Tod eines Mächtigen von Timothy Stahl
Weder kennt Lilith Eden seinen Namen, noch weiß sie etwas über seine Herkunft. D...
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Tod eines Mächtigen von Timothy Stahl
Weder kennt Lilith Eden seinen Namen, noch weiß sie etwas über seine Herkunft. Dennoch steht sie ganz im Bann jenes Fremden, den sie ohne Bewußtsein im magischen Korridor in Uruk fand. In seine Gesellschaft reist sie nach Jerusalem. Dort, in der dreifach heiligen Stadt, glaubt sie sich unbehelligt von ihren ewigen Feinden. Seit annähernd 2000 Jahren ist Jerusalem frei von Vampiren. Schon bald aber muß Lilith feststellen, daß jenseits der Stadmauern tödliche Gefahren lauern. Ihr Erzfeind Landru ist nur eine davon. Weitaus gefährlicher noch ist der Mann in ihrer Begleitung, den sie zu lieben glaubt …
Was bisher geschah … Lange Zeit waren die Erinnerungen von Lilith Eden und ihrem Erzfeind Landru vollständig gelöscht. Dies gehört zum Plan des Knaben Gabriel, eine Inkarnation Satans. Um seine Identität wiederzuerlangen, schließt Landru einen Pakt mit ihm, und auch Lilith sieht sich in einer Notlage gezwungen, auf Gabriels Forderung einzugehen, ihm einst zu Diensten zu sein. Lilith allerdings erhält ihre Erinnerungen nicht zurück; sie sucht sich ihr früheres Leben aus den Aufzeichnungen der EWIGEN CHRONIK zusammen, die aber bald vernichtet wird. Auch die Werwölfin Nona – Landrus Geliebte – ist Bestandteil von Gabriels großem Plan. Er läßt sie eine vergessene Erinnerung durchleben: 1635 traf sie in ihrer Geburtsstadt Perpignan auf den Satan, der dort tote Kinder aus ihren Gräbern raubte, um ihnen Leben einzuhauchen. Noch weiß Nona nicht um die tiefere Bedeutung dieses Vorfalls. Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten, deren neue Zeit aber noch nicht gekommen ist. Durch Liliths Schuld wurden fast alle Schläfer getötet. Nur Anum und Landru, der ebenfalls zu denen gehört, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten, existieren noch. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes, der Alten Rasse, in die eigenen Hände. Lilith bricht nach Uruk auf, um Aufschluß über jene Geschehnisse zu erhalten, die ihr die CHRONIK nicht schildern konnte. Uruk ist auch das Ziel Anums. Er hofft seine verschollene Schwester Felidae zu finden, um sie für ihre Beteiligung am Niedergang der Alten Rasse zu strafen. Doch Uruk war schon 1705 das Ziel einer Reise. Damals brach die Zeitdiebin Beth, Liliths ehemalige Freundin, dorthin auf. Sie wollte einen Weg zurück in die Zukunft finden, denn in Uruk besteht ein Korridor durch die Zeiten. In ihm erfüllte sich
Beth’ Schicksal, als ihr Körper sich im Zeitstrom auflöste und nur ihr Geist übrig blieb. In der Gegenwart empfängt Lilith beim Betreten des Zeitkorridors einen flehendlichen Hilferuf von Beth. Anum, dessen Geist in den Korridor eingedrungen ist, droht sie zu vernichten. Lilith rettet Beth’ Seele, indem sie sie in sich aufnimmt – und damit ihre verlorene Identität mit der von Beth auffüllt! Sie verläßt den Zeitkorridor und schließt das Tor, noch bevor Anum ihn verlassen kann. Dann stößt sie auf dessen Körper, der im Vorraum zurückgeblieben ist. Sie weiß nicht, daß dies der Mann ist, der eben noch ihr Leben bedrohte, und nimmt ihn mit sich nach Jerusalem, denn diese Stadt, so weiß sie aus Beth’ Erinnerungen, ist seit fast 2000 Jahren frei von Vampiren. In der Zwischenzeit durchlebt die Werwölfin Nona ein »zweites Leben«: In einer möglichen Zukunft zeigt Chiyoda, ihr weiser Mentor, ihr eine Welt, die von Anum beherrscht wird – und das nur, weil sich die Mächte gegen ihn nicht rechtzeitig verbündet haben. Damit definiert er Nonas Aufgabe: Landru und Lilith gegen Anum zu einen, um diese verhängnisvolle Zukunft abzuwenden.
Jahwe, höre mich! Noch nie habe ich in meinen Shabbat-Gebeten große Wünsche an Dich gerichtet. Ich bat nur darum, daß Du ein Auge auf die Meinen hast. Heute aber flehe ich Dich an, etwas zu tun! In Demut ersuche ich Dich darum, und welches Opfer Du auch verlangen magst, ich werde es Dir darbringen, nur: Vertreibe jene Gäste, die sich ungebeten unter meinem Dach eingenistet haben! Denn sie bringen nicht nur Ungemach über meine Familie – sie werden dem Tod Tür und Tor in mein Haus öffnen! Und ich weiß gewiß, daß kein Mensch ihrer verderblichen Macht gewachsen sein kann. Darum, Jahwe, hilf Du! Denn wo der Mensch verzweifelt, lebt kein Gott. Johann Wolfgang von Goethe, »Epimenides« Gershom Chaim war ein gläubiger Jude, von Kindesbeinen an tief und fest im Chassidismus* verwurzelt. Doch nie zuvor in seinem Leben hatte er so verzweifelt wie dieses Mal glauben wollen, daß seine Gebete wahrhaftig Gehör und Augenmerk fanden. Denn nie zuvor hatte er den Beistand Gottes so sehr ersehnt – und nötig gehabt … Seine Finger zitterten wie in ärgster Kälte und schienen ihm tauber noch als sein übriger Körper; kaum schafften sie es, den Papierstreifen zu falten, auf den er in ungelenker Schrift sein Gebet geschrieben hatte. Endlich schob er das Papier dann, nach alter Tradition seines Volkes, in eine der Ritzen zwischen den großen Steinquadern des Kothel Hama’aravi, der nur von den Christen »Klagemauer« genannt wurde. Auf hebräisch hieß dieses letzte Überbleibsel des Jahwe-Heiligtums, das Salomo einst hatte errichten lassen, noch immer schlicht Westmauer. Eine Weile starrte Gershom Chaim noch auf seinen Zettel in der Mauerfuge. Für jeden anderen mochte das darin eingefaltete Gebet *Religiös-kulturelle Strömung des Judentums, die das unbedingte Festhalten an den Traditionen noch heute fortsetzt.
nur eines von vielen sein, denn die Spalten im Kothel quollen schier über von Papier; für Gershom Chaim jedoch war es vielleicht sogar das wichtigste Anliegen, das je ein Mensch im alten Glauben hier direkt vor Gott getragen hatte. Gershom wollte lächeln, wollte Hoffnung schöpfen aus dem Gedanken, der Allmächtige Vater könnte seinem Wunsch die gleiche große Bedeutung beimessen. Beides wollte ihm nicht gelingen. Der schmerzhafte Bund von Enttäuschung und Verzweiflung tief in Gershom Chaims Innerstem löste sich nicht, schloß sich eher noch enger und ließ die schmalen Schultern des Mannes sinken, als würde ihm eine unsichtbare Last aufgebürdet, die er kaum zu tragen imstande war. Tatsächlich schien seine ohnedies schon magere Statur binnen eines Augenblicks noch weniger kräftig als eben noch, gerade so, als habe Gershom Chaim ob seiner wachsenden Mutlosigkeit wirklich an Größe verloren. Ein wehes Seufzen auf den Lippen, zog er sein abgegriffenes Gebetbuch aus der Tasche seines glänzenden Shabbat-Mantels, schlug es auf und rückte so nah an den Kothel, daß die Mauer ihm den eigenen Atem ins Gesicht zurückwarf. In klagendem Ton rezitierte Gershom Chaim alsdann ein Gebet nach dem anderen und mehrte den vielhundertstimmigen Chor jener, die sich mit ihm an der Westmauer eingefunden hatten und Gott anriefen, wie stets zum Shabbat, der am Freitag in der Abenddämmerung begann und in der Samstagnacht endete. Wie in Trance verfiel Gershom Chaim, derweil Stunde um Stunde verging. Sein Gesicht erhitzte sich in einem Fieber, das nichts mit Krankheit zu schaffen hatte. Schließlich sank sein Kopf vornüber, seine Stirn berührte den Fels des Kothels, und Gershom empfand die Kühle des Steins wie erlösend. Die Kraft seiner Stimme ließ allmählich nach, und irgendwann kamen ihm die Worte an Gott nur noch als Murmeln und Flüstern von den Lippen. Seine Lider hatten sich, bleiern schwer, längst schon über seine Augen gesenkt. Wie im Schlaf sprach er die Gebete, die er
seit seiner Kindheit auswendig kannte. Doch immer schlichter wurden Gershom Chaims Worte, bis sie nicht mehr die eines erwachsenen Mannes, sondern nur mehr die eines Kindes waren – eines verzweifelten, um Hilfe bettelnden Kindes … Dann – schrak er auf! Wie aus tiefem Traum, und tatsächlich meinte er zu spüren, wie ihm etwas Zentnerschweres von der Brust wich, einem Alpdruck gleich, der im Erwachen floh. Etwas legte sich Gershom Chaim dafür auf die Schulter, warm und schwer – eine Hand, die ihn sanft rüttelte. Und eine Stimme sprach zu ihm, so nah an seinem Ohr, daß er den Atem des anderen darüber streichen fühlte. »Gershom?« Sekundenlang regte er sich nicht, stand er starr, als sei er selbst Teil des Kothels, obwohl er die Stimme schon erkannt hatte. »Gershom, Freund«, fuhr der andere fort, und vage Sorge schwang in seinem Tonfall mit. »Was hast du? Ist dir nicht gut? Kann ich dir helfen?« Endlich wandte Chaim sich um, und automatisch hob er den Blick, weil er wußte, daß er zu dem anderen aufsehen mußte. Itzhak Hareven überragte ihn um annähernd eine Haupteslänge. Schon in der Talmudschule damals hatte er zu den Größten gezählt, und Gershom Chaim zu den Kleinsten. »Laß nur, alter Freund«, wehrte er ab, mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte und die tiefen Schatten aus seinen Zügen nicht vertrieb. »Es ist schon gut.« Itzhak Hareven maß ihn mit ebenso mißtrauischem wie besorgtem Blick. »Den Eindruck erweckst du mir aber ganz und gar nicht. Und deine Gebete –« Er schüttelte den Kopf, so heftig, daß ihm die Peiyot, die langen Schläfenlocken, die kennzeichnend sind für chassidische Juden, ums Gesicht tanzten. »Es ist unfein, andere beim Beten zu belauschen«, tadelte Gershom, aber er tat es lächelnd.
Hareven hob die Hände, um sich gegen den Vorwurf zu verwahren. »Das lag gewiß nicht in meiner Absicht, mein Freund, glaube mir. Ich kam nur herüber, um dich einzuladen –« Er wies über die Schulter nach hinten, und Gershom Chaims Blick folgte dem Deut des anderen. Der weite Platz vor der Westmauer war auch jetzt, zu so später Stunde, nicht verlassen. Unter Glassturzen flackerten hie und da Kerzen, die schon am Tage angesteckt worden waren, weil es gläubigen Juden am Shabbat verboten war, Feuer zu entzünden als auch zu löschen. Ihr wabernder Schein verwob sich zu etwas wie rotgoldenem Nebel, der die Gestalten der Gläubigen, die den Shabbat hier am Fuße des Tempelbergs zelebrierten, zu geheimnisvollen Schemen schmolz. In einiger Entfernung erkannte Gershom Chaim, was sein Freund ihm zeigen wollte: Ein gutes Dutzend Männer hatte sich zu einem fröhlichen Rundtanz zusammengetan, und in ihrer Mitte sah er einen Jungen von schmaler Statur, aber schon jetzt großgewachsen wie sein Vater. »Avraham, hm?« fragte Gershom. »Ja«, nickte Itzhak. »Wir feiern seine Bar-mitzvah. Und du als Freund unserer Familie solltest mit uns feiern! Deshalb bin ich hergekommen. Immerhin war auch ich dabei, als dein David im vorigen Jahr –« Die Erwähnung seines Sohnes und die Erinnerung an dessen Barmitzvah versetzte Gershom Chaim einen schmerzhaften Stich. Vor nicht ganz einem Jahr hatte der Junge seinen dreizehnten Geburtstag feiern dürfen, und der Tradition gemäß war er am darauffolgenden Shabbat ebenso feierlich wie festlich in die religiöse Gemeinschaft der erwachsenen Männer aufgenommen worden – – inzwischen aber war David auf ganz andere Weise noch zum Manne geworden … gemacht worden! Auf eine Art, geradezu abartig unrein, die Gershom Chaim dem Sohn seines schlimmsten Feindes
nicht wünschte. Hätte der brave Mann einen solchen Feind gehabt … Er kniff die Lider zu, so fest und lange, bis blutige Röte hinter den dünnen Häuten flimmerte, doch das Bild, dessen Zeuge er vor gerade erst drei Tagen geworden war, wollte sich nicht vertreiben lassen. Er sah es auf eine Weise, die der Augen nicht bedurfte, die nur seinen Geist benutzte (mißbrauchte!). Wieder legte sich Itzhak Harevens Hand auf seine Schulter. »Was ist mit dir?« Sein Ton klang nun fast schon alarmiert. Gershom wich einen Schritt zurück, so daß Itzhaks Hand von ihm abfiel. »Nichts«, sagte er. Barsch sollte es klingen, gequält klang es. So leicht jedoch ließ Harevens Sorge um den Freund sich nicht besänftigen. »Gershom«, sagte er ruhig, »komm mit mir. Unsere Feier wird dich auf andere Gedanken bringen, ganz gleich, was dich bedrückt.« »Mir ist heute nicht nach Feiern zumute«, erklärte Gershom. »Ich muß … nach Hause.« »Ist denn zu Hause alles in Ordnung?« fragte Itzhak weiter. Dabei sah er suchend entlang des Kothels, bis hin zu der Schirmwand, die den Gebetsbereich der Männer von dem der Frauen trennte. »Ich sehe David nirgends, und auch Rebecca scheint nicht hier zu sein.« »Es … es geht ihnen nicht gut«, wand sich Gershom Chaim. Das war gelogen, und doch auch nicht; es war unter- und übertrieben in einem. Mit leerem Blick stierte er an seinem Freund vorbei, und er wünschte sich, ins Nichts starren zu können. Statt dessen aber sah er, wohin er die Augen auch richtete, stets, was in seinem Hause vorging, seit … »Ist deine Familie krank?« wollte Itzhak Hareven wissen, und sogleich wuchs die Sorge in seiner Stimme. »Kann ich irgend etwas –?« »Nein, laß gut sein, Itzhak. Du kannst nicht helfen. Es wird schon alles … wieder gut werden.« Wie von selbst suchte Gershom Chaims Blick dabei jene Stelle des
Kothels, an der er sein Gebetspapier in eine der Ritzen gesteckt hatte. Es war unmöglich, daß er es fand inmitten der unzähligen anderen Zettel – und doch tat er es; oder glaubte es zumindest. Ihm schien, als sei sein Zettel … weißer als all die anderen, fast so, als leuchte er – wie das berühmte Licht am Ende des Tunnels … »Ich muß gehen«, sagte er leise. Und ging, ohne jedes weitere Wort. Von der Westmauer bis zum Hause Gershom Chaims waren es zehn Minuten Fußwegs, fünfzehn, wenn man sich Zeit ließ – – und doch fand er sich nach einer knappen Stunde nicht etwa dort wieder, sondern – und ohne sich der verstrichenen Zeit oder der unbewußten Weigerung, auf direktem Wege heimzugehen, gewahr zu sein – am so geheißenen Jaffa-Tor in der alten Stadtmauer Jerusalems. Dort, wo das Unheil seinen Lauf genommen hatte …
* … vor einigen Tagen. Blutnebel hatte an jenem Morgen über Jerusalem gelegen, als Vater und Sohn das Haus verließen. Blutnebel – davon sprachen die Alten, wenn von fern herziehende Stürme in Jerusalem Station machten und roten Wüstensand, den sie mitbrachten, über der Stadt abluden. In Schwaden trieb er dann durch die Straßen und Gassen und senkte sich wolkenhaft über die Plätze, filterte das Licht der Sonne, bis nur blutiges Rot mehr über blieb. Der Sturm an jenem Morgen war nicht von schlimmster Art; unangenehm indes war er doch. Die feinen und feinsten Körnchen fanden überall Einlaß, drangen durch engste Ritzen von Türen und Fenstern in die Häuser und krochen insektengleich unter die Klei-
dung der wenigen Leute, die zu so früher Stunde schon unterwegs waren. Mit feuchten Tüchern, die sie vor Mund und Nase trugen, schützten Gershom Chaim und sein Sohn David wenigstens ihre Atemwege. Auf Rücken, Brust und Armen kribbelte ihnen der Sand aber, als bewege er sich in unheimlichem Leben und aus eigener unmöglicher Kraft, und wie Salz ließ er ihre Augen tränen, obwohl sie die Lider fast geschlossen hielten. Blutnebel … Hätte Gershom Chaim, dieser brave, untadelige Mann, gewußt, welche Wende dieser Morgen im Leben seiner Familie markieren würde, hätte er in jenem Wort der Alten eine neue und furchtbare Bedeutung gelesen … So aber zog er arglos mit seinem Sohn hin zum Sha’ar Yafo, dem Jaffa-Tor, wie so oft. Drei- oder viermal in der Woche gingen sie diesen Weg, die Kettenstraße und die Davidstraße hinab. Früher hatte am Sha’ar Yafo die Straße vom Hafen Jaffa nach Jerusalem geendet, und solange sich die Stadt nicht über ihre alten Mauern hinaus erstreckt hatte, war das Jaffa-Tor der Treffpunkt für Händler aus dem Orient und dem Okzident gewesen. Diese Bedeutung hatte das Tor im Laufe der Zeit weitgehend eingebüßt; Gershom Chaim jedoch traf sich dort noch heute mit den Händlern, die seinen im jüdischen Viertel gelegenen Obst- und Gemüseladen belieferten. Weil es für die Lastwagen der Händler im engen Gassengewirr der Altstadt, wo Höhenunterschiede meist durch flache Stufen oder Treppen überwunden wurden, kaum ein Durchkommen gab, übernahm Chaim die frische Ware schon am Jaffa-Tor und brachte sie auf einem Eselskarren selbst zu seinem Laden. Was überdies noch den Handelspreis um ein paar Shekel drückte … David begleitete den Vater seit Jahren schon auf diesem frühmorgendlichen Weg und leistete ihm gute Hilfe. Denn das alte Eselchen der Familie mochte den vollbeladenen Karren nicht immer alleine ziehen, und wenn es über die Stufen der Altstadtgassen hinauf ging,
dann bockte der Graue mitunter ganz und ließ seine Herren die schwere Last ziehen und schieben. Als Vater und Sohn das Jaffa-Tor an jenem Morgen erreichten, ließ der Sandsturm so plötzlich nach, als habe die Natur gnädig ein Einsehen mit ihnen. Denn in der Röte des Sturms und zudem noch behindert durch die Tücher wäre es ihnen kaum möglich gewesen, die Qualität der angebotenen Ware zur Genüge in Augenschein zu nehmen. So aber konnten sie die längst schon verkrusteten Tücher von den Gesichtern binden und auch den Esel von seinem Schutz befreien, derweil um sie her sich die letzten Staubwolken zu Boden senkten und dem warmen Bernsteinlicht der aufgehenden Sonne freie Bahn schufen. Gershom Chaim und sein Sohn waren die einzigen Geschäftsleute, die an jenem Morgen den Weg zum Jaffa-Tor im Blutnebel nicht gescheut hatten. Im nachhinein freilich wünschte Gershom, sie wären dem Beispiel der anderen gefolgt – aber wie hätte er denn ahnen sollen, was ihrer harrte? Hätte er dem Blutnebel einfach mehr Bedeutung beimessen, die Zeichen des Himmels nur erkennen müssen? Müßig, heute noch darüber nachzusinnen – und längst schon zu spät … Die Händler, die ihr Obst und Gemüse am Jaffa-Tor feilboten, fuhren samt und sonders abenteuerliche Vehikel. Der Transporter Tamir Tameyels allerdings übertraf alle anderen, weil er komplett im Eigenbau entstanden war. Ein Unikat, weltweit einzigartig – und mithin unverkennbar. So stach es unter dem knappen halben Dutzend Lastfahrzeugen heraus, die heute Morgen am Sha’ar Yafo standen, aber nicht deswegen hielten Gershom und David darauf zu. Tamir Tameyel war ihnen seit Jahren als zuverlässig und ehrlich bekannt; der Alte war vor langer Zeit aus Äthiopien ins Heilige Land gekommen, um sein Glück zu machen, und er hatte es nicht auf krummen Wegen gesucht.
»Shalom«, grüßte Gershom Chaim den alten Mann schon im Näherkommen winkend. Er wies auf den verplanten Aufbau des Gefährts. »Was hast du heute Feines mitgebracht?« Tamir Tameyel, den Gershom als stets freundlich kannte und der immer einen Scherz auf den Lippen trug, schwieg und erwiderte den Gruß nur mit knapper Geste. Aus der Nähe meinte Gershom dann, etwas wie ein Schatten würde über dem Gesicht des Äthiopiers liegen und den sonst so munteren Glanz seiner Augen verhüllen. Nun, er wußte kaum etwas über das private Leben Tameyels; vielleicht nahm ihm ja ein familiäres Ärgernis momentan den Grund zur Fröhlichkeit. Er kannte den anderen aber auch nicht gut genug, als daß er danach hätte fragen mögen. So ging Gershom gleich zum Geschäftlichen über. »Laß sehen, was du hast, guter Mann«, bat er und wies erneut auf den Wagen Tameyels, der nach dem Sandsturm rot wie von Rost war. Tamir Tameyels Stimme klang rauh und belegt, und was er sagte, ließ Gershom Chaim glauben, seinen Ohren nicht trauen zu können: »Vielleicht solltest du heute bei einem anderen einkaufen, mein Freund.« Für einen flüchtigen Moment trat nun doch ein Schimmer in Tameyels Augen, und etwas darin weckte in Gershom Chaim ein unangenehmes, aber unbestimmbares Gefühl, das jedoch so rasch verging wie der beunruhigende Funke im Blick des Äthiopiers, gerade so, als verlösche er in einem Wind, der körperlich nicht zu spüren war. »Was redest du für Unsinn?« fragte Gershom kopfschüttelnd. »Ich kaufe immer bei dir – warum sollte ich das gerade heute nicht tun?« Er trat an das Heck des Lastfahrzeugs und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Komm schon, zeig mir deine Ware.« So langsam, als müsse er gegen unsichtbaren Widerstand angehen,
kam Tamir Tameyel heran und begann umständlich die Schnüre zu lösen, die die Plane hielten. Mit einem mannslangen Stock schob er den schweren Stoff schließlich in die Höhe und schlug ihn zurück. Sand rieselte herab und legte sich wie ein Gazeschleier zwischen die Männer und die Ladefläche. Zeitlupenhaft langsam fiel er in sich zusammen, als wolle er mit aller Macht verhindern, daß jemand einen Blick in den Transporter warf. »Ah«, machte David, als die Sicht endlich ungetrübt war, »Wassermelonen, sehr schön.« Schon griff er nach einer der durstlöschenden Früchte. Mit geübtem Fingerdruck prüfte er die Festigkeit des Fleisches unter der dunkelgrünen Schale, wie ein witternder Hund schnüffelte er das Aroma ein. »Beste Ware«, befand er dann. Gershom klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter. »Bist ein guter Junge, hast viel gelernt. Wirst einmal ein besserer Geschäftsmann, als ich es bin.« Der Junge, klein und zart wie sein Vater, zuckte die schmalen Schultern. »Weil ich mein Fach beim besten Obsthändler Jerusalems gelernt habe.« Er zwinkerte seinem alten Herrn schelmisch zu. »Mach dich nur lustig über alte Leute«, gab Gershom ebenso schalkhaft zurück. »Das würde ich doch niemals wagen!« Tamir Tameyel stand still daneben. Unbehaglich fuhr und kratzte er sich mit der Hand über den faltigen Hals. Gershom Chaim wurde der Seltsamkeit in der welken Haut des Alten eher zufällig gewahr. »Ei, was hast du denn da?« fragte er baß erstaunt. »Wenn das eine Mücke angerichtet hat, dann war’s aber ein ganz besonderes Kaliber, was?« Der Äthiopier hielt inne und sah einen Moment lang drein wie der sprichwörtliche ertappte Sünder. Dann zog er hastig den Kragen seines Gewandes so zurecht, daß darunter verschwand, was Chaim gerade entdeckt hatte. »Ich habe noch mehr für euch«, sagte er danach, ohne auf Gers-
homs Bemerkung einzugehen, »etwas ganz Besonderes.« Er schob sich an Vater und Sohn vorbei, kletterte auf die Ladefläche und machte sich dort im vorderen Bereich zu schaffen, wo das Licht der frühen Sonne noch nicht hinreichte und sich Kisten zu dunklen Türmen stapelten. »So? Was denn?« wollte David wissen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Körbe und Kartons an der Ladekante hinwegschauen zu können. Dennoch sah er nicht recht, was Tamir Mameyel tat. Er schien einige der Kisten dort hinten beiseite zu rücken. »Muß sich ja um wahre Schätze handeln, wenn du sie so gut versteckst«, meinte Gershom Chaim und grinste. »Goldene Äpfel, wie?« »Nein«, kam die Stimme des alten Mannes aus dem Dunkel, und sie klang so bar allen Gefühls, daß Gershom die Worte wie einen eisigen Hauch empfand, der ihm direkt ins Ohr wehte und tiefer drang. »Nur etwas, das ihr mit euch in die Stadt nehmen und in eurem Hause beherbergen sollt«, ergänzte Tameyel dann in dem gleichen nüchternen Ton. Ein übler Verdacht beschrieb Gershom Chaim. Sollte er den Äthiopier in all der Zeit, da er ihn kannte, falsch eingeschätzt haben? Trieb er doch auch dunkle Geschäfte? Und wollte der alte Tamir jetzt ihn mit hineinziehen oder auch nur benutzen – um etwa Waffen in die Stadt zu schmuggeln …? »Mein Gott!« entfuhr es da David an seiner Seite. »Du sollst den Namen des Herrn nicht unnütz füh-«, floß es Gershom Chaim beinahe automatisch von den Lippen. Die letzte Silbe jedoch erstickte ihm im Halse, denn da sah auch er, was Tamir Tameyel Besonderes für sie dabei hatte. Der Alte war einen Schritt zurückgegangen, und aus dem schmalen Durchlaß zwischen zwei Kistenstapeln, die er zur Seite gerückt hatte, trat eine noch schemenhafte Gestalt. Wie auf ein geheimes Zeichen hin tasteten sich die Strahlen der Morgensonne just in die-
sem Augenblick in den bislang dunklen Bereich der Ladefläche vor und hüllten die fremde Person dort in beinahe widernatürlich gleißendes Licht – – und Gershom Chaim mußte an sich halten, um den Namen des einen Herrn nicht ebenfalls unnütz auszusprechen! Der Anblick überwältigte ihn nicht weniger als seinen Sohn. Und in kaum minderem Maße entsetzte er ihn – auf eine Weise, die sich nicht in Worte kleiden, sondern nur mit tieferem Sinn erfassen ließ. Dies also hatte Tamir Tameyel hergebracht, auf daß sie es fortan beherbergten: Eine Frau, wie die Sünde schön, der fleischgewordenen Versuchung gleich … … und einen – Toten?
* Dunkelheit füllte das Haus wie schwarze Watte und ballte sich in Ecken und Nischen zu dichter Finsternis, wie in jeder ShabbatNacht, da die Halachah verbot, das Licht einzuschalten. Nur durch die wenigen Fenster an der Gebäudefront, die zur Gasse hinwies, sickerte ein Abglanz der Lichter des nächtlichen Jerusalems herein, so schwach jedoch, daß er die Türschwellen der vorne gelegenen Zimmer nicht zu überwinden vermochte. Rahel Chaim schlich dennoch durch das verwinkelte Haus ihrer Eltern, mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit. Fünf Lebensjahre hatten ihr genügt, sich jeden Fußbreit Boden so einzuprägen, daß sie sich blind zurechtfand. Und manchmal tat sie sogar eben dies: ging mit geschlossenen Augen durch die Kammern und Flure, die Stiegen hinauf und hinab, gerade so, als sei sie wirklich blind – nur um Gott hernach dafür zu danken, daß sie es nicht war. Heute Nacht aber stahl sich das Mädchen nicht in dieser Absicht durchs Dunkel. Heute Nacht wollte sie nur ihre Neugier stillen. Oh, Rahel wußte freilich längst, daß ihre Eltern ein Geheimnis hü-
teten, und auch ihr Bruder David war darin eingeweiht. Ihm und der Mutter war darüber jedoch nichts zu entlocken gewesen; seit Tagen schienen die beiden der Welt gleichsam entrückt, teilnahmslos und fortwährend seltsam müde. Und der Vater hatte ihr nur eindringlichst verboten, die Kammern unter dem Dach des Hauses aufzusuchen; nicht einmal in deren Nähe wollte er das Töchterlein wissen … … aber Vater war zum Gebet an den Kothel gegangen, derweil Mutter und Bruder schon schliefen, wovon Rahel sich vor Minuten erst still und heimlich in den Zimmern der beiden überzeugt hatte. Daß die beiden den Vater nicht zum Gebet begleitet hatten, wie sie es bislang am Shabbat stets getan hatten, kam der kleinen Rahel eigenartig vor. Doch vermutete sie, daß es mit dem Geheimnis droben unterm Dach zu tun hatte, und eben dieses würde sie jetzt lüften. Nur wenige Stufen trennten sie noch vom obersten Geschoß des Hauses … Dicht an der Wand entlang schlich sie die Holztreppe empor, und nur auf Zehenspitzen, um ja kein verräterisches Knarren zu verursachen. Ganz flach atmete sie, und trotzdem glaubte sie vor Aufregung so laut zu schnauben wie das Eselchen, wenn es den beladenen Karren vom Jaffa-Tor herzog. Ihr Herz trommelte so heftig in ihrer Brust, als wolle es aus seinem knöchernen Käfig fliehen. Dennoch setzte Rahel tapfer Fuß vor Fuß, denn kindliche Neugierde war eine stärkere Macht als alle Angst. Dabei fürchtete das Mädchen sich nicht einmal so sehr vor dem, was es in den Kammern da oben finden würde; vielmehr ängstigte Rahel die Strafe, die der Vater ihr auferlegen würde, wenn er merkte, daß sie sich über sein Verbot hinweggesetzt hatte. Aber vielleicht würde er es ja gar nicht erfahren … Selbst hier oben waren das süße Odeur von Obst und das erdigere von Gemüse noch wahrnehmbar. Aus den kühlen Lagerkellern stiegen sie herauf, und aus dem Laden der Chaims, der auf Höhe der
Gasse lag. Verwoben mit vagem Fäulnisgeruch waren diese Düfte allgegenwärtig im ganzen Haus, hatten sich festgesetzt im Mauergestein. Doch während der Geruch drunten mitunter penetrant war, empfand Rahel ihn hier oben als angenehm, wie ein Parfüm, das fremdländische Damen benutzten, die oft zuhauf durch die Altstadt strömten und Fotografien machten von allem, was sie erblickten, als gäbe es das nirgends sonst auf der Welt – Fremdländische Damen …? Rahel verharrte. Die Idee war ihr nur so zugeflogen, wie aus dem Nichts, aber sie hielt sie fest in ihren Gedanken, wie ein Vögelchen, das, die Krallen um einen Ast geklammert, einem Sturmwind trotzt. War es das, was die Eltern vor ihr verbargen? Den Besuch einer fremden Dame … oder anderer Gäste? Warum aber hätten sie darum ein solches Geheimnis machen sollen? Gleich, dachte Rahel, gleich werde ich es wissen … Lautlos ging sie weiter, an der linken Seite des schmalen Flures im Dachgeschoß entlang. Rechts führten Türen ab, drei an der Zahl. Die erste und die letzte vermochte das Mädchen nicht zu erkennen; sie lagen verborgen wie hinter einer Mauer aus pechschwarzen Steinen. Die Kontur der mittleren jedoch war wie mit heller Farbe haarfein nachgezeichnet – Licht fiel durch die Ritzen zwischen Türblatt und Rahmen. Licht? Am heiligen Shabbat? Rahels Verwunderung wuchs im gleichen Maße wie ihre Neugierde – und schon stand sie an der Tür, so dicht, daß sie ihr Ohr an das Holz legen konnte. Nichts rührte sich dahinter, kein Laut war zu vernehmen. Oder doch? Sprach da nicht jemand, ganz leise nur, als flüstere er in jemandes Ohr? Nein, nicht er – sondern sie! Es war die Stimme einer Frau, die Rahel da hörte, ohne Zweifel. Nur die Worte vermochte sie nicht zu
verstehen. Noch fester preßte sie das Ohr gegen das Türblatt – – und fiel plötzlich haltlos vornüber! Die Tür war nicht ganz verschlossen gewesen, vielleicht funktionierte auch ihr Schloß nicht richtig – jedenfalls hatte sie unter dem Druck des Mädchens nachgegeben und war aufgeschwungen. Rahel stürzte nicht vollends zu Boden, sondern fing sich mit Händen und Knien ab. Mit einem Blick erfaßte sie das Bild, das sich ihr im trüben Schein einer Glühbirne in der kleinen Dachkammer darbot. Das Mobiliar bestand aus einem kleinen Tisch, einem Stuhl sowie einem lacklosen Kleiderschrank und einem einfachen Bett. Darauf lag ein Mann, und an seiner Seite saß eine Frau, deren langes Haar so schwarz wie ihr eigentümliches Gewand war – eine Art hautenger Anzug, der jedoch an vielen Stellen zerrissen war, so daß die nackte Haut hervorschaute. In den Händen hielt sie ein Gefäß von so eigentümlicher Form, wie Rahel es noch nie gesehen hatte. Und die Frau war schön. So schön, daß Rahel regelrecht fasziniert von ihr war, in Bann geschlagen wurde. Als sei sie eine Märchenprinzessin, so starrte das Mädchen die Fremde an, wagte kaum zu blinzeln und hielt den Mund staunend auf. Die Fremde schien von dem plötzlichen Auftauchen des Mädchens ebenso überrascht und rührte sich genauso wenig. Sekundenlang schien die Zeit stillzustehen in der engen Kammer, und als die Frau schließlich lächelte, war es, als ob eben diese kaum nennenswerte Regung die Dinge wieder in Fluß brachte. Das kleine Mädchen richtete sich langsam und umständlich auf. »Hallo«, sagte die Fremde. Sie sprach Hebräisch. »Du bist Rahel, nicht wahr?« »Du kennst mich?« »Dein Vater hat mir von dir erzählt.« »Er wollte nicht, daß ich heraufkomme«, gestand Rahel kleinlaut. »Wirst du es ihm verraten?«
Das Lächeln auf den vollen Lippen der Frau vertiefte sich, und ein warmer Funke glomm in ihren grünen Augen auf. »Nein, das werde ich nicht. Es bleibt unser Geheimnis, einverstanden?« Rahel nickte heftig, das Lächeln erwidernd. »Einverstanden.« Zögernd trat sie näher an das Bett heran. Der Mann, der darauf lag, hielt die Augen geschlossen und rührte nicht einmal den kleinsten Finger. Das Mädchen hielt die Luft an, um den Atemzügen des Mannes lauschen zu können, doch vernahm es nichts. Auch seine Brust hob und senkte sich nicht. Rahels Blick wechselte kurz zu der Frau, dann sah sie wieder zu dem Fremden hin. »Ist er …?« fragte sie, das letzte Wort scheuend. »Tot, meinst du?« hakte die Fremde nach. Das Mädchen nickte scheu. »Ich …«, begann die andere zögernd, »… weiß es nicht. Aber – nein, ich glaube es nicht.« »Du möchtest es nicht glauben, stimmt’s?« fragte Rahel. »Sieht man mir das an?« Rahel zuckte die Schultern. »Ich … weiß es eben. Einfach so. Ich weiß manche Dinge, ohne daß jemand sie mir gesagt hätte.« »Dann bist du ein ganz besonderes Mädchen, hm?« »Das weiß ich nicht.« Rahel lächelte schüchtern. »Und wer seid ihr?« fragte sie dann. »Mein Name ist Lilith«, antwortete die Frau. »Wie Adams erstes Weib«, rief Rahel erstaunt und zugleich stolz auf ihr Wissen. Die Eltern hatten ihr oft aus dem Talmud vorgelesen. »Und wie heißt dein … Mann?« Lilith schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln gerann. »Er ist nicht mein Mann.« »Dein Freund?« »Ich weiß es nicht.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Rahel verwundert.
»Ich wünschte, ich könnte es verstehen …« Liliths Stimme verging in einem wehen Hauch. »Woher kommt ihr?« wechselte Rahel das Thema. Sie hatte noch so viele Fragen. »Was tut ihr in unserem Haus? Und was ist das da für ein Ding?« Sie zeigte auf den eigentümlichen Kelch. Lilith seufzte und stellte das Gefäß beiseite. »Das ist eine lange Geschichte.« »Erzähl sie mir«, bat das Mädchen. »Ich mag Geschichten. Je länger, desto lieber.« Das Lächeln kehrte in Liliths Züge zurück. Sie wies auf Rahel. »Du frierst sicher, hm?« Das Mädchen sah an sich herab bis zu den bloßen Füßchen und hob den Saum ihres dünnen Nachthemdes. »Ein bißchen.« Lilith streckte die Arme nach dem Kind aus. »Komm her zu mir. Ich wärme dich, ja?« »Und du erzählst mir die Geschichte?« vergewisserte sich Rahel. Lilith nickte. »Ja, das tu ich. Nun komm.« Immer noch zögernd ging das Mädchen zu ihr, ließ es zu, daß Lilith es auf ihren Schoß hob und in ihre Arme schloß. Rahel kicherte. »Du willst mich wärmen? Du frierst doch selbst!« Die kühle Haut Liliths verursachte dem Mädchen eine Gänsehaut. »Wir wärmen uns gegenseitig, ja?« meinte Lilith. Das Mädchen nickte und spürte den kalten Atem der Frau über sein Haar streichen und ihr Gesicht schließlich in der Beuge zwischen Hals und Schulter. »Mmh, du riechst gut«, sagte Lilith. »So gut riechen nur kleine Mädchen.« »Meinst du?« fragte Rahel und behauptete dann überzeugt: »Das glaube ich nicht. Jeder Mensch riecht anders, ganz gewiß.« Sie kiekste, als Lilith ihr ein Küßchen unters Ohr hauchte. »Nein, hör auf – das kitzelt!« »Laß sie los!«
Die Szenerie gefror. Liliths Griff verkrampfte sich, als wolle sie das Kind nie mehr freigeben. Dem Mädchen entfleuchte ein fast lautloser Ton des Erschreckens. Beide sahen sie wie gebannt zur Tür hin. Auf deren Schwelle stand, vom Licht wie aus der jenseits davon nistenden Dunkelheit herausgemeißelt, Gershom Chaim. Und in diesem Augenblick schien er buchstäblich über sich hinauszuwachsen. Fast bedrohlich wirkte seine Gestalt, ließ alle Schmächtigkeit vergessen, und sie schien den Rahmen der Tür beinahe auszufüllen. »Nicht meine Tochter.« Er bat nicht, er verlangte: »Laß das Kind gehen –« Chaims Hand fuhr hoch zum Kragen seines Shabbat-Mantels und zog ihn herab. Sein Hals lag bloß, und deutlich zeichneten sich auf der fahlen Haut zwei dunkle Male ab, eingesponnen in ein glitzerndes Netz dünner Rinnsale aus Schweiß, dessen saurer Geruch die Kammer zu fluten schien. »– nimm mich«, fuhr Gershom Chaim heiser fort. »Nimm wieder mich. Aber rühre meine Kinder nicht mehr an, unreine Kreatur, die du bist!«
* Aufstöhnend schloß Lilith Eden die Augen, und fest kniff sie die Lippen zu. Übelkeit schoß ihr wie eine feurige Säule in der Kehle hoch und sammelte sich bitter in ihrem Mund. Gershom Chaims Worte und Tun waren ihr zuwider – – und sie demütigten Lilith so tief, daß ihr vor sich selbst ekelte. Gershom Chaim sah sie als Ungeheuer, und sie konnte nicht anders, als ihn zu verstehen – obwohl sie doch kein Monstrum war! Nicht mehr, seit Beth … Hastig löste Lilith ihren Griff um Rahel und stieß sie dann beinahe barsch von sich. Der verständnislose Blick aus Kinderaugen traf sie wie eine glühende Nadel mitten ins Herz.
»Es tut mir leid. Ich …«, setzte die Halbvampirin an. »Was ist denn mit dir?« wurde sie von dem Mädchen unterbrochen. Es sah fragend zu ihrem Vaters auf und zerrte mit kleinen Fäusten an dessen Mantel, um seine Aufmerksamkeit zu finden. »Diese Frau … Lilith, sie ist sehr nett und –« »Geh!« fuhr Chaim seine Tochter an, ohne zu ihr hinabzusehen. »Geh nach unten und komm nie wieder hier herauf!« Blind tastete er nach ihrem dunklen Schopf und schob Rahel unsanft an sich vorbei, hinaus auf den schmalen Flur. Die Schritte des Mädchens entfernten sich, allerdings nicht weit. »Ich wollte nicht –«, fuhr Lilith fort, aber Gershom Chaim fiel ihr ins Wort. »Du wolltest nicht?« fragte er. Seine Lippen bebten, sein Leib zitterte, und in seinen wässrigen Augen flammte etwas von jenem Zorn und Haß, die tief in ihm brannten und nur eine Quelle hatten: Lilith Eden. »Wollfest du ihr nichts tun, so wie du meinem Sohn nichts getan hast?« Fast erwartete Lilith, daß Chaim vor ihr ausspie. Aber er tat es nicht. Seine Furcht vor ihr schien noch immer größer als alle Wut. Sie senkte den Blick, beschämt und schuldbewußt, als sie an David dachte. Daran, daß sie ihm erlaubt hatte, seine jungenhafte Neugier zu stillen. Eigennützig hatte sie es getan, wie sie sich eingestand. Denn Blut, das vor Erregung wallte, mundete besser als solches, das schal und zäh aus der Ader troff … »Es wird nicht mehr geschehen«, flüsterte sie. »Ich verspreche es.« »Welchen Wert soll ein Versprechen aus deinem Munde haben?« entgegnete Chaim bitter. »Ich bin nicht so schlecht, wie du glaubst«, verteidigte sich Lilith. Ihre eigenen Worte klangen hohl in ihren Ohren, ihre Stimme lahm. »Du hast meine Familie verdorben, treibst es vielleicht noch mit Toten unter meinem Dach –«, Gershom Chaim wies auf den reglosen Körper, der auf dem Bett lag, unverändert wie am ersten Tag, »–
wie sollte ich da anders von dir denken als schlecht?« Lilith erwiderte nichts darauf. Nur ihre Hand kroch wie von selbst auf den leblosen Leib zu, und ihre Finger berührten ihn, als könnte sie Kraft in ihm finden, die in ihr selbst nicht mehr war, nicht in diesem Augenblick, da Gershom Chaim ihr den Spiegel vorhielt. »Ich bitte dich, geh jetzt«, sagte sie leise und ohne Chaim anzusehen. Sie konnte ihn nur bitten, ihm aber nichts befehlen wie etwa seiner Frau oder seinem Sohn. Er zählte zu den wenigen Menschen, die gegen die vampirische Hypnose immun waren. Und etwas von dieser Widerstandskraft meinte Lilith auch in Rahel gespürt zu haben, nur – irgendwie anders … »Ich wünschte, ich könnte euch bitten, dies zu tun«, gab Chaim müde zurück. »Zu gehen! Uns endlich zu verlassen – in Ruhe zu lassen!« Er wollte sich schon umwenden, hielt aber noch einmal inne und drehte sich Lilith wieder zu. Dabei entblößte er erneut seinen mageren Hals. »Was ist?« fragte er leise. Angstvolles Flimmern vertrieb den flackernden Zorn aus seinem Blick. »Willst du –?« Liliths Wangenmuskulatur zuckte schmerzvoll. Wieder drohte ihr übel zu werden, weil sie Menschen durch ihre Widernatur dazu brachte, sich derart zu erniedrigen. »Geh endlich!« zischte sie und spürte im gleichen Atemzug, wie Wut auf alles und jeden sie übermannen wollte. »Verschwinde! Ich rate dir gut, es zu tun, sonst –« »Du kannst mir nichts mehr antun, was du mir nicht schon angetan hättest«, erwiderte Gershom Chaim, während er die Tür hinter sich schloß. Die Tonlosigkeit seiner Stimme, der Fatalismus seiner Worte ließen Lilith schaudern … … und fast wünschte sie sich, wieder die zu sein, die sie gewesen war, bevor Beth MacKinsey in sie gedrungen und in ihr aufgegan-
gen war, im Zeitkorridor bei Uruk *: von dunkler Kraft ganz und gar erfüllt und kompromißlos bereit, Böses zu tun und dem Grauen zu frönen. Doch dazu war es nach Liliths Aufbruch aus dem Dschungel Yucatáns, wo sich die böse Energie des Arapaho-Vampirs Hidden Moon in sie entladen hatte**, nicht gekommen – Beth MacKinsey hatte sie vor diesem Schicksal bewahrt … … oder vielmehr das, was von Beth im magischen Korridor die Zeit überdauert hatte: ihr Geist, geläutert von der Kraft jenes besonderen Ortes. Mit der Absicht, durch den Korridor in jene zukünftige Zeit zurückzukehren, da sie als Beth MacKinsey von Lilith Eden getötet worden war, hatte sie ihn in ferner Vergangenheit als Elisabeth Stifter aufgesucht, um endlich Rache zu nehmen an der einstigen Freundin. Aber der magische Tunnel hatte sich nicht nach ihrem Willen nutzen und mißbrauchen lassen – statt dessen war er zu Beth’ Kerker geworden, in dem ihr körperloses Wesen die Jahrhunderte zugebracht hatte, bis Lilith selbst das Tor ein weiteres Mal geöffnet hatte. Die Gefahr durch eine dritte, ungleich mächtigere Präsenz hatte Lilith und Beth jedoch gezwungen, füreinander einzustehen, und letztlich hatte Beth sich nur retten können, indem sie in Lilith Zuflucht nahm. Ihr Wissen und Wesen waren fortan Teil Lilith Edens, und so waren die Freundinnen, die zu Feindinnen geworden waren, heute enger und inniger miteinander verbunden, als andere es je sein konnten. Aber mehr noch war Beth zu Liliths Katharsis geworden. Gereinigt durch die Magie des Korridors, hatte sie das Böse in Lilith nicht nur absorbiert, sondern war darüber hinaus zu etwas wie Lilith Edens neuem Gewissen geworden, stützte und festigte die menschliche Seite der Halbvampirin. Daß Liliths Probleme durch diese Fügung nicht weniger und ihr Leben nicht einfacher geworden waren, *siehe VAMPIRA T40: »Beth« **siehe VAMPIRA T37: »Im Zeichen des Adlers«
hatte sich noch vor Ort gezeigt: als Lilith den Lilienkelch gefunden hatte – und ihn. Ihn, dessen Namen sie nicht kannte und dem sie doch verfallen war in dem Moment, da sie ihn gesehen hatte – obschon er buchstäblich nichts getan hatte, um Lilith für sich einzunehmen. Er hatte nur dagelegen – wie tot … Lilith hatte den Fremden aus der Vorkammer des Zeitkorridors geschafft, ohne einen Grund dafür benennen zu können. Sein Anblick hatte irgend etwas in ihr angerührt, und etwas, das unsichtbar von ihm ausging wie ein steter Strom, der seinen Poren entstieg, machte Lilith taub und blind für alle Vernunft. Er war ein Mysterium – und Lilith konnte dem Wunsch nicht widerstehen, sein Geheimnis zu lösen. Aber das war nicht ihr alleiniger Beweggrund; eher nur der, den sie sich selbst gegenüber angab, um wenigstens irgendeine Erklärung für ihr doch so absurdes Handeln zu haben. Tatsächlich war es so, daß sie schlicht nicht von ihm lassen konnte, nicht ohne ihn sein wollte – ohne ihn wirklich zu kennen. Irgend etwas (Magisches?) band sie an ihn, und aller Wille konnte dieses Band nicht lösen. Sie wollte ihm helfen, ihn retten – denn daß er nicht tot war und Hilfe nicht zu spät kommen würde, konnte Lilith spüren: Es mochte zwar kein fühlbares Leben in dem makellos schönen Körper sein, aber der Tod hatte ebensowenig Besitz von ihm ergriffen. Hätte Beth sich in Lilith noch bemerkbar machen können, würde sie alles unternommen haben, um Lilith von ihrem Vorhaben abzubringen, dessen war sich die Halbvampirin gewiß. Aber Beth vermochte nicht mehr zu ihr zu sprechen, und sie hatte keinen Einfluß auf ihr Tun – sie war mit Lilith verschmolzen, eins mit ihr geworden. Mehr nicht, und nicht weniger … Lilith wollte den Fremden an einen Ort bringen, an dem sie sich ihm in aller Ruhe widmen konnte. Einen Ort, an dem nichts und nie-
mand sie stören konnte – und dieses Nichts und Niemand bezog sich für Lilith vor allem auf ihre ewigen Feinde, die Vampire. Wo aber war die Welt frei von Vampiren? Beth kannte einen solchen Ort, hatte ihn als Elisabeth Stifter aufgesucht! Und das Wissen darum gehörte nun auch Lilith. Und so reiste sie von Uruk nach Jerusalem, in ihrer Begleitung ein Mann, den alle für tot halten mußten … … was die Reise noch schwieriger gestaltete, als sie es ohnedies schon war. Öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen konnte Lilith sich nicht erlauben; da half ihr alles vampirische Talent nichts. Größere Menschenmengen so zu beeinflussen, daß sie gleichsam blind wurden für den Anblick eines »Toten«, das überstieg ihre suggestiven Fähigkeiten … So blieb ihr nichts anderes übrig, als fahrende Händler und Alleinreisende für ihre Zwecke einzuspannen. Zumeist im Schutze der Dunkelheit kamen sie so ihrem Ziel näher, nur langsam zwar, aber doch Stück um Stück. Der lange Weg nach Jerusalem hatte zudem ein Gutes noch: Lilith hatte Zeit, wieder zu sich selbst zu finden. Sie schaffte es, ihre Gedanken zu ordnen und das Wissen, das sie durch Beth erlangt hatte, mit ihrem eigenen zu verknüpfen. So ergab sich allmählich ein Bild ihres Lebens, das den Verlust ihrer Erinnerung, unter dem sie noch immer litt, zwar nicht wettmachte, aber zumindest ein brauchbarer Ersatz war – trotz der Lücken, die zwangsläufig noch darin klafften. Denn noch immer wußte Lilith nicht, was geschehen war, nachdem sie damals den Zeitkorridor aufgesucht – und ihre beste Freundin Beth MacKinsey kaltblütig ermordet hatte.* Schließlich war Lilith mit ihrem namenlosen Begleiter an den alten Tamir Tameyel geraten, den sie »überredet« hatte, sie bis vor die Tore Jerusalems zu chauffieren, wo er ihnen eine Passage in die *siehe VAMPIRA H46: »Der bittere Kelch«
Stadt »besorgt« hatte. Und so waren sie endlich – und rein zufällig, weil er an jenem Morgen der erste Kunde Tamir Tameyels gewesen war – im Hause Gershom Chaims untergekommen, wo Lilith ungestört darüber nachsinnen wollte, wie dem noch immer Fremden, der ihr doch so vertraut war, zu helfen sei. Daß sie diese Ruhe letztlich – und aus grausamer Zufälligkeit – mit dem Leid der Familie Chaim bezahlte, war indes ein arger Wermutstropfen, dessen bitteren Geschmack Lilith nicht loswurde … Wieder allein in ihrer Kammer, langte Lilith nach dem Kelch, den sie neben dem Bett abgestellt hatte, als die kleine Rahel zu ihr gekommen war. Sie wußte um die Bedeutung des Gefäßes, das die Alte Rasse ihren Gral nannte. Sie wußte jedoch nicht, wie und weshalb der Kelch, geformt wie eine Lilienblüte und gefertigt aus unzähligen Splittern eines ihr unbekannten Materials, so plötzlich in der Vorkammer des Zeitkorridors erschienen war. Er war einfach dagewesen, und Lilith hatte ihn mitgenommen, nicht zuletzt aus dem Grund, um ihn nicht in andere, gefährlichere Hände fallen zu lassen – etwa in Landrus, der ihr nicht nur in jüngster Vergangenheit übelst mitgespielt hatte. Im unvermittelten Auftauchen des Lilienkelchs vermutete Lilith den Schlüssel zum Rätsel ihres namenlosen Bekannten (Geliebten, wisperte es gespenstisch und betörend zwischen ihren nüchternen Gedanken). Daß sie beide in der Vorkammer des Tunnels gefunden hatte, konnte kein Zufall sein – es durfte keiner sein, denn es war ihr einzige Spur und Handhabe … … aber sollte sie sich eine Verbindung zwischen Kelch und Mann tatsächlich wünschen? Warf es nicht ein dunkles Licht auf den Fremden, wenn er wirklich etwas mit dem Unheiligtum der Alten Rasse zu tun hatte? Mußte dies nicht bedeuten, daß er ein Vampir war … und mithin Liliths Feind? Sie drehte den schweren Kelch in den Händen und starrte in seine Öffnung, als könnte sie darin die Antworten auf ihre Fragen lesen. Und fast glaubte sie, daß dem so sein konnte – hätte sie nur darin zu
lesen verstanden! So aber sah sie nichts als Schwärze jenseits des Randes, so dicht und absolut, als sei der Kelch tatsächlich damit gefüllt. Liliths Blick wanderte wieder hin zu dem Namenlosen, zum vielleicht hundertsten Male in dieser Nacht, zum unzähligsten Male, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er sah aus, als schliefe er – so friedlich, so ruhig und still … Wie tot! zischte es gehässig in ihr. »Nein!« entfuhr es ihr erschrocken. Hastig rückte sie näher zu ihm, beugte sich über ihn, lauschte und spürte nach dem, was nicht Leben war, aber ihr doch verriet, daß er nicht tot war. Sie schluckte, bemühte sich, ruhig zu atmen – und entspannte sich, ein kleines bißchen. Es – was immer es auch sein mochte – war noch da … Liliths Finger zeichneten sanft die Linien seines edlen Antlitzes nach, während ihre andere Hand auf seiner breiten Brust ruhte, als wolle sie den Schlag seines Herzens spüren, das sich doch nicht rührte. Sie brachte ihr Gesicht über das seine, ihr Atem streifte seine kühle (totenkalte!) Haut. Eine Träne fiel von ihrer Wange auf die seine, rollte wie ein gläserne Perle hinab, bis sie in seinem Mundwinkel zur Ruhe kam und zwischen seinen Lippen versickerte. Ohne daß in der Folge noch irgend etwas geschehen wäre … »Vielleicht kann ich dir helfen?« Lilith schrak auf und wandte sich zur Tür um. »Du?« fragte sie ungläubig. Eine zierliche Gestalt schlüpfte herein und schloß leise die Tür. Dann huschte Rahel auf nackten Füßen zu Lilith, lautlos wie ein Gespenst, und ließ sich ihr zur Seite nieder, so ohne Angst und voller Vertrauen, als würden sie einander schon lange kennen. »Wenn dein Vater –«, begann Lilith mit mildem Tadel, obwohl ihr die bloße Anwesenheit des Mädchens ein Gefühl der Wärme vermit-
telte – und vage Hoffnung? Worauf? »Er wird schon nichts merken«, meinte das Mädchen, und kichernd fügte es hinzu: »Er schnarcht nämlich – kannst du ihn nicht hören?« Lilith ertappte sich dabei, daß sie tatsächlich lauschte, ob sie Gershom Chaim schnarchen hörte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf: »Nein, kann ich nicht.« »Soll ich dir nun helfen – ja oder nein?« kam Rahel wieder auf ihre vorherigen Worte zurück. Lilith zuckte die Schultern. »Wie könntest du das tun?« fragte sie. Vollkommener Ernst, wie er eigentlich nur einem Erwachsenen zu Gesichte stand, prägte Rahels kindliche Züge und ließ sie beinahe unheimlich wirken, während sie erst Lilith und dann den namenlosen Mann ansah und schließlich sagte: »Weil ich manchmal mit den Toten reden kann.«
* Dieser Weg der Schmerzen … … die große Erinnerung scheint überall in den Steinen zu singen … Pierre Loti »Die Via Dolorosa, der Kreuzweg Jesu, beginnt an der Festung Antonia, dem Gerichtssaal, wo Pontius Pilatus residierte, und sie endet hier, an der Grabeskirche, die um Golgotha, den ›Schädelhügel‹, errichtet wurde …« Shulamith Gur gab sich redlich Mühe, ihren Tonfall nicht allzu monoton klingen zu lassen. Aber es fiel ihr schwer, das rechte Feuer in die Worte zu legen, zudem die französische Sprache nicht zu ihren bevorzugten zählte.
Seit annähernd zwei Jahren verdingte sie sich nun schon als Fremdenführerin, um ihr Studium an der Hebräischen Universität zu finanzieren, und in dieser Zeit hatte Shulamith Gur wahre Heerscharen von Touristen aus aller Welt durch die Grabeskirche gelotst und deren Geschichte und Architektur mittlerweile tausend Mal und öfter heruntergebetet. Anfangs war es ihr noch leicht gefallen, Begeisterung zu zeigen und den Funken auf ihr Publikum überspringen zu lassen. Inzwischen aber war der Job zur Routine geworden, und Shulamith kam sich bisweilen vor wie ein Roboter, der zwar des Sprechens fähig, jedoch nicht imstande war, Emotion zu entwickeln oder gar zu vermitteln. Dazu kam noch, daß viele Besucher ihr ohnedies nur mit halbem Ohr zuhörten und sich stattdessen miteinander unterhielten oder sich auf die Informationen ihrer gedruckten Reiseführer verließen, was dem Ehrgeiz der Studentin nicht gerade zuträglich war. Heute aber war irgend etwas anders … Nein, nicht heute, verbesserte sich Shulamith Gur im stillen, sondern – jetzt! Irgendjemand schenkte ihr geradezu spürbare Beachtung, mehr noch: echtes Interesse. Shulamith konnte dessen Blicke gleichsam auf ihrer Haut fühlen, wie die sanfte Berührung streichelnder Finger – kalte Finger … Sie erschauerte und wußte nicht zu sagen, ob ihr das Gefühl unangenehm war, oder ob sie es genoß … Während sie auf Italienisch wiederholte, was es über die Via Dolorosa zu sagen gab, ließ sie den Blick unauffällig über die gemischte Touristengruppe schweifen, ohne jedoch feststellen zu können, ob eine Person daraus sie mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtete. Eher das Gegenteil schien ihr der Fall: Die meisten der Männer und Frauen widmeten ihr Interesse der Fassade der Grabeskirche und machten einen leicht enttäuschten oder zumindest zweifelnden Eindruck, als fragten sie sich im Stillen: Hier also soll Jesus Christus gestorben und auferstanden sein? Kaum zu glauben … Denn tatsächlich war die Kirche ihrem Äußeren nach eher wenig beeindruckend, ver-
glich man sie mit anderen religiösen Bauwerken. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen, Damen und Herren, dann zeige ich Ihnen, was als ›Herzstück des Christentums‹ gilt«, fuhr Shulamith fort, wiederum zweisprachig, und dabei wies sie einladend auf die kleine Pforte, die vom Kirchplatz ins Innere der Grabeskirche führte. Bewegung kam in die Gruppe, und wie Pilger strömten die etwa dreißig Menschen an der jungen Israelitin vorbei. Nur einer blieb zurück. Bewegungslos stand er einige Meter entfernt und blickte unverwandt auf Shulamith Gur. Dabei hielt er sich im Schatten der seitlich aufragenden Johanneskapelle, so daß sein Gesicht selbst über die geringe Distanz ein grauer Schemen blieb. Fast erweckte er den Anschein, nur Teil des Gemäuers zu sein, oder ein eigentümlicher Schattenwurf. Shulamith wollte ihn ansprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Sie schluckte hart, dann sagte sie, so leise, daß der andere es kaum würde verstehen können: »Wollen Sie nicht mitkommen?« Sie räusperte sich und ergänzte, eine Spur lauter: »Die Führung beginnt und –« Der Fremde blieb stumm, bewegte sich aber. Er hob die Hand und winkte die Studentin zu sich heran. Und sie konnte nicht anders, als seiner Aufforderung nachzukommen. Ohne bewußtes Zutun ging sie auf den anderen zu, beinahe wie ferngesteuert, und jeder Schritt ließ sie den Fremden deutlicher sehen, bis sie ihm schließlich Auge in Auge gegenüberstand, näher als es bei einer solchen, doch nur zufälligen Begegnung normal gewesen wäre. Sein kühler Atem streifte Shulamiths Gesicht und ließ sie neuerlich frösteln. Aber – es lag nicht allein an seinem Atem … Etwas Namenloses ging von ihm aus, griff wie mit kalten Händen nach ihr, berührte sie unentwegt … »Bitte«, flüsterte sie unbehaglich, »was –?« Der Fremde – trotzdem Shulamith ihm jetzt unmittelbar ins Gesicht sehen konnte, noch immer eine so düstere Erscheinung, als
würden lebende Schatten in jeder Linie seiner Züge nisten – verzog die Lippen; ein echtes Lächeln indes wurde nicht daraus, nur etwas, das die Studentin noch mehr schaudern ließ, so tiefgehend, daß sie meinte, Rauhreif müsse ihre Knochen umkrusten. »Was Sie für mich tun können?« fragte der andere auf Englisch. Shulamith nickte nur. »Sie könnten mich führen«, erwiderte der Fremde. Die junge Frau wies hinter sich. »Bitte, dann folgen Sie mir.« Der andere schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an eine Führung in – nun, sagen wir, etwas privaterem Rahmen, ein wenig intimer.« »Tut mir leid«, entgegnete Shulamith Gur. »Aber ich fürchte –« Sie gewann ein wenig von ihrer Selbstsicherheit zurück. Dieser Mann war nicht der erste, der mit einem solchen – oder einem ähnlichen – Ansinnen an sie herantrat. Und stets hatte ihr der Blick dieser Männer verraten, daß es ihnen nicht darum ging, die architektonischen und religiösen Sehenswürdigkeiten Jerusalems gezeigt zu bekommen; vielmehr schienen sie der Ansicht zu sein, daß junge Studentinnen noch ganz andere »Dienstleistungen« anzubieten bereit wären, um ihr Einkommen aufzubessern. Nun, solche Mädchen mochte es durchaus geben. Shulamith Gur indes zählte sich nicht dazu. So nötig hatte sie das Geld nun auch nicht … Sie lächelte, freundlich, höflich, unverbindlich, und sagte ohne echtes Bedauern: »Wenn Sie mich dann entschuldigen, ich muß zu meiner Gruppe –« Schon wollte sie sich umdrehen, wurde aber inmitten der Bewegung gestoppt, so abrupt, als habe eine Hand sie beim Arm gepackt. Und tatsächlich meinte sie eine solche Berührung zu spüren! Als sie jedoch entrüstet den Blick senkte, sah sie, daß dem nicht so war – und der Fremde stand noch in derselben Haltung wie in dem Moment, da sie sich von ihm abgewandt hatte. »Hören Sie –«, begann sie, wurde aber unterbrochen.
»Nein, Sie hören mir zu«, sagte der andere leidenschaftslos. Und sie tat es … »… es wird Ihr Schaden nicht sein«, schloß der Fremde. »Wie …«, fragte Shulamith stockend; sie fühlte sich wie betäubt, »… wie meinen Sie das?« Der andere zuckte vage die Schultern. »Nun, Sie brauchen sich um Ihren weiteren Lebensweg keine Sorgen mehr machen.« »Ich verstehe nicht …« »Sie werden verstehen, seien Sie sich dessen gewiß.« »Ich muß gehen«, sagte Shulamith lahm und trat zwei, drei unbeholfene Schritte nach hinten. Der andere nickte. »Ich erwarte Sie dann hier.« »Ja, ist gut«, erwiderte die junge Frau. Je weiter sie sich von dem Fremden entfernte, desto sicherer wurden ihre Bewegungen. Dennoch entkam sie ihm – oder vielmehr dem, was ihn unsichtbar umgab – nicht völlig, und sie wußte, daß sich daran nichts ändern würde, ganz gleich, wie groß die Distanz zwischen ihnen auch sein würde. Als sie die Pforte der Grabeskirche schon erreicht hatte, wandte sich Shulamith Gur noch einmal um und rief: »In einer Stunde also, Mister …?« Der Mann in den Schatten lächelte verzeihungsheischend. »Oh, wie unhöflich von mir, mich Ihnen nicht vorzustellen.« Er deutete eine knappe Verbeugung an. »Mein Name ist Landers«, sagte er, »Hector Landers.«
* Die Zahl der Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte die Räume und Hallen der Grabeskirche durchstreift hatten, war heute nicht einmal mehr zu schätzen. Was sie empfunden hatten, schien jedoch noch immer allgegenwärtig, als habe jeder einzelne von ihnen etwas
zurückgelassen, das in die Mauern, in Decken und Boden gedrungen war, um auf ewig bewahrt zu sein: Jeder Stein hier schien Demut zu atmen, Ergriffenheit und Trauer, aber auch das Gefühl kaum näher zu bestimmender Befreiung, Erlösung vielleicht in ihrer reinsten Form. Hätte jemand gehört oder gar gesehen, was zu dieser Stunde nun in der heiligen Stätte geschah, würde ihn etwas gänzlich anderes überkommen haben: namenloses Entsetzen, Abscheu und Ekel! Aber niemand war zugegen, um Zeuge des blasphemischen Aktes zu werden, und der Ort, an dem es geschah, lag zudem so verborgen, daß kein Pilger ihn je gesehen hatte und sehen würde. Ein schwaches Echo dessen, was da tief im Hügel Golgatha vorging, wehte aber durch die Grabeskirche, als sängen Geister in schauerlichem Chor … In Landrus Ohren indes war es wirkliche Musik, was er Shulamith Gur an Tönen entlockte, ja, gleichsam austrieb! Nachdem die Grabeskirche für Besucher geschlossen worden war, hatte er sich von der schönen Führerin in die geheimen Tiefen des Bauwerks geleiten lassen. Freilich hätte er den Weg hier herab auch alleine gefunden, und keine Pforte wäre ihm verschlossen geblieben. In solcher Gesellschaft, wie die schöne Israelitin sie ihm bieten konnte, war es jedoch vielfach angenehmer. Und überdies vermochte Landru damit noch sein Bedürfnis zu stillen, lange Vermißtes und Versäumtes endlich nachzuholen – denn tatsächlich war ihm, als hätte er auf Sinnesfreuden solcher Art viel zu lange schon verzichten müssen … … wie sich sein Leben überhaupt grundlegend geändert hatte, seit er ihm begegnet war! Ihm, jenem Knaben, der alles andere denn ein Kind war. Ihm, der eines nur sein konnte – der Leibhaftige selbst, das fleischgewordene Böse! Landru stand bei ihm im Wort, hatte sich dem teuflischen Knaben
in die Hand gegeben – aber sein Los hätte schlimmer sein können … Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Lippen des Vampirs, derweil er nicht nachließ, wieder und wieder in Shulamiths Schoß zu dringen. Im Auftrage Satans sozusagen war Landru nach Jerusalem gereist, mit fest umrissener Aufgabe, die da schlicht hieß: Sieg oder stirb! Doch dafür würde später noch Zeit sein. Zunächst verfolgte Landru noch eigene Pläne – oder eigentlich: Er wollte seine Neugierde stillen. Wollte wissen, was aus der Saat geworden war, die er vor über drei Jahrhunderten in Jerusalem ausgebracht hatte. Ob sie überhaupt gereift war und heute noch in Blüte stand, nachdem ihm die Dinge damals derart aus den Händen geglitten waren … Wagemut hatte ihn seinerzeit, da er noch der Hüter des Lilienkelchs gewesen war, nach Jerusalem geführt – der Wunsch, zu schaffen, was niemandem vor ihm gelungen war: eine Vampirsippe zu begründen im verhaßten Heiligen Land, um auch diesen Flecken Erde endlich unter die Herrschaft der Alten Rasse zu stellen! Er hatte der Herausforderung die Stirn geboten – – und im nachhinein erkennen müssen, daß doch nur Leichtsinn ihn getrieben hatte. Damals …
* … im Jahre 1666 Seit annähernd einem Jahrtausend war Landru unterwegs als Reisender in Sachen Leben und Tod. Als Verwalter des Grals der Alten Rasse hatte er in dieser Zeit jeden Landstrich der Erde heimgesucht und dem vampirischen Geschlecht zum Wohle gewirkt. Indem er bestehende Sippen macht des Lilienkelches aufgeforstet oder gar neue begründet hatte, wenn der Mensch seinen Fuß erstmals auf bis dato unentdecktes Gebiet setzte oder Städte in solchem Maße wuch-
sen, daß ihr Einfluß auf das Weltgeschehen Bedeutung erlangte. Jerusalem und das Heilige Land aber hatte der Hüter stets gemieden. Als vergiftet galt es den Vampiren, seit der Messias der Christenheit dort gewandelt war und gewirkt hatte. Den Verhaßten hießen sie den, der am Kreuz zur Erlösung der Menschheit gestorben war. Und die bloße Erinnerung an ihn vergällte der Alten Rasse den Besitzanspruch auch auf dieses Land. Landru jedenfalls, seinerzeit noch unerkannt in der Maske des Kelchhüters reisend, hatte Jerusalem nie betreten. Wohl aber kannte er einen, der geradezu besessen war von der Idee, sich in der heiligen Stadt niederzulassen – der Jemenit Saduk, seines Zeichens Oberhaupt der Sippe Shibams. Mitsamt seines Stammes wollte er gen Jerusalem ziehen und es für die Alte Rasse erobern. Und er tat es. Mit verheerenden Folgen … Nicht aus eigener Anschauung, wohl aber aus zweiter und dritter Hand erfuhr Landru, was aus Saduk und dessen Gefolgschaft geworden war auf dem heiligen Grund und Boden, stets umgeben von den Zeugnissen der Christenheit und umweht vom Odem ihres Glaubens. Entartet war Saduk, zu einer Kreatur war er geworden, die nur noch Schande bedeutete für die Alte Rasse und ihr kaum mehr zugerechnet werden durfte, weil sie den Kodex und alle vampirische Tradition und Werte mit Füßen getreten hatte! Er hatte seine Kinder getötet und war schließlich dem Wahnsinn verfallen, bis ihn Salena von seinem erbärmlichen Schicksal erlöst hatte. Salena … Sie war eine Tochter Saduks gewesen, von seinem Blute, und er hatte sie für eine ganz besondere Aufgabe ausersehen gehabt: Sie sollte einer weiteren Idee Saduks nachspüren – und den Messias der Vampire ausfindig machen! Der Jemenit war nämlich davon überzeugt, daß auch der Alten
Rasse einst ein solcher geboren werden würde; man müßte ihn nur erkennen. Und zu diesem Zwecke sandte er Salena aus. Landru hatte den Gedanken anfangs für puren Aberwitz gehalten. Im Laufe der Zeit jedoch hatte er sich davon regelrecht anstecken lassen, und schließlich hatte er mit fast gleichem Feuereifer jenes Kind gesucht, das der Alten Rasse zum Messias, zum Erlöser werden könnte. Ohne es indes je zu finden. Und auch Salena war ihm nie begegnet. Daß Landru die Vampirin dennoch nie gänzlich aus seiner Erinnerung verloren hatte, lag daran, daß ihre Wege sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gekreuzt hatten. Als habe das Schicksal sie auf geheimnisvolle Weise aneinander geschmiedet, mit unsichtbaren Ketten, die zwar locker saßen, aber doch nicht ganz zu lösen waren – – bis Landru sie schließlich in Tokio, das damals noch Edo hieß, tötete! Dies aber war eine andere Geschichte …* Die früheren Ereignisse um Salena und Saduk jedoch mochten das letztlich auslösende Moment dafür sein, daß Landru die heilige Stadt doch noch für die Alte Rasse in Besitz nehmen wollte. Es durfte nichts geben, vor dem er zurückschreckte, und es mußte ihm, dem Mächtigsten der Vampire, doch möglich sein zu vollbringen, woran andere vor ihm gescheitert waren! Der Hüter faßte einen Plan und traf umfangreiche Vorbereitungen für seinen ganz persönlichen Kreuzzug gegen Jerusalem. Er sandte Kundschafter aus, Dienerkreaturen ebenso wie auserwählte Vampire, die das Terrain für ihn sondierten, derweil er seinen Pflichten als Gralshüter nachkam. Es kehrten nicht alle zurück, um ihm zu berichten; die wenigen jedoch, die es schafften, Jerusalem mit heiler Haut zu entfliehen, hatten Beunruhigendes zu vermelden: Ihren Worten zufolge nämlich war die heilige Stadt schon besetzt von einer Macht, die mit keiner menschlichen Religion vereinbar war! Jemand herrschte dort bereits im Geheimen und schütz*siehe VAMPIRA H36: »Der Geist der Vampirin«
te Jerusalem vor jedweder widernatürlicher Einflußnahme! Und die Möglichkeiten jener mysteriösen »Schutzengel« schienen jedes menschenmögliche Maß zu übertreffen … Landrus Gelüste auf die heilige Stadt ließen ob dieser Erkenntnis nicht nach; im Gegenteil wuchsen sie noch! Denn niemand durfte sich anmaßen, der Macht der Alten Rasse trotzen zu wollen. Bald schon hatte er mittels weiterer Spione in Erfahrung gebracht, mit welcher Art von Widerstand er es da zu tun hatte: Eine Gruppe von Menschen hatte sich in Jerusalem eingenistet, und sie hatten sich offenbar die Kraft der Übernatur zunutze gemacht. Aber letztlich handelte es sich doch nur um Menschen, die sich der Macht des Lilienkelches würden beugen müssen! Und so brach der Hüter des Grals im unseligen Jahre 1666 endlich höchstselbst auf ins Heilige Land – um es sich Untertan zu machen.
* Das Heilige Land war zu jener Zeit geradezu Nährboden für Sekten, Glaubensgemeinschaften und geheime Bünde. Ihre Zahl war kaum zu übersehen, ihre Ziele mitunter undurchsichtig, und manche vergingen so rasch wie sie entstanden waren. Einige aber überdauerten, und es waren nicht zwingend jene, die sich in der Öffentlichkeit besonders hervortaten, um neue Anhänger um sich zu scharen. Über jene Gruppe etwas herauszufinden, derentwegen Landru nach Jerusalem gekommen war, erwies sich als schwierig, beinahe schon unmöglich. Zwar wußten einige um ihre Existenz und manche auch um ihr Wesen, den Weg dorthin allerdings kannte kaum jemand. Indes gab es kein Wissen in menschlichen Hirnen, das dem Hüter des Kelches verschlossen geblieben wäre. Nachdem er um die Macht des Gegners wußte, schirmte Landru sich mittels Kelchmagie gegen vorzeitige Entdeckung ab. Dies nämlich schien die besondere Stärke
jenes Bundes zu sein: stets zu wissen, wenn jemand seinen Fuß nach Jerusalem setzte, der nicht – oder nicht mehr – Mensch war. Wie das zuging, hatte der Hüter seiner Quelle nicht entnehmen können, bevor der Tod sie versiegen ließ. Niemand schien je ins Zentrum jener Gruppe vorgestoßen zu sein oder gar ihre eigensten Geheimnisse gelüftet zu haben; niemand jedenfalls, der noch davon erzählen könnte … Was vor seiner Ankunft in Jerusalem kaum mehr als eine Idee gewesen war, festigte sich nun in Landru zur Überzeugung: Wenn er die heilige Stadt entweihen und unter vampirische Herrschaft stellen wollte, mußte er ungewöhnliche Wege beschreiten. Und er wußte jetzt, wohin dieser andere Weg ihn führen würde – denn er hatte seine Keimzelle für die hiesige Sippe gefunden: Diesen geheimen Bund würde er mit seinem eigen Blut aus dem Lilienkelch taufen! Daß er damit ein unwägbares Risiko einging, dessen war Landru sich bewußt. Bislang waren mit dem Kelch nur Menschenkinder getauft worden, die nach dem schwarzen Trunk daraus gestorben und bar aller Menschlichkeit vom Tode auferstanden waren – als wahre Vampire. Nie zuvor hatte ein Erwachsener aus dem Gral getrunken. Aber besondere Ziele verlangten eben nach solchen Mitteln – und im Falle eines Mißlingens würde Landru sich nicht scheuen, die wie auch immer entartete Kelchbrut zu tilgen, kein Problem … … dachte er in jener Stunde noch. Kelchmagie war es schließlich, die ihm sein Ziel wies. Sie war nicht allein nutzbar, um vampirischen Nachwuchs zu zeugen, sondern ließ sich auch anders im Sinne des Hüters einsetzen, eröffnete ihm neue Horizonte und ließ Gedanken und Ideen wirklich geschehen. So also fand er endlich einen der Geheimbündler, einen jungen Spund, und vielleicht lag es gerade an seiner Jugend, daß Landru ihn mittels des Kelches ausfindig machen konnte. Der offenbar noch
unerfahrene Bursche trug seine besondere Aura ganz offen mit sich herum wie andere Leute ihr Gepäck, und so vermochte Landrus Magie ihn zu orten. In einer Herberge für Pilger aus aller Herren Länder begegnete er ihm, ohne daß der andere Landru als das erkannt hätte, was er wirklich war.* Das Augenmerk des Bürschleins galt ganz und gar einer Frau, auf die er einsprach, als wolle er mit ihr anbandeln – und irgend etwas an dieser Frau irritierte Landru auf eine Weise, die er zu jener Zeit nicht verstehen konnte … … denn daß er es mit Beth MacKinsey, damals Elisabeth Stifter, zu tun hatte, wußte er natürlich nicht. Wie auch, lernte er Beth MacKinsey doch erst Jahrhunderte später kennen, als die sich mit dem Hurenbalg Lilith Eden zusammengetan hatte. Danach folgte er dem Jungen – Pascal mit Namen, wie Landru beim Belauschen seiner Unterhaltung mit der Fremden erfahren hatte – in der Hoffnung, daß der ihn zum Unterschlupf des mysteriösen Bundes führen würde. Was er letzten Endes auch tat – nachdem er mit Hilfe eines Kompagnons jene Frau in seine Gewalt gebracht hatte! Landru ging ihnen nach – und fand sich in den Überresten des vergangenen Jerusalems wider. Die Stadt war mehr als einmal zerstört worden, und stets hatte man auf ihren Trümmern neu gebaut, so daß im Laufe der Jahrhunderte beinahe etwas wie ein unterirdisches Reich entstanden war – geheime Katakomben und Gänge, die nicht so leer und verlassen waren, wie man in der Stadt darüber meinte, so man überhaupt etwas von deren Existenz wußte. Der Weg dorthin war beschwerlich, selbst für Landru. Immer wieder zwangen Trümmer oder eingestürzte Decken zu Umwegen, und manchmal kam man nur kriechend voran. Schließlich aber erreichten sie den geheimen Versammlungsort des Bundes, und Landru beobachtete aus sicherer Deckung, was weiter geschah. Offensichtlich hielt man die Gefangene für eine Bedrohung jener *siehe VAMPIRA T40: »Beth«
Art, gegen die zu stellen sich der Geheimbund zur Aufgabe gemacht hatte. Der Anführer der Gruppe, eine durchaus beeindruckende Gestalt, die von den anderen Remigius genannt wurde und von fast spürbarem Fanatismus beseelt war, gab den Befehl, die Frau zu töten – und die Weise, in der es getan werden sollte, ließ selbst Landru schaudern: die Männer richteten armstarke Pflöcke gegen das Weib, um sie zu pfählen! Wie eine – Vampirin? Das aber war sie ganz gewiß nicht! Denn das zumindest hätte Landru gewußt und gespürt, mit jeder Faser seines Wesens. Der junge Bursche, der Landru unwissentlich hergeführt hatte, ergriff überraschend Partei für die Gefangene. Er sprach von einem Orakel und davon, daß es womöglich nicht auf sie, sondern auf eine andere »schwarzblütige Kreatur« hingewiesen haben könnte. Der Führer des Bundes wies den Einwand als Unsinn ab – und Landru sah seinen Auftritt gekommen! »Nein, nein«, ließ er sich vernehmen und gab sein Versteck auf, »euer junger Freund liegt ganz richtig mit seiner Annahme.« Einer kurzer Disput entspann sich zwischen jenem Remigius und Landru, in dem der Hüter nicht verhehlte, was seine Absicht war. Woraufhin der Anführer seinen Mannen befahl, ihn anzugreifen und zu töten. Des ersten Gegners erwehrte sich Landru noch mit Leichtigkeit, indem er ihm mit dem Kelch kurzerhand den Schädel einschlug. Die anderen allerdings bereiteten ihm Mühe, und dies nicht nur ihrer Überzahl wegen – – denn sie kämpften mit mehr als bloßer Muskelkraft! Die Hände des einen schienen Landru von solch glühender Hitze, daß sie sich ihm ins Fleisch brannten; ein anderer vermochte ihn straucheln zu lassen, ohne ihn auch nur anfassen zu müssen. Und ein dritter ließ Bilder entstehen, die nicht wirklich waren, aber doch so echt schienen, daß Landru kaum mehr zwischen wahrer und falscher Bedrohung zu unterscheiden vermochte.
Nur eines erkannte er mit geradezu grausam klarer Sicht – er war ein Narr gewesen, nach Jerusalem zu kommen und sich dieser Herausforderung zu stellen, solchen Gegnern, deren Kraft mit vampirischer nicht beizukommen war! Und derweil unterlag er ihnen schon … Der Junge, dem Landru zuvor noch überheblich Unerfahrenheit bescheinigt hatte, hob den Pflock, um ihn dem Hüter ins schwarze Herz zu stoßen! So also sollte es enden – verreckt im finsteren Gedärm Jerusalems, das besser nie ein Vampir betreten hätte. Aus gutem Grund, wie Landru in dieser Sekunde erkannte – viel zu spät jedoch, denn es würde die letzte eines vieltausendjährigen Lebens sein. Landru verabscheute sich selbst dafür, daß er dem Tod nicht ins Angesicht zu schauen imstande war – dafür, daß er die Augen vor dem Ende fest verschloß … … und so nicht mitbekam, was weiter geschah. Worte hörte er noch, ohne zu wissen, wer sie sprach, und auch ihr wahrer Sinn blieb ihm verborgen. »Ich wünsche mir, daß ihr alle einschlaft.« Dunkelheit, anders als jene, mit der seine Lider ihm den Blick verhüllten, senkte sich über Landru – und trug ihn fort, irgendwohin, wo es nichts gab außer Ruhe. Ist so der Tod? fragte er sich noch, ehe auch sein allerletzter Gedanke sich in Nichts auflöste. Dann mag er mir willkommen sein … Denn nie zuvor hatte Landru sich wohler gefühlt als jetzt, da ihm alle Sinne versagten. Nicht der Tod hatte den Kelchhüter ereilt, nur Schlaf war über ihn gekommen, tief und traumlos und scheint’s ewig lang. Dennoch fühlte Landru sich nicht frisch und ausgeruht, als er daraus erwachte. Dieser mysteriöse Schlaf schien seine Geister nicht erquickt, sondern eher gelähmt und an ihnen gezehrt zu haben.
Geradezu friedliche Ruhe herrschte um ihn her. Tiefrotes Licht von herabgebrannten Fackeln durchwob die Düsternis des unterirdischen Gewölbes, in dem Landru sich noch immer befand – er ebenso wie die anderen. Remigius und seine Getreuen waren wie der Gralshüter in tiefen Schlummer gefallen – und sie schliefen noch. Tief in Landru zündete etwas wie ein Funke, und sengend fraß er sich entlang seiner Nerven, vitalisierte ihn von neuem, mobilisierte frische Kraft, als würde sie aus verborgenen Quellen geschöpft. Der Zeitpunkt würde nie günstiger sein, um zu tun, weswegen Landru nach Jerusalem gekommen war. Und Rachedurst war ihm zusätzlicher Antrieb. Er erhob sich, mühsam und ächzend, aber mit jeder Bewegung, die er sich abrang, fühlte er sich besser. Sein übermenschlicher Wille ignorierte die Lähmung seines Fleisches, und als er den Lilienkelch, der ihm im Kampf entfallen war, endlich wieder in Händen hielt, hatte er die Nachwirkungen jenes todesähnlichen Schlafes vollends bezwungen. Wie ein Kriegsherr, der das Schlachtfeld abschreitet, um sich am Anblick der Gefallenen zu weiden, ging Landru zwischen den Schlafenden einher. Jedem einzelnen widmete er einen Augenblick seiner Aufmerksamkeit, ohne etwas entdecken zu können, das diese Männer von anderen unterschied, das Aufschluß gegeben hätte über die besondere Art, von der sie ohne jeden Zweifel waren – Landru hatte es buchstäblich am eigenen Leibe erfahren … Jetzt aber, da sie wie tot vor ihm lagen und nur ihr Atem die Stille störte, konnten sie ihm nicht gefährlich sein. Um so schneller galt es für den Hüter, zu handeln. Vor Remigius blieb er schließlich stehen. Langsam beugte er sich zu dem Anführer dieses seltsamen Bundes hinab. Mit beinahe schon wissenschaftlichem Interesse studierte Landru die Züge des anderen, doch auch darin fand er nichts Besonderes. Hager war Remigi-
us’ Antlitz, fast schon wie von Askese gezeichnet, wie sein ganzer Körper überhaupt. Mager indes war er nicht, sondern kräftig in einer Art, die sich nicht in schwellenden Muskeln und breiten Schultern äußerte. Landru grinste abseitig. Remigius würde einen perfekten Vampir abgeben. Und als der geborene Führer hatte er sich ohnedies schon erwiesen … Der Hüter hob den Kelch, drehte ihn in Händen und maß ihn mit Blicken, als erwarte er ein wie auch immer geartetes Zeichen dafür, daß er mit dem Taufritual beginnen konnte – das sein würde wie kein anderes zuvor in der Historie der Alten Rasse. Denn zum ersten Mal war der Täufling kein Kind. Welchen Verlauf mußte ein solches Abweichen von der blutigen Tradition haben? Landrus Züge verkanteten in Entschlossenheit, nur ein Nerv zuckte noch unterhalb seines Auges, als sei es ein Zeichen so tiefliegender Unsicherheit, daß er sich ihrer selbst nicht bewußt war. Tief sog der Hüter den Atem ein, hielt ihn an und ließ ihn dann ebenso langsam ausströmen. Er würde es tun – und er würde es jetzt tun! Beinahe wütend stieß er sich den rechten Zeigefingernagel, der binnen einer Sekunde zur Kralle sproß, ins linke Handgelenk. Wie in einem Akt der Selbstgeißelung öffnete er die Wunde weiter, als es vonnöten gewesen wäre. Blut quoll hervor und rann ihm schwarz und kalt über die Finger und schließlich die ganze Hand. Ohne sonderliche Eile hielt er den Kelch unter das verletzte Gelenk und dirigierte den zähen Fluß in dessen Öffnung. Bis etwa zur Hälfte füllte er das Gefäß. Dann ließ er seine Heilkraft ihre Wirkung tun und die Wunde schließen. Die freie Hand schob er unter Remigius’ Hinterkopf, hob ihn an und setzte ihm mit der anderen den Kelch an die schlaffen Lippen.
Dann kippte er den Gral, dessen Magie ihn just in diesem Augenblick in düsterrotem Glanz erstrahlen ließ, wie zum Zeichen ihrer Wirksamkeit. Ein Gutteil des Hüterblutes lief Remigius über Kinn und Hals und versickerte in seinem Gewand. Den Rest aber schluckte er im Schlaf reflexhaft, hustend und würgend zwar, aber ohne davon zu erwachen. Statt dessen – Landru regte sich nicht, beobachtete gespannt und atemlos. – nahm Schlafes Bruder Remigius in sein Reich! Der Tod holte ihn zu sich, und sein sinnloses Ringen mit dem Schnitter fesselte Landru mehr als jeder wirkliche Kampf, dessen Zeuge er je geworden war oder den er selbst in tausend Jahren gefochten hatte. Wie eine Marionette eines wahnsinnig-virtuosen Spielers zuckte und zappelte Remigius, ohne die Augen zu öffnen. Ein metallenes Klimpern und Klappern untermalte seinen bizarren Tanz mit dem Tode, und Landru sah, daß es aus einem ledernen Beutel drang, den Remigius am Gürtel trug. Ziellos schlug er um sich wie nach unsichtbaren Gegnern. Er ächzte und stöhnte, schrie schließlich, bis ihm Krämpfe jeden Laut abwürgten. Blaustich färbte seine bleiche Haut, als die Atemnot unerträglich – – und endlich tödlich wurde. Ein fast tonloses Seufzen wehte ihm noch von den Lippen, während er kraftlos zurückfiel und schwer aufschlug. Dann lag er still. Unbewußt ballte Landru die Linke zur Faust und schloß die Finger der Rechten so hart um den Kelch, daß seine Knöchel knackten. Gebannt hing sein Blick an Remigius’ Gesicht. Jetzt mußte es sich entscheiden … Versagte die Macht des Kelches, wenn der Täufling kein Kind mehr war? Oder konnte sie auch einen Erwachsenen dem Tod entreißen und als Vampir ins Leben zurückkehren lassen? Minuten vergingen, in denen nichts geschah, von den ruhigen
Atemzügen der schlafenden Männer ringsum abgesehen. Landrus Augen brannten längst, so intensiv stierte er den Toten an, ohne auch nur zu blinzeln. Er fühlte sich wie von Fieber erfaßt, erregt und grabeskalt in einem. Und dann – – ließ dieses Fieber nach. Als nichts sich veränderte, obschon Minuten sich längst zu einer halben Stunde oder gar mehr gereiht hatten. Landru fühlte die Anspannung in sich vergehen. Als fließe ihm die Kraft aus den Gliedern, sanken seine Schultern herab. Enttäuscht erhob er sich – enttäuscht und wütend. Die Enttäuschung würde sich im Laufe der Zeit verlieren. Die Wut indes konnte er gleich hier ablassen! Sein zornglühender Blick wanderte über die Gestalten der Schlafenden. Keiner von ihnen sollte je mehr die Augen aufschlagen. Jeder sollte dafür büßen, daß sie die Hand und mehr gegen ihn, den Mächtigsten der Alten Rasse, erhoben hatten. Mit dem Tod würde er sie strafen! Schon ging er neben dem ersten in die Knie, grub die Hand in dessen Schopf und bog ihm den Kopf zurück, bis die Haut am Hals sich spannte, straff wie ein Trommelfell. Wie das Herz eines Vogels pochte die Schlagader darunter – und gleich würde sie sprudeln, köstlich und munter wie Quellwasser aus einer Felsspalte. Landru fletschte die Zähne. Beugte den Kopf hinab und – – erstarrte … »Laß die Zähne von ihm, verdammter Blutsauger! Genügt dir nicht, was du mir angetan hast?«
* »Was –?« Landru sprang auf und fuhr noch in der Bewegung herum. Ungläubiges Staunen hatte allen Zorn aus seinen Zügen vertrie-
ben. Hinter ihm stand – Remigius, auferstanden von den Toten. Als Vampir? Wie aber konnte es dann angehen, daß – »Du«, setzte der Hüter an, zögernd vor Zweifel, »erinnerst dich an – dein Leben?« Das konnte nicht sein! Wer durch den Kelchtrunk starb und mit geschwärztem Blut zu neuem Leben erwachte, der wußte nicht länger, was zuvor gewesen war. Bei Kindern jedenfalls war das so … Remigius nickte, und Landru stand atemlos starr. Mit einer solchen Entwicklung hatte er nicht gerechnet – nicht rechnen können! Und was sie bedeuten, welchen weiteren Verlauf sie nehmen würde, war nicht abzusehen. »Bei den Hohen«, entfuhr es ihm keuchend, »das kann nicht sein …« »So ist es aber«, entgegnete Remigius. »Ich werde nie sein wie du und deinesgleichen.« Des Hüters Blut, im Gral zu einzigartigem Elixier geworden, hatte ihn nicht nur zum Vampir gemacht – es hatte ihm auch alles Wissen vermittelt, dessen er in seinem neuen Leben bedurfte. Und so war ihm auch bekannt, wie die Kelchtaufe für gewöhnlich ablief und mit welchen Folgen. Er, Remigius, konnte keine Dankbarkeit empfinden für dieses Geschenk, das ihn über jeden Normalsterblichen erhob. Für ihn war der Raub seiner Menschlichkeit ein Fluch, und so würde es bleiben – gerade für ihn, der doch ohnedies … »Du wirst dich nicht dagegen wehren können«, behauptete Landru. »Der Keim in deinen Adern ist von unwiderstehlicher Macht, und du wirst dich vom Blute der Menschen nähren müssen, weil du nicht zulassen kannst, daß der Durst dich umbringt.« »Ich werde Wege und Mittel finden –«, meinte Remigius, und seine Überzeugung schien unerschütterlich und echt. Vielleicht war dies seine Art, sich dem wirklichen Begreifen seines grausamen Schicksals zu verweigern.
»Niemals!« beharrte der Hüter, den anderen nicht aus dem Blick lassend. Einen winzigen Moment lang spielte er ganz ernsthaft mit dem Gedanken, Remigius einen Gefallen zu tun und ihn zu töten. Nur um mögliches Unheil, das der Alten Rasse durch diesen abnormen Vampir entstehen könnte, abzuwenden. Dann verwarf er die Idee. Zum einen verbat ihm der Kodex, einen seines Volkes zu töten, und zum anderen – es mochte ganz interessant sein zu sehen, was aus Remigius wurde, wie er mit seinem bitteren Los zurechtkam … … und vielleicht nicht nur er allein? Landru fand zu alter Sicherheit zurück und grinste diabolisch. Dabei wies er mit gönnerhafter Geste über die schlafenden Männer. »Ich werde sie dir noch zu deinen Kindern machen, ehe ich mich verabschiede.« »Das wirst du nicht!« rief Remigius. »Wer wollte mich daran hindern?« Landru lachte gehässig. »Du etwa?« »Vielleicht«, erwiderte Remigius, »könnte ich das sogar.« Wieder schwang tiefe Überzeugung in seinem Tonfall mit, so spürbar, daß Landru sich gleichsam davon infiziert fühlte. Und gegen seinen Willen nickte er und sagte sinnierend: »Ja, vielleicht könntest du das sogar …« Erschrocken ob seiner Zustimmung durchlief ihn ein Ruck, und rasch ergänzte er: »Aber das solltest du nicht tun.« »Weshalb nicht?« »Weil sie«, Landru wies von neuem in die reglose Runde, »versuchen werden, dich zu töten, sobald sie erwachen und dein neues Wesen erkennen.« »Es möge ihnen gelingen«, erwiderte Remigius. »Um so eher endet mein elendes Dasein als einer von deiner unseligen Art.« Landru schüttelte den Kopf, mitleidig wie einem kleinen Kind gegenüber, das nicht verstehen will.
»Du schätzt deine Lage und die Dinge grundfalsch ein«, erklärte er leutselig. »Du wirst nicht zulassen, daß sie dich töten. Du wirst dich ihnen nicht wehrlos ergeben. Weil es wider deine Natur wäre, und gegen sie wird dir aller Wille nicht helfen.« Er unterbrach sich kurz, während er wie ein dozierender Gelehrter ein paar Schritte hierhin und dorthin tat. Dann fuhr er fort, in drohendem Ton: »Du wirst gegen sie, die deine Brüder oder Getreuen waren, kämpfen! Weil dein schwarzes Blut dich dazu zwingen wird! Oh, es mag sein, daß du ihnen dennoch unterliegen wirst – wahrscheinlich sogar wird euer Kampf ein solches Ende nehmen. Aber –«, Landru nahm den anderen fest ins Visier und fixierte ihn, »– du wirst wenigstens einige von ihnen mitnehmen in den Tod! Ist es das, was du willst? Daß sie mit ihrem Leben bezahlen müssen für deine – Erlösung?« Das letzte Wort spie er Remigius schier vor die Füße. Und der senkte den Blick, betroffen und nachdenklich. Nach einer Weile schüttelte er dann wie benommen das Haupt. »Nein, das will ich nicht«, sagte er. »Das kann ich nicht. Ich würde nur … noch mehr Schuld auf mich laden, als ich es ohnedies schon getan habe. Nie würde ich ihre Last abtragen können, in hundert Leben nicht.« »Das sehe ich auch so.« Landru nickte, zufrieden lächelnd. »Würde mein Schwur mich nicht an die heilige Stadt binden, so könnte ich fliehen –« Remigius sprach leise wie im Selbstgespräch. »So aber –« Er hob mutlos die schmalen Schultern und ließ sie wieder sinken, als koste ihn momentan selbst diese Bewegung mehr Kraft, als er erübrigen konnte. »Welcher Schwur?« hakte Landru nach. »Und von welcher Art ist – oder eher wohl: war euer seltsamer Bund?« Mit dem Kinn wies er zum nächsten der schlafenden Männer hin. »Wir schützten Jerusalem vor deinesgleichen und anderem Geschmeiß, auf daß die heilige Stadt nicht dem Bösen anheimfiel.« »Eine Aufgabe, die ihr alles andere denn bravourös gemeistert
habt«, spottete Landru. »Wohl nirgends auf dieser Welt tränkte mehr Blut den Boden als im sogenannten Heiligen Land.« Remigius schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Nicht die Kriege der Menschen untereinander waren es, denen unser Kampf galt – wir stellten uns nur dem Feind, dem der Mensch allein nicht gewachsen ist –«, sein Lächeln vertiefte sich plötzlich,»– und wir werden es weiter tun. Mit neuer Kraft, die uns stärker sein lassen wird als zuvor.« Sein Blick fing sich am Lilienkelch in der Hand des Hüters. »Welch lächerliche Idee!« rief Landru. »Früher oder später werdet ihr euch der Erkenntnis beugen müssen, daß ihr nicht länger Menschen seid und anderen Zwängen zu gehorchen habt: Und glaube mir – ihr werdet es lieben, dieses Leben jenseits der Erbärmlichkeit eines menschlichen Daseins.« »Du irrst schon jetzt«, sagte Remigius ruhig und wies dann auf den Kelch. »Tu es endlich. Und dann geh!« »Allein für deine Anmaßung gönne ich dir das Mißgeschick deiner Taufe.« Ohne weiteres Wort trat Landru auf Remigius zu, ritzte ihm mit dem Fingernagel – absichtlich ungeschickt und schmerzhaft – die Pulsader und fing das nun ebenfalls schwarze Blut im Gral auf. Diesmal füllte er ihn bis zum Rand. Schweigend wandte er sich dann um, ging zum ersten der insgesamt vier Männer hin und neben ihm in die Knie. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr die Männer sich voneinander unterschieden: im Alter – der jüngste konnte kaum Zwanzig sein, der älteste mußte die Fünfzig bereits überschritten haben – sowie in der Charakteristik ihrer Züge. Offensichtlich kamen sie aus verschiedenen Ländern, und nur die Heimat des ältesten unter ihnen glaubte Landru erraten zu können: der dunkle Teint, das schwarze, von einzelnen Silberfäden durchwirkte Haar legte nahe, daß er dem Orient entstammte.
Ein wahrhaft seltener Trupp, dem er hier begegnet war … Er schüttelte kurz den Kopf, als müsse er die müßigen Gedanken so vertreiben, dann flößte er dem Mann vor ihm den schwarzen Trunk ein. Der schluckte ihn mühsam, zugleich aber schien es, als wolle er keinen Tropfen missen, so gierig lechzten seine Lippen und Zunge danach. Sein Todeskampf ähnelte dem Remigius’ … … und nicht anders war es bei den weiteren dreien. Landru erhob sich nach vollbrachtem Werk und harrte nun der Früchte seines Tuns. Remigius stand schweigend abseits. Erst als der jüngste seiner Leute, Pascal, sich zu regen begann und schließlich die Augen aufschlug, trat er zu Landru. Leise, fast lautlos, nur das Metall in seinem Gürtelbeutel klimperte sachte. Derweil richtete sich Pascal auf, erhob sich jedoch nicht ganz, sondern blieb auf den Knien. Vollkommene Entgeisterung und Fassungslosigkeit ließen den Blick seiner strahlend blauen Augen flackern, dann rannen ihm zwei einsame Tränen über die Wangen. Mit stillem Bedauern sah Remigius auf ihn hinab. Wie schlimm mochte die Erkenntnis um sein neues »Leben« diesen Jungen erst treffen, kam er selbst doch kaum damit zurande, obwohl sein bisheriges Leben schon Grund zum Verzweifeln gewesen wäre … Im Abstand weniger Minuten kam auch in die drei anderen Männer Bewegung. Geschwärztes Blut geriet in Fluß und trieb die Steife des Todes aus ihren Gliedern. Remigius nickte und wandte sich an den Hüter des Grals. »Und nun«, sagte er und streckte verlangend die Hand aus, »gib mir deinen verfluchten Kelch!«
* Ein Laut entwich Landrus Lippen, der sich irgendwo auf halbem
Wege zwischen Zornesruf und Lachen verirrte. »Bist du vollkommen närrisch geworden?« brauste er dann auf. »Hat die Taufe dir nicht nur das Blut geschwärzt, sondern den Verstand noch obendrein? Mir scheint, du weißt noch immer nicht, wem du gegenüberstehst –« »Doch«, unterbrach ihn Remigius, »das weiß ich nur zu gut: Der Wurzel des vampirischen Übels stehe ich gegenüber. Und ich werde sie ausreißen! Dies wird meine erste Tat wider die Alte Rasse sein – aber bei Gott nicht die letzte!« Der Name des Herrn schien ihm die Lippen verbrennen zu wollen; schmerzgepeinigt verzog Remigius das Gesicht. Aber nichts weiter geschah. Er lächelte, weil er sich auf dem rechten Weg wußte. »Wie kannst du es wagen, Seinen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen?« Landrus Stimme troff vor Ekel und Haß. »Den Lilienkelch«, verlangte Remigius ungerührt. »Gib ihn mir, oder –« »Oder?« hakte Landru nach, als der andere nicht weitersprach. »– oder wir nehmen ihn dir ab!« Stiller Triumph ließ seine Augen glänzen. Sein Blick ging an Landru vorüber. Der Hüter wandte sich um und sah, was Remigius schon entdeckt hatte: Seine Getreuen hatten sich allesamt vom Tode erhoben. Und ihre Mienen ließen keinen Zweifel daran, daß sie nicht zögern würden, über den herzufallen, der ihnen dieses andere Leben angetan hatte. Denn auch sie hatten offensichtlich nicht vergessen, daß sie eben noch Menschen gewesen waren, und sie empfanden ihr vampirisches Dasein schon jetzt, da es kaum begonnen hatte, nur als übelsten Fluch. Augenblicklich wich Landru zurück, löste sich aus dem lockeren Kreis, den die Männer um ihn gezogen hatten. Den Kelch barg er an seiner Brust, als könnte dieser Schutz genügen. »Ihr bekommt ihn nicht – es sei denn über meine Leiche!« knurrte er wölfisch.
»Daran soll es nicht scheitern«, erwiderte Remigius schlicht. Und nickte. Seine Getreuen, nunmehr Kinder seines Blutes, verstanden das Zeichen. Sie griffen an! Doch sie stürzten sich nicht blindwütig auf den Hüter. Wie bei ihrer vorherigen Auseinandersetzung nutzten sie ihre besonderen Talente, traktierten ihn, ohne Hand an ihn legen zu müssen, versengten ihm die Haut, ohne sie zu berühren, und narrten seine Augen mit Trugbildern. Landru indes wollte ihnen mit nackter Gewalt begegnen. Er zwang seinen Leib kraft seines Geistes in die Metamorphose zum Wolf – aber er kam nicht dazu, die Gestalt vollends zu wechseln … Inmitten der Verwandlung versagte ihm die Kraft, und er schlug zu Boden als furchtbare Karikatur eines Wolfsmenschen, weder ganz das eine noch das andere. Ein ebenso erbärmliches wie widerwärtiges Bild bot er seinen Gegnern. Noch immer grausam klar bei Sinnen, spürte er, wie ihm etwas in die Brust drang; hineinkroch, einer totenkalten Hand gleich, die ihre Finger wie Spinnenbeine nutzte, um voranzukommen – ehe sie sich quälend langsam um Landrus schwarzes Herz schlossen. Ihre Kälte senkte sich wie eisige Nadeln tief in das angestrengt pumpende Organ und lähmte seine Kraft – fror es gleichsam ein, bis sein Schlag schließlich angehalten war wie das Rädchenwerk einer Uhr! Der Hüter lebte. Wie lange noch? Entsetzen fraß sich brennend durch sein Adernetz – oder war es schon der Tod? Er wußte nicht, wie lange das Herz eines Vampirs stillstehen konnte, ehe das Ende kam. Aber er fürchtete, daß er die Antwort darauf bald schon erfahren würde – viel zu bald! »Den Kelch.« Remigius Stimme tropfte wie heißes Wachs auf ihn hernieder. »Gib ihn her. Und dann geh! Wirst du das tun?« Landrus verkrampfter Griff löste sich vom Kelch. Mit einem dumpfen Laut schlug der Gral zu Boden. Der Vampir brachte etwas
wie Nicken zustande. »Pascal«, wandte Remigius sich an den jüngsten seiner Söhne, »ist es ihm ernst? Ist es die Wahrheit?« Pascal sah auf Landru hinab, schien dessen Miene mit Blicken zu sezieren, dann nickte er. »Er lügt nicht. Sein verfluchtes Leben ist ihm mehr wert als der Lilienkelch.« Dies also schien die Gabe des jungen Burschen zu sein, oder wenigstens ein Teil davon: die Fähigkeit, Wahrheit und Lüge intuitiv voneinander zu unterscheiden. »Wahrlich, ein stolzer Hüter«, meinte Remigius verächtlich. »Eine Schande bist du für die Macht, die dir den Auftrag gab, den Gral zu verwalten.« Er bückte sich, um den Kelch aufzunehmen. Als er ihn in beiden Händen hielt, betrachtete er ihn von allen Seiten, interessiert zwar, aber ohne jegliche Ehrfurcht. »Ich frage mich, was geschehen würde –« Er hielt inne. Ein unheimliches Lächeln spielte um seine blassen Lippen. Gedankenverloren berührte er das unscheinbare Säckchen an seinem Gürtel und ließ das Metall darin klimpern, als könne es ihm Rat geben. Landru raffte sich derweil stöhnend auf. Der eisige Griff um sein Herz hatte sich gelöst. Sturmfluten gleich brauste schwarzes Blut durch seine Adern, schmerzhaft und mit solcher Wucht, daß ihm schwindelte. »Was?« fragte er keuchend. »Was willst du noch?« Remigius schenkte ihm sein Lächeln. Wie zum Wohle hob er den Kelch. »– was geschehen würde, wenn ich dich mit meinem Blut taufen würde?« Landrus Herzschlag stockte von neuem, diesmal jedoch ohne fremdes Zutun. Remigius’ Worte allein genügten dazu. »Das«, floh es dem Hüter atemlos von den Lippen, »wäre schlimmster Frevel wider die Macht des Kelches!«
Remigius zuckte gleichgültig die Schultern. »Was kümmert mich die Macht deines Kelches? Ich habe nicht vor, mich ihr zu unterwerfen.« »Du kannst dich ihr nicht verweigern!« schrie Landru aufgebracht. »O doch, ich kann. Du wirst sehen.« Ein geheimnisvoller Wink, der seinen Männern galt, und noch in der Sekunde spürte Landru wieder jenen geisterhaften Griff, der sein Herz umschloß. Dieses Mal ließ die fremde Kraft ihm jedoch noch einen winzigen Spielraum, so daß sein ohnehin schon träger Herzschlag nicht vollends verebbte. Aber auch so wurde er stark genug beeinträchtigt, daß ihm nicht mehr als nur der Gedanke an Widerstand blieb. Die vier Vampire scharten sich um ihn, blickten gespannt auf ihn herab, bereit, sofort zu reagieren, wenn er auch nur den Anschein erwecken sollte, sich wehren zu wollen. Remigius trat dazu, den Kelch in der rechten Hand. Er öffnete den Mund, als seine Eckzähne wuchsen und schließlich wie elfenbeinerne Dorne aus seinem Oberkiefer ragten. Damit biß er sich selbst in die Ader des linken Handgelenks und sammelte das herausfließende schwarze Blut ungeschickt im Kelch. Zutiefst entsetzt beobachtete Landru das Geschehen, und er erstarrte förmlich, als er sah, daß der Lilienkelch in gewohnter Weise reagierte: Rotes Licht hüllte ihn plötzlich in eine blutige Aura – ganz so, als sei dies ein Taufritual wie jedes andere zuvor! Landru schluckte so hart, daß ihm die Kehle schmerzte. War es so? Hatte es schon Kelchtaufen wie diese gegeben? Wechselte so das Amt des Gralsverwalters vom einen zum anderen – wenn sich nur einer fand, der es wagte, den Hüter herauszufordern? Und: Hatte auch er, Landru, dereinst den Kelch auf diese Weise errungen? Er erinnerte sich nicht an die Anfänge seiner Hüterschaft, hatte es nie auch nur versucht. Wurden ihm nun die Augen geöffnet – am Anfang des Endes seiner Amtszeit? »Nein«, keuchte er. »Nein! So ist es nicht! So kann es nicht sein – es
darf nicht so sein!« Remigius kniete neben ihm nieder. Der Blick des anderen ließ fast vermuten, er könnte Landrus geheimste Befürchtungen lesen. »Wir werden sehen«, sagte er. Dann setzte er Landru den Kelch an die Lippen. Der Hüter wollte den Kopf abwenden, doch die Kraft, die seinen Herzschlag lähmte, verhinderte auch jede andere Bewegung. Das blutige Licht des Kelches kroch wie etwas Flüssiges über Landrus Züge. Der erste Tropfen schwarzen Blutes netzte seine Lippen, rann zäh darüber, lief kalt auf seine Zunge und ließ ihn würgen ob des ekelhaften Geschmackes. Inmitten all dieser Empfindungen blieb Landru aber noch Platz für etwas anderes – eine Art morbide Spannung erfaßte ihn, verursacht durch die Frage: Was würde geschehen? Er erfuhr es – – als der Kelch … … explodierte!
* Nein, nicht der Kelch explodierte. Der Gral blieb unversehrt. Nur was sich darin befand, eruptierte. Spritzte auf, glühend heiß und zäh wie Lava – purpurfarbene Lava! Landru selbst wurde nicht von einem Tropfen getroffen. Das rote Licht des Kelches hatte sich nicht nur wie eine Maske über sein Gesicht gelegt, es schien ihn auch vor Schaden zu bewahren wie eine solche. Remigius indes war schutzlos – und sein eigenes, im Kelch gekochtes Blut ergoß sich ihm, ausgespien von der Gralsmagie, ins Gesicht! Augenblicklich erfüllte der Gestank verbrannten Fleisches die Ka-
takombe, und Remigius’ Schmerzensgebrüll schien mächtig genug, um Decken und Wände ins Wanken zu bringen. Der Kelch fiel ihm aus den Fingern und rollte harmlos davon, als er beide Hände vors Gesicht schlug und mit der Berührung den Schmerz nur weiter anfachte. Wässrige Substanz und schwarzverkohlte Haut drangen zwischen seinen Fingern hindurch. Er kippte zur Seite und wand sich in Agonie. Seine Getreuen sammelten sich dicht um ihn, ohne etwas für ihn tun zu können. Landru nutzte die Gunst des Augenblicks. Der geheimnisvollen Kraft entkommen, rollte er sich zur Seite fort, gelangte in die Nähe des Kelches und schnappte ihn. Dann sprang er auf und floh, ohne daß jemand auch nur versucht hätte, ihn aufzuhalten. Stolz und voll neuer Ehrfurcht betrachtete er den Gral der Alten Rasse. Der Kelch war soviel mehr als bloßes Taufgerät. Wieder einmal hatte sich dies gezeigt. Der Magie, die ihn bewohnte, schienen kaum Grenzen gesetzt zu sein. Wozu mochte der fähig sein, der sich ihrer ganz zu bedienen verstand? Oder würde die Kelchmacht dies gar nicht zulassen? Nach dem eben Erlebten war Landru nicht versucht, es auszuprobieren – schließlich lag ihm nicht daran, zu enden wie Remigius … Nachdem Landru die unterirdischen Bezirke hinter sich gelassen hatte, verließ er eilends Jerusalem. Und nie kehrte er in die heilige Stadt zurück. Bis …
* … heute. »So schön, diese Rose – und noch niemand hat sie je pflücken dürfen. Welche Ehre für mich.«
Landrus Worte drangen ihm tief aus der Kehle, und das Wissen, daß er mit Shulamith Gur eine echte Jungfrau vor sich hatte, berauschte ihn. So jung, so unverdorben – so köstlich würde sie ihm munden! Aber noch nicht! Erst wenn ihr Blut in den Adern kochte vor Lust, würde er sich gestatten, davon zu nehmen. Ob nur ein wenig oder alles, darüber würde er zu gegebener Zeit entscheiden. Um den Höhepunkt hinauszuzögern, ließ Landru seine Gedanken von neuem abschweifen. Er lenkte sich ab, indem er daran dachte, was seit seinem damaligen Besuch in Jerusalem geschehen war. Wenig Erfreuliches, mußte er sich eingestehen. Und das meiste hätte er am liebsten für alle Zeit vergessen. Nur einige Jahrzehnte nach jenem Jahr 1666 hatte er erfahren, wie die Amtsfolge der Kelchhüter wirklich geregelt war. Im Berge Ararat hätte ihn nach Ablauf von tausend Jahren sein Nachfolger erwarten sollen, aber Landru hatte sich geweigert, den Gral zu übergeben. Und damit hatte er Ereignisse ausgelöst, die zum Niedergang der Alten Rasse führten! Der Kelch war ihm gestohlen worden, und fortan hatte es keinen vampirischen Nachwuchs auf der Welt mehr gegeben. Schließlich war noch das Balg der Hure Creanna angetreten, Lilith Eden mit Namen, um dem Volk der Vampire gleichsam den Todesstoß zu versetzen. Und stets hatte bei all dem er, Landru selbst, eine bedeutende und mitunter tragische Rolle gespielt … Schließlich war Gottes Zorn über die Alte Rasse gekommen und hatte die meisten von ihnen hingerafft; nur die Sippenoberhäupter hatten die Seuche, die dem vergifteten Kelch entstiegen war, überlebt. Sie aufzuspüren und zu vernichten war fortan Lilith Edens gottgegebene Bestimmung gewesen – – doch die Dinge waren anders verlaufen, als der Ewige Feind unvermittelt auf den Plan getreten war! Eine Inkarnation des Bösen wandelte seit einiger Zeit auf Erden,
seinem Kerker, den die Menschen die Hölle nennen, entschlüpft durch ein mysteriöses Tor in den Tiefen eines italienischen Bergklosters und mittlerweile vom Knaben zum Jüngling gereift. Gabriel nannte er sich, wohl in Verhöhnung eines der Erzengel, und er verfolgte ganz eigene, undurchsichtige Pläne. Selbst Landru, der sich dem Teuflischen notgedrungen unterworfen hatte, wußte nicht, welchem Ziel Gabriel letztlich nachging. Er, Landru, war nicht mehr als ein Werkzeug des Leibhaftigen und ihm zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet. Was Gabriel auch von ihm verlangte, er konnte sich keinem Ansinnen verweigern. Und so war Landru nach über dreihundert Jahren wieder nach Jerusalem gereist, das er sich niemals mehr zu betreten geschworen hatte. Der satanische Jüngling wußte hier jemanden, der ihm ein Dorn im Auge war. Aus welchem Grunde dem so war, das entzog sich Landrus Kenntnis. Wohl aber wußte er, um wen es sich bei diesem Jemand handelte – – und um so unliebsamer war ihm der Auftrag, den Gabriel erteilt hatte: Sieg oder stirb! Das hieß nichts anderes, als daß Landru diesen Jemand aus dem Weg zu räumen hatte, gegebenenfalls unter Einsatz seines eigenen Lebens. Und wenn er es dabei verlor, so würde es den Teuflischen nicht kümmern. Werkzeuge waren zu ersetzen, und manche ließen sich ohnehin nur zu einem bestimmten Zwecke gebrauchen und waren nach getaner Arbeit nutzlos … Nicht zuletzt des Ungewissen Ausgangs wegen schob Landru diesen Auftrag noch hinaus. Zuvor wollte er in Erfahrung bringen, was aus Remigius und seinen Getreuen geworden war. Ob sie die Zeit überdauert hatten, und wenn ja, in welcher Verfassung sie heute waren. Heute nämlich fühlte er sich ihnen nicht mehr unterlegen. Heute war er ein anderer, mächtiger vielleicht denn je – weil Satans Inkar-
nation ihn nicht wehrlos in die Schlacht geschickt hatte! Die hiesige Sippe aufzuspüren erwies sich als schwieriger denn angenommen. Aus diesem Grunde wollte sich Landru kundiger Führung anvertrauen, die ihn in die geheimen Bezirke Jerusalems geleiten konnte. Vieles nämlich hatte sich hier seit seinem letzten Besuch geändert; Ausgrabungen und Baumaßnahmen hatten alte Wege verschüttet und neue geschaffen, die jedoch so versteckt lagen, daß sie nicht zu finden waren, wenn man nicht wußte, wo danach zu suchen war. Shulamith Gur mochte es wissen und ihr Wissen mit ihrem Herrn teilen, wenn er ihren Willen erst gebrochen hatte. Zunächst aber interessierten Landru vor allem ihr junger, biegsamer Leib und ihre Unschuld, die er ihr schon genommen hatte … Die junge Frau wand sich in seinem Griff. Und als Landru seine Gedanken ins Jetzt zurückkehren ließ, war es um seine Beherrschung geschehen. Der Anblick seines Gliedes, wie es tief in Shulamiths zarte Pforte drang, ließ endlich die Dämme in ihm brechen. Ihm war, als kochten seine Säfte über, und sie strömten in das Mädchen, das zugleich mit ihm kam und stöhnte, als müßte es unter innerem Feuer verbrennen. Noch bevor ihr Blut sich beruhigen konnte, langte Landru nach ihrer Schulter, zog Shulamith zu sich herauf und barg sein Gesicht in der Beuge ihres Halses. Fast meinte er, das Rauschen des Elixiers in ihren Adern hören zu können. Das Bukett des Blutes schien kräftig genug, um durch ihre Haut zu dringen, und Landru roch an ihr wie ein Weinkenner an einem Glase von feinstem Jahrgang. Drei, vier Sekunden lang bezähmte er sich noch, dann aber drängten seine Zähne von innen gegen die Lippen, zwangen sie förmlich auf, und er gab seiner Lust nach, setzte die Spitzen an Shulamiths zuckende Schlagader – – als ihn plötzlich Worte innehalten ließen, wie er sie in fast identischem Laut schon einmal gehört hatte, hier in dieser Stadt. Und wie
zu ihrer gespenstischen Untermalung klimperte leise Metall … »Laß die Zähne von ihr, verdammter Blutsauger!«
* Landru antwortete, ohne sich umzudrehen. Er lächelte düster. »Du bist also noch am Leben. Das freut mich. Und ebenso freut es mich, daß du zu mir gekommen bist. Das erspart mir die langwierige Suche nach dem Ort, an dem ihr euch verkrochen habt.« Rücksichtslos entließ er das nackte Mädchen aus seinem Griff. Erschöpft fiel es vornüber und blieb liegen. Landru kümmerte sich nicht darum, sondern drehte sich nun endlich dem anderen zu. Remigius hatte sich verändert, zumindest was sein Gewand anbelangte. Eine weite Kutte verhüllte seinen Leib, eine ebensolche Kapuze seinen Kopf. Das Gesicht lag so tief in ihrem Schatten, daß seine Züge nicht einmal zu erahnen waren. In der Dunkelheit ringsum regten sich schemenhafte Gestalten, vier an der Zahl. »Wir haben uns nicht verkrochen – im Gegenteil«, erklärte Remigius. Seine Stimme klang anders, als Landru sie in Erinnerung hatte. Rauher, leiser, und er sprach langsam, als bereite es ihm Mühe. Er wies in die Runde und über sich. »Wir leben hier – auf geweihtem Boden. Seit dem Tag, da du den Fluch deines Blutes über uns brachtest.« »Erstaunlich«, bemerkte Landru. Es war gewöhnlichen Vampiren nicht möglich, heiligen oder geweihten Grund zu betreten, in Kirchen etwa. Selbst einem Hüter wie ihm bereitete der Aufenthalt hier, unterhalb des Felsendomes, Schmerzen und wurde ihm auf Dauer unerträglich. Remigius und seine Sippe aber schienen auch in dieser Hinsicht aus der Art geschlagen zu sein. »So gelang es uns, dem unseligen Trieb deines Volkes zu widerstehen«, fuhr Remigius fort.
»Soll das heißen«, fragte Landru lauernd, »daß ihr auf Blut verzichten könnt?« Er griff nach seinen Kleidern, ließ aber keinen seiner Beobachter aus den Augen. Remigius schüttelte den Kopf, was den Stoff seiner Kapuze in wehende Bewegung versetzte. »Nein, das war uns leider nicht möglich. Aber immerhin töteten wir nie jemanden, wir schlugen also keine Opfer. Im Laufe der Zeit konnten wir stets ein paar – nun, sagen wir, Gönner um uns scharen, die uns freiwillig mit der nötigen Ration versorgten.« »Freiwillig?« fragte Landru mißtrauisch. »Sie jedenfalls sind der Ansicht, es freiwillig zu tun. Und so möge der Allmächtige uns in seiner grenzenlosen Güte und Gnade verzeihen.« Landru stöhnte auf – dieser Bastard brachte es tatsächlich fertig, sich zu bekreuzigen! Indes schien es ihm nicht recht zu bekommen, denn Remigius krümmte sich leicht wie vor Schmerz … »Ihr seid pervers«, stellte Landru fest, während er sich anzuziehen begann. Remigius hob die Schultern. »Wir haben einen Weg gefunden, uns mit dem Schicksal zu arrangieren.« »Apropos gefunden – wie konntet ihr mich finden?« wollte Landru wissen. Der harmlose Plauderton, in dem ihre bisherige Unterhaltung verlief, mochte ihm nicht recht gefallen. Es war, als könne er eine lauernde Gefahr wittern. Denn nur um zu reden waren Remigius und seine Sippe gewiß nicht gekommen – ebenso wenig wie er selbst … »An unserer Aufgabe hat sich nichts geändert«, erwiderte Remigius. »Wir halten noch immer ein waches Auge auf Jerusalem – und so wurden wir auf dich aufmerksam.« Beiläufig berührte er das lederne Säckchen, das er heute wie damals am Gürtel trug. Metall rieb darin leise aneinander. Landru fixierte das unscheinbare Behältnis. »Sag, was trägst du da
mit dir herum?« »Jeder hat so sein Geheimnis«, meinte Remigius. »Wo ist das deine?« »Wovon redest du?« »Das weißt du. Den Kelch meine ich. Wo hast du ihn?« »Immer noch daran interessiert?« Landru grinste. »Pech gehabt, alter Freund. Der Lilienkelch ist Geschichte.« »Nein, das ist er nicht!« behauptete Remigius. »So wie ich dich aufspüren konnte, weiß ich, daß euer Gral in dieser Stadt ist. Und nur du kannst ihn hergebracht haben. Wer sonst sollte –« »Was?« fiel ihm Landru ungläubig ins Wort. »Das kann nicht sein. Ich –« Er sprach nicht weiter. Seine Gedanken rotierten. Was hatten Remigius’ Worte zu bedeuten? Welche Folgen ergaben sich daraus? Wenn sich der Lilienkelch in Jerusalem befand, wer besaß ihn dann? Er entsann sich seiner eigentlichen Aufgabe, die ihn in die heilige Stadt geführt hatte, und knüpfte eine Verbindung zwischen ihr und dem Kelch. Das Ergebnis ließ ihn schaudern! Ganz neue Möglichkeiten zeichneten sich ab und – »Durchsucht ihn!« störte Remigius’ knapper Befehl seine fiebrigen Gedankengänge. Augenblicklich schälten sich seine Getreuen aus den Schatten und traten zu Landru. Ohne ein Wort zu sagen, langten sie nach seiner Kleidung und griffen auch nach ihm selbst. »Finger weg, ihr Kretins!« zischte Landru. Eigentlich hatte er sich das Ganze ja anders vorgestellt; er hatte seine Rache zelebrieren wollen – aber die unerwartete Wendung der Dinge erforderte auch in dieser Angelegenheit ein Umdenken. Landru reagierte spontan. Er packte den Nächststehenden – jenen, dessen orientalische Herkunft er seinerzeit schon festgestellt hatte – und ließ seine dunkle Kraft wirken. Er war nicht mehr nur ein Vampir, seit er vom Anfang der Zeit zurückgekehrt war, wo er seine wahre Herkunft erfahren hatte. Seit
damals wußte er, daß er im Grunde seines Wesens ein Gott war, der einst mit seinen Geschwistern über einen Teil der Welt geherrscht hatte. Und mit dem Wissen darum war auch die alte Macht in ihm wieder erwacht und nutzbar geworden. Dazu kam noch jene, die Gabriel ihm mit auf den Weg gegeben hatte – genug, um dieser entarteten Brut hier Herr zu werden! Dachte er … Nun, in diesem einen Fall wenigstens gelang es ihm. Die Haut seiner Hände schwitzte Finsternis aus, die sich zu wolkigen Schatten formierte und auf den Mann, den Landru gepackt hielt, überfloß. Wie Schlangen aus schwarzem Nebel krochen sie über ihn und drangen ihm so rasch in Mund und Nase, daß er nicht einmal mehr zum Schreien kam. Sie raubten ihm buchstäblich den Atem. Als der Orientale fiel, war er schon tot. Und kaum lag er still, zerfiel sein Fleisch zu klumpigem Staub, die bloßen Knochen wurden zu mehligem Pulver, und beides wirbelte der Wind auf und davon. »Wer ist der Nächste?« geiferte Landru zornsprühenden Blickes. »Du!« Ein Schatten raste seitlich auf Landru zu. Er gewahrte ihn nur am Rande seines Blickfeldes, zu spät, um noch auszuweichen. Etwas detonierte förmlich an seiner Schläfe und löschte seine Sinne aus. Schluchzend ließ Shulamith Gur den mit schwarzem Blut besudelten Stein fallen. »Ich wünschte, ich könnte dir all das antun, was du mir angetan hast, Hector Landers«, sagte sie tonlos. Haßerfüllt starrte sie auf ihren reglosen Vergewaltiger hinab. Jemand trat hinter sie, berührte sie sacht an den Schultern und schob sie beiseite. »Keine Sorge. Gehen Sie nur und vergessen Sie, was hier geschehen ist«, sagte Remigius beruhigend und eindringlich. Mit klirrender Kälte in der Stimme fügte er dann hinzu: »Und überlassen Sie ihn –«, er sah auf Landru hinab, »– ganz uns.«
* Wenn sich die Vampirsippe Jerusalems auch von jeder anderen der Welt unterscheiden mochte, eines hatte sie doch mit ihnen gemein: den geheimen Versammlungsort. Er lag unterirdisch irgendwo zwischen Felsendom und Grabeskirche, in den zugeschütteten und überbauten Ruinen des alten Jerusalems. Tatsächlich war er erreichbar über viele Wege, aber doch so verborgen, daß niemand ihn fand, der ihn nicht finden sollte. Und selbst wenn – niemand hätte hier um Leib und Leben fürchten müssen. Allenfalls ein kleiner Blutzoll würde ihm abverlangt … Die Säulenhalle war einst das Schiff einer längst vergessenen Kirche gewesen. Heute nun war sie mehr als nur der Ort, an den die Vampire Jerusalems sich zurückzogen, um zu ruhen oder schlicht unterzutauchen. Denn Remigius sah sich nicht nur in der Rolle des Beschützers vor dem Bösen – er betrachtete sich und seine Getreuen auch als eine Art Hüter: Sie bewahrten Dinge, die in der Geschichte der heiligen Stadt und ihrer Religionen von Bedeutung gewesen waren, und sorgten dafür, daß sie nicht durch Zurschaustellung entweiht wurden. Daran dachte er, als sie den Versammlungsort erreichten und er den Blick schweifen ließ über alles, was sie im Laufe der langen Zeit zusammengetragen hatten. »Was soll mit ihm geschehen?« fragte Pascal. Er ließ den besinnungslosen Kelchhüter unsanft von der Schulter und zu Boden rutschen. Remigius sah auf den Reglosen hinab, überlegte, dann hob er das Gesicht im Schatten der Kapuze und richtete den Blick in den rückwärtigen Bereich der Halle, wo früher einmal der Altar gestanden haben mochte. Und vielleicht hatte sich darüber ein Kruzifix befunden – heute jedenfalls war dort ein Kreuz; und nicht irgendeines … »Kreuzigt ihn!« befahl Remigius leidenschaftslos. Wieder senkte er
den Blick auf Landru. »Er hat es verdient wie kein anderer.« Bevor er sich abwandte, ergänzte er noch: »Und sorgt dafür, daß er trotz des Kreuzes nicht zur Gefahr wird. Ich werde mich seiner später annehmen. Zunächst muß ich Zwiesprache halten, auf daß wir die Spur des Kelches finden.« Remigius ging, begleitet vom leisen Geräusch dessen, was er am Gürtel seit seiner verhängnisvollsten Stunde stets bei sich trug. Und halblaut sagte er: »Der verfluchte Gral soll seinen Platz finden neben dem wahren …«
* Daß Spiegel ihn nicht abbildeten, das hatte Remigius als einen der wenigen Vorteile seines vampirischen Daseins zu schätzen gelernt. Denn er hätte seinen eigenen Anblick nur schwerlich ertragen und sich nie daran gewöhnen können, auch nach nunmehr 332 Jahren nicht. Auch anderen mochte er ihn nicht zumuten. Deshalb verbarg er sein Antlitz stets im Schatten der Kapuze, sowohl den Seinen gegenüber als auch dann, wenn er sich unter die Touristen und Gläubigen im Felsendom oder in der Grabeskirche mischte und unerkannt zwischen ihnen wandelte. Man hielt ihn seiner Kleidung wegen für einen Mönch, und niemand fragte nach seinem Woher und Wohin. Nur in der Abgeschiedenheit seiner Kammer streifte er die Kapuze zurück und gönnte sich das Gefühl, so zu sein wie andere. Zwar war er auch hier nicht allein, doch fehlten seiner Gesellschaft die Augen zu sehen – und nicht nur sie … Remigius ließ sich an dem kleinen Tisch nieder, der mit Stuhl und Lager das Mobiliar der kargen Zelle bildete, und löste das lederne Säckchen vom Gürtel, um dessen Inhalt bei Kerzenlicht so behutsam auf den Tisch zu leeren, als könne er Schaden nehmen, würde er ihn unbedacht hinschütten. Leise klimperte und klirrte es wie vom Läu-
ten einer zarten Glocke, dann kehrte für Sekunden Stille ein. Bis die Stimme sprach, gleichsam aus dem Nichts, und auch sie fein und hell wie Glöckchenklang. »Nun, Remigius, was beschäftigt dich so sehr, daß nur ich dir helfen kann?« »Der Kelch«, erwiderte Remigius. »Der, den wir als seinen Hüter kannten, trug ihn nicht bei sich. Aber du hast geweissagt –« »Daß sich der Gral in Jerusalem befindet«, unterbrach ihn die zarte Stimme. »Und das tut er noch.« »Wo ist er? Kannst du mir den Weg zeigen? Spürst du ihn?« »Das kann ich, und das tue ich. Wenn du es wünschst Remigins. Nur verstehe ich nicht, weshalb du den Gral in deinen Besitz bringen willst. Zwar kannst du nicht sehen, was er dir einst antat, der Schmerz jedoch brennt dir noch immer im Gesicht …« Remigius fuhr behutsam mit den Fingern über die narbigen Linien seines verheerten Antlitzes. Es tat noch weh, wie wahr – vor allem dann, wenn er daran zurückdachte, wie das zu purpurner Lava gewordene Blut seine Züge verbrannt hatte. Remigius’ Faust landete krachend auf dem Tisch. Metall klirrte. Ein erschreckter Schrei wehte geisterhaft durchs Dunkel. »Ich muß das verfluchte Ding haben«, knirschte er wütend. »Und sei es nur, um es zu vernichten.« »Die Menschen kennen ein Wort für das, was du bist, Remigius – ein Fanatiker.« Die Stimme war frei von Vorwurf, aber voll tiefen Ernstes und Bedauerns. »Nenn mich nicht so!« fuhr der Vampir auf. »Er nannte mich so …« »Und? Hatte er nicht recht?« »Nein!« rief Remigius. »Ein Narr war er! Und schuld an allem, was mir geschah.« »Ich weiß«, seufzte die Stimme, »und auch an meinem Schicksal trägt er die Schuld – wie du zu sagen pflegst. Zu oft hast du es ge-
sagt, als daß ich es je vergessen könnte.« »Und?« fragte Remigius barsch. »Ist es nicht so? Hätte er auf mich gehört, wäre alles anders gekommen.« »Ich weiß nur, daß du mich zu dem gemacht hast, was ich bin – zu deinem Orakel«, erwiderte die Stimme des Gespenstes, das Remigius nie bei seinem wahren Namen nannte – nicht mehr seit damals …
* Verrat trennt alle Bande. Friedrich von Schiller, »Wallensteins Tod« 17. Jahrhundert Remigius’ Erinnerung »Du bist ein Fanatiker, Remigius, krankhaft und verbohrt!« »Und du bist blind und taub und ohne jedes Gefühl für Verantwortung, Salvat!« Ich starrte den Herrn des Klosters Monte Cargano an und wünschte, der Vorwurf in meinem Blick könnte ihn treffen wie Pfeile und Dolche. Aber er hielt ihm nur stoisch stand, mit der gleichen Ruhe und Reglosigkeit, die er seit Beginn unseres Disputs zur Schau stellte. Ob er jenseits dieser Maske ähnlich aufgebracht war, konnte ich nicht feststellen. Fast war ich geneigt zu glauben, ihn würden meine Worte und Erregung tatsächlich kaltlassen – was mich nur noch mehr in Rage brachte! Salvat, seines Zeichens Führer des Geheimbundes der Illuminaten, die im Monte Cargano, jenem Kloster auf einem Berggipfel im Norden Roms, residierten, hatte mich zur Unterredung in seine Gemächer in den Tiefen des Felses zitiert. Wobei Unterredung nicht das rechte Wort war – vielmehr hatte er mich gerufen, um mir die Leviten zu lesen wie einem halbwüchsigen Novizen!
Ich war nicht willens, mir solche Behandlung gefallen zu lassen. Zumal ich wußte, daß es rechtens war, was Salvat mir in seiner grenzenlosen Selbstgefälligkeit ausreden wollte. Nur hohle Worte waren es, die er sprach, und keinem meiner Argumente gegenüber zeigte er auch nur den Hauch von Einsicht – dieser sture, vernagelte Narr! Die Illuminaten waren keine Bruderschaft wie viele andere – genau genommen war die Illuminati sogar einzigartig auf der Welt. Unter diesem Namen fanden sich nicht etwa Menschen zusammen, die ihr Leben in Abgeschiedenheit ganz und gar dem Gottesglauben verschrieben; im Monte Cargano fanden Menschen zusammen, die anders waren als andere – mit Kräften gesegnet, die ihnen draußen als Fluch angerechnet werden konnten! Übersinnlich konnte man diese Fähigkeiten nennen und hätte sie damit doch nur unzureichend beschrieben. Unter Salvats Leitung, dessen Späher sie in allen Ecken der Welt aufspürten und ins Kloster führten, weihten sie ihre Talente einem besonderen Ziel – dem Schutz des Heiligtums im tiefen Fels des Klosterberges, des Tores. Was sich dahinter wirklich verbarg, wußte niemand außer Salvat. Nur eines wußten alle: Niemals durfte dieses Tor geöffnet werden, weil die Menschheit sonst beim Teufel wäre … Mit dieser Aufgabe war ich, der ich mich der Illuminati aus freien Stücken angeschlossen hatte, durchaus einverstanden. Nur sah ich die Macht der Bruderschaft zu weiten Teilen als ungenutzt an. Wieviel hätte sich mit diesen Kräften zum Wohl und Schutz der Menschheit erreichen lassen, würde Salvat nur zulassen, daß der Orden auch jenseits der Mauern Monte Carganos wirken durfte! Mit der bloßen Bewachung des Tores jedenfalls waren die Möglichkeiten der Illuminati nicht ausgeschöpft. Und mein Ansinnen war es nun einmal, alles Mögliche zu tun, um die Menschheit vor dem Bösen in jeder Abart zu bewahren – freilich nicht einzig aus purer Freundlichkeit, sondern aus ganz anderem Grunde vor allem: um die Schuld abzutragen, die ich dereinst auf mich geladen hatte. »Es ist nicht unsere Sache, Gottes Rolle zu spielen!«
Salvats Stimme riß mich aus meinen Gedanken. Sein Ton war ohne hörbaren Vorwurf, nicht einmal belehrend, nur nüchtern und ernst – und vielleicht gerade deshalb so beeindruckend, daß man geneigt sein konnte, sein schlichtes Wort als Gesetz hinzunehmen. Nun, andere mochte er auf diese Weise womöglich beeinflussen und für sich einnehmen – nicht aber mich! Ich wußte, was draußen in der Welt vorging, und wie nötig diese Welt es hatte, unter den Schutz von Kräften gestellt zu werden, wie die Illuminaten sie besaßen. Lange genug war ich dazu verdammt, auf Erden zu wandeln, um dies einschätzen zu können. Und mit dem Orden im Monte Cargano hatte ich geglaubt, endlich die richtigen Verbündeten gefunden zu haben, um mein Los vielleicht abstreifen zu können … … wäre da nur Salvat nicht gewesen, dieser elend sture Bock, der sich quer und mir in den Weg stellte! »Nie würde ich es wagen, selbst gottgleich sein zu wollen!« fuhr ich auf. »Nur in Seinem Namen möchte ich wirken, zum Wohle Seiner Schöpfung. Was könnte daran falsch sein? Und wie kannst du dies nicht wollen?« »Weil es nicht in Seinem Sinne wäre«, behauptete Salvat unerschütterlich, und als er weitersprach, veränderte sich sein Ton endlich, schwand das Stoische daraus und machte etwas Platz, das ich für Wehmut oder gar Trauer gehalten hätte – würde ich geglaubt haben, Salvat, dieser Eisklotz aus Fleisch und Blut, sei zu solcher Regung auch nur im Ansatz fähig … »Zu schmal ist der Grat zwischen Wirken in Seinem Namen und dem Wunsch, Seinen Namen zu führen«, sagte er in jenem seltsamen Tonfall, »und zu groß ist die Versuchung, solche Kräfte, wie unser Orden sie besitzt, ohne Grenzen und jedes Maß für Vernunft zu gebrauchen. Schon einmal erlag jemand dieser Versuchung, und der Schaden daraus ist niemals mehr gutzumachen.« Salvats Blick richtete sich in unauslotbare Fernen, so leer und verloren, als übersehe er nicht allein die Mauern dieses Raumes, son-
dern die Zeit selbst … »Unsinn!« parierte ich und schmetterte sein mysteriöses Gerede von mir. »Jeder einzelne Illuminat würde sich hüten, sein Talent zu mißbrauchen, würde man den Orden auf diese neue Aufgabe einschwören –« Salvats Geist schien von irgendwoher in ihn zurückzukehren; jedenfalls durchlief ein Ruck seine kräftige Gestalt, und es sah aus, als erwache eine bronzene Statue zum Leben. Er lächelte – und schürte meine Erregung damit aufs Neue! »Du weißt nicht, was du redest«, sagte er knapp. »Aber du weißt, was du redest?« fuhr ich ihn an, längst schon an den Grenzen meiner Selbstbeherrschung angelangt. Er nickte. »Das tu ich, Bruder Remigius.« Remigius … Ich schnaubte bei der Nennung meines Namens. Für mich nur einer von vielen, der bis dato letzte in einer langen Reihe, so gut wie jeder andere zuvor und allemal besser als mein erster, mein wahrer Name, der einem Fluch gleichkam – – und in dieser Sekunde war ich drauf und dran, ihn zu nennen, ihn Salvat ins Gesicht zu spucken und damit die ganze Wahrheit über mich und meine Beweggründe! Vielleicht hätte er mich dann endlich verstanden! Vielleicht hätte ich es tun sollen in dieser Sekunde … Aber ich tat es nicht. Wahrte mein furchtbares Geheimnis. Trug meine Schuld alleine weiter. Und mit seinen nächsten Worten erstickte Salvat auch den letzten Funken jener Bereitschaft in mir, mich ihm doch noch anzuvertrauen. »Sieh dich doch nur selbst an, Remigius – hast du nicht schon bewiesen, daß ein Mensch kaum in der Lage ist, mit besonderer Kraft verantwortungsvoll umzugehen? Bedenke, was du Fionna angetan –«
»Schweig!« brüllte ich außer mir. »Du hast kein Recht, mir vorzuwerfen, daß ich nur das Beste gewollt habe –« »Du hast das Beste gewollt und bekommen«, nickte Salvat, »von jedem Menschen. Weil du es dir genommen hast.« »Du bist nichts anderes als ein gottverfluchter Bastard, dem es gefällt, andere mit deren Leid noch zu geißeln«, zischte ich. »Vielleicht hast du diesen Orden ja nur deshalb um dich geschart, um Opfer zu haben für deine abartige Lust an der Qual anderer?« »Du redest Unsinn, und du weißt es.« Salvat war wieder die Ruhe selbst. Ich haßte ihn – ich haßte ihn in diesem Augenblick mehr, als ich je einen anderen gehaßt habe! Haßte ihn sogar mehr als mich selbst … … und ich ließ mich zu etwas hinreißen, das ich nie hätte tun sollen – nie zuvor und nie danach. Aber ich tat es. Ich nutzte mein besonderes Talent, entwickelt und gereift in so vielen Jahren, daß ich schon aufgehört hatte, sie zu zählen – Ich griff nach Salvat, ohne ihn mit Händen zu berühren. Tastete seinen Geist an, um meine besonderen Finger, unsichtbar und gestaltlos, hineinzuschlagen! Vielleicht wollte ich ihn nicht einmal nehmen. Vielleicht wollte ich ihm nur wehtun, wie er mir mit Worten wehgetan hatte. Sicher weiß ich es heute nicht mehr, wußte es vielleicht schon damals nicht … Es war ohnehin egal – denn Salvat setzte sich zur Wehr! Und er tat es mit solcher Gewalt, daß ich allein unter ihrer Präsenz zu Boden ging! Als sie mich mit verheerender Wucht traf, war mir, als breche die Welt um mich her zusammen und als würden ihre Trümmer mich begraben! Ich weiß nicht, wie lange ich zu Salvats Füßen lag, gekrümmt wie ein Kind im Leibe seiner Mutter und wimmernd wie ein Neugeborenes. Nur der Schmach entsinne ich mich noch, des Gefühls der Demütigung, das ich empfand, solcherart geschlagen und erniedrigt. »Ich sollte dich töten«, sprach Salvat mich an, als er merkte, daß
meine Sinne sich der Wirklichkeit wieder öffneten. »Aber ich begnüge mich damit, dich zu verbannen.« Er wies zur Tür und meinte mehr als nur diesen Raum. »Geh und kehre nie zurück! Vergiß Monte Cargano.« Damit wandte er sich ab und ging. An der Tür hielt er noch einmal inne und sagte, ohne sich nach mir umzublicken: »Und laß Fionna im Schoße der Illuminati – hier wird es ihr besser ergehen als an deiner Seite.« Dann verließ er den Raum. Ich sah ihn niemals wieder. Denn ich gehorchte und kehrte Monte Cargano noch in der Nacht auf immer den Rücken. Und auch Fionna ließ ich zurück, wie Salvat es verlangt hatte. Nur Fionna jedoch. Nicht aber, was von Fionna mir gehörte.
* Fionna … Es lag Jahre zurück, da ich sie zum ersten Mal gesehen und ihr das Leben gerettet hatte! Gott der Herr selbst (denn an Zufälle zu glauben hatte ich mir längst abgewöhnt) mußte mich des rechten Weges geführt und meine Schritte so gelenkt haben, daß ich an jenem Fluß just in der Minute anlangte, da die Eltern ihr Mädchen im Wasser ersäufen wollten wie einen Katzenwurf, den man nicht durchfüttern mochte. Freilich ließ ich es nicht geschehen, und weil ich wußte, daß dem Mädchen in seiner Familie keine Zukunft beschieden sein konnte, nahm ich es mit mir, wohl wissend, weswegen die Leute sich seiner hatten entledigen wollen. Das Kind nämlich sprach nicht, schien nichts zu verstehen von dem, was um es her vorging, und überhaupt schien es der Inbegriff der Teilnahmslosigkeit. Leer wie blankgefegter Boden war sein Geist, einem Gefäß gleich, das die Natur zu füllen vergessen hatte.
Fionna war eine Herausforderung für mich. Mein Talent konnte ihr zum Segen gereichen, wenn ich es recht anstellte. Und ich versuchte es im Laufe der Jahre, mit immer besserem Erfolg. Wie Vater und Tochter verließen wir Fionnas Heimatinsel, jene, die noch jenseits der englischen liegt und heute Irland heißt; doch je länger unser Weg wurde und Fionna zur Frau, desto mehr veränderte sich unsere Beziehung. Bald schon hielt niemand uns mehr für Vater und Tochter, sondern mich für einen Mann reifen Alters, der das Glück hatte, die Gunst einer jungen Schönheit erworben zu haben. Und während all der Zeit füllte ich Fionnas Geist. Anfangs war es nicht mehr als ein Versuch gewesen, ein Experiment, von dem ich nicht wußte, ob es gelingen würde. Ich nahm vom Verstand anderer, die unseren Weg kreuzten, und gab es Fionna, verwob die Teile in ihrem Geist miteinander, und so kam es, daß Fionna in meiner Obhut schon bald zu sprechen begann. Und es dauerte nicht lange, bis sie sich kaum mehr von anderen Mädchen ihres Alters unterschied in dem, was sie tat und wußte. Ihre Verbundenheit zu mir freilich machte sie einzigartig – und ich müßte lügen, würde ich sagen, daß ich dies nicht in jeder Hinsicht genossen hätte! Nicht erst seit jener Zeit wußte ich von der Existenz anderer besonders begabter Menschen, die es außer mir noch gab. Es gab ihrer sogar beträchtlich viele; die meisten indes entdeckten ihre widernatürlichen Talente nicht oder hatten sich wenigstens so gut unter Kontrolle, daß sie ihrer Gabe wegen nicht auffällig wurden. Einige aber erregten Aufmerksamkeit, und manche wurden in der Folge der Hexerei bezichtigt. Nun, wie auch immer, die Begegnung mit diesen Menschen zu suchen, dies tat ich erst, nachdem Fionna mich schon Jahre meines Weges begleitete und ihr Geist und Wesen längst war wie andere, normal eben. Ermuntert durch diesen Erfolg aber reizte mich eine neue Möglich-
keit, mein Talent zu nutzen: Ich wollte Fionna gleichsam veredeln, zu etwas Besonderem machen – indem ich ihrem Geist Teile besonderer Gaben anderer einflocht. Deshalb also forschte ich nach solch übersinnlich Begabten. Und dabei blieb es nicht aus, daß ich nach einer Weile mit jenen Leuten in Kontakt kam, die mit dem gleichen Ziel unterwegs waren – den Spähern und Kundschaftern der Illuminati, die auf Geheiß Salvats nach neuen Mitgliedern für den Orden suchten, um sie zum Monte Cargano zu bringen. Wobei sie in der Wahl ihrer Mittel durchaus nicht immer zimperlich waren … Zu der Zeit aber hatte ich Fionnas Geist schon mit solch besonderen »Zutaten« versetzt, daß ihr Horizont sich aufs Erstaunlichste erweitert hatte. So wußte sie etwa um Dinge, die noch geschehen würden, und sie sah andere, ohne in ihrer Sichtweite sein zu müssen. Eine wahrhaft brauchbare Gefährtin hatte ich mir da herangezogen, denn schließlich zog ich nicht umher, um mir die Schönheiten von Gottes weiter Welt anzuschauen, sondern um sie zu schützen – um allem Übel dieser Welt entschlossen entgegenzutreten und es auszumerzen, wo immer es mir begegnete! Wie schon gesagt tat ich dies nicht nur, weil es mir eine Herzenssache war, sondern auch aus Eigennutz – in der Hoffnung, irgendwann einmal soviel Gutes getan zu haben, daß mir an höchster Stelle verziehen wurde und meine Schuld abgetragen sein würde. Bei dieser Aufgabe konnte ich jede Hilfe brauchen, und die Illuminati, von der ich erfuhr, schien mir die geeignetste Unterstützung zu sein, die ich nur bekommen konnte. So suchten Fionna und ich also die Heimstatt jenes Ordens auf und boten zunächst nur unsere Dienste an; ich wollte doch erst wissen, wes Geistes Kind diese Bruderschaft war … Man nahm uns auf und führte uns Schritt um Schritt in die Geheimnisse der Illuminati ein. Und mit jedem Stück, das ich mehr erfuhr, wuchs meine Überzeugung, den richtigen Weg gegangen zu sein, als ich zum Monte Cargano aufgebrochen war.
Ein übler Irrtum – und der Stein, der mich in meiner guten Absicht letztlich vollends zu Fall brachte, war Salvat, der sich meiner Idee aus blankem Stursinn und ebensolcher Kurzsichtigkeit verweigerte … Nun gut, ich brauchte weder ihn noch seine Schar – – jedoch war ich entschlossen, aus dem Hort der Wächter mitzunehmen, was mein war! Fionna … Dabei wollte ich mich nicht über Salvats Wort hinwegsetzen. Das Mädchen selbst würde ich im Monte Cargano zurücklassen, so sehr ich seinen Anreiz auch vermissen würde. Was in ihr war allerdings, was ich ihr gegeben hatte, wollte ich wiederhaben – – und ich nahm es mir. Ohne Fionnas Kammer aufzusuchen, räumte ich den Geist meiner Gefährtin so leer, wie er gewesen war, da ich dem Mädchen zum ersten Mal begegnet war. Vielleicht war dies meine Art, die Wut, die Salvat in mir entfacht hatte, auszulassen. Ich mag im Grunde gar nicht darüber nachdenken, noch heute nicht … Jedenfalls wagte ich mit diesem Tun zugleich ein ganz neues Experiment: Erstmals nämlich verband ich lebenden Geist mit toter Materie! Ich verschmolz ihn mit dem, was ich seit Anbeginn meiner langen Wanderung in einem ledernen Säckchen am Gürtel bei mir trug – und es gelang! Mein Plan war schon gereift, als ich die Mauern Monte Carganos hinter mir ließ: Was Salvat konnte, würde auch ich vollbringen können! So wie er konnte ich geeignete Leute um mich sammeln, die für meine Sache einstehen und all ihre Kraft, die sie von anderen unterschied, in die Waagschale werfen würden. Frohen Mutes würden sie es tun, denn sie durften es im Namen des Herrn, und eine edlere Aufgabe konnte es in einem Menschenleben nicht geben. Den geeigneten Ort, um meine Idee Wirklichkeit werden zu lassen, kannte ich auch schon: Jerusalem würde die Zelle meines Bun-
des werden. Aus gleich mehreren Gründen: Zum einen gab es keinen Ort der Welt, den es sich mehr gegen alles Böse zu verteidigen lohnte, als das Heilige Land. Zum anderen würde ich unter den Heerscharen von Pilgern, die Jerusalem aufsuchten, mühelos solche Menschen finden, die meinen Ansprüchen genügten. Und außerdem konnte ich damit heimkehren, dorthin zurück gehen, wo alles begonnen hatte – wo ich den Fluch auf mich geladen hatte … Konnte es denn ein besseren Ort geben, um ihn endlich von meinen Schultern zu bannen? Eine Weile lang ging alles gut, liefen die Dinge so, wie ich es beabsichtigt hatte. Ich fand unter den Pilgern aus aller Herren Länder Streiter für meine Sache, und wir fuhren so manchen Sieg gegen dunkle Mächte ein. Anfangs hatte ich noch befürchtet, Salvat würde mir nachspüren lassen, um meine Pläne zu vereiteln, aber es geschah nichts; scheint’s war für ihn wirklich ohne Belang, was außerhalb seines Refugiums Übles vorging … Ich hatte mich nicht in ihm getäuscht – ein tumber Narr war und blieb er. Getäuscht hatte ich mich aber in jenem, der den verfluchten Gral nach Jerusalem trug! Und alles wurde anders … Meine Hoffnung, mich des Fluches entledigen zu können, war zerschlagen. Weil ich fortan als vampirisches Wesen nicht einmal mehr zu sterben imstande war – und mithin weiter von der Erlösung aller Schuld entfernt denn je zuvor …
* … was Remigius’ Rachlust gegenüber dem Hüter und dessen Kelch ins kaum Ermeßliche steigerte, als seine Gedanken ins Hier und Heute zurückkehrten! »Zeig mir den Weg!« verlangte er knapp von dem, was er sich aus Fionna einst im beinahe wörtlichen Sinne geschmiedet hatte.
Mit der Handkante fuhr Remigius über den Tisch und strich das flüsternde Metall zusammen, so daß er es über die Kante zurück in das Ledersäckchen schieben konnte. Münzen. Aus Silber. Dreißig an der Zahl.
* »Was tust du da eigentlich, mein Lieber?« Rebecca Chaim stand am Herd der schlicht eingerichteten Küche und bereitete schon die nächste Mahlzeit vor, obgleich sie gerade erst das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatte. Es schien, als müsse sie sich fortwährend beschäftigen, um sich abzulenken. Aber Gershom Chaim wußte, daß dem nicht so war. Weder Rebecca noch sein Sohn David bekamen wirklich mit, was seit Tagen anders war. Ihre Wahrnehmung schien wie isoliert oder mit einem Filter versehen, der alles aufhielt, was nicht alltäglich war. Nur Rahel und er waren so nicht zu beeinflussen, aus welchem Grund auch immer. Seine Tochter mochte durch ihre kindliche Naivität noch einigermaßen Schutz erfahren, er aber war der furchtbaren Wirklichkeit hilflos ausgeliefert. Noch … »Ich schnitze.« Er antwortete seiner Frau, ohne in seinem Tun innezuhalten oder auch nur aufzusehen. »Und was wird es, wenn du damit fertig bist?« fragte Rebecca weiter. Ihr Tonfall erweckte nicht einmal den Anschein von echtem Interesse. Zwar klang ihre Stimme freundlich, doch ging ihr alles Melodische ab, was Gershom stets so daran geliebt hatte, daß er ihr den ganzen Tag lang lauschen konnte, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Jetzt aber war Rebeccas Ton nur noch nüchtern, ohne Emotion – seelenlos. Seit sie in ihr Haus gekommen waren …
Gershom sah unweigerlich zur Küchendecke auf, als könne sein Blick Holz und Stein durchdringen, um erst droben unterm Dach sein verhaßtes Ziel zu finden. Dann senkte er den Kopf wieder und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Spitz war der Pflock schon. Doch nadelspitz mußte er werden! Damit er Haut, Fleisch und Rippenknochen auch durchstieß … Gershom Chaim setzte die Klinge seines Messers von neuem an und schälte weißfaseriges Holz vom Ende des Pfahls. Ein Ast von einer Eiche war es, und es hatte ihn einige Zeit gekostet, einen solchen Baum inmitten Jerusalems zu finden, nachdem sein Entschluß gereift und gefestigt gewesen war. Er würde nicht länger tatenlos zusehen und geschehen lassen, was das Weib und ihr scheintotes Gespons in seinem Haus trieben und seiner Familie antaten. Er würde sich ihrer erwehren und hoffentlich entledigen, nun, da er endlich die Kraft dazu gefunden hatte. Sein Gebet, davon war Gershom Chaim überzeugt, hatte Gehör gefunden. Und Gott hatte ihn in seinem Leid und Kummer nicht alleingelassen. Er hatte ihm die Kraft geschenkt, um zu tun, was zu tun war. Sie zu nutzen, war nun seine Sache. Der Pflock war von solcher Stärke, daß Gershom ihn mit einer Hand bequem umfassen konnte, und von der Länge seines Unterarmes. Er prüfte die Pfahlspitze mit dem Finger; ein winziger Blutstropfen trat aus der Stelle, mit er die Spitze berührt hatte. Chaim nickte grimmig. Das mochte genügen. Er erhob sich von seinem Stuhl und schickte sich an, die Holzabfälle am Boden zu einem Haufen zusammenzuschieben, doch Rebecca unterbrach ihn. »Laß nur«, sagte sie, »ich mach das schon.« Sie lächelte ihm zu, aber sie tat dabei nicht mehr, als ihre Lippen zu verziehen. Gershom erwiderte es traurig. Bald schon, dachte er, werden wir alle wieder aus frohem Herzen lä-
cheln und lachen – richtig leben werden wir wieder! Dann wandte er sich um, ging aus der Küche und stieg die Treppe unters Dach hoch. Den Pflock in beiden Händen haltend und wie eine Reliquie vor sich hertragend. »Ich komme«, flüsterte er, »um euch zu geben, was ihr verdient.« Fast erstaunte es ihn, daß seine Stimme nicht zitterte. Er murmelte ein stilles Dankgebet. Denn er konnte jedes bißchen Beistand brauchen.
* Draußen war längst schon die Sonne über den Horizont gekrochen. Die Dächer Jerusalems lagen da wie mit geschmolzener Butter bestrichen, und durch das schlecht schließende Fenster der Kammer drangen die Geräusche aus den Gassen der Altstadt herauf. Doch Lilith Eden hatte kein Ohr dafür. Sie lauschte nur dem kaum verständlichen Flüstern und Wispern des Mädchens, das nun schon seit Stunden reglos da saß, an der Seite des Fremden, und unmögliche Zwiesprache zu halten schien. Denn eine andere Stimme als Rahels hörte Lilith nicht! »Weil ich manchmal mit den Toten reden kann«, hatte sie gesagt. »Dann versuch es«, hatte Lilith geantwortet, und Rahel hatte nur genickt, ganz und gar ernsten Gesichtes. Sie hatte sich auf dem Bett niedergelassen, die schmalen Beine überkreuz, und dann war lange Zeit nichts geschehen. Lilith war schon im Begriff gewesen, das Mädchen aus seinem tranceartigen Zustand, in den es sich selbst versetzt hatte, zu holen, als Rahel schließlich doch eine Regung gezeigt hatte. Erst stumm, dann wispernd hatten sich ihre schmalen Lippen bewegt. Immer wieder war sie verstummt, als lausche sie einer Antwort, die nur ihr Ohr erreichte. Ein regelrechter Dialog hatte sich in der Folge entsponnen, bizarr und unheimlich für Lilith, weil sie zum
einen nichts von dem verstand, was Rahel sagte, und die Erwiderungen aus dem Nichts überhaupt nicht zu hören imstande war. Trotzdem konnte sie sich der Faszination des Geschehens nicht entziehen. Wie gebannt beobachtete sie Rahel und den Fremden, der ihr doch soviel bedeutete, daß der bloße Anblick seiner leblosen Gestalt ihr im Herzen wehtat, und wurde nicht müde, verstehen zu wollen, was zwischen beiden gesprochen wurde. Daß Rahel ihr nicht nur etwas vorspielte, davon war Lilith überzeugt. Sie konnte spüren, daß etwas Besonderes, etwas Unerklärliches vorging; es war, als berühre etwas wie ein steter kalter Hauch ihre nackte Haut, der nichts mit der Zugluft zu tun hatte, die durch die Fensterritzen hereindrang. Und dann war es vorbei. So plötzlich, wie es begonnen hatte. Rahel Chaim setzte sich auf, räusperte sich und wandte sich zu Lilith um. Ein süßes Lächeln lag auf ihrem kleinen Gesicht, und der Ausdruck ihrer Miene stand für Zuversicht. »Er ist nicht tot«, sagte das Mädchen. »Woher weißt du das?« erwiderte Lilith wie von selbst. »Ich meine –« Ihr fehlten die rechten Worte. Sie schaffte es nicht, sich so rasch aus dem Bann des Ereignisses zu lösen, dessen Zeuge sie über Stunden gewesen war. Ihr war, als verklebe Spinngewebe ihre Gedanken, und es dauerte Sekunden, sich davon zu befreien. »Ich konnte mit ihm sprechen«, bestätigte Rahel, was Lilith ohnedies schon ahnte. »Was hat er gesagt?« wollte Lilith wissen. »Worüber habt ihr gesprochen?« »Über vieles«, antwortete das Kind. »Er hat so viel zu erzählen, daß ein ganzer Tag nicht genügen würde, um es zu hören.« »Aber –« Lilith unterbrach sich selbst. Ein Geräusch hatte sie irritiert. Sie wandte den Kopf zur Tür, lauschte – hörte Schritte, die näher kamen.
»Das Seltsamste war«, fuhr Rahel derweil fort, »daß er nicht von hier aus mit mir sprach –«, sie berührte den reglosen Körper des Mannes mit dem Finger, »– sondern von …« Lilith erfuhr nicht, von wo aus der Fremde mit dem Kind gesprochen hatte – – denn die Tür zum Flur flog auf! Und Gershom Chaim stürmte die Kammer wie ein Rachegott!
* Versonnen strich David Chaim über die samtene Haut des Pfirsichs. Fast wie die ihre, dachte er, den Blick zur Decke des elterlichen Ladens gehoben. Dann biß er in die Frucht. Süßer Saft lief ihm aus den Mundwinkeln. Das Aroma stieg ihm in die Nase, und auch dieser Duft erinnerte ihn an sie. Wie alles in den Tagen, seit es geschehen war. Seit sie ihn zum Mann hatte werden lassen. Hätte er sich doch nur ihres Namens entsinnen können … Aber er kam nicht darauf, wie er so manches in Gedanken nicht recht greifen konnte, als gehorche ihm seine Erinnerung nicht mehr wie früher. Sie selbst aber hatte er nicht vergessen. Konnte er nicht vergessen. Zu großartig war, was sie ihn hatte tun lassen – und was sie mit ihm getan hatte. Und auch Vater würde es nie vergessen. Aus ganz anderem Grunde aber … Er hielt es für Sünde, was da geschehen war. Er haßte sie dafür. Und ein kleines bißchen wohl auch seinen Sohn … Aber – konnte so etwas Wunderbares Sünde sein? War es nicht vielmehr das Schönste auf Erden? Liebe vielleicht? Nun, von David Chaims Seite aus gewiß. Von ihrer aber …? Eher nicht. Eine Frau wie sie würde sich nie-
mals in einen Jungen seines Alters verlieben. Zudem sie ganz offensichtlich für einen anderen in Liebe entflammt war. Auch wenn der wie tot schien und sich nicht geregt hatte, seit sie beide in das Haus seiner Eltern gekommen waren … Um sich abzulenken (denn schon brannte ihm wieder dieses Feuer in den Lenden), begann David damit, ein paar Obst- und Gemüsekisten hin und her zu rücken und die Ware nach Frische anzuordnen: Früchte, die in den nächsten Tagen verderben würden, legte er in Griffweite der Kunden, noch nicht ganz reife schichtete er zuunterst – »Junge?« David sah erschrocken auf. Er hatte die beiden Männer nicht in den Laden kommen hören. Und als er sie ansah, wich das unangenehme Gefühl nicht von ihm. Er konnte nicht sagen, was an ihnen seine Beunruhigung schürte, aber sie wirkten – nun, merkwürdig eben. Von ungesunder Blässe das Gesicht des einen, während das des anderen unsichtbar im Dunkel einer Kapuze lag, als verberge er sich in einer Höhle, und etwas umwehte beide Männer, als hätten sie einen sonderbaren Wind mit hereingebracht, der nicht von ihnen ließ. Der mit der Kapuze hatte ihn angesprochen, und so wandte David sich nun an ihn, als er fragte: »Was kann ich für Sie tun?« Dabei wies er einladend auf die Ware in den Regalen, Körben und Kisten, die den Laden zu einem kleinen Labyrinth machten. »Mit nichts von all dem«, erwiderte der seltsame Fremde. Er trat einen Schritt näher. Dabei klimperte etwas an seinem Gürtel, als trage er schwere Münzen in dem daran befestigten Säckchen. Der Ton schien David fast melodiös … »Womit dann?« fragte der Junge. »Wir verkaufen nur Obst und Gemüse …« »Ich will den Kelch!« Der Fremde sprach in so herausforderndem Ton, als erwarte er, daß der Junge sich automatisch weigern würde,
ihm zu geben, wonach er verlangte. Der aber wußte nicht einmal, wovon der andere sprach! »Ich verstehe nicht …«, sagte David, die Stirn kraus ziehend. »Der Kelch befindet sich in diesem Haus, ohne jeden Zweifel«, beharrte der Fremde. »Gib ihn uns, und wir gehen.« »Wie kann ich Ihnen etwas geben, das ich nicht habe?« David wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Fremde begann ihn regelrecht zu ängstigen. Der zweite Mann, mit fast jugendlichem Gesicht und widerspenstigem Blondschopf, trat hinzu, richtete seine Augen auf den Jungen und starrte ihn eine endlose Sekunde lang so intensiv an, als dringe sein Blick durch Haut und Fleisch bis in die verborgensten Winkel seines Geistes. Dann sagte er zu seinem Begleiter: »Er sagt die Wahrheit. Er kennt den Kelch nicht.« Er zögerte, ehe er weitersprach: »Aber jemand hat seinen Geist beeinflußt – nach unserer Art!« »Ein weiterer Vampir?« entfuhr es dem anderen erschrocken. »In diesem Haus?« David zuckte zusammen. Nicht des Wortes Vampir wegen, sondern weil er aus einem völlig irrationalen Grund heraus plötzlich um das Wohl der schönen Besucherin – der Frau seiner Träume! – fürchtete. Dem Fremden war die Regung des Jungen nicht entgangen. »Führe uns zu der Person, an die du denkst«, forderte er ihn auf. »N-nein, das tu i-ich nicht.« David schüttelte heftig den Kopf, zitterte aber wie Espenlaub. »Tu es!« befahl der andere – während er selbst etwas tat, das David zutiefst entsetzte! Er ließ den Jungen in die Abgründe des Wahnsinns schauen, indem er dessen Gedanken anrührte. Hätte er seine Hypnosekraft vollends wirken lassen in Davids Kopf, hätte er den Geist darin auf ewig geschädigt. Denn stand ein Mensch erst einmal im geistigen Bann eines Vampirs, konnte kein anderer ihn brechen, ohne die betreffende Person in Irrsinn den zu
stürzen. Deshalb verzichtete Remigius darauf, den Knaben solcherart zu beeinflussen, sondern verlangte nur noch einmal eindringlichst: »Geh voran!« Schweigend wandte der Junge sich um, zitternd vor Angst, die an Panik grenzte, und ging. Remigius und Pascal folgten ihm.
* Rahel schrie vor Erschrecken auf und rückte schutzsuchend näher an Lilith heran. Gershom Chaim mißverstand die Bewegung, glaubte, die Vampirin würde das Kind als Schutzschild gegen ihn nutzen wollen. Er stoppte seinen Vorwärtsdrang, ohne indes seine drohende Haltung aufzugeben. Die Spitze des Pfahls hielt er unmißverständlich gegen das Weib gerichtet, seine Augen glänzten wie im Fieber, sein Gesicht war zur Grimasse verzerrt. Angst und Zorn lagen in seinen Zügen in stetem Widerstreit. »Laß das Kind!« geiferte er. »Rahel, komm her zu mir!« »Vater, was –?« »Tu, was ich dir sage!« rief Chaim mit bebender Stimme. Lilith schob Rahel sanft von sich. »Tu, was dein Vater sagt. Geh zu ihm.« »Aber –«, wollte das Mädchen abermals protestieren, und Lilith verstärkte ihren Druck geringfügig. Widerstrebend machte Rahel zwei, drei Schritte in Richtung ihres Vaters, bis der sie grob am Arm faßte und hinter sich zerrte. »Und nun zu uns!« knurrte Chaim. Er trat einen Schritt vor und stieß den Pflock in Liliths Richtung, als wolle er ein Tier verscheuchen. »Was soll das werden?« fragte Lilith scheinbar ungerührt. Tatsäch-
lich spannte sie sich innerlich, um einem plötzlichen Angriff ausweichen zu können. Sie wollte Gershom Chaim nicht verletzen – aber sie würde sich auch von ihm nicht verletzen lassen. »Du wirst bezahlen für alles Leid, das du über uns gebracht hast«, erklärte Gershom Chaim grimmig. »Ich habe euch nichts getan«, behauptete Lilith. »Und wenn du vernünftig bist, wird nichts weiter passieren. Im Gegenteil, du wirst uns schon bald los sein.« Chaim nickte heftig. »Ja, das werde ich – weil ich dafür sorgen werde, daß ihr ein für allemal verschwindet!« Er warf sich nach vorn. Lilith wich ihm nicht aus. Sie ließ sich nur ein wenig zurücksinken, zog die Beine an und ließ sie im richtigen Moment vorschnellen. Hart trafen ihre Füße Chaim vor die Brust und schleuderten ihn zurück. Mit katzenhafter Gewandtheit setzte sie ihm nach. Doch sie unterschätzte die Verzweiflung des Mannes; sie war es, die ihm Kraft und Mut verlieh und ihn über sich hinauswachsen ließ! Im Liegen führte er einen wuchtigen Hieb mit dem Pfahl, so schnell, daß die Spitze Lilith eine klaffende Wunde am Bauch beibrachte. Die Halbvampirin schrie auf, mehr vor Überraschung, denn vor Schmerz, und wich zurück, um der nächsten Attacke zu entgehen. Chaim nutzte den Moment und sprang auf, um gleich wieder auf Lilith einzudringen. Zwei, drei Schritte wich sie nach hinten, dann stoppte das Bett ihre Bewegung. Gershom Chaim stieß ansatzlos zu. Lilith steppte zur Seite, strauchelte und stürzte über das Lager – und damit auf den reglosen Fremden. Bevor sie sich erheben konnte, tauchte Chaim über ihr auf, und aus ihrer Perspektive sah es aus, als
wachse der andere aus dem Boden empor. Die Arme hatte er in die Höhe gerissen, den Pflock hielt er mit beiden Händen umklammert – und so rammte er ihn hinab, legte all sein Gewicht und jedes Quentchen Kraft in den Stoß. Lilith blieb eine halbe Sekunde zur Entscheidung: Wich sie dem Stoß aus, würde der Pfahl den Mann treffen und durchbohren, dem all ihre Gefühle galten – Der Gedanke genügte! Lilith blieb liegen. Und erwartete den tödlichen Stoß … Doch der blieb aus! Gershom Chaim wankte, fiel und stürzte. »Tu ihr nichts!« hörte Lilith ein verzweifeltes Stimmchen schreien. Rahel! Das Mädchen hatte sie gerettet, mußte seinen Vater irgendwie am Stoß gehindert haben. Lilith sprang auf. Sie wollte Gershom Chaim, der gerade wieder hochkommen wollte, entwaffnen und ihn dann zur Räson bringen. Es blieb beim Wollen – – denn die Situation veränderte sich binnen einer Sekunde grundlegend. Zwei Fremde, wie Mönche gekleidet, tauchten im Türrahmen auf, stürmten herein. Hinter ihnen sah Lilith den jungen David. Sein Blick hing an ihr wie der eines treuen Hundes an seinem Herrn. Sein Anblick schmerzte Lilith tief in der Brust. Was hatte sie ihm nur angetan? Unwichtig – zumindest im Moment! Denn einer der beiden Eindringlinge, sein Kopf lag verborgen unter einer weiten Kapuze, langte wortlos nach dem Lilienkelch, der nach wie vor neben dem Bett auf einem Tischchen stand. »Finger weg!« gellte Liliths Ruf. Zugleich zündete in ihr eine Art Funke, ausgelöst durch die plötzliche Erregung. Sie spürte, wie ihre Muskeln sich strafften, als würde neue Kraft in jede Faser gepumpt,
und das unangenehme Ziehen im Kiefer verriet ihr, daß ihre Eckzähne zu vampirischen Hauern wuchsen. Eher unbewußt drängte sie Rahel beiseite und in Richtung der Tür. All dies dauerte kaum eine Sekunde, in der die Hand des Fremden tatsächlich reglos über dem Kelch verharrte, als sei die Zeit angehalten und jede Bewegung eingefroren worden. In der nächsten Sekunde allerdings überschlugen sich die Ereignisse! »Sie ist eine Vampirin!« rief der Blonde. Und während der andere den Lilienkelch nun endlich ergriff, beugte er sich zu Gershom Chaim hinab, entriß dem den Pflock und richtete ihn gegen Lilith. Die stand starr wie gelähmt, denn sie erkannte, daß der Angreifer war wie sie – ein Vampir! Er fletschte die Zähne, seine Augen waren rotgeädert, und animalisches Knurren entrang sich seiner Kehle. »Richte sie hin!« brüllte Remigius. Und Pascal gehorchte.
* Lilith entging dem Stoß nicht ganz. Zwar gelang es ihr, zur Seite zu springen, doch die Pfahlspitze drang ihr tief ins Fleisch des Oberarmes. Der angreifende Vampir drehte das Holz noch in der Wunde, ehe er es herausriß, nur um zum nächsten Hieb auszuholen. Lilith stöhnte auf, preßte die Hand automatisch auf die stark blutende Wunde. Nur halbherzig trat sie nach dem Gegner, traf ihn nicht richtig, brachte ihn nur für einen Moment aus dem Konzept. Sie zog sich in Richtung des Kammerfensters zurück. Dabei fiel ihr Blick zur Tür. Rahel klammerte sich draußen auf dem Flur schutzsuchend an ihren Bruder. Und dieses Bild brachte ihr endlich zu Bewußtsein, daß sie tatsächlich Leid und Chaos in diese Familie getragen hatte …
Nichts von dem, was jetzt geschah und noch geschehen würde, wäre dieser Familie je widerfahren, hätte sie das Haus der Chaims nicht heimgesucht! Lilith suchte Davids Blick und löste in diesem Augenblick den Knoten, mit dem sie den Geist des Jungen verschnürt hatte. »Geht!« rief sie. »Bringt euch in Sicherheit! Lauft weg, schnell!« Einen Moment lang schien es, als würde David nicht verstehen; er blinzelte verwirrt. Dann erweckte er den Eindruck, als wolle er sich weigern, und Lilith schrie ihn an, zu verschwinden mitsamt seiner Schwester. Da endlich reagierte er, zögernden Schrittes erst, dann immer schneller, und schließlich polterten die beiden Geschwister hörbar die Treppe hinunter, so schnell ihre Beine sie trugen. Durch eine mehr zufällige Bewegung wehrte Lilith den nächsten Angriff des blonden Vampirs ab – und dann stand sie erneut da wie vom Donner gerührt! Weil sie den Fremden plötzlich wiedererkannte – nein, nicht sie hatte ihn schon einmal gesehen, sondern … Beth! Hier in Jerusalem, im Jahre 1666! Nur war er damals noch kein Vampir. Im Gegenteil, er war drauf und dran gewesen, Landru, damals noch Hüter des Kelches, zu vernichten! Offensichtlich hatte sich das Blatt nach Beth’ Flucht aus den Katakomben seinerzeit grundlegend gewendet … Lilith schrie auf, als der Pflock in ihre Schulter drang! Der andere – Pascal! erinnerte Beth sich seines Namens – hatte ihre Irritation genutzt und nur durch seinen Übereifer nicht richtig getroffen. Was bin ich doch für ein Glückskind, dachte Lilith zynisch. Aber sie wollte Fortunas Gunst nicht weiter ausnutzen. So angeschlagen, wie Lilith war, sah sie keine Chance, im Kampf zu bestehen. Ihr blieb nur eine Möglichkeit – Flucht! Vielleicht würde die Situation später günstiger für sie sein. Wenn sie ihre Wunden geleckt hatte …
Sie ignorierte den Schmerz ihrer Wunden, löste den Impuls aus und verwandelte sich. Wie ein Geschoß jagte sie in Fledermausgestalt gegen die Scheibe des geschlossenen Fensters und in einem Splitterregen hinaus in den Himmel über Jerusalem.
* Niemand schenkte dem Eselskarren, der sich durch die Gassen der Altstadt bewegte, groß Beachtung. Schließlich kannte jedermann Gershom Chaim, und so wurde er nur im Vorübergehen gegrüßt, stets freundlich, wie Gershom Chaim es sonst stets selbst war. Nur heute nicht … Heute erwiderte er keinen Blick noch Gruß, sondern zog gesenkten Hauptes an der Seite seines Eselchens dahin, das dem verplanten Karren vorgespannt war. Denn niemand sollte seine Tränen sehen. O ja, er war das blutsaufende Weib losgeworden – aber zu welchem Preis! Zwei andere Vampyre, wie sie in den alten Schriften hießen, waren ihm an ihrer statt ins Haus gekommen, und sie tyrannisierten ihn nicht minder. Im Gegenteil … Sie hatten ihn gezwungen, den Karren anzuspannen, damit sie darin unbemerkt davonkamen. Doch nicht nur die beiden befanden sich auf der engen Ladefläche des Wägelchens. Den reglosen Kerl, den das Weib mitgebracht und nun zurückgelassen hatte, nahmen sie mit sich – und Rebecca … Als Pfand, hatte ihm die Kreatur mit der Kapuze gesagt. Damit du nicht auf dumme Gedanken kommst. Obwohl Chaim sich um seine Kinder sorgte, war er doch froh, daß sie im Tumult entkommen und verschwunden waren. Wo sie auch sein mochten, es würde ihnen dort allemal besser gehen als bei ihm. Denn er war scheint’s nicht imstande, seine Lieben vor Übel zu behüten …
In die Nähe des Felsendomes dirigierte ihn die Stimme vom Karren her, und vor einem verlassenen Haus am Ende eines schmalen und kaum belebten Gäßchens ließ sie ihn anhalten. Hier nun mußte er dem blonden Vampir helfen, den Scheintoten vom Karren zu zerren, derweil der andere mit Rebecca an der einen und dem seltsamen Kelch in der anderen Hand voranging. Sie betraten das teils schon verfallene Haus, gingen hinunter in den Keller und gelangten dort durch einen Mauerdurchbruch in die alte Kanalisation Jerusalems. Der weitere Weg führte sie noch tiefer hinab in die vergessenen Eingeweide der heiligen Stadt, durch enge und niedrige Gänge, durch dunkle und stinkende Katakomben, bis sie endlich am Ziel anlangten – – wo Gershom Chaim im allerersten Augenblick tatsächlich meinte, sie seien in der Zeit selbst zurückgegangen! Annähernd zweitausend Jahre weit. Denn dort, ganz am Ende der riesigen Halle – – hing doch wirklich und wahrhaftig ein Mann am Kreuze!
* Remigius warf nur einen flüchtigen Blick in Richtung des einstigen Altarraums. Zu sehen, daß der Hüter des Kelchs dort am Kreuz hing, genügte dem Vampir. Mit Landru würde er sich entgegen seines ursprünglichen Planes später befassen. Er hatte den Eichenpflock mitgebracht, den Gershom Chaim geschnitzt hatte. Gepfählt zu werden, war ein passendes Ende für Landru. Später … Der Kelch stand jetzt allein im Mittelpunkt von Remigius’ Interesse. Oder vielmehr das, was er darin entdeckt hatte! Ein eigenes Bewußtsein? Alles wies darauf hin. Remigius hatte es dank seiner Gabe gespürt,
jedoch im Hause Chaims und auf dem Weg hierher der Versuchung widerstanden, es gleich zu erforschen. Immerhin hatte er im unbedachten Umgang mit dem Kelch schon schlimmste Erfahrungen gesammelt. Wenn sie auch weit zurücklagen, so litt er doch noch heute an den Folgen. Mit einer unbewußten Geste zog er die Kapuze tiefer in die Stirn, wie immer, wenn er sich seines verwüsteten Gesichts entsann … »Fürchtet euch nicht«, sagte er halblaut zu Gershom Chaim und dessen Frau, schon im Gehen begriffen. »Wir werden euch nichts tun. Ihr aber dürft etwas für uns tun und dann gehen. Später erst, wenn …« Den Rest ließ er unausgesprochen. Den Blick ins Dunkel des Kelches vertieft, ging er davon, bis er sich unbeobachtet wußte. Im Schatten einer Deckensäule ließ er sich nieder, beobachtete, wie das Licht der Fackeln über den Rand des Kelches tanzte, ohne in die Schwärze darunter dringen zu können, ganz so, als läge ein unsichtbarer Deckel darüber. Remigius indes vermochte ihn zu durchdringen. Mit unsichtbaren Geistfingern griff er hinein. Berührte etwas. Faßte danach. Und befreite es. Dann schrie er auf. Voller Entsetzen und Schmerz. Weil das Ding im Kelch mächtiger und gewaltiger war als alles, dem Remigius in Jahrhunderten je begegnet war.
* Ein Sturm erschütterte den geheimen Versammlungsort der Vampirsippe, wie die Welt draußen ihn noch nicht erlebt hatte! Seine Gewalt war überirdisch. Und doch zerstörte er nichts. Menschen und Vampire aber gingen zu Boden unter seiner Macht,
wurden niedergeprügelt wie von unsichtbaren Riesenfäusten. Über ihnen tobte etwas wie eine Horde wütender Geister, heulend und fauchend, und ließ jeden Stein erzittern, ohne daß auch nur Staub von der Decke zu Boden gerieselt wäre. Dann verebbte der Sturm. So plötzlich, wie er dem Kelch entstiegen war. Sekundenlang herrschte Totenstille. Zu seiner eigenen Verwunderung war es Gershom Chaim, der als erster den Kopf hob und sich umsah – – und aufschrie! Denn neben ihm erhob sich – ein Toter? Nun, wenn er je tot gewesen war, dann war er es jetzt nicht mehr. Der Kerl, der Tage und Nächte reglos in seinem Haus gelegen hatte, stand auf. Er sah auf Gershom Chaim herab. Und der sah in den nachtfarbenen Augen des anderen jenen Sturm, der eben noch um sie her getobt hatte. Iris und Pupille schienen sich zu bewegen wie winzige Mahlströme, an deren Grund tiefrote Glut gloste wie in den Kratern zweier Vulkane. Unwillkürlich, schloß Gershom Chaim die Augen. Trotzdem spürte und hörte er, wie jene »Vulkane« ausbrachen! Sengende Hitze erfüllte den Raum, entriß der Luft brüllend den Sauerstoff. Etwas verging krachend im Feuer des explodierenden Blickes. Jemand schrie voller Schmerz auf. Als Gershom Chaim es wagte, die Lider wieder zu öffnen, sah er, daß das gewaltige Kreuz am Ende der Halle zerschmettert worden war, vergangen im Blick des Auferstandenen. Und der Mann, der daran gehangen hatte …?
* Landru litt Höllenqualen! Auf keine andere Weise wäre er ärger zu quälen gewesen und
durch nichts mehr zu demütigen. Indem sie ihn ans Kreuz schlugen, hatten sie ihm zugleich das Kreuz gebrochen … Die Ausdünstung der Reliquie bescherte ihm schon schlimmsten Schmerz. Die Art, in der ihn seine beiden Bewacher lähmten und gefangenhielten, tat ein Übriges dazu. Fehlt nur noch, dachte Landru voll beißender Ironie, daß sie mir Schwämme auf Spießen hochrecken, mit Weihwasser getränkt … Er würde nicht sterben hier am Kreuz – verrecken würde er! Elendig zugrunde gehen. So also sollte der Weg des Mächtigsten unter den Vampiren enden – so kläglich, so erbärmlich … »Laßt mich gehen«, bat er die beiden Getreuen Remigius’, die links und rechts des Kreuzes postiert waren. »Ich werde mich nicht schadlos halten an euch. Nichts wird euch geschehen, wenn ihr mich nur gehen laßt –« Landru ekelte sich vor seinen eigenen Worten und der Art, in der er vor Schmerz um sein Leben bettelte. Nein, so armselig wollte er nicht sterben! Wenigstens mit Würde wollte er dem Tod begegnen. Und so schwieg er fortan. Bis Remigius zurückkehrte, und mit ihm sein Gefolgsmann Pascal, zwei Sterbliche und – »Anum?« entfuhr es Landru flüsternd. Pascal und der Mann legten den reglosen Körper zu Boden, und Landru kniff die Lider zusammen, um seinen vor Schmerz schon trüben Blick noch einmal zu schärfen. Kein Zweifel – es war sein hoher Bruder, den sie da hingelegt hatten! Und er schien tot zu sein … Ein winziges Lächeln wehte über Landrus verzerrtes Gesicht. So hatte er den Auftrag seines Herrn doch noch erfüllt, ohne etwas dazu tun zu müssen. Sieg oder stirb!
Landru würde beides beschieden sein: Anum war vernichtet, wenn auch nicht durch seines Bruders Hand. Und der sollte trotzdem sterben … Satan mußte sich ins Fäustchen lachen! Doch dann kam alles doch ganz anders … Landru ahnte es, noch bevor Remigius sich mit dem Kelch zu befassen begann. Und als die daraus entfesselte Macht in dem einstigen Kirchenschiff zu wüten begann, wußte er, worum es sich dabei handelte. Diese Aura war ihm zu vertraut geworden, als daß er sie je vergessen hätte – »Anum«, flüsterte Landru mit neu erwachender Kraft. Das tobende Bewußtsein sammelte sich und drang in seinen reglosen Leib, belebte ihn. Als Landru dann den Blick seines Bruders auf sich fühlte, glaubte er, das Ende sei nun doch gekommen. Als das Feuer in Anums Augen sich entlud, schrie Landru auf vor Schmerz – – dann aber richtete er sich aus den Trümmern des Kreuzes auf, entstieg ihnen wie Phönix der Asche. So leicht war er nicht zu bezwingen oder gar zu vernichten. Denn in ihm war mehr als nur die Kraft eines Vampirs. Schließlich hatte der Leibhaftige selbst ihn auf den Weg geschickt – und für seine Mission gewappnet … »So sieht man sich wieder«, lächelte Landru, während er auf Anum zuging. »Landru«, sagte der andere nur, kalt und mit starrer Miene. »Wolltest du zum Brudermörder werden?« Landru wies hinter sich, wo er eben noch ans Kreuz geschlagen gewesen war. »Hätte ich das gewollt, stündest du jetzt nicht vor mir«, erklärte Anum. »Dann hättest du dir besser mehr Mühe gegeben«, meinte Landru leichthin. »Ich kenne nämlich keine Skrupel!« Damit entfesselte er seine Kraft!
Und ein Kampf entspann sich, wie niemand ihn zuvor gesehen hatte. Denn niemals waren die Mächtigsten der Vampire gegeneinander angetreten in einer Schlacht, die nur einen Sieger kennen durfte. Weil Satan es so wollte.
* Schwarzes Feuer war Landrus erste Waffe, mit der er zu Felde zog – und seine geringste! Es floß ihm aus den Händen und ließ den Boden um Anum her aufbrechen. Klüfte taten sich auf, Schollen entstanden, deren Bewegung den Letzten der Hohen ins Wanken brachte. Um sein Gleichgewicht bemüht, kam er kaum dazu, seinerseits Landru zu attackieren. Dann aber setzte er mit einem kräftigen Sprung über auf festen Grund und warf sich endlich auf seinen Bruder, der unter Anums Gewalt und Gewicht stürzte. Die Glut seines Blickes aber neutralisierte Landru mit schwarzem Feuer, und er tat noch mehr, jagte ihm die lichtlosen Flammen tief in den Leib, so daß Anum aufbrüllend von ihm abließ. Der Schmerz jedoch schien dessen Angriffslust noch anzustacheln. Blindwütig stürzte er sich erneut auf Landru, schlug ihn mit solcher Kraft, daß ihm die Knochen hörbar im Leibe brachen. Der satanische Keim in Landru potenzierte allerdings dessen Heilkraft, so daß jeder Bruch ungeschehen war, kaum daß er entstand. »So nicht, Bruder!« lachte der vom Kreuz Gezeichnete. »Und nun ist es genug mit dem Spaß – jetzt sollst du wissen, was in mir steckt!« Landru vollführte Bewegungen, als werfe er etwas – und aus dem Nichts entstanden grellweiße Blitze, so strahlend hell und von solcher Macht, daß Anum Schatten warf! Und diese Schatten vergingen nicht, als die Blitze verloschen, sondern blieben – und erhoben sich! Gestaltlose Abbilder Anums grif-
fen ihn selbst an. Und während er sich ihrer nicht erwehren konnte, brachten die geisterhaften Angreifer Schlag um Schlag an. Unter dem Feuer seines Blickes jedoch vergingen sie endlich. Ihre Zahl indes beschäftigte Anum eine Weile lang, in der Landru sich ihm ungehindert nähern konnte. Und er nutzte seine Chance. Die Hand zur Klaue mutiert, hieb Landru zu – stieß Anum die Krallen in die Brust, tief und tiefer! Bis er dessen Herz umfassen konnte. »Und jetzt«, geiferte Landru triumphierend, »stirb, Bruder!« Schwarzes Blut lief ihm in Strömen über den Arm, als er ansetzte, Anums Herz aus der Brust zu reißen!
* Liliths Flucht hatte nicht weit geführt. Als sie merkte, daß niemand ihr folgte, hatte sie sich auf einem Dach in der Nähe niedergelassen. In menschlicher Gestalt konzentrierte sie sich darauf, ihre höllisch schmerzenden Wunden zu schließen, und nach einer Weile fühlte sie sich immerhin soweit gekräftigt, daß sie zum Haus der Chaims zurückkehren konnte. Sie kam gerade recht, um zu beobachten, wie die beiden Vampire mit ihren Gefangenen im Eselskarren abzogen. Zum Angriff mochte Lilith sich noch nicht entschließen. Momentan schien weder den Chaims noch ihrem namenlosen Freund unmittelbare Gefahr zu drohen, und so folgte sie dem Karren nur in sicherem Abstand und der Gruppe schließlich hinab ins unterirdische Jerusalem. Als Lilith am Ziel Landrus gewahr wurde, hätte sie sich am liebsten auf ihn gestürzt, und sie mußte an sich halten, um nicht vor Wut und Haß laut aufzubrüllen. Was hatte ihr dieser Bastard nicht alles angetan?
Belogen und betrogen hatte er sie, ihr Leben ruiniert, ihren Vater ermordet … Er hatte den Tod tausendfach verdient, und ihn am Kreuz zu sehen, war ihr Genugtuung, wenn auch nicht genug. Vielleicht konnte sie sich seiner später annehmen, wenn sie ihre Kräfte regeneriert hatte – – doch zuvor überstürzten sich die Ereignisse! Der Namenlose, dem sie schon in Uruk verfallen war, erwachte endlich aus seiner totenähnlichen Starre, und auch seinen Namen erfuhr sie endlich. Anum! Er klang wie Musik in ihren Ohren, und sie wiederholte ihn dutzendfach im Stillen. Jetzt verstand Lilith auch, was Rahel ihr hatte sagen wollen – Anums Bewußtsein war allem Anschein nach im Lilienkelch gefangen gewesen! Nur – warum? Egal. Es war unwichtig, jetzt, da er endlich erwacht war! Und was war er für ein Wesen! Mächtig, gewaltig – anbetungswürdig. Mächtiger noch und gewaltiger aber schien zu ihrem Entsetzen Landru! Anum drohte im Kampf mit ihm zu unterliegen. Landru, der elende Hund, war drauf und dran, ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen! Lilith schrie auf. »NEIN!« Ihr gellender Schrei verging im lautlosen Ultraschall-Kreischen einer Fledermaus. In deren Gestalt nämlich raste Lilith quer durch die Halle. Winzige Krallen nahmen den unterarmlangen Holzpflock, den Remigius aus Chaims Haus mitgebracht hatte, vom Boden auf. Dann jagte Lilith in Richtung der Kämpfenden und verwandelte sich noch im Flug zurück. Sie stürzte zu Boden. Kam hoch. Sprang Landru an. Packte ihn
und riß ihn herum. Schwarzes Blut spritzte, als seine Klaue aus Anums Brustwunde glitt – ohne dessen Herz in den Fingern. Dann floß von neuem vampirisches Blut. Landrus diesmal … Als Lilith ihm den hölzernen Pfahl tief ins schwarze Herz trieb!
* Blut brach Landru über die Lippen, erstickte sein Brüllen zu einem erbärmlichen Gurgeln. Als fließe alle Kraft mit dem Blut aus ihm heraus, sank er schwächer werdend in die Knie. Sekundenlang hielt er sich noch so, dann kippte er vornüber. Lilith trat einen Schritt zur Seite. Landru kam vor ihr im Staub zu liegen, stieß sich den Pfahl dabei noch weiter in die Brust, so daß die Spitze an seinem Rücken austrat. Teilnahmslos verfolgte sie den Todeskampf ihres Erzfeindes. Sah, wie er sich im Dreck wand, hörte, wie er stöhnte und ächzte und immer wieder hustend Blut auspie. Sie wünschte sich das Gefühl von Triumph. Aber es kam nicht. Zu töten blieb eine schmutzige, alles andere denn erhebende Sache, ganz gleich, wer da starb und ob er den Tod verdient hatte … Endlich lag Landru reglos. Nie hatte Lilith sich von tieferer Stille umfangen gefühlt. Etwas Andächtiges lag darin. Fast war ihr, als halte die ganze Welt in diesem Augenblick den Atem an. Eine Ära war zu Ende gegangen. Eine neue konnte beginnen. Lilith spürte eine Berührung an der Schulter, dann die eines Armes, der um ihre Schulter glitt, stark und beschützend. Sie barg ihr Gesicht an Anums muskulöser Brust. Nie hatte sie sich wohler gefühlt. Nie war das Leben besser gewesen.
Wenigstens für diesen zeitlosen Moment hatte sie dieses Gefühl – – bis sie sah, was Anum getan hatte, während sie Landrus Sterben bezeugt hatte! Gershom Chaim, seine Frau Rebecca – tot! Blutlos und mit gebrochenen Hälsen lagen sie im Staub. »Wie konntest du –?« setzte sie an. Doch das Feuer seiner Augen ließ sie verstummen. »Dies ist meine Art zu leben«, sagte er ruhig. »Und es muß die deine sein, wenn du an meiner Seite sein willst.« Lilith schluckte, ohne den kratzenden Kloß, der ihre Kehle fast verschloß, loszuwerden. Erstickt sagte sie, nickend: »Oh, das will ich. Mehr als alles andere auf dieser Welt, in diesem Leben.« Nie hatte die eigene Stimme in ihren Ohren fremder geklungen als jetzt. Wie um sich abzulenken, sah sie sich um, ohne fündig zu werden. »Was ist mit den anderen?« fragte sie. »Sie waren es nicht wert zu leben, nicht nach unserer Art«, erwiderte Anum lächelnd. Versonnen betrachtete er den Lilienkelch in seiner Hand. Dann fügte er hinzu: »Unsere Art kann nur so sein wie du und ich.« Er verstärkte seinen Griff um Lilith und führte sie hinaus. Einer neuen Zukunft entgegen – – die man vielleicht einst die Hohe Zeit nennen würde.
* Zwei verlorene Gestalten schritten durch die düstere Halle, Hand in Hand. Ein Junge und ein Mädchen. Bruder und Schwester. Vor ihren toten Eltern gingen sie in die Knie. Das Entsetzliche, dessen Zeuge sie geworden waren, nachdem sie ihren entführten Eltern bis hierher nachgeschlichen waren, ließ selbst ihre Tränen gefrieren. Stumm und reglos nahmen David und Rahel Abschied von Mutter
und Vater. Nach einer Weile ging das Mädchen ein Stück zur Seite, wie von lautlosem Locken dorthin gelotst, und beugte sich zu Boden. Ihre Finger tauchten in flockigen Staub und zogen ein ledernes Säckchen hervor. Münzen klimperten darin. Und aus der Asche selbst sprach eine Stimme zu ihr, wie die eines Toten. »Wer bist du?« fragte Rahel. Ein endlich Erlöster, bekam sie zur Antwort. »Erlöst? Wovon?« Vom Fluch, ewig leben und doch immer wieder sterben zu müssen. »Das verstehe ich nicht …« Mein Fluch war es, so lange auf Erden zu wandeln, bis ich für meine ruchlose Tat genug gebüßt haben würde. Nachdem ich ihn verraten hatte, legte ich Hand an mich selbst und erhängte mich. Doch mein Geist wurde in einen anderen Leib gezwungen, durfte nicht eingehen ins Jenseits. Und so ging es fort – immer wieder starb ich zwar, aber nie durfte ich tot sein … bis heute nicht. Einen Augenblick war Rahel versucht, das Säckchen mit den Münzen an sich zu nehmen. Tu es nicht, wisperte die geisterhafte Stimme. Blut klebt an diesem Geld, seit der Stunde, da ich es als Lohn nahm. Nur Unglück kann es jedem bringen, der sich die Finger daran beschmutzt. Rahel ließ den Beutel fallen. Ein letztes Mal klirrend versank er im Staub. Sie stand auf, wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen. »Wie ist dein Name?« fragte sie. Schweigen. Sekundenlang. Dann erst kam die Antwort, verwehend und wie von weit entfernt. Einst hieß ich Judas … Judas Iskariot. Den sie den Verräter seines Herrn nannten … ENDE
Voodoo Leserstory von Dirk Görner Zufrieden grinsend legte John Malesevic das Bündel Dollarnoten in das unterste Fach seines Kühlschranks. Das schien ihm seit jeher von allen Orten der Welt der sicherste zu sein. Deshalb bewahrte Malesevic alle ihm wichtigen Dinge dort auf: seine Scheidungsunterlagen, kompromittierende Polaroid-Fotos des sehr erregt aussehenden Bürgermeisters von Wakington, eine Kopie seines Lieblingsschuldscheines und andere Kuriositäten. Wenn er so etwas wie ein Gewissen besessen hätte, dann hätte John Malesevic es sicher ebenfalls im Kühlschrank gelagert, damit es nicht verderben konnte. Doch solche Gefühlsregungen waren ihm fremd. In seinem Job konnte so etwas wie ein Gewissen nur hinderlich sein. Nun, genau genommen war es kein richtiger Beruf, dem er nachging, mehr eine Berufung. Hätte er seine Aufgabe beschreiben müssen, so hätte er es mit den Worten getan: »Ich versuche alles Geld der Stadt an einem Punkt zu konzentrieren«. Und dieser Punkt war sein Kühlschrank. Seit nunmehr fünf Jahren war John Malesevic damit beschäftigt, durch Betrug, Erpressung und finstere Intrigen die Reichen und Schönen von Wakington um Geld und Verstand zu bringen. Heute erst hatte er dem Sohn des Immobilienhais Charles Mayors eine langjährige Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels erspart. Wahrscheinlich hätte Mayors ihm den riesigen Batzen Schweigegeld niemals bezahlt, wenn ihm bekannt gewesen wäre, von wem sein Sohn Thomas mit dem weißen Stoff beliefert worden war … Vergnügt warf Malesevic die Tür des Kühlschranks zu, der ebenfalls ein großzügiges Geschenk eines »Kunden« war. Wie auch der
Rest seiner Inneneinrichtung: die Eichenstühle, sein Ledersessel, der übermäßig breite Schreibtisch und nicht zu vergessen der vergoldete Ventilator. Dieses Prachtstück war hinter seinem Desktop in die Außenwand eingelassen und hatte einen Durchmesser von rund einem Meter. Er war die meiste Zeit des Jahres ausgeschaltet, denn sein Zweck bestand in der Aufbesserung von Malesevic’ Image, nicht im Zuführen von frischer Luft. Hätte er sich in diesem Moment seinem Schmuckstück zugewandt, so wäre ihm ein kleines Pelzknäuel aufgefallen, das sich auf ledrigen Schwingen durch die Lamellen des Ventilators schwang und kurz vor dem Schreibtisch auf dem Boden landete. Doch Malesevic wurde erst darauf aufmerksam, als hinter ihm eine Stimme laut wurde. »Vermehrt sich schmutziges Geld, wenn es kühl gelagert wird?« Malesevic fuhr herum. Der Ausdruck in seinem Gesicht zeigte eine wilde Mischung aus Wut, Entsetzen und purem Unverständnis. Sein Gegenüber lachte hell auf. »Ein Königreich für eine Polaroidkamera! Wenn die Welt da draußen Sie so sehen könnte, dann würde sich wohl niemand mehr von Ihnen erpressen lassen.« John Malesevic gewann langsam wieder an Fassung und versuchte die in Sekundenschnelle auf ihn eingestürzten Eindrücke zu verarbeiten. Vor ihm stand eine Frau, schätzungsweise Mitte zwanzig, die strohblonden Haare zu einer Stoppelfrisur geschoren. Sie trug eine lange schwarze Kutte und passende Stiefel, die mit silbernen Spangen verziert waren. Alles in allem hätte er sie trotz der ungewöhnlichen Kleidung für eine attraktive Frau gehalten, wenn ihr perfides Lächeln dieses Gesamtbild nicht empfindlich gestört hätte … »Wie kommen Sie hier herein?« fragte Malesevic. »Alle Türen sind verschlossen, die Fenster viel zu hoch über der Erde. Fliegen können Sie jawohl kaum, oder?« Ihr Lächeln wurde um eine weitere Nuance rätselhafter. »Nicht wie ich hereingekommen bin, ist wichtig, sondern wie Sie wieder her-
auskommen wollen …« Malesevic’ Verstand versagte ihm die Lösung dieses Geheimnisses und zauberte stattdessen einen noch verwirrteren Ausdruck auf sein Gesicht. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«, stammelte er. Die Kontrolle über diese Situation schien ihm vollends zu entgleiten, obwohl er nicht hätte sagen können, warum er sich so hilflos fühlte. Statt einer Antwort griff die seltsame Frau in die Innentasche ihres Mantels und förderte ein kleines Etwas zu Tage, das Malesevic seltsam vertraut vorkam. »Das sollte es auch«, antwortete die Unheimliche auf seine Gedanken und streckte ihm das Bündel entgegen. Es war eine Stoffpuppe, eine perfekte Nachbildung von Malesevic, mit langen schwarzen, zum Zopf gebundenen Wollhaaren, eingehüllt in einen dunklen Nadelstreifenanzug. Nicht einmal die goldene Krawattennadel fehlte. »Hübsch, oder? Aber das ist noch nicht alles …« Erneut glitt die Hand der Unbekannten in das Innenfutter des Mantels und zog eine silberne Schere daraus hervor. Ihr Lächeln verkam zu einem eisigen Grinsen. »Jetzt wird es ernst, Malesevic! Passen Sie gut auf, ich führe das nur einmal vor.« Mit diesen Worten schob sie ein Ohr der Puppe zwischen die Klingen der Schere und drückte langsam zu. Malesevic schrie entsetzt auf und griff sich mit einer Hand an sein linkes Ohr. Besser gesagt dorthin, wo bis eben noch sein Ohr gesessen hatte. Jetzt rann ihm lediglich ein Schwall warmen Blutes durch die Finger. Völlig benommen von taubem Schmerz und Unverständnis pendelte sein Blick zwischen der rotgetünchten Handfläche und seiner Peinigerin hin und her. »Sie fragen sich nach dem Warum, oder? Nun, lassen Sie es mich erklären. Im Grunde genommen ist es ganz einfach: Sie haben sich in all den Jahren innerhalb Ihrer Grenzen bewegt, und daher haben wir Sie toleriert. Doch jetzt haben Sie es gewagt, daraus hervorzubrechen. Das war nicht sehr klug, Malesevic! Ich bin hier, um Sie in
die Schranken zu weisen.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen«, wimmerte Malesevic. Die blonde Frau schüttelte den Kopf. »O John, Sie sind so dumm! Sie wissen nichts über diese Welt, nichts über die wirklichen Herrscher, die Geschöpfe der Nacht. Sie fühlen sich sicher in ihren kleinen betrügerischen Phantasien inmitten von Erpressung, Lügen und Intrigen. Aber Sie sind zu weit gegangen, haben sich mit den Falschen angelegt. Sie hätten die Finger von Charles Mayors lassen sollen. Er steht weit über Ihnen, Malesevic.« John Malesevic’ Gesicht war zu entnehmen, daß er wenigstens versuchte, die Worte der Unbekannten zu verstehen, wenngleich er vom eigentlichen Begreifen meilenweit entfernt war. Aber das war wohl auch nicht mehr wichtig. Malesevic hatte sich – unbewußt zwar, aber deshalb nicht weniger tödlich – am Falschen vergriffen und würde jetzt die Präsenz einer Macht zu spüren bekommen, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Der Versuch eines hoffnungsvollen Lächelns stahl sich über sein Antlitz, als Malesevic sah, daß die Unheimliche ihre Schere wieder in der Manteltasche verstaute. Doch er hatte diese Geste völlig falsch interpretiert. Die Blonde legte nach kurzem Zögern einen der zahlreichen Hebel auf dem Schaltpult des Schreibtischs um. Mit einem leisen Brummen begann sich der Ventilator hinter ihr zu drehen, erst langsam, dann immer schneller werdend, bis seine Blätter schließlich eine flirrende Scheibe bildeten. Mit einem letzten mitleidigen Blick auf Malesevic schob die Vampirin sein Puppenebenbild mit den Beinen voran in den Ventilator. Das Surren des Lüfters vermischte sich mit dem Geräusch splitternder Knochen … © Dirk Görner, Teichstr. 6, 01454 Wachau ENDE
Das »Heilige Land« Grenzgänge zwischen Mythen und Wirklichkeit Im vorliegenden Roman verlagert sich die Handlung unserer Serie nach Jerusalem und ins sogenannte Heilige Land (dieser Begriff meint nicht allein das heutige Israel, sondern auch Teile der benachbarten Länder, darunter etwa den zu Ägypten gehörenden Sinai). Obwohl Israel uns heutzutage kaum noch als fernes Land gelten kann (schließlich ist die Welt längst schon zum Dorf geworden), muß dem Mitteleuropäer vieles dort fremd und bisweilen unverständlich vorkommen. Das mag zum einen daran liegen, daß im Heiligen Land verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander treffen, und zum anderen an der langen und höchst wechselvollen Geschichte dieser Region, in der Mythen, Mystik und Wirklichkeit eine kaum trennbare Verbindung eingegangen sind. Da vor allem Jerusalem zum Teil auch in den kommenden Bänden Schauplatz der Geschichte Lilith Edens bleiben wird, sollen nachfolgend einige Informationen über die heilige Stadt Erwähnung finden. Sie erheben allerdings weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch sind sie zum Verständnis der Romane unabdingbar. Ferner werden verschiedene Begriffe aus dem Judentum erläutert, die im Romantext nicht in der notwendigen Ausführlichkeit behandelt werden konnten, ohne den Lesefluß zu stören. Jerusalem ist eine der ältesten Städte der Erde. Die erste bekannte Ansiedlung entstand um 3500 v. Chr. bei der Gihon-Quelle am Rande der Wüste von Judäa. Um 1000 v. Chr. bemächtigte sich König David der Stadt, nannte sie Yerushalayim und machte sie zur Hauptstadt der Reiche Judäa und Israel. In der Folgezeit wurde Jerusalem ein ums andere Mal umkämpft und geriet unter wechselnde Herrschaft.
Kriege kennzeichnen die gesamte Geschichte Jerusalems. Herausragend sind dabei die vom Abendland ausgehenden Kreuzzüge, die im Heiligen Land die Epoche eines christlichen Königreichs eröffneten (1099 bis 1187). Die Kreuzzüge – von den Protagonisten als kollektive Wallfahrten gepriesen – gipfelten in grausamsten Massakern und legten den Grundstein für den unversöhnlichen Haß der Religionen, der das gesamte nachchristliche zweite Jahrtausend prägte. Heute wird Jerusalem auch »die dreifach heilige Stadt« genannt: Mit Westmauer (»Klagemauer«), Grabeskirche und Felsendom vereint Jerusalem heilige Stätten von Judentum, Christentum und Islam. Diese Bauwerke liegen allesamt in der Altstadt Jerusalems, die von einer beeindruckenden Mauer umgrenzt wird: 12 bis 15 Meter hoch, fast 5000 Meter lang und von acht Toren durchbrochen, gibt sie der Altstadt die Form eines unregelmäßigen Trapez. Vor 500 Jahren ließ Sultan Süleyman »der Prächtige« diese Befestigungen errichten, und seither wurden sie kaum verändert. Die Altstadt Jerusalems gliedert sich in verschiedene Viertel: das jüdische, das armenische, das christliche und das muslimische. Allerdings macht die Altstadt heute nur noch den kleineren Teil Jerusalems aus: Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde auch außerhalb der Stadtmauern mit dem Häuserbau begonnen. Dort unterscheidet sich Jerusalem freilich kaum mehr von anderen Städten dieser Größenordnung. Bei der Westmauer (hebräisch: Kothel HaMa’aravi) handelt es sich um den letzten Überrest vom westlichen Teil der Stützmauern des Tempels, den Salomo erbauen ließ, Nebukadnezar zerstörte, die Rückkehrer aus dem Babylonischen Exil und Herodes wiedererrichteten und den Titus schließlich niederbrannte. Seit dem Tag der Zerstörung versammeln sich Juden, um auf seinen Ruinen zu beten (unter den Römern mußten sie übrigens für den Zutritt bezahlen); sie glauben, daß hier die Shechina, die Gegenwart Gottes, zu spüren ist. Eine Legende erzählt, daß die rosafarbenen Tropfen, die nachts die zwischen den Steinen hervorwachsenden Zweige des Ysop und des
wilden Kapernstrauchs benetzen, Tränen sind, die die Mauer um das Unglück Israels vergießt. Nach alter Tradition stecken gläubige Juden (und nicht nur sie, sondern auch Touristen) Papierstreifen, auf die sie ihre Wünsche und Gebete geschrieben haben, zwischen die Mauersteine. Um auch im Ausland lebenden Juden die Möglichkeit einzuräumen, dies zu tun, wurde in Jerusalem eine Faxnummer eingerichtet, an die sie ihre Gebete senden können. Ein Bote steckt die eingegangenen Faxe dann in die Ritzen der Westmauer. »Klagemauer« wurde der Kothel im Mittelalter fälschlich von den Christen genannt, weil sie die Gebete der Juden als Wehklagen auffaßten. Die Grabeskirche wurde im Jahr 326 erbaut über den Stellen, die der Überlieferung nach als Ort der Kreuzigung und Grablegung Jesu gelten. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die »heilige Stätte des Todes und der Auferstehung des Erlösers« mehrmals zerstört und wieder aufgebaut. Heute zeigt sie sich als ein Labyrinth von Kapellen, heiligen Stätten und historischen Bauten, das wenig mit unserem Bild einer Kirche gemein hat. Mehrere christliche Glaubensgemeinschaften machen Ansprüche auf die Grabeskirche geltend und wachen eifersüchtig über ihren jeweiligen Teil. Der Felsendom (arabisch Qubba el-Sakhra) erhebt sich über einem Felsen, um den Mythen aller drei monotheistischen Religionen kreisen: Hier soll Abraham bereit gewesen sein, seinen Sohn Isaak zu opfern (Gen 22), und hier brachte David sein Opfer dar. Die Muslime erkennen hier den Abdruck des Propheten Mohammed und den der Hand des Erzengels Gabriel. Die Grotte unter dem Felsen wird von den Moslems »Brunnen der Seelen« genannt; dort sollen sich die Seelen der Toten versammeln, bevor sie in den Himmel aufsteigen. Das Judentum gründet sich auf den Glauben an den einen Gott und den Bund, den Er mit dem Volk schloß, dessen Geschichte in der Epoche Abrahams vor 4000 Jahren begann und in den Schriften der Bibel festgehalten ist. Alle Aspekte des Judentums haben ihre
Quellen in den heiligen Schriften, die als geschriebenes Gesetz gelten. Zusammen mit der Auslegung dieses biblischen Gesetzes (Talmud) sind die Bücher des Alten Testaments die Inspiration aller jüdischen Gemeinden. Viele Begriffe aus dem Judentum sind zwar geläufig, ihre Bedeutung aber ist nicht immer wirklich bekannt. Rabbi, aramäisch für »Meister«, ist ein Titel, der in den nachbiblischen Texten Gesetzesgelehrten oder geistigen Führern gegeben wird. Heute bezeichnet man auch religiöse Juden, die Kinder und Erwachsene unterrichten, als Rabbiner. Talmud heißt wörtlich »Lehre«; er enthält die im 3. Jahrhundert verfaßte Mishnah, die Auslegung des biblischen Textes, sowie die Gemara, die Gesamtheit der rabbinischen Kommentare zur Mishnah. Die Thora ist im weitesten Sinne das jüdische Gesetz, das von Gott durch Moses mitgeteilt wurde. Strenggenommen handelt es sich um die Fünf Bücher Moses (Pentateuch), die die Geschichte des hebräischen Volkes vom Anbeginn bis zum Tode Moses erzählen: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Die Thora ist schriftlich auf Rollen festgehalten. Der Sabbat (Shabbat) ist ein Festtag, der daran erinnert, daß Gott sich am siebten Tag, nach der Erschaffung der Welt, ausruhte. Der Mensch soll ihm nacheifern und eine Ruhepause beim materiellen Erwerb einlegen. Der Sabbat beginnt am Freitagabend und endet Samstagnacht. Jahwe bedeutet der Überlieferung zufolge »Ich bin der, der ist«. Damit wird die Allgegenwart Gottes bestätigt, dessen Name weder ausgesprochen noch geschrieben werden darf. Die Halachah ist das jüdische Religionsgesetz und führt auf, was Juden am Sabbat zu tun verboten ist. Darunter fällt u. a. auch das Entzünden und Löschen von Feuer. Heute wird dieses Verbot so ausgelegt, daß es z. B. nicht erlaubt ist, einen Motor in Betrieb zu nehmen oder das elektrische Licht einzuschalten. Solcherart inter-
pretiert wird das Gesetz vom Jerusalemer Institut für Halachah und Wissenschaft, das eigens zu diesem Zweck gegründet wurde. Es beschäftigt sich aber auch mit der Lösung von Problemen, die sich aus der neuzeitlichen Interpretation der Halachah ergeben. So wurde beispielsweise der Sabbat-Lift erfunden: Diese Aufzüge werden vor Beginn des Feiertags auf Automatik geschaltet, so daß die Kabine in jedem Stockwerk hält, ohne daß die Benutzer einen Knopf drücken müssen. Denn: Nach der Halachah ist es zwar verboten, am Sabbat ein Feuer zu entzünden – erlaubt ist es aber, ein schon brennendes Feuer zu nutzen. Koscher (hebräisch für »konform«) bezeichnet alle Nahrungsmittel, die den jüdischen Speisevorschriften genügen (zusammengefaßt werden diese Regeln Kosherut genannt). Schweinefleisch beispielsweise gilt als nicht koscher, sondern als unrein; dasselbe trifft auf Aale zu, da sie sich von Aas ernähren. Nicht koscher sind außerdem alle Verbindungen von milchigen und fleischigen Speisen; eine Sahnesoße also würde einen koscheren Braten treife (absolut unrein) machen. In frommen jüdischen Familien gibt es für milchige und fleischige Speisen getrenntes Geschirr und Besteck, das auch nicht zusammen gewaschen wird. Und weil wir hier immer noch in einer Horror-Serie »zu Hause sind«, soll ein schwarzhumoriger Witz zum Thema das Ganze abrunden: Schlomo ist im Begriff, seine Schwiegermutter zu erstechen. Da fällt ihm seine Frau Sarah in den Arm und schreit: »Schlomo, nicht mit dem milchigen Messer!« Timothy Stahl Quellen: »Heiliges Land«, DuMont visuell, 1995; »Jerusalem«, Merlan – Monatsheft der Städte und Landschaften, 1996; »Die großen Städte: Jerusalem«, Time-Life, 1976
Satans Ritter von Timothy Stahl Gabriel ist sein Name und Unschuld seine Maske. Denn im Körper des Knaben steckt das Böse selbst; Gabriel ist die Inkarnation des Leibhaftigen. Aus dem Verborgenen zieht er seine Fäden, spinnt Intrigen und bereitet die Menschheit für die Herrschaft der Hölle vor. Sein Vasall soll dabei ein Wesen sein, dessen Volk seit Jahrtausenden schon über die Menschen herrscht: der Mächtigste der Vampire. In einer Kultstätte, deren Mysterium gewaltiger ist, als die Menschen es sich träumen lassen, soll er zum Ritter des Bösen geschlagen werden – in Stonehenge!