Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 2 Die Zeit nach Alexander dem Großen bis ins 4. Jahrhundert nach Chr.
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Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 2 Die Zeit nach Alexander dem Großen bis ins 4. Jahrhundert nach Chr.
Inhaltsangabe Nur ein Alexander der Große konnte das Weltreich vom Indus bis zum Nil zusammenhalten. Unter den Nachfolgern zerfiel es, und es begann der Aufstieg einer Weltmacht, die von nun an viele Jahrhunderte lang den Erdball beherrschen sollte: Rom. Seine Geschichte steht im Mittelpunkt dieses Bandes. Um seine Macht im Mittelmeer zu festigen, mußte Rom Karthago besiegen, die Handelsgroßmacht, deren Hauptstadt im Gebiet des heutigen Tunesien lag. Von der Liebesgeschichte der Salambo, einer karthagischen Aristokratentochter, erfahren wir in Flauberts großartigem Roman, eine der beiden Mittelpunkte des hier vorgelegten Werkes. In der Hochblüte Roms, im augustäischen Zeitalter, schlägt die Geburtsstunde einer noch größeren Macht, als sie Rom je besaß, die Geburtsstunde des Christentums. Auszüge aus dem Roman ›Ben Hur‹ von Wallace lassen die Welt Palästinas zur Zeit des Leben Jesu lebendig werden. Gegen Bethlehem trat das Schwert an, das Schwert der römischen Kaiser. Frischauer schildert den jahrhundertelangen Kampf, der mit dem Sieg des Christentums endete, das von Konstantin zur Staatsreligion gemacht wurde. ›In hoc signo‹ von Paul Frischauer heißt die Erzählung, die den Sieg der bisher verfolgten Religion über das römische Gottkaisertum schildert. So werden Chronik und historischer Roman ineinander verwoben, Genauigkeit und Lebendigkeit miteinander verbunden, dichterische Kraft und Chronistenpflicht in Übereinstimmung gebracht.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © by Literarica Anstalt, Vaduz Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Der größte Nachlaß der Weltgeschichte I Die natürlichen Erben Alexanders waren sein jüngerer Halbbruder Philipp und sein Sohn Alexander, den Rocane nach seinem Tode gebar. Ein mazedonischer Vertrauensmann des verstorbenen Königs wurde in aller Eile zum Reichsverweser in Asien bestellt, um die Rechte der beiden zur Herrschaft unfähigen ›Könige‹ wahrzunehmen. Diese Ernennung des Perdikkas war ein Versuch, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und eine willkürliche Teilung der ungeheuren Hinterlassenschaft zu verhüten. Perdikkas vergewisserte sich der Hilfe der wichtigsten Generäle des Heeres und belohnte sie für ihre Zustimmung mit der Erhebung zu Statthaltern der von Alexander eroberten Königreiche. Jeder dieser großen Herren erhielt ein gewaltiges Gebiet zur unbeschränkten Verwaltung. Dennoch fürchteten sie, daß sie nur vom Hof entfernt werden sollten, um den Reichsverweser, der sich selbst zum König der Könige machen wollte, nicht im Wege zu sein. Besonders Ptolemaios, dem Ägypten zugesprochen worden war, glaubte nicht an die lauteren Absichten des Reichsverwesers. Er zog Truppen zusammen, aber es kam nicht zur Schlacht, denn Perdikkas wurde von seinen eigenen Offizieren getötet. Jetzt wäre es Ptolemaios möglich gewesen, die Macht an sich zu reißen, aber das hätte er nur vermocht, wenn er die unnachahmliche Fähigkeit Alexanders gehabt hätte, Heeresmassen rascher in Bewegung zu setzen als seine Gegner. Ptolemaios schätzte sich selbst richtig ein. Er wußte, daß er vor allem seinem ehemaligen Kameraden Antipatros, 1
dem Stellvertreter Alexanders in Mazedonien, nicht gewachsen sein würde, wenn es zu einer Entscheidungsschlacht kam. Ptolemaios mußte auch mit Antigonos rechnen, der die kleinasiatischen Provinzen des Großreichs verwaltete, und mit Seleukos, der die Kernländer des Persischen Reiches besetzt hielt. Daß Antigonos schon die Feindseligkeiten gegen den ehemaligen Geheimschreiber Alexanders, den gewiegten Staatsmann Eumenes, eröffnet hatte, weil dieser Gebiete beanspruchte, die Antigonos für sich wollte, war nicht aufmunternd für Ptolemaios. Er beschied sich, seine Stellung in Ägypten zu festigen. Das Pharaonenreich war immerhin ein Herrschaftsgebiet, mit dem sich ein ehemaliger Offizier begnügen konnte. Ptolemaios stimmte der Erhebung des Antipatros zum Reichsverweser zu. Das verhältnismäßig kleine Königreich Mazedonien und die uneinigen griechischen Städte durch Gewalt und staatsmännische Geschicklichkeit in Schach zu halten, war Antipatros nicht schwergefallen. Der neuen, größeren Aufgabe war seine Gesundheit nicht gewachsen. Er lebte nur noch kurze Zeit. Sein Nachfolger in diesem undankbaren Amt, Polyperchon, war nur dem Namen nach Herr. Er konnte sich weder in die Kämpfe des Antigonos gegen Eumenes einmischen, noch konnte er verhindern, daß Kassandros, der Sohn des inzwischen verstorbenen Antipatros, die Herrschaft in Mazedonien an sich riß, Olympias, die Mutter Alexanders, ermorden ließ und sich mit Thessalonike, der Schwester Alexanders, verheiratete, um seiner Herrschaft den Anschein von Legitimität zu geben. Es war bald kein Reichsverweser mehr nötig, denn die beiden unmündigen ›Könige‹ Philipp und Alexander starben. Aus dieser allgemeinen Verwirrung, die sich durch vielfältige Feldzüge eines Statthalters gegen den anderen steigerte, lösten sich schließlich drei alte Königreiche mit neu geschaffenen Dynastien, deren Begründer die im Machtkampf am Ende erfolgreichen Statthalter waren: Ägypten unter den Ptolemaiern, Persien, Babylonien und Syrien unter den Seleukiden und Mazedonien unter den Antigoniden. Diese Nachfolger Alexanders, die sogenannten ›Diadochen‹, be2
schränkten sich im großen und ganzen darauf, zu behaupten, was sie im Kampf um die größte Erbmasse der Weltgeschichte erworben hatten. Ihre Königreiche waren in sich gefestigte, abgeschlossene Herrschafts- und Wirtschaftsgebiete, die nur durch die Gewalt der Persönlichkeit Alexanders zu einer Einheit zusammengefügt worden waren. Sie hatten, obwohl sie ganz und gar unabhängig voneinander waren, etwas gemeinsam: als Abkömmlinge gebildeter Mazedonier waren ihre Herrscher im griechischen Geist erzogen worden und bedienten sich der griechischen Sprache. Die von Alexander in den neugegründeten Handelsplätzen und Städten angesiedelten Einwanderer aus dem griechischen Raum waren ihre verläßlichsten Untertanen. Sie verständigten sich untereinander in der ›Koine‹, der griechischen Umgangssprache, die allmählich zur allgemeinen Handelssprache in allen Königreichen der Diadochen wurde. Wer am Geschäftsleben teilnehmen wollte, mußte sie lernen, um so mehr, als auch die Behörden die Sprache der bevorzugten Stände benützten. Wer etwas auf sich hielt, sprach und las griechisch. Griechische Grundsätze bestimmten die Erziehung der vornehmen Ägypter, Perser und Syrier. Die Götter des Olymp fanden geheiligte Haine und Tempel in den fremden Ländern. Ihre von griechischen Künstlern in Stein gemeißelten Verkörperungen vergöttlichten sich auch in der Einbildungskraft von Einheimischen. So wurde das riesige Hellenenreich, das Alexander ausgezogen war zu schaffen, als Reich griechischen Geistes Wirklichkeit. Der eigentliche griechische Raum blieb außerhalb des unmittelbaren Einflusses der Diadochen. Dennoch hatten – weder der Archäische Bund, in dem sich die peloponnesischen Städte unter Führung Spartas vereinten, noch der Ätolische Bund, der Athen und die mittelgriechischen Städte umfaßte, wirksame politische Bedeutung. Die Griechen im Mutterland blieben in unaufhörliche Streitigkeiten miteinander verwickelt und waren überdies nach wie vor gezwungen, um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Aber die Feldzüge, die sie untereinander und zur Abwehr der übermächtigen mazedonischen Nachfolger Alexanders führten, änderten nur belanglose örtliche Grenzen 3
und nicht den Ablauf der großen geschichtlichen Entwicklung, die sich schon vollzogen hatte. Ob Sparta oder Athen jetzt in ihrem engen Raum für kurze Zeit die Oberhand gewann oder ins Hintertreffen geriet, war einerlei. Die beiden Verfechter gegensätzlicher Staatsführung und verschiedener Lebensformen hatten ausgespielt.
2 Während die Diadochen ihre ganze Aufmerksamkeit und alle ihre Kräfte darauf verwandten, sich selbst und ihren Nachfolgern die dynastische Macht zu sichern, und den Bestand des Königtums in ihren Ländern festigten, wurde der westliche Mittelmeerraum zum Schauplatz schwerer Machtkämpfe. Diese schier endlosen blutigen Auseinandersetzungen, die zur Bildung des Römischen Weltreiches führten, waren durch die griechischen Städte in Sizilien und im Süden der Apenninischen Halbinsel unmittelbar und mittelbar veranlaßt. Die Neuordnung im Osten, die zu einer Stärkung der griechischen Handelsmacht in den neuen Königreichen und am Schwarzen Meer geführt hatte, trug auch zur Bereicherung der westgriechischen Handelsplätze bei. Die durch die griechische Sprache miteinander verbundenen Kaufleute des Mittelmeers zogen es vor, unter Ausschluß aller anderen Geschäftsleute miteinander Geschäfte zu machen. Das gefährdete den karthagischen Handel. Er fühlte sich in seinem Bestand bedroht. Die großen Kaufherren, die durch den Verlust ihres phönizischen Mutterlandes an der syrischen Küste empfindlich geschädigt worden waren, fürchteten nun, daß sie auch aus ihren westlichen Umschlagplätzen verdrängt werden könnten. Sie waren verzweifelt bemüht, nicht nur die Stützpunkte, die sie hielten, zu verstärken, sondern auch neue, uneinnehmbare Festungen des Handels zu schaffen. 4
Die politischen Schwierigkeiten der Karthager waren um so größer, als sie ihre wahren Feinde weder fassen noch angreifen konnten, wie zum Beispiel Ägypten, das seine Aus- und Einfuhr aus der von Alexander gegründeten Hafenstadt Alexandria betrieb, die zwar die neue Hauptstadt der ptolemäischen Pharaonen, im Wesen jedoch eine griechische Stadt war. Wenn die Karthager auch alle Abenteurer des Erdkreises als Söldner anwarben, ihre Schiffe mit ihnen bemannten und Landheere bildeten, waren sie doch nicht stark genug, einen offenen Kampf gegen die ehemaligen Diadochen-Königreiche zu führen, die den griechischen Handel zum eigenen Nutzen förderten. Um das wagen zu können, mußten sie im Westen ein gefestigtes, in sich gefügtes Hinterland besitzen, das ihnen genügend Menschen und Rüstungsstoffe für einen Krieg gegen den Osten liefern konnte. Zu ihrer Selbsterhaltung mußten sie eine gesicherte Verteidigungsstellung ausbauen, eine Rückzugslinie, die um jeden Preis gehalten werden konnte – und das war nur durch den Angriff möglich. Die großen Kaufherren, die das Staatswesen Karthagos leiteten, waren die Abkömmlinge von Seefahrern. Wenn sie Landerwerbungen erwogen, dachten sie an Küsten. Am wichtigsten waren die Küsten Siziliens. Das hatten schon ihre Vorväter erkannt, als sie den Westen der Insel besetzten. Der jahrhundertelange Kampf Karthagos mit den griechischen Städten hatte zu keiner Entscheidung geführt, im Gegenteil. Syrakus, die stärkste griechische Stadt auf Sizilien, war immer bedeutender geworden und hatte wiederholt den Versuch unternommen, die Karthager aus Sizilien zu vertreiben. Syrakus war auch dadurch stärker geworden, daß die griechischen Städte im Süden der Apenninischen Halbinsel durch viel mehr Bande als durch die Gemeinsamkeit der Sprache und der Sitten mit Sizilien verbunden waren. Die Hoffnung der Karthager, daß sich die Griechen untereinander aufreiben würden, schien sich nicht erfüllen zu wollen, auch nicht, als der unternehmende Tyrann Agathokles von Syrakus mit seinen Söldnern Unteritalien eroberte, nachdem er vergeblich versucht hatte, Karthago in Nordafrika zu bekriegen. 5
Es war den großen Ratsherren von Karthago oft gelungen, sich in die Streitigkeiten der Griechen untereinander mit Waffengewalt oder durch Hilfeleistungen für die eine oder andere Seite einzuschalten, aber niemals mit endgültigem Erfolg. Es genügte eben nicht, daß karthagische Kriegsschiffe da und dort eingriffen oder Söldner an Land setzten, die an den Kämpfen teilnahmen. Es bedurfte einer geschlossenen Landmacht, die Süditalien und womöglich auch Sizilien vom Norden her bedrohte, damit sich die Karthager der Insel und der zur Sicherung ihrer Stellung nötigen Küstenstriche als Nutznießer des Streites bemächtigen konnten. Die einzige Landmacht, die Karthago zur Durchführung dieses Planes geeignet erschien, war Rom, die Stadt am Tiber, die ihren Herrschaftsbereich durch erfolgreiche Feldzüge gegen ihre unmittelbaren Nachbarn erweitert hatte. Die Römer galten den Karthagern nicht als gefährliche Konkurrenz. Sie betrieben keine nennenswerte Seeschiffahrt. Ihr Handel beschränkte sich auf die unmittelbare Umgebung. Der Großteil der Bevölkerung lebte von Landwirtschaft. Rom hatte keine Eroberungskriege vom Zaun gebrochen. Die bedeutende Erweiterung seines Machtbereichs war nur auf eine geschickte Verteidigung zurückzuführen. Die Führer des neuen Staates, der im Norden den Etruskern und im Süden den Samnitern den Einfluß abgerungen hatte, waren aus Gründen der Sicherheit genötigt gewesen, die Gebiete, aus denen sie angegriffen worden waren, zur Verhütung von weiteren Angriffen zu besetzen. Vom Standpunkt der Karthager war nichts dagegen zu sagen, daß sich Rom zu einer kräftigen Militärmacht entwickelt hatte. Außenpolitisch gesehen erschien diese Entwicklung günstig, denn es war dafür gesorgt, daß selbst die höchsten Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Die Römer waren nicht immer erfolgreich. Sie erlitten Rückschläge und waren gezwungen, sich zu bescheiden. Gegen die Römer sprach nur, daß es den Karthagern nicht gelang, römische Bürger als Söldner anzuwerben, obwohl sie doch Bürger beinahe aller anderen Gemeinwesen und Staaten der Erde für den Söldnerdienst gewannen. 6
Die Karthager beobachteten mit gespannter Aufmerksamkeit die Vorgänge auf der Apenninischen Halbinsel. Sie waren gewiß, daß die immer weiter nach Süden ausgreifenden Römer schließlich mit den griechischen Städten in Kampf geraten würden. Es war eine unruhige Zeit. Ein neuer Aufstand der Samniter, die sich mit den ihnen benachbarten Lukanern im Süden der Apenninischen Halbinsel zusammengeschlossen hatten, zwang die römischen Legionen, wieder zu marschieren. Sie errangen entscheidende Siege und waren dadurch in der Lage, neue römische Festungen zu bauen, die sie ›Coloniae‹ nannten. Unterworfene Orte mußten ihr Land an römische Bürger abtreten, die zwar ihr volles Bürgerrecht in Rom behielten, aber in der Kolonie Patrizier wurden und die Stadt und die Gegend nach römischem Muster verwalteten. Die Verbündeten, die ›socii‹, behielten ihre eigene Verwaltung, mußten jedoch Hilfstruppen oder Schiffe stellen, wenn Rom es von ihnen verlangte. Aus dieser Verpflichtung der ›socii‹ entstand die römische Flotte. Im Verhältnis zu den griechischen Seestreitkräften oder gar den karthagischen war die römische Flotte zu klein, um überhaupt in Rechnung gestellt zu werden. Dazu kam noch, daß sich Rom in Verträgen mit griechischen Städten gegen Handelsbegünstigungen Beschränkungen in der freien Schiffahrt auferlegt hatte. Einen dieser Verträge hatte der Senat mit Tarent, der reichsten und mächtigsten griechischen Stadt in Unteritalien, geschlossen. Es war festgelegt, daß römische Kriegsschiffe nicht in den Golf von Tarent einfahren durften. Als es sich zur Sicherung des römischen Stützpunktes in der kleinen griechischen Stadt Thurii als nötig erwies, Kriegsschiffe in den Golf von Tarent zu entsenden, griffen die Tarentiner an, beschlagnahmten fünf Schiffe und vertrieben die römische Besatzung aus Thurii. Rom verlangte Genugtuung. Die Gesandten wurden in Tarent beschimpft. Rom erklärte den Krieg. Die Bürger von Tarent waren Kaufleute. Sie hatten in ihren bisherigen militärischen Auseinandersetzungen nie eigene Truppen verwendet. Sie waren allerdings nicht reich genug, Söldnerheere aufzustellen, wie die Karthager. Wenn es gefährlich wurde, riefen sie Bundesgenos7
sen zu Hilfe. Der beste Bundesgenosse, den sie in diesem Fall rufen konnten, war der junge König Pyrrhos von Epirus, dem dieser Hilferuf sehr gelegen kam. Er hatte längst schon den Plan, die Griechen in Unteritalien und Sizilien unter seiner Herrschaft in einem großen Reich zu vereinigen. Er landete mit einem vorzüglich ausgerüsteten Heer auf italienischem Boden und stellte sich bei Heraclea den römischen Legionen zur Schlacht. Sein Sieg war so vollkommen, daß die Samniter ihr Bündnis mit Rom kündigten und Pyrrhos den Marsch auf Rom unternehmen konnte. In allen befreundeten Städten, auch in Tarent, hatte er die Bürger zum Kriegsdienst ausgehoben. Er verfügte nicht nur über die üblichen Fußtruppen und die Reiterei, die er nach mazedonischem Muster in eine vielgliedrige Phalanx einsetzte. Er hatte auch Kriegselefanten erworben, die die Schlachtordnung der Feinde wie bewegliche Türme angriffen. Widerstand gegen ihn erschien aussichtslos. Er schickte einen Gesandten an den Senat von Rom mit der Weisung, Frieden zu schließen. Pyrrhos war sehr erstaunt, als er erfuhr, daß der blinde Appius Claudius sein Friedensangebot im römischen Senat kurzerhand abgewiesen hatte. Eine zweite Schlacht fand bei Ausculum statt. Diesmal war der Sieg nicht so leicht. Pyrrhos erklärte: »Noch so ein Sieg und ich bin verloren.« Er hatte das Gefühl, seine Kräfte am falschen Ort zu verschwenden, um so mehr, als die Römer einen mächtigen Bundesgenossen gewonnen hatten, Karthago, das endlich den Augenblick gekommen sah, Sizilien in die Zange zu nehmen. Wenn es Rom zu Hilfe kam, konnte es seine Söldner mit den Legionen vereinigen. Noch während Karthago mit dem Senat darüber verhandelte, sandte es eine Flotte gegen Syrakus. Rom lehnte die Landung eines karthagischen Heeres in Italien ab. Nachrichten aus Sizilien veranlaßten Pyrrhos, sich nach dieser Insel zu begeben, wenn er nicht die Idee seines westhellenischen Reiches aufgeben wollte. Seit dem Tode des Agathokles, des Tyrannen von Syrakus, war die Macht der Karthager in raschem Fortschreiten. Sie eroberten eine der griechischen Städte Siziliens nach der anderen und waren schon nahe daran, Syrakus zu erobern, das nach dem Tode des 8
Tyrannen schnell von seiner Großmachtstellung herabgesunken war. Bedroht von der Fremdherrschaft der Karthager, riefen die Syrakusaner Pyrrhos herbei, den Schwiegersohn des toten Agathokles, damit er die Stadt, wenn sie schon nicht ihre Freiheit behaupten konnte, wenigstens die Hauptstadt des von Pyrrhos geplanten Hellenenreiches werde. Die karthagische Flotte vermochte die Landung des Pyrrhos und seines Heeres in Sizilien nicht zu verhindern. Durch seine ritterliche Liebenswürdigkeit gelang es Pyrrhos, die feindlichen Parteien der Griechen in Sizilien zu einigen. Nach kurzem Ringen wurden die Karthager nach Lilybaeum, einer Festung auf der westlichsten Spitze der Insel, zurückgeworfen. Sie boten mutlos den Frieden an, wenn ihnen diese wichtige Festung verbliebe. Es schien, als sollte sich der Traum des Pyrrhos von einem westhellenischen Reich verwirklichen. Er rüstete schon zu einer Expedition nach Nordafrika, um Karthago selbst anzugreifen, aber er scheiterte an der Uneinnehmbarkeit von Lilybaeum, dessen Eroberung die Griechen Siziliens von ihm forderten. Als es ihm trotz aller Bemühungen nicht gelang, vergaßen die Griechen Siziliens ihre Dankbarkeit gegen den Retter vor den Karthagern. Von Ekel vor ihrer kleinlichen Selbstsucht erfaßt, kehrte Pyrrhos nach Italien zurück, wo eine Anzahl der griechischen Städte unterdessen von den Römern erobert worden war. In der Schlacht von Beneventum unterlag Pyrrhos den Römern. Die Elefanten, die in früheren Schlachten seine Rettung waren, wurden durch die Brandpfeile der Römer in Verwirrung gebracht und wandten sich gegen seine eigenen Leute. Seines erfolglosen Ringens müde, kehrte Pyrrhos in seine Heimat zurück. Dort bemühte er sich, durch neue Kriege sein winziges Königreich zu vergrößern. Nach der Erstürmung von Argos wurde er im Straßenkampf von einem Ziegel getroffen, den eine Frau vom Dach schleuderte. Feindliche Kriegsknechte schleppten den Bewußtlosen in einen Hausflur und schnitten ihm den Kopf ab. Der mazedonische König, nach dessen Krone Pyrrhos gestrebt hatte, ließ den Toten ehrenvoll bestatten. Nach der Niederlage des Pyrrhos bei Beneventum hatten die römischen Legionen den Weg frei. Sie zo9
gen in Tarent ein und besetzten nacheinander alle griechischen Städte an der Küste. Rom war nun nicht mehr eine unbedeutende Macht, deren Bürger sich durch Landwirtschaft und unbedeutenden Handel ernähren mußten. Es beherrschte ein Gebiet, das vom Rubikon bis zur Südspitze Italiens reichte. Mit der ihnen eigenen Präzision sicherten die Römer die Eroberung durch die Errichtung von Festungen und durch den Bau von Heerstraßen. Sie übernahmen den Handel der griechischen Städte, teils auf eigene Rechnung, teils als Beteiligte der neuen ›socii‹, die sie durch die Verleihung beschränkter Bürgerrechte und durch vollen militärischen Schutz an sich banden. Karthago war fürs erste nicht beunruhigt, denn die Schwächung des griechischen Einflusses erschien den hohen Herren des Rates günstig. Rom war ihr Verbündeter, mit dessen Hilfe sie hofften, Sizilien endlich erobern zu können.
3 Es kam anders. Kampanische Söldner, die vom Tyrannen Agathokles von Syrakus angeworben worden waren, hatten auf der Rückkehr in die Heimat in Messana haltgemacht und sich der Stadt bemächtigt. Sie nannten sich ›Mamertiner‹, das heißt Marsmänner. Sie weigerten sich, Messana zu verlassen. Sie wurden von König Hieron II. von Syrakus angegriffen, riefen Karthago zu Hilfe und, um ganz sicherzugehen, auch Rom. Der römische Senat schwankte. Die Bürgerschaft beschloß, den Mamertinern Hilfe zu leisten. Rom war schneller als Karthago und schlagkräftiger. Eine römische Flotte setzte Truppen in Messana an Land. Sie besetzten die Stadt. Zum erstenmal waren jetzt die Karthager und die Syrakusaner Bundesgenossen und Gegner der Römer. Sie belagerten die Römer in Messana. Vergebens. Der Erste Punische Krieg hatte begonnen. Sein Ende war nicht ab10
zusehen. Rom konnte nur erfolgreich bleiben, wenn es auch über eine Flotte verfügte. Alle Mittel wurden dazu verwendet. Die Römer bauten Schiffe mit fünf Ruderreihen, nach dem Muster eines gestrandeten karthagischen Kriegsschiffes, aber sie fügten noch eine Neuerung hinzu: Enterbrücken. Nach einer siegreichen Seeschlacht bei Mylae landeten römische Truppen zum ersten Male an der afrikanischen Küste. Ihr Aufenthalt war nur kurz. Das gelandete Heer wurde von einem karthagischen Söldnerführer spartanischer Herkunft geschlagen, der Konsul M. Atilius Regulus gefangen. Der Rest der Truppen, durch eine römische Flotte heimgeholt, ging unterwegs durch Schiffbruch verloren. Der Krieg ging weiter. In der nächsten Seeschlacht bei Drepana siegten die Karthager. Ihr Feldherr, Hamilkar Barkas, verteidigte sich sechs Jahre mit Erfolg gegen die Römer auf sizilischem Boden. Inzwischen bauten die Römer Schiff um Schiff und errangen einen vollkommenen Seesieg bei den Ägatischen Inseln über die Karthager unter Hanno. Karthago mußte Frieden schließen. Es verzichtete auf den Besitz Siziliens. Es wurde zur Zahlung einer ungeheuren Kriegsentschädigung verurteilt. Der westliche Teil Siziliens wurde die erste römische Provinz. Der südöstliche Teil blieb unter der Hoheit des mit Rom verbündeten Königs Hieron von Syrakus. Die Römer hatten damit eine Kornkammer gewonnen. Sie konnten sich ernähren, ohne selbst Landwirtschaft betreiben zu müssen.
Die furchtbaren Folgen für Karthago, die die Niederlage seiner Flotte bei den Ägatischen Inseln nach sich zog, schildert Gustave Flaubert in seinem weltberühmten Roman ›Salambo‹. Die karthagischen Söldner, die zuletzt in Sizilien gekämpft hatten, wurden zu ihrer Entlohnung unvorsichtigerweise alle nach Afrika übergesetzt und in der Stadt Sikka versammelt. Dort eröffnete ihnen der karthagische Feldherr Hanno, daß sich Karthago in Geldverlegenheit befinde und den ausgemachten Sold nicht in voller Höhe zahlen könne. Die Enttäusch11
ten reagierten darauf mit einer Meuterei, durch die sie die Hauptstadt bedrohten. Je schwächer sich die Regierung zeigte, um so unverschämter wurden die Forderungen der Meuterer, die durch Zulauf der von Karthago hart bedrückten libyschen Untertanen die Hauptstadt vom Hinterland völlig abschneiden konnten. Hanno erwies sich als ein gegen diesen Aufruhr völlig hilfloser Feldherr. In dieser Not wird der Feldherr Hamilkar Barkas (Barkas – Blitz) der Retter des Vaterlandes.
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Salambo
von Gustave Flaubert
Die Söldner, die Hamilkar in Sizilien befehligt hatte, feierten in den Gärten des Feldherrn in Megara, der Vorstadt Karthagos, ein großes Gelage. Ihre Anführer und Befehlshaber lagerten im breiten Mittelgang, über dem von der Stallmauer bis zur Terrasse des Palastes ein goldbefranstes Purpurdach gespannt war. Die gemeinen Soldaten dagegen waren unter den Bäumen verstreut, durch deren Stämme die Wirtschaftsgebäude und Schuppen, der Elefantenhof und ein Sklavengefängnis hindurchschimmerten. Den Park durchschnitt eine hohe Zypressenallee. Die Wege waren mit schwarzem Kies bestreut, der durch den beigemischten Korallenstaub rötlich schimmerte. Der aus gelb geädertem Marmor erbaute Palast mit seinen vier terrassenartigen Stockwerken, die gewaltige Freitreppe aus Ebenholz, zu beiden Seiten mit den Schiffsschnäbeln eroberter Kriegsschiffe geschmückt, die roten Türen des Palastes, die durch vergoldetes Drahtgeflecht geschützten Fenster, diese verwirrende Pracht wirkte auf die Söldner unnahbar und hoheitsvoll wie das Gesicht Hamilkars. Halbnackte Küchensklaven hasteten diensteifrig zwischen den Bäumen hin und her. Der Duft der Zitronenbäume vermischte sich mit den Ausdünstungen der erhitzten Menschen, die sich hemmungslos der Festesfreude hingaben. Angehörige aller Völkerschaften nahmen an dem Gelage teil: Ligurer, Lusitaner, Neger und römische Überläufer. Die Griechen erkannte man an ihrer schlanken Gestalt, die Ägypter an ihren hohen Schultern, die Kantabrer an ihren sehnigen Waden. Kappadozische Bogenschützen hatten mit Pflanzensaft Blumen auf ihren nackten Körper gemalt. Andere hatten sich festlich mit Zinnober angestrichen, daß sie aussahen wie Korallenstatuen. Sie lagerten auf Ruhekissen, hockten im Kreis um große Schüsseln oder streckten sich auf den Bäuchen aus und 14
zogen die Fleischstücke mit jener Art Gemächlichkeit und Würde an sich, mit der Löwen ihre Beute verzehren. Da die Küchen Hamilkars nicht genügten, hatte der Rat von Karthago Sklaven, Geschirr und Ruhebänke geschickt. Im Garten waren große Feuer angezündet worden, an denen Ochsen gebraten wurden. Anisbrote lagen neben schweren Käsescheiben, und Krüge mit Wein und Wasser standen neben Körben aus Goldfiligran, die mit Blumen gefüllt waren. Das Vergnügen, in dieser Umgebung schwelgen zu dürfen, weitete die Augen der Söldner. Manche begannen bereits zu singen. Als erstes Gericht wurden Vögel in einer grünen Tunke aufgetragen, die auf roten, mit schwarzen Mustern verzierten Tonschüsseln herumgereicht wurden. Dann gab es Muscheln, Suppen aus Weizen, Bohnen und Gerste, Schnecken in Kümmel gekocht, auf gelben Bernsteinplatten. Darauf erst wurden die Braten auf die Tische gestellt: Antilopen, noch im Schmuck ihrer Hörner, Pfauen im Gefieder, ganze Hammel, in süßem Wein geschmort, Kamel- und Büffelkeulen, Igel in Beize, gebackene Heuschrecken. In mächtigen Holzschüsseln schwammen mit Safran gewürzte Speckstücke. Berge von Früchten waren auf Honigscheiben aufgetürmt. Es wurde auch ein ausschließlich karthagisches Gericht auf den Tisch gestellt, das den Abscheu der meisten erregte: kleine, dickbäuchige Hunde mit rosigem Seidenfell, die mit Olivenschalen gemästet worden waren. Die Nacht war hereingebrochen. Das Zeltdach über dem Mittelgang der Zypressenallee wurde entfernt, es wurden Fackeln gebracht. Die helleuchtenden Flammen des brennenden Öls in den Porphyrschalen erschreckten die geweihten Affen in den Wipfeln oben. Sie stießen gellende Schreie aus, was die Soldaten in ungehemmte Heiterkeit versetzte. Die gewölbten Bäuche der metallenen Mischkrüge warfen den Söldnern ihr in die Breite verzerrtes Spiegelbild zurück. Sie drängten sich zu den Wunderspiegeln und schnitten Grimassen, um sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Manche begannen bereits, sich über die Tische hinweg mit elfenbeinernen Fußbänken, goldenen Löffeln und dergleichen zu bewerfen. Dennoch hörten sie in ihrer Unersättlichkeit 15
nicht auf, von allen Sorten Wein in vollen Zügen zu trinken. Je heftiger die Trunkenheit zunahm, um so erregter gedachten sie der Unredlichkeit Karthagos. Sie hatten ihren Sold nicht ausbezahlt bekommen. General Gisko, dem der Hohe Rat den Befehl über alle zurückgekehrten Truppen gegeben hatte, war zwar vorsichtig genug gewesen, sie nur in einzelnen Abteilungen von Sizilien nach Afrika zu schicken, um die Auszahlung des rückständigen Soldes zu erleichtern; nach der Meinung des Volkes von Karthago aber schuldete man ihnen nichts. Der Kampf war trotz des Widerspruchs von Hamilkar zu Ende, die Söldner galten dem Volk als feindliche Macht genau wie Rom. Die Friedenspartei hatte sich zähneknirschend bereit erklärt, zehn Millionen Talente als Kriegsentschädigung an Rom zu bezahlen. Das war ohnehin mehr, als Karthago leisten konnte. Sie verwünschten die Söldner, die sie nicht mehr zu brauchen glaubten und die sie nicht bezahlen konnten. Aus Gehässigkeit gegen Hamilkar hatten die großen Herren des Hohen Rates seinen Palast für das Gelage zur Verfügung gestellt. Er hatte den Krieg geführt, er war abwesend, ihm gedachte man auch die ungeheuren Kosten des Festes – es wurde der Jahrestag der Schlacht am Eryx gefeiert – aufzubürden. Im Rausche erschienen den Söldnern die überstandenen Strapazen in keinem Verhältnis zu dem versprochenen geringen Lohn zu stehen, der ihnen überdies noch vorenthalten wurde. Sie prahlten mit ihren Verwundungen. Sie erzählten von den Jagden in ihrer Heimat, sie ahmten das Geschrei der wilden Tiere nach und wie sie sprangen. Sie steckten die Köpfe in die großen Steinkrüge und tranken ohne abzusetzen, wie Kamele, die vor Durst verschmachtet sind. Plötzlich vernahm man einen Klagegesang, der stärker und immer stärker anschwoll. Es waren die Sklaven im Gefängnis. Die Söldner sprangen auf, um sie zu befreien. Sie trieben unter lautem Geschrei zwanzig totenblasse Männer vor sich her; ihre Ketten klirrten wie das Gerassel rollender Kampfwagen. Einer der Sklaven blieb abseits stehen. Er blickte mißtrauisch um sich und kniff, vom Fackelschein geblendet, die Augen zusammen. Als 16
er erkannte, daß kein Söldner ihm etwas zuleide tun wollte, lallte und lachte er vor Freude, während ihm Tränen über die Wangen rollten. Er hieß Spendius. Die Karthager hatten ihn in der Schlacht bei den Ägatischen Inseln gefangengenommen. Er dankte den Söldnern in griechischer, ligurischer und punischer Sprache für seine Befreiung. Dann sprach er seine Verwunderung aus, die Trinkschalen der karthagischen Garde nirgends zu sehen. Diese Schalen, aus sechs goldenen Flächen bestehend, die je ein Weinstock aus Smaragden zierte, gehörten einem Verband der hervorragendsten Patriziersöhne. Es war ein besonders geheiligtes Vorrecht, aus ihnen zu trinken. Die Söldner befahlen, sie rasch herbeizuschaffen. Die Sklaven kamen zurück und berichteten, daß zu dieser Stunde alle Mitglieder der staatsrechtlich organisierten Familienverbände schliefen. »Dann weckt sie!« schrien die Söldner. Endlich gestanden die Sklaven zitternd, die Schalen wären in Händen des Generals Gisko. Gisko erschien, von einer Ehrengarde begleitet. Sein faltiger schwarzer Mantel, der ihn von der edelsteingeschmückten Mitra bis zu den Hufen seines Pferdes umwallte, ließ seine Erscheinung im Dunkel der Nacht verschwimmen. Nur der weiße Bart, das Funkeln seines Kopfschmucks und die breite blaue Schuppenkette auf seiner Brust waren sichtbar. »Die Schalen! Die Schalen!« schrien die Söldner, als sie ihn sahen. Gisko erklärte, daß niemand besser als er wisse, daß sie der Schalen würdig seien. Sei er nicht mit dem Letzten von ihnen auf der letzten Galeere zurückgekehrt? »Das ist wahr!« heulten die Söldner. Da sprang ein Gallier über die Tische hinweg auf Gisko zu und fuchtelte mit entblößtem Schwert. Der General schlug ihm mit seinem schweren Elfenbeinstock auf den Kopf. Der Mann brach zusammen. Die Gallier heulten, und ihre Wut übertrug sich auf die anderen. Gisko erklärte: »Die Republik hat eure Bräuche immer geachtet. Ihr alle seid frei in Karthago! Die Schalen sind Privateigentum.« 17
Man hörte ihm auch kaum noch zu. Er erkannte, daß sein eigener Mut ihm den aufgeregten Männern gegenüber wenig helfen konnte. Seine Garde war kaum imstande, ihn zu beschützen. Er gab seinem Gefolge einen Wink zum Rückzug. Das Gelage wurde fortgesetzt. Doch sie wußten, daß Gisko wiederkommen und sie durch Umstellung des Palastes gegen die Mauern drücken konnte. Sie fühlten auf einmal ihre ganze Verlassenheit, und die große Stadt mit den hohen, dunklen Häusern, mit den unbekannten Göttern flößten ihnen plötzlich Angst und Schrecken ein. – Wo war Hamilkar? Warum hatte er sie verlassen? War das Zerwürfnis Hamilkars mit dem Hohen Rat am Ende nur Blendwerk, um sie zu verderben? In diesem Augenblick sackte ein Neger zusammen und schlug am Boden mit Händen und Füßen um sich. Sein Blick war starr, der Hals verrenkt, und Schaum stand ihm vorm Munde. Jemand schrie, er sei vergiftet. Sogleich glaubten sich alle vergiftet und stürzten über die Sklaven her. Eine wahnsinnige Zerstörungswut erfaßte sie. Sie schleuderten brennende Fackeln in die Baumkronen. Sie schossen mit Pfeilen in die Löwengrube. Balearische Schleuderer waren an eine hohe Umzäunung aus indischem Rohr gekommen, durchschnitten die Riemen des verschlossenen Tores mit Dolchen und befanden sich nun vor der nach Karthago zugewandten Front des Palastes. Auf blauem Grund standen weiße Blumen gleich schimmernden Sternenketten. Baumstümpfe, mit Zinnober bestrichen, sahen wie blutige Säulen aus. Die Söldner erleuchteten die Dunkelheit mit ihren Pechfackeln und bemerkten einen kleinen Weiher, der durch blaues Gestein in mehrere Becken geteilt war. Das Wasser war so klar, daß das Licht der Fackeln bis auf den Grund ging und daß auf dem weißen Sand Goldstaub zitterte. Das Wasser begann zu schäumen, Funken sprühten, große Fische mit Edelsteinen im Maul tauchten auf. Die Söldner steckten den Fischen die Finger in die Kiemen und schleppten sie zu ihren Tischen. Es waren die Fische der Barkiden. Der Sage nach hatten die Vorfahren dieser Tiere das Ei, aus dem die Göttin stammte, ausgebrütet. Der Gedanke, einen gottlosen Frevel zu be18
gehen, reizte die Söldner. Sie entzündeten Feuer unter ehernen Becken und freuten sich daran, die Fische im kochenden Wasser zappeln zu sehen. Gesänge mischten sich mit dem Todesröcheln der Sklaven. Die Söldner schrien nach Wein, nach Fleisch und Gold, nach Weibern. Im Dunkeln brüllten die verwundeten Löwen. Da erhellte sich plötzlich die oberste Terrasse des Palastes. Eine Frauengestalt, Hamilkars Tochter selbst, in schwarze Gewänder gehüllt, stieg die Treppe hinab und blieb auf der untersten Terrasse stehen. Hinter ihr standen zwei lange Reihen bleicher Männer in weißen, rot gesäumten Gewändern. Diese Eunuchenpriester hatten weder Bart noch Haare, noch Augenbrauen. Sie sangen mit gellend aufklingenden Stimmen ein Loblied auf Tanit, die erhabene Göttin Karthagos. Salambo schritt die Freitreppe hinunter; die Priester folgten. Niemand kannte sie. Im Mondenschein sah sie blaß aus. Etwas Göttliches umwob sie. Ihre Augen schienen über alles Irdische hinweg in weite Fernen zu blicken. In ihrer Rechten hielt sie eine kleine Leier aus Ebenholz. Während sie gesenkten Hauptes an den Tischen der Hauptleute vorbeischritt, murmelte sie: »Tot! Alle tot! Oh, Göttin, erbarme dich meiner!« Die Söldner drängten sich heran, ohne ihre Rede zu verstehen. Sie bewunderten ihren Schmuck. Salambo sah mit langen, erschrockenen Blicken über die Menge hin, dann hob sie die Arme und rief: »Was habt ihr getan! Was habt ihr getan! Hattet ihr nicht genug Fleisch, Brot und Öl? Ich habe Ochsen kommen lassen, Jäger in die Wüste geschickt …« Ihre Stimme wurde erregter: »Wo seid ihr denn hier? Seid ihr in einer besiegten Stadt oder im Palast eines Gebieters? Es ist das Haus meines Vaters Hamilkar. Er allein weigerte sich, eure Waffen auszuliefern, nun klebt das Blut seiner Sklaven daran!« Ihre feinen Nasenflügel bebten. »Armes Karthago!« klagte sie. »Bejammernswerte Stadt! Wo sind die Helden, dich zu schützen, wie einst in vergangener Zeit?« Sie sprach in einer alten, kanaanitischen Mundart. Keiner der Barbaren verstand sie. Sie fragten sich, was diese Frau mit den schreckens19
vollen Gebärden ihnen wohl sagen wollte. Sie stiegen auf Bänke und Tische, um mit offenem Mund und vorgestrecktem Kopf zu lauschen. Es war etwas spukhaft Geheimnisvolles. Was war es? Niemand aber schaute so andächtig auf Salambo wie ein junger numidischer Häuptling. Ein Zufall hatte ihn zum Fest geführt. Sein Vater hatte ihn zu den Barkas geschickt – nach dem alten Brauch der Könige, die ihre Kinder zu vornehmen Familien sandten, um neue Beziehungen anzuknüpfen. Doch er hatte in den sechs Monaten, die er bereits im Palast der Barkas zugebracht hatte, Salambo niemals zu Gesicht bekommen. Auf den Fersen hockend, das Kinn auf die Schäfte seiner Wurfspieße gestützt, blickte er mit geblähten Nüstern starr zu ihr empor wie ein Leopard, der im Bambusdickicht kauert. Ihm gegenüber hockte ein hünenhafter Libyer, der nur mit einem Panzerhemd bekleidet war. Sein Antlitz unter dem kurzen schwarzen Kraushaar war mit Blut bespritzt. Er lächelte mit weit offenem Munde. Um den Zorn der Barbaren zu besänftigen, sprach sie nun die Griechen, die Ligurer, die Kampaner und Neger in ihren eigenen Sprachen an. Es dünkte jeden, in ihrer Stimme die süßesten Heimatlaute zu hören. Sie sprach von den alten Schlachten Karthagos gegen Rom. Man klatschte ihr Beifall. Der Anblick der funkelnden Schwerter begeisterte sie. Die Leier fiel zu Boden. Beide Hände gegen das Herz gedrückt, stand sie mit halbgeschlossenen Lidern und weidete sich an der Erregung der Männer, die sie entzündet hatte. Mathos, der Libyer, neigte sich ihr entgegen. Sie trat auf ihn zu und reichte ihm eine goldene Schale mit Wein als Versöhnungstrunk: »Trink!« sagte sie. Er setzte die Schale an die Lippen. Ein Gallier klopfte ihm auf die Schulter und machte lachend in der Sprache seines Landes Witze. Spendius, der dicht dabeistand, erbot sich zum Dolmetscher. »Die Götter sind dir hold«, sagte er. »Reich wirst du werden. Wann soll es Hochzeit geben?« »Was für eine Hochzeit?« »Die deine! Wenn ein Weib einem Soldaten einen Trunk reicht, bietet sie ihm damit ihr Bett an!« 20
Spendius hatte die Worte kaum übersetzt, als der junge numidische Häuptling Naravas aufsprang und einen Wurfspieß gegen Mathos schleuderte. Der Speer durchbohrte den Arm des Libyers und nagelte ihn mit solcher Gewalt auf der Tischplatte fest, daß der Schaft in der Luft zitterte. Mathos zerrte ihn heraus, hob den beladenen Tisch und schleuderte ihn gegen Naravas. Söldner warfen sich zwischen die beiden. Mathos brach sich mit Kopfstößen Bahn. Als er sich wieder aufrichtete, war Naravas verschwunden. Aber auch Salambo war fort. Er blickte zum Palast empor, wie sich hoch oben eine rote Tür schloß. Er lief zwischen den Schiffsschnäbeln hinauf, die drei Treppen aufwärts und rannte gegen die rote Tür mit der ganzen Wucht seines Körpers an. Dann lehnte er sich keuchend an die Mauer, um nicht umzusinken. Er erkannte in der Dunkelheit einen Mann, der ihm gefolgt war. »Geh!« rief Mathos. Ohne zu erwidern, begann Spendius seine Tunika mit den Zähnen zu zerreißen, kniete neben Mathos nieder, ergriff seinen Arm behutsam und sah eine klaffende Wunde. Er verband sie. »Laß mich! Laß mich!« »Nein«, entgegnete Spendius. »Du hast mich aus dem Kerker befreit, du bist mein Herr!« Mathos tastete sich über die Terrasse die Mauer entlang. Er horchte bei jedem Schritt auf und versuchte, durch das Goldgeflecht der Fenster in die stillen Gemächer zu blicken. Er blieb verzweifelt stehen. »Hör mich!« sagte Spendius. »Und verachte mich nicht um meiner Geringheit willen! Ich habe in diesem Palast gelebt. Ich kann durch alle Mauern schlüpfen. In der Ahnengruft finden wir einen Goldbarren unter jeder Steinfliese.« »Was geht mich das an?« fragte Mathos. Spendius schwieg. Sie standen auf der Terrasse. Nun stieg die Sonne empor. Spendius breitete die Arme aus und jauchzte. Ei ne Flut rotgoldenen Lichts ergoß sich über alles. Rings um die karthagische Halbinsel zog sich kräuselnd ein weißer Schaumgürtel, während das smaragdgrüne Meer sich belebte. Große Karren, vom Lande kommend, rollten über das Straßenpflaster. Kamele, mit Ballen beladen, schwank21
ten die Abhänge hinunter. In den Gassen spannten die Wechsler die Schutzdächer über ihren Läden auf. Im Hain der Tanit erklangen die Schellentrommeln der geheiligten Hetären. Spendius neigte sich über das Geländer und wies mit ausgestreckter Hand auf die Stadt: »Was für Reichtümer! Und die sie besitzen, haben nicht Schwerter genug, sie zu verteidigen!« Er zog Mathos zum andern Ende der Terrasse und wies zum Park hinab, in dem die Schwerter der Söldner im hellen Sonnenschein an den Bäumen hingen. »Hier dagegen siehst du Männer, von Haß beseelt.« Mathos stand gegen die Mauer gelehnt. Spendius redete mit leiser Stimme auf ihn ein: »Begreifst du, was ich meine, Bruder? Wir könnten in Purpurmänteln gehen wie Satrapen. Wir könnten uns in Wohlgerüchen baden. Hast du es nicht satt, auf harter Erde zu schlafen und immer nur den Weckruf der Trompeten zu hören? Du wirst dich auch einmal ausruhen wollen, aber nicht erst dann, wenn man dir den Panzer vom Leib reißt und deine Leiche den Geiern vorwirft. Ein Mann wie du … Wenn du nur wolltest! Wer hindert dich? Hamilkar ist nicht da. Gisko kann mit den Feiglingen, die um ihn sind, nichts ausrichten. Du aber bist tapfer und verwegen, dir gehorchen die Söldner. Sei ihr Führer! Karthago ist uns verfallen.« »Nein!« erwiderte Mathos. »Molochs Fluch lastet auf mir. Ich hab's in ihren Augen gelesen. Jüngst ist im Tempel ein schwarzer Stier vor mir zurückgewichen.« Um sich blickend, fragte er: »Wo ist sie?« Spendius begriff, welch eine ungeheure Verstörtheit den Mann ergriffen hatte. Die in der Nacht angezündeten Bäume schwelten immer noch. Aus den verkohlten Zweigen fielen hin und wieder halb verbrannte Affenknochen in die Schüsseln. Mitten unter den Leichen schnarchten die trunkenen Soldaten mit offenem Munde. Die Elefanten in ihren Gehegen schwenkten die blutigen Rüssel. Die Pfaue schlugen Räder und schrien. Mathos verfolgte, beide Fäuste auf die Terrassenmauer gestützt, einen sich fortbewegenden Punkt am Horizont. Auch Spendius beug22
te sich vor. Ein goldenes Etwas blinkte im Staub der Straße. Es war die Achse eines mit zwei Maultieren bespannten Wagens. An der Spitze der Deichsel lief ein Sklave und hielt die Pferde an den Trensen. Im Wagen saßen zwei Frauen. Ein langer Schleier wehte hinter ihnen im Wind. Zwei Tage danach verließen die Söldner Karthago. Der Große Rat hatte jedem von ihnen unter der Bedingung, daß sie ihren Standort nach Sikka verlegten, ein Goldstück ausgezahlt und an Schmeicheleien nicht gespart. »Ihr seid die Retter Karthagos. Wenn ihr jedoch hierbliebet, brächtet ihr Hungersnot über uns und machtet uns zahlungsunfähig. Zieht ab! Wir werden neue Steuern erheben; eures Soldes könnt ihr sicher sein! Wir werden auch Kriegsschiffe ausrüsten, um euch zur Heimat zurückzubringen.« Es war nicht schwer, die kriegsgewohnten Männer, die sich in der Stadt langweilten, zu überreden. In buntem Durcheinander zogen sie ab; leichte Bogenschützen neben schwer Bewaffneten, Offiziere neben Gemeinen. Ihre Rüstungen waren zerbeult von Katapultgeschossen. Ihre zerrissenen Panzerhemden klapperten auf den Schwertergriffen. Die Lanzen, die Streitäxte, die Wurfspeere, die Stahlhelme, die Filzhauben bewegten sich in gleichmäßigem Takt auf dem Pflaster zwischen den sechsstöckigen Häusern, die mit Erdpech getüncht waren. Alle hatten Angst, die Söldner könnten doch noch, da sie sich stark sahen, auf den Einfall kommen zu bleiben. Man warf ihnen Spezereien, Blumen und Geldstücke zu. Man schenkte ihnen Amulette gegen Krankheiten, hatte vorher aber dreimal darauf gespuckt, um den Tod für die Beschenkten heraufzubeschwören. Laut rief man Segen auf sie herab, heimlich verfluchte man sie. Nun folgte der Rest des Trosses, die Lasttiere und Nachzügler, Kranke auf Kamelen, Lahme, die, auf die Lanzenstümpfe gestützt, einherhumpelten, Trunkenbolde schleppten Weinschläuche mit sich, die Gefräßigen Fleischstücke, Kuchen, Früchte und Butter in Feigenblättern. Einige trugen Sonnenschirme in der Hand und Papageien auf den Schultern. Hunde, Gazellen, Panther und libysche Frauen auf Eseln 23
folgten dem Zug. Die Maultiere, die mit Schwertspitzen angetrieben wurden, konnten die Last der aufgepackten Zelte kaum tragen. Als alle hinaus waren, schloß man die Tore. Das Volk blieb noch auf den Mauern. Das Heer verstreute sich über die Landenge hin. Die Lanzen sahen bald nur noch wie hohe Grashalme aus. Schließlich verlor sich alles im aufgewirbelten Staub. Die Söldner waren erfreut, wieder durch die weite Ebene miteinander zu wandern. Sie schrien und sprangen; die Lustigsten begannen Geschichten zu erzählen. In Tunis angekommen, bemerkten sie, daß ein Trupp balearischer Schleuderer fehlte. »Die werden sicher nicht weit sein!« Dann dachte man nicht mehr daran. Am nächsten Tag durchzogen die Söldner bewohntere Gegenden. An der Landstraße lag ein Gutshof der Patrizier neben dem anderen. Durch Palmenhaine zogen sich Wassergräben. Olivenbäume standen in langen grünen Reihen. Rosenduft erfüllte das Gelände. Der Wind ging heiß. In der Ferne blaue Berge. Die Barbaren verlangsamten ihren Marsch. Des Abends legten sie sich auf die Zeltplanen nieder, ohne sie aufzuschlagen. Das Gesicht den Sternen zugekehrt, schliefen sie und träumten vom Fest in den Gärten Hamilkars. Am dritten Tag hielten sie bei den Oleanderbüschen am Ufer eines Gewässers an. Die Soldaten warfen ihre Lanzen, Schilde und Schwertgurte ab, wuschen sich unter vielem Lärm, schöpften mit den Helmen Wasser und tranken inmitten ihrer Maultiere. Spendius, der auf einem aus den Ställen Hamilkars geraubten Kamel saß, sah nicht weit von sich Mathos, der, den Arm in der Binde, schwermütig in das Wasser starrte, während er sein Maultier trinken ließ. Sofort eilte er rufend durch die Menge: »Herr! Herr!« Aber Mathos dankte ihm kaum für den Gruß. Spendius verargte ihm das nicht, sondern blieb während des ganzen Marsches bei ihm, brachte ihm zu essen, half ihm beim Absitzen und breitete nachts eine Decke unter seinen Kopf. Durch solche kleinen Dienstleistungen gerührt, taute Mathos allmählich auf. Er war an der Großen Syrte geboren. Sein Vater hatte ihn 24
auf eine Pilgerfahrt zum Amontempel mitgenommen. Dann hatte er in den Wäldern Elefanten gejagt. Später war er in karthagischen Söldnerdienst getreten. Bei der Einnahme von Drepanum war er zum Offizier ernannt worden. Karthago schuldete ihm vier Pferde, zwölf Zentner Getreide und den Sold für einen Winter. Er glaubte an die Götter und hatte nur den einen Wunsch, in seiner Heimat zu sterben. Spendius war der Sohn eines griechischen Gelehrten der Redekunst und einer kampanischen Hure. Er hatte seinen Unterhalt anfangs durch Mädchenhandel verdient, dann aber, durch einen Schiffbruch völlig verarmt, hatte er mit den samnitischen Hirten gegen Rom gekämpft. Dabei war er in Gefangenschaft geraten. Unter wechselnden Herren hatte er bei Mühsal und Mißhandlungen allen irdischen Jammer erlitten. Als er sich aus Verzweiflung von Bord einer Triere, auf der er Ruderer war, ins Meer gestürzt hatte, war er von Matrosen Hamilkars aufgefischt und ins Sklavengefängnis nach Karthago gebracht worden. – Spendius war nicht nur ein guter Erzähler, er verstand sich auf mancherlei: er konnte Sandalen, Jagdgeräte und Fischnetze anfertigen, wilde Tiere zähmen und Gifte mischen. Spendius schien erfüllt von heimlicher Angst. Er schaute mit besorgten Blicken immer wieder nach Karthago zurück. Erst am Abend des vierten Tages wurde er ruhiger. Seine Hoffnung auf Rache wurde wieder lebendig und begeisterte ihn. Er preßte die Hand auf den Mund, um sein Jauchzen zu ersticken. Mathos war wieder in Schwermut versunken. Seine Beine hingen fast bis zur Erde und seine Panzerstiefel fegten unter ständigem Geräusch über die Gräser hin. Der Weg zog sich in die Länge. Hatte man eine Ebene durchschritten, so kam von neuem Hochland, worauf es dann wieder zur Niederung hinabging. In regelmäßigen Abständen traf man auf kleine viereckige Kapellen; Raststätten für die Pilger nach Sikka. Die bebauten Ackerflächen wurden immer seltener; dafür kamen öde Sandstrecken mit Dornengestrüpp. Jetzt ging es durch ein weites Tal, das von zwei rötlich schimmernden Hügelketten eingeschlossen wurde, als ein ekelhafter Geruch ihnen entgegenschlug. Etwas Seltsames bot sich 25
ihren Blicken: An der Spitze eines Johannisbrotbaumes hing ein Löwenkopf. Sie liefen hin. Man hatte den Löwen wie einen Verbrecher ans Kreuz genagelt. Der riesige Kopf hing auf der Brust. Die Vordertatzen, die zum Teil unter der üppigen Mähne verschwanden, waren auseinandergespreizt. Die Söldner lachten. Sie redeten den Löwen mit ›Konsul‹ und ›Römische Bürger‹ an. Dann warfen sie Steine nach seinen gebrochenen Augen, um die Fliegen zu verscheuchen. Kaum hundert Schritt weiter tauchten zwei neue Kreuze auf und dann, den Weg entlang, Kreuz auf Kreuz mit je einem Löwen daran. Manche waren schon so verwest, daß nur noch Reste ihrer Skelette am Holz hingen. So rächten sich die karthagischen Bauern an den Raubtieren und hofften wohl, durch dies grausame Beispiel andere von ihren Herden abzuschrecken. Die Söldner lachten nicht mehr. Alle, besonders die Nordländer, fühlten sich merkwürdig beunruhigt, erregt und krank. Die Ruhr war unter ihnen ausgebrochen. Sie fühlten sich alle entmutigt. Noch immer nichts von Sikka zu sehen. Viele wollten nicht mehr weitergehen. Einige machten sich auf den Rückweg nach Karthago. Endlich, am siebenten Tag, bog der Weg plötzlich scharf rechts ab, und ein Mauerstreifen tauchte auf. Blaue, gelbe, weiße Schleier wehten im Abendrot über den Mauern. Die Priesterinnen der Tanit waren zum Empfang der Söldner herbeigeeilt. Sie schlugen Handtrommeln, Zithern und Kastagnetten. Obgleich Sikka ein Wallfahrtsort war, vermochte es eine solche Menschenmenge nicht aufzunehmen. Der Tempel mit seinen Nebengebäuden nahm allein schon die Hälfte der Stadt ein. Die Söldner lagerten sich daher in der Ebene. Die auf Zucht und Ordnung hielten, blieben in Trupps beisammen. Die Griechen schlugen ihre Zelte aus Fellen in gleichen Reihen auf. Die Iberer spannten ihre Leinenschutzdächer im Kreis nebeneinander aus, die Gallier bauten sich Bretterbuden, die Libyer Hütten aus hartem Stein. Die Neger scharrten mit den Händen Gruben in den Sand, um darin zu schlafen. Die Ebene war ringsum von Gebirgszügen eingeschlossen. Die Berggipfel hatten die Form von Mondsicheln, oder sie wölbten sich üppig 26
wie volle Frauenbrüste gen Himmel. Ein Gießbach schäumte von der Felsenhöhe herunter, auf der sich der Tempel der karthagischen Venus mit ehernen Säulen und goldenem Dach erhob. Es war eine schöne, das Herz erwärmende Landschaft. Spendius hatte sich für den Erlös seines Kamels einen Sklaven gekauft. Er selbst lag den ganzen Tag vor dem Zelt des Mathos ausgestreckt und schlief. Oft aber schrak er empor; ihm war, als hätte er im Traum eine Peitsche sausen hören. Wenn Mathos ausging, begleitete ihn Spendius wie ein Trabant. Manchmal stützte Mathos nachlässig den Arm auf die Schulter des kleinen Mannes. Als sie eines Abends durch das Feldlager schritten, begegneten sie einigen Männern in weißen Mänteln, darunter Naravas. Mathos erbebte. »Gib mir dein Schwert!« rief er. »Ich erschlage ihn.« Spendius hielt ihn zurück, denn Naravas trat schon vor und küßte ihm zum Zeichen freundschaftlicher Gesinnung seine beiden Daumen. Er entschuldigte die zornige Aufwallung während des Festes mit der allgemeinen Trunkenheit. Dann sprach er feindselig von Karthago. »Will er uns verraten oder die Republik?« überlegte Spendius. Naravas blieb bei den Söldnern. Es schien, als ob er sich mehr an Mathos anschließen wollte; er schickte ihm gemästete Ziegen, Goldstaub und Straußenfedern. Der Libyer wußte nicht, ob er solche Freundlichkeiten erwidern oder in Zorn geraten sollte. Er ließ sich von Spendius besänftigen. Er wurde immer unselbständiger. Er verfiel einem Zustand unbezwingbarer Teilnahmslosigkeit, wie jemand, der einen Trank zu sich genommen hat, an dem er sterben muß. Eines Morgens, als sie zu dritt zu Löwenjagd aufbrachen, verbarg Naravas einen Dolch in seinem Mantel. Spendius ließ ihn nicht aus den Augen, und so kehrten sie wieder zurück, ohne daß er von seinem Dolch hätte Gebrauch machen können. Ein andermal lockte Naravas Mathos und Spendius weit fort bis an die Grenze seines Reiches; dann erklärte er lächelnd, er wisse nicht mehr den Weg. Spendius fand sich zurecht. 27
Oft streifte Mathos schon vor Sonnenaufgang in der Gegend umher und streckte sich in den Sand, um bis zum Abend unbeweglich liegenzubleiben. Er suchte alle Weissager im Heere auf, Sterndeuter und Sachverständige, Zauberer, die auf den Lauf der Schlangen achteten und auf die Asche von Toten bliesen. Negerweiber ritzten ihm mit goldenen Dolchen die Haut an der Stirn und sangen im Mondschein beschwörende Worte. Er behängte sich mit Amuletten. Spendius hörte ihn seufzen und mit sich selber reden. Eines Nachts ging er zu ihm hinein. Mathos lag nackt auf einer Löwenhaut ausgestreckt, das Gesicht verbarg er in beiden Händen. Eine Hängelampe beleuchtete seine Waffen, die über seinem Kopf am Zeltmast hingen. »Was hast du?« fragte Spendius. »Fehlt dir etwas? – Antworte doch!« Endlich sah Mathos mit großen, verstörten Augen zu ihm auf, legte einen Finger auf die Lippen und sagte leise: »Hamilkars Tochter verfolgt mich. Ich fürchte mich vor ihr. Ich bin krank! Kennst du mächtige Götter oder sonst irgendeinen Zauber, der mich heilen könnte?« »Wovon denn?« fragte Spendius. Mathos schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn. »Ich will wieder frei sein! Es ist kein Zweifel, daß ich das Opfer eines Gelübdes bin, das sie vor den Göttern abgelegt hat. – Sie hält mich fest. Wenn ich gehe, schreitet sie mir voran. Bleib' ich stehen, so verweilt auch sie. Ich höre ihre Stimme. Ihre Augen glühen mich an, sie ist immer um mich. Es ist mir, als sei sie meine Seele geworden! Manchmal hab' ich das Gefühl, als hätte ich sie nie gesehen, als lebte sie nicht – als wär' alles nur ein Traum.« Spendius wurde von Mitleid ergriffen. Er erinnerte sich jener Jünglinge, die mit goldenen Gefäßen in den Händen ihn angefleht hatten, wenn er seine Huren durch die Städte geführt hatte. Er sagte: »Sei stark, Herr! Wende dich an deinen Willen, nicht aber an die Götter. Erscheint es dir nicht schimpflich, um eines Weibes willen so zu leiden?« 28
»Bin ich ein Kind? Glaubst du, daß Weiber überhaupt noch einen solchen Eindruck auf mich machen können? Wir hatten in Drepanum genug davon. Ich habe sie besessen – oft mitten im Sturmangriff unter stürzenden Dächern. Doch diese, diese eine …« Spendius unterbrach: »Wenn sie nicht Hamilkars Tochter wäre …« »Nein!« schrie Mathos. »Sie hat nichts mit andern Erdenweibern gemein. Hast du ihre großen Augen unter den gewölbten Brauen gesehen? Zwischen den Diamanten ihrer Halskette leuchtete die Zartheit ihrer nackten Brust. Ihrem Wesen entströmte ein Etwas, süßer als Wein, schrecklicher als der Tod. Ich will sie haben! Es geht nicht anders; ich sterbe sonst!« Er senkte den Kopf. »Bei dem Gedanken, sie in meine Arme zu schließen, packt mich ein Freudentaumel. Dabei hasse ich sie, daß ich sie schlagen möchte. Was soll ich tun? Ich habe Lust, mich zu verkaufen, um ihr als Sklave zu dienen.« Mathos wollte sich mit Wein betäuben. Doch nach der Trunkenheit fühlte er sich noch elender als vorher. Er ließ sich zu den heiligen Hetären führen, doch kam er schluchzend wieder wie einer, der von einem Begräbnis kommt. Spendius dagegen wurde immer kecker und vergnüglicher. Er hielt in den aus Reisig errichteten Schenken der Söldner lebhafte Reden. Er machte Gauklerkunststücke und kannte Heilkräuter für Kranke. Er war lustig und schlau, voll von munteren Einfällen. Er machte sich unter den Söldnern beliebt. Sie alle warteten auf einen Gesandten aus Karthago, der ihnen auf Maultieren Körbe voller Gold bringen sollte. Sie überschlugen die alte Rechnung und malten mit den Fingern Zahlen in den Sand. Jeder hatte Zukunftspläne. Der eine wollte sich Dirnen, Sklaven und Ländereien kaufen, der andere seine Schätze vergraben oder im Seehandel aufs Spiel setzen. Die Untätigkeit wirkte erregend auf die Gemüter. Fortwährend gab es Streitereien. Täglich kamen Zuzügler ins Lager, fast nackt, zum Schutz gegen die Sonne Gras über dem Kopf. Es waren Schuldner der reichen Karthager, die zum Frondienst auf den Feldern gezwungen worden und nun entlaufen waren, Bauern, die durch die hohen Steuern zugrunde gerichtet waren, Geächtete und Missetäter. 29
Alle ereiferten sich gegen die Republik. Spendius wurde der Wortführer. Man sprach davon, auf Karthago loszumarschieren und die Römer zu Hilfe zu rufen. Eines Abends vernahm man ein dumpfes Geräusch, das allmählich näher kam. In der Ferne tauchte etwas Rotes im welligen Gelände auf. Es war eine große Purpursänfte, die an ihren Ecken mit Straußenfedern verziert war. Kristallketten und Perlenschnüre schlugen gegen die geschlossenen Vorhänge. Seiten der Sänfte schützten von Kopf bis Fuß in goldene Schuppenpanzer gekleidete Reiter. Jetzt wurde das Feldzeichen der Republik sichtbar: Blaue Holzstangen, an deren Spitze sich ein bemalter Pferdekopf oder ein vergoldeter Pinienapfel befand. Die Söldner klatschten Beifall und eilten der Sänfte entgegen, die auf den Schultern von zwölf mit kleinen raschen Schritten im Gleichtakt laufenden Negern lastete. Nun wurden die Purpurvorhänge geöffnet. Auf gelbseidenen Kissen lagerte das widerlich aufgedunsene Gesicht eines Mannes. Das Gesicht war so bleich, als wäre es mit Marmorstaub gepudert. Der Körper des Mannes war von Fellen verdeckt. Die Söldner erkannten den General Hannon. Sie erinnerten sich, daß die Schlacht bei den Ägatischen Inseln durch seine Langsamkeit verlorengegangen war. Sie wußten von seiner Habgier. Es war bekannt, daß er alle Gefangenen auf eigene Rechnung verkauft, der Republik aber ihren Tod gemeldet hatte. Zwei Trompeter stießen in ihre silbernen Hörner. Hannon stieg, auf zwei Sklaven gestützt, schwerfällig aus der Sänfte. Er befahl, die Hauptleute zusammenzurufen, und dann begann er seine Rede mit Lobsprüchen auf die Götter und die Republik. Er redete um alles herum, wendete Sprichwörter und Gleichnisse an. Er fragte: »Wenn ein Herr nur drei Weinstöcke hat, ist es da nicht recht, daß er zwei für sich behält?« Er erklärte, man müsse vernünftig sein, denn die Zeiten seien schwierig! Dabei nickte er fortwährend mit dem Kopf, als wolle er damit Beifall erzwingen. Bald erschienen sämtliche Häuptlinge und Offiziere und Söldnerkompanien in ihren volkstümlichen Rüstungen und Rangabzeichen. 30
Hannon setzte ihnen die schwierige Lage der Republik auseinander. Der Staatsschatz sei erschöpft, die Zwangszahlungen an die Römer erdrückend, der Große Rat wisse nicht mehr aus noch ein. Karthago sei beklagenswert. Er rollte einen langen Papyrusstreifen auf und verlas einen Bericht über die Ausgaben der Regierung. Die Dunkelheit brach herein; sie brachte der Ebene keine Stille. Einer ging zum andern, alle fragten: »Was bedeutet das Gerede? Was will er? Weshalb zahlt er das Geld nicht aus?« Sie drängten sich an die Gruppe um Hannon heran. Die gepanzerten Reiter schwankten auf ihren Pferden. Es entstand ein Tumult. Jeder wollte hören, was Hannon zu sagen hatte. Die einen wollten die andern zum Schweigen bringen. Alle schrien durcheinander. Plötzlich sprang ein Mann dicht vor Hannon hin, entriß einem Herold die Trompete und blies hinein. Es war Spendius. Er kündigte in fünf Sprachen – Griechisch, Lateinisch, Libysch, Gallisch und Balearisch – an, daß er etwas Wichtiges sagen müsse. Hannon hatte es unterlassen, seine Dolmetscher mitzubringen. Er hatte punisch gesprochen. Die Hauptleute und Offiziere hatten seine Erklärungen nicht verstanden. Sie waren alle froh, daß einer in allen Landessprachen redete. Sie riefen: »Los! Rede!« Spendius zögerte. Er zitterte. Endlich wendete er sich an die Libyer, die am zahlreichsten waren. »Habt ihr die furchtbaren Drohungen dieses Mannes gehört?« Hannon widersprach nicht. Spendius atmete auf. Hannon verstand nicht Libysch. Spendius wiederholte den Satz in allen andern Sprachen. Die Offiziere blickten einander an. Sie waren erstaunt. Sie hatten Hannon nicht drohen hören. Spendius rief: »Merkt alle auf, was er gesagt hat! Zunächst hatte er behauptet, daß die Götter aller Völker, außer denen Karthagos, nichts als Hirngespinst wären. Er hat euch Feiglinge, Gaukler, Lügner und Söhne von Hündinnen genannt. Ohne euch, sagte er, wäre es niemals dahin gekommen, den Römern Tribut zahlen zu müssen. Er nannte euch die Schuldigen. Ihr sollt bestraft werden. Man will euch beim Straßenpflastern, beim Schiffbau arbeiten lassen. Ihr sollt in Bergwerken die Erde durchwühlen.« Spendius übersetzte seine eigene Rede den Galliern, den Kampanern, 31
den Balearen. Die meisten waren überzeugt, daß Spendius die Rede Hannons wortgetreu wiedergegeben habe. Manche riefen allerdings: »Du lügst!« Ihre Stimmen wurden vom Lärm übertönt. Spendius begann von neuem: »Habt ihr nicht gesehen, daß er draußen vor dem Lager Reiter zurückgelassen hat? Auf ein Zeichen von ihm fallen sie über euch her.« Die Söldner wendeten sich der von Spendius bezeichneten Richtung zu. Da teilte sich die Menge, und ein menschliches Wesen tauchte vor ihnen auf: tiefgebückt, abgemagert, völlig nackt. Seine Hände zitterten und bebten. Er verzog den Mund zu einem blödsinnigen Grinsen. Plötzlich stieß er einen Entsetzensschrei aus, verkroch sich hinter den Söldnern und stammelte: »Da sind sie! Da sind sie!« Er wies auf die Leibgarde Hannons, die unbeweglich in ihren glänzenden Rüstungen verharrte. Das menschliche Gerippe schlug mit den Händen und Füßen um sich und heulte: »Alle haben sie erschlagen!« Da er diese Worte in balearischer Sprache geschrien hatte, traten die Balearen an ihn heran und erkannten einen Kameraden. Ohne auf ihre Fragen zu antworten, schrie er: »Alle ermordet! Alle! Wie Trauben zusammengequetscht! Alle!« Spendius konnte seine Freude kaum beherrschen, als er den Libyern und Griechen den grauenhaften Bericht übersetzte. Dreihundert balearische Schleuderer, die am Tag vorher erst ausgeschifft worden waren, hatten die Stunde des Abmarsches verschlafen. Als sie vom Hafen in die Stadt kamen, waren die andern Söldner schon ausgerückt. Man ließ sie bis zu dem mit Erzplatten beschlagenen Doppeltor der Sathebstraße marschieren. Dort warf sich das Volk mit einem Ruck auf sie. Darauf legte man ihre Leichen in die Arme der Götterbilder, die um den Khamon-Tempel standen. Man machte die armen Hingemordeten für alle Schandtaten der andern Söldner verantwortlich, verstümmelte ihre Leiber in schimpflicher Weise. Am Abend wurden sie auf Scheiterhaufen verbrannt. Solange der dem Massaker entkommene balearische Schleuderer gesprochen hatte, hatten die Söldner mit ihrer Entrüstung zurückgehalten. Erst als Spendius ihnen die Grausamkeiten anschaulich gemacht 32
hatte, brach das Unwetter los. Sie wollten sich auf Hannon und seine Garde stürzen. Einige Besonnene hinderten die Erregten. Sie wollten erst erfahren, ob Hannon sie bezahlen wolle. Alle schrien: »Unser Geld!« Hannon sagte, er habe es mitgebracht. Die Söldner stürzten zum Lager hinaus und trieben die bepackten Kamele in die Mitte des Lagers. Sie öffneten die Körbe. Sie fanden hyazinthenblaue Gewänder, Schwämme, Rasiermesser, Spezereien und Antimonstifte zum Bemalen der Augenlider. Das alles gehörte zum Luxus der reichen Leute. Sie entdeckten eine große kupferne Wanne. Sie gehörte Hannon, der unterwegs darin badete. Sie sahen, daß er für jede Bequemlichkeit seiner Person vorgesorgt hatte. Sie fanden Wiesel in Käfigen, man verbrannte sie lebend, um Arzneien aus den verkohlten Leibern zu machen. Sie fanden ungeheure Vorräte an Eßwaren und Wein. Unter allgemeinem Hohngelächter kam immer Neues zum Vorschein. Der versprochene Sold aber füllte kaum zwei Körbe. In einem fand man jene runden Lederstückchen, deren sich die Republik in Ermangelung von Metallgeld bediente. Hannon erklärte, die Berechnungen seien sehr schwierig. Der Große Rat hätte noch keine Zeit gehabt, alles zu prüfen. Fürs erste schickte er dieses. Da gab's kein Halten mehr. Alles wurde niedergerissen und umgerannt: Maultiere, Diener, Sänfte, Vorräte, Gepäck. Die Söldner ergriffen die Geldbeutel, um Hannon zu erschlagen. Mit knapper Not entfloh er auf einem Esel. Die Ehrengarde galoppierte neben ihm. Die Söldner schrien ihm nach: »Mach, daß du fortkommst! Feiger Lump! Schwein! Erstick in deinem Gold und deiner Pest! Fort mit dir!« Die Wut der Söldner war nicht zu besänftigen. Sie erinnerten sich derer, die in den ersten Tagen ihres Marsches nach Karthago zurückgekehrt waren. Sicher hatte man auch diese ermordet. Die Söldner begannen die Zeltpfähle auszureißen, die Mäntel zu rollen, ihre Pferde zu zäumen. Jeder griff nach Helm und Schwert. Alles war marschbereit. Als die meisten bereits aufgebrochen waren, kam Spendius auf ei33
nem punischen Hengst, gefolgt von seinem Sklaven, der ein drittes Pferd am Zügel führte, von einem Ritt durch die Ebene zurück. Ein einziges Zelt im Lager war stehengeblieben. Spendius trat hinein. »Auf, Herr! Mach dich bereit! Wir marschieren!« »Wohin denn?« fragte Mathos. »Nach Karthago!« Da schwang sich Mathos auf das Pferd, das der Sklave für ihn am Zügel hielt. Leute vom Land, auf Eseln, zu Fuß, flohen vor dem Heer der Söldner atemlos und halb irr vor Angst in die Stadt. In drei Tagen hatten die Söldner den endlosen Weg von Sikka zurückgelegt, um Karthago im Sturm zu nehmen. Karthago war in der ganzen Breite der Landenge stark befestigt. Zuerst durch einen Graben, dann durch einen Rasenwall und schließlich noch durch eine dreißig Ellen hohe Steinmauer mit doppeltem Stockwerk. In diesen Bauten befanden sich Ställe für etwa dreihundert Elefanten, Rüstkammern und Vorratsräume. Sie gaben Raum für viertausend Pferde und zwanzigtausend Soldaten mit ihren Rüstungen und sämtlichem Kriegsgerät. Auf dem zweiten Stockwerk erhoben sich Türme, die mit Panzerplatten bedeckt waren. Diese Befestigungen beschützten zunächst das Viertel der Färber. Dahinter baute sich die Stadt mit ihren hohen, würfelförmigen Häusern amphitheatralisch auf. Die verschiedensten Bauwerke verdeckten in buntem Durcheinander die Hügel der Akropolis, die Tempel mit gewundenen, durch eherne Kapitäle und metallene Ketten geschmückten Säulen, die Obelisken. Hinter der Akropolis zog sich die Straße der Mappalier von der Küste bis zur Katakombenstadt. Inmitten blühender Gärten standen stattliche Häuser. Die Vorstadt Megara, in der sich der Palast Hamilkars befand, erstreckte sich bis zur Felsenküste. Die in der Ebene von Karthago lagernden Söldner erkannten von fern die Marktplätze und Straßenkreuzungen. Sie stritten über die Lage der Tempel. Dort war die Kupferkugel: das heilige Haus Tanits. Der Anblick von Karthago reizte die Söldner. Sie bewunderten und haßten die Stadt zu gleicher Zeit. 34
Was barg der Kriegshafen, den eine dreifache Mauer schirmte? Hoch über der Stadt lag das Schloß Hamilkars. Immer wieder und wieder blickte Mathos in diese Richtung. Er kletterte auf Ölbäume, neigte sich vor und beschattete die Augen mit der Hand. Die Gärten waren leer. Die rote Tür auf der vierten Terrasse war geschlossen. Er irrte um die Wälle der Stadt, einen Durchschlupf suchend. Eines Nachts warf er sich in den Golf und schwamm ununterbrochen drei Stunden lang, bis er an die steile Felsküste kam. Beim Versuch, hinaufzuklettern, stieß er sich die Knie blutig und brach sich die Nägel ab. Schließlich fiel er in die Flut zurück und kehrte um. Seine Machtlosigkeit erbitterte ihn. Er war eifersüchtig auf Karthago, das Salambo umschloß, wie auf einen Mann, der sie leiblich besessen hätte. Er war nun von stürmischer Tatenlust erfüllt. Das Herz ging ihm oft in namenloser Wut über. »Laß deinem Zorn freien Lauf!« sagte Spendius. »Tobe und morde! Dein Leid kann nur mit Blut gelöscht werden. Da dich die Liebe hungern läßt, nähre den Haß!« Mathos übernahm wieder den Befehl über seine Soldaten. Er ließ sie schonungslos exerzieren. Sie schätzten ihn um seines Mutes willen, vor allem aber wegen seiner Kraft. Außerdem hatten sie eine mystische Angst vor ihm. Sie glaubten, daß er nachts mit Geistern rede. Das Heer war bald in guter Zucht, denn die andern Hauptleute ahmten Mathos nach. Die Karthager hörten täglich die Trompetensignale, die die Söldner zum Dienst riefen. Der Große Rat überlegte, was zu tun sei. Karthago verfügte nur über eine sechstausend Mann starke Garde, und es hätte zweier bedurft, den Söldnern in den Rücken zu fallen. Alle Vorsicht war am Platz. Wenn sie sich nach Süden wandten, konnten sie sich mit den Nomaden verbinden und die Handelsstraßen abschneiden. Wenn sie sich nach dem Westen wandten, konnte sich Numidien erheben. Das schlimmste war, daß der Mangel an Lebensmitteln sie veranlassen konnte, die Umgebung zu verwüsten. Die Begüterten zitterten um ihre Landsitze, Weingärten und Äcker. Hannon schlug grausame Maßnahmen vor: Man solle auf den Kopf 35
eines jeden Söldners einen Preis setzen oder ihr Lager mit Hilfe von Schiffen und Geschoßmaschinen in Brand stecken. Gisko bestand darauf, daß man die Söldner bezahle. Aber da Gisko beim Volk beliebt war, haßten ihn die Herren des Großen Rates. Sie fürchteten, daß er sich zum Herrscher aufschwingen könne. Endlich faßten die großen Herren einen Entschluß: Sie kamen ohne Halsketten und Gürtel in das Lager der Söldner, als kämen sie zu Nachbarn. Sie begrüßten die Hauptleute und blieben hier und da stehen, um mit den Söldnern zu sprechen. Sie sagten, daß man in Karthago geneigt sei, die Wünsche der Söldner zu erfüllen. Mehr wollte niemand. Die Söldner forderten Lebensmittel und waren damit einverstanden, daß diese vorerst gegen den rückständigen Sold verrechnet werden sollten. Man sandte ihnen Rinder, Schafe, Perlhühner, getrocknete Früchte und auch jene hervorragenden geräucherten Makrelen, die Karthago nach allen Häfen verschiffte. Doch die Söldner bemäkelten die Lieferungen und die Preise. Sie boten für einen Widder so viel, wie eine Taube wert war, und für drei Ziegen so viel, was sonst ein Granatapfel kostete. Bevollmächtigte des Großen Rates schrieben genau auf, für wieviel Dienstjahre man jedem Söldner den Sold schuldig sei. Die Herren waren entsetzt über die ungeheuren Summen, die sie auszahlen sollten. Sie forderten alle Bürger auf, sich an etwaige Bekannte unter den Söldnern zu wenden und sie mit freundlichen Worten zu milder Gesinnung zu überreden. Die Karthager gingen nun in das Lager und staunten über die Vorräte, die dort aufgestapelt waren. Sie zeigten ihre Unruhe sowenig wie möglich. Zwischen den Söldnern und Marketendern trieben sich Weiber aller Rassen umher. Sie waren von Seeleuten gekauft, von Karawanen gestohlen, bei Plünderungen gefangen worden. Solange sie jung waren, wurden sie mit Liebe geplagt, wenn sie alt wurden, mit Schlägen. Gewöhnlich geschah es, daß sie bei irgendeinem Rückzug mit dem Gepäck im Stich gelassen wurden oder kläglich am Wege endeten. Kräftige, nackte, unbeschnittene Kinder rannten den Gästen aus der Stadt mit dem Kopf gegen den Leib oder schlichen sich von hinten 36
heran und bissen sie in die Hände. Die Söldner klopften den Karthagern auf die Schulter und luden sie ein, an ihren Spielen teilzunehmen. Beim Diskuswerfen aber richteten sie es dann so ein, daß den arglosen Karthagern die Füße zerschmettert wurden, und schlugen andern, die sich am Faustkampf beteiligten, beim ersten Gang die Kinnbacken ein. Die Schleuderer schreckten sie mit ihren Schleudern, die Schlangenbeschwörer mit ihren Vipern, die Reiter mit ihren Pferden. Die an friedliche Beschäftigung gewohnten Männer ließen allen Hohn schweigend über sich ergehen und zwangen sich sogar zu einem Lächeln. Einige, die sich besonders tapfer zeigen wollten, deuteten an, daß sie auch gerne Söldner wären. Die Karthager wurden von den meisten Söldnern für unermeßlich reich gehalten. Daher liefen diese auch hinter den Gästen her und begehrten alles, was ihnen gefiel. Wenn dann der gänzlich ausgeplünderte Karthager rief: »Was willst du noch? Ich habe doch nichts mehr!« Dann sagten sie frech: »Dein Weib!« und schließlich: »Dein Leben!« Die Schuldberechnungen wurden den Hauptleuten zugestellt, den Söldnern vorgelesen und für richtig anerkannt. Aber jetzt, da der Sold anerkannt worden war, wünschten die Söldner auch, daß man ihnen alles Getreide nachzahle, das ihnen schuldig geblieben worden sei, und zwar zum Höchstpreis des Getreides während der Kriegszeit. Auch das wurde zugestanden. Es kam zwischen den Bevollmächtigten der Söldner und den Abgesandten des Großen Rates zu einer Versöhnungsszene, bei der, unter Anrufung aller Götter, mit Treueschwüren nicht gespart wurde. Die Unterhändler überboten einander in Entschuldigungen und Lobsprüchen. Jetzt forderten die Söldner als ersten Freundschaftsbeweis Karthagos, daß die Verräter bestraft würden, die schuld an ihrer Uneinigkeit mit der Republik wären. Die Bevollmächtigten gaben sich den Anschein, als verstünden sie nicht. Die Söldner erklärten kurz und bündig: »Gebt uns den Kopf Hannos!« Der Große Rat hätte vielleicht nachgegeben, wenn nicht eine letzte, unverschämte Forderung das Maß zum Überlaufen gebracht hät37
te. Die Söldner verlangten, daß ihren Häuptlingen Jungfrauen aus den vornehmsten Familien Karthagos zur Ehe gegeben würden. Das war der Einfall von Spendius, und die meisten Häuptlinge fanden auch nichts Besonderes dabei. Die Karthager aber empfanden die Anmaßung der Barbaren, sich mit punischem Blut mischen zu wollen, als schwere Beleidigung. Sie wiesen sie schroff zurück mit der Drohung, überhaupt nichts mehr zahlen zu wollen. Nun schrien die Söldner, man hätte sie betrogen, und drohten ihrerseits, sich in Karthago alles zu holen, wenn das Versprochene nicht binnen dreier Tage zur Stelle sei. Der Große Rat sah nur noch einen Ausweg: sich an Gisko zu wenden. Die Söldner nahmen seine Vermittlung an und liefen ihm mit lauten Willkommensrufen entgegen, als er ins Lager kam. Schnell ließ er aus Säcken eine Rednertribüne errichten und verkündete laut, daß er nicht früher gehen werde, bis alle Löhnungen richtig ausbezahlt seien. Ein Beifallssturm brach los. Es dauerte lange, ehe es Gisko möglich war, weiterzureden. Dann sprach er offen über alle Fehler, die sowohl von der Republik als auch von seiten der Söldner begangen worden waren. Dann begann er die Söldner zu löhnen und fing mit den Libyern an. Sie zogen in geordneten Reihen an ihm vorbei und gaben mit hochgehobenen Fingern die Zahl ihrer Dienstjahre an. Jedem, der seinen Lohn empfangen hatte, wurde ein Zeichen mit grüner Farbe auf den linken Arm gemalt. Es war ein langwieriger Vorgang. Als die Nacht kam, sprach Spendius zu den Libyern, die noch nicht ausbezahlt worden waren. Er ging von Mann zu Mann: »Wenn die Ligurer, Griechen, Balearen und Italiker aus gezahlt worden sind, werden sie davonziehen. Ihr aber, die ihr in Afrika bleibt, seid ohne jeden Schutz. Die Republik wird an euch sich rächen. Traut den schönen Worten nicht!« »Was sollen wir tun?« fragten die Männer. »Denkt darüber nach!« sagte Spendius und machte sich an die Gallier heran: »Die Libyer werden nun ausgelöhnt, dann folgen die Griechen, die Balearen, die Asiaten und alle andern. Ihr aber, die ihr nur 38
wenige seid, werdet leer ausgehen. Denkt nur nicht, daß ihr Schiffe zur Heimreise bekommt! Sie werden euch alle beiseite schaffen, um die Kosten zu sparen!« Die Gallier gingen sogleich zu Gisko. Es gelang den Söldnern, in das Zelt des Generals einzudringen. Sie faßten seine Hände und zwangen ihn, ihre zahnlosen Münder, ihre abgemagerten Arme und ihre vernarbten Wunden zu betasten. Vagabunden traten in Kriegstracht auf und behaupteten, sie seien vergessen worden. Immer mehr Lärmmacher strömten herbei. Zelte krachten und fielen zusammen. Wenn der Lärm zu arg wurde, stützte sich Gisko auf seinen elfenbeinernen Stab und blickte starr aufs Meer hinaus. Unbeweglich saß saß er da, die Finger in seinen Bart vergraben. Hin und wieder beriet sich Mathos mit Spendius, dann trat er vor den General, und Gisko fühlte seine Blicke flammend auf sich gerichtet. Sie riefen einander Schimpfwörter zu, die weder der eine noch der andere verstand. Inzwischen nahm die Löhneauszahlung ihren Fortgang. Der General fand bei allen Schwierigkeiten eine passende Lösung. Als die Balearer Frauen statt Geld verlangten, sagte Gisko es ihnen zu und verkündete, daß eine ganze Karawane Jungfrauen bereits unterwegs sei. Da sprang der Baleare, der von der Metzelei übriggeblieben war und sich wieder erholt hatte, auf die Schultern seiner Freunde und schrie: »Hast du auch für die Hingemordeten welche bereit?« Gisko wollte reden, aber er kam nicht zu Wort. Er verließ langsamen Schrittes seinen Sitz und schloß sich in sein Zelt ein. Bei Sonnenaufgang fand er seine Dolmetscher vor dem Zelt mit starren Augen, das Gesicht blau angelaufen, mit lang heraushängender Zunge. Jeder hatte um seinen Hals eine feine Binsenschnur. Gisko wußte, daß Karthago ihn im Stich lassen würde. Trotzdem wollte er die Ehre seines Vaterlandes hochhalten. Er schwor beim Moloch, alles Versprochene auf eigene Kosten zu liefern, und warf zum Pfand seines Eids sein Halsband unter die Menge. »Geld!« schrien die Söldner ihm zu. »Geld! Wir wollen keine Versprechungen, wir wollen Geld!« 39
Gisko blickte den in stürmischem Haß auf ihn Eindringenden mit unbeweglichem Gesicht entgegen. Seine Wangen waren weißer als sein Bart. Auf einen Wink von Mathos fielen die Libyer über den greisen Mann her. Er breitete die Arme aus, dann fiel er zu Boden und verschwand im Getümmel der sinnlos wütenden Männer. Sie plünderten sein Zelt. Sie fanden nur die zum Leben notwendigsten Dinge darin. Dann, als sie genauer suchten, kamen drei Bilder der Tanit zum Vorschein und ein in Affenhaut gewickelter schwarzer Stein, der vom Mond gefallen sein sollte. Die vornehmen Karthager, die Gisko begleitet hatten, gehörten zur Kriegspartei. Sie waren Freunde der Söldner. Sie wurden aus ihren Zelten gerissen und in die Latrinen geworfen. Dort fesselte man sie mit eisernen Ketten an Pfähle, überschüttete sie mit Schimpfreden und warf ihnen Steine ins Gesicht. Am nächsten Morgen stellte sich eine Art Ernüchterung ein. Der Zorn war verraucht, und Bangigkeit überkam die Söldner. Mathos war zumute, als habe er Salambo persönlich beleidigt. Die vornehmen Karthager gehörten in seiner Vorstellung irgendwie zu ihrer Person. Er setzte sich an den Rand der Latrine und fand in dem Gewimmer dort unten etwas von den Lauten wieder, die sein Herz erfüllten. Am Abend fragte Spendius ihn, ob es im Innern Karthagos Quellen gäbe. »Nicht eine«, erwiderte Mathos. Am nächsten Morgen führte ihn Spendius zum steilen Seeufer. »Herr!« sagte er. »Wenn du beherzt bist, führe ich dich nach Karthago hinein.« »Wie willst du das zustande bringen?« »Schwöre, daß du allen meinen Anordnungen nachkommst und mir wie mein Schatten folgen wirst!« Mathos hob seinen Arm zum Himmel. »Bei der Tanit, das schwöre ich!« Spendius erklärte: »Morgen, nachdem die Sonne untergegangen ist, erwarte mich am Fuße des Aquädukts zwischen dem neunten und 40
zehnten Bogen! Bring eine eiserne Hacke, einen blanken Helm und lederne Sandalen mit!« Der Aquädukt, von dem Spendius sprach, war ein mächtiges Bauwerk, das quer über die ganze Landenge hinlief. Karthago hatte sich diese neue Erfindung der Römer zunutze gemacht, um die Stadt mit Wasser zu versorgen. Spendius und Mathos stellten sich zur festgesetzten Stunde bei dem Riesenbau ein. Spendius knüpfte einen eisernen Haken an ein Seil und schleuderte es empor. Der Haken blieb an der Mauer hängen. Sie kletterten an dem Seil empor. Bald befanden sie sich auf der obersten Plattform der drei übereinander gebauten Bogenreihen. Spendius bückte sich von Zeit zu Zeit, um die Steine zu betrachten. »Hier geht es«, sagte er. »Fangen wir an!« Es gelang ihnen, eine der Steinplatten zu lockern. Sie sprangen in das Loch, das durch das Aufheben der Steinplatte entstanden war, und gelangten in das Innere der Wasserleitung. Das Wasser reichte ihnen bis zum Leib. Es riß sie mit sich fort, sie mußten schwimmen. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, konnten sie sich vor Erschöpfung kaum noch aufrecht halten. Spendius stieß gegen ein Gitter. Sie rüttelten beide daran. Es gab nach, sie standen auf den Stufen einer Treppe. Es gelang ihnen, mit der Spitze eines Dolches den Riegel einer Bronzetür beiseite zu schieben. Sie waren wieder im Freien. Die Nacht war von feierlicher Stille erfüllt. Die Stadt schlief. Baumgruppen ragten über Mauern hinweg. Die Feuer der Vorposten blinkten wie gefallene Sterne. Spendius, der drei Jahre im Kerker verbracht hatte, fand sich in der Stadt nicht zurecht. Mathos erklärte, daß man sich nach links wenden müsse, um zum Palast Hamilkars zu kommen. »Nein«, sagte Spendius. »Du sollst mich zum Tempel der Tanit führen!« Sie schlichen an den Kaktushecken entlang, die die Wege begrenzten. Wasser rann ihnen vom Leib. Ihre nassen Sandalen machten nicht das geringste Geräusch. Spendius suchte Schritt für Schritt die Gebüsche ab. Er ging hinter Mathos und hielt in beiden Händen Dolche, die er unter den Armen verbarg. Als sie die Gärten verlassen hatten, kamen sie an die Mauer von Me41
gara, die ihnen den Weg versperrte. Endlich fanden sie einen Spalt im Gemäuer, schlüpften hindurch und gelangten auf einen freien Platz. »Hör mir zu!« Spendius sprach nachdenklich, als müsse er jedes Wort genau überlegen. »Erinnerst du dich der Stunde auf der Terrasse Salambos, als ich dir beim Sonnenaufgang Karthago zeigte? Damals waren wir stark, aber du wolltest von all dem nichts wissen!« Er fuhr fort: »Herr! Das Heiligtum der Tanit birgt einen geheimnisvollen Schatz, ein Schleiergewand, das vom Himmel gefallen ist. Es umhüllt die Göttin.« »Ich weiß das«, sagte Mathos. Spendius erklärte leise: »In diesem Schleier steckt Wunderkraft, weil er die Göttin berührt. Karthago besitzt den göttlichen Schleier, darum ist Karthago mächtig. Ich habe dich hierhergeführt, damit wir ihn rauben.« Mathos wich entsetzt zurück: »Ich biete meine Hand nicht zu einem solchen Frevel.« »Tanit ist dir feindlich gesinnt. Bezwingst du sie aber, so wird sie dir gehorchen. Dann wirst du so gut wie unsterblich und unbesiegbar sein. Herr! Ich sage dir, eines Tages wirst du in Karthago Einzug halten. Die Priester sollen deine Sandalen küssen. Bedrückt dich der Schleier der Tanit auch dann noch, so magst du ihn wieder in den Tempel zurücktragen. Komm, holen wir ihn!« Heißes Begehren erregte Mathos. Er wünschte, in den Besitz des Schleiers zu kommen. Jedoch, der Gedanke einer Tempelschändung war ihm so furchtbar, daß er ihn nicht zu Ende zu denken vermochte. »Gehen wir!« sagte er kurz. Der Weg führte durch enge Gassen. Plötzlich erweiterte sich die Aussicht auf die Akropolis. Am Fuße des Berges erhob sich massig und düster der Tanit-Tempel. Er bestand aus Gebäuden und Gärten, aus Höfen und Vorhöfen, die von einer niedrigen Steinmauer umgeben waren. Die erste Einfriedung umschloß einen Platanenhain, der zum Schutz gegen die Pest angelegt worden war. Mathos zögerte, die drei Stufen aus Ebenholz zu überschreiten, die zur zweiten Umfriedung führten. 42
»Vorwärts!« rief Spendius. Granat- und Mandelbäume wechselten in starrer Regelmäßigkeit mit Zypressen und Myrten ab. Blauer Kies bedeckte den Weg und knirschte unter ihren Schritten. Sie gelangten vor ein ovales Becken, das mit einem Gitter überspannt war. Mathos, den die Stille bedrückte, sagte zu Spendius: »Hier wird süßes Wasser mit salzigem vermischt.« Sie stiegen über sechs silberne Stufen in die dritte Einfriedung. Vor ihnen stand der Tempel. Zwei Säulengänge, deren Tragbalken auf dicken Pfeilern ruhten, umgaben einen viereckigen Turm, den eine Mondsichel schmückte. Am Eingang stand ein Steinkegel zwischen einer goldenen und einer smaragdenen Säule. Im Vorüberschreiten küßte sich Mathos die rechte Hand. Die Decke des ersten Raumes hatte zahllose Öffnungen, durch die die Sterne zu sehen waren, längs der Wände waren Bart- und Kopfhaare in Schilfkörben aufgehäuft: die ersten Opfer der Jugend. In der Mitte des kreisförmigen Raumes erhob sich ein Frauenkörper aus einem mit Brüsten bedeckten Sockel. Das fette, bärtige Gesicht lächelte mit gesenkten Lidern. Mathos und Spendius gelangten durch einen offenen Quergang wieder ins Freie. Ein winziger Altar stand vor einer Pforte aus Elfenbein. Die Pforte war verschlossen. Nur die Priester durften sie öffnen, denn der Tempel der Tanit war kein Versammlungsort für die Menge, sondern die geheiligte Wohnung der Göttin. Spendius betrachtete die Mauern prüfend. Er mußte den Schleier haben! Nicht etwa, weil er von dessen Macht überzeugt war, sondern weil er klug genug war, sich zu sagen, daß der Verlust des Schleiers die Karthager in tiefste Mutlosigkeit stürzen würde. Die Männer gingen von hinten um das Gebäude herum, um einen Zugang zu finden. In einem von Lotosblumen eingefaßten Springbrunnen tummelten sich ähnliche Fische wie in Salambos Garten. Sie schritten durch zwei gleichlaufende Galerien, an deren Seiten sich kleine Zellen befanden. Darin lagen auf Matten schlafende Frauen. Ihre von Salbe fettglänzenden nackten Körper strömten Düfte von Gewürzen und Räucherwerk aus. Mathos erstickte fast in der betäubenden Luft. Die Symbole der Befruchtung, die an den Zedernholzwänden 43
angebracht waren, die Wohlgerüche, die Schwüle der Umgebung bedrückten ihn und trieben seine Gedanken noch heftiger Salambo zu. Der Tempel war von keiner Seite zugänglich. Sie gelangten wieder in den offenen Gang. Spendius stöberte und suchte überall umher, während Mathos vor der Pforte auf den Knien zu Tanit betete. Da entdeckte Spendius eine schmale Öffnung über der Tür. »Erhebe dich!« sagte er und hieß Mathos, sich mit dem Rücken an die Mauer zu stellen. Er kletterte an ihm empor, erreichte die Höhe des Loches, schlüpfte hinein und verschwand. Dann warf er Mathos den geknoteten Strick zu, den er sich um den Leib gebunden hatte, bevor sie in die Zisterne eingedrungen waren. Mathos kletterte empor und befand sich nun neben Spendius in einem weiten, düsteren Raum. Ein Lichtschein kam von der Lampe, die vor dem Sockel einer Statue stand. Ihr langes, blaues Gewand war über und über mit diamantenen Monden bedeckt. Mathos unterdrückte einen Schrei. »Da! Da! Das ist sie!« Spendius nahm die Lampe, um die Statue besser zu beleuchten. »Sei nicht so ruchlos!« murmelte Mathos. Dennoch folgte er Spendius. Das Gemach, das sie nun betraten, enthielt nichts als das düstere Abbild einer Frau: Die Beine stiegen an der Wand empor, der Leib nahm die Decke ein. Der Oberkörper hing mit dem Kopf nach unten an der andern Wand hinab. Die Fingerspitzen berührten die Steinfliesen. Von der Decke hing an einer Schnur vom Nabel der Frau ein riesengroßes Ei. Spendius hob einen Wandvorhang auf. Die Zugluft verlöschte das Licht der Lampe. Sie irrten wie verloren umher. Sie traten auf etwas Weiches. Funken knisterten und sprühten. Es war, als gingen sie durch Feuer. Spendius erkannte, daß der Boden mit Luchsfellen ausgelegt war. Ein dickes, naßkaltes, klebriges Seil schien sich zwischen ihren Beinen hindurchzuwinden. Durch schmale Mauerspalten drang dünnes Licht. Sie tasteten sich durch das Halbdunkel und sahen eine große, schwarze Schlange, die eiligst davonglitt. »Laß uns fliehen!« stieß Mathos schaudernd hervor. »Ich fühle die Nähe der Göttin. Sie kommt! Sie kommt!« Spendius erwiderte: »Der Tempel ist ganz leer.« Sie sahen in einen Raum, dessen Wände mit den scheußlichsten 44
Tierfratzen bemalt waren. Zwölf blaue Kristallkugeln, von tigerähnlichen Bestien gehalten, waren im Raum kreisförmig aufgestellt. Von den Füßen bis zum Bauch deckten Fischschuppen, Federn, Blumen und Vögel ihre Leiber. Sie blickten aus aufgequollenen Augäpfeln auf die höchste Gottheit, die im Hintergrund auf einem zweirädrigen Elfenbeinwagen thronte: Auf die Allesbefruchterin Astarte! Ein leuchtender Stein in Gestalt eines unzüchtigen Symbols war in ihre Stirn eingefügt und erhellte den ganzen Saal. Als Mathos vorsichtig einen Schritt näher trat, verschob sich eine Steinfliese. Bewegung kam in die starren Massen. Die Kristallkugeln drehten sich plötzlich, die Tiere, die sie hielten, begannen zu brüllen, dazu erklang eine erhabene und gewaltige Musik. Mathos hatte das Gefühl, daß Tanits wilde Seele sich in den Raum ergoß, daß die Göttin sich erhebe, ins Ungeheure wachse und die Arme öffne. Da schnappten mit einem Ruck die Rachen der Ungeheuer wieder zu, und die Kugeln standen still. Dumpfe Töne schwirrten noch durch die Luft; sie verhallten allmählich. »Und der Schleier?« fragte Spendius. Er zog Mathos hinter Tanits Wagen. Sie kamen in einen kleinen, runden Saal, der dem Innern einer Säule glich. Ein großer, schwarzer Stein, auf dem Flammen emporzüngelten, stand vor einem gewaltigen Ebenholzkegel, der Kopf und Arme hatte. Hinter dieser seltsamen Holzstatue wurde etwas sichtbar, das leicht und duftig war wie ein Gewölk, durch das Sterne funkeln. Wie ein weiter Mantel breitete sich ein wunderbares Gewebe hinter dem Haupt des Götterbildes an der Mauer aus. Es schimmerte blauschwarz wie die Nacht, glühend wie das Morgenrot und golden wie die Sonne. Das war das Schleiergewand der Göttin, der heilige Zaimph, den niemand anschauen durfte. Sie waren erschrocken: »Nimm ihn!« sagte Mathos kurz. Spendius stürzte sich auf die Statue und löste das Gewebe von der Mauer. Mathos nahm es an sich, steckte den Kopf durch den Halsausschnitt, hüllte sich völlig darin ein und streckte die Arme aus, um es besser betrachten zu können. »Wir müssen gehen!« sagte Spendius. 45
Mathos keuchte vor Erregung. Er blickte gespannt auf die Steinfliesen nieder. Plötzlich rief er: »Wenn ich nun zu ihr ginge! Ich fürchte ihre Schönheit nicht mehr. Nun bin ich mehr als ein Mensch! Wie sollte sie mir jetzt widerstehen! Salambo! Dein Herr und Gebieter kommt!« Da näherten sich Schritte. Eine Tür tat sich auf. Ein Priester mit hoher Mütze wurde sichtbar. Er riß die Augen entsetzt auf, doch ehe er der geringsten Bewegung fähig war, stieß ihm Spendius seine Dolche in die Seite. Der Kopf des Ermordeten schlug auf die Fliesen. Spendius ging in einem schmalen Gang voran. Mathos folgte. Sie befanden sich in den Säulenhallen fast unmittelbar vor der dritten Einfriedung. Hinter den Zellen mußte ein kürzerer Weg zum Ausgang führen. Sie hasteten vorwärts. Unter den Bäumen rief jemand hinter ihnen her, und Mathos, der in das heilige Gewebe gehüllt war, fühlte mehrmals, daß man es sanft von unten her zupfte. Es war ein großer, frei umherlaufender Pavian. Mathos wagte es nicht, ihn abzuwehren, um durch das Geschrei des Tieres nicht in Gefahr zu geraten. Der Pavian sprang an der Grenze des heiligen Gebietes mit einem Satz auf einen Palmenbaum. Als sie die letzte Umzäunung hinter sich hatten, wandten sie sich dem Palast Hamilkars zu. Spendius wußte, daß es vergeblich wäre, Mathos davon abzuhalten. An einer Mauerecke stießen sie auf einen Mann, der beim Anblick der gleißenden Gestalt, die das Dunkel jäh durchbrach, erschrocken zurückwich. »Verbirg den Zaimph!« flüsterte Spendius. Sie erzwangen sich den Eingang in den Garten des Palastes durch die Judendornhecken, deren Zweige sie mit ihren Dolchen zurückhieben. Sie sahen überall noch Spuren des Söldnergelages: Die Parkanlagen waren zertrampelt, die Quellen versiegt. Die Türen der Sklavenkerker standen offen. Mathos sah sich suchend um. »Wo finde ich sie? Ich muß sie sehen! Führe mich zu ihr!« »Das ist ja Wahnsinn!« erklärte Spendius. »Sie wird ihre Sklaven zu Hilfe rufen. Du wirst trotz deiner Kraft umkommen!« Mathos hob den Kopf. Er glaubte, hoch oben ein matt schimmerndes Licht zu sehen. Spendius wollte ihn zurückhalten, aber er jagte die 46
Stufen hinauf. Sobald er an die Stelle kam, an der er sie zuerst gesehen hatte, versank alles andere vor ihm, was sich inzwischen ereignet hatte. Hell flammte am Himmel das erste Morgenrot. Das Meer verschwamm mit dem Horizont, mit jedem Schritt tat sich die Unendlichkeit weiter vor ihm auf. Mit der Leichtigkeit, die man sonst nur in Träumen empfindet, stieg er Stufe um Stufe höher. Das Geräusch des die Steine streifenden Umhangs rief ihm seine Macht ins Bewußtsein. Das letzte und kleinste Stockwerk lag wie ein Würfel auf der obersten Terrasse. Mathos suchte die rote Tür. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, jetzt hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Er faßte nach der Tür. Sie tat sich auf. Eine brennende Lampe in Gestalt einer Galeere hing im Hintergrund des Raumes. Ihrem silbernen Kiel entglitten drei Strahlen und zitterten auf den vergoldeten Balken der Decke, die mit Amethysten und Topasen verziert war. Ein niedriges Ruhebett aus weißem Leder erstreckte sich von einer Längswand zur andern. Eine Onyxstufe führte um ein ovales Becken, an dessen Rand noch ein Paar zierliche Pantoffeln aus Schlangenhaut und ein Alabasterkrug standen. Nasse Fußspuren waren deutlich erkennbar. Köstliche Wohlgerüche erfüllten die Luft. Mathos schritt über die mit Gold, Perlmutter und Kristall ausgelegten Fliesen. Trotz der Glätte war ihm zumute, als wate er durch tiefen Sand. Nun stand er vor dem schwebenden Lager, dem ein Ebenholzschemel als Trittbrett diente. Das Licht fiel nur auf den Rand des Bettes. Ein Zipfel des roten Seidenpolsters und eine nackte Fußspitze waren sichtbar. Vorsichtig zog Mathos die Lampe näher. Salambo schlief, die Wange in eine Hand gestützt. Die gelösten Haare umwallten sie, so daß sie wie in schwarze Fittiche gebettet zu sein schien. Das lange, weiße Gewand ließ deutlich die edlen Formen ihres Körpers erkennen. Mathos stand regungslos und hielt die silberne Galeere weit von sich. Salambo erwachte. Sie sah ihn groß an. »Was bedeutet das?« fragte sie leise. Er erwiderte: »Siehst du den Schleier der Göttin?« 47
»Tanits Mantel!« schrie Salambo und neigte sich entsetzt über den Rand ihres Bettes. »Für dich habe ich ihn aus dem Allerheiligsten geholt! Sieh her!« sagte Mathos. »Weißt du, daß du mir Nacht für Nacht im Traum erschienen bist?« Sie setzte einen Fuß auf den Ebenholzschemel. Er fuhr fort: »Ich flehe dich an: Laß uns fliehen! Folge mir! Wenn du aber nicht willst, so bleibe ich. Ertränke meine Seele im Hauch deines Atems! Laß meine Lippen an den Küssen verbrennen, die sie auf deine Hände drücken!« »Ich will den Schleier sehen!« sagte Salambo. »Näher! Ganz nahe!« »Ich liebe dich!« stöhnte Mathos. Sie stammelte nur: »Gib ihn mir!« Er trat zurück. Salambo schritt, in ihr weißes, schleppendes Gewand gehüllt, mechanisch auf ihn zu. Ihre großen Augen waren starr auf das Zaubergewebe gerichtet. Mathos betrachtete sie, von der Schönheit ihres Antlitzes geblendet. Er hielt ihr das Gewebe hin und wollte sie umfangen. Schon breitete sie die Arme aus, da blieb sie plötzlich stehen, und sie sahen sich regungslos an. Ohne seine Absicht völlig zu verstehen, erfaßte sie plötzlich ein Schauder. Da schlug sie gegen eine Metallplatte und schrie: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Zurück, du Tempelschänder, du verfluchter!« In einer Fensteröffnung wurde der Kopf des Spendius sichtbar, und er zischte: »Flieh! Sie kommen!« Ein ungeheurer Lärm entstand auf der Treppe. Frauen, Bediente, Sklaven stürzten, mit Spießen, Keulen, Messern und Dolchen bewaffnet, ins Zimmer. Mathos stand hinter den Säulen. In den heiligen Mantel gehüllt, erschien er wie der Sternengott selbst inmitten des Firmaments. Die Sklaven wollten sich auf ihn stürzen. Salambo hielt sie zurück: »Rührt ihn nicht an! Er hat den Mantel der Göttin!« Sie streckte den Arm gegen ihn aus: »Sei verflucht, der du Tanit beraubt hast! Möge dich der Schlachtengott zerschmettern, der Totengott dich erwürgen und der, dessen Namen man nicht nennen darf, dich mit Feuer vernichten!« 48
Mathos stieß einen Schrei aus. Sie aber rief immer wieder: »Fort mit dir! Geh! Geh!« Die Sklaven wichen entsetzt zurück. Mathos schritt mit gesenktem Kopf langsam zwischen den Menschen hindurch die Treppe hinab. Spendius war in wilden Sätzen von Terrasse zu Terrasse gesprungen, über Hecken und Gräben, und glücklich den Gärten entronnen. Er glitt an einer unbewachten Stelle der Mauer hinab, umging in weitem Bogen die Salzlagunen und kehrte in das Lager der Söldner zurück. Die Sonne war bereits aufgegangen. Mathos hörte von überallher verworrenes Lärmen. Er wußte nicht, wie er zu den Toren der Stadt hinauskommen sollte. Von allen Seiten eilten Menschen herbei, man griff zu Schwertern, Beilen und Stöcken, doch das Hindernis, das Salambo im Bann gehalten hatte, schreckte auch sie zurück. Wie konnte man das Gewebe zurücknehmen, ohne es zu berühren? Sein Anblick allein war schon ein Verbrechen, da es göttlichen Ursprungs war, seine Berührung brachte den Tod. In den Säulenhallen der Tempel rangen die Priester verzweifelt die Hände. Gardereiter galoppierten planlos umher. Mathos ging indessen weiter. Die Straßen leerten sich bei seinem Erscheinen. Mathos sah nichts als weit aufgerissene Augen, die ihn zu verschlingen drohten, aufeinander beißende Kiefer und geballte Fäuste. Immer schneller lief Mathos durch die offenen Straßen, die mit Ketten, kleinen Wagen und Karren abgesperrt waren, um es ihm unmöglich zu machen, die Stadt zu verlassen. Endlich erreichte er das große, verschlossene Tor. Er glaubte sich verloren. Es war sehr hoch. Es war aus Eichenkernholz, mit Eisennägeln und ehernen Platten beschlagen. Mathos warf sich mit voller Wucht dagegen. Das Volk, das sich angesammelt hatte, trampelte vor Freude mit den Füßen, als es seine Ohnmacht sah. Mathos sah mit großen, irren Augen über die Menschen hin. Sein Puls klopfte zum Zerspringen. Er war dem Umsinken nahe und taumelte wie ein Trunkener. Da entdeckte er plötzlich die lange Kette, an der man ziehen mußte, um den Hebebaum in Bewegung zu setzen. Er sprang hoch, packte sie und zerrte mit seinem ganzen Gewicht so lange an ihr, bis sich die riesigen Flügel endlich ein wenig öffneten. Als er draußen war, schlüpfte er aus dem weiten Gewebe und hielt es so hoch wie möglich über den Kopf. 49
Vom Seewind getragen, flatterte es durch die Luft. Die herrlichen Farben, die glitzernden Edelsteine und die göttlichen Gestalten in dem heiligen Gewand leuchteten im Sonnenlicht. So trug Mathos den Zaimph durch die Ebene bis zu den Zelten der Söldner. Das Volk auf den Mauern aber sah dem entschwindenden Glück Karthagos nach.
»Ich hätte sie entführen sollen«, sagte Mathos am Abend zu Spendius. »Niemand hätte es gewagt, sich mir in den Weg zu stellen. Wie kommt man noch einmal nach Karthago?« »Weiß ich nicht!« Spendius gab sich voller Behagen der wohlverdienten Ruhe hin. Dem ungestümen Mathos aber riß da die Geduld: »Du bist an allem schuld! Erst verführst du mich, dann läßt du mich im Stich, Feigling erbärmlicher! Du Kuppler, du Sklave, du hündische Kreatur!« Spendius antwortete nicht. Er blickte auf die schimmernde Pracht des Zaimphs, der am Zeltmast aufgehängt war. Mathos begann sich plötzlich die Stiefel anzuziehen; er schnallte seine Rüstung um und griff nach dem Helm. »Wohin willst du?« fragte Spendius. »Ich muß sie holen. Wer sich mir widersetzt, den zertrete ich wie eine Schlange. Auch die Frau muß sterben. Du wirst sehen, ich töte sie!« Spendius griff hastig nach dem Zaimph und versteckte ihn unter Schaffellen in der Ecke des Zeltes. Draußen waren Stimmen laut geworden. Fackeln flammten auf. Naravas trat ein. Etwa zwanzig Männer, die ihm folgten, trugen Mäntel aus weißer Wolle, hölzerne Ohrgehänge und Schuhe aus Hyänenhaut. Sie blieben am Eingang des Zeltes stehen. Naravas war noch besser gekleidet als die andern. Mit Perlen bestickte Riemen schmückten seine starken Arme. Seine weißen Zähne blitzten. Sein Blick war belebt, seine Bewegungen waren beherrscht und doch gewandt. 50
Er erklärte, sich mit den Söldnern verbinden zu wollen, auf Gedeih und Verderb. Karthago bedrohe seit langem sein Reich. »Ich werde euch Elefanten liefern, auch Wein, Öl, Getreide und Datteln; ferner Pech und Schwefel für die Belagerung, zwanzigtausend Fußsoldaten und zehntausend Pferde. Ich wende mich an dich, Mathos, weil du durch den Besitz des Zaimphs zum Führer des Heeres geworden bist. Außerdem«, fügte er hinzu, »sind wir ja alte Freunde.« Mathos blickte Rat suchend auf Spendius, der dem Gespräch gefolgt war und durch leichtes Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen gab. Naravas rief die Götter zu Zeugen an und verfluchte Karthago. Mathos erklärte, er nehme das Bündnis an. Die Begleiter Naravas' brachten einen weißen Stier und ein schwarzes Schaf als Sinnbilder des Tages und der Nacht. Die Tiere wurden über einer Grube geschlachtet. Mathos und Naravas tauchten ihre Hand in das Blut und legten einander die blutigen Hände auf die Brust zur Besiegelung des Bündnisses. Das gleiche Blutzeichen drückten sie auf die Leinwand ihrer Zelte. Am nächsten Morgen sandten Spendius, Naravas und Mathos Boten an alle Stämme des punischen Gebietes. Diese Völker wurden von Karthago förmlich ausgesogen. Wenn ein Dorf sich empörte, wurden die Bewohner als Sklaven verkauft. Jenseits der Gebiete, die Karthago unmittelbar unterstanden, dehnten sich die Bundesstaaten aus, die nur geringe Abgaben leisteten. Während des letzten Krieges aber hatten sich die Erpressungen gegen die Bewohner dieser Länder so gesteigert, daß fast alle libyschen Städte bei den Römern Schutz gesucht hatten. Zur Strafe dafür hatten sie tausend Talente, zwanzigtausend Ochsen, dreihundert Säcke Goldstaub abliefern müssen, und die Anführer des Protestes gegen die Republik waren entweder ans Kreuz geschlagen oder den Löwen vorgeworfen worden. Besonders Tunis verwünschte Karthago; vor ihren Mauern lag es im Sumpf und blickte tückisch wie ein giftiges Tier zu ihr empor. Es war bereit, gegen die Hauptstadt zu kämpfen. Als die Boten der Söldner ankamen, brach in den Provinzen ein 51
wahrer Freudenrausch aus. Die Beamten der Republik wurden in den Bädern erdrosselt. Die in Höhlen versteckten Waffen wurden hervorgeholt, neue aus Pflugscharen angefertigt. Die Kinder schärften Pfeilspitzen an den Türschwellen. Die Frauen gaben ihre Ketten, Ringe und Ohrgehänge her, um auch zur Zerstörung Karthagos beizutragen. Schlachtvieh wurde zusammengetrieben und Geld zur Verfügung gestellt. Mit diesem Geld zahlte Mathos auf Anraten des Spendius den Söldnern den rückständigen Lohn aus. Durch diese Handlung machte er sich zum obersten Heerführer. Hilfstruppen strömten in das Lager der Söldner. Zuerst Eingeborene, dann Kriegssklaven. Die Menge vergrößerte sich unaufhörlich durch neu Hinzukommende. Nur Utika und Hippo-Diarrhyt verweigerten die Annahme eines Bündnisses mit den Söldnern. Sie wünschten, neutral zu bleiben und in Frieden zu leben. Durch ihre Lage waren diese Städte nicht zu umgehen. Utika, das in der Tiefe einer Bucht gelegen war, konnte einen Durchzug von Truppen nach Karthago ermöglichen, und wenn es gestürmt wurde, konnte an seiner Stelle Hippo-Diarrhyt die Hauptstadt mit Lebensmitteln versorgen und dadurch uneinnehmbar machen. Spendius riet zu einer sofortigen Belagerung Karthagos. Naravas war dagegen; erst sollten die Grenzorte eingenommen werden. Diese Meinung teilten auch Mathos und die andern Hauptleute, und so wurde beschlossen, daß Spendius Utika und Mathos Hippo Diarrhyt angreifen sollten. Ein drittes Heer dagegen sollte, von Tunis unterstützt, die Ebene von Karthago besetzen. Naravas wollte sich in sein Reich begeben, um die versprochenen Elefanten zu holen und dann die Nachschubstraßen mit seiner Reiterei freizuhalten. Die Söldner traten ihren Marsch an. Der plötzliche Aufbruch der Belagerer rief großes Erstaunen in Karthago hervor. Man sah die Söldner an den Bergen entlang auf Utika zu wandern. Eine andere Abteilung blieb vor Tunis, der Rest tauchte am andern Ufer der Bucht auf und zog durch die Wälder weiter. Es waren ungefähr achtzigtausend Mann. Die Karthager wußten, daß ihre Stadt abgeschnitten und dem Hunger preisgegeben sein würde. Aber was sollten sie tun? Der Staats52
schatz war durch den Krieg mit Rom und durch das, was man an die Söldner vergeudet und verloren hatte, erschöpft. Und doch waren Soldaten notwendig! Wer aber traute noch der Republik? Wer würde ihr Geld borgen? Die Karthager hingen an ihrem Geld wie an den Göttern, und ihre Vaterlandsliebe war von der Verfassung der Republik diktiert. Die Macht gehörte allen; kein einzelner war stark genug, sie an sich zu reißen. Die Männer kanaanitischer Abstammung hatten das Alleinrecht des Handels. Nur wer die Erträgnisse der Seeräuberei durch Wuchergeschäfte zu vermehren verstand, wer Grund und Boden, die Sklaven und die Armen ausnützte, wurde reich. Und nur wer reich war, erhielt Staatsämter. Obwohl sich Macht und Reichtum von Geschlecht zu Geschlecht vererbten, blieb es bei der Oligarchie, weil jeder die Hoffnung hatte, einmal zur Herrschaft zu gelangen. Die Handelsgesellschaften ernannten die Finanzverwalter, und diese stellten den Großen Rat, der aus hundert Mitgliedern bestand. Die beiden Generäle wurden aus den vornehmsten Familien gewählt, aber sie waren Scheinkönige. Sie durften über die Entscheidung, ob Krieg oder Frieden herrsche, nicht mitberaten. Wenn sie aber besiegt wurden, ließ der Große Rat sie ans Kreuz schlagen. Nach dem Abmarsch der Söldner wurde General Hannon zum Oberbefehlshaber ernannt. Er befahl die Anwerbung aller kampffähigen Bürger, ließ Geschütze auf die Türme bringen, verlangte vom Großen Rat ungeheure Waffenlieferungen und ordnete sogar den Bau von vierzehn Kriegsschiffen an, deren man gar nicht bedurfte. Er ließ sich an den Leuchtturm und in die Schatzkammern tragen. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, brüllte er in seinem Palast mit Donnerstimme Kommandoworte, um sich auf den Krieg vorzubereiten. Die übertriebene Angst machte alle Karthager kampfbereit. Selbst die Patrizier übten sich schon bei Morgengrauen im Gebrauch von Lanzen. Die einen meinten, viel essen zu müssen, um Kräfte zu sammeln. Sie mästeten sich. Die andern legten sich freiwillig Fasten auf, um sich von ihrer Fettleibigkeit zu befreien. Utika hatte schon mehrmals Karthago um Hilfe gebeten. Doch Han53
non wollte die Stadt nicht verlassen, solange noch irgend etwas an den Kriegsmaschinen fehlte. Er benötigte volle drei Monate für die Ausrüstung der hundertzwölf Elefanten, die schon einmal siegreich gewesen waren. Er ließ die Platten, die ihre Brust schmückten, umschmelzen, ihre Stoßzähne vergolden, Purpurdecken mit schweren Fransen für sie anfertigen. Ihre Führer, die ›Indier‹ genannt wurden, sollten nach indischer Mode gekleidet werden, mit weißen Turbanen und Pumphosen. Der gallische Häuptling Autharit hatte das Kommando des Söldnerheeres, das vor Tunis lag. Neger hatten Stöcke mit furchterregenden Gestalten aufgestellt; die Barbaren tanzten, fochten miteinander, trieben allerhand bunten Hokuspokus. Ein anderer als Hannon hätte die unorganisierte, plumpe Horde mit Leichtigkeit besiegen können. Der Gallier war ein guter Kämpfer, aber ein schlechter Befehlshaber. Er war mutlos. Er wäre am liebsten schon wieder in seiner Heimat gewesen. – Die Sonne verlor oft mitten am Tag ihren Glanz. Eine braune Staubwolke, die senkrecht über der Erde schwebte, kam wirbelnd heran, bog die Palmenbäume. Der Himmel verschwand. Steine flogen durch die Luft. Der Gallier blickte erschrocken durch die Luftlöcher seines Zeltes auf das unheimliche Spiel der Natur. Er atmete in Gedanken den Duft der heimatlichen Triften an goldenen Herbsttagen, sah Schneeflocken und hörte das Brüllen der Auerochsen durch den Nebel. Die in Sikka gefangenen Karthager konnten jenseits der Bucht die Dächer Karthagos sehen. Aber sie waren von Wachen umringt und an eine gemeinsame Kette geschmiedet. Jeder einzelne trug ein Halseisen. Die Weiber des Lagers zeigten ihren Kindern lachend die zerlumpten Gewänder, die den Unglücklichen in Fetzen um die abgemagerten Glieder hingen. Mathos belagerte Hippo-Diarrhyt. Er hatte niemals ein derartiges Unternehmen geleitet. Die Stadt hatte drei Wälle, und auf den sie überragenden Höhen zog sich eine durch Geschütztürme gesicherte Mauer hin. Wie konnte er dagegen anrennen? Außerdem quälte ihn der Gedanke an Salambo. Er war von einem wilden, ruhelosen Begehren gequält. Er träumte von der Wonne ihres Besitzes. Er dachte sogar daran, sich als Vermittler anzubieten, in der Hoffnung, auch sie zu sehen, 54
wenn er nach Karthago kam. Er ließ oft zum Sturmangriff blasen und stürzte auf den Damm, den er im Meer hatte errichten lassen, um den Mauern von dieser Seite näher zu kommen. Die Söldner folgten im tollen Durcheinander, ihre Sturmleitern barsten und stürzten ins Wasser, das sich dann in blutgefärbten Wellen an den Mauern brach. Mathos setzte sich, nachdem das Getümmel vorbei war, außerhalb der Zelte fassungslos nieder, fuhr sich mit dem Arm über das blutbespritzte Gesicht und blickte in die Richtung Karthagos. Er sah nur den Horizont. Dann legte er sich flach auf den Boden, krallte seine Nägel in die Erde und weinte. Er fühlte sich unsäglich elend und verlassen. Niemals würde er sie besitzen; war er doch nicht einmal fähig, eine Stadt zu erobern. Manchmal entfernte er sich heimlich, stieg über die in ihre Mäntel gewickelten, schlafenden Söldner, warf sich auf ein Pferd und war zwei Stunden später in Utika bei Spendius. Spendius ermahnte ihn zur Vernunft. »Bezwinge deine Seele! Solche Kümmernisse sind deiner nicht würdig. Du befehligst ein Heer. Wenn wir Karthago auch nicht erobern, wird man uns wenigstens Länder zuteilen, in denen wir als Könige herrschen können.« Spendius ließ vor Utika einen langen, viereckigen Wall errichten. Er hatte Geduld, obwohl die Stadtmauer im gleichen Verhältnis zum Wall erhöht wurde. Spendius versuchte, sich aller Kriegslisten zu erinnern, von denen er auf seinen Reisen gehört hatte. Er war vorsichtig, er schonte seine Leute. Er plante allerlei. Aber bevor er einen Entschluß faßte, wollte er wissen, ob Naravas nicht zurückkam; das beunruhigte alle. Hannon hatte endlich seine Vorbereitungen beendet. In einer mondlosen Nacht schaffte er seine Elefanten und Soldaten auf Flößen über den Golf von Karthago. Man kam bei diesem Manöver so langsam vorwärts, daß sein Plan, die Barbaren eines Morgens zu überraschen, gänzlich fehlschlug; man kam bei hellichtem Tag an. Östlich von Utika dehnte sich eine Ebene bis an den großen Salzsee der Hauptstadt. Die Söldner hatten sich weiter links gelagert, so daß sie den Hafen versperrten. Sie schliefen gerade in ihren Zelten, als das karthagische 55
Heer vor den Hügeln auftauchte. Gardetruppen mit goldenen Schuppenpanzern bildeten die vorderste Linie. Dann kamen junge Mannschaften, die niedrige Helme und in jeder Hand einen Wurfspieß aus Eschenholz trugen. Hinter ihnen kam schwere Infanterie mit langen Hellebarden. Alle trugen so viele Waffen, wie sie nur tragen konnten. Endlich folgten die hohen Gerüste der Kriegsmaschinen auf von Ochsen gezogenen Karren. Je mehr das Heer vorankam, desto eifriger rannten die Hauptleute hin und her und gaben Befehle weiter, sorgten für Geschlossenheit der Reihen, Innehaltung der Abstände. Die Stabsoffiziere waren in Purpurmäntel gekleidet. Ihre mit roter Farbe bemalten Gesichter glänzten unter den mächtigen Helmen, die mit Göttergestalten geschmückt waren. Ihre Schilder mit Elfenbeinrändern, die Edelsteine umfaßten, leuchteten wie Sonnen. Die Karthager bewegten sich so schwerfällig, daß die Söldner sie höhnisch zum Sitzen aufforderten und ihnen zuschrien, sie sollten getrost sein, man würde ihnen schon Erleichterung verschaffen. Über dem Zelt des Spendius wurde ein grünes Tuch als Kampfeszeichen aufgezogen. Die Karthager antworteten durch ein entsetzliches Konzert ihrer Trompeten, Zimbeln, Pauken und Flöten. Die Söldner sprangen über die Palisaden und warfen ihre Speere. Ein balearischer Schleuderer legte eine tönerne Kugel in seine Schleuder. Ein Elfenbeinschild krachte. Die beiden Heere stießen aufeinander. Die Griechen stachen mit den Spitzen ihrer Lanzen in die Nüstern der feindlichen Pferde, die sich überschlugen und ihre Reiter unter sich begruben. Die karthagischen Fußsoldaten legten beim Fechten mit den langen Schwertern ihre rechte Flanke bloß. Die Söldner drangen in ihre Reihen ein und mähten sie nieder. Die Reihen der Karthager lichteten sich mehr und mehr. Ihre Geschütze staken im Sand. Plötzlich schlug die Sänfte des Generals um, die große, kristallbehangene Sänfte, die seit Beginn des Kampfes über den Köpfen der Soldaten sichtbar gewesen war. Die Söldner stimmten schon eine Jubelhymne an. Da verschlug es ihnen den Atem, als sie Hannon plötzlich auf dem Rücken eines Elefanten sahen. Er saß barhäuptig und mit offenem Mund unter einem baumwollenen Schirm, den ein Neger über ihn 56
hielt, und wiegte in der Hand eine strahlende Lanze, deren Spitze einer Lotosblume glich. Auf einmal dröhnte die Erde, und die Söldner sahen entsetzt, daß sämtliche Elefanten Karthagos auf sie losstürmten. Ihre vergoldeten Stoßzähne, die blaubemalten Ohren, die Ledertürme über ihren scharlachfarbigen Decken, die Bogenschützen, die sie mit schußbereiten Waffen bedrohten, erschreckten die Söldner so, daß sie kaum dazu kamen, zu den Waffen zu greifen. Ein Regen von Wurfspießen, Brandgeschossen und Bleimassen stürzte auf sie nieder. Die Elefanten durchbrachen ihre Reihen wie wilde Eber ein Gebüsch, rissen mit ihrem Rüssel die Lagerpfähle aus und stießen die Zelte um. Die Söldner flohen und versteckten sich in den Hügeln am Rand des Tales, durch das die Karthager marschiert waren. Hannon zog als Sieger vor die Tore Utikas. Er kündigte sich durch Trompetensignale an. Drei Räte der Stadt erschienen in der Öffnung einer Schießscharte. Die Bewohner von Utika verweigerten die Aufnahme bewaffneter Gäste. Hannon geriet in Wut. Da willigten die Räte ein, ihn mit einem kleinen Gefolge einzulassen. Die Straßen waren zu eng für die Elefanten. Sie mußten draußen bleiben. Sobald Hannon in die Stadt eingezogen war, ließ er sich in die Bäder führen und verlangte seine Köche. Drei Stunden später saß er noch immer in dem mit Zimtöl gefüllten Badebecken und aß Flamingozungen mit Mohnkörnern in Honigtunke. Die Pflege seines Körpers hielt ihn nicht ab, die politischen Interessen wahrzunehmen. Er diktierte einen Brief an den Großen Rat. Er wollte auch die Gefangenen sehen, die seine Truppen gemacht hatten. Als er ihrer ansichtig wurde, brach er in schallendes Gelächter aus. »Ha! Ha! Meine Helden von Sikka! Heute brüllt ihr gar nicht! Hier bin ich! Erkennt ihr mich wieder? Ihr verlangtet Pferde, Weiber und Länder. Weshalb nicht? Ich werde euch in ein Land schicken, das ihr nie mehr verlassen sollt!« Hannon keuchte wie ein Nilpferd und rollte die Augen. Durch die Schwere seines ungefügen Körpers floß das wohlriechende Öl über. Er schrie: »Man ziehe ihnen bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren. Sofort!« Die Erregung hatte Hannon mitgenommen. Über blauroten Lippen 57
kam ein ekler Hauch. Seine wimpernlosen Augen glichen glühenden Kohlen. Die Ohren standen ihm weit vom Kopf ab und sahen unheimlich groß aus. Weniger aus Appetit als aus Prahlerei begann er wieder zu essen. Zwischen zwei Bissen erklärte er: »Sie sollen alle verrecken! Es wäre vielleicht besser, sie im Triumph nach Karthago zu bringen. Aber sicher sind nicht genügend Ketten mitgebracht worden!« Er überlegte, dann befahl er: »Bringt mir ihre abgehauenen Hände in Körben!« Seltsame Schreie, heiser und schrill, drangen in das Bädergebäude. Der Lärm wuchs, und plötzlich ertönte das wütende Gebrüll der Elefanten – als wenn die Schlacht von neuem begänne. Die Karthager hatten sich nicht die Mühe genommen, die Söldner zu verfolgen. Sie hatten sich am Fuße der Mauern gelagert und in ihren prächtigen Zelten gütlich getan. Aber Spendius hatte seine Besonnenheit wiedergefunden. Er sandte einen Boten zu Mathos und sammelte alle seine Leute im Gehölz; die Verluste erschienen gering. Als sie ein Faß Erdöl fanden, das die Karthager im Stich gelassen hatten, waren die Söldner wieder zum Kampf bereit. Spendius ließ Schweine aus den Meierhöfen holen, bestrich sie mit Öl, zündete sie an und hetzte sie gegen Utika. Die Elefanten ergriffen vor den Flammen die Flucht. Sie rannten bergan, geradewegs auf die lagernden Karthager los, durchbohrten sie mit ihren Stoßzähnen und zermalmten sie unter ihren Füßen. Die Söldner folgten ihnen. Das punische Lager, das keinen Wall hatte, wurde im Handstreich eingenommen und die Karthager gegen die geschlossenen Stadttore getrieben. Im Morgengrauen rückten die Fußtruppen des Mathos vom Westen her an. Auch Reiter tauchten auf. Das waren die Numidier Naravas'. Sie hetzten die flüchtenden Karthager wie Jäger die Hasen. Dieser jähe Wechsel des Kriegsglücks überraschte Hannon. Er schrie, man möge ihn aus dem Bad heben. Er flüchtete mit seinem Gefolge aus Utika in die Berge, um sein Heer zu erreichen. Er fand nur noch kümmerliche Reste seiner Truppe vor. Vier Tage später sah er von der Höhe seines Engpasses die Truppen des Spendius vorbeiziehen. Unter tausend Mühseligkeiten kehrte er nach Karthago zurück. Er marschierte 58
nur bei Nacht. Tagsüber verbarg er sich in den Olivenwäldern. Als er mit seinen Leuten das Vorgebirge von Hermäum erreichte, war er so erschöpft, daß er seinen Arzt um Gift anflehte. Er war besiegt worden und wollte nicht am Kreuze sterben. Aber Karthago hatte nicht mehr die Kraft, ihm zu zürnen. Ein einziger Mann konnte die Republik noch retten: Hamilkar.
Der Mann, der jede Nacht auf dem Eschmun-Tempel Wache hielt, bemerkte eines Morgens ein Schiff mit drei Ruderreihen, das an seinem Bug einen geschnitzten Pferdekopf trug: Es war Hamilkars Trireme. Der Verkünder des Mondes griff nach seinem Horn und ließ seinen Weckruf über Karthago erschallen. Das Schiff fuhr auf den Hafen zu und wurde von der laut rufenden Menge begrüßt. Die Karthager waren außer sich vor Freude. Da stand er auf dem Deck: Hamilkar. Ein roter Mantel hing ihm um die Schultern und ließ die kräftigen Arme frei. Sein dichter, schwarzer Bart reichte ihm bis zur Brust. In seinen Ohren hingen zwei besonders große, kostbare Perlen. »Willkommen, du Göttlicher!« riefen sie. »Heil dir! Hilf uns! Befrei uns!« – Er antwortete gar nicht. Niemand außer dem General des Meeres hatte die Erlaubnis, das Admiralshaus zu betreten. Hamilkar schritt durch die verlassenen Räume. Alles, was er inzwischen gesehen und erlebt hatte, zog im Geist an ihm vorüber: die Sturmangriffe und Feuersbrünste, die gewaltigen Heeresmassen, die gegeneinander gekämpft hatten – fünf lange, schwere Kriegsjahre, bis zu jenem Unglückstag, da er die Waffen strecken mußte und Sizilien verlorenging. Eine plötzliche Schwäche überkam ihn, und er fühlte das Bedürfnis, sich den Göttern zu nahen. Er bestieg das oberste Stockwerk seines Hauses, entnahm einer goldenen Muschel, die an seinem Arm hing, einen Schlüssel und öffnete ein kleines ovales Zimmer. Durch schwarze, durchsichtige Platten drang mattes Licht in den Raum. Zwischen den Scheiben befanden sich Nischen, in denen runde, dunkle, schwere Steine lagen. Es waren 59
Wundersteine, die vom Mond gefallen waren. Sie versinnbildlichten die Gestirne, den Himmel, das Feuer. Ihre Farbe war dunkel wie die Nacht und ihre Undurchsichtigkeit rätselhaft wie der Zusammenhang aller irdischen Dinge. Hamilkar zählte die heiligen Steine. Dann bedeckte er das Gesicht mit einem safrangelben Schleier, kniete nieder und warf sich mit weit ausgestreckten Armen auf den Boden. Das einfallende Licht wirkte grauenerregend und doch still und feierlich. Hamilkar versuchte, aus seinem Empfinden alle menschlichen Vorstellungen der Gottheit zu verscheuchen, um den gewaltigen Geist, der das Weltall erfüllt, erfassen zu können: Jene nie versiegende Kraft, die die Planeten bewegt, durchströmte auch ihn. Verachtung gegen den Tod und alle Wechselfälle des irdischen Lebens machten ihn fest und unzugänglich sowohl gegen die Furcht als auch das Mitleid. Er wollte den Turm besteigen, der hoch über Karthago hinausragte. Seine Blicke glitten suchend den Horizont entlang. Er streckte beide Arme in der Richtung nach Rom aus und sah, daß die Menge sich vor dem Gebäude drängte, um ihn herauskommen zu sehen. Sie grüßte ihn. Er zog sich zurück, um ihre Ungeduld noch zu steigern. Unten im Saal fand Hamilkar die bedeutendsten Männer seiner Partei vor. Sie berichteten ihm alles, was sich seit dem Friedensschluß zugetragen hatte: den Geiz des Großen Rates, den Abzug der Söldner, ihre Rückkehr, ihre Forderungen, die Gefangennahme Giskos, den Raub des Zaimphs. Nur von den Ereignissen, die Hamilkar persönlich betrafen, sprach keiner. Kaum hatten sie den Saal verlassen, als vor der Tür ein großer Lärm entstand. Trotz der Abwehr der Wache wollte jemand durchaus in den Saal. Hamilkar befahl, den Menschen vorzulassen. Er sah eine alte, kraftlose, zitternde Negerin, die von oben bis unten in weite, blaue Schleier gehüllt war. Plötzlich zuckte er zusammen, und auf einen Wink seiner Hand verließen alle andern den Raum. Dann ergriff er den Arm der Alten und zog sie vorsichtig in ein entlegenes Gemach. Sie warf sich zu Boden, um seine Füße zu küssen, doch er riß das Weib heftig empor. »Wo hast du ihn gelassen, Iddibal?« 60
»Dort drüben, Herr!« Das Weib ließ ihre Hüllen fallen und rieb sich das Gesicht mit dem Ärmel. Die schwarze Farbe verschwand, aus dem zitternden Negerweib wurde ein alter, rüstiger Mann, dessen Haut von Wind und Meer gegerbt war. Ein Busch weißer Haare auf seinem Schädel sah aus wie der Federstutz eines Vogels. »Das hast du gut gemacht, Iddibal!« sagte Hamilkar. Er setzte hinzu: »Weiß auch niemand davon?« Der Alte schwur, daß das Geheimnis sicher sei. Sie verließen nie ihre Hütte, die drei Tagereisen von Hadrumet entfernt sei. Der Strand dort ist nur von Schildkröten bevölkert. »Ich habe ihn so, wie du es befohlen hast, Herr, unterwiesen, Speere zu werfen und Gespanne zu lenken.« »Er ist stark, nicht wahr?« »O ja, Herr, stark und furchtlos! Weder Schlangen noch Dornen oder Gespenster schrecken ihn!« »Erzähle mir von ihm!« »Er erfindet Fallen für wilde Tiere. Es ist kaum zu glauben: Im vorigen Monat hat er einen Adler gefangen! Seit einiger Zeit aber hat ihn Unruhe gepackt. Er fragt nach den Göttern und verlangt, nach Karthago gebracht zu werden.« »Noch nicht!« Der Sklave schien die Gefahr zu kennen, die Hamilkar beunruhigte. »Wie soll ich ihn zurückhalten! Ich muß ihm bereits Versprechungen machen, um ihn zu beruhigen. Ich bin nur nach Karthago gekommen, um ihm einen Dolch mit silbernem, perlengeschmücktem Griff zu kaufen.« Er habe Hamilkar auf der Terrasse gesehen und sich bei den Hafenwachen als eine von Salambos Frauen ausgegeben, um zu ihm gelangen zu können. Hamilkar blieb lange in Gedanken versunken. Dann sagte er: »Morgen sollst du bei Sonnenuntergang hinter den Purpurfabriken in Megara dreimal den Schrei eines Schakals nachahmen. Wenn du mich dann dort nicht antriffst, wirst du am ersten Tag eines jeden Monats nach Karthago kommen.« Er setzte hinzu: »Du darfst ihm jetzt schon von Hamilkar erzählen.« 61
Als der Abend einfiel, verließ Hamilkar das Haus ganz ohne Gefolge. Die Straßen waren still. Der Moloch-Tempel stand am Fuß einer Schlucht an einer unheimlich finsteren Stelle. Von unten war nichts als ein riesenhaftes Gemäuer zu sehen, das wie die Felswand eines riesigen Grabmals aufstieg. Das Tor führte in einen weiten, viereckigen Hof, der von Säulengängen umgeben war. In der Mitte erhob sich ein achteckiges, steinernes Gebäude, über dem eine Riesenkuppel thronte. Feuer brannten in zylinderförmigen Drahtgeflechten auf hohen Stangen, die von Männern getragen wurden. Auf den Steinfliesen lagerten sphinxartig in regelmäßigen Abständen riesenhafte Löwen, lebendige Verkörperungen der verzehrenden Sonne. Sie schlummerten mit halbgeschlossenen Lidern. Beim Nahen der Schritte erwachten sie, erhoben sich schwerfällig und kamen auf die Herren des Großen Rates zu, die ›Alten‹, die sich hier im MolochTempel trafen. Die ›Alten‹ umarmten und begrüßten einander so herzlich wie Brüder, die sich lange nicht gesehen hatten. Dann begrüßten sie Hamilkar und beglückwünschten ihn. Es waren zumeist untersetzte Männer mit gebogenen Nasen. Manche verrieten jedoch die Herkunft von Nomaden. Die Geschäftsleute hatten bleiche Gesichter. Die Seefahrer erkannte man am wiegenden Gang, die Landleute am Geruch, der dem Heu und dem Schweiß der Maultiere eigen ist. Sie alle waren religiösen Gebräuchen ergeben, listig, erbarmungslos und reich. Jetzt sahen sie sorgenvoll und mißtrauisch drein. Am Ende eines Saales erhob sich das starre Götzenbild des Molochs, in dessen Brust eine breite Öffnung klaffte. Seine ausgespannten Flügel bedeckten die ganze Wand. Drei schwarze Steine auf seiner Stirn, von gelben Kreisen umrahmt, stellten seine Augen dar. Er hatte das Stierhaupt erhoben, als sei er im Begriff, laut loszubrüllen. Vor dem Hochaltar stand ein großer Armleuchter, der mit geschmiedeten Blumen reich verziert war. Hamilkar näherte sich dem Leuchter, umschritt ihn, betrachtete die brennenden Dochte und bestreute sie mit duftendem Pulver; violette Flammen flackerten in allen Blumenkelchen auf. Die hundert ›Alten‹ 62
und die vier Oberpriester hatten auf Ebenholzschemeln, hinter denen Fackelträger aufgestellt waren, Platz genommen. Sie stimmten eine Hymne an und wiederholten die gleichen Silben immer lauter. Ihre Stimmen wurden schriller, schwollen an, klangen immer grauenhafter und verstummten plötzlich ganz. Hamilkar zog aus seinem Gewand eine kleine dreiköpfige, saphirblaue Figur und stellte sie vor sich auf. Es war das Abbild der Wahrheit, der Schutzgott seiner Worte. Als er die Figur wieder in seinem Gewand verbarg, schienen alle wie von plötzlicher Wut erfaßt: »Verräter! Schurke! Hältst du Freundschaft mit den Barbaren? Bist du nur zurückgekehrt, um unsern Untergang zu sehen?« Als die Stimmen ruhiger geworden waren, erhob sich der Oberpriester des Molochs und wandte sich an Hamilkar: »Wir fragen dich: Warum bist du nicht früher nach Karthago zurückgekommen?« »Das geht euch nichts an!« antwortete er verächtlich. »Wessen klagt ihr mich an? Habe ich den Krieg schlecht geführt?« Da fingen sie von neuem ihr wildes Geschrei an. Mit absichtlich leiser Stimme, die ihm Gehör erzwingen sollte, fuhr Hamilkar fort: »Ich täusche mich wohl, ihr Gottbegnadeten! Es gibt noch unerschrockene Männer unter euch. Gisko, wo bist du?« Mit halb geschlossenen Lidern, als suche er jemanden, schritt Hamilkar auf die Altarstufen und rief: »Antworte, Gisko! Du kannst mich ruhig verklagen, denn dich werden sie schützen!« Er gab sich den Anschein zu überlegen: »Ach, er wird in seinem Hause sein! Jedenfalls ist er glücklich und zählt die Ehrenketten, die ihm das Vaterland verliehen hat.« Sie zuckten mit den Schultern, wie von Peitschen getroffen. Ohne sich um ihr Geschrei zu kümmern, erklärte Hamilkar, daß man ihn und damit die Republik schmählich im Stich gelassen habe. Der römische Friede, so vorteilhaft er ihnen auch erscheine, sei unheilvoller als zwanzig verlorene Schlachten. Einige Anwesende spendeten Hamilkar Beifall. Seine Gegner aber waren in der Mehrzahl. Die Angesehensten hatten sich um Hannon geschart, der am andern Ende des Saales vor der durch einen hyazinthenblauen Vorhang verdeckten Tür thronte. 63
Er hatte die Geschwüre seines Gesichts mit Schminke übertüncht. Um seine Hände trug er Leinenbinden, die mit fettigem, zur Erde tropfendem Balsam getränkt waren. Seine Augen verschwanden unter den dicken Falten seiner Lider, so daß er den Kopf heben mußte, wenn er sehen wollte. Seine Anhänger veranlaßten ihn zum Reden: »Mäßige deinen Hochmut, Barkas! Wir alle sind geschlagen worden. Jeder trage sein Unglück mit Würde!« Hamilkar lächelte höhnisch. »Du benimmst dich wie ein Rhinozeros, das auf seinem eigenen Mist herumtrampelt. Du stellst deine Dummheit öffentlich aus. Schweige lieber!« Hannon erklärte es für unwürdig, ihn so zu beleidigen. Hamilkar fuhr fort: »Hättet ihr an mir gehangen wie an diesem da, so wäre heute Jubel in Karthago! Wie oft habe ich euch um Hilfe gebeten. Ihr habt mir das Geld stets versagt. Als meine Sache verzweifelt stand, rieft ihr sogar die letzten Schiffe zurück, die mir noch geblieben waren.« »Wir durften nicht alles aufs Spiel setzen«, warf ein Goldminenbesitzer ein. »Was tatet ihr hier in Karthago, wohlbehütet hinter euern Mauern? Nicht einmal die Gallier am Po habt ihr aufgeboten. Die Römer hatten sogar Gesandte an Ptolemäus geschickt!« »Nun stellt er uns gar die Römer als Beispiel hin! Was zahlen sie dir dafür, daß du ihr Loblied singst?« »Danach frage die Ebene von Brutium, die Ruinen von Lokri und Herakleia. Ich habe alle ihre Bäume verbrannt, ihre Tempel geplündert und bis zum Tode ihrer Enkel …« »Du sprichst wie ein Meister der Redekunst«, unterbrach ein vornehmer Kaufmann. »Ich sage euch nur, daß man entweder klüger oder gewaltiger sein muß! Wenn ganz Afrika das Joch abschüttelt, so kommt das daher, daß ihr Memmen es nicht versteht, den Ochsen einzuspannen. Wenn erst die Libyer im Osten sich mit den Numidiern verbinden und die Nomaden vom Süden und die Römer vom Norden kommen werden, dann werdet ihr euch an die Brust schlagen und eure Kleider zerreißen.« 64
Ein Schrei des Entsetzens ertönte. Hamilkar fuhr mit lauter Stimme fort: »Es wird zu spät sein! Ihr werdet in Rom Mühlsteine drehen oder auf dem Hügel von Latium Winzerarbeit verrichten.« Die ›Alten‹ schlugen vor Entrüstung ihre Schenkel. Ihre weiten Ärmel flatterten wie große, verängstigte Vögel. Hamilkar stand hoch oben auf der letzten Altarstufe, bebend und furchterregend. Etwas Gewaltiges in ihm selbst riß ihn mit sich fort. Er hob die Arme, daß die Strahlen des brennenden Leuchters hinter ihm wie goldene Pfeile durch seine Finger schossen. »Ihr werdet eure Schiffe verlieren! Eure Ländereien! In euren Palästen werden Schakale hausen, und der Pflug wird über eure Gräber gehen. Du wirst fallen, Karthago, fallen!« Die Oberpriester streckten ihre Hände aus, um den Fluch von sich abzuhalten. Alle hatten sich erhoben. Aber Hamilkar, der als General der Meere zugleich Oberhaupt der Priester war, stand unterm Schutz der Sonne und war unantastbar, solange ihn nicht der Staatsgerichtshof verurteilt hatte. Kurze Zeit herrschte vollkommene Stille im Saal. Dann begannen die ›Alten‹ sich gegenseitig zu befragen. Ihr Hab und Gut, ihr Leben war durch die Barbaren bedroht. Ohne die Hilfe Hamilkars waren sie nicht zu besiegen. Die großen Herren zogen Hamilkars Anhänger zur Seite und versöhnten sich mit ihnen, trafen geheime Abmachungen, gaben ihnen Versprechungen. Aber Hamilkar selbst wollte mit keiner Regierungsangelegenheit mehr etwas zu tun haben, sosehr ihn auch alle beschworen und bedrängten. Er war wie von einem heiligen Zorn gepackt. Als dann das Wort ›Verrat‹ von neuem aufklang, packte ihn heiliger Zorn. Der einzige Verräter sei der Große Rat, schrie er. Denn die Verpflichtungen der Söldner gingen nicht über den Krieg hinaus. Wenn der Krieg beendet sei, hätten sie das Recht auf ihre Freiheit. Er übertrieb die Tapferkeit der Söldner und erwog die Vorteile, wenn man sie durch Schenkungen und die Gewährung besonderer Rechte für die Republik gewinnen könnte. Ein ehemaliger Statthalter ergriff das Wort mit rollenden Augen: 65
»Barkas!« schrie er. »Du bist durch deine ständigen Reisen ein Grieche oder Lateiner geworden! Deine Reden über die Belohnung dieser Kreaturen sind unverständlich. Es ist besser, daß zehntausend Barbaren zugrunde gehen als ein einziger von uns!« Die ›Alten‹ nickten Beifall. Sie riefen: »Barbaren gibt's genug!« »Gewiß! Man entledigt sich ihrer auf die bequemste Art: Man läßt sie einfach im Stich, wie ihr es in Sardinien getan habt. Man verrät dem Feind ihre Wegrichtung, um sie loszuwerden. – Denkt an die Gallier in Sizilien!« »Als ob sie nicht hundertmal zum Feind übergelaufen wären!« Hamilkar schrie empört: »Warum habt ihr sie nach Karthago zurückgerufen? Und als sie schon in der Stadt waren, ebenso zahlreich wie arm, da kamt ihr nicht einmal auf den Gedanken, sie durch Absonderung zu schwächen? Ihr ließet sie ziehen mit Weib und Kind, ohne auch nur einen als Geisel zurückzubehalten! Habt ihr vielleicht gehofft, sie würden sich gegenseitig töten? Ihr haßt sie, weil sie stark sind! Mich, ihren Befehlshaber, haßt ihr noch mehr!« Wenn die im Hof schlafenden Löwen brüllend in den Saal gesprungen wären, hätte der Lärm nicht wüster sein können. Da erhob sich der Oberpriester, die Ellbogen an den Leib gepreßt, die Hände halb geöffnet, und sprach: »Karthago braucht dich, Barkas! Übernimm den Befehl der Streitkräfte gegen die Söldner! Verlaß uns nicht!« »Ich lehne es ab.« »Du sollst über alle Macht verfügen!« riefen die einen. Die andern ergänzten: »Du kannst tun und lassen, was dir beliebt. Wir geben dir Geld, alle Gefangenen und für jeden feindlichen Leichnam ein Stück Land.« »Nein und abermals nein! Es ist ja unmöglich, mit euch zu siegen!« Sie riefen durcheinander: »Er hat Angst! Er will die Söldner schonen, um sich an ihre Spitze zu stellen und über uns herzufallen!« Aus der Tiefe des Saales heulte endlich die Stimme Hannons: »Er will sich zum König erheben!« Alle sprangen auf, warfen die Schemel und Fackeln um und stürzten mit gezücktem Dolch auf Hamilkar zu. 66
Er stand leicht vornübergebeugt, den linken Fuß etwas vorgesetzt, und sah mit zusammengebissenen Zähnen dem Ansturm entgegen. Dabei faßte er in seinen Ärmel und zog zwei breite Messer hervor. Sie alle hatten Waffen mitgebracht; das war ein Verbrechen. Erschrocken sahen sie einander an und drehten sich um. Sie waren voller Wut über sich selbst und über ihn. Einer rief: »Er weigert sich um seiner Tochter willen.« Eine zweite Stimme rief lauter: »Kein Zweifel, da ihr Liebhaber ein Söldner ist!« Hamilkar wankte. Die ›Alten‹ grinsten ihn höhnisch an. Sie riefen durcheinander: »Man hat ihn aus ihrem Gemach kommen sehen!« »Es war der Räuber des Zaimphs.« Da riß Hamilkar die kostbare Tiara, das Zeichen seiner Würde, vom Kopf und schleuderte sie mit aller Kraft zu Boden. Sein ganzer Körper zitterte. Er stieg zum Altar empor. Es schien, als wolle er sich dem Gott als Opfer anbieten. Er blieb zwischen den Beinen des riesenhaften Ungeheuers stehen und rief: »Bei den hundert Fackeln aller geistigen Mächte! Bei allem, was da brennt! Bei der Vergänglichkeit alles Lebendigen!« Er nahm zwei Hände voll von der Asche, die in einem Becken unter dem Körper des Gottes heiliggehalten wurde, und setzte die Beschwörung mit furchtbarer Stimme fort: »Bei der Asche eurer Nachkommen! Bei der Asche der Brüder eurer Ahnen, mit der ich jetzt diese Asche vermenge – ihr, die hundert des Rates von Karthago, habt gelogen, als ihr meine Tochter beschuldigtet, und ich, Hamilkar Barkas, der General des Meeres, Oberhaupt der Patrizier und Herrscher des Volkes, ich schwöre vor dem stierhäuptigen Moloch« – er hielt inne und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich schwöre, daß ich ihr gegenüber nicht einmal ein Wort darüber verlieren werde!« Die ›Alten‹ taumelten fast vor Ermattung, als sie den Tempel verließen. Sie atmeten die frische Luft des anbrechenden Morgens, während der Schweiß über die wachsbleichen Gesichter rann. Sie hatten sich heiser geschrien. Ihr Zorn gegen Hamilkar war jedoch nicht erloschen, und ihre Abschiedsworte waren Drohungen, die Hamilkar nicht unerwidert ließ. »Auf Wiedersehen morgen nacht, Barkas, im Eschmun-Tempel! Wir werden dich von den Patriziern verurteilen lassen.« 67
»Und ich euch durch das Volk.« »Sieh dich vor, daß du nicht am Kreuze endest!« »Und ihr, daß ihr nicht auf offener Straße zerrissen werdet!« Läufer und Rosselenker warteten vor dem Tor. Hamilkar sprang auf seinen Wagen und ergriff die Zügel. Mit stolzgebogenem Hals trabten die Pferde davon. Sie hielten vor einem hohen Turm, dessen drei Stockwerke die Form von riesengroßen Zylindern hatten. Dieser hohe Bau überragte alle andern Gebäude auf dem Besitz Hamilkars. Alle Diener rannten herbei. Sie waren mit Fellen bekleidet und schleppten Ketten an den Knöcheln. Die Arbeiter der Purpurfabriken hatten rote Arme wie Henker. Die Schiffsleute trugen grüne Mützen, die Fischer Korallenketten, die Jäger ein Netz auf der Schulter und die in Megara angestellten Männer weiße oder schwarze Gewänder, Lederhosen und Stroh-, Filz- oder Leinenhüte, je nach ihrer Tätigkeit. Hinter den Bedienten drängten sich in Lumpen gehüllte Bettler. Sie schliefen nachts in den Gärten und verschlangen die Abfälle der Küchen. Hamilkar duldete sie aus kluger Berechnung. Je mehr Anhänger er hatte, desto mehr Macht besaß er. Die auf den Anblick ihres Herrn neugierigen Sklaven wurden zurückgestoßen, damit ihn ihr Geruch nicht belästige. Sie warfen sich flach auf den Bauch und schrien: »Liebling der Götter! Dein Haus blühe und gedeihe!« Abdalonin, der Oberaufseher, schwenkte ein Weihrauchgefäß. Da kam Salambo die Freitreppe herab. Ihre Frauen folgten. Da und dort ragte ein Eunuch um Haupteslänge über alle hinaus und lächelte blöde. Die Frauen bedeckten ihre Gesichter mit den Ärmeln und stießen seltsame Schreie aus, die wie das Heulen von Wölfinnen klangen. Der Wind verfing sich in den Schleiern. Es war im Monat Februar, mitten im Winter. Die blühenden Granatbäume hoben sich prächtig vom blauen Himmel ab. Zwischen den Zweigen sah man das Meer und eine im Nebel verschwindende Insel. Hamilkar betrachtete Salambo. Sie war ihm nach dem Tode mehrerer Knaben geboren worden. Die Geburt von Töchtern galt in allen Ländern, in denen man die Sonne anbetete, unheilbringend. Die 68
Götter hatten ihm zwar später noch einen Sohn geschenkt, aber seine Enttäuschung nach der Geburt Salambos und seine Verfluchung unerwünschten Kindes hatten einen Stachel in seiner Seele zurückgelassen. Salambo kam näher. Vielfarbige Perlen hingen in langen Trauben von ihren Ohren. Ihr Haar war so fein gekräuselt, daß es ihren Kopf wie eine Wolke umgab. Ihr hyazinthenfarbiges Kleid schmiegte sich eng an die Hüften. Das glänzende Rot ihrer Lippen ließ ihre Zähne weißer und das Antimon in den Wimpern ihre Augen größer erscheinen. Als sie vor Hamilkar stand, hob sie den Kopf und sprach, ohne ihn anzusehen: »Heil, Sieg und Ruhm dir, o Vater! Zufriedenheit, Muße und Reichtum! Mein Herz war lange traurig, und das Haus hat sich nach dir gesehnt. Unter deinen Blicken, o Vater, wird überall Freude und neues Leben erblühen!« Sie reichte ihm ein längliches Gefäß, in dem eine Mischung aus Mehl, Butter, Zimt und Wein dampfte. »Labe dich an dem Begrüßungstrunk, den deine Magd dir bereitet hat!« »Segen über dich!« erwiderte Hamilkar, ergriff den Goldpokal und betrachtete Salambo so scharf, daß sie verwirrt stammelte: »Man hat dir berichtet, Herr …« »Ich weiß!« sagte Hamilkar mit leiser Stimme. »Ach, Vater!« rief Salambo. »Auch du vermagst nicht zu ersetzen, was unwiderruflich verlorenging!« Er prallte zurück. Er flößte ihr Furcht ein wie eine fremde Gottheit. Sie fühlte sich an dem Tempelraub mitschuldig. »Gnade!« schrie sie. Hamilkar senkte langsam das Haupt. Salambo wagte es nicht, ihren Mund zu öffnen, obwohl sie sich anklangen wollte. Hamilkar wurde es schwer, seinen Schwur nicht zu brechen. Er blickte sie so durchdringend an, als könnte er in der Tiefe ihrer Seele alles Verborgene ergründen. Dieser Blick traf Salambo so vernichtend, daß sie schwer atmend den Kopf in den Nacken fallen ließ. Jetzt war er überzeugt, daß sie ihre Ehre in den Armen eines Söldners verloren hatte. Er hob, vor Wut 69
bebend, beide Fäuste. Sie aber stieß einen Schrei aus und sank in die Arme ihrer sich eifrig um sie bemühenden Frauen. Hamilkar drehte sich auf dem Absatz um. Alle Verwalter folgten ihm schleunigst. Man öffnete das Tor des Speichers. Er betrat einen geräumigen runden Saal, in dem lange Gänge mündeten wie die Speichen in der Achse eines Rades. Die Gänge führten wieder zu anderen Räumen. Hamilkar durchschritt sie mit großen hastigen Schritten. Der Anblick seiner Schätze beruhigte ihn wieder. Bronzestücke, Silber- und Eisenbarren, Zinnblöcke, in Schläuche gepreßter Goldstaub, Palmbastsäcke, mit Harzen gefüllt, Korallenbüsche, Säcke mit Gewürzen und Spezereien, Bündel von Straußenfedern und Elefantenzähne, die so aufgestellt waren, daß sich ihre Spitzen berührten und einen Bogen über den Eingängen bildeten. Hamilkar stieg auf eine steinerne Tribüne. Alle Verwalter verharrten mit gesenktem Kopf und gekreuzten Armen. Nur Abdalonin stand stolz aufrecht. Seine spitze Mütze ragte kerzengerade auf. Hamilkar verhörte erst den Schiffsverwalter. Er hatte nur wenig Gutes zu berichten: König Ptolemäus von Ägypten hatte keinen Weihrauch ausführen lassen, Syrakus und Korsika hatten nichts geliefert. Ein Dreiruderer sei von den Numidiern gekapert worden. »Sie halten es mit den Söldnern, Herr!« Hamilkar zog die Stirn in Falten und winkte dem Karawanenaufseher, Bericht zu erstatten. Die Karawanen waren zu Beginn des Winters planmäßig aufgebrochen. Von tausendfünfhundert Männern, die mit vorzüglichen Kamelen, neuen Schläuchen und Vorräten an bunter Leinwand in das äußerste Äthiopien gereist waren, war nur ein einziger nach Karthago zurückgekehrt. Andere Karawanen hatten aus Indien Pfauen gebracht, Pfeffer und neue Gewebe. Die Karawanen aber, die nach den Syrten und zum Amonstempel ausgezogen waren, seien zweifellos im Sand umgekommen. Hamilkar verstand: Die Söldner hielten die Ebene besetzt. Der Güterverwalter hatte nun solche Furcht, Bericht zu erstatten, daß er zitterte. »Ach Herr! Sie haben alles geplündert, alles verwüstet, alles zer70
stört! Dreitausend Fuß Bäume abgehauen, die Speicher eingerissen, die Brunnen verschüttet, Mehl fortgeschleppt, die Hirten getötet, die Herden geschlachtet! Und dein herrliches Haus aus Zedernholz verbrannt, in dem du im Sommer zu wohnen pflegst! Die Sklaven sind in die Berge geflohen. Von den Eseln, den Maultieren, den Ochsen, den Pferden ist nicht eines geblieben!« Er schloß weinend: »Wenn du wüßtest, wie gefüllt die Keller waren, wie die Pflüge glänzten! Und die prächtigen Widder, die schönen Stiere …« »Schweig!« schrie Hamilkar zornig. »Bin ich denn ein Bettler! Ich muß wissen, was ich verloren habe! Abdalonin, bring mir die Abrechnungen sowohl über die Flotten als auch über die Karawanen, die Güter und über das Haus! Wenn euer Gewissen nicht rein ist, dann wehe euch!« Die Verwalter verließen, rücklings schreitend, den Saal. Sie berührten den Boden fast mit den Fingern. Abdalonin entnahm dem Mittelfach eines Wandschranks Rollen aus Leinwand, Papyrus und Schafschulterblättern, die mit zierlichen Schriftzügen bedeckt waren. Er begann seinen Bericht: »Hundertzweiundneunzig Häuser in der Straße der Mappalier zu je einem Taler monatlich an Neukarthager vermietet.« »Das ist zuviel! Schone die Armen! Weiter!« Abdalonin zögerte. Hamilkar riß ihm die Leinenrollen aus der Hand. »Was ist das? Drei Paläste am Khamonplatz zu nur zwölf Kesitah im Monat? Zwanzig verlangst du von nun an dafür! Die Reichen sollen mich nicht übervorteilen!« Abdalonin verneigte sich tief und fuhr in seinem Bericht fort: Er verlas hastig die Erträgnisse der Eisenwerke, der Korallenfischereien, der Purpurfabriken, der Pacht, der Ausfuhr von Silber nach Arabien und brachte den Zehnten von allem für den Tempel der Göttin in Abzug. »Dabei habe ich jedesmal ein Viertel weniger angegeben, Herr!« »Das weiß ich. Und die Verluste?« – »Hier ist die Abrechnung!« »Immer dasselbe!« murmelte Hamilkar, während er die Schriftstücke überflog. Er stand mit gesenktem Haupt still. Plötzlich fuhr er auf. »Ich finde die Ausgaben für Megara nicht!« 71
Abdalonin entnahm einem andern Schrank Tafeln aus Sykomorenholz, die auf Lederschnüren aufgereiht waren. Gespannt folgte Hamilkar den Ausführungen des Oberverwalters. Die Eintönigkeit der aufzählenden Stimme beruhigte ihn. Plötzlich ließ Abdalonin die Holztafeln fallen und warf sich mit ausgebreiteten Armen nieder wie ein Verurteilter. Hamilkar bückte sich und hob die Tafeln auf. Seine Augen weiteten sich vor Staunen, als er die Ausgaben für einen einzigen Tag sah. Ein ungeheurer Verbrauch an Vieh, Fischen, Geflügel, Wein und Gewürzen war aufgeschrieben. Daneben stand auf einer Liste ein Verzeichnis aller zerbrochenen Gefäße, getöteten Sklaven und verdorbenen Teppiche. Abdalonin verharrte in seiner Stellung und berichtete über das Festmahl der Söldner. Er habe sich den Befehlen des Großen Rates nicht widersetzen können. Es sei auch Salambos Wille gewesen, daß an nichts bei der Bewirtung dieser Männer gespart werde. Bei der Nennung ihres Namens zerriß Hamilkar die Fransen seines Sessels mit den Nägeln und keuchte. »Steh auf!« befahl er Abdalonin. Der Verwalter folgte ihm mit schlotternden Knien, ergriff eine Eisenstange und begann wie ein Wütender die Steinfliesen zu lockern und beseitigte einen Holzblock. »Sieh, Herr! Göttlicher!« sagte er, als mehrere der breiten Platten zum Vorschein kamen, die Getreidegruben verdeckten. »Sie haben nicht alles genommen, dieser Keller ist fünfzig Ellen tief und bis zum Rand gefüllt. Während deiner Abwesenheit habe ich sie überall anlegen lassen. In den Arsenalen, in den Gärten, kurz, überall. Dein Haus ist voller Getreide, wie dein Herz voller Weisheit ist.« Ein Lächeln überflog Hamilkars Züge: »Recht so, Abdalonin!« Und dann flüsterte er: »Laß mehr von allem kommen, woher und zu welchen Preisen ist einerlei! Kauf ein! Ich allein muß im Besitz von Karthagos sämtlichem Getreide sein.« Abdalonin öffnete mit einem der Schlüssel, die an seinem Gürtel hingen, einen in der Mitte durch Pfeiler geteilten viereckigen Raum. Auf Tischen lagen aufgehäufte Gold-, Silber- und Erzmünzen. Behäl72
ter aus Nilpferdhaut waren mit Geld gefüllt. Haufen von Scheidemünzen türmten sich zu Hügeln auf den Fliesen. Sie durchschritten einen andern Gang. Es gab Vorratskammern mit Alguminstangen, Säcken voll Henna, übereinander gestapelte, mit Perlen gefüllte Schildkrötenschalen, ungeheure Stücke Bernstein. Hamilkar betrachtete alles gleichgültig. Nur als der Verwalter ihm meldete, daß er nicht wisse, wo drei Kisten mit Narden hingekommen seien, geriet er außer sich. Der Aufseher des Saales, in dem Arzneien hergestellt wurden, gestand, daß die Söldner mit Messern in den Raum eingedrungen seien und er ihnen die Kisten gegeben habe. »Die fürchtest du also mehr als mich!« schrie Hamilkar. Er befahl: »Abdalonin, du wirst diesen Kerl noch vor Sonnenuntergang Spießruten laufen lassen. Mag er dabei in Fetzen gehen!« Dieser Verlust, weit geringer war als die andern Verluste, die er festgestellt hatte, brachte Hamilkar so auf, da er wieder an die Söldner erinnert wurde. Seine Bemühung, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, schien unmöglich. Ihre Ausschreitungen verschmolzen in seinem Empfinden mit der Schande seiner Tochter. Er zürnte dem ganzen Haus. Alle wußten darum und verheimlichten ihm. Es trieb ihn, weiterzuforschen. Er begab sich in die Schuppen hinter dem Verwaltungsgebäude, in denen die Vorräte an Erdpech, Holz, Ankern und Tauwerk eingelagert waren, die Stofflager, Nahrungsmittelreserven, Marmorlager und Silphiumspeicher. Er eilte durch die Hütten der Handwerker, von Schneidern zu Netzeflechtern, Schuhmachern und Papyrusglättern. Die Ambosse der Schmiede dröhnten. »Schmiedet Schwerter!« rief er den Schmieden zu. »Immer mehr Schwerter! Ich werde sie brauchen!« Klar, wie in den wildesten Schlachten, durchdrang auch jetzt sein Geist alle Einzelheiten der Geschehnisse. Häßliche Dinge fielen ihm ein: Schmähliches und Schändliches, wovon er sich abgewandt hatte. Er wollte alles wissen! Nichts durfte ihm entgehen. Es ging ihm durch den Kopf, daß die Feldaufseher aus Angst vor den Söldnern – vielleicht auch im Einverständnis mit ihnen – von seinen Gütern geflohen wa73
ren. Alle Welt betrog ihn. »Man führe sie her!« schrie er. »Man soll die Stirnen dieser Feiglinge mit glühendem Eisen für alle Ewigkeit brandmarken!« Fesseln, Halseisen, Messer und Ketten wurden für alle säumig befundenen Sklaven herangebracht. Die Verurteilten wurden entweder mit dem Gesicht zur Sonne aufgestellt, manche wurden flach auf den Bauch oder auf den Rücken gelegt. Zwei Männer standen vor den zur Geißelung Verdammten: Der eine zählte die Hiebe, der andere teilte sie aus. Blut ergoß sich über das am Boden liegende Laub. Die Gegeißelten brachen zusammen, ließen die Köpfe mit geschlossenen Augen von einer Seite auf die andere fallen. Die Löwen, die vielleicht an das Festmahl erinnert wurden, reckten sich gähnend am Rand ihrer Gruben hoch. Hamilkar bemerkte Salambo, die auf der Plattform ihrer Terrasse erregt hin und her lief. Es schien ihm, als strecke sie um Gnade flehend ihre Arme nach ihm aus. Mit einer Gebärde des Abscheus wandte er sich dem Elefantenpark zu. Vor seiner Abreise hatte Hamilkar den Aufseher der Elefanten einen Eid schwören lassen, daß er sie sorgsam behüten werde. Nun waren fast alle an ihren Verstümmelungen eingegangen. Nur drei lagen matt im Hof vor ihren zertrümmerten Krippen. Sie erkannten ihren Herrn und kamen auf ihn zu. Der eine hatte zerfranste Ohren, der andere eine tiefe Wunde am Knie, dem dritten fehlte der Rüssel. Das rüssellose Tier senkte seinen gewaltigen Kopf, beugte die Knie und versuchte, Hamilkar mit dem Ende seines scheußlichen Stumpfes zu liebkosen. Tränen traten Hamilkar in die Augen. Er stürzte auf Abdalonin zu: »Elender! Ans Kreuz mit dir! Ans Kreuz!«
Hinter der Purpurfabrik, aus deren Schornsteinen blaue Rauchwolken emporstiegen, ertönte ein Schakalschrei. Hamilkar blieb stehen. Der Gedanke an seinen Sohn beschäftigte ihn plötzlich wie die Nähe einer Gottheit. Sein Sohn würde die Verstärkung seiner eigenen Kraft sein! Die unendliche Fortsetzung seiner Persönlichkeit! Die Sklaven begrif74
fen nicht, woher eine mildere Stimmung so plötzlich über ihn kam. Da schrie der Schakal dreimal hintereinander. Hamilkar horchte auf. Er gab keinen Laut von sich und äußerte sich auch durch keine Gebärde. Als aber die Sonne völlig untergegangen war, verschwand er hinter einer Kaktushecke. In der Nacht erschien er in der Versammlung der Patrizier im Eschmun-Tempel und erklärte ohne Einleitung: »Ich erkläre mich bereit, die Führung der punischen Streitkräfte gegen das Heer der Söldner zu übernehmen!« Am nächsten Tag legte Hamilkar den Patriziern und dem Volk Kopfsteuern auf. Er beschlagnahmte alle Maulesel, Pferde und Waffen und ließ in Ligurien dreitausend Söldner anwerben. Seine nächste Sorge galt der Erneuerung der Garde. Er setzte viele Offiziere kurzerhand ab und ließ die Mannschaft rennen, springen, berganlaufen, Spieße werfen und im Freien nächtigen. Er stellte aus den bei Utika entkommenen und aus Privatbesitz stammenden Elefanten ein Regiment von zweiundsiebzig Tieren zusammen und rüstete es kriegsmäßig aus. Von frühmorgens bis spätabends zogen Bewaffnete durch die Straßen Karthagos. Auf Wagen wurden Schilde, Zelte und Spieße vorbeigefahren. Die ganze Republik wurde zur Kriegsdienstleistung herangezogen. Hamilkar hatte seine Soldaten so eingeteilt, daß in den langenReihen stets ein Starker neben einem Schwachen zu stehen kam, damit der Schwache oder Feige von zwei Seiten vorwärts gedrängt werden konnte. Aber mit den dreitausend Ligurern und den Kerntruppen Karthagos konnte er doch nur eine einfache Phalanx von etwa viertausendeinhundert Schwerbewaffneten aufstellen. Zweitausend junge Männer trugen nur Schleudern und einen Dolch; diese Truppe ergänzte er durch achthundert Mann, die mit runden Schilden und römischen Schwertern ausgestattet waren. Die schwere Reiterei Hamilkars bestand aus tausendneunhundert Reitern, den Resten der Garde, und aus vierhundert berittenen Bogenschützen, die mit zweischneidigen Äxten bewaffnet waren, und aus tausendzweihundert Negern aus dem Karawanenviertel. Alles war bereit, und dennoch ging Hamilkar nicht vor. 75
Oft verließ er nachts die Stadt ohne Begleitung. Seine Gegner im Großen Rat verdächtigten ihn, daß er sich mit den Söldnern verständigen wolle. Ihre Verdächtigungen fielen in sich zusammen, als er eines Tages dreihundert Söldnern die Tore öffnete. Es waren Überläufer. Furcht oder Treue hatte sie zu ihrem ehemaligen Feldherrn zurückgetrieben. Die Rückkehr Hamilkars hatte die Söldner nicht überrascht. Sie hofften, er sei wiedergekommen, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Diese Hoffnung erschien durchaus nicht unsinnig, denn sie waren sich keiner Schuld gegen ihn bewußt. Ihre Grausamkeiten während des Festmahls hatten sie längst vergessen. Aufgegriffene Spione aber überzeugten die Söldner, daß Hamilkar nicht gekommen war, um sich friedlich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das war eine Genugtuung für die Kampflustigen. Der Belagerungszustand dauerte zu lange. Nur eine Schlacht konnte helfen. Mathos war außer sich vor Freude. Er jubelte: »Endlich! Endlich!« Sein Groll gegen Salambo wandte sich nun gegen Hamilkar. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen, sah eine Beute, die er jagen wollte. Gleichzeitig aber erfüllte ihn eine noch innigere Zärtlichkeit für Salambo und noch grenzenlosere Sehnsucht. Einmal sah er sich, wie er im Gewühl der Schlacht Hamilkar eine Lanze durch den Kopf rannte; dann sah er sich wieder auf dem Purpurbett Salambos. Sie lag in seinen Armen. Er bedeckte ihr Antlitz mit Küssen und strich zärtlich über ihr schwarzes Seidenhaar. Dieser Traum quälte Mathos unsagbar. Er schwor sich, dem Heer ein treuer Führer zu sein, da es ihn zum Oberbefehlshaber erwählt hatte, jedoch die Gewißheit, daß er nicht lebend zurückkehren werde, gab ihm den Antrieb, den Kampf erbarmungslos zu führen. »Ruf deine Leute zusammen!« befahl er Spendius. »Meine Leute sind bereit. Vergiß nicht, den Gallier sofort zu benachrichtigen. Wir sind verloren, wenn Hamilkar uns angreift.« Spendius war durch dieses gebieterische Auftreten verblüfft. Mathos ließ sich im allgemeinen leiten. Seine Erregung pflegte schnell zu vergehen. Jetzt aber wirkte er gleichzeitig ruhig und doch furchterregend. 76
Spendius bewohnte eines der eroberten karthagischen perlenverzierten Zelte, ließ sich Erfrischungen in silbernen Bechern reichen und kümmerte sich wenig um den Fortschritt der Belagerung. Er war überzeugt, daß sich die Tore Karthagos in kurzer Zeit von selbst öffnen würden. Naravas, der zwischen den drei Söldnerarmeen umherstreifte, unterstützte diese Meinung. »Kehr um, wenn du Furcht hast!« schrie Mathos ihm zu. »Du hast uns Elefanten, Fußvolk und Pferde versprochen. Wo sind sie?« Naravas erklärte, die Elefanten würden noch in den Wäldern gejagt, die Fußsoldaten ausgerüstet und die Pferde seien unterwegs. Da stürzte ein unbekannter Mann in das Zelt, in Schweiß gebadet und verstört, mit blutenden Füßen und offenem Gürtel. Er blickte mit entsetzensweiten Augen um sich, stieß unverständliche Laute hervor. Naravas stürzte hinaus, sammelte seine Reiter, teilte seine Mannschaft in zwei Hälften, befahl der ersten, auf ihn im Lager zu warten, schwang sich auf sein Pferd und ritt mit der andern in gestrecktem Galopp den Bergen zu. »Herr!« murmelte Spendius erschrocken. »Mir gefällt das nicht: Hamilkar kehrt zurück, und Naravas eilt davon!« »Mag er!« meinte Mathos verächtlich. Die Situation erschien mit einem Male überaus schwierig. Wenn die Söldner die Belagerung der Stadt aufgaben, würden die Einwohner einen Ausfall versuchen und den Söldnern in den Rücken fallen, während die Karthager anmarschierten. Nach langem Hin und Her wurden folgende Maßregeln getroffen und zugleich ausgeführt: Spendius rückte mit fünfzehntausend Mann bis zur Makar-Brücke vor, deren Verschanzung durch vier Geschütze verstärkt wurde. Hamilkar würde nicht über die Berge kommen, denn er mußte wissen, daß der Gallier Autharit ihm mit seinen Truppen den Weg versperren würde. Eine Niederlage zu Beginn des Feldzuges aber würde ihn vernichten. Er konnte nur den Vormarsch gegen die Söldner am Rande des Sumpfgebietes der Makar-Mündung wagen. Dort wollte Mathos ihn erwarten. 77
Als nach fünf Tagen weder eine Spur von Hamilkar noch von seinem Heer zu sehen war, wurde Mathos ungeduldig und rückte am Morgen des sechsten Tages ab. In den Häusern Karthagos herrschte die gleiche Unruhe wie in den Zelten der Söldner. Auch die Karthager warteten auf die Entscheidungsschlacht und fragten sich, was Hamilkar so lange zurückhalte. Wozu stieg er immer wieder auf die Kuppel des Eschmun-Tempels und beobachtete den Wind? Eines Abends befahl er seinem Heer plötzlich, sich marschbereit zu machen. Bei Sonnenuntergang zog es durch das westliche Tor. Aber anstatt den Weg nach Tunis oder in die Berge zu nehmen, marschierte es an der Meeresküste entlang und kam bald an die Lagunen. Der Boden wurde weicher, die Füße von Mann und Tier sanken ein. Hamilkar ritt schweigend voran. Es war eine mondlose Nacht. Der Schlamm wurde immer höher. Einige Männer klammerten sich an die Schweife ihrer Pferde. Ligurer stießen das Fußvolk mit den Spitzen ihrer Lanzen vorwärts. Die Dunkelheit nahm zu. Hamilkar schickte Männer aus, die vorher aufgestellten Wegzeichen zu suchen. Das Heer folgte langsam. Endlich wurde das Erdreich fester. Eine weißliche Linie wurde in der Ferne sichtbar: das Ufer des Makar. Es war kalt. Hamilkar verbot, Feuer anzuzünden. In der Nacht fegten eisige Windstöße über die ruhenden Männer. Er ließ die Soldaten wecken, aber ohne Trompetenruf. Die Hauptleute klopften den Soldaten leicht auf die Schultern. Ein hochgewachsener Mann stieg ins Wasser des Makars. Es reichte ihm kaum zum Gürtel. Der Fluß konnte durchwatet werden. Hamilkar befahl, zweiunddreißig Elefanten in den Fluß hineinzustellen und dann die übrigen vierzig weiter flußabwärts, um die von der Strömung fortgerissenen Soldaten aufzufangen. Die Waffen über dem Kopf tragend, durchschritt das Heer den Fluß wie zwischen zwei Mauern. Nun war es in der Nähe von Utika am linken Ufer angekommen – in einer weiten Ebene, die für das Manöver mit Elefanten vorteilhaft war. Dieser Geniestreich begeisterte die Soldaten. Sie wollten sich sofort auf die Söldner stürzen. Aber Hamilkar ließ sie erst zwei Stunden ruhen. Bei Sonnenaufgang ließ er das Heer in drei Abteilungen in der Ebene 78
aufmarschieren. Voran die Elefanten und das leichte Fußvolk, dahinter die Reiterei und schließlich die Phalanx. Die vor Utika und an der Brücke lagernden Söldner glaubten erst, daß eine Herde Ochsen sich in den vom starken Wind aufgewirbelten Sandwolken nähere. Sie sahen tatsächlich Hörner, denn die Karthager trugen aufrechte Hörner auf den Helmen. Manche unter den Söldnern sahen wehende Mäntel und glaubten, es seien Flügel; andere, Vielgereiste, zuckten die Achseln und hielten das Ungeheuerliche, das sich näherte, für eine Luftspiegelung. Alle Söldner verließen ihre Zelte und hielten Ausschau. Die Einwohner von Utika standen auf den Wällen und überblickten die Ebene. Erst waren nur mehrere parallele Linien zu unterscheiden, die von hohen Buckeln überragt waren. Je näher sie kamen, desto höher wuchsen die auf- und niederschwankenden schwarzen Hügel. Das waren die Elefanten. Ein einziger Aufschrei erklang im Söldnerheer: »Die Karthager!« Die Belagerer von Utika und die Brückenbesatzung versuchten, sich ohne Befehl zu ordnen, um sich auf Hamilkars Heer zu stürzen. Spendius stammelte außer sich: »Hamilkar! Hamilkar!« Mathos war ferne, was sollte er tun? Die Überraschung, seine Angst vor Hamilkar und besonders die Notwendigkeit, einen Entschluß fassen zu müssen, verwirrten ihn. Er sah sich bereits von Schwertern durchbohrt, enthauptet. Indessen warteten dreißigtausend Mann seines Befehles. Da erfaßte ihn wilde Wut gegen sich selbst. Er schminkte sich mit Zinnober, bewaffnete sich, stürzte eine Schale Wein hinunter und eilte seinen Mannschaften nach. Sie vereinigten sich so schnell mit den Belagerten von Utika, daß Hamilkar keine Zeit mehr hatte, eine neue Schlachtordnung aufzustellen. Er verlangsamte seinen Anmarsch. Die Elefanten standen still, wiegten ihre mit Straußenfedern geschmückten Köpfe und schlugen sich mit den Rüsseln gegen die Schultern. Hinter ihnen konnten die Söldner die Leichtbewaffneten sehen und die Helme der Garden. Aber das elftausenddreihundertsechsundneunzig Mann starke karthagische Heer erschien kleiner, als es in Wirklichkeit war, da es in einem langen Rechteck mit schmalen Flanken formiert war. Angesichts eines so schwachen Feindes waren die Söldner außer 79
sich vor Freude. Hamilkar war nicht zu sehen. War er in der Stadt zurückgeblieben? Die Verachtung, die die Söldner für die Krämer Karthagos hegten, stärkte ihren Mut. Noch ehe Spendius den Befehl zum Angriff zu geben vermochte, war er bereits ausgeführt. Die Söldner entwickelten eine lange gerade Linie – über die Flügel des punischen Heeres hinaus, um es zu umfassen. Aber, als sich die Heere in einer Entfernung von etwa dreihundert Schritten gegenüberstanden, wandten sich die Elefanten plötzlich um. Die Truppen Hamilkars taten das gleiche. Die Karthager hatten also Angst und flohen? Die Söldner brachen in ein gewaltiges Hohngeschrei aus, und Spendius rief vom Rücken seines Dromedars herab: »Das wußte ich wohl! Vorwärts! Vorwärts!« Pfeile, Spieße und Schleuderkugeln schwirrten durch die Luft. Die Elefanten, in die Kruppen getroffen, rannten schneller und verschwanden plötzlich wie Schatten in einer Wolke. Im Hintergrund erklang das Dröhnen von Schritten, das von scharfen Trompetensignalen übertönt wurde. Der von Staubwirbeln vernebelte Raum zog die Söldner an. Sie rannten in eine Falle. Hamilkar hatte der Phalanx befohlen, Elefanten, Fußvolk und Reiterei durchzulassen, damit sie sich an die Flügel begeben und diese verlängern könnten. Er hatte die Bewegungen der Söldner so klug vorausberechnet, daß das ganze karthagische Heer im Augenblick des Zusammenstoßes eine einzige gerade Linie bildete, während die Söldner ihre Schlachtlinie nicht eingehalten hatten. Durch die übermäßige Ausdehnung waren Bogen und Lücken entstanden. Alle Söldner keuchten atemlos vom Laufen. Die punische Phalanx näherte sich gewichtig und stieß mit gefällten Lanzen vor. Die Linie der Söldner brach in der Mitte. Sie wurden in zwei große Hälften auseinandergedrängt, aber von den Schleuderkugeln und Pfeilen der rasch entstandenen Flügeltruppen Hamilkars von neuem der Phalanx vor die Lanzen gejagt. Den Söldnern fehlte es an Reiterei. Die wenigen Berittenen waren eingekeilt und konnten sich kaum aus den feindlichen Massen lösen. Die Gefahr war so drohend, daß nur ein schneller Entschluß helfen konnte. Spendius befahl, die Phalanx an beiden Flanken gleichzeitig anzugreifen. Aber auf den Seiten war die Wirkung der Phalanx, die sich 80
gegen die Söldner wandte, ebenso furchtbar wie von vorne. Die Söldner hieben auf die Schäfte der Lanzen, die Reiterei griff sie von hinten an, und die Phalanx, dicht an die Elefanten gedrängt, blieb elastisch, schloß sich bald zusammen und dehnte sich bald wieder aus. Brustkörbe krachten gegen Panzer. Leichname hingen mit zurückgesunkenem Kopf in Armen, die sie umklammerten. Ton- und Bleikugeln flogen durch die Luft. Eine Kompanie von sechzig Umbriern zwang zwei Karrees der Phalanx, zurückzuweichen. Die punischen Schleuderer wurden unsicher. Die Phalanx begann zu wanken. Die Söldner sammelten sich wieder und stürmten vor. Der Sieg schien doch auf ihrer Seite zu sein. Da erscholl plötzlich ein entsetzliches Gebrüll: ein Aufschrei des Schmerzes und der Wut. Zweiundsiebzig Elefanten stürmten in die Schlacht. Hamilkar hatte nur darauf gewartet, die Söldner in einem Raum beieinander zu sehen, um die Tiere auf sie loszulassen. Ihre Führer hatten die Elefanten grausam gestachelt. Die mit Mennige bestrichenen, senkrecht emporgehaltenen Rüssel sahen wie rote Schlangen aus. Aus der Brust jedes Elefanten ragte ein Spieß. Die Stoßzähne waren durch gekrümmte Schwerter verlängert. Außerdem waren die Elefanten durch eine Mischung von Pfeffer, Wein und Weihrauch wild gemacht worden. Die Elefantenführer duckten ihre Köpfe vor den Brandpfeilen, die die Söldner abzuschießen begannen. Sie gingen in dichten Massen vor. Die Elefanten stürmten gegen sie an. Ihre Spieße spalteten wie Schiffsschnäbel die zurückweichende Flut der Kämpfenden. Die Elefanten umfaßten die Männer mit ihren Rüsseln und erdrückten sie oder warfen sie über ihre Köpfe. Mit ihren furchtbaren Stoßzähnen schlitzten sie den Söldnern die Bäuche auf. An ihren Elfenbeinhauern hingen Fetzen von Eingeweiden. Die Söldner versuchten, den Tieren die Augen auszustechen, die Kniekehlen durchzuschneiden. Andere krochen unter die Bäuche der Elefanten und stießen ihre Schwerter bis zum Heft hinein und wurden dann von den fallenden Tieren zerquetscht. Vierzehn Elefanten, durch ihre Wunden zur Raserei gebracht, wandten sich um und rannten gegen die Karthager. Da schlugen ihnen die 81
indischen Führer die Schädeldecken mit Meißeln und Hämmern ein. Die riesigen Tiere brachen zusammen, fielen übereinander und türmten sich zu Bergen. Auf einen solchen Berg kam ein Riesenelefant zu liegen, der ›Baalschreck‹ hieß. Ein Pfeil stak ihm im Auge. Er brüllte unaufhörlich. Die vorstürmenden Elefanten ließen ihrer Wut freien Lauf. Sie zertrümmerten alles, was ihnen in den Weg kam. Um die anstürmenden Söldner zurückzudrängen, stellten sie sich auf die Hinterbeine und drehten sich so lange im Kreis, bis nichts mehr ihren Weg verstellte. Während die Karthager ihre Kraft wiederfanden und die Schlacht von neuem begannen, ermatteten die Söldner. Die griechischen Schwerbewaffneten warfen ihre Waffen fort. Schrecken ergriff die andern. Sie liefen auf Utika zu. Schon machten sich die karthagischen Truppen zur Verfolgung bereit, als Hamilkar plötzlich vor ihnen anhielt. Er zügelte sein in Schweiß gebadetes getigertes Pferd und brachte mit einem Zeichen seiner dreizackigen Lanze das Heer zum Stehen. Er befahl der Phalanx, langsam vorzuschreiten. Sie vernichtete die Söldner, die noch übriggeblieben waren. Die Verwundeten reckten die Kehlen hin und schlossen die Augen. Nur wenige wehrten sich. Manche rannten davon. Die Punier warfen Steine nach ihnen wie nach tollen Hunden. Hamilkar hatte befohlen, Gefangene zu machen. Die Karthager gehorchten widerwillig. Es war ihnen ein besonderer Genuß, ihre Schwerter in die Leiber der Söldner zu stoßen. Die, denen es zu heiß geworden war, hatten begonnen, mit entblößten Armen zu arbeiten. Die Nacht brach herein. Flüchtige Elefanten jagten mit brennenden Rückentürmen umher. Sie leuchteten durch die Finsternis wie Blinkfeuer im Nebel. In der weiten Ebene gab es keine andere Bewegung mehr als die Strömung des Flusses, die die Leichen in das Meer schwemmte. Im schwachen Licht der Sterne sah Mathos unregelmäßige Erhöhungen. Es waren Söldner, die übereinanderlagen. Er rief. Keine Antwort. Er hatte am Morgen noch mit seinen Truppen Hippo-Diarrhyt verlassen, um auf Karthago zu marschieren. Als er in Utika ankam, war 82
das Heer des Spendius bereits abgezogen gewesen, und die Einwohner hatten sich darangemacht, die Belagerungsmaschinen in Brand zu stecken. Als der Schlachtenlärm immer stärker geworden war, hatte Mathos sich auf dem kürzesten Weg in die Richtung der Brücke begeben. Vor ihm im Dunkel erhoben sich kleine Pyramiden, und diesseits des Flusses blinkten dicht über dem Boden Lichter. Die Karthager aber hatten sich hinter die Brücke zurückgezogen, und Hamilkar hatte nur Wachtposten auf dem andern Ufer aufgestellt, um die Söldner zu täuschen. Mathos glaubte, punische Feldzeichen zu entdecken: Es waren Pferdeköpfe, die auf den Spitzen von Lanzenpyramiden staken. Aus der Ferne hörte er Liederklang und Becherklirren. Er wußte nicht, wo er war, noch wie er zu Spendius kommen könnte. Er fühlte sich in der Finsternis verloren. Er hatte Angst. Der Morgen graute, als Mathos vom Gebirge herab die Stadt erblickte, die von den durch das Feuer geschwärzten Belagerungsmaschinen umgeben war. Tiefes Schweigen hing über dem Zeltlager. Halbnackte Männer schliefen, auf dem Rücken liegend oder den Kopf auf die Arme gestützt, im Freien. In den schmalen Lagergassen marschierten die Posten auf und ab, um sich zu erwärmen. Sterbende wiegten stöhnend den Kopf hin und her. Manche wickelten blutige Binden von den Beinen. Mathos fand Spendius in einem zerrissenen Zelt, die Hände um die Knie geschlungen, mit gesenktem Kopf. Sie verharrten beide in Schweigen. Endlich murmelte Mathos: »Also besiegt!« »Ja, besiegt!« erwiderte Spendius mit dumpfer Stimme. Da öffnete Mathos das Zelt. Das Bewußtsein, die Schlacht versäumt zu haben, brachte ihn mehr zur Verzweiflung als die Niederlage. Spendius begann, den Hergang der Schlacht zu erzählen. Mathos sah im Geiste alles vor sich und ereiferte sich mehr und mehr. »Du hättest deine Schlachtstellung doppelt so tief nehmen müssen und die Leichtbewaffneten nicht gegen die Phalanx vorgehen lassen dürfen! Noch im letzten Moment wäre alles zu retten gewesen.« 83
Spendius schrie: »Ich habe ihn in seinem großen, roten Mantel vorbeireiten sehen. Ein Wink seines Hauptes regelte alles. Er sah mich an, und mir war zumute, als träfe mich ein eiskalter Stahl mitten ins Herz.« Dann sprachen sie über die Kriegslage. Spendius meinte, daß noch immer nicht alles verloren sei. Mathos erwiderte: »Und wenn es keine Hoffnung mehr gäbe, ich allein würde den Krieg fortsetzen!« »Ich auch!« schrie Spendius. Ein seltsames Lächeln verzog sein Schakalgesicht. »Wir werden von neuem losschlagen. Verlaß mich nur nicht mehr! Ich bin nicht geschaffen für die offene Schlacht. Der Anblick von Schwertern verwirrt mich. Ich habe zu lange im Kerker gesessen. Gib mir den Befehl, nachts über Mauern zu klettern, und ich werde in Festungen eindringen! Alles wird totenstill in den Festungen sein, ehe noch die Hähne krähen. Sage mir etwas, das ich herausholen soll: eine Sache, einen Freund, eine Frau, ich wiederhole, eine Frau, und wäre sie die Tochter eines Königs, ich bringe dir sofort, was du begehrst. Bin ich es nicht gewesen, der die Schlacht gegen Hannon wieder gewann? Haben meine brennenden Schweine nicht mehr genützt als eine spartanische Phalanx?« Im Bestreben, sich in ein besseres Licht zu setzen, zählte Spendius seine Heldentaten auf. »Habe ich dich nicht nach Karthago geführt, auch zu ihr?« Er brach in ein tolles Gelächter aus. »Und ich werde noch mehr erreichen!« Mathos sah ihn mit entsetzten Blicken an. Es graute ihm vor diesem Mann, der so feig und doch so furchtbar war. Spendius ging auf Mathos zu und schüttelte ihn beim Arm. »Herr! Im Augenblick sind die Karthager ihres Sieges gewiß. Du aber hast ein ganzes Heer, das noch nicht gekämpft hat. Deine Leute gehorchen dir. Marschiere mit ihnen, und meine Truppen werden aus Rachedurst folgen. Wir können sogar eine Phalanx bilden.« Mathos hörte mit offenem Mund zu. Sein Panzer drohte unter seinem Herzschlag zu zerspringen. Er hob sein Schwert und rief: »Auf! Folge mir!« 84
Die Beobachter, die von ihrem Rundgang in das Lager der Söldner zurückgekehrt waren, berichteten, daß die Karthager ihre Toten fortgeschafft hätten, die Brücke zerstört und Hamilkar verschwunden sei. Hamilkar hatte geglaubt, die Söldner würde ihn entweder vor Utika erwarten oder angreifen. Er zog sich an das rechte Flußufer zurück, da sein Heer weder zum Angriff noch zur Verteidigung stark genug war. Am Tage nach dem Sieg schickte er zweitausend Gefangene nach Karthago. Die Arme waren ihnen mit schweren Eisenketten auf den Rücken gefesselt worden. Auch die aus Wunden blutenden Gefangenen mußten marschieren. Die Reiter, die ihnen folgten, trieben sie mit Peitschenhieben vorwärts. Ein Freudentaumel brach in Karthago aus. Männer und Frauen umarmten einander auf offener Straße. Die Reichen öffneten ihre Paläste. Die Hetären der Göttin Tanit errichteten an den Straßenecken Tribünen aus Sykomorenholz, auf denen sie sich preisgaben. Der Große Rat bewilligte Ländereien für die siegreichen Soldaten und dreihundert Goldkronen für den Feldherrn. Hamilkar ersuchte die ›Alten‹, Verhandlungen mit den Söldnern anzuknüpfen, um den alten Gisko und die andern in Gefangenschaft geratenen Karthager gegen die gefangenen Söldner auszutauschen. Da aber die Republik so viele Söldner gegen so wenige Karthager auszutauschen anbot, befürchteten die Söldner eine Falle und lehnten den Vorschlag ab. Die ›Alten‹ befahlen die Hinrichtung der Gefangenen, obwohl Hamilkar ersucht hatte, sie nicht zu töten. Er wollte die besten in sein Heer einstellen und hoffte, dadurch andere zum Abfall zu verlocken. Der Haß siegte über die kluge Berechnung. Die zweitausend Söldner wurden in der Straße der Mappalier an Grabstätten gebunden, und dann kamen Arbeiter, Küchenjungen, Krämer, die Witwen der Gefallenen mit ihren Kindern, alle, die mordlustig waren, die Gefangenen mit Pfeil und Bogen niederzuschießen. Sie küßten die Pfeile, ehe sie sie abschossen. Sie versuchten, die Qual der Unglücklichen zu verlängern, hoben und senkten die Waffen mehrmals. Die Menge drängte sich heran; Lahme wurden auf Bahren herbeigetragen. Manche brachten ihr Essen mit und blieben bis zum Abend, um an 85
dem grausamen Schauspiel teilzunehmen. Viele verdienten sich Geld damit, indem sie Bogen verliehen. Schließlich blieben die mit Pfeilen gespickten Leichen wie Standbilder über den Gräbern stehen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen Raben herbeigeflogen, kreisten mit lautem Geschrei über den Leichen und fanden reiche Beute. Auf allen Terrassen, auf den Obelisken, ja selbst auf den Giebeln der Tempel saßen große Vögel mit Fetzen von Menschenfleisch in ihren blutig gefärbten Schnäbeln. Der schlechte Geruch verpestete die Stadt. Man verbrannte die übriggebliebenen Leichen. Diese Niedermetzelung der Gefangenen schien die Söldner schwer getroffen zu haben. Von der Höhe des Eschmun-Tempels herab sahen die Karthager, daß sie ihre Zelte abbrachen und das Gepäck auf Maulesel luden. Teile des Söldnerheeres zogen im Hinterland von Karthago hin und her. Sie wollten Hamilkar die Annäherung an die Küstenstädte und die Rückkehr nach Karthago unmöglich machen. Spendius und Mathos wollten Hamilkar in die Zange nehmen. Sie bekamen eine ganz unerwartete Verstärkung: Naravas schloß sich ihnen mit dreihundert Kamelen, fünfundzwanzig Elefanten und sechstausend Reitern an. Um die Söldner zu schwächen, hatte Hamilkar es für richtig befunden, Naravas in seinem Königreich zu beschäftigen. Er hatte durch einen Banditenführer die numidischen Staaten aufwiegeln lassen, mit dem Versprechen, ihnen Freiheit zu verschaffen. Naravas hatte von diesem Plan erfahren, und seine Wut auf Hamilkar war daher weitaus größer als auf die Söldner. Er verständigte sich mit ihnen über den Kriegsplan. Hamilkar lagerte bald hier, bald dort. Er, der von den Söldnern verfolgt wurde, schien sie dennoch zu führen. Kaum war er in einer Gegend angelangt, so zog er wieder in eine andere. Die Wege, die er einschlug, blieben immer unbekannt. Dennoch schwächten diese Märsche und Gegenmärsche die Karthager mehr als die Söldner. Hamilkars Streitkräfte nahmen ab, da sie nicht erneuert wurden. Trotz seiner dringenden Bitten an den Großen Rat kam keine Hilfe aus Karthago. An der Republik verzweifelnd, nahm er alles mit Gewalt, was er zum Krieg nötig hatte: Korn, Öl, Holz, Vieh und Menschen. Seine Solda86
ten verwüsteten die Provinzen, vergifteten die Zisternen, steckten die Häuser in Brand. Durch den Wind wurden die Funken verweht. Ganze Wälder brannten und lagen wie Feuerkränze über den Tälern. Hamilkar befahl Utika, das nicht mehr von den Söldnern belagert war, ihn zu unterstützen. Er bekam nur Ausreden und Entschuldigungen. Er wählte den Hafen von Utika als Stützpunkt an der Küste, damit er von den Inseln Lebensmittel und Soldaten herbeischaffen könnte. Beim Übergang eines Höhenrückens war er gezwungen, seine Truppen in lang auseinandergezogenen Kolonnen marschieren zu lassen. Plötzlich tauchten hohe Helmbüsche auf, und ein furchtbarer Schlachtgesang ertönte. Das Heer des Spendius hatte römische Feldzeichen angenommen. Sie schimmerten in der Entfernung wie Löwinnen aus Metall, die über das Gras zu laufen schienen. Zu gleicher Zeit waren von links her hohe Lanzen und Schilde aus Leopardenfell sichtbar. Das waren die Truppen des Mathos. Das Wiehern der Pferde der Reiter des Naravas übertönte den Lärm der aufmarschierenden Söldner, die sich durch genaue Berechnung in der Schlucht getroffen hatten, durch die die Karthager marschieren mußten. Hamilkar stellte seine Truppen in Eile kreisförmig auf, damit sie nach allen Seiten hin Widerstand leisten könnten. Die hohen spitzen Schilde staken dicht nebeneinander im Erdreich und bildeten eine Mauer für das Fußvolk. Außerhalb des Kreises standen in Zwischenräumen die Elefanten. Die Söldner waren von den Mühen des Marsches erschöpft und verzögerten den Angriff bis zum Anbruch des Tages. Sie waren ihres Sieges gewiß und verbrachten die ganze Nacht mit Essen und Trinken. Die Feuer, die sie im rasch errichteten Lager angezündet hatten, erhellten ihr Fest und ließen das punische Heer im Dunkeln. Hamilkar befahl, nach römischer Art einen Graben von fünfzehn Schritt Breite und zehn Ellen Tiefe um sein Lager zu ziehen, und errichtete aus der ausgeschaufelten Erde einen Wall, auf dem spitz sich kreuzende Pfähle als Brustwehr eingerammt worden waren. 87
Als die Sonne aufging, waren die Söldner sehr erstaunt, daß die Karthager in einer Festung verschanzt waren. Sie erkannten Hamilkar, der von Zelt zu Zelt ging. Er trug einen braunen Panzer. Sein Pferd folgte ihm. Mancher Söldner erinnerte sich ähnlicher Morgen, wenn Hamilkar die Truppen im ersten Sonnenstrahl gemustert hatte und sie sich an seinen Blicken gestärkt hatten wie an einem Becher Wein. Eine Art Rührung ergriff sie. Nur wer Hamilkar nicht kannte, konnte sich freuen, ihn umzingelt zu sehen. Manche waren zufrieden, daß er hinter Pfählen verschanzt war. Wie konnte man sie überschreiten? Die Elefanten des Naravas waren noch nicht genügend abgerichtet! »Ihr seid alle Feiglinge!« schrie Mathos und stürzte mit den Mutigsten gegen die Verschanzung vor. Ein Steinhagel warf den Angriff zurück. Der Übermut der Söldner verschwand. Spendius schlug vor, die augenblickliche Stellung mit Vorsicht zu halten und das punische Heer auszuhungern. Die Karthager gruben Brunnen, und da die Schlucht rings von Bergen umgeben war, stießen sie auf Wasser. Hamilkar hatte die von den Söldnern an der Brücke zurückgelassenen Geschütze mitgenommen. Er ließ sie unaufhörlich auf dem Wall hin- und herrollen und einen Regen von Erde, Mist und Feldsteinen auf die Söldner schleudern. Aber die Quellen konnten versiegen, die Lebensmittel zu Ende gehen und die Katapulte sich abnutzen. Die an Zahl zehnmal überlegenen Söldner würden siegen. Hamilkar begann Verhandlungen einzuleiten, um Zeit zu gewinnen. Eines Morgens fanden die Söldner in ihrem Lager ein gegerbtes Schaffell, das mit Schriftzeichen bedeckt war. Hamilkar entschuldigte sich wegen seines Sieges. Er erklärte, der Große Rat hätte ihn zum Krieg gezwungen. Und um den Söldnern zu zeigen, daß er sein Wort halten werde, bot er ihnen gleich entweder Utika oder Hippo-Diarrhyt zur Plünderung an. Die Söldner waren betroffen. Ihre Führer vereinigten sich im Zelt des Mathos. Spendius beschwor die andern bei allen Göttern, die günstige Gelegenheit einer Einigung nicht ungenützt vorübergehen zu las88
sen. Naravas hob verächtlich den Kopf. Mathos ging erregt auf und ab. Der Kampf gegen Karthago war eine persönliche Angelegenheit für ihn. Es empörte ihn, daß die andern ihre Meinungen äußerten, statt ihm stillschweigend zu gehorchen. Während die Söldner unschlüssig hin und her berieten, verstärkte Hamilkar seine Verteidigung. Er ließ innerhalb der Verschanzung einen zweiten Wall aufwerfen und Holztürme errichten. Seine Sklaven wagten sich sogar an die feindlichen Vorposten heran, um Fußangeln zu legen. Aber es fehlte an Lebensmitteln, die Tiere litten an Futtermangel, die Elefanten rissen an ihren Fesseln. Hamilkar befahl den Garden, die minderwertigen Hengste zu schlachten. Die Reiter, die den Befehl verweigerten, ließ er enthaupten. Aus dem Amphitheater, in das sie sich eingeschlossen hatten, konnten die Karthager die Lager der Söldner beobachten. Es war ein lebensvolles Bild: Blökende Ziegen grasten zwischen den Lanzenpyramiden; um ihre Feldkessel gelagert aßen die Söldner. Sie erhielten von den Stämmen des Hinterlandes so viel Lebensmittel, wie sie nur wollten. Die Karthager beobachteten eine Gruppe von etwa dreihundert Männern, die vom Lager der Söldner abgesondert gehalten wurden. Das waren die seit Beginn des Krieges gefangenen Patrizier. Die Unglücklichen waren kaum wiederzuerkennen. Sie waren skelettartig abgemagert und sahen aus wie Mumien in zerfetzten Leichentüchern. Sie liefen hin und her, schluchzten und schrien den Karthagern zu, doch auf die Söldner zu schießen. Nur einer stand unbeweglich, schweigend, mit gesenktem Haupt. Sein langer weißer Bart hing auf die gefesselten Hände herab. Sie erkannten Gisko. Obgleich die Stelle, von der aus sie ihn sehen konnten, gefährlich war, drängten sich alle heran. Sie sahen, daß ihm eine Tiara aus Nilpferdhaut auf den Kopf gesetzt worden war, um den gefangenen General und Karthago lächerlich zu machen. Hamilkar war empört. Jetzt hielt ihn nichts mehr zurück, mochte kommen, was da wollte. Die Karthager stürzten wütend aus ihren Verschanzungen hervor, aber sie kamen nicht weit. Eine solche Flut von Söldnern prallte ihnen entgegen, daß sie sich eiligst hinter die Ver89
schanzungen zurückziehen mußten. Einer von der Garde strauchelte über einen Stein. Ein balearischer Schleuderer warf ihn zu Boden und bohrte ihm den Dolch in die Kehle. Dann warf er sich über den Sterbenden und saugte ihm das Blut in vollen Zügen aus der Wunde. Da nach setzte er sich auf den Leichnam und stimmte mit schrillen Lauten einen balearischen Gesang an: eine irre, wirre Melodie, die sich in langgezogenen Tönen wie ein Echo in den Bergen wiederholte. Dieser Vorfall entsetzte die Karthager. Sie versuchten keinen Ausfall mehr, aber sie dachten auch nicht daran, sich zu ergeben, da sie des qualvollsten Todes gewiß waren. Die Lebensmittel nahmen erschreckend ab. Es gab weder Fleisch noch Öl, noch Gerste für die Pferde. Wem es gelang, die Lagerhunde durch Steinwürfe zu töten, ließ sich mit Hilfe des Schildriemens an den Schanzpfählen herab und verzehrte das Tier, wo es verendend lag. Manchmal erhob sich lautes Gebell, und der Mann kam nicht mehr zurück. Der Hunger wurde so quälend, daß sich drei Männer der Phalanx im Streit um eine Ratte töteten. Alle sehnten sich nach ihren Familien, die Armen nach ihren Hütten, die Reichen nach ihren Palästen. Die Sonne schien nur in den ersten Morgenstunden und ließ den Bergkessel im Schatten zurück. Der Himmel erschien grau und kalt. Der Blick auf die Steinhügel, die mit spärlichem Moos bewachsen waren, war die einzige Sicht. Hamilkar war so erbittert gegen Karthago, daß er sich am liebsten den Söldnern in die Arme geworfen hätte, um sie gegen seine Stadt zu führen. Weder das Volk noch der Große Rat sandten eine Mitteilung, die hätte Hoffnung erwecken können. Die Nachricht von der Niederlage Hamilkars hatte Karthago in Haß gegen ihn aufgebracht. Es fehlte an Geld und Zeit, um neue Söldner zu werben. Alle klagten Hamilkar an. Er hätte nach seinem Sieg die Söldner vernichten müssen. Die Priester verkündeten, daß die Mißerfolge die Strafe für seine Gottlosigkeit wären. Er hatte weder Opfer gebracht noch seine Truppen weihen lassen. Die Priester verziehen ihm die Beschlagnahme ihrer Kassen nicht. Sie forderten vom Großen Rat, Hamilkar kreuzigen zu lassen, falls er wiederkehren sollte. Die Mutlosigkeit und Verzweiflung des Volkes steigerte sich an je90
dem Abend, wenn sie sich auf den Terrassen neunmal verneigten, um die sinkende Sonne durch lauten Zuruf zu grüßen. Das heilige Fest stand bevor, an dem ein Adler aus einem Scheiterhaufen zum Himmel emporflog. Das war das Symbol der Erneuerung des Jahres – eine Feier, die als Bündnis, als Vermählung mit der Kraft der Sonne galt. Die des Zaimphs beraubte Mondgöttin Tanit schien in der Tat ihre Macht verloren zu haben. Sie galt als Abtrünnige, sie hatte Karthago verlassen. Das Volk schmähte sie. Aber gleich darauf beklagte es sie wieder; es liebte sie trotz allem. Alles Unglück rührte vom Verlust des Zaimphs her. Nur Salambo war die Schuldige. Das Volk verlangte, daß sie bestraft würde. Das Gerede von einer Opferung hörte nicht auf. Irgend etwas von unschätzbarem Wert mußte den Göttern geboten werden: ein schönes jungfräuliches Geschöpf aus altem Haus, den Göttern entsprossen, ein Stern der Menschheit! Der Aufruhr des Pöbels schreckte Salambo nicht. Sie hatte vornehmere Sorgen. Ihre große Schlange, der schwarze Python, war am Dahinsiechen. Schlangen galten den Karthagern als Heiligtum. Sie waren aus dem Urschlamm Entstandene, die aus der Tiefe der Erde kamen. Ihre Bewegungen glichen den Wellen eines Stromes, und ihre feuchte Kühle erinnerte an die schleimige, fruchtbare, undurchdringliche Urmacht, der alles Leben entspringt. Der Kreis, den die Schlangen beschrieben, wenn sie sich in den Schwanz bissen, war gleichbedeutend mit dem Kreis der Planeten und dem unendlichen Geist Eschmuns. Die Schlange Salambos hatte schon mehrmals die vier lebenden Sperlinge verweigert, die ihr beim Vollmond und beim Neumond zur Nahrung angeboten worden waren. Die schöne Haut der Schlange war jetzt gelb, runzelig und zu weit für den Körper. Von Zeit zu Zeit näherte sich Salambo dem aus Silberdraht geflochtenen Käfig und sah, daß der Python zusammengeringelt still lag wie eine verwelkte Liane. Es war Salambo zumute, als ob eine zweite Schlange sich um sie winde und sie zu erwürgen drohe. Sie war verzweifelt, den Zaimph gese91
hen zu haben, und konnte es doch nicht unterdrücken, trotz allem einen heimlichen Stolz darüber zu empfinden. In der Pracht des Gewebes verbarg sich Übermenschliches. Zumeist kauerte Salambo in einer Ecke ihres Gemachs, die Arme um ihr linkes Knie geschlungen, mit halb geöffnetem Mund und starrem Blick. Sie dachte mit Entsetzen an das Gesicht ihres Vaters. Sie fühlte eine immer erschreckendere Einsamkeit. Sie wußte nicht, was aus Hamilkar geworden war. Nach Sonnenuntergang entfernte die Sklavin die schwarzen Filzstücke aus den Öffnungen der Wände, um Salambos Tauben hineinflattern zu lassen. Die zierlichen, rosa Füße glitten über die gläsernen Fliesen zwischen den Gerstenkörnern, die Salambo mit vollen Händen ausstreute wie ein Landmann Samen auf das Feld. Oft brach sie plötzlich in heftiges Schluchzen aus. Es kam vor, daß sie tagelang alle Nahrung zurückwies. Dann sah sie wie im Traum verschleierte Gebilde an sich vorbeiziehen. Sie befahl den Oberpriester Schaha-Barim zu sich, wußte aber nicht, was sie ihm sagen wollte, wenn er gekommen war. Er ließ ihre Gemächer mit den Säften des Eisenkrauts und des Frauenhaars besprengen, um sie von ihrer inneren Krankheit zu heilen, die er dem Einfluß der Tanit zuschrieb. Sie mußte jeden Morgen Alraunewurzeln zu sich nehmen. Einen Beutel mit allerlei Gewürzen, die von den Priestern gemischt worden waren, mußte sie als Kopfkissen verwenden. Trotzdem blieb Salambo leidend, und ihre innere Angst verstärkte sich. In Karthago gab es keinen Mann, der sich an Weisheit mit SchahaBarim messen konnte. Er glaubte nicht daran, daß die Erde die Gestalt eines Pinienapfels habe. Er hielt sie für eine runde Scheibe, die mit so ungeheurer Geschwindigkeit in die Unendlichkeit stürzte, daß man nicht imstande war, ihren Fall zu bemerken. Er sprach mit Salambo über die Seelenwanderung. »Die Seelen der Verstorbenen lösen sich im Mond ebenso auf wie die Leichen in der Erde. Ihre Tränen geben dem Mond seine Feuchtigkeit.« Salambo fragte, was aus ihr dort werden würde. Er sagte: »Du wirst vergehen wie ein duftiger Hauch, aber nach 92
Prüfungen und Ängsten wirst du in den Mittelpunkt der Sonne kommen, an den Urquell aller Dinge.« Er pries unaufhörlich die Macht des Sonnenlichts, um nicht von Tanit, der Göttin des Mondes, zu sprechen. Er zweifelte an Tanits höchster Macht, war aber dennoch bemüht, seinen Glauben an sie zu bewahren. Gleichzeitig sann er auf ein Mittel, das auch das Vaterland retten könnte. Er begann, Salambo den Tempelraub als ein Unglück darzustellen, das sich bis in die Weiten des Himmels erstrecke. Dann schilderte er ihr unvermittelt die gefahrvolle Lage Hamilkars, der von den Söldnerheeren unter Mathos' Führung bedrängt werde. Für die Karthager war Mathos durch den Raub des Zaimph zum symbolischen König der Söldner geworden. Schaha-Barim erklärte Salambo, daß von ihr allein das Wohl ihres Vaters und der Republik abhänge. »Von mir?« fragte sie. »Wie sollte ich …« Der Priester unterbrach sie mit verächtlichem Lächeln. Nach einer kleinen Weile erklärte er: »Du müßtest zu den Söldnern gehen, um den Zaimph zurückzufordern.« Salambo sank auf den Ebenholzschemel und blieb mit schlaff herunterhängenden Armen still wie ein Opfer am Fuße eines Altars. Es summte in ihren Schläfen. Sie war von Entsetzen erfüllt. Sie wußte, daß sie bald sterben müsse. Drei Tage vergingen, ohne daß sich der Oberpriester bei Salambo blicken ließ. Am Abend des vierten Tages ließ sie ihn holen. Er trat mit ihr auf die Terrasse und erzählte ihr von den Schmähungen, mit denen Hamilkar im Großen Rat überschüttet worden war. Sie sah das Getümmel der Menge, die sich vor dem Palast drängte und schrie. »Bist du bereit?« erklang Schaha-Barims Stimme hart an ihrem Ohr. »Oder soll man deinem Vater berichten, daß du ihn im Stiche läßt?« Sie verbarg das Gesicht in ihrem Schleier und kämpfte mit ihrer Angst. Sie hatte Angst vor Mathos. Dieser riesenhafte Mann, der jetzt der Besitzer des Zaimphs war, beherrschte Tanit. Mathos und Moloch wurden zu einem Begriff für sie. Hatte Schaha-Barim nicht gesagt, sie solle Moloch besiegen? 93
Sie eilte zum Käfig ihres Python. Aus der Haltung der Schlangen tat sich oft die Zukunft kund. Der Käfig war leer. Die Schlange hatte sich um den silbernen Pfeiler bei ihrem Hängebett geringelt und rieb sich daran, um ihre alte gelbliche Haut abzustreifen. Ihr glänzender heller Körper streckte sich bereits heraus wie die Klinge eines aus der Scheide gezogenen Schwertes. Je stärker der Entschluß Salambos wurde, Tanit zu helfen, um so mehr besserte sich der Zustand der Schlange. War es der Wille der Götter? Eines Morgens erwachte Salambo fest entschlossen und fragte Schaha-Barim, was sie tun müsse, damit ihr Mathos den Schleier zurückgebe. »Ihn fordern!« »Wenn er sich nun aber weigert?« »Du wirst mit ihm allein sein.« Er setzte hinzu: »Allein in seinem Zelt.« »Und was soll ich da?« »Wenn es beschlossen ist, daß du sterben mußt, so wird das später geschehen«, erklärte Schaha-Barim. »Erst später, also fürchte dich nicht! Und was er auch tun mag, rufe nicht um Hilfe! Erschrick nicht! Sei demütig und füge dich seinem Willen, der ein Gebot des Himmels ist!« »Aber der Schleier?« »Dafür werden die Götter sorgen!« »Kannst du mich nicht begleiten?« »Nein!« Er ließ sie niederknien, drückte die linke Hand an seine Brust, streckte die rechte aus und gelobte in ihrem Namen, den Mantel der Tanit nach Karthago zurückzubringen. Salambo wiederholte halb ohnmächtig jedes Wort, das er ihr vorsprach. Dann schrieb er ihr alle nötigen Reinigungen vor, erklärte ihr, wann sie zu fasten habe und wie sie zu Mathos gelangen könne. Er werde ihr einen wegekundigen Mann zur Begleitung mitgeben. Salambo vertraute ihren Entschluß niemandem an. Ihre Leibsklavin kaufte alle zur Reise notwendigen Gegenstände in der Vorstadt Kinisto in aller Heimlichkeit und wagte es nicht, ihre Herrin nach den Gründen der Vorbereitungen zu fragen. 94
So kam der von Schaha-Barim festgesetzte Tag, an dem sich Salambo auf den Weg machen sollte. Die Sklavin entzündete in den Ecken des Gemachs die mit Rosenharz und Paradieskörnern gefüllten Dreifüße. Salambo ließ sich am Rande des Wasserbeckens nieder, streifte die Ärmel zurück und begann die Waschungen, die von den heiligen Riten vorgeschrieben waren. Dann brachte die Sklavin ein Fläschchen aus Alabaster, das eine geronnene Flüssigkeit enthielt. Es war das Blut eines schwarzen Hundes, den unfruchtbare Frauen in einer Winternacht zwischen den Trümmern einer Grabstätte erwürgt hatten. Mit dieser Flüssigkeit rieb sich Salambo die Ohren, die Fersen und den Daumen der rechten Hand ein. Als der Mond aufging, entledigte sie sich ihrer Ohrringe, ihrer Halsketten, ihrer Armbänder, ihres weißen Obergewandes und löste das Band ihrer Haare. Sie wiegte ihren Körper, sang Gebete und ließ nach und nach alle ihre Kleidungsstücke fallen. Die schweren Teppiche bewegten sich, und über der Schnur, auf der sie hingen, erschien der Kopf des Python. Langsam glitt die Schlange herab, schlängelte sich durch die herumliegenden Gewänder und richtete sich kerzengerade empor. Salambo zögerte aus Scham und auch aus Grauen vor dem naß-kalten Tier. Dann aber entsann sie sich der Befehle Schaha-Barims. Sie wand den Python um ihre Hüften, unter ihren Armen hindurch, zwischen ihre Knie, und hob den dreieckigen Rachen dicht an ihre Lippen. Mit halb geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück, um von den Strahlen des Mondes berührt zu werden. Die Schlange preßte ihre schwarzen, goldgefleckten Schuppen fest an Salambo, die unter der schweren Last keuchte. Ihre Hüften bogen sich. Sie fühlte sich dem Tod nahe. Der Python streichelte ihr mit dem Schwanzende sanft die Oberschenkel und sank zurück. Die Sklavin stellte zwei Leuchter auf und färbte Salambo die Handflächen mit Henna, schminkte ihre Wangen rot, strich Antimon über ihre Augenlider und verlängerte die Augenbrauen mit einer Mischung aus Gummi, Moschus und zerdrückten Fliegenfüßen. Den Anordnungen des Schaha-Barim gehorchend, wurde sie in bar95
barischem Geschmack geputzt. Sie zog über eine dünne, weinrote Tunika eine zweite, die mit Vogelfedern bestickt war. Sie legte blaue, mit silbernen Sternen verzierte Beinkleider an, die durch einen goldenen Schuppengürtel um die Hüften festgehalten waren. Darüber legte sie ein weißseidenes, grüngestreiftes Gewand an und schlang ein Purpurtuch um die Schultern. Die Sklavin rief: »An deinem Hochzeitstag könntest du nicht schöner aussehen!« Sie stellte einen hohen Kupferspiegel vor Salambo auf, damit sie sich selbst betrachten könne. Um die Hüften, an den Händen und Zehen trug sie so viel Geschmeide, daß aus dem Spiegel Strahlen sprühten. Salambo strich eine mit Goldstaub gepuderte Locke aus der Stirn. Dann schritt sie auf und ab, sie war ungeduldig, noch warten zu müssen. Beim Schrei eines Hahnes nahm sie rasch einen langen gelben Schleier, schlüpfte in blaulederne Schuhe und legte einen Finger an die Lippen zum Zeichen, daß die Sklavin schweigen und sich nicht rühren sollte. Dann schritt sie die Treppe hinab. Salambo ritt mit dem ihr von Schaha-Barim zur Verfügung gestellten Begleiter erst in die Richtung der Totenstadt. Die Pferde kamen nur langsam vorwärts und glitten oft aus. Sie verließen Karthago durch das Tevester-Tor, dessen Flügel halb offenstanden. Schweigend ritten sie an den Wällen entlang. Kein Mensch zeigte sich im Umkreis von Karthago. Trotz all ihrer Kleidungsstücke erschauerte Salambo in der morgendlichen Kühle. Die beiden Tiere trotteten Seite an Seite im gleichen Schritt. Ihre Hufe versanken lautlos im Sand. Erst als sie das Gebirge überquert hatten, wurde der Boden fester. Sie trabten. Die Ländereien lagen weit und breit öd und leer wie eine Wüste. Am Wegrand erhoben sich überall halbzerfallene Mauern. Die Dächer der Hütten waren eingestürzt. Oft kroch aus den Trümmern ein zerlumptes menschliches Wesen hervor, lief aber schleunigst davon, als es der Reiter ansichtig wurde. Die verödete Ebene wollte kein Ende nehmen. Um die Mittagszeit begegneten ihnen drei mit Tierfellen bekleidete Männer. Später tauchten noch andere auf. Salambos Begleiter rief den Vorüberkommenden Segenswünsche oder zwei96
deutige Scherze zu. Er antwortete jedem in seiner Sprache und erklärte, daß sein Begleiter ein kranker, junger Mann sei, der in einem fernen Tempel Heilung suche. Indessen wurde es Nacht. Im Dämmerlicht entdeckten sie ein seltsames Gebäude. Ein Hund lief auf der Mauer hin und her. Sie traten in einen hohen, gewölbten Raum. In der Mitte hockte eine Frau an einem Holzfeuer, dessen Rauch durch die Luftlöcher der Decke abzog. Salambo schlief in einem Winkel des Raumes auf ausgebreiteten Pferdedecken. Noch vor Tagesanbruch weckte sie der Diener. Der Hund heulte. Der Diener hieb ihm mit einem Schlag den Kopf ab und bestrich mit dem Blut die Nüstern der Pferde, um sie zu beleben. Die Alte schrie ihnen einen Fluch nach. Salambo drückte voll Schreck ein Amulett, das sie an der Brust trug, fest an sich. Am Tage vorher hatten sie vorsichtshalber einen großen Umweg gemacht. Da die Gegend unfruchtbar war, begegnete ihnen kein Mensch. Je weiter sie kamen, desto deutlicher wurden die Spuren der Verwüstung. Oft sahen sie ein Stück Mosaikboden mitten auf dem Feld. Es war der einzige Überrest einer vom Erdboden verschwundenen Villa. Sie kamen durch Ortschaften, deren Häuser völlig niedergebrannt waren. An den Mauerresten lagen Skelette von Menschen, Kamelen und Maultieren. Halb zerfressenes Aas versperrte ihnen den Weg. Die Nacht brach wieder herein. Der bewölkte Himmel hing tief herab. Aus der Tiefe eines Talkessels blinkten kleine Flammen, die sich bewegten. Das waren die Rüstungen der karthagischen Garde. Immer mehr Feuer tauchten auf: das Lager der Söldner. Salambo wollte direkt drauf zureiten. Ihr Begleiter hielt sie zurück. Sie ritten den Wall entlang, der das Söldnerlager umgab. Der Diener verschwand in einem Durchgang, um Mathos von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen. Auf dem Wall ging ein Posten auf und ab. Er trug einen Bogen in der Hand und einen Spieß über der Schulter. Salambo ritt näher heran. Da bückte sich der Soldat, und ehe sie sich dessen versah, steckte ein langer Pfeil im Saum ihres Mantels. Der Posten rief sie an und fragte nach ihrem Begehr. 97
»Ich wünsche Mathos zu sprechen!« erwiderte Salambo. »Ich bin ein Überläufer aus Karthago!« Er ließ einen Pfiff ertönen, der von Posten zu Posten wiederholt wurde. Salambo wartete. Als Mathos kam, ging der Mond hinter Salambo auf. Er betrachtete von der Höhe des Walls die merkwürdige Gestalt, die im Zwielicht wie ein Gespenst aussah. Sie rief: »Führe mich in dein Zelt! Ich will es!« Eine unklare Erinnerung überkam Mathos. Sein Herz begann zu klopfen. Die Art ihres Befehles schüchterte ihn ein. »Folge mir!« sagte er.
Im Söldnerlager war eine ungeheure Menschenmenge in ständiger Bewegung. Man schrie, man rief, Pferde waren in langen Reihen zwischen den Zelten und Hütten aus Schilfrohr angebunden. Manche Söldner hockten auf der Erde, andere lagen, in Matten gewickelt, bereit, sich zur Ruhe zu begeben. Salambos Pferd mußte hin und wieder über diese Hindernisse springen. Mathos, der ihr voranschritt, jagte die Söldner mit einer Bewegung seines Armes zur Seite. Einige küßten seine Hände, andere traten an ihn heran und fragten nach seinen Befehlen. Er hatte so viel Kühnheit und ausdauernden Mut bewiesen, daß ihn alle als Oberhaupt betrachteten. Sein Zelt lag am Ende des Lagers, nur dreihundert Schritt von den Verschanzungen Hamilkars entfernt. Zu beiden Seiten des Zelteinganges standen zwei Neger mit Harzfackeln. Mathos schlug hastig den Vorhang zurück, Salambo folgte ihm. In der Mitte des geräumigen Zeltes stand ein Mast. Eine mit gelbem Öl gefüllte Lampe in Form einer Lotosblume beleuchtete es. In den Ecken lag allerhand Kriegsgerät herum: Ein blankes Schwert, ein Schild, Peitschen aus Nilpferdhaut, Schellen und Ketten. Schwarzbrotkrumen schimmelten auf einer Filzdecke. Auf einem runden 98
Stein lag ein Haufen von Kupfermünzen. Durch die Löcher der Leinwand wehte der Wind trockenen Staub und den Geruch der Elefanten in das Zelt. »Wer bist du?« fragte Mathos. Salambo schaute sich schweigend um. Ihre Blicke hefteten sich an ein bläulich schillerndes Gewebe, das von einem Gestell aus Palmenzweigen niederhing. Sie schrie auf und ging hastig darauf zu. Mathos stampfte mit dem Fuß: »Wer bist du und was führt dich hierher?« Sie wies auf den Zaimph: »Das da zu holen!« Sie riß die Schleier vom Gesicht. Mathos fuhr erschrocken zurück. Er war beinahe entsetzt. Sie sah ihn scharf an und forderte ihn beredten, machtvollen Worten den Zaimph zurück. Mathos hörte nichts, er sah nur sie. Ihre Gewänder waren eins mit ihrem Körper. Ihre Augen funkelten wie die Diamanten und der Glanz ihrer Fingernägel wie das sprühende Licht der kostbaren Steine, die sie an den Fingern trug. Die Spangen ihrer Tunika preßten ihre Brüste nach oben und näherten sie einander. Die Blicke des Mathos verloren sich in dem schmalen Raum dazwischen, in dem an einer dünnen Goldkette ein mit Smaragden besetztes Schmuckstück hing Ihre Ohrgehänge waren zwei kleine Schalen aus Saphiren, in denen Perlen eingebettet waren, die von Zeit zu Zeit durch eine feine Öffnung ein Tröpfchen einer duftenden Flüssigkeit durchsickern ließen, das Salambo auf die nackten Schultern fiel. Eine unbezwingliche Neugier packte Mathos. Er drückte wie ein Kind, das eine unbekannte Frucht berührt, die Spitze eines Fingers gegen ihre Brust. Das kühle Fleisch gab elastisch nach. Diese Berührung erschütterte Mathos bis in das Innerste seines Wesens. Es drängte ihn zu ihr. Er hätte sie umschlingen, er hätte sie verzehren, sie in sich auflösen mögen. Er keuchte, seine Zähne schlugen aufeinander. Er faßte sie bei den Handgelenken und zog sie an sich. Dann setzte er sich auf einen Harnisch neben dem Lager aus Palmenzweigen, das mit einem Löwenfell bedeckt war. Sie blieb aufrecht stehen. Er hielt sie zwischen 99
seinen Schenkeln und schaute sie unentwegt an. Er sagte immer wieder: »Wie schön bist du! – Wie schön bist du!« Seine Blicke taten Salambo weh. Ihr Unbehagen wurde so heftig, daß sie an sich halten mußte, um nicht laut aufzuschreien. Sie erinnerte sich aber der Ermahnungen Schaha-Barims und fügte sich. Mit weitgeöffneten Nasenflügeln sog Mathos ihren Duft ein, der so belebend und doch betäubend wirkte wie Dämpfe aus einer Weihrauchpfanne: Honig, Gewürze, Rosen und andere köstliche Dinge. Wie kam sie zu ihm in sein Zelt, wie in seine Gewalt? War sie nur wegen des Zaimphs gekommen? Er senkte den Kopf, von Schwermut ergriffen. »Was habe ich dir getan, daß du meinen Tod willst?« fragte Salambo mit klagender Stimme. »Ich, deinen Tod?« »Ich habe dich eines Abends in meinen brennenden Gärten gesehen, um dich herum lagen meine hingemordeten Sklaven. Dein Zorn war so groß, daß ich fliehen mußte, als du auf mich zusprangst. Seitdem ist der Schrecken in Karthago eingezogen. Du bist an allem schuld! Ich hasse dich! Du bist verflucht wie die Pest und der Krieg mit Rom! Ich bin der Spur deiner Brandfackeln gefolgt, als schritte ich hinter Moloch einher.« Maßloser Stolz schwellte Mathos' Brust. Er hob den Kopf, er fühlte sich erhaben wie ein Gott. Mit zuckenden Nasenflügeln fuhr Salambo fort: »Und dann, als ob du dich mit dem Tempelraub nicht hättest begnügen können, bist du in der Nacht zu mir gekommen, in den Zaimph gehüllt. Was du mir gesagt hast, habe ich nicht verstanden, aber ich weiß, daß du mich zu etwas Schändlichem verführen wolltest.« Mathos hob abwehrend die Hände. »Ich wollte nichts, als dir den Zaimph schenken. Mir war zumute, als gehörte das Gewand der Göttin dir. Bist du nicht so blütenrein und strahlend schön wie Tanit?« Er setzte mit einem Blick anbetender Bewunderung hinzu: »Am Ende bist du Tanit?!« »Ich, Tanit?« flüsterte Salambo. Beide schwiegen. In der Ferne rollte der Donner. Erschreckte Scha100
fe blökten. »Komm näher!« bat Mathos. »Fürchte nichts! Früher war ich nur ein einfacher Söldner. Ich war friedlich, still und gutmütig. Was geht mich Karthago an? Alle seine Menschen verschwinden für mich im Staub deiner Sandalen. Alle seine Schätze, Länder, Flotten und Inseln locken mich nicht so wie deine Lippen und deine Schultern. Ich wollte seine Mauern niederreißen, um dich zu besitzen. Da mir das nicht gelungen ist, habe ich Rache genommen. Ich zertrete die Menschen wie Nußschalen. Ich stürze mich in die Schlacht, wehre Lanzen mit nackten Händen ab, packe Hengste bei ihren Nüstern – mich tötet kein Geschoß. Ich denke während des Kampfes nur an dich. Ich sehe deine Augen im Brennen der Fackeln und in der Vergoldung der Schilde. Ich höre deine Stimme und drehe mich um nach dir. Bist du nicht da, dann stürze ich mich von neuem in die Schlacht.« Mathos hob die Arme, auf denen sich die Adern wie Efeuranken am Stamme eines Baumes kreuzten. Zwischen den gewaltigen Muskeln rann ihm der Schweiß auf die Brust. Salambo, nur an den Anblick von Eunuchen gewöhnt, war von der Kraft dieses Mannes benommen. Rächte die Göttin sich? Eine Mattigkeit befiel sie. Die Flammen der Lampe flackerten im Luftzug. Grelle Blitze zuckten auf. Nachher war die Dunkelheit um so dichter. Salarnbo sah nur die Augen dieses Mannes, die ihr wie zwei glühende Kohlen entgegenbrannten. Sie fühlte das Walten einer wunderbaren Macht, die sie vor eine Entscheidung stellte. Sie schritt kurz entschlossen auf den Zaimph zu. »Was willst du?« schrie Mathos. »Ich bringe ihn nach Karthago zurück.« »Du bringst ihn nach Karthago zurück? Du kamst also nur, um den Zaimph zu holen und mich der Macht zu berauben? Du hast dich geirrt. Jetzt gehörst du mir! Ich habe den Hochmut deiner großen, ruhigen Augen nicht vergessen. Ich bin Herr über dreimal hunderttausend Söldner. Ich werde deine Stadt und die Tempel verbrennen! Kein Haus, kein Stein, kein Baum wird übrigbleiben! Und wenn es mir an Kämpfern fehlt, hole ich mir Bären aus dem Gebirge und Löwen aus der Wüste.« 101
Er stand mit geballten Fäusten vor ihr und schrie: »Untersteh dich nicht zu entfliehen! Ich töte dich!« Plötzlich sank er schluchzend in die Knie und bat: »Vergib mir Ruchlosem! Ich weiß nicht, was ich tue. Zertritt mich! Als du vorhin zu mir sprachst, streifte dein Atem mein Gesicht, ich erquickte mich daran wie ein Verdurstender. Zertritt mich! Fluche mir!« Er kniete vor ihr auf dem Boden und umfing ihre Hüften mit bebenden Armen und zuckenden Händen. »Ich liebe dich so sehr! Geh nicht fort!« Die goldenen Münzen seiner Ohrgehänge glänzten auf seinem dunklen Hals. Er murmelte zärtliche, sinnlose Worte. Eine traumhafte Weichheit ergriff Salambo. Sie verlor beinahe das Bewußtsein ihrer selbst. Sie fühlte sich von Wolken emporgehoben und sank, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, auf die Felle des Lagers. Mathos faßte sie bei den Fersen. Das goldene Kettchen, das ihre Knöchel verband, zerriß. Der Zaimph fiel auf sie und verhüllte sie. Sie sah das Gesicht des Mathos über ihre Brust geneigt. Seine Küsse verzehrten sie. Sie fühlte seine Glut auf ihren Fingern, ihren Händen, ihren Armen, ihren Füßen. Er flüsterte: »Nimm den Zaimph! Was soll er mir? Ich will das Heer verlassen. Ich will auf alles verzichten. Weit draußen im Meer liegt eine Insel. Die Luft ist so mild, daß sie den Tod verscheucht. Dort wollen wir in gläsernen Grotten wohnen und in Düften leben, die wie Weihrauchwolken zum Himmel steigen!« Er wischte ihr den Staub von den Schuhen und machte ein Kissen für ihren Kopf zurecht. Er breitete den Zaimph über ihre Füße wie eine gewöhnliche Decke. Er lachte fröhlich. Der Mond kam zwischen den Wolken hervor. »Ach, wie viele Nächte habe ich zu ihm aufgeschaut! Die Erinnerung an dich verwob sich mit seinem Schein. Zuletzt warst du eins mit mir.« Sein Kopf lag zwischen ihren Brüsten. Die Rührung übermannte ihn. Ist das wirklich der furchtbare Mann, vor dem Karthago zittert? dachte Salambo. Mathos war eingeschlafen. Sie löste sich zart aus seiner Umarmung und setzte einen Fuß auf den Boden. Dabei bemerkte sie, daß ihr Kettchen zersprungen war. Jungfrauen aus vornehmen Familien waren 102
daran gewöhnt, diese symbolische Fessel als etwas Heiliges anzusehen. Sie befestigte die beiden Enden wieder um die Knöchel. Das Gewitter verzog sich. Vereinzelte Wassertropfen schlugen noch auf das Zeltdach. Mathos lag wie ein Betrunkener auf dem Lager. Seine perlenbesetzte Binde war verschoben und gab seine Stirn frei. Ein glückliches Lächeln zeigte seine Zähne im Rahmen des schwarzen Bartes. Unbeweglich stand Salambo vor ihm und blickte beinahe verletzt auf die stille Heiterkeit, die sein Gesicht überstrahlte. Neben dem Lager lag ein Dolch auf einem Tisch. Der Anblick der glänzenden Klinge erweckte ein Verlangen nach Rache in ihr. Da erwachte Mathos. Er suchte mit seinen Lippen ihre Hand, als sie nach der Waffe griff. Draußen erhob sich Geschrei. Grelles Licht leuchtete hinter dem Zelt auf. Als Mathos den Vorhang hob, sah er, daß das Lager der Libyer in Flammen stand. Die Schilfhütten brannten. Am glutroten Horizont liefen schwarze Schatten hin und her. Elefanten, Rinder und Pferde rasten durch das Gewühl und zertraten Menschen, das Kriegsgerät und was sonst noch aus den Flammen gerettet worden war. Trompeten schmetterten. Stimmen klangen auf. »Mathos! Mathos!« Einige Söldner wollten in das Zelt eindringen. Sie riefen: »Eile dich! Hamilkar verbrennt das Lager!« Mit einem Satz war Mathos aus dem Zelt. Salambo war allein. Sie betrachtete den Zaimph und war erstaunt, nicht die Freude zu empfinden, die sie erwartet hatte. Sie fühlte sich bedrückt und traurig. Sie sah, daß sich der Zeltvorhang wieder bewegte. Ein grauenhaft aussehendes Lebewesen kroch herein: ein langer Bart, ein in Lumpen gehüllter Körper. Sie sah die Augen und erkannte entsetzt den alten Gisko. Er hatte sie ins Lager kommen sehen und für eine Karthagerin gehalten. Es war ihm mit Hilfe seiner Mitgefangenen gelungen, aus dem Graben herauszukommen, und er hatte sich auf den Ellbogen zu Mathos' Zelt geschleppt. Er hatte draußen gehorcht und alles gehört, was die beiden Stimmen gesprochen hatten. »Du bist es?« sagte Salambo. »Ich bin es. Man hält mich für tot, nicht wahr?« 103
Salambo hatte Angst vor diesem schmutzigen Wesen. Das Scheusal war grauenvoll wie ein Gespenst. »Ich bin fast hundert Jahre alt«, sagte Gisko. »Ich sah alle Schrecken der Schlacht und das mit den Trümmern unserer Flotte bedeckte Meer. Die Söldner, die ich befehligte, haben mich an Händen und Füßen gefesselt. Meine Mitgefangenen sterben einer nach dem andern! Der Geruch ihrer Leichen läßt mich nachts nicht schlafen. Ich wehre die Vögel ab, die den Toten die Augen aushacken wollen, und dennoch habe ich nicht eine Stunde an Karthago gezweifelt. Nun ist alles vorbei! Alles verloren! Die Götter vernichten die Stadt! Fluch über dich! Du hast ihren Untergang durch deine Schande beschleunigt!« Salambo wollte sprechen. Gisko rief: »Leugne nicht! Ich habe alles gehört. Ein Barbar hat dir sein Begehren kundgetan, und du hast dir von ihm die Hände küssen lassen. Warum bist du nicht dem Beispiel der wilden Tiere gefolgt, die sich bei der Paarung verstecken, anstatt dich vor den Augen deines Vaters in Schande zu bringen? Weißt du nicht, daß sich Mathos in seiner Verwegenheit dicht vor das Zelt deines Vaters gelagert hat? Verflucht sollst du sein!« Salambo blickte durch den erhobenen Zeltvorhang nach Hamilkars Lager. »Dort drüben?« fragte sie. »Dort drüben ist ein heiliger Ort, den dein Blick nur beschmutzen könnte.« Sie warf sich den Zaimph über. »Ich will zu ihm!« Sie eilte in der Dunkelheit unbehelligt durch das Lager. Ein langer Wall hemmte ihren Weg. Sie fürchtete sich vor Gisko und bildete sich ein, von Rufen und Schritten verfolgt zu werden. Der Morgen dämmerte bereits. Sie entdeckte einen schmalen Pfad, der zum Wall hinaufführte. Ein heller Ruf erklang unter ihr, als sie den Wall erklomm. Sie beugte sich hinab und erkannte den Diener Schaha-Barims, der mit den beiden zusammengekoppelten Pferden auf sie gewartet hatte. Salambo ließ sich zu ihm hinabgleiten, und sie ritten im Galopp um das punische Lager herum, um einen Eingang zu suchen. Als Mathos in sein Zelt zurückkehrte, gab die rauchende Lampe nur 104
noch wenig Licht. Er glaubte, daß Salambo schlafe, und betastete das Löwenfell über dem Palmzweiglager. Er rief. Keine Antwort. Er ließ Tageslicht in das Zelt. Er sah, daß auch der Zaimph verschwunden war. Im selben Augenblick erdröhnte die Erde. Lautes Geschrei und Pferdegewieher erschollen. In wilder Wut ergriff Mathos seine Waffen und stürzte hinaus. Die Söldner stiegen den Berg in langen Reihen hinab, während die Karthager in gleichmäßigem Marsch anrückten. Sonnenstrahlen durchbrachen die Nebel. Mehr und mehr Feldzeichen und Lanzenspitzen wurden sichtbar. Mathos erkannte die Führer, die Söldner und auch den auf Eseln reitenden Troß ganz deutlich. Er sah, daß Naravas seine Stellung verließ und nach rechts abbog, als wollte er sich von Hamilkar überrennen lassen. Seine Reiter überholten die Elefanten, die langsam vorwärts kamen. Plötzlich wandte sich Naravas einem feindlichen Posten zu, warf Schwert, Lanze und Pfeile von sich und verschwand im karthagischen Lager. Hamilkar hörte Naravas an, ohne ihn zu unterbrechen. Ein Mann, der sich verwegen zu einem Feldherrn begab, dessen Rache er fürchten mußte, war kein zu verachtender Bundesgenosse. Hamilkar erkannte die Nützlichkeit einer Verbindung mit Naravas für später. Mit den Numidiern würde er sich der Libyer erwehren können. Ohne ihn zu fragen, weshalb er nicht früher gekommen war, küßte er Naravas und drückte ihn dreimal an seine Brust. »Mögen die Götter dir gnädig sein! Wie die Republik es dir lohnen wird, das weiß ich nicht. Hamilkar aber ist nicht undankbar!« Der Kriegslärm verstärkte sich. Offiziere traten in das Zelt des Generals. Er legte seine Rüstung an und sagte zu dem neugewonnenen Freund: »Rasch, beeil dich! Treibe mit deinen Reitern das feindliche Fußvolk zwischen deine und meine Elefanten! Setze alles daran!« Naravas stürzte davon, den Befehl auszuführen, als Salambo erschien. Sie sprang vom Pferd, öffnete ihren Mantel und breitete mit ausgestreckten Armen den Zaimph aus. Ein ungeheurer Jubel umbrauste sie. Die Marschierenden standen still. Die Sterbenden stützten sich auf ihre Ellbogen und wandten sich ihr zu, um sie zu segnen. 105
Auch die Söldner wußten nun, daß Salambo den Zaimph zurückgeholt hatte. Aus der Ferne sahen sie sie in seinem Glanze stehen. In das Freudengeschrei der Karthager mischten sich das Geheul der Wut und die wilden Verwünschungen der Söldner. Hamilkar dankte Salambo nur durch ein Nicken des Kopfes. Er sah bald auf den Zaimph, bald auf sie. Da bemerkte er das zersprungene Kettchen. Er schauderte. Naravas hatte seinen Befehl weitergegeben. Er war zurückgekehrt und hielt sich in bescheidener Haltung abseits. Schweigend betrachtete ihn Hamilkar, dann trat er auf ihn zu und sagte feierlich: »Zum Lohn für die Dienste, die du mir geleistet hast, gebe ich dir meine Tochter zum Weib. Steh mir als Sohn und als Bundesgenosse zur Seite!« Naravas bedeckte die Hände Hamilkars mit Küssen. Salambo stand unbeweglich wie eine Statue. Sie errötete und schlug die Augen nieder. Hamilkar ließ das Verlöbnis auf der Stelle unlösbar vollziehen. Er befahl, Salambo eine Lanze in die Hand zu geben, die sie ihrem zukünftigen Gatten reichte. Beiden wurden die Daumen mit einem Riemen aus Rindsleder zusammengebunden. Zwölf Stunden später waren die Söldnerheere zerstreut. Hamilkar war mit aller Gewalt aus dem Bergkessel ausgebrochen. Naravas hatte die Söldner mit seiner Reiterei umstellt und von hinten angegriffen. Damit war die Schlacht entschieden. Lautlos und schattenhaft kehrten die Geflüchteten in den rauchenden Trümmerhaufen der Lager zurück, als der Abend kam. Sie errichteten Scheiterhaufen für die Toten. Mathos saß immer noch auf derselben Stelle am Boden, auf der er sich befunden hatte, als die Schlacht zu Ende war. Die Ellbogen auf die Knie gestemmt, die Schläfen in die Hände gestützt, hörte und dachte er nichts. Schließlich hob er den Kopf wie trunken, als er das Geheul der um ihre Männer trauernden Weiber hörte. Vor ihm flatterte ein Fetzen Leinwand an einer Stange, dessen Ende Körbe und ein Löwenfell bedeckte. Er erkannte sein Zelt. Die zerrissene Leinwand wehte im Wind und schlug ihm gegen den Mund. Seine Augen bohrten sich in den Boden, als ob Salambo dort in die Erde gesunken sei. Der flattern106
de Fetzen, der ihn getroffen hatte, trug eine rote Spur: den Abdruck der Hand des Naravas, das Wahrzeichen ihrer Brüderschaft! Mathos griff nach einem brennenden Holzscheit und warf es auf die Überreste seines Zeltes. Plötzlich tauchte Spendius auf. Er hinkte jämmerlich. Er hatte sich mit den Bruchstücken einer Lanze ein Bein geschient. »Nimm das nur ab!« sagte Mathos höhnisch. »Ich weiß ohnedies, daß du ein Held bist.« Spendius führte ihn zu einer Höhle, in der die andern Führer sich verborgen hielten. Alle entschuldigten die Niederlage damit, daß niemand den Verrat des Naravas, den Brand des Lagers, den Verlust des Zaimphs hätte voraussehen können. Sie beratschlagten, was zu tun wäre. Hamilkar versperrte den Weg nach Karthago. Es gab kein Mittel, die Fortsetzung des Kampfes zu vermeiden. Aber wie sollten die mutlosen Söldner von der Notwendigkeit des Kampfes überzeugt werden? »Das will ich übernehmen«, sagte Spendius. Er ließ sich auf den Schultern zweier Kappodozier von Gruppe zu Gruppe tragen und hielt Ansprachen. Er erinnerte die Söldner an die Versprechungen des Großen Rats, an die Ungerechtigkeiten Karthagos. Alle, die sich freiwillig unterwürfen, kämen als Sklaven zum Verkauf. Der Besiegten aber harrten furchtbare Martern. »Ich lüge nicht!« schrie er. Die heiße Sonne brannte auf die bloßen Köpfe. Widerlicher Geruch stieg von den Leichen auf. Die Toten waren nur notdürftig verscharrt worden. Manche Körperteile ragten noch aus dem Erdreich hervor. Als es Spendius gelang, Lebensmittel aus Hippo-Diarrhyt zu holen, aßen die Söldner mit großer Gier, rafften die Reste ihres Gepäcks und ihre zerbrochenen Waffen zusammen, nahmen die Frauen in ihre Mitte und zogen dem Meere zu wie ein Rudel abziehender Wölfe. Sie wollten zunächst Hippo-Diarrhyt besetzen, denn eine Stadt mußten sie endlich haben. Als Hamilkar den Abmarsch der Söldner wahrnahm, hätte er sie sofort wieder angreifen mögen. Noch ein solcher Erfolg wie die letzte Schlacht, und der Krieg wäre zu Ende! Wenn er aber nicht einen ver107
nichtenden Sieg erringen könnte, würden die Söldner wieder stärker werden. Es bestand die Gefahr, daß die Küstenstädte mit ihnen gemeinsame Sache machten. Noch am selben Abend sandte er dem Großen Rat ein mit dem Schmuck der Gefallenen beladenes Kamel und befahl unter furchtbaren Drohungen, daß ihm neue Truppen zugeführt würden. Die Karthager hatten Hamilkar längst für verloren gehalten. Als sie von seinem Sieg und der Rückeroberung des Zaimphs erfuhren, wagte es keiner, eine Klage oder Anschuldigung laut werden zu lassen. Ein Heer von fünftausend Mann wurde ausgesandt, Hamilkar den Rücken zu decken, dreitausend Mann wurden eingeschifft, um bei Hippo-Diarrhyt zu landen und die Söldner zurückzutreiben. Aber die dreitausend Mann, die unter dem Oberbefehl Hannons standen, waren keine Hilfe für Hamilkar. Hannon manövrierte so ungeschickt, daß Hamilkar den Großen Rat bat, ihn von der Hilfe Hannons zu befreien. In allen Küstenstädten machte sich das Verlangen nach Selbständigkeit von Karthago bemerkbar. Hamilkar glaubte alles verloren. Er sandte Naravas aus, die Grenzen des Reiches zu schützen, und beschloß, selbst nach Karthago zurückzukehren, um eine neue Aushebung zu erzwingen. Die Söldner beobachteten, wie das Heer Hamilkars wieder die Berge herabkam. Wohin wollten die Karthager? Trieb sie der Hunger oder wollten sie den Kampf gleich fortsetzen? Nein! Sie schwenkten rechts ab, also flohen sie. Jetzt war es an der Zeit, sie zu vernichten. Die Söldner nahmen die Verfolgung auf. Mathos, der an der Spitze marschierte, glaubte, am Horizont einen grünen Schimmer wahrzunehmen. Der Boden senkte sich. Obelisken, Kuppeln und Häuser wurden sichtbar: Das war Karthago! Er lehnte sich an einen Baum, um nicht zu fallen, so heftig klopfte sein Herz. Alles, was seit dem letzten Aufenthalt in Karthago geschehen war, zog an seinem Geist vorüber. Eine namenlose Freude ergriff ihn bei dem Gedanken, Salambo wiederzusehen. Am ganzen Körper bebend, starrte er auf die hohe Terrasse ihres Hauses. Er breitete die Arme aus, sandte ihr Küsse entgegen und flüsterte: »Komm! Komm!« 108
Spendius schrie ihn an: »Beeil dich! Vorwärts, Hamilkar wird uns entkommen!« Mathos sprang auf ein Kamel, riß ihm die Halfter ab und hieb mit dem Riemen auf die Nachzügler ein. Auf seine dröhnenden Zurufe schlossen sich die Reihen enger zusammen. Immer näher kamen sie den Fliehenden. Ihre Vorhut marschierte bereits im Staub der Karthager. Bald mußten die beiden Heere aneinandergeraten. Da taten sich die Tore Karthagos auf. Die punische Truppe teilte sich in drei Kolonnen, um in die Stadt einzuziehen. Spendius riet den Söldnern, nichts zu wagen, und so lagerten sie sich in einiger Entfernung von den mächtigen Bogen der Wasserleitung, fest entschlossen, Karthago zu erobern. Sie schlugen zu beiden Seiten des Aquädukts ein planmäßiges Lager auf. Von allen Seiten sandten die unterdrückten Völker, die tributpflichtigen Städte, die den Sturz der Republik wünschten, Hilfstruppen und Lebensmittel. Das Lager der Söldner wuchs an. Die Karthager sahen es mit Entsetzen. Die Belagerungsmaschinen der Küstenstädte mit Masten, Tauen, Kranen und Schutzschilden rückten gegen die Mauern vor. Sie sahen, daß sechzig fahrbare Geschütze, achtzig Schleudermaschinen, dreißig Steinböller, fünfzig Sturmkrane und drei riesenhafte Katapulte aufgestellt wurden. Die Söldner hatten aus ihren Niederlagen Lehren gezogen. Sie wollten keine nutzlosen Opfer mehr bringen und bereiteten die Belagerung sorgfältig vor. Endlich beschloß Spendius, einen alten Plan auszuführen: Er hatte beobachtet, daß die Posten auf der Wasserleitung vermindert wurden, da alle verfügbaren Männer zur Verteidigung der Mauern gebraucht wurden. Spendius übte sich mehrere Tage im Bogenschießen. An einem mondhellen Abend bat er Mathos, ein großes Strohfeuer anzünden und gleichzeitig einen fürchterlichen Lärm schlagen zu lassen. Er selbst kroch mit einem balearischen Schleuderer an den Unterbau der Pfeiler des Aquädukts. 109
Die Posten gingen ruhig auf und ab. Aber jetzt wurden lodernde Flammen sichtbar, und Trompeten schmetterten. Die Posten glaubten, daß ein Sturmangriff begonnen habe, und eilten der Stadt zu. Ein einziger war zurückgeblieben. Sein Umriß hob sich schwarz vom Himmel ab. Spendius spannte seinen Bogen mit aller Kraft und zielte. Der Pfeil sauste durch die Luft, der Posten verschwand. »Wenn er verwundet wäre, müßten wir ihn hören«, flüsterte Spendius und stieg mit Hilfe eines Seiles und einer Harpune genauso wie beim erstenmal von Stockwerk zu Stockwerk. Als er neben der Leiche des Postens stand, ließ er das Seil herab. Die Trompeten waren verstummt. Spendius hob eine der Steinplatten auf und stieg ins Wasser. Er berechnete die Entfernung nach der Zahl seiner Schritte. Er kam an eine Stelle, an der er von außen einen kleinen Spalt in der Mauer wahrgenommen hatte. Er arbeitete ununterbrochen mit wildem Eifer. Er konnte kaum Luft genug durch die Fugen der Steinplatten bekommen und glaubte sich dem Tode nahe. Endlich stürzte ein riesiger Steinbrocken von Stockwerk zu Stockwerk, und plötzlich ergoß sich ein gewaltiger Strom gleich einem Sturzbach in die Tiefe. Das bedeutete den Tod für Karthago und den Sieg für die Söldner. Bald darauf erschienen die aus dem Schlaf geweckten Karthager auf den Mauern und den Dächern von Häusern und Tempeln. Auch die Söldner stürzten herbei und tanzten wie rasend um den großen Wasserfall. Oben auf der Plattform aber stand ein Mann in braunem zerrissenem Gewand. Er beugte sich stolz über den Rand der Brüstung und schaute auf die brausenden Wasser, als staune er über sein eigenes Werk. Dann richtete er sich hoch auf. Sein stolzer Blick schien zu sagen: »Dies alles ist jetzt mein!« Da brachen die Söldner in lauten Jubel aus, die Karthager aber heulten vor Verzweiflung.
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Mathos stellte das Heer der Söldner in einem großen Halbkreis auf und schloß so Karthago vollständig ein. In der vordersten Reihe waren die Fußsoldaten aufgestellt, hinter ihnen die Schleuderer und die Reiterei, ganz hinten der Troß. Vor dem Heer aber, etwa hundert Schritt von den Türmen Karthagos entfernt, war die Stellung der Belagerungsmaschinen. Spendius stellte die drei größten Katapulte so auf, daß sie die drei wichtigsten Abschnitte der Mauern beschießen konnten. Vor jedem Tor wartete ein Widder, vor jedem Turm stand ein Pfeilgeschütz bereit, Zerstörung und Tod zu verbreiten, wenn der große Angriff begann. Hamilkar hatte die erregten Gemüter der Karthager mit der Erklärung beruhigt, daß in den Zisternen vorerst noch Wasser für hundertdreiundzwanzig Tage vorhanden sei. Seine Anwesenheit und die Rückkehr des Zaimphs stärkten ihren Mut. Sklaven wurden bewaffnet, jeder Bürger bekam einen Posten und ein Amt zugeteilt. Zimmermannsleute, Waffen- und Goldschmiede setzten die wenigen Geschütze instand, die Karthago trotz der römischen Friedensbedingungen noch besaß. Die Stadt war vom Golf und vom Meer her uneinnehmbar. Baumstämme, Mühlsteine, Kessel mit Schwefel und Fässer voll Öl wurden auf den Wall geschafft, die nächstliegenden Häuser mit Sand ausgefüllt, um die Widerstandsfähigkeit der Mauern zu erhöhen. Diese Vorbereitungen versetzten die Söldner in Wut. Eines Morgens schoben fünfundsiebzig Mann einen Widder an Seilen gegen das Khamon-Tor. Der Balken war dreimal so dick wie der Körper eines Mannes, achtzig Meter lang und bewegte sich, von unzähligen Armen gestoßen, vor und zurück. Gleichzeitig stürmten die Schleuderer in Schwarmreihen vor und Söldner, die Töpfe mit brennendem Harz unter den Schilden verbargen. Der Kugel- und Feuerregen überflog die Mauern in hohem Bogen. Auf dem Wall oberhalb des Tores tauchten lange Krane auf, wie sie zum Aufrichten von Schiffsmasten benützt wurden. Riesige Zangen packten den Widder. Die Söldner versuchten, den Balken mit Gewalt 111
zurückzuziehen, doch die Karthager zerrten ihn immer wieder nach oben. Dieser Kampf um den Widder dauerte bis zum Abend. Als die Söldner am nächsten Morgen wiederkamen, waren die Mauern und Zinnen mit Baumwollballen und Kissen ausgepolstert. Auf dem Wall waren Stangen mit Hackmessern und Sägen befestigt. Baumstämme schlugen auf den Widder ein; dennoch brach das Khamon-Tor. Doch die Karthager hatten so viele Gegenstände hinter den Torflügeln aufgetürmt, daß sie sich nicht öffneten. Spendius war unermüdlich damit beschäftigt, die Geschütze zu richten. Wenn die Balken der Schleudermaschinen aufschnellten, wenn Pfeile und Steine durch die Luft sausten, beugte er sich vor und warf die Arme in die Luft, als wolle er der Bahn der Geschosse folgen. Die Söldner folgten freudig seinen Befehlen, doch die Geschütze vermochten nichts gegen den Wall auszurichten. Mathos befahl, Holztürme aufzubauen, die die gleiche Höhe erreichen sollten wie die Steintürme auf dem Wall. Holzleitern, Strickleitern, Fallbrücken waren bereit, im gegebenen Augenblick wie Brücken auf die Mauern zu fallen. Die Söldner stiegen mit den Waffen in der Hand auf die Holztürme. Kein Karthager zeigte sich auf den gegenüberliegenden Wällen. Als die Brücken gelegt und die Söldner schon ziemlich weit vorgedrungen waren, öffneten sich die Schießscharten. Sandmassen wirbelten auf, siedendes Öl und flüssiges Blei floß über die Helme und brannte Löcher ins Fleisch der Stürmenden. Ein Funkenregen sprühte in ihre Gesichter. Die Haare der mit Öl begossenen Männer brannten. Sie liefen davon, aber trotz des furchtbaren Empfangs hielt der Sturmangriff an, denn die Söldner hofften, den Sieg durch das Übergewicht an Kraft und Kühnheit doch zu erringen. Da Sturmleitern und Fallbrücken nichts ausrichteten, wurden hohe Gerüste mit langen Kranen herbeigeschafft, die viereckige Körbe bewegen konnten, in denen dreißig Mann mit ihren Waffen untergebracht waren. Mathos wollte den ersten Korb besteigen, doch Spendius hielt ihn zurück. In einer Höhe von dreißig Metern senkte sich der Riesenarm und setzte den mit Menschen beladenen Korb auf die Stadtmauer. Die Söldner stürzten sich auf die Karthager – sie kehrten nicht mehr 112
zurück. Dennoch wurden noch mehrere solcher Gerüste aufgestellt. Äthiopische Bogenschützen wurden darin hochgezogen. Während die Körbe in Schwebe gehalten wurden, schossen die Schützen vergiftete Pfeile auf die Karthager. Hamilkar ließ die Schwerbewaffneten, die die Mauern beschützten, jeden Morgen den Saft gewisser Kräuter trinken, die das Pfeilgift unschädlich machten. In der Nacht schiffte er eine besonders ausgerüstete Stoßtruppe im Hafen ein und landete im Rücken der Söldner. Er richtete ein großes Blutbad an. In derselben Nacht glitten fackeltragende Männer an Seilen die Mauern hinunter, um die Kriegsmaschinen in Brand zu stecken. Jedes neue Hindernis steigerte den Zorn von Mathos. Das Versagen des Sturmangriffs erbitterte ihn. Er dachte verworren und lud in Gedanken Salambo zu sich ein. Er erwartete sie so, als ob ihr Besuch Wirklichkeit wäre. Wenn er sie tot vor sich gesehen hätte, hätte er die Belagerung aufgegeben. In seiner Wut verdoppelte er die Posten, pflanzte am Fuß der Mauern zweischneidige Spieße auf, legte Fußangeln und ließ seine Libyer Wälder roden, um mit dem gewonnenen Holz Karthago wie einen Fuchsbau auszuräuchern. Spendius sann darauf, schreckliche, noch nie dagewesene Zerstörungsmaschinen zu erfinden. Die Söldner murrten über den erfolglosen Verlauf aller Unternehmungen. Um sie aus ihrer tatenlosen Unzufriedenheit zu reißen, ließ man sie stürmen. Sie gingen mit Wurfspießen und Schwertern auf die Tore los. Sie wurden niedergemäht. Streitigkeiten brachen unter den Belagerern aus. Die Lebensmittel wurden knapp, da das Hinterland schon verwüstet war. Der ungeheuren Menge aber machte das nicht viel aus. Die meisten erkannten jedoch, daß alles vergeblich sein würde, solange nicht ein Erdwall in gleicher Höhe mit der Stadtmauer aufgeworfen werden würde. Dann wäre Karthago verloren! In der Stadt herrschte Wassermangel. Auch die Fleisch- und Kornvorräte nahmen ab. Eine Hungersnot stand bevor. Da es Spätsommer war, plagten große schwarze Fliegen die Kämpfenden. Das Wetter war so schwül, daß die Leichen anschwollen und nicht mehr in die Sär113
ge paßten. Man mußte sie verbrennen. Aber die Flammen sprangen oft auf die nächstliegenden Höfe über und schossen plötzlich aus den Häusern, wie Blut aus einer Schlagader spritzt. Aufwiegler hetzten das Volk auf gegen den Großen Rat und Hamilkar. Die Priester befanden sich in ständiger Angst, besonders die der Mondgöttin, da die Rückkehr des Zaimphs keinen Erfolg gebracht hatte. Schaha-Barim kam zu Salambo und überschüttete sie mit einer Flut von Vorwürfen. Er beschuldigte sie, die Ursache des Krieges zu sein. Obwohl sie ihm gehorcht hatte, erklärte er, daß Mathos Karthago nur belagerte, um den Zaimph von neuem zu holen. Salambo hatte keine Angst mehr vor Schaha-Barim. Die Zustände, unter denen sie vorher gelitten hatte, waren vollständig verschwunden. Sie war von einer merkwürdigen Ruhe erfüllt. Als die Pythonschlange wieder erkrankte und eines Morgens, kälter als Eis, zusammengerollt in ihrem Korb lag, blieb Salambo ungerührt. Sie beobachtete, die Ellbogen auf die Brüstung einer Terrasse gelehnt, das Tun und Treiben im Lager der Söldner. Sie sah zu, wie die Männer die Rüstungen flickten, die Haare salbten und die Pferde fütterten. Hamilkar kam oft zu ihr, setzte sich tief atmend in die Kissen und betrachtete sie beinahe mit Zärtlichkeit. Er kam im Gespräch immer wieder auf ihren Ausflug ins feindliche Lager zurück. Er fragte mehrmals, ob sie irgend jemand dazu angestiftet habe. Sie antwortete ihm stets mit verneinender Geste. Sie war außerordentlich stolz darauf, den Zaimph zurückgeholt zu haben. Unter dem Vorwand, kriegerische Einzelheiten erfahren zu wollen, versuchte Hamilkar stets von neuem, sie über Mathos auszufragen. Sie berichtete immer wieder: Mathos sei sehr zornig gewesen, habe mit Donnerstimme geschrien. Schließlich sei er eingeschlafen. Mehr verriet Salambo nicht. Das Erlebte ging ihr wirr im Kopf herum wie die Erinnerung an einen beängstigenden Traum. Es wäre ihr auch nicht leichtgefallen, alles, was sie bewegte, in Worten zum Ausdruck zu bringen. Eines war gewiß: Trotz ihres Hasses gegen Mathos hätte sie ihn gerne wiedergesehen. Sie war der einzige Mensch in Karthago, der keine Furcht vor ihm hatte. 114
Als Hamilkar und Salambo eines Abends wieder beisammensaßen, stürzte ihre alte Sklavin aufgeregt herein. Draußen warte ein Greis mit einem Kind und wolle den Herrn sprechen. Hamilkar erbleichte. Dann befahl er hastig: »Laß ihn eintreten!« Iddibal führte einen Knaben an der Hand, der in einen Mantel aus Bocksfell gehüllt war, zog ihm die Kapuze vom Gesicht und sagte: »Da ist er, Herr! Behalte ihn!« Der Knabe blieb in der Mitte des Zimmers stehen und betrachtete mit prüfendem Blick die Zimmerdecke, das Hausgerät, die Perlenschnüre auf den Purpurvorhängen. Er mochte zehn Jahre alt sein. Lockiges Haar hing ihm über die gewölbte Stirn. Seine Augen waren aufmerksam und doch in die Ferne gerichtet. Er sah, daß Hamilkar Iddibal zur Seite gezogen hatte, und schien zu begreifen, daß wichtige Dinge verhandelt wurden. Er senkte den Kopf. Hamilkar gab Salambo ein Zeichen und sagte leise: »Du mußt ihn bei dir behalten! Hörst du! Niemand darf wissen, daß er hier ist!« Hinter der Tür fragte Hamilkar Iddibal noch einmal, ob ihnen auch wirklich niemand begegnet sei. »Ganz gewiß nicht, die Straßen waren leer!« Der treue Diener war in Sorge um das Kind seines Herrn gewesen, da der Krieg sich immer mehr und mehr über alle Provinzen auszudehnen begonnen hatte und er nicht wußte, wie er den Sohn Hamilkars verborgen halten könnte. Er war zur rechten Zeit gekommen, denn die Söldner hatten ein riesiges Floß vor den Hafen gelegt, um den Karthagern die Ausfahrt zu versperren. Die Stadt war von der Außenwelt abgeschlossen. Die Hungersnot begann. Hunde, Maultiere, Esel, auch die fünfzehn Elefanten Hamilkars wurden geschlachtet. Die Löwen des Moloch-Tempels waren toll geworden. Anfangs wurden sie noch mit verwundeten Söldnern gefüttert. Später warf man ihnen Tote vor, die noch warm waren. Die Bestien rührten sie nicht an und gingen ein. Große Schutthaufen, die von den Steinen der Wurfmaschinen herrührten, versperrten die Straßen. 115
Von der Höhe der Akropolis aus wirkten die Feuersbrünste, die in der ganzen Stadt wüteten, als wären rote, flatternde Tücher über die Dächer geworfen worden. Hamilkar öffnete seine Getreidekeller. Die Verwalter teilten die Vorräte unter das Volk. Der Durst wurde durch das Essen noch quälender. Dabei sahen die Karthager, wie das herrlich klare Wasser in großen Kaskaden aus der zerstörten Leitung sprudelte. Obwohl der Erdwall der Söldner noch nicht die Höhe der Stadtmauer erreicht hatte, waren bereits Maschinen aufgestellt worden. Vor den dreiundzwanzig steinernen Festungstürmen Karthagos erhoben sich dreiundzwanzig Türme aus Holz. Spendius hatte eine Erfindung des Demetrius Polyorketes mit unsäglicher Mühe nachgebildet: die gewaltige ›Helepolis‹! Sie glich einer oben abgestumpften Pyramide. Die Seiten der viereckigen Basis betrugen fünfundzwanzig Meter. In neun Stockwerken ragte dieser bewegliche Turm fünfzig Meter hoch. Erzplatten schützten die Vorderseite und die beiden Flanken. Auf der obersten Plattform stand ein Katapult. Jetzt war es so weit gekommen, daß Hamilkar für alle jene, die es wagten, von Übergabe zu reden, Kreuze errichten ließ. Aus Mangel an Mannschaften wurden Frauen als Soldaten eingestellt. Eines Morgens, kurz vor Sonnenaufgang, war überall in der Stadt das Kriegsgeheul der Söldner zu hören. Die bleiernen Fanfaren gellten, Hörner brüllten gleich Stieren. Lanzen, Spieße und Schwerter brandeten gegen die Mauern. Die Karthager schleuderten Mühlsteine, Keulen, Fässer, selbst Bettgestelle hinab. Sie standen mit Netzen an den Schießscharten und fingen die Söldner wie Fische. Mauerblöcke stürzten herab und wirbelten Staub auf. Geschosse prallten aneinander und zerbarsten in tausend Stücke. Ein Steinregen fiel auf die Kämpfenden nieder. Oft fielen die in der Menge eingekeilten Leichen nicht um, sondern bewegten sich, von den Schultern der andern gestützt, noch eine Weile weiter mit aufgerissenen, verglasten Augen. Von den Holz- und Steintürmen sauste ein unaufhörlicher Pfeilregen nieder. Die langen Arme der Krane arbeiteten in rasender Geschwindigkeit. Besonders ausgewählte 116
Mannschaften der Söldner hatten bereits drei Tore eingerammt, doch dahinter aufgetürmte, mit Nägeln beschlagene Balken versperrten ihnen den Weg. Mathos hatte sich anfangs vom Kampf ferngehalten, um die Bewegungen des Heeres besser leiten zu können. Allmählich peinigte es ihn, nicht selbst mit anzugreifen. Der Blutgeruch, der Anblick des Gemetzels, das Trompetengeschmetter reizten seine Kampfeslust. Er lief in sein Zelt, warf den unbequemen Panzer ab und hing sein Löwenfell um. Der aufgesperrte Rachen umrahmte sein Gesicht, so daß es von Raubtierzähnen eingefaßt war. Die Vordertatzen kreuzten sich über seiner Brust, während die Krallen der Hintertatzen in die Kniekehlen schlugen. Er steckte eine doppelschneidige Axt in den Gürtel, dann packte er sein großes Schwert, schwang es über seinem Kopf und stürmte vorwärts. Er schlug mit so wuchtigen Streichen auf die Feinde, daß alles um ihn herum wie gemähtes Gras zu Boden sank. Sein Schwert flog unaufhörlich auf und nieder, bis es in einer Mauerecke zersprang. Er griff zur Axt und schlachtete die Karthager wie eine Herde von Hammeln. Alles wich vor ihm zurück. Er drang bis zur zweiten Ringmauer der Akropolis vor. Da tauchten Helmbüsche auf, und er war von Feinden umringt. Aber zu gleicher Zeit brachen die Söldner aus einer Seitengasse ein, Mathos wurde um die Hüfte gepackt, hochgehoben und von seinen Männern bis vor die Mauer zu einer Stelle getragen, wo die Befestigung besonders hoch war. Er gab ein Kommando: Sofort legten sich alle Schilde über die Helme. Mathos sprang darauf und benutzte sie als Aufstieg zur Mauer. Auf der Höhe des Walls stand regungslos ein Mann in weißem Gewand. Wut verzerrte sein Gesicht. Er schüttelte die mageren Arme Mathos entgegen und schrie ihm Schmähworte zu. Mathos verstand nicht, was der Mann sagte. Er fühlte sich nur von dem grausamen und zornigen Blick so betroffen, daß er aufbrüllte wie ein verwundeter Stier. Er warf seine Axt nach dem Mann. Entsetzliches Getöse wurde laut. Die riesige Helepolis wurde von einer Unmenge Söldner herangeschleift. Auf acht eisenbeschlagenen Rädern bewegten sie den Turm mühselig vorwärts. 117
Auf diesen Augenblick hatte Hamilkar gewartet. Er hatte berechnet, daß die Helepolis gegen die steilste und am schwächsten besetzte Stelle der Mauer anrennen würde. Er hatte aus Lehm zwei Querwände errichten lassen, so daß eine Art Becken entstanden war. Trotz der Wassersnot hatte er dieses Becken bis zum Rand mit Wasser füllen lassen. Als der Widder der Helepolis die Mauer zertrümmerte, schoß ein Wasserstrahl hervor und das riesige, neunstöckige gepanzerte Ungetüm begann zu schwanken wie ein Schiff. Das Wasser weichte den Weg so auf, daß die eisenbeschlagenen Räder im Schlamm versanken. Die schweren Geschütze kamen aus ihrer Lage. Die Söldner, die an den Fallbrücken standen, sausten in die Tiefe. Die Karthager fielen der Besatzung in den Rücken und metzelten sie nieder. Jetzt aber sausten die Sichelwagen der Söldner heran. Die Karthager flohen auf ihre Wälle zurück. Die Nacht brach herein. Schwere Rauchwolken stiegen empor und verloren sich am dunklen Himmel. Die Karthager stürzten durstverzehrt an die Zisternen. Sie stürmten die Tore und fanden nur Schlammpfützen vor. Die ganze Nacht stand das Volk beratend an den Straßenecken. Was sollte aus der Stadt werden? Manche meinten, man solle die Frauen, die Kranken und die Greise wegschaffen. Andere schlugen vor, die Stadt zu verlassen, doch es fehlte an Schiffen. Manchen fiel es ein, daß ihr Unglück vielleicht dadurch verursacht worden sei, daß sie dem tyrischen Melkath das jährliche Opfer noch nicht nach Phönizien gesandt hatten. Kein Opfer durfte zu groß sein, Moloch zu befriedigen. Das Leben, ja sogar das Fleisch der Menschen gehörte dem Verschlinger. Deshalb war es Brauch in Karthago, ihm einen Teil davon zu opfern, um seine Gier zu stillen. Der Große Rat versammelte sich. Die Sitzung dauerte lang. Als der Oberpriester Molochs fragte, ob die Patrizier bereit seien, Kinder zu opfern, ertönte plötzlich Hannons Stimme: Er bedauere, krächzte er, dem Vaterland nicht dienen zu können, da er keine Kinder habe. Alle nickten mit dem Kopf, und dem Brauche gemäß mußte auch Hamilkar dem Oberpriester antworten: »Es geschehe!« Die Moloch-Priester begannen ihres Amtes zu walten. Männer in 118
schwarzen Gewändern durchsuchten alle Häuser und nahmen die Kinder mit. Man brachte die Kleinen in den Tempel der Tanit, deren Priesterinnen mit ihnen spielen und für ihre Ernährung bis zum Opfertag sorgen mußten. Die Tempeldiener kamen auch zu Hamilkar: »Barkas, du weißt, weshalb wir kommen! Dein Sohn …« Hamilkar stand wie erstarrt. Er wußte genau, daß alles Leugnen nicht helfen würde. Er verneigte sich schweigend und führte die Tempeldiener in das Verwaltungshaus. Sklaven bewachten die Zugänge. Hamilkar betrat das Gemach seiner Tochter, verstört, ergriff Hannibal, band den Knaben an Händen und Füßen mit einer Schnur, steckte ihm einen Knebel in den Mund und verbarg ihn unter dem Lager. Dann schritt er erregt auf und ab, rang die Hände, biß sich auf die Lippen und blieb schließlich irren Auges stehen, röchelnd wie ein Sterbender. Plötzlich klatschte Hamilkar dreimal in die Hände. Der Sklavenaufseher erschien. »Höre!« sagte Hamilkar. »Suche bei den Sklaven einen acht- bis neunjährigen Knaben mit schwarzem Haar und gewölbter Stirn und bring ihn her! Eile dich!« Der Sklavenhalter kehrte mit einem mageren Kind zurück. Die Haut des Knaben war grau wie die Lumpen, in die er gehüllt war. Er duckte den Kopf zwischen die Schultern und rieb sich den Schmutz aus den Augen. Wie konnte man diesen Jungen mit Hannibal verwechseln? Hamilkar blickte den Sklavenhalter an, als ob er ihn erwürgen wollte. In der Porphyrwanne war klares Wasser für Salambo bereitgestellt. Trotz seines Widerwillens tauchte Hamilkar den Jungen hinein, wusch und rieb ihn mit Bürste und rotem Ocker. Dann entnahm er dem Wandschrank zwei Purpurtücher und befestigte sie über den Schultern des Kindes mit Diamantspangen. Er goß ihm wohlriechendes Wasser über den Kopf, legte ihm eine Bernsteinkette um den Hals. Salambo, die ihrem Vater eifrig half, war ebenso blaß wie er. Der Kind, beglückt über die Herrlichkeiten, lachte vor Freude. Ha119
milkar hielt es mit starkem Griff am Arme fest. Das Kind begann zu weinen, während es neben Hamilkar einherlief. In der Nähe des Sklavenkerkers unter einem Palmenbaum bat eine flehende Stimme: »Herr! O Herr!« Hamilkar sah einen widerlich aussehenden Menschen neben sich, einen der armen Kerle, die ärmlich im Schatten seines Hauses dahinsiechten. »Was willst du?« fragte er. »Ich bin sein Vater.« Hamilkar ging weiter. Der Mann folgte ihm mit gebogenem Rücken und schlotternden Knien. Er berührte mit einem Finger zaghaft den Ellbogen seines Herrn. »Willst du ihn …?« Der Sklave sank ohnmächtig in den Staub. Hamilkar stieg gelassen über ihn hinweg. Die drei schwarzgekleideten Männer erwarteten ihn vor dem Steinkegel im großen Saal. Er zerriß sein Gewand und sank auf den Boden mit dem Aufschrei: »Mein Sohn! Mein Trost! Meine Hoffnung! Tötet doch mich! Nehmt mich mit!« Er zerfetzte sich das Gesicht mit den Nägeln, raufte sich die Haare und heulte wie ein Klageweib bei einer Totenfeier. »Führt ihn fort! Ich leide zu sehr. Tötet mich wie ihn!« Die Tempeldiener des Molochs staunten über die Schwäche des großen Hamilkar. Auf der Elfenbeinschwelle der Tür erschien bleich und verstört der unglückselige Sklave, hob verzweifelt die Arme und schrie: »Mein Kind!« Hamilkar warf sich mit einem Satz auf ihn, hielt ihm den Mund zu und schrie noch lauter: »Das ist der Alte, der ihn erzogen hat. Er nennt den Knaben sein Kind. Er verliert den Verstand. Genug! Genug!« Er drängte die drei Tempeldiener mit ihrem Opfer hinaus. Hamilkar ging zu Salambo zurück und löste Hannibals Fesseln. Der erregte Knabe biß ihm die Hand blutig. Der Vater wehrte ihn liebkosend ab. 120
Damit sich Hannibal ruhig verhalte, wollte Salambo ihn durch die Erzählung von einer Menschenfresserin in Angst versetzen. »Wo ist sie denn?« fragte Hannibal. Als Salambo ihm erzählte, daß Räuber gekommen waren, ihn gefangenzunehmen, meinte er nur: »Sie sollen nur kommen, damit ich sie töte!« Als Hamilkar ihm die entsetzliche Wahrheit gestand, wurde Hannibal zornig. »Bist du Karthagos Herr oder nicht? Steht es nicht in deiner Macht, das ganze Volk auszurotten?« Schließlich fiel Hannibal, von der Anstrengung und Aufregung des Tages erschöpft, in einen unruhigen Schlummer. Das große Opfer der Kinder, an dem Hamilkar im roten Mantel teilnehmen mußte, sollte die unersättliche Gier des Molochs befriedigen. Es beruhigte das Volk nicht, um so weniger, als noch Opfer übrig waren und ein furchtbares Sturmwetter ausbrach. Es goß in Strömen, die Donner rollten: das war die Stimme Molochs. Die Karthager, im Glauben, daß der Mond Wasser gebäre, schrien laut, um der Göttin Tanit die Wehen zu erleichtern. Bald klatschte der Regen auf die Terrassen nieder, strömte als Wasserfall die Treppe hinab, ergoß sich als schlammige Flut über die Straßen und riß alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war. Die Menschen öffneten den Mund, um den Regen zu trinken, und tauchten ihre Arme in schmutzige Pfützen. Als das Unwetter nachließ, stärkte die frische, kühle Luft die Zuversicht der Karthager. Die Söldner hingegen waren durch das Gewitter übel mitgenommen worden. Sie wateten im tiefen Schlamm, um ihre Waffen und die verdorbenen Lebensmittel zu sammeln. Hamilkar machte Hannon zum Befehlshaber der Stadt. Er selbst schiffte seine Kerntruppe auf einer Galeere ein und fuhr nach dem Norden. In den nächsten drei Tagen blieb die Lage unverändert. Die Söldner wollten gerade zu einem Sturmangriff antreten, als atemlose Kundschafter in das Lager kamen und erzählten, daß Hamilkar an der libyschen Küste gelandet sei und tiefer ins Land vordringe. 121
Die Söldner entrüsteten sich über diese Nachricht, als hätte Hamilkar sie verraten. Viele, die der Belagerung überdrüssig waren, liefen davon, um zum Heer ihres ehemaligen Feldherrn zu stoßen. Spendius war dafür, die Helepolis wiederaufzubauen. Mathos hingegen hielt an seinem Plan fest, in gerader Richtung von seinem Zelt aus auf Megara vorzumarschieren. Beide Heerführer berieten, aber nichts geschah, außer daß Autherit, der Häuptling der Gallier, mit seinen Truppen abzog und dadurch den westlichen Teil der Stadtmauer entlastete. Dadurch konnte Naravas mit seinen Numidiern unbehindert in Karthago einziehen. Er nahm den Segen der ›Alten‹ in Empfang und eilte zu Salambo. Naravas hatte sie seit dem Tag, an dem er im Zelt Hamilkars ihre kleine kühle Hand in der seinen gehalten hatte, nicht wiedergesehen. Jetzt wollte er in den Genuß seiner Rechte treten und sie zu seiner Frau machen. Salambo betete zwar täglich zu Tanit um den Tod des Mathos, doch ihre Abneigung gegen ihn wurde immer geringer. Sie hatte das dunkle Empfinden, daß sein wilder Haß irgendwie geheiligt war. Sie vermißte es, daß Naravas auch nicht den kleinsten Abglanz jener leidenschaftlichen Heftigkeit zeigte, die sie gegen ihren Willen noch immer in Bann hielt. Salambo hatte wohl den Wunsch, Naravas näher kennenzulernen, doch der Gedanke an seine Nähe peinigte sie. Sie ließ ihm kundtun, daß sie ihn nicht empfangen dürfe. Tatsächlich hatte Hamilkar verboten, Naravas bei seiner Tochter vorzulassen. Er glaubte, sich der Treue des Numidier-Fürsten besser zu versichern, wenn er die Belohnung bis zum Ende des Krieges aufschob. Naravas respektierte den Wunsch Hamilkars, aber er verhielt sich gegen die Herren des Großen Rats keineswegs unterwürfig. Im Gegenteil: Er forderte besondere Rechte für seine Soldaten und stellte sie auf wichtige Posten. Die Söldner machten große Augen, als sie mit einemmal Numidier auf den Wällen Karthagos sahen. Sie bekamen auch keine guten Nachrichten aus dem Hinterland. Hamilkar tauchte mit seiner Kerntruppe 122
da und dort auf, überfiel die Lager von verstreuten Truppen und verschwand hier, um dort wieder zum Angriff überzugehen. Spendius und Mathos waren gezwungen, sich in Bewegung zu setzen. Sie hielten ihr vierzigtausend Mann starkes Heer fest zusammen, und es gelang ihnen einige Male, die Karthager zurückzutreiben. Das Schlimmste für die Söldner waren die Reiterangriffe der Numidier. Plötzlich erschien am Horizont eine Staubwolke. Von weißen Mänteln umflattert, sausten sie heran, überschütteten die Söldner mit einem Hagel von Pfeilen, warfen ihre Hengste mit kräftigem Schenkeldruck herum und verschwanden wieder, wie sie gekommen waren. Diese Angriffe wiederholten sich so lange, bis sich die Söldner ins Gebirge zurückzogen. Hamilkar verlor sie nicht aus den Augen. Sie marschierten durch einen Engpaß, der in einen Talkessel hinabführte. Eine der Felswände, die das Tal umgaben, hatte das Aussehen einer Säge. Danach wurde der Ort ›Die Säge‹ benannt. Die Söldner bemerkten eine Abteilung leichten Fußvolkes, die durch den Engpaß zwischen dem Silberberg und dem Bleiberg marschierte. Sie glaubten, die Nachhut des karthagischen Heeres vor sich zu haben. Kein Zweifel, sie sahen einen Reiter im roten Mantel. Das war Hamilkar – hieß es. Sie stürmten in den Talkessel. Aber da der Engpaß nur in die Felsen führte, kehrten sie enttäuscht wieder um. Der Rückweg war versperrt. Die Soldaten Hamilkars hatten sich hinter den Felsen versteckt gehalten und große Blöcke den steilen Abhang hinuntergeschleudert, um den Ausgang aus dem Engpaß zu versperren. Nur an einer Seite führte noch ein schmaler, steiler Steig auf die Hochebene, auf der sich nun das karthagische Heer befand. Auch dieser Weg wurde durch ein sechzig Meter hohes Drahtgitter, das dem Hohlweg angepaßt war, versperrt. Bis zum Morgen drängten sich die Söldner in geschlossenen Reihen von einem Ende des Talkessels bis zum andern hin und her. Als die hohen, senkrecht aufragenden Felswände von der Morgensonne beleuchtet wurden, erkannten sie ihre trostlose Lage. Einige rafften sich auf und rannten gegen die Felsen. Andere ver123
suchten, emporzuklettern. Die riesigen Steine boten keine Stützpunkte. Sie versuchten, die Felswände zu sprengen. Die Werkzeuge zerbrachen. Sie machten Feuer aus Zeltstangen: Steinblöcke brannten nicht. Die Verzweifelten wandten sich dem Drahtgitter zu. Sie stürmten dagegen an. Vergeblich. Die Söldner hatten noch für ungefähr zwei Tage Vorrat. Am dritten Tag wurden alle Maultiere geschlachtet, die Eingeweide gekocht und die Knochen zu Mehl zerstoßen. Am fünften Tag aber waren die Söldner bereits so weit, daß sie vor Hunger an den Lederkoppeln nagten. Sie stießen Flüche gegen Hamilkar aus, ja sogar gegen Mathos, der an ihrem Unglück schuldlos war. Viele meinten, ihre Leiden würden geringer sein, wenn nur Mathos bei ihnen wäre. Spendius verbarg sich in einer Felsspalte. Er fürchtete sich und ließ das Gerücht verbreiten, daß er gestorben sei. Alle waren erschreckend abgemagert. Auf der Haut zeigten sich bläuliche Flecken. Die Männer rollten sich in Zuckungen auf der Erde, stopften sich Hände voll Sand in den Mund, bissen sich in die Arme und brachen in irres Gelächter aus. Dazu kam noch der quälende Hunger. Die Schläuche waren leer. Die Männer sogen an den Metallschuppen der Koppel, an Elfenbeinknäufen, an Kieselsteinen und tranken kalten Urin. Das einzige, was die Menschen noch am Leben hielt, war die Liebe zum Leben. Spendius nährte sich von einer Pflanze mit breiten, saftigen Blättern, die er für giftig erklärt hatte, um seine Vertrauten davon abzuschrecken. Er ließ verbreiten, daß Mathos sie retten werde. Mathos sei ein wackerer Mann, der seine Freunde niemals verlassen würde. Am neunzehnten Tag waren zwanzigtausend Söldner gestorben – die Hälfte des Heeres. Da sahen einige hoch auf dem Felsen einen Mann. »Ein Karthager!« schrien sie. Alles geriet in Bewegung. Der Mann schritt am Rand des abschüssigen Hanges entlang, von den Blicken der Söldner verfolgt. Spendius hielt es an der Zeit, sich wieder zu zeigen. Er schmückte einen Ochsenschädel mit einem aus Gürteln hergestellten Diadem 124
und steckte ihn als Sinnbild friedlicher Gesinnung auf eine Stange. Der Karthager verschwand. Alles wartete; am Abend endlich fiel eine steife Flagge von den Felsen herab. Sie war aus rotem, besticktem Leder und mit drei Diamantensternen besetzt. In der Mitte trug sie das Siegel und Wappen des Großen Rates: ein Roß unter einer Palme. Eine ungeheure Freude ergriff die Söldner. Sie umarmten einander unter Tränen. Spendius und neun Hauptleute boten sich als Unterhändler an. Plötzlich wankten die Felsblöcke. Mit furchtbarem Krachen rollten einige herab. Die Söldner stürzten sich in die Bresche. Die Geschosse eines schweren Geschützes trieben sie jedoch zurück; nur die zehn Unterhändler wurden durchgelassen. Sie marschierten zwischen karthagischen Leibgarden. Sie mußten sich auf die Rücken der Pferde stützen, um sich aufrecht halten zu können. Trotz der ersten Freude, daß sie wenigstens unterhandeln könnten, waren sie doch von Bedenken geplagt. Hamilkars Bedingungen würden grausam sein. Spendius beruhigte die andern. »Ich werde schon reden!« Im karthagischen Lager wurden die Unterhändler von den Soldaten umdrängt. Sie hörten Geflüster und heimliches Lachen. Sie wurden an ein offenes Zelt geführt. Im Hintergrund saß Hamilkar auf einem Schemel, von seinen Offizieren umgeben. Sein blankes Schwert lag vor ihm auf einem niedrigen Tisch. Als die Unterhändler eintraten, beugte er sich vor. In der Mitte des Zeltes stand auf einer Matte eine große, dampfende Schüssel mit geschmorten Kürbissen. Die Söldner blickten gierig darauf, sie zitterten am ganzen Körper, Tränen kamen ihnen in die Augen. Hamilkar gab einem Offizier ein Zeichen. Der Offizier wies auf die Schüssel. Die zehn Unterhändler warfen sich flach auf den Boden, tauchten ihre Gesichter in das Fett der Schüssel. Das Geräusch ihres Essens mischte sich mit dem freudigen Schluchzen, das sie erschütterte, als sie die Schüssel leerten. Als sie sich wieder erhoben hatten, befahl Hamilkar den Unterhändlern, zu reden. Spendius begann: Er stotterte ängstlich. Hamilkar hörte ihm zu und spielte dabei mit seinem großen Siegelring. Plötzlich 125
ließ er ihn zu Boden fallen. Spendius hob ihn rasch auf. Die andern bebten vor Wut über seine demütige Unterwürfigkeit. Er begann wieder zu sprechen: Er versuchte das Mitleid Hamilkars durch die Schilderung des Elends der Söldner zu erregen und durch den Hinweis auf ihre frühere Ergebenheit. Er sprach nun in raschen, geschickten – bisweilen heftigen Sätzen. Hamilkar nahm die Entschuldigung an. Auch er wollte Frieden schließen. Er verlangte nur, daß man ihm zum Zeichen des guten Willens zehn Söldner auslieferte, nach seiner eigenen Wahl, ohne Waffen und ohne Kleidung. »Zwanzig, wenn du willst, Herr!« rief Spendius erleichtert. Wer hätte solche Milde erwartet! »Zehn genügen mir!« erwiderte Hamilkar gnädig. Dann erlaubte er den Unterhändlern, das Zelt zu verlassen, damit sie sich untereinander beraten könnten. Spendius riet zur Annahme der Bedingungen. Alle willigten ein. Sie betraten wieder das Zelt. Hamilkar drückte jedem der Söldner die Hand. Er überwand das ekelhaft klebrige Gefühl, das die Berührung ihrer Haut ihm verursachte. Dann fragte er: »Ihr seid also die Bevollmächtigten der Söldner und habt die Bedingung angenommen?« »Ja!« erwiderten die Unterhändler einstimmig. »Mit der Absicht, euer Versprechen zu erfüllen?« Sie versicherten, daß alles so erledigt werden würde, wie er es wünsche. »Nun gut«, erwiderte Hamilkar. »Gemäß dem Übereinkommen zwischen mir, Hamilkar Barkas, und euch, den Bevollmächtigten der Söldner, wähle ich euch – und behalte euch!« Spendius sank ohnmächtig auf die Matte. Das Heer der Söldner, das die Rückkehr der Unterhändler mit Spannung erwartet hatte, glaubte sich verraten. Den Stärksten gelang es, auf improvisierten Strickleitern die Felsen zu erklimmen. Dreitausend Mann machten sich auf, um sich nach Karthago durchzuschlagen. Sie waren schon aus dem Talkessel heraus, als sie zwischen den Hügeln in gleichen Abständen dunkle Massen sahen, die von allen Seiten gegen 126
sie vorrückten und sie umzingelten. Die Elefanten Hamilkars drangen in die Menschenmassen ein, zerstachen sie mit den Spießen, die an ihrer Brust, zerschnitten und zerhackten sie mit den Säbeln, die an ihren Rüsseln befestigt waren. Zwei Abteilungen der Söldner war es gelungen, sich in eine Mulde zu flüchten. Sie warfen ihre Waffen fort und streckten ihre Arme gnadeflehend aus. Sie wurden von den Karthagern gefesselt und die Elefanten auf sie losgejagt. Die Brustkörbe krachten unter den Schritten der Tiere. Bald lag die Hochebene wieder still. Hamilkar hatte seine Rache befriedigt. Der Krieg schien nun beendigt zu sein. Hamilkar nahm an, daß Mathos mit seinen Truppen keinen Widerstand mehr leisten würde. Er ordnete den Abmarsch an und schickte Naravas nach Karthago, um den Sieg zu verkünden. Stolz auf seine Erfolge, trat der Numidier-Fürst vor Salambo. Sie empfing ihn im Garten. Ihr Gesicht war mit einem weißen Schleier bedeckt, der nur die Augen frei ließ. Naravas berichtete ihr über die Niederlage der Söldner. Sie dankte ihm mit einem Segenswunsch für die Dienste, die er ihrem Vater geleistet hatte. Er erzählte ihr den Hergang des Feldzuges. Salambo hörte schweigend zu. Dieser junge Mann mit seiner weichen Stimme erschien ihr wie eine ältere Schwester, die ihr von den Göttern zum Schutz gesandt worden war. Sie konnte die Erinnerung an Mathos nicht überwinden und widerstand dem Wunsch nicht, nach ihm zu fragen. Je mehr Naravas davon sprach, daß Mathos jetzt endgültig unterliegen müsse, um so heftiger war Salambo von einem ganz besonderen Empfinden erfüllt. Ihre Lippen zitterten. Sie atmete schwer. Als Naravas schwor, Mathos mit eigener Hand zu töten, rief sie aus: »Töte ihn! Es muß sein!« Der Große Rat atmete erleichtert auf, als Naravas Karthago verließ. Wenn Hamilkar und der Numidier-Fürst die Macht hatten, war jeder Widerstand gegen die beiden vergeblich. Daher beschlossen die ›Alten‹, Hannon mit der Vernichtung von Mathos zu betrauen. Hannon begab sich erst nach den westlichen Provinzen, um den Ge127
bieten, die seine Schmach gesehen hatten, seine Rache zu zeigen. Aber die Einwohner hatten das Land verlassen. Er verbrannte die Trümmer der Ruinen, ließ umherirrende Kinder und Kranke unter Martern hinrichten und gab die Weiber, die aufgegriffen wurden, seinen Soldaten preis, ehe er sie ermorden ließ. Hamilkar hatte sein Lager südlich von Karthago aufgeschlagen. Naravas besetzte die östliche Ebene. Hannon lagerte mit seinen Truppen an den Ufern des Sees. Mathos hatte erfahren, daß Hannons Lager ungenügend gesichert sei, und nutzte die Gelegenheit. Sein Ausfall glückte so vollkommen, daß die Truppen Hannons in Unordnung gerieten und Mathos bis zum Zelt des Generals vordringen konnte, in dem sich gerade dreißig der vornehmsten Karthager aufhielten. Hannon flehte um sein Leben. Er versprach, alles zu tun, was Mathos verlange. Er erbot sich sogar, Hamilkar auszuliefern, um dann mit Mathos gemeinsam Karthago zu beherrschen. Mathos hielt den Vorschlag Hannons nur für eine List, um Zeit zu gewinnen. Er ließ dreißig Kreuze errichten. Am Fuße eines jeden Kreuzes lag gefesselt ein vornehmer Karthager. Da erkannte Hannon, daß er sterben müsse, und begann wie ein Kind zu weinen. Mathos riß ihm die Kleider vom Leib. Hannon wurde an einem Kreuz befestigt, ehe es aufgestellt wurde. Er schäumte und wand sich wie ein Meeresungeheuer. Dann überhäufte er die Söldner mit Schmähungen und prophezeite Mathos ein noch viel schrecklicheres Ende. Auf der andern Seite der Stadt hatte Hamilkar die zehn Unterhändler der Söldner ans Kreuz schlagen lassen. Sie rangen mit dem Tod. Einige von ihnen, die schon ohnmächtig gewesen waren, kamen im frischen Wind wieder zum Bewußtsein. Von den Händen und Füßen rann das Blut in dicken Tropfen nieder. Ihre Zungen klebten am Gaumen. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper, während das Leben mehr und mehr entwich. Sie sahen unter sich wie in unendlicher Tiefe blinkende Waffen. Sie röchelten, rollten mit den Augen, die einen schrien laut, die andern ließen das Kinn auf die Brust sinken und fielen wieder in Ohnmacht. 128
Über Spendius war ein seltsamer Mut gekommen. Jetzt, da er das Leben bald überwunden hatte, verachtete er es. Er erwartete den Tod gleichmütig. Er schrak nur einmal auf, als ein Krächzen an sein Ohr drang. Große Fittiche warfen ihren Schatten über ihn. Da sein Kreuz das höchste war, war er der erste, auf den ein Aasgeier niederstieß. Er wandte sein Antlitz dem neben ihm gekreuzigten Gallier Autharit zu und sagte langsam mit unbeschreiblichem Lächeln: »Erinnerst du dich der Löwen auf dem Weg nach Sikka?« »Das waren unsere Brüder«, erwiderte der Gallier und verschied. Der Anblick der dreißig riesigen Kreuze, an denen die Leichen der vornehmen Karthager hingen, dämpfte den Siegestaumel im Heere Hamilkars. In ihrer Erschütterung überhörten die Soldaten Hamilkars Befehle. Mathos benützte diese Gefechtspause, sich gegen die numidischen Truppen zu wenden. Mit brennenden Fackeln stürmten seine Söldner auf die Elefanten des Naravas los. Die mächtigen Tiere scheuten und rannten in das Wasser des Golfs, schlugen rasend um sich und ertranken unter der Last ihrer Panzer. Naravas rückte mit seiner Reiterei an. Die Söldner erwarteten ihn, auf dem Boden liegend. Jetzt sprangen sie unter die Bäuche der Pferde und schlitzten sie mit ihren Dolchen auf. Dann zogen sich die Söldner in guter Ordnung nach dem Berg der heißen Wasser zurück. Die Karthager, die von weitem das Umkommen der Elefanten beobachtet hatten, waren trostlos. Niemand wußte, was Hamilkar plante. Er lebte einsam in seinem Zelt. Nur ein Knabe war bei ihm. Sie blieben auch bei den Mahlzeiten allein. Nicht einmal Naravas durfte daran teilnehmen, obwohl Hamilkar ihn sonst mit größter Höflichkeit behandelte. Die Söldner zogen drei Wochen lang an der Ostküste hin und her und dann bis zum Rand der Wüste. Sie suchten irgendwo einen Platz, auf dem sie ein Lager aufschlagen könnten. Die Zusammenstöße wurden häufiger, das Kriegsglück wechselte oft, auf beiden Seiten wurde eine Entscheidungsschlacht herbeigesehnt. Mathos wollte Hamilkar diesen Vorschlag erst selbst überbringen, 129
aber es schien doch besser, einen Boten zu senden. Als der Mann abzog, glaubte Mathos, daß er ihn nie wieder sehen würde. Der Mann kam noch am selben Abend mit der Mitteilung zurück, daß Hamilkar den Vorschlag annehme. Bei Sonnenaufgang sollten sich die Heere in der großen Ebene treffen. Mathos hatte im ganzen etwa noch siebentausend Mann, aber keine einzige vollständige Truppe. Die Söldner hatten ihre Panzerstiefel durch Sandalen aus Lumpen ersetzt. Ihre Panzerhemden hingen in Fetzen herab. Dennoch waren sie voll verzweifelten Mutes. Sie fühlten sich als heiliges Werkzeug der Rache und schworen sich gegenseitig, bis in den Tod miteinander zu kämpfen. Die Karthager kamen vor den Söldnern in der Ebene an. Hamilkar hatte alle Feldkessel umwerfen lassen, da er wußte, daß es sich mit vollem Magen schlecht kämpfen läßt. Sein Heer war doppelt so stark als das Söldnerheer. Trotzdem empfand er eine Unruhe wie nie zuvor. Zwanzigmal erhob er sich in der Nacht, um alle Vorbereitungen persönlich zu überwachen. Auch über Naravas war eine seltsame Schwäche gekommen. Er trank alle Augenblicke Wasser. Erst als sich der Vorhang seines Zeltes öffnete, schwand seine Bangigkeit. Ein Unbekannter legte eine Krone aus Steinsalz, die mit Schwefelkristallen und Perlmutterstücken verziert war, vor ihm auf den Boden. Eine solche Hochzeitskrone sandten Bräute dem Bräutigam. Dennoch fühlte Salambo nicht die geringste Zärtlichkeit für Naravas. Die Erinnerung an Mathos beunruhigte sie unerträglich. Sie hatte das Gefühl, als ob nur sein Tod ihr die Ruhe wiedergeben könne. Als der Morgen dämmerte, rückten die Söldner langsam vor. Der Boden dröhnte unter ihren Schritten. Die Mitte des karthagischen war bogenförmig vorgeschoben. Es gab einen furchtbaren Zusammenprall. Die Karthager warfen sich mit aller Macht dem Söldnerheer entgegen. Die Söldner mähten ganze Reihen der Angreifer nieder, rissen ihnen die Panzer ab, legten sie selber an, um darin weiterzukämpfen. Heillose Verwirrung entstand. Das Siegesgeschrei der Söldner trieb die Getäuschten hin und her. Hamilkar war verzweifelt. So ging denn alles durch den unüberwindlichen Mut des Mathos verloren? 130
Der Kampf wurde fortgesetzt. Die Kämpfenden glitten im Blutschlamm aus. Hamilkars Reiterei ging vor. Die Söldner wichen Schritt für Schritt zurück. Einer nach dem andern fiel. Plötzlich vernahm man von fern her Trommelwirbel. Die Einwohner von Karthago hatten sich mit Bratspießen, Spicknadeln und Hämmern bewaffnet, um ihren Soldaten zu helfen. Hin und wieder riefen die Söldner, daß sie sich ergeben wollten; wenn die Karthager dann näher kamen, töteten sich die Verzweifelten selbst unter schrecklichem Hohnlachen. Keiner glaubte mehr an den Sieg. Sie wollten nicht gefangen und gekreuzigt werden. Jetzt waren nur noch fünfzig, dann zwanzig und endlich nur noch zwei Mann von den Söldnern am Leben: ein Samniter, der eine Axt, und Mathos, der noch sein Schwert besaß. Der Samniter hatte sich auf die Knie geworfen und hieb mit seiner Axt um sich. Dabei warnte er Mathos vor den Angreifern: »Achtung, Herr! Hier! Da!« Mathos hatte seine Rüstung verloren. Er war völlig nackt und totenblaß. Schaum rann ihm vom Mund. Er ließ sein Schwert mit solcher Geschwindigkeit kreisen, daß es einen Strahlenkranz um sein Haupt wob. Ein Steinwurf zerschmetterte es am Griff. Der Samniter war bereits gefallen. Die Karthager umringten den waffenlosen Mathos. Da hob er die leeren Hände zum Himmel, schloß die Augen und rannte wie einer, der sich von der Klippe ins Meer stürzen will, den feindlichen Lanzen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sie wichen ihm aus. Mathos stieß mit dem Fuß gegen ein Schwert. Er bückte sich, es aufzuheben. Da fühlte er sich an Händen und Füßen gefesselt und fiel zu Boden. Naravas war ihm mit einem Netz, in dem man wilde Tiere fängt, gefolgt. Als Mathos sich bückte, warf er das Netz über ihn. Mit kreuzweise auseinandergezerrten Gliedern wurde Mathos auf einem Elefanten festgebunden und unter wildem Gejohle nach Karthago geführt. Die Wasseruhr am Khamon-Tempel zeigte die fünfte Stunde. Mathos schlug die Augen auf. Auf allen Dächern waren Lichter angezündet. Es sah so aus, als stünde die Stadt in Flammen. Verworrener Lärm drang an sein Ohr. Er lag auf dem Rücken und betrachtete die Sterne, dann hüllte ihn eine vollkommene Finsternis ein. 131
Die Freude Karthagos war eine grenzenlose, wahnsinnige Freude. Die Götterbilder wurden neu bemalt, die Straßen mit Myrtenzweigen bestreut, an allen Häuserecken brannte Weihrauch. Hamilkar hatte einen vollkommenen Sieg errungen, die thyrischen Städte wiedererobert und die Söldner völlig vernichtet. Überdies wurde ein besonderer Glückstag gefeiert: die Hochzeit Salambos mit Naravas. Auf der Terrasse des Khamon-Tempels waren drei lange Tafeln für die Priester und die ›Alten‹ des Großen Rates mit Goldgeräten beladen worden und ein vierter, erhöht stehender Tisch war für die Braut, für Hamilkar und Naravas gedeckt. Das Volk feierte die Hochzeit wie ein Nationalfest, da Salambo durch die Zurückholung des Zaimph das Vaterland gerettet hatte. Aber außer der Feier der Hochzeit erwartete das Volk noch ein aufregenderes Schauspiel: den Tod des Mathos. Es hatte allen viel Kopfzerbrechen verursacht, die richtige Todesart für ihn zu finden. Es gab viele Vorschläge. Die einen wollten ihn schinden, ihm Blei in die Eingeweide gießen oder ihn verhungern lassen; andere schlugen vor, daß ein Affe ihn mit einem Stein erschlage. Da er Tanit beleidigt hatte, wäre es nur recht und billig, daß die heiligen Tiere Rache übten. Wieder andere beantragten, daß er mit ölgetränkten Dochten gespickt, auf ein Kamel gebunden und brennend durch die Stadt geführt werde. Sie malten sich aus, wie das Tier durch die Stadt rasen würde mit dem Menschen auf dem Rücken, der unter den Flammen wie ein Kerzenlicht im Wind zucken würde. Wer aber sollte den Vorzug haben, selbst Hand anlegen zu dürfen? Niemand sollte dieses Genusses beraubt werden. Das Volk forderte stürmisch eine Todesart, an der die ganze Stadt sich beteiligen könnte. Der Große Rat verfügte, daß Mathos gebunden und ohne Geleit vom Kerker bis zum Khamon-Platz gehen sollte und nach Herzenslust über ihn herfallen dürfe. Es war nur verboten, ihm die Augen auszustechen oder ihn ins Herz zu stoßen, denn das Hauptziel war schließlich, daß er alle Martern bis zum Ende über sich ergehen lassen müsse. Obgleich dieses grausame Schauspiel erst am Abend beginnen soll132
te, sicherten sich viele Karthager schon am frühen Morgen einen guten Platz und zeigten sich gegenseitig die Fingernägel, die sie zugespitzt hatten, um sie besser in sein Fleisch bohren zu können. Am Ende der Mappalierstraße tauchten Fächer aus buschigen Federn auf. Das war das Gefolge Salambos, die vom väterlichen Palast her nahte. Das Volk wich vor den Priestern der Tanit zurück, die in Reih und Glied voranzogen. Die heiligen Hetären tanzten nach Flötenklängen in Kreisen, um den Reigen der Sterne darzustellen. Ihren leichten Gewändern entströmten betäubende Düfte. Ihnen folgten die Kedischim, die die Doppelgeschlechtigkeit der Gottheit versinnbildlichten. Sie waren genauso gekleidet wie die andern Hetären, denn die Idee des weiblichen Prinzips beherrschte die Stadt. Eine mystische Lüsternheit lag in der Luft. In den heiligen Hainen, in denen sich jeder in der Nacht einem geschlechtlichen Freudentaumel hingeben konnte, flammten schon die Fackeln. Die Treppe, die Höfe, die Vorhallen des Khamon-Tempels bevölkerten sich mit Menschengestalten. Schließlich erschien, begleitet von den ›Alten‹, die goldene Tiaren trugen, eine Sänfte. Namenloser Jubel empfing Salambo. Sie war von Kopf bis Fuß in ein Gewebe gehüllt, das wie Perlmutter glänzte. Aus zwei mondsichelförmigen Ausschnitten blühten ihre zarten Brüste hervor. Pfauenfedern, mit Edelsteinen verziert, schmückten ihren Kopf. Sie trug einen weißen Mantel und saß mit geschlossenen Knien, die Ellbogen an den Leib gedrückt, starr und steif wie ein Götterbild auf einem Thronsessel, der aus einer Schildkrötenschale geschnitzt war. Hamilkar und Naravas nahmen zu beiden Seiten Platz. Hamilkar war in ein violettes, mit goldenen Weinranken besticktes Wams gekleidet. Er hatte sein Schlachtschwert an der Seite. Naravas trug einen mattgelben Talar und eine Hochzeitskrone aus Steinsalz, aus der zwei Haarflechten wie Amons Hörner hervorragten. Wie Salambo nun in all diesem Glanze dasaß, das Volk zu ihren Füßen, den Himmel über sich, da wurde sie im Gefühl des Volkes eins mit Tanit und erschien den Karthagern als die Schutzpatronin, als die verkörperte Seele ihrer Stadt. 133
Plötzlich hob Salambo den Kopf, als hätte sie einen Ruf gehört. Das Volk folgte ihrer Blickrichtung. Auf der Höhe der Akropolis hatte sich die Tür des Kerkers aufgetan. Ein Mann trat auf die Schwelle. Er war tief gebückt und verstört wie ein wildes Tier, das plötzlich die Freiheit gewinnt. Das Licht blendete ihn. Er stand unbeweglich. Alle hatten ihn erkannt und wagten vor Spannung kaum zu atmen. Er tat ein paar Schritte. Da wich die Betäubung der Menge. Tausend Arme erhoben sich, aber ihn sah man nicht mehr. Die Treppe zur Akropolis hatte sechzig Stufen. Wie von einem Gießbach fortgerissen, stürzte Mathos hinab. Dreimal schnellte er hoch. Endlich kam er unten wieder auf seine Füße zu stehen. Seine Schultern bluteten, seine Brust keuchte in heftigen Stößen. Er versuchte, seine Fesseln mit aller Kraft zu zerreißen, so daß seine Arme wie Schlangen anschwollen. Das Volk stand an die Häuser gedrängt. Mitten auf der Straße, die durch Kettenreihen abgesperrt war, gingen Ratsdiener und schwangen Peitschen. Einer von ihnen versetzte Mathos einen Hieb. Er bewegte sich vorwärts. Männer und Frauen streckten die Arme über die Ketten und schrien, der Weg sei zu breit. Mathos schritt, von tausend Fingern betastet, gestochen und zerhackt weiter. Manchmal sprang er beiseite, um zu beißen. Ein Kind zerriß ihm das Ohr. Ein junges Mädchen, das unterm Ärmel eine scharfe Nadel versteckt gehalten hatte, riß ihm die Backe auf. Andere tauchten Schwämme in den Kot und beschmutzten ihn. Aus seiner rechten Brustseite schoß Blut hervor. Dieser letzte Söldner war für die Menge der Vertreter des ganzen Söldnerheeres. An ihm wollten sie alles Unglück, alle Ängste und Qualen rächen. Die Wut des Pöbels nahm zu. Die allzu straff gespannten Ketten drohten zu zerreißen. Wilde, unflätige Schmähungen, Spott und grauenhafte Flüche vereinten sich zu einem furchtbaren Gebrüll. Mathos war es zumute, als kämen die Straßenwände auf ihn zu und höben ihn mit ungeheuren Armen, um ihn in der Luft zu erwürgen. Er hatte eine ähnliche Volksmenge schon einmal erlebt. Damals war er frei gewesen. Sie hatten sich gescheut, ihn anzugreifen, denn er war 134
in den Zaimph der Gottheit gehüllt gewesen. Diese Erinnerung erfüllte ihn mit grenzenloser Trauer. Er fühlte den Tod kommen. Er sank langsam auf das Pflaster. Da holte ein Mann die glühende Querstange eines Dreifußes aus dem Tempel, schob sie durch die Ketten und stieß Mathos mit voller Wucht in den Körper. Man sah das Fleisch rauchen. Das Hohngeschrei der Menge erstickte die Jammerlaute des Gefolterten, der aufsprang. Nach einigen Schritten stürzte er wieder und nachher noch einmal und noch einmal. Man begoß ihn mit siedendem Öl, streute ihm Glasscherben unter die Füße. Er ging weiter. An einer Straßenecke lehnte er sich gegen eine Mauer und rührte sich nicht vom Fleck, obwohl ihn die Ratsdiener mit Nilpferdpeitschen schlugen, so daß ihm das Fleisch in Fetzen vom Leib hing. Er schien kein Gefühl mehr zu haben. Plötzlich aber begann er zu rennen mit bebenden Lippen und zitternden Gliedern, als ob er Schüttelfrost hätte. Er lief bis zum Khamon-Platz. Jetzt war er den Priestern überantwortet. Die Ratsdiener trieben das Volk zur Seite. Mathos blickte umher. Er sah Salambo. Salambo hatte sich bei dem ersten Schritt, den Mathos getan hatte, erhoben und war ganz unwillkürlich näher und näher an den Rand der Terrasse gekommen. Die Welt um sie war nicht mehr vorhanden. Sie sah nur ihn. In ihrer Seele war es still geworden. Eine Tiefe hatte sich in ihr aufgetan, in der alles unter der Wucht eines einzigen Gedankens, der Erinnerung eines Blickes versank. Dieser Mann, der ihr da entgegenkam, zog sie mit aller Macht an. Außer seinen Augen war nichts Menschliches mehr an ihm. Sein Körper war eine blutige Masse. Zerrissene Stricke hingen ihm an den Schenkeln herab. Sie waren von den Sehnen seiner entfleischten Arme nicht zu unterscheiden. Sein Mund stand weit offen. Aus seinen Augenhöhlen sprühte es wie Flammen. Der Unglückliche schritt immer noch weiter. Salambo beugte sich tief über die Brüstung. Er kam bis an den Fuß der Terrasse, seine fürchterlichen Augen blickten sie immer noch an. Da kam ihr zum Bewußtsein, was dieser Mann um ihretwillen gelitten hatte. Sie sah ihn im Geiste in seinem Zelt auf den Knien liegen, ihren Leib umschlingen. Sie hörte die zärtlichen Worte, die er stammelte. Sie hatte 135
Sehnsucht danach, dieses Glück noch einmal auszukosten. Er sollte, er durfte nicht sterben! In diesem Augenblick überfiel Mathos ein heftiges Zittern. Salambo wollte rufen. Da stürzte er rücklings zu Boden und regte sich nicht mehr. Salambo wurde halb ohnmächtig von den Priestern zu ihrem Thron zurückgetragen. Sie wurde beglückwünscht. Das Volk klatschte in die Hände, trampelte mit den Füßen und heulte ihren Namen. Ein Molochpriester neigte sich über den Toten und zog aus dem Gürtel ein Messer, das zum Zerlegen des Opferfleisches diente. Er spaltete die Brust des Toten, riß das Herz heraus, legte es auf einen Löffel und hielt es mit erhobenem Arm der sinkenden Sonne entgegen. Die letzten Strahlen des feurigen Balls trafen das blutige Herz. Die Schläge wurden schwächer und schwächer. Beim letzten Zucken des Muskels verschwand die Sonne. Da erscholl vom Golf bis zur Lagune, von der Landenge bis zum Leuchtturm durch alle Straßen und Tempel ein einziger, gewaltiger Schrei: Karthago freute sich! Naravas legte im Stolz des Besitzes seinen Arm um Salambo, dann ergriff er eine goldene Schale, um sie auf das Glück Karthagos zu leeren. Auch Salambo erhob ihre Schale, um auf das Wohl der Vaterstadt zu trinken. Doch ehe sie es konnte, sank sie auf die Lehne des Thronsessels nieder, bleich und starr, mit offenen Lippen. So starb die Tochter Hamilkars, denn sie hatte das heilige Gewebe der Tanit berührt.
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Von der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. bis in die Zeit um Christi Geburt
Hannibal vor den Toren Roms und Karthagos I Erst nach der Niederschlagung des Söldneraufstandes kam Karthago zu sich. Aber der blutige Triumph täuschte weder Hamilkar Barkas noch seine Gegner im Hohen Rat über den Ernst der Lage hinweg. Die nüchterne Rechnung, die sie sich nach den grausamen Feierlichkeiten legten, war nicht ermutigend. Der Verlust Siziliens war kaum zu verschmerzen. Und schon waren auch die Inseln Sardinien und Korsika verloren, denn Rom hatte sich die hilflose Lähmung Karthagos während des Söldneraufstandes zunutze gemacht und eine vertragliche Abtretung dieser Besitzungen erwirkt. Was war das nächste? An welcher Grenzlinie würden die Römer halten? Hamilkar ließ sich über jede Rede im Senat von Rom genauso Bericht erstatten wie über die Gespräche und Unterhandlungen des Hohen Rates von Karthago. Seine folgerichtige Fragestellung war: Mußte er damit rechnen, daß Rom eine Erweiterung seines Einflußgebietes plante, oder würden sich die Römer damit begnügen, zu verteidigen, was sie erworben hatten? Zum Erstaunen Hamilkars verhielten sich die römischen Senatoren ähnlich wie seine Amtsgenossen im karthagischen Rat. Sie hatten die gleichen Gedanken für ihren Staat, die sie nur in einer anderen Sprache äußerten. Es gab zwei gegnerische Gruppen in Rom. Die eine begehrte, daß man sich mit dem Festlande der Apenninischen Halbinsel und den neuerworbenen Inseln begnügen solle. Diese Gruppe war auch nicht 138
dafür, daß Sizilien dem Staat einverleibt werde, wie es bei den bisherigen Eroberungen üblich gewesen war. Sie fürchtete, daß die Griechen von Syrakus eine Verschiebung der bisher mühsam im Gleichgewicht gehaltenen Wählerschaft herbeiführen könnten. So wurde Sizilien nicht Kolonie, das heißt im engeren Sinne zur römischen Gemeinschaft gehörig, sondern Provinz. Die andere Gruppe im römischen Senat war, durch die Aussicht auf reiche Beute in fremden Gebieten angeregt, für die Erweiterung der römischen Grenzen. Diese Senatoren setzten auch durch, daß zum Schutze der römischen Siedlungen im Norden Italiens starke Militärkolonien angelegt wurden. Solche Sicherungsmaßnahmen schienen um so nötiger zu sein, als der Andrang der Keltenstämme in der PoEbene immer heftiger wurde. Diese Maßnahmen Roms gegen seine Bedrohung im Norden benützte Hamilkar im Hohen Rat als Beweis gegen die Meinung, daß Karthago seine Kräfte zusammenfassen und nicht ausdehnen solle. Er vertrat den Standpunkt, daß eine Macht sich durch Selbstbeschränkung nur zum Schrumpfen bringe und ausgedehnt werden müsse, um bestehenbleiben zu können. Verlorene Schlachten bedeuteten nicht verlorene Kriege. Was unter dem Druck ungünstiger Verhältnisse aufgegeben worden sei, könne und müsse wiedererworben werden. Der bessere Weg dazu sei nicht immer der unmittelbare Angriff auf das Ziel, sondern der Umweg. Hamilkar folgerte: Der Kampf um die Wiedergewinnung Siziliens und um die Wiederherstellung der karthagischen Übermacht im westlichen Mittelmeerraum müsse auf dem Umweg über die teilweise schon im Besitze Karthagos befindliche Iberische Halbinsel vorbereitet werden. Es sei jedenfalls nötig, die dort schon bestehenden Handelsplätze und Städte gegen die Römer zu sichern. Karthagische Söldner, von Hamilkar ausgerüstet und von Offizieren seines Vertrauens geführt, begaben sich nach der Iberischen Halbinsel. Gleichzeitig fuhren seine Boten über das Meer mit der Weisung, die gallischen Kelten des europäischen Festlandes als Bundesgenossen zu gewinnen. Er sandte auch Vermittler zum König von Mazedonien, der angeregt werden sollte, Schutzherr der von den Römern in Sizili139
en und an der Südküste Italiens unterworfenen Griechen zu werden. Andere Boten reisten zu dem Seleukiden Antiochos von Syrien, in das ehemalige Mutterland Karthagos, mit dem Versprechen, daß die karthagische Handelsmacht sich mit der syrischen verbünden werde, um den ägyptischen Handel, der mit dem syrischen in Wettbewerb lag, zu ersticken, wenn Antiochus den Karthagern im bevorstehenden Kampf gegen Rom die nötige Hilfe an Menschen und Rohstoffen leiste. Zu den Keltenfürsten und zum König der Mazedonier hatte Hamilkar Männer des Hohen Rates gesandt. In die griechischen Städte auf italienischem Boden und nach Syrakus sandte er außerdem noch bezahlte Aufwiegler, die die Bevölkerung mit dem Schlagwort ›Freiheit den Griechen!‹ aufrühren sollten. Die Verschwörung Hamilkars gegen Rom war groß angelegt. Alle Mächte der Erde, die auch nur das geringste Interesse daran haben konnten, mit Karthago verbündet zu sein, und sich vom Sieg Beute versprachen, waren aufgeboten, die Stadt, die so rasch Bedeutung gewonnen hatte, zu vernichten. Der römische Senat befand sich in ununterbrochener Sitzung. Es ging darum, die in den griechischen Städten beschlagnahmten Schiffe zu einer Kriegsflotte zu vereinigen und zu beweisen, daß sie schlagkräftig war. Dazu bot sich Gelegenheit. Illyrische Seeräuber störten den aufblühenden römischen Handel im Adriatischen Meer. Mit der Geschicklichkeit, die die römischen Staatslenker zu Lande gezeigt hatten, handelten sie auch zur See. Sie griffen nicht nur die Seeräuber an, sondern auch ihre Häfen. Der Angriff war erfolgreich. Um den Erfolg zu sichern, besetzten die Römer die illyrische Küste. Dann griffen die Kelten aus der Po-Ebene die Nordgrenze des römischen Gebietes an. Das war eine gute Gelegenheit für neue Legionen Roms, sich zu bewähren. Sie begnügten sich auch nicht damit, die Kelten zurückzuschlagen, sie überschritten den Po und eroberten die keltische Hauptstadt, nannten sie Mediolanum (jetzt Mailand) und sicherten die neugewonnenen Gebiete durch neue Militärkolonien. Das ermöglichte die Ansiedlung überzähliger Bevölkerung in reichen Gegenden; es veranlaßte die Eroberer auch, Militärstraßen zu bauen. Al140
les, was zweckmäßig und nötig erschien, wurde von ihnen mit selbstverständlicher Gründlichkeit durchgeführt, und die Anstrengungen und Schwierigkeiten wurden in den Reden und Gegenreden im römischen Senat eher kleiner als größer dargestellt: Die nach dem Norden führende Via Flaminia mußte eben verlängert, verbreitert und verstärkt werden! Ebenso, wie Hamilkar Nachrichten aus Rom empfing, hielten sich die verantwortlichen Senatoren auf dem laufenden über die Pläne Karthagos. Sie erkannten an, daß mehr als die Hälfte der Iberischen Halbinsel zum Einflußgebiet Karthagos gehörte. Aber auch die griechischen Städte, die jetzt zum römischen Einflußgebiet gehörten, hatten Handelsniederlassungen auf der Iberischen Halbinsel. Eine Gesandtschaft des Senats begehrte in Karthago, daß der Ebro als Grenzlinie zwischen den karthagischen und römischen Einflußgebieten auf der Iberischen Halbinsel betrachtet werden müsse – mit Ausnahme der Stadt Sagunt, die südlich des Ebro lag, aber mit Rom verbündet war. Wenn sich Karthago jetzt ruhig verhalten und den Römern Zeit gelassen hätte, ihre Erfolge zu genießen, sich des neuen Reichtums, der in die ehemals so bescheidene Stadt am Tiber eingekehrt war, zu erfreuen, hätten sich selbst die kriegslustigsten Senatoren zufriedengegeben. Auch die Plebejer und die latinischen und samnitischen Bewohner des römischen Machtgebietes waren zufrieden: sie waren statt bettelarmer Kleinbauern in gebirgigen Gegenden wohlhabende Grundbesitzer in den eroberten Gebieten. Der Umgang mit den Bürgern der griechischen Städte hatte Hohe und Niedrige mit der leichten, genußfreudigen hellenischen Lebensform in Berührung gebracht. Die kleinen Gewerbetreibenden Roms waren Großunternehmer geworden, die kleinen Händler Kaufleute. Die Eroberung von Land und Beute hatte nicht nur zu einer Vermehrung des Grundbesitzes geführt, sondern auch zu der Möglichkeit, Kriegsgefangene als Sklaven zu kaufen. Durch die Kriegsentschädigung Karthagos und die in griechischen Städten erbeuteten Schätze war Geld unter die Leute gekommen. In wenigen Jahrzehnten hatte sich Rom aus einer ländlichen Stadt mit 141
einfacher Bevölkerung zu einer lebendigen Großstadt entwickelt, in der jeder, der es sich leisten konnte, lebte, wie er gesehen hatte, daß die Griechen, und gehört hatte, daß die Karthager lebten. Prächtige Gebäude und Tempelanlagen entstanden. Es wurde nichts neu geschaffen, es wurde nur nachgeahmt. Mit der Sachlichkeit, die den geschworenen Anhängern der Ordnung zu eigen war, die Rom groß gemacht hatte, wurde das Beste – oder was als das Beste galt – aus den verbündeten und eroberten griechischen Städten nach Rom befördert: Denkmäler griechischer Götter, Säulen, Kapitäle und farbige Mosaikwände griechischer Tempel, Vasen und Schmuckgegenstände. Bildhauer und Steinmetze, die ihre Kunst und ihr Gewerbe in Syrakus oder Tarent ausgeübt hatten, errichteten ihre Werkstätten in Rom und arbeiteten nicht mehr nur für eine kleine Zahl von Bauherren und Auftraggebern, sondern für eine täglich zunehmende Bevölkerung. Nicht nur die greifbaren, die steinernen Sinnbilder des griechischen Lebens wurden in Rom eingeführt. Auch die Götter des Olymp hielten ihren Einzug. Die Eroberung der griechischen Städte durch die römischen Legionen wurde der bedeutendste Sieg des Griechentums. 2 Rom blieb nur wenige Jahre im ungestörten Genuß des neuen Wohlstands. Aber auch in der kurzen Zeit des Friedens ließen es die verantwortlichen Männer nicht zu, daß sich die strenge Ordnung lockerte, die die Entwicklung der ländlichen Stadt zur Großmacht ermöglicht hatte. Die für die Aufrechterhaltung der Zucht verantwortlichen Konsuln und Senatoren waren gewiß Männer mit staatsmännischer Voraussicht, überlegene Verwalter und hervorragende Neugestalter des Heeres, die das menschenmöglichste leisteten. Aber ohne das Zusammenspiel aller römischen Bürger zum gleichen Zweck wäre die endgültige Sicherung des erworbenen Besitzes gegen die unbarmherzige Heftigkeit der Angriffe von allen Seiten unmöglich gewesen. 142
Rom war ein Rechtsstaat. Das bedeutete für alle Römer und die Bewohner der angegliederten Gebiete, daß ihre Rechte durch die Gesetze Roms bedingungslos geschützt wurden. Es machte sie williger, sich Pflichten auferlegen zu lassen. Ein Römer oder ein rechtlich geschützter Bewohner des römischen Gebietes zu sein, bedeutete die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die es nicht zuließ, daß der einzelne oder die Gesamtheit durch Übergriffe von außen oder von innen geschädigt würde. Diese Rechtssicherheit gab den Römern ein gesteigertes Selbstgefühl, das sie zu erhöhter Selbstzucht veranlaßte. Was im Staate, durch den Staat, im Heer oder durch das Heer geschah, war durch die vier bedeutsamen Buchstaben gekennzeichnet, mit denen die Beschlüsse der Verwaltung gezeichnet waren. Es hieß in Rom nicht, wie etwa in Karthago, ›Der Hohe Rat hat beschlossen‹, sondern was dem Volk befohlen wurde, das wurde im gemeinsamen Auftrag des Senats und des Volkes befohlen. Unter jeder Verordnung standen als die Verantwortlichen: Senatus Populusque Romanus. Die Abkürzung S.P.Q.R. war das Sinnbild Roms. Diese unverbrüchliche Einigkeit von Volk und Senat bewährte sich in den schwersten Zeiten, die den Bestand der neuen Großmacht bedrohten. Zu den mittelbaren Neuerwerbungen Roms gehörte nicht nur Sagunt auf der Iberischen Halbinsel, sondern auch die vom griechischen Stamm der Phokäer (Phokaier) gegründete Handelsstadt Massilia (heute Marseille) an der südlichen Küste Galliens, das von Kelten bewohnt war. Erfüllt von dem Wunsch, das Verlorene wiederzugewinnen, zogen die karthagischen Kaufleute den Handel der Iberischen Halbinsel an sich und mieden Hafenstädte, die mit Rom verbündet waren. Massilia beklagte sich in Rom über die absichtliche Vernachlässigung seiner Hafenanlagen durch die Karthager. Der Senat nahm das zum Anlaß, Gesandte nach Karthago zu schicken. Aber statt einer befriedigenden Antwort kam die Nachricht, daß Sagunt von einer karthagischen Kampftruppe im Sturm genommen worden sei. Die hohen Herren des Rates von Karthago erklärten, der Angriff auf 143
Sagunt sei nicht auf ihre Veranlassung erfolgt, sondern ein Übergriff eines der beiden Erben der Familien Barkas mit Namen Hannibal. Die Gesandten Roms verlangten die Auslieferung dieses Hannibal. Aber obwohl viele Mitglieder des Hohen Rates noch aus der Glanzzeit Hamilkars, des Vaters Hannibals, gegen die Familie Barkas eingenommen waren, verweigerten sie die Auslieferung des jungen Mannes. Es war in Rom bekannt, daß Hamilkar seine beiden Söhne, Hannibal und Hasdrubal, mit dem einen Ziel erzogen hatte: Rache zu nehmen für die Niederlagen, die Rom ihm zugefügt hatte, und die Größe der Vaterstadt wiederherzustellen. Hamilkar hatte, ganz ähnlich wie Philipp von Mazedonien seinen Sohn Alexander, Hannibal von frühester Jugend an ausgebildet. Seine körperliche Tüchtigkeit war vollkommen. Um Hannibal besser lehren zu können, hatte sich Hamilkar mit allen Möglichkeiten der Kriegführung vertraut gemacht. Eines jedoch hatte er außer acht gelassen, seinem Lieblingssohn zu vermitteln: die Erkenntnis, daß ein erfolgreicher Feldherr nicht nur der Schlachtfelder, sondern auch seines Hinterlandes, das ihn mit Menschen und Rohstoffen zur Kriegführung versorgt, sicher sein müsse. Hannibals Plan sollte die Römer überraschen. Die karthagischen Truppen, die sich zur Niederwerfung Roms aufmachten, sollten nicht auf Schiffen über das Meer befördert werden, wie es die Römer erwarteten, sondern auf dem Landweg. Tatsächlich handelten die römischen Feldherrn, wie Hannibal es vorausgesehen hatte. Sie verschifften zwei Heere auf ihrer neuen Flotte. Die eine fuhr in die Richtung Karthagos, um auf afrikanischem Boden zu landen, die andere nach der Iberischen Halbinsel. Beide Unternehmungen mißlangen, während Hannibal mit fünfzigtausend Mann Fußvolk, neuntausend Reitern und siebenunddreißig Elefanten die Pyrenäen überschritt und das südliche Gallien durchzog. In diesem Jahr wurden zwei Brüder von den Römern zu Feldherrn ernannt. Sie gehörten der alten Familie der Cornelier an. Der eine Bruder, C. Cornelius Scipio, fuhr mit dem Hauptteil des Heeres nach der Iberischen Halbinsel, um Hasdrubal, den Bruder Hannibals, zu bekämpfen, der ande144
re, P. Cornelius Scipio, landete in Massilia, um Hannibal den Weg abzuschneiden. Er kam zu spät. Hannibal hatte aus der Not eine Tugend gemacht. Um dem Kampf gegen die Legionen auszuweichen, hatte er nicht den kürzeren, sondern den weiteren Weg gewählt. Er hatte bereits die Alpen erreicht und versuchte das Unmögliche, die steilen Gebirgszüge mit seinem Heer zu überschreiten. P. Cornelius Scipio benützte den Landweg, den er Hannibal verstellt hatte, und kam gerade noch zurecht, ihn am Ticinus aufzuhalten. Es fand ein Reitertreffen statt, in dem Scipio verwundet und von seinem siebzehnjährigen Sohn gleichen Namens gerettet wurde. Hannibal besiegte auch die rasch zusammengezogenen römischen Heere und überschritt den Apennin. Ein weiteres Heer der Römer von 30.000 Mann wurde in der Schlacht am Trasimenischen See vernichtet. Die Stadt rüstete sich zur Verteidigung. Der Senat ernannte in dieser Notlage Q. Fabius Maximus zum Diktator. Aber der neue Mann, der die noch übriggebliebenen Legionen anführte, vermied jede Schlacht. Er wich zurück. Er folgte den Truppenbewegungen Hannibals und stellte sich nicht zum Kampf, auch nicht, als die Karthager die kampanische Landschaft plünderten. Fabius, der den Beinamen ›Cunctator‹, der Zauderer, erhielt, wurde abgesetzt. Die an seiner Stelle ernannten Feldherrn schlug Hannibal in der Schlacht bei Cannae vollkommen. Fünfzigtausend Mann vom römischen Heer blieben auf dem Schlachtfeld. Auch die Legionen, die der Senat nach dem Norden schickte, um einen Einfall der Gallier abzuwehren, wurden vernichtet. Die ehemaligen Untertanen Roms, die Samniter, die Lukaner, die unteritalienischen Städte und Syrakus fielen von Rom ab. Aber der Senat und das Volk blieben unerschütterlich fest. Sie verweigerten sogar den Gesandten Hannibals, die gekommen waren, um den Austausch von Gefangenen zu besprechen, den Eintritt in ihre Stadt. »Hannibal ante portas!« – »Hannibal steht vor den Toren!« wurde der Schreckensruf Roms. Aber alle Waffenfähigen, selbst die Sklaven, wurden ein berufen und bewaffnet. Das Schlagwort des Tages war: »Aushalten und nicht nachgeben!« 145
Rom hielt aus und gab nicht nach. Die Siege Hannibals erschöpften seine Hilfsmittel. Er verlangte Hilfe von Karthago. Während er darauf wartete, daß ihm schließlich viertausend Mann gesandt wurden, brachte Rom seine Kriegsmacht bald wieder auf einundzwanzig Legionen, und die römische Flotte verhinderte karthagischen Nachschub aus Spanien. Nicht nur das. Die Brüder Scipio, die sich am Ebro vereinigt hatten, schlugen Hasdrubal. Die Römer hatten inzwischen von den Karthagern gelernt. Sie suchten Bundesgenossen. Der numidische König Syphax bedrängte Karthago in Afrika, und der König von Mazedonien wagte es nicht, Rom anzugreifen, da er sich plötzlich einem von römischen Gesandten herbeigeführten Bündnis griechischer Staaten gegenübersah. Die Erfolge wechselten. Nach einem Glücksjahr auf der Iberischen Halbinsel wurden die beiden Scipionen von Hasdrubal völlig geschlagen und fielen. Ihr Sohn und Neffe übernahm den Befehl der übriggebliebenen Truppen und wendete wieder das Schicksal. Aber Hasdrubal, den er nach dem Süden verfolgte, entfloh nach dem Norden und überquerte die Pyrenäen, um zu Hannibal zu stoßen. Er wurde auf dem Marsch aufgehalten und fiel in der Schlacht bei Sena Gallica. In diesem Jahr wurde P. Cornelius Scipio zum Konsul erwählt. Der noch nicht Dreißigjährige, der seine Kindheit und Jugend im Feldlager verbracht hatte, begab sich nach seinen Siegen auf der nun gänzlich unterworfenen Iberischen Halbinsel, die jetzt römische Provinz wurde, nach Sizilien, um die Reste der von Hannibal geschlagenen Legionen zu sammeln. Der eigentliche Kriegsschauplatz, auf dem sich die letzte Entscheidung vorzubereiten drohte, war im Norden, in der Gegend des heutigen Genua, denn der jüngste Bruder Hannibals, Mago, hatte einen ähnlichen Plan durchgeführt wie den, den Scipio im Auge hatte. Er hatte die Reste der auf anderen Schlachtfeldern verwendeten karthagischen Truppen gesammelt, um den Römern in ihrer eigenen Stadt den Todesstoß zu versetzen. P. Cornelius Scipio war es klar, daß er selbst in Eilmärschen nicht mehr zur Verteidigung zurechtkommen würde, wenn Mago die ihm entgegenziehenden Legionen vernichtend schlug. Auch er mußte eine 146
Verzweiflungshandlung wagen, um den Krieg zu beendigen. Er verschiffte sein kleines Heer, kaum zwei Legionen, um es auf nordafrikanischem Boden zu landen. Noch während der Überfahrt hatte Scipio keinen Bundesgenossen. Syphax, der König der Numidier, der mit den Römern gemeinsame Sache gemacht hatte, war mit einer unendlich reichen Karthagerin verheiratet worden und hatte das Lager gewechselt. Die Boten, die Scipio an Masinissa, einen anderen numidischen Fürsten, gesandt hatte, waren noch unterwegs, als Scipio mit seinen Legionen an Land ging. Es war ein selbstmörderisches Unternehmen, das nur durch Gewaltstreiche gelingen konnte. Die vielfache Übermacht der Karthager und Numidier war in einem Lager versammelt, um zur Vernichtung frechen Eindringlings eingesetzt zu werden. Aber Scipio verringerte seine Streitkräfte noch und sandte eine Kolonne unter dem Befehl eines Unterfeldherrn in die Richtung Cirtas, der Hauptstadt des Syphax, um Masinissa, der sich inzwischen bereit erklärt hatte, den Römern zu helfen, zu beweisen, daß er ihm vertraue. Wenn Masinissa wirklich auf die römische Seite überging, dann konnten seine numidischen Reiter und die römische Streitschar es wagen, Syphax in Cirta anzugreifen. Inzwischen mußte Scipio handeln. In einer sternklaren Nacht schlichen römische Legionäre durch die Verschanzungen in das Lager der Karthager und setzten die Zelte in Brand. Die vollkommene Verwirrung machte sich Scipio zunutze und erfocht den ersten Sieg. Den zweiten errangen Masinissa und das römische Fußvolk durch einen Überfall auf die Hauptstadt des numidischen Königs, der gefangengenommen wurde. Jetzt befanden sich Scipio und Masinissa in einer ähnlichen Lage wie die Söldnerführer, die Karthago zur Zeit Hamilkars bedroht hatten, allerdings mit dem Unterschied, daß Scipio in der Kriegskunst erzogen war und über eine befehlsgewohnte Truppe verfügte. Er verschanzte sich und machte keine Verzweiflungsüberfälle. Er war sogar bereit zu unterhandeln, so lange, bis er erfuhr, daß der Angriff Magos auf Rom zurückgeschlagen worden war und daß die Karthager so147
wohl Mago als auch Hannibal zurückberiefen, um ihre eigene Stadt zu schützen. Mago starb während der Überfahrt. Hannibal verschiffte sein Heer und kehrte nach Karthago zurück. Auch dort war eine ganz ähnliche Lage wie zur Zeit des Söldneraufstandes. Karthago war zu schwach, um zu kämpfen, und zu stark, um sich zu ergeben. Beide Feldherren, Scipio und Hannibal, beurteilten die Lage richtig. Der Krieg war eigentlich schon zu Ende. Karthago und Rom waren auf das äußerste erschöpft. Die Reiterscharen Masinissas bedrohten das afrikanische Hinterland und verwüsteten es. Die karthagischen Heere hatten den Wohlstand der Apenninischen Halbinsel, der in den kurzen Jahren des Friedens entstanden war, vernichtet. Wozu noch weiterkämpfen? Hannibal schlug eine persönliche Zusammenkunft mit Scipio vor, vielleicht, um dem jungen Feldherrn alle noch verfügbaren Schätze Karthagos anzubieten, jedenfalls aber, um ihn zu bewegen, dem Krieg ein Ende zu machen. Scipio lehnte während der Verhandlung ab. Mehr als fünfzehn Jahre war Hannibal unterwegs gewesen. Er hatte die unerhörtesten Taten vollbracht und in den meisten Schlachten gesiegt. Jetzt kam der Endkampf. Er stellte seine Truppen, die weitaus zahlreicher waren als das kleine römische Heer und die numidischen Reiter Masinissas, in Schlachtordnung auf. Da es sein mußte, sollte es sein. Er gab den Befehl zum Angriff. Die Elefanten, die Reiter, das Fußvolk drangen vor. Der Ansturm war so geplant, daß selbst der zäheste Widerstand nutzlos sein müsse. Die Elefanten, die Reiter, das Fußvolk durchbrachen die dünnen Reihen, die sich ihnen entgegenstellten, und wurden genau im Augenblick des Angriffes von beiden Seiten und von rückwärts von den Legionen Scipios, die dem frontalen Vormarsch ausgewichen waren, angegriffen. Die Schlacht von Zama wurde ein vollkommener Sieg Scipios!
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Das werdende Weltreich I Der Friedensvertrag, den Rom mit Karthago schloß, bedeutete einen Triumph, aber er brachte nicht den Frieden. Rom übernahm die Flotte Karthagos, ließ sich eine ungeheure Kriegsentschädigung auszahlen und setzte durch, daß Karthago alle Gebiete Afrikas, die Masinissa begehrte, abtrat und ohne Genehmigung des Senats keinen Krieg führen dürfe. Aber der westliche Mittelmeerraum, den es sich durch diesen verzweifelten Abwehrkampf untertan gemacht hatte, war für Rom nicht das in sich geschlossene Herrschaftsgebiet, das es für Karthago gewesen wäre und mit dem es sich zur Sicherung des Erworbenen hätte begnügen können wie Karthago. Durch die Züge Hannibals waren die gallischen Kelten aufgerührt worden, und die Verschwörungssaat Hamilkars war im östlichen Mittelmeerraum und in Mazedonien aufgegangen. Die Römer waren gezwungen, die griechischen Städte, die von ihnen abgefallen waren, neu zu besetzen. Es gab keine Ruhe mehr, wenn sie nicht durch den Bau von Festungen, durch die unaufhörliche Aushebung neuer Truppen gesichert wurde. Die Senatoren, die sich als Verwalter kleiner Gebiete bewährt hatten, mußten ihre Kenntnisse und Erfahrungen vom Kleinen auf das Große übertragen. Erst hatten sie Sizilien zur Kornkammer gemacht, jetzt waren sie gezwungen, eine ständige Besatzung auf der Iberischen Halbinsel zu unterhalten, um nicht zu verlieren, was sie mit so viel Mühe, Sorge und Blut erworben hatten. Sie erbauten Siedlungen, legten Bergwerke an, sandten verdiente Offiziere und Mannschaften in 149
die neuen Städte. Sie versuchten, auf dem Boden der Iberischen Halbinsel ein zweites Rom zu errichten, einen gewaltigen Hort von Rohstoffen und auch von Menschen, die für den Dienst im Heere angeworben wurden und ihre Heimat verließen, um die Rechte zu erwerben, die erprobten römischen Legionären zufielen, wenn sie ausgedient hatten. Nur wenige kehrten nach Hause zurück. Überall dort, wo eine Stadt oder ein befestigtes Lager im Auftrage Roms errichtet wurde, war Rom. Auf der Iberischen Halbinsel angeworbene Legionäre wurden später Kolonisten in Oberitalien, italische und griechische Legionäre Siedler auf der Iberischen Halbinsel. Alle, welchen Ursprungs sie auch waren, mußten sich des Lateinischen, der römischen Sprache, bedienen, die durch das Zusammenleben verschiedener Stämme aus verschiedenen Quellen entstanden war. Einer der wichtigsten Verwalter und Neuordner auf spanischem Boden wurde M. Porcius Cato. Er war ein bewährter Soldat und ein kluger Staatsmann. Solange er jung war, nahm er an beinahe allen Feldzügen teil, die Rom aufgezwungen worden waren. Er hatte fast alle eroberten Gebiete bereist und an den meisten Verhandlungen teilgenommen. Schon in früher Zeit hatte er die verzweigten Verschwörungen Hamilkars durchschaut. Er stellte fest, daß Hannibal auf seiner Flucht von Land zu Land, von Stadt zu Stadt die alten Verbindungsfäden wiederaufnahm und Verbündete für das entmachtete Karthago warb. Was anderes als die Folge der Hamilkarschen Verschwörung war der Krieg, den Philipp V. von Mazedonien gegen Rom heraufbeschwor? Ob der Senat wollte oder nicht, die Konsuln mußten Legionen in das griechische Mutterland führen und die Flotte nach Athen senden, um es vor Philipp zu schützen. Eine neue Schlacht, die der Konsul T. Quinctius Flamininus gewann, war die von Kynoskephalae. Ein neuer Frieden folgte, durch den Philipp gezwungen wurde, die Oberherrschaft über die griechischen Städte aufzugeben. Aber das richtete sich nur gegen ihn, denn Rom wollte keine Gebietserweiterung. Flamininus verkündete, daß der Senat beschlossen habe, alle griechischen Staaten für frei zu erklären. Aber jetzt war Hannibal am Hofe des Königs Antiochos III. von Syrien, und das bedeutete für Rom wieder Krieg. 150
Die Thermopylen, der Ort der großartigen spartanischen Verteidigung der wenigen gegen die vielen in den Perserkriegen, wurden diesmal zum Schlachtfeld. Befehlshaber der Römer war der Konsul M. Acilius Glabrio, aber die Schlacht wurde durch Cato, der als Unterfeldherr ein Überrumpelungsmanöver durchführte, entschieden. Auch die römische Flotte war siegreich. Hannibal, der das Geschwader des Königs Antiochus führte, wurde zur See geschlagen. Das römische Landheer stand jetzt unter dem Befehl L. Cornelius Scipios, den sein Bruder, der Afrika-Sieger, beriet und begleitete. Er wiederholte das gefährliche Abenteuer, das Publius auf afrikanischem Boden gewagt hatte. Der Schwerpunkt der Macht Antiochus' war in Kleinasien. Die beiden Scipionen überschritten den Hellespont und schlugen das syrische Heer bei Magnesia. Der Friedensschluß brachte Rom die Abtretung eines Landgebietes, diesmal schon auf dem Boden Asiens, eine ungeheure Kriegsentschädigung und die Auslieferung der Flotte. Der gefährliche Gast, der den König von Syrien aufgewiegelt hatte, befand sich auf einer neuen Flucht in ein neues Land, um wieder den alten Haß neu zu säen. Diese Reise Hannibals nach Bithynien zu König Prusias war seine letzte. Er tötete sich durch Gift, als Rom seine Auslieferung verlangte. Der erste große Triumphzug, der in Rom abgehalten wurde, fand zu Ehren P. C. Scipios statt. Er erhielt vom Senat den Titel ›Africanus‹. Gleichzeitig beschlossen die Senatoren, die eroberten Länder auf asiatischem Boden an diejenigen örtlichen Herrscher zu verteilen, die sich als Bundesgenossen bewährt hatten. Diese Selbstbeschränkung des Senats war auch auf die verworrenen Machtverhältnisse in Kleinasien zurückzuführen. Das große Reich, das Seleukos aus der Hinterlassenschaft Alexanders zugefallen war, hatte nur kurzen Bestand gehabt. Es wurde sowohl durch örtliche Aufstände als auch durch das Eindringen fremder Stämme gespalten. Das eigentliche Perserreich fiel an die Parther. Ein keltisches Volk, die Galater, hatte sich in Phrygien niedergelassen und einen Bundesstaat gegründet. Unter den Attaliden waren ein Reich mit der Hauptstadt Pergamon entstanden, in der 151
das griechische Wesen zur Hochblüte kam, und die Königreiche Kappadokien, Pontus und Armenien, die sich voneinander feindlich abgrenzten und eifersüchtig um ihre Selbständigkeit kämpften. Überdies hatten die griechischen Seestädte, die so oft der Zankapfel zwischen den Mächten der beiden Erdteile gewesen waren, neue Bedeutung gewonnen und sich kraftvoll in den Handel eingeschaltet. Die meisten Staaten und Städte kämpften um die Erhaltung und Erweiterung ihrer Macht. Jede Einmischung in ihre Zwistigkeiten hätte eine Stellungnahme oder das Einsetzen von Truppen nötig gemacht und jedenfalls eine Aufsicht, die dem Senat, dem ohnehin schon mehr zugefallen war, als er leicht bewältigen konnte, zuviel war. Die Erwerbung von Einflußgebieten war gleichbedeutend mit der Verpflichtung, sie gegen Angriffe zu schützen. Rom war ohnehin der Schiedsrichter des griechischen Raumes im Osten. Aber das waren eben die Auswirkungen der großen Auseinandersetzung zwischen Karthago und Rom.
Im Senat hatte sich unter Führung Catos eine starke Gruppe gebildet, die darauf bestand, daß die alte Ordnung Roms weder durch den neuen Reichtum noch durch die Vergrößerung der Macht zu Schaden käme. Was hatte die Griechen, trotz der gewaltigen Ausdehnung ihres Raumes, so machtlos gemacht, daß sich selbst die wichtigsten Städte ihres Mutterlandes dem Schiedsspruch Roms fügen mußten? Was hatte dazu geführt, daß das übermächtige Karthago entwaffnet war und von der Gnade Roms abhing? Hier und dort menschliche Schwäche, Änderungen der Lebensform, das Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen, der mangelnde Glaube an die Götter, Ausschweifungen auf jedem Gebiet, Prachtliebe und Verschwendung. Wenn diese Laster am Tiber nicht vermieden würden, stünde Rom trotz der Bedeutung, die es errungen hatte, ein ähnliches Schicksal bevor wie Karthago und den griechischen Städten. 152
Cato veranlaßte einen Senatsbeschluß gegen die Ausartung der griechischen Götterdienste und vor allem gegen die Auswüchse des Bacchuskultes, der in Rom eingedrungen war. Er stieß auf heftigen Widerspruch, denn wie nach allen Kriegen wünschten die überlebenden Römer, lang vermißte Genüsse nachzuholen. Sie wollten das griechische Wesen, das Besessensein von den Göttern, das Vergessen im Rausch als die höchste Freude empfand, nicht entbehren. So schnell hatten sich die lebenslustigen Griechen in Rom durchgesetzt, daß Cato in seinem hohen Amt als Zensor ein Gesetz verlangte, das sich gegen die drei Laster richtete, die er als die gefährlichsten bezeichnete: den Ehrgeiz, den Geiz und den Luxus. In seinen Angriffen schonte er auch nicht die alteingesessenen Senatorenfamilien, selbst wenn ihre Mitglieder sich in den entscheidenden Kämpfen bewährt hatten, wie die Scipionen, die sich zu besonderen Schutzherren der griechischen Lebensform und Weisheit machten. Cato ermahnte und beschwor den Senat und das Volk, sich nicht von der hellenistischen Lebensart so verändern zu lassen, daß sie die eigene althergebrachte Nüchternheit und Zucht aufgäben, die Rom gerade an diesem Wendepunkt der Zeiten, da es zur Großmacht geworden war, nötiger wären als bisher. Die von griechischen Philosophen geschulten Gegner Catos im Senat verwarfen seine Ermahnungen oft mit der Behauptung, daß es gerade das Ziel der von ihm bekämpften Philosophen sei, den Menschen weise zu machen. Sie verwiesen auf die Lehren Epikurs, die immer weitere Verbreitung fanden und den Eingeweihten von seinen Leidenschaften befreiten, da sie ihm durch die Pflege der eigenen Persönlichkeit zur unerschütterlichen Ruhe des Gemütes verhalfen. Eine noch stärkere Wirkung auf die gebildeten Römer hatte die Schule des Zenon, die nach der ›Stoa‹, der Halle am athenischen Markt, benannt wurde, in der Stoiker ursprünglich ausgebildet worden waren. Der Gedanke, daß jeder Mensch an der Weltvernunft, dem göttlichen Logos, Anteil habe, verbinde alle Menschen, die vernunftbegabt sind. Alle, gleich welcher Abstammung, seien Brüder und bildeten die eine große Gemeinschaft. Wer seine Vernunft pflege, könne alle Leidenschaften bezwingen und durch Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und 153
Einsicht seinen Mitmenschen so hilfreich sein, daß durch das Zusammenwirken aller Menschen ein Weltreich entstehen werde. Ein Weltreich im Geist, ein Weltreich in der Wirklichkeit! Cato war für die Wirklichkeit. Aber selbst der leidenschaftliche Bekämpfer des Griechentums auf römischem Boden konnte sich gegen die Begriffe der griechischen Schönheit nicht wehren, die das Perikleische Zeitalter in Athen großgemacht hatten. Als er Zensor wurde, war er oberster Bauherr. Er ließ auf dem Forum die erste Säulenhalle Roms errichten und nannte, trotz seines Kampfes gegen Ehrgeiz und ›Berühmung‹, das neue Prachtgebäude nach dem Namen seiner Familie: Basilica Parcia. Cato lebte in einer Zeit der Widersprüche. Kaum hatte er durch die Gesetzgebung zur Beschränkung der Ämtersucht, der sogenannten ›ambitio‹, erwirkt, daß die hohen Ämter des Staates nur von Personen, die eine bestimmte Altersgrenze erreicht hatten, bekleidet werden dürften, als ein neuer Krieg es nötig machte, Ämter der höheren und niederen Befehlsgewalt an jüngere Männer zu vergeben. Der Kriegsschauplatz, auf den der Senat gegen seinen Willen wieder Legionen senden mußte, war den Befehlshabern bekannt. Perseus, der Sohn Philipp V. von Mazedonien, unternahm es, die alten Pläne seines Vaters auszuführen. Die Versuche des Perseus, die griechischen Städte wieder zu unterwerfen und in den kleinasiatischen Raum einzudringen, mußten im Keim erstickt werden. Mit dem leitenden staatsmännischen Gedanken Roms, den Grenzen nur solche Gebiete einzuverleiben, die zur unmittelbaren Sicherung des Besitzes nötig waren, mußte deshalb gebrochen werden. Die Ausdehnungspolitik wurde zur Sicherheitspolitik. Wenn Frieden herrschen sollte, mußte Mazedonien als großer, unabhängiger Staat aufhören zu bestehen. So marschierten die Legionen wieder und schlugen Perseus in der Nach diesen Erfahrungen mit der Unzuverlässigkeit östlicher Könige – Cato hatte einmal erklärt, jeder König sei ›ein von Natur fleischfressendes Tier‹ – sollte Mazedonien als Mittelpunkt der römerfeindlichen Bestrebungen aufhören zu bestehen. Es wurde in vier Teile zerschlagen. Nicht viel besser erging es der blühenden Han154
delsrepublik Rhodos, die während des Krieges gegen Perseus auf den Gedanken gekommen war, sie sei doch eigentlich der römischen Republik ebenbürtig. Rhodos bot an, den Frieden mit König Perseus zu vermitteln, und ließ durchblicken, es werde die Beziehungen mit Rom abbrechen, wenn Rom auf der Fortsetzung des Krieges gegen Perseus bestehe. Das mußte Rhodos durch den Verlust aller Besitzungen in Kleinasien und durch eine schwere Schädigung des Handels büßen. Vergebens bemühte sich Cato, durch eine Senatsrede dieses Schicksal von Rhodos abzuwenden. Catos Rede ist die älteste echte Probe römischer Beredsamkeit, die erhalten ist. Er sagte: »Ich weiß, daß die Rhodier unseren Sieg über König Perseus nicht gewünscht haben. Aber auch viele andere Völker und Stämme haben unseren Sieg nicht gewünscht, und das ist nicht einmal sträflich. Denn sie fürchteten mit Recht, daß sich, wenn uns niemand mehr als Feind gegenübersteht, die bisherige Waffenbrüderschaft im Kriege in eine bloße Untertanenschaft verwandeln werde. Sie hegten also diesen Gedanken aus Sorge um ihre Freiheit, und bei Gedanken und Worten blieb es auch, denn eine wirkliche Unterstützung haben sie dem Perseus nie gewährt. Überlegt euch nun, ob wir in unserem Privatleben nicht viel rücksichtsloser vorgehen. Jeder von uns stemmt sich mit allen Kräften dagegen, wenn ihm etwas Widriges geschehen soll, jene aber haben es sich doch tatsächlich gefallen lassen. Sollen wir nun plötzlich die Unsumme von Wohltaten, die sich Römer und Rhodier bisher gegenseitig erwiesen haben, sollen wir die alte Freundschaft aufgeben? Wollen wir uns dadurch vor den Rhodiern hervortun, daß wir die böse Absicht, die jene nur in Gedanken angeblich hatten, in die Tat umsetzen? Wer ist unter euch, der – wenn es ihn persönlich beträfe – eine Strafe gerecht fände nicht einmal für den Versuch einer Tat, sondern bloß für die Absicht? Ich glaube niemand!« Aber dieser weise Rat zur Mäßigung traf auf taube Ohren. Seit dem Tode Hannibals war ein Geschlecht von Römern herangewachsen, das die höchsten Tugenden des Römertums nicht mehr kannte. Auf einen geheimen Befehl des Senats wurden an einem Tage 70 Ortschaften in Epirus, das sich für Mazedonien erklärt hatte, geplündert und 155
vernichtet und dabei hundertfünfzigtausend Griechen in die Sklaverei verkauft. In allen anderen griechischen Städten wurde die Gesinnung der Bürger gegen Rom einer Prüfung unterzogen, bei der die Patrioten und die Mazedonierfreunde zum größten Teil Massenhinrichtungen zum Opfer fielen. Am besten ging es noch denen, die von den Römern als Geiseln nach Italien gebracht wurden; dort waren sie wenigstens den Verfolgungen ihrer politischen Gegner in der Heimat entrückt. Unter ihnen befand sich auch der Geschichtsschreiber Polybios, der erste Grieche, der das Römertum verstand. Er faßte die Lage Roms in dem Satz zusammen: »Die Welt zu erobern, ist eines. Sie auf die Dauer zu beherrschen und ihren Frieden zu erhalten, ein anderes.« Da war Karthago, dem es verboten war, ohne römische Erlaubnis zu den Waffen zu greifen. Es gebärdete sich auf einmal wieder, als wäre es noch die große Handels- und Seemacht, die es gewesen war. Es wehrte sich gegen die Übergriffe Masinissas. Vermutlich hätte Rom keine Kenntnis davon genommen, wenn Karthago nicht durch die Ausfuhr von Getreide und Früchten um jeden Preis die römischen Waren unterboten hätte. Das verminderte das Einkommen der römischen Großgrundbesitzer, der vornehmen Senatoren, denen jeder andere Erwerb als der durch die Bebauung von Land erzielte gesetzlich untersagt war. Die Römer sandten den Karthagern die Kriegserklärung, während sich gleichzeitig ein römisches Heer in Sizilien zur Abfahrt rüstete. Die Karthager fühlten sich zu schwach und boten dem römischen Senat Unterwerfung auf Gnade oder Ungnade an. Der Senat forderte dreihundert Geiseln, garantierte aber gleichzeitig der Stadt Karthago ihr Gebiet und ihren Bürgern die Freiheit. Die Geiseln wurden abgeliefert. Trotzdem setzte das Heer nach Afrika über. Dann forderte Rom die völlige Entwaffnung Karthagos und die Ablieferung allen Kriegsgeräts. Als auch diese Forderung erfüllt war und Karthago wehrlos schien, verkündeten die Konsuln, die das römische Heer führten, das letzte und wahre Ziel des Senats: die Stadt Karthago sollte dem Erdboden gleichgemacht werden, die Bewohner sollten sich anderswo, aber mindestens 10.000 Schritte (15 km) vom Meer entfernt ansiedeln. 156
Auch Polybios, der doch die Römer verstehen gelernt hatte, verdammte dieses unehrenhafte und schändliche Verlangen des römischen Senats. Die Bevölkerung der Stadt Karthago wurde von einer Art Wahnsinn der 'Verzweiflung ergriffen und rüstete sich zur Verteidigung, indem sie neue Waffen herstellte und neue Kriegsschiffe baute. In den beiden ersten Jahren der Belagerung erwiesen sich die Römer als wenig tüchtig. Ein Umschwung zu ihren Gunsten trat erst ein, als der Konsul P. Cornelius Scipio Aemilianus, der Sohn des Siegers von Pydna, durch Adoption in das Geschlecht der Scipionen übergetreten, mit Verstärkungen in Afrika landete und den Oberbefehl übernahm. Hunger und Seuchen wüteten unter der Bevölkerung der Stadt, es kam zu Tumulten und Kämpfen unter den Bürgern, und es gelang den Römern, die Häfen zu erobern und in die Stadt einzudringen. Jedes der sechs- bis siebenstöckigen Häuser mußte wie eine Festung erobert werden, und war eine Straße in der Hand der Römer, so wurde sie in Brand gesteckt, damit sie keine Schlupfwinkel mehr bot. Am siebenten Tage des Straßenkampfes waren die Römer bis an die Byrsa, den Burgfelsen Karthagos, vorgedrungen. Hier ergaben sich die halbverhungerten Reste des Puniervolkes; 50.000 waren es, die von den 700.000 zu Beginn der Belagerung übrig waren. Hasdrubal, der Verteidiger Karthagos, hielt sich noch mit seiner Familie im Schutz von 900 römischen Deserteuren, die auf keine Gnade rechnen konnten, im Tempel des Äskulap auf der Spitze des Felsens. Als der Tempel in Flammen aufging, bat Hasdrubal fußfällig Scipio um Gnade; sein Weib Dido aber, die letzte freie Karthagerin, stürzte erst ihre Kinder und dann sich selbst in die Flammen des Tempels. Noch siebzehn Tage brannte die Stadt. Als die Ruinen ausgekühlt waren, wurden die Mauern eingestürzt und symbolisch der Pflug über die Stätte gezogen, die einst Karthago war, wodurch man den Boden den Göttern weihte. Scipio hatte als echter Römer den Befehl des Senats ausgeführt, aber er war nicht Römer genug, um angesichts der grauenhaften Szenen ungerührt zu bleiben. Sein Freund Polybios berichtet, daß ihm bei seinem Zerstörungswerk der Gedanke kam, auch Rom könne ein ähnli157
ches Schicksal erleiden, und daß ihm dabei die Verse Homers auf die Lippen kamen: »Einst wird kommen der Tag, da das heilige Ilion hinsinkt, Priamos auch und das Volk des lanzengewaltigen Königs …« Das Jahr 146 vor unserer Zeitrechnung war ein Jahr der Zerstörung. Als der Archäische Bund unter der Führung Korinths gegen die römische Oberherrschaft aufbegehrte, besetzten die Legionen Korinth und zerstörten es ebenso, wie sie Karthago zerstört hatten. Die Einwohner wurden als Sklaven verkauft und vermehrten das Heer der billigen Arbeitskräfte. Die eroberten Kunstschätze wanderten nach Rom. Der Wiederaufbau der Stadt wurde durch Senatsbeschluß verboten. Auch auf der Iberischen Halbinsel wurden örtliche Widerstände mit rücksichtsloser Gewalt unterdrückt. Von der römischen Lebensart war nur noch die Schale übriggeblieben. In früheren Zeiten hatte Mäßigung und Verbrüderung mit Besiegten die innere Sicherheit der Römer gestärkt. Jetzt verhielten sich die Römer grausamer und härter als alle Eroberer der Vergangenheit. Die unmenschlich behandelten Sklaven begehrten auf. In kleineren Gebieten halfen sich die Verwalter der Großgrundbesitze mit eigenmächtiger Tötung der Aufrührer. Wenn sich aber empörte Sklaven zu größeren Verbänden vereinten, war es nötig, Truppen zu ihrer Niederwerfung auszusenden, und Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung. Die Verwaltungseinheiten waren durch die unaufhörliche Gebietszunahme so gewachsen, daß manche nicht mehr von Rom aus verwaltet werden konnten. Es wurden Statthalter ernannt, die die gewonnenen Länder, wenn auch nach außen hin mit römischen Grundsätzen, jedoch in Wirklichkeit nach eigenem Ermessen, regierten. Ehemalige Konsuln, einflußreiche Senatoren bewarben sich um solche Ämter, die durch das ihnen zustehende ›Imperium‹ und die ›potestas‹, die unbeschränkte Macht, in die Lage versetzt wurden, ihr Vermögen abzurunden oder neues Vermögen zu erwerben. Im Jahr der Zerstörung vergangener Kulturen besaß Rom bereits sieben Provinzen. Die Pachtund Weidegelder, die Grundsteuern, die Hafenzölle wurden an Steu158
erpächter vergeben, die gleichzeitig Bankiers und Großkaufleute in der Provinz waren und sich nach Belieben bereichern konnten. Sie teilten ihre Einkünfte mit den Männern der Verwaltung, die für ihre Ernennung sorgten und ihre Abberufung erwirken konnten. Die Reichtümer, die auf diesem Wege nach Rom flossen, waren ungeheuer. Die Bevölkerung Roms und die auf italischem Boden nahm zu, denn wer in Rom und den durch Sonderrechte bevorzugten Gebieten lebte, zahlte keine Steuern und konnte, durch die staatliche Wohltätigkeit versorgt, arbeitslos leben. Wer Wähler war, konnte seine Stimme in der Volksversammlung für bare Münze verkaufen. Dadurch erhielten diejenigen, die Stimmen kaufen konnten, jene Ämter, die sie wünschten. Die Bestechung führte zu einer ständig zunehmenden Verwahrlosung. Rom, der Mittelpunkt des neuen Weltreichs, wurde Handelsmittelpunkt der Welt. Alle Völker im Mittelmeerraum beugten sich den Befehlen der römischen Senatoren und waren gezwungen, den Beamten zu gehorchen. Die meisten Angehörigen des Senats entstammten alteingesessenen und miteinander verschwägerten Familien. Sie waren die»Nobilität«, die Amtsaristokratie, die alle einträglichen und einflußreichen Ämter untereinander aufteilte. Wenn es Außenseitern gelang, hohe Ämter zu erringen, wurden sie als ›homines novi‹, als ›neue Männer‹ bezeichnet und konnten sich nur dann halten, wenn sie sich durch Eheschließungen mit den erblichen Trägern der Macht verbanden. Durch die Vermehrung der großen, durch Sklaven bewirtschafteten Besitzungen wurde der freie Bauernstand um den Erwerb gebracht. Nur wenige der völlig verarmten Grundbesitzer hielten an ihrem Eigentum fest. Die meisten zogen nach Rom und lebten von Spenden und Wahlbestechungen. Gefährliche Unruhen drohten. Irgend etwas mußte geschehen. Tiberius Gracchus, ein junger Angehöriger der höchsten Stände, Sohn eines Konsuls und einer Tochter des großen Scipio, ließ sich zum Volkstribun wählen. Dann erwirkte er, daß auf Grund des alten Licinischen Ackergesetzes von 367 v. Chr. eine Landreform stattfand, die die Schaffung eines neuen Bauernstandes ermöglichte. Da 159
starb König Attalos III. von Pergamon und vererbte Rom sein kleinasiatisches Reich und seine Reichtümer. Tiberius Gracchus beantragte, daß der Pergamonische Schatz an die neuen Landbesitzer verteilt werde, damit sie das zum Betrieb der Wirtschaft nötige Vieh kaufen könnten. Er hatte beinahe das ganze Volk hinter sich. Aber die Senatoren erschlugen eigenhändig Tiberius Gracchus und dreihundert seiner Anhänger. Sein Schwager, Scipio Aemilianus, warf sich zum Führer der Gegenpartei auf und versuchte zu erwirken, daß den Volkstribunen die richterliche Entscheidung über strittiges Land entzogen werde, denn er erkannte die Gefahr, mit der jede Änderung der bestehenden Verfassung den innerlich schon zerrütteten Staat bedrohte. Auch er wurde ermordet, wahrscheinlich von seinen Verwandten, damit er nicht das Werk des Tiberius Gracchus vernichte und dem Aufstieg des Gaius Gracchus, Bruder des Tiberius, im Wege stehe. Die inneren Unruhen wurden durch äußere Unruhen vermehrt. Die bereits zum römischen Gebiet gehörige Stadt Massilia wurde von gallischen Stämmen bedrängt. Es war nötig, Entsatz zu senden. Um den Landweg zu einer neuen Kolonie, die zum Schutze Massilias durch die Legionen geschaffen wurde, zu sichern, wurde der südliche Teil Galliens zur römischen Provinz Narbo (Gallia Narbonensis). In den zehn Jahren, die seit der Ermordung des Tiberius Gracchus vergangen waren, hatten sich die Gegensätze zwischen den Senatoren und dem Volk so verschärft, daß es dem Bruder des Ermordeten, Gaius Sempronius Gracchus, leicht gelang, zum Volkstribunen gewählt zu werden. Er hatte durch die traurigen Erfahrungen seines Bruders gelernt. Gaius gewann die Mehrheit der Stimmen durch ein Getreidegesetz, das jedem römischen Familienvater dreiviertel Zentner Weizen zu einem so niedrigen Preis gewährleistete, daß, wer nicht soviel brauchte, genügend Nutzen durch den Weiterverkauf hatte, um seinen sonstigen Lebensbedarf zu sichern. Dadurch hatte Gaius die Mehrheit der Hungrigen auf seiner Seite. Das genügte ihm nicht. Er wollte auch die Satten, die nicht die gleichen Rechte wie die Senatoren genossen, an sich binden. Sein erster Schritt dazu war das ›Richtergesetz‹, durch das 160
den Senatoren das Richteramt entzogen und auf die Ritter übertragen wurde. Um diese Neureichen ganz und gar auf seine Seite zu ziehen, setzte Sempronius das Steuergesetz durch, das den Pachtgesellschaften der Ritter die Besteuerung Pergamons, der neuen Provinz Asien, übertrug. Durch diese Gesetze, die die Staatsgewalt des Senats im Interesse des Volkes und der nichtsenatorischen Bürger und Ritter beschränken sollten, verwandelte Gaius die Stadt Rom in einen Fürsorgestaat. Auch wer nicht arbeitete, konnte essen. Es lohnte sich daher für die Kleinbauern nicht mehr, Grundbesitz zu übernehmen, auch wenn sie es konnten. Aber eine Neuerung des Ackergesetzes, nämlich römische Kleinbauern auf Provinzboden auszusiedeln, gefährdete den grundsätzlichen Unterschied, den der Senat zwischen Italien und den Provinzen aufrechterhalten wollte. Solange Gaius Gracchus nur Sonderrechte des Senats angriff, konnte er sich auf seine Wähler, denen er Vorteil um Vorteil zugeschanzt hatte, verlassen. Er rief einen Aufruhr hervor, als er versuchte, das ›Bundesgenossengesetz‹ zu erwirken, das das römische Bürgerrecht auf alle italischen Bundesgenossen ausdehnen sollte. Seine engsten Anhänger, das Volk von Rom, standen gegen ihn auf. Die Stunde der Senatoren, die sich endlich an dem abtrünnigen Standesgenossen rächen konnten, war gekommen. Gaius Gracchus floh und ließ sich in seiner Verzweiflung von einem treuen Sklaven töten. Die meisten Gesetze, die die beiden Gracchen beantragt und durchgesetzt hatten, wurden widerrufen oder durch Zusätze wirkungslos gemacht – mit Ausnahme des einen, das die Volksmassen an den Senat band, des Getreidegesetzes, das immer mehr brot- und heimatlose Menschen nach Rom lockte und so eine immer zunehmende Wählermasse schuf, die beschwichtigt, gekauft oder unterdrückt werden konnte.
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Der Beginn des Bürgerkrieges I Während Rom der Schauplatz unaufhörlicher Unruhen war, machte es die eiserne Zucht der Statthalter den Bewohnern der Provinzen unmöglich, erfolgreich gegen Rom aufzubegehren. Nur in jenen Gebieten, in denen die Grenzen des römischen Einflusses noch nicht endgültig gezogen waren, war es nötig, Legionen einzusetzen. Die beiden wichtigsten Kriegsschauplätze dieser Zeit waren eine Erbschaft Karthagos: der eine in Afrika, der andere in Gallien. In Afrika konnten sich die Erben des Königs Masinissa von Numidien nicht einigen, wer von ihnen König sein solle. Einer der streitenden Anwärter, Jugurtha, schlug ein römisches Heer und war nahe daran, eine bedeutende nordafrikanische Macht, ähnlich der Karthagos, zu begründen, als der neue Mann der Zeit, C. Marius, von der Volkspartei zum Konsul gewählt, den Oberbefehl in Nordafrika übernahm. Dieser Sohn eines Pächters verdankte seine Laufbahn nicht, wie die Gracchen, seiner vornehmen Abstammung, sondern persönlicher Tüchtigkeit. Er wurde nicht als Politiker Liebling der Massen, sondern als Soldat, obwohl seine militärischen Maßnahmen im wesentlichen politische waren. Den Sieg Marius' über Jugurtha nützte der ihm zugeteilte Patrizier L. Cornelius Sulla zu eigenen Zwecken aus. Sullas Geschicklichkeit war es zu verdanken, daß Jugurtha den Römern lebend in die Hände fiel. Sulla ließ eine Darstellung dessen auf seinen Siegelring gravieren, die später auf Münzen wiederholt wurde. Daraus soll der furchtbare Zwist zwischen Marius und Sulla entstanden sein, der später für Rom so verhängnisvoll wurde. 162
Marius war inzwischen raubenden und plündernden Stämmen, die aus dem Norden Europas in die Alpengegenden gedrungen waren, entgegengezogen. Es waren die Kimbern, die sich mit den Teutonen, die zum erstenmal in der Geschichte auftraten, vereinigt und schon zwei römische Heere vernichtet hatten. Diese wilden wandernden Horden hatten ursprünglich die nördlichen Provinzen Roms angegriffen, hatten sich aber, nachdem sie Widerstand gefunden hatten, nach dem Westen gewandt und die Alpen in der umgekehrten Richtung des Hannibalschen Zuges überschritten. Die erste geschichtliche Schilderung dieser germanischen Stämme erfolgte erst in späterer Zeit, aber sie deckte sich mit den zeitgenössischen Berichten: »Alle, auf die sie losgingen, fielen ihnen zur Beute. Viele römische Heere und Feldherrn, die das jenseits der Alpen liegende Gallien verteidigen wollten, wurden ruhmlos dahingerafft. Als sie diese alle besiegt und viele Schätze erbeutet hatten, beschlossen sie, sich nirgends auf der Welt niederzulassen, bevor sie Rom zerstört und Italien verwüstet hätten.« Die Gefahr für Rom war auch bedeutend größer als in der Zeit Hannibals, denn Karthago hatte nur beschränkt Menschenmassen zur Verfügung gehabt, während die aus allen Pässen, über alle Wege und Felder strömenden Kimbern und Teutonen zahllos zu sein schienen. Die aus dem römischen Bauernstand ausgehobenen Legionen genügten nicht mehr. Das hatte Marius schon in seinen Feldzügen gegen Jugurtha erkannt. Er ließ in Rom verkünden, daß er jene Männer, die sich zu einer längeren Dienstzeit verpflichteten, nicht nur mit allen Waffen versorgen, sondern ihnen auch den Erwerb von Landbesitz nach ihrer Dienstzeit ermöglichen würde. Die Legionäre konnten auch damit rechnen, nach Ablauf einer erfolgreichen Dienstzeit in der Verwaltung verwendet zu werden. Aus Plebejern in Rom konnten sie zu Herren in den Provinzen werden. Reichtum und Ansehen waren von ihrer Tüchtigkeit abhängig. Der Zustrom wehrfähiger Männer zu den Legionen ermöglichte es Marius, ein Berufsheer zu schaffen, dessen Angehörige nach der Ab163
rüstung durch ihre Ansiedlung den römischen Provinzen jene innere Sicherheit und Festigkeit gaben, die die eroberten Gebiete benötigten, um Rom ganz und gar verbunden zu sein. 102 vernichtete Marius die Teutonen, 101 schlug er die Kimbern. 2 In den letzten hundert Jahren hatten sich nicht nur die Grenzen des römischen Einflußraumes ausgedehnt und eine Änderung der Verwaltung nötig gemacht, sondern es war auch zu einer inneren Schichtung gekommen, die neuartig war. Die Bürger Roms und die des römischen Bürgerrechtes Teilhaftigen besaßen gegenüber allen Bewohnern der Provinzen Sonderrechte und wollten die damit verbundenen Vorteile genießen. Das führte zu ständigen Kämpfen, und das Schicksal aller Völker, die in den von römischen Legionen eroberten oder besetzten Ländern lebten, war unmittelbar abhängig von den Ereignissen in Rom. Das unterschied Rom zum Beispiel von Sparta, wo es nur eine einzige Schicht von Bevorrechtigten gab. In Rom gab es zwei Schichten, zwei Klassen, die gegeneinander um das Recht kämpften, die übrige römische Welt nach ihren Grundsätzen zu verwalten und innerhalb des engeren römischen Raums die Macht zu erringen. So befand sich Rom seit der Niederwerfung Karthagos in einem unaufhörlichen Bürgerkrieg, wenn diese unerbittliche Auseinandersetzung auch nicht immer blutig verlief. Es war schon den aufgeklärtesten Zeitgenossen unverständlich, wie es kam, daß die Stadt, die der übrigen Welt ihren Frieden aufzwang, von Unfrieden heimgesucht war. Der Reichtum Roms war so gesichert, daß es keine wirkliche Armut innerhalb seiner Bannmeile gab. Die Armen wurden satt, nur die Reichen erfreuten sich eines bisher ungeahnten Luxus. Gerade das Beste aus allen Ländern der Erde war gut genug zur Erfüllung ihrer Wünsche. 164
Rom war der Erbe und Nutznießer des karthagischen Handels und der griechischen Seeschiffahrt. In den Küchen der römischen Paläste wurden von syrischen und griechischen Köchen indische Spezereien mit der gleichen Selbstverständlichkeit verwendet wie etwa Wild aus den Bergen der Iberischen Halbinsel. Kleinasiatische Webereierzeugnisse wurden in allen Farben des Regenbogens gefärbt und nach dem Muster fremdländischer Moden zurechtgeschnitten, um Hausgewänder zu schaffen, die zu den in morgenländische Prachträume verwandelten römischen Wohnungen paßten. Im Gegensatz dazu blieb die althergebrachte Tracht die einzig schickliche für alle Gelegenheiten des öffentlichen Auftretens. Der Reichtum der mit der Staatsleitung betrauten Senatorenfamilien nahm mit jeder Ernennung eines ihrer Mitglieder zu. Jede Statthalterschaft, die ein Cornelier, ein Julier, ein Meteller oder ein anderer Patrizier erhielt, bedeutete die Begründung eines neuen Vermögens oder die Vermehrung eines alten ins nahezu Unendliche. Da die Zahl der Sklaven durch jede Erweiterung des Herrschaftsgebietes zunahm, waren die Bürger Roms, ob reich oder arm, zu keiner Arbeit gezwungen. Sie konnten frei genießen, was sie erwarben oder von reicheren Mitbürgern erbettelten. Sie hatten keine Verantwortung außer der, die sie sich selbst auferlegten und der sie sich entziehen konnten, wenn sie wollten, nämlich der Wahl ihrer Staatslenker. Trotz des allgemeinen Wohlstandes gab es keinen Abschnitt in der römischen Geschichte, der friedloser war als diese Zeit, in der jeder gegen jeden kämpfte. Wer sollte den Staat lenken? Diejenigen, die es auf Grund eines angestammten Rechtes tun wollten, oder diejenigen, die das Volk wählte? Diese grundsätzliche Frage verlor ihre Bedeutung dadurch, daß die meisten Gewählten ohnehin zu der Klasse der Erben gehörten, die es nur vorzogen, sich von den Volksmassen wählen statt von ihren Standesgenossen zur Staatslenkung bestimmen zu lassen. Marius gehörte zu den wenigen Ausnahmen dieser Regel, aber er entstammte immerhin einer Ritterfamilie und nicht der gewöhnlichen Plebs. Auch war er mit der Schwester eines sehr vornehmen Mannes 165
verheiratet, der es als sein Anhänger zur konsularischen Würde brachte. Diesem Julius Caesar, dessen Leistung durch den Ruhm seines namensgleichen Sohnes in den Schatten gestellt wurde, gelang es beinahe, den schwebenden Bürgerkrieg innerhalb des engeren italischen Raums zu beendigen, als er beantragte, den ›socii‹ auf italischem Boden, den treuen Bundesgenossen, das volle Bürgerrecht zu verleihen. Später wurde auch die gesamte Bevölkerung der Apenninischen Halbinsel zum Bürgerrecht zugelassen. Das bedeutete, daß nicht nur mehr die Bevölkerung einer Stadt die zur Verwaltung des ungeheuren Reiches notwendigen Beamten und Soldaten zu stellen hatte, sondern immerhin die eines Landes. Die Durchführung dieser Maßnahme zur gesellschaftlichen Befriedigung war allerdings nur durch die Militärmacht, auf die Marius sich stützte, möglich. Gegen die Legionen dieses Emporkömmlings, der sich mit den fortschrittlichen Vornehmen verschwägert hatte, konnten die auf ihren Sonderrechten eigensinnig beharrenden Senatoren nicht aufbegehren. 3 In diesem Zeitabschnitt der unruhigen Befriedung, die die ganze Aufmerksamkeit der römischen Staatslenker und des Volkes in Anspruch nahm, hatte ein östlicher Herrscher, Mithradates VI. seine Herrschaft so ausgedehnt, daß er es auf sich nahm, Rom aus Kleinasien zu vertreiben. Er hatte die Bevölkerung der Städte und Inseln, die die Erpressungen der Steuerpächter und der Verwaltungsbeamten, die Herrschaft der ›fasces‹, kaum noch ertragen konnten, zu Bundesgenossen gewonnen und ließ an einem Tag alle in den von ihm besetzten Gebieten lebenden Italiker – es sollen 80.000 gewesen sein – ermorden. In diesem Jahre 88 vor unserer Zeitrechnung war Sulla zum Konsul gewählt worden. Aber das durch die Nachrichten aus Kleinasien erreg166
te Volk wünschte, daß sein großer Beschützer, Marius, den Oberbefehl gegen Mithradates übernehme. Sulla erstürmte mit den sechs Legionen, die er unter sich hatte, Rom. Marius und seine Anhänger flohen. Die Volkspartei war durch Waffengewalt geschlagen. Sulla erwirkte ein Gesetz, daß von nun an in der Bürgerschaft über keinen Antrag ohne Vorbeschluß des Senats abgestimmt werden dürfe. Da sich kein Widerspruch gegen diese Verfügung erhob, glaubte Sulla, in den römischen Krieg gegen Mithradates mit voller Rückendeckung aufbrechen zu können. Aber während er sich auf den Weg nach Griechenland machte, das zum größten Teil schon durch Vertrauensmänner des Mithradates zum Abfall von Rom gebracht worden war, rief der neuerwählte Konsul L. Cornelius Cinna den flüchtigen Marius zurück. Sulla kämpfte auf griechischem Boden erfolgreich gegen die Aufrührer, die aus dem pontischen Königreich Unterstützung bekamen. Er belagerte Athen und war durch die unbedingt notwendigen militärischen Handlungen auf griechischem Boden dazu gezwungen, von den Ereignissen in Rom keine Notiz zu nehmen. In seiner Abwesenheit begann eine Schreckensherrschaft. Die Verwandten Sullas und seine Anhänger wurden ihres Vermögens beraubt. Viele von ihnen wurden getötet. Wer zu den senatorischen Familien zählte, die gegen Marius auftraten, war seines Lebens nicht sicher, auch nicht, als Marius starb. Cinna setzte die Willkürherrschaft fort, die kein Klassenkampf war, sondern ein Kampf um die Macht. Es schien ihm sehr an der besten Verbindung zu den altadeligen römischen Familien gelegen zu sein, denn er verheiratete seine Tochter mit einem Julier, Gaius Julius Caesar, der einer der leichtsinnigsten Lebemänner der römischen Gesellschaft war. Unbekümmert um die Ereignisse in Rom setzte Sulla nach Asien über und schloß Frieden mit Mithradates, unter der Bedingung, daß der König von Pontus die besetzten Gebiete räumte, alle Kriegsschiffe auslieferte und eine gewaltige Kriegsentschädigung zahlte. Sulla verlor seine unerschütterliche Ruhe und Sicherheit nicht, als er 167
erfuhr, daß Cinna eine Flotte ausgerüstet hatte, um ihn auf kleinasiatischem Boden bekämpfen zu können. Er nahm auch die Nachricht, daß Cinna noch vor der Ausfahrt von seinen eigenen Truppen ermordet worden sei, mit Gleichmut entgegen. Er hätte jedenfalls nicht auf die Ankunft Cinnas auf kleinasiatischem Boden gewartet. Er landete mit etwa vierzigtausend Mann in Brundisium, erwartet vom jungen Pompeius, der ihm Freiwillige zuführte. Nach einigen vergeblichen, aber blutigen Versuchen seiner politischen Gegner, ihm den Weg nach Rom zu versperren, zog Sulla zum zweitenmal in Rom ein, ließ sich vom Senat zum Diktator ernennen und begann die längst geplante Rache an den Anhängern des Marius.
Julius Caesar 1 Der römische Bürgerkrieg war ein Machtkampf zwischen zwei Parteien. In allen Provinzen wurden die ehemaligen Anhänger des Marius durch die Anhänger Sullas ausgerottet. An den Verwaltungsgebäuden wurden Listen angeschlagen, die die Ächtung der Überlebenden kundtaten. Unter den Getöteten waren neunzig Senatoren und zweitausendsechshundert Angehörige des Ritterstandes. Sulla konnte der Hilfe der Bevölkerung bei diesen blutigen Maßnahmen sicher sein, denn er konnte seine Anhänger belohnen. Die Güter der Geächteten und Getöteten wurden eingezogen, ihre Sklaven freigelassen. Ihr Landbesitz wurde aufgeteilt, nicht nur in Italien, sondern auch in den Provinzen. Mit der Niederwerfung der Anhänger des Marius in Spanien, Sizilien und Afrika wurde Pompeius betraut. Als er erfolgreich zurückkehrte, veranstaltete Sulla einen Triumph und ehrte ihn mit dem Titel ›der Große‹. 168
Unter den Geächteten befand sich auch der angeheiratete Neffe des Marius und Schwiegersohn Cinnas, Caius Julius Caesar, den es zwar nicht berührte, daß er seine durch Schulden überbelasteten Güter verlor, der aber alle seine Verwandten und Freunde in Bewegung setzte, seine Begnadigung bei Sulla zu erwirken, damit er nicht die Aussicht verlöre, wenigstens einen kleinen Posten, wenn auch nur in der provinziellen Verwaltung des Römischen Reiches, zu bekommen. Kurz nach Sullas Tod verdiente sich Julius Caesar seinen Unterhalt als Anwalt. Er war zu ehrgeizig, um sich mit dem verhältnismäßig geringen Verdienst und den belanglosen Erfolgen vor den Geschworenen zufriedenzugeben. Er wollte richtig reden und richtig denken lernen, wie der hervorragendste Rechtsanwalt Roms, Marcus Tullius Cicero. Da gab es auf Rhodos einen berühmten Lehrer namens Molon, dessen Schüler Cicero war. Bei ihm wollte sich Julius Caesar ausbilden lassen, um ein wirklich guter Anwalt zu werden. Aber er hatte in seiner Jugend kein Glück. Was immer er unternahm, mißlang, auf welche Seite er sich schlug, war die falsche Seite. Er wurde von Seeräubern gefangen und konnte nicht nach Rhodos. Dann drehte sich das Glücksrad endlich. Es gelang ihm, freizukommen und in Rom Anschluß an Pompeius zu finden, der nach dem Tode Sullas der große Mann der Zeit geworden war. Caesar wurde im Hinblick auf seine vornehme Abstammung Quästor in Spanien. Das war ein Amt, in dem man vielleicht nicht so viele wissenschaftliche Kenntnisse wie bei Molon erwerben, aber immerhin verwendbare Erfahrungen sammeln und, was Julius Caesar noch wichtiger war, Geld machen konnte. Endlich etwas Geld, um wieder standesgemäß leben zu können – nicht um Schulden zu bezahlen, denn daran dachte Caesar nicht einmal im entferntesten. Dazu reichte auch der Ertrag aus den Erpressungen, die ein Quästor machen konnte, nicht aus, denn Caesar brauchte ungeheuer viel Geld für ein neues Amt, um das er sich bewarb: er wollte Ädil werden und seine Kenntnisse in der Gestaltung von Vergnügungen, die er im kleinen Kreise betrieben hatte, für das römische Volk ohne Rücksicht auf die Kosten auswerten. Weizen bekamen die Leute auf Grund des Getreidegesetzes der Gracchen. Caesar wollte die Stimmung der Bevölke169
rung durch die Einrichtung besonderer Zerstreuungen für sich gewinnen. Jetzt hatten die Vertreter der Senatsgewalt die Macht, aber würde es immer so bleiben? Einer der vertrautesten Freunde Julius Caesars war Lucius Sergius Catilina, in dessen Haus die Nachkommen der von Sulla geächteten, verarmten Anhänger des Marius verkehrten und der durch geschickte Vermittler in allen Schenken und Marktplätzen die Erwerbslosen wissen ließ, daß ihre Zeit kommen würde, wenn seine Zeit käme. Der Plan Catilinas war, einen anderen Freund, Marcus Licinus Crassus, der durch den Ankauf der Güter von Geächteten der reichste Mann der Zeit geworden war, zum Diktator erheben zu lassen und dadurch von allem die Schuldentilgung zu erwirken, die ihn selbst wieder reich gemacht hätte. Als einer der höchsten Würdenträger in der Verwaltung des Crassus war Julius Caesar vorgesehen, der als Quästor schließlich Erfahrungen gesammelt hatte und vermutlich ebenso in der Schuld des Crassus stand wie Catilina. Die erste Verschwörung mißlang. Aber Catilina ließ sich nicht entmutigen, auch Caesar nicht. Während aber Catilina seinen ganzen Einfluß und alle Beziehungen darauf verwendete, bei den nächsten Wahlen Konsul zu werden, begnügte sich Caesar damit, sich zum ›pontifex maximus‹ ernennen zu lassen. Das war ein Amt, in dem er zwar nicht Geld erwerben konnte und auch keine unmittelbare Macht hatte, das es Gegnern aber schwer machte, ihn öffentlich anzugreifen. Wußte Caesar davon, daß Catilina seinen Gegner Cicero in seinem Haus ermorden lassen wollte? Wußte er, daß Catilina mit gallischen Stämmen, die in der Nähe der Grenzen der römischen Provinz ›Das Jenseitige Gallien‹ ein unstetes Nomadenleben führten, Verhandlungen angeknüpft hatte, um sie als Bundesgenossen in seinem persönlichen Kampf gegen den Senat zu werben? Caesar verhielt sich während der Anklage gegen Catilina und seine Mitverschworenen wie ein unbeteiligter Zuschauer bis zu dem Augenblick, in dem Cicero die Hinrichtung des abwesenden Catilina und der verhafteten Unterhändler forderte. Da erhob sich der ›pontifex maximus‹, nicht, um die Verschworenen, mit denen er im Einverständnis gewesen war, zu verteidigen, sondern als ein durch das Prie170
steramt geheiligter Jurist, um gegen die Verurteilung römischer Bürger ohne gerichtliches Urteil Einspruch zu erheben. Damit war allen Pflichten Caesars Genüge getan. Er konnte jederzeit erklären, daß es besser für die Sache Catilinas gewesen sei, legale Einwände zu erheben, als sich zum Verteidiger aufzuwerfen. Es konnte ihm aber auch kein Senator vorwerfen, daß er Catilina und seine Anhänger verteidigt habe. Er hatte nur als ›pontifex maximus‹, als Hüter des Glaubens und als solcher auch als Hüter des Rechts gesprochen. Der Einspruch Caesars hatte keine Wirkung. Die verhafteten Verschwörer wurden hingerichtet und Cicero als ›pater patriae‹, als Vater des Vaterlandes gefeiert. Caesar brachte den Göttern Opfer dar und überwachte die Altargepflogenheiten der Priester, während ein Heer des Senats gegen die bewaffnete Macht Catilinas auszog, um den politischen Kampf auf dem Schlachtfeld zu beendigen. Catilina und seine Anhänger fielen in der Schlacht bei Pistoria. Der Bürgerkrieg wäre vorüber gewesen, wenn der Senat sich nicht gegen die eigenmächtigen Anordnungen des siegreichen Feldherrn, Pompeius, gestellt und die von ihm beantragte Ackerverteilung an seine Veteranen zurückgewiesen hätte. Auch in diesem Streit trat Caesar nicht als Beteiligter auf. Er hatte in der Zwischenzeit ein militärisches Kommando für sich erwirkt, das er um so eher erhielt, als sich kein Wettbewerber für die undankbare Aufgabe fand, die Caesar begehrte: die Niederschlagung eines Aufstands in Gallien, der durch die Verschwörung Catilinas angezettelt worden war. Der Feldzug war kurz, die Wirkung gründlich. Caesar hätte nach dem Brauch Anspruch darauf gehabt, nach seiner Rückkehr in sein priesterliches Amt durch einen Triumph gefeiert zu werden. Der bescheidene Mann lehnte die Ehrung ab – bewarb sich aber um die Wahl zum Konsul. Jetzt war es an der Zeit für ihn, mit dem mächtigsten Mann Roms, Pompeius, ein Bündnis zu schließen und gleichzeitig die alte Freundschaft mit Crassus zu erneuern – ihm dadurch zwar eine Schuld, aber nicht die Schulden zu zahlen. 171
Zur Besiegelung des Bündnisses gab Caesar dem Pompeius seine Tochter Julia zur Frau und erklärte, daß er nach Ablauf seines Konsulats keine politische Macht in Rom wünsche, sondern die Staathalterschaft Galliens und der illyrischen Provinzen. Um diese schwierige Aufgabe für den Schwiegervater noch schwieriger zu machen und um ganz sicher zu sein, daß er sich Rom tatsächlich fernhalten werde, begehrte Pompeius vom Senat, daß Caesar überdies noch die in unausgesetzte Kriege mit den Galliern verwickelte Provinz Narbo, jenseits der Alpen, zur Verwaltung erhalte – und das für fünf Jahre. 2 Der Abschied Caesars von Rom war herzlich. Er hatte einen seiner Standesgenossen, den Nachkommen des großen Appius Claudius, Claudius Pulcher, von einem um neunzehn Jahre jüngeren Plebejer adoptieren lassen, damit dieser das Amt des Volkstribunen, das nicht von einem unmittelbaren Abkömmling einer senatorischen Familie verwaltet werden durfte, erhielte – unter der Bedingung freilich, daß der neue Volkstribun die Ächtung Ciceros verlange, weil er gegen die Warnung des ›pontifex maximus‹ römische Bürger ohne gerichtliches Urteil habe hinrichten lassen. Caesar hinterließ keine offenen Feinde in Rom, denn Cicero mußte in die Verbannung gehen, und die Anhänger des großen Redners wagten nicht, den Mund aufzumachen. Er behandelte aber auch die Gallier nicht als Feinde. Im Gegenteil. Er zog durch Gallien, um die Einwohner gegen die Angriffe nomadisierender germanischer Stämme zu verteidigen. Daß er dabei die von ihm Beschützten zu Untertanen des Römischen Reiches machte, war selbstverständlich, denn er wehrte schon im ersten Jahre seines Amtes Angriffe der Helvetier bei und der Sueben unter dem Fürsten Ariovist in der Nähe des jetzigen Mülhausen im Elsaß ab. Dann ging es weiter nordwärts, nicht immer ohne Schwierigkeiten. 172
Aber Caesar erreichte doch auf seinem Marsch den Rhein. Er ließ eine Pfahlbrücke bauen und überschritt den Strom. Nach achtzehntägigem Aufenthalt in der Gegend des heutigen Bonn kehrte er auf das linke Ufer zurück, überließ seinen Unterfeldherrn den Kampf mit den Galliern und zog nach dem Westen. Dieser Zug führte Caesar an das Ufer des Meeres gegenüber Britannien. Er konnte aus Mangel an Schiffsraum nur zwei Legionen ans andere Ufer übersetzen. Er blieb nicht lange. Aber auch nach der zweiten Überfahrt hielt es ihn nicht auf der Insel, obwohl er die Themse überschritt und gegen die britischen Kelten erfolgreich kämpfte. Sein Schiffslager war angegriffen worden. Er wollte nicht riskieren, in Britannien bleiben zu müssen. Er kehrte nach Gallien zurück und sah sich einem ungeheuren Aufstand gegenüber. Der Gallier Vercingetorix hatte Unruhen in Rom benutzt, fast sämtliche gallischen Völkerschaften zu dem Versuch zu vereinigen, ihre Freiheit gegen Caesar zu verteidigen. Nachdem Vercingetorix vor allem durch die germanische Reiterei Caesars besiegt war, zog er sich nach Alesia (in der Nähe des heutigen Dijon) zurück. Dort schloß ihn Caesar durch ein gewaltiges Befestigungswerk ein. Als ein zu seinem Entsatz heranrückendes gallisches Heer zurückgeschlagen wurde, riet Vercingetoris den Galliern, sich zu ergeben und ihn auszuliefern, um bessere Bedingungen zu erzielen. Er wurde vor Caesar gebracht, in Ketten gelegt, in Rom im Triumphzug mitgeführt und dann hingerichtet. Mehr als sieben Jahre war Caesar unterwegs, in einem Feldzug, den er in dem Geschichtswerk ›de bello gallico‹ selbst beschrieb. Er war nicht die ganze Zeit bei seinem Heer geblieben, sondern hatte sich während der kriegerischen Unternehmungen mit Pompeius und Crassus getroffen, um nicht die Fühlung mit Rom zu verlieren. Bei dieser Zusammenkunft hatte er großzügig zugestimmt, daß seine beiden Freunde zu Konsuln gewählt würden und nach Ablauf ihres Amtsjahres die Gelegenheit erhalten sollten, ebenso wie er siegreiche Feldherrn zu werden. Crassus erhielt die Statthalterschaft von Syrien, Pompeius die der Iberischen Halbinsel. Während Caesar an den Rhein zurückkehrte, wollte Crassus die 173
alexandrinischen Feldzüge von Syrien aus wiederholen. Das Königreich der Perser war inzwischen von den Parthern erobert worden. Es war ein kriegerisches Volk, dem die Seleukiden nicht gewachsen gewesen waren. Aber auch die von Crassus angeführten Legionen hielten den Parthern nicht stand. Im selben Jahr, in dem Caesar der endgültige Sieg über die Gallier gelang, wurde Crassus vernichtend geschlagen und bei den Friedensverhandlungen getötet. 3 Der Tod des Crassus bedeutete das Ende der zwischen ihm, Pompeius und Caesar getroffenen Vereinbarung, ›daß in der Politik nichts geschehen sollte, was einem der drei mißfiele‹. Pompeius hatte seine Statthalterschaft nicht angetreten. Er war in Rom geblieben, wo er alles tat, um sich beim Volk beliebt zu machen. Er erbaute das erste steinerne Theater für die Massen, er veranstaltete glänzende Spiele und benützte die durch die Ermordung des Volkstribunen Clodius hervorgerufenen Unruhen dazu, sich vom Senat zum alleinigen Konsul bestellen zu lassen. Der Tod Julias zerschnitt auch die persönlichen Bande mit Caesar. Pompeius heiratete die Tochter des Metellus Scipio und ließ sich die Statthalterschaft der iberischen Provinz auf weitere fünf Jahre erneuern. Was er jetzt noch brauchte, um seine Herrschaft ein für allemal zu festigen, waren die Legionen, die Caesar in Gallien befehligte. Er verlangte vom Senat, daß Caesar veranlaßt werde, nach Rom zurückzukehren. Nach wiederholten vergeblichen Unterhandlungen, in denen Caesar es ablehnte, sein Heer zu verlassen, wurde er durch den Senat zum Volksfeind erklärt. Als Antwort darauf überschritt Caesar den Bach Rubikon, der als die Grenze zwischen seiner Provinz und Italien galt, und begann dadurch wieder den Bürgerkrieg. Mit einer solchen Entschlossenheit hatte Pompeius nicht gerechnet. Er entfloh mit einem Teil des Senats, erst nach Brundisium und dann 174
nach Dyrrhachium. Caesar zog in Rom ein, aber er begann, zum Erstaunen seiner Freunde und Feinde, keine Schreckensherrschaft. Im Gegenteil, er belohnte seine Freunde und gewann seine Feinde, so daß selbst Cicero erklärte, daß er über die Nüchternheit, den Anstand und die Weisheit seines Gegners erstaunt sei. Caesar ließ ein befriedetes Rom zurück, um sich die Statthalterschaft des Pompeius gefügig zu machen. Während sein Stellvertreter Sizilien für ihn erwarb, besiegte er die Unterfeldherrn des Pompeius. Wieder nach Rom zurückgekehrt, fand sich Caesar zum Diktator ernannt. Aber es war ihm lieber, den Schein der Rechtmäßigkeit zu wahren und sich zum Konsul wählen zu lassen. Während seiner Abwesenheit waren die Schiffe gebaut worden, die Caesar benötigte, um sein Heer an der Küste von Epirus zu landen. Bei Dyrrhachium gelang es ihm, die Truppen des Pompeius zu umzingeln, aber der erfahrene Feldherr, der jetzt sein Gegner war, durchbrach die Verschanzungen und schlug Caesar in die Flucht. Mit dem Rest seiner Legionen marschierte Caesar nach Thessalien, verfolgt von Pompeius. Der nach Osten geflüchtete Senat verlängerte Pompeius die Amtsgewalt als Konsul und war gewiß, in Kürze wieder nach Rom zurückkehren zu können, denn ihr Konsul hatte sich mit einer überlegenen Heeresmacht an die Fersen der fliehenden Legionen Caesars geheftet. Das Verhältnis war mehr als zwei zu eins, als es zur Schlacht bei Pharsalus kam. An diesem strahlenden Augusttag zersprengte Caesar das mehr als doppelt so starke Heer des Pompeius so vollständig, daß seinem ehemaligen Schwiegersohn nichts anderes übrigblieb als die Flucht. Pompeius landete in Alexandria. Er wurde nicht mit den erwarteten königlichen Ehren empfangen, sondern eine Stunde nach seiner Landung auf Befehl der Vormunde des jungen König Ptolemaios XIII. ermordet.
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4 Nach dem Tode des großen Pompeius hatte Caesar keinen einzelnen Gegenspieler mehr im Römischen Reich. Aber er hatte die Feinde des Römischen Reiches gegen sich. Das erfuhr er zu seiner eigenen Überraschung, als er in seinem Wunsch, des Pompeius habhaft zu werden, die Unvorsichtigkeit beging, mit einer kleinen Truppe in Alexandria zu landen. Er kam eigentlich in eine Mausefalle und wäre ohne seine vollkommene Furchtlosigkeit verloren gewesen. Die Einwohner von Alexandria sahen endlich eine Gelegenheit, die verhaßte römische Oberhoheit über Ägypten abzuschütteln, und das noch dazu mit der Hilfe römischer Truppen, die unter dem Befehl von Offizieren standen, die Anhänger des Pompeius gewesen waren und daher Feinde Caesars. Diese Offiziere hatten sich unter den Befehl des jungen König Ptolemaios gestellt. Die benahmen sich wie Söldner, die ihre eigenen Belange höher stellten als die Zugehörigkeit zum Römischen Reich, und halfen den Ägyptern, Caesar im königlichen Palast von Alexandria zu belagern. In dieser Notlage, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben schien, half sich Caesar durch eine für seine Gegner unerwartete Maßnahme. Er ließ die ägyptische Flotte, die im Hafen lag, in Brand stecken. Das Feuer griff auf die Stadt über, wobei leider auch die größte Bibliothek des Altertums – sie umfaßte 700.000 Schriftrollen – zum großen Teil vernichtet wurde, und hielt die Belagerer in Abstand, während Caesar sich auf die Leuchtturminsel Pharos zurückzog, die den Hafen beherrschte. Dort war er unangreifbar und in der Lage, ein Entsatzheer zu erwarten, das er zu Hilfe gerufen hatte. Aber Caesar begnügte sich nicht mit den militärischen Vorbereitungen. Er hatte in dieser äußersten Gefahr, in der jeder andere nur um sein Leben besorgt gewesen wäre, eine Neuordnung des römischen Machtgebietes im Sinn, in der 176
die bevorstehende Einverleibung Ägyptens als unerschöpfliche Kornkammer Roms eine maßgebende Rolle spielte. Er verband das Nützliche auch mit dem Angenehmen. Die Wartezeit auf den Entsatz, den er brauchte, um das durch die abgefallenen römischen Legionäre gestärkte ägyptische Heer zu schlagen, vertrieb er sich mit Kleopatra, der schönen Schwester des Ptolemaios, und versprach ihr die Herrschaft über Ägypten und seinen Schutz. Endlich war es soweit, daß Caesar wieder marschieren konnte, und das nicht nur gegen die Feinde des römischen Volkes, die den Bürgerkrieg zum Anlaß nahmen, sich zu befreien, sondern immer wieder auch gegen Anhänger des Pompeius, die der Tod des von ihnen so verehrten Mannes nicht entmutigt hatte. Der Feldzug Caesars nach Kleinasien, den er nach der Besiegung des ägyptischen Heeres unternahm, dauerte nach zeitgenössischen Berichten nur fünf Tage. Er selbst faßte seine eigene Meldung nach Rom in drei Worte: »Veni, vidi, vici. – Ich kam, sah, siegte.« Die Wirkung dieser drei Wörter überwältigte Rom. Aber Caesar hatte seine eigene Art, über seine militärischen und politischen Erfolge in Schlagworten zu berichten. Er soll nach seiner Rückkehr auf italischen Boden einen Aufstand der in Kampanien stehenden Legionen durch ein einziges Wort beschwichtigt haben: »Quirites!« Für diesen Ausruf gab es die verschiedensten Auslegungen. Nur wenige Geschichtsschreiber erklärten die Bedeutung dieses Wortes. Caesar wollte damit sagen, daß die Legionäre, die als ›quirites‹ Anspruch auf Landverteilungen hatten, sie auch erhalten würden. Die ›Ansprache‹ Caesars bestätigte den Anspruch. Noch zwei große Feldzüge hatte er zu führen, um mit dem Widerstand der natürlichen und geistigen Nachkommen des Pompeius aufräumen zu können. Der eine in Afrika gegen Söhne des Pompeius und ihre mächtigsten Anhänger (Schlacht bei Thapsus), der andere gegen Söhne des Pompeius auf der Iberischen Halbinsel (Schlacht bei Munda). In beiden Feldzügen siegte Caesar um Haaresbreite – aber er siegte und konnte in Rom endlich die Triumphe feiern, die er sich bis dahin versagt hatte. 177
Jetzt war er nicht mehr nur ein Ehrgeiziger, der dem Erfolg nachjagte, ein Verarmter, der Geld auftreiben mußte, um seine dringendsten Schulden zu zahlen. Er hatte alle Wettbewerber um die Macht überlebt und diejenigen aus dem Weg geräumt, die ihm nicht den Gefallen getan hatten, früher zu sterben. Er brauchte nicht mehr auf Abwege zu gehen oder Umwege zu machen, um die höchsten Ämter zu erhalten, die Rom zu vergeben hatte. Man bot sie ihm an: die Diktatur, die volkstribunizische Gewalt auf Lebenszeit – und ›pontifex maximus‹, der Oberste Priester, war er ohnehin geblieben. Die Staatskasse stand zu seiner Verfügung. Sie war in den vorhergegangenen Jahrhunderten durch Besteuerungen, Erpressungen und Tribute gefüllt worden. Caesar brauchte sich nicht mehr der verhaßten Beschäftigung des Rechnens zu widmen. Er konnte verschwenden, soviel er wollte. Zur Feier seines Triumphes wurde das römische Volk an zweiundzwanzigtausend Tischen so festlich bewirtet, als wäre jeder Plebejer ein Patrizier und könne die erlesenen Speisen und Weine würdigen, die ihm zu Ehren aufgetragen wurden. Caesar hatte schon als Ädil den Römern besondere Schauspiele geboten, aber nur soweit wie das von Crassus geliehene Geld reichte. Er hatte Gladiatorenkämpfe veranstaltet und Jagden im engen Raum der Arena. Aber das waren nur belanglose Kostproben der ungeheuren Spiele gewesen, die er jetzt veranstaltete. Man sah seltene Tiere aus aller Welt, Kämpfer aus allen Provinzen in ihren landesüblichen Trachten töteten einander mit ausländischen Waffen zum Vergnügen der Zuschauer, die das Gefühl bekommen sollten, daß ihnen der Erdkreis zu Füßen lag. Und wem verdankten sie es? C. Julius Caesar, dem geschicktesten Staatsmann, dem erfolgreichsten Feldherrn, dem Mann, der keine Rivalen hatte. Er ergriff die Zügel der Verwaltung als Alleinherrscher, ohne jedoch die alten Formen der Verfassung zu ändern. Er schuf Gesetze, aber sie wurden nur durch die Bestätigung der althergebrachten Körperschaften zum Recht. Er entließ den Senat nicht, aber er verwässerte seine Macht, indem er ihn durch die Einstellung seiner Anhänger auf neunhundert Mitglieder vermehrte. Er behielt sich die oberste Gerichtsbarkeit vor und begann, Rom nach seinem Geschmack umzubauen. An 178
der Südseite des Forums errichtete er die Basilica Julia, die Nordseite erweiterte er durch das Forum Julius. Er gründete eine öffentliche Bibliothek; sie sollte die Bibliothek von Alexandria ersetzen, die durch sein Verschulden fast vernichtet war. Er schuf neue Kolonien in den Provinzen, verfügte den Wiederaufbau Karthagos und Korinths, ließ die Bürgerschaft Roms zählen und bereitete den großen Krieg gegen die Parther vor, um das Reich Alexanders in Asien wiedererstehen zu lassen, nicht als Griechenreich, sondern als Römerreich. Als Münzen mit dem lorbeerumkränzten Haupt Caesars geprägt und seine Bildsäulen in allen Tempeln der Stadt aufgestellt wurden, hieß es im Volk, daß er sich zum König krönen lassen wolle. Man nannte schon den Monat, in dem er geboren war, nicht mehr Quinctilis, sondern Julius. Er hatte den Kalender verändert, der nun nach ihm der julianische hieß. Alle fünf Jahre sollten zu Ehren seines Geburtstages Spiele veranstaltet werden. Am Februar des Jahres vor unserer Zeitrechnung fand das Lupercus-Fest statt, eine feierliche, freudige Zusammenkunft des Faunus, des Gottes der Wälder, Fluren und Felder. Caesars Unterfeldherr M. Antonius (Marc Anton) ließ für diesen Tag eine goldene Krone schmieden, um sie Caesar zur Krönung anzubieten. Seine Bildsäule stand schon am Ende der Reihe der sagenhaften Könige Roms. Beinahe fünf Jahrhunderte waren seit der Vertreibung des letzten Königs vergangen, ein halbes Jahrtausend römischer Geschichte, der Entwicklung der Stadt aus einer unbedeutenden Ortschaft zur Beherrscherin der Erde. Julius Caesar, der alle Eroberungen Roms gesichert und dem ungeheuren Gebiet den Frieden aufgezwungen hatte, sollte der neue König des riesenhaften Reiches sein. Nur die wenigsten Bürger glaubten, daß er diese Ehrung, diese Krönung seines Lebenswerkes im wahren Sinne des Wortes, aufrichtig ablehnte. Die meisten waren davon überzeugt, daß Caesar nur darauf wartete, daß sie ihm aufgenötigt daß er sie unter scheinbarem Zwang annehmen werde. Er hatte viele persönliche Feinde, Neider und Mißgünstige, Männer, die nicht glaubten, daß er seine unerhörte Stellung nur seiner Leistung verdankte, sondern eher der Meinung Ciceros zu179
neigten, der gesagt hatte, ›daß Caesar ein Sklave der Umstände sei und unfähig, vorauszusagen, was geschehen würde‹. Am 5. März, einen Monat nachdem Antonius ihm die Krone angeboten hatte, wurde Caesar von seinen angeblichen Freunden, die seine Feinde waren, ermordet. Als er sah, daß auch Brutus, sein Günstling, unter den Mördern war, verhüllte er sein Haupt und ließ wortlos und ohne Gegenwehr zu, daß ihn dreiundzwanzig Stiche durchbohrten.
Augustus 1 Die Mörder Caesars, die ihre persönlichen Beweggründe unter dem Vorwand verbargen, die Republik vor ihm zu schützen, wurden die Totengräber der Republik. Denn das Ende des Alleinherrschers, der die Ordnung im Römischen Reich durch Gewalt und Güte, durch Bestechung und Überredung wiederhergestellt hatte, bedeutete den Anfang eines neuen Bürgerkrieges. Die blutigen Auseinandersetzungen, die der Ermordung Caesars folgten, führten zu dem, was die Verschwörer durch den Mord verhindern wollten: zur Alleinherrschaft eines Mannes, gegen die es keinen Widerstand gab. Der römische Senat war nicht mehr eine ansehnliche Versammlung der Ältesten, die ihre Grundsätze von Vorvätern ererbt hatten, sondern der Zusammenkunftsort erfolgreicher Politiker und unternehmungslustiger Abenteurer, die ihre mit Purpurstreifen eingefaßten Gewänder trugen, um ihre durch Vorrechte begünstigte Zugehörigkeit zum obersten Stand zu bekunden. Der senatorische Rang wurde ganz selbstverständlich Konsuln und Statthaltern nach ihrer Dienstzeit zuteil. Auch wer gute Beziehungen und ein ausreichendes Vermögen besaß, konnte es dazu bringen, Senator zu werden. Es fehlte dieser obersten Körper180
schaft Roms jene ausstrahlende Würde, die die Bürgerschaft in Ehrfurcht versetzte und den Legionen Gehorsam gebot. Einzelne Senatoren ragten aus der Masse des Senats hervor, aber diese außerordentlichen Männer waren zumeist ehrgeizige Machthungrige. Zwei dieser Persönlichkeiten kämpften um das Erbe Caesars. Der eine war M. Antonius, der als Unterfeldherr und Günstling des Ermordeten bekannt und sowohl ein bewährter Staatsmann als auch ein überlegener Feldherr war. Der andere war Octavianus (= Octavian), Caesars Adoptivsohn und Großneffe, der sich als Neunzehnjähriger vor der Wahl sah, entweder sein Leben in Bedeutungslosigkeit und Abhängigkeit von M. Antonius verbringen zu müssen oder ein unabhängiger, bedeutenderer Mann zu werden, als Caesar selbst es gewesen war. Nur sehr wenig im Wesen Octavians erinnerte an seinen Großonkel. Er hatte weder die leichtsinnige Jugend Caesars hinter sich, noch war er eine Spielernatur. Vielleicht fehlte ihm die robuste Gesundheit Caesars und die in Abenteuern gewonnene Erfahrung, daß keine Umstände so schwierig sein könnten, als daß es nicht möglich wäre, einen Ausweg zu finden. Octavian hatte auch nicht den übermütigen Sinn, allein um des Wagnisses willen etwas zu wagen. Er versuchte, soweit er es in diesen unsicheren Zeiten konnte, sicherzugehen. Er war kein Neuschöpfer einer Macht. Er betrachtete sich als Erbe, allerdings erst von dem Augenblick an, als er zu seiner Überraschung erfuhr, daß er Erbe geworden war und nun C. Julius Caesar Octavianus hieß. Octavian verhielt sich vorsichtig und umsichtig. Wenn er Fehler machte, entschuldigte er sich mit seiner Jugend. Wenn er erfolgreich war, erklärte er, es sei der Unermüdlichkeit und Zähigkeit seiner jugendlichen Spannkraft zuzuschreiben. Er entstammte, wie sein Großonkel, dem höchsten Adel Roms, aber er hatte im Grunde einen bürgerlichen Sinn, oder auch zumindest das tiefe Verständnis für das, was die Bürger Roms wollten, was sie haben mußten: Ruhe und gesicherte Verhältnisse. Seit Rom Großmacht war, waren die Verhältnisse nie so unruhig und 181
unsicher gewesen wie nach dem Tode Caesars. Selbst die klarsten Denker des Senats wußten nicht, auf welcher Seite sie eigentlich standen. Sollten sie die Mörder Caesars verurteilen? Sollten sie gegen die Rächer des Ermordeten sein oder sich für oder gegen die neu aufgeflackerte Bewegung zugunsten der Erben des Pompeius erklären? Wer von all den Politikern und Offizieren, die über Legionen verfügten, stand für Rom unter Waffen, wer gegen Rom? Das wußten weder die Befehlshaber noch die Legionäre, denn einmal schien es zum Vorteil der Truppen zu sein, sich um die Standorte des Antonius zu sammeln, ein andermal, mit Octavian gemeinsame Sache zu machen und dann wieder mit Brutus und Cassius, den Mördern Caesars, gegen seine Rächer zu ziehen, die sich untereinander bekämpften. Außerdem forderten die vom Volk gewählten Konsuln Gehorsam. Zu welchem Zweck? Mit welchem Ziel? Für oder gegen wen? Schließlich entschieden nicht mehr die Neigungen und Gesinnungen die Stimmung der Legionäre. Es entschied der persönliche Nutzen, der sich meist in Geld beziffern ließ, das die Legionäre und ihre Offiziere erhielten, bares Geld, das in ihre Hände gezählt wurde, oder Versprechungen, so schmackhaft gemacht, daß sie bestechender erschienen als bares Geld. Für die alten bewährten Legionäre war das Kämpfen ein Beruf oder eine innere Notwendigkeit. Sie unterstützten jeden Bewerber um die Macht, der sie in den Kampf führte, einerlei wo und gegen wen. Das beliebteste Vergnügen der Bürgerschaft war es, Kampfspielen in der Arena zuzusehen. Mit der gleichen oder noch größeren Aufmerksamkeit beobachteten sie die Machtkämpfe. Aber auch als Antonius und Octavian sich einigten und mit Lepidus, dem neuen ›pontifex maximus‹, ein Triumvirat errichteten, eine Dreimännerherrschaft, durch die der Bürgerkrieg beendigt werden sollte, bedeutete es nicht sein Ende. Das Bündnis war nur geschlossen worden, damit sich die Rächer Caesars gegen die Mörder vereinigten. Noch vor dem Entscheidungskampf fielen der Rachsucht des Triumvirats hundertdreißig Senatoren und zweitausend Ritter zum Opfer. Ihr Vermögen wurde eingezogen und zur Bezahlung und Bestechung der Legionen und Politi182
ker verwendet, die sich für Octavian und Antonius erklärten. Lepidus zählte nicht. Er erhielt von seinen Partnern auch nur eine verhältnismäßig kleine Abfindung. Die beiden verbündeten Gegner und Wettbewerber um die Macht, Antonius und Octavian, veranstalteten einen gemeinsamen Feldzug, um die Mörder Caesars, die ihre Streitkräfte im Osten des Reiches verstärkt hatten, zu vernichten. Die Schlacht bei Philippi verlief unentschieden, doch Cassius hielt seine Sache vorzeitig für verloren und stürzte sich in sein Schwert. Brutus zog sich ins Gebirge zurück und ließ sich zu einer zweiten Schlacht verleiten, in der er geschlagen wurde. Als er auf der Flucht erfuhr, daß die meisten seiner Freunde gefallen waren, ergriff ihn Lebensüberdruß, und er ließ sich von einem Söldner mit dem Schwert durchbohren. Jetzt trennten sich die Wege des Octavian und des Antonius. Der Großneffe Caesars kehrte nach Italien zurück und benützte den Sieg, um die Landzuweisungen, die er den Veteranen versprochen hatte, durchzuführen. Inzwischen genoß Antonius den Sieg in einer wahrhaft triumphalen Reise durch die östlichen Provinzen des Reiches. An der Spitze seiner Legionen zog er durch Kleinasien und Syrien. Bei jedem Aufenthalt fand ein Bankett auf Kosten der Bevölkerung statt. Er fühlte sich überlegen wie sein ehemaliger Feldherr. Auch er beeilte sich, die gewaltigsten Strecken in der kürzesten Zeit zu durchmessen. Das ›Veni, vidi, vici‹ Caesars trieb Antonius zur Eile an. Er kam, sah – aber er kam nicht zum Siegen. Denn in seinem Wunsch, in die Fußstapfen Caesars zu treten, führte er auch eine Begegnung mit der bezaubernden Frau herbei, die Caesar während seines unfreiwilligen Aufenthalts in Alexandria die Zeit so angenehm vertrieben hatte. Antonius wollte nicht nur die Macht, die Caesar besessen hatte, er wollte auch Kleopatra. – Und als er sie besaß, siegte er nicht mehr. Er hatte seine Jugend in Feldlagern verbracht. Bis zu seinem Sieg bei Philippi hatte er sich nie Ruhe und Vergnügen vergönnt. Das holte er jetzt nach. Er lebte mit Kleopatra wie ein König mit seiner Königin in Alexandria und verließ es nur, wenn ihn sein Gewissen dazu antrieb. Seine Feldzüge gegen die Parther blieben ebenso erfolglos wie die seiner Vorgänger. Aber er hielt Frieden mit Octavian und ließ sich zur 183
Besiegelung der guten Beziehungen dazu herbei, dessen Schwester zu heiraten. Diese Ehe war nur eine politische, denn Antonius brach seine Beziehung zu Kleopatra nicht ab und war stolz darauf, daß sie ihm Kinder schenkte. Er vergaß immer mehr, daß er römischer Feldherr und Statthalter war. Der Lebensgefährte Kleopatras und Vater ägyptischer Prinzen fühlte sich als Herr des Morgenlandes. Er wollte den Nachkommen des Ptolemaios, die nun auch seine Nachkommen waren, die Königswürde sichern. Er verschenkte römische Provinzen an sie und war erstaunt, als er erfuhr, daß Octavian ihn durch den Senat zum Volksfeind hatte erklären lassen und daß er zum Krieg gegen ihn rüstete. Rom, das sehr fern gewesen war, erschien Antonius mit einemmal sehr nahe. Er war wenigstens früher immer ein siegreicher Feldherr gewesen, auch mit wenigen Legionen. Jetzt hatte er die Hilfsmittel des Pharaonenreiches und der asiatischen Provinzen zur Verfügung. Er baute Schiffe, um Rom von Ägypten aus zu erobern. In den Jahren, in denen Octavian sich selbst überlassen war, festigte er seine Macht im Westen des Römischen Reiches so, daß es ihm ein leichtes war, Antonius zuvorzukommen. Er hatte auch das Glück, einen erfahrenen Unterfeldherrn für sich zu gewinnen, Agrippa, der sich bereits als Flottenbefehlshaber gegen die Erben des Pompeius bewährt hatte. Überdies hatte Octavian für alle Fälle einige Feldzüge unternommen, um seine eigenen Fähigkeiten als General zu erproben. Das war ihm mit den Veteranenlegionen seines Großonkels nicht schwergefallen. Er hatte die Grenzen des Römischen Reiches über die dalmatinische Küste hinaus in die pannonische Tiefebene bis zur Donau ausgedehnt und die von Caesar erlernte Sicherung neuer Grenzen durch die Gründung von Kolonien wiederholt. Er sah der Entscheidungsschlacht mit Antonius mit der gelassenen Ruhe entgegen, die alle seine so sorgfältig vorbereiteten Unternehmungen kennzeichnete. Die Seeschlacht bei Actium, in der sich Antonius und Kleopatra der von Agrippa befehligten Flotte stellten, dauerte nicht lange. Einen Augenblick der Verwirrung benutzte Kleopatra, sich mit ihrer ägyptischen Flotte aus dem Gefecht zu ziehen. Sie hielt die Lage des Antoni184
us wohl schon seit längerer Zeit für bedenklich und wollte sich durch ihre Flucht von ihm trennen, um Octavians Verzeihung zu erlangen. Kaum bemerkte Antonius ihre Flucht, da ließ er alles im Stich und setzte mit einem kleinen Boot hinter ihr her. Er erreichte ihr Schiff und fuhr mit ihr heim nach Ägypten. Trotzdem kämpfte sein Geschwader tapfer weiter, doch am Abend waren 300 Schiffe erobert, versenkt oder verbrannt. Sein Landheer wartete sieben Tage auf seine Rückkehr, dann wurde es umstellt und trat in Octavians Heer ein. Die Generale waren schon vorher zu Octavian übergegangen. So endete die Schlacht bei Actium, einer der Wendepunkte der Weltgeschichte. Hier wurde entschieden, ob der Westen Europas seine Eigenart behalten sollte, wie wir sie noch heute kennen, oder ob er sich dem Einfluß des hellenistischen Orientalismus unterwerfen müßte. Und dieser Tag war auch die Geburtsstunde des römischen Kaisertums, das das Fortleben antiken Geistes auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft und des Rechts sicherte. Octavian verfolgte die Besiegten. Als er durch das Nildelta marschierte und vor Alexandria angekommen war, beseelte Antonius noch einmal der alte kriegerische Geist. Er unternahm mit seinen Reitern einen Ausfall und errang einen glänzenden Sieg. Dann versuchte er, dem Gegner eine Landschlacht zu liefern, während Kleopatras Schiffe die Flotte des Octavian angreifen sollten. Die Schiffe gingen zum Feinde über, Octavian eroberte Alexandria. Über den offenbaren Verrat Kleopatras empört, eilte Antonius zu ihr. Man ließ ihn nicht vor und sagte ihm, sie habe Selbstmord verübt. Da stürzte er sich in sein Schwert, ließ sich zu ihr bringen, nachdem er erfahren hatte, daß sie lebe, und starb in ihrer Gegenwart. Kleopatra versuchte, das Leben ihrer Kinder zu retten und ihnen den ägyptischen Thron zu sichern. Als sie aber an Octavians Kälte merkte, daß ihr die Schande drohte, im Triumph durch Rom geschleppt zu werden, starb sie trotz strenger Bewachung durch Gift – ob durch den Biß einer Giftschlange oder durch einen vergifteten Trank, wußte man schon im Altertum nicht. Caesarion, der Sohn Kleopatras von Julius Caesar, wurde hingerichtet; die Kinder aber, die sie mit Antonius hat185
te, zog Octavia auf, die Gemahlin des Antonius und Schwester des Siegers Octavian, eine der edelsten Frauen des Altertums. 2 Am selben Tag, an dem Gaius Julius Caesar Octavianus dem Senat und dem Volk von Rom kundtat, daß er sich nun, nach Beendigung des Bürgerkrieges, seiner Würden und aller Macht freiwillig entledige, wurde er der mächtigste Mann des Römischen Reiches und gewann die höchste Würde, die es zu vergeben hatte. Der Senat verlieh ihm in feierlicher Sitzung den Ehrennamen Augustus, das heißt ›der Erhabene‹, und erhob ihn zum ›princeps senatus‹, der das Ehrenvorrecht hatte, als Erster im Senat seine Meinung zu äußern. Octavian legte auf diesen Titel besonderen Wert, weil er nicht als absoluter Monarch, sondern als ›erster Bürger‹ erscheinen wollte. Dieser verhältnismäßig bescheidene Titel bedeutete dem Besitzer die ausübende Gewalt. Octavian war dadurch Oberhaupt des Senats geworden und als solcher ›Imperator‹. Das Volk, das den inneren Frieden durch den ersten Augustus gewährleistet sah, tat ein übriges. Es übertrug ihm die tribunizische Gewalt auf Lebenszeit und ermächtigte ihn dadurch, Gesetze zu beantragen oder gegen Gesetze Einspruch zu erheben, und sicherte ihm persönliche Unantastbarkeit. Was dem großen Julius Caesar trotz seiner überlegenen Feldherrnkunst und staatsmännischen Gewandtheit nach einem langen, ehrgeizigen Leben mißlungen war – sein kaum über dreißig Jahre alter Adoptivsohn und Großneffe machte es sich widerstandslos zu eigen: die unbeschränkte Alleinherrschaft. Als er außerdem noch den Titel ›pater patriae‹, Vater des Vaterlandes, erhielt, ließ er sich in seiner gespielten Bescheidenheit zwar ›Imperator‹ und ›Augustus‹ betiteln, aber er fügte hinzu ›Caesaris Divi Filius‹«, Sohn des göttlichen Caesar. Augustus trug keine Krone. Er saß auch auf keinem Thron. Er beanspruchte nicht, als Gottheit verehrt zu werden, sondern nur als Sohn 186
eines Göttlichen. Aber nichts als der Schein unterschied ihn in seiner persönlichen Lebensführung und in der Führung des Staates von einem absoluten Alleinherrscher. Er hielt äußerlich an den althergebrachten Formen fest: er beantragte, der Senat beschloß; er schlug vor, das Volk nahm an. Allerdings machte er weder einen Antrag noch einen Vorschlag, für dessen günstige Erledigung er nicht im voraus gesorgt hatte. Die Würden, die Augustus dem Senat und dem Volk von Rom verdankte, hatten nur dann einen bleibenden und inneren Wert, wenn er dafür sorgte, daß die sprichwörtliche Würde des Senats und des Volkes, die in den Bürgerkriegen verlorengegangen war, wiederhergestellt wurde. Rom verdankte Augustus bald nicht nur den inneren Frieden, der als die ›pax Augusta‹ bezeichnet wurde, sondern auch die Festlegung und Niederschrift der Legenden der römischen Vergangenheit, die durch seine Anregungen und unter seiner Anleitung zur Dichtung und zur Geschichtsschreibung wurden. Augustus selbst war freilich zu erhaben, um Dichtern und Schriftstellern wie Vergil und Livius seine Wünsche unmittelbar mitzuteilen. Er bediente sich zur Vermittlung seines Freundes Maecenas, der weder Geld noch Aufmunterung sparte, um in Worte fassen zu lassen, was Augustus wünschte. Die Sitten der Väter, der fromme Glaube an die Gottheiten, die Rom geschaffen und zu dem gemacht hatten, was es war, sollten in gelehrter Sprache und das Ohr ansprechenden Versen von Palast zu Palast und von Hütte zu Hütte verbreitet werden. Vielleicht schwebte Augustus das Beispiel Homers vor, der den griechischen Geist in der ›Ilias‹ und in der ›Odyssee‹ geformt hatte, als er Vergil zur Niederschrift der ›Aeneis‹ anregen ließ und so ein Sinnbild vorbildlicher Frömmigkeit und Tüchtigkeit schuf, das er selbst in aller Erhabenheit nachahmte. Auch Horaz, der eine leichtere Feder führte, dichtete, wie es dem Princepa gefiel. Er pries in seinen Römer-Oden ›den Mann, der am Recht festhält und sich auch nicht durch den Zusammenbruch des Weltalls in Schrecken versetzen läßt‹. Augustus war von dem Grundsatz bewegt, daß die Gegenwart der Mitwelt erst groß erscheinen würde, wenn sie einer großen Vergan187
genheit nachstrebte und gleichkam. Er war ein ›praefectus morum‹, ein ›öffentlicher Taktschläger der Sitten‹ und beschränkte in seinem Amt als oberster Zensor die Freiheit künstlerischen Ausdrucks. Wenn ein Dichter nur um des Dichtens willen, um der Freude am Schönen zu begnügen oder um seinen eigenen Empfindungen Ausdruck zu geben, Bücher schrieb und Popularität errang, wurde Augustus ein Feind der Kunst und des Künstlers, der sie nicht so ausübte, wie es dem erhabenen Vater des Vaterlandes gefiel. Das mußte Ovid bitter beklagen, der lieber über die Liebe schrieb als über die legendäre Gründung Roms und vergangene Helden. Sein beliebtes Lehrbuch über ›Die Kunst zu lieben‹ wurde von Augustus verboten und der Dichter verbannt, obwohl er doch nur ein Sprecher der Zeit war, die trotz der künstlichen Vergoldungen, mit denen Augustus sie schmücken wollte, lebendig und natürlich fortschritt. Um dem Princeps, dem Imperator Augustus, zu gefallen, benahmen sich auch diejenigen Römer scheinheilig, denen nichts mehr heilig war. Durch die Ordnung, die er mit ruhiger und sicherer Hand aufrechterhielt, strömte alles Geld und was mit Geld zu kaufen war nach Rom.
Während seine Legionen, manchmal unter seinem Befehl, aber zumeist unter dem Befehl von ihm ernannter Feldherrn, die Grenzen des Imperiums ausdehnten und sicherten, gewannen die Sitten und Gebräuche der Bewohner der römischen Provinzen und Herrschaftsgebiete immer mehr Einfluß auf die Lebensführung und Geisteshaltung Vornehmen und des Volkes der Hauptstadt. Auch Augustus konnte sich dem zeitgenössischen Hang zur Großartigkeit nicht entziehen. Er errichtete auf dem Palatin inmitten von kunstvollen Gärten einen gewaltigen Palast. Aber Rom, dessen Erster Bürger er war, sollte nicht nur durch die Prachtentfaltung des Princeps bekunden, daß es der Mittelpunkt der Welt geworden war. Auch die Verwaltungsgebäude und Gotteshäuser sollten den Eindruck seiner Bedeutung und Größe vermitteln. Es entstanden auf dem Forum 188
Romanum prächtige Bauten, die Augustus dem Andenken Julius Caesars widmete. Die näheren und weiteren Verwandten des Augustus, die reichen Senatoren und Ritter, wetteiferten mit ihm in einer Bautätigkeit, die der Stadt ein neues Gesicht gab. Es entstanden Thermen, riesige Badeanlagen, in denen die Römer auch durch sportliche Übungen für ihre körperliche Ertüchtigung sorgen konnten. Die erhalten gebliebenen Heiligtümer der römischen Vergangenheit wurden in ihren alten Formen belassen, aber zu Ehren der Gottheiten, die der Stadt ihre Gunst bewiesen hatten, wurden neue Tempel erbaut, wie die Heiligtümer des Apollo, des Mars und der Venus. Marcellus, der Schwiegersohn des Augustus, errichtete ein Theater, sein vertrauter Freund und Feldherr, Agrippa, das Pantheon, das allen Göttern geweiht war. In wenigen Jahrzehnten erwuchs ein neues Rom, dessen steinerne Pracht wie ein einziges, gewaltiges Denkmal wirkte und in dem alle Bürger Sonderrechte genossen, so daß sich ihr Leben von dem aller anderen Erdenbewohner unterschied. Für ihre Sättigung sorgte die regelmäßige Getreideverteilung, zu ihrer Zerstreuung dienten Spiele im Theater und in der Arena, für ihre Erbauung Opferdienste und Feierlichkeiten zu Ehren der Götter. Die Bürger waren es müde, politische Unstimmigkeiten durch Wahlen hervorzurufen. Nach den blutigen Bürgerkriegen bestanden sie nicht mehr darauf, ihre Rechte auszuüben. Die Macht lag in den Händen des Augustus. Solange er sie nicht mißbrauchte, sondern sie, wie es schien, zum Wohle des Volkes verwendete, war ja alles gut. Konnte ein Armer in einer besseren Welt leben, da hier doch für die Bedürfnisse seines Daseins gesorgt war? Konnte ein Reicher ein besseres Leben führen als das, in dem alle Genüsse käuflich waren? Eine satte Zufriedenheit erfüllte die Stadt, die alles, was die Erde bieten konnte, genoß und die sich überdies noch rühmen konnte, an allen Ecken und Enden des Reiches von ihren Statthaltern und Generalen im kleinen nachgeahmt zu werden. So wie die Bürger Roms reines und frisches Wasser durch mächtige Bogenbauten aus den Bergen bezogen, sollten auch die Provinzstäd189
te in die Lage versetzt werden, sich der klaren, frischen Quellen der sie umgebenden Berge zu erfreuen. Was Rom im großen besaß, entstand in kleinerem Ausmaß in den Hauptstädten der Länder, die Rom untertan waren. Diese Nachahmung war nicht nur eine äußerliche. Die Statthalter und ihre Untergebenen, die römische Bürger waren, die Kolonen und die ausgedienten Legionäre hatten den Ehrgeiz, die römische Lebensführung, diese festgefügte Mischung aus den verschiedensten Gebräuchen, nachzuahmen. Nicht in allen Ländern des Römischen Weltreichs vollzog sich diese Vereinheitlichung, die eher die Folge einer Entwicklung als eines zielbewußten Planes war und auch die Verehrung gleicher oder ähnlicher Gottheiten voraussetzte. Eines der Herrschaftsgebiete, in dem die Vereinheitlichung im römischen Sinn mißlang, war das kleine Reich der Juden, das Pompeius auf seinem Eroberungszug durch Syrien dem Römischen Reich einverleibt hatte. Selbst Pompeius hatte es in Jerusalem nicht erreichen können, daß seine Götter von den Juden angebetet wurden. Mit dem überlegenen Lächeln eines großmütigen Siegers hatte er keine blutige Rache an den Querköpfen genommen, die ihm zu widersprechen gewagt hatten. Aber er hatte insofern das Gebiet, das von den Hohepriestern des seltsamen jüdischen Glaubens verwaltet worden war, unter die Herrschaft einer Rom freundlichen Fürstenfamilie gestellt. Der König der Juden, der zur Zeit des Augustus eher Mittelsmann zwischen den Römern und Juden als Herrscher war, hieß Herodes. Er wurde später ›der Große‹ genannt, vielleicht auch, weil das unerhörte Ereignis, das sich in seinem Königreich abspielte, einen so starken Widerschein auf ihn warf, daß die Bedeutung seines Daseins in der Einbildungskraft der Menschheit ins Große gesteigert werden mußte. Die römische Provinz, in der die Juden lebten, wurde von einem Untergebenen des Statthalters von Syrien beherrscht, einem Prokurator, dem es vor allem oblag, die Steuern einzutreiben und die Ordnung aufrechtzuerhalten, da die Steuereintreibung in einem von Zwistigkeiten beunruhigten Land mangelhaft werden mußte. Es war ein unbedeutendes Amt. Für die Abkömmlinge vornehmer römischer Familien 190
bedeutete es beinahe eine Verbannung, im Lande der Juden ein Amt zu verwalten.
In seinem Roman ›Ben Hur‹ schildert Lewis Wallace die bedeutsamen Ereignisse zur Zeit der Geburt und des Todes Jesu Christi.
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Ben Hur
von Lewis Wallace
In die Wüste Der Dschebel es Zubleh ist ein Gebirgszug von mehr als fünfzig Meilen Länge und so schmal, daß er auf der Landkarte wie eine Raupe aussieht. Wenn man auf seinen rot-weißen Felsen steht und nach Osten hinunterschaut, dehnt sich die Wüste Arabiens zu Füßen, wo sich die Ostwinde, die den Weinbauern von Jericho so gefährlich sind, seit Ewigkeiten tummeln. Der Fuß der Gebirgskette ist ganz von Sand bedeckt, der vom Euphrat herübergeweht ist und dort liegenblieb; denn der Dschebel ist ein Wall vor dem Weideland von Moab und Ammon im Westen, das früher ein Teil der Wüste war. Die Araber haben ihre Sprache allem aufgeprägt, was südlich und östlich von Judäa liegt; in ihrer Sprache ist der alte Dschebel Vater zahlloser Wadis, der Wasserrinnen, welche die römische Straße durchschneiden. Heute gibt sie nur noch eine schwache Vorstellung von dem, was sie einst war, sie ist nur noch ein staubiger Weg für die syrischen Pilger nach und von Mekka. Durch ihre Rinnen, die sich immer tiefer gegraben haben, stürzen in der Regenzeit die Gießbäche in den Jordan und in ihr letztes Sammelbecken, das Tote Meer. Aus einem dieser Wadis kam ein Reiter hervor auf dem Wege zur Hochebene der Wüste. Seiner Erscheinung nach mochte er etwa 45 Jahre alt sein, sein einst tiefschwarzer Bart, der breit auf seine Brust niederhing, zeigte schon weiße Fäden. Sein Gesicht war braun wie gebrannter Kaffee und fast ganz von einem roten Kufiyeh bedeckt – wie das Kopftuch damals von den Söhnen der Wüste genannt wurde. Dann und wann hob er die Augen, sie waren groß und dunkel. Er trug das weite faltige Gewand des Orients; man konnte es nicht genauer beschreiben, da er unter einem kleinen Zelt auf dem Rücken eines großen weißen Dromedars saß. 193
Die Farbe und Größe des Tiers, die Breite seiner Füße, sein von Muskeln strotzender Körper, der lange, schwanengleich gebogene schlanke Hals, der zwischen den Augen ganz weiße Kopf, der spitz zum Maul lief und vom Armreif einer Dame hätte umspannt werden können, seine Bewegungen, sein langer und elastischer, sicherer und lautloser Gang – das alles kennzeichnete ein ganz unschätzbares Tier. Als das Dromedar aus dem letzten Einschnitt des Wadi hervorkam, hatte der Reiter die Grenze von El Belka, dem alten Ammon, überschritten. Es war am frühen Morgen. Vor ihm stand die Sonne, halb vom flockigen Nebel verhüllt; vor ihm dehnte sich die Wüste, nicht das Gebiet des treibenden Sandes, das lag weiter entfernt, sondern die Region, in dem das Gras zu sprießen beginnt, wo die Fläche mit Granitblöcken bestreut ist, mit grauen und braunen Steinen, untermischt mit verschmachtenden Akazien und Bündeln von Kamelgras. Und nun waren Weg und Straße zu Ende. Das Dromedar schien noch rascher als bisher angetrieben zu werden, seine Schritte wurden länger und schneller, sein Kopf streckte sich fast waagerecht dem Horizont entgegen, durch seine weiten Nüstern trank es den Wind in großen Zügen ein. Das Zelt schwankte, es hob und senkte sich wie ein Boot auf dem Meer. Gelegentlich raschelten dürre Blätter unter den Füßen. Manchmal lag ein süßer Duft wie von Absinth in der Luft. Zwei Stunden trabte das Dromedar dahin. Die ganze Zeit über änderte der Reiter seine Haltung nicht, er blickte weder links noch rechts. In der Wüste kann man die Entfernung nicht nach Meilen messen, sondern nur durch die Saat, die Stunde, und die Mazil, die Rast: dreiundeinehalbe Meile geben eine Stunde, fünfundzwanzig eine Rast, aber das ist die Entfernung, die ein gewöhnliches Kamel zurücklegt. Ein Dromedar echt syrischen Bluts kann leicht das Dreifache machen, in vollem Lauf ist es schneller als der Wind. Während dieses rasenden Rittes veränderte sich das Gesicht der Landschaft. Der Dschebel zog sich am westlichen Horizont wie ein blaßblauer Streifen hin. Ein Tell, ein Erdhügel aus Lehm und verhärtetem Sand, erhob sich hier und dort, dann und wann zeigten Basaltsteine ihre runden Köpfe, Vorposten des Gebirges. Die Sonne, die nun hoch stand, hatte den Tau und 194
Nebel aufgetrunken und den Wind erwärmt, der den Wanderer unter dem Zeltdach umwehte. Wieder waren zwei Stunden ohne Rast vergangen, die Richtung blieb die gleiche. Die Vegetation hatte gänzlich aufgehört. Hier regierte unbestritten der Sand, der an seiner Oberfläche so verkrustet war, daß er unter jedem Tritt in knirschenden Stücken auseinanderbrach. Der Schatten, der dem Reiter bis jetzt gefolgt war, hatte sich nach Norden verschoben und lief um die Wette mit den Gegenständen, die ihn warfen. Genau zur Mittagsstunde blieb das Dromedar von selbst stehen und stieß einen Schrei aus, ein seltsames, mitleiderregendes Stöhnen, wie es ein Tier tut, wenn es sich gegen eine zu große Last wehrt oder um eine Ruhepause fleht. Nun regte sich der Reiter und schien aus dem Schlaf zu erwachen. Er zog die Vorhänge der Houdah auf, schaute zur Sonne, betrachtete das Land nach allen Seiten sorgfältig, als suche er einen bestimmten Platz. Einen Augenblick später kreuzte er die Hände über seine Brust, beugte den Kopf und betete schweigend. Nachdem er seine fromme Pflicht erfüllt hatte, machte er sich bereit, von seinem Dromedar herunterzusteigen. Den Ton, den er ausstieß, das »Ikh, ikh!«, hatten gewiß schon die Lieblingstiere Hiobs gehört. Es war das Signal für das Dromedar, niederzuknien. Das Tier gehorchte, langsam und ächzend. Der Reiter stellte seinen Fuß auf den schlanken Hals und sprang in den Sand.
Zusammenkunft der Weisen Der Mann zeigte sich nun in seiner ganzen wohlgebauten Gestalt. Er war nicht sehr groß, aber kräftig. Nachdem er das Kopftuch von seinem Kopf genommen hatte, so daß man sein Gesicht erkennen konnte, sah man seine charaktervollen, fast schwarzen Züge, die niedrige, breite Stirn, die Adlernase, den schrägen Schnitt seiner Augen, das volle, 195
glatte, metallisch glänzende Haar, das in langen Strähnen bis auf seine Schultern fiel – alles Zeichen seiner unmißverständlichen Abstammung. Er trug das Kamis, ein baumwollenes, ärmelloses weißes Hemd, das vorn offen war. Vom Kragen bis zum Gürtel war es bestickt. Darüber hatte er einen braunen, wollenen Rock, die Aba, und darüber ein langes Kleid mit kurzen Ärmeln, aus Wolle und Seide gemischt, rings mit einem Saum aus dunklem Gelb. An den Füßen trug er Sandalen, die von weichen Lederriemen gehalten wurden. Eine Schärpe umgürtete das Kamis. Überraschend war, daß der Mann keine Waffen trug, obwohl die Wüste das Jagdgebiet der Leoparden und Löwen und ebenso der wilden Bewohner war. Seine Glieder waren von dem langen, ermüdenden Ritt steif geworden; er rieb seine Hände und stampfte mit den Füßen, dabei umkreiste er sein schönes Tier, dessen glänzende Augen sich beim Wiederkäuen zufrieden schlossen. Oft hielt der Fremde in seiner Wanderung inne, um bis an den Rand der Wüste zu spähen; und immer, wenn er seine Ausschau beendet hatte, spiegelte sich eine leichte Enttäuschung in seinem Gesicht, als erwarte er jemanden, obwohl man sich kaum vorstellen konnte, welcher Art eine Begegnung, so weit entfernt von aller Zivilisation, sein mochte. Trotz seiner Enttäuschung schien der Fremde doch sicher, daß er nicht vergeblich wartete. Jetzt ging er jedenfalls zu seiner Kiste an der Seite des Dromedars, öffnete sie und entnahm ihr einen Schwamm und eine kleine Wasserflasche. Er wusch Augen, Gesicht und Nüstern des Dromedars, dann nahm er aus dem gleichen Behälter ein großes rundes, rot und weiß gestreiftes Tuch, ein Bündel langer Ruten und ein dickes Rohr. Mit Hilfe von Scharnieren verband er das Rohr mit den Stäben, breitete das Tuch darüber und war buchstäblich in einem Haus, das zwar kleiner war als das der Emire und Scheiks, aber doch ähnlich. Dann nahm er aus einer Tasche des Sattels ein paar Bohnen und hängte sie in einem Sack vor das Maul des Dromedars, und nachdem er gesehen, mit welchem Wohlbehagen der treue Diener sein Futter nahm, wandte er sich wieder seiner Ausschau in dieser Welt von Sand zu, die in der Glut der senkrecht stehenden Sonne lag. 196
»Sie werden kommen«, sagte er ruhig. »Er, der mich geleitet hat, wird auch sie leiten. Ich will mich vorbereiten.« Aus den Taschen, mit denen sein Koffer angefüllt war, und aus einem Weidenkorb holte er alles für ein Mahl: Schüsseln aus dichtgewebten Palmfasern, Wein in kleinen Lederflaschen, getrocknetes und geräuchertes Hammelfleisch, steinlose Shami, syrische Granatäpfel, köstliche, große Datteln aus El Shebeli, den Nakhil, den Palmengärten Zentralarabiens, Käse, ähnlich wie Davids ›Milchschnitten‹, und Hefebrot aus der Stadtbäckerei – das alles breitete er auf dem Teppich unter dem Zelt aus. Dazu legte er drei seidene Tücher, wie sie die Leute im Osten beim Essen benützen, womit er anzeigte, daß er zwei Gäste erwartete. Alles war nun fertig. Er richtete sich auf – und siehe da! Im Osten zeigte sich ein dunkler Fleck in der Wüste. Der Fleck wuchs, er wurde so groß wie eine Hand und etwas später wurde ein Doppelgänger seines eigenen Dromedars deutlich, das eine Houdah trug, das Reisezelt der Leute aus Hindustan. Da kreuzte der Ägypter die Hände vor der Brust und blickte zum Himmel auf. »Gott allein ist groß!« rief er mit Tränen in den Augen. Der Fremde kam näher, schließlich blieb sein Tier stehen. Auch er schien nun zu erwachen. Er erblickte das kniende Dromedar, das Zelt und den betenden Mann davor. Er kreuzte seine Hände, neigte den Kopf und betete schweigend. Danach sprang er vom Hals seines Tieres in den Sand und ging dem Ägypter entgegen. Einen Augenblick schauten sie einander in die Augen, dann umarmten sie sich. »Friede sei mit dir, o Diener des wahren Gottes!« sagte der Fremde. »Und mit dir, o Bruder des wahren Glaubens! – Friede und Willkommen!« erwiderte der Ägypter inbrünstig. Der Ankömmling war groß und hager, sein Gesicht war mager, mit tiefliegenden Augen und von einer Farbe zwischen Zimt und Bronze. Haar und Bart waren weiß. Auch er war unbewaffnet. Er trug das Kleid der Hindustaner, sein Kopf war von einem Tuch vielfältig umwunden, sein Gewand ähnelte dem des Ägypters. Statt der Sandalen trug er Halbschuhe aus rotem Leder, die spitz zuliefen. Mit Ausnahme 197
der Schuhe war er von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Die Erscheinung des Mannes wirkte vornehm, majestätisch und ernst. Er mochte ein Leben lang mit der Weisheit Brahmas genährt worden sein – der menschgewordenen Liebe. In seinen tränenerfüllten Augen war, als er sich aus der Umarmung löste, ein Ausdruck tiefer Menschenliebe. »Gott allein ist groß!« rief er aus. »Und gesegnet alle, die ihm dienen!« antwortete der Ägypter und staunte über sein eigenes Wort. »Aber laß uns warten«, fügte er hinzu, »laß uns warten, denn siehe, in der Ferne kommt der andere!« Sie schauten nach Norden, und dort kam tatsächlich ein drittes Dromedar, ebenso weiß wie die beiden anderen, schwankend wie ein Schiff. Der Zuletztgekommene war ganz verschieden von seinen Freunden. Seine Gestalt war zarter, seine Gesichtsfarbe weiß, langes blondes Haar krönte seinen schmalen schönen Kopf, die Wärme seiner dunkelblauen Augen deutete auf ein weiches Gemüt und auf eine aufrichtige, rechtschaffene Natur. Sein Kopf war unbedeckt, auch er war unbewaffnet. Unter den Falten seines syrischen Überwurfs, den er mit unbewußter Grazie trug, erschien eine kurzärmelige, weitausgeschnittene Tunika, die bis zu den Knien reichte und mit einer Schnur gegürtet war. Arme, Hals und Füße waren bloß. Er trug Sandalen. Er mochte fünf zig Jahre alt sein oder älter, aber die Jahre hatten ihm nur Ernst und Charakter und seinen Worten Überlegung verliehen, die körperliche Konstitution und die seelische Klarheit waren davon unberührt. Jedermann erkannte sofort, woher er kam; wenn nicht er selbst, so stammten seine Vorfahren aus den Hainen von Athen. Als er seine Arme von dem Ägypter gelöst hatte, sprach dieser mit bebender Stimme: »Der Geist hat mich zuerst hierher geführt, daraus erkenne ich, daß ich zum Diener meiner Brüder auserwählt bin. Das Zelt ist aufgeschlagen, und das Brot ist bereit, gebrochen zu werden.« Er nahm beide an der Hand, führte sie in das Zelt, löste ihre Sandalen und wusch ihre Füße, goß Wasser über ihre Hände und trocknete sie mit Tüchern. Nachdem er seine eigenen Hände gewaschen hat198
te, sprach er: »Laßt uns nun dafür sorgen, Brüder, daß wir unsere Aufgabe erfüllen können, und essen, damit wir Kräfte sammeln. Während wir essen, wollen wir erfahren, wer die anderen sind, woher sie kommen und wie sie berufen wurden.« Dann bat er sie zum Mahl. Sie beugten gleichzeitig ihre Köpfe, kreuzten die Hände über der Brust und sprachen miteinander laut ihr einfaches Gebet: »Gott, unser aller Vater, was wir hier haben, kommt von dir, empfange unseren Dank und segne uns, damit wir fortfahren können, deinen Willen zu tun.« Während der letzten Worte hoben sie die Augen und sahen einander voller Verwunderung an. Jeder hatte in seiner Sprache gesprochen, welche die anderen nie gehört hatten, und doch hatte jeder vollkommen verstanden, was der andere gesagt hatte. Sie erkannten in diesem Wunder die Gegenwart Gottes.
Der Athener spricht – Glaube Diese Zusammenkunft fand nach der damaligen Zeitrechnung im 747. Jahr der Gründung Roms statt, im Monat Dezember. Rings um das Mittelmeer war Winter. Ein solcher Ritt in die Wüste zu dieser Jahreszeit pflegte Appetit zu machen. Alle waren hungrig und langten herzhaft zu. Nach dem Wein begannen sie zu erzählen. So begann, zuerst langsam, der Grieche zu reden, mit der ihm angeborenen Selbstbeobachtung. »Ich bin Kaspar, der Sohn des Cleanthes aus Athen. Mein Volk hat sich ganz dem Denken gewidmet, und ich habe diese Leidenschaft geerbt. Zwar lehrt uns der größte unserer Philosophen, daß der Mensch eine Seele besitzt und daß sie unsterblich ist, ein anderer, daß es nur einen Gott gibt. Aus der Unzahl von Themen, über die unsre Schulen disputieren, wählte ich mir die beiden aus, die mir allein einer Lösung würdig schienen. Denn ich erkannte, daß es eine Beziehung zwischen 199
Gott und der Seele geben müsse, die bis jetzt noch nicht ergründet ist. Denkt der Geist über diese Beziehung nach, so erreicht er einen toten Punkt, eine unübersteigbare Mauer, und wenn man dort angekommen ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als laut um Hilfe zu rufen. In meiner Verzweiflung floh ich die Städte und die Schulen.« Bei diesen Worten ging ein befriedigtes Lächeln über die hageren Züge des Hindu. »Im Norden meines Landes, in Thessalien«, fuhr der Grieche fort, »liegt ein Berg, der als Wohnsitz der Götter gilt, wo auch Zeus, den meine Landsleute für den höchsten Gott halten, seinen Sitz hat. Er heißt Olymp. Dort hauste ich, ganz der Meditation ergeben. Ich glaubte an den unsichtbaren, höchsten Gott, und ich hielt es auch für möglich, daß er mit meinem Flehen Erbarmen haben würde und sich mir offenbaren werde.« »Und er tat es – er tat es!« rief der Hindu aus und hob seine Hände von dem seidenen Tuch auf seinem Schoß. »Hört mich, Brüder«, sagte der Grieche und zwang sich zur Ruhe. »Der Eingang zu meiner Einsiedelei schaut über einen Meeresarm. Eines Tages sah ich einen Mann aus einem vorüberfahrenden Segelschiff über Bord stürzen. Er schwamm ans Ufer, ich nahm ihn auf und pflegte ihn. Er war ein Jude, wohlbewandert in der Geschichte und den Gesetzen seines Volkes, und von ihm erfuhr ich, daß es den Gott meiner Gebete wirklich gibt. Er sagte mir, daß die zweite Ankunft Gottes auf Erden nahe sei und jetzt in Jerusalem erwartet werde. Als der Jude gegangen und ich wieder allein war, beruhigte ich meine Seele mit einem neuen Gebet, daß es mir erlaubt sein möge, den König zu sehen, wenn Er gekommen ist, und Ihn anzubeten. Eines Nachts sah ich auf dem Meer unter mir – oder mehr in der Dunkelheit, die über dem Wasser war – einen Stern aufleuchten. Langsam stieg er empor, kam näher und blieb über dem Hügel und über meiner Tür stehen, so daß sein Licht voll auf mich fiel. Ich stürzte nieder und schlief ein. Und in meinem Traum hörte ich eine Stimme, die sagte: ›O Kaspar! Dein Glaube hat gesiegt! Du bist gesegnet! Mit zwei andern, die aus den fernsten Teilen der Erde herkom200
men, wirst du Ihn sehen, der verheißen ist, und Zeugnis für Ihn ablegen. Erhebe dich am Morgen, eile ihnen entgegen und vertraue dem Geist, der dich führen wird.‹ – Und das, o Brüder, ist meine Geschichte. Laßt mich nun die euren hören!«
Erzählung des Hindu – Liebe Der Hindu begann: »Ich heiße Melchior, meine Brüder. Ich rede in einer Sprache, die die erste ist, die sich der Schriftzeichen bediente – ich meine das Sanskrit Indiens. Ich bin als Brahmane geboren. Mein Leben war bis in seine letzte Handlung, bis in die letzte Stunde vorgeschrieben. Mein erster Tropfen Nahrung, die Verleihung meines zusätzlichen Namens, mein erster Schritt in die Sonne, das alles wurde mit heiligen Texten und strengen Zeremonien festlich begangen. Ich konnte nicht gehen, essen, trinken oder schlafen ohne Angst, eine Regel zu übertreten. Und die Strafe, o Brüder, die Strafe wurde meiner Seele auferlegt! Je nach dem Grade meiner Unterlassung ging meine Seele in einen der Himmel – Indras Himmel ist der tiefste, der Brahmas der höchste –, oder sie wurde zurückgetrieben und mußte das Leben eines Wurms, einer Fliege, eines Fisches oder eines Viehs führen. Die Belohnung für vollkommene Befolgung der Regeln war Glückseligkeit oder Eingehen in Brahma. Das war nicht mehr Existenz, sondern vollkommene Ruhe.« Nach kurzem Nachdenken fuhr der Hindu fort: »Der Teil im Leben eines Brahmanen, den man die erste Ordnung nennt, ist seinem Studium gewidmet. Als ich soweit war, in die zweite Ordnung einzutreten – das heißt, als ich heiraten durfte und Hausherr wurde –, stellte ich alles in Frage, selbst Brahma, ich war ein Heide. Aus der Tiefe des Brunnens hatte ich oben ein Licht entdeckt und sehnte mich danach, hinaufzusteigen und zu sehen, was es alles beschien. Zuletzt – oh, nach wieviel 201
Jahren der Plage! – stand ich im vollen Licht und erblickte den Urgrund des Lebens und der Religion, das Glied zwischen der Seele und Gott: die Liebe! Die Seligkeit der Liebe besteht in dem, was man für andre zu tun bereit ist. Ich konnte nicht ruhen. Brahma hatte die Welt mit so viel Unglück erfüllt. Der Sudra wandte sich an mich, ebenso die zahllosen Frommen und Benachteiligten. Die Insel von Ganga Lagor liegt dort, wo die heiligen Wasser des Ganges in den Indischen Ozean strömen. Dorthin begab ich mich. Ich hoffte dort, im Tempel, der dem weisen Kapila erbaut ist, Ruhe zu finden. Aber zweimal im Jahr kamen Pilgerzüge von Hindus, um die Reinigung im Wasser zu suchen. Ihr Elend stärkte meine Liebe. Um nicht zu sprechen, biß ich meine Zähne zusammen. Ein Wort gegen Brahma oder die Dreiheit oder die Shastras hätte mich verdammt, ein freundlicher Akt gegen die ausgestoßenen Brahmanen, die sich dann und wann in den glühenden Sand schleppten, um dort zu sterben – ein erteilter Segen, ein Krug Wasser –, und ich wäre einer von ihnen geworden, hätte die Familie, das Land, die Vorrechte der Kaste verloren. Die Liebe siegte! Ich sprach zu den Jüngern im Tempel, sie trieben mich hinaus. Ich sprach zu den Pilgern, sie steinigten mich von der Insel. Auf den Landstraßen versuchte ich zu predigen, meine Zuhörer flohen mich oder wollten mir ans Leben. Schließlich war für mich in ganz Indien kein Platz, nicht einmal unter den Ausgestoßenen, denn sie glaubten, obwohl sie gefallen waren, noch an Brahma. In meiner äußersten Not suchte ich nach einer Einöde, wo ich mich vor allem, außer vor Gott, verbergen konnte. Ich folgte dem Ganges bis zu seiner Quelle, weit oben im Himalaja. Als ich den Paß von Hurdwar betrat, wo der Fluß in fleckenloser Reinheit in das schlammige Tiefland hinunterstürzt, betete ich für mein Volk und glaubte, daß ich ihm für immer verloren sei. Nachts wanderte ich am Ufer eines Sees und sprach zu der lauschenden Stille. – Wann wird Gott kommen und sein Eigentum zurückfordern? Wird es keine Erlösung geben? – Plötzlich begann ein Licht auf dem Wasser zu zittern, bald erhob sich ein Stern, wanderte her zu mir und blieb über mir stehen. Die Helligkeit betäubte mich. Als ich auf dem Boden lag, hörte ich eine Stimme von unendlicher Lieblichkeit: ›Deine Liebe hat gesiegt. Sei gesegnet, o du Sohn Indiens! Die Erlösung 202
ist nahe. Mit zwei anderen aus den fernen Teilen der Erde sollst du den Erlöser sehen und Zeugnis für Sein Kommen ablegen. Erhebe dich am Morgen und eile den anderen entgegen. Setz all dein Vertrauen in den Geist, der dich führen wird.‹ Und von dieser Zeit an ist das Licht bei mir geblieben. Ganz allein reiste ich, furchtlos, denn der Geist war mit mir und ist noch jetzt mit mir. O Brüder! Wir sollen den Erlöser sehen, zu ihm reden – ihn anbeten!«
Die Geschichte des Ägypters – Gute Werke Der lebhafte Grieche erging sich in Freudenbezeigungen und Glückwünschen, worauf der Ägypter in seiner ernsten Art begann: »Ich bin Balthasar, der Ägypter. Mit uns begann Geschichte. Wir waren die ersten, welche die Ereignisse aufzeichneten, um sie zu verewigen. Infolgedessen haben wir keine Überlieferung, und statt der Dichtung geben wir euch Tatsachen. An die Paläste und Tempel, an Obelisken, an die Innenwände der Gräber schrieben wir die Namen und Taten unsrer Könige. Und dem köstlichen Papyrus vertrauten wir die Weisheit unsrer Philosophen und die Geheimnisse unsrer Religion an – alle Geheimnisse, bis auf eins, worüber ich später sprechen will. Wenn unsre Aufgabe glücklich erfüllt sein wird, bitte ich euch, mit mir zu kommen, ich will euch die heiligen Bücher unsrer Priester zeigen, unter ihnen das Buch vom Tode, in dem das Ritual steht, das die Seele nach dem Tod befolgen muß, wenn sie auf dem Wege zum Gericht geht. Die Ideen von Gott und der unsterblichen Seele waren von Mizraim in der Wüste geschaffen und von ihm an die Ufer des Nils gebracht worden. Sie waren ganz rein und leicht verständlich, so wie Gott selber ist, es war der erste Gottesdienst – ein Gesang und ein Gebet, so wie es einer freudigen und hoffnungsvollen Seele entspricht, die ihren Schöpfer liebt.« 203
»Religion ist das Gesetz, das die Menschen mit dem Schöpfer verbindet. In seiner Reinheit enthält es nur diese Elemente: Gott, die Seele und die gegenseitige Anerkennung. Daraus entsteht Anbetung, Liebe, Lohn. Dies war die Religion der ersten Familie, die unsres Ahnen Mizraim. Der Lauf der Dinge bringt es mit sich, daß die Menschen diese Wahrheiten nicht in Frieden lassen. Viele Völker haben die Wasser des Nils geliebt, die Äthiopier, die Pali-Putra, die Hebräer, die Assyrer, Perser, Mazedonier, die Römer – mit Ausnahme der Hebräer haben sie alle zu irgendeiner Zeit dort geherrscht. Kommen und Gehen der Völker hat das alte Gesetz Mizraims verfälscht. Das Tal der Palmen wurde ein Tal der Götter. Der Höchste wurde in acht Teile geteilt, von denen jeder ein Schöpfungsprinzip verkörperte, mit Ammon-Re an der Spitze. Dann kamen Isis und Osiris und ihr Kreis, die das Wasser, das Feuer, die Luft und andere Kräfte versinnbildlichten. Die Teilung ging noch weiter, bis wir eine andre Ordnung hatten, die der Stärke, des Wissens, der Liebe und ähnliches.« »In denen der alte Wahnsinn saß«, rief der Grieche temperamentvoll. »Nur die Dinge, die wir nicht erreichen können, bleiben in uns.« »Die Aufzeichnungen«, fuhr der Ägypter fort, »zeigen, daß Mizraim den Nil unter der Herrschaft der Äthiopier fand, die aus der afrikanischen Wüste gekommen waren, ein Volk von reicher, phantasievoller Begabung, gänzlich der Anbetung der Natur hingegeben. Die Katze war dem Re heilig, der Stier der Isis, der Käfer dem Pthah. Ein langer Kampf gegen ihren primitiven Glauben endete damit, daß er als Religion vom neuen Reich angenommen wurde. Nun erhoben sich die gewaltigen Bauwerke an den Ufern des Stroms und in der Wüste: Obelisken, Labyrinthe, Pyramiden und Königsgräber, gemischt mit Krokodilgräbern. In eine solche tiefe Entwürdigung, o Brüder, stürzten die Söhne des Ariers!« Hier verließ den Ägypter zum erstenmal seine Ruhe, dann aber sprach er weiter: »Verachtet mein Volk nicht zu sehr. Nicht alle vergaßen Gott. Ich habe euch von den Geheimnissen unserer Religion gesprochen, die alle in den Papyri aufgezeichnet sind – bis auf eins. Davon will ich jetzt reden. Wir hatten einst als König einen mit Namen Pharao, der allem 204
Wechsel und jeder Neuerung zugeneigt war. Um das neue System zu festigen, wollte er das alte restlos aus unserm Geist vertreiben. Damals lebten die Hebräer als Sklaven bei uns. Sie hielten an ihrem Gott fest, und als ihre Qualen unerträglich geworden waren, wurden sie auf eine Weise befreit, die nie vergessen werden kann. Moses, der selbst Hebräer war, kam in den Palast und flehte um die Erlaubnis, daß die Sklaven, viele Millionen, das Land verlassen dürften. Seine Forderung geschah im Namen des Gottes von Israel. Pharao weigerte sich. Hört, was geschah! Zuerst verwandelte sich alles Wasser in den Seen, Flüssen, Brunnen und Gefäßen in Blut. Doch der König weigerte sich. Da kamen Frösche und bedeckten das ganze Land. Doch Pharao blieb hart. Da streute Moses Asche in die Luft, und eine Seuche kam über die Ägypter. Weiter wurde alles Vieh, mit Ausnahme des hebräischen, geschlagen. Heuschrecken verwüsteten alles Grünende im Land. Am Mittag brach eine Finsternis aus, die so tief war, daß keine Lampen sie erhellen konnten. Schließlich starb die ganze Erstgeburt der Ägypter, auch im Hause Pharaos. Jetzt bewilligte er die Forderung des Moses. Aber als die Hebräer gegangen waren, folgte er ihnen mit seinem Heer. Im letzten Augenblick teilte sich das Meer, so daß die Flüchtenden trockenen Fußes hindurchgehen konnten. Als das Heer ihnen folgte, kamen die Wasser zurück und ertränkten alle, Pferde, Männer, Waffen und auch den König. Die Priester haben damals aufgezeichnet, was sie erlebten, und die Überlieferung hat sich erhalten. Nun komme ich zu dem einen nicht aufgezeichneten Geheimnis. Wir hatten, Brüder, von den unglückseligen Zeiten des Pharao an immer zwei Religionen – eine private und eine öffentliche, die eine der vielen Götter, an die das Volk glaubte, und die andre von dem einen Gott, die von der Priesterschaft hochgehalten wurde. Freut euch mit mir, Brüder! Wie ein Samen unter der Erde auf seine Stunde wartet, so hat die kostbare Wahrheit alles überlebt. Und nun ist ihr Tag gekommen!« Der Ägypter nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche und fuhr fort: »Ich bin in Alexandria geboren, ein Fürst und Priester, und erhielt 205
die übliche Erziehung meines Standes. Doch ich wurde schon sehr früh unzufrieden. Zu unserem Glauben gehörte die Vorstellung, daß die Seele nach dem Tode ihre neue Entwicklung beginnt, von der niedrigsten bis zur menschlichen und höchsten Existenz, ohne Beziehung zu der Lebensführung in der Sterblichkeit. Als ich vom persischen Reich des Lichts hörte, von seinem Paradies jenseits der Brücke Chinevat, über die nur der gute Mensch schreiten kann, quälte mich dieser Gedanke unaussprechlich; um so mehr, als ich Tag und Nacht über die beiden Ideen grübelte: die Idee der Seelenwanderung und die des ewigen Lebens im Himmel. Wenn Gott gerecht war, wie mein Lehrer sagte, warum gab es einen Unterschied zwischen Gut und Böse? Es wurde mir schließlich klar, daß der Tod nur der Augenblick der Trennung war, in dem der Sünder verloren und verlassen war und der Gläubige zu einem höheren Leben aufsteigt, einem freudvollen, ewigen Leben mit Gott! Diese Entdeckung führte zu einer anderen Frage. Warum sollte diese Wahrheit noch länger Geheimnis und selbstsüchtiger Trost der Priesterschaft bleiben? Eines Tages stand ich im Brucheiam, dem vornehmsten und am meisten bevölkerten Viertel Alexandrias, und predigte. Aus dem Osten und Westen kamen meine Zuhörer, Studenten, die in die Bibliothek gingen, Priester, Museumsbummler, Rennbahnbesucher, Landleute – eine Riesenmenge blieb stehen und hörte mir zu. Ich predigte über Gott und die Seele, über Recht und Unrecht, über den Himmel und die Belohnung eines tugendhaften Lebens. Meine Zuhörer waren zuerst verwundert, dann lachten sie. Sie spotteten über mich, verhöhnten meinen Gott und machten meinen Himmel lächerlich. Um es nicht nutzlos hinzuziehen, ließ ich sie. Ich grübelte lange, um die Ursache meines Versagens zu finden. Schließlich gelang es mir. Jenseits des Flusses, eine Tagereise von der Stadt, liegt ein Dorf von Hirten und Gärtnern. Ich nahm ein Boot und fuhr dorthin. Am Abend rief ich die Leute zusammen, Männer und Frauen, die Ärmsten der Armen. Ich predigte ihnen genauso, wie ich im Brucheiam gepredigt hatte. Sie lachten nicht. Am nächsten Abend sprach ich wieder zu ihnen, und sie glaubten mir, freuten sich und verbreiteten, was sie gehört hatten. Am dritten Abend fand sich eine Gemeinde zum Gebet 206
ein. Mir wurde klar, was ich falsch gemacht hatte: Wenn du eine Reform beginnen willst, gehe nicht zu den Großen und Reichen, gehe zu denen, deren Glückskrug leer ist – zu den Armen und Niedrigen. Ihnen widmete ich nun mein Leben. Ich habe viel Gutes getan, es steht mir nicht an, zu sagen wieviel. Und nun weiß ich, daß wir den Platz der Welt finden werden, der reif ist für Sein Kommen. Er darf nicht nur in Gottes Namen kommen, er muß für seine Worte Beweise geben, er muß sein, was er sagt. Und das kann nur Gott selbst. Die Vorstellungen des Menschen sind so voll von Mythen und Systemen, so voll von falschen Göttern ist alles, daß die Rückkehr zum ersten Glauben nur auf blutigen Wegen möglich ist, über Verfolgungen, das heißt, daß die Bekehrten bereit sein müssen, eher zu sterben, als zu widerrufen. Und wer könnte in dieser Zeit den Glauben des Menschen bis dahin bringen, wenn nicht Gott selbst? Um die Menschheit zu erlösen – ich meine nicht zu zerstören –, um sie zu erlösen, muß er sich noch einmal offenbaren: ER MUSS KOMMEN.« Alle drei waren tief erschüttert. »Sind wir nicht auf dem Wege, ihn zu finden?« rief der Grieche. »Ich verließ die gewohnten Wege und ging dorthin, wo nie Menschen gewesen waren, wo nur Gott war. Länger als ein Jahr lebte ich auf einem Berg. Die Frucht des Palmbaums nährte meinen Körper, das Gebet meine Seele. Eines Nachts wanderte ich in dem Wäldchen am kleinen See und betete: ›Die Welt stirbt! Wann wirst du kommen? Warum soll ich die Erlösung nicht erleben, o Gott?‹ Das klare Wasser war voller Sterne. Einer schien seinen Platz zu verlassen und an die Oberfläche zu steigen, ein feuriger Glanz blendete meine Augen. Dann kam der Stern auf mich zu und blieb über meinem Haupt stehen. Mir war, als könnte ich ihn mit der Hand fassen. Ich fiel nieder und verdeckte mein Gesicht. Da sagte die Stimme, die nicht irdisch war: ›Deine guten Werke haben gesiegt. Du bist gesegnet, Sohn des Mizraim! Die Erlösung kommt. Mit zwei anderen aus den fernsten Teilen der Erde sollst du den Erlöser sehen und für Ihn zeugen. Erhebe dich am Morgen und mache dich auf den Weg zu ihnen. – Vertraue dem Geist, er wird dich führen.‹ – Und der Stern erleuchtete mich innerlich und blieb bei mir, 207
ein Herr und Führer. Ich ging den Fluß hinunter nach Memphis, wo ich mich für die Wüste vorbereitete. Ich kaufte mein Dromedar und kam hierher über Suez und Kufileh, durch die Länder Moab und Ammon. Gott ist mit uns, o meine Brüder!« »Ich sagte, es lag ein Sinn in der Ausführlichkeit, mit der wir alle unser Volk und seine Geschichte beschrieben haben«, fuhr der Ägypter fort. »Der, den wir suchen, ist ›König der Juden‹ genannt worden; unter diesem Namen sollen wir nach Ihm fragen. Aber nun wir alle voneinander gehört haben, müssen wir glauben, daß Er der Erlöser ist, nicht für die Juden allein, sondern für alle Völker der Erde. Wenn wir den Herrn gefunden haben, werden alle Völker niederknien und Ihm mit uns huldigen. Und wenn wir uns wieder trennen und jeder seinen Weg geht, wird die Welt eine neue Wahrheit gelernt haben: Der Himmel wird nicht gewonnen durch das Schwert oder durch menschliches Wissen, sondern durch Glauben, Liebe und gute Werke.« Sie traten aus dem Zelt. Die Wüste und der Himmel lagen still vor ihnen. Die Sonne ging rasch unter. Die drei bestiegen ihre Tiere und ritten unter Führung des Ägypters hintereinander nach Westen zu in die sinkende Nacht. Plötzlich erschien vor ihnen, nicht höher als auf der Spitze eines niedrigen Hügels, eine züngelnde Flamme, und als sie hinschauten, verwandelte sie sich in ein Licht von ungeheurem Glanz. Ihre Herzen schlugen höher, ein heiliger Schauer ging durch ihre Seelen, und sie riefen wie aus einem Munde: »Der Stern! Der Stern! Gott ist mit uns!« – Die drei Weisen hatten sich in der Wüste am Nachmittag des 25. Tages im 3. Monat des Jahres – nach der hebräischen Zeitrechnung – getroffen, das heißt nach der neuen Rechnung am 25. Dezember. Das Jahr war das 2. der 193. Olympiade oder das 747. nach der Gründung Roms, das 67. nach Herodes dem Großen, das 35. seiner Regierung, das 4. vor Beginn unserer heutigen Zeitrechnung.
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Joseph und Maria gehen nach Bethlehem Um die dritte Stunde des Tages, viele Käufer hatten den Markt in der Nähe des Bethlehem-Tores in Jerusalem schon verlassen, sah man unter den neu Ankommenden einen Mann und eine Frau auf einem Esel. Der Mann ging neben dem Kopf des Esels her. Er hielt ihn an einem Riemen und lehnte sich auf einen Stock, den er sowohl zum Antreiben wie als Stütze benutzte. Seine Kleidung unterschied sich in nichts von der der Juden ringsum; sie sah nur noch sehr neu aus. Den Mantel, der von seinem Kopf herunterhing, und den Rock, der ihm bis auf die Fersen reichte, trug er vermutlich zum Sabbat, wenn er in die Synagoge ging. Sein Gesicht war unbedeckt, man konnte von ihm ablesen, daß der Mann etwa fünfzig Jahre alt war. Sein ehedem schwarzer Bart war ergraut. Er schaute um sich mit der halb neugierigen, halb müßigen Art eines Fremden aus der Provinz. Der Esel kaute an einem kleinen Bündel grünen Grases, ihn schien die Frau nicht zu kümmern, die auf seinem Rücken saß. Sie trug ein Kleid aus dunklem Wollstoff, das sie vollständig einhüllte. Ein weißer Schleier kam darunter hervor, der Kopf und Hals bedeckte. Manchmal zog sie den Schleier beiseite, um dahin und dorthin einen Blick zu werfen, aber nur einen Spalt, so daß ihr Gesicht verhüllt blieb. Ein Mann war an die Gruppe herangetreten: »Bist du nicht Joseph von Nazareth?« fragte er. »Ich werde so genannt«, antwortete der Angeredete und wandte sich ernst herum. »Und du – o Friede sei mit dir, mein Freund, Rabbi Samuel!« »Auch mit dir, Joseph!« Der Rabbi schaute auf die Frau. »Friede mit dir, deinem Hause und allen den Deinen!« Bei diesem letzten Wort legte er eine Hand auf die Brust und neigte 209
sein Haupt vor der Frau. Sie lüftete ihren Schleier ein wenig, und man konnte sehen, daß sie fast noch ein Mädchen war. »Auf euern Kleidern ist so wenig Staub«, sagte der Rabbi vertraulich, »daß ich annehme, ihr habt die Nacht in der Stadt unserer Väter verbracht.« »Nein«, antwortete Joseph, »da wir am Abend nur bis Bethanien gekommen waren, blieben wir dort in der Karawanserei und sind heute morgen zeitig aufgebrochen.« »Die Reise, die vor euch liegt, ist lang; nicht nach Joppa, hoffe ich.« »Nur bis Bethlehem.« Die Haltung des Rabbi, die bis jetzt offen und freundlich gewesen war, verfinsterte sich plötzlich. »Jaja! – ich verstehe«, sagte er. »Du bist in Bethlehem geboren und gehst nun mit deiner Tochter dahin, um dich nach kaiserlichem Befehl einschreiben zu lassen. Die Kinder Jakobs sind noch immer Sklaven, wie sie es in Ägypten waren, nur haben sie keinen Moses und keinen Josua mehr.« Joseph antwortete, ohne seine Haltung zu ändern: »Die Frau ist nicht meine Tochter.« Der Rabbi schien diese Mitteilung überhört zu haben: »Was treiben die Zeloten da unten in Galiläa?« »Ich bin Zimmermann, und Nazareth ist ein Dorf«, sagte Joseph abwehrend. »Die Straße, an der meine Werkstatt steht, führt nicht zu einer Stadt. Meine Arbeit läßt mir keine Zeit, am Streit der Parteien teilzunehmen.« »Aber du bist ein Jude«, sagte der Rabbi ernst. »Du bist ein Jude und aus dem Stamm Davids. Ich kann mir nicht denken, daß es dir Vergnügen macht, irgendeine Steuer zu zahlen, es sei denn den Schebel nach altem Brauch an Jehova.« Joseph schwieg. »Ich beklage mich nicht«, fuhr sein Freund fort, »über die Höhe der Steuer – ein Denar ist eine Kleinigkeit. O nein! Die Steuer ist eine Beleidigung. Und außerdem, was ist dieses Zahlen anderes als die Unterwerfung unter die Tyrannei? Sag mir, ist es wahr, daß Judas behauptet, der Messias zu sein? Du lebst inmitten seiner Anhänger.« 210
»Ich habe gehört, daß ihn seine Anhänger für den Messias halten«, antwortete Joseph. In diesem Augenblick zog die Frau ihren Schleier beiseite und enthüllte ihr ganzes Gesicht. Der Rabbi schaute zu ihr hin und konnte die seltene Schönheit dieses Gesichts erkennen, in dem sich ein Zug von wachem Interesse zeigte. Dann wurde der Schleier wieder geschlossen. Der Politiker vergaß sein Thema: »Deine Tochter ist anmutig«, sagte er leise. »Sie ist nicht meine Tochter«, wiederholte Joseph. Die Neugier des Rabbi war geweckt. Als Joseph das sah, fuhr er rasch fort: »Sie ist das Kind von Joachim und Anna aus Bethlehem, von denen du gewiß gehört hast, denn sie standen in hohem Ruf.« »Ja«, bemerkte der Rabbi ehrerbietig. »Ich kenne sie. Es sind direkte Nachkommen Davids. Ich kenne sie gut.« »Sie sind gestorben, sie starben in Nazareth. Joachim war nicht reich, doch er hinterließ Haus und Garten, die unter seine Töchter Marian und Maria geteilt wurden. Um ihr den Anteil an dem Erbe zu sichern, verlangte das Gesetz, daß sie ihren nächsten Verwandten heiraten mußte. Sie ist jetzt meine Frau.« »Und du bist?« »Ihr Onkel.« »Ich verstehe! Und da ihr beide in Bethlehem geboren seid, verlangt der Römer, daß du sie mit dir nimmst, damit auch sie sich einschreiben läßt.« Der Rabbi faltete die Hände und blickte zum Himmel: »Der Gott Israels lebt noch! Die Rache ist sein!« Damit wandte er sich und ging rasch davon. Ein Fremder in der Nähe, der Josephs Erstaunen sah, sagte sanft: »Rabbi Samuel ist ein Eiferer. Judas ist kein schlimmerer.« Joseph, der mit dem Mann nicht reden wollte, tat, als hörte er nicht, und sammelte das Gras auf, das der Esel um sich gestreut hatte. Dann ergriff er seinen Stab, führte das Tier, auf dem seine Frau saß, durchs Tor und schlug die Straße nach Bethlehem ein. Der Abstieg ins Tal von Hinnom war zerklüftet. Hier und da standen wilde Olivenbäume. Langsam kamen sie vorwärts. Die Sonne glühte herab auf die steini211
ge Landschaft, und Maria lüftete ihren Schleier ganz, so daß ihr Kopf unbedeckt war. Sie war nicht älter als fünfzehn Jahre. Ihr Gesicht war vollkommen oval, seine Farbe eher blaß als hell. Ihre Nase war fehlerlos, ihre Lippen voll und reif. Sie gaben dem Mund Wärme, Empfindlichkeit und Zutrauen. Ihre Augen waren blau und groß und von hängenden Lidern und langen Wimpern beschattet, und die Flut goldenen Haares, wie sie den jüdischen Bräuten erlaubt ist, fiel lose über ihren Rücken bis zu den Kissen, auf denen sie saß. Hals und Nacken waren von flaumiger Zartheit. Zu diesen körperlichen Reizen kamen noch andere, schwerer bestimmbare – ein Ausdruck von Reinheit, wie ihn nur die Seele hervorrufen kann. Oft erhob sie mit zitternden Lippen die Augen zum Himmel, der selber nicht tiefer blau war; oft kreuzte sie die Hände über der Brust wie in Anbetung oder Gebet; oft hob sie ihren Kopf, als lausche sie voll Spannung auf eine Stimme, die sie rief. Dann und wann, mitten in ihrem langsamen Marsch, wandte sich Joseph und schaute nach ihr. So zogen sie durch die weite Ebene und erreichten schließlich die Anhöhe Mar Elias, wo vor ihnen, jenseits des Tales, Bethlehem lag. Joseph überkam Angst, ob nicht die Stadt schon zu voll war und es keinen Platz mehr für Maria gab. Ohne Zögern eilte er weiter, bis er vor dem Tor der Karawanserei angekommen war, die an einer Straßenkreuzung außerhalb des Dorftores stand.
Die Höhle in Bethlehem Diese Karawansereien waren Einfriedungen in der primitivsten Form ohne Gebäude oder Dach, oft ohne Tor. Zur Beherbergung von Reisenden waren sie keineswegs gedacht; sie dienten als Märkte, Lager, wohl auch als Forts, als Treffpunkte für Kaufleute und Handwerker und schließlich auch als Schutz für verspätete Wanderer. In diesen Khans gab es keinen Wirt, keinen Bediensteten, keinen 212
Koch, nur am Eingang fand sich ein Türhüter. Aber jeder, der kam, konnte nach Belieben bleiben, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Die Karawanserei, vor der Joseph und seine Frau hielten, war nicht ganz so primitiv, aber auch keineswegs fürstlich. Ein Ort wie Bethlehem, der nur einen Scheik besitzt, besaß auch nur einen Khan. Und obwohl Joseph hier geboren war, hatte er doch infolge seiner langen Abwesenheit keine Bekannten mehr, deren Gastfreundschaft er hätte in Anspruch nehmen können. Er war also auf die Herberge angewiesen, und deshalb war er erschrocken, als er die Menge von Männern, Knaben und Tieren sah, die Straße und Hof überfüllten. »Wir können nicht durch das Tor«, sagte er. »Laß uns hier warten und sehen, was vor sich geht.« Der Torhüter saß auf einem großen Zedernblock außen vor dem Eingang. Ein Speer lehnte an der Mauer, ein Hund saß daneben. »Der Friede Jehovas sei mit dir!« sagte Joseph. »Ich bin aus Bethlehem. Gibt es keinen Platz mehr?« »Keinen!« »Du magst von mir gehört haben, ich bin Joseph von Nazareth. Dort ist das Haus meines Vaters. Ich bin aus dem Geschlecht Davids.« Der Torhüter erhob sich, strich seinen Bart und sagte voller Achtung: »Ich grüße dich, Rabbi! Wenn du mit mir gehen willst, werde ich dir zeigen, daß nirgends mehr ein Platz ist oder eine Kammer, nirgends, nicht einmal auf dem Dach.« »Wer sind denn diese Leute?« fragte Joseph nun. »Und was tun sie hier zu dieser Zeit?« »Alle sind hier aus dem gleichen Grund, der dich hergeführt hat: der Befehl des Kaisers.« Josephs Ausdruck veränderte sich. Er verlor seine Schwerfälligkeit, in seine matten Augen kam ein Glanz, und er sagte mit bewegter Stimme: »Ich sorge mich nicht um mich. Aber ich habe meine Frau bei mir, und die Nächte sind hier auf diesen Höhen kälter als in Nazareth. Sie darf nicht draußen bleiben. Gibt es keinen Raum in der Stadt?« 213
»Alle diese Leute waren in der Stadt«, antwortete der Torhüter mit einer Bewegung seiner Hand, »und alle haben berichtet, daß jedes Haus besetzt ist.« »Sie ist so jung«, sprach Joseph für sich, »wenn sie auf dem Hügel schlafen soll, wird die Kälte sie töten.« Dann wandte er sich wieder an den andern. »Vielleicht kanntest du ihre Eltern Joachim und Anna, beide waren aus Bethlehem und wie ich vom Geschlecht Davids.« Dabei senkte der Torhüter die Augen nachdenklich, dann hob er seinen Kopf: »Ich kann dir keinen Platz schaffen«, sagte er, »ich kann dich nicht abweisen. Rabbi, ich will tun, was ich für dich tun kann.« Maria hatte den Schleier abgenommen. »Blaue Augen und goldnes Haar«, murmelte der Torhüter für sich und starrte sie an. »So sah der junge König aus, als er von Saul sang.« Dann nahm er das Seil aus Josephs Hand und sagte zu Maria: »Friede sei mit dir, o Tochter Davids!« und zu den andern: »Friede euch allen!« Schließlich sagte er zu Joseph: »Folge mir, Rabbi!« Die Hütte war niedrig und eng, sie lehnte sich rückwärts an den Felsen und hatte keine Fenster. Vorn war eine Tür, die in riesigen Angeln hing und dick mit ockerfarbenem Staub bedeckt war. Das Licht kam durch die Tür und fiel auf Haufen von Getreideähren und Viehfutter, auf Töpfe und andre Haushaltsgegenstände. An den Seiten zogen sich steinerne Krippen hin, die niedrig genug für die Schafe waren. »Kommt herein!« sagte der Führer. »Dieses Stroh und das Futter ist von Wanderern, wie ihr es seid, zurückgelassen worden. Nehmt davon, was ihr braucht.« Und zu Maria gewandt, fragte er: »Kannst du hier ruhen?« »Der Ort ist heilig«, antwortete sie. Als er gegangen war, machten sie sich daran, die Höhle wohnlich zu machen.
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Christus ist geboren Anderthalb oder auch zwei Meilen südöstlich von Bethlehem liegt eine Ebene, von der Stadt durch einen Gebirgszug getrennt, der sie gegen den Nordwind schützt. An der von der Stadt am weitesten entfernten Stelle, dicht unter einem Felsen, war eine uralte geräumige Schafhürde, eine Mârâh. Seit undenklichen Zeiten war die Hütte ohne Dach und ziemlich verfallen. Auch an diesem Tag waren Hirten dorthin gekommen, die frische Weideplätze für ihre Herden suchten, und vom frühen Morgen an hörte man Rufe und Axtschläge, das Blöken der Schafe und Ziegen, das Läuten der Glöckchen und Hundegebell. Als die Sonne unterging, wurden die Tiere in die Mârâh getrieben, dann wurde am Tor ein Feuer angezündet, die Hirten nahmen ihr bescheidenes Mahl ein. Während sie miteinander sprachen, war einer um den andern dort eingeschlafen, wo er gerade lag. Die Nacht war, wie die meisten Winternächte, klar, frisch und voller Sterne. Am Tor schritt der Wächter auf und ab, dicht in seinen Mantel gehüllt. Manchmal blieb er stehen und lauschte einer Bewegung der schlafenden Herde oder dem Schrei eines Schakals auf der Bergseite. Um ihn war ein sanfter und weicher Schein, als wäre der Mond hinter Wolken hervorgekommen. Das Licht wurde stärker. Was er vorher nicht hatte sehen können, lag plötzlich deutlich vor ihm. Er sah die ganze Herde taghell erleuchtet. Ein Schauer ging durch ihn. Er schaute auf. Die Sterne waren verschwunden, das Licht schien aus einem Fenster des Himmels zu kommen. Als er dorthin schaute, wuchs der Glanz. Plötzlich packte ihn der Schrecken, und er schrie: »Wacht auf, wacht auf!« 215
Die Hunde sprangen bellend auf und liefen davon. Die Herde drückte sich erschreckt aneinander. Die Männer sprangen auf die Füße und griffen zu ihren Waffen. Plötzlich war das Licht unerträglich hell. Sie bedeckten ihre Augen und fielen auf die Knie, und da ihre Seelen von Schreck ergriffen waren, warfen sie sich auf die Erde, blind und ohnmächtig, und wären gestorben, hätte nicht eine Stimme gesprochen: »Fürchtet euch nicht!« Sie lauschten. »Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!« In der Stimme war mehr Wohllaut als in einer Menschenstimme. Sie war tief und klar, sie durchdrang ihr ganzes Wesen und erfüllte die Hirten mit Zuversicht. Sie hoben sich auf ihre Knie und blickten ehrfurchtsvoll umher. Und da sahen sie in einem Glorienschein die Gestalt eines Menschen, angetan mit einem strahlendweißen Gewand. Über seinen Schultern erschienen die Spitzen heller gefalteter Flügel, auf seiner Stirn glänzte ein Stern, seine Hände waren segnend zu ihnen ausgestreckt, sein Gesicht war heiter und von himmlischer Schönheit. Sie hatten oft von Engeln gehört und in ihrer einfältigen Weise darüber gesprochen. Und nun zweifelten sie nicht, sondern sagten in ihrem Herzen: Die Herrlichkeit Gottes ist über uns. Und der Engel fuhr fort: »Denn euch ist heute der Heiland geboren in der Stadt Davids, der da Christus ist, der Herr!« Dann war er wieder still, und seine Worte sanken in ihre Herzen. »Und das ist das Zeichen für euch! Ihr werdet finden das Kindlein, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen!« Der Bote sprach nicht mehr, er hatte seine frohe Botschaft verkündet. Doch er blieb noch. Plötzlich begann das Licht, dessen Mitte er war, zu glänzen und zu beben, und so weit man sehen konnte, war ein Aufblitzen weißer Flügel, und mit einemmal waren da Heerscharen von Engeln und Stimmen, die sangen: 216
»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Dann hob der Bote seine Augen, als suche er die Billigung eines, der da oben war. Er breitete seine Schwingen majestätisch, oben waren sie weiß wie Schnee, im Schatten vielfarbig wie Perlmutter. Als er sie ganz entfaltet hatte, erhob er sich leicht, flog empor und nahm das Licht mit sich hinauf. Lange nachdem er gegangen war, erklang es vom Himmel nieder: »Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Nachdem sich die Hirten wiedergefunden hatten, schauten sie sich sprachlos an, bis endlich einer sagte: »Es war Gabriel, Gottes Bote an die Menschen.« Keiner antwortete. »Christus, der Herr, ist geboren! Sagte er nicht so?« »Und sagte er nicht auch: die Stadt Davids? Das ist unser Bethlehem drüben. Und daß wir Ihn als Kind in Windeln finden würden?« »Und in einer Krippe liegen!« Der erste Sprecher blickte nachdenklich in das Feuer, dann sagte er in einem plötzlichen Entschluß: »Lasset uns gehen und Ihn anbeten!« Da machten sie sich auf und verließen die Hürde.
Sie gingen um den Berg und durch die Stadt und kamen zum Tor der Herberge, wo ein Wächter stand. Sie gingen durch den Hof, ohne beachtet zu werden. Die Tür zur Höhle war offen. Eine Laterne brannte darin, und sie traten ohne weiteres ein. »Friede sei mit euch«, sagte einer von ihnen zu Joseph. »Hier sind Leute, die ein neugeborenes Kind sehen wollen, das in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen soll.« Das Gesicht des schwerfälligen Nazareners war für einen Augenblick tief bewegt, dann wandte er sich um und sagte: »Das Kind ist hier!« Sie wurden zu einer der Krippen geführt, und da lag das Kind. Die 217
Laterne wurde gebracht, und die Hirten standen stumm. Das Kleine gab kein Zeichen, es war wie andre Neugeborene. »Wo ist die Mutter?« fragte der Wächter. Eine der Frauen nahm das Kind, ging zu Maria und legte es ihr in die Arme. Alle traten zu ihr. »Er ist Christus!« sagte endlich ein Schäfer. »Der Christus!« wiederholten alle und fielen anbetend auf die Knie. Die Erzählung verbreitete sich, und das Licht, das so viele gesehen hatten, schien sie zu bestätigen. Am nächsten und dem folgenden Tag wurde die Höhle von einer Menge Neugieriger aufgesucht; einige von ihnen glaubten, aber die meisten lachten und spotteten.
Die Weisen in Jerusalem Am elften Tage nach der Geburt des Kindes näherten sich Balthasar, Kaspar und Melchior Jerusalem auf der Straße von Sichern. Sie erreichten schließlich den großen Turm am Damaskus-Tor, wo die drei Straßen von Sichern, Jericho und Gibeon zusammenliefen. Dort stand eine römische Wache. »Friede sei mit dir!« grüßte der Ägypter. Der Posten antwortete nicht. »Wir kommen aus weiter Ferne und suchen den neugeborenen König der Juden. Kannst du uns sagen, wo Er zu finden ist?« Der Soldat öffnete das Visier seines Helms und rief etwas mit lauter Stimme, worauf ein Offizier aus dem Gebäude erschien: »Platz da!« Als ihm die Menge nicht gehorchen wollte, wirbelte er seinen Speer nach allen Seiten und schaffte sich damit Raum. »Was wollt ihr?« fragte er Balthasar. »Wo ist der neugeborene König der Juden?« »Herodes?« fragte der Offizier erstaunt. »Herodes erhielt sein Königreich vom Kaiser. Herodes suchen wir nicht.« 218
»Es gibt keinen anderen König der Juden.« »Aber wir haben Seinen Stern gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten.« Der Römer war bestürzt. »Geht weiter!« sagte er schließlich. »Ich bin kein Jude. Fragt die Lehrer im Tempel oder Annas, den Hohenpriester, oder besser noch Herodes selbst. Wenn es noch einen König der Juden gibt, so wird er ihn zu finden wissen.« Dann machte er den Fremden Platz, und sie ritten durch das Tor. Ehe sie in die enge Straße einbogen, sagte Balthasar zu seinen Freunden: »Nun sind wir genugsam angekündigt. Bis Mitternacht wird die ganze Stadt von uns und unsrer Mission gehört haben. Laßt uns zur Herberge gehen!«
Die Zeugnisse vor Herodes Am Abend, um die Zeit der ersten Nachtwache, versammelten sich etwa fünfzig Personen im Palast auf dem Berg Zion, die nur zusammenkamen, wenn Herodes es befahl und er von den tieferen Geheimnissen des jüdischen Gesetzes und der Geschichte das eine oder andre hören wollte. Es war eine Versammlung der Lehrer, der Hohenpriester und der bekanntesten Schriftgelehrten. Der Raum, in dem die Versammlung stattfand, gehörte zu einem der Innenhöfe des Palastes. Er war sehr groß und im Stil ganz römisch. Nach einiger Zeit traten zwei Offiziere ein und stellten sich rechts und links von der Tür auf. Ihnen folgte langsam eine höchst auffallende Erscheinung: ein alter Mann in einem Purpurgewand, das mit Scharlach besetzt war. Sein Gürtel war aus goldenen Gliedern. Er stützte sich schwer auf einen Stab und blieb oft stehen. Erst als er den Diwan erreicht hatte, hob er die Augen vom Boden, dann schaute er rundum, als bemerkte er erst jetzt die Versammlung und wache auf. Sein Blick war 219
so finster und durchbohrend, als suche er einen Feind. Es war Herodes der Große – ein von Krankheiten gebrochener Leib, ein von Verbrechen belastetes Gewissen, ein hervorragender Verstand, eine Seele, die würdig der Verbrüderung mit den Cäsaren war. Er war 67 Jahre alt und behütete seinen Thron mit so wacher Eifersucht, so despotischer Macht und Grausamkeit, wie sie unerbittlicher nicht denkbar waren. Bei seinem Eintritt ging eine Bewegung durch die Versammlung. Nachdem er sie alle betrachtet hatte, ging Herodes zu dem Dreisitz vor dem Platz des Ältesten, der den kalten Blick mit einer Neigung des Kopfes erwiderte. »Die Antwort!« herrschte der König den Greis an. Er stieß seinen Stock vor ihm nieder und umfaßte ihn mit beiden Händen: »Die Antwort!« Hillel schaute dem König offen ins Auge und antwortete, während seine Genossen ihm mit höchster Aufmerksamkeit zuhörten: »Der Friede Gottes, Abrahams, Israels und Jakobs sei mit dir, o König!« Er sprach diese Worte wie ein Gebet. Dann fuhr er in anderem Ton fort: »Du hast uns gefragt, wo der Christus geboren werden sollte.« Der König nickte, aber seine bösen Blicke blieben auf den Weisen gerichtet: »Das ist die Frage!« »Dann, o König, sage ich dir und zugleich im Namen aller meiner Brüder hier, die mit mir übereinstimmen: in Bethlehem in Judäa.« Hillel blickte in das Pergament auf dem Dreifuß, zeigte mit zitterndem Finger auf eine Stelle und las: »Und du, Bethlehem im Lande Judäa, du bist nicht die geringste unter den Fürsten Judas, denn aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei!« Aus den Zügen des Herodes las man die Sorge. Keiner wagte zu atmen, niemand sprach, auch der König nicht. Endlich wandte er sich um und verließ den Saal. »Wir sind entlassen, Brüder!« sagte Hillel. Die Versammelten erhoben sich und gingen davon. Später am Abend lagen die drei Weisen, Balthasar, Kaspar und Melchior, in der Herberge noch wach. Die Steine, die ihnen als Kissen dien220
ten, stützten ihren Kopf, so daß sie durch das offene Dach in die Tiefe des Himmels sehen konnten. Sie schauten zu den blinkenden Sternen empor und dachten über die nächste Offenbarung nach. Wie würde sie kommen, was würde sie sein? Nun waren sie in Jerusalem, sie hatten am Tor nach Ihm gefragt, an den sie immer dachten. Nun blieb ihnen nur noch, Ihn zu finden. Aber sie verließen sich auf den Geist, der sie geführt hatte. Während sie so lagen, trat ein Mann herein: »Wacht auf! Ich bringe euch eine Nachricht, die keinen Aufschub duldet.« Die Männer setzten sich auf: »Von wem?« fragte der Ägypter. »Von König Herodes.« Jeden durchschauerte es. »Was will der König von uns?« »Draußen ist sein Bote, er wird es euch sagen.« »Sage ihm, er möge warten. Wir kommen.« Draußen stand der Bote: »Ich grüße euch in Frieden und bitte euch um Verzeihung. Aber mein Herr, der König, hat mich gesandt, euch in den Palast zu laden, wo er mit euch allein sprechen möchte.« In dem Licht einer Lampe, die im Eingang hing, schauten sie sich an und wußten, daß der Geist über ihnen war. Dann trat der Ägypter zu dem Wärter und flüsterte ihm zu, so daß die andern es nicht hörten: »Du weißt, wo unsere Güter im Hof untergebracht sind und wo unsere Kamele liegen. Bereite, während wir fort sind, alles für unsere Abreise, wenn sie nötig sein sollte.« »Geht ruhig, vertraut mir!« antwortete der Wärter. »Des Königs Wille ist unser Wille«, sagte Balthasar zu dem Boten. »Wir folgen dir.« Die Straßen in der heiligen Stadt waren eng; aber der große Baumeister hatte nicht nur für Schönheit, sondern auch für Sauberkeit und Annehmlichkeit gesorgt. Die Freunde folgten ihrem Führer wortlos. Schließlich kamen sie an ein großes Tor. Im Schein der Feuer erkannten sie den Umriß eines Gebäudes und sahen Wachen regungslos bei 221
ihren Waffen liegen. Ohne aufgehalten zu werden, traten sie in das Gebäude. Sie kamen durch gewölbte Hallen, durch Höfe und Säulengänge, über weite Treppen, Kreuzgänge und Zimmer, bis sie in einen Turm geleitet wurden. Hier blieb der Bote stehen, wies auf eine offene Tür und sagte: »Tretet ein! Hier ist der König.« Das Gemach, das sie betraten, duftete von Sandelholz, und alles darin zeugte von weichlicher Pracht. In der Mitte lag ein dicker Teppich, darauf stand der Thron. Herodes saß auf seinem Thron zu ihrem Empfang in demselben Gewand, das er in der Versammlung des Hohen Rats getragen hatte. Am Rande des Teppichs verneigten sie sich tief. Der König läutete, ein Diener erschien und stellte drei Stühle vor den Thron. »Setzt euch!« sagte der Fürst gnädig. »Ich bekam heute nachmittag vom Nordtor Nachricht, daß drei Fremde, die von weit her gekommen zu sein schienen, eingetroffen seien. Seid ihr es?« Der Ägypter antwortete mit der tiefsten Verbeugung: »Wären wir andere, als wir sind, so würde der mächtige Herodes, dessen Ruhm die ganze Welt durchdringt, nicht nach uns gesandt haben. Wir zweifeln nicht, daß wir diese Fremden sind.« Herodes dankte mit einer Handbewegung. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Jeder möge für sich selbst sprechen.« Einer nach dem andern gab ihm Auskunft. Etwas enttäuscht stellte Herodes direkte Fragen. »Wie lautete die Frage, die ihr dem Offizier am Tor gestellt habt?« »Wir fragten ihn: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹« »Nun verstehe ich, warum das Volk so neugierig war. Ihr regt mich nicht weniger auf. Gibt es noch einen anderen König der Juden?« Der Ägypter erbleichte nicht: »Einer ist neu geboren.« Ein Ausdruck von Schmerz überflog das dunkle Gesicht des Fürsten, als ob ihn etwas quälte. »Nicht mir!« rief er aus. »Mir ist kein Sohn geboren!« 222
Vielleicht zogen vor ihm die Bilder seiner ermordeten Kinder vorüber. Aber dann ermannte er sich und fragte weiter: »Wo ist dieser neue König?« Balthasar erhob sich und sagte feierlich: »Es gibt einen allmächtigen Gott.« Herodes erschrak sichtlich. »Er befahl uns, hierher zu kommen. Er verhieß uns, wir würden den Erlöser der Welt finden, Ihn sehen und anbeten und Zeugnis von Seinem Kommen ablegen. Und jeder von uns hat zum Zeichen einen Stern gesehen. Sein Geist war bei uns. O König, Sein Geist ist auch jetzt mit uns.« Herodes schaute rasch von einem zum andern, er schien noch mißtrauischer und unbefriedigter als zuvor. »Ihr spottet meiner«, sagte er. »Wenn nicht, erzählt mir mehr! Was geschieht durch die Ankunft des neuen Königs?« »Die Erlösung der Menschen.« »Wovon?« »Von ihren Sünden.« »Wie?« »Durch die göttlichen Mächte – Glauben, Liebe und gute Werke.« »Dann« – Herodes schwieg, und niemand konnte sagen, mit welchen Empfindungen er fortfuhr –, »dann seid ihr die Vorboten des Christus. Ist das alles?« Balthasar verneigte sich: »Wir sind deine Diener, o König!« Der Monarch klingelte, und der Diener erschien: »Bring die Geschenke!« Als der Diener zurückkam, überreichte er kniend jedem Gast ein Obergewand von scharlachroter und blauer Farbe und einen Gürtel aus Gold. Sie bedankten sich nach orientalischer Sitte für die Ehre. »Noch ein Wort«, sagte Herodes, als die Zeremonie beendet war. »Dem Offizier am Tor spracht ihr, wie jetzt auch mir, von einem Stern, den ihr im Osten saht.« »Ja«, sagte Balthasar. »Seinen Stern, den Stern des Neugeborenen.« »Zu welcher Zeit erschien er?« 223
»Als uns befohlen wurde, hierherzureisen.« Herodes erhob sich zum Zeichen, daß die Audienz beendet war. Er stieg vom Thron herunter und sagte sehr gnädig: »Wenn ihr, o erlauchte Männer, wie ich glaube, die Vorläufer des eben geborenen Christus seid, so wißt, daß ich heute abend die weisesten Juden befragt habe, und sie haben mir einstimmig bezeugt, daß Er in Bethlehem in Judäa geboren werden soll. Ich rate euch, geht dorthin, geht und forscht sorgfältig nach dem kleinen Kind. Und wenn ihr Es gefunden habt, gebt mir Nachricht, damit ich komme und Es anbete.«
Die Weisen finden das Kind Es war um die dritte Nachtwache, und in Bethlehem begann es im Osten über den Bergen hell zu werden, im Tal war es noch Nacht. Der Wächter auf dem Dach der alten Herberge, der in der Morgenkühle schauerte, lauschte auf die ersten Zeichen des erwachenden Lebens, als ein Licht sich den Hügel hinauf dem Hause näherte. Er hielt es für eine Fackel, die jemand trug. Dann dachte er an einen Meteor. Der Glanz wuchs. Nun erkannte er den Stern. Er schrie erschrocken auf und holte die Leute, die wach waren, aufs Dach. Der Stern näherte sich, beleuchtete Felsen, Bäume, Wege und blendete die Augen. Die Ängstlichen fielen auf die Knie und beteten, die Hände vor dem Gesicht. Die Mutigeren bedeckten ihre Augen und warfen von Zeit zu Zeit zaghafte Blicke in das Glänzen. Unterdessen lag die ganze Herberge unter dem unerträglichen Schein. Die es wagten, sahen, daß der Stern über der Höhle stehenblieb. In diesem Augenblick langten die drei Weisen an. Am Tor stiegen sie von ihren Kamelen und riefen nach dem Torhüter. Als der sich vom Schrecken erholt hatte, kam er herbei, schob den Riegel zurück und öffnete ihnen. Die Kamele sahen in dem überirdischen Licht so geisterhaft aus und die Erscheinung der drei Männer so fremdartig, daß der Wächter vor Schrec224
ken umfiel und nicht auf die Frage antworten konnte, die sie ihm stellten. »Ist das nicht Bethlehem in Judäa?« Andere gaben ihnen Auskunft: »Nein, das ist nur die Herberge, die Stadt liegt weiter weg.« »Ist hier nicht ein neugeborenes Kind?« Die Umstehenden starrten sich an, aber einige antworteten: »Jaja!« »Führt uns zu Ihm!« rief der Grieche ungeduldig, »denn wir haben Seinen Stern gesehen, eben als er über dem Haus stehenblieb, und sind gekommen, den Heiland anzubeten!« Der Hindu schlug die Hände zusammen: »Wahrhaftig, Gott lebt! Eilt, eilt! Der Heiland ist gefunden.« Die Leute vom Dach kamen herunter und folgten den Fremden, als man sie durch den Hof in die Umfriedung führte. Als sie aber den Stern über der Höhle sahen, so nahe vor ihnen, wandten sie sich erschrocken ab, aber die meisten gingen weiter. Als sich die Fremden der Hütte näherten, stieg der Stern höher, und als sie an der Tür waren, schien er über ihnen zu verschwinden. Als sie eintraten, verschwand er ganz. Und wer es mit angesehen, begriff, daß zwischen dem Stern und den Fremden ein Zusammenhang war und auch mit den Bewohnern der Höhle. Der Raum war von einer Laterne erhellt, so daß die Fremden die Mutter und das Kind in Windeln finden konnten. »Ist das Kind dein Kind?« fragte Balthasar Maria. Und sie, die alle Dinge, die das Kleine betrafen, in ihrem Herzen bewegten, hielt Es ins Licht und sagte: »Das ist mein Sohn!« Sie sahen, daß das Kind wie andre Kinder war: Um Sein Haupt war weder ein Heiligenschein noch eine Krone. Seine Lippen öffneten sich nicht für Worte, und als Es die Ausbrüche ihrer Freude hörte, ihre Gebete, ihre Anrufungen, gab Es keinerlei Zeichen. Nach einer Weile erhoben sie sich, kehrten zu ihren Kamelen zurück, brachten ihre Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhen, und legten sie vor dem Kind nieder, das nichts von ihren anbetenden Worten verstand. 225
Das war nun der Erlöser, den zu finden sie so weit hergekommen waren! Dennoch beteten sie Ihn an ohne einen Zweifel.
Jerusalem unter den Römern Einundzwanzig Jahre sind seit der Geburt des Kindes im Stall verflossen. Über Judäa herrscht Valerius Gratus, der vierte kaiserliche Statthalter. Seither hatte sich im Lande viel geändert, am meisten im politischen Leben. Herodes der Große war ein Jahr nach der Geburt des Kindes auf so elende Weise gestorben, daß man seinen Tod als eine Strafe Gottes ansehen durfte. Er träumte davon, seinen Thron und seine Krone zu vererben, um so zum Gründer einer Dynastie zu werden. In dieser Absicht teilte er in seinem Testament sein Reich unter seine drei Söhne Antipas, Philipp und Archelaus, letzterer sollte seinen Titel tragen. Das Testament bedurfte der Bestätigung des Kaisers Augustus, der sie auch gewährte mit einer Ausnahme: Archelaus sollte erst dann den Königstitel tragen, wenn er seine Fähigkeiten und seine Loyalität bewiesen hatte. Als Ersatz ernannte der Kaiser ihn zum Ethnarch. Als solcher regierte er neun Jahre und wurde dann wegen schlechter Verwaltung und wegen der Unfähigkeit, der unruhigen Elemente, die sich erhoben hatten, Herr zu werden, abgesetzt und nach Gallien verbannt. Aber die Absetzung des Archelaus genügte dem Kaiser nicht. Er strafte das Volk von Jerusalem in einer Weise, die seinen Stolz verletzte und die die Ehre der hohen Herren des Tempels traf. Er machte Judäa zu einer römischen Provinz und gliederte es der Präfektur von Syrien an. In Judäa bestanden zwei Parteien, die der Vornehmen und die der Separatisten, die Volkspartei. Nach dem Tode des Herodes vereinigten sich beide im Kampf gegen Archelaus, den sie vom Tempel zum 226
Palast von Jerusalem und bis nach Rom mit Intrigen und mit der Waffe führten. Mehr als einmal hallten die heiligen Bauten auf dem Hügel Moriah von Kriegslärm wider, und schließlich gelang es, Archelaus in die Verbannung zu treiben. Die Vornehmen wählten Annas, den Sohn Seths, und dadurch spalteten sich die Parteien wieder. Die Vornehmen fanden es ratsam, sich in Rom eine Stütze zu suchen, und rieten dazu, Judäa in eine Provinz zu verwandeln. Annas war ein treuer Diener Roms. Eine römische Garnison lag im Turm von Antonia. Römische Wachen standen vor den Toren des Palastes. Ein römischer Richter setzte das zivile Gericht ab. Römische Steuern wurden rücksichtslos eingetrieben und drückten auf Stadt und Land. Täglich, stündlich wurde das Volk gepeinigt und wurde sich des Unterschieds zwischen Freiheit und Abhängigkeit bewußt. Annas hatte es verhältnismäßig in Ruhe halten können. Als er sein Amt an Ismael übergeben mußte, ging er direkt aus dem Tempel zur Volkspartei über und wurde ihr Führer. Der Prokurator sah, daß die gefährlichen Feuer, die allmählich verglommen waren, wieder aufflackern mußten. Er besuchte Ismael in Jerusalem. Als die Juden ihn an der Spitze einer ganzen Kohorte römischer Legionäre durch die Stadt marschieren sahen, zischten und pfiffen sie ihn aus. Wenn der Prokurator es für notwendig erachtete, ein Exempel zu statuieren, dann wehe dem ersten Missetäter!
Ben Hur und Messala An einem heißen Julinachmittag saßen in den Gärten des Palastes auf dem Berg Zion zwei Jünglinge von siebzehn oder neunzehn Jahren in ernstem Gespräch. Man hätte sie beim ersten Blick für Brüder halten können. Beide hatten schwarzes Haar, dunkle Augen und waren dunkelbraun. Der ältere war ohne Kopfbedeckung. Er saß auf seinem hellblauen Mantel, Arme und Beine waren bloß. Wenn er in seinen Ge227
sprächen manchmal seinen Gefährten etwas überlegen anredete, so muß man das entschuldigen. Sein Vater, auf den er sehr stolz war, residierte im Palast neben dem Hohenpriester als hoher Beamter, und die Messalas waren in Rom schon seit Generationen hoch angesehen. Messalas Gefährte war schmächtiger. Ein Tuch, das von einer gelben Schnur gehalten wurde, bedeckte seinen Kopf und fiel ihm bis über den Nacken. Nicht nur das Gewand, auch sein Gesicht erwies ihn als Juden. Die Stirn des Römers war hoch und schmal, seine Nase scharf und gebogen, seine Lippen waren schmal und gerade, seine Augen kalt. Die Stirn des andern war niedrig und breit, seine Nase lang, mit starken Flügeln, seine Lippen voll und geschwungen. Mit seinem runden Kinn und den schmalen leichtgeröteten Wangen besaß er die Schönheit, Sanftheit, aber auch die Kraft seiner Rasse. Des Römers Erscheinung wirkte edel und streng, die des Juden sinnlich und gefällig. »In diesem Garten haben wir Abschied genommen«, begann der Römer. »Deine letzten Worte waren: ›Friede sei mit dir!‹ und meine letzten: ›Mögen die Götter dich beschützen!‹ Erinnerst du dich noch? Wie lange mag das her sein?« »Fünf Jahre«, antwortete der Jude, den Blick auf dem Wasser. »Jedenfalls hast du Grund, dankbar zu sein – soll ich sagen den Göttern? Einerlei! Du bist prächtig herangewachsen, die Griechen würden dich schön nennen. Wenn Jupiter mit einem Ganymed zufrieden ist, was wärst du für ein Mundschenk für den Kaiser!« Judah hob seine dunklen Augen zu Messala und hielt seinen Blick fest: »Ja, fünf Jahre. Ich erinnere mich wohl unseres Abschieds. Du gingst nach Rom, ich sah dich abreisen und weinte, denn ich liebte dich. Ich wünschte, du wärst noch der Messala von damals!« »Nein, nein, kein Ganymed, eher ein Rätsel, mein Judah. Ein paar Stunden bei meinem Lehrer für Rhetorik im Forum, ein wenig Erfahrung in der Kunst der Mysterien – und Delphi würde dich als einen Apoll empfangen. Beim Ton deiner feierlichen Stimme würde Pythia mit ihrer Krone zu dir heruntersteigen. Im Ernst, mein Freund, wieso bin ich nicht mehr der Messala, der dich verließ? Ich habe die größten Logiker der Welt gehört. Einer sagte in einer Disputation: ›Lerne 228
deinen Gegner verstehen, ehe du ihm antwortest.‹ Gib dich mir zu erkennen!« Judah errötete wieder unter dem spöttischen Blick des andern, aber er antwortete fest: »Du hast von deinen Lehrern viel Wissen und viel Anstand gelernt. Du sprichst wie ein Meister, aber deine Rede ist bitter. Mein Messala von einst hatte kein Gift in sich, nicht um die Welt hätte er die Gefühle seines Freundes verletzt.« Der Römer lächelte, als sei ihm geschmeichelt worden, und hob seinen stolzen Kopf noch höher: »O mein feierlicher Judah, womit hab' ich dir weh getan?« Judah atmete tief und antwortete, indem er seinen Gürtel lockerte: »Auch ich habe in den fünf Jahren manches gelernt. Der Besuch des großen Kollegiums und meine Studien haben mich gelehrt, daß Judäa nicht mehr das ist, was es einst war. Ich kenne den Unterschied zwischen einem unabhängigen Königreich und der unbedeutenden Provinz, die es heute ist. Und ich wäre armseliger als ein Samaritaner, wenn ich die Entwürdigung meines Landes nicht empfände. Ismael ist kein rechtmäßiger Hoherpriester und kann es nicht sein, solange der edle Annas lebt. Doch er ist ein Levit, einer von den Tausenden Getreuer, die Gott dem Herrn nach unserm Glauben und unsrer Anbetung gedient haben. Sein …« Messala unterbrach ihn mit schneidendem Lachen. »Oh, jetzt verstehe ich dich. Ismael, sagst du, ist ein Thronräuber, aber einem Idumenäer mehr zu glauben als Ismael ist dasselbe, als ob man von einer Natter gestochen würde. Beim trunkenen Sohn der Semele, was sind die Juden für Leute! Menschen und Dinge, selbst Himmel und Erde ändern sich – ein Jude niemals! Für ihn gibt es kein Rückwärts, kein Vorwärts. Er bleibt, was seine Vorfahren von Anbeginn waren.« Judah erhob sich. Sein Gesicht glühte. »Du spottest über mich.« »Hör mich noch weiter an!« Der Römer lächelte spöttisch. »Mögen Jupiter und seine ganze Familie, Griechen und Lateiner über mich kommen, wie sie es gewohnt sind, und unserm ernsthaften Gespräch 229
ein Ende machen! Ich bin dir dankbar für die Freundlichkeit, daß du aus dem alten Haus deines Vaters hierhergekommen bist, um mich willkommen zu heißen, um die Liebe unserer Kindheit – wenn möglich – zu erneuern. ›Geht‹, sagte mein Lehrer in der letzten Stunde, ›geht und werdet groß, erinnert euch, daß Mars regiert und Eros nicht mehr blind ist‹. Er meinte, Liebe ist nichts, Krieg alles. Ich werde Soldat sein, und du, mein Judah, ich bedaure dich, was kannst du sein?« Judah sah ihn an und konnte den Stolz erkennen, den Messalas Gesicht ausdrückte: »Sieh, was für Möglichkeiten einem Römer offenstehen! Ein Feldzug nach Afrika, ein anderer nach Skythien. Und dann eine Legion! Hier enden die meisten ihre Laufbahn, aber nicht ich. Denke dir ein Leben in Rom mit Geld, viel Geld, Wein, Weiber, Spiele, Dichter bei den Gelagen, Intrigen am Hofe, Würfelspiel das ganze Jahr! Ein solches Leben kann es geben! Oh, mein Judah, hier ist Syrien! Judäa ist reich, Antiochia eine Hauptstadt für Götter. Ich will des Cyrenius Nachfolger werden, und du – du sollst mein Glück mit mir teilen.« Für den jungen Juden waren diese Gedanken neu und völlig verschieden von dem ernsten, feierlichen Stil der Gespräche, die ihm vertraut waren. »Es gibt wohl ein paar Menschen«, sagte Judah mit einem gequälten Lächeln, »die mit ihrer Zukunft scherzen. Ich, mein Messala, gehöre nicht dazu.« »Ich sehe, mein Judah, daß ich dir nicht genug geboten habe«, antwortete der Römer rasch und mit sprühendem Blick. »Wenn ich Präfekt sein werde in dem Judäa, das mich reich machen wird, dann mache ich dich zum Hohenpriester.« Judah stand zornig auf. »Es wäre besser, wir trennten uns. Ich wünschte, ich wäre nicht gekommen. Ich glaubte einen Freund zu finden und finde einen …« »Römer!« fiel ihm Messala ins Wort. Judahs Hände ballten sich, aber er beherrschte sich und ging. Messala erhob sich, nahm seinen Mantel von der Bank, warf ihn über die 230
Schulter und folgte ihm. Als er ihn erreicht hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und ging an seiner Seite mit ihm. »So pflegten wir, meine Hand auf dir, zu gehen, als wir Kinder waren. Laß uns so bleiben bis zum Tor. Du bist ein Knabe, ich bin ein Mann; laß mich als Mann zu dir reden! – Du dachtest wohl, ich will mich bereichern, indem ich Judäa ausplündere. Nimm es an! Viele Römer tun das. Warum nicht ich?« Judah ging langsamer: »Mein Glaube ruht auf dem Felsen, der vom Glauben meiner Väter gesetzt wurde seit Abraham. Er ruht auf den Bündnissen mit Gott, dem Herrn von Israel.« »Zuviel Leidenschaft, mein Judah! Ich sagte dir, ich würde Soldat werden. Warum nicht auch du? Soll das dein ganzes Leben sein, das dir dein Gesetz, deine Gebräuche vorschreiben?« Judah zitterte vor Wut, und da das Parktor in der Nähe war, beeilte er seine Schritte, nur begierig, Messala zu entkommen: »O Rom, Rom!« murmelte er. »Sei klug!« fuhr Messala unbekümmert fort. »Verzichte auf die Narrheiten des Moses und der Überlieferungen, sieh die Lage, wie sie ist! Wage es, den Parzen ins Angesicht zu schauen, und sie werden dir sagen: Rom ist die Welt. Frage sie nach Judäa, und sie werden dir antworten: Judäa ist, was Rom will.« Sie standen vor der Pforte. Judah blieb stehen und nahm sanft Messalas Hand von seiner Schulter, Tränen in den Augen. »Ich verstehe dich, du bist ein Römer, aber du kannst mich nicht verstehen – ich bin ein Israelit. Du hast mir heute weh getan, indem du mich überzeugtest, daß wir nie mehr die Freunde sein können, die wir gewesen sind!«
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Ein jüdisches Haus Nicht lange, nachdem sich Judah vor dem Palast am Marktplatz von Messala getrennt hatte, stand er vor einem Haus in der Straße, die heute Via Dolorosa heißt. Judah klopfte, das Pförtchen in der großen Tür öffnete sich, und er trat so rasch ein, daß er den tiefen Gruß des Torhüters übersah. Zwölf oder fünfzehn Stufen führten in einen Hof hinab, der an drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben war. Im Erdgeschoß waren die Ställe untergebracht, um die oberen Stockwerke zogen sich Terrassen mit starken Balustraden. Überall sah man Diener. Man hörte das Reiben von Mühlsteinen. An aufgespannten Leinen flatterten Kleider. Das alles war so peinlich sauber und gepflegt, wie es nur in reichen und vornehmen Häusern geschieht. Judah nahm seinen Weg zwischen den blühenden Sträuchern die Treppe zur Terrasse hinauf, über die großen, weißbraunen und vom Alter abgenützten Fliesen, und betrat einen mit weißblauen Ziegeln belegten Raum, der hinter dem Türvorhang im Dunkel lag. Er warf sich der Länge nach auf einen Diwan, das Gesicht in den gekreuzten Armen. Als es fast Nacht war, betrat eine Frau das Zimmer. Sie rief ihn an, und er antwortete. »Das Abendessen ist vorbei, und es ist Nacht. Ist mein Sohn nicht hungrig?« »Nein«, antwortete er. »Bist du krank?« »Ich bin müde.« »Deine Mutter hat nach dir gefragt.« »Wo ist sie?« »Im Gartenhaus auf dem Dach.« 232
Judah erhob sich: »Gut, bring mir etwas zu essen.« »Was willst du haben?« »Was du willst, Amrah. Ich bin nicht krank, aber ich fühle mich nicht wohl. Das Leben kommt mir nicht mehr so angenehm vor wie heute morgen.« Amrahs Fragen und der Ton, in dem sie gestellt wurden, zeugten von dem innigen Verhältnis zwischen beiden. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und ging dann befriedigt: »Ich werde sehen.« Nach einer Weile kam sie zurück und brachte auf einer hölzernen Platte eine Schale Milch, ein paar dünne Scheiben weißes Brot, einen Brei aus zerstoßenem Weizen, ein Brathuhn, Honig und Salz. Auf der Platte standen noch ein Silberbecher mit Wein und eine bronzene Handlampe. Der nun erhellte Raum erwies sich als Schlafzimmer. Die glatten Wände waren gemalt, an der Decke zogen sich große braune Eichenbalken hin. Ein paar Stühle mit Löwenfüßen und der mit blauem Tuch bespannte Diwan, der etwas erhöht stand und auf dem eine große gestreifte Wolldecke lag, war die ganze Einrichtung. Amrah schob einen Stuhl vor Judahs Diwan und stellte die Platte darauf, dann kniete sie nieder und bediente ihn. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, dunkel, mit braunen Augen, und ihr Gesicht hatte im Ausdruck etwas Mütterliches. Während er aß, fragte er sie: »Erinnerst du dich, o meine Amrah, noch an Messala, der mich früher oft tagelang besuchte?« »Ich erinnere mich.« »Er ist vor Jahren nach Rom gegangen und ist nun zurückgekehrt. Ich habe ihn heute besucht.« »Messala gefiel mir nie. Sage mir alles!« Aber Judah verfiel wieder in Grübeleien und antwortete nur kurz: »Er hat sich sehr verändert, und ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.« Als Amrah die Platte forttrug, ging auch er hinaus. Judah betrat einen Turm in der Nordwestecke des Daches und durch einen Vorhang ein dunkles Zimmer, das an allen vier Seiten türähn233
liche Öffnungen hatte, durch die man den Himmel sehen konnte. In einer dieser Öffnungen ruhte in den Kissen eines Diwans eine Frau in weiten weißen Gewändern. Als sie die nahenden Schritte vernahm, ließ sie den juwelengeschmückten Fächer in ihrer Hand sinken und richtete sich auf: »Judah, mein Sohn.« »Ich bin es, Mutter.« Judah trat zu ihr, kniete nieder, sie legte die Arme um ihn und küßte ihn.
Die sonderbaren Fragen Ben Hurs »Amrah erzählte mir, daß dir etwas zugestoßen sei«, begann die Mutter und streichelte Judahs Wange. »Als mein Judah noch ein Kind war, konnte ich ihm erlauben, sich an Kleinigkeiten zu beunruhigen, aber jetzt ist er ein Mann. Er darf nicht vergessen, daß er eines Tages mein Held sein muß.« »Du bist so gut und lieb, o meine Mutter. Niemand wird mich je so lieben wie du.« Er küßte ihre Hand immer wieder. »Mein ganzes Leben hat dir gehört. Wie mild, wie gütig hast du mich geleitet! Ich wünschte, es könnte immer so bleiben. Aber das kann nicht sein. Es ist der Wille des Herrn, daß ich eines Tages ich selbst werde. Ich will dein Held sein, aber du mußt mich auf meinen Weg treiben. Du kennst das Gesetz: Jeder Sohn Israels muß seinen Beruf haben. Ich bin davon nicht ausgenommen. Deshalb frage ich jetzt: Soll ich die Herde hüten? Oder den Boden bestellen? Oder die Sägemühle treiben? Oder ein Schreiber oder Rechtskundiger werden? Liebe, gute Mutter, hilf mir zu einer Antwort!« »Gamaliel hielt heute eine Vorlesung«, sagte sie nachdenklich. »Ich hörte ihn nicht. Ich habe den jungen Messala besucht.« Eine gewisse Veränderung im Ton seiner Stimme ließ die Mutter aufhorchen. »Messala! Was konnte er sagen, was dich so erregt?« 234
»Er hat sich sehr verändert.« »Du meinst, er ist als Römer zurückgekommen?« »Ja!« »Römer«, fuhr sie halb für sich fort, »für die ganze Welt bedeutet das Wort ›Herrscher‹. Wie lange war er fort?« »Fünf Jahre.« Sie hob ihren Kopf und sah in die Nacht hinaus. »Was Messala sagte, meine Mutter, war scharf genug, aber in dem Ton, in dem er es sagte, war es unerträglich.« »Die Götter bestehen«, antwortete die Mutter rasch. »Mehr als ein Römer hat Anbetung als sein göttliches Recht gefordert.« »Gut, Messala besaß schon immer etwas von dieser unangenehmen Eigenschaft. Heute aber begann er sein Gespräch mit mir, indem er Gott und unsre Sitten angriff. Wie du es nicht anders erwartet hättest, habe ich mich endgültig von ihm getrennt. Und nun, Mutter, möchte ich genauer wissen, ob es einen Grund für die Verachtung des Römers gibt? Warum bin ich geringer? Ist mein Volk niedriger? Warum darf ich nicht das Schwert nehmen und mich dem Krieg widmen? Warum, wenn ich ein Dichter wäre, nicht jeden Gegenstand besingen? Ich kann ein Handwerker, ein Hüter der Herden, ein Kaufmann sein, warum nicht ein Künstler wie die Griechen? Sag es mir, meine Mutter – und das ist meine Verwirrung –, warum kann ein Sohn Israels nicht all das tun, was ein Römer tun kann?« Die Mutter antwortete so lebhaft, wie er gesprochen hatte: »Ich verstehe, ich verstehe. Während eurer Knabenfreundschaft war Messala beinahe wie ein Jude; wenn er hiergeblieben wäre, hätte er sich vielleicht zu unserm Glauben bekehrt. Aber die Jahre in Rom waren zu stark für ihn. Ich wundere mich nicht über seine Veränderung, doch«, sie senkte ihre Stimme, »er hätte mit dir schließlich zärtlicher umgehen können.« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und streichelte sein Haar liebevoll, während sie zu den höchsten Sternen emporschaute. Ihr Stolz war nicht geringer als der seine. »Verliere den Mut nicht, mein Sohn! Messala ist von vornehmer Ab235
kunft, seine Familie ist seit vielen Generationen berühmt. Aber wenn sich dein Freund heute mit seinen Vorfahren gerühmt hätte, so könntest du ihn leicht beschämen. Dein Vater, mein Judah, ruht schon bei seinen Vätern. Aber ich erinnere mich, als ob es heute wäre, des Tages, an dem wir dich dem Herrn im Tempel darstellten. Wir opferten die Tauben, und ich nannte dem Priester deinen Namen. Er schrieb ihn in meiner Gegenwart: Judah, Sohn des Ithamar aus dem Hause Hur. Und dieser Name wurde in die Register der frommen Familie eingetragen. Ich weiß nicht, wann diese Register begonnen wurden, aber es geschah schon vor der Flucht aus Ägypten. Was bedeuten die Prahlereien der Römer gegen diese Geschlechterfolge! Danach, mein Judah, sind die Hirten, die dort auf Rephaim die Herden hüten, adliger als der adligste der Marcii.« »Und ich, Mutter, wer bin ich nach diesen Büchern?« »Aus ihnen haben wir bis zurück zur Gefangenschaft, zur Gründung des ersten Tempels, zum Auszug aus Ägypten die absolute Gewißheit, daß du in gerader Linie von Hur, dem Gefährten Josuas abstammst. Und genügt dir das noch nicht, so schlage die Thora auf, und du wirst im Buche Numeri unter den zweiundsiebzig Geschlechtern nach Adam den ältesten Stammvater unsres Hauses finden.« In das Schweigen hinein, das nach diesem stolzen Bericht der Mutter folgte, sagte Judah: »Ich danke dir, Mutter, ich danke dir von ganzem Herzen. Aber genügt das Alter allein, um den Adel einer Familie zu beweisen?« »Oh, du vergißt, daß unser Anspruch nicht allein auf der Zeit beruht; die Auserwählung durch den Herrn ist unser höchster Ruhm. Und was dein Tun betrifft« – sie sprach die Worte langsam und mit zitternder Stimme –, »was deine Zukunft betrifft, mein Judah, diene dem Herrn, dem Gott Israels, und nicht Rom! Für ein Kind Abrahams gibt es keinen andern Ruhm als auf den Wegen des Herrn – das ist ein großer Ruhm.« »Kann ich also Soldat werden?« fragte Judah. »Warum nicht? Nannte Moses Gott nicht einen Herrn der Heerscharen?« 236
Nach einem langen Schweigen fuhr sie schließlich fort: »Du hast meine Erlaubnis, wenn du nur dem Herrn dienst statt dem Cäsar.«
Der Unfall des Gratus Als Judah erwachte, stand die Sonne schon hoch über den Bergen. Die Taubenschwärme erfüllten die Luft mit dem Schimmer ihrer weißen Flügel, und gegen Südosten tauchte das goldene Gebilde des Tempels im Himmelsblau auf. Aber diesen vertrauten Dingen schenkte Judah keinen Blick. Er hörte einem Mädchen von etwa fünfzehn Jahren zu, die bei ihm auf einer Ecke des Diwans saß und zur Begleitung einer Harfe, die sie auf den Knien hielt, ein Schlaflied sang. Als sie geendet, stellte sie die Harfe nieder, legte ihre Hände in den Schoß und wartete, daß Judah sprechen würde. Das Mädchen, das bei Judah saß, war seine Schwester Tirzah. Auch das Mädchen hatte regelmäßige Züge und war von demselben jüdischen Typ; auch sie besaß den Reiz kindlicher Unschuld. Ihr lose fallendes Kleid war auf der rechten Schulter geknöpft und ließ die Arme frei. Ein Gürtel raffte die Falten zusammen. Auf dem Kopf trug sie eine silberne tyrische Haube mit einer Quaste, darüber einen gestreiften, schön bestickten Schal aus dem gleichen Stoff. Er war so eng um den Kopf geschlungen, daß er seine schöne Form erkennen ließ. Sie trug goldene Ringe an den Ohren und Fingern, und Armreifen, auch um den Hals eine goldene Gliederkette mit Perlen. Die Ecken ihrer Augenlider und die Spitzen der Finger waren gefärbt. Ihr Haar fiel in zwei langen Zöpfen über den Rücken; auf beiden Wangen lag gerade vor den Ohren eine Locke. Man konnte Tirzahs Grazie, Anmut und Schönheit nicht übersehen. »Sehr schön, meine Tirzah, sehr schön!« »Das Lied?« »Das Lied – und die Sängerin auch. Es hat griechische Anklänge. Wo hast du es her?« 237
»Erinnerst du dich an den Sänger, der letzten Monat im Theater sang? Er trat nach einem Ringkampf auf, als das Haus noch voller Lärm war. Aber schon beim ersten Ton wurde es so still, daß ich jedes Wort verstand. Von ihm habe ich das Lied.« »Aber er sang es griechisch?« »Und ich hebräisch.« »Ich bin stolz auf meine kleine Schwester. Hast du noch ein Lied, das so schön ist?« »Noch viele. Aber lassen wir das jetzt. Amrah läßt dir sagen, daß sie das Frühstück heraufbringt. Du brauchst nicht hinunterzugehen.« Amrah trat mit einer Waschschüssel mit Wasser und Handtüchern auf einer Platte ein. Da Judah kein Pharisäer war, war die Waschung kurz. Die Dienerin verließ das Zimmer, und Tirzah begann Judahs Haar zu kämmen. Wenn sie eine Locke zu ihrer Zufriedenheit gelegt hatte, hielt sie ihm den kleinen Metallspiegel vor, den sie am Gürtel trug. Unterdessen sprachen sie weiter: »Was sagst du dazu, Tirzah – ich gehe fort.« »Fort?« »Du weißt, daß mich das Gesetz verpflichtet, mir eine Tätigkeit zu suchen. Unser guter Vater gab mir ein Beispiel. Selbst du würdest mich verachten, wenn ich die Früchte seines Wirkens im Müßiggang verzehrte. Ich fahre nach Rom.« Sie wurde blaß: »Mußt du gehen? Hier in Jerusalem kannst du alles lernen, was ein Kaufmann wissen muß – wenn es das ist, woran du denkst.« »Daran denke ich nicht. Das Gesetz verpflichtet den Sohn nicht, den Beruf des Vaters zu wählen.« »Was kannst du sonst noch werden?« »Soldat«, sagte er mit einem gewissen Stolz. Ein Schluchzen war die Antwort. »Krieg ist ein Gewerbe«, fuhr er gelassen fort. »Um es richtig zu erlernen, muß man zur Schule gehen. Es gibt keine bessere als ein römi238
sches Lager. Ja, ich will für Rom kämpfen, und Rom wird mich lehren, eines Tages gegen Rom zu kämpfen.« Die treue Sklavin brachte das Frühstück und stellte es auf einen Stuhl vor Judah nieder. Dann wollte sie ihn bedienen, ein weißes Handtuch über ihrem Arm. Sie tauchten ihre Finger in eine Wasserschale. Plötzlich ließ sie ein Geräusch von draußen aufhorchen. Marschmusik klang von der Straße auf der Nordseite des Hauses herauf. »Soldaten aus dem Prätorium! Ich muß sie sehen!« rief Judah, sprang vom Diwan auf und lief hinaus. Einen Augenblick später lehnte er sich über die Ziegelbrüstung des Daches am äußersten Nordostende. Nach einer Weile kam das Militär in Sicht. Die braungebrannten Körper, die rhythmische Bewegung ihrer Schilde von links nach rechts, der Glanz auf den polierten Spangen, Schuppen, Brustpanzern und Helmen, die nickenden Federbüsche, die Legionszeichen und die Speere mit den Eisenspitzen, dazu der feste, gleichmäßige Marschtritt, die ganze ernste und wachsame Haltung, die Einheit der sich bewegenden Masse – das alles machte auf Judah einen Eindruck, den er mehr fühlte, als er ihn sah. Das zweite war der Offizier, der allein in der Kolonne ritt. Er trug keinen Helm, aber er war in voller Rüstung. An seiner Linken trug er ein kurzes Schwert. In seiner Hand hielt er einen Feldherrenstab, der wie eine Rolle weißen Papiers aussah. Noch als der Reiter weit entfernt war, bemerkte Judah, daß sein Erscheinen bei der Menge zornige Erregung auslöste. Man lehnte sich über die Brüstungen oder stand unverschämt draußen und ballte die Fäuste gegen ihn; man folgte ihm mit lauten Rufen und spuckte auf ihn, wenn er unter den Brücken hindurchritt. Als er näher kam, verstand man das Geschrei: »Räuber! Tyrann, Hund von einem Römer. Fort mit Ismael! Gib uns unsern Annas zurück!« Als er ganz nahe kam, konnte Judah erkennen, daß er die von den Soldaten so stolz zur Schau getragene Gleichgültigkeit nicht teilte. Sein 239
Gesicht war finster, und die Blicke, die er auf seine Beleidiger warf, waren drohend. Die Furchtsamen schreckten davor zurück. Der Reiter trug, wie die Oberkommandierenden seit dem ersten Cäsar, um seinen Rang zu kennzeichnen, in der Öffentlichkeit nur einen Lorbeerzweig um den Kopf. Daran erkannte Judah den Offizier: Es war Valerius Gratus, der neue Prokurator von Judäa! Judah fühlte bei dem herausfordernden Sturm um den Römer Sympathie für ihn. Und als der Prokurator die Ecke des Hauses erreicht hatte, lehnte sich Judah weit über die Brüstung, um ihn vorbeireiten zu sehen. Dabei stützte er sich auf einen Ziegel, der schon vor längerer Zeit zersprungen war, ohne daß man es bemerkt hatte. Der Druck war stark genug, um das äußere Stück abzubrechen, der Ziegel rutschte. Ein jäher Schreck fuhr durch Judah. Er streckte die Hand aus, um den fallenden Ziegel zu erhaschen. Es sah genauso aus, als wolle er etwas schleudern. Es gelang ihm nicht, den Ziegel zu halten, im Gegenteil – er stieß ihn ganz über die Mauer. Er schrie aus Leibeskräften. Die Soldaten der Leibwache schauten herauf, auch der Prokurator. Und in diesem Augenblick traf ihn der Ziegel. Er stürzte wie tot vom Pferd. Die Kohorte hielt. Die Wache sprang von den Pferden und eilte, ihren Herrn mit den Schilden zu decken. Die Menge aber, die das alles mit angesehen hatte und glauben mußte, daß der Wurf absichtlich geschehen sei, jubelte dem Jüngling zu, als er sich vor aller Augen weit über die Brüstung beugte. Judah war wie gelähmt, als er sah, was er angerichtet hatte, und vor ihm standen alle Folgen seiner Handlung. Ein böser Geist schien jäh das Volk von Dach zu Dach zu überkommen. Sie rissen die Ziegel und anderes von den Brüstungen und begannen damit in blinder Wut die Legionäre zu bewerfen. Ein wildes Handgemenge entstand, in dem natürlich die Soldaten Sieger blieben. Judah aber erhob sich von der Brüstung schreckensbleich: »O Tirzah, Tirzah! Was soll aus uns werden! Ich habe den römischen Prokurator getötet. Der Ziegel hat ihn getroffen.« Er beugte sich wieder über die Brüstung und sah gerade, wie die Leibwache dem Prokurator half, wieder sein Pferd zu besteigen. »Er lebt, er lebt, Tirzah! Gesegnet sei der Herr, der Gott unsrer Väter!« 240
Er führte sie ins Sommerhaus. Da erzitterte das Dach unter ihren Füßen, und das Krachen von Balken, die zerschlagen wurden, drang plötzlich aus dem Hof herauf, gefolgt von Schreckensschreien und Todesstille. Er blieb stehen und lauschte. Der Schrei wiederholte sich, dann hörte man das Geräusch vieler Füße und dann das Gekreisch von Frauen. Die Soldaten hatten das Nordtor eingeschlagen und waren in das Haus eingedrungen. Judah begriff, daß man ihn suchte. Seine erste Regung war, zu fliehen. Aber wohin? Nur Flügel hätten ihm helfen können. Tirzah packte in wilder Angst seinen Arm. Deutlich jetzt und schriller – es war keine Täuschung mehr – hörte er den Schrei seiner Mutter. Er zögerte nicht länger. »Komm, wir müssen hinunter!« Die Terrasse am Fuße der Treppen war voll von Soldaten. Andere liefen mit gezogenen Schwertern von einem Raum zum andern. Auf einem Fleck knieten ein paar Frauen, umklammerten einander und baten um Gnade. Eine Frau in zerrissenen Kleidern und mit herunterhängendem Haar versuchte sich von einem Soldaten loszureißen, der alle Kraft anwenden mußte, um sie zu halten. Ihre Schreie übertönten alle anderen. Zu ihr hinunter sprang Judah mit weiten Sätzen: »Mutter! Mutter!« Sie streckte ihre Hände nach ihm aus, aber als sie ihn fast erreicht hatte, wurde sie weggerissen und beiseite gebracht. Dann hörte er, wie jemand laut sagte: »Das ist er!« Judah schaute auf und sah – Messala. Um Liebe zu den Seinen vergaß Judah seinen Streit: »Hilf ihnen, mein Messala. Erinnere dich an unsre Knabenzeit und hilf ihnen!« Messala tat, als höre er nicht: »Ich kann euch nichts mehr nützen«, sagte er zu dem Offizier. »In den Straßen ist mehr zu tun. Nieder mit Eros, hoch Mars!« Mit diesen letzten Worten entfernte er sich. Judah verstand ihn, und in der Bitterkeit seiner Seele flehte er zum Himmel: »In der Stunde deiner Rache, o Herr, übergib ihn meiner Hand!« Mit großer Mühe bahnte er sich den Weg zu dem Offizier. »Herr, die Frau ist meine Mutter. Verschont sie, verschont dort meine Schwester! Gott ist gerecht, er will Barmherzigkeit für Barmherzigkeit geben.« 241
Der Mann schien bewegt. »In den Turm mit den Frauen!« rief er. »Aber tut ihnen nichts zuleide! Ihr müßt für sie einstehen!« Dann wandte er sich an die Soldaten, die Judah hielten: »Stricke her! Bindet ihm die Hände! Seiner Strafe entgeht er nicht.« Die Mutter wurde weggebracht. Die kleine Tirzah in ihrem Hauskleid, unfähig vor Angst, einen Gedanken zu fassen, ging willig mit den Soldaten. Judah warf beiden einen letzten Blick zu, dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen, als ob er sich die Szene unvertilgbar einprägen wollte. Niemand sah, ob er Tränen vergoß. In ihm geschah, was man das Wunder des Lebens nennen mag. Bisher hatten die Umstände die härteren Seiten seines Wesens, wenn er sie besaß, noch nicht aufgerufen. Er kannte nur die Liebe zur Mutter und zur Schwester. Er hatte wohl manchmal Spuren von Ehrgeiz in sich gefühlt, aber das waren mehr gestaltlose Träume gewesen. Aber jetzt, als er alles, was er verehrte, von seinen Altären gestürzt sah und die Trümmer seiner kleinen Welt der Liebe rings um sich liegen fand, war in dem jungen Ben Hur etwas aufgebrochen, was ihn verwandelte. In diesem Augenblick hatte er seine Kindheit hinter sich gelassen und war zum Mann geworden. Eine Trompete erklang im Hof. Die Soldaten verließen die Terrasse. Die Mutter, die Tochter, der ganze Hausstand wurde aus dem Nordtor hinausgeführt, dessen Ruinen den Durchlaß versperrten. Die Schreie der Diener, von denen manche in diesem Haus geboren waren, waren herzzerreißend. Als auch die Pferde und alles Vieh fortgetrieben wurden, begann Judah den Umfang der Rache des Prokurators zu begreifen. Das ganze Haus war ihr verfallen. Soweit der Befehl ausgeführt werden konnte, sollte nichts Lebendes in seinen Mauern zurückbleiben. Wenn in Judäa noch Leute sein sollten, die dem römischen Gouverneur ans Leben wollten, so sollte das Schicksal der fürstlichen Familie Hur eine Warnung für sie sein, und die Zerstörung des Hauses sollte die ganze Geschichte lebendig halten. In den Straßen hatten die Kämpfe fast aufgehört. Nur hier und da sah man noch Staubwolken zum Zeichen, daß noch nicht alles vorbei 242
war. Die Kohorte stand in Ruhe, von ihrem Glanz hatte sie nichts verloren. Judah sorgte sich nicht um sich, aber er suchte unter den Gefangenen nach der Mutter und Tirzah. Er konnte sie nirgends erblicken. Plötzlich erhob sich von der Erde, auf der sie gelegen hatte, eine Frau und lief rasch zurück zum Tor. Einige Soldaten wollten sie fassen, aber sie entkam ihnen und rannte zu Judah und umklammerte seine Knie. »O Amrah, gute Amrah!« rief er. »Gott helfe dir! Ich kann es nicht.« Er beugte sich nieder und flüsterte: »Lebe, Amrah, für Tirzah und meine Mutter! Sie werden zurückkommen und …« Ein Soldat zog sie fort, aber sie sprang auf und lief zum Tor und huschte in den Hof. »Laß sie laufen!« rief der Offizier. »Wir verriegeln das Haus, und sie wird verhungern.« Die Soldaten verrammelten das zerstörte Nordtor und ebenso das Westtor. Der Palast der Hurs stand nun verödet. Die Kohorte marschierte zum Turm zurück, wo sich der Prokurator von seinen Verletzungen erholte. Er gab seine Bestimmungen über die Gefangenen. Am zehnten Tag zeigte er sich auf dem Marktplatz.
Ein Galeerensklave Am nächsten Tag erschien eine Abteilung Legionäre im Palast Hur, schloß die Tür fest, versiegelte sie mit Wachs und nagelte eine Inschrift an, die in Latein besagte: »Dies ist das Eigentum des Kaisers.« Nach der Meinung der Römer genügte das, um seinen Zweck zu erfüllen. Am Tage danach näherte sich gegen Mittag ein Hauptmann mit zehn Reitern Nazareth vom Süden her, aus der Richtung von Jerusalem. Der Ort war ein unansehnliches Dorf, an einem Hügel gelegen und so unbedeutend, daß die erste Straße nichts anderes war als ein von den Herden getrampelter Pfad. Als sich die Reiterschar dem Dorf näherte, ertönte ein Trompeten243
stoß und wirkte wie ein Zauber auf die Einwohner. Alles lief zu den Toren, um das ungewohnte Schauspiel zu bestaunen. Die Neugier richtete sich vor allem auf einen Gefangenen, den die Reiter mit sich führten. Er ging zu Fuß, war barhäuptig und halbnackt. Das Ende des Riemens, der seine Hände fesselte, war um den Hals eines Pferdes geschlungen. In der Staubwolke, die von der Reiterschar aufstieg, konnten die Einwohner erkennen, daß der Gefangene noch jung war. An der Quelle ließ der Hauptmann halten und stieg mit den meisten seiner Leute ab. Der Gefangene sank in den Staub, betäubt und ohne ein Verlangen. Er schien im letzten Zustand der Erschöpfung zu sein. Als die Dorfleute sahen, daß er fast noch ein Knabe war, hätten sie ihm gern geholfen, wenn sie es gedurft hätten. Eine Frau rief: »Seht, dort kommt der Zimmermann. Nun werden wir etwas erfahren.« Der Mann sah ehrwürdig aus. Dünne weiße Locken kamen unter seinem Turban hervor, und ein langer weißer Bart hing ihm bis auf die Brust über seinem gewöhnlichen grauen Rock. »O Rabbi, guter Rabbi Joseph«, rief eine Frau und kam zu ihm gelaufen. »Hier ist ein Gefangener, frage doch die Soldaten, wer es ist, was er getan hat und was sie mit ihm tun werden!« Der Rabbi schaute auf den Gefangenen, dann trat er zu dem Hauptmann. »Kommt ihr aus Jerusalem?« »Ja.« »Euer Gefangener ist jung.« »An Jahren, ja.« »Darf ich fragen, was er getan hat?« »Er ist ein Mörder.« Das Volk wiederholte voll Staunen dieses Wort, aber Rabbi Joseph setzte seine Fragen fort. »Ist er ein Sohn Israels?« »Er ist ein Jude«, sagte der Römer trocken. Das Mitleid der Umstehenden wurde wieder rege. »Ich weiß nichts von euern Stämmen, aber ich kann über seine Familie Auskunft geben«, fuhr der Offizier fort. »Ihr mögt von einem 244
Fürsten Hur von Jerusalem gehört haben – Ben Hur nennen sie ihn. Er lebte in den Tagen des Herodes.« »Ich kannte ihn«, sagte Joseph. »Schön, und das ist sein Sohn.« Von allen Seiten kamen Ausrufe, so daß der Hauptmann Ruhe gebot. »In den Straßen von Jerusalem hat er vorgestern beinahe den edlen Gratus getötet, indem er einen Ziegel vom Dach des Palastes seines Vaters nach ihm warf.« Die Nazarener bestaunten den jungen Ben Hur wie ein wildes Tier. »Hat er ihn getötet?« fragte der Rabbi. »Nein.« »Ist er verurteilt?« »Ja, auf Lebenszeit zu den Galeeren.« »Der Herr steh ihm bei«, sagte Joseph. Unterdessen legte ein Jüngling, der mit Joseph gekommen war, aber unbemerkt bei ihm stand, eine Axt, die er getragen hatte, beiseite, ging zu einem großen Stein, der am Brunnen lag, und holte einen Wasserkrug. Und ehe die Wache ihn daran hindern konnte, wenn sie es gewollt hätte, trat er zu dem Gefangenen und bot ihm zu trinken. Eine Hand, die sanft auf seine Schulter gelegt wurde, hatte den unglückseligen Judah aufgeweckt, und als er aufschaute, sah er in ein Gesicht, das er nie wieder vergaß. Es war das Gesicht eines Jünglings seines Alters, von goldbraunem Haar umrahmt. Mit seinen dunkelblauen Augen sah er Judah so voll Liebe und heiligem Ernst an, daß sie unwiderstehlich waren. Unter dem Blick dieses Fremden schmolzen die Tag und Nacht gehegten bitteren Träume von Rache hinweg, und in seinem Leiden wurde er zu einem Kind. Er setzte den Krug an die Lippen und trank in tiefen Zügen. Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt. Als der Krug leer war, wurde die Hand, die auf seiner Schulter gelegen, ihm auf den Kopf gelegt und blieb dort in den staubigen Locken lange genug, um einen Segen zu spenden. Dann stellte der Fremde den Krug auf den Stein zurück, nahm seine Axt wieder auf und trat neben Rabbi Joseph. Alle Augen waren ihm gefolgt, die des Hauptmanns ebenso wie die der Dörfler. 245
Als alle Soldaten und ihre Pferde getrunken hatten, ritt der Trupp weiter. Aber die Stimmung des Hauptmanns war nicht mehr dieselbe, wie sie vorher gewesen war. Er selber hob den Gefangenen aus dem Staub auf und half ihm auf ein Pferd hinter einem Soldaten. Die Nazarener gingen in ihre Häuser zurück – unter ihnen Rabbi Joseph und sein Lehrling. Das war die erste Begegnung Judahs mit dem Sohn Marias.
Am Ruder Von seinem Platz aus, zurückgelehnt in den Sessel, von den Bewegungen des Schiffes getragen, den Soldatenmantel über die Tunika geworfen, das Schwert im Gürtel, beobachtete Arrius seine ganze Mannschaft und wurde auch von ihr selbst gesehen. Sein Blick umfaßte jede Einzelheit, am längsten verweilte er bei den Ruderern. Die sechzig Ruderer auf jeder Seite waren auf neunzehn solcher Stufen im Abstand von einem Meter untergebracht und einer zwanzigsten, deren oberster Sitz genau unter dem untersten der ersten Bank lag. Auf den ersten und zweiten Stufen saßen die Ruderer, auf der dritten standen sie, ihre Ruder waren länger. Die Handgriffe der Ruder waren mit Blei ausgefüllt. Sie hingen in geschmeidigen Riemen, die eine schwebende Bewegung erlaubten, was aber auch viel Geschicklichkeit verlangte, damit ein unachtsamer Ruderer nicht von einer plötzlichen Woge mit fortgerissen und ins Meer geschleudert wurde. Die Bänke der Ruderer waren das Zeichen sowohl für Roms Politik wie für seine Tapferkeit. Hier saßen Söhne aus fast allen Ländern, meist Kriegsgefangene, die nach ihrer Kraft und Ausdauer ausgesucht waren. Auf einer Bank ein Brite, vor ihm ein Libyer, dahinter ein Skythe, ein Gallier, ein Thebaner. Römische Sträflinge saßen zusammen mit Goten, Langobarden, Juden, Äthiopiern und Barbaren. Hier ein Athener, dort ein rothaariger Wilder von Hibernia neben blauäugigen 246
Riesen aus Cimbrien. Die Arbeit an den Rudern genügte nicht, um den Verstand zu beschäftigen, selbst wenn es sich um stumpfe und einfältige Menschen handelte. Die Bewegungen mußten automatisch werden. Auch die Aufmerksamkeit, die sie den Wogen zuwenden mußten, war nur instinktiv wach. So wurden diese Elenden mit der Zeit stumpfsinnig, Geschöpfe mit gewaltigen Muskeln und leerem Hirn. Selbst ihr Elend wurde ihnen zur Gewohnheit. Die Ruderer wurden nicht mit ihren Namen, sondern mit Ziffern bezeichnet, die an die Bänke gemalt waren. Mit seinen scharfen Augen ging der Tribun eine Bank nach der andern durch und blieb schließlich bei Nummer haften, der auf der ersten Bank saß, ganz nahe vor ihm. Der Ruderer war nackt wie alle, bis auf sein Lendentuch. Er war noch sehr jung, nicht älter als zwanzig. Arrius liebte nicht nur das Würfelspiel, er war auch ein Kenner des menschlichen Körpers, wie er ihn in den Gymnasien bei den berühmten Athleten bewundern konnte. Kraft und Klugheit erkannte Arrius sofort in dem jungen Ruderer. Sein Körper war von vollkommener Harmonie und erweckte die Neugier und das allgemeine Interesse in dem Tribun. Auch der Kopf des Mannes war bemerkenswert. – Bei Gott, der Bursche gefällt mir! Er verspricht etwas. Ich muß mehr über ihn erfahren. Der Ruderer wandte ihm jetzt das Gesicht zu: Ein Jude! Und ein Knabe! Der Ruderer bemerkte den Blick des Arrius und errötete. Er zögerte einen Augenblick mit dem Ruder, da fiel der Hammer des Aufsehers auf den Tisch, und sein Ruder fiel im Takt mit den anderen nieder. Als er dann zurück auf den Tribun schaute, war er im höchsten Maße erstaunt – er begegnete einem freundlichen Lächeln. Währenddessen hatte die Galeere die Straße von Messina erreicht, schoß ostwärts an der Stadt vorbei und ließ die Rauchwolke über dem Ätna hinter sich.
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Arrius und Ben Hur auf Deck Am vierten Tag hatte die Galeere ›Asträa‹ das Ionische Meer erreicht. Der Himmel war klar und der Wind so günstig, als wären alle Götter ihr wohlgesinnt. Arrius, der etwas ungeduldig war, hoffte seine Flotte schon zu erreichen, ehe sie an der Ostküste der Insel Cythera gelandet war. Er verbrachte deshalb die meiste Zeit auf Deck. Mit seinem Schiff, das er nun schon genau kannte, war er vollkommen zufrieden. Wenn er auf seinem Stuhl in der Kajüte saß, gingen seine Gedanken immer wieder zu dem Ruderer Nummer 60. »Kennst du den Mann, der eben von seiner Bank aufgestanden ist?« fragte er schließlich den Aufseher. »Er ist sehr jung.« »Aber unser bester Ruderer. Oft sah ich sein Ruder in seinen Armen fast brechen.« »Wie beträgt er sich?« »Er ist gehorsam, weiter weiß ich nichts. Einmal bat er mich um etwas.« »Um was?« »Er wollte abwechselnd auf der rechten und linken Seite beschäftigt werden.« »Gab er einen Grund dafür an?« »Er hatte beobachtet, daß die Männer, die immer auf einer Seite arbeiteten, schief wurden. Eines Tages, bei einem Sturm oder in einer Schlacht, so meinte er, müsse vielleicht gewechselt werden, und dann wäre er nicht voll arbeitsfähig.« »Sieh da! Der Gedanke ist neu. Was hast du sonst noch an ihm bemerkt?« »Er ist reinlicher als seine Genossen.« 248
»Darin ist er ein Römer. Weißt du nichts über seine Geschichte?« »Kein Wort.« Der Tribun dachte eine Weile nach: »Sollte ich bei der nächsten Ablösung auf Deck sein, schick ihn mir. Er soll allein kommen.« Zwei Stunden später stand Judah vor Arrius. »Dienst du schon lange?« »Länger als drei Jahre.« »Nach deiner Sprache bist du ein Jude.« »Meine Vorfahren reichen weiter zurück als der erste Römer – sie waren Hebräer.« »Der unbeugsame Stolz deiner Rasse ist dir nicht verlorengegangen«, erwiderte Arrius, als er sah, daß der Ruderer errötete. »Stolz ist nie so stark wie in Ketten.« »Welchen Grund hast du, stolz zu sein?« »Mein Vater war ein Fürst von Jerusalem und ein Kaufmann. Er fuhr zur See. Der große Augustus kannte und ehrte ihn.« »Sein Name?« »Ithamar aus dem Hause Hur.« Der Tribun hob erstaunt die Hand: »Du bist ein Sohn Hurs?« Nach einer Weile fragte er: »Was hat dich hierhergebracht?« »Ich wurde des versuchten Mordes an dem Prokurator Valerius Gratus angeklagt.« »Du?« rief Arrius erregt und trat einen Schritt zurück. »Du bist ein Mörder? Ganz Rom war über diese Geschichte erregt. Gestehst du deine Schuld?« Die Verwandlung, die mit Ben Hur geschah, erschien wunderbar, so plötzlich und stark geschah sie. Seine Stimme wurde schärfer, seine Hände ballten sich, jede Fiber zitterte, seine Augen flammten: »Du hast vom Gott unserer Väter gehört, vom ewigen Jehova. Bei seiner Liebe und Allmacht und bei der Liebe, die er von Anfang an Israel erwiesen hat, schwöre ich, daß ich unschuldig bin.« »Wie könntest du deine Unschuld beweisen?« »Ich war ein Knabe, ich war zu jung, um ein Verschwörer zu sein. 249
Gratus war mir fremd. Wenn ich ihn hätte töten wollen, so war dort weder der Ort noch die Zeit. Er ritt inmitten einer Legion, und es war heller Tag. Mein Untergang wie der meiner Mutter und meiner Schwester war sicher. Ich hatte keinen Grund zum Haß, im Gegenteil, und wäre die Gelegenheit noch so verlockend gewesen, so mußte meine Hand von jeder Rücksicht auf die Meinen, auf mein Leben, auf Vermögen, Gewissen und Gesetz zurückgehalten werden.« »Wer war bei dir, als der Wurf geschah?« »Ich war auf dem Dach meines Vaterhauses. Ein Ziegel löste sich aus der Brüstung unter meiner Hand und fiel auf Gratus. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Was für ein Entsetzen!« »Wo war deine Mutter?« »In ihrem Zimmer unten.« »Was ist aus ihr geworden?« Ben Hur faltete seine Hände und atmete keuchend. »Ich weiß nicht. Ich sah, wie sie weggeführt wurde – das ist alles. Sie trieben jedes lebende Wesen aus dem Haus, selbst das Vieh, und versiegelten die Tore. Sie wollten, daß niemand wiederkehrte. Wüßte ich nur ein Wort von ihnen! Meine Mutter und meine Schwester sind doch ganz und gar unschuldig. Ich kann verzeihen – doch verzeih, edler Tribun –, ein Sklave sollte nicht von Verzeihung reden; ich bin zeitlebens ans Ruder gekettet.« Arrius hatte aufmerksam zugehört. Er nahm alle Erfahrungen mit Sklaven zu Hilfe. Wenn dieser Mensch geheuchelt hatte, dann hatte er es in vollkommener Weise getan. Wenn aber alles echt gewesen, dann war an seiner Unschuld kein Zweifel. Der Tribun konnte unerbittlich sein; er konnte auch gerecht sein. Das Schiffsvolk nannte ihn, wenn es eine Zeitlang unter ihm gedient hatte, den ›guten Tribun‹. In diesem Sinne sprach mancherlei in ihm zugunsten des jungen Mannes, manches gegen ihn. Seine Eindrücke waren der Milde günstig: Er glaubte Ben Hur. »Es ist gut«, sagte er laut. »Geh auf deinen Platz zurück.« 250
Ben Hur verbeugte sich, blickte nochmals in das Gesicht seines Gebieters, sah aber dort nichts, was ihn zu Hoffnungen berechtigte. Er schaute zurück und sagte: »Wenn du dich meiner noch erinnerst, o Tribun, so gedenke, daß ich dich nur um eine Nachricht über die Meinigen gebeten habe – über meine Mutter und Schwester.« Er ging. Arrius folgte ihm mit bewundernden Blicken: Welch ein Mann für die Arena! Was für ein Läufer! Ihr Götter, was für ein Arm für das Schwert oder den Ringkampf! – »Halt!« rief er laut. Ben Hur blieb stehen, und Arrius trat vor ihn hin. »Wenn du frei wärst, was würdest du tun?« »Der edle Arrius spottet über mich«, sagte Judah mit zitternden Lippen. »Nein, bei den Göttern, nein!« »Dann will ich gern antworten. Ich würde mich zum erstenmal in meinem Leben einer Aufgabe widmen: Ich weiß keine andere. Ich würde nicht ruhen, bis ich meine Mutter und Tirzah wieder in unser Haus geführt hätte. Tag und Stunde würde ich nur ihrem Glück dienen. Ich würde ihnen dienen, wie nie ein Sklave treuer gedient hat. Sie haben viel verloren, aber – bei dem Gott meiner Väter – ich würde ihnen mehr erobern!« Die Antwort war für den Römer unerwartet. Einen Augenblick war er unschlüssig: »Ich fragte nach deinen Plänen. Wenn deine Mutter und deine Schwester tot wären oder nicht mehr gefunden würden, was würdest du dann tun?« Tödliche Blässe bedeckte Ben Hurs Gesicht, und er schaute auf das Meer. Nachdem er seiner Erregung Herr geworden war, wandte er sich zu dem Tribun: »Welcher Beschäftigung ich mich widmen würde?« »Ja.« »Tribun, ich will dir die Wahrheit sagen. Gerade in der Nacht vor dem Tage des Schreckens erhielt ich die Erlaubnis, Soldat zu werden. 251
Das will ich noch. Und da es in der ganzen Welt nur eine Schule des Kampfes gibt, würde ich dorthin gehen.« »In die Palästra?« »Nein, in ein römisches Lager.« »Aber du mußt zuerst das Waffenhandwerk erlernen.« »Mit einem Sklaven soll sich der Herr nicht zu sehr einlassen.« Arrius sah seinen Fehler und änderte Stimme und Haltung: »Geh jetzt! Und baue nicht auf das, was zwischen uns geredet worden ist. Vielleicht treibe ich mein Spiel mit dir. Aber«, er blickte nachdenklich abseits, »wenn du mit gewisser Hoffnung daran denkst, wähle zwischen dem Ruhm eines Gladiators und dem Dienst eines Soldaten. Das eine kann dir die Gunst des Kaisers verschaffen, im andern Fall hast du keine Helfer. Du bist kein Römer. Geh!« Ben Hur saß wieder auf seiner Ruderbank. In ihm war eine Hoffnung wie ein singender Vogel aufgestiegen.
Nummer 60 In der Bucht von Antemone, östlich der Insel Cythera, waren hundert Galeeren vor Anker gegangen. Einen Tag lang inspizierte der Tribun die Flotte, dann segelte er nach Naxos, der größten Cykladeninsel. Als die Flotte in guter Ordnung der Felsenküste der Insel zu ruderte, erschien eine Galeere aus dem Norden. Arrius fuhr ihr entgegen. Sie kam gerade von Byzanz, und von ihrem Kommandanten konnte Arrius alle Einzelheiten erfahren, die er wissen mußte. Die Seeräuber, die vernichtet werden sollten, hatten ihre Vorbereitungen mit der größten Heimlichkeit getroffen. Das erste, was man von ihnen erfuhr, war ihr Erscheinen am Eingang des thrazischen Bosporus und die folgende Vernichtung der dort stationierten Flotte. Von dort bis zum Ausgang des Hellespont war ihnen alles auf dem Wasser 252
zur Beute gefallen. Ihr Geschwader bestand aus fast sechzig Galeeren, alle gut bewaffnet und ausgerüstet. Der Tribun war mit den Bewegungen des Feindes sehr zufrieden und war Fortuna dankbar, nicht nur für die zuverlässigen Nachrichten, sondern auch dafür, daß sie den Feind in ein Gewässer gelockt hatte, wo sein Untergang sicher schien. Er wußte, welchen Schaden eine einzige Galeere im weiten Raum des Mittelmeers anrichten konnte und wie schwer sie aufzuspüren war. Wenn es ihm gelang, mit einem Schlage die ganze Flotte der Piraten zu vernichten, so würde das seinen Ruhm mehren. Noch als die Sonne sank, hielt die Galeere nach Norden. Die Nacht kam. Ben Hur konnte keine Veränderung feststellen. Dann aber kam ein Duft von Weihrauch herein. – Der Tribun ist am Altar, dachte er. Wäre es möglich, daß wir einer Schlacht entgegenfahren? Nun wurde er aufmerksam. Er hatte viele Schlachten mitgemacht, ohne je eine gesehen zu haben; aber er hatte von seiner Bank aus alles gehört, was sich über ihm und neben ihm abgespielt hatte. Alle Laute waren ihm vertraut. So kannte er auch alle Vorbereitungen dazu und wußte, daß die Römer und Griechen vorher ihren Göttern opferten. An jeder Ruderbank war eine Kette mit schweren Fußringen befestigt. Der Aufseher ging von Bank zu Bank, von Nummer zu Nummer, um jedem Ruderer diese Fußfessel anzulegen, sie konnten nur stumm gehorchen. Im Falle eines Unglücks gab es für sie keine Rettung. Im Raum wurde es totenstill. Man hörte nur die Ruder in ihren Riemen. Jeder fühlte die Schmach, Ben Hur tiefer als seine Genossen. Er wünschte, ihr um jeden Preis zu entgehen. Aber das Klirren der Ketten zeigte ihm, daß der Aufseher sich näherte. Jetzt war er bei Nummer 1; das Rasseln der Kette klang schauerlich. Zuletzt Nummer 60. Mit der Ruhe der Verzweiflung hielt Ben Hur sein Ruder an und streckte seinen Fuß dem Aufseher hin. In diesem Augenblick richtete sich der Tribun auf und winkte dem Hortator. Durch Judah ging ein Schlag. Der Tribun schaute vom Aufseher zu ihm hin. Und als er sein Ruder senkte, schien ihm das Schiff wie verklärt. Er hörte nichts von dem, was 253
gesagt wurde. Es war genug, daß die Kette unbenutzt an ihrem Platz hing und daß der Aufseher zu seinem Schalltisch zurückging und seinen Hammer fallen ließ. Nie vorher hatten ihm die Schläge des Hammers wie Musik geklungen. Mit der Brust drückte er gegen das Ruder, das sich unter seiner Kraft bog, als wolle es zerspringen. Der Hortator ging zum Tribun und deutete lächelnd auf Nummer 60. »Welche Kraft!« sagte er. »Und welcher Mut!« antwortete der Tribun. »Er ist besser ohne die Eisen. Leg sie ihm nie wieder an!« Mit diesen Worten streckte er sich wieder auf sein Lager. Das Schiff flog unter den Rudern Stunde um Stunde dahin; das Meer war kaum vom Wind gekräuselt. Einmal, zweimal wurde Ben Hur abgelöst, aber er konnte nicht schlafen. Drei Jahre Nacht – und endlich ein Sonnenstrahl in der Dunkelheit! Wie vom Schiffbruch umhergeworfen – und nun an Land! So lange tot – und nun der Schauer der Auferstehung! In solch einer Stunde flieht der Schlaf. Die Hoffnung formt schon die Zukunft. Die tiefere Dunkelheit vor der Dämmerung lag über dem Wasser, und alles ging gut auf der ›Asträa‹, als ein Mann vom Deck herunterkam, rasch zu der Plattform ging, wo der Tribun schlief, und ihn weckte. Arrius erhob sich, nahm Helm, Schwert und Schild und ging zum Kommandanten der Seeleute. »Die Piraten sind nahe. Auf und fertig!« befahl er und ging so ruhig und sicher zu den Treppen, daß mancher gedacht haben mag: Glücklicher Mann! Apicius bereitet ihm ein Fest.
Die Seeschlacht Alle Mann an Bord waren auf ihrem Posten, alle Waffen waren bereit. Bottiche wurden mit Wasser gefüllt, noch mehr Laternen angezündet. Die abgelösten Ruderer standen vor ihrem Aufseher, dank der Vorsehung war Ben Hur unter ihnen. Bald verklangen die letzten Geräusche der Vorbereitungen auf Deck, und es herrschte die Stille der un254
bestimmten Furcht und Erwartung. – Ein Befehl wurde vom Deck gegeben und dem Aufseher der Ruderer überbracht. Alle Ruderer hielten inne. Was bedeutete das? Über die Lage draußen konnten sie niemanden fragen. Und wer war der Feind? Vielleicht Freunde, Brüder, Landsleute? Ein neuer Befehl kam vom Deck. Die Ruder senkten sich, die Galeere setzte sich kaum merkbar in Bewegung. Kein Laut außen, keiner von innen. Das ganze Schiff schien den Atem anzuhalten und sich wie ein Tiger zum Sprung vorzubereiten. Ben Hur hatte kein Gefühl für die Zeit oder die Distanz, die sie zurückgelegt hatten. Plötzlich ein Trompetensignal an Deck, laut, klar und lang. Der Aufseher schlug den Takt auf seinem Tisch, daß es widerhallte. Die Ruderer warfen sich mit aller Kraft in die Riemen; in allen Fugen krachend, sprang die Galeere an. Andere Trompeten erschallten, alle von rückwärts, keine von vorn, von dort hörte man nur Stimmengewirr. Plötzlich gab es einen gewaltigen Stoß; die Ruderer dicht vor dem Aufseher taumelten, einige stürzten. Das Schiff schoß rückwärts, erholte sich und drang noch unwiderstehlicher voran. Schreckensschreie von Menschen übertönten den Klang der Trompeten, das Mahlen und Krachen eines Zusammenstoßes. Dann brach etwas unter seinen Füßen, unter dem Kiel. Es splitterte, etwas wurde zerstampft. Ben Hur war es, als ob er über etwas hinwegrollte. Ein Triumphgeschrei vom Deck – das römische Schiff hatte gesiegt. Aber wen hatte die See verschlungen? Welchem Volk, welchem Land gehörten sie an? Keine Pause, kein Halt! Die ›Asträa‹ rauschte vorwärts. Oben tauchten die Seeleute die Baumwollballen ins Öl und zündeten sie an; zu den andern Schrecken des Kampfes kam noch das Feuer hinzu. Da senkte sich mit einem Male die Galeere nach vorn, so daß sich die Ruderer nur noch mit Mühe auf ihren Plätzen behaupten konnten. Neues Triumphgeschrei der Römer und Verzweiflungsschreie der Feinde. Der Kampf war noch unentschieden. Von Zeit zu Zeit wurde ein Mann der Besatzung blutend und sterbend heruntergebracht. Manchmal drang der widerliche Geruch von verbranntem Fleisch herein, und 255
Rauchwolken verdüsterten den Laternenschein. Nach Luft ringend, wußte Ben Hur, daß sie an einem brennenden Schiff vorüberfuhren, in dem die Ruderer an ihren Bänken verbrannten. Die ›Asträa‹ war die ganze Zeit in Bewegung. Plötzlich stoppte sie. Der Stoß war so stark, daß den Sklaven die Ruder entfielen und sie von den Bänken stürzten. Auf dem Deck wüstes Gepolter und dann der Zusammenprall zweier Schiffe! Zum erstenmal verstummte der Hammer. Männer sanken vor Furcht zu Boden oder suchten ein Versteck. Mitten in der Panik fiel ein halbnackter Körper durch die Luke nahe bei Ben Hur, eine Masse Haar verdunkelte sein Gesicht. Er hielt einen Schild aus Ochsenhaut und Weidengeflecht, ein Barbar, einer von dem weißhäutigen Volk im Norden, dem der Tod Beute und Rache geraubt hatte. Wie kam er hierher? War er mit eiserner Hand von einem feindlichen Schiff gerissen worden? Nein, der Feind war auf der ›Asträa‹. Kämpften die Römer auf ihrem eigenen Schiff? Ein Schreck traf Judah: Arrius war hart bedrängt, er kämpfte vielleicht um das eigene Leben! Wenn er erschlagen würde! Gott Abrahams, verhüte es! Sollten alle neuerweckten Träume und Hoffnungen Träume und Hoffnungen bleiben? Mutter und Schwester, Haus, Heimat, das Heilige Land – sollte er sie nicht mehr wiedersehen? Der Tumult donnerte über ihm, er schaute um sich. In der Kajüte herrschte Verwirrung – die Ruderer auf ihren Bänken waren wie gelähmt, die Leute rannten blindlings hierhin und dorthin. Nur der Aufseher saß unerschüttert auf seinem Platz. Vergeblich schlug sein Hammer auf den Tisch, und indem er den Befehl des Tribunen erwartete, bezeugte er in dem roten Dunst die unvergleichliche Disziplin, welche die Welt erobert hatte. Mit einem Sprung war er auf den Treppen. Dort oben warf er einen Blick auf den vom Feuer blutroten Himmel, auf die Galeeren längsseits, auf das von Schiffen und Wracks bedeckte Meer, auf die zahlreichen Angreifer und die wenigen Verteidiger, auf den Kampf um die Steuermannskabine – als er plötzlich seinen Halt verlor und rückwärts stürzte. Der Boden, auf den er fiel, schien sich zu heben und in Stücke zu brechen. Im nächsten Augenblick klaffte der ganze hintere Schiffsrumpf auseinander, und als hätte die See die ganze Zeit nur darauf ge256
wartet, stürzte sie zischend und schäumend herein. Um Ben Hur war nichts als Dunkel und Wasser. Das einströmende Wasser warf ihn wie einen Klotz wieder in die Kajüte zurück. Dort wäre er ertrunken, wenn er nicht von einer zurückflutenden Welle mitgerissen worden wäre. Er bekam irgendeinen Gegenstand zu fassen und klammerte sich daran. Es kam ihm so vor, als wäre er eine Ewigkeit unter Wasser gewesen. Endlich trieb es ihn nach oben, und er konnte seine Lunge wieder mit frischer Luft füllen. Er schüttelte sich das Wasser aus Haar und Augen, kroch vollends auf die Schiffsplanke, an die er sich geklammert hatte, und schaute sich um. Der Tod, dem er eben unter Wasser entronnen war, lauerte noch in vielfacher Gestalt auf ihn. Die Schlacht war in vollem Gang. Wer siegen würde, konnte er noch nicht erkennen. Rings um ihn brannten Schiffe. Als die ›Asträa‹ unterging, stürzten die Römer wie ihre Gegner, die auf dem Verdeck gekämpft hatten, ins Meer. Viele kamen wieder an die Oberfläche und setzten auf den Planken mit Schwert und Speer den Kampf fort. Sie wühlten das Meer auf, das hier schwarz, dort rot war vom Widerschein des Feuers. Mit ihren Kämpfen hatte er nichts zu tun, für ihn waren es alles Feinde. Aber keiner sollte ihn auf seiner Planke töten. Er beeilte sich, hinwegzukommen. Da vernahm er schnelle Ruderschläge und sah eine Galeere auf sich zusteuern. Der Bug schien doppelt groß, und der rote Feuerschein spiegelte auf seinem vergoldeten und geschnitzten Schnabel, wodurch er etwas Schlangenähnliches bekam. Unter seinem Kiel schäumte das Wasser hoch. Er schwamm, stieß die große und schwer bewegliche Planke vor sich her. Sekunden waren kostbar, eine halbe konnte ihn retten oder vernichten. Da sah er dicht vor sich einen schimmernden Helm aus dem Wasser auftauchen. Danach kamen zwei Hände mit ausgestreckten Fingern, große und starke Hände, die, was sie halten, nicht so leicht loslassen. Ben Hur wich ihnen entsetzt aus. Der Helm und der Kopf, den er umschloß, tauchten auf, dann zwei Arme, die das Wasser wild 257
zu schlagen begannen. Der Kopf fiel zurück, und das Gesicht lag vor ihm. Der Mund klaffte weit, die Augen standen offen, aber sie waren blicklos, und das Gesicht des Ertrinkenden war von geisterhafter Blässe überzogen – ein grausiger Anblick. Doch Judah schrie vor Freude auf, und als das Gesicht wieder im Wasser verschwand, packte er die Helmkette am Kinn und zog die Gestalt auf seine Planke. Der Mann war Arrius, der Tribun. Eine Zeitlang schäumte und zischte das Wasser um Ben Hur, so daß er alle Kraft brauchte, um sich auf der Planke und zugleich den Kopf des Römers über Wasser zu halten. Die Galeere war vorübergerauscht. Ihre Ruder hatten die beiden nicht erreicht, aber sie war mitten durch behelmte und helmlose Köpfe gejagt. In ihrem Kielwasser blieb nichts als die im Feuer schimmernde See. Ein dumpfer Krach, von lauten Aufschreien begleitet, ließ den Befreiten von seiner Last aufblicken. Eine wilde Freude erfüllte sein Herz – die ›Asträa‹ war gerächt. Der Kampf dauerte noch; doch der Widerstand schien in Flucht umzuschlagen. Aber wer waren die Sieger? Davon hing Ben Hurs Leben und das des Tribunen ab. Er konnte die Planke unter den Körper des Arrius schieben und wandte all seine Kraft auf, ihn dort festzuhalten. Die Dämmerung kam langsam. Ben Hur begrüßte sie mit zwiespältigen Gefühlen, halb mit Hoffnung, halb mit Furcht. Würde sie die Römer oder die Piraten bringen? Endlich wurde es Morgen, es wehte kein Lüftchen. Zur Linken erblickte er Land; aber es war viel zu weit, um es schwimmend zu erreichen. Das Herz des Tribunen schlug unruhig. Ben Hur schöpfte Hoffnung, aber er konnte nichts anderes tun als warten und beten.
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Arrius adoptiert Ben Hur Zur Freude Ben Hurs erholte sich Arrius allmählich und fand auch die Sprache wieder. Nach seinen ersten tastenden Fragen, wo er sei, wer ihn gerettet habe und wie es geglückt sei, galten seine nächsten der Schlacht. Seine Zweifel an ihrem Ausgang erregten ihn derart, daß er sein volles Bewußtsein wiedererlangte. Nicht wenig half auch die lange Ruhe dazu, soweit man auf ihrer gebrechlichen Unterlage davon reden konnte. Nach einer Weile wurde er gesprächig. »Unsere Rettung hängt vom Ausgang der Schlacht ab. Ich weiß jetzt, was du für mich getan hast. Du hast mich mit eigener Lebensgefahr gerettet. Dir gehört mein Dank, was auch kommen mag. Ist uns das Glück günstig und werden wir aus der Gefahr gerettet, will ich dich mit solcher Gunst überhäufen, wie es einem Römer geziemt, der die Macht und Gelegenheit hat, seine Dankbarkeit zu erweisen. Es muß sich aber erst noch herausstellen, ob du mir trotz deiner besten Absicht wirklich eine Wohltat erwiesen hast.« Er zögerte: »Da ich von deiner guten Absicht rede, mußt du mir das Versprechen ablegen, daß du mir unter gewissen Umständen die größte Wohltat erweist, die ein Mensch dem andern tun kann – darauf gib mir dein Wort!« »Wenn es nichts Unerlaubtes ist, will ich es tun«, antwortete Ben Hur. Arrius sammelte neue Kraft: »Bist du wirklich der Sohn Hurs, des Juden?« war seine nächste Frage. »Es ist, wie ich dir sagte.« – »Ich kannte deinen Vater …« Judah zog sich näher zum Tribun heran, da dessen Stimme schwach war, und lauschte gespannt, ob er etwas von zu Hause hören würde. »Ich kannte und liebte ihn«, fuhr Arrius fort. Er machte wieder eine Pause, während sich ihm andere Gedanken aufzudrängen schienen: 259
»Als sein Sohn mußt du von Cato und Brutus gehört haben. Es waren große Männer und am größten im Tode. Als sie starben, hinterließen sie das Gesetz, daß ein Römer sein Glück nicht überleben darf. Hörst du?« »Ich höre.« »Die Edlen Roms pflegen einen Ring zu tragen. Auch ich trage einen. Nimm ihn jetzt!« Er hielt Judah die Hand hin, und der nahm den Ring. »Nun stecke ihn an deine Hand!« – Judah tat es. »Das Kleinod hat seinen besonderen Zweck. Ich besitze Ländereien und Vermögen. Ich gelte sogar in Rom als reich. Ich habe keine Familie. Zeige den Ring meinem Verwalter, der in meiner Abwesenheit die Aufsicht führt. Erzähle ihm, wie du ihn erhieltest, und verlange von ihm, was du willst, oder auch alles, was er hat. Er wird dir nichts abschlagen. Bleibe ich am Leben, so will ich noch mehr für dich tun. Ich werde dir die Freiheit verschaffen und dich deiner Heimat und deinem Volk wiedergeben; oder du sollst dir einen Lebensweg wählen, wie er dir gefällt. Hörst du mich?« »Ich habe alles gehört.« »Dann schwöre mir. Bei den Göttern …« »Nein, guter Tribun, ich bin ein Jude.« »Bei deinem Gott also oder bei dem, was deinem Glauben am heiligsten ist – schwöre mir, zu tun, was ich dir nun sagen werde, und es so zu tun, wie ich es will. Ich warte. Gib mir das Versprechen!« »Edler Arrius, ich fürchte, du verlangst etwas Ungewöhnliches von mir. Sage mir zuerst, was es ist!« »Willst du mir dann dein Versprechen geben?« »Das hieße, das Versprechen geben und … Gesegnet sei der Gott meiner Väter! Dort kommt ein Schiff!« »Aus welcher Richtung?« »Von Norden.« »Erkennst du seine Nationalität?« »Nein. Mein Dienst war an den Rudern.« »Hat es eine Fahne?« 260
»Ich kann keine sehen.« »Kommt es in dieser Richtung?« »Genau hierher.« »Siehst du noch keine Flagge?« »Es hat keine.« »Oder ein anderes Zeichen?« »Es hat ein Segel gesetzt und ist ein Dreiruderer. Es kommt sehr schnell – das ist alles, was ich sagen kann.« »Ein siegreiches Römerschiff hätte viele Flaggen gesetzt. Es muß ein Feind sein. Hör nun!« Arrius wurde wieder sehr ernst. »Wenn es eine Piratengaleere ist, bist du gerettet. Sie werden dir nicht die Freiheit geben, sondern dich wieder an die Ruder setzen; aber sie werden dich nicht töten. Ich aber …«, der Tribun zögerte, »ach was«, fuhr er entschlossen fort, »ich bin zu alt, Ehrlosigkeit zu ertragen. In Rom sollen sie sich erzählen, wie Quintus Arrius, wie es einem römischen Tribun geziemt, inmitten der Feinde mit seinem Schiff unterging. Das ist's, was ich von dir verlange! Ist es eine Piratengaleere, so stoße mich von der Planke und laß mich ertrinken! Hörst du? Schwöre mir, daß du es tun willst!« »Ich werde nicht schwören«, sagte Ben Hur fest, »noch werde ich die Tat ausführen. Das Gesetz, dem ich untertan bin, macht mich für dein Leben verantwortlich. Nimm den Ring zurück.« Er zog ihn vom Finger. »Nimm ihn zurück und alle deine Versprechungen für den Fall, daß wir gerettet werden. Das Urteil machte mich für Lebenszeit zum Galeerensklaven, aber ich bin kein Sklave, noch weniger bin ich dein Freigelassener. Ich bin ein Sohn Israels und in diesem Augenblick schließlich mein eigener Herr. Nimm den Ring zurück!« Arrius rührte sich nicht. »Du willst nicht?« fuhr Judah fort. »Dann werfe ich den Ring ins Meer. Nicht aus Zorn oder Trotz, sondern um mich von einer verhaßten Pflicht frei zu machen. Sieh, Tribun!« Er warf den Ring fort. Arrius hörte, wie das Kleinod aufs Wasser aufschlug und versank, aber er schaute nicht hin. »Du hast eine Torheit begangen«, sagte er, »doppelt töricht für ei261
nen Mann in deiner Lage. Ich brauche dich nicht, um zu sterben. Und wenn ich den Tod wähle, was wird aus dir? Männer, die zum Tod entschlossen sind, ziehen es vor, durch die Hand eines andern zu sterben. Plato sagt uns, daß sich die Seele gegen die Selbstzerstörung auflehnt, das ist alles. Mein Entschluß ist gefaßt. Ich will sterben, da mir Sieg und Ruhm versagt blieben. Du wirst leben, um etwas später zu sterben, traurig darüber, weil du aus Torheit deine fromme Pflicht nicht erfüllt hast. Ich bedaure dich.« Beide schwiegen und warteten. Ben Hur schaute nach dem sich nahenden Schiff aus. Arrius lag mit geschlossenen Augen und gleichgültig da. »Bist du sicher, daß es ein Piratenschiff ist?« fragte Ben Hur. »Ich glaube«, war die Antwort. »Die Galeere hält an und setzt ein Boot aus.« »Siehst du ihre Flagge?« »Gibt es nicht noch andre Zeichen auf einem römischen Schiff?« »Die römischen Galeeren haben einen Helm auf dem Mast.« »Dann fasse Mut! Ich sehe den Helm.« Arrius war noch nicht überzeugt. »Die Bootsmannschaft nimmt Schiffbrüchige auf. Piraten sind nicht menschlich.« »Sie werden Ruderer brauchen«, entgegnete Arrius und gedachte der Zeiten, wo er das selber tun ließ. Ben Hur folgte aufmerksam allen Bewegungen des Schiffes. »Das Schiff fährt weiter.« »Wohin?« »Zu unsrer Rechten liegt anscheinend eine verlassene Galeere. Darauf steuert es zu. Es legt an der Seite an. Männer steigen an Bord.« Arrius öffnete die Augen und schreckte aus seiner Gleichgültigkeit auf. »Dank du deinem Gott, wie ich meinen vielen Göttern danke! Ein Pirat würde das Schiff versenken, nicht retten. Daran und an dem Helm auf dem Mast erkenne ich den Römer. Der Sieg ist mein.« Judah winkte und schrie aus Leibeskräften. Und schließlich lenkte er 262
die Aufmerksamkeit der Bootsleute auf sich. Sie ruderten herbei und nahmen beide auf. Arrius wurde an Bord der Galeere mit allen Ehren empfangen, die einem vom Glück so begünstigten Helden gebührten. Auf einem Diwan an Deck erholte er sich und ließ sich alle Einzelheiten über den Ausgang des Kampfes berichten. Als alle Überlebenden aufgefischt und die Prise gesichert war, setzte er seine Kommandantenflagge und fuhr nordwärts, um den Sieg zu vervollständigen. Zur rechten Zeit trafen die fünfzig Schiffe aus dem Norden auf die Piraten und vernichteten sie vollständig. Nicht ein Schiff entkam. Um den Ruhm des Tribunen vollzumachen, wurden zwanzig Galeeren des Feindes erbeutet. Nach seiner Rückkehr von dem Unternehmen wurde Arrius an der Mole von Misenum im Triumph empfangen. Der Jüngling, der ihn begleitete, erregte sofort die Aufmerksamkeit seiner Freunde. Auf ihre Fragen erzählte der Tribun ausführlich und in warmherziger Weise ihre Erlebnisse, verschwieg aber die ganze Geschichte Ben Hurs. Am Ende legte er seine Hand auf des Jünglings Schulter und wandte sich an seine Zuhörer: »Liebe Freunde, das ist mein Sohn und Erbe. Er soll schon heute meinen Namen tragen. Ich bitte euch alle, ihn so zu lieben, wie ihr mich liebt!« So rasch, wie die Formalitäten es erlaubten, wurde die Adoption vollzogen.
Ben Hur kehrt nach dem Osten zurück An einem glühendheißen Vormittag im Juli des Jahres 29 stand Ben Hur mit anderen Reisenden seines Standes auf dem Deck eines Handelsschiffes, das eben in die Mündung des Orontes einfuhr und sich Antiochia näherte. Ben Hur war in den verflossenen fünf Jahren zum Manne herangereift. Mehrere Mitreisende aus seinem Volke hatten vergeblich ver263
sucht, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Man hätte gern erfahren, wer er war, und Einzelheiten seines Lebens gekannt. Man sah ihm an, daß er eine Geschichte hatte. Die Galeere hatte in einem der Häfen von Cypern einen Hebräer von bemerkenswerter Art an Bord genommen. Seine Erscheinung war ruhig, zurückhaltend, väterlich. Ben Hur hatte ihm ein paar Fragen gestellt und Antworten erhalten, die ihm so großes Zutrauen abgewannen, daß er in ein längeres Gespräch mit ihm kam. Zugleich mit diesem Handelsschiff fuhren zwei andere in die Buch des Orontes ein, denen man schon auf See begegnet war. Beide trugen kleine Flaggen von hellstem Gelb. Da niemand ihre Bedeutung kannte, wandte sich einer der Reisenden an den vornehmen Hebräer und fragte ihn danach. »Ja, ich kenne die Bedeutung der Flaggen. Sie bezeichnen nicht eine Nationalität, sondern sind nur das Zeichen des Schiffseigners.« »Du kennst ihn?« »Ich stehe in geschäftlicher Verbindung mit ihm.« Ben Hur hatte aufmerksam zugehört. »Er lebt in Antiochia«, fuhr der Hebräer in seiner ruhigen Art fort. »Da er unermeßlich reich ist, hat er nicht nur die allgemeine Neugier erregt, sondern auch den Neid, und man spricht nicht immer freundlich von ihm. Dieser Simonides, der trotz seines griechischen Namens Jude ist, war ein Diener der Familie Hur, eines Fürsten von Jerusalem.« Judah bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber sein Herz schlug schneller. »Dieser Fürst war ein großer Kaufmann. Er gründete viele Unternehmungen im Fernen Osten wie im Westen, in den großen Städten hatte er Zweigniederlassungen. Die in Antiochia war in der Oberhut des Simonides. Der Fürst kam auf dem Meer um, seine Geschäfte wurden weitergeführt und blühten. Da kam das Unglück über die Familie. Des Fürsten einziger Sohn hatte versucht, den Prokurator Gratus in einer Straße Jerusalems zu töten. Der Versuch mißlang. Seitdem ist er verschollen. Die Rache des Römers traf das ganze Haus. Nicht ein 264
Mitglied der Familie blieb am Leben. Und dieser Simonides, der des Fürsten Agent gewesen war, eröffnete nach kurzer Zeit auf seine eigene Rechnung ein Geschäft und wurde in ganz kurzer Zeit der mächtigste Kaufmann der Stadt.« »Wie lange geht das schon so?« »Kaum zehn Jahre.« »Er muß von Anfang an viel Glück gehabt haben.« Als das Schiff in den Kanal einbog, trat Judah zu dem Hebräer: »Wie war der Name von Simonides' Herrn?« »Ben Hur, Fürst von Jerusalem.« »Was wurde aus der Familie des Fürsten?« »Der Knabe wurde auf die Galeeren geschickt. Er mag wohl tot sein. Für gewöhnlich hält man das nur ein Jahr aus. Von der Mutter und ihrer Tochter hat man nichts gehört.«
Auf dem Orontes Als sich das Schiff der Stadt näherte, suchte Ben Hur noch einmal den Hebräer auf: »Erlaube, daß ich dich noch einmal bemühe, ehe ich dir Lebewohl sage.« Der Mann verbeugte sich. »Deine Geschichte von dem Kaufherrn hat mich neugierig gemacht. Ich möchte ihn kennenlernen. Du nanntest ihn Simonides?« »Ja. Er ist ein Jude mit griechischem Namen.« »Wo kann ich ihn finden?« Der Fremde antwortete: »Folge dem Fluß bis zur Brücke dort. Darunter hat er sein Haus. Es sieht aus wie ein Strebepfeiler in der Mauer. Vor seiner Tür ist ein riesiger Lagerplatz, der stets mit Waren überfüllt ist. Du kannst nicht fehlgehen.« »Ich danke dir!« 265
Damit trennten sie sich. Zwei Lastträger beluden sich mit Ben Hurs Gepäck. »Zur Zitadelle!« sagte er, ein Befehl, der auf eine offizielle militärische Verbindung schließen ließ. Ben Hur war nicht in der Stimmung, sich an der Pracht dieser Stadt zu erfreuen. Die Geschichte des Simonides verfolgte ihn. Am Omphalus, dem gewaltigen Monument aus vier Bögen, die ebenso breit wie die Straßen und köstlich ausgeschmückt waren – von Epiphanes, dem Achten der Seleukiden für sich selbst errichtet –, änderte er plötzlich seinen Plan. »Ich will heute abend nicht zur Zitadelle. Bringt mich zu einer Herberge in der Nähe der Brücke auf der Straße nach Seleucia!« Die Lastträger machten kehrt, und in kurzer Zeit war Ben Hur in einem einfachen, aber sehr geräumigen Haus untergebracht, das nur einen Steinwurf weit von dem des Simonides unter der Brücke entfernt war.
Die Frage an Simonides Am nächsten Tag ging Ben Hur, ohne der Stadt irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, zum Hause des Simonides. Sein Weg führte durch ein mit Zinnen gekröntes Tor an einer langen Reihe von Ladeplätzen vorüber und durch eine sich drängende und geschäftige Menge zur Brücke nach Seleucia. Hier blieb er stehen, um sich das Haus zu betrachten. Es lag, wie ihm geschildert worden war, direkt unter der Brücke und bestand aus grauen unbehauenen Steinblöcken, die regellos zusammengefügt waren. Es sah tatsächlich nur wie ein Mauervorsprung aus. Zwei riesige Tore führten zur Werft, zwei dichtvergitterte Öffnungen dienten als Fenster. In den Mauerspalten wucherte Unkraut, und an manchen Stellen waren die kahlen Steine von schwarzem Moos überzogen. Die Tore waren offen. Durch sie strömte pausenlos und eilig der Ver266
kehr ein und aus. Auf dem Lagerplatz häuften sich in Ballen Waren jeder Art, und zahllose bis zum Gürtel nackte Sklaven waren damit beschäftigt. Unter der Brücke lag eine Flotte von Schiffen, die Ladungen einnahmen und löschten. An jedem Mast wehte eine gelbe Flagge. Er trat entschlossen in das Haus. Was er vor sich sah, war ein riesiges wohlgeordnetes Warenlager, in dem Güter aller Art aufgespeichert waren. In dem Halbdunkel und der erstickenden Luft arbeiteten zahllose Leute, teils mit Hammer und Säge, um Kisten für die Verschiffung fertigzumachen. Während er durch die aufgestapelten Ballen einen Weg suchte, fragte er sich von neuem, ob dieser Mann, von dessen Genie er so viel Proben sah, wirklich seines Vaters Sklave gewesen sein konnte. Wenn es so war, zu welcher Klasse hatte er gehört? Wenn er ein Jude war, war er der Sohn eines Leibeigenen? Oder war er ein Schuldner oder eines Schuldners Sohn? Oder war er wegen Diebstahls verurteilt worden? Alle diese Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, verminderten freilich nicht seine Achtung vor dem Kaufmann, vielmehr wuchs sie bei jedem Schritt. Endlich kam ein Mann auf ihn zu: »Was wünschst du?« »Ich suche den Kaufmann Simonides.« »Willst du mit mir kommen?« Durch die Warenlager kam man zu einer Treppenflucht, die auf das Dach führte. Als Ben Hur sie erstiegen hatte, stand er vor einem Gebäude, das auf dem anderen errichtet und von unten unsichtbar gewesen war. Es stand jenseits der Brücke unter freiem Himmel. Das Dach, das von einer Balustrade umgeben war, war eine Terrasse, die zu seinem Erstaunen mit Blumen geschmückt war. Das Haus selbst wirkte in dieser reichen Umgebung wie ein viereckiger Steinklotz. Er hatte keine andere Öffnung als die Tür. Ein sauberer Weg führte durch Büsche blühender persischer Rosen. Ben Hur atmete den süßen Duft ein und folgte seinem Führer. Am Ende eines dunklen Ganges blieben sie vor einem geteilten Vorhang stehen. Der Mann rief laut: »Ein Fremder möchte den Herrn sprechen.« Eine helle Stimme antwortete: »In Gottes Namen, laß ihn eintreten!« 267
In der Mitte des Raumes waren zwei Personen – ein Mann in einem hochlehnigen, bequemen, mit Kissen belegten Armstuhl, und neben ihm stand, an den Stuhl gelehnt, ein Mädchen. Bei dem Anblick der beiden stieg Ben Hur die Röte ins Gesicht. Er verneigte sich achtungsvoll, aber auch, um Fassung zu gewinnen, und sah nicht die grüßende Hand und das kurze Erzittern des Mannes. Als er sich wieder aufrichtete, waren die beiden noch in derselben Haltung, das Mädchen hatte nur seine Hand auf die Schulter des Mannes gelegt. Beide schauten ihm aufmerksam entgegen. »Wenn du Simonides, der Kaufmann, und ein Jude bist« – Ben Hur stockte einen Augenblick –, »so sei der Friede des Gottes unseres Vaters Abraham mit dir und den Deinen!« »Ich bin Simonides und ein Jude und erwidere deinen Gruß mit der Bitte, mir zu sagen, was dich hergeführt hat.« Ben Hur betrachtete den Mann und sah, daß nur noch eine formlose Masse statt eines gesunden Körpers in den Kissen lag, er trug ein gefüttertes Gewand aus dunkler Seide. Über dem verkrüppelten Leibe saß ein edelgeformter Kopf, der Kopf eines Staatsmannes oder Feldherrn, wie ihn Angelo für den Kaiser modelliert haben könnte. Weiße dünne Locken fielen über die weißen Augenbrauen und vertieften die Schwärze der Augen. Das Antlitz war blutleer und voller Falten. Ihm streckte Ben Hur seine offenen Hände hin, als wolle er den Frieden anbieten, den er zugleich von ihm erbitten wollte. »Ich bin Judah, der Sohn des Ithamar, der Letzte aus dem Hause Hur und Fürst von Jerusalem.« Die rechte Hand des Kaufmanns lag auf seinem Kleid – eine lange, dünne Hand, an der die Folgen seiner Leiden deutlich zu erkennen waren. Sie schloß sich. Sonst war nicht das geringste Zeichen für den Eindruck dieser Worte zu erkennen, weder Neugier noch Staunen. Ruhig antwortete er: »Die Fürsten von Jerusalem aus edlem Blut sind in meinem Hause immer willkommen. Gib dem jungen Mann einen Stuhl, Esther!« Das Mädchen schob einen niedrigen Sessel zu Ben Hur. Als sie sich erhob, begegneten sich ihre Augen: »Der Friede unseres Herrn sei mit 268
dir!« sagte sie freundlich. »Setz dich und ruhe!« Und als sie wieder ihren Platz am Stuhl einnahm, hatte sie keine Vorstellung von dem, was er wollte, aber sie hatte empfunden, daß er gekommen war, um Wunden, die ihm das Leben geschlagen hatte, zu heilen. Ben Hur setzte sich nicht, sondern sagte ehrerbietig: »Ich bitte den guten Herrn Simonides, mich nicht für einen Eindringling zu halten. Als ich gestern den Fluß herauffuhr, hörte ich, daß er meinen Vater gekannt hat.« »Ich kannte den Fürsten Hur. Wir hatten gemeinsame Geschäfte, wie es unter Kaufleuten geschieht, die ihre Einkünfte aus Ländern über dem Meer und der Wüste beziehen. Aber setz dich, bitte! Und, Esther, bringe Wein für den jungen Mann!« Esther brachte einen Silberbecher, den sie aus einem Krug gefüllt hatte. Sie bot Ben Hur den Trunk mit gesenkten Augen an. Er berührte leicht ihre Hand, als er ihn ihr abnahm. – Sie ist gutherzig und schön, dachte er, und sie hat Tirzahs Augen. Arme Tirzah! Dann sagte er: »Nein! Dein Vater, wenn er dein Vater ist …« Er stockte. »Ich bin Esther, des Simonides Tochter«, antwortete sie mit Würde. »Dann, schöne Esther, wird dein Vater nicht übel von mir denken, wenn ich jetzt noch nicht seinen köstlichen Wein nehme, bis er gehört hat, was ich zu sagen habe. Auch in deinen Augen hoffe ich Gnade zu finden. Stell dich einen Augenblick an meine Seite!« Beide wendeten sich Simonides zu: »Simonides!« begann Judah fest. »Mein Vater hatte bis zu seinem Tode einen vertrauten Diener deines Namens, und man hat mir gesagt, du seist es.« Eine heftige Bewegung durchzitterte den Körper unter dem Gewand, und die magere Hand ballte sich: »Esther, Esther!« rief der Mann streng. »Hierher, nicht dort, wenn du deiner Mutter Kind und das meine bist – hierher, nicht dort, sage ich!« Das Mädchen schaute vom Vater zu dem Besucher. Dann stellte sie den Becher auf den Tisch und ging gehorsam zu dem Stuhl. Ihre Haltung drückte Staunen und Schreck aus. Simonides nahm ihre Hand, die zart auf seiner Schulter lag, in seine Linke und sagte mit vollkommener Ruhe: 269
»Ich bin im Umgang mit Menschen alt geworden, alt vor meiner Zeit. Wenn der Mann, der dir erzählt hat, wovon du sprachst, mein Freund ist, der meine Geschichte kennt, so muß er dich auch, wenn er nicht gehässig war, davon überzeugt haben, daß ich nicht anders als mißtrauisch sein kann. Meine Liebe gehört wenigen. Einer davon ist diese Seele.« Er führte Esthers Hand an seine Lippen. Esther neigte sich zu ihm herab, bis ihre Wange die seine berührte. »Meine andere Liebe ist nur noch eine Erinnerung. Von ihr kann ich sagen, daß sie wie ein Segen Gottes eine ganze Familie umfaßt, wenn ich nur wüßte« – seine Stimme sank und zitterte –, »wenn ich nur wüßte, wo sie wäre.« Ben Hurs Gesicht erglühte, und er rief jäh, indem er einen Schritt vortrat: »Meine Mutter, meine Schwester! Du sprichst von ihnen!« Esther hob ihren Kopf, als habe er zu ihr gesprochen, aber Simonides bewahrte seine Ruhe und antwortete kalt: »Hör mich zu Ende an! Weil ich bin, wer ich bin, und um der Liebe willen, von der ich sprach, mußt du mir zuerst Beweise dafür bringen, wer du bist, ehe ich auf deine Fragen eingehe. Hast du schriftliche Beweise? Hast du Zeugen?« Ben Hur antwortete nicht. Er war nicht vorbereitet auf eine solche Forderung. Und nun, da sie erhoben wurde, kam ihm, wie nie vorher, die furchtbare Tatsache zum Bewußtsein, daß die drei Jahre auf den Galeeren alle Beweise für seine Person vernichtet hatten. Mutter und Schwester waren verschwunden, er lebte nicht mehr in der Erinnerung eines einzigen Menschen. »Meister Simonides«, begann Judah, »ich kann nichts anderes tun, als meine Geschichte erzählen. Aber ich will es nur tun, wenn du dich so lange deines Urteils enthältst, bis du mich voll guten Willens angehört hast.« »Sprich«, antwortete Simonides, der nun tatsächlich Herr der Situation war. Nun begann Ben Hur seine Geschichte so kurz als möglich zu erzählen. Er erzählte alles bis zu der Siegesfeier für Arrius in Misenum. Der Kaufmann schwieg. Seine Züge waren wie aus Marmor gemeißelt. 270
»Ich sehe das Ungenügen meiner Lage«, fuhr Ben Hur fort. »Alle meine römischen Verbindungen kann ich beweisen, ich brauche mich nur an den Konsul zu wenden, der gegenwärtig Gast des Gouverneurs der Stadt ist. Da ich aber keine Beweise dafür erbringen kann, daß ich meines Vaters Sohn bin, will ich gehen, um dich nicht weiter zu belästigen. Laß mich nur so viel sagen: Ich will weder deine Rückkehr in die Dienstschaft noch Rechenschaft über dein Vermögen. Ich hätte in jedem Fall gesagt, was ich jetzt sage: Alles, was du durch deine Klugheit und durch dein Genie erworben hast, gehört dir, besitze es in Frieden! Ich brauche davon nichts. Als der große Quintus, mein zweiter Vater, auf die Reise ging, die seine letzte war, hinterließ er mir als Erben ein fürstliches Vermögen. Denkst du aber je wieder meiner, so tu es in Erinnerung an die Frage, die ich dir jetzt stelle. Und ich schwöre dir bei den Propheten und Jehova, meinem Gott und deinem, daß sie der Hauptgrund für mein Kommen war: Was weißt du und was kannst du mir von meiner Mutter und Tirzah, meiner Schwester, sagen, von Tirzah, die an Schönheit und Anmut jetzt deiner Tochter, die dein Leben ist, gleichen würde?« Über Esthers Wangen liefen die Tränen, aber ihr Vater war unerbittlich: »Ich habe gesagt, daß ich den Fürsten Hur kannte. Ich habe von dem Unglück gehört, das seine Familie betroffen hat. Ich erinnere mich an die Bitterkeit, als ich es erfuhr. Der Mann, der über die Witwe meines Freundes so großes Unheil gebracht hat, ist derselbe, der später im selben Geiste auch mich geschlagen hat. Ich gehe noch weiter und sage dir, daß ich die sorgfältigsten Nachforschungen nach der Familie angestellt habe, aber ich kann dir nichts über ihr Schicksal sagen. Sie ist verschollen.« Ben Hur seufzte tief. »Dann ist eine andere Hoffnung zerstört. Ich bin an Enttäuschungen gewöhnt. Ich bitte um Verzeihung für meine Zudringlichkeit. Lebt wohl!« »Gehe in Frieden!« sagte Simonides. Esther konnte vor Schluchzen nicht reden. 271
Der Hain der Daphne Als Ben Hur das Haus des Simonides verließ, war er erfüllt von dem Gedanken, daß zu den vielen Enttäuschungen, die ihm das Suchen nach Mutter und Schwester gebracht hatte, eine neue hinzugekommen sei. Diese Erfahrung bedrückte ihn um so mehr, je mehr er sich nach den Seinen sehnte. Er bahnte sich einen Weg durch die Güter auf dem Ladeplatz zum Ufer, wo kühle Schatten ihn aufnahmen. Da erinnerte er sich an das Wort des Reisenden: »Besser ein Wurm sein und sich von den Maulbeeren Daphnes nähren als an der Tafel des Königs sitzen!« Er wandte sich ab und ging rasch über den Ladeplatz in die Herberge. »Der Weg nach Daphne?« fragte der Türhüter erstaunt. »Bist du zum erstenmal hier? Dann nenne den heutigen Tag den glücklichsten deines Lebens. Du kannst die Straße nicht verfehlen. Hier beginnt der Weg nach Daphne – die Götter mögen dich beschützen!« Nach ein paar Anweisungen für sein Gepäck machte sich Ben Hur auf den Weg. Es war etwa vier Uhr nachmittags, als er durch das Bronzetor ging und sich inmitten einer unabsehbaren Menschenmenge fand, die zu dem berühmten Hain ging. Die Straße war nicht nur geteilt in Wege für Fußgänger, Reiter und Wagen, sondern sogar für Hinwandernde und Zurückwandernde. Sie waren durch niedrige Geländer voneinander getrennt, die von Postamenten und Statuen unterbrochen waren. Rechts und links dehnten sich wohlgepflegte Rasenflächen aus mit Gruppen von Eichen und Sykomoren und weinumrandeten Sommerhäuschen, in denen man sich ausruhen konnte. Ben Hur achtete kaum auf die Herrlichkeiten, die ihn umgaben, ebensowenig auf die ihn umdrängende Menge, so verdüstert war sein 272
Gemüt. Aber es war eine gewisse Selbstüberhebung des Römers dabei. Was konnten die Provinzen schon bieten, was das Zentrum der Welt rings um die goldene Säule des Augustus nicht viel besser und vollkommener besaß! Die Menschen gingen ihm für seine Ungeduld zu langsam, und er drängte sich durch die Gruppen. Aber als er Herakleia erreichte, war er müde und einer Betrachtung und Unterhaltung zugänglicher geworden. Ein paar Ziegen, die von einer schönen Frau geführt wurden, erregten seine Aufmerksamkeit. Frau und Tiere waren köstlich mit Bändern und Blumen geschmückt. Dann blieb er stehen, um einen schneeweißen Stier zu betrachten, der mit frischgeschnittenen Reben bekränzt war und auf dessen breitem Rücken ein nacktes Kind als Sinnbild des jungen Bacchus in einem Korb saß. Es drückte den Saft der reifen Beeren in einen Becher und schwenkte ihn wie ein Trankopfer. Ein Pferd, nach der Mode der Zeit, mit gestutzter Mähne und einem köstlich gekleideten Reiter entzückte ihn durch den Stolz, den beide zeigten. Oft drehte er sich nun um, wenn er Wagen und Pferde vorüberbrausen sah, und bald betrachtete er auch die Menge mit wachen Blicken. Es waren Frauen und Männer jeden Alters. Einige trugen einheitliche weiße Gewänder, andere schwarze; einige schwenkten Fahnen, andere Weihrauchbecken; manche gingen langsam und sangen Hymnen, andere marschierten zur Musik von Flöten und kleinen Handtrommeln. Wenn sich so die Wanderung nach Daphne täglich, das ganze Jahr hindurch abspielte, wie herrlich mußte Daphne sein! Schließlich vernahm er Freudenrufe und lautes Händeklatschen, und als er aufschaute, sah er den Tempeleingang des heiligen Hains auf dem Abhang des Hügels. Der Hymnengesang wurde lebhafter, die Musik lauter, und vom allgemeinen Strom mitgerissen, trat er ein. Trotz seines verfeinerten römischen Geschmacks konnte er sich der Bewunderung nicht einziehen, die ihn bei dem Anblick erfüllte. Über den Marmorboden huschten eilige Füße. Die Menge öffnete sich, und eine Gruppe von Mädchen erschien, singend und tanzend zum Rhythmus ihrer Handtrommeln: die Priesterinnen des Apollotempels. Das Haar der Tänzerinnen wehte, und ihre Körper leuchteten 273
durch die dünnen Gewänder, die sie kaum verhüllten. Worte können die Wollüstigkeit des Tanzes nicht schildern. Noch eine kurze Runde, und sie wehten davon, wie sie gekommen waren. Wäre Ben Hur in alltäglicher Stimmung gewesen, so wäre er nicht allein in den Hain gegangen, oder wäre er allein gekommen, so wäre er sich seiner Stellung in der Familie des Konsuls bewußt gewesen und hätte sich vorher über die wichtigsten Punkte unterrichtet und die schönsten Plätze nach einem Plan besucht. Er wäre nichts als ein Schaulustiger gewesen, wie so viele rings um ihn. Glücklich für Ben Hur, daß die Torheit, die ihn jetzt packte, eine Art freundlicher Harlekin war mit Flöte und gemalter Kappe und nicht eine Gewalt, die mit unbarmherzigem Schwert zurückschlägt.
Die Maulbeeren der Daphne Aus dem Wäldchen zu seiner Rechten kam, vom leisen Wind getragen, ein Duft von Rosen und vielerlei Gewürz zu Ben Hur. Er blieb stehen und fragte einen Mann neben sich: »Ist da drüben ein Garten?« »Ich glaube, es ist mehr die Vorbereitung zu einer religiösen Zeremonie, etwas für Diana oder Pan oder eine Gottheit des Waldes.« Die Antwort wurde in seiner Muttersprache gegeben. »Ein Hebräer?« fragte Ben Hur. »Ich bin kaum einen Steinwurf weit vom Marktplatz in Jerusalem geboren«, antwortete der Mann mit liebenswürdigem Lächeln. Ben Hur wollte eben noch eine Bemerkung machen, als er von der drängenden Menge vorwärts geschoben und von dem Fremden getrennt wurde. Er prägte sich dessen Erscheinung ein: Er glaubte, ihn wiedererkennen zu können. Ben Hur setzte sich unter einen Zitronenbaum, der seine Wurzeln im Bach kühlte. Das Nest einer Meise hing dicht über dem sprudelnden Wasser, und der kluge Vogel schaute ihm in die Augen. – Wahr274
haftig, dachte er, der Vogel gibt mir die Erklärung. Er sagt: Ich fürchte mich nicht vor dir; denn das Gesetz an diesem glückseligen Platz heißt Liebe. Ben Hur kam zu einer Schafherde. Der Schäfer war eine Schäferin. Sie rief ihm zu: »Komm!« Bei einem Altar stand eine Frau, die ihm zuwinkte und mit der Stimme der Versuchung rief: »Bleibe!« Eine Prozession kam ihm entgegen, an ihrer Spitze eine Gruppe kleiner Mädchen, nackt bis auf die Blumenranken um ihre Körper. Sie sangen mit schrillen Stimmen. Nackte braungebrannte Knaben folgten und tanzten zum Gesang der Mädchen. Hinter ihnen ein Zug sorglos gekleideter Frauen, die ihm die Hände entgegenstreckten: »Bleibe und geh mit uns!« Und dann stand er vor einer Statue von wundervoller Schönheit, die Daphne darzustellen schien. Zu ihren Füßen lag schlafend ein Mädchen in den Armen eines Jünglings auf einem Tigerfell. Beim Anblick dieses Paares gedachte er des Wortes, das ihm den Zauber des Haines erschlossen hatte: Friede ohne Furcht. Das Gesetz des Ortes hieß Liebe, aber nun schien es ihm, als heiße es Liebe ohne Gesetz. Das war der süße Ort der Daphne und aller ihrer Verehrer. Und er erkannte, daß er nur für einen Teil der Menschheit seinen Zauber entfaltete, denen die Liebe ohne Gesetz galt. Nach dem Gesetz des Moses und auch nach dem des Brahma aber galt der Satz: Besser ein Gesetz ohne Liebe als eine Liebe ohne Gesetz. Ben Hur ging rascher und hielt den Kopf höher. In ihm war es ruhiger geworden. Manchmal kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Es bedeutete, daß er nicht so rasch vergessen konnte, wie nahe er daran gewesen war, sich zu täuschen.
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Das Stadion im Hain Vor Ben Hur erhob sich ein Wald von Zypressen, jeder Stamm gerade wie ein Mast und hoch wie eine Säule. Wie er weiterging, hörte er fröhliches Trompetengeschmetter. Als er um sich blickte, sah er in seiner Nähe den Landsmann im Grase liegen, mit dem er auf dem Weg zu den Tempeln gesprochen hatte. Der Mann erhob sich und kam auf ihn zu: »Ich wünsche dir nochmals Frieden!« sagte er freundlich. »Ich danke dir«, erwiderte Ben Hur, »gehst du in der gleichen Richtung?« »Ich gehe zur Rennbahn – wenn das deine Richtung ist; der Trompetenstoß war das Zeichen für die Teilnehmer am Wettkampf.« »Guter Freund«, sagte Ben Hur offen, »ich gestehe meine Unkenntnis des Hains und wäre froh, wenn du mein Führer sein könntest.« »Es wird mir eine Freude sein. Horch, da rollen schon die Wagen zur Rennbahn!« Ben Hur lauschte einen Augenblick, dann legte er seine Hand auf den Arm des Mannes und sagte: »Ich bin der Sohn des Duumvir Arrius – und du?« »Ich bin Malluch, ein Handelsdiener aus Antiochia.« Malluch fragte: »Der Duumvir war ein Römer, doch ich sehe seinen Sohn im Gewande eines Juden.« »Der edle Arrius war mein Adoptivvater.« »Oh, ich verstehe. Verzeih bitte!« Aus dem Wald heraus betraten sie ein Feld, auf dem eine Rennbahn angelegt war, genau wie in einem Stadion. Die Bahn bestand aus weicher Erde, die festgewalzt und besprengt war, und an beiden Seiten war sie durch Seile abgesperrt, die zwischen Pflöcken locker gespannt waren. Zur Bequemlichkeit der Zuschauer war ein mit Planen überdach276
ter und mit Sitzen versehener Raum errichtet. In einem der abgeteilten Stände fanden die beiden noch Plätze. Ben Hur zählte die Wagen, es waren neun. »Ich wünsche den Lenkern Glück. Ich glaubte, man begnüge sich im Osten mit zwei Pferden, sehe aber, daß man sich an die königlichen vier wagt. Wir wollen sehen, was sie leisten.« Acht Viergespanne rollten vorüber, einige im Schritt, andre im Lauf, alle recht gut gelenkt. Dann kam das neunte Gespann im Galopp. Ben Hur rief staunend: »Ich war in den Gestüten des Kaisers, aber bei unserm Vater Abraham, gesegnet sei sein Name! Solche Pferde sah ich noch nie!« Die letzten vier sausten vorüber, aber plötzlich gerieten sie in Verwirrung. Im Zuschauerraum stieß jemand einen scharfen Schrei aus. Ben Hur wandte sich und sah einen alten Mann, der sich halb von seinem Sitz erhoben hatte und mit aufgehobenen Fäusten und wildglänzenden Augen dastand. Sein langer weißer Bart zitterte. Einige der zunächst sitzenden Zuschauer lachten. »Sie sollten wenigstens vor seinem greisen Bart Achtung haben. Wer ist es?« fragte Ben Hur. »Ein mächtiger Mann aus der Wüste irgendwo bei Moab, ein Besitzer ganzer Herden von Kamelen und Pferden, die, wie man sagt, von den Rennern des ersten Pharao abstammen. Sein Name und Titel ist Scheik Ilderim.« Der Wagenlenker bemühte sich unterdessen, das Viergespann zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Der Scheik regte sich immer mehr auf. »Abbadon hole ihn«, schrie der Patriarch mit durchdringender Stimme. »Lauft, fliegt, meine Kinder!« Dieser Zuruf galt seinem Gefolge, offensichtlich Angehörige seines Stammes. »Hört ihr? Sie sind in der Wüste geboren, wie ihr selber, greift sie! Schnell!« Die Unruhe der Pferde steigerte sich. »Verfluchter Römer!« Der Scheik drohte dem Lenker mit geballter Faust. »Hat er nicht geschworen, er könne sie lenken, geschworen bei der ganzen Brut seiner lateinischen Bastardgötter? Nein, laßt eure Hände von mir, sage ich! Er schwor, sie würden wie Adler fliegen, lenksam wie die Lämmer. Verflucht sei er! Verflucht die Mutter des Lügners, die ihn Sohn nennt! Seht sie doch, die Unschätzbaren! Er soll es 277
nur wagen, eins mit der Peitsche zu berühren, und …« Der Schluß des Satzes ging unter wildem Zähnefletschen verloren. »Lauft zu ihren Köpfen und sprecht mit ihnen – ein Wort, eins ist genug, von den Zeltgesängen, die eure Mutter sang. O Tor, Tor, der ich war, einem Römer zu vertrauen!« Einige aus seinem Gefolge warfen sich zwischen ihn und die Pferde, ihm war der Atem ausgegangen. Ben Hur glaubte den Scheik zu verstehen und hatte Mitleid mit ihm. Er begriff, daß die Erregung des Mannes weniger vom verletzten Stolz herrührte, noch von der Sorge um den Ausgang des Rennens, sondern vielmehr von seiner leidenschaftlichen Liebe zu den Pferden. Sie waren rötlichbraun, einander vollkommen ähnlich und von herrlicher Gestalt. Der Scheik hatte sie unschätzbar genannt, er hatte recht. Um diese Zeit erschien noch ein anderer Rennwagen auf der Bahn. Im Gegensatz zu den neun anderen erschienen Lenker, Wagen und Pferde schon genau in der Form, wie sie sich am Tage des Rennens im Zirkus zu präsentieren pflegen. Die anderen Wagen waren mit Stillschweigen empfangen worden, der Neuankömmling hatte mehr Glück. Er wurde mit lautem Händeklatschen und Zurufen begrüßt, mit dem Erfolg, daß er die ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Seine Jochpferde waren schwarz, die Strangpferde schneeweiß. Nach römischer Art waren Mähne und Schweif kurz geschnitten, und um die Geschmacklosigkeit vollzumachen, war die geknüpfte Mähne noch mit roten und gelben Bändern durchflochten. Die Achsen des Wagens waren ebenso wie die Räder verziert und mit vergoldeten Tigerköpfen mit aufgerissenen Mäulern besetzt. Das hinten offene Wagenbett bestand aus vergoldeten Weiden. Die herrlichen Pferde und der glänzende Wagen erregten Ben Hurs Aufmerksamkeit in höchstem Maße. Wer mochte der Lenker sein? Seine Haltung war überaus anmutig und lebendig. Er nahm die Beifallsbezeigungen mit unbeweglicher Gleichgültigkeit entgegen. Ben Hur stand wie angewurzelt, seine Ahnung und sein Gedächtnis hatten ihn nicht verlassen: der Lenker war Messala! 278
An der Auswahl der Pferde, der Pracht des Wagens, der Haltung und Pose, mehr noch an dem Ausdruck von Kälte, Schärfe und Stolz, der sich in seinen Landsleuten durch die Herrschaft über die Welt in so vielen Generationen ausgeprägt hatte, erkannte Ben Hur, daß Messala unverändert war, daß er so hochmütig, sicher, zynisch und selbstbewußt wie immer war und voll sorglosem Spott.
Die Castalische Quelle Malluch beobachtete seinen Gefährten, als sie dahinschritten, und sah, daß ihn, wenigstens für den Augenblick, sein froher Mut verlassen hatte. Die Erscheinung Messalas beschäftigte alle seine Gedanken. Ihm schien, als sei kaum eine Stunde vergangen, als die rohen Hände ihn von der Mutter fortgerissen, kaum eine Stunde, als der Römer sein Siegel auf die Tore seines Vaterhauses gesetzt hatte. Und alle Träume kamen zu demselben Schluß: An dem Tage, an dem ich ihn finde, hilf mir, du Gott meiner Väter! – hilf mir zu einer besonderen Art Rache. Und nun hatte er ihn gefunden! Malluch wies auf ein ungewöhnlich großes, weißes Dromedar, das von einem Reiter zu Pferde am Zügel geführt wurde. Die goldene und karminrote Houdah auf dem Tier war auffallend groß. Zwei andere Reiter mit großen Speeren folgten zu Pferde. »Was für ein wunderbares Kamel!« rief er. Als die Fremden näher gekommen waren, zeigte sich, daß das Kamel alle Erwartungen rechtfertigte, keiner der Anwesenden hatte je etwas Ebenbürtiges gesehen. Aber wer waren der Mann und die Frau unter dem Zelt? Als die Neugierigen das hagere, eingesunkene Gesicht des Mannes erblickten, das mit einer Haut wie eine Mumie unter einem riesigen Turban erschien, mußten sie die Vorstellung gewinnen, 279
daß auch für die Großen das Leben seine Grenzen hatte. Die weibliche Gestalt saß nach der Art des Ostens unter dem Zelt in Schleiern und Spitzen. An den nackten Oberarmen trug sie Armspangen in der Form geringelter Nattern und an den Gelenken Armbänder aus Goldfäden. Arme und Hände waren von außerordentlicher Schönheit. Eine Hand, die von dem Sitz herabhing, war mit Ringen geschmückt. Die Fingerspitzen glänzten wie Perlmutter. Auf dem blauschwarzen Haar trug sie ein mit Korallen und Goldmünzen besetztes Netz. Im Widerspruch zu der Gewohnheit der Frauen von Rang war ihr Gesicht nicht verschleiert. Es war jung und von großer Anmut. Die Augen waren groß und die Lider schwarz gemalt, wie es im Osten üblich war. Es war eine königliche Erscheinung, und sie schaute von ihrem hohen Sitz so ruhig auf die Menge und war so vertieft in ihre Betrachtung, daß sie die Neugier nicht bemerkte, die ihre Erscheinung hervorrief. Als sie genug gesehen hatte, gab sie dem Führer, einem dunkelbraunen Äthiopier, der bis zum Gürtel nackt war, einen Befehl. Er führte das Kamel näher an die Quelle und ließ es in die Knie gehen. Dann gab sie ihm einen Becher und ließ ihn mit dem Wasser der Quelle füllen. In diesem Augenblick brach das Geräusch von Rädern und Pferdehufen in die Stille, die von der Schönheit der Frau heraufbeschworen war, und die Umstehenden liefen schreiend auseinander. »Gib acht«, rief Malluch Ben Hur zu, »der Römer wird uns überfahren«, und er sprang beiseite. Ben Hur schaute auf und sah Messala auf seinem Wagen, der seine vier Rosse direkt auf die Menge zusteuerte. Die auseinanderstiebende Menge ließ das Kamel allein auf seinem Platz an der Quelle. Der Äthiopier rang die Hände im Schreck. In der Houdah versuchte der Greis zu fliehen, aber er war viel zu schwach und vergaß selbst in der drohenden Gefahr seine Würde nicht. Auch für die Frau war es zu spät, sich zu retten. Ben Hur stand ihnen am nächsten. Er schrie: »Halt! Sieh, wohin du fährst! Zurück, zurück!« Der Römer lachte in seinem Übermut, und als Ben Hur sah, daß es nur eine Möglichkeit gab, ein Unglück abzuwenden, sprang er zu und 280
fiel dem linken Jochpferd und dem Strangpferd in die Zügel. Mit den Worten: »Hund von einem Römer, hast du so wenig Achtung vor dem Leben eines Menschen?« riß er die Pferde zur Seite. Die beiden Pferde bäumten sich und rissen die andern mit sich, der Wagen drohte umzustürzen. Messala konnte sich gerade noch halten. Sein Myrtilus aber stürzte rückwärts zu Boden. Als die Umstehenden die Gefahr beseitigt sahen, brachen sie in Hohngelächter aus. Nun zeigte sich das beispiellose Selbstbewußtsein des Römers. Er wickelte sich die Leitseile los, stieg ab, ging um das Kamel herum, warf einen Blick auf Ben Hur und sagte, halb zu dem Greis, halb zu der Frau gewendet: »Ich bin Messala, und bei der alten Mutter Erde schwöre ich, daß ich euer Kamel nicht gesehen habe. Was die guten Leute angeht – ich verließ mich vielleicht zu sehr auf meine Geschicklichkeit. Ich wollte mich über sie lustig machen – nun lachen sie über mich. Mag es ihnen gut bekommen!« Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Myrtilus keinen Schaden genommen hatte, gab er ihm ein Zeichen, den Wagen abseits zu führen, und wandte sich keck an die Frau: »Bei Pallas, du bist schön! Ich möchte wissen, welches Land sich als deine Mutter rühmen kann. Wende dich nicht ab! Mach Frieden mit mir! Die Sonne Indiens ist in deinen Augen. In deine Mundwinkel hat Ägypten seine Liebeszeichen geprägt. Sag mir wenigstens, daß du mir verzeihst!« Jetzt unterbrach sie ihn und wandte sich lächelnd und mit einer graziösen Neigung des Kopfes an Ben Hur: »Nimm den Becher und füll ihn, ich bitte dich. Mein Vater ist durstig.« »Ich bin dein ergebener Diener!« Ben Hur wandte sich und stand Auge in Auge mit Messala. Sie schauten sich an, der Jude herausfordernd, der Römer voll kecker Laune. Da er sah, daß der Myrtilus sein Viergespann wieder in Ordnung gebracht hatte, er ging zu seinem Wagen. Die Frau sah ihm nach, und was auch sonst in ihrem Blick lag – es war kein Mißfallen darin. Sie empfing von Ben Hur den Becher. Ihr Vater trank, dann hob sie den Becher an ihre Lippen und gab ihn mit einer bezaubernden Geste Ben Hur: »Nimm ihn, ich bitte! Er ist voller Segenswünsche für dich!« 281
Als sich das Kamel erhoben hatte, rief der Greis Ben Hur zu sich: »Du hast heute uns Fremden einen großen Dienst erwiesen. Es gibt nur einen Gott. Und in seinem heiligen Namen danke ich dir. Ich bin Balthasar, der Ägypter, und bin mit meiner Tochter Gast in dem großen Palmenhain bei dem Dorf von Daphne in den Zelten des Scheiks Ilderim, des Gütigen. Suche uns dort auf! Dankbar sollst du uns willkommen sein.«
Besprechung über das Wagenrennen Malluch war zufrieden. Zwei Dinge wußte er sicher: Ben Hur war ein Jude und der Adoptivsohn eines berühmten Römers. Außerdem glaubte er richtig beobachtet zu haben, daß zwischen Messala und dem Sohn des Duumvir irgendeine Beziehung bestand. Aber worin bestand sie? Und wie konnte er Gewißheit darüber erlangen? In dieser Verlegenheit kam ihm Ben Hur selbst zu Hilfe. Er fand ihn unter der Menge, legte ihm die Hand auf den Arm und fragte ihn: »Guter Malluch, kann ein Mann seine Mutter vergessen?« Die Frage kam so direkt und unerwartet, daß sie Malluch bestürzte. Er schaute Ben Hur ins Gesicht, um nach einer Erklärung zu suchen. Dann sagte er: »Wenn er ein Israelit ist, niemals!« »Diese Worte bringen mir meine Kindheit zurück, und sie bezeugen dich, Malluch, als echten Juden. Ich glaube, ich darf dir vertrauen.« Ben Hur nahm seine Hand von Malluchs Arm und preßte die Falten seines Kleides auf die Brust, als müsse er einen Schmerz unterdrücken: »Mein Vater trug einen guten Namen und war nicht ohne Ehre in Jerusalem, wo er wohnte. Meine Mutter war bei ihrem Tode im besten Frauenalter, und es genügt nicht, von ihr zu sagen, daß sie gut und schön war. Ich hatte eine kleine Schwester, und wir waren eine glückliche Familie. Eines Tages hatte ein hoher Römer einen Unglücksfall, als er an der Spitze seiner Kohorte an unserm Haus vorbeiritt. Die Legio282
näre brachen die Tore auf und drangen in unser Haus. Seit dem Tage habe ich meine Mutter und meine Schwester nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob sie noch leben oder ob sie tot sind. Aber, Malluch, der Mann auf dem Rennwagen dort war anwesend bei unserer Trennung. Er übergab uns den Römern, er hörte die Bitten meiner Mutter für ihre Kinder und lachte, als sie uns wegführten. Er könnte mir sagen, ob meine Mutter lebt und wo sie ist und was mit ihr geschehen ist; ob sie beide tot sind. Er könnte mir sagen, wo sie starben und woran.« »Und will er nicht?« »Nein.« »Warum?« »Ich bin ein Jude, und er ist ein Römer.« Malluch nickte bedächtig, als lasse er das Argument gelten, dann fragte er: »Hat er dich erkannt?« »Er konnte nicht. Ich war zu lebendigem Tode verurteilt und werde längst zu den Toten gezählt.« »Mich wundert, daß du ihn nicht erschlagen hast.« »Das würde mir ihn für meine späteren Pläne entzogen haben. Ich hätte ihn töten müssen, und der Tod, du weißt es, bewahrt die Geheimnisse noch besser als ein schuldiger Römer. Ich will ihm nicht das Leben nehmen, guter Malluch, sondern ich will ihn strafen, und wenn du mir helfen willst, werde ich es versuchen.« »Ich will dir helfen. Wenn du willst, setze mich unter Eid.« »Gib mir deine Hand, das genügt mir.« Sie schlugen den Weg rechts über eine Wiese ein, auf der sie zu der Quelle gekommen waren. »Die Zeit ist kurz, Malluch! Bei den Propheten unsers alten Israel! Ich will die Zügel wieder nehmen. Halt! Eine Bedingung! Ist es sicher, daß Messala beim Wagenrennen auftreten wird?« Malluch erkannte nun den Plan und die Gelegenheit, den Römer zu demütigen. »Messala wird fahren. Er hat sich mehrfach zu den Rennen verpflichtet. Das erlaubt ihm keinen Rücktritt.« »Für Wetten?« 283
»Ja, für Wetten. Und jeden Tag kommt er prahlerisch zu den Probefahrten, wie du heute gesehen hast.« »Und das ist der Wagen, das sind die Pferde, mit denen er sich am Rennen beteiligt? Dank, Malluch! Du hast mir gute Dienste erwiesen. Ich bin zufrieden. Nun sei noch mein Führer zum Palmengarten. Führe mich bei Scheik Ilderim ein!« »Wann?« »Heute. Morgen könnten die Pferde schon vergeben sein.« »Sie gefallen dir also?« »Ich sah sie von meinem Platz nur einen Augenblick. Dann erschien Messala, und ich hatte für nichts anderes mehr Augen. Dennoch erkannte ich die Pferde als Abkömmlinge derer, die das Wunder und der Ruhm der Wüsten sind. Ich habe nie dergleichen gesehen. Wenn alles wahr ist, was von ihnen gesagt wurde, und wenn ich ihren Geist unter den meinen bringen kann, dann kann ich …« »Die Sesterzen gewinnen«, lachte Malluch. »Nein«, antwortete Ben Hur ebenso rasch. »Ich werde tun, was einem Nachkommen Jakobs besser ansteht: Ich will meinen Feind vor aller Öffentlichkeit demütigen. – Aber wir verlieren unsre Zeit. Wie kommen wir am schnellsten zu den Zelten des Scheiks?«
Ben Hur hört von Christus Hinter dem Ort tat sich wellenförmig die wohlbebaute Landschaft auf, in der Tat der Garten Antiochiens, in dem jeder Fußbreit Boden nutzbar gemacht war. Überall entfaltete sich Fruchtbarkeit, die lächelnde Tochter des Friedens. Die Gefährten folgten den Windungen des Flusses durch Täler und über Hügel. Überall grünte die Landschaft von Eichen, Sykomoren und Myrte. Nichts Herrlicheres war denkbar. Die Ebene erstreckte sich endlos. Weite, üppige Wiesen, eine Seltenheit in Syrien, breite284
ten sich vor ihnen, riesige Dattelpalmen unter dem blaßblauen Himmel, das kühle, klare Gewässer – konnte der Hain der Daphne schöner sein? Malluch wies Ben Hur auf einen dieser Baumriesen hin: »Jeder Ring an seinem Stamm bedeutet ein Jahr seines Lebens. Zähle sie von der Wurzel bis zum Ansatz der Zweige! Und wenn dir der Scheik erzählt, daß der Hain gepflanzt wurde, ehe Antiochien etwas von den Seleukiden wußte, dann glaube ihm aufs Wort. Sieh, hier beginnt schon die Gastfreundschaft Ilderims. Die Kinder hier sprechen mit dir.« Die Kamele hielten an, und Ben Hur sah auf ein paar kleine syrische Bauernmädchen hinunter, die ihm Feigen in einem Körbchen anboten. Als er sie nahm, rief ein Mann vom Baum, unter dem sie hielten: »Friede sei mit euch! Willkommen!« Sie dankten den Kindern und ritten weiter. »Du mußt wissen«, nahm Malluch das unterbrochene Gespräch wieder auf, »daß ich das Vertrauen des Handelsherrn Simonides genieße und daß er mich manchmal damit auszeichnet, mich um Rat zu fragen. Bei einem Besuch in seinem Hause machte ich die Bekanntschaft vieler seiner Freunde, auch die des Scheiks Ilderim.« Für einen Augenblick sah Ben Hur in seinem Geiste das Bild der reinen, sanften und bittenden Esther, des Kaufmanns Tochter. Ihre tiefschwarzen Augen mit dem eigentümlichen jüdischen Glanz begegneten bescheiden den seinen, er hörte ihre Schritte, als sie ihm den Becher darbot. Das schöne Bild floh, als Malluch weitersprach. »Vor ein paar Wochen besuchte der alte Araber Simonides, als ich bei ihm war. Da ich spürte, daß ihn irgend etwas sehr bewegte, wollte ich gehen, aber er verbot es mir. ›Da du ein Israelit bist, bleibe, denn ich habe eine merkwürdige Geschichte zu erzählen.‹ Der Nachdruck, den er auf das Wort Israelit legte, machte mich neugierig, und ich blieb. Und das ist seine Geschichte: Vor vielen Jahren kamen einst drei Männer zu Ilderims Zelt in der Wüste, drei Fremde: ein Hindu, ein Grieche, ein Ägypter. Sie kamen auf riesigen weißen Dromedaren, wie man sie nur selten sieht. Ilderim begrüßte sie und nahm sie auf. Nach dem 285
Frühstück erzählte der Ägypter, wer sie waren und woher sie kamen. Jeder von ihnen hatte einen Stern gesehen und eine Stimme gehört, die sie aufgefordert hatte, nach Jerusalem zu gehen und zu fragen: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Sie gehorchten. Von Jerusalem waren sie von dem Stern nach Bethlehem geführt worden, wo sie in einer Höhle ein neugeborenes Kind fanden. Sie fielen vor ihm in die Knie, beteten es an und brachten ihm kostbare Geschenke. Dann setzten sie sich, ohne zu verweilen, auf ihre Dromedare und flohen zu dem Scheik, weil sie fürchteten, Herodes, sie meinten den mit dem Beinamen ›der Große‹, werde seine Hände auf sie legen und sie töten. Wie er es gewohnt war, nahm sich der Scheik ihrer an und hielt sie ein Jahr lang verborgen. Dann nahmen sie Abschied von ihm, ließen ihm kostbare Geschenke zurück und ritten davon, jeder auf seinem eigenen Weg.« »Das ist wahrhaftig eine höchst wunderbare Geschichte! – Und fanden sie das Kind?« »Ja, und sie beteten es an.« »Hat Ilderim nichts mehr von den drei Männern gehört? Was wurde aus ihnen?« fragte Ben Hur. »O ja, das war der Grund seines Besuches bei Simonides, von dem ich sprach. Gerade am Abend zuvor war der Ägypter wieder bei ihm erschienen.« »Wo?« »Hier vor dem Zelt, zu dem wir jetzt reiten.« »Wie erkannte er den Mann?« »So wie du heute die Pferde erkanntest – von Angesicht und an seinem Wesen.« »Sonst an nichts?« »Er ritt auf demselben großen weißen Dromedar und nannte sich wie damals: Balthasar, der Ägypter.« »Es ist ein Wunder Gottes«, rief Ben Hur erregt. »Inwiefern?« fragte Malluch erstaunt. »Du sagtest Balthasar?« »Ja, Balthasar, der Ägypter.« »Das war der Name, den der Greis heute am Quell nannte.« 286
Bei dieser Erinnerung wurde auch Malluch von Erregung gepackt: »Das ist wahr, und sein Dromedar war groß und weiß – und du rettetest ihm das Leben.« »Und die Frau war seine Tochter«, sagte Ben Hur wie zu sich selbst. Er verfiel in nachdenkliches Schweigen und versuchte, seine Ruhe wiederzugewinnen. Da schreckte ein Geräusch die beiden Reiter auf. Sie konnten bald das Rollen von Rädern und den Hufschlag von Pferden unterscheiden, und einen Augenblick später erschien Scheik Ilderim mit großem Gefolge und dem Wagen mit den vier weinroten Rossen. Der Scheik hatte sein Kinn mit dem langen weißen Bart auf die Brust gesenkt, aber er hob seinen Kopf, als sie ihm ein Zeichen gaben, und sprach freundlich mit ihnen. »Friede sei mit euch! Oh, mein Freund Malluch, willkommen! Und sage nicht, daß du gehst, sondern erst kommst, und daß du mir irgend etwas von dem guten Simonides zu sagen hast. Nehmt eure Zügel wieder auf und folgt mir beide. Ich habe Brot und Wein oder, wenn ihr lieber wollt, Arrak und das Fleisch junger Zicklein. Kommt!« Sie folgten ihm bis zum Eingang des Zeltes. Dort empfing er sie, nachdem sie abgestiegen waren, mit drei Bechern eines rahmartigen Getränks auf einer Platte, das er einer rauchgeschwärzten Lederflasche entnommen hatte. »Trinkt«, sagte er herzlich, »trinkt, das ist die Herzstärkung der Zeltbewohner!« Im Zelt nahm Malluch den Scheik beiseite und sprach mit ihm. Danach trat er zu Ben Hur und entschuldigte sich: »Ich habe dem Scheik von dir erzählt, und er wird dir morgen früh die Pferde zur Probe geben. Ich muß gehen. Ich werde morgen wiederkommen, wenn alles in der Zwischenzeit gut geht, und werde bei dir bleiben bis nach dem Rennen.«
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Der weise Diener und seine Tochter Als das untere Horn des Neumonds die Zinnen der Festungsmauer auf dem Berg Sulpius berührte und zwei Drittel aller Einwohner Antiochias sich auf ihren Dächern im Nachtwind erfrischten oder sich mit Fächern Kühlung zuwehten, saß Simonides in seinem Sessel und schaute auf der Terrasse hinab auf den Fluß bis zum jenseitigen Ufer. Auf der Brücke über ihm zog eine endlose Menge dahin. Esther hielt dem Vater eine Platte hin, auf der sein einfaches Mahl stand: weißes Brot, Honig und Milch. »Malluch verspätet sich heute«, sagte Simonides. »Aber wenn er nicht auf dem Wasser oder in der Wüste ist, um dem jungen Mann zu folgen, wird er kommen.« »Vielleicht schreibt er.« »Nein, Esther. Er hätte mir einen Brief geschickt, wenn er nicht hätte kommen können. Du wünschst es, daß er kommt?« »Ja«, sagte sie und schaute ihn an. »Warum?« »Weil«, sie zögerte, »weil der junge Mann …« »Unser Herr ist. Meinst du das?« »Ja.« »Und du bist noch immer der Meinung, ich sollte nicht dulden, daß er geht, ohne daß ich ihn einlade, er solle kommen, wenn es ihm beliebt, und uns alles nehmen – was wir haben, Esther, unsere Waren, das Geld, die Schiffe, die Diener, den Erfolg?« Sie antwortete nicht. »Bewegt dich das nicht? Nein? Nun gut, Esther, ich habe gefunden, daß die schlimmste Wirklichkeit niemals unerträglich ist, wenn sie einmal aus der dunklen Wolke hervorgetreten ist.« 288
Er zog sie an sich und küßte sie zweimal – einmal für sie selbst, ein zweites Mal für ihre Mutter. In diesem Augenblick hörte man Schritte auf der Terrasse. »Ha, Esther, sagte ich es nicht? Er ist hier, und wir werden Nachricht erhalten. Um deinetwillen, mein Kind, bitte ich den Herrn, unsern Gott, der die irrenden Schafe Israels nicht vergessen hat, daß die Nachricht gut und tröstlich ist. Nun werden wir wissen, ob er dich in all deiner Schönheit gehenlassen will und mich mit all meinen Gaben.« Malluch trat zu dem Sessel. »Friede sei mit dir, guter Herr«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung, »und mit dir, Esther, der besten aller Töchter!« Er stand ehrerbietig vor ihnen, seine Haltung war nicht leicht zu bestimmen. Er war sowohl Diener wie ein Vertrauter und Freund. Nachdem Simonides seinen Gruß erwidert hatte, ging er direkt auf seinen Auftrag ein: »Was gibt es über den jungen Mann, Malluch?« Malluch erzählte ruhig und mit einfachsten Worten von den Ereignissen des Tages. Niemand unterbrach ihn. »Ich danke dir, Malluch, ich danke dir!« »Er ist ein Israelit, guter Herr, und aus dem Stamme Judah.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher!« »Mir scheint, er hat dir nicht viel von seinem Leben erzählt?« »Er hat gelernt, vorsichtig zu sein. Ich möchte ihn mißtrauisch nennen. Er wies alle meine Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen, zurück, bis wir von der Quelle Castalia zum Dorfe Daphne gingen.« »Warum ging er dahin, zu diesem Ort der Greuel?« »Ich möchte sagen: aus Neugier, wie die meisten. Aber sonderbar, die Dinge, die er sah, interessierten ihn nicht. Guter Herr, der junge Mann trägt einen Seelenschmerz, den er verbergen möchte. Er ging zum Hain, denke ich, wie zu den Gräbern unserer Toten. Er wollte ihn begraben.« »Gut, wenn es so wäre. Sahst du in dem Jüngling Zeichen der Verschwendungssucht? Prahlte er mit Geld, mit römischer oder jüdischer Münze?« 289
»Nein, nein, guter Herr.« »Aber gewiß, Malluch, wo es so viele Anreize zur Torheit gibt – so viel zu essen und zu trinken, gewiß hat er dir irgendein verschwenderisches Angebot gemacht?« »In meiner Gesellschaft aß er nichts, noch trank er.« »Konntest du nicht aus dem, was er sagte oder tat, irgendwie seine inneren Absichten erkennen? Du weißt, auch dem Vorsichtigsten entschlüpft dann und wann ein unbewachter Gedanke.« »Darüber kann ich wohl Auskunft geben, Meister Simonides. Er widmet sich ganz der Aufgabe, seine Mutter und Schwester zu finden – das ist sein erster Gedanke. Dann trägt er einen tiefen Haß gegen Rom. Und was den Messala betrifft, von dem ich dir sagte, daß er etwas zu tun hat mit dem Unrecht, das ihm geschehen ist, so hat er nur dessen Demütigung im Sinn. Die Begegnung schuf ihm eine Gelegenheit, aber sie war ihm nicht öffentlich genug.« »Besitzt Messala Einfluß?« »Ja. Aber die nächste Begegnung wird im Zirkus sein.« »Gut – und dann?« »Der Sohn des Arrius wird gewinnen.« »Woher weißt du das?« Malluch lächelte: »Ich urteile nach seinen Worten.« »Ist das alles?« »Nein, es gibt noch ein besseres Zeugnis – seinen Mut.« »Gut, Malluch, aber was ist sein Ziel?« »Mein guter Meister, einer meiner Beweise dafür, daß der junge Mann ein Jude ist, ist die Glut seines Hasses. Obwohl er offen zu mir war, beherrschte er sich doch, was nur natürlich ist, da er so lange in der Atmosphäre römischer Eifersucht gelebt hat. Einmal offenbarte er sich, als er sich nach Ilderims Verhältnis zu Rom erkundigte, und noch einmal, das ich ihm die Geschichte des Scheiks und des Weisen erzählte und von der Frage sprach: ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Ihm stieg das Blut in Stirn und Wangen, und er sagte ganz ernst: ›Wer anders als Herodes kann König sein, solange Rom regiert?‹« »Was meinte er damit?« 290
»Daß das Reich zerstört werden müsse, ehe ein anderer herrschen könne.« »Genug, Malluch, iß jetzt und mache dich bereit, in den Palmengarten zurückzukehren. Du mußt dem jungen Mann bei seinem Proberennen beistehen. Komm am Morgen zu mir! Ich will dir einen Brief an Ilderim mitgeben.« Und wie zu sich selbst fügte er hinzu: »Ich möchte selbst in den Zirkus gehen.« Als Malluch sich verabschiedet hatte, fragte Simonides die Tochter: »Woran denkst du, Esther? Wenn deine Gedanken Wünsche sind, sage sie mir, solange ich noch die Macht habe, sie zu erfüllen.« Sie antwortete mit kindlicher Unbefangenheit: »Sende nach ihm, Vater! Sende nach ihm noch heute abend! Und laß ihn nicht in den Zirkus!« »Ah!« sagte er gedehnt. Und er fühlte den Stachel der Eifersucht. Sollte sie den jungen Herrn wirklich lieben? O nein! Sie war noch zu jung. Aber der Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt. Sie war sechzehn, er wußte es wohl. »Nicht in den Zirkus lassen? Warum, mein Kind?« »Das ist kein Ort für einen Sohn Israels, Vater.« »Rabbinische Ansicht, Esther. Ist das alles?« Der Ton seiner Frage war forschend und traf sie ins Herz, das laut zu schlagen begann, so laut, daß sie nicht antworten konnte. Eine Verwirrung, die neu und beseligend war, kam über sie. »Der junge Mann wird sein Vermögen erhalten«, fuhr Simonides fort, indem er ihre Hand nahm, »er soll die Schiffe und das Geld haben, alles, Esther, alles. Ich werde mich trotzdem nicht arm fühlen, da du mir bleibst und deine Liebe. Sag mir, soll er auch das haben?« Sie beugte sich über ihn und legte ihre Wange an seine Schläfe. »Sprich, Esther! Ich bin stark genug, es zu hören.« Sie küßte ihn. »Sein Anblick tut mir wohl, und seine Stimme zieht mich zu ihm, und ich schaudere, wenn ich denken muß, er sei in Gefahr. Ja, Vater, ich wäre mehr als glücklich, ihn wiederzusehen. Aber unerwiderte Liebe kann nicht vollkommene Liebe sein, darum will ich warten und daran denken, daß ich deine und meiner Mutter Tochter bin.« 291
»Du bist ein wahrer Gottessegen, Esther, ein Segen, der mich reich macht, auch wenn ich alles andere verliere. Und bei seinem heiligen Namen und beim ewigen Leben schwöre ich dir, daß du nicht leiden sollst.« Nach einer Weile kam der Diener und rollte den Sessel ins Zimmer. Dort saß er lange und gedachte des zukünftigen Königs. Esther war gegangen und schlief den Schlaf der Unschuld.
Ein Lenker für Ilderims Araber Wer als der mächtige Scheik hatte das Recht, der Karawane Halt zu gebieten und zu bestimmen, wo das Zelt zu errichten war? Dort wo er seinen Speer in den Boden steckte, trieben die Diener die erste Zeltstange ein. Dann kamen die Frauen und Kinder und nahmen die großen Zelttücher von den Rücken der Kamele. Und freudig gingen sie alle daran, sich ihre Zelte zu errichten. Einige männliche Diener blieben zurück, um das Zelt des Scheiks innen einzurichten. Sie hängten einen Vorhang an die mittleren Stützen und teilten das Zelt in zwei Teile; der eine war Ilderim vorbehalten, im anderen wurden seine geliebten Rosse untergebracht – seine Schmuckstücke Salomos. Sie führten sie herein mit Küssen und Streicheln und ließen sie frei. Am Eingang dieses Zeltes hatte Scheik Ilderim Ben Hur empfangen, Diener lösten dem Herrn die Sandalen, Ben Hur die römischen Stiefel. Dann vertauschten beide die staubigen Oberkleider mit frischen weißen Leinengewändern. »Tritt ein in Gottes Namen und ruhe dich aus!« begrüßte Ilderim seinen Gast herzlich in der Sprache des Marktplatzes von Jerusalem und führte ihn zum Diwan. Eine Magd bereitete ihnen die Sitze, ein Diener brachte frisches Wasser vom See und wusch ihnen die Füße. Dann klatschte Ilderim in die Hände, ein Diener erschien: »Suche meinen Gast in seinem Zelt auf und sage ihm, ich, Ilderim, wünsche 292
ihm Frieden, solange das Wasser fließt. Sage ihm ferner, wenn Balthasar, der Weise, an unserem Mahl teilnehmen wolle, so werden wir drei sein, und die Brosamen für die Vögel werden noch ausreichen.« Der Diener ging.
Im Palmengarten Balthasar wurde, während man das Essen hereinbrachte, zum Diwan geleitet, wo ihn Ilderim und Ben Hur stehend empfingen. Die Freunde begrüßten sich mit dem gewohnten Segenswunsch. Balthasars Augen lagen lange und streng und mit wachsender Erregung, aber mit dem zutraulichen Ausdruck eines Kindes auf Ben Hur, so daß diesen ein sonderbares Gefühl überkam. Ilderim legte seine Hand auf Ben Hurs Arm und sagte zu Balthasar: »Das ist er, der mit uns das Brot heute abend brechen will. Ich habe ihm meine Pferde zur Probe für morgen versprochen, wenn alles gut geht, wird er sie im Zirkus lenken.« Balthasar hielt noch immer seinen Blick starr auf Ben Hur gerichtet. Ilderim fuhr fort: »Er ist mir wohl empfohlen worden. Er ist der Sohn des Arrius, eines vornehmen römischen Schiffskommandanten, obwohl er sich selbst einen Juden aus dem Stamme Judah nennt, und, bei der Herrlichkeit Gottes, ich glaube ihm.« Balthasar durfte nicht länger eine Erklärung seines Benehmens zurückhalten: »Heute, gütiger Scheik, war mein Leben in Gefahr, und ich hätte es verloren, wenn nicht ein Jüngling, das Ebenbild dieses deines Gastes, dazwischengetreten wäre und mich gerettet hätte, da alle anderen geflohen waren.« Dann wandte er sich an Ben Hur: »Warst du es nicht?« »Ich kann insoweit antworten, als ich es war, der die Pferde des anmaßenden Römers anhielt. Deine Tochter gab mir einen Becher.« Ben Hur zog aus seinem Rock den Becher und gab ihn Balthasar. 293
»Der Herr sandte dich mir an die Quelle«, sagte er mit zitternder Stimme, »und er sendet dich mir noch einmal. Ich danke ihm und preise seine Güte, denn durch ihn ist es mir möglich, dich nach Verdienst zu belohnen. Der Becher gehört dir, behalte ihn.« Ben Hur nahm ihn zurück, und Balthasar erzählte Ilderim das Ereignis an der Quelle. »Was!« rief der Scheik und schaute Ben Hur an. »Du sagst mir nichts davon und hättest doch keine bessere Empfehlung haben können?« Dann wandte er sich an Balthasar: »Bei der Herrlichkeit Gottes, ich sage es noch einmal: Er ist kein Römer!« Balthasar wandte sich wieder Ben Hur zu: »Wie nannte dich der Scheik? Ich meinte, es war ein römischer Name.« »Arrius, Sohn des Arrius.« »Und dennoch kein Römer?« »Alle meine Vorfahren waren Israeliten.« »Waren – sagst du? Ist niemand mehr von den Deinen am Leben?« Aber Ilderim ersparte Ben Hur die Antwort: »Kommt, das Mahl ist bereit.« Ben Hur bot Balthasar den Arm und führte ihn zu den niederen Tischen. Sie ließen sich auf den Matten nieder, und nach dem Händewaschen sprach Balthasar das Tischgebet: »O Gott und Vater aller! Was wir haben, kommt von dir. Nimm unsern Dank und segne uns, daß wir fortfahren, immer deinen Willen zu tun!«
Balthasar und Ben Hur Die Schatten der Berge, die sich nach dem Sonnenuntergang über den Palmengarten breiteten, ließen zwischen Tag und Nacht keine Dämmerung aufkommen. Die Nacht kam früh und plötzlich. Aus dem Zelt wurde die Dunkelheit von vier Leuchtern aus Messing vertrieben, die an jeder Ecke des Tisches niedergestellt wurden. 294
Der Ägypter erzählte die Geschichte seiner Zusammenkunft mit Kaspar und Melchior in der Wüste, und er stimmte mit Ilderin überein, daß es im Dezember siebenundzwanzig Jahre waren, als sie bei ihm Schutz gesucht hatten. Ben Hur war es, als höre er eine Offenbarung von höchster Bedeutung für die Menschheit. In seinem Geiste entstand eine Idee, die geeignet war, sein ganzes Leben zu wandeln, wenn nicht vollständig einzusaugen. Dem Scheik war die Erzählung nicht neu. Er hatte sie von allen drei Weisen gehört und unter Umständen, die keine Zweifel an ihrer Wahrheit ließen. Aber ihr mächtiges Geheimnis konnte ihn nicht mit der gleichen Kraft berühren, wie es Ben Hur geschah. Er war ein Araber, der nur allgemeines Interesse daran hatte. Aber Ben Hur, den Juden, erregte die Erzählung über die Maßen. Wenn er von seiner Rache träumte, erkannte er, daß sie nur durch Krieg und nicht durch Frieden zu erfüllen sei. Man versteht so, welche Gefühle Balthasars Erzählung in ihm hervor rief. Sie berührte zwei empfindliche Seiten in seinem Herzen, die miteinander kämpften. Sein Herz schlug rasch, wenn er in sich hineinhorchte und keinen Zweifel daran fand, daß das so wunderbar gefundene Kind der Messias war. Groß war aber seine Verwunderung darüber, daß Israel sich so gleichgültig gegen die Offenbarung verhielt und daß er bis zu diesem Tag nichts davon gehört hatte. Zwei Fragen standen vor ihm, nichts war wichtiger, als darauf die Antwort zu erhalten. Und so legte er sie Balthasar vor: »Wo ist das Kind jetzt? Und was ist seine Sendung?«
Christus ist erschienen Ein Lächeln überflog das Gesicht des Ägypters: »Meine erste Aufgabe, als ich den Schutz in der Wüste verlassen hatte, war die, zu erfahren, was aus dem Kind geworden war. Aber ein Jahr verging, und ich wag295
te noch nicht, persönlich nach Judäa zu gehen, denn Herodes saß noch auf seinem blutigen Thron. Bei meiner Rückkehr nach Ägypten fand ich ein paar Freunde, die an die wunderbaren Dinge glaubten, die ich gehört und gesehen hatte, und die sich mit mir freuten, daß der Erlöser geboren war. Sie wurden nicht müde, meiner Erzählung zu lauschen. Einige unternahmen es, nach dem Kinde zu forschen. Sie begaben sich zuerst nach Bethlehem und fanden dort die Herberge, aber den Torhüter jener Nacht fanden sie nicht. Der König hatte ihn entfernen lassen, und niemand hat ihn seitdem gesehen.« »Aber sie fanden sicherlich einige Beweise?« fragte Ben Hur ungeduldig. »Ja, Beweise, mit Blut geschrieben – ein trauerndes Dorf. Als Herodes von unserer Flucht gehört hatte, sandte er nach Bethlehem und ließ alle neugeborenen Kinder erschlagen. Nicht eins entkam. Meine Sendlinge wurden in ihrem Glauben bestärkt, aber sie kamen zu mir und sagten, das Kind sei tot, mit den andern Unschuldigen erschlagen.« »Tot?« rief Ben Hur entsetzt. »Tot, sagst du?« »Ich habe keine Nachrichten«, fuhr Balthasar fort, »aber, mein Sohn, ich habe viel darüber nachgedacht, Jahre hindurch, von meinem Glauben geleitet, der, Gott sei mein Zeuge, noch ebenso stark ist wie in der Stunde, in der ich die Stimme des Geistes an der Küste des Sees hörte. Ich will dir sagen, warum ich glaube, daß das Kind lebt. Wir drei glauben an Gott, und er ist in der Wahrheit. Das Wort ist Gott. Die Hügel mögen zu Staub zerfallen und das Meer vom Südwind aufgetrunken werden, aber sein Wort wird bleiben, denn er ist die Wahrheit.« Ilderims schmale Araberaugen waren voller Verständnis, und Ben Hur, der sich von seiner Niedergeschlagenheit erholt hatte, sagte: »Ich für mein Teil bestreite es nicht. Was weiter, bitte?« Balthasar schaute andächtig zum Himmel. »Es gibt ein Königreich auf der Erde, obwohl es nicht von der Erde ist, ein Königtum, das größer ist als die Erde, weiter als Meer und Land. Sein Dasein ist eine Tatsache, so wie unsere Herzen Tatsachen sind, und wir durchwandern dieses Reich von der Geburt bis zum Tode, ohne es zu sehen, noch soll ein Mensch es sehen, ehe er seine eigene Seele gesehen hat: Denn es ist 296
ein Königreich nur für seine Seele.« – »Was du sagst, Vater, ist mir ein Rätsel«, sagte Ben Hur. »Ich habe niemals von solch einem Königreich gehört.« »Auch ich nicht«, sagte Ilderim. »Mehr mag ich darüber nicht sagen«, fuhr Balthasar fort und schlug die Augen nieder. »Was es ist, wozu es ist, wie es zu erlangen ist – keiner kann es sagen, bis das Kind kommt, um von dem, was sein ist, Besitz zu ergreifen. Es bringt den Schlüssel zur unsichtbaren Pforte mit und wird sie den Erwählten öffnen. Unter ihnen werden alle sein, die es lieben; denn nur sie werden erlöst werden.« Alle schwiegen. Balthasar war zu Ende mit seinem Bericht. »Guter Scheik«, schloß er und erhob sich. »Morgen oder am folgenden Tag will ich für einige Zeit in die Stadt gehen. Meine Tochter will die Vorbereitungen zu den Spielen sehen. Ich werde dir die Zeit meiner Abreise noch genau angeben. Und dich, mein Sohn, werde ich wiedersehen. Friede sei mit euch! Und gute Nacht!«
Messala legt seinen Kranz ab Am Morgen nach einem Bacchanal im Saale des Palastes von Idernee war der Diwan mit jungen Patriziern bedeckt. Mochte Maxentius kommen und die ganze Stadt auf den Straßen sein, ihn zu empfangen, mochte die Legion vom Berg Sulpius heruntersteigen im Glanz ihrer Waffen und Panzer – die jungen Herren würden auf ihrem Diwan weiterschlafen, so wie sie niedergesunken oder von gleichgültigen Sklaven gebettet worden waren. An dem Empfang konnten sie jedenfalls nicht teilnehmen. Aber nicht alle, die an der Orgie teilgenommen hatten, waren in diesem schmählichen Zustand. Als die Morgendämmerung durch die Fenster des Saales fiel, erhob sich Messala und nahm den Kranz ab zum Zeichen, daß das Gelage zu Ende war. 297
Drei Stunden danach betraten zwei Boten sein Zimmer, und jeder empfing aus seiner Hand ein versiegeltes Päckchen: Duplikate eines Briefes an den Prokurator Valerius Gratus, der noch in Caesarea residierte. Die Wichtigkeit der Briefe forderte rasche Beförderung. Einer der Boten sollte den Landweg nehmen, der andere zur See gehen. Beide sollten sich der größten Eile befleißigen. Der Brief lautete: Antiochia, XII. Kal. des Juli
»Messala an Gratus O mein Midas! Ich bitte Dich, sei nicht beleidigt von der Anrede, sie kommt aus Liebe und Dankbarkeit, und sie soll Dir nur sagen, daß Du der glücklichste unter den Menschen bist. Ich habe Dir eine außerordentliche Begebenheit zu melden, die ohne Zweifel Deiner sofortigen Beachtung wert ist, obwohl sie zum Teil noch auf Vermutungen beruht. Ich muß erst Dein Gedächtnis auffrischen. Erinnere Dich, daß vor vielen Jahren in Jerusalem die Familie eines Fürsten wohnte, die sehr alt und unermeßlich reich war. Sie trug den Namen Hur. Sollte Dein Gedächtnis an irgendeiner Schwäche leiden, so findest Du, wenn ich nicht irre, eine Narbe an Deinem Kopf, die Dir helfen wird, Dich der Umstände zu erinnern. Zur Strafe für den Angriff auf Dein Leben wurde die Familie beiseite geschafft und ihr Vermögen konfisziert. Da es mit Zustimmung des Kaisers geschah, mögen seine Altäre stets blumengeschmückt sein! In der Erinnerung an die Summen, die uns damals aus dieser Quelle zugeflossen sind, sollte keine Schmach liegen, und ich werde Dir ewig dankbar sein, jedenfalls solange ich im unbestrittenen Besitz des mir zugefallenen Teils bin. Du wirst Dich Deiner Befehle über Mutter und Schwester des Übeltäters erinnern, und wenn ich jetzt dem Verlangen nachgebe zu erfahren, ob sie noch leben oder ob sie gestorben sind, so kenne ich Deine Liebenswürdigkeit zu gut, mein Gratus, als daß ich an Deinem Entgegenkommen zweifeln dürfte. 298
Da es die gegenwärtige Begebenheit betrifft, erinnere ich Dich noch weiter daran, daß der Verbrecher auf Lebenszeit zu den Galeeren verurteilt worden war. Beginne ich Deine Aufmerksamkeit zu erregen? Zieht man die durchschnittliche Lebenszeit eines Galeerensträflings in Betracht, so müßte dieser Hur schon seit fünf Jahren tot sein. Ich jedenfalls war dieser Meinung und genoß in Ruhe das Vermögen, das ich in gewissem Grade ihm verdanke. Ich komme zum Kernpunkt. Letzte Nacht, als ich ein Fest gab zu Ehren einiger eben aus Rom Angekommener, hörte ich eine sonderbare Geschichte. Wie Du weißt, kommt heute der Konsul Maxentius hier an, um gegen die Parther zu ziehen. Unter den Strebern, die ihn begleiten, ist der Sohn des Duumvirs Quintus Arrius. Ich hatte Anlaß, mich nach ihm zu erkundigen, und erfuhr, daß Arrius, als er sich zur Verfolgung der Seeräuber aufmachte, deren Vernichtung ihm schließlich hohe Ehren einbrachte, keine Familie besaß. Als er zurückkehrte, brachte er einen Erben mit. Bewahre nun Deine Ruhe, wie es sich für den Besitzer so vieler Talente in gangbaren Sesterzen geziemt. Der Sohn und Erbe ist derselbe Ben Hur, den Du auf die Galeeren gesandt hast, derselbe Ben Hur, der schon vor fünf Jahren an seinem Ruder hätte zugrunde gehen müssen. Er ist zurückgekehrt, reich und angesehen und vermutlich als römischer Bürger, und wird … Nun, Du stehst zu fest, um besorgt zu sein, aber ich, mein Freund, bin in Gefahr: weshalb, brauche ich Dir nicht zu sagen; wer soll es wissen, wenn Du es nicht weißt! Als Arrius, der Adoptivvater, mit den Seeräubern kämpfte, versank sein Schiff. Alle, die darauf waren, gingen zugrunde, alle bis auf zwei – Arrius selbst und sein Erbe. Die Offiziere, die ihn von der Planke retteten, behaupten, der Gefährte des Tribuns sei ein junger Mann gewesen, der wie ein Galeerensklave gekleidet war, als er an Bord des rettenden Schiffes gebracht wurde. Das sollte, um das wenigste zu sagen, überzeugend sein. Damit Du aber nicht geringschätzig lächelst, sage ich Dir, mein Freund, daß ich 299
gestern das Glück hatte, den geheimnisvollen Sohn des Arrius von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Und ich erkläre hiermit auf das bestimmteste, daß es jener Ben Hur ist, derselbe Ben Hur, der, jetzt im Augenblick, da ich dies schreibe, Rache brütet, wie ich es an seiner Stelle tun würde. Rache für sein Land, seine Mutter und Schwester, sich selbst und – ich nenne es zuletzt, obwohl Du denken wirst, es sei das erste – für sein verlorenes Vermögen. Ich halte es für unpassend, Dich zu fragen, was getan werden muß. Laß mich Dir vielmehr erklären, daß ich mich unter Deinen Schutz stelle, daß Du mein Ulysses bist, dessen Aufgabe es ist, mir einen vernünftigen Rat zu erteilen. Ich will Deine Antwort hier abwarten. Ben Hurs Gehen und Kommen wird natürlich von seinem Gebieter, dem Konsul, bestimmt. Dieser kann, wenn er seine Vorbereitungen Tag und Nacht betreibt, nicht vor einem Monat ausziehen. Du weißt ja, was es heißt, eine Armee zu sammeln und auszurüsten, die in einem so wüsten, städtearmen Land kämpfen soll. Ich sah den Juden gestern im Hain der Daphne, und wenn er jetzt nicht dort ist, so ist er gewiß in der Nähe oder im Zelt des verräterischen Scheiks Ilderim, der sich nicht mehr lange unsrer starken Hand entziehen kann. Sei nicht überrascht, wenn Maxentius als seine erste Maßnahme den Araber auf ein Schiff setzt und ihn nach Rom bringen läßt. Ich bin besonders genau bei den Angaben über den Aufenthalt des Juden, weil ich weiß, daß in jedem Plan zu einer Handlung drei Elemente in Rechnung gestellt werden müssen: Zeit, Ort und Mittel. Wenn Du meinst, der gegebene Ort sei hier, so zögere nicht, die Sache mir zu überlassen, Deinem liebenden Freund, der Dein gefügiger Schüler ist. Messala.«
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Ilderims Araber im Joch Als Messalas Boten abreisten, trat Ben Hur in Ilderims Zelt. Er hatte sich im See erfrischt, hatte gefrühstückt und erschien in seiner kurzen, römischen Untertunika vor dem Scheik. Ilderim begrüßte ihn vom Diwan: »Friede sei mit dir, Sohn des Arrius! Die Pferde sind bereit, ich bin bereit, und du?« »Ich bin bereit.« Ilderim klatschte in die Hände: »Ich will die Pferde bringen lassen. Nimm Platz!« »Sind sie angeschirrt?« »Nein.« »Dann bitte ich, es selbst tun zu dürfen. Ich muß mit den Arabern vertraut werden.« »Und den Wagen?« »Den Wagen werde ich heute nicht benutzen. Laß mir an seiner Stelle ein fünftes Pferd geben, wenn du eins hast, es muß ohne Sattel sein und so schnell wie die andern.« Ilderims Neugier wurde rege, er befahl dem Diener, das Geschirr und einen Zaum für Sirius zu bringen: »Sirius ist mein Liebling und ich bin der seine, Sohn des Arrius. Zwanzig Jahre sind wir Gefährten, im Zelt, im Kampf, in der Wüste. Ich will ihn dir zeigen.« Das Riemenzeug wurde gebracht. Ben Hur legte es den Pferden an und führte sie aus dem Zelt: »Bringt mir Sirius!« Ein Araber konnte sich nicht geschickter auf den Rücken des Renners schwingen: »Und nun die Zügel!« Er hielt sie und trennte sie sorgfältig. »Ich bin bereit, guter Scheik. Laß einen Führer zum Feld vorangehen und sende ein paar Männer mit Wasser!« Alles ging gut am Anfang, die Pferde wa301
ren nicht scheu, zwischen ihnen und dem neuen Lenker schien bereits ein stillschweigendes Einvernehmen zu herrschen. Nach einer Stunde lenkte er sie im Schritt zu Ilderim. Er stieg ab und streichelte die Pferde. »Sieh, der Glanz ihres roten Fells ist ohne einen Flecken, sie atmen so leicht wie am Anfang. Ja, ich wünsche dir Glück!« Und er wandte sich strahlend dem Greise zu: »Es müßte sonderbar zugehen, wenn wir nicht den Sieg und unsre …« Er hielt inne und errötete, dann verneigte er sich. Erst jetzt hatte er an der Seite des Scheiks Balthasar bemerkt, der sich auf einen Stab stützte und von zwei tiefverschleierten Frauen geführt wurde. Ben Hur blickte die eine an und sagte zu sich klopfenden Herzens: Das ist sie, die Ägypterin! Ilderim vollendete den Satz: »… den Sieg und unsre Rache erringen.« Ben Hur gab selbst den Pferden das Wasser. Dann bestieg er wieder den Sirius und setzte seine Übungen fort, genau wie vorher, vom Schritt zum Trab, vom Trab zum Galopp und ließ den Rennern zuletzt vollen Lauf. Inmitten der Übungen erschien Malluch auf dem Feld und suchte den Scheik: »Ich habe eine Botschaft für dich vom Handelsherrn Simonides!« »Simonides! Möge Abbadon alle seine Feinde stürzen! Laß hören!« »Er trug mir auf, dir diese beiden Briefe zu übergeben mit der Bitte, sie sofort zu lesen!« Ilderim brach das Siegel des Päckchens und entnahm der Umhüllung aus feinem Leinen zwei Briefe, die er sogleich zu lesen begann: »Nr. 1. Simonides an Scheik Ilderim. Mein Freund! Sei zuerst versichert, daß Du einen Platz in meinem innersten Herzen einnimmst. Dann: In Deinen Zelten ist ein Jüngling von anmutiger Erscheinung, er nennt sich Sohn des Arrius und ist es durch Adoption. 302
Er ist mir sehr teuer. Er hat eine wunderbare Geschichte. Komm heute oder morgen, damit ich sie Dir erzählen kann. Unterdessen gewähre ihm alles, was er verlangt, soweit es nicht gegen die Ehre verstößt. Sollten Auslagen zu ersetzen sein, so bin ich dazu verpflichtet. Behalte für Dich, daß ich Interesse an dem Jüngling nehme! Empfiehl mich Deinen andern Gästen. Er, seine Tochter, Du selbst und wen Du noch als Gesellschaft mitbringen willst, sind meine Gäste im Zirkus am Tag der Spiele. Ich habe bereits Sitze belegt. Friede sei mit Dir und den Deinen! Was sollte ich sein, o mein Freund, als Dein Freund Simonides.«
»Nr. 2. Simonides an Scheik Ilderim. Mein Freund! Ich sende Dir eine Nachricht, die ich erfahren habe. Es gibt ein Zeichen, das sich alle Nichtrömer, die Gut und Geld besitzen, das dem Raub ausgesetzt ist, als Warnung dienen lassen müssen. Es hängt zusammen mit der Ankunft eines hochgestellten mit Macht bekleideten Römers am Sitz seines Amtes. Heute kommt der Konsul Maxentius. Laß Dich warnen! Und noch einen Rat. Eine Verschwörung ist im Gange, die gegen Dich gerichtet ist und zum Teil von Herodes ausgeht. Du hast große Besitzungen in seinen Ländern. Sei vorsichtig! Sende heute morgen zu Deinen treuen Wächtern an den Straßen, die von Antiochia südwärts führen, und befiehl ihnen, jeden Kurier zu un303
tersuchen, der geht und kommt. Wenn sich dabei Botschaften finden, die Deine Geschäfte betreffen, so solltest Du sie sehen. Zögere nicht! Verbrenne das Schreiben. O mein Freund, Dein Freund Simonides.«
Die Künste »Iras, die Tochter Balthasars, sendet mich mit Grüßen und einer Botschaft zu dir.« Ein Bote war in Ben Hurs Zelt getreten, während er ruhte. »Sage mir die Botschaft!« »Würde es dir gefallen, sie auf dem See zu begleiten?« »Ich werde ihr die Antwort selbst bringen. Sage es ihr.« Daß die Ägypterin ihn rufen ließ, erregte ihn. Ihre Schönheit bezwang ihn, aber es war nicht Liebe, die ihn zu ihr zog, sondern Bewunderung und auch Neugier. Er ging die Treppen zum Landeplatz hinab, der von zwei Lampen erhellt war. Im klaren Wasser lag ein Boot, das einer Eischale glich. Ein Äthiopier – es war der Kamelführer von der Quelle – saß auf dem Ruderplatz, er trug ein weißes Gewand. Das ganze Boot war mit Vorhängen und Kissen bedeckt. Am Steuer saß die Ägypterin, in indische Schals gehüllt. Ihre Arme waren bloß bis zu den Schultern und fehlerlos wie ihre Hände. Über die Schultern war ein dünner Schal geworfen. »Gib mir das Ruder«, bat er. »Nein, das wäre gegen die Verabredung. Ich bat dich, mit mir zu fahren. Aber wohin wir steuern, mußt du mir überlassen.« »Und wohin wird das sein?« 304
»Du bist wieder beunruhigt?« »O schöne Ägypterin, ich stelle nur die erste Frage jedes Gefangenen.« »Nenne mich Ägypten!« »Ich möchte dich lieber Iras nennen.« »Du kannst mich in deinen Gedanken so nennen. Aber rede mich Ägypten an.« »Willst du mir das Lied singen, das ich gestern nacht hörte?« »Es war eine Hymne an den Nil, eine Klage, die ich singe, wenn ich den Atem der Wüste spüren und das Rauschen des alten lieben Stroms hören will.« Und sie sang das Lied der gestrigen Nacht. Ben Hur hatte nicht die Zeit, um ihr seinen Dank zu sagen, denn der Kiel knirschte schon im Sand, und im nächsten Augenblick stieß das Boot ans Ufer. »Eine kurze Reise, Ägypten!« rief er. »Und eine kürzere Rast!« Mit einem starken Stoß trieb der Schwarze das Boot ins Wasser zurück. »Gib mir jetzt das Steuer!« »O nein, der Wagen für dich, für mich das Boot. – Wir sind am Ende des Sees. Wir waren in Ägypten, nun laß uns zum Hain der Daphne fahren!« »Ohne ein Lied auf dem Weg?« »Ich will dir eine Geschichte aus Ägypten erzählen.« »Ja! Bis zum Morgen, bis zum Abend und zum nächsten Morgen.« »Wovon soll meine Geschichte handeln? Von der Liebe?« »Ja.« »So will ich dir ein Heilmittel gegen die Liebe geben. Es ist die Geschichte der Königin Ne-Ne-Hofra …« Ben Hur saß zu den Füßen der Ägypterin und lauschte ihrer Stimme. Seine Hand lag auf der ihren, die das Ruder hielt. Als sie geschlossen hatte, fragte sie: »Gibt es kein Heilmittel gegen die Liebe?« »O ja, den Tod!« »Du bist ein guter Zuhörer, Sohn des Arrius.« 305
Als sie landeten, fragte er sie: »Wirst du bei den Spielen sein?« »Gewiß.« »Ich werde dir meine Farben senden.« Damit verabschiedeten sie sich.
Messala hält Wacht Ilderim kam zum Zeltlager am nächsten Tag etwa um die dritte Stunde zurück. Als er abstieg, trat ihm ein Mann entgegen, den er sogleich als ein Mitglied seines Stammes erkannte: »Ich erhielt den Auftrag, Scheik, dir dieses Päckchen zu übergeben, mit dem Ersuchen, es sofort zu lesen. Wenn eine Antwort nötig ist, soll ich mich zu deiner Verfügung halten.« Ilderim betrachtete das Päckchen. Das Siegel war bereits erbrochen. Die Adresse lautete: An Valerius Gratus in Caesarea. »Abbadon hole ihn«, brummte der Scheik, als er sah, daß der Brief in Latein war. Wäre der Brief griechisch oder arabisch geschrieben, hätte er ihn lesen können. »Wo ist der junge Jude?« fragte er. »Mit den Pferden auf dem Feld«, antwortete der Diener. Der Scheik bestieg sein Pferd. In diesem Augenblick erschien ein Fremder, anscheinend aus der Stadt: »Ich suche den Scheik Ilderim, genannt der Gütige«, sagte er. Sprache und Kleidung zeigten, daß er ein Römer war. Was Ilderim nicht lesen konnte, konnte er doch sprechen, so antwortete der alte Araber mit Würde: »Ich bin Scheik Ilderim.« Der Mann schlug seine Augen nieder, als er sie wieder hob, sagte er mit erzwungener Ruhe: »Ich hörte, du brauchst einen Lenker für die Spiele.« Ilderims Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln: »Gehe deines Wegs! Ich habe einen Lenker.« Und täglich kam von da an bis zum Tag der Spiele ein Mann, manch306
mal kamen auch zwei oder drei zu dem Scheik und boten sich als Lenker an. Sie waren von Messala gesandt, Ben Hur zu überwachen.
Ilderim und Ben Hur beraten Der Scheik wartete, bis Ben Hur die Pferde für den Vormittag vom Felde nahm, voller Zufriedenheit, denn er hatte bemerkt, daß sie bei allen Übungen ihre volle Schnelligkeit entwickelten, keins schien schneller als das andere, alle vier waren eins. »Heute nachmittag, mein Scheik, gebe ich dir Sirius zurück. Ich werde von jetzt an den Wagen nehmen. Ich habe nur eine Besorgnis, Scheik! In seiner Begierde nach dem Sieg kann ein Römer seine Ehre nicht rein halten. In allen Spielen haben sie unzählige Kniffe. Beim Wagenrennen erstrecken sich ihre Listen auf alles, vom Pferd bis zum Lenker, vom Lenker bis auf seinen Herrn. Deshalb, guter Scheik, gib acht! Laß von heute an, bis das Rennen vorüber ist, keinen Fremden die Pferde sehen.« »Was du willst, soll geschehen. Keine Hand als die meiner Getreuen soll sie berühren. Heute nacht werde ich Wachen ausstellen. – Aber, sieh hier, Sohn des Arrius, sieh dir das an und hilf mir mit deinem Latein.« Dann übergab er ihm den Brief Messalas an Gratus: »Lies laut und übersetze es in die Sprache deiner Väter. Latein ist mir ein Greuel.« Ben Hur, der in gehobener Stimmung gewesen war, stutzte. Eine Ahnung trieb ihm das Blut zum Herzen. Er las. Als er an die Stelle kam, wo von dem Schweigen und der Auslieferung der Familie zum unvermeidlichen Tod die Rede war, brach er ab, der Brief entfiel ihm, und er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen: »Sie sind tot – tot. Ich allein bin übrig.« Der Scheik erhob sich: »Ich bitte dich um Verzeihung, Sohn des Arri307
us, lies den Brief allein für dich. Wenn du dich stark genug fühlst, mir den Rest mitzuteilen, so laß mich rufen.« Ben Hur hatte sich auf den Diwan geworfen und überließ sich seinem Schmerz. Als er nach einer Pause weiterlas und an die Stelle kam, wo Messala fragt, ob Mutter und Schwester noch leben, rief er aus: »Noch ist nicht alle Hoffnung verloren.« Neu gestärkt las er den Brief zu Ende. »Ja, sie sind nicht tot«, wiederholte er sich, »sonst hätte Messala es erfahren.« Nun sandte er nach dem Scheik. »Als ich dein gastliches Zelt aufsuchte, lag es nicht in meiner Absicht, mehr von mir zu erzählen, als was sich auf meine Erfahrung mit den Pferden bezog. Ich weigerte mich, dir meine Lebensgeschichte zu berichten. Aber diese Fügung, die den Brief in meine Hände spielte, ist so merkwürdig, daß ich dir alles anvertrauen muß, was mich betrifft. Dazu kommt, daß wir einen gemeinsamen Feind haben, gegen den wir gemeinsame Sache machen müssen. Ich werde dir den Brief vorlesen und dir die nötigen Erklärungen geben. Du wirst dich dann nicht mehr über meine Erregung wundern und mich entschuldigen, falls du mich für schwach oder kindisch gehalten hast.« Ben Hur las den Brief Satz für Satz in der Sprache vor, die der Scheik verstand. Als die Stelle kam, an der Messala ihn einen Verräter nannte, schrie er wütend im schrillsten Ton: »Was, Verräter?« Aber Ben Hur unterbrach ihn: »Das ist Messalas Meinung über dich, aber höre seine Drohung!« Und er las ihm die Sätze vor, in denen Messala von der Verschickung des Scheiks schrieb. »Nach Rom? Mich, Ilderim, den Scheik von zehntausend speerbewaffneten Reitern, mich nach Rom?« Er sprang hoch mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, die sich wie Krallen krümmten: »O Gott, nein, bei allen Göttern, mit Ausnahme derer von Rom! 308
Wann soll diese Unverschämtheit enden? Ich bin ein freier Mann, mein Volk ist frei!« Er knirschte mit den Zähnen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Plötzlich packte er Ben Hur bei den Schultern: »Wäre ich an deiner Stelle, Sohn des Arrius, so jung, so stark, so waffenkundig, hätte ich einen Grund zur Rache wie den deinen, groß genug, Haß zu heiligen – fort mit aller Verstellung zwischen dir und mir! –, Sohn Hurs sage ich – .« Bei diesem Namen stockte Ben Hurs Blut. Erstaunt, verwirrt blickte er in des Arabers Augen. »Sohn Hurs, sage ich, wäre ich an deiner Stelle, ich würde und könnte nicht ruhn …« Die Worte sprudelten aus dem Mund des Greises, bis ihm der Atem stockte. Zum erstenmal seit Jahren war Ben Hur mit seinem eigenen Namen angesprochen worden. Ein Mensch wenigstens kannte ihn, und einer wenigstens glaubte ihm, ohne Beweise zu verlangen. »Guter Scheik, wie kamst du zu diesem Brief?« »Meine Leute, die auf den Straßen zwischen den Städten lauern, nahmen ihn einem Kurier ab.« »Weiß man, daß es deine Leute waren?« »Nein. Vor der Welt sind es Räuber, die ich fangen und töten soll.« »Scheik, du nanntest mich Sohn Hurs. So hieß mein Vater. Ich glaubte, mich kenne kein einziger Mensch in der Welt. Woher kennst du mich?« Ilderim zögerte mit der Antwort: »Ich kenne dich, laß dir das genügen, denn noch darf ich nicht mehr sagen. Laß uns jetzt nicht weiter über die Sache reden. Gib mir den Brief! Ich sagte dir, was ich an deiner Stelle tun würde, du hast mir nicht darauf geantwortet.« »Ich wollte dir darauf antworten, Scheik, und ich will es. Ich bin Soldat, aber die Dinge, von denen ich träume, verlangen, daß ich Heerführer werde. Mit diesem Gedanken meldete ich mich zum Zug gegen die Parther. Wenn er vorbei ist und Gott mir Leben und Kraft 309
schenkt – dann werde ich ein Feind sein, der wie ein Römer geschult ist, und dann soll mir Rom für alles Übel mit dem Leben von Römern bezahlen. Das ist meine Antwort, Scheik!« Ilderim legte seinen Arm um ihn und küßte ihn: »Du sollst meine Hände haben, mit allem, was sie halten: Männer, Pferde, Kamele und die Wüste zur Vorbereitung. Ich schwöre es.«
Die vier Araber werden erprobt Der aufgefangene Brief gab Ben Hur Aufschluß über zahlreiche Dinge von großer Wichtigkeit. Er enthielt das Bekenntnis, daß die Familie Hur mit mörderischer Absicht beseitigt worden war, daß Messala diesen Plan gutgeheißen und einen Teil des konfiszierten Vermögens erhalten hatte. Er bestätigte ferner, daß ihm das Auftauchen des Totgeglaubten als Drohung erschien, er im Begriff stand, sich zu sichern, und bereit war, das auszuführen, was sein Genosse in Caesarea raten würde. Und nun war der Brief in die Hände dessen gefallen, von dem er hauptsächlich handelte, und brachte ihm zwar das Bekenntnis der Schuld, aber auch die Nachricht von einer neuen Gefahr. Er hätte gern Geduld geübt, wenn er nur gewußt hätte, ob Tirzah und seine Mutter ebenso auf ihn warteten mit ähnlichen Hoffnungen wie er. Um diesen Gedanken zu entfliehen, spannte er die Pferde ein und ließ sie Stunde um Stunde über das Feld jagen. Wieder war er voll befriedigt von ihren Leistungen, und als er in guter Stimmung zurückkam, beschloß er, alle Untersuchungen gegen Messala bis nach dem Rennen aufzuschieben. Als es Nacht geworden, saß er vor dem Zelt und wartete auf Ilderim. Er war nicht ungeduldig noch unruhig oder zweifelhaft. Nachricht würde der Scheik auf jeden Fall senden. Er wußte sich in der Hand der Vorsehung, die nicht länger sein Feind war. Schließlich hörte er Hufschlag, und Malluch erschien. 310
»Sohn des Arrius, ich grüße dich im Namen des Scheiks, der dich bittet, ein Pferd zu nehmen und in die Stadt zu kommen, wo er dich erwartet.« Beide ritten im gestreckten Galopp zum Landungsplatz vor dem Haus des Simonides. Unter der Brücke hielt Malluch vor dem großen Warenlager. »Wir sind an Ort und Stelle. Steige ab!« Ben Hur erkannte den Platz. »Wo ist der Scheik?« »Komm mit mir, ich werde dich führen.« Ein Wächter nahm die Pferde in Empfang, und ehe sich Ben Hur dessen besann, stand er wieder vor der Tür des Hauses auf dem Dachgarten und hörte die Einladung von innen: »Tritt ein im Namen Gottes!«
Simonides legt Rechnung ab Malluch blieb an der Tür zurück, Ben Hur trat allein ein. Es war dasselbe Gemach, in dem er beim vorigen Mal Simonides gegenübergestanden hatte. Drei Personen waren im Zimmer und schauten ihn an: Simonides, Ilderim und Esther. In einiger Verlegenheit blieb Ben Hur vor ihnen stehen und schaute vom einen zum anderen, als suche er Antwort auf eine dringende Frage. – Was mögen sie von mir wollen? dachte er. Sind es Freunde oder Feinde? Am längsten verweilte sein Auge auf Esther. Hatten die zwei Männer seinen Blick voll Güte erwidert, so lag in dem ihren mehr als Güte, ein Ausdruck, der sich nicht erklären ließ. »Sohn Hurs«, begann Simonides, so langsam, als ob er den, dem die Anrede galt, ihre volle Wichtigkeit empfinden lassen wollte, »empfange den Frieden des Herrn, des Gottes unserer Väter, empfange ihn von mir – von mir und den Meinigen.« »Den heiligen Frieden, Simonides«, sprach Ben Hur tiefbewegt, »neh311
me ich an. Wie ein Sohn seinem Vater wünsche ich ihn auch dir. Nur laß zwischen uns volle Offenheit herrschen!« Simonides ließ seine Hände sinken: »Einen Sitz für den Herrn, Tochter!« Sie brachte einen Schemel und schaute errötend von Ben Hur zu ihrem Vater und wieder zurück. Danach ließ Simonides Esther aus einem Wandschrank Papiere bringen. »In Erwartung eines Verlangens, auf das ich bestanden hätte, auch wenn du dich ihm hättest entziehen wollen, habe ich hier einen Bericht aufgesetzt, der alles umfaßt, was zu einer offenen Verständigung nötig ist. Er umfaßt sowohl das Vermögen wie unsere gegenseitigen Beziehungen. Willst du bitte jetzt lesen?« Ben Hur empfing die Papiere, aber er schaute auf Ilderim. »Nein«, wandte Simonides ein, »der Scheik soll dich nicht vom Lesen abhalten. Die Rechnungsablage – sie enthält der Bericht – bedarf eines Zeugen. Du findest den Namen des Scheiks am Ende verzeichnet. Er weiß alles. Er ist dein Freund. Und alles, was er mir war, wird er auch dir sein.« Die beiden Greise nickten sich zu und Simonides fuhr fort: »Dies Papier zeigt dir, wie hoch die Summe war, die ich von deinem Vater hatte und die ich vor den Römern rettete. Anderes Eigentum ließ sich nicht retten, nur Geld.« Er nahm das nächste Blatt: »Mit diesem Betrag unternahm ich selbst Geschäfte. Hör nun, welchen Gewinn ich aus dem Gelde zog.« Von den verschiedenen Blättern las er die folgende Aufstellung ab: »Schiffe Waren im Lager Waren auf dem Transport Kamele, Pferde usw. Niederlagen Fällige Rechnungen Bargeld Summe:
60 Talente 110 Talente 75 Talente 20 Talente 10 Talente 54 Talente 224 Talente 553 Talente 312
Zu diesem Betrag füge das Geld deines Vaters hinzu, so hast du sechshundertdreiundsiebzig Talente – das ist eine Summe, die dich, Sohn Hurs, zum reichsten Mann der Erde macht. Und es gibt nichts, was du nicht tun kannst.« Es war für alle drei ein wichtiger Augenblick. Simonides hatte wieder die Hände über die Brust gekreuzt, Esthers Gesicht drückte Besorgnis aus, Ilderim war erregt. Ben Hur ergriff die Rolle, erhob sich und sprach, alle ihn bestürmenden Gefühle mit Macht bekämpfend: »Ich danke zuerst dem Herrn, der mich nicht verließ, und dann dir, o Simonides. Deine Treue wiegt die Grausamkeit der anderen auf und gibt mir den Glauben an die Menschheit wieder.« Er streckte die Hand mit der Rolle zu Simonides: »Die auf diesem Papier aufgezählten Dinge an Schiffen, Häusern, Waren, Kamelen, Pferden, Geld, das Geringste wie das Größte – gebe ich dir zurück und erkläre sie als dein Eigentum und bestätige dich und die Deinen auf immer in ihrem Besitz.« Esther lächelte unter Tränen, Ilderim strich erregt seinen Bart, seine Augen leuchteten wie Jett. Nur Simonides blieb ruhig. »Ich bestätige dich und die Deinen darin für ewig«, fuhr Ben Hur fort, »mit einer Ausnahme und unter einer Bedingung: Die hundertzwanzig Talente meines Vaters sollst du mir zurückgeben. Und du sollst mich im Forschen nach meiner Mutter und Schwester unterstützen und mit all dem Deinen, wie ich mit dem Meinen, dabei helfen.« Simonides war tief bewegt. Er streckte seine Hand aus: »Ich sehe deinen Geist, Sohn Hurs, und ich danke dem Herrn, daß er dich zu mir geführt hat – so wie du bist. So wie ich deinem Vater im Leben und später seinem Gedächtnis gedient habe, so werde ich auch dir dienen. Aber dennoch kann ich auf die Bedingung nicht eingehen.« Er wies auf den zurückbehaltenen Bogen: »Du hörtest noch nicht den ganzen Bericht. Nimm hier und lies – lies laut!« Ben Hur nahm das Papier und las: »Aufstellung der Leibeigenen Hurs, eingereicht von Simonides, Verwalter des Vermögens: 313
1. Amrah, Ägypterin, im Palast zu Jerusalem, 2. Simonides, Verwalter in Antiochia, 3. Esther, des Simonides Tochter.« Es war Ben Hur, wenn er des Simonides gedachte, nie in den Sinn gekommen, daß nach dem Gesetz eine Tochter die Leibeigenschaft des Vaters teile. In allen seinen Träumen war ihm die süße Esther als eine Rivalin der Ägypterin erschienen, als eine Frau, die er hätte lieben können. Vor dieser plötzlich Entdeckung erschrak er, und er schaute errötend auf das Mädchen. Dann sagte er, indem er das Papier zusammenrollte: »Ein Mann im Besitz von sechshundert Talenten ist in Wahrheit reich und kann alles tun, was er will. Aber wertvoller als das Geld und seltener als der Reichtum sind der Geist, der das Vermögen sammelte, und das Herz, das dabei nicht verdorben werden konnte. Simonides und du, schöne Esther, fürchtet euch nicht! Scheik Ilderim soll Zeuge sein, daß ich in demselben Augenblick, da ich euch als meine Leibeigenen erkannte, eure Freilassung verfügte. Und was ich verfügt habe, das will ich schriftlich bestätigen. Genügt es? Kann ich mehr tun?« »Sohn Hurs«, erwiderte Simonides, »wahrlich, du machst die Leibeigenschaft leicht. Aber ich hatte unrecht. Es gibt doch Dinge, die du nicht tun kannst. Du kannst uns nach dem Gesetz nicht frei machen, ich bin ein Leibeigener, solange ich lebe, denn ich folgte eines Tages deinem Vater zum Türpfosten – mein Ohr zeigt noch seine Pfriemmarke – Richte deinen Vater nicht, Esther. Mein Gebieter tat es, weil ich ihn darum bat. Es war der Preis für meine Rahel, sie war eine Leibeigene und wollte meine Frau nur werden, wenn ich es auch wurde.« Ben Hur schritt im Gefühl seines Unvermögens auf und ab: »Rate mir, Simonides! Hilf mir, das Rechte zu erkennen und zu tun. Hilf mir, meines Namens würdig zu sein! Sei mir in Wahrheit und Tat, was du mir nach dem Gesetz bist. Ich werde immer dein Diener bleiben.« »O Sohn meines toten Herrn! Ich will mehr tun als dir helfen. Ich will dir mit der ganzen Kraft meines Geistes und Herzens dienen. Ich schwöre es bei dem Altare unseres Gottes und bei den Opfergaben auf dem Altar!« 314
Nach einiger Zeit schaute Simonides auf, er war nicht weniger Gebieter als vorher, und bat Esther, Erfrischungen bringen zu lassen: »Noch einmal Brot und Wein, Esther! Scheik Ilderim wird uns so glücklich machen, bis morgen hierzubleiben, und du, Herr …« »Laß mir die Pferde bringen«, antwortete Ben Hur. »Ich will in den Palmengarten zurück. Wenn ich jetzt gehe, wird mich kein Feind entdecken, und meine vier werden glücklich sein, mich zu sehen.« Als der Tag dämmerte, stieg Ben Hur mit Malluch vor dem Zelte Ilderims ab.
Esther und Ben Hur Am nächsten Abend um die vierte Stunde stand Ben Hur mit Esther auf der Terrasse über dem großen Lagerhaus. Eine Galeere wurde zur Abfahrt beladen. Simonides saß in seinem Geschäftszimmer und gab dem Kapitän die letzten Anweisungen, ohne Aufenthalt nach Ostia, dem Hafen Roms, zu fahren, einen Passagier zu landen und langsam weiter nach Valencia an der Küste Spaniens zu steuern. Der Passagier war der Bevollmächtigte, der Ben Hurs Grundstücke, die er von Arrius geerbt hatte, verkaufen sollte, um damit den kaiserlichen Räubern zuvorzukommen. Wenn das Schiff seine Taue gelöst und seine Reise begonnen hatte, war Ben Hur unwiderruflich an das in der Nacht vorher beschlossene Werk gebunden. Sollte er das Übereinkommen mit Ilderim bereuen, so war ihm noch eine kurze Frist gegeben, in der er zurücktreten konnte. Er war der Herr und brauchte nur seinen Willen kundzutun. Er stand mit verschränkten Armen da und schaute auf das Treiben unter ihm, wie ein Mann, der in tiefen Gedanken ist. Er war jung, reich und schön, war noch bis vor kurzem ein Mitglied der patristischen Kreise der römischen Gesellschaft gewesen und konnte nicht verhindern, daß ihn diese Welt noch immer lockte, während er sich schon 315
mit den großen Pflichten, dem mit Acht und Gefahren verbundenen ehrgeizigen Streben belastete. Er sah die sich auftürmenden Schwierigkeiten, die Hoffnungslosigkeit eines Kampfes gegen den Kaiser, die Ungewißheit, die alles verhüllte, was den kommenden König betraf und daneben die Ruhe, Ruhm und Ehren, die er wie käufliche Güter besitzen konnte, vor allem das Bewußtsein, eine neue Heimat und neue Freunde gefunden zu haben. »Warst du jemals in Rom?« fragte er Esther. »Nein.« »Möchtest du einmal hingehen?« »Ich habe Angst vor Rom.« Er blickte sie an – oder vielmehr schaute auf sie herab, denn neben ihm erschien sie kaum größer als ein Kind. Ihr Gesicht konnte er im trüben Schein nicht erkennen, selbst ihre Gestalt erschien schattenhaft. Dennoch erinnerte sie ihn wieder an Tirzah, und eine plötzliche Zärtlichkeit überkam ihn – geradeso hatte er mit seiner Schwester an jenem schrecklichen Tag auf dem Dach gestanden. Arme Tirzah! »Ich kann mir Rom«, fuhr Esther fort, »nicht als eine Stadt mit Palästen und Tempeln voller Volk vorstellen. Mir erscheint es wie ein Ungeheuer, das von herrlichen Ländern Besitz ergriffen hat und ihre Einwohner mit Tod und Verderben bedroht.« Sie zögerte und schaute zu Boden. »Weiter!« drängte Ben Hur. Sie trat einen Schritt näher zu ihm und schaute zu ihm auf: »Warum mußt du dir Rom zum Feind machen? Der Kummer hat deine Jugend verzehrt, soll es so auch künftig bleiben?« Das Mädchengesicht unter seinen Augen schien bleicher zu werden. Er beugte sich zu ihr hinab und fragte mit weicher Stimme: »Was rätst du mir, Esther?« »Ist dein Besitz in Rom ein Haus?« »ja.« »Sehr schön?« »Sehr schön, ein Palast mit Gärten, Anlagen und Springbrunnen, Statuen und schattigen Büschen. Der Kaiser hat eine Villa in der Nähe, aber man sagt, die des Arrius sei schöner.« 316
»Und kann man dort ruhig leben?« »Weshalb fragst du?« »Ich kann nicht verstehen, warum du es vorziehst, ein Leben … der Gewalttätigkeit und wohl des Blutvergießens zu führen … anstatt ein ruhiges Leben in der schönen Villa.« »Esther, du irrst dich. Ich habe keine Wahl. Der Römer ist nicht gütig. Wenn ich hier bleibe, werde ich sterben. Gehe ich nach Rom, erwartet mich das gleiche – ein vergifteter Becher, der Dolch eines Meuchelmörders oder ein auf Meineid begründetes Urteil. Messala und der Prokurator sind reich geworden durch meines Vaters Vermögen, und es ist für sie beinahe wichtiger, es zu halten, als es seinerzeit zu erwerben. Ein Übereinkommen ist undenkbar. Und dann – für mich gibt es keine Freuden, solange die Meinen verloren sind, ich muß sie finden. Und wenn ich sie finde und wenn sie schwer gelitten haben, muß dann nicht der Schuldige dafür bestraft werden? Wenn sie umgebracht wurden, darf dann der Mörder entkommen?« »Steht es so schlimm um dich? Kann nichts getan werden, nichts?« Ben Hur nahm ihre Hand: »Sorgst du dich so um mich?« »Ja.« Ihre Hand war warm und zitterte in der seinen. Und ihm kam die Ägypterin in den Sinn, die so sehr in allem das Gegenteil von Esther war, in ihrer Schlauheit und Kühnheit, mit ihrer listigen Schmeichelei, ihrem Witz, so schön und bezaubernd. Er führte die kleine Hand an seine Lippen: »Du sollst mir eine zweite Tirzah sein, Esther!« »Wer ist Tirzah?« »Die kleine Schwester, die mir die Römer nahmen und die ich finden muß, ehe ich ruhig und glücklich sein kann.«
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Angekündigt für das Rennen Am Nachmittag vor den Spielen wurden der Wagen und die Pferde Ilderims in die Nähe des Zirkus gebracht. Zugleich wurde das Zeltlager abgebrochen und ein großer Teil des übrigen Besitzes mit Dienern, berittenem und bewaffnetem Gefolge, Pferden, Vieh, beladenen Kamelen in Bewegung gesetzt. Weder der Scheik noch Ben Hur unterschätzten den Einfluß Messalas, aber sie glaubten, daß er bis zum Ende der Spiele nichts unternehmen werde. Würde er aber besiegt und vor allem von Ben Hur besiegt, mußten sie auf das Schlimmste gefaßt sein; er würde nicht einmal erst auf die Ratschläge des Gratus warten. Guten Mutes ritten sie nebeneinander, ruhig auf den morgigen Sieg vertrauend. Auf ihrem Weg stießen sie auf Malluch, der sie erwartete. Er grüßte sie und überreichte Ilderim ein Papier, ohne im geringsten zu zeigen, wie vertraut er mit dem Verhältnis zwischen Ben Hur und Simonides und Ilderim war: »Ich habe hier die soeben erlassene Bekanntmachung des Leiters der Spiele, in der die Teilnahme deiner Pferde am Rennen veröffentlicht wird. Du findest darin auch die Rennordnung. Ich wünsche dir Glück und Sieg, guter Scheik.« Es waren sechs Vierergespanne angemeldet, sie sollten zusammen auftreten. Dann wurden alle sechs beschrieben: 1. Vierergespann des Korinthers Lysippus – zwei Grauschimmel, ein Fuchs und ein Rappe. Sieger im Vorjahr in Korinth und Alexandria. Lenker: Lysippus. Farbe: Gelb. Vierergespann des Römers Messala – zwei Schimmel, zwei Rappen. 318
Sieger im Vorjahre im Circus Maximus zu Rom. Lenker: Messala. Farbe: Scharlach-Rot. Vierergespann des Atheners Cleanthes – drei Grauschimmel, ein Fuchs. Sieger im Vorjahr bei den Isthmischen Spielen. Lenker: Cleanthes. Farbe: Grün. Vierergespann des Byzantiners Dicäus – zwei Rappen, ein Grauschimmel, ein Fuchs. Sieger in diesem Jahr in Byzanz. Lenker: Dicäus. Farbe: Schwarz. Vierergespann des Sidoniers Admetus – vier Grauschimmel. Dreimal Sieger in Caesarea. Lenker: Admetus. Farbe: Blau. Vierergespann Ilderims, Scheiks der Wüste – vier Füchse. Erstes Rennen. Lenker: Ben Hur, ein Jude. Farbe: Weiß. Lenker: Ben Hur, ein Jude! Warum dieser Name statt Arrius? Ben Hur sah Ilderim an. Beide kamen zu demselben Schluß: Das war Messalas Hand!
Der Zirkus Der Zirkus von Antiochia stand am Südufer des Flusses, der Insel gegenüber. Die Spiele waren in vollstem Sinne ein Geschenk an das Volk, jedermann hatte freien Zutritt. Um Mitternacht fielen die Schranken vor den Eingängen, und die Menge strömte hinein und nahm die Ränge ein. Die Nacht verbrachten viele auf den Bänken, sie frühstückten dort, und sie rührten sich nicht bis zum Schluß der Aufführungen. Die vornehmeren Zuschauer begaben sich auch schon in den frühen Morgenstunden auf ihre reservierten Plätze, die reichsten in Sänften und von Dienern begleitet. Schon von der zweiten Stunde an war der Strom der Menge nicht mehr zu bändigen. Um diese Zeit zog die Le319
gion in voller Ausrüstung mit all ihren Standarten vom Berg Sulpius herunter. Als die letzte Kohorte auf der Brücke verschwand, war Antiochia entvölkert. Nicht daß der Zirkus alle Einwohner hätte fassen können, aber hinausgezogen waren sie alle. Eine riesige Menge hatte sich am Fluß eingefunden, um den Konsul in seinem Staatsschiff landen zu sehen. Der militärische Aufzug verdrängte für eine Weile das Interesse an den Spielen. Um die dritte Stunde, als alle Zuschauer ihre Plätze eingenommen hatten, forderte ein Trompetenstoß Stille, und sofort wandten sich die Blicke der mehr als hunderttausend Menschen zum östlichen Teil des Zirkus. Dort war über dem breiten, gewölbten Eingangstor, der Porta Pompae, eine prächtig geschmückte Tribüne errichtet, auf welcher der Konsul seinen Ehrensitz hatte. Ein neuer Trompetenstoß gibt das Zeichen zum Beginn. Durch die Porta Pompae im Osten zieht, von Musik begleitet, die Stadtverwaltung, an ihrer Spitze der Leiter der Spiele, alle mit Kränzen geschmückt und in Prachtgewändern. Ihnen folgen die Götterbilder auf Tragbahren oder großen vierrädrigen Wagen und danach die Wettkämpfer. Langsam schreitet der Zug durch die Arena, ein eindrucksvolles, herrliches Bild. Ein Beifallssturm erhebt sich, die Menge ruft die Namen ihrer Lieblinge und wirft ihnen Kränze zu. Die Vorliebe für die Wagenlenker zeigt sich sofort, die Zuschauer erheben sich von ihren Plätzen, ein Blumenregen ergießt sich über die Wagen. Jedem Wagen folgt ein Begleiter, nur Ben Hur hat es, vielleicht aus Mißtrauen, vorgezogen, allein zu bleiben. Weiß scheint die Lieblingsfarbe der Tausende zu sein. Als Ben Hur sich dem zweiten Ziel nähert, wird er mit Beifall überschüttet, aber auch Messala wird stürmisch ausgezeichnet. Ihre Namen brausen durch den Zirkus: »Ben Hur – Messala – Messala – Ben Hur!« »Beim Bacchus, war er nicht schön?« ruft eine Römerin, die Scharlach-Gold im Haar trägt. »Und wie herrlich ist sein Wagen!« ergänzt ihr Nachbar. »Jupiter lasse ihn gewinnen!«
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Der Beginn Am Nachmittag drei Uhr – nach der heutigen Zeitrechnung – waren alle Spiele beendet, bis auf die Wagenrennen. Es trat eine Pause ein, die Tore öffneten sich, und die meisten Zuschauer gingen hinaus, um an den zahllosen Speisestätten außerhalb des Zirkus ihren Hunger zu stillen. Die anderen saßen gähnend herum und beschauten ihre Notiztafeln, die glücklichen Gewinner ebenso wie die verdrießlichen Verlierer. In der Pause nahmen jene ihre reservierten Plätze ein, die nur zu den Wagenrennen kamen. Zu ihnen gehörte auch Simonides und seine Gesellschaft. Ihre Plätze lagen an der Nordseite, den Plätzen des Konsuls gegenüber. Als Simonides von vier Dienern in seinem Sessel durch den Gang getragen wurde, grüßte man ihn von allen Seiten; auch Ilderim wurde begrüßt. Balthasar aber und die beiden verschleierten Frauen waren unbekannt. Als sie Platz genommen hatten, sah Esther ängstlich über den Zirkus und zog ihren Schleier noch enger über ihr Gesicht. Iras dagegen ließ den ihren fallen und blickte kühl um sich. Kurz danach betraten Bedienstete die Arena und spannten einen mit Kreide bestrichenen Strick vor das erste Ziel. Die summende Erregung auf den Sitzreihen wuchs. »Hast du je Messala gesehen?« fragte die Ägypterin Esther. »Nein!« Sie schauderte bei dem Namen. »Er ist schön wie Apoll!« Iras entfaltete ihren edelsteinbesetzten Fächer. Esther fragte sich in Gedanken: Ist er so viel schöner als Ben Hur? Da hörte sie Ilderim, der ihrem Vater sagte: »Ja, er hat die Nummer zwei!« Esther sah dorthin, aber schlug gleich wieder die Augen nieder und murmelte ein Gebet. 321
Sanballat trat zu der Gesellschaft und verneigte sich vor Ilderim: »Ich komme eben aus den Ställen, Scheik. Die Pferde sind in der besten Verfassung.« Ilderim begnügte sich mit der Antwort: »Wenn sie besiegt werden, so hoffe ich, nicht von Messala.« Dann wandte sich Sanballat zu Simonides: »Auch für dich habe ich Nachrichten. Wie du dich erinnern wirst, schloß ich gestern noch eine Wette mit Messala ab und ließ das Anerbieten für eine zweite im Palast zurück. Sie ist angenommen, hier ist die schriftliche Bestätigung.« Simonides las die Tafel: »Ich weiß davon. Sie sandten einen, der sich erkundigte, ob du so viel Geld bei mir stehen hast. Hebe das Täfelchen sorgfältig auf! Wenn du verlierst, weißt du, an wen du dich wenden mußt. Gewinnst du« – ein drohender Schatten flog über sein Gesicht –, »gewinnst du, dann, Freund, so sieh zu, daß dir der Unterzeichner nicht entschlüpft. Zwinge ihn, den letzten Schekel herzugeben. Mit uns würden sie es ebenso machen.« »Verlaß dich auf mich!« antwortete der Unterhändler. Die Pause war zu Ende. Ein Trompetenstoß rief die Zuschauer auf ihre Plätze zurück. In der Arena wurden in der Nähe des zweiten Ziels sieben hölzerne Kugeln, am ersten Ziel sieben hölzerne Fische, aufgestellt. »Was bedeuten die Kugeln und Fische, Scheik?« fragte Balthasar. »Sie dienen zum Zählen, nach jeder Runde wird eine Kugel und ein Fisch abgenommen. Hast du noch nie einem Rennen beigewohnt?« »Noch nie, ich weiß kaum, wo ich bin.« Ein gellender Trompetenstoß. Die Tore der Carceres öffneten sich, die berittenen Begleiter der Bewerber erschienen; trotz der Pracht ihres Aufzugs fanden sie wenig Beachtung. Alles lauschte auf das Stampfen der Pferde und die Stimmen der Lenker hinter den Toren. Da fiel das Zeichen. Und wie ein Sturmwind jagten die sechs Gespanne in die Bahn. Der Zirkus dröhnte von Beifall, die ungeheure Menge war auf die Bänke gestiegen. »Dort ist er! Sieh, dort!« rief Iras und zeigte auf Messala. »Ich sehe ihn«, entgegnete Esther und schaute auf Ben Hur. Sie hatte den Schlei322
er fallen lassen, und plötzlich begriff sie, daß man sich, im Angesicht der Tausende, bei einer mutigen Tat bis zur Todesverachtung begeistern kann. Die Bewerber näherten sich gleichzeitig der Schranke. Ein Trompetenstoß, ein Aufjauchzen der Menge – die Schranke fiel. Und keinen Augenblick zu spät; denn schon hatte der Huf eines der Pferde Messalas sie berührt. Der Römer holte mit der Peitsche aus – und mit einem Triumphruf eroberte er die vielbegehrte innere Bahn an der Mauer. »Jupiter mit uns, Jupiter mit uns!« schrien die Römer außer sich vor Freude. Als Messala hinüberwendete, erfaßte der bronzene Tigerkopf am Ende seiner Wagenachse ein Vorderbein des Strangpferdes des Atheners und warf es gegen das andere Pferd. Die Pferde wankten, sträubten sich und blieben zurück. Als Messala vorüberjagte, war der Korinther der einzige an des Atheners Rechten. Und nach dieser Seite versuchte der Athener seine gehemmten Viere zu lenken. Da traf zu seinem Unglück ein Rad des Byzantiners zu seiner Linken seinen Wagen, so daß er zu Fall kam. Ein Krachen, ein Wutschrei – und der unglückliche Cleanthes lag unter den Hufen seiner eigenen Pferde. Esther bedeckte ihre Augen. Und vorwärts jagte der Korinther, der Byzantiner, der Sidonier. Als Esther wieder aufzusehen wagte, waren eben Arbeiter dabei, die Pferde des Atheners wegzuführen und den zerbrochenen Wagen zu beseitigen. Andere trugen den Verunglückten hinaus. Von jeder Bank, auf der ein Grieche saß, hörte man Verwünschungen und Rachedrohungen. Jetzt sah Esther Ben Hur. Er stand unverletzt in seinem Wagen und raste an Messalas Seite an der Spitze. Hinter ihm folgten in einer Gruppe der Sidonier, der Korinther und der Byzantiner. Das Rennen war in vollem Gang.
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Das Wagenrennen Als der Kampf um die Plätze begann, war Ben Hur an der äußersten Linken der sechs Wagen. Messala, der mehr als ein Gegner war, warf er einen durchdringenden Blick zu. Der Ausdruck kalten Stolzes, so charakteristisch für das feine Patriziergesicht, war derselbe wie ehemals, und ebenso unverändert war die italienische Schönheit, die der Helm noch erhöhte. Ihm war, als sehe er die Seele dieses Mannes wie durch ein dunkles Glas: grausam, listig, verzweifelt; nicht erregt, sondern entschieden – eine Seele in der Spannung von Wachsamkeit und grimmiger Entschlossenheit. In einem Nu, nicht länger als nötig war, seine vier zu wenden, fühlte Ben Hur seinen eigenen Entschluß sich im ähnlichen Sinne härten. Was immer es koste, unter allen Umständen, er mußte diesen Feind besiegen. Auch die Ehrfurcht vor dem Leben durfte ihn nicht zurückhalten. Es war keine Leidenschaft auf seiner Seite, keine blindwütige Hitze vom Herz zum Hirn, kein Impuls, sich dem Glück auszuliefern; er glaubte nicht an das Glück. Er hatte seinen Plan, die Luft um ihn schien vollkommen durchsichtig. Als die Schnur fiel, hielt er sofort nach rechts, ließ seine Araber mit äußerster Schnelligkeit losjagen und erreichte an den anderen vorbei Messala, wenn auch an der Außenseite. Im Zirkus hatte man diese Wendung von der äußersten Linken zur Rechten mit Beifall aufgenommen. Sogar Esther klatschte voll freudiger Überraschung. Und dann begannen die Römer zu zweifeln, da sie erkannten, Messala habe einen gleich Starken, wenn nicht Überlegenen gefunden, noch dazu in einem Juden. Und nun, Hals an Hals, dicht nebeneinander näherten sich die beiden dem ersten Ziel. Im Zirkus war es atemlos still. Dann schien es, als ob Messala Ben Hur beobachtete und erkannte, 324
und sofort brach die Unverschämtheit des Mannes in einer erstaunlichen Weise aus: »Nieder Eros, hoch Mars!« schrie er, schwang seine Peitsche mit geschickter Hand und gab den Arabern Ben Hurs einen Schlag, wie sie ihn noch nie erhalten hatten. Man hatte diesen Hieb von allen Plätzen gesehen, und der Unwillen darüber war allgemein. Es war totenstill. Auf den Bänken hinter dem Konsul hielt der Keckste den Atem an. Einen Augenblick später brach ein Donner von den Balkonen: Das Volk schrie seinen Zorn und seine Verachtung ungehemmt aus. Ben Hurs Gespann tat einen erschreckten Sprung. Noch niemals hatte etwas anderes als Liebe die Pferde Ilderims berührt. Und was konnten sie anderes tun, als sich retten? Mit einem mächtigen Satz sprangen sie wie eins davon und rissen den Wagen nach. Woher hatte Ben Hur die große Hand und den mächtigen Griff, der ihm jetzt so gut half? Jetzt retteten ihn die Jahre an den Ruderbänken. Auch das Schleudern seines Wagens war nichts gegen das des wogengepeitschten Schiffs. So hielt er seinen Platz, gab den Rennern den Zügel frei, rief ihnen Schmeichelnamen zu und suchte sie sanft an der gefährlichen Stelle der Bahn vorbeizulenken. Und ehe noch die Erregung der Zuschauer verebbt war, hatte er seine vier schon wieder fest in der Hand. Auf dem Rückweg zum ersten Ziel war er schon wieder an Messalas Seite und hatte sich das Wohlwollen aller Nichtrömer erworben. So deutlich gab sich das kund, daß Messala trotz seiner Kühnheit sich nicht getraute, seinen niederträchtigen Hieb zu wiederholen. Als Esther einen Blick auf Ben Hur werfen konnte, sah sie, daß er blaß war und den Kopf etwas höher hielt, eine andere Veränderung bemerkte sie nicht. Auch nach der dritten Runde hatte Messala noch die innere Seite der Mauer inne. Ben Hur behauptete seinen Platz an seiner Seite, die übrigen folgten im Abstand. Es schien eines jener Doppelrennen zu sein, wie sie später in Rom gebräuchlich wurden – Messala und Ben Hur als erste, der Korinther, Sidonier und Byzantiner als zweite. In der fünften Runde gelang es dem Sidonier, an Ben Hurs Seite zu kommen, aber 325
er blieb bald wieder zurück. In der sechsten Runde war alles unverändert, nur die Schnelligkeit nahm zu. Lenker und Pferde waren sich bewußt, daß die Entscheidung nahe war. Das Interesse hatte sich von Anfang an hauptsächlich dem Römer und dem Juden zugewandt; aber es schien jetzt, als wandle sich die Zuversicht für Ben Hur in Befürchtung. Die Zuschauer beugten sich vor und verfolgten mit ängstlichen Blicken die beiden Rivalen. Hatte Messala wirklich seine größte Schnelligkeit erreicht, so hatte er damit auch einen Vorteil gewonnen: Er hatte einen kleinen Vorsprung. Seine Pferde hielten die Köpfe tief gesenkt, ihre Leiber schienen den Boden zu berühren, blutigrot glänzten ihre Nüstern, ihre Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Sie taten ihr Bestes. Aber wie lange noch? Als das zweite Ziel der letzten Runde erreicht war, lenkte Ben Hur seine Pferde hinter den Wagen seines Gegners. Der Jubel der Freunde Messalas erreichte den Höhepunkt, sie schrien, sie wehten mit Tüchern in seinen Farben. Malluch befand sich auf der Galerie über dem Triumphtor. Er konnte seine Unruhe nicht mehr verbergen und begann seinen Mut zu verlieren. Er erinnerte sich wohl an den Wink, den ihm Ben Hur gegeben hatte. Er sollte auf die Wendung bei den Säulen im Westen achten. Aber noch immer behauptete Ben Hur kaum den Platz hinter seinem Feind. Simonides und seine Gesellschaft blieben ruhig. Der Kaufherr saß mit gesenktem Haupt in seinem Sessel. Ilderim wühlte in seinem Bart, seine Augen waren unter den buschigen Brauen verborgen. Esther schien kaum zu atmen. Nur Iras schien froh. Die Wagen erreichten das erste Ziel und bogen in derselben Folge um die Kurve. Messala, in der Furcht, seinen Platz zu verlieren, hielt sich dicht an der Mauer – ein Fußbreit näher, und der Wagen mußte daran zerschellen. Als die Kurve genommen war, sah man nur ein Wagengespann, so genau folgte Ben Hur Messala. »Er führt etwas im Schilde«, sagte Simonides zu Ilderim. »Sein Gesicht kündet mir's.« »Siehst du, wie sauber und frisch sie sind?« erwiderte Ilderim. 326
»Bei der Herrlichkeit Gottes, Freund! Noch liefen sie nicht. Aber nun, gib acht!« Der Sidonier versuchte, einen Vorsprung zu gewinnen; es blieb bei dem Versuch. Auch der Korinther und der Byzantiner versuchten es erfolglos. Die Zuschauer, mit Ausnahme der Römer, hofften noch auf Ben Hur. Wenn er vorbeijagte, riefen sie: »Ben Hur, Ben Hur! An die Mauer! Laß den Arabern die Zügel!« Entweder hörte er sie nicht, oder er hatte bereits sein Bestes geleistet; denn schon war die letzte Runde zur Hälfte beendet, und noch hatte er keinen Vorsprung gewonnen. Beim zweiten Ziel noch keine Änderung. Um die Biegung zu nehmen, begann Messala seine Pferde linker Hand zu wenden, was notwendig ihre Schnelligkeit verminderte. Aber er war guten Muts. Rom würde triumphieren. Ruhm, Reichtum, Beförderung und durch Haß versüßter Sieg winkten ihm bei den drei Säulen, sechshundert Fuß vor ihm. In diesem Augenblick sah Malluch von der Galerie aus, wie sich Ben Hur vorbeugte und seinen Pferden die Zügel ließ. Er schwang die Peitsche über ihnen, berührte sie aber nicht. Mit einem Sprung waren sie an der Seite des Römers. Messala hörte sie, getraute sich aber nicht, sich in der gefährlichen Nähe des Ziels umzuschauen. Aus dem allgemeinen Lärm klang nun eine Stimme deutlich an sein Ohr, die Ben Hurs, der in der alten aramäischen Sprache des Scheiks seinen Arabern zurief: »Los, Atair! Auf Rigel! Wie, Antares, du willst zurückbleiben? Brav, Aldebaran, gutes Pferd! Wohlgetan! Morgen gehen wir heim unter das schwarze Zelt. Los, Antares! Der Stamm wartet auf uns, und der Meister wartet! … Es ist getan! Ist geschehen! – Wir haben den Stolzen gedemütigt. Unser ist der Sieg! Halt! Steht!« Einfacher und schneller hatte sich nie etwas Ähnliches abgespielt. Messala war eben im Begriff, die Biegung um das Ziel zu vollenden. Um an ihm vorbeizukommen, mußte Ben Hur die Bahn in einem möglichst kurzen Abstand kreuzen. Die Tausende errieten seine Absicht, sahen ihn das Zeichen geben und waren Zeuge seines Erfolges. Das Gespann sauste am äußersten Rade Messalas vorbei, das innere 327
Rad Ben Hurs traf Messalas Rad – ein Krach, der im ganzen Zirkus widerhallte. Schneller, als man denken konnte, wirbelte über die Bahn ein blitzendes Gefunkel. Nach rechts herunter brach das goldene Bett des römischen Wagens. Es war ein Gekreisch, als risse die Achse die harte Erde auf – noch eins, noch eins. Der Wagen zerbrach in Stücke, und Messala, in die Zügel verwickelt, wurde heruntergeschleudert. Um das Unglück vollzumachen, konnte der Sidonier seine Pferde nicht halten, sie sausten mit voller Wucht in die Trümmer, über den Römer hinweg, in sein schäumendes Gespann. Messala versuchte, sich aus der Wolke von Sand und Staub zu erheben, und konnte gerade noch sehen, wie der Korinther und der Byzantiner Ben Hur auf der Bahn folgten, der nicht im geringsten aufgehalten worden war. Die Zuschauer erhoben sich schreiend von den Bänken, ein Beifallssturm brauste durch den Zirkus. Messala war unter den Trümmern seines Wagens und seinen vor Wut stampfenden Pferden hingesunken. Man hielt ihn für tot. Ben Hur war das Ziel aller. Die wenigsten hatten bemerkt, wie er seine Araber etwas nach links lenkte, als er Messala überholte, und die eiserne Spitze an der Achse seines Wagens in das Rad des Gegners rannte. – War das ein Rennen! Noch hatten der Korinther und der Byzantiner den Rest der Bahn kaum zur Hälfte zurückgelegt, als Ben Hur schon am Ziel war. Der Sieg war errungen. Der Konsul erhob sich. Die Zuschauer schrien sich heiser. Der Leiter der Spiele verließ seinen Sitz und krönte die Sieger. Ben Hur schaute hinauf zu Simonides und seiner Gesellschaft auf dem Balkon. Sie winkten ihm zu. Esther saß still auf ihrem Platz; Iras begrüßte ihn mit einem huldigenden Lächeln. Nun ordnete sich wieder der Zug und verließ den Zirkus durch das Triumphtor. Der Tag war vorüber.
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Die Einladung der Iras Ben Hur weilte mit Ilderim am Fluß; denn um Mitternacht wollten sie, wie verabredet, mit der Karawane weiterziehen, die sie dreißig Stunden begleitet hatte. Der Scheik war glücklich, seine Angebote waren königlich, aber Ben Hur hatte alles abgelehnt und erklärt, daß ihm die Niederlage seines Feindes genüge. »Denke«, hatte der Scheik ihm auseinandergesetzt, »was du für mich getan hast. Der Ruhm meiner Pferde wird in jedes schwarze Zelt dringen, bis nach Akaba und an den Ozean, über den Euphrat und über die See hinunter zu den Skythen, und alle, die davon erzählen, werden mich rühmen und vergessen, daß mein Leben seinem Ende zugeht. Und alle die herrenlosen Speere werden nun zu mir kommen und meine Macht unendlich vergrößern. Du weißt nicht, was es heißt, eine solche Herrschaft in der Wüste auszuüben. Ich sage dir, sie bringt unberechenbare Handelszölle und Befreiung von Königen. Und dafür nichts – nichts?« Ben Hur hatte geantwortet: »Nein, Scheik, habe ich nicht deine Hand und dein Herz? Überlaß den Zuwachs deiner Macht und deines Einflusses dem König, der kommt.« Mitten im Gespräch waren zwei Boten erschienen, Malluch und ein Unbekannter. Malluch verbarg nicht seine Freude über das Ereignis des Tages: »Welch ein herrlicher Sieg! Dein Name ist in aller Munde, Herr! Die Götter sind mit dir …« »Was ist mit dem Athener?« unterbrach ihn Ben Hur. »Er ist tot.« »Tot?« 329
»Tot«, wiederholte Ilderim. »Was für ein Glück diese römischen Ungeheuer haben. Ist Messala davongekommen?« »Davongekommen, o Scheik, mit dem Leben«, berichtete Malluch, »aber es wird für ihn eine Last sein. Die Ärzte sagen, daß er leben wird, aber nie wieder gehen kann.« Ben Hur blickte schweigend zum Himmel auf. Er sah Messala vor sich, an den Sessel gefesselt wie Simonides und wie dieser auf die Schultern der Sklaven gestützt. Der alte Mann hatte sich damit abgefunden, aber was würde aus Messala werden mit seinem Stolz und seiner Anmaßung? Ilderim schien wenig beeindruckt. »Laß uns aufbrechen«, sagte er händereibend. »Unser ist der Ruhm. Ich will die Pferde herbeiholen lassen.« »Warte«, sagte Malluch, »ich habe noch einen Boten draußen. Willst du ihn sprechen?« Der Mann, der Malluch folgte, besaß gute Umgangsformen und sah sehr gut aus. Er beugte ein Knie und sagte gewinnend: »Iras, die Tochter Balthasars, der dem guten Scheik Ilderim wohlbekannt ist, hat mich mit einer Botschaft an ihn beauftragt: Sie würde sich sehr freuen, wenn sie ihm ihre Glückwünsche zu dem Sieg seiner vier aussprechen dürfe.« »Die Tochter meines Freundes ist sehr freundlich«, antwortete Ilderim mit glänzenden Augen. »Die Tochter des Ägypters hat mir weiter aufgetragen, dem jungen Ben Hur zu sagen, daß ihr Vater für einige Zeit in den Palast von Idernee übergesiedelt ist, wo sie den jungen Mann morgen nach der vierten Stunde sehen möchte. Und wenn auch Scheik Ilderim diese Einladung annehmen wollte, wäre sie sehr erfreut.« Der Scheik schaute auf Ben Hur, der voller Freude schien. »Was willst du tun?« fragte er ihn. »Bei deiner Liebe, o Scheik, ich will die edle Ägypterin sehen.« Ilderim lachte: »Soll sich nicht ein Mann seiner Jugend freuen?« Ben Hur antwortete dem Boten: »Sage der, die dich gesandt hat, daß ich, Ben Hur, sie morgen mittag in ihrem Palast in Idernee aufsuchen werde.« 330
Der Bote erhob sich mit einem stummen Gruß und ging. Gegen Mitternacht machte sich Ilderim auf den Weg. Er hatte für Ben Hur ein Pferd und einen Führer zurückgelassen.
Im Palast von Idernee Am nächsten Tag ging Ben Hur vom Omphalus zum Palast von Idernee. Von der Straße betrat er zunächst ein Vestibül, an dessen Seiten gedeckte Treppen zu einer Säulenhalle führten. Geflügelte Löwen saßen zur Seite der Treppen, in der Mitte stand ein gewaltiger Ibis, der Wasser spie. Ben Hur ging zunächst durch einen hohen schmalen Gang, der mit roten Ziegeln belegt war, die Wände waren in der gleichen Farbe bemalt. Iras wartete auf ihn. Er war glücklich und eher traumverloren als gedankenlos. Als er vor einer geschlossenen Tür stand, öffneten sich die großen Flügel wie von selbst, lautlos, ohne daß ein Fuß oder eine Hand sie berührt hatte. Er trat in einen kostbaren Raum. Als er um sich sah, stand er auf der Brust einer Leda, die einen Schwan koste, und er bemerkte, daß der ganze Boden mit Mosaiken ausgelegt war, die mythologische Szenen darstellten. Überall standen herrliche Sessel, reichgeschnitzte Tische und hier und da ein Diwan. Ben Hur nahm sich Zeit, die Herrlichkeit dieses Empfangsraumes zu betrachten. Zwei-, dreimal machte er die Runde, schaute zur Kuppel hinauf, lehnte an einer Säule, betrachtete nochmals eingehender die Figuren auf dem Mosaikfußboden. Iras ließ ihn warten, das Haus schien totenstill, eine gewisse Unruhe überkam ihn, und er nahm den Geist dieses Ortes kritischer auf als beim ersten Blick. Allmählich wurde die Stille aber doch für ihn quälend, er lauschte, aber kein Ton war zu hören, der Palast war still wie ein Grab. Er wurde unruhig. Er ging zur Tür zurück. Der schwere Riegel wi331
derstand ihm zunächst, das Blut stieg ihm in die Wangen, er rüttelte mit aller Wucht. Die Türe öffnete sich nicht. Eine Ahnung von Gefahr kam über ihn, und einen Augenblick stand er unentschlossen. Wer hatte in Antiochia einen Grund, ihm Böses zu tun? Messala! Er ging zu den andern Türen, die vermutlich zu Schlafräumen führten, aber alle waren fest verschlossen. Vielleicht sollte er klopfen. Zu rufen, schämte er sich. Er legte sich auf den Diwan. Es war klar: er war ein Gefangener. Konnte es Messalas Werk sein? Messala selbst konnte nicht kommen. Er würde nie wieder gehen können, er war ein Krüppel wie Simonides. Aber er konnte andere anstellen. Ben Hur erhob sich und versuchte sich von neuem an den Türen. – Da hörte er Schritte. Endlich kommt sie! dachte er mit einer Aufwallung von Erleichterung und Freude. Der Schritt war schwer und vom Geräusch grober Sandalen begleitet. Zwischen ihm und der Tür standen die vergoldeten Säulen, er ging ruhig vorwärts und lehnte sich an eine Säule. Da hörte er Stimmen – Männerstimmen –, rauh und kehlig. Was man sagte, verstand er nicht, die Sprache kannte er nicht, sie stammte weder aus dem Osten noch dem Süden. Die Männer wandten sich nach links und nun sah Ben Hur, daß es zwei waren, der eine war sehr stark, beide waren groß und trugen kurze Tuniken. Als sie vor einer Statue stehenblieben, um sie zu betrachten – sie waren nur ein paar Schritte von Ben Hur entfernt –, erkannte er in dem einen einen Nordmann, den er in Rom gesehen hatte, einen Ringer, der im Zirkus gewonnen hatte und bekränzt worden war. Sein brutales Gesicht war von Narben bedeckt, und als Ben Hur die gewaltigen Glieder, die vom Sport trainierten Muskeln und die herkulischen Schultern betrachtete, überkam ihn eine Ahnung von Gefahr. Ein sicherer Instinkt warnte ihn, die Gelegenheit war für einen Mord nur zu günstig. Er warf einen Blick auf den Gefährten, er sah mit seinen schwarzen Augen und Haaren jüdisch aus. Beide trugen die Kleidung ihrer Klasse, so wie sie im Zirkus auftraten. Ben Hur zweifelte nicht mehr daran, daß er in den Palast gelockt 332
worden war. Ohne jede Hilfe, in dieser abgeschlossenen Einsamkeit sollte er sterben. Als die beiden mit der Betrachtung der Statue fertig waren, wandte sich der Nordmann und sagte etwas zu seinem Gefährten, dann schauten sie beide auf Ben Hur und näherten sich. »Wer seid ihr?« fragte Ben Hur. Der Nordmann grinste: »Barbaren.« »Dies hier ist der Palast von Idernee. Was wollt ihr? Gebt Antwort!« Er hatte mit großem Ernst gesprochen, die beiden blieben stehen, der Nordmann fragte nun ihn: »Wer bist du?« »Ein Römer.« Der Riese legte seinen Kopf schief und lachte: »Kein Gott kann aus einem Juden einen Römer machen.« Dann rief er seinem Gefährten etwas zu, und sie kamen beide näher. »Halt!« rief Ben Hur. »Ein Wort!« Wieder blieben sie stehen: »Ein Wort«, wiederholte der Sachse und kreuzte seine gewaltigen Arme. »Rede!« »Du bist Thord, der Nordmann.« Des Riesen blaue Augen wurden groß. »Du warst Ringer in Rom.« Thord nickte. »Ich war dein Schüler.« »Nein, beim Barte des Irmin, ich habe nie aus einem Juden einen Kämpfer machen wollen.« »Aber ich will es dir beweisen.« »Wie?« »Du kommst hierher, um mich umzubringen.« »Das ist wahr.« »Dann laß mich mit diesem Mann kämpfen, damit ich dir den Beweis geben kann.« Eine Spur von Lachen kam in Thords Züge. Er sprach mit seinem Gefährten, dann sagte er mit der Naivität eines belustigten Kindes: »Warte, bis ich das Zeichen gebe!« Er schob sich einen Diwan zurecht, 333
legte sich behaglich darauf und sagte: »Jetzt!« Ohne weiteres trat Ben Hur dem Mann entgegen: »Verteidige dich!« Beide waren in der Gestalt nicht unähnlich, im Gegenteil, sie sahen wie Brüder aus. Ben Hur war ernst, der andere lächelte. Beide wußten, es war ein Kampf auf Leben und Tod. Ben Hur schlug mit dem rechten Arm zu, der andere hob den linken. Ehe er sich decken konnte, packte Ben Hur ihn am Handgelenk, die Überraschung für den Gegner war groß, jetzt packte ihn Ben Hur an der Schulter und drehte ihn, um mit der Rechten zuschlagen zu können. Der Hieb fiel in den Nacken unter dem Ohr. Ein zweiter Schlag war unnötig, der Komplice stürzte lautlos zusammen und blieb liegen. Ben Hur wandte sich zu Thord. Der lachte auf: »Beim Barte des Irmin!« Er betrachtete Ben Hur sachlich von Kopf zu Fuß, erhob sich und konnte seine uneingeschränkte Bewunderung nicht verbergen. »Es ist mein Kniff – ich habe ihn zehn Jahre lang in den Kampfschulen Roms angewandt. Du bist kein Jude. Wer bist du?« »Kanntest du Arrius, den Duumvir?« »Quintus Arrius? Ja, er war mein Patron.« »Er hatte einen Sohn.« »Ja«, sagte Thord, »ich kannte den Burschen, er hätte ein König unter den Gladiatoren werden können. Der Kaiser bot ihm sein Patronat an. Ich lehrte ihn meinen Kniff, den du jetzt angewandt hast – ein Kniff, der nur für eine Hand und einen Arm wie den meinen möglich ist. Er hat mir mehr als einen Kranz gewonnen.« »Ich bin der Sohn des Arrius.« Thord trat näher und beschaute ihn genau, dann lachte er mit vergnügten Augen: »Er sagte mir, ich würde einen Juden hier finden – einen Hund von einem Juden, den zu ermorden ein Dienst für die Götter ist.« Er streckte Ben Hur die Hand entgegen. »Wer hat dir das gesagt?« Ben Hur nahm die Hand. »He – Messala!« Ben Hur sah den Römer, der, solange er lebte, immer fähig sein würde, ihn zu verfolgen. Warum sollte er nicht die Mittel des Römers an334
wenden? Der gemietete Mann, der ihn töten sollte, konnte gemietet werden, um zurückzuschlagen. Er konnte höhere Preise zahlen. Die Versuchung war groß. Er blickte auf den Mann, der tot und bleich auf dem Boden lag: »Thord, was hat dir Messala für den Mord an mir versprochen?« »Tausend Sesterzen.« »Du sollst sie haben und wenn du tust, was ich will, werde ich dir noch dreitausend dazugeben.« Der Riese dachte nach. »Ich habe gestern fünftausend gewonnen von dem Römer Nummer 16. Gib mir vier und ich will den lügnerischen Patrizier umbringen, wenn du willst. Ich brauche nur seinen Mund mit meiner Hand zuzuhalten – so.« Er machte es vor, indem er die Hand vor seinen eigenen Mund legte. »Gut, ich gebe dir viertausend und du sollst deine Hand dafür nicht mit Blut besudeln. Hör mir zu! Sieht dein Freund hier mir nicht ähnlich?« »Ich möchte sagen, er war ein Apfel vom selben Stamm.« »Gut, wenn ich die Tunika mit ihm tausche, wir zusammen den Palast verlassen und ihn hier liegen lassen – kannst du dann nicht die Sesterzen von Messala erhalten? Du mußt ihn nur glauben machen, daß ich tot bin.« Thord lachte, bis ihm die Tränen kamen: »Noch nie wurden zehntausend Sesterzen so leicht verdient. – Alles für eine Lüge ohne Blut! Gib mir deine Hand, Sohn des Arrius. Komm nun! Und wenn du wieder in Rom bist, versäume nicht, nach der Schenke Thords des Nordmanns zu fragen. Beim Barte des Irmin, du sollst den besten Wein haben, und müßte ich ihn vom Kaiser borgen!« Sie drückten sich die Hände, dann wurden die Kleider ausgetauscht. Es wurde verabredet, daß am Abend ein Bote Thord die viertausend Sesterzen überbringen sollte. Danach klopfte der Riese an die Tür, sie öffnete sich, sie traten in die Halle und trennten sich unten im Omphalus. Ben Hur hatte noch einen Blick auf den Toten in seinen Kleidern ge335
worfen, die Ähnlichkeit war verblüffend. Wenn Thord schwieg, konnte der Betrug nie entdeckt werden. Am Abend berichtete Ben Hur im Hause des Simonides alles, was im Palast von Idernee vorgegangen war, und es wurde beschlossen, in einigen Tagen nach dem Sohn des Arrius forschen zu lassen. Womöglich konnte der Fall dem Konsul Maxentius vorgetragen werden. Wenn das Geheimnis nicht an den Tag kam, sollten sowohl Messala und Gratus in Ruhe gelassen werden und Ben Hur sich nach Jerusalem begeben, um nach Mutter und Schwester zu suchen. Beim Abschied saß Simonides auf seiner Gartenterrasse und segnete Ben Hur väterlich. Esther ging mit ihm bis zur Treppe: »Wenn ich meine Mutter finde, Esther, sollst du zu ihr nach Jerusalem gehen und eine Schwester Tirzahs sein.« Mit diesen Worten küßte er sie. War es nur ein Segenskuß? Er überquerte den Fluß in der Nähe von Ilderims Wohnung, wo er den Araber fand, der ihm als Führer dienen sollte. Man brachte die Pferde. »Dieses eine gehört dir«, sagte der Araber. Ben Hur schaute auf: Es war Aldebaran, der schnellste und stärkste Sohn der Mira und neben dem Sirius das liebste Pferd Ilderims. Und er spürte, daß der alte Mann ihm mit diesem Geschenk sein Herz gegeben hatte.
Der Turm von Antonia. – Zelle Nr. 6 Seit Ben Hur Antiochia verließ, um mit Scheik Ilderim in die Wüste zu gehen, sind dreißig Tage verflossen. In dieser Zeit hat sich ein großes Ereignis abgespielt, groß wenigstens, soweit es Ben Hurs Schicksal betraf: Valerius Gratus hatte dem Prokurator Pontius Pilatus weichen müssen. Aber auch der schlechteste Mensch begeht zuweilen eine gute Hand336
lung, so auch Pilatus. Er befahl eine Inspektion aller Gefängnisse in Judäa und ließ eine Liste aller Gefangenen anfertigen mit der Angabe ihrer Vergehen. Er wollte damit lediglich einer Pflicht genügen, aber das Volk, das sich von dieser Maßnahme gute Folgen versprach, legte sie zu seinen Gunsten aus und war für eine Weile befriedigt. Die Untersuchung brachte erstaunliche Dinge zutage. Hunderte von Personen wurden freigelassen, weil gar keine Anklage gegen sie vorlag, Menschen wurden gefunden, die man längst zu den Toten gezählt hatte. Die fertiggestellte Liste der Kerker und der dort Gefangenen lag bereit auf dem Tisch des kommandierenden Tribuns, er hatte nur noch seine Unterschrift darunter zu setzen, in fünf Minuten sollte sie an Pilatus abgesandt werden, der im Palast auf dem Berg Sion wohnte. Es war um die siebente Stunde. Der Tribun betrat sein prächtiges, geräumiges und helles Amtszimmer. Kurz darauf bat ein Mann um eine Unterredung. »Tritt näher, Gesius!« begrüßte ihn der Tribun. »Tribun, ich fürchte mich, dir zu berichten, was ich dir zu sagen habe.« »Ein neues Versehen, Gesius?« »Wäre es nur das, würde ich mich nicht fürchten.« »Also ein Verbrechen, oder schlimmer – eine Pflichtverletzung? Kommt zur Sache!« »Vor mehr als acht Jahren«, begann der Mann, »hat mich Valerius Gratus zum Schließer in der Burg gemacht. Am Tag zuvor hatte es einen Aufruhr in der Stadt gegeben. Wir erschlugen viele Juden und hatten auch selbst Verluste. Der Aufruhr entstand dadurch, wie man sagte, daß der Prokurator von einem Ziegel getroffen worden war und verwundet vom Pferde stürzte. Ich fand ihn hier nach dem Unfall, wo du jetzt sitzt, Tribun, sein Kopf war mit Tüchern umwickelt. Er gab mir meine Ernennung bekannt und überreichte mir die Schlüssel. Auf dem Tisch lag eine Pergamentrolle, die aus drei Blättern bestand. Er erklärte mir, daß es der Plan der Zellen in den drei Stockwerken sei, 337
und übergab ihn mir: ›Mache dich gleich mit den Räumen bekannt‹, sagte er, ›besuche jede Zelle und ihre Einrichtung.‹ Dann wies er mich auf die Zellen im untersten Stockwerk hin und zeigte auf die Zelle V: ›In dieser Zelle‹, erläuterte er, ›sind drei Männer eingekerkert, die auf irgendeine Art in den Besitz eines Staatsgeheimnisses kamen und jetzt ihre Neugier büßen. Neugier ist in solchen Dingen schlimmer als ein Verbrechen. Sie wurden geblendet, ihrer Zunge beraubt und sind auf Lebenszeit hier eingekerkert. Nahrung und Wasser erhalten sie durch einen Schieber. Die Tür der Zelle darf nie geöffnet werden, niemand darf hinein, auch du nicht. Die Zelle ist vom Aussatz angesteckt. Wenn sie sterben, ist die Zelle ihr Grab!‹ – Damit war ich entlassen.« Gesius legte dem Tribun ein altersschwarzes Pergament auf den Tisch. »Hier ist die Karte des unteren Stockwerks. So habe ich sie von Gratus erhalten. Sieh hier, Zelle V.« »Ich sehe. Fahre fort. Die Zelle ist aussätzig?« »Ich möchte eine Frage stellen.« Der Tribun nickte. »Mußte ich die Karte für zuverlässig halten?« »Gewiß!« »Sie ist aber nicht zuverlässig. Sie ist falsch. Sie zeigt nur fünf Zellen, es gibt aber sechs!« Der Tribun blickte erstaunt auf. »Ich will dir die Karte so aufzeichnen, wie die Zellen in Wirklichkeit liegen, oder wie ich wenigstens glaube.« »Gut!« sagte der Tribun. »Ich werde die Karte ändern lassen oder vielmehr eine neue anfertigen lassen. Du kannst sie morgen früh abholen.« Er erhob sich. »Höre weiter, Tribun! Noch eine Frage: Mußte ich nicht glauben, was mir Gratus über die Männer in Zelle V sagte?« »Es war deine Pflicht, es zu glauben. Drei Männer in der Zelle, Staatsgefangene, blind und stumm.« »Auch das ist nicht wahr. Höre und urteile selbst! Ich habe das Verbot, die Zelle V nicht zu betreten, immer beachtet. Die Nahrung für die drei Männer erhielten sie durch den Schieber. Gestern ging ich an die Tür, um meine Inspektion vorzunehmen, wie du befohlen hast. 338
Das Schloß widerstand dem Schlüssel. Wir rüttelten, die morsche Tür stürzte aus den verrosteten Angeln. Ich fand einen Greis – blind, ohne Zunge, nackt, aber noch lebend. Ich fragte ihn nach seinen Gefährten. Er schüttelte den Kopf. Wir fanden nichts. Wären hier Menschen gestorben, hätte man wenigstens ihre Gebeine finden müssen.« »Du glaubst also …?« »Tribun, ich glaube, daß in all den Jahren nur ein Gefangener da war.« Der Tribun blickte den Schließer scharf an: »Gib acht! Du beschuldigst den Prokurator der Lüge.« »Du kennst erst die Hälfte der Geschichte, o Tribun, wenn du alles weißt, wirst du mir recht geben. – Was ich mit dem Mann tat, habe ich dir schon berichtet. Ich schickte ihn ins Bad, ließ ihn scheren und kleiden, führte ihn ans Tor und ließ ihn gehen. Heute kam er zurück und wollte in die Zelle zurückgebracht werden. Ich tat ihm den Willen. Das Geheimnis ließ mir keine Ruhe. Ich bin froh, daß ich seinen Bitten nachgab. Als wir in die Zelle traten, nahm mich der Greis an die Hand und führte mich zu einer Öffnung in der Wand, die ich gestern übersehen hatte. Er brachte sein Gesicht an die Öffnung und stieß einen tierähnlichen Schrei aus. Ein schwacher Laut antwortete. Ich erschrak und trat selbst an die Öffnung: ›Wer da?‹ rief ich hinein. Keine Antwort. Ich rief nochmals, und da hörte ich schwach, aber deutlich: ›Sei gepriesen, o Herr!‹ Es war eine Frauenstimme. Ich fragte: ›Wer bist du?‹ Die Antwort lautete: ›Eine Frau aus Israel, die hier mit ihrer Tochter lebendig begraben ist. Hilf uns schnell, sonst müssen wir sterben!‹ – Ich sprach ihnen Mut zu und bin hierher zu dir geeilt.« Der Tribun erhob sich hastig. »Du hattest recht, Gesius. Die Karte war eine Lüge, und eine Lüge war die Geschichte von den drei Männern. Es hat bessere Römer gegeben als Valerius Gratus.« »Ja«, antwortete der Schließer. »Aus dem entlassenen Gefangenen brachte ich heraus, daß er die beiden Frauen seit Jahren mit seinem Essen ernährte.« 339
»So ist alles aufgeklärt«, entgegnete der Tribun, dann musterte er seine Untergebenen, froh, sie als Zeugen zu haben: »Kommt alle, wir wollen die Frauen erlösen.« »Wir werden die Mauer durchbrechen«, sagte der Schließer erfreut. »Ich habe die Stelle gefunden, an der die Tür war, aber sie ist zugemauert.«
Die Aussätzigen Der Tribun beeilte sich. »Ihr da drinnen!« rief er, als er an der Öffnung in der Zellenwand stand. »Hier«, antwortete eine Frauenstimme. Die Arbeiter begannen sogleich ihr Werk. Ein Stein nach dem andern fiel, noch einer, dann brach die zugemauerte Tür auf: der Eingang war offen. Ein mit Staub und Mörtel bedeckter Arbeiter trat in die Zelle und hielt die Fackel ins Dunkel. Der Tribun wollte ihm folgen, aber er sah, daß die zwei Gestalten vor ihm flohen. Und da hörte er das furchtbarste, traurigste und hoffnungsloseste Wort, das die Sprache kennt: »Unrein, unrein! Tritt nicht näher!« Der Tribun vernahm den Ruf. Schrecken befiel ihn. Aber er blieb. Er begriff im Augenblick. Gratus hatte die Zelle als aussätzig bezeichnet. Sie war es wirklich, und die Insassen waren von der tödlichen und ansteckenden Krankheit befallen worden. »Wer seid ihr?« »Zwei Frauen, die vor Hunger und Durst sterben. Aber komm uns nicht nahe! Berühr Wände und Boden nicht! Unrein, unrein!« »Erzähle deine Geschichte, Weib! Wie heißt du, wer hat dich hierhergebracht?« Und die Frau, die sich in die äußerste Ecke der langen Zelle verkrochen hatte, erzählte mit brüchiger Stimme. Und alle, die sie hörten, wollten es nicht fassen: 340
»In Jerusalem lebte einst ein Fürst aus der Familie Hur. Er war des Kaisers und aller tapferen Römer Freund. Ich bin seine Witwe, dies ist meine Tochter. Weshalb wir hier sind, kann ich nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Wir wurden eines Tages aus unserem Palast geholt und nachts hierhergebracht, die Tür wurde zugemauert. Ein Mann gab uns täglich das Essen und Wasser.« Die von Pestgeruch und Fackelrauch, von Unrat und verbrauchter Luft geschwängerte Kellerluft hielt den Tribun nicht ab, einen der Fackelträger an seine Seite zu rufen und diese Geschichte aufzuschreiben. In den wenigen Worten lagen Anklage und Bitte. Nur eine Frau mit vornehmer Bildung konnte ihren Elendsbericht in diesen furchtbaren Sätzen zusammenfassen. Der Tribun konnte ihr nur glauben und Mitleid bekunden. »Dir soll geholfen werden, Weib. Ich werde dir Speise und Trank, Wasser zur Reinigung und Kleider senden.« »Gott ist gut!« schluchzte Ben Hurs Mutter. »Sein Friede sei mit dir!« »Ich werde euch nicht mehr sehen. Macht euch bereit. Heute nacht werde ich euch an das Tor der Burg bringen lassen – dann seid ihr frei. Das Gesetz kennt ihr. Lebt wohl!«
Ben Hurs ewige Sorge und ewiger Kummer um Mutter und Schwester, seine quälende Frage: Leben sie noch, sind sie tot, wie sind sie gestorben? war gelöst. Hier waren sie, pestkrank, abgezehrt, halb verhungert, dem Tode nahe. Und im letzten Augenblick wurde ihnen wenigstens ein Gut des Menschen wiedergegeben: die Freiheit! Die Fürstin war eine schöne Frau gewesen, die Tochter ein anmutiges Mädchen. Jetzt waren sie beide nur noch Schatten von Menschen. Ihr Haar bedeckte in langen Strähnen ihre Blöße, es war sonderbar weiß, abscheulich weiß. »Vier sollen für tot gelten: die Blinden, die Aussätzigen, die Bettler, die Kinderlosen«, so heißt es unbarmherzig im Talmud. Wer aussätzig 341
war, wurde wie ein Leichnam von den Lebenden aus der Stadt verwiesen, durfte nur aus der Ferne seine Angehörigen sehen und sprechen, mußte Tempel und Synagoge meiden, er mußte in der Wüste oder in verlassenen Grabkammern hausen. – Es war fast unmerklich über sie gekommen. Zuerst war es ein trockener Schorf an der Hand, der nicht weichen wollte. Eines Tages führte die Mutter Tirzah in den Lichtstrahl und sah, daß ihre Augenbrauen weiß wie Schnee waren. Nun durfte sie nicht mehr zweifeln. Es war Aussatz. Und Jahr um Jahr fraß er sich in ihren ganzen Körper ein. Heute waren sie hoffnungslos zerstört. – Und im Augenblick der Rettung mußte die grausame Wahrheit bekannt werden: »Unrein! Unrein!« Gegen die Mitte der ersten Nachtwache wurden die Mutter und Tirzah an das Tor und auf die Straße gebracht. So befreiten sich die Römer von ihnen. In der Stadt ihrer Väter standen nun die beiden Frauen wieder in Freiheit. Aber es war nicht die alte Freiheit, in Ehren und Reichtum. Sie waren Geächtete. »Was nun? Wohin?«
Wieder in Jerusalem Etwa in der Stunde, in der Gesius, der Schließer, vor dem Tribun erschien, erstieg ein Mann die östliche Seite des Ölbergs. Der Weg war rauh und staubig, alle Pflanzen waren braun verbrannt, es war zur Trockenzeit in Judäa. Der Wanderer war jung und kräftig, er trug lose, leichte Kleidung. Der Wanderer war Ben Hur. Zu seinen Füßen lag Jerusalem, und er setzte sich auf einen Stein, um auf die Vaterstadt hinabzuschauen. Die Sonne sank und vergoldete die Mauern und Kuppeln der Stadt. Ben Hur hielt es für geraten, sich vor allen amtlichen Personen zu verbergen, besonders vor Römern. Malluch war klug und zuverlässig, 342
er war der richtige Mann, der Nachforschungen ohne Aufsehen und mit Erfolg betreiben konnte. Vor allem mußte man feststellen, wo die Nachforschungen beginnen sollten. Ben Hur glaubte, man sollte mit der Burg Antonia anfangen; denn es war bekannt, daß sie tiefe Verliese besaß. Von Simonides hatte er erfahren, daß Amrah noch lebte. Sie hatte sich seinerzeit von den Soldaten losgerissen und war in den Palast gelaufen, wo man sie eingeschlossen hatte. Simonides hatte sie in der ganzen Zeit mit Nahrungsmitteln versehen lassen, so war sie allein im Haus geblieben. Gratus hatte den Palast trotz aller Versuche nicht verkaufen, nicht einmal vermieten können. Die Geschichte der rechtmäßigen Eigentümer hatte genügt, alle abzuschrecken. Es hieß, es spuke im Palast. Daran mochte Amrah schuld sein, die man vielleicht manchmal an einem der Fenster oder auf dem Dach sah. Ben Hur hoffte, von ihr Nachricht über die Seinen zu erhalten. So war er nun auf dem Wege zu seinem Vaterhaus. Mit diesem Entschluß erhob er sich und stieg vom Ölberg hinab.
Ben Hur vor der Tür seines Vaterhauses Es war schon dunkel, als er sich von dem Hirten trennte und in eine enge, nach Süden führende Gasse einbog, deren Häuser niedrig, düster und unfreundlich waren. Dann aber packte ihn die Sehnsucht nach dem Hause des Vaters. Nie hatte der altgewohnte Gruß, mit dem man ihm begegnete, so zutraulich geklungen wie heute. Der Mond ging auf. Und da stand er schon vor seinem Vaterhaus. Er blieb vor dem Tor an der Nordseite stehen, das Siegel war noch zu erkennen und auch die Inschrift auf dem Blatt: »Dies ist Eigentum des Kaisers.« Niemand war seit jenem Tage durch das Tor gegangen. Sollte er klopfen wie in früheren Zeiten? Vielleicht hörte ihn Amrah und 343
schaute zu einem Fenster heraus. Er hob einen Stein auf, stieg die breiten Stufen hinan und klopfte dreimal. Der Schlag hallte im Dunkeln wider. Er klopfte nochmals, diesmal lauter. Die Stille, die dem Laut folgte, war unerträglich. An den Fenstern war niemand. Die Balustrade des Daches zeichnete sich scharf gegen den mondhellen Himmel ab, aber auch dort zeigte sich nichts. Dann ging er zur Westseite mit ihren vier Fenstern. Aber auch hier rührte sich nichts. Und auf der Südseite war es dasselbe. Als er auch dort die Inschrift las, riß er wütend das Brett ab und warf es auf die Straße. Dann setzte er sich auf die Treppe; hier überkam ihn die Müdigkeit, und er schlief ein. Um diese Zeit kamen zwei Frauen auf der Straße vom Turm von Antonia herunter und näherten sich dem Palast Hur. Als sie an der Ecke angekommen waren, flüsterte die eine der anderen zu: »Da ist es, Tirzah!« Und Tirzah ergriff, nachdem sie einen Blick auf das Haus geworfen hatte, schluchzend die Hand der Mutter. »Laß uns gehen, Kind! Sobald der Morgen kommt, treiben sie uns aus dem Stadttor, und wir dürfen nie wieder zurückkehren.« Tirzah schmiegte sich an die Mutter und flüsterte: »Laß uns – laß uns sterben!« »Nein!« antwortete die Mutter fest. »Der Herr hat unsere Zeit bestimmt, und wir sind Gläubige des Herrn. Wir wollen auf ihn warten, selbst darin. Komm! Fort!« Sie nahm Tirzah an die Hand und zog sie dicht an der Mauer mit sich zur Westecke des Hauses und weiter zur Südseite. Dort erschraken sie vor dem hellen Mondschein, aber die Mutter überwand sich und drängte weiter. Wer sie jetzt gesehen hätte, mußte die schrecklichen Zerstörungen im Gesicht und an den Händen erkennen, beide Frauen sahen aus, als ob sie gleich alt wären. »Still! Auf der Schwelle liegt jemand – ein Mann. Vorsichtig, daß er uns nicht sieht!« Sie liefen rasch zur anderen Straßenseite hinüber, von dort gingen sie geräuschlos im Schatten bis zum Tor. »Er schläft, Tirzah! Bleib hier, ich will sehen, ob das Tor offen ist.« Als sie davorstand, bewegte sich der Schläfer, sein Kopftuch fiel von seinem Gesicht, das hell vom Mond beschienen war. Die Mutter schau344
te es an – und erstarrte. Sie blickte noch einmal hin zu dem Schläfer und erkannte ihn. Sie stürzte davon, rang die Hände, hob ihre Augen zum Himmel und stöhnte: »So wahr der Herr lebt«, flüsterte sie tonlos, »der Mann ist Judah, mein Sohn und dein Bruder!« Er lag vor ihnen in der Blüte seiner Jahre. Wie schön erschien er der Mutter, und die Sehnsucht überwältigte sie, ihn zu küssen, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu halten, wie sie ihn als Knaben gehalten hatte. Sie kniete nieder, beugte sich über seine Füße und küßte die Sohle seiner Sandale. Die Mutter kämpfte ihren Schmerz nieder, das Herz wollte ihr brechen. Sie wünschte fast, er möchte erwachen. Aber dann erhob sie sich, beide standen vor ihm, als wollten sie sich sein Bild für ewig einprägen, dann gingen sie Hand in Hand auf die andere Straßenseite. Dort knieten sie nieder im Schatten der Mauer, sie schauten zu ihm hinüber, warteten, daß er erwache, warteten auf irgend etwas, sie wußten nicht worauf. Als sie dort kauerten, kam eine Frau um die Ecke des Palastes. Sie sahen sie deutlich, eine kleine, gebückte Gestalt von brauner Gesichtsfarbe, mit grauem Haar, sie war wie eine Magd gekleidet und trug einen Korb mit Gemüse. Als sie den Mann auf der Schwelle sah, stockte sie, dann schien sie einen Entschluß zu fassen, ging um ihn herum zum Tor, drückte das kleine Türchen leicht zur Seite und schob ihre Hand in die Öffnung, ein Flügel der Tür öffnete sich lautlos. Sie schob den Korb hinein und wollte folgen, schaute aber noch einmal neugierig auf das Gesicht des Schläfers, das offen vor ihr lag. Die beiden Frauen an der Straße hörten einen leisen Ausruf, sahen, wie die Frau sich die Augen rieb, sich tiefer beugte, die Hände zusammenschlug, verwirrt um sich schaute, nochmals den Schläfer betrachtete, seine Hand ergriff und sie zärtlich küßte – so wie sie selber es so gern getan hätten. Judah erwachte durch diese Berührung, zog die Hand zurück und entdeckte die Frau: »Amrah, o Amrah! Bist du es?« Die Gute konnte nicht antworten, sie fiel ihm um den Hals und wein345
te vor Freude. Dann hörten die beiden im Schatten lauernden Frauen: »Mutter – Tirzah! O Amrah, erzähl mir von ihnen. Sprich, ich bitte dich!« Amrah brach von neuem in Tränen aus.
Am nächsten Morgen wurden die Mutter und Tirzah aus der Stadt gesteinigt: »Hinaus! Ihr gehört zu den Toten! Geht zu den Toten!« Mit diesem grausamen Urteilsspruch im Ohr flohen sie hinaus.
Das Grab über dem Königsgarten Am zweiten Tag nach ihrer Begegnung mit Judah begab sich Amrah zur Quelle En-Rogel, wohin der Weg vom Königsgarten durch das Bett des Bachs Kidron führt. Die überhängenden Felsen dort sind in den natürlichen oder künstlichen Höhlen voller Grabstätten. Dort lebten die Aussätzigen, die eine Art Gemeinwesen bildeten. Amrah setzte sich in der Nähe der Quelle auf einen Stein. Sie hatte einen Wasserkrug bei sich und einen Korb, den sie mit einem schneeweißen Tuch bedeckt hatte. Es war noch sehr früh, und sie war die erste bei der Quelle. Amrah besuchte gewöhnlich am Abend den Markt. Ihre Freude, Judah im Hause zu haben, war unbeschreiblich. Sie hätte ihn am liebsten wieder in seinem früheren Zimmer haben wollen, es war unverändert, seitdem er es verlassen hatte. Aber die Gefahr einer Entdeckung war zu groß, und er mußte verborgen bleiben. Doch sie wollte einen Vorrat haben, wenn er wiederkäme. Darum hatte sie sich so früh aufgemacht, um auf dem Markt nach dem besten Honig zu suchen. Dabei hörte sie eine Geschichte erzählen, die sie voll Staunen mit anhörte. Der Erzähler, ein Arbeiter, berichtete von einer Arbeit, die er gestern 346
in den Gefängnissen der Burg Antonia getan hatte, vom Aufbrechen einer Wand, von zwei Frauen, die man dort gefunden, von der Erzählung dieser Gefangenen, sogar ihren Namen hatte er behalten. Als dieser Name fiel, hätte Amrah beinahe aufgeschrien vor Freude und vor Entsetzen. Konnte es wahr sein? Sie hatte ihre Herrin gefunden und für Judah die Mutter und Schwester! Eine Freudenbotschaft? Eine Schreckensbotschaft mußte es für Judah sein, wenn er hörte, daß die Mutter und Tirzah zwar lebten, daß sie aber aussätzig waren. Er würde sich sofort aufmachen zum Schreckensort drüben am Berg des bösen Rats und würde jede Grabhöhle absuchen, um sie zu finden. Auch er würde vom Aussatz angesteckt und das entsetzliche Los der Seinen teilen. Kurz nach Sonnenaufgang, als das größte Gedränge um den Brunnen entstanden war, kamen die Aussätzigen in Gruppen herbei. Frauen mit Krügen auf den Schultern. Männer an Stäben und Krücken, andere hilflos und einem Bündel Lumpen ähnlich auf Tragbahren – denn auch diese Gemeinschaft des Elends besaß barmherzige Seelen. Amrah beobachtete jeden einzelnen. Mehr als einmal glaubte sie, die Herrin erkannt zu haben. Sie zweifelte nicht daran, daß sie auf dem Berg waren. Sie mußten kommen, das wußte sie. Sie würden vielleicht nach allen andern kommen, da sie erst neu in dieser Umwelt waren. Am Fuße des Bergs war eine Grabhöhle, der sich Amrahs Aufmerksamkeit schon mehrmals zugewendet hatte. Nahe am Eingang lag ein großer Stein. Jetzt sah Amrah, daß aus dieser Höhle zwei Frauen hervorkamen, eine die andere stützend. Beide hatten weißes Haar, beide schienen alt, aber ihre Kleider waren gut erhalten. Das sind alte Frauen, die ich nie zuvor gesehen habe, sagte sie zu sich. Ich will umkehren. Und sie wandte ihnen den Rücken. »Amrah!« rief eine der Aussätzigen. Die brave Dienerin stellte den Krug nieder und sah sich um: »Wer hat mich gerufen?« »Du erkennst uns nicht, gute Amrah. Aber wir erkennen dich!« Amrah fiel auf die Knie: »Bist du es, Herrin? Bist du es wahrhaftig? O dein Gott, den ich zu dem meinen gemacht habe, sei gepriesen.« Auf 347
ihren Knien rutschte sie ihnen entgegen, die sie gesucht, auf die sie gewartet, die sie gefunden hatte. »Halt, Amrah! Nicht näher! Unrein, unrein!« Das Wort genügte. Amrah fiel auf ihr Gesicht und weinte. Sie schluchzte so laut, daß die Leute am Brunnen sie hörten. Plötzlich richtete sie sich auf: »O gütige Herrin, wo ist Tirzah?« »Hier bin ich, Amrah, hier! Willst du mir nicht ein wenig Wasser bringen?« Sogleich wurde Amrah zur Dienerin. Sie erhob sich und holte den Korb: »Seht, hier ist Brot und Speise.« Und sie war im Begriff, das Tuch auf den Boden zu breiten. Aber die Herrin rief ihr zu: »Nicht so, Amrah, sie werden dich steinigen und uns den Trunk verweigern. Laß den Korb hier! Nimm den Krug und laß ihn füllen. Wir nehmen beides in unsere Höhle. Dann hast du alles getan, was das Gesetz erlaubt. Eil dich, Amrah!« »Was kann ich sonst für euch tun?« »ja, du kannst etwas für mich tun«, erwiderte die Mutter. »Ich weiß, daß Judah heimgekehrt ist. Ich sah ihn gestern nacht am Tor, als er auf der Treppe schlief. Ich sah, daß du ihn wecktest.« Amrah rang die Hände: »O meine Herrin, du hast ihn gesehen und bist nicht gekommen?« »Ich hätte ihn getötet. Ich darf ihn nie mehr sehen, nie mehr in die Arme schließen, nie mehr küssen. O Amrah, du darfst ihm nicht sagen, wo wir sind und daß du uns gesehen und mit uns gesprochen hast.« »Aber er sucht euch! Er ist von weit her gekommen, um euch zu finden.« »Er darf uns nicht finden. Er darf nicht erfahren, was wir sind. Das wenige, was wir brauchen, sollst du uns bringen. Es wird nicht mehr lange dauern. Du sollst jeden Morgen und Abend hierherkommen und« – ihre Stimme zitterte – »und uns von ihm erzählen. Aber zu ihm, Amrah, nichts von uns! Hörst du?«
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Eine List des Pilatus – Der Kampf Am Morgen des ersten Tages im siebenten Monat erhob sich Ben Hur von seinem Lager in der Herberge, mit der ganzen Welt zerfallen. Malluch war gekommen, und sie hatten nicht viel Zeit mit ihren Beratungen gebraucht, er hatte sich sofort an seine Nachforschungen in der Burg Antonia gemacht. Er tat es ganz offen und erzählte dem Tribun die volle Wahrheit über die Geschichte der Familie Hur, alle Einzelheiten über den Unglücksfall mit Gratus, so daß klar wurde, daß von einem Verbrechen keine Rede sein konnte. Er zweifelte nicht, daß der Kaiser eine Untersuchung anordnen werde. Der Tribun hatte ihm daraufhin einen ausführlichen Bericht über die Entdeckung der Frauen im Turm gegeben und ihm erlaubt, Einblick in seine eigenen Aufzeichnungen zu nehmen, sie sogar zu kopieren. Mit diesem Ergebnis war er zu Ben Hur zurückgekommen. Der Eindruck, den diese furchtbare Offenbarung auf Ben Hur machte, war vernichtend. Er konnte nur vor sich hinmurmeln: »Aussätzig! Aussätzig sie – meine Mutter, meine Tirzah – aussätzig!« Ein rasender Schmerz überfiel ihn. Dann wieder das unersättliche Verlangen nach Rache. Schließlich war er aufgesprungen: »Ich muß zu ihnen! Vielleicht sterben sie bald!« »Wo willst du sie suchen?« »Es gibt nur einen Ort, wohin sie gegangen sein können.« Malluch hatte sich diesem Plan widersetzt, und schließlich war es ihm gelungen, Ben Hur zu überzeugen, daß er selbst das nicht tun dürfe. So hatte er den Erfolg, daß ihm die Aufgabe übertragen wurde. Sie machten sich zusammen auf zu dem Tor gegenüber vom Berg des bösen Rates, wo seit ewigen Zeiten die Aussätzigen zu betteln pflegten. Dort ver349
weilten sie den ganzen Tag, gaben Almosen, fragten nach den zwei Frauen und boten eine hohe Belohnung für ihre Entdeckung. Das wiederholten sie Tag um Tag, den ganzen fünften und sechsten Monat lang. Erst an diesem ersten Morgen des siebenten Monats erfuhren sie, daß vor nicht langer Zeit zwei aussätzige Frauen aus dem Fischtor von amtlichen Personen vertrieben worden waren. Genauere Erkundigungen und der Vergleich der Zeitangaben überzeugte sie, daß es sich bei diesen Armen um die Gesuchten handeln müsse, und damit wurde die Lage nur noch dunkler. Wo waren sie? Und was war aus ihnen geworden? Zornig, hoffnungslos und rachegierig kehrte Ben Hur in den Hof der Herberge zurück und fand sie voll von Menschen, die am Abend neu angekommen waren. Während er sein Frühstück einnahm, hörte er ihren Gesprächen zu. Besonders von einer Gruppe wurde er angezogen. Sie bestand aus kräftigen, abgehärteten jungen Galiläern. Es mußten Leute aus den Gebirgsgegenden sein, die in gesunder Freiheit lebten. Ben Hur brauchte nicht lange, um festzustellen, daß es sich um Galiläer handelte, die aus verschiedenen Gründen nach Jerusalem gekommen waren, in der Hauptsache wohl, um an dem heute stattfindenden Trompetenfest teilzunehmen. Während er sie beobachtete und erwog, welche Erfolge er mit einer Legion solcher Männer erringen könnte, wenn er sie nach der strengen römischen Art ausbildete, kam ein Mann mit erhitztem Gesicht und erregtem Blick in den Hof: »Was sitzt ihr hier«, redete er die Galiläer an, »die Rabbis und Ältesten sind auf dem Weg vom Tempel zu Pilatus. Kommt rasch, wir wollen dabeisein!« Sie umringten ihn im Augenblick: »Zu Pilatus? Wozu?« »Sie haben eine Verschwörung entdeckt. Pilatus will die neue Wasserleitung mit Geldern des Tempels bezahlen.« »Es ist Carban – Gottes Geld. Er soll nur wagen, einen Schekel anzutasten!« »Kommt«, rief der Bote. »Der Zug ist schon auf der Brücke. Die ganze Stadt zieht hinterher. Vielleicht werden wir gebraucht. Beeilt euch!« 350
Im Nu entledigten sich die Männer ihrer überflüssigen Kleidungsstücke und standen barhäuptig und in der kurzen ärmellosen Tunika da. »Wir sind bereit.« Jetzt war der Augenblick für Ben Hur gekommen: »Männer von Galiläa, ich bin ein Sohn Judas, wollt ihr mich mitnehmen? Ich bin bereit, wenn ihr wollt!« »Ja, gehen wir!« Um zum Prätorium zu gelangen, wie die Römer den Palast des Herodes auf dem Berg Sion nannten, mußten die Galiläer durch die Niederungen im Norden und Westen des Tempels. Es gesellten sich noch viele zu ihnen, die von dem beabsichtigten Plan gehört hatten. Als sie das Tor erreicht hatten, waren die Ältesten und die Rabbis mit großem Gefolge schon eingetreten und ließen eine noch größere, lärmende Menge draußen. Ein Hauptmann bewachte den Eingang mit einer Wache in voller Ausrüstung und gezogenem Schwert. Die Sonne glühte auf Helm und Schild der Soldaten, aber sie kümmerten sich ebensowenig darum wie um das Geschrei der Menge. Durch das offene Bronzetor drängten sich viele Bürger hinein, wenige kamen heraus. »Was geht hier vor?« fragte einer der Galiläer einen, der herauskam. »Nichts«, lautete die Antwort. »Die Rabbis verlangen eine Unterredung mit Pilatus. Er hat sich geweigert, herauszukommen. Sie haben einen zu ihm geschickt, um ihm zu sagen, daß sie nicht gehen würden, ehe er sie angehört hat. Jetzt warten sie …« »Gehen wir hinein!« sagte Ben Hur in seiner ruhigen Art. Er begriff, was seine Gefährten nicht konnten, daß es sich nicht nur um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Bittstellern und dem Gouverneur handelte, sondern um einen Streit und um die ernste Frage, wer seinen Willen durchsetzen würde. Das Gedränge war so groß, daß Ben Hurs neue Gefährten nicht vorwärts kommen konnten. Sie blieben also stehen und beobachteten die Vorgänge. Unter der Vorhalle sah man die hohen Turbane der Rabbis, deren Unruhe sich der Menge hinter ihnen übertrug. Dann und wann hörte man einen Ruf: »Pilatus, wenn du ein Prokurator sein willst, so komm heraus, zeige dich!« 351
Eine Stunde verging, und obgleich Pilatus sie keiner Antwort würdigte, blieben die Rabbis und die Menge. Es wurde Mittag und fing an zu regnen, aber es änderte sich nichts. »Heraus! Heraus!« tönte es ununterbrochen. Unterdessen hielt Ben Hur seine Galiläer zusammen. Er hoffte, daß der Stolz des Römers sich eines Besseren besinnen werde und daß es nicht mehr lange dauern könne. Aber Pilatus wartete nur auf einen Vorwand, den Aufruhr mit Gewalt zu unterdrücken. Schließlich kam es dazu. Man hörte Schläge, Schmerzensschreie und Wutschreie und wilden Tumult. Tausend Stimmen schrien zugleich, und da niemand antworten konnte, brach eine Panik aus. Ben Hur blieb gefaßt. »Kannst du nicht sehen, was vor sich geht?« fragte er einen der Galiläer. »Nein!« »Ich will dich in die Höhe heben.« Er packte den Mann in der Mitte und hob ihn hoch. »Jetzt sehe ich's. Da sind Leute mit Prügeln, die auf die Menge einschlagen. Sie sind wie Juden gekleidet.« »Wer sind sie?« »Es sind Römer, so wahr Gott lebt! Verkleidete Römer!« Ben Hur setzte den Mann nieder. »Männer von Galiläa«, sagte er. »Es ist eine List des Pilatus. Wenn ihr tun wollt, was ich euch sage, werden wir mit den Prügelmännern fertig werden.« Ihr galiläischer Mut brach aus. Alle stimmten ihm zu. »Laßt uns zu den Bäumen am Tor gehen! Und wir werden von diesen ungesetzlichen Anpflanzungen des Herodes Nutzen ziehen. Kommt!« Sie liefen zurück, so schnell sie konnten, und rissen die Äste ab, indem sie sich mit dem vereinten Gewicht daran hängten. In wenigen Augenblicken waren sie bewaffnet. Als sie zur Hofecke zurückkehrten, floh die Menge blindlings dem Ausgang zu. Im Vorhof hörte man noch immer Schreie, Verwünschungen und Flüche. »An die Mauer!« rief Ben Hur. »Laßt die Herde vorbei! An die Mauer!« 352
Indem sie sich an die Mauer preßten, wichen sie der Flut aus und drangen Schritt für Schritt bis zur Vorhalle. »Nun bleibt zusammen und folgt mir!« Ben Hurs Führerschaft wurde anerkannt, und als sie in die kochende Menge drängten, blieb seine Gefolgschaft geschlossen hinter ihm. Und als die verkleideten Römer, die noch immer auf die Menge einhieben, ins Handgemenge mit den Galiläern gerieten, die ebenso wie sie bewaffnet waren, waren sie vollkommen überrascht. Ein mörderischer Kampf brach aus. Und keiner war tüchtiger als Ben Hur. Es dauerte nicht lange und die Römer zogen sich zurück und flohen in die Vorhalle. Die Galiläer wollten ihnen folgen, aber Ben Hur hielt sie zurück. »Halt, meine Männer! Dort kommt der Hauptmann mit der Wache. Sie haben Schwerter und Schilde! Gegen sie können wir nicht fechten. Wir haben uns gut gehalten. Zurück und zum Tor, solange es offen ist!« Sie gehorchten ihm, wenn auch langsam, denn sie mußten über ihre Landsleute steigen, die dort lagen, wo sie gefallen waren, einige stöhnten und krümmten sich vor Schmerz, einige flehten um Hilfe, andere lagen regungslos wie tot da. Aber nicht alle Gefallenen waren Juden. Das war ihr Trost. Die Außenwache ließ die Galiläer ohne Belästigung ziehen. Aber sie hatten eben das Tor hinter sich, als der Hauptmann mit der Wache erschien und nach Ben Hur rief: »He, Unverschämter! Bist du ein Römer oder ein Jude?« Ben Hur antwortete: »Ich bin ein Sohn Judas und hier geboren. Was willst du von mir?« »Steh und kämpfe!« »Allein?« »Wenn du willst!« Ben Hur lachte höhnisch: »O tapferer Römer! Ich habe keine Waffen.« »Du sollst meine haben«, antwortete der Hauptmann. »Ich werde mir eine von der Wache borgen.« Die Leute hörten das Gespräch schweigend mit an, und die Stille war 353
noch tiefer geworden. Ben Hur zögerte nicht. Er ging dem Hauptmann offen entgegen: »Ich bin bereit. Leih mir ein Schwert und einen Schild!« »Und Helm und Brustpanzer?« fragte der Römer. »Behalte sie! Sie nützen mir nichts.« Die Überlegenheit der Römer im Waffenhandwerk lag in drei Dingen – in der Unterwerfung unter die Disziplin, in der Schlachtformation der Legionäre und besonders im Gebrauch des kurzen Schwerts. Im Kampf schlugen sie nie damit, sie stießen im Angriff zu, sie zogen sich stoßend zurück. Und im allgemeinen ging es ihnen um des Gegners Gesicht. Das wußte Ben Hur alles genau. Als sie in ihrer Position waren, wandte er sich noch einmal an den Römer: »Ich sagte dir, daß ich ein Sohn Judas bin, aber nicht, daß ich in der Kampfschule ausgebildet wurde. Verteidige dich!« Beim letzten Wort kreuzten sie die Klingen. Sie beobachteten sich über den Rändern ihrer Schilde, dann ging der Römer vor und machte eine Finte mit einem Tiefstoß. Judah lachte. Ein Stoß ins Gesicht folgte. So rasch der Stoß kam, Judah sprang rascher nach links. Er stieß unter dem erhobenen Arm des Gegners seinen Schild vor, drückte ihn nach oben, bis Schwertarm und Schwert des Gegners an seiner Stirn waren, noch einen Schritt nach vorn und links: Die rechte Seite des Römers lag offen für den Stoß. Der Hauptmann stürzte zu Tode getroffen aufs Pflaster. Ben Hur hatte gesiegt. Wie es der Brauch bei den Gladiatoren wollte, stellte er seinen Fuß auf den Rücken des Gegners, hob seinen Schild und grüßte die Soldaten am Tor, die ohne Bewegung dem Kampf und Sieg des Unbekannten verfolgt hatten. Als die Menge begriffen hatte, daß der Römer besiegt war, benahm sie sich wie verrückt. Sie schrie und winkte, und die Galiläer hätten ihn am liebsten auf ihre Schultern gehoben. Einem Offizier unteren Grades, der vom Tor auf ihn zu kam, sagte er: »Dein Kamerad ist wie ein Soldat gestorben. Ich plündere ihn nicht aus. Nur sein Schwert und sein Schild gehören mir.« Damit ging er davon. Als er etwas abseits war, sprach er zu den Galiläern: 354
»Brüder, ihr habt euch gut gehalten. Wir wollen uns jetzt trennen, aber wir treffen uns heute abend in der Herberge. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen, der für Israel von großer Wichtigkeit ist. Bringt dies Schwert und Schild mit, damit ich euch erkenne.« Und damit drängte er sich durch die Menge und verschwand.
Jerusalem geht zu einem Propheten Die Zusammenkunft in der Herberge zu Bethanien fand zur verabredeten Stunde statt. Von dort begab sich Ben Hur mit seinen Gefährten nach Galiläa, wohin schon der Ruhm seiner Tapferkeit im Vorhofe des Palastes gedrungen war. Noch vor Ende des Winters hatte er drei Legionen gesammelt und nach der römischen Art ausgebildet. Er hätte noch mehr haben können, aber er mußte sein Unternehmen sowohl vor den Römern wie vor Herodes geheimhalten. Infolgedessen gab er sich mit den drei Legionen zufrieden und nutzte die Zeit, sie zu einheitlichem Handeln zu schulen. Die Aufgabe verlangte von ihm Geduld, Eifer und Zähigkeit, Eigenschaften, die er in hohem Maße besaß. Mit wahrer Selbstverleugnung setzte er alle seine Kräfte ein, aber er hätte wenig erreicht, wenn ihm nicht Simonides mit Waffen und Geld und Ilderim mit Verpflegung und Wachen geholfen hätten. Und beides wäre vergeblich gewesen ohne die Fähigkeiten der Galiläer. Zudem haßten sie Rom so glühend, wie sie ihr eigenes Land liebten und waren bei jedem Aufstand die ersten im Angriff und die letzten im Weichen. Auf dieses tapfere, stolze, phantasievolle Volk wirkte der Bericht über einen neuen König wie ein Zauber. Daß er kommen würde, um Rom zu stürzen, hätte schon genügt, sie für den Plan Ben Hurs zu begeistern. Daß er aber die Welt beherrschen und sein Reich schaffen werde, größer als das des Kaisers und glorreicher als das Salomos – diese Aussicht war für sie überwältigend. 355
Eines Abends saß Ben Hur mit einigen Gefährten in Trachonitis vor dem Eingang der Höhle, die ihm als Wohnung diente, als ein Araber herbeigeritten kam und ihm einen Brief überreichte. Er brach das Siegel und las: »Jerusalem, am 4. Nisan Ein Prophet ist aufgestanden, von dem die Leute sagen, er sei Elias. Er hat sich jahrelang in der Wüste aufgehalten und ist in unseren Augen ein Prophet. Das ist er auch nach allem, was er sagt. Er weist auf einen hin, der größer sei als er selbst und der bald kommen wird, wie er sagt. Er wartet auf ihn am östlichen Ufer des Jordans. Ich habe ihn gesehen und gehört, und der, auf den er hinweist, ist gewiß der König, auf den auch du wartest. Komm und urteile selbst. Ganz Jerusalem zieht hinaus zu ihm. Und mit den vielen anderen, die dazukommen, erscheint der Ort, wo er ist, wie der Ölberg zur Zeit des Osterfestes. Malluch« Ben Hurs Angesicht leuchtete vor Freude: »Diese Nachricht, meine Freunde, macht unserem Warten ein Ende. Der Herold des neuen Königs ist erschienen und hat ihn angekündigt.« Er las ihnen den Brief vor, und die Freude über die Verheißung erfaßte auch sie. In seiner Höhle schrieb er Briefe an Ilderim und Simonides und berichtete ihnen, was er erfahren hatte und daß er eilig nach Jerusalem müsse. Er sandte die Briefe mit Eilboten ab. Als es Nacht geworden war und die Sterne ihn leiten konnten, stieg er zu Pferde und ritt mit dem arabischen Führer zum Jordan.
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Mittagsrast am Quell Während Ben Hur dahinritt, gedachte er der wunderbaren Ereignisse, die so bald zu erwarten waren, auch der großen Veränderungen, die sie über die Welt und die Menschen bringen sollten. Da machte ihn der wachsame Araber darauf aufmerksam, daß hinter ihnen Fremde aufgetaucht waren. »Es ist ein Kamel mit Reitern«, sagte er. »Sind andere dahinter?« »Nein, ein einzelnes Kamel. Aber noch ein Reiter zu Pferde, wahrscheinlich der Führer.« Bald konnte Ben Hur unterscheiden, daß es sich um ein ungewöhnlich großes, weißes Kamel handelte, das ihn an das Tier Balthasars erinnerte. Es konnte kein anderes sein. Als er nun an die edle Ägypterin dachte, ließ er sein Pferd langsamer traben, schließlich ritt er im Schritt, bis er das Zelt auf dem Kamel erkennen konnte, in dem zwei Personen saßen. Konnten es Balthasar und Iras sein? Er hörte das Klingeln der Glöckchen. Jetzt erkannte er auch den Äthiopier, der Iras stets begleitete. Das riesige Tier hielt neben seinem Pferde an, und Ben Hur sah, daß es wirklich Iras war, die unter dem Zeltdach auf ihn heruntersah, er erkannte ihre großen, feuchten Augen, die ihn voller Staunen betrachteten! »Der Segen Gottes sei mit dir«, sagte Balthasar. »Und mit dir und den Deinen der Friede des Herrn«, antwortete Ben Hur. »Meine Augen sind mit den Jahren schwach geworden, aber dennoch glaube ich dich als den Sohn Hurs zu erkennen, den ich als geehrten Gast im Zelte des gütigen Scheiks Ilderim kennenlernte.« Während des Gesprächs waren Ben Hurs Blicke oft zu Iras gegangen, 357
nun lächelte sie und wandte sich an ihn: »Zu langes Fasten ist nicht gut, selbst Könige haben Hunger und Durst. Zeige uns einen nicht zu weiten Weg zu einer Quelle, wo wir unser Morgenmahl halten können.« »Wenn sich die schöne Ägypterin noch eine Weile gedulden kann, werden wir die Quelle finden. Mit eurer Erlaubnis wollen wir uns beeilen.« »Ich danke dir im Namen der Dürstenden und biete dir dafür ein Stück Brot aus der Stadtbäckerei an, mit frischer Butter von den tauigen Wiesen von Damaskus.« »Ein seltener Genuß!« Ben Hur ritt mit dem Führer voran. Nach einer Weile gelangten sie in ein seichtes Wadi, durch das ihnen der Führer den Weg zeigte. Die Wasserrinne war durch den Regen aufgeweicht, und es ging ziemlich steil hinab. Die engen, steilen Wände öffneten sich aber plötzlich in ein weites, schönes Tal. Wasser rieselte aus einer Felsenplatte, die sorgsam erweitert worden war und in die man in hebräischen Buchstaben das Wort ›Gott‹ gemeißelt hatte. Iras ließ sich einen Kristallbecher geben und wandte sich an Ben Hur: »Diesmal bin ich dein Diener an der Quelle. In meinem Lande, Sohn Hurs, sagen wir: ›Besser ein Becherträger bei einem Glücklichen zu sein, statt Minister bei einem König.‹« »Glücklicher?« »Hast du nicht im Zirkus gesiegt? Und in einem Zweikampf mit dem Schwert hast du einen Römer geschlagen.« Er war ganz bestürzt. Was wußte die Ägypterin von ihm? War ihr von seinen Beziehungen zu Simonides erzählt worden? Und vom Vertrag mit Ilderim? Plötzlich stieg Mißtrauen in ihm auf. Jemand hatte seine Geheimnisse verraten, und es waren große Geheimnisse. Und wenn gerade jetzt ein feindlicher Mitwisser nach Jerusalem ging, wohin er auf dem Weg war, konnte das nicht für ihn, seine Gefolgschaft und für sein Ziel gefährlich werden? Aber war sie sein Feind? Ehe er antworten konnte, kam Balthasar an den Quell. »Wir sind dir tief verpflichtet, Sohn Hurs! Dieses Tal ist sehr schön, 358
alles lädt zum Bleiben ein. Es genügt nicht, dir zu danken für die Freude, die wir hier finden, komm, sitz mit uns und teile unser Brot.«
Das Leben der Seele Das Zelt war dicht unter einem Stamm errichtet worden, wo man das Murmeln der Quelle ständig im Ohr hatte. Die Ruhe des Tales, die Schönheit der Oase schienen den greisen Ägypter tief zu beglücken, seine Stimme, seine Miene und sein ganzes Wesen waren noch sanfter als sonst, sooft er seine Augen Ben Hur zuwandte, der mit Iras sprach. »Als wir dich einholten, Sohn Hurs«, sagte er, als das Mahl beendet war, »schien dein Gesicht ebenfalls nach Jerusalem gewandt. Darf ich fragen, ohne neugierig zu erscheinen, ob du auf dem Wege dahin bist?« »Ich gehe zur Heiligen Stadt.« »Ich bin voller Ungeduld«, fuhr Balthasar fort. »Ich habe in der letzten Zeit Träume im Schlaf gehabt, vielmehr ein und denselben, oft wiederholten Traum. Ich hörte eine Stimme – es war nichts anderes –, die mich mahnte: Steh eilends auf, er, auf den du so lange gewartet hast, ist gekommen.« »Du meinst ihn, der König der Juden sein wird?« fragte Ben Hur und schaute den Ägypter verwundert an. »Eben den.« »Nun, so habe ich dir Nachrichten zu geben, die dich ebenso erfreuen werden, wie sie mich erfreuten.« Ben Hur zog den Brief Malluchs hervor, der Ägypter nahm ihn mit zitternder Hand entgegen. Er las ihn laut. Am Schluß hob er die feuchten Augen zum Himmel und sprach ein Dankgebet. Er stellte keine Fragen; denn nun zweifelte er nicht mehr: »Du bist sehr gütig zu mir, o Herr! Laß mich, ich bitte dich, den Er359
löser wiedersehen und ihn anbeten, dann kann dein Diener in Frieden scheiden!« »Nun, da er erschienen ist, Balthasar, glaubst du noch, daß er als Erlöser kommt und nicht als König?« »Ja«, bestätigte Balthasar, »und ich bin noch der gleichen Ansicht. Du erwartest einen weltlichen König, ich einen Erlöser der Seelen. – Laß mich versuchen, Sohn Hurs, dir meinen Glauben näher zu erklären. Wenn ich dir sage, daß die geistige Herrschaft, die er ausüben wird, in jedem Sinne herrlicher sein wird als bloße kaiserliche Gewalt, dann verstehst du vielleicht, warum ich der geheimnisvollen Gestalt mit solcher Erwartung entgegensehe. Das irdische Leben kommt und geht mit allen seinen Kräften, das ewige Leben bleibt. Nichts am Menschen ist unsterblich bis auf seine Seele.« Der Greis hielt inne und führte den Becher mit zitternder Hand an seine Lippen. Iras wie Ben Hur waren von seiner Erregung ergriffen und schwiegen. Ben Hur schien von innen erleuchtet. Klar wie nie zuvor begriff er, daß ein geistiges Königreich für die Menschen wichtiger war als ein weltliches und daß ein Erlöser ein größeres Geschenk war als der größte König.
Ben Hur hält Wacht mit Iras Ben Hur empfand es als großen Reiz, neben dem Kamel dahinzureiten und mit der Ägypterin Blicke zu tauschen. Manchmal sprach sie von ihrem hohen Sitz herunter zu ihm und jedesmal schlug sein Herz stärker. Sie zeigte, daß sie sich ihres Einflusses auf ihn bewußt war. Seit dem Morgen trug sie auf ihrem blauschwarzen Haar ein Netz aus Goldmünzen, ihre Finger und Ohren schmückte sie mit Ringen, ihre Arme mit Spangen, ihren Hals mit Perlen. In ihre köstlichen Schals gehüllt, 360
lächelte sie auf ihn hinunter. Es war ein Spiel wie das Kleopatras mit Antonius. Am ersten Abend hielt die Gesellschaft Rast an einem Teich mit klarem Regenwasser in der Abilenewüste. Hier wurde das Zelt errichtet und das Mahl eingenommen. Die zweite Wache hatte Ben Hur übernommen. Er stand dicht neben dem Kamel, den Speer in der Hand, und schaute in die Sterne und über das verschleierte Land. Die Stille war ungeheuer. Ein warmer Wind hatte sich erhoben, er störte ihn nicht, denn seine Gedanken waren bei der Ägypterin. Er empfand ihren Reiz, der ihn fesselte, und doch überdachte er immer wieder die Frage, woher sie seine Geheimnisse wissen könne. Mitten in seinen Gedanken wurde ihm eine Hand leicht auf die Schulter gelegt, Iras stand neben ihm. »Ich dachte, du schläfst?« »Der Schlaf ist für alte Leute und kleine Kinder. Ich komme heraus zu meinen Freunden, den Sternen im Süden, die jetzt über dem Nil stehen. Habe ich dich erschreckt?« Er nahm ihre Hand: »Meinst du, ich war erschreckt, als hätte mich ein Feind angerührt?« »O nein! Ein Feind sein heißt hassen, und Haß ist eine Krankheit, die Isis nicht in uns duldet. Sie küßte mich aufs Herz, als ich ein Kind war.« »Du sprichst nicht wie dein Vater. Hast du nicht seinen Glauben?« »Ich hätte ihn gern« – sie lachte –, »aber der Gott meines Vaters ist zu ehrfurchtgebietend für mich. Ich konnte ihn nicht im Hain der Daphne finden. Von ihm war keine Rede in Rom. Aber, Sohn Hurs, ich habe einen Wunsch.« »Sag ihn mir!« »Er ist sehr einfach: Ich möchte dir helfen.« Sie war nahe zu ihm getreten. Er lachte: »O Ägypterin! Beinahe hätte ich gesagt, geliebtes Ägypten! Wohnt nicht die Sphinx in deinem Lande? Du bist eines ihrer Rätsel. Wie willst du mir helfen?« Er trat einen Schritt näher zu ihr und fragte sie in höchster Verwunderung: »Was weißt du alles?« 361
Sie lachte: »Warum glauben die Männer, daß die Sinne der Frauen schärfer als die ihren sind? Ich habe dein Gesicht den ganzen Tag vor mir gesehen. Ich brauche dich nur anzusehen, um zu wissen, daß du eine Last in dir trägst. Und um herauszufinden, was für eine Last es ist, brauchte ich nur deinen Gesprächen mit meinem Vater zuzuhören. Sohn Hurs, du bist auf dem Wege, den zu finden, der König der Juden sein wird. Nicht wahr?« Ihr Atem berührte seine Wange, sein Herz schlug stark. Iras fuhr fort: »Leg dein Gewand in den Sand, ich will mich an das Kamel legen. Ich will sitzen und dir eine Geschichte erzählen, die vom Nil nach Alexandria gekommen ist.« Und sie erzählte ihm mit leiser Stimme die Geschichte von Isis und Osiris und wie die Schönheit auf die Erde kam. Ben Hur hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und ihre Hand an seine Lippen geführt. »Du wirst den König finden«, sagte sie und legte die andere Hand auf seine Stirn. »Du wirst den König finden und ihm dienen. Mit deinem Schwert wirst du seine reichsten Gaben erwerben, und sein bester Soldat wird mein Held sein.« Er wandte ihr sein Gesicht zu, ihre Augen hatten einen stärkeren Glanz als alle Sterne am Himmel. Er richtete sich auf, umarmte sie und küßte sie leidenschaftlich: »O Ägypten! Ägypten! Wenn der König Kronen unter seinen Gaben hat, so wird eine mein sein. Und ich will sie dir bringen und sie auf die Stirn setzen, die meine Lippen berührt haben. Du sollst eine Königin sein – meine Königin –, und ich will für immer glücklich sein.« »Und du wirst mir alles sagen und mich dir in allem helfen lassen?« fragte sie und küßte ihn wieder. »Ist es nicht genug, daß ich dich liebe?« »Vollkommene Liebe fordert vollkommenes Vertrauen. Aber laß nur! Du wirst mich bald besser kennen.« Sie erhob sich. »Du bist grausam«, sagte er. 362
Sie trat zu dem Kamel und berührte seine Stirn mit ihren Lippen: »O du Edelster deiner Art! In deiner Liebe ist kein Mißtrauen.« Dann war sie gegangen.
In Bethabara Am dritten Tag ihrer Reise rastete die Gesellschaft mittags am Flusse Jabbok, wo sie hundert und mehr Männer meist aus Peräa antrafen, die dort für sich und ihre Tiere das Lager aufgeschlagen hatten. Sie waren kaum abgestiegen, als ein Mann mit einem Krug und Becher auf sie zutrat und ihnen Wasser anbot. Sie nahmen es dankend an. Der Mann sagte: »Ich komme vom Jordan, wo sich eine große Menge zusammengefunden hat; aber ein so schönes Tier habe ich noch nie gesehen.« Ben Hur fragte: »In welcher Gegend des Jordans sind die Leute?« »Bei Bethabara.« »Das war doch immer ein einsamer Ort. Ich begreife nicht, wie er so wichtig werden konnte.« »Ich merke, daß auch du von weit her kommst und noch nichts von der guten Botschaft gehört hast.« »Von welcher Botschaft?« »Es ist ein Mann aus der Wüste erschienen. Er nennt sich Johannes, Sohn des Zacharias, und sagt, er sei ein Vorläufer des Messias.« »Was predigt er?« »Eine neue Lehre, wie sie nie vorher in Israel verkündet worden ist, alle sagen das. Er nennt sie die Lehre von der Buße und Taufe. Allen antwortet er: ›Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste, bereitet dem Herrn einen Weg!‹« »Wer kann dieser Johannes anders sein als der Herold des neuen Königs?« sagte Ben Hur. Balthasar erhob sich: »Laßt uns eilen, ich bin nicht müde. Es kann sein, daß der Erlöser kommt und wir sind nicht dort.« 363
Am nächsten Morgen um die dritte Stunde, als sie aus dem Hohlweg herauskamen, der sich am Berge Gilead hinzieht, erblickten sie die obere Grenze der alten Palmenwälder von Jericho, die sich bis in die Gebirgsgegend Judäas erstreckten. Der Führer trieb das Kamel an. Bald sahen sie Zelte, Hütten und angebundene Tiere und dann, an beiden Ufern des Flusses, eine große Menge. »Wir wollen hierbleiben«, sagte Ben Hur, »der Prediger könnte hier vorbeikommen.« Und bald schritt ein Mann vom Fluß her auf sie zu, dessen Erscheinung so seltsam war, daß sie alles um sich her vergaßen. Er sah rauh und verwildert aus mit seinem hageren, schmalen Gesicht, das braun wie altes Pergament war. Über die Schultern und den Rücken fielen ihm wirre Locken. Seine rechte Seite war nackt, von derselben Farbe wie sein Gesicht und ebenso hager; ein Gewand aus rauhen Kamelhaaren, so rauh wie Beduinenzelte, hing ihm über seiner linken Schulter bis zum Knie herab. Er hielt einen langen Stab in der Hand. Seine Bewegungen waren hart, kurz und äußerst wachsam. Die junge Ägypterin betrachtete den Sohn der Wüste mit Staunen, wenn nicht mit Abscheu. Dann hob sie den Vorhang des Zeltes und fragte Ben Hur: »Ist das der Herold deines Königs?« Ben Hur war selbst enttäuscht. Trotz seiner Vertrautheit mit den asketischen Bewohnern von En-Gedi hatte er doch gehofft, daß der Vorläufer irgendein Zeichen der Größe und Macht seines Königs tragen werde. Beschämt, verlegen und verwirrt konnte er nur antworten: »Es ist der Herold.« Anders Balthasar. Die Wege Gottes, das wußte er, sind nicht der Menschen Wege. So blieb er ruhig auf seinem Kamel sitzen, die Hände auf der Brust gekreuzt, die Lippen im Gebet bewegt. Er erwartete keinen König. Ein Mann hatte sich von einem Stein am Ufer des Flusses erhoben und war auf den Prediger zugegangen. Der Prediger strich sich das Haar aus der Stirn und schaute den Fremden an. Dann hob er die 364
Hand, als wolle er allen ein Zeichen geben. Alle blieben stehen und lauschten, und als vollkommene Stille eingetreten war, senkte sich der Stab in der Hand des Priesters und deutete auf den Fremden. Im selben Augenblick und unter dem gleichen Impuls richteten sich Balthasars und Ben Hurs Augen auf den Mann, auf den des Predigers Stab wies. Seine Gestalt war etwas größer als das Mittelmaß, er war schlank und zart, seine Miene war ruhig und sinnend. Sie paßte gut zu seiner Kleidung, die aus einem gewebten Untergewand bestand, das bis zu den Knöcheln reichte, und dem gebräuchlichen Obergewand, dem Talith, aus weißem Leinen mit einem schmalen blauen Saum, das durch den Straßenstaub gelblich erschien. Über dem linken Arm trug er das Kopftuch, dessen rote Stirnbinde lose an der Seite herabhing. Die Quasten an seinem Kleid waren blau und weiß, wie es das Gesetz für die Rabbis vorsieht. Er trug Sandalen der einfachsten Art und sonst weder Tasche noch Gürtel oder Stab. Einzig das Haupt und Angesicht des Mannes hielt die drei in Bann, ebenso die Menge umher. Das Haupt war unbedeckt, das lange, goldbraune, etwas gelockte Haar war in der Mitte gescheitelt. Unter einer breiten Stirn strahlten, von schwarzen, schön geformten Brauen überwölbt, große, dunkelblaue Augen, denen lange Wimpern, wie man sie viel bei Kindern, selten bei Männern findet, einen sehr weichen und zarten Ausdruck verliehen. Die Gesichtszüge ließen Zweifel aufkommen, ob es sich um einen Griechen oder einen Juden handelte; die Feinheit der Nasenflügel und des Mundes war eher griechisch. Güte strahlte aus den Augen, seine Züge waren blaß, das feine Haar, der weiche Bart, der in Wellen über die Kehle bis auf die Brust fiel – selbst ein Soldat hätte nie über diesen Mann gelacht. Jede Frau hätte ihm vertraut, jedes Kind ihm seine Hände gegeben. Er kam immer näher zu den dreien. Ben Hur auf seinem stolzen Pferd, den Speer in der Hand, hätte die Aufmerksamkeit eines Königs erregt; aber der Blick des Nahenden ruhte nicht auf ihm, nicht auf Iras, sondern auf dem greisen Balthasar. Die tiefste Stille herrschte. 365
Da erhob der Prediger, noch immer mit dem Stab auf den Fremden weisend, laut seine Stimme: »Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!« Der Eindruck dieser Worte war unbeschreiblich; auf Balthasar wirkten sie überwältigend. Es war ihm vergönnt, den Erlöser der Menschheit noch einmal zu sehen! Als wolle er dies dem bebenden Balthasar bestätigen, rief der Prediger noch einmal: »Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!« Balthasar fiel auf die Knie, er bedurfte keiner Erklärung mehr; und als wisse das der Prediger, wandte er sich an die Umstehenden: »Dieser ist es, von dem ich sagte, daß nach mir kommen wird ein Mensch, der vor mir gewesen ist, und ich erkannte ihn nicht. Aber damit er von Israel erkannt würde, bin ich gekommen, um mit Wasser zu taufen. Ich sah den Geist vom Himmel herabkommen in Gestalt einer Taube und über ihm schweben. Und ich sah und bezeuge, daß dieser der Sohn Gottes ist.« »Er ist es, er ist es!« rief Balthasar mit tränennassen Augen; dann fiel er ohnmächtig nieder. Als sie am folgenden Tage der Predigt des Johannes lauschten, brach dieser plötzlich mitten im Wort ab und sagte ehrfurchtsvoll: »Sehet das Lamm Gottes!« Und als sie hinschauten, wohin er deutete, sahen sie wieder den Fremden. Als Ben Hur das heilige Antlitz nochmals betrachtete, dieses Antlitz voller Hoheit und milder Trauer, brach eine neue Erkenntnis in ihm auf: Balthasar hat recht – aber auch Simonides. Kann der Erlöser nicht zugleich König sein? Und er fragte einen der Umstehenden: »Wer ist dieser Mann dort?« Höhnisch lachend erwiderte der: »Er ist der Sohn eines Zimmermannes aus Nazareth.«
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Gäste im Hause Hur »Esther, Esther, laß mir einen Trunk Wasser heraufbringen!« Es war auf dem Dach des Palastes der Familie Hur in Jerusalem. Von der Brustwehr aus gab Esther den Auftrag an einen untenstehenden Diener. Ein anderer Diener kam in diesem Augenblick auf das Dach und grüßte ehrerbietig. »Eine Sendung für den Herrn.« Er überreichte Esther einen leinenumhüllten, versiegelten Brief. Es war der 21. März, fast drei Jahre nach der Verkündigung Christi in Bethabara. Malluch hatte in der Zwischenzeit im Auftrage Ben Hurs, der dem Verfall und der Leere seines väterlichen Hauses nicht länger zusehen mochte, es von Pontius Pilatus zurückgekauft. Bei der Wiederherstellung der Tore, Höfe, Veranden, Treppen, Terrassen und des Daches war es nicht nur erneuert, sondern mit noch größerer Pracht als zuvor ausgestattet worden; auch jede Erinnerung an die traurige Vergangenheit war völlig ausgelöscht. Ben Hur hatte aber den Besitz seines Eigentums nicht öffentlich angetreten, dazu hielt er die Zeit noch nicht für gekommen. Auch seinen wirklichen Namen führte er noch nicht. Balthasar und Iras hatten Wohnung in seinem Palast genommen, und der Reiz der Ägypterin zog ihn noch immer an, während ihr Vater, obwohl er zusehends schwächer wurde, ihn als unermüdlichen Zuhörer fesselte bei seinen Reden über die erstaunlichen Kräfte und die Göttlichkeit des wandernden Wundertäters, dem sie alle so erwartungsvoll entgegensahen. Um diese Zeit waren Simonides und Esther erst vor einigen Tagen aus Antiochia angelangt. Es war eine beschwerliche Reise gewesen. Im Schatten des Sommerhauses atmete er jetzt reine Luft ein, die ihm von den wohlbekannten Bergen der Umgegend zuströmte. Aber auch 367
hier vergaß er nicht seine Geschäfte. Täglich brachte ihm ein Bote Sanballats, der das Haus in Antiochia leitete, Nachrichten über den Stand der großen Unternehmungen. Täglich sandte er so genaue Anweisungen, daß sie jedes andere Urteil ausschlossen und alle nur möglichen Zufälle in Erwägung zogen, mit Ausnahme jener, die der Allmächtige der menschlichen Berechnung entzogen hat. Als sich Esther ins Sommerhaus zurückbegab, fiel das Sonnenlicht auf sie, so daß man erkennen konnte, daß sie wundervoll erblüht war, klein, graziös, mit regelmäßigen Zügen, jung und gesund, klug und schön, ein junges Weib, das geliebt zu werden verdiente, da Liebe ihr Wesen war. Sie betrachtete das Päckchen zuerst flüchtig, dann besah sie es genauer. Das Blut schoß ihr in die Wangen, als sie Ben Hurs Siegel erkannte. »Du weißt, von wem dieser Brief kommt, Esther?« fragte Simonides. »Ja – von unserem Gebieter!« »Du liebst ihn, Esther?« fragte er ernst. »Ja!« »Seine Liebe ist bereits vergeben, mein gutes Kind.« »Ich weiß es«, sagte sie ruhig. »Die Ägypterin hat ihn in ihrem Netz. Sie besitzt die List ihres Volkes und dazu Schönheit. Aber wie ihr Volk hat sie kein Herz. Die Tochter, die ihren Vater verachtet, wird auch ihren Gatten betrüben.« »Tut sie das, Vater?« »Balthasar ist ein Weiser, der für einen Heiden wunderbar begnadet wurde. Sein Glaube ziert ihn, sie aber verlacht diesen Glauben.« Simonides legte seine Hand auf die Schulter seiner Tochter. Beide schwiegen eine Weile. »Wenn er die Ägypterin als Gattin heimgeführt hat, Esther, dann wird er mit Wehmut und Reue deiner gedenken. Denn er wird erkennen müssen, daß sie ihn nur als Diener ihrer schlechten Begierden betrachtet. Rom ist der Mittelpunkt ihres Denkens. Für sie ist er Arrius, der Sohn des Duumvirs, nicht der Sohn Hurs, des Fürsten von Jerusalem.« Esther versuchte nicht, die Wirkung dieser Worte zu unterdrücken: »Rette ihn, es ist noch nicht zu spät!« bat sie. 368
Ein zweifelndes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ein Ertrinkender läßt sich retten, ein Verliebter niemals.« Tiefe Röte überzog Esthers Gesicht. »Ich dachte nur an ihn – an sein Glück, nicht an meins. Doch jetzt laß mich seinen Brief lesen.« Esther begann sofort, um den peinlichen Gegenstand zu übergehen: Am 8. Nisan Auf der Straße von Galiläa nach Jerusalem. Der Nazarener ist auf demselben Wege. Ich folge ihm ohne sein Wissen mit meiner vollzähligen Legion. Eine zweite Legion folgt. Das Osterfest erklärt die Ansammlung einer solchen Menge. Als sich der Nazarener auf den Weg begab, sagte er: »Siehe, sie gehen hinauf nach Jerusalem, damit alles in Erfüllung gehe, was die Propheten von mir vorausgesagt haben.« Unser Harren geht dem Ende zu. In Eile. Friede mit dir, Simonides! Ben Hur.
In diesem Augenblick brachte der Diener den Wein und das Wasser. Während Esther ihren Vater bediente, betrat Iras das Dach. Noch nie war sie den Augen Esthers so schön erschienen als eben jetzt. Ein florähnliches Gewand umhüllte sie wie eine Wolke. Ihr Gesicht strahlte, ihr Gang war selbstbewußt, elastisch, doch ohne Ziererei. Esther schien bei ihrem Anblick zurückzuschrecken und schmiegte sich enger an ihren Vater. »Friede sei mit dir, Simonides, und mit dir, schöne Esther!« Der Greis neigte mit ernster Höflichkeit das Haupt. Iras verzog kaum merklich die Lippen und wandte sich Esther zu: »Ein Mann, der Millionen besitzt und ganze Flotten auf dem Meere hat, kann nicht verstehen, was uns einfältige Frauen bewegt. Wir wol369
len deinen Vater sich selbst überlassen. Dort in der Mauerecke können wir ungestört plaudern.« Sie gingen zur Brustwehr und blieben an der Stelle stehen, wo Ben Hur vor Jahren den zerbrochenen Ziegel zu Fall gebracht hatte, der den Prokurator auf den Kopf traf. Iras spielte mit ihrer geöffneten Armspange: »Warst du noch nie in Rom?« »Nein«, antwortete Esther zurückhaltend. »Oh, wie leer ist doch dein Leben!« Der Seufzer, mit dem die Ägypterin das sagte, hätte nicht mitleidiger sein können. Doch im nächsten Augenblick lachte sie so laut, daß man es unten auf der Straße hören konnte. Als sie Esthers abweisende Verschlossenheit bemerkte, änderte sie ihre Haltung und sprach in zutraulichem Tone: »Der Nazarener, von dem unsere Väter so viel zu reden wissen, wird morgen hier sein – und Ben Hur noch heute nacht.« Esther hätte gern ihren Gleichmut bewahrt, brachte es aber nicht fertig. Sie senkte die Augen, und ein verräterisches Rot färbte ihr Wangen und Stirn. Das triumphierende Lächeln, das über das Gesicht der Ägypterin huschte, entging ihr. »Sieh hier sein Versprechen!« Mit diesen Worten zog Iras eine Rolle aus ihrem Gürtel. »Freue dich mit mir, Freundin. Heute abend wird er hier sein. Am Tiber steht ein Haus, ein königlicher Palast, der mir als seiner Herrin gehören soll …« Schnelle Schritte, die von der Straße heraufkamen, unterbrachen ihre Rede. Sie beugte sich über die Brustwehr und schaute hinunter. Dann trat sie schnell zurück und rief, die Hände über ihren Kopf hebend: »Gepriesen sei Isis! Er ist es, Ben Hur ist gekommen! Umarme mich – küsse mich, Esther!« Die Jüdin blickte auf. Ihre Wangen brannten, und ihre Augen flammten zornig. »Liebst du ihn selbst so sehr, oder liebst du Rom mehr?« Die Ägypterin wich einen Schritt zurück. Dann beugte sie stolz den Kopf zu Esther hinab. »Was liegt dir an ihm, Tochter des Simonides?« 370
Esther wollte erregt antworten: Er ist mein! – Sie sprach das Wort nicht aus, sie zitterte, erblaßte und antwortete, als sie sich erholt hatte: »Er ist meines Vaters Freund.« Iras lachte strahlender als zuvor: »Sonst nichts?« Esther sah sie die Treppe hinabsteigen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Ben Hur erzählt vom Nazarener Ungefähr eine Stunde später kamen Balthasar und Simonides, den Esther begleitete, im großen Saale des Palastes zusammen. Und als sie miteinander sprachen, kamen auch Ben Hur und Iras zusammen herein. Ben Hur ging seiner Begleiterin voran und zuerst auf Balthasar zu. Er zögerte, als er Esther sah. Ihre zur Vollkommenheit erblühte weibliche Anmut erinnerte ihn an unerfüllte Erwartungen und Pflichten gegen die Seinen, aber auch an frühere Gefühle gegen sie selbst. Schnell überwand er die Überraschung und ging auf Esther zu. »Friede sei mit dir, süße Esther, und mit dir, Simonides! Der Segen des Herrn ruhe auf dir, weil du dem Vaterlosen ein gütiger Vater warst.« Esther stand mit gesenkten Augen vor ihm. Simonides antwortete: »Ich wiederhole den Willkommensgruß des guten Balthasar, Sohn Hurs, willkommen im Hause deiner Väter. Setz dich und erzähle uns von deinen Wanderungen und deiner Arbeit und von dem wunderbaren Nazarener.« Esther brachte ihm einen Stuhl. Er dankte ihr und setzte sich. »Ich bin gekommen, um euch vom Nazarener zu erzählen. Kürzlich folgte ich ihm mehrere Tage und beobachtete ihn mit größter Aufmerksamkeit. Und ich kam zu dem Schlusse, daß er, obgleich er ein Mensch ist, wie ich einer bin, dennoch mehr ist als ein Mensch.« 371
»Wieso mehr?« fragte Simonides. »Ich will es dir sagen …« Ben Hur hörte, daß jemand das Zimmer betreten hatte, er blickte sich um und erhob sich mit ausgestreckten Händen. »Amrah! Liebe alte Amrah!« rief er. Sie kam auf ihn zu; Freude verklärte ihr Gesicht. Zu seinen Füßen niederkniend, umfing sie seine Knie und küßte seine Hände. Er strich ihr das graue Haar aus der Stirn und küßte sie auf die Wange: »Gute Amrah, hast du mir nichts von ihnen zu berichten – kein Wort, nicht ein kleines Zeichen?« Sie schluchzte nur auf, und das sagte ihm mehr als Worte. »Komm, Amrah, setz dich zu mir. Ich habe meinen guten Freunden vieles von einem wunderbaren Manne zu erzählen, der in die Welt gekommen ist. – Ich kann eure Frage über den Nazarener nicht beantworten, bevor ich nicht einiges über die Dinge berichtet habe, die ich ihn tun sah. Ich tue das um so lieber, weil er morgen in unsere Stadt kommen und den Tempel besuchen wird, den er seines Vaters Haus nennt. Dort, heißt es, wird er sich verkündigen.« Balthasar hatte seine zitternden Hände gefaltet und fragte: »Wohin muß ich gehen, um ihn zu sehen?« »Es wird ein großes Gedränge geben. Deshalb halte ich es für das beste, wenn du auf das Dach der Vorhalle Salomons gehst.« »Kannst du uns begleiten?« »Nein, denn ich muß mit meinen Leuten der Prozession beiwohnen.« »Der Prozession? Reist er denn im Triumphzug?« Ben Hur hatte den Gedankengang dieser Frage, die Simonides stellte, verstanden. »Er hat zwölf Männer bei sich, Fischer, Landsleute und einen Zöllner, alles Leute der niederen Klasse. Er und sie reisen zu Fuß, unbekümmert um Wind, Kälte, Regen oder Hitze. Nur wenn der Nazarener sein Haupt entblößt, um den Staub oder den Schweiß abzuwischen, dann erkennt man ihn als ihren Lehrer und Meister, ihren Herrn.« 372
»Ist er wirklich sehr arm?« Ben Hur antwortete: »Er besitzt nichts. Und er beneidet niemand um seinen Besitz. Was würdet ihr sagen, wenn ihr gesehen hättet, wie ein Mensch sieben Brote und zwei Fische so vermehrt, daß davon fünftausend Menschen satt werden könnten und noch Körbe voll übrigbleiben? Das sah ich den Nazarener tun! Und was noch wunderbarer ist: Was würdet ihr von einem Menschen sagen, der eine so große Heilkraft besitzt, daß die Kranken nur den Saum seines Gewandes zu berühren oder ihn von ferne anzurufen brauchen, um geheilt zu werden? Auch davon war ich Zeuge, nicht einmal, sondern öfter. Als wir Jericho verließen, riefen zwei Blinde am Wege den Nazarener an. Er berührte ihre Augen, und sie wurden sehend. Als man einen Gichtbrüchigen zu ihm brachte, da sprach er nur: ›Gehe in dein Haus!‹ Und der Mann ging gesund davon. Was sagt ihr dazu?« Simonides wußte darauf nichts zu antworten. »Denkt ihr vielleicht wie manche, die ich sagen hörte, daß alles nur Blendwerk sei? Aber ich will euch noch mehr erzählen. Denkt an den Aussatz, jenen Fluch der Menschheit, der kein anderes Ende kennt als den Tod.« Bei diesen Worten stützte Amrah ihre Hände auf den Boden und erhob sich halb in ihrem Eifer. »Was sagt ihr dazu? In Galiläa kam ein Aussätziger zum Nazarener und rief ihn an: ›Herr, wenn du es willst, kannst du mich reinigen!‹ Er hörte den Ruf und berührte den Aussätzigen mit der Hand: ›Sei rein!‹ Und sogleich war der Mann gesund, genauso gesund wie wir alle, die wir Zeugen des Wunders waren; und wir waren eine große Menge.« »Ein andermal kamen zehn Aussätzige auf einmal zu ihm, fielen ihm zu Füßen und riefen: ›Meister, Meister, erbarme dich unser!‹ Er sprach: ›Geht hin und zeigt euch den Priestern, ehe ihr dort seid, werdet ihr geheilt sein.‹ Als sie auf dem Wege waren, verließ sie die Krankheit, und nur ihre Kleider erinnerten noch daran.« Amrah hatte sich während der Erzählung unbemerkt zur Türe begeben. Jetzt ging sie leise hinaus. Niemand achtete darauf. »Ihr könnt euch vorstellen, daß mich alle diese Begebenheiten, die vor meinen Au373
gen geschahen, tief ergriffen haben. Aber noch hatte ich meine Zweifel, meine Unruhe, und ich brannte vor Ungeduld und sagte mir, wenn er König sein soll, warum nicht jetzt! Meine Legionen sind bereit. Als er einmal am Seeufer lehrte, gingen wir hin und wollten ihn mit Gewalt zum König krönen. Er aber verschwand aus unserer Mitte.« Der Handelsherr hielt eine Weile seinen Kopf gesenkt, dann blickte er auf. »Die Zeit ist reif. Morgen werden wir die Antwort erhalten.« »Noch bin ich nicht zu Ende«, warf Ben Hur ein. »Laßt euch noch zu anderen Wundern führen, die unendlich größer sind: Sagt mir, hat eures Wissens jemals einer dem Tode die schon geraubte Beute entrissen? Wer hat je einen Toten wieder zum Leben erweckt, außer …« »Gott!« sagte Balthasar ehrfurchtsvoll. Ben Hur neigte den Kopf. »Oh, weiser Ägypter, und du, Simonides, was würdet ihr beide gesagt haben, wenn ihr gesehen hättet, daß ein Mensch mit wenigen Worten einen Toten wieder zum Leben bringt? Es war bei Nain. Wir wollten gerade durch das Stadttor gehen, als man einen Toten heraustrug. Der Nazarener blieb stehen, damit der Leichenzug vorüberziehen konnte. Unter den Leidtragenden war auch eine weinende Frau. Ich sah, wie sich im Gesicht des Nazareners das Mitleid spiegelte. Er sprach mit der Frau, dann ging er hin, berührte die Bahre und sagte zu dem Toten: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf!‹ Und augenblicklich erhob sich der Tote und redete.« »Gott allein ist groß!« sagte Balthasar. »Dieser Nazarener ist mehr als ein Mensch«, entgegnete Ben Hur.
Die Aussätzigen verlassen ihr Grab Die erste, die am nächsten Morgen nach der Öffnung des Schäfertores die Stadt verließ, war Amrah. Obwohl es noch früh am Tage war, saß die unglückliche Fürstin Hur schon vor dem Eingang ihrer Höhle, während Tirzah noch schlief. Da 374
sie sich ihres Aussehens voll bewußt war, ging sie stets tief verschleiert. Selbst Tirzah durfte sie nicht ohne Schleier sehen. An diesem Morgen aber saß sie mit entblößtem Kopf da. Das Haar, schneeweiß und widerspenstig, fiel der Unglücklichen wie Silberdraht über Brust und Rücken. Augenlider, Lippen, Nase und die Wangen waren zerstört und nichts als eine Masse wunden Fleisches. Eine Hand lag steif auf dem Kleide. Die Fingernägel waren abgefallen und die Gelenke der Finger bis auf die Knochen zerfressen. Als die Sonne den Olivenhain und den Berg zu beleuchten begann, wußte sie, daß Amrah kommen werde, erst zum Brunnen, dann zum Stein, und daß sie dort ihren Korb mit der Nahrung niedersetzen würde. Dieser kurze Besuch der treuen Dienerin war das einzige Glück, das sie noch besaß. Sie konnte mit ihr über Judah reden, sowenig sie auch erfahren konnte. Während sie völlig im Nachdenken versunken dasaß, erblickte sie eine Frauengestalt, die eilig auf sie zukam. Sie bedeckte schnell den Kopf und rief mit hohler Stimme: »Unrein, unrein!« Aber schon lag ihr Amrah zu Füßen. Die lange zurückgedrängte Liebe brach unbeherrschbar hervor. Unter Tränen und stammelnden Zärtlichkeiten küßte sie die Kleider der Herrin. Vergeblich versuchte diese, Amrah zurückzudrängen. »Was hast du getan, Amrah? Zeigst du durch diesen Ungehorsam deine Liebe zu uns? Nun bist auch du verloren und darfst nie mehr zu ihm, deinem Herrn, zurückkehren.« Amrah kniete weinend im Staube. »Barmherzigkeit!« Jetzt erschien auch Tirzah im Eingang der Höhle, von den lauten Reden aufgeweckt. »Ist es Amrah, Mutter?« Die Magd wollte auch zu ihr hinkriechen. »Bleib, Amrah! Ich verbiete dir, auch sie zu berühren. Stehe auf und geh hinweg, bevor dich jemand vom Brunnen aus sieht! – Doch nein, ich vergaß, du mußt jetzt hierbleiben und unser Schicksal teilen. Stehe auf, sage ich!« Amrah hob sich auf die Knie und sprach mit gefalteten Händen: »Gute Herrin, ich bin nicht treulos – ich bin nicht schlimm, ich brin375
ge euch gute Nachricht! Ich weiß einen wunderbaren Mann, der die Macht hat, euch zu heilen. Er spricht ein Wort, und die Kranken sind gesund, ja selbst die Toten kehren zum Leben zurück. Ich bin gekommen, weil ich euch zu ihm führen will.« Die Mutter lauschte begierig den Worten: »Wer ist es?« »Ein Nazarener.« »Hat dich Judah gesandt?« »Nein, er glaubt, daß ihr tot seid.« »Einmal hat ein Prophet einen Aussätzigen geheilt, aber er hatte die Macht von Gott«, sagte die Mutter zu Tirzah. »Woher weiß mein Sohn, daß dieser Mann solche Macht hat?« »Er wanderte mit ihm, er hörte, wie die Aussätzigen ihn anriefen, und er sah sie gesund weggehen.« Die Mutter schwieg noch immer. Sie erwog das Gehörte und zweifelte nicht mehr an seiner Wahrheit, nachdem sie erfahren hatte, daß ihr Sohn Zeuge war. »Es muß der Messias sein! ich erinnere mich der Zeit, als Jerusalem und ganz Judäa davon redeten, er sei geboren.« Nach einer Weile tiefen Schweigens wandte sie sich entschlossen an Amrah: »Wir werden mit dir gehen. Bring uns Wasser und gib uns zu essen. Dann wollen wir gehen!« Das Mahl war schnell beendet. Die drei Frauen begaben sich auf den Weg. Tirzah teilte das Vertrauen, das ihre Mutter und Amrah erfüllte, nur eine Befürchtung beunruhigte sie noch. Nach Amrahs Bericht kam der Mann von Bethanien her. Es führten aber von dort drei Wege nach Jerusalem: einer über den Ölberg, ein zweiter an dessen Fuß entlang und der dritte am Berg des Ärgernisses vorbei. Sie waren zwar nicht sehr weit auseinander, aber doch weit genug, um den Nazarener verfehlen zu können. »Wir dürfen nicht auf der Straße bleiben«, sagte die Mutter. »Es ist besser, wenn wir uns abseits halten; denn heute ist Feiertag, und es werden viele Leute auf dem Wege sein. Wenn wir über den Berg des Ärgernisses gehen, weichen wir ihnen aus.« Sie stiegen auf der andern Seite des Berges hinab. Obwohl Amrah 376
Tirzah führte und stützte, stöhnte das Mädchen bei jedem Schritt. Als sie am Fuße des Berges ankamen, fiel sie völlig erschöpft nieder. »Mut, Tirzah, dort kommt einer, der uns Nachricht vom Nazarener bringen wird.« »Mutter, du vergißt, wer wir sind. Der Mann wird vor uns fliehen, er wird uns fluchen oder uns gar steinigen.« Zu ihrem Erstaunen kam der Mann aber immer näher heran. Er blieb einige Schritte vor ihnen stehen. »Was wollt ihr?« »Du siehst uns. Hab acht!« »Weib, ich bin der Vorläufer dessen, der solche, wie ihr seid, mit einem Wort heilt. Ich fürchte mich nicht!« »Ist es wahr, daß er heute in die Stadt kommt?« »Er ist schon in Bethphage.« »Welchen Weg nimmt er?« »Diesen!« »Für wen hältst du ihn?« »Für den Sohn Gottes!« Er ging weiter. »Hast du gehört, Tirzah, hast du gehört? Der Nazarener ist auf dem Wege – auf diesem Wege. Nur noch eine Anstrengung, mein Kind, damit wir zum Felsen gelangen. Es sind ja nur wenige Schritte.« Die drei Frauen gingen zu dem Felsen. Die Mutter überzeugte sich, daß sie von dort aus von den Vorübergehenden gesehen und gehört werden konnten. Sie setzten sich in den Schatten, tranken von dem Wasser und ruhten. Tirzah war bald eingeschlafen. Da sie das Mädchen nicht stören wollten, verhielten sich die beiden Frauen still.
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Das Wunder Um die dritte Morgenstunde fanden sich viele Leute vor dem Ruheplatz der Aussätzigen ein. Zu Beginn der vierten Stunde zeigte sich auf dem Gipfel des Ölberges eine große Menschenmenge. Als sie zu Tausenden näherkamen, sahen die Aussätzigen und Amrah voll Staunen, daß jeder einen frischen Palmenzweig in den Händen hielt. Tirzah sah verwundert auf das Treiben. »Was bedeutet das alles?« »Er kommt!« »Ich fürchte, daß er uns dann nicht hören wird!« Die Mutter teilte diese Befürchtung. »Amrah, wie sagte Judah, als er euch von der Heilung der Aussätzigen erzählte? Wie haben sie den Nazarener angerufen?« »Sie riefen: ›Herr, erbarme dich unser!‹ oder: ›Meister, erbarme dich unser!‹« »Sonst nichts?« »Anderes habe ich nicht gehört!« Inzwischen hatte sich der Zug vom Osten her genähert. Die Blicke der Aussätzigen fielen auf einen Mann, der inmitten einer Gruppe ritt, die sang und tanzte. Er war ganz in Weiß gekleidet und trug keine Kopfbedeckung. Die Frauen konnten den Blick von seinem gütigen Antlitz, das von langem, goldbraunem, in der Mitte gescheiteltem Haar umrahmt war, nicht abwenden. Er blickte weder zur Rechten noch zur Linken. »Er ist da, Tirzah! Er ist da! Komm, mein Kind!« Die Mutter erhob sich und wankte vorwärts. Sie hatte ihre verstümmelten Hände hochgehoben und rief mit gellender Stimme. Die Menschen bemerkten sie, sahen ihr entstelltes Gesicht und blieben er378
schreckt und entsetzt stehen. Tirzah war zurückgeblieben. Sie fiel ermattet zu Boden. »Aussätzige, Aussätzige! … Steinigt sie! … Die Gottverfluchten! … Tötet sie!« Diese und ähnliche Rufe vermischten sich mit dem Hosianna der Menge. Einige aber hatten lange genug in der Gemeinschaft des Nazareners gelebt, um sein göttliches Mitleid zu kennen. Sie schauten ihm nach, wie er jetzt zu den Frauen hinritt und vor ihnen anhielt. Diese schauten gnädig in sein gütiges, von überirdischer Schönheit überflutetes Antlitz. »Meister, Meister, du siehst unsere Not! Du kannst uns reinigen! Erbarme dich unser! Erbarme dich unser!« »Glaubst du, daß ich es tun kann?« »Du bist der, den die Propheten vorausgesagt haben, du bist der Messias!« »Weib«, sagte er, »dein Glaube ist groß, es geschehe dir nach deinem Glauben!« So, als ob er alles um sich vergessen hätte, weilte er noch einige Augenblicke bei den Frauen. Dann ritt er weiter. Überwältigt von ihren Gefühlen, rief die Witwe aus: »Ehre sei Gott in der Höhe! Hochgelobt, dreimal hochgelobt sei der Sohn, den er uns gegeben hat!« Sie bedeckte ihren Kopf und eilte zu Tirzah, die sie erregt in die Arme schloß. »Tochter, freue dich, ich habe sein. Versprechen. Er ist wirklich der Messias! Wir sind gerettet, gerettet!« Sie blieben auf ihren Knien, indes die Scharen vorüberzogen, bis sie endlich hinter dem Berge verschwanden. Als sich der Lärm in der Ferne verlor, begann sich das Wunder zu vollziehen. Zuerst fühlten die Aussätzigen eine Erneuerung ihres Blutes. Es strömte schneller und stärker und erfüllte ihre siechen Körper mit einem unbeschreiblichen Gefühl schmerzloser Heilung. Dann empfanden sie, wie sich ihr Geist kräftigte. Die Wirkung kam plötzlich und war vollkommen. Ben Hur war beharrlich allen Wegen des Nazareners gefolgt. Und so 379
wurde auch er Zeuge der Bitten der Aussätzigen, sah auch er ihr Siechtum und die fürchterlichen Verheerungen der Körper, hörte auch er des Nazareners Antwort. Obwohl er schon mehrfach Zeuge solcher Heilung war, war seine Erregung noch immer so groß wie beim erstenmal. Zufällig fiel sein Blick auf den weißen Felsen, und er sah dort eine kleine Frauengestalt stehen, die ihr Gesicht in den Händen barg. »So wahr der Herr lebt! Das ist Amrah!« Er eilte auf sie zu, an Mutter und Schwester vorbei, die er nicht erkannte, und blieb vor der Magd stehen. »Amrah, Amrah, was tust du hier?« Sie fiel weinend vor Freude und Furcht zugleich vor ihm auf die Knie. »Meister, Meister, dein Gott und mein Gott – wie barmherzig er ist!« Eine Ahnung sagte ihm, daß Amrahs Gegenwart mit den beiden Frauen in Verbindung stehen müsse. Deshalb wandte er sich nach diesen um. Sie waren inzwischen aufgestanden. Es war ihm unmöglich, ein Wort zu sprechen. Die Frau, die mit dem Nazarener gesprochen hatte, stand jetzt mit gefalteten Händen und hatte den Blick zum Himmel gewandt. Allein die Umwandlung hatte genügt, sein Erstaunen und sein Verwundern zu rechtfertigen. Doch das war die geringste Ursache seiner Erregung. War es ein Blendwerk? Nie hatte eine Frau seiner Mutter ähnlicher gesehen. So hatte sie ausgesehen, an jenem Tage, als der Römer sie ihm entrissen hatte. Nur eine Veränderung war mit ihr vorgegangen, ihr Haar war mit Grau vermischt. Und das Mädchen an ihrer Seite? Das war doch Tirzah! Anmutig, schöner, vollkommener, reifer, aber ganz wie an jenem Morgen, da sie mit ihm an der Brustwehr gestanden hatte. Er traute seinen Sinnen nicht. »Amrah, Amrah, das ist doch meine Mutter! Sag mir, daß ich richtig sehe. Sag mir, daß es wahr ist!« »Sprich mit ihnen, Herr, sprich mit ihnen!« Ben Hur zögerte nicht länger, er eilte mit ausgebreiteten Armen auf die Frau zu. »Mutter, Mutter, Tirzah, Tirzah, hier bin ich!« Sie hörten ihn und eilten mit jubelnden Gegenrufen in die offenen 380
Arme. Doch plötzlich wich die Mutter zurück und rief wie ehemals: »Unrein, unrein! Bleibe fort, Judah, mein Sohn!« Es war nicht die Gewohnheit, die ihr diesen Ausruf erpreßte, sondern eine von der mütterlichen Liebe ausgelöste Furcht. Sie fürchtete, obwohl ihr Körper geheilt war, daß noch in den Kleidern ein Keim der Krankheit zurückgeblieben sein könnte. Ben Hur dachte an nichts dergleichen. Sie waren da, er hatte sie angerufen, sie hatten geantwortet. Wer oder welche Macht konnte ihn jetzt noch von ihnen zurückhalten? Alle fielen auf die Knie. Auch Amrah war dem Beispiel gefolgt. Und wie ein Jubelpsalm erklang das Gebet der hochbeglückten Witwe. Tirzah sprach es Wort für Wort nach und auch Ben Hur. Aber er tat es nicht mit dem bedingungslosen Glauben der Mutter; denn nachdem sie aufgestanden waren, fragte er: »In Nazareth, Mutter, wo er zu Hause ist, nennen sie ihn den Zimmermannssohn. Wer ist er?« »Der Messias!« »Woher stammt seine Macht?« »Hat er je etwas anderes als Gutes damit getan?« »Nein!« »Das ist der Beweis dafür, daß seine Macht von Gott kommt!« Jetzt erst sah Ben Hur, wie vollständig jede Spur der Krankheit von den Frauen gewichen war. Er nahm seinen Mantel und breitete ihn über Tirzah. Durch das Ablegen des Mantels war ein Schwert an seiner Seite sichtbar geworden. »Ist es Kriegszeit?« fragte die Mutter besorgt. »Nein!« »Weshalb bist du dann bewaffnet?« »Es könnte nötig werden, den Nazarener zu verteidigen.« »Hat er Feinde? Wer sind sie?« »Leider sind es nicht nur Römer, Mutter!« »Ist er nicht ein Israelit und ein Mann des Friedens?« »Keiner ist es mehr als er! Aber nach der Ansicht der Rabbiner und Lehrer hat er sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht.« »Eines Verbrechens?« 381
»Der Unbeschnittene gilt in seinen Augen soviel wie der gewissenhafteste Jude. Er predigt eine neue Lehre.« Ben Hur bekämpfte seine Ungeduld, die Mutter und Tirzah nach Hause zu führen. Aber es mußte erst das Gesetz befolgt werden, das für Aussätzige galt; sie mußten sich dem Priester zeigen. Mutter, Tochter, Sohn und die Magd machten sich zusammen auf den Weg über den Berg des Ärgernisses. Konnte er die beiden Frauen auch noch nicht in die Stadt hineinbringen, so wollte er sie doch in der Nähe haben; wie leicht war ihnen der Rückweg! Sie gingen schnell und leicht und erreichten auch bald eine neue Grabhöhle in der Nähe des Grabes Absaloms, nicht weit vom Bache Kidron. Sie war leer, und die Frauen nahmen einstweilen davon Besitz, indes sich Ben Hur eiligst entfernte, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen, die ihre jetzige Lage verlangte.
Pilger zum Osterfest Ben Hur kehrte nach einiger Zeit zurück und schlug am oberen Kidron, nicht weit ostwärts von den Gräbern der Könige, zwei Zelte auf und ließ sie auf das bequemste einrichten. Dorthin führte er sogleich Mutter und Schwester. Sie sollten hier bleiben, bis sie der Priester untersucht und ihnen das Zeugnis der vollständigen Heilung ausgestellt hatte. Von Zeit zu Zeit kamen schwarzbärtige Männer, kräftige und gedrungene Gestalten, zum Zelt und führten mit Ben Hur geheime Verhandlungen. Auf die Frage seiner Mutter antwortete er nur, daß es Freunde aus Galiläa seien. Diese Männer brachten ihm Nachrichten über den Nazarener; aber auch über seine Feinde, die Römer und die Rabbiner. Ben Hur wußte, daß das Leben des Nazareners in großer Gefahr war, glaubte aber nicht, daß seine Feinde ihre Pläne während der Festzeit ausführen würden. Der Nazarener war sicher in der gro382
ßen Menge seiner Anhänger. Das Wohlwollen des Volkes und die Anwesenheit so vieler Gläubiger aus aller Welt schienen Ben Hur die beste Gewähr für seine Sicherheit zu sein. Am Abend des 25. März unserer Zeitrechnung drängte es Ben Hur, sich in der Stadt umzusehen. Er gab Mutter und Schwester das Versprechen, bald zurückzukehren, und ritt davon. Es war Passahvorabend, und alles Volk war in den Tempeln und schlachtete die Osterlämmer. Durch das nördliche Tor ritt er in Jerusalem ein.
Eine Schlange vom Nil Ben Hur stieg vor der Herberge ab, in der die Weisen vor mehr als dreißig Jahren übernachtet hatten, ehe sie nach Bethlehem weitergezogen waren. Dort band er sein Pferd an und ging zu seinem Vaterhaus. Er erkundigte sich nach Malluch und erfuhr, daß dieser und Simonides am Fest teilnahmen und daß Balthasar sehr schwach sei und sich in einem Zustand höchster Erregung befinde. Ben Hur wollte sich zu ihm begeben. Doch in diesem Augenblick trat Iras ein. Der Diener entfernte sich. Während der vergangenen ereignisvollen Tage hatte Ben Hur kaum an die schöne Ägypterin gedacht. Als sie vor ihm stand, wurde er sogleich wieder in ihren Bann gezogen. Er ging ihr freudig entgegen, blieb aber ganz erstarrt vor ihr stehen. Wie eine Statue stand sie vor ihm mit hoch erhobenem Kopf und fest zusammengepreßten Lippen. Ben Hur sah sie fragend an. Da brach sie das Schweigen. »Du kommst zur rechten Zeit, Sohn Hurs. Ich habe gehört, daß es beim Würfelspiel Brauch ist, am Ende des Spiels Gewinn und Verlust zu verrechnen. Auch wir haben gespielt, ein Spiel, das viele Tage und Nächte gedauert hat. Warum soll, da es nun zu Ende ist, nicht entschieden werden, wer es gewonnen hat?« 383
»Ein Mann wird der Frau immer ihren Willen lassen«, antwortete Ben Hur, sehr wachsam geworden. »Sag mir, du Fürst von Jerusalem«, fuhr Iras fort, »wo ist er, jener Zimmermannssohn aus Nazareth, der zugleich Gottes Sohn sein will und von dem so Großes erwartet wurde? Wo baut er seinen Palast? Ihm, der Tote erweckt hat, konnte es keine Mühe sein, ein goldenes Haus zu errichten. Warum trägst du noch diese Kleidung? Es ist nicht die Tracht eines Statthalters von Indien oder eines Vizekönigs! Ich fürchte, du hast deine Herrschaft nicht angetreten, die Herrschaft – die ich mit dir teilen wollte.« »Die Tochter meines weisen Gastes ist viel gütiger, als sie selbst weiß. Sie lehrt mich, daß Isis ein Herz küssen kann, ohne es besser zu machen.« Ben Hur hatte mit kalter Höflichkeit gesprochen. Iras spielte mit ihrer Halskette: »Für einen Juden ist der Sohn Hurs sehr klug. Ich sah deinen erträumten König in Jerusalem einziehen.« Sie warf Ben Hur einen verächtlichen Blick zu. »An Stelle eines waffengeschmückten Cäsars sah ich einen Mann mit einem Frauengesicht und langen Haaren, der auf dem Füllen einer Eselin ritt. Ein König! Der Sohn Gottes! Der Erlöser der Welt!« – Sie lachte laut auf. Ben Hurs Blicke senkten sich. Alle Gründe, die Balthasar vorzubringen gewußt hatte, alle durch den Nazarener vollbrachten Wunder waren nichts im Vergleich zu dem Eindruck, den diese Schilderung der Ägypterin auf ihn machte. Jetzt erkannte er endgültig, daß der Nazarener kein politisches Ziel verfolgte, und im selben Augenblick ließ er alle Gedanken an Rache sinken. Der Mann mit dem Frauengesicht und im langen Haar erschien vor ihm in Tränen, er kam näher, so nahe, daß ihn ein Hauch seines Geistes berührte. Iras sah gespannt auf Ben Hur. Einen Augenblick schien sie zu überlegen, dann sagte sie kalt: »Entferne dich, geh!« Ben Hur zögerte nicht einen Augenblick. »Friede sei mit dir!« Mit diesen Worten ging er zur Tür. Doch als er sie erreicht hatte, rief ihn Iras zurück. 384
»Noch ein Wort! – Ich kenne einen Juden, einen entflohenen Galeerensklaven, der einen Mann im Palast von Idernee tötete. Derselbe Jude erschlug einen Römer am Marktplatz. Dieser Jude hat drei Legionen bereit, um heute nacht den römischen Statthalter gefangenzunehmen. Er hat außerdem Vorbereitungen für einen Kampf mit Rom getroffen, und der Scheik Ilderim ist sein Verbündeter.« Sie trat dicht an Ben Hur heran und dämpfte ihre Stimme noch mehr. »Du hast in Rom gelebt. Nimm an, diese Dinge kommen gewissen Leuten zu Ohren. Ah, du erbleichst!« Er wich vor ihr zurück, wie ein Mann, der glaubte, mit einem Kätzchen zu spielen, und erkennt, daß er einen Tiger vor sich hat. »Vielleicht befriedigt es dich, Tochter Ägyptens, wenn ich dir sage, daß ich deine List bewundere. Es wird dich auch befriedigen, wenn ich zugestehe, daß ich von dir keine Nachsicht zu erwarten habe. Woher hast du erfahren, was du weißt?« Vielleicht war es ein Kunstgriff, vielleicht war es Ernst: die Züge der Ägypterin verschönte ein Lächeln. »Von dem Sohn Hurs selbst. Und manches hatte ich vom Scheik Ilderim. In der Wüste sind die Zelte dünn und die Nächte so still, daß man den Flug eines Käfers hört.« Er wollte gehen, aber sie streckte ihre Hand aus: »Bleib! Ich habe Mitleid mit dir. Und wenn du tust, was ich dir sage, werde ich dich retten. Ich schwöre es dir bei unserer heiligen Isis.« Ihre Worte blieben nicht ohne Eindruck auf Ben Hur: »Gut«, sagte er, »gut, ich glaube dir.« »Das vollkommene Glück für eine Frau ist, in Liebe zu leben, das größte Glück für einen Mann, sich selbst zu überwinden. Du hattest einst einen Freund. Ihr hattet einen Streit und wurdet Feinde. Er tat dir Unrecht. Nach vielen Jahren begegnetest du ihm im Zirkus von Antiochia.« »Messala!« »Ja, Messala. Vergib ihm die Vergangenheit, sei wieder sein Freund und gib ihm sein Vermögen zurück, das er durch das Rennen verloren hat! Hilf ihm! Diese sechs Talente sind für dich nicht viel. Für ihn aber, 385
der krank ist, bedeuten sie alles. Ben Hur, edler Fürst, für einen Römer seines Standes ist Armut schlimmer als der Tod. Hilf ihm!« Sie hatte sehr schnell gesprochen, es war List, um Ben Hur am Nachdenken zu hindern. Aber sie irrte sich. Ben Hur war es, als blicke Messala über ihre Schulter. Und er sah für einen Augenblick den höhnischen, stolzen Ausdruck seines Gesichtes. »Die Bitte ist abgeschlagen. Messala erhält nichts! – Sandte er dich zu mir mit diesem Ansuchen?« »Er ist edel und hielt auch dich für großmütig.« »Da du ihn so gut kennst, schöne Ägypterin, kannst du mir vielleicht sagen, ob er im umgekehrten Falle das tun würde, was du zu tun von mir verlangst.« »Oh … er ist …« »Ein Römer, wolltest du sagen und meinst damit, daß ich, ein Jude, einen anderen Maßstab anlegen müsse. Hast du mir noch mehr zu sagen, Tochter Balthasars? Dann sprich schnell! Denn, beim Gott Israels, wenn mein Blut noch heißer wird, könnte ich vergessen, daß du ein Weib bist und nur noch eine Spionin des gehässigen Römers und sein Werkzeug! Antworte mir rasch!« Sie trat erschrocken einen Schritt zurück. In Blick und Stimme aber tat sich ihre ganze Bosheit kund. »Du glaubst, ich könnte dich lieben, nachdem ich Messala gesehen habe? Du gehörst zu denen, die geboren sind, um ihm zu dienen. Er hätte sich mit der Zurückerstattung der sechs Talente zufriedengegeben. Ich aber verlange, daß du ihm zu den sechs noch zwanzig hinzufügst. Zwanzig, hörst du? Habe ich bis morgen mittag nicht deine Unterschrift auf einem Schuldschein, der gut ist für sechsundzwanzig Talente, dann wird Sejanus mit dir abrechnen. Sei klug und lebe wohl!« Sie wollte gehen, aber Ben Hur vertrat ihr den Weg. »Ob du Messala heute oder morgen, hier oder in Rom triffst – richte ihm auf jeden Fall meine Botschaft aus! Sage ihm, daß ich die sechs Talente zurückerhalten habe, die er mir von meines Vaters Besitz raubte. Sage ihm, daß ich die Galeere überlebt habe, zu der er mich verurteilen ließ, und daß ich mich über seine Armut und Ehrlosigkeit freue. 386
Sage ihm, daß meine Mutter und meine Schwester, die er in eine Zelle der Burg Antonia warf, damit sie am Aussatz sterben sollten, leben und gesund sind, dank der Wunderkraft des Nazareners, den du so verachtest. Sage ihm, daß sie mir wiedergegeben wurden, um mein Glück vollkommen zu machen. Sage ihm, du eingefleischte List, daß Sejanus, wenn er kommen sollte, um mich zu berauben, nichts finden wird. Das Erbe des Arrius und seinen Palast in Misenum habe ich zu Geld gemacht, und es ist gut verwahrt. Dieses Haus hier und die Güter und Waren, die Schiffe und Karawanen, mit denen Simonides seine Geschäfte betreibt – das alles ist durch kaiserliche Schutzbriefe gesichert. Das habe ich in Rom gelernt, Ägypterin. Gehe jetzt, denn ich will auch gehen!«
Ben Hur kehrt zu Esther zurück Ben Hur verließ das Gastzimmer nicht so sorglos, wie er es betreten hatte. Er hatte die Entdeckung gemacht, daß auch ein Mensch mit gebrochenen Gliedern sich kluge Pläne ausdenken kann. Und jäh durchfuhr ihn der Schreck, daß Iras auch bei dem Anschlag gegen ihn im Palast von Idernee ihre Hand im Spiel gehabt hatte. Diese Erkenntnis hätte ihn tödlich treffen können, aber er fand zugleich, daß ihn ein gütiges Geschick davor bewahrt hatte, sich tiefer in sie zu verstricken. Er wußte jetzt, daß er die Ägypterin nie wahrhaft geliebt hatte. Je mehr er sich beruhigte, um so leichter wurde sein Schritt. Als er zu der Stelle kam, wo von der Terrasse eine Treppe hinab in den Hof und eine andere auf das Dach hinauf führte, zögerte er einen Augenblick. Dann ging er hinauf. Das Innere des Sommerhauses war nur schwach beleuchtet. Er blickte hinein und sah, daß der Sessel des Simonides an eine Stelle gerückt war, von der aus man die Gegend um den Marktplatz am besten überblicken konnte. – Der gute Mann ist zurückgekehrt, dachte er, wenn 387
er nicht schläft, will ich mit ihm sprechen. Er trat ein und ging leise auf den Sessel zu. Aber als er über die hohe Lehne blickte, sah er, daß Esther im Stuhle saß. Sie war in die Decke ihres Vaters eingehüllt und schlief. Er stützte seine Arme auf die Lehne des Stuhles und stand eine Weile unschlüssig da. Er sah auf Esther. Sie war kein Kind mehr. Sie war eine Tochter Judas, schön und so ganz anders als die Ägypterin. Dort waren Eitelkeit, Ichsucht und Ehrgeiz, hier Wahrheit, Pflichtgefühl und Opferbereitschaft. Liebe ich sie? Nein, die Frage heißt: Liebt sie mich? Sie war meine Freundin vom ersten Augenblick an. Ob sie meinen Kuß vergessen hat? Ich habe ihn nicht vergessen. Ich liebe sie … Aber da draußen ist die Hexe von Ägypten. Ich weiß nicht, zu welchen Tollheiten sie fähig ist. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich will auf eine bessere Stunde warten. Geliebte Esther! – Und leise, wie er gekommen war, ging er wieder hinaus.
Gethsemane – »Wen suchet ihr?« Die Straßen waren mit vielen Menschen angefüllt. Sie gingen und kamen, versammelten sich um die Feuer, standen in Gruppen zusammen, sangen und waren glücklich. Auch bei der Herberge waren die Feierlichkeiten im vollen Gange. Als er die Straße hinaufblickte, sah er eine Reihe brennender Fackeln näher kommen. Wo sie vorbeikamen, verstummte der Gesang. Sein Staunen wuchs, als er bemerkte, daß inmitten von Rauch und Funken Speerspitzen römischer Soldaten aufglänzten. Was hatten römische Soldaten bei einer jüdischen Feier zu tun? Das war unerhört. Er blieb stehen, um zu sehen, was es bedeutete. Der Mond schien hell. Dennoch, als ob Mond und Fackeln und die Feuer in den Straßen nicht genügten, den Weg zu beleuchten, trugen 388
einige Teilnehmer des Zuges Laternen. Fackeln und Laternen wurden von Dienern getragen, die alle mit einem Knüppel oder einem zugespitzten Stab bewaffnet waren. Ihre Aufgabe schien darin zu bestehen, für die Ältesten und die Rabbiner, Männer der führenden Klasse in den Gerichten von Caiphas und Hanna, den Weg zu bahnen. Wohin mochten sie gehen? Keinesfalls zum Tempel; denn dorthin führte ein anderer Weg. Und wenn sie ein friedliches Ziel verfolgten, warum dann römische Soldaten? Als der Zug nahe bei Ben Hur war, wurde seine Aufmerksamkeit besonders von drei Männern gefesselt, die in der ersten Reihe gingen. In dem Mann, der zur Linken ging, erkannte er einen Hauptmann der Tempelwache, rechts ging ein Priester. Den Mann in der Mitte erkannte er nicht sogleich; denn er trug den Kopf tief gesenkt, als wolle er sein Gesicht verbergen, und stützte sich schwer auf die Arme seiner Begleiter. Es mochte ein Gefangener sein. Da er wissen wollte, was diesen Zug veranlaßt hatte, trat Ben Hur entschlossen an die Seite des Priesters und hielt mit ihm Schritt. Er beobachtete unablässig den Mann in der Mitte. Wenn er nur einmal den Kopf heben würde! Und da tat er es! Das Licht einer Laterne fiel ihm voll ins Gesicht. Es war blaß, verzerrt, und die Augen blickten verzweifelt. Ben Hur, der während seines Aufenthaltes in der Umgebung des Nazareners seine Jünger ebensowohl wie den Herrn selbst kennengelernt hatte, erkannte jetzt den Mann. »Iskariot!« Der Angerufene wandte sich ihm zu. Er bewegte die Lippen, als wolle er antworten. Aber der Priester kam ihm zuvor: »Wer bist du? Scher dich fort!« Damit schob er Ben Hur beiseite. Ben Hur ließ es sich gefallen, reihte sich aber etwas weiter zurück wieder in den Zug ein. Nach einer kurzen Strecke wandte er sich einem Ölgarten zu, der zur Linken lag. Ben Hur wußte, daß dort nur einige alte, knorrige Ölbäume standen und ein aus dem Felsen gehauener Trog, der zur Aufnahme des ausgepreßten Öls diente. Er wunderte sich darüber, was man zu solcher Stunde an einem so abgelege389
nen Ort zu suchen hatte. Plötzlich blieb der Zug stehen. Es entstand ein wildes Durcheinander. Nur die römischen Soldaten hielten stand. Ben Hur löste sich aus dem wirren Haufen und eilte vorwärts. Er kam zu einem Eingang ohne Tor. Dort blieb er stehen. Im Garten jenseits der Steinmauer stand ein Mann in einem weißen Gewand, er hielt die Hände vor sich gekreuzt. Sein Kopf war unbedeckt, er stand da in Ergebung, als warte er. – Es war der Nazarener. Am Eingang standen seine Jünger. Sie waren tief erregt. Der Nazarener aber stand im Scheine der Fackeln in erhabener Ruhe. Vor ihm hielt die Rotte furchtsam an, bereit, beim ersten Zeichen seines Zorns die Flucht zu ergreifen. Ben Hur warf einen Blick auf Iskariot. Jetzt wußte er den Grund für diesen nächtlichen Zug: Dort stand der Verräter, hier der Verratene! Diese bewaffnete Rotte sollte ihn gefangennehmen. Die erhabene Ruhe, mit der dieser geheimnisvolle Nazarener seinen Feinden gegenüberstand, hinderte Ben Hur daran, einzugreifen. Und er zweifelte auch jetzt noch nicht daran, daß dieser seine so oft bewiesene Wunderkraft zu seinem eigenen Schutz anwenden werde. Ein Wort, ein Atemzug, ein Wink würden genügen. Da hörte Ben Hur des Nazareners klare Stimme. »Wen suchet ihr?« »Jesus von Nazareth!« »Ich bin es!« Die Worte wurden ohne Erregung gesprochen. Dennoch wich die Rotte zurück. Da schritt Iskariot auf den Nazarener zu. »Sei gegrüßt, Meister!« Und er küßte ihn. Der Nazarener sagte mit milder Stimme: »Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kusse? – Wozu bist du gekommen?« Als er keine Antwort erhielt, wandte er sich wieder an die Rotte. »Wen suchet ihr?« »Jesus von Nazareth!« »Ich habe euch gesagt, daß ich es bin. Wenn ihr mich sucht, dann laßt diese da gehen.« 390
Die Rabbis schritten auf ihn zu; als die Jünger ihre Absicht errieten, warfen sie sich ihnen entgegen. Einer hieb in dem entstehenden Handgemenge dem Knechte des Hohenpriesters ein Ohr ab. Noch immer verhielt sich Ben Hur untätig! Während die Führer die Stricke zurechtmachten, um ihn zu binden, vollzog der Nazarener seine größte Tat der Nächstenliebe; er heilte das Ohr des Knechtes. Seine Handlung erfüllte seine Freunde und seine Feinde mit Erstaunen, die einen, weil er die Macht hatte, es zu tun, die anderen, weil er es unter diesen Umständen tat. Er wird sich nicht binden lassen, dachte Ben Hur. Der Nazarener wandte sich an seinen eifrigen Jünger: »Stecke dein Schwert in die Scheide. Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater bereitet hat?« Dann wandte er sich an seine Schergen. »Wie zu einem Mörder seid ihr ausgezogen, mit Schwertern und Stöcken. Täglich war ich bei euch im Tempel, und ihr habt mich nicht gegriffen. Aber das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.« Jetzt gewann die Rotte Mut und umringte ihn. Als sich Ben Hur nach den Jüngern umschaute, waren sie alle gegangen. Nicht einer war geblieben. Und dann sah er, wie sie den Nazarener banden, ihn, der mit einem Hauche seines Mundes alle hätte vernichten können. Noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt, etwas zugleich so Unbarmherziges und eine solche Ergebung in das Schicksal. Die Rotte hatte sich, die Soldaten an der Spitze, auf den Rückweg nach der Stadt begeben. Ben Hur stand allein, er war mit sich selbst im Zwiespalt. Er legte schnell sein langes Obergewand und das Kopftuch ab und warf beides auf die Gartenmauer. Dann lief er dem Zuge nach. Der Nazarener ging langsam, er hatte den Kopf gesenkt, und das Haar fiel ihm ins Gesicht. Er ging gebeugter als gewöhnlich und schien alles um sich vergessen zu haben. Die Hände waren ihm auf dem Rücken gebunden. Den Strick hielt ein Knecht fest. Als sich der Zug der Brücke näherte, nahm Ben Hur im Gedränge dem Knecht den Strick entschlossen aus der Hand und trat an die Seite des Nazareners. 391
»Meister, ich bin dein Freund, ich liebe dich. Sag mir, ich bitte dich: Wenn ich Hilfe bringe – nimmst du sie an?« Der Nazarener blickte nicht auf, antwortete nicht und gab auch kein Zeichen. Es schien, als wolle er sagen: Die Welt hat mich verleugnet. Ich gehe, ich weiß nicht wohin, es kümmert mich nicht. Laßt mich allein! Jetzt drangen die Schergen auf Ben Hur ein. »Er ist einer von ihnen. Greift ihn! Schlagt ihn nieder!« Als mehrere Hände nach ihm griffen, riß er sich mit einem gewaltigen Ruck los und durchbrach den Kreis. Sein Kleid blieb in ihren Händen. Im Dunkel der Nacht lief er halbnackt davon. Er holte sein Obergewand und sein Kopftuch von der Gartenmauer und folgte dem Zug bis zum Stadttor, dann schlich er sich zur Herberge. Dort holte er sein Pferd und ritt zu den Zelten bei den Königsgräbern hinaus. Er war entschlossen, den Nazarener morgen aufzusuchen. Zu spät erfuhr er, daß er schon in derselben Nacht in das Haus Hannas zum Verhör geführt worden war. Wenn man seine Schiffe sinken sieht oder seine Häuser in einem Erdbeben vergehen – was liegt näher, als daß man sich selbst aufgibt? Aber Ben Hur war nicht aus diesem Stoff gemacht. Wenn das Leben versank, das er erhoffte, gab es für ihn doch noch eine Zukunft. Er sah statt des Fürstenpalastes, der ihm gewinkt, sein Haus in Misenum und darin Esther als Herrin. Über ihnen der Himmel von Neapel, zu ihren Füßen das sonnige Land und das blaue Meer. Er war an einem Wendepunkt seines Lebens, und der Nazarener war bei ihm.
Der Gang zum Kalvarienberg Am nächsten Morgen um die zweite Stunde ritten zwei Männer auf Ben Hurs Zelt am Kidron zu. Sie stiegen dort ab und verlangten, ihn zu sprechen. Es waren zwei Hauptleute seiner galiläischen Legionen. 392
»Steh auf, Sohn Judas, und komm mit uns. Das Urteil ist gefällt, und das Kreuz ist schon bereit auf Golgatha.« Ben Hur starrte die beiden Männer an. »Das Kreuz?« Das war alles, was er sagen konnte. »Gestern nacht nahmen sie ihn gefangen und verurteilten ihn. Gegen Morgen brachten sie ihn vor Pilatus. Zweimal leugnete der Römer seine Schuld, zweimal weigerte er sich, ihn den Juden zu überantworten. Schließlich wusch er seine Hände und sprach: ›Also nehmt ihn!‹ Und sie antworteten: ›Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹« »Heiliger Vater Abraham! Ein Römer ist milder gegen einen Israeliten als seine Stammesgenossen? Schnell die Pferde! Bringt mir mein Schwert! Es ist Zeit, für Israel zu sterben, meine Freunde!« »Wohin zuerst?« fragte einer der Männer. »Die Legionen sammeln!« »Da ist nicht mehr viel zu sammeln. Wir hier sind die einzigen, die treu geblieben sind. Die anderen sind alle zu den Priestern übergegangen.« »Was wollen sie dort?« »Ihn töten.« Ben Hur zügelte sein Pferd und schaute von einem der Männer zum andern. Und er antwortete sich selbst: Es ist so, sein Tod kann nicht abgewandt werden. Er ist ihm vom Anfang seiner Sendung mit vollem Bewußtsein entgegengegangen. Er griff in die Zügel. »Kommt, Brüder! – Nach Golgatha!« Sie trafen auf viel aufgeregtes Volk, das gleich ihnen nach Süden strebte. Die ganze Stadt und ihre Umgebung schienen in Bewegung zu sein. Als sie hörten, daß sie dem Zug mit dem Verurteilten in der Gegend der Türme des Herodes begegnen könnten, ritten sie dorthin. Ben Hur hörte aus der Richtung der Türme das erste ferne Geschrei vieler Menschen. »Sie kommen!« Der Lärm kam immer näher. Da sah Ben Hur Simonides, der von 393
seinen Dienern vorbeigetragen wurde. Esther schritt an seiner Seite. Hinter ihnen kam eine geschlossene Sänfte. Ben Hur trat zu ihnen. »Friede sei mit dir, Simonides, und mit dir, Esther! Wenn ihr auf dem Wege nach Golgatha seid, laßt erst den Zug vorbei. Ich will euch dann begleiten.« Simonides blickte auf, als wäre er in seinen Gedanken aufgestört worden. »Sprich mit Balthasar. Ich werde tun, was er tut. Er ist in der Sänfte.« Ben Hur zog den Vorhang der Sänfte zurück. Der Ägypter lag wie leblos darin. Er nickte schwach zu dem Vorschlag: »Können wir ihn sehen?« »Den Nazarener? Ja! Er muß hier vorbeikommen.« Der Greis rang die Hände. »Welch schrecklicher, welch furchtbarer Tag ist heute für die Welt!« Der Lärm, betäubend und ohrenzerreißend, kam näher und näher und mit ihm der Zug mit dem Verurteilten. »Da kommt Jerusalem!« sagte Ben Hur bitter. Den Vortrab bildete eine Schar lärmender, tanzender Knaben, die immer und immer wieder schrien: »Der König der Juden! Platz für den König der Juden!« Es folgte eine Rotte Soldaten in voller Waffenrüstung. Sie marschierten gleichgültig und teilnahmslos. Dann kam der Nazarener! Er schien dem Tode nahe. Bei jedem Schritt drohte er umzusinken. Um seinen Hals trug er einen Strick, an dem ein Brett befestigt war. Es trug eine Inschrift. Seine nackten Füße hinterließen auf den Steinen blutige Spuren. Ein zerrissenes Kleid hing lose über seinem ungenähten Untergewande. Auf den Kopf war ihm eine Dornenkrone gedrückt worden, unter der das Blut hervorsickerte. Sein blutverschmiertes Gesicht war geisterhaft bleich. Seine Hände waren zusammengebunden. Irgendwo in der Stadt war er unter der Last des Kreuzes, das er selbst tragen mußte, zusammengebrochen. Jetzt trug es ein anderer Mann für ihn. 394
Esther klammerte sich an ihren Vater, der zitterte. Balthasar fiel wortlos zu Boden. Und Ben Hur schrie auf: »O mein Gott, mein Gott!« Gegen die Wut des Volkes schützten den Nazarener vier Soldaten. Dennoch wurde er angespien. Er blickte auf, als er an das Haus kam, vor dem sich Ben Hur und seine Freunde aufhielten. Esther hielt ihren Vater umschlungen, der trotz aller Willenskraft bebte. Balthasar war wortlos niedergesunken. In diesem Augenblick blickte der Nazarener zu der Gruppe hin. Diesen Blick vergaßen sie alle nie. Sie empfanden, daß er nicht an sich dachte, sondern an sie alle. Dem Nazarener folgten zwei andere Männer, die auch Kreuze trugen. Der nächste im Zuge war ein mit allen Abzeichen der Würde geschmückter Hoherpriester: Caiphas, der Schwiegersohn Hannas. Da fragte Esther: »Wer sind die weinenden Frauen dort?« »Ich kenne sie«, antwortete Ben Hur, »die eine ist seine Mutter Maria, die anderen sind aus Galiläa, und der Mann ist der Jünger des Nazareners, den er am meisten liebte.« Ben Hur stand da und dachte zurück. Bei der Mordlust der Menge mußte er an die Milde des Nazareners denken und an die vielen Wohltaten, die jener den Menschen erwiesen hatte. Auch er selbst hatte ihm zu danken. Mußte Ben Hur nicht Hilfe zurückgeben dem, der ihm so viel geholfen hatte? Da sah er einige seiner Galiläer. Er eilte sofort zu ihnen. »Folgt mir! Ich muß mit euch sprechen!« Die Männer blickten ihn ehrerbietig an, rührten sich aber nicht von der Stelle. »Hört ihr denn nicht?« Da trat einer aus dem Haufen vor. »Sohn Judas, du bist getäuscht worden. Der Nazarener ist nicht der König. Er hat nicht den Geist eines Königs. Wir waren mit ihm beim Einzug in Jerusalem. Er soll sterben. Und du, Sohn Judas, höre, wir führen deine Schwerter und sind bereit, sie für die Freiheit zu führen, 395
und ganz Galiläa mit uns. Sage, daß die Freiheit dein Ziel ist. Dann kommen wir beim Kreuze mit dir zusammen.« Der entscheidende Augenblick seines Lebens war für Ben Hur gekommen. Der innere Kampf zwischen seinem Willen und einer höheren Macht ließ ihn erzittern. Da rief Simonides nach ihm. »Komm, wir warten auf dich.« Willenlos folgte er dem Sessel und der Sänfte.
Die Kreuzigung Die zur Kreuzigung ausgewählte Stelle auf dem höchsten Punkt des Hügels Golgatha war schon von einer dichten, lebendigen Mauer umgeben, die von einer Schar römischer Soldaten am weiteren Vordringen gehindert wurde. Ben Hur war bis zur äußersten Grenze des zugewiesenen Raumes gelangt. Dort stand er nun. Wohin er blickte, sah er keinen Fleck Erde, keinen Felsen, nichts Grünes – nur Gesichter, Tausende und Tausende. Da standen sie nun vor dem schrecklichen Schauspiel. Die beiden Schächer waren ihnen gleichgültig; ihr Haß oder ihre Furcht oder ihre Neugier schlug nur dem einen Mann entgegen, ihm, der sie alle liebte und der für sie starb. Noch höher, allen sichtbar, stand gebeugt, leidend, schweigend, der Nazarener. Einer der Soldaten hatte ihm zum Spott ein Rohr als Zepter in die Hand gegeben. In Ben Hur ging eine innere Wandlung vor. Er fragte sich, immer seine Augen auf die Gestalt auf dem Hügel geheftet: Wer ist die Auferstehung? Wer das Leben? – Ich! schien ihm diese Gestalt zu antworten. Und Ben Hur überkam ein Gefühl des Friedens, wie er es nie gekannt hatte. Dumpfe Hammerschläge schreckten ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, wie einige Soldaten und Werkleute die Kreuze herrichteten. Die Löcher, die sie aufnehmen sollten, waren bereits gegraben. 396
Der Hauptmann hatte es dem Hohenpriester gemeldet. »Der Gotteslästerer kommt zuerst an die Reihe. Als Sohn Gottes sollte er in der Lage sein, sich selber zu retten. Wir werden sehen, ob er es kann.« Es wurde unheimlich still. Als die Soldaten Hand an den Nazarener legten, um ihn an das Kreuz zu nageln, ging ein Schauder durch die Menge. »Wie unheimlich es ist!« flüsterte Esther angstvoll und klammerte sich an ihren Vater. Und Simonides hob ihr Gesicht zu sich empor: »Blicke weg, Esther. Mir scheint, daß alle, die es sehen, die Unschuldigen wie die Schuldigen, von dieser Stunde an verflucht sein werden.« Balthasar fiel auf die Knie. Ben Hur sagte ruhig: »Es ist des Nazareners, es ist Gottes Wille! Laß uns tun, was Balthasar tut – still sein und beten.« Auf dem Gipfel ging indessen das grausame Werk vor sich. Die Soldaten beraubten den Nazarener seiner Kleider. Man sah die blutigen Striemen der Geißelhiebe, die er am Morgen erhalten hatte. Erbarmungslos wurde er auf das Kreuz geworfen und darauf ausgestreckt. Sie zogen seine Arme auf den Querbalken, setzten die Nägel an – und einige kräftige Hammerschläge verbanden ihn mit dem Kreuz. Dann schoben sie seine Knie so, daß die Fußsohlen auf dem Stamm des Kreuzes ruhten, legten einen Fuß über den anderen und schlugen durch beide einen langen Nagel. Dumpf erklangen die Schläge. Selbst jene, die sie nicht hörten, sahen die Bewegungen der Henkersknechte und erbebten. Der Nazarener duldete stumm. Kein Laut kam über seine Lippen. Die Soldaten ergriffen das Kreuz, trugen es samt seiner Last nach dem vorbestimmten Platz und senkten es in die Erde. Der Körper des Nazareners hing an den blutenden Händen. Noch ließ er keinen Laut des Schmerzes hören. Nur eine Bitte, die göttlichste aller Bitten, kam über seine Lippen: »Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« Die Menge begrüßte das jetzt allen sichtbare Kreuz mit einemwilden Geschrei. Bald erscholl von allen Seiten der höhnende Ruf: »Sei gegrüßt, König der Juden! Heil dir, König der Juden!« 397
Die Sonne stand im Mittag. Die Berge, die Stadt, der Tempel, die Paläste, Türme und Zinnen erstrahlten. Aber plötzlich erlosch ihr Glanz, und eine Dämmerung brach über die Erde. Das Höhnen und Lärmen verstummte, und angsterfüllt schauten sich die Menschen an. Sie erblaßten und zitterten. Die Dämmerung hatte sich bald zum Dunkel verwandelt, dem die tiefste Finsternis folgte. Aber die Schergen auf dem Bluthügel stellten ihre Arbeit nicht ein. Auch die beiden Schächer wurden gekreuzigt und auch diese Kreuze aufgerichtet. Sich stoßend und schiebend, umdrängte die Menge die drei Kreuze. Der Nazarener wurde wieder mit Lästerungen überschüttet. Die zweite Stunde verging wie die erste. Frauen kamen und knieten unter dem Kreuz. Als der Nazarener sie erblickte, sagte er, zu seiner Mutter gewandt: »Weib, siehe, dein Sohn!« und zum Jünger: »Siehe, deine Mutter!« Es kam die dritte Stunde. Noch immer drängte sich das Volk um die Kreuze, aber die Menschen waren stiller geworden. Nur selten hörte man noch einen Ausruf. Wenn sie an das Kreuz des Nazareners kamen, schwiegen sie, schauten hinauf und gingen wortlos weiter. Auch die Soldaten, die kurz zuvor um seine Kleider gewürfelt hatten, standen unter der Aufsicht ihres Hauptmanns regungslos. Wenn der Nazarener einmal seufzte oder das schmerzende Haupt bewegte, dann sahen sie mit ängstlichen Blicken hin. Und je länger die unnatürliche Nacht anhielt, desto zaghafter und kleinlauter wurden sie. Vielleicht war er doch der Messias – und dann – und dann? Zagend warteten sie, was weiter geschehen werde. In Ben Hur war vollkommener Frieden. Er betete, das Ende des Gekreuzigten möge schnell kommen. Er erkannte, daß auch Simonides zu seinem Glauben gefunden hatte, auch sein kluges Gesicht spiegelte inneren Frieden. Esther hatte sich noch immer an ihn geklammert. Als die dritte Stunde seit der Kreuzigung etwa um die Hälfte vergangen war, kamen einige vom Auswurf der Stadt und blieben vor dem Kreuz stehen. 398
»Bist du Gottes Sohn, dann steige herab!« Da hörte einer der Schächer auf zu jammern und rief dem Nazarener zu: »Wenn du Christus bist, dann hilf dir selbst und uns!« Die Umstehenden lachten. Der andere Schächer wandte sich um. »Fürchtest du Gott nicht? Wir erleiden die Strafe für unsere Vergehen. Dieser aber hat nichts Böses getan!« Dann wandte er sich dem Nazarener zu. »Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!« Und der Nazarener antwortete mit lauter, weithin vernehmlicher Stimme: »Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein!« Beim Kreuze herrschte Staunen und Bestürzung. Die listigen Priester sahen sich in einer schlimmen Lage. Sie hatten den Nazarener zum Tode verurteilt, weil er sich als Messias bezeichnet hatte. Jetzt am Kreuz verkündete er sich nicht nur bestimmter als je, sondern versprach sogar den Missetätern das Paradies. Woher nahm dieser Mensch so viel Zuversicht? Der Atem des Nazareners wurde beklommener, es ging dem Ende zu. Die Kunde verbreitete sich von Mund zu Mund. Dann trat eine Stille ein. Erstickender Qualm erfüllte die Luft. Jetzt gesellte sich zu der Finsternis eine ungewöhnliche Hitze. Die Menge verhielt sich so lautlos, als wäre kein Mensch da. Da erscholl vom Kreuze ein Klageruf: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« Der Ruf erfüllte alle mit Schrecken. Und dann: »Mich dürstet!« Die Soldaten hatten ein Gefäß mit Wein und Wasser und einen Schwamm mitgebracht. Es stand in der Nähe Ben Hurs. Einer unerklärlichen Regung folgend, ergriff Ben Hur den Schwamm, tauchte ihn in das Gefäß, spießte ihn auf ein Rohr und nahte sich damit dem Kreuze. Die Menge rief zornig: »Haltet ihn! Haltet ihn!« Ben Hur achtete nicht auf diesen Ruf. Er hielt den Schwamm an die Lippen des Nazareners … Zu spät! Zu spät! 399
Das Gesicht des Gekreuzigten, obwohl es ganz mit Blut überzogen war, leuchtete in überirdischem Glanz. Er öffnete die Augen und blickte zum Himmel. Ergebung, Erleichterung, ja Triumph lagen in dem Wort, das er ausrief: »Es ist vollbracht!« Das Licht seiner Augen erlosch. Langsam senkte sich das dornengekrönte Haupt auf die Brust. »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« – Die Kunde vom Tode des Nazareners verbreitete sich mit Windeseile unter der Menge. Niemand sprach es laut aus. Flüsternd pflanzte es sich von Hügel zu Hügel fort: »Er ist tot!« Da erbebte die Erde. Die Finsternis wich plötzlich dem grellsten Licht. Leuchtend stand die Sonne wieder am Himmel. Sie begannen zu laufen, als wenn sie um ihr Leben laufen müßten. Zu Fuß, zu Pferde, auf Kamelen und in Wagen strebten sie davon, und das Beben der Erde verfolgte sie. Sie wurden zu Boden geworfen, unterirdische Geräusche erschreckten sie, und berstende Felsen ließen sie furchtsam aufschreien. Sein Blut war über sie gekommen. Als die Sonne die Kreuzigungsgruppe wieder beleuchtete, waren die Mutter des Nazareners, der Jünger, die frommen Frauen, der Hauptmann und seine Soldaten und Ben Hur und seine Freunde die einzigen, die noch auf dem Hügel verweilten. Ben Hur nahm sich Esthers an: »Setze dich hierher zu deines Vaters Füßen! Verhülle deine Augen und schaue nicht auf. Aber vertraue auf Gott und auf den Geist dieses Menschen dort.« »Nein«, sagte Simonides, »nennen wir ihn nun den Christus!« »Er ist es!« bestätigte Ben Hur. Ein Erdbebenstoß erschütterte den Hügel. Obwohl Ben Hur vom Wanken der Erde betäubt war, konnte er doch einen Blick auf Balthasar werfen. Er lag unbeweglich auf der Erde. Ben Hur eilte zu ihm, rief seinen Namen, erhielt aber keine Antwort. Balthasar war tot. Sein Diener war mit der Menge geflohen. So trugen ihn die beiden Galilä400
er in seiner Sänfte in die Stadt zurück. Es war ein trauriger Zug, der bei Sonnenuntergang durch das südliche Tor Ben Hurs Palast betrat. Balthasars Leiche wurde im Saal aufgebahrt. Alle beweinten seinen Tod; denn er hatte sich die Liebe aller gewonnen. Ben Hur übernahm es, Iras die Nachricht vom Tode ihres Vater zu überbringen. Er war bereit, ihr zu verzeihen. Er suchte sie, um sie an die Leiche ihres Vaters zu führen. Er schüttelte die Vorhänge ihrer Tür, hörte die silbernen Glöckchen, erhielt aber keine Antwort. Er rief ihren Namen – kein Zeichen kam. Als er das Zimmer betrat, fand er es leer. Er fragte die Diener. Keiner hatte sie während des Tages gesehen. – Nachdem er das ganze Haus vergebens durchsucht hatte, kehrte er in den Saal zurück und nahm die Stelle der Tochter bei dem Toten ein. Als das Begräbnis Balthasars vorüber war, führte Ben Hur am neunten Tage nach ihrer wunderbaren Heilung und nachdem das Gesetz erfüllt war, seine Mutter und Tirzah nach Hause. Etwa fünf Jahre nach der Kreuzigung saß Esther, Ben Hurs Frau, in ihrem Zimmer in der herrlichen Villa bei Misenum. Es war Mittag, und die heiße Sonne Italiens lag auf den Reben und Rosen der Gärten. Die Ausstattung des Zimmers war römisch, nur Esther trug ihre jüdische Kleidung. Auf einer Löwenhaut, die am Boden lag, spielten zwei Kinder. Ein Diener kam. »In der Vorhalle ist ein Weib, das die Herrin sprechen will.« »Laß sie eintreten!« Die Fremde kam. Bei ihrem Eintritt hatte sich Esther erhoben, um sie anzureden. Nach einem Blick aber zögerte sie und wich zurück. »Ich kannte dich einst, du bist …« »Iras, die Tochter Balthasars.« Esther befahl der Dienerin, einen Stuhl zu bringen. »Nein. Ich gehe sofort wieder.« Sie schauten einander an. Esther war eine schöne Frau und eine glückliche Frau. Ihrer einstigen Nebenbuhlerin schien das Glück nicht günstig gewesen zu sein. Wohl war ihr noch etwas von ihrer Schön401
heit geblieben, aber ihr war der Stempel eines schlechten Lebens aufgedrückt. Ihr Gesicht sah gewöhnlich aus, die großen Augen waren entzündet, die Wangen farblos. Ihre Kleidung war unordentlich und schmutzig. Sie brach das Schweigen. »Sind das deine Kinder?« »Ja, willst du mit ihnen sprechen?« »Ich könnte sie erschrecken.« Sie trat näher an Esther heran: »Ich bringe eine Nachricht für Ben Hur. Sage ihm, daß sein Feind tot ist. Sage ihm, daß ich ihn getötet habe für all das Elend, das er über mich gebracht hat.« »Sein Feind?« »Messala! Sage ihm ferner, daß ich für das Böse, was ich ihm zufügen wollte, so hart gestraft wurde, daß selbst er mich bemitleiden würde.« In Esthers Augen traten Tränen. Sie wollte reden, aber Iras wandte sich zum Gehen. Esther folgte ihr. »Bleib und warte auf Ben Hur. Er hat nichts gegen dich. Er hat dich überall gesucht. Er wird dein Freund sein. Auch ich werde gut zu dir sein. Wir sind Christen.« Iras schien sich zu wandeln, auf ihren Lippen erschien ein Lächeln. Sie schaute auf die Kinder. Esther folgte ihren Blicken: Iras kniete zu den Kindern nieder und küßte sie beide. Dann ging sie rasch zur Tür hinaus, ohne ein Wort des Abschieds. Ben Hur hatte nun die Gewißheit, daß Iras am Tage der Kreuzigung ihren Vater verlassen hatte, um zu Messala zu gehen. Er hatte damals überall nach ihr suchen lassen. Auch jetzt tat er es erneut. Aber er fand sie nicht. Die blaue See hatte ein neues Geheimnis.
Simonides wurde sehr alt. Er zog sich im zehnten Jahr der Regierung des Kaisers Nero von den Geschäften in Antiochia zurück. Seinen scharfen Verstand und sein gutes Herz behielt er bis zum Ende. 402
Ben Hur, Esther und die Kinder waren bei ihm auf dem Dache seines Hauses. Malluch, der noch immer der vertraute Diener seines Herrn war, brachte einen Brief. Er war an Ben Hur gerichtet. »Wer brachte ihn?« – »Ein Araber.« »Wo ist er?« – »Er wollte nicht warten.« Ben Hur las den Brief, nachdem er ihn durchflogen hatte, laut vor: »Ich, Ilderim, Sohn Ilderims des Gütigen und Scheik des Stammes Ilderim an Judah, den Sohn Hurs. Freund meines Vaters! Erfahre, wie mein Vater Dich liebte. Lies die beigeschlossene Schrift, und Du wirst es wissen. Sein Wille ist mein Wille. Deshalb ist das, was er Dir gab, Dein Eigentum. Alles, was ihm die Parther raubten in der großen Schlacht, in der er erschlagen wurde, habe ich zurückerobert. Unter vielem diese Schrift. Friede sei mit Dir und den Deinigen! Diese Stimme aus der Wüste ist die Stimme Deines Freundes, des Scheiks Ilderim.« Ben Hur entrollte einen vergilbten Papyrusbogen und las weiter: »Ilderim, genannt der Gütige, Scheik des Stammes Ilderim an den Sohn, der sein Nachfolger ist. Mein Sohn! Alles, was ich besitze, soll am Tage Deiner Nachfolge Dein sein, ausgenommen der Besitz bei Antiochia. Er soll dem Sohn Hurs gehören, der uns Ruhm im Zirkus brachte. Mache Deinem Vater keine Schande! Ilderim, der Gütige, Scheik«. »Was sagst du dazu?« Simonides, den Ben Hur fragend ansah, schwieg eine Weile. Er blickte nachdenklich vor sich hin. »Der Herr hat dich so wunderbar gesegnet. Du hast Ursache, ihm dankbar zu sein. Ich weiß, was du in Antiochia für den Glauben getan 403
hast. Jetzt kommt, gerade in dem Augenblick, da du von dem fürstlichen Geschenk Ilderims Kenntnis erhältst, die Nachricht von der Verfolgung unserer Brüder in Rom. Dort ist für dich ein neues Arbeitsfeld.« »Was kann ich tun?« »Die Römer, selbst Nero, halten nur zwei Dinge heilig: die Asche der Verstorbenen und die Begräbnisstätten. Kannst du dem Herrn keine Tempel über der Erde bauen, errichte sie unter der Erde. Und um sie zu schützen, laß die Leiber der toten Christen dahin bringen.« Ben Hur erhob sich erregt. »Das ist ein großer Gedanke! Ich will nicht zögern, ihn zu verwirklichen. Das Schiff, das die Nachricht von der Verfolgung brachte, soll mich nach Rom zurückbringen. Ich reise morgen ab.«
Was aus Ben Hurs Vermögen wurde, bezeugen die Katakomben des heiligen Calixtus in Rom, jene Gräberstätten, aus denen das Christenturn emporstieg und das heidnische Rom stürzte.
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Von der Zeit um Christi Geburt bis ins Jahr 312 n. Chr.
Caesaren und Christen 1 In Rom ruhten die Waffen. Die einzigen militärisch ausgerüsteten Männer, die die Römer zu Gesicht bekamen, waren die prätorianischen Leibwachen, die Augustus zu seinen Lebzeiten eher als Ausschmückung seiner Hofhaltung als zu seiner Sicherheit gedient hatten. Es war immerhin eine starke Truppe, die der vorsichtige Herrscher in die Hauptstadt gelegt hatte, um ein Aufbegehren der Römer von vornherein unmöglich zu machen. Der ›praefectus praetorio‹, Befehlshaber der Leibwache, und der ›praefectus urbi‹, der die Polizeigewalt ausübte, wurden die beiden einflußreichsten Würdenträger im Römischen Reich. Die Feldherrn und Unterfeldherrn, die die fünfundzwanzig Legionen des stehenden Heeres befehligten, bekamen jeweils militärische Aufgaben zugewiesen und hielten sich an den ihnen angewiesenen Standorten auf. Diese Ordnung, die der erste Augustus geschaffen hatte, blieb auch unter seinem Stiefsohn Tiberius unverändert. Der Nachfolger, der lange Jahre Mitregent des ersten Augustus gewesen war, setzte nur das Lebenswerk seines Stiefvaters fort. Auch er mußte erkennen, daß der Rhein und die Donau die natürlichen Grenzen des Römischen Reiches im Norden und Nordosten waren, und er beschränkte sich nach vergeblichen Feldzügen auf die Sicherung des Besitzes. Jenseits der Ströme lebten Völker, die den jeweiligen römischen Vormarsch durch heftige Gegenangriffe aufgehalten hatten. Noch zu Lebzeiten des ersten Augustus waren drei Legionen unter P. Quinctilius Varus vom Cheruskerfürsten Arminius im Teutoburger Wald vernich406
tet worden. Auch die Feldzüge des kaiserlichen Neffen Drusus Caesar Germanicus hatten zu keiner endgültigen Unterwerfung der Völkerstämme, die in diesen unerforschten Gebieten lebten, geführt. Das Gefährliche an diesen Stämmen war nicht so sehr ihre Überzahl, sondern ihre Gelehrigkeit in der Handhabung von Waffen und in der Bildung von geschlossenen Einheiten, die sich den Legionen entgegenstellten, als wären sie von Legionären ausgebildet worden. Diese Völker – Chatten, Markomannen, Brukterer, Friesen und andere – wurden bald als begehrenswerte Ware auf den Sklavenmärkten bekannt. Die Völker jenseits der Grenzströme wurden Barbaren genannt. Sie unterschieden sich im Aussehen von den Bewohnern des Römischen Reiches durch ihre hellere Haut, ihre blauen Augen und blonden Haare. Sie hatten ihre eigenen Sitten und Gebräuche, ihre eigenen Götter und eine unbezähmbare Kampfeslust, die die Römer schon damals das Schlimmste hätte fürchten lassen, wenn es nicht bekanntgeworden wäre, daß die Barbaren ihre Streitsucht in Kämpfen untereinander befriedigten. Aber da waren die Grenzfestungen, wie Moguntiacum – Mainz, Colonia Agrippina – Köln, Regina castra – Regensburg, und weiter donauabwärts eine Festung nach der anderen, die den Einbruch dieser Stämme ins römische Reichsgebiet verhinderten und so fern von Rom lagen, daß die gelegentlichen Kämpfe nur dann bekannt wurden, wenn es dem Herrscher gefiel, für sich oder einen seiner Feldherrn einen Triumph zu veranstalten. Anläßlich solcher Feierlichkeiten sowie öffentlicher Staatsgeschäfte wurde der Senat einberufen, als ob die Senatoren noch etwas zu sagen hätten. Aber die Herren in den mit Purpur eingefaßten Gewändern waren nur Zuschauer. Die wenigsten waren noch Abkömmlinge der altangestammten Senatorenfamilien. Eine Bestimmung des verstorbenen Augustus, die Tiberius bestätigte, erlaubte nur sehr reichen Männern die Zugehörigkeit zum Senat. Wer nicht den Nachweis eines großen Vermögens erbrachte, hatte kein Recht auf den Purpur, der im Grunde nur ein Schmuck ohne tiefere Bedeutung war, seit Tiberius sich gegen jede Verunglimpfung und Kritik durch die Anklage ›de 407
maiestate‹ bis zur Vernichtung des Angeklagten rechtmäßig rächen konnte. Angeber von Beleidigungen des Alleinherrschers hießen ›delatores‹ und wurden fürstlich belohnt. Denn durch die Verurteilung eines Schuldigen fiel auch dessen Besitz an den Herrscher und vermehrte das Riesenvermögen, das er allerdings brauchte, um die Legionäre zu besolden. Diese waren seine Macht. Es hatte sich schon während des Bürgerkriegs gezeigt, daß die Befehlsgewalt über die Legionen der entscheidende Machtfaktor war. Unter dem Nachfolger des Tiberius, seinem Adoptivsohn Caligula, wurde das noch deutlicher. Er hieß mit seinem wirklichen Namen C. Caesar Germanicus und wurde von den Legionären in den Feldlagern seines Vaters als Kind ›caligula‹, Stiefelchen, genannt. Er versuchte, die Strenge und Unnahbarkeit seines Vorgängers, der ein erprobter Feldherr und überlegener Herrscher war, nachzuahmen. Von ihm stammte der Ausspruch: »Oderint dum metuant – es macht nichts, daß sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten.« Er benahm sich nicht wie ein ›erster Bürger‹, sondern bestand darauf, als Gottheit verehrt zu werden. Diese übertriebene Selbstvergötterung war der Ausdruck seiner Angst vor Anschlägen und Verschwörungen. Sein launisches Wesen entfremdete selbst seine ergebensten Anhänger und die Verfechter des zweifelhaften Erbrechts, das ihn zum Herrn des Römischen Reiches gemacht hatte. Gab es eine Herrscherfamilie? Hatten der vom Senat zum Princepa erhobene Augustus und sein vom Senat anerkannter Nachfolger Tiberius über die Macht so frei verfügen können, daß sie sie vererben durften? Wer solche Fragen in aller Öffentlichkeit zu stellen wagte oder nur verdächtig war, sie geflüstert zu haben, setzte damit sein Leben aufs Spiel. Wer Herrscher sein sollte, bestimmten weder der Senat noch das Volk, sondern die Legionen – obwohl die geheiligte Standarte mit den Buchstaben S.P.Q.R. noch immer den Legionen vorangetragen wurde – und vor allem die prätorianischen Leibwachen, die das Leben des Herrschers schützten. Zum erstenmal in der Geschichte dieser Truppe, deren Befehlshaber der eigentliche Beherrscher des Römischen Reiches war, bewies diese ihre unbeschränkte Macht. Die Prätorianer ermordeten Caligula, des408
sen sie überdrüssig waren, und riefen seinen Onkel Claudius, einen Gelehrten, der lieber Privatmann geblieben wäre, zum Imperator Augustus aus. Claudius überraschte sich selbst durch seine Eignung zum Herrscher. Weder seine Erscheinung noch sein Wesen entsprachen der Gottähnlichkeit, die beim ersten Augustus als selbstverständlich angenommenen wurde. Tiberius, der ein Tatsachenmensch gewesen war, hatte in freiwilliger Einsamkeit gelebt, um sich der lästigen Anbetung seiner Umgebung zu entziehen. Caligula hatte im Gegenteil zuviel Anbetung verlangt. Claudius war es nur peinlich, daß er sich als der neue Augustus gottähnlich verhalten sollte. Aber da er nun einmal durch ein unfreundliches Schicksal zum Herrscher gezwungen war, herrschte er und umgab sich mit Mitarbeitern, die er für verläßlich hielt. Claudius war der Erfinder der Fachministerien. Es gab unter ihm bereits einen Finanzminister, einen Minister des Bittschriftenamtes und einen Kanzler. Aus diesen Keimen entwickelte sich später ein ganz neuer Verwaltungsapparat, der römische Beamtenstaat. Seit der Beschlagnahmung der großen Güter der Geächteten in der Zeit des Marius und Sulla hatte sich ein neuer Stand entwickelt: die freigelassenen Verwalter – ehemalige Sklaven, denen von den neuen Herren die Freiheit geschenkt wurde, damit sie sich der Besitzungen verantwortungsvoll annehmen könnten. Die Freilassung war auch der große Lohn für die Anhänglichkeit und Verläßlichkeit von gebildeten Sklaven vornehmer Familien geworden, denen es nützlicher schien, freie Angestellte zu beschäftigen. Die Claudier und Julier, die durch ihre Machtstellung die reichsten Familien Roms geworden waren, verfügten über die meisten Freigelassenen und hatten zur Wahrung ihrer eigenen Interessen für eine erstklassige Erziehung ihrer ehemaligen Sklaven gesorgt. Es waren meist Griechen, die sich dazu am besten eigneten. Claudius zog für die wichtigsten Posten seiner Verwaltung die begabtesten Freigelassenen heran und ordnete mit ihrer Hilfe die Regierungsgeschäfte so, daß Rom tatsächlich seinen Glanz in alle Provinzen und Herrschaftsgebiete des Reiches ausstrahlte. Er erkannte, daß das 409
wichtigste Mittel zur Aufrechterhaltung der Macht – neben den Legionen – der Ausbau der Verständigung zwischen den einzelnen Verwaltungsstellen und dem Herrschenden selbst war. Er verständigte sich durch Lichtzeichen mit den Statthaltern der Provinzen und Befehlshabern der Legionen und hielt sich so viel rascher und zuverlässiger über die Ereignisse auf dem laufenden. Obwohl er kein Krieger, sondern ein Gelehrter war, sorgte er für die Eroberung Britanniens und machte den südlichen Teil der Insel zur römischen Provinz. Er schuf auch eine Neuordnung in Afrika durch die Errichtung der Provinz Mauretania und im Osten durch die Umschichtung der Verwaltung Thrakiens und die Einverleibung Judäas in die Provinz Syrien. In den dreizehn Jahren seiner unfreiwilligen Dienstzeit als Augustus, in denen er darunter litt, daß er sich nicht seinen geliebten Wissenschaften ergeben konnte, schuf er eine mit wissenschaftlicher Genauigkeit eingerichtete Herrschaft. Er erhob keinerlei Anspruch auf göttliche Verehrung. Es hätte ihm schon genügt, als aufrechter und wohlmeinender Mann Anerkennung zu finden. Aber selbst das wurde ihm durch seine beiden Gattinnen erschwert. Seine erste Frau war Messalina, deren schamlose Unzüchtigkeit schon zu ihren Lebzeiten so sprichwörtlich war, daß Claudius sie nicht so sehr um des lieben Hausfriedens willen als zur Aufrechterhaltung seines guten Rufes töten lassen mußte. Es erging ihm mit seiner zweiten Frau Agrippina noch schlechter. Sie hatte einen Sohn aus einer früheren Ehe und bestand darauf, daß er diesen nicht nur adoptierte, sondern auch zum Thronfolger ernannte, an Stelle seines eigenen Sohnes, Britannicus, den ihm Messalina geboren hatte. Die Adoption wurde vollzogen, aber die Eigenschaften des Stiefsohnes, den Claudius durch den Familiennamen Nero ausgezeichnet hatte, mißfielen ihm so sehr, daß ihn die Adoption bald reute. Er kam jedoch nicht dazu, sie zu widerrufen. Als er Anstalten dazu traf, wurde er von seiner Gattin Agrippina ermordet. Nero hieß mit vollem Namen Claudius Cäsar Drusus Germanicus. Sowohl der Präfekt der prätorianischen Leibwache, Afranius Burrus, als auch Neros Erzieher Seneca waren dem vielseitig begabten jungen 410
Augustus herzlich zugetan. Sie hätten das Staatswesen für ihn mit aller Sorgfalt und Umsicht geleitet, wenn er sie nicht dabei durch sein unbezähmbares Geltungsbedürfnis behindert hätte. Nero wollte nicht nur alles wissen, er bestand auch darauf, alles zu können. Er glaubte nicht nur an seine Gottähnlichkeit, er war ganz und gar davon überzeugt, daß er selbst ein Gott sei. In dieser Einstellung fand er es selbstverständlich, daß er sich seines lästigen Stiefbruders, Britannicus, durch Gift entledigte, daß er seine Mutter und seine erste Frau töten ließ und vor keiner Ausschweifung und Grausamkeit zurückschreckte. Die große Zerstreuung der Zeit waren die Wagenrennen und Schauspielveranstaltungen. Wer bei den Rennen siegte, wer am schönsten sang, wurde volkstümlich, beliebt und bewundert. Nero wollte nicht nur ein glorreicher Imperator Augustus, sondern auch ein siegreicher Wagenlenker und erfolgreicher Schauspieler sein. Er trat öffentlich auf. Sein hemmungsloses Bedürfnis, die Aufmerksamkeit des ganzen Erdkreises auf sich zu lenken, führte auch zu dem Gerücht, daß auf seinen Befehl hin ein Feuer gelegt wurde, dem ein großer Teil der Stadt Rom zum Opfer fiel. Für diese Brandstiftung mußten Schuldige gefunden werden. Erst hieß es, Juden seien die Brandstifter gewesen, und dann, die Angehörigen einer neuen Glaubensgemeinde, die dem Judentum entsprungen war, die Christen, seien schuld am Brande Roms. Der ›praefectus urbi‹, der Polizeigewaltige, ließ die in Rom anwesenden Juden und Angehörigen des jungen christlichen Glaubens gefangennehmen. Sie wurden den wilden Tieren in der Arena vor dem versammelten Volk vorgeworfen. Über diese erste Christenverfolgung berichtete der römische Geschichtsschreiber Tacitus: »Durch keine Hilfeleistung oder Spenden des Princeps konnte die Meinung zerstreut werden, daß Nero selbst die Anzündung der Stadt befohlen habe. Er schob die Schuld auf Leute, welche das Volk Christen nannte und wegen ihrer Schandtaten haßte. Der Gründer dieser Gesellschaft war unter Imperator Tiberius durch den Landpfleger Pontius Pilatus hingerichtet worden … Man konnte die Christen nicht der Brandstiftung überführen, aber des Hasses ge411
gen die gesamte Menschheit. Mit den Todgeweihten trieb Nero seine Kurzweil. Er ließ sie in Tierhäute nähen, damit sie von Hunden zerfleischt würden, oder sie ans Kreuz heften, oder sie anbrennen, damit sie als Fackeln zur Beleuchtung dienten. Nero stellte für dieses Schauspiel seine Gärten zur Verfügung und veranstaltete öffentliche Spiele, bei denen er sich als Wagenlenker unter das Volk mischte …« 2 Im großartig neuerbauten Rom, das sich durch seine breiten Straßen und seine neuen Paläste zur einzigartigen Weltstadt entwickelte, gab es trotz aller Anfeindungen der Bevölkerung und der Bemühungen des ›praefectus urbi‹ immer mehr christliche Zellen. Solange nur die ärmsten und niedrigsten Schichten der Bevölkerung, Sklaven und hoffnungslose Plebejer, die ihr Brotrecht verwirkt hatten, diesem verdächtigen Glauben anhingen, erschien das den gleichgültigen Beobachtern oder den untersuchenden Philosophen erklärlich. Aber als auch Angehörige des Bürgertums und sogar vornehme Männer und Frauen an den Zusammenkünften der Christen teilnahmen, begannen die Klardenkenden am Geisteszustand der neuen Gläubigen zu zweifeln oder sie zu verdächtigen, daß es sich bei ihren Liebesmählern nicht nur um eine keusche Kundgebung menschlicher Zugehörigkeitsgefühle handelte. In Rom kamen alle Laster, alle Glaubensbekenntnisse, alle Völker zusammen, die nicht nur ihre Erzeugnisse auf die Märkte, sondern auch Gedankengut, Gebräuche und Gewohnheiten mitbrachten. Die Fremden kamen als Besucher zur Aufrechterhaltung kaufmännischer Beziehungen, als Gäste von Verwaltungsangestellten, als Sklaven, die in den Häusern und Landgütern mit den Familien als Milchgeschwister, Erzieher und Bedienstete lebten. Es wurde zwar von Rechts wegen angenommen, daß die Sklaven und Sklavinnen nicht gleichberechtigte, ebenbürtige Menschen seien, aber die scharfe Grenze zwischen frei 412
und unfrei verwischte sich bald in der menschlichen Beziehung. Das herrschende Vorurteil, daß der Unfreie ein geringerer Mensch sei als der Freie, verlor durch den persönlichen Umgang an Kraft und konnte nur durch hartnäckiges Festhalten an der Rechtslage aufrechterhalten werden. Der Vorgang der Vermenschlichungen vollzog sich zwar langsam, aber stetig, und sie nahm in dem Maße zu, in dem sich die politischen Rechte der Bevorzugten angesichts der Übermacht der Herrscher und ihrer Höflinge verringerten. Da der Senat und das Volk von Rom machtlos geworden waren, verlor sich auch die innere Anteilnahme an der Staatslenkung. Ereignisse, die früher den Staat und das Volk in Bewegung und Erregung versetzt hätten, wurden zum Gesprächsstoff landläufigen Klatsches herabgesetzt. Was konnte man anderes tun als spotten und lachen, wenn sich ein Nero auf eine große Kunstreise in die griechischen Städte begab, um von einem des Griechischen kundigen Publikum Lorbeerkränze einzuheimsen, mit denen er nach seiner Rückkehr nach Rom einen Triumphzug abhielt! Die wirklich gebildeten und die noch sittenstrengen Römer hatten sich längst mit innerem Abscheu von Nero abgewendet. Nero ahnte es instinktiv und ließ seinem Haß freien Lauf. Als eine Verschwörung Seneca auf den Thron zu bringen trachtete, mußte sich dieser auf Neros Befehl die Adern öffnen. Ebenso starben der Dichter Lucanus und viele andere. Die Römer fanden aber nicht die Kraft, sich von Nero zu befreien, dessen Macht auf den Garden und dem niederen Volk beruhte. Der Anstoß zum Sturz Neros ging von den Legionen in den Provinzen aus. Der Befehlshaber in Gallien, ein romanisierter keltischer Adliger namens Julius Vindex, wollte die Gelegenheit eines Thronwechsels in Rom benutzen, sich zum König von Gallien unter römischer Oberhoheit aufzuschwingen. Er verbündete sich mit Galba, dem Statthalter in Spanien, der, die spanischen und afrikanischen Legionen hinter sich, Nero den Gehorsam aufkündigte und sich dem Senat zur Verfügung stellte. Die Garden folgten nach und riefen Galba im Prätorianerlager zum Kaiser aus. Als die Wache von Neros Palast abgezogen und dieser aufs Land geflohen war, ermannte sich der Senat und verurteilte 413
ihn zur Geißelung und Hinrichtung. Da ließ sich Nero in der Villa eines Freigelassenen mit dem Schwert durchbohren. Mit ihm erlosch das julisch-claudische Herrscherhaus. 3 Noch ehe Galba die Macht richtig ergriffen hatte, wurde er von den Prätorianern ermordet. Die lange Liste der Imperatoren, die Rom in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung beherrschten, war mit Blut geschrieben. Die wenigsten Namen blieben der Nachwelt wegen außerordentlicher Leistungen ihrer Träger geläufig. Der Herrscherwechsel war beinahe in allen Fällen die Folge von Machtkämpfen, die sich nicht auf dem Boden der Stadt, sondern in den Provinzen und in den Lagern der Legionen abspielten. Die Ermordung des Vorgängers kennzeichnete jeweils den Beginn der Herrschaft des nächsten, der seinerseits wieder ermordet wurde. Nur wenige Ausnahmen unterbrachen diese blutige Reihe. Vespasian war als Legat des Kaisers Nero nach Palästina gesandt worden, um den Aufstand der Juden, die die Fremdherrschaft der Römer abwerfen wollten, zu bekämpfen. Als er die Küstenstädte und die kleinen Festungen erobert hatte und die Belagerung Jerusalems beginnen wollte, wurde er von den östlichen Legionen in Alexandria zum Kaiser ausgerufen. Ende des Jahres wurde er auch vom Senat als Kaiser anerkannt. Die Führung des sogenannten ›Jüdischen Krieges‹ übergab er seinem Sohn Titus, der zur Zeit des Passahfestes des Jahres 70 n. Chr. die Stadt Jerusalem mit seinen Truppen umschloß. Fünf Monate dauerte die schrittweise Eroberung der Stadt; am 2. September ging das letzte Bollwerk, der Tempel, in Flammen auf. Nur in einigen Felsenburgen am Toten Meer leisteten die Juden unter Führung des Patrioten Eleazar noch Widerstand, der nach mehrjährigem verzweifeltem Kampf unter Selbstmord endete. Die Festung Jerusalem wurde geschleift und der gefangene Rest des unglücklichen Volkes – nur noch 414
100.000 Menschen – auf dem Sklavenmarkt verkauft. Zur Erinnerung an den Sieg über Judäa wurde auf dem Forum in Rom der Titusbogen errichtet, auf dem noch heute die Reliefs vom Triumphzug des Titus, in dem die heiligen Kultgeräte aus dem Tempel von Jerusalem mitgeführt wurden, zu sehen sind. Der Kaiser Vespasian, der einer unbedeutenden plebejischen Familie entstammte, erfüllte unter selbstloser Anspannung aller Kräfte die Hoffnung aller Bürger auf Frieden und Ordnung. In der kurzen Frist seiner nur neunjährigen Regierung führte er ein neues glückliches Zeitalter für die römische Welt herbei, das mit kurzen Unterbrechungen ein Jahrhundert gedauert hat. Man hat deshalb mit Recht Vespasian neben Augustus gestellt. Die größte Fürsorge ließ Vespasian der inneren Wiederherstellung des Staates und der Stadt Rom angedeihen. Die sinnlose Verschwendung der letzten Herrscher und die kostspieligen Kriege hatten die Finanzen des Staates völlig zerrüttet. Zu ihrer Sanierung mußte Vespasian in Rom, in Italien und in den Provinzen die Steuerschraube bis zum Äußersten anziehen, was ihm den Ruf der Habsucht eintrug. Er nahm aber nichts für sich, sondern verwendete alles für das Wohl der Allgemeinheit und gab im übrigen in seinem Privatleben ein seltenes Beispiel von Mäßigkeit und Einfachheit. Was wir noch heute an Resten des marmornen Rom bewundern können, geht auf die von Vespasian veranlaßte Planung für den Wiederaufbau und die Erweiterung der Stadt zurück. Nach dem großen Brande Roms unter Nero war noch nicht viel für den Wiederaufbau geschehen. Als Zensor des Jahres 73 bestimmte Vespasian neue Grenzen der Stadt, die mit einer ›heiligen Umpflügung‹ einen Umfang von etwa 20 Kilometer erhielt. Als Mittelpunkt des neuen Stadtgebiets galt der Meilenzeiger (Umbilicus) auf dem Forum, von dem aus die Straßen sternförmig zu den Stadttoren liefen. Auch das großartigste aller römischen Bauwerke wurde unter Vespasian begonnen, das Flavische Amphitheater (Kolosseum, vollendet 80 n. Chr.), das 50.000 Zuschauern Platz bot und das noch heute größtenteils erhalten ist, obwohl es seit dem Beginn der Renaissance als Steinbruch für Neubauten miß415
braucht wurde, bis Papst Benedikt XIV. (1740-1758) für die Erhaltung des Restes sorgte. Nach dem Tode des Vespasian folgte ihm sein Sohn Titus auf dem Thron. Man hatte dieser Nachfolge mit Sorge entgegengesehen, denn Titus galt als eingefleischter Soldat, der zur Grausamkeit neigte. Doch die Befürchtungen wurden angenehm enttäuscht. Das Pflichtgefühl war in Titus so stark, daß er alle bösen Neigungen bezähmte. Obwohl er schon nach zwei Jahren starb, so daß er keinen Beweis für die Dauerhaftigkeit seiner Wandlung liefern konnte, wurde er vom Volk vergöttert, das ihm nachsagte, er habe jeden Tag für verloren gehalten, an dem er nicht eine gute Tat vollbracht habe. Unter Titus ereignete sich in Italien eine furchtbare Naturkatastrophe. Ein von einem starken Erdbeben in Kampanien begleiteter Ausbruch des Vesuvs vernichtete drei blühende Städte am Golf von Neapel, Herculaneum, Stabiä und Pompeji, die unter einer viele Meter hohen Aschen- und Vulkangesteinsschicht begraben wurden. Weil die Katastrophe sich über längere Zeit erstreckte, konnten sich von den Einwohnern Pompejis etwa neun Zehntel in Sicherheit bringen, aber rund 2.000 Menschen fanden doch den Tod. Obwohl schon in der Antike nachgegraben wurde, entdeckte man erst im 18. Jahrhundert durch einen Zufall die verschütteten Städte wieder, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts systematisch ausgegraben werden und unsere Kenntnis vom römischen Alltag sehr bereichert haben. Auf Titus folgte in der Regierung sein jüngerer Bruder Domitian, der, obwohl erst dreißig Jahre alt, schon verbittert war durch die Zurücksetzung, die er durch seinen Vater und seinen Bruder erfahren zu haben meinte. Er gebarte sich recht autokratisch und streng, und der Historiker Sueton (70-40. Chr.), der ein ungünstiges Bild von ihm zeichnet, bescheinigt ihm wenigstens, daß er die Magistrate und Statthalter in so strenger Zucht gehalten habe, daß sie niemals ehrlicher und gerechter gewesen seien als unter seiner Herrschaft. Je unbehaglicher Domitians Situation in Rom wurde, um so mehr versuchte er, sich durch äußere Erfolge Ansehen zu erringen. Er setzte den Krieg in Britannien fort, bis nur noch Kaledonien, das heutige schottische Hochland, frei war. Er zog selbst gegen die Chatten am 416
Rhein zu Felde und brachte die von Vespasian begonnene Grenzregulierung zum Abschluß, indem er die politische Grenze bis an die Rhön vorschob und den Limes schuf (Limes = Grenzweg, Grenzmark), den römischen Grenzschutz gegen die Germanen, der ursprünglich mehr zur Sicherung gegen Räuber und Schmuggler als zur kriegerischen Verteidigung bestimmt war. Er begann bei Rheinbrol am Rhein und umfaßte den Taunus und die Mainebene. Dieser obergermanische Limes wurde später unter Trajan längs des Mains und nach Süden bis nach Lorch an der Rems fortgesetzt. Dieser 370 km lange, durch zurückliegende Kastelle in Abständen von 15 km geschützte niedrige Wallgraben fand später seine Fortsetzung in dem 178 km langen rätischen Limes bis zur Donau. Schwieriger war Domitians Kampf gegen die Dazier ( = Daker), die auf dem Gebiet des heutigen Rumänien die römische Donaugrenze bedrohten. Er mußte mit den Daziern einen unrühmlichen Frieden schließen, indem er sich gegen eine jährlich zu zahlende Summe den Frieden erkaufte. Trotzdem feierte Domitian, wie es üblich war, seinen Triumph über die Dazier auf dem Kapitol. Domitian erlag einem Zwist mit seiner sittenlosen Gemahlin, die eine Verschwörung zu seiner Ermordung anstiftete. Da Domitian kinderlos gestorben war, bestimmte der Senat aus seiner Mitte Nerva zum Nachfolger, einen schon älteren Mann, dessen Wirken segensreich war, wenn auch mehr für Italien als für die Provinzen des Reiches. Als die ihm widerstrebende Garde vor seinen Augen die Mörder Domitians tötete und ihn selber zwang, diese Tat vor dem Senat gutzuheißen, erkannte er, daß er zu schwach war, allein zu regieren, und adoptierte deshalb den Statthalter von Obergermanien, Trajan, den er zum Mitregenten ernannte. Als Nerva gestorben war, wurde Trajan unangefochten sein Nachfolger. Trajan (= Traianus) der von Eltern italischer Abkunft stammte, aber in Spanien geboren war, galt schon unter Domitian als der tüchtigste General und fähigste Beamte des Staates. Als Kaiser gehörte er zu den hervorragendsten Herrschergestalten der Weltgeschichte. Er war ebenso energisch, tüchtig und vielseitig wie schlicht und milde und 417
ein Feind jeder unnützen Härte, der seinem Riesenreich den inneren Frieden und eine lange währende gedeihliche Entwicklung schenkte. Sein besonderes Interesse galt dem Orient, in dem er dem Reich drei neue Provinzen, Armenien, Mesopotamien und Assyrien, angliederte. Aber seine Schöpfungen blieben nicht bestehen: Trajans Nachfolger gab Mesopotamien und Assyrien freiwillig den Parthern zurück und richtete in Armenien eine Königsherrschaft unter römischer Lehenshoheit ein. Trajan hinterließ keinen Sohn. Kurz vor seinem Tode bestimmte er seine Gemahlin, Hadrian, den Sohn seines Vetters, zu adoptieren. Dieser trat dann Trajans Nachfolge an. Die größten Erfolge hatte Hadrians Regierung auf dem Gebiet der inneren Verwaltung aufzuweisen, die er ebenso wie die Finanzwirtschaft neu ordnete. Ferner schuf er aus den Rittern einen Beamtenstand, nachdem bis dahin Freigelassene die Ämter bekleidet hatten. Er begnügte sich nicht damit, von Rom aus zu regieren, sondern bereiste zwölf Jahre lang sein Reich. Als seinen Nachfolger adoptierte er Antoninus, den der Senat durch den Beinamen Pius (der Fromme) ehrte. Antoninus Pius war ein trefflicher Herrscher, über den wenig zu berichten ist, denn er sorgte vor allem dafür, daß die von Hadrian geschaffene Ordnung erhalten blieb, so daß das Römische Reich ein Menschenalter lang einen fast ungestörten Frieden genoß. Nach seinem Tode trat sein Adoptiv- und zugleich auch Schwiegersohn Marc Aurel (= Marcus Aurelius) die Herrschaft an. Er war ein bedeutender Philosoph der stoischen Schule. Seine Regierungszeit war nicht so glücklich, wie es bei seinem Gerechtigkeitssinn und seiner Milde zu erwarten gewesen wäre. Die Legionen wehrten zwar Einfälle feindlicher Nachbarvölker in Britannien und am Rhein ab und führten einen siegreichen Krieg gegen die Parther, aber das aus dem Osten zurückkehrende Heer brachte die Pest mit, die während der ganzen weiteren Regierungszeit Marc Aurels das Römische Reich verheerte. Gegen die Einfälle germanischer und sarmatischer Stämme am Rhein und an der Donau, die als ein Vorspiel der Völkerwanderung anzusehen sind, leitete er selbst den sorgfältig vorbereiteten ›Markomannen418
krieg‹, den er nicht ganz erfolglos, aber ohne endgültige Entscheidung bis zu seinem Tode fortführte. Er starb in Vindobona (Wien) an der Pest, vor der ihn auch sein Leibarzt, der berühmte Galen, nicht retten konnte. 4 Hinter der glänzenden Fassade des Wohlstands und des Reichtums, der Macht und Sicherheit, die durch die unerschütterliche Tüchtigkeit der Legionen gewährleistet war, nahm die Unzufriedenheit selbst der zufrieden scheinenden Bewohner des Römischen Reiches zu. Alle Genüsse des Daseins, die sich ihnen darboten, halfen über das immer wachsende Bedürfnis nach innerer Befriedigung nicht hinweg. Die Zerstreuungen wirkten nur von einem Tag zum nächsten und stumpften sich durch die Wiederholung ab. Es fehlte ein erstrebenswertes Ziel, ein höherer Wert. Der Götterglaube der Römer wurde ähnlich wie in Athen Inhalt von Lustspielen, die es den Zuschauern unmöglich machten, die Gottheiten, die auf den Altären verehrt wurden, ernst zu nehmen. Griechische Philosophen errichteten Schulen, die viel Anklang fanden, und verbreiteten und ergänzten das Wissen um die Entstehung und Zusammensetzung der Welt. Die Frage nach dem geheimnisvollen Woher und Wohin des Lebens, nach der Urvergangenheit und der endgültigen Zukunft des Daseins erfüllte die Gemüter der Gebildeten. Es gehörte zum guten Ton, Gespräche über die ›letzten Dinge der Menschheit‹ zu führen und die zeitgenössischen Abhandlungen über geisteswissenschaftliche Fragen gelesen zu haben und besprechen zu können. Da die überlieferten Gottheiten dem Verlangen nach höherem, wahrhaft erhebendem Wesensinhalt nicht genügten, wandte sich die Gläubigkeit fremden Glaubensbekenntnissen zu. Die weiteste Verbreitung im Römischen Reich fanden die ägyptischen Gottheiten, besonders 419
Isis, deren rührende Legende selbst in den Donau- und Rheinländern Anhänger gewann. Die Trauer der Göttin um ihren verschwundenen Gatten rührte durch ihre große Menschlichkeit. Auch Baal wurde angebetet in allen götzenhaften Verzerrungen, mit Menschenleibern und Tierköpfen oder als gepanzerter, ausschreitender Stier, der den Donner- und Kriegsgott verkörperte. Die bedeutendste Gottheit, an der die Legionen hingen, war Mithras', der Lichtgott, dessen Anhänger den Kampf gegen das Böse ausfochten und das Gute, die Wahrheit und Rechtschaffenheit durch die Tat erkämpfen wollten. Ein Geheimnis umwob die Lehre Mithras. Wer zur Ausübung des Mithrasdienstes zugelassen werden wollte, mußte sich schweren Kasteiungen und harten Prüfungen unterziehen. Eine wunderbare gemeinsame Mahlzeit beschloß die Zeremonie, die die Seele mit Zuversicht auf den Sieg der Gerechtigkeit und der Hoffnung auf Unsterblichkeit erfüllte. Gegen diese volkstümlichen Glaubensbekenntnisse schien sich die gute Botschaft Christi, das Evangelium, nicht durchsetzen zu können. Um so weniger, als die allgemeine Volksstimmung den Christen feindlich war. Ihre Absonderung von allen Bekennern anderen Glaubens, ihr deutlich zur Schau getragener Abscheu vor allen heidnischen Festlichkeiten, ihre Geringschätzung von Kunst und Wissenschaft, die Strenge ihres Lebenswandels, der auf Schmuck und Anmut verzichtete, ihre Drohung mit der ewigen Verdammnis aller, die nicht ihren Glauben teilten, führte dazu, daß den Christen vorgeworfen wurde, sie haßten die Menschheit und seien Feinde der bestehenden Ordnung. Der Gegensatz der christlichen Einstellung zu allen anderen Lebensformen und Glaubensäußerungen rief die Empörung der Zeitgenossen hervor, die es nicht verstanden, warum das Reich Gottes, das der gekreuzigte Zimmermannssohn versprach, höher zu werten sei als das Römische Reich. Sie warfen den Christen Mangel an Vaterlandsliebe vor und machten sie für alle unglücklichen Ereignisse verantwortlich: Wenn es ein Erdbeben gab, wenn die Regenzeit später kam, wenn Heuschrecken die Ernte vernichteten, hieß es, daß die Christen daran schuld seien, da sie durch Mißachtung der Götter die Strafe heraufbeschworen hätten. Es wurde behauptet, daß anläßlich der Taufe 420
der Christen Kinder geopfert und daß bei ihrem Liebesmahl die in das Blut der Opfer getauchten Brote verzehrt würden. Die ersten Gesetze für die Behandlung von Christen wurden im Jahre 112 von Trajan erlassen. Er verfügte, daß jeder, der überführt wurde, Christ zu sein, bestraft werden müsse. Wer aber leugne, ein Christ zu sein, und den Göttern ein Opfer bringe, solle straflos ausgehen. Marc Aurel, der nicht nur ein weiser Herrscher, sondern auch ein großer Philosoph war, befahl strenge Bestrafung derjenigen, die ›die leicht erregbaren Gemüter der Menschen durch Wahnglauben in Angst versetzten‹. Unter seiner Verwaltung wurden jene Christen, die römische Bürger waren, enthauptet, die Nichtbürger wilden Tieren in der Arena vorgeworfen. Aber weder die hartnäckigsten Verfolgungen noch die blutigsten Graumsamkeiten verhinderten die Ausbreitung des Glaubens, der die seelische Unsterblichkeit nur von der strengen Beachtung der heiligen Lehren abhängig machte. Was galten abschreckende Beispiele, wenn die Christen sich doch vor den Gerichtshöfen versammelten und um ihre Verurteilung baten, damit sie um ihres Glaubens willen getötet und so der ewigen Seligkeit teilhaftig würden? Außer sich rief ein römischer Richter einer Versammlung solcher Christen zu: »Wenn ihr durchaus sterben wollt, ihr Elenden, so gibt es ja genug Abgründe und Stricke!« Da der Tod die Christen nicht schreckte, versuchten es die Behörden mit Strafen, die ihr Leben zur Hölle machen sollten. Siewurden zu den Galeeren verurteilt, in Bergwerke verschickt, in Ketten gelegt, gefoltert und gezüchtigt. Die als Unverschämtheit empfundene Haltung der Christen, die Herrscher und Feldherrn, Vornehme und Reiche nicht höher einschätzten als Bettler und Sklaven, erregte die Behörden um so mehr, als sie durch die Verheißung des Heils immer mehr Anhänger gewannen. Die frohe Botschaft versprach den Sklaven ihre Erhebung aus verachteter Niedrigkeit, sie spendete den Verzweifelten Trost, den Schuldigen Hoffnung auf Vergebung. Vor allem aber eröffnete sie den Zweifelnden und Fragenden Ausblick auf ein Leben nach dem Tode. Am empfänglichsten für die neue Lehre waren die Frauen. Die Ehe 421
gewann einen tieferen Sinn. Die Gattin wurde zur Gefährtin und konnte gewiß sein, daß ihr zum Christen gewordener Gatte nicht an den üblichen Ausschweifungen der anderen Männer teilnahm. Die wunderbaren Begebenheiten aus dem Leben Jesu Christi überzeugten diejenigen, die an der Glaubwürdigkeit der Überlieferung nicht zweifelten, daß der Gott der Christen mächtiger und hilfreicher war als die Götter der Heiden. Was nützte da die Verfolgung! Der christliche Schriftsteller Tertullian erklärte um das Jahr 200: »Je mehr wir hingemäht werden, desto mehr wächst unsere Zahl. Das Blut der Christen ist Samen.« Da die Ausübung des Glaubens verboten war, wurde er zur Untergrundbewegung. Die Versammlungen der Christen und ihre Gottesdienste fanden in den Katakomben, den unterirdischen Begräbnisstätten Roms und anderer Städte, statt. Die einzelnen Gemeinden hielten die Verbindung untereinander aufrecht. Während das Römische Reich die Anstürme an allen Grenzen mit der ungebrochenen Macht seiner Legionen abwehrte, wuchs die Zahl der christlichen Gemeinden. Nach jeder Welle der Verfolgung, die viele Christen veranlaßte, aus dem Römischen Reich zu den Barbaren zu fliehen, gab es kurze Zeiten der unausgesprochenen Duldung, die zu neuen Bekehrungen führte. In den römischen Provinzen herrschten die Legionen. Ihre Befehlshaber waren abhängig von der Stimmung der Legionäre, denn diese riefen diejenigen Generale zu Caesaren aus, die ihnen am besten gefielen oder die am meisten zahlten. Die Anerkennung des neuen Kaisers durch den Senat war eine Formsache, auf die nicht alle Caesaren Wert legten. Ein bedeutender Herrscher war Septimius Severus, der nicht nur erfolgreich Kriege führte, sondern sich auch die Verbesserung der Rechtspflege angelegen sein ließ, der sich schon Hadrian gewidmet hatte. Aber das römische Recht, dessen Grundsätze sich bis in unsere Tage erhielten, galt nur für Bürger, nicht für die Caesaren selbst. In den Reihen jener hohen Offiziere, die sich zur höchsten Stellung im Staat emporschwangen, galt nur das Recht des Stärkeren, dessen, der die meisten Legionen auf seiner Seite hatte. Diese aus dem Soldatenstand zur Caesarenwürde emporgerückten 422
Offiziere waren beinahe immer genötigt, sich nicht nur gegen die Feinde des Reiches, sondern auch gegen ihre persönlichen Feinde durchzusetzen. Einer nach dem andern wurde von den prätorianischen Leibwachen ermordet: Caracalla, der das Bürgerrecht an alle freien Reichsangehörigen verlieh, Elagabalus, Alexander Severus, Maximinus Thrax, Gordianus und Philippus Arabs, ein semitischer Caesar, der im Jahre 248 den tausendjährigen Bestand des Römischen Reiches feierte. 5 Je nach dem Standort der Legionen und dem persönlichen Einflußgebiet der von den Mannschaften zu Caesaren ausgerufenen Befehlshabern verschob sich der Schwerpunkt der Macht im Römerreich. Römer im engeren Sinne zu sein, hatte keine Vorteile mehr, außer der Begünstigung durch das Getreidegesetz, das die Plebejer vor dem ärgsten Hunger bewahrte. Dennoch blieb Rom der Mittelpunkt des Imperiums. Es war die Stadt der Zerstreuungen, der Moden, der geistigen und wirtschaftlichen Strömungen und auch derjenige Ort, an den alle Verkehrswege angeschlossen waren. »Alle Straßen führen nach Rom«, hieß es, und dieser Ausspruch hatte mehr als sinnbildliche Bedeutung. Das zeigte sich in den besorgniserregenden Zeiten des dritten Jahrhunderts, als es schien, daß weder die steinerne Mauer mit ihren Grenzfestungen noch die besten Legionen den Ansturm der Barbaren, die immer heftiger nach dem Süden drängten aufhalten könnten. Wandernde, kriegerische Völker, die unter dem Sammelnamen Germanen zusammengefaßt wurden, fielen in das Reichsgebiet ein und konnten nur mit Mühe und Not abgewehrt werden. Es fanden Schlachten innerhalb der Grenzen statt, gegen die Franken in Gallien und Spanien, gegen die Alemannen in Oberitalien und die Goten auf der Balkanhalbinsel und in Kleinasien. Eine neue Bewegung von Völkern hatte vom Osten nach dem Westen mit aller Gewalt eingesetzt. ›Die große Wanderung‹ wiederhol423
te sich in anderen Formen. Mehr als tausendfünfhundert Jahre waren vergangen, seit die sogenannten asiatischen Reitervölker in wilden Zügen aus dem Inneren Asiens nach dem Westen gestürmt waren. Die Völker, die nun durch eine geheimnisvolle Unruhe zur ziellosen Wanderung veranlaßt oder durch zielbewußte Eroberungsgelüste bestimmt gegen das Römische Reich anrannten, waren nicht mehr zügellose Horden. Sie hatten entweder schon von den Römern selbst oder von den östlichen Nachbarn des Imperiums, den Parthern, gelernt, ihre Streitkräfte zu sammeln und zur Schlacht zu ordnen, oder sie lernten es im Angriff. Der Ruf der Unbesiegbarkeit der Legionen war im Schwinden, wenn es auch den zu Caesaren ausgerufenen Befehlshabern Decius, Valerianus und Claudius II. gelang, Siege zu erringen und die Eindringlinge aus dem römischen Reichsgebiet zu vertreiben. Aber daß Valerianus nach einem unglücklichen Feldzug gegen das neupersische Reich der Sassaniden geschlagen und vom siegreichen König Schahpus I. (= Sapores) als Sklave mitgeschleppt wurde, erfuhren auch die Könige der Goten und Alemannen und verloren die Achtung und scheue Angst vor der unnahbaren Gottähnlichkeit der Caesaren. Auch die Neugestaltung des Reiches, die Aurelianus begann, half nicht viel. Er wurde zwar in Rom als ›restitutor orbis‹, als Wiederhersteller des Erdkreises, gepriesen, aber dieses übermäßige Lob war auch darauf zurückzuführen, daß er die Stadt durch die Erbauung einer Mauer gegen Handstreiche und Überfälle von Barbaren schützte. Er eroberte wohl die Provinzen Ägypten und Syrien wieder, er brachte auch Frieden in die Provinz Gallien, aber die wenigen Jahre seiner Herrschaft reichten nicht zu einer anhaltenden Befriedung des Reiches hin. Aurelianus wurde auf einer Reise in die östlichen Provinzen von Verschwörern ermordet. Die mächtigen Befehlshaber der Legionen, die gewohnt gewesen waren, sich selbst oder einen ihrer Vertrauensmänner zum Caesar ausrufen zu lassen, waren diesmal entweder am Ende ihrer Weisheit oder ihres Ehrgeizes angelangt oder konnten sich auf keinen General oder Feldherrn einigen. Sie wandten sich an den Senat mit der Bitte, daß die 424
altehrwürdige Versammlung wie in der Vergangenheit einen Imperator zum Schutz des Vaterlandes bestimme. Tatsächlich erwählten die über die Machtvollkommenheit, die ihnen plötzlich zufiel, erstaunten Ältesten einen greisen Senator aus ihrer Mitte. Er hieß Tacitus und leitete sein Geschlecht von dem berühmten Schriftsteller ab, der das Leben der Germanen geschildert hatte und dessen Werke er in allen Bibliotheken aufstellen und zehnmal jährlich auf Staatskosten abschreiben ließ. Er war kein Militär, aber es gelang ihm, einen überraschenden Einfall übermächtiger Alanen und Goten in Kleinasien zurückzuschlagen. Die Legionäre wünschten jedoch nicht, unter dem Befehl eines Redners zu stehen, der erst an seinem Lebensabend zu den Waffen gegriffen hatte. Sie ermordeten ihn und riefen Probus zum Caesar aus. Es war auch höchste Zeit. Ein geübter Feldherr war nötig, um die Franken und Alemannen am Rhein, die Burgunder, Vandalen und Goten an der Donau zurückzutreiben. Probus hatte einen neuartigen Einfall, um den Frieden mit den Barbaren zu sichern. Er forderte sie zur Ansiedlung im Reichsgebiet auf, wies ihnen Land an und nahm die jungen kriegslustigen Männer zur Ausbildung in die Legionen auf. Das wäre ein Versuch gewesen, der sich ganz ausgezeichnet bewährt hätte, wenn er die Legionäre in Schlachten geführt statt zu Kanal- und Straßenbauten verwendet hätte. Sie waren nicht im Gebrauch von Waffen gedrillt worden, um Spaten und Hacke zu führen. Auch Probus wurde ermordet, weil er zu strenge Zucht hielt. Sein Nachfolger Carus hatte gleich eine neue Sorge. Jetzt waren es Sarmaten, die an der unteren Donau zurückgetrieben werden mußten. Kaum war Carus dieser Feldzug gelungen, als er gezwungen war, nach Kleinasien überzusetzen und die reichen Provinzen gegen die Perser zu verteidigen. In den zwei Jahren seiner Herrschaft war Carus so erfolgreich gewesen, daß die Bürger und Legionäre um ihn trauerten, als sie erfuhren, daß er vom Blitz erschlagen worden sei. Wer aber war an all dem Unglück schuld, das das Römische Reich heimgesucht hatte? Ein Unstern? Die Rache der Götter? Die Christen, 425
deren Glaube immer mehr Anhänger gewann und die sich trotz aller Verfolgungen schon aus ihren Katakomben in Rom und anderen Städten des Reiches hervorwagten und Gotteshäuser errichteten, um ihre Liebesmähler in würdiger Umgebung feiern zu können? Oder war alles Mißgeschick darauf zurückzuführen, daß die eigentlichen Machthaber, die Feldherrn und Herren des großen Generalstabs, in dem die Befehlshaber und Offiziere der Legionäre ausgebildet wurden, sich untereinander nicht einigen konnten und die Ausrufung von Caesaren der Willkür in den Heerlagern überlassen war? Als die aus Persien zurückströmenden Legionen des Carus einen neuen Caesar ausrufen wollten, erklärte der von ihnen erkorene Sohn einer illyrischen Sklavin, Diocletian, daß er die Wahl nur annehme, wenn sie die eindeutige Zustimmung aller Generale fände und wenn diese seine Bedingungen vorweg annähmen. Diocletian (= Diocletianus) hatte ein geliebtes göttliches Sinnbild: Sol invictus – die unbesiegbare Sonne. Sein Vorgänger Aurelianus hatte sich als Verkörperung des Sonnengottes ausgegeben, aber er hatte zu unrühmlich geendet, als daß Diocletian diese persönliche Vergötterung hätte nachahmen wollen. Die unbesiegbare Sonne sollte nicht nur sein Sinnbild, sondern auch das des Heeres sein. Er war nicht für die Vergöttlichung des Herrschers, sondern für die Erhebung, für die Erhabenheit. Er nannte sich Augustus und bezeichnete sich, um jeder zwangsläufigen Verbesserung der Rangordnung, die er zum Nachfolgegesetz machte, vorzugreifen, als ›oberster Augustus‹. Er erhob seinen Freund Maximian, einen Bauernsohn, der sich heraufgedient hatte, zum stellvertretenden Partner. Um aber eine Ermordung seiner eigenen allerhöchsten Person und seines Partners aus Ehrgeiz oder Machthunger zu verhindern, ernannte er zwei Unterkaiser, die gleich von den Legionen als künftige Augusti anerkannt werden sollten. Der eine hieß Galerius, der andere Constantius. Beide waren erfahrene, wenn auch jüngere Offiziere, die Gelegenheit und Zeit haben sollten, sich in der Ausübung ihrer Ämter für das höchste Amt vorzubereiten. Diocletian teilte das römische Herrschaftsgebiet auf. Er selber behielt sich den Osten und die Oberherrschaft über das Ganze vor, aber 426
er übertrug Maximian die Befehlsgewalt über den Westen mit der Bestimmung, daß dessen Unterkaiser Constantius im äußersten Westen, in Spanien, Gallien und Britannien herrschte und seine Einkünfte aus diesen Gebieten bezog, während sein eigener Unterkaiser Galerius Ägypten und Syrien zugewiesen erhielt. Maximian verwaltete Afrika, Italien und die nördlich gelegenen Provinzen, er selbst Kleinasien und die illyrischen Provinzen. Die Legionen hatten ihre Standorte, ihre festen, steten Befehlshaber. Wenn es zum Grenzschutz nötig war, konnte der eine dem andern zu Hilfe eilen. Gegen eine Verteidigung, die so fachgemäß eingerichtet war, würden selbst die wildesten Nomaden keine Angriffe wagen. Nun war es an der Zeit, sich nicht nur mit militärischen, sondern auch bürgerlichen Angelegenheiten zu beschäftigen. Diocletian wählte zur Hauptstadt seiner Verwaltung nicht Rom, sondern eine ansehnliche Hafenstadt an der kleinasiatischen Küste: Nicomedia. Von dort aus versuchte er das Imperium neu zu gestalten. Er bestimmte, daß auch sein Partner nicht von Rom aus herrschte, sondern von Mediolanum. Den Caesaren wurde befohlen, Antiochia und Trier zu ihren Hauptstandorten zu machen. Nachdem er die Frage der Verwaltungsknotenpunkte gelöst hatte, begann Diocletian, ein Verwaltungsamt einzurichten, das das Römische Reich wie eine Legion handhabte. Die Losung seiner Herrschaft war ›Ordnung‹. Mit der Hartnäckigkeit des sparsamen kleinen Mannes, der der mächtigste Herrscher des Altertums geworden war, erneuerte Diocletian die römische Wirtschaft. Die wichtigste Aufgabe, die er sich stellte, war die Sicherstellung der Steuern. Durch die unausgesetzte Verschiebung der Machtverhältnisse hatten sich ungeheure Inseln der Steuerfreiheit gebildet: Landgüter, die sich Generale und Statthalter angeeignet hatten und rücksichtslos auswerteten. Die Staatsverwaltung, die sich nicht mehr darauf verlassen konnte, daß die für die Heere nötige Ausrüstung von Gewerbetreibenden geliefert werde, war zur Selbsterzeugerin geworden und hatte Handwerker und Arbeitskräfte herangezogen und versklavt. Sklaven hatten keinen Besitz und zahlten keine Steuern. Dieser Übelstand, der die Staatskasse leer ließ, mußte geändert werden. Die Preise 427
der notwendigen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände schwankten je nach dem Mangel oder Überfluß an Waren. Diocletian schwebte eine vollkommene Vereinheitlichung des Reiches vor, eine gerechtere Aufteilung des Besitzes, eine Gleichstellung aller Preise. Eine Verfügung nach der andern verließ die Schreibstuben des Palastes in Nicomedia, Meldereiter jagten in alle Windrichtungen mit den Bestimmungen, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben des unermeßlichen Herrschaftsgebietes neu regeln sollten. Eingeschlossen in sein Arbeitszimmer, das er nur bei festlichen Anlässen in gold- und edelsteingeschmücktem Ornat verließ, errichtete Diocletian einen Zwangsstaat, in dem die Bauern an die Scholle gebunden waren und eine dem Werte des Bodens entsprechende Steuer zahlen mußten. Die Städter wurden gezwungen, dem Staat eine bestimmte Menge von Erzeugnissen zu liefern, und wenn sie es nicht konnten, andere Arbeit zu leisten. Jede Bestimmung Diocletians wurde nicht nur von ihm selbst, sondern auch von seinem Partner und den Caesaren überwacht, und jeder Verstoß auf das härteste bestraft. Zur vereinheitlichenden Ordnung gehörte es auch, daß sich die Untertanen nicht zu einem Glauben bekannten, der sich von den Bekenntnissen der Masse des Volkes unterschied. Obwohl die Christen gute Steuerzahler waren, erlaubte Diocletian, daß eine neue schlimme Welle der Christenverfolgung begann. Aber das geschah erst gegen das Ende der von ihm vorgesehenen Zeit seiner Herrschaft. Er hatte festgelegt, daß er nicht länger als zwanzig Jahre Augustus sein wolle. Er bestimmte seinen Partner Maximian, ganz gegen dessen Willen, gleichzeitig mit ihm abzudanken, um Platz für die Unterkaiser zu machen, die Augusti werden und ihrerseits Nachfolger ernennen sollten. Um die Zeit nach seiner Abdankung würdig und doch angenehm verbringen zu können, hatte Diocletian in seiner Heimatstadt Salona einen Palast erbaut, in dessen Ruinen die Altstadt des heutigen Spalato angesiedelt ist. In die Gegend, in der er als Sohn einer Sklavin aufgewachsen war, zog er sich als abgedankter Augustus glanzvoll zurück. Er erlebte, daß der von ihm erzogene Caesar Galerius, dem er seine einzige Tochter zur Frau gegeben hatte, Augustus wurde. Auch 428
Constantius nahm den Platz Maximians ein, dessen Schwiegersohn er geworden war. Aber Constantius hatte einen Sohn, den Diocletian von Kindheit bewacht und ausgebildet hatte, Constantin, der sich nach dem plötzlichen Tod seines Vaters von den Legionen zum Caesar des Westens ausrufen ließ. Maximian hatte einen Sohn, Maxentius, der sogleich mit der Hilfe seines Vaters die Macht in den afrikanischen und italischen Besitzungen des Römischen Reiches ergriff und Rom zur Hauptstadt machte. Galerius wollte die Ordnung, die Diocletian eingerichtet hatte, durch Gewalt aufrechterhalten. Er führte Krieg gegen Maxentius. Der alte Maximian aber, der der beliebteste und gewiegteste Feldherr gewesen war, half seinem Sohn, so daß es Galerius nicht gelang, mehr als sein ihm zuerkanntes Herrschaftsgebiet zu behalten. Er hatte auch Sorgen mit seinem Neffen, Maximin Daza, der nicht darauf warten konnte, daß Galerius friedlich starb. Der Großmeister der Ordnung, Diocletian, war machtlos in seiner Zurückgezogenheit. Er konnte nichts dagegen tun, daß sich Maximian mit seinem Sohn überwarf und Constantin seine Tochter Fausta zur Frau anbot, damit dieser Maxentius bekämpfe. Diocletian war auch machtlos, als Galerius, der die Christenverfolgung in seinen Gebieten hartnäckig betrieben hatte, auf dem Totenbett plötzlich bereute und sein Nachfolger Maximin Daza die Witwe des Galerius, Diocletians Tochter, aus dem Palast von Nicodemia vertrieb. Die Sonne schien an der illyrischen Küste mit gütiger Kraft und verlängerte dem lebensmüden Diocletian das unleidliche Dasein. Sie war nicht ›sol invictus‹, die unbesiegbare Sonne. Es gab einen anderen Gott.
Der nachfolgende Auszug aus dem Roman ›In hoc signo‹ von Paul Frischauer schildert die wunderbare Erscheinung, die Constantin veranlaßte, das Römische Reich für den christlichen Glauben zu gewinnen. 429
In hoc signo von Paul Frischauer
1 Je näher Constantin auf seinem Vormarsch Rom kam, desto unbehaglicher war ihm. Er erwartete Widerstand. Der Widerstand kam nicht. Nicht einmal belanglose Patrouillen tauchten auf, um wenigstens die Vorhut aufzuhalten. So reibungslos konnte der Sieg ihm nicht zufallen. Maxentius würde Rom nicht kampflos preisgeben. Ließ er es auf eine langwierige Belagerung ankommen? Aber auch dann war es üblich, Spähtruppen auszuschicken, um Stärke und Kampfmethoden des Feindes auszukundschaften. Die Armee Constantins marschierte vorsichtig, aufgeteilt in Kolonnen, nicht nur auf der breiten Heerstraße, sondern auch über Äcker und Feldwege. Jeder Offizier kannte die weitere und nähere Landschaft nördlich von Rom in jeder Einzelheit. Es gab nicht einmal unbedeutende Hinterhalte: keine Bogenschützen, die meuchelmörderisch aus Gehöften schossen, keine Brandstiftungen, die, wenn auch nur vorübergehend, ein Anhalten des Marsches notwendig gemacht hätten. Nichts von alldem. Die Armee marschierte durch eine von Menschen und Vieh verlassene Gegend. Die Bevölkerung hatte nicht einmal die Lebensmittel aus den Speichern geräumt. Streifenkommandos fanden Würste und Speck, Wein und Bier und verteilten das so leicht Erbeutete in den kurzen Rastpausen an die Mannschaften. Das war kein Vormarsch, das glich einem Spaziergang. Wo war die Falle? Wann und wo kam der Angriff? Etwa fünfzehn Meilen vor Rom befahl Constantin Halt. Der Dunst, den die große Stadt um die Mittagszeit ausatmete, schien in der Ferne sichtbar zu sein. Es war ein ausgezeichneter Halteplatz. Die Armee formierte sich. Constantin erklärte seinen Generälen: »Hier werden wir lagern.« 431
Crocus, sein Unterbefehlshaber, ergänzte: »Und bleiben, Dominus.« Constantin kümmerte sich um die Bemerkung nicht. Er hatte vor, am Nachmittag das improvisierte Belagerungsmaterial der Legionen zu inspizieren und mit den Offizieren seines Generalstabs die Stelle der Verteidigungsposition Roms auszusuchen, an der ein Durchbruch versucht werden könnte. Er kannte sie genau in den Plänen. Er ritt über das Gelände, um die Wachposten des Lagers zu kontrollieren. Ihre Aufstellung war so sorgfältig vorgenommen worden, wie er sie mit Crocus ausgearbeitet hatte. Als Constantin an die weite Waldlichtung zurückkehrte, die er zum Sammelplatz der Armee bestimmt hatte, stand sein Feldherrnzelt schon errichtet: ein stattliches Gebäude aus Leinwand. Das Beratungszimmer war bereits eingerichtet, auf dem Tisch lagen die Pläne, und an der Wand war jener Abschnitt der Umwallungsmauer Roms in Miniatur rekonstruiert, den er für den günstigsten zum Angriff hielt. Immer noch war alles in Ordnung. Noch mehr hatte er das beängstigende Gefühl, daß doch etwas nicht stimmte. Die Vorsehung konnte es nicht so gut mit ihm meinen. Er nahm seinen Imbiß allein zu sich. Dann befahl er die Generäle zum Kriegsrat. Um den runden Tisch saßen sieben Generäle und Valens. Zur linken Hand hatten sich drei Sekretäre an einen langen Tisch gesetzt. Ein kleiner Tisch stand rechts vom Sitze Constantins, dort nahm der Priester Hosius Platz, als er verspätet mit Crocus das Beratungszimmer betrat. Constantin eröffnete den Kriegsrat: »Da sind wir nun.« »Und hier bleiben wir«, ergänzte Valens, als wäre es ein Beschluß. Er konnte oder wollte den boshaften Ausdruck seines Gesichts nicht verbergen. Constantin versuchte zu scherzen: »Du meinst, wo wir sind, ist Rom, daher brauchten wir nicht in Rom einzumarschieren.« Valens erklärte: »Wir können nicht in Rom einmarschieren.« Er lächelte verbindlich, als ob er eine gute Nachricht brächte: »Die Legionen verweigern den Befehl zum Marsch.« Constantin verstand nicht recht: »Die Legionen verweigern den Befehl zum Marsch?« 432
Crocus erhob sich: »Die Männer verweigern den Befehl zum Weitermarsch.« Er erklärte: »Sie wollen nicht kämpfen.« Ein General nach dem andern bestätigte: »Sie wollen nicht kämpfen.« »Sie wollen nicht kämpfen?« fragte Constantin verständnislos. Er stand kaum fünfzehn Meilen von Rom entfernt, und die Armee, für die er keinen Nachschub hatte – weder an Menschen noch an Material –, erklärte durch ihre Generäle, die doch von ihm erzogene Generäle waren, daß sie nicht kämpfen würde? Constantin wollte aufstehen. Er konnte nicht. Alle Müdigkeiten, die er während des Feldzugs unterdrückt hatte, schienen plötzlich eine einzige unendliche Müdigkeit geworden zu sein, die ihn lähmte. Ja, es war alles zu glatt gegangen: ein siegreiches Gefecht nach dem andern, eine Überrumpelung feindlicher Stellungen nach der andern, Vormarsch, haltlose Flucht der Feinde. Es gab in der Kriegsgeschichte kaum einen rascheren Vormarsch als diesen. Und jetzt, kaum fünfzehn Meilen vor Rom, wollte die Armee nicht mehr? Er mußte sich beherrschen, er fragte: »Warum wollen sie nicht kämpfen?« Valens antwortete: »Sie sind Christen.« Crocus erklärte: »Es steht geschrieben, du sollst nicht töten. Aber die Legionen verweigern den Weitermarsch nicht nur deswegen. Sie möchten gern wissen, warum du gegen Rom marschierst.« Constantin zögerte mit der Antwort, die ihm auf der Zunge lag: Wer sich erfolgreich verteidigen will, muß angreifen. Er wäre vielleicht nicht mit so unzulänglichen Kräften gegen Maxentius marschiert, wenn er nicht hätte befürchten müssen, daß Maxentius schließlich gegen ihn marschieren würde. Das Feldherrnzelt war gebaut wie ein Regierungsgebäude. Aber ein Dach war doch nur aus Leinwand, wenn auch aus regendichter Leinwand. Ein fürchterlicher Wolkenbruch trommelte auf das Feldherrnzelt. Der Aufschlag der Tropfen klang wie der Marsch einer Armee, wie der Galopp von Pferden, wie der Aufprall von Wurfgeschossen, bald ein rhythmischer, bald ein unrhythmischer Klang. Der Ausbruch des jähen Unwetters gab Constantin die Zeit zum Nachdenken, die er brauchte, um eine treffende Antwort zu finden. 433
Crocus bat um die Erlaubnis, den Kriegsrat verlassen zu dürfen. Er wollte dafür sorgen, daß sich die Mannschaften gegen das Unwetter schützten. »Ein ungewöhnliches Wetter«, murmelte Valens. Er war abergläubisch: Die hemmungslose Öffnung der himmlischen Schleusen war ein peinliches Vorzeichen. Während der Unterbrechung des Kriegsrats berichteten Späher, die in kurzen Abständen beinahe regelmäßig aus Rom und der Umgebung eintrafen. Ein Spanier, den Hosius kannte, meldete, daß das Orakel der Auguren, das Augustus Maxentius an diesem Tag befragt hatte, verkündet habe: »Der Feind Roms werde in der am morgigen Tage stattfindenden Schlacht unterliegen und zugrunde gehen.« Das war ein noch peinlicheres Vorzeichen als das Unwetter, das sich zwar allmählich zu legen schien, aber das Laub von den herbstlichen Bäumen gerissen hatte und die Blätter in immer wieder auflebenden Wirbeln eines willkürlichen Windes tanzen ließ. Die Sonne, die Constantin eine Stunde vorher noch Kraft gegeben hatte – die unbesiegbare Sonne war nicht sichtbar. Wolken eilten wild über den Himmel, dunkelgrau, hellgrau, fast schwarz. Dann brach wieder ein Regenguß los. Es war empfindlich kalt geworden. Die Ingenieure, die das Zelt errichtet hatten, als die Sonne noch schien, hatten keine Heizkörper aufgestellt. »Ich friere«, sagte Constantin. Bald hörte er Hämmern auf Röhren und empfand das als Belästigung. »Aber es wird bald warm werden«, sagte er. Es wurde nicht warm. Das Brennholz, das mitgeführt wurde, war durch den unerwarteten Platzregen naß geworden und wollte nicht Feuer fangen … Und die Mannschaft weigerte sich zu marschieren. Irgendwie fand alles immer ein Ende. Constantin entließ die Generäle, die Sekretäre und Hosius aus dem Beratungszimmer. Nur Valens wollte seinem Wunsch anscheinend nicht nachkommen. Er blieb am runden Tisch stehen und erklärte: »Dominus – besser ein lebender Pessimist als ein toter Optimist! In meinem Gepäckwagen habe ich verschiedene Verkleidungen. Wenn du 434
auf meinen Rat hören willst – es wäre am besten, sich aus dem Staub zu machen. Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber ich möchte doch sagen, daß ich deine Besetzung der Kommandos immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet habe. Man kann Barbaren vielleicht rekrutieren und in Legionen zusammenfassen. Aber Barbaren als Generäle – das widerspricht den Grundsätzen, die der Große Generalstab überliefert hat.« Constantin antwortete nicht. Er wußte, daß Valens vom Standpunkt des in der Kriegsschule erzogenen Offiziers recht hatte, und auch die Fakten bewiesen es: Er hatte sich der Armee in die Hand gegeben, aber er hatte die Armee nicht in der Hand. Er hatte ihren Weg bestimmt, das war seine einzige Leistung, jede Legion hatte stets als selbständige Einheit unter dem Befehl ihres Generals gekämpft, dann waren sie wieder zusammen marschiert – ihm nach. Aber warum so weit? Warum hatten sie nicht schon vor Susa, vor Mediolanum, vor Verona gemeutert? Warum verweigerten sie den Gehorsam fünfzehn Meilen vor Rom? Er mußte irgend etwas tun, um den Bann zu brechen! Er wandte sich an Valens: »Ich will allein bleiben«, und fügte hinzu: »Urteile erst, wenn du ganz sicher bist, daß du recht hast! Dein Urteil mag theoretisch richtig sein – aber ich habe das Gefühl, daß etwas geschehen wird, was dich überzeugen wird, und die Armee wird marschieren.« »Zurück!« – Valens provozierte: »Hast du das Orakel der Auguren gehört? Der Feind Roms wird unterliegen und zugrunde gehen.« »Bin ich der Feind Roms?« fragte Constantin. »Du stehst vor seinen Mauern, um es zu belagern und zu erstürmen. Ist das keine feindselige Handlung?« Constantin schwieg. Valens verließ das Beratungszimmer, eilte zum Gepäckwagen und befahl seinem Leibsklaven, die Garderobe auszupacken. Er wollte die geeignetste Verkleidung für eine Flucht wählen. Dann hob er die Tür des Zeltes und blickte hinaus. Es regnete immer noch. Die Straßen des Lagers waren leer. Die Legionäre waren unter die Zeltdächer geflüchtet. Die Armee lag still. Aber sie würde wieder marschieren, in die eine oder andere Richtung würde sie marschieren. 435
Valens befahl seinem Leibsklaven, die Verkleidungen wieder zu verpacken. Ein römischer Offizier verkleidete sich nur im Auftrag des Feldherrn, für den Feldherrn und mit dem Feldherrn. Aber vielleicht war das Ende Constantins doch noch nicht gekommen?
2 War er der Feind Roms? Der prophetische Ausspruch der Auguren bedrückte Constantin nicht. Er war nicht der Feind Roms. Er war der Feind seines Schwagers Maxentius, und das nur, weil der ihn dazu zwang. Seine Mutter war in Rom; er sehnte sich nach ihr, und sie erwartete ihn. Er überlegte, ob er sie nicht jetzt, da alles zu Ende sein konnte, in einer Verkleidung noch einmal besuchen sollte. Dann entschied er sich dagegen: Ein Kaiser mußte in Stunden wie diesen alles Persönliche zurückstellen. Und er mußte die kaiserliche Würde wahren. Er mußte sich sogar damit abfinden, daß er überhaupt nicht nach Rom kam, wenn die Armee nicht mehr wollte. Den Marsch der Armee zu erzwingen versuchen, war hoffnungslos. Wie viele Kaiser waren nicht schon einer rebellierenden Soldateska zum Opfer gefallen? Es war beinahe schon ein Berufsrisiko der Heerführer, mit der Ermordung zu rechnen. Wenn die Armee meuterte, waren gewöhnlich auch die Leibgarden Feinde. Er war dann allein gegen alle. – Dann würden die Auguren in den Augen der anderen recht behalten: Der Feind Roms unterlag und wurde vernichtet. Er hätte nicht gegen Rom marschieren sollen. Es hätte ihm genügen sollen, die militärische Verbindung mit Licinius herzustellen. Zwei Tagesmärsche von der Po-Ebene nach Osten – und er hätte Licinius getroffen. Und der ehemalige Chef des Generalstabs wäre mit auf Rom marschiert. Sie wären dann nicht Truppen ausgeliefert gewesen, die den Befehl von einer Stunde zur anderen verweigerten. 436
Constantin zuckte die Achseln. Warum sollten seine Truppen ihm nicht den Befehl verweigern? Was band sie an ihn? Ja, er war großzügig. Er hatte nie einen Unterschied gemacht; es war ihm gleichgültig gewesen, ob seine Offiziere innerhalb oder außerhalb des steinernen Walles von Rom geboren waren. Er beurteilte die Männer seiner Armee nur nach ihrer Tüchtigkeit. Er ließ sich auch nicht, wie die meisten seiner Vorgänger, von Vorurteilen der Religion oder Rasse bestimmen. Aber das half nichts, wie es schien, im Gegenteil. Sorgte man für alle, so zog man keinen besonders vor; es kam folglich zu keinem Fanatismus. Er hätte den Legionen ein Symbol schaffen sollen, das sie anspornte. Er hatte gehofft, daß er selbst die Truppen begeistern könne. Und nun? – Er galt als der erklärte Feind Roms, er war wehrlos, hilflos, bereit zu unterliegen und vernichtet zu werden. Aber er war auch der Feind seiner selbst. Er glaubte an nichts. – Es regnete, und dieser Regen war seine einzige Hoffnung, denn hielt er an, dann würden die Straßen aufweichen und die Armee mußte bleiben, wo sie war. Er brauchte also keinen Entschluß zu fassen, solange es regnete. Er brauchte nicht auf dem Befehl zum Weitermarsch zu bestehen, solange der Regen fiel. Aber auch das Alleinsein war unerträglich. Niemand, mit dem er sich beraten konnte, niemand, dem er vertraute. Was war Disziplin? Doch nur mechanisches Handeln, auf das hin man die Männer gedrillt hatte, so, wie man Pferde und Hunde dressiert. Nun mußte er feststellen, daß er sich verrechnet hatte, daß er versagt hatte. Er hatte versäumt, auf die Stimmung im Heer zu achten. Offenbar hatte er nicht das Zeug zu einem großen Herrscher; er war für kurze Zeit ein kleiner gewesen, durch die Umstände emporgehoben, durch die Umstände gehalten und nun durch die Umstände zu Fall gebracht. Seine Statuen hatte man im Gebiet des Maxentius bereits bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Statuen, die in seinem Befehlsbereich standen, würden bald seine Nachfolger vernichten. Sein Name würde völlig vergessen sein. Aus Staub gemacht, zu Staub geworden! Der Regen ließ nach; es prasselte nicht mehr so auf das Dach des Feldherrnzelts; es wurde fast still, gespenstisch still. Constantin entsann sich eines christlichen Ausspruchs: at maioren dei gloriam. Seine 437
Mutter war Christin. Er wußte nicht, warum sie es geworden war. Wegen der Legende vom leidenden Sohn? Die Legende vom leidenden Sohn. Er wollte mit Hosius sprechen. Man konnte mit ihm nicht nur über religiöse Fragen, sondern auch über militärische Fragen sprechen. Constantin klatschte. Es war aber nicht gewiß, ob sein Klatschen noch Gehorsam finden würde. Ein Offizier erschien. Constantin fragte: »Hält das Unwetter an?« »Es legt sich«, erwiderte der Offizier, »der Himmel klärt sich im Süden auf. Vom Nordosten kommen dunkle Wolken.« »Der Wind?« fragte Constantin. »Der Wind läßt nach.« »Rufe Hosius!« Der Lehrerpriester war Constantins Vertrauter geblieben, weil er niemals versucht hatte, ihm seine Überzeugungen aufzudrängen; er hatte sich immer damit begnügt, sie darzulegen. Er war erregter, als Constantin ihn je gesehen hatte. Er schlug das Zeichen des Kreuzes und sagte: »Der HERR sei mit dir. Ich habe dir niemals den Segen des HERRN gegeben; aber ich habe ihn für dich erbeten, erfleht. Ich bin nächtelang auf den Knien gelegen und habe den HERRN gebeten, daß er dich erleuchte. Der HERR braucht ein Werkzeug; du bist es. Du bist fünfzehn Meilen von Rom entfernt, und dort ist der Fels, auf dem der HERR Seine Kirche bauen will. Du kannst Schutzherr Seiner Kirche sein – warum bist du es nicht? Du lebst wie ein Christ, warum bekennst du dich nicht als Christ?« Constantin antwortete nicht. Hosius fuhr fort: »Du bist allein und einsam. Deine kaiserliche Würde sondert dich von den übrigen Menschen ab. Du hörst nicht, was sie sagen, du siehst nicht, was sie tun. Weißt du, warum deine Truppen immer siegten? Du weißt es nicht, aber ich weiß es. Denn ich bin nicht nur dein, sondern auch ihr Vertrauter, Dominus. Du hast keine Auguren befragt, bevor du ausgezogen bist, aber du hast den Blick auf die Sonne gerichtet. Ich weiß, daß du auf die Sonne blicktest – die Sonne, die du zu Hilfe anriefst. Deine Soldaten aber glaubten, daß du den HERRN anriefst, als du in den Himmel sahst.« 438
»Ich kann nicht in die Sonne blicken, wenn der Himmel bewölkt ist«, erwiderte Constantin, »ich bekomme kein Zeichen aus bewölktem Himmel.« »Nicht die Sonne, nur der HERR kann es dir sagen.« Ein Offizier trat ein und meldete: »Es hat aufgehört zu regnen.« Constantin befahl: »Laß die Legionen antreten!« Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Wenn auch die Armee den Weitermarsch verweigerte, er würde ihn trotzdem befehlen. Der Offizier hob den Vorhang, der das viereckige Tor des Feldherrnzeltes verhing. Constantin trat ins Freie, Hosius folgte. Auf der weiten Ebene drängten sich die Legionäre in ihre vorschriftsmäßigen Stellungen. Als die Karrees sich gebildet hatten, standen sie stramm. Die weißen Wolken, die aus der Richtung Roms nach dem Norden zogen, erreichten die dunklen, die vom Nordwesten dem Meer zueilten. Und plötzlich geschah es: Dort, wo sie sich ineinander schieben wollten, brach die Sonne durch und zeichnete mit leuchtenden Strahlen, hell und gerade, ein Kreuz. Hosius kniete nieder und rief: »In diesem Zeichen wirst du siegen!« Constantin fühlte, wie ihm die Glieder versagten. Er wollte es nicht, aber dann beugte auch er das Knie. Ein Chor von Tausenden und aber Tausenden Stimmen dröhnte ihm entgegen: »In diesem Zeichen wirst du siegen!«
3 Constantin verlor sofort jedes Gefühl von Unsicherheit, wenn er daranging, einen Schlachtplan zu entwerfen. Hier kannte er das Gelände. Er wußte, daß er die nach dem Norden führende Cassianische Straße wie eine Festung besetzt halten mußte, ganz gleichgültig, an welcher Stelle er den Tiber zu überschreiten versuchte – ob an einer Stelle, wo der Fluß parallel zur Flaminischen Straße lief, oder weiter im Westen. 439
Die wenigen Brücken über den Tiber erlaubten nicht den Vormarsch einer ganzen Armee. Er beschloß, nur den kleineren Teil der Brückenbaukontingente an der Flaminischen Straße einzusetzen, den Hauptteil weiter westlich, um dort Brücken schlagen zu können, auch wenn nicht sicher war, daß er sie benützen würde. Wenn es ihm gelang, den Tiber zu überqueren und doch nicht die Mauern zu erstürmen, dann würden seine Legionen sich über diese Brücken zurückziehen können. Davon aber sollten die Legionäre, die den Fluß überschritten hatten, nichts wissen; wenn sie meinten, daß es kein Zurück gäbe, dann würden sie sich nicht so rasch zurückdrängen lassen. Sie würden sich in die Mauern verbeißen und sie erstürmen. Sie würden in eine Zwangslage geraten und im verzweifelten Kampf den Sieg erzwingen. Dieser Plan mußte geändert werden, wenn es zu einer Schlacht kam. Aber würde es zu einer Schlacht kommen? Würde Maxentius die sicheren Mauern Roms verlassen? Die Späher berichteten das. Eine Hundertschaft der Prätorianischen Garde nach der andern war schon aus der Stadt marschiert. Sie bewegten sich zögernd auf Nebenwegen in die Richtung der Flaminischen Straße. Es blieb nicht bei der ersten Vorhut, die das Gelände abtastete. Es gab keinen Zweifel: Maxentius wollte die Flaminische Straße besetzen und Constantin dadurch die Überquerung des Tibers unmöglich machen. Constantin hätte jetzt vielleicht den Aufmarsch der feindlichen Legionen an der Flaminischen Straße durch Überfälle erschweren, eventuell sogar unmöglich machen können. Aber wenn er erfolgreich gewesen wäre, hätte Maxentius seine Legionen rasch wieder zurückgezogen und die Schlacht nicht gewagt. Constantin brauchte die Schlacht; er wollte die Entscheidung. Jetzt glaubte er auch an die Richtigkeit des Orakels der Auguren. In der morgen stattfindenden Schlacht würde der Feind Roms unterliegen und vernichtet werden. Er war nicht der Feind Roms.
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4 Es kam die Morgendämmerung, die Zeit verging. Constantin hatte seinen Schlachtplan noch nicht endgültig festgelegt; wenn die Sonne aufging, wenn er ihre ersten Strahlen sehen würde, dann wollte er sich entscheiden. Es war eine endlos lange Nacht. Constantin wußte, daß die Brückenbauingenieure nun mit der Arbeit an der Flaminischen Straße begonnen hatten. Die Legionen waren marschbereit. Im Vorraum des Feldherrnzeltes warteten die Generäle auf die letzten Befehle. Crocus hatte die Zustimmung Constantins erreicht, allen Legionären, die es wünschten, zu erlauben, das Kreuz auf ihre Schilde zu malen, und auch ein Symbol, das die gläubigen Christen liebten: die griechischen Anfangsbuchstaben des göttlichen Namen Christi. Crocus hatte Constantin vorgeschlagen, diese Männer als vorderste in die Gefechte zu schicken. Das Kreuz würde sie schützen. Außerdem würden jene Legionäre des Maxentius, die auch Christen waren oder dem Christentum zuneigten, es nicht über sich bringen, das Kreuz anzugreifen. Konnte Constantin sich einem Symbol so anvertrauen? Wenn das Kreuz nicht am Himmel erschienen wäre, hätte er nicht ohne Widerspruch zugelassen, daß sich ein Teil seiner Truppen, jene mit dem Kreuz auf den Schilden, von den andern unterschied. Jede Unterscheidung widersprach dem römischen Grundsatz der Uniform. Es wäre Constantin allerdings kaum etwas anderes übriggeblieben, als Crocus zuzustimmen, denn ohne ihr Kreuz auf den Schilden hätten die Christen sich geweigert zu kämpfen. Constantin änderte seinen Schlachtplan. Er befahl Crocus, eine bestimmte Stelle der Flaminischen Straße, eine Meile von der Milvischen Brücke entfernt, durch ein starkes Aufgebot von Legionären zu beset441
zen. Gleichzeitig sollte der Vormarsch des Heeres entlang der Cassianischen Straße beginnen. Zwei Legionen sollten im Westen den Tiber überschreiten, wenn der Angriff von Maxentius erfolgte. Warum hatte er sich in seinen Plänen gegen eine Umzingelung seiner Armee durch Maxentius gesichert? Es war richtiger, die Umzingelung des Feindes vorzubereiten! Als Constantin aus dem Zelt trat, begrüßte Valens ihn mit einer ermutigenden Handbewegung in Richtung der aufgehenden Sonne. Er rief: »In diesem Zeichen wirst du siegen!« Constantin saß auf und ritt in die Richtung der Milvischen Brücke, einem mächtigen Bau, der sich in gewaltigem Bogen über den Tiber spannte. Eine Hundertschaft seiner berittenen Leibwache folgte ihm. Jetzt konnte er von einer Anhöhe aus den Aufmarsch der Armee des Maxentius beobachten. Erst kamen die berühmten Prätorianischen Garden. Sie überquerten mit beinahe drohender Sicherheit die Milvische Brücke und schwenkten zielbewußt in die Flaminische Straße ein. Eine Meile von der Brücke entfernt, an den ›Roten Felsen‹, verengte sich die Flaminische Straße. Ihre Erbauer hatten einen Felsenvorsprung abgetragen und die Fahrstraße zwischen dem reißenden Bett des Tiber und den felsigen Hügeln geführt. Hinter diesen ›Roten Felsen‹ hatte Crocus, dem Befehl Constantins entsprechend, ein starkes Kontingent von Legionären aufgestellt, die Kreuze auf den Schilden trugen. Sie blockierten die Straßenenge, als die Prätorianische Garde dort ankam. Der Präfekt der Garde befahl zu halten; er hatte noch keinen Befehl zum Angriff. Eilig ritt Maxentius selbst heran; auf dieses Hindernis war er nicht vorbereitet gewesen. Er zögerte mit dem Befehl. Ein Ordonnanzoffizier parierte da sein Pferd vor ihm und meldete, daß die Armee Constantins im Eilmarsch auf der Cassianischen Straße in die Richtung zur Milvischen Brücke vorstoße. Maxentius kehrte um. Hatte die Schlacht begonnen, bevor er sie eröffnet hatte? Gerade als er die Milvische Brücke erreicht hatte, setz442
te das erste Gefecht ein. Er sah, wie seine Truppen zurückwichen, und begriff das nicht. Er war großzügiger gewesen als jemals ein Herrscher Roms. Warum kämpften seine Männer nicht? Warum ließen sie sich widerstandslos zurückdrängen? – Maxentius wollte sich den Legionen Constantins mit seinen berittenen Leibwachen entgegenwerfen. Seine zurückweichenden Soldaten behinderten ihn. Und hier hatte die Übermacht, über die er verfügte, auch nicht die nötige Bewegungsfreiheit. Vormarschierende und Zurückweichende stießen zusammen. Nicht einmal er selbst konnte sich frei bewegen. Er befahl: »Zurück über die Milvische Brücke!« Der Befehl: »Zurück über die Milvische Brücke!« wurde weitergegeben. Aber die Prätorianische Garde blieb dabei auf der Haminischen Straße. Maxentius hatte vergessen, daß sie die Strecke halten sollten, die von der Brücke zu den Roten Felsen führte, was immer auch geschähe; er hatte es selbst befohlen. In welche Richtung hätten sie auch weitermarschieren sollen? Gegen die Legion Constantins, die die Roten Felsen besetzte? Zurück zur Malvischen Brücke? Der Präfekt der Garde sah, daß die Truppen des Maxentius immer noch über die Brücke zu drängen versuchten, wie es ihnen am Morgen befohlen worden war. Ein Pfeil traf das Pferd des Maxentius. Es stürzte. Er fiel. Er stand auf. Von allen Seiten drängten die Schilde mit den Kreuzen auf ihn ein. Maxentius schlug mit seinem Schwert auf einen ihn bedrängenden Schild. Der Schild hielt dem Schlag stand. Maxentius wich zurück. Er suchte Rückendeckung an der Brüstung der Brücke. Sie gab ihm Halt. Aber er wurde emporgehoben und stürzte rücklings in den reißenden Strom. Das war der Beginn der Schlacht an der Milvischen Brücke. Und auch ihr Ende. Die Prätorianische Garde, die die Flaminische Straße besetzt hielt, wurde nun von beiden Seiten bedrängt. Sie wollte sich nicht ergeben, und schon gar nicht Legionären, die das Zeichen des Kreuzes auf ihren Schilden trugen. Die Prätorianer kämpften wie Irre. Nicht mehr 443
um den Sieg, sondern um ihr Leben. Die wenigen, die nicht durch das Schwert umkamen, wurden in das reißende Wasser des Tiber gedrängt, und viele ertranken. Die Sonne war aufgegangen: unbesiegbare Sonne, Symbol des Mannes, der die Milvische Brücke in langsamem Trab überquerte, in die Richtung Roms, das ihm wehrlos zu Füßen lag. Constantin wußte, an diesem Tag würde er die Mutter sehen. Er ritt wie ein Blinder seiner Leibwache und der Kavallerie nach, die ihn überholte, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Er ritt durch ein Tor in die Ewige Stadt. Er wußte nicht, welchen Weg seine Kolonne nahm, er achtete weder auf Straßen noch Plätze, er sah weder die Gebäude, an denen er vorbeiritt, noch die Menschen, die die Straßen umsäumten. Die Menge rief seinen Namen: eine unaufhörliche Huldigung, die berauschend an sein Ohr schlug. Er hatte gesiegt. Er war der Herr Roms. Wem hatte er es zu danken? Der unbesiegbaren Sonne – dem heiligen Kreuz –, sich selbst? Würde er sich endlich erlauben können, an einem Ort der Erde in Ruhe zu leben? Er hörte die Stimme des Valens: ein Kommando. Endlich gab es Halt. Constaptin saß ab. Er dankte den Begrüßungen nicht, die ihm entgegenklangen. Fast bewußtlos fühlte er die Kühle eines Raumes, die ihn dann empfing. Endlich also: geborgen in Rom. »Die Domina«, meldete Valens. Constantin sah auf. Das liebe Gesicht war ihm zugekehrt. Es war die Mutter, und sie begrüßte ihn mit den Worten: »Gelobt sei Jesus Christus.« Er hörte Stimmen, tiefe, warme Stimmen, die ein einziges Wort im Chore riefen: »Amen.«
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Zeittafel Ägypten
ab 395 n. Chr. Byzantinische Zeit
285-247 Ptolemaios II. (Philadelphos) um 240 Ptolemäer in Karnak 246-221 Ptolemaios III. (Euergetes) 221-205 Ptolemaios IV. (Philopator) 205-181 Ptolemaios V. (Epiphanes) 181-145 Ptolemaios VI. (Philometor) 51-30 Kleopatra VII. 30 v. Chr. Ägypten wird römische Provinz Anf. 1. Jh. – Ende 4. Jh. Mumien-Porträts
Griechenland 281-272 Pyrrhos-Krieg 280 Sieg des Pyrrhos bei Herakleia 279 Sieg des Pyrrhos bei Ausculum 279 Leuchtturm von Alexandria im 3. Jh. Venus von Milo 275 Sieg der Römer bei Benevent 275-272 Erster syrischer Krieg 272 Tod des Pyrrhos 445
um 270 Aristarchos von Samos, begründet die Lehre vom heliozentrischen Weltsystem 241 Westteil Siziliens wird römische Provinz um 240 Aphrodite des Deudalsas um 230 Attalos-Weihgeschenk 228 Römer bei den Isthmischen Spielen 222 Niederlage Spartas bei Sellasia 215 Makedonien verbindet sich mit Hannibal 215-205 Erster makedonischer Krieg 212 Zerstörung von Syrakus 200-197 Zweiter makedonischer Krieg
197 Sieg der Römer gegen Philipp V. bei Kynoskephalai 196 Antichochos III. in Klein-Asien 196 Freiheitserklärung des Flaminius für alle bisher Philipp untertänigen griechischen Staaten 192-188 Syrischer Krieg; Rom gegen Antiochos III. 189 Niederlage des Antiochos III. bei Magnesia 171-168 Dritter makedonischer Krieg 168 Niederlage des Perseus bei Pydna 168 Antiochos III. verläßt Ägypten um 159 Zeusaltar in Pergamon mit großem und kleinem Fries 446
148 Makedonien wird römische Provinz ›Macedonia‹ 146 Zerstörung von Korinth 141 Die Parther erobern Babylon 133 Tod des Attalos III. 129 Römische Provinz Asia errichtet 88-84 Krieg Roms gegen Mithradates von Pontus 88 Ephesische Vesper 86 Sulla erobert Athen ungefähr um 60 Torso von Belvedere um 52 Turm der Winde (Athen) 51-30 Kleopatra VII.
44 Römische Provinz Achaia um 40 Laokoon-Gruppe Zeit des Augustus (31 v.-14. n. Chr.) Ende der Kulturperiode des ›Hellenismus‹
Römisches Reich 280 Sieg des Pyrrhos bei Herakleia 279 ›Pyrrhos-Sieg‹ bei Asculum 281-272 Pyrrhos-Krieg (Krieg mit Tarent) 298-290 Dritter Samniten-Krieg 275 Sieg der Römer bei Beneventum 272 Tarent wird Rom einverleibt (Süditalien römisch) 447
264-241 Erster Punischer Krieg
218-201 Zweiter Punischer Krieg
260 Römischer Sieg bei den Liparischen Inseln
217 Sieg Hannibals am Trasimenischen See
249 Seesieg der Karthager bei Drepana
216 (2.8.) Schlacht bei Cannae Sieg Hannibals
241 Entscheidender römischer Seesieg bei den Ägatischen Inseln
215-205 Erster Makedonischer Krieg
241 Westteil Siziliens römische Provinz 239-169 Quintus Ennius (Dichtung und Geschichtsschreibung) 238 Sardinien und Korsika zweite römische Provinz 238-222 Krieg gegen die Gallier um 238 Livius Andronicus (griechischer Kriegsgefangener, Sklave) übersetzt griechische Dramen
212 Eroberung und Zerstörung von Syrakus durch die Römer 211 Hannibals Marsch auf Rom (ante portas) 209 P. Cornelius Scipio erobert Neukarthago 207 Schlacht bei Sena Gallica, Hasdrubal getötet 202 Entscheidungsschlacht bei Zama, Heer Karthagos vernichtet
448
um 201 stirbt Gnäus Nävius, Komödien, Tragödien
184 stirbt T.M. Plautus, Komödiendichter
200-197 Zweiter Makedonischer Krieg
183 Tod des Scipio
197 Sieg der Römer bei Kynoskephalai (Flamininus)
171-168 Dritter Makedonischer Krieg, endet mit römischem Sieg bei Pydna
196 Freiheitserklärung des Flamininus für alle bisher Philipp V. untertänigen griechischen Staaten 195-159 P. Terentius Afer (Terenz) schreibt Lustspiele 192-188 Krieg Roms gegen Antiochos III. von Syrien 191 Sieg der Römer bei den Thermopylen 189 Sieg der Römer bei Magnesia
um 150 Brutuskopf im Konservatoren-Palast ab 154-133 Erhebung in Spanien 149-146 Dritter Punischer Krieg 146 ›Satiren‹ des G. Lucillius 146 Karthago völlig zerstört 146 Nach Zerstörung Karthagos römische Provinz ›Africa‹ 146 Korinth zerstört 449
135-131 Erster Sklavenkrieg 133 Attalos III. von Pergamon vermacht testamentarisch sein Reich an Rom
107,104-100 Konsulate des Marius, Schaffung des Söldnerheeres 106-43 Cicero, bedeutendster Redner Roms
133 Reform-Pläne des Tiberius Gracchus (Agrargesetz)
102 Römischer Sieg bei Aquae Sextiae über die Teutonen
129 Provinz Asia
101 Römischer Sieg bei Vercellae über die Kimbern
123/122 Gaius Gracchus Volkstribun, führt die Arbeit seines Bruders fort.
100-25 Cornelius Nepos, Schriftsteller
116-27 M.T. Varro, Schriftsteller und Gelehrter
91-89 Bundesgenossenkrieg, Ergebnis: Bürgerrecht für alle Bundesgenossen südlich des Po
113 Niederlage der Römer gegen Kimbern, Teutonen und Ambronen in der Schlacht bei Noreia in Kärnten
88 Vesper von Ephesus: 80.000 Römer in der Provinz Asia, nachdem sie für vogelfrei erklärt worden waren, getötet
111-105 Krieg gegen Jugurtha
88-84 Erster Mithradatischer Krieg
450
87-54 G.V. Catullus (Catull), Dichter
und Crassus (Umsturz der Verfassung Sullas)
86 Bürgerkrieg zwischen Marius und Sulla, Tod des Marius
70-19 O. Vergilius Maro (Vergil), Dichter
86-35 G. Sallustius Crispus (Sallust), Schriftsteller
ab 67 Krieg des Pompeius gegen die Seeräuber
83-81 Zweiter Mithradatischer Krieg
65-8 Qu. Horatius Flaccus (Horaz)
82-79 Diktatur Sullas (mit reaktionärer Gesetzgebung)
60 Erstes Triumvirat (Pompeius, Caesar, Crassus)
78 Sulla stirbt
59 Caesar Konsul
78-14 n. Chr. ›Goldenes Zeitalter‹ der römischen Literatur
59-17 n. Chr. Livius, Historiker 58 Caesars ›De Bello Gallico‹
74-64 Dritter Mithradatischer Krieg
58-51 Eroberung Galliens durch Caesar
73-71 Spartacus-Aufstand (2. Sklavenaufstand)
53 Niederlage bei Karrha gegen Parther (Crassus fällt in der Schlacht)
70 Konsulat des Pompeius 451
52 Pompeius: Consul sine collega 49 Caesar beginnt den Bürgerkrieg 48 Entscheidungsschlacht bei Pharsalos. Caesar besiegt Pompeius, Wahl Caesars zum Diktator auf 10 Jahre, dann auf Lebenszeit
43-36 Zweites Triumvirat (Octavian, Antonius, Lepidus) 43-18 n. Chr. C.P. Ovidius Naso (Ovid), Dichter 43 Schlacht bei Philippi (Antonius schlägt nacheinander Cassius und Brutus)
48-47 Alexandrinischer Krieg
40 Perusinischer Krieg
47 Krieg gegen Pharnaces von Pontus; Sieg bei Zela
31-30 Krieg Octavian/Antonius
46 Krieg in Afrika; Caesar siegt bei Thapsus 46 Einführung des Julianischen Kalenders 45 Porträt-Büste Julius Caesars 44 (15.3.) Ermordung Caesars
31 Seekrieg Agrippas bei Actium. Heer des Antonius ergibt sich anschließend kampflos 30 Ägypten wird römische Provinz 30 Selbstmord des Antonius (zusammen mit Kleopatra in Ägypten) 30 Octavian Alleinherrscher 452
14-16 Germanicus in Germanien (Rachefeldzug). Kein greifbarer Erfolg; Arminius ›strategischer Sieger‹
30 v. Chr.-14 n. Chr. Cäsar Augustus 27 Wiederherstellung der Republik; Octavian bekommt den Ehrennamen Augustus
19 Tod des Germanicus
27 Pantheon in Rom erbaut
37-41 Caligula (Caius)
12-9 Drusus in Germanien, Kriegszug bis zum Tode (Unfall)
39-40 Germanienfeldzug des Caligula
8-6 Tiberius in Germanien
41-54 Claudius
4 v.-65 n. Chr. Seneca, Schriftsteller und Philosoph, Erzieher Neros
54-68 Nero
Aug. 9. n. Chr. Römische Niederlage im Teutoburger Wald gegen Arminius (Cherusker und andere Stämme); drei Elitelegionen unter Varus völlig vernichtet, ihre Adler Beute der Germanen 14-37 Tiberius
55-120 Tacitus, der größte Geschichtsschreiber Roms 64 Brand Roms, Anlaß zur ersten großen Christenverfolgung seit 66 Judenkrieg des Titus, gipfelt 70 in der Zerstörung Jerusalems
453
67 Reise Neros nach Griechenland
81 Titusbogen in Rom
68/69 Krise des Kaisertums (erstes Vierkaiserjahr)
ab 90 Beginn des Limesbaus (nach Errichtung der Provinzen Germania superior und inferior)
69-70 Aufstand der germanischen Bataver unter Julius Civilis
96-98 Nerva
69-79 Vespasian
98-117 Trajan
75-150 Sueton, schrieb Kaiserbiographien
101-102 u. 105-106 Daker-Feldzüge
79-81 Titus 79 Vesuvausbruch; Pompeji und Herculaneum werden verschüttet. Feuersbrunst in Rom 80 Colosseum, das größte Amphitheater in Rom (50.000 Plätze) 81-96 Domitian
107 Provinz Dacia 113 Trajan-Säule in Rom 114-117 Krieg der Römer gegen die Parther 115-125 Wiederaufbau des Pantheon (110 durch Blitzschlag zerstört) um 117 Provinzen Armenia, Mesopo454
tamia, Assyria; damit größte Ausdehnung des Reiches 117-138 Hadrian 134-135 Judenaufstand des Bar Kochba Antonius-Wall zur Sicherung Nordenglands 138-161 Antoninus Pius 161-169 Gemeinsame Regierung von Marc Aurel und L. Verus 162-165 Parther-Krieg 166-180 Quadenkrieg
ungef. 180 Marcussäule in Rom zum Andenken an Marc Aurel auf der Piazza Colonna. Berühmte Reliefs 180-192 Commodus 193/194 Zweite Krise des Kaisertums (zweites Vierkaiserjahr) 193-211 Septimius Severus um 200 Bau der Porta nigra in Trier 203 Triumphbogen des Septimius Severus in Rom Nymphäum in Rom
167-180 Markomannen-Kriege
211-217 Caracalla (nach Ermordung seines Bruders Geta)
169-180 Marc Aurel Alleinherrscher
211 Büste des Kaisers Caracalla
179 Reiterstandbild Marc Aurels in Rom
212 Das römische Bürgerrecht erhalten nun alle freien Reichsangehörigen 455
218-222 Elagabal
253-260 Valerian
222-235 Severus Alexander
258 Alemanneneinfall in Norditalien, zum Teil bis Rom, aber zurückgeschlagen. Ein Teil des Limes wird aufgegeben
seit 226 Krieg gegen die Sassaniden in Persien, schwere Kämpfe. Behauptung der Grenze 235-238 Maximus Thrax 238-244 Gordian III.
um 260 Beginn der Alemanneneinfälle in Norditalien 260-268 Gallienus
244-249 Philippus Arabs
260 Gefangennahme Valerians durch den Perserkönig Sapor I.
248 Tausendjahrfeier Roms
268-270 Claudius II. (Gothicus)
249-251 Decius
268 Goten, Heruler usw. kommen mit Flotte bis Sparta; u.a. Athen und Saloniki belagert
250 Große Christenverfolgung 251 Einbruch der Goten, Burgunder usw. bis Ephesus, 254 bis Saloniki
269 Sieg gegen die Goten bei Naissus 270-275 Aurelian 456
270-275 Militärreform
293 Begründung der Tetrarchie
270 Auf Dacien verzichtet
um 300 Diokletians-Palast in Spalato
272/273 Königin Zenobia von Palmyra entthront
315 Constantin-Bogen in Rom
273 Weitere Befestigung Roms durch die aurelianische Mauer 275-276 Alanen und Goten von Tacitus in Kleinasien besiegt 276-282 Probus
282-284 Burgunder, Vandalen und Goten an der Donau besiegt
Vorderer Orient 141 Die Parther erobern Babylonien
276/278 Franken und Alemannen am Rhein von Probus besiegt
ab 226 n. Chr. Ende des Partherreiches, Neupersisches Reich der Sassaniden
282-284 Carus
um 200 n. Chr. Parther-Palast in Assur
284-305 Diokletian 290 Amphitheater in Verona 457