OTTO ZIERER
BILD D E R J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
HEXENKESSEL ROKO...
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OTTO ZIERER
BILD D E R J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
HEXENKESSEL ROKOKO Unter diesem Titel ist der Doppelband 31/32 der neuen Weltgeschichte erschienen. Der Doppelband behandelt den 1. Teil des 18 Jahrh. n. Chr. Was die großen Geister der Barockzeit entdeckt und erdacht haben, wird von den Aufklärern — Gelehrten, Dichtern, Pädagogen und Buchdruckern — unter die Massen getragen. Der Kontinent löst sich immer mehr in ein Gebrodel geistiger, sozialer und machtpolitischer Kräfte auf. Die Enkel des Barocks klammern sich an ein morsches Feudalsystem. Die Zeit aber drängt zum Umsturz, zur Explosion und zur Erneuerung. Im Hexenkessel Rokoko zersetzen sich die sozial und politisch führenden Schichten der Vergangenheit
* Auch dieser Dqppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits ecschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. {Einzelbände 1—18 je DM 3.60.) Prospekt kostenlos vom VERLAG SEBASTIAN LUX - MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
Heinrich
HEFTE
Dittmar
van Goqfl v^og Leben und Werk des großen Malers
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK
Van Gogh „Die Sternennacht"
Elend u n d R u h m : zwei Bilanzen ein Künstler der letzten hundert Jahre war zeit seines Lebens so verkannt wie Vincent van Gogh; keiner aber auch, dessen Werke heute so zahlreich abgebildet werden wie die des großen Holländers. Wer kennt nicht seine Sonnenblumen, die flammend gelben Kornfelder, das blühende Mandelbäumchen, die lodernden Zypressen, die Blütensträucher, den Zuaven in «einem leuchtenden Rot oder das Porträt des jungen Mannes mit dem breitrandigen Hut vor dem volltönenden Blau eines strahlenden Himmels. Van Goghs Landschaften, die berühmte Zugbrücke von Arles, der Hof des Hospitals, seine Gärten im Frühling und reifen Sommer, er-
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scheinen uns, als hatten wir sie selbst durchsehritten. Die Gestalten des Malers: der Briefträger Roulin, Dr. Gachet, Pere Tanguy, sind uns ebenso vertraut wie die Selbstbildnisse des Dulders, aus denen die Not eines Lebens klagt. In ihren glühenden Farben, ihrem eigenwilligen, kennzeichnenden Formenspiel und ihrer überraschenden Frische muten die Bilder ganz gegenwärtig an, als wären sie gestern, soeben entstanden; und es kostet einige Mühe sich vorzustellen, daß die meisten von ihnen sechzig bis siebzig Jahre alt sind und daß hundert Jahre zurückliegen, seit dem Pastor Theodor van Gogh im Pfarrhaus von Groot Zundert, im holländischen Brabant, am 30. März 1853 der erste Sohn Vincent Willem geboren wurde: ein Sohn, der als Jüngling glaubte, wie der Vater das Evangelium verkünden zu müssen, der ein unstetes und immer am Rande des Absturzes dahintreibendes Leben führte, das zuletzt von schwerer Todessehnsucht überschattet wurde, und der doch bestimmt war, als einer der frühesten „modernen" Maler durch die Kraft und Unerbittlichkeit seines Schaffens die kommenden Generationen von Malern bis in unsere Zeit auf das Echte und Wahre in der Kunst zu verpflichten. Nichts könnte das umdunkelte Lebensschicksal dieses Mannes und die nach seinem Tode aufflammende Gewalt seines Nachruhms erschütternder veranschaulichen, als die Gegenüberstellung zweier Rechnungen, zweier ganz nüchterner Bilanzen, wie sie von Zeit zu Zeit im Hauptbuch des Lebens gezogen werden. „Man muß rechnen", so schreibt der Fünfunddreißigjährige am 20. Oktober 1888 von Arles an seinen Bruder Theo nach Paris, „Die Wahrheit ist, daß, wenn ein Mensch fünfzig Jahre lebt und 2000 Franken jährlich ausgibt, d. h. 100 000 Franken verbraucht, daß er dann für 100 000 Franken verdienen muß. Also muß man 1000 Gemälde zu 100 Franken in seinem Künstlerdasein machen, und das ist sehr, sehr hart." Besonders hart ist eine solche Aufstellung, wenn der also Rechnende zwar bis zur Grenze der Erschöpfung arbeitet und tatsächlich auch das errechnete Bilder-„Soll" erreicht, in seinem ganzen Leben aber nur ein paar Werke verkauft und alljährlich mit 2000 Franken bei seinem Bruder in der Kreide steht und bis an sein Lebensende stehen wird. Die andere Rechnung stammt aus dem Beginn des Jahres 1953 und wurde anläßlich des 100. Geburtstages des Malers von einer holländischen Zeitung aufgestellt. Sie lautet: van Gogh hat etwa 1500 Zeichnungen hinterlassen. Setzt man den heutigen Preis eines
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einzelnen Blattes mit 10 000 Gulden an, dann ergäben alle Blätter eine Gesamtsumme von 15 Millionen Gulden. Hinzu kommen etwa 1000 Gemälde des Künstlers aus seiner besten Zeit. Da ein Bild seiner Frühzeit, der sogenannten Brabanter Periode, für 30 000, eines der Spätzeit (Arles, „St. Remy") für 135 000 Dollar verkauft wurde, darf man einen Durchsclinittspreis auf dem internationalen Kunstmarkt von 70 000 Dollar annehmen. Die tausend Gemälde ergeben demnach einen Gesamtwert von etwa 70 Millionen Dollars. Rechnet man den Wert der Zeichnungen hinzu, so ergibt das Lebenswerk des Malers einen Handelswert von 73 Millionen Dollars. Für diesen Preis, so bemerkte die holländische Zeitung lakonisch, könnte man zwei moderne Schlachtschiffe bauen! Neben seinen Zeichnungen und Gemälden hat van Gogh ein zweites, fast ebenso umfangreiches und bedeutendes Werk hinterlassen, seine Briefe. Sie umfassen insgesamt mehrere gedruckte Bände, die meisten sind an seinen Lieblingsbruder, Theo van Gogh, gerichtet. Dazu kommen die Briefe an die Maler Emile Bernard, Paul Gauguin, Paul Signac und John Russell und an einige Bekannte. Sie sind frisch, freimütig geschrieben, offene Bekenntnisse eines brennenden Herzens. Deutlicher als je eine Biographie oder eine kunstkritische Betrachtung es vermöchte, wird aus ihnen das Auf und Ab dieses sich ewig verzehrenden Lebens lebendig; unentbehrlich sind sie, wenn man van Goghs leidenschaftlich bewegtes Kunstschaffen begreifen und deuten will. Der Mann, von dem mißgünstige Kritiker in völliger Verkennung seines Werkes behaupteten, seine Bilder seien das Produkt des Wahnsinns und an vielen von ihnen lasse sich die Umschattung seines Geistes unmißverständlich ablesen, dieser Mann spricht sich in seinen Briefen, selbst in der Epoche seiner Erkrankung, völlig unpathetisch, natürlich und menschlich aus. Und er sagt ganz unmißverständlich, warum er so und nicht anders gemalt hat — man muß ihn nur selbst fragen! Alles, was einen begnadeten und mit allem Leid der Welt belasteten Menschen nur bewegen kann, ist in diesen Briefen zu finden. Da sind Worte eines erwachenden Glaubens an die künstlerische Sendung: „. . . ich werde wieder in die Höhe kommen, ich werde meinen Stift, den ich in meiner großen Entmutigung im Stich gelassen habe, wieder aufnehmen, und ich werde mich wieder ans Zeichnen begeben, und seitdem hat . . . sich alles für mich geändert . . . " Und da sind die Ahnungen eines frühen Todes: „Was die Länge der Zeit, die ich noch zum Arbeiten vor mir habe, anlangt, so glaube ich, ohne voreilig zu sein, annehmen zu können, daß mein armseliger Leib wahrscheinlich noch eine bestimmte An4
Aus einem Brief an Bernard mit Skizze für eingeplantes Bild und genauen Angaben der Farbtöne, die er verwenden will. Die .Zeichnung zeigt die Brücke in Arles.
zahl von Jahren . . . aushalten wird — eine bestimmte Anzahl, nimm einmal an zwischen sechs und zehn." Vincent van Gogh schrieb diese Sätze im Sommer 1883 nieder; sieben Jahre später sollte sein Leben im jähen Absturz enden. Da sind die ewigen Sorgen um Brot und Trank, um Farbe und Leinwand: „Theo, aber bei alledem — ich bin augenblicklich verteufelt arm. Viel malen ist teuer!" Und immer wieder die Bitte um ein paar Franken, aber auch das zufriedene Sichbescheiden, wenn die nötigsten Lebensbedürfnisse erfüllt sind und seine Hand wieder zupacken kann: „. . . mag auch für einen Augenblick die Lust nach einem Leben frei von Sorgen und nach Glück in mir aufkommen, so kehre ich doch stets mit Liebe zur Mühe, zur Sorge, zu einem mühseligen Leben zurück und denke: Es ist besser so, ich lerne mehr dabei, ich bin deshalb auch um nichts weniger wert, nicht auf diesem Weg geht man unter." Am genauesten und einprägsamsten wird die Sprache in den Briefen, in denen Vincent schildert, was er zu malen begonnen hat. Wenn die Worte nicht mehr ausreichen, zeichnet er auf den Briefbogen mit ein paar Strichen eine Skizze des geplanten Bildes und gibt an, wie er die Farben wählen will. So läßt sich die Entstehung vieler seiner Bilder an Hand seiner Briefe oft bis zum Naturerlebnis zurückverfolgen, bis zu jenem Augenblick, da ein erregendes Motiv draußen in der Landschaft und in der Menschenwelt die schwelende Glut seines Innern zum Brennen brachte und die Schaffenskraft in Bewegung setzte. Denn für van Gogh ist die Natur noch der große, ungetrübte Quell allen schöpferischen Strebens. Sie ist ihm „das Wahre und Mögliche"; sie in der Kunst stürmisch zu feiern, ist sein Ziel, das er mit letzter Hingabe verfolgt, „so wenig zuständig man sich auch der unsagbaren Vollkommenheit, der gloriosen Herrlichkeit der Natur gegenüber fühlen mag." Leidenschaftliche Ergriffenheit ist der Grundakkord seines Werkes, die Perioden tiefer Niedergeschlagenheit und des körperlichen Zusammenbruchs ändern nichts daran, sie steigern nur den Schlag seines Herzens. „Du wirst stärker sein als zuvor", schreibt er an den Freund Bernard, „und du wirst die Natur . . . so schön finden, daß du keinen anderen Wunsch mehr haben wirst, als den, sie zu malen. Denn die Natur, unsere Erde mit allem, was. sie bedeckt, mit Pflanzen, Tieren und den Mitmenschen: dieser Serie von Zweifüßlern, vom Säugling bis zu Sokrates und von der Frau mit dem schwarzen Haar und der weißen Haut bis zu der Frau mit gelbem Haar und ziegelrotem, von der Sonne verbranntem Gesicht . . ." —— all dies ist von Gott zur Beglückung und zur Erbarmung erschaffen. 6
Deshalb liebte er das Leben, diese Welt und die Menschen. „Ich schäme mich nicht zu sagen, obwohl ich sehr gut weiß, daß das Wort Menschlichkeit schlecht angeschrieben steht, daß ich stets das Bedürfnis hatte und auch behalten werde, irgendein Geschöpf zu lieben. Ich habe einmal einen armseligen verbrannten Minenarbeiter verpflegt, sechs Wochen oder zwei Monate lang, ich habe mein Essen einen ganzen Winter mit einem alten Mann geteilt . . . ich glaube immer, daß das einfache ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst' keine Übertreibung ist, sondern der normale Zustand." Aus dieser demutvollen Verehrung für alle Kreatur entwarf er seine Werke, jedes seiner Bilder wurzelte in dem unerschütterlichen Glauben an den Erschaffer der Gotteswelt. Das ist wohl letztlich, was ihn von vielen zeitgenössischen und späteren Künstlern unterscheidet, die blind sind für das Ewige in den Geschöpfen.
„Vincent Vincent van Gogh — „Vincent", wie der Franzose ihn wegen der schwierigen Aussprache seines Nachnamens und wie er sich dann selber nannte — entstammt einer altangesehenen holländischen Bürgerfamilie; sein einziger Neffe, Theos Sohn, der nach seinem Onkel Vincent Willem heißt, führt als Ingenieur in Laren bei Amsterdam auch heute noch das Leben eines angesehenen Bürgers. Ratsherren, Goldschmiede, einen Bildhauer und mehrere Theologen zählt der Maler zu seinen Vorfahren. Vincents Großvater und Vater waren Pastoren, ein Onkel Vizeadmiral und Erster Direktor der Amsterdamer Marinewerft. In der Familie van Gogh waren also die Kräfte jenes stolzen holländischen Bürgertums lebendig, die in der Rembrandtzeit das Land groß gemacht hatten. Da die Malerei von altersher im holländischen Volk größtes Ansehen genießt, fehlte es in der Familie auch nicht an Männern, die sich, wenn schon nicht als Künstler, so doch wenigstens als Kunsthändler mit ihr beschäftigten. Drei Brüder des Pastors Theodor van Gogh waren Kunsthändler, Heim van Gogh hatte sich in Brüssel niedergelassen, Onkel Cor gründete in Amsterdam die bekannte Firma C. M. van Gogh und der dritte, mit Namen Vincent, der Patenonkel des zukünftigen Malers, betrieb einen Laden für Malutensilien im Haag. Er vergrößerte ihn zu einer betriebsamen Kunsthandlung, die schon bald von der angesehenen Pariser Kunstfirma Coupil & Co. übernommen wurde, in die der Onkel als Teilhaber eintrat. Die schöpferische Begabung war neben Vincent van Gogh nur dem Vetter Anton 7
Mauve vererbt, einem bedeutenden Aquarellmaler, mit dem Vincent im Laufe seines Lebens manche Begegnung hatte. Aus dem Erbe seiner Heimat und seiner Familie waren dem jungen van Gogh die Grundkräfte mitgegeben, mit denen er sich in Leben und Werk auseinandersetzen mußte: das Bürgertum als soziale, der christliche Glaube als geistige, die Malkultur Hollands und der Zeitgenossen als künstlerische Gegebenheit. Zur Tragik seines Lebens gehorte es aber auch, daß von Geburt an der Keim der Krankheit in ihn gelegt war, Blutserbe seiner Vorfahren, das eines Tages zu seinem Verhängnis werden sollte. Vielleicht war es dieses zunächst noch untergründige Kranksein, das Vincent van Gogh schon in der frühen Jugend auf eigene Wege wies, so daß er der eigenen Familie so fremd und unbegreiflich wurde wie aller Umwelt. Seinen jüngeren Geschwistern, ja auch den Eltern gegenüber blieb er stets ein Rätsel, ja oftmals ein Ärgernis, wie seine Schwester Elisabeth berichtet. Wie ein Wildbach brach er in die bürgerliche Welt des Elternhauses. Nur mit seinem Bruder Theo verband ihn seit dessen 15. Lebensjahr eine Seelenfreundschaft, wie sie unter Geschwistern nur selten ist. Theo van Gogh war zeitlebens der Hort, zu dem sich der Hin- und Hergeworfene immer wieder zurückfand. Aber auch die Eltern versagten sich ihm nicht, wenn er, oft genug, wie ein Vagabund an ihre Türe klopfte und um Einlaß und Geborgenheit bat nach Zeiten stürmischen Umhergetriebenseins. Vincent hat es seinen Eltern wahrhaftig nicht leicht gemacht; doch niemals ist er wegen seiner Absonderlichkeit abgewiesen worden, obwohl sein bürgerliches Leben sehr bald nur noch als gescheitert bezeichnet werden mußte. Die Dorfschule, das Pensionat Provily in der benachbarten Stadt Zevenbergen sind die Stationen seiner Kindheit. Den ersten großen Schritt ins Leben tut er am 30. Juli 1869, als er bei seinem Patenonkel in die Kunsthandlung Coupil im Haag eintritt. Zum erstenmal kommt er mit der Welt der Kunst in Berührung. Die Welt der Kunst — das heißt für das Jahr 1869: riesenhafte Historienbilder bewundern, die mit heroisch-pathetischen Figuren vollgepfropft sind; oder das heißt: sich an Bildern erbauen, die empfindsame Stimmungen beschreiben wollen. Das heißt, eine gefällige, gefallsüchtige Malerei lieben, bei der Kritiker und Publikum nur nach dem Inhalt fragen und nach der oberflächlichen, geschniegelten Malweise, die nicht an die Tiefe des Menschtums und der Natur rührt. Aber es gibt auch „Moderne", die des herkömmlichen, akademischen Malens in strengen Ateliers müde sind und draußen das Leben 8
mit seiner Farbigkeit suchen, um es darzustellen. Da sind ein Delacroix (1798—1863), einer der Größten des Jahrhunderts, der nach einer Epoche der lebensfernen Historienkunst die aktuelle Wirklichkeit und die „Farbe" entdeckt; ein Corrot (1796—1875), der in Barbizon aus Schatten und Licht Landschaften in einer neuen Natursicht malt, „morgenschön und morgenzart"; und da sind vor allem die beiden Revolutionäre Gustave Courbet (1819—1877) und der Bauernsohn Jean Francois Millet (1814—1875): sie haben sich von aller Schönfärberei abgewendet und malen die Angehörigen der niederen Klassen bei der Arbeit, in ihrem schweren, dunklen Schicksal, die „Steinklopfer" (Courbet) und „Kornschwinger", den „Mann mit der Hacke" und die „Ährenleserinnen" (Millet). Und da ist noch ein gewisser Eduard Manet (1832—1883). Seine Bilder sind aus dem berühmten Pariser „Salon" verbannt worden; auch auf der Pariser Jahresausstellung der Künstler haben seine Gemälde einen Skandal entfesselt, da er die alltägliche Gegenstandwelt der Gesellschaft als Motiv auswählte, aber sie in einer ganz ungewohnten Flächigkeit, Earbigkeit und Schroffheit darbot. Da man ihn aus den offiziellen Ausstellungssälen verwies, hat er zur Weltausstellung 1867 in Paris auf eigene Faust in einer Baracke ausgestellt und den „Salon der Zurückgewiesenen" mitbegründet. Eine große Revolution der Kunst kündigt sich an, sie schafft eine neue Generation von Malern, die die flutende Bewegung, das Verwehende, Flüchtige im Spiel der Naturerscheinungen, der Gegenstände, Menschen und Menschengruppen, ihrer Formen, Tönungen, Farben, Schatten und Lichter andeutend, zerfließend wiedergibt, so wie sie der Eindruck erfaßt. Man wird diese skizzenhafte, schnell festhaltende Mal- und Sehweise künftig „Impressionismus" nennen (Impression — Eindruck); aber 1869 ist dies alles kaum mehr als ein erstes Wetterleuchten, das der junge Kunsthändler Vincent noch kaum wahrnimmt. Der junge Mann, den man später einmal zu den Überwindern des Impressionismus zählen wird, verkauft erst einmal Bilder mehr oder weniger unbekannter Maler der alten Schule.
Im dunklen Land der Schächte 1873 wird Vincent in die Filiale der Firma Coupil nach London versetzt, während sein Bruder Theo in die Brüsseler Niederlassung derselben Firma eintritt. Das brausende Leben der Weltstadt zieht ihn in seinen Bann; wenn der rotblonde Kunsthandelsgehilfe — unter dem steifen Hut ein bäuerlich-knochiges Gesicht — durch 9
das Gewühl der Straßen geht, überkommt ihn das Gefühl eines großen Glücks. Er wird dieses Leben meistern! Aber schon senkt sich das erste Dunkel über sein Dasein. Ein Jahr verbringt Vincent in London. Eine stille, uneingestandene Liebe keimt in ihm auf zu Ursula Loyer, der Tochter der Familie, bei der er wohnt. Was er für sie empfindet, hält er in sich verborgen; als er es dann nach Jahresfrist über sich bringt, ihr seine Liebe zu gestehen, erfährt er, daß sie bereits verlobt und nicht gewillt ist, das bestehende Verlöbnis zugunsten des hageren, unansehnlichen und wenig verdienenden Mieters aufzugeben. Bei jedem anderen wäre das vielleicht eine schmerzliche Liebesgeschichte geblieben, über die man zunächst niemals hinwegzukommen glaubt und die dann doch durch die heilende Kraft der Zeit bald überwunden ist. Aber Vincent, der sich in allem, was er tut und erleidet, bis ins Letzte krankhaft verzehrt, stürzt in unendliches Leid, erträgt diese Absage nicht. Zum erstenmal hat er erfahren, was ihm von nun an so oft begegnen wird: Die Menschen lehnen ihn ab. Im Innersten getroffen, verläßt er London, flüchtet sich in die Bücher, liest das Evangelium und begegnet hier Ausgestoßenen, wie er selber es zu sein glaubt, hört die Botschaft der Bergpredigt und vernimmt den Aufruf Gottes zu entschiedener Tat. Um ihn aus dieser Gedankenwelt zu lösen, schickt man ihn 1874 nach Paris, dann abermals nach London und im Mai 1875 zurück nach Paris. Und hier rebelliert Vincent gegen seinen Beruf. „Menschenhändler", „Zwiebelverkäufer" nennt er von nun an die Kunsthändler, die durch schlechte, seichte Ware das Wertgefühl der Menschen vergiften und sich an der edelsten Gottesgabe, der Kunst, versündigen. Anstatt den Kunden nach deren eigenem Geschmack oder nach den Wünschen der Auftraggeber zu verkaufen, versucht er ihnen Bilder aufzudrängen, die er für besser hält. Die Unbedingtheit seiner Einstellung den Werten des Geistigen gegenüber führt zu Zwischenfällen. Er macht sich als Geschäftsmann unmöglich, man setzt ihn vor die Tür. Drei Jahre danach ist Vincent bereits der zweite Start in eine bürgerliche Existenz mißglückt. Zunächst ist er nach England zurückgekehrt (April 1876). In Ramsgate und Isleworth schlägt er sich als Hilfslehrer („halb Schulmeister und halb Prediger") durch. Er zeichnet auch gelegentlich, und in seinen Briefen an Theo ist schon von der tieferen Bedeutung der Farbe, von Zartblau, Graurot und Purpur die Rede. Aber es ist nur ein erstes Ahnen der eigentlichen Berufung. Am liebsten möchte er „unter den Arbeitern und Armen umhergehen, um die Bibel zu verbreiten". 10
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Er wird Buchhändlersgehilfe in Dordrecht (Holland), findet hier Gelegenheit zum Apostolat des guten Buches und zur Vertiefung seiner eigenen religiösen Vorstellungswelt. Diese Zeit ist ihm nur Übergang. Am 9. Mai 1877 reist er mit großen Hoffnungen nach Amsterdam, um sich zur Aufnahme ins Theologische Seminar der Universität vorzubereiten. Er lernt Lateinisch und Griechisch, um nachzuholen, was die Jüngeren ihm voraus haben. Es ist schwer für ihn, den es zur Arbeit an den Menschen treibt, diese Zeit gehorsamen Bücherstudiums durchzuhalten. Sieben Jahre werden gefordert, aber van Gogh glaubt so lange nicht warten zu können. Schmerzlich erkennt er, daß er nicht zum „Studierten" berufen und geeignet ist. — Falls er es gewußt hätte, es würde ihm wenig Trost bedeutet haben, daß vor mehr als 250 Jahren, im Mai 1620, ebenfalls ein junger Holländer mit dem gleichen Mißerfolg in die Lateinklasse der Universität von Leyden eingeschrieben worden war: Eembrandt van Rijn. — So sucht Vincent einen schnelleren Weg „ins Gelobte Land" des tätigen Christentums. Er tritt in die Missionarschule in Brüssel ein, die er nach dreimonatiger Ausbildung als freier Prediger verläßt. Dorthin geht er, wo die Not am größten ist, ins Elendsgebiet des belgischen Kohlenbergbaus, ins Borinage, in das dunkle Land der Schächte. In der armseligen Kammer eines Hausierers in Paturages bei Mons hat der junge Missionar sein Quartier aufgeschlagen, wird ein „Freischärler Christi". Er ist wegen seines schlechten Gesundheitszustandes und seiner seltsamen, sozialen Ansichten über die Bruderund Menschenliebe noch nicht angestellt worden, er schlägt sich mit Unterricht durch, hält Bibelstunden bei den Kumpels ab, tröstet Kranke, sammelt Kinder um sich, um sie zu unterrichten. Endlich, im Januar 1879, wird er als Pfarrhelfer nach Wasmes berufen. Der erste, zaghafte Schritt in ein neues Leben scheint geglückt. Aber ein knappes halbes Jahr danach wird Vincent zum zweitenmal in seinem Leben auf die Straße gesetzt: Einen Pfarrhelfer wünscht die Behörde, nicht einen Sonderling, obwohl er sich aufzehrt im Dienst an Armen und Kranken und buchstäblich alles, die eigene Jacke, das eigene Bett verschenkt, bis er zum Schluß selbst kraftlos und fiebernd auf seiner Strohschütte zusammenbricht. Wer heute davon hört, mag van Gogh für überspannt halten; aber ein tief empfindender Mensch, der an einen göttlichen Auftrag glaubt, konnte angesichts des unbeschreiblichen Elends in den Revieren jener Zeit kaum anders handeln. Es war die Epoche der stürmisch aufsteigenden Großindustrien, in der es weder Arbeiterschutz in den gefährlichen Schachtbetrieben, noch eine zureichende 11
gewerkschaftliche Selbsthilfe der Arbeiter gab, in der selbst Kinder und Frauen vierzehn Stunden unter Tage härteste Grubenarbeit leisten mußten, damit der Familienlohn zum Nötigsten ausreichte. Als nach einem Grubenunglück in der Borinage die verzweifelten Bergleute ihre Lage durch Streiks und Aufstand zu verbessern suchten, hoffte Gogh, für sie erfolgreich sprechen zu können; aber er erkannte die Ohnmacht des Einzelnen und der Schwächeren im Kampf mit dem wirtschaftlich Stärkeren. Der armselige, kleine Missionar, der den Ideen des Urchristentums nachgrübelte, wurde zwischen den Fronten zerrieben. In dieser sozialgeschichtlich so folgenschweren Epoche, als sich das immer wieder enttäuschte Proletariat mehr und mehr von der religiösen Tradition abzuwenden begann und im Klassenkampf den einzigen Ausweg sah, als jene Entwicklung einsetzte, die erst in der Gegenwart rückläufig zu werden beginnt, vollzog sich auch in van Gogh ein entschiedener Wandel. Die bürgerliche und theologische Überlieferung der eigenen Familie machten es ihm unmöglich, zum haßerfüllten Revolutionär zu werden. Zwar wird er bis ans Ende die Liebe zum arbeitenden Menschen nicht aufgeben, aber er muß einen anderen Weg suchen, auf die Mensdienkreatur Einfluß zu gewinnen. Van Gogh glaubt, daß die Kunst das Feld ist, das ihm zu beackern bestimmt wurde.
Ein Malerleben Doch bis dahin ist es noch eine lange Frist. Das Leben versinkt ihm in neue dunkle Tiefen. Seine Kunsthändlerhaut hat er längst abgestreift, jetzt reißt er sich den Gedankeu, tätiger Helfer der ' Armen zu sein, aus dem Herzen. Wie eine Pilgerfahrt erscheint der lange Fußmarsch nach Courrieres zu dem verehrten Maler Jules Breton (1827—1906), der ihm durch seine Elendsbilder aus den Revolutdonstagen von 1848, seine Bilder aus dem Bauernleben und seine aufrüttelnden Dichtungen am meisten verwandt erscheint und ihm vielleicht einen Weg sagen kann. Nachts schläft Vincent unter freiem Himmel, tauscht gelegentlich Zeichnungen gegen ein Stück Brot ein. Endlich am Ziel, wird er an sich selber irre, fühlt die ganze Schwere der Entscheidung, wagt nicht anzuklopfen; auf der Schwelle macht er kehrt. Es ist nicht nur Verzagen, es ist wohl auch die Ahnung, daß niemand in diesem Entschluß raten oder helfen kann, es sei denn das eigene Herz, die Stimme von innen. Noch einmal kehrt er ins Borinage nach Cuesmes zurück (Sommer 1880), doch jetzt nicht mehr um zu predigen, sondern um zu zeichnen. 12
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Porträt eines Bauern
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Seit der Lehrzeit in Brüssel (1869) hat Vincent — unruhigen Geistes wie Beethoven — dreizehumal seinen Wohnsitz verändert, ungerechnet die Wohnungswechsel am selben Ort. Er ist ein Umhergetriebener. Auch in Zukunft wird sich nicht viel daran ändern, und wiederum dreizehnmal wird sich der Rastlose noch umquartieren müssen, bis man ihm seinen letzten Ruheplatz anweisen wird. Vincent beginnt im Oktober 1880 sein Malerleben dort, wo er als Kunsthändler begonnen hat, in Brüssel. In dem Maler Rappard, einem 22jährigen Aristokraten, gewinnt er einen hilfsbereiten Freund, mit dem er zusammen die berühmten Museen durchstreift und in dessen Atelier er arbeiten darf. Er zeichnet viel nach lebenden Modellen, nimmt bei einem armen Maler Privatunterricht in der Perspektive, denn seine Hand ist schwerfällig wie die Hand eines Holzhackers, und an zeichnerisch-handwerklichem Talent ist ihm sicher mancher überlegen. Noch Jahre danach, während der großen Schaffensperiode von Arles, wird er nicht ganz ohne seinen Perspektivrahmen auskommen, den er sich nach Dürers Vorbild hat bauen lassen. Von April bis Dezember 1881 hält er sich bei seinen Eltern im Pfarrhaus von Etten auf. Er zeichnet die Weber am Webstuhl, die Landleute bei der Arbeit und hofft, endlieh Heim und Familie zu finden. Sein Herz hat sich wieder einmal verloren. Die Frau, die er sich als Gefährtin erträumt, ist eine Nichte seines Vaters, eine junge Witwe aus Amsterdam mit ihrem Söhnchen, die einige Zeit in der Pfarrei zu Besuch weilt. Vincent beginnt um sie zu werben, doch wie in London ist die Antwort ein unabänderliches „Niemals!" Audi eine Bittfahrt nach Amsterdam ändert nichts an der schroffen Ablehnung. Vincent ist auf sich und seine Malerei zurückgestoßen. Wie ein Fingerzeig ist in diesem Augenblick ein Geschenk, das sein Vetter Mauve ihm zugeschickt, ein Malkasten. Mehr noch, Mauve, längst ein bekannter Maler, lädt ihn nach Den Haag ein, um ihn auszubilden. Vielleicht würde heute kaum noch von van Gogh gesprochen werden, wenn nun alles so verlaufen wäre, wie Mauve es sich vorstellte. Vincent wäre ein mehr oder minder guter Maler der alten Schule, einer von vielen geworden. Aber, eigenwillig und gegen jede Kunstäußerung aufbegehrend, die nicht in völliger Aufrichtigkeit, aus innerer Notwendigkeit entstand, weigert er sich, in der alten Manier zu zeichnen und mit dem Abmalen von Gipsabgüssen zu beginnen. Er will, wie Millet, den arbeitenden Menschen darstellen, er überwirft sich mit Mauve. Die Sehnsucht nach einer gewissen häuslichen Geborgenheit, und sei es auch in armseligster Behausung, 14
führt ihn in das Haus einer Frau, die von allen verachtet wird. Christine ist verschuldet, pockennarbig, dem Trünke verfallen, sie leidet unter Krämpfen. Aber für Vincent ist sie „seine arme gemarterte Sine", die er aus dem Abgrund erheben will. Er lebt mit ihr, mit ihrem Kinde, und es scheint, als sei es ihm endlich gelungen, einen wenn auch jammervollen Hausstand zu gründen; er will nicht sehen, daß sein ganzes Dasein darüber zugrunde gehen muß. Mehrmals kommen die Gerichtsvollzieher zu ihm, da die Frau von Schulden überlastet ist. „Ich habe ihnen meine vier Küchenstühle und den ungestrichenen Tisch gezeigt . . . darauf haben sie mir Mahnzettel geschickt; aber ich habe mich nicht darum gekümmert und ihnen, als sie einmal deshalb wiederkamen, gesagt, es sei nutzlos, sie zu schicken, weil ich einfach meine Pfeife damit anzünde . . . Seitdem haben sie mich in Ruhe gelassen." Auch Mauve hat sich zurückgezogen. Nur Theo hält mit dem Bruder weiterhin Verbindung, bittet inständig, dieses Verhältnis zu lösen. Er vor allem ist berechtigt, dem herabgesunkenen Bruder Vorwürfe zu machen, denn längst ist er es, der dem Hungernden den Lebensunterhalt bestreitet. Seit zwei Jahren schickt er monatlich 100 Franken aus Paris, wo er, wie einst Vincent selbst, bei Goupil angestellt ist. Diese brüderliche Liebe ist etwas ganz Ungewöhnliches, Unvergleichliches. Zehn Jahre lang ist fast jeder Franken, den Vincent ausgegeben hat, von Theo van Gogh verdient worden, er sichert und verwahrt auch jedes Gemälde von Vincents Hand (mit Ausnahme einiger Tauschbilder, die an Bernard und Gauguin gingen); denn er glaubt an die Berufung des Bruders, niemals ist er treulos oder zweifelnd geworden. Jetzt aber ist es Zeit, den Bruder aufzurütteln. Er besucht Vincent, sieht das entnervende Milieu, und schließlich sieht Vincent ein, daß er sich von dieser Frau trennen muß, wenn er je wieder zu sich zurückfinden will. Im Dezember 1880 kehrt er ins Elternhaus heim. Hinter ihm liegen Brüssel, die Ausflüge zu den Fischern in die Dünen von Scheveningen, Woorburg, Leidschendau, die Wanderungen in die Heide von Hoogeveen, wo er Strohhütten gezeichnet hat und Bauern bei der Arbeit. Hinter ihm liegt auch sein erster Auftrag, zwanzig Federzeichnungen nach Brüsseler Stadtmotiven — es sollte einer der wenigen Aufträge bleiben, die ihm etwas Geld ins Haus brachten. Im Waschhaus seiner Eltern, die inzwischen nach Nuenen versetzt wurden, dann in zwei Kämmerchen beim Küster des Dorfes, richtet er sich sein Atelier ein. „Nachlässig gekleidet, im blauen Kittel flämischer Bauern, das Haar kurz, der Bart rostbraun und struppig, die Augen zuweilen entzündet und rot vom Anstarren irgendeines 15
Gegenstandes in der Sonne, den Hut mit der weichen Krempe tief in die Augen gedrückt. . .", so beschreibt den Zweiunddreißigjährigen die Schwester. Aber er malt und malt. Eine „brotlose Kunst", sagen die Bauern, und sie mißachten ihn wie einen „zottigen Hund" Niemand ist da, der erkennt, welch hohe Begabung, welch neue Welt sich in den Bildern kundtut, die er trotz aller Lebensmisere von seinen Wanderfahrten ins Moor, an die Kanäle, zu den Torfbauern in seine Behausung zurückbringt.
„Gesellschaft der Ausgestoßenen" So erlebt Vincent auf seine Weise, was allen Künstlern seit dem Umbruch des Kunststils, insbesondere aber seit dem Anbruch des sogenannten impressionistisdien Zeitalters, widerfährt: Unverstand und Verständnislosigkeit dem Neuen gegenüber, die Verbannung ins Außenseiterdasein. Aus der „Gesellschaft" haben sich die Künstler in ihre „Gesellschaft der Ausgestoßenen" zurückgezogen; 1880 hat die fünfte Ausstellung der Impressionisten an der Rue des Pyramides in Paris stattgefunden. Ein gewisser Gauguin, der seine glänzende Karriere als Bankbeamter aufgegeben hat, um Maler zu werden, macht von sich reden. Es scheint, als hätten die Impressionisten, die bisher am kühnsten in Neuland vorgestoßen sind, erkannt, daß die sehr weiche, ganz dem Augensinn verhaftete Malw6ise der Härte der Zeit nicht mehr genüge. Die Maler Paul Signac und George Seurat, die auf ihrer Palette die Farben nicht mehr mischen, sondern die „reinen" Farben in getrennten Punkten und Strichdien auf die Leinwand setzen („Pointillismus"), um dadurch die Farbe noch heller klingen zu lassen, haben sich bereits als „Neuimpressionisten" selbständig gemacht und die „Gesellschaft der Unabhängigen" gegründet. Während Theo van Gogh in Paris durch Pissarro (1830—1903), der die Malweise mit Farbtupfern von Signac und Seurat übernommen hat* mit der hellen Freilichtmalerei und den Bestrebungen der modernen Künstler bekanntgemacht wird, fährt Vincent fort, seine dickaufgetragenen, unheimlich ernsten Ölbilder zu malen, die ganz auf das Gelbbraun der alten Holländer abgestimmt sind. Aus dieser Periode van Goghs ist nur ein Bild wirklich bekannt geworden, die „Kartoffelesser". Mit diesem Thema hat sich der Maler 1884 auf 1885 lange befaßt, viele Kopf- und Handstudien dazu angefertigt, es in verschiedenen Fassungen gemalt und in Steindruck vervielfältigt (eine der seltenen Vervielfältigungen wurde auf der 16
Die „Kartoffelesser" als Lithographie, 1885
14. Stuttgarter Kunstauktion im November 1951 für 2500 DM verkauft). Eine Bauernfamilie, ursprünglich sind es vier, auf den meisten Fassungen fünf Personen, sitzt bei Tisch. Deutlich klingen hier die Erlebnisse des Borinage nach. Die Armut der Menschen soll das Herz des Betrachters rühren: Ausgemergelte Gesichter, knochige Hände, die das Brot, den Teekessel fassen, mit der Gabel in dampfenden, trockenen Kartoffeln herumstochern, schweigsam die Szene, eine jede Gestalt von der Hast der Tagesarbeit und des kargen Lebens müde in sich versunken. Scheint van Gogh mit diesem Bild im Stofflichen bei Millets Bauernmalerei anzuknüpfen, so bleibt er in der Färb- und Lichtführung bei dem Hell-Dunkel der alten Holländer. Und dennoch ist an diesem Bild, mehr als an allen übrigen dieser Epoche, bereits etwas, das nicht allein aus der Tradition zu erklären ist. Die starke Überzeichnung der Gesichtszüge, die Steigerung des Ausdrucks bis dicht an die Grenze der Karikatur will mehr als nur die „Impression" wiedergeben, das, was das Auge sieht — hier wird eine andere Wirklichkeit nahegebracht, wie der Künstler sie im Innern erlebt und erleidet und wie er sie dem 17
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Beschauer zum Ausdruck („Expression") bringen will. Später, etwa dreißig Jahre danach, wird man mit Recht sagen dürfen, die „Kartoffelesser" seien eines der ersten expressionistischen Bilder. Antwerpen mit seinen Matrosenkneipen, Handelshäusern, der Nähe des Meeres und seiner berühmten Rubens- und Brueghelsammlung ist die nächste Zwischenstation. Vincent besucht einige Zeit die Kunstakademie, zeichnet bis in die Nacht hinein nach lebenden Modellen. Seine Hand wird leichter. Wie eine Offenbarung ist ihm die Begegnung mit japanischen Holzschnitten, die ihn durch die Sparsamkeit der Kunstmittel, die Tiefe der Empfindung, die Genialität der Komposition ergreifen. Doch auch hier in der Akademie kann van Gogh das Ungebärdige seines Charakters nicht verleugnen; er überwirft sieh mit seinem Lehrer und hinterläßt schließlich bei seinem Wirt und Farbhändler einen Stapel Bilder (sie sind verschollen), um seine Schuld zu begleichen. Sein Ziel heißt Paris.
In Paris Das Leben in Paris? Vincent kriecht bei Theo in der Rue Laval unter, haust dann in der Rue Lepic 54, wo ihm der Bruder eine Schlafkammer und ein Zimmer als Atelier überläßt. Vincent zeichnet im Atelier Cormon, betrachtet in den Museen ostasiatische Kunst, arbeitet im Atelier seines 18jährigen Freundes, des Malers Emile Bernard, draußen in Asnieres. Er malt 200 Bilder in genau zwei Jahren. Er kennt jetzt die meisten bedeutenden Maler persönlich, jene Maler, denen Paris bis zum heutigen Tag seinen Ruf als Mekka der modernen Kunst verdankt; Pissaro, Gauguin, Degas, ToulouseLautrec, Monet, Seurat, Signac geben den Ton an, man diskutiert in Ateliers, Ausstellungen und Cafes. Zwei Jahre verlebt Vincent in Paris (1886—1888), und nach diesen beiden Jahren ist aus dem schwerblütigen Holländer anscheinend ein Impressionist geworden, der dem Sinnenreiz des Augenblicks verfallen ist. Leuchtend sind jetzt die Farben, aufgelockert die Formen, die dunkle Schwere seiner Bilder aus dem sozialen Leben ist aufgelichtet. Der Park von Asnieres, die Seinebrücken und -ufer, der Montmartre, die Ecke in einem Restaurant, das sind jetzt die Motive; und wenn ein paar Figuren auftauchen, sind sie nur lebendes Beiwerk. Noch ist ihm nicht bewußt geworden, daß auch dies sein eigenes Anliegen nicht sein kann. In dieser Zeit eignet er sich die „pointillistische" Pinselführung des Neuimpressionisten Seurat an, die Auflösung der Farbfläche in 18
ein Mosaik von Strichen, Fleckchen, Tupfern. Aber schon spürt man das Eigene in seiner Technik, die das Ausgeklügelte, Durchdachte seines Vorbildes nicht übernehmen will. Seine Pinselführung bleibt eigenwillig, die Farbe wird erregt verteilt. Nur zuweilen scheint eine eigentümliche Ordnung die Farbstriche zusammenzufassen, wie sich Eisenspäne auf einer Platte zu Kreisen und Kurven aufreihen, wenn sie in das Kraftfeld eines Magneten geraten. So etwa im Montmartre-Bild (Stadt-Museum, Amsterdam), in den Porträts des Pere Tanguy (Museum Rodin, Paris) und vor allem in dem blauen Selbstbildnis von 1887 (Sammlung V. W. van Gogh). Es sind vielleicht nicht die besten Bilder der Pariser Periode, aber in ihnen kündigt sich trotz allem zum erstenmal die ganz eigene Handschrift van Goghs an, und bald wird ihm der Zauberschein der impressionistischen Manier zum Überdruß sein.
Sonne, Licht, Farben . . . Henri de Toulouse-Lautrec, der geniale Schilderer des Pariser Lebens, rät Vincent, in den Süden zu gehen . .. die Sonne, das Licht, die Farben! Und Vincent bricht auf. Was Paris ihn lehren konnte, beherrscht er, jetzt muß er zunächst allein weiterkommen. Sein Ziel: Marseille. Seine Absicht: Malen und für die Sache einer neuen Kunstauffassung kämpfen! In Arles, in der südfranzösischen Landschaft der Provence nimmt er Quartier und beschließt zu bleiben. Das fruchtbarste Jahr in seinem Leben, die Zeit der Meisterschaft, hat begonnen. Das Jahr in Arles ist ein einziger Rausch des Schaffens, die Bilder sind ein Hymnus an Licht und Farbe der übersonnten provengalischen Landschaft. Aber es ist jetzt nicht mehr die dunstflimmernde Sonne der Impressionisten: die Erde wird wieder schwer, Bäume, Blumen, Wasser, der Mensch, die Architektur, die Schiffe im Hafen sind wie Geschöpfe, die er in bewegter Farbe zum starken Ausdruck seines persönlichen Gefühlszustandes werden läßt. Die Farben — sie sind hier in dieser südlich überstrahlten Landschaft von kräftiger Leuchtkraft —, die reinen nebeneinandergesetzten, ungemischten Farben des Regenbogens, werden ihm zum eigenmächtigen Mittel, die seelische Erregtheit wiederzugeben, die ihn angesichts der großartigen Natur überkommt; die nacherlebende Seele soll mitschwingen, mitverehren, sich mitfreuen. Es kommt ihm nicht ,so sehr auf die genaue Wirklichkeit an, sondern auf das Echo dieser 19
Wirklichkeit in seinem und des Betrachters Innern. Und da er selber die Natur- und Menschenwelt ringsum ergriffen bis auf den Herzensgrund oder in rauschhaftem Glücke erlebt, ist auch seine Pinselführung flammend bewegt. Manchmal, wenn es ihn wie Sturmwind überfallt, verzichtet er sogar auf Pinsel und Palette und zieht die Farben gleich aus der Tube über die Leinwand. Er wird trotzdem nie zum Zerstörer der Form. Der Gegenstand — ein Antlitz, eine Sonnenblume, ein Ährenfeld — gewinnt vielmehr in dem Spannungsfeld des farbig lodernden Umgrundes, oft aber auch nur durch die Nachbarschaft einer- Fläche reinster Farbe, sein tiefwirkendes Gewicht. Van Gogh malt bei glühender Sonne und bei eisigem Mistral, in blauer Sternennacht — wie Michelangelo beim Schein der Kerzen, die er sich rings um den Hut gesteckt hat — und im Zwielicht seiner Kammer, im jubelnden Überschwang oder mit verströmender Kraft. Allein die Titel der bedeutendsten Gemälde dieser Periode (in diesem Jahr malt er nahezu 200 Bilder) ergäben einen langen Katalog. Viele Motive malt er zwei- bis dreimal, bis sie seiner Bildvorstellung nahekommen. Van Gogh bezahlt die unheimliche Schaffcnsleidenschaft dieses Jahres von Arles mit der völligen Erschöpfung. Sein von Entbehrungen geschwächter, von ererbter Krankheit ausgehöhlter Körper versagt — und was erschütternder ist — seine Seele wird krank bis zur Katastrophe.
Die Katastrophe Dies ist die Vorgeschichte: Vincent, einsamer als je zuvor, hängt seinem alten Traum von gemeinschaftlicher Arbeit, von der Gründung einer Malergemeinschaft nach. Lange genug hat er allein dahingelebt, ohne menschliche Ansprache, ohne die Beglückung durch Freunde und Familie. Einer seiner Freunde, Paul Gauguin, geht auf Vincents Plan ein, in Arles eine Künstlerkolonie zu schaffen. Seit Mai hat Vincent alles vorbereitet, in der Rue Lamartine 2 das später berühmt gewordene kleine Haus gemietet, es gelb angestrichen, einfache Möbel, einen Kochherd angeschafft, und Mitte Oktober trifft endlich der Ersehnte, der Freund und „Meister", ein.. Sie arbeiten zusammen auf den Feldern, diskutieren, besuchen das Museum in Montpellier, malen in den Straßen und Gärten. Aber die Charaktere der beiden sind zu verschieden, als daß sie auf die Dauer zusammenbleiben könnten. Geldsorgen, dann die Enge des Ateliers, als sie nicht mehr im Freien malen können — der sichtbar 20
Felder in der Nähe von Arles werdende geistige und körperliehe Zerfall van Goghs und das geringe Verständnis des Gefährten führen zu jener unseligen Nacht zum Heiligen Abend 1888. Niemals ist geklärt worden, was wirklich geschah. Gauguin hat es später so dargestellt: Am 23. porträtiert er Vincent, während dieser Sonnenblumen malt. Vincent sieht das Bild, sagt: „Ja, das bin ich, aber du hast mich als Wahnsinnigen gemalt." Am Abend, als sie im Kaffeehaus sitzen, verliert van Gogh die Selbstbeherrschung; Gauguin nimmt Vincent um den Leib, führt ihn hinaus und bringt den Kranken zu Bett. Anderntags weiß van Gogh sich kaum noch des Vorgangs zu entsinnen; er ahnt, daß er in einer Verwirrung der Sinne den Freund beleidigt hat, entschuldigt sich, aber Gauguin kündigt an, er beabsichtige, sich von ihm zu trennen. Stunden später geht Gauguin spazieren; er weiß nicht, daß er einen zu Tode Getroffenen, seelisch Erschütterten zurückgelassen hat. Gauguin hat die Place Victor Hugo fast überquert, als er wohlbekannte Schritte hinter sich hört — hastige, kurze Schritte. Im selben Augenblick dreht er sich um. In einem Anfall von 21
Geistesgestörtheit stürzt van Gogh sich mit einem Messer in der Hand auf ihn; dann aber erwacht er aus seinen Wahnvorstellungen, bleibt stehen und läuft voller Scham und Bestürzung den Weg nach Hause. Am nächsten Morgen findet man van Gogh in seinem Blute. Niemand kann sagen — van Gogh gibt keine Antwort — wie das Entsetzliche geschehen ist. Als der Arzt den Verletzten untersucht, den notdürftig angelegten Verband löst, sieht man, daß ein Teil des rechten Ohres abgeschnitten ist. Man bringt den Kranken, der offenbar den Tod gesucht hat, ins Spital. Mit dieser dramatischen Nacht beginnt für Vincent die Periode der sich immer wiederholenden Anfälle von Schwermut, Wahn und von Selbstmordgedanken. Die Ärzte sagen ihm, die Anfälle seien epileptischer Natur, die zeitweise die Zurechnungsfähigkeit aufhebe, und heute ist man der Ansicht, daß diese Diagnose im wesentlichen richtig war. Das vererbte Leiden ist zum Durchbruch gekommen. Manchmal darf der „Hospitaler" nach Hause. Wenn er aber für Stunden ins Gelbe Haus zurückkehrt, ist er nur der „rothaarige Narr". Die Kinder drücken sich an die Fensterscheiben, die Leute meiden ihn. Und plötzlich, am 26. Februar 1889, weist die Polizei ein Gesuch von 81 Einwohnern vor; der „gemeingefährliche Narr" wird zur Beruhigung der Bürger in den sicheren Gewahrsam der Irrenstation des Hospitals gesperrt. Aber auch in dieser schweren Zeit — der Maler ist weder tobsüchtig, noch wahnsinnig, noch gemeingefährlich — fehlt es doch nicht ganz an Freunden. Gauguin ist zwar abgereist, aber Theo van Gogh hat sich in den Zug gesetzt und den Bruder besucht und getröstet. Dr. Rey, der Spitalarzt, setzt sich für seinen Patienten ein, die Familie des Briefträgers Roulin, die Vincent gemalt hat, hilft ihm. Der Maler Signac kommt aus Paris und tauscht mit ihm Bilder. Und immer noch ist van Gogh bei der Arbeit. Freiwillig läßt sich Vincent am 9. Mai 1889 in die Heilanstalt von St. Remy, einige Kilometer nordöstlich von Arles, verbringen. Man stellt ihm zwei gesonderte Räume zur Verfügung. Aber die Umgebung ist furchtbar. Der Mann, der alle Kreatur immer geliebt hat, ist nun unter Menschen, die in ihrer Armseligkeit kaum noch Menschen genannt werden können. Dr. Peyron, der Anstaltsarzt, ermutigt ihn, drängt ihn zum Malen und gibt ihm Gelegenheit, nach Arles zu fahren, Leinwand für seine Bilder und Farben einzukaufen; die Menschen haben dort inzwischen alle Scheu überwunden, betrachten ihn mitleidig; man lädt ihn ein und bewirtet ihn. Das Jahr 1890 beginnt vielversprechend mit drei überaus freudigen Ereignissen. Im Januar wird Theo van Gogh, der inzwischen 22
geheiratet hat, das erste Kind geboren, ein Sohn, der nach dem Onkel „Vincent Willem" genannt wird; diese freundliche Geste des Bruders beglückt ihn. Noch im selben Monat wird das Werk Vincents zum erstenmal zustimmend gewürdigt. Albert Aurier setzt sich im angesehenen „Mercure de France" in einem Artikel „Les Isoles" (die Abgesonderten) nachdrücklich für van Gogh ein. „Was das Werk van Goghs kennzeichnet", schreibt der Kritiker, „ist die übermäßige Kraft und Gewalt seines Ausdrucks. In der entschiedenen Betonung des Wesentlichen, in der oft tollkühnen Vereinfachung der Form, in dem Übermut, der Sonne ins Antlitz zu schauen, in der Leidenschaft der Zeichnung und Farbe offenbart sich ein gewaltiger (und männlicher Künstler, ein Erneuerer. Manchmal ist er hart, manchmal überaus z a r t . . . Seine Auffassung von der Wirklichkeit liegt jenseits der Anschauungswelt der körperlich so gesunden und geistig so gut ausgeglichenen holländischen Bürger, von denen er abstammt. Was seine Bilder auszeichnet, ist das gewissenhafte Studium der Charaktere, das fortwährende Suchen nach dem Wesen des Gegenstandes, seine tiefe, beinahe kindliche Liebe zur Natur und Wahrheit. Wird sich dieser kräftige und wahrhafte Künstler jemals durchsetzen können? Er ist dem philisterhaften Geist zu einfach und dabei zu fein. Nur die Künstler, seine Brüder, werden ihn voll verstehen." Auf der „Ausstellung der XX" in Brüssel wird bald nach dem Erscheinen der ersten Würdigung Vincents Gemälde „Die roten Reben" von einer Malerin für 400 Franken erworben. Es scheint, als dürfe Vincent nun auf Erfolg, vielleicht gar auf finanzielle Unabhängigkeit hoffen, als könne sein Leben noch einmal ins Gleichgewicht kommen. Als aber dem Bildverkauf der Brüsseler Ausstellung keine weiteren folgen, packt erneut krankhafte Unruhe den Maler. Nun, da Theo eine Familie hat, macht sich van Gogh noch mehr Vorwürfe als sonst, daß er dem Bruder noch immer zur Last fällt. Seine Bilder unterscheiden sich jetzt deutlich von denen der Zeit in Arles: Nicht mehr die Farbe, sondern ein übersteigerter Rhythmus ist vorherrschend, wie Flammen schießen die Zypressen empor, große phantastische Schleifen heben alle Unterschiede zwischen Himmel und Erde auf. Und ein seltsames Heimweh nach dem Norden ist in ihm. Aus der Erinnerung malt er holländische Landschaften in warmgebrochenen Tönen mit blutroter Sonne. Fast vergessen ist die Pariser Zeit, das Jahr in Arles; wie einst in Holland will er wieder arbeitende Menschen darstellen, und da er oft zu schwach ist, um auf die Felder zu gehen, malt er freie Kopien nach Drucken von Millets Bauernbildern, kopiert das Hell23
dunkel des großen Franzosen Gustave Dore („Gefängnishof") und Remhrandt, den immer verehrten großen Landsmann („Auferstehung des Lazarus"). Der Ring seines Lebens und Schaffens beginnt sich zu schließen. Theo, über Vincents täglich sich verschlimmernden Zustand beunruhigt, holt den Bruder aus der Anstalt und bringt ihn bei dem Arzt, Kunstsammler und Sonntagsmaler Dr. Gachet in Auvers bei Paris unter. Die Bildnisse des Dr. Gachet entstehen, das letzte Selbstbildnis. Vincent lernt von seinem ärztlichen Freund und Berater noch die Technik des Radieren« und fertigt die einzige Radierung seines Lebens an, ein Bildnis des Doktors. Im Juni ist Vincent in Geldnöten, Theos Monatswechsel ist nicht eingetroffen. Van Gogh fährt in seiner Verzweiflung nach Paris, trifft dort Toulouse-Lautrec, Bernard und lernt seinen wohlmeinenden Kritiker Aurier kennen. Es sind die letzten beglückenden, lichten Tage seines Lebens; aber um Geld zu bitten wagt er nicht. Überanstrengt, sorgenvoll kehrt er nach Auvers zurück. Und hier, wo er hilfreichen Zuspruch erwartet hat, trifft er niemanden an. Dr. Gachet ist als Eisenbahnarzt auf Dienstreise. Vincent glaubt sich plötzlich von jedem und allen verlassen, sein Selbstvertrauen bricht zusammen, die alte Verzweiflung übermannt ihn. Es ist der 27. Juli, ein Sonntag. „Vincent hat draußen auf dem Felde gemalt", so erzählte später Paul Gachet, der Sohn des Doktors, der als Fünfzehnjähriger das Geschehen miterlebt hat. „Oben bei dem Kirchhof schoß er sich gegen Abend, während er sich an einen Baum lehnte, eine Kugel in den Leib. Nachdem er sich von dem Blutverlust etwas erholt hatte, ging er, mit seinem Malzeug beladen, den weiten Weg nach Hause zurück. Es war halb neun Uhr geworden, bis er das Wirtshaus des Herrn Gustave Rayoux am Rathausplatz erreichte. Mit Entsetzen sahen die Leute, die vor dem Gasthaus plaudernd standen, das Blut rinnen, aber Vincent war ganz ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Man führte ihn in sein Zimmer und legte ihn zu Bett." Gachet, der Vater, war inzwischen zurückgekehrt und eilte zu dem Schwerkranken. Vincent entzündete seine Pfeife, weigerte sich aber, Theos Adresse zu verraten. So schickte Gachet den Maler Hirschig, der sich gerade in Auvers aufhielt, mit einem Brief zu Goupil nach Paris, und Theo eilte herbei. Er wich nicht mehr vom Bett des Kranken, noch einmal wanderten die Brüder in ihren Gesprächen den jahrelangen Weg ihres gemeinsamen Kampfes. Auf der Staffelei stand das später so berühmt gewordene Bild mit dem wogenden Kornfeld unter blauschwarzem Firmament, durch das eine Schar schwarzer Vögel dahin24
stürmt. Kurz bevor sich der nächtliche Himmel des 29. Juli aufhellte, starb Vincent van Gogh. Seine letzten Worte: „Ich wünschte, nun könnte ich heimgehen!" Ins Sterberegister wurde eingetragen: „Verschieden am 29. Juli" weiter nichts. Auf einem Leichenwagen, den man sich vom Dorf Mery ausgeborgt hatte, brachte man ihn zu Grabe. Ein Häuflein Freunde folgte dem Sarg, Dr. Gachet legte einen Strauß Sonnenblumen auf das Grab, dann war Theo van Gogh allein. Dem Verzweifelten händigte man einen unvollendeten Brief des Toten aus. Die letzten Zeilen lauteten: „. . . meine Arbeit gehört Dir. Ich setzte mein Leben dafür ein, und meine Vernunft ging dabei zur Hälfte drauf." Theo hat den Tod des Bruders nicht lange überlebt. Im Gram über den Unglücklichen starb er ein halbes Jahr danach, am 21. Januar 1891. Er wurde zunächst in Utrecht begraben; als aber Vincent zu Weltruhm gelangt war, vierundzwanzig Jahre danach, ließ Theos Witwe den Toten umbetten (1914). Seitdem ruhen die Brüder nebeneinander an der Friedhofsmauer in Auvers. Auf den beiden schlichten Steinen steht nur: „Ici repose Vincent van Gogh 1853—1890" und „Ici repose Theodore van Gogh 1857—1891". Weiterer Worte bedurfte es nicht.
Der Nachruhm „Einmal wird der Tag kommen, da wird man sehen, daß (meine Bilder) mehr als den Preis der Farbe wert sind und mein ganzes erbärmliches Leben, das ich daran hängte." Van Gogh hat recht behalten. Etwa zehn Jahre nach seinem Tode beginnt der Ruhm. Noch im Todesjahr besucht Edvard Munch (1863—1944), der große norwegische Maler, Theo van Gogh in Paris und begeistert sich für Vincents Bilder. Die Gedächtnisausstellung bei den „Unabhängigen" im Jahre 1891 macht von sich reden, Maler und Kritiker werden aufmerksam. Als 1901 im Kunsthaus Bernheim-Jeune eine Kollektivausstellung eröffnet wird, beginnt van Gogh auch in Deutschland bekannt zu werden. 1903 werden Bilder von van Gogh neben Gemälden der Meister Cezanne, Bonnard, Gauguin gezeigt, der bekannte Kunstgelehrte Meier-Graefe setzt sich für den Holländer ein. Und wiederum zwanzig Jahre später ist van Gogh bekannt und genannt, wie wenige Moderne des 19. Jahrhunderts. Man hat van Gogh einen „Überwinder des Impressionismus" und einen „Wegbereiter der modernen Malerei" genannt. Beide Worte 26
kennzeichnen die Stellung seines Werkes zwischen zwei getrennten Stilepochen. Mit den Impressionisten verbinden ihn die helle, farbige Palette, die Pinselführung, die Gewohnheit, in freier Natur zu malen, und der Verzicht, Bildmotive völlig frei zu erfinden. „Ich kann nicht ohne Modell arbeiten." Aber von den Impressionisten trennt ihn seine Auffassung, daß Farbe mehr als Sinnenreiz bedeutet, daß sie Ausdruck seelischer Vorgänge sein müsse. „Farbe drückt durch sich selbst etwas aus." In seinem Bedürfnis, Empfindungen und Gefühle im Kunstwerk spürbar werden zu lassen, ist Vincent van Gogh der älteren Ideenmalerei verwandt, nur daß er nicht wie deren Maler es taten, die Empfindungen mit sinnbildlichen Figuren oder gegenständlichen Mitteln ausdrücken will, sondern mit „optischen", mit Hilfe der Farbe. So übersteigert er die Farbe, setzt Rot neben Grün, Blau neben Orange, Violett neben Gelb, wenn das der beabsichtigten Wirkung entspricht. Gauguin, mit dem er oft darüber sprach, hatte Ähnliches beabsichtigt: „Ich muß das Erschrecken mit möglichst wenig herkömmlichen Mitteln darstellen .. . Also male ich dies: Eine düstere, traurige, erschreckende Gesamtharmonie, die einen trifft wie Totengeläute: Violett, Dunkelblau und Gelborange" (Brief Gauguins, 1892). In diesem Sinne hat sich auch Vincent ausgesprochen: „Du wirst verstehen, daß dieses Zusammenklingen von rotem Ocker, von dem durch Grau melancholisch gemachten Grün, den schwarzen Strichen . . . ein wenig jenes Angstgefühl erzeugt, unter dem gewisse meiner Unglücksgenossen (in der Irrenanstalt von St. Remy) leiden und welches man ,Rot-Sehen' nennt." Er meint also, daß, um den Eindruck von Angst zu geben, allein schon bestimmte Farben und Farbzusammenstellungen genügten und daß dazu nicht die Darstellung ängstlicher Gestalten oder einer beängstigenden Szene notwendig sei. Während van Gogh so in der Farbgebung der „Natur kühn den Rücken kehrt", bleibt er in der Formgebung der Wirklichkeit nahe. „Ich habe solche Angst, mich hinsichtlich der Form vom Möglichen und Richtigen zu entfernen . .. Andere mögen für abstrakte Studien (unter ,abstrakt' verstand er ,frei erfunden, naturfern') mehr Begabung haben als ich, und vielleicht könntest Du (Bernard) zu ihnen gehören . . . und vielleicht ich selbst, wenn ich einmal alt bin. Aber inzwischen lebe ich stets von der Natur. Ich übertreibe, ändere manchmal am Motiv, aber immerhin: Ich erfinde nicht das ganze Bild. Ich finde es im Gegenteil fertig vor, muß es aber noch aus der Natur herausschälen." Aber damit meint er nicht etwa photographische Genauigkeit: „Sage, daß ich verzweifelt wäre, wenn meine 27
Figuren treffend wären, sage ihm, daß ich sie nicht akademisch korrekt haben will, daß ich der Meinung bin, daß ein Grabender, wenn man ihn photographierte, dann gewiß nicht graben würde." Van Gogh vereinfacht aber die Formen nur soweit, als notwendig ist, um den Betrachter sich nicht an Bildeinzelheiten verlieren zu lassen, so daß er die wesentlichen Absichten des Künstlers gar nicht mehr erkennt. Dieses Wesentliche ist der Gesamtheit des Bildes aufgeprägt; es ist das Bemühen, mit Hilfe einer Blume, einer Landschaft, eines Menschenbildes auszudrücken, was ihn bei ihrem Anblick und bei der Vertiefung in ihren Wesenskern glückhaft oder mitleidend erschüttert und erfüllt. Wollte man diese Bestrebungen des Malers einem Stil zuordnen, so stände er, bei aller Beachtung seiner Eigenart als Einzelgänger, dem „Expressionismus", der Ausdrucks-Kunst, am nächsten. Die Ansichten über die Ausdruckskraft der Farbe traten schon zu seinen Lebzeiten und dann immer stärker in den Mittelpunkt künstlerischer Auseinandersetzungen; es war von van Gogh kein großer Schritt mehr bis zu Wassily Kandinskys aufsehenerregender Schrift „Über das Geistige in der Kunst" (verfaßt 1910). „Gelb ist die typisch irdische Farbe", heißt es dort zum Beispiel, „. .. bei Abkühlung durch Blau bekommt es einen kränklichen Ton. Verglichen mit dem Gemütszustand des Menschen könnte es als farbige Darstellung des Wahnsinns wirken, aber nicht der Melancholie, Hypochondrie, sondern eines Wutanfalls . . . Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer . . . " Hier liegen bereits die Ansatzpunkte zur modernen „abstrakten" Malerei, die nur noch mit Farben und reinen Linien, unter völliger Abkehr von der Wirklichkeit der äußeren Dinge Erschütterungen und Stimmungen zu erzeugen sucht. Wenn ich einmal alt bin, so hatte van Gogh geschrieben, vielleicht könnte ich selbst „abstrakt" malen! Er ist nicht alt geworden. Seine Generation ging bei aller Kühnheit ihrer Kunstansichten nicht soweit, Linien und Farben allein zum Bild werden zu lassen, und hat diesen Schritt nicht vollzogen. Eine neue Generation mußte erst heranwachsen, eine Generation, die, wie der erste Wortführer der „Abstrakten", Kandinsky, tief über die erste Atomumwandlung erschrak („Der Zerfall des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich . . . alles wurde unsicher . . . " ) , oder die sich aus tiefem Pessimismus vom Menschen abwendete (Franz Marc: „Schon früh empfand ich den Menschen als unrein"). Erst diese Generation wagte es, der Natur, 28
Weg in Les Saintes|Maries bei Arles wie sie unserem Auge erscheint, gänzlich den Rücken zu kehren. Je weiter diese neuen Maler in den abstrakten Bereich vorstießen, desto kritischer wurden sie auch van Gogh gegenüber, und schließlich erschien er einigen sogar mit seinem „seelischen Ballast" als veraltet und überholt. Aber gerade dieser menschliche Zug, den so mancher moderne Maler an van Gogh ablehnt, hat dazu beigetragen, daß der Holländer nahezu volkstümlich geworden ist. So hat er die Isolierung des Künstlers, unter der er stets am meisten gelitten hat, und die das tragischste Schicksal seines Lebens gewesen ist, zum Schluß doch noch überwunden.
ehe Anhang: Aus den Briefen van^Goghs) 29
Aus den Briefen van Goghs „Wer auf Erden tätig sein will, muß sein eigenes Selbst ver- ] nichten. Das Volk, das zum Verkünder einer religiösen Lehre wird, j hat keine andere Heimat, als eben diese Lehre .. . Der Mensch ist nicht nur zum Glücklichsein auf dieser Welt, auch nicht nur, um anständig zu sein. Er ist berufen, Großes für die Menschheit zu i leisten, sich aufzuschwingen über die Niederungen, in denen sich | das Leben fast aller Menschen hinschleppt."
* „Wir wollen nicht vergessen, mein Lieber, daß kleine Gemütsbewegungen die großen Heerführer unseres Lebens sind . . . Bilder verwelken wie die Blumen . .. Aus dem Rauschen der Olivenbäume tönt etwas unendlich altes . . . Der Kummer darf sich in unserer Seele nicht ansammeln wie in einem Sumpfland .. . Das Leben des Menschen ist wie das Leiben des Getreidekorns, was tut es, wenn man nicht in die Erde gesät wird, man wird gemahlen, um zu Brot zu werden."
* „Im Zug von Harwich nach London war es hübsch, die schwarzen Felder und igrünen Wiesen im Halbdunkel zu sehen, mit Schafen und Lämmern, da und dort eine Dornenhecke und ein paar große Eichen mit ihren dunklen Zweigen und ihren grünbemoosten Stämmen .. . oben in der Dämmerung ein paar Sterne und am Horizont eine graue Wolkenbank. Ehe die Sonne zu sehen war, hörte ich eine Lerche. Und dann ganz nahe beim letzten Bahnhof vor London, ging die Sonne auf. Die graue Wolkenbank war verschwunden und die Sonne war da, so groß, so einfach, eine richtige Ostersonne. Das Gras glitzerte vom Tau und vom Reif der Nacht."
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„Wenn man gut Freund ist, so ist man es auf lange hinaus."
* „Was meine Arbeit anbelangt, lieber Bruder, so bin ich mehr in Form denn je, und es wäre undankbar von mir, schlecht über den Süden zu sprechen und ich gestehe, daß ich nur mit großem . Kummer von hier zurückkehre . . . heute morgen, als ich mein Gepäck freigemacht habe, habe ich die Landschaft wiedergesehen nach dem Regen, ganz frisch, und alles hat geblüht —" wie vieles hätte ich noch malen können!"
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„Jetzt mache ich eine Studie von alten Strohdächern, im Vordergrund ein Feld mit blühenden Erbsen, und im Hintergrunde Korn, eine Studie, von der ich glaube, sie wird Dir gefallen. Und ich merke schon, daß es gut für mich gewesen ist, nach dem Süden zu gehen, damit ich den Norden besser sehen kann."
* „Hier ist die Natur außerordentlich schein. Überall ist die ganze Himmelskuppel von einem wunderbaren Blau, die Sonne leuchtet wie Schwefel, und diese Zusammenstellung entzückt wie die Farbenharmonie von Himmelblau und Gelb bei van der Meer van Delft. So schön kann ich gar nicht malen, aber ich bin so tief darin versunken, daß ich mich gehen lasse und gar nicht an Regeln denke."
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„Gegenwärtig arbeite ich an einem Bild: Frauen, die Oliven pflücken . . . Das sind die Farben: Der Erdboden ist violett und weiter weg ockergelb, die Stämme der Olivenbäume bronze, die Blätter blaugrün, der Himmel ganz rosa und außerdem drei rosa Gestalten. Das ganze in sehr zarter Harmonie der Farben."
* „Nun ist es etwas anderes als im Frühling, aber bestimmt habe ich die Natur nicht weniger gern, wo sie anfängt, von der Sonne dunkel gebrannt zu werden. Über allem, möchte ich sagen, liegt Altgold, Bronze, Kupfer, und das zu dem grünen Blau des glutheißen Himmels, das ergibt eine wundervolle, ganz besonders harmonische Farbe, onit gebrochenen Farbtönen wie bei Delacroix."
* „ 0 , selbst wir Narren haben Freude am Sehen, nicht wahr? Aber ach, die Natur nimmt ihren Tribut am Tier, und unser Körper ist ein verächtliches Ding und oft eine schwere Last. Aber seit Giotto, diesem kränklichen Menschen, ist es nicht anders. Und trotz allem, welcher Genuß für das Auge, welches Lachen, dieses zahnlose Lachen Rembrandts, einen Fetzen auf dem Kopf und die Palette in der Hand!" * „Es nützt nichts, die Traurigkeit wird das ganze Leben hindurch bleiben . . ." Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 161 ( K u n s t ) - H e f t p r e i s 2 5 P f g , Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljähil. 6 Hefte DM 1,50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau München, Innsbruck — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg
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