bleiches Gesicht starrte mich aus dem Loch herauf an. Ich sah einen dunklen Schädel und eine weiße Hand, die mir auffordernd zuwinkte. »Komm herein, Bruder!« sagte eine halblaute Stimme. »Aber schnell, sonst fassen sie dich!« Ich überlegte nicht lange, sondern sprang einfach in das Loch hinein. Es war ziemlich geräumig. Der Unbekannte und ich fanden darin bequem Platz. Er griff nach oben und brachte die Bodenplatte, die er zurückgeschoben hatte, wieder in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Als das geschehen war, sah ich in der Ferne ein helles Licht. Der Ort, an dem ich mich befand, war also nicht schlechthin ein Loch, sondern es gab einen Gang, der weiterführte. Der Unbekannte schritt vor mir her. Ich streckte von Zeit zu Zeit die Arme aus und berührte teils glatte Wände, teils die dicken Stränge von Kabeln, die nicht nur an
wie oft ich wohl schon durch solche Antigravschächte gefahren sein mochte. Dicht unterhalb des Ausstiegs hielt ich an und schob zuerst einmal den Kopf über den unteren Rand der Öffnung, um mich umzusehen. Die Umgebung war hier völlig anders als auf dem 67. Deck, wo ich zugestiegen war. Vor dem Ausstieg lag eine halbrunde freie Fläche, von der aus mehrere Gänge in verschiedenen Richtungen fortführten. Ich hörte ein helles Summen, das aus der Ferne kam. Menschen sah ich jedoch nicht. Das Deck war wie ausgestorben. Ich schwang mich durch den Ausstieg. Ich wollte wissen, woher das Summen kam. Maschinen summten. Vielleicht kam das Geräusch von dem Computer, den ich suchte. Vorsichtig drang ich in einen der Gänge ein. Das Summen wurde lauter. Gleichzeitig hörte ich ein lautes Pochen, das jedoch von mir selbst ausging. Es war mein Blut, das in harten, raschen Stößen durch die Adern gepumpt wurde. Das war eine Erkenntnis, die mir wie von selbst durchs Bewußtsein schoß. Woher ich die Vorgänge in meinem Innern kannte, das wußte ich nicht. Schon bald gelangte ich in ein Gewirr von Gängen und Quergängen, in dem ich den Weg zu verlieren drohte. Ich bewegte mich noch langsamer als bisher. Das ungewisse Dämmerlicht ließ jeden Gang gleich dem andern erscheinen. Ich bemühte mich, nur geradeaus zu gehen; aber manchmal war das nicht möglich, weil geradeaus kein Gang weiterführte. Zur Rechten und Linken gab es viele schmale Türen oder Schotte. Das Summen aber lag immer noch vor mir. Plötzlich hörte ich Stimmen. Die warnende Stimme war mit einemmal wieder laut und deutlich. Ich drückte mich gegen die Wand des Ganges, in dem ich mich gerade befand, und wartete. Schritte kamen näher, das typische schmatzende und quiekende Geräusch der Sohlen von Raumstiefeln, wie sie zur Standardausrüstung der Schiffsbesatzung gehörten. Wenige Meter vor mir überquerten zwei Männer meinen Gang. Sie sprachen miteinander. Ich hörte, wie der eine sagte: »Wenn sich nicht bald etwas tut, werden wir bald starten ...« 13
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »Aber, ich wollte doch ...«, versuchte ich zu protestieren. »Nichts aber! Sobald die Luft rein ist, morgen oder übermorgen nacht komme ich, um dich zu holen. Dann werden wir versuchen, ein paar Antworten auf deine Fragen zu finden.« Ich empfand das seltsame Bedürfnis, etwas für den Unbekannten zu tun, ihm einen Dienst zu leisten. Später lernte ich, daß dieses Bedürfnis eine Emotion war, eine nicht-logische Manifestierung meines Bewußtseins. Ich erfuhr auch, daß Emotionen den Menschen vorbehalten waren und Androiden sie normalerweise nicht empfanden. Diese besondere Emotion hieß Dankbarkeit. Aber das wußte ich im Augenblick noch nicht. »Wer ... bist du?« stotterte ich. »Und warum nimmst du dich meiner an?« Er lächelte. Es war, glaube ich, das erste Mal, daß jemand mich anlächelte. »Ich bin ein Androide wie du.« Und als er die Verwirrung in meinem Blick sah: »Was stört dich? Das Haar auf dem Kopf? Eine Perücke. Der Ausdruck in meinen Augen? Der kommt von selbst, wenn man selbständig zu denken und zu fühlen lernt. Ich heiße Einstein und bin den Menschen schon vor fünf Jahren durchgebrannt. Mittlerweile haben sie vergessen, daß es mich überhaupt je gab.« Er deutete auf den Gang, der jenseits der Kammer weiterführte. »Komm!« forderte er mich auf. »Ich bringe dich zurück.«
der Decke, sondern auch zu beiden Seiten dieses geheimnisvollen Ganges entlangführten. Das Licht wurde immer heller, und schließlich gelangten wir in eine kleine Kammer, die bis auf die Kabel, die sich unter der Decke und an den Wänden kreuzten, leer zu sein schien. Aus dem Kabelgewirr an der Decke ragte ein kleiner Beleuchtungskörper hervor, der provisorisch angebracht worden war. Auf der anderen Seite der Kammer führte der Gang weiter. Der Unbekannte blieb stehen, drehte sich um und musterte mich aufmerksam. Auch ich starrte ihn an. Er hatte dieselbe blaßweiße Hautfarbe wie ich, aber in seinen Augen leuchtete menschliches Feuer, und auf dem Kopf trug er eine Fülle von dunklem Haar. Es kam mir zu Bewußtsein, daß ich, wenn er mich nicht in das Loch herabgezogen hätte, den beiden Männern in die Hände gefallen wäre, die hinter mir her waren. Warum hatte er das getan? »Also noch einer«, murmelte er, nachdem er mich lang genug angesehen hatte. Ich verstand ihn nicht. »Was hast du dir dabei gedacht, nachts im Schiff umherzuspionieren?« fragte er mich. »Weißt du, was die Menschen mit Androiden tun, die sie beim Spionieren erwischen? Sie werfen sie in den Müllbrenner!« Androiden! War das unser Name? Das Wort beschäftigte mich so, daß ich die Sache mit dem Müllbrenner kaum beachtete. »Ich will wissen, wer ich bin, wozu ich da bin und warum ich anders bin als die übrigen ... Androiden«, antwortete ich auf seine erste Frage. Er nickte. Es fiel mir auf, daß er mich nicht Retortenengel oder Synthobaby nannte. »Wie heißt du?« wollte er wissen. »Algo.« »Also schön, Algo. Du kehrst jetzt auf dem schnellsten Wege in dein Quartier zurück. Ich werde dir den Weg zeigen. Dein Glatzkopf leuchtet so weit durch die Nacht, daß die beiden Kerle, die dir auf den Fersen waren, mit Blindheit geschlagen sein müßten, wenn sie nicht merken sollten, daß du ein Androide bist. In ein paar Minuten wird euer Quartier inspiziert. Bis dahin liegst du wieder auf deiner Pritsche.«
3. »Es ist zum Haareausreißen!« schimpfte Brado Tannach und warf ein Bündel Akten mit wütendem Schwung auf seinen Arbeitstisch. »Dieser Terlahe ist ein Pedant ersten Ranges, und solange er an der Spitze von AUSTRAP steht, werden wir um keinen Schritt vorwärtskommen.« »Was hat er jetzt schon wieder angestellt?« fragte Sergeant Lazear auf beiden Backen kauend. »Wir haben einen Mann festgenommen, der im Verdacht steht, an einem der Einbrüche in die große Organbank von New Taylor teilgenommen zu haben.« 14
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Tannach starrte ihn an. »Was heißt das?« wollte er wissen. »Androidischen Ursprungs!« »Die Organe sind Teile von Androiden.« »Na und? Unterscheiden sie sich dadurch von menschlichen Organen?« Reng Lazear seufzte. »Ich glaube, ich muß Ihnen erst mal den Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien intelligenten Lebens klarmachen, wie?« »Ja, tu das!« »Gut. Es gibt, was den Terraner und seine Umgebung anbelangt, drei verschiedene Sorten selbständigen intelligenten Lebens. Am einen Ende des Spektrums steht der natürlich gewachsene Mensch, zumeist Homo sapiens, auf einigen Siedlerwelten, siehe Ertrus, jedoch bereits zu neuen Arten mutiert. Aber selbst in der Klasse des natürlich gewachsenen Menschen gibt es, abgesehen von Mutationen, wesentliche innere Unterschiede. Um nur einen zu nennen: Nur die wenigsten Kinder kommen heute noch aus dem Leib der Mutter zur Welt. Sie unterscheiden sich sicherlich von den Kindern, die ihr Leben extrauteriner Keimung verdanken und ihr Embryodasein im Brutgehege verbracht haben. Schön, soweit also der natürlich gewachsene Mensch. Am anderen Ende des Spektrums steht der autarke Roboter, ein künstliches, zumeist anorganisches Gebilde, in dessen Adern kein Blut, sondern elektrische Ströme fließen. Sattsam bekannt, nicht wahr? Mitten zwischen beiden befindet sich der Androide. Obwohl er in biologischer Hinsicht dem natürlich gewachsenen Menschen wesentlich nähersteht als dem Robot, ist er diesem jedoch in geistigen Belangen ungleich näher verwandt. Der Androide entsteht ebenfalls aus extrauteriner Keimung, jedoch sind die beiden Keimzellen nicht natürlicher Herkunft, sondern synthetisch erzeugt. Warum macht man sich solche Mühe? Weil man auf diese Weise die Zusammensetzung der Gene, die das Verhaltensmuster des Androiden bestimmen, fast bis ins Letzte kontrollieren und je nach Wunsch gestalten kann. Die androidische Genkonstitution bestimmt zum Beispiel, daß der Androide keine Emotionen
»Prima!« schrie Lazear begeistert. »Und ...?« »Er hat die Staatszugehörigkeit von Almirant«, antwortete Tannach und verzog dabei das Gesicht, als sei es etwas ganz und gar Ungehöriges, ein Bürger von Almirant zu sein. »Eine Welt dieses Namens ist nirgendwo verzeichnet. Wahrscheinlich ist Almirant ein Name, den die Siedler ihrem Planeten selbst gegeben haben, und der richtige Name lautet ganz anders. An den richtigen Namen will sich dieser Kerl jedoch nicht erinnern, und auch seine Papiere tragen nur die Bezeichnung Almirant. Der Mann müßte so rasch wie möglich verhört werden. Aber er ist ein Ausländer, und nach plophosischem Gesetz darf sich bis auf die Festnahme selbst, die Polizei erst mit dem Mann befassen, wenn seine diplomatische Vertretung oder, falls es eine solche nicht gibt, seine Regierung über seine Festnahme und die Gründe dazu informiert worden ist.« »Und an dieses Gesetz gedenkt Terlahe sich zu halten, wie?« mutmaßte Reng Lazear. »Genau!« stieß Tannach hervor. »Zunächst läuft eine Computersache vom Stapel, damit man erfährt, welche Welt sich hinter dem Namen Almirant verbirgt.« »Ich sehe nicht, wie Sie Terlahe daraus einen Vorwurf machen können«, meinte Lazear. »Schließlich hält er sich nur ans Gesetz.« »Ach, halt den Mund!« fuhr Tannach ihn an und ließ sich in den Sessel hinter seinem Arbeitstisch fallen. Reng Lazear schob sich einen honiggelben Pralinenriegel in den Mund und kaute nachdenklich darauf herum. Erst nach ein paar Minuten sagte er: »Inzwischen hat die Analytische Abteilung etwas Neues entdeckt.« Er sagte es beiläufig, als messe er der Entdeckung keine große Bedeutung bei. Das war die beste Methode, Brado Tannachs Aufmerksamkeit zu wecken. Er saß plötzlich kerzengerade in seinem Sessel. »Was?!« wollte er wissen. »Spuck's schon aus, Mann!« »Die ausgetauschten Organe«, erklärte Reng Lazear, »sind ohne Ausnahme androidischen Ursprungs.« 15
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden das nicht ein biologisches Kennzeichen nennen. Die Leere des Blicks ist nur eine Folge der Abwesenheit von Emotionen. Sie verstehen?« Brado Tannach fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Sekundenlang starrte er vor sich hin auf den Schreibtisch. »Die untergeschobenen Organe stammen also von Androiden«, resümierte er Reng Lazears ursprüngliche Feststellung. »Warum hat man das jetzt erst festgestellt?« »Weil es nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Menschliche Organe, die Wochen oder Monate im Nährtank einer Organbank liegen, sind ebenfalls albinotisch weiß und besitzen keinen Haarwuchs mehr. Pigment und Haarkeimfähigkeit machen sich erst nach der Einpflanzung des Organs in den Körper des Patienten bemerkbar. Dabei spreche ich selbstverständlich nur über solche Organe, die überhaupt normalerweise Pigment und Haarwuchs enthalten, also solche Organe, die mit einer Haut umgeben sind. Bei inneren Organen wie Herz, Leber, Niere und so weiter wird die Sache noch komplizierter. Man muß die innerste Struktur der Gewebezelle analysieren, um zu erfahren, ob das Organ von einem Menschen oder einem Androiden stammt.« Wieder entstand eine Pause der Nachdenklichkeit. »Bringt uns das weiter?« fragte Brado Tannach schließlich. »Es ist ein wichtiger Hinweis«, antwortete Lazear ausweichend. »Irgendwo in der Galaxis scheint es eine Fabrik zu geben, die Androiden herstellt und mit Kaschkarits präpariert, um sie später wieder auseinanderzuschneiden und die Einzelteile in plophosischen Organbanken unterzubringen.« Tannach verzog angewidert das Gesicht. »Häßlicher geht's wohl kaum noch«, brummte er. Er starrte vor sich hin. Plötzlich schien ihm eine Idee zu kommen. »Man sagt, der Mensch hat eine Seele. Der Robot, behauptet man, hat keine. Der Androide steht in der Mitte. Was hat er? Eine halbe Seele?« Reng Lazear warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und antwortete, ohne sonderlichen Respekt: »Überlaß es dem Herrn Hauptmann, sich die dämlichsten Fragen auszudenken! Woher
empfinden kann. Sie läßt das Gehirn zu einem Gebilde erwachsen, das durch suggestive Impulse von außen programmiert werden kann. Ein Androide ist unfähig, aus Erfahrung zu lernen – das ist nicht etwa ein Fehler des Verfahrens, sondern pure Absicht. Man muß ihm eine Erfahrung einpflanzen. Und so weiter. Sie sehen, das Androidengeschäft ist ein schmutziges Geschäft und wird deswegen von den Regierungen aller Welten des Solaren Imperiums, einschließlich der Regierung in Terrania-City selbst, scharf kontrolliert. In biologischer Hinsicht unterscheidet sich, wie ich schon sagte, der Androide kaum vom natürlich gewachsenen Menschen. Es gibt nur wenige allerdings gewichtige Punkte, in denen Unterschiede festgestellt werden können. Nummer eins: Der Androide kennt den Selbsterhaltungstrieb ebensowenig wie den Fortpflanzungstrieb. Er besitzt zwar, nach außen hin männliche oder weibliche Genitalien, ist in Wirklichkeit jedoch ungeschlechtlich. Nummer zwei: Die Forschung hat erkannt, daß gewisse Eigenschaften die man den Genen einpflanzt, einander ausschließen. Keimzellen, die derartige Genzusammenstellungen enthalten, sind unfruchtbar. Das Beispiel hinkt ein wenig: Man hat ähnliches schon in grauer Vergangenheit am Menschen festgestellt. Zwei Keimzellen, eine männlich, eine weiblich, die beide als dominantes Erbmerkmal die Bluterkrankheit tragen, können sich nicht fruchtbar vereinigen. Bei der künstlichen Genmanipulation sind es Kombinationen innerhalb einer, nicht zweier, Keimzellen, die die Fruchtbarkeit verhindern. So zum Beispiel können die Merkmale ›Emotionslosigkeit‹ und ›Haarwuchs‹ nicht nebeneinander existieren. Da man bei den Androiden selbstverständlich auf die Emotionslosigkeit mehr Wert legte als auf den Haarwuchs, sind alle Androiden haarlos. Ein zweites unverträgliches Paar von Merkmalen sind ›Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen‹ und ›Pigment‹. Wiederum ist der erste Konstituent der wichtigere. Androiden sind also grundsätzlich Albinos. Wen das stört, der kann die Haut und die Iris des Androiden künstlich einfärben. Nummer drei: Androiden haben grundsätzlich einen leeren Blick. Allerdings sollte man 16
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden der Beleuchtung erwacht. Ich jedoch hielt die Augen geschlossen und täuschte den Schlafenden vor. Ich hörte, wie sich Schritte meiner Pritsche näherten. Ich spürte, wie jemand vor mir stehenblieb. Ich bekam einen Stoß in die Seite, und eine scharfe Stimme sagte: »Wach auf, du Mißgeburt! Es ist doch unmöglich, daß du bei diesem Lärm und soviel Licht noch schläfst!« Ich öffnete die Augen und starrte zur Decke hinauf. Die Furcht pochte mir in den Schläfen. Ich hatte Einsteins Augen gesehen. Sie blitzten und funkelten wie die eines Menschen. War das auch bei mir der Fall? Ich konzentrierte mich darauf, so leer wie möglich zu blicken. Aus den Augenwinkeln erkannte ich den Kleinen, Schmächtigen mit dem großen Kopf. Er musterte mich kurz dann schritt er weiter. Ich blieb reglos liegen. Kurze Zeit später hörte ich jemand rufen: »Alle vollzählig!« Und gleich darauf die Stimme des Kleinen: »Hört mal alle her, ihr Ersatzpuppen! Einer von euch hat sich in dieser Nacht aus der Halle entfernt und wurde oben auf dem vierundsiebzigsten Deck gesehen. Ich möchte wissen, wer das war, und wenn er sich schon nicht selbst melden will, dann soll mir einer von den anderen sagen, ob er gesehen hat, wie vor kurzem einer von euch diesen Raum verließ. Na, wird's bald?« Ich hielt den Atem an. Es war eine unwillkürliche, instinktive Reaktion. Ich wußte nicht, warum ich es tat. Als eine halbe Minute vergangen war, ohne daß sich jemand gemeldet hatte, ließ ich den aufgestauten Atem vorsichtig zwischen den Lippen hindurch entweichen. Es hatte mich niemand gesehen. Nur das konnte es bedeuten. Denn wenn jemand mich beobachtet hätte, dann hätte er nicht gezögert, es dem kleinen Schmächtigen zu sagen. Das schien der Kleine ebenfalls einzusehen. »Na schön, ihr seid eben alle Dummköpfe!« rief er mit schneidender Stimme. »Ab sofort steht diese Halle unter Bewachung. Wehe, es verläßt einer von euch ohne Erlaubnis diesen Raum!« Danach zogen die Männer ab. Der Ausgang schloß sich hinter ihnen und wenige Augen-
soll ich das wissen? Bin ich ein Polizist oder ein Pfarrer?« * Einstein verlor keine Zeit. Mir voran kroch er durch Kabelstollen und turnte endlos lange Schächte hinab. Er nahm keine Rücksicht darauf, daß ich eine solche Art der Fortbewegung nicht gewöhnt war. Immer von neuem wies er darauf hin, daß ich wieder im Androidenquartier sein müsse, wenn die Inspektion stattfand. Ich rutschte ein paarmal ab und drohte zu stürzen. Aber Einstein schien darauf gefaßt zu sein und fing mich ab. Ich hatte längst jede Orientierung verloren, als Einstein schließlich in einen schmalen Stollen hineinkroch und nach etwa fünfzig Metern eine Deckplatte vorsichtig zu heben begann. Zuvor hatte er die Lampe ausgeschaltet, die er an seinem Gürtel trug und die uns bis hierher geleuchtet hatte. »Alles in Ordnung!« flüsterte er. »Hinaus mit dir! Achte auf diese Platte. Morgen oder übermorgen bin ich wieder hier, um dich zu holen!« Er kroch zur Seite und ließ mich durch die Öffnung klettern. Es war kaum zu glauben, aber er hatte mich genau zum Androidenquartier gebracht. Nur wenige Meter entfernt stand die Pritsche, auf der ich den ganzen Tag über gelegen hatte. Ich kroch zu ihr hin. Rückwärts blickend, sah ich, wie sich die Deckplatte wieder schloß. Meine Nachbarn schliefen ohne Ausnahme. Unbemerkt erreichte ich meine Liege und streckte mich darauf aus. Einstein hatte recht: Kurze Zeit später wurde die Halle inspiziert. Die beiden Männer, vor denen ich auf dem 74. Deck geflohen war, hatten schließlich die Erfolglosigkeit ihrer Jagd eingesehen und Alarm geschlagen. Das Licht flammte plötzlich auf. Die Tür öffnete sich, und eine Gruppe von Menschen trat ein. Einer fiel mir besonders auf. Er war klein und schwächlich gebaut, hatte jedoch einen unnatürlich großen, haarlosen Schädel. Seine Augen blitzten zornig und die Lippen hielt er zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. Die Männer verteilten sich und schritten die Reihen der Liegen entlang. Die meisten Androiden waren beim Aufflammen 17
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden chung. An jedem Ausgang stehen zwei Wachen«, erklärte Kinke Seiblad, den das Thema zu langweilen begann. »Ein zweites Mal wird dieser Fall nicht vorkommen.« Amlor Petrefa entließ ihn mit einer winkenden Handbewegung. Seiblad hatte den kostbar eingerichteten Raum kaum verlassen, da stand Petrefa auf und begab sich zu einem kleinen Safe, der in die Seitenwand eingearbeitet war. Eine komplizierte Handbewegung veranlaßte den optischen Servo, die Tür des Safes zu öffnen. Ein Behälter kam zum Vorschein, in dem in trüber, gelblicher Flüssigkeit ein faustgroßes Stück Protoplasma schwamm. Vor dem Behälter war eine Batterie elektronischer Mikrogeräte aufgebaut. Eines davon war ein Mikrophon. »Es besteht der Verdacht, daß einer der präparierten Androiden im Begriff ist, sich selbständig zu machen«, sagte Amlor Petrefa laut und mit übertrieben deutlicher Aussprache. »Wir sind nicht in der Lage, ihn zu identifizieren. Können Sie helfen?« Als er geendet hatte, begann das Protoplasma-Stück, sich zu verfärben. Es war bisher von eintönig blassem Grau gewesen. Jetzt jedoch nahm es eine grelle, orangerote Färbung an. Es war in Tätigkeit getreten. Es verwandelte die elektronischen Impulse, die das Mikrophon an die gelbe Nährflüssigkeit weiterleitete, in telepathische Signale und sendete diese an den Unbekannten den Amlor Petrefa schlechthin »die Macht« nannte. So wenigstens verstand Petrefa den Vorgang. Die Macht ihrerseits würde mit telepathischen Impulsen antworten, die der Protoplasma-Klumpen in elektronische Signale übersetzte, die durch den neben dem Mikrophon montierten Lautsprecher zu hören waren. Der Klumpen wurde wieder grau. Die Übertragung war beendet. Amlor Petrefa wartete geduldig. Die telepathische Übermittlung erfolgte durch den Hyperraum. Sie war nicht gänzlich zeitverlustfrei, und zudem brauchte die Macht wahrscheinlich Zeit zum Nachdenken. Als der Klumpen sich wieder zu verfärben begann, waren beinahe fünf Minuten verstrichen. »Hilfe ist vorläufig unmöglich«, sagte eine seelenlose Stimme aus dem Lautsprecher. »Der Androide kann von hier aus nicht ohne weiteres identifiziert werden. Liefern Sie nä-
blicke später erlosch die Beleuchtung. Nur das rote Notlicht in der Nähe der Tür blieb brennen. Die Androiden fielen wieder in Schlaf, als sei nichts geschehen. Mir aber pumpte das Herz bis zum Hals hinauf. * »Es ist natürlich denkbar, daß die beiden Narren sich versehen haben und daß es gar kein Androide war«, wagte Kinke Seiblad vorzuschlagen. »Wer soll es sonst gewesen sein?« grollte Amlor Petrefa und schürzte die Lippen. »Ein Mitglied der Besatzung? Warum wäre der Mann dann davongelaufen?« »Oder ein Zirkusbesucher, der sich unerlaubt in die oberen Decks eingeschlichen hat.« »Quatsch! Der wäre längst vorher abgefangen worden«, wischte Petrefa den Einwand beiseite. »Warum hängst du überhaupt so krampfhaft an der Idee, daß es kein Androide gewesen sei?« »Würde ein Androide so etwas tun?« beantwortete Kinke Seiblad die Frage mit einer Gegenfrage. »Androiden tun nichts Unvorhersehbares. Ich nehme an, daß Sie dem Kerl, der heute nacht auf dem vierundsiebzigsten Deck gesehen wurde, so etwas wie Neugierde als Motiv anhängen wollen. Androiden kennen keine Neugierde.« »Normalerweise nicht«, gab Amlor Petrefa zu. »Aber es gibt Versager. Es gibt Fehlprogrammierungen. Die Leute, die die Androiden erzeugen, sind nicht unfehlbar. Auch ihnen unterlaufen Irrtümer. Ich erinnere mich an den Fall eines Androiden, der sich vor rund fünf Jahren ereignete. Damals warst du noch nicht bei uns. Der Kerl hieß Einstein. Eines Tages war er plötzlich verschwunden. Niemand sah ihn gehen, niemand hatte eine Ahnung, wohin er verschwunden war. Er hinterließ keine Spur. Nicht einmal eine blutige Schnauze bei einem der Tiere, das ihn gefressen haben könnte. Meiner Ansicht nach war bei Einstein ein Fehler in der Programmierung unterlaufen. Er hatte einen freien Willen – aus Versehen. Als er gelernt hatte, ihn zu gebrauchen, machte er sich aus dem Staub.« »Nun, wir haben die Halle unter Bewa18
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden und Haltung von wilden Tieren in der Vergangenheit befaßte. Dort hatte er gelesen, daß noch vor neunhundert Jahren in den zoologischen Gärten der Erde die großen Schlangen mit lebendem Getier, zumeist Kaninchen, gefüttert wurden. Das hatte ihn beeindruckt. Er hatte sich eine Ladung Kaninchen besorgt und seitdem erhielt seine Lieblingsschlange jeden Tag ein lebendiges Tier als Leckerbissen vorgesetzt. Bei der Fütterung war Kinke Seiblad jedesmal zugegen. Das Schauspiel faszinierte ihn. Im Vergleich zu dem Kaninchen war die Schlange ein primitives Tier. Nichts reizte ihn mehr als zu beobachten, wie die primitive Bestie das Opfer unter den Bann ihres hypnotischen Blicks zwang, so daß es sich nicht mehr zu rühren vermochte. Es erfüllte ihn mit Begeisterung, zu sehen, wie die Schlange, während sie sich immer näher heranschob, den Rachen weit aufriß und das hilflose Kaninchen schließlich mit Haut und Haar verspeiste. Minutenlang danach saß er noch da und beobachtete, wie der Klumpen, den der Kaninchenkörper im Leib der Schlange bildete, mit ruckenden Schluckbewegungen immer tiefer und tiefer in den Schlangenleib hinabglitt. Manchmal fragte er sich, ob er hier vielleicht das Ideal seines Lebens symbolisiert sehe: den Sieg des Primitiven über das Hochentwickelte. Heute jedoch hing er solchen Gedanken nicht nach. Er wartete kaum, bis die Schlange ihr Opfer verschlungen hatte. Er hatte sich plötzlich an etwas erinnert: an den Blick des Androiden, der vorhin, bei der Inspektion, zu schlafen vorgegeben hatte, obwohl er bei all dem Lärm und der grellen Helligkeit der Deckenbeleuchtung längst hätte erwacht sein sollen. Der Blick! Die Augen von Androiden waren stumpf und leer. Sie reflektierten den völligen Mangel an Gefühlen, der für Androiden typisch war. Nicht jedoch in diesem Fall. Der Androide hatte zur Decke hinaufgestarrt, aber dennoch glaubte Kinke Seiblad, in seinem Ausdruck ein Gefühl beobachtet zu haben, die Reflexion der Furcht.
here Angaben!« »Ich habe keine«, antwortete Petrefa verdrossen. »Sobald ich damit aufwarten kann, melde ich mich wieder. Ende.« Er machte mit der rechten Hand ein Zeichen, das die Umrisse eines sechseckigen Sterns zu haben schien. Die Safetür schloß sich selbsttätig. Inzwischen war Kinke Seiblad zu den Tierkäfigen hinabgestiegen und hatte einen der Wärter aus dem Schlaf geweckt. »Füttere meine Schlange!« befahl er. Der Mann, noch halb verschlafen, wagte zu protestieren. »Aber sie hat erst vor ein paar Stunden gefressen! Erinnern Sie sich? Sie waren dabei!« »Dann nimm eine andere Schlange!« fauchte Seiblad ihn an. »Noch ein Widerwort, und du wirst selbst verfüttert!« Der Wärter schlurfte davon. Kinke Seiblad trat in den Gang, der die Käfige der Schlangen enthielt, und schaltete die Beleuchtung ein. Die trägen Tiere rührten sich nicht. Ein penetranter Gestank erfüllte den Raum. Vor einem der Käfige stand ein Stuhl: Kinke Seiblads Stuhl. Er zog ihn heran und setzte sich. Nach einer Weile öffnete sich die Hintertür eines der Käfige. Der Wärter erschien. Er trug einen kleinen Korb, dessen Deckel er öffnete. Von Panik erfüllt, sprang ein weißes Kaninchen daraus hervor und hoppelte in den hintersten Winkel des Schlangenkäfigs. Die rückwärtige Tür schloß sich wieder. Der Wärter war verschwunden. Kinke Seiblad rückte den Stuhl vor den Käfig, in dem das weiße Kaninchen inzwischen bemerkt zu haben schien, daß nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Auch die Schlange war munter geworden. Der mächtige Kopf hob sich, und die gespaltene Zunge fuhr hin und zurück, hin und zurück in Richtung des potentiellen Opfers. Seiblad ließ sich keine Bewegung entgehen. Die Schlange war nicht sein Lieblingstier. Sie war kleiner und weniger geschmeidig. Aber das Schauspiel, das sie bot, war trotzdem unbezahlbar. Schlangen gehörten zur Standardausstattung eines jeden Zirkus. Normalerweise wurden sie mit billigster synthetischer Nahrung gefüttert. Eines Tages jedoch war Kinke Seiblad auf einen Bericht gestoßen, der sich mit der Aufzucht 19
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Menschen und Androiden. Er drückte sich dabei so einfach wie möglich aus. Aber wenn er merkte, daß in meinem Bewußtsein schon grundlegende Kenntnisse vorhanden waren, wechselte er in die Fachsprache über. Er selbst war knapp zwanzig Jahre alt. Eine der programmierten Eigenschaften der Androiden ist, daß sie den Lebensabschnitt der Kindheit im Eiltempo durchmessen und im Alter von drei Jahren schon erwachsen sind. Seit jener Zeit führte Einstein eine Zeitrechnung. Es waren seitdem sechzehn Jahre vergangen, also schätzte er sein Gesamtalter auf neunzehn. Es war ihm früh bewußt geworden, daß er sich von anderen Androiden unterschied. Später, als er den Menschen entkommen war und das Schicksal der Androiden zu erforschen begann, hatte er begriffen, daß in seinem Fall ein schwerwiegender Programmierfehler unterlaufen sein müsse. Er war weder frei von Emotionen noch unfähig, aus der Erfahrung zu lernen. Er war, was sein Bewußtsein anging, ein Mensch. Er hatte seinen Ausbruch sorgfältig vorbereitet. An Geduld mangelte es ihm nicht. Elf Jahre lang hatte er mit anderen Androiden zusammen in diesem Raumschiff gelebt. Mit den anderen zusammen war er im Zirkus aufgetreten und hatte Darbietungen gezeigt, die den Androiden vorbehalten blieben, weil sie zu halsbrecherisch waren. Er hatte gesehen, wie Artgenossen, die Unfälle erlitten, abgeschleppt und vernichtet wurden. Immer stärker empfand er das Bedürfnis nach Rache, mit immer peinlicherer Genauigkeit achtete er darauf, bei den Darbietungen im Zirkus ebenso wie bei seinen nächtlichen Erkundungsreisen durch das Zirkus-Raumschiff sich streng an die Vorsichtsmaßnahmen zu halten, so daß er weder einen Unfall erlitt noch seine heimliche Betätigung entdeckt wurde. Vor fünf Jahren hatte er den Sprung in die Freiheit gewagt. »In diesem Raumschiff gibt es in Wirklichkeit zwei Welten«, erklärte er mir. »Die eine ist die der Decks, der Gänge, der Wohn- und sonstigen Räume und der Antigravschächte. Die andere ist die der Kabelstollen und der Belüftungsschächte. In dieser zweiten Welt hatte ich mich auf meinen nächtlichen Aus-
4. In der nächsten Nacht kam Einstein nicht. Fast die ganze Nacht über lag ich wach und starrte auf die Stelle, wo die Bodenplatte sich bewegen würde, sobald Einstein erschien. Am darauffolgenden Tag fühlte ich mich müde und zerschlagen und schlief ziemlich viel. Das Leben im Androidenquartier verlief so eintönig wie eh und je. Kaum ein Wort wurde gesprochen. Abgesehen von den Essenszeiten lagen meine Artgenossen auf den Pritschen und starrten aus leeren Augen zur Decke hinauf. Ich fragte mich, ob der Kleine mit dem großen Schädel den Vorfall der vorvergangenen Nacht schon vergessen habe. Draußen vor der Tür standen, wie ich gegen Abend feststellte, zwei Posten. Sie schienen sich zu langweilen. Die zweite Nacht war kaum eine Stunde alt, da begann die Bodenplatte sich zu bewegen. Ich glitt vorsichtig von meiner Liege. Aus der Öffnung im Boden erschien Einsteins blasses Gesicht. Er half mir in den Kabelstollen hinab. Die Platte wurde geschlossen. Einstein hatte seine Lampe dabei. Wir kletterten, soweit ich erkennen konnte, denselben Weg zurück, den wir vorgestern genommen hatten. An einer Stelle allerdings mußten wir, ohne daß ich es bemerkte, abgebogen sein; denn wir gelangten schließlich in eine Kammer, die wesentlich umfangreicher war als die, die ich zwei Nächte zuvor gesehen hatte. Es gab da eine gepolsterte Pritsche, einen Tisch mit zwei Stühlen und an der Wand entlang aufgereiht, Einsteins Proviantvorräte. »Hier lebe ich«, erklärte mein Artgenosse. In den vergangenen zwei Tagen hatte ich Zeit genug gehabt, mir Gedanken zu machen. Einer davon beschäftigte mich besonders. »Warum lebst du hier?« fragte ich Einstein. »Du bist seit fünf Jahren frei, und immer noch hältst du dich in diesem Raumschiff verborgen?« Er nahm die Frage überaus ernst. »Ich suche nach Antworten«, erklärte er. »Viele habe ich schon; aber solange ich nicht auch die letzte gefunden habe, muß ich hierbleiben.« Und dann begann er zu erzählen. Zunächst erklärte er mir den Unterschied zwischen 20
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden man sie dem Speichergerät nicht anvertrauen wollte. Er mußte sie sich anderswo beschaffen. Und sobald ihm das gelungen war, würde er mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit treten und seine Rache an den Menschen vollenden, indem er die Besatzung der ORBAG MANTEY entlarvte. »Das«, sagte er nach einer langen Pause, »ist meine Geschichte. Und nun zu deiner.« Ich berichtete, was ich über mich wußte. Von meinem ersten Leben, das in gänzlich anderen Bahnen verlaufen war als das jetzige. Von den beiden Operationen, denen man mich unterzogen hatte: eine, um mir das Herz aus dem Leib zu schneiden und die andere, um mir es wieder einzusetzen. Und von den Gedanken, die ich mir gemacht hatte. »Auch du bist also präpariert«, sagte Einstein überrascht. Ich erschrak. »Du meinst ...« »Dein Herz enthält ProtoplasmaKügelchen«, unterbrach er mich. »Es wurde in einer Organbank untergebracht und anscheinend dort auch verwendet. Es muß jedoch etwas dazwischengekommen sein. Der Patient starb, oder das neue Herz verfehlte seinen Zweck. Jedenfalls brachten die Leute von der ORBAG MANTEY das Herz wieder an sich, und man setzte es dir von neuem ein.« Das klang plausibel. Nur, wie konnte es sein, daß ich trotz der Kügelchen noch immer meinen freien Willen besaß, und den sogar in einem wesentlich höheren Maß als andere Androiden? Auch Einstein wußte darauf keine Antwort. »Ich kann nur mutmaßen«, sagte er. »Dein erstes Leben verlief wie das jedes anderen präparierten Androiden. Erst nachdem dir dein Herz zurückgegeben wurde, fingst du an, dich von den anderen zu unterscheiden. Es muß also von vornherein in deiner Programmierung – ebenso wie in meiner – einen schwerwiegenden Fehler gegeben haben, der zunächst jedoch nicht zur Wirkung kam. Erst als man dir dein Herz zurückgab, machte der Fehler sich bemerkbar. Du warst plötzlich zu selbständigem Denken befähigt. Mehr noch: Die Protoplasma-Kügelchen hatten ihren Einfluß auf dich verloren. Du fragst, warum?
flügen jahrelang umgesehen. Ich hatte mich mit ihr vertraut gemacht. Ich kannte sie.« In dieser Kammer richtete er sich sein Versteck ein. Er traf die Wahl nicht ohne Vorbedacht. Die Kammer befand sich unmittelbar unter dem Rechenzentrum des ZirkusRaumschiffs. Die meisten der Kabel, die unter der Decke verliefen, standen unmittelbar mit dem Bordrechner in Verbindung. Einstein hatte in den Jahren, in denen er sich auf die Flucht vorbereitete, viel gelernt. Er wußte, wie man die Kabel anzapfen mußte, um an die Informationen zu gelangen, die in den Speichern des Rechners aufbewahrt waren. Ein Jahr verging, bis er so weit war, daß er dem Rechner die ersten Fragen stellen konnte. Seitdem hatte er nicht aufgehört zu fragen. Aber die letzten Antworten waren, wie er sagte, noch immer nicht gefunden. Zum Zeitpunkt seiner Flucht, also vor etwa fünf Jahren, hatte der Eigentümer des ZirkusRaumschiffs eine Geschäftsverbindung mit einem Unbekannten aufgenommen. Seit jener Zeit versah die ORBAG MANTEY ihre eigentliche Funktion nur noch nach außen hin. In Wirklichkeit wurde sie zum Transporter präparierter Androiden, die am Zielort, nämlich Plophos, auseinandergeschnitten wurden, so daß man die Einzelteile in verschiedenen Organbanken unterbringen konnte. Einstein wußte nicht, wo der Ort war, an dem die Androiden hergestellt wurden. Er wußte auch nicht, welchem Zweck dieses neue Unternehmen diente. Er kannte den Unbekannten nicht, und über die Art der Präparierung der Androiden war er sich ebenfalls im unklaren. Er wußte nur, daß in die Organe, die später zur Verteilung an die Organbanken gelangten, winzige Kügelchen aus Protoplasma eingebettet wurden. Es war ihm auch bekannt, daß die präparierten Androiden infolge der Kügelchen den letzten, armseligen Rest ihres freien Willens verloren und einer fremden Macht hörig wurden, die sie nach Belieben steuern konnte. Er war mittlerweile zu der Überzeugung gekommen, daß die Antworten auf die übrigen Fragen nicht im Speicher des Bordrechners gefunden werden konnten. Wahrscheinlich waren sie für den Besitzer der ORBAG MANTEY oder seinen unbekannten Geschäftspartner von kritischer Natur, so daß 21
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Bord des Zirkus-Raumschiffs geschah! Ich trug Einstein meine Absicht vor. »Du kannst es wagen; aber du wirst nicht viel Erfolg haben«, antwortete er. »Menschen haben die merkwürdige Angewohnheit, den Aussagen eines Androiden nicht viel Gewicht beizumessen.« Er wirkte nachdenklich. »Aber so ließe es sich vielleicht machen«, sagte er plötzlich und sprang auf. Er kramte ein paar Augenblicke lang unter seinen Vorräten herum und kam schließlich mit einer Perücke wieder zum Vorschein. Er setzte sie mir auf den Schädel zog und drückte daran herum, bis sie den richtigen Sitz hatte, und trat schließlich zurück, um sein Werk zu begutachten. »Wirkt natürlich«, sagte er. »Haar auf dem Kopf, Feuer in den Augen. Das wird die Leute glauben machen, daß du ein Mensch seist.« »Du meinst ... ich kann die Perücke behalten?« stieß ich hervor, vor Freude stotternd. Er nickte. »Solange du noch an Bord bist, wirst du sie unter deiner Kleidung verbergen müssen. Und jetzt laß uns beraten, was du zu tun hast, sobald du die ORBAG MANTEY verläßt.«
Womöglich hat dein Herz, während es in der Brust des Unbekannten schlug, eine Wandlung erfahren. Vielleicht wurde es emotionell aufgeladen. Wer mag das wissen? Wen kümmert es? Du bist frei, das ist die Hauptsache. Die fremde Macht kann dir nichts anhaben. Es sei denn ...« Er zögerte. »Es sei denn – was?« wollte ich wissen. »Es gibt zwei Weisen, wie die fremde Macht dich beeinflussen kann«, antwortete er. »Die eine ist die Steuerung deines Bewußtseins über die Kügelchen. In der Fachsprache nennt man das paratelepathisch-suggestive Lenkung. Die zweite Weise ist mir unbekannt. Ich kenne nur ihren Namen. Man nennt sie den ›piezomotorischen Schluß‹ und spricht davon, daß sie nur im Katastrophenfall angewendet werden darf. Was man sich darunter vorzustellen hat, weiß ich nicht. Und natürlich auch nicht, ob du auch dagegen immun bist.« Das gab mir zu denken. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, ein völlig freies Wesen zu sein. Selbst der unterbewußte Zwang, den Befehlen der Menschen unbedingt zu gehorchen, den ich noch vor wenigen Tagen deutlich gespürt hatte, war inzwischen gewichen. Einsteins Erklärungen jedoch ließen die Dinge in einem neuen Licht erscheinen. Es war denkbar, daß die fremde Macht doch noch einen Einfluß auf mich auszuüben vermochte. Die Vorstellung war mir unangenehm. »Was jetzt?« fragte Einstein nach einer Weile. »Was hast du vor?« Ich hatte daran noch nicht gedacht. Ich hatte erwartet, daß es geraume Zeit dauern würde, bis ich meine Neugierde über das eigene Schicksal und das der Androiden überhaupt befriedigen könnte. Dabei war es so schnell gegangen. Den Androiden geschah Unrecht. Ich gebrauchte den Begriff ohne Zögern. Vor drei Stunden war er mir noch unbekannt gewesen; ich hatte ihn von Einstein gelernt. Diesem Unrecht mußte vorgebeugt werden. Es waren nicht die Menschen schlechthin, die sich den Androiden gegenüber schuldig machten. Es war die Besatzung der ORBAG MANTEY, und vielleicht selbst von dieser nicht einmal alle Mitglieder. Man mußte die Welt aufmerksam machen auf das, was an
* Es hatte Kinke Seiblad keine Ruhe gegeben: Mitten in der Nacht schlich er sich mit zwei Mann Begleitung ins Quartier der Androiden. Diesmal wurde die Beleuchtung nicht eingeschaltet. Er erinnerte sich noch genau an den Standort der Pritsche, auf der der Androide mit den ängstlichen Augen gelegen hatte. Als er sich ihr näherte, sah er, daß sie leer war. Er schritt vorsichtig eine Pritschenreihe nach der andern ab und zählte. Er kam auf vierundsechzig. Einer der Androiden fehlte. Sein Verdacht hatte sich also bestätigt. »Ich möchte wissen, wohin der Bursche verschwunden ist«, knirschte Seiblad wütend. »Wir brauchen nur zu warten, bis er zurückkommt«, schlug einer der Begleiter vor. »Dann können wir ihn ja fragen.« »Es gibt hier Dutzende von Kabel- und Belüftungsschächten, die durch die Wände, die Decke und den Boden verlaufen«, meinte der 22
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden schwand in der Finsternis des Kabelstollens. Der andere nahm den Bewußtlosen auf und bettete ihn auf seine Liege. Eine Viertelstunde verging; dann kehrte der Mann zurück, den Seiblad ausgeschickt hatte den Stollen abzusuchen. »In der Finsternis kann man natürlich nichts erkennen«, sagte er. »Aber soweit ich mich durch Abtasten zurechtfand, scheint alles in Ordnung zu sein.« »Hol dir fünf Männer mit Lampen«, befahl Seiblad. »Sucht den Stollen und die Umgebung ab. Sobald ihr etwas findet, gebt ihr mir Bescheid.« Und mit einem höhnischen Blick auf den Bewußtlosen fügte er hinzu: »Wir aber, mein Freund, werden uns in aller Ruhe über Androiden unterhalten, die Initiative entwickeln und Neugierde verspüren.«
andere. »Wahrscheinlich hat er einen Zugang entdeckt.« Kinke Seiblad hockte sich auf die leere Pritsche. »Wir warten«, entschied er. »Verteilt euch, damit wir sehen, an welcher Stelle der Kerl zum Vorschein kommt!« Dann war er allein. Er versuchte durch Nachdenken zu ergründen, was einen Androiden dazu veranlassen mochte, mitten in der Nacht sein Quartier zu verlassen und auf einen Erkundungsausflug zu gehen. So wenigstens interpretierte er die Abwesenheit des künstlichen Geschöpfes. Es mußte daran liegen, wie Amlor Petrefa schon gesagt hatte, daß in der Programmierung ein Fehler unterlaufen war. Der Kerl hatte Initiative und Neugierde, beides Charakterzüge, die an einem Androiden nicht vorkommen durften. Der Teufel mochte wissen, was er schon alles angestellt hatte. Es waren fast zwei Stunden vergangen, als Kinke Seiblad plötzlich ein scharrendes Geräusch hörte. Er sah auf. Das Licht der rötlichen Notlampe war schwach, aber Seiblads Augen hatten genug Zeit gehabt, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Er beobachtete, wie sich wenige Meter entfernt ein rechteckiges Stück des Hallenbodens plötzlich in Bewegung setzte. Eine Bodenplatte wurde zur Seite geschoben. Eine Öffnung entstand, und in der Öffnung erschien der kahle, bleiche Schädel eines Androiden. Kinke Seiblad hatte den Schocker in der Hand. Als er seines Zieles sicher war, drückte er auf den Auslöser. Ein helles Singen ertönte. Der Androide, der soeben aus dem Loch hatte heraussteigen wollen, gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich und sank zur Seite. Seiblad sprang auf. »Hierher! Ich hab' ihn!« gellte seine Stimme. Einer der Männer schaltete die Beleuchtung ein. Gleißende Helligkeit durchflutete die Halle. Die Androiden erwachten. Kinke Seiblad kauerte neben dem Loch und war soeben dabei, den reglosen Körper des Androiden herauszuziehen. »Seht nach, was er da drin verloren hatte!« befahl er einem seiner Begleiter. Der Mann kroch in die Öffnung und ver-
* Einstein hatte mich ein Stück weit begleitet. Als wir an eine Stelle kamen, von der aus ich den Weg allein finden konnte, blieb er zurück. Er hatte mir außer der Perücke auch noch eine kleine Lampe überlassen, die mir sehr zustatten kam. In der kommenden Nacht würde er mich von neuem abholen. Bis dahin hoffte er, ein wenig Proviant und ein bißchen Geld zusammenzubringen, damit ich draußen nicht auf die Barmherzigkeit der Menschen angewiesen war. Wir würden, so hatte er gesagt, durch einen Kabelschacht bis zu einem der untersten Decks absteigen. In der Nähe der Zirkuskuppel, die sich am Heckende des Raumschiffs befand, mußten wir dann an die Oberwelt zurückkehren. Von da an war es meine Sache, unbemerkt bis zum Antigravschacht zu gelangen und den Rest meines Fluchtwegs zurückzulegen. Ich war erregt. Einstein hatte mich davor gewarnt, daß der Umgang mit Menschen, noch dazu in einer großen Stadt wie New Taylor, mich zunächst verwirren werde. Es würde ein paar Tage der Unsicherheit geben, in denen ich mich nach der Geborgenheit des Androidenquartiers an Bord der ORBAG MANTEY zurücksehnte. Ich hielt das für ziemlich unwahrscheinlich. Aber Einstein war ein Mann von Erfahrung, und man durfte, was er sagte, nicht einfach 23
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »Was heißt das?« wollte er wissen. »Jetzt gibt es welche«, antwortete Lazear. »Ich meine im Augenblick. Oder sollte Ihnen entgangen sein, daß der Weltraum-Zirkus die meisten akrobatischen Darbietungen von Androiden abziehen läßt?« Brado Tannachs Gesicht verwandelte sich in eine zornige Grimasse. »Da hast du den Teufel schon wieder beim Schwanz!« rief er und hieb mit der Faust auf den Tisch, daß es krachte. »Auf dieselbe Idee, mein Junge, sind vor dir schon andere gekommen. Natürlich ist der Zirkus verdächtig. Aber das Raumschiff, in dem sich der Zirkus befindet, ist extraterritorial, und Alvmut Terlahe wird sich eher den kleinen Finger abbeißen, als daß er uns erlaubt, ein solches Fahrzeug zu durchsuchen!« Reng Lazear war verblüfft. Verblüffung erzeugte in seinem Magen das Gefühl des Hungers. Mit einer Art Reflexbewegung schob er die Hand in die Tasche und brachte einen Fruchtriegel zum Vorschein. Ohne zu wissen, was er tat, entfernte er die Umhüllung und schob sich den Riegel in den Mund. »Ja, wie?« fragte er kauend. »Da haben wir einen Verdächtigen; aber wir getrauen uns nicht, ihn zu untersuchen?« Tannach winkte ab. Jedesmal, wenn die Rede auf Alvmut Terlahes versäumte Gelegenheiten kam, wurde er wütend. »Wir haben einen Kordon von Zivilbeamten um das Zirkusschiff postiert«, antwortete er grimmig. »Es kann nichts heraus oder hinein, ohne daß wir davon wissen.« Reng Lazear brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Er hatte in diesem Augenblick eine ausgesprochen schlechte Meinung von dem Vorsitzenden der AUSTRAP. Aber er kam nicht dazu, seinen schwarzen Gedanken nachzuhängen. Der Videokom summte. »Meldung an Hauptmann Tannach«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. »Während einer Zirkusveranstaltung verließ ein Mann die ORBAG MANTEY ...« »Bravo!« höhnte der Sergeant. »Haben Sie noch mehr Sensationen auf Lager?« »Ich war noch nicht fertig!« beschwerte sich der Beamte. »der Mann benahm sich ausgesprochen ungewöhnlich, so, als würde er verfolgt. Wir haben eine Bildbeschreibung,
zurückweisen. Ich lächelte über mich selbst, als ich mich dabei ertappte wie ich Einstein, den Androiden, in Gedanken als »Mann« bezeichnete. Kurze Zeit später hatte ich die Stelle unter dem Boden des Androidenquartiers erreicht, an der sich die bewegliche Deckplatte befand. Ich löschte die Lampe, die Perücke trug ich unter der Montur auf dem Leib, und stemmte mich gegen die Platte. Sie ließ sich ohne sonderliche Mühe heben und zur Seite schieben. Ich streckte vorsichtig den Kopf aus dem Loch und blickte mich nach allen Seiten um. Als ich den Mann auf meiner Pritsche hocken sah, gefror mir vor Angst und Schreck das Blut in den Adern. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Ein einziger Gedanke hämmerte schmerzlich auf mein Bewußtsein ein: Wenn sie den Kabelstollen absuchen, stoßen sie womöglich auf Einstein! Ich sah, wie der Mann auf der Pritsche den rechten Arm hob. In seiner Hand glitzerte etwas. Ich sah einen dünnen, leuchtenden Faden auf mich zuschießen, und im nächsten Augenblick explodierte mir der Schädel. 5. »Ich habe nachgedacht«, erklärte Reng Lazear, als Brado Tannach von einer neuerlichen Besprechung zurückkehrte. »Tu das, mein Junge«, nickte sein Vorgesetzter. »Es ist nicht aus lauter Versehen etwas dabei herausgekommen, wie?« Lazear spielte den Beleidigten. »Wenn ich nachdenke, kommt immer was dabei heraus«, brummte er. »Nun – was?« »Die infizierten Organteile stammen ohne Ausnahme von Androiden«, erklärte Reng Lazear. »Wo gibt es auf Plophos Androiden?« »Soweit ich weiß, nirgendwo«, antwortete Tannach und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. »Eben!« triumphierte der Sergeant. »Auf Plophos gibt es normalerweise keine Androiden.« Er legte dabei eine so merkwürdige Betonung auf das Wort »normalerweise«, daß Brado Tannach mißtrauisch aufsah. 24
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden der Brust. Ich ließ meine Augen ein zweites Mal durch den Raum wandern. Ich war mit dem Kleinen allein. Er schien mir nicht viel zuzutrauen; denn er hatte den Schocker, dem ich mein Schädelbrummen verdankte, wieder in den Gürtel geschoben. Allerdings stand er zwei Schritte von meiner Liege entfernt. Seine Geringschätzung war ein Vorteil für mich. Er hatte bemerkt, daß ich mich von den anderen Androiden wesentlich unterschied. Aber das Vorurteil gegen Wesen meiner Art war ihm so nachdrücklich in die Seele geschrieben worden, daß er aus dieser Erkenntnis nicht die nötigen Schlußfolgerungen zog. Ich nahm mir vor, diesen Vorteil bei erster Gelegenheit auszunützen. »Seit wann unternimmst du nächtliche Wanderungen?« fragte der Kleine. »Seit wenigen Tagen«, antwortete ich und stellte mich so willfährig wie möglich, als gäbe es in meinem Bewußtsein noch den Zwang, jedem Befehl des Menschen zu gehorchen, jede seiner Fragen zu beantworten. »Und du kamst einfach so auf die Idee, wie?« »Ich wollte wissen, wo ich mich befand«, bekannte ich. »Bei meinem ersten Ausflug wurde ich beobachtet. In der nächsten Nacht entdeckte ich durch Zufall die lose Bodenplatte.« Es kam mir darauf an, jeglichen Verdacht zu zerstreuen, daß womöglich noch ein zweiter Androide in diese Vorgänge verwickelt sein mochte. »Woher hattest du die Lampe?« wollte der Kleine wissen. »Ich hatte sie bei meinem ersten Ausflug in einem kleinen Raum auf dem vierundsiebzigsten Deck gefunden«, log ich. Er nahm offenbar meine Worte für bare Münze. Der Gedanke, daß ein Androide, der Neugierde entwickelte, auch lügen könne, kam ihm anscheinend nicht. »Wir werden dich auseinandernehmen müssen«, sagte er zu mir. Er sagte es ohne Bedauern oder sonst eine Regung in seiner Stimme. »Wir müssen erfahren, was bei dir falsch gemacht wurde. Androiden sind nämlich nicht so wie du. Sie haben keine Initiative und begeben sich nachts nicht auf Schleich-
die wir Ihnen anschließend an dieses Gespräch übermitteln.« »Gut«, lobte Lazear. »Noch was?« »Ja. Knapp drei Minuten später verließen weitere drei Männer das Zirkus-Raumschiff. So, wie ich die Sache betrachte, sind sie hinter dem ersten her.« »Beschreibung?« »Wird übermittelt.« »Lassen Sie die Leute beschatten?« Das Gesicht des Beamten nahm einen mitleidheischenden Ausdruck an. »Ja, aber ich fürchte wir haben sie im Gedränge des Zirkusbereichs verloren.« Reng Lazear seufzte und schaltete den Ton ab, um sich ungestört auf die Bildübertragung konzentrieren zu können. * Als ich zu mir kam, befand ich mich in einem Raum, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Einrichtung bestand aus einer Gleitliege, auf der ich mich befand, und mehreren Geräten, die an der Wand entlang aufgebaut waren. Über mir, in der Decke, gab es eine große, kuppelförmige Lampe, die jedoch im Augenblick nicht brannte. Die Beleuchtung des Raumes kam aus mehreren Fluoreszensplatten, die unregelmäßig über die Decke verteilt waren. Mir brummte der Schädel. Ich erinnerte mich daran, daß ich eine Schocksalve abbekommen hatte. Das Wissen, daß ich geschockt worden war, verdankte ich Einstein. Er kannte die Waffen der Menschen und hatte sie mir beschrieben. Die Einrichtung des Raumes war in der Hauptsache in Weiß gehalten. Es roch nach einer Chemikalie, deren Geruch ich undeutlich in Erinnerung hatte. Sie mußte bei meinen beiden Operationen eine Rolle gespielt haben, wahrscheinlich ein Desinfektionsmittel. Vor mir stand der Kleine mit dem großen Schädel. Er grinste mich höhnisch an. »Wir sind wieder bei uns, wie?« fragte er. Ich antwortete nicht. Ich trug immer noch meine Montur. Die Lampe hatte man mir abgenommen; aber die Perücke trug ich immer noch bei mir. Die Haare kitzelten mich auf 25
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden feuerte über seine Schulter hinweg auf den Mann in der Nähe der Tür. Er gab einen seufzenden Laut von sich und brach zusammen. Meine nächste Salve galt dem Kleinen. Ich jagte sie ihm ins Rückgrat und fühlte, wie er unter meinem Griff schlaff wurde. Ich öffnete die Hand und ließ ihn fallen. Ich durchsuchte die Monturen der beiden Bewußtlosen und fand außer einem handlichen Strahler, den der Mann an der Tür bei sich trug, Geldmarken im Wert von knapp zweihundert Solar. Die würden mich eine Zeitlang über Wasser halten. Ich zog die Perücke hervor und setzte sie auf. In einer Ecke des Raumes gab es einen Spiegel. Ich prüfte meine Verkleidung und war verblüfft festzustellen, daß sie mich grundlegend veränderte. Es war das erste Mal, seitdem man mich aus der Kammer geholt und ins Gemeinschaftsquartier der Androiden gebracht hatte, daß ich mich im Spiegel sah. Nur die Hälfte meiner äußerlichen Verwandlung war der Perücke zuzuschreiben; die andere Hälfte kam von dem Ausdruck meiner Augen. Sie waren zum Leben erwacht, so wie die Einsteins. Ich öffnete die Tür und sah hinaus auf einen hellerleuchteten Gang. Die Nacht war vorüber, der Tag angebrochen: Der Gang war leer. Ich sah einen Wegweiser, der in Richtung des Antigravschachts deutete. Einen Atemzug später war ich unterwegs.
gänge.« Ich haßte ihn. Ich besaß, wie er selbst zugab, Initiative und war nach meiner Denkweise mehr ein Mensch als ein Androide. Und dennoch bestand er darauf, mich auseinanderzunehmen, wie er sagte. Als wäre ich eine Uhr oder ein Sendegerät. Er schien auf etwas zu warten, denn er schritt unschlüssig vor meiner Liege auf und ab. Mehrmals wandte er mir dabei den Rücken zu und gab mir so Gelegenheit, ihn anzuspringen und ihm die Waffe zu entreißen. Aber ich wartete ebenfalls. Ich wollte nicht gerade in dem Augenblick angreifen in dem der Mann, auf den der Kleine wartete, zur Tür hereinkam. Meine Geduld wurde belohnt. Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat ein. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Der Kleine blieb stehen und sah ihn auffordernd an. Dabei wandte er mir die Seite zu, auf der er den Schocker im Gürtel stecken hatte. »Nun ...?« fragte er ungeduldig. »Nichts«, antwortete der Mann. »Wir haben den Kabelstollen und die ganze Umgebung abgesucht, ohne etwas zu finden. Er muß aufs Geradewohl darin herumgekrochen sein, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte.« Ich atmete auf. Sie hatten Einstein nicht gefunden, Sie wußten nicht, daß es noch einen zweiten Androiden gab, der in den Eingeweiden des Zirkus-Raumschiffs herumkroch. Ich war froh, daß ich so lange gewartet hatte. Die Sorge um Einstein wäre für mich eine ständige Belastung gewesen. »Du bleibst jetzt hier«, befahl der Kleine dem andern. »Ich brauche Hilfe. Dieser Retortenhengst muß untersucht werden. Wir müssen erfahren, warum er verkehrt tickt, und wenn wir ihn dazu Scheibe um Scheibe auseinanderschneiden müssen.« In diesem Augenblick handelte ich. Ich hatte, ohne daß einer der beiden es merkte, Armund Beinmuskeln ein paarmal angespannt und wieder gelockert und wußte, daß ich mich auf meine Kraft verlassen konnte. Der Kleine hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da schnellte ich mich von der Liege fort und prallte ihm in den Rücken. Er wäre nach vorne geschleudert worden; aber ich hatte ihn schon beim Kragen gepackt und hielt ihn fest. Ich riß ihm den Schocker aus dem Gürtel und
* Wahrscheinlich wäre ich mühelos entkommen, wenn es nicht den Alarm gegeben hätte. Ich trieb abwärts durch den Antigravschacht, als plötzlich ringsum die Schellen zu klingeln und die Pfeifen zu schrillen begannen. Aus Dutzenden von Lautsprechern kam eine unpersönliche Stimme: »Im Operationssaal zwei sind zwei Mitglieder der Besatzung von einem fehlprogrammierten Androiden überfallen und niedergeschossen worden. Der Täter ist entkommen. Im Augenblick befinden sich die Androiden entweder im Zirkus oder in ihrem Gemeinschaftsquartier. Ein Androide, der in anderen Räumen des Schiffes angetroffen wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Täter!« 26
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden näherte, bremste ich meine Fahrt ab, als wollte ich tatsächlich aussteigen. Das beruhigte die beiden Posten. Sie traten einen Schritt zurück, um mir den Ausstieg freizugeben. Sie musterten mich, als ich auf sie zukam, und ich sah, wie in den Augen des einen ein Licht des Zweifels erschien. »He!« rief er seinem Genossen zu. »Hast du schon mal so bleiche Haut gesehen ...?« Ich schwebte auf den Ausstieg zu. Der Gang dahinter war leer bis auf die beiden Posten. Ich hatte den Schocker längst schußbereit gemacht. Jetzt riß ich ihn hervor und drückte ab. Die Augen der beiden Wächter wurden glasig. Der eine hob wie zur Abwehr die rechte Hand. Zwei Sekunden später lagen sie beide reglos am Boden. Ich stieß mich ab und trieb weiter den Schacht hinunter. Das erste Deck glitt an mir vorbei. Wenige Meter weiter war der Schacht zu Ende. Der Ausstieg führte in ein kurzes Gangstück, das vor einer schweren Tür endete. Ich trat auf die Tür zu. Als sie sich öffnete, schlugen mir die Geräusche des Riesenzirkus entgegen. Ich befand mich unmittelbar hinter der letzten, obersten Sitzreihe der gigantischen Arena, und die morgendliche Vorstellung war in vollem Gang. Etwa fünfzig Meter zu meiner Rechten lag der nächste Abgang. Ich schob mich hinter den Sitzen entlang dorthin. Der Abgang hatte eine Breite von vierzig Metern. Der eigentliche Ausgang befand sich am unteren Ende dieses Bandes, auf der Höhe der vordersten Sitzreihen. Der Abgang verfügte über drei Rolltreppen, die vor Beginn der Vorstellung aufwärts, nach deren Ende abwärts liefen und stillagen. Ich blickte in das weite Rund. Die Arena hatte eine Kapazität von mehr als einhunderttausend Zuschauern. Sie schien bis auf den letzten Platz besetzt. Unten in der Manege führte eine Gruppe von Androiden ihre halsbrecherischen Kunststücke vor. Die Menge war fasziniert. Langsam und vorsichtig machte ich mich an den Abstieg. Auf dem breiten Band des Abgangs war ich für jedermann zu sehen. Wenn Verfolger hinter mir her waren, dann brauchten sie nicht lange nach mir zu suchen. Unten in der Manege beendeten die Androiden ihren Auftritt. Die Zuschauer applaudier-
Die Stimme schwieg. Weitere Anweisungen brauchte sie nicht zu erteilen. Jeder wußte von selbst, was er zu tun hatte. Ein Androidenleben war nichts wert. Wer mich erkannte, hatte das Recht, mich zu erschießen. Ich dachte an das, was ich von Einstein gehört hatte. Der fremden Macht stand eine Möglichkeit zur Verfügung, auf mich Einfluß zu nehmen, eine Möglichkeit, die nur im Katastrophenfall angewendet werden durfte: der piezomotorische Schluß. Ich war sicher, daß mein Ausbruchsversuch als Katastrophenfall gewertet werden würde. Würde ich jetzt erfahren, was man unter dem piezomotorischen Schluß verstand? Ich trieb weiter abwärts durch den Antigravschacht. Es waren nicht viele Leute unterwegs. Ich hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, so daß man so wenig wie möglich von meiner bleichen Gesichtsfarbe zu sehen bekam. Niemand achtete auf mich. Ich hatte Haare auf dem Kopf, also konnte ich kein Androide sein. Die Schwierigkeiten würden erst später kommen. Ich war sicher, daß man an den Verbindungsschächten zwischen dem Innern des Raumschiffs und dem Zirkus am Heckende Posten aufgestellt hatte. Ich mußte an ihnen vorbei; denn nur durch den Zirkus hatte ich eine Hoffnung zu entkommen. Ohne Schwierigkeiten gelangte ich bis zum achten Deck. Dort schwang ich mich aus dem Schacht und fuhr durch einen der Rollgänge bis zur Peripherie des Schiffes. Hier gab es mehrere kurze Antigravschächte die bis zur Ebene der Zirkuskuppel hinabführten. Ich benutzte einen davon. Er war völlig leer. Die Zirkusvorstellung war im Gang, sämtliches Personal befand sich unten in der Kuppel. Viel zu langsam für meine Ungeduld trieb ich an einem Deck nach dem andern vorbei. Das siebte, sechste, fünfte, vierte Deck glitten an mir vorüber und entschwanden nach oben. Ich blickte in die Tiefe. Auf der Höhe des zweiten Decks bemerkte ich in der torbogenförmigen Ausstiegsöffnung die Umrisse zweier Gestalten. Eine beugte sich nach vorne und sah mich kommen. »Hier aussteigen!« rief sie mir zu. »Der Zugang zum Zirkus ist versperrt!« Ich winkte zum Zeichen, daß ich verstanden hatte. Als ich mich dem zweiten Deck 27
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden ten sich jetzt Verfolger. Sie kamen in Dreiergruppen und hatten offenbar den Auftrag, mich von allen Seiten her in die Zange zu nehmen. Ich hastete weiter. Die Treppe führte seitlich an dem portalähnlichen Ausgang vorbei. Ich sprang über drei Stufen hinweg und wandte mich um, um durch das Portal zu gelangen. Da kam mir die rettende Idee. Blitzschnell hatte ich den vor kurzem erbeuteten Strahler in der Hand. Ich kannte die Waffe aus Einsteins Beschreibung; aber benützt hatte ich sie noch nie. Ich sprang wieder ein paar Treppenstufen zurück hinauf, bis ich über die Brüstung sehen konnte, die die Manege von den Zuschauerrängen trennte. Die Verfolger waren höchstens noch hundert Meter entfernt. In der Manege war der Evergreen inzwischen an den Wagen mit den Schlangenkäfigen herangetreten. Ich schwenkte die Waffe in der Luft und schrie: »Tod den heimtückischen Bestien!« Dann feuerte ich. Der blendende Energiestrahl zog über die Manegenbrüstung hinweg und fraß sich in einen der Schlangenkäfige. Das Viquaf-Ungeheuer gab einen gellenden Schrei von sich und bäumte sich auf, den verletzten Körper zu grotesken Windungen ringelnd. Der Evergreen fuhr entsetzt zur Seite und warf sich deckungssuchend zu Boden. Die Hölle brach los. Die Zuschauer sprangen von ihren Sitzen. Dicht neben mir schrie jemand: »Ein Verrückter! Haltet ihn fest, bevor er noch mehr Schaden anrichtet!« Schreie gellten auf. Hände streckten sich nach mir aus. Der Abgang füllte sich mit einer quirlenden, wütenden Menschenmasse. Das hatte ich gewollt. Ich wich den Händen aus, sprang die letzten Stufen hinab und entkam durch das Portal. Hinter mir steigerte sich der Lärm zum Inferno. Der ganze Zirkus war auf den Beinen. Die meisten wußten nicht, worum es ging. Ich rannte, so schnell mich die Beine trugen, über die leere Fläche unter den Zuschauertribünen. Einmal sah ich mich um und beobachtete eine kleine Gruppe von Zirkusgästen, die mir durch das Portal gefolgt war. Ich winkte drohend mit der Strahlpistole, daraufhin wichen sie zurück. Kurze Zeit später stand ich im Freien. Über mir tobte, schrie und zeterte es immer noch.
ten begeistert. Stufe um Stufe näherte ich mich dem Ziel. Die Androiden verschwanden, nachdem sie sich gebührend bedankt hatten. Eine neue Attraktion wurde angekündigt: ein Akt mit fünf dressierten Viquaf-Schlangen von Kaimaer. War das alleine schon genug, um das Herz der Zirkusbegeisterten höher schlagen zu lassen – denn die ViquafSchlangen gelten als heimtückische, unzähmbare Bestien – so hatte sich der Zirkus ORBAG MANTEY obendrein noch etwas einfallen lassen, das diese Darbietung zu einer echten Sensation machte: Der Dompteur, der zusammen mit den fünf Schlangen von Kaimaer auftreten würde, war ein Wesen von Passa, ein Evergreen, wie die lurchähnlichen, halbintelligenten Ureinwohner von Passa genannt wurden. Ein Akt also, bei dem eine Gruppe der gefährlichsten Zirkustiere von einem Dompteur dressiert wurde, der selbst auf einer Zwischenstufe zwischen Tier und Intelligenz stand. In der Zuschauermenge entstand unmittelbar nach der Ankündigung vorübergehende Unruhe. Sobald jedoch der Wagen hereingefahren wurde, auf dem sich in fünf Käfigen die Viquaf-Schlangen befanden, legte sich lähmendes Schweigen über das weite Rund. Eilige Roboter bauten die Geräte auf, an denen die Schlangen ihre Dressur unter Beweis stellen sollten, und schließlich watschelte durch einen Seiteneingang der fast sechs Meter hohe Evergreen herein, mit weiter nichts bewaffnet, als einem dünnen, biegsamen Stock von beachtlicher Länge. Ich hatte inzwischen das Ende des Abgangs fast erreicht. Ich drehte mich um, um zu sehen, ob man mir auf der Spur war, und erschrak bis ins Innerste, als ich die drei Männer gewahrte, die mit hastigen Schritten hinter mir den Abgang herabkamen. Ihre Aufmerksamkeit war so ausschließlich auf mich gerichtet, daß es über ihre Absicht keinen Zweifel geben konnte. Ich überlegte blitzschnell. Welche Lage ich draußen vorfinden würde, wußte ich nicht. Im Augenblick hatte ich vor den Verfolgern einen Vorsprung von nicht einmal einer Minute. Das war zuwenig. Ich brauchte mehr Abstand, wenn ich draußen in der Menge verschwinden wollte. Auch auf den benachbarten Abgängen zeig28
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden er nicht ändern können. Er ist immer noch blaß wie eine Leiche.« Inzwischen war auch Amlor Petrefa nicht untätig geblieben. Er hatte den kleinen Wandsafe geöffnet und gesagt: »Ein Androide ist entkommen. Es muß sich um eine Fehlprogrammierung handeln, die erst jetzt zur Wirkung gekommen ist. Der Androide heißt Algo. Er entwickelt Initiative und zeigt Neugierde. Es steht zu befürchten, daß er etwas über den eigentlichen Verwendungszweck der ORBAG MANTEY weiß. Mit diesem Wissen kann er schweren Schaden anrichten, ja, unter Umständen sogar das gesamte Programm gefährden. Ich bitte um Beseitigung der Schwierigkeiten durch piezomotorischen Schluß.« Noch während er sprach, war der Protoplasmaklumpen in der Nährflüssigkeit in Tätigkeit getreten und hatte sich verfärbt, als er begann, die Worte in telepathische Signale zu übersetzen und zu übermitteln. Einige Minuten vergingen. Amlor Petrefa zwang sich zur Geduld. Die Sache schien länger zu dauern als sonst. Konnte es sein, daß selbst »die Macht« in dieser Angelegenheit Schwierigkeiten hatte? Schließlich rührte sich das Protoplasma von neuem. Es knackste im Lautsprecher, dann kamen tonlos, in flacher Stimme, die Worte: »Die Gefahr ist erkannt. Es ist jedoch nicht möglich, in diesem Fall den piezomotorischen Schluß ohne weiteres anzuwenden. Die Zellen im Körper des Androiden Algo sind teilweise desaktiviert und über Entfernungen von mehr als zwanzig Metern nicht mehr direkt ansprechbar. Es bedarf eines Relais, eines zweiten, ebenfalls präparierten Mutanten, der in unmittelbare Nähe von Algo gebracht werden muß, so daß der Schluß zustande kommen kann.« Amlor Petrefa starrte den Protoplasmaklumpen ungläubig an. Er zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen und schloß den Safe. »Wenn ich bis auf zwanzig Meter an Algo herankomme«, knurrte er, »dann brauche ich keinen piezomotorischen Schluß mehr.« Er rief nach Kinke Seiblad, der eben mit seinen Männern aufbrechen wollte, und teilte ihm mit, was er von der Macht erfahren hatte.
Vor mir, im Glanz der Morgensonne, lagen die Tiergehege, die der Zirkus außerhalb des Raumschiffs aufgebaut hatte, um seltene Tiere zu zeigen und Zuschauer anzulocken. Tausende von Menschen bewegten sich durch die Gänge zwischen den Käfigen. Ich gab mir den Anschein eines morgendlichen Müßiggängers und tauchte in der Menge unter. Meine Flucht war vorerst geglückt. 6. Amlor Petrefa war fürchterlich in seinem Zorn. Kinke Seiblad stand ängstlich geduckt, als fürchte er, geschlagen zu werden. »Du findest den Kerl und bringst ihn zurück!« tobte Petrefa. »Oder ich drehe dir eigenhändig den Hals um!« »Ja, Herr, ich bringe ihn zurück«, hauchte Seiblad in höchster Angst. »Er wird mir nicht entkommen.« »Er ist dir schon entkommen!« schrie Petrefa in unbeherrschtem Zorn. »Jetzt sieh zu, daß du ihn wieder beibringst. Worauf wartest du noch?« Kinke Seiblad entfernte sich eiligst. An nichts lag ihm mehr als daran, seinem wütenden Herrn aus den Augen zu kommen. Er fühlte sich miserabel. Der Schädel pochte unter der Nachwirkung der Schocksalve, die er von dem Androiden bekommen hatte, und das Herz wurde von wilder Wut zerfressen, die um so schlimmer war, als er sie an niemand auslassen konnte. Statt dessen mußte er Amlor Petrefas Tobsuchtsanfälle über sich ergehen lassen. In der Mannschaftsmesse trommelte er seine Leute zusammen, einen Haufen von insgesamt fünfzig Mann. Er setzte ihnen auseinander, was zu tun war. »Wir müssen den Kerl wiederhaben, bevor er Schaden anrichten kann«, schrie er den Leuten zu. »Jeden, den ich bei einer Nachlässigkeit erwische, knöpfe ich mir persönlich vor. Wir durchstreifen in kleinen Gruppen die Stadt und halten nach dem Androiden Ausschau. Er heißt Algo, ist bewaffnet und trägt eine Perücke. Der Ausdruck der Augen ist für einen Androiden ungewöhnlich lebhaft, fast menschlich. Laßt euch also durch gewohnte Vorstellungen nicht täuschen. Seine Haut hat 29
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »Achtzig«, antwortete Lazear, ohne zu zögern. »Der Zirkus wird weiter bewacht?« »Selbstverständlich.« »Es ist damit zu rechnen, daß auch die Zirkusleute nach dem Flüchtigen suchen. Vielleicht haben sie bessere Hinweise als wir. Es ist ratsam, daß wir auch auf sie ein Auge haben.« »Ist bereits veranlaßt«, verkündete Lazear. Brado Tannach grinste ihn spöttisch an. »Ich wette, ich weiß doch noch etwas, woran du noch nicht gedacht hast!« »Und das wäre?« »Ich will, daß das Gesicht des Flüchtigen auf allen Nachrichtenkanälen ausgestrahlt wird. Er hat die Absicht, in der Stadt unterzutauchen. Dabei wird er gesehen. Die Leute, die ihn zu Gesicht bekommen, sollen sich hier melden!« »Ich muß Sie enttäuschen«, sagte Lazear ernsthaft. »Wieso?« »Auch das ist bereits in die Wege geleitet.«
»Das heißt«, fügte er grimmig hinzu, »daß jetzt die ganze Verantwortung an dir hängt. Entweder du bringst Algo ein, oder der Laden platzt – und du mit!« * Reng Lazear hatte das Bild des Verfolgten überlebensgroß an die Wand projiziert. Brado Tannach studierte es aufmerksam. »Das ist kein Androide«, schloß er. »Die Haare auf dem Kopf, das könnte mit einer Perücke gemacht werden. Aber sieh dir die Augen an! Der Mann hat Angst. Die Furcht leuchtet ihm aus dem Blick. Das ist ein Mensch, sage ich dir!« »Deswegen könnte er trotzdem etwas über die Androidensache wissen«, wandte der Sergeant ein. »Ich an Ihrer Stelle würde die Suche nicht abbrechen.« »Hat jemand gesagt, daß ich das tun will?« grinste Tannach. »Ganz im Gegenteil! Wir dürfen nicht in den Zirkus hinein. Das ist extraterritoriales Gebiet, sagte Alvmut Terlahe. Also warten wir, bis die Leute aus dem Zirkus zu uns herauskommen. Das ist jetzt passiert, und ich will Bablinski heißen, wenn ich mir nicht die größte Mühe gebe, den Kerl zu fassen!« Er studierte das Bild noch eine Weile, als wolle er sich jeden Zug des fremden Gesichts einprägen. Schließlich fragte er: »Was war überhaupt im Zirkus los? Ich höre, es hat eine kleine Panik gegeben.« »Darüber ist nicht viel zu erfahren. Die Zirkusleitung weiß angeblich von nichts«, antwortete Reng Lazear. »Wir haben ein paar Zuschauer gefragt. Die behaupten, jemand hätte zu Beginn eines schwierigen Aktes eines der Dressurtiere erschossen. Ein Verrückter, meinen sie. Sie waren ziemlich erbost; denn der Akt mußte wegen des Zwischenfalls abgesagt werden. Wenn Sie mich fragen, dann würde ich sagen, es war der Flüchtige, der das Tier erschoß. In der Verwirrung, die danach entstand, konnte er mühelos entkommen.« Tannach stand auf und knipste den Projektor aus. Die Deckenbeleuchtung schaltete sich selbsttätig ein. »Wieviel Mann haben wir auf den Flüchtigen angesetzt?« wollte er wissen.
* Die Stadt verwirrte mich. Einstein hatte recht: Ich war nicht daran gewöhnt, mich in der Nähe so vieler Menschen zu bewegen. Ich war unruhig und nervös. Ich sah mich so oft um, daß jeder, der mich auch nur ein paar Minuten lang beobachtete, mißtrauisch werden mußte. Glücklicherweise schenkten die Menschen einander, und auch mir, keinerlei Beachtung. Sie gingen aneinander vorbei, ohne sich gegenseitig wahrzunehmen. Das war meine Rettung. Trotzdem hatte ich das dringende Bedürfnis, so rasch wie möglich diesem Gedränge zu entweichen. Ich befand mich auf einer der Hauptverkehrsstraßen. Zu beiden Straßenseiten drängten sich die Ladengeschäfte. Es war Mittagszeit, die Zeit des dichtesten Verkehrs. Ich überlegte, ob ich mir einen Mietwagen nehmen sollte. Auch darüber hatte Einstein mich informiert. Der Gedanke war mir jedoch nicht geheuer. Ich fürchtete, mich durch meine Unbeholfenheit zu verraten. Wenn ich dem Gewimmel entkommen wollte, mußte ich es zu Fuß tun. 30
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden sind die Polizei.« »Wir ...?« »Ich und der Kommissar, zu dem ich dich jetzt bringen muß, weil ich dich gefangen habe. Du mußt vor mir hergehen.« Ich gehorchte. Der Knabe dirigierte mich durchs Gestrüpp. Plötzlich drang mir eine helle Stimme entgegen: »Losung ...?« »Kampf dem Verderben!« antwortete der Junge. »Kann reinkommen!« Vor uns öffnete sich eine kleine Lichtung. Mitten darauf saß ein kleines Mädchen, vielleicht ein Jahr älter als der Knabe. »Ich habe einen Verbrecher«, verkündete der Junge. »Du bist der Kommissar?« staunte ich. »Ja. Aber du hast hier keine Fragen zu stellen; denn du bist ein Verbrecher. Wie heißt du?« »Algo«, antwortete ich. Die Frage hatte mich völlig überrascht. Es fiel mir nichts Besseres ein, als meinen wirklichen Namen zu nennen. »Algo, wie weiter?« wollte das Mädchen wissen. »Nur Algo.« »Hm, höchst verdächtig«, meinte sie weise. »Leute, die nur einen Namen haben, sind meist schwere Verbrecher.« »Wie heißt du?« fragte ich. Sie hatte vergessen, daß sie noch vor wenigen Augenblicken das Fragen als ihr eigenes Privileg bezeichnet hatte, und antwortete: »Signe.« »Signe, wie weiter?« äffte ich sie nach. »Signe Baffah«, antwortete sie und lachte. »Und das hier ist dein Bruder?« »Ja, er heißt Fesso.« Ich ließ mich verhören und gestand, eine Bank überfallen und ausgeraubt zu haben. Gegen den Vorwurf, daß ich dabei einen Angestellten erschossen habe, konnte ich mich erfolgreich wehren. Ich wurde dazu verurteilt, wenigstens eine Stunde lang mit den Kindern zu spielen, und nahm das Urteil widerspruchslos an. Wir spielten fast den ganzen Nachmittag lang. Ich war noch nie in meinem Leben so gelöst und sorgenfrei gewesen wie in diesen
Ich schlug aufs Geratewohl eine Richtung senkrecht zur Hauptverkehrsstraße ein. Allmählich kam ich in ruhigere Gegenden. Meine Furcht wurde geringer. Ich sah mich seltener um als bisher. Meine Verfolger mußte ich, wenn es überhaupt welche gegeben hatte, abgeschüttelt haben. Ich war allein in der weiten Stadt. Aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Mein erster Impuls war gewesen, auf dem schnellsten Wege zu den Ordnungsbehörden zu gehen, Polizei nannte man sie; aber nun war ich meiner Sache längst nicht mehr so sicher. Ich hatte keine Beweise. Ich konnte sie mein Herz untersuchen und feststellen lassen, daß es präpariert war; aber was nützte das? Ich konnte nur Anschuldigungen aussprechen, und es blieb den Polizisten überlassen, ob sie mir glauben wollten oder nicht. Allmählich begann ich zu verstehen, was Einstein meinte, wenn er sagte, er werde erst an die Öffentlichkeit treten, wenn er die Antwort auch auf die letzten Fragen gefunden hatte. In meiner Nachdenklichkeit hatte ich nicht auf den Weg geachtet. Jetzt merkte ich plötzlich, daß ich bis an den Rand der Stadt gekommen war. Vor mir lag ebenes, unkrautüberwuchertes Feld. Die Straße verlor sich im Dickicht. Weit im Hintergrund leuchtete das rötliche Dach eines kleinen Hauses über den Unkrautdschungel hinweg. Eine helle Kinderstimme schrie mich aus dem Gestrüpp heraus an: »Hände hoch! Du bist gefangen!« In der ersten Verwirrung hob ich tatsächlich die Hände. Aus dem Gestrüpp kam Gekicher. Jemand sagte respektlos: »Du machst aber ein dummes Gesicht!« Die Zweige teilten sich. Ein sommersprossiger Junge mit kahl geschorenem Schädel kam zum Vorschein. Er mochte etwa acht Jahre alt sein. In der Hand hielt er ein Aststück, das die Form einer Pistole hatte. Er lachte mich an und sagte: »Du kannst die Hände jetzt wieder herunternehmen. Spielst du noch weiter mit?« Die Verkrampfung in meinem Innern begann sich zu lösen. Von einem Kind konnte mir doch keine Gefahr drohen, oder? »Was spielen wir?« fragte ich. »Räuber und Polizei«, erklärte der Junge wichtigtuerisch. »Du bist der Räuber, und wir 31
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden meinem Leben, daß ich einer Frau gegenüberstand, richtig gegenüber, kaum zwei Schritte von ihr entfernt. Eine merkwürdige Strahlung schien von ihr auszugehen, eine Aura, die bis in mein tiefstes Inneres drang und mich mit Wärme erfüllte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das mich zugleich beglückte und verwirrte. Ich vergaß, was ich hatte sagen wollen. Sie schien meine Hilflosigkeit als komisch zu empfinden und begann zu lachen. »Kommen Sie herein!« forderte sie mich auf. »Das Essen steht schon so gut wie auf dem Tisch.«
Stunden. Ich spielte mit einer Begeisterung, die hinter der der Kinder keineswegs zurückblieb. Als es dunkel zu werden begann, empfand ich Bedauern. Spielen schien mir plötzlich das Wichtigste zu sein, was es auf der Welt gab. »Wir müssen jetzt nach Hause«, sagte Fesso schließlich und betrachtete mich mit einem tiefen Seufzer. »Schade«, sagte ich ehrlich. »Du kommst mit uns, nicht wahr?« fragte Signe. Ich wehrte ab. »Ich kann nicht einfach mit euch gehen«, protestierte ich. »Was würden eure Eltern sagen?« »Vater ist nicht zu Hause«, sagte Signe und fügte altklug hinzu: »Und Mutter würde sich sicher freuen, wenn sie ein wenig Gesellschaft bekäme.« »Zumindest könnten wir fragen«, mischte Fesso sich ein. »Ja, fragen«, stimmte Signe zu. Schließlich ging ich mit ihnen. Das Haus, in dem sie wohnten, war dasjenige, dessen Dach ich heute mittag über das Gebüsch hatte leuchten sehen. Aus der Nähe zeigte sich, daß das Dach das einzig Leuchtende an dem kleinen Bauwerk war. Es befand sich im fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Die Tür, die einstmals automatisch gewesen war, hing schief in der Füllung und konnte nur noch von Hand betätigt werden. Mehrere Glassitscheiben waren durch halbtransparentes Plastikmaterial ersetzt worden. Es hatte früher einen Garten rings um das Anwesen gegeben. Man sah noch jetzt die Reihen der Sträucher. Inzwischen hatte jedoch die Invasion des Unkrauts stattgefunden und bis auf wenige Spuren die einstige Ordnung zerstört. Fesso klopfte an die Tür. Sie wurde von innen geöffnet. »Wir haben einen Besucher mitgebracht, Mutter!« rief der Kleine begeistert. »Er hat den ganzen Nachmittag mit uns gespielt.« Unter der Türöffnung erschien eine junge Frau von mittlerer Größe. Sie hatte mittellanges, rötliches Haar und aufmerksame, intelligente graue Augen. Sie war in einen dünnen Arbeitskittel gekleidet, der ihre Formen voll zur Geltung brachte. Es war das erste Mal in
7. Kinke Seiblad saß mit dreien seiner Leute in einem Automatenrestaurant der Innenstadt. Es war Abend geworden, ohne daß sie von dem verschwundenen Androiden auch nur eine einzige Spur gefunden hätten. New Taylor war eine große Stadt, und allmählich begann Seiblad zu erkennen, daß er sich da in eine Sache eingelassen hatte, die womöglich zu groß für ihn war. Er aß ohne Appetit. Alle paar Minuten einmal wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Es war die Furcht, die Kinke Seiblad zum Schwitzen brachte. »Wie lange machen wir das noch?« fragte einer seiner Begleiter. »So lange, bis wir den Kerl haben«, knurrte Seiblad. »Hm ...« »Was heißt das, hm?« fauchte Seiblad wütend. »Das heißt«, antwortete sein Begleiter, ohne sich einschüchtern zu lassen, »daß ich in unserem Vorgehen nicht viel Sinn sehe. Ich weiß nicht, wieviel Einwohner dieses verdammte Nest hat, aber eine halbe Million werden's schon sein. Da können wir monatelang herumkriechen, ohne den Retortenengel auch nur ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen.« Seiblad wollte aufbrausen; aber selbst in seiner Wut mußte er dem Mann zugestehen, daß er recht hatte. »Was schlägst du also vor?« fragte er sich zur Ruhe zwingend. »Daß wir eine Methode entwickeln«, laute32
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »O, doch! Leute, die ihn gesehen zu haben glauben, gibt es wie Sand am Meer. Einer oder zwei darunter haben ihn wahrscheinlich wirklich gesehen. Der Rest besteht aus Angebern, die sich auf jeden derartigen Aufruf melden. Wenn ich den Angaben glauben darf, hat der Mann sich annähernd zur gleichen Zeit an achtzehn verschiedenen Orten aufgehalten.« »Sind wir sicher, daß er sich noch in der Stadt befindet?« »So sicher man sein kann«, gab Lazear zurück. »Er kann sich mit Gewißheit keines öffentlichen Verkehrsmittels bedient haben, um New Taylor zu verlassen. Auf dem Raumhafen, in den Fährenhäfen und Bahnhöfen der Röhrenbahn stehen unsere Leute und fassen jeden Passagier scharf ins Auge. Auch Mietwagen scheiden aus, denn wir haben das Bild des Mannes an den Zentralrechner der Mietwagenagenturen gegeben. Bliebe nur noch die Wanderung zu Fuß oder das Mitfahren in einem privaten Fahrzeug. Was den privaten Fahrzeugverkehr angeht, so sind wir auf Stichproben an den Stadtgrenzen angewiesen. Auf diese Weise könnte er uns durch die Lappen gehen. Aber«, Reng Lazear kratzte sich hinter dem Ohr, »irgendwie glaube ich es nicht.« »Warum nicht?« wollte Tannach wissen. »Ein Fremder würde ihn nicht mitnehmen, und ich glaube nicht, daß er Bekannte in der Stadt hat«, präzisierte der Sergeant seine Ansicht. »Er ist ein Zirkusmann. Zirkusleute sind viel unterwegs und haben nie genug Zeit, um irgendwo eine Bekanntschaft oder gar eine Freundschaft anzubahnen.« »Ich frage mich«, murmelte Tannach, halb im Selbstgespräch, »warum er von der ORBAG MANTEY geflohen ist. Wenn er etwas verbrochen hätte, würde sich der Besitzer des Zirkus an uns wenden. Wenn er nichts verbrochen hätte, müßte man erwarten, daß er selbst sich an uns wendet und um Hilfe ersucht. Warum, zum Teufel, läßt keine der beiden Seiten etwas von sich hören?« »Man könnte sich Dutzende von Erklärungen dafür ausdenken«, sagte Lazear. »Einstweilen müssen wir froh sein, daß die Leute vom Zirkus um keinen Deut schlauer sind als wir.«
te die Antwort. »Zielloses Herumwandern führt zu nichts. Vielleicht sollten wir uns an eine Detektei wenden. Diese Leute kennen sich in solchen Sachen aus.« »Warum nicht gleich an die Polizei?« höhnte Kinke Seiblad. »Und gleichzeitig veröffentlichen wir in der nächsten Nachrichtensendung einen Artikel unter der Überschrift: Was sich an Bord der ORBAG MANTEY wirklich abspielt, wie?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Mit heißen Worten kommst du hier nicht weiter, Kinke«, wies er den Kleinen zurück. »Ich mache nur Vorschläge, weiter nichts. Ob du sie annimmst oder nicht, ist deine Sache. Schließlich ist es dein Kopf, den Petrefa abreißen wird, nicht meiner.« Seiblad wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Im Hintergrund des Restaurants leuchtete in diesem Augenblick ein riesiger Bildschirm auf. Eine junge Frau verkündete mit charmantem Lächeln, daß in den nächsten dreißig Minuten die allabendliche Nachrichtensendung der Agentur Infonews zu sehen sein werde. Seiblad kaute weiter lustlos an seinem Essen herum. Plötzlich sagte einer seiner Begleiter: »He, seht euch das an!« Seiblad blickte auf. Vom Bildschirm herab starrte ihn Algos Gesicht an. Es war voll getroffen. Man konnte die Angst in den Augen des Androiden sehen. Eine Stimme, deren Besitzer nicht sichtbar wurde, verkündete dazu: »Es ist für die Polizeibehörden von äußerster Wichtigkeit, mit diesem Mann in Kontakt zu kommen. Bürger, die diesen Mann im Laufe des vergangenen Tages gesehen haben, werden aufgefordert, sich umgehend mit der nächsten Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen.« »O, verdammt ...!« keuchte Kinke Seiblad. * »Erfolg?« fragte Brado Tannach, als er am nächsten Morgen sein Büro betrat. »Gleich null«, antwortete Reng Lazear in militärischer Knappheit. »Niemand hat den Mann gesehen?« erkundigte Tannach sich ungläubig. 33
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden schlossen zu haben. Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich war Signe und Fesso zugetan. Morgen, wenn nichts dazwischenkam, würde ich den ganzen Tag mit ihnen spielen. Auch Lille schien meine Anwesenheit als angenehm zu empfinden. »Wissen Sie«, sagte sie während des Essens, »mein Mann ist oft nicht zu Hause. Es geht uns nicht besonders gut. Ich glaube, er sucht nach Arbeit.« Der Art, wie sie das sagte, entnahm ich, daß sie ihren Mann in Wirklichkeit in einem ganz anderen Verdacht hatte. »Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie bei uns bleiben. Was Sie zum Essen brauchen, bringe ich schon noch zusammen. Als Gegenleistung können Sie mir vielleicht helfen, das Haus ein bißchen in Schuß zu bringen. Es braucht so viele Reparaturen, und mein Mann hat nie Zeit dazu.« Ich versprach zu tun, was in meiner Kraft stand. Das Herz wollte mir überquellen vor Freude darüber, daß sie mich eingeladen hatte, zu bleiben. Sollte ich sie in diesem herrlichen Augenblick darüber aufklären, daß ich keinerlei Geschicklichkeit besaß, daß meine Hände noch nicht eine Stunde ehrlicher Arbeit verrichtet hatten? Sicherlich nicht. Ich würde bleiben und lernen. In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ich wußte nicht, was in mich gefahren war. Ich träumte – zum ersten Mal in meinem Leben –, und in jedem meiner Träume spielte Lille Baffah eine entscheidende Rolle. Gegen Morgen mußte ich dann einigermaßen fest eingeschlafen sein. Ich erwachte, als die Tür zu meiner Kammer quietschte. Lille stand unter der Öffnung und lächelte mich an. Sie trug denselben dünnen Kittel wie am Tag zuvor, nur stand diesmal die Sonne, die zum anderen Ende des Hauses hereinschien, hinter ihr und machte den Stoff halb durchsichtig. »Aufstehen!« rief sie mir fröhlich zu. »Es ist schon heller Tag!« Verwirrt erhob ich mich. Zum Frühstück gab es einen fast geschmacklosen Brei und dazu ein bitteres, braunes Getränk, das Lille »Kaffat« nannte. Es belebte meine durcheinandergeratenen Geister. Nach dem Frühstück bestanden die Kinder darauf, daß ich mit ihnen spiele. Ich jedoch erinnerte mich an das Versprechen, das ich ihrer Mutter gegeben
»Wissen wir das genau?« »Natürlich. Sie haben insgesamt fünfzig Mann ausgeschleust, die die Stadt abkämmen. Sie haben sich in kleine Gruppen von drei oder vier Mann unterteilt und geben sich Mühe, unauffällig zu sein. Wir sind über jede ihrer Bewegungen informiert. Glauben Sie mir, die Brüder wissen womöglich noch weniger als wir.« Brado Tannach setzte sich. »Was also tun wir jetzt?« »Warten«, antwortete der Sergeant. * Ich verbrachte die Nacht in einer engen Kammer, in der die Frau aus Reisig und Laub eine Art Liege für mich aufgeschüttet hatte. Es gab nur ein einziges Fenster, von dem die untere Hälfte mit Plastikfolie verhängt war. Bevor ich mich niederlegte, hatte ich mit der Frau und den beiden Kindern zu Abend gegessen. Das Mahl war womöglich noch ärmlicher, als was wir Androiden in unserem Gemeinschaftsquartier vorgesetzt bekommen hatten. Aber Fesso und Signe hieben ein, als hätten sie ein Festmahl vor sich. Die Unterhaltung am Abendessentisch hatte sich nur zögernd entwickelt. Schuld daran war die eigenartige Beklemmung, die ich in der Nähe der Frau empfand. Sie hieß Lille. Ich fand den Namen schön, obwohl ich mir noch nie zuvor Gedanken darüber gemacht hatte, wie man bei Namen schöne und unschöne unterscheidet. Ich fand überhaupt alles an ihr schön. Die Kinder setzten ihr umständlich auseinander, daß ich nur einen Namen hätte: Algo. Sie fragte mich, was ich arbeite, und ich redete so zögernd darum herum, daß sie schließlich zu dem Schluß gelangte, ich müsse ein Landstreicher sein. Ich ließ sie bei dem Glauben. Ich war ein Landstreicher, nicht wahr? Ein Mann – jetzt nannte ich mich schon selber Mann! – ohne regelmäßige Arbeit, ohne Wohnsitz, ohne Ziel, außer einem reichlich verschwommenen, und ohne Mittel, wenn man von den zweihundert Solar absah, die ich dem Kleinen und seinem Begleiter an Bord der ORBAG MANTEY abgenommen hatte. Die Kinder schienen mich in ihr Herz ge34
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Ich tappte dorthin. Die Küche hatte ein größeres Fenster als die anderen Räume der Hütte. Lille stand vor dem Herd und hielt einen großen Becher mit Wasser in beiden Händen. Sie war nackt. Der Anblick traf mich mit der Wucht eines elektrischen Schocks. Ich ging auf sie zu. Ich breitete die Arme aus und zog sie an mich. Sie ließ den Becher einfach fallen. »Endlich begreifst du ...«, flüsterte Lille.
hatte, und erklärte ihnen, daß ich zunächst meine Mahlzeiten verdienen müsse. Der traurige Blick ihrer Augen tat mir weh, aber gleichzeitig erfaßte mich Erregung bei dem Gedanken, einen ganzen Tag lang mit Lille allein zu sein. Die Kinder machten sich auf den Weg zu ihrem Spielplatz. Lille blieb im Haus, um ihren verschiedenen Aufgaben nachzugehen. Sie besaß keines der automatischen, arbeitssparenden Geräte, die in anderen Haushalten seit Jahrhunderten zur Selbstverständlichkeit gehörten. Ich dagegen schlug mich hinaus in den Garten und begann, ihn von Unkraut zu säubern. Ich arbeitete verbissen. Meine Gedanken waren bei Lille, seltsame Gedanken, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Sie kamen von selbst, ohne daß ich sie gerufen hatte, und bohrten in meinem Bewußtsein herum. Ich versuchte, sie abzuschütteln. Ich arbeitete noch verbissener als bisher. Aber die Gedanken blieben. Der Schweiß rann mir vom Leib. Ich zog das Oberteil meiner Montur aus und bot die blasse Haut des Oberkörpers der Sonne dar. Die Sonne biß und brannte und verursachte mir Schmerzen. Ich aber konnte noch immer an nichts anderes denken als Lille. Wieviel Stunden vergangen waren, als sie mich ins Haus rief, konnte ich nicht sagen. Ich hatte jedes Gefühl für die Zeitrechnung verloren, und der zur Hälfte von Unkraut befreite Garten zeugte von der Verbissenheit, mit der ich mich an die Arbeit gemacht hatte. »Du mußt durstig sein!« rief Lilles helle Stimme. Ich richtete mich auf und bog den schmerzenden Rücken durch. Heute morgen, beim Frühstück, hatte Lille noch die formelle Anrede gebraucht. Jetzt nannte sie mich »du«. Das verwirrte mich. »Ich bin durstig«, gab ich zu. »Dann komm herein und trink' was!« rief sie zurück. Als ich ins Haus trat, aus dem grellen Sonnenschein in die dämmrige Kühle, konnte ich zunächst nichts sehen. »Lille!« rief ich. »Wo bist du?« Die vertrauliche Anrede kam mir wie von selbst über die Lippen. »Hier«, antwortete sie aus dem kleinen Verschlag, der die Küche darstellte.
* Es ist erstaunlich, was eine Fehlprogrammierung alles zuwege bringt. In letzter Konsequenz vermag sie sogar zu beweisen, daß wir Androiden, wie grotesk auch die Umstände gewesen sein mögen, die bei unserer Erzeugung mitgewirkt haben, im Grunde nichts anderes als Menschen sind. Man sagte uns Androiden nach, wir seien ungeschlechtlich. Sobald jedoch die Programmierung versagt, erweist sich, daß das eine Lüge ist. Dieser Tag machte aus mir einen Menschen. Es war, als hätte mir zur menschlichen Vollkommenheit die ganze Zeit über ein wichtiges Stück gefehlt, das ich nun plötzlich gefunden hatte. Ich war nun ein Ganzes. Ich hatte sämtliche Emotionen empfunden, deren die menschliche Seele fähig war, einschließlich der der Liebe. Lille hatte meine weiße Haut gesehen, ohne sich davor zu ekeln. Sie hatte meinen kahlen Schädel gesehen, als mir die Perücke herabfiel, und verlor kein Wort darüber. Am Nachmittag arbeitete ich nur mit halber Kraft. Immerhin war der Garten zu drei Vierteln von Unkraut befreit, als die Kinder nach Hause kamen. Lille hatte sich dazu überreden lassen, ein wenig Geld von mir anzunehmen. Sie war einkaufen gegangen. Das Resultat war ein Abendessen, das dem des vergangenen Abends um wenigstens fünf Güteklassen überlegen war. Allerdings wurde uns allen der Appetit gründlich vergällt. Wir hatten kaum zu essen begonnen, da erschien Lilles Mann, Kolim Baffah. Er war mir auf den ersten Blick widerwärtig. Von gedrungenem Körperbau, ging er vornübergebeugt und wirkte dadurch noch kleiner. Er hatte breite Schultern und einen Stiernacken. Sein Gesicht wirkte aufgedun35
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden 8.
sen, und die Augen waren blutunterlaufen. Er betrat schwankenden Schritts die Hütte und schien Mühe zu haben, seine Augen so zu fokussieren, daß er uns erkennen konnte. Er trat vor den Tisch hin und stemmte die Arme in die Hüften. Selbst im Stehen schwankte er noch. »So ist das also, wenn ich weg bin!« stieß er hervor und fletschte die Zähne. »Meine Frau nimmt sich einen Liebhaber!« »Das ist Algo«, rief Fesso vorwitzig. »Er spielt mit uns!« Schneller, als ich zuschauen konnte, wischte Kolim Baffahs grobknochige Hand nach links und fuhr dem Knaben mitten ins Gesicht. Fesso schrie auf, versuchte auszuweichen und stürzte mitsamt seinem Stuhl um. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, verschwand er in der nächsten Kammer. Ich stand auf. »Laß die Kinder aus dem Spiel, Baffah!« rief ich wütend. »Was geht's dich an?« fauchte er. »Sind meine Kinder, nicht wahr?« Er kam um den Tisch herum und baute sich vor mir auf. »Und überhaupt – was hast du hier zu suchen?« fragte er gefährlich ruhig. »Ich hab' dein Gesicht schon irgendwo gesehen! Ja, jetzt weiß ich's! Die Polizei sucht nach dir. Und so ein Lump kommt ins Haus, und meine Frau läßt sich mit ihm ein?« Voller Wut drang er auf mich ein. Er ballte die Faust und zielte nach meinem Gesicht. Ich jedoch schlug ihm den Arm beiseite. Ich bekam ihn um den Leib zu fassen, hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen die Wand. Es gab einen donnernden Krach, und einen Atemzug lang drohte das Haus aus den Fugen zu gehen. Kolim Baffah sank an der Wand herab und blieb mit geschlossenen Augen reglos liegen. Ich hob die Hände und betrachtete sie voller Unglauben. Heute nachmittag hatte ich geglaubt, ein vollkommener Mensch zu sein. Jetzt wußte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Jetzt erst war die Vollkommenheit erreicht. Eines hatte mir immer noch gefehlt: der hemmungslose Zorn einem Menschen gegenüber. Ich hatte einen Menschen niedergeschlagen ...!
Etwas trieb mich aus dem Haus. Ich mußte hinaus ins Freie, Luft schnappen. Ich wanderte durch den von Unkraut befreiten Garten und darüber hinaus durch das Gestrüpp, das die Ebene am Rand der Stadt bedeckte. Ich atmete tief, um meiner Erregung Herr zu werden. Es war dunkel geworden. Graue Vögel, durch die Geräusche meiner Schritte aufgeschreckt, strichen an mir vorbei. Ich wußte nicht, wohin ich ging, und ich zählte die Minuten nicht. Als ich schließlich umkehren wollte, war es ringsum finster, und ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung Lilles Haus lag. Ich schritt, so gut ich es konnte, dorthin zurück, woher ich gekommen war. Mehr als eine Stunde mußte vergangen sein, als ich zur linken Hand ein gelbes Licht durch das Dickicht leuchten sah. Ich hielt darauf zu. Als ich näher kam, erkannte ich das Haus der Baffahs. Lille hatte die Kinder zu Bett gebracht und den Tisch abgeräumt. Sie sah besorgt aus. Von Kolim Baffah war keine Spur. »Wo ist er?« fragte ich. Sie hob die Schultern. »Er war zehn Minuten lang bewußtlos. Die Kinder und ich hatten uns versteckt. Wir dachten, er würde uns in seiner Wut verprügeln, wenn er wieder zu sich kam. Er machte sich jedoch nicht einmal die Mühe, nach uns zu suchen. Er stürmte aus dem Haus und verschwand.« »Sagte er etwas?« »Ich hörte ihn murmeln«, antwortete Lille. »Es klang wie: ... dem Kerl eins auswischen.« Das klang besorgniserregend. »Der Kerl« war ohne Zweifel ich selbst, und obwohl ich keine Ahnung hatte, wie Kolim Baffah mir »eins auswischen« wollte, traute ich ihm dennoch zu, daß er keine Mühe scheuen würde. »Wo ging er hin?« fragte ich. »Ich meine, wo hält er sich normalerweise auf? Hat er Freunde? Gibt es jemand, zu dem man über ihn sprechen kann?« Lille schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Kolim Baffah hat keine Freunde mehr«, antwortete sie. »Man weiß auch nicht, wo er sich aufhält. Er hat keine festen Ge36
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Schutz nehmen. Wie dem auch sein mochte: Es gab wahrscheinlich eine dritte Partei, die ebenfalls nach Algo suchte. Von der Polizei, wenn Kolim sich dorthin wandte, war keinerlei materieller Vorteil etwa in Form einer Belohnung zu erwarten. Vielleicht zeigte sich die andere Seite da großzügiger. Allerdings mußte die andere Seite erst gefunden werden. An dieser Stelle kam Kolim Baffahs Plan ins Spiel. Er hatte von seiner dreitägigen Zechtour noch ein paar kleine Geldmarken übrig. Damit nahm er sich am Rand der Stadt einen Mietwagen und fuhr bis zur nächsten öffentlichen Bildsprechzelle. Die Benutzung der öffentlichen Kommunikationsmittel auf Plophos war gebührenfrei. Kolim wählte den Anschlußkode des Polizeihauptquartiers und wurde mit einem Informationsrobot verbunden. »Ich möchte den Offizier sprechen, der die Suche nach dem Unbekannten leitet, dessen Gesicht seit gestern bei jeder Nachrichtensendung zu sehen ist«, erklärte Kolim, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Bildübertragung in der Tat nicht eingeschaltet war. »Hauptmann Tannach«, antwortete der Robot ohne Zögern. »Zu dieser Zeit nicht im Dienst. Ich verbinde Sie mit seinem Vertreter, Leutnant Sziko.« Es knackste. Nach kurzer Zeit meldete sich eine klare, harte Stimme: »Sziko. Warum haben Sie die Bildübertragung abgeschaltet?« »Das können Sie sich doch denken«, grinste Kolim. »Erst muß ich sehen, ob wir miteinander ins Geschäft kommen können.« »Die Polizei macht keine Geschäfte«, wies die harte, militärische Stimme das Ansinnen zurück. »Wovon reden Sie überhaupt?« Kolim konnte sich den Mann deutlich vorstellen: groß, schlank, jung, gerade aus der Akademie entlassen, ein Idealist. »Wir beide suchen denselben Mann«, sagte Kolim. »Ich nehme an, daß Sie ihm nicht wirklich etwas anhaben wollen; denn er hat nichts verbrochen. Auch wir wollen ihm nichts Böses. Wir wollen mit ihm sprechen, das ist alles. Da ihm also weder von Ihnen, noch von uns Gefahr droht, ließe es sich doch wohl ermöglichen, daß wir die Suche gemein-
wohnheiten mehr. Früher einmal war er ein aufrechter, strebsamer Mann, der seiner Arbeit nachging und seine Familie mit allem versorgte, was er brauchte. Er ist zwanzig Jahre älter als ich. Daran mag es liegen, daß er plötzlich zu glauben begann, er sei mir in körperlicher Hinsicht nicht mehr gewachsen. Weiß Gott, ich versuchte, ihm das Hirngespinst auszutreiben; aber es fraß sich in seinem Verstand fest. Schließlich raffte er alles Geld zusammen und unterzog sich einer kostspieligen Transplantation. Er ließ eine Drüse austauschen. Als er nach der Operation nach Hause kam, war er nicht mehr derselbe. Er beschuldigte mich der Untreue. Die Operation war in biologischer Hinsicht ein Erfolg, aber Kolim wollte nicht daran glauben. Er übergoß mich mit Mißtrauen und zerfleischte sich damit selbst. Er verlor den Halt. Die Transplantation hatte unsere letzten Geldmittel verschluckt. Kolim verlor seine Stellung. Er tat nur noch Gelegenheitsarbeiten. Davon und von den staatlichen Zahlungen konnten wir einigermaßen leben, wenn wir auch unsere Wohnung in der Stadt aufgeben und in diese Hütte herausziehen mußten. Dann jedoch fing Kolim an zu trinken und Rauschgift zu nehmen. Für diese Dinge verbraucht er mehr als die Hälfte des Geldes, und seitdem geht es mit der Familie stetig bergab.« Ihre Darstellung erschütterte mich. Ich entdeckte ein neues Gefühl im verwirrend breiten Spektrum menschlicher Emotionen: das Mitleid. Dieser Frau mußte geholfen werden, ebenso wie den hilflosen Androiden an Bord der ORBAG MANTEY. In seiner Primitivität war Kolim Baffahs Plan von erschreckender Zielsicherheit. Die Behandlung, die ihm von Algo widerfahren war, hatte die letzten Spuren der Trunkenheit beseitigt. Kolim Baffah war nüchtern, und er wußte genau, was er wollte. * Algo wurde von der Polizei gesucht. Die Suchmeldung klang nicht so, als liege gegen den Mann etwas vor. Die Polizei wollte sich vermutlich mit dem Mann unterhalten, oder sie hatte in Erfahrung gebracht, daß ihm von dritter Seite Gefahr drohe, und wollte ihn in 37
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden anzurufen. Hauptmann Tannach meldete sich sofort. »Was gibt's?« fragte er knapp. Leutnant Sziko berichtete von dem mitternächtlichen Anruf. Er schilderte nur, was geschehen war – ohne jeden Zusatz, ohne Versuch, seine Gutgläubigkeit zu entschuldigen. Das schien Eindruck zu machen. Der Spott blieb aus. »Sie wissen, worauf der Kerl aus wahr, nicht wahr?« erkundigte sich Tannach. »Ich bin nicht ganz sicher, Sir«, antwortete der Leutnant. »Er hat sich irgendwie ausgerechnet, daß, wenn die Polizei nach dem Unbekannten sucht, es womöglich noch eine zweite Partei gibt, die die gleiche Art von Suche betreibt. Der Anrufer scheint wichtige Informationen zu besitzen. Aber er will sie nicht umsonst hergeben. Von uns kann er nichts erwarten; also wendet er sich an die andere Partei. Er kennt sie jedoch nicht. Er ruft also uns an, um auf schlaue Weise herauszufinden, wer die andere Partei ist. Sie haben es ihm gesagt: ORBAG MANTEY war das Stichwort. Ich wette, daß er in diesem Augenblick schon wieder am Bildsprech hängt und mit dem Zirkus-Raumschiff spricht.« Leutnant Sziko machte ein zerknirschtes Gesicht. »Welche Anweisungen haben Sie für mich, Sir?« erkundigte er sich bescheiden. »Holen Sie Reng Lazear aus den Federn«, befahl Tannach. »Sagen Sie ihm, er soll fünf Mann mitbringen und Verbindung mit dem Schatten aufnehmen, den er den Leuten von der ORBAG MANTEY angehängt hat. Wir treffen uns in vierzig Minuten im Hauptquartier!«
sam betreiben.« Der Mann am anderen Ende zögerte eine Weile. »Ich bin nicht befugt, solche Absprachen zu treffen«, erklärte er schließlich. »Da müssen Sie sich schon an Hauptmann Tannach wenden. Wie hatten Sie sich die Zusammenarbeit vorgestellt?« Kolim spürte, wie er Oberwasser bekam. Der Fisch biß an. »Wir haben so unsere Vermutungen, wo der Mann sich womöglich aufhält ...« »Wie heißt er übrigens?« fiel Sziko ihm ins Wort. »Algo«, fuhr es Kolim heraus. »Schön. Weiter?« »Nur haben wir nicht zu all diesen Orten freien Zutritt. Den sollten Sie uns verschaffen.« »Halten Sie den Mann für gefährlich?« »Er ist bewaffnet und ziemlich sensibel«, antwortete Kolim aufs Geratewohl. »Sie wollen sich selbst an der Suche beteiligen?« »Wenn Ihnen das recht ist«, antwortete Kolim bescheiden. »Wieviel Mann können Sie abstellen?« »Einhundert, wenn es sein muß.« Sziko pfiff zwischen den Zähnen hindurch: »Dachte nicht, daß Sie von der ORBAG MANTEY soviel freies Personal haben«, brummte er vor sich hin. In diesem Augenblick legte Kolim auf. * »He, sind Sie noch da?« rief Sziko. Er hieb mehrmals auf die Rückstelltaste, aber die Leitung blieb tot. Es dauerte fast eine Minute, bis ihm klar wurde, daß er hereingelegt worden war. Er brauchte eine Zeitlang, um die ungeheuerliche Erkenntnis zu verdauen. Noch wußte er nicht, was der nächtliche Anrufer eigentlich gewollt hatte. Aber auf eine Zusammenarbeit mit der Polizei in der Suche nach dem Unbekannten von der ORBAG MANTEY war er sicherlich nicht aus gewesen. Sziko wußte, was er zu tun hatte. Er fürchtete seines Vorgesetzten beißenden Spott; aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn
* »Großzirkus ORBAG MANTEY«, sagte die Stimme. »Zentrale Vermittlung.« »Sie suchen einen Mann«, meldete sich Kolim Baffah. »Name: Algo. Ich weiß, wo er ist.« Der Mann, der in dieser Nacht den Dienst in der Kommunikationszentrale versah, gehörte zu den Eingeweihten. »Sagen Sie's!« verlangte er. 38
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Lazear salutierte leger. »Sergeant Lazear mit fünf Mann zur Stelle«, meldete er. »Was hat der Schatten zu sagen?« erkundigte sich Tannach. »Nichts Aktuelles«, erhielt er zur Antwort. »Der Gegner verhält sich vorläufig ruhig. Aber er hat in Erfahrung gebracht, wer der Leiter des Suchtrupps ist, den die ORBAG MANTEY hinter unserem Freund hergeschickt hat.« Tannach blickte ihn fragend an. »Er heißt Kinke Seiblad«, berichtete der Sergeant. »Er ist ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem großen Schädel. Angeblich rechte Hand des Zirkusbesitzers Amlor Petrefa.« »Demnach scheint die Sache wichtig zu sein«, mutmaßte Tannach. »Das sage ich auch«, pflichtete Lazear ihm bei. »Ich möchte einmal die Aufnahme des Telefongesprächs hören, das um Mitternacht hier angenommen wurde.« Leutnant Sziko, der die längere Erfahrung des Sergeanten für wichtiger hielt als seinen höheren Rang, war gern behilflich. Das Band wurde zurückgespielt. Reng Lazear bekam die Unterhaltung noch einmal zu hören. Sein Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an. »Was ist?« fragte Tannach spöttisch. »Du hast schon lange nicht mehr so intelligent dreingesehen wie gerade jetzt.« »Ich kenne die Stimme«, sagte Lazear düster. »Ich habe sie vor kurzem schon einmal gehört. Wenn ich nur wüßte, wo das war!« Er strengte sich an; aber sein Gedächtnis wollte die gesuchte Information nicht herausrücken. Die Zeit verging. Der Bildsprech summte. Das Gerät stand auf Lazears Tisch. Er schaltete den Empfänger ein und löste sich aus der Nachdenklichkeit, als er den Mann erkannte, den er mit der Beschattung des Suchtrupps von der ORBAG MANTEY betraut hatte. »Der Gegner setzt sich in Bewegung«, meldete der Mann. »Alle, oder nur bestimmte Gruppen?« wollte der Sergeant wissen. »Vorläufig zwei Gruppen. Eine davon unter Führung von Kinke Seiblad persönlich.«
»Oho!« protestierte Kolim. »Nicht so schnell, mein Freund! Was ist Ihnen die Sache wert?« »Nichts«, lautete die Antwort. »Gut. Dann kann ich auch zur Polizei gehen. Die ist mir sympathischer und zahlt genausoviel wie Sie.« »Halt!« klang es vom andern Ende der Leitung. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß wir nach Algo suchen?« »Die Polizei hat mir's gesagt«, antwortete Kolim wahrheitsgemäß. »Im übrigen habe ich nicht soviel Zeit, Ihnen den ganzen Hergang zu erzählen. Entweder sind Sie interessiert. Dann bringen Sie mich mit den richtigen Leuten in Verbindung. Oder Sie sind es nicht. Dann hänge ich auf!« »Wir sind interessiert«, antwortete es von der anderen Seite. »Ich bringe Sie mit einem Mann in Verbindung, der die Suche nach Algo leitet. Wo befinden Sie sich jetzt?« »Das geht Sie nichts an«, wies Kolim die Frage zurück. »Im Zweitausender-Block der Thora-Allee gibt es eine Reihe öffentlicher Bildsprechzellen. Ihr Mann soll genau um ein Uhr die nördlichste Zelle betreten und dort auf meinen Anruf warten. Haben Sie das?« »Ich habe es«, antwortete der Mann von der ORBAG MANTEY. »Wenn Sie mit ihm sprechen«, fügte Kolim hinzu, »machen Sie ihm klar, daß ich ihn auf dem geradesten Weg zu Algo führen kann. Er hält sich in dieser Stadt auf. Aber für mich soll aus dem Handel etwas herausspringen. Sagen wir: fünftausend Solar.« Die ORBAG MANTEY antwortete nicht mehr. Die Verbindung war unterbrochen. Kolim Baffah trat aus der Zelle hinaus in die frische Kühle der Nacht. Er rieb sich die Hände. Der junge Tag ließ sich gut an. * Es war nicht ganz ein Uhr morgens, aber Reng Lazear hatte schon wieder Appetit. Er kaute auf einem Keksriegel, als er, gefolgt von fünf Polizisten, das Büro betrat, in dem er tagsüber gemeinsam mit Brado Tannach regierte. Tannach war bereits anwesend. Der junge Leutnant vom Nachtdienst machte einen betretenen Eindruck. 39
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »Wir sind die Ablösung«, meldete er. »Seiblad hat die Stadt in östlicher Richtung verlassen. Er wich von der Ausfallachse ab und nahm mehrere Seitenstraßen. Seine zwei Gleiter haben inzwischen angehalten. Sie befinden sich etwa dreihundert Meter vor uns unmittelbar am Rand der Stadt. Die Straße geht dort in einen Feldweg über. Vor uns erstreckt sich unbebautes Gelände. Ich weiß nicht, was es da draußen für Seiblad zu suchen gibt. Vorerst scheint er zu warten, wahrscheinlich auf den Rest seiner Leute.« Lazear sprang plötzlich auf. »Beschreiben Sie die Stelle genau!« forderte er den Berichterstatter auf. Er erhielt präzise Angaben über Kinke Seiblads derzeitigen Standort. Er suchte die Stelle auf einem Stadtplan, den die Informatik auf Knopfdruck an die Wand projizierte. Reng Lazear schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Oh, ich Esel!« stöhnte er. »Die ganze Zeit über hätte ich es schon wissen können!« »Was ...?« fragte Tannach knapp. »Die Stimme! Ich habe mit dem Mann erst vor wenigen Tagen gesprochen. Er wohnt dort draußen im Gestrüpp vor der Stadt. Erinnern Sie sich? Der Mann mit der Drüsenoperation, der sich nicht gemeldet hatte? Kolim Baffah oder so ähnlich ...«
»In Ordnung. Wohin?« »Ich bin ihnen auf den Fersen. Im Moment bewegen sie sich noch. Sie fahren die ThoraAllee in nördlicher Richtung.« Er wandte den Blick zur Seite, während er offenbar aus dem Fenster seines Gleiters sah. »Sie halten an«, fuhr er aufgeregt fort. »Seiblad hat unmittelbar vor einer Batterie Bildsprechzellen angehalten. Mitten im Zweitausender-Block. Er betritt die am nördlichsten gelegene Zelle ...« Lazear sah auf. »Kontaktaufnahme mit dem unbekannten Anrufer«, mutmaßte Tannach. Der Sergeant nickte. »Ich bin etwa zweihundert Meter weiter die Allee hinaufgefahren«, meldete der Schatten, »und halte jetzt am Straßenrand. Seiblad führt ein erregtes Gespräch, soweit von hier aus zu erkennen ist. Er ist ... ja jetzt ist er fertig. Er tritt aus der Zelle ... spricht mit seinen Leuten ... sie steigen ein und ... nein, die Fahrzeuge setzen sich noch nicht in Bewegung ...« Lazear wartete gespannt. Inzwischen hatte auch Tannach seinen Empfänger eingeschaltet und folgte dem Bericht mit wachsendem Interesse. »Seiblad ruft seine Leute zusammen«, vermutete er. »Jetzt ... jetzt fahren die beiden Gleiter ab!« rief der Schatten. »Ich nehme die Verfolgung auf ... werde mich wahrscheinlich ablösen lassen müssen, damit sie nicht mißtrauisch werden. Sie schlagen die östliche Ausfallstraße ein. Ich melde mich bald wieder ...!« Die Verbindung wurde unterbrochen. »So, wie ich die Sache sehe, hat Seiblad sich mit dem unbekannten Anrufer geeinigt«, spekulierte Tannach. »Wahrscheinlich auf eine Abfindung oder Belohnung. Nach meiner Ansicht ist Seiblad jetzt auf dem Weg, die Belohnung zu bezahlen und die Information über Algos Aufenthalt in Empfang zu nehmen.« Reng Lazear hatte von neuem zu grübeln begonnen. Der halb vertraute Klang der Stimme, die um Mitternacht zu Leutnant Sziko gesprochen hatte ließ ihn nicht los. Wo hatte er sie schon einmal gehört? Eine Viertelstunde verging. Da sprach der Bildsprech wieder an. Der Mann auf dem kleinen Bildschirm war ein anderer als der, mit dem der Sergeant zuvor gesprochen hatte.
9. Lille hatte mich in ihr Gemach aufgenommen, das sie früher mit Kolim Baffah teilte. Ich war müde und zerschlagen, trotzdem schlief ich unruhig und schrak des öfteren aus dem Halbschlaf auf. Einmal war es mir, als ob ich draußen Geräusche hörte. Aber ich war zu faul, um nachzusehen und legte mich wieder hin. Ich mußte wieder eingeschlafen sein, aber der Schlaf konnte nur ein paar Minuten gedauert haben. Plötzlich war es ringsum blendend hell, und das Geräusch aufgeregter Stimmen erfüllte die Luft. »Da ist das Schwein!« hörte ich jemand schreien. Ich erkannte die Stimme. Sie gehörte Kolim Baffah. Er und mehrere andere Männer standen in Lilles Gemach. Ich sah mich um. Lille war verschwunden. Anscheinend hatte sie den 40
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Das war die Stimme des Kleinen Schmächtigen mit dem dicken Schädel. Der Mann mit dem Blaster in der Hand nickte mir zu. »Du hast gehört, was er sagt«, knurrte er. »Wir werden dich fesseln.« Ich deutete auf meine Kleider, die in der Ecke lagen. »Vielleicht könnte ich mir erst etwas überziehen«, schlug ich vor. »Ihr wollt doch nicht einen Nackten durch die Stadt transportieren oder?« Er war damit einverstanden. Gleichzeitig gab er einem seiner Leute den Befehl, im Haus nach Stricken zu suchen, mit denen ich gefesselt werden könne. Ich ließ mir Zeit beim Ankleiden. Die beiden Waffen wogen schwer in den Taschen; aber der Mann, der hier das Wort führte, ließ mich nicht aus den Augen. Er war schußbereit. Ich brauchte nur die geringste verdächtige Bewegung zu machen, und er drückte auf den Auslöser. Draußen rumorte einer der Leute in der Küche herum. Ich hörte ihn fluchen. Er fand keinen Strick. »Wo ist deine Frau?« fragte der Mann mit der Waffe Kolim Baffah. »Sie muß wissen, wo sie die Leinen aufbewahrt.« Der Gedanke an Lille schien Kolim mit frischer Wut zu erfüllen. »Ich weiß nicht, wo die Schlampe steckt«, stieß er hervor. »Warte, ich gehe sie suchen.« »Nicht nötig«, sagte ich. »Ich weiß, wo in diesem Haus solche Dinge aufbewahrt werden.« Ich wußte es nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob es in Lilles Haushalt überhaupt auch nur einen einzigen Strick gab. Aber ich mußte die Szene in Bewegung bringen. So, wie die Lage war, mußte ich mich glücklich preisen, daß die Männer von der ORBAG MANTEY nur mit Blastern bewaffnet waren. Hätten sie Schocker getragen, wäre mir die Atempause nicht zuteil geworden, die sich aus der Suche nach Fesseln ergab. Ich hatte noch ein zweites Anliegen. Es ging nicht nur darum, daß ich Gelegenheit bekam, meine Waffen zu gebrauchen; ich mußte außerdem noch darauf achten, daß der Kampf, der sich daraus entwickeln würde nicht innerhalb des Hauses entbrannte. Lille und die Kinder befanden sich hier. Sie durften
Lärm gehört und im letzten Augenblick noch in den Nebenraum ausweichen können. Einer der Männer riß mir die Decke vom Leib und befahl mir, aufzustehen. Ich gehorchte. In der Ecke auf dem Boden lag meine Montur, in den Taschen die beiden Waffen, die ich an Bord der ORBAG MANTEY an mich gebracht hatte. Ich war nackt und hilflos. Und obendrein wütend. Kolim Baffah stand unter der Tür. Seine Augen blitzten gehässig, aber er fürchtete sich, mir nahe zu kommen. Unsere erste Begegnung war ihm noch gut in Erinnerung. Ich griff unwillkürlich nach dem Schädel. Die Perücke saß noch so, wie ich sie mir vor dem Zubettgehen zurechtgeklebt hatte. »Das ist er!« keifte Kolim. »Erkennt ihr ihn?« »Ja, wir erkennen ihn«, sagte einer der Männer und hielt mir die Mündung einer Strahlpistole entgegen. »Dann könnt ihr ja endlich zahlen«, rief Kolim. »Gebt mir das Geld, nehmt den Mann und verschwindet!« »Immer mit der Ruhe«, sagte der Sprecher der Bewaffneten, ohne den Blick von mir zu wenden. »Was jetzt geschieht, darüber muß Seiblad entscheiden.« Seiblad – den Namen hatte ich schon einmal gehört. Kinke Seiblad! Einstein hatte mir auseinandergesetzt, daß er die rechte Hand des Zirkusbesitzers war. Ich begann zu verstehen. Die Leute von der ORBAG MANTEY hatten mich gefunden und waren gekommen, um mich zurückzuholen. Anscheinend hatte Kolim Baffah sie hierhergebracht. Woher er die Zusammenhänge kannte, das wußte ich nicht. Es spielte auch keine Rolle. Der kritische Augenblick war gekommen. Entweder, es fiel mir etwas ein, oder ich war in fünfzehn Minuten wieder an Bord der ORBAG MANTEY. Und ein zweites Mal würden sie mich nicht entkommen lassen, dessen war ich sicher. Der Sprecher der Zirkus-Leute wandte den Kopf und rief zur offenen Tür hinaus: »Seiblad, wir haben den Kerl! Was sollen wir mit ihm machen?« Von draußen antwortete eine helle Stimme, die ich nur zu gut kannte: »Bindet ihn und bringt ihn heraus!« 41
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden von ihm mißhandelt wurde. Wie der Kampf ausgegangen wäre, weiß ich nicht. Vielleicht war es mein Glück, daß er nie zustande kam. Ich sah huschende, schattenhafte Gestalten und ein paar Männer, die der Lichtkegel hell beleuchtete. Ich hatte die Waffe im Anschlag und war bereit, abzudrücken. Da flammte hinter dem Gebüsch, das das kleine Anwesen der Baffahs umgab, plötzlich greller Lichtschein auf. Es war ein Ring von blauweißem Licht, der das Haus völlig umgab. Gleichzeitig klang ein Lautsprecher auf. Eine dröhnende Stimme verkündete: »Hier ist die Polizei! Das Haus ist umstellt. Jedermann innerhalb des Polizeikordons hat sich als verhaftet zu betrachten.« Zwei oder drei Sekunden lang war es totenstill. Dann plötzlich kreischte seitwärts Kinke Seiblads Stimme auf. Er mußte verrückt geworden sein. Er schrie so laut, daß man ihn zwei Kilometer weit hören konnte. Er rief: »Laßt euch nicht ins Bockshorn jagen, Leute! Wehrt euch!« Ich huschte weiter zur Seite und drückte mich fest gegen den Boden; denn ich glaubte zu wissen, was jetzt kommen würde.
nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich marschierte also auf den Ausgang zu. Die Männer von der ORBAG MANTEY folgten mir. Kolim Baffah war zur Seite getreten und ließ die Leute an sich vorbei. »Halt! Was willst du dort draußen?« rief der Mann, der mir mit seiner Blastermündung immer noch genau auf den Leib zielte. »Nach Stricken suchen«, antwortete ich ungeduldig. »Ich sagte doch, daß ich wüßte, wo es welche gibt.« »Lampe!« befahl er. Jemand brachte eine Lampe zum Vorschein. Ich schob die alte Tür beiseite und trat hinaus in die Dunkelheit. Es blieb jedoch nicht lange dunkel. Plötzlich war der Lampenträger an meiner Seite und leuchtete halb mich an, halb vor mir her. Ich sah die Gestalten weiterer Leute, die über den Garten verteilt standen. Kinke Seiblad mußte eine halbe Kompanie mitgebracht haben. Meine Zuversicht ließ ein wenig nach. Wie sollte ich mich mit so vielen Gegnern einlassen können? »Was will der Kerl hier draußen?« rief eine Stimme seitwärts aus der Dunkelheit. Es war Seiblads Stimme. Ich konnte nicht sehen, wo er stand. Der Mann hinter mir erklärte ihm, worum es ging. »So ein Unsinn!« schimpfte Seiblad. »Gebt ihm eins über den Kopf, dann braucht ihr nicht nach Fesseln zu suchen!« Das war der Augenblick höchster Gefahr. Wenn sie mich jetzt bewußtlos schlugen, war alles verloren. Ich mußte jetzt handeln ... oder nie. Ich ließ mich vornüberfallen. Der verdutzte Mann mit der Lampe verlor mich für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Lichtkegel seines Leuchtgeräts. Er stieß einen Warnruf aus. Während er nach mir suchte, rollte ich mich blitzschnell zur Seite. Die Lampe leuchtete nach unten. Ich stieß mit dem Rücken gegen einen der Büsche. Ich kauerte mich in seine Deckung. Die Hand fand wie von selbst den Griff des Schockers, den ich in der rechten Tasche trug. Ich wollte nicht töten. Noch war in mir ein Überrest des Minderwertigkeitskomplexes, der dem Androiden einzureden versucht, daß er weit unter dem Menschen stehe und daß er dem Menschen niemals ein Leid zufügen dürfe, selbst wenn er
* Auf der Fahrt zum östlichen Stadtrand hielt Brado Tannach ständig Funkverbindung mit dem Posten, der die Leute von der ORBAG MANTEY beobachtete. Als er hörte, daß Kinke Seiblad mehr als zwanzig Mann um sich herum zusammenzog, forderte auch er Verstärkung an und beorderte die zusätzliche Mannschaft an einen Punkt, der etwa achthundert Meter nördlich des Ortes lag, an dem Seiblad seine Kräfte sammelte. Es ging auf zwei Uhr, als Brado Tannachs Streitmacht endlich vollzählig war. Der Posten, der Seiblad beobachtet hatte, war inzwischen abberufen worden. Er meldete, daß Seiblad sich mit seiner gesamten Truppe vor wenigen Minuten ostwärts in Bewegung gesetzt habe. Eines ihrer insgesamt vier Fahrzeuge nahmen sie mit, die übrigen drei blieben am Ende der Straße zurück. Das sah so aus, als befürchte Seiblad Komplikationen. Tannachs Truppe ließ sämtliche Fahrzeuge 42
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden kleinen, schmächtigen Gestalt mit einem großen Schädel. Es war also Kinke Seiblad, den er vor sich hatte. Seiblad bewegte sich mit Geschick. Seine schmächtige Statur kam ihm dabei zugute. Er wand sich durch das Gebüsch und war kurze Zeit später wieder in der Finsternis verschwunden. Brado Tannach hielt sich in die Richtung, in der er ihn hatte verschwinden sehen. Von rechts her näherte sich jemand mit lautem Keuchen und stampfenden Schritten. Brado konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen. »Wenn du nicht soviel fräßest, brauchtest du nicht wie ein Nilpferd zu schnaufen!« Ein verächtliches Brummen war die Antwort. Von vorne war plötzlich das Summen eines Motors zu hören. Brado dachte an den Gleiter, den Seiblad und seine Leute mitgebracht hatten. Er warf sich mit voller Wucht ins Unterholz, um eine Bresche zu schlagen und schneller vorwärtszukommen. Die rasche Bewegung rettete ihm das Leben. Ein Strahlschuß fauchte über ihn hinweg und hätte ihn in die Brust getroffen, wenn er noch gestanden hätte. Im gleißenden Licht der Energiesalve sah er eine kleine Lichtung, auf der ein Gleiter stand, der eben im Begriff war, zu starten. Wildes Strahlfeuer brach aus den offenen Luken des Fahrzeugs, Brado Tannach preßte sich dicht an den Boden. Er konnte keinen Arm heben, ohne getroffen zu werden. Hinter ihm geriet das Gestrüpp in Brand. Schwere Rauchschwaden begannen die Szene einzuhüllen. Plötzlich schwieg das Feuer. Das Summen des Gleitermotors war schon weit entfernt und kaum noch zu hören. Nur das Knistern und Krachen des brennenden Gebüschs war laut und deutlich. Brado Tannach sprang auf. »Reng ...?« schrie er. »Hier«, antwortete eine ächzende Stimme. Der Sergeant wühlte sich aus dem Unterholz hervor. Er hatte Brandspuren im Gesicht; aber von den Blastersalven war er verschont geblieben. »Weg?« fragte er lakonisch. Brado Tannach nickte grimmig. »Los, zum Haus zurück!« forderte er Lazear auf. Es ärgerte ihn, daß Kinke Seiblad entkom-
zurück. Aus nordwestlicher Richtung stießen sie auf Kolim Baffahs Anwesen vor. Als sie in die Nähe des Hauses kamen, hörten sie laute Stimmen. Man hatte den Gesuchten bereits gefaßt. Die Polizei kam gerade noch rechtzeitig. Brado Tannach verteilte seine Leute rings um den Garten. An einer Stelle, wo Algo am Vortag mit der Beseitigung des Unkrauts noch nicht ganz zu Rande gekommen war, ragte das Gestrüpp dicht und verfilzt ein paar Meter weit in das Grundstück hinein. Auf Brado Tannachs Kommando wurden die mitgebrachten Lampen entzündet. Brado verkündete über Handlautsprecher: »Hier ist die Polizei! Das Haus ist umstellt. Jedermann innerhalb des Polizeikordons hat sich als verhaftet zu betrachten.« Die Ankündigung wirkte wie eine Bombe. Sekundenlang war alles still. Da plötzlich drang seitwärts aus dem Gebüsch eine gellende, keifende Stimme: »Laßt euch nicht ins Bockshorn jagen, Leute! Wehrt euch!« Brado reagierte sofort. »Leutnant Sziko! Kümmern Sie sich um die Leute beim Haus. Wer sich wehrt, hat die Folgen selbst zu tragen. Reng Lazear, her zu mir!« Er wartete nicht auf den Sergeanten, sondern huschte zur Seite auf das Gestrüpp zu. Er hörte das Rauschen von Zweigen, das Knacken von Ästen. »Stehenbleiben, dort!« schrie er. Das Geräusch verstummte nicht. Tannach hob den Blaster und feuerte einen Schuß steil in die Nacht hinaus. Hinter ihm hatte inzwischen das Gefecht um Baffahs Haus begonnen. Der Mann, der den Leuten befohlen hatte, sich zu wehren, hatte ihnen einen schlechten Dienst erwiesen. Die Polizisten waren den Verteidigern an Zahl weit überlegen. Ein armdicker, weißglühender Energiestrahl fauchte vor ihm durch die Luft. Er warf sich zur Seite und ging zu Boden. Einen Atemzug später flammte es auch jenseits des Gebüsches auf. Das mußte Reng Lazear sein. Er versuchte, den Flüchtigen von der andern Seite her zu fassen. Seine Salve setzte einen Teil des Gebüsches in Brand. Im flackernden Lichtschein sah Tannach die Umrisse einer 43
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden ne mit Ihnen.«
men war. Hätte er den Vertrauten des Zirkusbesitzers Alvmut Terlahe vorführen können, dann wäre dieser womöglich bereit gewesen, gegen die ORBAG MANTEY vorzugehen. So jedoch kam er mit beinahe leeren Händen – falls es nicht gelungen war, im Kampf um Baffahs Haus einen der Leute festzunehmen. Seine Hoffnung erwies sich rasch als trügerisch. Seiblads Leute hatten sich gewehrt wie die Wildkatzen. Sziko rechnete, daß die Polizisten es mit etwa einem Dutzend Männer zu tun gehabt hatten. Davon hatten acht den Tod gefunden, vier waren entwischt. Seiblads restliche Leute mußten sich in der Nähe des Gleiters aufgehalten haben. Es war, wie Tannach sich erinnerte, ein großes Fahrzeug gewesen, Fassungsvermögen sicherlich mehr als zehn Mann. Es war denkbar, daß auch die vier, die Sziko entkommen waren, an Bord des Fahrzeugs Platz gefunden hatten. Es gab einen neunten Toten: Kolim Baffah. Er war in wilder Panik aus dem Haus gestürzt, als das Geschieße begann, und unversehens in eine Blastersalve gelaufen. Seine Frau und die beiden Kinder hielten sich zitternd im Haus versteckt. Man hatte ihnen versichert, daß sie von nun an Ruhe haben würden. Tannach war nicht an ihnen interessiert. Ihn kümmerte nur der Mann, den Sziko am Rande des Gartens am Boden liegend gefunden hatte. Er hatte sich nicht am Kampf beteiligt, obwohl er bewaffnet war. Er hatte sich hinter einem Busch verkrochen, und die Schießerei unbehelligt überstanden. Er war bleich, aber gefaßt. Brado Tannach erkannte ihn auf den ersten Blick. »Es liegt nichts gegen Sie vor«, erklärte er dem Mann in beruhigendem Tonfall. »Aber wir möchten uns gerne mit Ihnen unterhalten. Im Polizeihauptquartier. Sind Sie dazu bereit?« Der Mann antwortete zunächst mit einer Gegenfrage. »Lille? Die Kinder ...?« »Sind in Ordnung«, antwortete Tannach. »Leutnant Sziko kümmert sich um sie. Kolim Baffah ist tot. Nun?« Der Bleiche sah zu Boden. Nach ein paar Sekunden gab er sich einen Ruck, der anzudeuten schien, daß er einen Entschluß gefaßt habe. »Natürlich«, murmelte er, »ich komme ger-
* Es fiel Kinke Seiblad nicht leicht, seinen Vorgesetzten über die Ereignisse der Nacht zu informieren; aber es blieb ihm nichts anderes übrig, und jede Minute, um die er seinen Bericht hinausschob, machte die Sache nur noch schlimmer. Er war der Polizei mit insgesamt zwölf Mann entkommen. Zwei davon hatte er in der Nähe von Baffahs Haus zurückgelassen, damit sie die weiteren Bewegungen der Polizisten beobachteten. Die übrigen zehn befanden sich mit ihm an Bord eines Gleiters, den er in kluger Voraussicht in der Nähe der Kampfstelle postiert hatte. Er flog bis ans andere Ende der Stadt. Der Gleiter, ein Mietwagen besaß einen eingebauten Bildsprech. Aber Seiblad zögerte, ihn zu benützen. Man wußte nie, ob solche Geräte nicht mit einem automatischen Aufzeichner versehen waren. Er rief die ORBAG MANTEY aus einer öffentlichen Bildsprechzelle an. »Verbinde mich mit dem Alten!« befahl er dem Mann in der Zentrale. Der Mann machte ein bedenkliches Gesicht. »Um drei Uhr morgens Sir?« »Tu, was ich dir sage!« knirschte Kinke Seiblad. Kurze Zeit später hatte er Amlor Petrefa am Apparat. Petrefas Gesicht wirkte verschwollen. Jedesmal wenn man ihn aus dem Schlaf weckte, war er miserabler Stimmung. Kinke Seiblad gab sich einen Ruck und stürzte sich kopfüber ins Verderben. »Ich und die Polizei«, sagte er, »haben heute nacht gleichzeitig den Androiden Algo gejagt. Die Polizei gewann, ich verlor. Nicht nur Algo, sondern obendrein noch acht Mann. Sie sind tot, der Rest ist entkommen. Es steht also nicht zu befürchten, daß die Polizei unsere Identität ermittelt.« Amlor Petrefa explodierte. Zwei Minuten lang tobte er wie ein Wilder belegte Seiblad mit den übelsten Schimpfworten und drohte, ihn auf der Stelle erschießen zu lassen, sobald er zur ORBAG MANTEY zurückkehrte. Kinke Seiblad ließ ihn gewähren. Schließlich 44
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Ich stieg ein, ohne zuvor noch einmal mit Lille gesprochen zu haben. Das tat mir weh; aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich bald wieder zurückkehren würde. Was ich der Polizei zu sagen hatte, würde kaum mehr als zwei Stunden in Anspruch nehmen. Der Gleiter hob sanft vom Boden ab und nahm Fahrt auf. Ich saß auf der mittleren Sitzbank, zu meiner Linken den Hauptmann und zu meiner Rechten den Sergeanten. Sie hatten mir bislang noch nicht einmal die Waffen abgenommen, ein Zeichen dafür, daß sie mich für ungefährlich hielten. Ich wußte, daß sie meinen Namen kannten: Ich fragte mich, ob sie ebenso wußten, daß ich ein Androide war. Gespannt verfolgte ich die Manipulationen des Piloten. Dies war nicht eines der Fahrzeuge, wie man sie an Rufsäulen in den Städten mieten kann, mit einer Wählautomatik und einem Autopiloten, der einem alle Arbeit abnimmt. Es war ein Polizeifahrzeug, ein Hochleistungsgleiter, der nicht mehr an Straßen und Funksicherung gebunden war, sondern aus eigener Kraft zu manövrieren vermochte. Die lässige Selbstverständlichkeit, mit der der Pilot vielerlei Schaltungen vornahm, beeindruckte mich. So etwas wollte auch ich eines Tages tun können. Ein merkwürdiger Gedanke begann, mich zu beschäftigen. Ich war ein Mann auf der Suche nach Arbeit. Ob die Polizei mich würde brauchen können? Wir landeten im Innenhof eines riesigen, zum Teil hell erleuchteten Gebäudekomplexes. »Das ist das Polizeihauptquartier«, erklärte Tannach. Wir stiegen aus. Es ging lange, leere Gänge entlang, rollende Treppen empor und Antigravschächte hinauf. Ich hatte jegliche Orientierung verloren, als wir schließlich in einen Arbeitsraum gelangten. Tannach stürzte sich sofort auf den Bildsprech. Wer auch immer es war, den er sprechen wollte, schien auf seinen Anruf gewartet zu haben. Er war sofort zur Stelle. »Sind die Fahrzeuge sichergestellt worden?« fragte er. Undeutlicher Wortschwall antwortete ihm. »Normale Mietwagen, wie?« resümierte Tannach. »Weiß der Eigentümer etwas über die Leute, die sie mieteten?«
hatte Petrefa genug Dampf abgelassen und begann sich zu beruhigen. »Bleib, wo du bist!« fauchte er Kinke Seiblad an. »Ich schicke dir zwei Leute. Einer davon hat genaue Anweisungen für dich. Führst du sie genau aus, dann lasse ich mich vielleicht noch einmal besänftigen. Wenn aber nicht ...« 10. Die Todesangst steckte mir noch in den Knochen. Es ist nicht leicht für einen, der vor wenigen Tagen erst die Liebe zum Leben entdeckt hat, mehr als eine Viertelstunde lang auf dem Boden zu liegen und die weißglühenden Energiestrahlen von Blastern über sich hinwegfauchen zu lassen – manche davon so nahe, daß sie ihm die Haut versengten. Trotzdem galt meine erste Sorge als das Wüten vorüber war, nicht mir, sondern Lille und den Kindern. Der Polizist, der zu mir sprach, war freundlich und vertrauenswürdig. Ich glaubte ihm, daß er für Lille, Fesso und Signe sorgen würde. Zumindest für die nächsten Stunden. Später vielleicht fand sich Gelegenheit, ihm klarzumachen, daß die drei noch auf längere Zeit der Fürsorge bedurften. Vielleicht konnte ich mich dieser Sache annehmen. Aber auch ich würde Hilfe brauchen. Man kann von zweihundert Solar nicht allzuviel erwarten. Die Nachricht von Kolim Baffahs Tod erfüllte mich mit Erleichterung. Wäre er noch am Leben gewesen, hätte ich Lille und die Kinder nicht allein lassen können aus Furcht, er könne ihnen etwas antun. Ich wußte noch immer nicht, wie er es fertiggebracht hatte, Kinke Seiblad und seine Leute zu finden und auf meine Spur zu setzen. Es gab da Zusammenhänge, die wahrscheinlich nur die Polizei mir würde erklären können. Aus der Dunkelheit der Nacht senkten sich mehrere Fahrzeuge in den Garten der Baffahs herab. Der Mann, mit dem ich gesprochen hatte, Hauptmann Brado Tannach, führte mich auf einen der Gleiter zu. Bei uns befand sich noch ein kleiner, dicker Mann, ein Sergeant, wie ich wenig später erfuhr, der Reng Lazear hieß und einen seltsamen Sinn für Humor besaß. 45
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden »Sie kommen von der ORBAG MANTEY?« fragte er. Ich bejahte. »Sie sind gekommen, um aus eigenem Antrieb gewisse Aussagen zu machen, die womöglich für uns von höchster Wichtigkeit sind?« Darüber wußte ich nicht Bescheid; aber ich nickte trotzdem. Man schob mir einen bequemen Sessel vor die eine Seite des Schreibtischs, der Brado Tannach gehörte. Auf der anderen Seite nahmen Tannach und Terlahe Platz. Reng Lazear saß im Hintergrund des Raumes an einem kleineren Arbeitstisch. Er hatte das Tablett mit den Überresten des Imbisses hastig in Sicherheit gebracht. »Sollen wir fragen«, erkundigte sich Terlahe, »oder möchten Sie lieber frei sprechen?« »Das ist mir gleichgültig«, antwortete ich. »Aber bevor wir anfangen, möchte ich eine Angelegenheit zur Sprache bringen, die mir sehr am Herzen liegt. Draußen, in der alten Hütte, vor der heute nacht der Kampf stattfand, lebt eine Frau mit zwei Kindern. Diese drei Menschen bedürfen dringend der Hilfe. Sie sind seit Monaten fast mittellos, da sich Kolim Baffah vor lauter Trunksucht nicht mehr um seine Familie kümmerte. Die Kinder haben schon seit Wochen nichts Anständiges mehr zu essen bekommen, und ich ...« Terlahe unterbrach mich. »Machen Sie sich keine Sorge«, sagte er. »Für die Familie Baffah wird von Staats wegen gesorgt werden. Genügt Ihnen das?« Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Danke«, antwortete ich. »Das genügt mir.« »Dann sprechen Sie jetzt, bitte.«
Wieder undeutliche Worte. »Von der Rufsäule aus gemietet.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »In Ordnung, geben Sie die Fahrzeuge frei!« Das waren Gleiter, die Kinke Seiblad und seine Leute von der ORBAG MANTEY gemietet haben mußten, nahm ich an. Brado Tannach führte ein zweites Gespräch. »Es ist mir klar, daß dies eine ungewöhnliche Tageszeit ist«, sagte er ungeduldig. »Aber der Anlaß ist noch viel ungewöhnlicher. Ich habe einen Mann von der ORBAG MANTEY hier und will ihn sofort befragen. Dazu brauche ich Terlahe. Also wecken Sie ihn auf und schicken Sie ihn her. In spätestens einer halben Stunde fange ich an.« Der Mann am andern Ende schien noch ein paar Widerworte zu haben. Schließlich knurrte Tannach gereizt: »Klar, auf meine Verantwortung. Das mache ich schon!« Inzwischen war Reng Lazear verschwunden. Er kehrte mit einem Roboter zurück, der auf einem Tablett verschiedene Speisen und Getränke trug. »Wir sollen unserem Gast etwas vorsetzen«, sagte er bei seinem Eintritt. »Nächte wie diese machen Durst und Appetit.« »Nicht nur Gästen, wie mir scheint«, murrte Tannach, »sondern auch Polizeisergeanten, wie?« »Ich muß gestehen«, bekannte Lazear, »ich bin nicht ganz verschont geblieben.« Auch ich war hungrig. Man brauchte mich zum Zugreifen nicht eigens aufzufordern. Wir aßen und tranken schweigend. Lediglich zwischen dem Hauptmann und seinem Sergeanten flogen ab und zu ein paar Worte hin und her. Die halbe Stunde, von der Tannach gesprochen hatte, war noch nicht ganz vorüber, da öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ein, der ebenso klein war wie Sergeant Lazear, nur dürr anstatt dick und mit einem Gesicht, das wenig Humor dafür um so mehr Autorität ausstrahlte. Tannach und Lazear behandelten ihn wie einen Vorgesetzten. Sein Name war Terlahe – derselbe, den Brado Tannach zuvor am Bildsprech genannt hatte. Er hatte schütteres, hellblondes Haar und scharfblickende, graublaue Augen, aus denen er mich angelegentlich musterte.
* »Was ist das?« fragte Kinke Seiblad mürrisch und deutete auf den Mann mit dem üppigen Haarwuchs und der überlebensgroßen Sonnenbrille, die nicht nur die Augen, sondern obendrein auch noch das halbe Gesicht verdeckte. »Olpa, einer unserer Androiden«, antwortete der Gefragte. »Ein gelehriges Wesen. Sie werden eine Freude an ihm haben.« »Was soll ich mit ihm?« erkundigte sich 46
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Der Wagen brachte Seiblad und seinen Begleiter innerhalb weniger Minuten in die Nähe des Hauptquartiers. Das Hauptgebäude war Tag und Nacht geöffnet. Seiblad betrat die Empfangshalle und wandte sich an einen Informationsrobot. »Ich habe wichtige Informationen im Fall Algo«, erklärte er. »Wo finde ich den zuständigen Offizier?« »Der Fall Algo ist gelöst«, antwortete der Robot, aus der schier endlosen Fülle der zentralen Datenbank schöpfend. »Der Mann hat sich gestellt und wird soeben verhört.« »Das weiß ich«, antwortete Seiblad eifrig. »Ich habe jedoch zusätzliche Informationen, die ich unbedingt vortragen muß.« »Gebäude drei, Annex C«, antwortete der Roboter. »Vierzehnte Etage Raum eins-viersechs-neun. Brauchen Sie eine Eskorte?« »Nein, nein«, wehrte Seiblad ab. »Wenn du mir nur ungefähr den Weg weist!« Der Robot war ihm gerne behilflich. Sekunden später waren Olpa und Kinke Seiblad wieder unterwegs. Um diese Tageszeit lagen die Gänge und Hallen des riesigen Gebäudekomplexes nahezu verlassen. Seiblad wußte das zu schätzen, und dennoch verfluchte er insgeheim Amlor Petrefa, der ihn hierhergeschickt hatte. Draußen, bei Baffahs Hütte, konnte ihm die Polizei nur deswegen so dicht auf den Fersen gewesen sein, weil sie jede seiner Bewegungen beschattet hatte. Er mußte damit rechnen, daß er ein der Polizei bekannter Mann war. Wenn sie ihn hier im Innern des Polizeihauptquartiers erwischten, war er verloren. Petrefa mußte das wissen. Dennoch hatte er ihn hierhergeschickt. Er fand Gebäude 3 und den Annex C. Bevor er zur vierzehnten Etage hinauffahren konnte, mußte er sich mit Olpa eine Zeitlang verstecken, weil ihm von oben eine Sehar junger Beamter entgegenkam. Erst als die Luft wieder rein war, bewegten die beiden Eindringlinge sich weiter. Ungehindert erreichten sie das vierzehnte Stockwerk. Ein langer, hell erleuchteter Gang führte vom Antigravschacht ins Innere des Gebäudes. Kinke Seiblad beschritt ihn vorsichtig, ständig auf der Suche nach Deckung, und las die Bezeichnungen auf den einzelnen Türen. Hinter der ersten Gangbiegung fand er den Raum
Seiblad mißtrauisch. »Das werde ich Ihnen erklären«, sagte der Mann von der ORBAG MANTEY. »Sie wissen inzwischen, wohin Algo gebracht wurde?« »Ja, ins Polizeihauptquartier. Zwei meiner Leute haben den Abflug von Baffahs Haus beobachtet, und ein dritter beobachtete die Landung im Innenhof des Hauptquartiers.« Der Mann griff in die Tasche und reichte Seiblad einen kleinen Impulsgeber. »Heben Sie das gut auf«, sagte er dazu. »Ihr Auftrag lautet, sich mit Olpa an einen Ort zu begeben, der höchstens zwanzig Meter von dem Raum entfernt liegt, in dem die Polizei den Androiden Algo untergebracht hat und in diesem Augenblick wahrscheinlich verhört.« »Ich?« rief Seiblad entsetzt. »Ins Polizeihauptquartier? Ich bin sicher, daß man mich dort inzwischen kennt.« »Nicht an der Informationstheke«, hielt ihm der andere entgegen. »Sie erkundigen sich nach dem Büro des Offiziers, der die Untersuchung Algo leitet, und finden sich von da ab selbst zurecht. Sobald Sie nahe genug herangekommen sind, betätigen Sie den Impulsgeber. Danach warten Sie genau zwei Minuten und entfernen sich sodann wieder. Ungesehen natürlich, sonst geht's Ihnen an den Kragen.« Kinke Seiblad dachte nach. »Eine Erklärung für diesen Unsinn bekomme ich wahrscheinlich nicht, wie?« fragte er unwillig. »Nein«, grinste der andere. »Amlor Petrefa ist zu der Ansicht gelangt, daß Sie um so wirksamer arbeiten, je weniger Sie die Zusammenhänge kennen.« »Danke«, knurrte Seiblad. »Oh, und noch etwas«, fügte der Mann von der ORBAG MANTEY hastig hinzu. »Sie haben sich zu beeilen. Jede versäumte Sekunde ist verlorene Zeit.« Kinke Seiblad hatte seine Männer zum Zirkus-Raumschiff zurückgeschickt und den Mietwagen zu verstehen gegeben, daß sie nicht mehr gebraucht würden. Jetzt rief er von der nächsten Rufsäule ein neues Fahrzeug. Olpa, der Androide, folgte ihm gehorsam. Der Bote von der ORBAG MANTEY hatte sich zurückgezogen. 47
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden sich gar nicht mehr dort befand, wo Seiblad ihn vermutete, oder weil Seiblad nicht genau genug die Höchstdistanz von zwanzig Metern beachtet hatte – dann hatten Olpas Einschlüsse keine Möglichkeit, die hypnotischen Impulse des piezomotorischen Schlusses weiterzuleiten und würden unter deren Einfluß selbst explodieren. Die Wucht der Explosion war groß genug, um auch Kinke Seiblad mit zu vernichten, falls er sich in der Nähe des Androiden befand. So hatte es Amlor Petrefa geplant. Wenn Kinke Seiblad auch diesmal versagte, dann hatte er den Tod verdient. Ein helles Summen schreckte den Herrn der ORBAG MANTEY aus der Nachdenklichkeit auf. Er fuhr herum und sah die Kontrollampe auf dem Impulsempfänger grün aufleuchten. Kinke Seiblad hatte das Signal gegeben. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Amlor Petrefa wandte sich wieder dem Safe zu und sagte: »Stichwort Algo!«
Nummer 1469. Nicht weit davon entfernt gab es eine Nische, in der ein halbes Dutzend Verkaufsautomaten stand. Hierhin zog sich Seiblad mit seinem Begleiter zurück. Er zog den Impulsgeber aus der Tasche. Er bestand aus einem kleinen, dunklen Gehäuse, das an einer Seite einen roten Schaltknopf trug. Seiblad blickte auf das Chronometer. Nicht eine Sekunde länger als die vorgeschriebenen zwei Minuten würde er hierbleiben. Dann drückte er auf den roten Knopf. * Der Wandsafe war offen. Amlor Petrefa stand davor und fixierte den Behälter mit dem Protoplasmaklumpen. Die letzten Vorbereitungen waren getroffen. Sobald Kinke Seiblads Signal eintraf, würde die telepathische Verbindung mit der Macht zu spielen beginnen. Petrefa versuchte sich auszumalen, was dann geschehen würde. Die Macht hatte es nicht für nötig gehalten, ihn vollends einzuweihen; aber er verstand trotzdem ein wenig von den Dingen. Unter dem hypnotischen Befehl der Macht, übermittelt durch den Androiden Olpa, der als Relais fungierte, würden die Einschlüsse im Herzen des Androiden Algo einen gewissen Druck empfinden, sich miteinander zu vereinigen. Eine Kraft drückte sie aufeinander zu. In dem Bestreben, einander näherzukommen, hatten die Einschlüsse gegen das Gewebe anzukämpfen, das sie umgab. Um leichter vorwärtszukommen, würden sie ihre chemische Struktur verändern und sich im Verlauf dieses Prozesses in hochexplosives Material verwandeln. Das war es, was man den piezomotorischen Schluß nannte. Die Vereinigung würde nie zustande kommen. Die Materie der Einschlüsse explodierte, bevor die Vereinigung erzielt wurde. Olpa war nur der Übermittler. Auch sein Gewebe enthielt Einschlüsse – winzige Protoplasmakügelchen, die die Uneingeweihten mit Kaschkarits, den in Hybridcomputern verwendeten Speichererbsen, verglichen. Ob Algo wirklich das verdiente Ende fand, kam darauf an, ob Kinke Seiblad ihm nahe genug auf die Pelle gerückt war oder nicht. Wenn Algo zu weit entfernt war – entweder, weil er
* »Machen Sie sich keine Sorge«, sagte Alvmut Terlahe. Seine Stimme hatte einen ruhigen, mitfühlenden Klang, den Brado Tannach noch nie zuvor an ihr bemerkt hatte. »Für die Familie Baffah wird von Staats wegen gesorgt werden. Genügt Ihnen das?« Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs war sichtlich erleichtert. »Danke«, sagte er. »Das genügt mir.« »Dann sprechen Sie jetzt, bitte«, forderte Alvmut Terlahe ihn auf. Brado Tannach erinnerte sich später mit kristallklarer Deutlichkeit an die Sekunden, die dieser Aufforderung folgten. Es war, als hätte sein Bewußtsein mit Alvmut Terlahes letztem Wort auf Zeitlupenbeobachtung umgeschaltet. Der Zeitablauf war gehemmt. Dinge, die sonst nur Bruchteile von Sekunden in Anspruch nahmen, schienen sich im Verlauf von Minuten zu vollziehen. Zuerst schien der Mann namens Algo nach Worten zu suchen. Er blickte schräg über den Schreibtisch hinweg, niemand ansehend, offensichtlich konzentriert. Dann erschien plötzlich ein neuer Ausdruck auf seinem Gesicht, 48
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden gehört und wußte, daß im Raum Nummer 1469 der Androide Algo durch piezomotorischen Schluß sein Ende gefunden hatte. Über die Mechanismen dieses Vorgangs war Kinke Seiblad kaum weniger schlecht informiert als sein Herr. Er wußte, daß es an Algos Stelle Olpa zerrissen hätte, wenn Algo nicht in der Nähe gewesen wäre. Er hielt sich vor Augen, daß niemand mit Sicherheit hatte wissen können, ob Algo sich wirklich im Zimmer 1469 befand, und kam daraus zu dem Schluß, daß Amlor Petrefa ganz bewußt das Risiko auf sich genommen hatte, an Algos Stelle den Androiden Olpa und damit auch Kinke Seiblad zu vernichten. Über diese Dinge sprach Kinke Seiblad nicht, als er in das riesige Zirkus-Raumschiff zurückkehrte und seinem Herrn gegenüberstand. Er bewahrte sie in seinem Herzen und schwor sich, eines Tages an Amlor Petrefa Rache zu üben. »Die Sache hat zuviel Staub aufgewirbelt«, erklärte Petrefa. »Wir werden unser Gastspiel auf Plophos abbrechen und uns sofort in sicherere Gefilde begeben.« Er grinste dazu. »Ich freue mich, dir sagen zu können, daß du bei deinem letzten Einsatz meine Zweifel bezüglich deiner Zuverlässigkeit vollkommen zerstreut hast. Du brauchst nichts mehr zu fürchten.«
ein Reflex der Verwirrung, ein Widerschein von Unglauben und Furcht. Er sank in sich zusammen, und reckte sich kurze Zeit später wieder in die Höhe. Seine Wangen wirkten aufgeblasen. Sein Gesicht veränderte sich in schrecklicher Weise. Brado Tannach sah die Montur aufplatzen, starrte fassungslos auf ein blutiges Loch in Algos plötzlich entblößtem Oberkörper. Der Knall der Explosion fegte ihn von seinem Sitz. Er wurde gegen die Wand geschleudert und verlor für einige Sekunden das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, bedeckten ihn die Trümmer seines Büros. Er arbeitete sich mühsam daraus hervor. Er hörte Stöhnen und tastete sich halbblind auf das Geräusch zu. Die Beleuchtung war ausgefallen; aber eine grelle Notleuchte schien aus der Ecke über der Tür. Er bekam ein Stück Stoff zu fassen und zog daran. Das Stöhnen wurde lauter. »Das werden wir gleich herausfinden«, krähte es aus der Ecke. Es raschelte und rauschte im Schutt, und Sergeant Reng Lazear tauchte auf. Von Algo fanden sie nur noch schrecklich anzusehende Spuren. Die Explosion hatte ihn in hundert Stücke zerrissen. Reng Lazear verdankte seine Unverletztheit dem Umstand, daß er vom Ort der Explosion ziemlich weit entfernt gewesen war. Brado Tannach und Alvmut Terlahe waren nur deswegen noch am Leben, weil Tannachs Schreibtisch sie geschützt hatte. Wenige Sekunden nach der Explosion wimmelte das Büro von Hilfstruppen. Die Trümmer wurden beiseite geräumt; aber es ergab sich daraus keine neue Erkenntnis. Algo, der Mann, der über die Rolle der ORBAG MANTEY in der Serie der Organvertauschungen hätte Aufschluß geben können, war nicht mehr.
* Der Polizei und dem Ausschuß zur Untersuchung der Schwierigkeiten von Transplantations-Patienten blieb nichts anderes übrig, als bedauernd die Schultern zu zucken. Man hatte eine Gelegenheit gehabt, Licht in das Dunkel um die jüngsten Vorgänge auf Plophos zu bringen; aber sie war unter den Händen zerronnen. Die Befragung des Mannes namens Algo war gar nicht erst in Gang gekommen. Alvmut Terlahe hatte ebensowenig Anlaß wie zuvor, das Zirkus-Raumschiff ORBAG MANTEY in den Kreis seiner Ermittlungen einzubeziehen. Zu einem allerdings erklärte er sich zähneknirschend bereit: Er benachrichtigte das Spezialistenteam der USO, das, seit kurzem auf Plophos anwesend, die Angelegenheit auf seine eigene Art und Weise verfolgte – eine
EPILOG Kinke Seiblad und der Androide Olpa verließen das Gebäude ungehindert und erreichten kurze Zeit später die ORBAG MANTEY. Unterwegs hatte Seiblad Gelegenheit, über sein jüngst vergangenes Unternehmen nachzudenken. Er hatte den Donner der Explosion 49
ATLAN 106 (113) – Die Rache des Androiden Art übrigens, die Alvmut Terlahe äußerst unsympathisch war. Die drei USO-Agenten – Pa, Ma und Opa genannt – kündeten ihren Besuch im Hauptquartier der Polizei zum frühen Morgen des ereignisreichen Tages an. Während die Bestandteile des Mannes Algo im Labor der Polizei von New Taylor einer eingehenden Untersuchung unterzogen wurden, erinnerte sich Brado Tannach an das Versprechen, das Algo kurz vor seinem Tode Alvmut Terlahe abgefordert hatte: für Lille Baffah und ihre zwei Kinder zu sorgen. Er nahm an, daß Terlahe viel zu beschäftigt sei, um sich um derartige Dinge zu kümmern, und nahm die Sache selbst in die Hand.
In der Welt der Kabelstollen und Belüftungsschächte im Innern des Riesenraumschiffs ORBAG MANTEY nahm der Andoide Einstein zur Kenntnis, daß es seinem Freund Algo draußen in der Welt der Menschen schlimm ergangen sei. Er bedauerte das, denn ungleich anderen Androiden war er in der Lage, Emotionen zu empfinden. Im großen und ganzen gesehen jedoch bedeutete Algos Tod für ihn einen neuen Ansporn. Das Verlangen nach Rache hatte neuen Auftrieb erhalten. Eines Tages würde er Amlor Petrefa und seinen Häschern heimzahlen, was sie an den Androiden verbrochen hatten. Eines Tages ...!
*
ENDE
Weiter geht es in Band 107 (114) der ATLAN-ebooks mit:
Der Weltraumzirkus von Hans Kneifel
Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2004, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
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