Atlan - Die Abenteur der SOL Nr. 642 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Ticker von Kurt Mahr
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Atlan - Die Abenteur der SOL Nr. 642 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Ticker von Kurt Mahr
Atlan und der Adler ‐ zwei gegen das Arsenal
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher‐Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn ihm wurde die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Um sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, scheut der Arkonide kein Risiko. Mit den Solanern folgt er einer Spur, die das Generationenschiff gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit schließlich nach Bars‐2‐Bars führt, die aus zwei miteinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend. Doch die Solaner tun ihre Bestes, die Verhältnisse zu ordnen, indem sie die Völker der künstlichen Doppelgalaxis, die einander erbittert bekämpfen, zum Frieden zu bewegen versuchen. Um die Aktivitäten der Solaner zu unterbinden, leitet Anti‐ES sofort Gegenmaßnahmen ein, die nicht nur den Solanern und dem Generationenschiff schwer zu schaffen machen, sondern auch Atlan. Der Arkonide wird auf den Arsenalplaneten verschleppt, wo er in einen Helfer von Anti‐ES verwandelt werden soll. Doch Atlan weiß sich zu wehren – und er erhält unerwartete Unterstützung durch TICKER …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Kampf gegen das Arsenal. Ticker ‐ Atlans neuer Helfer und Kampfgefährte. Die Penetranz ‐ Ein Werkzeug von Anti‐ES. Tyari ‐ Sie erhält die Chance, Atlan zu töten. Kerness Mylotta und Mjailam ‐ Zwei von Atlans unerbittlichen Jägern.
1. Es waren Jahre vergangen, seit sie zum letzen Mal Prezzars besänftigenden Hauch gespürt hatte, da kamen die Fremden. Sie waren grausam, bösartig und voll übler Absichten. Die Fremden zerstörten einen Teil ihrer Substanz: Sie brannten Wälder nieder, schlachteten Tiere und fraßen ein riesiges Loch in das Substrat, aus dem sie einen Teil ihrer Nahrung bezog – in das Erdreich des Planeten, den sie ihr eigen nannte. Sie vermochte nicht zu erkennen, was die Fremden im Sinn hatten – nur, daß es übel war. Mit den Augen der Tiere sah und mit den Audiolamellen der Pflanzen hörte sie, wie große Fahrzeuge, die aus dem Nichts kamen, auf der Oberfläche des Planeten landeten und schwere Lasten entluden. Die Lasten wurden in das Loch transportiert, das inzwischen fast bis zum Herz des Planeten reichte, und nahmen dort ihre verderbliche Tätigkeit auf. Sie verstand nichts von der Geometrie der Kontinua, von Raumkrümmung und vom Raum‐Zeit‐Gefüge. Sie spürte nur, daß sich die Welt ringsum veränderte. Ein Schlauch war entstanden, eine Nabelschnur, die in das Nichts führte. Verankert aber war die Nabelschnur auf dem Grund des Loches im Herzen ihres Planeten. Sie fühlte sich geschändet. Sie wartete darauf, daß Prezzar die Fremden bestrafte und ihr Machwerk zerstörte. Aber Prezzar rührte sich nicht mehr, und sie erinnerte sich plötzlich: Er war schon seit Jahren still gewesen – seit
jenem Sommer, als auf einmal Scharen fremder Sterne am Nachthimmel erschienen waren. Prezzar also war verschwunden. Seit wieviel Jahren, das wußte sie nicht; denn das Zählen gehörte nicht zu ihren Fähigkeiten. Auf den, der alles mit seinem Hauch besänftigte, brauchte sie nicht zu warten. Wenn etwas gegen die widerwärtigen Fremden und ihre Hinterlassenschaft unternommen werden sollte, dann mußte sie es selbst tun. Sie selbst, die Gesamtheit aller Tiere und Pflanzen, war die einzige, die um den Zusammenhalt der Natur auf ihrem Planeten wußte. Die Bestandteile, also eben die individuellen Pflanzen und Tiere, hatten keine Ahnung davon. Ihr Verständnis mußte erst geweckt werden. Behutsam und mit großer Geduld machte sie sich an die Arbeit. Um die Moose und Flechten, die Amöben und Mollusken und die Tierpflanzen auf den Böden der seichten Meere brauchte sie sich erst gar nicht zu kümmern. Die hatten keine Meinung. Die höher entwickelten Geschöpfe dagegen begriffen recht bald, worum es ging. Sie waren jedoch keineswegs einmütig ihrer Meinung. Die einen waren kurzlebig und wollten ihre knappe Lebensspanne nicht durch zusätzliche Aufgaben belastet sehen. Die anderen lebten weit von dem Ort entfernt, an dem die Fremden das Loch gegraben (und später sorgfältig getarnt) hatten, und verstanden die ganze Aufregung nicht. Ihr Anliegen wurde erschwert durch den Umstand, daß die Fremden sich inzwischen längst zurückgezogen hatten und als Objekt der allgemeinen Entrüstung nicht mehr zur Verfügung standen. Nur die häßliche Last war noch da, die sie im Schoß des Planeten versenkt hatten, und selbstverständlich die merkwürdige Verspannung des Raumes, in den ihre Welt eingebettet war. Eine Zeitlang war sie dem Wahnsinn nahe. War sie nicht die Gesamtheit aller Wesen, die diesen Planeten bevölkerten? War sie, die Namenlose, nicht die Natur dieser Welt? Wie konnte es
geschehen, daß Teile ihrer selbst dem Ganzen widersprachen? Wie war es möglich, daß die Lüfteteiler sich zu erhaben dünkten, die Dickhäuter nicht in ihrer Lethargie gestört werden wollten, die Haarigen und die Schnellfüßer die Sache lieber Prezzar überließen und die vier‐ und sechsgeflügelten Staatenbauer sich nicht schlüssig werden konnten, ob der Umfang der erlittenen Schmach den Aufwand lohne? Hätte sie einen logischen Verstand besessen, er wäre ihr in der Tat zuschanden geworden. So aber begnügte sie sich nach langem Ringen schließlich mit der Erkenntnis, daß es nun einmal so sei. Auf der Grundlage dieser Einsicht bemühte sie sich weiter, und schließlich gelang es ihr, einen beschränkten Konsensus zu erzielen. Längst nicht alle ihrer Bestandteile gehörten zu der Gruppe derer, die entschlossen waren, sich gegen die Vergewaltigung durch die Fremden zu wehren, und die Einstellung der Nichtbeteiligten reichte von Apathie bis zu offenem, ja sogar feindseligem Widerstand. Aber mit dieser Gruppe, die der intelligente Bewohner einer zivilisierten Welt womöglich ein Aktionskomitee genannt hätte, verfolgte sie nun zielbewußt ihren Plan. Es wurde bald klar, daß die Kräfte, die ihr zur Verfügung standen, nicht ausreichten, um eine große Zahl von Akteuren auszustatten. Schlimmer noch: Es würde letzen Endes nur ein einziger sein, der wahrhaft tätig werden konnte, sonst wären ihre Mittel zu weit verstreut. Als das feststand, schritt man zur Wahl des einzigen, der das Amt des Rächers übernehmen sollte. Das erwies sich als ein schwieriges, Unterfangen, denn plötzlich drängte sich jeder danach, der Auserwählte zu sein. Jahre vergingen über langatmigen Verhandlungen – und plötzlich waren die Fremden wieder da. Diesmal fraßen sie kein Loch in den Boden. Es schien vielmehr, als hätten sie vor, sich häuslich einzurichten. Die Namenlose trieb ihr Aktionskomitee zu größerer Entschlußfreudigkeit an.
»Die Zeit des Handelns ist gekommen«, lautete ihre Botschaft, die in Form von Instinktimpulsen durch die Kanäle des planetenweiten Kommunikationsnetzes floß. * Hier draußen war es friedlich. Er fand einen schattigen Platz, nicht weiter als fünfzig Meter vom Eingang der Höhle entfernt. Er hockte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand. Er spürte Müdigkeit. Sie hatten ihn kräftig durch die Mühle gedreht. Bewähren hatte er sich sollen. Sie wollten wissen, was in ihm steckte. Die Narren! Ob sie ahnten, daß sein Bewußtsein den Bemühungen der Penetranz nahezu mühelos widerstand? Wußten sie, daß er niemals dem verderblichen Einfluß erliegen würde, den Anti‐ES durch das widerliche Ei ausstrahlen ließ? Wenn er die Augen schlösse, wäre er in ein paar Sekunden eingeschlafen. Das konnte er sich nicht leisten. Wachsamkeit war das Gebot der Sekunde. Er lachte trocken. Wie lange würde er der Müdigkeit widerstehen können? Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum hellen, wolkenlosen Himmel hinauf. Ein großer Vogel drehte dort oben seine Kreise. Was jetzt, Kristallprinz! fragte die spöttische Mentalstimme des Extrasinns. Es war Zeit zu planen, entschied er, und bemühte sich, die trägen Denkmechanismen des Gehirns wieder in Gang zu bringen. Sie hatten ihn auf eine Weise, die er sich noch immer nicht vollständig erklären konnte, von der SOL entführt und hierher auf diesen von allen Göttern verlassenen Planeten gebracht. Er hatte keine Ahnung, wie weit er von der SOL entfernt war und ob dort jemand wußte, in welcher Richtung man nach ihm zu suchen hatte. Im Augenblick
blieb ihm nichts anderes übrig, als den schlimmstmöglichen Fall zur Grundlage seiner Überlegung zu machen: Er war allein; niemand stand ihm bei. Sie hatten ihn malträtiert. Bewährung hatten sie das genannt. Am penetrantesten hatte sich dabei Mylotta ausgezeichnet. Auch Mjailam, das Geschöpf Prezzars, war ein wirksamer Folterknecht gewesen. Seine Teleporter‐Sprünge beförderten ihn überall dorthin, wo man am wenigstens mit ihm rechnete. Am meisten aber hatte Tyari ihm zum schaffen gemacht – nicht weil sie ihm zugesetzt hätte, sondern weil er sie liebte. Da lag, wie die Terraner sagten, der Hund begraben. Sein Verstand funktionierte nur noch zur Hälfte. Alle seine Überlegungen, wie er diesem Dilemma entrinnen könnte, waren auf einen Wirkungsgrad von fünfzig Prozent beschränkt. Der Rest seines Bewußtseins befaßte sich mit Tyari. Sie stand, wie alle Mitglieder des Arsenals, unter dem geistigen Bann des gegnerischen Superwesens Anti‐ES. Der Bann wurde in Form eines hypnosuggestiven Psi‐Felds von der Penetranz ausgestrahlt. Tyari konnte sich nicht dagegen wehren. Sie trug keine Schuld an ihrem Zustand. Das wußte er längst, und doch half es ihm nicht. Jedesmal wenn er Tyari sah, war ihm zumute, als müsse ihm das Herz zerreißen. Wie war sie in diese Lage geraten? Er konnte darüber nur spekulieren. Tyari, Mjailam und Asgard, damals noch im Besitz ihres freien Willens, hatten sich aufgemacht, nach Nabeln zu suchen. Nabel wurden jene Orte genannt, an denen eine Verbindung zwischen dem Kontinuum der beiden Galaxien Bars und Farynt auf der einen und der Namenlosen Zone bestand. In der Namenlosen Zone hielt sich Anti‐ES auf; sie war aufgrund eines Beschlusses der Hohen Mächte das Gefängnis des Superwesens. Die Nabel bildeten für Anti‐ES die einzige Möglichkeit, in das Geschehen des Standarduniversums einzugreifen. Tyari und ihre beiden Begleiter mußten einen Nabel gefunden
haben. Wahrscheinlich waren sie angelockt worden. Die Falle des Überwesens hatte sie erwartet. Sie waren dem hypnosuggestiven Einfluß erlegen und Mitglieder des Arsenals geworden, das Anti‐ES als Guerilla‐Organisation geschaffen hatte, um sich seiner Gegner zu entledigen. Nabel waren nichts Geheimnisvolles. Sie wurden von den Geräten einer erst halb verstandenen Technik erzeugt und stellten »Löcher« in der Wand des Raum‐Zeit‐Gefüges dar, durch die der Weg in ein fremdes Kontinuum führte. Die Nabelgeneratoren waren auf Himmelskörper in der Überlappungszone der beiden Galaxien installiert. Der einzige, der dem Arkoniden und seinen Solanern bisher zu Augen gekommen war, hatte sich tief im Innern eines Kleinplaneten des Systems B‐727/M befunden. Eine nähere Untersuchung der Installation war nicht möglich gewesen, der Nabelgenerator hatte sich selbst zerstört. Der Ort, zu dem Tyari, Mjailam und Asgard gelockt worden waren – war es dieser Planet gewesen? Befand sich irgendwo tief unter ihm einer der höllischen Generatoren, die die unnatürliche Verzahnung der Galaxien Farynt und Bars aufrechterhielten? Der Gedanke erregte ihn. Wenn es ihm gelänge, dem Einflußbereich des Arsenals zu entkommen – wenn er es fertigbrächte, die SOL zu benachrichtigen … sie erhielten eine zweite Chance, einen Nabelgenerator in ihren Besitz zu bringen und die Technik zu analysieren, auf der seine Funktionsweise beruhte! Er horchte auf, als ihm ein klatschendes Geräusch ans Ohr drang. Wie das Flügelschlagen eines großen Vogels hatte es sich angehört. Er sah in die Höhe. Der Adler, der dort bis vor kurzem seine Kreise gezogen hatte, war verschwunden. Er blickte sich um. Das Geräusch war von dort drüben gekommen, wo die Felswand sich ein paar Dutzend Meter weit nach vorne schob und mit einer turmförmigen Bastion abschloß. Über dem Stein flimmerte die Luft. Ein Umriß entstand. Staunend sah der Arkonide zu, wie der mächtige Vogel scheinbar aus dem
Nichts materialisierte. Er saß starr und hoch aufgerichtet, die Krallen um die Kante der Bastion geschlagen, ein Bild furchtloser Kraft. Sein Gefieder schimmerte im Licht der Sonne. Atlan hatte ihn einen Adler genannt. Diesem glich er in der Tat; aber er war weitaus mächtiger als selbst der größte Adler, den der Arkonide bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte. Woher kam er? Welcher optische Trick hatte bewirkt, daß er erst nach ein paar Sekunden sichtbar geworden war? Und was hatte er hier zu suchen? Die Vögel der Wildnis flohen das intelligente Wesen, weil sie es instinktiv als Feind erkannten. »He, Atlan …« Er schrak auf. Unter dem Eingang der Höhle war Buzz Reckions korpulente Gestalt erschienen. Buzz gehörte zur Besatzung der Korvette BANANE, die, seit sie mitsamt ihrer Mannschaft in den Diensten des Arsenals stand, den Namen ARSENALJYK trug. Natürlich stand auch Buzz unter dem Einfluß der Strahlung, die von der Penetranz ausging. Aber er war einer von den wenigen, dessen Gebaren sich trotz der Beeinflussung nicht geändert hatte. Freilich hatte er keine andere Wahl, als die Befehle der Penetranz auf der Stelle zu befolgen, aber er blieb der freundliche, humorvolle, ein wenig schludrige Mensch, der er früher gewesen war. Er kam auf Atlan zu, als er sah, daß dieser auf seinen Zuruf nicht reagierte. Seine Halbglatze spiegelte das Sonnenlicht. »Da drinnen wird über dich geredet«, sagte er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter hinweg in Richtung der Höhle. Atlan hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Wahrscheinlich nichts Angenehmes«, meinte er. Buzz Reckion schüttelte den Kopf. Dann sah er den Adler. »Mensch, was für ein Vieh!« entfuhr es ihm. »Was reden sie?« wollte der Arkonide wissen. »Hast du schon einmal so einen …?« Buzz grinste verlegen. »Oh, weiter nichts. Nur, daß sie … daß sie …« »Daß sie – was?« drängte Atlan.
»Ich glaube, es geht darum, wer von ihnen dich umbringen soll.« * Er spürte das Ziehen im Hinterkopf und wußte, daß die Penetranz nach ihm rief. Noch in derselben Sekunde hörte er ihre telepathische Stimme: »Komm in die Höhle«, forderte sie ihn auf. »Ich habe dir etwas mitzuteilen.« Es bestand für ihn kein Zwang, der Aufforderung zu folgen. Auf andere Bewußtseine wirkten die Befehle der Penetranz mit hypnotischer Kraft, seines dagegen sprach auf die psionische Modulation der Mentalbotschaft nicht an. Es mochte daran liegen, daß der Zellaktivator ihn schützte oder daß die Kosmokraten ihn mit der Fähigkeit ausgestattet hatten, suggestiver Beeinflussung zu widerstehen – er wußte es nicht. Es war ratsam, der Penetranz nicht auf die Nase zu binden, wie wenig ihre parapsychische Kraft ihn beeindruckte. Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Montur. Der Adler äugte zu ihm herüber. Das Tier saß da, als hielt es Wache. Atlan schritt an der Felswand entlang. Nach links ging der Blick den steilen Hang des Berges hinan, nach rechts streifte er weit über die grasbewachsene, von vereinzelten Büschen und Baumgruppen bestandene Ebene. Im Dunst des heißen Nachmittags schimmerten die blauen Umrisse der Hügel, die die Ebene begrenzten. Die Felswand verlief in nördlicher Richtung; wenigstens hatte Atlan es so definiert. Dort, wo die Wand des Berges an Steilheit verlor, befand sich der Landeplatz der ARSENALJYK. Atlan sah Buzz Reckion, der mit schleppendem Schritt auf das kleine Raumschiff zustrebte, in dessen Nähe auch die primitiven Unterkünfte standen. Atlan betrat die Höhle. Der Eingang hatte die Form eines flachen,
weitgespannten Torbogens. Die Höhle zog sich weit in den Berg hinein und war von bedeutender Breite. Aber nur in der Nähe des Eingangs besaß sie eine nennenswerte Höhe. Weit im Hintergrund des mächtigen Hohlraums, wo ein ungewisses Halbdunkel herrschte, schwebte die Penetranz. Ihr Körper hatte die Form eines Eis von einem Meter Höhe und 60 cm Dicke. Die eiförmige Hülle war mit einem dichten Flaum überzogen, von dessen Haaren ein geheimnisvolles Leuchten ausging. Die Farbe der Leuchterscheinung reichte von tiefem Blau bis zu kaum mehr wahrnehmbarem Violett. Die Penetranz besaß keine Gliedmaßen und keine erkennnbaren Wahrnehmungs‐ oder Sinnesorgane. Ihre schwebende Bewegung wurde, so vermutete Atlan, durch ein künstliches Schwerefeld erzeugt. Obwohl das seltsame Geschöpf über eine Reihe beeindruckender Fähigkeiten verfügte, war der Arkonide überzeugt, daß es keinerlei angeborene Intelligenz besaß. Es wurde von Anti‐ES gesteuert. »Die Entscheidung ist gefallen, Atlan«, sprach die telepathische Stimme. »Einstimmig.« Atlan sah sich um. Ob sie den Hohn bemerkten, der in diesen Worten lag? Welche Entscheidung konnte die Gruppe treffen, die nicht zuvor schon von Anti‐ES getroffen worden wäre? Sie hatten keinen eigenen Willen. Sie mochten sich einbilden, einen Entschluß gefaßt zu haben. In Wirklichkeit plapperten sie nur nach, was Anti‐ ES durch die Penetranz vorsagte. An der rechten Höhlenwand ruhte Kiks seesternförmiger Körper. Neben ihm kauerte Sanny, die zwergenhafte Molaatin. Sie blickte starr vor sich hin. Mjailam stand mitten in der Höhle, ein Prähominide mit Zyklopenkräften und der Gabe der Teleportation. Sein finsterer Blick musterte den Arkoniden prüfend. Zu seinen Füßen lag die aus sechs Körperknollen zusammengesetzte Gestalt Twoxls. Unweit davon stand Kerness Mylotta, bis vor kurzem brillanter Wissenschaftler an Bord der SOL, jetzt aber Hypnosesklave des Überwesens und Anführer dieser Gruppe, die
sich das Arsenal nannte. Sein pechschwarzes Haar bildete einen eigentümlichen Gegensatz zu der schneeweißen Haut. Um die Stirn hatte er sich ein Tuch geschlungen. Darunter verbarg sich das dritte Auge, der Sitz einer Anzahl erschreckender paraphysischer Fähigkeiten. Mylottas Blick strahlte Verachtung und Überheblichkeit aus. Es kostete Atlan Mühe, seine Abneigung im Zaum zu halten und sich zu erinnern, daß allein der hypnosuggestive Zwang für Kerness Mylottas Verhalten verantwortlich war. Asgard schwebte in der Nähe des Eingangs. Nur dort war die Höhle hoch genug, um seinem Kugelkörper der einen Durchmesser von fünf Metern besaß, Platz zu bieten. Die Oberfläche der Kugel schimmerte dunkel. Die glänzende Hülle diente Asgard als Kommunikationsmittel. Auf ihr stellte er visuell dar, was er empfand, was er dachte und was er anderen mitzuteilen hatte. Im Augenblick war sie frei von Darstellungen. Zögernd wandte der Arkonide sich seitwärts. Dort stand Tyari. Sie begegnete seinem Blick. Ihre Augen waren kalt, ihre Miene drückte Sachlichkeit aus. Es war das Gesicht einer Fremden. Von neuem hatte er das Empfinden, das Herz müsse ihm zerreißen. »Du hast sie lange genug angestarrt«, erklang Kerness Mylottas harte Stimme. »Jetzt hör zu, was wir über dich beschlossen haben.« * »Ich habe die Bewährung bestanden«, sagte der Arkonide trotzig, nachdem ihm Mylotta den Beschluß des Arsenals mitgeteilt hatte. »Es gibt keinen Grund, mich weiter zu prüfen.« »Unsinn«, knurrte Mylotta. »Du kennst die Gründe nicht, die uns zu dieser Entscheidung veranlassen. Wie willst du kritisieren, was du nicht kennst?« »Euch?« rief Atlan voller Hohn. »Sitzt euer Wahn so tief, daß ihr
glaubt, ihr könntet noch entscheiden? Ich will dir sagen, wie der Entschluß zustande gekommen ist …« Auf Asgards schimmernder Oberfläche entstand eine Schrift. »Eine Beleidigung der höheren Weisheit bringt dir nichts ein«, sagte sie. Atlan kniff die Lippen zusammen. Es brachte nichts ein, Mylotta die Wahrheit an den Kopf zu werfen. Er würde nicht einmal anerkennen, daß der Himmel blau war, wenn Anti‐ES ihm einredete, er sei grün. »Gut, dann treibt euren Mummenschanz weiter«, brummte er. »Wie sollʹs diesmal zugehen?« »Wir alle jagen dich«, antwortete Mylotta. »Wenn du dich fangen läßt, wirst du getötet.« Der Arkonide sah ihn verblüfft an. »Das ist herzig!« platzte er heraus. »Warum bringt ihr mich nicht gleich hier um?« »Unser Plan bietet dir eine Überlebenschance«, sagte Mylotta. »Wenn du uns entkommst, wirst du nicht getötet.« Der Arkonide musterte sein Gegenüber scharf. Aber Mylottas Miene war steinern. Er wußte nicht, wie unsinnig sein Gerede war. Anti‐ES hatte erkannt, daß er, Atlan, niemals ein brauchbares Mitglied des Arsenals abgeben würde. Also mußte es sich seiner entledigen. Das Ganze war Theater, sein Tod beschlossene Sache. Theater zu wessen Gunsten? Was hatte das Superwesen im Sinn? Er erinnerte sich an die Worte, die Buzz Reckion gesprochen hatte. Ich glaube, es geht darum, wer von ihnen dich umbringen soll. »Ich erhalte einen Vorsprung?« fragte er. Mylotta nickte. »Drei Stunden.« »Waffen und Ausrüstung?« »Nein, ebensowenig wie wir.« Atlan staunte. »Ihr verfolgt mich ohne Waffen?« Freilich bedeutete das nicht viel. Mjailams Teleportationsgabe, Mylottas drittes Auge – das waren Waffen genug.
»Wir alle sind waffenlos – bis auf einen«, erklärte Mylotta. »Einer ist auserwählt, dich zu fassen, wenn wir den Kreis um dich geschlossen haben. Er wird dich töten. Er ist der einzige, der Waffen erhält.« Es zuckte spöttisch über das Gesicht des Arkoniden. Das also war der Angelpunkt des Planes. Er selbst hatte keine Chance, aber eines der Arsenalmitglieder sollte seine Tüchtigkeit unter Beweis stellen, indem es ihn tötete. »Wer ist dieser eine?« wollte er wissen. Mylotta deutete auf Tyari. »Sie.« 2. »Du selbst bestimmst den Zeitpunkt deines Aufbruchs«, hatte Mylotta zu ihm gesagt, und seine Antwort war gewesen: »Eine Stunde nach Sonnenuntergang.« Den Rest des Nachmittags hatte er draußen vor der Höhle verbracht. Er benützte die Gelegenheit, sich das Gelände einzuprägen. In Gedanken legte er sich einen Fluchtweg zurecht. Eine Zeitlang spielte er mit der Idee, sich an Bord der ARSENALJYK zu schleichen und sich in einem der zahlreichen Räume zu verstecken. Aber es bedurfte der protestierenden Reaktion des Extrasinns nicht, um ihn die Wertlosigkeit dieses Planes erkennen zu lassen. Anti‐ES würde mit einer solchen Möglichkeit rechnen und über die Penetranz Mata St. Felix und ihrer Mannschaft befehlen, alle Zugänge zum Schiff zu sichern und die Augen offenzuhalten. Auf der Ebene hätten sie ihn rasch gefangen. Dort bot ihm nicht einmal die Dunkelheit der Nacht Schutz. Sie brauchten nur die Suchgeräte der ARSENALJYK einzuschalten. Ein Körper mit der Oberflächentemperatur 37 Grad würde sich abzeichnen wie ein frischer Blutfleck auf dem Brautkleid. Seine einzige Hoffnung waren die Berge. Im Norden waren sie am ehesten zu erreichen. Die
Entfernung betrug zwanzig Kilometer. Wenn er sich anstrengte und das Arsenal sich an die Abmachung hielt, konnte er dort sein, bevor die Verfolgung begann. Der Eifer, mit dem der Verstand die Flucht plante, verwunderte ihn ein wenig. Glaubte er wirklich, daß er eine Chance hatte? Anti‐ ES hatte die Sache so angelegt, daß die Wahrscheinlichkeit seines Überlebens gleich null war. Die Geschichte von David und Goliath fiel ihm ein. Gute Gleichnisse hatten sie, die Terraner, aufmunternd und das Selbstvertrauen stärkend. Und selbst wenn Anti‐ES seinen Plan bis in die letzte Kleinigkeit durchgerechnet hatte, vielleicht war ihm irgendwo doch ein Fehler unterlaufen. Gegen Sonnenuntergang kam Mjailam aus der Höhle. Er trug einen Beutel, an dem ein bequemer Tragriemen befestigt war. »Proviant«, knurrte er in der Sprache der Beneterlogen, während er dem Arkoniden den Beutel reichte. Mehr sprach er nicht. Er war maulfaul, der haarige Bursche, und nicht besonders intelligent. Aber einen Instinkt besaß er, daß man mitunter hätte meinen können, die Natur hätte ihm die Gabe der Präkognition verliehen. Er wandte sich um und kehrte mit seinem charakteristischen, schwankenden Gang zur Höhle zurück. Atlan musterte den Beutel verwundert. So viel Großzügigkeit hatte er nicht erwartet. Wie lange wollten sie ihn am Leben lassen? Er öffnete den Verschluß des Behältnisses und fand dreierlei Konzentratnahrung, Sodakapseln und ähnliches Nützliches, Vorräte genug für mehr als eine Woche. Vergiftet? Nein, das hatten sie nicht nötig. Außerdem war längst bestimmt, wer ihn vom Leben zum Tode befördern sollte. Denk nach, mahnte der Extrasinn. Als er den Zusammenhang schließlich erkannte, wandte er sich ab, damit sie von der Höhle her sein spöttisches Grinsen nicht sehen konnten, falls sie ihn beobachteten. Oh, diesen Plan würde er ihnen versalzen!
Der Schatten des Berges wanderte weiter in die Ebene hinaus. Die Sonne schickte sich zum Untergehen an. Kleine Staubteufel tanzten draußen auf dem trockenen Grasland. Atlan sah sich um. Die Bastion war leer. Der Adler war davongeflogen. * Geheimnisvoll schimmerte im Licht Zehntausender Sterne die Hülle des kleinen Raumschiffs. Die Jenseitsmaterie, der neue Überzug der Korvette, leuchtete in matt irisierendem Rosa und Grün. Atlan ließ die ARSENALJYK links liegen und wandte sich flotten Schritts nordwärts. Der Beutel hing ihm von der rechten Schulter. Er hatte seinen Plan geringfügig ändern müssen. Es hatte keinen Zweck, die Verfolger irrezuführen. Sie wußten in jeder Sekunde, wo er war und in welcher Richtung er sich bewegte. Er hielt auf die Berge zu. Als er sich einen halben Kilometer von der Höhle entfernt hatte, verfiel er in einen lockeren Zotteltrab. Den Beutel preßte er dabei mit dem Arm gegen die Seite, damit er ihn nicht beim Laufen behinderte. Die Dunkelheit war nicht vollkommen. Die Überlappungszone im Zentrum der Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars war ein Gebiet hoher Sternendichte. Die Nacht war von silbrigem Schimmer erfüllt, die Sicht besser als in einer klaren irdischen Vollmondnacht. Trotzdem hatte er Grund, sich in acht zu nehmen. Die Natur des Arsenalplaneten hatte Tiere und Pflanzen entwickelt, die den unbewaffneten Wanderer als willkommene Beute betrachten würden, wenn er ihnen über den Weg lief. Er mied Buschstrecken und Baumgruppen und bewegte sich auf übersichtlichem Gelände. Unerträglich langsam kam der dunkle, vielfach gezackte Umriß der nördlichen Hügelkette auf ihn zu. Er schlug einen weiten Bogen, der ihn auf östlichen Kurs brachte. Jetzt hatte er die Hügel zu seiner Linken, und wenn die Verfolger auftauchten, brauchte er nur einen
kurzen Spurt einzulegen, um in den zerklüfteten Felswänden Deckung zu finden. Nach anderthalb Stunden erreichte er den Lauf eines kleinen Flusses, der aus den Hügeln herabkam und sich in die Ebene hinaus ergoß. Am Ufer fand er zahlreiche Spuren und einen breiten Einschnitt, der in der Form einer sanft geneigten Rampe zum Wasser hinabführte. Eine Tränke! Die Gegend war nicht geheuer. Noch war die Nacht jung, aber je länger er sich hier aufhielt, desto größer war das Risiko, daß er von einem Tier überrascht wurde, das die Tränke aufsuchte, um seinen Durst zu stillen. Seiʹs drum, dachte er grimmig. Es war nicht die Rede davon gewesen, daß er dieses Abenteuer ohne Risiko würde überstehen können. Unmittelbar am Ufer, oben auf dem Rand der Rampe, hockte er sich nieder, nahm den Beutel von der Schulter und begann, ihn zu entleeren. Den leeren Beutel stülpte er um. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das weiche Innenfutter. Es vergingen nur ein paar Sekunden, da hatte er gefunden wonach er suchte: eine winzige Unebenheit, ein kaum wahrnehmbarer Fehler im ansonsten makellos glatten Material. Er ließ den Beutel sinken und überdachte seine Lage. Währenddessen verzehrte er zwei Konzentratstangen. Er hatte keinen Hunger; aber er wußte nicht, wie lange er ohne Nahrung würde auskommen müssen, bevor er wieder etwas Eßbares fand. Den Proviant im Beutel jedenfalls brauchte er für andere Zwecke. Er wußte nicht, was sie ihm da eingebaut hatten – einen herkömmlichen Peilsender, der von jeder entsprechend geformten Antenne empfangen werden konnte, oder einen mechanotelepathischen Kodegeber, auf den nur die Penetranz und vielleicht Mylottas drittes Auge ansprachen. Er hatte keine Zeit, das Mikrogerät näher zu untersuchen. Er wollte sie nicht wissen lassen, daß er ihnen auf die Schliche gekommen war. Er war auch keineswegs sicher, daß der Beutel nur dieses eine Gerät trug, zwei waren wahrscheinlicher. Sicher war er nur dann,
wenn er sich des Beutels entledigte. Er richtete den Blick auf das jenseitige Ufer. Fünfzig Meter davon entfernt, in unmittelbarer Nähe der Felswand, ragte ein wuchtiger Baum in die Höhe. Schon in Manneshöhe verzweigte sich der mächtige Stamm zu Ästen von beachtlichem Umfang. Es war genau die Art von Versteck, die er brauchte. Er holte das Feuerzeug aus der Tasche, eines von den wenigen Geräten, die sie ihm gelassen hatten. Vorsichtig setzte er eine der Konzentratstangen in Brand. Sie brannte mit schwacher, bläulicher Flamme, von deren Qualm ein intensiver, nicht unangenehmer Geruch ausging. Sie schmolz wie Karamel, und er achtete darauf, daß die schweren Tropfen Außen‐ und Innenseite des Beutels benetzten. Zwei Stangen verbrauchte er auf diese Weise. Dann packte er den Rest des Proviants zurück in den Beutel und warf diesen hinab ans Fußende der Rampe. Es war höchste Zeit zu verschwinden. Der Duft der brennenden, schmelzenden Konzentratstange mußte die Tierwelt in weitem Umkreis rebellisch gemacht haben. Er kletterte das steile Ufer hinab und watete durch das seichte Wasser. Den Baum zu erklettern, war eine Sache von kaum einer Minute. Auf einem der höhergelegenen Äste machte er es sich so bequem wie möglich und beobachtete durch das mäßig dichte Blattwerk hindurch den Ort, an dem er seinen Köder ausgelegt hatte. Er brauchte nicht lange zu warten. Der Schatten eines langgestreckten, geschmeidigen Körpers erschien am oberen Ende der Rampe. Das katzenähnliche Tier sicherte nach allen Richtungen. Dann kroch es langsam zum Wasser hinab. Es beschnupperte den Beutel von mehreren Seiten und zeigte nur geringfügige Symptome des Heißhungers, der ein wichtiger Bestandteil des Planes war. Es packte den Beutel mit den Zähnen und schleuderte ihn mit ruckartigen Bewegungen hin und her, wobei er sich allmählich entlud. Die Katze ließ den Beutel schließlich fahren und machte sich
über die Konzentratstangen her, die quer über den Fuß der Rampe verstreut lagen. Atlan war der Verzweiflung nahe. So hatte er sich die Sache nicht vorgestellt. Die Katze würde ihren Hunger an den Stangen stillen und den Beutel unbeachtet liegenlassen. Damit gewann er nichts. Die Mikrogeräte … Ein schauriges Gebrüll donnerte durch die helle Nacht. Die Katze fuhr auf, die Nackenhaare gesträubt. Zornig peitschte der lange Schweif den sandigen Boden der Rampe. Ein scharfes Fauchen beantwortete den herausfordernden Schrei. Aber der Besitzer der Donnerstimme war nicht beeindruckt. Er kam heran, der König der Wildnis, und unter seinen Schritten dröhnte der Boden. Die Katze duckte sich; aber als der mächtige Schatten am oberen Ende des Einschnitts erschien, besann sie sich eines Besseren. Ein Satz beförderte sie auf das hohe Ufer hinauf. Sekunden später war sie im milchigen Zwielicht untergetaucht. Nicht ohne Bewunderung musterte Atlan den Giganten, vor dem sie die Flucht ergriffen hatte. Er besaß annähernd die Größe eine Elefanten, war halb Büffel, halb Bär und ganz ohne Zweifel der ungekrönte Herrscher der örtlichen Tierwelt, der sich vor keiner anderen Kreatur zu fürchten hatten. Er stampfte die Rampe hinauf, daß der Sand nach allen Seiten spritzte. Schnaufend begutachtete er die Konzentratstangen, die vom Mahl der Katze übriggeblieben waren, und verspeiste sie eine nach der anderen. Schließlich fand er den Beutel. Der Koloß gab ein zufriedenes Grunzen von sich. Schmatzende, schlürfende Geräusche erfüllten die Nacht, und dann – war der Beutel verschwunden, verzehrt mit Stumpf und Stiel! Atlan atmete auf. Fast war ihm nach einem befreiten Lachen zumute – aber er hütete sich wohl, denn der Büffelbär gehörte nicht zu denen, deren Aufmerksamkeit er auf sich lenken wollte. Das Tier wandte sich jetzt dem Wasser zu. Die Sodakapseln mochten seinen Durst intensiviert haben. Von seiner luftigen Warte aus sah der
Arkonide, daß das dichte, graubraune Fell entlang der Rückenlinie durch einen breiten, hellen Streifen verziert war. In der Nahe der Schwanzwurzel war der Streifen durch eine tiefe Narbe unterbrochen. Atlan fragte sich, auf welche Weise der Riese sich die schwere Wunde zugezogen haben mochte. Hatte er doch Gegner, von denen er sich in acht nehmen mußte? Gute zehn Minuten verwandte das Tier darauf, seinen Durst zu stillen. Dann stieg es schnaufend und brummend die Rampe wieder empor, schnüffelte noch einmal mißtrauisch an der Stelle, an der der Beutel gelegen hatte, und trottete schließlich davon. Atlan sah sich um. Der Ast, auf dem er gehockt hatte, reichte bis zur Felswand hinüber; zuvor war ihm das entgangen. Er sah auf die Uhr. Über zwei Stunden waren seit seinem Aufbruch vergangen. Er hatte eine Idee. Wenn er sie verwirklichen wollte, mußte er sich beeilen. Er kletterte aus seinem Versteck herab und machte sich auf den Weg. Seinen Verfolgern wünschte er, daß der Büffelbär die ganze Nacht über auf den Beinen blieb und mit den verräterischen Mikrogeräten im Bauch einen möglichst verschlungenen Kurs einschlug. * Er hielt sich ein gutes Stück von den Felsformationen der Hügel entfernt, wie es jeder vorsichtige Wanderer tun würde. Denn die Felsen bildeten ein vorzügliches Versteck für allerlei Getier, das im Dunkel der Nacht auf Beute aus war. Nach seinem jüngsten Erlebnis empfand er gehörigen Respekt für die Fauna des Arsenalplaneten. Er marschierte am Rand der Ebene – dort, wo das Gras schon wieder ziemlich dick war. Gerade darauf aber kam es ihm an. Alle paar Minuten blieb er stehen, blickte zurück und vergewisserte sich, daß die Spur, die er hinterließ, den Anforderungen seines Plans
entsprach. Drei Viertel der dritten Stunde waren vergangen, als er sich einer Stelle näherte, an der die Hügelkette einen breiten, felsigen Ausläufer in die Steppe hineinsandte. Ohne seine Marschrichtung zu ändern, hielt er darauf zu. Das Gras wurde dünner. Er gelangte auf unebenen, mit Geröll bedeckten Boden. Er marschierte ein paar Dutzend Meter weit in das von jeglicher Vegetation entblößte Gelände hinein. Dann blieb er stehen und machte kehrt. In zehn Minuten brachen die Verfolger auf – falls sie sich an die Abmachung gehalten hatten. Eine Minute später konnten sie hier sein, wenn sie die ARSENALJYK bei der Verfolgung einsetzten. Die Mikrogeräte im Magen des Büffelbären würden sie eine Zeitlang in die Irre führen; aber allzu viel Aufschub durfte er von seinem kleinen Trick nicht erwarten. Im Laufschritt nahm er die Spur auf, die er auf dem Herweg durch das Gras gezogen hatte. So viel, daß sie aus der Richtung der Grashalme schließen konnten, ob er sich zuletzt nach Osten oder nach Westen bewegt habe, verstanden sie vom Fährtenlesen hoffentlich nicht. Er brauchte fünfzehn Minuten, um den kleinen Fluß wieder zu erreichen. Drunten, am Fuß der Rampe, drängte sich durstiges Getier. Es schenkte ihm keine Beachtung, als er von neuem den Baum emporkletterte. Auf dem Ast, den er vor knapp einer Stunde eingehend inspiziert hatte, turnte und balancierte er vorsichtig in Richtung der Felswand. Er fand dort einen Spalt, der sich steil an der Flanke des Hügels entlang in die Höhe zog. Er fand mit Händen, Füßen und Schultern Halt und schob sich mühsam durch den scharfkantigen Riß nach oben und schürfte sich an mehr als einer Stelle die Haut auf. Aber die Mühe lohnte sich. Eine halbe Stunde später stand er auf einem Plateau, fast zweihundert Meter über der Ebene. Die Tränke lag schräg unter ihm. Er sah die Horde der durstigen Tiere als dunkle, in quirlender Bewegung befindliche Masse. Von den Verfolgern bemerkte er vorläufig keine Spur.
Er hatte es geschafft. Sobald das Arsenal den Trick mit den zweckentfremdeten Mikrogeräten durchschaut hatte, würden sich die Verfolger an seine Fährte halten. Sie erkannten an ihr, daß er es eilig gehabt hatte, so weit wie möglich nach Osten vorzustoßen. In dieser Richtung würden sie weitersuchen, über das Ende der Spur hinaus. Sie wußten nicht, daß er einen Teil des Weges inzwischen wieder zurückgekehrt war. Gewiß, die Fährte führte unmittelbar an dem großen Baum vorbei; aber das würde sie wohl nicht auf den Gedanken bringen, daß er den Baum tatsächlich erstiegen hatte. Und was sie noch weniger ahnen konnten, war, daß er sich von jetzt an nach Westen zu halten gedachte. Während sie ihn weit drüben im Osten suchten, kehrte er auf dem Umweg über die Felsenhügel allmählich wieder zur Höhle des Arsenals zurück. Wohlgemut machte er sich auf den Weg. Das Gelände war zum Teil recht schwierig. Halden mußten erstiegen, Felsen erklettert, Schrunde übersprungen werden. Nach zwei Stunden war er so erschöpft, daß es ihm angebracht erschien, eine Ruhepause einzulegen. Er fand eine Nische, die von zwei hohen Felsklötzen eingerahmt wurde. Dort machte er es sich so bequem, wie es unter den Umständen eben ging. Er lehnte den Kopf gegen die harte, kühle Felswand und war wenige Augenblicke später fest eingeschlafen. * Ein Kitzeln an der Nase weckte ihn. Die Sonne schien in sein kleines Versteck. Niesend fuhr er in die Höhe. Sein erster Blick galt der Uhr. Sie zeigte 0843. Das war SOL‐Bordzeit. Er wußte noch immer nicht genau, wie lange der Arsenalplanet brauchte, um sich einmal um seine Achse zu drehen. Auf jeden Fall war der Morgen bereits in vollem Gang, und er hatte mehr als fünf Stunden geschlafen. Er kroch vorsichtig aus der Nische ins Freie und sah sich um. Der
Himmel war blau und wolkenlos. Keine Spur von der ARSENALJYK. Er hörte Tiergeräusche. Per Assoziation kam ihm die Tränke in den Sinn. Von da war nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Erkenntnis, daß er Durst hatte. Er mußte Wasser finden. Das günstigste Gelände hatte er sich für diesen Zweck nicht gerade ausgesucht. Auf den Kuppen der Berge findet man keine Quellen. Er hielt sich eine Stunde lang in nordwestlicher Richtung und hoffte, auf diese Weise dem Nordabhang des Bergzugs näher zu kommen, ohne von seinem geplanten Kurs allzu weit abzuweichen. Die Methode hatte Erfolg. Durch einen paßähnlichen Spalt warf er zum ersten Mal den Blick hinaus auf die nördliche Ebene, und kurze Zeit später entdeckte er erste Spuren von Pflanzenwuchs – ein Zeichen, daß es in der Nähe Wasser gab. Einer gewundenen Schlucht folgend, gelangte er auf eine Felsfläche, die die Form einer flachen Schüssel hatte. Der Boden bestand aus porösem Gestein, das hier und da unter dem Einfluß der krassen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht geborsten war. Wo immer sich ein kleiner Spalt auftat, da hatte der Wind Samen deponiert und die Feuchtigkeit des Untergrunds dem Keim zum Sprießen verholfen. Tausende fremdartiger Pflanzen wuchsen aus dem scheinbar kargen Fels, und ihre Blüten erfüllten die warme Luft des Morgens mit eigenartigen Düften. Dort, wo die Schüssel ihren tiefsten Punkt hatte, erhob sich dichtes Gebüsch. Sogar ein paar Bäume erhoben sich aus dem verfilzten Unterholz. Irgendwo im Innern des Dickichts mußte sich eine Quelle befinden, sagte sich Atlan. Das Wasser konnte wegen der Gestaltung des Bodens nicht abfließen, also versickerte es im porösen Gestein und bildete die Lebensgrundlage der Gewächse, die ringsum grünten und blühten. Mit jener Art von Entschlossenheit, die der Durst erzeugt, rückte Atlan dem Gestrüpp zu Leibe. Ohne Rücksicht auf Dornen und Schlingpflanzen brach er sich Bahn und hielt erst an, als ihm ein charakteristischer, beißender Geruch in die Nase stieg: der Gestank
von Ammoniak, die Ausdünstung eines wilden Tieres. Er lauschte, aber bis auf das Sirren der Insekten und das Gezwitscher einiger Vögel war es still ringsum. Er drang weiter vor. Wenn sich an der Quelle tatsächlich ein größeres Tier befand, dann würde es vor dem Krach, den er veranstaltete, hoffentlich Reißaus nehmen. Das Unterholz wurde plötzlich dünner, und wenige Augenblicke später stand er am Rand einer kleinen Lichtung, deren Mitte von einem Teich gebildet wurde. Aber nicht das Wasser, nach dem sein Körper lechzte, war es, was die Aufmerksamkeit des Arkoniden fesselte. Er erblickte zwei Dinge zur gleichen Zeit, und keines von beiden war dazu angetan, seine Zuversicht zu stärken. Über das Gestrüpp auf der anderen Seite der Lichtung hinweg ragte eine hohe Felswand, die den westlichen Abschluß der schüsselförmigen Fläche bildete. Atlan hatte sie zuvor gesehen, bevor er in das Dickicht eindrang – aber nicht den kugelförmigen, rosa und grün schimmernden Umriß, der sich soeben über die Kante der Felswand emporschob und mit mäßiger Geschwindigkeit näher kam: die ARSENALJYK. Am gegenüberliegenden Ufer des Teiches aber stand ein mächtiger Koloß von einem Tier, das soeben den gigantischen Schädel aus dem Wasser erhob und mit zornigem Schnauben gegen die Störung seiner morgendlichen Beschäftigung protestierte. Der Arkonide sah zwei tückische, blutunterlaufene Augen, die ihm unter normalen Umständen Warnung genug gewesen wären, daß hier als einzige Taktik nur noch die sofortige Flucht in Frage kam. Aber von normalen Umständen war hier nicht die Rede. Der Riese stand mit den Vorderbeinen im Wasser, mit den Hinterbeinen an Land, so daß der Rücken eine geneigte Fläche bildete, die Atlan trotz der ungewöhnlichen Höhe des Tieres mühelos überblicken konnte. Er sah den Streifen weißen Fells und die tiefe, schlecht vernarbte Wunde in der Nähe der Schwanzwurzel, und lodernder Zorn griff
nach seinem Herzen. * »Oh, du zehnfach gehörntes Rindvieh!« donnerte es in reinstem Arkonidisch über die sanft bewegte Oberfläche des Teichs hinweg. »Du Ausbund des Unverstands! Ausgerechnet hierher mußtest du dich verirren?« Ein handfestes Stück Felsgestein kam dem wutentbrannten Arkoniden gerade zurecht. Er schleuderte es über den Teich hinweg, und so vorzüglich hatte er trotz seines Zorns gezielt, daß das Geschoß den verdutzten Büffelbär mit lautem Krach mitten auf die Schädelplatte traf. Dem Tier war nicht recht geheuer. Es gab kein Wesen auf dieser Welt, das sich mit ihm anzubinden getraute. Aber da kam ein lächerlicher Winzling, schrie, daß die Luft zitterte, und warf mit Dingen um sich, die Schmerzen erzeugten. Es gab keine Erfahrung, auf die das mächtigste aller Geschöpfe hätte zurückgreifen können. Es sah sich einer völlig neuartigen Situation gegenüber und reagierte, wie ihm der Instinkt gebot. Es retierierte aus dem Wasser, brummte protestierend, warf sich herum und galoppierte durch eine Bresche im Unterholz davon. Augenblicklich vergaß Atlan seinen Zorn. Die ARSENALJYK war ungemütlich nahe. Die Verfolger wußten, wo er sich befand, nachdem ihnen der Büffelbär in seinem Unverstand den Weg gewiesen hatte. Sie würden jedes Versteck genau untersuchen, auch diese Buschinsel. Er warf sich am Ufer des Teiches nieder und trank in vollen Zügen. Er sprang auf. Ohne Bedenken benutzte er den Pfad, den das mächtige Tier durch das Gestrüpp gerissen hatte. Er fühlte sich verzweifelt und entschlossen genug, den Koloß ein zweites Mal zu verjagen, falls er sich ihm in den Weg stellte. Er gelangte ins Freie.
Fünfzig Schritte entfernt stand der Büffelbär und äugte mißtrauisch zu ihm herüber. Atlan stieß einen gellenden Schrei aus. Er hatte gehofft, daß er das Tier damit erschrecken und vertreiben könne. Aber der Büffelbär reagierte nicht in der gewünschten Weise. Im Gegenteil: Er schien zu überlegen, ob jetzt die Zeit gekommen sei, sich für die jüngst erlittene Schmach zu rächen. Die senkrecht aufragende Felswand war nicht weiter als einen kurzen Spurt entfernt. Atlan sah einen schmalen, hohen Spalt, der sich durch das Gestein zog. Er sicherte im Schutz der Büsche. Die ARSENALJYK schwebte hoch über dem Rand der Felsfläche, fünf‐ bis sechshundert Meter, schätzte er. Das Gelände vor der Wand bot nur wenig Deckung. Wenn sie dort oben wußten, in welche Richtung sie zu schauen hatten, würden sie ihn sehen. Egal! Hier konnte er nicht bleiben. Er federte in den Knien wie ein startbereiter Kurzstreckenläufer; dann stieß er sich ab. Fünf Sekunden brauchte er, um die glatte Felsfläche hinter sich zu bringen, dann nahm ihn der Schatten des Spalts auf. Er blieb stehen, lehnte sich gegen das kühle Gestein und gab den hektisch pumpenden Lungen Gelegenheit, sich zu beruhigen. * Ein paar Minuten vergingen. Er hörte das matte Singen, das die Feldtriebwerke der ARSENALJYK verursachten. Es war von stetiger Intensität, als schwebe das Schiff irgendwo reglos an Ort und Stelle. Er beugte sich aus dem Spalt und warf einen raschen Blick in die Höhe. Die ARSENALJYK war nirgendwo zu sehen. Er wagte nicht, sein Versteck zu verlassen. Er war sicher, die Verfolger hatten sich so postiert, daß sie ihn sofort bemerkten. Statt dessen arbeitete er sich weiter in den Gang hinein. Der Spalt besaß eine Breite von maximal zwei Metern. In zahlreichen Windungen fraß er sich durch den Fels. Die Wände stiegen
senkrecht an. Sie waren glatt, zu glatt selbst für den geübtesten Kletterer. In der Höhe schienen sie sich einander zuzuneigen. Nur ein winziger Streifen blauen Himmels war zu sehen. Hinter einer scharfen Krümmung war der Gang plötzlich zu Ende. Er mündete in einen kleinen Felsenkessel, dessen helles Gestein den Glanz der Sonne so kräftig reflektierte, daß der Arkonide geblendet die Augen schloß. Ein schütteres Gebüsch wuchs zur Rechten, unmittelbar vor dem Ausgang. Vorsichtig duckte er sich hinein. Hinter sich hatte er eine schmale Felsleiste, die steil an der Wand des Kessels in die Höhe führte. Das Singen der Triebwerke war lauter geworden. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in die Höhe. Die ARSENALJYK erschien ihm wie zum Greifen nahe. Er hatte das Gefühl, sie schwebe unmittelbar über ihm. In Wirklichkeit, sagte ihm der logische Verstand, befand sie sich noch immer in einer Höhe von mehr als einhundert Metern. Noch hatte man ihn an Bord des Schiffes nicht bemerkt. Aber wenn er nur einen einzigen Schritt in den Talkessel hinauswagte, war er verloren. Er kehrte um. So, wie die Dinge lagen, war er besser beraten, wenn er seinen Ausbruchsversuch auf der anderen Seite veranstaltete. Vielleicht hatte er Glück und gelangte unbemerkt bis in das Dickicht, das den Teich umgab. Auf der andern Seite der Oase war der Pflanzenwuchs dichter. Es war nicht ganz und gar aussichtslos, eine Flucht in dieser Richtung zu versuchen – zumal nicht, solange sich die Aufmerksamkeit der ARSENALJYK auf den Felsenkessel konzentrierte. Er kroch hinter dem Gebüsch hervor und drang von neuem in den Spalt ein. Er bewegte sich rasch und dennoch geräuschlos – für den Fall, daß sie inzwischen einen Posten am anderen Ausgang aufgestellt hatten. Er kauerte im Schatten der Felswand und starrte hinaus auf die Felsfläche, über der die Luft im Sonnenglast zitterte. Die Zunge lag ihm wie ausgedörrt im Mund, und doch war es erst ein paar Minuten her, daß er ausgiebig getrunken hatte.
Das Dickicht lag fünfzig Meter entfernt. Eine winzige Strecke – wenn man vergaß, daß Tyari wahrscheinlich oben an der Kante stand und mit schußbereitem Blaster sein Auftauchen erwartete. Es spielte keine Rolle mehr. Er konnte nicht bis in alle Ewigkeit hier steckenblieben. Er mußte es wagen. Er ging in die Hocke und konzentrierte sich auf die Stelle des Gebüschs, an der er untertauchen wollte. Er schnellte sich nach vorne … Ein Hindernis stand plötzlich vor ihm, ein massiges, zotteliges Hindernis. Der Aufprall schleuderte ihn zurück. Er stürzte, und die Wucht des Sturzes trieb ihm die Luft aus den Lungen. Mühsam stemmte er sich auf den zitternden Armen in die Höhe. Die Augen tränten. Wie durch einen fließenden Vorhang hindurch sah er Mjailams braune Gestalt. Der Zottelige mußte ihn die ganze Zeit über beobachtet haben, und als er den Ausbruch wagte, war er ihm per Teleportation in den Weg gesprungen. Der Vorfall schien Mjailam zu erheitern. Er lachte dröhnend. Dann hob er den Arm und wies auf den Spalt, aus dem der Arkonide gekommen war. »Dort drinnen liegt dein Schicksal«, verkündete er mit dröhnender Stimme. »Tyari wartet auf dich. Hier kommst du nicht durch.« Er hob die Arme und zog die Fäuste vors Gesicht wie ein Boxer, der einen gegnerischen Schlag abdecken will. Ein höhnisches Grinsen lag auf seinem breiten Gesicht. »Du kannst es aber immerhin versuchen.« Atlan schüttelte den Kopf. Es war mehr eine Geste des Widerwillens als der Verneinung. Es hatte keinen Zweck, sich mit dem Riesen anzulegen. In ehrlichem Kampf hätte er sich eine Chance ausgerechnet; aber wenn Mjailam zu teleportieren begann … Er kam langsam auf die Beine. Der Körper schmerzte vom harten Sturz. Mjailam wich um keinen Schritt. Das Grinsen schien auf seinem Gesicht festgefroren. Atlan wandte sich ab. Er hatte keine Wahl mehr. Sie hatten ihn in der Klemme. Es blieb ihm nur noch die
Hoffnung, daß irgendein Wunder geschähe, wenn er sich Tyari stellte. Mit langsamen, unsicheren Schritten bewegte er sich auf die Mündung des Spalts zu. Hinter ihm schrie Mjailam mit Donnerstimme: »Achtung, er kommt.« * Sie war da. Sie wartete auf ihn. Inmitten des Felsenkessels, dessen Durchmesser nicht mehr als dreißig Meter betrug, stand sie – hoch aufgerichtet, die Waffe in der Hand, ein Bild unversöhnlicher Entschlossenheit. Er kauerte hinter dem Gebüsch am Ausgang des Spalts. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, suchte nach einem Plan, mit dem er den Zufall und das Schicksal dazu bewegen könne, gnädig zu sein. Aber seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Sein Blick hatte sich an Tyari festgebrannt. Er bewunderte ihre Schönheit. Ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem die lächerliche Laune eines Überwesens ihn und die geheimnisvolle Frau zu tödlichem Kampf zwang, begehrte er Tyari mehr und drängender, als er sie je zuvor begehrt hatte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er stand auf und trat ins Freie. Die Arme hatte er weit von sich gestreckt, um zu zeigen, daß er unbewaffnet war. Woher hätte er sich auch eine Waffe beschaffen sollen? Ließ sie sich dadurch beeindrucken? Gab es in ihrem Bewußtsein noch einen letzten, winzigen Fleck menschlichen Empfindens, den Anti‐ES zu unterjochen versäumt hatte? Seine Geste erwies sich als nutzlos. Ein blitzschnelles Aufleuchten in Tyaris Augen zeigte an, daß sie das Ziel erkannt hatte. Der Lauf des Blasters zuckte herum. Fauchend und knallend entlud sich der erste Schuß.
Er warf sich zur Seite. Der von zwölftausend Jahren einschlägiger Erfahrung trainierte Instinkt handelte ohne Zutun des logischen Verstands. Es war Verlaß auf den Reflex, der die Muskeln koordinierte, die Reaktion des Gegners vorausahnte und das Ausweichmanöver auslöste. Drei Meter von seinem bisherigen Standort entfernt kam der Arkonide zu Boden, auf Händen und Füßen federnd. Hinter ihm fuhr der Schuß in die Felswand und verspritzte glühendes Gestein. Er vergaß die Pein, die ihm fast das Herz erdrückte. Es ging ums Überleben. Atlan wurde zum Kämpfer. Er mußte in ständiger Bewegung bleiben, das war seine einzige Chance. Zögerte er auch nur den Bruchteil einer Sekunde, war sein Leben verspielt. Er sprang, tanzte, rollte, kroch, schnellte sich – und stets war der tödliche, gleißende Energiestrahl des Blasters nur einen Schritt weit hinter ihm. Mehrere Minuten lang spielte er das grausame Spiel; dann spürte er, wie seine Kräfte erlahmten. Aber seine Taktik hatte Erfolg gehabt. Tyaris unablässiges Feuer hatte Staub und Qualm aufgewirbelt. Eine Masse trägen, grauen Dunstes erfüllte den Felsenkessel, und mehrmals während der vergangenen zwanzig Sekunden hatte das leuchtende Energiebündel sein Ziel um mehrere Meter verfehlt Atlan stieß einen gellenden Schrei aus. Sie mochte glauben, sie hätte ihn getroffen. Er warf sich herum und schoß in Richtung des Spalts. Der Qualm biß ihm in den Lungen und machte das Atmen zur Qual. Er spürte die Kühle des Schattens und ließ sich seitwärts fallen – keine Zehntelsekunde zu spät: Mit knatterndem Krachen fuhr der scharf gebündelte Strahl über ihn hinweg und echote donnernd durch den Spalt. Im Schutz des Gebüschs blieb er liegen. Um ihn herum knisterte erkaltendes Gestein. Er hörte Tyaris Schritte. Sie bewegte sich ohne Hast; sie war ihres Sieges sicher. Der Dunst hatte sein verzweifeltes Ausweichmanöver verschleiert. Sie mußte glauben, er hätte sich in den Spalt hinein retten wollen. Die Schritte führten am Gebüsch
vorbei. Er hörte das Echo, das die engen Wände des Felsspalts erzeugten. Vorsichtig kroch er unter seiner Deckung dahin und schwang sich auf die Leiste, die an der Wand des Talkessels emporführte. Es blieben ihm nur wenige Sekunden. Tyari würde bald erkennen, daß er sie genarrt hatte. Wie hoch mußte er klettern, bevor er hoffen konnte, einen direkten Treffer zu überleben? Er sah in die Höhe. Über ihm wölbte sich die Wand nach innen und bildete einen schützenden Überhang. Nur ein kleiner Teil der Hülle des Raumschiffs war noch sichtbar. Wenn er Glück hatte, würden sie dort oben von seiner Finte nichts bemerken. Auf allen vieren kroch er die schmale Leiste hinauf. Die Wand bot wenig Schutz. Seine Idee erschien ihm plötzlich nicht mehr so brillant wie noch wenige Sekunden zuvor. Wenn Tyari aus dem Spalt zurückkehrte, saß er vor ihr wie auf dem Präsentierteller, ohne eine Möglichkeit des Ausweichens. Er hielt an und blickte zurück, um zu sehen, wie weit er schon gekommen war. Da sah er den Vorsprung. Er trat mehr als anderthalb Meter aus der Wand hervor und bildete eine kleine Plattform, auf der ein Mensch zur Not Platz finden konnte. Von unten war er nicht zu erkennen gewesen. Von unten sah es so aus, als besäße die Wand dort eine geringfügige Unebenheit, weiter nichts. Er rollte ein paar Meter weit zurück. Die Kante der Plattform war knapp zwei Meter über ihm. Er sprang. Die Finger klammerten sich um scharfkantiges Gestein, das ihm durch die Haut schnitt. Ein Schwung, ausgeführt mit der Kraft der Verzweiflung, und er war oben! Felsbrocken lagen auf der kleinen Fläche verstreut. Er räumte sie vorsichtig beiseite, damit sie ihm nicht im Weg waren. Einen davon behielt er in der Hand, weil er ihm als Waffe geeignet schien. Drunten waren Geräusche. Behutsam schob er sich eine Handbreit nach vorne und spähte über die Kante hinab in die Tiefe. Tyari trat aus dem Spalt. Knallend flammte ihr Blaster auf und setzte das Gebüsch in Flammen. Sie wußte, auf welchem Weg er entkommen
war. Sie zertrat die verkohlten Überreste des Gestrüpps und blickte an der Felsleiste entlang in die Höhe. Er zog den Kopf ein und war von da an nur auf sein Gehör angewiesen. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten kam sie herauf. Er hörte das Knirschen der Steine, die ihr Stiefel zertrat. Immer näher kam das Geräusch – dann verstummte es plötzlich. Sie war unmittelbar unter ihm. Er konnte ihren Atem hören. Mit äußerster Behutsamkeit, Millimeter um Millimeter, schob er sich nach vorne. Nach jeder Bewegung hielt er inne, um zu lauschen. Tyari schien ahnungslos. Dann sah er sie. Die silberne Haarpracht war zum Greifen nahe. Sie hielt den Kopf leicht erhoben und spähte die Wand empor. Sie wandte ihm halb den Rücken zu. Der Lauf des Blasters schwankte unschlüssig hin und her. Das war der Augenblick, auf den er gewartet hatte. Mit unendlicher Geduld holte er langsam die Hand nach vorne. Der Schlag mit dem Felsbrocken mußte Tyari auf der Stelle betäuben, oder er war trotz seines Erfolges ein toter Mann. Der Arm ruckte in die Höhe. Er zielte auf den Hinterkopf. Er spannte die Muskeln. Er wollte zuschlagen; er hatte das Ziel unmittelbar vor Augen … Das Gefühl der Hilflosigkeit war wie ein dumpfer Schmerz, dem er wehrlos ausgeliefert war. Er konnte nicht zuschlagen. Er brachte es nicht fertig. Bei Arkons mächtigem Gott – er hatte sie nicht töten, nur niederschlagen wollen! Aber nicht einmal dazu hatte er die Kraft. Der Arm hing haltlos in der Luft. Ein dumpfes, verzweifeltes Stöhnen drang aus Atlans Brust. Sie fuhr herum. Der Bruchteil einer Sekunde genügte ihr, die Lage zu begreifen. Der Lauf ruckte in die Höhe. Er sah das orangefarbene Glosen des Abstrahlfelds in der konischen Mündung. Näher als in diesem Augenblick war er dem Tod noch nie gewesen. Wie aus weiter Ferne hörte er einen halb erstickten Laut, ein trockenes Schluchzen. Fassungslos vor Staunen sah er, wie der Lauf sich senkte, wie die Mündung mit dem tödlichen Licht des
Bündelfelds aus seinem Blickfeld verschwand. Tyari hatte ihm das Gesicht zugewandt. Schmerz formte ihre Züge. Ein eigenartiger, bettelnder Blick lag in den großen Augen. Wilder Triumph schwellte ihm das Herz. Er hatte sie nicht niederschlagen können, und jetzt, da er ihr auf Armeslänge gegenüberstand, brachte sie es nicht fertig, auf ihn zu schießen. Anti‐ES, du hast versagt! fuhr es ihm mit wilder Genugtuung durch den Sinn. Er sprang auf. Er wollte hinunter, zu ihr, sie in die Arme nehmen. Narr! Nur diesen einen Impuls sandte der Extrasinn. Mitten in der Bewegung hielt Atlan inne. Es war falsch, sich allein von der Emotion lenken zu lassen. Um ein Haar hätte er die drohende Gefahr übersehen … 3. Was sich anfangs als schier unlösbares Problem dargeboten hatte, wurde jetzt, da die Natur des Planeten sich durch die Rückkehr der Fremden aufs neue bedrängt fühlte, zu einer simplen Frage der Prozedur. Auch die einzelnen Gruppen der Wesen, die aktiv mit ihr zusammenarbeiteten, begriffen jetzt, daß die Zeit der kleinlichen Eifersüchteleien vorüber war. Der Auserwählte mußte beweglich, stark und ausdauernd sein; außerdem hatte die Kapazität seines Geistes oberhalb einer bestimmten Grenze zu liegen, damit er Situationen richtig erkennen, Reaktionen konsequent bestimmen und vor allen Dingen Informationen aus dem Untergrund zeitgemäß verarbeiten konnte. Der Untergrund – das waren die Hilfskräfte, die organisiert werden sollten, um dem Rachefeldzug den nötigen Nachdruck zu verleihen. Ihre Aufgabe war, Störaktionen durchzuführen, den Gegner nach Kräften zu behindern, Wege zur Beseitigung des widerlichen Geräts
im Innern des Planeten zu finden und ganz allgemein Kenntnisse zu sammeln, die dem Auserwählten zugeleitet werden konnten. Die Wahl fiel auf die Spezies der Sturmgewaltigen und unter diesen auf ein besonders kräftiges und gewandtes Wesen, das erst vor kurzer Zeit das weiße Gefieder der Jugend abgeschüttelt und das stahlgraue Gewand der Erwachsenen angelegt hatte. Ihm, dem sturmgewaltigen Krieger, vermittelten die Natur und die mit ihr in Harmonie befindlichen Wesen die Gesamtheit ihres instinktiven Wissens und einen Teil ihrer Instinkte selbst. Auf diese Weise wurde der Krieger zum mächtigsten Einzelgeschöpf, das je auf dem geschändeten Planeten existiert hatte. Fast glich er in seiner Schläue, seiner Umsicht und seinem Reaktionsvermögen einem der Fremden, die die Natur immer wieder durch ihre außergewöhnlichen Geistesgaben in Verwirrung setzten. Aber er wurde nicht wie sie: ein denkendes Wesen. Er blieb ein Tier, und was er an Wunderbarem zu leisten vermochte, das vollbrachte er allein kraft der vielfältigen Instinkte, die in ihm vereinigt waren. So rasch und reibungslos sich die Wahl zu guter Letzt hatte vollziehen lassen, so gab es doch einige, die mit ihr nicht einverstanden waren. Die Zahl der Getreuen, die im Einklang mit der Natur auf die Bestrafung der überheblichen Fremden und auf eine Tilgung der von ihrer Hand erlittenen Schmach hinarbeiteten, verringerte sich abermals. Vor allem war es die Spezies der gehörnten Bären, die die Wahl mißbilligte. Das war zu erwarten gewesen. Die gehörnten Bären waren die mächtigsten Tiere des Planeten. An Kraft übertrafen sie alle anderen Geschöpfe. Sie hatten fest damit gerechnet, daß die Wahl auf einen der Ihren fallen würde. Das Aktionskomitee hatte jedoch erkannt, daß Kraft allein kein ausreichendes Auswahlkriterium darstelle. Der Sturmgewaltige machte sich an die Arbeit. Von den Instinkten der Natur geleitet, vom Untergrund mit Informationen versorgt, fand er das Lager der Fremden. Das erste, was er feststellte, war, daß es unter den Fremden einen gab, der mit den anderen in
Feindschaft zu leben schien. Wer aber ein Feind der Fremden war, der stand auf der Seite der Natur. Der Graugefiederte verarbeitete diese Erkenntnis und nahm sie sich zu Herzen. Er hatte den ersten Verbündeten gefunden, der nicht dem Verbund der eingeborenen Natur angehörte. * Die Penetranz stand mit Tyari in telepathischer Verbindung. Sie wußte in diesem Augenblick bereits, daß ihr Plan fehlgeschlagen war. Sie würde den Fehlschlag nicht tatenlos hinnehmen. Anti‐ES hatte befohlen, daß der Arkonide sterben müsse. Mochte Tyari versagt haben – es gab andere, die ihren Platz einnehmen konnten. »Komm mit mir«, stieß er hastig hervor. »Laß uns fliehen. Ich bringe dich an einen Ort, wo niemand mehr deinen Geist unterjochen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck«, murmelte sie niedergeschlagen. »Ich kann nicht …« Wie ein Ruck ging es durch den schlanken Körper. Fiebriger Glanz trat in die großen Augen. Die Penetranz hatte zugeschlagen! Steif wie ein Automat wandte Tyari sich um und schritt die Felsleiste hinab. Atlan wußte nicht, welchen Befehl sie erhalten hatte. Er hörte die telepathische Stimme der Penetranz nur, wenn sie unmittelbar zu ihm sprach; und um zu ihm zu sprechen, mußte sie wissen, wo er sich befand. Aber eines erschien ihm klar: Tyari war abberufen worden. Ein anderer würde es übernehmen, das Gebot des Überwesens auszuführen. Die Kampfpause war vorüber. Die Jagd begann von neuem. Er beugte sich nach vorne und blickte in die Höhe. Die ARSENALJYK war verschwunden. Wahrscheinlich war sie damit beschäftigt, Tyari an Bord zu nehmen. Mjailam, fuhr es ihm durch den Sinn. Den Teleporter ging das alles nichts an. Er
brauchte nicht zu warten, bis Tyari geborgen war. Jeden Augenblick konnte er hier auftauchen. Atlan hetzte die Felsleiste hinauf. Sie wurde schmäler. Je näher er dem oberen Rand des Felsenkessels kam, desto mehr mußte er sich in acht nehmen. Die letzten Meter legte er seitwärtsgehend zurück, die Fußspitzen auf der Kante der Leiste, die Hacken über dem Abgrund, den Körper so weit wie möglich nach vorne gegen die Wand gebeugt, damit der Schwerpunkt festen Boden unter sich hatte. Mit letzter Kraft schwang er sich auf die Felsplatte empor, in die der Kessel eingebettet war. An Ort und Stelle blieb er liegen. Die Lungen pumpten wie wild. Der Stein unter ihm war unangenehm heiß. Die Sonne stand im Zenit. Er hörte das Summen der Feldtriebwerke. Es kam aus beträchtlicher Entfernung, und die ARSENALJYK war nirgendwo zu sehen, so oft er auch den Hals reckte und den Kopf drehte. Sie wußten jetzt, daß seine Fluchtrichtung nach Westen zeigte. Sollte er daran festhalten? Blieb ihm etwas anderes übrig? Das Geräusch der Triebwerke kam aus Osten. In geducktem Trab hastete er am Rand des Felsenkessels entlang. Das Gelände war ohne jede Deckung. Achthundert Meter weit im Westen türmte sich wuchtiges Gestein auf, hinter dem er sich verstecken konnte. Aber bis dorthin mußte er erst einmal kommen. Er glaubte nicht, daß ihm das Arsenal so viel Zeit lassen würde. Aber dann lag er schließlich doch im Schatten eines zwei Mann hohen Monolithen und genoß den flüchtigen Eindruck der Kühle. Die geplagten Muskeln ruhten sich aus. Er schöpfte neue Kraft. Es war ihm unbegreiflich, warum ihm die Verfolger so viel Spielraum ließen – aber er spürte keine Neigung, sich darüber zu beklagen. Unmittelbar nachdem Tyari abberufen worden war, hätten sie seiner im Handumdrehen habhaft werden können. Sie wußten, wo er sich aufhielt, und brauchten nur Mjailam hinter ihm her zu schicken. Je mehr Zeit verstrich, desto schwerer würde es ihnen fallen, ihn wiederzufinden. Jede Viertelstunde dehnte sich der Radius des
Kreises, den sie abzusuchen hatten, um einen Kilometer. Er hörte das Singen der Triebwerke nicht mehr. Er suchte den Himmel ab; aber die ARSENALJYK blieb verschwunden. Hoch droben im Blau schwebte ein Raubvogel, ein Adler. Ob er derselbe war, den er am vergangenen Tag gesehen hatte? Vor ihm senkte sich das Gelände. Aus der Tiefe leuchtete das helle Grün üppiger Vegetation. Es würde gut sein, den sonnendurchglühten Felsen den Rücken zu kehren und im Schatten der Bäume unterzutauchen. Der Durst plagte ihn von neuem. Dort unten gab es Wasser. Irgendwann würde er sich nach etwas zu essen umsehen müssen. Beeren, Wurzeln, Keime – irgend etwas. Sobald er den Durst gestillt hatte, würde ihn der Hunger anspringen wie ein wildes Tier; das wußte er aus Erfahrung. Er gönnte sich eine halbe Stunde Ruhe, dann machte er sich wieder auf den Weg. Bisher war er mit dem Verlauf des Unternehmens im großen und ganzen zufrieden. Der Büffelbär hatte ihm einen bösen Streich gespielt, und trotzdem war er noch am Leben. Je länger sie brauchten, um ihn zu fangen, desto unsicherer wurden sie, desto mehr Fehler würden sie begehen. Wenn er seine Karten richtig spielte, hatte er durchaus eine Chance, diesen Irrsinn lebend zu überstehen. Nur eines bedrückte ihn: die Sorge um Tyari. * Am späten Nachmittag erreichte er das Tiefland. Er befand sich jetzt am Rand der nördlichen Ebene, durch das Gebiet von der Steppe getrennt, an deren Grenze die Höhle des Arsenals lag. Aber das störte ihn im Augenblick wenig. Irgendwo weiter im Westen würde er einen Übergang oder einen Paß finden, der ihn wieder auf den richtigen Kurs brachte. Die nördliche Ebene, so stellte sich heraus, hatte eine unangenehme Eigenschaft: Sie senkte sich gegen das
Gebirge hin. Am Fuß der Berge entstand somit ein Trog, in dem sich das Wasser sammelte. Das Gelände war morastig. Allerlei Insekten belästigten den einsamen Wanderer. Er fand Weiher und Tümpel genug, aber erst gegen Sonnenuntergang stieß er auf einen, dessen Wasser ihm trinkbar erschien. Inzwischen hatte er eine überschlägige Bestandsaufnahme der Dinge gemacht, die das Sumpfland an Eßbarem anbot. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, ging er Beeren sammeln. Er aß heißhungrig und entwickelte alsbald einen milden Fall von Bauchgrimmen, wie er es nicht anders erwartet hatte. Die Natur eines fremden Planeten ist selten auf den Metabolismus des aus dem Weltraum kommenden Besuchers eingestellt. Verglichen mit früheren Erfahrungen bot seine Lage jedoch wenig Grund zur Klage. Die Magenschmerzen waren bald und ohne Folgen überstanden. Er fühlte sich gesättigt und hatte fürs nächste weiter nichts im Sinn, als sich kräftig auszuschlafen. Er fand einen geschützten Ort, eine winzige Lichtung mit trockenem Boden, und machte es sich unter einem Baum bequem, der ihn an eine irdische Tanne erinnerte. Aus einem bemerkenswerten kräftigen Stamm wuchsen kerzengerade Äste, die mit dicken, fleischigen Nadeln bedeckt waren. Die untersten Äste luden weit genug aus, daß er sich unter ihnen verkriechen konnte. Das war ihm wichtig. Falls Mjailam zufällig des Weges kam, wollte er auch im Schlaf vor Entdeckung sicher sein. Viel Ruhe war ihm jedoch nicht vergönnt. Ein heftiges, schmerzhaftes Kribbeln weckte ihn. Im ersten Augenblick verschlafener Benommenheit glaubte er, ein Ameisenvolk hätte sich über ihn hergemacht. Dann aber wurde ihm klar, daß seine Lage wesentlich ernster war. Er war gefangen in einem Gestrüpp, das mit Hunderttausenden von Nadeln ausgestattet war, die sich bemühten, seine Haut zu durchdringen. Er schlug mit Armen und Beinen um sich; aber dadurch erhöhte er nur die Entschlossenheit des Angreifers. Flexible Äste schlossen sich um seinen Leib. Harter Druck schnürte ihm den Brustkorb ein und machten das Atmen zur
Plage. Verblüfft erkannte er, daß es ausgerechnet der so friedlich wirkende Tannenbaum war, dem er sein Dilemma verdankte. Die hochgewachsene Pflanze hatte sich vorwärts gekrümmt und mit den harmlos aussehenden Ästen ihr Opfer umschlungen. Sie war voll beweglich, keineswegs im Boden verwurzelt, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Atlan verfluchte seinen Mangel an Vorsicht. Er wußte aus hundertfacher, oft bitterer Erfahrung, daß auf Planeten mit Sauerstoffatmosphären in der Mehrzahl der Fälle die Pflanzenwelt ebenso gefährlich, angriffslustig und raubgierig war wie die Tierwelt. Die Einsicht kam zu spät. Es ging um sein Leben. Den primitiven Kräften des fleischhungrigen Gewächses hatte er nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Seine einzige Hoffnung lag darin, eine Situation zu schaffen, die die Pflanze an der Entfaltung ihres Energiepotentials hinderte. Er krümmte sich zusammen. Durch das Gewirr der Äste hindurch fand der Fuß Halt auf dem Boden. Er stieß sich ab und begann zu kugeln. Die Pflanze ließ nicht von ihm ab. Immer tiefer senkten sich die Nadeln ins Fleisch des Opfers und schickten sich an, dessen Lebenskräfte in sich aufzusaugen. Atlan gab nicht auf. Er rollte auf die Bresche zu, die er vor Sonnenuntergang in das Gebüsch am Rand der Lichtung gebrochen hatte. Dahinter lag der Weiher, an dem er seinen Durst gestillt hatte. Die Pflanze leistete seinen Bemühungen keinen Widerstand. Sie war es zufrieden, daß die lebenswichtige Nahrung in Kürze zu fließen beginnen würde. Der Schmerz der hunderttausend Nadeln machte den Arkoniden fast wahnsinnig. Er entwickelte die Kraft der Verzweiflung. Das Gebüsch, das die Lichtung umschloß, lag hinter ihm. Der Boden senkte sich dem Weiher entgegen. Ein letzter Stoß, und er rollte von selbst. Er roch die Nähe des Wassers und begann zu hyperventilieren. Wenn er Erfolg haben wollte, mußte er es eine Zeitlang ohne Atemluft aushalten können.
Wasser platschte und schlug über ihm zusammen. Er schloß die Augen und verhielt sich ruhig. Wenn seine Theorie richtig war, konnte er den Rest des Kampfes den Umständen überlassen. Eine Zeitlang sah es so aus, als hätte er sich verrechnet. Der Puls pochte in den Schläfen. Das Gehirn schrie nach Luft. Er wälzte sich auf die Seite, versuchte, mit den Händen den Grund des Weihers zu erreichen, um sich abzustoßen. Da spürte er, wie sich die enge Umklammerung der Äste zu lösen begann. Er breitete die Arme aus. Das würgende Netz pflanzlichen Gewebes fiel von ihm ab. Er strampelte sich frei. Kühle Luft traf sein Gesicht. Er öffnete den Mund und sog die Lungen voll, bis sie zu platzen drohten. Benommen und geschwächt, das Prickeln der widerwärtigen Nadeln noch auf der Haut, watete er auf das Ufer hinauf. Er sah sich um. Das, was ihm früher wie ein Tannenbaum erschienen war, schwamm schlaff in der Mitte des Weihers. Er grinste. Im Geist malte er sich aus, wie sich das enttäuschte Pflanzengeschöpf nach der entgangenen Beute die Lippen leckte. Der Heimtücker war nicht tot. Das Wasser hatte ihn lediglich verwirrt. Er war es nicht gewöhnt, seine Beutezüge in flüssiger Umgebung durchzuführen. Beizeiten würde er sich von seinem Schock erholen und zurück an Land kriechen. Wahrscheinlich würde er seinen früheren Standort wieder aufnehmen, sich den Anschein einer harmlosen, fest im Boden verwurzelten Pflanze geben und auf das nächste Opfer warten. Atlan wanderte davon. Das nächtliche Bad, so wenig es auch geplant gewesen war, hatte ihn erfrischt. Aber den nächsten Ruheplatz suchte er sich mit Bedacht. * Am nächsten Morgen war er schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Unruhe erfüllte ihn. Er hatte das närrische Spiel des Gegners
jetzt lange genug gespielt; es war an der Zeit, daß er es zu Ende brachte. Auf dem schnellsten Weg wollte er in die Nähe der Arsenal‐Höhle zurückkehren und sehen, was er dort zur Bereinigung der Lage tun konnte. Die Toilette fiel dürftig aus. Seine Kleidung war noch nicht getrocknet. Er würde mit der Feuchtigkeit zurechtkommen müssen, bis die Sonne sie getrocknet hatte. Vorläufig spürte er wenig Verlangen nach einem neuerlichen Bad. Das Frühstück fiel erfolgreicher aus als das gestrige Abendessen. Er aß von denselben Beeren, die er in der vergangenen Nacht zu sich genommen hatte. Der Magen hatte sich offenbar in sein Schicksal ergeben. Das einzige äußere Anzeichen seiner Mißstimmung war ein saures Aufstoßen, das jedoch schon nach wenigen Minuten wieder verging. Der Mittag mochte noch zwei Stunden entfernt sein, als sich zur linken Hand des Wanderers ein breites, seichtes Tal öffnete, das nach Süden führte. Genau das war es, was er brauchte. Wenn er dem Tal folgte, gelangte er auf die Steppe, an deren westlichem Rand die Arsenal‐Höhle lag. Das gleiche mochten sich allerdings die Verfolger denken. Seit gestern nachmittag wußten sie, daß sein Vorstoß nach Osten nur eine Finte gewesen war, daß er in Wirklichkeit vorhatte, auf Umwegen zum Ausgangspunkt seiner Wanderung zurückzukehren. Wenn sie schlau waren, hatten sie längs des Tales Wachposten aufgestellt. Er würde die Augen offen halten müssen. Das Gelände war ohne Schwierigkeiten. Er kam zügig voran und hatte, als die Sonne den Zenit erreichte, rund zehn Kilometer in südlicher Richtung zurückgelegt. Offenbar war er am Tag zuvor ein Stück nach Nordwest geraten. Er hatte nicht damit gerechnet, daß er bis zur Höhle so weit würde gehen müssen. Er fand einen kleinen Wasserlauf, der von der mit dschungelähnlichen Pflanzenwuchs bedeckten Ostflanke des Tals herabsickerte, trank und verzehrte den Rest der Beeren, die er am Morgen gesammelt hatte. Im Schatten eines Baumes, den er zuvor
allerdings eingehend auf Harmlosigkeit geprüft hatte, ließ er sich nieder, um zu ruhen. Weiter im Süden schienen die Talwände steiler, das Tal selbst schmaler zu werden. Es beschrieb einen scharfen Knick nach Osten. Das kam ihm recht; denn er hatte den Eindruck, er befinde sich schon ein Stück weit westlich des Meridians, auf dem die Höhle lag. Der Pflanzenwuchs wurde in der Nähe des Knicks spärlicher. Felsen traten zutage, besonders ein acht Meter hoher Koloß, der weit ins Tal hereinragte. Mehr als zwanzig Minuten Rast gönnte ihm die innere Unruhe nicht. Er nahm den Weg wieder unter die Füße, wie die Terraner sagten. In der vagen Hoffnung, den Adler wiederzusehen, blickte er zum Himmel hinauf. Das Tier ließ sich nicht sehen. Dafür schoben sich hochgestaffelte Wolkentürme vom Westen her heran. Die Sonne stach. Kein Lüftchen bewegte sich. Er wußte die Zeichen zu deuten. Die Zeit des makellos schönen Wetters war vorüber. Irgendwann später würde er Schutz vor einem Regenguß suchen müssen. Er näherte sich dem Knick. Er war immer noch wachsam, aber in Wirklichkeit rechnete er nicht mehr mit einem Hinterhalt der Arsenalisten. Hinter jeder Krümmung des Tales erwartete er, die Steppe zu sehen. Er konnte nicht mehr weit entfernt sein. Um so schwerer erschütterte der drohende Klang der harten Stimme sein Selbstbewußtsein. »Das ist weit genug, Arkonide«, sagte sie. * Droben, auf dem acht Meter hohen Felsklotz, stand Kerness Mylotta. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein hämisches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er machte den Eindruck eines Mannes, der sich Herr der Lage fühlt. Die Stirnbinde hatte er abgenommen. Sein drittes Auge glänzte wie ein häßliches Mal. Die Geste war von Bedeutung. Das Auge vermochte, seine unheimliche Fähigkeiten
auch dann zu entwickeln, wenn es von der Binde bedeckt war. Daß Mylotta sie abgenommen hatte, kam einem Signal gleich. Er ließ sein Opfer wissen, daß er gekommen war, um es zu töten. Atlan sah sich verstohlen um. Die Beschaffenheit des Geländes machte ihm nicht viel Hoffnung. Es waren wenigstens zehn Schritte bis zur nächsten Deckung, und so viel Zeit würde Mylotta ihm nicht lassen. »Was willst du, du dahergelaufener Popanz?« fragte er grimmig. Mylotta gab ein kaltes Lachen von sich. »Schimpf nur«, rief er. »Mach deiner verkümmerten Seele ein letztes Mal Luft. In ein paar Augenblicken gibt es dich nicht mehr.« Es rumpelte in der Ferne. Das Gewitter zog heran. Ferner Donner, den er aus der Nähe nicht mehr hören würde. »In Ordnung, Mylotta: Du gewinnst«, sagte er. »Ich gebe auf. Das Arsenal kann mich haben.« Mylottas höhnisches Lachen hallte von einer Talwand zur andern. »Wer interessiert sich für dich? Du bist uns im Weg. Du hast zu verschwinden.« Ohne Warnung griff er an. Das dritte Auge leuchtete auf. Ein Paukenschlag dröhnte durch das Tal. Eine Lichtfontäne barst aus dem Boden und versprühte Ströme bunter Helligkeit. Atlan fühlte sich emporgehoben. Schwerelos schwebte er über einer Szene, die von groteskem Chaos erfüllt war. Er sah Tiere, Pflanzen und menschliche Körperteile durch die Luft wirbeln. Lautlose Explosionen zerrissen das Bild, aber es entstand stets wieder von neuem. Ein riesiger Daumen kam auf ihn zugeschwebt, gekrümmt, als wollte er ihn wie ein lästiges Insekt zerdrücken. Er versuchte, ihm auszuweichen, obwohl er wußte, daß er sich längst nicht mehr in der Wirklichkeit befand und der Daumen nur ein Spukbild war, das Mylottas heimtückische Waffe aus seinem Unterbewußtsein zutage gefördert hatte. Mylotta arbeitete diesmal nicht mit Strahlen, sondern mit psionischer Energie. Sie erzeugte keinen Schmerz. Sie verwirrte das
Bewußtsein des Opfers, kehrte das unterste zuoberst, unterbrach die logische Folge der Gedanken und erzeugte eine Welt grotesker Irrealität, an der der Verstand schließlich zerbrach. Atlan schloß die Augen. Aber das half nicht. Die Alpträume, die Mylotta projizierte, lebten unter den Lidern weiter. Er schoß davon, hinauf in schwindelnde Höhen. Sein Blick glitt über das Land, das in quirlende Bewegung geraten war, als sei es brodelnde Flüssigkeit in einem Kochtopf. Trotz der großen Entfernung aber verlor er Mylotta nicht aus dem Blickfeld. Der Fels mit dem dreiäugigen Mutanten formte den Mittelpunkt des Bildes. Keine Sekunde lang sollte der Hilflose vergessen dürfen, daß es Mylotta war, der ihm dies antat. Er empfand ein seltsames, fast euphorisches Gefühl der Leichtigkeit. So war es einem zumute, dem allmählich der Sauerstoff entzogen wurde – und der Effekt war derselbe: Der Verstand sagte den Dienst auf. Atlan verlor die Fähigkeit, seine Lage ernst zu nehmen. Er hatte keinen Grund, sich zu sorgen. Es war alles so herrlich, so … so … so … Er stutzte. Im Zentrum des Bildes war eine Veränderung eingetreten. Mit dem letzten Rest folgerichtiger Denkfähigkeit erkannte der Arkonide, daß etwas Unplanmäßiges geschah – etwas, das nicht in Mylottas Absicht gelegen hatte. Der Dreiäugige war ins Wanken geraten. Er verlor seinen Halt und stürzte vom Felsen herab. Ein Schwall verworrener, sich überstürzender Eindrücke ergoß sich über Atlan. Er vermochte nicht mehr zu entscheiden, was wirklich und was unwirklich war. Die Welt fuhr fort zu kochen und zu brodeln; aber er sah sie jetzt nicht mehr aus großer Höhe, sondern aus unmittelbarer Nähe. Lichtfontänen umspielten ihn. Er hörte einen schrillen, menschlichen Schrei und gleichzeitig ein lautes Knattern und Klatschen wie … wie von den Schwingenschlägen des Adlers, den er vorgestern beobachtet hatte. Die Lichtbrunnen sanken in sich zusammen. Vor ihm lag die Sohle des Tales, und über ein Gestrüpp drapiert Mylottas regloser Körper.
Er war vom Felsen gestürzt – diese Beobachtung also gehörte der Welt der Wirklichkeit an. Ein lautes Rauschen war in der Luft. Ein Schatten fiel über das Land. Atlan fühlte sich an den Schultern gepackt. Etwas riß ihn in die Höhe. Von neuem schwand ihm der Boden unter den Füßen. Das Tal sank unter ihm hinweg. Er blickte auf Baumkronen hinab, die ihn vor Sekunden noch um etliche Dutzende von Metern überragt hatten. Aber diesmal, glaubte er, befand er sich nicht in einem Wahn. Er erlebte diese Dinge wirklich. Der Verstand erhielt keine Gelegenheit, sich länger mit der Abwägung des Wirklichen gegen das Unwirkliche zu beschäftigen. Die psionische Tortur war zuviel gewesen. Das Bewußtsein erlosch. 4. Ein unregelmäßiges Ticken drang an sein Ohr. Es hörte sich an wie eine altmodische Uhr, deren Werk ein paar Zahnräder abhanden gekommen waren. Er lauschte aufmerksam und entschied, daß dem Geräusch keine bedrohliche Qualität anhaftete. Dann richtete er sich auf. Er lag in einer kleinen Höhle. Der Eingang war so niedrig, daß er ihn wohl kriechend passiert haben mußte. Nicht, daß er sich daran erinnert hätte. Er spürte einen eigenartigen Druck auf den Schultern. Er streifte das Hemd ab und sah über dem Schlüsselbein fünf kurze, breite Striemen, als hätte er sich die Haut verbrannt. Das Bild war das gleiche auf der anderen Seite. Tastend fuhr er sich mit der Hand über den Rücken und zuckte zusammen, als er in die Nähe des Schulterblatts kam. Er fühlte Schorf, eingetrocknetes Blut. Was, zum Teufel, war geschehen? Bruchstücke der Erinnerung kehrten zurück. Das Tal, Kerness Mylottas psionische Marter. Mylottas Sturz. Das Knattern der Schwingen, der Griff an den Schultern, das Gefühl des Fliegens …
Er streifte sich das Hemd wieder über die Schultern und kroch zum Ausgang der Höhle. Vor ihm breitete sich wie ein Vorplatz ein kleines Felsplateau aus, das an einem Wall locker aufgeschichteter Steine endete. Über den Wall hinweg ging der Blick in die wolkenlose Bläue des Himmels. (Atlan erinnerte sich dumpf an ein herannahendes Gewitter. Es mußte sich inzwischen verzogen haben.) Er gewann den Eindruck, daß er sich in beträchtlicher Höhe befand. Der Blick nach hinten zeigte ihm eine steile Wand, die endlos weit in den Himmel ragte. Doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Auf dem Wall saß ein mächtiger Vogel, ein Adler mit stahlgrauem Gefieder – ja, kein Zweifel: Es war derselbe Adler, den er vor zwei Tagen in der Nähe der Höhle gesehen hatte! Er erkannte ihn wieder an dem weißen Fleck unterhalb der Kehle. Das Tier mochte Zweidrittelmeter groß sein, seine Körperlänge betrug gut einen Meter. Die Fänge waren ungemein kräftig und mit je sechs Krallen ausgestattet, die in Formgebung und Stärke an die stählernen Greifwerkzeuge von Werkrobotern erinnerten. Am beeindruckendsten aber waren die Schwingen des Riesenvogels. Er hatte einen Flügel halb ausgebreitet, und war dabei, mit dem Schnabel die Federn zu säubern. Er ging dabei äußerst sorgfältig zu Werk, knickte jede Feder einzeln ab und erzeugte dabei das tickende Geräusch, auf das der Arkonide aufmerksam geworden war. Die Schwinge, obwohl angewinkelt, besaß eine Länge von knapp zwei Metern. Im Flug mußte das Tier eine Spannweite von über vier Metern entwickeln. Der Adler schenkte Atlan zunächst keinerlei Beachtung. Er war mit der Reinigung des Gefieders beschäftigt, und das helle Ticken war das einzige Geräusch in der warmen Stille des Nachmittags. Der Arkonide hatte Zeit, darüber nachzudenken, wie er hierhergekommen war. Er erinnerte sich an die Striemen auf den Schultern und verglich ihre Abmessungen mit denen der Krallen des mächtigen Tieres. Allmählich dämmerte ihm das Unglaubliche:
Er war tatsächlich geflogen – in den Klauen des Adlers. Atlan kroch vollends unter der niedrigen Höhlenöffnung hervor und richtete sich auf. »He, Ticker«, sagte er. Der Adler unterbrach seine Beschäftigung. Aufmerksam beäugte er den Arkoniden. »Wer hat dir aufgetragen, mir zu helfen?« Das Auge des Adlers leuchtete wach und intelligent; aber wenn Atlan erwartet hatte, die Reihe der Wunder dadurch vervollständigt zu sehen, daß er das Tier sprechen hörte, so sah er sich enttäuscht. Der Adler wußte, daß er angesprochen wurde. Er zeigte keinerlei Furcht vor dem Wesen, das er mit seinen Klauen und der Kraft seiner Schwingen aus tödlicher Gefahr gerettet hatte. Aber die Kunst des Sprechens beherrschte er nicht. »Also schön«, sagte Atlan. »Fangen wir es anders an. Ist Kerness Mylotta tot oder nur bewußtlos?« Keine Antwort. »Weißt du, wo wir hier sind? Ich meine – wie weit ist es von hier bis zur Höhle des Arsenals?« Der Adler saß starr wie eine Statue. Atlan ließ resigniert die Schultern sinken. »Mein lieber Freund Ticker«, sagte er. »So kommen wir nicht weiter. Ich bin dir zu ewigem Dank verpflichtet. Aber wenn ich hier oben verrotten soll, dann hättest du ebensogut Mylotta sein trauriges Werk vollenden lassen können.« Er trat an den Wall und blickte über die Steine hinweg in die Tiefe. Er sah eine mit dürftigem Gebüsch bestandene Halde, die sich steil in die Tiefe senkte. Zweihundert Meter unterhalb der Höhle lag ein Tal, das sich durch reichen Pflanzenwuchs auszeichnete. Es war von bedeutender Länge. Atlan ließ den Blick von rechts nach links wandern. Er sah auf und stellte fest, daß die Sonne, die nur noch ein paar Fingerbreit über dem Horizont stand, ihm direkt ins Gesicht schien. Links also lag Süden. Er folgte dem Verlauf des Tales bis zu
der Stelle, an der es zwischen zwei flachen Hügeln in eine Ebene mündete. Die Steppe! Das Tal war vermutlich dasselbe, in dem Mylotta ihm aufgelauert hatte. Der Knick mit dem hohen Felsen mußte irgendwo rechts hegen, außerhalb des Blickkreises. Die Halde unterhalb der Höhle wirkte gefährlich – ein falscher Tritt, und er machte eine Schußfahrt geradewegs in die Hölle. Wenn er sich aber Zeit nahm und von hier oben aus den Weg in allen Einzelheiten zurechtlegte, von einem Busch zum andern … Ein vertrautes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Das Singen eines Feldtriebwerks! Er sank hinter dem niedrigen Steinwall in sich zusammen. Sein Blick suchte den Himmel ab. Das singende Geräusch wurde lauter. Aus den Augenwinkeln gewahrte er einen bunten Blitz, den Reflex der Sonne in der aus Jenseitsmaterie bestehenden Hülle der ARSENALJYK. Weit im Süden, am Rand der Steppe, schob sich das Raumschiff hinter den Bergen hervor. Es ging auf Nordkurs. Die Jagd war noch nicht zu Ende. Anti‐ES gab nicht auf, bis es den Gegner vernichtet wußte. * Langsam, in dreihundert Metern Höhe, trieb die ARSENALJYK an der Kette der Berge entlang. Der Arkonide lag in der Deckung des Steinwalls. Unter normalen Umständen hätte er von der Korvette nichts zu befürchten gehabt. Die technische Standardausstattung eines Fahrzeugs dieser Art war nicht in der Lage, ein Einzelwesen inmitten der Bergwildnis auszuspähen. Aber mochte der Teufel wissen, wieviel Zusatzgerät in der ARSENALJYK installiert worden war, nachdem Anti‐ES sie in ihre Dienste gezwungen hatte. Der Wind, der so plötzlich aufgesprungen war, hatte offenbar
nicht die Absicht, sich bald wieder zu beruhigen. Er stürmte von den Gipfeln herunter, wirbelte Staubwolken über die Halde und zog über die Hügel auf der anderen Seite des Tales hinweg. Dunst, der sich aus kondensierender Luftfeuchtigkeit bildete, markierte seinen Weg. Der Wind war kalt. Atlan, dem vor kurzem noch der Schweiß auf der Stirn gestanden hatte, fröstelte. Verblüfft sah er, wie der Himmel über dem westlichen Talrand sich mit Wolken zu füllen begann. So eigenartig war der Vorgang, daß er die ARSENALJYK ein paar Augenblicke lang völlig vergaß. Schatten fiel über das Land, als schwere, graue Kumuli sich wie mächtige Türme in die Höhe reckten. Noch immer pfiff der kalte Wind in der Höhe, und Atlan begriff allmählich, daß er mit der erstaunlichen Wolkenbildung in engem Zusammenhang stand. Die kalte Luft der Berggipfel sog die Feuchtigkeit aus der warmen Atmosphäre und formte sie zu Wolken. Die Physik des Vorgangs war verständlich; aber wie er sich mit derart phantastischer Geschwindigkeit vollziehen konnte – und was den Sturm ausgelöst hatte, der von den Gipfeln herabpfiff – blieb vorläufig ungeklärt. Die dunklen Wolkenmassen bildeten eine Barriere, die sich schräg über das Tal zog. Seit dem Auftauchen der ARSENALJYK waren noch keine fünf Minuten vergangen, da zuckte der erste Blitz durch das fahle Licht des plötzlich verdunkelten Nachmittags. Brüllend rollte der Donner durch das Tal. Die Korvette hatte ursprünglich geradewegs auf die Wolkenbank zugehalten. Jetzt änderte sie den Kurs und stieg in die Höhe, um das Gewitter zu überfliegen. Sie verfügte über Stabilisatoren und Schirmfelder, mit denen sie die Turbulenzen im Innern der Gewitterzone mühelos hätte Herr werden können. Aber die Tätigkeit gewisser Geräte wurde durch elektrische Entladung gestört oder verfälscht, und gerade auf die Messungen dieser Geräte schien es der Besatzung des kleinen Raumschiffs anzukommen. Anders konnte Atlan sich das Verhalten der Korvette nicht erklären. Sie wurde zu einem bedeutenden Umweg gezwungen. Die
Wolken, ausgelöst durch den unablässig fauchenden Sturm, hatten sich bis zu einer Höhe von mehreren Kilometern aufgetürmt. Unaufhörlich zuckten Blitze, ununterbrochen rollte der Donner durch das Tal. Die ARSENALJYK war inzwischen auf eine Höhe von sechstausend Metern gestiegen. Atlan hielt es nicht mehr hinter seiner Deckung. Hoch aufgerichtet verfolgte er das Toben des Unwetters und den Flug des Raumschiffs. Aus dieser Entfernung konnte höchstens ein unseliger Zufall bewirken, daß er von den Suchgeräten der ARSENALJYK ausgemacht wurde – unabhängig davon, wieviel zusätzliche Technik Anti‐ES an Bord hatte installieren lassen. Minuten verstrichen. Die Korvette glitt weiter nach Norden, wurde zum glitzernden Punkt und verschwand schließlich in der Weite des Firmaments. Inzwischen hatte der Sturm sich beruhigt. Die Zufuhr kalter Luft hörte auf, und die sinkende Sonne erwärmte mit letzter Kraft die grauen Wolkentürme, bis sie sich aufzulösen begannen. Aus dem Tal drang der Duft vom Regen durchnäßter Pflanzen herauf. Der letzte Blitzstrahl war verzuckt, des Donners letzter Trommelwirbel in der Ferne verrollt. Die Natur war wieder ruhig. Die ganze Zeit über hatte Ticker, der Adler, sich nicht gerührt. Es war ihm nicht anzusehen, ob er die Bedeutung des ungewöhnlichen Geschehens begriff. Für Atlan bestand kein Zweifel daran, daß die fremde und geheimnisvolle Macht, der er die Rettung durch Ticker verdankte, ein zweites Mal eingegriffen hatte, um ihn vor der Entdeckung durch die ARSENALJYK zu bewahren. Hier war eine Kraft am Werk, die die Natur selbst für ihre Zwecke einspannte. Aber es lag ein gewisser Mangel an Kongruenz im Verhalten des Unbekannten. Er meisterte spielerisch die gewaltigen Energien, die der Natur innewohnten, und kommandierte Tiere – ein Tier, verbesserte sich Atlan – wie ein Meisterdompteur. Die Fähigkeiten der ARSENALJYK jedoch hatte er gänzlich falsch eingeschätzt. Das Gewitter war inszeniert worden, um die Korvette zu verjagen. Der
Fremde verstand nicht, daß Raumschiffe dieser Art dazu gemacht waren, den reißenden Orkanen der großen Wasserstoff‐ und Methan‐Planeten zu widerstehen, die bei Drücken von etlichen tausend Atmosphären mit Geschwindigkeiten von über 1000 km/h dahinrasten. Ein herkömmliches Gewitter, auf wie imposante Weise es auch herbeigeführt sein mochte, nötigte dem Kommandanten einer Korvette unter normalen Umständen höchstens ein müdes Lächeln ab. »Ticker«, wandte sich der Arkonide an den Adler, »wenn wir weiter wirksam zusammenarbeiten wollen, muß ich mich mit dem Wesen unterhalten, das dich geschickt hat.« Das mächtige Tier schüttelte sich. Auf der Krone des Walls stellte es sich in Positur. Die riesigen Schwingen entfalteten sich. Ein wuchtiger Stoß der kräftigen Fänge, und der Adler schoß wie vom Katapult geschnellt in die Höhe. Mit ein paar mühelosen, fast gelangweilt wirkenden Flügelschlägen manövrierte er sich in eine Thermik, die an der Bergwand entlang emporstieg. Eine Minute später war er nur noch ein winziger Fleck im rasch dunkler werdenden Abendhimmel. »Mein Gott«, murmelte Atlan. »So dringend war es nun auch wieder nicht.« * Das letzte Licht des scheidenden Tages hatte der Arkonide benützt, um sich einen Weg über die Halde hinab zurechtzulegen. Sorgsam prägte er sich jeden Busch, jeden Strauch ein, an dem er unterwegs Halt zu finden gedachte. Das Bild, das schließlich entstand, vertraute er seinem Gedächtnis an, auf dessen photographische Effizienz er sich verlassen konnte. Allerdings würde er den Aufbruch um wenigstens zehn Stunden aufschieben müssen. Die Halde war bei Tag schon halsbrecherisches Gelände. Nur ein
Selbstmörder würde in der Nacht auf ihr herumklettern wollen. Die seltsamen Ereignisse des vergangenen Nachmittags gingen ihm nicht aus dem Sinn. Wessen Gebot folgte der Adler? Wer war für das unerwartete Gewitter verantwortlich? Eine Erinnerung drängte sich ihm auf. Während seiner zahllosen Fahrten durch die Weite des Universums war er des öfteren seltsamen, ungewöhnlichen Formen der Intelligenz begegnet. Wesen, die als Individuen harmlose Tiere oder Pflanzen waren, in der Gemeinschaft jedoch logische und handlungsfähige Intelligenz entwickelten, waren keine Seltenheit. Er war auf Welten gelandet, auf denen ganze Landstriche aufgrund gewisser Gruppierungen mineralischer und organischer Substanzen, die aus einer Laune der Natur entstanden wäre, Intelligenz besaßen. Er hatte intelligente Planeten erlebt – Welten, die als Ganzes ein Intelligenzwesen verkörperten. Lag hier ein ähnlicher Fall vor? Wenn ja – und wenn diese Welt aus einem Grund, den er nicht zu erraten vermochte, tatsächlich bereit war, ihm gegen das Arsenal beizustehen, dann würde sie beizeiten versuchen, sich mit ihm zu verständigen. Nicht zu weit vorpreschen, warnte der Extrasinn. Mit einer voll ausgebildeten Intelligenz zu rechnen, erscheint mir voreilig. Vergiß nicht, wo du bist. »Wo bin ich?« fragte Atlan verwundert. In der Galaxis Bars‐zwei‐Bars, einer künstlich herbeigeführten Kombination der Individualgalaxien Farynt und Bars. »Richtig«, entgegnete der Arkonide grimmig. »Und niemand weiß, ob der Arsenalplanet zu Bars oder zu Farynt gehört.« Das eben solltest du bedenken, schloß der Extrasinn die kurze Diskussion. Atlan glaubte zu wissen, worauf er hinaus wollte. Farynt und Bars waren Sterneninseln besonderer Art. Sie lebten beide in Assoziation mit Einzelwesen, oder vielleicht sollte man besser sagen: Sie besaßen Inkarnationen, die die Form von Einzelwesen annahmen. Über diese
Wesen war nicht viel bekannt. Sie geisterten durch die Legenden und Sagen, durch die religiösen Glaubensthesen der Völker beider Galaxien. Für Bars war Tyar zuständig, offenbar ein Geschöpf höchster Intelligenz, der Schöpfer Tyaris, die er ausgesandt hatte, Hilfe zu holen. Die Inkarnation Farynts war Prezzar, um den sich der eigenartige Kult der Prezzar‐Erhalter gebildet hatte. Im Zusammenhang mit Prezzar wurde nie von Intelligenz, wohl aber von einem überragenden, bis zu maximaler Sensitivität entwickelten Instinkt gesprochen. Prezzar mußte, wenn man der Überlieferung glauben wollte, eine neue, bisher unbekannte Art von Wesen sein, ein Supertier, wie Spötter an Bord der SOL es ausgedrückt hatten – einer, der Erstaunliches zu leisten vermochte, obwohl er die Fähigkeit logischen Denkens nicht besaß. Das war es, was der Extrasinn andeuten wollte. Wenn der Arsenalplanet zu Farynt gehörte und mithin von der geistigen Substanz Prezzars »beseelt« war, dann durfte mit einer Intelligenz der Natur oder des Planeten nicht gerechnet werden. Eine auf dem Instinkt basierende Macht wäre es in diesem Fall, die dem Arkoniden in seiner Not beizustehen versuchte. Das machte die Sache schwieriger. Wie sollte er, der mit zwei Verstandessphären ausgestattete Logiker, seine Handlungen mit denen eines Instinktwesens koordinieren? Wie sollte es je zu einer Verständigung kommen können? Schwingen rauschten durch die Nacht. Ein Schatten huschte über das Meer der Sterne. Kräftige Flügel klatschten. Sekunden später landete Ticker, der Adler, auf der Krone des Steinwalls. Sein kräftiger, zwanzig Zentimeter langer Schnabel trug ein umfangreiches Bündel. Ticker neigte sich nach vorne und ließ es auf den Boden fallen. Atlan warf den Umschlag beiseite und starrte den Inhalt des Bündels an. Das Licht der Sterne reicht aus, ihn jedes der zahlreichen Objekte deutlich erkennen zu lassen. »Ticker, du bist ein Genie …«, murmelte er fassungslos.
* Die Päckchen trugen bürokratische Aufschriften. sol dept logist div nutr conc sol cons bef 12/815 Konzentratstangen, mit anderen Worten, noch gute sieben Jahre lang haltbar. Er erbrach das Siegel, zog eine der Stangen hervor und verzehrte sie mit Genuß. Ein Flexikanister enthielt genug Wasser für fünf ausgiebige Stillungen des Durstes. Nur fünf? Auch der Vorrat an Konzentratstangen schien, wenn man die Lage des Arkoniden bedachte eher dürftig. Mangel an Umsicht von Seiten des Adlers oder – Berechnung? Atlan tippte auf das letztere. Das hing mit dem großen Paket zusammen, das er in dem Bündel gefunden hatte. Das Paket enthielt zwei Dinge: eine Standard‐Bordmontur der SOL, lindgrün und preßfrisch, offenbar noch nie getragen, ein dringend benötigter Ersatz für Atlans ramponierte Kleidung – und einen mit Transportfähigkeit und Waffen ausgestatteten Raumschutzanzug. Die Freude über die unerwarteten Geschenke war so groß, daß er erst mehrere Minuten später dazu kam, sich zu wundern. Wundern aber mußte man sich in einem Augenblick wie diesem gewiß. Wie hatte der Adler wissen können, was Atlan brauchte? Seine Tragfähigkeit war trotz seiner beachtlichen Kräfte begrenzt: Wie hatte er unter all den Gegenständen, die der Arkonide in der jetzigen Lage als nützlich empfunden hätte, ausgerechnet den Proviant und die beiden Monturen ausgewählt? Und vor allen Dingen: Woher hatte er gewußt, wohin er sich wenden mußte, um das Gewünschte zu beschaffen? Proviant und Anzüge stammten offenbar aus der ARSENAUYK. Bedeutete das, daß Ticker im Innern des Schiffes gewesen war? Der Extrasinn meldete sich nicht. Auch er wußte keine Antworten auf die Fragen, die das Potential besaßen, ein weniger
ausgeglichenes Wesen als Atlan zum Wahnsinn zu treiben. Wenn der Arkonide die Integrität seines Verstandes wahren wollte, dann mußte er, solange der Adler nicht zu sprechen begann und der Unbekannte im Hintergrund sich nicht meldete, an ein Wunder glauben. Entweder an ein Wunder – oder daran, daß Ticker telepathische Fähigkeiten besaß. In Atlans Gedanken waren die Informationen vorhanden, die zur Auswahl und zum Auffinden der Gegenstände benötigt wurden. Er hatte während der vergangenen Stunden oft, wenn auch nur flüchtig, darüber nachgedacht, welche Schritte er als nächste unternehmen solle. Wenn Ticker in seinem Bewußtsein gelesen hatte … Was ist der Unterschied zwischen einem Wunder und einem telepathischen Adler? Er gab auf. Es hatte keinen Zweck, daß er sich den Kopf über Dinge zerbrach, die Menschenverstand nicht zu enträtseln vermochte. Es gab Wichtigeres zu bedenken. Die ganze Zeit über, als er sozusagen im leeren Raum plante und keine Hoffnung hatte, seine Pläne je verwirklichen zu können, war ihm vorgeschwebt, daß er als erstes Tyari retten müsse. Um sie drehte sich sein ganzes Denken und Sehnen. Tyari retten und sie irgendwohin verschleppen, wo sie dem mentalen Bann der Penetranz nicht mehr unterlag. Das würde sein erster Schritt sein. Jetzt, da er sich in die Lage versetzt sah, das Geplante auszuführen, erschienen ihm die Prioritäten anders. Gewiß, Tyari mußte befreit werden. Aber ebenso verdienten Mylotta, Sanny, Kik, die Besatzung der Korvette und wer da sonst noch war die Erlösung vom Bann der Penetranz. Wichtig war vor allen Dingen, Verbindung mit der SOL herzustellen. Das ging nur mit Hilfe des Senders an Bord der ARSENALJYK. Sein vordringlichstes Bemühen mußte also sein, das Schiff unter seine Kontrolle zu bringen. Alles andere würde sich daraufhin fast von selbst ergeben. Als er sich sattgegessen und ‐getrunken hatte, kleidete er sich an.
Es war ein gutes Gefühl, die von den Unbilden der Natur zerschlissenen Klamotten loszuwerden und frischen, sauberen Stoff auf der Haut zu spüren. Er legte die Raumschutzmontur an, verzichtete jedoch vorläufig darauf, den Helm zu schließen. Er überprüfte die Waffen, Blaster und Paralysator, und fand sie einsatzbereit. Ein kurzer Test des Gravo‐Geräts verlief zufriedenstellend. Er glaubte, Überraschung in Tickers gelben Augen zu sehen, als er vom Boden abhob und an der Bergwand entlang ein Stück in die Höhe schwebte. »Ich mache mich jetzt auf den Weg zur Arsenal‐Höhle, mein Freund«, sprach er zu dem Tier. »Die Götter Arkons wissen es: Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Aber ich weiß nicht wann, wo und in welcher Form. Das muß sich aus dem Augenblick ergeben. Da du mich nicht verstehen kannst und ich nicht weiß, was in deinem Schädel vorgeht, bleibt uns nichts anderes übrig, als auf das Schlimmste gefaßt zu sein und das Beste zu hoffen. Oder auf ein Wunder zu warten. Es wäre, bei Gott, nicht das erste an diesem verrückten Tag.« Ticker reagierte nicht. Atlan hatte es nicht anders erwartet. Er schwang sich auf den Steinwall und aktivierte das Gravo‐Gerät. Im Schutz des künstlichen Schwerefelds lehnte er sich nach vorne und trieb durch die Dunkelheit davon. * Sie waren alle in der Höhle versammelt – bis auf drei, die an Bord der ARSENALJYK Wache zu halten hatten, Anti‐ES wollte es so. Die gesamte Besatzung aus dem Schiff abzuziehen, hätte verdächtig erscheinen müssen. Anti‐ES sprach durch die Penetranz, deren samtene Körperhülle in Schauern aus Blau, Indigo und Violett glänzte. Die Mentalstimme des eigenartigen Geschöpfs drang mühelos in die Bewußtseine der
Zuhörer. »Wir haben es mit einer merkwürdigen und gefährlichen Konstellation zu tun. Der Arkonide ist nicht mehr allein. Er hat Hilfe erhalten. Auf den ersten Blick scheint es, als sei es nur ein großer Vogel, der sich aufgrund seines Instinkts oder aus sonst einem Motiv heraus seiner angenommen hat. Aber der Schein trügt.« Alle verhielten sich ruhig. Nur in Kerness Mylottas Gesicht zuckte es, als er sich der Schmerzen erinnerte, die ihm der Sturz vom Felsen eingetragen hatte. Die Wunden waren äußerlich verheilt. Aber das Brennen der Haut, das Zerren in den Muskeln und das dumpfe Pochen an der Stelle, wo er sich den Arm gebrochen hatte, würden ihn noch eine Zeitlang begleiten. »Erinnert euch an das seltsame Gewitter, dem die ARSENALJYK am Nachmittag ausweichen mußte«, fuhr die Penetranz fort. »Die meteorologischen Daten wurden inzwischen analysiert. Das Gewitter ist nicht auf normalem Weg entstanden. Es wurde durch Schaffung einer Reihe wetterbeeinflussender Bedingungen und in aller Eile erzeugt – offenbar zu dem Zweck, die ARSENALJYK an der Suche nach dem Arkoniden zu hindern. Vor kurzem ist derselbe Vogel, der bereits einmal in Aktion trat, in das Schiff eingedrungen und hat Dinge entwendet, darunter eine mit Waffen und Transportgerät versehene Raumschutzmontur. Das Tier wurde bei seinem Raubzug beobachtet. Auf meinen Befehl hin ließ man es ungeschoren. Vorgänge dieser Art lassen sich als Zufälle oder Einzelaktionen nicht mehr erklären. Wir haben es hier mit einem organisierten Gegner zu tun, der auf der Seite des Arkoniden steht. Die Identität des Gegners ist vorläufig noch unbekannt. Ich halte es nicht für unmöglich; daß sich die Natur des Planeten – oder zumindest ein Teil davon – gegen uns stellt. Ich hatte bereits zuvor beschlossen, daß die Ausstattung des Arsenals verstärkt werden müsse. Die gegenwärtige Entwicklung macht die Verstärkung um so dringlicher. Mit der ARSENALJYK
allein läßt sich unser Ziel nicht erreichen. Ich werde in Kürze dem Arsenal ein weiteres Fahrzeug zur Verfügung stellen, größer, schneller und besser ausgestattet als das bisherige. Nennt es ARSENALJYK II.« Auf den Gesichtern der Zuhörer zeigte sich keine Regung. Kerness Mylottas nervöses Zucken hatte sich beruhigt. Die Penetranz sprach, und was die Penetranz anordnete, war gut und weise, denn sie bezog ihre Instruktionen von Anti‐ES. Es gab keinen Anlaß, Erstaunen, Überraschung oder ähnliche Emotionen zu empfinden. Das blaue Leuchten der Penetranz wurde ruckartig intensiver. Etwas schien die fremdartige Wesenheit zu erregen. Sekunden später hörten die Mitglieder des Arsenals die mentale Stimme von neuem: »Das Erwartete ist eingetreten. Wir sind dem Erfolg nahe. Geht an eure Plätze und handelt nach Plan.« Das Licht in der Höhle dämpfte sich selbsttätig. Das Arsenal geriet in Bewegung. * Zwei Stunden vor Mitternacht hatte er seinen Posten bezogen. Von seinem überhöhten Standort aus überblickte er den Landeplatz der ARSENALJYK. Gegen Mitternacht hatte er die Mannschaft von Bord gehen sehen – alle bis auf drei Mann. Sie hatten sich nach rechts hin gewandt. Dort lag die Höhle. Aus eigener Erfahrung wußte er, daß nun in der Höhle eine Versammlung stattfand, bei der Anti‐ES durch die Penetranz neue Pläne, neue Taktiken, neue Wahlsprüche – kurz, weitere Ausflüsse seiner korrupten Weisheit verkünden ließ. Versammlungen dieser Art währten gewöhnlich stundenlang, weil Anti‐ES, wenn es durch die Penetranz sprach, sich überaus gewunden und langatmig ausdrückte. Die Gelegenheit war da. So rasch würde es nicht wieder vorkommen, daß sich nur eine
dreiköpfige Notwache an Bord der Korvette befand. Freilich war sein Vorhaben auch unter derart günstigen Voraussetzungen noch immer problematisch. Man würde seine Annäherung bemerken und seine Absicht erraten. Seine Chance lag darin, daß die drei Wachtposten nicht selbständig zu handeln vermochten. Seit sie unter hypnosuggestivem Einfluß standen, besaßen sie keine Entscheidungsfähigkeit mehr. Sie würden Anweisungen von Mylotta oder von der Penetranz selbst brauchen, um zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Den Zeitverlust, der dabei entstand, mußte er ausnutzen. Schnelligkeit war die wichtigste Ingredienz seines Rezepts. Er näherte sich dem kleinen Raumschiff zu Fuß. Das Gravo‐Gerät produzierte unangenehm viel Streustrahlung. Wenn er es einschaltete, erschien er auf dem Orterbild der ARSENALJYK wie eine lodernde Fackel. Das konnte er sich sparen. Der Infrarotschirm, der sich rings um das Schiff ausbreitete, würde ihn früh genug erfassen. Er wünschte Ticker herbei. Aber er hatte den Adler seit seinem Aufbruch nicht mehr gesehen. Dort, wo er die Grenze des Infrarotschirms vermutete, blieb er stehen. Die ARSENALJYK lag zweihundert Meter entfernt. Die Bodenschleuse war offen und hell erleuchtet. Ein flimmernder Energiesteg führte zu ihr hinauf. Sobald er die Grenze des Schirms überschritten hatte, konnte er den Gravo‐Generator einsetzen; dann spielte es keine Rolle mehr. Fünf Sekunden, schätzte er, bis hinüber zur Schleuse. Zwei Mann würden sich im Kommandostand aufhalten, ein dritter irgendwo an Bord unterwegs sein. Die beiden in der Zentrale mußte er unschädlich machen; der dritte konnte ihm nicht gefährlich werden. Es war alles herzerfrischend einfach. Fast hätte einem der Verdacht kommen mögen, es sei alles so hergerichtet, damit er um so bereitwilliger in die gestellte Falle tappte. Der Sog des künstlichen Schwerefelds riß ihn vorwärts und in die
Höhe. An Bord der ARSENALJYK geschah jetzt zweierlei: Er wurde auf dem Infrarotbild sichtbar, und das Gravo‐Gerät erzeugte einen deutlichen Reflex auf dem Orterschirm. Nach kurzem Zögern würden die beiden Posten in der Zentrale versuchen, sich mit Kerness Mylotta in Verbindung zu setzen. Das sollte ihnen schwerfallen. Anti‐ES liebte es nicht, bei seinen pompösen Selbstdarstellungen unterbrochen zu werden. Die Schleuse schoß auf ihn zu. Er bremste und fing den Schwung mit ausgestreckten Armen am Schottrand ab. Der Gravo‐Generator schaltete sich von selbst aus. Er spürte Boden unter den Füßen. Einen Atemzug lang spähte er in die Schleusenkammer hinein. Sie war leer. Der sonnenheiße Energiestrahl fauchte nur eine Handbreit über ihn hinweg. Die erhitzte Luft knatterte. Ein Schwall mörderischer Hitze fegte ihm entgegen und versengte ihm die Haare. Drinnen in der Schleuse platzte mit lautem Knall eine Platte der Wandverkleidung. Seine Reaktion war instinktiv. Die Hand faßte nach dem Regler des Gravo‐Generators. Zornig summend heulte das Gerät auf. Wie vom Katapult geschnellt, schoß der Arkonide in die Höhe. Der tastende, grellweiße Finger eines Blasters suchte nach ihm und fuhr weit am Ziel vorbei. Aus der Tiefe drang Mylottas dröhnende Stimme. »Viel zu früh! Wer hat da zu früh geschossen?« In der Tat, dachte Atlan grimmig. Wer hatte da zu früh geschossen? 5. Das Unternehmen, auf das sich die Namenlose, die Natur des Arsenalplaneten, eingelassen hatte, war etwas nie Dagewesenes. Selbst wenn sie mit der Fähigkeit kombinatorischen Rechnens
begabt gewesen wäre, hätte sie nicht im voraus errechnen können, welche Wirkungen die Ausführungen ihres Plans erzielen würde. Es gab keine Erfahrungswerte. Jede Erfahrung, die sie machte, war eine Urerfahrung. Die Erfolge, die der sturmgewaltige Krieger erzielte, waren ermutigend. Aber es wurde bald offenbar, daß der Gegner auf diese Weise nicht nachhaltig eingeschüchtert oder gar vertrieben werden konnte. Auch die Natur verspürte, ebenso wie Atlan, den sie längst als Verbündeten erkannt hatte, ein Bedürfnis nach Kommunikation mit ihrem Bundesgenossen. Was aber der Arkonide klar erkannte, das war in ihrem rein intuitiven Bewußtsein nur ein dumpfes, ungewisses Unbehagen. Sie wußte, daß etwas fehlte; aber sie wußte nicht, was es war. Sie erkannte allmählich, daß die Macht des Gegners zu einem großen Teil auf dem Fahrzeug beruhte, das aus dem Nichts gekommen war. Wenn man das Fahrzeug entwenden oder unbrauchbar machen könnte, wären die Fremden geschwächt. Etwas Ähnliches mußte auch dem Bundesgenossen in den Sinn gekommen sein. Aber bei seinem Angriff auf das Fahrzeug wäre er um ein Haar in eine Falle gegangen. Der Sturmgewaltige hatte ihm nicht helfen können. Noch immer war es schwierig, die Pläne des Verbündeten zu erkennen, besonders wenn er in technischen Kategorien dachte, die der Sendbote der Namenlosen nicht verstand. Er hatte dem Bundesgenossen nicht beistehen können, weil er nicht wußte, was dieser vorhatte. Mit der Zeit, glaubte sie, würde es dem Sturmgewaltigen immer leichter fallen, die Gedanken des Verbündeten zu begreifen. Dann würde die Zusammenarbeit sich reibungslos gestalten. Inzwischen konzentrierte sie sich auf das Fahrzeug. Auf welche Weise konnte es beschädigt, zerstört oder sonstwie unbrauchbar gemacht werden? Den Sturmgewaltigen durfte sie so bald kein zweites Mal einsetzen. Es schien, der Gegner wußte, daß er an Bord gewesen war. Er würde entsprechende Abwehrmaßnahmen
getroffen haben. Sie beriet sich mit ihren Gesinnungsgenossen unter den zahllosen Millionen von Tier‐ und Pflanzenarten des Arsenalplaneten. Zu ihrer großen Überraschung waren es ausgerechnet die blinden Höhlenolme, die die erste brauchbare Idee entwickelten. Von den Olmen hatte niemand nennenswerte Initiative erwartet; es war ein halbes Wunder, daß sie sich überhaupt dem Aktionskomitee angeschlossen hatten. Nicht, daß es ihnen an der entsprechenden Instinktfähigkeit gemangelt hätte – aber sie lebten so abgeschlossen von allen anderen Tier‐ und Pflanzenformen, und ihre Blindheit ließ manches höherentwickelte Wesen zu dem voreiligen Schluß kommen, daß man von ihnen nicht allzu viel erwarten dürfe. Freilich war es verständlich, daß ausgerechnet die Höhlenolme die erste Idee hatten; denn diese bezog sich auf die Kräfte der Tiefe, und denen waren die Olme in ihren Höhlen am nächsten. Diejenigen, die den Augenlosen wohler wollten, munkelten sogar, gerade aufgrund ihrer Blindheit hätten die Olme ein besonderes, freundliches Verhältnis mit den geheimnisvollen Gewalten, die tief unter der Oberfläche der Welt ihren Sitz hatten, entwickelt. Die Idee hatte allerdings eine Schwäche: Sie ließ sich nicht überall verwirklichen. Man würde Mittel und Wege fingen müssen, das Fahrzeug der Fremden an diesen oder jenen Ort zu locken, ohne daß sie Verdacht schöpften. Auch dazu wurde rasch ein Plan entwickelt. Der Sturmgewaltige würde den Führer machen müssen. Auf dem Arsenalplaneten holten die Kräfte der Natur aus, Anti‐ES einen empfindlichen Schlag zu versetzen. * Er war zornig. Er hatte sich angestellt wie ein Anfänger. Die seltsamen Ereignisse des vergangenen Tages mußten ihm den Verstand verwirrt haben,
daß er geglaubt hatte, er könne der ARSENALJYK auf so einfache Weise habhaft werden. Er hätte Verdacht schöpfen müssen, als er das Schiff so einladend vor sich liegen sah. Es stank förmlich nach Falle. Aber er, fest davon überzeugt, daß von nun an nur noch Wunder geschehen würden, hatte es nicht gerochen. Selbsterkenntnis, bemerkte der Extrasinn nicht ohne Sarkasmus, ist der kürzeste Weg zur Besserung. Sie hatten gewußt, daß er kommen würde. Wahrscheinlich war Ticker bei seinem Raubzug beobachtet worden. Und Anti‐ES hatte sich durch den Umstand, daß der Dieb ein Tier war, nicht beirren lassen und folgerichtig geschlossen, für wen die gestohlenen Gegenstände bestimmt waren. Von da an war es nicht mehr schwer gewesen zu erraten, was er als nächstes unternehmen werde. Er unternahm eine Kurskorrektur und wandte sich dorthin, wo matt im Sternenlicht die Umrisse der Berge schimmerten. Eine halbe Sekunde später begann unter ihm die Luft zu brodeln. Ein schenkeldicker Strahl unerträglicher Helligkeit stand plötzlich mitten in der Nacht. Mit donnerndem, knatterndem Getöse expandierte die erhitzte Luft. Eine Druckwelle traf den Arkoniden mit der Wucht eines Hammers und schleuderte ihn Hals über Kopf davon. Noch immer nichts gelernt! schalt er sich, während er hastig einen neuen Kurs einregelte. Mit eingeschaltetem Gravo‐Generator leuchtete er auf ihren Orterschirmen wie ein Funkfeuer. Lange genug hatten sie gebraucht, um zu erkennen, daß sie ihn auch aus der Ferne noch erwischen konnten. Fehlte nur, daß sie das Schiff starteten und hinter ihm her jagten. Er brauchte festen Boden unter den Füßen. Er mußte den Generator ausschalten. Hätte er nicht die Idee gehabt, den Kurs zu ändern, er wäre jetzt nur noch eine kleine Gaswolke, die vor dem Nachtwind dahintrieb. Der zweite Schuß lag weit abseits. Seine Ausweichmanöver irritierten die Zielautomatik. In einer Lage wie dieser war der Mensch dem Computer überlegen. Über eine Distanz von mehreren
Kilometern vermochte selbst die beste Automatik die erratischen Bewegungen eines so kleinen Objekts nicht auszugleichen. In wilden Kurven schoß er auf die Berge zu. Er war sich darüber im klaren, daß er einen Bogen beschrieb, der ihn wieder näher an die Arsenalhöhle und den Landeplatz der ARSENALJYK brachte. Das ließ sich jetzt nicht vermeiden. Sein einziges Anliegen war, den Generator so schnell wie möglich auszuschalten. Das Gelände kam ihm zu Hilfe. Ein niedriger Felsrücken, den er bis jetzt nicht hatte sehen können, tauchte vor ihm auf. Er schoß in die Tiefe. Hinter der massiven Wand fühlte er sich sicherer. Der größte Teil der Streustrahlung, die der Generator verursachte, war konventionell‐ elektromagnetischer Natur und wurde durch den Fels abgeschirmt. Auf dem Orterbild der ARSENALJYK hatte er sich soeben von einer Signalleuchte in einen trüben, milchigen Fleck verwandelt. Der dritte Schuß des Bordgeschützes fuhr hoch über ihn hinweg und riß einen hausgroßen Steinbrocken aus der Krone des Felsrückens. Er hätte jetzt unbeschadet landen und den Generator desaktivieren können. Aber inzwischen war ihm ein Gedanke gekommen. Es wäre töricht gewesen, vor dem Arsenal davonzulaufen. Sie hätten ihn um ein Haar gefaßt, und um dieselbe Haaresbreite war er dem tödlichen Energiebündel des Impulsstrahlers entgangen. Sie mußten ihn für demoralisiert halten. Sie würden damit rechnen, daß er sich in irgendeinen Winkel verzog und über seiner Niederlage brütete. Es gab keine bessere Gelegenheit, ein zweites Mal vorzustoßen, als in dieser Nacht. Nur – diesmal würde er sich anders anstellen. Um genau zu sein: Er würde sich ein anderes Ziel aussuchen. Wenn er die ARSENALJYK nicht haben konnte, blieb ihm immer noch, was er ursprünglich im Sinn gehabt hatte: Tyari aus den Klauen der Penetranz zu befreien. Er flog bis zum östlichen Ende des Felsrückens. Feuer erhielt er keines mehr. Er landete und desaktivierte das Gravo‐Gerät. Von seinem Standort aus waren es rund zwei Kilometer bis zum Fuß der
Bergkette, die er vor zehn Minuten im Licht der Sterne hatte auftauchen sehen. Der Weg führte durch busch‐ und baumbestandenes Gelände, war also ziemlich sicher, solange er den Generator nicht betätigte. Das Terrain zwischen dem Felsrücken und der Bergwand mochte der südliche Ausgang des Tales sein, in dem er einen großen Teil des gestrigen Tages verbracht hatte. Er hätte es nicht sagen können. So dilettantisch war er bei seinem Vorhaben zu Werk gegangen, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, sich die Topographie der Umgebung einzuprägen. Im Laufschritt überquerte er den Abschnitt ebenen Geländes. Er fand einen vergleichsweise bequemen Aufstieg, der in die Berge hineinführte. Er schonte sich nicht. Er betrachtete die körperliche Anstrengung, die der Marsch ihm bereitete, als Buße für den Leichtsinn, den er sich hatte zuschulden kommen lassen. Zwei Stunden nach Mitternacht stand er dicht unterhalb des am weitesten südlich gelegenen Gipfels der Bergkette. Nicht mehr als zweihundert Meter unter ihm lag, im matten Sternenlicht gerade noch erkennbar, die ebene Fläche der Steppe, Von rechts herüber schimmerte bunt die Hülle der ARSENALJYK. Er streifte den Raumschutzanzug ab und verbarg ihn zwischen den Steinen. Solange er den Gravo‐Generator nicht benutzen konnte, war ihm die schwere Montur eher ein Hindernis als ein Vorteil. Die Waffe barg er im Gürtel der lindgrünen Borduniform. Er hockte sich auf ein Felsstück und musterte den Himmel. Wenn er sich die Mühe gemacht hätte, ein paar der fremden Konstellationen zu lernen und ihre Bewegungen mit dem Gang seines Chronometers zu vergleichen, dann wäre es ihm leichtgefallen, sich auszurechnen, wieviel Stunden Dunkelheit ihm noch zur Verfügung standen. So mußte er sich auf sein Gefühl verlassen. Drei bis vier Stunden noch, schätzte er. Noch zeigte der östliche Horizont keine Spur von Verfärbung. Es mußte reichen …
* Die Höhle war hell erleuchtet. Er kauerte am Fuß der Bastion, auf der er Ticker zum ersten Mal gesehen hatte. Es hatte ihn einen Umweg von gut zehn Kilometern gekostet, sich der Unterkunft des Arsenals von dieser Seite her zu nähern. Er war müde, ausgepumpt. Die Beine schmerzten vom Laufen, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er brauchte eine Ruhepause, bevor er weitermachen konnte. Das müde Gehirn produzierte abstruse Ideen. Er hätte, ging es ihm durch den Sinn, eine Sprengkapsel bei sich tragen müssen. Vorhin, als sie mit dem Bordgeschütz auf ihn schossen, hätte er die Kapsel an geeigneter Stelle gezündet und sie glauben gemacht, er sei erledigt. Es wäre alles viel einfacher, wenn sie ihn für tot hielten. Er fragte sich, was in der Höhle vorging. Noch eine Versammlung? Kerness Mylottas wütendes Geschrei fiel ihm ein. »Wer hat da zu früh geschossen?« Dem voreiligen Schützen verdankte er, daß er noch am Leben war. Mylottas eigentlicher Plan hatte wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. Sie hatten ihn in die ARSENALJYK eindringen lassen und erst dann stellen wollen, wenn er ihnen nicht mehr entkommen konnte. Der Voreilige hatte Mylottas Taktik zunichte gemacht. Ging es in der Höhle darum, ihn zur Rede zu stellen und zu bestrafen? Er wollte glauben, es sei Tyari gewesen, die ihm mit dem verfrühten Schuß ein Signal geben wollte. Aber sicher war er seiner Sache nicht. Er mußte vorsichtig zu Werk gehen. Trotz seiner Mentalstabilisierung war es möglich, daß die Penetranz ihn bemerkte, falls sie zufällig ihre Mentalsensoren spielen ließ. Er bemühte sich, »flach« zu denken. So nannten die Psychophysiker die Tätigkeit des Gehirns, wenn es Mentalimpulse von geringer Amplitude erzeugte. Er hoffte, daß die Penetranz beschäftigt war – und sei es nur damit, ihren gebannten Zuhörern weitere Beispiele
der unfehlbaren Weisheit des Überwesens Anti‐ES zu vermitteln. Langsam rückte er an den Höhleneingang heran. Er hatte keinen festen Plan. Irgendwie mußte es ihm gelingen, die Versammlung zu zerstreuen – wenn es tatsächlich eine Versammlung war, was in der Höhle stattfand. Die Zahl der Gegner, die er auszuschalten hatte, mußte so gering wie möglich sein. Die ideale Lösung stellte er sich so vor: Er brachte Tyari in seine Gewalt und nahm Kerness Mylotta als Geisel. Sobald er Mylotta hatte, brauchte er sich mit dem Rückzug nicht mehr zu beeilen. Anti‐ES würde es sich zweimal überlegen, bevor es den Anführer des Arsenals opferte. Fing er Tyari allein, dann mußte er sie bewußtlos machen; sonst könnte die Penetranz ihre geistige Ausstrahlung orten, und sein Fluchtweg wäre beleuchtet wie die Piste eines Flughafens. Vor allen Dingen kam es darauf an … Er spürte die fremde Anwesenheit. In diesem Augenblick wußte er, daß er einen sechsten Sinn besaß, der ihm mitteilte, was die Augen nicht sehen und die Ohren nicht hören konnten. Der Fremde befand sich zwei oder drei Schritte hinter ihm. Er bewegte sich nicht. Wer anders konnte es sein als, Mjailam? Nur ein Teleporter konnte auf so überraschende Weise auftauchen. Nichts an Atlan verriet, daß er den Fremden bemerkt hatte. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten glitt er weiter auf die Höhle zu. Mjailam folgte ihm, auch das ließ ihn der sechste Sinn wissen. Der Teleporter plante eine Überraschung. Atlans Hand glitt zum Kolben des Paralysators. Als er die Waffe unter den Fingern spürte, blieb er stehen. »Ich wußte, daß wir uns wiedersehen …«, sagte es hinter ihm. Mjailam hatte fest damit gerechnet, daß sein Opfer vor Schreck in die Knie gehen würde. Atlans blitzschnelle Reaktion hatte er nicht erwartet. Der Arkonide fuhr herum, und noch in der Bewegung begann der Schocker zu summen. Die Worte wurden dem Teleporter vom Mund gerissen. Er stieß einen gellenden Schrei aus. Dann wurde er seltsam steif und fiel wie ein Brett zu Boden.
Atlan zögerte keine Zehntelsekunde. Den Schrei hatten sie drinnen in der Höhle gehört. Er schnellte sich davon, an der Felswand entlang, um den Vorsprung der Bastion herum. Diesmal hatte er sich vorbereitet. Er kannte jede Einzelheit des Geländes. Ein schmaler Einschnitt nahm ihn auf. Mit Händen und Füßen, den Rücken als Stütze benützend, schob er sich in die Höhe. Dreißig Meter weiter oben gelangte er auf ein breites Felsband, das von der Höhle fort nach Südwesten führte. Aus der Tiefe waren jetzt Stimmen zu hören. Handscheinwerfer leuchteten auf. Sie kamen zu spät. Wie immer, solange sie nur nach den Anweisungen der Penetranz handeln konnten, hatten sie wertvolle Zeit verloren. Sie würden seine Spur bis dorthin verfolgen, wo sie sich auf steinigem Boden verlor, und annehmen, er sei in die Steppe hinaus geflohen. Sie würden den Rand der Steinplatte absuchen, um zu ermitteln, an welcher Stelle seine Fährte wieder zutage kam. Bis dahin war er längst in Sicherheit. Das Felsband wurde zur Schlucht, auf beiden Seiten von hohen Wänden flankiert. Irgendwo plätscherte Wasser. Ein paar hundert Schritte weiter würde er auf ein dichtes Gebüsch stoßen. Das Gebüsch verbarg einen Felsspalt, durch den sein Fluchtweg weiterführte. Selbst wenn sie schließlich erfuhren, in welche Richtung er sich gewandt hatte – den Spalt würden sie niemals finden! Er stockte. Der Drang, zu rennen und den Schritt nicht eher zu mäßigen, als bis er durch den Felsspalt verschwunden war, hatte sich verflüchtigt. Staunend musterte er die stolze, hochaufgerichtete Silhouette, die sich auf einem Felsen schräg über ihm erhob. »Ticker!« rief er, in der Aufregung die Vorsicht vergessend. »Was hast du hier verloren?« *
Der Adler wandte den Kopf zur Seite. Es war, als forderte er den Arkoniden auf, in eine bestimmte Richtung zu sehen. Sein Blick umfaßte das Gebüsch, dessen Rand nur noch ein Dutzend Meter entfernt war. Die engen Wände der Schlucht blockierten einen großen Teil des Sternenlichts. Atlan erschien das Dickicht, das seine Existenz inmitten der Felswildnis einem kleinen, plätschernden Wasserlauf verdankte, als formlose, dunkle Masse. Aber es entging ihm nicht, daß sich inmitten der Masse etwas bewegte. Er dachte an ein Tier; denn es gab hier unten, auf der Sohle der Schlucht, nicht den leisesten Windhauch. Hatte ihm der Unbekannte noch einen Helfer geschickt. Dann aber erstarrte er, und als er den ersten Schreck überwunden hatte, wich er bis an die Felswand zurück. Die Hand tastete nach dem Blaster. »Vorsicht, Ticker«, sagte er. »Mit dem Zeug habe ich unangenehme Erfahrungen gemacht.« Der Adler gab ein halblautes Quarren von sich. Es klang ungeduldig, als wolle er den Arkoniden auffordern, abzuwarten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es war das erste Mal, daß er auf Atlans Worte reagiert hatte. Ein Gewächs hatte sich aus dem Gestrüpp gelöst. Es war im wahrsten Sinne des Wortes »vorgetreten«. Seine Höhe betrug zweieinhalb Meter. Es war von regelmäßiger Form und erinnerte an eine terranische Tanne. Darüber hinaus erinnerte es Atlan an die vorige Nacht, als er von einem Geschöpf derselben Art im Schlaf angefallen worden war. Die Pflanze hatte die Form eines Baumes; aber in Wirklichkeit war sie voll beweglich, ernährte sich von tierischen Substanzen und gehörte somit in jene Kategorie, die die Xenobotaniker der SOL Initiativ‐Flora nannten (im Gegensatz zur Vegetativ‐Flora, der die harmlosen Pflanzenbewohner der Erde angehörten). Während Atlan das seltsame Wesen noch mißtrauisch musterte, ging mit diesem eine seltsame Veränderung vor sich. Es schrumpfte und wuchs dabei in die Breite. Der Schrumpfprozeß dauerte an, bis
die Höhe der Pflanze nur noch ca. 1,90 m betrug. Atlan hatte in der vergangenen Nacht erfahren, daß die Äste in Wirklichkeit Tentakeln und die Nadeln Saugkapillaren waren. Dennoch faszinierte ihn die Geschmeidigkeit, mit dem das Gewächs seine Form zu ändern vermochte. An der Spitze entstand eine Verdickung. Dort, wo die Pflanze in die Breite gegangen war, bildeten sich zwei Extremitäten, die verzweifelt an menschlichen Arme erinnerten. Der Arkonide vergaß zu denken. Sein Verstand war ausschließlich mit dem Beobachten beschäftigt. Er sah, was er vorerst noch nicht begreifen konnte, und speicherte es für den Zweck späterer Analyse. Die Veränderung, die das Gewächs vollzog, war spukhaft, gespenstisch. Vor Atlans Augen wurde aus einem Tannenbaum eine humanoide Gestalt. Es ist dunkel, redete er sich verzweifelt ein. Ich kann das alles nicht so genau sehen. Bei Licht betrachtet, wäre es wahrscheinlich nicht halb so eindrucksvoll. Die Pflanze fuhr fort, sich neu zu formen. Ein Schauder des Entsetzens lief dem Arkoniden über den Rücken, als bei einer raschen Bewegung das Sternenlicht den menschenähnlichen Kopf trat und reflektiert wurde – von zwei Augen im Schädel des Pseudohumanoiden! Die Äste und Nadeln waren längst verschwunden. Das Gewächs war jetzt eine feste, kompakte Masse – und noch immer war die Veränderung nicht abgeschlossen. Wie von einem unterbewußten Zwang getrieben, trat Atlan auf das unheimliche Geschöpf zu. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Das Gesicht, das er erblickte, war – bis auf die unnatürliche Blässe – das seine! Das angeborene Grün der Pflanze eignete sich vorzüglich, den Farbton der SOL‐Uniform nachzuahmen. Der locker geknöpfte Kragen der Montur schloß sich um den bleichen Hals. Aufgesetzte Taschen waren erschienen. Aus den Ärmeln ragten fünffingrige Hände, ebenso gespenstisch blaß wie das Gesicht. Die Füße staken in derben, hellbraunen Stiefeln – derselben Art Stiefel, die auch Atlan trug. Der Prozeß der Veränderung war abgeschlossen. Vor Atlan stand
sein Ebenbild. Es war nicht perfekt. Im Tageslicht hätte es einer aufmerksamen Prüfung keine Sekunde lang standgehalten. Aber es war Nacht. Atlan erkannte plötzlich den Sinn des Mummenschanzes. Es war auch nicht geplant, den Pseudohumanoiden irgend jemand – außer ihm selbst – aus der Nähe vorzuführen. Aus sicherer Distanz sollte es für Atlan gehalten werden; das genügte. Nur mit Mühe löste der Arkonide sich aus seiner Starre. Ticker rüttelte droben auf seinem Felsenhorst. »Geduld, Geduld«, murmelte Atlan, der seine Fassung allmählich wiedergewann. »So etwas muß man erst einmal … verdauen.« Aber Ticker ließ keinen Einspruch gelten. Er klatschte mit den Schwingen und gab zu verstehen, daß die Zeit des Aufbruchs gekommen sei. * Ticker verschwand in der Nacht und tauchte zwei oder drei Sekunden später ein paar Dutzend Meter entfernt wieder auf. Diese Prozedur wiederholte er ein Mal ums andere und bestätigte sich somit als Wegweiser. Atlan, noch immer unter dem Eindruck, des soeben Erlebten, folgte ihm willig, und hinter ihm her schritt das Pflanzenwesen, sein Doppelgänger. Der Kurs, den der Adler einschlug, war ein anderer als der, den der Arkonide auf dem Herweg genommen hatte. An einer Stelle, die höchstens fünfzehn Meter über dem Niveau der Steppe lag, erreichten sie den östlichen Ausläufer des Berges. Ticker saß hoch droben auf einer Felsnadel und ließ Atlan mit dem Pflanzenwesen herankommen. Er machte keine Anstalten, von neuem davonzufliegen. Das Ende des Weges schien erreicht. Atlan kauerte sich nieder. Zwischen Felsblöcken hindurch ging der Blick hinaus auf die weite Fläche der Steppe. Lichter tanzten
dort unten, ferne Stimmen waren zu hören. Sie suchten nach seiner Fährte. Unmittelbar vor ihm begann ein Pfad, der nach links hin an der Bergwand entlang in die Tiefe führte. Er war breit und bequem, seine Neigung sanft und ungefährlich. Das waren Dinge, auf die es ankam, erkannte der Arkonide. Das Pflanzenwesen mochte ohne Mühe in der Lage sein, seine Gestalt und sein Äußeres nachzuahmen; aber sich wie ein Humanoide zu bewegen, dazu bedurfte es einiger Übung. Von einer Fähigkeit, zu klettern und umfangreiche Hindernisse zu überwinden, konnte nicht die Rede sein. Sollte der Pseudo‐Atlan erfolgreich eingesetzt werden, dann mußte man ihm hindernisfreies Gelände verschaffen. Ein paar Minuten vergingen. Das Rufen und Schreien drunten in der Ebene wurde hektischer. Atlan konnte sich ausrechnen, was geschehen war. Sie hatten die Felsplatte, die am Fuß des Berges vorgelagert war, abgesucht und festgestellt, daß seine Fährte irgendwo wieder zum Vorschein kam. Sie wußten, mit anderen Worten, daß er nicht hinaus in die Steppe, sondern hinauf in die Berge geflohen war. Die tanzenden Lichter der Handscheinwerfer näherten sich. Die Stimmen wurden lauter. Er schätzte die Zahl der Sucher auf zwanzig bis fünfundzwanzig. Diesmal hatte Kerness Mylotta dafür gesorgt, daß eine kräftige Wachmannschaft an Bord der ARSENALJYK blieb. In rund einer Stunde, schätzte Atlan, würde Mjailam das Bewußtsein wiedererlangen. Es war damit zu rechnen, daß man den Teleporter vorausschickte, das Gelände zu sondieren. Das konnte gefährlich werden. Welche Pläne hatte Ticker? Er blickte zur Felsnadel hinauf und stellte überrascht fest, daß der Adler verschwunden war. War er aufgeflogen, um seinen Begleiter ein weiteres Stück des Weges zu zeigen? Unwahrscheinlich; man hätte das Klatschen seiner Schwingen gehört. Atlan legte den Kopf in den Nacken und musterte die Stelle, an der das Tier vor kurzem noch gesessen hatte, mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Da war ihm, als sähe er gegen den hellgrauen Hintergrund der Bergwand
einen schwachen, kaum wahrnehmbaren Umriß, einen Schatten, der annähernd Tickers Gestalt hatte. Sein Erlebnis von vor drei Tagen fiel ihm wieder ein. Als er vor der Höhle saß, hatte er das Schlagen der Schwingen in seiner Nähe gehört, aber nichts gesehen. Erst Augenblicke später war der Adler oben auf der Bastion materialisiert. Besaß Ticker die Gabe, sich unsichtbar zu machen? Nach allem, was er im Verlauf der vergangenen siebzig Stunden erlebt hatte, war Atlan seiner Fähigkeit, Mögliches und Unmögliches zu unterscheiden, nicht mehr so sicher. Falls der Adler es verstand, in den Mantel der Unsichtbarkeit zu schlüpfen, dann hatte er gewiß den rechten Augenblick gewählt, sich des Mantels zu bedienen. Der erste in die Höhe gerichtete Scheinwerferstrahl hätte ihn sonst erfassen müssen, und daß das Arsenal inzwischen mißtrauisch geworden war, was Tickers Rolle anging, daran bestand kein Zweifel. Aus der Höhe kam ein leises, unregelmäßiges tickendes Geräusch. Ein vergnügtes Grinsen huschte über das Gesicht des Arkoniden. Der Adler verlor seinen Gleichmut nicht. Er benützte die kurze Pause, um sein Gefieder zu säubern. Ein Rascheln ließ Atlan aufschrecken. Der Pseudohumanoide hatte sich bewegt. Das Licht der Sterne fiel ihm ins Gesicht und ließ den ungewöhnlich starren Ausdruck seiner Augen erkennen. Atlan wich unwillkürlich zur Seite. Er wußte, daß das groteske Theaterstück zu seinen Gunsten gespielt wurde; aber das transformierte Pflanzenwesen war ihm immer noch unheimlich. Es schritt an ihm vorbei und trat hinaus auf den Pfad, der an der Bergwand entlangführte. Woher wußte es, was es zu tun hatte? Wer hatte ihm gesagt, daß es sich jetzt in Bewegung setzen mußte? Kam der Befehl von Ticker – oder hatte der Unbekannte selbst eingegriffen? Atlan blickte in die Höhe, aber der Adler war noch immer unsichtbar. Das halblaute Ticken war verstummt Der Pseudohumanoide schritt am Hang des Berges entlang. Er bewegte
sich mit kurzen, vorsichtigen Schritten und ging leicht vornübergebeugt, um das Gleichgewicht zu sichern. Die Art seiner Fortbewegung wirkte natürlich, wie die eines Diebes, der sich durch die Nacht stahl. Von unten rief jemand: »He, da oben ist was! Ich höre Steine rollen …« Das war Buzz Reckions Stimme. Atlan konnte den Standort des Technikers von der ARSENALJYK nicht ausmachen. Er befand sich außerhalb seines Blickfelds, unmittelbar am Fuß der Felswand. Scheinwerferstrahlen zuckten durch die Nacht. Grelle Lichtkreise huschten über das graue Gestein. Einer bekam den Pseudohumanoiden zu fassen, glitt weiter, kehrte zurück … »Dort!« Ein triumphierender Schrei. »Das ist der Arkonide!« Die Lichtbahnen der Scheinwerfer vereinigten sich. Das Pflanzenwesen war stehengeblieben, in gleißende Helligkeit getaucht. Es hob die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit. Ein Fauchen und Knallen drang durch die Nacht. An wenigstens zehn Stellen sah Atlan die glühenden Energiefinger der Blaster aufleuchten. Ein entsetzlicher, grauenvoller Schrei gellte auf. Das Pflanzenwesen war in Flammen gehüllt. Es neigte sich vornüber, verlor den Halt und stürzte über die Felskante hinweg. Noch im Sturz erhielt es mehrere Treffer, die seine Substanz atomisierten. Ein knisternder Funkenregen sank an der Bergwand entlang in die Tiefe. Atlan schloß die Augen. Er war Augenzeuge des Schicksals geworden, das der unerbittliche Gegner ihm zugedacht hatte. * Er hörte Tickers Schwingenschläge, aber er sah nicht auf. Er schuldete dem Adler Dank, aber das würde warten müssen. Im Augenblick war ihm nicht nach Dankbarkeit zumute. Der
fürchterliche Schrei des Pseudohumanoiden gellte ihm noch in den Ohren. Er hatte nicht gewußt, daß das Pflanzenwesen die menschliche Stimme simulieren konnte. Es war ein gräßlicher Laut gewesen, unwirklich und dennoch von echtem Schmerz erfüllt. Was ist da gestorben! fragte er sich. War es eine Pflanze, ohne Empfinden, mit ihrer Umwelt höchstens durch die Fäden eines dumpfen, primitiven Instinkts verbunden, deren Ableben man mit derselben Gleichgültigkeit zur Kenntnis nahm wie das Verwelken einer Blume oder das Niederbrennen einer Hecke? Oder war es ein fühlendes, mit der Gabe der Wahrnehmung gesegnetes Geschöpf gewesen, logischen Denkens vielleicht unfähig, aber deswegen nicht weniger empfindsam als ein … als ein Mensch? Er fand keine Antwort. Die Fragen quälten ihn. Er fühlte sich schuldig. Er hätte nicht zulassen dürfen, daß sich das fremde Wesen für ihn opferte. Es spielte keine Rolle, daß die Idee nicht von ihm ausgegangen war. Er stutzte. Wessen Plan war es gewesen? Tickers? Das hätte Intelligenz auf Seiten des Adlers vorausgesetzt, ein Zugeständnis, das der Arkonide zu machen noch nicht bereit war. Tickers geheimnisvoller Auftraggeber? Wer war er? Und wie hatte er eine solche Idee entwickeln können? Er empfand Unbehagen, als er daran dachte, welche Gedanken ihm durch den Kopf gegangen waren, während er sich auf die Höhle zuschlich – kurz bevor Mjailam auftauchte. Er hatte überlegt, daß es praktisch gewesen wäre, wenn er bei der Flucht von der ARSENALJYK eine Explosionskapsel bei sich getragen hätte, wenn er den Gegner hätte glauben machen können, er sei tot. Wenn sich das Arsenal nicht mehr um ihn kümmerte, weil es ihn für ausgeschaltet hielt, würde er seine Pläne um so leichter durchführen können. So hatte er gedacht. Jemand – etwas – der geheimnisvolle Unbekannte hatte seine Gedanken aufgenommen. War Ticker in der Nähe gewesen? Er wußte es nicht. Aber es gab kaum einen Zweifel
daran, daß der Gedanke, seinen Tod zu fingieren, seinem eigenen Bewußtsein entsprungen war. Ein anderer hatte sich die Idee zu eigen gemacht und sie ausgeführt. Das war mehr als unheimlich; es war furchterregend. Von jetzt an würde er auf jeden seiner Gedanken achten müssen. Nicht vorzustellen, welche Mißverständnisse sonst entstehen könnten. Eine zornige Regung, die sich auf Mylotta oder Mjailam bezog – und Regungen solcher Art waren in diesen Tagen keine Seltenheit –, und der unheimliche Verbündete aktivierte seine Kräfte, um den Dreiäugigen oder den Teleporter umzubringen! Ohne Kommunikation konnte das Bündnis zur Katastrophe führen. Aber mit wem sollte er kommunizieren? Ticker reagierte nicht, und sein Auftraggeber hielt sich im Verborgenen. Drunten, am Rand der Ebene, war es ruhig geworden. Die Lichter der Handscheinwerfer waren verloschen, der Klang der Stimmen allmählich verebbt. Aus der Sicht des Taktikers war der Einsatz der Pflanze ein voller Erfolg gewesen. Sie war im Sturz zerstäubt worden, und die Turbulenzen, die von den heißen Energiestrahlen der Blaster erzeugt wurden, hatten ihre Substanz überallhin verstreut. Wenn nicht Kerness Mylotta, so würde zumindest Anti‐ES wissen wollen, ob es wirklich der Arkonide war, dem man da den Garaus gemacht hatte. Eine chemische Analyse der Restsubstanz hätte den Schwindel sofort ans Tageslicht gebracht. Aber es gab keinen Rest. Es war nichts übriggeblieben. Die Analytiker hatten keine Chance. Tickers Schwingenschläge knallten wie eine schwere Peitsche. Mit geringem Interesse sah Atlan in die Höhe. Er gab dem Adler einen Teil der Schuld an dem Aufruhr, der in seiner Seele tobte. Schließlich war er es gewesen, der dem Pflanzenwesen zum Selbstmord verholfen hatte. Aber was er sah, riß ihn auf die Beine. Ticker flatterte hektisch. Er machte nicht seinen üblichen, eleganten Landeanflug, sondern senkte sich vertikal aus der Höhe herab. Er trug eine schwere Last,
einen schlaffen menschlichen Körper. Atlan eilte ihm zu Hilfe. Er nahm ihm die Last ab und ließ sie sanft zu Boden gleiten. Erleichtert schoß Ticker in die Höhe und nahm seinen früheren Posten auf der Spitze der Felsnadel wieder ein. Atlan kniete neben der reglosen, bewußtlosen Gestalt. Es war Tyari. 6. Die nächsten Stunden waren voller Hektik. Der Tag hatte zu grauen begonnen. Es war wichtig, daß sie den Standort des Arsenals so weit wie möglich hinter sich zurückließen, bevor Tyari wieder zu sich kam. Atlan fragte sich verzweifelt, wie er Ticker verdeutlichen solle, was zu geschehen hatte. Aber Ticker überraschte ihn, indem er von seinem Horst herabflatterte und wie spielerisch nach seinen Schultern griff – offenbar, um bekanntzugeben, daß er ihn abtransportieren wolle. Überrascht wehrte der Arkonide ab. Er griff der Bewußtlosen unter die Arme und stellte sie aufrecht. Er hielt sie so, daß der Adler bequem zugreifen konnte. Ticker verstand sofort. Er legte Tyari seine Klauen um die Schultern, je fünf Krallen nach vorne, die Daumenkralle auf den Rücken. Die Art, wie er zupackte, erklärte die Striemen, die Atlan am Nachmittag des vergangenen Tages auf seiner Haut entdeckt hatte. Das ständige Schwingenschlagen erzeugte in der Enge der Felsen einen wahren Orkan. Schließlich aber hatte Ticker seine Last fest im Griff. Erstaunlich mühelos strebte er in die Höhe. Inzwischen graute der Morgen. Nach Süden, in der der Höhle abgewandten Richtung, strich das kräftige Tier davon. Atlan sah ihm nach, bis es im Zwielicht der beginnenden Dämmerung verschwunden war. Abermals war ihm ein Wunsch erfüllt worden. Als er nach dem mißlungenen Vorstoß auf die ARSENALJYK zum zweiten
nächtlichen Unternehmen ansetzte, war es ihm darum gegangen, Tyari aus der Gewalt des Arsenals zu befreien. Er hatte diese Absicht niemandem mitgeteilt. Wie sollte er auch? Es gab niemanden, zu dem er sprechen konnte. Sein Plan war fehlgeschlagen; Mjailam war ihm dazwischengekommen. Aber sein Wunsch war trotzdem erfüllt. Ticker hatte Tyari aus der Mitte ihrer Bedränger gerissen. War er dabei bemerkt worden? Anscheinend nicht, sonst wäre es drunten in der Umgebung der Höhle lebendiger gewesen. Kein ungewöhnlicher Laut hatte bis jetzt die Stille des Morgens durchbrochen. Wahrscheinlich hatte der Adler Tyari gefaßt, als das Arsenal, nachdem es den vermeintlichen Arkoniden getötet hatte, sich zur Höhle zurückzog. Es war noch finster gewesen. Ticker verstand es, sich unsichtbar zu machen. Es hatte keine feste Marschordnung gegeben; jeder hatte sich seinen eigenen Weg zur Höhle gesucht. Es war durchaus vorstellbar, daß der Adler hatte Tyari packen können, ohne daß der Vorgang von jemand anderem bemerkt worden war. Beim nächsten Appell würde die Penetranz feststellen, daß ihr einer der Mentalsklaven abhanden gekommen war. Aber dann würde niemand mehr Entführung vermuten. Als er Tyari flüchtig untersuchte, hatte er eine Wunde an ihrer Schläfe gefunden. Er konnte sich an zwei Fingern herzählen, daß es diese Wunde war, von der die Bewußtlosigkeit herrührte. Die Frage war: Hatte Ticker Tyari bewußtlos vorgefunden oder hatte er sie auf irgendeine Weise besinnungslos gemacht, weil er wußte, daß sie sonst die Penetranz alarmieren würde? Die letztere Vermutung schien dem Adler fast magische Fähigkeiten zu unterstellen; aber Atlan war seit jüngstem bereit, selbst die exotischst anmutenden Erklärungen in Erwägung zu ziehen. Als Ticker zurückkehrte, schob sich weit im Osten die Sonne eben über den Horizont. Atlan konnte sie nicht sehen, aber er sah die langen Schatten der Berge auf der weiten Fläche der Steppe materialisieren. Der Adler nahm ihn auf und flog mit ihm nach
Süden davon. Zehn Kilometer von der Höhle entfernt schwenkte er nach Westen ein und überquerte die Steppe. Er machte nicht eher halt, als bis er die Hügelkette erreicht hatte, die die Ebene im Westen begrenzte. In einer bewaldeten Senke zwischen zwei Hügeln lag das Versteck, in dem er Tyari untergebracht hatte. Tyari war soeben dabei, die Augen zu öffnen. * Es war ein merkwürdiger Blick in ihren rötlichen Augen, halb starre Ablehnung, halb Verwunderung. »Wo bin ich? Was ist geschehen?« fragte sie den Arkoniden. »Du bist aus der Gewalt des Arsenals befreit worden«, antwortete Atlan. »Du bist bei mir.« Er beobachtete sie scharf. Er war sicher, daß sie den psionischen Bann der Penetranz würde von sich schütteln können, wenn sie sich erst einmal weit genug von dem Fremdwesen entfernt hatte. Sobald das geschehen war, konnte die Penetranz Tyari weder orten noch sie einfach durch einen Willensakt wieder unter ihre Kontrolle bringen. Die Frage war: Hatten sie die kritische Entfernung bereits erreicht? Die Steppe besaß eine Breite von vierzig Kilometern. Ticker hatte sie nicht geradlinig von Ost nach West, sondern mit einem Abstecher nach Süden überquert. Sie waren fünfzig bis sechzig Kilometer von der Höhle entfernt. Reichte das aus? Tyari richtete sich auf. Sie sah sich um. Die hochaufgerichtete Gestalt des Adlers erregte wenige Sekunden lang ihre Aufmerksamkeit. Aber sie stellte keine Frage. Sie kroch auf allen vieren zu einem nahestehenden Baum und machte es sich bequem, mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt. Atlan folgte ihr. Er sah, daß sie ihre Waffe noch trug, einen handlichen Blaster. Offenbar hatten die Verfolger Paralysatoren nicht einmal zu sich gesteckt, während sie nach ihm jagten.
»Aus der Gewalt des Arsenals befreit?« wiederholte sie und sah ihn unsicher an. »Das ist richtig«, bestätigte er. »Die Penetranz hatte dich unterjocht, wie alle anderen Mitglieder des Arsenals auch. Es mag sein, daß du jetzt noch unter ihrem Einfluß stehst. Aber je weiter wir uns entfernen, desto stärker wird dein eigener Wille sich durchsetzen.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn und zuckte zusammen, als sie die Wunde an der Schläfe berührte. »Ich erinnere mich dunkel …«, murmelte sie. Atlan hielt das für ein gutes Zeichen. Er hatte mit der Möglichkeit gerechnet, daß sie sich an die Tage, die sie als Mitglied des Arsenals verbracht hatte, überhaupt nicht mehr erinnern würde, sobald der mentale Bann von ihr abfiel. »Es war eine böse Zeit«, sagte er. »Wir wollen hoffen, daß sie nicht wiederkehrt.« Er sah Tyari an. Er suchte nach einem Zeichen der Zuneigung in ihrem Gesicht. Er spürte ein schier unwiderstehliches Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu ziehen. Es war noch immer der Ausdruck der Verwirrung in ihren Augen. Sie hatte sich noch nicht zurechtgefunden. Er würde warten müssen. Sie befand sich in einem Stadium des Übergangs. Jedes Ungestüm von seiner Seite mußte sie verschrecken. »Wir haben einen langen Weg vor uns«, sagte er und trat nachdenklich einen Schritt zur Seite. »Fühlst du dich …« Niemals hätte er ihr diese Schnelligkeit zugetraut. Sie war wie ein Blitz, ein huschender Schatten. Das Aufspringen, der Satz nach vorn, der Griff nach der Waffe – all das war eine einzige, ungeheuer schnelle Bewegung. Sein Ausweichmanöver kam viel zu spät. Das einzige, was er erreichte, war, daß der Kolben des Blasters den Hinterkopf nicht voll, sondern nur streifend traf. Er ging zu Boden. Die Welt war eine einzige Pauke, auf der ein Gigant mit geballten Fäusten trommelte. Er mußte mit dem Gesicht
in den Dreck gefallen sein. Sand knirschte zwischen den Zähnen. Er sah nichts. Durch das wütende Dröhnen hindurch hörte er einen heiseren, krächzenden Laut, dann einen Schrei, der mehr Schreck als Schmerz auszudrücken schien. Der Boden zitterte, als neben ihm ein schwerer Gegenstand stürzte. Er fühlte sich an der Schulter gepackt, nur an einer. Über ihm klatschten schwere Schwingen. Er stemmte sich mühsam in die Höhe; der Griff an der Schulter half ihm dabei. Das Dröhnen verlor an Lautstärke. Er konnte wieder sehen. Unmittelbar über ihm flatterte Ticker. Jetzt kehrte er zu seinem Horstbaum zurück. Auf dem Boden neben ihm lag Tyari, namenlosen Schreck in den Augen. Ihr Blaster war fünf Meter weit davongeschlagen worden. Atlan hob ihn auf und schob ihn sich in den Gürtel. Dann kehrte er zu ihr zurück. Er war zornig. Die Penetranz stak noch immer in ihrem Bewußtsein. Tyari hatte ihm die Verwirrte vorgespielt und auf die Gelegenheit gewartet, ihn anzugreifen. Ticker hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Sein dankbarer Blick suchte den Adler; aber der starrte geradeaus vor sich hin und tat so, als sei nichts geschehen. Atlan packte Tyari beim Kragen ihrer Montur und riß sie mit einem groben Ruck in die Höhe. »Mit meinem Helfer hattest du nicht gerechnet, wie?« fuhr er sie an. »Das war dein letztes Attentat, Freundin. Wenn du das nächste Mal wieder zu dir kommst, hat die Penetranz keine Macht mehr über dich.« Er schaltete den Paralysator auf geringste Leistung. Tyari brach zusammen wie vom Blitz getroffen. Abermals verstand Ticker das Gebot des Augenblicks, ohne daß ihm jemand eine Erklärung zu geben brauchte. Atlan stellte die Bewußtlose auf die Beine, der Adler ergriff sie bei den Schultern und flog mit ihr davon. Diesmal dauerte es lange, bis er zurückkehrte. Er hatte auch das begriffen: Sie mußten sich so weit wie möglich von der Penetranz entfernen.
* Nach Süden hin wurden die Hügel schroffer und unwirklicher. Das Bergland war unfruchtbar und sonnendurchglüht. Mit Mühe hatte Ticker ein kleines Tal finden können, in dem eine Quelle Pflanzen gedeihen ließ, von deren Früchten sie sich nähren konnten. Tyari war seit einigen Stunden wieder bei Bewußtsein. Sie hatte kein Wort gesprochen. Atlan überließ es dem Adler, sie zu bewachen. Er wußte, daß er sich auf Ticker verlassen konnte. Er bedauerte es jetzt, den Raumschutzanzug in den Bergen nördlich der Höhle zurückgelassen zu haben. Nach seiner Schätzung waren sie jetzt über dreihundert Kilometer vom Landeplatz der ARSENALJYK entfernt. Selbst das empfindlichste Ortungsgerät würde die Streuenergie des Gravo‐Generators nicht mehr anmessen können, und beim Vorwärtskommen hätte ihnen die Transportfähigkeit der Montur erhebliche Erleichterung verschafft. Aber das waren nutzlose Träume. Den Anzug würde er nie wieder zu sehen bekommen. Ticker hatte seinen Ruheplatz auf dem hochaufragenden Strunk einer Baumleiche gefunden. Atlan beobachtete ihn und empfand Bewunderung. Das Tier hatte Unglaubliches geleistet, und dennoch ließ es keinerlei Anzeichen der Müdigkeit oder Erschöpfung erkennen. Sein Auge war wach, und der kräftige, scheinbar zum Standbild erstarrte Körper konnte in jeder Sekunde zu ungehemmter Aktivität explodieren. Er glaubte zu wissen, wie Ticker es bewerkstelligte, sich unsichtbar zu machen. Er hatte ihn dabei beobachtet. Zwei Methoden kamen dabei zur Anwendung: zunächst eine Änderung der Körperfarbe, wie sie auch von gewissen terranischen Amphibien und Reptilien praktiziert wurde, und sodann eine Änderung der Stellung der Federn in gewissen Bereiches des Gefieders. Der letztere Trick war besonders
wirkungsvoll. Er bewirkte, daß das Licht der Umgebung von Tickers Körperoberfläche anders als normal reflektiert wurde. In der grauen Felseneinöde der Berge erzielte Ticker Unsichtbarkeit allein mit Hilfe der Federrotation. Eine zusätzliche Verfärbung des ebenfalls grauen Gefieders war nicht erforderlich. Super‐Mimikry nannte Atlan die ungewöhnliche Fähigkeit des Adlers. Er war sicher, daß es sich nicht um natürliche Mimikry im herkömmlichen Sinn handelte. Federn besaßen üblicherweise nicht die Möglichkeit, sich in den Wurzeln zu drehen, und die Farben und Farbnuancen, die Ticker zum Verfärben des Gefieders zur Verfügung standen, existierten in einer solchen Fülle und Vielfalt, wie sie bei ordinärer Mimikry nie beobachtet worden waren. Es blieb dem Arkoniden nichts anderes übrig, als Tickers Super‐ Mimikry in die Kategorie der paraphysischen Fähigkeiten einzureihen, etwa wie Telekinese und Teleportation. Daß ein Tier parapsionisch begabt sein könne, wäre ihm noch vor einer Woche unmöglich erschienen. Aber inzwischen wußte er, daß Ticker seine Gedanken zu lesen verstand. Das war, fand er, noch wesentlich beeindruckender als die Kunst, sich unsichtbar zu machen. Inzwischen zerbrach er sich nicht mehr den Kopf darüber, wer der Unbekannte sei, in dessen Auftrag Ticker handelte. Er hatte offenbar nicht die Absicht, sich zu zeigen oder sonst irgendwie mitzuteilen, und die Frage nach seiner Identität würde womöglich niemals schlüssig beantwortet werden. Nach dem Erlebnis mit der variomorphen Pflanze hatte Atlan sich angewöhnt, in seinem geheimnisvollen Verbündeten die Natur schlechthin zu sehen. Ob er damit recht hatte oder nicht, war von geringer Bedeutung. Es besänftigte den Verstand, wenn er sich an ein Modellbild halten konnte. Der weitere Verlauf des Abenteuers auf dem Arsenalplaneten beschäftigte ihn dafür um so mehr. Er glaubte, dem Arsenal inzwischen weit genug entkommen zu sein, daß es ihm nichts mehr anhaben konnte. Außerdem hielt ihn die Penetranz für tot. Er
befand sich in Sicherheit. Was hatte als nächstes zu geschehen? Die Aussicht, sein Leben auf dieser einsamen Welt zu beschließen, erschien ihm – besonders in Anbetracht der Lebenserwartung, die der Zellaktivator ihm verlieh – wenig attraktiv. Die SOL würde nach ihm suchen, gewiß. Aber ohne zusätzlichen Hinweis aus ungezählten Milliarden von Planeten ausgerechnet diesen einen herauszufinden, war ein Unterfangen mit bedrückend geringer Erfolgswahrscheinlichkeit. Über kurz oder lang würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich denen wieder zuzuwenden, vor denen er soeben geflohen war. Nur auf dem Weg über das Arsenal konnte er Verbindung mit der SOL aufnehmen. An diesen Gedanken, der ihm im Augenblick noch widerwärtig erschien, gewöhnte er sich am besten rasch; denn niemand wußte, wie lange das Arsenal auf diesem Planeten zu bleiben gedachte. In all seinen Überlegungen hatte der Nabel, den er irgendwo in den unterirdischen Tiefen dieser Welt vermutete und durch den der Weg in die Namenlose Zone führte, eine tief untergeordnete Rolle gespielt. Darum konnte er sich vorerst nicht kümmern. Zuoberst auf der Liste seiner Prioritäten hatte die Kontaktaufnahme mit der SOL zu stehen. War sie erreicht, dann konnte man dem Arsenalplaneten zu Leibe rücken und nachsehen, wo sich der Nabel befand. Um Tyari sorgte er sich nicht mehr. Ihr Schweigen war die Reaktion der Scham. Sie erinnerte sich daran – wie undeutlich auch immer –, daß sie zweimal versucht hatte, ihn zu töten. Sein Zorn war längst verraucht. Viel hatte er ihr nicht vorzuwerfen. Droben im Felsenkessel, als sie einander auf Armeslänge gegenüberstand, hatte es sie nicht fertiggebracht, auf ihn zu schießen. Bei seinem Versuch, in die ARSENALJYK einzudringen, hatte sie den voreiligen Schuß abgefeuert, der ihn warnte. Und heute? Mit dem Kolben der Waffe war sie auf ihn eingedrungen, anstatt die tödliche Energie des Impulsstrahls einzusetzen. Es war Zeit, daß er zu ihr sprach. Sie bedurfte der Aufmunterung. Er stand auf und ging auf Tyari zu. Dabei glitt sein Blick an der
Bergwand hinauf, die das Tal nach Norden hin abschloß. Aus einer Spalte zwischen zwei Felsgipfeln strömte pechschwarzer Qualm. Ein fernes Grollen war zu hören. Der Boden zitterte. * Das Beben war von mittlerer Intensität und stand offenbar in direkter Verbindung mit der vulkanischen Aktivität, die Atlan beobachtet hatte. Es gab keine unmittelbare Bedrohung; aber Atlan hielt es trotzdem für angeraten, das gefährdete Gebiet zu verlassen und sich nach einem tektonisch stabileren Unterschlupf umzusehen. Ticker hatte sein Anliegen offenbar verstanden. Er flatterte von seinem Horstbaum auf und flog ein paar Schwingenschläge talaufwärts. Aus Atlans Gespräch mit Tyari war nichts geworden. Aber als er ihr die Hand reichte, um sie auf die Beine zu ziehen, griff sie willig zu. »Es geht weiter«, sagte er freundlich. »Wie kräftig fühlst du dich?« Sie nickte. »Es geht«, antwortete sie mit einem schwachen Lächeln. »Irgendwo«, versprach er, »werden wir einen ruhigen Ort finden, an dem wir miteinander reden können.« Ihre Augen leuchteten. Das war ihm Antwort genug. Ticker führte sie das Tal hinauf. Es schwenkte nach Süden und mündete durch einen paßähnlichen Eingang auf eine fruchtbare Hochebene. Gräser, Büsche und Bäume wuchsen im Überfluß. Die lebensnotwendige Feuchtigkeit spendete ein kleiner Fluß, der das Land von Norden nach Süden durchlief und dessen Ufer sie nach kurzer Wanderung erreichten. Berge umgaben die Ebene auf allen Seiten. In südlicher Richtung waren es nur zehn Kilometer bis zum Fuß der Bergkette. Atlan fragte sich mißtrauisch, wohin der Wasserlauf aus diesem allseits eingeschlossenen Terrain abfließen mochte. Der Untergrund bestand da, wo er trotz des dichten
Pflanzenwuchses zum Vorschein kam, aus schwammigem, porösen Gestein offenbar vulkanischer Herkunft. Atlan nahm einen Brocken, der an ein Stück Bimsstein erinnerte, auf und betrachtete ihn mißmutig. »Die ganze Gegend ist vulkanisch verseucht«, brummte er. »Wir werden ein kräftiges Stück gehen müssen, bis wir in Sicherheit sind.« Er wunderte sich, daß Ticker sie ausgerechnet in diese Richtung führte. Verstand er nichts von den Gefahren des Vulkanismus? Der Weg, den der Adler wies, zeigte nach Süden. Atlan hatte schon seit geraumer Zeit keine Bedenken mehr, sich auf Tickers Wissen zu verlassen. Offenbar gab es einen Paß, der durch die südlichen Berge führte. Nach zwei Stunden kamen sie an den Fuß einer Erhebung, die nach Atlans Ansicht einen erloschenen Krater darstellte. Sie hatte die Form eines fünfzig Meter hohen Hügels, dessen Kuppe eine flache, kreisförmige Platte bildete. Von unten konnte man sehen, daß die Kratermündung im Lauf der Zeit zugeschüttet und eingeebnet worden sein mußte, denn die Platte trug reichen Pflanzenwuchs. Dennoch empfand der Arkonide Unbehagen, das sich noch steigerte, als kurz hintereinander drei schwache Erdstöße durch den Untergrund Hefen. Weit im Norden stieg die schwarze Rauchfahne des Vulkans senkrecht in den wolkenlosen Himmel. Der Fluß hatte begonnen, sich eine Schlucht zu graben. Zwanzig Meter unter ihnen rauschte er mit bedeutender Geschwindigkeit dahin. Er hielt geradewegs auf die nahen Berge zu. Atlan beschloß, dem Verlauf der Schlucht zu folgen; denn sie wies mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Stelle, an der es einen Weg durch die Berge gab. Sie waren nur noch einen Kilometer vom Fuß der Berge entfernt, als Atlan plötzlich Tyaris Hand auf seinem Arm fühlte. Mit der freien Hand wies Tyari stumm in die Höhe, nach Westen hinüber. Er folgte dem Wink und erstarrte, als er einen winzigen, dunklen
Punkt bemerkte, der sich gemächlich aus dem Blau des Himmels herabsenkte. Sein Blick wanderte weiter. Er fand mehr Punkte, insgesamt acht. Er wußte intuitiv, was sie darstellten: Männer und Frauen in flugfähigen Kampfmonturen, Mitglieder des Arsenals! Sie waren hinter Tyari her. Er hörte das charakteristische, helle Singen der Feldtriebwerke und fuhr herum. Die ARSENALJYK kam von Norden. Ihre Flughöhe betrug 1200 Meter und verringerte sich langsam. Das Schiff schickte sich an, auf der Platte des Tafelbergs zu landen. * Der Teufel mochte wissen, wie sie die Spur gefunden hatten. Vielleicht hatte er die Fähigkeit der Penetranz unterschätzt; vielleicht konnte sie Tyaris Mentalecho weiter verfolgen, als er geglaubt hatte. Nur hinter Tyari war das Arsenal her. Von seiner Anwesenheit konnte es noch nichts wissen. Er war in der vergangenen Nacht gestorben. Die Penetranz hielt ihn für tot. Ticker machte Super‐Mimikry und verschwand spurlos. Er würde erst wieder auftauchen, wenn seine Hilfe gebraucht wurde. Der schwarze Punkt, den Tyari entdeckt hatte, besaß inzwischen deutlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Er würde nicht weiter als achtzig bis hundert Meter entfernt landen. Atlan ergriff Tyari bei der Hand und zog sie hinter ein Gebüsch, das ihnen Deckung bot. An Bord der ARSENALJYK wußten sie noch nicht, wo sich Tyari aufhielt, Die weite Streuung der acht Einsatzkämpfer bewies das. Diesen Vorteil wollte Atlan nicht aufgeben. Der Kämpfer, der soeben eine kurze Sprint‐Distanz entfernt auf einer Grasfläche aufsetzte, durfte von ihrer Anwesenheit nichts erfahren. So wollte Atlan es haben; aber es stellte sich heraus, daß er eine wichtige Kleinigkeit übersehen hatte. Das Wiesenstück, auf dem der Kämpfer
gelandet war, hatten sie selbst erst vor wenigen Minuten überquert. Ihre Fährte zeichnete sich deutlich ab. Der Arsenal‐Mann, eine gedrungene, stämmige Gestalt, sah die Abdrücke sofort. Er griff zum Gürtel und zog den schweren Impulsstrahler hervor. Atlan lockerte den Paralysator. Der Kämpfer folgte der Spur und kam auf das Gebüsch zu. Aus der Nähe erkannte der Arkonide Buzz Reckion. Er war mißtrauisch. Er blieb kurz stehen und entsicherte die Waffe, dann schritt er weiter. Atlan legte an. In dem Augenblick, als er abdrückte, geriet Buzz mit dem Fuß in ein Erdloch, das er wegen des dichten Graswuchses nicht hatte sehen können. Er knickte ein und gab einen erschreckten Laut von sich. Atlans Schuß streifte ihn an der Schulter. Schreiend vor Schmerz bäumte Buzz sich auf. Die Muskeln kontrahierten unter dem Einfluß der nervenlähmenden Energie. Buzz wurde aus dem Loch geschnellt und stürzte rückwärts. Die konvulsivisch zuckenden Finger berührten den Auslöser des Strahlers. Es gab einen knatternden, fauchenden Krach. Buzz zuckte in die Höhe und sank wieder in sich zusammen. Sein Körper qualmte. Atlan brach hinter der Deckung hervor. Mit wenigen Schritten stand er neben dem Verletzten. Er drehte ihn auf den Rücken, und sein Herz erstarrte in bitterem Grimm, als er das Ausmaß der Wunde erkannte. Buzzʹ ungewollter Schuß hatte sich mitten in den Leib hinein entladen. Er hatte keine Überlebenschance. Selbst in den Bordlazaretten der SOL hätten sie ihn nicht mehr retten können. Atlan tastete nach dem kleinen Transceiver, den Buzz Reckion an einem Plastikstreifen um den Hals trug. Er war ausgeschaltet. An Bord der ARSENALJYK hatte man von dem Zwischenfall nichts bemerkt. Buzz schlug die Augen auf. Eine Sekunde lang wirkte er verwirrt; aber dann erkannte er den Arkoniden. Es lag keine Feindseligkeit in seinem Blick. Er lächelte freundlich. »Atlan, wie kommst du …«
Der gepeinigte Körper krümmte sich ein letztes Mal. Dann war Buzz Reckion für immer still. In der letzten Sekunde seines Lebens hatte er nicht mehr unter der Kontrolle der Penetranz gestanden. Heißer Zorn packte Atlan. Ausgerechnet Buzz Reckion hatte sterben müssen, der Mann, der selbst als Mentalsklave seine Menschlichkeit bewahrt hatte. Wie lange sollte dieser blutige Unsinn noch weitergehen? Wie viele mußten noch ihr Leben verlieren, bevor Anti‐ES seinen paranoiden Rachedurst gestillt hatte? Ein kräftiger Ruck fuhr durch den Boden und hätte ihn um ein Haar aus dem Gleichgewicht gebracht. Es rumpelte und polterte in der Ferne. Er fuhr auf. Zwei Kilometer nördlich setzte die ARSENALJYK auf dem Tafelberg zur Landung an. Von den sieben anderen Einsatzkämpfen war nichts mehr zu sehen. Da war es ihm, als risse man ihm einen Schleier von den Augen. Er erkannte, daß Ticker ihn nicht unabsichtlich in diese Gegend der Vulkane und der Erdbeben geführt hatte. Sein unbekannter Verbündeter verfolgte einen großangelegten Plan. Mit Schaudern nahm Atlan zur Kenntnis, daß der ARSENALJYK der Untergang drohte. Es blieb nur ein Ausweg. Er mußte sie warnen – und damit verraten, daß er noch lebte. * Es waren nicht wirklich Feinde dort drüben an Bord des kleinen Raumschiffs. Es waren Solaner, irregeleitet zwar durch den verderblichen Einfluß der Penetranz, aber Solaner nichtsdestoweniger. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er durfte an ihrem Tod nicht mitschuldig werden. Er mußte sie warnen. Fieberhaft huschten seine Finger über die Kontrollen des Transceivers. Ein kurzer Pfeifton gab zu verstehen, daß das Gerät betriebsbereit war. »ARSENALJYK, hier Atlan!« stieß er hervor. »Nicht landen! Ich
wiederhole: Nicht landen! Unter euch kocht ein Vulkan.« Er schaltete den Sender ab und spähte nach Norden in Richtung des Tafelbergs. Tyari war herbeigekommen. Er faßte sie an der Hand. Falls seine Warnung beachtet würde, mußten sie schnellstens Reißaus nehmen. Das Schiff schien zu zögern. Fünfzig Meter über der Platte des Berges hing es reglos in der Luft. Die Schirmfelder waren nicht aktiviert. Es hätte sich gegen die Katastrophe nicht wehren können. Die Erde bäumte sich auf. Die Konturen des Tafelbergs verwischten sich. Im nächsten Augenblick schoß eine Fontäne weißglühenden Magmas aus der Platte und wirbelte brennende Büsche mit sich in die Höhe. Ein harter, trockener Knall peitschte durch die Luft. Das war der Anfang. Binnen weniger Sekunden wurde der Tafelberg von einer Explosion gigantischen Ausmaßes zerrissen. Dort, wo die ARSENALJYK hatte landen wollen, kochte das glutflüssige Innere des Planeten. In der brodelnden Höllenglut wäre das kleine Schiff rettungslos verloren gewesen. Den Arkoniden überkam ein Gruseln, wenn er an die Kräfte dachte, die sein unsichtbarer Verbündeter besitzen mußte, um die Eruption eines Vulkans so genau auf die Sekunde abstimmen zu können. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß es seine Absicht gewesen war, die ARSENALJYK zu vernichten. Er sah in ihr eine Waffe des Feindes – und wer mochte ihm das übelnehmen? Die Erde bebte; die Welt ging unter. Schwere, düstere Wolken verhüllten die Sonne. Es wurde dunkel, und das Feuer der Eruption geisterte durch die Finsternis. Klatschend und berstend schlugen glühende Gesteinsbrocken ins Unterholz. Für Atlan und Tyari war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die ARSENALJYK hatten sie aus den Augen verloren. Aber sie zweifelten nicht daran, daß das Schiff sich hatte in Sicherheit bringen können. Für die Penetranz war die Eruption des Vulkans ein bedeutungsloses Zwischenspiel. Jetzt, da sie Atlan angepeilt hatte, da sie wußte, daß er in der vergangenen
Nacht nicht den Tod gefunden hatte, würde sie alles daransetzen, den Arkoniden zu fassen und ihn endgültig zu vernichten. Sie hetzten davon. Durch das Grollen und Donnern des Vulkanausbruchs hörte Atlan undeutlich das Rauschen von Wasser. Der Fluß! Sie mußten den Fluß erreichen. Er war ihr einziger Wegweiser in dieser Welt der Finsternis. Sie liefen, was die Beine hergaben. Das rauschende, gurgelnde Geräusch kam näher. Der Boden senkte sich. Atlan verlangsamte den Schritt. Er legte keinen Wert darauf, in die Schlucht zu stürzen. Minuten später standen sie am Rand eines mächtigen Kessels. Zwanzig Meter unter ihnen kreisten die Wasser des Flußes und verschwanden in einem Trichter, der in die Berge hineinführte. Atlans Zuversicht sank. Er hatte gehofft, einen Paß zu finden, den der Fluß im Lauf der Jahrtausende durch die Bergwelt gegraben hatte. Statt dessen stand er vor einem Loch, das geradewegs, in die Hölle zu führen schien. Der Fluß verschwand unter der Erde. Der Himmel mochte wissen, wo er wieder ans Tageslicht trat. Hiiaah … Der schrille, gellende Schrei ließ ihn auffahren! Ticker kreiste über ihnen im grauen Dunst. Als er sah, daß er die Aufmerksamkeit des Arkoniden erregt hatte, legte er die Schwingen an und schoß in steilem Sturzflug hinab in den Kessel, in dem die Wasser des Flusses schäumten und gurgelten. Wenige Meter über dem Strudel spreizte er die Flügel und streckte die Fänge dem Wasser entgegen, als wolle er es von sich abwehren. Mit kraftvollen und doch mühelosen Schwingenschlägen gewann er wieder an Höhe. »Er will uns etwas sagen«, flüsterte Tyari. »Dort ist der Ausweg – im Wasser.« Noch während sie sprach, mischte sich in das Grollen und Donnern der Eruption das helle Singen der Feldtriebwerke. Atlan hatte sich nicht getäuscht: Die ARSENALJYK beeindruckte der Weltuntergang nicht; sie war hinter ihnen her. Wohin führte der Fluß? Wie lang war die unterirdische Passage?
Was leistete Tyari als Schwimmerin? Konnte Ticker von sich aus entscheiden, daß das Risiko nicht zu groß war? Während ihm diese Fragen durch den Kopf gingen, wurde das Geräusch der Triebwerke lauter. Tyari fuhr ihm mit der Hand über den Arm. »Keine Zeit zum Nachdenken«, sagte sie sanft. Ehe er sie daran hindern konnte, stieß sie sich vom Rand des Kessels ab und schoß in weitem, elegantem Bogen in die Tiefe. Mit angehaltenem Atem verfolgte er ihren Sprung. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals hinauf. In diesem Augenblick empfand er nackte, animalische Angst in ihrer reinsten Form. Tyari verschwand im Gischt. Sekunden später tauchte sie noch einmal auf. Sie reckte den Arm in die Höhe und winkte ihm zu. Es war eine aufmunternde Geste. Der eiserne Griff der Angst, der sein Herz gewürgt hatte, lockerte sich. Tyari tauchte unter. In jeder Sekunde mußte irgendwo hinter dem Dunst die ARSENALJYK auftauchen. Er visierte das Zentrum des Strudels an. Über ihm schwebte Ticker und schrie ihm mit heiserer Stimme Ermunterung zu. Er wiegte sich in den Knien, stieß sich ab … Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er auf die Wasseroberfläche prallte. Die Kälte des Flusses traf ihn wie ein Schock. Das Wasser führte ihn mit sich; er brauchte sich nicht anzustrengen. Eine unwiderstehliche Kraft riß ihn in die Tiefe. Es wurde dunkel ringsum. Er hatte die Arme weit ausgestreckt, um Kollisionen mit vorspringenden Felszacken zu vermeiden. Er befand sich in einem unterirdischen Stollen, den der Fluß mit reißender Geschwindigkeit durchströmte. Ein Stechen in den Lungen war das erste Zeichen, daß ihm der Sauerstoff ausging. Er verdrängte den Schmerz, konzentrierte sich darauf, ihn nicht zu beachten. Noch immer umgab ihn undurchdringliche Finsternis. Wenn wenigstens irgendwo in der Ferne ein Licht zu sehen gewesen wäre, ein Schimmer der Hoffnung … Es pochte in seinem Schädel. Er wußte nicht mehr, in welcher
Richtung er sich bewegte – ob er sich überhaupt noch bewegte. Nichts außer dem dröhnenden Pochen war zu hören. Er kannte sich. Zehn, fünfzehn Sekunden konnte er es unter diesen Bedingungen noch aushalten, länger nicht. Der Tod wäre angenehm und rasch, schmerzlos, ein sanftes Hinübergleiten in jene Welt, aus der niemand zurückkehrte. Nein! Er wollte nicht sterben! Er wollte leben! Er brauchte Luft! Luft … * Die Namenlose war verwirrt. Ihr Plan wäre um ein Haar gelungen. Aber dann hatte ausgerechnet der, den sie für ihren Verbündeten hielt, eingegriffen und den Feind gewarnt. Anstatt in den brodelnden Glutmassen der Eruption zu versinken, war das Fahrzeug in die Höhe geschossen und hatte sofort die Suche nach den Fliehenden aufgenommen. Mit sicherem Instinkt erkannte sie, daß nichts falscher gewesen wäre, als aus dieser Entwicklung voreilige Schlüsse zu ziehen. Es gab hier etwas, das sie nicht verstand. Der Verbündete hatte ihren Plan durchkreuzt, das war gewiß. Aber sie durfte ihn deswegen nicht als feindselig betrachten. Das Bündnis bestand weiter. Er mußte für seine Handlungsweise triftige Gründe gehabt haben. Vielleicht würde sie sie eines Tages erfahren. Sie dankte den Höhlenolmen für ihre tätige Mitarbeit. Daß ihre Mühe umsonst gewesen war, erfuhren die Olme nicht; es hätte womöglich ihre Initiative beeinträchtigt. In Übereinstimmung mit den Tier‐ und Pflanzenarten des Aktionskomitees beschloß die Namenlose, daß in Zukunft keine drastischen Aktionen mehr durchgeführt werden sollten. Man wollte dem Verbündeten helfen und ihn beobachten. Vielleicht ließ sich auf diese Weise in Erfahrung bringen, wie den Fremden am besten beizukommen war.
* Ein frischer Luftzug wischte die Ohnmacht beiseite. Selbsttätig traten die Lungen in Aktion und pumpten mit einer Macht, daß der Brustkorb zu explodieren drohte. Helles Licht drang ihm in die Augen. Er schlug mit den Armen um sich. Etwas Weiches, Warmes faßte seine Hand und zog ihn. Wasser rauschte und plätscherte. Er hatte Boden unter den Füßen. Das normale. Gewicht kehrte zurück. Er lag irgendwo auf dem Boden, und über ihm strahlte Tyaris freundliches Lächeln. Sie fuhr ihm sanft mit der Hand über die Stirn. »Wir haben es beide überstanden«, sagte sie. , Er richtete sich auf. Zehn Meter hinter ihm rauschte der Fluß. Das Ufer war mit Bäumen bestanden. Auf einem der Bäume hockte Ticker und sah so aus, als gäbe es nichts auf der Welt, wodurch sein Gleichmut erschüttert werden konnte. Sie befanden sich auf einem Plateau. Im Westen schickte sich die Sonne zum Untergehen an. Er wandte sich um und musterte das Felsenmaul, aus dem der Fluß hervorgeschossen kam. Wie nahe war er dem Tod gewesen? Er würde es nie erfahren. Die Montur klebte ihm am Leib. Er hatte eine unangenehme Nacht vor sich. Erst morgen konnte er darauf hoffen, daß die Sonne ihn trocknete. Er horchte. Ein dumpfes, verhaltenes Dröhnen kam aus weiter Ferne. Die Eruption war noch immer im Gang. Die Kräfte, die sein unheimlicher Verbündeter entfesselt hatte, ließen sich so rasch nicht wieder bannen. Sein Blick suchte Ticker, den Adler. Wann würde er die geheimnisvollen Kräfte dieses Planeten je verstehen? Das Singen der Triebwerke war verstummt. Die ARSENALJYK hatte ihre Spur verloren. Das Arsenal wußte jetzt, daß er noch lebte. Die Jagd war noch lange nicht zu Ende. Aber wenigstens für den Augenblick hatten sie Ruhe. Allein das war den Sprung in den
Trichter und die Höllenfahrt durch den unterirdischen Kanal wert gewesen. Er nahm Tyari in die Arme. Das glückliche Leuchten ihrer Augen war mehr als ein Beweis, daß sie den psionischen Bann der Penetranz endgültig abgeschüttelt hatte. »Ja, wir zwei haben es überstanden«, sagte er dankbar, bevor er sie küßte. * Die mentale Stimme kam aus dem Nichts, aus der unendlichen Weite der Namenlosen Zone durch den Nabel, der im Innern des Planeten verborgen war. »Der Arkonide ist entkommen.« »Ja, das ist so«, antwortete die Penetranz. »Wir haben seine Spur verloren.« Das Gespräch war emotionsfrei. Anti‐ES hatte keinen Anlaß, die Penetranz zu tadeln. Sie war weiter nichts als ihr Werkzeug. »Die Jagd muß wieder aufgenommen werden. Wir müssen Atlan finden.« »Wir werden ihn finden«, bestätigte die Penetranz. »Sofort …« »Nein, nicht sofort. Warte, bis ich dir Hilfe schicke.« »Hilfe?« »An ihren Namen sollst du sie erkennen – und an ihrer Gestalt, die ihren Namen entspricht: Zeh, Faust und Alleshirn.« »Ich werde sie erkennen«, murmelte die Penetranz. »Ich warte, bis du sie mir schickst.« ENDE
Der Kampf auf dem Arsenalplaneten spitzt sich zu. Atlan und die aus dem Bann der Penetranz befreite Tyari kämpfen um ihr Leben, tatkräftig unterstützt durch Ticker, den Riesenadler. Doch nun setzt Anti‐ES gegen sie drei neue Sklaven ein – die AUSGEBURTEN DES BÖSEN … AUSGEBURTEN DES BÖSEN – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐ Bandes. Als Verfasser des Romans zeichnet H. G. Francis.