GUY DE MAUPASSANT
STARK WIE DER TOD
Umschlagbild: Gustave Courbet ( 1819-1877) «Frau betrachtet sich im Handspiegel», ...
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GUY DE MAUPASSANT
STARK WIE DER TOD
Umschlagbild: Gustave Courbet ( 1819-1877) «Frau betrachtet sich im Handspiegel», 1860 Kunstmuseum Basel
ISBN 3-7175-1966-2 Gewebe ISBN 3-7175-1967-0 Ldr. Copyright © 2001 by Manesse Verlag, Zürich Alle Rechte vorbehalten
Inhalt: Olivier Bertin ist ein gemachter Mann. Als Künstler geschätzt, als gesellschaftliche Person geachtet, hat er den Aufstieg in die ehrenwerten Kreise der Pariser Salons geschafft. Seit Jahren verbindet ihn obendrein eine Liaison mit der bildschönen Madame de Guilleroy. Sie ist es, die ihn in seinem künstlerischen Schaffen inspiriert und die ihm die Geborgenheit schenkt, nach der er sich als alternder Junggeselle mehr und mehr sehnt. Da wird nun eines Tages die Tochter seiner teuren Freundin in die Gesellschaft eingeführt. Obgleich ihn Annettes zauberhafte Erscheinung an Madame de Guilleroy erinnert, ähnelt das Mädchen in seiner jugendlichen Frische und Unbeschwertheit weit mehr noch dem Bild, das er einst von ihrer Mutter gemalt hat. Dieses Dèjá-vu sinnlichen Begehrens, das sich Olivier Bertin nur zögernd eingesteht, führt ihm schmerzhaft die eigene Vergänglichkeit und die Endlichkeit seiner Gefühle vor Augen. Mit «Stark wie der Tod» hat Guy de Maupassant (1850-1893) einen der berührendsten und psychologisch versiertesten Künstlerromane der Weltliteratur geschrieben. Trotz eines unverändert illusionslosen Menschenbildes, trotz existentialistischer Unerbittlichkeit macht sich hier, intensiver als in all seinen Werken zuvor, ein wundersam besänftigender Gestus des Autors geltend.
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GUY DE MAUPASSANT STARK WIE DER TOD Roman Aus dem Französischen übersetzt von Caroline Vollmann Nachwort von Hermann Lindner
MANESSE VERLAG ZÜRICH
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ERSTER TEIL I Der helle Tag drang durch das hochgestellte Oberlicht in das weitläufige Atelier. Die Fensteröffnung bildete ein strahlend blaues Viereck und gab den Blick frei auf einen unendlich weiten azurnen Himmel, über den Vögel in raschem Flug dahin jagten. Kaum war jedoch das heitere Tageslicht in den hohen, ernsten, mit Tüchern verhangenen Raum eingedrungen, da wurde es kraftlos und schwach, verlor sich in den Vorhängen, erlosch in den Portieren und erhellte kaum die dunklen Ecken, in denen es gerade noch die Goldrahmen zum Aufleuchten brachte. Friede und Ruhe schienen hier festgebannt, der Friede, der in Künstlerwohnungen nach Beendigung der produktiven Arbeit einkehrt. In den vier Wänden, in denen der schöpferische Geist zu Hause ist, wo er lebt und sich in ungeheuren Anstrengungen verausgabt, wirkt alles erschöpft und ermattet, sobald er erlahmt. Nach solchen Krisen erscheint alles wie leblos, und alles ruht sich aus, die Möbel, die Stoffe, die unvollendeten Porträts berühmter Leute, so als ob die ganze Umgebung unter der Erschöpfung des Künstlers gelitten, sich mit ihm angestrengt und jeden Tag aufs neue an seinem fortwährenden Kampf teilgenommen hätte. Ein schwacher, betäubender Geruch von Farbe, Terpentin und Tabak hatte sich in Teppichen und Möbeln festgesetzt. In der lastenden Ruhe hörte man nur die kurzen, schrillen Rufe der Schwalben, die über dem offenen Fenster hinflogen, und den gleichbleibenden verschwommenen Lärm von Paris, der unter den Dächern kaum zu vernehmen war. Das einzige, was sich bewegte, waren die immer wieder zur Zimmerdecke aufsteigenden kleinen blauen Rauchwölkchen, die Olivier Bertin, der ausgestreckt auf seinem Sofa lag, bei jedem Zug aus seiner Zigarette langsam zwischen seinen Lippen ausstieß. Sein Blick verlor sich in der Unendlichkeit des Himmels, er suchte ein Motiv für ein neues Gemälde. Was sollte er machen? Er hatte noch keine Ahnung. Er war kein entscheidungsfreudiger, selbstsicherer
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Künstler, er war unstet, und seine vagen Vorstellungen ließen ihn unablässig zwischen den verschiedenen Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks schwanken. Obwohl er reich und berühmt und mit allen Ehrungen versehen war, wußte er dennoch kurz vor dem Ende seiner künstlerischen Laufbahn immer noch nicht genau, welches Kunstideal er anstrebte. Er war Träger des Rompreises, hatte die Tradition verteidigt und in seinen Gemälden, wie so viele vor ihm, die großen historischen Themen dargestellt; dann hatte er sich dem Zeitgeschmack angepaßt und noch lebende Personen gemalt, ohne sich jedoch vom klassizistischen Stil ganz zu lösen. Er war intelligent und begeisterungsfähig, arbeitete mit Ausdauer am schillernden Phantasiegebäude der Malerei und war verliebt in diese Kunst, in der er sich ausgezeichnet auskannte. Dank seiner herausragenden Intelligenz hatte er sich ein beachtliches handwerkliches Können erworben und eine große Anpassungsfähigkeit entwickelt, die zum Teil eben seinem zögerlichen Schwanken und seinen tastenden Versuchen in allen künstlerischen Ausdrucksformen entsprang. Vielleicht hatte ihm auch die plötzliche schwärmerische Bewunderung, die seine eleganten, vornehmen, makellosen Bilder hervorriefen, beeinflußt und ihn an einer gesunden künstlerischen Entwicklung gehindert. Seit seinem ersten Triumph beherrschte ihn der uneingestandene Wunsch, immer zu gefallen, und dieser Wunsch bestimmte unmerklich seinen Weg und lenkte seine Überzeugungen. Übrigens konnte dieses Bestreben zu gefallen vielfältige Formen annehmen, und es hatte sehr zu seinem Ruhm beigetragen. Seine kultivierten Umgangsformen, all seine Lebensgewohnheiten, sein gepflegtes Äußeres, seine erwiesene Kraft und Geschicklichkeit und sein Ruf als Fechter und Reiter waren offenkundig Begleitumstände seiner wachsenden Berühmtheit. Nach «Cleopatra», dem Gemälde, das ihn zuerst bekannt machte, hatte Paris sich ihn mit einem Schlag zum Liebling erkoren, hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen und gefeiert, und mit einemmal war er einer dieser strahlenden, mondänen Künstler, denen man im Bois de Boulogne begegnet, die man in den Salons herumreicht und für die sich das Institut de France schon in jungen Jahren interessiert. Dort hielt er unter dem Beifall der ganzen Stadt seinen siegreichen Einzug. So
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hatte ihn das Glück bis an die Schwelle des Alters geführt und ihn gehätschelt und verwöhnt. Jetzt suchte er, angeregt durch den schönen Tag, der draußen herrschte, ein poetisches Motiv. Etwas schläfrig vom Genuß des Mittagessens und seiner Zigarette, träumte er vor sich hin, schaute nach oben und skizzierte flüchtige Gestalten in das azurne Blau, schlanke Frauen auf einer Allee im Bois oder auf dem Bürgersteig einer Straße, Liebende an einem Ufer, kurz, all die galanten Phantasiegebilde, die seine Gedankenwelt bevölkerten. Die wechselnden Bilder zeichneten sich unbestimmt und verschwommen in seiner blühenden Einbildungskraft vor dem Himmel ab; und die Schwalben, die unablässig in ihrem pfeilschnellen Flug durch die Luft schossen, schienen sie auslöschen zu wollen, indem sie sie wie mit Federstrichen durchkreuzten. Er fand nichts! Alle Gestalten, die an seinem Auge vorbeizogen, glichen irgendwie den Dingen, die er schon einmal gemalt hatte, alle Frauen, die ihm erschienen, waren Töchter oder Schwestern derjenigen, die seine Künstlerlaune bereits hervorgebracht hatte; und die bisher nur unbestimmte Furcht, die seit einem Jahr von ihm Besitz ergriffen hatte, die Furcht, ausgepumpt zu sein, alle Themen behandelt und seine Phantasie erschöpft zu haben, verstärkte sich angesichts dieser Rückschau auf seine bisherigen Arbeiten, angesichts der Unfähigkeit, Neues zu erträumen, Unbekanntes zu entdecken. Lustlos stand er auf und suchte unter seinen angefangenen Entwürfen nach irgendeiner Anregung. Immer noch die Zigarette in der Hand, begann er in seinen Skizzen und Zeichnungen zu blättern, die er in einem großen, alten Schrank verschlossen aufbewahrte. Bald jedoch wurde er dieser quälenden und vergeblichen Suche überdrüssig, warf die Zigarette weg, pfiff einen Gassenhauer, bückte sich und hob eine schwere Hantel auf, die unter einem Stuhl lag. Mit der freien Hand schob er den Vorhang vor einem Spiegel beiseite, der ihm sonst dazu diente, die richtigen Stellungen seiner Modelle auszuprobieren, die Perspektiven zu kontrollieren und die Naturtreue zu prüfen. Er baute sich davor auf und beobachtete sich beim Jonglieren.
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In den Ateliers war er für seine Kraft, in der Gesellschaft für seine Schönheit berühmt gewesen. Jetzt lastete das Alter auf ihm und machte ihn schwerfällig. Er war groß und hatte breite Schultern und eine stattliche Brust, aber mit den Jahren hatte er einen Bauch bekommen wie ein alter Ringer, und das, obwohl er immer noch jeden Tag focht und regelmäßig ausritt. Der Kopf war eindrucksvoll und schön wie eh und je, wenn auch etwas verändert. Seine dichten, kurzen, weißen Haare ließen seine schwarzen Augen unter den buschigen, grauen Brauen lebendiger erscheinen. Sein, kräftiger Schnurrbart, der Bart eines alten Soldaten, war fast braun geblieben und gab seinem Gesicht einen ungewöhnlich energischen und stolzen Ausdruck. Aufrecht und mit geschlossenen Fersen stand er vor dem Spiegel und bewegte die beiden gußeisernen Kugeln in der vorgeschriebenen Weise mit seinen muskulösen Armen, und sein Blick verfolgte wohlgefällig diese ruhige und kraftvolle Übung. Plötzlich sah er in der Tiefe des Glases, in dem sich das ganze Atelier widerspiegelte, wie sich eine Portiere bewegte und der Kopf einer Frau erschien, nur der Kopf, der suchend umherschaute. Hinter seinem Rücken fragte eine Stimme: «Zu Hause?» Er antwortete: «Ja» und drehte sich um. Dann warf er die Hantel auf den Teppich und stürzte etwas zu sportlich zur Tür. Eine Dame in heller Kleidung trat ein. Nachdem sie sich begrüßt hatten, sagte sie: «Sie machen Ihre Übungen.» «Ja», erwiderte er, «ich produziere mich wie ein Pfau und lass' mich dann auch noch dabei erwischen.» Sie lachte und erklärte: «Die Concierge war nicht in ihrer Loge, und da ich weiß, daß Sie um diese Tageszeit immer alleine sind, bin ich einfach unangemeldet hochgekommen.» Er schaute sie an: «Zum Teufel, wie schön Sie sind, welche Eleganz!» «Ja, ich habe ein neues Kleid, gefällt es Ihnen?» «Es ist bezaubernd, alles paßt zueinander, heutzutage hat man wirklich Sinn für Nuancen.»
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Er betrachtete sie von allen Seiten, befühlte den Stoff und zupfte mit den Fingerspitzen an den Falten; er kannte sich in Toiletten aus wie ein Schneidermeister, nicht umsonst hatte er sein Leben lang seinen Kunstverstand und seine Muskelkraft darauf verwandt, mit feinem Pinsel den wechselnden modischen Geschmack nachzubilden und die weibliche Anmut darzustellen, die unter Rüstungen von Samt und Seide oder dem Schnee von Spitzen verborgen und eingeschlossen ist. Schließlich sagte er: «Das ist wirklich gelungen, es steht Ihnen ausgezeichnet.» Sie ließ sich willig bewundern und freute sich, daß sie hübsch aussah und ihm gefiel. Obwohl nicht mehr die Jüngste, war sie noch immer sehr schön, nicht sehr groß und etwas üppig, aber mit dem frischen Schimmer auf der Haut, der einer Vierzigjährigen den Reiz der Reife verleiht, und so wirkte sie wie einer der Rosenstöcke, die immerzu neue Blüten hervorzaubern, bis sie, wenn sie sich verausgabt haben, von einer Stunde auf die andere verfallen. Unter ihrem blonden Haar bewahrte sie sich den frischen, jugendlichen Charme der Pariserinnen, die nicht altern, von einer erstaunlichen Lebenslust beseelt sind, eine unerschöpfliche Widerstandskraft besitzen und die sich über zwanzig Jahre hinweg gleichbleiben, unverwüstlich und sieghaft strahlend, einzig besorgt um ihre Schönheit und Gesundheit. Sie schlug ihren Schleier zurück und flüsterte: «Nun, bekomme ich keinen Kuß?» «Ich habe gerade geraucht», sagte er. Sie stöhnte: «Puh!», dann kam sie näher: «Das ist auch egal», und sie küßten sich. Er nahm ihr den Sonnenschirm ab und half ihr aus ihrem frühlingshaften Jäckchen, mit jenen schnellen und sicheren Bewegungen, die die Gewohnheit verraten. Als sie sich aufs Sofa gesetzt hatte, fragte er interessiert: «Geht es Ihrem Mann gut?» «Sehr gut, im Augenblick hält er vermutlich sogar eine Rede im Abgeordnetenhaus.» «Ah, worüber denn?» «Sicher über die Runkelrüben oder das Rapsöl, wie üblich.»
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Ihr Mann, Graf de Guilleroy, war Abgeordneter des Departements Eure, und er hatte sich auf landwirtschaftliche Themen spezialisiert. Sie hatte inzwischen in einer Ecke des Ateliers eine Skizze entdeckt, die sie noch nicht kannte, und ging darauf zu: «Was ist das?» «Eine Pastellzeichnung, die ich neu in Angriff genommen habe, das Porträt der Prinzessin de Ponteve.» «Sie wissen», sagte sie ernsthaft, «daß ich Ihr Atelier sperren werde, wenn Sie wieder anfangen, Porträts von Frauen zu malen. Ich weiß nur zu gut, wohin das führt.» «Oh», antwortete er, «man malt kein zweites Mal ein Porträt von Any.» «Das will ich hoffen.» Sie betrachtete die Pastellzeichnung mit dem Blick der Kunstkennerin. Sie trat ein wenig zurück, dann wieder näher heran, schirmte ihre Augen mit der Hand gegen das von oben einfallende Licht ab, suchte die günstigste Beleuchtung und zeigte sich am Ende zufrieden. «Es ist sehr schön, Pastell liegt Ihnen.» Er erwiderte geschmeichelt: «Finden Sie?» «Ja, es handelt sich um eine empfindliche Kunstart, die viel Feingefühl erfordere. Pastell ist nichts für grobe Malernaturen.» Seit zwölf Jahren bestärkte sie ihn in seiner Vorliebe für die distinguierte Kunst und bekämpfte seine Rückfälle in eine bloß realistische Malweise, und durch ihre Betrachtungen über mondäne Eleganz drängte sie ihn liebevoll dazu, daß er sich einem etwas manierierten und gekünstelten Schönheitsideal zuwandte. Sie fragte: «Wie ist sie denn, die Prinzessin?» Er mußte ihr tausenderlei Einzelheiten berichten, diese kleinsten Details, mit denen sich die eifersüchtige und subtile Neugier der Frauen beschäftigt, von Bemerkungen über die Toiletten bis zu Betrachtungen über die Intelligenz. Und dann kam unvermittelt die Frage: «Flirtet sie mit Ihnen?» Er lachte und schwor, dies sei nicht der Fall. Da legte sie ihre beiden Hände auf die Schultern des Malers und blickte ihn prüfend an. Die Heftigkeit dieser stummen Befragung brachte ihre Pupillen im blauen, tintenfleckartig gesprenkelten Rund der Iris zum Erzittern.
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Und noch einmal fragte sie flüsternd: «Flirtet sie wirklich nicht?» «O nein, wirklich nicht!» Sie fuhr fort: «Ich bin in diesem Punkt übrigens ganz beruhigt. In Zukunft werden Sie nur noch mich lieben. Mit den andern, das ist jetzt vorbei. Dafür ist es zu spät, mein armer Freund.» Den Maler überfiel jenes leichte schmerzliche Frösteln, das das Herz eines Mannes in reiferen Jahren durchschauert, wenn er auf sein Alter hingewiesen wird, und er flüsterte: «Heute und morgen wie gestern gab und gibt es nur Sie in meinem Leben, Any.» Sie nahm ihn am Arm, kehrte mit ihm zum Sofa zurück und ließ ihn an ihrer Seite Platz nehmen. «Was beschäftigt Sie zur Zeit?» «Ich suche ein neues Motiv für ein Bild.» «Was genau?» «Ich weiß es nicht, ich bin noch auf der Suche.» «Was haben Sie in den vergangenen Tagen gemacht?» Nun mußte er ihr über die Besuche, die er erhalten hatte, über jedes Abendessen und jede Abendgesellschaft, über die Gespräche und den Klatsch alles genau berichten. Übrigens waren diese banalen Nichtigkeiten des mondänen Lebens für beide in gleicherweise von Bedeutung. Die kleinen Rivalitäten, die bekannten oder auch nur vermuteten Liebesbeziehungen, die geäußerten, hundertmal widerrufenen und erneut wiederholten Urteile über immer dieselben Personen, Ereignisse und Meinungen, all das riß sie mit und schwemmte sie in den trüben, aufgewühlten Strom, den man das Pariser Leben nennt. Sie kannten alle Welt und waren selbst überall bekannt, er hatte sich als Künstler alle Tore selbst geöffnet, sie war die elegante Frau eines konservativen Abgeordneten, und beide hatten sie Übung in jenem scharfsinnigen und oberflächlichen Gesellschaftsspiel, das sich französische Causerie nennt, dieser liebenswert boshaften, übertrieben geistreichen und klischeehaft gewählten Unterhaltung, die denjenigen, die ihre Lästerzunge beherrschen, einen speziellen und viel geneideten Ruf verleiht. Auf einmal fragte sie: «Wann besuchen Sie mich zum Essen?» «Wann Sie wollen, nennen Sie einen Tag.» «Freitag. Die Herzogin de Mortemain, die beiden Corbelles und Musadieu werden dasein, und
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wir werden die Rückkehr meiner Tochter feiern, die heute abend ankommt. Aber sprechen Sie nicht darüber, es ist ein Geheimnis.» «Oh, die Einladung nehme ich gerne an. Ich freue mich darauf, ich habe Annette seit drei Jahren nicht mehr gesehen.» «Tatsächlich! Seit drei Jahren!» Annette war zunächst im Haus ihrer Eltern in Paris aufgewachsen, dann aber hatte ihre halberblindete Großmutter, Madame Paradin, die das ganze Jahr über auf Schloß Roncieres, dem Gut ihres Schwiegersohns, im Departement Eure lebte, ihre letzte große Liebe in ihr gefunden. Nach und nach hatte die alte Dame das Kind immer länger bei sich behalten, und da die Guilleroys ohnehin fast die Hälfte des Jahres, der Gutsgeschäfte und der Wahlkreisverpflichtungen wegen, auf dem Schloß zubrachten, hatte man das Mädchen nur noch selten mit nach Paris zurückgenommen, das im übrigen das freie und rege Landleben dem klösterlich abgeschlossenen Leben in der Stadt vorzog. Nun war sie schon drei Jahre lang nicht mehr in der Stadt gewesen. Die Gräfin wollte sie vom Pariser Leben fernhalten, damit nicht schon vor dem Tag, an dem sie in die Gesellschaft eingeführt werden sollte, irgendeine Neigung in ihr entstehen konnte. Madame de Guilleroy hatte sie da unten mit zwei ausgezeichneten Erzieherinnen versehen, und sie besuchte ihre Mutter und ihre Tochter häufiger. Der Aufenthalt Annettes auf dem Schloß war übrigens, im Hinblick auf den Gesundheitszustand der alten Dame, fast unerläßlich geworden. Früher verbrachte Olivier Bertin jeden Sommer sechs bis acht Wochen in Roncieres; aber seit drei Jahren zwangen ihn seine rheumatischen Beschwerden, entfernte Badeorte aufzusuchen, und dort befiel ihn die Sehnsucht nach Paris so stark, daß er die Stadt nach seiner Rückkehr nicht noch einmal verlassen wollte. Eigentlich war vorgesehen, daß das junge Mädchen erst im Herbst zurückkommen sollte, aber ihr Vater hatte in aller Eile einen Heiratsplan für sie entworfen, und nun beorderte er sie nach Hause, damit sie unverzüglich denjenigen kennenlernte, den er ihr zum Gatten bestimmt hatte, den Marquis de Farandal. Diese geplante Verbindung war bisher geheimgehalten worden, und nur Olivier Bertin hatte durch Madame de Guilleroy davon erfahren. Er fragte: «Der Plan Ihres Gatten steht also fest?»
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«Ja, und ich finde ihn sogar sehr gut.» Dann sprachen sie von andern Dingen. Sie kam auf die Malerei zurück und wollte ihn dazu überreden, einen Christus zu malen. Er widersprach und meinte, davon gebe es ohnehin schon zu viele. Aber sie beharrte hartnäckig auf ihrer Idee und wurde ungeduldig. «Oh, wenn ich nur zeichnen könnte, dann würde ich Ihnen meinen Einfall verdeutlichen, es wäre etwas ganz Neues, Gewagtes. Man nimmt ihn gerade vom Kreuz ab, und demjenigen, der die Hände aus den Nägeln löst, entgleitet der Körper in seiner ganzen Länge. Er fällt und stürzt in die Menge, die ihn mit ihren Armen auffängt und trägt. Verstehen Sie?» Er verstand sie sehr gut; er fand die Idee sogar originell, aber ihn zog es gerade zu moderneren Motiven. Und wie seine Freundin so vor ihm auf dem Sofa ausgestreckt dalag und ihr einer Fuß in einem hübschen Schuh herabhing und sein Auge durch den transparenten Strumpf hindurch die nackte Haut erahnte, rief er: «Da, sehen Sie, das muß man malen, das ist das Leben: der Fuß einer Frau, der unter dem Saum ihres Kleides hervorschaut! Da läßt sich alles hineinlegen: Wahrheit, Sehnsucht, Poesie. Es gibt nichts Anmutigeres, Hübscheres als den Fuß einer Frau, und dann, welches Wunder liegt dahinter verborgen: das bedeckte Bein, unsichtbar und doch erahnbar unter dem Stoff.» Er ließ sich im Türkensitz vor ihr nieder und zog den Schuh von ihrem Fuß, und dieser, von seiner Lederfessel befreit, bewegte sich wie ein erstauntes kleines zappelndes Tier, das man freigelassen hat. Bertin wiederholte: «Oh, wie schön und vornehm und sinnlich, sinnlicher als die Hand. Zeigen Sie mir Ihre Hand, Any.» Sie trug lange Handschuhe, die bis zum Ellbogen hochreichten. Um einen davon auszuziehen, faßte sie ihn ganz oben am Rand und schob ihn rasch herunter, indem sie ihn wie eine Schlangenhaut, die man abstreift, aufrollte. Der Arm kam blaß, fleischig und rund zum Vorschein; so rasch entkleidet, erweckte er den Eindruck vollkommener und gewagter Nacktheit. Dann streckte sie ihm ihre Hand hin und ließ sie am Handgelenk pendeln. Ringe funkelten an ihren blassen Fingern; und die rosigen
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Spitzen der Nägel, die die Finger dieses reizenden Pfotchens krönten, waren wie Liebeskrallen. Olivier Bertin hielt sie vorsichtig und bewundernd fest. Er spielte mit den Fingern wie mit einem lebendigen Spielzeug und sagte: «Was für ein merkwürdiges Ding! Was für ein merkwürdiges Ding! Was für eine freundliche kleine Gliedmaße, die klug und geschickt alles zustande bringen kann, was man will, Bücher, Spitzen, Häuser, Pyramiden, Lokomotiven, Schleckereien oder Liebkosungen, ja vor allem Liebkosungen, das ist ihre Hauptaufgabe.» Er nahm ihr die Ringe einen nach dem andern ab, und als der Ehering an der Reihe war, ein schmaler goldener Reif, flüsterte er lächelnd: «Die Legitimität. Wir grüßen sie.» «Esel!» sagte sie etwas betroffen. Er hatte schon immer eine spöttische Ader gehabt, diese französische Eigenschaft, die noch den ernstesten Gefühlen einen Anschein von Ironie gibt, und oft betrübte er sie ungewollt damit, weil er die feinen Regungen des weiblichen Herzens nicht verstand und die Grenzen der geheiligten Bezirke - wie er es nannte - nicht erkannte. Vor allem war sie jedesmal dann entrüstet, wenn er in vertraulichem Ton seine Scherze über die lange Dauer ihrer Liaison machte, die, wie er versicherte, das schönste Beispiel einer Liebe des neunzehnten Jahrhunderts sei. Nach längerem Schweigen fragte sie: «Werden Sie Annette und mich auf die Vernissage begleiten?» «Aber natürlich.» Die Gemäldeausstellung sollte in vierzehn Tagen eröffnet werden, und sie erkundigte sich, welche Bilder von Bedeutung dort zu sehen sein wurden. Plötzlich schien sie sich an eine vergessene Besorgung zu erinnern und sagte: «Schnell, geben Sie mir meinen Schuh, ich muß gehen.» Er spie lte gedankenverloren mit dem leichten Schuh und drehte ihn zerstreut in den Händen hin und her. Er beugte sich nieder, küßte den Fuß, der kühl geworden war und bewegungslos zwischen dem Kleid und dem Teppich zu schweben schien, und zog ihr den Schuh wieder an, und Madame de Guilleroy stand auf und ging auf den Tisch zu, auf dem Papiere und geöffnete Briefe jüngeren und älteren Datums neben einem Tintenfaß mit
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eingetrockneter Tinte herumlagen. Sie blickte sich interessiert um, berührte die Blätter und hob sie hoch, um zu sehen, was sich darunter befand. Er trat zu ihr und sagte: «Sie werden mir noch meine Unordnung durcheinanderbringen.» Ohne zu antworten, fragte sie: «Wer ist der Mann, der Ihre Badenden kaufen will?» «Ein Amerikaner, ich kenne ihn nicht.» «Haben Sie die Straßensängerin verkauft?» «Ja, für zehntausend.» «Gut so, das Bild war nett, aber nichts Außergewöhnliches. Adieu, Lieber.» Sie hielt ihm ihre Wange hin, und er küßte sie sanft, dann verschwand sie hinter der Portiere und sagte im Gehen halblaut: «Freitag, acht Uhr. Ich will nicht, daß Sie mich hinausbegleiten. Sie wissen das genau. Adieu.» Als sie weg war, zündete er sich als erstes wieder eine Zigarette an und begann mit langsamen Schritten in seinem Atelier auf und ab zu gehen. Die ganze Geschichte dieser Liebesbeziehung rollte vor ihm ab. Er erinnerte sich an längst vergessene Einzelheiten, die er miteinander zu verbinden suchte, und die Jagd nach seinen Erinnerungen nahm ihn völlig gefangen. Es war zu der Zeit, als sein Stern am Pariser Kunsthimmel aufging, damals, als die Maler beim Publikum in höchster Gunst standen und ein ganzes Viertel mit herrlichen Villen bewohnten, die sie mit ein paar Pinselstrichen erworben hatten. Nach seiner Rückkehr aus Rom im Jahr 1864 hatte Bertin einige Jahre lang keinen Erfolg und kein Renommee mehr gehabt; dann plötzlich, 1868, als er seine «Cleopatra» ausstellte, wurde er innerhalb weniger Tage von den Kritikern und vom Publikum in den Himmel gehoben. 1872, nach dem Krieg, als der Tod von Henri Regnault allen seinen Zunftgenossen als Ruhmessockel diente, schockierte Bertin durch das gewagte Thema einer «Jocaste» und bewies damit seine Fortschrittlichkeit; wegen seiner überlegten und originellen Ausführung fand das Gemälde aber trotzdem Anklang bei den
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Akademiemitgliedern. 1873 gewann er mit seiner «Algerischen Jüdin», die er nach einer Afrikareise ausstellte, außer Konkurrenz eine erste Medaille; und 1874 verschaffte ihm ein Porträt der Prinzessin von Salia in der eleganten Welt den Ruf, der beste Porträtmaler seiner Zeit zu sein. Von da an war er der bevorzugte Maler der Pariserin und der Pariserinnen, der geschickteste und einfallsreichste Interpret ihrer Anmut, ihrer Erscheinung, ihres Wesens. Innerhalb weniger Monate rissen sich alle Damen, die etwas auf sich hielten, um die Gunst, von ihm porträtiert zu werden. Er machte sich rar und ließ sich teuer bezahlen. Als Modemaler besuchte er wie jeder Mann von Welt die Salons. Bei der Herzogin de Mortemain sah er eines Tages eine junge Frau in Trauer; sie verließ die Gesellschaft gerade, als er kam, und als sie sich unter der Tür begegneten, war er geblendet von ihrer hübschen, anmutigen und eleganten Erscheinung. Er erkundigte sich nach ihrem Namen und erfuhr, es sei die Gräfin de Guilleroy, die Frau eines Gutsbesitzers aus der Normandie, eines Landwirts und Abgeordneten; sie trage wegen des Todes ihres Schwiegervaters Trauer, sei eine geistvolle Frau und werde sehr bewundert und umworben. Angetan von dieser Erscheinung, die sein Künstlerauge betört hatte, äußerte er: «Ah, das ist eine Frau, die ich gerne porträtieren würde.» Gleich am nächsten Tag wurde der jungen Frau diese Äußerung zugetragen, und noch am selben Abend erhielt er ein blaues, leicht parfümiertes Billett in regelmäßiger, schöner, von links nach rechts leicht ansteigender Schrift folgenden Inhalts: Monsieur, soeben verläßt mich die Herzogin de Mortemain und versichert mir, daß Sie bereit wären, mein unbedeutendes Gesicht in eines Ihrer Meisterwerke zu verwandeln. Ich würde es Ihnen gerne anvertrauen, wenn ich sicher sein könnte, daß Sie dieses Angebot ernst gemeint haben und daß Sie in mir etwas entdeckt haben, das Sie malen und idealisieren können. Seien Sie meiner aufrichtigen Hochachtung versichert. Anne de Guilleroy
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Er antwortete und fragte, wann er sich bei ihr vorstellen dürfe, und wurde daraufhin ganz formlos auf den folgenden Montag zum Mittagessen eingeladen. Die Gräfin wohnte im ersten Stock eines großen, luxuriös eingerichteten, modernen Hauses am Boulevard Malesherbes. Zunächst durchquerte der Maler einen weiten Salon, der mit blauer Seide in goldenen und weißen Holzrahmen bespannt war, dann ließ man ihn in eine Art Boudoir eintreten, das ganz mit Wandteppichen aus dem letzten Jahrhundert ausgekleidet war, hellen, reizvollen Teppichen nach Art Watteaus, mit anmutigen Bildern in zarten Schattierungen, entworfen, gezeichnet und angefertigt von Handwerkern, die bei ihrer Arbeit anscheinend von Liebe geträumt hatten. Er war im Begriff, sich zu setzen, als die Gräfin eintrat. Sie hatte einen so leichten Schritt, daß er nicht gehört hatte, wie sie durch den Nebenraum herankam, und er war deshalb überrascht, als er sie sah. Ungezwungen reichte sie ihm die Hand: «Es stimmt also, daß Sie mein Porträt anfertigen wollen?» «Ich würde mich sehr glücklich schätzen, Madame.» Ihr enges schwarzes Kleid ließ sie schmal erscheinen und erweckte einen sehr jugendlichen, aber auch ernsten Eindruck, den ihr lachendes Gesicht, das unter ihren blonden Haaren hell strahlte, Lügen strafte. Der Graf betrat das Zimmer, an seiner Hand ein kleines Mädchen von sechs Jahren. Madame Guilleroy stellte vor: «Mein Mann.» Er war klein und bartlos, und unter der Haut seiner glattrasierten Wangen schimmerte der dunkle Schatten seines Bartwuchses. Er wirkte ein wenig wie ein Priester oder Schauspieler, mit seinen langen, nach hinten geworfenen Haaren, seiner zuvorkommenden Art und den beiden tiefen Falten rund um den Mund, die von den Wangen bis zum Kinn hinabführten und die sich wahrscheinlich durch die Gewohnheit öffentlicher Auftritte eingegraben hatten.
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Er dankte dem Maler mit überschwenglichen Worten, die den Redner erkennen ließen. Seit langem habe er ein Porträt seiner Frau anfertigen lassen wollen, und natürlich hätte er Monsieur Olivier Bertin darum gebeten, wenn er nicht eine Absage befürchtet hätte, denn er wisse ja, wie sehr er mit Anfragen bedrängt werde. Man vereinbarte unter vielen höflichen Worten von beiden Seiten, daß die Gräfin ab morgen in seiner Begleitung ins Atelier kommen sollte. Allerdings gab er zu bedenken, ob es nicht klüger wäre, etwas zu warten, bis sie keine Trauerkleidung mehr tragen mußte, aber der Maler erklärte, daß er seinen ersten Eindruck festhalten wolle, gerade diesen ergreifenden Kontrast zwischen dem so lebhaften, feinen, unter den goldenen Haaren leuchtenden Gesicht und dem strengen Schwarz der Kleidung. Wie abgemacht kam sie am nächsten Tag mit ihrem Mann, und die folgenden Tage begleitete sie ihre kleine Tochter, die man an einen Tisch mit Bilderbüchern setzte. Olivier Bertin war wie gewöhnlich sehr zurückhaltend. Die Damen der vornehmen Gesellschaft machten ihn etwas unsicher, denn er kannte sie kaum. Er glaubte, sie seien gleichermaßen durchtrieben und dumm, scheinheilig und gefährlich, leichtsinnig und lästig. Er hatte nur kurze Affären mit Damen der Halbwelt gehabt, Affären, die er seinem Ruf, seiner geistreichen Art, seiner athletischen, eleganten Figur und seinem energischen, braungebrannten Gesicht verdankte. Er zog ihre Gesellschaft vor, und er liebte wie sie die freien Sitten und Reden, da er an den leichten, scherzhaften, heiteren Umgangston gewöhnt war, der in den Ateliers und hinter den Theaterkulissen herrschte, wo er verkehrte. Die vornehme Gesellschaft suchte er des Ruhms und nicht der Herzensangelegenheiten wegen auf, dort wurde seine Eitelkeit befriedigt, dort nahm er Glückwünsche und Aufträge entgegen, und dort produzierte er sich vor seinen schönen Verehrerinnen, ohne ihnen jedoch den Hof zu machen. Da er sie für prüde hielt, erlaubte er sich keine gewagten Witze oder scharfen Sprüche, und man rühmte allgemein seine guten Umgangsformen. Jedesmal, wenn ihm eine von ihnen Modell gesessen und sich alle Mühe gegeben hatte, ihm zu gefallen, hatte er diesen Klassenunterschied empfunden, der die Künstler und die Mitglieder der feinen Gesellschaft trotz aller Berührungspunkte trennt. Hinter
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dem Lächeln und der Bewunderung, die bei Frauen immer etwas unecht wirken, spürte er die unbewußten Vorbehalte derjenigen, die sich für ein höheres Wesen halten. Das reizte seinen Stolz, und er trat selbstsicherer, ja manchmal sogar hochmütig auf. Zu dem heimlichen Dünkel des Emporkömmlings, der von Prinzen und Prinzessinnen wie ihresgleichen behandelt wird, gesellte sich nun der Stolz des Mannes, der alles, was den andern durch ihre Geburt in den Schoß gefallen ist, aus eigener Kraft erreicht hat. Mit einer gewissen Verwunderung sagte man von ihm: «Er ist außerordentlich wohlerzogen!» Diese Verwunderung, die ihm einerseits schmeichelte, ließ ihn gleichzeitig frösteln, denn sie zeigte die Grenzen. Die absichtlich förmliche Distanziertheit des Malers brachte Madame de Guilleroy etwas in Verlegenheit; sie wußte nicht, was sie mit diesem abweisenden Menschen reden sollte, der doch gemeinhin als geistreich galt. Wenn sie ihre Tochter an ihrem Tischchen untergebracht hatte, setzte sie sich auf einen Sessel neben die angefangene Skizze und bemühte sich, den Anweisungen des Künstlers folgend, ihrem Gesicht den gewünschten Ausdruck zu geben. In der vierten Sitzung unterbrach er plötzlich seine Arbeit und fragte: «Was macht Ihnen im Leben am meisten Spaß?» Sie blickte verlegen. «Ich weiß es nicht, warum fragen Sie?» «Ich brauche einen glücklichen Ausdruck in Ihren Augen und habe ihn bisher noch nicht gesehen.» «Nun, versuchen Sie, sich mit mir zu unterhalten, ich plaudere so gerne.» «Fühlen Sie sich wohl?» «Sehr wohl!» «Dann lassen Sie uns plaudern, Madame.» Er hatte die Worte «lassen Sie uns plaudern» sehr ernst ausgesprochen; dann malte er weiter und schlug nebenher ein paar Themen an, um gemeinsame Interessen herauszufinden. Sie begannen damit, ihre Beobachtungen über Leute, die sie beide kannten, auszutauschen, dann redeten sie von sich, denn das ist immer die fesselndste und angenehmste Unterhaltung.
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Bei der Sitzung am folgenden Tag begegneten sie sich schon weniger förmlich, und Bertin, der spürte, daß er gefiel und unterhielt, begann Einzelheiten aus seinem Künstlerleben zu erzählen und schmückte seine hervorgeholten Erinnerungen mit der ihm eigenen geistvollen Phantasie aus. Sie, an die gewählte Sprache der Salonliteraten gewöhnt, war zunächst etwas verblüfft über seinen leicht übertriebenen Humor; er nannte die Dinge offen beim Namen und machte sich über alles lustig. Aber sie antwortete ihm sofort im selben erfrischenden und heiteren Ton. Innerhalb einer Woche hatte sie ihn erobert und verführt mit ihrer guten Laune, ihrer Offenheit und Unbefangenheit. Er vergaß alle seine Vorbehalte gegenüber den Damen der Gesellschaft, und er hätte ohne Zögern zugegeben, daß allein sie Anmut und Lebendigkeit besitzen. Während er vor seiner Leinwand stand und wie ein Fechter avancierte und zurückwich, sprudelten seine Gedanken ungezwungen aus ihm heraus, so als ob er diese hübsche blond-schwarze, Sonnenschein und Trauer in sich vereinende Frau schon lange kennen würde, die da vor ihm saß, ihm lachend zuhörte und ihm freundlich und so lebhaft antwortete, daß sie immer wieder ihre Pose verlor. Bald entfernte er sich ein wenig, kniff ein Auge zusammen und neigte den Kopf, um sein Modell im Ganzen zu betrachten, bald trat er ganz nahe an sie heran, um die kleinsten Nuancen, die flüchtigsten Züge ihres Gesichts zu entdecken. Er wollte das festhalten, was sich hinter der sichtbaren Gestalt einer Frau verbirgt, diese Manifestation idealer Schönheit, diesen unerklärlichen Widerschein und den geheimen und gefährlichen Reiz, der ihr innewohnt und bewirkt, daß gerade sie von dem einen und nicht von einem anderen unsterblich geliebt wird. Eines schönen Nachmittags pflanzte sich das kleine Mädchen vor dem Bild auf und fragte mit großem kindlichem Ernst: «Das ist Mama, nicht?» Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuß, so sehr fühlte er sich durch die kindliche Würdigung der Ähnlichkeit seines Werks geschmeichelt.
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An einem andern Tag, als man dachte, die Kleine sei ganz ruhig und zufrieden, ertönte plötzlich eine schwache, traurige Stimme: «Mama, ich langweile mich.» Der Maler war durch diese wohl lange zurückgehaltene Klage so gerührt, daß er ihr am nächsten Tag einen ganzen Spielwarenladen ins Atelier kommen ließ. Die kleine Annette war überrascht und freute sich, und vernünftig, wie sie war, ordnete sie alles sorgfältig, um es je nach Laune zur Hand nehmen zu können. Von da an liebte sie den Maler, so wie Kinder lieben, mit jener instinktiven und zärtlichen Zuneigung, die sie so unwiderstehlich macht. Madame de Guilleroy fand Gefallen an den Sitzungen. Da sie Trauer trug, war sie diesen Winter zur Untätigkeit verdammt. Die Gesellschaften und Feste fehlten ihr, und dies Atelier war der einzige Ort, an dem sie über sich und ihr Leben sprechen konnte. Als Tochter eines wohlhabenden und gastfreundlichen Pariser Kaufmanns, der schon vor einigen Jahren gestorben war, und seiner ewig kranken Frau, die die Sorge um ihre Gesundheit zehn von zwölf Monaten im Bett hielt, war sie schon früh zu einer vollkommenen Gastgeberin geworden; sie verstand zu empfangen, zu lächeln, zu unterhalten, die Leute einzuschätzen und für jeden den richtigen Ton zu treffen; mit gesundem Menschenverstand und Anpassungsvermögen fand sie sich im Leben zurecht. Als man ihr den Grafen de Guilleroy als zukünftigen Gatten präsentierte, hatte sie in erster Linie die Annehmlichkeiten, die diese Heirat mit sich bringen würde, gesehen, und als vernünftiges Mädchen war sie damit zufrieden, denn sie wußte nur zu gut. daß man in jeder Lebenslage Vorteile und Nachteile gegeneinander abwägen muß. Nach der Heirat sah sie sich ins gesellschaftliche Leben geworfen; sie wurde heftig umworben, weil sie schön und geistreich war, und sie sah, wie ihr die Männer den Hof machten, ohne daß jemals die Ruhe ihres Herzens gestört worden wäre, das sie ebensogut unter Kontrolle hatte wie ihren Geist. Sie war kokett, aber ihre Koketterie war herausfordernd und vorsichtig zugleich und ging nie zu weit. Komplimente ließ sie sich gerne gefallen, es schmeichelte ihr, wenn sie Begierden erweckte,
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vorausgesetzt, sie konnte den Eindruck aufrechterhalten, sie zu ignorieren; und wenn sie sich einen ganzen Abend lang als Mittelpunkt einer Gesellschaft gefühlt hatte, dann schlief sie befriedigt ein, mit dem Bewußtsein einer Frau, die ihre Mission auf Erden erfüllt hat. Dieses Leben führte sie nun schon seit fast sieben Jahren, ohne daß es sie ermüdet oder gelangweilt hätte, denn sie hebte dieses rastlose Treiben der Gesellschaft, und doch hatte sie von Zeit zu Zeit Sehnsucht nach etwas anderem. Die Männer ihrer Umgebung, meist Politiker, Finanziers oder Leute, die keiner bestimmten Beschäftigung nachgingen, amüsierten sie ein wenig wie Schauspieler, und sie nahm sie nicht allzu ernst, sosehr sie auch deren Beruf, Stellung und Titel zu schätzen wußte. Der Maler gefiel ihr von Anfang an, weil er soviel Neues für sie verkörperte. Sie unterhielt sich blendend in seinem Atelier, lachte aus ganzem Herzen, fühlte sich geistreich und war ihm dankbar für die Annehmlichkeiten, die ihr die Sitzungen bereiteten. Er gefiel ihr aber auch, weil er schön, stark und berühmt war; keine Frau, auch wenn sie es abstreitet, kann der Faszination körperlicher Schönheit und großer Berühmtheit widerstehen. Sie war geschmeichelt, daß ihr dieser Kenner Beachtung geschenkt hatte, und ihrerseits bereit, ihn hochzuschätzen; und sie entdeckte einen beweglichen und kultivierten Geist, Geschmack und Phantasie, eine bezaubernde Intelligenz und eine farbige Sprache, die das, was sie beschrieb, zu erhellen schien. Rasch entstand eine vertraute Atmosphäre zwischen ihnen, und der Händedruck, den sie bei ihrem Erscheinen tauschten, schien jeden Tag ein wenig mehr von Herzen zu kommen. Und allmählich fühlte sie, ohne jede Berechnung und ohne bewußten Entschluß, wie der natürliche Wunsch in ihr wuchs, ihn zu verführen, und sie gab ihm nach. Sie hatte vorher nicht darüber nachgedacht und nichts vorausberechnet; sie verhielt sich nur koketter und noch reizvoller, so wie man sich instinktiv einem Mann gegenüber verhält, der einem mehr gefällt als die andern; und mit ihrem ganzen Benehmen ihm gegenüber, mit ihren Blicken und ihrem Lächeln, spannte sie jenes Netz der Verführung aus, mit dem Frauen sich umgeben, wenn sie geliebt sein wollen.
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Sie sagte ihm schmeichelhafte Din ge, die soviel bedeuteten wie «Sie gefallen mir sehr, Monsieur», und sie ließ ihn in Ruhe reden, um ihm durch ihr aufmerksames Zuhören zu zeigen, welches Interesse er in ihr weckte. Er hörte auf zu malen und setzte sich neben sie, und die Sucht zu gefallen versetzte ihn in einen so überspannten Geisteszustand, daß er sich, je nachdem, in poetischen, scherzhaften oder philosophischen Darbietungen erging. Sie freute sich, wenn er fröhlich war, und wenn er tiefsinnig war, versuchte sie, seinen Gedankengängen zu folgen, was ihr jedoch nicht immer gelang; und während sie nebenher an andere Dinge dachte, gab sie sich den Anschein, alles genau zu verstehen und diese Einführung sehr zu genießen. Er war hochbeglückt, wenn er sah, wie sie ihm zuhörte, und tief- bewegt, eine edle, offene und gelehrige Seele gefunden zu haben, die jeden seiner Gedanken wie einen Samen aufnahm. Das Porträt machte Fortschritte und versprach, sehr gut zu werden, jetzt, wo der Maler jene innere Anteilnahme entwickelt hatte, die er brauchte, um alle Vorzüge seines Modells zu entdecken und sie mit jener glühenden Leidenschaft darzustellen, die die Inspiration des wahren Künstlers ist. Er wandte sich ihr zu, erforschte jede Bewegung ihres Gesichts , jede Tönung ihres Fleisches, jede Schattierung ihrer Haut, jeden Ausdruck und jeden Schimmer der Augen und jedes Geheimnis ihrer Gesichtszüge; er nahm ihr ganzes Wesen in sich auf, wie ein Schwamm, der sich mit Wasser vollsaugt. Er übertrug dieses Bild verwirrender Schönheit, das sein Auge einfing, auf die Leinwand, es flutete wie eine Welle aus seiner Vorstellung in den Pinsel, und er war verstört und trunken, als habe ihn die weibliche Anmut berauscht. Sie fühlte, wie er sich in sie verliebte, fand Gefallen an dem Spiel und an der Aussicht auf baldigen Erfolg und fing dabei selbst Feuer. Ein bisher unbekanntes Gefühl verlieh ihrem Leben einen neuen Reiz, und eine geheimnisvolle Freude regte sich in ihr. Wenn man von ihm redete, schlug ihr Herz schneller, und sie hatte Lust - eine Lust, der wir niemals nachgeben - auszurufen: «Er liebt mich!» Sie war glücklich, wenn sein Talent gelobt wurde, und vielleicht noch glücklicher, wenn man sagte, er sei schön. Wenn sie jedoch heimlich
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und ohne indiskrete Beobachter an ihn dachte, dann glaubte sie wirklich, sie habe an ihm einen guten Freund gewonnen, der sich für alle Zeit mit einem herzlichen Händedruck zufriedengeben würde. Er legte häufig mitten in der Sitzung die Palette auf seinen Schemel, ging zu der kleinen Annette, umarmte sie und küßte sie auf die Augen oder auf den Scheitel und schaute dabei ihre Mutter an, als ob er sagen wollte: «Du bist es, die ich so umarme, nicht das Kind.» Manchmal brachte Madame de Guilleroy das Kind übrigens nicht mehr mit, sondern kam alleine. An diesen Tagen wurde nur wenig gearbeitet, aber dafür um so mehr geplaudert. Eines Nachmittags verspätete sie sich. Es war Ende Februar und sehr kalt. Olivier war zeitig nach Hause zurückgekehrt; das tat er jetzt immer, wenn sie kommen sollte, in der Hoffnung, sie komme etwas früher als vereinbart.Während er auf sie wartete, ging er rauchend in seinem Zimmer auf und ab und fragte sich, erstaunt darüber, daß er sich diese Frage innerhalb einer Woche nun schon zum hundertsten Mal stellte: «Bin ich eigentlich verliebt?» Er konnte sie sich nicht beantworten, denn er war noch nie richtig verliebt gewesen. Er hatte zwar heftige und auch recht lange Affären gehabt, aber er hatte nie gedacht, das sei die Liebe. Diesmal staunte er über seine Gefühle. Liebte er sie? Sicher, sein Verlangen war gerin g, da er noch nie die Möglichkeit erwogen hatte, sie zu besitzen.Wenn ihm bisher eine Frau gefallen hatte, dann hatte er sofort voll Begierde seine Hände nach ihr ausgestreckt, als ob er eine Frucht pflücken wollte, aber im Grunde seines Herzens hatte er sich weder durch ihre An- noch durch ihre Abwesenheit besonders beunruhigt gefühlt. Das Verlangen nach dieser Frau hatte ihn noch kaum gestreift und schien sich hinter einem anderen, stärkeren Gefühl zu verbergen, das sich erst dunkel und schwach zu regen begann. Olivier hatte bisher geglaubt, die Liebe beginne mit Träumereien und poetischen Ergüssen. Aber seine jetzigen Empfindungen schienen ganz im Gegenteil einer unerklärlichen, mehr sinnlichen als seelischen Erregung zu entspringen. Er fühlte sich nervös, fiebrig, unruhig, so wie vor dem Ausbruch einer Krankheit. Aber dieses Fieber des Bluts, das auch die Seele erfaßte und ansteckte, verursachte keine Schmerzen. Es war ihm klar, daß diese Unruhe von der Erinnerung an
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Madame de Guilleroy und vom Warten auf ihr Kommen herrührte. Er fühlte sich nicht stürmisch und mit jeder Faser seines Herzens zu ihr hingezogen, aber er fühlte immer ihre Gegenwart in sich, so als ob sie ihn nie verlassen hätte. Wenn sie ging, ließ sie ihm etwas von sich zurück, etwas Zartes und Unaussprechliches. Wie? War das die Liebe? Er versenkte sich nun in sein eigenes Herz, um Klarheit zu gewinnen und um zu verstehen. Er fand sie bezaubernd, aber sie entsprach nicht dem Idealbild der Frau, das seine blinde Erwartung geschaffen hatte. Jeder, der auf die Liebe wartet, hat eine Vorstellung von den Eigenschaften und dem Aussehen derjenigen, die ihn verführen wird; aber Madame de Guilleroy schien ihm nicht diesem Bild zu entsprechen, auch wenn sie ihm unendlich gut gefiel. Aber warum beschäftigte sie ihn dann so sehr, mehr als die andern und auf eine andere ausschließliche Weise? Hatte er sich einfach von der ausgelegten Schlinge ihrer Koketterie die er längst gewittert und erkannt hatte, einfangen lassen, und unterlag er, umgarnt von ihren Machenschaften, dem Einfluß jener besonderen Faszination, die der Wunsch zu gefallen den Frauen verleiht? Er ging auf und ab, setzte sich, stand wieder auf, zündete eine Zigarette nach der andern an um sie sofort wieder wegzuwerfen, Und blickte unaufhörlich auf den Zeiger seiner Wanduhr, der sich nur langsam und unmerklich der herbeigesehnten Stunde näherte. Schon ein paarmal war er versucht gewesen das über den beiden goldenen Zeigern festsitzende Glas mit seinem Fingernagel hochzuheben und den großen mit der Fingerspitze bis zur vollen Stunde zu schieben, der er sich so träge näherte. Er bildete sich ein, das genüge, damit die Tür sich öffne und die so sehnlich Erwartete, getäuscht und herbeigerufen durch diese List erscheine. Dann begann er über diese kindische, eigensinnige und unvernünftige Idee zu lächeln. Schließlich stellte er sich folgende Frage: «Könnte ich ihr Liebhaber werden?» Der Gedanke schien ihm sonderbar, wenig wahrscheinlich und kaum in die Tat umzusetzen, auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die ihr dadurch entstehen würden.
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Und doch gefiel ihm diese Frau außerordentlich, und er schloß mit der Feststellung: «Ich befinde mich tatsächlich in einem recht merkwürdigen Zustand.» Die Wanduhr schlug, und der Stundenschlag ließ ihn zusammenzucken, seine Nerven reagierten stärker als sein Gefühl. Er erwartete sie mit jener Ungeduld, die durch die Verspätung von Sekunde zu Sekunde größer wird. Sie war immer pünktlich, in zehn Minuten spätestens würde er sie eintreten sehen. Als die zehn Minuten vorüber waren, fühlte er sich beunruhigt, wie vor einem herannahenden Unglück, dann wurde er ärgerlich, daß sie ihm seine Zeit stahl, und dann wußte er plötzlich, daß er sehr unglücklich wäre, wenn sie nicht käme. Was sollte er tun? Er würde auf sie warten! Nein, er würde ausgehen, damit sie das Atelier leer fände, wenn sie zufällig mit großer Verspätung doch noch eintreffen sollte. Er würde ausgehen, aber wann? Wieviel Zeit wollte er ihr noch geben? Wäre es nicht doch besser, dazubleiben und ihr mit wenigen höflichen, kühlen Worten zu verstehen zu geben, daß er nicht zu denen gehörte, die man warten läßt? Und wenn sie nun gar nicht kam? In diesem Fall hätte sie ihm doch wohl eine Rohrpost, eine Karte, einen Diener oder einen Boten geschickt? Was sollte er unternehmen, wenn sie nicht kam? Es war ein verlorener Tag: er würde heute nicht mehr arbeiten können. Was dann? - Nun, dann würde er eben gehen und sich nach ihr erkundigen, er mußte sie einfach sehen. Tatsächlich, er mußte sie sehen, das Bedürfnis war echt, drängend und quälend. Was war das? Liebe? Aber er nahm weder eine starke geistige oder sinnliche Erregung noch Wunschbilder in seiner Seele wahr bei der Feststellung, daß er sehr unglücklich wäre, wenn sie heute nicht käme. Die Türglocke hallte durchs Treppenhaus, und mit einemmal fühlte er seinen Atem schneller gehen und war so glücklich, daß er sich im Kreis drehte und seine Zigarette in die Luft warf. Sie trat ein; sie war allein. Eine plötzliche Verwegenheit überkam ihn: «Wissen Sie, welche Frage ich mir stellte, solange ich auf Sie wartete?» «Aber nein, wie sollte ich.» «Ich fragte mich, ob ich nicht in Sie verliebt bin.»
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«In mich verliebt? Sie sind ja wahnsinnig.» Aber sie lächelte, und ihr Lächeln sagte: «Das ist hübsch, ich bin sehr zufrieden.» Sie fuhr fort: «Hören Sie, das ist nicht Ihr Ernst, warum machen Sie solche Scherze?» Er antwortete: «Im Gegenteil, es ist mein voller Ernst. Ich behaupte ja nicht, daß ich in Sie verliebt bin, aber ich frage mich, ob ich nicht im Begriff bin, mich in Sie zu verlieben.» «Und was bringt Sie auf den Gedanken?» «Meine innere Unruhe, wenn Sie nicht da sind, und mein Glücksgefühl, wenn Sie kommen.» Sie setzte sich. «Oh, das besagt nicht viel, machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Solange Sie gut schlafen und Ihnen das Essen schmeckt, besteht keine Gefahr.» Er mußte lachen. «Und wenn mich Schlaf und Appetit verlassen?« «Dann sagen Sie es mir rechtzeitig.» «Und dann?» «Dann sorge ich dafür, daß Sie sich in Ruhe kurieren können.» «Besten Dank.» Sie plauderten den ganzen Nachmittag voll Raffinesse über das Thema dieser Liebe, und auch die folgenden Tage waren sie ausschließlich damit beschäftigt. Sie war gewillt, dies für eine geistreiche Spielerei ohne tiefere Bedeutung zu halten, und sie fragte ihn bei ihrem Kommen jedesmal gutgelaunt: «Wie geht es Ihrer Liebe heute?» Und er schilderte ihr ernsthaft und doch leichthin alle Fortschritte dieses Leidens und das verborgene, unablässige und alles beherrschende Wirken der entstehenden und wachsenden Leidenschaft. Peinlich genau analysierte er Stunde für Stunde, was in ihm seit ihrer Trennung am Abend zuvor vorgegangen war, im scherzhaften Ton eines Professors, der eine Vorlesung hält. Sie hörte ihm interessiert und gerührt zu und war ein wenig verwirrt durch diese Geschichte, die ihr wie ein Roman vorkam, in dem sie die Heldin spielte. Galant und offenherzig sprach er alle Sorgen aus, die ihn
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bedrückten, aber bisweilen begann seine Stimme zu zittern, und ein einzelnes Wort oder auch nur ein bestimmter Tonfall ließen sein verwundetes Herz erkennen. Und immer wieder fragte sie ihn zitternd vor Neugier und fixierte ihn dabei mit ihren Blicken. und ihre Ohren nahmen begierig diese etwas beunruhigenden Dinge auf, die so reizvoll anzuhören waren. Manchmal, wenn er zu ihr trat, um ihre Stellung zu korrigieren, ergriff er ihre Hand und versuchte, sie zu küssen. Sie aber zog ihre Finger tot einer raschen Bewegung von seinen Lippen zurück und sagte mit leichtem Stirnrunzeln: «Los. arbeiten Sie.» Er malte weiter, aber es vergingen keine fünf Minuten, ohne daß sie ihm irgendeine Frage stellte, die ihn geschickt wieder zu dem Thema zurückführte, das sie ausschließlich beschäftigte. In ihrem Herzen regten sich jedoch allmählich Befürchtungen. Natürlich wollte sie geliebt werden, aber auch wieder nicht zu sehr. Ihre eigenen Gefühle glaubte sie beherrschen zu können, aber sie hatte Angst, er könnte sich zu weit vorwagen und sie würde ihn dadurch verlieren, denn dann mußte sie ihn zurückweisen, auch wenn sie ihm durch ihr Verhalten offensichtlich Grund zu Hoffnungen gegeben hatte. Wenn sie andererseits hätte verzichten müssen auf diese zärtliche, galante Freundschaft, auf die dahinplätschernden Gespräche, in denen die Liebe immer wieder aufleuchtete wie Goldkörner im Sand eines dahinfließenden Baches, dann hätte sie einen großen, einen herzzerreißenden Schmerz empfunden. Wenn sie ihr Haus verließ, um ins Atelier des Malers zu gehen, überflutete sie ein lebhaftes und warmes Glücksgefühl, und sie fühlte sich leicht und fröhlich. Beim Drücken des Klingelknopfes an Oliviers Tür schlug ihr Herz vor Ungeduld, und kein Treppenläufer fühlte sich unter ihren Schritten weicher an. Bertins Stimmung dagegen verdüsterte sich, er wurde leicht nervös und war häufig reizbar. Oft packte ihn die Ungeduld, auch wenn er sich jedesmal wieder Mühe gab, sie zu unterdrücken. Eines Tages, als sie gerade gekommen war, setzte er sich neben sie, statt wie sonst gleich mit der Arbeit zu beginnen, und sagte: «Madame, Sie müssen bemerkt haben, daß es sich nicht mehr nur um
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eine Spielerei handelt, sondern daß ich Sie inzwischen wahnsinnig liebe.» Erschrocken durch diese Eröffnung, die die gefürchtete Entscheidung ankündigte, versuchte sie, ihn am Weiterreden zu hindern, aber er hörte sie nicht mehr. Seine Gefühle sprengten sein Herz, und sie mußte ihm zuhören, blaß, zitternd und voller Angst. Er redete lange, ohne etwas zu fordern, voll Zärtlichkeit, Trauer und tiefer Resignation, und sie überließ ihm dabei ihre Hände, die er mit den seinen umfing. Ohne daß sie es bemerkte, fiel er vor ihr auf die Knie, und mit dem Blick eines Wahnsinnigen flehte er sie an, ihm kein Leid anzutun! Was für ein Leid? Sie verstand nicht, versuchte nicht zu verstehen, gelähmt durch den furchtbaren Schmerz, ihn leiden zu sehen, und diesen Schmerz empfand sie fast als Glück. Plötzlich sah sie Tränen in seinen Augen und war so erschüttert, daß ihr ein «Oh!» entfuhr und sie ihn beinahe in die Arme genommen hätte, um ihn wie ein weinendes Kind zu trösten. Er wiederholte mit schwacher Stimme: «Sehen Sie, ich leide zu sehr», und plötzlich begann sie zu weinen, besiegt von seinem Schmerz und angesteckt durch seine Tränen, sie verlor die Fassung, und ihre zitternden Arme öffneten sich, bereit, ihn zu empfangen. Als sie spürte, wie er sie plötzlich umarmte und leidenschaftlich auf den Mund küßte, wollte sie laut aufschreien, sich wehren, ihn wegstoßen, aber sie erkannte, daß sie verloren war, denn sie willigte trotz ihres Widerstrebens ein und gab sich trotz allen Sträubens hin, und während sie hervorstieß: «Nein, nein, ich will nicht», preßte sie ihn an sich. Hinterher war sie völlig verstört und saß unbeweglich, das Gesicht in ihren Händen verborgen, dann stand sie mit einem Ruck auf, nahm ihren Hut, der auf den Teppich gefallen war, setzte ihn auf und rannte davon, ohne die flehentlichen Bitten Oliviers zu beachten, der sie an ihrem Kleid zurückzuhalten versuchte. Als sie auf die Straße hinaustrat, hätte sie sich am liebsten auf den Rand des Bürgersteigs gesetzt, so zerschlagen fühlte sie sich, und ihre Beine schienen den Dienst versagen zu wollen. Eine Droschke kam vorbei, sie winkte sie heran und sagte zu dem Kutscher: «Fahren Sie langsam, fahren Sie mich, wohin Sie wollen.» Sie stürzte sich in den Wagen, schloß die Türen, kauerte sich in den hintersten Winkel und
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war froh, allein zu sein hinter den geschlossenen Fenstern, allein, um nachdenken zu können. Einige Minuten lang nahm sie nur das Geräusch und das rüttelnde Stoßen der Räder wahr. Vor ihrem leeren Blick zogen Häuser, Fußgänger, Leute in Droschken und Omnibusse vorbei, ohne daß sie sie sah. Sie dachte an nichts, so als ob sie sich Zeit geben, eine Frist abwarten wollte, ehe sie wagte, über das, was geschehen war, nachzudenken. Aber es war ihre Art, rasch zu reagieren und den Dingen ins Auge zu blicken, und sie sagte sich: «Ich bin eine gefallene Frau.» Und wieder verharrte sie ein paar Minuten regungslos, im Gefühl, ja in der Gewißheit, das geschehene Unglück nicht rückgängig machen zu können, so wie jemand, der vom Dach gefallen ist, sich erst einmal nicht bewegt, weil er ahnt, daß seine Beine gebrochen sind, und es nicht wahrhaben will. Doch sie verlor nicht den Kopf angesichts des Leids, das sie kommen sah und vor dem sie sich fürchtete; ihr Herz blieb auch nach diesem katastrophalen Erlebnis ruhig und gefaßt; es schlug langsam und gleichmäßig nach diesen Verheerungen ihrer Seele und schien unbeteiligt an der Verwirrung ihres Geistes. Laut wiederholte sie, wie um es zu hören und sich davon zu überzeugen: «Ich bin eine gefallene Frau.» Aber diese Anklage ihres Gewissens bereitete ihr keinerlei physischen Schmerz. Für den Augenblick schob sie alle Überlegungen, die sie in dieser entsetzlichen Lage hätte anstellen müssen, beiseite und ließ sich von den Bewegungen der Droschke wiegen. Nein, sie litt nicht. Sie hatte Angst, irgend etwas zu denken, das war es, sie hatte Angst, das Geschehene zur Kenntnis zu nehmen, zu begreifen und darüber nachzudenken; sie glaubte im Gegenteil zu spüren, wie in den dunklen, unberechenbaren Tumult ihres Innern, den der Kampf unserer Neigungen und Wünsche hervorruft, eine unendliche Ruhe einkehrte. Sie verharrte etwa eine halbe Stunde in diesem seltsamen Ruhezustand, dann wurde ihr klar, daß sich die erwartete Verzweiflung nicht einstellte, und ihre Erstarrung löste sich. Sie murmelte: «Komisch, es macht mir fast nichts aus.»
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Da begann sie, sich Vorwürfe zu machen. Wut über ihre Blindheit und Schwäche überkam sie. Warum hatte sie es nicht kommen sehen, nicht gemerkt, daß der Augenblick dieser Auseinandersetzung unausweichlich heranrückte, daß ihr dieser Mann zu gut gefiel, um sie kaltzulassen, und daß selbst in die widerstandsfähigsten Herzen das Begehren manchmal einbricht wie ein Windstoß, der den Willen wegfegt? Nach diesen heftigen Vorwürfen und Selbstbezichtigungen fragte sie sich voll Schrecken, was nun werden sollte. Ihr erster Gedanke war, die Verbindung zu dem Maler abzubrechen und ihn nie wiederzusehen. Aber kaum hatte sie diesen Entschluß gefaßt, da fanden sich tausend Argumente, die dagegen sprachen. Wie sollte sie das Zerwürfnis begründen? Was sollte sie ihrem Mann erzählen? Und wenn ein Verdacht aufkäme, würde dann nicht insgeheim und schließlich auch öffentlich über sie geredet werden? War es nicht klüger, wenn sie den Anschein wahrte und Olivier Bertin gegenüber die verlogene Komödie der Gleichgültigkeit und des Vergessens spielte und ihm damit zu verstehen gab, daß sie diese eine Minute aus ihrem Gedächtnis und ihrem Leben ausgelöscht hatte? Aber konnte sie das? Würde sie die Kühnheit besitzen, so aufzutreten, als erinnere sie sich an nichts; würde sie ihn mit Empörung und Erstaunen anblicken und zu ihm sagen können: «Was wollen Sie eigentlich?», diesen Mann, dessen rasche und heftige Erregung sie doch geteilt hatte? Nach einigem Überlegen entschloß sie sich widerstrebend für diesen Weg, denn sie sah keine andere Möglichkeit. Sie würde morgen beherzt zu ihm hingehen und ihm gleich zu verstehen geben, welche Entscheidung sie getroffen hatte und was sie von dun erwartete. Sie wollte nie wieder, weder durch ein Wort, eine Anspielung oder auch nur einen Blick, an diesen Augenblick der Schande erinnert werden. Wenn er erst einmal ausgelitten hätte, denn natürlich würde auch er leiden, dann würde er sich als anständiger und loyaler Mann damit
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abfinden und in Zukunft wieder die Rolle übernehmen, die er vor dem Vorfall gehabt hatte. Als dieser Entschluß gefaßt war, gab sie dem Kutscher ihre Adresse und ließ sich nach Hause fahren. Eine große Niedergeschlagenheit befiel sie, sie wollte nur noch ausruhen, niemanden sehen, schlafen, vergessen. Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und döste bis zum Abendessen auf ihrer Chaiselongue liegend vor sich hin, denn sie wollte sich nicht mehr mit diesem Gedanken, der so große Gefahren barg, beschäftigen. Pünktlich ging sie hinunter und wunderte sich, daß sie so ruhig war und ihren Mann mit ihrem üblichen Gesichtsausdruck erwartete. Er kam mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm herein. Sie gab ihm die Hand und küßte das Kind und war dabei völlig unbefangen. Monsieur de Guilleroy fragte sie, was sie gemacht habe, und sie antwortete gleichgültig, sie sei wie alle Tage Modell gesessen. Er fragte: «Und, ist das Porträt schön?» «Es wird sehr gut.» Er erzählte nun seinerseits, wie er es beim Essen zu tun pflegte, von seinen Geschäften, von den Parlamentssitzungen und den Beratungen über den Gesetzentwurf zum Verbot verfälschter Lebensmittel. Dieses Gerede, das sie sonst gut ertrug, brachte sie heute auf und ließ sie die gewöhnliche und phrasenhafte Art dieses Mannes, der sich für solche Dinge interessierte, deutlicher erkennen. Aber sie hörte ihm lächelnd zu und antwortete freundlich, ja sogar liebenswürdiger ah sonst und zeigte mehr Interesse für seine belanglosen Berichte. Ihr Blick ruhte auf ihm, und sie dachte: «Ich habe ihn betrogen. Das ist mein Mann, und ich habe ihn betrogen. Ist das nicht verrückt? Es ist nicht mehr zu andern, und es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Ich habe für einen kurzen Augenblick, nur ein paar Sekunden lang, die Augen geschlossen und zugelassen, daß mich ein Mann küßt, und jetzt bin ich keine anständige Frau mehr. In diesen wenigen Sekunden meines Lebens, in diesen wenigen Sekunden, die sich nicht aus der Welt schaffen lassen, hat sich ein so folgenreicher, schneller, nicht wiedergutzumachender kleiner Vorfall ereignet, ein Vergehen, das beschämendste aller weiblichen Vergehen... und ich empfinde nicht die geringste Verzweiflung. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn
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man mir das gestern gesagt hätte, und wenn man mir es mit Bestimmtheit vorausgesagt hätte, dann würde ich sofort an die fürchterlichen Gewissensbisse gedacht haben, die mich heute plagen. Und dabei empfinde ich keine, beinahe keine.» Monsieur de Guilleroy ging nach dem Abendessen wie gewöhnlich noch aus. Da nahm sie ihre kleine Tochter auf die Knie und küßte sie weinend. Diese Tränen waren echt, aber es waren Tränen, die das Gewissen und nicht das Herz fließen ließ. Später konnte sie nicht schlafen. In der Dunkelheit ihres Zimmers traten ihr die Gefahren, die das Verhalten des Malers heraufbeschwören konnte, beunruhigender vor Augen, und sie bekam Angst vor der morgigen Begegnung und vor dem, was sie ihm dabei offen ins Gesicht sagen mußte. Am nächsten Morgen stand sie früh auf, verbrachte den ganzen Vormittag auf ihrer Chaiselongue und versuchte, sich vorzustellen, was sie bei diesem Gespräch zu fürchten hatte und was für Antworten sie geben sollte; sie wollte keine Überraschungen erleben. Sie ging frühzeitig aus dem Haus, um unterwegs noch nachdenken zu können. Er wagte kaum, auf ihr Kommen zu hoffen, und fragte sich seit dem gestrigen Abend, wie er ihr gegenübertreten sollte. Nach ihrem Gehen, nach dieser Flucht, der er sich nicht zu widersetzen gewagt hatte, war er allein zurückgeblieben und hatte noch lange, als sie schon längst weg war, das Geräusch ihrer Schritte und ihres Kleides und das Zuwerfen der Tür durch ihre zitternde Hand in den Ohren. Er stand da, und eine tiefe, brennende, lodernde Freude erfüllte ihn. Er hatte sie erobert, sie! Ausgerechnet zwischen ihnen hatte sich das ereignet! War das möglich? Er war überrascht über diesen Sieg und kostete ihn nun voll aus, und um ihn besser genießen zu können, setzte er sich, ja schmiegte er sich auf das Sofa, auf dem er sie besessen hatte. Lange lag er dort, beglückt von dem Gedanken, daß sie seine Geliebte war und daß sich zwischen ihnen beiden, zwischen dieser
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Frau, die er so sehr begehrt hatte, und ihm, in wenigen Augenblicken jenes rätselhafte Band geknüpft hatte, das zwei Wesen unsichtbar miteinander verbindet. Sein ganzer Körper zitterte immer noch unter dem durchdringenden Nachhall dieses kurzen Augenblicks, in dem sich ihre Lippen begegnet waren und ihre Körper sich vereint und durchdrungen hatten, um im höchsten Lustgefühl des Lebens zu erbeben. An diesem Abend ging er nicht mehr aus, er wollte diese Erinnerung auskosten, und zitternd vor Glück legte er sich früh schlafen. Am andern Morgen, kaum erwacht, stellte er sich die Frage: «Was soll ich nun tun?» Einer Kokotte, einer Schauspielerin hätte er Blumen oder vielleicht auch ein Schmuckstück geschickt; aber in dieser für ihn neuen Lage befiel ihn Ratlosigkeit. Auf jeden Fall mußte er ihr schreiben. Aber was....? Er brachte etwas zu Papier, strich es wieder aus, zerriß es, fing ein Dutzend neue Briefe an und fand sie alle kränkend, unmöglich, lächerlich. Gerne hätte er seine tiefe Dankbarkeit, seine überschwengliche, zärtliche Liebe, das Angebot ewiger Ergebenheit in zartfühlende und gewinnende Worte gefaßt; statt dessen fand er nur gängige Phrasen und banale, ungeschliffene oder kindische Formulierungen, um diese nuancenreichen leidenschaftlichen Dinge auszudrücken. Also verzichtete er lieber darauf, ihr zu schreiben, und entschied sich, sie zu besuchen, wenn die Zeit, in der sie üblicherweise zur Sitzung kam, verstrichen wäre, denn er glaubte nicht, daß sie kommen würde. So ans Atelier gebunden, berauschte er sich an ihrem Porträt, und seine Lippen prickelten vor Lust, sich auf das Gemälde zu drücken, an dem etwas von ihr haftete; und immer wieder schaute er aus dem Fenster auf die Straße. Jedes Frauenkleid, das in der Ferne erschien, brachte sein Herz zum Klopfen. An die zwanzigmal glaubte er sie zu erkennen, und jedesmal, wenn wieder eine der Erscheinungen vorbeigegangen war, setzte er sich für einen Augenblick hin, niedergeschlagen wie nach einer Enttäuschung. Plötzlich sah er sie, zweifelte, nahm sein Opernglas zu Hilfe, erkannte, daß sie es wirklich war, und setzte sich, von einer heftigen Erregung aus der Fassung gebracht, um sie zu erwarten.
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Als sie eintrat, warf er sich vor ihr auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu ergreifen; aber sie zog sie schroff zurück, und als er voller Angst in seiner Stellung verharrte und zu ihr aufblickte, sagte sie abweisend: «Was tun Sie denn, Monsieur? Ich ver- stehe nicht, was das soll.» Er stammelte: «Oh! Madame, ich flehe Sie an...» Sie unterbrach ihn streng: «Stehen Sie auf, Sie machen sich lächerlich.» Er erhob sich erschrocken und sagte leise: «Was haben Sie denn? Behandeln Sie mich nicht so, ich liebe Sie...!» In wenigen kurzen und trockenen Worten teilte sie ihm ihren Willen mit und klärte die Situation. «Ich verstehe nicht, was Sie meinen! Sprechen Sie mir nie wieder von Ihrer Liebe, öder ich werde das Atelier für immer verlassen. Wenn Sie nur ein einziges Mal diese Bedingung vergessen, an die mein Hiersein geknüpft ist, dann werden Sie mich nicht wiedersehen.» Er blickte sie an, bestürzt über diese Härte, auf die er nicht gefaßt war: dann begriff er und flüsterte: «Madame, ich werde gehorchen.» Sie antwortete: «Ausgezeichnet, ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet! Und jetzt an die Arbeit, Sie brauchen schon recht lange für die Fertigstellung des Porträts.» Er nahm seine Palette auf und begann zu malen; aber seine Hand zitterte, und seine verstörten Augen konnten nichts erkennen; am liebsten hätte er geweint, so verwundet war sein Herz. Er versuchte, sich mit ihr zu unterhalten, aber sie antwortete kaum. Als er ihr ein Kompliment über ihren Teint machen wollte, unterbrach sie ihn in einem so schneidenden Ton, daß ihn plötzlich einer dieser Wutanfälle packte, die die Zuneigung Verliebter in Haß verwandeln. Durch seinen Körper und seine Seele ging ein kräftiger, energischer Ruck, und plötzlich, völlig ohne Übergang, haßte er sie. Ja, ja, so waren die Frauen. Sie war wie alle andern, sie auch! Warum auch nicht? Sie war falsch, unbeständig und schwach wie alle. Sie hatte ihn gelockt, verführt mit den Mitteln einer Dirne, sie hatte versucht, ihn zu betören, ohne ihm etwas zu gewähren, sie hatte ihn herausgefordert, um sich dann verweigern zu können, sie hatte alle Tricks der halbherzigen Koketten eingesetzt, die immer so tun, als ob sie bereit
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wären, sich auszuziehen, solange der Mann, den sie wie einen Straßenköter behandeln, noch nicht vor Begierde hechelt. Sie hatte am Ende Pech gehabt; er hatte sie besessen, er hatte sie genommen. Sie konnte ihren Körper reinwaschen, sie konnte ihm unverschämt antworten, sie würde dadurch nichts auslöschen, aber er, er würde sie vergessen. Wirklich, er hätte eine schöne Dummheit begangen, wenn er sich eine solche Geliebte aufgehalst hätte, die seine Künstlerexistenz mit den mutwilligen Zähnen der hübschen Frau zernagt hätte. Ihn überfiel die Lust zu pfeifen, wie er es vor seinen Modellen zu tun pflegte; aber da er spürte, wie seine Erregung zunahm, und deshalb befürchtete, irgendeine Dummheit zu begehen, brach er die Sitzung unter dem Vorwand einer anderen Verabredung ab. Als sie sich beim Abschied grüßten, hatten sie bestimmt alle beide das Gefühl weiter voneinander entfernt zu sein als an dem Tag, an dem sie sich bei der Herzogin de Mortemain zum ersten Mal begegneten. Sobald sie weg war, nahm er Hut und Mantel und verließ das Haus. Eine kalte Sonne an einem blauen, nebelverhangenen Himmel tauchte die Stadt in ein fahles, etwas trügerisches und trübsinniges Licht. Als er eine Zeitlang mit stürmischen, ärgerlichen Schritten durch die Straßen gegangen war und dabei Passanten anrempelte, weil er nicht von der eingeschlagenen Richtung abweichen wollte, da brach seine große Empörung gegen sie in sich zusammen, und übrig blieben Verzweiflung und Trauer. Er wiederholte sich noch einmal alles, was er gegen sie vorzubringen hatte, aber der Anblick der vorübergehenden Frauen erinnerte ihn daran, wie schön und verführerisch sie war. Wie so viele andere, die das niemals zugeben würden, hatte auch er immer auf die unmögliche Begegnung, auf die einzigartige, poetische und leidenschaftliche, seltene Liebe gewartet, deren Trugbild unser Herz umschwebt. Hatte er sie nicht fast gefunden? Hätte sie ihm nicht dieses beinahe unmögliche Glück schenken können? Warum nur geschieht nie das, was wir uns erhoffen? Warum erhaschen wir nichts von dem, wonach wir streben, und wenn, dann nur Splitter, die diese Jagd nach Enttäuschungen noch schmerzlicher machen?
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Sein Zorn richtete sich nicht mehr gegen die junge Frau, sondern gegen das Leben selbst. Wenn er es genau überlegte: Warum hätte er ihr eigentlich zürnen sollen? Was konnte er ihr denn vorwerfen? Daß sie liebenswürdig, gut und freundlich zu ihm gewesen war? Sie dagegen konnte ihm vorwerfen, daß er sich wie ein Flegel benommen hatte. Bekümmert kehrte er nach Hause zurück. Er hätte sich gerne bei ihr entschuldigt, sich ihr geweiht, vergessen lassen, und er grübelte darüber nach, wodurch er ihr zu verstehen geben könnte, daß er bereit war, bis zum Tod allen ihren Wünschen zu gehorchen. Am nächsten Tag kam sie dann in Begleitung ihrer Tochter, und ihr Lächeln war so freudlos, ihr Gesichtsausdruck so bekümmert, daß der Maler in den armen blauen Augen, die bisher so fröhlich geblickt hatten, die ganze Qual, die Gewissensbisse, die Verzweiflung dieses Frauenherzens zu erkennen glaubte. Mitleid ergriff ihn, und um sie vergessen zu machen, sagte er ihr mit feiner Zurückhaltung die ausgesuchtesten Artigkeiten. Sie antwortete darauf sanft und gütig, mit der Haltung einer erschöpften, gebrochenen Frau, die leidet. Bei ihrem Anblick wurde er erneut von der wahnwitzigen Vorstellung erfaßt, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden, und er fragte sich, warum sie nicht mehr ärgerlich war, wie sie überhaupt hatte wiederkommen können und wie es ihr möglich war, ihm zuzuhören und mit ihm zu reden, nach all dem, was zwischen ihnen Vorgefallen war. Wenn sie ihn wiedersehen, seine Stimme hören und in seiner Gegenwart den einzigen Gedanken, der sie verfolgen mußte, ertragen konnte, dann war ihr dieser Gedanke nicht unausstehlich verhaßt. Wenn eine Frau den Mann haßt, der ihr Gewalt angetan hat, dann bricht dieser Haß in seiner Gegenwart jedesmal wieder hervor. Aber dieser Mann kann ihr nicht gleichgültig sein, sie muß ihn entweder verachten oder ihm verzeihen. Und wenn sie ihm verzeiht, dann ist sie nahe daran, ihn zu lieben. Er malte langsam weiter und legte sich alles mit kleinen, genauen, klaren und stichhaltigen Beweisen zurecht; er glaubte, alles zu durchschauen, und fühlte sich stark und augenblicklich Herr der Lage.
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Er mußte sich nur klug, geduldig und ergeben verhalten, dann würde er sie früher oder später zurückerobern. Er verstand es zu warten. Um sie in Sicherheit zu wiegen und sie zurückzugewinnen, hatte er seine eigene Taktik: Zärtlichkeiten, die sich hinter scheinbaren Gewissensbissen verbargen, zaghafte Aufmerksamkeiten und gleichgültiges Verhalten. Er war gelassen in der Gewißheit des nahen Glücks, das ihm früher oder ein wenig später zuteil werden würde. Er empfand sogar ein absonderliches und ausgesuchtes Vergnügen daran, nichts zu beschleunigen, sie zu belauern und sich jeden Tag, wenn er sie mit ihrem Kind kommen sah, zu sagen: «Sie hat Angst.» Er fühlte, daß sich zwischen ihnen eine langsame, mühsame Wiederannäherung vollzog und daß sich in den Blicken der Gräfin ein merkwürdiger, verlegener, schmerzlich verhaltener Ausdruck zeigte, das Signal einer Seele, die kämpft, eines Willens, der nachgibt und das zu besagen schien: «Bezwing mich doch endlich!» Beruhigt durch seine Zurückhaltung, kam sie nach einiger Zeit wieder alleine. Er verkehrte nun mit ihr wie mit einer Freundin, einer Kameradin und sprach zu ihr von seinem Leben, seinen Plänen, seiner Kunst, wie ein Bruder. Sein ungezwungenes Verhalten verführte sie, und sie übernahm voll Freude die Rolle der Vertrauten. Sie fühlte sich geschmeichelt, daß er sie so vor allen andern Frauen auszeichnete, und war davon überzeugt, daß sein Talent durch diese Seelenfreundschaft gewinnen werde. Durch häufiges Um-Rat-Fragen und den ständigen Beweis seiner Hochachtung brachte er sie unbemerkt dazu, die Rolle der Vertrauten mit dem heiligen Amt der Muse zu vertauschen. Sie fand es reizvoll, auf diese Weise ihren Einfluß auf den berühmten Mann zu vergrößern, und ließ es im Grunde zu, daß er sie als Künstler, dessen Werke sie inspirierte, liebte. Und eines Abends, nach einer ausgedehnten Plauderei über die Geliebten berühmter Maler, passierte es: sie ließ sich in seine Arme gleiten. Und diesmal blieb sie dort und versuchte nicht zu fliehen und erwiderte seine Küsse. Von nun an hatte sie keine Gewissensbisse mehr, nur noch das schwache Gefühl eines Verlusts und den Vorwürfen ihres Verstands
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begegnete sie mit dem Glauben an eine Schicksalsfügung. Ihr Herz, das die Liebe nicht gekannt hatte, und ihre Seele, die sich langweilte, fühlten sich zu ihm hingezogen, und ihr Körper wurde durch die sanfte Macht der Liebkosungen besiegt; so wurde sie allmählich immer anhänglicher, wie zärtliche Frauen, die zum ersten Mal Heben. Für ihn war es der Höhepunkt sinnlicher und poetischer Liebe. Manchmal war es ihm, als sei er eines Tages mit ausgestreckten Händen losgeflogen und es sei ihm gelungen, mit seinen beiden Armen den geflügelten, herrlichen Traum einzufangen, der beständig unsere Sehnsüchte umkreist. Er hatte das Porträt der Gräfin vollendet, und es war sicher das beste, das er je gemalt hatte, denn es war ihm gelungen ,jenes gewisse Etwas, das sich nicht ausdrücken läßt und das ein Maler fast nie entschleiert, diesen Widerschein, dieses Geheimnis, dieses Antlitz der Seele, das sich unfaßbar in den Gesichtern spiegelt, zu erkennen und einzufangen. Dann gingen Monate dahin und dann Jahre, die das Band, das die Gräfin de Guilleroy und den Maler Olivier Bertin vereinte, kaum lockerte. Bei ihm hatte sich die schwärmerische Liebe der ersten Zeit in eine ruhige, tiefe Zuneigung verwandelt, eine Art verliebter Freundschaft, an die er sich gewöhnt hatte. Bei ihr hingegen wuchs die leidenschaftliche Anhänglichkeit unablässig, diese beharrliche Anhänglichkeit gewisser Frauen, die sich einem Mann ganz und gar und für immer schenken. Sie weihen sich einer einzigen Liebe, von der sie nichts abbringen kann, und sind im Ehebruch so ehrenhaft und anständig, wie sie es in der Ehe gewesen wären. Sie lieben ihren Liebhaber nicht nur, sie wollen ihn auch lieben, und da sie nur Augen für ihn haben, ist ihr Herz so sehr mit dem Gedanken an ihn beschäftigt, daß dort nichts anderes mehr Zutritt hat. Sie haben ihr Leben vorsätzlich in Fesseln gelegt, so wie man sich, wenn man schwimmen kann, die Hände fesselt, ehe man von einer hohen Brücke ins Wasser springt, um zu sterben. Aber sobald sie sich ihm in dieser Weise geweiht hatte, befielen sie Zweifel an der Beständigkeit Olivier Bertins. Nur das männliche Begehren, seine Laune und seine vorübergehende Neigung zu einer Frau, der er zufällig begegnet war wie schon so vielen andern zuvor,
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hielten ihn bei ihr! Sie fürchtete, er sei so frei und leicht verführbar wie alle Männer, die ohne Pflichten, ohne feste Gewohnheiten und ohne Skrupel lebten! Er sah gut aus, war berühmt und beliebt, und seinem rasch aufflammenden Verlangen standen alle Damen der Gesellschaft, deren Tugend so angreifbar ist, zur Verfügung, ebenso wie leicht zu habende Frauen und Schauspielerinnen, die ihre Gunst nur zu gerne an Männer wie ihn verschenkten. Eine von ihnen konnte ihn eines Tages nach einer Abendgesellschaft begleiten, konnte ihm gefallen, ihn erobern und behalten. In der ständigen Furcht, ihn zu verlieren, belauerte sie sein Verhalten und sein Benehmen, durch die kleinste Bemerkung wurde sie in Unruhe versetzt, Angst erfüllte sie, sobald er eine andere Frau bewunderte und den Charme eines Gesichts oder die Anmut einer Bewegung rühmte. All das, was sie von seinem Leben nicht wußte, versetzte sie in Angst, und all das, was sie wußte, in Schrecken. Jedesmal wenn sie sich sahen, ersann sie einfallsreich irgendwelche Fragen, um ihn, ohne daß er ihre Absicht bemerkte, zu veranlassen, seine Ansichten zu äußern über die Leute, die er getroffen, über die Häuser, in denen er gespeist, und über die kleinsten Eindrücke, die er empfangen hatte. Sobald sie auch nur von ferne einen fremden Einfluß witterte, bekämpfte sie ihn mit erstaunlicher Klugheit und unerschöpflichen Mitteln. Oh, häufig ahnte sie diese kurzen Affären voraus, die meist acht oder vierzehn Tage dauerten, ohne tiefere Wurzeln zu schlagen, und die es im Leben jedes bekannten Künstlers von Zeit zu Zeit gibt. Noch ehe sie wußte, daß eine neue Leidenschaft in Olivier erwacht war, erkannte sie die herannahende Gefahr unbewußt am festlichen Glanz, den die Augen und das Gesicht des Mannes annehmen, den ein galantes Abenteuer reizt. Dann begann sie zu leiden. Jede Nacht wurde sie im Schlaf von quälendem Verdacht heimgesucht. Tagsüber tauchte sie unerwartet bei ihm auf, um ihn zu ertappen, stellte ihm scheinbar naive Fragen, betastete sein Herz und horchte seine Gedanken ab, wie man einen menschlichen Körper betastet und abhorcht, um eine verborgene Krankheit aufzuspüren.
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Und sobald sie alleine war, weinte sie, in der festen Überzeugung, diesmal werde er ihr genommen, diesmal werde man ihr diese Liebe rauben, an der sie mit all ihrem Wollen, all ihrer Liebesbereitschaft, all ihren Hoffnungen und Träumen hing. Wenn sie bemerkte, daß er von diesen kurzen Seitensprüngen zu ihr zurückkehrte, und sie ihn wie einen verlorenen und wiedergefundenen Gegenstand zurückerhielt und zurückgewann, dann empfand sie ein tiefes, ruhiges Glück, und wenn sie an einer Kirche vorbeikam, konnte es geschehen, daß sie hineinstürzte, um Gott zu danken. Das Bemühen, ihm immer und mehr als jede andere zu gefallen und ihn allen andern zum Trotz zu behalten, hatte ihr Leben in einen unablässigen Wettstreit der Koketterie verwandelt. Sie hatte ununterbrochen um ihn und vor ihm mit ihrer Anmut, Schönheit und Eleganz gekämpft. Sie wollte, daß man überall in seiner Gegenwart ihren Charme, ihren Geschmack, ihren Geist und ihre Aufmachung lobte. Sie wollte andern Männern um seinetwillen gefallen und sie verfuhren, damit er zugleich stolz und eifersüchtig wäre. Und jedesmal, wenn sie erriet, daß er eifersüchtig geworden war, verschaffte sie ihm nach einer kurzen Leidenszeit einen Triumph, der seine Liebe neu belebte und zugleich seine Eitelkeit steigerte. Als sie dann erkannte, daß ein Mann in der Gesellschaft jederzeit mit einer Frau zusammentreffen kann, deren physische Anziehungskraft stärker ist, weil sie neu ist, da nahm sie Zuflucht zu anderen Mitteln, sie schmeichelte ihm und verwöhnte ihn. Auf diskrete und unermüdliche Weise überschüttete sie ihn mit Lob, wiegte ihn in ihrer Bewunderung und umhüllte ihn mit ihren Schmeicheleien, damit er die Freundschaft und selbst die Zärtlichkeit andernorts ein wenig schal und unvollkommen finde und schließlich zur Einsicht gelange, daß, auch wenn andere ihn liebten, keine ihn so verstand wie sie. Ihr Haus und ihre beiden Salons, die er so häufig besuchte, machte sie zu einem Ort, der seinen Künstlerstolz ebenso wie sein Männerherz anzog, zu dem Ort von Paris, den er am liebsten aufsuchte, weil dort alle seine Bedürfnisse gleichzeitig befriedigt wurden.
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Sie lernte nicht nur, alle seine Neigungen zu entdecken, um sie in ihrem Haus zufriedenstellen zu können und ihm dadurch ein Wohlgefühl zu verschaffen, das durch nichts zu ersetzen war, sie verstand es auch, in ihm neue Neigungen und neue Gelüste sowohl materieller wie sinnlicher Art zu wecken und ihn an kleine Aufmerksamkeiten, Zeichen der Zuneigung, an Bewunderung und Schmeichelei zu gewöhnen. Sie bemühte sich, seine Augen durch Schönheit, seine Nase durch Wohlgerüche, seine Ohren durch Komplimente und seinen Mund durch Speisen zu verfuhren. Aber als sie soweit war und in Seele und Körper dieses egoistischen, gefeierten Junggesellen eine Unzahl kleiner Bedürfnisse erzeugt hatte, als sie völlig sicher war, daß es keine andere Geliebte gab, die sich wie sie bemühte, diese Bedürfnisse zu hegen und zu pflegen, um ihn durch alle diese kleinen Freuden des Lebens zu fesseln, da bekam sie plötzlich Angst. Sie bemerkte, daß ihm sein eigenes Heim nicht mehr gefiel, daß er sich unablässig darüber beklagte, daß er alleine leben mußte und sie nur unter den von der Gesellschaft auferlegten Vorkehrungen aufsuchen konnte, daß er im Club und anderswo nach Möglichkeiten suchte, seine Einsamkeit zu vergessen; sie bekam Angst, er könnte an eine Heirat denken. An manchen Tagen litt sie so sehr unter diesen Sorgen, daß sie das Alter herbeisehnte, damit diese Ängste ein Ende hätten und sie Ruhe fände in einer abgeklärten und ruhigen Zuneigung. Indessen gingen die Jahre dahin, ohne sie zu trennen. Die Kette, die sie geschmiedet hatte, War haltbar, und sie erneuerte die Glieder, sobald sie sich abnutzten. Aber immer noch war sie ängstlich und bewachte das Herz des Malers, Wie man ein Kind bewacht, das eine verkehrsreiche Straße überquert, und immer noch befürchtete sie täglich das Hereinbrechen des unbekannten Schicksals, das drohend über uns schwebt. Der Graf hegte keinen Verdacht und empfand keine Eifersucht, er fand es ganz natürlich, daß seine Frau mit einem berühmten Maler verkehrte, der überall mit großer Aufmerksamkeit empfangen wurde. Da sie sich häufig sahen, gewöhnten sich die beiden Männer aneinander und wurden schließlich gute Freunde.
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II
Als Bertin am Freitagabend der Einladung zur Feier der Rückkehr von Annette de Guilleroy Folge leistete und bei seiner Freundin eintraf, fand er dort im kleinen Louis-quinze-Salon zunächst nur Monsieur de Musadieu vor, der sich soeben eingefunden hatte. Er war ein alter geistreicher Herr, der vielleicht ein bedeutender Mann hätte werden können und der sich nicht darüber hinwegtrösten konnte, daß er dies nicht erreicht hatte. Früher war er Konservator der kaiserlichen Museen gewesen und hatte dann Mittel und Wege gefunden, sich unter der Republik wieder zum Inspektor der Akademie der Bildenden Künste ernennen zu lassen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, vor allem der Freund der Fürsten, aller Fürsten, Fürstinnen und Herzoginnen des europäischen Adels, sowie der eingeschworene Gönner von Künstlern aller Art zu sein. Er besaß eine wache Intelligenz, mit der er alles durchschaute, eine große Beredsamkeit, die es ihm gestattete, die gewöhnlichsten Dinge auf gefällige Weise vorzubringen, eine Anpassungsfähigkeit des Denkens, mit der er sich in allen Kreisen wohl fühlte, und die feine Witterung eines Diplomaten, die ihn Menschen auf den ersten Blick richtig einschätzen ließ, und er zog Tag für Tag und Abend für Abend mit seiner belehrenden, überflüssigen und geschwätzigen Geschäftigkeit von Salon zu Salon. Er wirkte, als könne er alles, er sprach über alles mit dem Anschein profunder Sachkenntnis und so allgemeinverständlich, daß ihn die Damen der Gesellschaft, denen er als fliegender Händler der Gelehrsamkeit diente, überaus schätzten. Obwohl er nur das Nötigste gelesen hatte, wußte er tatsächlich viele Dinge, denn er stand mit den fünf Akademien, mit allen Wissenschaftlern, allen Schriftstellern und allen gelehrten Fachleuten auf gutem Fuß und war ein gelehriger Zuhörer. Zu spezielle oder für seine Zwecke überflüssige Erörterungen vergaß er sofort wieder, die für ihn wichtigen behielt er dafür um so besser, und er verlieh seinem zusammengetragenen Wissen eine faßliche, klare und harmlose Form, die es so leichtver-
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ständlich machte wie gelehrte Fabelgedichte. Er war wie ein Speicher voller Ideen, wie eines jener riesigen Warenhäuser, in denen man niemals kostbare Dinge findet, dafür aber reichlich und billig Gebrauchswaren von jeder Art und Herkunft, in denen es alles gibt, von Haushaltsgegenständen bis zu einfachen Instrumenten für unterhaltsame physikalische Versuche oder für die häusliche Krankenpflege. Die Maler, mit denen er aufgrund seiner Stellung ständig in Berührung kam, machten sich über ihn lustig und hatten Respekt vor ihm. Er war ihnen im übrigen nützlich, half ihnen beim Verkauf ihrer Bilder, verschaffte ihnen Beziehungen, liebte es, sie einzuführen, zu protegieren und bekannt zu machen, und schien sich heimlich der Aufgabe verschrieben zu haben, eine Verbindung zwischen der vornehmen Gesellschaft und der Welt der Künstler herzustellen; er rechnete es sich zur Ehre an, die eine näher zu kennen und mit der andern vertraulich zu verkehren, mit dem Prinzen von Wales auf dessen Durchreise durch Paris zu Mittag zu essen und am selben Abend mit Paul Adelmans, Olivier Bertin und Amaury Maldant zu speisen. Bertin, der ihn ganz gerne mochte, weil er ihn so unterhaltsam fand, sagte über ihn: «Er ist das in Eselshaut gebundene Konversationslexikon von Jules Verne.» Die beiden Männer begrüßten sich und begannen, sich über die politische Lage zu unterhalten. Musadieu hie lt die Kriegsgerüchte für alarmierend und begründete seine Ansicht höchst einleuchtend: Deutschland habe größtes Interesse daran, Frankreich zu vernichten und diesen von Herrn Bismarck seit achtzehn Jahren sehnlich erwarteten Augenblick schnellstens herbeizuführen. Olivier Bertin dagegen bewies mit schlagenden Argumenten, daß diese Befürchtungen Hirngespinste seien: Deutschland könne nicht so wahnsinnig sein und seine Eroberung durch ein Abenteuer mit Ungewissem Ausgang gefährden und der Kanzler nicht so unvorsichtig, in seinen letzten Lebenstagen sein Werk und seinen Ruhm mit einem Schlag aufs Spiel zu setzen. Monsieur de Musadieu schien allerdings Dinge zu wissen, die er nicht sagen wollte. Er hatte immerhin an diesem Tag einen Minister
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gesprochen und den Großherzog Wladimir getroffen, der am Vorabend aus Cannes zurückgekehrt war. Der Maler blieb bei seiner Einschätzung und bestritt mit leiser Ironie die Kompetenz dieser bestens unterrichteten Personen. Hinter all diesen Gerüchten steckten nur Börsenspekulationen! Allenfalls Herr von Bismarck könne vielleicht die Lage beurteilen. Monsieur de Guilleroy trat ein, schüttelte eifrig die Hände und entschuldigte sich mit salbungsvollen Worten, daß er seine Gäste sich selbst überlassen habe. «Und Sie, mein lieber Abgeordneter, wie beurteilen Sie die Kriegsgerüchte?» fragte der Maler. Monsieur de Guilleroy stürzte sich auf das Thema. Als Mitglied der Abgeordnetenkammer verstand er mehr als jeder andere davon, aber er vertrat eine andere Ansicht als die meisten seiner Kollegen. Nein, er glaube nicht an die Wahrscheinlichkeit eines nahen Konflikts, es sei denn, er werde durch Frankreichs Ungeduld oder das herausfordernde Geschrei der sogenannten Patrioten der Liga provoziert. Und er zeichnete in großen Zügen, im Stile Saint-Simons, ein Bild von Bismarck. Man wolle diesen Mann nicht verstehen, weil man immer geneigt sei, seine eigene Denkweise auf andere zu übertragen, und von ihnen erwarte, daß sie so reagierten, wie man es selbst an ihrer Stelle tun würde. Herr von Bismarck sei kein falscher und verlogener, sondern ein offener und harter Diplomat, der die Wahrheit immer deutlich ausspreche und seine Absichten immer vorher ankündige. Er habe gesagt: «Ich will den Frieden», und das stimme, er wolle den Frieden, nichts als den Frieden, und alles zeige dies auf unübersehbare Weise seit achtzehn Jahren, alles: seine Streitmacht, seine Allianzen und der Dreibund der Nachbarvölker gegen Frankreichs Ungestüm. Monsieur de Guilleroy schloß im Brustton der Überzeugung: «Er ist ein großer Mann, ein sehr großer Mann, und er will Ruhe haben, aber er ist überzeugt, daß diese nur durch Drohung und Gewalt aufrechterhalten werden kann. Alles in allem, meine Herren, er ist ein großer Barbar.» «Das Ziel heiligt die Mittel», erwiderte Musadie u. «Ich nehme Ihnen gerne ab, daß er den Frieden will, wenn Sie mir zugestehen, daß er jederzeit bereitwillig für dieses Ziel Krieg führt. Das ist übrigens
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eine nicht zu bestreitende und erstaunliche Wahrheit: Kriege werden in dieser Welt nur für den Frieden geführt.» Ein Diener meldete: «Die Frau Herzogin de Mortemain.» Unter den beiden geöffneten Türflügeln erschien würdevoll eine große, füllige Dame. Guilleroy stürzte auf sie zu, küßte ihr die Hand und fragte: «Wie geht es Ihnen, Herzogin?» Die andern beiden Herren grüßten sie mit einer gewissen zurückhaltenden Vertraulichkeit, denn die Herzogin war einmal voll Herzlichkeit und ein andermal kurz angebunden. Sie war die Witwe des Generals Herzog de Mortemain, die Mutter einer einzigen Tochter, die mit dem Fürsten de Salia verheiratet war, und die Tochter des Marquis de Farandal, sie war von hoher Abkunft und königlich reich. In ihrem Palais in der Rue de Varenne empfing sie alle Berühmtheiten der ganzen Welt, die sich dort trafen und Komplimente austauschten. Keine Hoheit kam durch Paris, ohne an ihrer Tafel zu speisen, und kein Mann konnte von sich reden machen, ohne daß sie nicht sofort den Wunsch verspürt hätte, ihn kennenzulernen. Sie mußte ihn unbedingt sehen, sich mit ihm unterhalten, ein Urteil über ihn fällen. Dies bereitete ihr großes Vergnügen, belebte ihren Tag und nährte die Flamme herablassender und wohlwollender Neugier, die in ihr brannte. Sie hatte sich gerade gesetzt, als derselbe Diener rief: «Der Herr Baron und die Frau Baronin de Corbelle.» Das Paar war jung, der Baron kahlköpfig und dick, die Baronin schmal, elegant und sehr braun. Sie nahmen eine besondere Stellung in der französischen Aristokratie ein, einzig und allein deswegen, weil sie ihren gesellschaftlichen Umgang so sorgfältig auswählten. Obwohl sie von niederem Adel waren, unbedeutend und geistlos, in ihrem ganzen Tun getrieben von der maßlosen Überschätzung all dessen, was erlesen, schicklich und vornehm ist, hatten sie sich dadurch, daß sie nur die Häuser des Hochadels aufsuchten, ergebene und in höchstem Maße untadelige, royalistische Gefühle zur Schau stellten, alles anerkannten, was man anerkannte, alles verachteten, was man verachtete, und nie über einen Punkt der gesellschaftlichen Konventionen oder über
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irgendeine Kleinigkeit der Etikette in Zweifel gerieten, erreicht, daß sie in den Augen vieler als die edelste Blüte der High-Society galten. Ihre Meinung bildete eine Art Kodex des guten Benehmens, und ihre Anwesenheit in einem Haus war für dieses eine echte Auszeichnung. Die Corbelles waren Verwandte des Grafen de Guilleroy. «Nun, und wo bleibt Ihre Frau?» fragte die Herzogin verwundert. «Einen Augenblick, einen kleinen Augenblick», bat der Graf, «es gibt eine Überraschung, sie wird gleich kommen.» Als Madame de Guilleroy, einen Monat nach ihrer Heirat, in die Gesellschaft eingeführt worden war, wurde sie der Herzogin de Mortemain vorgestellt. Diese hatte sie auf den ersten Blick in ihr Herz geschlossen, sie unter ihre Obhut genommen und gefördert. Zwanzig Jahre hatte diese Zuneigung überdauert, ohne je nachzulassen, und wenn die Herzogin «meine Kleine» sagte, dann hörte man ihrer Stimme noch die Rührung über diese damals so überraschende und bis heute anhaltende Schwärmerei an. Bei ihr hatte auch die Begegnung zwischen dem Maler und der Gräfin stattgefunden. Musadieu trat zu ihr und fragte: «Hat die Herzogin die Ausstellung der Hemmungslosen besucht?» «Nein, was ist das?» «Eine Gruppe junger Maler, Impressionisten im Rauschzustand. Zwei davon sind sehr begabt.» Die vornehme Dame murmelte voll Abscheu: «Ich kann die Scherze dieser Herren nicht ausstehen.» Sie war rechthaberisch und unverbindlich und ließ keine andere Meinung neben ihrer eigenen gelten, die sie einzig und allein auf das Selbstbewußtsein ihrer sozialen Stellung gründete. Künstler und Wissenschaftler betrachtete sie, ohne sich darüber klar zu sein, als intelligente Lohnarbeiter, die von Gott den Auftrag erhalten haben, die gute Gesellschaft zu unterhalten oder ihr zu Diensten zu sein. Ihr Urteil fällte sie allein nach dem Grad des Erstaunens und des unreflektierten Vergnügens, das ihr der Anblick eines Gegenstands, die Lektüre eines Buchs oder der Bericht einer Entdeckung bereitete.
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Obwohl sie groß, dick und schwerfällig war und immer einen roten Kopf und eine laute Stimme hatte, galt sie als vornehme Erscheinung, weil sie nichts aus der Ruhe brachte, weil sie alles zu sagen wagte und weil sie aller Welt ihre Gunst erwies: den entthronten Fürsten durch Empfänge, die sie für sie gab, und selbst dem Allerhöchsten durch ihre Freigebigkeit gegenüber der Geistlichkeit und ihre Geschenke an die Kirche. Musadieu nahm das Gespräch wieder auf. «Weiß die Herzogin schon, daß man glaubt, den Mörder von Marie Lambourg gefaßt zu haben?» Ihr Interesse erwachte mit einem Schlag, und sie erwiderte: «Nein, erzählen Sie!» Und er berichtete die Einzelheiten. Er war groß, sehr hager, bekleidet mit einer weißen Weste und einem Hemd mit diamantenen Knöpfen, und er sprach ohne Gesten und mit einer korrekten Haltung, die es ihm ermöglichte, auch gewagte Dinge zu sagen, was er besonders gerne tat. Er war sehr kurzsichtig und schien trotz seines Kneifers niemanden zu erkennen, und wenn er sich setzte, hätte man meinen können, das ganze Gerüst seines Körpers folge der Form des Sessels. Sein abgeknickter Oberkörper wurde ganz klein und sank in sich zusammen, als ob das Rückgrat aus Gummi wäre; seine übereinandergeschlagenen Beine sahen aus wie zwei ineinandergerollte Bänder, und seine langen Arme, die auf den Sessellehnen auflagen, ließen blasse Hände mit endlos langen Fingern herabhängen. Seine Haare und sein Bart, die kunstvoll gefärbt waren und nur einige wie zufällig vergessene weiße Strähnen enthielten, waren Gegenstand zahlreicher Witzeleien. Als er gerade dabei war, der Herzogin zu erklären, daß der Schmuck, den die ermordete Dirne als Geschenk von dem mutmaßlichen Mörder erhalten hatte, eigentlich für ein anderes Wesen leichter Sitten bestimmt gewesen war, da öffneten sich die Flügeltüren des großen Salons erneut ganz weit, und zwei blonde Frauen in weißen Kleidern aus feinster Brabanter Spitze, die sich an der Taille umfaßt hielten, kamen lächelnd näher; sie glichen sich wie zwei Schwestern sehr unterschiedlichen Alters, die eine war ein wenig zu
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reif, die andere ein wenig zu jung, die eine ein wenig zu billig, die andere ein wenig zu schmal. Ausrufe der Bewunderung wurden laut. Niemand außer Olivier Bertin wußte von der Rückkehr Annettes, und alle waren überrascht von der unerwarteten Erscheinung des jungen Mädchens an der Seite seiner Mutter, die aus der Entfernung fast ebenso jung und beinahe noch schöner aussah als die Tochter, denn ihre Blüte hatte zwar den Zenit überschritten, aber sie war immer noch strahlend schön, während das Kind, kaum erblüht, eben erst begann, hübsch zu werden, und so wirkten alle beide gleich reizvoll. Die Herzogin klatschte hingerissen in die Hände und rief: «Mein Gott, wie entzückend und bezaubernd sie sind, so Seite an Seite! Sehen Sie doch nur, Monsieur de Musadieu, wie sehr sie sich ähneln!» Man begann zu vergle ichen, und augenblicklich bildeten sich zwei Parteien. Mus adieu, die Corbelles und der Graf de Guilleroy vertraten die Meinung, daß sich die Gräfin und ihre Tochter lediglich im Teint, in den Haaren und in den Augen glichen, vor allem in den Augen, die absolut gleich seien, gesprenkelt mit schwarzen Punkten, so als ob kleinste Tintenspritzer auf das Blau der Iris getropft wären. Aber schon in kurzer Zeit, wenn das junge Mädchen zur Frau herangereift wäre, würden sie sich kaum mehr ähnlich sehen. Dagegen meinten die Herzogin und Olivier Bertin, sie wären sich in allem völlig gleich und nur das unterschiedliche Alter lasse sie verschieden erscheinen. Der Maler sagte: «Ist sie denn in den drei Jahren eine andere geworden? Ich hätte sie nicht wiedererkannt; ich werde mich nicht mehr getrauen, ‹du› zu ihr zu sagen.» Die Gräfin begann zu lachen. «Ah, so was! Das möchte ich sehen, wie Sie ‹Sie› zu Annette sagen.» Das junge Mädchen, dessen künftiger Übermut sich bereits hinter ihrer schüchtern scherzenden Art zeigte, erwiderte: «Ich werde diejenige sein, die es nicht mehr wagen wird, ‹Du› zu Monsieur Bertin zu sagen.» Ihre Mutter lächelte. «Behalte die schlechte Angewohnheit bei, ich erlaube es dir. Ihr werdet schnell wieder miteinander vertraut werden.»
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Aber Annette schüttelte den Kopf. «Nein, nein, es wäre mir peinlich.» Die Herzogin umarmte sie und betrachtete sie prüfend, mit dem interessierten Blick der Kennerin. «Laß sehen, Kleine, schau mir gerade ins Gesicht. Ja, du hast genau denselben Blick wie deine Mutter. Du wirst einmal gar nicht übel sein, wenn du noch etwas mehr Ausstrahlung gewonnen hast. Du mußt noch etwas zunehmen, nicht viel, aber ein wenig; du bist etwas zu mager.» Die Gräfin rief: «Oh, sagen Sie ihr doch nicht so etwas!» «Warum denn?» «Weil es so angenehm ist, schlank zu sein! Ich versuche gerade abzunehmen.» Madame de Mortemain wurde ungehalten und vergaß in ihrem heftigen Zorn, daß ein junges Mädchen anwesend war. «Ach, immer dasselbe, immer noch diese Mode der dürren Knochen, nur weil man sie besser bekleiden kann als das üppige Fleisch. Ich gehöre noch der Generation der dicken Frauen an! Heute lebt die Generation der dürren Frauen! Das erinnert mich an die ägyptischen Kühe. Ich verstehe zum Beispiel die Männer nicht, die offensichtlich eure Gerippe bewundern. Zu unserer Zeit wollten sie Besseres.» Sie verstummte einen Augenblick, weil alle um sie herum lachten, dann fuhr sie fort: «Sieh deine Mutter an, Kleines, sie sieht gut aus, gerade recht, werde so wie sie.» Nun gingen alle in den Speisesaal. Als sie Platz genommen hatten, nahm Musadieu den Faden der Unterhaltung wieder auf: «Meiner Meinung nach müssen Männer schlank sein, denn sie sind für körperliche Übungen geschaffen, die Beweglichkeit und Geschicklichkeit erfordern und sich nicht mit einem Bauch vertragen. Das ist bei Frauen etwas anderes, meinen Sie nicht auch, Corbelle?» Corbelle war unschlüssig, denn die Herzogin war beleibt und seine eigene Frau mehr als schlank. Aber die Baronin kam ihrem Mann zu Hilfe und sprach sich entschieden für die Schlankheit aus. Im vergangenen Jahr habe sie gegen ihre beginnende Korpulenz ankämpfen müssen, aber sie habe sie schnell überwunden.
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Madame de Guilleroy fragte: «Sagen Sie, wie ist Ihnen das gelungen?» Und die Baronin erklärte die Methode, die zur Zeit alle eleganten Frauen anwandten: Sie unterließen das Trinken während der Mahlzeit. Erst etwa eine Stunde nach dem Essen genehmigten sie sich eine Tasse heißen, kochendheißen Tee. Damit hatten alle Erfolg; und sie zitierte erstaunliche Beispiele von korpulenten Frauen, die in drei Monaten dünner als eine Messerklinge geworden waren. Die Herzogin rief erbittert: «Mein Gott, ist das albern, sich so zu quälen. Sie schätzen nichts, gar nichts, nicht einmal Champagner. Hören Sie, Bertin, Sie sind Künstler, was sagen Sie dazu?» «Ach Gott, Madame, ich bin Maler, meine Kunst verhüllt, mir ist das egal! Wenn ich Bildhauer wäre, würde ich es beklagen.» «Aber Sie sind auch ein Mann, was bevorzugen Sie?» «Ich? Eine... etwas üppige Eleganz, das, was meine Köchin ein gutes kleines Körnerhuhn nennt. Es ist nicht fett, aber stramm und zart.» Der Vergleich sorgte für Erheiterung. Aber die Gräfin betrachtete ihre Tochter ungläubig und sagte leise: «Nein, es ist sehr hübsch, schlank zu sein, die Frauen, die schlank bleiben, altern nicht.» Darüber entzündete sich erneut eine Diskussion, die die Gesellschaft spaltete. Nur darüber herrschte in etwa Einigkeit, daß eine sehr dicke Person nicht zu schnell abnehmen dürfe. Diese Beobachtung gab Anlaß, alle bekannten Damen der Gesellschaft Revue passieren zu lassen und sich wieder einmal über ihren Charme, ihren Schick und ihre Schönheit zu streiten. Musadieu fand die blonde Marquise de Lochrist unvergleichlich reizvoll, während Bertin die brünette Madame Mandeliere mit ihrer niedrigen Stirn, ihren schwermütigen Augen und dem etwas großen Mund, in dem die Zähne zu blitzen schienen, über alles schätzte. Er saß neben dem jungen Mädchen und wandte sich unvermittelt an sie: «Hör gut zu, Nanette. Alles, was wir hier reden, wirst du jede Woche mindestens einmal zu hören bekommen, bis du alt sein wirst. In einer Woche wirst du auswendig wissen, was man in der Gesellschaft so denkt über die Politik, die Frauen, die Theaterstücke
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und alles übrige. Du mußt nur von Zeit zu Zeit die Namen, die Leute oder die Buchtitel austauschen. Wenn du alle Ansichten, die wir äußern und vertreten, gehört hast, dann kannst du in aller Ruhe deine eigene unter den angebotenen auswählen, und dann brauchst du nicht mehr nachzudenken, nie wieder, du kannst es dir für im mer bequem machen.» Wortlos betrachtete ihn die Kleine, mit einer Keckheit im Blick, die eine junge, frische Intelligenz verriet, noch im Zaum gehalten, aber bereit, loszupreschen. Die Herzogin und Musadieu aber, die mit Gedanken wie mit Bällen spielten, ohne zu merken, daß sie sich immer wieder dieselben zuwarfen, widersprachen und beriefen sich auf die Vernunft und den Betätigungstrieb des Menschen. Da bemühte sich Bertin zu beweisen, wie wertlos, wie Substanzund bedeutungslos die Intelligenz selbst der bestunterrichteten Leute der Gesellschaft sei, wie armselig begründet ihre Anschauungen, wie schwach und gleichgültig ihr Interesse an geistigen Dingen, wie sprunghaft und unsicher ihr Geschmack. Mit halb echter, halb gespielter Empörung, die zunächst durch den Wunsch, beredt zu erscheinen, geweckt und dann ganz unvermutet durch eine sonst hinter allgemeinem Wohlwollen verborgene klare Urteilskraft angefacht wird, setzte er auseinander, wie die Leute, deren einziger Lebensinhalt in Besuchen und Abendgesellschaften in der Stadt bestehe, sich unversehens, durch ein unentrinnbares Geschick, in harmlose, nette, aber gleichzeitig gewöhnliche Wesen verwandelten, die sich durch unbestimmte, oberflächliche Sorgen, Anschauungen und Gelüste treiben ließen. Er behauptete, sie besäßen weder Tiefgang noch Begeisterungsfähigkeit oder Ernsthaftigkeit, ihre geistige Kultur sei gleich Null, ihr Wissen bloße Tünche und sie blieben alles in allem Marionetten, die sich durch ihre Gesten den Anschein gäben, der Elite anzugehören, was sie aber nicht tun. Er zeigte, daß sie nichts wahrhaft liebten, weil der Nährboden der kümmerlichen Wurzeln ihrer Antriebskräfte die Konventionen und nicht die Bedürfnisse des wirklichen Lebens seien, und daß selbst der Luxus ihres Daseins nur der Befriedigung der Eitelkeit und nicht der Stillung eines verfeinerten
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Geschmacksbedürfnisses diente, denn man esse schlecht bei ihnen und trinke dort schlechten, teuer bezahlten Wein. «Sie leben», sagte er, «am Leben vorbei, ohne etwas zu sehen und zu begreifen. Sie leben neben der Wissenschaft, die sie nicht kennen, neben der Natur, die sie nicht zu sehen verstehen, neben dem Glück, denn sie sind unfähig, sich leidenschaftlich über etwas zu freuen, neben der Schönheit der Welt oder der Kunst, von der sie sprechen, ohne sie je entdeckt zu haben oder auch nur an sie zu glauben, denn sie kennen nicht den Rausch, den der Genuß der Freuden des Lebens und des Geistes bereitet. Sie sind unfähig, sich so lange mit einer Sache zu befassen, bis sie nur noch diese lieben, unfähig, sich in eine Kleinigkeit so lange zu versenken, bis sie das Glück des Verstehens wie ein Blitz durchzuckt.» Der Baron de Corbelles glaubte, die gute Gesellschaft verteidigen zu müssen. Er tat dies mit sinnlosen, ungreifbaren Argumenten, mit jenen unhaltbaren Argumenten, die vor der Vernunft dahinschwinden wie Schnee in der Sonne, mit den unsinnigen, triumphierenden Argumenten eines Landpfarrers, der die Existenz Gottes beweist. Am Ende verglich er die Angehörigen der guten Gesellschaft mit Rennpferden, die im Grunde zu nichts nütze sind, aber doch die Zierde der Pferderasse darstellen. Bertin, dem dieser Gegner unangenehm war, schwieg erst einmal herablassend und höflich. Dann aber brachte ihn die Dummheit des Barons doch auf, er unterbrach ihn ge schickt und schilderte den Tagesablauf eines Herrn der guten Gesellschaft vom Aufstehen bis zum Einschlafen in allen Einzelheiten. Die genau beobachteten Details ergaben ein unwiderstehlich komisches Bild. Man sah, wie der von seinem Diener angekleidete Herr dem Friseur, der zum Rasieren gekommen war, einige allgemeine Gedanken mitteilte, wie er dann, vor dem morgendlichen Ausritt, den Stallknecht nach dem Ergehen der Pferde befragte, wie er anschließend durch die Alleen des Bois de Boulogne trabte, nur um zu grüßen und gegrüßt zu werden, wie er danach mit seiner Frau, die in der Zwischenzeit ihrerseits im Coupe ausgefahren war, zu Mittag
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speiste und ihr nichts anderes zu erzählen wußte als die Namen der Leute, die er am Vormittag gesehen hatte, wie er dann bis zum Abend von Salon zu Salon zog und sich im Austausch mit seinesgleichen wieder mit Weisheit vollsog, wie er endlich bei einem Fürsten die Abendtafel besuchte, an der die politische Lage Europas besprochen wurde, und wie er schließlich den Abend im Tanzlokal in der Oper beschloß, wo sein bescheidener Anspruch eines Lebemanns auf unschuldige Weise durch die Atmosphäre eines dem Anschein nach verruchten Ortes befriedigt wurde. Rund um den Tisch lachte man über dies so wahrheitsgetreue Gemälde, dessen Ironie niemanden verletzt hatte. Die Herzogin wurde von kleinen, verhaltenen Lachkrämpfen geschüttelt, und die unterdrückte Heiterkeit ließ ihre Leibesfülle erbeben. Schließlich sagte sie: «Nein, wirklich, das ist zu komisch, ich werde noch sterben vor Lachen.» Bertin erwiderte sehr erregt: «O Madame, in der guten Gesellschaft stirbt man nicht vor Lachen. Man lacht ja gar nicht richtig. Aus Takt und Höflichkeit tut man so, als ob man sich amüsiere und lache. Man ahmt die Grimasse des Lachens ziemlich gut nach, aber man lacht niemals wirklich. Gehen Sie in die Boulevardtheater, dort können Sie sehen, was Lachen heißt. Gehen Sie zu den einfachen Bürgern, die sich vergnügen, sie werden ein Lachen sehen, das zu Erstickungsanfällen fuhrt! Gehen Sie in die Stuben der Soldaten, Sie werden Männer sehen, denen die Luft wegbleibt, die Tränen in den Augen haben und die sich auf ihren Betten vor Lachen krümmen bei den Spaßen irgendeines Possenreißers. Aber in unsern Salons wird nicht wirklich gelacht. Ich sage Ihnen, man tut dort alles nur zum Schein, man lacht selbst nur zum Schein.» Musadieu gebot Einhalt: «Erlauben Sie, Sie sind sehr hart. Ich habe den Eindruck, mein Guter, daß Sie selbst diese Gesellschaft auch nicht verachten, die Sie so trefflich verspotten.» Bertin lächelte. «Ich? Ich liebe sie.» «Was soll das dann?» «Ich verachte mich ein klein wenig als Zwitter zweifelhafter Herkunft.»
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«Das ist alles nur Effekthascherei», sagte die Herzogin. Und als er sich gegen diesen Vorwurf verteidigte, beschloß sie die Diskussion mit der Bemerkung, alle Künstler wollten den Leuten ein X für ein U vormachen. Die Unterhaltung nahm allgemeineren Charakter an, streifte dieses und jenes Thema, wurde oberflächlich und nichtssagend, freundschaftlich und harmlos, und als das Essen seinem Ende zuging, stieß die Gräfin plötzlich einen Schrei der Verwunderung aus und zeigte auf die leeren Gläser, die vor ihr standen: «Gut so, ich habe nichts getrunken, keinen Tropfen, nun werden wir sehen, ob ich abnehme.» Die Herzogin wurde wütend und wollte sie dazu zwingen, wenigstens ein oder zwei Schluck Mineralwasser zu trinken; sie hatte keinen Erfolg und empörte sich laut: «O die Törin! Da sieht man, wie ihr ihre Tochter den Kopf verdreht. Ich bitte Sie, Guilleroy, hindern Sie Ihre Frau, eine solche Torheit zu begehen.» Der Graf, der gerade dabei war, Musadieu die Mechanik einer in Amerika erfundenen Dreschmaschine zu erklären, hatte nicht zugehört. «Welche Torheit, Herzogin?» «Die Torheit, abnehmen zu wollen.» Er betrachtete seine Frau mit einem wohlw ollenden und zugleich gleichgültigen Blick. «Ich bin eigentlich nicht gewohnt, ihr zu widersprechen.» Die Gräfin hatte sich erhoben und nahm den Arm ihres Nachbarn; der Graf bot den seinen der Herzogin, und man ging in den großen Salon hinüber, da das hintere Boudoir für die Empfänge am Tag bestimmt war. Es war ein sehr weiter, sehr heller Raum. Die großen und schönen Bespannungen aus altertümlich gemusterter blaßblauer Seide an allen vier Wänden, in ihren weißen und goldenen Rahmungen, nahmen unter dem Licht der Lampen und des Kronleuchters eine mondscheinartige sanfte und lebhafte Färbung an. In der Mitte der Hauptwand hing das Porträt der Gräfin von Olivier Bertin, es schien dort zu wohnen und den Raum zu beleben. Hier war es zu Hause, und das Lächeln der jungen Frau, die Anmut ihres Blicks und der duftige Reiz ihrer blonden Haare durchfluteten die Atmosphäre des Salons. Es war übrigens fast eine Gewohnheit, eine
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Art höflicher Brauch geworden, so wie man beim Betreten der Kirche ein Kreuz schlägt, jedesmal wenn man vor dem Werk des Malers stehenblieb, dem Modell zu huldigen. Musadieu versäumte dies nie. Er dachte, seine staatlich anerkannte Kennerschaft gebe seinem Urteil das Gewicht einer richtigen Expertise, und er hielt es deshalb für seine Pflicht, immer wieder im Brustton der Überzeugung die Meisterschaft des Gemäldes zu beglaubigen. «Wirklich», sagte er, «dies ist das schönste moderne Porträt, das ich kenne.» Graf de Guilleroy, in dem sich durch das viele Lob, das er über das Bild zu hören bekam, die Meinung festgesetzt hatte, er besitze ein Meisterwerk, trat zu Musadieu, um dessen Lob zu überbieten, und ein oder zwei Minuten lang trugen sie alle gängigen Fachausdrücke zusammen, um die äußeren und inneren Schönheiten des Bildes zu preisen. Die Blicke aller waren auf die Wand gerichtet, und sie schienen hingerissen vor Bewunderung. Olivier Bertin, der die Lobeshymnen kannte, denen er kaum mehr Beachtung schenkte, als man der Frage nach seiner Gesundheit schenkt, wenn man auf der Straße angesprochen wird, brachte inzwischen die Spiegellampe, die vor dem Porträt stand, um es zu beleuchten, in die richtige Position, denn der Diener hatte sie aus Nachlässigkeit etwas abseits aufgestellt. Dann setzten sich alle, und die Herzogin sagte zu dem Grafen, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand: «Ich glaube, mein Neffe wird mich abholen kommen, und er trinkt sicher gerne eine Tasse Tee bei Ihnen.» Ihre Zukunftspläne gingen seit einiger Zeit in dieselbe Richtung, ohne daß sie sich einander anvertraut hätten, nicht einmal in Andeutungen. Der Bruder der Herzogin de Mortemain, der Marquis de Farandal, war bei einem Sturz vom Pferd gestorben, nachdem er sich beim Spiel fast völlig ruiniert hatte, und hinterließ eine Witwe und einen Sohn. Dieser junge Mann war inzwischen achtundzwanzig Jahre alt und einer der umworbensten Anführer des Kotillons in ganz Europa; man rief ihn sogar manchmal nach Wien oder London, um die Bälle der
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Fürsten mit seinen Walzerrunden zu krönen. Obwohl er kaum Vermögen besaß, war er doch seines Namens, seiner Herkunft und seiner engen Beziehungen zum Königshaus wegen einer der beliebtesten und begehrtesten jungen Männer von Paris. Es galt, diesen zu jungen tänzerischen und sportlichen Ruhm noch etwas zu festigen und nach einer reichen, einer sehr reichen Heirat die gesellschaftlichen Erfolge durch politische Erfolge zu ersetzen. Wenn er erst einmal Abgeordneter war, würde der Marquis allein durch diese Tatsache eine der Stützen des künftigen Throns, ein Ratgeber des Königs und einer der führenden Köpfe der royalistischen Partei sein. Die Herzogin war wohlunterrichtet und Kannte das ungeheure Vermögen des Grafen de Guilleroy, der als sparsamer Haushalter in einer einfachen Wohnung lebte, wo er doch standesgemäß in einem der schönsten Palais von Paris hätte leben können. Sie wußte um seine immer erfolgreichen Spekulationen, seine feine Witterung in finanziellen Dingen, seine Teilhaberschaft an höchst ertragreichen Geschäften in den vergangenen zehn Jahren, und so war ihr der Gedanke gekommen, ihren Neffen, dem diese Verbindung einen gewichtigen Einfluß auf die um die Fürsten versammelte aristokratische Gesellschaft verschaffen würde, mit der Tochter des Abgeordneten aus der Normandie zu verheiraten. Guilleroy, der selbst reich geheiratet und durch sein Geschick das eigene Vermögen vervielfacht hatte, verfolgte andere Ziele. Er glaubte an eine Rückkehr des Königs und wollte an jenem Tag in der Lage sein, aus dem Ereignis den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Als einfacher Abgeordneter galt er nicht viel, aber als Schwiegervater von Farandal, dessen Vorfahren treue und begünstigte Vertraute des königlichen Hauses gewesen waren, würde er eine ausgezeichnete Stellung einnehmen. Die Zuneigung, die die Herzogin zu seiner Frau hegte, gab dieser Verbindung darüber hinaus den Charakter einer sehr kostbaren, innigen Beziehung, und aus Furcht, es fände sich vielleicht ein anderes junges Mädchen, das plötzlich den Gefallen des Marquis
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erregte, hatte er seine Tochter zurückkommen lassen, um die Ereignisse zu beschleunigen. Madame de Mortemain, die seine Pläne ahnte und erriet, unterstützte diese mit stillschweigender Zustimmung; gerade heute hatte sie, ohne Kenntnis von der unvermuteten Rückkehr des jungen Mädchens, ihren Neffen aufgefordert, zu den Guilleroys zu kommen, um ihn nach und nach daran zu gewöhnen, dieses Haus häufiger aufzusuchen. Zum ersten Mal sprachen der Graf und die Herzogin in Andeutungen über ihre Zukunftspläne, und als sie auseinandergingen, war die Heirat beschlossene Sache. Am andern Ende des Salons wurde gelacht. Monsieur de Musadieu berichtete gerade der Baronin de Corbelle von der Einführung einer Negergesandtschaft beim Präsidenten der Republik, als der Marquis de Farandal gemeldet wurde. Er erschien unter der Tür und blieb dort stehen. Mit einer raschen, gekonnten Armbewegung hielt er ein Monokel vor sein rechtes Auge und ließ es dort, wie um den Salon, in den er eintrat, zu betrachten, in Wirklichkeit aber wohl eher, um den dort Anwesenden die Gelegenheit zu geben, ihn zu sehen, und um seinen Auftritt zu inszenieren. Dann ließ er das Stück Glas am Ende eines dünnen, schwarzen Seidenfadens durch eine unmerkliche Bewegung der Wange und des Augenlids herabfallen, ging lebhaft auf Madame de Guilleroy zu und küßte deren ausgestreckte Hand, indem er sich tief verneigte. Bei seiner Tante machte er es genauso. Dann begrüßte er die anderen und schüttelte ihnen die Hände, wobei er mit eleganter Ungezwungenheit von einem zum andern ging. Er war ein großer junger Mann mit rotem Schnurrbart und schon etwas schütterem Haar im Offiziersschnitt und dem Benehmen eines englischen Sportsmanns. Man hatte einen dieser Menschen vor sich, deren Körper besser trainiert ist als ihr Geist und die sich nur für solche Dinge begeistern, bei denen sie ihre physische Kraft und Geschicklichkeit entfalten können. Er war trotzdem gut unterrichtet, denn er hatte mit großer geistiger Anstrengung gelernt und lernte noch immer jeden Tag, was ihm später einmal nützlich sein konnte: erstens Geschichte, wobei er sich an die Zahlen hielt und die Bedeutung der
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Zusammenhänge übersah, und zweitens die Grundbegriffe der politischen Ökonomie, deren Kenntnis für einen Abgeordneten von Wichtigkeit ist und die das Abc der Gesellschaftslehre zum Gebrauch der herrschenden Schichten darstellt. Musadieu gab sein Urteil ab: «Er wird einmal ein bedeutender Mann werden.» Bertin lobte seine Geschicklichkeit und seine Kraft. Sie besuchten denselben Fechtboden, jagten häufig zusammen und begegneten sich beim Ausritt in den Alleen des Bois de Boulogne. Zwischen ihnen war eine Sympathie des gemeinsamen Geschmacks entstanden, diese Brüderschaft, die sich zwischen zwei Männern bildet, wenn sie ein Gesprächsthema entdeckt haben, das für alle beide angenehm ist. Als der Marquis Annette de Guilleroy vorgestellt wurde, ahnte er sogleich die Berechnungen seiner Tante, und nachdem er sich verbeugt hatte, musterte er sie mit dem raschen Blick des Frauenkenners. Er fand sie nett und vor allem vielversprechend; er hatte so viele Kotillons angeführt, daß er sich mit jungen Mädchen auskannte und fast mit Sicherheit ihre zukünftige Schönheit voraussagen konnte, wie ein Weinkenner, der einen zu jungen Wein probiert. Er wechselte nur ein paar unbedeutende Worte mit ihr und setzte sich dann neben die Baronin de Corbelles, um mit gesenkter Stimme Klatschgeschichten auszutauschen. Man brach früh auf. und als alle gegangen Waren, das Kind im Bett lag, die Lampen gelöscht waren und die Dienerschaft sich in ihre Kammern zurückgezogen hatte, da ging der Graf de Guilleroy im Salon, der nur noch von zwei Kerzen erhellt wurde, auf und ab und hielt De Gräfin, die schläfrig in einem Sessel saß, noch lange hin, um seine Hoffnungen auszumalen, die einzunehmende Haltung genau zu überlegen und alle Verwicklungen, alle Chancen und die zu treffenden Vorkehrungen im voraus zu bedenken. Es war spät, als er sich, im übrigen sehr beglückt von dem Abend, zurückzog und murmelte: «Ich glaube schon, daß es beschlossene Sache ist...»
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III Wann werden Sie mich besuchen kommen, mein Freund? Seit drei Tagen habe ich Sie nicht gesehen, und das erscheint mir lange. Meine Tochter nimmt mich zwar sehr in Anspruch, aber Sie wissen, daß ich nicht mehr ohne Sie leben kann. Der Maler, der gerade Entwürfe skizzierte, immer noch auf der Suche nach einem neuen Motiv, las das Billett der Gräfin ein zweites Mal durch, dann öffnete er die Schublade eines Sekretärs und legte es auf einen Stapel anderer Briefe, der sich dort seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft angesammelt hatte. Dank der Möglichkeiten, die das gesellschaftliche Leben bot, hatten sie sich daran gewöhnt, sich fast täglich zu sehen. Von Zeit zu Zeit besuchte sie ihn in seinem Atelier und nahm, ohne ihn dadurch bei der Arbeit zu stören, für ein oder zwei Stunden in dem Sessel Platz, in dem sie ihm einst Modell gesessen hatte. Aber da sie die Bemerkungen der Dienstboten etwas fürchtete, zog sie es vor, ihn zum täglichen Beisammensein, jenem Kleingeld der Liebe, bei sich zu Hause zu empfangen oder ihn in einem andern Salon zu sehen. Man legte die Treffpunkte immer etwas im voraus fest, und Monsieur de Guilleroy schöpfte niemals Verdacht. Mindestens zweimal in der Woche war der Maler mit einigen Freunden zusammen bei der Gräfin zum Abendessen. Montags begrüßte er sie regelmäßig in ihrer Loge in der Oper, und häufig verabredeten sie sich in diesem und jenem Haus, wo sie sich dann wie zufällig zur selben Stunde einfanden. Er wußte, an welchen Abenden sie nicht ausging. Dann suchte er sie auf und trank eine Tasse Tee bei ihr, und er fühlte sich so zu Hause in ihrer Nähe, so zärtlich und sicher aufgehoben in dieser reifen Liebe, so gefesselt durch die Gewohnheit, sie immer irgendwo vorzufinden, einige Augenblicke mit ihr zu verbringen, einige Worte zu wechseln und einige Gedanken auszutauschen, daß er unablässig das Bedürfnis verspürte, sie zu sehen, obwohl die heiße Glut seiner Leidenschaft seit langem erloschen war.
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Der Wunsch nach einer Familie, nach einem belebten und wohnlichen Haus, nach gemeinsamen Mahlzeiten, nach Abenden, an denen man sich bis tief in die Nacht mit guten Bekannten unterhält, dieser Wunsch nach geselligem Kontakt, nach körperlicher Nähe, nach vertrautem Umgang, der in jedem Menschenherzen schlummert und der jeden alten Junggesellen bei seinen Freunden von Tür zu Tür gehen läßt, um sich dort ein wenig einzurichten, dieser Wunsch gab seinen anhänglichen Gefühlen eine egoistische Kraft. In diesem Haus, in dem er geliebt und verwöhnt wurde und in dem er alles fand, konnte er ausruhen und seine Einsamkeit hätscheln. Seit drei Tagen hatte er seine Freunde nicht mehr gesehen, die sicher durch die Rückkehr ihrer Tochter stark in Anspruch genommen waren. Er begann bereits, sich zu langweilen, und war sogar etwas verstimmt, daß sie ihn nicht schon früher hatten rufen lassen, wo er sich doch die Zurückhaltung auferlegt hatte, sich nicht als erster zu rühren. Der Brief der Gräfin wirkte wie ein Peitschenhieb und ließ ihn aufspringen. Es war drei Uhr nachmittags. Er entschloß sich, sie sofort aufzusuchen, um sie noch anzutreffen, ehe sie ausging. Sein Diener erschien auf ein Klingelzeichen. «Wie ist das Wetter, Joseph?» «Sehr schön, Monsieur.» «Heiß?» «Ja, Monsieur.» «Weiße Weste, blaues Jackett, grauer Hut.» Er trat immer sehr elegant auf; aber obwohl er von einem Schneider angezogen wurde, der auf einen korrekten Stil achtete, so schien doch allein die Art, wie er seine Kleidung trug und wie er ging, den Bauch in eine weiße Weste eingeschnürt und den hohen grauen Filzhut ein wenig in den Nacken geschoben, zu erkennen zu geben, daß er Künstler und Junggeselle war. Als er bei der Gräfin ankam, sagte man ihm, sie mache sich gerade fertig für eine Ausfahrt in den Bois. Er war ungehalten und wartete. Wie gewöhnlich begab er sich in den Salon und ging in dem großen, durch Vorhänge abgedunkelten Raum auf und ab, von Sessel zu
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Sessel und von den Fenstern zu den Wänden. Auf den leichten Tischchen mit ihren vergoldeten Füßen standen Nippessachen, überflüssig, hübsch und kostspielig, in ausgesuchter Unordnung. Da fanden sich kleine alte Dosen aus getriebenem Gold, Tabatieren mit Miniaturen, Elfenbeinfigürchen, dann ganz moderne Gegenstände aus mattem Silber, kunstvolle Scherze, die den englischen Geschmack offenbarten: ein kleiner Küchenofen, auf dem eine Katze sitzt und aus einem Topf trinkt, ein Zigarettenetui in Form eines großen Brotlaibs, eine Kaffeekanne als Zündholzbehälter und dann, in einem Schmuckkästchen, jede Menge Puppenschmuck: Halsketten, Armbänder, Ringe, Broschen, Ohrringe mit Brillanten, Saphiren, Rubinen, Smaragden, winzigkleine Traumgebilde, die so aussahen, als hätten sie die Goldschmiede von Liliput angefertigt. Von Zeit zu Zeit berührte er einen Gegenstand, den er ihr zu irgendeinem Geburtstag geschenkt hatte, nahm ihn in die Hand, drehte ihn hin und her und betrachtete ihn mit gedankenverlorener Gleichgültigkeit, dann stellte er ihn an seinen Platz zurück. In einer Ecke lagen einige kostbar eingebundene, selten geöffnete Bücher griffbereit auf einem einbeinigen Tischchen, das vor einem halbrunden Sofa stand.Auf dem Möbel war auch die «Revue des Deux Mondes» zu sehen, etwas zerknittert und abgenutzt, mit Eselsohren in den Seiten, so als ob sie wieder und wieder gelesen worden wäre, daneben noch unaufgeschnittene Zeitschriften, «Les Arts modernes», die man nur halten mußte, weil sie so teuer war, sie kostete 400 Francs im Jahr, und «La Feuille libre», eine dünne Broschüre mit blauem Einband, in der sich die fortschrittlichen Dichter, die man die «Überspannten» nannte, verbreiteten. Zwischen den Fenstern stand der Schreibtisch der Gräfin, ein zierliches Möbel aus dem vergangenen Jahrhundert, an dem sie die Antworten auf dringende Anfragen, die während der Empfänge eingingen, abfaßte. Einige Romane auf dem Schreibtisch, Lieblingsbücher, legten Zeugnis ab von Geist und Herz der Frau: Müsset, «Manon Lescaut», «Werther», und zum Beweis, daß man auch verwickelten Gefühlsregungen und den Geheimnissen der Psychologie nicht fremd gegenüberstand: «Die Blumen des Bösen», «Rot und Schwarz», «Die Frau im achtzehnten Jahrhundert», «Adolphe».
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Neben den Bänden befand sich ein hübscher Handspiegel, ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst; er lag mit dem Glas nach unten auf einem viereckigen bestickten Stück Samt, damit man die auffallende Gold- und Silberarbeit auf dem Rücken bewundern konnte. Bertin nahm ihn in die Hand und betrachtete sich darin. Seit einigen Jahren alterte er entsetzlich, und obgleich er sein Gesicht charakteristischer fand als früher, so bekümmerten ihn doch seine hängenden Wangen und die Falten seiner Haut. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. «Guten Tag, Monsieur Bertin», sagte Annette. «Guten Tag, Kleines, geht es dir gut?» «Sehr gut, und Ihnen?» «Du duzt mich ja gar nicht?» «Nein, wirklich, ich habe Hemmungen.» «Nun hör bloß!» «Ja, ich habe Hemmungen. Sie schüchtern mich ein.» «Wieso denn das?» «Weil... weil Sie nicht jung genug und nicht alt genug sind.» Der Maler mußte lachen. «Dieses Argument bringt mich zum Schweigen.» Sie errötete plötzlich bis zur blassen Haut unter den Haarwurzeln und antwortete verwirrt: «Mama hat mich geschickt, um Ihnen zu sagen, daß sie gleich herunterkommt, und um Sie zu fragen, ob Sie uns in den Bois de Boulogne begleiten wollen.» «Aber natürlich. Geht ihr alleine?» «Nein, mit der Herzogin de Mortemain.» «Sehr gut, ich bin mit von der Partie.» «Wenn Sie erlauben, gehe ich jetzt und hole meinen Hut.» «Geh, mein Kind.» Als sie hinausging, betrat die Gräfin ausgehbereit und mit heruntergelassenem Schleier den Salon. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen.
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«Man sieht Sie ja gar nicht mehr, Olivier? Was treiben Sie denn?» «Ich wollte Ihnen in diesen Tagen nicht lästig fallen.» In die Art und Weise, wie sie «Olivier» aussprach, legte sie all ihre Vorwürfe und ihre ganze Liebe. «Sie sind die beste Frau der Welt», sagte er, gerührt durch den Klang seines Namens. Damit war die kleine Verstimmung zwischen ihnen erledigt und ausgeräumt, und sie fuhr im geselligen Plauderton fort: «Wir wollen losfahren und die Herzogin in ihrem Palais abholen und dann eine Runde im Bois machen. Nannette muß das alles zu sehen kriegen.» Der Landauer wartete unten in der Einfahrt, Bertin nahm den beiden Frauen gegenüber Platz, und der Wagen fuhr unter dem Widerhall der stampfenden Pferdehufe im Eingangsgewölbe los. Auf der Fahrt über den langen zur Madeleinekirche hinabführenden Boulevard schien die ganze Heiterkeit des wiederkehrenden Frühlings vom Himmel auf die Menschen herunterzustrahlen. Die milde Luft und der Sonnenschein verliehen den Männern festliche und den Frauen verliebte Gesichter. Die Straßenjungen tobten mit den weißen Küchenjungen herum, die ihre Körbe auf den Bänken abgestellt hatten, um mit ihren Kameraden Fangen zu spielen, diese Taugenichtse. Die Hunde schienen es eilig zu haben, die Kanarienvögel der Conciergen zwitscherten aus vollem Hals, und nur die alten Droschkengäule trabten wie gewöhnlich in ihrem schwerfälligen Gang, dem Leichentrott. Die Gräfin sagte leise: «Oh, so ein herrlicher Tag, wie schön ist das Leben.» Der Maler betrachtete sie im hellen Sonnenschein, die eine neben der andern, Mutter und Tochter. Natürlich waren sie verschieden, aber gleichzeitig doch auch so ähnlich, daß die eine die Weiterführung der andern war, aus demselben Fleisch und Blut gemacht und vom selben Leben beseelt. Ihre Augen, diese blauen schwarzgesprenkelten Augen, bei der Tochter von klarem Blau, bei der Mutter etwas abgeblaßt, musterten ihn mit demselben Blick, wenn er etwas sagte, so daß er darauf gefaßt war, daß sie ihm auch dieselben Antworten geben
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würden. Als er sie zum Lachen und Plaudern brachte, war er daher etwas überrascht, daß er sich zwei sehr unterschiedlichen Frauen gegenübersah, einer, die das Leben hinter sich, und einer, die es noch vor sich hatte. Nein, er sah nicht voraus, was aus diesem Kind werden würde, wenn sich seine junge Intelligenz unter dem Einfluß heute noch schlummernder Vorlieben und Interessen entwickeln und inmitten des ereignisreichen gesellschaftlichen Lebens entfalten würde. Sie war eine reizende kleine Person, noch unbeschrieben, an der Schwelle zu Glück und Leben, ahnungslos und unwissend; sie fuhr wie ein Schiff aus dem Hafen aus, während ihre Mutter nach beendeter Lebensfahrt und erfüllter Liebe dorthin zurückkehrte. Er war gerührt bei dem Gedanken, daß er es war, dem diese hübsch gebliebene Frau, die der Landauer vor ihm in der milden Frühlingsluft wiegte, ihre Liebe schenkte und den sie noch immer allen andern vorzog. Sie erkannte seine Dankbarkeit an dem Blick, den er ihr zuwarf, und er glaubte, ein leichtes Streifen ihres Kleides als Erwiderung zu fühlen. Auch er sagte jetzt leise: «O ja, was für ein herrlicher Tag!» Nachdem sie die Herzogin in der Rue de Varenne abgeholt hatten, fuhren sie in Richtung Invalidendom, überquerten die Seine und gelangten zu den Champs-Elysees, die sie, umgeben von einer Flut von Wagen, zum Arc de Triomphe de l' Etoile hochfuhren. Das junge Mädchen hatte sich auf den Rücksitz neben Olivier gesetzt, und sie blickte mit begierigen, naiven Augen auf diesen Wagenstrom. Ab und zu, wenn die Herzogin und die Gräfin einen Gruß durch ein kurzes Kopfnicken erwiderten, fragte sie: «Wer war das?», und er gab die Auskunft: «die Pontaiglins» oder «die Puicelcis» oder «die Gräfin de Lochrist» oder «die schöne Madame de Mandeliere». Sie folgten jetzt der Avenue du Bois de Boulogne, mitten im Krach und Getöse der Räder. Die Wagen, die nicht mehr ganz so eng aufeinander fuhren wie vor dem Arc de Triomphe, schienen sich in einem Wettrennen ohne Ziel zu befinden; Droschken, schwere Landauer und elegante achtfedrige Wagen überholten sich ein ums
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andre Mal. Plötzlich fuhr eine nur mit einem einzigen Traber bespannte schnelle Viktoria vorbei, die durch dieses rollende bürger liehe und aristokratische Heer, diese Mischung aller Gesellschaftsschichten, -klassen und -ränge in rasender Geschwindigkeit eine junge sorglose Frau hindurchsteuerte, deren frische, gewagte Kleidung über alle Wagen, die sie streifte, den merkwürdigen Duft einer unbekannten Blume ausgoß. «Diese Dame da, wer ist das?» fragte Annette. «Ich weiß nicht», antwortete Bertin, während die Herzogin und die Gräfin sich anlächelten. Die Knospen brachen auf, die Nachtigallen, die in diesem Pariser Park heimisch waren, sangen in dem jungen Grün, und als sich die Wagen in einer Kolonne dem See näherten, wurden von Wagen zu Wagen Grüße, ein freundliches Lächeln und liebenswürdige Worte ausgetauscht, während man Rad an Rad stand. Das Ganze sah aus wie eine dahingleitende Flotte von Booten, in denen sehr würdige Damen und Herren saßen. Die Herzogin verneigte sich alle paar Sekunden, wenn vor ihr ein Hut gezogen oder eine Stirn gesenkt wurde, sie schien eine Parade abzunehmen und sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie von jedem einzelnen, der an ihr vorbeizog, wußte, dachte und vermutete. «Sieh mal, Kleines, da ist ja wieder die schöne Madame Mandeliere, die Schönheit der Republik.» In einem leichten, auffallend hübschen Wagen ließ die Schönheit von Paris ihre großen dunklen Augen, ihre niedere Stirn unter einer Flut schwarzer Haare und ihren launischen, ein wenig zu üppigen Mund bewundern, offensichtlich ungerührt von ihrem zweifelhaften Ruf. «Trotz allem, sie ist sehr schön», sagte Bertin. Die Gräfin mochte es nicht, wenn er die Schönheit anderer Frauen lobte; sie zuckte leicht mit den Schultern und schwieg. Aber das junge Mädchen, in dem sich plötzlich der Instinkt weiblicher Eifersucht regte, wagte die Bemerkung: «Das kann ich nicht finden.» Der Maler drehte sich zu ihr um. «Was, du findest sie nicht schön?»
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«Nein, sie sieht aus wie in Tinte getaucht.» Die Herzogin lachte begeistert. «Bravo, Kleine, seit sechs Jahren fallen die Männer von halb Paris vor dieser Negerin in Ohnmacht! Ich glaube, sie machen sich über uns lustig. Da, sieh dir lieber die Gräfin de Lochrist an.» Die Gräfin saß allein mit ihrem weißen Pudel in einem Landauer und grüßte mit einem starren Lächeln auf den Lippen. Sie war zart wie eine Miniatur, eine von den Blonden mit braunen Augen, und ihre feinen Züge waren ebenfalls seit fünf oder sechs Jahren der Anlaß für bewundernde Äußerungen ihrer Anhänger. Aber Nanette zeigte sich auch von ihr nicht begeistert. «Oh», sagte sie schnippisch, «sie ist nicht mehr ganz so gu t erhalten.» Bertin, der für gewöhnlich in den täglich wiederkehrenden Diskussionen über diese beiden Rivalinnen nicht die Partei der Gräfin de Lochrist ergriff, wurde plötzlich ärgerlich über die Unduldsamkeit dieser vorlauten Göre. «Zum Teufel», sagte er, «ob man sie nun mehr oder weniger mag, sie ist einfach reizend, und ich wünsche dir, daß du einmal so hübsch wirst wie sie.» «Hören Sie auf», unterbrach ihn die Herzogin, «Sie schenken nur Frauen über dreißig Beachtung. Das Kind hat recht, Sie loben nur die, die ihre Frische bereits verloren haben.» Er rief: «Erlauben Sie, eine Frau wird erst in reifen Jahren wirklich schön, wenn sich ihre ganze Ausstrahlung zeigt.» Und er behauptete, die erste Frische sei nur der Lack, unter dem die Schönheit heranreife, und die Männer von Welt irrten sich nicht, wenn sie dem Glanz der Jugend keine Beachtung schenkten und die Frauen erst in der letzten Phase ihres Aufblühens für «schön» erklärten. Die Gräfin fühlte sich geschmeichelt und sagte leise: «Er hat recht, er urteilt als Künstler. Ein junges Gesicht ist zwar recht hübsch, aber immer etwas nichtssagend.» Der Maler beharrte auf seiner Meinung und beschrieb, in welchem Augenblick eine Gestalt, die nach und nach die unausgeprägte Anmut der Jugend verliert, ihre endgültige Form, ihren Charakter und ihre Gesichtszüge gewinnt.
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Und zu jedem Satz sagte die Gräfin mit einem entschiedenen Kopfnicken «ja»; und je mehr er es mit dem Feuer eines Anwalts, der einen Prozeß fuhrt, und der Erregung eines Beschuldigten, der seine eigene Sache verficht, bekräftigte, um so mehr gab sie ihm mit ihren Blicken und Gesten recht, als wären sie Verbündete im Kampf gegen eine Gefahr und müßten sich gegen eine bedrohliche und falsche Meinung zur Wehr setzen. Annette hörte ihnen nicht mehr zu, sie war völlig damit beschäftigt, alles um sich herum aufzunehmen. Ihr sonst meist lachendes Gesicht war ernst geworden, und sie schwieg in all dem Treiben, benommen vor Glück. Diese Sonne, diese aufbrechenden Knospen, diese Wagen, dieses ganze herrliche, reiche und heitere Leben, das alles, das war für sie da. Alle Tage würde sie hierher kommen können, und man würde sie kennen, grüßen und begehren. Und die Männer würden auf sie zeigen und vielleicht sagen, sie sei schön. Sie suchte diejenigen Damen und Herren heraus, die ihr am elegantesten erschienen, erkundigte sich nach ihren Namen und war ausschließlich mit dieser Anhäufung von Silben beschäftigt, die manchmal einen Widerhall des Respekts und der Bewunderung in ihr hervorriefen, weil sie sie schon in Zeitschriften und Geschichtsbüchern gelesen hatte. Sie konnte diese Parade von Berühmtheiten nicht fassen, und sie zweifelte fast daran, daß sie wirklich stattfand, und glaubte eher einer Theatervorstellung beizuwohnen. Die Droschken flößten ihr Abscheu und Ekel ein, sie mißfielen ihr und störten sie, und sie sagte unvermittelt: «Ich finde, man sollte hier nur herrschaftliche Wagen zulassen.» Bertin antwortete: «Ach ja, Mademoiselle! Und was soll dann aus der Gleichheit, der Freiheit und der Brüderlichkeit werden?» Sie rümpfte die Nase, was bedeuten sollte: «Die sind für die andern», und schlug vor: «Man könnte den Droschken einen Extrapark zuweisen, zum Beispiel den von Vincennes.» «Du lebst hinter dem Mond, Kleines, du hast noch nicht begriffen, daß wir uns mitten in einer Demokratie bewegen. Im übrigen, wenn du den Bois ohne dieses störende Gemisch sehen willst, dann komm am Morgen, da wirst du nur die Blüte, die edle Blüte der Gesellschaft antreffen."
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Und er zeichnete eines jener Bilder, die ihm so unnachahmlich gelangen, das Bild des morgendlichen Bois, mit seinen Reitern und Amazonen, diesen Club der Auserwählten, in dem jeder jeden kennt, seinen Namen und seinen Vornamen, seine Verwandtschaft, seine Titel, seine Tugenden und Laster, gerade als ob man im selben Stadtviertel oder in derselben kleinen Stadt wohnte. «Gehen Sie dort häufig hin?» fragte sie. «Sehr häufig, das ist wirklich das größte Vergnügen, das man in Paris haben kann.» «Sie reiten morgens aus?» «Aber sicher.» «Und nachmittags, da machen Sie Besuche?» «Ja.» «Und wann arbeiten Sie dann?» «Nun, ich arbeite... ab und zu, und ich habe mir ja schließlich auch eine Tätigkeit nach meinem Geschmack ausgesucht! Da ich der Maler der schönen Damenwelt bin, gehört es zu meiner Arbeit, daß ich sie beobachte und ihr immer ein wenig nahe bin.» Sie sagte leise, ohne dabei zu lachen: «Zu Fuß und zu Pferd?» Er warf ihr heimlich einen zufriedenen Blick zu, der zu sagen schien: «Sieh an, sieh an, schon so geistreich, du wirst sehr gut werden, Kleine.» Ein kühler Windstoß kam von weit her über die noch kaum wiedererwachte Landschaft, und der ganze Bois fröstelte, dieser eitle, verfrorene, mondäne Bois. Einige Sekunden lang zitterten die spärlichen Blätter an den Bäumen und die Stoffe über den Schultern unter diesem kühlen Hauch. Die Damen nahmen alle mit fast derselben Bewegung ihre heruntergefallenen Schals und Umhänge auf und legten sie um ihre Arme und ihren Hals, und die Pferde begannen die Allee entlangzutraben, als hätte der herannahende schneidende Wind sie mit seiner Berührung gepeitscht. Rasch fuhr man heim, unter dem silbernen Klang der hin und her schwenkenden Kinnketten und dem flach einfallenden roten Lichtschwall der sinkenden Sonne.
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«Kehren Sie nach Hause zurück?» fragte die Gräfin den Maler, dessen Gewohnheiten sie in- und auswendig kannte. «Nein, ich gehe in den Club.» «Sollen wir Sie dort im Vorbeifahren absetzen?» «Das wäre mir lieb, vielen Dank.» «Und wann laden Sie uns mit der Herzogin zusammen zum Abendessen ein?» «Schlagen Sie einen Tag vor.» Dieser von den Pariserinnen zu ihrem Porträtisten ernannte Maler, den seine Bewunderer «einen realistischen Watteau» getauft hatten und seine Verächter «den Photographen der Roben und Mäntel» nannten, empfing zum Mittag- oder Abendessen häufig die Schönheiten, deren Züge er abgebildet hatte, und daneben auch die andern berühmten und bekannten Schönen, und alle fanden großen Gefallen an den kleinen Festen im Haus des Junggesellen. «Übermorgen, ist Ihnen übermorgen recht, verehrte Herzogin?» fragte Madame de Guilleroy. «Aber sicher, wie freundlich von Ihnen! Monsieur Bertin denkt von sich aus nie daran, mich zu diesen Gesellschaften einzuladen. Daran kann man sehen, daß ich nicht mehr jung bin.» Die Gräfin, die sich daran gewöhnt hatte, das Haus des Künstlers ein wenig als das ihre zu betrachten, erwiderte: «Aber nur wir vier, wir vier hier im Landauer, die Herzogin, Annette, ich und Sie, nicht wahr, großer Künstler?» «Niemand sonst», sagte er beim Aussteigen, «und ich werde Ihnen Krebse auf elsässische Art bereiten lassen.» «Oh, Sie werden die Kleine auf den Geschmack bringen.» Er stand vor dem Kutschenschlag und verabschiedete sich, dann ging er eilig durch die Eingangstür des Clubs in die Vorhalle, warf seinen Überzieher und seinen Mantel in das Heer der Lakaien, die aufgesprungen waren wie Soldaten, wenn ein Offizier vorübergeht, stieg dann die breite Treppe hinauf, vorbei an einer weiteren Brigade von Dienern in kurzen Hosen, stieß eine Tür auf und fühlte sich mit einem Schlag munter wie ein junger Mann, als ihm vom Ende des Flurs der anhaltende Lärm der klirrenden Degen, der Ausfallschritte
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und der von lauten Stimmen ausgestoßenen Ausrufe: «Touche - für mich - passe - bin bereit - touche - für Sie» entgegenkam. Er betrat den Fechtsaal, in dem Fechter in ihren grauen Leinenanzügen, mit ledernen Jacken, einer Art Schürze vor dem Oberkörper und unten an den Knöcheln zusammengebundenen Hosen fochten; den einen Arm hielten sie mit abgewinkelter Hand in der Luft, und in der andern Hand, die durch den Handschuh riesenhaft vergrößert war, führten sie das dünne, biegsame Florett, und ihre Ausfälle und Rückzüge wirkten wie die ruckartigen Bewegungen mechanischer Puppen. Andere ruhten sich aus und plauderten, immer noch außer Atem, mit gerötetem Gesicht und schweißbedeckt, sie hielten Taschentücher in der Hand, um sich Hals und Nacken abzuwischen. Wieder andere saßen auf den gepolsterten Bänken, die im Viereck an den Wänden des großen Saals entlang verliefen, und beobachteten die Fechtgänge: Liverdy gegen Landa und der Fechtmeister Taillade gegen den großen Rocdiane. Bertin, der sich hier zu Hause fühlte, schüttelte lächelnd Hände. «Ich fordere Sie auf», rief ihm der Baron de Baverie zu. «Ich stehe zu Ihrer Verfügung.» Und er ging ins Umkleidezimmer, um sich fertig zu machen. Seit langem hatte er sich nicht mehr so leicht und kraftvoll gefühlt. Er ahnte, daß er einen ausgezeichneten Durchgang machen würde, und beeilte sich, ungeduldig wie ein Schuljunge, der spielen darf. Als er seinen Gegner vor sich hatte, griff er ihn mit ungeheurer Heftigkeit an, und nach zehn Minuten hatte er ihn mit elf Treffern so sehr ermüdet, daß der Baron um Gnade bat. Danach zog er noch gegen Punisimont und gegen seinen Kollegen Amaury Maldant. Die kalte Dusche danach, die seine dampfende Haut frösteln ließ, erinnerte ihn an seine Badevergnügen, als er zwanzig war. Damals machte er mitten im Herbst von den Seine-Brücken der Vororte Kopfsprünge in den Fluß, um die braven Bürger zu schockieren. «Ißt du hier zu Abend?» fragte Maldant. «Ja.»
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«Wir haben einen Tisch mit Liverdy, Rocdiane und Landa. Beeil dich, es ist Viertel nach sieben.» Der volle Speisesaal dröhnte von den vielen Männerstimmen. Hier fanden sich alle Nachtschwärmer von Paris ein, die Müßiggänger und die Vielbeschäftigten, alle die, die nach sieben Uhr abends nicht mehr wissen, was sie tun sollen, und die im Club essen, um vielleicht dank einer zufälligen Begegnung noch irgend etwas oder irgend jemanden zu finden, mit dem sie den Abend verbringen können. Als sich die fünf Freunde gesetzt hatten, sagte der Bankier Liverdy, ein vierzigjähriger kräftiger, untersetzter Mann, zu Bertin: «Sie waren heute abend aber in Fahrt.» Der Maler antwortete: «Ja, heute könnte ich Bäume ausreißen.» Die andern lachten, und der Landschaftsmaler Amaury Maldant, ein kleiner Magerer, Kahlköpfiger, mit grauem Bart, sagte feinsinnig: «In mir steigen im April auch immer die Säfte hoch, dann bringe ich ein paar Blätter hervor, vielleicht ein halbes Dutzend, nicht mehr, und dann verliert sich alles in Gefühl, es trägt niemals Früchte.» Der Marquis de Rocdiane und der Graf de Landa bedauerten ihn. Obwohl sie beide älter waren als er, hätte doch kein noch so geübtes Auge ihr Alter feststellen können; als Clubangehörige ritten und fochten sie täglich und stählten ihre Körper durch diese Übungen; sie rühmten sich, in jeder Beziehung jünger zu sein als diese nervösen Burschen der neuen Generation. Rocdiane stammte aus einer guten Familie und war in allen Salons zu Hause, aber er stand im Verdacht, in verschiedene dunkle Geldgeschäfte verwickelt zu sein, was weiter nicht verwunderte, wie Bertin sagte, wo er so lange Zeit in Spielsälen zugebracht habe; er war verheiratet, lebte getrennt von seiner Frau, die ihm eine Rente zahlte, war Bevollmächtigter verschiedener belgischer und portugiesischer Banken und trug auf seinem energischen Don-Quichotte-Gesicht die etwas zweifelhafte Ehrenhaftigkeit eines Mannes zur Schau, der sich häufig in Händel verstricken läßt, die nur durch einen Blutstropfen im Duell zu bereinigen sind. Der Graf de Landa, ein gutmütiger Riese, der auf seine schmale Taille und seine breiten Schultern stolz war, konnte sich, obwohl
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verheiratet und Vater zweier Kinder, höchstens dreimal in der Woche dazu entschließen, zu Hause zu Abend zu essen, die übrigen Tage blieb er nach den Fechtgängen mit seinen Freunden zusammen im Club. «Der Club ist wie eine Familie», sagte er, «die Familie derjenigen, die noch keine haben, derjenigen, die nie eine haben werden, und derjenigen, die sich in der ihrigen langweilen.» Die Unterhaltung ging zunächst allgemein über die Frauen, dann erzählte man sich Anekdoten, wechselte von Anekdoten zu Erinnerungen, von Erinnerungen zu Aufschneidereien und landete schließlich bei indiskreten Bekenntnissen. Der Marquis de Rocdiane ließ durch genaue Beschreibungen durchblicken, wer seine Mätressen waren, Damen der Gesellschaft, deren Namen er nicht nannte, um das Vergnügen des Ratens zu erhöhen. Der Bankier Liverdy nannte die seinen mit ihren Vornamen. Er erzählte zum Beispiel: «Ich hatte damals eine Beziehung zur Frau eines Diplomaten. Eines Abends, als ich sie verließ, sagte ich zu ihr: «Meine kleine Marguerite...» Unter dem Gelächter der andern unterbrach er sich und fuhr dann fort: «Ach, ich hab' mich verraten. Man sollte sich angewöhnen, alle Frauen ‹Sophie› zu nennen.» Olivier Bertin verhielt sich bei diesen Gesprächen immer sehr zurückhaltend, und wenn er gefragt wurde, pflegte er zu antworten: «Ich..., mir genügen meine Modelle.» Sie taten so, als glaubten sie ihm, und Landa, der ein harmloser Schürzenjäger war, geriet bei dem Gedanken an all die hübschen Leckerbissen, die auf den Straßen herumspazieren, und an all die jungen Persönchen, die sich für zehn Francs in der Stunde nackt vor dem Maler auszogen, ins Schwärmen. Diese Graubärte, wie sie von den Jüngeren im Club genannt wurden, diese Graubärte gerieten zunehmend in Feuer, je mehr Flaschen sie leerten, ihre Gesichter röteten sich, und sie wurden von wiedererweckten Wünschen und brodelnden Begierden heimgesucht. Nach dem Kaffee kam Rocdiane mit seinen indiskreten Äußerungen der Wahrheit näher, er sprach nicht mehr von den Damen der Gesellschaft, sondern feierte die Damen der Halbwelt.
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«Paris», sagte er, ein Glas Kümmel in der Hand, «ist die einzige Stadt, in der ein Mann, vorausgesetzt, er ist rüstig und wohlerhalten, auch noch mit fünfzig Jahren eine achtzehnjährige Dirne für die Liebe findet, die hübsch ist wie ein Engel.» Landa, der seinen alten Rocdiane nun wiedererkannte nach den Schnäpsen, stimmte ihm begeistert zu und zählte alle kleinen Dinger auf, die ihn noch täglich anbeteten. Aber Liverdy, der skeptischer war und behauptete, genau zu wissen, was man von Frauen zu halten habe, gab leise zu bedenken: «Ja, sie sagen es, daß sie Sie anbeten.» Landa erwiderte: «Sie beweisen es mir, mein Lieber.» «Diese Beweise besagen nichts.» «Sie genügen mir.» Rocdiane rief laut: «Aber sie denken es wirklich, Teufel noch mal. Glauben Sie, daß eine hübsche kleine zwanzigjährige Dirne, die schon seit fünf oder sechs Jahren in diesem Freudengeschäft ist, in diesem Pariser Freudentempel, in dem unser aller Schnurrbärte ihr die Lust am Küssen beigebracht und verleidet haben, daß sie noch einen Mann von dreißig Jahren von einem Mann von sechzig Jahren unterscheiden kann? Ach was, was für ein Humbug! Sie hat zu viele gesehen und zu viele kennengelernt. Hören Sie, ich wette, daß sie einen alten Bankier mehr liebt, wirklich von Herzen liebt, als einen jungen Stutzer. Ob sie das weiß? Ob sie sich darüber Gedanken macht? Haben die Männer dabei ein Alter? Ach, mein Lie ber, wir andern, wir verjüngen uns, wenn wir weiße Haare bekommen, und je weißer sie werden, um so häufiger bekommen wir zu hören, daß man uns liebt, immer häufiger zeigt man es uns, und um so mehr glauben wir es.» Mit hochroten Köpfen, vom Alkohol angefeuert, erhoben sie sich von der Tafel, bereit zu jeder Eroberung, und sie begannen zu beratschlagen, was sie mit dem Abend anfangen sollten; Bertin schlug den Zirkus vor, Rocdiane die Pferdebahn, Maldant das «Eden» und Landa die «Folies-Bergére». Da hörten sie plötzlich leise und aus der Ferne, wie Geigen gestimmt wurden. «Sieh an, heute abend gibt es Musik im Club», bemerkte Rocdiane.
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«Ja», antwortete Bertin, «wie wär's, wenn wir erst zehn Minuten zuhörten, ehe wir aufbrechen?» «Gut, gehen wir hin.» Sie durchquerten einen Salon, den Billardsaal, einen Spielsaal und gelangten zu einer Art Loge über dem Podium der Musiker. Vier Herren warteten hier, in ihre Sessel versunken, mit andächtiger Miene, während sich unten in den fast leeren Rängen ein Dutzend andere sitzend oder stehend unterhielten. Der Konzertmeister schlug mit seinem Bogen einige Male leise auf sein Pult: Man begann. Olivier Bertin liebte die Musik aus demselben Grund, aus dem man Opium liebt: Sie brachte ihn zum Träumen. Sobald ihn der warme Klang der Instrumente erreichte, fühlte er sich von einer Art nervösem Taumel erfaßt, der seinen Körper und seinen Geist in eine unbegreifliche Schwingung versetzte. Seine Einbildungskraft, trunken von den Melodien, gebärdete sich wie eine Wahnsinnige und weckte sanfte Träume und angenehme Phantasien. Mit geschlossenen Augen, übereinandergeschlagenen Beinen und schlaff herunterhängenden Armen lauschte er den Klängen und sah Bilder vor seinem inneren Auge und seinem Geist vorüberziehen. Das Orchester spielte eine Symphonie von Haydn, und sobald der Maler seine Augenlider schloß, sah er wieder den Bois vor sich, das Gedränge der Wagen und im Landauer, sich gegenüber, die Gräfin und ihre Tochter. Er hörte ihre Stimmen, folgte ihren Worten, spürte die Bewegung des Wagens und atmete die vom Duft der Blätter erfüllte Luft. Dreimal unterbrach sein Nachbar mit einer Bemerkung diese Vision, und dreimal kehrte sie wieder, so wie nach einer Ozeanüberquerung die Schaukelbewegung des Schiffs abends im ruhigen Bett wiederkehrt. Sie weitete sich aus und mündete in eine lange Reise in ferne Gegenden, immer mit den beiden Frauen gegenüber, bald in der Eisenbahn, bald an der Tafel fremder Hotels. Während der ganzen Dauer des Konzerts begleiteten sie ihn, so als ob sie ihm während dieser Spazierfahrt im hellen Sonnenschein das Bild ihrer beiden
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Gesichter eingeprägt in den Hintergrund seines Auges zurückgelassen hätten. Ein kurzes Schweigen und das darauf folgende Geräusch von Stühlerücken und Stimmen vertrieben den flüchtigen Traum, und er erblickte neben sich seine vier schlummernden Freunde in der unschuldigen Haltung derer, die beim aufmerksamen Zuhören eingeschlafen sind. Als er sie geweckt hatte, fragte er: «Und was machen wir jetzt?» «Ich habe Lust, hier noch ein wenig zu schlafen», antwortete Rocdiane ehrlich. «Ich auch», sagte Landa. Bertin erhob sich: «Gut, und ich gehe nach Hause, ich bin etwas erschöpft.» Er fühlte sich im Gegenteil sehr angeregt, aber er wollte gerne gehen, weil er das nur allzu bekannte Ende dieser Abende am Bakkarattisch des Clubs fürchtete. Er ging also nach Hause, und nach einer unruhigen Nacht, einer jener Nächte, die die Künstler in einen Zustand geistiger Erregung versetzen, den man Inspiration nennt, beschloß er, nicht auszugehen und bis zum Abend zu arbeiten. Er hatte einen hervorragenden Tag, einen jener Tage, an denen das Schaffen leichtfällt, und er hatte das Gefühl, der Einfall führe seine Hände und banne sich selbst auf die Leinwand. Bei geschlossenen Türen, abgeschieden von der Welt, in der Ruhe des Hauses, zu dem niemand Zutritt hatte, im geliebten Frieden des Ateliers, mit frischem Blick und klarem Kopf, hochgespannt und hellwach, genoß er das Glück, das einzig und allein Künstlern geschenkt wird, das Glück, ihr Werk jubelnd zu erschaffen. Er vergaß alles um sich herum, für ihn existierte nur noch dieses Stück Leinwand, auf dem unter seinen sanften Pinselstrichen ein Bild geboren wurde, und er empfand in diesen entscheidenden Augenblicken schöpferischer Tätigkeit ein merkwürdiges und wohltuendes Gefühl überströmenden, rauschhaft sich ergießenden Lebens. Am Abend war er zerschlagen wie nach einer gesunden
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Strapaze, und er ging mit dem angenehmen Gedanken an seine morgige Einladung zu Bett. Der Tisch war mit Blumen geschmückt und das Essen ausgesucht gut, denn Madame de Guilleroy war eine Feinschmeckerin. Der Maler nötigte seine Gäste nach heftigem, aber kurzem widerstand dazu, Champagner zu trinken. «Die Kleine wird betrunken werden», sagte die Gräfin. Die Herzogin erwiderte milde: «Mein Gott, einmal muß es das erste Mal sein.» Als man ins Atelier hinüberging, waren alle ein wenig angeregt von dieser leichten Ausgelassenheit, die beschwingt, als wären einem Flügel an den Füßen gewachsen. Die Herzogin und die Gräfin, die eine Sitzung im Komitee der Mütter Frankreichs hatten, wollten das junge Mädchen nach Hause zurückbringen, ehe sie dorthin gingen, da bot sich Bertin an, Annette bei einem kleinen Spaziergang zum Boulevard Malesherbes zurückzubegleiten, und die beiden brachen auf. «Lassen Sie uns einen möglichst langen Weg machen», sagte sie. «Möchtest du ein wenig im Park Monceau herumschlendern? Das ist ein sehr hübscher Ort; wir können dort den kleinen Kindern und ihren Kinderfrauen zusehen.» «Aber ja, sehr gern.» Sie durchschritten von der Rue de Velazquez aus das großartige, vergoldete Gittertor, Wahrzeichen und Zugang zu diesem Kleinod eines eleganten Parks, der mitten in Paris, umgeben von einem Gürtel fürstlicher Palais, seinen künstlichen, grünenden Charme entfaltet. Entlang der breiten Wege, die zwischen den Rasenflächen und dem Gebüsch in kunstvollen Windungen verlaufen, sitzen zahlreiche Damen und Herren auf kleinen Eisenstühlen und beobachten die vorüberziehenden Passanten, während sich auf den schmalen Wegen unter den Büschen, die sich wie kleine Bäche dahinschlängeln, ein Heer von Kindern unter den schläfrigen Augen der Kindermädchen oder den beunruhigten Blicken der Mütter im Sand tummelt, Fangen spielt oder Seil hüpft. Große hohe Bäume, die sich wie ein Gebäude aus Blattwerk zu Kuppeln schließen, riesige Kastanienbäume, deren
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dunkles Laub übersät ist mit weißen und roten Blütenkerzen, vornehme Sykomoren und dekorative Platanen mit kunstvoll gestutzten Stämmen zieren in einladenden Ausblicken die großen welligen Rasenflächen. Es ist warm, die Tauben gurren in den Zweigen und verständigen sich von Wipfel zu Wipfel, während die Spatzen in einem Regenbogen baden, den die Sonne im Wasserstaub der Rasensprenger, die das frische Gras übersprühen, aufleuchten läßt. Die weißen Statuen auf ihren Sockeln wirken glücklich in dieser grünen Frische. Ein junger marmorner Knabe zieht sich einen unauffindbaren Dorn aus seinem Fuß, so als ob er ihn sich gerade eben erst eingetreten hätte, als er Diana nachjagte, die nun da hinten zu dem kleinen von Gebüsch umschlossenen See entflieht, wo sich die Ruine eines Tempels verbirgt. Andere Statuen umarmen sich verliebt und kalt am Rande der Büsche oder träumen mit auf den Knien aufgestützten Händen vor sich hin. Ein Wasserfall fällt schäumend über hübsche Felsen. Ein wie ein Säulenschaft abgebrochener Baumstumpf ist von Efeu überwuchert; ein Grabmal trägt eine Inschrift. Die über den Rasen verteilten Säulenreste erinnern ebensowenig an die Akropolis, wie dieser elegante kleine Park an einen Urwald erinnert. Dies hier ist ein künstlich geschaffener, bezaubernder Ort, den die Städter aufsuchen, um Blumen zu betrachten, die in Gewächshäusern gezogen wurden, und um so, wie im Theater das Schauspiel des Lebens, diese liebenswerte Zurschaustellung der schönen Natur mitten in Paris zu bewundern. Olivier Bertin besuchte seit Jahren fast täglich diesen Ort, seinen Lieblingsort, um dort die Pariserinnen in dem für sie wie geschaffenen Rahmen zu beobachten. «Es ist ein Park für erlesene Toiletten», pflegte er zu sagen, «schlecht angezogene Menschen erregen hier Abscheu.» Und er wandelte oft stundenlang dort herum und kannte alle Pflanzen und alle Besucher, die häufiger hierher kamen. Er ging an der Seite Annettes die Wege entlang, und sein Auge wurde durch das buntgemischte und lebhafte Treiben des Parks gefangengenommen. «Oh, wie süß», rief sie plötzlich.
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Ihr Blick war auf einen kleinen Jungen mit blonden Locken gefallen, der sie mit seinen blauen Augen erstaunt und vergnügt ansah. Nun musterte sie ein Kind nach dem andern, und der Anblick dieser lebendigen, bebänderten Puppen machte ihr solchen Spaß, daß sie gesprächiger und mitteilsamer wurde. Sie ging mit kleinen Schritten und teilte Bertin ihre Beobachtungen mit, ihre Betrachtungen über die Kleinen, die Kinderfrauen und ihre Mütter. Die rundlichen Kinder entlockten ihr freudige Ausrufe, und die blassen erweckten ihr Mitleid. Er hörte ihr zu, und sie amüsierte ihn mehr als die Kleinen, aber in Gedanken bei seiner Malerei, sagte er leise: «Das ist köstlich», und er überlegte, daß er ein wunderbares Bild malen könnte mit einer Ecke des Parks und einer bunten Schar von Ammen, Müttern und Kindern. Warum hatte er daran nicht schon längst gedacht? «Magst du diese kleinen Schlingel?» «Ich vergöttere sie.» Er sah ihr zu, wie sie die Kinder beobachtete, und er spürte, daß sie Lust hatte, sie in die Arme zu nehmen, sie abzuküssen und mit ihnen zu spielen, die sinnliche, zärtliche Lust der zukünftigen Mutter; und er war verwundert über den heimlichen Instinkt, der sich in diesem Frauenkörper verbarg. Da sie in der Stimmung war zu plaudern, fragte er sie nach ihren Zukunftsplänen. Sie gestand mit einer süßen Naivität, daß sie auf Erfolge und Ruhm in der Gesellschaft hoffe, und sie wünschte sich schöne Pferde; damit kannte sie sich wie ein Pferdehändler aus, denn auf einem Teil der Höfe von La Roncieres wurde Pferdezucht betrieben. Um einen Verlobten machte sie sich nicht mehr Sorgen, als man sich um eine Wohnung macht, in der Gewißheit, daß man unter den angebotenen Etagen immer eine zum Mieten finden wird. Sie kamen an den Teich, auf dem zwei Schwäne und sechs Enten ruhig ihre Bahnen zogen, so exakt und still wie Porzellanvögel, und sie gingen an einer jungen Frau vorbei, die mit einem geöffneten Buch auf den Knien auf einem Stuhl saß und mit leeren Augen vor sich hin blickte, während ihre Seele in einem Traum dahinflog.
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Sie saß unbeweglich wie eine Wachsfigur. Vielleicht eine Hauslehrerin, häßlich, dürftig, gekleidet wie ein junges Mädchen, das nicht daran denkt zu gefallen; sie war aufgebrochen in die Welt der Träume, davongetragen von einem Satz oder Wort, die ihr Herz verzaubert hatten. Sicherlich träumte sie das im Buch begonnene Abenteuer auf den Spuren ihrer Hoffnungen weiter. Bertin blieb überrascht stehen: «Das ist wunderbar, so entrückt zu sein», sagte er. Sie waren schon an ihr vorbeigegangen. Sie kehrten um und kamen noch einmal zu ihr zurück, ohne daß sie es bemerkte, denn sie folgte mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit dem weiten Flug ihrer Gedanken. Der Maler sagte zu Annette: «Sag mal, Kleines, würde es dich sehr langweilen, mir ein- oder zweimal Modell zu sitzen?» «Aber nein, ganz im Gegenteil.» «Schau dir dieses Fräulein genau an, das da in seiner Traumwelt weilt.» «Da, diese auf dem Stuhl?» «Ja, genau! Und du sollst dich genauso wie sie auf einen Stuhl setzen, ein geöffnetes Buch auf deinen Knien halten und versuchen, so wie sie auszusehen. Hast du auch schon manchmal im Wachen geträumt?» «Aber sicher.» «Wovon?» Und er versuchte, sie zu Bekenntnissen über ihre Ausflüge in die Welt der Träume zu bewegen; aber sie wollte nicht antworten, wich seinen Fragen aus, schaute zu, wie die Enten hinter dem Brot herschwammen, das ihnen eine Dame zuwarf, und schien verlegen; offenbar hatte er einen empfindlichen Punkt in ihr berührt. Um das Thema zu wechseln, erzählte sie ihm von ihrem Leben in Roncieres, sprach von ihrer Großmutter, der sie jeden Tag lange Stunden vorgelesen hatte und die nun sehr allein und traurig sein mußte. Der Maler hörte ihr zu und fühlte sich dabei so munter wie ein Vogel, munter, wie er noch nie zuvor gewesen war. Alles, was sie ihm
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erzählte, alle die kleinen, flüchtigen, belanglosen Einzelheiten dieses schlichten Mädchendaseins machten ihm Spaß und interessierten ihn. «Setzen wir uns doch ein wenig», sagte er. Sie setzten sich ans Wasser, und die beiden Schwäne kamen heran und schwammen vor ihnen auf und ab, weil sie auf Futter hofften. Bertin fühlte, wie in ihm Erinnerungen hochstiegen, verschwundene Erinnerungen, die im Vergessen versunken sind und plötzlich, man weiß nicht, warum, wiederkehren. Sie stiegen rasch empor, verschiedenartig, zahlreich und gleichzeitig, so daß er den Eindruck hatte, eine Hand rühre im Gefäß seiner Erinnerung. Er versuchte, den Ursachen für dieses Aufwallen seiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Er hatte es schon früher manchmal empfunden und bemerkt, aber weniger heftig als heute. Es gab immer einen Auslöser für diese plötzlichen Beschwörungen, einen konkreten, einfachen Anlaß, häufig einen Duft, ein Parfüm. Wie oft hatte das Kleid einer vorübergehenden Dame mit dem Hauch seines flüchtigen Geruchs die Erinnerung an vergessene Ereignisse geweckt! Und auch in den Resten alter Parfümflacons hatte er schon Stücke seiner Vergangenheit entdeckt. Alle diese umherwehenden Düfte, die der Straßen, der Felder, der Häuser, der Möbel, angenehme und schlechte, der heiße Duft der Sommerabende und der kühle Duft der Winterabende, frischten verblaßte Erinnerungen wieder auf, gerade so, als ob die Gerüche in sich die vergangenen Dinge einbalsamiert aufbewahrten wie in Wohlgerüchen einbalsamierte Mumien. War es das feuchte Gras oder der Duft der Kastanienblüten, die die früheren Zeiten wieder zum Leben erweckten? Nein. Was also dann? Waren es vielleicht seine Augen, die ihn aufgeschreckt hatten? Was hatte er gesehen? Nichts. Vielleicht glich jemand, den er heute getroffen hatte, einer Gestalt von früher und brachte, ohne daß er sie erkannt hatte, in seinem Herzen alle Glocken der Vergangenheit zum Klingen. Oder hatte vielleicht doch nur ein Ton die Erinnerung wachgerufen? Häufig schon hatte ihn ein zufälliges Klavierspiel, eine unbekannte Stimme, selbst eine Drehorgel, die auf irgendeinem Platz ein veraltetes Lied spielte, plötzlich um zwanzig Jahre zurückversetzt und seine Brust mit längstvergessener Rührung erfüllt.
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Aber der Ruf der Erinnerung hielt ununterbrochen an, ungreifbar und fast beunruhigend. Was war in seiner Umgebung, in seiner Nähe, das auf diese Weise seine erloschenen Gefühle wieder entzündete? «Es wird etwas kühl, laß uns weitergehen», sagte er. Sie standen auf und setzten ihre Runde fort. Auf den Bänken sah er die armen Leute sitzen, diejenigen, für die die Stuhlmiete eine zu teure Ausgabe bedeutete. Annette sah sie jetzt auch und machte sich Gedanken über ihr Auskommen und ihren Beruf, und sie wunderte sich, daß Menschen, die so bettelarm aussahen, in diesen schönen öffentlichen Park zum Ausruhen kamen. Und mehr noch als vor wenigen Augenblicken stieg in Olivier die Erinnerung an die verstrichenen Jahre auf. Er meinte eine Fliege um seine Ohren summen zu hören, die diese mit dem wirren Gebrumm der endgültig vergangenen Tage erfüllte. Das junge Mädchen bemerkte, daß er nachdenklich war, und fragte ihn: «Was haben Sie? Sie wirken so traurig.» Und er erschauerte bis ins Innerste. Wer hatte das gefragt? Sie oder ihre Mutter? Nicht ihre Mutter mit ihrer Stimme von heute, sondern mit der von früher, die sich inzwischen so verändert hatte, daß es ihm gerade noch gelang, sie wiederzuerkennen. Er antwortete lächelnd: «Ich habe nichts, es ist schön mit dir, du bist sehr lieb, du erinnerst mich an deine Mutter.» Warum hatte er dieses sonderbare Echo der einst so vertrauten Stimme, das nun von diesen jungen Lippen zurückkam, nicht früher erkannt? «Erzähl weiter», sagte er. «Wovon?» «Erzähl mir, was dir deine Lehrerinnen beigebracht haben. Hast du sie gern gehabt?» Sie plauderte weiter.
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Er hörte zu und wurde von wachsender Unruhe ergriffen. Er suchte, er erwartete in den Sätzen dieses jungen Mädchens, das ihm fast fremd war, ein Wort, einen Ton, ein Lachen, das seit der Jugend ihrer Mutter in ihrer Kehle zurückgeblieben zu sein schien. Bei manchen Klängen zuckte er erschrocken zusammen. Sicher gab es Unterschiede in ihren Stimmen, deshalb hatte er die Ähnlichkeit auch nicht gleich erkannt, und deshalb konnte er sie häufig auch sehr genau auseinanderhalten; aber diese Unterschiede machten die unerwartete Wiederkehr der mütterlichen Stimme nur noch aufregender. Bisher hatte er mit einem freundschaftlichen und erstaunten Auge die Ähnlichkeit ihrer Gesichter festgestellt, aber jetzt verquickte das Wunder dieser wiedererstandenen Stimme beide auf eine solche Weise, daß er sich, als er den Kopf abwandte, um das Mädchen nicht zu sehen, für Augenblicke fragte, ob es nicht die Gräfin sei, zwölf Jahre früher, die mit ihm redete. Sie hatten die Runde im Park schon dreimal gemacht und dabei immer wieder dieselben Leute, dieselben Ammen und dieselben Kinder gesehen. Annette begann nun die Palais, die den Park umgaben, zu mustern und erkundigte sich nach den Namen ihrer Bewohner. Sie wollte alles über alle diese Leute wissen, fragte mit unersättlicher Neugier und schien ihr weibliches Gedächtnis mit Informationen zu füttern; ihr Gesicht leuchtete vor Interesse, und sie hörte sowohl mit den Augen wie mit den Ohren zu. Doch als sie am Pavillon angelangt waren, der zwischen den beiden Toren zum äußeren Boulevard hegt, bemerkte Bertin, daß es gleich vier Uhr schlagen würde. «Oh», sagte er, «wir müssen nach Hause.» Und gemächlich schlenderten sie zum Boulevard Malesherbes. Als er das Mädchen verlassen hatte, ging er zur Place de la Concorde hinunter, um auf dem anderen Seine-Ufer einen Besuch zu machen. Er fühlte sich so leicht und sang vor sich hin, am liebsten wäre er gerannt und über Bänke gesprungen. Paris erschien ihm strahlend, schöner als je zuvor. «Offensichtlich verleiht der Frühling allem neue Farben», dachte er.
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Er durchlebte eine jener Stunden, in der der erregte Geist alles mit mehr Lust aufnimmt, in der das Auge besser sieht und beeindruckbarer und schärfer zu sein scheint, in der man ein lebhafteres Vergnügen empfindet zu beobachten und zu fühlen, als habe eine allmächtige Hand gerade alle Farben der Welt erneuert, alle Regungen der Geschöpfe wiederbelebt und unser Wahrnehmungsvermögen wie eine stehengebliebene Uhr wieder in Schwung gebracht. Sein Blick sammelte tausend köstliche Dinge auf, und er dachte: «Kaum zu glauben, daß es Augenblicke gibt, in denen ich keine Motive finde.» Und er gewann eine so freie und klare Sicht auf alles, daß ihm sein ganzes bisheriges künstlerisches Schaffen sinnlos erschien und er eine neue, viel wahrere und ursprünglichere Art, das Leben darzustellen, vor sich sah. Mit einemmal packte ihn die Lust, nach Hause zurückzugehen und zu arbeiten, und er drehte auf der Stelle um, um sich in seinem Atelier einzuschließen. Aber als er dann alleine vor dem angefangenen Bild stand, da erlosch plötzlich die Begeisterung, die eben noch in ihm glühte. Er fühlte sich erschöpft, setzte sich auf sein Sofa und begann, wieder seinen Träumen nachzuhängen. Die heitere Unbekümmertheit, in der er lebte, diese Sorglosigkeit eines zufriedengestellten Mannes, dessen Bedürfnisse fast alle gestillt sind, verlor sich ganz allmählich, als fehle ihm irgend etwas. Sein Haus schien ihm leer und sein Atelier verlassen. Als er sich im Raum umsah, glaubte er, den Schatten einer Frau vorbeigleiten zu sehen, deren Gegenwart ihm wohltat. Seit langer Zeit hatte er nicht mehr die Ungeduld des Liebhabers empfunden, der auf die Rückkehr seiner Geliebten wartet, aber nun auf einmal litt er darunter, daß sie nicht da war, und er sehnte sie mit der Erregung eines jungen Mannes herbei. Bei dem Gedanken, wie sehr sie sich geliebt hatten, überkam ihn Rührung, und er fand überall in dem großen Raum, in den sie so oft gekommen war, unzählige Erinnerungen an sie, an ihre Bewegungen, ihre Worte und ihre Küsse. Bestimmte Tage, bestimmte Stunden, bestimmte Augenblicke fielen ihm ein, und rings um sich fühlte er den Hauch ihrer einstigen Liebkosungen.
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Er stand auf, weil er nicht mehr länger stillsitzen konnte, und begann auf und ab zu gehen, dabei wurde ihm erneut klar, daß er trotz dieser Beziehung, die sein Leben ausgefüllt hatte, doch sehr alleine geblieben war, immerzu alleine. Wenn er nach vielen Stunden Arbeit aufsah, benommen von diesem Erwachen, das den Menschen ins Leben zurückführt, dann sah und fühlte er in Reichweite seiner Hände und seiner Stimme nur Wände. Da keine Frau bei ihm im Hause lebte und er diejenige, die er liebte, nur unter den Vorkehrungen eines Diebs treffen konnte, mußte er sich in seinen Mußestunden an all den öffentlichen Orten herumtreiben, wo man die Dinge findet oder kaufen kann, die helfen, die Zeit totzuschlagen. Er hatte die Gewohnheit, zu festgesetzten Tagen den Club, den Zirkus und die Pferdebahn zu besuchen, die Gewohnheit, in die Oper zu gehen, Gewohnheiten allenthalben, nur um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen, wo er bestimmt mit Freuden geblieben wäre, wenn er dort mit ihr hätte zusammenleben können. Früher hatte er in gewissen Stunden zärtlicher Verwirrung fürchterlich darunter gelitten, daß er sie nicht zu sich holen und bei sich behalten konnte; dann hatte sich seine Glut gelegt, und er hatte ohne Widerstände ihr getrenntes Leben und seine Freiheit akzeptiert; in diesem Augenblick bedauerte er beides von neuem, als begänne er sie wieder zu lieben. Die Wiederkehr der zärtlichen Gefühle überwältigte ihn plötzlich, fast grundlos, nur weil es draußen schön war und vielleicht, weil er vorher die verjüngte Stimme dieser Frau wiedergehört hatte. So wenig bedarf es, um das Herz eines Mannes in Schwingung zu versetzen, das Herz eines alternden Mannes, bei dem die Erinnerung zu Sehnsucht wird. Wie früher überkam ihn das Bedürfnis, sie zu sehen, es ergriff seinen Geist und seinen Körper wie ein Fieber. Er begann wie ein Jungverliebter an sie zu denken und idealisierte sie in seinem Herzen und sich in seiner Liebe zu ihr, und seine Sehnsucht nach ihr nahm zu. Obwohl er sie erst am Morgen gesehen hatte, beschloß er, sie am Abend aufzusuchen, um eine Tasse Tee bei ihr zu trinken. Die Stunden bis dahin schienen ihm ewig lang, und als er endlich zum Boulevard Malesherbes aufbrach, überfiel ihn eine heftige Angst,
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er könnte sie nicht antreffen und gezwungen sein, auch diesen Abend alleine zu verbringen, wie schon so viele davor. Als der Diener auf seine Frage: «Ist die Gräfin zu Hause?» antwortete: «Ja, Monsieur», war er überglücklich. Er sagte vergnügt: «Schon wieder ich», als er auf der Schwelle des kleinen Salons erschien, in dem die beiden Frauen unter den rötlichen Schirmen einer auf einem hohen, dünnen Schaft ruhenden Doppellampe aus Britanniametall arbeiteten. Die Gräfin rief: «Ach, Sie sind's. Wie schön!» «Ja, ich hab' mich so einsam gefühlt, da bin ich hergekommen.» «Wie nett von Ihnen.» «Erwarten Sie jemanden?» «Nein... oder vielleicht doch... ich weiß das nie.» Er hatte sich gesetzt und betrachtete mit Abscheu das graue Gestrick aus grober Wolle, das sie mit großen hölzernen Nadeln anfertigten. Er fragte: «Was gibt das denn?» «Decken.» «Für die Armen?» «Ja, natürlich.» «Das ist aber häßliches Zeug.» «Es ist warm.» «Schon möglich, aber es ist sehr häßlich, vor allem in einem Louisquinze-Salon, in dem alles dem Auge schmeichelt. Wenn schon nicht Ihren Armen zuliebe, so doch wenigstens Ihren Freunden zuliebe sollten Sie Ihre Wohltätigkeit etwas eleganter gestalten.» «Mein Gott, die Männer», sagte sie schulterzuckend, «im Augenblick fertigt man überall solche Decken an.» «Ich weiß, ich weiß es nur zu gut. Man kann abends keinen Besuch mehr machen, ohne daß man diese schrecklichen, grauen Fetzen über den hübschesten Kleidern und den zierlichsten Möbeln herumhängen sieht. Dieses Frühjahr pflegt man die Wohltätigkeit des schlechten Geschmacks.»
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Um beurteilen zu können, ob er recht habe, breitete die Gräfin ihr Strickzeug auf dem leerstehenden seidenbespannten Sessel neben sich aus, dann bestätigte sie ungerührt: «Ja tatsächlich, das ist häßlich.» Und sie machte sich wieder an die Arbeit. Die beiden Köpfe unter den zwei dicht beieinanderstehenden Lampen wurden überflutet von einem rötlichen Lichtschein, der sich über die Gesichter, die Kleider und die arbeitenden Hände ergoß. Sie blickten auf ihre Arbeit, mit der selbstverständlichen und anhaltenden Aufmerksamkeit von Frauen, denen diese Fingerfertigkeiten so vertraut sind, daß nur die Augen und nicht die Gedanken davon in Anspruch genommen werden. In den vier Ecken des Salons warten vier weitere Lampen aus Chinaporzellan, getragen von alten Säulen aus vergoldetem Holz, durch die über die Lampenglocken geworfenen durchsichtigen Spitzen ein gemildertes Licht auf die Wandteppiche. Bertin wählte eine sehr niedrige Sitzgelegenheit, einen Zwergensessel, in dem er gerade noch Platz fand. Er hatte ihn immer schon bevorzugt, weil er darin fast zu Füßen der Gräfin saß, wenn sie sich unterhielten. Sie sagte zu ihm: «Sie haben vorhin mit Nane einen langen Spaziergang durch den Park gemacht.» «Ja, wir haben wie alte Freunde geplaudert. Ich mag sie sehr, Ihre Tochter. Sie gleicht Ihnen aufs Haar. Wenn sie bestimmte Sätze ausspricht, könnte man meinen, Sie hätten Ihre Stimme in ihrem Mund zurückgelassen.» «Das hat mir mein Mann auch schon oft gesagt.» Er sah sie im hellen Schein der Lampen arbeiten, und die Vorstellung, unter der er so häufig litt und unter der er auch am heutigen Tag gelitten hatte, die Erinnerung an sein bei jedem Wetter, auch wenn der Kamin oder die Heizung warm waren, verlassenes, regloses, schweigsames, kaltes Heim, machte ihn so unglücklich, als ob er das erste Mal seine Einsamkeit wirklich fühlte. Oh, wahrhaftig, wie gern wäre er der Ehegatte dieser Frau gewesen statt ihr Liebhaber. Früher hatte er den Wunsch verspürt, sie zu entführen, sie diesem Mann wegzunehmen, sie ihm ganz zu rauben. Heute beneidete er diesen betrogenen Ehemann, der für alle Zeiten in ihrer Nähe sein konnte, in der gewohnten Umgebung ihres Hauses,
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umsorgt von ihrer Gegenwart. Während er sie ansah, stiegen in seinem Innern alte Erinnerungen auf, die er ihr gerne erzählt hätte. Er liebte sie wirklich noch, am heutigen Tag sogar etwas mehr, viel mehr als seit langer Zeit, und er hatte das Bedürfnis, ihr dieses Wiederaufleben seiner Liebe zu gestehen, über das sie so erfreut sein würde. Deshalb wünschte er, daß das junge Mädchen so bald wie möglich schlafen geschickt würde. Er sah immerzu nach der Uhr, redete nicht mehr und fand die Gewohnheit junge Mädchen den Abend mit den Erwachsenen zubringen zu lassen, gar nicht gut, denn er war besessen von dem Wunsch, mit ihr alleine zu sein, näher an sie heranzurücken, seinen Kopf auf ihre Knie zu legen und ihre Hände zu nehmen, aus denen dann die Decke für die Armen, die Holznadeln und der Wollknäuel, der am Ende des abgerollten Fadens unter irgendeinem Sessel verschwände, herausgleiten würden. Schritte störten die Stille des angrenzenden Salons, und der Diener schaute durch die Tür und meldete: «Monsieur de Musadieu.» Olivier Bertin unterdrückte einen kurzen Wutanfall, und als er dem Inspektor der Akademie der Bildenden Künste die Hand schüttelte, überkam ihn große Lust, ihn bei den Schultern zu packen und ihn vor die Tür zu setzen. Musadieu steckte voller Neuigkeiten: Das Ministerium werde gestürzt, und man munkle, Rocdiane sei in einen Skandal verwickelt. Und mit einem Blick auf das junge Mädchen fügte er hinzu: «Ich werde das dann später erzählen.» Die Gräfin blickte auf die Standuhr und sah, daß es gleich zehn Uhr schlagen würde. «Es ist Zeit zum Schlafengehen, mein Kind», sagte sie zu ihrer Tochter. Annette faltete wortlos ihr Strickzeug zusammen, rollte die Wolle auf, küßte ihre Mutter auf die Wangen, reichte den beiden Herren die Hand und ging so lautlos hinaus, als schwebte sie davon, ohne die Luft dabei zu bewegen. Als sie gegangen war, fragte die Gräfin: «Und nun, Ihr Skandal?» Man behauptete, daß der Marquis de Rocdiane, der sich von seiner Frau im Einvernehmen getrennt hatte und von ihr eine Rente bekam, die er nicht für ausreichend hielt, ein sicheres und ungewöhnliches
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Mittel gefunden habe, diese zu verdoppeln. Er habe die Marquise beschatten lassen, sie sei in flagranti ertappt worden und habe mit einer neuen Rente das Protokoll, das der Polizeikommissar aufgesetzt hatte, zurückkaufen müssen. Die Gräfin hörte mit neugierigem Ausdruck zu. Sie hatte aufgehört zu stricken, und die unterbrochene Arbeit ruhte auf ihren Knien. Bertin, den die Anwesenheit Musadieus jetzt, wo das Mädchen gegangen war, aufbrachte, erklärte mit der Entrüstung eines Mannes, der das alles schon gehört hat, aber mit niemandem über diese Verleumdung reden wollte, das sei eine gemeine Lüge, eine dieser Klatschgeschichten, denen Mitglieder der guten Gesellschaft niemals Gehör schenken oder sie gar weitertragen dürften. An den Kamin gelehnt, ereiferte er sich und trug die erregten Züge eines Mannes zur Schau, der im Begriff steht, eine fremde Sache zu seiner eigenen zu machen. Rocdiane war sein Freund, und wenn man ihm auch manchmal mit Grund seinen Leichtsinn hatte vorwerfen können, so konnte man ihn doch gewiß keiner wirklich schändlichen Tat bezichtigen, ja nicht einmal verdächtigen. Musadieu, überrascht und verlegen, begann sich zu verteidigen, machte Rückzieher, entschuldigte sich. «Es tut mir leid», sagte er, «aber ich habe diese Geschichte gerade eben bei der Herzogin de Mortemain erfahren.» Bertin fragte: «Wer hat sie Ihnen denn erzählt? Sicher eine Frau.» «Nein, keineswegs, der Marquis de Farandal. » Der Maler antwortete höchst ärgerlich: «Das wundert mich nicht, das sieht ihm gleich.» Eine Pause trat ein. Die Gräfin begann wieder zu stricken. Nach einer Weile sagte Bertin mit etwas ruhigerer Stimme: «Ich weiß ganz sicher, daß das nicht stimmt.» Er hatte keine Ahnung, er hatte gerade zum ersten Mal von der Sache gehört. Musadieu bereitete seinen Rückzug vor, da ihm die Situation ungemütlich wurde. Er sprach schon davon, daß er aufbrechen wolle, um noch einen Besuch bei den Corbelles zu machen, da kehrte der Graf de Guilleroy von einem Abendessen aus der Stadt zurück.
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Bertin setzte sich niedergeschlagen wieder hin, er hatte kaum Hoffnung, den Gatten heute noch loszuwerden. «Haben Sie noch nichts von dem großen Skandal gehört, der diesen Abend die Runde macht?» fragte der Graf. Und als niemand antwortete, fuhr er fort: «Scheinbar hat Rocdiane seine Frau in einer verfänglichen Situation überrascht und läßt sie diese Taktlosigkeit teuer bezahlen.» Bertin wiederholte in warmen und ruhigen Worten, was er vor wenigen Minuten glaubte Musadieu ins Gesicht schleudern zu müssen, und legte dabei eine Hand auf das Knie Guilleroys. Seine Miene war traurig, und seine Stimme und seine Gebärden zeugten von seinem Kummer. Und der Graf, der ihm halb beipflichtete und sich darüber ärgerte, daß er so leichthin eine unbewiesene und vielleicht kompromittierende Angelegenheit weitergetragen hatte, beteuerte seine Unwissenheit und Harmlosigkeit. Man erzähle eben so viele falsche und bösartige Dinge! Plötzlich waren sich alle darüber einig: Die Gesellschaft beschuldige, verdächtige und verleumde mit beklagenswerter Leichtfertigkeit. Und alle vier schienen wenigstens für die nächsten fünf Minuten davon überzeugt, daß alles, was hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, gelogen ist, daß Frauen niemals die Liebhaber haben, deren man sie verdächtigt, daß Männer niemals die Schandtaten begehen, deren man sie bezichtigt, und daß alles in allem der äußere Anschein immer viel schlimmer ist als der Kern der Sache. Bertin, der seit der Ankunft Guilleroys nichts mehr gegen Musadieu hatte, sagte ihm schmeichelhafte Dinge, kam auf Themen zu sprechen, die ihm lagen, und öffnete die Schleusen seines Redeflusses. Und der Graf schien zufrieden, wie jemand, der es versteht, überall, wo er hinkommt, Frieden und Einigkeit zu verbreiten. Zwei Bedienstete, die lautlos über die Teppiche gingen, trugen das Teetablett, auf dem das kochende Wasser in einem hübschen blitzenden Gerät über der blauen Flamme eines Spirituskochers dampfte. Die Gräfin stand auf, bereitete das heiße Getränk mit der Genauigkeit und Sorgfalt, die uns die Russen beigebracht haben, und
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bot Musadieu und anschließend Bertin eine Tasse an, dann kam sie noch einmal mit Tellern, gefüllt mit Gänselebersandwiches und kleinem österreichischem und englischem Gebäck. Der Graf war an den Rolltisch getreten, auf dem Fruchtsäfte, Liköre und Gläser aufgereiht standen, machte sich einen Grog und zog sich dann unauffällig ins Nebenzimmer zurück. Bertin sah sich aufs neue alleine Musadieu gegenüber, und wieder stieg der Wunsch in ihm auf, diesen Störenfried hinauszuwerfen, der inzwischen in Schwung gekommen war, daherschwatzte, Anekdoten einflocht, Witze erzählte und selbst welche machte. Der Maler blickte unablässig nach der Standuhr, deren großer Zeiger auf Mitternacht zuging. Die Gräfin sah seinen Blick und erriet, daß er mit ihr sprechen wollte; und mit der Gewandtheit der Dame von Welt, die durch kleine Kunstgriffe den Ton einer Unterhaltung oder die Stimmung in einem Salon verändern kann, die, ohne ein Wort zu sagen, zu verstehen geben kann, ob man gehen oder bleiben soll, verbreitete sie nur durch ihre Haltung, durch ihren Gesichtsausdruck und ihren gelangweilten Blick eine Kühle um sich, als ob sie gerade ein Fenster geöffnet hätte. Musadieu spürte diesen eisigen Luftzug, der seine geistreichen Reden erstarren ließ, und ohne daß er sich lange fragte, wieso, hatte er plötzlich den Wunsch aufzustehen und zu gehen. Bertin machte aus Anstand auch Anstalten aufzubrechen. Die beiden Herren zogen sich zusammen zurück. Sie durchschritten die beiden Salons, und die Gräfin, die sich noch mit dem Maler unterhielt, folgte ihnen. Auf der Schwelle des Vorzimmers hielt sie ihn unter einem Vorwand zurück, während Musadieu schon mit Hilfe eines Lakaien seinen Überzieher umlegte. Da Madame de Guilleroy sich immer noch mit Bertin unterhielt, entschloß sich der Inspektor der Akademie der Bildenden Künste, nachdem er einige Sekunden vor der Tür an der Treppe gewartet hatte, alleine loszugehen; er wollte nicht länger vor dem andern Diener stehenbleiben, der ihm die Tür aufhielt. Die Tür wurde sacht hinter ihm geschlossen, und die Gräfin sagte vollkommen ungezwungen zu dem Künstler: «Warum wollen Sie eigentlich schon so schnell aufbrechen? Es ist noch nicht Mitternacht. Bleiben Sie doch noch ein wenig.» Und sie kehrten zusammen in den kleinen Salon zurück.
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Sobald sie sich gesetzt hatten, sagte er: «Mein Gott, hat mich dieser Trottel geärgert.» «Und weshalb?» «Er hat mir einen Teil von Ihnen weggenommen.» «Oh, aber nicht viel.» «Schon möglich, aber er hat mich gestört.» «Sind Sie eifersüchtig?» «Das ist keine Eifersucht, wenn man einen Menschen lästig findet.» Er hatte sich wieder auf seinem kleinen Sessel niedergelassen und saß nun ganz nahe bei ihr, seine Finger spielten mit dem Stoff ihres Kleides, und er erzählte ihr, welch heißer Strom heute sein Herz durchflutet hatte. Sie hörte ihm überrascht und beglückt zu und legte sanft eine Hand auf seine weißen Haare und liebkoste sie, als ob sie ihm danken wollte. «Ich würde so gerne immer in Ihrer Nähe leben», sagte er. Er mußte immerzu an diesen Ehemann denken, der zu Bett gegangen war und sicher in einem der Nachbarzimmer schlief, und er fuhr fort: «Nur die Ehe kann zwei Menschen wirklich vereinen.» Sie sagte leise: «Mein armer Liebster!», voll Mitleid mit ihm und auch mit sich. Er hatte seine Wange an ihre Knie geschmiegt und blickte sie voll Zärtlichkeit an, mit einer etwas wehmütigen, etwas schmerzlichen Zärtlichkeit, die aber schon etwas weniger heftig war als noch eben, als er sich durch ihre Tochter, ihren Gatten und Musadieu von ihr getrennt sah. Immer noch strichen ihre Fingerspitzen leicht über das Haupt Oliviers, und sie sagte mit einem Lächeln: «Mein Gott, wie weiß Sie geworden sind! Ihre letzten schwarzen Haare sind verschwunden.» «Ja, leider! Ich weiß es, das geht schnell.» Sie fürchtete, sie habe ihn traurig gestimmt. «Oh, Sie waren übrigens sehr früh schon grau. Ich habe Sie nie anders als graumeliert gekannt.» «Ja, das stimmt.»
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Um den Hauch der Trauer, den sie ausgelöst hatte, vollends vergessen zu machen, beugte sie sich über ihn, zog seinen Kopf mit ihren beiden Händen zu sich heran und küßte ihn lange und zärtlich auf die Stirn, mit einem jener anhaltenden Küsse, die am liebsten nie enden sollen. Dann blickten sie sich an und versuchten, in der Tiefe ihrer Augen den Widerschein ihrer Liebe zu erkennen. «Ich würde gerne einmal einen ganzen Tag alleine mit Ihnen verbringen», sagte er. Er fühlte sich dunkel von einem unsäglichen Bedürfnis nach vertraulicher Nähe gepeinigt. Vorher hatte er noch geglaubt, es würde genügen, daß die Anwesenden verschwinden, um dieses Verlangen, das ihn seit dem Morgen erfüllte, zu stillen; aber jetzt, wo er alleine mit seiner Geliebten war, wo er auf seiner Stirn die Wärme ihrer Hände und an seiner Wange, durch das Kleid hindurch, die Wärme ihres Körpers fühlte, da war immer noch dieselbe Unruhe in ihm, dieselbe unbekannte und unbestimmte Begierde. Und er erhoffte sich nun, daß sein unbefriedigtes Herz außerhalb dieses Hauses, vielleicht irgendwo im Wald, wo sie ganz alleine wären, ohne irgend jemanden um sich herum, befriedigt würde und zur Ruhe käme. Sie antwortete: «Was für ein Kind Sie sind! Wir sehen uns doch jeden Tag.» Er flehte sie an, sie möge Mittel und Wege finden, irgendwo in der Umgebung von Paris mit ihm zu Mittag zu essen, so wie sie es früher vier- oder fünfmal getan hatten. Sie war erstaunt über diesen Einfall, der jetzt, nach der Rückkehr ihrer Tochter, besonders schwer in die Tat umzusetzen war. Sie wollte es trotzdem versuchen, wenn ihr Mann nach Ronce gehen würde, aber das konnte nicht vor der Vernissage am kommenden Samstag sein. «Und wann werde ich Sie bis dahin sehen können?»
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«Morgen abend bei den Corbelles. Und kommen Sie doch am Donnerstag um drei Uhr hierher, wenn Sie Zeit haben, und ich glaube, wir essen am Freitagabend zusammen bei der Herzogin.» «Ja, ausgezeichnet.» Er erhob sich. «Adieu.» «Adieu, mein Freund.» Er blieb stehen und konnte sich nicht entschließen zu gehen, denn er hatte ihr nur wenig von dem sagen können, was ihn hierhergetrieben hatte, und sein Kopf war noch voll unausgesprochener Gedanken und zum Bersten angefüllt mit vagen Ergüssen, die er nicht losgeworden war. Er wiederholte: «Adieu» und nahm ihre Hände in die seinen. «Adieu, mein Freund.» «Ich liebe Sie.» Sie warf ihm ein Lächeln zu, mit dem eine Frau einem Mann in einer Sekunde zu erkennen gibt, was sie ihm alles geschenkt hat. Mit bebendem Herzen wiederholte er ein drittes Mal: «Adieu.» Und er ging. IV Man hätte meinen können, alle Wagen von Paris machten heute eine Wallfahrt zum Industriepalast. Seit neun Uhr morgens kamen sie aus allen Straßen, aus den Avenuen und über die Brücken zu diesen Ausstellungsräumen der Schönen Künste, wohin das Paris der Künstler das Paris der feinen Gesellschaft zur Vernissage von angeblich dreitausendvierhundert Gemälden eingeladen hatte. Eine riesige Menschenschlange drängte sich durch die Eingangsportale und bewegte sich, uninteressiert an den Skulpturen, gleich in die Räume der Gemäldegalerie hinauf. Schon beim Erklimmen der Stufen fielen die Bilder ins Auge, die im Treppenhaus ausgestellt waren; dort hing die Sonderabteilung der Vestibülmaler, die entweder Werke in ungewöhnlichen Formaten oder solche, die man nicht abzulehnen wagte, eingesandt hatten. In dem quadratischen Bildersaal
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war ein tosendes Menschengewimmel. Die Maler, die den ganzen Tag anwesend waren, erkannte man leicht an ihren lauten Stimmen und an ihrem gewichtigen Auftreten. Sie zogen ihre Freunde am Ärmel zu bestimmten Bildern, auf die sie mit lauten Ausrufen und bedeutender Kennermiene aufmerksam machten. Man sah Künstler der unterschiedlichsten Art, große, mit langen Haaren und weichen, grauen oder schwarzen, formlosen Schlapphüten, rund und ausladend wie Dächer, mit herabhängenden Krempen, die den ganzen Oberkörper beschatteten; andere waren klein und lebhaft, schmächtig oder untersetzt und trugen einen Seidenschal um den Hals und kurze Jacken, oder sie steckten in eigenartigen Gewändern, wie sie unter Malern gebräuchlich sind. Es gab die Clique der Eleganten, der Stutzer, der Künstler des Boulevards; die Clique der Akademiker, korrekt, geschmückt mit den roten Rosetten der Ehrenlegion, die je nach der Vorstellung ihrer Träger von Eleganz und gutem Ton riesengroß oder winzigklein waren; die Clique der bürgerlichen Maler in Begleitung ihrer Familie, die den Vater wie ein Triumphchor umringte. Die Gemälde, die für würdig befunden worden waren, an den riesenhaften Wänden des quadratischen Bildersaals zu hängen, bestachen gleich beim Eintritt durch ihr le uchtendes Kolorit, ihre prunkvoll glänzenden Rahmen und die ungewöhnlichen, grellen, durch den Firnis intensivierten Farben, die unter dem ungeschützt von oben einfallenden Tageslicht blendeten. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing das Porträt des Präsidenten der Republik, während sich ein von Goldtressen starrender General mit straußenfedergeschmücktem Hut und roten Tuchhosen eine andere Wand mit völlig nackten Nymphen unter Weidenbäumen und einem Schiff in Seenot, das fast von einer Woge verschlungen wurde, teilte. Ein Bischof aus vergangenen Zeiten, der einen Heidenkönig exkommuniziert, ein orientalischer Straßenzug voll toter Pestkranker und der Schatten Dantes auf seinem Weg in die Hölle nahmen die Blicke mit unwiderstehlicher Gewalt gefangen und fesselten sie. Weiter sah man in dem Riesenraum einen Sturmangriff der Kavallerie, Schützen in einem Wald, Kühe auf der Weide, zwei sich an einer Straßenecke duellierende Adlige aus dem letzten Jahrhundert,
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eine auf einem Meilenstein sitzende Irre, einen Priester, der einem Sterbenden die Letzte Ölung erteilt, Erntende, Flüsse, einen Sonnenuntergang, einen Vollmond, kurz, Proben von all dem, was Maler gemalt haben, malen und bis zum Jüngsten Tag malen werden. Olivier stand in einer Gruppe berühmten: Kollegen, die alle Akademiemitglieder oder Angehörige der Jury waren, und tauschte mit ihnen Meinungen aus. Er fühlte sich unbehaglich und unruhig, denn er fürchtete, trotz aller beflissener Glückwünsche, um den Erfolg des von ihm eingesandten Bildes. In der Eingangstür erschien die Herzogin de Mortemain, und er stürzte zu ihr hin. Sie fragte: «Ist die Gräfin noch nicht da?» «Ich habe sie nicht gesehen.» «Und Monsieur de Musadieu?» «Nein, ihn auch nicht.» «Er hatte mir versprochen, um zehn Uhr oben an der großen Treppe zu sein, um mich durch die Säle zu führen.» «Vielleicht erlauben Sie, daß ich das an seiner Stelle übernehme, Herzogin?» «Nein, nein. Ihre Freunde brauchen sie. Wir Werden uns nachher sehen, ich rechne damit, daß wir zusammen zu Mittag essen.» Musadieu eilte heran. Er war einige Minuten unten bei den Skulpturen aufgehalten worden und entschuldigte sich, schon sehr erschöpft. Er sagte: «Hier entlang, hier entlang, wir beginnen auf der rechten Seite.» Sie verschwanden gerade im Gewühl der Köpfe, als die Gräfin de Guilleroy mit ihrer Tochter am Arm eintrat und mit ihren Blicken Olivier Bertin suchte. Er sah sie, ging zu ihnen hin und grüßte mit den Worten: «Mein Gott, wie hübsch Sie sind! Wirklich, Nanette blüht immer mehr auf. In acht Tagen ist sie eine andere geworden.» Er betrachtete sie mit prüfendem Blick und fügte hinzu: «Die Gesichtszüge sind weicher und fließender und der Teint strahlender.
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Sie ist schon viel weniger das kleine Mädchen und viel mehr Pariserin.» Aber dann kam er gleich wieder auf das große Tagesereignis zurück. «Lassen Sie uns rechts beginnen, dann werden wir die Herzogin einholen.» Die Gräfin, die über alles die Malerei Betreffende auf dem laufenden war, fragte so interessiert, als ob sie selbst etwas ausgestellt hätte: «Nun, was sagt man?» «Eine schöne Ausstellung. Der Bonnat ist bemerkenswert, zwei ausgezeichnete Carolus Duran, ein herrlicher Puvis de Chavannes, ein sehr interessanter, ganz neuer Roll, ein hervorragender Gervex und viele andere: Gemälde von Beraud, Cazin, Duez, wirklich eine Menge guter Sachen.» «Und Sie?» fragte sie. «Man macht mir Komplimente, aber ich bin nicht zufrieden.» «Sie sind nie zufrieden.» «Doch, manchmal schon. Aber heute, glaube ich, habe ich Grund dazu.» «Warum?» «Ich kann es nicht sagen.» «Sehen wir es uns an.» Als sie bei dem Gemälde anlangten - es stellte zwei Bauernmädchen dar, die in einem kleinen Bach badeten - , wurde es gerade von einer davorstehenden Gruppe bewundert. Sie war glücklich darüber und sagte leise: «Aber es ist zauberhaft, das ist ein Meisterwerk. Es ist das Beste, was Sie je gemacht haben.» Er drängte sich näher an sie, er liebte sie und war dankbar für jedes Wort, das eine Qual linderte und eine Wunde schloß. Und er fand rasch Argumente, die ihn davon überzeugten, daß sie recht hatte, daß sie mit den erfahrenen Augen der Pariserin sicher richtig urteilte. Im Bestreben, seine Befürchtungen zu beschwichtigen, vergaß er, daß er ihr seit zwölf Jahren gerade vorwarf, daß sie das Gekünstelte, die eleganten Feinheiten, die zur Schau gestellten Gefühle, die wechselhaften modischen Spielarten zu sehr bewunderte und nicht die
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Kunst, alleine die Kunst, die Kunst losgelöst von allen Ideen, allen Richtungen, allen Vorurteilen der Gesellschaft. Indern er sie mit sich zog, sagte er: «Machen wir weiter.» Und er führte sie lange von Saal zu Saal und zeigte ihnen die Bilder und erklärte die Motive, glücklich zwischen beiden und glücklich durch beide. Plötzlich fragte die Gräfin: «Wieviel Uhr ist es?» «Es ist halb eins.» «Oh, lassen Sie uns schnell zu Mittag essen gehen Die Herzogin wartet sicher schon bei ‹Ledoyen› auf uns, sie hat mir aufgetragen, Sie dorthin mitzubringen, falls wir uns in den Sälen nicht wiedertreffen » Das Restaurant, das mitten in einer Insel von Bäumen und Buschen lag, sah aus wie ein übervölkerter, vibrierender Bienenkorb Voller Leben Ein unbestimmtes Geschwirr von Stimmen, Rufen, Glaser- und Tellergeklirr lag in der Luft und drang aus den weitgeöffneten Fenstern und Türen Die eng beieinanderstehenden Tische, an denen gerade gegessen wurde, standen in langen parallelen Reihen, die links und rechts von einem schmalen Mittelgang abgingen Auf diesem eilten köpf- und atemlos Kellner hin und her und balancierten Platten voll Fleisch, Fisch oder Fruchten auf ihren Armen. Unter der rundum verlaufenden Galerie wogte eine Menschenmenge, ähnlich einer lebendigen Teigmasse Alles lachte, rief, trank und aß, in heitere Stimmung versetzt durch den Wem und überwältigt von den Freuden, die über Paris an gewissen Tagen mit dem Sonnenschein hereinbrechen. Ein Kellner geleitete die Gräfin und Annette und Bertin in das reservierte Speisezimmer, wo sie von der Herzogin erwartet wurden. Als sie eintraten, sah der Maler den Marquis de Farandal an der Seite seiner Tante, der beflissen und lächelnd die Arme ausstreckte, um die Schirme und Umhänge der Gräfin und ihrer Tochter in Empfang zu nehmen. Seine Anwesenheit mißfiel Bertin so sehr, daß er unvermittelt Lust bekam, aufreizende und verletzende Dinge zu sagen. Die Herzogin erklärte die Anwesenheit ihres Neffen und die Abwesenheit von Musadieu, den der Minister der Schonen Künste
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entführt hatte Bei dem Gedanken, daß dieser Geck von Marquis Annette heiraten sollte, daß er ihretwegen gekommen war, daß er sie schon für sein Bett bestimmt sah, geriet Bertin in Rage und empörte sich, als ob man ihm seine Rechte streitig machen und rauben wollte, geheimnisvolle und heilige Rechte. Sobald man am Tisch Platz genommen hatte, wandte sich der Marquis dem jungen Mädchen, das neben ihm saß, mit der Beflissenheit des Mannes zu, der das Recht besitzt, ihr den Hof zu machen. Er hatte neugierige Augen, die dem Maler unverschämt und forschend erschienen, ein fast zärtliches, selbstzufriedenes Lächeln und eine zugleich vertrauliche und konventionelle Höflichkeit In seinem Verhalten und seinen Reden trat schon so etwas wie Entschlossenheit zutage als ob sich die zukünftige Besitzergreifung bereits ankündigte. Die Herzogin und die Gräfin schienen dieses werbende Verhalten zu begünstigen und gutzuheißen und warfen sich verständnisvolle Blicke zu. Gleich nach dem Essen kehrte man in die Ausstellung zurück In den Sälen war ein solches Gedränge, daß es unmöglich schien, hineinzukommen. Der warme Dunst erhitzter Körper und der abgestandene Geruch verschwitzter Kleider und Anzüge erzeugten drinnen eine widerwärtige, stickige Luft. Statt der Bilder betrachtete man nun die Leute und die Toiletten und hielt nach Bekannten Ausschau. Von Zeit zu Zeit gab es eine Stockung in dieser drängelnden Menge, und eine Gasse öffnete sich, um die Lackierer mit ihrer hohen Bockleiter durchzulassen, die immerzu riefen «Achtung, die Herren, Achtung, die Damen ». Nach fünf Minuten hatten die Gräfin und Olivier die andern verloren. Er wollte sie suchen, aber sie lehnte sich an ihn und sagte «Ist es nicht gut so' Lassen Sie sie, für den Fall, daß wir uns verlieren, haben wir ja ausgemacht, uns um vier Uhr am Büffet wiederzutreffen.» «Das stimmt», antwortete er. Aber er war mit dem Gedanken beschäftigt, daß der Marquis jetzt bei Annette war und sie weiterhin mit semer galanten Geckenhaftigkeit umschmeichelte.
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Die Grafin sagte leise «Sie lieben mich also immer noch?» Er antwortete mit abwesender Miene «Aber ja, natürlich.» Und er versuchte, über den Köpfen den grauen Hut von Monsieur de Farandal zu entdecken. Da sie fühlte, daß er zerstreut war, und seine Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken wollte, fuhr sie fort «Wenn Sie wußten, wie sehr ich Ihr Gemälde von diesem Jahr bewundere Es ist Ihr Meisterwerk.» Er lächelte, vergaß sofort die jungen Leute und erinnerte sich nur noch an seine Besorgnis dieses Morgens «Wirklich, finden Sie?» «Ja, ich ziehe es allen andern vor . «Es hat mich viel Mühe gekostet.» Mit schmeichelhaften Worten setzte sie ihm wieder einmal den Lorbeer auf, denn sie wußte seit langem genau, daß nichts eine so große Wirkung auf einen Künstler ausübt wie zärtliches, anhaltendes Lob. Gefangengenommen, belebt und aufgemuntert durch diese sanften Worte, begann er wieder zu reden, und er sah nur noch sie und horte nur noch ihre Stimme in diesem großen auf- und abwogenden Gewimmel. Um ihr zu danken, sagte er ganz nahe an ihrem Ohr leise «Ich habe wahnsinnig Lust, Sie zu küssen.» Eine heiße Welle durchflutete sie, und mit leuchtenden Augen blickte sie zu ihm auf und wiederholte ihre Frage «Sie lieben mic h also immer noch?» Und diesmal antwortete er in dem Ton, den sie gerne hören wollte und den sie gerade eben nicht vernommen hatte «Ja, ich liebe Sie, meine teure Any.» «Kommen Sie möglichst oft abends zu mir», sagte sie, «wegen meiner Tochter werde ich jetzt selten ausgehen.» Als sie dieses unerwartete Wiedererwachen der Zärtlichkeit in ihm spürte, erfaßte sie ein großes Glucksgefühl. Jetzt, wo Olivier weiße Haare hatte und mit den Jahren ruhiger geworden war, fürchtete sie nicht mehr so sehr, daß ihn eine andere Frau verführen konnte, aber sie hatte entsetzliche Angst, er konnte aus Furcht vor dem Alleinsein heiraten. Diese schon lange vorhandene Angst nahm immer mehr zu,
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und sie entwarf in ihrem Kopf undurchführbare Pläne, um ihn so häufig wie möglich bei sich zu haben und dadurch zu verhindern, daß er seine langen Abende in der frostigen Einsamkeit seines leeren Hauses zubrachte. Da sie ihn nicht immer anlocken und fesseln konnte, schlug sie ihm Zerstreuungen vor, schickte ihn ins Theater oder drängte ihn zu Geselligkeiten, denn es war ihr lieber, ihn in Gesellschaft von Frauen als in der Trostlosigkeit seines Hauses zu wissen. Sie fuhr fort und antwortete damit auf seine geheimen Wünsche : «Ach, wenn ich Sie nur für immer bei mir haben konnte, wie würde ich Sie verwöhnen. Versprechen Sie mir, mich möglichst oft zu besuchen, ich gehe ja kaum mehr aus.» «Ich verspreche es Ihnen.» Eine Stimme flüsterte dicht an ihrem Ohr: «Mama.» Die Gräfin zuckte zusammen und drehte sich um Annette, die Herzogin und der Marquis hatten sich gerade wieder zu ihnen gesellt. «Es ist vier Uhr», sagte die Herzogin, «ich bin sehr müde und mochte gerne gehen.» Die Gräfin antwortete «Ich gehe auch, ich kann nicht mehr.» Sie gelangten zur inneren Treppe, die von den Galerien, in denen die Zeichnungen und Aquarelle aneinandergereiht hingen, hinabführte und von der aus man auf den riesigen, verglasten Wintergarten hinabblickte, in dem die Skulpturen ausgestellt waren. Vom Absatz dieser Treppe aus überschaute man das riesenhafte Gewächshaus von einem Ende zum andern Auf den Wegen rund um die grünen Gebüschgruppen standen die Skulpturen, und sie überragten die Besuchermassen, die den Grund der Wege mit ihrem bewegten schwarzen Strom überfluteten. Die Marmorstatuen hoben sich leuchtend ab von diesem dunklen Teppich aus Hüten und Schultern, und sie durchbohrten ihn an tausend Stellen und schienen wie Lichter, so weiß waren sie. Als Bertin sich am Ausgang von den Damen verabschiedete, fragte ihn Madame de Guilleroy ganz leise «Sie kommen also heute abend?» «Aber sicher.»
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Dann ging er zurück in die Ausstellung, um sich mit den andern Künstlern über die Eindrucke des Tages zu unterhalten. Die Maler und Bildhauer standen in Gruppen um die Skulpturen vor dem Büffet, und dort diskutierten sie wie alle Jahre über die Werke, die denen der vergangenen Jahre fast vollkommen glichen, und vertraten oder bekämpften mit denselben Argumenten dieselben Standpunkte. Für gewöhnlich geriet Olivier bei diesen Diskussionen in Eifer, denn er beherrschte die Kunst der schlagfertigen Antworten und der verwirrenden Attacken und stand im Ruf, ein geistreicher Theoretiker zu sein, worauf er sehr stolz war. Heute gab er sich zwar alle Mühe, sich in Feuer zu reden, aber das, was er aus Gewohnheit antwortete, interessierte ihn ebensowenig wie das, was er hörte. Er hatte Lust zu gehen, nichts mehr zu hören, nichts mehr aufzunehmen, er wußte ohnehin im voraus alles, was man über diese uralten Fragen der Kunst, die er in allen Abwandlungen kannte, sagen würde. Für gewöhnlich beschäftigte er sich gerne mit diesen Dingen und hatte sich bisher fast ausschließlich damit beschäftigt, aber heute lenkte ihn ein ungreifbares, hartnäckiges, ungutes Gefühl davon ab, eine dieser kleinen Befürchtungen, die uns nicht beunruhigen müßten und die doch, egal, was nun sagt oder tut, da sind, in unser Denken eingedrungen wie ein unsichtbarer Dorn ins Fleisch. Über der Erinnerung an das unangenehme Benehmen des Marquis Annette gegenüber hatte er sogar seine Besorgnisse über seine «Badenden» vergessen. Aber was ging ihn das eigentlich an. Hatte er irgendwelche Rechte? Warum hatte er diese hocherwünschte, vorher beschlossene und unter allen Gesichtspunkten passende Heirat verhindern sollen? Keine dieser Überlegungen löschte das Gefühl von Mißbehagen und Mißfallen aus, das ihn gepackt hatte, als er diesen Farandal in der Rolle des Verlobten hatte reden und lachen sehen und als er beobachtete, wie er das Gesicht des jungen Mädchens mit seinen Blicken liebkoste. Als er am Abend zu der Gräfin kam und sie und ihre Tochter alleine antraf, die unter den hellen Lampen an ihren Decken für die Armen weiterstrickten, da fiel es ihm schwer, sich zurückzuhalten und nicht boshafte, spöttische Bemerkungen über den Marquis zu machen, um dadurch Annette die Augen zu öffnen für die ganze Gewöhnlichkeit, die sich hinter seiner Eleganz verbarg.
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Seit langem verfiel er bei diesen Besuchen nach dem Abendessen häufig in ein schläfriges Schweigen und ließ sich gehen, wie ein alter Freund, der sich zu Hause fühlt Eingesunken in seinem Sessel, mit übereinandergeschlagenen Beinen, den Kopf nach hinten gelehnt, träumte er beim Reden und ruhte Körper und Geist in dieser stillen Vertrautheit aus. Jetzt aber überkam ihn plötzlich wieder die Wachheit und der Eifer der Männer, die sich Mühe geben zu gefallen, die sich genau überlegen, was und wie sie es sagen, und die vor bestimmten Leuten glänzendere und gesuchtere Formulierungen gebrauchen, um ihre Gedanken damit auszuschmücken und gefälliger zu machen. Er ließ der Unterhaltung nicht mehr einfach ihren Lauf, er nahm daran teil, belebte sie und brachte sie mit seinem Feuer in Schwung, und wenn es ihm gelungen war, der Gräfin und ihrer Tochter ein aufrichtiges Lachen zu entlocken, oder wenn er fühlte, daß sie gerührt waren, oder wenn er sah, daß sie ihn erstaunt anblickten, oder wenn sie aufhörten zu arbeiten, um ihm zuzuhören, dann empfand er jedesmal einen kleinen Glücksschauer, der ihn für seine Mühe entschädigte. Er kam nun immer, wenn er wußte, daß sie alleine waren, und es waren möglicherweise die köstlichsten Abende, die er je verbracht hatte. Madame de Guilleroy, deren anhaltende Ängste durch diese häufigen Besuche schwanden, unternahm alle nur erdenklichen Anstrengungen, um ihm Anreize zum Kommen und Bleiben zu geben Um des Vergnügens willen, beim Ausgehen um drei Uhr die kleine blaue Depesche mit der Nachricht «Bis bald» in den Rohrpostkasten werfen zu können, schlug sie Abendessen in der Stadt, Bälle und Empfänge aus. In der ersten Zeit schickte sie ihre Tochter, sobald es zehn Uhr schlu g, ins Bett, um ihm möglichst früh die erwünschte Gelegenheit zu geben, mit ihr alleine zu sein. Als er dann eines Tages seine Verwunderung darüber äußerte und lachend bemerkte, man solle Annette doch nicht wie ein kleines unvernünftiges Kind behandeln, da erlaubte sie ihr zunächst eine Viertelstunde, dann eine halbe- und schließlich eine ganze Stunde länger aufzubleiben Wenn das junge Mädchen zu Bett gegangen war, blieb er dann meist nicht mehr lange, so als ob der halbe Reiz, der ihn an diesen Salon fesselte, mit ihr den Raum verlassen hatte. Rasch zog er den kleinen Sessel, den er so
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gerne hatte, an die Fuße der Gräfin heran und legte ab und zu mit einer schmeichelnden Bewegung seine Wange auf ihre Knie. Sie überließ ihm eine ihrer Hände, die er in den seinen hielt, und das Fieber seiner geistreichen Erregung sank mit einem Schlag, er hörte auf zu reden und schien sich in einem zärtlichen Schweigen von der vorigen Anstrengung auszuruhen. Nach und nach erkannte sie mit ihrem weiblichen Spürsinn, daß ihn Annette fast ebenso anzog wie sie selbst. Sie war darüber nicht böse, sie freute sich vielmehr, daß er bei ihnen etwas von dem Familienleben finden konnte, um das sie ihn gebracht hatte, sie versuchte, ihn möglichst oft in ihrer beider Gegenwart festzuhalten, und spielte dann die Mutter, damit er sich beinahe wie der Vater dieses Mädchens vorkommen konnte und damit eine neue Art von Zuneigung zu der hinzuträte, die ihn schon bisher an dieses Haus fesselte. Ihre immer noch wache weibliche Eitelkeit ließ sie zu neuen Mitteln greifen, seit sie allenthalben, wie kleine, unsichtbare Nadelstiche, die zahlreichen Angriffe des herannahenden Alters spürte. Um ebenso schlank wie Annette zu werden, trank sie weiterhin nichts zum Essen, und die dadurch tatsächlich eingetretene Verschlankung ihrer Taille gab ihr ihre jugendliche Figur zurück, so daß man die beiden von hinten kaum unterscheiden konnte, aber ihre abgemagerte Gestalt litt unter den Wirkungen dieser Lebensweise. Die zu weit gewordene Haut bekam Falten und wurde etwas gelblich, und die herrliche Frische der Jugend strahlte daneben um so mehr. Da begann sie, ihre Haut mit den Mitteln zu pflegen, die die Schauspielerinnen verwenden, und wenn sie dadurch auch im hellen Tageslicht eine etwas verdächtige Blässe bekam, so zeigte sie doch im Lampenlicht den künstlichen, reizvollen Glanz, der gutgeschminkten Frauen einen unvergleichlichen Teint verleiht. Die Erkenntnis des langsamen Zerfalls und der Gebrauch dieser künstlichen Mittel führten zu einer Änderung ihrer Gewohnheiten. Sie vermied nach Möglichkeit Vergleiche im Sonnenlicht und suchte sie statt dessen im Schein der Lampen, die ihr einen Vorteil gewährten. Wenn sie sich erschöpft fühlte und glaubte, sie sähe bleicher und älter aus als gewöhnlich, dann kamen ihr Migräneanfälle zu Hilfe, die ihr erlaubten, Bälle oder Theaterbesuche abzusagen. Aber an den Tagen,
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an denen sie sich schon fühlte, war sie unvergleichlich und spielte die große Schwester mit der würdevollen Zurückhaltung der jungen Mutter. Da sie ähnlich gekleidet sein wollte wie ihre Tochter, gab sie dieser immer Kleider, die für eine junge Frau etwas zu ernst wirkten, und Annette, deren fröhliche und zum Lachen aufgelegte Art immer mehr zutage trat, trug sie mit einer sprühenden Lebendigkeit, die sie noch liebenswürdiger machte. Sie unterstützte mit allen Kräften die koketten Schauspielkünste ihrer Mutter, sie inszenierte unbewußt kleine anmutige Auftritte und verstand es, sie im rechten Moment zu umarmen, ihre Taille zärtlich zu umfassen und durch eine Bewegung, eine Liebkosung oder irgendeinen sinnigen Einfall darauf aufmerksam zu machen, wie hübsch sie beide waren und wie sehr sie sich glichen. Weil Olivier Bertin sie so häufig nebeneinander sah und miteinander verglich, passierte es ihm bisweilen, daß er sie für kurze Augenblicke verwechselte. Wenn das junge Mädchen etwas zu ihm sagte, während er in eine andere Richtung blickte, mußte er manchmal fragen «Wer hat das gesagt?» Wenn sie zu dritt alleine im Salon mit den Louisquinze-Wandteppichen waren, machte es ihm sogar häufig Vergnügen, dieses Verwirrspiel zu spielen. Er schloß dann die Augen und bat sie, eine nach der andern, dieselbe Frage an ihn zu richten und dann die Reihenfolge der Befragung zu wechseln, damit er raten konnte, wer jeweils gesprochen hatte. Sie bemühten sich mit so großer Geschicklichkeit, denselben Klang in ihre Stimmen zu legen und dieselben Satze mit derselben Betonung auszusprechen, daß er es oft nicht erriet. Es war ihnen mit der Zeit tatsächlich gelungen, so ähnlich zu reden, daß die Hausangestellten dem jungen Mädchen «ja, Madame» und der Mutter «ja, mein Fräulein» zur Antwort gaben. Dadurch, daß sie sich zum Vergnügen nachahmten und ihre Bewegungen imitierten, hatten sie eine solche Ähnlichkeit in ihrem Gang und ihren Gesten erlangt, daß selbst Monsieur Guilleroy, wenn er die eine oder die andere im Hintergrund durch den schwach erleuchteten Salon gehen sah, sie immer wieder verwechselte und fragen mußte «Bist du es, Annette, oder ist es deine Mama?» In Geist und Gemüt des Malers hatte sich durch diese natürliche und gewollte, vorhandene und künstlich geschaffene Ähnlichkeit die sonderbare Vorstellung eines Doppelwesens gebildet, das zugleich alt und jung, sehr vertraut und fast fremd war, die Vorstellung von zwei
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nacheinander aus demselben Fleisch erschaffenen Körpern, von der Wiederholung derselben Frau, verjüngt und wieder zu dem geworden, was sie früher gewesen war. Und er lebte in ihrer Nahe, hin- und hergerissen zwischen beiden, unruhig und verstört, für die Mutter empfand er eine wiedererwachte leidenschaftliche Liebe, und die Tochter bedachte er mit einer unerklärlichen Zärtlichkeit.
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ZWEITER TEIL
I Paris, den 20 Juli, 11 Uhr abends Mein Freund, meine Mutter in Roncieres ist gestorben. Wir reisen Mitternacht ab. Kommen Sie nicht, denn wir benachrichtigen niemanden. Aber bedauern Sie mich, und denken Sie an mich. Ihre Any
Den 21 Juli, 12 Uhr Meine arme Freundin, ich wäre trotzdem aufgebrochen, wenn ich mich nicht daran gewöhnt hatte, alle Ihre Wünsche als Befehle zu betrachten. Ich denke seit gestern mit einem stechenden Schmerz an Sie. Ich stelle mir diese stumme Reise vor, die Sie heute nacht mit Ihrer Tochter und Ihrem Gatten zusammen gemacht haben, in dem kaum beleuchteten Zugwaggon, der Sie zu Ihrer Toten brachte. Ich sah Sie alle drei unter den Öllampen, Sie weinten, und Annette schluchzte. Ich habe Ihr Eintreffen am Bahnhof gesehen, die schreckliche Fahrt im Wagen, die Ankunft im Schloß, inmitten der Angestellten, habe gesehen, wie Sie die Treppe hinaufeilten zu jenem Zimmer, jenem Bett, auf dem sie liegt, habe Ihren ersten Blick und den Kuß, den Sie auf ihr mageres, regungsloses Gesicht drückten , gesehen. Und ich habe an Ihr Herz gedacht, Ihr armes Herz, dieses arme Herz, das zur Hälfte mir gehört und das jetzt bricht und so sehr leidet, das Sie erdrückt und auch mir so viel Leid bereitet in diesem Augenblick. Ich küsse Ihre tränenüberströmten Augen mit tiefem Mitgefühl Olivier
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Roncieres, den 24 Juli Ihr Brief, lieber Freund, hatte mir gutgetan, wenn mir überhaupt irgend etwas guttun konnte in diesem entsetzlichen Leid, das über mich hereingebrochen ist. Wir haben sie gestern beerdigt, und seitdem ihr armer, lebloser Körper das Haus verlassen hat, habe ich das Gefühl, alleine auf der Welt zu sein. Man liebt seine Mutter, fast ohne es zu bemerken und zu empfinden, denn das ist so natürlich wie zu leben, und wie tief diese Liebe in einem wurzelt, erkennt man erst richtig im Augenblick des endgültigen Abschieds. Keine andere Liebe ist mit dieser zu vergleichen, denn alle andern sind zufällig, diese ist angeboren, alle andern werden später durch die Fugungen des Lebens an uns herangetragen, und diese lebt vom ersten Tag an in unserem Blut. Und dann, ja, und dann verliert man ja nicht nur eine Mutter, unsre ganze Kindheit selbst geht zur Hälfte dahin, denn unser Kleinmädchendasein gehörte ihr ebenso wie uns. Sie allein kannte es so wie wir, sie bewahrte eine Menge vergangener, belangloser und für uns so teurer Dinge, die die ersten süßen Herzensregungen sind und waren. Nur zu ihr konnte ich noch sagen «Mutter, erinnerst du dich an den Tag, an dem? Mutter, erinnerst du dich an die Porzellanpuppe, die mir Großmutter geschenkt hat?». Gemeinsam murmelten wir ein langes, stilles Paternoster unbedeutender, kleiner Erinnerungen, die nun außer mir niemand auf der Welt mehr kennt. Das bedeutet, daß ein Teil von mir gestorben ist, der älteste und beste. Ich habe das arme Herz verloren, in dem das kleine Mädchen, das ich einmal war, noch unversehrt weiterlebte. Nun kennt es niemand mehr, niemand erinnert sich an die kleine Anne, an ihre kurzen Röcke, an ihr Lachen und ihr Mienenspiel. Und es wird ein Tag kommen, und vielleicht ist er nicht mehr fern, an dem ich sterben und meine liebe Annette allem in dieser Welt zurücklassen werde, so wie mich heute meine Mama zurücklässt. Wie traurig, hart und grausam ist das alles. Und doch denkt man nie daran, man beachtet nicht, wie der Tod um einen herum jeden Augenblick jemanden holt, so wie er uns auch bald holen wird. Wenn man ihn beachten und an ihn denken wurde, wenn man nicht abgelenkt, heiter und geblendet wäre durch all das, was sich vor uns
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abspielt, dann konnte man nicht mehr weiterleben, denn der Anblick dieses endlosen Gemetzels wurde uns um den Verstand bringen. Ich bin gebrochen und so verzweifelt, daß ich keine Kraft habe, auch nur das geringste zu unternehmen Tag und Nacht denke ich an meine arme Mama, die nun in diesem Gehäuse eingeschlossen ist, eingegraben in diese Erde, diese Stätte, dem Regen ausgesetzt, und ihr altes Gesicht, das ich so oft voll Glück geküßt habe, ist nur noch eine verwesende Larve. Oh! Wie entsetzlich, mein Freund, wie entsetzlich. Als ich meinen Vater verlor, hatte ich gerade geheiratet, und ich habe das alles nicht so empfunden wie heute Ja, bedauern Sie mich, denken Sie an mich, schreiben Sie mir Ich habe Sie im Augenblick so nötig. Anne Paris, den 25 Juli Meine arme Freundin, Ihr Schmerz bereitet mir entsetzlichen Kummer, und auch mein Leben erscheint nicht in rosigem Licht. Seit Ihrer Abreise bin ich verloren und verlassen, ohne Heimat und Zuflucht. Alles ermüdet mich, langweilt mich, ärgert mich. Ich denke unablässig an Sie und unsere Annette, und ich leide darunter, daß Sie so weit weg sind, wo ich Sie so sehr in meiner Nähe brauchte. Es ist erstaunlich, wie ich unter Ihrer Abwesenheit leide und wie sehr Sie mir fehlen. Niemals, selbst in den Tagen, ah ich jung war, sind Sie mir so sehr alles gewesen wie in diesem Augenblick. Ich habe diese Krise seit einiger Zeit kommen sehen, die so etwas wie ein Sonnenbrand am Sankt-Martins-Tag sein muss. Das, was ich empfinde, ist so merkwürdig, daß ich es Ihnen erzählen will, Stellen Sie sich vor, seit Ihrer Abreise kann ich nicht mehr Spazierengehen. Früher, und auch noch in den letzten Monaten, liebte ich es sehr, alleine durch die Straßen zugehen und, zerstreut durch Menschen und Dinge, herumzubummeln, und ich genoß das Vergnügen zu beobachten und die Lust, meinen fröhlichen Schritt auf dem Pflaster zu hören. Ich schlenderte vor mich hm, ohne zu wissen, wo ich war, nur um zu gehen, zu atmen, zu träumen Das kann ich jetzt nicht mehr. Sobald ich auf die Straße hinuntergehe, erfaßt mich Angst, die Furcht des Blinden, der aus Versehen seinen Hund aus der Hand gelassen hat. Ich werde unruhig, genau so wie ein Wanderer, der die
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Wegspur im Wald verloren hat, und ich muß nach Hause zurückkehren. Paris erscheint nur leer, abscheulich und beängstigend. Ich frage mich «Wohin soll ich gehen?», und ich gebe mir die Antwort «Nirgendwohin, denn ich gehe ja spazieren ». Aber ich kann nicht, ich kann nicht mehr Spazierengehen, ohne ein Ziel zu haben. Allein beim Gedanken, ziellos vor mich hin zu schlendern, überwältigt mich die Müdigkeit und erdrückt mich die Langeweile. Dann ziehe ich los und trage meinen Trübsinn in den Club. Und wissen Sie auch, warum? Einzig und allein, weil Sie nicht mehr hier sind. Wenn ich Sie in Paris weiß, dann gibt es keine sinnlosen Gänge mehr, weil es sein kann, daß ich Ihnen auf dem nächstbesten Gehweg begegne. Ich kann überallhin gehen, weil Sie überall sein könnten. Wenn ich Sie nicht sehen würde, dann könnte ich doch wenigstens Annette treffen, die Ihr Geschöpf ist. Sie alle beide füllen für mich die Straße mit Erwartung, mit der Erwartung, Sie wiederzuerkennen, wenn Sie entweder aus der Ferne auf mich zukommen oder wenn ich Sie in der Ferne ahne und Ihnen folge. Dann ist die Stadt reizvoll für mich, und die Frauen, deren Gang dem Ihren gleicht, erfüllen mein Herz mit der ganzen Unruhe der Straße, halten meine Hoffnung wach, beschäftigen meine Augen und erwecken so etwas wie Lust, Sie zu sehen. Sie werden mich sehr egoistisch finden, meine arme Freundin, wenn ich Ihnen so von meiner Einsamkeit erzähle, wie ein alter gurrender Tauber, während Sie so schmerzliche Tränen vergießen. Vergeben Sie mir, ich bin so daran gewöhnt, von Ihnen verwöhnt zu werden, daß ich «Hilfe» rufe, wenn ich Sie nicht mehr habe. Ich küsse Ihre Füße, damit Sie Mitleid mit mir haben Olivier
Roncieres, den 30 Juli Mein Freund, vielen Dank für Ihren Brief. Zu wissen, daß Sie mich lieben, ist so ungeheuer wichtig für mich. Ich habe gerade fürchterliche Tage hinter
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mir. Ich glaubte wirklich, der Schmerz werde auch mich töten. Er saß in mir, wie ein in meine Brust eingelassenes Gewicht aus Leid, das immerzu schwerer wurde und mich erstickte und erwürgte. Der Arzt, den man rief, um das Nervenfieber, das mich vier- oder fünfmal am Tag befiel, zu lindern, gab mir Morphiumspritzen, was mich fast wahnsinnig machte, und die große Hitze, die wir durchlebten, verschlimmerte mein Befinden und versetzte mich in einen überreizten Zustand, der sich dem Delirium näherte. Seit dem großen Gewitter am Freitag bin ich etwas ruhiger geworden. Sie müssen wissen, daß ich seit dem Tag der Beerdigung überhaupt nicht mehr geweint habe, aber dann, während des nahenden Orkans, der mich so durcheinanderbrachte, fühlte ich auf einmal, daß Tränen aus meinen Augen zu fließen begannen, langsam, spärlich, klein und brennend. Oh, wie diese ersten Tränen schmerzten. Sie verletzten mich, als ob es Krallen gewesen waren, und meine Kehle war so zugeschnürt, daß mein Atem stockte. Dann flossen diese Tränen schneller, größer, feuchter. Sie sprudelten wie eine Quelle aus meinen Augen, und es wurden immer mehr und mehr und mehr, so daß mein Taschentuch völlig durchnäßt war und ich ein neues nehmen musste. Und das große Gewicht in meiner Brust schien leichter zu werden, zu schwinden, aus meinen Augen auszufließen. Seitdem weine ich von morgens bis abends, und das rettet mich. Wenn man nicht weinen könnte, würde man am Ende wirklich wahnsinnig werden oder sterben. Auch ich bin sehr einsam. Mein Mann unternimmt Ausfahrten und Ausritte in die Umgebung, und ich bestehe darauf, daß er Annette mitnimmt, um sie auf andere Gedanken zu bringen und sie ein wenig zu trösten. Sie fahren oder reiten bis zu acht oder zehn Wegstunden weit von Roncieres aus, und sie kommt trotz ihrer Traurigkeit blühend vor Jugendlichkeit und mit vor Lebenslust strahlenden Augen zu mir zurück, angeregt von der Landluft und dem Ausflug, den sie gemacht hat. Wie schön ist dieses Alter. Ich denke, wir werden hier noch vierzehn Tage oder drei Wochen bleiben, danach kommen wir, aus dem Grund, den Sie kennen, nach Paris zurück, auch wenn dort noch die Augusthitze herrscht. Ich schicke Ihnen alles, was von meinem Herzen übriggeblieben ist. Any
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Paris, den 4. August Ich halte es nicht mehr aus, meine teure Freundin, Sie müssen zurückkommen, denn es wird mir bestimmt etwas zustoßen. Ich frage mich, ob ich nicht krank bin, denn alles, was ich bi sher mit einem gewissen Vergnügen oder mit gelassener Gleichgültigkeit getan habe, ödet mich an. Außerdem ist es so heiß in Paris, daß jede Nacht zu einem türkischen Dampfbad von acht oder neun Stunden wird. Von der Strapaze dieses Schlafs im Schwitzbad stehe ich auf und wandle ein oder zwei Stunden vor einer weißen Leinwand auf und ab, in der Absicht, etwas darauf zu entwerfen. Aber mein Kopf, mein Auge, meine Hand sind unfähig dazu, ich bin kein Maler mehr!... Diese vergebliche Anstrengung zu arbeiten ist verzweiflungsvoll. Ich lasse Modelle kommen und bringe sie in Stellung, und weil sie mir nur Posen, Bewegungen und Empfindungen zeigen, die ich schon bis zum Überdruß gemalt habe, lasse ich sie sich wieder ankleiden und werfe sie hinaus. Ich kann tatsächlich nichts Neues mehr erkennen, und ich leide darunter, wie wenn ich blind geworden wäre. Woher kommt das? Handelt es sich um eine Ermüdung des Auges oder des Gehirns, ein Versiegen der künstlerischen Fähigkeit oder ein Erlahmen des Sehnervs? Wer weiß! Mir scheint, ich kann den Bereich des Unerforschten nicht mehr entdecken, zu dem mir bisher der Zugang offenstand. Ich sehe nur noch, was alle Welt kennt, ich male das, was alle schlechten Maler gemalt haben, ich habe nur noch den Einfallsreichtum und die Beobachtungsgabe eines Pedanten. Früher, es ist noch gar nicht lange her, schien mir die Zahl der neuen Motive unbegrenzt, und um sie zu verwirklichen, hatte ich eine solche Fülle von Mitteln, daß die Qual der Wahl mich zögern ließ. Und nun auf einmal hat sich die Welt der Gegenstände entvölkert, meine Erfindungskraft ist erlahmt und unergiebig. Die Leute, die an mir vorübergehen, sagen mir nichts mehr, ich entdecke nicht mehr die Eigenart und den Reiz, die ich früher mit so viel Lust in jedem menschlichen Wesen wahrnahm und die ich sichtbar zu machen versuchte. Ich glaube allerdings, daß ich ein sehr hübsches Porträt von Ihrer Tochter malen könnte. Kommt das daher, daß sie Ihnen so ähnlich sieht und Sie sich deshalb in meiner Erinnerung vermischen? Ja, so wird es sein.
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Wenn ich mich dann eine Weile bemüht habe, einen Mann oder eine Frau zu zeichnen, der oder die keinem der bekannten Modelle gleicht, dann entschließe ich mich, irgendwo essen zu gehen, denn ich habe nicht mehr den Mut, mich alleine in mein Speisezimmer zu setzen. Der Boulevard Malesherbes sieht aus wie eine Baumallee, die in eine tote Stadt eingeschlossen ist. Alle Häuser atmen Leere aus. Auf den Straßen versprühen Straßenkehrer weiße Regenfontänen und bespritzen damit das Holzpflaster, aus dem ein Dunstgemisch von Teer und weggeschwemmtem Pferdemist aufsteigt, und auf der ganzen Lange des Abhangs vom Park Monceau bis nach Saint-Augustin hinunter und nur fünf oder sechs schwarze Gestalten zu sehen, unbedeutende Passanten, Lieferanten oder Hausangestellte. Der Schatten der Platanen bildet rund um die Stamme auf den glühenden Gehwegen merkwürdige Flecken, die man für Nässe halten konnte, für verschüttetes Wasser, das verdunstet. Die bewegungslosen Blätter an den Zweigen und ihr grauer Schattenriß auf dem Asphalt spiegeln die Erschöpfung der sonnenversengten Stadt wider, die ruht und schwitzt wie ein Arbeiter, der auf einer Bank in der Sonne eingeschlafen ist. Ja, sie schwitzt, die Alte, sie stinkt fürchterlich aus den Mäulern ihrer Abflüsse, den Keller- und Küchenlöchern, den Rinnsteinen, in denen der Unrat ihrer Straßen abfließt. Ich denke in diesen Augenblicken an die Sommermorgen in Ihrem Garten und an die kleinen Feldblumen, die die Luft nach Honig duften ließen Dann betrete ich, schon angewidert, ein Restaurant, in dem mit ermatteten Gesichtern kahlköpfige, beleibte Männer mit geöffneter Weste und feuchtglänzender Stirn essen. Für alle Speisen ist es zu warm, die Melone zerfließt unter dem Eis, das Brot ist weich geworden, das Filet lappig, das Gemüse kocht ein zweites Mal, der Käse gärt, das Obst in der Auslage ist überreif. Angeekelt verlasse ich das Lokal und gehe nach Hause und versuche, mich vor dem Abendessen, das ich im Club einnehme, noch etwas auszuruhen. Dort treffe ich jedesmal Adelmans, Maldant, Rocdiane, Landa und noch viele andere, die mich langweilen und ermüden wie Drehorgeln. Jeder spielt seine eigene Weise, oder mehrere Weisen, die ich nun schon seit fünfzehn Jahren höre, und sie spielen sie alle gleichzeitig Abend für Abend in diesem Club, der angeblich ein Ort der Zerstreuung ist. Meinetwegen könnte man meine Generation
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auswechseln, meine Augen, meine Ohren und mein Geist sind ihrer überdrüssig geworden. Sie machen immer noch ihre Eroberungen, sie brüsten sich damit und beglückwünschen sich gegenseitig dazu. Ich gähne von acht Uhr bis Mitternacht jede Minute, und wenn ich dann nach Hause zurückkomme und zu Bett gehe, denke ich beim Ausziehen daran, daß es am nächsten Tag gerade so weitergeht. Ja, meine teure Freundin, ich bin in dem Alter, in dem das Junggesellenleben unerträglich wird, weil es für mich nichts Neues mehr gibt unter der Sonne. Ein Junggeselle muß jung, neugierig und erlebnishungrig sein. Wenn man das alles nicht mehr ist, dann wird es gefährlich, ungebunden zu bleiben. Himmel, wie habe ich meine Freiheit geliebt, einst, ehe ich Sie mehr als diese liebte. Und wie lastet sie heute auf mir. Für einen Hagestolz wie mich bedeutet Freiheit Leere, überall Leere, bedeutet den Weg zum Tod, auf dem es nichts mehr gibt, das einen hindert, das Ende zu sehen, es bedeutet die unablässig gestellte Frage: «Was soll ich tun? Wen könnte ich besuchen, um nicht alleine zu sein?» Und ich gehe von einem Freund zum andern, von einem Händeschütteln zum andern und bettle um ein wenig Freundschaft. Ich erhalte einzelne Krümel, die keinen Laib hergeben. Ich habe Sie, Sie, meine Freundin, aber Sie gehören mir nicht. Ja, vielleicht sind Sie sogar schuld an der Angst, unter der ich leide, denn der Wunsch nach Ihrer Nähe, nach Ihrer Gegenwart, nach einem gemeinsamen Dach über unsern Köpfen, nach denselben Mauern, die unser beider Leben umschließen, nach denselben Sorgen, die uns ängstigen, das Bedürfnis, Hoffnungen, Leid, Vergnügen, Fröhlichkeit, Trauer und auch die alltäglichen Dinge miteinander zu teilen, macht mich ja so unglücklich. Sie gehören mir, das heißt, ich stehle mir von Zeit zu Zeit ein wenig von Ihnen. Aber ich wurde gerne immerzu dieselbe Luft wie Sie atmen, alles mit Ihnen teilen, nur Dinge gebrauchen, die uns beiden gehören, ich möchte das Gefühl haben, daß alles, was mich umgibt, ebenso Ihnen gehört wie mir, das Glas, aus dem ich trinke, der Sessel, in dem ich mich ausruhe, das Brot, das ich esse, und das Feuer im Kamin, das mich erwärmt. Adieu, kommen Sie recht bald zurück. Ich leide zu sehr, fern von Ihnen. Olivier
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Roncieres, den 5.August Mein Freund, ich bin krank und so erschöpft, daß Sie mich nicht wiedererkennen würden. Ich glaube, ich habe zuviel geweint. Ich muß mich ein wenig erholen, ehe ich zurückkomme, denn ich kann mich in diesem Zustand nicht vor Ihnen sehen lassen. Mein Mann fährt übermorgen nach Paris zurück und wird Ihnen von uns berichten. Er rechnet damit, mit Ihnen irgendwo gemeinsam zu Abend zu essen, und ich soll Sie bitten, Sie möchten ihn gegen sieben Uhr bei sich zu Hause erwarten. Ich für mein Teil werde in Ihre Nähe zurückkehren, sobald ich mich etwas besser fühle, sobald ich nicht mehr dieses Leichengesicht habe, das mir selbst Furcht einflößt. Auch ich habe niemanden auf der Welt außer Annette und Ihnen, und jedem möchte ich alles geben, was ich geben kann, ohne es dem andern zu nehmen. Ich halte Ihnen meine Augen hin, die soviel geweint haben, damit Sie sie küssen. Anne Als Olivier Bertin diesen Brief erhielt, der den erneuten Aufschub der Rückkehr ankündigte, überkam ihn das Verlangen, ein übermächtiges Verlangen, einen Wagen zu nehmen, um den Bahnhof und den Zug nach Roncieres zu erreichen; dann dachte er daran, daß Monsieur de Guilleroy am nächsten Tag zurückkommen würde, und er fand sich damit ab und begann, die Ankunft des Ehegatten mit fast derselben Ungeduld herbeizusehnen, als handelte es sich um diejenige seiner Frau selbst. Niemals hatte er Guilleroy so sehr geliebt, wie während dieser vierundzwanzig Stunden, in denen er auf ihn wartete. Als er ihn eintreten sah, stürzte er ihm mit ausgestreckten Händen entgegen und rief «Ach, lieber Freund, wie glücklich bin ich, daß Sie da sind!» Sein Gegenüber schien ebenfalls sehr zufrieden, vor allem wohl, weil er wieder in Paris war, denn das Leben in der Normandie in den vergangenen drei Wochen war kein Vergnügen gewesen.
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Die beiden Männer setzten sich auf ein kleines zweisitziges Sofa in einer Ecke des Ateliers, unter einen Baldachin aus orientalischen Tüchern, und sie faßten sich noch einmal gerührt bei den Händen und drückten sie sich. «Und die Gräfin, wie geht es ihr?» fragte Bertin «Oh! Nicht so besonders gut Es hat sie sehr getroffen, sehr mitgenommen, und sie erholt sich nur langsam. Ich gestehe, ich mache mir etwas Sorgen.» «Aber warum kommt sie nicht zurück?» «Das weiß ich auch nicht Es ist mir nicht gelungen, sie zu überreden, mit mir heimzukommen. » «Was macht sie denn den ganzen Tag?» «Mein Gott, sie weint, sie denkt an ihre Mutter. Das tut ihr nicht gut. Mir wäre es recht, wenn sie sich entschließen könnte, eine Luftveränderung vorzunehmen, den Ort zu verlassen, wo das geschehen ist, Sie verstehen schon?» «Und Annette?» «Oh, sie - eine aufgeblühte Blume. » Olivier lächelte vor Glück. Er fragte weiter: «War sie sehr unglücklich?» «Ja, sehr, sehr, aber Sie wissen ja, mit achtzehn Jahren hält ein Kummer nicht lange vor.» Nach einer kleinen Pause fuhr Guilleroy fort «Wo wollen wir essen gehen, mein Lieber? Ich brauche dringend Ablenkung, ich muß lärmendes Leben um mich hören und sehen. » «Nun, in dieser Jahreszeit ist da wohl das ‹Cafe des Ambassadeurs› das richtige. » Sie brachen untergehakt auf zu den Champs-Elysees. Getrieben von der Neugier des zurückkehrenden Parisers, für den die Stadt nach jeder Abwesenheit verjüngt und voll möglicher Überraschungen zu sein scheint, fragte Guilleroy den Maler über tausend Einzelheiten aus, über das, was sich ereignet hatte, und das, was geredet worden war, und nach teilnahmslosen Antworten, in denen sich seine ganze Einsamkeit spiegelte, brachte Olivier das Gespräch auf Roncieres; er versuchte, in diesem Mann und seiner unmittelbaren Umgebung etwas von dem fast greifbaren gewissen Etwas zu finden und zu erhaschen,
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das Menschen in jemandem zurücklassen, mit dem sie bis vor kurzem zusammen waren, das kaum spürbare Fluidum eines menschlichen Wesens, das man mitnimmt, wenn man es verläßt, das einige Stunden an einem haftet und sich dann in der neuen Umgebung verflüchtigt. Der schwere Himmel eines Sommerabends hing über der Stadt und dem breiten Boulevard, und unter den Baumkronen begannen die munteren Refrains der Freiluftkapellen auf und ab zu schwingen. Die beiden Männer saßen auf dem Balkon des «Cafe des Ambassadeurs» und sahen unter sich die noch leeren Stühle und Bänke in dem bis zu dem kleinen Theater abgegrenzten Raum; dort stellten die Sängerinnen ihre blendenden Toiletten und den rosigen Teint ihrer Haut in dem bleiernen Licht der elektrischen Lampenkugeln und des schwindenden Tages zur Schau. Gerüche von Gebratenem, von Soßen und heißen Speisen mischten sich in den unmerklichen Luftzug, der zwischen den Kastanienbäumen wehte, und als eine Dame in Begleitung eines schwarzgekleideten Herrn auf der Suche nach ihrem reservierten Platz vorbeiging, hinterließ sie auf ihrem Weg den berauschenden und frischen Duft ihres Kleides und ihres Körpers. Guilleroy strahlte und sagte leise: «Oh! Ich bin wirklich lieber hier als da unten.» «Und ich wäre lieber da unten als hier.», antwortete Bertin. «Nanu!» «Bei Gott, ich finde Paris in diesem Sommer ekelhaft.» «Aber mein Bester, es ist doch immer noch Paris!» Für den Abgeordneten schien es ein gelungener Tag, einer dieser seltenen Tage übermütiger Ausgelassenheit, an denen ernsthafte Männer zu Dummheiten aufgelegt sind. Er betrachtete zwei Halbweltdamen, die an einem der Nachbartische mit drei mageren, über alle Maßen korrekten Herren speisten, und er fragte Olivier hinterlistig nach allen stadtbekannten Mädchen mit einem gewissen Ruf aus, deren Namen er täglich nennen hörte. Dann murmelte er im Ton tiefsten Bedauerns: «Sie haben Glück, daß Sie Junggeselle geblieben sind. Sie können sich so viel erlauben und so viel erleben.» Aber der Maler protestierte, und er machte es wie alle, die von einer Vorstellung besessen sind, er machte Guilleroy zum Vertrauten seines Kummers und seiner Einsamkeitsgefühle. Als er ihm alles gesagt
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hatte, als er die Litanei seiner schwermütigen Gedanken zu Ende gebetet und mit aller Naivität, getrieben von dem Bedürfnis, sein Herz zu erleichtern, erzählt hatte, wie sehr er sich die Liebe und die Nähe einer Frau an seiner Seite gewünscht hätte, da gab der Graf seinerseits zu, daß die Ehe ihr Gutes habe. Er fand zu seiner parlamentarischen Beredsamkeit zurück und pries sein behagliches häusliches Leben und sang ein großes Loblied auf die Gräfin, dem Olivier mit vielem Kopfnicken ernsthaft zustimmte. Er war einerseits glücklich, von ihr reden zu hören, andererseits aber eifersüchtig auf dieses vertraute Glück, das Guilleroy nur aus Pflicht besang, und so beschloß er die Unterhaltung, indem er mit aufrichtiger Überzeugung murmelte: «Ja, Sie haben Glück gehabt, wirklich!» Der Abgeordnete fühlte sich geschmeichelt und stimmte zu, dann sagte er: «Ich würde es begrüßen, wenn sie zurückkäme, sie macht mir zur Zeit wirklich Sorgen. Passen Sie auf, wenn Sie sich hier in Paris langweilen, sollten Sie nach Roncieres fahren und sie zurückholen. Auf Sie wird sie hören, Sie sind ja ihr bester Freund; während ein Ehegatte... Sie wissen schon...» Olivier antwortete beglückt: «Nichts, was ich lieber täte. Aber... glauben Sie nicht, daß sie ärgerlich wird, wenn ich einfach so ankomme?» «Nein, bestimmt nicht; fahren Sie nur, mein Bester.» «Dann bin ich einverstanden. Ich werde morgen mit dem Ein-UhrZug fahren. Soll ich ihr ein Telegramm schicken?» «Nein, das übernehme ich. Ich werde sie benachrichtigen, damit Sie einen Wagen am Bahnhof vorfinden.» Sie hatten ihr Abendessen beendet und gingen zurück auf die Boulevards; aber nach weniger als einer halben Stunde verabschiedete sich der Graf unvermittelt von dem Maler, unter dem Vorwand einer dringenden Angelegenheit, die er völlig vergessen habe. II Die Gräfin und ihre Tochter, beide in Trauerkleidung, setzten sich gerade einander gegenüber im großen Saal von Roncieres an den
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Mittagstisch. Die naiv gemalten Porträts von zwei Ahnen, der eine in Rüstung, der andere im enganliegenden Leibrock, dieser gepudert, ein Offizier der französischen Gardetruppen, jener ein Oberst aus der Restaurationszeit, vervollständigten an den Wänden die Sammlung der abgeschiedenen Guilleroys in ihren alten Rahmen, von denen das Gold abblätterte. Zwei Bedienstete begannen, den zwei schweigsamen Frauen lautlos das Essen zu servieren; und die Fliegen bildeten eine kleine wirbelnde und summende Wolke aus schwarzen Punkten um den Kronleuchter über dem Tisch. «Öffnen Sie die Fenster, hier drinnen ist es etwas kühl», sagte die Gräfin. Die drei hohen Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und so breit wie Türen waren, wurden mit beiden Flügeln geöffnet. Ein Schwall lauer Luft, der den Duft warmen Grases und entfernte ländliche Geräusche mit sich führte, drang unvermittelt durch die drei großen Öffnungen und vermischte sich mit der etwas feuchten Luft des tiefen, von den dicken Mauern des Schlosses umgebenen Raumes. «Ah, das tut gut», sagte Annette und atmete in vollen Zügen durch. Die Blicke der beiden Frauen waren nach draußen gerichtet, und unter dem wolkenlosen Himmel, den der über den sonnendurchtränkten Boden flimmernde Mittagsdunst leicht verschleierte, sahen sie die weite grüne Wiese des Parks mit ihren verstreuten Baumgruppen und ihren Ausblicken hinaus ins weite Land, das bis zum Horizont gelb erstrahlte unter dem goldenen Tuch der reifen Felder. «Nach dem Mittagessen wollen wir einen langen Spaziergang machen», sagte die Gräfin. «Wir könnten zu Fuß bis nach Berville gehen und den Weg den Bach entlang nehmen, denn übers freie Feld wird es wohl zu heiß sein.» «Ja, Mama, und wir nehmen Julio mit, damit er die Rebhühner aufscheucht.» «Du weißt, daß dein Vater das verbietet.» «Oh, Papa ist ja in Paris. Es ist so lustig, wenn Julio hinter etwas her ist. Schau, dort ärgert er die Kühe. Mein Gott, ist er komisch.» Sie stieß ihren Stuhl zurück, stand auf, rannte zum Fenster und rief: «Faß, Julio, faß!»
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Auf dem Rasen lagen drei schwere, sattgefressene, von der Hitze ermüdete Kühe und ruhten sich auf der Seite liegend, mit aufgeblähtem und vom Boden nach oben gedrücktem Bauch, aus. Ein schlanker, weiß-roter Jagdspaniel, dessen lange lockige Ohren bei jedem Satz in die Luft flogen, rannte bellend, mit wilden Sprüngen und mit einer spielerischen, vorgeblich bedrohlichen Angriffslust, von einer zu andern und versuchte, die drei schweren Tiere zum Aufstehen zu bewegen, die dazu aber keine Lust hatten. Es handelte sich anscheinend um das Lieblingsspiel des Hundes, das er jedesmal wieder begann, wenn er die ausgestreckt daliegenden Kühe sah. Diese betrachteten ihn unwillig, aber furchtlos mit ihren großen, feuchten Augen und drehten die Köpfe, um ihm zuzusehen. Annette rief vom Fenster aus: «Los, los, Julio!» Und der aufgeregte Spaniel wurde noch kühner, beute lauter, wagte sich ganz nahe heran und tat so, als ob er zupacken wollte. Sie wurden unruhig, und das nervöse Zucken ihres Fells, mit dem sie die Fliegen vertreiben, nahm zu und hielt länger an. Plötzlich konnte der Hund einen seiner Sprünge nicht mehr rechtzeitig beherrschen, landete in vollem Lauf vor einer Kuh und mußte über sie hinwegspringen, um nicht gegen sie zu rennen. Das schwere Tier wurde bei dem Sprung gestreift und bekam Angst; es hob den Kopf und stellte sich dann ganz langsam unter heftigem Schnauben auf seine vier Beine. Als die beiden andern es stehen sahen, erhoben sie sich ebenfalls, und Julio tanzte im Triumph um sie herum, während Annette ihn lobte. «Bravo, Julio, bravo!» «Los jetzt», sagte die Gräfin, «komm zum Essen, mein Kind.» Aber das junge Mädchen hielt die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen, und verkündete: «Da kommt der Telegrammbote.» Auf dem Weg, der zwischen den Weizen- und Haferfeldern verborgen lag, schien ein blaues Hemd über die Ährenfläche zu gleiten, und es näherte sich dem Schloß mit den rhythmischen Schritten eines Mannes. «Mein Gott», murmelte die Gräfin, «hoffen wir, daß es keine schlechte Nachricht ist.» Sie zitterte noch unter dem Schock, den die Nachricht vom Tod eines geliebten Wesens durch ein Telegramm lange Zeit in uns
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hinterläßt. Es würde ihr von jetzt an nicht mehr gelingen, den zugeklebten Verschluß aufzureißen und das kleine blaue Papier zu öffnen, ohne ein Zittern in den Fingern und ein Beben in ihrem Innern zu fühlen und zu glauben, daß dieses gefaltete Papier, das nur so langsam geöffnet werden konnte, eine traurige Nachricht enthalte, die ihre Tränen aufs neue zum Fließen bringen würde. Annette dagegen, voll jugendlicher Neugier, freute sich über alles Unvorhergesehene, was auf uns zukommt. Ihr Herz, das das Leben gerade zum ersten Mal verwundet hatte, konnte aus der schwarzen gefürchteten Tasche, die die Postboten an der Seite tragen und die so viele aufregende Nachrichten in den Straßen der Städte und auf den Wegen auf dem Land verteilt, nur freudige Neuigkeiten erwarten. Die Gräfin hörte auf zu essen und verfolgte in Gedanken das Herannahen des Boten, des Überbringers einiger geschriebener Worte, einiger Worte, die sie vielleicht wie ein Messerstich in die Kehle verletzten. Die Angst vor dem Wissen raubte ihr den Atem, und sie versuchte zu erraten, was für eine eilige Nachricht das sein könnte. Worum ging es? Von wem kam sie? Der Gedanke an Olivier schoß ihr durch den Kopf. War er krank? Vielleicht auch gestorben? Die zehn Minuten, die sie warten mußte, schienen ihr endlos. Als sie dann das Telegramm aufgerissen und die Unterschrift ihres Mannes erkannt hatte, las sie: «Ich teile Dir mit, daß unser Freund Bertin mit dem Ein-Uhr-Zug nach Roncieres aufbricht. Schicke Wagen Bahnhof. Grüße.» «Nun, Mama?» fragte Annette. «Monsieur Olivier Bertin kommt uns besuchen.» «Ah, was für ein Glück! Und wann?» «Gleich.» «Um vier Uhr?» «Ja.» «Oh, wie nett von ihm.» Aber die Gräfin war blaß geworden, denn seit einiger Zeit wuchs in ihr eine neue Sorge, und die unvermutete Ankunft des Malers schien ihr eine ebenso unangenehme Bedrohung wie alles andere, was sie hätte vorausahnen können.
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«Du wirst ihn mit dem Wagen abholen», sagte sie zu ihrer Tochter. «Und du, Mama? Kommst du nicht mit?» «Nein, ich werde euch hier erwarten.» «Warum? Das wird ihm leid tun.» «Mir geht es nicht so gut.» «Gerade wolltest du noch zu Fuß nach Berville gehen!» «Ja, aber das Mittagessen ist mir schlecht bekommen.» «Du wirst dich gleich besser fühlen.» «Nein, im Gegenteil; ich werde in mein Zimmer hinaufgehen. Sag mir Bescheid, wenn ihr da seid.» «Ja, Mama.» Die Gräfin gab noch Anweisung, den Wagen zur vorgegebenen Stunde anzuspannen und das Gästezimmer herzurichten, und ging dann in ihr Zimmer und schloß sich dort ein. Das Leben hatte ihr bisher kaum Schmerzen bereitet, es war einzig durch die Liebe Oliviers erschüttert worden, und die Anstrengung, diese Liebe zu erhalten, hatte es belebt. Es war ihr gelungen, und sie war in diesem Kampf immer siegreich geblieben. Ihr Herz wiegte sich in Erfolgen und Ruhm und entwickelte sich zum verwöhnten Herzen der Dame von Welt, der alles Glück der Erde gebührt. Zuerst hatte sie in eine glänzende Heirat eingewilligt, in der Neigung keine Rolle spielte, dann hatte sie die Liebe als Ergänzung zu einem glücklichen Leben hingenommen und in eine schuldhafte Beziehung eingewilligt, hauptsächlich weil sie verführt worden war, aber auch weil sie an das reine Gefühl glaubte, und nun hatte sie sich verschanzt und verbarrikadiert in diesem Glück, das ihr der Zufall schenkte, und hatte keinen andern Wunsch, als es gegen die Überraschungen jedes neuen Tages zu verteidigen. Mit der Bereitwilligkeit einer hübschen Frau hatte sie also die angenehmen Dinge, die sich ihr boten, entgegengenommen und es verstanden, das, was ihr das Schicksal brachte, mit sparsamer, kluger Umsicht zu genießen, wenig abenteuerlustig, kaum getrieben von neuen Bedürfnissen oder der Lust nach Unbekanntem, aber zärtlich, zäh und vorausschauend, mit der Gegenwart zufrieden und von Natur aus besorgt um die Zukunft. Dann ganz allmählich, ohne daß sie es sich einzugestehen wagte, hatte
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sich in ihr Inneres die undeutliche Angst vor dem Dahinschwinden der Tage und dem Herannahen des Alters eingeschlichen. Es war wie ein kleiner Stachel in ihren Gedanken, der keine Ruhe gab. Aber da sie genau wußte, daß diese Talfahrt des Lebens unaufhaltsam ist, wenn sie einmal begonnen hat, wich sie dem Gefühl der Gefahr aus, schloß die Augen und lebte weiter, als ob nichts wäre, um ihren Traum zu erhalten und nicht vom Schwindel vor dem Abgrund und von der Verzweiflung über ihre Ohnmacht erfaßt zu werden. So lebte sie also mit einem Lächeln und mit einer Art affektiertem Stolz, ihre Schönheit so lange erhalten zu haben; und als Annette mit der Frische ihrer achtzehn Jahre neben ihr auftauchte, da litt sie nicht unter ihrer Nähe, im Gegenteil, sie war geschmeichelt, daß man sie mit ihren Reizen der erfahrenen reifen Frau diesem jungen Mädchen vorziehen konnte, das im strahlenden Glanz der ersten Jugend erblühte. Sie fühlte sich sogar am Beginn eines neuen, ruhigen, glücklichen Lebensabschnitts, als sie der Tod ihrer Mutter bis ins Herz traf. In den ersten Tagen erfaßte sie eine tiefe Verzweiflung, die für keinen andern Gedanken Raum ließ. Vo n morgens bis abends verharrte sie in Trauer um die Tote und versuchte, sich an tausend Kleinigkeiten zu erinnern, an vertraute Worte, an ihre frühere Gestalt, an die Kleider, die sie einst getragen hatte, so als ob sie tief in ihrem Gedächtnis Reliquien gespeichert und in der dahingeschwundenen Vergangenheit alle kleinen vertrauten Erinnerungen aufgesammelt hätte, mit denen sie nun ihre schmerzlichen Träumereien nährte. Als sie dann schließlich in einen Zustand äußerster Verzweiflung geraten war und alle Augenblicke Nervenkrisen und Ohnmachtsanfälle hatte, da löste sich der ganze angestaute Schmerz in einem Strom von Tränen und floß Tag und Nacht aus ihren Augen. Eines Morgens, als ihr Zimmermädchen eintrat und beim Öffnen der Läden und Fenster fragte: «Wie geht es Madame heute?», antwortete sie, erschöpft und zerschlagen vom Weinen, wie sie sich fühlte: «Oh, gar nicht gut. Ich kann wirklich nicht mehr.» Die Dienerin, die das Teetablett hielt, sah ihre Herrin an; sie war betroffen, sie so bleich in ihrem weißen Bett liegen zu sehen, und stammelte traurig und treuherzig: «Es stimmt, Madame sehen sehr schlecht aus. Madame würden gut daran tun, sich etwas zu schonen.»
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Der Ton, in dem sie dies sagte, hinterließ im Herzen der Gräfin einen kleinen Stich, wie von einer Nadelspitze, und sobald das Mädchen das Zimmer verlassen hatte, stand sie auf, um sich in ihrem großen Spiegelschrank zu betrachten. Bestürzt stand sie sich gegenüber; sie erschrak über ihre eingefallenen Wangen, ihre geröteten Augen und über die Verwüstung, die diese wenigen Tage des Leidens in ihrem Gesicht angerichtet hatten. Dieses Gesicht, das sie so gut kannte, das sie schon so oft in den verschiedensten Spiegeln betrachtet hatte, von dem ihr jeder Ausdruck, jede Feinheit jedes Lächeln vertraut war, dessen Blässe sie schon häufig weggeschminkt, dessen Anzeichen von Müdigkeit sie beseitigt und dessen leichte Falten in den Augenwinkeln, die bei Tageslicht sichtbar wurden, sie getilgt hatte, schien ihr plötzlich einer andern Frau zu gehören, es war ein neues, unheilbar krankes Gesicht, das sich auflöste. Um sich besser sehen und das unerwartete Übel besser feststellen zu können, näherte sie sich dem Spiegel, bis sie ihn mit der Stirn berührte, und ihr Atem bildete einen Beschlag auf dem Glas, der das leichenblasse Bild, das sie betrachtete, verdunkelte und beinahe auslöschte. Sie mußte ein Taschentuch nehmen, um den Hauch ihres Atems wegzuwischen, und von einer seltsamen Erregung gepackt, untersuchte sie lange und geduldig die Veränderungen in ihrem Gesicht. Sie spannte mit leichtem Fingerdruck die Haut der Wangen und glättete die Stirn, strich das Haar zurück und hob die Augenlider an, um das Weiße des Augapfels zu betrachten. Dann öffnete sie den Mund und untersuchte ihre etwas verfärbten Zähne, in denen Gold glänzte, und sie beunruhigte sich über das blasse Zahnfleisch und den gelben Teint der Haut über den Wangen und an den Schläfen. Sie war mit solcher Aufmerksamkeit bei der Betrachtung ihrer schwindenden Schönheit, daß sie nicht hörte, wie die Tür aufging, und sie erschrak bis ins Herz, als ihr Zimmermädchen hinter ihr sagte: «Madame haben vergessen, Ihren Tee zu trinken.» Die Gräfin drehte sich verwirrt, überrascht und beschämt um, und das Mädchen, das ihre Gedanken erriet, sagte: «Madame haben zuviel geweint, nichts ist schädlicher für die Haut als Tränen. Das kommt daher, daß sich das Blut in Wasser verwandelt.»
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Als die Gräfin traurig einwarf: «Es ist auch das Alter», rief das Mädchen: «O nein, Madame, so weit ist es noch nicht mit Ihnen. Ein paar Tage Ruhe, und man wird nichts mehr sehen. Aber Madame müssen Spazierengehen und aufpassen, daß Sie nicht mehr weinen.» Sobald die Gräfin angezogen war, ging sie in den Park hinunter, und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter stattete sie dem kleinen Garten, in dem sie früher so gerne die Blumen pflegte und pflückte, einen Besuch ab; dann erreichte sie den Fluß und ging an ihm entlang, bis es Zeit zum Mittagessen war. Als sie sich ihrem Gatten gegenüber neben ihre Tochter an den Tisch setzte, fragte sie, um deren Meinung zu hören: «Ich fühle mich heute besser; ich sehe wohl etwas weniger blaß aus?» Der Graf antwortete: «Oh, du siehst immer noch ziemlich elend aus.» Ihr Herz krampfte sich zusammen, und ihre Augen wurden feucht von den aufsteigenden Tränen, denn es war ihr zur Gewohnheit geworden zu weinen. Bis zum Abend und auch am nächsten Tag und an den darauffolgenden Tagen fühlte sie jeden Augenblick beim Gedanken an ihre Mutter oder an sich selbst, wie Tränen unter ihren Augenlidern aufstiegen und ihr die Kehle zuschnürten; um sie nicht fließen zu lassen und dadurch ihre Wangen auszuhöhlen, unterdrückte sie sie und zwang sich mit einer übermenschlichen Willensanstrengung, ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken, sie zu beherrschen und zu bändigen und von ihren Sorgen fernzuhalten; so versuchte sie, sich zu trösten und zu zerstreuen und die traurigen Geschehnisse zu vergessen, um ihre Gesundheit und ihr frisches Aussehen zurückzugewinnen. Sie wollte auf keinen Fall nach Paris zurückkehren und Olivier Bertin wiedersehen, ehe sie nicht wieder sie selbst geworden war. Sie bemerkte, daß sie zu sehr abgenommen hatte und daß der Körper von Frauen ihres Alters etwas üppiger sein muß, wenn er sich frisch erhalten soll; deshalb versuchte sie, sich auf den Wegen und in den Wäldern der Umgebung Appetit zu verschaffen, und obgleich sie von diesen Gängen ermüdet und ohne Hunger zurückkehrte, so zwang sie sich doch, reichlich zu essen.
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Der Graf, der nach Paris zurückwollte, konnte ihre Starrköpfigkeit nicht mehr verstehen. Er erklärte schließlich angesichts ihres unüberwindlichen Widerstands, daß er alleine fahren werde und es der Gräfin freistelle zurückzukommen, wann sie wolle. Tags darauf erhielt sie das Telegramm, das die Ankunft Oliviers ankündigte. Sie wollte fliehen, so groß war ihre Angst vor dem ersten Wiedersehen. Sie hätte lieber noch ein oder zwei Wochen gewartet. Wenn man sich pflegt, kann man sein Gesicht in einer Woche vollkommen verändern, auch gesunde und junge Frauen sind aus geringem Anlaß von einem Tag auf den andern nicht wiederzuerkennen. Aber der Gedanke, in vollem Tageslicht, im Freien, unter dem strahlenden Augusthimmel, an der Seite der blühenden Annette vor Olivier zu erscheinen, beunruhigte sie so, daß sie auf der Stelle beschloß, nicht zum Bahnhof zu fahren, sondern ihn im Halbschatten des Salons zu erwarten. Sie war in ihr Zimmer hinaufgegangen und dachte nach. Ein heißer Windzug bewegte ab und zu die Vorhänge. Das Zirpen der Grillen erfüllte die Luft. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so unglücklich gefühlt. Es war nicht mehr der große vernichtende Schmerz, der ihr Herz vor dem entseelten Körper der heißgeliebten Mama zermalmt, zerrissen, zerschmettert hatte. Dieser Schmerz, von dem sie geglaubt hatte, er sei unheilbar, war in wenigen Tagen schwächer geworden und nur noch ein erinnertes Leiden. Jetzt fühlte sie sich überflutet und fortgeschwemmt von einem Strom tiefer Schwermut, in dem sie ganz langsam versunken war und aus dem sie nie wieder auftauchen würde. Sie hatte das Bedürfnis zu weinen, ein unwiderstehliches Bedürfnis und wollte es doch nicht. Jedesmal, wenn sie spürte, daß ihre Augenlider feucht wurden, trocknete sie sie rasch, stand auf, bewegte sich und blickte in den Park hinunter oder sah den Raben zu, die über den hohen Bäumen der Wälder im blauen Himmel ihre langsamen schwarzen Flugbahnen zogen. Dann ging sie zu ihrem Spiegel, maß sich mit einem Blick, wischte die Spur einer Träne aus dem Auge, indem sie den Augenwinkel mit einer Puderquaste betupfte, und sie schaute auf die Uhr, um zu erraten, an welchem Punkt des Wegs er jetzt sein mochte.
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Wie alle Frauen, die von einer eingebildeten oder begründeten Seelenangst getrieben werden, klammerte sie sich mit einer schwärmerischen Liebe an ihn. Er war alles für sie, alles, alles, mehr als das Leben, alles, zu dem ein Wesen wird, das man ausschließlich liebt, wenn man sein Alter herannahen fühlt! Mit einemmal hörte sie in der Ferne einen Peitschenknall, sie eilte zum Fenster und sah den Wagen im raschen Trab der beiden Pferde den Rasen umrunden. Olivier, der hinten neben Annette saß, schwenkte sein Taschentuch, als er die Gräfin sah, und sie antwortete auf dieses Zeichen mit einem grüßenden Winken beider Hände. Dann kam sie mit klopfendem Herzen, aber jetzt doch sehr glücklich, herunter, voll Freude, ihn so nahe bei sich zu haben und mit ihm reden und ihn sehen zu können. Sie begegneten sich im Vorzimmer vor der Tür des Salons. Mit einer unwiderstehlichen Bewegung breitete er seine Arme aus und sagte mit warmer, gerührter Stimme: «Meine arme Gräfin, ach, gestatten Sie mir, daß ich Sie umarme.» Sie schloß die Augen, neigte sich zu ihm, preßte sich an ihn und hielt ihm ihre Wangen hin, und während er seine Lippen darauf drückte, flüsterte sie ihm ins Ohr: «Ich liebe dich!» Olivier betrachtete sie, ohne ihre Häände, die er fest in den seinen hielt, loszulassen, und sagte: «Was für ein trauriges Gesicht sehe ich da?» Sie fühlte sich elend. Er fuhr fort: «Ja, ein wenig blaß, aber das ist nicht schlimm.» Um ihm zu danken, stammelte sie: «Ach, mein teurer Freund, mein teurer Freund!» Sie fand keine anderen Worte. Aber schon hatte er sich umgedreht und suchte Annette, die verschwunden war, und er sagte unvermittelt: «Nicht wahr, es ist merkwürdig, Ihre Tochter in der Trauerkleidung zu sehen?» «Warum?» fragte die Gräfin. Er rief mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit: «Wieso ‹warum›? Es ist doch Ihr Porträt, das ich gemalt habe, es ist mein Porträt! Es sind Sie, so wie ich Sie einst kennenlernte, als ich bei der Herzogin den Salon betrat. Sie erinnern sich doch noch an diese Tür, durch die Sie unter
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meinen Blicken hindurchrauschten, wie eine Fregatte unter dem Kanonendonner einer Festung. Verflixt noch mal, als ich vorhin am Bahnhof die Kleine auf dem Bahnsteig stehen sah, ganz in Schwarz, das Gesicht umrahmt vom sonnigen Kranz ihres blonden Haars, da stand mir das Herz still. Ich dachte, ich müßte augenblicklich in Tränen ausbrechen. Ich sage Ihnen, das ist zum Verrücktwerden, wenn man Sie so gekannt hat wie ich, ich, der ich Sie genauer betrachtet und mehr geliebt habe als jeder andere und Sie auf der Leinwand verewigt habe, Madame. Ach, ich habe doch tatsächlich gedacht, Sie hätten sie mir alleine zum Bahnhof entgegengeschickt, um mir diese Überraschung zu bereiten. Mein Gott, wie verblüfft ich war! Ich sage Ihnen, das ist zum Verrücktwerden!» Er rief: «Annette, Nané!» Die Stimme des jungen Mädchens antwortete von draußen, denn sie gab den Pferden gerade Zucker: «Hier bin ich, hier.» «Komm doch rein!» Sie kam angerannt. «Da, stell dich ganz dicht neben deine Mutter.» Sie tat es, und er verglich sie miteinander; aber er wiederholte ohne Überzeugung nur mechanisch: «Ja, das ist erstaunlich, das ist erstaunlich», denn so Seite an Seite glichen sie sich weniger als vor ihrer Abreise aus Paris: das junge Mädchen hatte in dieser schwarzen Kleidung einen neuen Ausdruck strahlender Jugend gewonnen, während die Mutter schon lange nicht mehr diesen Glanz der Haare und der Haut besaß, mit dem sie damals den Maler betörte und berauschte, als sie ihm zum ersten Mal begegnete. Die Gräfin und er traten in den Salon. Er schien überglücklich. «Ach, war das eine gute Idee von mir, hierherzukommen», sagte er. Er verbesserte sich: «Nein, es war Ihr Gatte, der sie für mich hatte. Er gab mir den Auftrag, Sie zurückzuholen. Und wissen Sie, was ich Ihnen vorschlage? - Nein, das können Sie nicht ahnen - ich schlage Ihnen vor, hierzubleiben. Paris ist in dieser Hitze abscheulich, während der Aufenthalt auf dem Land herrlich ist. Mein Gott, wie schön ist es hier!»
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Die Abendkühle legte sich über den Park, bewegte sanft die Bäume und ließ aus dem Boden kaum wahrnehmbare Nebel aufsteigen, die über den Horizont einen leichten, durchsichtigen Schleier zogen. Die drei Kühe standen mit gesenkten Köpfen und grasten gierig, und vier Pfauen hoben mit lautem Flügelschlagen vom Boden ab und bäumten in einer Zeder unter den Fenstern des Schlosses auf, wo sie für gewöhnlich schliefen. In der Ferne bellten Hunde, und in der Stille dieses zu Ende gehenden Tages hörte man Rufe menschlicher Stimmen, über die Felder von einem Ende zum andern hingeworfene Sätze und die kurzen, kehligen Laute, mit denen die Tiere heimgetrieben wurden. Der Maler atmete in vollen Zügen, barhäuptig und mit leuchtenden Augen, und als die Gräfin ihn ansah, sagte er: «Das ist das Glück.» Sie schmiegte sich an ihn: «Es ist nie von Dauer.» «Ergreifen wir es, wenn es da ist.» Sie sagte lächelnd: «Bisher mochten Sie doch das Landleben überhaupt nicht.» «Jetzt mag ich es, weil Sie hier sind. Ich könnte nirgendwo mehr leben, wo Sie nicht sind. Wenn man jung ist, kann man sich über Entfernungen hinweg lieben, mit Briefen, durch Gedanken, aus reiner Schwärmerei, wohl weil man fühlt, daß das Leben noch vor einem liegt, vielleicht aber auch, weil es sich mehr um Leidenschaft als um ein Herzensbedürfnis handelt; in meinem Alter dagegen ist die Liebe eine anfällige Gewohnheit geworden, ein Pflaster für die Seele, die sich seltener zu Idealen aufzuschwingen vermag, weil sie nur noch mit einem Flügel schlägt. Das Herz kennt keine Rauschzustände mehr, sondern nur noch egoistische Bedürfnisse. Und im übrigen fühle ich, daß ich keine Zeit mehr verlieren darf, wenn ich die mir verbleibenden Tage auskosten will.» «Oh! Alt geworden!» sagte sie und nahm seine Hand. Er wiederholte: «Ja, sicher, sicher. Ich bin alt. Alles zeigt es: mein Haar, meine veränderte Stimmung, die Traurigkeit, die mich befällt. Zum Teufel, das habe ich bisher nicht gekannt Traurigkeit. Wenn mir jemand im Alter von dreißig Jahren gesagt hätte, daß ich eines Tages ohne Grund traurig, unruhig und mit allem unzufrieden sein würde,
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hätte ich ihm nicht geglaubt. Das beweist, daß auch mein Herz gealtert ist.» Sie erwiderte aus tiefer Überzeugung: «Oh, ich, ich habe ein ganz junges Herz, es hat sich nicht verändert; oder vielleicht doch, es ist etwas jünger geworden. Es war zwanzig Jahre alt, jetzt ist es höchstens sechzehn.» Sie standen lange am offenen Fenster und plauderten, eins mit der Abendstimmung, ganz nahe beieinander, näher denn je in dieser Stunde der Zärtlichkeit, die über sie hereindämmerte wie der Abend. Ein Diener trat ein und meldete: «Frau Gräfin, es ist angerichtet.» Sie fragte: «Haben Sie meiner Tochter Bescheid gesagt?» «Mademoiselle ist schon im Speisezimmer.» Sie setzten sich alle drei an den Tisch. Die Läden waren geschlossen, und zwei große Leuchter mit sechs Kerzen beschienen Annettes Gesicht und ließen ihr Haar wie mit Gold gepudert erscheinen. Bertin betrachtete sie unablässig und lächelte. «Mein Gott, wie hübsch sie ist in Schwarz», sagte er. Und während er die Tochter bewunderte, wandte er sich der Gräfin zu, als ob er der Mutter danken wollte, daß sie ihm diese Freude bescherte. Als sie in den Salon zurückkehrten, war der Mond über den Bäumen des Parks aufgegangen. Ihre dunkle Masse sah aus wie eine Insel, und die Landschaft rundherum wirkte unter dem leichten Nebel, der über sie hinzog, wie ein verborgenes Meer. «O Mama, laß uns Spazierengehen», sagte Annette. Die Gräfin willigte ein. «Ich nehme Julio mit.» «Gerne, wenn du magst.» Sie brachen auf. Das junge Mädchen ging voraus und spielte mit dem Hund. Als sie die Wiese entlanggingen, hörten sie das Schnaufen der Kühe, die erwacht waren, ihren Feind witterten und die Köpfe hoben, um Ausschau zu halten. Weiter hinten unter den Bäumen zerfiel das Mondlicht zwischen den Zweigen in einen Regen feiner Strahlen, die bis zum Boden hinabglitten, die Blätter benetzten und
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sich auf den Wegen wie kleine, gelbe, leuchtende Pfützen ausbreiteten. Annette und Julio rannten und schienen unter diesem hellen Nachthimmel dasselbe übermütige und freie Herz zu haben, das seinem Freudenrausch in Sprüngen Luft machte. Annette lief wie eine Traumgestalt durch die Lichtungen, in die das Mondlicht wie in Brunnenschächte einfiel, und der Maler rief sie her, so entzückt war er von dieser dunklen Erscheinung mit dem leuchtenden Gesicht. Wenn sie wieder weggesprungen war, nahm er die Hand der Gräfin und drückte sie, und wenn sie durch dichteren Schatten kamen, suchte er immer wieder ihre Lippen, so als ob der Anblick Annettes jedesmal die Ungeduld seines Herzens neu geweckt hätte. Schließlich gelangten sie an den Rand der Ebene, von wo aus man mit Mühe in der Ferne hie und da die Baumgruppen um die Bauernhöfe erahnen konnte. Durch den milchigen Brodem, der die Felder überflutete, sah man den endlosen Horizont, und die sanfte Stille, die lebendige Stille dieses weiten erhellten, lauen Raums war voll der unaussprechlichen Hoffnung und unerklärlichen Erwartung, die die Sommernächte so wundervoll machen. Hoch oben am Himmel waren ein paar langgestreckte, schmale Wolken, die wie Silberschuppen aussahen. Wenn man einige Augenblicke ruhig stehenblieb, dann hörte man in diesem nächtlichen Frieden ein verschwommenes, ununterbrochenes Rauschen von Leben, tausend schwache Geräusche, deren Zusammenklang einem zunächst wie Stille erschienen war. In einer nahegelegenen Wiese erklang der Doppelschlag einer Wachtel, und Julio schlich mit gespitzten Ohren und leisen Tritten den beiden Flötentönen des Vogels nach. Annette hielt den Atem an und duckte sich und folgte ihm mit derselben Behendigkeit. «Ach», sagte die Gräfin, die mit dem Maler alleine zurückblieb, «warum gehen Augenblicke wie diese so rasch vorüber? Nichts kann man festhalten, nichts bewahren. Man findet nicht einmal Zeit, das, was schön ist, zu genießen. So schnell ist es vorüber.» Olivier küßte ihre Hand und erwiderte lächelnd: «Oh! Heute abend will ich nicht mehr philosophieren. Ich lebe ganz in diesem Augenblick.»
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Sie sagte leise: «Sie lieben mich nicht so, wie ich Sie liebe.» «Ah, das wäre...» Sie unterbrach ihn: «Nein, Sie lieben in mir, wie Sie vor dem Abendessen ganz richtig sagten, die Frau, die die Bedürfnisse Ihres Herzens befriedigt, die Frau, die Ihnen noch nie weh getan hat und die ein wenig Glück in Ihr Leben brachte. So ist es, das weiß ich, das fühle ich. Ja, ich lebe im Bewußtsein und erfüllt von der glühenden Wonne, daß ich für Sie gut, nützlich und hilfreich war. Sie haben in mir - und Sie tun es immer noch - all das geliebt, was Sie angenehm an mir finden, meine Aufmerksamkeit Ihnen gegenüber, meine Bewunderung, mein Bemühen, Ihnen zu gefallen, meine Leidenschaft, das bedingungslose Geschenk, das ich Ihnen mit meinem ureigensten Wesen gemacht habe. Aber Ihre Liebe gilt nicht mir, verstehen Sie? Ach, das fühle ich, wie man einen kalten Luftzug fühlt. Sie lieben in mir tausenderlei Dinge, meine Schönheit, die nun dahinschwindet, meine Ergebenheit, das geistreiche Wesen, das man mir nachsagt, die gute Meinung, die die Gesellschaft von mir hat, und die, die ich von Ihnen in meinem Herzen trage; aber das alles bin nicht ich, ich, wirklich ich, verstehen Sie?» Er antwortete mit einem kurzen herzlichen Lachen: «Nein, das verstehe ich nicht ganz. Sie machen mir eine Szene mit völlig unerwarteten Vorwürfen.» Sie rief: «Oh, mein Gott! Ich möchte Ihnen verständlich machen, wie sehr ich Sie liebe, ich Sie. Nun, ich versuche es, es gelingt mir nicht. Wenn ich an Sie denke, und ich denke immer an Sie, dann fühle ich tief in meinem Körper und meiner Seele einen unbeschreiblichen Wonnetaumel, Ihnen zu gehören, und ein unwiderstehliches Bedürfnis, Ihnen noch mehr von mir zu geben. Ich möchte mich gerne bedingungslos hingeben, denn wenn man liebt, gibt es nichts Schöneres als zu schenken, immerfort zu schenken, alles, alles, sein Leben, sein Denken, seinen Körper, alles, was man besitzt, und deutlich zu fühlen, daß man schenkt, und alles zu wagen, um noch mehr zu schenken. Ich liebe Sie so sehr, daß ich gerne für Sie leide, daß ich selbst meine Unruhe, meine Qualen, meine Eifersucht liebe, den Schmerz, den ich empfinde, wenn ich spüre, daß Sie keine Zärtlichkeit mehr für mich haben. Ich liebe in Ihnen den, den nur ich entdeckt habe, nicht den, der in der Gesellschaft verkehrt, den man
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kennt und bewundert, nein, den, der nur mir gehört, der sich nicht mehr andern kann, der nicht altern kann, den ich nie nicht mehr lieben kann, weil ich ihn mit Augen sehe, die nichts anderes sehen als ihn. Aber solche Dinge kann man nicht sagen. Es gibt keine Worte, um sie auszudrücken.» Er wiederholte ganz leise mehrmals hintereinander: «Liebste, liebste, liebste Any!» Julio kam bellend zurück; er hatte die Wachtel nicht gefunden; sie war bei seinem Herannahen verstummt. Annette folgte ihm immer noch, ganz außer Atem vom Laufen. «Ich kann nicht mehr», sagte sie, «ich hänge mich an Sie, Herr Maler.» Sie nahm Oliviers freien Arm, und so schritten sie, er zwischen den beiden Frauen, unter den dunklen Bäumen zurück. Es wurde nicht mehr geredet. Er ging und war überwältigt von ihrer Gegenwart, durchdrungen von einer Art weiblichem Fluidum, das ihn bei der engen Berührung überflutete. Er brauchte sie nicht mehr zu sehen, denn er fühlte sie an seiner Seite, ja, er schloß sogar die Augen, um ihre Nähe noch besser fühlen zu können. Sie führten und leiteten ihn, und er ging weiter, verliebt in beide, in die zu seiner Rechten und in die zu seiner Linken, ohne zu wissen, welche von ihnen rechts und welche links ging, welche die Mutter und welche die Tochter war. Willig, und mit der unbewußten Empfindung eines besonderen sinnlichen Reizes, überließ er sich diesem verwirrenden Eindruck. Er versuchte sogar, beide in seinem Innern zu verschmelzen, sie in Gedanken nicht mehr zu unterscheiden, und seine Leidenschaft wiegte sich im Reiz dieser Vermischung. War es nicht ein und dieselbe Frau, diese Mutter und diese Tochter, die sich so sehr glichen? Und schien es nicht, als sei die Tochter einzig und allein dazu auf die Welt gekommen, seine gealterte Liebe zur Mutter zu verjüngen? Als er beim Betreten des Schlosses die Augen wieder öffnete, hatte er das Gefühl, gerade die köstlichsten Augenblicke seines Lebens und die seltsamste, unerklärlichste und vollkommenste Erregung durchlebt zu haben, die ein Mann erfahren kann, wenn er durch die Kraft der Verführung zweier Frauen von ein und derselben Liebe berauscht ist.
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«Ach, so ein wunderbarer Abend», sagte er, als er sich zwischen beiden im Lampenlicht wiederfand. Annette rief: «Ich habe nicht die geringste Lust zu schlafen, ich möchte die ganze Nacht Spazierengehen, wenn es so schön ist.» Die Gräfin schaute auf die Uhr: «Oh, es ist schon halb zwölf Uhr. Es ist höchste Zeit zum Schlafengehen, mein Kind.» Sie trennten sich, und jeder ging in sein Zimmer. Einzig das junge Mädchen, das keine Lust gehabt hatte, zu Bett zu gehen, schlief sofort ein. Als das Zimmermädchen am andern Morgen zur gewohnten Zeit kam und, nachdem es die Vorhänge und die Läden geöffnet hatte, den Tee brachte, sagte es nach einem kurzen Blick auf seine Herrin, die noch ganz verschlafen war: «Madame sehen heute schon besser aus.» «Finden Sie?» «O ja! Das Gesicht von Madame ist viel ausgeruhter.» Die Gräfin wußte gut, daß das stimmte, auch wenn sie sich heute noch nicht gesehen hatte. Ihr Herz war leicht, sie spürte kein Klopfen mehr, und sie fühlte, daß sie lebte. Das Blut in ihren Adern floß nicht mehr so rasch wie am gestrigen Abend, als es heiß und fiebrig war und in ihrem ganzen Körper Aufregung und Unruhe verbreitet hatte, aber es verströmte ein mildes Wohlbehagen und auch ein heiteres Vertrauen. Als das Mädchen gegangen war, stand sie auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie war ein wenig überrascht, denn sie fühlte sich so gut, daß sie erwartet hatte, sich nach einer einzigen Nacht um Jahre verjüngt zu finden. Doch sie begriff rasch, daß diese Hoffnung kindisch war. Sie betrachtete sich erneut und stellte enttäuscht fest, daß lediglich ihre Haut frischer, die Augen nicht mehr so müde und die Lippen lebhafter wirkten als am Abend zuvor. Aber diese Feststellung machte sie nicht traurig, denn ihre Seele war glücklich, und sie lächelte und dachte: «Ja, in einigen Tagen werde ich wieder völlig hergestellt sein. Ich habe zu sehr gelitten, um mich so rasch erholen zu können.» Aber sie blieb lange, sehr lange vor ihrem Toilettentisch sitzen, auf dem in gefälliger Ordnung auf einem spitzenbesetzten Musselintuch
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vor einem schönen, geschliffenen Kristallspiegel alle die kleinen Geräte der Koketterie ausgebreitet herumlagen, mit ihren Elfenbeingriffen, auf denen unter einer Krone die Initialen der Gräfin eingraviert waren. Sie lagen da, hübsch und in reicher Auswahl, für delikate und geheimnisvolle Zwecke bestimmt, die einen fein und scharf, aus Stahl, in merkwürdigen Formen, wie chirurgische Instrumente zum Behandeln von Kinderwehwehchen, die andern rundlich und weich, aus Federn und Daunen oder aus dem Fell unbekannter Tiere, dazu da, auf der zarten Haut die Wohltat der duftenden Puder und der fetthaltigen oder flüssigen Duftstoffe zu verteilen. Lange Zeit handhabte sie alle mit ihren kundigen Händen; ihre Finger glitten sanfter als ein Kuß von den Lippen zu den Schläfen und beseitigten alle unschönen Stellen, malten Lidstriche und zogen die Augenbrauen nach. Als sie schließlich hinunterging, war sie sich einigermaßen sicher, daß der erste Blick, den er auf sie werfen würde, nicht gerade zu ihren Ungunsten ausfallen konnte. «Wo ist Monsieur Bertin?» fragte sie den Diener in der Halle. Dieser antwortete: «Monsieur Bertin ist im Obstgarten und spielt gerade mit Mademoiselle eine Partie Lawn-Tennis.» In der Ferne hörte sie sie die Punkte zählen. Abwechselnd gaben die tiefe Stimme des Malers und die hohe Stimme des jungen Mädchens den Spielstand an: Fünfzehn - dreißig vierzig - Vorteil - Einstand -Vorteil - Spiel. Der Obstgarten, in dem für das Lawn-Tennis ein Platz hergerichtet worden war, bestand aus einem großen Rasenquadrat voller Apfelbäume, darum herum lagen der Park, der Gemüsegarten und die zum Schloß gehörenden Pachthöfe. Entlang der Böschungen, die ihn an drei Seiten wie die Verteidigungswälle eines verschanzten Lagers umgaben, waren Blumen angepflanzt, lange Rabatten mit den verschiedensten Blumensorten, wilde und gezüchtete, eine Menge Rosen, Nelken, Sonnenblumen, Fuchsien, Reseden und noch viele andere, und Bertin sagte, sie verbreiteten überall den Geruch von Honig. Die Bienen, deren Körbe mit den spitzen Strohkuppeln entlang der Mauerspaliere zum Gemüsegarten hin aufgereiht standen, überzogen das blühende Feld mit ihrem sonnigen, summenden Flug.
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Mitten in diesem Obstgarten hatte man ein paar Bäume gefällt, um den für das Lawn-Tennis erforderlichen Platz zu erhalten; dieser wurde durch ein ausgespanntes, geteertes Netz in zwei Felder aufgeteilt. Annette auf der einen Seite, ohne Kopfbedeckung, mit einem schwarzen hochgesteckten Rock, der den Blick auf ihre Knöchel und einen Teil der Waden freigab, wenn sie sich ausstreckte, um den Ball im Flug zu erreichen, bewegte sich rasch laufend über das Feld, mit leuchtenden Augen und roten Wangen; erschöpft und atemlos vom gekonnten und sicheren Spiel ihres Gegners, rannte sie über das Feld. Er, in einer Hose aus weißem Flanell, die über dem Hemd in derselben Farbe durch einen Gürtel in der Taille zusammengehalten wurde, mit einer ebenfalls weißen Schirmmütze und mit seinem etwas vorstehenden Bauch, erwartete kaltblütig den Ball, berechnete genau seinen Flug, nahm ihn an und schlug ihn, ohne Eile und ohne dabei zu laufen, zurück, mit der eleganten Leichtigkeit, der leidenschaftlichen Konzentration und der professionellen Geschicklichkeit, die ihn bei allen seinen sportlichen Übungen auszeichneten. Annette sah ihre Mutter als erste. Sie rief: «Guten Morgen, Mama, warte einen Augenblick, bis wir diesen Ballwechsel beendet haben.» Dieser kleine Augenblick der Ablenkung genügte, um zu verlieren. Der Ball kam auf sie zu, schnell und tief, fast rollend, berührte die Erde und war außerhalb des Feldes. Bertin rief: «Gewonnen!», und das junge Mädchen, das sich überrumpelt fühlte, warf ihm vor, er habe ihre Unaufmerksamkeit ausgenutzt; währenddessen sprang Julio hinter dem Ball her, der vor ihm im Gras rollte, denn er war abgerichtet, die ins Aus geschlagenen Bälle wie Rebhühner, die ins Gebüsch gefallen sind, zu suchen und zu finden. Er hob ihn vorsichtig mit seinem Maul auf und brachte ihn schwanzwedelnd zurück. Jetzt begrüßte der Maler die Gräfin; aber er wollte möglichst schnell weiterspielen, angeregt vom Kampf und glücklich, sich gut in Form zu fühlen, und er hatte für dieses Gesicht, das für ihn so sorglich hergerichtet worden war, nur einen kurzen, zerstreuten Blick übrig. Er fragte: «Sie erlauben, liebste Gräfin? Ich habe Angst, mich zu erkälten und eine Neuralgie zu bekommen.»
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«O bitte», antwortete sie. Um den Spielern Platz zu machen, setzte sie sich auf einen Haufen Heu, das am selben Morgen gemäht worden war; sie schaute ihnen zu, und ihr Herz wurde auf einmal wieder schwerer. Ihre Tochter, ärgerlich darüber, daß sie immerzu verlor, geriet in Aufregung und Rage, stieß Wut- und Triumphschreie aus und warf sich stürmisch von einer Ecke des Felds in die andere, und bei diesen Sprüngen fielen ihre Haarflechten immer wieder herunter und lösten sich, und die Strähnen hingen ihr über die Schultern. Sie klemmte dann den Schläger zwischen die Knie, raffte die Haare mit ungeduldigen Bewegungen blitzschnell zusammen und befestigte sie mit Nadeln, die sie schwungvoll in ihre Haarfülle versenkte. Und Bertin rief der Gräfin vom andern Ende des Feldes aus zu: «Na, ist sie nicht hübsch so und frisch wie der Tag?» Ja, sie war jung, sie konnte laufen, sich erhitzen, rot werden, ihre Haare herunterhängen lassen, allem trotzen, alles wagen, denn alles machte sie nur noch schöner. Als sie dann mit Begeisterung weiterspielten, da begann die Gräfin zu ahnen - und es wurde ihr immer wehmütiger zumute -, daß Olivier diese Tennispartie, dieses kindische Treiben, dieses Vergnügen junger Kätzchen, hinter Papierkügelchen herzuspringen, dem süßen Gefühl vorzog, an diesem warmen Morgen ganz in ihrer Nähe zu sitzen und sie und ihre Liebe neben sich zu spüren. Als die Glocke in der Ferne den ersten Schlag zum Mittagessen läutete, war sie wie befreit, und ein Gewicht fiel von ihrer Seele. Aber als sie auf seinen Arm gestützt zum Schloß zurückging, sagte er zu ihr: «Ich habe mich wie ein kleiner Junge amüsiert. Es tut höllisch gut, jung zu sein oder sich jung zu fühlen. Ach ja, ach ja, nur darauf kommt es an. Wenn man nicht mehr gerne läuft, dann ist es aus.» Nach dem Essen machte die Gräfin, die am Vortag zum ersten Mal nicht auf dem Friedhof gewesen war, den Vorschlag, zusammen dorthin zu gehen, und alle drei brachen auf ins Dorf. Der Weg führte durch den Wald, in dem ein kleiner Bach floß, der «Laubfrosch» genannt wurde, sicher wegen der vielen kleinen Frösche, die darin lebten, dann über ein Stück freies Feld, und dann erreichte man die Kirche. Diese stand umringt von einigen Häusern,
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die den Kolonialwarenladen, den Bäcker, den Metzger, die Weinhandlung und noch ein paar bescheidene Läden beherbergten, bei denen sich die Bauern versorgten. Auf dem Hinweg waren alle still und nachdenklich, der Gedanke an die Tote beherrschte die Gemüter. Am Grab knieten die beiden Frauen nieder und beteten lange. Die Gräfin verharrte bewegungslos in gebückter Haltung und hielt ein Taschentuch vor die Augen, denn sie hatte Angst, daß sie weinen müßte und Tränen ihre Wangen herabfließen könnten. Sie betete heute nicht, wie sie bisher gebetet hatte, mit einer Art Beschwörung ihrer Mutter, mit einem verzweifelten Ruf unter die Marmorplatte des Grabes, mit einer aufs höchste gesteigerten Erregung, die sie glauben machte, die Tote vernehme sie und höre ihr zu, sie murmelte nur mit Hingabe die heiligen Worte des «Paternoster» und des «Ave Maria». Heute hätte sie nicht die Kraft und die seelische Anspannung aufbringen können, deren sie bedurfte, um diese schmerzliche Unterhaltung ohne Antwort mit dem zu fuhren, was vielleicht von dem verschwundenen Wesen um die Grube herum, die seine Reste barg, zurückgeblieben war. Andere quälende Gedanken hatten sich in ihrem Frauenherzen festgesetzt, hatten sie aufgewühlt, verwundet und abgelenkt; und ihr glühendes Gebet stieg mit verworrenen, inständigen Bitten zum Himmel empor. Sie flehte zu Gott, dem unerforschlichen Gott, der alle diese armen Geschöpfe in die Welt gesetzt hatte, daß er auch mit ihr Mitleid haben möge wie mit der, die zu ihm zurückgerufen worden war. Sie hätte nicht sagen können, um was sie ihn anflehte, so unbestimmt und wirr waren ihre Befürchtungen, aber sie fühlte, daß sie göttlicher Hilfe und eines übernatürlichen Beistands gegen die herannahenden Gefahren und die unausbleiblichen Schmerzen bedurfte. Annette hatte erst auch Gebete gemurmelt und war dann mit geschlossenen Augen in Träumereien versunken, denn sie wollte sich nicht vor ihrer Mutter erheben. Olivier Bertin betrachtete sie beide und fand, daß sie ein bezauberndes Gemälde abgaben; er bedauerte es ein wenig, daß es ihm nicht erlaubt war, eine Skizze anzufertigen.
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Auf dem Heimweg unterhielten sie sich über das menschliche Leben und schlugen vorsichtig jene schmerzlichen und poetischen Themen einer oberflächlichen und wenig hilfreichen Philosophie an, die ein so beliebter Gesprächsgegenstand zwischen Männern und Frauen sind, die das Leben ein wenig verwundet hat und die sich darin finden, daß sie sich ihre Leiden anvertrauen. Annette, die für solche Gedanken noch nicht reif war, entfernte sich immer wieder und pflückte Feldblumen am Wegrand. Aber Olivier, der sie unbedingt bei sich haben wollte, wurde durch ihr ewiges Hin und Her nervös und ließ sie nicht aus den Augen. Er ärgerte sich, daß sie sich mehr für die Farben der Blumen interessierte als für die Sätze, die er sprach. Er empfand ein unerklärliches Unbehagen, daß er sie nicht fesseln und beherrschen konnte wie ihre Mutter, und er hatte gute Lust, die Hand nach ihr auszustrecken, sie zu fassen, sie festzuhalten und ihr zu verbieten, wegzulaufen. Sie war ihm zu flink, zu jung, zu gleichgültig, zu frei, frei wie ein Vogel, frei wie ein junger Hund, der nicht gehorcht, der nicht zurückkommt, der die Unabhängigkeit in seinen Adern spürt, diesen reizvollen Instinkt der Freiheit, der noch nicht durch die befehlende Stimme und den Stock besiegt worden ist. Um sie herzulocken, sprach er von vergnüglicheren Dingen und stellte ihr ab und zu eine Frage, um die weibliche Neugier und den Wunsch zuzuhören in ihr zu wecken; aber man hätte meinen können, der launische Wind des weiten Himmels, der über die wogenden Felder hinwehte, wehe auch durch Annettes Kopf und trage ihre Aufmerksamkeit mit sich fort und zerblase sie im weiten Raum, denn kaum hatte sie zwischen zwei Ausreißern mit zerstreutem Blick die erwartete Allerweltsantwort gegeben, so kehrte sie zu ihren Blumen zurück. Von einer kindischen Ungeduld erfaßt, geriet er allmählich außer sich, und als sie ihre Mutter bat, ihren ersten Strauß zu halten, um einen zweiten pflücken zu können, da packte er sie am Ellbogen und hielt ihren Arm fest, damit sie nicht mehr wegrennen konnte. Sie wand sich lachend und zerrte mit aller Gewalt, um loszukommen. Da nutzte er, aus einem männlichen Instinkt heraus, die weibliche Schwäche: wenn er ihre Aufmerksamkeit nicht durch seine Verführungskünste gewinnen konnte, dann erkaufte er sie sich, indem er ihre Gefallsucht reizte.
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«Sag mir», sagte er, «welche Blume du am liebsten magst, dann lasse ich dir eine Brosche daraus machen.» Sie hielt erstaunt inne: «Eine Brosche, wie denn?» «Aus Steinen in derselben Farbe: aus Rubinen, wenn es der Klatschmohn, aus Saphiren, wenn es die Kornblume ist, und mit einem kleinen Blatt aus Smaragden.» Auf Annettes Gesicht erstrahlte die dankbare Freude, die die Züge der Frauen belebt, wenn sie ein Geschenk versprochen bekommen. «Die Kornblume», sagte sie, «sie ist so hübsch!» «Hol eine Kornblume. Wir werden die Brosche bestellen, sobald wir wieder in Paris sind.» Sie lief nun nicht mehr weg, der Gedanke an das Schmuckstück hielt sie bei ihm zurück, und sie versuchte schon, es sich zu erträumen und vorzustellen. Sie fragte: «Dauert es lange, so etwas anzufertigen?» Er merkte, daß sie Feuer gefangen hatte, und lächelte: «Ich weiß nicht, das hängt davon ab, wie kompliziert es ist. Wir werden den Juwelier zur Eile antreiben.» Plötzlich durchzuckte sie ein schmerzlicher Gedanke: «Aber ich werde es gar nicht anlegen können, weil ich Trauer trage.» Er hatte seinen Arm unter den ihren geschoben und drückte ihn an sich: «Ach, dann hebst du die Brosche eben für das Ende der Trauerzeit auf, das kann dich nicht daran hindern, sie inzwischen anzuschauen.» Wie am Abend vorher ging er zwischen den beiden Frauen, gehalten, gepreßt und gefangen zwischen ihren Schultern, und er unterhielt sich abwechselnd mit ihnen und wandte den Kopf bald der einen, bald der anderen zu, damit sie ihn mit ihren blauen schwarzgepünktelten Augen anblickten, die sich so ähnlich waren. Jetzt im hellen Tageslicht schien ihm die Ähnlichkeit zwischen der Gräfin und Annette nicht mehr so groß, aber das Mädchen schien der wiedererwachten Erinnerung an das frühere Bild der Mutter immer ähnlicher. Er hatte Lust, sie beide zu küssen, die eine, um auf ihren Wangen und ihrem Nacken etwas von der rosigen, blonden Frische wiederzufinden, die er einst gekostet hatte und die nun auf wundersame Weise wiedererschienen war, die andere, weil er sie
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immer noch liebte und weil er fühlte, daß von ihr die mächtige Forderung einer alten Gewohnheit ausging. In dieser Stunde stellte er sogar fest und gestand sich ein, daß sein seit langem etwas ermüdetes Verlangen und seine Liebe zu ihr sich unter dem Anblick ihrer wiedererstandenen Jugend neu belebt hatten. Annette begann von neuem, Blumen zu pflücken. Olivier rief sie nicht mehr zurück, als habe ihn die Berührung ihres Armes und die Befriedigung über die Freude, die er ihr gemacht hatte, beruhigt; aber er folgte allen ihren Bewegungen mit der Lust, die man empfindet, wenn man Menschen oder Dinge sieht, die unsere Blicke gefangennehmen und die uns berauschen. Als sie mit einem Strauß in der Hand zurückkam, atmete er tiefer ein und suchte unwillkürlich etwas von ihr aufzunehmen, etwas von ihrem Atem oder vom Duft ihrer warmen Haut in der von ihrem Lauf zitternden Luft. Er betrachtete sie entzückt, wie man einem Sonnenaufgang zusieht oder wie man einer Musik lauscht, und er bebte vor Glück, wenn sie sich bückte, wieder aufrichtete und beide Arme hochhob, um ihre Frisur zurechtzurücken. Und so erweckte sie in ihm Stunde um Stunde und mehr und mehr die Erinnerung an einst! Ihr Lachen, ihre Liebenswürdigkeit und ihre Bewegungen riefen ihm den Geschmack der einst getauschten Küsse auf die Lippen; sie verwandelte die längst entschwundene Vergangenheit, an die er sich schon gar nicht mehr recht erinnern konnte, in so etwas wie eine geträumte Gegenwart; sie brachte die Epochen, die Daten und die verschiedenen Zeitalter seines Herzens durcheinander, und indem sie seine ausgelöschten Empfindungen wieder entzündete, vermischte sie, ohne daß er sich dessen bewußt war, das Gestern mit dem Morgen, die Erinnerung mit der Hoffnung. Er fragte sich und suchte sich daran zu erinnern, ob die Gräfin in ihrer höchsten Blüte auch diesen geschmeidigen Charme eines jungen Zickleins besessen hatte, diesen frischen, mutwilligen, unwiderstehlichen Charme eines jungen Tiers, das hüpft und springt. Nein. Sie war blühender gewesen und weniger ungebärdig. Sie war ein Kind und später eine Frau der Stadt und hatte nie die Luft der Felder geatmet und sich in den Wiesen herumgetrieben, sie war im Schatten der Mauern und nicht unter freiem Himmel hübsch geworden.
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Als sie ins Schloß zurückgekehrt waren, setzte sich die Gräfin an ihren kleinen niedrigen Tisch in der Fensternische und schrieb Briefe; Annette stieg in ihr Zimmer hinauf, und der Maler verließ das Haus noch einmal und ging mit langsamen Schritten, auf dem Rücken verschränkten Armen und einer Zigarre im Mund auf den verschlungenen Wegen des Parks spazieren. Aber er blieb immer so nahe, daß er die weiße Fassade und das spitze Dach des Hauses nicht aus den Augen verlor. Sobald sie von einer Baumgruppe oder einem Gebüsch verdeckt wurden, zog ein Schatten über sein Gemüt, wie eine Wolke über die Sonne, und wenn sie in den Lücken des Laubs wieder zum Vorschein kamen, blieb er einen Augenblick lang stehen und schaute zu den beiden Reihen der hohen Fenster hinüber. Dann ging er weiter. Er fühlte sich aufgewühlt, aber glücklich; glücklich worüber? Über alles. Heute schien ihm die Luft rein und das Leben gut. In seinem Körper fühlte er erneut die Unbeschwertheit des kleinen Jungen, die Lust zu laufen und mit der Hand die gelben Zitronenfalter zu fangen, die über die Wiese taumelten, als hingen sie am Ende kleiner Gummifäden. Er summte Opernarien. Und mehrmals wiederholte er die berühmte Stelle aus Gounod: «Laß mich, laß mich dein Antlitz schaun» und fand darin einen so tiefen, zärtlichen Ausdruck, wie er ihn noch nie zuvor empfunden hatte. Plötzlich stellte er sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß er sich auf einmal so völlig anders fühlte. Gestern in Paris war er noch mit allem unzufrieden gewesen, alles ekelte ihn und widerte ihn an, heute war er ruhig und vollkommen zufrieden, man hätte meinen können, ein gütiger Gott habe seine Seele ausgewechselt. «Dieser gütige Gott hätte mir auch gleich den Körper auswechseln und mich ein wenig jünger machen können», dachte er. Auf einmal sah er Julio, der in einem Dickicht jagte. Er rief ihn, und als der Hund kam und seinen hübschen Kopf mit den gepflegten langen, lockigen Ohren an seine Hand schmiegte, da setzte er sich ins Gras, um ihn besser streicheln zu können, sagte ihm nette Dinge und hob ihn auf seine Knie; bei diesen Liebkosungen wurde er so weich gestimmt, daß er ihn eng an sich drückte, wie Frauen es tun, deren Herz bei jeder Gelegenheit in Rührung verfällt.
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Nach dem Abendessen ging er nicht wie tags zuvor spazieren, sondern verbrachte den Abend im Familienkreis im Salon. Da sagte die Gräfin ganz unvermittelt: «Wir werden doch bald abreisen müssen!» Olivier rief: «Oh, sprechen Sie nicht davon! Als ich nicht hier war, da wollten Sie Roncieres nicht verlassen. Ich komme, und Sie denken nur noch daran abzufahren.» «Aber lieber Freund, wir können doch nicht endlos zu dritt hierbleiben.» «Es handelt sich ja nicht um endlos, sondern nur um ein paar Tage. Wie oft war ich schon ganze Wochen lang bei Ihnen.» «Ja, aber unter anderen Umständen, da stand das Haus jedermann offen.» Annette warf mit schmeichelnder Stimme ein: «O Mama, nur noch ein paar Tage, zwei oder drei. Er bringt mir so gut das Tennisspielen bei. Ich ärgere mich zwar, wenn ich verliere, aber nachher bin ich froh, wenn ich Fortschritte gemacht habe.» Noch am Morgen hatte die Gräfin geplant, diesen überraschenden Aufenthalt des Freundes bis zum Sonntag zu verlängern, und nun wollte sie auf einmal abreisen, ohne zu wissen, warum. Dieser Tag, von dem sie sich so viel Schönes erhofft hatte, hinterließ in ihrem Innern eine unaussprechliche und tiefe Traurigkeit, eine unerklärliche Furcht, hartnäckig und verworren wie eine böse Vorahnung. Als sie alleine in ihrem Zimmer war, überlegte sie, wie es zu diesem neuen Anfall von Schwermut hatte kommen können. Hatte sie eine dieser unmerklichen Gemütsbewegungen erfaßt, deren Berührung so flüchtig ist, daß sich der Verstand nicht mehr daran erinnert, deren Schwingung jedoch in den empfindlichsten Saiten des Herzens nachklingt? - Vielleicht. Welche? Sie erinnerte sich genau an einige nicht eingestandene Widersprüche in dem Wechselbad der Gefühle, das sie durchlebt hatte und in dem jeder Augenblick eine andere Empfindung in ihr auslöste. Aber sie waren wirklich zu unbedeutend, um sie so zu beunruhigen. «Ich verlange zuviel», dachte sie, «ich darf mich nicht so quälen.»
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Sie öffnete ihr Fenster, um die Nachtluft einzuatmen, und sie verharrte dort, auf die Ellbogen gestützt, und blickte zum Mond hinauf. Sie hörte ein leises Geräusch und senkte den Kopf. Olivier ging vor dem Schloß auf und ab. «Warum hat er vorhin gesagt, er gehe auf sein Zimmer», dachte sie, «warum hat er mich nicht wissen lassen, daß er noch einmal hinausgeht? Warum hat er mich nicht gefragt, ob ich mit ihm kommen will? Er weiß genau, daß mich das überglücklich gemacht hätte. Was beschäftigt ihn wohl?» Dieser Gedanke, daß er nicht das Bedürfnis verspürte, sie bei seinem Gang an seiner Seite zu haben, daß er lieber alleine in dieser schönen Nacht spazierenging, alleine, mit einer Zigarre im Mund - sie konnte den roten Punkt der Glut erkennen - , alleine, wo er ihr doch die Freude hätte machen können, ihn zu begleiten, der Gedanke, daß er sie nicht in jedem Augenblick brauchte, nicht in jedem Augenblick Lust auf ihre Gegenwart hatte, erfüllte ihr Herz mit neuaufkeimendem Gram. Sie wollte gerade das Fenster schließen, um ihn nicht mehr zu sehen, um nicht in Versuchung zu geraten, ihm zu rufen, da blickte er herauf und sah sie. Er rief: «Sieh an, Sie sinnen den Sternen nach, Gräfin?» Sie antwortete: «Ja, und Sie auch, wie ich sehe.» «O nein, ich rauche bloß.» Sie konnte sich nicht zurückhalten und fragte: «Warum haben Sie es mich nicht wissen lassen, daß Sie noch etwas hinausgehen?» «Ich wollte nur noch eine Zigarre rauchen. Ich komme gleich wieder herein.» «Dann also gute Nacht, mein Freund.» «Gute Nacht, Gräfin.» Sie kehrte zu ihrem niedrigen Sessel zurück, setzte sich hinein und begann zu weinen. Als das Zimmermädchen, das sie gerufen hatte, damit es sie zu Bett bringe, ihre geröteten Augen sah, sagte es voll Mitgefühl: «Oh, Madame werden morgen wieder ein unschönes Gesicht haben.»
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Die Gräfin schlief schlecht, fiebrig und von Alpträumen verfolgt. Sobald es hell war, öffnete sie, noch ehe sie klingelte, ihr Fenster und die Vorhänge, um sich im Spiegel zu besehen. Sie hatte tiefe Falten, verquollene Augenlider und eine gelbliche Gesichtsfarbe. Sie war so unglücklich darüber, daß sie gute Lust hatte, sich für krank auszugeben, im Bett zu bleiben und sich bis zum Abend nicht sehen zu lassen. Dann aber überkam sie plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, sofort abzureisen, mit dem nächsten Zug, diese helle Gegend zu verlassen, in der die untilgbaren Spuren des Leids und des Alters im Licht der besonnten Felder so deutlich zu erkennen waren. In Paris lebte man im Halbschatten der Wohnungen, in die selbst um die Mittagszeit durch die schweren Vorhänge nur ein sanftes Licht eindrang. Dort würde sie wieder sie selbst sein, schön und mit der Blässe, die in dieser dämmrigen, diskreten Beleuchtung gerade richtig war. Dann sah sie Annettes frisches Gesicht vor sich, wie sie LawnTennis spielte, gerötet und mit aufgelöstem Haar. Sie verstand mit einemmal die unerklärliche Unruhe, unter der ihre Seele gelitten hatte. Sie war nicht eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Tochter! Nein, gewiß nicht, aber sie spürte und gestand sich dies zum ersten Mal ein, daß sie sich nie wieder im hellen Sonnenlicht neben ihr sehen lassen durfte. Sie klingelte, und noch bevor sie ihren Tee trank, gab sie den Befehl zur Abreise, schrieb die notwendigen Telegramme, bestellte sogar telegraphisch das Diner für den Abend, schloß ihre Rechnungen auf dem Lande ab, gab ihre letzten Anweisungen und regelte alles in weniger als einer Stunde; eine fiebrige und immer stärker werdende Unruhe hatte sie erfaßt. Als sie nach unten kam, fragten Annette und Olivier, die von ihrem Entschluß unterrichtet worden waren, überrascht nach den Gründen für diesen jähen Aufbruch. Als sie sahen, daß sie eigentlich keine angeben konnte, murrten sie etwas, und ihre Unzufriedenheit hielt an, bis sie sich in der Bahnhofshalle in Paris trennten. Die Gräfin reichte dem Maler zum Abschied die Hand und fragte ihn: «Wollen Sie morgen zum Abendessen kommen?»
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Er antwortete etwas verstimmt: «Natürlich werde ich kommen. Aber trotzdem, was Sie da getan haben, war nicht nett. Wir drei zusammen hatten es so schön da unten!»
III
Sobald die Gräfin mit ihrer Tochter im Wagen, der sie nach Hause brachte, alleine war, fühlte sie sich plötzlich ruhig und gelöst, als hätte sie gerade eine fürchterliche Krise überstanden. Ihr Atem ging leichter, sie lächelte den Häusern zu und feierte glücklich Wiedersehen mit der ganzen Stadt, deren vertraute Einzelheiten die wahren Pariser anscheinend in ihren Augen und in ihrem Herzen bei sich tragen. Bei jedem Laden, den sie sah, hatte sie gleich die nächsten Läden vor Augen, die sich den Boulevard entlang daran anschlössen, und sie erinnerte sich an das Gesicht des Kaufmanns, den sie so oft durch das Schaufenster hindurch gesehen hatte. Sie fühlte sich gerettet! Wovor? Beruhigt! Warum? Zuversichtlich! Im Hinblick worauf? Als der Wagen unter dem Torbogen der Einfahrt anhielt, stieg sie eilig aus und suchte, wie auf der Flucht, den Schatten des Treppenhauses auf, dann den Schatten des Salons und schließlich den Schatten ihres Zimmers. Dort blieb sie einige Augenblicke stehen, zufrieden, wieder dazusein, geborgen in diesem dunstigen, verschwimmenden Tageslicht von Paris, das alles in Halbdunkel hüllt und die Dinge mehr erahnen als erkennen läßt, in dem man das sehen lassen kann, was gefällt, und das verbergen kann, was man nicht zeigen will; die unwillkürliche Erinnerung an das strahlende Licht, das dort auf dem Land alles überflutete, lebte nur noch als Gefühl einer vergangenen Qual in ihr. Als sie zum Abendessen herunterkam, umarmte sie ihr Mann, der eben nach Hause gekommen war, liebevoll und sagte lächelnd: «Sieh an! Ich wußte es doch, daß Freund Bertin Sie zurückbringen würde. Es war ganz klug von mir, daß ich ihn zu Ihnen geschickt habe.»
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Annette erwiderte ernsthaft, in dem eigentümlichen Ton, den sie hatte, wenn sie ohne zu lachen scherzte: «Oh, es hat ihn viel Mühe gekostet. Mama konnte sich nur schwer entschließen.» Die Gräfin war etwas verwirrt und sagte nichts. Da das Haus noch nicht offenstand, kamen an diesem Abend keine Gäste. Den folgenden Tag verbrachte Madame de Guilleroy damit, in den Läden, die Trauerkleidung führen, alles Notwendige auszusuchen und zu bestellen. Von Jugend, ja fast von Kindheit an, liebte sie diese langen Sitzungen beim Anprobieren vor den Spiegeln der großen Modistinnen. Seit ihrer Rückkehr freute sie sich in Gedanken auf all die Einzelheiten dieser peinlich genauen Anproben in den Kulissen des Pariser Lebens. Sie liebte geradezu abgöttisch das Rascheln der Gewänder der «Demoiselles», die bei ihrem Kommen herbeieilten, deren Lächeln, deren Vorschläge und Fragen; und die Schneiderin, die Modistin oder die Korsettmacherin waren für sie angesehene Personen, die sie wie Künstlerinnen behandelte, wenn sie ihre Meinung äußerte und um Rat fragte. Noch mehr liebte sie es, wenn die geschickten Hände der jungen Mädchen an ihr herumhantierten, sie aus- und wieder anzogen und sie dabei vor ihrem anmutigen Spiegelbild sanft hin und her drehten. Die zarte Berührung der leichten Finger auf ihrer Haut, an ihrem Hals oder auf ihrem Haar war einer der schönsten und sanftesten kleinen Genüsse ihres eleganten Frauenlebens. Heute jedoch trat sie mit einer gewissen Angst ohne Schleier und Kopfbedeckung vor alle diese erbarmungslosen Spiegel. Ihr erster Besuch bei der Modistin beruhigte sie. Die drei Hüte, die sie sich aussuchte, standen ihr zweifellos hinreißend, und als die Verkäuferin voller Überzeugung sagte: «Oh, Frau Gräfin, die Blonden sollten die Trauer nie ablegen», da ging sie sehr zufrieden weiter und betrat die anderen Läden voll Selbstvertrauen. Zu Hause fand sie dann ein Billet der Herzogin vor, die dagewesen war, um sie zu besuchen, und die ankündigte, daß sie am Abend noch einmal vorbeischauen wolle; dann schrieb sie Briefe; dann sann sie einige Zeit nach, überrascht darüber, daß dieser Ortswechsel den großen Schmerz, der ihr das Herz zerriß, in eine bereits weit entfernte Vergangenheit zurückgedrängt hatte. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß sie erst am Abend zuvor aus Roncieres zurückgekommen war, so
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sehr hatte sich ihre Stimmung seit ihrer Rückkehr nach Paris gewandelt, als hätte diese Ortsveränderung ihre Wunden geheilt. Bertin, der zur Abendessenszeit gekommen war, rief bei ihrem Anblick: «Sie sehen heute abend blendend aus!» Und dieser Ausruf durchströmte sie wie eine Welle warmen Glücks. Als sie den Tisch verließen, schlug der Graf, der ein leidenschaftlicher Billardspieler war, Bertin eine Partie vor, und die beiden Frauen begleiteten die Herren in den Billardsaal, wo der Kaffee serviert wurde. Die Männer spielten immer noch, als die Herzogin gemeldet wurde, und alle gingen in den Salon hinüber. Im selben Augenblick sprachen Madame de Corbelle und ihr Gatte mit tränenerstickter Stimme vor. Einige Minuten lang schien es, als brächte der klagende Ton ihrer Worte alle zum Weinen. Aber nach rührseliger Anteilnahme und interessiertem Nachfragen ging man nach und nach zu anderen Gesprächsthemen über; die Stimmen hellten sich mit einemmal auf, und man begann, sich ganz unbeschwert zu unterhalten, so als habe sich der Schatten des Unglücks, der gerade noch über allen schwebte, plötzlich verflüchtigt. Da stand Bertin auf, nahm Annette bei der Hand, führte sie unter das Porträt ihrer Mutter, in den Lichtstrahl der Spiegellampe, und fragte: «Ist das nicht verblüffend?» Die Herzogin war so überrascht, daß sie außer sich zu sein schien und mehrmals wiederholte: «Mein Gott, ist das möglich? Mein Gott, ist das möglich? Das ist ja eine Wiederauferstehung. Warum habe ich das nicht gleich beim Hereinkommen gesehen? Oh, meine kleine Any, ich finde Sie wieder, ich, die ich Sie einst so gut gekannt habe, damals, als Sie das erste Mal in Ihrer Ehe Trauer trugen, nein, das zweite Mal, Sie hatten ja auch schon Ihren Vater verloren! Oh, diese Annette, so in Schwarz, das ist die Mutter, die noch einmal auf die Welt gekommen ist. Was für ein Wunder! Ohne das Porträt hätte man es gar nicht gesehen. Ihre Tochter gleicht Ihnen tatsächlich unglaublich, aber noch mehr gleicht sie diesem Gemälde!» Musadieu erschien, da er von der Rückkehr von Madame de Guilleroy gehört hatte und ihr als einer der ersten sein «tiefempfundenes Beileid» aussprechen wollte.
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Er unterbrach seine Ansprache, als er das junge Mädchen, in ein und dasselbe Licht getaucht, aufrecht vor dem Rahmen stehen sah, wie die lebendige Schwester des Gemäldes. Er rief: «Ah, wahrhaftig, das ist eines der erstaunlichsten Dinge, die ich je gesehen habe!» Und die Corbelles, deren Meinung immer dem herrschenden Urteil folgte, verwunderten sich ihrerseits, aber mit etwas mehr Zurückhaltung. Das Herz der Gräfin zog sich nach und nach zusammen, als würden die erstaunten Ausrufe aller dieser Menschen es zusammenpressen und ihr dabei Schmerzen zufügen. Wortlos betrachtete sie ihre Tochter neben ihrem Bild, und eine heftige Erregung ergriff sie. Am liebsten hätte sie geschrien: «Aber seien Sie doch endlich still. Ich weiß, daß sie mir gleicht!» Ihre schwermütige Stimmung hielt den ganzen Abend an, und sie verlor von neuem die Zuversicht, die sie am Abend zuvor zurückgewonnen hatte. Bertin sprach gerade mit ihr, da wurde der Marquis de Farandal gemeldet. Als der Maler ihn hereinkommen und auf die Hausherrin zugehen sah, stand er auf, glitt hinter seinen Sessel und murmelte: «Das hat noch gefehlt , jetzt auch noch dieses Rindvieh», und mit einem kleinen Umweg ging er zur Tür und verschwand. Nachdem die Gräfin die Komplimente des Neuankömmlings entgegengenommen hatte, suchten ihre Augen Olivier, um das Gespräch, das sie interessierte, fortzusetzen. Als sie ihn nicht mehr sah, fragte sie: «Wie, ist der große Mann schon gegangen?» Ihr Gatte antwortete: «Ich glaube, ja, meine Liebe, ich habe eben gesehen, wie er sich auf englisch verabschiedet hat.» Sie war überrascht, dachte einen Augenblick nach und unterhielt sich dann mit dem Marquis. Die Freunde zogen sich im übrigen aus Diskretion früh zurück, denn sie hatte ihnen die Tür nur halb geöffnet, so kurz nach ihrem Schicksalsschlag. Als sie dann endlich ausgestreckt in ihrem Bett lag, kehrten alle Ängste wieder, die sie auf dem Land überfallen hatten. Sie traten klarer zutage; sie empfand sie deutlicher; sie fühlte sich alt!
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An diesem Abend hatte sie zum ersten Mal erkannt, daß in ihrem Salon, in dem bisher ausschließlich sie bewundert, mit Komplimenten überhäuft, gefeiert und geliebt worden war, eine andere, ihre Tochter, ihren Platz einnahm. Sie hatte das ganz plötzlich erkannt, als sie fühlte, wie sich die Bewunderung Annette zuwandte. In diesem Königreich, dem Haus einer hübschen Frau, in diesem Königreich, in dem sie keine Nebenbuhlerin erträgt, von dem sie mit taktvoller, hartnäckiger Sorgfalt jeden gefürchteten Vergleich fernhält, in dem sie ihresgleichen nur zuläßt, um Vasallinnen daraus zu machen, in diesem Königreich, das erkannte sie, würde ihre Tochter die Herrscherin werden. Wie seltsam war dieses Zusammenkrampfen ihres Herzens gewesen, als alle Blicke sich Annette zuwandten, die an der Hand Bertins aufrecht neben dem Bild stand. Plötzlich hatte sie das Gefühl gehabt, unsichtbar, enteignet und entthront zu sein. Alle Welt sah auf Annette, niemand hatte sich mehr ihr zugewandt. Sie war so daran gewöhnt, jedesmal, wenn jemand ihr Porträt anblickte, Komplimente und Schmeicheleien zu hören, sie war sich dieses Lobs, das sie nicht beachtete, das ihr aber dennoch schmeichelte, so sicher, daß sie diese Vernachlässigung, diese unerwartete Abkehr, diese plötzlich nur noch ihrer Tochter entgegengebrachte Bewunderung mehr bewegt, betroffen gemacht und ergriffen hatte, als wenn es sich um irgendeine beliebige Rivalität unter irgendwelchen beliebigen Umständen gehandelt hätte. Da sie aber zu den Naturen gehörte, die in allen Lebenskrisen nach dem ersten Schock reagieren, kämpfen und Gründe finden, sich zu trösten, so überlegte sie, daß sie diesen unablässigen Vergleich mit ihrer Tochter, der ihr unter den Augen des Freundes allmählich unangenehm wurde, nicht mehr ertragen müßte, wenn dieses geliebte Wesen erst einmal verheiratet wäre und sie nicht mehr unter demselben Dach wohnten. Aber die seelische Erschütterung war doch sehr heftig gewesen. Sie bekam Fieber und konnte kaum schlafen. Am Morgen erwachte sie matt und zerschlagen, und ein unwiderstehliches Bedürfnis stieg in ihr auf, Trost und Unterstützung zu bekommen, jemanden um Hilfe zu bitten, der sie von all ihren Schmerzen, von all ihren seelischen und körperlichen Leiden heilen könnte.
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Sie fühlte sich tatsächlich so unwohl und so schwach, daß sie auf den Gedanken kam, ihren Arzt rufen zu lassen. Vielleicht war es ja der Beginn einer ernstlichen Erkrankung, denn dieser ständige Wechsel von Stimmungstief zu Stimmungshoch in wenigen Stunden war nicht natürlich. Sie ließ ihn also telegraphisch benachrichtigen und wartete nun auf ihn. Er kam gegen elf Uhr. Er war einer der soliden Ärzte der guten Gesellschaft, deren Können Orden und Titel garantierten, deren Geschicklichkeit ebenso groß ist wie ihr Wissen und die die Leiden der Frauen vor allem mit geschickten Worten behandeln, die besser helfen als alle Medikamente. Er betrat das Zimmer, grüßte, betrachtete seine Patientin und sagte lächelnd: «Nun, das ist nichts Ernstes. Mit den Augen, die Sie haben, ist man nicht ernstlich krank.» Sie war ihm augenblicklich dankbar für diese Einleitung, und sie schilderte ihm ihre Schwächeanfälle, ihre Reizbarkeit, ihre Schwermut und dann auch, ohne es besonders hervorzuheben, ihr schlechtes Aussehen, das sie beunruhigte. Er hörte ihr zunächst mit aufmerksamer Miene zu und fragte sie nur nach ihrem Appetit, als kennte er die tieferen Gründe dieses weiblichen Leidens; dann horchte er sie ab und untersuchte sie, betastete mit den Fingerspitzen ihre Schultern und hob ihre Arme hoch; zweifellos hatte er ihre Gedanken erraten und mit dem Scharfblick des praktischen Arztes, der alle Schleier lüftet, erkannt, daß sie ihn mehr ihrer Schönheit als ihrer Gesundheit wegen zu Rate zog; endlich sagte er: «Ja, wir sind etwas blutarm und haben nervöse Beschwerden. Das ist nicht verwunderlich bei dem großen Kummer, den Sie gerade gehabt haben. Ich werde Ihnen eine kleine Rezeptur zusammenstellen, die das alles in Ordnung bringen wird. Aber die Hauptsache ist, daß Sie kräftige Nahrung zu sich nehmen, Fleischbrühe essen und statt Wasser Bier trinken. Ich werde Ihnen eine hervorragende Marke nennen. Ermüden Sie sich nicht durch zu langes Aufbleiben, aber gehen Sie spazieren, soviel Sie können. Schlafen Sie viel, und nehmen Sie etwas zu. Mehr kann ich Ihnen nicht raten, schöne Frau und schöne Patientin.» Sie hatte ihm mit brennendem Interesse zugehört und versucht, alle Untertöne zu erraten.
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Sie nahm seine letzten Worte auf: «Ja, ich habe abgenommen. Es gab eine Zeit, da war ich etwas zu stark, und ich habe mich durch die Diät vielleicht etwas zu sehr geschwächt.» «Zweifellos. Es ist nicht schädlich, mager zu sein, wenn man es immer war, aber wenn man absichtlich abmagert, geht das immer auf Kosten von etwas anderem. Glücklicherweise läßt es sich schnell rückgängig machen. Auf Wiedersehen, Madame.» Sie fühlte sich schon besser und munterer, und sie wollte, daß man ihr zum Mittagessen das Bier besorgte, das er ihr empfohlen hatte, und zwar aus dem Hauptgeschäft, um es möglichst frisch zu haben. Sie stand vom Mittagstisch auf, als Bertin hereingeführt wurde. «Ich bin es schon wieder», sagte er, «immerzu ich. Ich komme mit einer Frage. Haben Sie später etwas vor?» «Nein, nichts, warum?» «Und Annette?» «Nein, sie auch nicht.» «Könnten Sie dann vielleicht um vier Uhr zu mir kommen?» «Ja, aber wozu?» «Ich skizziere gerade das Gesicht der Träumerin, ich habe Ihnen davon erzählt, als ich Sie fragte, ob mir Ihre Tochter dafür ein paarmal sitzen könnte. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn ich sie heute für eine kleine Stunde haben könnte. Wollen Sie?» Die Gräfin zögerte, sie war irgendwie verstimmt, ohne zu wissen, warum. Schließlich antwortete sie: «Einverstanden, mein Freund, wir werden um vier Uhr bei Ihnen sein.» «Vielen Dank, Sie sind die Liebenswürdigkeit selbst.» Und er ging, um seine Leinwand vorzubereiten und sein Motiv zu studieren, damit er das Modell nicht zu sehr ermüdete. Die Gräfin machte sich alleine zu Fuß auf, um ihre Einkäufe zu vervollständigen. Sie ging zu den großen Hauptstraßen hinunter und anschließend mit langsamen Schritten wieder den Boulevard Malesherbes hinauf; sie fühlte sich zerschlagen. Als sie an SaintAugustin vorbeikam, hatte sie plötzlich das Bedürfnis, in die Kirche einzutreten und sich dort auszuruhen. Sie stieß die gepolsterte Tür auf,
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seufzte tief vor Wohlbehagen, als sie die kühle Luft des weiten Kirchenschiffs einatmete, nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Sie war fromm, wie so viele Pariserinnen. Sie glaubte fest an Gott, denn sie konnte sich die Existenz des Universums nicht ohne einen Schöpfer vorstellen. Aber da sie, wie es alle tun, die Attribute der Göttlichkeit mit der Natur der erschaffenen Welt, wie sie vor ihren Augen lag, in Verbindung brachte, so bildete sie sich ihr Bild Gottes in etwa nach dem, was sie von seinem Werk kannte, und hatte keine genaueren Vorstellungen über das Wesen dieses geheimnisvollen Schöpfers. Sie glaubte fest an ihn, betete ihn im Prinzip an und fürchtete ihn auf eine unbestimmte Weise, denn seine Absichten und sein Wille blieben ihr nach Wissen und Gewissen verborgen, da sie nur ein begrenztes Vertrauen zu den Priestern hatte, die sie alle für ehemalige Bauernsöhne hie lt, die der Rekrutierung entgehen wollten. Da ihr Vater, ein Pariser Bürger, ihr keinerlei frommen Grundsätze aufzwang, hatte sie bis zu ihrer Heirat nur sporadisch praktiziert. Als dann die neuen Verhältnisse diese sichtbaren Verpflichtungen der Kirche gegenüber verbindlicher regelten, hatte sie sich gewissenhaft diesem sanften Druck gebeugt. Sie war die Schirmherrin zahlreicher, vielbeachteter Säuglingsanstalten, versäumte sonntags nie die Ein-Uhr-Messe, spendete für ihre eigenen Anstalten auf direktem Weg und für andere bedürftige Menschen durch Vermittlung eines Abbes, des Vikars ihrer Gemeinde. Sie hatte häufig nur aus Pflicht gebetet, so wie der Soldat vor der Tür des Generals Wache hält. Manchmal hatte sie gebetet, weil ihr Herz schwer war, besonders aus Furcht vor den Seitensprüngen Oliviers. Ohne dem Himmel den Grund ihrer Unruhe zu gestehen, hatte sie dann Gott um Hilfe gebeten, wobei sie ihn mit derselben naiven Verstellung behandelte, mit der man einen Ehemann behandelt. Damals beim Tod ihres Vaters und jüngst beim Tod ihrer Mutter hatte sie heftige inbrünstige Augenblicke durchlebt, hatte leidenschaftlich gebetet und sich aufgeschwungen zu dem, der über uns wacht und uns tröstet.
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Und heute nun, in dieser Kirche, in die sie nur zufällig eingetreten war, hatte sie plötzlich das tiefe Bedürfnis zu beten, nicht für irgend jemanden oder irgend etwas, nein, für sich, für sich allein, so wie sie es anderntags schon am Grab ihrer Mutter getan hatte. Sie brauchte irgendeine Hilfe, und sie rief nun nach Gott, so wie sie an diesem Morgen nach einem Arzt gerufen hatte. Sie verharrte lange kniend in der Stille der Kirche, die nur ab und zu durch Schritte gestört wurde. Plötzlich erwachte ihre Erinnerung, als ob eine Glocke in ihrem Herzen geschlagen hätte, sie zog ihre Uhr, zuckte zusammen, als sie sah, daß es auf vier Uhr zuging, und eilte nach Hause, um ihre Tochter zu holen, auf die Olivier wahrscheinlich schon wartete. Sie trafen den Künstler in seinem Atelier an, wie er auf seiner Leinwand die Stellung seiner «Träumerin» studierte. Er wollte das, was er im Park Monceau bei seinem Spaziergang mit Annette gesehen hatte, genau wiedergeben: ein armes Mädchen, das mit einem geöffneten Buch auf den Knien träumt. Er hatte lange hin und her überlegt, ob er sie häßlich oder hübsch machen sollte. Häßlich würde sie mehr Charakter haben, mehr Nachdenken und mehr Rührung hervorrufen, mehr Welterfahrung vermitteln. Hübsch wäre sie verführerischer, reizvoller und würde mehr gefallen. Der Wunsch, eine Studie nach seiner kleinen Freundin anzufertigen, bestimmte ihn. Die «Träumerin» sollte hübsch sein, so könnte sie früher oder später seinen poetischen Traum verwirklichen, während sie häßlich dazu verdammt wäre, immer und ewig und ohne jede Hoffnung auf Verwirklichung ein Traum zu bleiben. Sobald die Frauen eingetreten waren, sagte Olivier und rieb sich dabei die Hände: «Nun wollen wir also zusammen arbeiten, Mademoiselle Nane.» Die Gräfin schien bekümmert. Sie setzte sich in einen Sessel und sah Olivier zu, der einen Gartenstuhl aus Eisenrohr ins rechte Licht rückte. Dann öffnete er seinen Bücherschrank, um ein Buch zu suchen, und nach einigem Zögern sagte er: «Was liest sie denn, Ihre Tochter?» «Mein Gott, was Sie wollen. Geben Sie ihr einen Band Victor Hugo.»
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‹«Die Sage von den Jahrhunderten?» «Meinetwegen.» Er fuhr fort: «Kleine, setz dich dahin, und nimm diesen Gedichtband. Schlag die Seite... die Seite 336 auf, dort wirst du ein Stück mit dem Titel "Die armen Leute" finden. Lies es, wie man den besten Wein trinkt, ganz langsam, Wort für Wort, und laß dich davon berauschen, laß dich rühren. Hör auf das, was dir dein Herz eingibt. Dann schließe das Buch, blicke auf, denke nach und träume... Ich werde mir inzwischen mein Malzeug herrichten.» Er ging in eine Ecke und zerrieb Farben auf seiner Palette; aber während er die Bleituben, aus denen dünne Farbschlangen austraten, auf dem feinen Brett ausdrückte, drehte er sich immer wieder um, um das Mädchen zu beobachten, das in seine Lektüre vertieft war. Sein Herz zog sich zusammen, seine Finger zitterten, er wußte nicht mehr, was er tat, und verdarb die Farben, indem er die kleinen Pastenhäufchen durcheinanderbrachte: angesichts dieser Erscheinung, dieser Wiederauferstehung, am selben Ort, nach zwölf Jahren, ergriff ihn plötzlich eine unaufhaltsame innere Erregung. Sie war nun mit dem Lesen fertig und schaute vor sich hin. Er trat zu ihr und sah in ihren Augen zwei klare Tropfen, die sich lösten und über ihre Wangen liefen. Da durchbebte ihn eine jener seelischen Erschütterungen, die einen Mann um den Verstand bringen, und er sagte, zur Gräfin gewandt, leise: «Mein Gott, wie schön sie ist!» Aber er hielt bestürzt inne, als er das leichenblasse, verzerrte Gesicht von Madame de Guilleroy sah. Mit weitgeöffneten, schreckerfüllten Augen blic kte sie auf ihre Tochter und ihn. Von Unruhe ergriffen, ging er zu ihr hin und fragte: «Was haben Sie denn?» «Ich muß mit Ihnen sprechen.» Sie hatte sich erhoben und sagte hastig zu Annette: «Warte einen Augenblick, mein Kind, ich habe Monsieur Bertin etwas zu sagen.» Und sie ging rasch in den kleinen Salon nebenan, in dem er öfter seine Besuche warten ließ. Er folgte ihr, er war völlig benommen und verstand nicht, was los war. Sobald sie alleine waren, ergriff sie seine
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beiden Hände und stammelte: «Olivier, Olivier, ich flehe Sie an, lassen Sie sie nicht mehr Modell sitzen!» Er murmelte beunruhigt: «Aber warum denn?» Sie erwiderte mit sich überschlagender Stimme: «Warum denn? Warum denn? Das fragt er noch? Sie spüren es also nicht von selbst, warum? Oh, ich hätte es früher erkennen müssen, aber ich habe es auch erst gerade eben entdeckt... Ich kann Ihnen jetzt nichts erklären... nichts... Gehen Sie, holen Sie meine Tochter. Sagen Sie ihr, daß ich mich nicht wohl fühle, rufen Sie eine Droschke, und schauen Sie in einer Stunde nach mir. Ich werde Sie alleine empfangen!» «Aber so sagen Sie doch, was ist denn los?» Sie schien einer Ohnmacht nahe. «Lassen Sie mich. Ich kann hier nicht reden. Holen Sie meine Tochter, und rufen Sie eine Droschke.» Er mußte gehorchen und kehrte ins Atelier zurück. Annette hatte keinen Verdacht geschöpft und weitergelesen; die poetische, rührende Geschichte hatte ihr Herz mit Traurigkeit erfüllt. Olivier sagte: «Deiner Mutter geht es nicht gut. Sie ist fast ohnmächtig geworden, als sie den kleinen Salon betreten hat. Geh zu ihr. Ich hole etwas Äther.» Er ging hinaus und eilte in sein Zimmer, um ein Fläschchen zu holen, dann kam er zurück. Er fand die beiden, die sich weinend in den Armen lagen. Annette, gerührt von den «Armen Leuten», ließ ihren Gefühlen freien Lauf, und die Gräfin schaffte sich etwas Erleichterung, indem sie ihren Schmerz mit diesem sanften Kummer verband und ihre Tränen mit denen ihrer Tochter vermischte. Er wartete eine Weile; er wagte nicht zu sprechen und betrachtete sie stumm, selbst ergriffen von einer unvorstellbaren Wehmut. Schließlich sagte er: «Nun, geht es Ihnen besser?» Die Gräfin antwortete: «Ja, etwas. Es wird schon nichts sein. Haben Sie einen Wagen bestellt?» «Ja, er wird gleich dasein.» «Vielen Dank, mein Freund. Es ist nichts. Ich habe zuviel gelitten in letzter Zeit.» Gleich danach meldete ein Diener: «Der Wagen ist vorgefahren.»
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Und Bertin, von geheimen Ängsten geplagt, stützte seine Freundin, die immer noch blaß und halb ohnmächtig war, er brachte sie bis zum Wagenschlag, und er fühlte, wie ihr Herz unter ihrer Bluse pochte. Als er alleine war, fragte er sich: «Was hat sie nur? Woher kommt dieser hysterische Anfall?» Er suchte nach den Ursachen und kam der Wahrheit nahe, ohne jedoch den Mut aufzubringen, sie sich einzugestehen. Am Ende sagte er sich dann doch: «Kommt es vielleicht daher, daß sie glaubt, ich mache ihrer Tochter den Hof? Nein, das ginge doch zu weit!», und er bekämpfte diese vermutete Unterstellung mit scharfsinnigen und aufrichtigen Ar gumenten und entrüstete sich darüber, daß sie auch nur einen Augenblick lang in dieser reinen, fast väterlichen Zuneigung irgendeinen Anflug von Galanterie hatte vermuten können. Sein Unwille gegen die Gräfin wuchs, er wollte es sich nicht gefallen lassen, daß sie es wagte, ihn einer solchen Gemeinheit, einer solchen niederträchtigen Schändlichkeit zu verdächtigen, und er nahm sich fest vor, daß er ihr seinen Unmut deutlich zu erkennen geben wollte, wenn er ihr nachher antwortete. Voll Ungeduld, sich zu erklären, machte er sich bald auf den Weg zu ihr und legte sich unterwegs mit wachsender Erbitterung Argumente und Sätze zurecht, mit denen er sich gegen eine solche Verdächtigung rechtfertigen und sich dafür rächen wollte. Er fand sie auf dem Sofa mit von Leiden entstelltem Gesicht. «Nun, meine liebe Freundin», sagte er trocken, «erklären Sie mir doch endlich die merkwürdige Szene von vorhin.» Sie antwortete mit gebrochener Stimme: «Wie, haben Sie immer noch nicht begriffen?» «Ich muß sagen, nein.» «Aber wie können Sie nur, Olivier, prüfen Sie Ihr Herz genau.» «Mein Herz?» «Ja, Ihr Herz in seinem Innersten.» «Ich verstehe Sie nicht. Reden Sie deutlicher.» «Suchen Sie im Innersten Ihres Herzens, ob sich dort nicht etwas findet, das Ihnen und mir gefährlich werden kann.»
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«Ich sage noch einmal, daß ich Sie nicht verstehe. Ich merke, daß irgend etwas in Ihrer Einbildung existiert, aber in meinem Gewissen finde ich nichts.» «Ich spreche nicht von Ihrem Gewissen, ich spreche von Ihrem Herzen.» «Ich kann keine Rätsel lösen. Ich bitte Sie, drücken Sie sich klarer aus.» Da hob sie langsam ihre beiden Hände, faßte die des Malers, hielt sie fest und sagte, als zerreiße ihr jedes Wort das Herz: «Seien Sie auf der Hut, mein Freund, Sie werden sich in meine Tochter verlieben.» Schroff zog er seine Hände zurück, und mit dem Eifer des Unschuldigen, der sich gegen einen schändlichen Vorwurf wehrt, verteidigte er sich mit lebhaften Gesten und wachsender Erregung und beschuldigte sie ihrerseits, ihn so zu verdächtigen. Sie ließ ihn lange reden und schenkte ihm nicht den geringsten Glauben, fest überzeugt von der Richtigkeit dessen, was sie gesagt hatte. Schließlich antwortete sie: «Aber ich verdächtige Sie doch gar nicht, mein Freund. Sie wissen nicht, was in Ihnen vorgeht, so wie ich es heute morgen selbst auch noch nicht wußte. Sie reden mit mir, als ob ich Ihnen vorgeworfen hätte, sie wollten Annette verführen. O nein! O nein! Ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind und aller Achtung und allen Vertrauens würdig. Ich bitte Sie nur, ich flehe Sie an, auf dem Grund Ihres Herzens zu forschen, ob die Zuneigung zu meiner Tochter, die in Ihnen gegen Ihren Willen heranwächst, nicht doch etwas mehr ist als reine Freundschaft.» Entrüstet und immer erregter beteuerte er aufs neue seine Ehrenhaftigkeit, so wie er es vorhin auf dem Herweg schon für sich alleine getan hatte. Sie wartete, bis er seine Rede beendet hatte; dann sagte sie ohne Groll und ohne in ihrer Überzeugung schwankend geworden zu sein leise und leichenblaß: «Olivier, ich weiß das alles genau, was Sie mir da sagen, und ich denke genauso. Aber ich bin mir ganz sicher, daß ich mich nicht täusche. Hören Sie her, denken Sie nach, begreifen Sie. Meine Tochter gleicht mir zu sehr, sie ist zu sehr die, die ich damals war, als Sie begannen, mich zu lieben; Sie werden sie deshalb auch lieben.»
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Er rief: «Sie wagen es also, mir so etwas ins Gesicht zu schleudern, mit der einfachen Unterstellung, der lächerlichen Überlegung: ‹Er liebt mich, meine Tochter gleicht mir - also wird er auch sie lieben.‹ » Aber als er sah, wie sich das Gesicht der Gräfin mehr und mehr entstellte, fuhr er in milderem Ton fort: «Nun, meine teure Any, dieses Mädchen gefällt mir ja gerade so, weil ich Sie in ihr wiederfinde. Sie sind es, Sie allein, die ich liebe, wenn ich sie sehe.» «Ja, das ist es ja gerade, worunter ich allmählich so sehr leide und was ich so sehr fürchte. Sie durchschauen Ihre Gefühle jetzt noch nicht. In einiger Zeit werden Sie sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen können.» «Any, ich glaube, Sie werden wahnsinnig.» «Wollen Sie Beweise?» «Ja.» «Sie sind trotz meiner inständigen Bitten drei Jahre lang nicht mehr nach Roncieres gekommen. Aber Sie hatten es sehr eilig, als man Ihnen vorschlug, uns dort aufzusuchen.» «So etwas! Sie werfen mir vor, daß ich Sie da unten nicht alleine gelassen habe, wo ich wußte, daß Sie krank waren nach dem Tod Ihrer Mutter.» «Gut, ich bestehe nicht darauf. Aber dies: Das Verlangen, Annette zu sehen, beherrscht Sie so, daß Sie den heutigen Tag nicht verstreichen lassen konnten, ohne mich zu bitten, sie unter dem Vorwand einer Sitzung zu Ihnen zu bringen.» «Und Sie kommen nicht auf den Gedanken, daß Sie diejenige sein könnten, die ich sehen will?» «Jetzt argumentieren Sie gegen sich selbst, Sie versuchen, sich selbst zu überzeugen, mich können Sie nicht täuschen. Hören Sie weiter. Warum sind Sie vorgestern abend so überstürzt aufgebrochen, als der Marquis de Farandal eintrat? Können Sie dafür einen Grund angeben?» Er zögerte, völlig überrascht und beunruhigt, diese Beobachtung entwaffnete ihn.
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Er erwiderte zögernd: «Nun... ich weiß nicht genau... ich war müde... und dann, um ehrlich zu sein, dieser Schwachkopf geht mir auf die Nerven.» «Seit wann?» «Schon immer.» «Entschuldigen Sie, ich habe noch im Ohr, wie Sie sein Lob sangen. Früher haben Sie ihn gemocht. Seien Sie ganz aufrichtig, Olivier.» Er dachte einen Augenblick nach und suchte nach Worten: «Ja, es kann schon sein, daß die große Liebe, die ich für Sie empfinde, sich auf die Ihren überträgt und meine Meinung über diesen Einfaltspinsel beeinflußt; es macht mir nichts aus, ihm ab und zu zu begegnen, aber ich werde wütend, wenn ich ihn fast täglich bei Ihnen antreffe.» «Das Haus meiner Tochter wird nicht das meine sein. Aber genug jetzt. Ich weiß, wie aufrichtig Ihr Herz ist. Ich weiß, daß Sie über alles, was ich Ihnen gesagt habe, lange nachdenken werden. Wenn Sie das getan haben, werden Sie verstehen, daß ich Sie vor einer großen Gefahr gewarnt habe, zu einem Zeitpunkt, wo Sie ihr noch entkommen können. Und Sie werden auf der Hut sein. Lassen Sie uns von etwas anderem reden, ja?» Ihm war es recht, er fühlte sich jetzt unbehaglich, denn er wußte nicht mehr genau, was er glauben sollte, und empfand tatsächlich das Bedürfnis nachzudenken. Und nach einer kurzen Viertelstunde belanglosen Gesprächs brach er auf.
IV Mit langsamen Schritten ging Olivier nach Hause, bestürzt, als habe er gerade ein beschämendes Familiengeheimnis erfahren. Er versuchte, sein Herz zu erforschen, Klarheit über sich zu gewinnen, die verborgenen Seiten im Buch des Innern zu lesen; die aneinanderzukleben scheinen und nur manchmal von einem fremden Finger voneinander gelöst und umgeblättert werden können. Er war sich sicher, Annette nicht zu lieben!
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Die Gräfin, deren argwöhnische Eifersucht immer wachsam war, hatte in der Ferne die Gefahr gesehen und auf sie hingewiesen, noch ehe es sie gab. Aber könnte diese Gefahr morgen, übermorgen oder in einem Monat bestehen? Auf diese ehrliche Frage versuchte er ehrlich zu antworten. Die Kleine erweckte tatsächlich zärtliche Instinkte in ihm, aber solche Instinkte treten bei einem Mann so häufig auf, daß man die gefährlichen nicht mit den harmlosen verwechseln darf. So vergötterte er zum Beispiel Tiere, vor allem Katzen, und konnte ihr seidiges Fell nicht anschauen, ohne von einem unwiderstehlichen, sinnlichen Verlangen gepackt zu werden, ihren wellenförmigen, weichen Rücken zu streicheln und ihr elektrisierendes Fell zu küssen. Die Anziehungskraft, die ihn zu dem jungen Mädchen hinzog, glich ein wenig diesen dunklen, unschuldigen Wünschen, die in allen ruhelosen und nicht zu besänftigenden zitternden Regungen der menschlichen Sinnlichkeit mitschwingen. Das Auge des Künstlers und das Auge des Mannes wurden verführt durch ihre Frische, durch dieses heranwachsende blühende Leben, durch die Kraft der Jugend, die sie ausstrahlte; und sein Herz, voller Erinnerungen an seine lange Liebesbeziehung mit der Gräfin, fand in der außergewöhnlichen Ähnlichkeit Annettes mit ihrer Mutter alte, schlummernde Gefühle aus der Zeit des Beginns ihrer Liebe wieder und hatte vielleicht etwas gezittert unter der Empfindung eines Wiedererwachens. Eines Wiedererwachens? Ja? War es das? Dieser Gedanke war wie eine Erleuchtung. Er war nach Jahren aus einem Schlummer erwacht. Wenn er die Kleine, ohne es zu merken, geliebt hätte, dann hätte er in ihrer Nähe jene Verjüngung des ganzen Seins empfunden, die einen neuen Mensehen hervorbringt, sobald sich in ihm die Flamme eines neuen Begehrens entzündet. Nein, das Kind hatte nur in die alte Glut geblasen! Es war immer noch die Mutter, die er liebte, und er liebte sie zweifellos sogar etwas mehr als zuvor wegen ihrer Tochter, diesem Neubeginn ihrer selbst. Und er faßte diese Erkenntnis in dem beruhigenden Trugschluß zusammen: «Man liebt nur einmal! Das Herz kann zwar immer wieder in Aufruhr geraten beim Zusammentreffen mit einem andern Wesen, denn jeder übt auf jeden Anziehungskraft und Abstoßung aus. Alle diese Einflüsse bringen Freundschaft, Liebschaften, Verlangen nach Besitz und lebhafte, rasch vorübergehende Leidenschaften hervor, aber nicht wirkliche Liebe. Damit sie entsteht, diese Liebe, müssen zwei Wesen völlig
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füreinander geschaffen sein, durch vieles aneinandergekettet, durch gleiche Interessen, durch körperliche, geistige, charakterliche Gemeinsamkeiten, sie müssen sich durch die verschiedenartigsten Dinge miteinander verbunden fühlen, so daß sich ein ganzes Bündel von Anknüpfungspunkten ergibt. Kurz, der, den man liebt, ist nicht so sehr Frau X. oder Herr Y., es ist eine Frau oder ein Mann ohne Namen, von der Natur, dieser großen Mutter aller Dinge, erschaffen, mit den Organen, der Gestalt, dem Herzen, dem Geist und dem Verhalten eines überindividuellen Wesens, das wie ein Magnet unsere Organe, unsere Lippen, unser Herz, unser Denken und alle unsere sinnlichen und geistigen Begierden anzieht. Man liebt einen bestimmten Typ, das bedeutet, die Vereinigung aller menschlichen Qualitäten in einer Person, die man sonst getrennt in den anderen liebt.» Für ihn war Madame de Guilleroy dieser Typ gewesen, und die lange Dauer ihrer Verbindung, deren er immer noch nicht überdrüssig geworden war, war der sichere Beweis dafür. Annette sah äußerlich ihrer Mutter, wie sie früher war, täuschend ähnlich. Es war also nicht weiter verwunderlich, daß sich sein Männerherz ein wenig rühren ließ, aber es ließ sich nicht hinreißen. Er hatte eine Frau geliebt! Diese brachte eine zweite hervor, die fast ihr Ebenbild war. Er brauchte sich wirklich nicht zu verteidigen, wenn er auf diese einen kleinen zärtlichen Rest der leidenschaftlichen Liebe übertrug, die er für die erste empfunden hatte. Da war nichts Schlimmes dabei; da war keine Gefahr. Nur sein Auge und seine Erinnerung ließen sich täuschen durch diese wiederauferstandene Erscheinung; aber sein innerstes Gefühl ließ sich nicht irreführen, denn er hatte das junge Mädchen niemals auch nur im entferntesten begehrt. Aber die Gräfin warf ihm ja auch vor, er sei eifersüchtig auf den Marquis. Stimmte dieser Vorwurf? Von neuem erforschte er ernstlich sein Gewissen, und er stellte fest, daß er wirklich etwas eifersüchtig auf ihn war. Aber war das nach allem so verwunderlich? Ist man nicht immer eifersüchtig auf Männer, die irgendeiner Frau den Hof machen? Empfindet man nicht auf der Straße, im Restaurant, im Theater eine gewisse Feindschaft dem Herrn gegenüber, der mit einem schönen Kind am Arm vorbeigeht oder eintritt? Jeder, der eine Frau besitzt, ist ein Rivale. Er ist ein befriedigter Gockel, ein Eroberer, den
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die anderen Gockel beneiden. Ohne diese physiologischen Betrachtungen weitertreiben zu wollen: wenn es normal war, daß er für Annette eine etwas überspannte Sympathie empfand, weil er die Mutter liebte, war es dann nicht ganz natürlich, daß in ihm ein gewisser instinktiver Haß gegen den zukünftigen Gatten erwachte? Er würde dieses leidige Gefühl sicher mühelos überwinden können. In seinem Innersten aber blieb trotzdem ein bitterer Rest von Unzufriedenheit mit sich selbst und mit der Gräfin zurück. Würde ihr täglicher Umgang nicht unter dem Verdacht, den sie hegte, leiden? Mußte er nicht mit peinlicher, lästiger Aufmerksamkeit alle seine Worte, seine Handlungen, seine Blicke, sein ganzes Benehmen gegenüber dem jungen Mädchen kontrollieren, weil alles, was er tun und sagen würde, den Verdacht der Mutter erregte? Übel gelaunt kam er nach Hause und begann mit der Nervosität eines gereizten Mannes, der zehn Streichhölzer braucht, um seinen Tabak anzuzünden, Zigaretten zu rauchen. Er versuchte vergeblich zu arbeiten. Seine Hand, sein Auge und seine Gedanken schienen der Malerei entwöhnt, als habe er alles vergessen und dieses Handwerk nie gekonnt und ausgeübt. Er hatte sich ein kleines angefangenes Bild vorgenommen und wollte es fertigstellen - eine Straßenecke mit einem blinden Sänger - , aber er betrachtete es mit unüberwindlicher Interesselosigkeit und dem völligen Unvermögen, daran weiterzuarbeiten; schließlich setzte er sich mit der Palette in der Hand davor hin und vergaß es völlig, obwohl er immer noch gebannt und zerstreut darauf starrte. Dann plötzlich befiel ihn die Ungeduld darüber, daß die Zeit nicht vorrückte und die Minuten nicht enden wollten, wie ein Fieber. Was sollte er bis zum Abendessen, das er im Club einnehmen wollte, tun, wenn er nicht arbeiten konnte? Der Gedanke an die Boulevards langweilte ihn im voraus, erfüllte ihn mit Abscheu gegen die Gehwege, die Passanten, die Wagen und die Läden; und die Vorstellung, heute Besuche zu machen, einen Besuch bei irgend jemand Beliebigem, erweckte augenblicklich den Haß gegen alle Leute, die er kannte, in ihm. Was sollte er nun tun? Sollte er etwa in seinem Atelier von einem Ende zum andern hin und her wandern und bei jedem Vorübergehen auf den Zeiger der Uhr schauen, der um einige Sekunden
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weitergerückt war? Oh, er kannte diese Wanderungen von der Tür bis zu der mit Krimskram vollgestellten Truhe zur Genüge. In den Stunden des Feuers, der Begeisterung, des Schwungs, des fruchtbaren, ungehinderten Schaffens waren sie eine köstliche Erholung, diese Gänge hin und her durch den großen, heiteren Raum, der von der Arbeit belebt und erwärmt war; aber in den Stunden des Unvermögens und des Ekels, in den elenden Stunden, in denen ihm nichts mehr einer Anstrengung oder eines Einsatzes wert schien, glichen sie dem trostlosen Auf- und Abgehen des Gefangenen in seiner Zelle. Wenn er wenigstens hätte schlafen können, nur eine Stunde, auf seinem Sofa. Aber nein, er würde nicht schlafen, er würde sich aufregen, bis er vor Erbitterung zitterte. Woher kam dieser plötzliche Anfall von Trübsinn? Er dachte: «Ich bin allmählich schrecklich nervös, daß ich aus einem so geringen Anlaß in einen solchen Zustand gerate.» Er überlegte nun, ob er ein Buch zur Hand nehmen sollte. Der Band «Die Sage von den Jahrhunderten» war noch auf dem Gartenstuhl, auf dem Annette ihn hatte liegen lassen. Er öffnete ihn, las zwei Seiten Verse und verstand sie nicht. Er verstand sie ebensowenig, als wären sie in einer fremden Sprache geschrieben. Er gab sich Mühe und begann noch einmal zu lesen, nur um wiederum festzustellen, daß er ihren Sinn nicht erfassen konnte. «Nun», sagte er sich, «ich bin anscheinend aus der Übung.» Da hatte er plötzlich einen Einfall, wie er die zwei verbleibenden Stunden bis zum Abendessen zubringen könnte. Er ließ sich ein Bad bereiten und verharrte ausgestreckt darin, gelöst und entspannt durch das warme Wasser, bis sein Diener die Kleider brachte und ihn aus seinem Halbschlaf aufweckte. Dann ging er in den Club, wo seine üblichen Gefährten versammelt waren. Er wurde mit offenen Armen und Begrüßungsrufen empfangen, denn man hatte ihn mehrere Tage nicht mehr gesehen. «Ich komme vom Land zurück», sagte er. Alle diese Männer, ausgenommen der Landschaftsmaler Maldant, empfanden tiefe Verachtung für das Land. Rocdiane und Landa gingen wohl zur Jagd dorthin, aber sie genossen in den Feldern und Wäldern nur das Vergnügen, die Fasanen, Wachteln und Rebhühner unter ihrem Blei als Federfetzen herabfallen zu sehen oder dabei zuzuschauen, wie die kleinen Kaninchen wie Clowns fünf oder sechs Purzelbäume schlugen, wenn sie getroffen wurden, und bei jedem
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Überschlag die Blume ihres weißen Fells am Schwanz zeigten. Außerhalb dieser Frühjahrsund Herbstvergnügungen war das Land ihrer Meinung nach unerträglich. Rocdiane sagte: «Zuckrige Frauen sind mir lieber als Zuckererbsen.» Das Abendessen war wie immer geräuschvoll und fröhlich, belebt durch Gespräche, die nichts Aufregendes enthielten. Bertin redete viel, um sich aufzuheitern. Man fand ihn sehr unterhaltend; aber sobald er seinen Kaffee getrunken und mit dem Bankier Liverdy eine Partie Schach gespielt hatte, ging er wieder, schlenderte ein paarmal zwischen der Madeleine-Kirche und der Rue de Taitbout auf und ab, kam dabei dreimal am Vaudeville-Theater vorbei, unschlüssig, ob er eintreten sollte, überlegte, eine Droschke zur Pferderennbahn zu nehmen, änderte seine Meinung und wollte zum Nouveau-Cirque, drehte dann plötzlich ohne Grund, ohne Plan, ohne Vorwand um, ging den Boulevard Malesherbes hinauf und verlangsamte seine Schritte, als er sich dem Haus von Madame de Guilleroy näherte: «Vielleicht findet sie es merkwürdig, wenn ich heute abend komme?» dachte er. Aber er beruhigte sich bei dem Gedanken, daß nichts Außergewöhnliches dabei war, wenn er sich ein zweites Mal nach ihrem Ergehen erkundigte. Sie war allein mit Annette im kleinen Salon hinten und arbeitete immer noch an den Decken für die Armen. Als er eintrat, sagte sie nur: «Ach, Sie sind es, mein Freund.» «Ja, ich war etwas beunruhigt, ich wollte nach Ihnen sehen. Wie geht es Ihnen?» «Danke, ganz gut...» Sie machte eine kleine Pause und sagte dann mit absichtsvoller Betonung: «Und Ihnen?» Er lachte scheinbar ungezwungen und antwortete: «Oh, mir, mir geht es sehr gut, sehr gut. Ihre Befürchtungen sind wirklich grundlos.» Sie hörte auf zu stricken, hob die Augen und ließ ihren von Bitten und Zweifeln glühenden Blick auf ihm ruhen. «Wirklich, so ist es.» «Um so besser», antwortete sie mit einem etwas angestrengten Lächeln.
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Er setzte sich, und es war das erste Mal, daß ihn in diesem Haus ein unwiderstehliches Unbehagen befiel, so etwas wie eine Lähmung seiner Gedanken, noch vollständiger als die, die ihn heute vor seinem angefangenen Bild erfaßt hatte. Die Gräfin sagte zu ihrer Tochter: «Du kannst weitermachen, mein Kind; es stört ihn nicht.» Er fragte: «Was hat sie denn gemacht?» «Sie übte an einer Phantasie.» Annette stand auf und ging zum Klavier. Er folgte ihr unwillkürlich mit den Augen, so wie er es immer getan hatte, weil er sie hübsch fand. Da fühlte er den Blick der Mutter auf sich, und mit einer raschen Bewegung drehte er den Kopf und blickte in eine dunkle Ecke des Salons, als ob er dort nach etwas suchte. Die Gräfin nahm ein kleines goldenes Zigarettenetui von ihrem Arbeitstisch, das sie einmal von ihm geschenkt bekommen hatte, öffnete es und hielt es ihm hin: «Rauchen Sie, mein Freund. Sie wissen, ich mag das, wenn wir unter uns sind.» Er gehorchte, und das Klavier begann zu erklingen. Es war eine anmutige und heitere Komposition nach älteren Vorbildern, eine jener Kompositionen, die den Eindruck erwecken, als seien sie dem Künstler an einem Frühlingsabend im Mondenschein eingefallen. Olivier fragte: «Von wem ist das?» Die Gräfin antwortete: «Von Méhul. Es ist ein kaum bekanntes, reizendes Stück.» Der Wunsch, Annette zuzuschauen, wurde immer stärker, aber er traute sich nicht. Es hätte nur einer kleinen Bewegung bedurft, einer kleinen Drehung des Kopfes, denn er konnte die beiden Dochte der Kerzen, die die Noten beleuchteten, von der Seite sehen, aber er ahnte und erkannte die lauernde Wachsamkeit der Gräfin richtig und rührte sich deshalb nicht, sondern blickte vor sich hin, als interessierten ihn einzig und allein die grauen Rauchwölkchen seiner Zigarette. Madame de Guilleroy flüsterte: «Mehr haben Sie mir nicht zu sagen?»
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Er lächelte: «Seien Sie mir nicht böse. Sie wissen doch, daß mich die Musik völlig gefangennimmt, sie absorbiert meine Gedanken. Ich werde gleich wieder reden.» «Ach», sagte sie, «ich habe vor dem Tod meiner Mutter etwas für Sie eingeübt. Sie haben es noch nie zu hören bekommen, ich werde es Ihnen gleich vorspielen, wenn die Kleine fertig ist; Sie werden sehen, wie merkwürdig es ist.» Sie besaß eine echte Begabung und ein feines Verständnis für den Gefühlsgehalt der Töne. Darin lag sogar eine ihrer sichersten Einflußmöglichkeiten auf das empfindsame Gemüt des Malers. Sobald Annette das ländliche Tongemälde von Méhul beendet hatte, stand die Gräfin auf, nahm ihren Platz ein und zauberte mit ihren Fingern eine fremdartige Melodie hervor, eine Melodie, die nur aus Klagen, verschiedenen, wechselnden zahllosen Klagen zu bestehen schien und von einem einzigen, unablässig wiederkehrenden Ton unterbrochen wurde, der mitten in die sanglichen Partien einfiel und sie zerschnitt, zerstückelte, zerbrach, wie ein unaufhörlicher, eintöniger, quälender Schrei, ein nicht zu beruhigender Ruf der Besessenheit. Aber Olivier schaute Annette an, die sich ihm gegenüber niedergelassen hatte, und er hörte nichts, er verstand nicht. Er schaute sie an, er weidete sich an ihrem Anblick, wie an etwas Gewohntem, Wohltuendem, das er entbehrt hatte, er trank ihn richtig, wie man Wasser trinkt, wenn man durstig ist. «Nun, ist das nicht schön?» fragte die Gräfin. Er schreckte auf und rief: «Wunderbar, herrlich, von wem?» «Sie wissen es nicht?» «Nein.» «Wie, Sie wissen es wirklich nicht?» «Aber nein.» «Von Schubert.» Er sagte im Ton tiefer Überzeugung: «Das erstaunt mich nicht. Es ist herrlich! Es wäre zauberhaft, wenn Sie es noch einmal spielten.»
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Sie spielte es noch einmal, und er wandte wieder den Kopf und betrachtete Annette, aber diesmal hörte er auch der Musik zu und kostete auf diese Weise zwei Genüsse auf einmal aus. Als Madame de Guilleroy wieder an ihren Platz zurückgekehrt war, gehorchte er einfach der natürlichen Verstellungskunst des Mannes und vermied es, das blonde Profil des jungen Mädchens, das seiner Mutter gegenüber auf der andern Seite der Lampe strickte, weiter anzuschauen. Aber wenn er sie auch nicht mehr sah, so genoß er doch ihre süße Gegenwart wie die Nachbarschaft eines wärmenden Feuers; und das Verlangen, seine Blicke kurz von der Gräfin zu ihr schweifen zu lassen, quälte ihn, das Verlangen eines Schuljungen, der sich reckt, um durch das Fenster auf die Straße hinauszuschauen, sobald der Lehrer ihm den Rücken zukehrt. Er ging früh weg, denn seine Zunge war ebenso gelähmt wie sein Geist, und er befürchtete, sein Schweigen könnte falsch gedeutet werden. Sobald er auf der Straße war, packte ihn das Bedürfnis, sich treiben zu lassen, denn alle Musik, die er hörte, klang lange in ihm nach und versetzte ihn in Träumereien, die weitergesponnene und genaue Fortsetzungen der Melodien zu sein schienen. Der Klang der Töne kehrte, mit Unterbrechungen, flüchtig wieder und brachte einzelne verschwommene Takte wie ein Echo aus der Ferne zurück, dann setzte er aus und schien den Gedanken Zeit zu lassen, den Motiven einen Sinn zu geben und sich auf die Suche nach einer Art zartem, harmonischem Ideal zu begeben. Er wandte sich nach links zum äußeren Boulevard, und als er die märchenhafte Beleuchtung des Park Monceau sah, betrat er die Hauptallee, die sich unter den elektrischen Bogenlampen wölbte. Ein Wächter machte mit langsamen Schritten seine Runde; von Zeit zu Zeit kam eine späte Droschke vorbei; ein Mann, von bläulichem, hellem Licht überflutet, saß zeitunglesend auf einer Bank am Fuß eines Bronzemasts, der eine Kugellampe trug. Andere Lichtquellen auf den Rasenflächen zwischen den Bäumen breiteten ihr kaltes, blendendes Licht über die Blätter und das Gras und erfüllten diesen großen städtischen Garten mit bleichem Leben.
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Die Hände auf den Rücken gelegt, ging Bertin den Weg entlang und erinnerte sich an seinen Spaziergang mit Annette in ebendiesem Park, als er in ihrem Mund die Stimme ihrer Mutter wiedererkannt hatte. Er ließ sich auf eine Bank fallen und atmete die dampfende Frische des gesprengten Rasens ein; er fühlte sich von all jenen leidenschaftlichen Vorahnungen erfüllt, die in der Seele der Jünglinge den unzusammenhängenden Entwurf eines endlosen Liebesromans entstehen lassen. Früher hatte er solche Abende erlebt, diese Abende der umherschweifenden Phantasie, an denen seine Gedanken sich in eingebildeten Abenteuern verloren, und er war erstaunt, in sich die Rückkehr dieser Gefühle zu entdecken, die nicht mehr seinem Alter entsprachen. Aber wie der hartnäckig wiederkehrende Ton des Stücks von Schubert, so kehrten der Gedanke an Annette, die Erinnerung an ihr Gesicht unter der Lampe und der seltsame Verdacht der Gräfin immer wieder zurück. Ohne es zu wollen, beschäftigte er sich innerlich mit dieser Angelegenheit, und er versuchte, in die unerforschlichen Tiefen einzudringen, in denen die menschlichen Gefühle keimen, ehe sie hervorbrechen. Diese hartnäckige Suche erregte ihn; diese unablässige Beschäftigung mit dem jungen Mädchen schien seiner Seele die Tür zu süßen Träumen zu öffnen; er konnte sie nicht mehr aus seinen Gedanken verbannen; er beschwor ihre Gegenwart gleichsam in sich herauf, so wie er früher, wenn die Gräfin ihn verlassen hatte, das merkwürdige Gefühl ihrer Anwesenheit in den vier Wänden seines Ateliers festbannte. Dann wurde er plötzlich unwillig darüber, daß er sich so von einer Erinnerung beherrschen ließ, und er murmelte im Aufstehen: «Es war töricht von Any, mir das zu sagen. Ihretwegen denke ich nun immerzu an die Kleine.» Beunruhigt über sich, kehrte er nach Hause zurück. Als er im Bett lag, fühlte er, daß er nicht würde schlafen können, denn ein Fieber raste in seinen Adern, und ein brodelndes Traumgemisch gärte in seinem Herzen. Er fürchtete sich vor einer schlaflosen Nacht, einer jener aufreibenden schlaflosen Nächte, die die Seele in Aufruhr versetzen, und er wollte deshalb versuchen, ein Buch zu lesen. Wie oft schon hatte ihm eine kurze Lektüre als Schlafmittel gedient! Er stand also auf und ging in die Bibliothek hinüber, um ein gutes und
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schlafbeförderndes Werk auszusuchen; aber sein immer noch hellwacher Geist, den es irgendwie nach Rührung verlangte, ließ ihn in den Fächern nach dem Namen eines Schriftstellers suchen, der auf seinen erregten und angespannten Zustand antwortete. Balzac, den er verehrte, sagte ihm nichts; er verschmähte Hugo, überging Lamartine, der ihn sonst immer rührte, und verfiel gierig auf Musset, den Dichter aller jungen Menschen. Er holte einen Band heraus und nahm ihn mit, um darin ein paar beliebige Seiten zu lesen. Als er sich wieder hingelegt hatte, begann er mit dem Durst eines Süchtigen diese eingängigen Verse eines Inspirierten zu trinken, der wie ein Vogel den Sonnenaufgang des Lebens besang und der am hellen Tag verstummte, weil sein Atem nur für diesen frühen Morgen ausgereicht hatte; diese Verse eines Dichters, der vor allem trunken war vom Leben und der seine Trunkenheit in strahlenden und einfachen Fanfarenrufen der Liebe herausschrie, die in allen jungen von Sehnsucht erfaßten Herzen ein Echo erweckten. Noch nie hatte Bertin den körperlich spürbaren Reiz dieser Gedichte, die die Sinne erregen und den Verstand nur wenig beschäftigen, so gut verstanden. Beim Lesen dieser vibrierenden Verse fühlte er das hoffnungsvolle Herz eines Zwanzigjährigen in sich schlagen, und in einem jugendlichen Rausch las er den Band fast zu Ende. Es schlug drei Uhr, und er bemerkte verwundert, daß er noch nicht müde war. Er stand auf, um das Fenster zu schließen, das offengeblieben war, und um das Buch auf den Tisch in der Mitte des Zimmers zu legen; aber als ihn die frische Nachtluft anwehte, bekam er plötzlich Rückenschmerzen; die Kuren in Aix hatten sie nur vorübergehend lindern können; es war wie eine Mahnung, wie ein Fingerzeig, und er warf den Dichter mit einer ungeduldigen Handbewegung auf den Tisch und murmelte: «Alter Narr, verschwinde!» Dann ging er wieder ins Bett und blies sein Licht aus. Am nächsten Tag suchte er die Gräfin nicht auf, und er nahm sich sogar fest vor, sie nicht vor Ablauf von zwei Tagen zu besuchen. Aber was er auch tat, sei es, daß er zu malen versuchte, sei es, daß er Spazierengehen wollte, sei es, daß er seinen Trübsinn von Haus zu Haus trug, bei allem verfolgte ihn der nicht zu verdrängende Gedanke an diese beiden Frauen.
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Da er es sich verboten hatte, sie zu sehen, schaffte er sich Erleichterung, indem er an sie dachte, und er ließ seine Gedanken und seine Gefühle die Erinnerung auskosten. In diesem sinnverwirrenden Zustand, in dem er seine Einsamkeit zu vergessen suchte, tauchten häufig die beiden Gesichter auf, zunächst deutlich unterschieden, so wie er sie kannte, dann schoben sie sich übereinander, vermischten sich, verschmolzen miteinander, und schließlich war nur noch ein einziges etwas verschwommenes Gesicht da, das nicht das der Mutter und auch nicht völlig das der Tochter war, sondern das einer einst, heute und in alle Ewigkeit grenzenlos geliebten Frau. Da bekam er Gewissensbisse, daß er sich so dem Sog seiner Gefühle, die er für stark und gefährlich hielt, überließ. Um ihnen zu entkommen, sie zurückzudrängen, sich von diesem fesselnden, süßen Traum zu befreien, lenkte er seine Gedanken auf alle nur erdenklichen Dinge, auf alles, worüber man nachdenken und nachsinnen kann. Eine vergebliche Mühe! Alle Wege, die er einschlug, um sich zu zerstreuen, führten ihn an denselben Punkt zurück, an dem er eine blonde Gestalt antraf, die ihm voll Erwartung auflauerte. Es war eine ungreifbare und unabweisbare Wahnvorstellung, die über ihm schwebte, ihn umgaukelte und ihn immer wieder einfing, gleich, welchen Fluchtweg er wählte, um ihr zu entkommen. Sobald er nicht mehr nachdachte und nicht mehr überlegte, vermischten sich die beiden Wesen in seiner Erinnerung, wie am Abend des Spaziergangs im Park von Roncieres, er sah sie vor sich und versuchte zu begreifen, was für eine merkwürdige Erregung seine Sinne bewegte. Er fragte sich: «Empfinde ich für Annette tatsächlich mehr Zärtlichkeit, als erlaubt ist?» Er durchforschte sein Herz, und er fand, daß er von Liebe zu einer ganz jungen Frau entbrannt war, die zwar alle Züge Annettes trug, aber doch nicht sie war. Und er beruhigte sich halbherzig, indem er sich sagte: «Nein, ich liebe die Kleine nicht, ich bin nur das Opfer ihrer Ähnlichkeit.» Aber die beiden Tage, die er in Roncieres verbracht hatte, waren wie ein Quell der Wärme, des Glücks und der Trunkenheit in seiner Seele; und nach und nach kamen ihm die kleinsten Einzelheiten eine nach der andern in den Sinn, und sie waren sogar noch köstlicher als die Wirklichkeit. Als er so seine Erinnerungen an sich vorbeiziehen ließ, hatte er plötzlich vor Augen, wie sie aus dem Friedhof gekommen
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waren und wie das junge Mädchen seine Sträuße pflückte, und mit einemmal fiel ihm ein, daß er ihr eine Kornblume aus Saphiren versprochen hatte, wenn sie in Paris zurück wären. Alle seine guten Vorsätze verflogen, und ohne sich weiter um seine Bedenken zu kümmern, nahm er seinen Hut und ging los, beflügelt von dem Gedanken an die Freude, die er ihr machen würde. Der Lakai der Guilleroys gab ihm bei seinem Kommen die Auskunft: «Madame ist ausgegangen, aber das junge Fräulein ist zu Hause.» Er war überglücklich. «Sagen Sie ihr, daß ich sie gerne sprechen möchte.» Mit leichten Schritten ging er in den Salon, als ob er befürchtete, gehört zu werden. Annette erschien kurz darauf. «Guten Tag, teurer Meister», sagte sie ernst. Er lächelte, drückte ihr die Hand und setzte sich dicht neben sie: «Rate, warum ich gekommen bin?» Sie dachte einen Augenblick lang nach. «Ich weiß es nicht.» «Um mit dir und deiner Mutter zum Juwelier zu gehen und die Kornblume aus Saphiren auszusuchen, die ich dir in Roncieres versprochen habe.» Das Gesicht des jungen Mädchens strahlte vor Glück. «Oh», sagte es, «und gerade jetzt ist Mama ausgegangen! Aber sie wird bald zurückkommen. Sie warten doch auf sie, nicht wahr?» «Ja, wenn es nicht zu lange dauert.» «Oh, Sie sind aber unhöflich! ‹Zu lange›, mit mir zusammen! Sie behandeln mich wie ein kleines Mädchen.» «Nein», sagte er, «nicht so sehr, wie du glaubst.» Wie in seinen muntersten Jugendtagen verspürte er das Verlangen in sich zu gefallen, liebenswürdig und geistreich zu sein, ein triebhaftes Verlangen, das die Verführungskünste aufs höchste steigert, das den Pfauen sein Rad schlagen und den Dichter Verse machen läßt. Die Sätze kamen hastig und wie von selbst über seine Lippen, und er redete, wie es ihm in solchen günstigen Momenten gegeben war. Die Kleine wurde von seinem Feuer mitgerissen und antwortete ihm mit
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dem ganzen Mutwillen, mit der ganzen schelmischen Verschmitztheit, die in ihr heranreifte. Als sie über eine bestimmte Ansicht diskutierten, rief er plötzlich: «Aber das haben Sie mir schon oft gesagt, und ich habe Ihnen geantwortet...» Laut lachend unterbrach sie ihn: «Merken Sie, Sie duzen mich nicht mehr! Sie halten mich für meine Mutter.» Er errötete, schwieg und stotterte dann: «Das kommt daher, daß deine Mutter mir gegenüber diesen Gedanken schon hundertmal vertreten hat.» Seine Beredsamkeit war erloschen; er wußte nicht mehr, was er sagen sollte, und er hatte auf einmal Angst, eine unbegreifliche Angst, vor diesem Mädchen. «Da kommt Mama», sagte sie. Sie hatte gehört, daß die Tür zum ersten Salon geöffnet worden war, und Olivier erklärte verlegen, als habe man ihn bei einem Vergehen ertappt, daß er sich plötzlich wieder an sein Versprechen erinnert habe und hergekommen sei, um sie beide abzuholen und mit ihnen zum Juwelier zu gehen. «Ich habe unten eine Halbkutsche stehen», sagte er. «Ich werde mich auf den Notsitz setzen.» Sie brachen auf, und wenige Minuten später betraten sie den Laden von Montara. Er hatte sein ganzes Leben in engem Umgang mit Frauen zugebracht, hatte sie beobachtet, studiert und verehrt, hatte Gelegenheit gehabt, ihren Geschmack zu erforschen und zu entdecken, und kannte sich wie sie in ihren Toiletten, in allen Fragen der Mode und in den kleinsten Details ihres persönlichen Lebens aus; das alles hatte dazu geführt, daß er häufig bestimmte Empfindungen mit ihnen teilte, und wenn er einen jener Läden betrat, in dem die verlockenden und reizenden Accessoires ihrer Schönheit verkauft wurden, empfand er dasselbe Lustgefühl, das sie dort durchbebte. Er interessierte sich wie sie für alle Nichtigkeiten der Putzsucht, die sie benutzten; die Stoffe schmeichelten seinem Auge; die Spitzen verlockten seine Hände; der unbedeutendste elegante Krimskrams zog
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seine Aufmerksamkeit auf sich. In den Juweliergeschäften empfand er eine Art religiöser Ehrfurcht für die Auslagen, wie für Heiligtümer einer überreichen Verlockung; und der mit dunklem Stoff belegte Ladentisch, auf dem die geschmeidigen Finger des Juweliers die Steine mit ihrem kostbaren Glanz hin und her rollen ließen, flößte ihm eine gewisse Hochachtung ein. Nachdem er die Gräfin und ihre Tochter vor diesem schmucklosen Möbel hatte Platz nehmen lassen und beide mit einer selbstverständlichen Bewegung eine Hand daraufgelegt hatten, erklärte er, was er haben wollte, und man zeigte ihm Blütenmodelle. Dann wurden Saphire vor ihnen ausgebreitet, aus denen sie vier auswählen sollten. Das dauerte lange. Die beiden Frauen drehten sie mit den Fingerspitzen auf dem Tuch hin und her, dann nahmen sie sie vorsichtig auf, hie lten sie gegen das Licht und prüften sie mit kenntnisreicher und leidenschaftlicher Aufmerksamkeit. Als man dann die, die sie auswählten, beiseite gelegt hatte, brauchte man noch drei Smaragde für die Blätter und einen ganz kleinen Brillanten, der wie ein zitternder Tautropfen in der Mitte sitzen sollte. Berauscht vom Glück des Schenkens, fragte Olivier die Gräfin: «Würden Sie mir die Freude machen und zwei Ringe aussuchen?» «Ich?» «Ja, einen für Sie und einen für Annette. Lassen Sie mich Ihnen dieses kleine Geschenk zur Erinnerung an die beiden Tage in Roncieres machen.» Sie lehnte ab. Er beharrte darauf. Es folgte eine lange Diskussion, ein Kampf mit Worten und Argumenten, in dem er nur mit Mühe siegte. Die Ringe wurden gebracht, die einen, die wertvolleren, in besonderen Schmuckschatullen, die anderen, nach Arten sortiert, in großen, viereckigen Kästen, in denen sich auf dem Samt die Phantasiegebilde ihrer Fassungen aneinanderreihten. Der Maler hatte sich zwischen die beiden Frauen gesetzt, und er begann wie sie, mit neugierigem Eifer einen Goldring nach dem anderen aus dem schmalen Spalt, in dem sie steckten, herauszunehmen. Anschließend legte er sie vor sich auf das Tuch des Ladentisches; dort bildeten sich
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zwei Haufen, auf dem einen lagen die, die man auf den ersten Blick verwarf, auf dem andern die, aus denen man auswählen wollte. Die Zeit verging unmerklich und heiter bei dieser hübschen Tätigkeit des Wählens, die fesselnder ist als alle Vergnügungen der Welt, zerstreuend und abwechslungsreich wie ein Schauspiel, zudem fast sinnlich erregend, ein köstlicher Hochgenuß für ein Frauenherz. Man verglich, man ereiferte sich, und schließlich, nach einigem Zögern, fiel die Wahl der drei Richter auf eine kleine goldene Schlange, die zwischen ihrem winzigen Mund und dem eingeringelten Schwanz einen wunderschönen Rubin hielt. Glückstrahlend stand Olivier auf. «Ich lasse Ihnen meinen Wagen», sagte er. «Ich habe noch Besorgungen zu machen; ich gehe jetzt.» Aber Annette bat ihre Mutter, bei dem schönen Wetter doch zu Fuß heimzugehen. Die Gräfin stimmte zu, und nachdem sie Olivier gedankt hatte, ging sie mit ihrer Tochter durch die Straßen. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander, erfüllt von der süßen Freude über die Geschenke; dann begannen sie, sich über all die Schmuckstücke zu unterhalten, die sie gesehen und in der Hand gehalten hatten. In ihrer Erinnerung war so etwas wie ein Widerschein, ein Klirren und ein glückliches Gefühl zurückgeblieben. Sie gingen rasch, mitten in der Menschenmenge, die um fünf Uhr an einem Sommerabend die Gehwege entlanghastet. Die Männer drehten sich nach Annette um und murmelten im Vorübergehen undeutliche Worte der Bewunderung. Zum ersten Mal seit ihrer Trauerzeit, und seit die schwarze Kleidung ihrer Tochter diesen lebhaften Glanz der Schönheit verlieh, ging die Gräfin mit ihr durch Paris; und der Eindruck dieses Erfolgs der Straße, der erregten Aufmerksamkeit, der geflüsterten Komplimente, dieses kleinen Wirbels schmeichelhafter Erregung, den eine schöne Frau hinterläßt, wenn sie an Männern vorübergeht, all das zog ihr das Herz nach und nach zusammen und löste dieselbe unangenehme Beklemmung aus wie am Abend zuvor, als man in ihrem Salon die Kleine mit ihrem eigenen Porträt verglichen hatte. Wider Willen lauerte sie den Blicken auf, die Annette auf sich zog, sie fühlte sie schon von ferne, wie sie zunächst ihr Gesicht streiften, ohne daran haften zu bleiben, um sich dann plötzlich der blonden Gestalt an ihrer Seite zuzuwenden. Sie ahnte, sie
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erkannte in den Augen die raschen und stummen Huldigungen an diese erblühende Jugend und den anziehenden Charme dieser Frische, und sie dachte: «Ich war genauso schön wie sie, wenn nicht noch schöner.» Plötzlich durchfuhr sie die Erinnerung an Olivier, und wie in Roncieres erfaßte sie das unbeherrschbare Verlangen zu fliehen. Sie wollte nicht mehr länger diesem hellen Licht, diesem Menschengetriebe und diesen Männerblicken, die sie nicht beachteten, ausgesetzt sein. Jene Tage, an denen sie den Vergleich mit ihrer Tochter gesucht, ja angeregt hatte, la gen weit zurück, auch wenn wenig Zeit seitdem vergangen war. Wer unter den Vorübergehenden dachte heute daran, sie beide zu vergleichen? Vielleicht hatte vorhin im Juweliergeschäft einer daran- gedacht? Er? Oh, wie entsetzlich! Es konnte gar nicht anders sein, er mußte unablässig die Anfechtung dieses Vergleichs verspüren. Er konnte sie bestimmt nicht zusammen sehen, ohne daran zu denken und ohne sich an die Zeiten zu erinnern, wo sie ebenso frisch und hübsch und seiner Liebe sicher vor ihm stand. «Mir ist nicht gut», sagte sie, «wir wollen eine Droschke nehmen, mein Kind.» Annette fragte beunruhigt: «Was fehlt dir denn, Mama?» «Ach, es ist nichts, du weißt ja, daß ich seit dem Tod deiner Großmutter häufig diese Schwächeanfälle habe.»
V Fixe Ideen haben die zähe, zehrende Wirkung einer unheilbaren Krankheit. Wenn sie einmal in die Seele eingedrungen sind, verzehren sie sie und rauben ihr die Fähigkeit, an etwas anderes zu denken, sich für etwas anderes zu interessieren oder an der geringsten Kleinigkeit Geschmack zu finden. Was die Gräfin zu Hause oder außer Haus, allein oder in Gesellschaft auch tun mochte, sie konnte diesen Gedanken, der von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie Seite an Seite mit ihrer Tochter zurückging, nicht verjagen: «Mußte Olivier, der sie
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beide fast jeden Tag sah, nicht immerzu die Anfechtung verspüren, sie miteinander zu vergleichen?» Er tat es sicherlich unablässig, gegen seinen Willen, getrieben durch diese Ähnlichkeit, die keinen Augenblick zu übersehen war und die noch durch die in letzter Zeit bewußt angestrebte Nachahmung der Bewegungen und der Sprechweise verstärkt wurde. Jedesmal wenn er kam, dachte sie sofort an dieses Vergleichen, sie las es in seinen Augen, erriet es und deutete es in ihrem Herzen und mit ihrem Verstand. Dann quälte sie das Bedürfnis, sich zu verstecken, zu verschwinden, sich vor ihm nicht mehr in der Nähe ihrer Tochter sehen zu lassen. Sie litt in jeder Beziehung und fühlte sich nicht mehr heimisch in ihrem Haus. Die Kränkung des Vertriebenwerdens, die sie an jenem Abend empfunden hatte, als Annette unter ihrem Porträt stand und alle Augen auf sie gerichtet waren, diese Kränkung nahm zu, verstärkte sich und brachte sie manchmal zur Verzweiflung. Sie warf sich diesen geheimen Wunsch, sich von ihrer Tochter zu befreien, dieses uneingestandene Bedürfnis, sie aus ihrem Haus zu entfernen wie einen lästigen und hartnäckigen Gast, immerzu vor, und dabei arbeitete sie unbewußt mit Geschicklichkeit an diesem Ziel, angetrieben von dem Wunsch zu kämpfen, um allen Widerständen zum Trotz den Mann, den sie liebte, nicht zu verlieren. Sie konnte Annettes Hochzeit, die wegen ihrer augenblicklichen Trauer noch etwas hinausgezögert wurde, nicht allzusehr beschleunigen und hatte deshalb Angst, eine verschwommene und heftige Angst, irgendein Ereignis könnte diesen Plan zum Scheitern bringen, und sie versuchte, fast gegen ihren Willen, in ihrer Tochter zärtliche Gefühle für den Marquis zu wecken. Die ganze listige Diplomatie, die sie so lange angewandt hatte, um sich Olivier zu erhalten, nahm bei ihr eine neue, raffiniertere und verstecktere Form an und bestand darin, die beiden jungen Leute Gefallen aneinander finden zu lassen, ohne daß die beiden Männer sich begegneten. Da der Maler seiner Arbeitsgewohnheiten wegen niemals außer Haus Mittag aß und für gewöhnlich nur seine Abende mit seinen Freunden verbrachte, lud sie den Marquis häufig zum Mittagessen ein. Wenn er kam, verbreitete er die Frische eines Pferdeausritts um sich, so etwas wie einen Hauch von Morgenluft. Und er erzählte heiter von
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all den gesellschaftlichen Neuigkeiten, die scheinbar jeden Morgen über dem herbstlichen Erwachen des in den Alleen des Bois ausreitenden und sich zur Schau stellenden Paris herumschwirrten. Annette hörte ihm mit Vergnügen zu und fand Geschmack an diesen täglichen Klatschgeschichten, die er ihr ganz frisch und elegant ausgeschmückt zutrug. So entstand zwischen ihnen eine jugendliche Vertrautheit, eine herzliche Kameradschaft, die durch das gemeinsame, leidenschaftliche Interesse für Pferde auf natürliche Weise gefestigt wurde. Wenn er gegangen war, lobten die Gräfin und der Graf ihn auf geschickte Weise und sprachen so über ihn, daß das junge Mädchen verstehen mußte, daß es einzig und allein bei ihr lag, ihn zu heiraten, wenn er ihr gefiel. Und sie verstand es im übrigen sehr schnell und dachte in ihrer Unschuld, es wäre leicht, diesen hübschen Jungen zum Mann zu nehmen, der ihr neben anderen Vergnügungen vor allem diejenige verschaffen würde, die sie allen vorzog, die, jeden Morgen an seiner Seite auf einem Vollblutpferd auszureiten. Eines Tages waren sie nach einem Händedruck und einem Lächeln wie von selbst verlobt, und von der Hochzeit wurde wie von einer seit langem beschlossenen Sache gesprochen. Der Marquis begann nun Geschenke mitzubringen. Die Herzogin behandelte Annette wie ihre eigene Tochter. Die ganze Sache wurde so im gemeinsamen Einverständnis auf der kleinen Flamme vertrauten Umgangs während der ruhigen Stunden des Tages angewärmt, und der Marquis, der außerdem noch alle möglichen anderen Beschäftigungen, Beziehungen, Verpflichtungen und Aufgaben hatte, kam nur selten am Abend ins Haus. Das war Oliviers Zeit. Regelmäßig einmal in der Woche kam er zum Abendessen zu seinen Freunden, und er erschien auch weiterhin unangemeldet zwischen zehn Uhr abends und Mitternacht auf eine Tasse Tee bei ihnen. Sobald er eintrat, begann die Gräfin, ihn zu belauern, zerfressen vom Verlangen, zu erfahren, was sich in ihm abspielte. Jeden Blick und jede Bewegung legte sie augenblicklich aus, und sie wurde von dem Gedanken verfolgt: «Es ist unmöglich, daß er sie nicht liebt, wenn er uns so nebeneinander sieht.»
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Auch er brachte Geschenke mit. Keine Woche verging, ohne daß er mit zwei kleinen Päckchen in der Hand ankam und eines der Mutter und eines der Tochter schenkte, und der Gräfin zog sich beim Öffnen der Schachteln, die häufig kostbare Dinge enthielten, das Herz zusammen. Sie kannte dieses Bedürfnis zu schenken nur zu gut, das sie als verheiratete Frau nie hatte befriedigen können, dieses Bedürfnis, etwas mitzubringen, Freude zu bereiten, etwas für jemanden zu kaufen, im Laden die Kleinigkeit zu finden, die Gefallen erregen würde. Der Maler hatte früher auch schon solche Anfälle gehabt, und sie hatte ihn viele Male mit demselben Lächeln und derselben Bewegung mit einem Päckchen in der Hand hereinkommen sehen. Das hatte dann nachgelassen, und jetzt fing es plötzlich wieder an. Für wen geschah das? Sie zweifelte nicht mehr daran, für sie war es nicht! Er schien erschöpft und abgemagert. Sie schloß daraus, daß er litt. Sie verglich sein Hereinkommen, sein Aussehen, sein Benehmen mit der Haltung des Marquis, den der Reiz Annettes inzwischen auch zu betören begann. Es war nicht dasselbe: Monsieur de Farandal war verliebt, Olivier Bertin liebte! Zumindest glaubte sie dies in ihren qualvollen Stunden, in ruhigeren Augenblicken hoffte sie noch immer, sie täusche sich. Oh, wie oft war sie nahe daran, ihn zu fragen, wenn sie alleine waren, ihn zu bitten, anzuflehen, er möge mit ihr reden, alles bekennen, ihr nichts verheimlichen. Es wäre ihr lieber gewesen, zu wissen und in der Gewißheit zu weinen, als so unter der Ungewißheit zu leiden und nicht in diesem verschlossenen Herzen lesen zu können, in dem sie eine andere Liebe heranwachsen sah. Dieses Herz, an dem sie mehr hing als an ihrem Leben, das sie seit zwölf Jahren mit ihrer Liebe gehütet, erwärmt und belebt hatte, dessen sie sich sicher glaubte, von dem sie gehofft hatte, daß es ihr für alle Zeiten gehöre, daß sie es endgültig gewonnen, erobert und unterjocht habe und daß es ihr bis ans Ende ihrer Tage leidenschaftlich ergeben sei, dieses Herz entglitt ihr nun auf einmal durch ein unbegreifliches, schreckliches und ungeheuerliches Geschick. Ja, es hatte sich plötzlich verschlossen und bewahrte ein Geheimnis in sich. Sie konnte nun nicht mehr mit einem vertrauten Wort eindringen und ihre Liebe einnisten wie in einem sicheren Schlupfwinkel, der nur ihr offenstand.
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Was für einen Sinn hatte es zu lieben, sich jemandem vorbehaltlos hinzugeben, wenn derjenige, dem man alles geschenkt hat, sein ganzes Wesen und sein ganzes Leben, alles, alles, was einem auf dieser Welt wichtig war, einem plötzlich entgleitet und in wenigen Tagen fast zu einem Fremden wird, nur weil ihm ein anderes Gesicht gefällt! Ein Fremder! Er, Olivier? Er sprach mit ihr wie bisher, er gebrauchte dieselben Worte und hatte dieselbe Stimme und denselben Tonfall. Und doch war etwas zwischen ihnen, etwas Unerklärliches, Ungreifbares, Unsichtbares, eine kleine Winzigkeit, diese Winzigkeit, die bewirkt, daß sich ein Segel im drehenden Wind entfernt. Er entfernte sich in der Tat, er entfernte sich jeden Tag ein wenig weiter von ihr durch all die Blicke, die er auf Annette warf. Er selbst wollte keine Klarheit über seine Gefühle. Er fühlte wohl dieses Anschwellen der Liebe, diese unwiderstehliche Anziehungskraft, aber er wollte es sich nicht eingestehen; er überließ sich dem Lauf der Dinge und den unvorhersehbaren Zufällen des Lebens. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Abendessen und den Abenden zwischen diesen beiden Frauen, die wegen der Trauerzeit nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten. Da er nur nichtssagende Gesichter bei ihnen antraf, meist die von Musadieu und von den Corbelles, glaubte er sich fast alleine auf der Welt mit ihnen, und da er die Herzogin und den Marquis nie mehr antraf, denen die Vormittage und die Mittagszeit vorbehalten waren, wollte er nicht mehr an sie denken, und er vermutete, die Heirat sei auf unbestimmte Zeit verschoben. Annette erwähnte Monsieur de Farandal übrigens nicht in seiner Gegenwart. Geschah dies aus so etwas wie einem instinktiven Schamgefühl heraus, oder hatte sie vielleicht eine dieser geheimen Eingebungen des weiblichen Herzens, die sie vorausahnen ließ, was sie noch nicht wußte? Wochen um Wochen vergingen, ohne daß sich etwas an diesem Leben änderte, und dann kam der Herbst und mit ihm der Wiederbeginn der Kammersitzungen, der dieses Jahr der gefährlichen politischen Lage wegen früher als gewöhnlich anberaumt worden war. Der Graf de Guilleroy wollte am Tag der Wiedereröffnung Madame Mortemain, den Marquis und Annette, nach einem gemeinsamen
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Frühstück in seinem Haus, zur Sitzung des Parlaments mitnehmen. Nur die Gräfin, die sich in ihren ständig wachsenden Kummer zurückzog, hatte erklärt, sie wolle zu Hause bleiben. Sie hatten den Tisch verlassen und nahmen im großen Salon in heiterer Stimmung den Kaffee ein. Der Graf, der glücklich war, daß die parlamentarische Arbeit, sein einziges Vergnügen, wieder begann, redete fast geistvoll über die augenblickliche Lage und die Schwierigkeiten der Republik; der Marquis, offensichtlich verliebt, antwortete ihm lebhaft und schaute dabei Annette an; und die Herzogin war mit den Gefühlen ihres Neffen fast ebenso zufrieden wie mit der schwierigen Lage der Regierung. Die Luft im Salon war stickig von der ersten geballten Hitze der wieder in Betrieb genommenen Heizung, von den erwärmten Stoffen, Tapeten und Mauern und dem unter dieser Wärme rasch verduftenden Geruch welkender Blumen. Es herrschte eine irgendwie vertraute, familiäre und zufriedene Atmosphäre in diesem geschlossenen Raum, in dem auch noch der Kaffee seinen Duft verbreitete, als die Tür vor Olivier Bertin geöffnet wurde. Er blieb völlig überrascht auf der Schwelle stehen und zögerte einzutreten, überrascht wie ein betrogener Ehemann, der seine Frau auf frischer Tat ertappt. An seinem unfaßbaren Zorn und der Erregung, die ihm den Atem raubte, erkannte er, wie zerfressen von Liebe sein Herz war. Als er den Marquis in der Rolle des Verlobten im Hause sah, wurde ihm klar, was man von ihm und er von sich ferngehalten hatte. Er durchschaute mit jäher Erbitterung alles, was er nicht hatte wissen wollen, und alles, was man ihm nicht zu sagen gewagt hatte. Er stellte sich nicht einmal die Frage, warum man ihm alle diese Vorbereitungen zur Heirat verheimlicht hatte. Er erriet es; und sein Blick, der hart geworden war, traf sich mit dem der Gräfin, die errötete. Sie verstanden sich. Als er sich gesetzt hatte, schwiegen alle einen Augenblick lang, sein unerwartetes Erscheinen hatte den Gedankenflug gelähmt; schließlich richtete die Herzogin das Wort an ihn; er antwortete kurz angebunden, mit einer fremden, unversehens veränderten Stimme.
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Er sah alle diese Menschen um sich herum, die sich wieder unterhielten, und er sagte sich: «Sie haben mit mir gespielt. Das werden sie mir bezahlen.» Er war besonders wütend auf die Gräfin und auf Annette, deren unschuldige Verstellung er nun durchschaute. Der Graf blickte auf die Uhr und rief: «Oh! Es ist Zeit, wir müssen aufbrechen!» Dann, zu dem Male r gewandt: «Wir gehen zur Wiedereröffnung der Parlamentssitzungen. Nur meine Frau bleibt zu Hause. Wollen Sie uns begleiten? Sie würden mir eine große Freude bereiten.» Olivier antwortete trocken: «Nein, danke. Ihr Parlament reizt mich nicht.» Da trat Annette zu ihm und sagte in ihrer scherzhaften Art: «Oh, kommen Sie doch mit, teurer Meister. Ich bin sicher, daß Sie uns sehr viel besser unterhalten werden als die Abgeordneten.» «Nein, wirklich nicht. Sie werden sich gut ohne mich unterhalten.» Sie erriet, daß er unzufrieden und unglücklich war, und beharrte aus Liebenswürdigkeit auf ihrer Bitte: «Doch, kommen Sie mit, Herr Maler. Ich versichere Ihnen, ich zumindest kann Sie nicht entbehren.» Überstürzt kam die Antwort über seine Lippen, er konnte sie nicht zurückhalten und sie auch nicht abmildern: «Pah! Sie können mich entbehren wie alle andern.» Sie war überrascht über seinen Ton und rief: «Sieh an, er fängt tatsächlich wieder an, ‹Sie› zu mir zu sagen.» Auf seinen Lippen erschien ein gequältes Lächeln, das den ganzen Schmerz seiner Seele zeigte, und er sagte mit einer leichten Verbeugung: «Ich muß mich über kurz oder lang doch daran gewöhnen.» «Warum denn das?» «Weil Sie heiraten werden und weil Ihr Mann, wer immer es sein mag, das Recht hätte, dieses ‹Du› aus meinem Mund für unangebracht zu halten.» Die Gräfin beeilte sich einzuwerfen: «Dann wird es immer noch früh genug sein, daran zu denken. Aber ich hoffe, daß Annette niemanden heiratet, der so empfindlich ist, daß er an dieser Vertraulichkeit eines alten Freundes Anstoß nimmt.»
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Der Graf rief: «Marsch, marsch, los. Wir werden uns verspäten!» Und diejenigen, die ihn begleiteten, erhoben sich und brachen auf, nach dem üblichen Händeschütteln und den Küssen, die die Herzogin, die Gräfin und ihre Tochter bei jeder Begrüßung und bei jedem Abschied auszutauschen pflegten. Sie blieben alleine zurück, sie und er, hinter den Portieren der sich schließenden Tür. «Setzen Sie sich, mein Freund», sagte sie weich. Aber er entgegnete fast schroff: «Nein, danke, ich gehe auch gleich.» Sie flehte mit leiser Stimme: «Oh, warum denn?» «Weil das anscheinend nicht mein Tag ist. Ich bitte Sie um Entschuldigung, daß ich unangemeldet gekommen bin.» «Olivier, was ist mit Ihnen?» «Nichts. Ich bedaure nur, daß ich eine vereinbarte Lustpartie gestört habe.» Sie ergriff seine Hand. «Was wollen Sie damit sagen? Sie waren gerade im Aufbruch. weil sie an der Eröffnung der Parlamentssitzungen teilnehmen. Ich wollte zu Hause bleiben. Es war ganz im Gegenteil eine glückliche Eingebung von Ihnen, heute zu kommen, wo ich alleine bin.» Er lächelte höhnisch. «Eine Eingebung ja, ich hatte eine Eingebung!» Sie faßte ihn an seinen beiden Handgelenken, sah ihm tief in die Augen und flüsterte: «Gestehen Sie mir, daß Sie sie lieben?» Er machte seine Hände frei, er konnte seine Ungeduld nicht mehr zügeln. «Sie sind wirklich besessen von diesem Gedanken.» Wieder faßte sie ihn an den Armen, ihre Finger klammerten sich an seinem Ärmel fest, und sie flehte: «Olivier, gestehen Sie! Gestehen Sie! Es ist mir lieber, ich weiß es, ich bin mir sicher, doch, es ist. mir lieber, ich weiß es! Es ist mir lieber!... Oh, Sie ahnen nicht, was aus meinem Leben geworden ist.» Er zuckte mit den Schultern. «Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ist es meine Schuld, wenn Sie den Kopf verlieren?»
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Sie hielt ihn fest und zog ihn in den anderen, hinteren Salon hinüber, wo man sie nicht hören konnte. An sein Jackett geklammert und keuchend zerrte sie ihn mit sich. Als sie ihn bis zu dem kleinen runden Sofa gebracht hatte, zwang sie ihn, sich darauf niederzulassen, und setzte sich dann dicht neben ihn. «Olivier, mein Freund, mein einziger Freund, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, daß Sie sie lieben. Ich weiß es, ich spüre es an allem, was Sie tun, ich kann nicht mehr daran zweifeln, ich sterbe daran, aber ich will es aus Ihrem Mund hören!» Da er sich noch immer wehrte, warf sie sich vor seinen Füßen auf die Knie und sagte mit ersterbender Stimme: «Oh, mein Freund, mein Freund, mein einziger Freund, stimmt es, daß Sie sie lieben?» Er versuchte, sie aufzurichten, und rief: «Aber nein, nein! Ich schwöre Ihnen, nein!» Sie streckte ihre Hand aus und preßte sie ihm auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann stammelte sie: «Oh, lügen Sie bitte nicht, ich leide zu sehr!» Und sie ließ ihren Kopf auf die Knie dieses Mannes niedersinken und weinte. Er sah nur noch ihren Nacken, einen Berg blonder Haare, zwischen denen schon viele weiße Haare durchschimmerten, und ein grenzenloses Mitleid und ein grenzenloser Schmerz durchzuckten ihn. Er griff mit seinen Händen in dieses schwere Haar, zog es mit einem Ruck hoch und sah in zwei verzweifelte Augen, aus denen ein Strom von Tränen hervorquoll. Da drückte er seine Lippen ein ums andere Mal auf diese tränenüberströmten Augen und wiederholte immer wieder: «Any! Any! Meine liebste, liebste Any!» Sie versuchte zu lächeln und sprach mit dem stockenden Ton eines Kindes, dem der Schmerz Atem und Stimme raubt: «Oh, mein Freund, sagen Sie mir nur, daß Sie mich immer noch ein wenig lieben.» Er küßte sie aufs neue. «Ja, ich liebe Sie, meine liebste Any!» Sie erhob sich, setzte sich wieder dicht neben ihn, nahm erneut seine Hände in die ihren, schaute ihn an und sagte zärtlich: «Wir lieben uns nun schon so lange Zeit. Das darf nicht so enden.» Er drückte sie an sich und fragte: «Warum sollte es enden?»
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«Vielleicht, weil ich alt geworden bin und weil Annette zu sehr der ähnelt, die ich war, als Sie mich kennenlernten?» Diesmal war er es, der ihr mit den Fingerspitzen den schmerzverzerrten Mund schloß, indem er sagte: «Noch einmal! Ich bitte Sie, sprechen Sie nicht mehr davon. Ich schwöre Ihnen, Sie täuschen sich!» Sie wiederholte: «Vorausgesetzt, Sie lieben mich noch ein klein wenig.» Er sagte noch einmal: «Ja, ich liebe Sie.» Darauf verharrten sie lange Hand in Hand, ohne zu sprechen, und sie waren sehr bewegt und sehr betrübt. Schließlich brach sie das Schweigen und sagte leise: «Oh, die Stunden, die mir das Leben noch bringt, werden nicht heiter sein.» «Ich werde mir Mühe geben, sie Ihnen zu versüßen.» Die Dunkelheit des wolkenverhangenen Himmels, die die Dämmerung schon zwei Stunden früher hereinbrechen läßt, verbreitete sich im Salon und begrub sie nach und nach unter dem nebligen Grau der Herbstabende. Die Wanduhr schlug. «Wir sind schon lange hier zusammen», sagte sie. «Sie sollten gehen, denn es könnte jemand kommen, und wir sind nicht gefaßt genug.» Er erhob sich, umarmte sie und küßte sie wie früher auf ihren halbgeöffneten Mund, dann gingen sie Arm in Arm, wie ein Ehepaar, durch die beiden Salons zurück. «Adieu, mein Freund.» «Adieu, meine Freundin.» Und der Türvorhang fiel hinter ihm herab! Er ging die Treppe hinunter und schlug den Weg zur MadeleineKirche ein. Er lief los, ohne zu wissen, was er tat, benommen wie nach einem Hieb, mit weichen Knien, und sein Herz glühte und zuckte in seiner Brust wie ein brennender, flatternder Fetzen. So lief er zwei, drei oder vielleicht auch vier Stunden durch die Gegend, in einer Art seelischer Abgestumpftheit und körperlicher Zerrüttung, die ihm
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gerade noch die Kraft ließen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dann kehrte er nach Hause zurück, um nachzudenken. Er liebte also dieses kleine Mädchen! Mit einemmal begriff er alles, was er in ihrer Nähe gefühlt hatte seit jenem Spaziergang im Park Monceau, als er aus ihrem Mund den Ruf einer Stimme vernahm, die er kaum wiedererkannte, den Ruf jener Stimme, die einst sein Herz erweckt hatte, und er begriff dieses langsame, unaufhaltsame Wiedererwachen einer nicht richtig erloschenen, noch nicht ganz erkalteten Liebe, das er sich so lange nicht hatte eingestehen wollen. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Wenn sie erst verheiratet wäre, würde er vermeiden, sie zu häufig zu sehen, das war alles. Bis dahin würde er weiterhin das Haus aufsuchen, damit kein Verdacht aufkäme, und er würde sein Geheimnis vor aller Welt verbergen. Er aß abends zu Hause, was sonst nie vorkam. Dann ließ er den großen Ofen in seinem Atelier anheizen, denn eine eisige Nacht kündigte sich an. Er befahl sogar, den Kronleuchter anzuzünden, als furchte er die dunklen Ecken, und er schloß sich ein. Ein merkwürdiges, tiefes, körperlich spürbares, entsetzlich trauriges Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen! Er empfand es in seiner Kehle, in seiner Brust und in allen seinen erschlafften Muskeln ebenso wie in seiner geschwächten Seele. Die Wände des Ateliers erdrückten ihn; sie schlössen sein ganzes Leben ein, sein Leben als Künstler und sein Leben als Mann. Jeder gemalte Entwurf, der an der Wand hing, erinnerte ihn an einen Erfolg, jedes Möbel enthielt Erinnerungen. Aber Erfolg und Erinnerungen gehörten der Vergangenheit an! Und sein Leben? Wie kurz, leer und zugleich ausgefüllt erschien es ihm. Er hatte Bilder gemalt, Bilder und noch einmal Bilder, immerzu, und er hatte eine Frau geliebt. Er erinnerte sich an die Abende überschwenglichen Glücks in diesem Atelier nach ihrem Zusammensein. Ganze Nächte lang war er in fiebriger Erregung auf und ab gegangen. Das Glück der erfüllten Liebe, das Glück des gesellschaftlichen Erfolgs, der einzigartige Rausch des Ruhms hatten ihm unvergeßliche Stunden persönlichen Triumphs beschert. Er hatte eine Frau geliebt und war von ihr wiedergeliebt worden. Durch sie hatte er die Taufe empfangen, die einem Mann die geheimnisvolle Welt der Gefühle und der Zärtlichkeiten erschließt. Sie hatte sein Herz fast mit Gewalt geöffnet, und nun ließ es sich nicht
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mehr schließen. Eine neue Liebe drang gegen seinen Willen durch die Bresche ein, eine neue, oder vielmehr dieselbe, angefeuert durch ein neues Gesicht und verstärkt durch das im Alter zunehmende Bedürfnis nach Anbetung. Er liebte also dieses kleine Mädchen! Es hatte keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen, Widerstand zu leisten und es abzustreiten, er liebte sie im verzweifelten Wissen, daß er von ihr nicht das geringste Mitgefühl zu erwarten hatte, daß sie nie etwas von seiner grausamen Qual erfahren und daß ein anderer sie heiraten würde. Bei diesem Gedanken, der unaufhörlich wiederkehrte und sich nicht vertreiben ließ, wurde er von einem tierischen Verlangen gepackt, wie ein Kettenhund loszuheulen, denn er fühlte sich ebenso ohnmächtig, unterjocht und angekettet. Je mehr er nachdachte, desto nervöser wurde er, und er ging mit großen Schritten in dem weitläufigen Raum auf und ab, der hell erleuchtet war wie für ein Fest. Als er schließlich den Schmerz dieser wieder aufgebrochenen Wunde nicht länger ertragen konnte, wollte er versuchen, ihn durch die Erinnerung an seine einstige Liebe zu beruhigen und ihn in der Beschwörung seiner ersten großen Leidenschaft zu vergessen. Er holte die Kopie, die er damals von dem Porträt der Gräfin für sich angefertigt hatte, aus dem Wandschrank, in dem er sie aufbewahrte, dann stellte er sie auf seine Staffelei, setzte sich davor und betrachtete sie. Er versuchte, sie wiederzusehen, sie lebendig wiederzufinden, so, wie er sie einst geliebt hatte. Aber immer kam ihm Annette aus der Leinwand entgegen. Die Mutter war verschwunden, hatte sich in nichts aufgelöst und an ihrer Stelle jene andere Gestalt zurückgelassen, die ihr auf so merkwürdige Weise glich. Es war die Kleine, mit ihren etwas helleren Haaren, mit ihrem etwas übermütigeren Lächeln und ihrem etwas spöttischeren Gesichtsausdruck, und er fühlte genau, daß er diesem jungen Wesen mit Leib und Seele gehörte, so wie er niemals der anderen gehört hatte, wie ein sinkendes Schiff den Wellen gehört! Da stand er auf und drehte das Bild um, damit er diese Erscheinung nicht länger ansehen mußte; und weil er sich durch und durch traurig fühlte, ging er in sein Zimmer, um die Schublade seines Sekretärs, in der alle Briefe seiner Geliebten ruhten, ins Atelier herüberzuholen. Sie lagen wie in einem Bett, einer über dem andern, und bildeten ein dichtes Lager aus kleinen dünnen Papierblättern. Er tauchte seine
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Hände in diese Prosa, die von ihnen erzählte, in dieses Bad ihrer langen Liebesbeziehung. Er blickte in diesen engen Brettersarg, in dem alle diese aufein andergehäuften Umschläge, auf denen immer sein Name, nur sein Name, stand, begraben lagen. Er überlegte, daß in dieser Flut vergilbten Papiers, das mit roten Siegeln bedeckt war, eine Liebe, die zarte Zuneigung zweier Wesen zueinander, die Geschichte zweier Herzen erzählt wurde, und als er sich darüber beugte, kam ihm ein Hauch der Vergangenheit, der schwermütige Duft eingeschlossener Briefe entgegen. Er wollte sie wiederlesen, wühlte in der Tiefe der Schublade und holte eine Handvoll der ältesten heraus. Aus jedem, den er öffnete, stiegen bestimmte Erinnerungen auf, die sein Innerstes aufrührten. Er erkannte viele darunter, die er ganze Wochen lang bei sich getragen hatte, und er fand in den Linien der feinen Schrift, die ihm so liebe Worte zutrug, die alten vergessenen Gefühle wieder. Plötzlich hielt er ein feines besticktes Taschentuch in der Hand. Was war das? Er suchte einige Augenblicke in seiner Erinnerung, dann wußte er es! Sie hatte eines Tages bei ihm geweint, weil sie etwas eifersüchtig war, und er hatte ihr das tränennasse Taschentuch geraubt, um es bei sich zu behalten! Ach, diese traurigen Geschichten! Diese traurigen Geschichten! Die bedauernswerte Frau! Aus der Tiefe dieser Schublade, aus der Tiefe seiner Vergangenheit stieg dieser Nachhall auf wie Nebel: es war nur noch der ungreifbare Nebel der sich verflüchtigenden Wirklichkeit. Und doch litt er darunter und weinte über diese Briefe, wie man über die Toten weint, weil sie nicht mehr leben. Aber diese noch einmal aufgeflackerte alte Liebe schürte eine neue junge Glut in ihm, eine kraftvolle unwiderstehliche Zuneigung, die ihm das strahlende Gesicht Annettes in Erinnerung rief. Die Mutter hatte er mit der leidenschaftlichen Begeisterung freiwilliger Unterwerfung geliebt, und nun war er im Begriff, dieses kleine Mädchen wie ein Sklave zu lieben, wie ein alter zitternder Sklave, dem man Eisen anschmiedet, die er nie mehr wird sprengen können. Er war sich dessen im Innersten bewußt, und es jagte ihm Furcht ein.
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Er versuchte zu verstehen, wie und weshalb sie ihn so an sich gekettet hatte. Er kannte sie so wenig. Sie war noch kaum eine Frau, und ihr Herz und ihre Seele ruhten noch im Schlaf der Jugend. Er dagegen war fast am Ende seines Lebens angelangt! Wie hatte ihn dieses Kind nur mit ein wenig Lachen und seinen Haarlocken einfangen können? Ach, das Lachen, die Haare dieses kleinen blonden Mädchens brachten ihn dazu, auf die Knie niederzusinken und die Stirn auf den Boden zu schlagen! Weiß man es, wird man es jemals wissen, warum das Gesicht einer Frau plötzlich wie Gift auf uns wirkt? Es scheint, als habe man es mit den Augen getrunken, als sei es in unser Fleisch und Blut eingedrungen! Man wird trunken und toll davon, man lebt von diesem Bild, das man sich einverleibt hat, und man möchte daran zugrunde gehen! Wie leidet man manchmal unter dieser wilden, unbegreiflichen Macht, die ein bestimmtes Gesicht auf das Herz eines Mannes ausübt! Olivier Bertin fing wieder an, auf und ab zu gehen; die Nacht rückte vor; sein Ofen war ausgegangen. Durch die Fensterscheiben drang die Kälte herein. Schließlich legte er sich in sein Bett und grübelte und litt dort bis zum Tagesanbruch. Getrieben von seiner Nervosität, stand er früh auf, ohne recht zu wissen, warum und wozu; er war unentschlossen wie eine Wetterfahne, die sich dreht. Auf der Suche nach einer Zerstreuung für seinen Geist und einer Beschäftigung für seinen Körper erinnerte er sich, daß einige Mitglieder seines Clubs sich an diesem Wochentag im türkischen Bad trafen und dort nach der Massage zu Mittag aßen. Er kleidete sich daher schnell an und ging los, in der Hoffnung, das Dampfbad und die Dusche würden ihn beruhigen. Sobald er den Fuß vor die Tür gesetzt hatte, packte ihn eine durchdringende Kälte, diese erste, frösteln machende Kälte des ersten Reifs, der in einer einzigen Nacht die letzten Spuren des Sommers tilgt. Auf den Boulevards fielen die großen, gelben Blätter wie ein dichter Regen mit einem leisen, trockenen Geräusch zu Boden. Sie fielen, so weit das Auge reichte, über die ganze Breite der Alleen zwischen den
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Häuserzeilen, so als ob alle Stiele gleichzeitig mit dem scharfen Schnitt eines Eismessers von den Zweigen abgetrennt worden wären. Die Straßen und die Gehwege waren schon ganz bedeckt und glichen nun für einige Stunden den Waldwegen zu Winterbeginn. All das welke Laub raschelte unter den Schritten und staute sich unter den Windstößen für Augenblicke zu leichten Wellen. Es war einer jener Tage des Übergangs, die das Ende einer Jahreszeit und der Beginn einer neuen sind, die eine besondere Süße oder eine besondere Traurigkeit besitzen, die Traurigkeit des Vergehens oder die Süße der auflebenden Säfte. Als Olivier Bertin die Schwelle des türkischen Bads überschritt, durchfuhr sein trauriges Herz beim Gedanken an die Wärme, die seinen Körper nach dem Gang durch die eiskalte Luft der Straßen gleich durchdringen würde, ein Schauder der Befriedigung. Er zog sich in großer Geschwindigkeit aus, schlang das leichte Umhängetuch, das ihm ein Knabe reichte, um seine Hüften und verschwand hinter der gepolsterten Tür, die sich vor ihm öffnete. Ein Schwall heißer, beklemmender Luft, der aus einem fernen Glutofen zu kommen schien, ließ ihn nach Atem ringen, während er einen von zwei orientalischen Lampen erhellten Gang in maurischem Stil passierte. Ein kraushaariger, nur mit einem Lendenschurz bekleideter Neger mit glänzendem Oberkörper und muskulösen Gliedern eilte vor ihm her, um am Ende des Gangs einen Vorhang hochzuheben. Bertin betrat das große, runde, erhöhte, stille Dampfbad, das fast so feierlich wirkte wie ein Tempel. Das Tageslicht fiel von oben durch eine Kuppel und kleeblattförmige bunte Fenster in den riesigen, kreisrunden, mit Fliesen ausgelegten Saal und auf die mit Fayencen in arabischem Stil gekachelten Wände. Fast nackte Männer jeden Alters gingen mit langsamen, gemessenen Schritten ohne zu sprechen herum; andere saßen mit gekreuzten Armen auf marmornen Bänken; wieder andere unterhielten sich mit gesenkten Stimmen. Beim Betreten des Raums benahm einem die heiße Luft den Atem. Diese dampfende, ausgeschmückte Arena, in der menschliche Körper erhitzt wurden und schwarze und maurische Masseure mit ihren
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kupferfarbenen Beinen herumgingen, hatte etwas Antikes, Geheimnisvolles. Die erste Gestalt, die der Maler erkannte, war der Graf de Landa. Er bewegte sich wie ein römischer Ringkämpfer, stolz auf seine stattliche Brust und seine kräftigen Arme, die er darüber gekreuzt hatte. Er war in den Dampfbädern zu Hause, er fühlte sich dort wie ein umjubelter Schauspieler auf der Bühne, und mit Kennerblick beurteilte er die vieldiskutierte Muskulatur aller starken Männer von Paris. «Guten Tag, Bertin», sagte er. Sie gaben sich die Hand; dann fuhr Landa fort: «Nicht wahr, sehr geeignetes Wetter fürs Schwitzen.» «Ja, herrlich.» «Haben Sie Rocdiane schon gesehen? Er ist da hinten. Ich habe ihn direkt aus dem Bett geholt. Oh, sehen Sie nur diesen Körperbau!» Ein kleiner Mann mit krummen Beinen, dürren Armen und mageren Rippen ging an ihnen vorbei und entlockte diesen beiden gealterten Abbildern menschlicher Lebenskraft ein verächtliches Lächeln. Rocdiane, der den Maler gesehen hatte, kam zu ihnen her. Sie setzten sich auf einen langen Marmortisch und begannen eine Unterhaltung, so als ob sie sich in einem Salon befänden. Diener liefen hin und her und boten Getränke an. Man hörte den Widerhall der Schläge der Masseure auf der nackten Haut und den Wasserschwall der Duschen. Ein fortwährendes Plätschern aus allen Ecken des großen Amphitheaters erfüllte den Raum mit dem Geräusch eines leichten Regens. Jeden Augenblick grüßte ein Neueintretender die drei Freunde oder trat zu ihnen, um ihnen die Hand zu schütteln; unter anderen der dicke Herzog d'Harrison, der kleine Prinz Epilati und der Baron Flach. Auf einmal sagte Rocdiane: «Ach, seht nur, Farandal!» Der Marquis betrat den Raum, die Hände in die Hüften gestemmt; er bewegte sich mit der Ungezwungenheit sehr gut gebauter Männer, die nichts in Verlegenheit bringt. Landa sagte leise: «Er ist ein Gladiator, dieser Bursche!» Rocdiane wandte sich zu Bertin und fragte: «Stimmt es, daß er die Tochter Ihrer Freunde heiratet?»
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«Ich denke, ja», sagte der Maler. Aber diese Frage, in Gegenwart dieses Mannes, in diesem Augenblick, an diesem Ort, löste in Oliviers Innern einen entsetzlichen Aufruhr der Verzweiflung und Empörung aus. Das Furchtbare aller schon geahnten Tatsachen trat ihm in einer Sekunde mit solcher Deutlichkeit vor Augen, daß er einige Augenblicke gegen das instinktive Verlangen, sich auf den Marquis zu stürzen, ankämpfen mußte. Dann stand er auf. «Ich bin müde», sagte er, «ich gehe gleich zur Massage.» Ein Araber ging vorbei. «Ahmed, bist du frei?» «Ja, Monsieur Bertin.» Und mit raschen Schritten ging er weg, um dem Händedruck Farandals zu entkommen, der sich auf seiner Runde durch das Bad näherte. Er blieb kaum eine Viertelstunde in dem großen, erholsamen Ruheraum mit den Bettzellen, die rund um ein Beet tropischer Pflanzen und einen Springbrunnen, dessen Strahl mitten darin zerstäubte, angeordnet waren. Er hatte das Gefühl, er werde verfolgt und bedroht, der Marquis werde ihm nachkommen und er müßte ihn mit offenen Armen wie einen Freund behandeln, wo er doch wünschte, ihn zu töten. Schon bald fand er sich auf dem Boulevard wieder, der mit abgefallenen Blättern bedeckt war. Es fielen jetzt keine mehr von den Bäumen, ein Wirbelwind hatte die letzten heruntergeweht. Ihr rotgelber Teppich raschelte, bewegte sich und wogte unter den lebhafter werdenden Windstößen von einem Bürgersteig zum andern. Plötzlich fuhr etwas wie ein Brausen über die Dächer, das wilde Geheul des herannahenden Sturms, und gleichzeitig sauste ein heftiger Windstoß durch den Boulevard, der von der Madeleine-Kirche herzukommen schien. Die Blätter, alle die herabgefallenen Blätter, die auf ihn zu warten schienen, flogen bei seinem Herannahen in die Höhe. Sie flatterten vor ihm her, häuften sich und tanzten und wehten in wirbelnden Spiralen
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bis zu den Häusergiebeln empor. Er jagte sie wie eine Herde vor sich her, eine verrückt gewordene, fliegende Herde, auf der Flucht zu den Grenzen von Paris, zum freien Himmel der Vorstädte. Und als die riesenhafte Wolke aus Blättern und Staub über dem Quartier Malesherbes verschwunden war, blieben die Straßen und Gehwege nackt und seltsam sauber und leergefegt zurück. Bertin dachte: «Was soll mit mir werden? Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen?» Und er ging nach Hause, weil er keine Antwort wußte. Sein Blick fiel auf einen Zeitungskiosk. Er kaufte sieben oder acht Blätter, in der Hoffnung, damit vielleicht für ein oder zwei Stunden Lesestoff zu haben. «Ich esse hier zu Mittag», sagte er beim Heimkommen, und er stieg in sein Atelier hinauf. Aber als er sich hinsetzte, spürte er, daß er nicht zu Hause bleiben konnte, denn er fühlte die Unruhe eines rasenden Tiers in sich. Die Zeitungen, die er überflog, konnten ihn nicht zerstreuen, und die Dinge, die er las, blieben in seinen Augen hängen und gelangten nicht in seinen Kopf. Mitten in einem Artikel, dessen Inhalt er überhaupt nicht zu verstehen suchte, ließ ihn das Wort Guilleroy zusammenzucken. Es handelte sich um die Kammersitzung, in der der Graf einige Worte gesprochen hatte. Seine Aufmerksamkeit war nun geweckt, und er stieß anschließend auf den Namen des berühmten Tenors Montrose, der ge gen Ende Dezember eine einmalige Vorstellung in der großen Oper geben sollte. Die Zeitung sagte, das werde ein wunderbares musikalisches Ereignis werden, denn der Tenor Montrose, der Paris vor zehn Jahren verlassen hatte, habe in ganz Europa und Amerika bisher nicht dagewesene Erfolge gefeiert und er werde außerdem von der berühmten schwedischen Sängerin Helsson begleitet, die man ebenfalls seit fünf Jahren nicht mehr in Paris habe hören können! Plötzlich, gleichsam aus seinem tiefsten Innern, kam ihm der Gedanke, Annette das Vergnügen dieses Schauspiels zu verschaffen. Dann fiel ihm ein, daß möglicherweise die Trauerzeit der Gräfin den Plan verhindern könnte, und er suchte nach Möglichkeiten, ihn dennoch zu verwirklichen. Nur eine einzige bot sich an. Man mußte
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eine Loge auf der Bühne nehmen, in der man fast nicht zu sehen war, und wenn die Gräfin trotzdem nicht hingehen wollte. Annette von ihrem Vater und der Herzogin begleiten lassen. In diesem Fall müßte er der Herzogin die Loge anbieten. Aber dann kam er nicht darum herum, auch den Marquis einzuladen! Er zögerte und dachte lange nach. Die Heirat war mit Sicherheit beschlossen, und zweifellos war auch schon ein Zeitpunkt festgelegt. Er ahnte, daß seine Freundin es eilig hatte, die Sache zum Abschluß zu bringen, er begriff, daß sie ihre Tochter in der kürzestmöglichen Frist Farandal überlassen wollte. Er war machtlos. Er konnte dieses entsetzliche Geschehen weder verhindern noch etwas daran andern oder einen Aufschub erreichen! Da er es also über sich ergehen lassen mußte, war es sicher besser, wenn er versuchte, seine Gefühle zu beherrschen, sein Leiden zu verbergen, einverstanden zu erscheinen und sich nicht mehr, wie gerade eben noch, von seiner Leidenschaft hinreißen zu lassen. Ja, er würde den Marquis einladen und auf diese Weise den Verdacht der Gräfin beschwichtigen und sich als Freund die Tür zu dem jungen Hausstand offenhalten. Gleich nach dem Mittagessen ging er zur Oper hinunter, um sich eine der Logen, die hinter dem Vorhang verborgen waren, zu sichern. Sie wurde ihm zugesagt. Dann eilte er zu den Guilleroys. Die Gräfin erschien fast unverzüglich und empfing ihn, noch ganz bewegt von der weichen Stimmung am Abend zuvor. «Wie lieb von Ihnen, daß Sie heute wiederkommen», sagte sie. Er stammelte: «Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.» «Was denn?» «Eine Bühnenloge in der Oper für eine einmalige Darbietung der Helsson und Montroses.» «Oh, mein Freund, wie schade! Was ist mit meiner Trauer?» «Ihre Trauerzeit beträgt nun schon fast vier Monate.» «Ich versichere Ihnen, ich kann das nicht tun.» «Und Annette? Überlegen Sie doch, eine solche Gelegenheit bietet sich vielleicht nie wieder.»
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«Wer soll sie denn begleiten?» «Ihr Vater und die Herzogin, die ich einladen werde. Und ich beabsichtige auch, dem Marquis einen Platz anzubieten.» Sie schaute ihm tief in die Augen, und ihre Lippen verspürten eine wahnsinnige Lust, ihn zu küssen. Sie traute ihren Ohren nicht und wiederholte deshalb: «Dem Marquis?» «Aber ja!» Dieser Regelung stimmte sie sofort zu. Er fragte mit unbeteiligter Miene: «Haben Sie den Termin für die Hochzeit schon festgelegt?» «Mein Gott , ja, so ungefähr. Wir haben Gründe, ihn so früh wie möglich anzusetzen, um so mehr, als es ja schon vor dem Tod meiner Mutter so beschlossen war. Sie erinnern sich doch daran?» «Ja, aber sicher. Und für wann?» «Nun, für Anfang Januar. Bitte entschuldigen Sie, daß ich es Ihnen nicht schon früher gesagt habe.» Annette trat ein. Er fühlte, wie sein Herz in der Brust mit der Gewalt einer Sprungfeder pochte, und alle Zärtlichkeit, die ihn zu ihr hinzog, schlug mit einemmal um und rief in ihm jene sonderbare, leidenschaftliche Erbitterung hervor, in die sich Liebe unter den Peitschenhieben der Eifersucht verwandelt. «Ich habe Ihnen etwas mitgebracht», sagte er. Sie antwortete: «Wir sind nun also endgültig beim ‹Sie› angelangt?» Er setzte eine väterliche Miene auf: «Hören Sie, mein Kind. Ich weiß von dem bevorstehenden Ereignis. Ich versichere Ihnen, es wird in einiger Zeit unumgänglich sein. Dann lieber jetzt als später.» Sie zuckte mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck die Schultern, während die Gräfin schwieg, gedankenverloren und den Blick in die Ferne gerichtet. Annette fragte: «Was haben Sie mir mitgebracht?» Er berichtete von der Aufführung und von den Einladungen, die er zu machen beabsichtigte. Sie war entzückt und fiel ihm mit kindlicher Begeisterung um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen.
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Er glaubte sich einer Ohnmacht nahe, als ihn dieser kleine Mund mit seinem frischen Atem zweimal berührte, und er erkannte, daß er nie wieder würde genesen können. Die Gräfin war ärgerlich und sagte zu ihrer Tochter: «Du weißt, daß dein Vater auf dich wartet.» «Ja, Mama, ich gehe zu ihm.» Sie eilte davon und warf ihm im Gehen mit den Fingerspitzen weitere Küsse zu. Sobald sie gega ngen war, fragte Olivier: «Werden sie eine Hochzeitsreise machen?» «Ja, drei Monate lang.» Und er murmelte, ohne es zu wollen: «Um so besser!» «Wir werden unser vorheriges Leben wieder aufnehmen», sagte die Gräfin. Er antwortete zögernd: «Ich hoffe es.» «Vernachlässigen Sie mich nicht in der Zwischenzeit.» «Nein, meine Freundin.» Die Gemütsbewegung, die ihn am Vorabend ergriffen hatte, als er sie weinen sah, und der eben geäußerte Einfall, den Marquis zu der Darbietung in der Oper einzuladen, gaben der Gräfin wieder etwas Hoffnung. Sie war von kurzer Dauer. Es war noch keine Woche vergangen, als sie von neuem mit quälender, eifersüchtiger Aufmerksamkeit auf dem Gesicht dieses Mannes alle Stufen seiner Leiden verfolgen konnte. Sie waren nicht zu übersehen, sie litt selbst die Qualen, die sie bei ihm erriet, und die dauernde Anwesenheit Annettes erinnerte sie jeden Augenblick an die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen, Beides lastete gleichzeitig auf ihr, das Alter und die Trauer. Ihre wache, kluge, einfallsreiche Koketterie, die sie zeitlebens genutzt hatte, um ihm zu gefallen, war durch diese schwarze Uniform gelähmt, die ihre Blässe und die Veränderung ihrer Züge nur noch unterstrich und im Gegenzug die strahlende Jugend ihres Kindes besonders hervorhob. Der noch so nahe Zeitpunkt der Rückkehr Annettes nach Paris schien lange zurückzuliegen, wo sie voller Stolz darauf bedacht gewesen war, sich gleich wie sie zu kleiden, und wo
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ihr diese Kleidung noch gut zu Gesichte stand. Jetzt hatte sie das rasende Verlangen, sich diese Trauerkleidung, die sie häßlich machte und sie quälte, vom Leib zu reißen. Wenn ihr alle Möglichkeiten eleganter Aufmachung zur Verfügung gestanden hätten, wenn sie Stoffe in delikaten Schattierungen, die mit ihrem Teint harmonierten, hätte wählen und nutzen können, Stoffe, die ihren dahinschwindenden Reizen eine wohlüberlegte Wirkung verliehen hätten, die ebenso fesselnd gewesen wäre wie die passive Anmut ihrer Tochter, dann hätte sie es zweifellos verstanden, immer noch verführerischer als diese zu sein. Sie wußte ganz genau Bescheid über die Wirkung aufregender Abendtoiletten und lässiger, betörender Toiletten am Vormittag, etwa dem aufreizenden Deshabille, das dem Frühstück mit vertrauten Freunden vorbehalten ist und das der Frau weit in den Vormittag hinein etwas von der Wohligkeit des morgendlichen Aufstehens und die sinnliche Ausstrahlung des warmen Bettes und des wohlduftenden Zimmers beläßt. Aber wie konnte sie unter diesem Totengewand, unter dieser Sträflingskleidung, die sie ein ganzes Jahr lang verhüllen würde, ihre Verführungskünste entfalten! Ein Jahr! Sie würde ein Jahr in diesem Schwarz eingekerkert sein, gefesselt und zur Untätigkeit verdammt! Ein ganzes Jahr über würde sie Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute das Gefühl haben, in diesem Kokon aus schwarzer Seide zu altern! Wie würde sie in einem Jahr aussehen, wenn sich ihr armer, kranker Körper unter dem Kummer ihrer Seele weiter so veränderte? Diese Gedanken verfolgten sie unablässig, sie verdarben ihr alles, was sie hätte genießen können, verwandelten alles in Leid, was ihr hätte Freude bereiten können, und ließen ihr keinen Genuß, keine Befriedigung und keine Lust mehr ungetrübt. Unaufhörlich regte sich das verzweifelte Bedürfnis in ihr, diese Last des Kummers, die sie erdrückte, abzuschütteln, denn ohne diese quälende Zwangsvorstellung wäre sie immer noch glücklich, munter und fröhlich gewesen! Sie fühlte eine lebendige und frische Seele in sich, ein immer noch junges Herz, die Leidenschaft eines Wesens, das zu leben beginnt, einen unstillbaren Hunger nach Glück, der vielleicht
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unersättlicher war als früher, und ein verzehrendes Bedürfnis zu lieben. Und nun auf einmal wurden all die wichtigen Dinge, die süßen, köstlichen, poetischen Dinge, die das Leben schöner und lebenswerter machen, für sie unerreichbar, nur weil sie alt geworden war! Es war Schluß damit! Obwohl sie immer noch die Rührung des jungen Mädchens und die leidenschaftliche Glut der jungen Frau empfand. Nichts war gealtert, nur ihr Körper, ihre elende Haut, diese Einkleidung der Knochen; sie war nach und nach welk geworden, zerschlissen wie der Bezug über dem Holz eines Möbelstücks. Der Spuk dieses Zerfalls haftete an ihr und war fast zu einem physischen Leiden geworden. Die fixe Idee hatte auf der Haut eine Wahrnehmungsfähigkeit erzeugt, die Wahrnehmungsfähigkeit für das Altern, dessen sichtbares Fortschreiten sie wie Wärme und Kälte fühlte. Sie glaubte tatsächlich, sie spüre in der Art eines unbestimmten Kitzeins, wie sich die Falten auf ihrer Stirn langs am vertieften, wie die Haut über den Wangen und dem Hals erschlaffte und wie sich die unzähligen kleinen Runzeln vermehrten, die die ermüdete Haut zerknitterten. Wie ein von einem verzehrenden Übel befallenes Geschöpf, das durch ein ständiges Jucken dazu gezwungen wird, sich zu kratzen, so weckten die Wahrnehmung und der Schrecken dieser entsetzlichen schrittweisen Arbeit der rasch dahineilenden Zeit das unwiderstehliche Verlangen in ihr, die Wirkung in Spiegeln festzustellen. Diese riefen sie zu sich, zoge n sie an, zwangen sie heran, um mit starrem Blick die untilgbare Abnutzung der Jahre zu sehen, noch einmal zu sehen, immer wieder zu erkennen und sich ihrer durch Betasten mit den Fingern zu vergewissern. Zunächst war es nur ein gelegentlich auftretender Wunsch, der jedesmal auftauchte, wenn sie bei sich zu Hause oder anderswo die spiegelnde Oberfläche des fürchterlichen Kristallglases sah. Wie von unsichtbarer Hand angezogen von jeder Glasfläche, mit der die Kaufleute ihre Fassaden schmücken, blieb sie auf den Gehwegen stehen, um sich in den Schaufenstern der Geschäfte zu betrachten. Dies wurde zu einer Krankheit, zu einer Besessenheit. In ihrer Tasche trug sie eine kleine Puderdose aus Elfenbein von der Größe einer Nuß, in deren Deckel, von außen uneinsehbar, ein Spiegel verborgen war; diese hielt sie im Gehen häufig offen in der Hand und hob sie zu ihren Augen empor.
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Wenn sie sich in dem Salon mit den Wandteppichen hinsetzte, um etwas zu lesen oder zu schreiben, wurden ihre Gedanken durch diese neue Beschäftigung für kurze Augenblicke abgelenkt, kehrten jedoch bald wieder zu ihrer Zwangsvorstellung zurück. Sie kämpfte dagegen an, versuchte sich abzulenken, auf andere Gedanken zu kommen, ihre Arbeit fortzusetzen. Es war alles umsonst; der Stachel der Versuchung quälte sie, und schon bald fielen Buch oder Feder aus ihrer Hand, und diese griff mit einer unaufhaltsamen Bewegung nach dem kleinen Handspiegel aus altem Silber, der auf ihrem Sekretär lag. Ihr Gesicht erschien in dem ovalen, ziselierten Rahmen eingefaßt wie ein Antlitz von früher, wie ein Porträt aus dem letzten Jahrhundert, wie ein Pastell, das einst frische Farben hatte und das die Sonne inzwischen ausgebleicht hat. Sie betrachtete sich lange, dann legte sie den kleinen Gegenstand mit einer müden Bewegung auf das Möbel zurück und bemühte sich, sich wieder zu beschäftigen. Aber kaum hatte sie zwei Seiten gelesen oder zwanzig Zeilen geschrieben, da erwachte schon wieder unwiderstehlich und quälend das Verlangen in ihr, sich zu betrachten; und erneut streckte sie den Arm aus und langte nach dem Spiegel. Sie hielt ihn nun immerzu in der Hand, wie ein aufreizendes, vertrautes Spielzeug, das man nicht weglegen will, und selbst wenn sie Freunde empfing, schaute sie jeden Augenblick hinein und regte sich dabei so auf, daß sie manchmal Schreie ausstieß. Sie haßte ihn wie ein lebendiges Wesen, wenn sie ihn zwischen ihren Fingern drehte. Eines Tages war sie so verzweifelt über diesen Kampf zwischen sich und diesem Stück Glas, daß sie ihn an die Wand warf, wo er zersplitterte und zerbrach. Aber nach einiger Zeit erhielt sie ihn von ihrem Mann, der ihn hatte reparieren lassen, spiegelnder als vorher zurück. Sie mußte ihn nehmen und danken, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu behalten. Jeden Abend und jeden Morgen setzte sie wider Willen in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers die peinlich genaue und geduldige Untersuchung der verhaßten und beharrlich voranschreitenden Verwüstung fort.
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Wenn sie zu Bett gegangen war, konnte sie nicht einschlafen, sie zündete eine Kerze an und lag mit offenen Augen da und überlegte, dass Schlaflosigkeit und Kummer das fürchterliche Werk der dahineilenden Zeit heillos beschleunigten. In der Stille der Nacht hörte sie das Pendel ihrer Uhr, das mit seinem eintönigen und gleichmäßigen Ticktack zu sagen schien: «Vorbei, vorbei, vorbei», und ihr Herz zog sich unter heftigen Schmerzen so krampfhaft zusammen, daß sie, das Laken vor dem Mund, vor Verzweiflung stöhnte. Früher war ihr wie allen Menschen klar gewesen, daß die Jahre vergehen und daß sie Veränderungen mit sich bringen. Und wie alle Menschen hatte sie jeden Winter, jedes Frühjahr und jeden Sommer gesagt, zu sich selbst gesagt: «Ich habe mich sehr verändert seit dem letzten Jahr.» Aber sie war immer schön gewesen, ihre Schönheit variierte nur, und deshalb hatte sie das nicht beunruhigt. Jetzt aber verfolgte sie den langsamen Gang der Jahreszeiten nicht mehr in Ruhe, mit einemmal hatte sie das unheimliche Dahineilen der Zeit entdeckt und begriffen. Sie hatte plötzlich erkannt, wie die Stunden dahinschwinden, wie sie unmerklich, und wenn man darauf achtet, bestürzend schnell, davonlaufen und wie die unzähligen kurzen Sekunden, die den Körper und das Leben der Menschen zernagen, eilig an einem vorbeiziehen. Nach solchen schlechten Nächten fiel sie dann in der feuchten Wärme ihrer Laken in einen langen, etwas ruhigeren Halbschlaf, während das Zimmermädchen die Vorhänge öffnete nd das morgendliche Feuer anzündete. Sie verweilte erschöpft und zerschlagen, nicht ganz wach und nicht ganz schlafend, in einem Zustand geistiger Ermattung, der die natürliche und von der göttlichen Vorsehung gewollte Hoffnung in ihr wiederaufkeimen ließ, von der das Herz und das Lachen der Menschen bis ans Ende ihrer Tage erhellt werden und zehren. Jeden Morgen, sobald sie ihr Bett verlassen hatte, beherrschte sie der dringende Wunsch, zu Gott zu beten, um von ihm etwas Erleichterung und Trost zu erlangen. Sie kniete vor einem großen Kruzifix aus Eichenholz nieder, einem Geschenk Oliviers, einer seltenen Arbeit, die er entdeckt hatte, und mit geschlossenen Lippen und der flehenden Stimme der Seele, die
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Selbstgespräche führt, schickte sie ein schmerzliches Gebet zu dem göttlichen Märtyrer empor. Verwirrt durch den übermächtigen Wunsch, Gehör und Hilfe zu erlangen, und in ihrer Seelennot einfältig wie alle Gläubigen, die niederknien, bestand für sie kein Zweifel, daß er sie hörte, daß er ihren Bitten Aufmerksamkeit schenkte und vielleicht durch ihr Leid gerührt sein würde. Sie bat ihn um nichts, was er noch niemandem gegeben hatte, sie bat ihn nicht darum, ihr bis zum Tod den Reiz, die Frische und die Anmut zu erhalten, sie bat ihn nur um ein wenig Ruhe und Aufschub. Natürlich mußte sie alt werden, ebenso wie sie einmal sterben mußte! Aber warum so schnell? Gab es nicht Frauen, die lange schön blieben? Konnte er ihr nicht zugestehen, eine davon zu sein? Wie wohltätig wäre er, wenn er, der selbst auch so viel gelitten hatte, ihr nur noch für zwei oder drei Jahre den Rest ihres verführerischen Wesens, den sie brauchte, um zu gefallen, lassen würde! Sie sprach das alles in ihrem Gebet nicht aus, aber sie wandte sich mit ihrer wirren Klage seufzend an ihn. Als sie sich wieder erhoben hatte, setzte sie sich an ihren Toilettentisch und gebrauchte mit derselben fiebrigen Konzentration, mit der sie vorher gebetet hatte, Puder, Salben, Stifte, Daunenquasten und Bürsten, die ihr für den Tag den vergänglichen Schein künstlicher Schönheit wiedergeben sollten.
VI Auf dem Boulevard waren zwei Namen in aller Munde: «Emma Helsson» und «Montrose». Je näher man zur Oper kam, um so häufiger hörte man sie. Außerdem sprangen sie den Passanten von riesigen, an den Anschlagsäulen klebenden Plakaten in die Augen, und die Abendluft vibrierte von dem bevorstehenden Ereignis. Das massige Gebäude, das man «Die nationale Musikakademie» nennt, duckte sich unterm schwarzen Himmel und zeigte dem Publikum, das sich davor versammelte, seine prunkvolle, weißliche Fassade mit dem marmornen Säulengang, den unsichtbare elektrische Lichter wie zur Dekoration beleuchteten.
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Auf dem Vorplatz regelte berittene Polizei den Verkehr, und aus allen Ecken von Paris kamen zahllose Wagen und gewährten hinter ihren herabgelassenen Scheiben flüchtige Blicke auf erlesene durchsichtige Stoffe und blasse Gesichter. Die Coupes und die Landauer fuhren der Reihe nach unter die für sie reservierten Arkaden, hielten kurz an und ließen die Damen der Gesellschaft in ihren mit Pelzen, Federn und kostbaren Spitzen geschmückten Abendmantillen zusammen mit ihrer Begleitung aussteigen, eine kostbare, himmlisch herausgeputzte Fracht. Ein feenhafter Zug bewegte sich die berühmte Treppe hinauf, ein ununterbrochener Zug von Damen in königlichen Roben, mit blitzenden Diamanten an Hals und Ohren und langen, über die Stufen schleifenden Schleppen. Der Saal füllte sich schon früh, denn niemand wollte sich auch nur einen Ton der beiden berühmten Sänger entgehen lassen; und in dem großen Amphitheater, unter dem hellen elektrischen Licht, das aus dem Kronleuchter fiel, wogte eine Menschenmenge auf der Suche nach den Plätzen, und es herrschte lautes Stimmengewirr. Aus der Bühnenloge, in der die Herzogin, nnette, der Graf, der Marquis, Bertin und Musadieu bereits Platz genommen hatten, sah man nur in die Kulissen, wo sich Leute unterhielten, herumrannten und sich etwas zuriefen: Bühnenarbeiter in Arbeitskitteln, Herren im Frack und Schauspieler in Kostümen. Aber hinter dem großen herabgelassenen Bühnenvorhang hörte man das dumpfe Geräusch des Publikums, man fühlte die Gegenwart einer in Bewegung und Erregung befindlichen Menschenmasse, und die Unruhe schien den Stoff zu durchdringen und sich bis in die Kulissen auszubreiten. «Faust» sollte aufgeführt werden. Musadieu erzählte Anekdoten über die ersten Aufführungen dieses Werks in der Komischen Oper, über das halbe Fiasko von damals, dem ein strahlender Triumph folgte, über die Sänger der Uraufführung, über ihre Art, die einzelnen Stücke zu singen. Annette, die sich ihm halb zuwandte, hörte ihm mit der begierigen, jugendlichen Neugier zu, mit der sie alles aufnahm, und zwischendurch warf sie ihrem Verlobten, der in wenigen Tagen ihr Mann sein würde, einen zärtlichen Blick zu. Sie liebte ihn nun
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wirklich, so wie naive Herzen lieben, das heißt, sie liebte in ihm alles, was er ihr für die Zukunft verhieß. Der ersehnte Taumel der ersten Freudenfeste des Lebens und der glühende Wunsch, glücklich zu sein, ließen ihr Herz vor Jubel und Erwartung schneller schlagen. Und Olivier, der alles beobachtete, der alles durchschaute, der ohnmächtig und eifersüchtig alle Stufen der heimlichen, unerwiderten Liebe hinabgestiegen war bis in den Glutofen menschlichen Leidens, in dem das Herz wie Fleisch auf den Kohlen prasselnd zu schmoren scheint, Olivier stand hinten in der Loge und schaute auf sie beide hinab, mit dem Blick eines zum Tode Verurteilten. Die drei Eröffnungsschläge ertönten, der Konzertmeister klopfte kurz und trocken mit seinem Bogen an sein Pult, und mit einem Mal legte sich die Unruhe, und das Murmeln und Husten hörte auf. Als vollkommene Stille eingetreten war, erklangen die ersten Takte der Ouvertüre, sie erfüllten den Raum mit dem unsichtbaren und unwiderstehlichen Zauber der Musik, die den Körper durchdringt und die Nerven und das Gemüt in eine empfindsame, sinnliche Erregung versetzt, weil sich die Woge der Töne, die man hört, mit der klaren Luft, die man einatmet, verbindet. Olivier setzte sich schmerzlich bewegt hinten in die Loge, diese Töne schienen sein wundes Herz zu treffen. Aber als sich der Vorhang hob, richtete er sich wieder auf, und in einer Kulisse, die das Studierzimmer eines Alchimisten darstellte, erblickte er Faust in sinnender Pose. Er hatte diese Oper, die er fast auswendig kannte, schon zwanzigmal gehört, daher verfolgte er das Stück nicht weiter, sondern wandte seine Aufmerksamkeit dem Zuschauerraum zu. Er konnte nur einen kleinen Winkel hinter dem Rand der Bühne, der seine Loge verdeckte, einsehen, aber dieser reichte vom Parkett bis hinauf zur Stehgalerie und eröffnete ihm den Blick auf einen Teil des Publikums, in dem er viele Gesichter erkannte. Die Männer, die mit ihren weißen Halsbinden einer neben dem andern im Parkett aufgereiht saßen, glichen einer Ausstellung vertrauter Gestalten, Angehörige der besseren Gesellschaft, Künstler, Journalisten, alles Vertreter der Kreise, die sich immer dort einfinden, wo alle hingehen. In den Logen auf dem Balkon registrierte er die Damen, die er sah, und
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rekapitulierte ihre Namen. Die Gräfin de Lochrist in einer Bühnenloge war wirklich hinreißend, und ein wenig weiter nahm die Marquise d'Ebelin, eine Jungverheiratete Frau, schon ihr Lorgnon hoch. «Ein hübsches Debüt», sagte sich Bertin. Mit großer Aufmerksamkeit und offensichtlicher Sympathie hörten alle dem Tenor Montrose zu, der das Leben beklagte. Olivier dachte: «Was für ein Widersinn! Da steht Faust, der rätselhafte, göttliche Faust, und singt vom entsetzlichen Überdruß am Leben und von der Sinnlosigkeit aller Dinge; und diese Leute fragen sich beunruhigt, ob sich die Stimme Montroses vielleicht verändert hat!» Dann hörte er wie die andern zu, und hinter den alltäglichen Worten des Librettos offenbarte sich ihm durch die Musik, die im Grunde der Seele tiefe Einsichten weckt, etwas von der Art und Weise, in der Goethe sich Fausts Inneres erträumt hatte. Er hatte das Werk früher gelesen und es sehr hochgeschätzt, ohne damals besonders davon ergriffen gewesen zu sein; jetzt auf einmal empfand er die unergründliche Tiefe, denn an diesem Abend hatte er das Gefühl, selbst zu einem Faust zu werden. Annette, die sich ein wenig über die Brüstung der Loge beugte, lauschte gebannt; und im Publikum regte sich nach und nach ein beifälliges Murmeln, denn die Stimme Montroses klang runder und satter als früher. Bertin hatte die Augen geschlossen. Seit einem Monat brachte er sofort alles, was er sah, alles, was er empfand, und alles, was ihm in seinem Leben begegnete, in Verbindung mit seiner Leidenschaft. Die Welt und er selbst dienten dieser fixen Idee als Nahrung. Alles Schöne und Seltene, was er sah, alles Reizende, was er sich vorstellte, war insgeheim für seine kleine Freundin bestimmt, und es gab keinen Gedanken, der nicht mit seiner Liebe in Beziehung gestanden hätte. Jetzt vernahm er in seinem Innern den Widerhall der Klagen Fausts; und der Wunsch zu sterben stieg in ihm auf, der Wunsch, seinen Leiden und dem ganzen Jammer seiner aussichtslosen Liebe auch ein Ende zu bereiten. Er schaute das zarte Profil Annettes an, und er sah, wie der Marquis de Farandal, der hinter ihr saß, sie ebenfalls anblickte. Er fühlte sich alt, am Ende, verloren! Ach, welch eine unerträgliche Qual, keine Erwartungen, keine Hoffnungen, nicht
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einmal mehr das Recht auf Wünsche zu haben, sich an seinem Lebensabend abgehalftert zu fühlen wie ein Beamter, der die Altersgrenze überschritten hat und dessen Karriere beendet ist! Beifallsstürme brachen los, Montrose hatte die Herzen bereits erobert. Nun schnellte Mephisto, den Labarriere gab, aus dem Bühnenboden empor. Olivier hatte ihn noch nie in dieser Rolle gehört, und seine Aufmerksamkeit wurde erneut geweckt. Die Erinnerung an den dramatischen Baß Obins und dann an den verführerischen Bariton Faures lenkte ihn für einige Augenblicke ab. Aber plötzlich rührte ihn ein Satz aus Montroses Mund mit unwiderstehlicher Gewalt. Faust sagte zum Teufel: «Ein Wunsch mich beseelt, Der alles vereint. So höre: die Jugend!» Und der Tenor erschien in einer seidenen Weste, den Degen an der Seite, ein federgeschmücktes Barett auf dem Kopf, elegant jung und schön in seiner manierierten Sängerschönheit. Ein Raunen ging durch die Menge. Er sah sehr gut aus und gefiel den Frauen. Olivier dagegen zitterte vor Enttäuschung, denn die ergreifende, beschwörende Wirkung des dramatischen Gedichts von Goethe verflüchtigte sich durch diese Verwandlung. Er sah jetzt nur noch ein Ausstattungsstück mit hübschen kleinen gesungenen Stücken und talentierten Schauspielern, von denen er lediglich die Stimmen wahrnahm. Dieser Mann in seiner Weste, dieser hübsche Koloraturensänger, der seine Waden und seine Töne zur Schau stellte, mißfiel ihm. Das war nicht mehr der echte, der unwiderstehliche, unheimliche, ritterliche Faust, der, der Gretchen verführen sollte. Er setzte sich wieder, und er erinnerte sich an die Worte, die er eben gehört hatte:
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«Ein Wunsch mich beseelt, Der alles vereint. So höre: die Jugend!» Er murmelte sie mit geschlossenem Mund und sang sie schmerzlich in seinem Innern, er fühlte die ganze Bitterkeit dieses unerfüllbaren Wunsches, und dabei sah er fortwährend auf den blonden Nacken Annettes, der im Viereck des Logenausblicks auftauchte. Montrose beendete gerade den ersten Akt mit solcher Vollkommenheit, daß ein Sturm der Begeisterung losbrach. Mehrere Minuten lang toste der Lärm des Klatschens und Trampeins und der Bravorufe wie ein Gewitter durch den Saal. In allen Logen konnte man erkennen, wie die Damen ihre Handschuhe gegeneinanderschlugen und wie die Herren, die hinter ihnen standen, laut riefen und in die Hände klatschten. Der Vorhang fiel und hob sich noch zweimal, ohne daß sich der Beifall legte. Als er dann zum dritten Mal herabgelassen wurde und die Bühne und die innen gelegenen Logen vom Zuschauerraum trennte, da spendeten die Herzogin und Annette noch einige Augenblicke länger Beifall, und der Tenor dankte ihnen eigens mit einer kleinen, unauffälligen Verbeugung, die er in ihre Richtung machte. «Oh, er hat uns bemerkt», sagte Annette. «Was für ein wunderbarer Künstler!» rief die Herzogin. Und Bertin, der sich vorgebeugt hatte, sah mit gemischten, halb ärgerlichen, halb verächtlichen Gefühlen, wie der gefeierte Schauspieler zwischen zwei Kulissenteilen verschwand und sich dabei immer noch in der Pose des Theaterhelden in den Hüften wiegte, das Bein langstreckte und die Hand in die Seite stemmte. Man begann, sich über ihn zu unterhalten. Seine Erfolge erregten ebensoviel Aufsehen wie sein Talent. Er war in allen Hauptstädten der Welt aufgetreten, immer umschwärmt von Frauen, die schon vorher wußten, daß er unwiderstehlich war, und die deshalb Herzklopfen bekamen, wenn er die Bühne betrat. Er schien sich übrigens, wie man sich erzählte, wenig aus dieser sentimentalen Schwärmerei zu machen
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und begnügte sich mit musikalischen Triumphen. Musadieu schilderte, mit Rücksicht auf Annette nur in versteckten Anspielungen, das Leben dieses schönen Sängers, und die Herzogin, die völlig hingerissen war, verstand und billigte alle Torheiten, deren Anlaß er gewesen sein mochte, so verführerisch, vornehm und ungewöhnlich musikalisch begabt fand sie ihn. Und sie schloß mit einem Lächeln: «Wie könnte man auch dieser Stimme widerstehen!» Olivier ärgerte sich und wurde bitter. Er konnte wirklich nicht verstehen, wie man an einem Komödianten Gefallen finden konnte, Gefallen an dieser immer wiederholten Darstellung menschlicher Typen, die nie stimmte, an dieser trügerischen Verkörperung erträumter Gestalten, an dieser nächtlichen, geschminkten Gliederpuppe, die Abend für Abend jede Rolle gleich spielte. «Sie sind eifersüchtig auf die Schauspieler», sagte die Herzogin. «Ihr anderen, ihr Männer von Welt und ihr Künstler, ihr habt alle etwas gegen sie, weil sie mehr Erfolg haben als ihr.» Dann wandte sie sich an Annette: «Laß hören, Kleine, du betrittst gerade die Bühne des Lebens und hast unverdorbene Augen, wie findest du ihn, diesen Tenor?» Annette antwortete mit überzeugter Miene: «Ich finde ihn sehr gut.» Die drei Schläge für den zweiten Akt ertönten, und der Vorhang hob sich vor der Kirmesszene. Die Passage der Helsson war herrlich. Auch sie schien eine vollere Stimme zu haben als früher und diese mit einer größeren Sicherheit zu beherrschen. Sie hatte sich wirklich zu der großen, ausgezeichneten, wunderbaren Sängerin entwickelt, deren Berühmtheit in aller Welt der von Bismarck und Lesseps gleichkam. Als Faust bewegt auf sie zuging und ihr mit seiner bezaubernden Stimme die verführerischen Worte zusang: «Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen, Meinen Arm und Geleit Euch anzutragen?»
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und als die blonde, so überaus hübsche und reizende Margarethe ihm antwortete: «Nein, mein Herr! Bin weder Fräulein, noch bin ich schön, Kann ungeleitet nach Hause gehn», da wurde der ganze Saal von einem Wonneschauer erfaßt. Die Beifallsstürme beim Fallen des Vorhangs waren ungeheuer, und Annette klatschte so lange, daß Bertin gute Lust hatte, ihre Hände festzuhalten, damit sie damit aufhörte. Eine neue Unruhe erfaßte ihn. In der Pause sagte er kein Wort, denn er folgte dem widerwärtigen Sänger, der dieses Kind in einen so überreizten Zustand versetzte, mit seiner inzwischen haßerfüllten fixen Idee in die Kulissen, er folgte ihm bis in seine Garderobe, wo er ihn in Gedanken neues Weiß auf seine Wangen auflegen sah. Dann hob sich der Vorhang vor der Gartenszene. Auf einen Schlag verbreitete sich so etwas wie ein Liebeswahn im Raum, denn noch nie hatte diese Musik, die wie ein einziger Hauch von Küssen war, zwei ähnliche Interpreten gefunden. Es waren nicht mehr zwei berühmte Opernsänger, Montrose und die Helsson, es waren zwei Wesen aus einer idealen Welt, weniger zwei Wesen, eher zwei Stimmen: die ewige Stimme des Mannes, der begehrt, und die ewige Stimme der Frau, die sich hingibt, und beide zusammen verströmten die ganze Poesie der menschlichen Liebe. Als Faust an die Stelle kam «Laß mich, laß mich dein Antlitz schaun!», da schwang in den Tönen, die er sang, so viel Anbetung, leidenschaftliche Empfindung und flehentliches Bitten mit, daß tatsächlich für einen Augenblick die Herzen aller von Sehnsucht nach Liebe ergriffen wurden. Olivier erinnerte sich daran, daß er diesen Satz im Park von Roncieres unter den Fenstern des Schlosses vor sich hin geflüstert hatte. Bisher hatte er ihn etwas abgedroschen gefunden, aber jetzt kam er ihm über die Lippen wie ein letzter leidenschaftlicher Ruf, eine
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letzte Bitte, die letzte Hoffnung und die letzte Gunst, die er in diesem Leben noch erwarten konnte. Danach hörte er nicht mehr zu und vernahm nichts mehr. Eine rasende Eifersucht zerriß sein Herz, denn er beobachtete, wie Annette ihr Taschentuch an die Augen drückte. Sie weinte! Ihr Herz erwachte also, regte sich, belebte sich, ihr kleines Frauenherz, das noch von nichts wußte. Hier, ganz in seiner Nähe, ohne an ihn zu denken, entdeckte sie, wie die Liebe den Menschen aufwühlen kann, und diese Entdeckung, diese Einweihung hatte dieser elende, singende Komödiant bewirkt. Ach, seine Wut auf den Marquis de Farandal, diesen Idioten, der nichts sah, nichts wußte und nichts begriff, schwand dahin. Aber diesen Kerl in seinem enganliegenden Trikot, der diese Mädchenseele erleuchtete, den haßte er! Er hätte sich gern über sie geworfen, so wie man sich über jemanden wirft, den ein wildgewordenes Pferd zu zertrampeln droht, er hätte sie gern am Arm ergriffen, sie weggeführt, weggezerrt und zu ihr gesagt: «Lassen Sie uns gehen, lassen Sie uns gehen, ich flehe Sie an!» Wie sie lauschte, wie sie zitterte - und wie er dabei litt! Schon einmal hatte er in ähnlicher Weise gelitten, aber nicht so grausam! Er erinnerte sich daran, denn alle Qualen der Eifersucht leben wieder auf wie aufbrechende Wunden. Damals in Roncieres, als sie vom Friedhof zurückkamen, hatte er zum ersten Mal gefühlt, wie sie ihm entglitt, wie er keine Macht mehr über dieses junge Mädchen hatte, das eigenwillig war wie ein junges Tier. Aber als sie ihn dort unten reizte, weil sie von ihm weglief, um Blumen zu pflücken, hatte er vor allem das rohe Verlangen empfunden, ihre Sprunghaftigkeit zu bremsen und ihren Körper in seiner Nähe zu halten; heute war es ihre Seele, die unaufhaltsam floh. Ach, diese verzehrende Erbitterung, die er soeben wiedererkannt hatte, hatte er schon so häufig gespürt, bei all den uneingestandenen kleinen Verletzungen, die in liebenden Herzen offenbar unablässig blaue Flecken hinterlassen. Er erinnerte sich an all die winzigen, schmerzlichen, eifersüchtigen Empfindungen, die ihn Tag für Tag mit kleinen Stichen verletzt hatten. Jedesmal, wenn sie irgend etwas bemerkt, bewundert, gemocht, gewünscht hatte, war er darauf eifersüchtig gewesen, auf eine unmerkliche, unaufhörliche
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Weise eifersüchtig auf alles, was die Zeit, die Blicke, die Aufmerksamkeit, die Heiterkeit, das Erstaunen, die Anhänglichkeit Annettes in Anspruch nahm, denn all das entzog sie ihm ein wenig. Er war auf alles eifersüchtig gewesen, was sie ohne ihn unternahm, auf alles, wovon er nichts wußte, auf ihre Ausgänge, ihre Lektüre, ihre Vorlieben, war eifersüchtig gewesen auf einen Offizier, der auf heldenhafte Weise in Afrika verwundet worden war und dessen Schicksal Paris acht Tage lang beschäftigt hatte, eifersüchtig auf den Autor eines hochgelobten Romans, auf einen jungen Dichter, den sie nie gesehen hatte, aber dessen Verse Musadieu rezitierte, eifersüchtig auf alle Männer, die man in ihrer Gegenwart lobte, auch wenn dies auf ganz harmlose Weise geschah, denn wenn man eine Frau liebt, kann man es nicht ohne Angst ertragen, daß sie an irgend jemand anderes auch nur mit einem Anschein von Interesse denkt. Man ist beherrscht von dem Verlangen, in ihren Augen der einzige Mann auf der Welt zu sein. Man will, daß sie niemand anderes sieht, kennt und schätzt. Sobald man glaubt, sie blicke sich um, um jemand anderes zu betrachten oder wiederzuerkennen, tritt man dazwischen, und wenn es nicht gelingt, ihren Blick abzulenken oder ihn ganz auf sich zu ziehen, dann leidet man bis ins Innerste. So litt Olivier in Gegenwart dieses Sängers, der in diesem Opernsaal Liebe zu säen und zu ernten schien, und er nahm allen Anwesenden übel, daß dieser Tenor so gefeiert wurde, den Frauen, die er in ihren Logen in schwärmerischer Verzückung sah, und den Männern, diesen Dummköpfen, die diesen eingebildeten Kerl vergötterten. Ein Künstler! Sie nannten ihn einen Künstler, einen großen Künstler! Und er hatte Erfolg, dieser Hanswurst, dieser Dolmetscher fremder Gedanken, einen Erfolg, wie ihn kein schöpferischer Mensch jemals gekannt hatte. Ach ja, das war sie, die Gerechtigkeit und Einsicht der Leute der guten Gesellschaft, dieser unwissenden und eingebildeten Dilettanten, für die die Meister menschlicher Kunst bis an ihr Lebensende arbeiten. Er sah sie Beifall klatschen, bravo rufen, in Begeisterung ausbrechen; und die alte Feindseligkeit, die schon immer tief in dem stolzen, hochmütigen Herzen des Emporkömmlings rumort hatte, wurde zu einer verzweifelten, fürchterlichen Wut auf diese Schwachköpfe, die einzig durch das Recht der Geburt und des Geldes allmächtig waren.
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Seine Gedanken nahmen ihn so in Anspruch, daß er bis zum Ende der Vorstellung schwieg. Als sich dann der orkanartige Applaus gelegt hatte, bot er der Herzogin seinen Arm, während der Marquis den von Annette nahm. Sie gingen die große Treppe inmitten einer Flut von Damen und Herren wieder hinunter, gleichsam in einer großartigen, langsamen Kaskade nackter Schultern, prachtvoller Roben und schwarzer Galaanzüge. Dann stiegen die Herzogin, das junge Mädchen, ihr Vater und der Marquis gemeinsam in den Landauer, und Olivier blieb alleine mit Musadieu auf dem Platz vor der Oper zurück. Plötzlich überkam ihn eine Art Zuneigung für diesen Menschen oder vielmehr jene natürliche Anhänglichkeit, die man für einen Landsmann empfindet, den man in einer einsamen Gegend trifft, denn er kam sich verlassen vor in dieser fremden, gleichgültigen Menschenmenge, während er mit Musadieu doch wenigstens noch von ihr reden konnte. Er nahm ihn daher am Arm. «Sie gehen doch sicher nicht gleich nach Hause», sagte er. «Es ist so schönes Wetter, lassen Sie uns noch etwas bummeln.» «Gerne.» Sie gingen zusammen in Richtung Madeleine-Kirche, mitten durch das nächtliche Menschengewimmel, durch dieses kurze, heftige Gewühl, das die Boulevards nach Theaterschluß um Mitternacht erfüllt. Musadieu hatte tausenderlei Dinge im Kopf, alle seine derzeitigen Gesprächsthemen, die Bertin sein «Tagesmenü» nannte, und er verbreitete sich redselig über die zwei oder drei Gegenstände, die ihn am meisten interessierten. Der Maler ließ ihn reden, ohne ihm zuzuhören, und führte ihn weiterhin am Arm; er war sich sicher, daß er ihn bald dazu bringen würde, über sie zu reden, und er ging, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen, völlig gefangen in seiner Liebe. Er ging, erschöpft von dem Eifersuchtsanfall, der ihn tief getroffen und verwundet hatte, und niedergedrückt von der Gewißheit, daß er auf der Welt nichts mehr zu suchen habe. Er würde also ohne jede Hoffnung immer mehr leiden. Er würde einen öden Tag nach dem andern verbringen und ihr aus der Ferne zuschauen, wie sie lebte, glücklich war, geliebt wurde und sicherlich
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auch selbst liebte. Ein Liebhaber! Sie würde vielleicht einen Liebhaber haben, wie ihre Mutter einen gehabt hatte. Er ahnte so viele verschiedene und undurchschaubare Quellen des Leidens voraus, eine solche Zunahme der Widerwärtigkeiten, so viele unvermeidliche Erschütterungen, er fühlte sich so verloren und sah sich von nun an in einen so unvorstellbaren Todeskampf verwickelt, daß er nicht glauben konnte, daß jemand vor ihm derart gelitten hatte wie er. Und er dachte plötzlich, wie albern doch die Dichter gewesen waren, die das sinnlose Tun von Sisyphos, die Qualen von Tantalus und das zerfleischte Herz von Prometheus erdichtet hatten. Oh, wenn sie damals schon die wahnsinnige Liebe eines alten Mannes zu einem jungen Mädchen gekannt und zu ergründen gesucht hätten, wie hätten sie dann die verborgene, verabscheuungswürdige Anstrengung eines Wesens geschildert, das nichts Liebenswertes mehr hat, wie die Qualen des unstillbaren Verlangens und wie, weit schlimmer als der Schnabel eines Aasgeiers, eine kleine blonde Gestalt, die ein altes Herz in Stücke zerreißt. Musadieu sprach unablässig, und Bertin unterbrach ihn, fast ohne es zu wollen, unter dem Zwang seiner fixen Idee, mit den Worten: «Annette war heute abend reizend.» «O ja, süß...» Der Maler wollte Musadieu daran hindern, den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen, und fuhr fort: «Sie ist hübscher, als ihre Mutter war.» Der andere stimmte ihm zerstreut zu und sagte mehrmals hintereinander: «Ja... ja... ja...», ohne mit seinen Gedanken bei dem neuen Thema zu verweilen. Olivier gab sich alle Mühe, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, und um ihn mit einer der bevorzugten Beschäftigungen Musadieus zu ködern, sagte er listig: «Sie wird nach ihrer Heirat einen der ersten Salons in Paris führen.» Das genügte, und der überzeugte Kenner der Gesellschaft, denn das war der Inspektor der Bildenden Künste, begann mit Sachkenntnis abzuwägen, welchen Platz die Marquise de Farandal in der französischen Gesellschaft einnehmen würde.
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Bertin hörte ihm zu, und er sah Annette in einem hellerleuchteten Salon, umgeben von Damen und Herren. Dieses Phantasiegebilde erregte erneut seine Eifersucht. Sie gingen nun den Boulevard Malesherbes hinauf. Als sie am Haus der Guilleroys vorbeikamen, hob der Maler den Blick. Durch die Spalten der Vorhänge glaubte er, Lichter hinter den Fenstern zu erkennen. Es kam ihm der Verdacht, daß die Herzogin und der Marquis möglicherweise noch auf eine Tasse Tee eingeladen waren, und ein Wutanfall preßte ihm das Herz zusammen und verursachte ihm entsetzliche Schmerzen. Noch immer drückte er den Arm Musadieus, und er forderte ihn von Zeit zu Zeit durch einen Widerspruch zu weiteren Äußerungen über die zukünftige junge Marquise heraus. Diese banale Stimme, die von ihr sprach, gaukelte ihm im nächtlichen Dunkel ihr Bild vor. Als sie in der Avenue de Villiers vor der Tür des Malers angelangt waren, fragte Bertin: «Kommen Sie noch für einen Augenblick mit herein?» «Nein, danke. Es ist spät, ich möchte zu Bett gehen.» «Ach, kommen Sie doch für eine halbe Stunde mit hoch, wir können noch etwas plaudern.» «Nein, wirklich nicht, es ist zu spät!» Die Vorstellung, nach diesen Qualen, die er gerade eben noch gelitten hatte, alleine zu bleiben, erfüllte Oliviers Seele mit Entsetzen. Hier hatte er jemanden, und er würde ihn festhalten. «Ach, kommen Sie mit herauf, Sie können auch eine Skizze aussuchen, ich wollte Ihnen schon lange eine schenken.» Der andere wußte, daß Maler nicht häufig in Geberlaune sind und daß das Gedächtnis für Versprechunge n kurz ist, deshalb nahm er die Gelegenheit wahr. Als Inspektor der Bildenden Künste besaß er eine Gemäldesammlung, die er mit viel Geschick zusammengestellt hatte. «Ich komme mit Ihnen», sagte er. Sie traten ins Haus. Der Diener wurde geweckt und brachte einen Grog. Eine Zeitlang unterhielten sie sich über Malerei. Bertin zeigte verschiedene Skizzen und bat Musadieu, diejenige auszusuchen, die ihm am besten gefiel.
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Musadieu zögerte; das Gaslicht irritierte ihn, weil es die Schattierungen veränderte. Schlie ßlich wählte er eine Gruppe kleiner, auf einem Gehweg seilhüpfender Mädchen; und fast gleich danach wollte er mit seinem Geschenk unter dem Arm gehen. «Ich werde es Ihnen bringen lassen», sagte der Maler. «Nein, ich möchte es lieber schon heute abend haben, dann kann ich es noch bewundern, ehe ich zu Bett gehe.» Nichts konnte ihn mehr zurückhalten, und Olivier Bertin fand sich wieder einmal alleine in seinem Haus, in diesem Gefängnis seiner Erinnerungen und seiner schmerzlichen Unruhe. Als der Diener am andern Morgen das Zimmer betrat und den Tee und die Zeitungen brachte, da fand er seinen Herrn aufrecht im Bett sitzend an und so blaß, daß er Angst bekam. «Fühlen Monsieur sich nicht wohl?» «Es ist nichts, nur ein wenig Migräne.» «Monsieur möchten nicht, daß ich gehe und etwas besorge?» «Nein. Was für Wetter ist heute?» «Es regnet, Monsieur.» «Gut, das war's.» Der Diener stellte das Teegeschirr auf den kleinen einfachen Tisch und legte die Zeitungen daneben, dann ging er. Olivier griff zum «Figaro» und schlug ihn auf. Der Leitartikel trug die Überschrift «Moderne Malerei». Es handelte sich um eine Lobeshymne auf vier oder fünf junge Maler, die als Koloristen wirklich begabt waren, diese Begabung aber um der Wirkung willen übertrieben und die sich anmaßten, Revolutionäre und geniale Neuerer zu sein. Wie alle Alten ärgerte sich Bertin über die jungen Neuen, stieß sich an ihrem Scherbengericht und verachtete ihre Kunstansichten. Er begann die Lektüre des Artikels also schon mit jener zornigen Erregung, die einem angegriffenen Herzen rasch zusetzt; dann sah er plötzlich weiter unten seinen Namen; und die wenigen Worte am Ende eines Satzes trafen ihn wie ein Faustschlag mitten auf die Brust: «Die aus der Mode gekommene Kunst Olivier Berlins...»
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Er war immer empfänglich für Kritik und empfänglich für Lob gewesen, aber trotz seiner berechtigten Eitelkeit litt er mehr unter Angriffen, als er es genoß, gelobt zu werden, denn er war sich seiner selbst nicht sicher, und seine Unentschlossenheit nährte diese Unsicherheit. Früher, zur Zeit seiner Triumphe, waren die Beweihräucherungen so zahlreich gewesen, daß er die Nadelstiche darüber vergaß. Heute, wo neue Künstler und neue Bewunderer nur so aus dem Boden schössen, wurden die Huldigungen seltener und der Tadel verletzender. Er fühlte sich in das Heer jener alten talentierten Künstler eingruppiert, die von den Jungen nicht mehr als große Meister betrachtet werden; und da er ebenso klug wie scharfsichtig war, litt er jetzt unter den geringsten Andeutungen genauso wie unter offenen Angriffen. Noch nie jedoch hatte eine Verletzung seines Künstlerstolzes sein Herz so bluten lassen. Sein Atem stockte, und er las den Artikel noch einmal, um ihn bis in die kleinsten Nuancen zu verstehen. Er und ein paar Kollegen wurden mit einer kränkenden Ungeniertheit zum alten Eisen geworfen. Er stand auf und murmelte die Worte, die auf seinen Lippen haften geblieben waren: «Die aus der Mode gekommene Kunst Olivier Berlins.» Noch nie hatte ihn eine solche Traurigkeit, eine solche Mutlosigkeit, ein solches Gefühl, am Ende angelangt zu sein, am Ende seiner physischen und seiner geistigen Existenz, in eine so hoffnungslose Verzweiflung gestürzt. Bis zwei Uhr blieb er mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel vor dem Kamin sitzen, denn er hatte keine Kraft mehr, sich zu bewegen oder auch nur das Geringste zu tun. Dann regte sich der Wunsch nach Trost in ihm, der Wunsch, treue Hände zu drücken, in anhängliche Augen zu blicken und von Freundesworten bedauert, ermuntert und umschmeichelt zu werden. Er ging also, wie immer, zu der Gräfin. Als er den Salon betrat, stand Annette mit dem Rücken zu ihm und schrieb eifrig eine Adresse auf einen Brief; sie war alleine. Auf dem Tisch neben ihr lag aufgefaltet der «Figaro». Bertin sah das junge Mädchen und die Zeitung gleichzeitig, er blieb bestürzt stehen und wagte sich nicht weiter vor! Oh, wenn sie es gelesen hatte! Sie wandte sich um und sagte beschäftigt, eilig und den Kopf voller Frauensorgen: «Ah, guten Tag, Herr Maler. Sie müssen entschuldigen,
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wenn ich Sie gleich alleine lasse. Die Schneiderin ist oben und ruft nach mir. Sie verstehen, die Schneiderin; wenn eine Hochzeit ansteht, ist das wichtig. Ich werde Ihnen Mama überlassen, sie wird mit meinem Künstler reden und ihn unterhalten. Wenn ich sie brauche, dann werde ich sie mir von Ihnen für einige Minuten zurückerbitten.» Und sie ging mit eiligen Schritten hinaus, um zu zeigen, wie wenig Zeit sie hatte. Dieser schroffe Abgang, ohne ein freundliches Wort, ohne einen zärtlichen Blick für ihn, der er sie doch so sehr, so sehr liebte, brachte ihn aus der Fassung. Sein Blick fiel erneut auf den «Figaro», und er dachte: «Sie hat es gelesen! Man nimmt mich nicht mehr ernst, man will nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie glaubt nicht mehr an mich. Ich zähle nicht mehr für sie.» Er ging zwei Schritte auf die Zeitung zu, so wie man auf jemanden zugeht, den man ohrfeigen will. Dann sagte er sich: «Vielleicht hat sie es doch noch nicht gelesen. Sie ist heute so beschäftigt. Aber sicher wird man heute abend beim Essen in ihrem Beisein davon reden, und sie wird Lust bekommen, es zu lesen!» Mit einer spontanen Bewegung, ohne viel nachzudenken, ergriff er mit der Hast eines Diebs die Ausgabe, schloß sie, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Tasche. Die Gräfin kam herein. Beim Anblick von Oliviers aschfahlem, verzerrtem Gesicht erriet sie, daß er an den Grenzen der Leidensfähigkeit angelangt war. Sie fühlte sich mit ihrer ganzen armen Seele, die ebenso zerrissen, und mit ihrem ganzen armen Körper, der selbst wundgeschlagen war, zu ihm hingezogen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, sah ihm tief in die Augen und sagte: «Oh, wie unglücklich Sie sind!» Diesmal stritt er es nicht mehr ab, und mit zugeschnürter Kehle stammelte er: «Ja... ja... ja...!» Sie spürte, daß er gleich in Tränen ausbrechen würde, und zog ihn in den dunkelsten Winkel des Salons, zu den beiden Sesseln, die hinter einem Wandschirm aus alter Seide verborgen waren. Dort setzten sie sich hin, hinter diese feine, bestickte Wand, und das graue Dunkel eines Regentags hüllte sie ein.
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Von seinem Schmerz traurig berührt, bedauerte sie ihn und sagte: «Mein armer Olivier, - wie sehr Sie leiden!» Er lehnte sein weißes Haupt an die Schulter seiner Freundin. «Mehr, als Sie sich vorstellen können!» Sie flüsterte traurig: «Oh, ich wußte es. Ich habe alles gespürt. Ich habe es entstehen und wachsen sehen.» Er antwortete, als habe sie ihn angeklagt: «Es ist nicht meine Schuld, Any.» «Das weiß ich... Ich werfe Ihnen nichts vor...» Und sie drehte sich ein wenig und berührte mit ihrem Mund sanft ein Auge, in dem sie eine bittere Träne fand. Sie erschauerte, als hätte sie gerade einen Tropfen Verzweiflung getrunken; und sie wiederholte mehrmals: «Ach, armer Freund... armer Freund... armer Freund...!» Und nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: «Es ist die Schuld unserer Herzen, die nicht gealtert sind. Ich fühle meines noch so lebendig schlagen.» Er wollte sprechen und konnte es nicht, weil die Tränen seine Stimme erstickten. Sie hörte und fühlte das Würgen in seiner Brust. Dann erfaßte sie erneut die egoistische Liebesqual, die sie schon so lange zerfraß, und sie sagte mit dem herzzerreißenden Ton, mit dem man ein entsetzliches Unglück feststellt: «Mein Gott, wie sehr Sie sie lieben!» Und noch einmal gab er es zu: «Ach ja, ich liebe sie.» Sie dachte einige Augenblicke nach und fragte dann: «Mich, mich haben Sie wohl nie so geliebt wie sie?» Er leugnete nicht mehr, denn er durchlebte eine jener Stunden, in denen man die ganze Wahrheit ausspricht, und er sagte leise: «Nein, ich war damals zu jung!» Sie war erstaunt. «Zu jung, warum?» «Weil das Leben zu reibungslos verlief. Erst in unserem Alter liebt man verzweifelt.» Sie fragte: «Gleicht das, was Sie in ihrer Nähe empfinden, dem, was Sie in meiner Nähe empfunden haben?»
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«Ja und nein... und doch ist es beinahe dasselbe. Ich habe Sie so sehr geliebt, wie man eine Frau nur lieben kann. Annette liebe ich ebenso wie Sie, weil Sie ein und dieselbe sind; aber diese Liebe ist zu etwas Unwiderstehlichem, Zerstörerischem geworden, zu etwas, das stärker ist als der Tod. Ich gehöre ihr, wie ein brennendes Haus den Flammen gehört.» Sie fühlte, wie ihr Mitleid unter dem Hauch der Eifersucht dahinschmolz, und ihre Stimme nahm einen mütterlich-tröstenden Ton an: «Mein armer Freund! In wenigen Tagen wird sie verheiratet sein und abreisen. Wenn Sie sie nicht mehr sehen, werden Sie sicherlich geheilt werden.» Er schüttelte den Kopf. «Ach, ich bin verloren, verloren!» «Nicht doch, nicht doch! Sie werden sie drei Monate lang nicht sehen. Das wird reichen. Drei Monate haben Ihnen ja auch gereicht, sie mehr zu lieben als mich, die Sie schon zwölf Jahre lang kennen.» Da flehte er sie in seiner grenzenlosen Verzweiflung an: «Any, lassen Sie mich nicht im Stich!» «Was könnte ich für Sie tun, mein Freund?» «Lassen Sie mich nicht allein.» «Ich werde Sie besuchen, sooft Sie wollen.» «Nein, lassen Sie mich, sooft es geht, hier bei Ihnen sein.» «Dann sind Sie aber auch in Annettes Nähe.» «Und in Ihrer.» «Sie sollten sie vor ihrer Hochzeit nicht mehr sehen.» «Oh, Any!» «Oder zumindest nur ganz selten.» «Kann ich heute abend hierbleiben?» «Nein, das geht nicht, in dem Zustand, in dem Sie sich befinden. Sie müssen sich ablenken, in den Club, ins Theater oder sonstwohin gehen, aber nicht hierbleiben.» «Ich flehe Sie an.» «Nein, Olivier, das ist unmöglich. Und außerdem habe ich zum Abendessen Gäste, deren Gegenwart Sie nur noch mehr aufregen würde.»
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«Die Herzogin?... Und... ihn?» «Ja.» «Aber ich habe auch den gestrigen Abend mit ihnen verbracht.» «Lassen Sie das. Man sieht, wie gut es Ihnen bekommen ist!» «Ich verspreche Ihnen, mich zu beherrschen.» «Nein, es geht unmöglich.» «Dann gehe ich jetzt.» «Warum haben Sie es so eilig?» «Ich muß mich bewegen.» «Ja, das ist es, gehen Sie spazieren, gehen Sie, bis es dunkel ist, laufen Sie sich todmüde, und dann gehen Sie zu Bett!» Er war aufgestanden. «Adieu, Any.» «Adieu, lieber Freund. Ich werde Sie morgen vormittag besuchen. Ist es Ihnen recht, wenn ich eine große Unvorsichtigkeit begehe, wie früher, und vorgebe, hier zu Mittag zu essen, und dann statt dessen um Viertel nach eins mit Ihnen esse?» «O ja, gerne. Wie gut Sie sind!» «Ich liebe Sie eben.» «Ich auch, ich liebe Sie auch.» «Ach, lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.» «Adieu, Any.» «Adieu, lieber Freund, bis morgen.» «Adieu.» Er küßte ihre Hände, eine nach der anderen, dann ihre Schläfen und ihre Mundwinkel. Seine Augen waren jetzt trocken, und er machte einen entschlossenen Eindruck. Beim Abschied ergriff er sie, umfing sie mit seinen Armen und drückte seine Lippen auf ihre Stirn, als wolle er alle Liebe, die sie für ihn empfand, einatmen und trinken. Und dann ging er rasch weg, ohne sich noch einmal umzusehen. Als die Gräfin alleine war, ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und weinte. Wenn Annette nicht plötzlich aufgetaucht wäre, um sie zu holen, wäre sie bis in die Nacht so sitzen geblieben. Sie wollte etwas Zeit gewinnen, um ihre geröteten Augen zu trocknen, und sagte: «Ich
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habe noch eine Kleinigkeit zu schreiben, mein Kind. Geh schon hoch, ich komme gleich nach.» Bis zum Abend mußte sie sich dann mit dem großen Problem der Aussteuer beschäftigen. Die Herzogin und ihr Neffe aßen bei Guilleroys im Familienkreis zu Abend. Man war gerade dabei, sich zu Tisch zu setzen, und unterhielt sich noch über die Aufführung des gestrigen Abends, da erschien der Hausherr und brachte drei riesige Blumensträuße. Madame de Mortemain staunte. «Mein Gott, was ist denn das?» Annette rief: «Oh, wie schön sie sind! Wer hat uns die wohl geschickt?» Ihre Mutter antwortete: «Sicherlich Olivier Bertin.» Seit er gegangen war, dachte sie an ihn. Er war ihr so düster und tragisch vorgekommen, sie sah sein auswegloses Geschick so klar vor Augen, sie empfand so qualvoll den Widerhall dieses Leids, sie liebte ihn so sehr, so zärtlich, so vollkommen, daß ihr Herz von dunklen Vorahnungen gepeinigt wurde. In den drei Sträußen fanden sich tatsächlich drei Visitenkarten des Malers. Auf jede hatte er mit Bleistift einen Namen geschrieben, den der Herzogin, den der Gräfin und den Annettes. Die Herzogin fragte: «Ist Ihr Freund Bertin krank? Ich fand, gestern abend sah er sehr schlecht aus.» Und Madame de Guilleroy erwiderte: «Ja, sein Zustand beunruhigt mich etwas, obwohl er nicht klagt.» Ihr Mann fügte hinzu: «Oh, es geht ihm wie uns, er wird älter. Er wird zur Zeit sogar sehr viel älter. Ich glaube übrigens, daß die Junggesellen von heute auf morgen verfallen. Ihr Zusammenbruch kommt unvermittelter als der der anderen. Er hat sich tatsächlich stark verändert.» Die Gräfin seufzte: «Ach ja.» Farandal unterbrach plötzlich seine mit flüsternder Stimme geführte Unterhaltung mit Annette und sagte: «Heute morgen war ein Artikel im ‹Figaro›, der sehr unangenehm für ihn war.»
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Bei jedem Angriff , jeder Kritik, jeder ungünstigen Anspielung auf das Talent ihres Freundes geriet die Gräfin außer sich. «Oh», sagte sie, «Männer von der Bedeutung Berlins brauchen sich nicht um solche Taktlosigkeiten zu kümmern.» Guilleroy wunderte sich: «Ach, ein für Olivier unangenehmer Artikel? Den habe ich gar nicht gelesen, auf welcher Seite stand er denn?» Der Marquis klärte ihn auf: «Auf der ersten Seite, am Kopf des Blattes, der Titel hieß Moderne Malerei).» Der Abgeordnete wunderte sich nicht länger: «Richtig. Ich habe ihn nicht gelesen, weil es sich um Malerei handelte.» Alle lachten, denn sie wußten, daß sich Monsieur de Guilleroy kaum für etwas anderes als für Politik und Landwirtschaft interessierte. Dann wechselte man zu anderen Themen, und schließlich gingen alle in den Salon, um dort Kaffee zu trinken. Die Gräfin nahm nicht an der Unterhaltung teil und antwortete kaum; die Sorge um Olivier verfolgte sie. Wo war er? Wo hatte er zu Abend gegessen? Wo schleppte er im Augenblick sein unheilbares Herz herum? Sie bedauerte jetzt heftig, daß sie ihn hatte gehen lassen, daß sie ihn nicht dabehalten hatte, und sie sah ihn durch die Straßen irren, traurig, heimatlos, einsam, auf der Flucht vor seinem Elend. Bis die Herzogin und ihr Neffe aufbrachen, sprach sie kaum, sie wurde von unbestimmten, abergläubischen Ängsten heimgesucht; dann ging sie ins Bett und lag dort im Dunkel mit offenen Augen und dachte an ihn! Eine lange Zeit war verstrichen, da glaubte sie, die Hausglocke läuten zu hören. Sie zitterte, richtete sich auf und lauschte. Zum zweiten Mal ertönte das vibrierende Anschlagen durch die Nacht. Sie sprang aus dem Bett und drückte mit aller Kraft auf den Knopf der elektrischen Klingel, um ihr Zimmermädchen zu wecken. Dann rannte sie mit einer Kerze in der Hand in den Flur. Durch die geschlossene Tür fragte sie: «Wer ist da?» Eine unbekannte Stimme antwortete: «Hier ist ein Brief.» «Ein Brief von wem?» «Von einem Arzt.»
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«Von welchem Arzt?» «Ich weiß nicht. Es handelt sich um einen Unfall.» Sie zögerte nicht länger, öffnete und sah sich einem Droschkenkutscher mit Wachstuchhut gegenüber. Er hielt ein Papier in der Hand, das er ihr hinstreckte. Sie las: «Sehr dringend - Herrn Graf de Guilleroy». Die Handschrift war ihr fremd. «Kommen Sie herein, mein Freund», sagte sie, «setzen Sie sich, und warten Sie, bis ich wiederkomme.» Vor dem Zimmer ihres Marines schlug ihr Herz so heftig, daß sie ihn nicht rufen konnte. Sie schlug mit dem Metall ihres Leuchters an das Holz. Der Graf schlief fest und hörte sie nicht. Da trat sie aufgeregt und ungeduldig mit dem Fuß gegen die Tür, und sie hörte eine verschlafene Stimme, die fragte: «Wer ist da? Wieviel Uhr ist es?» «Ich bin's. Ich habe einen dringenden Brief für Sie, ein Kutscher hat ihn gebracht. Es handelt sich um einen Unfall.» «Warten Sie, ich stehe auf, ich komme.» Und nach einer Minute stand er im Morgenrock da. Zur gleichen Zeit eilten zwei Dienstboten herbei, die durch das Klingeln geweckt worden waren. Sie hatten im Speisesaal einen Fremden sitzen sehen und waren erschrocken und ängstlich. Der Graf hatte den Brief genommen; er wendete ihn zwischen den Fingern hin und her und murmelte: «Was hat das zu bedeuten? Ich habe keine Ahnung.» Von fieberhafter Unruhe erfüllt, sagte sie: «So lesen Sie doch!» Er öffnete den Umschlag, faltete das Blatt auseinander und stieß einen Schrei des Entsetzens aus, dann blickte er seine Frau erschrocken an. «Mein Gott, was ist mit ihm?» fragte sie. Er stammelte, er konnte kaum sprechen, so groß war seine Aufregung. «Oh, ein großes Unglück!... Ein großes Unglück!... Bertin ist unter einen Wagen gestürzt.» Sie schrie: «Tot?!» «Nein, nein», sagte er, «lesen Sie selbst.»
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Sie riß ihm den Brief, den er ihr hinhielt, aus den Händen und las: Monsieur, soeben ist ein großes Unglück passiert. Unser Freund, der hervorragende Künstler Monsieur Olivier Bertin, ist von einem Omnibus angefahren worden, und dabei rollte ein Rad über seinen Körper. Ich kann mich noch nicht zu den möglichen Folgen dieses Unfalls äußern, der vielleicht nicht schwerwiegend war, der aber auch ein jähes, verhängnisvolles Ende herbeiführen kann. Monsieur Bertin bittet Sie inständig und fleht Madame de Guilleroy an, sofort zu ihm zu kommen. Ich hoffe, daß die Frau Gräfin und Sie, Monsieur, dem Wunsch unseres gemeinsamen Freundes, der vielleicht bei Tagesanbruch schon nicht mehr leben wird, gerne Folge leisten werden. Dr. de Rivil Die Gräfin blickte ihren Mann mit weitgeöffneten, starren, angsterfüllten Augen an. Dann wurde sie plötzlich wie durch einen Stromschlag aufgerüttelt, und der Mut der Frauen, der diese manchmal in Stunden der Gefahr zu den tapfersten Wesen macht, überkam sie. Sie wandte sich an die Hausangestellten: «Rasch, ich will mich ankleiden!» Das Zimmermädchen fragte: «Was möchten Madame anziehen?» «Das ist mir gleich, was Sie wollen.» Und sie fuhr fort: «Jacques, seien Sie in fünf Minuten bereit.» Als sie verstört nach oben gehen wollte, sah sie den Kutscher, der noch immer wartete, und sie fragte ihn: «Steht Ihr Wagen unten?» «Ja, Madame.» «Gut so, den werden wir nehmen.» Dann eilte sie in ihr Zimmer hinauf. Wie wahnsinnig, mit überhasteten Bewegungen warf sie sich ihre Kleider über, knöpfte, hakte, nestelte sie zusammen, wie es kam, dann steckte und drehte sie vor dem Spiegel ihre Haare unordentlich hoch und sah dabei, ohne diesmal darüber nachzudenken, ihr blasses Gesicht und ihre verstörten Au gen.
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Als sie ihren Mantel über die Schultern geworfen hatte, stürzte sie zum Zimmer ihres Mannes, der noch nicht fertig war. Sie zog ihn mit sich. «Los», sagte sie, «denken Sie doch daran, daß er sterben kann.» Der Graf war völlig verstört und folgte ihr stolpernd; tastend suchte er auf der dunklen Treppe nach den Stufen, um nicht zu fallen. Die Fahrt war kurz und schweigsam. Die Gräfin zitterte so stark, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Durch den Wagenschlag sah sie die Gaslaternen hinter Regenschleiern vorbeifliegen. Die Gehwege glänzten, der Boulevard war verlassen, die Nacht finster. Als sie ankamen, war die Haustür des Malers offen und die Portierloge hell erleuchtet und leer. Oben an der Treppe erschien der Arzt, Dr. de Rivil, zu ihrer Begrüßung, ein kleiner grauhaariger, untersetzter, rundlicher, sehr gepflegter, sehr höflicher Herr. Er machte eine tiefe Verbeugung vor der Gräfin und schüttelte dem Grafen die Hand. Sie fragte keuchend, als habe ihr das Treppensteigen den Atem benommen: «Nun, Doktor?» «Nun, Madame, ich hoffe, daß es nicht so ernst ist, wie ich im ersten Augenblick dachte.» Sie rief: «Er wird also nicht sterben?» «Nein, ich glaube eigentlich nicht.» «Verbürgen Sie sich dafür?» «Nein. Ich sage nur, daß ich hoffe, daß ich es mit einer einfachen Bauchhöhlenquetschung ohne innere Verletzungen zu tun habe.» «Was meinen Sie mit inneren Verletzungen?» «Risse.» «Woher wissen Sie, daß er keine hat?» «Ich nehme es an.» «Und wenn er welche hat?» «Oh, dann, dann wäre es sehr ernst!» «Könnte er daran sterben?» «Ja.»
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«Sehr schnell?» «Sehr schnell, innerhalb weniger Minuten oder sogar Sekunden. Aber seien Sie beruhigt, Madame, ich bin überzeugt, daß er in vierzehn Tagen wieder gesund ist.» Sie hatte ihm mit großer Aufmerksamkeit zugehört, um alles zu erfahren und zu verstehen. Sie fragte: «Was für Risse könnte er haben?» «Einen Leberriß, zum Beispiel.» «Das wäre sehr gefährlich?» «Ja... Aber es würde mich wundern, wenn jetzt noch eine Komplikation eintreten würde. Lassen Sie uns zu ihm gehen. Das wird ihm guttun, er erwartet Sie mit großer Ungeduld.» Als sie ins Zimmer trat, sah sie als erstes ein totenblasses Gesicht auf einem weißen Kopfkissen. Einige Kerzen und das Kaminfeuer beleuchteten es, zeichneten das Profil ab und hoben die Schatten hervor; und in diesem bleichen Gesicht erkannte die Gräfin zwei Augen, die ihr Kommen verfolgten. All ihr Mut, all ihre Energie, all ihre Entschlossenheit brachen in sich zusammen, so sehr glich dieses eingefallene, entstellte Gesicht dem eines Sterbenden. Der, den sie vor kurzem noch gesehen hatte, war zu diesem Etwas, zu diesem Gespenst geworden! Sie preßte ihre Lippen zusammen und murmelte: «Oh, mein Gott!», und 7.itternd vor Entsetzen ging sie zu ihm hin. Er versuchte zu lächeln, um sie zu beruhigen, und die Grimasse, die er bei diesem Versuch machte, war fürchterlich. Als sie ganz nahe an seinem Bett war, legte sie sacht ihre beiden Hände auf die Hände Oliviers, die neben seinem Körper ausgestreckt lagen, und sie stammelte: «Oh, mein armer Freund!» «Es ist nichts», sagte er ganz leise, ohne den Kopf zu bewegen. Sie sah ihn jetzt genauer, und sie war erschüttert über die Veränderung. Er war so blaß, als habe er keinen Tropfen Blut mehr unter der Haut. Seine hohlen Wangen schienen ins Innere des Gesichts gestülpt, und auch seine Augen waren in ihre Höhlen zurückgefallen, wie wenn irgendein Faden sie nach innen ziehen würde.
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Er sah das Entsetzen seiner Freundin und seufzte: «Ich bin in einem schönen Zustand.» Sie schaute ihn immer noch unverwandt an und fragte: «Wie ist das denn passiert?» Er gab sich große Mühe beim Sprechen, und für kurze Augenblicke war sein ganzes Gesicht von nervösen Zuckungen verzerrt. «Ich habe nicht aufgepaßt... ich dachte an andere Dinge... an ganz andere Dinge... ach ja!... Und ein Omnibus hat mich erfaßt und ist mir über den Bauch gerollt...» Beim Zuhören sah sie den Unfall vor Augen, und sie fragte voll Entsetzen: «Haben Sie geblutet?» «Nein, ich bin nur etwas zerdrückt... etwas zerquetscht.» Sie fragte weiter: «Wo ist es denn geschehen?» Er antwortete fast unhörbar; «Ich weiß es nicht genau. Es war weit weg.» Der Arzt rollte einen Sessel heran, auf den die Gräfin niedersank. Der Graf blieb am Fußende des Bettes stehen und stieß immer wieder zwischen den Zähnen hervor: «Oh, mein armer Freund... mein armer Freund... was für ein entsetzliches Unglück!» Und er war tatsächlich tief betrübt, denn er mochte Olivier sehr gern. Die Gräfin fragte: «Aber wo ist es denn passiert?» Der Arzt antwortete: «Ich weiß es auch nicht genau, oder vielmehr, ich verstehe es nicht. Es muß bei den Gobelinmanufakturen fast außerhalb von Paris gewesen sein! Zumindest hat mir der Droschkenkutscher, der ihn zurückgefahren hat, versichert, daß er ihn in einer Apotheke des Viertels abholte, wohin er um neun Uhr abends gebracht worden sei.» Dann beugte er sich zu Olivier hinunter: «Stimmt es, daß der Unfall in der Nähe der Gobelinmanufakturen passiert ist?» Bertin schloß die Augen, wie um sich zu erinnern, dann murmelte er: «Ich weiß es nicht.» «Aber wohin wollten Sie denn?»
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«Ich erinnere mich nicht. Ich bin einfach so vor mich hin gegangen!» Ein anklagendes Stöhnen, das sie nicht zurückhalten konnte, kam über die Lippen der Gräfin; und nach einem Erstickungsanfall, der ihr für einige Augenblicke den Atem raubte, zog sie ihr Taschentuch heraus, hielt es vor ihre Augen und begann, fürchterlich zu weinen. Sie verstand; sie erriet! Etwas Unerträgliches, Niederschmetterndes fiel wie eine Last auf ihr Herz: die Gewissensbisse, Olivier nicht bei sich behalten, ihn fortgejagt und auf die Straße gestoßen zu haben, wo er besinnungslos vor Schmerz unter diesen Wagen gestürzt war. Mit der tonlosen Stimme, die er jetzt hatte, sagte er zu ihr: «Weinen Sie bitte nicht. Das zerreißt mir das Herz.» Mit einer bewundernswerten Willenskraft hörte sie auf zu weinen, nahm ihr Taschentuch von den Augen und richtete sie weitgeöffnet auf ihn, ohne daß das geringste Zucken über ihr Gesicht ging, über das die Tränen immer noch langsam hinabflössen. Bewegungslos blickten sie einander an, und ihre Hände lagen vereint auf dem Bettlaken. Sie blickten sich an und vergaßen, daß noch andere Menschen im Raum waren, und mit ihrem Blick tauschten sie die übermenschliche Ergriffenheit ihrer beider Herzen aus. Noch einmal zogen an ihnen blitzartig, wortlos und schrecklich alle ihre Erinnerungen vorüber, ihre ganze Liebe, die nun ebenfalls zerstört war, alles, was sie gemeinsam gefühlt hatten, alles, was sie geeint und aneinandergefesselt hatte in ihrem Leben, in dieser leidenschaftlichen Zuneigung, die sie miteinander verband. Sie blickten einander an, und das Verlangen, miteinander zu reden, alle die unzähligen geheimen und so traurigen Dinge zu hören, die sie sich noch zu sagen hatten, reizte ihre Lippen unwiderstehlich. Sie fühlte, daß sie die beiden Menschen, die hinter ihr standen, um jeden Preis entfernen und als Frau, die sich immer zu helfen wußte, ein Mittel, eine List, einen Einfall finden mußte. Die Augen immerzu auf Olivier geheftet, dachte sie darüber nach. Ihr Mann und der Doktor unterhielten sich mit gesenkten Stimmen. Es ging um die zu treffenden Pflegemaßnahmen.
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Sie wendete den Kopf und fragte den Arzt: «Haben Sie eine Wärterin mitgebracht?» «Nein, ich möchte lieber einen angehenden Arzt schicken, der kann den Zustand besser überwachen.» «Schicken Sie beide. Man kann nie genug Vorsorgen. Können Sie sie schon für die Nacht auftreiben, denn Sie werden nicht bis zum Morgen bleiben wollen?» «Das stimmt, ich werde nach Hause gehen, ich bin schon seit vier Stunden hier.» «Aber Sie besorgen uns doch beim Heimgehen noch die Wärterin und den Assistenten?» «Das wird ziemlich schwierig werden, mitten in der Nacht. Aber ich will es versuchen.» «Es ist unbedingt erforderlich.» «Sie werden vielleicht zusagen, aber ob sie dann auch kommen werden?» «Mein Mann wird mit Ihnen kommen und sie mit oder gegen ihren Willen herbringen.» «Aber Madame, Sie können nicht alleine hierbleiben.» «Ich!...» stieß sie hervor, und es war wie ein Aufschrei, eine Herausforderung, ein empörter Protest gegen alles, was man ihrem Willen entgegensetzen wollte. Dann legte sie mit einer Bestimmtheit, der man nicht widerspricht, die erforderlichen Schritte dar. Man brauchte die Wärterin und den Assistenten noch vor Ablauf einer Stunde, um allem Unvorhergesehenen vorzubeugen. Um sie zu bekommen, mußte man sie aus dem Bett holen und herbringen. Das konnte nur ihr Mann tun. In der Zwischenzeit würde sie bei dem Kranken bleiben, sie, deren Aufgabe und deren Recht dies sei. Sie würde lediglich die Rolle der Freundin und der Frau übernehmen. Außerdem wolle sie es so, und niemand könne sie davon abhalten. Ihre Überlegungen waren vernünftig. Sie fanden Zustimmung, und man beschloß, so vorzugehen. Völlig in Gedanken an den Aufbruch der beiden, war sie aufgestanden, denn sie wollte sie so rasch wie möglich entfernt wissen und alleine zurückbleiben. Um während ihrer Abwesenheit nichts
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falsch zu machen, hörte sie den Anweisungen des Arztes genau zu und versuchte, alles gut zu verstehen, alles zu behalten, nichts zu vergessen. Der Diener des Malers stand neben ihr und hörte ebenfalls zu, und seine Frau, die Köchin, die die ersten Verbände mit angelegt hatte, bedeutete mit einem Kopfnicken, daß auch sie alles verstanden hatte. Die Gräfin wiederholte alle Anordnungen wie etwas Auswendiggelerntes, dann drängte sie die beiden Männer zu gehen, und sie bat ihren Gatten: «Kommen Sie schnell zurück, das ist das Wichtigste, kommen Sie schnell zurück.» «Ich nehme Sie in meinem Wagen mit», sagte der Doktor zum Grafen, «er wird Sie schneller zurückbringen. Sie werden in einer Stunde wieder hier sein.» Ehe er ging, untersuchte der Arzt den Verletzten noch einmal gründlich, um sich zu vergewissern, daß sein Zustand weiterhin zufriedenstellend war. Guilleroy zögerte noch immer und fragte: «Finden Sie das, was wir vorhaben, nicht unvernünftig?» «Nein, es besteht keine Gefahr. Er braucht nur Schlaf und Ruhe. Madame de Guilleroy würde gut daran tun, ihn nicht reden zu lassen und so wenig wie möglich zu ihm zu sprechen.» Das versetzte der Gräfin einen schweren Schlag, und sie fragte: «Man darf also nicht mit ihm sprechen?» «O nein, Madame! Nehmen Sie einen Sessel, und bleiben Sie in seiner Nähe. So wird er sich nicht alleine fühlen, und das wird ihm guttun; aber keinerlei Ermüdung, nicht durch Reden und nicht einmal durch Nachdenken. Ich werde morgen früh um neun Uhr wieder hier sein. Adieu, Madame, meine Hochachtung.» Er verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung, und der Graf folgte ihm, indem er noch einmal wiederholte: «Beunruhigen Sie sich nicht, meine Liebe. Noch vor einer Stunde werde ich zurück sein, und dann können Sie nach Hause zurückkehren.» Als sie gegangen waren, hörte sie unten das Klappen der Haustüre, die geschlossen wurde, und dann das Räderrollen des sich entfernenden Wagens. Der Diener und die Köchin waren im Zimmer geblieben und warteten auf Anweisungen. Die Gräfin entließ sie.
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«Gehen Sie nur», sagte sie zu ihnen, «ich läute, wenn ich Sie brauche.» Da entfernten auch sie sich, und sie war alleine mit ihm. Sie war wieder ganz nahe an das Bett herangetreten, legte ihre Hände auf den Kissenrand, auf beide Seiten dieses geliebten Haupts, und beugte sich darüber, um es genau zu betrachten. So nahe an seinem Gesicht, daß sie ihm die Worte fast auf die Haut hauchte, fragte sie: «Haben Sie sich selbst unter den Wagen geworfen?» Er antwortete und versuchte, dabei zu lächeln: «Nein, er hat sich auf mich geworfen.» «Das stimmt nicht, Sie waren es.» «Nein, ich versichere Ihnen, er war es.» Nach einigen Augenblicken des Schweigens, solchen Augenblicken, in denen die Seelen in den Blicken zu verschmelzen scheinen, flüsterte sie: «Oh, mein geliebter, geliebter Olivier! Und ich habe Sie weggehen lassen, ich habe Sie nicht bei mir zurückgehalten!» Er antwortete überzeugt: «Das wäre mir in jedem Fall zugestoßen, früher oder später.» Sie schauten sich immer noch an und suchten ihre geheimsten Gedanken zu erraten. Er sagte: «Ich glaube nicht, daß ich es überstehe. Ich habe zu große Schmerzen.» Sie stammelte: «Sehr große Schmerzen?» «O ja.» Sie beugte sich tiefer über ihn und streichelte seine Stirn, dann seine Augen, dann seine Wangen mit langsamen, leichten, sanften Küssen, wie eine behutsame Pflege. Sie berührte sie kaum mit dem Rand ihrer Lippen, mit dem leichten Atemgeräusch, das Kinder beim Küssen machen. Und es dauerte lange, sehr lange. Er ließ diesen Regen sanfter, feiner Liebkosungen über sich herabgehen, er schien ihn zu beruhigen und zu erfrischen, denn sein verzerrtes Gesicht zuckte weniger als zuvor. Er fragte: «Any?» Sie hörte auf, ihn zu küssen, um ihm zuzuhören. «Was ist, mein Freund?»
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«Sie müssen mir etwas versprechen.» «Ich verspreche Ihnen alles, was Sie wollen.» «Schwören Sie mir, daß Sie mir Annette herbringen werden, ein einziges Mal, nur ein einziges Mal, wenn ich morgen noch nicht gestorben bin? Ich möchte so ungern sterben, ohne sie noch einmal gesehen zu haben... Denken Sie daran... morgen um diese Zeit... werde ich vielleicht... werde ich bestimmt die Augen für immer geschlossen haben... und ich werde sie beide nie mehr sehen... ich... weder Sie... noch sie...» Es zerriß ihr das Herz, und sie unterbrach ihn: «Oh, schweigen Sie... schweigen Sie... ja, ich verspreche, sie herzubringen.» «Schwören Sie es?» «Ich schwöre es, mein Freund... Aber schweigen Sie, sprechen Sie nicht mehr. Sie tun mir schrecklich weh... schweigen Sie.» Sein ganzes Gesicht wurde von einem kurzen Krampf geschüttelt. Als er vorüber war, sagte er: «Wenn wir nur noch eine kurze Zeit Zusammensein können, sollten wir sie nicht vergeuden; lassen Sie sie uns nutzen, um uns voneinander zu verabschieden. Ich habe Sie so sehr geliebt...» Sie seufzte: «Und ich... wie sehr liebe ich Sie immer noch!» Er fuhr fort: «Allein durch Sie bin ich glücklich gewesen. Nur die letzten Tage waren schlimm... Es ist nicht Ihre Schuld... Ach, meine arme Any... wie traurig ist das Leben manchmal... und wie schwierig ist es zu sterben!» «Schweigen Sie, Olivier. Ich flehe Sie an...» Er fuhr fort, ohne auf sie zu hören: «Ich wäre ein so glücklicher Mann gewesen, wenn Sie keine Tochter gehabt hätten...» «Schweigen Sie... mein Gott!... Schweigen Sie...» Er schien mehr für sich zu denken als zu sprechen: «Ach! Der, der das Leben erfunden und die Menschen geschaffen hat, war entweder blind oder böswillig...» «Olivier, ich flehe Sie an... wenn Sie mich jemals geliebt haben, schweigen Sie... hören Sie auf, so zu reden.»
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Er schaute sie an, wie sie sich über ihn beugte; sie war so leichenblaß, daß sie selbst wie eine Sterbende aussah, und er schwieg. Sie setzte sich wieder in den Sessel, dicht an sein Lager, und ergriff von neuem seine Hand, die auf dem Laken ausgestreckt dalag: «Ich verbiete Ihnen jetzt zu sprechen», sagte sie. «Bewegen Sie sich nicht mehr, und denken Sie an mich, so wie ich an Sie denke.» Sie blickten sich wieder an, unbeweglich, miteinander verbunden durch die glühende Berührung ihrer Haut. Mit leichten Bewegungen drückte sie die fiebrige Hand, die sie hielt, und er antwortete auf diese Zeichen, indem er die Finger etwas schloß. Jeder Druck sagte ihr etwas, beschwor ein Stück ihrer abgeschlossenen Vergangenheit herauf, rührte in ihrem Gedächtnis die dort ruhenden Erinnerungen ihrer Liebe auf. Jeder war eine heimliche Frage und jeder eine geheimnisvolle Antwort, traurige Fragen und traurige Antworten, dieses «weißt du noch?» einer alten Liebe. Bei diesem Zusammensein im Angesicht des Todes, das ihr letztes sein konnte, blickten sie in Gedanken noch einmal zurück auf die Jahre der Geschichte ihrer Leidenschaft, und im Zimmer hörte man nur noch das Knistern des Feuers. Plötzlich sagte er entsetzt, wie aus einem Traum hochschreckend: «Ihre Briefe!» Sie fragte: «Wieso? Meine Briefe?» «Ich hätte sterben können, ohne sie vorher vernichtet zu haben.» Sie rief: «Ach was! Was geht mich das an. Als ob das wichtig wäre. Es ist mir egal, wenn sie jemand findet und liest.» «Ich will es nicht haben. Stehen Sie auf, Any. Öffnen Sie die untere Schublade meines Sekretärs, die große, dort sind sie alle, alle. Sie müssen sie herausnehmen und ins Feuer werfen.» Sie bewegte sich nicht von der Stelle, verstimmt, als hätte er sie zu einer feigen Tat angestiftet. Er sagte: «Any, ich flehe Sie an. Wenn Sie es nicht tun, quälen Sie mich, machen mich nervös und versetzen mich in Angst. Überlegen Sie, wem sie in die Hände fallen könnten, einem Notar, einem Dienstboten... oder sogar Ihrem Mann... ich will das nicht haben...»
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Sie stand, immer noch zögernd, auf und sagte mehrmals: «Nein, das ist zu hart, das ist zu grausam. Es kommt mir vor, als verlangten Sie, daß ich unsrer beider Herzen verbrenne.» Er flehte mit vor Angst entstelltem Gesicht. Als sie ihn so leiden sah, gab sie nach und ging zu dem Möbelstück. Sie öffnete die Schublade und sah, daß sie bis zum Rand gefüllt war mit einer dicken Schicht aufeinandergehäufter Briefe, und auf allen Umschlägen erkannte sie die zwei Zeilen der Anschrift, die sie so oft geschrieben hatte. Diese beiden Zeilen - der Name eines Mannes, der Name einer Straße - hafteten in ihrem Gedächtnis wie ihr eigener Name, wie die wenigen Worte, die die ganze Hoffnung und das ganze Glück des Lebens bedeuteten. Sie blickte darauf, auf diese kleinen viereckigen Dinge, die alles enthielten, was sie über ihre Liebe zu sagen vermocht hatte, alles, was sie an Liebe aus sich hatte herausreißen können, um es ihm mit ein wenig Tinte auf weißem Papier zu schenken. Er hatte versucht, seinen Kopf auf dem Kissen etwas zu drehen, um ihr zusehen zu können, und er wiederholte noch einmal: «Verbrennen Sie sie ganz schnell.» Sie nahm zwei Bündel heraus und behielt sie für ein paar Sekunden in der Hand. Sie schienen ihr schwer, quälend, lebendig und tot zugleich, denn sie enthielten für sie in diesem Augenblick so viele verschiedene Dinge, so köstliche, tiefempfundene, erträumte Dinge. Sie hielt die Seele ihrer Seele, das Herz ihres Herzens, den innersten Kern ihres liebenden Seins in der Hand; und sie erinnerte sich, mit welchem Wonnegefühl sie manche hingekritzelt hatte, mit welchem Überschwang, mit welchem Rauschgefühl zu leben, jemanden zu vergöttern und dies auszusprechen. Olivier wiederholte: «Verbrennen Sie sie, verbrennen Sie sie, Any.» Mit beiden Händen gleichzeitig warf sie die beiden Bündel ins Feuer, und als sie aufs Holz fielen, flatterten sie auseinander. Dann nahm sie weitere aus dem Sekretär und warf sie darauf und dann immer mehr; mit hastigen Bewegungen bückte sie sich und richtete sich wieder auf, um dieses fürchterliche Werk rasch zu vollenden. Als der Kamin voll und die Schublade leer war, blieb sie stehen und wartete und schaute zu, wie die fast erstickte Flamme über die Seiten
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dieses Bergs aus Briefumschlägen emporzüngelte. Sie erfaßte sie von den Seiten her, fraß die Ecken an, lief über den Rand des Papiers, erlosch, flammte wieder auf, wuchs an. Rings um die weiße Pyramide bildete sich ein flammender, strahlender Feuergürtel, der das Zimmer mit Licht erfüllte. Und dieses Licht, das die stehende Frau und den liegenden Mann beleuchtete, war ihre brennende Liebe, es war ihre Liebe, die sich in Asche verwandelte. Die Gräfin drehte sich um, und im Schein dieses hell auflodernden Feuers sah sie ihren Freund, der sich verstört über den Rand des Beltes beugte. Er fragte: «Ist alles drin?» «Ja, alles.» Ehe sie an sein Bett zurückkehrte, warf sie noch einen letzten Blick auf diese Vernichtung, und auf dem Papierhaufen; der schon zur Hälfte verzehrt war, der sich krümmte und schwarz wurde, sah sie etwas Rotes herabrollen. Man hätte meinen können, es seien Blutstropfen. Sie schienen aus dem Herzen der Briefe herauszurinnen, aus jedem einzelnen Brief, wie aus einer Wunde, und sie glitten sacht ins Feuer und ließen eine purpurne Spur hinter sich. Wie von einem Schlag wurde die Gräfin im Innersten von einem übernatürlichen Entsetzen erschüttert, und sie wich zurück, als hätte sie zugesehen, wie jemand ermordet wurde; dann erkannte sie, mit einemmal erkannte sie es, daß es nur das Wachs der schmelzenden Siegel gewesen war, was sie gesehen hatte. Sie kehrte nun zu dem Verletzten zurück, nahm seinen Kopf hoch und legte ihn vorsichtig wieder in die Mitte des Kissens zurück. Aber er hatte sich bewegt, und die Schmerzen nahmen zu. Er keuchte jetzt, sein Gesicht war verzerrt, so fürchterlich waren seine Schmerzen, und er schien nicht mehr zu wissen, daß sie bei ihm war. Sie wartete und hoffte, daß er etwas ruhiger werden würde, daß er seine Augen, die fest geschlossen waren, öffnete, daß er ihr noch ein Wort würde sagen können. Schließlich fragte sie: «Haben Sie große Schmerzen?» Er gab keine Antwort.
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Sie beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit einem Finger, um ihn zu bewegen, sie anzusehen. Und er öffnete tatsächlich die Augen, die Augen eines Verstörten, eines Wahnsinnigen. Entsetzt wiederholte sie: «Haben Sie Schmerzen?... Olivier! Antworten Sie mir! Wollen Sie, daß ich den Arzt... Geben Sie sich Mühe, sagen Sie etwas!» Er flüsterte etwas, und sie meinte zu verstehen: «Bringen Sie sie her... Sie haben es mir geschworen...» Dann bewegte er sich unter seinem Laken, sein Körper krümmte sich, und sein Gesicht war verzerrt und entstellt. Sie fragte noch einmal: «Olivier, mein Gott! Olivier, was haben Sie? Wollen Sie, daß ich den Arzt...» Diesmal hatte er sie gehört, denn er antwortete: «Nein... es ist nichts.» Er schien sich tatsächlich zu beruhigen, weniger zu leiden und mit einemmal in eine Art schläfrige Geistesabwesenheit zu fallen. In der Hoffnung, daß er einschlafen würde, setzte sie sich neben das Bett, nahm wieder seine Hand und wartete. Er bewegte sich nicht mehr, das Kinn lag auf seiner Brust, und der Mund war halb geöffnet wegen seines kurzen Atems, der ihm beim Ein- und Ausatmen die Kehle zu zerkratzen schien. Nur seine Finger bewegten sich manchmal unwillkürlich und zuckten leicht, und diese Zuckungen nahm die Gräfin bis in die Haarwurzeln hinein wahr, und sie erschütterten sie so, daß sie hätte schreien mögen. Das waren nicht mehr die leichten, absichtlichen Zuckungen, die an Stelle der müden Lippen die ganze Traurigkeit ihrer Herzen erzählten, es waren unstillbare Krämpfe, die nur von physischen Qualen zeugten. Sie hatte jetzt Angst, eine schreckliche Angst, und das verrückte Verlangen wegzulaufen, zu läuten, zu rufen, aber sie wagte nicht, sich zu rühren, weil sie seine Ruhe nicht stören wollte. Von ferne klang Wagengeräusch aus den Straßen durch die Mauern; und sie lauschte, in der Hoffnung, daß das Rollen der Räder vor der Tür anhalte und daß ihr Mann komme, um sie zu befreien, um sie endlich diesem unheimlichen Zusammensein zu entreißen.
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Als sie versuchte, ihre Hand aus der Oliviers zu lösen, drückte er sie, und stieß einen langen Seufzer aus! Da fügte sie sich und wartete, um ihn nicht aufzuregen. Das Feuer im Kamin erstarb unter der schwarzen Asche der Briefe; zwei Kerzen erloschen; ein Möbel knackte. Im Haus war alles ruhig, alles schien tot, mit Ausnahme der hohen flämischen Uhr auf der Treppe, die regelmäßig die Stunde, die halbe Stunde und die Viertelstunden schlug und so in der Nacht den Gang der Zeit verkündete und ihn mit ihren verschiedenen Klängen untermalte. Die Gräfin saß bewegungslos und fühlte, wie in ihrem Innern ein unerträgliches Entsetzen aufstieg. Schreckbilder bedrohten sie; fürchterliche Gedanken umnachteten sie; und sie vermeinte zu bemerken, wie die Finger Oliviers in ihrer Hand kalt wurden. Konnte das sein? Nein, bestimmt nicht. Woher aber kam dann dieses Gefühl einer unbeschreiblichen und eisigen Berührung? Von Grausen gepackt, stand sie auf, um sein Gesicht zu betrachten. - Es war entspannt, bewegungslos, leblos, gleichgültig gegen alles Leid, plötzlich zur Ruhe gekommen im ewigen Vergessen.
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NACHWORT «Von unwiderstehlicher Wut erfaßt, erhob er seinen Regenschirm und begann, mit aller Kraft auf die Köpfe der beie inanderstehenden Kinder loszuprügeln. Die völlig verdutzten Knirpse stoben wie wild auseinander, und so befand er sich plötzlich vor der Hündin, die mit ihren Neugeborenen dalag und nun versuchte, aufzustehen. Aber so weit ließ er es erst gar nicht kommen und fing an, wie von Sinnen auf das Tier einzuschlagen. Angekettet, wie sie nun einmal war, konnte die Hündin nicht davonlaufen, und so winselte sie nur ganz jämmerlich und versuchte, so gut es ging, vor den Schlägen auszuweichen. Als dann der Regenschirm zerbrach, ging er mit bloßen Händen auf sie los, trat auf sie ein, trampelte wie ein Berserker auf ihr herum, stieß immer wieder auf sie ein, zermalmte sie regelrecht. Nachdem sie unter all dem Druck noch einen letzten Welpen auf die Welt gebracht hatte, versetzte er mit einem weiteren Hieb seines Absatzes diesem blutenden Körper, der noch inmitten dieser quiekenden, blinden Jungen herumzuckte, die schon schwerfälligtapsig nach den Zitzen suchten, den Todesstoß.» Leben - das ist für den 1850 geborenen Guy de Maupassant nicht mehr als eine kurze Zeitspanne zwischen einer qualvollen Geburt und dem alles beendenden Tod. Fast immer ist sein Blick auf diese elementaren Pole der condition humaine gerichtet. Und es ist somit mehr als Zufall, daß sein erster Roman, aus dem das einleitende Zitat stammt, das Wort Leben im Titel trägt und der hier in einer Neuübersetzung erscheinende Roman aus seiner «Spätphase» das Wort Tod. Nirgends in seinen zahlreichen Schriften, zu denen ja nicht nur die in die Hunderte gehenden, teils weltbekannten Novellen und seine sechs Romane gehören, sondern auch ein kleiner Gedichtband und zahlreiche Zeitungsartikel über das Leben und die Kunst, nirgends wird dies eindringlicher vorgeführt als in dieser symbolhaften Schlüsselstelle aus dem ersten Roman «Une Vie» («Ein Leben»): Ein Landpfarrer vergeht sich in blinder Wut an einer angeketteten Hündin,
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die gerade Junge bekommt. Anfang und Ende des Lebens stehen also im Mittelpunkt dieser sadistischen Gewaltorgie. Was der französische Romancier hier in einer ländlichen Szene zusammenzwingt - eine Welt, die ihm, der seine Kindheit und Jugend in der Normandie verbracht hatte, wohlvertraut war -, ist nichts anderes als Schopenhauers philosophischer Kerngedanke von einem Kosmos, in dem sich ein grundloser Urwille zum Leben in allen Erscheinungen Bahn bricht. Dieses gänzlich unromantische Konzept vom Leben erweist sich auch als Handlungskern des gesamten Romans, in dem Jeanne, ein träumerisches Mädchen aus normannischem Adel, erfahren muß, daß ihr Mann noch am gleichen Tag, da er sich bei ihr als Verehrer einführte, folgenschwere Sexualkontakte zu ihrer eigenen Kammerzofe aufgenommen hat. Die gleichsam naturhafte Gewalttätigkeit, die in diesem Erstlingsroman herrscht, muß man sich vergegenwärtigen, um nachvollziehen und ermessen zu können, welch erstaunliche Entwicklung Maupassant als Romancier binnen kürzester Zeit durchlaufen hat. Zwischen der Veröffentlichung von «Ein Leben» im Jahr 1883 und der Phase seines so kurzen Lebens, in der Maupassant am Roman «Stark wie der Tod» schrieb, liegen nicht mehr als fünf Jahre. Auffällig sind bereits die Akzentverschiebungen auf dem Gebiet der Handlung und der sie prägenden Figuren. Auch im Mittelpunkt dieses, seines vorletzten Romans steht eine normannische Adelsfamilie. Während die Heldin von «Ein Leben» indes nur ein einziges Mal und da ungern - nach Paris reist, verlegen ihre nachmaligen Standesgenossen ihren Wohnsitz wohlbedacht in die Hauptstadt. Sie bevorzugen die Welt der Salons und der Theater mit ihren Berühmtheiten, ihren Künstlern. Was für die naive Jeanne noch zur Ehetragödie führt - die zur Promiskuität treibende animalische Geschlechtlichkeit des Menschen -, erscheint im späteren Werk gemildert im zivilisatorischen Kompromiß zwischen Natur und Institution in Gestalt eines friedlichen menage á trois. Die nur vage angedeuteten sexuellen Interessen des Ehemanns spielen für die Intrige keine Rolle mehr; vielmehr ist es die Gräfin selbst, die als kokettes Produkt urbaner Verfeinerung den erfolgreichsten Maler
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dieser Salongesellschaft verführt und an sich bindet. Er, der Maler Olivier Bertin, freilich ist der eigentliche Protagonist dieses, wie vor allem eine Anspielung auf die außenpolitische Konstellation signalisiert, in der damaligen Gegenwart angesiedelten Romangeschehens. Und in der Wahl eines begüterten Künstlers zeigt sich eine weitere Umorientierung Maupassants von der Schilderung materieller Sorgen der Menschen hin zu ihren ausschließlich psychologischen Nöten. Von jeglichen Einkommensproblemen frei schon damit entfernt sich Maupassant deutlich vom Naturalismus eines Zola, der seinerseits ebenfalls kurz zuvor einen Malerroman veröffentlicht hatte -, können sich die Vertreter dieser Fin-de-siecleGesellschaft ganz ihrer Muße, ihren Neigungen, ihren Obsessionen hingeben. Verschoben haben sich auch die Dimensionen der behandelten existentiellen Etappen dieser Protagonisten. Geht es im ersten Roman noch um ein ganzes Leben, so beschränkt sich Maupassant in «Stark wie der Tod» auf die knappe Spanne vom Frühjahr bis zum Winter eines einzigen Jahres. An die Stelle einer ereignisreichen, in einem Eifersuchtsmord kulminierenden Handlung tritt eine elegische Szenenserie, die Intrige zu nennen sich beinahe verbietet. Die Einführung der ihrer Mutter stark ähnelnden, zur baldigen Verheiratung vorgesehenen Tochter in die Gesellschaft läßt den langjährigen Geliebten der Gräfin nicht unberührt. Diesem symbolhaft in den Frühling gelegten Aufschwung des Lebens folgt mit dem Tod der Mutter der Gräfin ein folgenschwerer Einbruch in der körperlichen wie seelischen Befindlichkeit des alternden Liebespaars. Als Olivier Bertin erkennen muß, daß er sich heillos in die Tochter seiner Geliebten verliebt hat, er zudem auch noch vom Sockel seiner künstlerischen Reputation gestürzt wird, sieht er keinen anderen Ausweg, als sich in einem letzten Akt heroischer Auflehnung gegen das Schicksal vor eine Kutsche zu werfen und zu sterben. Man sieht - auch Maupassant hat sich mehr und mehr dem Ideal verschrieben, das sich sein Lehrmeister Flaubert gesteckt hatte. Bekanntlich war es dessen Vision gewesen, ein gleichsam entsubstantialisiertes Buch zu schreiben, ein livre sur rien. Während also viele Szenen von «Ein Leben», ganz wie die eingangs skizzierte, in der Provinz und in der freien Natur spielen, verlagert Maupassant seinen erzählerischen Kosmos schrittweise - so ja schon
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in «Bel-Ami» - nach Paris und in die Abgeschlossenheit gesellschaftlicher Innenräume, in den Salon, in die Oper, ins Atelier, wo der Roman bezeichnenderweise beginnt. Als Künstler wie als Mensch ist dieser Maler nämlich gleichsam ein Eingeschlossener. Von Natur aus unsicher und schwankend, entscheidet sich Olivier Bertin im Konflikt zwischen Akademismus und Innovation für die traditionellen Themen und Techniken und verschafft sich solchermaßen Ansehen und finanziellen Erfolg bei der alten und neuen Aristokratie. So luzide er einerseits die kulturelle Oberflächlichkeit dieser Gesellschaft, ihre Hohlheit und Eitelkeit durchschaut und zum Gegenstand seines Spotts macht, aufgrund seiner extremen Gefallsucht läßt er sich gleichwohl auf die Rolle ihres Lieblingsporträtisten festlegen. Maupassant war, wie man weiß, ein erklärter Parteigänger der plein-air-Malerei. Wenn er also einen traditionsbeflissenen Porträtmaler ins Zentrum eines Künstlerromans rückt, so verrät allein schon dieses Detail, wie groß die Distanz des Autors zu dem von ihm geschaffenen fiktiven Künstlerkollegen ist. Mehr noch: Indem Bertin sich allmählich von dieser Welt prägen läßt, die - wie ihm nur zu gut bewußt - den Schein, doch keine Authentizität kennt, erstarrt er im Akademismus der Routine, im einträglichen, doch sterilen Verfahren der Wiederholung. Der dauerhafte Kontakt mit dieser Welt der Dekadenz (ihre stets präsente Hauptvertreterin trägt den sprechenden Namen Mortemain) läßt auch seine Künstler-Hand verdorren. Indem er seine kulturell wenig geniale Geliebte zur Beraterin, zur privaten Muse gar erhebt, indem er sich dazu auch noch in häufiger Gesellschaft des beschränkten Kritikers Musadieu bewegt, sagt er gewissermaßen der wahren Muse adieu. Wenn der Roman einsetzt - wir finden den Maler bezeichnenderweise bei der erfolglosen Suche nach einem neuen Bildmotiv im Atelier vor - , ist Bertin künstlerisch betrachtet bereits tot. Stilistisch trägt Maupassant dieser Tatsache allein schon insofern Rechnung, als er bereits den Anfang des Romans unter dem Vorzeichen des Todes formuliert: Schon im zweiten Absatz greift Maupassant bei seiner Schilderung des einfallenden Lichts zum Verb mourir, sterben, in der vorlie genden Übersetzung mit erlöschen wiedergegeben. Und die Bildlichkeit des Sterbens wird die Geschichte bis zu ihrem bitteren
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Ende begleiten, bis zur Umschreibung der die Liebeskorrespondenz enthaltenden Schublade als Brettersarg. Diese künstlerische Verstrickung in die rückwärtsgewandte Praxis der Wiederholung wird Bertin auch in erotischer Hinsicht zum Verhängnis. Was er fortwährend als Maler exerziert, widerfährt ihm das ist der Kern der bescheidenen Handlung - als Mann und Liebhaber in Gestalt der jugendlichen Annette de Guilleroy. Diese gleicht nämlich ihrer Mutter Any beim ersten Auftreten nach mehrjähriger Abwesenheit wie eine Zwillingsschwester, wodurch die fast schon erloschene Leidenschaft des Augenmenschen Bertin gleichsam zwangsläufig wieder auflodert und sich mit der Zeit fundamental auf die Tochter verlagert. Das Gesetz von der Frau als einer Falle der Natur schnappt in nächster Generation ein neuerliches Mal zu. Das in Bertin dominant gewordene ästhetische Verhaltensprinzip der Wiederholung verschiebt sich auf einmal von der Kunst hin zu seinem Leben, was in Anbetracht der animalisch-irrationalen Natur des Triebs, der von den Protagonisten Liebe genannt wird, nur in einer tragischen Katastrophe enden kann. Was der Roman vorfuhrt, ist nichts anderes als die Entstehung und das obsessive Walten dieser auf die folgende Generation verschobenen identischen Leidenschaft. Löst Annettes sinnliche Präsenz anfangs, vor allem bei einem Spaziergang im Parc Monceau, im Maler eine geradezu an Proust gemahnende unfreiwillige Erinnerungsaktivität aus, so konzentriert sich im zweiten Teil des Romans sein ganzes Bemühen darauf, die wiedererstarkte Vergangenheit, diese biologisch wie gesellschaftlich unmögliche neue alte Liebe, zu bekämpfen: «Die Wiederkehr der zärtlichen Gefühle überwältigte ihn plötzlich, fast grundlos, nur weil es draußen schön war und vielleicht, weil er vorher die verjüngte Stimme dieser Frau wiedergehört hatte. So wenig bedarf es, um das Herz eines Mannes in Schwingung zu versetzen, das Herz eines alternden Mannes, bei dem die Erinnerung zu Sehnsucht wird.» Am konkreten Fall eines Malers schildert Maupassant also ein grundsätzliches Problem eines jeden alternden Menschen. Jules Lemaître, einer der ersten Rezensenten des Romans, hatte schon recht, als er 1889, wenige Wochen nach seinem Erscheinen, schrieb: «Weder verurteilt Maupassant (seine Helden), noch verdammt er (sie).
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Alles, was er tut, ist betrachten und erzählen. Die These des Romans besteht ganz einfach darin, zu schildern, wie weh es tut, alt zu werden.» Die technische Meisterschaft, mit der Maupassant betrachtet und erzählt, kann hier nur angedeutet werden. Im Unterschied zu seinem Helden Bertin war es Maupassants erklärtes Ziel, «abseits der ausgetretenen Pfade» («en dehors des vieilles routines») zu arbeiten. Zeitlebens hat er sich und seinem Publikum auch Rechenschaft über seine ästhetischen Reflexionen abgelegt, interessanterweise hinsichtlich des Romanschreibens intensiver als bezüglich seiner Novellistik. Aus einem «Der Roman» betitelten Essay von 1887 geht hervor, daß Maupassant das Ideal eines «objektiven Romans» vorschwebte, bei dem nicht mehr, wie etwa bei Balzac, eine subjektive Erzählerstimme alle bedeutsamen Vorgänge dem Leser unmißverständlich auslegte. Anliegen dieser Form des realistischen Erzählens war es vielmehr, «jegliche komplexe Erklärung, jede Erläuterung über die Motive sorgfältig zu vermeiden und sich als Autor darauf zu beschränken, die Figuren und die Ereignisse dem Leser vor Augen zu fuhren». Ebendieser Maxime folgt Maupassant in «Stark wie der Tod» auf subtile Weise. Als Erzähler entäußert er sich großenteils kommentierender Interventionen und läßt den Leser beständig mit den Aktivitäten und Gestimmtheiten, den Reflexionen und Ängsten seiner zwei Hauptfiguren allein. Das Privileg solcher Introspektion wird ja nur dem alternden Liebespaar zuteil. Und indem er uns bald die Gedanken der Gräfin, bald jene des Malers beinahe unmittelbar miterleben läßt, weckt er bei aller kritischen Distanz im Grundsätzlichen doch mehr und mehr Sympathie für die beiden Helden und ihre sich immer deutlicher abzeichnende Beziehungskatastrophe. Maupassants Modernität liegt ja nicht zuletzt darin - dies bedurfte des größeren Rahmens eines Romans - , dass er sich wenige Jahrzehnte vor den wissenschaftlichen Pionierarbeiten eines Sigmund Freud bereits für den prekären Bereich zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein interessierte, für das Wechselspiel von Sprache und vorsprachlichen Regungen, für die Frage, inwieweit man durch Verdrängen und Verschweigen triebhafte Impulse, zumal dann, wenn sie sich zur fixen Idee entwickelt haben, bekämpfen und bezwingen kann. Die Unsicherheit, die zu Beginn des Romans Berlins Künstlernatur zugesprochen wird, diese
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problematische Identität, zeichnet ihn ja auch als Mensch aus: «Er selbst wollte keine Klarheit über seine Gefühle. Er fühlte wohl dieses Anschwellen der Liebe, diese unwiderstehliche Anziehungskraft, aber er wollte es sich nicht eingestehen; er überließ sich dem Lauf der Dinge und den unvorhersehbaren Zufällen des Lebens.» Dank der gewählten psychologisierenden Erzähltechnik von innen heraus begleitet der Leser Bertin gewissermaßen bei seinem innerseelischen Versteckspiel mit sich selbst und erfährt stets nur so viel, wie der Maler sich selbst eingesteht. Sowenig freilich Maupassant nach Art Balzacs mit überdeutlichen Kommentaren schulmeistern wollte, so viel lag ihm andererseits an diskreten, emblematischen Gesten, Situationen, Motiven. «Nur dann», schrieb er einmal, «erlangt ein Kunstwerk außerordentliche Qualität, wenn es genaue Darstellung einer Wirklichkeit und zugleich auch ein Symbol ist.» Aus genau diesem Grund hatte er die nicht zur Haupthandlung gehörende erschütternde Geburtsszene der gequälten Hündin in den Erstling «Ein Leben» eingefügt. Und auch «Stark wie der Tod» entbehrt nicht solcher symbolhafter Elemente. Vor allem der Musik kommt die Aufgabe zu, den jeweiligen Zustand Bertins zu versinnbildlichen. Ist es in der Anfangsphase eine Haydn-Symphonie, die seine noch intakte Phantasie positiv anregt und schöpferisch beflügeln kann, so verdeutlicht eine Melodie Franz Schuberts, die die Gräfin dem schon vom erotischen Virus befallenen Maler vorspielt, die Unaufhebbarkeit und Wirksamkeit solcher obsessiven Prozesse: Sie «zauberte mit ihren Fingern eine fremdartige Melodie hervor, eine Melodie, die nur aus Klagen, verschiedenen, wechselnden zahllosen Klagen zu bestehen schien und von einem einzigen, unablässig wiederkehrenden Ton unterbrochen wurde, der mitten in die sanglichen Partien einfiel und sie zerschnitt, zerstückelte, zerbrach, wie ein unaufhörlicher, eintöniger, quälender Schrei, ein nicht zu beruhigender Ruf der Besessenheit.» Den Höhepunkt dieser psychologischen Begleitmusik markiert die katastrophale Wirkung von Gounods Faust-Oper, an deren Ende Bertin von seinen Ideen schon regelrecht zerfressen ist. Nichts anderes also hat Maupassant in «Stark wie der Tod» ausgeführt als sein Programm: «Der Romancier von heute schreibt die Geschichte des Herzens, der Seele und der Intelligenz im
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Normalzustand.» Was wäre weniger romanesk, was wäre normaler als der Vorgang des Alterns! Maupassants Leistung besteht darin, in einem so banalen existentiellen Element einen Ansatz zur Tragik zu entdecken. Die animalische Wildheit zumal der männlichen Natur, von der Maupassants vorherige Werke, man denke nur an «Bel-Ami», künden, sie ist zwar an der Oberfläche gezähmt, doch keineswegs aus den Menschen verschwunden. Mehrfach spürt Bertin in sich Anwandlungen eines «rasenden Tiers». Maupassants Weltsicht ist und bleibt tragisch, wie er sie gegen Ende seinem gescheiterten Künstler und Liebenden in den Mund legt: «Ach! Der, der das Leben erfunden und die Menschen geschaffen hat, war entweder blind oder böswillig...» Auf diese triebhaft-chaotische Weltunordnung weist auch Maupassants Spiel mit dem - nach langem Suchen gewählten biblischen Titel hin. Es handelt sich um ein Zitat aus dem «Lied der Lieder» und lautet: «Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm! Denn stark wie der Tod ist die Liebe» (Hoheslied 8,6). Die tröstliche Tradition, die der Titel evoziert, wird vom Roman schonungslos dementiert. Und wieder ist es Bertin selbst, der die alles zerstörende Macht seiner Leidenschaft mit diesem Vergleich charakterisiert: «Diese Liebe ist zu etwas Unwiderstehlichem, Zerstörerischem geworden, zu etwas, das stärker ist als der Tod. Ich gehöre ihr, wie ein brennendes Haus den Flammen gehört.» Schopenhauers Pessimismus hat auch beim späten Maupassant noch nicht als Denkmodell ausgespielt. Zugleich aber rückt Bertin in seinem vergeblichen Kampf gegen diese als schicksalhaft stilisierte Leidenschaft in die Nähe der großen tragischen Heldenfiguren, wie sie ein Racine zwei Jahrhunderte zuvor erfunden hatte. Um Untaten (wie etwa die von Phädra begangene) auszuschließen, um nicht dem drohenden Liebeswahnsinn zu verfallen, sucht Bertin in einem letzten heroischen Akt den Tod. Damit gewährt ihm sein literarischer Autor eine Fluchtmöglichkeit, die der philosophische Vordenker ihm nicht erlaubt hätte. Und ein solcher Abschied von der Welt sollte auch Maupassant selbst nicht vergönnt sein. Sein 1892, also nur wenige Jahre später, in einem anhaltenden Zustand künstlerischer Unfruchtbarkeit und körperlichen Verfalls unternommener Versuch,
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sich das Leben zu nehmen, mißlingt. Was Bertin befürchtet, wird ihm auf schlimmste Weise zuteil: der Wahnsinn. Von den Ärzten in eine geschlossene Anstalt eingewiesen, vegetiert der vom Geist schon verlassene Körper Maupassants noch geraume Zeit vor sich hin, bis auch er schließlich, im Juli 1893, zur Ruhe findet. Hermann Lindner
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Diese Buchausgabe der Manesse Bibliothek der Weltliteratur wurde mit der Adobe Bembo gesetzt, im Bogenoffset gedruckt und in Fadenheftung gebunden. Alle verwendeten Materia lien entsprechen alterungsbeständiger Qualität, und die Papiere sind chlor- und säurefrei. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Maupassant, Guy de: Stark wie der Tod : Roman / Guy de Maupassant Aus dem Französischen übersetzt von Caroline Vollmann Nachwort von Hermann Lindner Zürich : Manesse Verlag, 2001 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur) Einheitssacht.: Fort comme la mort ‹dt.›
S&L Zentaur 03-08-23
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