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edition suhrkamp 2463
Am 2. November 2004 wurde der Filmemacher Theo van Gogh ermordet. Der Attentäter ist ein Marokkaner, der in den Niederlanden geboren wurde und dort aufwuchs. Sein Bekennerschreiben, das er mit einem Messer an den Körper des Opfers heftet, läßt den radikalislamistischen Hintergrund der Tat erkennen. Er wird festgenommen und angeklagt. Die Tat schockiert ganz Europa. Eine immer heftiger geführte Debatte über die Integration von Einwanderern flammt auf, das Schlagwort vom »Scheitern der multi-kulturellen Träume« beherrscht die Medien. Eine moralische Panik ist ausgebrochen. Geert Mak hat die Geschichte dieser Panik aufgeschrieben und zugleich eine Streitschrift verfaßt, die in den Niederlanden starke Diskussionen hervorgerufen hat. Er zeichnet das Bild einer verunsicherten westlichen Gesellschaft, in der Angst zum Ratgeber wird und die humanistischen Werte unterzugehen drohen. Gleichzeitig erinnert er an die echte Aufgabe, Toleranz zu lehren - mit allen dazugehörenden Konflikten. Geert Mak, geboren 1946, war viele Jahre Redakteur des NRC Handelsblad und lebt nun als freier Publizist in den Niederlanden. Er veröffentlichte zuletzt mit großem Erfolg die Familiengeschichte »Das Jahrhundert meines Vaters«.
Geert Mak Der Mord an Theo van Gogh Geschichte einer moralischen Panik Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
Suhrkamp
Die niederländische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Gedoemd tot kwetsbaarheid bei Uitgeverij Augustus in Amsterdam. © Geert Mak 2005 Die deutsche Ausgabe von »Gedoemd tot kwetsbaarheid« ist eine aktualisierte Zusammenstellung der beiden Streitschriften, die im Frühjahr 2005 in den Niederlanden erschienen sind: »Gedoemd tot kwetsbaarheid« und, als Reaktion auf die anschließende Diskussion, »Nagekomen Flessenpost«.
edition suhrkamp 2463 Erste Auflage 2005 © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005 Digitalisiert von Dub Schmitz ISBN3-518-12463-3
Für Arwen
I
Wie können wir diese Geschichte je unseren Enkeln erzählen, das, was sich in den letzten Monaten des Jahres 2004 zugetragen hat? Woran werden wir uns erinnern? An den durchbohrten Leib des Filmemachers Theo van Gogh? An die sich gebetsmühlenartig bewegenden Lippen der Politiker und Intellektuellen? An das Herummeckern an der Politik, das langsam wachsende Unbehagen, den Schock des 11. September, an Städte, die in sich immer fremder wurden und verhärteten? Oder an das Gefühl der Gefahr, an die ungeheure Kälte, die an diesem 2. November 2004 mit einem Mal in unser Haus eindrang? Deichbrüche, Nazis, die rote Gefahr, über all das hatten wir endlos geredet und nachgedacht, aber dieser Mörder, dieser Mohammed B. und sein Gedankengut, verkörperte eine völlig neue Gefahr. Das Opfer indessen, das kannten wir nur allzu gut. Als Mitbürger, Feind, Freund, Kollegen, Nachbarn, Vater, Spinner vom Dienst, Antisemiten, Schuft. Und trotzdem: Dieser einsame Tote war unser Spinner, unser Schuft. Den ganzen langen Morgen lag der Filmemacher Theo van Gogh in seinem blauen T-Shirt da und war und blieb tot, auch noch Monate später, und im Kopf und im Herzen seiner besten Freunde hörte es gar nicht mehr auf. Der Obduktionsbericht sprach von sieben Schußwunden, zwei Stichwunden und in seinem Hals »mindestens zwei Schnitte bis an die Vorderseite der
Halswirbelsäule«. Mit einem Messer war ein unverhohlen antisemitischer Brief in seinen Körper gebohrt, mit einer Reihe von Drohungen an andere Personen des öffentlichen Lebens. Das Mordopfer stammte aus zwei bekannten niederländischen Künstlerfamilien, den van Goghs und den Wibauts, er war ein begnadeter Interviewer, ein leidenschaftlicher Filmemacher und ein berüchtigter Autor. Für seine Filme hatte er eine begeisterte Fangemeinde von Freunden und Mitarbeitern um sich geschart, und in den letzten Jahren stand alles, was sie taten, unter einem guten Stern. Jedem war klar, daß wir mit van Gogh noch viel erleben würden, er hatte gerade erst ein paar Kostproben gegeben. Submission Part I, der Auslöser des Dramas, hatte nichts damit zu tun. Er hatte den Film nach einem Szenario von Ayaan Hirsi Ali gedreht, die, das ging aus dem Brief am Körper van Goghs hervor, Mohammed B.'s eigentliches Ziel war. Hirsi Ali ist eine leidenschaftlich engagierte, außergewöhnliche Frau, die vor dem Bürgerkrieg in Somalia und der religiösen Gewalt in Saudi-Arabien geflüchtet war und sich in kurzer Zeit zu einer charismatischen Parlamentarierin der liberalen Partei entwickelt hatte. Für ihn, hörte ich später von seinen Freunden, sei es kaum mehr als ein kleiner Gefallen gewesen, ein Tag Drehen für eine Geistesverwandte, die seine Unterstützung brauchte. Er fand den Film ein bißchen deprimierend, eine Fortsetzung wollte er nur dann drehen, »wenn es etwas zu lachen gäbe«. »Submission Impossible«, so betitelten seine engsten Kollegen das Projekt. Der kurze Film gehörte eher zur anderen Seite seines Charakters, einer Schattenseite, die in der Regel weniger geschätzt wurde. Theo van Gogh war die Liebens-
würdigkeit in Person, wenn man ihn in der Stadt traf, er war warmherzig und großzügig, ihm mangelte es nie an Gesprächsstoff, und mit ihm gab es immer etwas zu lachen. Aber er hatte auch etwas Merkwürdiges: Sobald er an seinem Computer saß, konnte er sich in ein tobendes Ungeheuer verwandeln. Er erinnerte mich immer an die freundliche Schifferin, deren kleines Schiff jahrelang gegenüber meinem Elternhaus lag. Sie war klein und schwarz vor Armut, manchmal hielt sie gemütlich ein Schwätzchen, und ab und zu schenkte sie uns sogar Süßigkeiten. Doch in regelmäßigen Abständen konnte sie wie ein Vulkan ausbrechen. Dann sprang sie plötzlich aus der Plicht, raste mit ihren roten Röcken über den Kai, aus ihrem Mund quoll ein endloser Strom von Verwünschungen und Flüchen, ihre Hündchen rannten kläffend umher, und das ging so lange, bis der Tierarzt, der Pfarrer, der Oberstaatsanwalt oder irgendein anderer angesehener Nachbar dem ein Ende machte. Mit einer solchen Abweichung schien auch Theo van Gogh geschlagen zu sein. Anfangs gerieten vor allem Juden in seine Schußlinie - eine jüdische Schriftstellerin bezichtigte er der »feuchten Träume« über den Auschwitz-Arzt Mengele -, später schoß er sich mehr auf Sozialisten und Moslems ein. Über einen ehemaligen grünen Politiker von Groenlinks schrieb er: »Mögen sich die Zellen in seinem Kopf zu einem jubelnden Tumor vereinen. Laßt uns auf sein Grab pissen.« Den Amsterdamer Bürgermeister nannte er »einen geborenen NSB-ler«. Moslems wurden von ihm Vorzugsweise als »Ziegenficker« bezeichnet: Auf seiner Website, die als eine Art Denkmal im Internet blieb, kommt der Begriff bestimmt mehr als fünfzigmal vor. In einigen Fällen verfolgte er seine Opfer auch persönlich mit
Drohbriefen und Drohanrufen. Monatlich wurde auf seiner Website »die goldene Haarschneidemaschine« für den größten »Landesverräter« ausgelobt. »Holland brennt!« verkündeten die Fernsehnachrichten eine Woche nach dem Mord. Dem stellvertretenden Premierminister rutschte, dank eines penetrant nachfragenden Radiojournalisten, heraus, daß sich das Land »im Kriegszustand« befinde. Unverzüglich nahmen die Blätter den Begriff in fetten Überschriften auf. Krieg! In Wirklichkeit war es natürlich nicht so. Die meisten Niederländer waren richtiggehend schockiert, aber es war vor allem die politische und journalistische Szene, die in hellem Aufruhr war. Einige Politiker und Meinungsführer bekamen einen bis dahin ungekannt umfassenden Personenschutz. Ganze Familien mußten untertauchen. Auf Websites war eine Todesdrohung nach der anderen zu lesen. Vor allem islamische Dissidenten wurden aufs Korn genommen: »Fuck Hirsi Ali Somali / Hier ist Rico Chemikali / Ich bin am Zug / Du Neunmalklug / Schick die Scudrakets / Zu der dreckigen Metz' / Du bist noch billiger als die Easy-Jets / Ich schlag dich aufs Maul / Ich brech' dir den Hals / Ich knips dein Licht aus / Denn ich kenn dein Haus / Und dein Spiel ist dann aus.« Jeder war in diesen ersten Tagen panisch. Heute glaube ich, daß wir auch den Verlust unserer Unschuld betrauerten - ja, wir durften das nicht aussprechen, aber damals tanzten wir wirklich noch wie die Häschen im Mondenschein verglichen mit dem Rest der Welt -und auch das definitive Ende unseres Optimismus und der
sicheren, behaglichen Niederlande, die das ebenfalls bedeutete. Danach ging es erst richtig los. In Madrid gab es am 11. März 2004 bei einem fundamentalistischen Anschlag fast zweihundert Tote, aber die Haltung der Presse und öffentlichen Meinung blieb gegenüber der moslemischen Bevölkerung erstaunlich zivilisiert. In den Niederlanden öffneten sich manchenorts in den Medien und vor allem auf den Websites die Jauchegruben, und der jahrelang aufgestaute Fremdenhaß - ach, wie politisch korrekt waren wir doch immer gewesen - spritzte heraus. In Utrecht, Ijsselstein, Groningen, Huizen, Breda, Rotterdam, Uden und Heerenven wurden bei islamischen Gebetshäusern und Schulen Brände gelegt. Die Antwort folgte auf dem Fuß: Anschläge auf Kirchen in Utrecht, Amersfoort, Boxmeer und Rotterdam. In meiner Stammkneipe war plötzlich »Fick Allah in den Arsch!« auf die Klotür geschmiert. Für viele ausländische Journalisten war die Reaktion der »nüchternen« und »toleranten« Niederländer schockierender als der Mord an sich. »Hier werden Artikel veröffentlicht, die bei uns garantiert einen Prozeß wegen Verleumdung oder Rassismus nach sich ziehen würden«, hörte ich etliche Male britische, französische und amerikanische Kollegen sagen. Die dänische Tageszeitung Politiken warnte vor dem Szenarium der Reichskristallnacht von 1938, als der Mord an einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris durch einen einzigen ausgerasteten polnischen Juden eine Hetzjagd auf »die« Juden im allgemeinen auslöste. Der Korrespondent der New York Times, Craig S. Smith, hatte größte Mühe, seinen Lesern das berühmte G-Wort richtig zu übersetzen: »bestiality with a goat«. Die
Niederländer lächelten. Die Weltpresse war fassungslos. Am Rande dieser Turbulenzen ereignete sich ein grotesker Zwischenfall nach dem anderen: Van Goghs Freunde feierten an seinem Sarg ein großes Begräbnisfest, an der Spitze zwei ausgestopfte Ziegen: »falls einer den Drang verspürt«; die Königin wurde ausgerechnet von der am stärksten republikanisch ausgerichteten Partei des Landes zu Hilfe gerufen; der zwei Jahre zuvor ermordete populistische Politiker Pim Fortuyn wurde zum größten Niederländer, wohlgemerkt, aller Zeiten ausgerufen; Anne Frank sollte, im Rahmen derselben Fernsehshow, plötzlich postum die niederländische Staatsbürgerschaft erhalten - ein Vorstoß, der bis in die Zweite Kammer ernsthaft diskutiert wurde; der Heilige Nikolaus zog in einer kugelsicheren Weste in Amsterdam ein; der belgische Premierminister sprach von einem »drohenden Bürgerkrieg« in seinem Nachbarland; die amerikanische Heeresleitung erklärte die Niederlande zum »gefährlichen Gebiet«; die russische Regierung bat Den Haag »um Aufklärung«. Ayaan Hirsi Ali hatte wieder ihren Bürgerkrieg, Theo van Gogh seine Posse. In den Amsterdamer Straßen, auch das muß festgehalten werden, herrschte eine andere Stimmung. Einer unserer Bekannten, der als Sozialarbeiter mit den Randgruppen der Stadt arbeitet, berichtete von einer Reihe von Zwischenfällen: ein Marokkaner hatte in einem Vereinslokal vor den Augen der niederländischen Leiterinnen bei geöffneter Klotür gekackt; es hatte wechselseitige Beschimpfungen gegeben; marokkanische Frauen kamen völlig verunsichert in die Nähstunde; sie hatten erst viel später von dem Mord
gehört und dachten, sie würden nun allesamt ausgewiesen. Trotzdem ließen sich die normalen Amsterdamer, die alteingesessenen wie die zugezogenen, nicht einschüchtern, nicht provozieren und nicht verrückt machen. Die meisten Alteren hatten die Wut und den Groll schon hinter sich, eine böse Phase, die erst jetzt einen Teil der Elite einholte. Für viele jüngere Menschen war die multiethnische Gesellschaft schlicht und ergreifend eine Tatsache. Sie hatten marokkanische und chinesische Kollegen, drückten neben Türken, Surinamern und Somalis die Schulbank, ihr Leben hatte sich schon immer in und mit mehreren Kulturen abgespielt, sie kannten es nicht anders. Zwei Reporterinnen der Tageszeitung Het Parool gingen einen Tag lang tief verschleiert durch die Straßen. Ein paarmal schimpfte man hinter ihnen her, aber im allgemeinen wurden sie überall anständig und freundlich behandelt. Ein Bekannter, der als Taxifahrer arbeitet, berichtete von einer anfangs großen Wut unter seinen Kollegen, der eine zunehmende Milde wegen »der alten Leute« und »der Kopftuchmädchen, die sich so fürchterlich viel Mühe geben« folgte, und schon bald darauf von einer erneuten Akzeptanz: »Man kann sie nicht mehr rauswerfen, wir müssen damit leben.« Derselbe Bekannte war in derselben Woche noch einmal auf eine Gruppe »Kakerlaken« - türkische und marokkanische Taxichauffeure - zugegangen, um sich ein bißchen zu unterhalten: »Sie haben sich gefreut wie junge Hunde.« Er und viele seiner Mitbürger lebten so ein Ritual, das die Niederländer seit Jahrhunderten sehr gut beherrschen: Sie begannen zu pazifizieren. Van Gogh war, soweit ich weiß, seit den Märtyrern von
Gorcum (1572) das erste Todesopfer in einem Religionskampf, und diese gut vierhundert Jahre währende Ruhe zu erhalten hatten sich die Niederländer immer ungeheuer bemüht. In den Handelsstädten, mit denen der Westen der Niederlande bereits im Mittelalter übersät war, konnte man sich ja keine heftigen religiösen Konflikte leisten. Denn es hätte sich verheerend auf den Handel ausgewirkt, wenn andersdenkenden Fremden -Juden, Moslems, Protestanten, Katholiken - auch nur das geringste Risiko einer Verfolgung gedroht hätte. Bereits im fünfzehnten Jahrhundert, als die Ritterkriege der sogenannten »Hoeken und Kabeljauwen« die Niederlande einer Zerreißprobe aussetzten, konnte der Amsterdamer Magistrat erfolgreich den Frieden wahren, indem er seinen Bürgern einfach verbot, über dieses Thema zu sprechen. Durch eine Verordnung vom 26. Dezember 1481 wurde es offiziell unter Strafe gestellt, jemanden zuzurufen: »Ghy syt een hoeck!« oder »Ghij syt een cabbeljau!«, »Ihr seid ein Hoek!« oder »Ihr seid ein Kabeljau!« Für Städte, die in diesem morastigen Land überleben wollten, standen Wasserbau und Handel immer an erster Stelle: Die meisten holländischen Regenten hatten andere Prioritäten, als nach der wahren Religion zu rufen. Im Amsterdam des siebzehnten Jahrhunderts war, um des lieben Friedens willen, das Dulden und Wegsehen ein unersetzlicher Bestandteil der Verwaltungspraxis: Obwohl katholische Gottesdienste offiziell verboten waren, schallten dennoch jeden Sonntag gregorianische Gesänge durch die Grachten. Der Magistrat hatte, im Hinblick auf die Wahrung der öffentlichen Ordnung, immer große Getreidevorräte eingelagert: So konnten in
Notzeiten Hungeraufstände verhindert werden. In späteren Jahrhunderten wurde der Landfrieden durch die Aufteilung der Gesellschaft in christliche, sozialistische und sonstige »Säulen« gesichert, durch das Aufkommen des Sozialstaats und - man sollte es nicht unterschätzen - durch die Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik, durch die so gut wie im ganzen Land die Entstehung von Ghettos verhindert wurde. Im Herbst 2004 wurden erneut alle Register der Pazifizierungsmethoden des Landes gezogen. Die Amsterdamer Stadtverwaltung reagierte rasend schnell mit Aufrufen, Warnungen, »Quartiermanagern«, unzähligen Versammlungen und was sonst noch alles an Beruhigungsinstrumenten zur Verfügung stand. In der ganzen Stadt gingen die Bezirksämter, Kirchen und islamischen Organisationen mit Manifesten, Schweigemärschen, Predigten und Tagen der offenen Tür darauf ein. Im friesischen Lichtaard las der Pastor Texte aus dem Koran vor. In Amersfoort richtete der Kirchenrat sechzehn Notruftelefone für die ein, die »wütend, verängstigt oder besorgt« waren. Auf dem Markt von Hengelo wurde eine Menschenkette gegen Intoleranz gebildet. Bewohner von Winterswijk organisierten ein Grünkohlessen - ohne ausgelassenen Speck - für die Mitglieder aller Religionsgemeinschaften. In den Zeitungen wurden Ende Dezember seitengroße Anzeigen der Gewerkschaften und noch einiger anderer großer Organisationen veröffentlicht, mit einem mächtigen niederländischen Löwen und einer Ode an die Freiheit, Entschlossenheit, Solidarität, Barmherzigkeit und Zusammengehörigkeit: »Die Niederlande, nicht unterzukriegen«.
So wurde wieder einmal das große Erfolgsrezept dieses Landes eingesetzt, die erprobte Manier, mit der wir es als kleine, in Glaubensfragen heftig gespaltene Nation verstanden hatten, die Jahrhunderte zu überleben. Diesem Gedanken wurde von der neuen Bibelübersetzung, die in diesen verworrenen Monaten auch veröffentlicht wurde, ein kleines Denkmal gesetzt: Jahrhundertelang hatten sich die Theologen darüber die Köpfe eingeschlagen, nun lag eine Übersetzung vor, an der die Vertreter nahezu aller Religionsgemeinschaften begeistert zusammengearbeitet hatten, von den AltKatholiken bis zu den Mitgliedern des Reformierten Bundes. Selbst dieser komische Theo van Gogh war in dieser Hinsicht ein typischer Niederländer. Trotz seines Zeterns über Moslems machte er zur selben Zeit eine wunderbare Fernsehserie über die Liebe zwischen Kindern aus zwei Kulturen, Najib und Julia. Für die Hauptdarsteller seines Films Cool!, Ex-Drehtür-Kriminellen, legte er sich ins Zeug, um ihnen einen neuen Lebensweg zu ermöglichen, und kein anderer Regisseur bot so vielen allochthonen Schauspielern so viele Chancen. In der New York Times war im selben Herbst eine Reportage zu lesen, wie ungewöhnlich ein niederländischer Oberstleutnant und seine Soldaten in ihrem Stückchen Irak den Frieden gewährleisteten: in offenen Fahrzeugen, ohne Helm und mit Sonnenbrille, freundlich grüßend, mit gesenkten Waffen. Der Kommandant hatte sogar ein Budget für kleine Hilfsprojekte. Es war eine typisch niederländische Art der Pazifizierung, und sie war, zumindest in diesem Teil Iraks,
außerordentlich erfolgreich. Die Mannschaften hatten zwei Opfer zu beklagen, doch dabei handelte es sich um vereinzelte Zwischenfälle. Die Bevölkerung und die lokalen Verwaltungen standen auf der Seite der Niederländer, und der Oberstleutnant konnte zu Recht darauf verweisen, daß seine weiche Vorgehensweise am Ende sicherer gewesen war als alle Machtdemonstrationen zusammen. In solchen Situationen ist »soft« das Gegenteil von feige. In einem irakischen Armenviertel ohne Helm zu patrouillieren erforderte ein bißchen mehr Mut als eine geschützte Fahrt in einem dichten Panzerkonvoi. In diesem Monat November erforderte es genauso eine gehörige Portion Courage, allen ernsten und realen Bedrohungen zum Trotz als Bürgermeister oder Stadtrat allgegenwärtig zu sein. Doch das fand zu diesem Zeitpunkt noch wenig Anerkennung.
II
»Wenn in einer Stadt mit 100 000 Einwohnern nur eine Person arbeitslos ist, dann ist das ihr persönliches Problem, und um ihr zu helfen, müssen wir ihren Charakter, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wenn aber in einem Volk von 50 Millionen Beschäftigten 15 Millionen arbeitslos sind, dann bezeichnen wir das als allgemeines Geschehen, und wir wissen, daß wir eine Lösung niemals im Rahmen der Möglichkeiten jedes einzelnen Individuums finden können.« Das Zitat stammt von dem großen Sozialtheoretiker C. Wright Mills, der auf diese Weise versuchte, zwischen »allgemeinem Geschehen« und »persönlichen Problemen« zu unterscheiden. Ich nahm an einem Diskussionsforum der Universität von Amsterdam teil, als diese klassische Fragestellung erneut lanciert wurde. Dabei zeigte sich, daß sie für die Situation, in der wir an diesem Dezemberabend bis zum Hals steckten, noch immer Gültigkeit besaß. Man kann die Fragestellung allerdings genausogut umdrehen. Hatten wir es hier mit Mohammed B. s »persönlichen Problemen« zu tun oder mit einer »allgemeinen Entwicklung der Sozialstruktur«, die eine Sache der ganzen Niederlande war? Für viele Politiker und Meinungsmacher gab es keinen Zweifel: Es war ein strukturelles Problem, und alles war der Immigration, dem Islam und was sonst noch alles nicht in Ordnung war, zuzuschreiben. Für meine
Diskussionspartner war das keineswegs so selbstverständlich. War dieser Mord wirklich das soundsovielte Symptom für die mühsam verlaufende Integration nordafrikanischer Immigranten in die Niederlande, wie es in diesen Wochen viele von den Dächern riefen? Wir glaubten kein Wort. Selbst wenn der Integrationsprozeß der marokkanischen Bevölkerung gänzlich reibungslos verlaufen wäre, selbst dann wäre die Chance noch immer groß gewesen, daß sich eines bösen Tages ein Mohammed B. erhoben hätte. Auch die reibungslose Integration von Zehntausenden von Rücksiedlern aus Indonesien in den fünfziger Jahren hatte nicht verhindern können, daß eine kleine Gruppe junger Molukker zwanzig Jahre später einige blutige Geiselnahmen veranstaltete. Terrorismus und Integrationsprobleme hatten, auch wenn man sich die Herkunft anderer Terroristen ansah - meist hochgebildet, mehrsprachig, weitgereist -, nur am Rande miteinander zu tun. Es war sicher nicht vernünftig, die beiden Fragen in einen Topf zu werfen. Wie der französische Terrorismusexperte Gilles Kepel zu Recht bemerkte: Die neue Generation weltweit agierender Jihadkämpfer bestehe nicht aus verkannten Kindern armer Bauern und entwurzelter Immigranten, vielmehr seien es privilegierte Sprößlinge aus der unglaublichen Ehe zwischen Wahhabismus und Silicon Valley. Ja, in den Niederlanden war eine Menge schiefgegangen, vor allem mit bestimmten Marokkanergruppen. Ja, es gab Spannungen mit kriminellen Jugendlichen, Probleme mit der Stellung der Frau, mit den Einflüssen bestimmter Moscheen, wir konnten davon ein Lied singen. Es gab Analphabetismus, Gewalt, Ra-
dikalismus, und einigen Schulleitern rutschte das Herz in die Hose. Aber letzten Endes - alle langfristigen Zahlen deuteten darauf hin - betraf all das nur einen Bruchteil der Immigranten. Mit der überwiegenden Mehrheit lief es leidlich gut und gelegentlich sogar, zum Beispiel mit den marokkanischen Mädchen, sehr gut. Die Kombination all dieser neuen Kulturen setzte zudem eine völlig eigene Dynamik in Gang. An jenem Diskussionsabend saßen etwa sechzig Studenten im Hörsaal: durchschnittliche junge Amsterdamer Männer und Frauen, marokkanische Studentinnen mit und ohne Kopftuch, ein afrikanisches Mädchen, ein paar heftig diskutierende liberale junge Männer, eine Handvoll Iraker, türkische Studenten mit fast antiken Gesichtern. Ihre Augen: konzentriert und klar. Ihre Fragen: ausnahmslos klug, durchdacht und treffend. Ihren Dozenten begegnete man selten oder nie in diesem Gesprächskreis. Häufig handelte es sich um stille Menschen, Forscher von internationalem Ansehen, die alles über Integrationsprozesse wußten, die seit Jahren die Anpassung der Moslems an die niederländische Kultur verfolgten, die Meinungsumfragen machten, Websites beobachteten und Statistiken analysierten. Ja, all das gab es auch noch in den Niederlanden, auch wenn man zu diesem Zeitpunkt danach suchen mußte. Hier saßen die echten Sachverständigen, und hier saß ein völlig anderer Kreis als die Handvoll redegewandter Experten, die täglich über den Bildschirm paradierten. Hier wurde intensiv zugehört und nachgedacht, hier wurden Erfahrungen ausgetauscht und Forschungsergebnisse verglichen, hier existierte eine selbstverständliche Achtung vor dem Opponenten, hier
wurde man niemals persönlich. Hier fand, kurz gesagt, die nuancierte Diskussion statt, wie sie in jedem zivilisierten Land in einer solchen Krise unter Intellektuellen stattzufinden hat, eine Art der Zivilisation, die einem Teil der Niederländer irgendwie abhanden gekommen war. Es gab noch etwas, was mir an diesem Winterabend auffiel: Von all dem wissenschaftlichen Sachverstand drang kaum noch etwas zu der tagtäglichen Politik und zu den Massenmedien durch. Man denke lediglich an die Zahlen, die simplen Zahlen des Verfassungsschutzes AIVD, des Planungsbüros für soziale und kulturelle Fragen und an einige weitere Quellen. Ende 2004 lebten in den Niederlanden etwa neunhunderttausend Moslems, von denen die übergroße Mehrheit aus der Türkei oder Marokko stammte. Die Unterschiede zwischen diesen Gruppen waren gewaltig. Die Gruppe der türkischen Immigranten beispielsweise war ziemlich homogen, die marokkanische Gemeinschaft viel zersplitterter, mit allerlei Rivalitäten und kaum vorhandenen oder gar keinen eindeutigen offiziellen Vertretern. Von all diesen niederländischen »Moslems« sahen allerhöchstens zwanzig Prozent regelmäßig eine Moschee von innen. Die meisten kannten den Islam, aber nur aus der Ferne, sie hatten selten oder noch nie ein Gebetshaus besucht. Für eine sehr große Zahl der Türken und für nahezu alle Marokkaner hatte der Islam aber durchaus eine große persönliche Bedeutung. Zudem begannen einige der Älteren ausgerechnet während ihres Aufenthalts in den Niederlanden die Moschee zu besuchen, möglicherweise, um wieder eine gewisse Struktur in ihr Leben zu bringen. Der Glaube
der meisten Moslems säkularisierte sich also unter dem Einfluß der niederländischen Gesellschaft nicht, sondern er privatisierte: Man schuf sich seinen persönlichen Islam, der modern und tolerant sein konnte, aber auch radikal und fundamentalistisch. Zudem suchten sich immer mehr Jugendliche ihre eigene religiöse Welt im Internet zusammen. Diese letzte Gruppe könnte womöglich, so warnten die Forscher, durch die zunehmende Isolierung eines Tages größer werden. Ein moderner Lebensstil und eine eigenwillige, ultraorthodoxe Glaubenspraxis, das mußte sich nicht mehr zwangsläufig ausschließen. Die meisten praktizierenden Moslems hatten ebenso große Angst vor den Folgen des Mordes an Theo van Gogh 'wie die anderen Niederländer, sogar noch größere. Viele der Älteren stammten wie ihre geistlichen Führer vom Land, und ihre Glaubenspraxis besaß nicht selten die Geradlinigkeit streng orthodoxer Protestanten von der niederländischen Veluwe. Die Männer lebten nur in der kleinen Welt ihres Kaffeehauses und der Moschee, als gäbe es kein Holland. Als der Vorstand des marokkanischen Moscheevereins nach dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam eine Versammlung einberief, stellte sich heraus, daß keiner der Anwesenden je etwas von Submission gehört hatte, der Name van Gogh war nicht oder kaum bekannt, und keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Vorstellung, welche Konsequenzen diese Erschießung haben könnte. Trotzdem konnte nur einer von zwanzig niederländischen Moslems als konservativ bezeichnet werden und wiederum nur ein Bruchteil von ihnen, in etwa fünftausend Gläubige, waren Anhänger fundamentalistischer und/oder radikaler Führer, und auch in dieser
Gruppe lehnte die überwiegende Mehrheit Gewalt ab. Am Ende blieben nach ziemlich verläßlichen Schätzungen etwa hundert bis zweihundert Moslems übrig, die - nur unter Jugendlichen, nur unter Marokkanern gewalttätige politische und/oder religiöse Ansichten vertraten. Dabei handelte es sich um junge Leute, die für einen bewaffneten Jihad plädierten, Verbindungen zu ausländischen Geistesverwandten pflegten, schon gelegentlich an Ausbildungslagern teilgenommen hatten, die, kurzum, gefährlich waren. Das waren hundert bis zweihundert zuviel, es gab Sicherheitsprobleme, es bestand die Möglichkeit, daß die Gruppe größer würde, sollten die Ausgrenzung und der Rassismus in den Niederlanden weiter zunehmen, es mußte unbedingt eine Lösung für dieses schwierige Problem gefunden werden, und trotzdem: Die echten Problemfälle machten 0,04 Prozent der moslemischen Bevölkerung aus. Mohammed B. war die Verkörperung dieser 0,04 Prozent. Einige beschrieben ihn als einen »born again muslim«, und ich denke, daß daran viel Wahres ist. Er war typisch für einen Moslem, der sich von den traditionellen Strukturen des Islam gelöst und sich mit einer Handvoll Mitstreiter einen eigenen, individuellen, »privatisierten« Islam geschaffen hatte. Jahrelang galt Mohammed B. als vorbildlich integrierter Jugendlicher, der aus einer ordentlichen Familie stammte, deren Mitglieder seit eh und je Niederländisch gesprochen hatten. Sein Vater war, so drückte es ein Bekannter der Familie aus, »ein typischer Marokkaner der ersten Generation, der sich bei der Arbeit seine Gelenke ruiniert hat«. Nach dem Realschulabschluß begann Mohammed Wirtschaftsinformatik zu studieren, er arbeitete im
Nachbarschaftszentrum in Amsterdam-Slotervaart. Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die kurz nach dem Mord an Theo van Gogh nach Amsterdam kam, um hier den Erasmuspreis entgegenzunehmen, ging sogar soweit zu sagen, Mohammed B. sei möglicherweise eher ein Produkt der modernen niederländischen Gesellschaft als ein Produkt des traditionellen Islam: Wie sonst konnte es so weit kommen, daß sich ein junger Mann so sehr in Einsamkeit und Verwirrung verstrickte? Gab es um Mohammed B. eine terroristische Organisation? Er hatte nicht nur gehandelt, er hatte eine kleine Gruppe Gleichgesinnter um sich geschart, und er war von einem syrischen Prediger der Takfir wal HijraBewegung beeinflußt, einer extremistischen Gruppierung, die das Töten abtrünniger Moslems propagierte. Dennoch kam aus den freigegebenen Prozeßakten nicht gerade das Bild eines professionellen Terroristen zum Vorschein. Journalisten des NRC Handelsblad, die die Tausende von Seiten der Strafakte von Mohammeds »Hofstadgruppe« durchgeackert hatten, kamen zu dem Schluß, daß die vierzehn Mitglieder alles andere als »eine gutgehende Al-QaidaFiliale« leiteten. Von irgendeiner Außensteuerung war weit und breit keine Spur zu erkennen. Das Terroristenfach hatten sie sich im Internet und durch andere Medien großenteils selbst erarbeiten müssen. Damit drängte sich freilich sofort eine zweite beunruhigende Schlußfolgerung auf: Diese Sorte »Selbstzünder«, diese »Do-it-yourself-Terroristen« wie Mohammed B. konnten sich also offenbar überall erheben. Es handelte sich um eine neue Form des Krieges - soweit dafür noch das Wort »Krieg« zutreffend war -, mit völlig in-
dividualisierten, kaum noch organisierten Kämpfern. Gleichzeitig gab es, das war nach einer Reihe von überwiegend vereitelten Anschlägen zu erkennen, durchaus Terrornetzwerke, die über die Leute, den Fanatismus und die Organisation verfügten, um überall in Europa eine ganze Folge von Anschlägen verüben zu können. Das Risiko, daß dabei in einem verhängnisvollen Augenblick auch eine »schmutzige« oder »nukleare« Bombe zum Einsatz kommen könnte, war nicht gering. Eine solche Bombe aus stark radioaktivem Abfall könnte mit einer konventionellen Explosion eine große Menge Strahlung verbreiten und ein Gebiet für lange Zeit unbewohnbar machen. Zudem zirkulierten in der ganzen Welt noch immer einige Dutzend »abhanden gekommener« Atombomben aus der früheren Sowjetunion. Über die Wahrscheinlichkeit, ob sich vor dem Ende des Jahrzehnts irgendwo in Europa oder in den Vereinigten Staaten Alptraumszenarien abspielen werden, waren die Experten geteilter Meinung: Die Pessimisten schätzten das Risiko auf circa sechzig Prozent, die Optimisten hielten es mit vierzig. Das waren die wirklichen Gefahren, denen wir ausgesetzt waren, und sie waren noch viel ernster, als es sich die meisten Menschen vorstellen konnten, aber sie hatten natürlich nichts mit »den« Moslems, »den« Moscheen, »den« Imams, »den« Immigranten zu tun. Vor diesem Hintergrund war der Mord an Theo van Gogh nicht mehr als eine kleine Machtdemonstration, ein Vorspiel zu dem, was folgen könnte. Die amerikanische Terrorismusexpertin Jessica Stern, die eine Anzahl religiöser Terroristen - christliche Fundamentalisten in Oklahoma, islamistische Jihadi in Pakistan, gewalttätige jüdische Messianisten - über ihre Motive ausfragte,
sprach von einem ständig wiederkehrenden Muster. In nahezu jedem Gespräch tauchte immer wieder ein Wort auf: Demütigung. »Demütigung - auf nationaler oder individueller Ebene - scheint einer der größten Risikofaktoren zu sein«, schloß sie. Ihrer Meinung nach lag das größte Problem in der Verlockung der religiösen Radikalisierung als Alternative zu allen Problemen, zur Entwurzelung und Einsamkeit der modernen westlichen Gesellschaften. »Das Märtyrertum -die extreme Heldentat und Hingabe an Gott - bringt die letztendliche Flucht aus den Dilemmata des Lebens, insbesondere für Individuen, die sich ungeheuer entfremdet und verwirrt und gedemütigt oder verzweifelt fühlen.« Oder, wie Mohammed B. in einem seiner Briefe schreibt: »Keine Diskussion, keine Demonstration, kein Aufzug, keine Petitionen, allein der Tod wird die Wahrheit von den Lügen scheiden.« Er und seine Mitstreiter waren daher auch keine normalen Moslems. Sie gehörten zu einer viel größeren Gruppe, zu den Kindern der Satellitenschüsseln, zu den Kindern von Al Jazeera und Arabia TV. Das bedeutete auch, daß die Quelle ihrer ungeheuren Wut vor allem auf einer übernationalen Ebene zu suchen war: im Leiden der Palästinenser und Tschetschenen, von Zehntausenden und Hunderttausenden Heimatlosen im Irak, denen die westlichen Medien kaum Beachtung schenken, im Materialismus und der zuweilen blinden Arroganz der westlichen Kultur. »In keiner Epoche der Geschichte war die Kluft zwischen reich und arm so groß«, schrieb der türkische Autor Orhan Pamuk in The New York Review of Books nach dem 11. September. In diesem beeindruckenden Aufsatz beschrieb er die Unmöglichkeit für die Armen,
die Verlierer und die Unterdrückten dieser Welt, vom reichen Westen auch nur im geringsten gehört, geschweige denn verstanden zu werden. Im Westen lebende Menschen, betonte er, seien sich kaum dieses »überwältigenden Gefühls der Demütigung« bewußt, »das der größte Teil der Weltbevölkerung erlebt«. Wir konnten uns kein vages Geschwätz mehr erlauben: Diese Gefahr war neu und von einer völlig anderen Dimension als die bisher in den Niederlanden bekannten Integrationsprobleme. Es war die Wut, auf die wir eine Antwort suchen mußten. Auch in Paris oder in Madrid hätte ein Theo van Gogh mit durchschnittener Kehle auf der Straße liegen können. Und auch in Utrecht hätten vier Züge zeitgleich in die Luft gehen können.
III
Hätten wir das alles vorhersehen können? Das eine oder andere vermutlich. In den neunziger Jahren war ich eine Weile Lokalredakteur beim NRC Handelsblad. Als ich zum ersten Mal das Verzeichnis der Gerichtsverfahren zu Gesicht bekam, erschrak ich zu Tode: Die Liste stand voll junger Alis und Ahmeds. Die Polizei und die Sicherheitsdienste veröffentlichten besorgte Berichte über bestimmte Jugendgruppen. Die Frauenhäuser füllten sich mit Migrantenfrauen. Es fand eine massenhafte Einwanderung statt, mit allen entsprechenden Begleitproblemen, während die offizielle Politik genau diese Tatsache bis in die neunziger Jahre hinein leugnete. Auf Bezirksniveau und stadtweit wiesen Verwaltungsbeamte, Politiker, Journalisten, Lehrer, Sozialarbeiter und andere unmittelbar Beteiligte seit Mitte der achtziger Jahre auf ernste Probleme hin: Die Schulen waren absolut nicht auf große Immigrantengruppen aus primitiven ländlichen Kulturen eingestellt; um die Möglichkeiten, Niederländisch zu lernen, war es überaus traurig bestellt; die Nachbarschafts- und Vereinsarbeit, die bei der Integration eine zentrale Rolle hätte spielen können, wurde in dieser Zeit gerade fachmännisch kaputtgespart. Darüber hinaus befand sich der Justizapparat - jeder scheint das vergessen zu haben - in den achtziger und neunziger Jahren wegen des Drogenproblems in einer nahezu permanenten Krise.
Es gab viel zuwenig Gefängniszellen, Fälle kamen erst mit großer Verzögerung vor den Richter, ein Taschendieb war in der Regel nach wenigen Stunden bereits wieder auf freiem Fuß - von einer zielgerichteten Rechtspflege konnte in der Praxis nicht mehr die Rede sein. Die niederländische Gesellschaft bot gerade in diesem Zeitraum also außerordentlich wenig Halt, sowohl in positivem wie in negativem Sinne. Wir sahen die Folgen vor uns: Krawalle in den Stadtvierteln, wachsende Spannungen zwischen armen Alteingesessenen und armen Immigranten und schließlich auch Ghettobildung. Doch niemand hätte je erwartet, daß die Niederlande, und das übrige Westeuropa, eines Tages auch noch zum Laboratorium für ein weltweites Problem werden sollten, für einen Konflikt, der am Ende in der islamischen Welt ausgefochten werden muß, für die Frage, wie eine traditionelle Weltreligion mit Säkularisierung, Globalisierung, individueller Freiheit, Frauenrechten und allem, was sonst noch repräsentativ für eine moderne Gesellschaft ist, umgeht. Es muß um 1985 gewesen sein, als ein Kollege und ich bei einer Reisereportage in Malaysia mit einem bisher ungekannten Phänomen konfrontiert wurden. Auf dem Studentencampus von Kuala Lumpur trugen bestimmt ein Drittel der Studenten plötzlich Bart bzw. die Studentinnen Kopftuch, dieselben jungen Menschen, die zwei Jahre zuvor auf Demonstrationen noch laut Parolen gerufen und rote Fahnen geschwenkt hatten, die englische Literatur studierten und fröhlich auf kleinen Mopeds herumflitzten, die genauso modern waren wie wir und die sich mit einem Mal doch dem Islam in seiner traditionellsten Ausprägung unterworfen
hatten. Sie seien vom Westen enttäuscht, sagten sie. Sie hatten Trost in den Werten ihres alten Dorfes, ihrer alten Religion gefunden. Es war eine interessante Gegenbewegung, doch aus unserer Perspektive schien sie sich nur in sich rasch modernisierenden islamischen Ländern zu vollziehen. Nicht eine Sekunde hätten wir angenommen, daß fünfzehn Jahre später auch Europa mit diesem Phänomen konfrontiert werden sollte. »Okzidentalismus« nannten der britisch-niederländische Publizist Ian Buruma und der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit diese zunehmende Ablehnung der westlichen Kultur, eine Ablehnung, die bei manchen Radikalen sogar in eine direkte Kriegserklärung gemündet war. Die beiden Autoren sprechen von einer »Kette der Feindseligkeit«: Feindseligkeit gegen die arrogante, gierige, dekadente Stadt, gegen den frivolen Kosmopolitismus, gegen die Wissenschaft und die Ratio, gegen den zerstörerischen Expansionsdrang des westlichen Kapitals, gegen die etablierte Bourgeoisie, gegen den Ungläubigen, der zerschmettert werden muß, um zu einer Welt des reinen Glaubens zu gelangen. In der Lehre dieses Okzidentalismus ist die einzig reinigende Antwort der sich aufopfernde revolutionäre Held. Im Denken einiger Fundamentalisten war die westliche Säkularisierung nicht mehr ein rein religiöses Problem des Westens, sondern eine Form von Götzendienst, die angeblich den Islam bedrohte, mit einem Götzen, der kurz davor stand, den einzigen wahren Allah zu ersetzen, und deshalb mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müsse. In dieser Sichtweise war im Prinzip jeder, der nicht zur islamischen Gemeinschaft gehörte, ein Feind.
Burumas und Margalits Studie war interessanterweise nicht der soundsovielte Bericht über »unsere Zivilisation«, die sich angeblich »im Krieg« mit den »Barbaren« befand. Im Gegenteil, sie war gerade eine Geschichte der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen. Sie nahm die deutsch-romantische Ideologie der »Reinheit« und des »Heldentums« zum Ausgangspunkt und zeigte, wie diese Gedanken im islamischen Fundamentalismus weiterwirkten und im Gedankengut eines Mohammed B. gewissermaßen zurückgeworfen wurde. Im Grunde handelte sie von der leichten Verbreitung nostalgischer Träume, von Karikaturen von Menschen und Gesellschaften, von Haß und falschem Heldentum. Und, warnten die Autoren, das kann uns wieder passieren, wenn wir der Versuchung erliegen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, wenn wir den Islamismus mit unseren eigenen Formen der Intoleranz bekämpfen. Die Grundlagen für den Radikalismus eines der einflußreichsten islamischen Vordenker, des Ägypters Sayyid Qutb, wurden bei seinem Aufenthalt in New York gelegt, für ihn eine »enorme Werkstatt« voller Materialismus, Verlockungen und Sinnlichkeit, ein Chaos, in dem sogar die Tauben unglücklich seien. Gegen die Hurerei von Babylon verteidigte er die reine, islamische Gemeinschaft. Seine Vorstellungen von der »besudelten« Stadt und dem »reinen« Land fanden zahllose Anhänger, weil sie ein anderes, weltweites Problem trafen. Es gab nämlich eine historische Grundströmung, die um die Jahrtausendwende die Welt vor allem beherrschte: die massenhafte Landflucht. 1960 lebten zwei Drittel der Weltbevölkerung noch in
Bauerngemeinschaften, 2020 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten wohnen. Diese Verschiebung wird ebenso weitreichende Folgen haben wie die historische Wende vom Jäger zum Bauern vor etwa zwölftausend Jahren. Sie bedeutet einen gravierenden Bruch mit den Traditionen und Lebensstilen, eine Entwurzelung, deren Umfang und Folgen noch nicht abzusehen sind. Die Auswirkungen dieses weltweiten kulturellen Bruchs waren 2004 überall zu erkennen: an Immigranten, die sich wie trotzige Bauern an die Sprache und Sitten ihres Dorfes klammerten, an Imams, die sich wie Dorfpriester weigerten, Frauen die Hand zu geben, am Festhalten an bäuerlichen Traditionen in bezug auf Ehe und die Pflichten der Frauen. Viele Moslems versuchten in einem religiösen Fundamentalismus alte Sicherheiten wiederzufinden, wie übrigens auf der ganzen Welt, vor allem in den Vereinigten Staaten, fundamentalistische Christen in ihrem Kampf gegen den Säkularismus einen neuen Elan entwickelten. Vielleicht muß ich mich präziser ausdrücken, wenn ich an das Internet und die Satellitenschüsseln des ultratraditionellen Mohammed B. denke: Der radikale Fundamentalismus war nicht nur eine Reaktion auf die Moderne, er war zugleich auch ein Produkt der Moderne. Ohne die Probleme der Moderne wäre ein Mohammed B. nie aufgestanden, aber ohne die Möglichkeiten der Moderne hätte es ihn auch nie gegeben. Der Terrorismus und Radikalismus, mit dem wir in diesen Jahren konfrontiert wurden, glich also in nichts mehr dem politischen Radikalismus der sechziger und siebziger Jahre. Er war jetzt, schrieb Jessica Stern, vor allem eine Antwort auf das »große Loch in Form von Gott«, das in der säkularen westlichen Kultur entstan-
den war. Radikal fundamentalistische Gruppen, jeder Konfession, reagierten auf dieses Loch in der westlichen Lebensweise mit Wut, vor allem gegenüber Äußerungen der Moderne: Toleranz, Gleichheit von Mann und Frau, moderne Wissenschaften, geistige Freiheit. Ihre Sündenböcke variierten von Abtreibungsärzten bis zu modernen Theologen und Vorkämpfern der Frauenemanzipation. Amerikanische Aktivisten der Schwulenbewegung erhielten regelmäßig Morddrohungen von Christen, die mit Levitikus 20:16 argumentierten: Homosexuelle »begehen eine Greueltat« und müssen getötet werden. Aber auch der Fremde konnte für das Böse stehen. In der Regel waren nahezu alle Religionen viel gemäßigter, moderner und toleranter als diese Extremisten, aber das Problem wurde durchaus überall empfunden. So wurde Westeuropa erneut mit einem Konflikt konfrontiert, den bereits Napoleon durch die gewaltsam durchgesetzte Trennung von Kirche und Staat zum großen Teil aus der Welt geschafft hatte. Und den Rest des Problems, dachten die meisten Europäer, hätten ihre Großeltern und Urgroßeltern schon erledigt und begraben. Nun aber bekamen diese alten Fragen von Glauben und Unglauben durch die Einwanderung von Millionen von Moslems eine erneute Brisanz. Dabei ging es um einen grundsätzlichen Wertekonflikt: Allein schon der Verzicht auf eine Jenseitsvorstellung unterscheidet die Lebensperspektive von säkular Denkenden wesentlich von der der Gläubigen. Viele Europäer waren deshalb sehr besorgt, denn auf diese Weise wurden ja die Grundwerte des säkularen Humanismus, die seit der Aufklärung die westeuropäische Politik beherrschten, wieder in Frage gestellt. Es
war ein Gegensatz, der zum Teil auch die Verwirrung in der öffentlichen niederländischen Debatte ein wenig erklärte. Dabei ging es ja nicht mehr um die Gegenüberstellung von Links und Rechts oder von Humanisten und Fundamentalisten, plötzlich ging es auch wieder um die Gegenüberstellung von säkular Denkenden und Gläubigen. Nachdem sie jahrelang wie selbstverständlich galten, wurden säkulare Dogmen wieder in Frage gestellt; in der Zweiten Kammer flammte sogar eine überaus stürmische Debatte zum Phänomen der Gotteslästerung auf. Wie früher in Großbritannien entwickelten sich neue, erstaunliche Koalitionen, vor allem zwischen Moslems, Christen und Juden: Vereinbarungen über die Zusammenarbeit von Kirchen, Moscheen, jüdische Gemeindevorsteher, die sich für die islamische Gemeinschaft einsetzten, Politiker verschiedener Couleur, die in moralischen und religiösen Fragen plötzlich zueinanderfanden. Zugleich wuchs innerhalb der säkularen Gruppen das Bewußtsein, daß Fragen der Ethik und der Moral wie in den Vereinigten Staaten wieder massiv auf die Tagesordnung drängen könnten und daß auf diese Fragen eigene Antworten gefunden werden müßten. Das galt auch für einige andere allgemein verbreitete Werte. Vor allem im Spätherbst des Jahres 2004 merkten wir in unserem komischen, kleinen, liberalen Land, was bestimmte Selbstverständlichkeiten bedeuten, wenn es darauf ankommt. Begriffe wie »Nationalgefühl« und »Führungsrolle« wurden in den Niederlanden jahrelang nur noch von wenigen Konservativen in den Mund genommen. Unsere nationale Identität, aus der sich ein Gutteil unseres öffentlichen Selbstvertrauens speiste, war nach all den Jahrhunderten genauso selbst-
verständlich geworden wie das Wasser aus der Leitung. Symbole gab es nur wenige, Rituale kannten wir kaum noch. In der Vergangenheit besaß so gut wie jeder unserer führenden Politiker auch bei seinen politischen Gegnern genügend natürliche Autorität, um dem übergroßen Teil der Niederländer in Krisenzeiten ein gewisses Gefühl von Vertrauen und Sicherheit vermitteln zu können. Nun druckte das Algemeen Dagblad, eine Premiere in der niederländischen Pressegeschichte, auf der Titelseite eine flehentliche Bitte an niemand anderen als die Königin, zu ihrem Volk zu sprechen. »Haß verbreitet sich wie ein Moorbrand über das Land. Moscheen, Kirchen und Schulen werden zur Zielscheibe von Anschlägen. Die Niederlande drohen zu einem Land von ›wir‹ und ›sie‹ abzurutschen, zu einem Land, in dem die Angst regiert.« Plötzlich wurde unsere Identität auf allen Ebenen ganz entschieden in Frage gestellt: Wer sind wir denn eigentlich, was wollen wir alle zusammen mit diesem Land? Und gleichzeitig fehlte den höchsten politischen Vertretern dieses Landes zugegeben, in der Regel integeren und fähigen Menschen - diese undefinierbare Ausstrahlung von Autorität, die gerade in solchen Situationen richtungweisend sein kann. Auf einmal erkannten wir den Wert dieser vergessenen Anker, jetzt, wo das Land tatsächlich abzudriften schien. In der Tageszeitung Trouw schrieb Hans Goslinga bitter über die Verlierer der Kulturrevolution der sechziger Jahre, über die gläubigen »Zurückgebliebenen«, deren Traditionen und Ethik als »kleinbürgerlich« oder »Folklore« abgestempelt wurden. Niemals habe es im Umfeld dieser »Alles ist erlaubt«-Kampagne Momente der
Reflexion gegeben. »Ich frage mich«, schrieb Gooslinga, »ob die Nachkriegsgeneration überhaupt je gemerkt hat, wie scharf und schmerzlich dieser Kulturbruch gewesen ist.« Mit einem Mal waren solche Töne wieder überall zu hören: Waren uns nicht, bei all dem Gehetze und Gerenne der vergangenen Jahrzehnte, ein paar wesentliche Teile verlorengegangen?
IV
Die Niederländer sind und bleiben Bürger, schrieb der große Historiker Johan Huizinga in seiner klassischen , Skizze Nederlands geestesmerk (1934), »vom Notar bis zum Dichter und vom Baron bis zum Proletarier«. Unsere bürgerliche Gesellschaft erkläre, so meint er, die »geringe Anfälligkeit für das leere Wort« und »den geringen aufrührerischen Geist der Volksklassen und im allgemeinen die Ebenheit des nationalen Lebens, die sich unter dem Wind der großen Geisteserregungen nur leicht kräuselt«. Wenn es etwas gibt, worauf die Niederlande stolz sein dürfen, dann ist es die Art und Weise, wie das Land den Geist der drei verschiedenen Kulturkreise, zwischen denen es eingeklemmt war, den deutschen, französischen und britischen, so gleichmäßig zu verarbeiten vermochte und so genau zu begreifen verstand. »Es ist ein kostbarer Luxus, den wir uns erlauben können, dieses Verständnis für das Fremde, diese Anerkennung des Fremden.« Von all dieser Gelassenheit war siebzig Jahre später nicht mehr viel übrig. So schien es zumindest. Natürlich, auch Huizinga zeichnete ein Idealbild. In Wirklichkeit waren die Niederländer keineswegs so »beständig« wie er es behauptete. Zeiten der Ruhe und Ordnung wechselten immer mit heftigen öffentlichen Gefühlsausbrüchen ab. Als in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Katholiken ihre kirchliche Macht hierzulande wieder festigen wollten, als in den drei-
ßiger Jahren unter den niederländisch-indischen Matrosen, denen der Sold gekürzt worden war, auf einem Kreuzer eine Meuterei ausbrach, als in den sechziger Jahren die damalige Kronprinzessin einen deutschen Diplomaten heiraten wollte, als in den achtziger Jahren ein vermeintlich antisemitisches Theaterstück aufgeführt zu werden drohte, jedesmal war die Hölle los, und jedesmal wurde das Problem nach einem Weilchen wieder kleinlaut in den hintersten Winkel verbannt. Das ganze war schnell wieder vergessen. Wie bereits früher erwähnt, war die berühmte niederländische Toleranz weniger allerlei schönen aufklärerischen Ideen zu verdanken als vielmehr den praktischen Erfordernissen der Handelsstädte. Vor allem im sechzehnten Jahrhundert, als allerorts neue protestantische Strömungen wie Pilze aus der Erde schössen, wurde mit den verschiedensten Pazifizierungsmethoden experimentiert. Die Niederlande besaßen kaum eine Zentralmacht, und viele Städte lösten das Problem der religiösen Zwistigkeiten anfangs in eigener Regie durch eine strikte Ausländer- und Sicherheitspolitik. Im Rahmen einer Art »religious cleansing«, einer religiösen Säuberung, wurde jeder, der religiös oder sonstwie verdächtig war, der Stadt verwiesen. Protestantische Städte setzten so ihre Katholiken vor die Tür, katholische Städte ließen die Protestanten ziehen. Die wirtschaftlichen Folgen waren verheerend. Spätere Generationen verfolgten eine Politik des »Religionsfriedens« oder der Toleranz, damit die Städte nicht daran zerbrachen. Diese Pazifizierungsmethoden, bei denen vieles geduldet und das Schüren von Haß und Unruhe mit harter Hand bekämpft wurde, erwiesen sich in den offenen Einwanderungsstädten als
weitaus erfolgreicher. Allerdings gab es eine Grenze, die nie unterschritten werden durfte: Die Kultur der toleranten Handelsstadt wurde mit allen Mitteln verteidigt. Angehörige der Wiedertäufer, die 1535 in Amsterdam die Macht ergreifen wollten, wurden zu Dutzenden niedergemacht und anschließend auf dem Galgenfeld aufgehängt, »met de voeten opwaerts gelijck honden«, »mit den Füßen nach oben wie Hunde«. In den ersten Novemberwochen des Jahres 2004 überwog das Gefühl, daß diese Untergrenze wieder einmal verletzt worden war. Das war durchaus verständlich. Denn der Mord an Theo van Gogh war ja mehr als ein furchtbarer Zwischenfall. Er war eine Kombination dreier explosiver Elemente: extremer religiöser Gewalt, einer sehr komplizierten öffentlichen Person, plus einem religiös aufgeladenen Kurzfilm voll doppelter Botschaften. Doch nach den ersten Reaktionen hatte man den Eindruck, daß die tonangebende Elite dem nichts anderes entgegensetzen konnte. Wer in diesen Wochen die Medien verfolgte, sah ein Land, das sich von seinen internationalen Bindungen losgerissen zu haben schien, losgerissen auch von allen historischen Wurzeln, ausschließlich auf sich selbst konzentriert. Als London im Herbst 1940 systematisch bombardiert wurde und es jede Nacht Hunderte von Toten gab »Jeden Morgen war man froh, wenn man seine Freunde wieder auftauchen sah«, schrieb der Diplomat Harold Nicolson -, hielten die Briten mit eiserner Disziplin an ihrem Alltag fest: Sie ließen sich von dem Terror absolut nicht aus dem Tritt bringen, sie wußten, was sie alle zusammen wert waren und handelten entsprechend. Ein halbes Jahrhundert später besuchte die
israelische Bevölkerung zu Zeiten der Selbstmordanschläge mit derselben stolzen Entschlossenheit weiterhin Restaurants und fuhr weiterhin mit dem Bus, auch wenn es gelegentlich riskant war. Die Madrilenen nahmen nach den Zugattentaten das Leben mit Würde wieder auf. Die meisten Niederländer folgten nach dem 2. November ihrem Beispiel, sie wollten und konnten auch nicht anders, doch in der Politik und in den Medien geschah etwas anderes. Hier setzte ein Angsthandel ein, noch schlimmer, es entstand fast eine Angstsucht. Dabei handelte es sich nicht um eine Reaktion auf eine offensichtlich vorhandene Gefahr, denn sie fehlte auffallenderweise gerade oft. Zum Beispiel sprach kaum jemand von den zu niedrigen Etats der Sicherheitsdienste, oder von der noch immer katastrophalen Zusammenarbeit der Polizeieinheiten mit den Nachrichtendiensten, oder von dem unglaublichen Mangel an guten Dolmetschern und Übersetzern, oder von den Möglichkeiten, durch Infiltration oder sonst irgendwie die kleinen ultraradikalen Gruppierungen in den Griff zu bekommen. So gut wie alles drehte sich um Angst. Angst schien zum zentralen Element des niederländischen Weltbilds zu werden. Die komplizierte Situation, in der wir steckten, wurde ständig auf Schlagworte, Panik und Halbwahrheiten reduziert. Einer der maßgeblichsten liberalen Politiker erklärte in einer Fernsehdebatte, daß er »als jemand, der die deutsche Besatzung miterlebt hat«, mit großer Sorge kommen sehe, wie »die Moslems« in den Großstädten binnen kurzem die Mehrheit bilden würden »mit allen begleitenden Gefühlen von Einschüchterung und Unfreiheit«. Der Fraktionsführer der Liberalen, der
Monat für Monat seinen Anhang weiter schwinden sah, beschrieb auf dem Parteikongreß die Niederlande als einen »Ort der falschen Toleranz, der Bequemlichkeit, Scheinheiligkeit und Feigheit«. Sein Plädoyer für die Zurückeroberung der »Autorität« und für ein »gnadenloses Vorgehen« wurde mit einer stehenden Ovation honoriert. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten prophezeite einen neuen Wähleraufstand und schloß eine künftige Regierung mit den Rechtsnationalen nicht aus. Beiläufig rammte er schon einmal vorsichtshalber dem Bürgermeister von Amsterdam das Messer in den Rücken, einem Parteifreund, der die Probleme angeblich nicht hart genug angepackt hatte. Für manche war Personenschutz eine bittere Notwendigkeit - gegen ein Dutzend Meinungsmacher und Personen des öffentlichen Lebens wurden auf radikalen Moslemsites ernsthafte Drohungen geäußert -, für einige andere wurde er zu einer Art Statussymbol. Der Vorsitzende der ehemaligen Fortuyn-Partei schickte seiner eigenen Partei und sich selbst Drohbriefe. Die Wochenzeitung HP/De Tijd, die seit Jahren die Einwanderungsproblematik mit frischem Blick kommentierte, schlug vor, durch »Razzien in Satellitenschüsselvierteln« mindestens fünfzigtausend moslemische Immigranten zu verhaften. Dasselbe Blatt stellte auch wenig subtil Zusammenhänge mit der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg her: Gewisse jüdische Politiker seien angeblich daran beteiligt gewesen, »so viele Minderheiten wie möglich ins Land zu holen«, um so die Chance zu minimieren, »daß die Juden wieder einmal die Dummen wären«. Unterdessen hüllte sich die zentrale Figur dieser
Diskussion, Ayaan Hirsi Ali, in absolutes Schweigen. Sie wurde ernstlich bedroht - der Zettel, den der Mörder auf van Goghs Körper zurückgelassen hatte, war vornehmlich an sie gerichtet - und sie mußte sogar einige Zeit im Ausland untertauchen. Unbeabsichtigt wurde ihre Abwesenheit jedoch zu einer Manifestation. Um die Abgeordnete entstand eine Aura von Märtyrertum, ein Schutzmantel, der sie nahezu unangreifbar machte. Einer der Radiosender brachte die Schilderung eines Abendessens mit ihr wohlgesonnenen Intellektuellen kurz nach dem Anschlag auf Theo van Gogh. Der Titel lautete Das letzte Abendmahl. Jede inhaltliche Diskussion über ihre Ansichten wurde auf diese Weise praktisch vollkommen abgeblockt. Und darum ging es auch nicht. Es ging um das Gefühl, um die Furcht vor dem anderen, die der Zusammengehörigkeit gegenüberstand. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das in anderen Ländern bei solchen Krisen oft eine stabilisierende Rolle übernimmt, entschied sich in den Niederlanden für das Gegenteil. Im heftigen Konkurrenzkampf mit den kommerziellen Sendern zählte bei den Einschaltquoten jeder Prozentpunkt. Das bedeutete, daß die Zuschauer um jeden Preis mit Gefühl und Adrenalin festgehalten werden mußten. Wissenschaftler, Forscher, die internationalen Islam- und Immigrationsexperten, Philosophen, die sich wirklich mit der Aufklärung befaßt hatten, die sah ich nur gelegentlich zu Wort kommen. Die Chance, ruhig ihren Standpunkt zu erläutern, bekamen sie höchst selten; fast immer wurde eine Person, fachkundig oder nicht, mit einem konträren Standpunkt ausgesucht, »um die Debatte lebendiger zu machen«. In Paris wimmelt es von marokkanischen In-
tellektuellen, die wahrscheinlich sehr vernünftige Dinge hätten sagen können. Aber von ihnen habe ich keinen gehört oder gesehen. Statt dessen tauchten Tag für Tag die merkwürdigsten Gestalten auf dem Bildschirm auf, mit, als absolutem Höhepunkt, einem blöden Brabanter, der als »Imam« und »Wortführer des Islam« vorgestellt wurde. Der junge Mann erklärte, am liebsten sähe er den Anführer der Rechtsnationalen tot, nicht durch die Hand eines Moslems, sondern, nach bohrendem Nachfragen des Interviewers, »lieber an Krebs« gestorben. Am nächsten Tag warfen die Morgenzeitungen diese Verwünschung mit fetten Lettern auf den Markt; daß Theo van Gogh seinen Gegnern exakt dasselbe gewünscht hatte, das hatten alle schon längst vergessen. Auf der Website des Senders wurde dem »landesverräterischen« Brabanter ein Genickschuß gewünscht. »Man muß einer Gesellschaft Gefühle geben«, rief der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, und man gehorchte ihm aufs Wort. Die mühselige Suche nach der Wahrheit zählte kaum mehr, alles drehte sich darum, große Gefühle zu wecken. Meinungen traten anstelle von Fakten, und auf einigen Websites wurde diese journalistische Haltung sogar ausdrücklich als ein »interessantes Experiment« bezeichnet, mit der Folge, daß immer mehr Zuschauer in einer Scheinwirklichkeit lebten, einer Traumwelt, die nicht korrigiert, sondern begrüßt wurde. Viele prominente Politiker, möglicherweise sogar die meisten, versagten in diesen entscheidenden Monaten. Sie bestimmten nicht den Ton der Debatte, sie griffen nicht sofort ein, als er zu entgleisen drohte, sie entzogen sich ihrer Verantwortung als Mitgestalter der
öffentlichen Diskussion. Von allzu vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hörten wir überhaupt nichts, als es wichtig gewesen wäre. Zu den wenigen, die taten, was sie tun mußten - so etwas wird allzu schnell vergessen -, gehörten der Justizminister und der Amsterdamer Bürgermeister. Der Bürgermeister tat zusammen mit seinem marokkanischen Stadtrat alles, was notwendig war, »um den Laden zusammenzuhalten«, er versuchte den Schaden, den seine in Panik verfallenen Politikerkollegen in Den Haag Tag für Tag anrichteten, soweit wie möglich zu begrenzen und war in jeder Hinsicht ein Musterbeispiel für Ruhe und Bürgermut. In all diesen Monaten pendelte der Justizminister weiterhin auf seinem reformierten Herrenrad vom Ministerium zu seiner Wohnung. »Wenn man unter dem Einfluß einer möglichen Bedrohung allmählich sein ganzes Leben ändert, hat diese Bedrohung eigentlich schon von vornherein gewonnen«, sagte er. »Ich weigere mich, das zu tun.« Um den niederländischen Staat mußte man sich jedenfalls keine Sorgen machen. Allerdings wurden der Minister und vor allem der Bürgermeister, so war damals die Stimmung, ständig von denen angegriffen, die mit der Angst hausieren gingen. Nur wenige traten für sie ein. Wer hatte uns denn je garantiert, daß wir hier, auf einer Insel der Seligen in einer unseligen Welt, auf ewig sicher und konfliktfrei leben könnten? Und was hat uns bloß auf die Idee gebracht, daß in diesem Land immer alles umsonst sein würde: die Freiheit, der Wohlstand, die Sicherheit, die Religion, die Ideale, die wir noch hatten? Ich weiß noch immer nicht genau, was in diesen Mo-
naten in einige Niederländer gefahren war. Womöglich hing es damit zusammen, daß sie im Gegensatz zu beispielsweise den Spaniern und Italienern, die schon seit Jahren mit bedrohten Politikern leben müssen, und den Franzosen, die bereits seit einem Jahrhundert Erfahrung mit großen rechtspopulistischen Gruppierungen haben, nie wirklich auf die Probe gestellt worden waren. Aber es könnte auch sein, daß diese Welle der Angst aus einer tiefen Instabilität der niederländischen Gesellschaft hervorging. Ich erinnere mich, daß ich schon vor zehn Jahren auf eine böse Bitterkeit gestoßen war, wie ich sie noch nie davor bei so vielen Niederländern erlebt hatte, auf eine Leere, die danach mehr und mehr die politische Diskussion beherrschen sollte. 1994 waren bei den Wahlen im Amsterdamer Stadtteil Betondorp, seit eh und je ein »rotes« Viertel, plötzlich ein Fünftel der Wähler zu den Rechtsextremen übergelaufen. Das war ein symbolischer Moment, denn Betondorp war jahrelang das Musterbeispiel für die ideale Gesellschaft der Zukunft gewesen: schlichte, aber gediegene Wohnungen, mit einem Gärtchen vor und hinter dem Haus, guten Schulen, viel Grün und frischer Luft, und dazu noch einen Lesesaal voll hehrer Gedanken. Das besondere an Betondorp war, daß das Viertel in keinerlei Hinsicht dem stereotypen Bild von einem verelendeten, entwurzelten Stadtteil entsprach, in dem die Rechtsradikalen leicht Fuß fassen könnten. Die Statistiken zeigten eine stabile Gemeinschaft, deren Bewohner zum größten Teil über fünfzig Jahre alt waren und oft schon »von Mutter auf Kind«, d. h. in der zweiten Generation, dort lebten. Nicht reich - viele Ältere lebten von kaum mehr als ihrer gesetzlichen Altersrente -, aber durchaus solide.
Der Prozentsatz an Immigranten war dort erheblich niedriger als in der übrigen Stadt. In ganz Betondorp wohnten genaugenommen vier marokkanische Familien; einer der Söhne hatte einmal ein Moped gestohlen, man hatte dazu gesagt, was zu sagen war, aber letzten Endes ging es nicht darum. »Die stille Armut, das ist hier das wirkliche Problem«, sagte einer der Betondorp-Bewohner, mit dem ich mich unterhielt. Die wichtigste Ursache für den Volkszorn hatte mit der Den Haager Welt der Illusionen zu tun, in der man endlose Versprechungen machen und einsparen konnte, ohne daß sich je Konsequenzen zeigten, mit einer Welt, die von »einem Quentchen weniger«, von »einmal eine Runde aussetzen« und von »zusammenhalten« sprach, ohne je mitzubekommen, welche Bedeutung ein Fünfzig-Euro-Schein für eine nahezu eingefrorene Altersrente hatte, wie sich die Angst vor einer erneuten Mieterhöhung, wie der Schreck bei einer Nachforderung der Stadtwerke auswirkte. »Hier wohnt so gut wie kein Rassist«, sagte einer der Männer. »Aber sie würden sogar den Teufel wählen, um die Politiker wachzurütteln.« Alle hatten Angst und waren wütend dort in Betondorp, aber letzten Endes war es nicht die Angst vor Moslems oder Immigranten, die das dortige Leben beherrschte, sondern »the fear of falling«, wie es die amerikanische Soziologin Barbara Ehrenreich so treffend formuliert, die ewige Angst der Mittelschicht, mühsam erworbene Positionen - eine ordentliche Wohnung, eine gesicherte Zukunft - wieder zu verlieren. Die Träume und Ideale, die das ganze zwanzigste Jahrhundert lang in diesem Dorf dominiert hatten, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Stadtteilzeitung schrieb:
»Früher waren die Betondorper im Vorteil, weil sie wußten, wie ihre Zukunft aussehen würde. Heute wissen wir nur noch, wie die yergangenheit aussah.« Die verlorenen Sicherheiten von Betondorp waren Teil einer allgemeinen Krise der niederländischen Politik, die um die Jahrhundertwende nach außen sichtbar wurde. Eine solche Bewegung der Unzufriedenheit war zu erwarten. Aber es lag noch viel mehr im argen. Zwar hatte das Land in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einen gewaltigen sozialen und religiösen Wandel durchgemacht, aber die politische Struktur war seit hundertfünfzig Jahren unverändert: mehr oder weniger dieselben politischen Strömungen, in immer wechselnden Koalitionen zueinander verurteilt. Die Niederlande ändern sich ruckartig, das wußten wir inzwischen so allmählich. Der amerikanische Historiker James Kennedy hatte die Niederlande einmal »ein Land der verworfenen Epochen« genannt, und das war nicht übertrieben. In anderen Ländern bewegt sich die Geschichte meist mit einer gewissen Kontinuität, aber hier müssen, dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, ständig alle Fäden durchtrennt werden. Erst vor vier Jahren fiel das ganze Land über Königin Beatrix her, weil sie es wagte, in Österreich Urlaub zu machen, obwohl dort gerade eine rechtsnationale Partei an die Regierung gekommen war. Inzwischen sind viele dieser österreichischen Ideen zur offiziellen niederländischen Regierungspolitik umformuliert worden. In den »lockeren« sechziger Jahren lehnten wir die in weltanschaulichen Gruppen »versäulten« dreißiger und fünfziger Jahre ab. In den neunziger Jahren, als in den Niederlanden der große Konsumrausch einsetzte und nur noch der Markt zählte, trennte sich das Land von
den idealistischen, »politisch korrekten« sechziger Jahren. Nun war die Zeit für weitere Schritte gekommen. Jahrelang hatten freie Jungs, böse Mädchen und parteilose Meinungsmacher die Medien dominiert. Dennoch wurde nichts von all dieser Unzufriedenheit in einer politischen Strömung kanalisiert. Auch das brachte Instabilität mit sich. Nach einem großen wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einem schweren terroristischen Anschlag sei, so der Meinungsforscher Maurice de Hond, in diesem Land alles denkbar. Er wies auf die Zeichen an der Wand: In Rotterdam gelang es den Populisten 2002 bei den Wahlen mit einem Schlag, von Null aus ein Drittel der Wählerschaft zu erobern. »Wenn sich das System nicht von selbst reinigt, geht es schlagartig.« Der Nestor des niederländischen Journalismus, Henk Hofland, startete Ende November eine Privatkampagne. Jeder seiner Artikel endete mit der Warnung, daß auch in den Niederlanden ein Staatsstreich oder Bürgerkrieg denkbar sei: »Nur ein großes Attentat terroristischer Islamisten, gefolgt von wütenden Reaktionen der Einheimischen, und dieses Land explodiert.« Einen Monat darauf sprach einer der populistischen Politiker gegenüber HP/De Tijd offen über seine Pläne: »Das beste für das Land ist ein guter Diktator.« Die kanadisch-amerikanische Stadtsoziologin Jane Jacobs schrieb am Ende ihres Lebens unter dem düsteren Titel Dark Age Ahead, daß unsere westlichen Gesellschaften deutliche Anzeichen des Verfalls zeigten. Eines der Problemfelder, die sie, neben der Stadtviertel-und Dorfgemeinschaft, der Familie und dem Bildungswesen
anführte, war die Berufsethik und Selbstdisziplin der akademischen Welt. Die Arbeitsweise eines jeden Wissenschaftlers und Intellektuellen, schrieb sie, erfordere »Integrität, ein Gefühl für Beweisführung und den entsprechenden Respekt davor, sowie eine wache Aufmerksamkeit für neue Fragen, die auftauchen können«. Wenn diese Disziplin wegfalle, werde Raum für die merkwürdigsten und gefährlichsten Arten der Dogmatik frei, einerlei ob von links oder von rechts. »Es vergiftet den Intellekt, weil danach alles, was mit diesem erstarrten, verzerrten Wissen in Berührung kommt, davon angegriffen wird.« In diesem November, ich habe es schon beiläufig erwähnt, rief die niederländische Öffentlichkeit Pim Fortuyn zum »größten Niederländer aller Zeiten« aus. Mit einem halben Auge verfolgte ich das »heißeste Finale des Heldenkampfes«, wie es De Telegraaf bezeichnete. Binnen einer Viertelstunde stürzten die klassischen Ikonen der niederländischen Kultur vom Sokkel. Spinoza - aus dem Amsterdamer Judenviertel stammend, einer der wichtigsten Philosophen der Weltgeschichte - hatte nicht einmal die Vorrunde überlebt. Erasmus und Rembrandt fielen gleich am Anfang vom Podest, dahin gingen Anne Frank und Antoni van Leeuwenhoek, Vincent van Gogh zählte auch nicht mit, Willem Drees und Wilhelm von Oranien hielten noch kurz stand, aber Pim Fortuyn war doch eindeutig der allergrößte. Außer einer Immigranten-, Politik- und Medienkrise gab es auf einmal auch noch eine Krise des niederländischen Selbstverständnisses. Wer waren wir Niederländer eigentlich? Worin bestand unsere Identität? Was wußten wir vom Rest der Welt? Vor etwa einem
Jahr hatten alle die Weltfremdheit des damaligen Ministerpräsidenten belächelt, als er zum ersten Mal eine Computermaus in die Hand nahm: Er versuchte mit dem Ding auf den Monitor zu zappen, als wäre es die Fernbedienung eines Fernsehapparats. Als aber niederländische Politiker und Meinungsmacher später auf den Gebieten Recht, Geschichte und Theologie ein vergleichbares Unwissen an den Tag legten, lag ihnen das Land zu Füßen. In diesen Monaten wurden die merkwürdigsten Dinge verkündet. Einige behaupteten, sie würden jetzt begreifen, warum diese schlaffen Niederländer im Mai 1940 so schnell vor den Deutschen kapituliert hatten; von den Bomben auf Rotterdam und dem anschließenden zähen Widerstand hatten sie offenbar noch nie gehört. Andere schrieben mit großer Entschiedenheit, daß kein Moslem je etwas Neues erfunden und nie auch nur den geringsten Beitrag auf dem Gebiet von Kunst und Wissenschaft erbracht habe; offenbar hatten sie nie Granada oder Istanbul gesehen, nie etwas von der Blüte der Wissenschaft in der islamischen Welt des frühen Mittelalters gewußt, nie etwas von dem metrischen System gehört, das noch immer auf der ganzen Welt verwendet wird, nie begriffen, daß einige griechische und römische Autoren uns nur dank der Universitäten von Bagdad und Cördoba überliefert worden sind. Und all diese Meinungen wurden permanent weiter ausposaunt, man hatte den Eindruck, als gebe es kein Allgemeinwissen mehr, das sie noch aufhalten oder mit höhnischen Zwischenrufen wegekeln könnte. Mindestens zwei Jahrzehnte lang waren das Fach Geschichte und andere Geisteswissenschaften im niederländischen Schulunterricht - »Markt!«, »Kunde!« - stark vernach-
lässigt worden. Das zeigte sich nun in der öffentlichen Debatte. Die Sprache dieser Meinungsmacher war auffallend grob - und das war übrigens bereits seit einigen Jahren der Fall. Ich hatte mehrmals das Vergnügen, Nasr Hamid Abu Zaid zu begegnen, einem sanftmütigen, ungemein tapferen islamischen Wissenschaftler von großem, internationalem Ansehen. Er war an der Universität von Kairo Hochschullehrer für Arabistik gewesen, hatte wegen seiner liberalen Überzeugungen fliehen müssen - radikale Islamisten drohten seine Ehe zu scheiden, einer seiner Mitstreiter war bereits ermordet worden - und hatte schließlich an der Universität von Leiden und am Wissenschaftskolleg Berlin eine Bleibe gefunden. In den Niederlanden freilich war sein Werk von seinem Leidener Kollegen Paul Cliteur -Hochschullehrer am Institut für die Enzyklopädie der Rechtswissenschaften, nicht gerade der Ort, an dem man gründliche Islamkenntnisse erwarten sollte - in dem Blatt De Humanist als »das naivste Buch, das ich seit Jahren gelesen habe«, bezeichnet worden. Cliteur zufolge lebt Zaid »in einer Phantasiewelt«. Er schloß mit dem Rat: »Mann, halt deinen Kopf mal unter den Wasserhahn.« Man sprach viel über die Aufklärung, wie man in früheren Jahrhunderten träumerisch über unsere batavischen Vorfahren geschrieben hatte, obwohl über sie iri Wirklichkeit kaum etwas bekannt war: das reine Ideal, starke Helden, Freiheit und Gleichheit für alle Bürger. Ein neuer Begriff tauchte ständig auf: Leitkultur, womit die zentrale kulturelle Grundströmung des Landes gemeint war. Der Fraktionsvorsitzende der Liberalen plädierte in einem Interview für einen »neuen Patriotismus«, wobei ein verbesserter
Geschichtsunterricht dazu dienen sollte, den »Grundton der Nation« weiterzugeben. In Wirklichkeit hatten solche Begriffe nichts mit der Aufklärung zu tun, mehr noch, »Kultur« und »Ursprung« waren gerade die Schlüsselbegriffe der deutschen Romantiker, die mit Macht die »rationale« Aufklärung abgelehnt hatten. Zugleich aber schien so gut wie jeder eine der wesentlichsten Errungenschaften dieser Aufklärung zu vergessen: nämlich die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, das Verbot von Willkür, den universellen Wert der Menschenrechte, das ganze System von Regeln und Einschränkungen, das man im allgemeinen als Rechtsstaat bezeichnet. Der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungspartei wollte im Grundgesetz festlegen, daß man Personen Grundrechte wie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit nehmen könnte, die mit ihnen »mißbräuchlich umgingen«. Der Gesundheitsminister erklärte bei einer Debatte über Organtransplantationen: »Vor allem die Moslems weigern sich aus religiösen Gründen, Organe zu spenden, wollen aber im Krankheitsfall wohl welche erhalten. Das paßt nicht zusammen.« Wenn er dasselbe über orthodoxe Juden gesagt hätte, wäre der Skandal nicht zu überhören gewesen - ganz abgesehen von der Tatsache, daß diese Bemerkung nach Meinung von Ärzten und islamischen Organisationen absolut nicht mit der Wahrheit übereinstimmte. Ayaan Hirsi Ali schlug im Parlament vor, bei Bewerbungen Moslems herauszugreifen und sie auf ihre politischen Überzeugungen hin zu überprüfen. Daß dies ausdrücklich im Widerspruch zu den Antidiskriminierungsbestimmungen der Verfassung steht, störte sie
nicht weiter. Der Wortführer der Rechtsnationalen plädierte für eine weitgefaßte Auslegung der Paragraphen des Grundgesetzes, die eine Ausrufung des Ausnahmezustandes ermöglichen. Dann könnten, falls »die Rechtsordnung und die Existenz des Volkes« gefährdet sei, ohne Hinzuziehung eines Richters Menschen verhaftet werden. Wenn das nicht ausreiche, sollten die Niederlande den Europäischen Menschenrechtsvertrag kündigen, um dem Terrorismus und dem extremen Straßenterror moslemischer Jugendlicher Einhalt zu gebieten; er sprach »vom alltäglichen Terror auf der Straße, an dem Zehntausende von Niederländern in großen und kleinen Städten täglich schwer zu tragen haben«. Auch in der Regierungspolitik war eine Tendenz zu erkennen, die klassischen Grundrechte immer weniger ernst zu nehmen. Der »Vertrag über den Status von Flüchtlingen«, in dem das Asylrecht für jeden anerkannt wird, der wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung »begründete Furcht« vor Verfolgung hat, war offizieller Bestandteil des niederländischen Rechts. Doch in der Praxis hatte das Land das Auswahlsystem für Flüchtlinge so gut wie vollständig daraufhin ausgerichtet, neue Anfragen möglichst abzulehnen. Das höchste Gericht, der Staatsrat, kam zu den absurdesten Entscheidungen - spätere Generationen werden die Rechtssprechung mit wachsender Verwunderung studieren. Irakische Flüchtlinge beispielsweise wurden seelenruhig zu den Folterern von Diktator Saddam Hussein zurückgeschickt, obwohl zur selben Zeit dasselbe Regime von den Niederlanden und seinen Bündnispartnern als zentrales Element »der Achse des Bösen« gesehen wurde. Ich kannte einen
tschetschenischen Studenten, der, so wußte die niederländische Regierung mit großer Sicherheit, in seinem Land nicht im geringsten eine Verfolgung zu befürchten hatte; zur selben Zeit durfte dort so gut wie kein ausländischer Beobachter auch nur einen Fuß ins Land setzen. Ich habe erlebt, daß eine mutige sudanesische Menschenrechtskämpferin in Den Haag von der Ministerin für Ausländerangelegenheiten und Integration wegen ihres grenzenlosen Mutes in dieser riskanten Umgebung geehrt wurde, aber ich wußte auch genau, daß diese Frau, sollte sie sich in den Niederlanden als Flüchtling melden, unter dem neuen System kaum oder gar keine Chance auf Asyl hätte. In derselben Weise wurden Grundrechte im Zusammenhang mit der Einführung der vorgeschriebenen Eingliederungskurse und der entsprechenden Prüfungsnachweise ignoriert. Auch ehemalige Ausländer, die bereits die niederländische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, sollten dazu verpflichtet und bei Nichteinhaltung mit Bußgeldern und anderen Unannehmlichkeiten bestraft werden. Jeder Jurastudent im vierten Semester könnte einem sagen, daß so etwas nun einmal nicht geht: Es ist streng verboten, zwischen Niederländern aufgrund ihrer Herkunft Unterschiede zu machen - bzw. sie zu diskriminieren. Staatliche Rechtsabteilungen sagten dasselbe: Solche Maßnahmen sind nur möglich, wenn die Niederlande ein paar Dutzend Verträge auf dem Gebiet der Menschenrechte aufkündigen. Nur eine Handvoll Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Meinungsführer begriff, was hier vor sich ging. Die klassische Definition eines Rechtsstaats - daß das Recht ein Wert an sich ist, daß die Praxis zwar bis-
weilen schwerfällig, aber im allgemeinen und langfristig gesehen das »rule of law« der Willkür und dem kurzfristigen Nutzen von Sondergesetzen und Sonderbeschlüssen weitaus vorzuziehen ist - schien von einer zynischeren Definition verdrängt zu sein: Das Recht müsse in erster Linie den Mächtigen und Mehrheiten dienen, es sei ein Instrument der Politik, und Juristen seien in erster Linie politische Funktionäre, die ihre Empfehlungen so formulieren müßten, daß selbst die aberwitzigste Idee noch durch die Maschen von Recht und Gesetz rutschen könne. Wie der Begriff Rechtsstaat wurde auch der Begriff »Meinungsfreiheit« in dieser Debatte mit neuem Inhalt gefüllt. Wer die Geschichte dieser Grundrechte ein wenig kennt, weiß, daß solche »aufgeklärten« Garantien überwiegend zum Schutz der Bürger gegen allzu herrschsüchtige und tyrannische Könige, Regenten und andere Machthaber gedacht waren. Das »Recht auf Beleidigung«, das einige sich aneigneten, war das genaue Gegenteil. Demütigen und Diskriminieren von Minderheiten konnte - und kann - niemals zur ultimativen »Meinungsfreiheit« erhoben werden. Im Gegenteil, das Denken der Philosophen der Aufklärung ging in die andere Richtung: Minderheiten sollten respektiert werden, und falls sie eigenartige Ansichten vertraten, sollten sie durch Bildung, Erziehung und das kultivierte Vorbild ihrer Mitbürger auf ein höheres Niveau gehoben werden. Die Aufklärung war eine Zivilisationsoffensive, mit der Grenzen überwunden werden konnten, nicht ein Mittel, um neue Grenzen zu ziehen und Andersdenkende auszuschließen. Die Aufklärung ging von Bildung und Integration aus, nicht von Konfrontation. Wer es in diesem Herbst al-
lerdings noch wagte, solche Gedanken auszusprechen, gehörte zur »fünften Kolonne« von »Softies« und »Moslemschmusern«. Im achtzehnten Jahrhundert war Charles de Montesquieu mit seinen permanenten Angriffen auf die Staatsmacht und seiner berühmten »Gewaltenteilung« einer der bedeutendsten staatstheoretischen Denker der französischen Aufklärung. Sein Name gehörte ganz offenkundig nicht mehr in die holländische Neo-Aufklärungsphilosophie des Jahres 2004. In diesen dunklen Dezembertagen des Jahres 2004 spazierte ich eines späten Abends über den Dam, den Platz, auf dem sich das Nationalmonument der Niederlande erhebt. Dort stand, wie auf allen großen Nationalplätzen in allen Große-Menschen-Städten der westlichen Welt, ein riesiger Weihnachtsbaum. NOORDZEE, 100.7 METER war auf einem um ihn herum drapierten Transparent zu lesen, und pausenlos schallten die Hits dieses kommerziellen Senders über den leeren, nassen Platz. Ganz offenkundig handelte es sich um einen Werbebaum. In den Großstädten der ganzen Welt lassen die Stadtverwaltungen oder spezielle Kommissionen solche Weihnachtsbäume aufstellen, die darüber hinaus meist noch das Geschenk irgendeiner Schwestergemeinde im fernen Norden sind. Oft gehören auch bestimmte Rituale dazu, Bürgermeistergattinnen zünden die ersten Kerzen an, Kinder singen. In den Niederlanden des Jahres 2004 war sogar dieser nationale Baum an den Meistbietenden verramscht worden. Alles war hier käuflich. Ich sah es mir ein Weilchen an. Ich lauschte dem Hall der Leere. Der ad-
ministrativen Leere, von der dieses Verhökern des öffentlichen Raumes zum x-ten Male kündete. Aber auch von der Leere an Kultur, an Tradition, an inneren Werten. Vom totalen Mangel an Stolz. Man könnte fast zum Moslem werden.
V
Mein alter Freund Sasja kam auf einen Sprung vorbei. Ursprünglich stammt er aus Serbien, und ich lernte ihn Anfang der neunziger Jahre kennen, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien gerade ausgebrochen war. Er hatte sich geweigert, sich an den ethnischen Gewalttaten zu beteiligen, er war desertiert, in die Niederlande geflohen und hatte sich hier eine neue Existenz aufgebaut. »Weißt du noch, wie es bei euch angefangen hat?« fragte ich. »Ganz genau«, antwortete er. »Den Tag, fast die Minute. Es war 1989. Jugoslawien war in jeder Hinsicht noch ein Land. Unter Freunden frotzelten wir uns gelegentlich wegen unserer ethnischen Abstammung -»Hör mal, du alter Moslem«, in der Art -, aber weiter dachten wir nie darüber nach. Die Einheit Jugoslawiens war für uns eine völlige Selbstverständlichkeit, wir hatten nie etwas anderes gekannt und konnten uns auch nichts anderes vorstellen. An diesem Abend des Jahres 1989 saß ich mit meinen Eltern vor dem Fernseher. Auf einmal, peng, Sondersendung: Ein deutscher General hatte einer kroatischen Untergrundbewegung Waffen geliefert. Sie bereitete angeblich eine faschistische Machtübernahme vor. Eine ganze Dokumentarsendung, eine Stunde lang. Sensation. Am nächsten Tag, groß in den Nachrichten: Drei kroatische Jugendliche vergewaltigen serbisches Mädchen. Noch einen Tag später: Kroaten verdrängen serbische Familie
durch Schikanen aus dem Viertel. So ging es immer weiter. Man konnte sich nicht entziehen, man wurde völlig verrückt gemacht.« Ich war später einige Male bei Sasjas Familie zu Besuch, ich hatte miterlebt, wie sein Vater, früher ein überzeugter Kommunist, allmählich von der serbischen Propaganda mitgerissen wurde. Der Weihnachtsbaum flog aus dem Haus, das »nationale« orthodoxe Weihnachtsfest wurde wieder in Ehren eingesetzt. Er kaufte eine Pistole, dieser friedliche Mann, denn man konnte ja nie wissen mit diesen »faschistischen« Kroaten und den »Moslemhorden«, die Serben die Kehle durchschneiden. Ich erlebte mit, wie in Serbien eine Handvoll Nationalisten, rechte Populisten und hysterische Intellektuelle in wenigen Jahren ein seltsames Süppchen zusammenrührten, eine Mixtur aus religiösen und historischen Theorien, kombiniert mit einer kräftigen Portion Populismus und Fremdenhaß, einer Prise Nostalgie, abgeschmeckt mit einem Schuß Blut und Boden. Dazu gehörte auch eine neue Sprache, ein nationalistischer Jargon, in dem kein Platz mehr war für irgendeinen Zweifel oder eine Nuance, in dem alles auf Gefühl und Zusammengehörigkeit reduziert war, in dem alles Komplizierte auf feste Schlagworte verkürzt wurde, in dem es kein Suchen und Nachdenken mehr gab. »Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da«, schrieb der deutsche Romanist Victor Klemperer über die Veränderungen der Sprache im aufkommenden Dritten Reich. »Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er
schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.« Klemperer, der als Jude in einer sogenannten »privilegierten Mischehe« mit knapper Not seine eigene Geschichtsschreibung überlebte, notierte in seinem Tagebuch jahrelang alle neuen Wörter, die ihm auffielen. Nach dem Krieg publizierte er seine Ergebnisse in dem Buch LTI. Die Sprache des Dritten Reichs. In diesem Winter habe ich, mehr als ein halbes Jahrhundert später, LTI noch einmal von A bis Z gelesen, und das war nicht gerade aufmunternd. Wie Klemperer sah auch ich um mich herum, wie vernünftige, liebenswerte Menschen vom Jargon und von der Sprache mitgerissen wurden und, noch schlimmer, entsprechend zu handeln begannen. Diese Sprachverschmutzung erlebte ich an mir selbst: Regelmäßig fiel im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Theo van Gogh der Begriff »Ritualmord«. Ich hatte den Terminus ebenfalls mehrmals verwendet, bis mich jemand darauf hinwies, welch ein gefährlicher Unsinn das doch sei: Als stehe im Koran eine Anleitung zum Abschlachten der religiösen Gegner. Die neuen Modebegriffe waren stark negativ besetzt. Sie zwangen zur Vereinfachung, zur Verallgemeinerung und zur Diskriminierung, zum Verzicht auf jegliche Zwischentöne. »Probleme ansprechen« war ein beliebter Ausdruck geworden, in Wahrheit war es eine Form der Irreführung, weil komplizierte Probleme eben nie in einem oder zwei Schlagwörtern »angesprochen« werden können. Wieder auf dem Vormarsch war der Begriff »doofpot«, in etwa dem deutschen »etwas unter den Teppich kehren« vergleichbar, mit seiner ewigen Unterstellung von Machenschaften und Komplotts in
höheren Kreisen und der Ohnmacht des Volkes. Beliebt war auch der Satz: »die Dinge endlich laut aussprechen dürfen«. Damit wurde das sich als Opfer Fühlen ausgedrückt, die jahrelange Repression durch linke Intellektuelle, der jetzt ein mutiger Sprecher oder eine mutige Sprecherin die Stirn bot. Mit dem Begriff »dämonisieren« - 1930 wurde in Deutschland in derselben Absicht das Wort »diffamieren« verwendet konnte jeder Kritiker aus der Debatte ausgeschaltet werden. Mit diesem Begriff wurden auch die Beziehungen definiert: Jeder Wortführer der neuen Ordnung durfte alles verzapfen, was er nur wollte, doch jede Gegenrede konnte als undemokratisch, sogar als gewalttätig gesehen werden. Im Radio hörte ich eine honette Dame über »die guten Moslems, die es auch gab«, sprechen, als sei die übergroße Mehrheit schlecht. Der Wortführer der Rechtsnationalen rief, daß er »diese Kopftücher fressen könnte«. Der Begriff »Flüchtling«, in den siebziger Jahren ein Ehrentitel, war in den darauffolgenden Jahrzehnten durch den Begriff »Asylant« ersetzt worden, ein Wort, das meist im Sinne von Outcast, Nassauer, Problemfall, verwendet wurde. Wer dagegen das wunderbare Wort »Toleranz« aussprach, machte sich gleich selbst zur Zielscheibe: Er oder sie war offenkundig ein »Multikulti« oder, noch schlimmer, »ein Landesverräter«. Man »durfte« wieder mit zweierlei Maß messen. Überall wurde über das problematische Verhalten »der« jungen Moslems in einigen Stadtteilen geschrieben. In denselben Wochen wurde eine berüchtigte asoziale Familie niederländischer Abstammung, die »Tokkies«, landesweit in Diskos auf die Bühne gehievt und
ihr zugejubelt. HP/De Tijd widmete »dem Scheitern« der Integration einen vollständigen Artikel, der in ein Plädoyer für die Schaffung spezieller Stadtviertel für moslemische Immigranten mündete. Ghettos nennt man solche Konzentrationen seit Jahrhunderten. »Politisch korrekt« war zum vielfach verwendeten Schimpfwort geworden. Ich ging in meiner eigenen Stadt durch die Weesperstraat, eine lange kahle Bürosiloallee und sah dieselbe Straße zwei Generationen früher vor mir, eine gewöhnliche, schmale, belebte Einkaufsstraße, vergleichbar der heutigen Utrechtsestraat. All die Menschen, die sich damals dort aufhielten, waren ermordet worden, achtzigtausend allein in Amsterdam, und alles hatte mit Sprache, mit Wörtern, mit Schlagworten wie »national« und »rein« und »sie« und »wir« angefangen. Sollten wir uns noch daran erinnern? Sollte uns das noch ein bißchen vorsichtig stimmen bei all dem, was wir heute von uns gaben? »Jetzt heißt es, sich anpassen oder abhauen«, sagte eine stark geschminkte Frau vor den Fernsehkameras der Nachrichtensendung bei der Feuerbestattung Theo van Goghs. »Und zwar nicht nach Hause, sondern auf eine unbewohnte Insel. Dort sollen sie dann mal sehen, wie sie an Essen kommen, und wenn sie es nicht schaffen, schlachten sie sich eben gegenseitig ab.« Die Frau hatte ein gutes historisches Gespür. In den dreißiger Jahren wurden exakt dieselben Pläne in bezug auf die deutschen Juden entwickelt. Die Insel hieß Madagaskar. Wenn wir heute Lehren aus der Geschichte ziehen wollen - und vor allem aus diesem Teil unserer europäischen Geschichte -, müssen wir unbedingt die notwendige Vorsicht walten lassen. Manchmal geht es um sensible Dinge, und die Unterschiede zwischen der
Gegenwart und der Vergangenheit bleiben gefährlich groß. Weimar um 1930 und Serbien um 1990 waren unendlich viel instabiler als die alte niederländische Bürgerdemokratie um 2005, und das Ausmaß der Gewalttätigkeiten war unvergleichlich größer. Aber trotzdem muß man, auch wenn es einem nicht in Dank abgenommen wird, hin und wieder Alarm schlagen, sobald soziale und politische Entwicklungen sichtbar werden, die unerfreuliche Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Prozessen in der Vergangenheit zu zeigen beginnen: wenn das Fehlverhalten einiger weniger der ganzen Minderheitsgruppe zugeschrieben, alle Gegensätze auf religiöse Fragen zurückgeführt, der Rechtsstaat ausgehöhlt, Angst ausgebeutet wird; und zwar nicht, um einige öffentliche Personen anzuschwärzen, nicht, um den falschen Eindruck zu erwecken, daß alles wieder genauso ablaufen würde, sondern um zur Wachheit zu mahnen. Die Nazis werden nicht mehr auferstehen, sie waren typische Menschen ihrer Zeit, das alles kommt nie wieder, zumindest nicht in der damaligen Gestalt. Aber bestimmte politische und gesellschaftliche Prozesse können sich wiederholen, immer wieder: die Radikalisierung der Diskussion, die Stigmatisierung bestimmter Minderheiten, die fieberhafte Atmosphäre, aus der sich ein Hype nach dem anderen entwickelt - in Weimar machte man sich Sorgen wegen »der Sucht nach Unruhe im öffentlichen Leben« - über das Gefühl der Ohnmacht und Rechtlosigkeit, das daraus bei den Opfern erwächst. Wenn wir ein waches Auge für solche Parallelen zum Tabu erklären, wird jeder Prozeß blockiert, aus dieser Zeit zu lernen. Noch schlimmer: Der Zeitabschnitt 1933-
1945 wird so gewissermaßen als einzigartige Situation, die sich Gott sei Dank nie mehr wiederholen wird, aus der Geschichte herausgehoben. Diese beruhigende Auffassung teile ich nicht. »In jeder Revolution, ob sie nun Politisches oder Soziales betrifft oder die Kunst oder die Literatur, sind immer zwei Tendenzen wirksam: einmal der Wille zum völlig Neuen, wobei der Gegensatz zu dem bisher Gültigen schroff betont wird, sodann aber auch das Bedürfnis nach Anknüpfung, nach rechtfertigender Tradition«, schrieb Klemperer. »Man ist nicht absolut neu, man kehrt zurück zu dem, wogegen die abzulösende Epoche gesündigt hat, zurück zur Menschheit oder zur Nation oder zur Sittlichkeit oder zum wahren Wesen der Kunst, usw. usw.« Auch in den Niederlanden des Jahres 2004 waren beide Richtungen deutlich zu erkennen. Es war eine neue Ordnung, nach der gerufen wurde. Das Zehnpunkteprogramm der Rechtsnationalen bestand aus einer simplen, dynamischen Mischung: der Regel »three strikes you're out« für Kriminelle, der Halbierung der Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder, der Milde für Steuerzahler und Autobahnraser, der Nichtaufnahme des islamischen Landes Türkei in die EU und harte Maßnahmen, um Immigranten ins niederländische Korsett zu zwängen. Gleichzeitig gab es einen Hang zur Vergangenheit, einen Ruf, die Ideale der Aufklärung zu wahren, ohne daß übrigens irgendeiner gesagt hätte, was er darunter genau verstand. Ging es um die Trennung von Kirche und Staat, oder wurde jede Form von Religion abgelehnt? Wurde der brillante Eigensinn eines Voltaire be-
grüßt oder im Gegenteil mit Jean-Jacques Rousseau die soziale Natur des Menschen betont? War die Aufklärung überwiegend als Auflehnung gegen Despotismus oder als Bestandteil von Immanuel Kants Erkundungsgang »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« zu sehen? Niemand schien sich dessen bewußt zu sein, wie viele Vertreter und Thesen dieser eine Begriff einschloß. So blieb die Debatte wie immer schwammig: Die vielgerühmte Aufklärung war ein Mantel, unter den alles paßte. Was war die Aufklärung denn sonst? Es handelte sich um einen Begriff, den die Schriftsteller und Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die sich von dieser Bewegung angezogen fühlten, wörtlich nahmen: Sie waren, dank der Kraft der Vernunft, der Wissenschaft und der Humanität dabei, sich von den Jahrhunderten der Finsternis zu lösen, an die ihre Vorfahren immer gekettet gewesen waren. Der wichtigste Antrieb für die Philosophen der Aufklärung war die Ratio, das klare Denken, das sich nicht von Gefühlen, Traditionen und vom Aberglauben trüben läßt. Deshalb legte sich ein Philosoph der Aufklärung nach dem anderen mit der Kirche, dem König und der Aristokratie an. Ein weiteres Merkmal war der Fortschrittsglaube: Durch die Entdeckung von immer mehr wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten werde es dem Menschen gelingen, alle alten Probleme, nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Gesellschaft, zu bewältigen. Grenzen zählten hier nicht mehr - die Bewegung war bemerkenswert kosmopolitisch -, Privilegien, Rang und Stand sollten am Ende verschwinden und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Welt beherrschen. Das war der Kern der Aufklärung. Der Islam hatte
eine solche Phase der Neubesinnung niemals durchlebt. Allerhand Prinzipien, die dank der Aufklärung in den westlichen Gesellschaften mehr oder weniger selbstverständlich geworden waren - die Trennung von Kirche und Staat, die Vernunft, die permanente Selbstkritik und Selbstkorrektur, die Gleichheit von Mann und Frau, von Heteros und Homos, von Minderheiten und Mehrheiten, von Gläubigen und Nichtgläubigenwaren nur in geringem Maße bis zur islamischen Tradition vorgedrungen. Deshalb wurde der weit fortgeschrittene Kulturrelativismus der Niederländer auch zu Recht in Frage gestellt. Ist die multikulturelle Gesellschaft denn wirklich so ideal, fragten sich einige Autoren, vor allem, wenn sie heute einem Teil der moslemischen Immigranten nichts sagt und sie nicht einmal Lust haben, ein paar Brocken Niederländisch zu lernen? Sollte man nicht besser eine multiethnische Gesellschaft anstreben, in der am Ende die westliche Kultur dominiert? Andere spitzten die Debatte noch weiter zu. Darf man denn überhaupt davon ausgehen, daß alle Zivilisationen gleichermaßen zivilisiert sind? Muß man nicht Praktiken wie Zwangsheiraten, die Frauenbeschneidungen und das Aussprechen von Fatwas nachdrücklich als unzivilisiert und nicht zu einer westlichen Gesellschaft passend ablehnen? Noch mehr zugespitzt: Wenn man das als Niederländer nicht tut, wo bleibt dann das eigene moralische Urteilsvermögen? Kurzum, mehrere Autoren drängten darauf, wir sollten aus unserer satten Ruhe aufwachen. In ihrem Enthusiasmus übersahen sie allerdings eine wichtige historische Tatsache: Im Gegensatz zu Frankreich hat sich die Aufklärungsbewegung in den Niederlanden nie zu voller Blüte entwickelt. In dieser Bürgerrepublik
gab es keinen eindeutigen Zentralstaat, keinen König, der enthauptet werden mußte, um Platz für die Vernunft und den Bürger zu machen. Die niederländische Toleranz und den bürgerlichen Eigensinn gab es, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, bereits im Spätmittelalter. Natürlich existierten auch hierzulande im achtzehnten Jahrhundert allerlei Streitschriften, Zeitungen und aufgewühlte Gesellschaften, aber diese Bewegung mengte sich schnell mit einer Reformbewegung der Theologen. Die französischen Philosophen kamen überwiegend nach Amsterdam, um dort zur Ruhe zu kommen und ihre Bücher drucken zu lassen. Dieses Gedankengut wurde im Laufe des gesamten neunzehnten Jahrhunderts von Hunderten »moderner« Pastoren im Verein mit Schulmeistern und Journalisten nach und nach bekannt gemacht. Die Niederlande haben genausowenig je einen »contrat social« gekannt, nie einen »etat«, nie »citoyens«, nie eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Hier sprachen wir immer von einer »Obrigkeit« mit »Untertanen«, und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein wurden in vielen Gemeinderäten die Sitzungen noch mit einem richtigen Amtsgebet eröffnet. Wenn die Niederlande überhaupt eine Tradition haben, dann ist es, um den Politologen Paul Kuypers zu zitieren, die »der aufgeklärten Theokratie«. Die Anhänger der neuen Aufklärung griffen also auf ein »typisch niederländisches« Staats- und Denkmodell zurück, das hier in Wahrheit nie richtig verwurzelt war. Gleichzeitig waren sie so gut wie blind für die wenig spektakuläre, aber sehr effektive niederländische Entwicklungstradition des Studierens, Einpolderns, Kompromisse Eingehens, Tolerierens, Grübeins, der
Beharrlichkeit, der offenen Grenzen für jedermann. Denn — ohne Toleranz kein freier Geist, ohne Einpoldern kein Wohlstand, ohne Kompromisse keine Demokratie, ohne Zivilisation und Selbstdisziplin keine Pressefreiheit, ohne Beharrlichkeit keine Busse, die pünktlich nach der Uhr fahren, ohne offene Grenzen keine Freiheit und saubere Luft. Einige gingen noch einen Schritt weiter. Für sie wurde die Aufklärung nicht eine Bewegung, ein ewiges Streben, sondern eine Idealsituation, der Endpunkt eines Reinigungsprozesses, ein »Shortcut to Enlightenment«. »Aufgeklärt« wurde so etwas wie »auserwählt«, es bekam einen nahezu religiösen Status. Als Ayaan Hirsi Ali und der Anführer der Rechtsnationalen gemeinsam zu einem »liberalen Jihad« aufriefen, war das mehr als ein unglücklicher Versprecher. Im Kern ging der Streit um genau das Gegenteil: um diese bürgerliche, wenig heldenhafte Denkart der liberalen Zivilisation, um die tagtägliche Freiheit, um die realisierte Utopie einer relativ sicheren, relativ gerechten und vernünftigen, wohlhabenden Gesellschaft, um alles, was sich so schwer umschreiben und verteidigen läßt, und gerade diese selbstverständlichen Errungenschaften stellten für die Fundamentalisten vermutlich die allergrößte Provokation dar. Es gibt einen politischen Stich aus dem Frankreich des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, als die Dreyfus-Affäre die gesamte Gesellschaft spaltete. Auf dem ersten Bild - ich muß die Szene aus dem Gedächtnis beschreiben - sitzt eine Bürgerfamilie bei einem üppigen, fröhlichen Mahl. Auf dem nächsten Bild schlägt die Großmutter mit einer Weinflasche auf eine Schwieger-
tochter ein, zwei Vettern sind kurz davor, sich gegenseitig zu erwürgen, Töchter kratzen sich die Augen aus, Väter und Söhne prügeln sich, der Hund hat die Katze auf die Vorhangstange gejagt, die friedliche Tafel hat sich schlagartig in ein Schlachtfeld verwandelt. Warum? »Es fiel der Name...« Ähnliche Szenen spielten sich hundert Jahre später in den Niederlanden im Zusammenhang mit Ayaan Hirsi Ali und ihrem Kurzfilm Submission Part I ab. Für den einen war die Parlamentarierin eine ehrliche, tapfere Kämpferin für die Rechte der moslemischen Frauen, wobei Provokationen unvermeidlich seien; der andere betrachtete sie als Extremistin, die mit denen, die sie retten wollte, genauso viel oder wenig verwandt war wie einst die marxistischen Weltverbesserer mit »der Arbeiterklasse«. Dem einen erschien es als höchst ungehörig, sie, wo sie doch so schwere Zeiten durchmachte, auch nur der leisesten Kritik auszusetzen; der andere rief, zwar werde er für sie die Möglichkeit, egal welche Meinung zu äußern, bis zum letzten Atemzug verteidigen, doch nehme ihm dieselbe Meinungsfreiheit nicht das Recht, stärker noch, sie nehme ihn in die Pflicht, eine völlig andere Meinung als Ayaan Hirsi Ali zu vertreten. Die Geister schieden sich quer durch politische Parteien, Freundeskreise und Familien. Ich beschloß, mir Submission Part I noch einmal genau vorzunehmen. Der Film zeigt eine verschleierte Schauspielerin, umgeben von vier größtenteils spärlich bekleideten sitzenden oder liegenden Frauen. Ort der Handlung ist, wie aus dem Drehbuch hervorgeht, Islamistan, ein fiktives Land, ein dem die Scharia, die islamische Gesetzgebung, herrscht. Formal ist der Film im Grunde ein großes Gebet, eine einzige an Allah
gerichtete Klage. Eine der Frauen liegt gekrümmt in Fötushaltung, weil sie, so vernehmen wir aus dem von der Schauspielerin gesprochenen Text, soeben hundert Stockschläge bekommen hat. Die andere Frau wird in ihrer Ehe systematisch vergewaltigt, die dritte Frau wurde grün und blau geprügelt, die Kleider hängen ihr zum Teil in Fetzen am Leib. Die vierte Frau ist völlig verschleiert, sie ist ein Inzestopfer. Während man die Geschichten der Frauen erzählt, werden auf ihre halb entblößten Körperteile Korantexte projiziert mit Aufrufen wie, »jeder Ehebrecherin und jedem Ehebrecher« hundert Stockschläge zu geben und »ungehorsame« Frauen »zu züchtigen«. Es ist eine verfilmte Streitschrift, nichts mehr und nichts weniger, eine berechtigte Anklage gegen die Mißhandlung moslemischer Frauen. So war der Film Hirsi Ali zufolge auch gemeint: Moslems zum Nachdenken zu bringen. Aber die unterschwellige Botschaft des Films ist, gerade durch diese stark religiöse Aufgeladenheit, komplexer. Er ist auch eine bewußte Provokation, er will auch die Haltung des Islam gegenüber Frauen im allgemeinen an den Pranger stellen, und die Stimme der Schauspielerin ist daher auch voller Ironie. »Das Wort Allahs ist das allerheiligste, das allerhöchste, was es gibt, und zugleich zeichnet es ein Bild der Frau, daß sie das allerschmutzigste, das allerniedrigste ist, was Gott je erschaffen hat«, sagte Hirsi Ali in einer Erläuterung. »Beides miteinander in Verbindung zu bringen ist ein Sakrileg.« Van Gogh war noch deutlicher: Das schlimmste, was ihnen als Filmemachern passieren könne, sei, daß »kein Moslem daran Anstoß nimmt«. Ayaan Hirsi Ali hat etliche Male betont, es sei nie ihre Absicht gewesen zu unterstellen, daß alle moslemischen
Männer ihre Frauen schlügen. Dennoch verkündet die Bildsprache ihres Films genau diese Botschaft. Die Mißhandlung von Frauen wird in den Szenenfolgen immer wieder mit Korantexten verknüpft und mit den »Rechten« und »Pflichten«, die moslemische Männer geltend machen können. Wahrscheinlich ohne daß sich die Macher dessen bewußt waren, haben sie beispielsweise mit demselben Schema gearbeitet, das von Joseph Goebbels 1940 in seinem berüchtigten Film Der Ewige Jude doppelt verwendet wurde: Abstoßende Bilder vom Judentum zu zeigen und daneben - in diesem Fall auch noch fingierte - Zitate aus dem Talmud. Durch die Koppelung von Exzessen und heiligen Texten wird suggeriert, alle Anhänger einer bestimmten Religion dürften oder müßten sich sogar so verhalten. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht mir bei diesem Vergleich allein um eine einzige, bestimmte formale Technik. Es liegt mir fern, die Macher in eine Ecke zu stellen, in die sie absolut nicht gehören. Auch der Film Submission Part I kann unmöglich auf eine Ebene mit Der Ewige Jude gestellt werden - trotz aller möglichen Einwände ist Submission Part I ein Wunder an Zivilisation verglichen mit der Schweinerei von Goebbels. Allerdings hat auch der Kurzfilm einen vergleichbaren, subtilen Propagandatrick, und der funktioniert noch immer: Mit dem Fehlverhalten einer Handvoll Menschen stellt man, mit Hilfe der Konfession, eine ganze Minoritätengruppe an den Pranger. Ich begreife noch immer nicht recht, wie die Emanzipationsmethode von Submission Part 1 funktionieren soll. Kein vernünftiger Mensch leugnet, daß es Frauen in der islamischen Welt manchmal gnadenlos schwer
haben, daß im Koran Sätze stehen, mit denen schwere seelische und körperliche Grausamkeiten gerechtfertigt werden können und daß die Stellung der Frau eines der wichtigsten Elemente im Modernisierungsprozeß des Islam ist. Völlig zu Recht wurden Moslems aufgefordert, auch in ihrer eigenen Kultur das Messen mit zweierlei Maß anzuprangern. Wie kann man von anderen Toleranz erwarten, wenn man nicht selbst Toleranz übt? An Silvester sah ich eine Todesanzeige in einer Ecke der Volkskrant: »So mutig, so ängstlich, so jung. Soviel Unsicherheit in deiner Vergangenheit. Soviel Hoffnung und Einsatz für eine sichere Zukunft. Doch mit nur einem Schuß ...« Farda Omar. Unterzeichnet von zwei Limburger Frauenhäusern. »Ade, mutige Frau...« Aber andererseits: Hörte ich in diesen Monaten von einem einzigen dieser aufgeregten Politiker jemals auch nur ein Wort über die lähmenden Ängste einer Farda Omar und ihrer Schicksalsgefährtinnen? Fragte sich in diesen Kreisen irgend jemand, was diese Frauen denn um Himmelswillen mit einem Film wie Submission Part I anfangen sollen? Wer wohl begeistert Gebrauch davon machte, waren die Männer der italienischen Lega Nord, die damit ihre Anti-Einwanderungskampagnen aufmotzten. Aus den vielen Fernsehreportagen über Hirsi Ali ist mir vor allem eine kleine Geste im Gedächtnis geblieben, eine wegwischende Hand, als eine mißhandelte moslemische Frau ihr zu widersprechen wagte. Als die Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die in ihrem Heimatland Iran seit Jahren einen mühseligen Emanzipationskampf für ihre und mit ihren islamischen Schicksalsgefährtinnen führt, sich in der Öffentlichkeit zeigte,
jubelten ihr überall moslemische Frauen zu, trotz aller Risiken, denen sie sich damit aussetzten. Bei Hirsi Ali hatte ich so etwas nie gesehen. Wen ich sehr wohl in ihrem Gefolge sah, und zwar immer wieder, das waren niederländische Männer, Angsthändler, Personen, die ein politisches Interesse am Fortbestand der Krise hatten, etablierte Bürger, die, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, in ihrer Karriere nie auch nur das geringste Interesse am Schicksal moslemischer Frauen gezeigt hatten, und es war völlig unklar, wer hier wen benutzte. Es ging, fürchte ich, am Ende auch nicht um die Frauen. Es ging um die Religion. Submission Part I war bezeichnend für ein merkwürdiges Kippen der öffentlichen Diskussion: Plötzlich wurden alle möglichen Fragen aus ihrem gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Kontext gerissen und in religiöse Begriffe umformuliert. Mohammed B. gab dieser Theologisierung einen enormen Schub, aber der Prozeß war schon längst in Gang. Einer bestimmten Religionsgemeinschaft anzugehören - in diesem Fall dem Islam - wurde für die zentrale Ursache aller denkbaren Formen gesellschaftlichen Übels gehalten, vom Terror bis zur Armut, von der Jugendkriminalität bis zu asozialem Verhalten. Für alle Weltbewohner, schrieb Ayaan Hirsi Ali als Antwort an ihre Kritiker, ist es notwendig und vordringlich, den Islam kritisch zu beobachten, »weil Moslems weltweit an so gut wie allen gegenwärtigen Kriegen beteiligt sind«. Später wurde zwar suggeriert, sie trenne klar zwischen den Exzessen bestimmter Moslems und dem Islam an sich, aber in ihren Schriften war Ende 2004 davon noch nichts zu bemerken. Sogar das extreme Mißverhältnis zwischen
Arm und Reich, das weltweit größte und schwierigste Problem, wurde auf religiöse Begriffe reduziert: Hirsi Ali ist der Überzeugung, das Elend, in dem die meisten Moslems leben - Hunger, Krankheiten, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, repressive Regimes - sei zum größten Teil dem Islam zu verdanken. Was in den Vereinigten Staaten um jeden Preis vermieden wird - selbst die rabiatesten Zeitungen sprachen nie von »den Moslems«, sondern immer von »Terroristen« oder »Jihadkämpfern« -, ließ man in den Niederlanden ganz einfach zu: Wie bei den Juden-, Protestanten- und Katholikenverfolgungen wurde wieder eine Religion insgesamt aufs Korn genommen. Bereits wenige Wochen nach dem Anschlag auf das WTC in New York hatte Paul Frentrop in HP/De Tijd vorgeschlagen, man müsse »den« Islam als Ganzes unter die Lupe nehmen, denn offenbar verbargen sich in dieser Religion gefährliche Elemente: »Gott steht auf unserer Seite; Menschenleben zählen nicht; wer nicht gehorcht, stirbt. Sollten wir nach sorgfältiger Prüfung zu dem Schluß kommen, daß das islamische Gedankengut nichts taugt, dann müssen wir eben die Konsequenzen daraus ziehen. Dann muß der Islam als nicht zu einem Rechtsstaat passend verboten werden«, so der Autor, der auffälligerweise seine Argumentation nicht auf das Christentum und die Millionen Opfer von Kriegen, Glaubensverfolgungen und Eroberungsfeldzügen ausdehnte. Der Spitzenmann der Rechtsnationalen stellte in Trouw die Behauptung auf, der Islam sei für 99 Prozent der Probleme im Bereich Sicherheit und öffentliche Ordnung verantwortlich: »Islam und Demokratie werden sich nie vereinen lassen. Noch schlimmer: Der Is-
lam in Reinform ist schlichtweg gefährlich.« Nachdem Theo van Gogh ermordet worden war, konnte man einen halben Tag lang im Teletext des öffentlich-rechtlichen Fernsehens lesen, daß der Täter »ein islamisches Aussehen« habe. Dieser Glaube ist also so stark, daß er sich sogar auf Körper und Gesichter auswirken kann. Religion und Rasse begannen sich zu vermischen. Nun ist es, wenn man redlich bleiben möchte, so gut wie unmöglich, von »dem« Islam zu sprechen. Der Islam ist eine Weltreligion, die, im Gegensatz zu beispielsweise dem römischen Katholizismus, kaum eine oder gar keine zentrale Führung kennt. Deshalb unterscheidet sich der gelebte Islam erheblich von Land zu Land: Marokkanische Moslems haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihren türkischen Glaubensbrüdern, der indonesische Islam hat einen komplett anderen Charakter als der im Irak. Im letztgenannten Land sind die Unterschiede zwischen den einzelnen moslemischen Gruppen sogar so groß, daß daraus ein Bürgerkrieg zu entstehen droht. Bereits heute beobachten Forscher, daß sich zwischen den türkischen Moslems in Europa Unterschiede zwischen »deutschen«, »niederländischen« und »französischen« Moslems entwikkeln. Genau wie andere Religionen - man denke nur an den Kalvinismus, der sich nach der niederländischen Kaufmannskultur richtete - paßt sich der Islam am Ende der Lebenswirklichkeit der Gläubigen an. Auch wenn es seine Zeit dauern und diese Anpassung und Modernisierung gelegentlich mit großen Spannungen einhergehen wird, langfristig gesehen ist der Islam alles andere als statisch. Dieses Wissen spielte allerdings nicht die geringste Rolle - und man wollte auch nichts davon wissen. Wie
aus diesem seltsamen Süppchen aus neuen Ideologien ein fiktives Land »die Niederlande« gekocht wurde, so erdichteten sich gewisse Kreise auch ihren eigenen Islam: Ständig 'wurde suggeriert, daß etwa die Mädchenbeschneidung ein grauenhafter moslemischer Brauch sei, obwohl es sich in Wirklichkeit um regionales Brauchtum handelt; ständig wurde über unmenschliche Stammestraditionen des somalischen Islam gesprochen, als handle es sich dabei um die Praktiken aller Moslems; ständig wurden Auswüchse, wie sie jede Weltreligion kennt, als »der lebensgefährliche Kern« des Islam ausgemacht; ständig wurde suggeriert, daß Selbstmordanschläge Teil der islamischen Tradition seien, obwohl der Islam ganz im Gegenteil - von einigen winzigen Sekten abgesehen - nie einen Todeskult gekannt hat. Hier begann eine Propagandaschlacht der Religionen.
VI
In diesem Herbst las ich niederländische Zeitungen oft nur mit halbem Blick, wie man über Obszönitäten hinwegliest, über Worte und Bilder, die man eigentlich nicht zu sich vordringen lassen möchte. Als Victor Klemperer zum ersten Mal die neue Sprache in seinem Tagebuch festhielt, hatte er, so schreibt er, nichts als vage Vermutungen. Sie schienen ihm der wilden Phantasie labiler Menschen entsprungen zu sein, der Leere dieser Zeit. »Und daß sich diese Gesinnung einmal in Taten umsetzen, daß ›Gewissen, Reue, Moral‹ eines ganzen Heeres, eines ganzen Volkes wirklich einmal ausgeschaltet werden könnten, hielt ich damals noch für unmöglich.« Abermals: Die Geschichte wiederholt sich nie, und der Ablauf der Geschichte ist jedesmal ein anderer, nicht vorhersehbar und nicht vorstellbar. Wohl wissen wir Europäer aus unseren bitteren Erfahrungen, daß derartige Radikalisierungsprozesse in jede Richtung losgehen können. Die Verachtung des »weichen« Parlaments, der Intellektuellen, »die das Volk nicht kennen«, des Rechts und der Ratio; die Führer, die ihren Anhängern eine neue Gemeinschaft versprechen und Befreiung von ihren Ängsten; die etablierten Parteien, die mit ihrem Schweigen und Opportunismus ein Vakuum schaffen, in dem sich solche Bewegungen einnisten können: Das alles haben wir schon einmal erlebt. Welches Wort man ab und zu dort locker fallen läßt,
was ein einzelner Kommentator niederschreibt, kann plötzlich Wirklichkeit werden, ordentliche Regierungspolitik, verpackt in akkurate Vorlagen und kultivierte Thronreden. Noch 1930 sahen die meisten Deutschen in Hitler eine peinliche Gestalt aus einer grauen Vorzeit, als abstoßenden Typen mit »diesem falschen Chic«, mit dem »Dialekt aus einer Wiener Vorstadt«, mit den »Bewegungen eines Epileptikers«, mit der »Frisur eines Zuhälters« (ich zitiere einen Zeitgenossen). Niemand, wirklich niemand hatte zu diesem Zeitpunkt auch nur die geringste Vorstellung von dem Geist, der nur wenige Jahre später aus dieser Suppe, zusammengerührt aus verworrenen Ideen, entweichen würde. »Faschismus kann als eine Form von politischem Verhalten definiert werden, das von einer obsessiven Präokkupation mit dem Verfall der Gemeinschaft, von Erniedrigung und dem Gefühl, Opfer zu sein, charakterisiert ist«, schreibt der amerikanische Historiker Robert Paxton am Ende seines Standardwerks über die Anatomie des Faschismus. Als Antwort darauf werde eine Kultur der »Einheit, Energie und Reinheit« propagiert. Die Anhänger dieser Bewegung strebten - nicht selten in einer schwierigen Kooperation mit den traditionellen Eliten - die Aufgabe demokratischer Freiheiten an. Ohne ethische und gesetzliche Hemmungen, und oft auch mit Gewalt, kämpften sie für »interne Säuberung und externe Expansion«, so Paxton. Dabei fällt auf, daß diese Beschreibung gewissermaßen eins zu eins auf den radikalen Islam wie auf die europäischen rechtsextremen Bewegungen paßt. Auch bei den radikalen Islamisten geht es im Grunde ständig um die Opferrolle. Auch in den Theorien des radikalen
Ideologen Sayyid Qutb steht die Reinheit des Glaubens im Mittelpunkt. Aus dieser Reinheit soll weltweit eine Moslembruderschaft hervorgehen, die nach den göttlichen Gesetzen der Scharia lebt. In seiner Sichtweise gibt es in diesen Zeiten einen permanenten Heiligen Krieg zwischen der göttlichen Welt des Islam und der Welt der Jahiliyya, der Ungläubigen, die wie die Tiere nur ihre körperliche Bedürfnissen befriedigen: »Diejenigen, die von Gott auf Erden die Macht übernommen und seine Gläubigen zu Sklaven gemacht haben, werden nicht vom Wort allein vertrieben werden.« Paxtons Definition basiert jedoch auf einem andersartigen Extremismus, auf der breiten Skala faschistischer und rechtsnationaler Bewegungen in der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwischen ihnen gab es zwar große Unterschiede - für manche Gruppen war beispielsweise die »Judenfrage« ein Kernproblem, während es für andere absolut kein Thema war -, aber Paxton entdeckte dennoch eine Reihe gemeinsamer Ursachen für ihr Entstehen. Ich nenne die wichtigsten: - den Eindruck einer überwältigenden Krise, deren Lösung nicht im Bereich der traditionellen Instrumente liege; - den Glauben, daß die Gruppe, zu der man gehört Familie, Dorf, Land, Volk - zum Opfer geworden ist, was jegliche Aktion gegen »den Feind«, ohne gesetzliche oder moralische Grenzen, intern und extern, rechtfertige; - die Furcht vor dem Niedergang der Gruppe durch die schädlichen Auswirkungen eines individualistischen Liberalismus, durch den Klassenkampf und Ein-
flüsse von außen; - das Verlangen nach einer stärker miteinander verbundenen, reineren Gemeinschaft, am besten auf freiwilliger Basis, aber notfalls auch durch Ausschluß und Gewalt; - das Verlangen nach der Autorität natürlicher Führer und die Überlegenheit der Gefühle dieser Führer über eine abstrakte, allgemeine Rationalität; - den Kult von Gewalt, Härte und Unbeugsamkeit. War es etwa möglich, daß sich dies alles in den Niederlanden zu einer extrem nationalistischen Bewegung auskristallisieren würde? Einige, auch aus anderen politischen Lagern, schrieen danach. Dann würde zumindest wieder politische Klarheit herrschen. Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert war der Rechtsnationalismus neben der Sozialdemokratie, dem Liberalismus und der Christdemokratie eine der wichtigen politischen Hauptströmungen Europas, doch in den Niederlanden hatte diese Bewegung kaum jemals Fuß gefaßt. Selbst in den dreißiger Jahren, als die Nationalsozialisten überall große Popularität genossen, zog diese Bewegung hierzulande nur einen Bruchteil der Wähler an. Wie bereits früher erwähnt: Das Land kannte kaum eine oder gar keine Tradition politischer Gewalt. Und der rabiate Antisemitismus, der im restlichen Europa einen gewissen Widerhall fand, stand der niederländischen Bürgermentalität so fern, daß der Führer der niederländischen Nationalsozialisten darauf verzichtete, für sein erstes Programm die entsprechenden Passagen von den deutschen Nazis zu übernehmen. In Frankreich, Österreich, Italien, Spanien, überall gibt es eine lange nationalistische und rechtsradikale
Tradition, mit altbekannten Ideen und Organisationsformen, auf die neue Führer zurückgreifen können. Auch Belgien kennt seit vielen Jahrzehnten eine extrem nationalistische Bewegung, deren Wurzeln auf die Soldatenorganisationen des Ersten Weltkriegs zurückgehen. In den Niederlanden wollte so gut wie niemand etwas davon wissen, auch, weil der »völkische Nationalismus«, zu dem sich die Flamen bekannten, kaum Anhänger fand. Kein Mensch drängte hier auf einen Anschluß Flanderns, nur weil dort ebenfalls Mitglieder des »niederländischen Stammes« wohnten. Diese Art des Denkens war den Niederländern, mit Ausnahme einer Handvoll Friesen, absolut fremd. Wenn unser Nationalismus überhaupt etwas ähnelte, dann eher einem Staatsnationalismus wie in Frankreich. Oder, wenn man den Ansichten der neu aufkeimenden Nationalisten folgte, vielleicht gar einem religiösen Nationalismus. Die niederländischen Rechtsnationalen mußten also bei Null anfangen. Ein nicht geringer Teil der Wähler erwog, für sie zu stimmen, aber es gab so gut wie keine geeigneten Vertreter, um die Parlamentssitze besetzen zu können. Die Bewegung mußte eine eigene Vision und eine eigene Ideologie erst noch gänzlich neu entwickeln. Dabei war bereits der Beginn einer Spaltung von »radikalen« Intellektuellen und »einfachen« Populisten erkennbar, eine klassische Scheidung der Geister innerhalb der Rechtsextremen, wie sie sich etwa auch in Frankreich in den dreißiger Jahren gezeigt hatte. Diese Entwicklung war spektakulär, vor allem in einem säkularen Land wie den Niederlanden. Deshalb war es auch durchaus denkbar, daß der neue Nationalismus lediglich ein »politisch korrekter« Ausdruck
tieferliegender Unlustgefühle war, die ganz bestimmt von »fremd« und »Rasse« diktiert wurden. Ein Anzeichen für diese Entwicklung war eine denkwürdige Versammlung, die im Dezember 2004 in der Rotterdamer Erasmus-Universität stattfand und in Teilen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wurde. Mit einem Mal wurde dort, mit einem Fähnlein politischer Freunde, der charismatische Führer der flämischen Ultranationalisten als würdiger Diskussionspartner akzeptiert. Unter dem großen Beifall einer Reihe niederländischer rechtsnationaler Intellektueller sprach er von der »Leitkultur«, die »den« Moslems »auferlegt« werden müsse, und pries »die positive Entwicklung« der Diskussion in den Niederlanden. Derselbe Wortführer hatte in der Vergangenheit unter anderem die Memoiren des belgischen Naziführers Leon Degrelle und Werke des deutschen Naziideologen Alfred Rosenberg verbreitet, dessen Werke Victor Klemperer für seine LTI analysierte. Es war in mehrerlei Hinsicht ein historischer Augenblick. Zuallererst, weil diese flämischen Extremisten in den Niederlanden bisher noch nie so ernst genommen, mit soviel Aufmerksamkeit und von so wichtigen Gesprächspartnern empfangen worden waren. Bis dahin waren sie hier nie weiter als bis zum Rand rechter Splittergruppen vorgedrungen. Nun waren sie mit einem Mal salonfähig. Zweitens wurde mit dieser Versammlung zum ersten Mal öffentlich und direkt eine Verbindung zwischen den aufkommenden nationalistischen Gruppierungen in den Niederlanden und dem ultrarechten, nationalsozialistischen Erbe im übrigen Europa hergestellt. Ich bekam einen Brief von einem guten Bekannten,
dem ehemaligen Direktor des Planungsbüros für soziale und kulturelle Fragen. »Stell dir vor«, schrieb er mir, »ein amerikanischer Präsident hätte nach der Zerstörung des World Trade Center gesagt: Dieses Verbrechen ist schrecklich. Wir werden die Täter finden und bestrafen, wir werden die am direktesten involvierten Länder Deutschland und Saudi-Arabien beim Aufspüren der Verschwörer unterstützen. Wer werden unsere Sicherheitsdienste wachsamer machen. So etwas darf nie mehr geschehen, und wir werden alles in unserer Macht stehende tun, dies zu beeinflussen. Angenommen, die niederländische Regierung hätte im vergangenen Herbst gesagt: Es wurden politische Morde verübt, aber wir haben die Täter gefaßt, wir belohnen die tapferen Polizisten, die sie verhaftet haben, wir unterstützen alle Organe unseres Staates, nach innen und nach außen, die unsere offene, verwundbare Gesellschaft verteidigen. Die Sicherheit unserer Bürger und ihrer Vertreter wird nur garantiert, wenn wir diese Wirrköpfe isolieren und unschädlich machen, nicht, indem wir unserer Gesellschaft oder anderen Gesellschaften die Schuld an dem unsäglichen Unheil geben. Diese Botschaft würde dann davon künden, daß unsere Gesellschaft eine gute Gesellschaft ist, daß auch andere Gesellschaften im Prinzip gute Gesellschaften sind und daß die Regierung dazu da ist, über die Sicherheit der Bürger zu wachen und dies auch tut. Eine solche Botschaft gibt Angsthändlern und intellektuellen Projektentwicklern wenig Nahrung und sät weniger Panik. So ist es nicht gekommen, und hinterher ist man klüger, aber so klug war ich auch schon vorher.«
Jean Monnet, der Initiator des mutigsten Friedens- und Modernisierungsprojekts nach dem Krieg, nämlich der Schaffung einer Europäischen Union, sprach regelmäßig in solchen Begriffen. »Es gibt«, meinte Monnet, »immer zwei Arten von Dynamik. Die Dynamik der Hoffnung und die Dynamik der Angst. Die zweite Dynamik führt am Ende immer zu Unterdrückung, Gewalt und sogar zu Krieg. Wir haben also keine Wahl.« In den letzten Jahren beschlich mich gelegentlich das bange Gefühl, daß wir unentwegt dabei waren, den Faden der Hoffnung zu verlieren, noch schlimmer, daß diese Dynamik der Hoffnung irgendwo unterwegs in eine Kultur der Angst umgeschlagen war und wir uns so allmählich daran gewöhnt hatten, daß es uns nicht einmal mehr auffiel. »Es ist Krieg.« »Die Integration ist gescheitert.« »Eine Million Moslems« - in Wirklichkeit ist es eine Viertelmillion. »Die Unsicherheit ist größer geworden.« »Einsparungen.« »Kontrollieren.« »Abrechnen.« »Terroristen.« »Die Niederlande sind ein ›failed state‹.« »Zeit zu emigrieren?« In Wirklichkeit gab es jeden Grund zur Hoffnung, vor allem, wenn man im nachhinein überlegt, was in diesem Winter 2005 alles nicht geschehen war: Zwar hatten sich eine Reihe rassistischer und antiislamischer Zwischenfälle ereignet, aber nicht in den großen Städten, wo die Probleme am größten sind; das Land war nicht in einen Krieg geschlittert; Ultrarechts hatte den Durchbruch nicht geschafft - in den Meinungsumfragen nach dem Winter kamen die extremsten Gruppen auffallend schlecht an, vor allem angesichts der Umstände; die Integration war nicht gescheitert - im Gegenteil, diese schwierigen Monate förderten neue Visionen, Möglichkeiten und Qualitäten zutage; die
Niederlande waren kein »failed State«, sie waren, trotz alledem, eine blühende, grundsolide Bürgergesellschaft, deren Mitglieder sich, das zeigte sich erneut, nicht so schnell ins Bockshorn jagen ließen. Dennoch hatte sich, wenn man eigens darauf achtete, fiel es auf, in unsere Sprache, auch in meine Sprache, auch in die der Regierung, Furcht, Sorge und bisweilen ausgesprochene Panik eingeschlichen. Wir schienen unsere eigene, positive Geschichte vergessen zu haben. An deren Stelle war eine negative Variante getreten, das Bild vom mächtigen Gegner, vom erbarmungslosen Feind, gegen den wir uns um jeden Preis zusammenscharen mußten. Das wichtigste Ergebnis eines jeden Terroraktes ist das Wort Terror sagt es bereits — neben Schaden, Blut und Tod, die Angst und noch einmal die Angst. Jeder Terrorist hätte es am liebsten, wenn vom Ort seiner Tat Wellen der Angst in die Stadt schwemmten und danach in das Land und am liebsten in die ganze Welt. Die größte Herausforderung für die Polizei- und Sicherheitsdienste, aber auch für die Bürger und die Politik besteht darin, diese Angstwellen soweit wie möglich zu glätten. Mohammed B. darf nicht zufrieden in seiner Zelle sitzen. Das Problem dieser Tage war jedoch, daß Terroranschläge einen immer größeren, negativen Widerhall fanden, weil sie gewissermaßen in einer bereits existierenden Angstkultur einen Resonanzraum fanden. In den siebziger Jahren, um ein Beispiel anzuführen, wurden die Niederlande mit einigen sehr ernsten Terrorakten konfrontiert, schlimmer und umfangreicher als der Mord an Theo van Gogh. Ganze Züge und Schulklassen wurden für lange Zeit in Geiselhaft genommen, Regierungsgebäude gestürmt; dies geschah
mehrmals und es gab dabei mehrere Tote. Der Schock war groß, aber von Panik war so gut wie nirgendwo die Rede, und nachdem alles vorüber war, ging man schnell wieder zur Tagesordnung über. In diesem Winter, nach diesem einen grauenhaften Mord, wollte sich die Erregung gar nicht mehr legen. Die unentwegt weiterwogende Angst war kein spezifisch niederländisches Problem, sie war auch kein Produkt der letzten Zeit. Ein britischer Soziologe, der Kenter Hochschullehrer Frank Furedi, zählte die Verwendung des Begriffes »at risk« in der nationalen britischen Presse zwischen 1994 und 2000. 1994 fand er ihn 2018-mal; 2000 wurde der Begriff neunmal so oft verwendet, er fand 18 003 Treffer. Die erste Fassung von Furedis Studie Culture of Fear wurde bereits 1997 veröffentlicht. In den Niederlanden kam der Philosoph Rene Boomkens bereits ein Jahr zuvor mit einer ähnlichen Analyse: »De angstmachine« von 1996. Nicht die für den Westen schockierenden Ereignisse, wie der 11. September, Bali, Madrid, Theo van Gogh, London, verursachten also diese Angstgefühle, sondern sie fügten sich in ein bereits vorhandenes Muster und verstärkten diese Angst in vielerlei Hinsicht noch weiter. Angst hatte, kurz gesagt, in modernen westlichen Gesellschaften befremdliche, unfaßbare Proportionen angenommen. Die Ängste früherer Generationen waren oft sehr konkret, basierten auf persönlichen Erfahrungen mit Krankheit, Tod, Krisen, Krieg. Viele der Ängste in dieser Zeit waren jedoch unabhängig von gleichgültig welcher persönlichen Erfahrung. Furedi sprach von einer ständig wachsenden Obsession für Sicherheit, von einer Angst vor Risiken, die eine intellektuelle, ideologische und gesellschaftliche Erstarrung
nach sich ziehe. Diese Betonung der gefährlichen Seiten des Lebens, schrieb er, »zwingt die Gesellschaft und die individuellen Bürger in ihr ständig, ihre Ambitionen im Zaum zu halten und ihr aktives Handeln einzuschränken.« Dieses permanente Zurückschrauben von Erwartungen hatte selbstverständlich weitreichende Auswirkungen auf die Lebensweise der jungen Menschen und auf unsere Zukunft im allgemeinen. So entstand eine Gesellschaft, in der man die Opferrolle wichtiger fand als Initiative, Mut und Heroismus. Wie hatte es dazu kommen können? Am Anfang stand der Einfluß der allumfassenden Globalisierung, der Technik, des Internets, des Fernsehens. Wir erlebten die Beendigung einer Geiselnahme in Rußland mit, als geschehe es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, aber mit den dadurch hervorgerufenen Gefühlen konnten wir nichts anfangen. Was blieb, war ein undefinierbares Gefühl von Unsicherheit. Es war das Phänomen Veränderung, das begonnen hatte, die gesamte moderne Gesellschaft zu dominieren, mit der Folge, daß Vertrauen und Berechenbarkeit langsam verschwanden. Nur allzu oft gab es keine Klarheit mehr darüber, welches Verhalten man von seinem Gegenüber erwarten konnte, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Nachbarn oder um die Regierung handelte. Oft richtete sich dieses Unbehagen zuerst gegen Zugewanderte und Fremde, aber auch das Vertrauen in den politischen Apparat war, zumindest in den Niederlanden, auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Nie zuvor hatten Sozialwissenschaftler eine derart große Veränderung in so kurzer Zeit wie in diesem Bereich signalisiert: Zwischen 1999 und 2002 fiel der Prozentsatz von Bürgern, die meinten, daß die Regierung gut funk-
tioniere, von 65 auf 3 5. Und am Ende gab es die tatsächlichen Bedrohungen, von wirtschaftlicher Unsicherheit bis zu Kriminalität, Gewalt, Bedrohungen und möglicherweise sogar Terrorismus. Und allmählich wußten wir auch selbst nicht mehr recht, wer wir eigentlich waren in diesem immer vager werdenden Europa. Wir, die Niederländer, sind verrückt nach Planung. Das Bezwingen der wüsten Wirklichkeit durch eine straffe Ordnung ist eine klassische Reaktion in diesem Polderland, und in dieser Hinsicht paßte auch die Integrationspolitik der Regierung in eine urholländische Tradition. Wir zogen Linien, wir zählten und vermaßen, wir schufen neue Bürger. Zu Beginn der Jahrhundertwende mußten wir erkennen, daß sich in einigen Städten umfangreiche moslemische Populationen entwickelt hatten - mit allen weiteren damit verbundenen Folgen. Eine repressive Panikpolitik gegenüber einem so großen Teil der städtischen Bevölkerung wäre zum Scheitern verurteilt und/oder würde zu einer in jeder Hinsicht unerwünschten Polarisierung führen. Denn jede erfolgreiche Integrationskampagne war ja immer von Rechten ausgegangen, von der Eröffnung neuer Möglichkeiten, von der Schaffung einer anderen Zukunft. Das war nicht soft, das war kein Schmusen, das war nicht naiv, das war die Praxis vom Lernen aus vielen Rückschlägen. Solidarität beruht immer auf Gegenseitigkeit: Man kann von einer Minderheitengruppe keine Solidarität mit der ganzen Gesellschaft erwarten, wenn die Gesellschaft keine Verbundenheit mit dieser Minorität zeigt.
Und umgekehrt ist es ebenso. Zwang bringt in solchen Situationen immer nur einen begrenzten Erfolg, eigentlich vor allem beim Wegräumen bestimmter Hindernisse. Als Motor eines Emanzipationsprozesses hat die Idee von der Machbarkeit von Bürgern und Gesellschaft am Ende immer versagt - man denke nur an das Fiasko des sowjetischen Experiments. Wenn diese Haltung auch noch einen verdeckten Konflikt mit »dem« Islam provozierte, wären wir noch viel mehr vom Regen in die Traufe gekommen. Ein derartiger subkutaner Religionskampf schloß ja jeden Kompromiß und jede Versöhnung aus: Moslems durften hier im Land bleiben - sie waren zu unentbehrlich und zu zahlreich geworden, um sie noch massenhaft abschieben zu können -, aber sie sollten als Moslems so weit wie möglich unsichtbar bleiben. Die Toleranzohne-Interesse der achtziger und neunziger Jahre schien so mit einem Schlag in Repression-ohne-Inter-esse umgekippt zu sein. Das politische Klima hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht, aber der Mangel an Wissen und Interesse war nahezu gleichgeblieben. »Gastarbeiter«, »Illegaler«, »ausländischer Mitbürger«, »Moslem«, wir hörten nicht auf, vor der nüchternen Realität des Wortes »Immigrant« wegzulaufen. Was war das Erfolgsrezept des amerikanischen Schmelztiegels? Daß es jedem Einwanderer freistand, bis zu einem gewissen Maß er selbst zu bleiben, er seine Selbstachtung und seine Identität wahren konnte und sich gerade wegen dieser Sicherheiten mit großer Leidenschaft für das gemeinsame amerikanische Experiment engagierte. Im Amsterdam des neunzehnten Jahrhunderts wurde, im Einvernehmen mit den geistlichen Führern, jahrelang eine bewußte Integrations-
politik in bezug auf die verarmte jüdische Ghettobevölkerung praktiziert. Jüdische Schulen wurden unter der Bedingung subventioniert, daß das Niederländische das Jiddische als Umgangssprache ablöste; jüdische Familien wurden angespornt, ihre Kinder in »normale« öffentliche Schulen zu schicken; jüdische Arbeiter lernten nach und nach den »normalen« Arbeitsmarkt kennen. Und warum war dieser Initiative ein so großer Erfolg beschieden? Weil diese Juden in die Stadt außerhalb des Ghettos mit einbezogen wurden, ohne dabei ihren Glauben oder ihre Identität aufgeben zu müssen. Anderthalb Jahrhunderte später drohte das Gegenteil zu geschehen. Die neue Assimilationspolitik hatte den Nebeneffekt, daß immer mehr Mitglieder ethnischer Gruppen begannen, sich als Bürger zweiter Klasse zu betrachten - so wurden sie ja auch von den herrschenden Eliten behandelt. Zu Recht sagte einer der Immigrationsexperten in der bereits erwähnten Diskussionsveranstaltung: »Das größte Problem könnte vielleicht einmal sein, daß das Ideal der multikulturellen Gesellschaft in den Niederlanden nicht zu sehr, sondern zu wenig propagiert wurde.« Nach und nach wurden in diesem Winter, für jeden, der Augen und Ohren hatte, die Folgen einer heillosen Polarisierung erkennbar. Überall wurde systematisch von »Niederländern« und »Moslems« gesprochen, obwohl es nur allzu oft um Menschen ging, die hier geboren waren, die niederländische Nationalität besaßen, mit einem Zwoller oder Leidener Akzent sprachen, Männer und Frauen, die hier ihr ganzes Leben lang gearbeitet, gewohnt, Familien gegründet hatten, die Wein
und Bier tranken und gelegentlich sogar Literaturpreise gewannen. In den Schulen bildeten sich wieder Grüppchen, Jugendliche aus Immigrantenfamilien hingen plötzlich wie die Kletten zusammen, Kinder aus völlig säkularen, antifundamentalistischen Familien sprachen auf einmal voller Sympathie über Mohammed B.: »Mo ist cool.« »Nie habe ich dem Islam auch nur die geringste Sympathie entgegengebracht«, sagte ein Freund aus dem Iran. »Ich bin vor den Ayatollahs aus meinem Land geflohen, ich habe das ganze fundamentalistische Elend am eigenen Leib erlebt. Aber ich bin in einem warmen Haus aufgewachsen, voll guter, ehrwürdiger und anständiger Menschen. Moslems. Meine Eltern, meine Onkel und Tanten. Wenn die Leute hier über ›zurückgeblieben‹ und ›infantil‹ sprechen, sprechen sie durchaus auch über sie. Ich sehe sie vor mir. Und ich, der völlig Säkularisierte, fühle mich dann trotzdem tief verletzt.« Er fühlte haargenau, worum es eigentlich ging: nicht um Religion, sondern um die Ächtung nicht mehr genügend angepaßter Zuwanderer, um das ewige Brandmal »Fremder«. Der Autor und Wissenschaftler Fouad Laroui drückte es prägnant aus: Ein Moslem ist in den heutigen Niederlanden zuallererst das, was der Nichtmos-lem aus ihm macht. In einem Leserbrief an die Volkskrant beschrieb er ausführlich seine Erfahrungen aus diesem Winter. Wenn ihn seine Kollegen fragten, was er »als Moslem« von etwas halte, antwortete er regelmäßig: »Ich denke nicht als Moslem, ich denke als Individuum, ich denke als ich selbst.« Er ärgerte sich grün und blau über das Wort »Imam«, das er den ganzen Tag hörte, »als ob sich hinter jedem ›Moslem‹ - der eigentlich
nichts anderes ist als eine Art Marionette - einer dieser unheilbringenden Bartbarbaren in einer Djellaba - der Imam! - versteckt hielte, um an den Fäden zu ziehen.« (In Wirklichkeit hatte diese Person in seinem Leben kaum eine Rolle gespielt. In Marokko war der Imam der Mann gewesen, der das Freitagsgebet leitete, die restliche Woche war er Schneider oder Schuster oder sogar arbeitslos.) Was Laroui Ende 2004 ebenfalls traf, war die Anrede »Salam«, mit der ihn immer mehr Studenten in ihren E-Mails ansprachen. Er beobachtete, wie das hübsche, moderne Amsterdamer Mädchen, das er jahrelang nie anders als in Jeans gesehen hatte, plötzlich ein Kopftuch trug. Er fühlte, wie viele »Muslime« und »Muslimas« sich, manchmal unbewußt, dazu entschlossen, dann eben das Spiel mitzuspielen: Nun ja, dann mache ich es nicht nur, dann bin ich auch noch stolz darauf. Es war erstaunlich: Dieselben Beobachtungen las man in den Tagebüchern und Manuskripten Victor Klemperers und anderer jüdischer Verfolgter in den dreißiger Jahren. Ihre Integration, ihr mühsamer, jahrelanger Ablösungsprozeß von ihrer alten, religiösen Herkunft, all das wurde zu ihrem großen Schrecken völlig ignoriert und geleugnet. So führte die Schaffung einer »Judenfrage« durch die Nationalsozialisten paradoxerweise auf der jüdischen Seite wider Willen zu einer neuen gemeinsamen Identität. Der spätere Amsterdamer Historiker Ben Sijes schrieb bitter, daß er plötzlich »mit allen Juden in einen Topf geworfen wurde«, von denen er sich prinzipiell unterschied, »sowohl politisch im engeren Sinne wie weltanschaulich im allgemeinen«. Fouad Laroui drückte sich sechzig Jahre später weniger feierlich aus, aber es ging um das-
selbe: Plötzlich hatte er das Gefühl, in ein Geschichtsbuch über Rassismus geraten zu sein, »und das ist ein schrecklicher Rückschritt, wenn man dreißig Jahre lang davon überzeugt war, eine Person zu sein, ein Individuum.« Ich fragte Sasja, ob es den Niederländern genauso ergehen könnte wie den Serben 1989. Er zögerte. »Nein«, sagte er dann entschieden, »ich glaube an dieses Land.« Er führte die lange, tiefverwurzelte Tradition der Einwanderung und Toleranz an, die vielen Gegentöne, die in den Medien ebenfalls zu hören seien, das alles gebe es in Serbien nicht. Aber die Niederländer, meinte er, müßten dennoch auf der Hut sein: »Das Problem ist die Selbstverständlichkeit all dieser Tugenden und Freiheiten. Man denkt nicht mehr darüber nach, man geht genauso leichtfertig damit um wie mit dem Wasser aus der Leitung. Für uns war die Einheit Jugoslawiens nach all den Jahren genauso eine ewige Selbstverständlichkeit. Und trotzdem war es innerhalb von drei Jahren damit vorbei.«
VII
Dies hier ist eine ungezielt in die Zukunft geschleuderte Flaschenpost, und wo sie landet, mag der Himmel wissen. Für die Ideologen, die Fanatiker und die Angsthändler war 2004 ein Spitzenjahr. Im Nahen und Mittleren Osten, in den Vereinigten Staaten und selbst in dem kleinen Holland haben sie das Feuer geschürt. Wir wurden hier mit einer giftigen Mixtur politischer Fragen konfrontiert: einem sich dahinschleppenden Problem bei der Integration gewisser moslemischer Gruppen, einer subkutanen Identitätskrise der Niederländer, einem schockierenden Mord, der diese Probleme in eine radikalreligiöse Perspektive stellte, einer aufkommenden rechtsnationalistischen Bewegung, die das Attentat als Alibi mißbraucht, um ihre eigenen Interessen beschleunigt durchzudrücken. Mein Land ist dabei, einen Trauerprozeß zu durchleben, und wir müssen alle daran glauben. Der blutige Mord an Theo van Gogh brachte diesen Schmerz schärfer denn je ans Licht: die geborgenen, behaglich nebeneinanderher lebenden Niederlande von vor einem Vierteljahrhundert gehören an vielen Stellen der Vergangenheit an, es gibt nichts mehr zu erkennen, die Vorhersehbarkeit ist passe. Ein Trauerprozeß verläuft immer in Phasen: von Leugnen, Verwirrung, Wut, Trauer über Akzeptanz, und danach fängt das Leben wieder an. Das Leugnen haben wir hinter uns - jahrelang wollten die meisten Niederländer nicht sehen, daß
Globalisierung, Modernisierung, Individualisierung und Einwanderung ihr kuscheliges Land gehörig verändern würden. Danach kam die Verwirrung, und ein andersgeartetes Leugnen: eine Tendenz, sich von den traditionell offenen Niederlanden abzugrenzen und zu isolieren. Mit dem Mord an Theo van Gogh kam die Wut. Allmählich ist es an der Zeit, die Realität zu akzeptieren, einmal Schluß zu machen mit dieser sinnlosen Radikalisierung, mit den falschen Gefühlen, der Diskriminierung und Angsthuberei. Unsere Freiheiten und Grundrechte müssen wir bis zum Äußersten verteidigen, unseren Bürgermut wieder aus der Abstellkammer holen. Aber es ist auch an der Zeit, uns ganz nüchtern und konkret an die Arbeit zu machen, echte Toleranz zu lehren - einschließlich der dazugehörenden Konflikte - und zu überlegen, welche nationale Geschichte wir den kommenden Generationen weitergeben sollen. Zuallererst ist da, wie bereits erwähnt, das Problem der Angst. Angst ist eine logische Reaktion auf eine reale Gefahr, vor allem, wenn wir diese Gefahr nicht oder kaum kennen; aber Angst kann auch vom tatsächlichen Problem abgekoppelt werden. Angstgefühle können zu einer permanenten Geisteshaltung überhöht werden, die sich dann leicht für politische Zwecke mißbrauchen läßt. All das kann leicht zu einer self-fulfilling prophecy führen: Die Angst verhindert nicht die Situation, vor der man sich fürchtet, sondern sie schafft sie geradezu. In der Geschichte finden sich dafür Beispiele in Hülle und Fülle. Denn was sind die Fakten? Vermutlich werden in den kommenden Jahrzehnten durch Kriege oder den
Klimawandel weltweit große neue Wanderungsbewegungen von vielen Millionen Migranten ausgelöst. Zugleich wird das Bevölkerungswachstum in Europa dramatisch stagnieren. Derzeit hegt das Durchschnittsalter in Europa wie in den Vereinigten Staaten bei etwa 36, 37 Jahren. 2050 wird es, dank Dutzender Millionen von Einwanderern, in den Vereinigten Staaten noch immer bei 35 Jahren liegen. In Europa dagegen wird 2050, bei gleichbleibender Politik, das Durchschnittsalter auf 53 Jahre angestiegen sein. Dies wird weitreichende Folgen für die Vitalität des Kontinents haben; darauf weisen auch die Berichte der Europäischen Union immer mehr hin. 1950 kamen, den Zahlen der Vereinten Nationen zufolge, auf jeden pensionierten Europäer sieben andere, die ihn ernährten. Zur Zeit ist es einer auf vier. 2050 wird das Verhältnis eins zu zwei sein oder sogar noch weniger. Ein Renteneintrittsalter von fünfundsechzig, sogar von siebzig Jahren kann sich das künftige Europa dann nicht mehr oder kaum mehr erlauben. Deshalb spielen in jedem günstigen Zukunftsszenarium der Niederlande Migranten auch eine Rolle. Gleichzeitig, und das macht das alles noch extra kompliziert, umfaßt der Begriff »Immigration« in modernen Sozialstaaten soviel mehr als allein die reine Einwanderung. Deshalb lautet zur Zeit das Motto der Sozialdemokraten: »Erfolgreiche Integration erfordert eine restriktive Migrationspolitik.« »Unsere Integrations- und Emanzipationsfähigkeit ist nicht unbeschränkt.« In ihrer Sichtweise erfordert die Erhaltung des »eigenen« Sozialstaats nun einmal ein gewisses Maß an Geschlossenheit. Simpel gesagt: Zu viele Zuwanderer verkraftet das System nicht. Dafür spricht ei-
niges. Das Problem ist nur, daß die niederländische Gesellschaft seit eh und je eine offene Gesellschaft war, daß die Wirtschaft, die für diesen Sozialstaat die treibende Kraft ist, ebenfalls von dieser Offenheit abhängt, und daß alle entsprechenden Eigenschaften Bestandteile der Kultur sind, die verteidigt werden müssen. Außerdem sind wir klein, wir sind so wenig Land und so viel Stadt. Dadurch sind wir durch die Folgen der Globalisierung und die Einwanderung leichter verletzbar als die meisten anderen westeuropäischen Länder. Mit anderen Worten, wir stecken in einem spezifisch holländischen Paradox fest. Deshalb stellt sich auch nicht die Frage, ob Einwanderung erlaubt werden muß - die gibt es, und die wird es weiterhin geben, legal oder illegal -, sondern wie wir damit umgehen und wie wir ein Gleichgewicht zwischen dem notwendigen Zustrom von außen und den Errungenschaften unserer Gesellschaft schaffen können. Und zwar nicht nur wegen der Zuwanderer, sondern ebensosehr, um die Dynamik der Niederlande und Europas zu erhalten. Auf diese neue Welt müssen wir uns und unsere Kinder vorbereiten, uns bleibt keine andere Wahl. Der Schlüsselbegriff dabei ist die sogenannte interkulturelle Kompetenz, die Fähigkeit, jemand anderer Herkunft zu erkennen und seine Worte und Taten einigermaßen zu verstehen, was aber keineswegs bedeutet, daß man in allem gleicher Meinung sein muß, sondern es geht darum, soviel vom anderen zu wissen, daß man sich unterhalten, eine Form des Umgangs finden, einen Kompromiß schließen kann. Diese interkulturelle Kompetenz war in den Niederlanden seit jeher ziemlich groß. Das war weder »schlaff« noch »feige«, sondern sie
war unsere Hoffnung und unsere Stärke. In diesen Monaten droht diese Lebenshaltung nun von einer neuen Mode verdeckt zu werden: von der Konfrontation. Derzeit möchte manch einer die Mauern um die geistige Festung Niederlande möglichst hoch aufbauen. Dadurch wird sich unser Land immer mehr von der - schlechten wie guten - kulturellen Dynamik des restlichen Europa und der restlichen Welt abschotten. Auf diese Weise können sogar wir, die nüchternen Niederländer, in eine geschlossene, fremdenfeindliche Phantasiewelt geraten, in der unsere Ungehobeltheit und unser Unwissen über Gegenwart und Vergangenheit zur Norm erhoben werden, in der einer, der nicht in dieser Angstpsychose mitstolpern möchte, als »Schlappschwanz« und »Verräter« tituliert wird und in der Diskriminierung und Rassismus zu neuen Grundwerten ausgerufen werden. Darunter liegt dann der Scherbenhaufen der sechziger Jahre: ein verlorenes Selbstvertrauen, ein Idealismus, der in Zynismus umgeschlagen ist. Karen Armstrong, eine der großen Vordenkerinnen des Verhältnisses von Islam und Moderne, beschreibt diesen Prozeß als einen Paradigmenwechsel vom Logos, der Vernunft, mit seiner immer neugierigen Zukunftsorientierung zum Mythos, zu einer magischen, emotionalen Art des Denkens, die sich überwiegend nach innen richtet und vor allem in der Vergangenheit eine Richtschnur für unsere verwirrende Welt sucht. Das geschieht bei Christen und Moslems, aber auch bei uns, den Kindern der Aufklärung. Auch hier kann Überzeugung in Fundamentalismus umschlagen. Wer die Niederlande zu einer kulturellen Festung um-
bauen möchte, reduziert die schwierige Zeit, in der wir leben, auf eine einzige große innere Angstphantasie. Es ist eine Art des Denkens, die Demagogen und einigen Politikern gelegen kommt, die jedoch an den tatsächlichen Problemen vorbeischießt. Wir in unserer modernen westlichen Ecke Europas werden über allerlei liebgewordene Wahrheiten nachdenken müssen. Wir werden denen gegenüber, die unsere gemeinsamen Fundamente zerstören wollen, eisenhart sein, aber dabei trotzdem gründlich und sorgfältig vorgehen müssen. Wir werden unseren Rechtsstaat bewahren und unsere Mitbürger verteidigen müssen, nicht in letzter Instanz die allerschwächsten: die Minderheiten, die Immigrantinnen und die Kinder. Manchmal werden wir schmerzliche Maßnahmen akzeptieren müssen, gerade um wichtige, kostbare Qualitäten zu retten: unsere Kunst der Pazifizierung mit dem Nebenprodukt unserer berühmten Toleranz. Wir werden den intoleranten Islam bekämpfen und zugleich die humanistischen Kräfte im Islam begrüßen und schließlich zum Ursprung zurückkehren müssen: zur Entwurzelung, zur Demütigung, zur immer größer werdenden Wut der nichtwestlichen Welt. Dabei handelt es sich um ein großes, europäisches Problem. Wir, die Niederländer, können uns nicht länger erlauben, nur auf unseren Nabel zu starren. Dafür sind die wirklichen Herausforderungen und Gefahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu groß. Wir sind verurteilt zur Verwundbarkeit.
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