Verblüfft?!
Julian Havil
Verblüfft?! Mathematische Beweise unglaublicher Ideen Aus dem Englischen von Manfred Stern
Julian Havil Winchester College College St. Winchester United Kingdom SO23 9NA
[email protected] Manfred Stern Kiefernweg 8 06120 Halle Germany
[email protected] Englische Originalausgabe Nonplussed! Mathematical Proof of Implausible Ideas, copyright c 2007 Julian Havil, erschienen bei Princeton University Press, Princeton, New Jersey, USA ISBN 978-3-540-78235-3
e-ISBN 978-3-540-78236-0
DOI 10.1007/978-3-540-78236-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Mathematics Subjects Classification (2000): 00, 01, 97, 90-01 c 2009 Springer-Verlag Berlin Heidelberg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandgestaltung: WMX Design GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 987654321 springer.com
Fu ¨r Anne, fu ¨r die meine Liebe monoton wa¨chst und nach oben unbeschr¨ankt ist
Time flies like an arrow. Fruit flies like a banana. Groucho Marx
Widerspreche ich mir selbst? Nun gut, dann tue ich es eben. Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten. Walt Whitman Mathematik ist kein behutsamer Marsch auf einer freiger¨aumten Autobahn, sondern eine Reise in eine unbekannte Wildnis, in der sich die Forscher oft verirren. Strenge sollte dem Historiker als Signal dienen, daß das Gel¨ande kartiert ist und die wirklichen Forscher anderswohin gegangen sind. W. S. Anglin
Vorwort
Ein Brief an den Leser Ich lege hier in Ihre Hand eine Arbeit, die mir in freien und schweren Stunden eine angenehme Zerstreuung gew¨ahrt hat. Wenn sie so gl¨ ucklich ist, auch Ihnen eine solche f¨ ur einige Stunden zu gew¨ahren, und wenn das Lesen der Schrift Ihnen nur halb so viel Vergn¨ ugen macht, als mir das Schreiben derselben, so d¨ urfte Ihr Geld so wenig wie meine M¨ uhe schlecht angewendet sein. Nehmen Sie dies nicht als eine Empfehlung meines Werkes; weil mir seine Herstellung Freude gemacht hat, so glauben Sie deshalb nicht, daß ich nun, nachdem es fertig ist, ganz davon eingenommen w¨ are. Wer mit Falken die Lerchen und Sperlinge jagt, hat dasselbe Vergn¨ ugen, aber weniger M¨ uhe, als der, welcher die Falken zu edlerer Jagd verwendet, und man kennt den Gegenstand dieser Abhandlung – den VERSTAND – nur wenig, wenn man nicht weiß, daß er nicht bloß das oberste Verm¨ogen der Seele ist, sondern sein Gebrauch auch ein gr¨oßeres und best¨andigeres Vergn¨ ugen als alles Andere gew¨ ahrt. Seine Forschungen nach Wahrheit sind eine Art Jagd, wo schon die Verfolgung allein einen großen Theil des Vergn¨ ugens ausmacht. Jeder Schritt, den die Seele in ihrer Ann¨ aherung zu der Wissenschaft thut, f¨ uhrt zu einer Entdeckung, die, wenigstens zur Zeit, nicht bloß neu, sondern auch die beste ist. Diese in Dorset Court, London, am 24. Mai 1689 geschriebenen Zeilen sind die Worte des englischen Philosophen und Universalgelehrten John Locke; es handelt sich um den ersten Teil des Vorworts (Epistle to the Reader) zu seinem 1690 erschienenen monumentalen Werk An Essay Concerning Human Understanding 1 . Lockes Vorwort ist auch das unsrige. 1
Versuch ¨ uber den menschlichen Verstand, in vier B¨ uchern, Bd. 1., Buch I und II, 5. Aufl., Meiner, Hamburg 2000. Bd. 2., Buch III und IV, 3. Aufl., Meiner, Hamburg 1988.
Danksagungen
Ich m¨ ochte mich bei meinem Rektor Dr. Ralph Townsend f¨ ur seine Unterst¨ utzung bedanken, insbesondere f¨ ur den Forschungsurlaub. Dank geht auch an den vormaligen Studenten Tom Pocock f¨ ur seinen Enthusiasmus und seine ehrlichen Stellungnahmen, an die Gutachter f¨ ur ihre n¨ utzlichen Bemerkungen sowie an Design Science f¨ ur die Erstellung von MathtypeTM und an Wolfram Research f¨ ur die Erzeugung von MathematicaTM . Ebenso bedanke ich mich bei Jonathan Wainwright von T&T Productions Ltd f¨ ur seine sorgf¨ altige und geduldige Arbeit sowie bei meiner Lektorin Vickie Kearn f¨ ur ihr geduldiges Verst¨ andnis und f¨ ur ihren Enthusiasmus. Und ich schließe mich der langen Liste derjenigen an, die sich bei Martin Gardner f¨ ur dessen lebenslange Inspiration bedanken.2
2
Der nach der Widmung stehende un¨ ubersetzbare Ausspruch Time flies like an ” arrow. Fruit flies like a banana“ (Groucho Marx) wurde von Frank Holzwarth ur (Springer-Verlag) illustriert, dem f¨ ur seinen st¨ andigen LATEX-Support und f¨ ¨ die Bearbeitung der Abbildungen gedankt sei. Der Ubersetzer bedankt sich ferner bei Karin Richter (Martin-Luther-Universit¨ at Halle, FB Mathematik) f¨ ur die Korrekturen und bei Gerd Richter (Angersdorf) f¨ ur virtuelle, physische und psychische Rundumbetreuung. Dank f¨ ur das Projektmanagement geht an Ruth Allewelt (Springer-Verlag).
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Drei Tennis-Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
2
Der Aufw¨ artsroller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3
Das Geburtstagsparadoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4
Drehen eines Tisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
5
Derangements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
6
Conways Chequerboard-Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
7
Werfen einer Nadel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
8
Torricellis Trompete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
9
Nichttransitive Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
10 Ein Verfolgungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 11 Parrondospiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 12 Hyperdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13 Freitag, der 13. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 14 Fractran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 A
Das Prinzip der Einschließung und Ausschließung . . . . . . . . . 177
XIV
Inhaltsverzeichnis
B
Die binomische Umkehrformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
C
Oberfl¨ ache und Bogenl¨ ange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Namens- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Einleitung Alice lachte: Ich brauche es gar nicht zu versuchen“, ” sagte sie; etwas Unm¨ ogliches kann man nicht glauben“. ¨ Du wirst darin eben noch nicht die rechte Ubung ha” ben“, sagte die K¨ onigin. In deinem Alter habe ich ” t¨ aglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Fr¨ uhst¨ uck bereits bis zu sechs unm¨ ogliche Dinge geglaubt. Lewis Carroll
Mathematikstudenten brauchen nicht lange, um Ergebnisse zu entdecken, die u ¨berraschend oder geistreich oder beides sind, und bei denen auch die Erkl¨ arungen ¨ ahnliche Vorz¨ uge haben. F¨ ur den Autor ist es wahrscheinlich, daß die um eine M¨ unze rollende M¨ unze“ f¨ ur Lewis Carroll eine willkommene, ” wenn auch nur zeitweilige Erl¨ osung von den trockenen Aufgaben der elementaren Algebra gewesen ist: Zwei identische M¨ unzen mit dem gleichen Radius werden nebeneinander gelegt, wobei eine von ihnen festgehalten wird. Man drehe nun die mit dem Kopf nach oben zeigende bewegliche M¨ unze ohne zu gleiten um die feste M¨ unze, bis sich die erstere auf der anderen Seite der festgehaltenen M¨ unze befindet (vgl. Abb. 1). Zeigt nun bei der gedrehten M¨ unze der Kopf nach oben oder nach unten? Innerhalb einer zuf¨ allig ausgew¨ ahlten Personengruppe werden wahrscheinlich beide Antworten als offensichtlich richtig“ angeboten. Dennoch ist eine der ” Antworten falsch und ein kleines Experiment mit beiden M¨ unzen zeigt schon bald, welches die falsche Antwort ist. Wir m¨ ussen jedoch einen Beweis f¨ uhren und zuviel Wissen kann sich hier als gef¨ ahrlich erweisen: Betrachten wir einen gegebenen Punkt auf dem Umfang des beweglichen Kreises, dann m¨ ussen wir eine Epizykloide (genauer gesagt, eine Kardioide) untersuchen – und wir k¨onnten es dabei mit harter Mathematik zu tun bekommen. Als Alternative konzentrieren wir uns auf den Weg des Mittelpunktes der beweglichen M¨ unze und nehmen an, daß r die gemeinsame Radiusl¨ ange der M¨ unzen sei. W¨ahrend der Bewegung beschreibt der von diesem Mittelpunkt zur¨ uckgelegte Weg einen Halbkreis, dessen Mittelpunkt der Mittelpunkt der festgehaltenen M¨ unze ist und dessen Radius 2r betr¨ agt; die Bewegung f¨ uhrt dazu, daß der Mittelpunkt eine Entfernung von π(2r) = 2πr zur¨ ucklegt. Wir vereinfachen nun die Angelegenheit und setzen voraus, daß sich die bewegliche M¨ unze ohne zu gleiten auf einer geraden Linie der L¨ange 2πr
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Einleitung
Abb. 1. Eine M¨ unze, die um eine festgehaltene M¨ unze rollt
dreht; die vom M¨ unzenmittelpunkt zur¨ uckgelegte Entfernung ist in Abb 2 dargestellt. Es ist vollkommen klar, daß sich die M¨ unze um 360◦ gedreht hat, und somit zeigt der Kopf wieder nach oben.
Abb. 2. Vereinfachte Darstellung der Situation
Auf den ersten Blick ist das Ergebnis tats¨ achlich u ¨berraschend – und die L¨osung ist geistreich. Es handelt sich um ein f¨ ur dieses Buch charakteristisches Beispiel, denn wir beschreiben hier – zumindest nach Einsch¨ atzung des Autors – eine Mix” tur“ von u ¨berraschenden Dingen mit geistreichen L¨osungen. Die Wahl dessen, was aufgenommen werden sollte bzw. die schmerzlichere Aussortierung dessen, was wegzulassen war, erwies sich zu Recht als schwierig. Wir haben ¨ ein Gleichgewicht angestrebt, bei dem die Vielfalt der Uberraschungseffekte ebenso zur Geltung kommt wie die prominente Rolle der Wahrscheinlich¨ keitsrechnung und Statistik bei der Herausarbeitung der Uberraschungen: es sind diese Bereiche der Mathematik und das Unendliche, in denen es einen ¨ Uberfluß an kontraintuitiven Beispielen gibt; andere Teilgebiete der Mathematik lieb¨ augeln“ mit solchen Beispielen. Um all das widerzuspiegeln, sind ” die vierzehn Kapitel des Buches gleichm¨ aßig und abwechselnd aufgeteilt zwischen Ergebnissen, die im eigentlichen Sinne von der Wahrscheinlichkeit und Statistik abh¨ angen, und Ergebnissen, die in anderen, sehr unterschiedlichen Teilgebieten der Mathematik angesiedelt sind. Ein solches Gebiet ist das Unendliche. Der aufgezeigte Spannungsbogen spiegelt sich auch darin wider, daß
Einleitung
3
das vorliegende Buch das erste von zwei B¨ uchern ist, wobei das zweite diejenigen Stellen behandelt, die vom Leser hier m¨oglicherweise als ungl¨ uckliche Auslassungen empfunden werden. Wo immer es m¨oglich war, haben ich den Ursprung der betreffenden Ergebnisse diskutiert und dabei großen Wert auf historische Zusammenh¨ ange gelegt. Abgesehen von Kapitel 13 (und an welcher anderen Stelle k¨onnte dieses Material sonst dargelegt werden?) nimmt das mathematische Niveau im Buch fortlaufend zu, aber keines der Themen liegt außerhalb der Reichweite eines engagierten Sch¨ ulers der oberen Klassen eines Gymnasiums: sieht eine Aufgabe schwierig aus, dann bedeutet das u ¨berhaupt nicht, daß sie es auch ist. Wir hoffen, daß der Leser – ganz gleich, ob jung oder nicht mehr ganz so jung – auf den folgenden Seiten etwas findet, daß ihn dar¨ uber informiert bzw. daran erinnert, wie fragil die Intuition ist, von der wir uns routinem¨aßig im Alltag leiten lassen. Diese Intuition, die so leicht Schiffbruch erleidet, muß durch eine kompromißlose mathematische Argumentation ersetzt werden.
1 Drei Tennis-Paradoxa Tennis ist ein an sich nutzloses Spiel, aber es eignet sich h¨ ochst gut dazu, das Auge zu sch¨ arfen und den K¨ orper allen Haltungen auszusetzen. So ist es auch in der Mathematik: der zus¨ atzlich und zwischendurch entstehende Nutzen ist nicht weniger wert als das, was haupts¨ achlich und beabsichtigt ist. Roger Bacon
In diesem ersten Kapitel sehen wir uns drei Beispiele f¨ ur kontraintuitive Ph¨ anomene an, die mit Sport zu tun haben: die ersten beiden sind in der Sprache des Tennis formuliert, w¨ ahrend das dritte Beispiel wirklich damit zusammenh¨ angt.
Wie man ein Turnier gewinnt Leo Moser (1921–1970) stellte das erste Problem im Lauf seiner langen T¨ atigkeit an der University of Alberta in Kanada. Angenommen drei Mitglieder eines Klubs beschließen, ein privates Turnier zu veranstalten: ein neues Mitglied M, dessen Freund F (der ein besserer Spieler ist) und der Spitzenspieler T des Klubs.1 M wird durch F und durch einen Preis ermutigt, falls M mindestens zwei Spiele nacheinander gewinnt, die alternierend gegen ihn selbst und gegen T gespielt werden. F¨ ur M scheint es eine vern¨ unftige L¨ osung zu sein, mehr gegen seinen Freund F als gegen den Spitzenspieler T anzutreten. Werfen wir jedoch einen Blick auf die Wahrscheinlichkeiten, die mit den beiden alternativen Spielfolgen FTF und TFT zusammenh¨ angen, dann sehen die Dinge ganz anders aus. Wir betrachten f als die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß M gegen F gewinnt und t als die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß M gegen T gewinnt (wobei wir die Unabh¨ angigkeit voraussetzen). Beschließt M, zweimal gegen F zu spielen, dann erhalten wir Tabelle 1.1, in der die Gewinnchancen aufgelistet sind.2
1 2
M steht f¨ ur member, F f¨ ur friend und T f¨ ur top player. In den nachfolgenden beiden Tabellen steht W (win) f¨ ur den Spielgewinn durch M und L (loss) f¨ ur sein Unterliegen im Spiel.
6
1 Drei Tennis-Paradoxa Tabelle 1.1. Das neue Mitglied spielt zweimal gegen seinen Freund F W W L
T W W W
F Wahrscheinlichkeit W f tf L f t(1 − f ) W (1 − f )tf
Tabelle 1.2. Das neue Mitglied spielt zweimal gegen den Spitzenspieler des Klubs T W W L
F W W W
T Wahrscheinlichkeit W tf t L tf (1 − t) W (1 − t)f t
Das liefert f¨ ur den Preisgewinn eine Gesamtwahrscheinlichkeit von PF = f tf + f t(1 − f ) + (1 − f )tf = f t(2 − f ). Wir nehmen nun an, daß M die scheinbar schlechtere Alternative w¨ahlt, zweimal gegen T zu spielen. Dann liefert Tabelle 1.2 die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten und die Gesamtwahrscheinlichkeit f¨ ur den Preisgewinn wird PT = tf t + tf (1 − t) + (1 − t)f t = f t(2 − t). Der Spitzenspieler T ist ein besserer Spieler als der Freund F, also ist t < f und somit 2 − t > 2 − f , woraus sich f t(2 − t) > f t(2 − f ) und PT > PF ergibt. Deswegen ist es tats¨ achlich die bessere Option, zweimal gegen die Spitzenspieler zu spielen. Die logische Gem¨ utsruhe wird wiederhergestellt, wenn wir uns die erwartete Anzahl der Gewinne ansehen. Bei FTF haben wir EF = 0 × (1 − f )(1 − t)(1 − f ) + 1 × {f (1 − t)(1 − f ) + (1 − f )t(1 − f ) + (1 − f )(1 − t)f } + 2 × {f t(1 − f ) + f (1 − t)f + (1 − f )tf } + 3 × f tf = 2f + t und eine ¨ ahnliche Rechnung f¨ ur TFT ergibt ET = 2t + f . Wegen f > t gilt 2f − f > 2t − t und somit 2f + t > 2t + f . Das wiederum bedeutet, daß EF > ET – und das ist es, was wir erwarten w¨ urden!
1 Drei Tennis-Paradoxa
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Zusammenstellen einer Mannschaft Wir wollen uns jetzt eine versteckte Falle ansehen, in die man bei der Auswahl der Mannschaft geraten kann. Es werden 10 Tennisspieler in einer Rangliste ausgew¨ahlt, die von der Rangnummer 1 (schlechtester Spieler, W) bis zur Rangnummer 10 geht (bester Spieler, B) geht3 . Wir nehmen weiter an, daß B von W zu einem Wettkampf jeder gegen jeden herausgefordert wird, wobei sich W jeweils die zwei besten verbleibenden Spieler aussuchen kann und B aus Fairneßgr¨ unden jeweils die zwei schlechtesten verbleibenden Spieler w¨ ahlen muß. Nach Annahme der Herausforderung ist TW = {1, 8, 9} das Team von W und TB = {10, 2, 3} das Team von B. Tabelle 1.3 zeigt das (vermutete) unvermeidliche Ergebnis des Turniers; in dieser Phase interessiert uns nur die linke obere Ecke. Wir erkennen, daß sich die ung¨ unstige Lage von W nicht agt TW mit dem Ergebnis 5 zu 4. gebessert hat, denn TB schl¨ Tabelle 1.3. Wettkampfergebnis eines jeder-gegen-jeden Turniers zwischen den verschiedenen Teams
Die verbleibenden Spieler sind {4, 5, 6, 7}, und W erneuert seine Herausforderung an B dadurch, daß B einen dieser Spieler in sein Team aufnehmen kann; danach w¨ urde W einen Spieler aus dem Rest ausw¨ahlen. Nat¨ urlich w¨ahlen sowohl B als auch W jeweils die besten verbleibenden Spieler aus, das heißt, die Spieler mit den Rangnummern 7 beziehungsweise 6. Als Mannschaften haben wir jetzt TW = {1, 8, 9, 6} und TB = {10, 2, 3, 7} und die erweiterte Tabelle 1.3 zeigt, daß – trotz der Hinzunahme des besseren Spielers in das Team von B – das Ergebnis mit einem 8 zu 8 Unentschieden f¨ ur B schlechter ist. Eine weitere Erneuerung der Herausforderung unter denselben Bedingungen f¨ uhrt zu den Mannschaften TW = {1, 8, 9, 6, 4} und TB = {10, 2, 3, 7, 5} und dieses Mal zeigt die vollst¨ andige Tabelle 1.3, daß das Team TW nun das agt. Team TB mit dem Ergebnis von 13 zu 12 schl¨ 3
W steht f¨ ur worst und B f¨ ur best.
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1 Drei Tennis-Paradoxa
Eine Verlierermannschaft ist also dadurch zu einer Siegermannschaft geworden, daß sie schlechtere Spieler ausgew¨ ahlt hat als der Gegner. Tabelle 1.4 zeigt f¨ ur jeden der drei F¨ alle das durchschnittliche Ranking der beiden Mannschaften. Wir sehen in allen drei F¨allen, daß das Team TB ein niedrigeres Ranking hat als das Team TW , und daß das durchschnittliche ur TB abRanking nach Hinzunahme neuer Spieler f¨ ur TB zunimmt, aber f¨ nimmt oder gleich bleibt. Dieser Effekt ist ein Nachhall eines einfachen aber wichtigen Paradoxons, das als Will-Rogers-Ph¨ anomen bekannt ist. Tabelle 1.4. Das durchschnittliche Ranking eines jeden der drei Teampaare Durchschnittliches Ranking von TB 5 5 12 5 25 Durchschnittliches Ranking von TW 6 6 5 35
Die Weltwirtschaftskrise f¨ uhrte in den 1930er Jahren zu einer Migrationsbewegung zwischen den Einzelstaaten der USA. Dieser Umstand veranlaßte den lassowerfenden Witzbold und Volksphilosophen Will Rogers zu folgender Bemerkung: Als die Okies Oklahoma verließen und nach Kalifornien gingen, erh¨ohten sie den Intelligenzquotienten in beiden Staaten. Rogers, der ein ‘Okie’ war (also ein aus Oklahoma stammender Amerikaner), teilte mit dieser Stichelei nat¨ urlich Seitenhiebe aus. Betrachten wir aber den theoretischen Fall, daß die am wenigsten intelligenten Okies nach Kalifornien migrierten und daß sie alle intelligenter waren als die einheimischen Kalifornier (!), dann ist Rogers’ sp¨ ottische Anspielung offensichtlich wahr. Das Ergebnis ist jedoch subtiler. Wir betrachten zum Beispiel die beiden mit einem Intelligenz-Ranking (1 niedrig, 9 hoch) versehenen Mengen A = {1, 2, 3, 4} und B = {5, 6, 7, 8, 9}. Das durchschnittliche Ranking von A ist 2, 5 und das ¨ von B ist 7. Uberf¨ uhren wir nun die in B auftretende 5 nach A, dann ist A = {1, 2, 3, 4, 5} und B = {6, 7, 8, 9}. Das durchschnittliche Ranking von A ist jetzt 3 und das von B ist 7, 5: beide Intelligenzquotienten sind im Schnitt angestiegen. Wir gehen nun vom theoretischen Intelligenzquotienten zur realen Welt des Gesundheitszustandes von Individuen u ¨ber, indem wir den medizinischen Begriff stage migration und ein realistisches Beispiel des Will-Rogers-Ph¨anomens betrachten. Bei der medizinischen stage migration f¨ uhrt eine verbesserte Feststellung von Krankheiten zu einer raschen Neueinstufung von gesund“ in ” nicht gesund“. Nach der Neueinstufung als nicht gesund“ erh¨oht sich die ” ” durchschnittliche Lebensdauer derjenigen, die auch weiterhin als gesund“ ” eingestuft bleiben. Ebenso erh¨ oht sich aber auch die durchschnittliche Lebensdauer der als nicht gesund“ eingestuften Personen, denn der Gesundheitszu” stand einiger dieser Personen ist schon seit l¨ angerer Zeit schlecht. Kurz gesagt:
1 Drei Tennis-Paradoxa
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das Ph¨ anomen k¨ onnte zu einer nur in der Einbildung vorhandenen Steigerung ¨ der Uberlebensraten zweier verschiedener Gruppen f¨ uhren. Beispiele f¨ ur dieses Ph¨ anomen sind unl¨ angst u. a. in Bezug auf das Prostatakarzinom (I. M. Thompson, E. Canby-Hagino and M. Scott Lucia (2005), ‘Stage migration and grade inflation in prostate cancer: Will Rogers meets Garrison Keillor’, Journal of the National Cancer Institute 97:1236–37) und in Bezug auf Brustkrebs (W. A. Woodward et al. (2003), ‘Changes in the 2003 American Joint Committee on cancer staging for breast cancer dramatically affect stage-specific survival’, Journal of Clinical Oncology 21:3244–48) gegeben worden. Die obengenannten Arbeiten werfen jedoch die Frage auf, ob der R¨ uckgang der Sterblichkeit wirklich ein Behandlungserfolg war, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Selbstt¨ auschung aufgrund des Will-Rogers-Ph¨anomens handelt.
Gewinn bei Aufschlag Wir wenden uns nun leichteren Dingen beim Z¨ ahlen im Tennis zu und sehen uns eine Situation an, bei der theoretisch eine Anomalie des Z¨ahlsystems aufgedeckt werden kann. Das Z¨ ahlsystem im Rasentennis ist geheimnisvoll und beruht auf den Positionen eines Uhrzeigers. F¨ ur jedes einzelne Spiel wird folgendermaßen gez¨ahlt. Gewinnt ein Spieler seinen ersten Punkt, dann wird ihm eine 15 gutgeschrieben; gewinnt er den zweiten Punkt, dann hat dieser Spieler einen Stand von 30; bei Gewinn des dritten Punktes betr¨agt der Stand 40 f¨ ur diesen Spieler und der vierte Punkt f¨ uhrt zum Gewinn des betreffenden Spielers – es sei denn, beide Spieler haben je drei Punkte gewonnen, und in diesem Fall spricht man von Einstand; der n¨achste von einem Spieler gewonnene Punkt wird als Vorteil“ f¨ ur den be” treffenden Spieler bezeichnet. Gewinnt derselbe Spieler auch noch den n¨ achsten Punkt, dann gewinnt er das Spiel; gewinnt der andere Spieler den n¨ achsten Punkt, dann spricht man wieder von Einstand. Das Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis ein Spieler unmittelbar nach einem Einstand zwei Punkte und damit das Spiel gewinnt. Die großen Tennisspieler der Vergangenheit und Gegenwart werden vielleicht u ahlsystem ein sehr guter ¨berrascht sein, wenn sie erfahren, daß bei diesem Z¨ Spieler, der bei einem Stand von 40–30 oder 30–15 gegen einen gleichwertigen Gegner aufschl¨agt, geringere Gewinnchancen hat als zu Beginn des Spiels. Wir quantifizieren die ebenb¨ urtigen Spieler, indem wir einem von ihnen eine feste Wahrscheinlichkeit p daf¨ ur zuweisen, daß er als Aufschl¨ager einen Punkt gewinnt (und die Wahrscheinlichkeit q = 1 − p daf¨ ur, daß er den Punkt verliert); f¨ ur einen sehr guten Spieler liegt p nahe bei 1. Wir verwenden die Notation P (a, b) f¨ ur die Wahrscheinlichkeit, daß der Aufschl¨ager das Spiel gewinnt, wenn er a Punkte und der R¨ uckschl¨ ager b Punkte hat. Wir m¨ ussen
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1 Drei Tennis-Paradoxa
P (40, 30) und P (30, 15) berechnen und beide Ergebnisse mit P (0, 0) vergleichen, was mit einigem Aufwand einhergeht! Zun¨ achst bemerken wir, daß die Position Vorteil“ die gleiche ist wie die ” Position bei (40, 30); das bedeutet, daß die Situation bei Einstand – unter Aufteilung in Gewinn oder Verlust des n¨ achsten Punktes – durch P (40, 40) = pP (40, 30) + qP (30, 40) gegeben ist. Die gleiche Logik liefert P (30, 40) = pP (40, 40)
und P (40, 30) = p + qP (40, 40).
Setzen wir diese Gleichungen zusammen, dann ergibt sich P (40, 40) = p(p + qP (40, 40)) + q(pP (40, 40)) und somit P (40, 40) =
p2 . 1 − 2pq
Unter Verwendung der Identit¨ at 1 − 2pq = (p + q)2 − 2pq = p2 + q 2 erhalten wir f¨ ur die Situation Einstand“ die symmetrischere Form ” P (40, 40) =
p2 p2 + q 2
und diese liefert P (30, 40) = pP (40, 40) =
p2
p3 . + q2
Der erste Ausdruck, der uns interessiert, ist dann P (40, 30) = p +
p2 q + q2
p2
Wir suchen jetzt den Ausdruck f¨ ur P (30, 15), was etwas mehr Arbeit erfordert. Zur Vereinfachung verwenden wir ein Baumdiagramm, das die m¨oglichen Erfolgsrouten aufteilt und mit bekannten Wahrscheinlichkeiten endet (vgl. Abbildung 1.1). Z¨ ahlen der absteigenden Wege ergibt p3 p2 q 2 + q P (30, 15) = p2 + 2pq p + 2 p + q2 p2 + q 2 3p3 q 2 = p2 (1 + 2q) + 2 p + q2 und somit haben wir unseren zweiten Ausdruck:
1 Drei Tennis-Paradoxa
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Abb. 1.1. Auffinden von P (30, 15)
P (30, 15) = p2 (1 + 2q) +
3p3 q 2 p2 + q 2
Wir brauchen nur noch die Anfangswahrscheinlichkeit P (0, 0), die bei weitem am schwierigsten zu berechnen ist. Um nicht vom Weg abzukommen, verwenden wir das komplexere Baumdiagramm von Abbildung 1.2. Dieses Diagramm zeigt wieder die Aufteilungsm¨ oglichkeiten, bis eine bekannte Wahrscheinlichkeit erreicht wird. Wir haben dann p2 q 2 P (0, 0) = p4 + p3 q p(1 + q) + 2 p + q2 3p3 q 2 2 2 + 3p q p (1 + 2q) + 2 p + q2 p2 2p3 q 3 3 + 4p q + 3p2 q 2 p2 + 2 p + q2 p2 + q 2 = p4 (1 + 4q + 10q 2 ) +
20p5 q 3 , p2 + q 2
und der finale Ausdruck, den wir ben¨ otigen, ist P (0, 0) = p4 (1 + 4q + 10q 2 ) +
20p5 q 3 p2 + q 2
Die in den Abbildungen 1.3–1.5 f¨ ur alle Werte von p (man beachte, daß q = 1 − p) dargestellten drei Wahrscheinlichkeiten zeigen, daß sie ein ziemlich
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1 Drei Tennis-Paradoxa
Abb. 1.2. Auffinden von P (0, 0)
¨ a und wenn ¨hnliches Verhalten aufweisen. Es gibt jedoch Uberschneidungen, wir die Paare {P (0, 0), P (30, 15)} und {P (0, 0), P (40, 30)} auf ein und dersel¨ ben Achse f¨ ur große p darstellen, dann k¨ onnen wir diese Uberschneidungen sehen. Die entsprechenden graphischen Darstellungen sind in den Abbildungen 1.6 und 1.7 gegeben. Zum Auffinden dieser Schnittpunkte m¨ ussen wir nat¨ urlich etwas Algebra treiben.
1 Drei Tennis-Paradoxa
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Abb. 1.3. P (0, 0) in Abh¨ angigkeit von p
Abb. 1.4. P (30, 15) in Abh¨ angigkeit von p
Abb. 1.5. P (40, 30) in Abh¨ angigkeit von p
Der Schnittpunkt von P (30, 15) und P (0, 0) Zum Auffinden des Schnittpunkts m¨ ussen wir die furchterregende Gleichung p2 (1 + 2q) +
3p3 q 2 20p5 q 3 4 2 = p (1 + 4q + 10q ) + p2 + q 2 p2 + q 2
l¨ osen, wobei wir uns wieder daran erinnern, daß q = 1 − p. Geduld (oder gute mathematische Software) f¨ uhrt zur folgenden Gleichung in p: p2 (1 − p)3 (8p2 − 4p − 3) = 0.
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1 Drei Tennis-Paradoxa
Abb. 1.6. Der Schnittpunkt von P (0, 0) und P (30, 15)
Abb. 1.7. Der Schnittpunkt von P (0, 0) und P (40, 30)
Diese Gleichung hat die mehrfachen trivialen L¨osungen p = 0, 1 sowie die L¨osungen der quadratischen Gleichung 8p2 − √4p − 3 = 0. ur jedes Die einzige positive L¨ osung ist p = 14 (1 + 7) = 0, 911 437 . . . und f¨ p > 0, 911 437 . . . haben wir P (0, 0) > P (30, 15). Damit ist das Ergebnis f¨ ur diesen Fall nachgewiesen. Der Schnittpunkt von P (40, 30) und P (0, 0) Diesmal muß die Gleichung p+
20p5 q 3 p2 q 4 2 = p (1 + 4q + 10q ) + p2 + q 2 p2 + q 2
gel¨ ost werden und nach einer ¨ ahnlich extravaganten Dosis Algebra bringt man diese Gleichung auf die Form p(1 − p)3 (8p3 − 4p2 − 2p − 1) = 0,
1 Drei Tennis-Paradoxa
15
die wieder die trivialen L¨ osungen p = 0, 1 hat. Die verbleibende kubische Gleichung 8p3 − 4p2 − 2p − 1 = 0 hat die einzige reelle L¨ osung √ √ 3 1 3 p = 16 + 24 1216 − 192 33 + 16 19 + 3 33, deren Wert p = 0, 919 643 . . . ist. F¨ ur jedes p > 0, 919 6 . . . haben wir dann wieder P (0, 0) > P (40, 30), das heißt, das Paradoxon ist erneut nachgewiesen. Zusammenfassend gesagt: zwei gleichstarke Spieler, die gut genug sind, den Punkt als Aufschl¨ ager in etwas mehr als 90% (der zur Verf¨ ugung stehenden Zeit) zu gewinnen, sind zu Beginn des Spiels besser dran, als wenn es 30–15 oder 40–30 zu ihren Gunsten steht.
2 Der Aufw¨ artsroller Mechanik ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn mit Hilfe der Mechanik gelangt man zu den Fr¨ uchten der Mathematik. Leonardo da Vinci
Reklame fu ¨r ein Buch Die Verhandlungen des Old Bailey 1 vom 18. April 1694 verzeichnen einen gesch¨ aftigen Tag voller Urteilsverk¨ undungen, bei denen 29 Todesurteile sowie zahlreiche Beschl¨ usse zu Brandmarkungen ausgesprochen wurden; es h¨atte sogar 30 Todesurteile gegeben, wenn nicht eine Dame erfolgreich ihren Bauch ” geltend gemacht“ h¨ atte (das heißt, sie bewies, daß sie schwanger war). Der gesch¨ aftliche Teil des Dokuments endet mit einer Liste der 29 Ungl¨ ucklichen und f¨ ahrt mit einer weiteren Liste fort, in der es um Reklame geht (was dem modernen Menschen in diesem Zusammenhang ziemlich merkw¨ urdig vorkommt). Die Liste beginnt mit folgendem Abschnitt: DAS Damen-W¨ orterbuch: Eine vergn¨ ugliche Unterhaltung f¨ ur das Sch¨ one Geschlecht; ein Werk, das niemals zuvor in Englisch versucht worden ist. Die Anlage dieses Werkes ist universal und betrifft in mancherlei Hinsicht nicht weniger als das gesamte m¨annliche Geschlecht, aber die Frauen sind so perfekt und treffend angesprochen, daß es ihnen bei allen ihren Angelegenheiten des Lebens, des Haushalts und der Konversation zugute kommen wird. So verlockend es auch sein mag, sich in dieses Buch zu vertiefen, das sich als Bestseller ank¨ undigt – wir wenden uns der zweiten Reklame zu. Vergn¨ ugen mit Gewinn: Bestehend aus Unterhaltungen diverser Art, n¨ amlich Numerische, Geometrische, Mathematische, Astronomische, Arithmetische, Kryptographische, Magnetische, Authentische, Chymische und Historische. Publiziert mit dem Ziel, den erfinderischen Geist zu unterhalten und ihn zu veranlassen, weitere genaue Untersuchungen zu diesen (und ¨ ahnlichen) Erhabenen Wissenschaften durchzuf¨ uhren. Und um die Menschen von Lastern abzubringen, zu denen die Jugend (in dieser Zeit) so sehr neigt. Von William Leybourn, Philomathes. 1
Gericht f¨ ur Strafsachen von gr¨ oßerer Bedeutung f¨ ur London und Umgebung.
18
2 Der Aufw¨ artsroller
Vermutlich hatten diejenigen, die von den Geschworenen abgeurteilt worden waren, nur unzureichenden Zugang zu diesem Werk, und wir werden uns nur einen kleinen Teil davon ansehen, n¨ amlich die Seiten 12 und 13. William Leybourn (1626–1719) (alias Oliver Wallingby) war zu seiner Zeit ein hervorragender Land- und Mengenvermesser, obwohl er sein Arbeitsleben als Drucker begann. Sein Prestige war so hoch, daß man seine Dienste h¨aufig in Anspruch nahm, um die Besitzungen von Edelm¨annern zu vermessen. Er half ¨ auch bei der Vermessung der Uberreste von London nach dem Großen Brand von 1666. Außerdem war er ein produktiver und eklektischer Autor. Im Jahr 1649 ver¨ offentlichte er (in Zusammenarbeit mit einem gewissen Vincent Wing) die Urania Practica, das erste Astronomiebuch in englischer Sprache. Danach kam das Buch The Compleat Surveyor, das zuerst 1653 erschien, f¨ unf Auflagen erlebte und als Klassiker seiner Art betrachtet wird. Sein 1667 erschienes Werk The Art of Numbering by Speaking Rods: Vulgarly Termed Napier’s Bones brachte die Napierschen Rechenst¨ abchen einem gr¨oßeren Publikum nahe. Im Jahr 1694 ver¨ offentliche er den Unterhaltungsband Pleasure with Profit, dessen Titelseite auf Abbildung 2.1 zu sehen ist. Wir k¨ onnen ohne weiteres dem folgenden Gef¨ uhl zustimmen, das im Buch zum Ausdruck kommt: Aber ich verlasse jetzt die den K¨ orper betreffenden Freizeitbesch¨aftigungen und wende mich Unterhaltungen zu, die dem Geist zur Zierde gereichen; in bezug auf diese ist die Mathematik un¨ ubertroffen. ¨ Nach diesem Ubergang k¨ onnen wir uns nun auf ein wunderbares mechanisches Puzzle konzentrieren, das im Buch behandelt und einem gewissen ‘J.P.’ zugeschrieben wird. Dieses Ph¨ anomen wurde unter der Bezeichnung Aufw¨artsroller (Uphill Roller) bekannt. Die Abbildungen 2.2 und 2.3 zeigen die Seiten 12 und 13 des Buches, auf denen detaillierte Informationen zur Konstruktion eines Doppelkegels und zweier geneigter Schienen gegeben werden, auf denen der Kegel bergauf rollen kann. Im Schlußabschnitt erl¨ autert der Verfasser das Paradoxon durch einen Hinweis auf den wichtigen Umstand, daß sich trotz der Aufw¨artsbewegung des Kegels dessen Massezentrum nach unten bewegt, falls man die Abmessungen passend w¨ ahlt. Dieses Ph¨ anomen kann zwar geistige Verwirrung“ stiften, ” aber das Gesetz der Schwerkraft wird nicht ausgehebelt.
Eine Erkl¨ arung Bevor wir Leybourns Erkl¨ arung untersuchen, betrachten wir die Angelegenheit aus heutiger Sicht und st¨ utzen uns dabei auf elementare trigonometrische Regeln. Die Abbildungen 2.4, 2.5 und 2.6 zeigen die Notation, die wir ben¨ otigen, und parametrisieren die Konfiguration mit Hilfe von drei Winkeln: α bezeichnet den Neigungswinkel der geneigten Schienen, β ist der Halbwinkel zwischen den Schienen, gemessen horizontal auf der Bodenebene, und γ
2 Der Aufw¨ artsroller
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bezeichnet den Halbwinkel am Scheitel des Doppelkegels. Es seien a und b die H¨ohen des unteren bzw. des oberen Endes der Schienen und r bezeichne den Radius des Doppelkegels. Ein x, y-Koordinatensystem wird nun so errichtet, wie in Abbildung 2.4 dargestellt. Im obengenannten Koordinatensystem k¨ onnen wir die Gleichung des Weges finden, den das Massezentrum beschreibt, wenn der Kegel hangaufw¨arts rollt. Aus den Abbildungen 2.5 und 2.6 ergibt sich P Q = P1 Q1 = 2x tan β. Aus Abbildung 2.6 folgt RS = P S tan γ = 12 P Q tan γ = x tan β tan γ, SG = r − RS = r − x tan β tan γ, y = P P1 + SG = P P1 + (r − x tan β tan γ). Abbildungen 2.4 und 2.6 liefern P P1 = SG1 = a + x tan α. Deswegen gilt y = (a + x tan α) + (r − x tan β tan γ) = a + r + x(tan α − tan β tan γ). Der Weg, den das Massezentrum des Kegels beschreibt, ist also die Gerade y = a + r + x(tan α − tan β tan γ), die den Anstieg tan α − tan β tan γ hat. Damit die Bewegung u ¨berhaupt m¨ oglich wird, muß dieser Anstieg negativ sein. Das wiederum bedeutet, daß die f¨ ur die Existenz des Paradoxons erforderliche definierende Bedingung durch folgende Ungleichung gegeben ist: tan α < tan β tan γ. Um das Paradoxon richtig zu w¨ urdigen, braucht man nat¨ urlich ein physikalisches Modell. Wir empfehlen dem Leser nachdr¨ ucklich, ein solches Modell zu basteln (oder jemanden zur Herstellung zu u ur den ¨berreden). Bei dem f¨ Autor (von dessen langj¨ ahrigem Freund Brian Caswell) gebauten Modell ist α = 4.6◦ ,
β = 15.3◦ ,
γ = 25.4◦
und hieraus folgt unmittelbar, daß die Ungleichung gerade noch gilt.
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2 Der Aufw¨ artsroller
Abb. 2.1. Die erste Seite von Pleasure with Profit
2 Der Aufw¨ artsroller
Abb. 2.2. Seite 12 von Pleasure with Profit
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2 Der Aufw¨ artsroller
Abb. 2.3. Seite 13 von Pleasure with Profit
Abb. 2.4. Eine Seitenansicht des Querschnitts l¨ angs OG1
2 Der Aufw¨ artsroller
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Abb. 2.5. Eine Draufsicht auf die Bodenebene, wobei der Kegel die Laufschienen in P und Q ber¨ uhrt, und P1 und Q1 direkt darunter auf der Bodenebene liegen
Abb. 2.6. Vorderansicht von O aus
Leybourns Version Da wir jetzt ein klar formuliertes Anwendungskriterium haben, k¨onnen wir Leybourns Instruktionen ausf¨ uhrlicher analysieren. Nehmen wir als Durchmesser seines Doppelkegels die obere Grenze von 6 inches und beachten wir, daß 1 yard aus 36 inches besteht, dann l¨ aßt sich seine Beschreibung folgendermaßen umformulieren:
24
2 Der Aufw¨ artsroller
r = 3, die Halbl¨ ange des Kegels ist gleich 3 × 3 = 9, b−a≈r =3 und die L¨ ange des Anstiegs ist gleich 36. 3 1 = 12 ableiten. Die Hieraus und aus Abbildung 2.4 k¨ onnen wir sin α = 36 L¨ angen der horizontalen Projektionen der Anstiege in Abbildung 2.4 sind jeweils 36 cos α, und das f¨ uhrt zu
sin β =
1 9 = . 36 cos α 4 cos α
Aus Abbildung 2.6 folgt tan γ = 39 = 13 . Die Kenntnis des exakten Wertes von sin α gibt uns die M¨oglichkeit, mit Hilfe des Satzes von Pythagoras die √ dritte Seite des √ rechtwinkligen Dreiecks zu berechnen und wir erhalten daf¨ ur 122 − 12 = 143. Das wiederum liefert √ 143 1 und tan α = √143 . cos α = 12 Wir haben nun 1 3 sin β = =√ 4 cos α 143 und die wiederholte Anwendung des ur die drit√ Satzes von√Pythagoras ergibt f¨ 3 te Seite jenes Dreiecks den Wert 143 − 9 = 134 und somit tan β = √134 . Zusammenfassend gesagt: Leybourns Instruktionen reduzieren sich auf tan α =
√1 , 143
tan β =
√3 , 134
tan γ =
1 3
3 1 und unsere Ungleichung erfordert √134 × 13 > √143 oder 143 > 134, was tats¨ achlich zutrifft! (Die gleiche Analyse zeigt, daß Leybourns untere Grenze von 5 mit der Forderung 5159 > 4934 einhergeht.) Nachdem wir nun das Geheimnis des Aufw¨ artsrollers gel¨ uftet haben, lassen wir Mr. Leybourns Gelehrsamkeit in einem Tagebucheintrag zu Wort kommen, den Samuel Pepys2 am 18. August 1662 verfaßt hat:
Mr. Deane aus Woolwich kam zu mir und wir ritten zusammen nach Waltham Forest, wo viele der B¨ aume des K¨onigs gef¨allt worden waren. Herr Deane wies mich darauf hin, wie der K¨onig beim Ankauf des Schnittholzes dadurch gesch¨ adigt worden ist, daß der Querschnitt der Planken nicht vollkommen quadratisch war. Die Planken bestanden also aus weniger Holz als sie eigentlich sollten; die Holzschneider hatten den Rest f¨ ur sich behalten. Mit großem Vergn¨ ugen werde ich das bestrafen lassen. Leybourn hatte in einer seiner Ver¨ offentlichungen die betr¨ ugerische Praxis des nichtquadratischen“ Holzschneidens erl¨ autert und Mr. Deane, einen Beamten ” in Woolwich, davon in Kenntnis gesetzt. 2
Samuel Pepys (1633–1703) war Pr¨ asident der Royal Society und Abgeordneter des englischen Unterhauses, wurde aber vor allem als Tagebuchautor und Chronist bekannt.
3 Das Geburtstagsparadoxon ... und daraus geht hervor, daß du an dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr etwas zum Ungeburtstag geschenkt bekommen kannst –“ Schon,“ sagte Alice. ” Aber zum Geburtstag nur an einem Tag, nicht wahr“. ” Goggelmoggel in Lewis Carrolls Alice hinter den ” Spiegeln“.
Das Ausgangsproblem Eines der vielleicht bekanntesten Beispiele f¨ ur ein kontraintuitives Ph¨anomen betrifft die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Personen, die bei einem Ereignis anwesend sind, am gleichen Tag Geburtstag haben. Wenn wir Schaltjahre ignorieren, dann k¨ onnen wir bei einer Versammlung von 366 Personen sicher sein, daß mindesten zwei von ihnen am gleichen Tag ihren Geburtstag feiern (das ergibt sich aus einer einfachen Anwendung des leistungsf¨ahigen Schubfachprinzips). Diese Beobachtung ist mehr als offensichtlich. Viel u ¨berraschender ist die Gr¨ oße einer Personengruppe, in der eine solche Wiederholung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% auftritt. Intuitiv wird h¨aufig folgendermaßen argumentiert: Da wir die Wahrscheinlichkeit halbieren, sollten etwa halb soviele Personen erforderlich sein, also ungef¨ ahr 183. Aber die Intuition erweist sich als erheblich fehlgeleitet.
Worum es nicht geht Zum Teil ist die kontraintuitive Natur des Ergebnisses auf ein u ¨bliches Mißverst¨ andnis der Behauptung zur¨ uckzuf¨ uhren. Es geht nicht darum, daß in einer Menge von r Menschen mindestens eine Person am gleichen Tag wie ich“ Geburtstag hat. Das l¨ aßt sich jedoch leicht ausrechnen. ” In einem aus n Tagen bestehenden Jahr ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person nicht am fraglichen Tag Geburtstag hat, gleich (n − 1)/n. Unter der Voraussetzung der Unabh¨ angigkeit ist die Wahrscheinlichkeit, daß keine der r Personen am fraglichen Tag Geburtstag hat, gleich ((n − 1)/n)r . Das ¨ bedeutet, daß die Wahrscheinlichkeit von mindestens einer Ubereinstimmung gleich r r n−1 1 =1− 1− Pn (r) = 1 − n n
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3 Das Geburtstagsparadoxon
ist und somit in einem Standardjahr folgenden Wert hat: r 364 . P365 (r) = 1 − 365 Es ist klar, daß P365 (r) → 1 f¨ ur r → ∞. Abbildung 3.1 zeigt einen hinreichend großen Teil der graphischen Darstellung von P365 (r) oberhalb des Wertes 0,5 und man stellt fest, daß der Wert von r etwas u ¨ber 250 liegen muß. Um den exakten Wert von r zu finden, m¨ ussen wir P365 (r) = 0, 5 l¨osen, das heißt, wir 364 r r m¨ ussen ein r finden, f¨ ur das 1 − ( 364 365 ) = 0, 5 und somit ( 365 ) = 0, 5 gilt. Das f¨ uhrt zu ln 0, 5 r= = 252, 65 . . . ≈ 253. ln( 364 365 )
Abb. 3.1. Ein Geburtstag f¨ allt mit meinem Geburtstag zusammen
Bei der korrekten Interpretation der Aussage des Problems geht es nicht darum, daß ein spezieller Geburtstag mit einem anderen u ¨bereinstimmt, sondern darum, daß zwei u ¨bereinstimmende Geburtstage existieren. Eine lineare Vergr¨ oßerung von r bewirkt ein kombinatorisches Wachstum der m¨oglichen ¨ Anzahl von Ubereinstimmungen. Damit meinen wir Folgendes: Bei Zunahme ¨ von r um 1 w¨ achst die Anzahl der m¨ oglichen Ubereinstimmungen offensichtlich um r. Symbolisch ausgedr¨ uckt, bedeutet das (r + 1)! r! r r+1 = − − 2 2!(r + 1 − 2)! 2!(r − 2)! 2 r! ((r + 1) − (r − 1)) = r. = 2(r − 1)! Somit bewirkt zum Beispiel eine Erh¨ ohung von r von 22 auf 23 eine Zunahme ¨ der Anzahl der m¨ oglichen Ubereinstimmungen von 365 22 = 231 auf 231 + 22 = 253. Diese signifikante Wachstumsrate der m¨ oglichen Erfolge ist die Grundlage zur L¨ osung des Problems. Soweit zur Erl¨ auterung des u ¨blichen Mißverst¨andnisses. Wir sehen uns nun den eigentlichen Sachverhalt genauer an.
3 Das Geburtstagsparadoxon
27
Die Standardl¨ osung Die u ur ein aus n Tagen bestehendes Jahr und eine zuf¨allige ¨bliche Analyse f¨ Auswahl von r Personen verwendet wieder die Standardbeobachtung, daß die Wahrscheinlichkeit eines Doppelgeburtstags gleich 1 minus der Wahrscheinlichkeit dessen ist, daß alle an verschiedenen Tagen Geburtstag haben. Als n¨achstes stellen wir fest, daß es n M¨ oglichkeiten gibt, den Geburtstag der ersten Person auszuw¨ ahlen; nachdem dieser Tag abgehakt“ ist, gibt es (n − 1) ” Auswahlm¨ oglichkeiten f¨ ur den Geburtstag der zweiten Person und so weiter. Nach Durchf¨ uhrung dieser Argumentation f¨ ur alle r Personen erhalten wir ur, den Ausdruck f¨ ur das neue Pn (r), das heißt, die Wahrscheinlichkeit daf¨ daß mindesten zwei Personen am gleichen Tag Geburtstag haben: n − (r − 1) n n−1 n−2 × × × ··· × n n n n n! =1− r n (n − r)! r! n . =1− r n r
Pn (r) = 1 −
F¨ ur ein aus 365 Tagen bestehendes Jahr erhalten wir r! 365 . P365 (r) = 1 − 365r r Die graphische Darstellung dieser Funktion f¨ ur die Werte von r bis 100 ist in Abb. 3.2 gegeben.
Abb. 3.2. Die Wahrscheinlichkeit von mindestens zwei zusammenfallenden Geburtstagen
Die bei 0, 5 gezogene horizontale Linie veranlaßt uns, die etwas u ¨ber 20 liegenden Werte von r aufs Korn zu nehmen. Tabelle 3.1 gibt die genaueren
28
3 Das Geburtstagsparadoxon
Werte in diesem Bereich an und tats¨ achlich ist 23 der kritische Wert f¨ ur r. ¨ F¨ ur viele ist es eine Uberraschung und f¨ ur manche sogar ein Schock, daß man nur 23 Personen versammeln muß, um mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% mindestens einen Doppelgeburtstag feiern zu k¨onnen. Tabelle 3.1. Der kritische Bereich r 21 22 23 24 25
P365 (r) 0,443 688 0,475 695 0,507 297 0,538 344 0,568 700
Wir stellen den Sachverhalt in einen leicht faßlichen Kontext und betrachten ein Fußballspiel zweier Mannschaften von je 11 Spielern (plus Schiedsrichter): es besteht eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% daf¨ ur, daß zwei der auf dem Fußballfeld anwesenden Personen am gleichen Tag Geburtstag haben. Der Wissenschaftsjournalist Robert Matthews stellte einige Daten zusammen, um die Theorie zu best¨ atigen. Er w¨ ahlte 10 Spiele der englischen Premier-Liga aus, die am 19. April 1996 gespielt wurden, und hielt die Geburtstage fest. Die Resultate sind in Tabelle 3.2 angegeben. Bei einer theoretischen Erfolgswahrscheinlichkeit von ungef¨ahr 0, 51 h¨atten wir bei den 10 m¨ oglichen Spielen 5 Erfolge erwartet. Wir sehen, daß es sogar ¨ 6 Erfolge waren. Keine schlechte Ubereinstimmung!
Voraussetzungen Wir haben durchgehend vorausgesetzt, daß die Geburtstage gleichm¨aßig u ¨ber das Jahr verteilt sind. Diese Voraussetzung ist streng genommen nicht erf¨ ullt, erweist sich aber f¨ ur unsere Berechnungen als praktisch. Es ist jedoch gezeigt worden, daß eine ungleichm¨ aßige Verteilung die Wahrscheinlichkeit eines Doppelgeburtstags erh¨ oht (vgl. zum Beispiel D. M. Bloom (1973), A birthday problem, American Mathematical Monthly 80:1141–42, und A. G. Munford (1977), A note on the uniformity assumption in the birthday problem, American Statistician 31:119). T. Knapp (1982) hat in seinem Artikel The birthday problem: some empirical data and some approximations, Teaching Statistics 4(1):10–14, die Implikationen vom empirischen Standpunkt aus untersucht. Die empirischen Daten wurden dem Geburtenregister von Monroe County, New York, entnommen und erstreckten sich u ¨ber den 28-Jahres-Zeitraum 1941–1968 (das ist die L¨ ange des Zyklus, der ausgew¨ahlt wurde, um Mikrofluktuationen zu gl¨ atten): die Diskrepanz war winzig.
3 Das Geburtstagsparadoxon
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Tabelle 3.2. Daten von zehn Fußballspielen der Englischen Liga. Spiel Arsenal – Blackburn Aston Villa – Tottenham Chelsea – Leicester City
Liverpool – Manchester United
Middlesborough – Sunderland Newcastle – Derby Nottingham Forest – Leeds
u ¨bereinstimmende Geburtstage ¨ keine Ubereinstimmungen Ehiogu (A; 3.11.72) und Yorke (A; 3.11.71) Petrescu (C; 22.12.67) und Morris (C; 22.12.78) Hughes (C; 1.11.63) und Elliott (L; 1.11.68) James (L; 1.8.70) und Wright (L; 1.8.63) Butt (M; 21.1.75) und P. Neville (M; 21.1.77) Johnston (S; 14.12.73) und Waddle (S; 14.12.60) ¨ keine Ubereinstimmungen
Martyn (L; 11.8.66) und Halle (L; 11.8.65) ¨ Sheffield Wednesday – Wimbledon keine Ubereinstimmungen Southampton – Coventry Benali (S; 30.12.68) und Whelan (C; 30.12.74) ¨ West Ham – Everton keine Ubereinstimmungen
Welchen Unterschied verursacht ein Schaltjahr? Wieder ist der Unterschied nicht groß. Wir modellieren die Situation unter Verwendung eines aus 365,25 Tagen bestehenden Jahres und nehmen außerdem an, daß die Wahrscheinlichkeit, am 29. Februar geboren zu sein, gleich ein Viertel derjenigen Wahrscheinlichkeit ist, an irgendeinem anderen Tag Geburtstag zu haben. Unter diesen Voraussetzungen ist 0,25/365,25 die Wahrscheinlichkeit, daß eine zuf¨allig ausgew¨ ahlte Person am 29. Februar geboren ist, und 1/365,25 ist die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß eine zuf¨ allig ausgew¨ ahlte Person ihren Geburtstag an einem anderen spezifizierten Tag feiert. Etwas komplizierte Rechnungen zeigen, daß wieder die 23 die magische Zahl ist, wobei der einzige Unterschied darin besteht, daß die zugeordnete Wahrscheinlichkeit gleich 0, 5068 . . . ist.
Verallgemeinerungen Es gibt einfache M¨ oglichkeiten, das Problem zu verallgemeinern: wir k¨onnten beispielsweise fragen, wieviele Personen erforderlich sind, damit eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% daf¨ ur besteht, daß mindestens zwei dieser Personen im gleichen Monat geboren sind oder das gleiche Sternzeichen haben.
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3 Das Geburtstagsparadoxon Tabelle 3.3. Mehrfachgeburtstage n 2 3 4 5 6 7 8
r 23 88 187 313 460 623 798
n 9 10 11 12 13 14 15
r 985 1181 1385 1596 1813 2035 2263
Setzen wir n = 12 in der Formel f¨ ur Pn (r), dann ergibt r = 4 die Wahrscheinlichkeit 0, 427 083 . . . und r = 5 liefert die Wahrscheinlichkeit 0, 618 056 . . . . Viel schwieriger ist die Beantwortung des Problems, die kleinste Anzahl r von Personen derart zu finden, daß mindestens 3, 4, . . . , n von ihnen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% am gleichen Tag Geburtstag haben. Unter anderen haben R. J. McGregor und G. P. Shannon (2004) in ihrer Arbeit On the generalized birthday problem, Mathematical Gazette 88(512):242–48, eine solche Analyse gegeben, wobei sie die Theorie der Partitionen verwenden. Die ersten Werte von n und r sind in Tabelle 3.3 aufgelistet. Und schließlich k¨ onnten wir nach der Wahrscheinlichkeit daf¨ ur fragen, daß es in einem aus 365 Tagen bestehenden Jahr in einer Menge von r Personen einen Beinahzusammenfall“ von Geburtstagen gibt. Genauer gesagt, fragen ” wir nach einer Berechnung der Wahrscheinlichkeit Pr ( 2 Geburtstage getrennt durch d Tage). Die Beantwortung dieser Frage erweist sich wieder als ziemlich schwieriges Problem (vgl. J. I. Naus (1968), An extension of the birthday problem, American Statistician 22:27–29). Die Berechnungen von Naus liefern Pr ( 2 Geburtstage getrennt durch d Tage) = 1 − 3651(364 − rd)! −
r (365 − (d + 1)r!)
.
Matthews berechnete f¨ ur das Fußballbeispiel (unter Verwendung von r = 23) diese Wahrscheinlichkeit f¨ ur Geburtstage am gleichen Tag oder an aufeinanderfolgenden Tagen (d = 1) und erhielt den Wert 0, 888 . . .. Wir w¨ urden demnach erwarten, daß 9 der oben angegebenen 10 Fußballveranstaltungen diese Eigenschaft besitzen. Nach Auswertung der vollst¨andigen Datenmenge kommt Matthews zu dem Ergebnis, daß alle 10 Veranstaltungen die Eigenschaft besitzen. Die letztgenannte Formel kann auch dazu verwendet werden, das kleinste r zu berechnen, f¨ ur welches Pr ( 2 Geburtstage getrennt durch d Tage) ≈ 0, 5
3 Das Geburtstagsparadoxon
31
f¨ ur gegebene Werte von d gilt. Tabelle 3.4 zeigt die Ergebnisse der Berechnung dieser Wahrscheinlichkeit f¨ ur die Werte von d zwischen 0 and 7, wobei die erste Datenzeile dem Geburtstagsparadoxon entspricht. Auch die letzte Zeile ist ziemlich u ¨berraschend, denn sie besagt Folgendes: In einer aus sechs Mitgliedern bestehenden Familie ist es ziemlich wahrscheinlich, daß zwei Familienmitglieder innerhalb innerhalb einer Woche Geburtstag haben. Tabelle 3.4. Geburtstage, die bis zu einem Wochenabstand voneinander getrennt sind d 0 1 2 3 4 5 7
r 23 14 11 9 8 7 6
Die Antwort von Halmos Der 2006 verstorbene Paul Halmos, der jahrzehntelang als inspirierender Autor und Lehrer t¨ atig war, pr¨ agte den Ausspruch Computer sind wichtig, aber ” nicht f¨ ur die Mathematik“. Insbesondere beklagte er in seiner Autobiographie I Want to Be a Mathematician die Tatsache, daß das Geburtstagsparadoxon u ost wird, zum Beispiel so, wie wir es in diesem ¨blicherweise rechnerisch gel¨ Kapitel im Abschnitt Die Standardl¨ osung“ getan hatten. Er vertrat die An” sicht, daß man auf nat¨ urliche Weise analytisch vorgehen kann und rechtfertigte diese Behauptung durch das weiter unten stehende Argument. Seine sch¨one Methode liefert auch eine n¨ utzliche asymptotische Absch¨atzung der Wahrscheinlichkeit f¨ ur große n. In seiner Autobiographie lesen wir folgende Feststellung: Eine gute Methode, das Problem in Angriff zu nehmen, besteht darin, daß man es umkehrt“: Was ist die gr¨ oßte Anzahl von Personen, f¨ ur ” welche die Wahrscheinlichkeit, daß sie alle an verschiedenen Tagen Geburtstag haben, kleiner als 1/2 ist? Unter Verwendung unserer urspr¨ unglichen Notation bedeutet das, daß wir f¨ ur ein gegebenes n das gr¨ oßte r suchen, f¨ ur welches n − (r − 1) 1 n n−1 n−2 × × × ··· × < n n n n 2
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3 Das Geburtstagsparadoxon
oder 2 r−1 1 1 × 1− × ··· × 1 − < . 1× 1− n n n 2 Im n¨ achsten Schritt verwendet man die Aussage, daß f¨ ur beliebige positive Zahlen a1 , a2 , a3 , . . . , ar die Ungleichung √ a 1 + a 2 + a3 + · · · + a r r a1 a2 a3 · · · a r r gilt, das heißt, das geometrische Mittel ist stets kleiner oder gleich dem arithmetischen Mittel, wobei Gleichheit nur dann besteht, wenn alle Zahlen gleich sind. Mit k−1 f¨ ur k = 1, 2, 3, . . . , r ak = 1 − n haben wir dann 2 r−1 1 r × 1− × ··· × 1 − 1× 1− n n n 1 2 r−1 1+ 1− + 1− + ··· + 1 − n n n r r−1 k 1
1− = r n k=0 r−1 r−1
1
k = 1− r n k=0 k=0 1 r−1 1 r− × ×r = r n 2 r r−1 ≈ 1− = 1− 2n 2n und somit
r 1 2 r−1 r 1× 1− × 1− × ··· × 1 − 1− . n n n 2n
Als n¨ achstes verwenden wir die Ungleichung 1 − x e−x f¨ ur x 0. Mit Hilfe dieser Ungleichung ergibt sich 1 − r/2n e−r/2n und das bedeutet 2 r−1 1 × 1− × ··· × 1 − 1× 1− n n n r 2 r 1− (e−r/2n )r = e−r /2n . 2n
3 Das Geburtstagsparadoxon
33
Das kleinste r, f¨ ur das e−r /2n 12 gilt, liefert uns dann eine obere Schranke f¨ ur das kleinste r, f¨ ur welches 2 r−1 1 1 × 1− × ··· × 1 − < . 1× 1− n n n 2 2
Betrachten wir die Gleichung“ e−r /2n ≈ ” Logarithmen beider Seiten, dann ergibt sich 2
−
1 2
und nehmen die nat¨ urlichen
√ √ √ r2 ≈ − ln 2 und r ≈ 2 ln 2 n ≈ 1, 18 n. 2n
F¨ ur eine große“ Menge von n Personen ben¨otigen wir also eine Auswahl √ ” von h¨ ochstens 1, 18 n, um eine echte Chance zu haben, daß ein Doppelge¨ burtstag stattfindet. Wir k¨ onnen den Uberraschungseffekt des Geburtstagsparadoxons demnach folgendermaßen quantifizieren: Die minimale Anzahl, die zur Erf¨ ullung der Voraussetzungen erforderlich ist, hat die Gr¨oßenordnung √ n. Bei all dieser großz¨ ugigen Approximation ist es tr¨ostlich, sich davon zu u ur n = 365 den sehr genauen Sch¨atzwert 22,54 ¨berzeugen, daß die Formel f¨ liefert. Halmos schreibt weiter: Die Beweisf¨ uhrung st¨ utzt sich auf wichtige Werkzeuge, zu denen alle Studenten der Mathematik unmittelbaren Zugang haben sollten. Das Geburtstagproblem ist eine herrliche Illustration der Vorteile des reinen Denkens gegen¨ uber mechanischen Manipulationen; die Ungleichungen stehen innerhalb von wenigen Augenblicken zur Verf¨ ugung, wohingegen die Multiplikationen – egal, ob man als Ger¨at einen Bleistift oder einen altmodischen Tischrechner verwendet – viel l¨anger dauern w¨ urden und viel fehleranf¨ alliger w¨ aren. Rechenmaschinen haben weder das Verst¨ andnis noch die mathematischen M¨oglichkeiten und auch keine solide Basis f¨ ur fortgeschrittenere, verallgemeinerte Theorien. Außerdem werden Rechner (und Computer) nicht mit sehr großen Zahlen fertig und dieser Umstand stellt den Mechanismus f¨ ur genau das zur Verf¨ ugung, was wir uns jetzt ansehen werden.
Eine praktische Anwendung Das Geburtstagparadoxon ist mehr als nur etwas Ungew¨ohnliches. Tats¨achlich hat es Anwendungen in vielen Gebieten, einschließlich Kryptographie, Sorting und die etwas esoterischen Codenummern, die als GUIDs (Globally Unique Identifiers) bezeichnet werden und in verteilten Computersystemen zum Einsatz kommen. Wir k¨ onnen uns diese GUIDs unter Verwendung der obigen Absch¨ atzung ansehen, die auf den Ideen von Halmos beruht.
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3 Das Geburtstagsparadoxon
Jede GUID hat eine L¨ ange von 128 Bits, das heißt, sie l¨aßt sich als 32stellige Hexadezimalzahl schreiben (im Hexadezimalsystem werden Zahlen in einem Stellenwertsystem zur Basis 16 dargestellt). Viele Websites stellen unter Verwendung irgendeines Algorithmus eine solche Zahl bereit. Eine dieser Sites hatte folgenden Inhalt: GUID.org ist ein Internetdienstleister, der Web-Browsern anonyme Benutzer-IDs zuordnet. Diese anonymen IDs k¨onnen von anderen Websites zu vielerlei Zwecken verwendet werden. Zum Beispiel kann eine Website Ihre GUID dazu verwenden, Sie bei Ihrer Antwort zu erkennen. GUID.org ordnet jedem Browser eine eindeutige und im wesentlichen zuf¨ allige Benutzer-ID von 16-Byte zu, die durch 32 Hexadezimalstellen dargestellt wird. Die Konstruktion dieser ID erfolgt durch Anwendung eines MD5 Hash auf ein String, das eine Verkettung der IP-Adresse des Requesters, der IP-Adresse dieses Servers, des Datums und der Tageszeit, gemessen in Zeitpulsen, ist. Die ID wird dann als Cookie von GUID.org gesetzt. Wir lassen den Computerjargon hier außer Acht. Wichtig f¨ ur uns ist, daß eine GUID zuf¨ allig erzeugt ist, eine L¨ ange von 128 Bits hat und angeblich eindeutig ist; die Eindeutigkeit kann sich als wichtig erweisen, falls sie dazu verwendet werden soll, den erneuten Besuch einer Seite zu identifizieren. Es kann vorkommen, daß die zugeordnete GUID die Form B46F DD75 A69B 809F 3A16 636C C892 116F hat, wobei die Standardziffern {1, 2, 3, . . . , 9, A, B, . . . , F} des Hexadezimalsystems verwendet werden. Kann diese Zahl auf sichere Weise als eindeutiger Identit¨atscode verwendet werden? Es besteht die M¨ oglichkeit, daß dieser Zufallsprozeß zu einer GUID f¨ uhrt, die bereits fr¨ uher verwendet worden ist. Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß so etwas vorkommt? Es handelt sich hier um nichts anderes, als eine verkleidete Form des Geburtstagsproblems mit n = 2128 . Mit Hilfe des obigen Ergebnisses sehen wir, daß die Gesamtzahl der GUIDs, die erzeugt werden m¨ ussen, um eine Wahrscheinlichkeit von ¨ mehr als 50% zugunsten einer Ubereinstimmung zu erzielen, ungef¨ahr bei √ 1, 18 × 2128 = 1, 18 × 264 ≈ 2, 18 × 1019 liegt, und das ist eine riesengroße Zahl. Um eine Vorstellung von der Gr¨ oßenordnung zu bekommen, nehmen wir an, daß pro Stunde 100 000 GUIDs erzeugt werden. Unter dieser Voraussetzung w¨ urde es etwa 22 Milliarden Jahre dauern, bis die fragliche Zahl erzeugt wird. Das Universum ist nur 12–15 Milliarden Jahre alt. Das System scheint einigermaßen sicher zu sein! In Bezug auf die Allgemeinheit der Anwendung des Ergebnisses verweisen wir den Leser auf folgende Arbeit: M. H. Gail, G. H. Weiss, N. Mantel und
3 Das Geburtstagsparadoxon
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S. J. O’Brien (1979), A solution to the generalized birthday problem with application to allozyme screening for cell culture contamination, Journal of Applied Probability 16:242–51.
4 Drehen eines Tisches In der Mathematik versteht man die Dinge nicht. Man gew¨ ohnt sich nur daran. John von Neumann
Das urspru ¨ ngliche Problem Martin Gardner machte in seiner Februarkolumne 1979 im Scientific American einen gr¨ oßeren Leserkreis mit einem wunderbaren kombinatorischen Problem ” unbekannten Ursprungs bekannt“. Gardner hatte das Problem von Robert Tappay aus Toronto erhalten, der seinerseits meinte, es stamme aus Rußland: Ein quadratischer Tisch steht auf einem im Mittelpunkt angebrachten Bein und kann in der horizontalen Ebene frei rotieren. An jeder Tischecke befindet sich (¨ ahnlich wie beim Billard) eine Tasche, in der man ein gew¨ ohnliches leeres Weinglas unterbringen kann. Außerdem sind die Taschen so tief (und undurchsichtig), daß man ihren Inhalt nicht sehen kann. Ferner gibt es einen elektronischen Mechanismus, der folgendermaßen funktioniert: Enth¨ alt jede Tasche ein einziges Weinglas, dann ert¨ ont ein Gong, wenn alle Gl¨aser gleich ausgerichtet sind. Das Experiment beginnt mit der Verteilung der Gl¨aser in den Taschen, wobei die Gl¨ aser zuf¨ allig orientiert seien. Eine Person sitzt am Tisch und w¨ ahlt zwei Taschen gleichzeitig aus. Aus den ausgew¨ahlten Taschen werden die Gl¨ aser herausgenommen, untersucht und dann so wieder eingesetzt, wie die betreffende Person entscheidet. Danach wird der Tisch so gedreht, daß die Person außerstande ist, zu sagen, welche Tischseite sich jetzt vorne befindet. Das Verfahren wird dann unbegrenzt wiederholt. Nach jeder Wiederholung kann es vorkommen, daß der Gong ert¨ont. Das Problem besteht jedoch im Auffinden eines Verfahrens, das gew¨ahrleistet, daß der Gong nach einer endlichen Anzahl von Drehungen ert¨ont. Das ist keine Frage der Wahrscheinlichkeit und es geht auch nicht darum, daß der Gong irgendwann bestimmt ert¨ onen wird, denn das tut er mit absoluter Gewißheit.
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4 Drehen eines Tisches
Zwei einfachere F¨ alle Wie so oft, hilft es auch hier, sich den Sachverhalt mit Hilfe einfacherer F¨alle klar zu machen. In diesem Sinne betrachten wir zun¨achst einen Tisch mit genau zwei Taschen, der durch einen Stab modelliert wird, an dessen beiden Enden sich die Taschen befinden. Anschließend sehen wir uns einen Tisch mit drei Taschen an, der durch ein gleichseitiges Dreieck modelliert wird, in dessen Ecken die Taschen angebracht sind. In Abb. 4.1 ist der Sachverhalt schematisch dargestellt.
Abb. 4.1. Zwei einfachere Situationen
Die erste Beobachtung ist, daß wir voraussetzen k¨onnen, daß die urspr¨ ungliche zuf¨ allige Plazierung zu unterschiedlichen Orientierungen der Gl¨aser f¨ uhrt, denn andernfalls w¨ urde der Gong sofort ert¨onen. Bei zwei Taschen ist das Problem vollkommen trivial: der Gong ert¨ont nicht, wenn die Gl¨ aser in den Taschen plaziert werden; h¨ort die Drehbewegung
4 Drehen eines Tisches
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des Tisches auf, dann sehe man sich beide Gl¨ aser an und drehe eines von ihnen um, um sicherzugehen, daß beide die gleiche Orientierung haben. Wir nehmen jetzt an, daß der Tisch die Form eines gleichseitigen Dreiecks hat und daß sich in jeder Ecke eine Tasche befindet. Das folgende Verfahren garantiert, daß der Gong ert¨ ont: (1) Man greife in zwei beliebige Taschen. Sind die Gl¨aser gleich gerichtet, dann drehe man beide um und der Gong ert¨ont. Andernfalls haben die Gl¨ aser unterschiedliche Orientierungen und man drehe dasjenige Glas um, das nach unten gerichtet ist. (2) Ert¨ ont der Gong nicht, dann drehe man den Tisch und greife in zwei beliebige Taschen. Sind beide Gl¨ aser nach oben gerichtet, dann drehe man beide um und der Gong ert¨ ont. Sind sie engegengesetzt gerichtet, dann drehe man dasjenige Glas um, das nach unten gerichtet ist und der Gong ert¨ ont. Anhand dieser beiden einfachen F¨ alle erkennen wir, daß das Ergebnis f¨ ur vier Taschen zumindest plausibel ist, und wir sind nun ger¨ ustet, das urspr¨ ungliche Problem in Angriff zu nehmen.
Lo ¨sung des urspru ¨ nglichen Problems
Abb. 4.2. Ein quadratischer Tisch
Abb. 4.2 zeigt unseren neuen Tisch. Eine erste wichtige Beobachtung bei diesem Fall besteht darin, daß die Auswahl der Taschen im Wesentlichen zwei Formen hat: ein Seitenpaar oder ein Diagonalpaar. Ebenfalls klar ist, daß diese Auswahlen alternierend stattfinden m¨ ussen, da wir uns andernfalls endlos wiederholen w¨ urden. Unter Beachtung dieser Feststellungen k¨onnen wir uns jetzt ein Verfahren ansehen, das ein Ert¨ onen des Gongs garantiert.
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4 Drehen eines Tisches
Abb. 4.3. Die beiden wesentlichen Orientierungen
(1) Man greife in ein diagonales Taschenpaar und orientiere die Gl¨aser so, daß sie in der gleichen Weise nach oben gerichtet sind. (2) Ert¨ ont der Gong nicht, dann drehe man den Tisch und greife in zwei nebeneinander liegende Taschen. Sind beide Gl¨aser nach oben gerichtet, dann lasse man sie so; andernfalls drehe man das nach unten gerichtete Glas um. Ert¨ ont der Gong nicht, dann ist es sicher, daß drei Gl¨aser die gleiche Orientierung haben. (3) Man drehe den Tisch und greife in ein diagonales Taschenpaar. Ist eines der Gl¨ aser nach unten gerichtet, dann drehe man es um, und der Gong ert¨ ont. Sind beide Gl¨ aser nach oben gerichtet, dann drehe man eines von ihnen um; in diesem Fall sind die Orientierungen so wie in Abbildung 4.3(a). (4) Man drehe den Tisch, greife in zwei nebeneinander liegende Taschen und drehe die Gl¨ aser um. Hatten beide Gl¨ aser die gleiche Orientierung, dann ert¨ ont der Gong; andernfalls sind die Gl¨ aser jetzt so positioniert wie in Abbildung 4.3(b). (5) Man drehe den Tisch, greife in ein diagonales Taschenpaar und drehe beide Gl¨ aser um. Der Gong ert¨ ont nun ganz bestimmt. Bei dieser Vorgehensweise wird das Problem mit h¨ochstens f¨ unf Tischdrehungen gel¨ ost, was auch die Minimalzahl von Drehungen ist. Entscheiden wir uns, den Minimalismus zu opfern und auf Gr¨ ubeleien zu verzichten, dann l¨osen die folgenden sieben Schritte das Problem automatisch: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Man Man Man Man Man Man Man
drehe drehe drehe drehe drehe drehe drehe
irgendein irgendein irgendein irgendein irgendein irgendein irgendein
diagonales Paar um. nebeneinander liegendes Paar um. diagonales Paar um. einzelnes Glas um. diagonales Paar um. nebeneinander liegendes Paar um. diagonales Paar um.
4 Drehen eines Tisches
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Verallgemeinerungen des Problems Ein Tisch mit zwei Taschen ist, wie wir gesehen haben, ein triviales Problem, ein Tisch mit drei Taschen ist leicht zu behandeln, ein Tisch mit vier Taschen ist dagegen etwas subtiler. Wie sieht es bei einem Tisch mit f¨ unf Taschen aus? Die Situation ¨ andert sich radikal, wenn ein Tisch f¨ unf (oder mehr) Seiten hat, denn es gibt keinen Algorithmus, der nach endlich vielen Schritten garantiert, daß der Gong ert¨ ont. (In Kapitel 6 werden wir einer weiteren Situation begegnen, bei der sich die Dinge ab dem f¨ unften Level“ radikal ¨andern – ein ” Ph¨anomen, das in der Mathematik bei weitem nicht ungew¨ohnlich ist.) In der Kolumne des Scientific American vom M¨arz 1979 findet man die L¨ osung des urspr¨ unglichen Problems. Offensichtlich sind die Mathematiker zwischen dem Februarheft und dem M¨ arzheft aktiv gewesen, denn die M¨arzkolumne bringt auch zwei Verallgemeinerungen, die von Ronald L. Graham und Persi Diaconis angegeben wurden: (1) Kann der Gong zum Ert¨ onen gebracht werden, wenn der Spieler durch durch einen Oktopus“ ersetzt wird, der k H¨ande hat und an einem Tisch ” mit n Seiten sitzt? (2) Kann der Gong zum Ert¨ onen gebracht werden, wenn die Gl¨aser durch Objekte ersetzt werden, die mehr als zwei Positionen einnehmen k¨onnen? Sie gaben eine teilweise Antwort auf die erste Frage, indem sie folgende Aussage bewiesen: Bei einem Tisch, dessen Seitenanzahl n eine Primzahl ist, hat die Minimalzahl der H¨ ande, die ein Ert¨ onen des Gongs garantieren, den Wert n − 1; andernfalls ist die Minimalzahl durch n − 2 von oben beschr¨ankt. Nat¨ urlich l¨ ost ihr Ergebnis den Spezialfall des obengenannten f¨ unfseitigen Tisches: in diesem Fall ist k = 2 und n = 5. Sp¨ ater gaben William T. Laaser und Lyle Ramshaw von der University of Stanford eine vollst¨ andige L¨ osung der ersten Verallgemeinerung: Die Minimalzahl k der H¨ ande, die im Falle eines n-seitigen Tisches f¨ ur ein garantiertes Ert¨ onen des Gongs erforderlich ist, betr¨ agt k = (1−1/p)n, wobei p den gr¨oßten Primfaktor von n bezeichnet (die Formel wurde von James Boyce vermutet). Nat¨ urlich reduziert sich diese Aussage auf das obige Ergebnis von Graham und Diaconis, wenn n eine Primzahl ist (und deswegen n = p gilt). Die vollst¨ andige Darlegung des Ergebnisses von Laaser–Ramshaw (Probing the rotating table, Mathematical Gardner, 1981, 288–307) ist zu lang, um hier aufgenommen zu werden, aber wir sehen uns den ersten Teil an. Dieser besagt, daß (1 − 1/p)n eine untere Schranke f¨ ur k ist, das heißt, wenn k < (1 − 1/p)n, dann ist es unm¨ oglich, zu garantieren, daß der Gong ert¨ont. Zun¨ achst beweisen wir ein vorbereitendes Resultat. Wir betrachten die Menge der ganzen Zahlen {0, 1, 2, . . . , p − 1} modulo einer Primzahl p. Beginnen wir bei einer beliebigen Position r und bewegen uns in Schritten von jeweils 1 (unter Reduktion modulo p) durch die ganzen Zahlen, dann ist es offensichtlich, daß wir jede ganze Zahl besuchen“, bevor ” wir erneut unseren Ausgangspunkt erreichen. Wir nehmen nun an, daß wir
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4 Drehen eines Tisches
uns in Schritten der L¨ ange j bewegen (wobei 2 j p − 1). Bewegen wir uns durch die ganzen Zahlen, dann erzeugen wir die aus ganzen Zahlen bestehende Menge {r + αj : 0 α p − 1} (modulo p), und sind zwei dieser Zahlen gleich, dann muß r + αj = r + βj (modulo p) gelten, das heißt, (β − α)j ist durch p teilbar. Da p prim ist und kein Teiler von j sein kann, muß p ein Teiler von β − α sein, daß heißt, β = α + N p. Kurz gesagt: Bei jedem Spaziergang durch die ganzen Zahlen besuchen wir jede einzelne von ihnen einmal, bevor wir zum Ausgangspunkt zur¨ uckkehren. Nach dieser Vorbereitung betrachten wir das Ergebnis von Laaser und Ramshaw in zwei Teilen: (1) Wir nehmen an, daß n = p eine Primzahl ist. Hat der Spieler weniger als p − 1 H¨ ande, dann hat er keine Gewinnstrategie. Hat der Spieler weniger als p − 1 H¨ ande, dann l¨aßt jede Untersuchung des Tisches mindestens zwei Taschen ungepr¨ uft. Wir bezeichnen diese Taschen als L¨ ucken und nehmen an, daß zwei von ihnen den Abstand j haben. Unser vorbereitendes Resultat zeigt Folgendes: Beginnen wir mit irgendeiner Tasche ange j um den Tisch herum, dann und bewegen wir uns in Schritten der L¨ besuchen“ wir jede Tasche, bevor wir zum Ausgangspunkt zur¨ uckkehren. ” Da sich in den Taschen Gl¨ aser mit beiden Orientierungen befinden m¨ ussen, kommen wir bei unserer Reise notwendigerweise an eine Stelle mit zwei unterschiedlich orientierten Gl¨ asern, die genau den Abstand j haben. Ist der Tisch zuf¨ alligerweise so beschaffen, daß die L¨ ucken, die im Untersuchungsschema den Abstand j haben, mit den Gl¨ asern unterschiedlicher Orientierung zusammenfallen, dann kann der Gong nicht ert¨ onen. Das Verfahren kann unbegrenzt wiederholt werden, womit bewiesen ist, daß kein Ert¨onen des Gongs garantiert werden kann. (2) Es sei nun n 2 eine zusammengesetzte Zahl und es bezeichne p ihren gr¨ oßten Primfaktor. Hat der Spieler weniger als (1 − 1/p)n H¨ande, dann hat er keine Gewinnstrategie. Wir schreiben n = pl. Der Beweis wird im Wesentlichen auf den vorhergehenden Fall zur¨ uckgef¨ uhrt. Anstelle einer zyklischen Vorgehensweise stellen wir den Tisch in Form von l Kopien eines p-seitigen Sub-Tisches dar. Zum Beispiel k¨ onnen wir uns im Falle von n = 6 = 2 × 3 den hexagonalen Tisch von Abbildung 4.4(a) als Superposition der beiden Sub-Tische von Abbildung 4.4(b) denken. Da der Spieler bei jeder Taschendurchsuchung weniger als 1 1 n= 1− pl = (p − 1)l 1− p p H¨ ande zur Verf¨ ugung hat, weist mindestens einer der Sub-Tische mindestens zwei L¨ ucken auf, wenn der gesamte Tisch gepr¨ uft wird. H¨atte n¨amlich jeder
4 Drehen eines Tisches
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Abb. 4.4. Ein Tisch und seine Sub-Tische
Sub-Tisch h¨ ochstens eine L¨ ucke, dann m¨ ußten mindestens l ×(p−1) = (p−1)l H¨ ande zur Verf¨ ugung stehen. Wir nehmen nun an, daß auf einem Sub-Tisch die beiden L¨ ucken den Abstand j haben. Es muß ein Sub-Tisch existieren, dessen Taschen Gl¨aser mit beiden Orientierungen enthalten. Man spaziere nun so wie vorher mit Schritten der L¨ange j um den Tisch herum. So wie vorher stattet man dann jeder Tasche einen Besuch ab, bevor man an den Ausgangspunkt zur¨ uckkehrt. Das bedeutet, daß es im Abstand j zwei Taschen gibt, von denen eine ein aufw¨artsgerichtetes Glas und die andere ein abw¨ artsgerichtetes Glas enth¨alt. Ist der Tisch nun zuf¨ alligerweise so beschaffen, daß sich bei einer Taschendurchsuchung ein Sub-Tisch mit zwei L¨ ucken an denjenigen Sub-Tisch anschließt, bei dem die Gl¨ aser beide Orientierungen haben und die L¨ ucken sowie die aufw¨arts- und die abw¨ artsgerichteten Gl¨ aser superpositioniert sind, dann kann der Gong nicht ert¨ onen. Das kann sich beliebig oft wiederholen und in diesem Fall besteht keinerlei Aussicht, daß der Gong jemals ert¨ ont.
Abb. 4.5.
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4 Drehen eines Tisches
Tabelle 4.1. Minimale Anzahl N der H¨ ande, die f¨ ur einen n-seitigen Tisch ben¨ otigt werden n 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
N 2 4 4 6 4 6 8 10 8 12 12 12 8 16 12 18
n 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
N 16 18 20 22 16 20 24 18 24 28 24 30 16 30 32 30
n 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
N 24 36 36 36 32 40 36 42 40 36 44 46 32 42 40 48
n 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
N 48 52 36 50 48 54 56 58 48 60 60 54 32 60 60 66
Beil¨ aufig sei bemerkt, daß (f¨ ur n > 2) wegen 1 p−1 1− n= n p p Folgendes gilt: Ist p = 2, dann muß n eine Potenz von 2 sein, da andernfalls p > 2 und somit p − 1 gerade w¨ are; in beiden F¨allen ist merkw¨ urdigerweise (1 − 1/p)n gerade. Wir schließen das Kapitel mit einer Tabelle und einer Abbildung. Tabelle 4.1 enth¨ alt die Werte von N = (1 − 1/p)n f¨ ur die ersten Werte von n. Abb. 4.5 ist eine graphische Darstellung der Werte von n bis 100. Der Trend ist klar und einsichtig, wird aber regelm¨ aßig u ¨ber den Haufen geworfen, insbesondere wenn n eine Potenz von 2 ist. Im letzteren Fall ist p = 2 und (1 − 1/p)n = 12 n. Tats¨ achlich ist es offensichtlich, daß f¨ ur N die Schranken 1 2n
N n−1
existieren. Dabei wird die untere Schranke erreicht, wenn N eine Potenz von 2 ist, w¨ ahrend die obere Schranke erreicht wird, wenn N eine Primzahl ist. Dieser Sachverhalt wird durch die Halbgeraden y = 12 n und y = n − 1 veranschaulicht, die der graphischen Darstellung hinzugef¨ ugt worden sind.
5 Derangements Man sagt, daß Gauß zehn verschiedene Beweise f¨ ur das quadratische Reziprozit¨ atsgesetz hatte. Jeder gute Satz sollte mehrere Beweise haben, je mehr desto besser. Aus zweierlei Gr¨ unden: u ¨blicherweise haben verschiedene Beweise auch unterschiedliche St¨ arken und Schw¨ achen, und diese Beweise verallgemeinern in verschiedenen Richtungen, sind also nicht nur Wiederholungen voneinander. Sir Michael Atiyah
Wir sehen uns ein ber¨ uhmtes altes Problem auf drei verschiedene, aufschlußreiche Weisen an, und betrachten dann drei u ¨berraschende Tatsachen, die sich daraus ergeben.
Ein altes Kartenspiel Das franz¨ osische Wort f¨ ur 13, treize, war im achtzehnten Jahrhundert auch der Name eines verbreiteten Kartenspiels. Man konnte es als einfaches Patiencespiel (oder Solitairespiel) betrachten, aber in seiner klassischen Form wurde es von mehreren Personen gespielt, und im Allgemeinen ging es um Geld. Eine Erl¨ auterung sei dem Mann u ¨berlassen, dem die erste Analyse des Sachverhalts zugeschrieben wird: Die Spieler losen zuerst aus, wer die Karten bekommt. Wir nehmen an, daß Pierre sie bekommt, & daß die Anzahl der Spieler so beschaffen ist, wie man es w¨ unscht. Pierre, der ein komplettes Kartenspiel von zweiundf¨ unfzig nach Belieben gemischten Karten hat, zieht eine nach der anderen, nennt und spricht eins aus, wenn er die erste Karte zieht, zwei, wenn er die zweite zieht, drei, wenn er die dritte zieht, und so weiter bis zur dreizehnten Karte, die ein K¨onig ist. Wenn nun in der gesamten von ihm gezogenen Folge von Karten keine einzige ist, die den von ihm genannten und ausgesprochenen Rang hat, dann zahlt er das, was jeder der Spieler im Spiel gewettet hat, & gibt die Karten demjenigen, der ihm zur Rechten sitzt. Aber wenn es ihm in der Folge der dreizehn Karten so widerf¨ ahrt, daß er eine von ihm genannte Karte zieht, daß er also zum Beispiel ein As zieht, wenn er eins sagt, oder eine zwei, wenn er zwei sagt, oder eine drei, wenn er drei sagt etc., dann bekommt er den gesamten Spieleinsatz & beginnt
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5 Derangements
auf dieselbe Weise von vorne, indem er eins, zwei etc. sagt. Es kann vorkommen, daß Pierre, wenn er oft gewonnen & mit der Ansage von eins erneut begonnen hat, nicht mehr ausreichend viele Karten zur Verf¨ ugung hat, um insgesamt dreizehn ansagen zu k¨onnen. Nun muß er, wenn es f¨ ur ihn zu wenig Karten sind, die Karten mischen und abheben lassen & als N¨ achstes vom kompletten Kartenspiel diejenige Anzahl von Karten ziehen, die er zur Fortsetzung des Spiels braucht, wobei er mit der Zahl beginnt, mit der er im vorhergehenden Spiel aufgeh¨ ort hat. Hat er zum Beispiel beim Ziehen der letzten Karte sieben angesagt, dann muß er, wenn er nach dem Abheben die erste Karte aus dem kompletten Kartenspiel zieht, acht ansagen & danach neun etc. bis dreizehn – wenn er nicht eher gewinnt, in welchem Falle er wieder von vorne beginnen w¨ urde, indem er zuerst eins sagt, danach zwei & weiter so verf¨ ahrt, wie in der Erl¨ auterung dargestellt. Es hat somit den Anschein, daß Pierre imstande ist, viele Spiele nacheinander zu machen, & daß er ebenfalls in der Lage ist, das Spiel unbegrenzt fortzusetzen. Dieser Auszug ist der 2. Auflage (1713) des Buches Essai d’analyse sur les jeux de hazard von Pierre Renard de Montmort entnommen. Es folgt eine Analyse, die in echt mathematischer Manier mit leichteren F¨allen beginnt und dann zu einer vollst¨ andigen L¨ osung u ¨bergeht (mit bedeutenden Beitr¨agen von Niklaus Bernoulli). In der Folgezeit untersuchten andere ber¨ uhmte Wissenschaftler, zum Beispiel de Moivre, Euler, Lambert und Laplace, Varianten des Problems. Wir betrachten hier die vermutlich modernste Form des Spiels unter seiner gebr¨auchlichsten Bezeichnung rencontre (ein franz¨osisches Wort, das als Begegnung oder Zusammentreffen u ¨bersetzt werden kann). Bei dieser Form des Spiel wird das 13-Karten-Limit durch die zweiundf¨ unfzig Karten des Kartenspiels ersetzt. Das ist die Form, in der Euler das Problem betrachtete, und deswegen lassen wir ihn die Angelegenheit in der folgenden Textstelle erl¨ autern, die ein Auszug aus seiner Arbeit Calcul de la probabilit´e dans le jeu de rencontre ist (erschienen in den Memoires de l’academie des sciences de Berlin 7, 1753): Das Rencontre-Spiel ist ein Gl¨ ucksspiel, bei dem zwei Personen, die beide ein vollst¨ andiges Kartenspiel haben, gleichzeitig eine Karte nach der anderen (aus ihrem Spiel) ziehen, bis sie ein und derselben Karte begegnen; in diesem Fall gewinnt einer der beiden Spieler. Kommt keine solche Begegnung zustande, dann gewinnt der andere Spieler. Unter diesen Voraussetzungen fragen wir nach der Gewinnwahrscheinlichkeit der beiden Spieler. Unabh¨ angig von der Anordnung der Karten in einem der beiden Kartenspiele besteht das andere Kartenspiel aus irgendeiner Permutation jener Karten. Wir betrachten das Spiel aus der Sicht eines der beiden Spieler, indem
5 Derangements
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wir die Chance untersuchen, daß keine Begegnung stattfindet. Das bringt uns auf eine n¨ utzliche Definition.
Derangements Eine Permutation, bei der kein Element an seinem urspr¨ unglichen Platz bleibt, wird als Derangement bezeichnet. Ein Derangement von n Objekten ist also eine fixpunktfreie Permutation dieser Objekte. Die Anzahl der Derangements von n Objekten wird symbolisch u ¨blicherweise durch !n dargestellt und als Subfakult¨ at n bezeichnet. Nat¨ urlich sind nicht alle Permutationen Derangements: zum Beispiel ist {5, 1, 2, 3, 4} eine Permutation von {1, 2, 3, 4, 5}, bei der keine Zahl an ihrem urspr¨ unglichen Platz bleibt, das heißt, es handelt sich um ein Derangement; demgegen¨ uber ist {5, 2, 1, 3, 4} kein Derangement, da 2 ein Fixpunkt ist. Wir machen es so wie Montmort und sehen uns zun¨achst die drei einfachsten F¨ alle an, die unmittelbar einleuchten: die einzige Permutation von {1} hat keine Derangements, die Permutationen von {1, 2} haben {2, 1} als einziges Derangement und die Permutationen von {1, 2, 3} haben die beiden Derangements {2, 3, 1} und {3, 1, 2}. Das bedeutet, daß !1 = 0,
!2 = 1,
!3 = 2.
Allgemein m¨ ussen wir folgende Frage stellen: Wieviele der n! verschiedenen Permutationen von n unterschiedlichen Objekten lassen kein Objekt an seinem urspr¨ unglichen Platz? Die Antwort auf diese Frage f¨ uhrt zu einer allgemeinen Formel f¨ ur !n und ur die Wahrscheinlichkeit, daß eine Permutasomit f¨ ur pn =!n/n!, das heißt, f¨ tion von n Objekten ein Derangement ist. Bevor wir loslegen, noch eine Bemerkung zur Schreibweise. Wir hatten bemerkt, daß die Notation !n zwar standardm¨ aßig verwendet wird, aber wir weruckgreifen. den praktischerweise auf die alternative Schreibweise Dn = !n zur¨ Die Verwendung von !n ist n¨ amlich unvorteilhaft, wenn in den Ausdr¨ ucken sowohl Fakult¨ aten als auch Subfakult¨ aten auftreten. Dar¨ uber hinaus ist der Ausdruck !n! zweideutig. Beispielsweise k¨ onnte !3! als (!3)! = 2! = 2 oder als !(3!) = !6 = 265 interpretiert werden. Man vergleiche das mit den eindeutigen Schreibweisen D3 ! = 2 bzw. D3! = 265.
Eine erste L¨ osung Zuerst geben wir eine rekursive Berechnungsvorschrift f¨ ur Dn an. Ist {a1 , a2 , a3 , . . . , an } ein Derangement von {1, 2, 3, . . . , n}, dann muß a1 = 1 sein und es bleiben n − 1 M¨ oglichkeiten. Zur Illustration nehmen wir a1 = 2 an. Es bezeichne dn die Anzahl dieser Derangements, das heißt, wir haben Dn = (n − 1)dn . Es gibt jetzt zwei M¨oglichkeiten:
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5 Derangements
(1) a2 = 1, das heißt, das Derangement hat die Form {2, 1, a3 , a4 , a5 , . . . , an }, wobei {a3 , a4 , a5 , . . . , an } ein Derangement von {3, 4, 5, . . . , n} ist, und es gibt genau Dn−2 von diesen; (2) a2 = 1, wobei {a2 , a3 , a4 , . . . , an } ein Derangement of {1, 3, 4, . . . , n} ist, und deren Anzahl ist Dn−1 . Zusammengenommen erhalten wir dn = Dn−1 + Dn−2 und deswegen Dn = (n − 1)(Dn−1 + Dn−2 ),
n 3.
Beil¨ aufig halten wir hier fest, daß Dn durch n − 1 teilbar ist. Wegen D1 = 0 und D2 = 1 ist es uns mit Hilfe dieser Relation m¨oglich, Dn f¨ ur beliebige n zu erzeugen und in Tabelle 5.1 sind die ersten Zahlenwerte dargestellt. (Unter Verwendung dieses Ergebnisses zeigt man mit vollst¨andiger Induktion m¨ uhelos die Beziehung Dn = nDn−1 + (−1)n .) Tabelle 5.1. Anzahl der Derangements f¨ ur kleine Mengen n 1 2 3 4 5 6
Dn 0 1 2 9 44 265
Wir interessieren uns f¨ ur pn = Dn /n!, das heißt, f¨ ur die Wahrscheinlichkeit, daß eine Permutation von n Objekten ein Derangement ist. Die soeben abgeleitete rekursive Beziehung erlaubt es uns, einen allgemeinen Ausdruck f¨ ur diese Wahrscheinlichkeit zu finden: (n − 1)(Dn−1 + Dn−2 ) Dn = n! n! 1 1 Dn−1 Dn−2 + = (n − 1) n (n − 1)! n(n − 1) (n − 2)! 1 1 = (n − 1) pn−1 + pn−2 n n(n − 1) 1 1 pn−1 + pn−2 = 1− n n
pn =
= pn−1 − Somit gilt
1 (pn−1 − pn−2 ). n
5 Derangements
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1 pn − pn−1 = − (pn−1 − pn−2 ). n Damit haben wir jetzt eine rekursive Beziehung f¨ ur pn . Diese behandeln wir ucke am einfachsten dadurch, daß wir qn = pn − pn−1 schreiben und die Ausdr¨ zur¨ uckentwickeln“: ” 1 1 1 − qn−2 qn = − qn−1 = − n n n−1 1 1 1 − − qn−3 =− n n−1 n−2 1 1 1 1 − − − qn−4 · · · =− n n−1 n−2 n−3 1 1 1 1 1 ··· q2 , = (−1)n−2 n n−1 n−2 n−3 3 wobei q2 = p2 − p1 =
D1 1 1 D2 − = −0= . 2! 1! 2 2
Demnach k¨ onnen wir
1 n! schreiben, womit die −1 nunmehr aufger¨ aumt“ ist. ” Schreiben wir nun die Ausdr¨ ucke f¨ ur qn explizit auf, dann erhalten wir qn = (−1)n
qn = pn − pn−1 , qn−1 = pn−1 − pn−2 , qn−2 = pn−2 − pn−3 , .. . q2 = p2 − p1 . Addieren wir jetzt die Gleichungen vertikal, dann ergibt sich nach einem fast vollst¨ andigen Wegfall der rechten Seite die Beziehung pn − p1 = pn − 0 = pn =
n
r=2
qr =
n
r=2
(−1)r
1 r!
1 1 1 1 − + − · · · + (−1)n , = 2! 3! 4! n! die sich praktischerweise in der Form pn = 1 −
1 1 1 1 1 + − + − · · · + (−1)n 1! 2! 3! 4! n!
schreiben l¨ aßt. Damit haben wir den gesuchten Ausdruck.
50
5 Derangements
Bernoullis L¨ osung Je leistungsst¨ arker die mathematischen Hilfsmittel sind, die man zum Beweis eines Ergebnisses verwendet, desto k¨ urzer d¨ urfte der voraussichtliche Beweis sein. Keinesfalls sollten wir den folgenden betr¨achtlich k¨ urzeren Beweis ignorieren, der auf dem Prinzip der Ein- und Ausschließung beruht. Das allgemeine Prinzip wird in Anhang A diskutiert. Niklaus Bernoulli verwendete dieses Prinzip, um die Formel f¨ ur Dn folgendermaßen abzuleiten. Das Prinzip der Ein- und Ausschließung liefert Dn = Gesamtzahl der Permutationen von {1, 2, 3, . . . , n}
Gesamtzahl der Permutationen von − {i}
+
{1, 2, 3, . . . , n}, die i fest lassen Gesamtzahl der Permutationen von
{i,j}
−
{1, 2, 3, . . . , n}, die {i, j} fest lassen
Gesamtzahl der Permutationen von
{i,j,k}
{1, 2, 3, . . . , n}, die {i, j, k} fest lassen . . . ,
wobei die Reihe mit der Zahl 1 endet, welche die Gesamtzahl der Permutationen ist, die alle n Zahlen fest l¨ aßt. Hieraus folgt n n (n − 3)! + · · · 1, (n − 2)! − Dn = n! − n(n − 1)! + 3 2 wobei der erste Teil eines jeden Terms die Anzahl der Auswahlm¨oglichkeiten der fest zu lassenden Zahlen angibt, w¨ ahrend der zweite Teil die Anzahl der Permutationen der restlichen Zahlen angibt. Nach Vereinfachung ergibt sich Dn = n! − n! +
n! n! (n − 2)! − (n − 3)! + · · · 1. 2!(n − 2)! 3!(n − 3)!
Somit haben wir
1 1 1 1 Dn = n! 1 − + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n!
und damit ergibt sich erneut pn =
1 1 1 1 Dn = 1 − + − + · · · + (−1)n n! 1! 2! 3! n!
5 Derangements
51
Der letzte Beweis Nach Heba Hathouts Arbeit The old hats problem“ 1 k¨onnen wir die n! An” ordnungsm¨ oglichkeiten von n Objekten dadurch z¨ahlen, daß wir eine Partitionierung der M¨ oglichkeiten in n + 1 disjunkte Untermengen S0 , S1 , S2 , . . . , Sn durchf¨ uhren, wobei Sr die Menge derjenigen Permutationen bezeichnet, die genau n − r Fixpunkte haben. Es bezeichne N (Sr ) die Anzahl der Elemente von Sr . Gibt es zum Beispiel zwei Fixpunkte, dann haben wir die Untermenge Sn−2 von Permutationen, wobei es n2 M¨oglichkeiten gibt, die beiden Fixpunkte zu w¨ ahlen. Dies bedeutet, daß n Dn−2 . N (Sn−2 ) = 2 Eine Fortsetzung dieser Argumentation f¨ uhrt zur folgenden Zerlegung der Gesamtzahl der Permutationen der n Objekte in Komponenten der Form N (Sr ): n! = N (S0 ) + N (S1 ) + N (S2 ) + · · · + N (Sn ) n n n n Dn−1 + Dn−2 + · · · + D0 Dn + = n−1 n−2 0 n n
n Dr . = r r=0 Damit haben wir n! =
n
n r=0
r
(1)
Dr
und das ist eine spezielle Form eines Ausdrucks, der sich f¨ ur die in Anhang B beschriebene Binomialinversion eignet. Die Aussage dieses Ergebnisses lautet: Stehen zwei Zahlenmengen {a0 , a1 , a2 , . . . , an } durch die Bedingung
und
{b0 , b1 , b2 , . . . , bn }
n
n ar bn = r r=0
miteinander in Beziehung, dann gilt an =
n
r=0
(−1)n−r
n br . r
Dieses Ergebnis macht anstelle der br die ar zum Gegenstand der Formel. 1
Verf¨ ugbar unter www.rose-hulman.edu/mathjournal/archives/2003/vol4-n1/ paper2/v4n1-2do.doc.
52
5 Derangements
In unserem Falle f¨ uhren bn = n! und ar = Dr zu n
n ar , bn = r r=0 und somit wird an =
n
r=0
zu Dn =
n
r=0
(−1)n−r
n br r
(−1)n−r
n r!. r
Das bedeutet Dn =
n
n−r
(−1)
r=0
n
n! n! r! = (−1)n−r r!(n − r)! (n − r)! r=0
und deswegen erhalten wir
1 1 Dn = = (−1)n−r (−1)s n! (n − r)! s! r=0 s=0 n
pn =
pn = 1 −
n
1 1 1 1 + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n!
Wir haben also drei sch¨ one Beweise f¨ ur ein sch¨ones Ergebnis, aber wo liegt ¨ ¨ hier eigentlich der Uberraschungseffekt? Die erste der drei Uberraschungen tritt zutage, wenn wir uns die durchschnittliche (oder erwartete) Anzahl der korrekten Zuordnungen der n Objekte ansehen.
Die erwartete Anzahl der Fixpunkte Angenommen, wir f¨ uhren das Experiment durch, die Ausgangsanordnung {1, 2, 3, . . . , n} sehr viele Male paarweise einer zuf¨alligen Permutation von sich selbst zuzuordnen, wobei wir bei jeder Zuordnung die Anzahl der Fixpunkte notieren. Diese Anzahl der Fixpunkte ist jedesmal eine der Zahlen aus {0, 1, 2, . . . , n} und wir k¨ onnen deren Durchschnitt E(n) ausrechnen. Man k¨ onnte auf den Gedanken verfallen, daß sich dieser Durchschnittswert mit wachsendem n erh¨ oht – Tabelle 5.2 deutet jedoch auf einen anderen Trend hin. Die Tabelle wurde f¨ ur jedes n so aufgestellt, daß man die durchschnittliche Anzahl der Fixpunkte von 1000 zuf¨ alligen Permutationen ermittelte und diese Anzahl u ¨ber 100 Wiederholungen des Verfahrens mittelte: diese durchschnittliche Anzahl der Fixpunkte klebt“ unabh¨angig von der Gr¨oße von n ”
5 Derangements
53
Tabelle 5.2. Durchschnittliche Anzahl der Fixpunkte von Permutationen n 3 4 5 10 20 50 100 1000
E(n) 1, 001 46 . . . 1, 000 48 . . . 1, 002 21 . . . 0, 997 61 . . . 0, 995 22 . . . 1, 001 97 . . . 1, 005 63 . . . 1, 003 36 . . .
sehr dicht an der Zahl 1. Es k¨ onnte nat¨ urlich sein, daß das Programm zur Erzeugung von Tabelle 5.2 einen Fehler hat, aber das ist nicht der Fall: der theoretische Durchschnittswert der Anzahl der Fixpunkte ist tats¨achlich genau 1 und er ist unabh¨ angig von n. Wir werden diese Aussage im Folgenden beweisen. Der Ausdruck E(n) ist die Standardnotation f¨ ur den Durchschnitt oder Erwartungswert und insbesondere f¨ ur die Anzahl der Fixpunkte der Permutationen von {1, 2, 3, . . . , n}. Definitionsgem¨ aß haben wir E(n) =
n
rqr ,
r=0
ur ist, daß es genau r feste Werte gibt, wobei qr die Wahrscheinlichkeit daf¨ und in unserem Falle gilt n Dn−r . qr = r n! Die Beweisf¨ uhrung verl¨ auft so wie im vorhergehenden Abschnitt, wobei die oglichkeiten ausgew¨ahlt werden und f¨ ur r festen Werte auf eine von nr M¨ die verbleibenden (n − r) Zahlen Derangements durchgef¨ uhrt werden m¨ ussen. Unser Durchschnittswert ist dann n n
Dn−r E(n) = . r r n! r=0 Zur Berechnung des Ausdrucks f¨ uhren wir mit s = n − r eine Variablensubstitution durch und erhalten n n
Ds E(n) = (n − s) n−s n! s=0 n n
Ds = (n − s) s n! s=0 n−1 n
Ds , = (n − s) s n! s=0
54
5 Derangements
wobei die mittlere Gleichheit die Symmetrie n n = s n−s der Binomialkoeffizienten verwendet. Das bedeutet E(n) =
n−1
(n − s)
s=0
n−1
n! Ds Ds = . s!(n − s)!n! s!(n − s − 1)! s=0
Multiplikation beider Seiten mit (n − 1)! liefert (n − 1)! E(n) =
n−1
s=0
n−1
n − 1 (n − 1)! Ds Ds = s s!(n − s − 1)! s=0
und dieser Ausdruck stimmt mit Gleichung (1) auf Seite 51 u ¨berein, wobei n durch n − 1 ersetzt wird. Das bedeutet (n − 1)! E(n) = (n − 1)! und somit gilt E(n) = 1 unabh¨angig von n.
Asymptotisches Verhalten Wir haben also festgestellt, daß der Ausdruck E(n) unabh¨angig von der Anzahl n der Objekte ist. Sehen wir uns unsere fr¨ uheren Berechnungen etwas genauer an, dann erkennen wir unmittelbar, daß auch pn = 1 −
1 1 1 1 + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n!
praktisch unabh¨ angig von n ist. Positiver ausgedr¨ uckt ist 1 − pn die Wahrscheinlichkeit von mindestens ¨ einer Ubereinstimmung bei n Objekten, und einfache Computerberechnungen zeigen, daß 1 − p13 1 − p52 = 0, 632 121 . . . gilt. Beide Werte stimmen also bis auf sechs Nachkommastellen u ¨berein, so daß es wirklich nicht von Bedeutung ist, ob wir die urspr¨ ungliche Montmortsche Version des Spiels oder die von Euler betrachtete Version spielen. Abb. 5.1 ist eine graphische Darstellung von 1 − pn als stetige Funktion von n, wobei die besagte schnelle Konvergenz ziemlich offensichtlich ist. Kurz gesagt, besteht – praktisch unabh¨ angig von n – eine Wahrscheinlichkeit von etwa 63% f¨ ur mindestens ein Zusammentreffen, und diese Wahrscheinlichkeit ist vielleicht gr¨ oßer, als man vermutet. Wir sehen uns jetzt die Reihe etwas genauer an, die pn liefert.
5 Derangements
55
Abb. 5.1. Asymptotisches Verhalten
Die Zahl e tritt in Erscheinung Der Ausdruck
1 1 1 1 + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n! sieht irgendwie bekannt aus, und wenn wir uns die ersten n Glieder der Taylorentwicklung x2 x3 x + + ··· ex = 1 + + 1! 2! 3! ansehen, erkennen wir, warum das so ist. Die Entwicklung gilt f¨ ur alle x, insbesondere also f¨ ur x = −1, und bei diesem Wert wird die Identit¨at zu pn = 1 −
e−1 = 1 −
1 1 1 + − + ··· . 1! 2! 3!
Nat¨ urlich ist das eine unendliche Reihe und pn hat nur endliche viele Glieder, aber wir haben einen Hinweis darauf, daß e in Formeln f¨ ur Dn auftritt. Das vielleicht sch¨ onste Beispiel dieser Art ist n! +m Dn = e und somit haben wir pn =
1 n! +m , n! e
wobei m eine Zahl mit 13 m 12 ist. (Hier ist · die floor function“, definiert durch x = gr¨oßte ganze Zahl, ” die kleiner oder gleich x ist.) Um das einzusehen, schreiben wir
56
5 Derangements
1 = e
1 1 1 1 1 − + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n! + (−1)n+1
1 1 + (−1)n+2 + ··· , (n + 1)! (n + 2)!
und das bedeutet 1 1 1 1 Dn = n! 1 − + − + · · · + (−1)n 1! 2! 3! n!
1 1 1 n+1 n+2 − (−1) + (−1) + ··· = n! e (n + 1)! (n + 2)!
n! 1 1 n n − n! − (−1) + (−1) − ··· = e (n + 1)! (n + 2)! 1 1 n! n + (−1) − + ··· . = e n + 1 (n + 1)(n + 2) Paarweises Zusammenstellen der nach dem ersten Glied folgenden Glieder liefert klarerweise Dn − n! < 1 . e n+1 Ist nun n gerade, dann zeigt der obige Ausdruck f¨ ur Dn , daß Dn > n!/e und somit n! +m Dn = e unter der Voraussetzung gilt, daß 1 m 1, n+1 und wegen n 2 fordern wir 13 m 1. Ist n ungerade, dann folgt Dn < n!/e, und nun gilt n! +m Dn = e unter der Voraussetzung 0 m + 1/(n + 1) 1, und das bedeutet, daß 0 m 12 . Diese beiden Ergebnisse liefern zusammen das gew¨ unschte Resultat. Nat¨ urlich kann man u ¨berzeugend argumentieren, daß m = 0 mit n! Dn = e den sch¨ onsten Ausdruck ergibt und somit
5 Derangements
pn =
57
1 n! . n! e
Man kann auch zeigen, daß ∞ ∞
xn 1 = = D pn xn n (1 − x)ex n! n=0 n=0
eine erzeugende Funktion f¨ ur die pn ist, aber das ist eine andere Geschichte!
Eine Verallgemeinerung Wir haben gesehen, daß es sich bei Derangements um Permutationen ohne Fixpunkt handelt. Eine offensichtliche Verallgemeinerung besteht darin, eine bestimmte Anzahl von Fixpunkten zuzulassen. F¨ ur diesen Fall geben wir einen ur Ansatz f¨ ur die allgemeine Form der Rencontre-Zahlen Dn (k), das heißt, f¨ die Anzahl der Permutationen von n Objekten, die genau k Fixpunkte haben (0 k n). Das Auffinden eines ur Dn (k) ist nunmehr trivial. Ausdrucks f¨ Haben wir k Fixpunkte, die auf nk Weisen ausgew¨ahlt werden k¨onnen, dann muß es ein Derangement der verbleibenden n − k Zahlen geben und dieses kann auf (n − k)! e Weisen erreicht werden. Somit gilt n (n − k)! . Dn (k) = k e Diese Zahlen lassen sich praktischerweise in der Dreiecksform 1 0 1 1 0 1 2 3 0 1 9 8 6 0 1 44 45 20 10 0 265 264 135 40 15 1854 1855 924 315 70 .. .. .. .. .. . . . . .
1 0 1 21 0 .. .. . .
1 .. . . . .
anordnen, wobei die Zahlen in der linken Spalte nat¨ urlich die jeweiligen Anzahlen der Derangements sind. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Permutation genau k Fixpunkte hat, betr¨ agt demnach
58
5 Derangements
1 n (n − k)! Dn (k) = n! n! k e (n − k)! 1 e−1 1 −−−−→ . = n→∞ k! (n − k)! e k!
pn (k) =
Eine Summierung des letzten Ausdrucks von k = 0 bis ∞ ergibt die Antwort 1, die f¨ ur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung wesentlich ist. An dieser Stelle gibt es Beziehungen zu Bell-Zahlen und Partitionen, aber darauf werden wir in diesem Buch nicht eingehen.
6 Conways Chequerboard-Armee Spiele geh¨ oren zu den interessantesten Sch¨ opfungen des menschlichen Geistes und die Analyse ihrer ¨ Struktur ist voller Abenteuer und Uberraschungen. James R. Newman
Es ist sehr schwer, John Horton Conway mit wenigen Worten zu beschreiben. Er ist als Mathematiker von Weltrang allgemein anerkannt und dieser Ruf wird dadurch erh¨artet, daß er die John-von-Neumann-Professur f¨ ur Mathematik der Universit¨ at Princeton innehat. Seine umfassenden F¨ahigkeiten und seine bemerkenswerte Originalit¨ at f¨ uhrten ihn unter anderem zu wesentlichen Ergebnissen auf den Gebieten der Gruppentheorie, Knotentheorie, Zahlentheorie, Codierungstheorie und Spieltheorie. Er ist auch der Erfinder der surrealen Zahlen, welche die ultimative Erweiterung des Zahlensystems zu sein scheinen. Am bekanntesten ist er jedoch durch sein Game of Life“, ein Zel” lularautomatenspiel. In Kapitel 14 werden wir sehen, wie er Br¨ uche f¨ ur einen mysteri¨ osen Zweck einsetzte, aber hier befassen wir uns mit einem anderen Zellularspiel, das auf typische Weise gleichzeitig einfach und tiefgr¨ undig ist.
Das Problem Man stelle sich ein unendliches zweidimensionales Damebrett vor, das durch eine unendliche Barriere halbiert ist (vgl. Abb. 6.1). Oberhalb der Barriere sind die horizontalen Levels so numeriert, wie auf der Abbildung dargestellt. Damesteine werden nun auf Quadrate unterhalb der Barriere gelegt und k¨ onnen sich horizontal oder vertikal unterhalb oder oberhalb der Barriere bewegen, indem sie einen benachbarten Stein u ¨berspringen, der anschließend entfernt wird. Das Puzzle, das Conway mit dieser einfachen Situation formulierte, besteht im Auffinden von Startkonfigurationen, die vollst¨andig unterhalb der Barriere liegen und es einem einzigen Damestein gestatten, ein spezielles Target-Level T oberhalb der Barriere zu erreichen. Es ist sehr instruktiv, mit den Steinen zu experimentieren, und nachdem wir das getan haben, stellen wir fest, daß Abb. 6.2 die minimalen Konfigurationen zeigt, die zum Erreichen der Levels 1 bis 3 erforderlich sind; in jedem Fall wird das Zielquadrat T von einem einzigen Stein erreicht.
60
6 Conways Chequerboard-Armee
Abb. 6.1. Das Spielfeld
Abb. 6.2. Erreichen von (a) Level 1, (b) Level 2, (c) Level 3
Die minimale Anzahl von Damesteinen, die zum Erreichen von Level 1, 2 und 3 erforderlich ist, betr¨ agt 2, 4 bzw. 8. Die Antwort f¨ ur Level 4 ist ¨ komplizierter und Abb. 6.3 offenbart eine erste Uberraschung: man ben¨otigt nicht 16, sondern 20 Damesteine, um das Zielquadrat T zu erreichen. ¨ Die zweite Uberraschung, die uns f¨ ur den Rest des Kapitels besch¨aftigen wird, besteht darin, daß es unm¨ oglich ist, Level 5 zu erreichen – und zwar unabh¨ angig von der Anzahl der Damensteine und der Konfigurationen unterhalb der Barriere. Tabelle 6.1 faßt die Situation zusammen. Das Ergebnis ist wirklich ebenso u ¨berraschend wie Conways geniale Beweismethode, bei der – von allem anderen abgesehen – der Goldene Schnitt ins Spiel kommt.
Die L¨ osung Zu Beginn fixieren wir irgendein Zielquadrat T auf Level 5 und ordnen relativ dazu jedem Quadrat eine nichtnegative ganzzahlige Potenz der Variablen
6 Conways Chequerboard-Armee
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Abb. 6.3. Erreichen von Level 4 Tabelle 6.1. Vergleich zwischen Level und Damesteinen Minimalzahl von Steinen zum Erreichen Level des Levels 1 2 2 4 3 8 4 20 5 existiert nicht
x zu, wobei diese Potenz der Damenbrettabstand“ oder Taxiabstand“ des ” ” betreffenden Quadrates von T ist. Dieser Abstand ist als Anzahl der Quadrate definiert, die horizontal und vertikal von T aus gemessen werden. Das Verfahren f¨ uhrt zu Abb. 6.4.
Abb. 6.4. Etikettieren der Quadrate
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6 Conways Chequerboard-Armee
Mit Hilfe dieser Schreibweise l¨ aßt sich jede Anordnung von Damesteinen – ganz gleich, ob es sich um die Ausgangskonfiguration oder um eine sp¨atere Konfiguration handelt – durch das Polynom darstellen, das durch Addition der betreffenden Potenzen von x entsteht. Zum Beispiel k¨onnen die Startpositionen zum Erreichen von Level 1 bis 4 durch die Polynome x5 + x6 , x5 + 2x6 + x7 , x5 + 3x6 + 3x7 + x8 bzw. x5 + 3x6 + 5x7 + 6x8 + 4x9 + x10 dargestellt werden. Wir sehen uns jetzt den Effekt eines Zuges auf das repr¨asentierende Polynom an. Hierzu bemerken wir, daß sich die Auswahl von Z¨ ugen auf genau drei wesentlich verschiedene M¨ oglichkeiten reduziert, die durch die schattierten Felder in Abb. 6.4 gekennzeichnet sind, wobei in jedem Falle die Potenzangaben in den hell schattierten Feldern durch die Potenzangabe des dunkel schattierten Feldes ersetzt werden. Die entsprechenden allgemeinen Formen sind: xn+2 + xn+1
wird ersetzt durch xn ,
xn + xn−1
wird ersetzt durch xn ,
xn + xn+1
wird ersetzt durch xn+2 .
Jede Startkonfiguration definiert ein Polynom und mit jedem durchgef¨ uhrten Zug ¨ andert sich dieses Polynom gem¨aß einer der oben angegebenen drei M¨ oglichkeiten. Die Variable x ist beliebig und es steht uns frei, sie durch irgendeinen von uns gew¨ unschten Wert zu ersetzen. Wir werden diese Ersetzung so durchf¨ uhren, daß wir einen Wert (gr¨oßer als 0) w¨ahlen, der den numerischen Wert des Polynoms im zweiten und im dritten Fall verringert und im ersten Fall (aus sp¨ ateren algebraischen Bequemlichkeits” gr¨ unden“) unge¨ andert l¨ aßt. Wegen x > 0 gilt offensichtlich xn + xn−1 > xn . n+2 , dann fordern wir 1 + x > x2 und das bedeutet, daß Ist xn + xn+1 √ >x 1 0 < x < 2 ( 5 + 1) = ϕ, womit der versprochene Goldene Schnitt ins Spiel kommt. Um zu erreichen, daß der erste Zug den Wert des Polynoms √ unge¨andert l¨aßt, fordern wir xn+1 + xn+2 = xn , was x + x2 = 1 und x = 12 ( 5 − 1) = 1/ϕ bedeutet, womit der Goldene Schnitt einmal mehr ins Spiel kommt. Setzen wir also x = 1/ϕ (< ϕ), dann gehen wir sicher, daß die Bedingungen erf¨ ullt sind, und daß f¨ ur diesen Wert von x die Gleichung x + x2 = 1 gilt. Was immer auch unser Startkonfigurationspunkt unterhalb der Trennlinie gewesen ist, es werden endlich viele Quadrate besetzt. Das bedeutet, daß der Wert einer jeden bei x = 1/ϕ berechneten Startposition kleiner ist als der Wert des unendlichen“ Polynoms, das durch die Besetzung s¨amtlicher der ” unendlich vielen Quadrate erzeugt wird. Wir k¨onnen hierf¨ ur einen Ausdruck finden, indem wir die Terme – so wie in Abb. 6.5 illustriert – in vertikalen ” Pfeilen“ addieren. Die auf diese Weise durchgef¨ uhrte Addition der Terme liefert den Ausdruck
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Abb. 6.5. Das ultimative Polynom“. ”
P = x5 + 3x6 + 5x7 + 7x8 + · · · = x5 (1 + 3x + 5x2 + 7x3 + · · · ). Die Reihe in runden Klammern ist eine Standardreihe, die auch unter dem Namen arithmetisch-geometrische Reihe bekannt ist, und ihre Summation erfolgt so wie bei einer gew¨ ohnlichen geometrischen Reihe: S = 1 + 3x + 5x2 + 7x3 + · · · und deswegen
xS = x + 3x2 + 5x3 + 7x4 + · · · ,
also S − xS = (1 − x)S = 1 + 2x + 2x2 + 2x3 + · · · = 1 + 2(x + x2 + x3 + · · · ) 1+x 2x = =1+ 1−x 1−x 1+x und schließlich S = . (1 − x)2 Multiplikation mit dem Term x5 ergibt den abschließenden Ausdruck P =
x5 (1 + x) . (1 − x)2
Unser f¨ ur x gew¨ ahlter Wert erf¨ ullt x + x2 = x(1 + x) = 1. Deswegen gelten 2 1 + x = 1/x und 1 − x = x . Somit haben wir P =
x5 (1/x) x5 = 5 = 1. 2 2 (x ) x
Das bedeutet, daß der Wert einer beliebigen Startposition echt kleiner als 1 sein muß. Da jeder Zug den Wert einer Position senkt oder beibeh¨alt, kann
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6 Conways Chequerboard-Armee
dieser Wert niemals die 1 erreichen. Deswegen ist es nicht m¨oglich, Level 5 zu erreichen. Wir k¨ onnen uns davon u ¨berzeugen, daß der Beweis mit niedrigeren Levels nicht funktioniert. Zum Beispiel gelangen wir bei Level 4 zu dem Produkt x4 S = x4 ×
1 1 = > 1. x5 x
Dieses Produkt l¨ aßt gen¨ ugend Raum f¨ ur eine Reduktion der Position auf exakt den Wert 1.
7 Werfen einer Nadel Philosophie ist ein Spiel mit Zielen und ohne Regeln. Mathematik ist ein Spiel mit Regeln und ohne Ziele. Ian Ellis
Die Gesellschaft zur Verbreitung n¨ utzlichen Wissens (Society for the Diffusion of Useful Knowledge), die 1828 unter maßgeblicher Mitwirkung von Lord undet worden war, hatte das Ziel, Informationen f¨ ur MenBrougham1 gegr¨ schen zu ver¨ offentlichen, die keine formale Bildung erwerben konnten oder den Selbstunterricht bevorzugten. Der ber¨ uhmte englische Mathematiker und Logiker Augustus de Morgan war ein talentierter P¨adagoge, der nicht weniger als 712 Artikel f¨ ur eine der Publikationen der Gesellschaft verfaßte, die Penny Cyclopaedia: einer der Artikel, der 1838 unter dem Titel Induction ver¨ offentlicht wurde, behandelte (m¨ oglicherweise erstmalig) eine strikte Grundlage der mathematischen Induktion. Es hat den Anschein, daß de Morgan von u ¨berdurchschnittlich vielen Zeitgenossen heimgesucht wurde, die wir heute als mathematische Spinner bezeichnen w¨ urden. De Morgan nannte sie paradoxer und definierte diesen Menschenschlag folgendermaßen: Seit der Entwicklung der mathematischen Methode haben sehr viele Menschen – jeder auf seine Weise – die direkten und indirekten Folgen dieser Methode attackiert. Ich werde einen solchen Menschen als paradoxer und sein System als Paradox bezeichnen. Ich verwende das Wort im alten Sinne: Ein Paradox ist etwas, das in Bezug auf den Gegenstand, die Methode oder die Schlußfolgerung abseits der allgemeinen Meinung liegt. Seine unwillkommene Entlarvung von Kreisquadrierern, Winkeldreiteilern, W¨ urfelverdopplern, Konstrukteuren eines perpetuum mobile, Außerkraftsetzern der Gravitation, Erdstagnierern, Erbauern des Universums . . . inspirierte das (postum ver¨ offentlichte) Budget of Paradoxes, eine durchgesehene und erweiterte Sammlung von Briefen an die Zeitschrift Athenæum. 1
Henry Peter Brougham (1778–1868), Lord Chancellor von 1830 bis 1834.
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7 Werfen einer Nadel
Das Budget ist eine eklektische Sammlung von Kommentaren, Stellungnahmen und Rezensionen paradoxer“ B¨ ucher und Artikel, die de Morgan ” in seiner eigenen großen Bibliothek gesammelt hatte. Die B¨ ucher hatte er an Buchst¨ anden gekauft oder sie wurden ihm zur Besprechung oder als Geschenk der betreffenden Autoren zugeschickt. Es sieht so aus, als ob ein gewisser James Smith, ein erfolgreicher Kaufmann am Mersey Dock Board, der nachhal¨ tigste Grund dieses Argers gewesen ist: Mr. Smith schreibt mir weiterhin lange Briefe, auf die ich seiner Meinung nach antworten soll. Sein letzter Brief enthielt 31 dicht beschriebene Notizzettel . . . ¨ Mr. Smith war der Uberzeugung, daß π = 3 18 (was er dadurch zu bewei” sen“ schien, daß er das Ergebnis voraussetzte, und zeigte, daß alle anderen m¨ oglichen Werte unter dieser Voraussetzung zu einem Widerspruch f¨ uhrten). Der Leser, der sich etwas eingehender mit mathematischen Spinnern befassen m¨ ochte, sei auf Underwood Dudleys k¨ ostliches Buch Mathematical Cranks verwiesen. Es ist also kein Wunder, daß sich de Morgan die Wahrscheinlichkeit als reichhaltige Fundgrube f¨ ur die Ansichten der Paradoxer vorkn¨opfte, aber er erkannte, daß diese Fundgrube viel mehr enthielt als nur unechtes Gold. Im Budget lesen wir weiter. Die Paradoxa dessen, was man Chance oder Zufall nennt, k¨onnten f¨ ur sich selbst ein kleines B¨ andchen ausmachen. Jeder versteht, daß es etwas Langfristiges gibt, einen allgemeinen Durchschnitt; aber viele sind u ¨berrascht, daß dieser allgemeine Durchschnitt berechnet und vorhergesagt werden sollte. Es gibt viele bemerkenswerte F¨alle der Verifikation, und eine von ihnen bezieht sich auf die Quadratur des Krei¨ ses ... Ich komme nun auf den Weg, bei dem derartige Uberlegungen zu einer Methode gef¨ uhrt haben, bei der ein bloßer Wurf zu einer exakteren Approximation der Quadratur des Kreises gef¨ uhrt hat als es einigen meiner Paradoxer gelungen ist. Die Methode ist die folgende: Betrachten Sie einen Dielenfußboden der u ¨blichen Art, mit d¨ unnen sichtbaren Fugen zwischen den Brettern. Man nehme einen d¨ unnen geraden Stab oder einen Draht von einer L¨ange, die k¨ urzer ist als die Breite eines Dielenbretts. Dieser Stab, der zuf¨allig hochgeworfen wird, f¨ allt entweder auf keine der Fugen oder er legt sich quer u ¨ber eine Fuge. Buffon und nach ihm Laplace bewiesen Folgendes: Auf lange Sicht wird der Bruchteil der Anzahl von Versuchen, bei denen der Stab eine Fuge kreuzt, gleich dem Bruch sein, dessen Z¨ ahler das Zweifache der Stabl¨ ange und dessen Nenner der Umfang des Kreises ist, dessen Durchmesser die Dielenbreite ist. Im Jahr 1855 f¨ uhrte Mr. Ambrose Smith aus Aberdeen 3204 Versuche mit einem Stab durch, dessen L¨ ange drei F¨ unftel des Abstands zwi¨ schen den Brettern betrug: es gab 1213 deutliche Uberschneidungen
7 Werfen einer Nadel
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und 11 Kontakte, die schwierig zu entscheiden waren. Bei einer gleiur das chen Aufteilung dieser Kontakte haben wir 1218 21 zu 3204 f¨ Verh¨ altnis von 6 zu 5 Pi, unter der Voraussetzung, daß das Ausmaß der Anzahl der Versuche etwas liefert, das langfristig in der N¨ahe des Enddurchschnitts liegt und das liefert Pi=3,1553. H¨atte man al¨ le 11 Kontakte als Uberschneidungen behandelt, dann w¨are das Ergebnis mit Pi=3,1412 u ¨beraus genau gewesen. Einer meiner Studenten machte 600 Versuche mit einem Stab, dessen L¨ange zwischen der Breite der Dielenfugen lag, und er erhielt den Wert Pi=3,137. Man schenkt dieser Methode keinen Glauben, so lange man sie nicht selbst so oft wiederholt hat, daß keinerlei Zweifel mehr aufkommen k¨ onnen.’ Wir werden uns dieses besondere Ph¨ anomen genauer ansehen, geben aber zun¨ achst einige verwandte Spiele an.
Fairground-Spiele Die Untersuchung der geometrischen Wahrscheinlichkeit“, bei der Wahr” scheinlichkeiten durch den Vergleich von Messungen bestimmt werden, scheint ihren Ursprung im Jahr 1777 zu haben (im Geburtsjahr des princeps mathematicorum Gauß), und zwar in der Arbeit Sur le jeu de franc-carreau“, die ” von Georges Louis Leclerc, Comte de Buffon, ver¨offentlicht wurde. Das Spiel, eine kleine M¨ unze ( un ´ecu“) auf ein Quadratgitter zu werfen, war ein po” pul¨ arer Zeitvertreib und naturgem¨ aß kam die Frage auf, wie man das Spiel auf faire Weise spielen k¨ onne. Mit anderen Worten: Was ist die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß die M¨ unze zur G¨ anze innerhalb einer quadratischen Fliese ” landet“. Buffon argumentierte korrekt, daß die M¨ unze vollst¨andig innerhalb einer quadratischen Fliese landen w¨ urde, falls der Mittelpunkt der M¨ unze innerhalb des kleineren Quadrates landen w¨ urde, dessen Seite gleich der Seite eines Gitterquadrats minus dem Durchmesser der M¨ unze ist; vgl. Abb. 7.1. Hat das Gitterquadrat die Seite a und die M¨ unze den Durchmesser d (den wir nicht gr¨ oßer als 12 a voraussetzen), dann erhalten wir, falls wir die besagte Wahrscheinlichkeit als p bezeichnen, die Beziehung (a − d)2 = p= a2
2 d 1− , a
wobei d/a 12 . Damit das Spiel fair ist, muß der Erwartungswert des Spiels 0 sein; kostet es also 1 Einheit zu spielen und erhalten wir w Einheiten, falls wir gewinnen, dann gilt p × w + (1 − p) × (−1) = 0
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7 Werfen einer Nadel
Abb. 7.1. Die M¨ unze auf dem Quadrat
und das liefert w=
1 1 1−p = −1= − 1. p p (1 − d/a)2
Eine graphische Darstellung von w als Funktion von d/a ist in Abb. 7.2 zu sehen.
Abb. 7.2. Gewinnverhalten
Um die Spieler zu verlocken, √ ihr Geld zu verdoppeln, zeigt eine einfache Rechnung, daß d/a = 1 − 1/ 2 oder ein bißchen kleiner sein sollte, damit wir gewinnen. Gehen wir von einem Quadratgitter zu Mengen von parallelen Geraden u ¨ber, dann wird die Rechnung sogar leichter. Haben die Geraden einen konstanten Abstand h voneinander und hat die Scheibe den Durchmesser d, dann geht aus Abb. 7.3 klar hervor, daß die Scheibe innerhalb eines Geradenpaares landen wird, falls ihr Mittelpunkt auf einem Streifen der Breite h − d liegt. Die Wahrscheinlichkeit hierf¨ ur betr¨ agt somit
7 Werfen einer Nadel
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Abb. 7.3. Die M¨ unze und Gitterlinien
d h−d =1− . h h Unser faires Spiel w¨ urde nun 1 1 −1= −1 p (h − d)/h d d/h h −1= = = h−d h−d 1 − d/h
w=
erzwingen, wobei d < h. Eine graphische Darstellung von w als Funktion von d/h ist in Abb. 7.4 gegeben.
Abb. 7.4. Gewinnverhalten
Eine weitere einfache Rechnung zeigt, daß zur Verdoppelung des Einsatzes die Beziehung d/h = 1/2 gelten muß. Bis jetzt sind diese geometrischen Wahrscheinlichkeiten auf angemessene Weise berechnet worden und haben zu akzeptablen Antworten gef¨ uhrt. Nun gehen wir zu dem bereits angek¨ undigten, scheinbar einfacheren Fall u ¨ber, der sich aber als viel interessanter erweist.
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7 Werfen einer Nadel
Buffons (kurze) Nadel Buffon stellte die Frage f¨ ur den Fall, daß kein kreisf¨ormiges Objekt geworfen wird, sondern ein Objekt anderer Form, etwa ein Quadrat oder eine baguette“ ” (das heißt, ein Stab oder ein Stock), oder, wie er ausf¨ uhrt, On peut jouer ce ” jeu sur un damier avec une aiguille a` coudre ou une ´epingle sans tˆete.“ ( Man ” kann dieses Spiel auf einem Damebrett mit einer N¨ahnadel oder einer Stecknadel ohne Kopf spielen.“) Man erz¨ ahlt, daß er eine klassische franz¨osische Baguette u ¨ber seine Schultern auf einen Dielenfußboden warf, um eine Version der Idee zu demonstrieren. Wir kommen damit auf das Ph¨anomen zu sprechen, das heute allgemein als Buffonsches Nadelproblem bekannt ist: Wir werfen eine Nadel der L¨ ange l auf einen Fußboden, der aus parallelen Brettern besteht, wobei die Parallelen einen Abstand d ( l) haben. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß die Nadel eine der Linien kreuzt? Im achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert waren solche Experimente u ¨blich, wobei die Wahrscheinlichkeitsrechnung als eine Art Experimentalwissenschaft betrachtet wurde. Wir hatten gesehen, daß de Morgan ausf¨ uhrlich auf die Bem¨ uhungen von Mr. Ambrose Smith aus Aberdeen einging; diese und de Morgans eigene Arbeiten sind Bestandteil einer Tabelle, die N. T. Gridgeman 1960 in dem Artikel Geometric probability and the num” ber π“ (Scripta Mathematica 25(3):183–95) ver¨offentlichte. Wir reproduzieren diese Ergebnisse in Tabelle 7.1, wobei die relative L¨ange der Nadel in Bezug auf die L¨ ucke gleich l/d ist. Tabelle 7.1. Anzahl R der Wiederholungen, Anzahl C der Kreuzungen und Sch¨ atzwert von π Name Jahreszahl l/d Wolf 1850 0,8 Smith 1855 0,6 De Morgan 1860 1,0 Fox 1864 0,75 Lazzarini 1901 0, 83˙ Reina 1925 0,5419
R 5000 3204 600 1030 3408 2520
C 2532 1218,5 382,5 489 1808 869
∼π 3,159 6 3,155 3 3,137 3,159 5 3,141 592 9 3,179 5
Nach all diesen experimentellen Daten ist es jetzt an der Zeit, daß wir uns die dahinter stehende Mathematik ansehen. Abb. 7.5 zeigt, wie die Nadel eine der horizontalen Linien unter einem Winkel θ in positiver x-Richtung kreuzt. Definieren wir y als Abstand des unteren Endes der Nadel von der gekreuzten Linie, dann muß 0 y d und auch 0 θ π gelten. Der vertikale Abstand zwischen dem unteren und dem oberen Ende der Nadel ist l sin θ. Damit die Nadel die Linie kreuzt, muß l sin θ > y gelten. Abbildung 7.6 ist eine graphische Darstellung des rechteckigen Phasenraumes“ f¨ ur das Experiment, zusammen mit der Kurve ”
7 Werfen einer Nadel
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Abb. 7.5. Die Nadel kreuzt eine Linie
y = l sin θ: Kreuzungen finden an allen Punkten unter und auf der Kurve statt.
Abb. 7.6. Der Phasenraum des Experiments
Zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer Kreuzung m¨ ussen wir den Bruch π l sin θ dθ Fl¨ ache unter der Kurve [−l cos θ]π0 2l = 0 = = Fl¨ ache des Rechtecks πd πd πd berechnen und so erhalten wir die bemerkenswerte Tatsache C 2l ≈ πd R und damit eine experimentelle Methode zur n¨ aherungsweisen Berechnung der Zahl π. Nun zur¨ uck zur Em-π-rie: Wir k¨ onnen f¨ ur eine gegebene Nadell¨ange und einen gegebenen Abstand zwischen den parallelen Linien das Experiment wiederholt nach Art unserer Viktorianischen Vorfahren durchf¨ uhren (oder die Arbeit von einem Computer als Zufallszahlengenerator erledigen lassen), um den Wert C/R zu berechnen.
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7 Werfen einer Nadel
Wirft man die Nadel“ 10 000-mal mit l = 1 und d = 2, dann ergibt sich ” tats¨ achlich das Ergebnis C = 0, 318 15 . . . , R und das bedeutet nat¨ urlich, daß π ≈ 3, 143 17 . . . .
Buffons (lange) Nadel Die Bedingung l d garantiert l sin θ d, und deswegen liegt die Kurve innerhalb des Rechtecks in Abb. 7.6. M¨ ochten wir das Experiment mit l > d durchf¨ uhren, dann kann l sin θ nat¨ urlich gr¨ oßer als d sein und wir m¨ ussen die ¨ Uberlappung der Kurve und des Rechtecks ber¨ ucksichtigen (vgl. Abb. 7.7) und danach die Fl¨ ache unter der abgestumpften Kurve berechnen.
Abb. 7.7. Der modifizierte Phasenraum
Die Schnittpunkte sind an den Stellen, bei denen l sin θ = d oder θ = sin−1 (d/l) und π − sin−1 (d/l). Die von uns gesuchte Fl¨ache ist dann
sin−1 (d/l)
d d − sin−1 d π − sin−1 l l
d sin−1 (d/l) d = 2[−l cos θ]0 + π − 2 sin−1 l d d + π − 2 sin−1 d = 2l 1 − cos sin−1 l l 2 d d −1 d, + π − 2 sin = 2l 1 − 1 − l l
l sin θ dθ +
2 0
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wobei cos(sin−1 (d/l)) in den praktischeren Ausdruck 1 − (d/l)2 transformiert worden ist. Diese Transformation erfolgte unter Verwendung des Standardmechanismus, daß θ = sin−1 (d/l) die Beziehung sin θ = d/l impliziert. Somit existiert das in Abbildung 7.8 dargestellte Dreieck, und die dritte Seite l¨ aßt sich mit Hilfe des Satzes von Pythagoras finden, was cos θ = 1 − (d/l)2 liefert.
Abb. 7.8.
All das f¨ uhrt dazu, daß die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß mindestens eine Linie gekreuzt wird, gleich dem folgenden beeindruckenden Ausdruck ist:
2 d d 1 2l 1 − 1 − d + π − 2 sin−1 πd l l
2 d d 1 2l −1 1− 1− . + π − 2 sin = π d l l Zusammenfassend gesagt, ist die Wahrscheinlichkeit PN daf¨ ur, daß die Nadel mindestens eine Linie kreuzt, gegeben durch ⎧ 2l ⎪ f¨ ur l d, ⎪ ⎪ ⎨ πd PN =
2 ⎪ 2l d d 1 ⎪ −1 ⎪ ⎩ 1− 1− f¨ ur l d. + π − 2 sin π d l l Es ist nicht u ur l = d u ¨berraschend, daß die beiden Formeln f¨ ¨bereinstimmen. Abb. 7.9 stellt diese Wahrscheinlichkeitsfunktion in Abh¨angigkeit von l/d dar.
Der Eintrag von Lazzarini Der f¨ unfte Eintrag in Tabelle 7.1 hebt sich von den anderen ab. Die letzte Spalte k¨ onnte uns zu dem Glauben veranlassen, daß π mit Hilfe der besagten
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7 Werfen einer Nadel
Abb. 7.9. Die vollst¨ andige Geschichte
Methode bis zu einer Genauigkeit von sechs Dezimalstellen gesch¨atzt worden ist, was weit u ¨ber die Genauigkeit der anderen Eintr¨age hinausgeht. War das einfach nur Gl¨ uck oder sind wir einem Schwindel aufgesessen? Der italienische Mathematiker Mario Lazzarini ver¨offentlichte das Ergebnis 1901 unter dem ziemlich wortreichen Titel Un applicazione del calcolo della ” probabilit` a alla ricerca sperimentale di un valor approssimato di π“ in der Zeitschrift Periodico di Matematica 4:140–43; vier Seiten Ruhm, die zu viel mehr Seiten Verdacht und offener Widerlegung f¨ uhrten. Gridgemans Artikel f¨ uhrte zwingende Gr¨ unde f¨ ur Zweifel an, das 1965 erschienene ausgezeichnete Buch Puzzles and Paradoxes von Tim O’Beirne baute auf diesem Zweifel auf und Lee Badgers Analyse in Lazzarini’s lucky approximation of π“ (Mathe” matics Magazine 67(2), April 1994) unterzeichnete zu einem guten Teil das intellektuelle Todesurteil. Wir werden hier nicht versuchen, die Sache ausf¨ uhrlich zu besprechen, aber einige Details dieser Untersuchungen lassen sich nur schwer ignorieren. Tats¨ achlich legte Lazzarini die Daten als Teil einer Ergebnistabelle zu einer Anzahl von Experimenten vor, die in Tabelle 7.2 angegeben sind. Uns bleibt nur die Schlußfolgerung, daß er ein geduldiger Mann war. Tabelle 7.2. Lazzarinis Daten. Anzahl der Anzahl der Wiederholungen R Kreuzungen C 100 53 200 107 1000 524 2000 1060 3000 1591 3408 1808 4000 2122
7 Werfen einer Nadel
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Nat¨ urlich ist es der vorletzte Eintrag, der hervorsticht, urspr¨ unglich wegen der merkw¨ urdigen 3408 Wurfwiederholungen (eine Nadel der L¨ange l = 2, 5 cm wurde auf parallele Linien des Abstands d = 3 cm geworfen). Auff¨allig ist auch, ˙ 9˙ ein siebenstelliger N¨ daß 3,141592 aherungswert f¨ ur die zweitbeste bekannte rationale Approximation von π ist, n¨ amlich f¨ ur 355 113 (ein Wert, der bereits Tsu Chung-chih im f¨ unften Jahrhundert bekannt war). Vielleicht war es Betrug. Folgen wir dem reverse engineering“ von Bad” ge und O’Beirne, dann ergibt sich wegen 2l/(πd) ≈ R/C die Beziehung 2Cl/dR ≈ π, und wenn wir unsere rationale Absch¨atzung f¨ ur π verwenden, erhalten wir 355 5 × 71 5 × 71 × k 2Cl ≈ = = dR 113 113 113 × k
f¨ ur beliebige k.
Eine vern¨ unftige Wahl ist 2l = 5, was zu l = 52 f¨ uhrt, und da d > l eine angemessene Wahl hierf¨ ur ist, erhalten wir d = 3 und das liefert C/R = 213k/113k. Das Ergebnis folgt unter der Voraussetzung, daß C und agt: f¨ ur k = 16 erhalten wir R so gew¨ ahlt werden, daß ihr Verh¨ altnis 213 113 betr¨ Lazzarinis Zahlen. Es kann aber auch Gl¨ uck gewesen sein. Mit 2l/πd ≈ R/C und l/d = 56 erhalten wir 5/3π ≈ R/C und somit π ≈ 5C/3R. O’Beirne f¨ uhrt aus, daß man vor dem letzten Wurf (R = 3408) den Wert R = 3407 sowie C = 1807 oder C = 1808 gehabt h¨ atte, die zu den Absch¨atzungen π ≈ 3, 142 . . . bzw. π ≈ 3, 140 . . . gef¨ uhrt h¨ atten, die in der dritten Nachkommastelle voneinander abweichen. Dagegen f¨ uhrt Badger aus, daß bei Vorliegen von C = 1807 oder C = 1809 Kreuzungen bei 3408 Wurfwiederholungen die Sch¨atzwerte π ≈ 3, 143 . . . bzw. π ≈ 3, 139 . . . betragen h¨ atten; das Experiment scheint zu einem gl¨ ucklichen Zeitpunkt eingestellt worden zu sein. Wir betrachten nun den Rest der Daten. Mit l/d = 56 ist die Wahrscheinlichkeit einer Kreuzung 2l/πd = 5/3π und somit bel¨auft sich im Durchschnitt die erwartete Anzahl der Kreuzungen auf (5/3π)×R. Erweitern wir Tabelle 7.2 unter Einschluß dieser Werte, dann erhalten wir Tabelle 7.3. Tabelle 7.3. Vergleich empirischer und theoretischer Daten Erwartete Anzahl der Anzahl der Anzahl der Wiederholungen R Kreuzungen C Kreuzungen C 100 53 53,05 200 107 106,10 1000 524 530,52 2000 1060 1061,03 3000 1591 1591,55 3408 1808 1808 4000 2122 2122,07
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7 Werfen einer Nadel
Es sieht alles zu akkurat aus und einige einfache statistische Tests quantifizieren diesen Verdacht; die Wahrscheinlichkeit, daß das passiert, ist geringer als 3 × 10−5 . Und das ist keinesfalls Badgers, sondern unser Schlußwort zum Thema.
Eine Verallgemeinerung und eine abschließende ¨ Uberraschung Buffon erw¨ ahnte den Wurf eines quadratischen Objekts: tats¨achlich k¨onnen wir ein u ur beliebige konvexe und polygonale Pl¨attchen ¨berraschendes Ergebnis f¨ formulieren. Ein polygonales Pl¨ attchen ist konvex, falls es mit allen auf ihr liegenden Punktepaaren auch alle Liniensegmente enth¨alt, die diese Punkte verbinden. Zum Beispiel sehen wir auf Abb. 7.10 ein konvexes und ein nichtkonvexes Pentagon.
Abb. 7.10. Konvexit¨ at und Nichtkonvexit¨ at
Man beachte: Eine unmittelbare Konsequenz der Konvexit¨at besteht darin, daß eine beliebige gerade Linie entweder genau zwei Seiten der Platte schneidet oder keine einzige. Angenommen nun, wir werfen das Pl¨ attchen auf eine Menge von parallelen Linien, die einen Abstand d voneinander haben. Wir nehmen auch an, ur i = 1, 2, . . . , n besitzt, wobei daß das Pl¨ attchen n Seiten der L¨ ange li f¨ jede Seite k¨ urzer als d ist. Die Reihenfolge, in der wir die Seiten z¨ahlen, ist ¨ irrelevant, und deswegen muß die Uberschneidung einer gezogenen Linie mit ur irgendein Paar i dem Pl¨ attchen bei einem Linienpaar (li lj ) des Pl¨attchens f¨ und j auftreten, wobei wir i < j voraussetzen d¨ urfen und annehmen, daß das mit der Wahrscheinlichkeit P (li lj ) auftritt. Das bedeutet, daß die Wahrschein¨ lichkeit einer Uberschneidung des Pl¨ attchens mit einer Linie P = i<j P (li lj ) betr¨ agt. Wird die Seite li mit der Wahrscheinlichkeit P (li ) geschnitten, dann muß wegen der Konvexit¨ at des Pl¨ attchens genau eine der verbleibenden Seiten mit dieser Wahrscheinlichkeit geschnitten werden, und somit haben wir P (li ) = j=i P (li lj ). Das bedeutet, daß
7 Werfen einer Nadel n
i=1
P (li ) =
i,j:i=j
P (li lj ) = 2
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P (li lj ) = 2P.
i,j:i<j
Nun wenden wir das vorhergehende Resultat auf Buffons Nadel an und schrein uhrt, ben P (li ) = 2li /πd. Wir erhalten somit 2P = i=1 2li /πd, was dazu f¨ daß n 1 1
× (Umfang des Pl¨attchens), li = P = πd i=1 πd das heißt, die Wahrscheinlichkeit, daß das Pl¨ attchen die Linie kreuzt, ist vollkommen unabh¨ angig von seiner Gestalt und h¨angt nur von seinem Umfang ab. Es gibt noch viele weitere Varianten und Verallgemeinerungen der originellen und neuartigen Idee des Polymathematikers Georges Louis Leclerc, Comte de Buffon, der im achtzehnten Jahrhundert lebte: anstelle paralleler Linien kann man ein rechteckiges Gitter betrachten, oder radiale Linien oder Linien mit ungleichen r¨ aumlichen Abst¨ anden; man kann auch eine Nadel nehmen, die eine bevorzugte“ Orientierung hat (was offensichtlich n¨ utzlich bei ” der Bestimmung des Abstands von Fluglinien w¨are, um Anomalien bei geophysikalischen Luftvermessungen zu lokalisieren). Die Monte-Carlo-Technik, um deren urspr¨ ungliches Beispiel es sich hier handelt, wird im allgemeinen verwendet, um die L¨ angen von Kurven und die Fl¨ achen von Gebieten zu sch¨atzen. In der neuen Forschung u ¨ber die Auswahl der Nistpl¨atze von Ameisen wurde die Ansicht ge¨ außert, daß der kritische Job, den die Kundschafterameisen“ ” bei der Standortwahl durchf¨ uhren, von Fl¨ achensch¨atzungen beeinflußt wird, die sich auf eine Variante des Buffonschen Prinzips st¨ utzen. Es ist wie ein Nachhall der Newtonschen Worte: Die Natur ist mit Einfachheit zufrieden und hat keine Vorliebe f¨ ur den Pomp u ussiger Dinge. ¨berfl¨ Aber bei so viel Nadelwerfen wollen wir auch Buffon zu Wort kommen lassen: Denke nie, daß Gottes Aufschub eine Gottesleugnung ist. Halte durch; halte fest; halte aus. Geduld ist Genie!
8 Torricellis Trompete Der Begriff der Unendlichkeit ist unser gr¨ oßter Freund; er ist auch der gr¨ oßte Feind unserer Seelenruhe. James Pierpont
Ein Argument Einer der l¨ angsten und geh¨ assigsten intellektuellen Dispute aller Zeiten fand zwischen den beiden Leuchten des siebzehnten Jahrhunderts, Thomas Hobbes und John Wallis, statt: Hobbes, der Philosoph, hatte behauptet, den Kreis ” quadriert“ zu haben, und Wallis, der Mathematiker, hatte diese Behauptung nachdr¨ ucklich und ¨ offentlich widerlegt. Dieses alte Problem (eines von dreien seiner Art) war von den Griechen als Erbe hinterlassen worden. Die Frage lautete, ob es m¨oglich sei, zu einem gegebenen Kreis unter alleiniger Verwendung von Zirkel und Lineal ein fl¨achengleiches Quadrat zu konstruieren: Ferdinand Lindemann bewies 1882, daß π transzendent ist und das bedeutete, daß die Frage negativ zu beantworten ist. Wallis hatte Recht. Obwohl das Problem der Quadratur des Kreises“ den Konflikt heraufbe” schworen hatte, gingen die Gefechtslinien weit dar¨ uber hinaus – tats¨achlich erstreckten sie sich bis ins Unendliche. Der Begriff des Unendlichen entzog sich dem damaligen Verst¨ andnis und f¨ uhrte zu allen m¨oglichen Arten von technischen und philosophischen Schwierigkeiten. In einem besonderen Beispiel f¨ ur die kaprizi¨ ose Natur des Unendlichen kristallisierten sich die entgegengesetzten Auffassungen, die sich die Widersacher von diesem Begriff zu eigen gemacht hatten. Dieses Beispiel war Torricellis Trompete, auch Gabriels Horn genannt.
Eine seltsame Trompete Bonaventura Cavalieri war als Mathematiker gut genug, um von Galileo Galilei gelobt zu werden, der u ¨ber ihn sagte, daß seit Archimedes nur wenige, ” wenn u ¨berhaupt, so weit und so tief in die Wissenschaft der Geometrie eingedrungen sind“. Und es war die Exhaustionsmethode des Archimedes, die von Cavalieri zur Theorie der Indivisiblen entwickelt wurde, das heißt, zum
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8 Torricellis Trompete
Auffinden von L¨ angen, Fl¨ achen und Volumen, indem das betreffende Objekt in infinitesimale Scheiben zerschnitten wurde. Zu diesem Zweck formulierte er das Cavalierische Prinzip. Das geschah 1629 und die Integralrechnung mußte erst noch auf den Ambossen von Newton und Leibniz geschmiedet werden, die beide noch nicht geboren waren. Evangelista Torricelli, bekannt als Erfinder des Barometers, hatte einen h¨ aufigen Briefwechsel mit Cavalieri und war Assistent des alternden Galileo Galilei. Torricelli war auch ein gebildeter Mathematiker. Mit Hilfe der Methode der Indivisiblen gelang ihm 1645 die Rektifikation der logarithmischen Spirale, das heißt, er maß die L¨ ange der Kurve; dieses Ergebnis werden wir in Kapitel 10 verwenden. Wir interessieren uns hier f¨ ur eine seiner fr¨ uheren Arbeiten, in der er 1643 seine Entdeckung eines seltsamen Rotationsk¨ orpers bekanntgab, die wir heute als rechtwinkliges Hyperboloid bezeichnen w¨ urden. Dieses wird durch Rotation der rechtwinkligen Hyperbel y = 1/x um 360◦ um die x-Achse erzeugt. Der Rotationsk¨ orper ist in Abb. 8.1 dargestellt.
Abb. 8.1. Torricellis Trompete
Er zeigte, daß dieser unendliche Rotationsk¨orper ein endliches Volumen hat. F¨ ur die heutigen Augen der Post-Integralrechnungsperiode“ ist ” diese Tatsache allein noch nicht schockierend, aber es ist schon ziemlich u ange, sondern auch die Oberfl¨ache dieses ¨berraschend, daß nicht nur die L¨ Rotationsk¨ orpers unendlich groß ist. Mit Hilfe der Infinitesimalrechnung und der heutigen Schreibweise beweisen wir beide Ergebnisse: wir zeigen, daß das Volumen endlich und die Oberfl¨ ache unendlich ist. Zuerst f¨ uhren wir Torricellis Beweismethode f¨ ur die Endlichkeit des Volumens vor – ein Ergebnis, daß bei den damaligen Denkern einen Schock ausl¨ oste.
8 Torricellis Trompete
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Torricellis Beweis Wir hatten das Cavalierische Prinzip erw¨ ahnt. Archimedes hatte die Idee dazu verwendet, das Volumen einer Kugel zu finden und eine Version des Prinzips l¨ aßt sich folgendermaßen formulieren: Es seien zwei K¨ orper zwischen parallelen Ebenen eingeschlossen. Schneidet jeder ebene Querschnitt, der parallel zu den gegebenen Ebenen verl¨ auft, in beiden K¨ orpern Fl¨ achen aus, die im gleichen Verh¨ altnis zueinander stehen, dann stehen auch die Volumen der K¨ orper in diesem Verh¨ altnis zueinander. Sind insbesondere die Fl¨ achen der Querschnitte immer gleich, dann sind es auch die Volumen. Das Prinzip ist ¨ außerst leistungsstark und bevor wir es im Zusammenhang mit Torricellis Trompete diskutieren, sehen wir uns als ber¨ uhmtes Anwendungsbeispiel die Berechnung des Volumens einer Kugel an, wobei wir das Volumen eines Kreiskegels als bekannt voraussetzen.
Abb. 8.2. Wirkungsweise des Cavalierischen Prinzips
Auf der linken Seite von Abb. 8.2 ist eine Halbkugel vom Radius r mit einem horizontalen Schnitt in H¨ ohe h u ¨ber der Grundfl¨ache der Halbkugel zu sehen. Auf der rechten Seite befindet sich ein Zylinder vom Radius r und von der H¨ ohe r mit einem weiteren horizontalen Querschnitt in H¨ohe h u ¨ber der Grundfl¨ ache. In den Zylinder ist ein Kreiskegel einbeschrieben, dessen Grundfl¨ache die Deckfl¨ ache des Zylinders ist und dessen Spitze sich im Mittelpunkt der Zylindergrundfl¨ ache befindet. Die Fl¨ ache des horizontalen kreisf¨ormigen Querschnitts innerhalb der Halbkugel ist π(r2 − h2 ). Da die H¨ohe des Kegels auf diesem Level gleich h ist, hat auch der Grundfl¨achenradius des Kegels diesen Wert. Das bedeutet, daß die Fl¨ ache des ringf¨ormigen Bereiches innerhalb des Zylinders ebenfalls πr2 − πh2 = π(r2 − h2 ) ist. Aufgrund des Cavalierischen Prinzips folgt, daß das Volumen der Halbkugel gleich dem Volumen des Zylinders minus dem Volumen des Kegels ist. F¨ ur das Volumen der Halbkugel haben wir dann also
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8 Torricellis Trompete
πr2 × r − 13 πr2 × r = 23 πr3 und das Volumen der Kugel ist 3 4 3 πr .
Torricelli verwendete eine allgemeinere Form des Prinzips, um zu zeigen, daß das Volumen einer unendlichen Trompete endlich ist. Um seinen Beweis zu sch¨ atzen, m¨ ussen wir uns die Trompete so vorstellen, daß sie ein Mundst¨ uck“ ” an ihrem offenen Ende hat und sich aus einer unendlichen Anzahl von konzentrischen, horizontalen Zylindern zusammensetzt. Abb. 8.3 zeigt ein spezielles Beispiel eines solchen Zylinders und wir nehmen an, daß das Mundst¨ uck im Punkt (1, 1) beginnt.
Abb. 8.3. Torricellis Anwendung des Cavalierischen Prinzips, mit dessen Hilfe er die Unendlichkeit des Volumens bewies
Wir nehmen nun an, daß das rechte Ende eines speziellen Zylinders die Hyperbel in der xy-Ebene im Punkt (x0 , y0 ) ber¨ uhrt. Dann hat der Zylinder eine gekr¨ ummte Oberfl¨ ache (2πy0 )x0 = 2πx0 y0 = 2π, weil y0 = 1/x0 . Somit ist diese Fl¨ ache konstant, wenn der Kontaktpunkt variiert. Man wickle nun den Zylinder ab, so daß er zu einem horizontalen Rechteck in H¨ohe y0 wird (vgl. Abb. 8.4(a)). Schließlich konstruiere man einen vertikalen Zylinder, der sich aus horizontalen Scheiben zusammensetzt, von denen jede in H¨ohe y0 von der Zylindergrundfl¨ ache die Fl¨ ache 2π hat (vgl. Abb. 8.4(b)). Die H¨ohe dieses Zylinders betr¨ agt 1. Das Cavalierische Prinzip ist ein Grenzwertargument; wird es nun auf x0 → ∞ erweitert und n¨ahert sich der Grundfl¨ache des vertikalen Zylinders, dann ist das Volumen der Trompete gleich dem Volumen 2π des betreffenden Zylinders. Nat¨ urlich handelt es sich hier um ein spezielles Argument. Es funktioniert wegen xy = 1 und l¨ aßt sich nicht ohne weiteres auf andere F¨alle verallgemeinern. Jedenfalls funktionierte es und l¨ oste einen Schock aus. Torricelli selbst gab folgenden Kommentar: Es mag unglaublich erscheinen, daß dieser K¨orper zwar von unendlicher L¨ ange ist, aber dennoch keine der von uns betrachteten zylindrischen Fl¨ achen eine unendliche L¨ ange hat, sondern alle diese Fl¨achen endlich sind.
8 Torricellis Trompete
83
Abb. 8.4.
Wir sehen uns das Problem jetzt aus heutiger Sicht an und betrachten die endliche Trompete von x = 1 bis x = N (das Mundst¨ uck vergessen wir dabei) und lassen dann N beliebig groß werden. Das Volumen der Trompete ist dann durch N N N 2 1 1 1 1 dx = π dx = π − =π 1− π x x2 x 1 N 1 1 gegeben und mit N → ∞ geht das Volumen gegen π. Die einfache Rechnung 1
N
1 dx = [ln x]N ur N → ∞ 1 = ln N → ∞ f¨ x
zeigt, daß es sich um einen K¨ orper mit unendlicher Querschnittsfl¨ache, aber endlichem Volumen handelt. Die Berechnung der Oberfl¨ ache des endlichen Rotationsk¨orpers und der damit einhergehende Beweis, daß diese Oberfl¨ache ebenfalls unendlich ist, erfordert eine gr¨ oßere Kraftanstrengung.
Die Oberfl¨ ache der Trompete Die Standardformel f¨ ur die Oberfl¨ ache eines Rotationsk¨orpers liefert (vgl. Anhang C) 2 N dy y 1+ dx. Oberfl¨ ache = 2π dx 1 Hier haben wir y = 1/x und somit 1 dy = − 2. dx x Daher wird die Formel zu
84
8 Torricellis Trompete
N
Oberfl¨ ache = 2π 1
1 x
1+
1 dx. x4
Diese divergiert offensichtlich wegen N N 1 1 1 dx, 1 + 4 dx > x x x 1 1 aber es ist befriedigend, wenn auch ein wenig umst¨andlich, eine exakte Form f¨ ur das Integral N √ 4 N 1 1 x +1 1 + 4 dx = dx x x x3 1 1 zu finden. Wir attackieren das Problem in zwei Phasen: zuerst durch partielle Integration und anschließend durch Substitution. Mit dem unbestimmten Integral ergibt sich √ 4 x +1 −3 dx = x x4 + 1 dx x3 −2 1 4x3 x x−2 4 × ×√ x +1− dx = −2 −2 2 x4 + 1 1 x √ = − 2 x4 + 1 + dx. 4 2x x +1 Wir betrachten nun das verbleibende Integral und wenden die Substitution u = x2 an, die du/dx = 2x liefert. Wir haben dann 1 x 1 √ √ dx = du 4 2 2 x +1 u +1 = 12 ln(u + u2 + 1) + c = 12 ln(x2 + x4 + 1) + c. Setzt man all das zusammen, dann ergibt sich die Oberfl¨ache der Trompete durch 1 − 2 x4 + 1 + 2x
1 2
N 4 ln(x + x + 1) 2
1 4 =− N +1+ 2N 2
1 1 2
ln(N 2 +
N 4 + 1) +
√
2 2
−
1 2
ln(1 +
√ 2).
Mit N → ∞ geht der erste Term offensichtlich gegen − 12 , aber die logFunktion w¨ achst u ¨ber alle Schranken und das bedeutet, daß auch die Oberfl¨ ache u achst.1 ¨ber alle Schranken w¨ 1
Im Englischen ist demnach Lo! It is a clever integral“ ein zutreffendes Anagramm ” von Evangelista Torricelli“. ”
8 Torricellis Trompete
85
Der Schwerpunkt der Trompete Die Konfusion ist total, wenn wir einen Kommentar von Wallis betrachten, demgem¨ aß eine Fl¨ ache oder ein K¨ orper so beschaffen sein kann, daß er unendlich lang, aber endlich groß ist (wobei die Breite stetig in gr¨oßerer Proportion abnimmt als die L¨ ange zunimmt) und somit keinen Schwerpunkt hat. Von solcher Beschaffenheit ist Toricellios Solidum Hyperbolicum acutum. Unter Verwendung der Standarddefinition des Schwerpunktes x ¯ eines sich um die x-Achse drehenden Rotationsk¨ orpers haben wir N N y 2 dx x ¯=π xy 2 dx π 1
1
und in unserem Fall ergibt sich N 2 N 1 1 1 x ¯=π dx x dx = π π 1− N x x 1 1 = π[ln x]N 1 = π ln N, x ¯=
ln N →∞ 1 − 1/N
f¨ ur N → ∞.
Ein Trinkgef¨ aß Torricelli schenkte also der Mathematik 1643 einen K¨orper mit unendlicher Oberfl¨ ache, aber endlichem Volumen. Kurze Zeit sp¨ater, 1658, steigerten Christiaan Huygens und Ren´e Fran¸cois de Sluze das damalige mathematische Unbehagen, indem sie die Bedingungen umkehrten: ihr K¨orper hat eine endliche Oberfl¨ ache und ein unendliches Volumen. Wir gehen hier weder auf ihre noch auf modernere Argumente ein, um den Sachverhalt zu beweisen. Wir belassen es bei dem Hinweis, daß der K¨orper durch die Kissoide erzeugt wird, die efeublatt¨ahnliche“ Kurve.2 Die kanoni” sche Kurve hat die Gleichung y 2 = x3 /(1 − x) und ist in Abb. 8.5 graphisch dargestellt; es ist offensichtlich, daß die Kurve bei x = 1 eine vertikale Asymptote hat. Die Kurve wird Diokles um 180 v. Chr. im Zusammenhang mit seinem Versuch zugeschrieben, den W¨ urfel mit Hilfe von geometrischen Methoden zu verdoppeln; der Sachverhalt erscheint in den Kommentaren des ¨ Eutokios zu der Arbeit Uber Kugel und Zylinder des Archimedes, in der die Exhaustionsmethode entwickelt wurde. Der betreffende K¨orper wird durch die 2
Altgriechisch
(kiss´ os) = Efeu und
(eidos) = Form, Gestalt, Aussehen.
86
8 Torricellis Trompete
Abb. 8.5.
Abb. 8.6. Die Kissoide
Rotation der oberen H¨ alfte der Kissoide und der vertikalen Asymptote um die y-Achse erzeugt; er hat die kelchf¨ ormige Gestalt, die in Abb. 8.6 dargestellt ist. In einem Brief an Huygens beschrieb de Sluze den K¨orper boshaft als ... leichtgewichtiges Trinkglas, das nicht einmal der h¨arteste Trinker leeren konnte.3 Torricellis Trompete w¨ urde einen maßvolleren Trinker zufriedenstellen, aber das Glas k¨onnte niemals vollst¨ andig angefeuchtet“ werden! Zugegebe” 3
levi opera deducitur mensura vasculi, pondere non magni, quod interim helluo nullus ebibat.
8 Torricellis Trompete
87
nermaßen ist diese Aussage aus mehreren wichtigen Gr¨ unden wirklichkeitsfremd, aber die bildliche Sprache ist zwingend. Doch wo steckt nun eigentlich das Paradoxon? So wie immer, haben uns auch jetzt unsere Sinne get¨auscht; wir haben n¨ amlich Verwirrung gestiftet, als wir etwas in die Realit¨at hineinschmuggeln wollten, das dort nicht existieren kann (Euklids Parallelenpostulat offenbart die Gefahren, die auf uns lauern) und Wein kann nicht unendlich d¨ unn sein. Galileo Galilei bringt den Gegensatz durch folgende Worte zum Ausdruck: [Paradoxa des Unendlichen entstehen] nur dann, wenn wir versuchen, mit unserem endlichen Geist das Unendliche zu diskutieren und letzterem diejenigen Eigenschaften zuordnen, die wir dem Endlichen und Begrenzten geben. Aber wir sollten Hobbes das letzte Wort u ¨berlassen. In seinem Kommentar zu der Behauptung, daß es einen unendlichen K¨orper mit endlichem Volumen gibt, sagte er: Um das zu verstehen, muß man weder Geometer noch Logiker sein, man muß nur verr¨ uckt sein.
9 Nichttransitive Effekte ¨ Wir wollen die Uberraschung der Transitivit¨ at so wie den ungeduldigen Hieb, der das Fernsehbild auf unerwartete Weise wiederherstellt, oder wie einen Elektroschock, der das flimmernde Herz in seinen richtigen Rhythmus zur¨ uckversetzt. Seamus Heaney
Der Hintergrund Eine W¨ orterbuchdefinition des Begriffes transitive Relation“ lautet Rela” ” tion mit folgender Eigenschaft: gilt die Relation zwischen einem ersten und einem zweiten Element und gilt sie zwischen dem zweiten und einem drittem Element, dann gilt die Relation auch zwischen dem ersten und dem dritten Element“. Zun¨ achst f¨ allt es leicht, sich alle sinnvollen Relationen zwischen Paaren von Objekten als transitiv vorzustellen: ¨ alter als“, gr¨oßer als“ usw., aber ” ” schon bald finden wir Beispiele, bei denen die Transitivit¨at versagt: Sohn ” von“, senkrecht zu“ usw. Das vorliegende Kapitel handelt haupts¨achlich von ” einer Relation, die scheinbar transitiv ist, tats¨ achlich aber nicht transitiv zu sein braucht: diese Relation lautet besser als“. ” Wir nehmen beispielsweise an, daß A ein besserer Tennisspieler ist als B und daß B ist ein besserer Tennisspieler ist als C. Dann ist es ziemlich klar, daß A ist ein besserer Tennisspieler ist als C. Die Relation besser als“ ist in ” diesem Fall offensichtlich transitiv. Repr¨ asentieren wir eine Relation zwischen Paaren von Elementen durch ‘→’ und bezeichnen wir die Elemente mit A, B und C, dann ist die Relation transitiv, falls Abb. 9.1 zutrifft. Bei den obengenannten beiden nichttransitiven Relationen l¨aßt sich das Diagramm nicht vervollst¨ andigen (vgl. Abb. 9.2): A und C stehen nicht in Relation zueinander, obwohl A in Relation zu B und B in Relation zu C steht. Die Dinge werden deutlich verwirrender, wenn man das Diagram gem¨aß Abb. 9.3 vervollst¨ andigt, bei der die Pfeile einander in den Schwanz beißen“ ” – eine ganz und gar merkw¨ urdige Situation. Wie kann es eigentlich sein, daß A besser als B, B besser als C, aber dennoch C besser als A ist? Gibt es solche Relationen u ¨berhaupt? Die Antwort ist ein entschiedenes Ja. Ein vertrautes Beispiel aus unserer Kindheit ist das Papier–Stein–Schere– Spiel, bei dem jeder der beiden Spieler eine Hand hinter dem R¨ ucken h¨alt.
90
9 Nichttransitive Effekte
Abb. 9.1. Eine transitive Relation
Abb. 9.2. Transitivit¨ at ist nicht definiert
Abb. 9.3. Transitivit¨ at ist durcheinander gebracht
9 Nichttransitive Effekte
91
Es wird bis drei gez¨ ahlt und bei drei bringen beide Spieler ihre verdeckte R¨ uckhand“ in einer der folgenden drei Konfigurationen nach vorne. Die flache ” Hand stellt das Papier dar, die geballte Faust den Stein und der in V-Form gespreizte Zeige- und Mittelfinger die Schere. Der Gewinner wird entsprechend der nachstehenden Folge von Regeln ermittelt: das Papier wickelt den Stein ein (Papier gewinnt), der Stein stumpft die Schere (Stein gewinnt) und die Schere schneidet das Papier (Schere gewinnt). Die Relation besser als“ ist in ” jedem der drei F¨alle in passender Weise definiert. Es gibt keine beste“ Wahl ” und mit A als Schere“, B als Stein“ und C als Papier“ ist die Situation ” ” ” von Abb. 9.3 offensichtlich. Wir setzen unsere Diskussion mit verschlageneren“ Beispielen fort; in ” jedem Fall erh¨ alt besser als“ die spezifische Interpretation gewinnt mit ” ” gr¨oßerer Wahrscheinlichkeit als“.
Das magische Quadrat Lo Shu Das in Abbildung 9.4 dargestellte 4200 Jahre alte magische Quadrat Lo Shu ist die Grundlage f¨ ur unser erstes Beispiel und wir k¨onnen sicher sein, daß die Mathematiker der Zeit des Kaisers Yu keine Ahnung von dieser verborgenen Eigenschaft der Anordnung hatten. Es handelt sich nat¨ urlich um ein 3 × 3Quadrat, bei dem in jedem der neun Quadrate eine der ganzen Zahlen von 1 bis 9 steht. Das Adjektiv magisch“ r¨ uhrt von der Tatsache her, daß die ” Summe jeder Zeile, Spalte und Diagonale die magische Zahl 15 ergibt.
Abb. 9.4. Das magische Quadrat Lo Shu
Man betrachte nun die drei Zeilen und numeriere drei sechsseitige W¨ urfel mit jeweils zwei Wiederholungen der in jeder Zeile stehenden drei Zahlen, so wie in den W¨ urfelnetzen“ von Abb. 9.5 dargestellt. ” Wir k¨ onnen diese seltsam numerierten W¨ urfel dazu verwenden, mit einem Gegner ein einfaches Gl¨ ucksspiel zu spielen: er w¨ahlt einen W¨ urfel aus, danach w¨ ahlen wir einen W¨ urfel aus, w¨ urfeln zum Beispiel 100-mal und stellen fest, wer am h¨ aufigsten gewinnt. Tabelle 9.1 listet die m¨oglichen Ergebnisse auf, wobei jeder W¨ urfel mit jedem anderen verglichen wird; die Tabelle zeigt, daß 5 ullt A → B → C → A jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 36 = 9 erf¨ ist. Wir haben also eine Situation, die durch Abb. 9.3 modelliert wird. Das
92
9 Nichttransitive Effekte
Abb. 9.5. Die Lo Shu W¨ urfelnetze
bedeutet: Gestatten wir unserem Gegner die erste W¨ urfelwahl“, dann sind ” wir immer in der besseren Position. Tabelle 9.1. Vergleich der Lo Shu W¨ urfel
B 2 2 4 4 9 9
z 3 A A B B B B
C 1 1 6 6 8 8
z 2 B B C C C C
A 3 3 5 5 7 7
z 1 A A A A A A
A }| 3 A A B B B B
5 A A A A B B
5 A A A A B B
7 A A A A B B
{ 7 A A A A B B
4 B B C C C C
9 B B B B B B
{ 9 B B B B B B
6 C C C C A A
8 C C C C C C
{ 8 C C C C C C
B }| 2 B B C C C C
4 B B C C C C C }|
1 A A A A A A
6 C C C C A A
Die Auswahl der Zahlen ist nicht eindeutig. Der Spielzeugsammler und Berater Tim Rowett fand eine Menge von drei nichttransitiven W¨ urfeln, bei denen keine Seitenfl¨ ache eine Zahl hat, die gr¨oßer als 6 ist (die gr¨oßte Zahl auf einem sechsseitigen Standardw¨ urfel); in Abb. 9.6 sind die Netze darge-
9 Nichttransitive Effekte
93
stellt. Wieder haben wir A → B → C → A; wir u ¨berlassen dem Leser den 21 Nachweis, daß die Gewinnwahrscheinlichkeiten in den einzelnen F¨allen 25 36 , 36 21 beziehungsweise 36 sind.
Abb. 9.6. Die W¨ urfelnetze von Rowett
Zur Steigerung der Konfusion ¨ andern wir das Spiel dahingehend ab, daß jeder Spieler einen der W¨ urfel w¨ ahlt, und daß der Gewinner (das heißt, die Person mit der gr¨ oßeren Summe) zweimal w¨ urfelt. Tabelle 9.2 listet f¨ ur jeden W¨ urfel die drei m¨ oglichen Summen und die H¨aufigkeit auf, mit der jede Summe auftritt. Tabelle 9.2. M¨ oglichkeiten beim zweimaligen Werfen des Rowett-W¨ urfels A B C z }| {z }| {z }| { Summe H¨ aufigkeit Summe H¨ aufigkeit Summe H¨ aufigkeit 2 1 6 25 4 9 5 10 9 10 7 18 8 25 12 1 10 9
F¨ uhren wir nun die Rechnungen so wie fr¨ uher durch, dann erhalten wir Tabelle 9.3, aus der ersichtlich ist, daß die Dominanzpfeile umgedreht werden. Das heißt, wir haben A → C → B → A und die Wahrscheinlichkeiten sind 765 765 671 , 1296 beziehungsweise 1296 . dieses Mal 1296
Efrons Wu ¨rfel Bradley Efron, ein Statistiker der Stanford University, verallgemeinerte die Idee auf vier W¨ urfel, indem er drei Mengen entsprechend den Abb. 9.7–9.9 spezifizierte. In jedem Fall gilt A → B → C → D → A. Der Sachverhalt ist etwas subtiler, da die M¨oglichkeit von Ziehungen (Neuw¨ urfen) besteht, und wir machen uns die M¨ uhe, die Ergebnisse in Tabelle 9.4 zusammenzustellen. In jeder einzelnen Tabelle ist das Auftreten von Matching-Zahlen“ durch ein X gekennzeichnet. ”
94
9 Nichttransitive Effekte Tabelle 9.3. Erneuter Vergleich der Rowett-W¨ urfel A }|
z B 6 B: 9 B: 12 B:
2 1 × 25 = 25 1 × 10 = 10 1×1=1
z C 4 B: 7 C: 10 C:
6 25 × 9 = 225 B: 25 × 18 = 450 B: 25 × 9 = 225 C:
z A 2 C: 5 A: 8 A:
4 9×1=9 C: 9 × 10 = 90 C: 9 × 25 = 225 A:
B: B: B:
5 10 × 25 = 250 10 × 10 = 100 10 × 1 = 10 B }| 9 10 × 9 = 90 10 × 18 = 180 10 × 9 = 90 C }| 7 18 × 1 = 18 18 × 10 = 180 18 × 25 = 450
{ A: B: B:
8 25 × 25 = 625 25 × 10 = 250 25 × 1 = 25
B: B: B:
12 1×9=9 1 × 18 = 18 1×9=9
C: C: C:
10 9×1=9 9 × 10 = 90 9 × 25 = 225
{
{
Abb. 9.7. Efrons W¨ urfelnetze 1
Abb. 9.8. Efrons W¨ urfelnetze 2
9 Nichttransitive Effekte Tabelle 9.4. Vergleich der Efron-W¨ urfel
B 0 1 7 8 8 9
z 1 A X B B B B
C 5 5 6 6 7 7
z 0 C C C C C C
D 3 4 4 5 11 12
z 5 C C C X D D
A 1 2 3 9 10 11
z 3 D D X A A A
A }| 2 A A B B B B
3 A A B B B B
{ 9 10 11 A A A A A A A A A A A A A A A X A A
B }| 1 C C C C C C
7 B B B B X X
8 B B B B B B
8 B B B B B B
{ 9 B B B B B B
6 C C C C D D
7 C C C C D D
{ 7 C C C C D D
C }| 5 C C C X D D
6 C C C C D D D }|
4 D D D A A A
4 D D D A A A
{ 5 11 12 D D D D D D D D D A D D A D D A X D
Abb. 9.9. Efrons W¨ urfelnetze 3
95
96
9 Nichttransitive Effekte
Die Mehrdeutigkeit ist in allen vier F¨ allen exakt die gleiche, so daß der erste Fall repr¨ asentativ ist, bei dem A mit B konkurriert. Bezeichnen wir mit p die Wahrscheinlichkeit, daß A gewinnt, dann haben wir 1 1 22 + ×p+ × p, 36 36 36 was zu p = 11 uhrt. Somit gilt A → B mit einer Wahrscheinlichkeit von 17 f¨ 11 und nat¨ u rlich ist die Wahrscheinlichkeit bei den anderen Paarungen die 17 gleiche. p=
Werfen von Mu ¨nzen Der zweite Typ von nichttransitiven Effekten, den wir hier betrachten, bezieht sich auf das Werfen einer fairen M¨ unze. Nat¨ urlich hat sich bereits Martin Gardner damit befaßt, aber der Autor ist dem Ph¨anomenon erstmalig in der heute nicht mehr existierenden Mathematikzeitschrift Manifold der Warwick University begegnet. Spieler A nimmt eine faire M¨ unze und wirft diese mehrmals. Bevor Spieler A das jedoch tut, bittet er Spieler B, eine Dreierfolge aus Kopf und Zahl auszuw¨ ahlen, zum Beispiel HTH1 . Danach w¨ahlt A seine eigene Folge aus. Die M¨ unze wird nun so oft geworfen, bis eine der beiden Folgen auftritt: Gewinner ist derjenige, der diese Folge ausgew¨ahlt hat. Es gibt nur acht Auswahlm¨ oglichkeiten f¨ ur das Tripel und B k¨onnte zu Recht auf den Gedanken kommen, daß es eine optimale Auswahlm¨oglichkeit gibt, aber das ist nicht der Fall. Tabelle 9.5. M¨ unzwurf-Vergleiche B w¨ ahlt A w¨ ahlt HHH THH HHT
THH
HTH
HHT
HTT
HHT
THH
TTH
THT
TTH
TTH
HTT
TTT
HTT
Wahrscheinlichkeit, daß A gewinnt 7 8 3 4 2 3 2 3 2 3 2 3 3 4 7 8
Die linke Spalte von Tabelle 9.5 zeigt die acht Auswahlm¨oglichkeiten, die B zur Verf¨ ugung hat. Die mittlere Spalte zeigt die entsprechenden Auswahlm¨ oglichkeiten, f¨ ur die sich A in jedem Fall entscheiden sollte. Entscheidet 1
H = head (Kopf), T = tail (Zahl).
9 Nichttransitive Effekte
97
sich A f¨ ur diese M¨ oglichkeiten, dann gibt die rechte Spalte die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur an, daß A gewinnt.
Abb. 9.10. Das urspr¨ ungliche Baumdiagram
Die Erstellung der Spalte der Gewinnwahrscheinlichkeiten ist etwas aufwendig und beruht auf der Verwendung von Baumdiagrammen. Wir betrachten die wesentlich unterschiedlichen Paarungen gesondert und behandeln die erste dieser Paarungen ausf¨ uhrlich. Die Paarungen HHH ↔ THH und TTT ↔ HTT Die ersten drei W¨ urfe k¨ onnten HHH sein und in diesem Fall gewinnt B. Andernfalls tritt einmal Zahl darunter auf und in diesem Fall ben¨otigt A zweimal Kopf und B immer noch dreimal Kopf, um zu gewinnen – unabh¨angig davon, wieviele Male Zahl noch auftritt. A wirft sicher zweimal Kopf, bevor B dreimal Kopf wirft, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis A gewinnt. Von den acht M¨ oglichkeiten f¨ ur die ersten drei W¨ urfe gewinnt A somit sieben und daher ur A. ist 78 die Gewinnwahrscheinlichkeit f¨ Das war einfach. Wir kommen nun zu einem etwas schwierigeren Fall. Die Paarungen HHT ↔ THH and TTH ↔ HTT Wir analysieren die Situation mit Hilfe des dreistufigen Baumdiagramms von Abb. 9.10. Abb. 9.10 zeigt die beiden Pfade, entlang denen entweder A oder B klar ¨ gewinnt, aber etwas Uberlegung bringt uns darauf, das Baumdiagramm zu
98
9 Nichttransitive Effekte
Abb. 9.11. Das beschnittene Baumdiagramm
Abb. 9.12. Das urspr¨ ungliche Baumdiagramm
beschneiden. Zun¨ achst gilt: Ist der erste Wurf T, dann wird – unabh¨angig davon, was sp¨ ater geschieht – HH ben¨ otigt, um die Folge zu vervollst¨andigen, und damit beginnt erst die von B gew¨ ahlte Folge; A muß gewinnen; das bedeutet, daß die gesamte rechte Seite des Baumdiagramms ein Gewinn f¨ ur A ist. Ferner gilt: Sind die ersten beiden W¨ urfe HT, dann muß A aus dem gleichen Grund gewinnen. Und schließlich gilt: Sind die ersten beiden W¨ urfe HH, dann muß B gewinnen. Das Baumdiagramm reduziert sich auf Abb. 9.11. Die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß A gewinnt, ist demnach 12 + 12 × 12 = 34 . Wir m¨ ussen abschließend noch die mittleren vier F¨alle kl¨aren und diese Situation ist subtiler, denn das Baumdiagramm f¨ uhrt in diesen F¨allen zu keiner vollst¨ andigen L¨ osung.
9 Nichttransitive Effekte
99
Abb. 9.13. Das beschnittene Baumdiagramm
Die Paarungen HTH ↔ HHT, HTT ↔ HHT, THH ↔ TTH und THT ↔ TTH Das dreistufige Baumdiagramm ist Abb. 9.12 dargestellt. Wieder k¨ onnen die Zweige zurechtgestutzt werden, aber diesmal nicht so stark. F¨ uhrt das Werfen der M¨ unze zu HH, dann gewinnt A sicher; ¨ahnlich verh¨ alt es sich bei THH. Damit ergibt sich Abb. 9.13. Zur besseren Analyse der verbleibenden M¨ oglichkeiten ist es n¨ utzlich, ein zus¨ atzliches Level hinzu zu nehmen, so wie in Abb. 9.14, wobei p die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur ist, daß A gewinnt. Arbeiten wir uns von links nach rechts durch die Zweige, dann erhalten wir den Ausdruck p = ( 12 × 12 ) + ( 12 × + +
( 12 ( 12
× ×
1 2 1 2
× ×
1 2 1 2
1 2
×
×
1 2
1 2)
× p) + ( 12 ×
+
( 12
×
1 2
×
1 2
1 2
×
×
1 2
1 2
+
×
1 2
1 2
×
1 2
×
1 2
×
1 2
× p)
× p)
× p),
7 uhrt und somit p = 23 liefert. der zu 21 32 × p = 16 f¨ Die Analyse ist nun vollst¨ andig und wir haben damit die Nichttransitivit¨at nachgewiesen.
100
9 Nichttransitive Effekte
Abb. 9.14. Das erweiterte beschnittene Baumdiagramm
10 Ein Verfolgungsproblem Dieses Buch ist in der Sprache der Mathematik geschrieben und seine Charaktere sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne deren Hilfe . . . man vergebens durch ein dunkles Labyrinth wandert. Galileo Galilei
Die eingestellte Zeitschrift Graham DIAL wurde in den 1940er Jahren an 25 000 amerikanische Ingenieure ausgeliefert und enthielt eine Private Corner for Mathematicians. Diese Kolumne wurde von L. A. Graham selbst herausgegeben und behandelte Aufgaben, die von Lesern f¨ ur andere Leser formu¨ liert wurden. Ahnlich den Artikeln Martin Gardners im Scientific American f¨ uhrten diese Arbeiten zu zwei B¨ uchern, in denen die Originalbeitr¨age diskutiert, kommentiert und mitunter verallgemeinert wurden. Das erste Buch, Ingenious Mathematical Problems and Methods, wurde 1959 ver¨offentlicht und enth¨ alt das Problem, das wir hier diskutieren. Die Rahmenhandlung ist eine Verfolgung auf dem offenen Meer und scheint keine ausreichenden Informationen bereitzustellen, um eine L¨ osung in Angriff zu nehmen. F¨ ur die L¨osung ben¨ otigen wir zwei spezielle Kurven, mit deren Wesen wir uns zuerst befassen.
Eine lineare Verfolgungskurve Verfolgungskurven wurden zuerst 1732 von dem franz¨osischen Wissenschaftler Pierre Bouguer untersucht, der auch als Erster das Magnetfeld der Erde gemessen hatte. Die exakte Natur dieser Kurven h¨angt vom Weg des Verfolgten und von der Verfolgungsmethode ab, aber die gemeinsame Grundlage ist, daß es sich um Wege handelt, die ein Verfolger einschlagen sollte, um einer Beute den Weg abzuschneiden. Wir nehmen an, daß sich der Verfolgte auf einer geraden Linie bewegt, und daß der Verfolger immer in Richtung der aktuellen Position seiner Beute steuert“ und zu diesem Zweck st¨ andig seinen Kurs ¨andert. Unter diesen ” Voraussetzungen erhalten wir die lineare Verfolgungskurve“, die von Arthur ” Bernhart untersucht wurde. Man kann zeigen, daß diese in Abb. 10.1 dargeugt. stellte Kurve einer Gleichung der Form y = cx2 − ln x gen¨
102
10 Ein Verfolgungsproblem
Abb. 10.1. Eine lineare Verfolgungskurve
Verfolgung unter Verwendung des Apollonischen Kreises Alternativ k¨ onnte der Verfolger die Beute unter Verwendung einer speziellen ebenen Kurve schneller fangen, n¨ amlich mit Hilfe des Apollonischen Kreises, benannt nach Apollonius von Perge (ca. 262 v. Chr. bis ca. 190 v. Chr.). Der Apollonische Kreis kann folgendermaßen definiert werden. Man nehme zwei voneinander verschiedene feste Punkte A und B und betrachte die Menge aller Punkte P , so daß P A:P B = k f¨ ur irgendeine positive Konstante k gilt. Ist k = 1, dann bilden die Punkte die Mittelsenkrechte von AB; andernfalls bilden sie einen Kreis, den in Abb. 10.2 dargestellten Apollonischen Kreis.
Abb. 10.2. Der Apollonische Kreis
Wir nehmen nun an, daß die Geschwindigkeit des Verfolgers vp und die der agt und daß sich zu einem gewissen Zeitpunkt der Verfolger in der Beute vq betr¨ Position A und die Beute in der Position B befindet. Unter der Voraussetzung, onnte er mental den Apollonischen Kreis als daß der Verfolger vq kennt, k¨ die Menge derjenigen Punkte P konstruieren, f¨ ur die AP :P B = vp :vq (vgl. Abb. 10.3). Setzt man auch voraus, daß der Verfolger die Fluchtrichtung kennt, dann kann er den Punkt P konstruieren, an dem der Verfolgte den Kreis
10 Ein Verfolgungsproblem
103
kreuzt. Der Verfolger sollte also Kurs auf P nehmen und sich die Beute an diesem Punkt sichern.
Abb. 10.3. Ein Beutefang
Der Apollonischen Kreis allein reicht zur L¨osung unseres Problems nicht aus, aber er leistet einen Beitrag dazu.
Verfolgung unter Verwendung der logarithmischen Spirale Eine ansprechende Verallgemeinerung einer Verfolgungskurve entsteht, wenn man verschiedene Objekte betrachtet, von denen jedes als Verfolger und Beute agiert. Zum Beispiel stellen wir uns in Abb. 10.4 vier Spinnen vor, die in je einer Ecke eines Quadrates starten und sich mit gleicher konstanter Geschwindigkeit aufeinander zu bewegen. In Abb. 10.5 sind Linien eingezeichnet, durch die einige der Positionen von Verfolger und Beute miteinander verbunden sind – das Diagramm wird zu einem mathematischen Kunstwerk.
Abb. 10.4. Vier Spinnen verfolgen sich gegenseitig
104
10 Ein Verfolgungsproblem
Abb. 10.5. Vier Spinnen mit einigen Verbindungslinien
Abb. 10.6. Eine logarithmische Spirale
Diese letzgenannten, k¨ unstlerisch befriedigenden Beispiele stellen selbsta hnliche Kurven dar, die als logarithmische (oder a¨quiangulare) Spiralen be¨ ur Konstanten a und b kannt sind und deren Polargleichung durch r = aebθ f¨ gegeben ist. Ein typisches Beispiel ist in Abb. 10.6 zu sehen. Diese Kurven wurden zuerst von Ren´e Descartes 1638 untersucht, aber sie werden eher mit Jakob Bernoulli in Verbindung gebracht, der viele ihrer u ¨berraschenden Eigenschaften entdeckte. Er war so verliebt in diese Kurven, daß er darum bat, eine von ihnen m¨ oge mit dem Ausspruch Eadem mutata resurgo“ ( Verwan” ” delt kehre ich als dieselbe wieder“) auf seinem Grabstein eingemeißelt sein. Leider schien der Steinmetz durch den Auftrag etwas u ¨berfordert gewesen zu sein, denn er schuf eine etwas grobe Archimedische Spirale (deren Polarform r = aθ ist). Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Spiralen besteht darin, daß aufeinanderfolgende Drehungen der Archimedischen Spirale einen konstanten Trennungsabstand (von 2πa) aufweisen, wohingegen diese Abst¨ ande bei der logarithmischen Spirale eine geometrische Folge bilden. Logarithmische Spiralen sind in der Natur reichlich vorhanden: sie sind die Wege, entlang denen sich Insekten einer Lichtquelle und Habichte ihrer Beute n¨ ahern; Spiralgalaxien (einschließlich unserer eigenen Milchstraße) und auch Zyklone haben diese Form. Im Buch 1 der Principia bewies Newton Folgendes: W¨ are das universelle Gravitationsgesetz nicht unser vertrautes quadratisches Gesetz, sondern ein inverses kubisches Gesetz, dann w¨are die Umlaufbahn der Planeten um die Sonne eine logarithmische Spirale.
10 Ein Verfolgungsproblem
105
Logarithmische Spiralen sind aus vielerlei Gr¨ unden bemerkenswerte Kurven und ein Grund hierf¨ ur ist die zweite Kurve, die zur L¨osung unseres Hauptproblems erforderlich ist. Bevor wir das tun, m¨ ussen wir jedoch eine am¨ usante Anekdote u ¨ber den großen analytischen Zahlentheoretiker G. H. Hardy wiedergeben, in der er eine Gleichung postuliert, die eine logarithmische Spirale darstellt, die gleichzeitig auch eine Parabel und eine Hyperbel ist. W¨ ahrend seiner Amtszeit als Inhaber des Savilian-Lehrstuhls f¨ ur Geometrie in Oxford hielt Hardy 1925 seine Ansprache als Pr¨asident der Mathematical Association unter dem Titel Was ist Geometrie?“ Bei dieser Ansprache ” sagte er mit der ihm eigenen Klarheit: Sie k¨ onnten einwenden ... daß Geometrie schließlich der Beruf eines Geometers ist, und das weiß ich und Sie wissen es, und ich weiß, daß Sie wissen, daß ich nicht der einzige bin; und daß f¨ ur mich der Versuch sinnlos ist, Ihnen zu erz¨ ahlen, was Geometrie ist, denn ich weiß es einfach nicht. Und hier sind wir leider mit einer bedauerlichen, aber definitiven Meinungsverschiedenheit konfrontiert. Ich behaupte nicht, irgendeine Geometrie zu kennen, aber ich behaupte, ganz klar zu verstehen, was Geometrie ist. Er hatte jedoch mit der folgenden Arbeit, die 1907 in der Mathematical Gazette erschien, einen Beitrag zur geometrischen Literatur geleistet. 224. [M1 .8.g.] Eine merkw¨ urdige imagin¨ are Kurve. Die Kurve (x + iy)2 = λ(x − iy) ist (i) eine Parabel, (ii) eine rechtwinklige Hyperbel und (iii) eine logarithmische Spirale. Die ersten beiden Aussagen sind offensichtlich richtig. Die Polargleichung r = λe−3iθ ist die Gleichung einer logarithmischen Spirale. Man weist die nat¨ urliche Gleichung m¨ uhelos als ρ = 3is nach. Es ist instruktiv, (i) zu zeigen, daß die Gleichung einer jeden Kurve, die gleichzeitig eine Parabel und eine rechtwinklige Hyperbel ist, in der obigen Form oder in der Form (x + iy)2 = x (oder y) gegeben werden kann, und (ii) die nat¨ urliche Gleichung direkt aus einer der letztgenannten Formen der kartesischen Gleichung abzuleiten. G. H. Hardy Wir werden sein Argument nicht vollst¨ andig wiedergeben, u.a. deswegen nicht, weil wir uns hier nicht allzu sehr mit komplexen Zahlen befassen
106
10 Ein Verfolgungsproblem
m¨ochten; aber der offensichtlich richtige“ Teil der Aussage scheint sich auf ” zwei Variablensubstitutionen zu st¨ utzen: •
X = x−iy und Y = x+iy, wodurch die Gleichung in die Parabel Y 2 = λX transformiert wird; • X = (x + iy)/(x − iy) und Y = x + iy, wodurch die Gleichung in die rechtwinklige Hyperbel XY = λ transformiert wird. Daß es sich hier auch um eine logarithmische Spirale handelt, erkennt man mit Hilfe der Polarform z = reiθ der komplexen Zahlen. Die Gleichung l¨aßt sich in der Form z 2 = λz ∗ schreiben, wobei z ∗ die komplexe Konjugierte von z ist, deren Polarform durch z ∗ = re−iθ gegeben ist. Hardys Gleichung wird dann zu (reiθ )2 = λ(re−iθ ), was sich zu
r = λe−3iθ
vereinfachen l¨ aßt, und die logarithmische Spirale ist einmal mehr an die Oberfl¨ache gekommen! Nun zu unserem Hauptproblem.
Unser Verfolgungsproblem In den obigen Beispielen kennt der Verfolger nicht nur die Geschwindigkeit des Verfolgten, sondern auch die Richtung, in die er sich fortbewegt; was geschieht, wenn wir diese zweite Information weglassen? Das bringt uns auf unser zweites Problem: Ein Schmuggler, der so schnell wie m¨ oglich entlang einer Geraden f¨ ahrt, wird verfolgt und von der K¨ ustenwache eingeholt, als beide pl¨ otzlich in eine Nebelbank geraten und jeder f¨ ur den jeweils anderen unsichtbar wird. Das Boot des Schmugglers ist zu klein, um von der elektronischen Aufkl¨ arung erfaßt zu werden; es hinterl¨aßt auch kein merkliches Kielwasser, das als Verfolgungsspur dienen k¨onnte. Aber obwohl die K¨ ustenwache nicht weiß, wo der Schmuggler ist und in welche Richtung er sich bewegt, kann sie einen Kurs steuern, der garantiert zur Festnahme des Schmugglers f¨ uhrt. Ganz wichtig ist hier das Wort garantiert. Es handelt sich also weder um eine Gl¨ uckssache, noch um eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Vielmehr wird der Schmuggler mit Sicherheit und mit Hilfe einer Kombination des Apollonischen Kreises und der logarithmischen Spirale gefaßt.
10 Ein Verfolgungsproblem
107
Die L¨ osung Zuerst wenden wir den Apollonischen Kreis an. Es bezeichne vc die Geschwinunden digkeit der K¨ ustenwache und vs die des Schmugglers; ferner sei (aus Gr¨ der Bequemlichkeit) k = vc /vs > 1. Wir konstruieren Abb. 10.7 folgendermaßen.
Abb. 10.7. Das L¨ osungsdiagramm
Wir nehmen an, daß der Schmuggler bei P1 in die Nebelbank ger¨at, und daß sich die K¨ ustenwache zu diesem Zeitpunkt bei S1 befindet. Man definiere d dadurch, daß f¨ ur den Abstand S1 P1 die Bedingung S1 P1 = (k + 1)d gilt und konstruiere dann den Apollonischen Kreis C1 aller Punkte A, f¨ ur die AS1 = kAP1 . Der Kreis schneide S1 P1 im Punkt Y . Dann gelten S1 Y = kd an des K¨ ustenwachschiffes k¨onnte jeden Punkt auf C1 und Y P1 = d. Der Kapit¨ anpeilen und falls er Gl¨ uck hat, daß der Pirat in die entsprechende Richtung gefahren ist, dann wird das Schmugglerschiff bei Z abgefangen, wie wir in dem fr¨ uheren Beispiel gesehen hatten. Wir betrachten nun eine etwas andere Strategie der K¨ ustenwache: Man fahre von S1 zu Y (ein Abstand von kd), so daß man sich in einem Abstand d von P1 befindet. Wegen vs = (1/k)vc hat der Schmuggler dann die Entfernung d zur¨ uckgelegt und befindet sich deswegen in einem Punkt X irgendwo auf dem Kreis C2 , der den Mittelpunkt P1 und den Radius d hat. Zu diesem Zeitpunkt haben sowohl der Schmuggler als auch die K¨ ustenwache einen Abstand d von P1 . Der Plan der K¨ ustenwache besteht nun darin, von P1 den gleichen Abstand wie der Schmuggler derart beizubehalten, daß sich die beiden Wege kreuzen. Mit P1 als Ursprung und relativ zur positiven x-Richtung schreibt man nun die Polargleichung des nachfolgenden Weges der K¨ ustenwache in der Form r = r(θ), wobei θ in Bezug auf diese Richtung entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn gemessen wird. Wir gew¨ ahrleisten, daß beide den gleichen Abstand von P1 einhalten, wenn wir dr/dt = vs setzen. Ist s die Entfernung, welche
108
10 Ein Verfolgungsproblem
die K¨ ustenwache von Y aus zur¨ uckgelegt hat, dann ist ds/dt = vc und das liefert ds dr vc ds = vc und = = k. dr dt dr vs Wir verwenden nun das folgende Standardresultat der Infinitesimalrechnung (f¨ ur Einzelheiten sei auf Anhang C verwiesen):
ds dr
2
dθ =1+ r dr
Das bedeutet, daß 2 dθ r = k 2 − 1 und dr
r
2 .
dθ 2 = k − 1. dr
gelten. Als Standardintegral geschrieben wird das zu 1 2 dθ = k − 1 dr. r Als L¨ osung hiervon ergibt sich r = aeθ/
√ k2 −1
f¨ ur eine Konstante a, und damit haben wir die Polargleichung der logarithmischen Spirale. Es gilt auch die Bedingung r = d, wenn θ = π; wir k¨onnen das dazu verwenden, die Konstante a zu berechnen. Die Gleichung r = aeθ/ liefert d = aeπ/
√ k2 −1
,
√ k2 −1
a = de−π/
√ k2 −1
.
Somit wird die Gleichung der Spirale zu r = deπ/
√ √ k2 −1 θ/ k2 −1
e
= de(θ−π)/
√ k2 −1
und der L¨ osungsweg f¨ ur das Problem ist r = de(θ−π)/
√ k2 −1
.
Diese Spirale muß zu irgendeinem Zeitpunkt den Weg des Schmugglers kreuzen, und wenn das geschieht, dann haben beide Schiffe den gleichen Abstand von P1 (vgl. Abb. 10.8) und befinden sich somit am gleichen Ort. Das Schmugglerschiff wird mit Sicherheit aufgebracht! Bildet der Weg des K¨ ustenwachschiffes mit der positiven x-Richtung den Winkel ϕ, dann werden die Schmuggler aufgebracht, wenn θ = 2π + ϕ (wobei
10 Ein Verfolgungsproblem
109
Abb. 10.8. Gekapert!
−π θ π). Demnach l¨ aßt sich die bis zum Kapern zur¨ uckgelegte Entfernung durch Berechnung der Bogenl¨ ange des Weges von θ = π nach θ = 2π + ϕ ermitteln, den wir aus der zweiten Form des Ergebnisses von Anhang C ableiten k¨ onnen:
liefert
2π+ϕ
s= π
2π+ϕ
dr dθ
dk k2 − 1
=
dr dθ
2 + r2
2
√
π
=√
2
+ r2 dθ
= =√
ds dθ
k2
2
d
+
−1
2π+ϕ
e(θ−π)/
d2
√ k2 −1
e2(θ−π)/
dθ
π
√ 2π+ϕ dk 2 2 k − 1e(θ−π)/ k −1 π 2 k −1
= dk(e(π+ϕ)/
√
k2 −1
− 1)
und die Zeit bis zum Abfangen ist durch de(θ−π)/
√ k2 −1
= vs t
gegeben, wobei θ = 2π + ϕ. Dies bedeutet, daß t = (d/vs )e(π+ϕ)/
√ k2 −1
.
√ k2 −1
dθ
11 Parrondospiele Das ist ein einzeiliger Beweis . . . falls wir hinreichend weit links anfangen. Unbekannter Dozent der Universit¨ at Cambridge
Wir sind alle daran gew¨ ohnt, in einer beliebigen Anzahl von Gl¨ ucksspielen zu verlieren. Entscheiden wir uns, die Monotonie des Geldverschenkens dadurch zu lindern, daß wir den Spielverlauf zwischen zwei solchen Spielen variieren, ¨ dann w¨ urden wir vern¨ unftigerweise keine Uberraschungen auf dem unvermeidlichen Weg zu unserem finanziellen Abstieg erwarten. Das aber hieße, die Entdeckung des Dr. Juan Parrondo zu ignorieren: Zwei Verlustspiele lassen sich zu einem zusammengesetzten Gewinnspiel kombinieren. Wir geben hier keine strenge Definition eines Verlustspiels, da wir alle ein instinktives Gef¨ uhl daf¨ ur haben, worum es sich handelt, und das reicht f¨ ur unsere Zwecke. Kurz gesagt: Sind wir t¨ oricht genug, ein solches Spiel zu spielen, dann erwarten wir langfristig, weniger Geld zu besitzen als wir am Anfang hatten. Mathematischer ausgedr¨ uckt: unsere Gewinnwahrscheinlichkeit ist bei jedem Spiel kleiner als 0,5. (Wir k¨onnen sogar verlieren, wenn unsere Gewinnwahrscheinlichkeit gleich 0,5 ist, falls unser Verm¨ogen im Vergleich zum Verm¨ ogen des anderen Spielers klein ist; der Leser ist angehalten, sich mit den Folgen des sogenannten gambler’s ruin vertraut zu machen.) Wir setzen nun zwei solche Spiele voraus, die wir mit A und B bezeichnen, und die wir individuell oder in Kombination spielen, wobei das Muster f¨ ur das Kombinationsspiel ziemlich willk¨ urlich ist: wir k¨onnten A eine Weile spielen und dann wechseln und mit B weiter spielen, oder wir k¨onnten alternierend ABABAB... spielen oder eine (m¨ oglicherweise gezinkte“) M¨ unze werfen, um ” zu bestimmen, was und wann wir spielen usw. Welche Strategie wir auch immer f¨ ur die Entscheidung verwenden, wann wir welches Spiel spielen, wir w¨ urden erwarten, auf lange Sicht zu verlieren; Parrondos Ergebnis zeigt uns jedoch, daß es Situationen gibt, die zu einer Gewinnkombination f¨ uhren. Eine undigung dieses Sachverhaltes erfolgte insbesondere 1999 in der ¨offentliche Ank¨ Arbeit Parrondo’s Paradox“ von G. P. Harmer und D. Abbott in Statistical ” Science 14(2):206–13. Drei Jahre zuvor hatte der spanische Physiker Juan M. R. Parrondo die Idee in unver¨ offentlichter Form auf einem Workshop im italienischen Turin vorgestellt: er hatte auf der Grundlage zweier nachweislicher Verlustspiele ein zusammengesetztes Gewinnspiel definiert; das heißt,
112
11 Parrondospiele
das Verm¨ ogen des Spielers erh¨ oht sich nachweislich, wenn er das kombinierte Spiel weiterspielt. Dieser Prozeß ist es, auf den wir im vorliegenden Kapitel Parrondospiele unsere Aufmerksamkeit lenken.
Das Basisspiel Die Untersuchung ist Teil des viel umfassenderen Themas der Markowschen Ketten, aber hier ben¨ otigen wir nur die einfachsten diesbez¨ uglichen Begriffe. Angenommen, wir spielen wiederholt ein Spiel und gewinnen entweder 1 Einheit mit der konstanten Wahrscheinlichkeit p oder wir verlieren 1 Einheit mit der Wahrscheinlichkeit 1 − p. Wir beginnen mit einem gewissen Verm¨ogen ur die Wahrscheinlichkeit, daß unser Verm¨ogen auf 0 reund schreiben Pr f¨ duziert wird, wenn es gegenw¨ artig den Level r hat; wir werden hier nicht die M¨ oglichkeit in Betracht ziehen, das Verm¨ ogen unseres Gegners aufzubrauchen.
Abb. 11.1. Das grundlegende Baumdiagramm
Abb. 11.1 faßt die Position zusammen, wenn wir ein weiteres Spiel durchf¨ uhren. Das bedeutet Pr = pPr+1 + (1 − p)Pr−1 ,
r 1,
(1)
und offensichtlich gilt auch P0 = 1. Damit haben wir in der Zusammenfassung ein solches Spiel und eine sogenannte rekursive Relation f¨ ur die Pr . Was wir haben m¨ochten, ist ein expliziter Ausdruck von Pr mit Hilfe von p und r. Der Trick besteht nun darin, eine L¨ osung der Form Pr = xr zu versuchen, was zu xr = pxr+1 + (1 − p)xr−1
11 Parrondospiele
113
f¨ uhrt. K¨ urzen durch xr−1 liefert x = px2 + (1 − p) oder px2 − x + (1 − p) = 0. Diese quadratische Gleichung l¨ aßt sich in der Form (x − 1)(px − (1 − p)) = 0 faktorisieren und hat somit die Wurzeln x = 1 und x = (1−p)/p. Das bedeutet, daß r 1−p r Pr = 1 = 1 und Pr = p beides L¨ osungen sind, was sich durch Einsetzen in Gleichung (1) leicht u ufen l¨ aßt. ¨berpr¨ Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte. Wieder l¨aßt sich leicht u ufen, daß ein beliebiges konstantes Vielfaches jeder L¨osung wieder eine ¨berpr¨ L¨ osung ist, und daß dar¨ uber hinaus auch die Summe zweier L¨osungen eine L¨osung ist. Damit ergibt sich f¨ ur (1) die allgemeine L¨osung r 1−p + Q, r 0, Pr = P p f¨ ur Konstanten P und Q. Unter Heranziehung der Bedingung P0 = 1 erhalten wir mit P + Q = 1 eine Gleichung in zwei Unbekannten. Um eindeutige Werte f¨ ur P und Q zu finden, brauchen wir eine zweite, unabh¨ angige Gleichung. Das ist nicht ganz so einfach. H¨ atte der Gegner ein bekanntes Kapital, das es uns gestatten w¨ urde, das gesamte Startkapital der beiden Spieler als N zu bezeichnen, dann k¨onnten wir uns auf die Bedingung PN = 0 berufen, die zu der besagten zweiten Gleichung in P und Q f¨ uhren w¨ urde; das wiederum w¨ urde bedeuten, daß die Werte ermittelt werden k¨ onnten. Wir haben jedoch keine solche Bedingung, aber das folgende intuitive Argument bringt uns weiter. Der Wert (1 − p)/p ist entweder gleich, gr¨ oßer oder kleiner als 1 und wir k¨ onnen die drei F¨ alle gesondert betrachten. Gilt (1 − p)/p = 1 (das heißt, p = 12 ), dann haben wir Pr = P + Q = 1 und langfristig sind wir sicher, das gesamte Kapital an einen Gegner zu verlieren, der ein viel gr¨ oßeres Verm¨ ogen besitzt. Ist (1 − p)/p > 1, dann muß Pr mit zunehmendem r außerhalb von [0, 1] liegen; dadurch werden die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verletzt, falls nicht ur alle r liefert. P = 0, was Pr = 1 f¨ Wir nehmen nun (1 − p)/p < 1 an. Mit wachsendem r haben wir dann r 1−p → 0, p aber n¨ ahern wir uns unendlich großen Geldmitteln, dann geht unsere Verlustwahrscheinlichkeit gegen 0, das heißt, Q = 0 und somit P = 1. In diesem Fall gilt
114
11 Parrondospiele
Pr =
1−p p
r f¨ ur r 0
und wir schlußfolgern ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨1, Pr =
r ⎪ 1−p ⎪ ⎪ , ⎩ p
1−p 1 (Verlust), p 1−p < 1 (Gewinn). p
(2)
Nat¨ urlich vereinfachen sich die Ungleichungen f¨ ur p zu p 12 und p > 12 . Das stimmt mit unserer folgenden intuitiven Vorstellung u ¨berein: Ist das Spiel fair oder gegen uns voreingenommen, dann verlieren wir wahrscheinlich irgendwann einmal unser gesamtes Verm¨ ogen. Wie wir oben bereits gesagt hatten, ist sogar ein faires Spiel ein Verlustspiel, falls wir keine Chance haben, das Verm¨ ogen des Gegners aufzubrauchen.
Das Parrondo-Setup Wir wiederholen diese Analyse dreimal, um das Parrondo-Paradox zu demonstrieren: wir arbeiten mit einem Spiel A und einem weiteren Spiel B, die beide Verlustspiele sind. Danach kombinieren wir diese Spiele zu einem Mehrfachspiel C und beweisen, daß es ein Gewinnspiel ist.
Abb. 11.2. Baumdiagramm Spiel A
Spiel A Das ist einfach das Spiel, das wir bereits beschrieben hatten. Man denke es sich als Werfen einer nicht fairen M¨ unze, wobei Kopf mit der festen Wahrscheinlichkeit p gewinnt oder Zahl mit der Wahrscheinlichkeit 1 − p verliert. Die Gewinn- und die Verlustbedingung werden dann durch das gleiche Diagramm
11 Parrondospiele
115
wie zuvor dargestellt, das wir in verk¨ urzter Form in Abb. 11.2 wiederholen. Die L¨ osung ist durch Gleichung (2) auf Seite 114 gegeben: ⎧ ⎪ 1, p 12 (Verlust), ⎪ ⎨ r Pr = 1−p ⎪ ⎪ , p > 12 (Gewinn). ⎩ p Spiel B Das ist komplizierter, wobei die Gewinnchance bei jedem Spiel von der Gr¨oße des Kapitals abh¨ angt, das zu diesem Zeitpunkt vorhanden ist. Genauer gesagt: Ist das Kapital ein Vielfaches von 3, dann gewinnen wir mit der Wahrscheinlichkeit p1 ; andernfalls gewinnen wir mit der Wahrscheinlichkeit p2 (vgl. Zusammenfassung in Abb. 11.3).
Abb. 11.3. Baumdiagramm Spiel B
Jede positive ganze Zahl hat eine der Formen 3r, 3r + 1, 3r + 2 und deswegen m¨ ussen wir drei rekursive Relationen betrachten, wobei die erste durch den linken Zweig des Diagramms und der Rest durch die rechte Seite des Diagramms erzeugt wird. Mit dem oben definierten Pr haben wir dann P3r = p1 P3r+1 + (1 − p1 )P3r−1 , r 1, P3r+1 = p2 P3r+2 + (1 − p2 )P3r , P3r+2 = p2 P3r+3 + (1 − p2 )P3r+1 ,
r 0, r 0,
(3) (4) (5)
zusammen mit der Bedingung P0 = 1. Wieder m¨ ochten wir eine explizite Formel f¨ ur Pr (ausgedr¨ uckt durch r) haben und wir arbeiten auf dieses Ziel hin, indem wir zun¨achst eine Formel f¨ ur P3r suchen.
116
11 Parrondospiele
Die Algebra ist verwickelt und wir beginnen damit, die Gleichungen (4) und (5) als P3r+1 − p2 P3r+2 = (1 − p2 )P3r und P3r+2 − (1 − p2 )P3r+1 = p2 P3r+3 zu schreiben, das heißt, wir denken sie uns als zwei Gleichungen in den beiden Unbekannten P3r+1 und P3r+2 . Nach einigen standardm¨ aßigen (aber gr¨ aßlichen) algebraischen Berechnungen sehen wir, daß die Gleichungen die L¨ osungen P3r − 2p2 P3r + p22 P3r − p22 P3r+3 , 2p2 − 1 P3r − p2 P3r − p2 P3r+3 . = 2p2 − 1
P3r+1 = P3r+2
haben. Schreiben wir P3r+2 um, indem wir r durch r − 1 ersetzen, dann ergibt sich P3r−3 − p2 P3r−3 − p2 P3r . P3r−1 = 2p2 − 1 Setzt man diese Ausdr¨ ucke f¨ ur P3r+1 und P3r−1 in Gleichung (3) ein, dann erhalten wir nach Vereinfachung P3r (1 − p1 − 2p2 + p22 + 2p1 p2 ) = p1 p22 P3r+3 + (1 − p1 )(1 − p2 )2 P3r−3 , was sich in der Form P3r ((1 − p1 )(1 − p2 )2 + p1 p22 ) = p1 p22 P3r+3 + (1 − p1 )(1 − p2 )2 P3r−3 oder P3r =
p1 p22 P3r+3 (1 − p1 )(1 − p2 )2 + p1 p22 +
(1 − p1 )(1 − p2 )2 P3r−3 (1 − p1 )(1 − p2 )2 + p1 p22
schreiben l¨ aßt. Das sieht ziemlich verfahren aus, aber ein sorgf¨altiger Blick offenbart, daß die Summe der Koeffizienten gleich 1 ist, und daß wir somit die Form von Gleichung (1) mit p=
p1 p22 (1 − p1 )(1 − p2 )2 + p1 p22
haben, wobei r durch 3r ersetzt ist.
11 Parrondospiele
Es folgt
117
(1 − p1 )(1 − p2 )2 1−p = p p1 p22
und somit haben wir
P3r
(1 − p1 )(1 − p2 )2 =A p1 p22
3r + B.
Exakt die gleichen Argumente wie zuvor, nur diesmal mit (1 − p1 )(1 − p2 )2 , p1 p22 f¨ uhren zu
P3r
⎧ ⎪ ⎪ 1, ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ = 3r ⎪ (1 − p1 )(1 − p2 )2 ⎪ ⎪ , ⎪ ⎪ ⎪ p1 p22 ⎪ ⎩
(1 − p1 )(1 − p2 )2 1 p1 p22 (1 − p1 )(1 − p2 )2 1, p (1 − p1 )(1 − p2 )2 = 1, 2˙ > 1, p1 p22 (1 − q1 )(1 − q2 )2 = 0, 776 . . . < 1. q1 q22 Eine Simulation der gespielten Spiele ist in Abb. 11.5 gegeben. Die graphische Darstellung zeigt das durchschnittliche Verm¨ogen bei 1000 Versuchen, wenn jedes der Spiele A, B und C bis zu 100-mal mit den oben gegebenen Wahrscheinlichkeiten gespielt wird.
Abb. 11.5. Parrondos Paradoxon
Was geht hier eigentlich vor sich? Die Auswahl der Wahrscheinlichkeiten k¨ onnte willk¨ urlich erscheinen (und sie ist es auch bis zu einem gewissen Grad), aber wir gewinnen einen weiteren Einblick, wenn wir uns die graphische Darstellung der Funktion (1 − p1 )(1 − p2 )2 =1 p1 p22 ansehen. Betrachten wir in diesem Ausdruck p2 als Funktion von p1 und schreiben wir diese Funktion explizit hin, dann ergibt sich p1 − 1 ± p1 (1 − p1 ) f¨ ur 0 p1 1 p2 = 2p1 − 1
120
11 Parrondospiele
und wegen 0 p2 1 sind wir nur an p2 =
p1 − 1 + p1 (1 − p1 ) 2p1 − 1
interessiert, was nichts anderes als die Kurve von Abb. 11.6 ist. Ihr Verhalten bei p1 = 0, 5 ist durch die Stetigkeit definiert.
Abb. 11.6. Das aufgedeckte Paradoxon
Die Punkte auf und unter der Kurve werden durch Paare (p1 , p2 ) repr¨ asentiert, f¨ ur die das Spiel B verliert. Die auf der diagonalen Halbgeraden p2 = p1 liegenden Punkte repr¨ asentieren Wahlm¨oglichkeiten f¨ ur p im Spiel A. Auf und unter dem Schnittpunkt (1/2, 1/2) verliert Spiel A und u ¨ber ihm gewinnt Spiel A. Wir erinnern uns nun an die Wahrscheinlichkeiten q1 = γp + (1 − γ)p1
und
q2 = γp + (1 − γ)p2
f¨ ur den Gewinn von Spiel C. Schreiben wir diese Gleichungen in der Form p1 q1 p + (1 − γ) =γ p q2 p2 und lassen wir γ variieren, dann sehen wir, daß die Paare (q1 , q2 ) auf der Geraden liegen, die (p, p) mit (p1 , p2 ) verbindet. Das Paradoxon tritt auf, ahlt werden, daß die Linie u wenn die Punkte (p, p) und (p1 , p2 ) so gew¨ ¨ber der Kurve verl¨ auft, da Spiel B f¨ ur diese Werte gewinnt (das heißt, Spiel C gewinnt). Die Konvexit¨ at der Kurve ist die Ursache daf¨ ur, daß das Paradoxon auftritt. Die vom Wort Paradox ausgehenden Pfeile weisen auf die Strecke hin, f¨ ur deren Punkte das Paradoxon auftritt, und auf dieser Strecke ist γ = 0, 5 markiert.
11 Parrondospiele
121
Es sieht vielleicht etwas gek¨ unstelt aus, aber hier haben wir ein Verfahren daf¨ ur, wie man aus zwei Verlustspielen ein Gewinnspiel machen kann. Seit der Pr¨ asentation dieser Idee hat man in der realen Welt viele Beispiele daf¨ ur gefunden, daß die Kombination zweier negativer Eigenschaften zu einer positiven Eigenschaft f¨ uhren kann. Zur Demonstration der vorhandenen Diversit¨at wurde im Jahr 2000 in der New York Times berichtet, daß Dr. Sergei Maslov vom Brookhaven National Laboratory folgendes nachgewiesen hat: W¨ urde ein Investor gleichzeitig Kapital zwischen zwei verlierenden Aktienportfolios verteilen, dann w¨ urde das Kapital nicht sinken, sondern steigen. Brooke Buckley, eine Studentin an der Eastern Kentucky University, f¨ uhrt in ihrer Dissertation die in der Landwirtschaft wohlbekannte Tatsache an, daß sowohl Spatzen als ” auch Insekten das ganze Getreide auffressen k¨onnen. Die Kombination von Spatzen und Insekten f¨ uhrt jedoch zu einer ertragreichen Getreideernte“.
12 Hyperdimensionen Ich erinnere mich an einen Vortrag von John Glenn, dem ersten Amerikaner, der die Erde umkreiste. Als man ihn fragte, was ihm durch den Kopf ging, als er in der Raketenspitze kauerte und auf den Start wartete, antwortete er: Ich dachte daran, daß die Rakete aus ” 20.000 Komponenten besteht und jede einzelne dieser Komponenten von einem Billigstbieter hergestellt wurde“. Martin Rees
Einige der dimensionsabh¨ angigen Ph¨ anomene scheinen einleuchtend zu sein. Man betrachte zum Beispiel den Begriff random walk . In einer Dimension bedeutet das, daß wir im Ursprung starten und uns mit der gleichen Wahrscheinlichkeit nach links oder nach rechts bewegen; in zwei Dimensionen haben wir vier gleich wahrscheinliche Richtungen, in die wir gehen k¨onnen; in beiden F¨ allen kann man zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, schließlich wieder zum Ursprung zur¨ uckzukehren, gleich 1 ist; theoretisch k¨onnen wir also nicht verloren gehen. Steigt die Anzahl der Dimensionen, dann k¨onnten wir berechtigterweise denken, daß sich auch die Chancen erh¨ohen, verloren zu gehen und niemals mehr zum Ursprung zur¨ uckzukehren – und so ist es tats¨achlich. In drei Dimensionen betr¨ agt die Wahrscheinlichkeit unserer R¨ uckkehr nur ungef¨ ahr 0, 34 und in n Dimensionen liegt diese Wahrscheinlichkeit f¨ ur großes n bei ungef¨ ahr 1/2n. Man muß aber nicht weit in Hyperdimensionen vordringen, um festzustellen, daß unsere Intuition in die Irre gef¨ uhrt wird.
Ein merkwu anomen ¨ rdiges Ph¨ Abb. 12.1 zeigt ein 4 × 4 Quadrat, in das vier sich ber¨ uhrende Kreise eingebettet sind, von denen jeder den Radius 1 hat. Auf der √ √ Abbildung ist auch ein kleinerer f¨ unfter Kreis mit Radius 12 + 12 − 1 = 2 − 1 zu sehen, der in den Mittelpunkt des Quadrates so einschrieben ist, daß er alle vier Kreise ber¨ uhrt. Hierbei ist nichts u ¨berraschendes festzustellen. Abb. 12.2 zeigt die ¨ aquivalente Situation in drei Dimensionen. In einen W¨ urfel der Seitenl¨ ange 4 sind acht sich ber¨ uhrende Kugeln eingebettet, von denen jede den Radius 1 hat, und wiederum ist Platz f¨ ur eine zus¨atzliche kleinere Kugel vorhanden, die alle acht Kugeln ber¨ u hrt; der Radius der kleinen √ √ Kugel ist 12 + 12 + 12 − 1 = 3 − 1. Auch das ist offensichtlich.
124
12 Hyperdimensionen
Abb. 12.1. Sich ber¨ uhrende Kreise
Abb. 12.2. Sich ber¨ uhrende Kugeln
Ebenso offensichtlich ist, daß in beiden F¨ allen der mittlere Kreis bzw. die mittlere Kugel in dem umgebenden Quadrat bzw. in dem umgebenden W¨ urfel enthalten sind. Angenommen nun, wir bewegen uns von zwei u ¨ber drei nach n Dimensionen und betrachten einen n-dimensionalen Hyperw¨ urfel, in den Hyperkugeln eingebettet sind. Die Definitionen dieser Objekte sind einleuchtend. Ein n-dimensionaler Hyperw¨ urfel mit Seitenl¨ange L (und einer Ecke im , x2 , x3 , . . . , xn } mit Koordinatenursprung) ist die Menge aller n-Tupel {x 1N −n 2 in den N ( n)xr ∈ {0, L}: die Figur hat 2n Ecken (von denen wir N n dimensionalen Raum einbetten k¨ onnen). Eine n-dimensionale Hyperkugel mit dem Radius R ist die Menge aller ur die x21 + x22 + x23 + · · · + x2n R2 . n-Tupel {x1 , x2 , x3 , . . . , xn }, f¨ Im Moment sind wir am Fall L = 4 interessiert, und wenn wir mit Hilfe des verallgemeinerten Satzes des Pythagoras die nat¨ urliche Berechnung f¨ ur den
12 Hyperdimensionen
125
Radius der kleinen einbeschriebenen Hyperkugel durchf¨ uhren, dann erhalten wir √ r = 12 + 12 + 12 + · · · + 12 −1 = n − 1. n-mal
Setzen wir n = 2 oder 3, dann ergeben sich die vorhergehenden Ergebnisse; man beachte aber, daß der Abstand zwischen dem Mittelpunkt des Hyperw¨ urfels und einer beliebigen seiner Seiten immer genau 2 Einheiten betr¨agt. Wir betrachten nun die Situation √ im Fall n = 9; der Radius der inneren, ber¨ uhrenden Hyperkugel ist r = 9 − 1 = 2. Das bedeutet, daß der Radius die Seiten des Hyperw¨ urfels ber¨ uhrt und f¨ ur n > 9 nach außen tritt! Mit Hilfe des Satzes von Pythagoras erhalten wir bei einem n-dimensionalen Hyperw¨ urfel mit Seite m, daß die L¨ ange der Raumdiagonale“ ” √ 2 2 r = m + m + · · · + m2 = m n n-mal
betr¨ agt. M¨ ochten wir also ange L im Hyperw¨ urfel unter√ einen Stock der L¨ bringen, dann m¨ ußte m n = L gelten. Das bedeutet, daß bei zunehmender Dimension die Seite des Hyperw¨ urfels, der den besagten Stock enthalten soll, kleiner wird. Zum Beispiel k¨ onnte ein Hyperw¨ urfel der Dimension 100 mit einer Seitenl¨ ange von 1 Meter einen 10 Meter langen Stock enthalten; ein onnte einen Stock enthalten, der die Hyperw¨ urfel der Dimension 2, 25 × 106 k¨ L¨ ange einer metrischen Meile (1500 Meter) hat. Die Extrapolation von dem, was aus unserer dreidimensionalen Perspektive offensichtlich ist, zu dem, was im Hyperraum beunruhigend, aber logisch richtig ist, bildet das Thema des vorliegenden Kapitels und ist auch der Gegenstand eines ber¨ uhmten mathematischen M¨ archens.
Die literarische Dimension Das kleine Sechseck dachte ein Weilchen dar¨ uber nach und sagte dann zu mir: Aber du hast mich doch auch gelehrt, Zahlen in die dritte Potenz zu ” erheben; ich denke, 33 wird auch etwas in der Geometrie bedeuten; aber was bedeutet es?“ ¨ Uberhaupt nichts,“ sagte ich, wenigstens nicht in der Geometrie, ” ” denn die Geometrie hat nur zwei Dimensionen.“ Und dann zeigte ich dem Jungen, wie ein Punkt, den man 3 cm weiter bewegt, eine Linie von drei cm beschreibt, die dargestellt werden kann durch die Zahl 3, und wie eine Linie von drei cm, wenn man sie parallel zu sich selbst drei cm weiterbewegt, ein Quadrat von 3 cm Seitenl¨ ange beschreibt, welches dann dargestellt werden kann durch 32 . Mein Enkel aber ließ nicht locker und brachte mich ganz aus der Fassung, da er rief:
126
12 Hyperdimensionen
Na, wenn ein Punkt dadurch, daß er sich drei cm weiterbewegt, ei” ne Linie von drei cm beschreibt, die durch die 3 dargestellt werden kann; und wenn eine gerade Linie von drei cm dadurch, daß sie sich parallel zu sich selbst bewegt, ein Quadrat von drei cm Seitenl¨ange beschreibt, dargestellt durch 32 , dann muß ein Quadrat von drei cm Seitenl¨ ange dadurch, daß es sich irgendwie parallel zu sich selbst bewegt (ich weiß aber nicht wie), irgendetwas von 3 cm (ich weiß aber nicht was) beschreiben, – und dies muß dargestellt werden durch 33 .“ Der Dialog ist einem Gespr¨ ach entnommen, welches das Quadrat, die Hauptfigur in Edwin A. Abbotts 1884 erschienenem mathematischen M¨archen Flatland 1 (http://www.gutenberg.org/dirs/etext94/flat11.txt), mit seinem talentierten Enkelsohn, dem kleinen regelm¨ aßigen Sechseck, gef¨ uhrt hat. In einem Traum ist das Quadrat als Bewohner einer zweidimensionalen Welt bereits daran gescheitert, Fl¨ achenland dem Monarchen des eindimensionalen Linienlands zu erkl¨ aren. Nun war das Quadrat von seinem Enkelsohn aufgefordert worden, die dritte Dimension zu erkl¨ aren, die sich der Sinneswelt der fl¨ achenl¨ andischen Gesellschaft entzieht. Wenig sp¨ater erschien ein Alien aus Raumland zun¨ achst als Punkt, wurde dann zu einem kleinen Kreis, der auf stetige Weise zu einem Großkreis mutierte, danach wieder zu einem Punkt schrumpfte und gleichzeitig verschwand. F¨ ur die zweidimensionalen Flach” landtiroler“ war es unbegreiflich, daß es sich bei dem Alien um eine dreidimensionale Kugel handelte, die Fl¨ achenland durchquert“ hatte. ” Unsere obigen Beispiele zeigen einen einfachen Fall, in dem unsere rauml¨ andische Wahrnehmung in die Irre f¨ uhrt. Im folgenden Teil des Kapitels konzentrieren wir uns auf einige weitere Hyperdimensionsergebnisse, die zumindest exotisch sind.
Volumen in diskreten Hyperdimensionen Das Volumen eines Hyperw¨ urfels der Seitenl¨ ange L l¨aßt sich sehr einfach berechnen: Cn (L) = Ln . Insbesondere haben wir ⎧ ⎪ ⎨→ ∞, L > 1, Cn (L) = 1, L = 1, ⎪ n→∞ ⎩ → 0, L < 1. Wir nehmen nun das bedeutend schwierigere Problem in Angriff, das Volumen Vn (X) einer n-dimensionalen Hyperkugel vom Radius X zu finden. Wichtig f¨ ur uns ist der Zusammenhang Vn (X) = X n Vn (1), der mit dem Volumen der n-dimensionalen Hyperkugel vom Radius 1 besteht. Man kann ¨ sich n¨ amlich den Ubergang von einer Hyperkugel vom Radius 1 zu einer Hyperkugel vom Radius X so denken, daß in jeder Dimension eine gleichm¨aßige 1
Edwin A. Abbott Fl¨ achenland, Franzbecker, Bad Salzdetfurth (1990).
12 Hyperdimensionen
127
¨ ¨ Anderung der Einheiten erfolgt. Die Regeln der Ahnlichkeit diktieren, daß ¨ sich das Volumen um das Produkt dieser Anderungen ¨andert. Freilich k¨ onnten wir das Volumen Vn (X) auch mit Hilfe der n-fachen Mehrfachintegrale bestimmen, aber klugerweise sollte man diesen esoterischen Weg vermeiden. Stattdessen verallgemeinern wir das Cavalierische Prinzip (Kapitel 8) vom Volumen einer Kugel auf das Volumen unserer Hyperkugel. Das Prinzip besagt, daß man zum Auffinden des Volumens eines K¨orpers eine beliebige, durch den K¨ orper verlaufende (x) Achse betrachtet und die Fl¨ achen der Querschnitte A(x) senkrecht zu dieser Achse u ¨ber den K¨orper addiert (vgl. Abb. 12.3).
Abb. 12.3. Auffinden des Volumens mit Hilfe des Cavalierischen Prinzips
x Symbolisch ausgedr¨ uckt ist das Volumen x12 A(x) dx. Wir wenden das nun auf unsere dreidimensionale Kugel mit Mittelpunkt im Koordinatenursprung an und betrachten die x-Achse als gew¨ ahlte Achse.
Abb. 12.4. Ein Querschnitt einer dreidimensionalen Kugel
Abb. 12.4 zeigt eine Schnittansicht der Kugel mit dem kreisf¨ormigen Querschnitt A(x) mit Durchmesser AB in einem Abstand x = R cos θ vom Kugel-
128
12 Hyperdimensionen
mittelpunkt. Wir haben dann
x2
V3 (R) =
A(x) dx, x1
wobei A(x) = V2 (R sin θ) = (R sin θ)2 V2 (1). Wegen x = R cos θ gilt dx/dθ = −R sin θ und wir k¨onnen θ f¨ ur x in das Integral einsetzen. Das liefert V3 (R) =
R
−R
(R sin θ)2 V2 (1) dx
0
(R sin θ)2 V2 (1) × −R sin θ dθ
= π
π
sin3 θ dθ
= R3 V2 (1) 0
und das Problem ist damit auf die Berechnung eines Standardintegrals zur¨ uckgef¨ uhrt. Die Auswertung des Integrals ergibt π 3 sin θ sin2 θ dθ V3 (R) = R V2 (1)
0
0
π
sin θ(1 − cos2 θ) dθ
= R3 V2 (1) π
sin θ − sin θ cos2 θ dθ
= R3 V2 (1) 0
= R3 V2 (1)[− cos θ +
1 3
cos3 θ]π0
= R3 V2 (1)( 23 + 23 ) = 43 R3 V2 (1) = 43 πR3 unter Beachtung von V2 (1) = π × 12 = π. Nachdem wir nun ein tr¨ ostlich vertrautes Ergebnis bewiesen haben, stellen wir als n¨ achstes eine allgemeine Formel f¨ ur das Volumen Vn (R) der ndimensionalen Hyperkugel auf, wobei wir beachten, daß A(x) das Volumen einer (n − 1)-dimensionalen Hyperkugel ist. ¨ Ahnlich wie oben erhalten wir
12 Hyperdimensionen
129
x2
Vn (R) =
Vn−1 (x) dx x1 R
= −R 0
Vn−1 (x) dx
Vn−1 (R sin θ) × −R sin θ dθ
= π 0
(R sin θ)n−1 Vn−1 (1) × −R sin θ dθ π = Vn−1 (1)Rn sinn θ dθ.
=
π
0
Somit gilt
π
sinn θ dθ
Vn (R) = Rn Vn (1) = Vn−1 (1)Rn 0
und wir schlußfolgern, daß
π
sinn θ dθ = Vn−1 (1)In .
Vn (1) = Vn−1 (1) 0
Wir haben eine Rekursionsformel f¨ ur Vn (1), in die ebenfalls das Integral In eingeht. Zwecks Ableitung einer expliziten Formel suchen wir zun¨achst eine explizite Formel f¨ ur In und verwenden diese zur Berechnung von Vn (1). Zuerst nehmen wir uns also die In vor und stellen durch partielle Integration eine Reduktionsformel auf: π π n sin θ dθ = sin θ × sinn−1 θ dθ In = 0 0 π n−1 π = [− cos θ × sin θ]0 + (n − 1) cos2 θ × sinn−2 θ dθ 0 π 2 n−2 = (n − 1) (1 − sin θ) × sin θ dθ 0 π = (n − 1) sinn−2 θ − sinn θ dθ 0
= (n − 1)In−2 − (n − 1)In . Das bedeutet, daß In = ((n − 1)/n)In−2 gilt, und diese Beziehung k¨onnen wir – in Abh¨ angigkeit davon, ob n gerade oder ungerade ist – zur Aufstellung einer expliziten Formel f¨ ur In verwenden. F¨ ur gerades n haben wir:
130
12 Hyperdimensionen
In = = = = =
n−1 n−1n−3 In−2 = In−4 n n n−2 n−1n−3n−5 In−6 n n−2n−4 31 n−1n−3n−5 ··· I0 n n−2n−4 42 31 π n−1n−3n−5 ··· 1 dθ n n−2n−4 42 0 n−1n−3n−5 31 ··· π. n n−2n−4 42
F¨ ur ungerades n gilt: In = = = = =
n−1 n−1n−3 In−2 = In−4 n n n−2 n−1n−3n−5 In−6 n n−2n−4 42 n−1n−3n−5 ··· I1 n n−2n−4 53 42 π n−1n−3n−5 ··· sin θ dθ n n−2n−4 53 0 n−1n−3n−5 42 ··· 2. n n−2n−4 53
Nun verwenden wir diese Ergebnisse, um zwischen In und In−1 eine Beziehung abzuleiten, die unabh¨ angig von der Parit¨ at von n ist. Ist n gerade, dann muß n − 1 ungerade sein, und mit Hilfe der entsprechenden Formel erhalten wir 31 n−1n−3n−5 ··· π n n−2n−4 42 42 n−2n−4n−6 ··· 2 × n−1n−3n−5 53 2π . = n
In In−1 =
Ist n ungerade, dann muß n − 1 gerade sein, und wieder liefert die entsprechende Formel 42 n−1n−3n−5 ··· 2 n n−2n−4 53 31 n−2n−4n−6 ··· π × n−1n−3n−5 42 2π . = n
In In−1 =
Unabh¨ angig von der Parit¨ at von n gilt demnach In In−1 = 2π/n.
12 Hyperdimensionen
131
Wir erinnern uns nun an die Beziehung Vn (1) = Vn−1 (1)In . Wenden wir die Formel einmal auf sich selbst an, dann ergibt sich Vn (1) = Vn−1 (1)In = (Vn−2 (1)In−1 )In = Vn−2 (1)(In−1 In ). Nun k¨ onnen wir folgendes Ergebnis formulieren: Vn (1) = Vn−2 (1)(In−1 In ) =
2π Vn−2 (1). n
Wir haben eine einfache Reduktionsformel f¨ ur die Vn (1) und k¨onnen diese aufdr¨ oseln“. In Abh¨ angigkeit davon, ob n gerade oder ungerade ist, erhalten ” wir die Antwort ⎧ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎪ ··· 1, n gerade, ⎨ n n−2n−4 2 Vn (1) = ⎪ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎩ ··· 2, n ungerade. n n−2n−4 3 Das bedeutet nat¨ urlich, daß ⎧ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎪ ⎨ n n − 2 n − 4 · · · 2 1, n gerade, Vn (R) = Rn ⎪ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎩ ··· 2, n ungerade. n n−2n−4 3 Tabelle 12.1 listet die Volumen f¨ ur kleine Werte von n auf. Wir sehen, 8 2 daß das Volumen der Einheitshyperkugel bei n = 5 seinen Maximalwert 15 π erreicht. Abb. 12.5 ist eine graphische Darstellung von Vn (1) als Funktion von n. Diese Abbildung deutet an, daß das Volumen der Einheitshyperkugel abnimmt, wenn n u ¨ber den Wert 5 hinaus zunimmt – eine scheinbar sehr merkw¨ urdige Sache. Tabelle 12.1. Volumen von Hyperkugeln n Vn (R) 2 πR2 4 3 3 πR3 4 5 6 7 8
Vn (1) π = 3, 141 59 . . . 4 π = 4, 188 79 . . . 3
1 2 1 2 4 π R π 2 2 8 2 8 2 5 π R π 15 15 1 3 1 3 6 π R π 6 6 16 3 7 16 3 π R π 105 105 1 4 1 4 8 π R 24 π 24
= 4, 934 8 . . . = 5, 263 7 . . . = 5, 167 71 . . . = 4, 724 76 . . . = 4, 058 71 . . .
132
12 Hyperdimensionen
Abb. 12.5. Volumen der Einheitshyperkugel im Vergleich zu ganzzahligen Dimensionen
Volumen in stetigen Hyperdimensionen Die in Abb. 12.5 dargestellten Punkte weisen ein derart regelm¨aßiges Muster auf, daß sich der Wunsch aufdr¨ angt, diese Punkte durch eine stetige Kurve miteinander zu verbinden. Diese Vorgehensweise w¨ urde uns aber dazu zwingen, nicht nur ganzzahlige Hyperdimensionen, sondern auch nichtganzzahlige Hyperdimensionen zuzulassen. Zur Formulierung dieses Begriffes m¨ ussen wir die Formeln f¨ ur Vn (1) folgendermaßen umschreiben: ⎧ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎪ ⎨ n n − 2 n − 4 · · · 2 1, n gerade, Vn (1) = ⎪ 2π 2π 2π 2π ⎪ ⎩ ··· 2, n ungerade, n n−2n−4 3 ⎧ π π π π ⎪ ⎪ ⎨ 1 n 1 n − 1 1 n − 2 · · · 1 1, n gerade, 2 2 2 = π π π π ⎪ ⎪ · · · 3 2, n ungerade. ⎩1 1 1 n n − 1 n − 2 2 2 2 2 Ist n gerade, dann l¨ aßt sich die Formel mit Hilfe der Fakult¨atsschreibweise folgendermaßen schreiben: π n/2 . Vn (1) = 1 ( 2 n)! Ist n ungerade, dann ist der Wert ( 12 n)! nicht definiert, aber seine Verallgemeinerung – die Gammafunktion Γ(x) – ist definiert. Die etwas seltsame Definition dieser Funktion ist ∞ tx−1 e−t dt, Γ(x) = 0
die f¨ ur x > 0 definiert ist und die beiden folgenden Eigenschaften besitzt:
12 Hyperdimensionen
∞
Γ(1) =
133
e−t dt = [−e−t ]∞ 0 =1
0
und
∞
Γ(x + 1) =
tx e−t dt = [−tx e−t ]∞ 0 +x
0
∞
tx−1 e−t dt = xΓ(x).
0
Zusammen charakterisieren sie die Fakult¨ atsfunktion, denn f¨ ur eine positive ganze Zahl n gilt Γ(n) = (n − 1)Γ(n − 1) = (n − 1)(n − 2)Γ(n − 2) = (n − 1)(n − 2)(n − 3)Γ(n − 3) = (n − 1)(n − 2)(n − 3) · · · Γ(1) = (n − 1)!. Somit ist diese sonderbare Funktion tats¨ achlich eine Verallgemeinerung der Fakult¨ atsfunktion (die nur f¨ ur positive ganze Zahlen definiert ist) auf alle x > 0. In der Tat l¨ aßt sich die obige Beziehung durch Γ(x) =
1 Γ(x + 1) x
ausdr¨ ucken und diese Form kann dazu verwendet werden, den Fakult¨atsbegriff auf alle Zahlen – mit Ausnahme der negativen Zahlen – zu verallgemeinern. Ebenso einfach ist es, die Definition auf die komplexen Zahlen zu verallgemeinern, aber mit diesen aufregenden Dingen werden wir uns hier nicht befassen. Insbesondere sei Folgendes bemerkt. Akzeptieren wir das Standardresult √ ∞ π −u2 , e du = 2 0
dann haben wir Γ( 12 )
∞
=
t−1/2 e−t dt
0
und unter Verwendung der Substitution t = u2 ergeben sich dt/du = 2u und ∞ ∞ ∞ 2 2 t−1/2 e−t dt = u−1 e−u 2u du = 2 e−u du, 0
0
0
√ π √ = π. 2 F¨ ur gerades n l¨ aßt sich dann Vn (1) erneut anders ausdr¨ ucken, diesmal in der Form π n/2 π n/2 Vn (1) = 1 = . 1 ( 2 n)! Γ( 2 n + 1) und das bedeutet
Γ( 12 ) = 2
Das wirklich Sch¨ one ist, daß diese Schreibweise die beiden Formeln vereinheitlicht, und man kann m¨ uhelos nachpr¨ ufen, daß die mit Hilfe der Gammafunktion ausgedr¨ uckte Formelschreibweise nicht von der Parit¨at von n abh¨angt.
134
12 Hyperdimensionen
Zum Beispiel gilt V5 (1) = =
π 5/2 π 5/2 = 5 5 = 5 Γ( 2 + 1) 2 Γ( 2 ) π 5/2 = 53 1 2 2 Γ( 2 + 1)
π 5/2 = + 1)
5 3 2 Γ( 2
π 5/2 531 1 = 2 2 2 Γ( 2 )
π 5/2 5 3 1√ 222
π
π 5/2 53 3 2 2 Γ( 2 )
=
8 2 π . 15
Abb. 12.6 ist die graphische Darstellung der stetigen Form von Abb. 12.5, diesmal f¨ ur n bis einschließlich 20. Die Abbildung zeigt etwas deutlicher, daß das Maximum ein klein wenig rechts von n = 5 liegt. Mit Hilfe der Infinitesimalrechnung sollten wir die Koordinaten dieses Punktes unter der Voraussetzung finden, daß wir die Komponenten von Vn (1) =
π n/2 Γ( 12 n + 1)
nach der stetigen Variablen n differenzieren k¨ onnen.
Abb. 12.6. Volumen der Einheitshyperkugel im Vergleich zu stetigen Dimensionen
Der Z¨ ahler des Bruches l¨ aßt sich mit Hilfe der Beziehung ab = eb ln a m¨ uhelos erledigen, so daß die Formel die Gestalt Vn (1) =
π n/2 e(n/2) ln π = + 1) Γ( 12 n + 1)
Γ( 12 n
annimmt. Der Nenner stellt uns vor die Aufgabe, die Gammafunktion zu differenzieren. Wir brauchen uns die diesbez¨ uglichen Implikationen nicht n¨aher anzusehen und schreiben die Ableitung nur in der u ¨blichen Form als Γ (x). Was wir wirklich ben¨ otigen, ist die noch etwas exotischere Digammafunktion Ψ(x), die durch Γ (x) d ln Γ(x) = Ψ(x) = dx Γ(x)
12 Hyperdimensionen
135
definiert ist. Dar¨ uber hinaus brauchen wir eine leistungsstarke mathematische Software zur Berechnung der Funktion. Mit Hilfe der Kettenregel und der Quotientenregel erh¨alt man Γ( 12 n + 1) 12 ln πe(n/2) ln π − e(n/2) ln π 12 Γ ( 12 n + 1) dVn (1) = dn [Γ( 12 n + 1)]2 =
Γ( 12 n + 1) 12 ln ππ n/2 − π n/2 21 Γ ( 12 n + 1) . [Γ( 12 n + 1)]2
Die Forderung dVn (1)/dn = 0 bedeutet, daß Γ( 12 n + 1) 12 ln ππ n/2 − π n/2 21 Γ ( 12 n + 1) = 0 und somit haben wir ln π −
Γ ( 12 n + 1) = 0 und Γ( 12 n + 1)
Ψ( 12 n + 1) = ln π.
Abb. 12.7 zeigt die graphische Darstellung der Digammafunktion und der horizontalen Geraden ln π. Um 12 n + 1 und somit auch n zu finden, ben¨otigen wir einen Computer, der n = 5, 256 946 4 . . . liefert – das ist die Dimension, bei der die Einheitshyperkugel ihr maximales Volumen erreicht. R¨ ucksubstitution dieses Wertes in die Formel ergibt f¨ ur das Maximalvolumen den Wert 5, 277 768 . . . .
Abb. 12.7. Die Digammafunktion
Eine Hyperkugel vom Radius 1 erreicht demnach ihr Maximalvolumen im 5, 256 946 4 . . . -dimensionalen Raum. Wie muß der Radius der Kugel beschaffen sein, damit sie ihr maximales Volumen exakt im f¨ unfdimensionalen Raum erreicht bzw. wie groß muß der Radius der Kugel sein, damit diese ihr Maximalvolumen in irgendeinem anderen Raum von ganzzahliger Dimension erreicht? Zur Beantwortung dieser Fragen m¨ ussen wir den allgemeinen Ausdruck f¨ ur Vn (R) betrachten und diesen nach n differenzieren, so wie wir es oben getan hatten. Die nahezu identischen Rechnungen sind
136
12 Hyperdimensionen 2
π n/2 (πR2 )n/2 e(n/2) ln(πR ) n Vn (R) = = R = , Γ( 12 n + 1) Γ( 12 n + 1) Γ( 12 n + 1) Γ( 12 n + 1) 12 ln(πR2 )e(n/2) ln(πR dVn (R) = dn [Γ( 12 n + 1)]2
2
)
e(n/2) ln(πR ) 12 Γ ( 12 n + 1) − [Γ( 12 n + 1)]2 2
=
Γ( 12 n + 1) 12 ln(πR2 )(πR2 )n/2 [Γ( 12 n + 1)]2 −
(πR2 )n/2 21 Γ ( 12 n + 1) , [Γ( 12 n + 1)]2
und dVn (R)/dn = 0 erfordert, daß Γ( 12 n + 1) 12 ln(πR2 )(πR2 )n/2 − (πR2 )n/2 21 Γ ( 12 n + 1) = 0 und somit
Γ( 12 n + 1) ln(πR2 ) − Γ ( 12 n + 1) = 0
und ln(πR2 ) −
Γ ( 12 n + 1) = 0. Γ( 12 n + 1)
Wir haben die allgemeine Bedingung Ψ( 12 n + 1) = ln(πR2 ). Tabelle 12.2 zeigt die Werte von R, f¨ ur die eine Hyperkugel vom Radius R ihr Maximalvolumen in niedrigdimensionalen R¨aumen von ganzzahliger Dimension erreicht. Das heißt, eine Hyperkugel vom Radius 0, 696 998 . . . erreicht ihr Maximalvolumen in zwei Dimensionen, eine Hyperkugel vom Radius 0, 801 888 . . . erreicht ihr Maximalvolumen in drei Dimensionen usw.
Summen von Volumen Die transzendente Gelfond-Konstante eπ tritt auf nat¨ urliche Weise in Erscheinung, wenn wir das Volumen von Einheitshyperkugeln ein bißchen gr¨ undlicher untersuchen und uns (unter Vernachl¨ assigung der Maßeinheiten) mit dem Gesamtvolumen einer unendlichen Folge dieser Kugeln befassen. Wegen Vn (1) =
π n/2 → 0 f¨ ur n → ∞ Γ( 12 n + 1)
12 Hyperdimensionen
137
Tabelle 12.2. Radius f¨ ur Maximalvolumen n 2 3 4 5 6 7 8 9 10
R 0, 696 998 . . . 0, 801 888 . . . 0, 894 963 . . . 0, 979 428 . . . 1, 057 27 . . . 1, 129 83 . . . 1, 198 05 . . . 1, 262 61 . . . 1, 324 05 . . .
∞ besteht zumindest eine Chance, daß n=1 Vn (1) einen Grenzwert hat, und wenn wir die endliche Summe f¨ ur eine große Anzahl von Gliedern berechnen, dann scheint unser Optimismus wohlbegr¨ undet, daß diese Summe gleich 44, 999 326 089 382 855 366 . . . ist. Zur Bestimmung einer geschlossenen Form m¨ ussen wir gerade und ungerade Dimensionen wieder gesondert betrachten. Wir erinnern uns, daß wir f¨ ur gerades n (n = 2, 4, 6, . . . ) auch Vn (1) = onnen, und falls n = 2m, dann haben wir V2m (1) = π n/2 /( 12 n)! schreiben k¨ ur m = 1, 2, 3, . . . . Das bedeutet, daß π m /m! f¨
Vn (1) =
n gerade
∞
V2m (1) =
m=1
∞
πm = eπ − 1 m! m=1
und damit tritt die Gelfond-Konstante wie versprochen auf. Die Dinge sind weitaus komplizierter, falls n ungerade ist. Nun haben ur n = 1, 3, 5, . . . , und falls n = 2m − 1, dann wir Vn (1) = π n/2 /Γ( 12 n + 1) f¨ ergibt sich V2m−1 (1) = π m−1/2 /Γ(m + 12 ) f¨ ur m = 1, 2, 3, . . . . Die Summe der Volumen betr¨ agt jetzt
n ungerade
Vn (1) =
∞
m=1
V2m−1 (1) =
∞
π m−1/2 , Γ(m + 12 ) m=1
und dieser Ausdruck ist eine gr¨ oßere Herausforderung. Tats¨ achlich k¨ onnen wir die Gammafunktion aus diesem Ausdruck eliminieren, wenn wir ein Resultat verwenden, das die Gammafunktion mit einer anderen exotischen Funktion verkn¨ upft, n¨ amlich mit der Doppelfakult¨at N !!, die folgendermaßen definiert ist: ⎧ ⎪ ⎨N (N − 2) · · · 5 × 3 × 1, N (> 0) ungerade, N !! = N (N − 2) · · · 6 × 4 × 2, N (> 0) gerade, ⎪ ⎩ 1, N = −1, 0.
138
12 Hyperdimensionen
Mit Hilfe der Standardeigenschaften der Gammafunktion ist es nicht allzu √ schwer, die Gleichheit Γ(m + 12 ) = ((2m − 1)!!/2m ) π nachzuweisen und diese liefert
Vn (1) =
n ungerade
∞
π m−1/2 Γ(m + 12 ) m=1 ∞
=
π m−1/2 √ {((2m − 1)!!/2m ) π} m=1
=
∞
2m π m−1 . (2m − 1)!! m=1
Noch einfacher ist es, (2m − 1)!! = (2m)!/(2m m!) zu zeigen, und das ergibt
Vn (1) =
n ungerade
∞
2m π m−1 (2m − 1)!! m=1 ∞
=
2m π m−1 {(2m)!/(2m m!)} m=1
=
∞
22m π m−1 m! . (2m)! m=1
Zwar haben wir nun die Summe durch elementarere Terme ausgedr¨ uckt, aber es ist u ur ungerades ¨berhaupt noch nicht offensichtlich, ob diese Reihe f¨ n eine geschlossene Form besitzt, so wie es bei der viel einfacheren Reihe f¨ ur gerades n der Fall war. Beginnen wir damit, die Reihe explizit auszuschreiben, dann erhalten wir 2 + 43 π +
8 2 15 π
+
16 3 105 π
+
52 4 945 π
+ ···
und die Koeffizienten sehen nicht besonders vielversprechend aus; ein Blick in eines der u ucher hilft auch nicht weiter. ¨blichen mathematischen Handb¨ Tats¨ achlich hat die Reihe jedoch eine geschlossene Form, und um diese herauszubekommen, wenden wir eine gebr¨ auchliche mathematische Technik an: ur wir formulieren eine optimistische Vermutung. Da eπ in dem Ausdruck f¨ gerades n auftritt, k¨ onnte das auch hier der Fall sein, und wenn es so ist, dann w¨ are ∞
22m π m−1 m! = eπ S(π) (2m)! m=1 die vern¨ unftigste“ Form, wobei S(π) eine unendliche Reihe in π ist. Zum ” Auffinden der Form, die diese Reihe haben muß, m¨ ussen wir den Ausdruck erneut aufschreiben, beide Seiten entwickeln und die Koeffizienten vergleichen:
12 Hyperdimensionen
2 + 43 π +
8 2 15 π
+
16 3 105 π
+
= (1 + π
52 4 945 π + 12 π 2
139
+ ··· + 16 π 3 +
1 4 24 π
+ ···)
× (a0 + a1 π + a2 π 2 + a3 π 3 + a4 π 4 + · · · ). Das f¨ uhrt zu der Koeffizientenfolge a0 = 1, a1 = − 23 , a2 = 1 , . . . und unsere neue Reihe ist a4 = 108 S(π) = 2 − 23 π + 15 π 2 −
1 3 21 π
+
4 1 108 π
1 5,
1 a3 = − 21 ,
+ ··· .
Auch diese Koeffizienten versprechen wenig, aber ein zweiter Blick in unser mathematisches Handbuch offenbart“ die Fehlerfunktion Erf(x) mit ihrer ” Reihendarstellung 1 Erf(x) = √ (2x − 23 x3 + 15 x5 − π Die Funktion ist definiert durch 2 Erf(x) = √ π
x
1 7 21 x
+
9 1 108 x
− · · · ).
e−t dt 2
0
und kommt aus der Theorie der Normalverteilung in der Statistik. Entwick2 lung von e−t und gliedweise Integration f¨ uhren zu der Reihendarstellung. Die √ Berechnung bei x = π ergibt exakt √ Erf( π) √ 3 √ 5 √ 7 √ 9 1 √ 1 1 = √ (2 π − 23 π + 15 π − 21 π + 108 π − ···) π 1 3 1 = (2 − 23 π + 15 π 2 − 21 π + 108 π 4 − · · · ). √ Unser S(π) ist Erf( π) und deswegen haben wir
Vn (1) =
n ungerade
Das wiederum liefert
n
∞
√ 22m π m−1 m! = eπ Erf( π). (2m)! m=1
Vn (1) =
eπ − 1, √ eπ Erf( π),
n gerade, n ungerade.
F¨ ur das Gesamtvolumen ergibt sich schließlich
√ √ Vn (1) = (eπ − 1) + eπ Erf( π) = eπ (1 + Erf( π)) − 1. n
Nat¨ urlich haben wir keinen strengen Beweis gegeben, aber aufgrund unserer Ausf¨ uhrungen ist das Ganze zumindest plausibel und die Berechnung des
140
12 Hyperdimensionen
exakten Ausdrucks 44, 999 326 089 382 855 366 . . . st¨arkt unser Vertrauen weiter. Tats¨ achlich ist nicht allzu viel zus¨ atzliche Analysis erforderlich, um einen exakten Beweis zu geben. Abb. 12.8 ist eine stetige Darstellung der kumulativen Summe. Aus der Abbildung ist ersichtlich, daß die Konvergenz mit dem zwanzigsten Glied beinahe erreicht ist.
Abb. 12.8. Kumulative Volumen der Einheitshyperw¨ urfel
Ober߬ achen in Hyperdimensionen Die Ober߬ ache An (R) der Hyperkugel mit dem Volumen Vn (R) =
π n/2 Rn Γ( 12 n + 1)
ist einfach die Ableitung des Ausdrucks nach R. Somit haben wir An (R) =
nπ n/2 Rn−1 = Γ( 12 n + 1)
nπ n/2
R 1 1 2 n Γ( 2 n)
n−1
=
2π n/2 n−1 . R Γ( 12 n)
Insbesondere gilt An (1) =
2π n/2 . Γ( 12 n)
Tabelle 12.3 listet die ersten paar Werte der Oberfl¨achen auf und deutet darauf hin, daß bei n = 7 ein Maximum von An (1) liegt. Abb. 12.9 zeigt An (1) als Funktion von einem stetigen n und deutet darauf hin, daß die Oberfl¨ache der Hyperkugel in der N¨ ahe von n = 7 tats¨ achlich ein Maximum hat und mit wachsendem n gegen 0 strebt. Ganz ¨ ahnliche Rechnungen wie oben zeigen, daß ullt. Diese besagt, n f¨ ur ein maximales An (1) die Gleichheit Ψ( 12 n) = ln π erf¨
12 Hyperdimensionen
141
Abb. 12.9. Oberfl¨ ache der Einheitshyperkugel bei stetigen Dimensionen Tabelle 12.3. Oberfl¨ achen von Hyperkugeln n An (R) 2 2πR 3 4πR2 4 2π 2 R3 5
8 2 4 π R 3 3 5
8 2 π 3 3
= 26, 318 94 . . .
16 3 6 16 3 π R 15 π 15 1 4 1 4 7 π R π 3 3
= 33, 073 36 . . .
6 π R 7 8
An (1) 2π = 6, 283 18 . . . 4π = 12, 566 3 . . . 2π 2 = 19, 739 2 . . . π = 31, 006 27 . . . = 32, 469 6 . . .
daß das Maximum bei n = 7, 256 95 . . . erreicht wird und den Wert 33, 1612 . . . annimmt. M¨ ochten wir den Radius R derjenigen Hyperkugel berechnen, die bei jeder ganzzahligen Dimension eine maximale Oberfl¨ache hat, dann k¨onnen wir die Argumente fast genauso, wie wir es in Bezug auf das Volumen getan hatten, auf An (R) anwenden und erhalten die Gleichung Ψ( 12 n) = ln(πR2 ), die Tabelle 12.4 erzeugt. Zusammenfassend gesagt: Die Einheitshyperkugel hat ein Maximalvolumen von 5, 277 768 . . . im 5, 256 946 4 . . . -dimensionalen Raum und eine maximale Oberfl¨ ache von 33, 1612 . . . im 7, 256 95 . . . -dimensionalen Raum. Dar¨ uber hinaus erreicht eine Hyperkugel vom Radius 0, 696 998 . . . ihr Maximalvolumen und eine Hyperkugel vom Radius 0, 422 751 . . . ihre maximale Oberfl¨ ache f¨ ur die Dimension 2; eine Hyperkugel vom Radius 0, 801 888 . . . erreicht ihr Maximalvolumen und eine Hyperkugel vom Radius 0, 574 578 . . . erreicht ihre maximale Oberfl¨ ache f¨ ur die Dimension 3 usw. Mit Hilfe ¨ ahnlicher Techniken wie oben√kann man zeigen, daß die Summe ur geradzahlige Dimensioder Oberfl¨ achen von Hyperkugeln gleich 2 2π eπ f¨
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12 Hyperdimensionen Tabelle 12.4. Radius f¨ ur maximale Oberfl¨ ache n 2 3 4 5 6 7 8 9 10
R 0, 422 751 . . . 0, 574 578 . . . 0, 696 998 . . . 0, 801 888 . . . 0, 894 963 . . . 0, 979 428 . . . 1, 057 27 . . . 1, 129 83 . . . 1, 198 05 . . .
√ nen und gleich 2(1 + πeπ Erf( π)) f¨ ur ungeradzahlige Dimensionen ist, was zusammen den folgenden Wert liefert: √ √ 2 2π eπ + 2(1 + πeπ Erf( π)) = 261, 635 258 772 474 984 53 . . . . Eine a ¨hnliche graphische Darstellung wie die von Abb. 12.8 zeigt erneut, daß die Konvergenz mit dem zwanzigsten Glied fast erreicht ist.
Die Volumenverteilung Ist irgendeines dieser Ergebnisse n¨ utzlich? Eine gute Antwort ist: Wen ” k¨ ummert das schon?“ Es ist aber anzumerken, daß einige der seltsamen Verhaltensweisen von Hyperr¨ aumen Konsequenzen f¨ ur die Sampling-Theorie einer großen Anzahl von Variablen haben und sich auf die vielen mathematischen Ideen auswirken, die von den einschl¨ agigen Techniken abh¨angen. Wir werden hierauf nicht eingehen, weisen aber hiermit auf ein Gebiet hin, das Probleme verursacht. Das Volumen einer n-dimensionalen Hyperkugel vom Radius R ist nat¨ urlich Vn (R) =
π n/2 Rn . Γ( 12 n + 1)
Nun stellen wir die Frage: Wo befindet sich dieses Volumen? Zur Beantwortung dieser Frage stellen wir zun¨ achst die speziellere Frage: Wieviel des Volumens der Hyperkugel befindet sich in einem Abstand von 20% von der Kugeloberfl¨ ache? Die Antwort – als prozentualer Anteil im Vergleich zur n¨achstliegenden ganzen Zahl und f¨ ur variierende Dimensionen – ist in Tabelle 12.5 gegeben und die Zahlen zeigen deutlich, daß sich das Volumen in der N¨ahe der Oberfl¨ache schnell einem Anteil von 100% n¨ ahert.
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Tabelle 12.5. Volumenverteilung in einer Hyperkugel n 2 3 4 5 10 20 30
Volumen 36 49 59 67 89 99 100
Im Allgemeinen l¨ aßt sich der Volumenbetrag, der sich in der N¨ahe der Oberfl¨ ache einer Hyperkugel vom Radius R befindet, durch die Differenz zwischen dem Volumen dieser Hyperkugel und dem Volumen einer Hyperkugel vom Radius R(1 − ε) messen, wobei f¨ ur ε ein kleiner Wert genommen wird (in Tabelle 12.5 ist ε = 0, 2). Ein Vergleich dieser Menge mit dem Gesamtvolumen der Hyperkugel liefert den Bruch Vn (R) − Vn (R(1 − ε)) Vn (R) π n/2 π n/2 n n = R − 1 [R(1 − ε)] Γ( 12 n + 1) Γ( 2 n + 1)
π n/2 Rn Γ( 12 n + 1)
= 1 − (1 − ε)n −−−−→ 1. n→∞
Die Aussage, daß der asymptotische Grenzwert gleich 1 ist, zeigt Folgendes: Welches Volumen auch immer in einer Hyperkugel von hoher Dimension enthalten ist (und es ist nicht viel), es konzentriert sich immer mehr an der Kugeloberfl¨ ache. Da ferner f¨ ur alle R die Beziehung Vn (R) −−−−→ 0 n→∞
gilt, k¨ onnen wir auch folgende Aussage machen: Das Einbeschreiben der Hyperkugel in den n-dimensionalen Hyperw¨ urfel der Seitenl¨ange 2R zeigt, daß sich der gr¨ oßte Volumenanteil des Hyperw¨ urfels in dessen Ecken konzentriert. In unserer Diskussion haben wir uns auf einige kontraintuitive Eigenschaften von Hyperdimensionen konzentriert und wir k¨onnten viele andere Implikationen nennen. Die vollst¨ andige Geschichte ist umfassend genug, um B¨ ucher zu f¨ ullen, was in der Tat auch geschehen ist. Eine wichtige Richtung, die wir dem Leser zur weiteren Lekt¨ ure empfehlen, wird durch den Begriff curse of dimensionality (Fluch der Dimensionalit¨ at) umschrieben, den der amerikanische Mathematiker Richard Bellman 1961 gepr¨ agt hat.
13 Freitag, der 13. Ich glaube sehr an das Gl¨ uck und ich finde, je h¨ arter ich arbeite, desto mehr Gl¨ uck habe ich. Thomas Jefferson
Ein Brief an die Times Der unterste Teil der rechten Spalte der Korrespondenzseite der Londoner Times ist oft f¨ ur ausgefallene oder unterhaltsame Leserzuschriften reserviert und enthielt am Freitag, dem 13. Februar 1970, den folgenden Brief: Sir, Falls, wie einige Ihrer neueren Leserzuschriften nahelegen, Exzentrizit¨ at wirklich eines der Kriterien f¨ ur die Ver¨offentlichung von Briefen in der Times ist, dann w¨ urden Sie mir an diesem doppelt ungl¨ ucklichen Datum, am Freitag, dem 13. Februar, vielleicht gestatten, die abergl¨ aubischen Ihrer Leser daran zu erinnern, daß der 13. Tag eines Monats h¨ aufiger auf einen Freitag als auf irgendeinen anderen Wochentag f¨ allt. Diese auf den ersten Blick unglaubliche Eigenschaft des Kalenders wird beispielhaft durch das jetzige Jahr illustriert, in dem nicht weniger als drei des jeweils 13. Tages eines Monats auf einen Freitag fallen; n¨ amlich im Februar, M¨ arz und November – 25 Prozent; demgegen¨ uber w¨ urde sich der Durchschnittswert auf nur 14 Prozent belaufen. ¨ Sollte dieses Ubermaß zur Besorgnis f¨ uhren und Verzweiflung ausl¨osen, dann mag es vielleicht etwas tr¨ ostlich sein, daß das Gleichgewicht ein klein wenig durch die Tatsache wiederhergestellt wird, daß der erste Tag eines neuen Jahrhunderts niemals auf einen Freitag fallen kann. Und beil¨ aufig sei bemerkt, daß – wenn auch aus unterschiedlichen Gr¨ unden – weder der Himmelfahrtstag noch Fastnacht auf einen Freitag fallen k¨ onnen! Mit freundlichen Gr¨ ußen, Raymond A. Lyttleton St. John’s College, Cambridge.
146
13 Freitag, der 13.
In diesem Kapitel befassen wir uns mit dem Inhalt des Briefes und mit einigen damit zusammenh¨ angenden Fragen.
Aberglaube Besorgnis wegen der Zahl 13 oder gar Furcht vor dieser Zahl hat zu dem fast unaussprechlichen Namen Triskaidekaphobie gef¨ uhrt. Dieses griechische Wort setzt sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: tris, drei“; kai, und“; de” ” ka, zehn“ (was zusammen dreizehn ergibt); plus Phobie, Furcht“.1 Der Be” ” griff scheint 1911 in I. H. Coriats Buch Abnormal Psychology gepr¨agt worden zu sein. Es gibt beliebig viele Begr¨ undungen daf¨ ur, warum 13 eine Ungl¨ uckszahl ist: beim Letzten Abendmahl waren 13 zugegen, in der nordischen Mythologie waren 13 bei einem Mahl in Walhall versammelt, als Balder (Sohn des Odin) get¨ otet wurde, was zu einem Sturz der G¨ otter f¨ uhrte; Hesiod schrieb in Werke und Tage, daß der dreizehnte Tag ung¨ unstig f¨ ur das S¨aen, aber g¨ unstig f¨ ur das Pflanzen sei. Ganz gewiß nicht frei erfunden ist die Explosion an Bord von Apollo 13 , die beinahe zur Katastrophe gef¨ uhrt h¨atte. Die Explosion erfolgte (etwas sp¨ ater im gleichen Jahr, in dem Lyttleton seinen Brief schrieb) am 13. April 1970 (es war ein Montag), zwei Tage nachdem die Mission um 14:13:00 EST (13:13:00 CST) von Startrampe 39 (3 × 13) des Kennedy Space Center abgehoben hatte. Nat¨ urlich gibt es zum Ausgleich die Triskaidekamanie, einen u ¨bertriebenen Enthusiasmus f¨ ur die Zahl 13. Und um anderen die Schuld zu geben, gibt es die Tetraphobie, die Furcht vor der Zahl 4. Diese Furcht ist in ostasiatischen L¨ andern verbreitet (denn die Aussprache der Zahl ¨ahnelt derjenigen des Wortes f¨ ur Tod). Es steht sogar noch schlechter um die Dinge, denn der Brief bezieht sich auch auf den Freitag und hat deswegen mit dem Begriff Paraskevedekatriaphobie zu tun, das heißt, mit der Furcht vor Freitag dem 13. Der Begriff wird wieder verst¨ andlicher, wenn man seine griechischen Wurzeln untersucht: paraskeue, Freitag“, dekatria, dreizehn“ und nat¨ urlich wieder die Phobie am ” ” Schluß.2 Der Freitagsaberglaube hat viele Urspr¨ unge, denn alle nachstehend auf¨ gef¨ uhrten Ereignisse erfolgten laut Uberlieferung an einem Freitag: Eva brachte Adam dazu, die verbotene Frucht zu essen; die Sintflut; der Beginn der Sprachenverwirrung am Turm zu Babel; die Zerst¨orung von Salomos Tempel und der Tod von Jesus Christus. Es gibt eine Story, gem¨ aß der die Britische Regierung im achtzehnten Jahrhundert versucht hat, ihren extrem abergl¨ aubischen Matrosen die Furcht zu 1 2
Griechisch Griechisch R¨ usttag, Freitag),
(drei-und-zehn) und (Furcht). (Vorbereitung, R¨ ustung; im Neuen Testament und sp¨ ater: (dreizehn).
13 Freitag, der 13.
147
nehmen, an Freitagen in See zu stechen: man ließ ein Schiff bauen, das den Namen HMS Friday trug. Nachdem das Schiff jedoch an einem Freitag dem 13. morgens unter dem Kommando von Kapit¨an Jim Friday in See stach, wurde es nie wieder gesichtet. Wie es auch immer um die Stichhaltigkeit der Gr¨ unde bestellt sein mag: In unserer westlichen Zivilisation ist der Glaube verwurzelt, daß sowohl Freitage als auch die Zahl 13 Ungl¨ uck bringen, und daß die Kombination eines Freitags mit der 13 doppeltes Ungl¨ uck bringt. Dieser Glaube ist so stark, daß die Etagennumerierung bei Wolkenkratzern meistens die 13 ausl¨aßt und Schiffe dem Risiko aus dem Wege gehen, an Freitagen in See zu stechen. Es heißt, Franklin Delano Roosevelt habe unter Triskaidekaphobie gelitten. Urteilt man aber nach der letzten Zeile des Tagebucheintrags, den Samuel Pepys am Freitag, dem 13. Juli 1660, zu Papier brachte, so war er nicht gerade von Triskaidekaphobie und erst recht nicht von Paraskevedekatriaphobie befallen: Zu Bett mit der gr¨ oßten Seelenruhe, daß ich eine große Zeit hatte. Wir sehen uns nun den Grund daf¨ ur an, daß der 13. eines Monats h¨ aufiger auf einen Freitag f¨allt als auf irgendeinen anderen Wochentag. Die diesbez¨ ugliche Mathematik ist in zwei merkw¨ urdigen elementaren Formeln enthalten. Die erste Formel stammt vom princeps mathematicorum.
Die Formel von Gauß Diese undurchsichtige Formel ist eine von mehreren, die zur Feststellung des Wochentages eines gegebenen Datums entwickelt worden sind. Diejenigen Leser, die Genaueres erfahren m¨ ochten, seien insbesondere auf die Analyse von Berndt Schwerdtfeger verwiesen (vgl. dessen Internet-Artikel Gauss calendar formula for the day of the week 3 ): wir geben hier die Formel lediglich an und verwenden sie. Zur Angabe der Formel ben¨ otigen wir zun¨achst einige Begriffsbildungen. Die Variable w z¨ ahlt die Wochentage, wobei w = 1 dem Montag entspricht, w = 2 dem Dienstag usw. Die Variable d bezeichnet den Tag des Monats, so daß d ∈ {1, 2, 3, . . . , 31}. Die Variable m ist die dem Monat entsprechende Zahl, die mit dem Januar beginnt und mit dem Dezember endet, so daß m ∈ {1, 2, 3, . . . , 12}. Die Variable y ist das Jahr (gegeben als vierstellige ganze Zahl), c = y/100 bezeichnet das zweistellige Jahrhundert und g = y−100c ∈ {0, 1, 2, . . . , 99} ist das zweistellige Jahr des Jahrhunderts. Der Monat m ist mit einer Variablen e verkn¨ upft, deren Werte in Tabelle 13.1 gegeben sind. Das Jahrhundert c ist mit einer Variablen f verkn¨ upft, deren Werte in Tabelle 13.2 gegeben sind. 3
http://berndt-schwerdtfeger.de/articles.html
148
13 Freitag, der 13. Tabelle 13.1. Werte von e f¨ ur jeden Monat m m 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 e 032503514 6 2 4 Tabelle 13.2. Werte von f f¨ ur jedes Jahrhundert c c mod 4 c 0 16, 20, . . . 1 17, 21, . . . 2 18, 22, . . . 3 19, 23, . . .
f 0 5 3 1
Und schließlich gibt es eine weitere Regel: Falls m = 1 oder 2, dann wird y in den Berechnungen von c und g durch y − 1 ersetzt. Mit all dieser mathematischen Alchimie lautet die Formel von Gauß f¨ ur den Wochentag eines beliebigen Datums des Gregorianischen Kalenders folgendermaßen: w = d + e + f + g + 14 g mod 7. Hierbei bezeichnet x die Gaußsche Klammerfunktion (floor function), die jeder reellen Zahl x die gr¨ oßte ganze Zahl zuordnet, die kleiner als oder gleich x ist, wie wir bereits an fr¨ uherer Stelle im Buch gesehen hatten.
Das große Z¨ ahlen Wir wollen die Tatsache best¨ atigen, daß der 13. Tag eines beliebigen Monats mit gr¨ oßerer Wahrscheinlichkeit auf einen Freitag f¨allt als auf irgendeinen anderen Wochentag. Hierzu m¨ ussen wir sorgf¨altig untersuchen, zu welchen Implikationen die Einf¨ uhrung des Gregorianischen Kalenders f¨ uhrt. Der Kalender wurde nach Papst Gregor XIII. benannt, der die neue Zeitrechnung 1582 einf¨ uhrte und dabei (zur betr¨ achtlichen ¨offentlichen Best¨ urzung) dekretierte, daß auf den 4. Oktober 1582 der 15. Oktober 1582 folgt. Es handelte sich um eine modifizierte Version des nach Julius Caesar benannten Julianischen Kalenders, der damals ziemlich außer Takt“ geraten war. Im Gregoriani” schen Kalender wird das Schaltjahr, das alle vier Jahre einmal auftritt, in den Jahren weggelassen, die durch 100, aber nicht durch 400 teilbar sind. Das bedeutet zum Beispiel, daß 2000 ein Schaltjahr war (denn die Zahl ist durch 400 teilbar), wohingegen 2100 kein Schaltjahr sein wird (da die Zahl zwar durch 100, nicht aber durch 400 teilbar ist). Das hat die wichtige Folge, daß sich der Gregorianische Kalender genau alle 400 Jahre wiederholt, denn die Anzahl der Tage in 400 Gregorianischen Jahren ist 100(3 × 365 + 366) − 3 = 146 097 und das ist eine exakte Anzahl von Wochen, weil 146 097 ohne Rest durch 7 teilbar ist.
13 Freitag, der 13.
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Zum Zusammenstellen unserer Daten brauchen wir deswegen nur die H¨aufigkeiten zu z¨ ahlen, mit denen der 13. eines Monats in einem Zyklus von 400 Jahren auf jeden der Wochentage f¨ allt. Hierzu k¨onnen wir einen Computer so programmieren, daß er die Gaußsche Wochentagformel anwendet. Die Ergebnisse dieser Computerberechnungen sind in Tabelle 13.3 festgehalten. Tabelle 13.3. H¨ aufigkeiten, mit denen der 13. eines Monats in einem Zyklus von 400 Jahren auf jeden Wochentag f¨ allt Mo Januar 57 Februar 58 M¨ arz 56 April 58 Mai 57 Juni 58 Juli 58 August 58 September 56 Oktober 57 November 56 Dezember 56 insges. 685
Di 57 56 58 56 57 56 56 57 58 58 58 58 685
Mi Do Fr Sa So insges. 58 56 58 56 58 400 58 57 57 58 56 400 57 57 58 56 58 400 58 56 58 57 57 400 58 56 58 56 58 400 58 57 57 58 56 400 58 56 58 57 57 400 57 58 56 58 56 400 56 58 57 57 58 400 56 58 56 58 57 400 57 57 58 56 58 400 56 58 57 57 58 400 687 684 688 684 687 4800
Ein Blick auf die letzte Zeile lehrt, daß der 13. eines Monats von ingesamt 4800 M¨ oglichkeiten 688-mal auf einen Freitag f¨allt und damit ganz knapp den Mittwoch und den Sonntag schl¨ agt. Professor Lyttleton hatte also Recht und auch seine restlichen Behauptungen sind korrekt.
Der Rest des Briefes Lyttletons letzter Absatz enth¨ alt die tr¨ ostliche Beobachtung, daß der erste ” Tag eines neuen Jahrhunderts niemals auf einen Freitag fallen kann“. Man muß sorgf¨ altig darauf achten, was er mit dieser Aussage meint. Zum Beispiel wird der 1. Januar 2100 auf einen Freitag fallen. Da es aber kein Jahr 0 gibt, stellt sich Lyttleton auf den Standpunkt, daß der erste Tag eines neuen Jahrhunderts den Jahresanteil 01 hat, zum Beispiel der 1. Januar 2101. Tats¨ achlich kann die umfassendere Aussage gemacht werden, daß der erste Tag eines neuen Jahrhunderts niemals auf einen Freitag, Mittwoch oder Sonntag fallen kann. Um das einzusehen, vereinbaren wir m = 1, da wir am Januar interessiert sind. Deswegen m¨ ussen wir den Jahresanteil 00 f¨ ur die Berechnung von c und g verwenden, was zu g = 0 f¨ uhrt. Die Rechnung ergibt dann w = (1 + 0 + f + 0 + 0) mod 7 = (1 + f ) mod 7. Setzen wir der Reihe nach {0, 1, 3, 5} (die vier m¨ oglichen Werte von f ) ein, dann erhalten wir die Gleichungen
150
13 Freitag, der 13.
w = 1 mod 7,
w = 2 mod 7,
w = 4 mod 7,
w = 6 mod 7,
deren L¨ osungen der Reihe nach w = 1, 2, 4, 6 sind. Das bedeutet, daß der 1. Januar eines neuen Jahrhunderts nur mit einem Montag, Dienstag, Donnerstag oder Samstag beginnen kann; auf der Liste tritt der gef¨ urchtete Freitag nicht auf und auch der Mittwoch und der Sonntag fallen weg. In zweiten Absatz verweist Lyttleton auf die H¨aufigkeit, mit welcher der omin¨ ose Freitag der 13. in einem Jahr vorkommt, und wir wollen uns diesen Aspekt des unheilvollen Tages etwas genauer ansehen. Betrachten wir ein Nicht-Schaltjahr und numerieren wir die Tage vom 1. Januar bis zum 31. Dezember mit den Zahlen 1 bis 365, dann k¨onnen wir tabellarisch erfassen, welcher Tag des Jahres dem 13. eines jeden Monats entspricht. Zum Beispiel ist der 13. Januar der 13. Tag des Jahres, der 13. Februar der 44. Tag des Jahres, der 13. M¨ arz der 72. Tag des Jahres usw. Reduzieren wir diese Zahlen modulo 7, dann k¨ onnen wir feststellen, an welchem Wochentag jeder 13. aufgetreten ist – unter der Voraussetzung, daß wir wissen, auf welchen Wochentag der 1. Januar f¨ allt. Die gleiche Aufz¨ahlung l¨aßt sich f¨ ur Schaltjahre durchf¨ uhren und Tabelle 13.4 faßt die Ergebnisse zusammen. Tabelle 13.4. Auftreten des 13. eines Monats in einem Jahr z
Nicht-Schaltjahr }| {z
Schaltjahr }|
{
Monat Tag des Jahres mod 7 Tag des Jahres mod 7 Januar 13 6 13 6 Februar 44 2 44 2 M¨ arz 72 2 73 3 April 103 5 104 6 Mai 133 0 134 1 Juni 164 3 165 4 Juli 194 5 195 6 August 225 1 226 2 September 256 4 257 5 Oktober 286 6 287 0 November 317 2 318 3 Dezember 347 4 348 5
Wir betrachten nun die Implikationen f¨ ur Freitage unter der Voraussetzung, daß der 1. Januar auf jeden der Wochentage f¨allt; damit erhalten wir die ersten beiden Spalten von Tabelle 13.5. Querverweise auf Tabelle 13.4 f¨ uhren zur dritten Spalte von Tabelle 13.5, in der die Monate aufgef¨ uhrt sind, die einen Freitag den 13. enthalten. Tabelle 13.6 wiederholt das Ganze f¨ ur Schaltjahre. Aufgrund der Tabellen 13.5 und 13.6 k¨ onnen wir nachstehende Schlußfolgerungen ziehen:
13 Freitag, der 13.
151
Tabelle 13.5. Einschr¨ ankungen f¨ ur ein Nicht-Schaltjahr Ist der 1. Jan. ein . . . Sonntag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag
dann reduziert sich die Anzahl der Freitage modulo 7 auf . . . 6 5 4 3 2 1 0
Also tritt Freitag der 13. in folgenden Monaten auf: Januar, Oktober April, Juli September, Dezember Juni Februar, M¨ arz, November August Mai
Tabelle 13.6. Einschr¨ ankungen f¨ ur ein Schaltjahr Ist der 1. Jan. ein . . . Sonntag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag
dann reduziert sich die Anzahl der Freitage modulo 7 auf . . . 6 5 4 3 2 1 0
Also tritt Freitag der 13. in folgenden Monaten auf: Januar, April, Juli September, Dezember Juni M¨ arz, November Februar, August Mai Oktober
• In jedem Jahr gibt es mindestens einen Freitag den 13. • Freitag der 13. tritt in einem beliebigen Jahr h¨ochstens dreimal auf. Bei einem dreimaligen Auftreten muß das in einem Nicht-Schaltjahr in den Monaten Februar, M¨ arz und November und in einem Schaltjahr in den Monaten Januar, April und Juli erfolgen. Das Jahr 1970 war kein Schaltjahr und somit mußte das Monatstripel so beschaffen sein, wie Lyttleton angegeben hatte. In den rechten Spalten der Tabellen 13.5 und 13.6 kommt jeder Monat vor und deswegen tritt Freitag der 13. in jedem Jahr mit einer H¨ aufigkeit von 17 oder 14% auf; die vollst¨andige Rechnung f¨ ur ein Nicht-Schaltjahr ist ( 17 ×
2 12 )
+ ( 17 ×
2 12 )
+ ( 17 ×
2 12 )
+ ( 17 ×
1 12 )
+ ( 17 ×
3 12 )
+ ( 17 ×
1 12 )
=
+ ( 17 × 1 7
×
1 12 ) 12 1 12 = 7 .
• Die einzige M¨ oglichkeit daf¨ ur, daß Freitag der 13. in zwei aufeinanderfolgenden Monaten auftritt, sind Februar und M¨arz, und das kann nur in einem Nicht-Schaltjahr vorkommen. Die n¨ achsten Jahre mit dieser Eigenschaft sind 2009, 2015 und 2026. Der Schlußteil des Briefes ist schrullig, aber er liefert die Motivation f¨ ur den zweiten tiefgr¨ undigen Algorithmus. Es handelt sich um einen Algorithmus, mit
152
13 Freitag, der 13.
dem man den Tag berechnen kann, auf den in einem beliebigen Jahr der Ostersonntag f¨ allt. Der Ostersonntag ist definiert als der erste Sonntag nach dem ersten Vollmond nach der Fr¨ uhlingstagundnachtgleiche (21. M¨arz). Es ist also kein Wunder, daß die Berechnung des Osterdatums eine komplexe Angelegenheit ist. Es ist auch nicht u ur diese Berechnung ¨berraschend, daß Gauß auch f¨ einen Algorithmus angegeben hat. Sein Algorithmus ist ein bißchen unelegant, weil Ausnahmen zu ber¨ ucksichtigen sind. Aus diesem Grund w¨ahlen wir hier einen Algorithmus, der keine Ausnahmen hat. Dieser Algorithmus wurde im fr¨ uhen neunzehnten Jahrhundert von dem franz¨osischen Astronomen Jean Baptiste Delambre gefunden, einem Zeitgenossen von Gauß. Der Algorithmus gilt f¨ ur alle Gregorianischen Jahre, das heißt, f¨ ur die Jahre ab 1583. Die linke Spalte von Tabelle 13.7 liefert den Algorithmus, die rechte Spalte ist ein Test f¨ ur einen Spezialfall. Die Monate sind in nat¨ urlicher Weise von Januar (1) bis Dezember (12) durchnumeriert. Die Rechnung sagt uns, daß der Ostersonntag 2005 auf den 27. M¨arz fiel, und so war es auch! Tats¨ achlich kann man zeigen, daß der Ostersonntag auf einen der 35 Tage vom 22. M¨ arz bis zum 25. April fallen kann. Und wie ist es mit dem Himmelfahrtstag? Das ist der 40. Tag nach dem Ostersonntag. Der Tag wird zum Ged¨ achtnis an Christi Himmelfahrt gefeiert (Markus 16,19, Lukas 24,51 und Apostelgeschichte 1,2). Der Himmelfahrtstag heißt in der anglikanischen Kirche auch Holy Thursday. Der englischen Bezeichnung entnehmen wir – ohne rechnen zu m¨ ussen –, daß der Himmelfahrtstag nicht auf einen Freitag fallen kann. Analog ist im Deutschen unmittelbar einsichtig, daß auch der Faschingsdienstag kein Freitag sein kann. Und was kann u ¨ber den englischen Pancake Day gesagt werden? Das ist der Tag vor dem Beginn der Fastenzeit. Die Fastenzeit beginnt am Aschermittwoch, also ist der Pancake Day nichts anderes als der Faschingsdienstag, und dieser Tag kann, wie schon im vorhergehenden Absatz bemerkt, kein Freitag sein. Man erkennt das im Englischen auch anhand der Bezeichnung Shrove Tuesday, umgangssprachlich Pancake Day genannt. Und wie steht es mit dem Aberglauben? In einigen Teilen Englands verf¨ uttert man am Pancake Day den ersten Pfannkuchen an die K¨ uken, damit sie sp¨ ater ordentlich Eier legen. F¨ ur den sparsamen Leser geben wir abschließend eine Auflistung derjenigen Jahre zwischen 1901 und 2099, in denen ein alter Kalender wiederverwendet werden kann – unter der Voraussetzung, daß man nur wissen m¨ochte, welche Wochentage auf welches Datum fallen, also ohne Ber¨ ucksichtigung der beweglichen Feiertage. Tabelle 13.8 faßt die Informationen f¨ ur das Jahr X zusammen, das durch die Anzahl der nach einem Schaltjahr verflossenen Jahre gegeben ist. Man beachte, daß der Ausdruck X + 28 in allen vier Zeilen auftritt, das heißt, ein Kalender kann mindestens alle 28 Jahre wiederverwendet werden. Die zus¨ atzliche Forderung, daß auch der Ostersonntag auf ein und denselben Tag f¨ allt, macht die Wiederverwendung eines Kalenders zu einem besonucksfall. Zum Beispiel sind die Kalender f¨ ur die Jahre 1981 und 1987 deren Gl¨
13 Freitag, der 13. Tabelle 13.7. Ein Test der Delambre-Formel Algorithmus a = Y mod 19 — Y b= 100
Y = 2005 a = 2005 mod 19 = 10 — 2005 b= = 20 100
c = Y mod 100 — b d= 4
c = 2005 mod 100 = 5 — 20 d= =5 4
e = b mod 4 — b+8 f = 25 — b−f +1 g= 3
e = 20 mod 4 = 0 — 20 + 8 f = =1 25 — 20 − 1 + 1 g= =6 3
h = (19a + b − d − g + 15) mod 30
h = (19 × 10 + 20 − 5 − 6 + 15) mod 30 =4 — 5 i= =1 4
i=
— c 4
k = c mod 4
k = 5 mod 4 = 1
l = (32 + 2 × 0 + 2 × 1 − 4 − 1) mod 7 = 1 — 10 + 11 × 4 + 22 × 1 m= 451 =0 — — 4 + 1 − 7 × 0 + 114 h + l − 7m + 114 Monat = Monat = 31 31 =3 Tag = (h + l − 7m Tag = (4 + 1 − 7 × 0 + 114) mod 31 + 1 + 114) mod 31 + 1 = 27 l = (32 + 2e + 2i − h − k) mod 7 — a + 11h + 22l m= 451
Tabelle 13.8. Wiederverwendung eines Kalenders Jahre nach einem Schaltjahr 0 1 2 3
Wiederverwendung des Kalenders im Jahr X + 28 X + 6, X + 17, X + 28 X + 11, X + 17, X + 28 X + 11, X + 22, X + 28
153
154
13 Freitag, der 13.
(einschließlich Osterdatum) identisch, wohingegen der Kalender von 1940 erst im Jahr 5280 wieder verwendet werden kann!
14 Fractran Alles sollte so einfach wie m¨ oglich gemacht werden, aber nicht einfacher. Albert Einstein
Geheimnisvolle Arithmetik In Kapitel 6 hatten wir uns eine Idee des kreativen und originellen Mathematikers John Conway angesehen und nun werfen wir einen Blick auf eine wei¨ tere seiner Ideen, die unter der Uberschrift Vierzehn phantastische Br¨ uche“ ” im Buch der Zahlen auftritt, das er gemeinsam mit Richard Guy verfaßte. Conway hatte die Idee bereits fr¨ uher in seiner Arbeit Fractran: A Simple Universal Programming Language for Arithmetic ver¨offentlicht (Kapitel 2 des 1987 erschienenen Buches Open Problems in Communication and Computation (Hrsg. T. M. Cover und B. Gopinath), Springer, S. 4–26). Es gibt eine Unzahl weiterer Beitr¨ age zu dieser Konstruktion; wir haben hier eine Arbeit von Richard Guy verwendet, die in Mathematics Magazine 56 (1983), S. 26– 33, unter dem Titel Conway’s prime producing machine“ erschienen ist. ” Bei diesen Br¨ uchen handelt es sich um die scheinbar willk¨ urlich angeordnete Menge ! 17 78 19 23 29 77 95 77 1 11 13 15 15 55 91 85 51 38 33 29 23 19 17 13 11 14 2 1
A B C D E F G H I J K L M N
,
wobei jedem Bruch ein Buchstabe des Alphabets zugeordnet ist, um R¨ uckverweise zu vereinfachen. Wir spielen nun ein scheinbar willk¨ urliches Spiel mit scheinbar willk¨ urlichen Br¨ uchen. Wir fangen mit der ganzen Zahl 2 an und multiplizieren sie – beginnend mit A – mit jedem der Br¨ uche, bis wir zu einer neuen ganzen Zahl kommen: offensichtlich ist es der Bruch M, der zum Erfolg f¨ uhrt und die Zahl 15 als Produkt liefert. Das Verfahren wird mit der neuen ganzen Zahl (15) wiederholt, wobei man wieder mit A beginnt und bis zu dem ersten Bruch weitermacht, bei dem sich erneut ein ganzzahliges Produkt ergibt (im vorliegenden Fall ist das der Bruch N und man erh¨alt 825). Der beschriebene Vorgang wird beliebig oft wiederholt und jedesmal, wenn die betreffende ganze Zahl eine Potenz von 2 ist, dann notiert man sich diese Potenz. Im Moment
156
14 Fractran
ist noch gar nicht klar, ob man u ¨berhaupt eine einzige Zweierpotenz erreicht – ganz zu schweigen von mehreren. Tats¨ achlich erreicht aber man unendlich viele Zweierpotenzen und diese Potenzen bilden eine ¨außerst wichtige Folge von positiven ganzen Zahlen. Nachdem wir nun den Knoten gesch¨ urzt haben, sehen wir uns die ersten Schritte dieses undurchsichtigen Prozesses an: in Form eines Paares geben wir die jeweilige ganze Zahl und den Bruch an, der zum ersten ganzzahligen Produkt f¨ uhrt: (2, M), (2275, A), (770, K), (116, F),
(15, N), (425, B), (910, A), (308, K),
(825, E), (725, F), (1925, K), (390, J), (330, E), (290, F), (170, B), (156, J), (132, E), (364, A), (68, I), (4, M),
das heißt, wir haben die erste Potenz von 2 nach 19 Schritten erreicht, und diese Potenz ist 4. Der Leser kann die Liste m¨ uhelos mit einem Rechner u ufen, aber um wirklich voran zu kommen, braucht man ein geeigne¨berpr¨ tes Computerprogramm. Die Verwendung eines solchen Programms best¨atigt, daß 8 die n¨ achste Zweierpotenz ist, die man (nach 69 Schritten) erh¨alt; die danach folgende Zweierpotenz ist 32 (nach 281 Schritten). F¨ ur Interessenten geben wir in Abb. 14.1 die vollst¨ andige Liste der bis zu diesem Schritt erzeugten ganzen Zahlen an.
Ein Geheimnis wird enthu ¨ llt Was ist das Besondere an diesem Verfahren? F¨ uhren wir es wiederholt durch, dann erzeugen wir die folgende Liste von Zweierpotenzen: 4,
8,
32,
128,
2048,
8192,
131 072, . . . ,
oder, in Exponentialform geschrieben, 22 , 23 , 25 , 27 , 211 , 213 , 217 , . . . und die Exponenten sind nichts anderes als die Primzahlen in ihrer nat¨ urlichen Reihenfolge. So unglaublich es auch klingt, dieser Prozeß ist ein Primzahlerzeugungsverfahren: der Reihe nach wird jede Primzahl erzeugt. Conway nannte dieses Verfahren PRIMEGAME. Die Erzeugung von Primzahlen ist ein vollkommen unkompliziertes Programmierproblem und deswegen im Prinzip eine einfache Berechnungssache, aber warum sollte der obige arithmetische Trick vollbringen, was eine Programmiersprache auf nat¨ urliche Weise erreicht? Die Antwort ist, daß es sich in Wirklichkeit um eine verkappte Programmiersprache handelt. Zur Erl¨ auterung geben wir f¨ ur das Verfahren zun¨achst einen allgemeineren Rahmen: (1) Man gebe eine geordnete Liste von Br¨ uchen und eine ganze Zahl N als Startzahl an.
14 Fractran
157
2, 15, 825, 725, 1925, 2275, 425, 390, 330, 290, 770, 910, 170, 156, 132, 116, 308, 364, 68, 4, 30, 225, 12 375, 10 875, 28 875, 25 375, 67 375, 79 625, 14 875, 13 650, 2550, 2340, 1980, 1740, 4620, 4060, 10 780, 12 740, 2380, 2184, 408, 152, 92, 380, 230, 950, 575, 2375, 9625, 11 375, 2125, 1950, 1650, 1450, 3850, 4550, 850, 780, 660, 580, 1540, 1820, 340, 312, 264, 232, 616, 728, 136, 8, 60, 450, 3375, 185 625, 163 125, 433 125, 380 625, 1 010 625, 888 125, 2 358 125, 2 786 875, 520 625, 477 750, 89 250, 81 900, 15 300, 14 040, 11 880, 10 440, 27 720, 24 360, 64 680, 56 840, 150 920, 178 360, 33 320, 30 576, 5712, 2128, 1288, 5320, 3220, 13 300, 8050, 33 250, 20 125, 83 125, 336 875, 398 125, 74 375, 68 250, 12 750, 11 700, 9900, 8700, 23 100, 20 300, 53 900, 63 700, 11 900, 10 920, 2040, 1872, 1584, 1392, 3696, 3248, 8624, 10 192, 1904, 112, 840, 6300, 47 250, 354 375, 50 625, 2 784 375, 2 446 875, 6 496 875, 5 709 375, 15 159 375, 13 321 875, 35 371 875, 31 084 375, 82 534 375, 97 540 625, 18 221 875, 16 721 250, 3 123 750, 2 866 500, 535 500, 491 400, 91 800, 84 240, 71 280, 62 640, 166 320, 146 160, 388 080, 341 040, 905 520, 795 760, 2 112 880, 2 497 040, 466 480, 428 064, 79 968, 29 792, 18 032, 74 480, 45 080, 186 200, 112 700, 465 500, 281 750, 1 163 750, 704 375, 2 909 375, 11 790 625, 13 934 375, 2 603 125, 2 388 750, 446 250, 409 500, 76 500, 70 200, 59 400, 52 200, 138 600, 121 800, 323 400, 284 200, 754 600, 891 800, 166 600, 152 880, 28 560, 26 208, 4896, 1824, 1104, 4560, 2760, 11 400, 6900, 28 500, 17 250, 71 250, 43 125, 178 125, 721 875, 634 375, 1 684 375, 1 990 625, 371 875, 341 250, 63 750, 58 500, 49 500, 43 500, 115 500, 101 500, 269 500, 318 500, 59 500, 54 600, 10 200, 9360, 7920, 6960, 18 480, 16 240, 43 120, 50 960, 9520, 8736, 1632, 608, 368, 1520, 920, 3800, 2300, 9500, 5750, 23 750, 14 375, 59 375, 240 625, 284 375, 53 125, 48 750, 41 250, 36 250, 96 250, 113 750, 21 250, 19 500, 16 500, 14 500, 38 500, 45 500, 8500, 7800, 6600, 5800, 15 400, 18 200, 3400, 3120, 2640, 2320, 6160, 7280, 1360, 1248, 1056, 928, 2464, 2912, 544, 32 Abb. 14.1. Die Folge, mit der man die Zweierpotenz 32 erreicht
(2) Man multipliziere die jeweils erhaltene ganze Zahl (urspr¨ unglich N ) mit dem ersten Bruch in der Liste, f¨ ur den auch das Produkt eine ganze Zahl ist, so daß man eine neue ganze Zahl erh¨ alt. (3) Man wiederhole Schritt 2 solange, bis kein Produkt eine ganze Zahl erzeugt; in diesem Fall h¨ alt das Verfahren an. Andernfalls setze man das Verfahren unbegrenzt fort. Wir wollen zum Beispiel annehmen, daß unsere Liste lediglich den Bruch alt, und daß die ganze Zahl N = 648 unsere Startzahl ist. Wir k¨onnen { 56 } enth¨ diesen Recyclingprozeß durch den Loop in Abb 14.2 und durch die formalere Pseudoprogrammieraussage Zeile 1 :
5 6
→1
158
14 Fractran
Abb. 14.2. Der Loop, der { 56 } entspricht
darstellen, die f¨ ur uns Folgendes bedeutet: Man multipliziere den Input mit ” 5 und und setze das Verfahren durch einen Neustart in Zeile 1 so lange fort, 6 bis der Input eine ganze Zahl ist“. Dieses scheinbar zuf¨ allig ausgew¨ ahlte Paar, das aus einem Bruch und einem Input besteht, f¨ uhrt dazu, daß der Loop exakt dreimal durchlaufen wird, bevor Br¨ uche eingef¨ uhrt werden m¨ ussen und der Prozeß mit N = 375 = ( 56 )3 × 648 stoppt. Na und? Tats¨ achlich ist 56 und N = 648 keine zuf¨allige Auswahl. Es ist n¨amlich 5 keinesfalls bedeutungslos, daß 56 = 2×3 und daß N = 648 = 23 ×34 ein Beispiel ur gewisse nichtnegative ganze f¨ ur eine Zahl ist, welche die Form N = 2n ×3m f¨ Zahlen m und n hat. Die Faktorisierung von 56 zeigt, daß jede Multiplikation mit dieser Zahl die Potenzen von 2 und 3 in der Darstellung von N um jeweils 1 verringert und die Potenz von 5 um 1 erh¨ oht. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis das Produkt eine ganze Zahl ist; diese finale ganze Zahl ist 375 = 3 × 53 . Betrachten wir die Werte der Potenzen von 2, 3 und 5 in der Darstellung von N als Werte in den dynamischen Registern r2 , r3 bzw. r5 , dann beginnen wir im allgemeinen Fall mit r2 = n, r3 = m, r5 = 0 und h¨oren entweder mit r2 = 0 oder mit r3 = 0 und r5 = min(m, n) auf. Der Inhalt von Register 5 endet mit dem Minimum der beiden ganzen Zahlen m und n und wir erkennen, daß es sich um ein Verfahren handelt, bei dem das Minimum zweier nichtnegativer ganzer Zahlen gefunden werden muß. Ausgedr¨ uckt mit Hilfe einer typischen realen Programmiersprache ist das ¨aquivalent zu r2 := n; r3 := m; r5 := 0; While (r2 > 0 and r3 > 0) do Begin r2 := r2 − 1; r3 := r3 − 1; r5 := r5 + 1; End; Print r5 ; is the minimum of“ m and n. ” Wir sehen, daß dieses einfache Verfahren deswegen ¨aquivalent zu einem konventionellen Programmieralgorithmus ist. 2×5 ¨ f¨ ur den gleichen Input von N = Andert man den Bruch zu 10 3 = 3 n m 2 × 3 wie in Abb. 14.3, dann addiert das Verfahren die Zahl 1 zu jedem ahrend 1 von r3 so lange subtrahiert wird, bis der beiden Werte r2 und r5 , w¨
14 Fractran
159
Abb. 14.3. Der Loop, der { 10 } entspricht 3
r3 = 0. Hiernach ist r2 = m + n und r5 = m und das Register 2 enth¨alt die Summe von m und n. Wir haben jetzt eine Addiermaschine. Diesmal sieht der a ¨quivalente Code folgendermaßen aus: r2 := n; r3 := m; r5 := 0; While r3 > 0 do Begin r2 := r2 + 1; r3 := r3 − 1; r5 := r5 + 1; End; Print r2 ; is the sum of“ m and n; ” Wir k¨ onnen diese letztgenannte L¨ osung aufr¨aumen“ und sie gleichzei” tig verallgemeinerungsf¨ ahig machen, indem wir den zweiten Bruch 35 an den 3 Schluß schreiben, das heißt, wir bilden die Bruchliste { 10 3 , 5 }. Dieser Sachverhalt ist in Abb 14.4 dargestellt, wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß Wege mit einem einzigen Pfeil den Vorrang vor Wegen mit einem Doppelpfeil haben.
Abb. 14.4. Der Loop, der { 10 , 3 } entspricht 3 5
Diesmal ist der Pseudo-Code durch Zeile 1 : Zeile 2 :
10 3 3 5
→ 1,
1 1
→ 2,
→2
gegeben, wobei wir Zeile 1 als Loop interpretieren, indem wir den Input so lange mit 10 3 multiplizieren, bis das Produkt eine ganze Zahl ist. Andernfalls multiplizieren wir mit der Zahl 1 = 11 und gehen zu Zeile 2 u ¨ber, wodurch der
160
14 Fractran
Input so lange mit 35 multipliziert wird, bis das Ergebnis keine ganze Zahl ist; danach stoppt das Verfahren. Nun wird die Addition so wie oben durchgef¨ uhrt, aber danach ist r5 geleert ullt, das heißt, die finalen Register sind r2 = m + n, r3 = m und und r3 gef¨ r5 = 0. Das ist eine nettere Darstellung, denn sie zerst¨ort die in r3 enthaltene Information nicht und verwendet r5 als das Arbeitsregister, das es tats¨achlich ist. Mit Hilfe einer Bruchliste k¨ onnen wir addieren, aber k¨onnen wir auch multiplizieren? Man betrachte hierzu den folgenden Programm-Code: r2 := a; r3 := b; r7 := c; While r7 > 0 do Begin While r3 > 0 do Begin r2 := r2 + 1; r3 := r3 − 1; End; r3 := b; r7 := r7 − 1; End; Print r2 ; ‘is’ a + bc; Das beschreibt einen einfachen Multiplikationsalgorithmus f¨ ur positive ganze Zahlen, den wir mit Hilfe von Abb. 14.5 simulieren k¨onnen. Dadurch kommt ein weiterer Loop zu Abb. 14.4 hinzu, der durch den Bruch 17 gesteuert wird.
Abb. 14.5. Sich multiplizierende Loops
Unser Pseudo-Code ist nun
14 Fractran
Zeile 1 : Zeile 2 : Zeile 3 :
1 7 10 3 3 5
161
→ 2, → 2, → 3,
1 1 1 1
→ 3, → 1,
wobei die Interpretation der obigen entspricht. Man beachte, daß der Bruch 11 wieder dazu verwendet wird, einen Sprung zu erzwingen. Beginnen wir mit r2 = a, r3 = b, r5 = 0, r7 = c, das heißt, mit der ganzen Zahl N = 2a × 3b × 7c , dann haben wir nach Vollendung eines jeden Zyklus die Zahl b in r2 addiert, und – mit Hilfe von r7 als Z¨ahlwerk – kommen wir am Schluß auf r2 = a + bc, r3 = b, r5 = 0, r7 = 0. Betrachten wir insbesondere den Fall a = 0, dann f¨ uhrt ein Input von N = 3n × 7c zu einem Output von cn uhrt worden. N = 2 , und somit ist die Multiplikation tats¨achlich ausgef¨
Fractran Wo aber befindet sich nun die hierzu ¨ aquivalente Bruchliste? Es gibt ein Problem, denn die Regeln zwingen dazu, den Bruch 17 zum wiederholten Mal immer dann auszuwerten, wenn man ihm in der Liste begegnet; dieser Umstand verhindert es, ihn als Loop zu verwenden. Zur Erzeugung der besagten Bruchliste m¨ ussen wir einen gr¨ undlicheren Blick auf unseren Pseudo-Code werfen, das heißt – um mit Conway zu sprechen –, auf die Programmiersprache Fractran. Conway definiert ein Fractran-Programm als eine Folge von numerierten Zeilen, von denen jede die Form Zeile n :
p2 pr p1 → n1 , → n2 , . . . , → nr q1 q2 qr
hat, wobei n, n1 , n2 , . . . , nr positive ganzzahlige Zeilennummern und p1 p2 pr , , ..., q1 q2 qr Br¨ uche sind. Die Fractran-Maschine arbeitet, indem man eine positive ganze Zahl N in die am niedrigsten numerierte Zeile eingibt und die Zahl f¨ ur das kleinste i, f¨ ur welches pi /qi × N eine ganze Zahl ist, durch diese ganze Zahl ersetzt; danach geht man zu Zeile ni u ¨ber. Ist keine solche ganze Zahl m¨oglich, dann endet das Verfahren. Zum Beispiel multipliziert Zeile 10 : 25 → 15, 37 → 20 den Input mit 25 und leitet den Programmfluß auf Zeile 15, falls das betreffende Produkt eine ganze Zahl ist; andernfalls wird der Input mit 37 multipliziert und der Programmfluß auf Zeile 20 geleitet, falls das betreffende Produkt eine ganze Zahl ist. Tritt keine dieser beiden M¨ oglichkeiten ein, dann h¨ alt das Verfahren an. Wir sind an Bruchlisten interessiert. Im Allgemeinen hat die Bruchliste
162
14 Fractran
p1 p2 pr , ,..., q1 q2 qr
¨ das Fractran-Aquivalent des r-zeiligen Programms Zeile 1 : Zeile 2 :
p1 → 1, q1 p2 → 2, q2
1 1
→ 2,
1 1
→ 3,
.. . Zeile r :
pr → r, qr
welches ein Beispiel f¨ ur das ist, was Conway als Fractran-r Programm bezeichnet. Dieses spezielle Beispiel l¨ aßt sich in kompakterer Form als Fractran-1 Programm schreiben: Zeile 1 :
p1 p2 pr → 1, → 1, . . . , → 1. q1 q2 qr
Stellen wir die Frage, ob sich unser Multiplikationsprogramm als Bruchliste schreiben l¨ aßt, dann fragen wir danach, ob dieses Fractran-3 Programm als Fractran-1 Programm geschrieben werden kann. Tats¨achlich gibt Conway in seiner Arbeit ein Verfahren an, mit dessen Hilfe sich ein beliebiges Fractran-r Programm durch ein Fractran-1 Programm und somit durch eine Bruchliste simulieren l¨ aßt; das Verfahren verwendet die Eigenschaft der eindeutigen Faktorisierung der Primzahlen: (1) Man entferne alle Loops aus dem Programm. (2) Man markiere die Knoten des Diagramms durch verschiedene Primzahlen P, Q, R, . . . , die gr¨ oßer sind als diejenigen Primzahlen, die in den Z¨ahlern und Nennern der einschl¨ agigen Br¨ uche auftreten: die Primzahlen P, Q, R, . . . sind die neuen Zeilennummern. (3) Man u ¨bersetze der Reihe nach jeweils eine Zeile mit Hilfe des folgenden Schemas:
p2 p1 Q p2 R p1 , ,... . → Q, → R, . . . wird zu Zeile P : q1 q2 q1 P q2 P (4) Man schreibe die Bruchliste in der korrekten Reihenfolge. Im Falle der Multiplikation gestaltete Conway Abb. 14.5 zu Abb. 14.6 um. Wir schreiben nun die Zeilennummern in entsprechender Weise um und erhalten dadurch das Fractran-Programm
14 Fractran
163
Abb. 14.6. Die modifizierten Multiplikationsloops
Zeile 11 : Zeile 13 : Zeile 17 : Zeile 19 : Zeile 23 :
1 7 10 3 1 1 3 5 1 1
→ 13, → 17,
1 1
→ 19,
1 1
→ 11,
→ 13, → 23, → 19.
Mit Hilfe des Algorithmus erzeugen wir die Bruchliste 170 13 19 69 19 11 { 13 77 , 39 , 17 , 13 , 95 , 23 , 19 }.
Man beachte die Reihenfolge der Br¨ uche, bei der die zweiten Eintr¨age der beiden betreffenden Zeilen an ihren korrekten Stellen stehen. Der Leser kann das u ufen, indem er mit r2 = a, r3 = b, r5 = 0, ¨berpr¨ r7 = c, r11 = 1 beginnt, weswegen N = 2a × 3b × 7c × 11 zu r2 = a + bc, r3 = b, r5 = 0, r7 = 0, r11 = 1 f¨ uhrt, was wiederum N = 2a+bc × 3b × 11 liefert. Wir k¨ onnen diese Primknotenetiketten als Zust¨ande der Fractran-Maschine interpretieren. Wenn wir das tun und die Br¨ uche in der Form ! 2×5×17 13 19 3×23 19 11 13 7×11 3×13 17 13 5×19 23 19
A
B
C D
E
F G
zerlegen, dann k¨ onnen wir jeden Bruch folgendermaßen interpretieren:
164
14 Fractran
11 → 13 mit einem Multiplikator von 17 , der r7 → r7 − 1 liefert; 13 → 17 mit einem Multiplikator von 2×5 3 , der Folgendes liefert: r2 → r2 + 1, r5 → r5 + 1, r7 → r7 − 1; C: 17 → 13;
A: B:
D: 13 → 19; E: 19 → 23 mit einem Multiplikator von 35 , der Folgendes liefert: r3 → r3 + 1, r5 → r5 − 1; F:
23 → 19;
G:
19 → 11.
Damit haben wir eine Maschine, die sich zwischen Zust¨anden bewegt und dabei m¨ oglicherweise den Inhalt gewisser dynamischer Register a¨ndert.
FIBONACCIGAME Bevor wir uns mit PRIMEGAME befassen, sehen wir uns als letzten Vorl¨aufer FIBONACCIGAME an, also das Verfahren, das jede beliebige Fibonacci-Zahl erzeugt. Die Fibonacci-Folge wird bekanntlich durch die Rekursion a1 = a2 = 1 und
an+2 = an + an+1
f¨ ur n 1
definiert, die 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, . . . erzeugt. Um einen Computer die n-te Fibonacci-Zahl ausdrucken zu lassen, ben¨ otigt man einen zu r2 := 1; r3 := 1; r5 := n; r13 := 1; While r5 > 0 do Begin r7 := r2 + r3 ; r2 := r3 ; r3 := r7 ; End; Print r7 ;
r5 := r5 − 1;
¨aquivalenten Code.
Abb. 14.7. Loops, die Fibonacci-Zahlen erzeugen
14 Fractran
165
Das Verfahren ist in Abb. 14.7 dargestellt und mit einem Input von N = 2 × 3 × 5n × 13 sieht das entsprechende Fractran-5 Programm folgendermaßen aus: → 2...
Zeile 1 :
1 5
Zeile 2 :
7 2 77 3
→ 2,
2 11 3 7
→ 4,
Zeile 3 : Zeile 4 : Zeile 5 :
→ 3,
→ 5,
subtrahiert 1 von Register 5, das als Z¨ahlvorrichtung fungiert;
1 1 1 1
→ 3...
kopiert Fib(r) in Register 7;
→ 4...
addiert Fib(r + 1) zu Register 7 und kopiert es auch in Register 11;
1 1 1 1
→ 5...
Fib(r) wird ersetzt durch Fib(r + 1);
→ 1...
Fortsetzung des Verfahrens.
Abb. 14.8. Modifizierte Fibonacci-Loops
Um das in eine Bruchliste zu konvertieren, m¨ ussen wir die Loops eliminieren und die Knoten mit großen“ Primzahlen etikettieren (vgl. Abb. 14.8). ” Damit k¨ onnen wir das Fractran-9 Programm folgendermaßen schreiben: Zeile 13 : Zeile 17 : Zeile 19 : Zeile 23 : Zeile 29 : Zeile 31 : Zeile 37 : Zeile 41 : Zeile 43 :
1 5 7 2 1 1 77 3 1 1 2 11 1 1 3 7 1 1
→ 17, → 19,
1 1
→ 23,
1 1
→ 31,
1 1
→ 41,
1 1
→ 13,
→ 17, → 29, → 23, → 37, → 31, → 43, → 41.
Mit Hilfe des Conway-Algorithmus erhalten wir schließlich die Bruchliste 133 17 23 2233 23 31 74 31 41 129 41 13 1 1 { 17 65 , 34 , 19 , 17 , 69 , 29 , 23 , 341 , 37 , 31 , 287 , 43 , 41 , 13 , 3 },
wobei die letzten beiden Br¨ uche dazu da sind, die Dinge in Ordnung zu brinuhrt. Die beiden gen, damit das Verfahren exakt zum Output von 2Fib(n) f¨
166
14 Fractran
letzten Br¨ uche sind ¨ aquivalent zur Hinzunahme eines weiteren Knotens, der mit einer 1 etikettiert ist und an den zwei Loops drangeh¨angt sind. Zwar stellt die Verwendung eines Loops und eines Knotens, der nicht mit einer Primzahl etikettiert ist, die Beschr¨ ankungen des Verfahrens scheinbar infrage. Dennoch ist alles einwandfrei und Conway gibt folgenden Kommentar: Wir bemerken, daß es zul¨ assig ist, einen der Zust¨ande nicht mit einer großen Primzahl zu etikettieren, sondern mit der Zahl 1. Die Br¨ uche, ¨ die Uberg¨ angen von diesem Zustand entsprechen, sollten (in ihrer nat¨ urlichen Reihenfolge) am Ende des Fractran-1 Programms positioniert werden. Ist das geschehen, dann sind Loops bei Knoten 1 ¨ zul¨ assig, falls sie eine niedrigere Priorit¨ at als jeder andere Ubergang haben. Er demonstriert den kritischen Punkt, indem er die Bruchliste f¨ ur die Multiplikation in der nachstehenden Form verbessert: # " 170 19 13 69 1 13 1 , , , , , , 39 13 17 95 19 7 3 . Wir u uber nachzugr¨ ubeln! ¨berlassen es dem Leser, hier¨ Wir kommen nun endlich zu PRIMEGAME.
PRIMEGAME Die entsprechende Bruchliste hat die faktorisierte Form 2×3×13 19 23 29 7×11 5×19 17 7×13 5×17 3×17 2×19 3×11 29 23
A
B
C
D
E
F
G 7×11 1 11 13 3×5 3×5 5×11 19 17 13 11 2×7 2 1
H
I J K L
M
!
N
und l¨ aßt sich als Fractran-7 Programm folgendermaßen schreiben: Zeile 13 : Zeile 17 : Zeile 19 : Zeile 11 : Zeile 29 : Zeile 23 : Zeile 1 :
1 7 6 5 1 2 1 3
→ 17, → 13,
1 1 1 3
→ 11; → 19,
1 1
→ 1;
→ 23, 7 → 11;
→ 29, 7 → 11;
1 1
→ 13;
5 → 19; 15 14
→ 1,
15 2
→ 1, 5 → 11.
Abb. 14.9 stellt das Verfahren dar und ist alles in allem komplizierter. Die Knoten sind mit den offensichtlichen Primzahlen und mit 1 etikettiert.
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167
Abb. 14.9. Loops, die Primzahlen erzeugen
PRIMEGAME gelangt im sechsten Schritt von N = 2 zu N = 2275. Die Faktorisierung der letztgenannten Zahl ist 52 × 7 × 13 und an dieser Stelle wird N dem Zyklus (AB) unterworfen. Das ist ein Spezialfall des allgemeinen N = 5n ×7d ×13 mit d < n. Diese Situation wird im gesamten Verfahren immer wieder auftreten und Abb. 14.8 zeigt, was mit einer solchen Zahl zwangsl¨aufig geschieht. Sie wird in eine Zahl der Form N = 2n × 3r × 7d−r−1 × 17 transformiert und anschließend geht sie, falls r > 0, auf der Route C in 5n × 7d−1 × 13 u ¨ber; ist dagegen r = 0, dann geht sie auf der Route I in 5n+1 × 7n × 13 u onnen wir das mit Hilfe der ganzen Zahl n und ihrer m¨oglichen ¨ber. Nun k¨ Teiler d standardm¨ aßig dadurch ausdr¨ ucken, daß wir n = q × d + r schreiben. Die Anwendung von PRIMEGAME auf N = 5n × 7n−1 × 13 testet – so wie zu Beginn mit n = 2 – alle m¨ oglichen Teiler von n, und zwar von n − 1 bis 1. Danach erh¨ oht man n um 1 und setzt das Verfahren fort. Ist aber r = 0, dann ist d ein Teiler von n und deswegen ist n zusammengesetzt – es sei denn, d = 1, und in diesem Fall ist n eine Primzahl. Die Zahl 2n ×7d−1 = 2n ist dann die einzige Zweierpotenz, die u ¨berhaupt in der Rechnung auftritt, und zwar genau dann, wenn n eine Primzahl ist. Sogar in der unverschleierten Form ist alles sehr clever! Richard Guy hat den Sachverhalt auf seine eigene Weise bewiesen, indem er f¨ ur das Verfahren ein Flußdiagramm aufstellte. Er schrieb den Inhalt der Register 2 und 5 als t bzw. r und stellte fest, daß t + r = n; ebenso schrieb
168
14 Fractran
Abb. 14.10. Primloops bei der Arbeit
er den Inhalt der Register 3 und 7 als s und q und stellte fest, daß s + q = d. Insgesamt erzeugte er Abb. 14.10, die ¨ aquivalent zu Abb. 14.9 ist. Devin Kilminster von der University of Western Australia hielt 1999 einen Vortrag, in dem er zeigte, wie man Conways vierzehn Br¨ uche auf zehn reduzieren kann; diese Br¨ uche sind # " 7 99 13 39 36 10 49 7 1 91 3 , 98 , 49 , 35 , 91 , 143 , 13 , 11 , 2 , 1 , wobei 10 der Anfangswert f¨ ur N ist und die Primzahlen durch die nachfolgenden Potenzen von 10 erzeugt werden. Nat¨ urlich ist das ein theoretisches Verfahren. Wir hatten ja schon gesehen, wieviele Schritte PRIMEGAME ben¨ otigt, um die ersten paar Primzahlen zu
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169
Abb. 14.11. Das Flußdiagramm von Guy
erzeugen. Richard Guy gab folgende Formel f¨ ur die Anzahl der Schritte, die ¨ zur Uberpr¨ ufung dessen ben¨ otigt werden, ob die Zahl n eine Primzahl ist: n − 1 + (6n + 2)(n − b) + 2
n−1
d=b
n , d
wobei b < n der gr¨ oßte Teiler von n ist; f¨ ur eine Primzahl n ist b nat¨ urlich 1. Um sich ein Bild von den Gr¨ oßenordnungen zu machen, folgen wir Guys ¨ Uberlegungen zur Beantwortung von Conways Frage, wieviele Schritte unser PRIMEGAME ben¨ otigt, um die tausendste Primzahl zu erzeugen (8831). Zur Beantwortung der Frage m¨ ussen wir die Summe des Ausdrucks von n = 2 bis n = 8831 berechnen und das f¨ uhrt zu der Zahl 1 378 197 377 195 ≈ 1, 4 × 1012 .
170
14 Fractran
Vielleicht ist das langsam, aber ein Blick auf PIGAME r¨ uckt die Perspektive zurecht. Beginnt man mit N = 89 × 2n , dann berechnet die folgende Bruchliste die n-te Nachkommastelle von π = 3, 141 59 . . . , das heißt, die Maschine h¨ alt bei 2π(n) an: " 365 29 79 679 3159 83 473 638 434 89 17 79 46 , 161 , 575 , 451 , 413 , 407 , 371 , 355 , 335 , 235 , 209 , 122 , 31 41 517 111 305 23 73 61 37 19 89 41 833 53 183 , 115 , 89 , 83 , 79 , 73 , 71 , 67 , 61 , 59 , 57 , 53 , 47 , 43 , 86 13 23 67 71 83 475 59 41 1 1 1 1 89 41 , 38 , 37 , 31 , 29 , 19 , 17 , 13 , 291 , 7 , 11 , 1024 , 97 , 1
# .
Auf explizitere Weise formuliert: F¨ ur n = 0 h¨alt die Maschine bei 3 an, f¨ ur n = 1 h¨ alt die Maschine bei 1 an, f¨ ur n = 2 h¨ alt die Maschine bei 4 an und so weiter. Das ist alles sch¨ on und gut, aber Bill Dubuque gab den Kommentar, n daß PIGAME die n-te Nachkommastelle von π mit Hilfe von mehr als 4 × 210 Termen des Wallisschen Produktes ( 12 π = 21 × 23 × 43 × 45 × 65 × 67 ×· · · ) berechnet, weswegen das Verfahren in der Praxis f¨ ur n > 1 unrealistisch ist. Abschließend sei bemerkt, daß PRIMEGAME ein verbl¨ uffendes Beispiel f¨ ur die Programmiersprache Fractran ist, von der Conway gezeigt hat, daß sie – ebenso wie sein ber¨ uhmtes Game of Life – jeden beliebigen berechenbaren Prozeß simulieren kann.
Die Motive Schnelle Autos, schnelle Frauen, schnelle Algorithmen . . . was k¨ onnte sich ein Mann mehr w¨ unschen? Joe Mattis
Ethnomathematik Auf der mathematischen Landkarte befindet sich der ber¨ uhmteste Ort des s¨ udwestlichen Afrikas an der Grenze zwischen Uganda und Zaire: dort entdeckte der belgische Geologe Jean de Heinzelin 1960 am Ufer des Lake Edward den uralten Ishango-Knochen. Das Alter des Knochen ist umstritten, Sch¨ atzungen variieren von 8000 bis 20 000 v. Chr. Ebenso umstritten ist sein Zweck, die Spekulationen erstrecken sich von einem Mondkalender bis zu einer Liste von Primzahlen. Aber es gibt auch andere afrikanische Sch¨atze der Ethnomathematik und die reizvollen Muster am Anfang der einzelnen Buchkapitel weisen auf einen solchen Schatz hin: die Lusona-Muster. Diese sind Beispiele eines kleinen aber reichhaltigen Teils des kulturellen Erbes der Chokwe, einer Gruppe des Bantu-Volkes im nord¨ ostlichen Angola mit Ausl¨aufern bis nach Sambia und Zaire. Die Chokwe sind f¨ ur ihre figurative und dekorative Kunst ber¨ uhmt. Die Lusona-Muster sind ein Bindeglied zur umfassenderen Kultur der Chokwe und auch zur Mathematik. Wir werfen hier einen kurzen Blick auf den ziemlich u ¨berraschenden Zusammenhang mit der Mathematik.
Die Mathematik der Motive Zur Konstruktion eines Musters denke man sich die Punkte in einem Abstand von einer Einheit in einem rechteckigen Gitter angeordnet, wobei dieses Gitter von einem Rechteck umgeben ist, das eine halbe Einheit u ¨ber das Punktgitter hinausgeht“ und aus Spiegeln besteht. Der Konstruktionsalgorithmus ist: ” • Man starte mit einer Linie von einem Spiegel aus, direkt unter (¨ uber oder neben) einem Punkt und ziehe die Linie unter 45◦ bis die gegen¨ uberliegende Spiegellinie erreicht ist. • Man spiegele die Linie um 90◦ und zeichne sie auf diese Weise weiter.
172
Die Motive
•
Erreicht die Linie ihren Ausgangspunkt, bevor jeder Punkt eingeschlossen ist, dann starte man mit einer zweiten Linie in der N¨ahe eines nicht eingeschlossenen Randpunktes. • Man wiederhole das Verfahren so lange bis alle Punkte eingeschlossen sind. • Erforderlichenfalls gl¨ atte“ man die Endfigur. ” Das Layout und der Start des Verfahrens sind in Abb. 1 dargestellt.
Abb. 1. Punkte, Spiegel und ein Weg
Zur Analyse des Verfahrens verwenden wir folgende Notation: f (m, n) bezeichnet die Anzahl der einzelnen Wege, die ben¨otigt werden, um alle Punkte der rechteckigen Anordnung von Abb. 2 einzuschließen.
Abb. 2. Die allgemeine Anordnung der Punkte
Offensichtlich ist f (1, n) = 1 und hierf¨ ur haben wir Beispiele in den Motiven gesehen, die zu Beginn der Einf¨ uhrung und der Kapitel 1 und 2 zu finden sind. Ebenso klar ist die Gleichheit f (m, n) = f (n, m). Um die allgemeine Form von f (m, n) zu erkennen, untersuchen wir zuerst den Spezialfall einer quadratischen Anordnung der Gr¨oße n × n. Aus Symmetriegr¨ unden beginnt der Weg in der N¨ ahe eines speziellen Punktes an einer Seite der Anordnung und kehrt zu dieser Seite an dieselbe Stelle zur¨ uck (vgl. Abb. 3); m¨ ussen wir also alle Punkte einer Seite (und somit s¨amtliche Punk-
Die Motive
173
te) einschließen, dann ben¨ otigen wir f¨ ur jeden von ihnen einen Weg und das bedeutet, daß f (n, n) = n.
Abb. 3. Ein vollst¨ andiger Weg in einer quadratischen Anordnung von Punkten
Abb. 4. Ein Weg in einer rechteckigen Anordnung von Punkten
Wir betrachten jetzt den allgemeinen Fall einer Punktanordnung vom Typ m × n und setzen m < n voraus. Abb. 4 zeigt eine Anordnung, bei der die vertikalen Linien zu einer Unterteilung in Quadrate vom Typ m × m und zu einem m¨ oglicherweise u uhren. Unabh¨angig da¨brigbleibenden Rechteck f¨ von, wo wir das Muster in dem ganz links stehenden Quadrat beginnen, gilt Folgendes: Gestattet man eine Fortsetzung des Weges in die verbleibenden quadratischen Anordnungen, dann wird das Muster erg¨anzt, aber es erfolgt ¨ keinerlei Anderung der Reflexionsrichtung des Weges (auch das ist aus Abb. 4 ersichtlich). Das bedeutet: Um die Wege zu z¨ahlen, die zur Einschließung s¨ amtlicher Punkte erforderlich sind, brauchen wir diese quadratischen Anordnungen nicht zu beachten. Das wiederum bedeutet unter Verwendung unserer symbolischen Schreibweise: Schreiben wir n = qm + r (mit r < m), dann gilt f (m, n) = f (m, m + r). Und weil (aufgrund der gleichen Schlußweise) das erste Quadrat nicht signifikant ist, haben wir f (m, n) = f (m, r).
174
Die Motive
Wir sehen uns nun zwei ziemlich große numerische Beispiel an, bei denen die obigen Bemerkungen verwendet werden: f (144, 2068) = f (144, 52) = f (52, 144) = f (52, 40) = f (40, 52) = f (40, 12) = f (12, 40) = f (12, 4) = f (4, 12) = f (4, 4) = 4 und f (123, 2113) = f (123, 22) = f (22, 123) = f (22, 13) = f (13, 22) = f (13, 9) = f (9, 13) = f (9, 4) = f (4, 9) = f (4, 1) = f (1, 4) = 1. Wir hoffen, daß der Leser nunmehr den Euklidischen Algorithmus erkannt hat, der zum Auffinden des gr¨ oßten gemeinsamen Teilers zweier ganzer Zahlen verwendet wird, das heißt, f (m, n) = ggT(m, n). Die Motive am Anfang der einzelnen Kapitel sind erforderlichenfalls mit Hilfe von Linien unterschiedlicher Schattierungen gezeichnet, um auf die Anzahl hinzuweisen, die in jedem Fall zur Vervollst¨ andigung des Musters ben¨otigt wird.
Abb. 5. Die 2 × 4 Anordnung mit einem zus¨ atzlichen zweiseitigen Spiegel
Die Realit¨ at der Konstruktion Dies alles mag mathematisch interessant sein, aber f¨ ur die Chokwe ist es belanglos. Die Lusona-Muster haben ihren kulturell wichtigsten Platz als figurative Darstellungen (wie etwa in dem Motiv zu Beginn dieses Abschnitts und in der Titelei des Buches; das erstgenannte Motiv ist als Antilope“ sti” lisiert, das letztgenannte als Fußabdruck einer Antilope“). Die Motive die” nen auch als Ged¨ achtnishilfen f¨ ur Geschichten oder Aufgaben, die wichtig
Die Motive
175
Abb. 6.
f¨ ur die Volksgesetze der Chokwe sind. Die Diagramme werden u ¨blicherweise von Chokwe-M¨ annern dynamisch gezeichnet; genauer gesagt handelt es sich um die akwa kuta sona, das heißt, um diejenigen, die zeichnen k¨ onnen. Diese Chokwe zeichnen mit den Fingern Linien in den flachen Sand, nachdem sie mit den Fingerspitzen Punkte gesetzt haben. Mit der Entwicklung der Erz¨ahlung wird das Motiv kontinuierlich als einzelne Kurve aufgebaut und die Erz¨ahlung endet, wenn das Muster vollst¨ andig gezeichnet ist. Es ist nicht gestattet, anzuhalten und mit einer anderen Kurve zu beginnen; tats¨achlich f¨ uhren Pausen zu Mißbilligungen von seiten des Publikums. Die Fertigkeiten werden in den sechs- bis achtmonatigen M¨ anner-Initiationsriten von Generation zu Generation weitergegeben. Ist der ggT der Abmessungen des Rechtecks von 1 verschieden, dann konnten wir uns davon u ¨berzeugen, daß sich das Diagramm nicht mit einer einzigen kontinuierlichen Bewegung zeichnen l¨aßt. Dieser Umstand widerspricht der obengenannten wesentlichen Anforderung an das Verfahren. Nat¨ urlich k¨ onnten solche Rechtecke einfach u ¨bergangen werden, aber eine alternative Strategie besteht darin, innerhalb der Anordnung kleine zweiseitige Spiegel zu positionieren, die eine Unterbrechung verhindern. Das hat den zus¨ atzlichen Vorteil, daß die Muster erh¨ oht werden k¨onnen; außerdem l¨aßt sich u ufen, ob die Abmessungen teilerfremd sind. Man betrachte zum ¨berpr¨ Beispiel Abb. 5, deren linker Teil das 2 × 4 Muster ist, das die Grundlage des Motivs von Kapitel 5 darstellt; in diesem Muster wurde horizontal ein kleiner zweiseitiger Spiegel positioniert. Wird nun der Weg von der Ausgangsposition aus gezogen, dann erkennen wir, daß die Spiegellinie ein vorzeitiges Schließen verhindert: alle Punkte werden von einem nicht unterbrochenen Weg eingeschlossen. Das auf diese Weise entstehende Muster ist auf der rechten Seite in gegl¨ atteter“ Form dargestellt. ” Als weiteres Beispiel f¨ ur diesen Effekt betrachten wir die 3 × 5 Anordnung, die zu Beginn von Kapitel 10 zu sehen ist und die sich nat¨ urlich mit einem einzigen ununterbrochenen Loop zeichnen l¨ aßt. Das Punktmuster, zu dem vier kleine horizontale zweiseitige Spiegel hinzugef¨ ugt wurden, ist auf der linken Seite von Abb. 6 dargestellt. Das gegl¨ attete“ Motiv ist auf der rechten Seite ” der Abbildung zu sehen. Dieses Motiv und seine gr¨oßeren Versionen werden als L¨ owenmagen“ bezeichnet. ”
176
Die Motive
Abb. 7.
Die 3 × 4 Anordnung von Kapitel 9 l¨ aßt sich durch zwei Mengen von zweiseitigen Spiegeln anreichern“, die jeweils rechtwinklig zueinander positioniert ” sind (vgl. linke Seite von Abb. 7); die gegl¨ attete“ Version ist wieder auf der ” rechten Seite der Abbildung zu sehen. Das Muster heißt Gejagtes Huhn“. ” Diese Motive sind also ein Bindeglied zwischen Kunst, afrikanischer Kultur und Mathematik, wobei der Euklidische Algorithmus einigermaßen u ¨berraschend auftritt. F¨ ur weitere Untersuchungen zu diesen und anderen, damit zusammenh¨ angenden Themen verweisen wir auf Paul Gerdes, Geometry from Africa: Mathematical and Educational Explorations (The Mathematical Association of America, 1999).
A Das Prinzip der Einschließung und Ausschließung
Dieses Prinzip wird verwendet, um die verschiedenen Elemente einer beliebigen Anzahl von u ahlen. Wir sehen uns zun¨achst das ¨berlappenden Mengen zu z¨ Venn-Diagramm in Abb. A.1 (a) an, bei dem sich genau zwei Mengen schneiden.
Abb. A.1.
Zur Berechnung der Gesamtzahl der Elemente k¨onnen wir alle Elemente der Menge A zu denen der Menge B hinzunehmen, aber wenn wir das tun, dann haben wir die Elemente des Durchschnitts doppelt gez¨ahlt; deswegen subtrahieren wir die Anzahl der Elemente des Durchschnitts einmal. Symbolisch ausgedr¨ uckt, bedeutet das: n(A ∪ B) = n(A) + n(B) − n(A ∩ B). ¨ Bei drei Uberlappungen (vgl. Abb A.1(b)) wenden wir das gleiche Verfahren an, nur ziehen wir diesmal alle Elemente ab, die sich in den drei Durchschnitten von jeweils zwei Mengen befinden. Damit haben wir aber nun auch diejenigen Elemente eliminiert, die sich im Durchschnitt aller drei Mengen befinden. Ein Hinzuf¨ ugen dieser Elemente liefert den Ausdruck n(A ∪ B ∪ C) = n(A) + n(B) + n(C) − n(A ∩ B) − n(A ∩ C) − n(B ∩ C) + n(A ∩ B ∩ C).
178
A Das Prinzip der Einschließung und Ausschließung
Allgemeinen gilt n
$ n
Ai
i=1
=
n
n(Ai ) −
i=1
+
n
n(Ai ∩ Aj )
i,j:i<j n
n(Ai ∩ Aj ∩ Ak ) − · · ·
i,j,k:i<j