Kathy Reichs
Der Tod kommt wie gerufen Roman
Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag
1 Mein Nam...
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Kathy Reichs
Der Tod kommt wie gerufen Roman
Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag
1 Mein Name istTemperance Deasee Brennan. Ich bin eins fünfundsechzig, reizbar und über vierzig. Mehrfach diplomiert. Überarbeitet. Unterbezahlt. Dem Tode nah. Ich strich dieses Fragment literarischer Inspiration durch und versuchte einen neuen Anfang. Ich bin forensische Anthropologin. Ich kenne den Tod. Jetzt lauert er auf mich. Dies ist meine Geschichte. O Mann. Die Wiedergeburt von Jack Webb und seinem Polizeibericht Los Angeles. Wieder Striche durch die Zeilen. Ich schaute auf die Uhr. 14 U h r 45. Ich l i e ß die autobiografischen Versuche sein und fing an zu kritzeln. Kreise in Kreisen. Das ZifFernblatt der Uhr. Das Konferenzzimmer. Der Campus der U N C C . Charlotte. N o r t h Carolina. Die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Erde. Die M i l c h s t r a ß e . Um mich herum diskutierten meine Kollegen winzigste D e tails m i t dem Eifer religiöser Fundamentalisten. In der augenblicklichen Debatte ging es um Formulierungen in einem U n terkapitel einer Selbststudie des Fachbereichs. Das Zimmer war stickig, das Thema zum Lidflattern langweilig. Die Sitzung dauerte schon ü b e r zwei Stunden, und die Zeit flog nicht gerade dahin. Ich fügte den äußersten meiner konzentrischen Kreise Spiralarme hinzu. Füllte L e e r r ä u m e mit Punkten. Vierhundert M i l liarden Sterne in der Galaxie. Am liebsten hätte ich meinen Stuhl auf Hyperdrive geschaltet und w ä r e zu einem von ihnen geflogen. Anthropologie ist ein sehr weites Feld, das aus verschiedenen,
miteinander verbundenen Subspezialgebieten besteht. Biologisch. Kulturell. A r c h ä o l o g i s c h . Linguistisch. Unsere Fakultät hat das komplette Quartett. U n d Mitglieder jeder Gruppe hatten das Bedürfnis mitzureden. George Petrella ist Linguist, der ü b e r Mythen als E r z ä h l u n g e n der individuellen und kollektiven Identität forscht. H i n und wieder sagt er etwas, das ich verstehe. In diesem Augenblick hatte Petrella etwas gegen die Formulierung »reduzierbar auf« vier unterschiedliche Bereiche. Er schlug als Ersatz »unterteilbar in« vor. Cheresa Bickham, eine A r c h ä o l o g i n aus dem S ü d w e s t e n , und Jennifer Roberts, Spezialistin für k u l t u r ü b e r g r e i f e n d e Glaubenssysteme, hielten eisern an »reduzierbar auf« fest. Da mir mein galaktischer Pointiiiismus langsam langweilig wurde und ich nicht wusste, wie ich meine Langeweile reduzieren oder in weniger langweilige Momente unterteilen sollte, verlegte ich mich auf die Kalligrafie. Temperance. Von lateinisch temperantia, M ä ß i g u n g . Das Charaktermerkmal der Vermeidung von Exzessen. Davon bitte eine doppelte Portion. M i t extra Z u r ü c k h a l t u n g . U n d ohne Ego. N o c h ein Blick auf die Uhr. 14 U h r 58. Das Gequassel ging weiter. Um 15 U h r 10 wurde eine Entscheidung getroffen. » U n t e r t e i l bar in« war der Sieger. Evander Doe, der Fakultätsvorstand seit ü b e r einem Jahrzehnt, leitete die Sitzung. O b w o h l er u n g e f ä h r so alt ist wie ich, sieht Doe aus wie jemand aus einem G e m ä l d e von Grant W o o d . Kahlköpfig. M i t Drahtgestellbrille, die ihn aussehen lässt wie eine Eule. Elefantenohren. Fast alle, die Doe kennen, betrachten ihn als m ü r r i s c h . Ich nicht. Ich habe den Mann schon mindestens drei Mal lächeln gesehen.
Nachdem er »unterteilbar in« nun abhaken durfte, wandte Doe sich dem nächsten brennenden Thema zu. Ich unterbrach meine Krakeleien, um ihm z u z u h ö r e n . Sollte die Selbstbeschreibung des Fachbereichs eher die historischen Beziehungen zu den Geisteswissenschaften und der k r i tischen Theorie betonen oder eher die immer wichtiger werdende Rolle der Naturwissenschaften und der empirischen Beobachtung unterstreichen? Meine unvollendete Autobiografie hatte genau den Punkt getroffen. Ich w ü r d e wirklich sterben, bevor diese Sitzung abgeschlossen war. Ein plötzlicher Einfall. Die b e r ü c h t i g t e n Versuche zur sensorischen Deprivation in den 1950ern. Ich stellte mir Freiwillige mit blickdichten Brillen und gepolsterten Handschuhen vor, die auf Pritschen in schalldichten Kammern lagen. Ich ging ihre Symptome durch und verglich sie mit meinem augenblicklichen Zustand. Beklemmung. Depression. Antisoziales Verhalten. Halluzinationen. Den vierten Punkt strich ich wieder. Ich war zwar gestresst und reizbar, aber Halluzinationen hatte ich keine. N o c h nicht. Wobei ich nichts dagegen hätte. Ein lebhaftes Wahnbild w ä r e wahrscheinlich eine Ablenkung gewesen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin noch keine Zynikerin, was die Lehre angeht. Ich bin sehr gern Professorin. Ich bedaure, dass der Austausch mit meinen Studenten von Jahr zu Jahr w e n i ger wird. Warum so wenig Zeit i m Hörsaal? Z u r ü c k zu der Sache mit der Subspezialisierung. Haben Sie mal versucht, einfach nur zum Arzt zu gehen? Vergessen Sie's. Man muss zum Kardiologen. Z u m Dermatologen. Z u m Endokrinologen. Z u m Gastroenterologen. W i r leben in einer spezialisierten Welt. In meinem Bereich ist das nicht anders. Anthropologie: das Studium des menschlichen Organismus.
Biologische Anthropologie: das Studium der Biologie, der Variabilität und der Evolution des menschlichen Organismus. Osteologie: das Studium der Knochen des menschlichen Organismus. Forensische Anthropologie: das Studium der Knochen des menschlichen Organismus zu juristischen Zwecken. Folgen Sie einfach den Verzweigungen, und dort finden Sie mich. O b w o h l ich von der Ausbildung her B i o a r c h ä o l o g i n bin und meine Karriere mit der Ausgrabung und Untersuchung uralter Überreste begonnen habe, wechselte ich vor Jahren in die Forensik. Habe mich auf die dunkle Seite geschlagen, wie meine ehemaligen Kommilitonen mich noch immer aufziehen. Verlockt von R u h m und Reichtum. Ja, genau. Eine gewisse Ruchbarkeit vielleicht. Aber Reichtum auf keinen Fall. Forensische Anthropologen arbeiten m i t den relativ frisch Verstorbenen. W i r werden engagiert von E r m i t t l u n g s b e h ö r d e n , L e i chenbeschauern, Staatsanwälten, Strafverteidigern, dem Militär, Menschenrechtsgruppen und Bergungsteams bei Massenkatastrophen. Ausgehend von unserem Wissen ü b e r Biomechanik, Genetik und Skelettanatomie beschäftigen w i r uns mit Fragen der Identifikation, der Todesursache, des postmortalen Intervalls, auch Leichenliegezeit genannt, und der postmortalen V e r ä n d e r u n g der Leiche. W i r untersuchen die Verbrannten, die Verwesten, die Mumifizierten, die Verstümmelten und Zerstückelten und die Skelettierten. Wenn w i r diese Leichen zu Gesicht bekommen, sind sie oft bereits in einem viel zu schlechten Zustand, als dass eine Autopsie noch Ergebnisse liefern k ö n n t e . Als Angestellte des Staates N o r t h Carolina stehe ich sowohl bei der U N C - C h a r l o t t e unter Vertrag wie beim Office of the Chief M é d i c a l Examiner, dem obersten Leichenbeschauer, der Einrichtungen in Charlotte und Chapel H i l l hat. Zusätzlich bin ich als wissenschaftliche Beraterin für das Laboratoire de sciences j u d i ciaires et de m é d i c i n e légale in Montreal tätig. N o r t h Carolina und Quebec? A u ß e r g e w ö h n l i c h . Aber davon später.
Wegen meines g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e n Engagements und meiner doppelten Verpflichtung in N o r t h Carolina unterrichte ich an der U N C C nur einen Kurs, ein Oberseminar in forensischer Anthropologie. So verbringe ich zweimal j ä h r l i c h ein Semester im Klassenzimmer. U n d i m Konferenzzimmer. A u f das Unterrichten freue ich mich. Was ich nicht ausstehen kann, sind diese endlosen Sitzungen. U n d die Fakultätspolitik. Irgendjemand stellte den Antrag, dass die Fakultätsselbstbeschreibung an die Ausschüsse z u r ü c k v e r w i e s e n werden sollte. Was mich anging, hätte man das D i n g auch nach Simbabwe schicken k ö n n e n , um es dort auf ewig zu verbuddeln. Doe kam nun zum nächsten Tagesordnungspunkt. Einrichtung eines Ausschusses für Berufsethik. Innerlich aufstöhnend, begann ich mit einer Liste meiner noch zu erledigenden Pflichten. 1. Gewebeproben an Alex Alex ist meine Laborassistentin. Aus meiner Sammlung w ü r d e sie ein Knochenquiz für das nächste Seminar zusammenstellen. 2. Bericht an LaManche Pierre LaManche ist Pathologe und Chef der gerichtsmedizinischen Abteilung des LSJML. Der letzte Fall, den ich vor meiner Abreise aus Montreal in der vergangenen Woche bearbeitete, war das Opfer eines Fahrzeugbrands. Nach meiner Beurteilung handelte es sich um einen gut d r e i ß i g j ä h r i g e n w e i ß e n Mann. Pech für LaManche war nur, dass der Fahrer des Autos eine neunundfünfzigjährige Asiatin hätte sein sollen. Pech für das O p fer war, dass jemand i h m zwei Kugeln in den linken Scheitellappen gejagt hatte. Pech für mich war, dass der Fall ein M o r d war und ich wahrscheinlich vor Gericht erscheinen musste. 3. Bericht an Larabee T i m Larabee ist der Medical Examiner, der Leichenbeschauer des Mecklenburg County und Direktor der aus drei Pathologen bestehenden Einrichtung in Charlotte. Sein Fall war der erste
gewesen, den ich mir nach meiner R ü c k k e h r nach N o r t h Carolina vorgenommen hatte, ein aufgeblähter und verwester Torso, der am Catawba River ans Ufer gespült worden war. Die Beckenstruktur hatte daraufhingedeutet, dass es sich u m eine m ä n n l i c h e Person handelte. Die Skelettentwicklung hatte das Alter auf eine Zeitspanne zwischen z w ö l f und vierzehn Jahren eingegrenzt. Verheilte Frakturen der vierten und fünften M i t t e l f u ß k n o c h e n der linken Extremität deuteten die M ö g l i c h k e i t einer Identifikation anhand von antemortalen Krankenhausberichten und R ö n t genaufnahmen an, soweit diese gefunden werden konnten. 4. Larabee anrufen Als ich heute auf den Campus kam, hatte ich eine Z w e i - W o r t Nachricht v o m M C M E auf meinem Anrufbeantworter gefunden: Bitte zurückrufen. Ich hatte eben g e w ä h l t , als Petrella kam, um mich in die Sitzungshölle zu schleifen. Als ich das letzte M a l mit Larabee gesprochen hatte, lag i h m noch keine vermisste Person vor, die zum Profil des Opfers v o m Catawba River passte. Vielleicht hatte er jetzt eine. Ich hoffte es, der Familie zuliebe. U n d des Jungen. Ich dachte an das Gespräch, das Larabee mit den Eltern w ü r d e führen müssen. Ich hatte sie auch schon geführt, hatte diese lebenszerstörenden Nachrichten überbracht. Das ist das Schlimmste an meinem Job. Es gibt keine einfache A r t , einer Mutter und einem Vater mitzuteilen, dass ihr K i n d tot ist. Dass seine Beine gefunden wurden, der K o p f aber fehlt. 5. Empfehlungsschreiben für Sorenstein Rudy Sorenstein war ein Diplomand, der sich Hoffnungen machte, sein Studium in Harvard oder Berkeley fortzusetzen. Kein Brief von mir w ü r d e das bewirken k ö n n e n . Aber Rudy gab sich g r o ß e M ü h e . A r b e i t e t e gut mit anderen zusammen. Ich w ü r d e seinen m i t t e l m ä ß i g e n Notendurchschnitt im b e s t m ö g l i c h e n Licht erscheinen lassen. 6. Einkaufen mit Katy Kathleen Brennan Petersons ist meine Tochter, die seit diesem
Herbst in Charlotte lebt und als Rechercheurin im B ü r o des Pflichtverteidigers arbeitet. Nachdem sie die letzten sechs Jahre als Studentin an der Universität von Virginia verbracht hatte, brauchte Katy jetzt dringend irgendetwas in ihrer Garderobe, das nicht aus Jeansstoff bestand. U n d Geld, um es zu kaufen. Ich hatte angeboten, ihr als Modeberaterin zu dienen. U n d jetzt kommt die Ironie. Pete, mein von mir getrennter Ehemann, fungierte als Mittelbeschaffer. 7. Katzenstreu für Birdie Birdie ist mein Kater. Er ist ziemlich pingelig, was seine Toilette angeht, und d r ü c k t sein Missfallen auf eine A r t aus, die ich zu vermeiden versuche. Leider ist Birdies bevorzugte Streumarke nur bei Tierärzten erhältlich. 8. Kontrolluntersuchung beim Zahnarzt Die Benachrichtigung hatte ich gestern in der Post. Klar. Das w ü r d e ich aber so was von sofort erledigen. 9. Reinigung 10. Autoinspektion 11.
Duschtürgriff
Ich hörte, nein, spürte eher ein m e r k w ü r d i g e s Geräusch im Zimmer. Stille. Als ich den K o p f hob, sah ich, dass alle Augen auf mich gerichtet waren. »Entschuldigung.« Ich schob so beiläufig wie m ö g l i c h eine Hand ü b e r meinen Notizblock. »Was bevorzugen Sie, Dr. Brennan?« »Können Sie es bitte w i e d e r h o l e n ? « Doe las vor, was, wie ich annahm, drei heftigst debattierte N a men waren. »Ausschuss zu professioneller Verantwortung und professionellem Verhalten. Ausschuss zur Evaluierung ethischer Verfahrensweisen. Ausschuss zu ethischen Standards und Praktiken.« »Letzterer impliziert die A u f b ü r d u n g von Regeln durch ein externes Gremium oder eine externe R e g u l i e r u n g s k o m m i s s i o n . « Petrella gab sich bockig.
Bickham warf ihren Stift auf den Tisch. » N e i n . Das tut er nicht. Das ist ganz einfach —« »Die Fakultät setzt einen Ethikausschuss ein, oder?« »Es ist wesentlich, dass der Name dieser Kommission ein präzises Abbild der philosophischen Grundlagen —« »Ja.« Does A n t w o r t auf meine Frage schnitt Petrella das W o r t ab. » W a r u m nennen w i r ihn nicht Ethikausschuss?« Zehn Augenpaare starrten in meine Richtung. Einige schauten verwirrt. Andere überrascht. Einige beleidigt. Petrella sackte auf seinem Stuhl zusammen. Bickham hüstelte. Roberts senkte den Blick. Doe räusperte sich. Bevor er etwas sagen konnte, unterbrach ein leises Klopfen die Stille. »Ja?« Doe. Die T ü r ging auf, im Spalt erschien ein Gesicht. R u n d . Sommersprossig. Besorgt. Zweiundzwanzig neugierige Augen drehten sich i h m zu. »Entschuldigung, dass ich störe.« Naomi Gilder war die neueste der Fakultätssekretärinnen. U n d die schüchternste. »Ich w ü r d e es natürlich nie tun, a u ß e r . . . « Naomis Blick wanderte zu mir. »Dr. Larabee meinte, er müsse dringend m i t Dr. Brennan sprechen.« Am liebsten hätte ich die Faust hochgerissen. Ja! Stattdessen hob ich entschuldigend Augenbrauen und H ä n d e . Die Pflicht ruft. Was kann man da machen? Ich raffte meine Papiere zusammen, verließ das Zimmer und tanzte fast durch den Empfangsbereich und den Gang mit den Fakultätsbüros entlang. Alle T ü r e n waren geschlossen. N a t ü r l i c h waren sie das. Die Benutzer waren eingepfercht in einem fensterlosen Zimmer, um administrative Trivialitäten zu besprechen. Ich fühlte mich beschwingt. Frei!
Ich betrat mein B ü r o und w ä h l t e Larabees Nummer. M e i n Blick wanderte zum Fenster. Vier Etagen unter mir strömten Studentengruppen zwischen Nachmittagsseminaren hin und her. Lange, schräge Strahlen bronzierten die B ä u m e und Farne im Van Landingham Glen. Als ich zu der Sitzung gegangen war, hatte die Sonne genau senkrecht gestanden. »Larabee.« Seine Stimme war ein wenig hoch und hatte einen weichen, südlichen Akzent. »Tempe hier.« »Hab ich Sie aus irgendwas Wichtigem herausgerissen?« »Prätentiöse W i c h t i g t u e r e i . « » W i e bitte?« »Egal. Geht's um die Wasserleiche aus dem Catawba R i v e r ? « »Ein Zwölfjähriger aus M o u n t Holly namens Anson Tyler. Die Eltern waren auf Zockertour in Las Vegas. Kamen vorgestern zurück und stellten fest, dass der Junge seit einer Woche nicht mehr zu Hause war.« » W i e konnten sie das so genau feststellen?« »Sie haben die verbliebenen Pop-Tarts gezählt.« » H a b e n Sie sich medizinische Unterlagen beschaffen können?« »Ich w i l l natürlich Ihre Meinung hören, aber ich w ü r d e wetten, dass die gebrochenen Zehen auf Tylers R ö n t g e n a u f n a h m e n denen unseres Opfers entsprechen.« Ich stellte mir den kleinen Anson allein zu Hause vor. Fernsehen. Erdnussbutter-Sandwiches schmieren und Pop-Tarts toasten. Bei eingeschaltetem Licht schlafen. Meine Beschwingtheit verschwand. » W e l c h e Trottel verreisen und lassen einen zwölfjährigen Jungen allein zu Hause?« »Die Tylers werden bestimmt nicht für die Eltern des Jahres nominiert.« »Werden sie sich wegen Vernachlässigung verantworten m ü s sen?« »Minimal.«
»Ist Anson Tyler der Grund Ihres Anrufs?« Laut Naomi hatte Larabee gesagt, es sei dringend. Eine eindeutige Identifikation fällt normalerweise nicht in diese Kategorie. » Z u e r s t . A b e r jetzt nicht mehr. Hatte eben einen A n r u f von den Jungs vom Morddezernat. Kann sein, dass die eine ziemlich üble Sache haben.« Ich hörte zu. Beklommenheit vertrieb auch noch den letzten Rest meines beschwingten Zwischenhochs.
2 »Kein Zweifel, dass die Knochen menschlich sind?« »Zumindest ein Schädel.« »Es gibt mehr als einen?« »In der Meldung wurde diese M ö g l i c h k e i t angedeutet, aber die Beamten wollten nichts a n r ü h r e n , solange Sie nicht da sind.« »Gut mitgedacht.« Szenario: B ü r g e r stolpert ü b e r Knochen, ruft die 911. Polizei kommt, denkt, es ist altes Zeug, fängt an, e i n z u t ü t e n und zu beschriften. Ende vom Lied: Der Kontext ist verloren, der Fundort versaut. Ich muss in einem Vakuum arbeiten. Szenario: H u n d buddelt heimliches Grab auf. Der ö r t l i c h e Coroner macht sich mit Schaufeln und einem Leichensack daran. Ende vom Lied: Teile werden ü b e r s e h e n . Ich bekomme Ü b e r reste mit vielen L ü c k e n . Wenn ich mich m i t solchen Situationen herumschlagen muss, sind meine Bemerkungen nicht immer freundlicher Natur. Im Lauf der Jahre ist meine Botschaft angekommen. Dazu kommt, dass ich für den M E i n Chapel H i l l und die Polizei von Charlotte-Mecklenburg einen Leichenbergungs-Workshop gebe. »Der Cop meinte, der Fundort stinkt.«
Das klang nicht gut. Ich griff mir einen Stift. »Wo?« »Greenleaf Avenue, d r ü b e n im First Ward. Haus w i r d gerade renoviert. Der Klempner hat eine Wand aufgeschlagen und eine A r t unterirdische Kammer entdeckt. Moment mal.« Papier raschelte, dann las Larabee die Adresse vor. Ich schrieb mit. » A n s c h e i n e n d war dieser Klempner völlig aus dem H ä u s chen.« »Ich kann sofort hinfahren.« »Das wäre gut.« »Bis in dreißig Minuten dann.« Ich h ö r t e ein Stocken in Larabees Atmung. »Probleme?«, fragte ich. »Ich habe ein M ä d c h e n offen auf dem Tisch Hegen.« »Was ist passiert?« »Die Fünfjährige kam aus dem Kindergarten nach Hause, aß einen Donut, klagte ü b e r Bauchschmerzen und kippte um. Z w e i Stunden später wurde sie im C M C für tot erklärt. Die Geschichte ist h e r z z e r r e i ß e n d . Das einzige K i n d , keine Vorerkrankungen, bis zu dem Vorfall völlig symptomfrei.« »O Gott. Was hat sie umgebracht?« »Kardio-Rhabdomyom.« »Das ist?« »Ein verdammt g r o ß e r Tumor in der Herzscheidewand. K o m m t in dem Alter sehr selten vor. Die Kinder sterben normalerweise bereits als Säuglinge.« Der arme Larabee hatte mehr als nur ein h e r z z e r r e i ß e n d e s Gespräch vor sich. » B e e n d e n Sie Ihre Autopsie«, sagte ich. »Ich k ü m m e r e mich u m die Kammer des Schreckens.« Charlotte: Alles begann m i t einem Fluss und einer Straße. Der Fluss war zuerst da. N i c h t der Mississippi oder der O r i -
noko, aber ein recht ansehnliches Flüsschen, an dessen Ufern sich Hirsch, Bison und Truthahn tummelten. G r o ß e T a u b e n s c h w ä r m e flogen d a r ü b e r hinweg. Diejenigen, die zwischen den wilden Erbsenranken am Ostufer lebten, nannten ihren Flusslauf Eswa Taroa, »den g r o ß e n Fluss«. Sie selbst nannte man deshalb die Catawba, »die Menschen des Flusses«. Das Hauptdorf der Catawba, Nawvasa, lag im Quellgebiet des Sugar Creek, auch Soogaw oder Sugau genannt, und diese Siedlung, deren Name einfach nur » A n s a m m l u n g von H ü t t e n « bedeutete, g r ü n d e t e sich nicht ausschließlich auf ihre N ä h e zum Fluss. Nawvasa schmiegte sich a u ß e r d e m an eine geschäftige i n d i anische Handelsroute, den Großen Handelspfad. Waren und N a h rungsmittel strömten auf diesem Pfad von den Great Lakes zu den Carolinas und weiter zum Savannah River. Nawvasa bezog seinen Lebenssaft sowohl v o m Fluss wie von der Straße. Die Ankunft fremder M ä n n e r auf g r o ß e n Schiffen beendete das alles. Als Dank für ihre Mithilfe bei seiner Wiedererlangung der Macht schenkte der englische K ö n i g Charles I I . acht M ä n n e r n das Land südlich von Virginia und in westlicher Richtung bis zur »Südsee«. Charlies neue » L a n d e i g e n t ü m e r « schickten prompt Leute, die ihre B e s i t z t ü m e r vermessen und erkunden sollten. Im Verlauf des nächsten Jahrhunderts kamen Siedler mit Planwagen, auf Pferden oder auch auf durchgelatschten Schuhsohlen. Deutsche, Hugenotten, Schweizer, Iren und Schotten. Langsam, aber unausweichlich gingen der Fluss und die Straße von den Catawba in europäische H ä n d e über. B l o c k h ü t t e n und Farmen ersetzten die indianischen Rindenhäuser. Tavernen, Gasthöfe und Läden entstanden. Kirchen. Ein Gericht. An einer Kreuzung mit einer weniger bedeutenden Straße saß nun ein neues D o r f mitten auf dem Großen Handelspfad.
1761 heiratete George I I I . die Herzogin Sophia Charlotte von Mecklenburg-Strelitz aus Deutschland. Anscheinend hatte seine s i e b z e h n j ä h r i g e Braut die Fantasie der Leute, die zwischen Fluss und Straße lebten, sehr angeregt. Vielleicht wollte sich die B e v ö l kerung bei dem v e r r ü c k t e n britischen K ö n i g aber auch nur einschmeicheln. Warum auch immer, sie nannten ihr kleines D o r f Charlotte Town und ihr County Mecklenburg. Aber diese Freundschaft war wegen der Entfernung und der politischen Entwicklung zum Scheitern verurteilt. Die amerikanischen Kolonien wurden immer w ü t e n d e r , waren reif für die Revolte. Mecklenburg County machte da keine Ausnahme. Im M a i 1775 versammelten sich die Führer von Charlotte Town. Sie waren verärgert über die Weigerung seiner Majestät, ihrem geliebten Queens College den Freibrief zu g e w ä h r e n , und erzürnt darüber, dass R o t r ö c k e in Lexington, Massachusetts, auf Amerikaner geschossen hatten. Ohne g r o ß auf Diplomatie und taktvolle Formulierungen zu achten, verfassten sie die Mecklenburg Déclaration of Independence, die U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä rung für ihr County, in der sie sich selbst zum »freien und unabhängigen Volk« erklärten. Jessir. Die M ä n n e r , die diese Mec Dec schrieben, fackelten nicht lange. Ein Jahr, bevor der Continental Congress Feder und Papier zur Hand nahm, schickten sie O l d George bereits in die Wüste. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Revolution. Emanzipation und B ü r g e r k r i e g . Rekonstruktion und Jim Crow. Industrialisierung. Was in N o r t h Carolina Textilindustrie und Eisenbahn bedeutete. Weltkriege und Depression. S é g r é g a t i o n und B ü r g e r rechte. Der Niedergang des R o s t g ü r t e l s , der Schwerindustriestaaten im Nordosten, und der Wiederaufstieg des S o n n e n g ü r t e l s , der klimatisch begünstigten Südstaaten. Bis 1970 war die B e v ö l k e r u n g von Charlotte auf etwa vierhunderttausend angewachsen. 2005 hatte sich diese Zahl bereits verdoppelt. Warum? Etwas Neues reiste auf diesem Pfad. Geld. U n d
Orte, an denen man es verwahren konnte. W ä h r e n d viele Staaten Gesetze hatten, die die Anzahl von Filialen, die eine Bank haben durfte, einschränkten, sagte die Legislative von N o r t h Carolina: »Seid fruchtbar und mehret euch.« U n d sie vermehrten sich. Die vielen Filialen führten zu vielen Konten, und die vielen Konten erwiesen sich als sehr fruchtbar. Kurz gesagt, die Queen City ist die Heimat von zwei Schwergewichten der Finanzindustrie, der Bank of America und der Wachovia. Wie die B ü r g e r Charlottes häufig und mit g r o ß e m Verg n ü g e n bemerken, nimmt ihre Stadt gleich hinter N e w York City den zweiten Platz als amerikanisches Finanzzentrum ein. Die Trade und die Tryon Street ü b e r d e c k e n nun den alten Handelspfad und die Querroute. Diese Kreuzung w i r d beherrscht vom Bank of America Corporate Center, ein passendes Totem aus Glas, Stein und Stahl. Von Trade und Tryon aus erstreckt sich der alte Kern Charlottes als Block von Quadranten, die, nicht sehr kreativ, First, Second, T h i r d und Fourth Ward genannt werden, also erster, zweiter, dritter und vierter Bezirk. Geblendet von der Vision ihrer Stadt als K i n d des Neuen S ü d e n s , hatten die Einwohner Charlottes wenig Interesse daran, das historische Erbe dieser Innenstadtviertel zu bewahren. Die einzige und relativ junge Ausnahme ist der vierte Bezirk. Der nordwestliche Quadrant, Fourth Ward, wurde von der städtischen Elite des neunzehnten Jahrhunderts erbaut und glitt dann in vornehmen Verfall ab. Mitte der Siebziger wurde der Fourth Ward, dank des ehrenamtlichen Engagements zahlreicher Stahl-Magnolien und einiger freundlicher Finanzierungsmodelle der Banken, zum Ziel intensiver Renovierungs- und Restaurier u n g s b e m ü h u n g e n . Heutzutage teilen sich prächtige, alte Stadthäuser schmale Straßen mit traditionellen Pubs und m ä ß i g m o dernen W o h n h ä u s e r n . Gaslaternen. Kopfsteinpflaster. Ein Park in der Mitte. Sie wissen, was ich meine. F r ü h e r war der Second Ward die Kehrseite des l i l i e n w e i ß e n
Fourth. Südöstlich des Stadtzentrums gelegen, bedeckte Log Town, später auch Brooklyn genannt, den g r ö ß t e n Teil der Fläche des Ward. War Brooklyn ehemals Heimat von schwarzen Predigern, Ärzten, Zahnärzten und Lehrern, existiert dieses Viertel heute so gut wie nicht mehr, nachdem es für den Bau des Marshall Park, des Education Center, eines V e r w a l t u n g s g e b ä u d e s und eines Autobahnzubringers zur Interstate 77 planiert wurde. First und T h i r d Ward liegen im Nordwesten und im S ü d w e s ten. D r ä n g t e n sich dort früher Lagerhallen, Fabriken, Gleise und Spinnereien, so reihen sich jetzt W o h n b l ö c k e , Stadthäuser und Eigentumswohnanlagen aneinander. Courtside. Quarterside. The Renwick. Oak Park. Trotz der städtischen Strategie »Aus alt mach neu« existieren hier und da noch immer einige alte W o h n s t r a ß e n . Larabees Wegbeschreibung führte mich in den T h i r d Ward. Als ich von der I-77 auf die Morehead einbog, streifte mein Bhck die Monohthen, die die Skyline der Stadt bildeten. One Wachovia Center. The Westin Hotel. Das Panthers-Stadion mit vierundsiebzigtausend Sitzplätzen. Was, so fragte ich mich, w ü r den die Bewohner von Nawvasa von der Metropolis halten, die jetzt ihr D o r f ü b e r w u c h e r t e ? Am Ende der Ausfahrt bog ich links ab, dann noch einmal auf die Cedar und fuhr dann an einer Ansammlung erst kürzlich zu Wohnzwecken umgebauter Lagerhäuser vorbei. Einer gestutzten Eisenbahnlinie. D e n Light Factory Fotostudios. Einem Obdachlosenasyl. Rechts von mir erstreckte sich das Trainingszentrum der Panthers, das G r ü n der Sitze stumpf im Licht der frühen D ä m m e rung. Als ich nach links in die Greenleaf einbog, fuhr ich plötzlich durch einen Tunnel aus Weideneichen. Direkt vor mir lag eine offene Fläche, von der ich wusste, dass es der Frazier Park sein musste. Die H ä u s e r links und rechts der Straße unterteilten sich in zwei Gruppen. Viele waren von Yuppies gekauft worden, die die N ä h e zum Stadtzentrum suchten und die ihren neuen Besitz mit Far-
ben wie Queen Anne Lila oder Smythe Tavern Blau gestrichen hatten. Andere g e h ö r t e n noch ihren u r s p r ü n g l i c h e n afroamerikanischen Besitzern, einige davon verwittert und heruntergekommen im Vergleich zu ihren herausgeputzten Nachbarn und m i t Bewohnern, die ängstlich auf die neue Grundsteuereinschätzung warteten. Trotz des Kontrastes zwischen den Wiedererstandenen und den noch zu Restaurierenden war die Arbeit fleißiger H ä n d e überall in der Straße sichtbar. Wege waren gefegt. Rasen waren g e m ä h t . Fensterkästen quollen über vor Ringelblumen und Chrysanthemen. Larabees Adresse g e h ö r t e zu den wenigen Ausnahmen, eine schäbige H ü t t e mit geflickter A u ß e n v e r k l e i d u n g , d u r c h h ä n g e n d e n Zierleisten und abblätternder Farbe. Der Garten bestand vorwiegend aus Erde und Staub, und auf der vorderen Veranda stapelten sich Wagenladungen biologisch nicht abbaubaren M ü l l s . Ich parkte hinter einem Streifenwagen der Polizei von CharlotteMecklenburg und fragte mich, wie viele potentielle Käufer schon an die verwitterte g r ü n e Haustür des Bungalows geklopft hatten. Ich stieg aus, verschloss den Mazda und holte meine A u s r ü s tung aus dem Kofferraum. Zwei H ä u s e r weiter unten warf ein etwa zwölfjähriger Junge einen Ball in einen am Garagentor befestigten Korb. Aus seinem Ghettoblaster h ä m m e r t e Rap, w ä h rend der Ball m i t sanftem Plonk auf die Kieseinfahrt fiel. Der B ü r g e r s t e i g war holperig, weil Baumwurzeln die Platten anhoben. Ich hielt den Blick gesenkt, als ich die verzogenen Stufen zur Veranda hochstieg. »Sind Sie die, wo ich mit reden muss, damit ich nach Hause kann?« Ich hob den Kopf. Ein Mann saß in einer verrosteten und gefährlich schiefen H o l lywoodschaukel. Er war groß und d ü n n , seine Haare hatten die Farbe von Aprikosenkonfitüre. Ü b e r seiner Brusttasche waren der Name Arlo und ein stilisierter Schraubenschlüssel eingestickt. Arlo hatte m i t gespreizten Knien, die Ellbogen auf den Ober-
schenkein und das Gesicht in den H ä n d e n dagesessen, bis er meine Schritte g e h ö r t und den K o p f gehoben hatte. Bevor ich antworten konnte, stellte er eine zweite Frage. » W i e lange muss ich noch hierbleiben?« »Sind Sie der Herr, der neun-eins-eins angerufen hat?« Arlo verzog das Gesicht und zeigte dabei einen verfaulten Zahn unten rechts. Ich betrat die Veranda. »Können Sie beschreiben, was Sie gesehen haben?« »Hab ich schon.« Arlo verschränkte schmutzige H ä n d e . Seine graue Hose war am linken Knie aufgerissen. »Sie haben eine Aussage abgegeben?« Sanft. Die Körpersprache des Mannes deutete auf echtes Leid hin. Arlo nickte, und der K o p f wippte gegenläufig zum Torso, der so schief hing wie die Schaukel. » K ö n n e n Sie zusammenfassen, was Sie gesehen haben?« Jetzt wackelte der K o p f von links nach rechts. »Das Werk des Teufels.« Okay. »Sie sind Arlo . . . ?« »Welton.« »Der Klempner.« Arlo nickte noch einmal. »Verlege seit d r e i ß i g j a h r e n Rohre. So was ist mir noch nie u n t e r g e k o m m e n . « »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« Arlo schluckte. Schluckte noch einmal. »Ich wollte die Anschlüsse auswechseln. Die Frau des neuen Besitzers w i l l irgend 'ne neumodische Waschmaschine reinstellen, irgendwas Grünes, was die Umwelt rettet. Das D i n g braucht andere Rohranschlüsse. Gott w e i ß , warum sie damit anfangen w i l l , wo in dem Haus noch so viel zu richten ist. Aber das geht mich nichts an. W i e auch immer, ich fange also an einer Wand an, und mir fällt ein Ziegel runter, der ein Loch in den Bodenbelag schlägt. Ich denke mir, Arlo, wenn du den Bodenbelag kaputt machst,
dann ziehen sie dir die Reparatur von deinem Lohn ab. Also rolle ich den Bodenbelag z u r ü c k , und was finde ich drunter? Ein d i ckes, altes Holzbrett.« Arlo hielt inne. Ich wartete. » W e i ß auch nicht, warum, aber ich stupse das D i n g mit meiner Schuhspitze an, und das andere Ende kippt nach oben.« Wieder hielt Arlo inne, weil er sich, wie ich vermutete, an ein bisschen mehr als an einen Stups erinnerte. »Das Brett g e h ö r t e zu einer Luke?« »Das D i n g hat so eine A r t Schlupfloch abgedeckt. Ich muss zugeben, die Neugier war stärker als ich. Ich hab mir meine Taschenlampe geschnappt und reingeleuchtet.« »In einen Unterkeller.« Arlo zuckte die Achseln. Ich ließ i h m Zeit, damit er weiterredete. Er tat es nicht. » U n d ? « , fragte ich noch einmal. »Ich bin ein guter Kirchgänger. Immer Sonntag und M i t t w o c h . Gesehen habe ich den Teufel noch nie, aber ich glaube an ihn. Glaube, dass er in der Welt ist und unter uns sein böses Werk tut.« Arlo fuhr sich mit dem H a n d r ü c k e n über den M u n d . »Was ich gesehen habe, war der Satan persönlich.« O b w o h l der Tag noch immer warm war, überlief mich ein Schauer. »Sie haben berichtet, Sie hätten einen menschlichen Schädel gesehen.« Sehr sachlich. »Ja, M a ' a m . « »Was sonst noch?« »Will das Böse nicht i n Worte fassen. Ist besser, Sie sehen es mit eigenen A u g e n . « »Sind Sie in den Unterkeller gestiegen?« »Auf gar keinen Fall.« »Was haben Sie getan?«
»Bin so schnell nach oben, wie ich konnte. Hab dann die Polizei gerufen. Kann ich jetzt gehen?« »Der Beamte ist unten?« »Ja, Ma'am. Den Gang entlang, dann durch die Küche.« Arlo hatte recht. Besser, ich sah es m i t eigenen Augen. »Danke, M r . Welton. Das sollte nicht mehr lange d a u e r n . « Ich ging ü b e r die Veranda und betrat das Haus. Hinter m i r quietschte die Schaukel, als Arlo das Gesicht wieder in die H ä n d e stützte. Die H a u s t ü r öffnete sich direkt in einen schmalen Korridor. Rechts lag ein g a l l e g r ü n e s Wohnzimmer. Ein kaputtes Fenster war mit Pappkarton und Isolierband repariert. M ö b e l gab es kaum. Einen mottenzerfressenen Lehnsessel. Ein ü b e l von Katzenkrallen zugerichtetes Sofa. Links lag ein Esszimmer, leer bis auf ein Sideboard aus Astkiefer, eine Matratze und einen Stapel Reifen. Ich ging weiter den Gang entlang und betrat dann eine K ü c h e , die 1956 bereits retro gewesen wäre. P h i l c o - K ü h l s c h r a n k mit K u p peldach. Kelvinator-Herd. Essecke aus rotem Resopal und Chrom. Grau gesprenkelte Resopal-Arbeitsflächen. Links des Kelvinators stand eine T ü r offen. Dahinter konnte ich eine Holztreppe erkennen und h ö r t e Stimmen, die von unten heraufdrangen. Ich nahm meinen Koffer in die linke Hand, griff mit der rechten nach dem G e l ä n d e r und stieg langsam nach unten. Schon nach zwei Stufen stellten sich m i r die Nackenhaare auf. Unbewusst schaltete ich auf Mundatmung u m .
3 Der Geruch war zwar nur schwach, aber unverkennbar - süß und muffig-eklig. Er k ü n d e t e von verfaulendem Fleisch. Aber das war nicht der widerliche Gestank, bei dem es einem
den Magen umdreht und der mir so vertraut ist. Der Gestank aktiver Verwesung. Der Gestank von Eingeweiden, die von M a den und aasfressenden Insekten verwüstet werden. Von Fleisch, das im Wasser g r ü n und aufgebläht wurde. Kein anderer Geruch kann da mithalten. Er sickert in die Poren, die Nase, die Lunge, die Kleidung, und er begleitet einen nach Hause wie Rauch aus einer Bar. N o c h lange nach dem Duschen hängt er in den Haaren, klebt er im M u n d und in den Gedanken. Der Geruch hier war milder. Aber unbestreitbar. Ich hoffte auf ein E i c h h ö r n c h e n . Oder einen Waschbär, der sich durch eine Wand genagt hatte und dann in dem Keller gefangen war. D o c h dann dachte ich an Larabees Worte und Arlos Aufregung, und beide Szenarien kamen mir sehr unwahrscheinlich vor. Die Temperatur sank mit jedem Schritt nach unten. Die Feuchtigkeit stieg. Als ich den Kellerboden erreicht hatte, fühlte sich das Geländer kühl und feucht an. Bernsteinfarbenes Licht strömte aus einer Birne, die an einem fransigen Kabel von der Decke hing. Ich trat auf das festgestampfte Erdreich und schaute mich u m . Der Keller war knapp zwei Meter hoch und unterteilt in eine Reihe kleiner Verschläge. S p e r r h o l z w ä n d e und vorfabrizierte T ü ren deuteten darauf hin, dass die Unterteilung erst lange nach dem Bau des Hauses erfolgt war. Jede T ü r i n meinem Sichtfeld war offen. Durch eine sah ich ein niedriges Regal, wie man es zur Lagerung selbst gemachter Marmelade und eingekochter Tomaten benutzt. Durch eine andere waren Waschzuber zu erkennen. Aufgestapelte Kisten durch eine dritte. Ein Uniformierter der Polizei von Charlotte-Mecklenburg wartete am anderen Ende des Kellers, hinter einem Heizbrenner, der aussah wie eine Erfindung Jules Vernes. Im Gegensatz zu den anderen dreien sah die T ü r hinter i h m alt aus. Sie war aus solider Eiche, der Lack dick und vom Alter vergilbt.
Der Beamte stand breitbeinig da, die Daumen in den Gürtel gehakt. Er war ein s t ä m m i g e r Mann mit Brauen wie Beau Bridges und einem Gesicht wie Sean Penn, eine nicht gerade vorteilhafte Kombination. Beim N ä h e r k o m m e n konnte ich das Schild auf seiner Hemdbrust lesen: D. Gleason. »Was haben w i r ? « , fragte ich, nachdem ich mich vorgestellt hatte. »Sie haben schon mit dem Klempner gesprochen?« Ich nickte. »So gegen sechzehn U h r rief Welton die neun-eins-eins an. Sagte, er hätte in einem Hohlraum Tote gefunden. Ich ü b e r n a h m die Sache und entdeckte Überreste, die meiner Ansicht nach menschlich sind. R i e f in der Zentrale an. D o r t sagte man mir, ich solle vor O r t bleiben. U n d ich sagte Welton, er solle dasselbe tun.« Ich mochte Gleason. Er war knapp und präzise. »Wären Sie schon unten?« » N e i n , M a ' a m . « In dem Verschlag hinter Gleason hing eine zweite G l ü h b i r n e . Das schräg durch die T ü r fallende Licht ließ seine Brauen Schatten werfen und seine ohnehin kantigen Gesichtszüge noch schärfer wirken. »Der M E sagte mir, Sie hätten den Verdacht, dass es sich u m mehr als eine Leiche handelt.« Gleason wackelte mit der Hand. Vielleicht ja, vielleicht nein. »Gibt's da unten was, das ich wissen sollte?« Ich dachte an den Keller einer Pizzabude in Montreal. Detective Luc Claudel schoss Ratten ab, w ä h r e n d ich Knochen ausbuddelte. Ich sah ihn vor mir, wie er in seinem Kaschmirmantel und den Gucci-Handschuhen in diesem unterirdischen Loch stand, und musste beinahe lächeln. Beinahe. Die Knochen waren die von heranwachsenden M ä d c h e n gewesen. Gleason verstand meine Frage falsch. »Scheint irgend so eine Voodoo-Sache zu sein. Aber das ist Ihr Job, Doc.« Richtige Antwort. A u f Uneingeweihte wirken Skelette oft be-
drohlich. Sogar g l ä n z e n d w e i ß e Anatomiemodelle. Bei dem Gedanken wurde mir ein bisschen leichter. Vielleicht war es ja genau so etwas. Eine S c h ä d e l n a c h b i l d u n g , die man vor langer Zeit in einem Keller vergessen hatte. Ich dachte noch einmal an den Pizzabuden-Fall. Die erste Frage damals war die nach dem P M I gewesen. Nach dem postmortalen Intervall. Wann war der Tod eingetreten? Vor zehn Jahren? Fünfzig? Hundertundfünfzig? N o c h ein optimistischeres Szenario. Vielleicht erwies der S c h ä del sich als uralter Kopf, den jemand von einer archäologischen Grabungsstätte geklaut hatte. Labormodelle und archäologische Fundstücke riechen nicht nach Verwesung. »Stimmt natürlich«, sagte ich zu Gleason. »Aber ich dachte an Ratten, Schlangen?« »Bis jetzt noch keine Gesellschaft. Aber ich halte Ausschau nach ungebetenen Gästen.« »Das beruhigt mich sehr.« Ich folgte Gleason durch die T ü r in einen fensterlosen, etwa drei mal vier Meter g r o ß e n Raum. Zwei Z i e g e l w ä n d e schienen die A u ß e n m a u e r n zu bilden, Teile des ursprünglichen Fundaments. Zwei waren I n n e n w ä n d e . An diesen beiden standen W e r k b ä n k e . M i t schnellem Blick überflog ich das Durcheinander auf den B ä n k e n . Rostige Werkzeuge. Schachteln mit N ä g e l n , Schrauben, Beilagscheiben. Drahtrollen. Maschendraht. Ein Schraubstock. Große Rollen grauen Plastiks mit S t r u k t u r p r ä g u n g lagen unter den W e r k b ä n k e n . Die Unterseite jeder Rolle war mit Erde verkrustet. »Was ist das für Plastikzeug?« »Vinyl.« Ich hob fragend eine Augenbraue. » B o d e n b e l a g aus V i n y l . Habe ich letztes Jahr in meiner Garage verlegt. W i r d normalerweise verklebt. Hier wurde er einfach lose auf die Erde und die Luke gelegt.«
»Weltom hat ihn aufgerollt und beiseitegelegt?« »Das sagt er.« Bis auf die W e r k b ä n k e und den Bodenbelag war der Raum leer. »Die Öffnung ist da drüben.« Gleason führte mich in die Ecke, wo die beiden A u ß e n w ä n d e z u s a m m e n s t i e ß e n . In der östlichen Wand war etwa auf S c h u l t e r h ö h e eine d r e i ß i g mal sechzig Zentimeter g r o ß e Öffnung zu sehen. Schartige R ä n der und ein deutlicher Farbunterschied zeigten, dass das Loch sehr frisch war. Ziegel- und Verputzbrocken lagen auf dem B o den darunter. An dieser Stelle hatte Welton die Wand geöffnet, um an die Rohre zu kommen. Durch die Öffnung war ein Rohrgewirr zu erkennen. A u f dem Boden klaffte neben dem Geröll ein schwarzes Rechteck, das von einer ramponierten Luke aus Holzbrettern nur zum Teil abgedeckt wurde. Ich stellte meinen Koffer ab und spähte hinunter in die S c h w ä r z e . Von hier aus war nicht zu erkennen, was sich dort u n ten befand. » W i e weit ist es bis zum Boden?« »Vier, vielleicht fünf Meter. Wahrscheinlich ein alter Kartoffelkeller. Einige von diesen H ä u s e r n haben die noch.« Ich spürte das vertraute Gruseln. Die Enge in der Brust. Ganz ruhig, Brennan. » W a r u m so tief?«, fragte ich mit b e m ü h t gelassener Stimme. Gleason zuckte die Achseln. » W a r m e s Klima, keine K ü h l schränke.« Ich öffnete meinen Koffer, faltete einen Overall auf und streifte ihn über. Dann legte ich mich mit dem Gesicht ü b e r der Öffnung auf den Bauch. Gleason gab mir seine Taschenlampe. Der Lichtstrahl tanzte eine provisorische Treppe hinab, die so steil war, dass sie eher wie eine Leiter wirkte. »Das Zeug ist drüben an der Ostwand.«
Ich richtete den Strahl in diese Richtung. U n d erkannte rostiges Metall, Flecken von R o t und Gelb. Etwas gespenstisch Bleiches, wie Leichenfleisch. Dann sah ich es. Der Schädel stand auf einer A r t rundem, niedrigem Podest, der Unterkiefer fehlte, die Stirn wirkte in dem kleinen Lichtoval m e r k w ü r d i g gesprenkelt. Ein Objekt ruhte genau auf der M i t t e des Schädeldachs. Ich starrte den Schädel an. Die leeren A u g e n h ö h l e n starrten z u r ü c k . Die Z ä h n e grinsten, als wollten sie mich herausfordern. Ich stemmte mich auf alle viere, kauerte mich auf die Hacken und wischte mir Staub von Brust und Armen. »Ich mache jetzt ein paar Fotos, dann entfernen w i r die Luke und ich gehe h i nunter.« »Diese Stufen scheinen schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. W i e wär's, wenn ich erst mal schaue, ob sie ü b e r h a u p t sicher sind?« »Es w ä r e mir lieber, wenn Sie hier oben bleiben und mir herunterreichen, was ich brauche.« » M a c h ich.« Das Klicken meines Kameraverschlusses. Das Rieseln von Erde, die von der Lukenunterseite in die Tiefe fiel. In der absoluten Stille des Kellers wirkte jedes Geräusch verstärkt. Es war irrational, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass diese Stille nichts Gutes bedeutete. Nachdem ich mir Gummihandschuhe übergestreift hatte, steckte ich mein Mag-Lite in den Hosenbund. Dann testete ich die erste Stufe. Stabil genug. Ich drehte das Gesicht zur Treppe, umfasste mit der einen Hand das G e l ä n d e r und mit der anderen im Hinuntersteigen eine Stufe nach der anderen. Die Luft wurde feucht-muffig, der Todesgeruch intensiver. U n d meine Nase schnappte auch andere Dinge auf, eher olfaktorische Hinweise als wirkliche G e r ü c h e . Andeutungen von U r i n , saurer M i l c h , zerfallendem Gewebe. Nach sechs Stufen drang fast kein Licht mehr von oben he-
runter. Ich hielt inne, damit meine Pupillen sich an die Dunkelheit g e w ö h n e n konnten. U n d meine Nerven an die Umgebung. Der Tunnel, durch den ich hinunterstieg, war etwa sechzig Z e n timeter im Quadrat, feucht und stinkend. M e i n Herz h ä m m e r t e . Die Kehle wurde mir eng. Jetzt ist es raus. Brennan, die l e g e n d ä r e Tunnelratte, hat Klaustrophobie. Atmen. Das Geländer krampfhaft umklammert, stieg ich die nächsten vier Stufen hinunter und durch den Tunnel in einen g r ö ß e r e n Raum. A u f der fünften durchstach ein Splitter das Latex, das meine linke Hand schützte. Ich riss sie instinktiv z u r ü c k . N o c h mehr Selbstbesänftigung. Ganz ruhig. Atmen. N o c h zwei Stufen. Atmen. M i t einem m e r k w ü r d i g e n , leichten Klacken b e r ü h r t e meine Schuhspitze festen Boden. Behutsam tastete ich mit dem Fuß die nächste Umgebung ab. Nichts. Ich stieg ganz von der Treppe herunter. Schloss die Augen, ein Reflex, um das aufschäumende Adrenalin ein wenig z u r ü c k z u drängen. Sinnlos. Alles um mich herum war pechschwarz. Ich l i e ß das G e l ä n d e r los, schaltete meine Taschenlampe ein, drehte mich um und ließ den Strahl durch den Raum und zur Decke wandern. Ich stand in einem Kubus von etwa zweieinhalb Metern K a n tenlänge, dessen W ä n d e und Decke m i t roh behauenen Holzbalken verstärkt waren. Der Boden war mit derselben V i n y l - R o l l ware bedeckt wie oben. Das Objekt des Interesses befand sich rechts von mir. Vorsichtig bewegte ich mich dorthin, der Strahl meiner Lampe stach durch die Schatten. Kessel, ein großer, ein kleiner. Ein verrosteter Topf. Sperrholz.
Werkzeuge, Statuen. Kerzen. Perlenschnüre und Geweihe an der Wand. Gleason hatte es korrekt bezeichnet. Die Kammer beherbergte eine A r t rituelle Inszenierung. Der g r o ß e Kessel bildete den Mittelpunkt, die restlichen U t e n silien breiteten sich sternförmig um ihn aus. Ich stieg ü b e r einen Halbkreis aus Kerzen und richtete meine Lampe aufs Zentrum. Der Kessel bestand aus Eisen und war m i t Erde gefüllt. In seiner Mitte erhob sich eine makabere Pyramide. Ein T i e r s c h ä d e l bildete den Sockel. Nach der Form und dem zu urteilen, was ich von den Z ä h n e n sehen konnte, schien er von einem kleinen W i e d e r k ä u e r zu stammen, vielleicht von einer Ziege oder einem Schaf. Ü b e r r e s t e vertrockneten Gewebes s ä u m ten die A u g e n h ö h l e n und andere Öffnungen. A u f dem Tierschädel ruhte der menschliche Schädel, der dem Klempner solche Angst eingejagt hatte. Der Knochen war glatt und fleischlos. Das Schädeldach und die Stirn wirkten m e r k w ü r dig lumineszierend und wurden verdunkelt von einem unregelm ä ß i g e n Fleck. Ein Fleck, der genauso rotbraun war wie getrocknetes Blut. Ein kleiner Vogelschädel bildete die Spitze des Aufbaus. Auch an i h m hafteten noch vertrocknete Fragmente von Haut und Muskeln. Ich richtete den Strahl auf den Boden. Vor dem Kessel lag etwas, das wie ein S t ü c k Eisenbahnschiene aussah. U n d darauflag ein enthauptetes und zum Teil verwestes Huhn. Die Quelle des Gestanks. Ich bewegte den Lichtstrahl nach links zu dem Topf. Drei halbk u g e l f ö r m i g e Objekte nahmen Gestalt an. Ich b ü c k t e mich, um sie genauer anzuschauen. Ein Schildkrötenpanzer. Zwei halbe Kokosnussschalen. Ich richtete mich wieder auf und trat seitlich an dem g r o ß e n Kessel vorbei zum kleineren. Auch der war m i t Erde angefüllt.
Oben drauf lagen drei E i s e n b a h n n ä g e l , ein Geweih und drei gelbe Perlenschnüre. Ein Messer steckte bis zum Heft in der Erde. Eine Kette war um den Rand des Kessels gewickelt. Eine M a chete lehnte links daran. Eine Sperrholzplatte rechts. Ich ging zu dem Sperrholz und kauerte mich hin. Es war von Symbolen bedeckt, die, wie ich vermutete, mit schwarzem Magic Marker daraufgemalt waren. Daneben stand eine billige Gipsstatue. Die Frau trug eine lange, w e i ß e Kutte, ein rotes Cape und eine Krone. In der einen Hand hielt sie einen Kelch, in der anderen ein Schwert. Neben ihr war eine winzige Burg oder ein T u r m zu sehen. Ich versuchte, mich an die katholischen Heiligendarstellungen meiner Jugend zu erinnern. Irgendein Abbild der Heiligen Jungfrau? Eine Heilige? O b w o h l mir die Darstellung irgendwie bekannt vorkam, konnte ich die Dame nicht identifizieren. Schulter an Schulter mit der Dame stand eine geschnitzte Holzfigur m i t zwei Gesichtern, die in entgegengesetzte R i c h tungen schauten. Sie war etwa d r e i ß i g Zentimeter hoch, hatte lange, schlanke G l i e d m a ß e n und einen erigierten Penis. Eindeutig nicht die Jungfrau, dachte ich. Die letzten in dieser Reihe waren zwei Puppen in g e r ü s c h t e n Baumwollkleidern mit mehreren U n t e r r ö c k e n , eins gelb, das andere blau. Beide Puppen waren weiblich und schwarz. Beide t r u gen Armreifen, Kreolen-Ohrringe und Medaillons an Halsketten. Blau hatte eine Krone, Gelb ein Kopftuch. U n d ein winziges Schwert steckte in ihrer Brust. Ich hatte genug gesehen. Der Schädel war nicht aus Plastik. Es waren also menschliche Uberreste vorhanden. Das H u h n war noch nicht lange tot. Vielleicht waren die an diesem Altar vollzogenen Rituale harmlos. Vielleicht nicht. Um sicherzugehen, musste die Bergung präzise nach Vorschrift durchgeführt werden. Scheinwerfer. Kameras. Eine Dokumentation der Bergungssequenz, damit jeder Schritt der Inbesitznahme nachgewiesen werden konnte.
Ich ging zur Treppe. Nach zwei Stufen h ö r t e ich ein Geräusch und hob den Kopf. Durch die Öffnung spähte ein Gesicht auf mich herab. Es war ein Gesicht, das ich nicht gern sah.
4 Erskine » S k i n n y « Slidell ist ein Detective des Charlotte-Mecklenburg PD Felony Investigative Bureau/Homicide U n i t . Also ein Beamter des Morddezernats der Kriminalpolizei von CharlotteMecklenburg. Im Lauf der Jahre habe ich schon ein paar Mal mit Slidell gearbeitet. Meine Meinung? Der Kerl hat die Persönlichkeit einer verstopfen Nase. Aber gute Instinkte. Slidells pomadisierter K o p f hing ü b e r der Tunnelöffnung. »Doc.« Slidell b e g r ü ß t e mich gefühlsarm wie gewohnt. »Detective.« »Sagen Sie mir, dass ich nach Hause gehen, mir ein Bier aufmachen und meine Mannschaft anfeuern kann.« » H e u t e Abend nicht.« Slidell seufzte verärgert und verschwand dann aus meinem Sichtfeld. W ä h r e n d ich nach oben stieg, erinnerte ich mich an unsere letzte Zusammenarbeit. August. Der Detective betrat eben das G e r i c h t s g e b ä u d e des Mecklenburg County. Ich hatte als Zeugin ausgesagt und war auf dem Weg nach d r a u ß e n . Slidell ist nicht gerade der Allerschnellste im Denken. Weder auf der Straße noch vor Gericht. Eigentlich ist das eine Untertreibung. Scharfe Verteidiger machen Hackfleisch aus i h m . An diesem Vormittag war seine Nervosität offensichtlich gewesen, die Augen waren dunkel umrandet, vermutlich hatte er die ganze Nacht kein Auge zugemacht.
Als ich aus dem Treppenschacht stieg, fiel mir auf, dass Slidell an diesem Tag ein wenig besser aussah. V o n seinem Sakko konnte man das nicht sagen. Bestehend aus g r ü n e m Polyester mit orangefarbenen S t e p p n ä h t e n sah das D i n g sogar in diesem düsteren Keller grell und grässlich aus. »Der Beamte hier sagt, w i r haben's mit einem Hexendoktor zu tun.« Slidell drehte das K i n n in Gleasons Richtung. Ich beschrieb ihm, was ich in dem Unterkeller gesehen hatte. Slidell schaute auf die Uhr. » W i e wär's, wenn w i r uns die Sache morgen v o r n e h m e n ? « » R e n d e z v o u s heute Abend, Skinny?« Hinter Slidell machte Gleason ein gedämpftes Geräusch in seiner Kehle. » W i e gesagt. Bier und Spiel.« »Sie hätten Ihren TiVo stellen sollen.« Slidell schaute mich an, als hätte ich i h m vorgeschlagen, er solle die nächste Shuttle-Mission programmieren. »Ist wie ein Videorekorder«, erklärte ich und zog einen Handschuh aus. » W u n d e r t mich, dass das noch keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.« Slidell schaute in die Öffnung zu meinen F ü ß e n . Er meinte die Medien. »Dabei sollten w i r es auch belassen«, sagte ich. » R u f e n Sie die Spurensicherung ü b e r Ihr Handy an.« Ich streifte den zerrissenen Handschuh ab. Der Daumenballen war rot und geschwollen und juckte wie die Pest. »Sagen Sie ihnen, w i r brauchen einen Generator und tragbare Scheinwerfer.« Ich warf beide Handschuhe in meinen Koffer. » U n d etwas, das einen Kessel voller Erde anheben kann.« Kopfschüttelnd tippte Slidell die N u m m e r in sein Handy. Vier Stunden später ließ ich mich in meinen Mazda fallen. Die Greenleaf badete im Mondschein. Ich badete in meinem eigenen Schweiß.
Beim Verlassen des Hauses hatte Slidell eine Frau entdeckt, die mit einer kleinen Digitalkamera durch ein Fenster fotografierte. Nachdem er sie verjagt hatte, hatte er zwei Camels geraucht, etwas von Grundbucheintragungen und Steuerdaten gemurmelt und war in seinem Taurus davongerauscht. Die Spurensicherungstechniker waren in ihrem Transporter davongefahren. Sie w ü r d e n die Puppen, Statuen, Werkzeuge und alle anderen Artefakte im Forensikinstitut abliefern. A u c h der Transporter des Leichenschauhauses war bereits wieder weg. Joe Hawkins, der diensthabende Todesermittler des M C M E an diesem Abend, transportierte die Schädel und das H u h n ins ME-Labor. Die Kessel ebenfalls. Larabee w ü r d e ü b e r die Sauerei zwar alles andere als begeistert sein, aber mir war es lieber, die Kesselinhalte unter kontrollierten Bedingungen zu u n tersuchen. W i e erwartet, hatte der g r o ß e Kessel die g r ö ß t e n Probleme gemacht. Da er ungefähr genauso viel wog wie die Freiheitsstatue, hatte die Bergung eine Winde, viel Muskelkraft und ein ganzes Lexikon farbenfroher A u s d r ü c k e erfordert. Ich fuhr von dem Grundstück und die Greenleaf hoch. Der Frazier Park vor mir war ein schwarzes Loch in der Stadtlandschaft. E i n Klettergerüst wuchs aus den Schatten, eine silbrige, kubistische Skulptur ü b e r dem Schlangengrinsen des I r w i n Creek-Kanals. Ü b e r Westbrook und Cedar fuhr ich am Rand der Innenstadt entlang und dann in südöstlicher Richtung zu meinem eigenen Viertel, Myers Park. In den 1930ern als Charlottes erster Vorort mit Straßenbahnanschluss erbaut, ist das Viertel heute zu teuer, zu schnieke und zu republikanisch. Trotz seiner jungen Jahre erscheint es elegant und g r ü n . Zehn Minuten, nachdem ich den T h i r d Ward verlassen hatte, stand mein A u t o neben meiner Terrasse. Nachdem ich abgeschlossen hatte, ging ich in mein Stadthaus. Das verlangt einige E r k l ä r u n g e n .
Ich wohne auf dem Anwesen von Sharon Hall, einem Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert direkt neben dem Campus der Queens University, das in einen Komplex aus Eigentumswohnungen umgewandelt wurde. M e i n kleines N e b e n g e b ä u d e trägt den Namen Annex, »der Anbau«. Anbau zu was? Das w e i ß kein Mensch. Das winzige, zweigeschossige G e b ä u d e taucht auf keinem der O r i g i n a l p l ä n e des Anwesens auf. Das Haupthaus ist dort vorhanden. Die Remise. Der K r ä u t e r g a r t e n und der Park. Kein Annex. Das D i n g wurde offensichtlich aus einer Laune heraus erbaut. Die Spekulationen von Freunden, Familienmitgliedern und Gästen reichen von R ä u c h e r h a u s ü b e r Treibhaus bis hin zu Darre. Es interessiert mich nicht sonderlich, die u r s p r ü n g l i c h e Absicht des Erbauers zu e r g r ü n d e n . O b w o h l gerade einmal einhundertzehn Quadratmeter g r o ß , g e n ü g t das H ä u s c h e n doch meinen A n sprüchen. Schlafzimmer und Bad oben. Küche, Esszimmer, W o h n zimmer und Arbeitszimmer unten. Ich zog in das Haus ein, als meine Ehe mit Pete in die B r ü c h e ging. Ein Jahrzehnt später wohne ich immer noch dort. »Hey, Bird«, rief ich in die leere K ü c h e . Kein Kater. »Birdie, ich bin zu Hause.« Das Summen des Kühlschranks. Eine Serie leiser Schläge von der Kaminuhr meiner Großmutter. Ich zählte. Elf. M e i n Blick schlich zum A n z e i g e n l ä m p c h e n am Telefon. Keine einzige Nachricht. Ich stellte meine Handtasche ab und ging sofort unter die D u sche. W ä h r e n d ich den Kellerdreck mit G r ü n t e e - D u s c h g e l vertrieb, mit Rosmarin-Minze-Shampoo und so h e i ß e m Wasser, wie ich es gerade noch ertragen konnte, drifteten meine Gedanken zu dem so grausam dunklen S i g n a l l ä m p c h e n des Anrufbeantworters und zu der Stimme, die ich zu h ö r e n hoffte.
Bonjour, Tempe. Du fehlst mir. Wir sollten reden. Ein Bild blitzte auf. Schlaksige Gestalt, sandfarbene Haare, Carolina-blaue Augen. Andrew Ryan, lieutenant-détective, Section des crimes contre la personne, Sûreté du Q u é b e c . Hier also die Geschichte mit Quebec. Ich habe zwei Jobs, einen in Charlotte, N o r t h Carolina, USA, einen in Montreal, Quebec, Kanada, wo ich forensische Anthropologin für das B u reau du Coroner bin. Ryan ist Detective im Morddezernat der Provinzpolizei. M i t anderen Worten, bei Morden in La Belle Province k ü m m e r e ich mich u m die Opfer und Ryan ermittelt. Als ich vor Jahren in dem Institut in Montreal anfing, hatte Ryan den R u f des S c h w e r e n ö t e r s des Reviers. U n d ich hatte es mir selbst zur Regel gemacht, keine B ü r o - R o m a n z e anzufangen. Allerdings zeigte es sich, dass der lieutenant-détective kein großer Regelfreund war. Als jede Hoffnung, meine Ehe zu retten, s c h l i e ß lich den Bach hinuntergegangen war, fingen w i r an, uns auch privat zu sehen. Eine Weile lief alles gut. Sehr gut. In meinem K o p f lief ein nicht jugendfreier Film aus unvergesslichen Szenen ab. Beaufort, South Carolina, der erste abgewehrte Annäherungsversuch, ich i n abgeschnittenen Jeans ohne Slip, an Bord eines Sieben-Meter-Chris-Craft im Yachthafen von Lady's Island. Charlotte, N o r t h Carolina, der erste Volltreffer, ich in einem m ä n n e r m o r d e n d e n , schwarzen Kleid und einem von V i c torias g r ö ß t e n Geheimnissen. Als ich mich an andere sportliche Leistungen erinnerte, bekam ich ein Kribbeln im Bauch. Ja, der Kerl war gut. U n d gut aussehend. Dann riss Ryan mir ein Loch ins Herz. Die Tochter, die er gerade getroffen, davor aber nie gekannt hatte, war rebellisch, w ü tend, heroinsüchtig. Gequält von Schuldgefühlen, hatte Daddy beschlossen, sich wieder mit M o m m y zusammenzutun und gemeinsam zu versuchen, die Tochter zu retten. U n d ich war out wie die Lippenstiftfarbe vom letzten Jahr. Das war vor vier Monaten.
»Scheiß drauf.« Das Gesicht unter dem Duschkopf, krähte ich eine verwässerte Version von Gloria Gaynor. »I will survive. Oh, no not I. I've got all my life to live —« Plötzlich wurde das Wasser kalt. U n d ich war am Verhungern. Völlig versunken in die Bearbeitung des Kellers und nervlich höchst angespannt durch die unterirdischen U m s t ä n d e , hatte ich an Essen ü b e r h a u p t nicht gedacht. Bis jetzt. Bird schlenderte herein, als ich mich eben abtrocknete. »Tut mir leid«, sagte ich. »Nachteinsatz. Keine andere Wahl.« Der Kater schaute skeptisch drein. Oder fragend. Oder gelangweilt. » W i e wär's mit ein bisschen Katzenminze?« Bird saß da und leckte sich eine Vorderpfote, was bedeutete, dass Verzeihung durch Bestechung nicht beschleunigt werden würde. Ich zog ein Nachthemd und flauschige, pinkfarbene Socken an und kehrte in die K ü c h e z u r ü c k . Noch eine C h ar a k t e r sc h w äc h e. Ich hasse Erledigungen. R e i n i gung. Autoinspektion. Supermarkt. Ich mache mir zwar Listen, aber die Abarbeitung w i r d hinausgezögert, bis ich wirklich m i t dem R ü c k e n zur Wand stehe. Weshalb ich folgende Delikatessen zur Auswahl hatte: Vorspeise aus tiefgefrorenem Hackbraten. Vorspeise aus tiefgefrorenem Chow M e i n . Dosen m i t Tunfisch, Pfirsichen, T o matenmark und g r ü n e n Bohnen. Champignon-, G e m ü s e - und H ü h n e r - N u d e l - S u p p e . T ü t e n mit Makkaroni und Käse sowie Champignon-Risotto. Bird tauchte wieder auf, als das Chow M e i n eben aus der M i krowelle kam. Ich stellte das Tablett auf die Anrichte, holte Katzenminze aus der Vorratskammer und stopfte sie in seine Maus. Der Kater legte sich auf die Seite, kratzte m i t allen vieren an dem Spielzeug und schnupperte. Seine C h a r a k t e r s c h w ä c h e ? Er wird gern high.
Ich aß stehend am Spülbecken, w ä h r e n d Bird auf dem Boden vor meinen F ü ß e n seine Pheromon-Rezeptoren auf Touren brachte. Dann hauten Ozzy Osbourne und ich uns aufs Ohr. Obwohl ich unbedingt mit der Untersuchung des Schädels und der Kessel beginnen wollte, g e h ö r t e ich am Dienstag der U N C C . Was Slidell sehr ärgerte. Z u r Beschwichtigung versprach ich i h m , gleich zum allerersten Morgenlattentau — seine Wortwahl, nicht meine — beim M C M E vorbeizuschauen. Eine Stunde brachte ich damit zu, dem H u h n und dem Z i e genschädel Proben zu entnehmen und die Insekten noch einmal durchzugehen, die ich im Keller eingesammelt hatte. Z u m G l ü c k hatte ich mir vor O r t die Zeit genommen, sie einzeln einzupacken und zu beschriften. Nachdem ich die Insekten verpackt und an einen Entomologen in Hawaii geschickt hatte, raste ich zum Campus, um mein Vormittagsseminar zu halten. Am Nachmittag hatte ich Studentenberatung. Unmengen warteten auf mich, die sich alle Sorgen wegen der S e m e s t e r z w i s c h e n p r ü f u n g e n machten. Die Abendd ä m m e r u n g war nur noch eine Erinnerung, als ich endlich davonkam. Auch am M i t t w o c h war ich wieder m i t der Sonne auf. Bei Tagesanbruch aufstehen ist sonst eigentlich nicht mein Stil. Ich genoss es absolut nicht. Das G e b ä u d e des Mecklenburg County Medical Examiner befindet sich an der Ecke Tenth und College, gerade noch am Rand der Innenstadt, in einem Gebäude, das ursprünglich ein SearsGartencenter war. U n d genau so sieht es aus, nur ohne Stiefmütterchen und Philodendron. Es ist ein völlig gesichtsloser, bunkerartiger Flachbau, in dem auch mehrere A u ß e n b ü r o s der Polizei des Mecklenburg County untergebracht sind. Seiner früheren kommerziellen Nutzung entsprechend, besteht die Landschaftsarchitektur aus einigen Tausend Quadratmetern
Beton. Schlecht, wenn man auf eine Fotoserie in Southern Homes and Gardens hofft. Gut, wenn man einen Parkplatz sucht. Was ich, um 7 U h r 35, auch tat. Nachdem ich mit meiner Karte die Doppelglastür geöffnet hatte, betrat ich einen leeren Empfangsbereich. Eine schnurrende Stille verriet mir, dass ich die Erste im Haus war. Unter der Woche begutachtet Eunice Flowers Besucher durch eine Glasscheibe ü b e r ihrem Schreibtisch, lässt manche ein und schickt andere wieder weg. Sie stellt T e r m i n p l ä n e auf, tippt und archiviert Berichte und bewahrt Dokumente und Unterlagen in grauen M e t a l l s c h r ä n k e n an den W ä n d e n ihres Reichs auf. Egal, wie das Wetter ist, Mrs. Flowers' Kleidung ist immer gebügelt, die Frisur makellos. O b w o h l die Frau freundlich und g r o ß z ü g i g ist, vermittelt sie mir immer das Gefühl, schlampig zu sein. U n d ihr Arbeitsbereich bringt mich völlig aus der Fassung. W i e groß das Chaos im Rest des Instituts auch sein mag, ihr Schreibtisch ist immer klinisch sauber und aufgeräumt. Alle Unterlagen ruhen in militärisch präzisen Stapeln, alle Zettel auf dem A n schlagbrett h ä n g e n in ordentlicher Reihe und mit identischem Abstand da. Ich bin nicht fähig zu solcher Ordentlichkeit, und wer es ist, macht mich argwöhnisch. Ich wusste, dass die Torwächterin i n fünfzehn Minuten eintreffen w ü r d e . Exakt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten stempelt Mrs. Flowers jeden Tag um 7 U h r 50 ein und w i r d es weiter tun, bis sie in Rente geht. Oder die Radieschen von unten betrachtet. Ich wandte mich nach rechts und ging vorbei an einer Reihe Todesermittler-Kabinen zu einer g r o ß e n , w e i ß e n Tafel an der R ü c k w a n d . W ä h r e n d ich das Datum dieses Tages in das Kästchen neben meinem Namen schrieb, las ich die neben den Namen der drei anderen Pathologen. Dr. Germaine Hartigan hatte eine Woche Urlaub. Dr. Ken Siu hatte drei Tage für Zeugenaussagen vor Gericht eingetragen. Pech für Larabee. Er war diese Woche ganz alleine.
Ich schaute auf die Liste der N e u z u g ä n g e . Uber Nacht waren zwei Fälle m i t schwarzem Magic Marker eingetragen worden. In einem M ü l l c o n t a i n e r hinter einem Winn-Dixie-Supermarkt hatte man eine verbrannte Leiche gefunden. M C M E 522-08. In einem Keller war ein menschlicher S c h ä d e l ohne Unterkiefer entdeckt worden. M C M E - 5 2 3 - 0 8 . M e i n B ü r o ist ganz hinten, in der N ä h e derjenigen der Pathologen. Bei der G r ö ß e sollte es eher begehbarer Schrank h e i ß e n . Ich schloss die T ü r auf, setzte mich hinter meinen Schreibtisch und schob meine Handtasche in eine Schublade. Dann zog ich ein Formular aus einem Mini-Plastikregal auf dem Aktenschrank hinter mir, trug die Fallnummer ein und beschrieb mit knappen Worten die Überreste und die U m s t ä n d e ihrer Entdeckung. Danach eilte ich in den Umkleideraum. Das M C M E - I n s t i t u t hat zwei Autopsiesäle, beide mit jeweils nur einem Tisch. Der kleinere hat eine spezielle Klimaanlage zur Geruchsbekämpfung. Der Stinkersaal. Für Verweste und Wasserleichen. Meine A r t von Fällen. Nachdem ich Kameras, Greifzirkel, ein Sieb, Sonden und eine kleine Kelle zurechtgelegt hatte, ging ich zum K ü h l r a u m . Die Edelstahltür öffnete sich mit einem Zischen und umfing mich mit dem Geruch g e k ü h l t e n Fleisches. Ich schaltete das Licht an. U n d sprach ein Dankgebet für Joe Hawkins. Im ü b e r t r a g e n e n Sinne. Am Dienstag war ich wegen der unchristlichen Stunde zu m ü r r i s c h gewesen, um etwas zu bemerken. An mein Dilemma dachte ich erst, als ich mich umzog. Was, wenn die Kessel auf dem Boden standen, wie sollte ich sie bewegen? Kein Problem. Hawkins hatte sie beide auf dem Rollwagen stehen gelassen, mit dem er sie hierhergebracht hatte. Ich stellte den Karton mit den Schädeln und dem H u h n dazu, löste die Radbremse, drehte mich um und d r ü c k t e mit dem Hintern gegen die Tür. Sie flog auf.
H ä n d e fingen mich, bevor ich mich m i t vollem Schwung aufs Hinterteil setzen konnte. Als ich mein Gleichgewicht wiederhatte, fuhr ich herum. T i m Larabee erinnert an einen Cowboy, der viel zu viel Zeit in der W ü s t e verbringt. Er ist ein Marathon-Junkie, dem tägliches Training den K ö r p e r ausgezehrt, die Haut gegerbt und die ohnehin schmalen Wangen noch mehr a u s g e h ö h l t hat. Larabees Augen schauten entschuldigend. Augen, die viel zu tief in den H ö h l e n lagen. »Tut mir leid. Wusste ja nicht, dass sonst noch jemand da ist.« » M e i n e Schuld. Arsch voraus ist immer schlecht.« »Darf ich Ihnen helfen?« W ä h r e n d w i r den Rollwagen aus dem K ü h l r a u m in den A u topsiesaal bugsierten, erzählte ich i h m von dem Keller. »Voodoo?« Ich zuckte die Achseln. Wer w e i ß ? »Schätze, Sie werden den Inhalt nicht röntgen.« Larabee klopfte auf einen der eisernen Kessel. » N e i n , Blindflug«, entgegnete ich und zog Gummihandschuhe über. »Aber ich lasse Joe die Schädel machen, sobald er da ist.« Larabee deutete auf den Karton. »Kann ich mal schnell sehen?« Ich öffnete die Laschen. Die Schädel waren noch so, wie ich sie eingepackt hatte, jeder einzeln in einer beschrifteten Z i p l o c - T ü t e . Den vierten Beutel brauchte ich nicht zu kontrollieren, der Gestank sagte mir, dass er noch immer das H u h n enthielt. W ä h r e n d der Medical Examiner Handschuhe überstreifte, holte ich den menschlichen S c h ä d e l heraus und stellte ihn auf einem Korkring auf den Autopsietisch. »Unterkiefer?« Ich schüttelte nur den Kopf. Larabee fuhr mit der Fingerspitze ü b e r Stirn und S c h ä d e l d a c h . »Sieht aus wie Wachs«, sagte er. Ich nickte zustimmend.
Larabee b e r ü h r t e den Fleck, der ü b e r den Rand der vermuteten Wachsschicht hinausreichte. »Blut?« » N e h m e ich an.« »Menschlich?« »Ich werde eine Probe für eine Untersuchung n e h m e n . « Larabee drehte fragend die Handflächen nach oben. Ich wusste, was er wollte. »Das ist alles nur vorläufig.« »Verstanden.« Ich nahm den Schädel so in die Hände, dass Gaumen und H i n terhauptsloch nach oben zeigten. »Ich werde natürlich die R ö n t g e n a u f n a h m e n noch abwarten, aber es sieht so aus, als w ä r e n die dritten B a c k e n z ä h n e eben erst durchgebrochen, und die anderen zeigen nur minimale Abnutzung. Die Basilarnaht ist frisch verschmolzen.« Ich meinte die Verbindung zwischen dem Keilbein und dem Hinterhauptsbein der Schädelbasis. »Diese Konstellation deutet auf mittleres bis späteres Teenageralter hin.« Ich drehte den Schädel. » D e r Hinterkopf ist glatt, ohne Wulst für die Befestigung der Halsmuskeln.« Ich deutete auf einen dreieckigen H ö c k e r , der u n terhalb der rechten Ohröffnung nach unten zeigte. »Die Warzenfortsätze sind klein. U n d sehen Sie, wie dieser e r h ö h t e Grat am Ende des Wangenknochens ausläuft?« »Führt nicht ü b e r den G e h ö r g a n g weiter nach hinten.« Ich nickte. »Diese Merkmale deuten alle auf weiblich hin.« »Die B r a u e n w ü l s t e sind nicht gerade b e m e r k e n s w e r t . « » N e i n . Aber in diesem Alter ist das noch kein eindeutiges Merkmal.« »Was ist mit der Rasse?« » S c h w i e r i g . Die Nasenöffnung ist nicht sonderlich breit, aber die Nasenknochen treffen sich in stumpfem Winkel. Der untere Nasenrand und der D o r n sind beschädigt, man kann ü b e r die Form deshalb kaum etwas aussagen.« Ich drehte den Schädel zur
Seite. » D i e untere Gesichtshälfte steht vor.« Ich schaute auf das S c h ä d e l d a c h hinunter. »Der Schädel ist lang, aber nicht ausgesprochen schmal.« Ich stellte den Schädel wieder auf den R i n g . »Ich lasse die M a ß e durch Fordisc 3.0 laufen, aber vom Gefühl her w ü r d e ich sagen, negroid.« »Afroamerikanisch?« » O d e r afrikanisch. Karibisch. S ü d a m e r i k a n i s c h . Zentral-« »Ein schwarzes T e e n a g e r m ä d c h e n . « »Das ist nur vorläufig.« »Ja, ja. PMI?« »Das w i r d noch einige Zeit dauern.« » H u n d e r t Jahre? Fünfzig? Zehn? Eins?« »Ja«, sagte ich. »Ich habe die Insekten gestern mit FedEx weggeschickt.« »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier waren.« »Je eher dabei, desto eher davon.« » U n d jetzt?«, fragte Larabee. »Jetzt nehme ich mir zwei Kessel mit Erde vor.« Die T ü r ging auf, und Joe Hawkins streckte den K o p f durch den Spalt. » H a b e n Sie gesehen, was ich gestern in den Pausenraum gelegt habe?« Larabee und ich schüttelten den Kopf. »Ich war den ganzen Tag an der U n i « , sagte ich. »Ich war in Chapel Hill.« » W i e auch immer. W i r d Ihnen nicht gefallen.«
5 W i r folgten Hawkins einen Korridor entlang zu einem kleinen Personalaufenthaltsraum. Links befand sich eine M i n i - K ü c h e n zeile mit Schränken, S p ü l b e c k e n , Herd und Kühlschrank. Ein Te-
lefon und ein kleiner Fernseher standen an einem Ende der A n richte, eine Kaffeemaschine und ein K ö r b c h e n mit Zucker- und M i l c h p u l v e r t ü t e n am anderen. Ein runder Tisch und vier S t ü h l e nahmen den Großteil der rechten Seite des Raums ein. Joe Hawkins transportiert Leichen seit den Eisenhower-Jahren und ist der lebende Beweis dafür, dass w i r von dem geformt werden, was w i r tun. D ü r r wie ein Knochengestell, die Augen schwarz umrandet, die Brauen buschig und die schwarz gefärbten Haare nach hinten pomadisiert: der Prototyp eines Todesermittlers in einem B-Movie. M i t ernster Miene ging Hawkins zum Tisch und deutete m i t dem Finger auf ein aufgeschlagenes Exemplar des Charlotte Observer vom Dienstag. »Die Zeitung von gestern.« Larabee und ich beugten uns d a r ü b e r und lasen. Lokalteil. Seite fünf. Kurzer Artikel. Ein Foto.
Teufelszeug oder Rumpelkammer? Die Polizei staunte am Montag nicht schlecht, als ein 911-Anruf sie zu einem Haus an der Greenleaf führte. Bei Renovierungsarbeiten war ein Klempner auf mehr gestoßen als nur verrostete Rohre. In stundenlanger Arbeit wurden Schädel, Kessel und eine Reihe merkwürdiger Gegenstände in dem Haus sichergestellt und ins MCME-Leichenschauhaus und das CMPD-Forensikinstitut gebracht. Die Bergung wurde von der forensischen Anthropologin Dr. Temperance Brennan und einem Detective des Morddezernats, Erskine Slidell, geleitet. Auf Anfrage verweigerte die Polizei jeden Kommentar darüber, ob es sich bei den Knochenüberresten um menschliche handelt. Der Klempner, Arlo Welton, berichtete, er habe eine Wand aufgeschlagen und sei dabei auf einen mysteriösen unterirdischen Keller gestoßen. Welton beschrieb einen Altar und satanistische Utensilien, die seiner Meinung nach eindeutig auf ein dämonisches Ritual hindeuteten. Teufelsanbetung? Oder eine unterirdische Rumpelkammer? Es wird ermittelt.
Das Foto war g r o b k ö r n i g , aufgenommen aus zu g r o ß e r Entfernung mit zu wenig Licht. Es zeigte Slidell und mich neben der schiefen Verandaschaukel. Aus meinem gelockerten Haarknoten auf dem K o p f fielen mir wirre Strähnen ins Gesicht. Slidell hatte den Finger im Ohr. W i r sahen beide nicht aus wie fürs H o c h glanz-Titelblatt gemacht. Das Copyright für das Foto hatte eine gewisse Allison Stallings. »Spitze«, sagte Larabee. »Scheiße«, sagte ich. »Klasse Frisur.« M e i n Finger bedeutete Larabee, was ich von seinem H u m o r hielt. W i e aufs Stichwort klingelte das Telefon. W ä h r e n d Hawkins abhob, las ich den Artikel noch einmal und spürte die gewohnte V e r ä r g e r u n g . Ich bin zwar ein eifriger Nachrichtenkonsument, sowohl was Zeitungen wie elektronische Medien angeht, aber ich hasse es, Journalisten in meinem Labor oder bei einer Bergung vor O r t zu haben. Meiner Ansicht nach sind Leichen nichts für Kameras und Mikrofone. Ihrer Meinung nach g e h ö r e n weder das Labor noch der Tatort mir, und die Öffentlichkeit hat das Recht auf Information. W i r koexistieren in einem Zustand erzwungener Anpassung, und jeder gibt nur heraus, was unbedingt n ö t i g ist. Allison Stallings. Ich kannte den Namen nicht. Vielleicht eine Neue bei der Zeitung? Ich dachte, ich w ü r d e jeden Polizeireporter in der Stadt kennen. »Mrs. Flowers wird mit Anfragen von der Presse überschwemmt.« Hawkins d r ü c k t e sich den H ö r e r an die Brust. »Bis jetzt hat sie nur >Kein Kommentar< gesagt. Aber da Sie jetzt hier sind, w i l l sie wissen, wie sie weiter vorgehen soll.« »Sie soll ihnen sagen, dass sie tot umfallen sollen«, sagte ich. »>Kein Kommentar< ist gut«, verbesserte mich Larabee. Hawkins gab das weiter. H ö r t e zu. U n d d r ü c k t e sich den H ö r e r wieder ans Hemd. »Sie sagt, sie geben aber keine R u h e . «
» M y s t e r i ö s ? Satanistisch?« Meine Stimme triefte vor Verachtung. »Die hoffen wahrscheinlich auf ein gekochtes Baby für die Fünf-Uhr-Nachrichten.« »Kein K o m m e n t a r « , wiederholte Larabee. Den Rest des Tages verbrachte ich mit dem Greenleaf-Material. Nachdem ich den Schädel fotografiert hatte, machte ich mich an eine detaillierte Untersuchung und fing mit den Z ä h n e n an. Leider waren nur noch zehn der u r s p r ü n g l i c h sechzehn oberen vorhanden. Das muss nichts Böses bedeuten. Die Vorderzähne haben nur eine Wurzel. Wenn das Zahnfleisch sich verabschiedet, lassen Scheide- und E c k z ä h n e nicht lange auf sich warten. Die B e i ß e r c h e n kommen nicht schon fix und fertig auf die Welt. Das ist keine Sensation. Jeder w e i ß , dass die Zähne von Säugern in zwei Varianten auftreten, als M i l c h - und als Erwachsenenzähne. U n d dass jede Variante als Spezialtruppe auftritt. Schneidezähne, vordere Backenzähne, Eckzähne, hintere Backenzähne. Aber die Zahnentwicklung ist mehr als nur ein Stück in zwei Akten. U n d ein Großteil der Handlung spielt hinter den Kulissen. Hier das Manuskript. Zuerst erscheint tief im Kiefer eine Krone. D a r ü b e r legt sich der Zahnschmelz, und eine Wurzel beginnt nach oben oder nach unten in die H ö h l e zu wachsen. Die Krone stößt durch das Fleisch. Die Wurzel verlängert sich und bildet schließlich eine Spitze aus. M i t anderen Worten, nach dem Durchbruch geht die Zahnbildung weiter, bis die Wurzel v o l l ständig ist. Gleichzeitig spielen andere Z ä h n e ihre Rollen entsprechend ihren jeweiligen Stichworten durch. Die R ö n t g e n a u f n a h m e n des Schädels zeigten einen partiellen Durchbruch der dritten B a c k e n z ä h n e im Oberkiefer und eine partielle V e r v o l l s t ä n d i g u n g der zweiten Backenzahnwurzel. Diese Kombination deutete zusammen mit der frisch verschmolzenen Basilarnaht auf ein Alter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren hin. M e i n Instinkt sagte mir, dass ich es eher mit dem oberen Ende der Skala zu tun hatte.
Eine nochmalige Bewertung der S c h ä d e l m e r k m a l e änderte nichts an meinem ersten Eindruck in Bezug auf Geschlecht und Abstammung. Dennoch nahm ich, als Gegenprobe, die M a ß e ab und tippte sie in meinen Laptop. Fordisc 3.0 ist ein anthropometrisches Programm, das eine statistische Prozedur namens Differenzierende
Funktionsanalyse
oder D F A benutzt. DFAs fußen auf dem Vergleich mit Referenzgruppen, die aus bekannten Mitgliedern bestehen, in diesem Fall Schädel von Individuen, deren Rasse und Geschlecht dokumentiert sind und deren M a ß e in die Datenbank eingegeben wurden. » U n b e k a n n t e « wie etwa der G r e e n l e a f - S c h ä d e l werden m i t den » B e k a n n t e n « in der Referenzgruppe verglichen und in Bezug auf Ä h n l i c h k e i t und Unterschiede bewertet. Für die Geschlechtsbestimmung gibt es eine Reihe von Referenzgruppen, alle bestehend aus bekannten m ä n n l i c h e n und weiblichen Individuen spezifischer rassischer oder ethnischer Herkunft. Da schmale Wangenknochen und ein relativ langer Schädel eine asiatische oder indigen amerikanische Abstammung ausschlossen, ließ ich Vergleiche mit kaukasoiden und negroiden Referenzgruppen laufen. Keine Ü b e r r a s c h u n g . Ob schwarz oder w e i ß , der GreenleafSchädel hatte auf jeden Fall einem M ä d c h e n g e h ö r t . Die Bestimmung der Rasse ist ein bisschen komplizierter. W i e die Referenzgruppen zur Geschlechtsbestimmung bestehen die potentiellen Gruppen für diesen Aspekt aus bekannten Schwarzen, W e i ß e n , Indianern und Japanern beiderlei Geschlechts sowie aus guatemaltekischen, hispanischen, chinesischen und vietnamesischen M ä n n e r n . Das ist der Umfang der Fordisc-Datenbank. Ich l i e ß einen Doppelvergleich zwischen weiblichen Schwarzen und W e i ß e n laufen. Meine Unbekannte wurde als Erstere klassifiziert. Gerade noch so. Ich besah mir die interpretativen Statistiken. Eine folgerbare Wahrscheinlichkeit, im Fachchinesisch Poste-
rior Probability oder PP genannt, benennt die Wahrscheinlichkeit der G r u p p e n z u g e h ö r i g k e i t eines Unbekannten ausgehend von seiner relativen N ä h e zu allen Gruppen. Grundannahmen sind, dass Variationen innerhalb einer Gruppe in etwa identisch sind; dass Mittel und Werte zwischen Gruppen differieren; und dass die Unbekannte tatsächlich zu einer der Referenzgruppen g e h ö r t , die man benutzt. Letzteres muss nicht notwendigerweise zutreffen. Eine D F A klassifiziert jeden Satz von M a ß e n , auch wenn der Unbekannte ein Schimpanse oder eine H y ä n e ist. Eine typische Wahrscheinlichkeit, Typical Probability oder TP, ist ein besserer Indikator für die tatsächliche G r u p p e n z u g e h ö r i g keit. TP ermittelt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unbekannter zu einer bestimmten Gruppe g e h ö r t , ausgehend von der durchschnittlichen Variabilität aller Gruppen in der Untersuchung. TPs bestimmen absolute Entfernungen, nicht relative Entfernungen, wie PPs es tun. Sehen Sie es so: Wenn Sie einen Unbekannten einer der R e ferenzgruppen des Programms zuordnen müssen, sagt Ihnen eine PP, was die beste Wahl ist. Eine TP sagt Ihnen, ob diese Wahl eine realistische ist. Die PP auf meinem M o n i t o r sagte in Bezug auf meine U n bekannte, dass schwarze Abstammung wahrscheinlicher war als w e i ß e . Die T P sagte mir, dass ihr Kopf nicht so zusammengefügt war die Köpfe der schwarzen Damen in der Datenbank. Ich m a ß und rechnete noch einmal nach. M i t demselben Ergebnis. Die Zahlen zeigen in eine Richtung, die deduktive Gesamtbewertung in eine andere. Das ist nicht u n g e w ö h n l i c h . Es entspricht der Erfahrung. U n d da Gene sich nicht an Statistiken halten, wusste ich, dass es die M ö g l i c h k e i t gemischter Abstammung gab. Ich blätterte zum Deckblatt und füllte die Kästchen meines Fallformulars aus. Geschlecht: weiblich.
Abstammung: negroid (mit m ö g l i c h e r kaukasoider B e i m i schung). Alter: vierzehn bis siebzehn Jahre. Mein Gott. Noch ein Kind. Ich starrte in die leeren A u g e n h ö h l e n und versuchte, mir vorzustellen, wer diese junge Frau gewesen war. Empfand Trauer über den Verlust. Ausgehend von den schwarzen M ä d c h e n , die ich aus meiner Umgebung kannte, konnte ich m i r eine u n g e f ä h r e Vorstellung ihres Aussehens machen. Freundinnen von Katy zum Beispiel. Meine Studentinnen. Die M ä d c h e n , die im Park auf der anderen Seite der College Street herumhingen. Ich konnte m i r dunkle Haare und Augen vorstellen, schokoladenfarbene Haut. Aber was hatte sie empfunden? Gedacht? Was für ein Ausdruck hatte ihre Gesichtszüge geformt, wenn sie am Abend einschlief und am Morgen aufwachte? Vierzehn bis siebzehn. Halb Frau, halb M ä d c h e n . Hatte sie gern gelesen? War sie gern Rad gefahren? Oder auf einer Harley? Hatte sie sich in Einkaufszentren herumgetrieben? Hatte sie einen festen Freund? Wer vermisste sie? Hatte es in ihrer Welt Einkaufszentren gegeben? Wann starb sie? Wo? Tu, was du immer tust, Brennan. Finde heraus, wer sie war. Was mit ihr passierte. Ich schob die gefühlsbetonten Gedanken beiseite und k o n zentrierte mich wieder auf die Wissenschaft. Die nächsten Kästchen auf dem Formular fragten nach P M I und T A . Postmortales Intervall und Todesart. Bei trockenen Knochen, ohne jede Anhaftung von Fleisch oder anderen organischen Komponenten, kann die Bestimmung der Zeit seit Eintritt des Todes noch schwerer zu bestimmen sein als die Rasse. Sanft hob ich den Schädel mit einer Hand, um sein Gewicht zu schätzen. Der Knochen sah solide aus und fühlte sich auch so an,
nicht porös oder degradiert wie Ü b e r r e s t e aus alten Friedhöfen oder archäologisches Material. Alle sichtbaren Oberflächen waren einheitlich teebraun verfärbt. Ich suchte nach kulturellen V e r ä n d e r u n g , etwa Z a h n f ü l l u n gen, S c h ä d e l a b b i n d u n g , Hinterkopfabflachung oder chirurgische Bohrlöcher. Nichts dergleichen. Ich suchte nach Hinweisen auf eine Sargbestattung. Der S c h ä del wies keine Spuren von Bestattungsartefakten wie etwa M o dellierwachs, Trepanation oder Augendeckel auf. Keine Fäden oder Gewebefetzen. Kein einbalsamiertes Gewebe, kein A b b l ä t tern der Knochenrinde, keine Kopf- oder Gesichtshaare. Ich leuchtete mit einer kleinen Stablampe in das Foramen magnum, das g r o ß e Loch am Hinterkopf, das die Verbindung z w i schen R ü c k e n m a r k und Gehirn e r m ö g l i c h t . Bis auf anhaftende Erde war das Innere der Öffnung leer. M i t einem Zahnstocher kratzte ich die Krumen im S c h ä d e l i n neren weg. A u f dem Rollwagen bildete sich ein kleiner Kegel. Die Erde glänzte zwar etwas mehr, sah aber ansonsten der in dem Kessel sehr ä h n l i c h . Ich fand eine Rollassel, ein P u p p e n g e h ä u s e , aber keine Pflanzeneinschlüsse. Weiter mit dem Zahnstocher arbeitend, kippte ich den S c h ä d e l und säuberte die Nasen- und Ohröffnungen. N o c h mehr Erde rieselte auf den Kegel. Schließlich füllte ich die Schädelerde, die Assel und das Pupp e n g e h ä u s e in einen Ziploc-Beutel und schrieb die M C M E - F a l l nummer, das Datum und meinen Namen a u ß e n auf das Plastik. Es konnte gut sein, dass die Probe nie untersucht wurde, aber sicher war sicher. M i t einem Skalpell hob ich nun Fragmente des Schädelwachses oben auf dem S c h ä d e l ab und steckte sie einen zweiten Beutel. Abgeschabte Fragmente des » B l u t « - F l e c k s kamen in einen d r i t ten. Dann wandte ich mich wieder den R ö n t g e n a u f n a h m e n zu. Langsam arbeitete ich mich durch die Aufnahmen von vorne, von
der Seite, von hinten, von oben und von unten, die Hawkins mir geliefert hatte. Der Schädel zeigte keine Spuren von Verletzungen oder Krankheit. Keine Metallspuren, die auf eine Schussverletzung hinweisen w ü r d e n . Keine B r ü c h e , Kugeleintritts- oder -austrittslöcher, keine von einem scharfen Gegenstand verursachten Schnitte. Keine L ä sionen, Defekte oder angeborenen Anomalien. Keine Implantate, keine Hinweise auf kosmetische oder korrigierende Operationen. Kein Indikator, was die medizinische oder zahnmedizinische Geschichte des M ä d c h e n s betraf. Kein Hinweis auf die Ursache ihres Todes. Frustriert untersuchte ich sowohl den Schädel wie die R ö n t genaufnahmen unter V e r g r ö ß e r u n g . Nichts. Der Schädel war auffällig unauffällig. Entmutigt ging ich im Geiste die Methoden für eine P M I Schätzung bei trockenen Knochen durch. Ultraviolette Fluoreszenz, Färbung auf Indophenol oder Nilblau, Überschall-Leitfähigkeit, histologische oder radiografische Strukturanalyse, Bewertung des Stickstoff- oder Aminosäurengehalts, Bomben-C 14-Analyse, Berechnung der Fetttransgression, des Karbonat- oder des serologischen Proteingehalts, Reaktion auf Benzidin oder antimenschliches Serum. Ich w ü r d e die Rollassel und das P u p p e n g e h ä u s e zwar an den Entomologen schicken, bezweifelte aber, dass dessen Untersuchung viel bringen w ü r d e . Sie k ö n n t e n ja aus der Kesselfüllung stammen und erst lange nach dem Tod des M ä d c h e n s in den Schädel gewandert sein. Der Bomben-C 14-Test war eine M ö g l i c h k e i t . Diese Untersuchung k ö n n t e zeigen, ob der Tod, ungefähr, vor oder nach 1963 eingetreten war, dem Jahr des Teststopps für atmosphärische Atombombenversuche. Aber ausgehend von der K n o c h e n q u a l i t ä t bezweifelte ich, dass das P M I länger als fünfzig Jahre sein konnte. A u ß e r d e m w ü r d e Larabee bei den g e g e n w ä r t i g e n Budgetbeschneidungen kaum Geld für einen solchen Test h e r a u s r ü c k e n .
Ich schaltete eine S t r y k e r - S ä g e ein, entfernte ein kleines K n o chenquadrat aus dem rechten Scheitelbein und steckte es in einen Ziploc-Beutel. Dann zog ich einen zweiten rechten Backenknochen und steckte ihn ebenfalls dazu. Auch wenn w i r kein Geld für einen C14-Test hatten, brauchten w i r die Proben vielleicht für eine DNS-Sequenzierung. Danach füllte ich den Rest der Kästchen meines Fallformulars aus. P M I : fünf bis fünfzig Jahre. T A : unbekannt. Sehr gut vorstellen konnte ich mir Slidells Gesichtsausdruck, wenn ich i h m das berichtete. Ich freute mich nicht sonderlich auf dieses Gespräch. Entmutigt wandte ich mich den Nichtmenschlichen zu. N u n denn. Ziege und H u h n . Beide S c h ä d e l wiesen noch Reste vertrockneten Fleisches auf. Ich fand einige Larven und P u p p e n g e h ä u s e im S c h ä d e l g e w ö l b e und in den G e h ö r g ä n g e n der Ziege. Bereits am Dienstag hatte ich Proben von dem H u h n entnommen und wusste deshalb, dass ich dort auf die Hauptader gestoßen war. Ausgewachsene Fliegen. Larven. Der Kadaver hatte sogar einige Käfer und ein paar sehr g r o ß e Schaben enthalten. Ich musste erst noch die A n t w o r t des Entomologen abwarten, aber ich hatte keinen Zweifel, dass dieses H u h n in den letzten paar Monaten vor seinen Schöpfer getreten war. N u n wandte ich meine Aufmerksamkeit dem g r o ß e n Kessel zu. Zuerst schoss ich Fotos. Dann stellte ich eine Edelstahlwanne ins Waschbecken, platzierte ein Sieb darüber, legte eine Gesichtsmaske an und fing mit einer Kelle an zu schaufeln. Die Erde rieselte mit leisem Zischen durch die Maschen. Bald hüllte mich ein erdiger Geruch ein. Eine Kelle voll. Drei. Vier. Ein paar Kieselsteine, Schneckenschalen und Insektenteile sammelten sich auf dem Sieb.
Nach z w ö l f Kellen spürte ich im Kessel Widerstand. Ich legte die Kelle weg und grub m i t der Hand weiter. Nach wenigen Sekunden hatte ich eine verschrumpelte Masse von etwa fünf Z e n timetern Durchmesser freigelegt. Ich legte das F u n d s t ü c k auf den Rollwagen und ertastete es behutsam m i t den Fingern. Die Masse war eingeschrumpft und doch schwammig. Eine dunkle Vorahnung klopfte an mein H i r n . Was ich unter meinen Fingern spürte, war organisch. W ä h r e n d ich Erdkrumen ablöste, erschienen Details. Furchen. Wirbel. Erkenntnis. Ich fummelte an einem S t ü c k mumifizierter grauer Substanz herum. Meine Neuronen schossen m i r u n w i l l k ü r l i c h einen Namen ins Bewusstsein. Mark Kilroy. Ich schob ihn beiseite. Das menschliche Gehirn ist etwa 1400 Kubikzentimeter g r o ß . Das D i n g konnte mit nur einem Bruchteil davon aufwarten. Ziege? Huhn? Plötzlich ein grausiger Gedanke. Ein Lappen eines menschlichen Gehirns? Das war eine Frage für Larabee. Nachdem ich meinen Fund in eine T ü t e gepackt und beschriftet hatte, wandte ich mich wieder dem Kesselinhalt zu. U n d machte die nächste beunruhigende Entdeckung.
6 Zuerst dachte ich, es w ä r e ein Heiligenbild, ein erbauliches Massenprodukt, wie es von katholischen G l ä u b i g e n verwendet wird. Meine Schwester Harry und ich sammelten diese Bildchen als
Kinder. Die K ä r t c h e n , etwas g r ö ß e r als eine Kreditkarte, zeigen Heilige oder biblische Szenen und liefern dazu ein passendes Gebet. Die Guten versprechen Verzeihung, eine V e r k ü r z u n g der S ü h n e z e i t im Fegefeuer für den Mist, den man auf Erden angestellt hat. Aber es war kein Heiligenbild. Als ich es aus seiner Plastikhülle zog, erwies es sich als ein Porträt, wie man es aus S c h u l j a h r b ü chern kennt. Es zeigte ein M ä d c h e n von der Taille aufwärts, das an einem Baum lehnte und das Gesicht der Kamera zuwandte. Sie trug einen braunen, l a n g ä r m e l i g e n Pullover, der ein S t ü c k c h e n Bauch frei l i e ß . Eine Hand hatte sie an den Baum g e d r ü c k t , die andere hing mit dem Daumen in einer Gürtelschlaufe ihrer ausgewaschenen Jeans. Die Haare des M ä d c h e n s waren in der Mitte gescheitelt, nach hinten g e k ä m m t und hinter den Ohren zu S c h w ä n z c h e n zusammengefasst. Sie waren schwarz. Die Augen hatten die Farbe dunkler Schokolade, die Haut die einer Muskatnuss. Das M ä d c h e n sah aus wie siebzehn. Ich spürte, wie mir die Brust eng wurde. Ein schwarzes T e e n a g e r m ä d c h e n . M e i n Blick sprang zum Rollwagen. O Gott, konnte das ihr Schädel sein? Falls ja, wie kam er dann i n diesen Keller? War dieses M ä d c h e n ermordet worden? Ich schaute das Porträt noch einmal an. Der K o p f des M ä d c h e n s war leicht gesenkt, die Schultern kaum merklich gehoben. Ihre Mundwinkel bogen sich zu einem neckischen Grinsen nach oben. Sie wirkte g l ü c k l i c h , voller Selbstvertrauen und Zukunftsfreude. Warum lag ihr Foto vergraben in einem Kessel? Konnte Arlo Welton recht haben? Hatte er einen Altar entdeckt, der für satanistische Rituale benutzt wurde? Für M e n schenopfer? Ich hatte Artikel darüber gelesen, wusste, dass solche Abscheulichkeiten, wenn auch sehr selten, tatsächlich vorkamen.
Das Telefon klingelte und ersparte mir weiteres Nachdenken über die grässlichen M ö g l i c h k e i t e n . » N a , waren w i r heute das frühe V ö g e l c h e n ? « Mrs. Flowers Stimme war, wie gewohnt, nicht die allervergnügteste. »Ich habe eine Menge zu erledigen.« »Die Medien drehen durch wegen dieser Kellergeschichte.« »Ja.« »Das Telefon klingelt ununterbrochen. U n d mir klingen schon die Ohren.« Ich schaute auf die Wanduhr. 12 U h r 40. »Die beruhigen sich schon wieder, sobald sie was Neues in die Finger kriegen. Ich wollte Sie nur vorwarnen. Sie kriegen Besuch von einem Detective.« »Slidell?« »Ja, Ma'am. Er hat einen Partner dabei.« »Warnung angekommen.« Ich legte eben auf, als die T ü r des Autopsiesaals aufschwang. Slidell trat ein, gefolgt von einem klapprigen Skelett mit einer italienischen Lederaktentasche unter dem A r m . Skinny Slidell und Eddie Rinaldi sind Partner seit den Achtzigern, was alle wundert, da die beiden die absoluten Gegensätze sind. Rinaldi ist eins neunzig g r o ß und bringt weniger als achtzig Kilo auf die Waage. Slidell ist eins fünfundsiebzig und wiegt beträchtlich mehr, das meiste davon in der Gegend, wo seine Taille sein sollte. Rinaldi hat ein scharf geschnittenes Gesicht. Slidells ist fleischig und schwammig, mit T r ä n e n s ä c k e n unter den Augen so groß wie Tortillas. Warum dann der Spitzname Skinny, der D ü r r e ? Polizistenhumor. Aber die Unterschiede sind nicht nur ä u ß e r l i c h . Slidell ist der Schlamper. Rinaldi der Penible. Slidell stopft pausenlos JunkFood in sich hinein. Rinaldi isst Tofu. Slidell ist Elvis, Sam Cooke und die Coasters. Rinaldi ist Mozart, Vivaldi und Wagner. Slidells
Kleidung kommt vom W ü h l t i s c h . Rinaldi trägt D e s i g n e r a n z ü g e oder m a ß g e s c h n e i d e r t e . Aber irgendwie kommen die beiden gut miteinander aus. Sachen gibt's! Slidell nahm seine nachgemachten Ray-Bans ab und h ä n g t e sie an einem B ü g e l in die Brusttasche seines Sakkos. Heute war es aus Polyester und zeigte ein Karomuster, das wahrscheinlich nach einem Golfkurs irgendwo in Schottland benannt war. » W i e läuft's, Doc?« Slidell sah sich selbst als Charlottes D i r t y Harry. Hollywood-Bullenslang g e h ö r t e dazu. »Interessanter Vormittag.« Ich nickte Rinaldi zu. »Detective.« Rinaldi winkte nur knapp, seine ganze Aufmerksamkeit g e h ö r t e den Kesseln und den Schädeln. So war Rinaldi. Immer sehr konzentriert. Keine Witze, keine saloppen S p r ü c h e . Kein Jammern und kein Prahlen. Kein M i t t e i lungsbedürfnis, was persönliche Probleme oder Triumphe anging. Im Dienst war er immer nur höflich, reserviert und u n e r s c h ü t t e r lich. A u ß e r Dienst? D a r ü b e r wusste man kaum etwas. Geboren in Virginia, hatte Rinaldi kurz das College besucht und war irgendwann in den Siebzigern nach Charlotte gekommen. Er hatte geheiratet, seine Frau war aber schon kurz danach an Krebs gestorben. Ich hatte von einem K i n d g e h ö r t , aber den M a n n selbst hatte ich noch nie von einem Sohn oder einer Tochter reden h ö r e n . Rinaldi lebte allein in einem kleinen Backsteinhaus in einem r u higen, gepflegten Viertel mit dem Namen Beverly Woods. Abgesehen von seiner Größe, seinem erlesenen Musikgeschmack und seiner Neigung zu teuren Klamotten, hatte Rinaldi keine k ö r p e r l i c h e n Merkmale oder persönlichen Schrullen, ü b e r die andere Polizisten sich hätten lustig machen k ö n n e n . Soweit ich w e i ß , war er nie Zielscheibe des Spotts wegen grober Patzer oder peinlicher Situationen gewesen. Vielleicht ist das der Grund, warum man i h m auch nie einen Spitznamen verliehen hatte. Was ich damit sagen w i l l : Rinaldi war nicht der Typ, den ich zu
meiner Margarita-Party einladen w ü r d e , aber wenn ich in Gefahr wäre, hätte ich gern ihn als denjenigen, der mir den R ü c k e n deckt. Slidell hob die Hand und wackelte mit dem Finger. »Sieht aus, als hätte sich irgendein Kretin eine Halloween-Monstershow gebastelt, was?« »Vielleicht auch nicht.« Das Wackeln hörte auf. Ich fasste kurz das biologische Profil zusammen, das ich für den Schädel erstellt hatte. »Aber das Zeug ist doch steinalt, oder?« »Ich schätze, dass das M ä d c h e n nicht weniger als fünf und nicht mehr als fünfzig Jahre tot ist. M e i n Instinkt tendiert eher zu ersterem.« Slidell blies Luft durch die Lippen. Sie roch nach Rauch. »Todesursache?« »Der Schädel zeigt keine Spuren von Krankheit oder Verletzungen.« »Soll heißen?« »Ich w e i ß es nicht.« »Wo ist der Unterkiefer?« »Ich w e i ß es nicht.« »Dann wissen wir ja schon einiges.« Ruhig bleiben, Brennan. »Das da habe ich in dem g r o ß e n Kessel gefunden. U n g e f ä h r vier Zentimeter tief in der Erde.« Ich legte das Foto auf den Rollwagen. Die M ä n n e r beugten sich darüber. »Sonst noch was?« Slidells Blick blieb auf das Foto gerichtet. »Ein Stück Gehirn.« Rinaldi zog die Augenbrauen in die H ö h e . »Menschlich?« »Ich hoffe nicht.« Rinaldi und Slidell schauten mehrmals zwischen Foto und Schädel hin und her.
Rinaldi sagte als Erster etwas. »Glauben Sie, dass es sich u m dieselbe junge Dame handelt?« » S c h ä d e l - und Gesichtsarchitektur zufolge gibt es nichts, was diese M ö g l i c h k e i t ausschließt. Alter, Geschlecht und Rasse passen.« »Können Sie eine Fotoüberlagerung m a c h e n ? « » O h n e Unterkiefer hat das wenig Sinn.« »Ich nehme an, das trifft auch auf eine Gesichtsrekonstruktion zu.« Ich nickte. »Das Ergebnis w ä r e zu spekulativ, w ü r d e bei der Identifikation eher ablenken als helfen.« »Scheiße.« Slidell schüttelte den Kopf. » W i r gehen die VPs durch.« Rinaldi meinte die Dateien der vermissten Personen. »Gehen Sie zehn Jahre zurück. Wenn sich nichts ergibt, k ö n nen wir den Zeitrahmen auch ausdehnen.« »Bringt wohl nicht viel, sie durchs N C I C zu j a g e n . « N C I C , das National Crime Information Center, das Nationale Verbrechensinformationszentrum des F B I , ist ein computergestütztes Verzeichnis von Verbrecherkarteien, Flüchtigen, gestohlenem Eigentum und vermissten und nicht identifizierten Personen. Durch den Abgleich von Details, die von Strafverfolgungsbehörden eingegeben wurden, ist das System in der Lage, Leichen, die an einem O r t gefunden wurden, mit Individuen in Verbindung zu bringen, die an einem anderen als vermisst gemeldet wurden. Aber die Datenbank ist riesig. Wenn man nur Alter, Geschlecht und Rasse als Identifikationsmerkmale hat und dazu einen Zeitrahmen von bis zu fünfzig Jahren, w ü r d e die so erzeugte Liste aussehen wie ein Telefonbuch. »Nein«, stimmte ich zu. »Nicht ohne mehr Informationen.« Ich erzählte den Detectives von den Insekten und dem H u h n . Rinaldi begriff sofort, was das bedeutete. »Der Keller w i r d noch immer benutzt.« » A u s g e h e n d vom Zustand des Huhns w ü r d e ich sagen, i n -
nerhalb der letzten paar Monate. Vielleicht sogar j ü n g e r e n D a tums.« »Wollen Sie damit sagen, dass irgendein Zauberdoktor das M ä d c h e n da runtergeschleppt und ihr den K o p f abgeschnitten hat?« »Nein, das w i l l ich nicht.« Cool. »Allerdings nehme ich an, dass genau das mit dem H u h n passiert ist.« »Also hat dieser durchgeknallte Klempner recht?« »Ich m ö c h t e nur andeuten, dass die M ö g l i c h k e i t besteht —« » Z a u b e r d o k t o r ? Menschenopfer?« Slidell verdrehte die Augen und trällerte die Titelmelodie von Twilight Zone. Auch wenn es nur wenige sind, so gibt es doch Leute auf diesem Planeten, die es schaffen, mich zu ä r g e r n , mich so zu provozieren, dass ich Dinge sage, die ich normalerweise für mich behalten w ü r d e . Unter anderen hat Slidell dieses spezielle Talent. Ich hasse es, die Kontrolle zu verHeren, und schwöre m i r jedes Mal, dass es nicht wieder vorkommen wird. Doch bei Slidell breche ich diesen Schwur immer wieder. Das passierte auch jetzt. » S a g e n Sie das Mark Kilroy.« Diese Bemerkung platzte aus mir heraus, bevor ich Zeit hatte, d a r ü b e r nachzudenken. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann hob R i naldi einen langen, knochigen Finger. »Junge aus Brownville, Texas. Verschwand neunundachtzig in Matamoros, M e x i k o . « »Kilroy wurde anal vergewaltigt, g e q u ä l t und dann getötet von Adolfo de Jesus Constanzo und seinen A n h ä n g e r n . Ermittler fanden sein Gehirn in einem Kessel.« Slidell senkte die Augen. »Was zum . . . ? « »Kilroy wurden die Organe für rituelle Zwecke e n t n o m m e n . « » U n d Sie wollen sagen, dass w i r es hier mit so was zu tun haben?« Schon jetzt bedauerte ich, dass ich Slidells Fantasie mit dem Kilroy-Fall angeregt hatte.
»Ich muss erst m i t den Kesseln weitermachen. U n d dann h ö ren, was das Forensiklabor zu sagen hat.« Slidell nahm das Foto zur Hand und gab es seinem Partner. »Nach Kleidung und Frisur zu urteilen sieht das Foto nicht sehr alt aus«, sagte Rinaldi. »Wir k ö n n t e n das durch die Medien jagen, mal sehen, ob irgendjemand das M ä d c h e n kennt.« »Damit sollten w i r noch warten«, sagte Slidell. »Wenn w i r das Foto von jedem K i n d , das w i r nicht finden k ö n n e n , im Fernsehen bringen, dann schaltet das Publikum irgendwann ab.« »Stimmt. U n d w i r wissen ja nicht einmal, ob sie vermisst ist.« »Dürfte in dieser Stadt nicht allzu viele Studios geben, die Teenagerfotos machen.« Slidell steckte das Foto ein. »Fangen w i r doch mit denen an.« Ich nickte. »Kommt aber vielleicht gar nicht aus dieser Stadt. Was haben Sie über das Greenleaf-Anwesen herausbekommen?« Rinaldi zog einen kleinen, ledergebundenen Notizblock aus der Innentasche seines Sakkos, das einen deutlichen Kontrast zu dem seines Partners bildete. Marineblauer Zweireiher, sehr elegant. Ein m a n i k ü r t e r Finger blätterte einige Seiten um. »Das Anwesen wechselte kaum den Besitzer, nachdem es in den Nachkriegsjahren von einer Familie namens Horne erworben wurde, und wenn, dann nur unter Verwandten. W i r reden hier übrigens vom Zweiten Weltkrieg.« Rinaldi schaute von seinen Notizen hoch. »Wir k ö n n e n auch noch ältere Unterlagen einsehen, falls die U m s t ä n d e das erfordern.« Ich nickte. »Roscoe Washington H ö r n e besaß das Haus von 1947 bis 1972; Lydia Louise Tillman H ö r n e bis 1994; Wanda Belle Sarasota H ö r n e bis zu ihrem Tod vor achtzehn Monaten.« »Der altehrwürdige Familiensitz«, schnaubte Slidell. Rinaldi las weiter aus seinen Notizen vor. »Nach Wandas Tod ging das Anwesen an einen Neffen, Kenneth Alois Roseboro.«
»Wohnte Roseboro in dem Haus?« »Das muss ich erst noch herausfinden. Roseboro verkaufte das Haus an Polly und Ross Whitner. Beide kommen ursprünglich aus N e w York. Sie ist Lehrerin. Er ist Kundenberater bei der Bank of America. Die Überschreibung fand am zwanzigsten September dieses Jahres statt. Die Whitners wohnen augenblicklich in einer Mietwohnung an der Scaleybark. Offensichdich sind umfangreiche Renovierungen des Greenleaf-Hauses geplant.« Rinaldi klappte den Block zu und steckte ihn weg. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Slidell durchbrach es. »Wir haben es in die Zeitungen geschafft.« »Ich habe den Artikel gesehen. Ist Stallings eine Festangestellte beim Observer?« »Keine, die w i r kennen«, sagte Rinaldi. Slidells falsche Ray-Bans kamen wieder auf die Nase. »Hätte diese Tussi gleich erschießen sollen.« Mittagessen bestand aus einem Müsliriegel, den ich mit einem Diet Coke hinunter spülte. Nach dem Essen fand ich Larabee im Hauptautopsiesaal, wo er eben die Leiche aus dem Müllcontainer aufschnitt. Ich berichtete i h m von den Fortschritten bei meiner Arbeit und von meinem Gespräch mit Slidell und Rinaldi. Die Ellbogen angewinkelt, die blutigen H ä n d e vom K ö r p e r abgestreckt, h ö r t e er zu. Ich beschrieb das Gehirn. Er versprach, es sich später einmal anzuschauen. Um zwei war ich wieder bei meinen Kesseln. Ich siebte bereits zwanzig Minuten, als mein Handy klingelte. Die Anruferkennung zeigte Katys Nummer. Ich zog einen Handschuh aus und schaltete ein. »Hi, meine Süße.« »Wo bist du?« »Im Institut des ME.« »Was?«
Ich zog die Maske herunter und wiederholte, was ich gesagt hatte. »Geht's da wirklich um Satanisten?« »Du hast die Zeitung gelesen.« »Nettes Foto.« »Habe ich schon mal gehört.« »Ich w ü r d e sagen, das ist ein Studentenscherz. Die Stadt ist doch viel zu spießig für Teufelsanbetung. Satanismus heißt Exzentrik. Exotik. Nonkonformität. Klingt das für dich wie das langweilige, alte Charlotte?« »Was ist los?«, fragte ich, weil ich in ihrer Stimme Unzufriedenheit hörte. Katy hatte dieses Jahr ihren Bachelor in Psychologie gemacht, eine Leistung, die sechs lange Jahre gedauert hatte. Letztendlich war die Abschlussprüfung keine Frucht akademischer L e i denschaft, sondern des angedrohten Abdrehens des elterlichen Geldhahns. Es war eins der wenigen Themen, bei denen Pete und ich einer Meinung waren. Sechs Jahre sind genug, K i n d chen. Der Grund, warum Katy für ihr Studium so lange gebraucht hatte? Bestimmt nicht mangelnde Intelligenz. Trotz ihrer fünf Hauptfächer hatte sie einen durchaus vorzeigbaren Notendurchschnitt. Nein. An einem Mangel an Hirnschmalz lag es nicht. Meine Tochter ist klug und fantasiebegabt. Das Problem ist, sie hat A m e i sen im Hintern. »Ich denke daran, aufzuhören«, sagte Katy. »Aha.« »Der Job ist so langweilig.« »Es war doch deine Entscheidung, für das B ü r o des Pflichtverteidigers zu arbeiten.« »Ich dachte, ich kann da —« Luft wurde ausgestoßen. »Ich weiß auch nicht. Interessante Sachen machen. So wie du.« »Ich siebe gerade Erde.«
»Du weißt, was ich meine.« »Erde sieben ist langweilig.« »Was für Erde?« »Aus den Kesseln.« »Immer noch besser als in Papieren zu wühlen.« »Kommt auf die Papiere an.« »Was gefunden?« »Ein paar Sachen.« Das Foto oder das Gehirn w ü r d e ich auf keinen Fall erwähnen. »Wie viele Kessel?« »Zwei.« »Wie weit bist du schon?« »Immer noch beim ersten.« »Wenn du keinen Bock mehr hast, n i m m dir den nächsten vor.« Typisch Katy. Wenn Langeweile aufkommt, such dir was Neues. »Das bringt nichts.« »Mein Gott, bist du streng. Warum denn nicht?« »Vorgehensweise.« »Hin und her zu wechseln verändert doch nicht, was drinnen ist.« Da konnte ich nicht widersprechen. »Wie geht's Billy?«, fragte ich. »Er ist ein Trottel.« Okay. »Soll ich dich zum Abendessen einladen?«, fragte ich. »Wo?« »Volare um sieben.« »Kann ich die Seezunge bestellen?« »Ja.« »Ich werde dort sein. Vorausgesetzt, ich bin vorher nicht vor Langeweile gestorben.« Ich machte weiter mit dem Sieben.
Schnecken. Steine. Puppengehäuse. Schaben. Ein oder zwei Speckkäfer. Ein Tausendfüßler. Das war aufregend. Um drei gähnte ich, und meine Gedanken wanderten umher. M e i n Blick fiel auf den zweiten Kessel. Ich hatte bereits Fotos gemacht und Beweismitteltüten beschriftet. Eine Abwechslung w ü r d e mir gut tun, dachte ich. Meine Beobachtungsgabe schärfen. Schwache Ausrede. Z u m Teufel, warum eigentlich nicht? Schon besser. Nachdem ich die Kelle und das Sieb gereinigt hatte, steckte ich das Kellenblatt in die Erde. U n d stieß gleich auf die erste Nadel im Dreckhaufen.
7 Neunzig Minuten später war der kleine Kessel geleert. A u f der Arbeitsfläche lag eine makabere Ansammlung von Objekten. Einundzwanzig Stöckchen. Vier Perlenketten, eine weiße, zwei abwechselnd rot-schwarze, eine abwechselnd schwarz-weiße. Sieben Eisenbahnnägel, vier schwarz, drei rot lackiert. Vogelknochen, einige H u h n , andere wahrscheinlich Taube. Blutbefleckte Federn. Z w e i angesägte Knochen, beide von nichtmenschlichen Gliedm a ß e n . Ich schlug in Gilberts Säugetierosteologie nach und identifizierte den einen als Ziege, den anderen als Haushund. Zwei Vierteldollars, vier Fünfcentstücke und ein Zehncentstück. Die jüngste M ü n z e trug den Stempel 1987. Ich spürte eine leichte Befriedigung. Die Lage der M ü n z e tief unten in der Erde deutete auf das Jahr 1987 als Datum für die Füllung des Kessels hin. Das Datum fiel in meine geschätzte P M I Spanne für den Schädel.
Erst denken, Brennan. Der Schädel könnte lange nach Füllung des Kessels zu der Inszenierung dazugekommen sein, oder er könnte schon lange davor zum Schädel geworden sein. Dennoch kehrte ich mit frischer Energie zum großen Kessel zurück. Waren Sie schon mal m i t dem Auto unterwegs und hatten plötzlich Lust auf McDonald's? Zuvor sind Sie an unzähligen vorbeigekommen, aber jetzt bietet keine einzige Raststätte mehr Burger an. Schließlich fährt man runter, isst ein W ü r s t c h e n . U n d nach knapp einer Meile grinst einen dann das gelbe M von einer Reklametafel an. Genau das war mir passiert. Ich hatte zu früh aufgegeben. Schon beim zweiten Kellenstich fing der Kessel an zu liefern. Stöckchen, Perlen, Halsketten, Federn. Eiserne Objekte, darunter Eisenbahnnägel, Hufeisen und den K o p f einer Hacke. Centstücke, wobei die lesbaren Daten von den Sechzigern bis zu den Achtzigern reichten. Ich schaute auf die Uhr. 17 U h r 55. Ich musste eine Entscheidung treffen. Nach Hause fahren, um zu duschen und zu fönen? Weitersieben, Toilette hier erledigen und Katy mit nassen Haaren treffen? Ich machte weiter mit Graben und Sieben. 18 U h r 10. Meine Kelle stieß auf etwas Hartes. W i e schon bei der Gehirnsubstanz machte ich nun m i t den Fingern weiter. Ein brauner K n o p f tauchte auf. Ich grub darum herum. Aus dem K n o p f wurde ein Pilz, oben eine Kappe, unten ein dicker Stiel. Die Kappe hatte eine kleine Vertiefung. Oh-oh. Ich folgte dem Stiel. Larabee öffnete die Tür, sagte etwas. Ich antwortete, ohne w i r k lich zugehört zu haben. Er stellte sich neben mich. Der Stiel ragte in einem W i n k e l aus einem röhrenförmigen Sockel heraus, der horizontal im Kessel lag. Ich grub, schätzte die Länge und, als der Umriss erkennbar wurde, auch den Durchmesser.
Nach wenigen Minuten konnte ich erkennen, dass die R ö h r e in zwei runden Vorsprüngen endete, Gelenkköpfe für eine Verbindung mit einem Zweifüßerknie. »Das ist ein Oberschenkelknochen«, sagte Larabee. »Ja.« Meine Nervenenden summten vor Aufregung. »Menschlich?« »Ja.« Unter meinen Fingern spritzte Erde hoch wie bei einer Katze, die ein Mauseloch aufgräbt. Ein zweiter K n o p f tauchte auf. »Da liegt noch einer darunter.« Larabee spielte weiter den Kommentator. »Liegt ebenfalls horizontal, K o p f nach oben, aber in die entgegengesetzte Richtung orientiert.« Ich schaute auf die Uhr. 18 U h r 42. »Scheiße.« »Was?« »Ich muss mich in zwanzig Minuten mit meiner Tochter treffen.« Ich griff zu meinem Handy und wählte Katys Nummer. Keine Antwort. Ich versuchte ihr Handy. N u r die Voice M a i l . »Lassen Sie das bis morgen früh liegen«, sagte Larabee. »Ich sichere das alles hier.« »Echt?« »Klar doch.« Ich rannte zur Umkleidekabine. Z u m Glück hatte ich es nicht sehr weit. Seit der Highschool ist das Volare Katys Lieblingsrestaurant. Damals befand es sich noch in einer Einkaufspassage an der Providence Road, in Räumlichkeiten, die nicht mehr als ein D u t zend Tische zuließen. Vor einigen Jahren zogen die Besitzer in ein größeres, freistehendes Gebäude in Elizabeth um, dem einzigen Viertel der Queen City, das nach einer Frau benannt ist. Ironie? Hier ist die Erklärung: 1897 suchte sich Charles B. K i n g Char-
lotte als Sitz für ein kleines, lutherisches College aus und benannte die Schule nach seiner Schwiegermutter, Anne Elizabeth Woods. Cooler Schachzug, Charlie. 1915 zog das Elizabeth College nach Virginia. 1917 erwarb ein aufstrebendes Krankenhaus das Anwesen. Fast ein Jahrhundert später ist das ursprüngliche G e b ä u d e verschwunden, aber die A n lage des Presbyterian Hospital, das jetzt auf dem Grundstück steht, ist gigantisch. Worauf es ankommt: Das College zog weg, aber der Name blieb. Heute ist Elizabeth, zusätzlich zum Presbyterian, dem Independence Park und dem Central Piedmont Community College, Heimat einer bunten Mischung aus Arztpraxen, Cafes, Galerien, Secondhand-Läden und natürlich Kirchen und von Bäumen beschatteten alten W o h n h ä u s e r n . Um 19 U h r 10 parkte ich am Bordstein der Elizabeth Avenue. Ja. Die alte Schachtel hat auch noch einen Straßennamen abbekommen. W ä h r e n d ich zur T ü r eilte, spürte ich einen Stich des Bedauerns. Natürlich ist es jetzt einfacher, im Volare einen Tisch zu reservieren, aber die Intimität des kleineren Ladens ist verschwunden. U n d trotzdem, das Essen haut einen immer noch um. Katy saß an einem der hinteren Tische, trank Rotwein und redete m i t einem Kellner. Der Kerl sah verzaubert aus. Ist nichts Neues. Meine Tochter hat diese W i r k u n g auf diejenigen, welche im Stehen pinkeln. Ich dachte an Pete, wie ich es oft tue, wenn ich sie sehe. M i t weizenblonden Haaren und j a d e g r ü n e n Augen ist Katy ein genetisches Spiegelbild ihres Vaters. Sooft ich einen der beiden sehe, denke ich an diese Ähnlichkeit. Katy winkte. Der Kellner plapperte weiter. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte ich und setzte mich an ihren Tisch. »Keine Entschuldigung.« Katy hob eine sorgfältig gepflegte Augenbraue. »Klasse F r i sur.«
Das hörte ich in letzter Zeit ziemlich häufig. »Wusste gar nicht, dass der Wetlook wieder in ist.« Der Kellner fragte, was ich zu trinken wolle. »Perrier mit Limone. U n d viel Eis.« Er schaute Katy an. »Sie ist ein Alki.« Meine Tochter hat viele liebenswürdige E i genschaften. Takt gehört nicht dazu. »Aber ich nehme noch einen Pinot.« Der Kellner machte sich auf den Weg, den päpstlichen Befehl auszuführen. »Sollen w i r uns einen Caesars Salad teilen?«, fragte ich. »Klar.« »Seezunge in Kräuterkruste?« Katy nickte. »Ich glaube, ich nehme das Piccata milanese.« »Du nimmst immer Piccata milanese.« »Das stimmt nicht.« Aber fast. Katy beugte sich mit großen Augen vor. »Also. Voodoo, Vampire oder vegane Teufelsanbeter?« »Nette Alliteration. Wann gehen w i r einkaufen?« »Samstag. Ignoriere meine Frage nicht. Der Keller?« »Er wurde für etwas« — was? — »Zeremonielles benutzt.« Zwei Jadeaugen drehten sich himmelwärts. »Du weißt, dass ich über laufende Ermittlungen nicht sprechen darf.« »Meinst du, ich rufe sofort beim Fernsehen an?« »Du weißt, warum.« »Mein Gott, M o m . Dieses Verlies liegt doch fast in Coops H i n terhof.« Katy lebte nur zwei Blocks von der Greenleaf entfernt, im Stadthaus eines mysteriöserweise abwesenden H e r r n namens Coop. »Ein Verlies ist das kaum. Sag's mir noch einmal. Wer ist Coop?«
»Ein Kerl, mit dem ich im College gegangen bin.« »Und wo ist Coop?« »Auf Haiti. M i t dem Friedenscorps. Ist eine W i n - W i n - S i t u a tion. Ich muss keine Miete zahlen. Er hat jemand, der auf sein Haus aufpasst.« Der Kellner brachte die Getränke, war dann bereit, sich N o t i zen und große Hoffnungen zu machen, und lächelte Katy an. W i r nannten i h m unsere Bestellung. Der Kellner ging wieder. »Was ist mit Billy?« Billy Eugene Ringer. Der augenblickliche Freund. Der Letzte einer langen Reihe, die bis weit in Katys Schulzeit z u r ü c k reichte. »Er ist ein Idiot.« War das jetzt besser oder schlechter als Trottel? Ich war m i r nicht so sicher. »Willst du ins Detail gehen?« Ein theatralisches Seufzen. »Wir sind inkompatibel.« »Wirklich.« »Oder genauer, er ist zu kompatibel.« Katy trank einen Schluck Pinot. »Mit Sam Adams und Budweiser. Billy trinkt gern Bier und schaut sich Sport im Fernsehen an. Mehr ist da nicht. Es ist, als w ü r d e man mit einem Flaschenkürbis ausgehen. Weißt du, was ich meine?« Ich machte ein unverbindliches Geräusch. »Wir haben nichts gemeinsam.« »Du hast ein ganzes Jahr gebraucht, um das herauszufinden?« »Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, w o r ü b e r w i r am A n fang geredet haben.« N o c h ein Schluck Pinot. »Ich glaube, er ist zu alt für mich.« Billy war achtundzwanzig. Katy schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Und das bringt uns zu Dad. Kannst du diese Scheiße mit Summer glauben? Ich verstehe nicht, warum du so kooperativ bist.« M e i n mir entfremdeter Gatte ist beinahe fünfzig. W i r leben seit
Jahren getrennt, sind aber nicht geschieden. Vor einiger Zeit bat Pete mich um die Scheidung. Er wollte wieder heiraten. Summer, seine Geliebte, war neunundzwanzig. »Diese Frau verdient Kohle, indem sie jungen H ü n d c h e n die Drüsen ausdrückt.« Katys Tonfall definierte den Begriff »verächtlich« völlig neu. »Unser ehelicher Status geht nur deinen Vater und mich etwas an.« »Wahrscheinlich hat sie i h m das H i r n rausgesagt, durch seinen —« »Neues Thema.« Katy lehnte sich zurück. »Okay. W i e steht's mit Ryan?« Z u m Glück kam unser Salat. W ä h r e n d der Kellner Pfeffer aus einer M ü h l e von der G r ö ß e meines Staubsaugers d a r ü b e r m a h l te, dachte ich an meinen mal ja, mal nein, tja, was eigentlich Freund? Was trieb Ryan jetzt? War er glücklich wiedervereint m i t seiner längst verflossenen Geliebten? Kochten sie miteinander? Gingen sie händchenhaltend und schaufensterbummelnd die Rue Ste-Catherine entlang? H ö r t e n sie Musik in Hurley's Irish Pub? Ich spürte einen Druck auf meiner Brust. Ryan war aus meinem Leben verschwunden. Für den Augenblick. Für immer? Wer konnte das schon sagen? »Hall-o?« Katys Stimme holte mich zurück. »Ryan?« »Er und Lutetia versuchen es wieder als Paar. U m Lily Halt bieten zu können.« »Lutetia ist seine alte Freundin. Lily ist seine Tochter.« »Ja.« »Der Junkie.« »Sie macht sich ziemlich gut im Entzug.« »Und du wurdest einfach abserviert.« »Lily macht gerade 'ne schwere Zeit durch. Sie braucht ihren Vater.« Katy zog es vor, nicht zu antworten.
Der Kellner brachte unser Essen. Als er wieder gegangen war, wechselte ich das Thema. »Erzähl mir von deiner Arbeit.« »Zum Abnippein langweilig.« »Hast du bereits gesagt.« »Ich b i n nur eine bessere Sekretärin. Streich das. Für das, was ich tue, gibt es den Begriff besser nicht.« »Und was tust du?« »Akten aktualisieren. Daten in einen Computer eingeben. Vorstrafenregister erstellen. M e i n interessantester Auftrag bis jetzt war eine Kreditwürdigkeitsprüfung. Atemberaubend.« »Hast du geglaubt, du würdest Plädoyers vor dem Obersten Gerichtshof halten?« »Nein.« Empfindlich. »Aber stumpfsinnige Plackerei habe ich nicht erwartet.« Ich ließ sie weiter ihrem Ärger Luft machen. »Ich verdiene so gut wie nichts. U n d die Leute, m i t denen ich arbeite, ersticken in ihren Fällen und wollen einfach nur Verfahrensabsprachen erreichen und dann die nächste Akte aufschlagen. Für Interaktion mit dem Personal haben sie so gut wie keine Zeit. Das zur Langeweile. Es gibt nur einen Kerl mit M u m m , und der dürfte schon an die fünfzig sein.« Katys Tonfall veränderte sich leicht. »Ist übrigens ziemlich sexy. Wenn er nicht so alt wäre, hätte ich nichts dagegen, i h m an die W ä s c h e zu gehen.« »Zu viel Information.« Katy redete einfach weiter. »Du würdest den Kerl mögen. U n d er ist Single. W i r k l i c h traurig. Seine Frau wurde am elften September getötet. Ich glaube, sie war Investment-Bankerin oder so was.« »Ich suche mir meine eigenen Männer, vielen Dank.« »Schon gut, schon gut. W i e auch immer, die eine Hälfte der Leute dort sind Fossilien, und die anderen sind zu gestresst, um zu merken, dass es auch noch eine Welt außerhalb des Büros gibt.« Allmählich begriff ich, worauf das hinauslief. Billy war nicht
mehr aktuell, und im Augenblick stand kein gut aussehender A n walt Mitte zwanzig auf A b r u f bereit. Einige Augenblicke lang aßen w i r schweigend. Als Katy dann wieder etwas sagte, waren ihre Gedanken zu etwas anderem zurückgekehrt. »Und was unternehmen w i r jetzt wegen Summer?« »Was mich angeht, nichts.« »Mein Gott, M o m . Diese Frau hat noch nicht mal alle Backenzähne.« »Dein Vater hat sein eigenes Leben.« Katy murmelte etwas, das wie »tscha« klang, und stach dann mit der Gabel nach ihrem Fisch. Ich aß noch einen Bissen Kalbsschnitzel. Sekunden später hörte ich ein geflüstertes »Omeingott.« Ich hob den Kopf. Katy starrte über meine Schulter hinweg. »Omeingott.«
8 »Was ist?« »Ich glaub's nicht.« » Was?« Katy knüllte ihre Serviette zusammen, schob den Stuhl zurück und marschierte durchs Restaurant. Verwirrt und ein wenig ängstlich drehte ich mich um. Katy unterhielt sich mit einem sehr g r o ß e n Mann in einem sehr langen Trenchcoat. Sie lächelte beschwingt. Ich entspannte mich. Katy deutet auf mich und winkte. Der Mann winkte. Er kam mir bekannt vor. Ich wackelte mit den Fingern. Die beiden kamen auf mich zu.
Die Statur eines Basketball-Profis. Der lässige Gang. Die schwarzen Haare wie von H u g h Grant persönlich gescheitelt. Pling. Charles Anthony Hunt. Der Vater Spielmacher bei den Celtics und den Bulls. Die Mutter eine italienische Skirennfahrerin. Charlie H u n t war mein Klassenkamerad an der Myers-ParkHighschool gewesen. Auszeichnungen in drei Sportarten, Vorsitzender der Jungen Demokraten. Das Jahrbuch unserer Abschlussklasse schrieb i h m die höchste Wahrscheinlichkeit zu, dass er m i t dreißig b e r ü h m t sein werde. M i r schrieb es die höchste Wahrscheinlichkeit zu, Komikerin zu werden. Nach dem Schulabschluss hatte ich Charlotte verlassen, um zuerst an der University of Illinois zu studieren und dann an der Northwestern zu promovieren, und anschließend hatte ich Pete geheiratet. Charlie war mit einem Sportstipendium an die Duke gegangen, dann ans juristische Seminar der U N C - C h a p e l H i l l . Im Lauf der Jahre hatte ich gehört, dass er geheiratet hatte und oben im Norden praktizierte. Charlie und ich spielten beide Universitätstennis. Er war zu staatsübergreifenden Turnieren zugelassen. Ich gewann die meisten meiner Spiele. Ich fand ihn attraktiv. Jeder tat das. Damals in den Siebzigern blies der W i n d der Veränderung durch den S ü den, aber alte Moralvorstellungen halten sich hartnäckig. W i r hatten nie etwas miteinander. Am Labor-Day-Wochenende, bevor w i r wieder in unsere j e weiligen Colleges mussten, schwangen Charlie und ich allerdings ein bisschen mehr als nur unsere Schläger. Zu dem Match geh ö r t e n Tequila und der Rücksitz eines Skylark. Ich zuckte innerlich zusammen und konzentrierte mich w i e der auf mein Kalbfleisch. »Mom.« Ich hob den Kopf. Charlie und Katy standen neben mir, beide zeigten ausgiebig Zähne.
»Mom, das ist Charles Hunt.« »Charlie.« Ich lächelte und streckte die Hand aus. Charlie nahm sie in Finger, die so lang waren, dass er den T o ronto Skydome damit hätte umfassen k ö n n e n . »Schön, dich zu sehen, Tempe.« »Ihr kennt euch?« »Deine M o m und ich waren zusammen auf der Highschool.« Charlies Akzent war flacher und abgehackter, als ich ihn in E r i n nerung hatte, vielleicht das Resultat seiner Zeit im Norden, vielleicht das Produkt einer bewussten Veränderung. »Das haben Sie mir nie erzählt.« Katy boxte Charlie auf den Bizeps. »Einspruch, Herr Anwalt. Zurückhalten von Beweismitteln.« »Katy hat mir alles von deinen Errungenschaften erzählt.« Charlie hielt noch immer meine Finger umfasst, und er schaute mich mit diesem Blick an, der besagte: »Außer dir gibt es im ganzen Universum niemanden.« »Hat sie das.« Ich zog meine Hand zurück und starrte meine Tochter m i t zusammengekniffenen Augen an. »Sie ist eine sehr stolze, junge Dame.« Die stolze, junge Dame ließ ein unglaublich gekünsteltes Lachen hören. » M o m und ich haben eben über Sie geredet, und in dem Augenblick marschieren Sie herein. Was für ein Zufall.« W i e Knoblauch und schlechter Atem Zufall sind, dachte ich. »Sollte ich rote Ohren kriegen?« Jungenhaftes Grinsen. Er war gut. »Nur Gutes«, sagte Katy. Charlie schaute angemessen überrascht und bescheiden drein. »Ich muss jetzt weiter«, sagte er. »Ich kam zufällig vorbei, sah Katy durchs Fenster und dachte mir, ich schau mal schnell rein und sag dir, was für einen hervorragenden Job sie für uns macht.« »Sie genießt die Herausforderung sehr«, sagte ich. »Vor allem die Dateneingabe. Katy liebt es, Informationen in den Computer zu tippen. Das hat sie schon immer.«
Diesmal war es Katy, die mich anfunkelte. »Naja, und w i r genießen es sehr, sie im Büro zu haben.« Ich musste zugeben, mit seinen smaragdgrünen Augen und den überirdischen W i m p e r n war Charlie H u n t noch immer ein sehr attraktiver Mann. Seine Haare waren schwarz, seine Haut ein angenehmer Kompromiss zwischen Afrika und Italien. Auch wenn der Mantel seinen Bauch verdeckte, schien er dort heute kaum mehr Pfunde zu haben als damals im Skylark. Charlie wandte sich zum Gehen. Katy zeigte mir eine G r i masse, die w o h l »Sag doch was« bedeuten sollte, und wedelte mit den Fingern. Ich legte den K o p f schief und grinste sie an. Stumm. » M o m arbeitet gerade an dieser Sache mit den Kesseln im K e l ler«, sagte Katy viel zu fröhlich. »Das ist der Grund, warum ihre Haare« — sie deutete mit der Hand in meine Richtung — »nass sind.« »Sieht doch toll aus.« Charlie strahlte mich an. »Mit Mascara und Rouge sieht sie besser aus.« Meine rougelosen Wangen brannten. »Wäre doch eine Sünde, dieses Gesicht anzumalen. Als w ü r d e man einen Renoir nachkolorieren. Aber jetzt, macht es gut.« Charlie drehte sich um, zögerte, drehte sich wieder zurück. W i e Columbo. Jetzt kommt's, dachte ich. »Sieht so aus, als w ü r d e n w i r in gegnerischen Mannschaften spielen.« Anscheinend hatte ich verwirrt dreingeschaut. »Du wirfst sie ins Gefängnis, ich haue sie wieder raus.« Ich hob eine Augenbraue. »Wäre ein interessantes Gesprächsthema bei einem Kaffee.« »Du weißt doch, ich darf nicht über —« »Natürlich nicht. Aber es gibt kein Gesetz gegen das Schwelgen in Erinnerungen.« Der Mann zwinkerte mir tatsächlich zu.
Als ich nach Hause kam, war es fast zehn. Katy hatte mir bereits eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, eine Wiederholung des Wortwechsels, den w i r nach Charlies Abgang gehabt hatten. Sei doch nicht blöd. Gib i h m eine Chance. Er ist cool. Charlie H u n t mochte ein Prinz sein, aber ich hatte nicht vor, mich mit i h m zu verabreden. Eine Beziehungsanbahnung durch meine Tochter war eine D e m ü t i g u n g , die ich nicht nötig hatte. Da waren noch zwei andere Nachrichten. Pete. R u f mich an. Eine Landschaftsgärtnerei. W i r k ü m m e r n uns um Ihren Garten. Enttäuschung. Dann der übliche Disput in meinem Kopf. Hast du wirklich gedacht, dass Ryan anrufen würde? Nein. Natürlich nicht. Wenn schon. Er lebt mit einer anderen Frau zusammen. Sie sind nicht verheiratet. Er hätte von seinem Handy aus anrufen können. Handy. Ich schnappte mir meine Handtasche, zog das Handy heraus und kontrollierte die Mailbox. Lass ihn ziehen. Ich vermisse es, mit ihm zu reden. Rede mit der Katze. Wir sind immer noch Freunde. Zieh einen Schlussstrich. Ich machte es mir im Bett gemütlich und schaltete die Fernsehnachrichten ein. Eine siebenundfünfzigjährige Lehrerin verklagte den Schulbezirk wegen angeblicher Altersdiskriminierung, die zu ihrer Entlassung geführt habe. Ein arbeitsloser Lastwagenfahrer hatte in der Powerball-Lotterie fünfzehn Millionen Dollar gewonnen. Bird hüpfte aufs Bett und rollte sich an meinem Knie zusammen.
»Gut für den Lastwagenfahrer«, sagte ich und streichelte dem Kater den Kopf. Der Kater schaute mich an. »Der Mann hat fünf Kinder und keine Arbeit.« N o c h immer keine Katzenmeinung. Ein Ehepaar war verhaftet worden, weil es Kupferdraht von einem Fabrikgelände an der Tuckaseegee Road gestohlen hatte. Zusätzlich zu dem Diebstahl warf man dem einfallsreichen Paar auch noch Anstiftung Minderjähriger zu einem Verbrechen vor. M o m und Dad hatten die Kinder auf ihre R a u b z ü g e mitgenommen. Die B e h ö r d e n untersuchten den Tod eines vierundsechzigjährigen Mannes durch Schusswaffengebrauch in seinem Haus in Pineville. O b w o h l die Polizei keine Hinweise auf ein Verbrechen gefunden hatte, war der Tod als verdächtig klassifiziert worden. Der Medical Examiner w ü r d e eine Autopsie durchführen. Ich döste langsam ein. •— Anbetung Satans direkt hier in den Kellern und Hinterzimmern unserer Stadt. Heidnische Götzenverehrung. Opfer. Blutvergießen.« Die Stimme war ein Bariton, die Vokale dick wie Sirup. Meine Augen sprangen auf. Der Bericht kam eben zum Ende. Übergewichtig und rotgesichtig ließ Boyce Lingo eine seiner medienwirksamen Tiraden vom Stapel. »Diejenigen, die Luzifer folgen, müssen schnell und unbarmherzig ausgemerzt werden. Ihr böses Tun muss gestoppt werden, bevor es auf unsere Spielplätze und unsere Schulhöfe sickert. Bevor es den innersten Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht.« Als Prediger, der zum County Commissioner, also zum Bezirkspolizeichef, gewählt geworden war, stellte Lingo ein Paradebeispiel für extremistische Ideologie, Pseudo-Chrisdichkeit, PseudoPatriotismus und kaum verhüllten w e i ß - m ä n n l i c h e n Chauvinismus dar. Sein Wahlkreis war einer, der die Wirtschaft dereguliert,
den Sozialstaat klein und die Bürgerschaft weiß, in Amerika geboren und strikt christlich haben wollte. »Du Schwachkopf!« Hätte ich die Fernbedienung in der Hand gehabt, hätte ich sie nach i h m geworfen. Birdie sprang vom Bett. »Du vernagelter Idiot!« Ich schlug mit der Hand auf die M a tratze. Ich hörte leises Tapsen und nahm an, dass Birdie den Abstand vergrößerte. Diese Suada war typisch für Lingo. Der Mann hatte eine A r t , sich an jedes medienwirksame Thema dranzuhängen, nur um eine Minute Sendezeit oder eine Schlagzeile zu bekommen. Ich schaltete Fernseher und Lampe aus und lag dann angespannt und w ü t e n d im Dunkeln. Ich warf mich herum, trat die Decke nach unten, schüttelte das Kissen auf, doch die Gedanken und Bilder wirbelten wie in einem Kaleidoskop durch mein H i r n . Die Kessel. Das verweste H u h n . Der menschliche Schädel und der Oberschenkelknochen. Das Schulfoto. Wer war das M ä d c h e n ? War Skinnys Entscheidung richtig gewesen? Oder sollten w i r das Foto doch im Fernsehen bringen? War das Foto schon irgendwo weit weg über die Bildschirme geflimmert, in einem Sendegebiet, der m i t Charlotte nichts zu tun hatte? Hatte irgendein Nachrichtensprecher von einem vermissten M ä d c h e n berichtet, das auf dem Nachhauseweg von einem Ballspiel oder einem Pizzaabend mit Freunden verschwunden war? Wann? War das vor der Einrichtung der Zentren für vermisste Kinder und des Amber Alert gewesen, der freiwilligen Kooperation zwischen B e h ö r d e n , Medien und Transportunternehmen in solchen Fällen? Waren ihre Eltern vor die Kameras getreten, die Mutter w e i nend, der Vater mit versteinerter Stimme? Hatten Nachbarn und Anwohner sie getröstet und insgeheim gehofft, dass ihre eigenen Kinder in Sicherheit waren? Dass die Tragödie sie, dieses Mal zumindest, verschont hatte?
W i e war das B i l d in diesen Kessel gelangt? Der Schädel? War es der Schädel dieses Mädchens? U n d was war mit den Beinknochen? Stammten beide von einer einzigen Person? Stammten der Schädel, die Oberschenkelknochen und das Foto von einer einzigen Person? Von zwei? Drei? Mehr? M e i n Radiowecker zeigte 23 U h r 40. Zwanzig nach zwölf. Zehn nach eins. D r a u ß e n im Garten quakten eine M i l l i o n F r ö sche. W i n d b ö e n trieben Blätter vor sich her, die an meinem Schlafzimmerfenster kratzten. Warum war es so spät im Herbst noch so warm? In Quebec wäre es inzwischen schon kalt. Vielleicht trug Montreal sogar schon eine Schneehaube. Ich dachte an Andrew Ryan. Ich vermisste ihn wirklich. Aber die pragmatischen Hirnzellen hatten eindeutig recht. Ich musste einen Schlussstrich ziehen. Ich musste lächeln, als ich an Katys »Zufall« zum Dessert dachte. Ihre K u p p e l b e m ü h u n g e n hatten schon vor einigen Jahren angefangen und sich nach Summers Auftreten noch intensiviert. Judd der Apotheker. Donald der Tierarzt. Barry der Unternehmer. Sam der was? Keine Ahnung. Ich lehnte alle Angebote ab. Meine Tochter, die Emma Woodhouse von Dixie. Jetzt also Charlie, der Strafverteidiger. In einem hatte Katy allerdings recht. Charlie H u n t war intelligent, gut aussehend, zu haben und interessiert. Warum also keinen Versuch wagen? Charlie war W i t w e r seit dem 11. September. Das hieß, er hatte eine Last zu tragen. War er bereit für eine Beziehung? War ich es? Auch ich hatte mein Vergangenheitsgepäck. Herr-je. Der Mann hatte einen Kaffee vorgeschlagen. Songzeilen kamen mir in den Sinn. England Dan und John Ford Coley. I'm not talking 'bout moving in. And I don't want to change your life...
Da haben wir's. M o v i n g i n . Einziehen. Oder einen Schlussstrich ziehen. Der gute, alte Pete zog einen Schlussstrich. Pete und Summer. W i e lautete eigentlich Summers Familienname? Glotsky? Grumsky? Ich musste nachfragen. Wieder und wieder kehrten meine Gedanken zu dem Keller zurück. Ich dachte an die Puppe mit dem winzigen Schwert in ihrer Brust. An das Messer. Das H u h n war geköpft worden. War die Ziege auf ähnliche A r t geschlachtet worden? Hatte es w i r k l i c h ein Menschenopfer gegeben? W i e bei Mark Kilroy, dem College-Studenten, der in Matamoros umgebracht worden war? Lingo unterstellte das, aber der quasselte ja nur. Er hatte keine Informationen. Ich leider auch nicht. Ich beschloss, welche zu finden.
9 O b w o h l ich nur wenig geschlafen hatte, stand ich wieder bei Tagesanbruch auf. Kaffee und ein Muffin, und ich war unterwegs ins Institut des M C M E . Um 8 U h r 30 lagen beide Oberschenkelknochen auf der A r beitsfläche. W i e auch drei andere Abschnitte aus langen R ö h r e n knochen. Letztere waren zersägt und stammten von einem kleinen Säugetier. Oder Säugetieren. Da keine anatomischen Merkmale vorhanden waren, brachte mir das Osteologie-Buch nichts. Ich brauchte eine histologische Untersuchung zur Bestimmung von Spezies und Anzahl. Um zehn war der große Kessel geleert. Die restliche Erde hatte noch drei weitere rote Perlen, ein Geweihstück, vermutlich Hirsch, und ein kleines Plastikskelett enthalten.
Nachdem ich die Sammlung fotografiert hatte, wandte ich mich den menschlichen Beinknochen zu. Die beiden Knochen waren ähnlich in G r ö ß e und Robustheit. Beide waren schlank und zeigten keine ausgeprägten Muskelansätze. Der eine war ein linker, der andere ein rechter. Beide waren gerade, mit nur wenig Schaftkrümmung, was eher ein afroamerikanisches als ein europäisches Merkmal war. W i e schon beim Schädel nahm ich auch hier die M a ß e ab. Maximale Länge. Breite des Doppelgelenkkopfes. Umfang des Mittelschafts. Nachdem ich zwei Sätze mit neun Angaben fertig hatte, gab ich die Daten in Fordisc 3.0 ein. Die Knochen wurden als weiblich klassifiziert. U n d als schwarz. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Alter. W i e der Schädel sind auch die R ö h r e n k n o c h e n nicht ab Werk montiert. So läuft das Ganze ab. Während der röhrenförmige Teü, der Schaft, sich während der Kindheit verlängert, bilden sich um ihn herum Gelenkkappen, -köpfe, Grate und Höcker. Erst das Zusammenwachsen dieser Teilchen zu einem kompletten Ganzen, irgendwann M i t t e bis Ende der Pubertät, gibt jedem Knochen seine charakteristische Form. Die Verschmelzung geschieht in fester Abfolge, in grob vorhersagbaren Altersstadien. Ellbogen. Hüfte. Fußgelenk. Knie. Handgelenk. Schulter. Beide Oberschenkelknochen zeigten identische Muster. Die H ü f t e n d e n waren voll ausgewachsen, was eine komplette Verschmelzung der Köpfe mit den Hälsen und der größeren und kleineren R o l l h ü g e l mit den Schäften bedeutet. Am anderen Ende deuteten krakelige Linien an der Gelenkoberfläche darauf hin, dass die Gelenkköpfe am Knie m i t ihrer Arbeit noch nicht ganz fertig waren. Das alles deutete auf einen Tod irgendwann im späten Teenageralter hin. Die Beinknochen kamen von einer jungen Schwarzen. Der Schädel ebenfalls.
Ich fühlte mich, was? Erleichtert? Resigniert? Ich war nicht sicher. Ich dachte an das M ä d c h e n auf dem Foto. Diesem sehr modernen Foto. Ich betrachtete noch einmal die Kessel und die Artefakte, die sie enthalten hatten. Dachte an das H u h n , die Ziege, die Puppen, die geschnitzte Holzstatue. Die menschlichen Überreste. T i e f drinnen hatte ich ein starkes Gefühl, was das alles bedeutete. Zeit für eine Recherche. Neunzig Minuten später hatte ich Folgendes erfahren: Ein Glaubenssystem, das zwei oder mehr kulturelle oder spirituelle Ideologien zu einer neuen Religion kombiniert, w i r d synkretische Religion genannt. In Amerika sind die meisten synkretischen Religionen afrokaribischen Ursprungs, sie haben sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als Folge des Sklavenhandels entwickelt. Da ihnen das Recht versagt wurde, ihren traditionellen Glauben zu leben, verdeckten die afrikanischen Sklaven ihre Praktiken, indem sie ihren G ö t t e r n die Bilder christlicher Heiliger zuwiesen. In den Vereinigten Staaten sind die bekanntesten synkretischen Religionen Santería, Voodoo und Brujería. Die meisten A n h ä n ger leben in Florida, N e w Jersey, N e w York und Kalifornien. Santería, ursprüngliche Lucumi genannt, tauchte in Kuba auf und entwickelte sich aus der Kultur der Yoruba im südwestlichen Nigeria. In Brasilien ist sie als Candomble bekannt, in Trinidad als Shango. Santería kennt eine Vielzahl von G ö t t e r n , sogenannte orishas. Die sieben Wichtigen sind Eleggua, Obatalla, Chango, Oshun, Yemaya, Babalu Aye und Oggun. Jeder hat seine eigene Funktion oder Macht, seine eigene Waffe und sein eigenes Symbol sowie Farbe, Zahl, Festtag und Lieblingsopfer.
Jede Gottheit hat eine katholische Entsprechung. Eleggua: hl. Antonius von Padua, der Erzengel Michael, das Christuskind; Obatalla: hl. Jungfrau von Las Mercedes, die eucharistische Gabe, der wiederauferstandene Christus; Chango: hl. Barbara; Oshun: hl. Jungfrau von El Cobre; Yemaya: hl. Jungfrau von Regia; Babalu Aye: hl. Lazarus; Oggun: hl. Petrus. In der Santería reihen sich die Verstorbenen bei den orishas ein, deshalb ist der Ahnenkult ein wesentlicher Bestandteil. Sowohl die G ö t t e r wie die Ahnen müssen verehrt und besänftigt werden. Die Prinzipien von ashe und ebbo sind fundamental. Ashe ist die Energie, die das Universum durchzieht. Sie ist in allem — in Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen. Die orishas sind quasi Mega-Gefäße. Zaubersprüche, Zeremonien und A n r u fungen werden alle durchgeführt, um ashe zu erreichen. Ashe vermittelt die Macht, Dinge zu verändern - Probleme zu lösen, Feinde zu besiegen, Liebe oder Geld zu gewinnen. Ebbo ist das Prinzip des Opfers. Das muss man tun, um ashe zu erhalten. Ebbo kann die Opferung von Früchten, Blumen, Kerzen oder Essen sein, allerdings auch von Tieren. Priester und Priesterinnen nennt man santeros oder santeras. Die priesterliche Hierarchie ist komplex, der höchste Rang ist der babalawo. W i e auch beim Papsttum, brauchen M ä d c h e n sich gar nicht erst zu bewerben. Sie k ö n n e n mächtige Priesterinnen werden, aber der Spitzenjob ist ihnen verwehrt. Bis auf die zusätzlichen G ö t t e r und die Hoftiere klang die ganze Sache für mich ziemlich katholisch. Voodoo hat seinen Ursprung in der heutigen Republik Benin, unter den Nagos, Ibos, Aradas und anderen kulturellen Gruppen und entwickelte sich in Haiti zurzeit der Sklaverei. Voodoo hat viele Gottheiten, kollektiv loa genannt, und auch hier entspricht jede Gottheit einem katholischen Heiligen. D a m bala ist Patrick, Legba ist Petrus oder Antonius, Azaka ist Isidor und so weiter. W i e auch die orishas hat jede Gottheit ihr Symbol, ihren Wirkungsbereich und ihr Lieblingsopfer.
Voodoo-Altäre stehen in kleinen R ä u m e n , die man badji nennt. Die Rituale sind ähnlich denen in der Santería. Die Priesterschaft ist nur lose organisiert, mit M ä n n e r n , die houngan, und Frauen, die mambo heißen. W i e bei der Santería liegt das Hauptaugenmerk auf der weißen, guten Magie. Aber Voodoo hat auch seine dunkle Kehrseite, die bokors. Dank Hollywood stehen diese Spezialisten der linkshändigen oder schwarzen Magie als böse Zauberer da, die jemanden mit einem Fluch belegen, um ihn ins U n g l ü c k zu stürzen, oder ZombieSklaven aus Gräbern wiederauferstehen lassen. Genau dieses K l i schee ist es, das die öffentliche Wahrnehmung von Voodoo verzerrt. Brujería, das aztekische Mythologie, europäische Zauberkunst und die kubanische Santería kombiniert, hat mexikanische k u l turelle und religiöse Wurzeln. Als im sechzehnten Jahrhundert spanische Priester die heidnische Göttin Toantzin zu einer Katholikin erklärten, gingen die Priesterinnen Toantzins in den U n tergrund und wurden brujas. Es entwickelte sich eine Theologie mit der Heiligen Jungfrau von Guadalupe im Zentrum, einer allwissenden und allmächtigen Göttin, die den Menschen ihre Wünsche gewährt, wenn man sie angemessen gnädig gestimmt hat. Jede bruja bewahrt ihre Z a u b e r s p r ü c h e in einer libreta auf, ä h n lich dem Buch der Schatten in der traditionellen Zauberkunst. Die meisten praktizieren allein, aber gelegentlich kommen auch einige zu Gruppen zusammen, ähnlich wie bei einem Coven oder Hexensabbat. Ich exzerpierte eben aus einem Artikel im Journal of Forensic Sciences, als Mrs. Flowers anrief. Slidell und Rinaldi seien im Haus. Der W i n d war lebhaft gewesen, als ich an diesem Morgen das Haus verlassen hatte, er hatte Blätter von den B ä u m e n gerissen und sie über Gehwege und Gärten geweht. Slidell sah aus, als wäre er durch einen Windkanal marschiert. Die Krawatte lag i h m auf
der Schulter, und die eine Seite seiner Frisur sah aus wie die von Grace Jones. »Was gibt's Neues, Doc?« Slidell richtete seine Krawatte gerade und strich sich mit der Hand ü b e r die Haare. Ein bisschen besser wurde es. »Zwei menschliche Beinknochen, beide von einem schwarzen M ä d c h e n im Teenageralter.« »Dieselbe Person wie der Schädel?« Rinaldi war makellos, die schütteren, grauen Haare perfekt auf seinem Schädel arrangiert. »Wahrscheinlich. Hatten Sie Glück mit den Fotostudios?« Rinaldi schüttelte den Kopf. »Ich habe Proben für einen DNS-Test e n t n o m m e n . « Ich gab i h m mein Artefakte-Blatt. »Das ist die Liste des Inhalts beider Kessel.« Rinaldi öffnete seine Aktentasche und gab mir einen braunen Umschlag m i t der Aufschrift CMPD Crime Lab, er kam also von der Forensikabteilung der Polizei. W ä h r e n d er und Slidell meine Liste überflogen, schaute ich mir die Fotos an. Die Objekte waren zwar besser ausgeleuchtet und detaillierter dargestellt, doch ansonsten genau so, wie ich sie aus dem Keller in Erinnerung hatte. Nach meiner Recherche konnte ich nun die Statue als die heilige Barbara identifizieren. »Haben Sie gestern Abend Lingo gesehen?« Slidells Frage war an mich gerichtet. »O ja«, sagte ich. »Stimmt irgendwas von dem, was er sagt?« »Schauen Sie sich das an.« Ich zog eine Nahaufnahme der Sperrholzplatte m i t den M a gic-Marker-Zeichen heraus. Slidell nahm sie in die Hand. Rinaldi stellte sich neben ihn. »Sehen Sie irgendwelche Pentagramme oder umgedrehte Kreuze?« »Nein.« »Ich bezweifle, dass es sich hier um Satanismus handelt.«
»Klasse. Jetzt wissen wir, was es nicht ist.« Slidell hob theatralisch die H ä n d e . »Aber was zum Teufel ist es? Voodoo?« »Eher Santería.« »Irgend so 'ne okkulte Kräuterdoktor-Sache?« »Ja und nein.« Ich erklärte die Grundbegriffe. Synkretismus. Orishas.Ashe und ebbo. Rinaldi machte sich mit einem Montblanc Notizen. Danach zog ich ein zweites Foto aus dem Stapel und deutete auf die Statue. »Die heilige Barbara ist die Tarnung für Chango.« Ich zog noch ein Foto heraus und deutete auf die Halsketten. »Abwechselnd rote und schwarze Perlen, Eleggua. Abwechselnd rot und weiß, Chango. Gelb und weiß, Oshun. N u r weiß, Obatalla.« Ich wandte mich dem Foto der doppelgesichtigen Figur zu. »Eleggua, der unberechenbare Gott.« »Beschreiben Sie diese Gottheiten.« Rinaldi hielt den Stift über seinen Block. Ich überlegte kurz, wie ich es am besten darstellen sollte. »Sie sind katholischen Heiligen nicht unähnlich. Oder griechischen G ö t t e r n . J e d e r hat eine bestimmte Funktion oder Macht. Chango kontrolliert Donner, Blitz und Feuer. Babalu Aye ist der Schutzpatron der Kranken, vor allem bei Hautkrankheiten. Jeder kann bei gewissen Dingen helfen und gewisse Strafen verhängen. Obatalla zum Beispiel kann Blindheit, L ä h m u n g e n oder Missbildungen bei der Geburt verursachen.« »Geh Babalu auf den Sack und du bekommst Pusteln?« »Lepra oder Gangrän.« Knapp. Slidells Sarkasmus passte mir nicht. »Ashe entspricht in etwa dem christlichen Konzept der Gnade«, sagte Rinaldi. »In gewisser Weise«, pflichtete ich ihm bei. »Oder Mana. Gläubige streben nach ashe, weil es ihnen die Macht gibt, Dinge zu verändern. Ebbo ist wie Buße oder das Knien auf Asche.«
»Wie Verzicht in der Fastenzeit.« Ich lächelte, als ich Rinaldis Vergleich hörte. »Katholisch?« »Mit einem Namen wie Rinaldi?« »Bei m i r war es jedes Jahr die Schokolade.« »Bei mir Comics.« »Diese synthetischen Religionen, haben die auch m i t Tierschlachten zu tun?«, fragte Slidell. »Synkretischen. Ja. Da verschiedene Arten von Opfern gegen verschiedene Probleme helfen sollen, kann eine ernsthafte Schwierigkeit oder eine sehr große Bitte ein Blutopfer erfordern.« Slidell warf die H ä n d e in die Luft. «Santería, Voodoo, ist doch alles dasselbe. Sind einfach alles Verrückte.« »Unser Doc hier sagt, dass es wichtige Unterschiede gibt.« Rinaldi, die Stimme der Vernunft. «Santería entwickelte sich in Kuba, das ist spanisch. Voodoo entwickelte sich in Haiti, das ist französisch.« »Ex-cuse-ay-moi. W i e viele von diesen Spinnern gibt es denn? Eine Handvoll?« »Bei der Santería wahrscheinlich einige Millionen. Bei Voodoo möglicherweise mehr als sechzig Millionen weltweit.« »Echt?« Slidell überlegte kurz und sagte dann: »Aber w i r reden doch von Sachen wie: Lass mich in der Lotterie gewinnen, heile das Bauchweh meines Jungen, stell meinen Schwanz wieder auf, oder?« »Die meisten Anhänger von Voodoo und Santería führen nichts Böses im Schilde, aber es gibt auch die Kehrseite. Schon mal was von Palo Mayombe gehört?« Beide schüttelten den Kopf. »Palo Mayombe kombiniert die Glaubenssysteme des Kongo mit denen der Yoruba und des Katholizismus. Die Gläubigen nennt man paleros oder mayomberos. Rituale beziehen sich nicht auf orishas, sondern auf die Toten. Paleros benutzen Magie, um zu manipulieren, gefangenzunehmen und zu kontrollieren, oft für ihre eigenen böswilligen Zwecke.«
»Reden Sie weiter.« Slidells Stimme war nun völlig humorfrei. »Die Quelle der Macht eines palero ist der Kessel oder nganga. In i h m wohnen die Geister der Toten. Oft werden menschliche Schädel oder R ö h r e n k n o c h e n in den nganga gelegt.« »Wie kommen die Leute an so was?« »Meistens ü b e r den biologischen Fachhandel. Gelegentlich werden auch Überreste von Friedhöfen gestohlen.« »Und wie passt dieses M ä d c h e n da rein?« Slidell schaute den Schädel an. »Ich weiß es nicht.« »Wie passt die Metzgerei rein?« »Ein palero stellt eine Bitte. Verursache eine Krankheit, einen Unfall, den Tod. Wenn der Geist der nganga spurt, w i r d Blut als Zeichen der Dankbarkeit geopfert.« »Menschliches Blut?«, fragte Rinaldi. »Normalerweise von einer Ziege oder einem Vogel.« »Aber Menschenopfer sind nicht völlig ausgeschlossen?« »Nein.« Slidell stach mit dem Zeigefinger in die Luft. »Der Junge in Matamoros.« Ich nickte. »Mark Kilroy.« Rinaldi unterstrich etwas in seinem Notizblock. Dann noch einmal. Slidell öffnete den M u n d , doch sein Handy klingelte. Er klappte ihn wieder zu und schaltete ein. »Ja.« Slidell ging eben durch die Tür, als Larabee hereinkam, das Gesicht so angespannt wie eine Maske. »Was ist passiert?«, fragte ich Larabee. »Wann?« Slidells Stimme wehte aus dem Gang herein. »Habe eben einen A n r u f wegen einer Leiche am Lake Wylie bekommen«, sagte Larabee zu mir. »Kann sein, dass ich Ihre Hilfe brauche.«
»Verflucht.« Slidell klang aufgeregt. »Warum?«, fragte ich. »Wir sind dran.« Slidell klappte sein Handy zu. »Dem Opfer fehlt der Kopf«, sagte Larebee.
10 Larabee fuhr mit Hawkins in dessen Transporter. Slidell bot m i r eine Mitfahrgelegenheit an, aber ich kannte seine Autohygiene. U n d da ich weniger tolerant war als Rinaldi, nahm ich mein eigenes Auto. Zwanzig M i n u t e n nach Verlassen des M C M E fuhr ich von der I-485 auf die Steel Creek Road. Hawkins' Wegbeschreibung f o l gend, bog ich nach Südwesten auf die Shopton Road ein, ü b e r querte den A m o h r Creek und fuhr dann auf einer kurvenreichen Straße durch ein Waldstück, das der A x t der Immobilienspekulanten zumindest vorerst entkommen war. Ich wusste zwar nicht genau, wo ich mich befand, hatte aber das Gefühl, dass das M c Dowell-Naturreservat ungefähr im Süden lag und die Grenze zum Gaston County etwa im Westen. N o c h eine Linkskurve, dann entdeckte ich einen Streifenwagen des C M P D vor einer Fläche kabbeligen, blauen Wassers. E i n Uniformierter lehnte an einem hinteren Kotflügel. Ich parkte auf dem Bankett, stieg aus und ging auf i h n zu. Lake Wylie, der sich v o m Mountain Island D a m im Norden bis zum Wylie D a m im Süden erstreckt, ist einer von elf Seen in der Catawba-River-Kette des Stromerzeugers Duke Power. A u f Karten erinnert das D i n g an eine haarige Ader, die sich v o m Tar Heel in den Palmetto State schlängelt. Trotz des Atomkraftwerks, das am südwestlichen Ufer brummt, ist der Lake Wylie umringt von einer Reihe Luxuswohnanlagen - River Hills, The Palisades, The Sanctuary. Palisades - Palisaden gegen wen? Das fragte ich mich oft. Sanc-
tuary — eine Zuflucht wovor? Vor neonfarbenen Barschen und achtbeinigen Kröten? W i e die Bedrohungen auch aussehen mochten, auf diesem Uferstreifen gab es keine befestigten Landsitze. Die wenigen Behausungen, an denen ich vorbeigefahren war, kamen mit A u ß e n verkleidungen aus V i n y l , Vordächern aus A l u m i n i u m und rostenden Carports aus. Einige waren kaum mehr als H ü t t e n , Überbleibsel aus einer Zeit, als die Leute aus Charlotte an »den Fluss« gingen, um der Hektik des Großstadtlebens zu entgehen. Wenn die gewusst hätten. Als der Polizist mich sah, stieß er sich vom Auto ab und nahm eine wachsame Haltung ein. Gesicht und K ö r p e r waren schlank, die Sonnenbrille direkt aus Matrix. Schon aus fünf Metern Entfernung konnte ich den Namen Radke auf einer kleinen Messingplakette auf seiner rechten Brust lesen. Ich winkte kurz. Er reagierte nicht. Hinter Radke lag am Ufer eine in Plastik gewickelte Masse. Ich erklärte ihm, wer ich war. Radke entspannte sich ein wenig und deutete mit dem K i n n auf die Masse. »Die Leiche ist da drüben. Die kleine Bucht hier ist ein Magnet für Müll.« Anscheinend hatte mein Gesicht eine Reaktion gezeigt. Ü b e r raschung? Ein Vorwurf? Radke wurde rot und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich meine nicht das Opfer. Ich meine,so wies aussieht, w i r d hier eine Menge Zeug angespült. Das Kielwasser der Boote drückt hier ziemlich rein.« Ich schaute an Radke vorbei. An sonnigen Wochenenden wimmelte es auf dem Wylie von Booten. An diesem Tag d ü m pelte in der N ä h e nur etwa ein halbes Dutzend. »Haben Sie die Umgebung abgesucht?« »Ich bin das Ufer ungefähr zwanzig Meter in jeder Richtung abgegangen. Hab ein bisschen zwischen die B ä u m e geschaut. Aber nichts Systematisches.«
Ich wollte eben die nächste Frage stellen, als ich zuerst ein Motorengeräusch und dann Kies knirschen hörte. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Ford Taurus, der an der Stoßstange meines Mazdas einparkte. Zwei T ü r e n gingen auf. Rinaldi entfaltete sich aus der einen und stakste auf uns zu. Slidell wuchtete sich aus der anderen und trottete hinter i h m her. Seine Ray-Bans blitzten auf, als der K o p f von links nach rechts fuhr. »Officer.« Slidell nickte in Radkes Richtung. Radke erwiderte das Nicken. N o c h mehr Nicken. Rinaldi-Brennan. Brennan-Rinaldi. »Was haben wir?« Slidell musterte den See, das Ufer, den Wald. »Kopflose Leiche.« »Habe ich bereits gehört.« »Ein Kerl fand sie, als er seinen H u n d ausführte.« »Was für ein Glückspilz.« »Ich w ü r d e eher auf den H u n d wetten.« »Steht das auch in Ihrem Bericht, Radke?« »Dem H u n d schien eine lobende E r w ä h n u n g nicht so wichtig zu sein.« Slidell ignorierte diesen Witzversuch. »Was erzählt er?« »Wollte nur sein Häufchen machen.« Die Ray-Ban-Gläser drehten sich langsam den Matrix-Gläsern zu. »Das war lustig, Radke. Der Spruch mit dem Hund. Ich habe nur ein Problem mit Ihrem T i m i n g . Planen Sie Ihre Witze so, dass ich keine Zeit damit vergeuden muss.« M i t einem Achselzucken zog Radke einen Notizblock hervor. »Der Kerl heißt Funderburke. Wohnt oben an der Straße, geht jeden Tag um sieben, mittags und abends gegen sechs spazieren. Behauptet, die Leiche sei irgendwann zwischen ihrem Morgenund dem Mittagsgang am Dienstag da gewesen.« »Hat er genauer nachgeschaut?«
»Erst heute. Behauptet, er hätte es zuerst einfach nur für Müll gehalten. U n d der H u n d wollte sein Schläfchen.« Pause. »Heißt übrigens Digger.« »Ich schreib's mir gleich auf.« »Mit zwei g.« Todernste Miene. Ich mochte Radke. »Hat er das Paket aufgemacht?« Radke schüttelte den Kopf. »Hat nur einen Fuß gesehen. U n d sofort neun-eins-eins angerufen.« Ich ließ die M ä n n e r allein, ging zu der Leiche und prägte mir dabei meine E i n d r ü c k e ein. Festgetretener Boden. Dichter Mischwald bis knapp drei Meter vor das Ufer. Uferböschung schlammig, abfallend und mit Müll übersät. Ich machte m i r in Gedanken eine Liste. Bier- und Limodosen, Essenstüten. Plastikringe von Sechserpacks, ein triefnasser T u r n schuh, ein Stück Styropor, eine wirres Knäuel Angelschnur. Die Leiche lag auf, nicht unter dem Abfall, und wirkte vor dem See und dem Horizont erbärmlich winzig. Fliegen tanzten über dem blauen Plastik ein wuselndes Ballett. Ich zog Gummihandschuhe an, ging dicht an den Sack und kauerte mich hin. Das Summen wurde zu einem hektischen Brummen, als die Fliegen davonstoben, deren K ö r p e r im Sonnenlicht irisierend glitzerten. Die meisten Leute ekeln sich vor Fliegen. U n d das aus gutem Grund. W i e diejenigen, die m i r jetzt um Gesicht und Haare schwirrten, ernähren sich viele Arten von organischem Material. Sie sind allerdings nicht sehr wählerisch. Ob Fäkalien oder Cheeseburger, es ist alles nur Fressen. W i e jedes Fleisch, ob menschlichen oder anderen Ursprungs. Wenn auch widerwärtig, so sind aasfressende Insekten doch nützliche Zeitgenossen. Da sie ausschließlich an Fressen und Vermehrung interessiert sind, beschleunigen sie den unausweichlichen Verlauf der Verwesung. Als Schüsselfiguren im Recycling-
Plan der Natur arbeiten sie eifrig daran, die Toten der Erde zurückzugeben. V o m forensischen Gesichtspunkt her sind Käfer einfach Klasse. Aber im Augenblick ignorierte ich sie. Ich ignorierte auch den Gegenstand ihres Interesses, stellte nur fest, dass er lose in eine blaue Plastikplane eingewickelt war, wobei ich nicht erkennen konnte, ob das absichtlich passiert war oder die Leiche sich zufällig darin verheddert hatte, als sie im See trieb. Was m i r allerdings auffiel, war das Fehlen von Geruch. Das war m e r k w ü r d i g bei den warmen Temperaturen der letzten Zeit. Wenn die Leiche w i r k l i c h schon seit Dienstagvormittag hier lag, dann sollte es unter diesem Plastik eigendich brodeln. Ich stand auf und untersuchte die unmittelbare Umgebung. Keine Schuhabdrücke. Keine Reifenspuren. Keine Schleifspuren. Keine weggeworfenen Schuhe oder Kleidungsstücke. Keine frisch umgedrehten Steine. Kein Kopf. In weniger als einer Minute ü b e r t ö n t e n M o t o r - und Reifengeräusche das Summen der Caliphoridae. Ich schaute zur Straße. Larabee kam, Kamera in einer Hand, Ausrüstungskoffer in der anderen, auf mich zu. Hawkins öffnete eben die H e c k t ü r e n des Transporters. Beide trugen Tyveck-Overalls. Die Fliegen drehten durch, als Larabee zu mir kam. »Schmeißfliegen. Ich hasse Schmeißfliegen.« »Warum Schmeißfliegen?« »Das Geräusch. Dieses Brummen ist mir unheimlich.« Ich berichtete Larabee, was Radke gesagt hatte. Der ME schaute auf die Uhr. »Wenn Funderburke recht hat, dann haben w i r einen Zeitrahmen von ungefähr achtundvierzig Stunden.« »Achtundvierzig Stunden hier«, sagte ich und deutete auf den Boden.
Leute neigen dazu, Leichen zu bewegen. Wasser ebenfalls. Das P M I konnte achtundvierzig Stunden oder achtundvierzig Tage betragen. So oder so, stinken müsste es hier auf jeden Fall. »Stimmt.« Larabee wischte sich eine Fliege von der Stirn. W ä h r e n d Hawkins fotografierte und Videoaufnahmen machte, gingen Larabee und ich am Ufer entlang. Neben uns leckten die Wellen gleichgültig am Schlamm. Danach machten w i r uns an eine systematische Durchsuchung des Waldstücks, gingen nebeneinander her und suchten mit Augen und Füßen. W i r entdeckten nichts Verdächtiges. Keinen Kopf. Als w i r zur Leiche zurückkehrten, fotografierte Hawkins noch immer. Slidell und Rinaldi waren bei i h m . O b w o h l es u n n ö t i g war, drückte sich jeder Detective ein Taschentuch auf die Nase. Das eine war aus Leinen und trug ein Monogramm. Das andere war aus rotem Polyester. Was einem nicht alles auffällt. »Das sollte reichen.« Hawkins ließ die Kamera auf die Brust sinken. »Sollen w i r den Korken knallen lassen?« »Markieren Sie das Plastik, wo Sie es aufschneiden.« Larabees Stimme klang flach. Ich vermutete, dass er so wenig begeistert war wie ich. M i t einem Scripto-Stift malte der Todesermittler eine Linie auf das Plastik und schnitt dann an ihr entlang. Sollte man je diese Plane mit einer Rolle abgleichen müssen, von der sie eventuell stammte, w ü r d e n die Schnittspurenspezialisten Hawkins' K l i n genspuren sehr leicht von denen unterscheiden k ö n n e n , die der Täter verursacht hatte, als er die Plane abschnitt. Die Leiche lag auf dem Bauch, die Beine angezogen, Brust und Gesicht auf der Erde. Hätte sie ein Gesicht gehabt. Der Torso endete in einem Stumpf zwischen den Schultern, der von Fliegeneiern gesprenkelt war. Auch der Anus zeigte moderate Insektenaktivität. »Nackt wie Gott ihn schuf.« Durch rotes Polyester gesprochen.
W ä h r e n d Hawkins noch einmal zu fotografieren anfing, zogen Larabee und ich uns Gesichtsmasken über und traten an die L e i che. »Sieht j u n g aus«, sagte Rinaldi. Ich stimmte i h m zu. Die Gliedmaßen waren schlank, der K ö r per kaum behaart, und die F ü ß e zeigten keine vergrößerten Z e henballen, Schwielen, verdickte Nägel oder sonstige Indikatoren für fortgeschrittenes Alter. Slidell bückte sich seitlich und spähte unter die Hinterbacken. »Maschinerie komplett.« Die Beobachtung war zwar nicht gerade elegant formuliert, aber korrekt. Die Genitalien waren männlich und voll ausgebildet. »Kein Zweifel, das ist ein weißer Junge«, sagte Rinaldi. Die Haut war gespenstisch bleich, die feine Körperbehaarung hellblond. Ich kniete mich hin. Die Fliegen drehten wieder durch. Larabee wedelte sie weg und kniete sich neben mich. Aus der N ä h e sah ich einen hellgelben Knochen im Fleisch des durchtrennten Halses glitzern. In leuchtend rosigem Fleisch. I r gendwas war da m e r k w ü r d i g . »Die Wunde ist so rot wie ein Porterhouse-Steak.« Larabee sprach aus, was ich dachte. »Ja«, pflichtete ich i h m bei. »Der K o p f ist nicht abgefallen, er wurde abgetrennt. Geht man von einem P M I von zwei Tagen aus, ist die ganze Leiche erstaunlich gut erhalten.« Larabee tastete einen Defekt auf der H ö h e der zehnten Rippe ab, in der rechtsseitigen Muskelmasse, die parallel zum R ü c k g r a t verlief. »Irgendwelche Ideen dazu?« Die Vertiefung sah aus wie eine Reihe sechs kurzer, paralleler Linien mit einer siebten, die sie im rechten W i n k e l überlagerte. »Kontakt m i t irgendwelchem Unrat?« Ich glaubte es eher nicht.
»Vielleicht.« Larabee untersuchte die eine nach oben gedrehte Handfläche, dann die andere. »Keine Verteidigungswunden. Sieht aus, als w ü r d e n w i r verwertbare Fingerabdrücke bekommen.« Zu Hawkins: »Die H ä n d e auf jeden Fall in T ü t e n stecken.« »Kommt der Kerl aus dem Wasser?«, fragte Slidell. »Sieht nicht so aus wie die meisten Wasserleichen, die ich gesehen habe«, sagte ich. »Keine Hinweise auf Fraß durch Wasserbewohner«, sagte Larabee. »Vielleicht war er ja nur kurz drin.« Larabee zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall brauchen w i r nicht nach Wasser in der Lunge suchen. Wenn er w i r k l i c h aus dem See angeschwemmt wurde, dann atmete er bestimmt nicht mehr, als er hineinkam.« »Und, wie sieht das Ganze jetzt zeitmäßig aus?« »Die Leiche liegt so lange hier, dass Schmeißfliegen sie besiedeln und Eier ablegen konnten und einige Nachkommen bereits geschlüpft sind.« M i r war aufgefallen, dass die wenigen vorhanden Larven noch sehr j u n g und keine Puppen oder leeren Puppenhüllen vorhanden waren. »Können Sie das für uns Normalsterbliche übersetzen?« »Die Fliegen dürften die Leiche innerhalb von Minuten gefunden haben, vor allem bei einer so massiven, offenen Wunde. Die Eiablage war eine Sache von Stunden. Z u m Schlüpfen kam es nach zwölf bis achtundvierzig Stunden, abhängig von den Temperaturen.« »Es war warm«, sagte Rinaldi. »Das w ü r d e alles beschleunigen.« »Und, was denken Sie?« Slidell wiederholte seine Frage, diesmal mit leicht verärgertem Unterton. Glaubt man Funderburkes Geschichte, dann stimmt hier i r gendwas nicht, dachte ich mir, behielt es aber für mich. »Ich bin keine Entomologin«, sagte ich. »Aber ich sammle Proben für eine Untersuchung.«
Zusätzlich zum fehlenden Geruch und der nur bescheidenen Insektenaktivität störte mich noch etwas anderes. Wenn die L e i che dort abgelegt worden war, wo sie jetzt lag, oder wenn sie nur kurz im Wasser gelegen hatte, dann w ü r d e das erklären, warum keine Fraßspuren von Wassertieren zu sehen waren. Aber laut Funderburkes Angaben lag sie seit vergangenem Dienstag am Ufer. In der Zeit hätte die örtliche Fauna hier eine Imbissbude aufmachen sollen. Warum also keine Hinweise auf Beschädigungen durch Tiere? Slidell wollte eben etwas sagen, als zwei Spurensicherungstechniker zwischen den B ä u m e n hervortraten. Die Frau war g r o ß , hatte dralle Wangen und Zöpfe, die sie sich um den K o p f gesteckt hatte. Der M a n n war sonnengebräunt und trug eine Maui-JimSonnenbrille. Larabee informierte sie. Beide schienen kein sonderliches I n teresse an langatmigen Erklärungen zu haben. Verständlich. Sie hatten einen langen Nachmittag des Dokumentierens und des Einsammelns von Beweismitteln und der Leiche vor sich. W i r warteten, während Marker platziert, Fotos geschossen und M a ß e genommen wurden. Nachdem die vorläufigen Untersuchungen abgeschlossen waren, schauten beide Techniker den ME an. Larabee wandte sich mir zu und lud mich mit einer Geste zur Mitarbeit ein. W i r traten an die Leiche, ich an der Hüfte, Larabee an den Schultern. Hinter uns auf dem Wasser jaulte ein vorbeifahrendes Boot. Einige Wellen klatschten ans Ufer. »Fertig?« Die Stirn des ME über der Maske war kräftig gerunzelt. Der Augenblick der Wahrheit. Das Umdrehen der L e i che. Ich nickte. Gemeinsam drehten w i r den Torso auf den R ü c k e n . Alle Anwesenden waren alte Hasen, gewohnt an M o r d , Verstümmelungen und all die Grässlichkeiten, die ein Mensch einem
anderen antun kann. Aber ich bezweifle, dass einer der Anwesenden so etwas schon einmal gesehen hatte. Rinaldi sprach aus, was w i r alle dachten. »Verdammte Scheiße.«
11 Auch wenn der Kontakt mit dem Boden die meisten Fliegen abgehalten hatte, war es einigen unverdrossenen Damen doch gelungen, unter die Leiche zu kriechen. Ein weißer Kreis brodelte auf der bleichen, unbehaarten Brust, ein kleineres Oval auf dem Bauch. »Was zum Teufel?« Gedämpft durch rotes Polyester. Als ich mich ü b e r die Leiche beugte, konnte ich sehen, dass die Eimassen nicht gleichmäßig verteilt waren, sondern sich offenbar zu Mustern zusammendrängten. M i t behandschuhtem Finger schob ich verstreute Eier zu den dickeren Streifen, die den Kreis zu begrenzen und zu kreuzen schienen. U n d spürte eine Kälte in meiner Brust. Die Eier bildeten einen auf dem Kopfstehenden fünfzackigen Stern. »Das ist ein Pentagramm«, sagte ich. Die anderen blieben stumm. M i t demselben Finger »säuberte« ich nun das Oval, bis das Muster erkennbar war: 666. »Sieht nicht eben aus wie vom Heiligen Geist inspiriert.« Sli— dells Stimme klang belegt vor Abscheu. »Wie...?« Rinaldi beendete die Frage nicht. »Fliegen sind wie wir«, sagte ich. »Wenn sie die Wahl haben, nehmen sie den einfachsten Weg. Körperöffnungen. Offene Wunden.« Slidell wusste, was ich meinte. »An dem Jungen wurde rumgeschnitzt.«
»Ja.« »Bevor oder nachdem i h m der K o p f abgeschlagen wurde?« Wütend. »Ich weiß es nicht.« »Dann hat Lingo also recht?« »Wir sollten keine voreiligen —« »Haben Sie eine andere Theorie?« Hatte ich nicht. »Gehen wir.« M i t versteinertem Gesicht marschierte Slidell davon. »Er meint das nicht respektlos.« Rinaldi klang entschuldigend. »Seine Nichte hatte Probleme in der Highschool.« Er hielt inne, schien sich zu überlegen, ob er mehr sagen sollte. Entschied sich dagegen. »Wie auch immer, er w i l l diese Greenleaf-Sache unbedingt zum Abschluss bringen. W i r haben Kenneth Roseboro im Visier, den Jungen, der das Haus geerbt hatte.« »Wanda Hornes Neffe«, sagte ich. »Ja.« Wieder ging Rinaldi nicht ins Detail. »Sollen w i r die Gegend mit einem Leichenhund absuchen lassen, damit der v i e l leicht den K o p f findet?« Ich nickte. »Ich rufe gleich mal an.« Als ich mit meinem Ausrüstungskoffer vom Auto zurückkehrte, machte Hawkins Videoaufnahmen und das Spurensicherungsteam ging die Umgebung ab. Das Ufer war bereits gesprenkelt m i t orangefarbenen Markern, die potentielle Indizien kennzeichneten. Zigarettenkippen. Schokoriegeltüten. Papiertaschentücher. Das Meiste w ü r d e sich als nutzlos erweisen, aber in diesem Stadium wusste noch niemand, was relevant und was nur zufällig hier war. Ich öffnete den Koffer und breitete meine Utensilien aus. N e ben mir zog der ME eben ein Thermometer aus dem Futteral, um es in den Anus der Leiche zu schieben. Oder in die Eiermasse. Ich wusste es nicht. Z w e i Stunden lang sammelten und beschrif-
teten w i r Indizien, Larabee an der Leiche, Brennan an den Insekten. Zuerst machte ich Detailaufnahmen, für den Fall, dass etwas auf dem Weg zum Entomologen zu etwas anderem reifte. Diesen Fehler hatte ich einmal gemacht. M i t einem befeuchteten Kinder-Malpinsel kehrte ich dann Eier zusammen. Eine Hälfte konservierte ich in Alkohol. M ö g e n sie in Frieden ruhen. Den Rest brauchte ich lebendig, damit der Entomologe sie zur Speziesbestimmung ausreifen lassen konnte. Diese glückliche Hälfte steckte ich zu Rinderleber und feuchtem Zellpapier in Glasröhrchen. Dann nahm ich m i r die Maden vor. Da die wenigen vorhandenen Larven alle von derselben Spezies und frisch geschlüpft zu sein schienen, machte ich mir nicht die M ü h e , sie nach G r ö ß e zu trennen, sondern nur nach Fundort: Halswunde, Anus, u m gebende Erde. W i e schon bei den Eiern kam eine Hälfte zusammen mit Luft, Nahrung und Zellstoff in Glasröhrchen. Die andere kam zuerst in heißes Wasser, dann in eine A l k o h o l l ö sung. Nachdem ich einige der ausgewachsenen Fliegen mit einem Netz eingefangen und verpackt hatte, sammelte ich Exemplare jeder im Umkreis von einem Meter um die Leiche vorhandenen Spezies. Zu meiner Sammlung gehörten zwei schwarze Käfer, ein langes, braunes Krabbelding und eine Hand voll Ameisen. N u r die Wespen ließ ich in Frieden. Anschließend sammelte ich Erdproben und machte mir N o t i zen über das Habitat: Süßwassersee, Mischwald, halb saure Erde, H ö h e zwischen einhundertsechzig und zweihundert Metern, Temperatur zwischen zwanzig und dreißig Grad Celsius, geringe Luftfeuchtigkeit, volle Sonneneinstrahlung. Schließlich notierte ich mir noch einige Bemerkungen über die Leiche. Nackt. A u f dem Boden liegend, Hintern erhoben, Arme an den Seiten. Enthauptung, kein Blut, keine Körperflüssigkeiten an der Fundstelle. K o p f fehlt. Schnittwunden auf Brust und
Bauch. Minimale Verwesung. Keine Fraßspuren von Wasser- oder Landtieren. Eiermassen an Halswunde und Anus mit Innentemperaturen von 36 beziehungsweise 37 Grad. Unbekannte Todesursache. Es war halb fünf, als ich fertig war. Larabee und Hawkins lehnten an der H e c k t ü r des Transporters und tranken Wasser aus Flaschen. »Durstig?«, fragte Hawkins. Ich nickte. Hawkins zog eine Flasche aus einer Kühlbox und warf sie mir zu. »Danke.« W i r tranken und starrten auf den See hinaus. Larabee sagte als Erster etwas. »Slidell ist überzeugt, dass w i r Teufelsanbeter in unserer Mitte haben.« »Commissioner Lingo wird sich freuen.« Ich konnte die Verachtung in meiner Stimme nicht unterdrücken. Hawkins schüttelte den Kopf. »Der alte Boyce hat die Klappe kaum vierundzwanzig Stunden, nachdem Sie und Slidell in diesem Keller fertig waren, aufgerissen.« »Haben Sie das nicht gewusst? Lingo hat eine Standleitung zu Gott.« Larabee schnaubte. »Können Sie sich noch an diesen Messermord an der Archdale erinnern?« Hawkins zeigte mit seiner Flasche auf Larabee. »Eine lesbische Dame nahm Anstoß daran, dass ihre Partnerin fremdging? Der Leichensack war noch kaum zu, da predigte Lingo schon über die Sünde der Homosexualität.« »Aber kein Mucks letzte Woche, als dieser Trucker den Freund seiner Exfrau abknallte«, sagte Larabee. »Biblisches Motiv. Wenn ich sie nicht haben kann, kriegt sie keiner.« »Wenn Lingo von der Sache da W i n d bekommt, dann baut er das in seine aktuelle Seifenoper ein.« Hawkins warf seine leere
Flasche auf eine Winn-Dixie-Tasche neben der Kühlbox. »The Devil Goes Down to Georgia.« »Da dürfte er aber ziemlich auf dem Holzweg sein«, sagte ich. »Hat das da für Sie nichts mit Satanismus zu tun?« »Das hier schon. Der Keller nicht.« Ich berichtete, was ich gefunden hatte. »Klingt für mich aber auch nicht gerade nach Baptisten«, sagte Hawkins. Ich skizzierte kurz, was ich Slidell und Rinaldi über synkretische Religionen erzählt hatte. Santería. Voodoo. Palo Mayombe. »Welche davon bringen Tieropfer dar?« »Alle.« »Satanisten?« »Ja.« »Worauf tippen Sie?« Larabees Flasche gesellte sich zu der von Hawkins. »Die farbigen Perlen, die M ü n z e n und die katholische Heilige weisen auf Santería hin. Die Holzstöckchen und der nganga mit Kette und Schloss eher auf Palo Mayombe.« »Die menschlichen Überreste?« Ich hob frustriert die Hände. »Das k ö n n e n Sie sich aussuchen. Voodoo. Santería. Palo Mayombe. Satanismus. Aber im Keller gab es keine umgedrehten Pentagramme oder Kreuze, keine Sechssechs-sechs-Symbole, keine schwarzen Kerzen, keinen W e i h rauch. Nichts, was typisch ist für Satanismus.« »Nichts wie diesen Jungen hier.« Larabee deutete mit dem K o p f zum See. »Nein.« »Meinen Sie, dass es eine Verbindung gibt?« Ich führte mir die verstümmelte Leiche am Ufer noch einmal vor Augen. Der Schädel und die Beinknochen aus dem Kessel. Ich hatte keine Antwort.
A u f der R ü c k f a h r t zum Highway kamen mir zwei Autos entgegen. Ü b e r das eine freute ich mich. Ü b e r das andere nicht. Der SUV brachte den Suchhund, den Rinaldi versprochen hatte. Ich w ü n s c h t e dem Tier mehr Glück bei der Suche nach dem Kopf, als ich es hatte. Der Honda Accord wurde von der Frau gefahren, die ich am Dienstagabend vor dem Haus an der Greenleaf gesehen hatte. W i e war der Name unter dem Oberserver-Foto gewesen? Allison Stallings. »Na, Klasse.« Ich schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Wer zum Teufel bist du,Allison Stallings?« Ich notierte mir ihre Autonummer und wünschte Radke Glück, dass er Stallings von der Leiche fernhalten konnte. M e i n Handy klingelte, als ich eben auf die I-77 fuhr. Der Verkehr war dicht, aber noch nicht die Stoßstangenküsserei, die noch kommen würde. Die Anruferkennung zeigte eine unbekannte Nummer mit einer 704-Vorwahl. Ich war neugierig und schaltete ein. »Go Mustangs«, sagte eine M ä n n e r s t i m m e . Ich war m ü d e , abgelenkt und, um ehrlich zu sein, enttäuscht, weil der A n r u f aus der Gegend und deshalb nicht von Ryan kam. Meine A n t w o r t war deshalb nicht allzu höflich. »Wer dran?« Seine Erwiderung war die erste Zeile des Schlachtgesangs der Myers Park Highschool. »Hallo, Charlie.« »Bereit für diesen Kaffee?« »Ist gerade ein schlechter Zeitpunkt.« » U m sechs? Sieben? Acht? Du musst es nur sagen.« »Ich habe den ganzen Tag in Dreck gewühlt. Ich bin m ü d e und schmutzig.« »Wenn ich mich recht erinnere, bist du im Saubermachen r i c h tig gut.« So etwas hörte man im Süden öfters.
Ich bin leistungsfähig. Ich spiele hart. Ich arbeite hart. Manche Leute schaffen das alles und sehen trotzdem immer aus wie aus dem Ei gepellt. Ich g e h ö r e nicht dazu. Nach unseren Tennismatches sah Charlie immer noch aus wie ein G Q - M o d e l . Ich meistens wie eine getaufte Maus. »Danke. Glaube ich.« »Von Katy w e i ß ich, dass du Lammkoteletts magst.« Der plötzliche Schwenk traf mich unvorbereitet. »Ich —« » M e i n e Spezialität. W i e wär's damit? Du duscht, w ä h r e n d ich auf den Markt gehe. W i r treffen uns um sieben bei mir. Du entspannst dich, w ä h r e n d ich den Salat mache und die Koteletts auf den Grill werfe?« Holla, mein Bester! »Katy ist natürlich auch eingeladen. Ich fange sie ab, bevor sie hier w e g g e h t . « Ich nahm an, dass seine M i t v e r s c h w ö r e r i n direkt neben i h m stand. »Es war ein langer Tag«, sagte ich. »Eine Dusche macht eine neue Frau aus dir.« »Aber die alte hat morgen früh immer noch einiges an Arbeit zu erledigen.« Das klang sogar in meinen Ohren lahm. » H ö r zu. Du magst Lammkoteletts, ich mag Lammkoteletts. Du hast keine Lust auf Kochen. Ich schon.« Ertappt. »Ich muss noch ins M E - G e b ä u d e und ein paar Insekten verschicken.« »Schneckenpost?« » V o r w i e g e n d Fliegen.« Ich musste einfach grinsen. » S c h n e c k e n sind W e i c h t i e r e . « »Also Luftpost«, sagte Charlie. »Ich kann aber nicht lange bleiben.« »Lass ich dich auch gar nicht.« Ein Auto scherte vor mir in meine Spur und zwang mich zum
Bremsen. Das Handy fiel mir auf den S c h o ß . M i t einer Hand lenkend, tastete ich danach und hielt es mir wieder ans Ohr. »Bist du noch dran?« »Dachte schon, du hättest aufgelegt«, sagte Charlie. R ü c k b l i c k e n d betrachtet, hätte ich es wahrscheinlich tun sollen. Meine Kleidung kam direkt in die W ä s c h e . U n d mein K ö r p e r direkt unter die Dusche. Als ich aus der Wanne stieg, jagte Birdie eine S c h m e i ß f l i e g e ü b e r den Badezimmerboden. Bevor ich reagieren konnte, hatte er sie gefressen. »Igitt, Bird.« Der Kater sah stolz aus. Oder gerissen. Oder in sich versunken, weil er ü b e r die Geschmacksnuancen von Fliegen nachdachte. L ä c h e l n d verteilte ich O r a n g e n b l ü t e n c r e m e auf meiner Haut. Charlie hatte recht. Ich fühlte mich wirklich erfrischt. Sogar fröhlich. Ausgehen war eine gute Idee. U n d neue Freunde kennenlernen konnte durchaus b e k ö m m l i c h sein. Einige Gedächtniszellen präsentierten eine Collage von B i l dern, die meisten verschwommen wie Schnappschüsse, die man im Regen vergessen hatte. Der Skylark. Charlie in abgeschnittenen Jeans. U n d nichts anderem. Ich in Shorts und einem Tank-Top m i t Pailletten vorne drauf. Ein glitzernder Schmetterling. Oder war es ein Vogel? Haare, wie man sie in den Siebzigern eben hatte. Die Polsterung, die mir in den sonnenverbrannten R ü c k e n stach. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Alten Freund neu kennenlernen, verbesserte ich mich. Freunde. N u r Freunde. Aha, sagten die Gedächtniszellen.
Im Schlafzimmer schaltete ich die Nachrichten ein und ging zur Kommode. »— die Zauberer und die U n z ü c h t i g e n und die M ö r d e r und die G ö t z e n d i e n e r und alle, die die L ü g e heben und ü b e n . Diese Worte der Offenbarung waren noch nie wahrer. Luzifer ist hier, vor der Toren unserer Stadt.« Ich erstarrte, den Slip halb aus der Schublade gezogen.
12 Boyce Lingo stand auf den Stufen des neuen G e r i c h t s g e b ä u d e s , und Kameras und Mikrofone reckten sich i h m entgegen. Hinter i h m stand ein Mann mittleren Alters m i t kurz geschorenen Haaren, Brad-Pitt-Wangen und einem markanten K i n n . D e m k o n servativen Anzug nach zu urteilen, war er sein Assistent. M a r i neblaues Sakko, w e i ß e s Hemd, graue Hose. Er und Lingo sahen aus wie Modeklone. Der Commissioner schaute genau ins Objektiv. » H e u t e wurde eine weitere Leiche entdeckt. N o c h ein U n schuldiger ermordet, der K o p f abgeschlagen, das Fleisch g e s c h ä n det. Warum diese Brutalität? Um Satan zu dienen. U n d was sagen die B e h ö r d e n dazu? Kein Kommentar.« Meine Finger krampften sich um den Slip. »Kein Kommentar zu einer kopflosen Leiche, die vor drei Tagen identifiziert wurde, ein zwölfjähriges K i n d , das aus dem Catawba River gezogen wurde. Kein Kommentar auch zu einem menschlichen Schädel, der am letzten Montag in einem Keller im T h i r d Ward gefunden w u r d e . « Ich stand stocksteif da. »Kein Kommentar, also w i r k l i c h . « Lingo schüttelte in theatralischer Verzweiflung den Kopf. » W a r u m die Öffentlichkeit informieren ü b e r die gottlose Verderbtheit, die unsere Stadt ü b e r fällt?«
Lingo machte eine Pause, um den Satz wirken zu lassen. » B ü r g e r von Charlotte-Mecklenburg, >kein Kommentar< d ü r fen w i r nicht hinnehmen. W i r müssen Antworten verlangen. Schnelle und entschlossene Aktionen. W i r müssen verlangen, dass diese m ö r d e r i s c h e n Teufelsanbeter nicht ungestraft davonkommen. Ich w i l l Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine traurige Geschichte. Eine entsetzliche Geschichte. In London wurde 2001 in einem Fluss eine winzige, kopflose Leiche gefunden. Dieses K i n d wurde Adam genannt, weil bis zum heutigen Tag sein Name nicht bekannt ist. Bekannt ist allerdings, dass dieser kleine Adam von M e n s c h e n h ä n d l e r n nach England geschmuggelt wurde, um dort als Menschenopfer zu dienen.« Lingo streckte den erhobenen Zeigefinger in die Kamera. » W i r müssen unsere Kinder beschützen. Diese Missetäter m ü s sen ausgemerzt werden. Die Schuldigen müssen verhaftet und mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt werden. Satans Vasallen müssen aus unserer Mitte vertrieben werden. In unserer Stadt ist kein Platz für einen Night Stalker. Eine Andrea Yates. Ein C o l u m bine. Einen armen kleinen A d a m . « Birdie leckte mir O r a n g e n b l ü t e n d u f t v o m Bein. Ich konnte den Blick nicht von Lingo nehmen. Richard Ramirez? Andrea Yates? Eric Harris und Dylan Klebold? »Jeder Einzelne von uns muss verlangen, dass diese Morde oberste P r i o r i t ä t erhalten. W i r müssen wachsam sein. W i r m ü s s e n unsere B r ü d e r und Schwestern in Regierung und Polizei dazu drängen, die R ü s t u n g Gottes anzulegen und den H e r r n der Finsternis zu b e k ä m p f e n . W i r müssen uns die H ä n d e reichen und unsere Herzen vereinigen, um unsere g r o ß a r t i g e Stadt und unser County von diesem Krebs zu befreien.« Ein Schnitt zum Nachrichtensprecher. Er redete von A n t o n LaVey, dem G r ü n d e r und, bis zu seinem Tod 1997, Hohepriester der Church of Satan, und dem Autor der Satanic Bible. Hinter i h m lief eine Liste m i t Websites durch.
Kids and Teens for Satan Synagogue of Satan Church of Satan Superhighway to H e l l Satanic Network Letters to the Devil Birdie stupste mein Bein an. Ich ließ den Slip fallen, hob den Kater hoch und d r ü c k t e ihn mir an die Brust, w ä h r e n d mich eine dunkle Vorahnung ü b e r kam. Der Bericht endete mit Ausschnitten aus La Veys Dokumentation von 1993, Speak of the Devil, V o m Teufel sprechen. Sofort klingelte mein Handy. »Haben Sie mit Lingo geredet?« »Natürlich habe ich nicht mit Lingo geredet.« Meine Stimme klang ebenso e m p ö r t wie die Slidells. »Die eitle, alte Kröte hat eben eine Pressekonferenz abgehalten.« »Ich habe das meiste davon m i t b e k o m m e n . « »Wirft der Polizei Vertuschung vor. Sagt dem braven Bürger, er soll die Schlinge bereithalten, damit er im Namen des H e r r n l y n chen kann. Wenn das kein Stich ins Wespennest ist.« Auch wenn Slidell übertrieb, war ich doch größtenteils seiner Meinung. » W i e kommt dieses Arschloch an seine Informationen?« »Als ich heute vom Fundort wegfuhr, kam mir Allison Stallings entgegen.« »Die Madame, die auf der Greenleaf Avenue herumgeschlichen ist?« Seit den Fünfzigern benutzte niemand a u ß e r Slidell mehr den Ausdruck Madame. Wenigstens kannte er noch ein französisches W o r t außer ex-cuse-ay-moi. »Ja«, sagte ich.
»Ich habe beim Observer angerufen. Stallings arbeitet da nicht.« » W a r u m taucht sie dann an meinen Fundorten auf?« »Ich habe verdammt noch mal vor, das herauszufinden.« Einen Augenblick lang schwiegen w i r beide. Im Hintergrund h ö r t e ich Slidells Fernseher den meinen nachäffen. »Glauben Sie, dass Stallings Lingo die Infos steckt?« » M ö g l i c h ist es.« »Was hat sie davon?« »Der Kerl ist eine Rampensau. Vielleicht ist sie eine M ö c h t e gernreporterin, eine Freischaffende, die ab und zu mal Fotos an die Presse verkauft. Vielleicht glaubt sie, dass Lingo die Sache zu was G r ö ß e r e m aufbläst, als sie tatsächlich ist, und dass für sie dann Geld und R u h m abfällt.« Ich wartete, w ä h r e n d Slidell d a r ü b e r nachdachte. »Aber woher bekommt Stallings ihre Infos?« »Vielleicht hat sie einen Polizeifunk-Scanner.« »Wo kriegt so ein kleines M ä d c h e n denn einen PolizeifunkScanner her?«, fragte Slidell mit hohntriefender Stimme. »In jedem Elektronikladen.« »Was Sie nicht sagen. U n d woher w e i ß sie, wie sie mit so einem D i n g umgehen muss?« Slidells Ignoranz, was moderne Technik angeht, hatte mich schon immer verblüfft. Ich hatte G e r ü c h t e gehört, dass er zu Hause noch immer ein Telefon mit W ä h l s c h e i b e hatte. »Das ist ja nicht gerade Astrophysik. Das Gerät tastet eine Reihe von Frequenzen ab, sucht sich die, die gerade in Betrieb ist, und bleibt drauf, damit man m i t h ö r e n kann. Ä h n l i c h wie der Sendersuchlauf in Ihrem R a d i o . « Ich konnte nicht glauben, dass Slidell das zum ersten M a l hörte. »Vielleicht hat Stallings Rinaldis Anforderung eines Leichenhunds mitbekommen. Oder vielleicht hat Lingo selbst einen Scanner.« Wieder wartete ich, bis Slidell das verdaut hatte. Dann: »Wer ist eigentlich dieser Antoine LeVay?« Sein Ton war ein wenig sachlicher geworden.
» A n t o n LaVey. Er g r ü n d e t e die Kirche Satans.« »Gibt's die wirklich?« »Ja.« » W i e viele M i t g l i e d e r ? « »Das w e i ß niemand so genau.« »Wer ist dieses andere Kind, von dem Lingo redete?« »Anson Tyler. Lingo ist da völlig auf dem Holzweg. Tylers ganzer O b e r k ö r p e r fehlte, nicht nur sein Kopf.« » W o h i n verschwand der?« » W e n n eine Leiche im Wasser treibt, h ä n g e n die schweren Teile nach unten. Ein menschlicher K o p f wiegt u n g e f ä h r vier bis fünf Kilo.« Ich hielt inne. Kannte Slidell das metrische System ü b e r haupt? » U n g e f ä h r so viel wie ein Truthahn. Das heißt, der K o p f löst sich relativ früh.« »Das beantwortet meine Frage nicht.« »Die fehlenden Teile sind dort, wohin die S t r ö m u n g sie trug.« »Sie wollen damit also sagen, dass es keine Verbindung gibt zwischen diesem K i n d vom Catawba River und dem Jungen, den w i r heute gefunden haben?« »Ich sage, dass Anson Tyler seinen K o p f aufgrund natürlicher Prozesse verlor, nicht durch eine Enthauptung. An seinem Skelett war nirgendwo eine Schnittspur zu e n t d e c k e n . « »Was ist mit dem Schädel in dem Kessel?« »Das ist eine schwierigere Frage.« » H a b e n Sie an dem Schnittspuren gefunden?« »Nein.« »An den B e i n k n o c h e n ? « »Nein.« »Diese Geschichte m i t dem Jungen in London, stimmt die?« »Ja.« »Erzählen Sie mir davon.« » Z w e i t a u s e n d e i n s wurde unter der Tower Bridge der Torso eines vier- bis sechsjährigen Jungen ohne K o p f und G l i e d m a ß e n aus der Themse gezogen. Die Polizei nannte ihn Adam. Die O b -
duktion ergab, dass er sich nur sehr kurz i n diesem Teil der Welt aufgehalten hatte.« »Ausgehend von was?« » D e r Nahrung in seinem Magen und den Pollen in seiner Lunge. Es zeigte sich a u ß e r d e m , dass er i n den achtundvierzig Stunden vor seinem Tod ein Gebräu zu sich genommen hatte, das die giftigen Calabar-Bohnen enthielt.« »Und?« » C a l a b a r verursacht eine L ä h m u n g , hält das Opfer aber bei Bewusstsein. Es w i r d sehr häufig bei Zauberritualen in Westafrika verwendet.« »Fahren Sie fort.« »Es wurden auch Adams Knochen untersucht, um die geografische Herkunft zu bestimmen.« » W i e funktioniert das?« » N a h r u n g s m i t t e l enthalten Spuren der Erde, in der sie w u c h sen, beziehungsweise auf der die Tiere w e i d e t e n . « Ich hielt es so einfach wie m ö g l i c h . » D u r c h einen Vergleich von Adams Proben mit diversen Orten auf dieser Welt fand man heraus, dass er wahrscheinlich aus der N ä h e von Benin City in Nigeria stammte. E r mittler flogen nach Afrika, fanden aber nur wenig heraus.« »Irgendwelche Verhaftungen?« » N e i n . Aber es gibt Personen, die im Fokus des Interesses stehen. Vorwiegend Nigerianer, von denen einige in Menschenhandel verwickelt sind.« »Aber es gab nie g e n ü g e n d Beweise für eine Anklage.« Skinny war noch nie ein g r o ß e r Freund b ü r g e r l i c h e r Grundrechte gewesen. Seine Verachtung war nicht zu ü b e r h ö r e n . »Genau.« W ä h r e n d eine doppelte Stimme in meinem Schlafzimmer und irgendwo in der Stadt in einer Wohnung, die ich mir lieber nicht vorstellen wollte, Sportergebnisse meldete, musste ich eine Entscheidung fällen. Sollte ich Slidell von dem beunruhigendsten Element erzählen und damit riskieren, dass ich i h n auf eine ganz
falsche Fährte setzte? Oder sollte ich es für mich behalten und damit den V o r w u r f der Behinderung einer Ermittlung riskieren? »Da ist noch mehr«, sagte ich. »Die B e h ö r d e n i n London behaupten, dass in den letzten Jahren einige Hundert schwarze Jungen aus dem System verschwunden und weder in der Schule noch sonst wo wieder aufgetaucht sind. N u r zwei konnten je aufgespürt werden.« » W o zum Teufel sind die Familien?« » B e i V e r h ö r e n gaben Sorgeberechtigte oder Verwandte an, die Jungen hätten G r o ß b r i t a n n i e n verlassen, um nach Afrika z u r ü c k zukehren.« » U n d kein Mensch kann das bestätigen.« »Genau.« »Die Polizei glaubt, dass diese Jungs ermordet wurden?« »Einige tun es.« M e i n Blick wanderte zum Radiowecker. Halb sieben. Ich war nackt, ohne Make-up und mit wirren, nassen Haaren, die aussahen wie Seegras. U n d ich sollte in d r e i ß i g Minuten bei Charlie sein. Ich musste mich beeilen. Aber ich wollte noch wissen, was Slidell und Rinaldi ü b e r das Anwesen an der Greenleaf herausgefunden hatten. »Was haben Sie ü b e r Kenneth Roseboro in Erfahrung gebracht?« »Der gute Kenny ist so 'ne A r t Musiker, der in Wilmington lebt. Behauptet, dass er, kaum dass Tante Wanda das Zeitliche gesegnet hatte und er als Erbe eingesetzt war, den Schuppen vermietet hat.« W ä h r e n d Slidell redete, versuchte ich, mir m i t einer Hand den Slip anzuziehen. » R o s e b o r o wohnte also nie in diesem Haus?« »Nein.« » W i e viele Mieter gab es?« »Einen. Einen aufrechten B ü r g e r namens Thomas Cuervo. T-Bird für seine Freunde und Geschäftspartner.«
»Was für ein Geschäft?« »Beschissener, kleiner Laden d r a u ß e n am South Boulevard.« Slidell schnaubte. »La B o t á n i c a Buena Salud. Naturheilmittel, V i t amine, Kräutermedizin. Ich kann einfach nicht glauben, dass die Leute für so einen Schafscheiß Geld ausgeben.« Auch wenn ich Slidell da nicht unbedingt widersprechen konnte, war ich nicht in der Stimmung für seine Ansichten ü b e r ganzheitliche Medizin. »Hat Cuervo eine Akte?« » A u ß e r mit Gehirnstimulanzien und B l ä h u n g s p u l v e r n handelt T - B i r d hin und wieder auch m i t stärkeren P h a r m a z e u t i k a . « »Er ist ein Drogendealer?« » N u r Kleinkram. U n d ein paar Verwarnungen wegen Alkohol und u n g e b ü h r l i c h e m Verhalten.« Als ich ein K i c k b o x - M a n ö v e r versuchte, verfing mein Slip sich in meinem erhobenen F u ß . Ich kippte um und knallte mit dem Ellbogen gegen die Wand. »Scheiße!« Birdie schoss unters Bett. »Was treiben Sie denn?« » W a r u m beschloss Roseboro zu verkaufen?« Ich ließ mein H ö s c h e n sein und rieb mir den Ellbogen. »T-Bird machte sich aus dem Staub und h i n t e r l i e ß einiges an Mietschulden.« »Wohin?« » R o s e b o r o meint, das w ü r d e er wirklich gern wissen.« » H a b e n Sie ihn nach dem Keller gefragt?« »Das hebe ich mir für unseren Plausch morgen früh auf.« »Was dagegen, wenn ich d a z u k o m m e ? « Eine Pause. »Was soll's.«
13 Ich parkte an der Grenze zwischen Fourth und First Ward. Als ich die Church Street entlangging, konnte ich m i r den Gedanken nicht verkneifen, dass dieses Viertel das Aushängeschild für die Wiederbelebung der Innenstadt Charlottes war. Charlies Haus war das mittlere in einer Reihe von neun funkelnagelneuen Stadthäusern. Gleich um die Ecke lag das M c C o l l Center for Visual A r t , ein Komplex aus Ateliers und Galerien, der erst vor Kurzem in eine renovierte Kirche eingezogen war. Ein leeres Grundstück v o m ehemaligen Gotteshaus entfernt wies ein Geröllhaufen auf eine weitere Implosion hin. Das alte R e n a i s s a n c e - P l a c e - A p a r t m e n t g e b ä u d e hatte sich überlebt und war abgerissen worden, um Platz zu machen für einen schicken, neuen T u r m . Z w e i Blocks weiter im Südosten standen andere G e b ä u d e , denen ebenfalls die Abrissbirne drohte, darunter das Mecklenburg County Government Services Center, unser umgebautes Sears Gartencenter. Jedem im M C M E graute vor dem Umzug. C'est la vie à la Charlotte. Eine neue Landschaft, die aus der alten erwächst. Um 19 U h r 23 d r ü c k t e ich auf Charlies Klingel, die feuchten Haare nur zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Bezaubernd. Immerhin hatte ich Rouge und Mascara geschafft. Die T ü r wurde geöffnet von einem Gastgeber, der a u ß e r o r dentlich gut aussah. Stonewashed Jeans. Slipper ohne Socken. Sweatshirt mit R e i ß v e r s c h l u s s , das die Brust darunter erahnen ließ. »Tut mir leid, dass ich zu spät k o m m e . « »Kein Problem.« Charlie drückte mir ein Küsschen auf die Wange. Er roch auch gut. Burberry? Wieder blitzte der Skylark auf. Charlie musterte meine Leggings und das neue Max-Mara-
Shirt und nickte anerkennend. »O ja. Im Saubermachen ist sie richtig gut.« Das »richtig« war doppelt so lang wie es hätte sein sollen. » D e n Spruch hast du heute schon mal benutzt.« » D i e Erfahrung hat mich den Wert der Bescheidung gelehrt.« »Bescheidung.« » W e n n ich ungezügelt meinen W i t z sprühen lasse, überrennt mich die Weiblichkeit dieser Stadt. An einem Abend gelangen mir mal drei flotte S p r ü c h e . Die Polizei musste Barrikaden aufstellen.« » W i e lästig für die Nachbarn.« »Ich bekam einen Beschwerdebrief v o m Hausbesitzerverband.« » G e h e n oder fahren?« Ich schaute i h n fragend an. »Das Haus hat vier Etagen.« »Es gibt einen Aufzug«, vermutete ich. Charlie lächelte bescheiden. » M ü s s e n w i r bis ganz nach oben?« »Die K ü c h e ist im ersten Stock.« »Das schaff ich per pedes.« Charlie ging voran und erklärte m i r die Anlage des Hauses. B ü r o und Garage im Erdgeschoss, W o h n - und Esszimmer, K ü c h e und privates Arbeitszimmer im ersten, Schlafzimmer im zweiten, Partyraum und Dachterrasse im dritten Stock. Die Innenausstattung war rustikal modern, gehalten in Braunund C r e m e - T ö n e n . Wahrscheinlich Umbra und Ecru im Designer-Sprech. Aber die Einrichtung zeigte auch eine persönliche Note. Gem ä l d e , die meisten modern, aber auch ein paar traditionelle und wahrscheinlich alte. Skulpturen in Holz und Metall. Eine afrikanische Schnitzerei. Ein Maske, die ich für indonesisch hielt. W ä h r e n d w i r die Treppen hochstiegen, schaute ich m i r die
Fotos an. F a m i l i e n z u s a m m e n k ü n f t e , manche Gesichter wie verschiedene Kaffeearten, andere eher in Richtung Mokka-Olive. Gestellte Aufnahmen eines großen, schwarzen Mannes i m T r i kot der Celtics. Charlie » C C « H u n t in seiner N B A - Z e i t . Gerahmte Schnappschüsse. Ein Skiausflug. Ein Nachmittag am Strand. Eine Segeltour. A u f den meisten stand Charlie neben einer gertenschlanken Frau mit schwarzen Haaren und zimtfarbener Haut. Die Frau, die am 11. September ums Leben gekommen war? Die Antwort fand ich auf einem Hochzeitsfoto auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Ich schaute weg, weil mich der Anblick traurig machte. Oder verlegen? Sein Blick verschleierte sich, aber er sagte nichts. Die K ü c h e bestand aus Edelstahl und Massivholz. Charlies kulinarische B e m ü h u n g e n lagen auf einer Arbeitsplatte aus Granit. Er deutete auf die Platten. »In Rosmarin eingelegte Lammkoteletts. Marinierte Zucchini. Gemischter Salat ä la H u n t . « » B e e i n d r u c k e n d . « M e i n Blick wanderte zum Tisch. Er war für zwei gedeckt. Charlie sah, dass ich es sah. »Leider hatte Katy schon etwas vor.« »Aha.« Wahrscheinlich die Haare waschen. »Wein? Martini?« Offensichtlich hatte meine Tochter nichts von meiner lebhaften Vergangenheit erzählt. »Perrier, bitte.« »Zitrone?« »Super.« »Kein Alkohol?« Aus dem geöffneten Kühlschrank heraus gesprochen. »Hm.« Obwohl Charlie wusste, dass ich mir in der Highschool einige Biere hinter die Binde gegossen hatte, fragte er mich nicht nach meinem veränderten Verhältnis zum Alkohol. Das gefiel mir.
» K o m m s t du m i t auf die Terrasse? Der Ausblick ist nicht schlecht.« Ich war noch nie ein Herbst-Mensch. Ich finde die Jahreszeit bittersüß, die letzten A t e m z ü g e der Natur, bevor die Uhren zurückgestellt werden und das Leben sich für den langen, dunklen Winter einmummelt. Vergessen Sie Johnny Mercers Autumn Leaves. Meiner Ansicht nach ist das französische Original viel präziser. Les Feuilles Mortes. Die toten Blätter. Vielleicht liegt es an meiner Arbeit, der täglichen Beschäftigung m i t dem Tod. Wer w e i ß ? M i r sind Krokusse und Narzissen und K ü k e n lieber. Dennoch war Charlies »nicht schlecht« ein Understatement. Der Abend war so funkelnd, dass er fast lebendig wirkte, so wie man Abende nur erlebt, wenn die sommerlichen Pollen zur Ruhe gekommen sind und das Herbstlaub seinen Farbenrausch erst noch vorbereitet. U n z ä h l i g e Sterne sprenkelten den Himmel. Die erleuchteten T ü r m e und Wolkenkratzer machten die Innenstadt zu einer Disney-Kreation. Der Vergnügungspark des g r o ß e n Geldes. W ä h r e n d Charlie grillte, unterhielten w i r uns und probierten dabei mehrere Routen aus. N a t ü r l i c h führte die erste in R i c h tung Erinnerungen. Partys im » T h e R o c k « . Springbreak in Myrtle Beach. W i r lachten am meisten ü b e r unseren selbst gebastelten Umzugswagen fürs Schülerfest damals, ein Wal aus Draht und Zellstoff, dem ein Kleeblatt samt Stiel aus dem Maul ragte. College-Wal isst Glückssache. Damals hielten w i r das für Groucho-Marx-witzig. W i r k r ü m m t e n uns vor Lachen bei der Erinnerung an unsere M o d e m o n s t r o s i t ä t e n . Cordsamt-Jacken. H ä k e l m ü t z e n mit BierLogos. M a c r a m e - U m h ä n g e t a s c h e n . Pumps in Bonbonfarben. Der Skylark wurde nicht e r w ä h n t . Nachdem Koteletts und G e m ü s e gegrillt waren, gingen w i r wieder ins Esszimmer hinunter. W i r wurden unbefangener, und das Gespräch wandte sich ernsteren Themen zu.
Charlie erzählte von einem Teenager, den er verteidigte. O b wohl geistig behindert, war der Junge des Mordes an seinen G r o ß e l t e r n angeklagt. Ich berichtete von den Knochen im Kessel, Anson Tyler und Boyce Lingos j ü n g s t e n Fernsehauftritten. Warum auch nicht. Miteinander hatten Lingo und Stallings so gut wie alles an die Öffentlichkeit gezerrt. »Lingo w i l l darauf hinaus, dass es zwischen den Fällen eine Verbindung gibt?« »Er deutet es an. Aber er i r r t sich. Erstens wurde Anson Tyler nicht enthauptet. U n d ich gebe zwar zu, dass die verstümmelte Leiche am Lake Wylie an Satanismus denken lässt, aber im Greenleaf-Keller gibt es keinen Hinweis auf Teufelsanbetung. Die Nutztiere, die Statue der heiligen Barbara, die Schnitzfigur von Eleggua, die Kessel. Das alles riecht nach Santería.« »Ignorier ihn einfach. Lingo w i l l sich u m einen Sitz i m Staatssenat bewerben und braucht Publicity.« »Wer w ä h l t denn diesen Trottel?« Charlie betrachtete meine Frage als rhetorisch. »Dessert?« »Gern.« Er verschwand und kehrte kurz darauf m i t T o r t e n s t ü c k e n von der Größe von Schlachtschiffen z u r ü c k . »Bitte sag mir, dass die nicht auch noch selbst gemacht ist.« » B a n a n e n c r e m e von Edible A r t . Ich bin zwar unschlagbar, doch leider haben sogar meine Fähigkeiten Grenzen.« Charlie setzte sich. »Gott sei Dank.« Z w e i Bissen, und ich war schon wieder bei Lingo. Diesmal zog ich wirklich vom Leder. »Lingos hysterische Tiraden ü b e r Satanismus und Kindsmorde jagen den Leuten nur Angst ein. Aber was noch schlimmer ist: Er k ö n n t e die Spinner vom rechten Rand dazu bringen, wieder Kreuze auf den Rasen von Aschkenasim und Athabascans zu verbrennen. Ich habe das alles schon gesehen. Irgendein scheinhei-
liger Hirnamputierter bramarbasiert in Fernsehen und Radio, und schon schießen die B ü r g e r w e h r e n wie Pilze aus dem B o den.« Ich stieß mit der Gabel in die Luft, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Statuen? Perlen? Kokosnussschalen? Vergiss es. M i t Satan hat dieser Keller absolut nichts zu tun.« Charlie streckte mir die geöffneten Handflächen entgegen. »Leg deine Waffe nieder, und w i r gehen in Frieden auseinander.« Ich legte die Gabel auf den Teller. Uberlegte es mir dann anders, nahm sie wieder zur Hand und stach sie in die Torte. Später w ü r d e ich mich dafür hassen. Was soll's. »Lingo hat dich wirklich sauer gemacht«, sagte Charlie. »Ist eine seiner Spezialitäten.« M i t einem M u n d voller Tortenboden und Bananencreme. »Hast du jetzt genug Dampf abgelassen?« Ich wollte protestierten. Ließ es dann aber peinlich b e r ü h r t sein. W i r a ß e n beide schweigend. Dann: »Athabascans?« Ich hob den Kopf. Charlie lächelte. »Aschkenasim?« »Du w e i ß t , was ich meine. Minderheiten, die nicht verstanden werden.« »Aleuten?«, schlug Charlie vor. »Gutes Beispiel.« W i r lachten beide. Charlie streckte die Hand aus und hielt dann inne, als hätte i h n die Bewegung selbst überrascht. Etwas verlegen deutete er mit dem Zeigefinger. »Du hast Schlagsahne auf der Lippe.« Ich wischte sie m i t der Serviette weg. »So«, sagte ich. »So«, sagte er. »Das war schön«, sagte ich. »Das war es w i r k l i c h . « Charlies Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Kurze Verlegenheit.
Ich stand auf und fing an, das Geschirr einzusammeln. »Keine C h a n c e . « Charlie sprang auf und nahm mir die Teller aus der Hand. » M e i n Haus. Meine R e g e l n . « »Diktator«, sagte ich. »Ja«, entgegnete er. Eine Stunde später lag ich in meinem Bett. Allein. Vielleicht war es die Sache mit dem Slip. Was auch immer. Birdie blieb auf jeden Fall auf Distanz. Es war sehr still im Zimmer. Mondlichtsplitter fielen auf den Schrank. Bei der Stille im Zimmer und den Anstrengungen des Tages hätte ich eigentlich schnell einschlafen sollen. Stattdessen drehten sich meine Gedanken wie ein Karussell. Ich hatte Charlies Gesellschaft genossen. Die Unterhaltung war entspannt gewesen, nicht verkrampft, wie ich erwartet hatte. Eine plötzliche Erkenntnis. Geredet hatte fast ausschließlich ich. War das gut? War Charlie H u n t der stille, nachdenkliche Typ? Ein stilles, aber tiefes Wasser? Oder nur ein plätscherndes Flachwasser? Charlie schien meine V e r ä r g e r u n g ü b e r Lingo verstanden zu haben. Obwohl ich tatsächlich heftig Dampf abgelassen hatte, hatte er mich nicht behandelt wie ein Kleinkind mit Schlafmangel. Unser Dialog hatte sich ausschließlich auf die Gegenwart bezogen. Keine E r w ä h n u n g früherer Ehen, verlorener Liebschaften, ermordeter Ehefrauen. Keine Aufarbeitung der Jahre zwischen dem Skylark und heute. Ich erinnerte mich an das Hochzeitsfoto. An Charlies Gesichtsausdruck. Was hatte ich da in seinen Augen gesehen? Groll? Schuldbewusstsein? Trauer um eine Frau, die von Fanatikern in die Luft gejagt worden war? Nicht, dass ich mit Charlie Hunt Geheimnisse teilen wollte. Pete und seine nicht einmal d r e i ß i g j ä h r i g e Verlobte Summer hatte ich nicht e r w ä h n t . Oder Ryan und seine längst verflossene
Geliebte und seine gefährdete Tochter. Es hatte eine unausgesprochene Komplizenschaft zwischen uns geherrscht, beide waren w i r an den R ä n d e r n unserer jeweiligen Vergangenheit entlanggesegelt. Das war auch besser so. Ryan. Ich hatte nicht erwartet, dass Ryan anrief. U n d doch hatte ich beim Nachhausekommen Hoffnung gespürt, als das rote Licht blinkte. Drei Nachrichten. Katy. Pete. Ein Aufleger. Meine Tochter wollte ü b e r unseren samstäglichen Einkaufsbummel reden. N a t ü r l i c h wollte sie das. M e i n mir entfremdeter Ehemann wollte mit mir ein Abendessen vereinbaren, damit ich Summer kennenlernte. Das war so wahrscheinlich wie Schweinekoteletts am Sabbat. Das Karussell drehte sich immer schneller. Ryan. War er g l ü c k l i c h mit Lutetia wiedervereint? War es wirklich vorbei zwischen uns? Machte mir das etwas aus? Einfach Frage. Sollte es m i r etwas ausmachen? Pete. Fang gar nicht erst an. Charlie. Es reichte. Die Leiche vom Lake Wylie. Was hatte mich an dieser Leiche gestört? Dass, wenn man Funderburkes Aussage glaubte, viel zu wenig Maden vorhanden waren? Dass es keinen Geruch und keine Fraßspuren gab? Der fehlende Kopf? Die in das Fleisch geschnittenen Symbole? O Mann. Gab es eine Verbindung zwischen dem Lake-Wylie-Fall und dem Greenleaf-Keller? Wenn ja, wie sah die aus? Ersterer deutete auf Satanismus hin. Letzterer sah aus wie S a n t e r í a oder eine Variante davon wie etwa Palo Mayombe.
Was war mit dem K o p f des Jungen vom Lake Wylie passiert? Ein plötzliches Bild. Das Stück H i r n , das in dem Kessel vergraben gewesen war. War es menschlich? Ich prägte mir ein: Larabee fragen. Meine pessimistischen Hirnzellen warfen einen neuen Gedanken auf. Mark Kilroys Gehirn war in einem Kessel gefunden worden. Adolfo de Jesus Constanzo und seine J ü n g e r waren eine Perversion von Palo Mayombe. Sie waren keine Satanisten. Kenneth Roseboro. Sagte Roseboro die Wahrheit über das Haus an der Greenleaf? Ü b e r seinen Mieter? Wo war T - B i r d Cuervo? Cuervo. War das nicht Spanisch für »Krähe«? Thomas Crow. T-Bird. Putzig. Was für eine Geschichte w ü r d e Roseboro morgen früh e r z ä h len? Der v e r s t ü m m e l t e Junge vom Lake Wylie. Die Knochen aus dem Kessel. Das Schulfoto. Boyce Lingo. Charlie H u n t . Petes Hochzeit. Ryans V e r s ö h n u n g mit Lutetia. U n d so weiter. U n d so weiter. Verschmelzende Bilder. Verwirrte Gedanken. Aber nicht so verwirrt, wie sie noch werden w ü r d e n .
14 Das C M P D , die Polizei von Charlotte-Mecklenburg, hat seine Zentrale im Law Enforcement Center, einem geometrischen Klotz aus Beton, der sich drohend an der Ecke Fourth und M c -
Dowell erhebt. Direkt g e g e n ü b e r ist das Mecklenburg County Courthouse, das G e r i c h t s g e b ä u d e , vor dem Boyce Lingo seinen j ü n g s t e n Auftritt hatte. Die Detectives sind im ersten Stock des Law Enforcement Center untergebracht. Um acht U h r zeigte ich meinen Ausweis, passierte die Sicherheitskontrollen und fuhr mit dem Aufzug E l l bogen an Ellbogen und H i n t e r n an H i n t e r n mit Polizisten und Zivilisten, die Becher von Starbucks und Caribou Coffee in den H ä n d e n hielten. Die Gespräche drehten sich um das bevorstehende lange Wochenende. Columbus Day. Ich hatte ganz vergessen, dass Montag ein Feiertag war. Kein Picknick, kein Grillabend für dich. Du Loser. Kenneth Roseboro erschien neunzig Minuten später, als Slidell befohlen hatte. Seine Verspätung sorgte bei Skinny nicht gerade für allerbeste Laune. Ebenso wenig wie die B r ü h e , die im Morddezernat als Kaffee durchging. W ä h r e n d w i r warteten, kippten Slidell und ich eine ganze Kanne hinunter. Rinaldi war unterwegs, um Schulfotografen das Porträt aus dem Kessel zu zeigen, und ich war deshalb allein mit der schlechten Laune seines Partners. U n d das sorgte bei mir nicht gerade für allerbeste Stimmung. Slidells Tischtelefon klingelte um 9 U h r 37. Roseboro sitze in V e r h ö r r a u m drei. A u d i o - und V i d e o ü b e r w a c h u n g seien bereit. Vor dem Eintreten blieben Slidell und ich vor dem Spionglasspiegel stehen und schauten uns Wanda Hornes Neffen an. Roseboro saß, Heß die F ü ß e in Sandalen baumeln und hatte die d ü r r e n , langen Finger auf der Tischplatte verschränkt. Er war knapp eins sechzig g r o ß , ungefähr sechzig K i l o schwer und hatte einen m e r k w ü r d i g ovalen Kopf, der auf seinem Hals balancierte wie ein Wellensittich auf seiner Stange. » N e t t e Frisur«, schnaubte Slidell. Konzentrische Kreise aus Graten und Furchen schlangen sich um Roseboros Schädel.
»Er hat eine dreisechziger Welle«, sagte ich. » W i e Nelly.« Slidell schaute mich verständnislos an. »Der R a p p e r . « Der Blick veränderte sich nicht. »Schickes H e m d « , bemerkte ich, um das Thema zu wechseln. Es war l i m o n e n g r ü n und groß genug für ein Rennpferd. »Aloha.« Slidell zog die Hose hoch. Der Gürtel spannte nun ü b e r der Rolle, die seine Taille darstellte. » B r i n g e n w i r den W i c h ser mal zum Schwitzen.« Roseboro stand auf, als w i r das Zimmer betraten. »Hinsetzen«, bellte Slidell. Roseboro gehorchte. »Freut mich, dass Sie es einrichten konnten, Kenny.« »Der Verkehr war ziemlich heftig.« »Sie hätten früher losfahren sollen.« Slidell betrachtete Roseboro wie Dreck in der Gosse. »Ich hätte ü b e r h a u p t nicht kommen müssen.« Roseboros Ton war irgendwo zwischen verstimmt und gelangweilt. »Da haben Sie allerdings recht.« Slidell knallte einen Ordner auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl g e g e n ü b e r seinem Gesprächspartner. »Aber für einen aufrechten B ü r g e r wie Sie, was ist da schon eine kleine Unannehmlichkeit, nicht?« Roseboro hob eine knochige Schulter. Ich setzte mich neben Slidell. Roseboros Blick wanderte zu mir. » W e r ist die Tussi?« »Frau Doktor hat mir geholfen, Ihren Keller auszuräumen, Kenny. Haben Sie dazu was zu sagen?« »Was bin ich Ihnen schuldig?« M i t einem Grinsen. »Halten Sie das für witzig?« Wieder hob sich die Schulter. Slidell wandte sich an mich. » H a b e n Sie was Witziges gehört?« » N o c h nicht«, sagte ich. »Ich habe nichts Witziges gehört.« Slidell wandte sich nun wieder Roseboro zu. »Sie haben Probleme, Kenny.«
»Jeder hat Probleme.« Nonchalant. »Aber nicht jeder hat einen kleinen Palast an der Greenleaf.« »Ich hab's Ihnen doch schon gesagt. Ich war nicht mehr i n dem Haus, seit ich neun war. War völlig perplex, als die alte Dame es mir vererbt hat.« »Tantes Lieblingsneffe.« »Tantes einziger Neffe.« N o c h immer völlig sorglos. »Keine eigenen Kinder?« » N u r eins. Archie.« » U n d wo ist Archie zur Zeit?« Slidell l i e ß seine Stimme weiterhin höhnisch klingen. »Friedhof.« »Erstaunlich. Ich frage, wo ist Archie, und Sie bringen Friedhof. Ein Knaller, direkt aus dem Bauch heraus.« Wieder wandte Slidell sich an mich. »Ist er nicht eine Marke? W i r f t mit Witzen einfach nur so um sich.« »Sehr lustig«, pflichtete ich i h m bei. »Archie starb m i t sechzehn bei einem Autounfall.« » M e i n Beileid für Ihren Verlust. Aber jetzt reden w i r ü b e r den Keller.« »Soweit ich mich erinnern kann, gab's da Spinnen, Ratten, verrostete Werkzeuge und einen Haufen M o d e r . « Roseboro schnippte mit den Fingern, als w ä r e i h m plötzlich etwas klar geworden. » D a r u m geht's. Sie wollen mich drankriegen, weil ich meinen Haustieren keine sichere Umgebung geboten habe. Gefährdung von Tieren, richtig?« »Sie sind wirklich zum Schreien, Kenny. Ich wette, Sie versuchen, in den Comedy-Kanal zu k o m m e n . « Wieder warf Slidell mir den Ball zu. »Was meinen Sie? W i r zappen uns eines Abends durchs Programm, und da sehen w i r Kenny mit einem M i k r o in der Hand?« »Seinfeld hat auch als Stand-up-Comedian angefangen.« »Da ist nur ein Problem.« Slidell durchbohrte Roseboro m i t einem Blick, der sagte, dass er alles andere als amüsiert war. »Sie
werden hier nicht aufstehen oder rausgehen oder irgendwohin gehen, wenn Sie sich nicht bald ein bisschen mehr M ü h e geben, Arschloch.« Roseboros Gesicht zeigte nur G l e i c h g ü l t i g k e i t . » C h â t e a u Greenleaf?« Slidell knipste die M i n e aus seinem K u gelschreiber und hielt ihn über seinen Notizblock. »Soweit ich w e i ß , wurde der Keller als W a s c h k ü c h e und Vorratsraum benutzt. U n d ich glaube, da unten war auch eine Werkstatt.« »Falsche Antwort.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, M a n n . « »Ich rede von M o r d , Hohlbirne.« Roseboros Apathie zeigte erste Risse. »Was?« »Geben Sie's auf, Kenny. Vielleicht wollen Sie sich ja auf R e l i gionsfreiheit berufen.« »Was soll ich aufgeben?« »John Gacy.Jeffrey Dahmer. Regel N u m m e r eins, Trottel: Verstecke nie L e i c h e n t e ü e im eigenen Haus.« »Leichenteile?« Jetzt zeigte Roseboro deutliches Interesse. Slidell starrte ihn nur an. M i t weit aufgerissenen Augen richtete Roseboro eine Frage an mich. »Wovon redet er?« Slidell öffnete den Ordner und klatschte die Tatortfotos eins nach dem anderen auf die Tischplatte. Der Kessel. Die Statuen der heiligen Barbara und von Eleggua. Das tote H u h n . Der Ziegenschädel. Die menschlichen Überreste. Roseboro betrachtete die Fotos, r ü h r t e sie aber nicht an. Nach vollen zehn Sekunden wischte er sich m i t der Hand ü b e r den Mund. »Das ist doch Unsinn. Woher soll ich denn wissen, was ein Mieter in meinen Keller schleppt? Ich hab's Ihnen doch gesagt. Ich war nie in dem Haus drin.« Slidell reagierte mit Schweigen. W i e ü b l i c h fühlte Roseboro sich gezwungen, die Stille zu füllen.
» H ö r e n Sie. Ich hab einen B r i e f von einem Nadelstreifen-Typ bekommen, in dem stand, das Haus g e h ö r t jetzt mir. Ich hab die Papiere unterschrieben und eine Anzeige geschaltet. Ein Kerl namens Cuervo hat angerufen und es für ein Jahr g e m i e t e t . « »Haben Sie ihn überprüft?« »Ich hatte ja keine Etage im Trump-Tower anzubieten. W i r haben uns auf einen Preis geeinigt. Cuervo hat gleich bar bezahlt.« »Wann war das?« Roseboro starrte zur Decke und kratzte sich mit den Fingern der einen Hand einen Schorf auf der anderen. Schließlich sagte er: » M ä r z vor einem Jahr.« » H a b e n Sie eine Kopie des Mietvertrags?« »Hab's nie geschafft, einen zu schreiben. Cuervo hat mir jeden Monat das Geld r ü b e r g e s c h o b e n und hatte nie irgendwelche W ü n s c h e . Nach einer Weile hatte ich den Papierkram ganz vergessen. Was blöd war, wie sich jetzt zeigt.« » W i e zahlte C u e r v o ? « » W i e schon gesagt. Bar.« Slidell wedelte mit den Fingern, wollte mehr h ö r e n . »Er hat's mit der Post geschickt. War mir doch völlig egal, ob der Kerl ein Konto hatte, und ich hatte keine Lust, jeden Monat nach Charlotte zu fahren.« »Dieses kleine Arrangement hatte nichts mit dem Finanzamt zu tun, oder?« Roseboros Finger legten einen Gang zu. »Ich bezahle meine Steuern.« »Aha.« Hautschuppen rieselten auf die Tischplatte. »Können Sie damit bitte aufhören«, sagte Slidell. » M i r dreht sich der Magen u m . « Roseboro legte beide H ä n d e in den S c h o ß . »Erzählen Sie mir von Cuervo.« »Latino. Hat einen recht netten Eindruck auf mich gemacht.«
»Frau? Familie?« Wieder hoben sich die Schultern. » W i r waren ja nicht gerade Brieffreunde.« »War er legal?« »Bin ich vielleicht die Einwanderungsbehörde?« Slidell zog einen Ausdruck aus seinem Ordner. Von meiner Position aus wirkte das Foto dunkel und unscharf. »Ist er das?« Roseboro schaute sich das Gesicht kurz an und nickte. »Erzählen Sie weiter.« Slidell nahm seinen K u l i wieder zur Hand. Ich vermutete, dass das Notizenmachen nur Show war. Wieder zuckte Roseboro die Achseln. Diese Geste beherrschte er wirklich. »Juni hat der Kerl aufgehört zu zahlen und ist auch nicht mehr an sein Handy gegangen. Anfang September war ich dann so sauer, dass ich hingefahren bin, u m ihn persönlich rauszuschmeißen.« Roseboro schüttelte den Köpf vor Enttäuschung über seinen unmoralischen Mitmenschen. » D e r S c h e i ß k e r l war verschwunden. Hat mich echt ü b e r den Tisch gezogen.« »Das treibt mir ja die T r ä n e n in die Augen, Kenny, wo Sie doch so ein ehrbarer Mensch sind und alles. Hat Cuervo seine Sachen mitgenommen?« Roseboro schüttelte den Kopf. »Hat alles dortgelassen. War nur Schrott.« » H a b e n Sie seine N u m m e r ? « Roseboro zog sein Handy vom Gürtel, schaltete es an und ging das Telefonverzeichnis durch. Slidell notierte sich die Ziffern. »Weiter.« »Sonst gibt's nichts mehr zu sagen. Ich hab mir einen Makler genommen und das Haus verkauft. Ende der Geschichte.« » N o c h nicht ganz.« Slidell w ü h l t e in dem Fotostapel und zog die Aufnahme des menschlichen Schädels heraus. »Wer ist das?« Roseboro schaute kurz auf das Foto und dann wieder hoch. » M e i n Gott! Woher soll ich denn das wissen?«
Slidell zog eine Kopie des Schulfotos aus dem Ordner und hielt es in die H ö h e . » U n d wer ist das M ä d c h e n ? « Roseboro sah aus wie ein Mann, dessen H i r n heftig arbeitete. Rang er um Fassung? Um Verständnis? Suchte er nach einer Erk l ä r u n g ? Einem Ausweg? »Dieses M ä d c h e n habe ich noch nie i n meinem Leben gesehen. H ö r e n Sie, kann ja sein, dass ich versucht habe, bei der Steuer ein wenig zu tricksen, aber mit diesen ganzen Sachen habe ich nun wirklich nichts zu tun. Ich schwör's.« Roseboros Blick sprang von Slidell zu mir und wieder z u r ü c k . »Ich wohne in W i l m i n g ton. Seit fünf Jahren schon. Das k ö n n e n Sie nachprüfen.« »Darauf k ö n n e n Sie sich verlassen.« » W e n n Sie wollen, mache ich sogar einen L ü g e n d e t e k t o r t e s t . Sofort. Ich mach ihn sofort.« Slidell sammelte wortlos die Fotos ein, legte den Ordner auf sein Klemmbrett und stand auf. Ich ebenfalls. Gemeinsam gingen w i r zur T ü r . » U n d was ist mit mir?«, jammerte Roseboro hinter unseren R ü c k e n . »Was passiert jetzt mit mir?« » M a c h e n Sie lieber keine Vorsprechtermine aus.« »Was ist Ihr E i n d r u c k ? « , fragte ich, als w i r wieder in Slidells B ü r o waren. »Er ist ein wehleidiges, kleines W ü r s t c h e n . Aber mein Bauch sagt mir, dass er die Wahrheit sagt.« » D e n k e n Sie an Cuervo?« » O d e r an die Tante.« Ich schüttelte den Kopf. » W a n d a starb vor eineinhalb Jahren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das H u h n innerhalb der letzten Monate getötet wurde. Ich rufe meinen Entomologen an und frage ihn, ob er sich schon ein vorläufiges Urteil zutraut.« » W e n n Wanda sauber ist, dann tippe ich auf Cuervo. Unter der Voraussetzung, dass Roseboro uns nicht auf den A r m nimmt.« »Kann ich das Polizeifoto mal sehen?«
Slidell holte den Ausdruck aus der Akte. Die Q u a l i t ä t war wirklich sehr schlecht. Der Mann bestand nur aus Falten und Z ä h n e n , die dichten, grauen Haare waren nach hinten g e k ä m m t . »Wenn Cuervo Latino ist, dann w ü r d e Santería passen«, sagte Slidell. » O d e r dieses andere.« »Palo M a y o m b e . « Ich hoffte, dass es sich nicht darum handelte. U n d falls doch, dann hoffte ich, dass es nicht die Spielart von A l fonso de Jesus Constanzo war. »Was ist m i t Roseboro?« »Ich lasse i h n erst mal sein M ü t c h e n k ü h l e n , dann nehme ich ihn mir noch einmal vor. Angst ist gut, um den grauen Zellen Beine zu m a c h e n . « »Dann?« »Dann lasse ich ihn laufen und mache mich auf die Suche nach Cuervo. Fange m i t seinem Handy an.« » U n d der Einwanderungsbehörde. Könnte sein, dass Cuervo keine Papiere hat.« Slidell verdrehte die Augen ü b e r meine Wortwahl. »Dass er i l legal hier ist, k ö n n t e erklären, warum Roseboro nur Barzahlung wollte.« »Hat Rinaldi schon angerufen?« Slidell kontrollierte seinen Anrufbeantworter und sein Handy und schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt ins Institut«, sagte ich. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Rinaldi was herausgefunden hat. Wenn nicht, dann ist es vielleicht Zeit, mit dem Gesicht des M ä d c h e n s an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich rufe an, wenn Larabee und ich m i t dem Torso vom Lake Wylie fertig sind.« »Klingt nach einem Plan«, sagte Slidell. W i r wussten nicht, dass ein anderer Plan bereits Gestalt annahm, einer, der sich auf einem t ö d l i c h e n Kollisionskurs mit dem unseren befand.
15 Wochenenden bedeuten Lohnauszahlungen und Gelegenheiten zum Saufen. Als Folge davon steigt die Zahl der Streits, Misshandlungen, Missgeschicke und U n g l ü c k e von Feierabendbeginn am Freitag bis zur Messe am Sonntag an. Am Wochenanfang kann im Leichenschauhaus Chaos herrschen. Der letzte Arbeitstag der Woche ist dagegen oft sehr ruhig. An diesem Freitagvormittag war das nicht der Fall. Schon zwei Blocks vor dem Institut wusste ich, dass etwas nicht stimmte. A u f allen Parkplätzen vor dem M C M E und an den Bordsteinen der College und der Phifer standen Fahrzeuge. Im Vorbeifahren las ich die Logos. W B T V W S O C W C C B . News 14 Carolina. Ich fuhr auf den Parkplatz, schaltete in den Parkmodus, sprang aus dem Auto und rannte auf das G e b ä u d e zu. Fernsehteams, Z e i tungsreporter und Fotografen blockierten den Vordereingang. M i t gesenktem K o p f und abgestreckten Ellbogen z w ä n g t e ich mich durch die Horde. »Dr. Brennan«, sagte eine Stimme. Ich ignorierte sie und pflügte weiter, jeder Muskel in meinem Körper angespannt vor W u t . Nach heftigem Schubsen und Stoßen von mir und heftigen F l ü c h e n von anderen war ich s c h l i e ß lich durch. Boyce Lingo hielt am Treppenabsatz H o f . W i e schon zuvor deckte der Bürstenschnitt mit den E i c h h ö r n c h e n w a n g e n seine Flanke. » W i r sind eine tolerante Gesellschaft.« Aus Lingos freundlichem Lächeln wurde eine ernste Miene. »Aber jetzt ist nicht die Zeit für Nachsichtigkeit. Eine öffentliche Meinung, die Teufelsanbetung erlaubt, erlaubt auch jede andere A r t des Bösen. Trunkenheit, Ehebruch, Götzenanbetung, Homosexualität. Jede A r t gegen die Familie gerichteter, moralischer Perversion.«
Ich trat vor, die Arme erhoben wie ein Schülerlotse. »Diese Pressekonferenz ist b e e n d e t . « Objektive schwenkten in meine Richtung. Mikrofone schossen mir vors Gesicht. Ich hörte M u r m e l n . Meinen Namen. Anthropologin. UNCC. »Ihre Anwesenheit hier b e e i n t r ä c h t i g t unsere Berufsausübung.« Lingo erstarrte, die Arme nach unten gestreckt, die H ä n d e vor den Genitalien gefaltet. »Sie gehen jetzt alle.« »Stimmt es, dass Anson Tyler der K o p f abgeschnitten wurde?«, rief ein Reporter. »Nein, das stimmt nicht«, blaffte ich und bedauerte sofort, dass ich mich zu der Reaktion hatte verleiten lassen. »Was k ö n n e n Sie uns ü b e r den Tyler-Fall sagen?«, fragte eine Frauenstimme. »Kein Kommentar.« Eisig. »Was ist mit der Leiche, die am Lake Wylie gefunden w u r d e ? « Ein R u f von weit hinten aus der Meute. »Kein Kommentar.« » D e r Commissioner sagt, satanistische Symbole seien ins Fleisch geritzt w o r d e n . « »Kein. Kommentar.« Ich starrte Lingo an, W u t sprang von einem Nervenende zum nächsten. » W a r u m sagen Sie nicht die Wahrheit, Dr. Brennan?« Lingo, der besorgte Aktivist. »Sie w ü r d e n die Wahrheit nicht erkennen, wenn sie Sie in den Arsch beißt.« Ein kurzes, kollektives Aufstöhnen. Ein paar nervöse Kicherer. »Die Menschen von Charlotte haben Antworten verdient.« »Die Menschen von Charlotte haben es nicht verdient, dass Sie u n b e g r ü n d e t e Ängste schüren.« Verglichen mit Lingos zuckrigem Bariton klang meine Stimme schrill.
Lingo lächelte wohlwollend, ein liebender Vater, der seinem ungezogenen K i n d sein schlechtes Betragen nachsieht. Am liebsten hätte ich den scheinheiligen Mistkerl die Treppe hinuntergetreten. »Ist es LaVey? Church of Satan?« Gerufen. »Stimmt es, dass diese Leute Tiere quälen und töten?« » W i e g r o ß ist diese Teufelsanbetergemeinde in Charlotte?« »Entfernen Sie sich augenblicklich, sonst w i r d die Polizei den Platz r ä u m e n . « Meine Drohung wurde ignoriert. »Hat die Polizei einen Verdächtigen?« » W a r u m diese Vertuschung?« Ein M i k r o kam mir zu nahe. Ich schlug es weg. Der Galgen schwang z u r ü c k und traf mich an der Wange. Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Es! Gibt! Keine! Vertuschung! Es gibt keine verdammte Verschwörung!« Kameraverschlüsse klickten hektisch. »Sie werden m a n i p u l i e r t ! « Ich trat einen Schritt vor, packte eine TV-Kamera und richtete sie auf die Menge. » S c h a u e n Sie sich selbst an. Das ist eine Kopfjagd!« Hinter mir hörte ich, wie die Glastür aufging. »Verschwindet!« Finger umklammerten mein Handgelenk. Ich riss mich los und machte heimlich Scheuchbewegungen mit den H ä n d e n . »Schnell! Vielleicht finden Sie ja eine Nonne, die vergewaltigt wurde. Oder eine erschlagene Oma, die von ihrem Pudel aufgefressen wird.« »Jetzt mal langsam.« Geflüstert. Larabee drehte mich an den Schultern um und schob mich auf den Eingang zu. Bevor die T ü r sich schloss, konnte ich noch einen letzten Vorschlag anbringen.
Zehn M i n u t e n spater hatte ich meine Fassung wiedergefunden. » W i e schlimm war es?« Larabee rekapitulierte die H ö h e p u n k t e . »Rudelfick?« Larabee nickte. »Die Mikros haben es m i t b e k o m m e n ? « » O ja.« »O Gott.« »Er auch. Wollen hoffen, dass der Chef davon nichts erfährt.« N o r t h Carolina betreibt ein gesamtstaatliches LeichenbeschauerSystem, und der oberste Medical Examiner hat sein B ü r o in Chapel H i l l . »Er w i r d stinksauer sein.« »Das w i r d er«, pflichtete Larabee mir bei. » U n d jetzt?« »Jetzt machen Sie und ich die Autopsie an dem Jungen vom Lake W y l i e . « U n d genau das taten w i r auch. Um drei leuchteten R ö n t g e n a u f n a h m e n an den Lichtkästen, bedeckten Fingerabdruckformulare eine Arbeitsfläche, Organscheiben schwebten in Gläsern und Knochenproben lagen in Edelstahlschalen. Leber, B a u c h s p e i c h e l d r ü s e , Lunge, Magen, Niere und H i r n für den Pathologen. Schlüsselbeine, Schambeinfuge, Halswirbel und ein fünf Zentimeter langes S t ü c k aus dem Schaft des Oberschenkelknochens für mich. Das Pentagramm und das 666-Symbol hingen gespenstisch blass in ihrem Formalinbad. Rosig-graue Krater in Brust und Bauch zeigten, wo w i r die S t ü c k e entfernt hatten. Wenn das Schneiden, Wiegen und Sichten abgeschlossen ist, macht sich normalerweise ein Assistent daran, die Leiche wieder zu schließen, die Proben zu ordnen und alles zu putzen und aufz u r ä u m e n , damit der Pathologe sich anderen Aspekten der A u t opsie widmen kann.
An diesem Tag z ö g e r t e n Larabee und ich, weil w i r verwirrt und frustriert waren. »Das stimmt hinten und vorne nicht.« W ä h r e n d Larabee redete, legte Hawkins die Organe wieder in die B r u s t h ö h l e . »Es gibt mehr aerobe Zersetzung als anaerobe Fäulnis.« »Als hätte sich die Leiche von a u ß e n nach innen zersetzt, nicht von innen nach außen«, sagte ich. » G e n a u . U n d geht man von einem minimalen P M I von achtundvierzig Stunden aus, ist von beiden zu wenig v o r h a n d e n . « »Die Temperatur lag die ganze Woche lang deutlich ü b e r fünfundzwanzig Grad«, sagte ich. »Dieser Strandabschnitt hat mehr als zehn Stunden pro Tag volle Sonneneinstrahlung. Die Leiche war nur locker eingewickelt. Bei diesen Voraussetzungen hätte alles viel schneller gehen müssen.« »Sehr viel schneller«, ergänzte Larabee. » U n d es sollte auch Spuren von Tierfraß geben.« »Ja.« Hawkins legte die Leber z u r ü c k . M i t einem leisen, feuchten Platschen sank sie in die B a u c h h ö h l e . » U n d es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Leiche i m Wasser gelegen hat.« »Keinen einzigen.« »Was ist da los?« »Keine A h n u n g . « Hawkins stach eine kurze, gebogene Nadel in die Brust des Jungen. Die Haut kräuselte sich, als er die beiden Enden des Y-Schnitts zusammenzog. »Der Mageninhalt deutet darauf hin, dass der Junge einige Stunden vor seinem Tod noch etwas gegessen hat. Bohnen. Paprika. Irgendeine Zitrusfrucht, vielleicht Zitrone, vielleicht L i mone.« »Wollen nur hoffen, dass die Fingerabdrücke uns weiterbringen«, sagte ich. »Sie schätzen das Alter zwischen sechzehn und achtzehn?«
Ich nickte. Meine vorläufige Bestimmung basierte auf den Schlüsselbeinen, der Schambeinfuge und den R ö n t g e n a u f n a h men. »Könnte ein Problem werden. Teenager verschwinden jeden Tag.« Larabee nickte in Richtung Innenstadt. »Die meisten sind gleich da d r a u ß e n , leben einfach auf der Straße. Die Eltern fangen an zu suchen, der Teenager taucht ab. U n d wenn er sich dann nicht mehr zeigt, denkt die Gang einfach, er w ä r e weitergezogen.« Hawkins schaute Larabee an. Der ME nickte. Hawkins wuchtete die Leiche auf eine bereitstehende R o l l bahre, bedeckte sie mit einer Plastikplane, löste die F u ß b r e m s e und schob die Bahre auf den Gang. Die T ü r schloss sich hinter i h m mit einem Klicken. »Ich untersuche die Halswirbel«, sagte ich. »Falls es zu einer Verhaftung kommt, k ö n n t e n Schnittspuren sich als hilfreich erweisen.« »Vorausgesetzt, der T ä t e r hat sein Werkzeug behalten und die Polizei findet es. Denken Sie in Richtung Säge?« »Die Kerben deuten auf eine gezahnte oder gezackte Klinge hin. Ich werde alles unter V e r g r ö ß e r u n g untersuchen.« Larabee zog die Handschuhe aus. »Ich rufe Slidell an, damit der die F i n g e r a b d r ü c k e ins System eingibt.« M i r fiel etwas ein. »Haben Sie sich das Gehirn schon angesehen?« Larabee nickte. »Ich bin zwar kein Neuroanatom, aber die O r ganisation sieht für mich menschlich aus.« » W i r k ö n n t e n einen Präzipitin-Test versuchen.« Ich meinte damit eine Prozedur, bei der antimenschliche A n t i körper, die durch Injektion menschlichen Bluts in einen Hasen produziert werden, neben einer unbekannten Probe auf einen Gel-Diffusionsträger aufgebracht werden. Wenn sich an der Stelle, wo die beiden Proben sich b e r ü h r e n , eine P r ä z i p i t i n - L i n i e bildet, stammt die unbekannte Probe nicht von einem menschlichen
Wesen. Der Test kann mit Antihund, A n t i w i l d oder A n t i k ö r p e r n gegen jede beliebige Spezies, um die es geht, durchgeführt werden. O b w o h l der Test normalerweise nur m i t Blut gemacht w i r d , nahm ich an, dass er auch mit Hirngewebe funktionieren dürfte. »Einen Versuch ist es wert«, sagte Larabee. »Ich k ü m m e r e mich darum.« Ich ging um den leeren Tisch herum, nahm meine Schalen und machte mich auf den Weg in den Stinkersaal. Ich hatte recht, was die Schnittspuren betraf. O b w o h l Halsknochen nicht gerade ideal sind, wenn es um die Bewahrung von Klingenmerkmalen geht, war zu erkennen, dass der vierte Halswirbel quer durchtrennt worden war, wobei sich eine Reihe von Vertiefungen mit konkaver K r ü m m u n g und identischem Radius zeigten, die von der Bruchstelle weg und nicht um sie herum verliefen. Der fünfte Halswirbel zeigte einen einzelnen Fehlstart von 2,3 Millimetern Breite. Die Schnittoberflächen wirkten einheitlich und fast poliert. An Eintritts- und Austrittsstellen waren kaum Absplitterungen festzustellen. Alles deutete auf eine M o t o r k r e i s s ä g e hin. Nachdem ich die gesägten Wirbel fotografiert hatte, rief ich den Entomologen an, dem ich am Dienstagvormittag die Proben aus dem Greenleaf-Keller geschickt hatte. Er hatte sie bekommen. U n d er hatte sie sich angeschaut. Er redete von Sargfliegen beim H u h n und leeren P u p p e n h ü l len beim Ziegenschädel. Dann ließ er sich aus über Collembola, Dermestidae und Kakerlaken im Erdreich. Er nannte mir Zahlen und statistische Wahrscheinlichkeiten. Ich fragte i h n nach dem Wesentlichen. Vorbehaltlich a b s c h l i e ß e n d e r Bewertungen war das H u h n seiner Meinung nach seit ungefähr sechs Wochen tot. Ich skizzierte i h m kurz die Fakten des Lake-Wylie-Falls und sagte i h m , dass eine weitere Probenreihe auf dem Weg in sein Institut sei.
Er sagte potz Blitz. Ich sagte i h m , w i r vermuteten eine Leichenablage, wollten aber ausschließen, dass die Leiche aus dem See gekommen war. Er sagte, schicken Sie mir die Plastikplane, in die sie eingewickelt war. Ich versprach es. Nachdem ich schnell ein Sandwich v e r d r ü c k t hatte, machte ich mich daran, Dünnschnitte aus dem K n o c h e n s t ü c k zu sägen, das ich der Leiche vom Lake Wylie entnommen hatte. Falls Sli— dell kein Glück hatte mit den Fingerabdrücken, hoffte ich, dass die Histologie mir helfen w ü r d e , die Altersschätzung zu präzisieren. Normalerweise ist diese Prozedur extrem m ü h s e l i g . M i t einem sehr scharfen Diamantblatt sägt man Querschnitte aus dem K n o chen, die nur ein M i k r o n dick sind. Zumindest waren sie das früher. Das M i k r o n wurde offiziell 1967 von der C G P M abgeschafft, das ist die französische A b k ü r z u n g für die Generalkonferenz für M a ß e und Gewichte, der intergalaktische Rat für diese Einheiten. Das M i k r o n ist jetzt der Mikrometer. Egal. Der W i n z ling ist noch immer der tausendste Teil eines Millimeters. Deshalb werden diese Scheibchen D ü n n s c h n i t t e genannt. Die D ü n n s c h n i t t e werden zwischen O b j e k t t r ä g e r gelegt und unter einem Lichtmikroskop mit hundertfacher V e r g r ö ß e r u n g betrachtet. U n d dann fängt man an, Sachen zu zählen. Die theoretische Grundlage ist folgende: Knochen ist ein dynamisches Gewebe, das sich beständig repariert und ersetzt. Im Verlauf eines Lebens e r h ö h t sich die Anzahl mikroskopischer Teilchen. Deshalb kann eine Z ä h l u n g von Osteonen, Osteonfragmenten, Lamellen und Kanalsystemen ein M i t t e l zur Altersschätzung sein. Meine Ergebnisse stützten meine u r s p r ü n g l i c h e S c h ä t z u n g von sechzehn bis achtzehn Jahren. Keine Ü b e r r a s c h u n g . Aber etwas anderes war eine. Beim Z ä h l e n fiel mir eine m e r k w ü r d i g e Verfärbung der Ha-
vers-Kanäle auf, den winzigen R ö h r e n , in denen Nerven und Gefäße durch das Knocheninnere laufen. Irgendein invasiver Mikroorganismus? Verfärbung durch Erde? Mineralische Ablagerungen? Mikrofrakturen? O b w o h l ich die V e r g r ö ß e r u n g verdoppelte, konnte ich die I r regularitäten nicht zuordnen. Die Defekte konnten Bedeutung haben oder auch nicht. Um sicherzugehen, brauchte ich ein V i e l faches an V e r g r ö ß e r u n g . Das bedeutete eine Untersuchung mit dem Abtast-Elektronenmikroskop. Ich g r i f f zu meinem Handy und rief einen Kollegen im O p t o elektronischen Zentrum am U N C C an. Eine fröhliche Stimme sagte mir, ihr Besitzer sei erst am Dienstag wieder da und w ü n s c h t e mir ein angenehmes, langes Wochenende. Jetzt fühlte ich mich nicht nur m ü d e und frustriert, sondern wieder einmal wie der g r ö ß t e Loser der Welt. Ich h i n t e r l i e ß eben eine deutlich weniger fröhliche Nachricht, als ein eingehender A n r u f angezeigt wurde. Ich beendete die Nachricht und schaltete u m . Slidell war an der Vordertür. U n d wartete. Ungeduldig. Ich schaute auf die Uhr. Mrs. Flowers war schon seit Stunden weg. Ich ging in die Lobby und l i e ß Slidell ein. »Dachte, ich sterbe da d r a u ß e n noch an Altersschwäche.« »Ich arbeite an zwei Fällen gleichzeitig.« A u f Slidells Spitze ging ich nicht ein. » H a b e n Sie schon ein Alter für den Jungen vom Lake W y l i e ? « »Sechzehn bis achtzehn.« »Schneidewerkzeug?« »Motorsäge. M i t kreisförmigem Blatt.« »Ja?« »Ja.« Slidell spitzte die Lippen und zog dann ein Blatt Papier aus seiner Tasche. » H a b e da was, das Ihnen gefallen wird.«
Ich streckte die Hand aus. Er hatte recht. Es gefiel mir wirklich.
16 Slidell hatte sich einen Durchsuchungsbeschluss für Cuervos Laden beschafft. »Ich bin beeindruckt.« Das war ich wirklich. »Erskine B. Slidell lässt nichts anbrennen. U n d übrigens, T h o mas Cuervos besitzt einen Ausweis und ist B ü r g e r der Vereinigten Staaten.« »Wirklich?« » W i e s aussieht,schaffte es Mama, ins Land zu kommen, hier zu gebären, Tommy seine Papiere zu besorgen und dann wieder nach Ekuador zu verschwinden. Ich den Achtzigern fing Cuervo an, r e g e l m ä ß i g das Land zu verlassen und wieder einzureisen. Seit siebenundneunzig ist er beständig hier. Die Einwanderungsbehörde hat keine permanente Adresse von i h m , weder hier noch südlich der Grenze.« »Das ist keine Ü b e r r a s c h u n g . « » N a c h einer zweiten, ziemlich fruchtlosen Sitzung mit Roseboro bin ich an Cuervos kleiner Apotheke vorbeigefahren. Der Laden war zu, aber ich hab sein Foto herumgezeigt. O Mann, bin mir vorgekommen wie in Tijuana.« Slidell machte eine Geste, deren Bedeutung ich nicht verstand. »Hab schließlich zwei hombres in die Finger b e k o m m e n « - er sprach es houmbrais aus - »die zugaben, ihn flüchtig zu kennen. Die Jungs hatten ein bisschen Schwierigkeiten mit dem Englischen, aber als ich ihnen ein paar Zwanziger gezeigt habe, w u r den ihre kommunikativen Fähigkeiten plötzlich drastisch besser. Anscheinend b e s c h r ä n k e n sich Cuervos Talente nicht nur auf den
Verkauf von Tonika und K r ä u t e r n . Der Kerl ist ein ziemlich bekannter W u n d e r h e i l e r . « »Ein
santero?«
» O d e r vielleicht das andere.« »Palero?« Slidell nickte. Palo Mayombe. Mark Kilroy. Ich verdrängte den Gedanken sofort wieder. » W o ist Cuervo jetzt?« » S a n c h o und Pancho blieben da ein bisschen vage. Sagten, der Laden sei schon seit ein paar Monaten zu. U n d meinten, Cuervo sei vielleicht nach Ekuador z u r ü c k g e g a n g e n . « »Hat er Familie hier in Charlotte?« »Laut den beiden amigos nicht.« » W i e haben Sie einen Richter dazu gebracht, den Wisch auszustellen?« » A n s c h e i n e n d hatte der alte T - B i r d noch andere G r ü n d e , sich rar zu machen. Da war noch die Kleinigkeit einer nicht befolgten Vorladung.« » C u e r v o ist zu einer gerichtlichen A n h ö r u n g nicht erschienen?«, vermutete ich. »Drogengeschichte. Neunundzwanzigster August.« » H a t t e n Sie Glück mit seinem H a n d y ? « » D i e Daten zeigen seit dem fünfundzwanzigsten August weder ein- noch ausgehende Anrufe. Die gespeicherten N u m m e r n zurückzuverfolgen, wird einige Zeit dauern.« » D u r c h s u c h e n Sie den Laden jetzt gleich?« Slidell schüttelte den Kopf. » M o r g e n . Heute Abend muss ich Larabees F i n g e r a b d r ü c k e durchlaufen lassen.« Das erschien mir sinnvoll. Beim Lake-Wylie-Fall handelte es sich eindeutig um M o r d . Wohingegen w i r ü b e r h a u p t nicht sicher waren, ob es bei dem Greenleaf-Keller ü b e r h a u p t um ein Verbrechen ging.
Ich holte die F i n g e r a b d r ü c k e aus dem Hauptautopsiesaal und gab sie Slidell. »Ich w i l l dabei sein«, sagte ich. »Ah«, sagte er. Ich fasste das als Zustimmung auf. Nachdem Slidell gegangen war, schaute ich auf meine Uhr. 20 U h r 40. Anscheinend war Skinnys Privatleben genauso armselig wie meins. Ich verpackte eben den Schädel wieder, als es in meinem H i r n pling machte. Sie kennen das. Sie haben es auch schon erlebt. In Comics w i r d es als strahlende G l ü h b i r n e n ü b e r dem K o p f dargestellt. Fingerabdrücke. Wachs. Wie stehen die Chancen? Kommt vor. M i t einem Skalpell schnitt ich sich kreuzende Linien in die Wachsschicht oben auf dem Schädel, die ein Quadrat mit etwa fünf Zentimetern K a n t e n l ä n g e ergaben. Nach behutsamem A n heben konnte ich eine Schuppe lösen. Ich wiederholte den Vorgang, bis der gesamte W a c h s ü b e r z u g in Fragmenten in einer Edelstahlschale lag. Eins nach dem anderen untersuchte ich die S t ü c k e unter dem Mikroskop. Ich war bereits zu drei Vierteln durch, als ich auf der konkaven Seite eines Segments, das am rechten Scheitelbein gehaftet hatte, etwas entdeckte. Einen perfekten Daumenabdruck. Warum an der Innenfläche? Hatte das Wachs den Abdruck vom Schädel darunter abgehoben? War der Finger des Täters mit dem h e i ß e n Wachs in B e r ü h r u n g gekommen, als es ausgegossen wurde oder von einer Kerze getropft war? Unwichtig. Der Abdruck war vorhanden und konnte zu einem Verdächtigen führen. Voller Enthusiasmus w ä h l t e ich Slidells Nummer. Seine Voice Mail antwortete. Ich hinterließ eine Nachricht.
Nachdem ich den Abdruck zuerst mit frontalem, dann m i t seitlichem Lichteinfall fotografiert hatte, untersuchte ich jede Schuppe ein zweites M a l von unten und von oben. Ich fand nichts mehr. Die U h r zeigte 22 U h r 22. Zeit zum Gehen. Ich fuhr eben in meine Auffahrt, als Slidell anrief. Seine Neuigkeiten ü b e r t r u m p f t e n meine. »James Edward Klapec. Nannte sich Jimmy. Siebzehn. Sieht mit K o p f besser aus. Aber nicht viel.« Slidells Bemerkung ärgerte mich noch mehr als g e w ö h n l i c h . Er redete ü b e r ein totes Kind. Ich sagte nichts. »Die Eltern leben im Osten, in der N ä h e von Jacksonville«, fuhr Slidell fort. »Vater war früher bei der Navy, ist jetzt Tankwart, die Mutter arbeitet im Laden des Camp Lejeune. M e i n kurzer A n r u f hat ergeben, dass der kleine Jimmy sich letzten Juni aus dem Staub machte.« »Wussten die Eltern, dass er i n Charlotte lebte?« »Ja. Der Junge rief alle paar Monate mal an. Der letzte A n r u f kam irgendwann Anfang September. Das genaue Datum wussten sie nicht mehr. Sie dürfen allerdings nicht vergessen, dass diese Leute nicht gerade auf eine Einladung von M E N S A w a r t e n . « Ich fragte mich, woher Slidell den Hochintelligenzlerverein M E N S A kannte, aber ich l i e ß es dabei bewenden. »Die Klapecs kamen also nicht nach Charlotte, um ihren Sohn nach Hause zu holen?« »Laut Dad war der Junge sechzehn und konnte tun, was er wollte.« Slidell hielt kurz inne. »Das sagte er zwar, aber dieser S c h e i ß k e r l war für mich wie ein offenes Buch. Der Junge war schwul, und Klapec wollte nichts m i t i h m zu tun haben.« » W a r u m sagen Sie das?« »Hat i h n eine Schwuchtel genannt.« Das war eindeutig. » W a r u m war Klapec im System?«
»Der Junge war ein H ü h n e r h a b i c h t . « Das ergab keinen Sinn. Im Jargon meiner schwulen Freunde war ein H ü h n e r h a b i c h t ein älterer Schwuler, der nach jungem Blut suchte. »Ich w e i ß , dass Sie mir das erklären werden«, sagte ich. »Punks, die in Schwulenbars h e r u m h ä n g e n und nach Beute Ausschau halten. Klasse Leben. Mach's einem Stecher, kassier die Kohle, dröhn dich zu.« Da ich annahm, dass es sich u m Polizistenslang handelte, ließ ich auch diesen Satz unkommentiert. So hatte der Junge vom Lake Wylie also einen Pfad beschritten, den viele A u s r e i ß e r einschlagen. Ein Teenager läuft von zu Hause weg, weil er woanders die große Sause erwartet, endet aber schließlich bei Essensresten aus der M ü l l t o n n e und krummen Touren. Es ist h e r z z e r r e i ß e n d , aber vorhersehbar. »Haben Sie mit seiner Mutter gesprochen?« »Nein.« »Haben Sie den Zustand der Leiche erwähnt?« Ein kurzes Schweigen. Dann: » W e n n w i r den K o p f finden, dann brauchen sie es vielleicht gar nicht zu erfahren.« Also hatte Holzklotz Slidell doch ein Herz. Ich berichtete i h m von dem Wachsabdruck. »Ist einen Versuch wert«, sagte Slidell. »Klapec hatte sein R e vier in NoDa, bei der Thirty-sixth und der N o r t h Davidson.« N o D a . N o r t h Davidson, Charlottes Version von SoHo. » R i n a l d i w i r d sein Foto herumzeigen, mal sehen, was die Jungs dort zu sagen haben. Bevor er dorthin fährt, schick ich ihn zu Ihnen, damit er das Wachs abholt und ins Labor bringt.« »Wann nehmen Sie sich Cuervos Laden vor?« »Schlag acht. U n d , Doc?« Ich wartete. »Halten Sie sich vom Rampenlicht fern.«
Ü b e r Nacht hatte sich eine Front von den Bergen heruntergewälzt und die angenehme W ä r m e vertrieben, die über dem Piedmont gelegen hatte. Als ich aufwachte, roch es nach feuchtem Laub, Regen prasselte gegen mein Fenster. Hinter der Scheibe bogen sich Magnolienzweige im W i n d . Cuervos Laden lag am ä u ß e r e n Rand des Zentrums, in einer Gegend, die nicht gerade ein Schaufenster der Queen City war. Manche Geschäfte waren typisch Dixie der Fünfziger und Sechziger, H ü h n c h e n - und Burger-Filialen, A u t o w e r k s t ä t t e n und Grilllokale. Andere versorgten Kunden, die erst später gekommen waren. Tienda Los Amigos. P a n a d e r í a y Pastelería Miguel. Supermercado Mexicano. Alle befanden sich in Einkaufsstraßen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. La B o t á n i c a Buena Salud war da keine Ausnahme. Das Backsteingebäude mit dunklen, braun g e t ö n t e n Fenstern präsentierte sich zwischen einem T ä t o w i e r - und einem Sonnenstudio. Eine Eisdiele, eine Versicherungsagentur, ein Laden für Sanitärbedarf und eine Pizzeria vervollständigten die Zeile. E i n völlig verbeulter Mustang und ein uralter Corolla standen auf dem schmalen Asphaltstreifen vor dem Laden. Beide glänzten wie von einem stolzen, neuen Besitzer frisch poliert. D o c h bei den Karren hätte auch ein kräftiger Regenguss gereicht. Ich parkte und drehte das Radio auf einen Oldie-Sender. W ä h rend ich Kaffee aus einem Thermosbecher trank, lauschte ich der Weekend Edition. Zehn M i n u t e n vergingen, ohne dass Slidell oder die Spurensicherung sich zeigten. So viel zu Schlag acht. Der Regen verwischte die Neonreklame ü b e r dem T ä t o w i e r studio zu orangenen und blauen Schlieren. Durch den Schleier auf meiner Windschutzscheibe sah ich zu, wie ein Obdachloser, dem ein triefnasses Sweatshirt bis auf die Knie hing, in M ü l l t o n nen w ü h l t e . Scott Simon berichtete eben von mutierten Fröschen, als mein Blick zum A u ß e n s p i e g e l wanderte. Slidell tauchte in dem Glas
auf. Darunter v e r k ü n d e t e ein Schriftzug: Gegenstände im Spiegel sind näher, als sie erscheinen. Ein e r n ü c h t e r n d e r Gedanke. Ich stellte den M o t o r ab und stieg aus. Slidell frühstückte ebenfalls unterwegs, H o t D o g und Orangenlimonade. »Gießt ganz schön, was?« M i t vollem M u n d . » M h m . « Wasser d u r c h t r ä n k t e meine Haare und lief mir übers Gesicht. Ich zog mir die Kapuze meines Sweatshirts ü b e r den Kopf. » K o m m t die Spurensicherung?« »Ich dachte, w i r sehen uns erst mal selbst um und rufen sie, falls wir sie brauchen.« Da Slidell es vorzog, seine Tatorte und Schauplätze j u n g f r ä u lich zu untersuchen, ließ er sich normalerweise Zeit, bis er die Techniker dazuholte. Nach einem letzten Bissen und einem letzten Schluck zerknüllte Slidell das Einwickelpapier und stopfte es in die Dose, zog dann einen Schlüsselbund aus der Tasche und schwenkte ihn. »Das Arschloch von der Hausverwaltung hat's nicht gerade mit der Pünktlichkeit.« Ein S t ü c k c h e n weiter oben war ein Gully verstopft, was die Straße in einen flachen T ü m p e l verwandelte. Gemeinsam platschten Slidell und ich zu dem Laden. Ich wartete, w ä h r e n d er verschiedene Schlüssel durchprobierte. Ein Bus rauschte vorbei, von seinen R ä d e r n spritzte Wasser auf. »Soll ich's mal versuchen?« »Hab's gleich.« Die Schlüssel klimperten weiter. Regen prasselte auf Slidells Windjacke und tropfte vom Schirm seiner Kappe. M e i n Sweatshirt wurde schwer und fast so lang wie das des Penners. Irgendwo in der Ferne jaulte eine Autoalarmanlage auf. S c h l i e ß l i c h klickte etwas. Slidell d r ü c k t e gegen die T ü r . Sie öffnete sich m i t leisem Glockengebimmel.
Der Laden war muffig und d ä m m r i g und überladen mit so vielen G e r ü c h e n , dass einzelne kaum zu identifizieren waren. Tee. Minze. Staub. S c h w e i ß . Andere kitzelten die Nase nur leicht. Pilze? Nelken? Ingwer? Meine Augen g e w ö h n t e n sich noch an die Dunkelheit, als Slidell den Lichtschalter fand. Die Grundfläche betrug knapp sieben mal sieben Meter. A l u miniumregale s ä u m t e n die W ä n d e und bildeten Reihen quer durch den Raum. Slidell ging einen der Z w i s c h e n g ä n g e entlang. Ich nahm mir einen anderen vor und las wahllos Etiketten zu meiner rechten Seite. S t ä r k u n g s m i t t e l . Hirnkräftiger. M i t t e l für Z ä h n e und Zahnfleisch. Ich drehte mich um und überflog die Produkte auf der anderen Seite. H a u t u m s c h l ä g e . Aloe-Balsame. Tinkturen von Ulme, Berberitze, Fenchel und Wacholder. »Das klingt gut.« Slidells Stimme klang laut in der muffigen Stille. » P a r k i n s o n - S e t . Kein Zittern mehr. Wer's glaubt, w i r d selig.« Ich h ö r t e das Klicken von Glas auf Metall, dann Schritte. »Was haben w i r denn da? Leidenschaftsöl. E i n uraltes H i n d u - R e zept. Klasse. Da steht dein Johannes und strahlt.« Ich verkniff mir einen Kommentar. Hinter den Regalreihen stand parallel zur R ü c k w a n d des Ladens eine h ö l z e r n e Ladentheke und darauf eine alte, aber ganz normal aussehende Registerkasse. Dahinter sah ich einen D u r c h gang m i t Vorhang. Slidell stellte sich mit verzogener Miene neben mich. »Sieht alles ziemlich normal aus«, sagte ich. » M h m . « Slidell hob eine h ö l z e r n e Klappe an, die das eine Ende der Ladentheke mit der Wand verband. » M a l sehen, was der Fürst der Leidenschaft im Hinterzimmer versteckt.« Die Schwelle zu ü b e r q u e r e n war, als w ü r d e man in eine andere Welt treten. Sogar die G e r ü c h e machten eine Verwandlung durch. Was uns hinter dem Vorhang empfing, roch nach Flora und Fauna und Dingen, die lange tot waren.
Der Raum hatte kein Fenster, und von vorne drang nur wenig Licht herein. Wieder suchte Slidell nach einem Schalter. Im Licht einer einzelnen Birne, die von der Decke hing, sah ich, dass der Raum etwa drei mal fünf Meter groß war. W i e vorne waren auch hier die W ä n d e von Regalen g e s ä u m t . Aus Holz, nicht aus A l u m i n i u m . Die auf der rechten Seite waren in Fächer von etwa zwanzig Zentimeter K a n t e n l ä n g e unterteilt. In jedem dieser Fächer lag in der Mitte ein kleines B ü n d e l . Die Regale auf der rechten Seite hatten herausziehbare S c h ü t ten, wie sie für die Aufbewahrung von M e h l oder Samen verwendet werden. Ein Tisch nahm die gesamte L ä n g e der R ü c k w a n d ein. Darauf standen eine altmodische Balkenwaage und etwa zwanzig Gläser. Einige enthielten Dinge, die ich kannte. Ingwerwurzeln. Baumrinde. Disteln. In anderen befanden sich dunkle, knorrige O b jekte, deren Herkunft ich nur vermuten konnte. Vor dem Tisch standen zwei Klappstühle. U n d genau in der Mitte zwischen den beiden ein g r o ß e r eiserner Kessel. »Na so was«, sagte Slidell. Rechts des Tisches war eine halb geöffnete T ü r . Slidell ging darauf zu, g r i f f hindurch und taste die Innenwand mit den Fingern ab. Nach wenigen Sekunden erhellte bernsteinfarbenes Licht eine rostfleckige Toilettenschüssel samt Waschbecken. Ich ging eben auf das Winzklo zu, als ein G l ö c k c h e n b i m melte. Ich erstarrte. Wechselte einen Blick mit Slidell. Er deutete mit einer knappen Handbewegung hinter uns. Leise bewegten w i r uns zur linken Seite der T ü r . Slidell hob eine Hand an die Hüfte. Die R ü c k e n an die Wand g e d r ü c k t , warteten wir. Schritte durchquerten den Laden. Der Vorhang schwang zur Seite.
17 Ich hätte nicht überraschter sein k ö n n e n , w ä r e Hatschepsuts M u mie aufgetaucht. Das M ä d c h e n war jung, mit muskatbrauner Haut und in der M i t t e gescheitelten Haaren, die sie hinter die Ohren gesteckt hatte. N u r die Form ihrer Taille war anders als auf dem Schulfoto. Von ihrem Bauchumfang her vermutete ich, dass sie im neunten Monat war. M i t wachsamen, a r g w ö h n i s c h e n Blicken schaute das M ä d c h e n sich u m . »¿Está aquí, senor?« Geflüstert. Ich hielt den A t e m an. Ohne den Vorhang loszulassen, machte das M ä d c h e n einen Schritt nach vorne. Das Licht aus dem vorderen Raum ließ die Feuchtigkeit in ihren Haaren glitzern. »¿Señor?« Slidell ließ die Hand sinken. N y l o n raschelte. Das Gesicht des M ä d c h e n s schnellte in unsere Richtung, die Augen weit aufgerissen. Dann stieß die Kleine den Vorhang beiseite und stürzte davon. Ohne nachzudenken, stürmte ich an Slidell vorbei und rannte durch den Laden. Als ich die Regale hinter mir hatte, war das M ä d c h e n bereits zur T ü r hinaus. N o c h immer prasselte der Regen herab und lief über den B ü r gersteig. M i t gesenktem K o p f raste ich hinter meinem Ziel her, bei jedem Schritt spritzte Wasser von meinen Turnschuhen hoch. Ich hatte einen Vorteil. Ich war nicht schwanger. Bei der Pizzeria war ich bereits so dicht hinter ihr, dass ich mit einem Satz das Sweatshirt der jungen Frau zu fassen bekam. Die griff hinter sich und schlug mit ihren K n ö c h e l n auf mein Handgelenk. Es tat verdammt weh. Ich ließ nicht los. » W i r wollen nur reden«, rief ich durch den Wolkenbruch.
Sie ließ von meiner Hand ab und zerrte an ihrem R e i ß v e r schluss. »Bitte.« »Lassen Sie mich in R u h e ! « Sie versuchte, ihr Sweatshirt abzuschütteln. Hinter mir h ö r t e ich Platschen. »Jetzt mal ganz ruhig j u n g e D a m e . « Slidell klang wie ein Walross. Sie schlug immer verzweifelter um sich. Das Wasser aus ihren Haaren spritzte mir ins Gesicht. »Lassen Sie mich los. Sie haben kein —« Slidell drehte die junge Frau um und d r ü c k t e ihr die Arme an die Flanken. Sie trat nach hinten aus. Ihr Absatz traf sein Schienbein. »Du blö-« »Sie ist schwanger«, schrie ich. »Sagen Sie das meinem Schienbein.« »Alles okay«, sagte ich in besänftigendem Tonfall, wie ich hoffte. »Sie sind nicht in S c h w i e r i g k e i t e n . « Sie starrte mich m i t W u t in den Augen an. Ich lächelte und hielt ihrem Blick stand. Sie wand sich und trat aus. » D e i n e Entscheidung«, keuchte Slidell. » E n t w e d e r w i r machen das hier zivilisiert, oder ich leg dir Handschellen an und bring dich aufs R e v i e r . « N u n beruhigte sich die junge Frau, dachte offensichtlich ü b e r ihre M ö g l i c h k e i t e n nach. Dann ließ sie die Schultern sinken und ballte die Fäuste. »Gut. Ich lasse dich jetzt los, und du machst keine D u m m heiten.« Einen Augenblick standen w i r nur da und atmeten keuchend. Dann l i e ß Slidell sie los und trat einen Schritt z u r ü c k . »So. Jetzt gehen w i r ganz ruhig und gefasst zu meinem Auto.« Die junge Frau richtete sich auf und streckte verächtlich das
K i n n vor. In der H ö h l u n g ihrer Kehle sah ich ein kleines, goldenes Kreuz. Darunter pochte eine Ader. »Sind w i r alle auf derselben W e l l e n l ä n g e ? « , fragte Slidell. »Wenn's dich anmacht«, sagte sie. Slidell fasste sie wieder am A r m und bedeutete mir, ihnen zu folgen. Ich tat es und sah zu, wie Tropfen den Teich zu meinen F ü ß e n kräuselten. Slidell schob die junge Frau auf den Beifahrersitz. W ä h r e n d er vorne herumging, schob ich eine alte Pizzaschachtel, eine T ü t e von einem chinesischen S t r a ß e n v e r k a u f und ein Paar alte T u r n schuhe beiseite und setzte mich auf die R ü c k b a n k . Der Innenraum des Taurus roch wie uralte U n t e r w ä s c h e . »O Gott.« Das M ä d c h e n hielt sich die linke Hand vor die Nase. »Ist hier drinnen was gestorben?« Slidell setzte sich hinters Steuer, knallte die T ü r zu, lehnte sich dagegen und deutete m i t dem Schlüssel auf die Schwangere. » W i e heißt du?« » U n d du?« Slidell zeigte ihr seine Marke. Sie blies nur Luft durch die Lippen. » W i e heißt du?«, wiederholte Slidell. » W a r u m wollen Sie das wissen?« »Falls w i r uns aus den Augen verlieren.« Sie verdrehte die Augen. »Name?« »Patti LaBelle.« »Anschnallen.« Slidell zog seinen Gurt herunter, l i e ß ihn einrasten und steckte dann den Schlüssel in die Z ü n d u n g . Die junge Frau hob die linke Hand, um ihn zu bremsen, und legte sich dann beide H ä n d e auf den Bauch. »Okay.« Slidell entspannte sich und l i e ß sich in den Sitz z u r ü c k s i n k e n . »Name?« »Takeela.« »Ist schon mal ein guter Anfang.«
Wieder verdrehte sie die Augen. » F r e e m a n . Takeela Freeman. Soll ich Ihnen das buchstabieren?« Slidell zog Notizblock und Stift heraus und hielt ihr beides hin. »Telefonnummer, Adresse, Namen der Eltern oder eines Erziehungsberechtigen.« Takeela schrieb und warf dann den Block aufs Armaturenbrett. Slidell nahm ihn und las. »Isabella Cortez?« » M e i n e Großmutter.« »Hispanisch.« Eher eine Feststellung als eine Frage. »Wohnst du bei ihr?« Ein knappes Nicken. » W i e alt bist du, Takeela?« »Siebzehn.« Trotzig. »In der Schule?« Takeela schüttelte den Kopf. »Ist doch alles Blödsinn.« »Aha. Verheiratet?« » N o c h mehr Blödsinn.« Slidell deutete auf Takeelas Bauch. » H a b e n w i r einen D a d d y ? « » N e e . Ich bin die Heilige Jungfrau persönlich.« »Was?« Scharf. » W a r u m nehmen Sie mich in die M a n g e l ? « » N a m e des Vaters?« Ein schweres Seufzen. »Clifton Lowder. Er lebt in Atlanta. W i r sind nicht w ü t e n d aufeinander oder getrennt oder sonst was. C l i f f hat dort Kinder.« » U n d wie alt ist Cliff Lowder?« »Sechsundzwanzig.« Slidell machte ein Geräusch wie ein Terrier, der sich an einem Stück Leber verschluckt hat. »Gibt es in Atlanta auch eine Mrs. L o w d e r ? « , fragte ich. Takeela deutete mit dem Daumen in meine Richtung. » W e r ist die?« » B e a n t w o r t e ihre Frage. Hat M r . Wunderbar eine Ehefrau?«
Takeela hob eine Schulter. Na und? Widerstreitende Gefühle wallten in mir auf. W u t . Traurigkeit. Abscheu. Vorwiegend Abscheu. Slidell traf den Nagel auf den Kopf. »Was für ein Wichser sucht sich sein Frischfleisch auf dem Schulhof?« »Hab's doch schon gesagt. Ich bin nicht i n der Schule.« »Super Karriereplanung. Hat Big Cliff damit was zu tun?« »Er behandelt mich gut.« »Klar. U n d ich wette, er ist ein klasse Tänzer. Das Arschloch hat dich g e s c h w ä n g e r t , Kleine. U n d dann sitzengelassen.« »Hab's Ihnen doch schon gesagt. Ich wurde nicht sitzengelassen.« » W i r d dir M r . Lowder m i t dem Baby helfen?« Ich versuchte, einfühlsam zu klingen. Wieder nur ein Achselzucken. » W a n n hast du Geburtstag?« Slidells Tonfall war das genaue Gegenteil von einfühlsam. »Was? Wollen Sie mich in Ihr Adressbuch schreiben? U n d mir jedes Jahr eine Karte schicken?« » H a b e mich nur gefragt, wie alt du warst, als du m i t deinem Prinzen in die Kiste gehüpft bist. Wenn du noch nicht sechzehn warst, k ö n n t e er wegen Missbrauchs M i n d e r j ä h r i g e r dran sein.« Takeela k n i f f den M u n d zu einer harten Linie zusammen. Ich schlug eine andere Richtung ein. »Erzähl uns von Thomas Cuervo.« »Kenne keinen Thomas C u e r v o . « » D u bist eben aus seinem Laden gerannt«, blaffte Slidell. »Sie meinen T-Bird?« »Ja.« N o c h ein Achselzucken. »Ich war spazieren und hab gesehen, dass T-Birds T ü r offen war.« »Spazieren. In einem W o l k e n b r u c h . « »Ich wollte N a c h t k e r z e n ö l für meinen B a u c h . «
»Damit nur ja keine Schwangerschaftsstreifen den Modeltraum zerstören.« » W a r u m sind Sie so gemein?« »Muss eine Gabe sein. Wo ist T-Bird?« »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Eine ganze Minute lang sagte keiner etwas. Regen prasselte aufs Dach und rann in B ä c h e n die Fenster hinunter. Nachdem ich zugesehen hatte, wie eine Plastiktüte ü b e r die Straße wehte und an die Windschutzscheibe klatschte, brach ich das Schweigen. »Wohnst du bei deiner Großmutter, Takeela?« »Und?« »Ich habe gehört, dass T-Bird ein wunderbarer Heiler ist.« »Soweit ich w e i ß , ist das nicht illegal.« » W a r u m hatte T - B i r d dein Foto?«, warf Slidell dazwischen. »Was für ein Foto?« »Das Foto, das auf meinem Schreibtisch liegt. Das Foto, das wir gemeinsam anschauen k ö n n e n , wenn ich dich aufs Revier bringe.« Takeela spreizte die Finger und riss die Augen auf. » O o h ! Sehen Sie, was für eine Angst ich habe?« Slidells Kiefermuskeln zuckten. Sein Blick wanderte zu mir. M i t meinem gab ich i h m zu verstehen, dass er sich entspannen solle. »T-Bird w i r d seit einigen Monaten vermisst«, sagte ich. »Die Polizei macht sich Sorgen, dass i h m vielleicht etwas zugestoßen ist.« Z u m ersten M a l drehte sie sich nun zu mir um. Ich sah B e s t ü r zung in ihren Augen. » W e r sollte T - B i r d etwas tun wollen? Er hilft den Leuten doch nur.« » W i e hilft er ihnen?« » W e n n jemand was Besonderes braucht.« Ich deutete auf das Kreuz an ihrem Hals. »Bist du Christin?« »Was für eine b l ö d e Frage. Warum wollen Sie das wissen?«
»T-Bird ist ein santero?« »Das eine hat m i t dem anderen nichts zu tun. Wenn man beten w i l l , geht man in die Kirche. Wenn man was braucht, geht man zu T-Bird.« » W e n n man was braucht?« »Was gegen Husten. Oder einen Job. Was auch i m m e r . « Plötzlich kapierte ich. » D u wolltest zu T - B i r d , weil du schwanger bist?« Takeela zuckte schnell und vieldeutig die Achseln. Abtreibung? Gesundes Baby? Junge oder M ä d c h e n ? Was wollte diese junge Frau von einem santero? Ich beugte mich zwischen den Sitzen nach vorne und legte ihr die Hand auf den A r m . » D u hast T - B i r d dein Schulfoto gegeben, damit er es in einem Ritual benutzt.« Plötzlich war der ganze Trotz verschwunden. Jetzt sah sie nur noch m ü d e und nass aus. U n d schwanger. U n d sehr, sehr j u n g . »Ich wollte, dass Cliff sich u m mich und das Baby k ü m m e r t . « »Aber er w i l l seine Frau nicht verlassen«, vermutete ich. »Er w i r d seine Meinung ä n d e r n . « Unbewusst strich sie sich m i t einer Hand ü b e r den Bauch. »Hast du eine Ahnung, wo T - B i r d sein könnte?« M i t sanfter Stimme. »Nein.« »Hat er Familie?« »Ich w e i ß nichts von einer Familie.« » W a n n hast du ihn das letzte M a l gesehen?« »Im Sommer vielleicht.« »Gibt es irgendwas, das du uns sagen kannst?« »Ich w e i ß nur, dass Oma gesagt hat, wenn du was brauchst, w i r d T-Bird sich drum k ü m m e r n . « Takeela faltete die H ä n d e ü b e r ihrem ungeborenen K i n d und schaute Slidell an. »Wollen Sie mir jetzt irgendein Verbrechen anhängen?«
»Verlass die Stadt nicht«, sagte Slidell. »Kann sein, dass w i r das sehr bald noch einmal machen müssen.« » B r i n g e n Sie beim nächsten Mal P a r t y h ü t c h e n mit.« Takeela zog am Griff, wuchtete sich hinaus und setzte sich auf dem B ü r gersteig in Bewegung. Ein plötzlicher Gedanke. W ü r d e sie beleidigt sein? Was soll's. Ich wusste, wie ihre Zukunft aussehen w ü r d e , sollte sie weitermachen wie bisher. Alleinerziehende Mutter. Unterbezahlte Jobs. Ein Leben lang vergebliche Hoffnungen und leere Geldbeutel. Ich stieg aus. »Takeela.« Die H ä n d e auf ihrem geschwollenen Bauch, drehte sie sich halb um. » W e n n du willst, kann ich ein paar Anrufe machen und sehen, ob man dir irgendwie helfen kann.« Ihr Blick wanderte zu meinem Gesicht. »Ich kann allerdings nichts versprechen«, fügte ich hinzu. Sie zögerte kurz. Dann: »Ich auch nicht, Lady.« Ich schrieb eine N u m m e r auf meine Visitenkarte und gab sie ihr. »Das ist meine Privatnummer, Takeela. Du kannst anrufen, wann du willst.« Sie ging davon. W ä h r e n d ich ihr nachschaute, stieg Slidell aus dem Auto. Zusammen gingen w i r zu der botánica z u r ü c k . »Dann ist die Kleine in dem Kessel nicht die Kleine auf dem Foto.« » N e i n « , entgegnete ich. »Aber wer zum Teufel ist sie dann?« Da ich die Frage als rhetorisch betrachtete, antwortete ich nicht. »Egal. Aber Tatsache ist, dass dieser Widerling den Schädel und die Beinknochen irgendeines M ä d c h e n s im Keller hatte. Cuervo treibt noch andere Spielchen, als nur M i t t e l gegen Tripper zu verkaufen.«
Ich wollte etwas erwidern. Slidell schnitt mir das W o r t ab. » U n d was ist mit Jimmy Klapec? Keine Frage, dass das M o r d war. Aber Sie sagen, das waren Satanisten, und Cuervo ist keiner, richtig?« Ich hob frustriert die H ä n d e . » U n d wo zum Teufel ist R i n a l d i ? « Slidell zog sein Handy aus der Tasche. W ä h r e n d w i r durch den Regen liefen, schwirrten mir Namen und Begriffe durch den Kopf. Takeela Freeman. Jimmy Klapec. T-Bird Cuervo. Santería. Palo Mayombe. Satanismus. Ich hatte keine Ahnung, dass w i r am Ende dieses Tages zwei weitere Identifikationen haben, einen alten Fall abschließen und eine weitere verwirrende Religion kennenlernen w ü r d e n .
18 Eine Stunde lang durchsuchten w i r Cuervos Laden, fanden aber nichts O m i n ö s e s . In der botánica gab es keine Schädel, keine geschlachteten Tiere, keine durchbohrten Puppen. » D a n n hat T - B i r d seine K n o c h e n s a m m l e r a k t i v i t ä t e n also auf seine H ü t t e an der Greenleaf beschränkt.« Ich stellte das Glas ab, das ich eben untersucht hatte, und schaute Slidell an. M i t seinen vom Regen an den Schädel geklatschten Haaren und den triefenden Klamotten sah er aus wie ein ü b e r g e wichtiger Al Bundy nach einem schlechten Tag. Aber ich war auch nicht gerade in bester Verfassung. »Ist einleuchtend«, sagte ich. »Der Keller war geheim, einfach sicherer.«
»Kessel sind typisch für dieses Palo-Zeugs.« Ich war mir nicht sicher, ob Slidell mir eine Frage stellte oder einfach laut dachte. »Palo Mayombe. Aber wie Takeela ihn beschreibt, ist Cuervo eher ein ganz normaler, harmloser santero.« » W e n n er harmlos ist, warum hat er dann Kessel?« «Santería ist nicht sehr dogmatisch.« »Soll heißen?« »Vielleicht steht T - B i r d einfach auf Töpfe.« » U n d Tierkadaver.« Slidell stieß den Kessel m i t der Schuhspitze an. Er klang hohl. » W a r u m ist der da leer?« »Ich w e i ß es nicht.« » U n d wo zum Teufel ist dieser Kerl?« »Ekuador?«, schlug ich vor. »Von mir aus kann er auch ruhig dort bleiben. Ich sollte eigentlich Klapec bearbeiten.« U n d damit verschwand Slidell durch den Vorhang. Ich folgte i h m . D r a u ß e n war der Regen s c h w ä c h e r geworden, es nieselte nur noch. Slidells Handy bimmelte, als er den Laden abschloss. »Ja.« Ich konnte am anderen Ende eine Stimme h ö r e n . »Ist der Junge g l a u b w ü r d i g ? « Wieder M u r m e l n . »Ist 'ne Schuhsohle wert.« Schuhsohle? Ich verdrehte die Augen. Slidell berichtete von unserem Gespräch m i t Takeela Freeman und unserer Durchsuchung der botánica. Dann kam wieder M u r meln, diesmal länger. »Im Ernst.« Slidell streifte mich mit einem Blick. »Ja. Ab und zu kann sie richtig genial sein.« Slidell h ö r t e sehr lange zu. »Ist die Adresse aktuell?« Wieder schaute Slidell mich kurz an. Ich konnte mir nicht vorstellen, was am anderen Ende gesagt wurde.
» D u bleibst bei Rick. Ich fahre nach Pineville. W i r treffen uns dann am späten N a c h m i t t a g . « Murmeln. »Okay.« Slidell schaltete ab. » R i n a l d i ? « , fragte ich. Slidell nickte. »Einer der Stricher sah Klapec an dem Abend, als er verschwand, zusammen mit einem Stecher. Älterer Kerl m i t einer Baseballkappe. Kein Stammkunde. Der Junge erzählte R i naldi, der Typ sei i h m unheimlich gewesen.« »Soll heißen?« » W o h e r soll ich denn das wissen? Erinnern Sie sich an R i c k Nelson? Rock-'n'-Roller, der in den Achtzigern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam?« »Ozzie und Harriet.« »Ja. Erinnern Sie sich an Travelin' Man? Der Kerl hatte Tussis auf der ganzen Welt. Ein Fräulein in Berlin, eine señorita in M e xiko. Klasse S o n g . « »Was hat R i c k Nelson m i t Rinaldis Zeuge zu tun?«, fragte ich, um zu verhindern, dass Slidell zu singen anfing. »Das Genie meinte, Klapecs Stecher hätte ausgesehen wie R i c k Nelson m i t einer Baseballkappe. Echte Glanzleistung, was?« »Was ist in Pineville?« Slidell grinste und legte den K o p f schief. Da ich nicht in Stimmung für Ratespiele war, legte ich meinen ebenfalls schief. » R i n a l d i sagt, Sie sind gut.« »Bin ich«, sagte ich. »Was ist in Pineville?« »Asa Finney.« Slidells Grinsen wurde breiter, zwischen den Bac k e n z ä h n e n rechts unten war etwas G r ü n e s zu sehen. »Tauchte auf, als Rinaldi Ihren Fingerabdruck durchs System laufen ließ.« »Der im Wachs?« »Genau der.« » W a r u m ist Finney im System?« Ich war ganz aufgedreht.
»Kleinkram. Erregung öffentlichen Ärgernisses unter Alkoholeinfluss. Der Trottel dachte, auf einen Grabstein pinkeln sei eine Performance.« »Wer ist er?« » C o m p u t e r f r e a k . Vierundzwanzig Jahre alt. Wohnt in Pineville, arbeitet von Zuhause aus. Wollen Sie noch mehr hören?« Ich wackelte ungeduldig mit den Fingern. »Finney hat eine Website.« » M i l l i o n e n von Leuten haben Websites.« »Aber keine Millionen von Leuten behaupten, Hexer zu sein.« »Sie meinen santero? Wie Cuervo?« » R i n a l d i sagte Hexer.« Das ergab keinen Sinn. Santería hatten m i t Hexerei nichts zu tun. »Fahren w i r jetzt dorthin?« Slidell schwieg so lange, dass ich schon glaubte, er w ü r d e mich abweisen. Seine Antwort überraschte mich. » W i r fahren mit einem Auto. M e i n e m . « Pineville ist eine verschlafene, kleine Gemeinde zwischen Charlotte und der Staatsgrenze zu South Carolina. W i e die Queen City verdankt auch sie ihre Existenz Pfaden und Flüssen. Vor Kolumbus verlief eine Route nach Westen zum Stamm der Catawba, die andere war der gute alte Handelspfad. Die Flüsse waren der Sugar Creek und der Little Sugar Creek. Farmen. Kirchen. Die Eisenbahn kam und ging. Fabriken w u r den g e g r ü n d e t und wieder geschlossen. Der einzige Stolz des Städtchens ist die Tatsache, dass hier James K. Polk geboren wurde, der elfte Präsident der Vereinigten Staaten. Das war 1795. Seitdem ist nicht mehr viel passiert. In den Neunzigern machte der Bau einer U m g e h u n g s s t r a ß e Pineville zu einem reinen Pendlervorort. Finneys Haus war ein erst nach der U m g e h u n g s s t r a ß e entstandener Neubau m i t gelber A u ß e n v e r k l e i d u n g und nachgemach-
ten, schwarzen Fensterläden. Eine nette, ordentliche, belanglose Ranch. Ein dunkelblauer Ford Focus stand in der Auffahrt. Slidell und ich stiegen aus und gingen den Gartenpfad hoch. Das T ü r t r e p p c h e n war aus Beton, die T ü r aus Metall und schwarz lackiert wie die L ä d e n . A u f der T ü r prangte eine kleine Skulptur, ein Schmetterling mit Spitzenbesatz an den Flügeln. Slidell d r ü c k t e auf den Klingelknopf. V o n drinnen waren gedämpfte Harfenklänge zu hören. Sekunden vergingen. Slidell klingelte noch einmal und ließ den Finger auf dem Knopf. Ein Harfenkonzert. W i r h ö r t e n Klappern, dann ging die T ü r auf. Haare wallten auf Finneys Stirn wie eine Welle, die an einen Strand rollt. Kammspuren liefen an den Schläfen nach hinten. Seine W i m p e r n waren lang, sein L ä c h e l n schief wie das eines frechen Jungen. Ohne die tiefen Aknekrater in seinem Gesicht hätte der M a n n so blendend ausgesehen wie ein Rockstar. »Sind Sie Asa Finney?«, fragte Slidell. »Ich kaufe nichts, egal, was Sie verkaufen.« Ohne den Anflug eines Lächelns zeigte Slidell i h m seine Marke. Finney betrachtete sie. »Was wollen Sie?« »Reden.« »Ist gerade u n g ü n s - « »Auf der Stelle.« Finney trat a r g w ö h n i s c h einen Schritt z u r ü c k . Slidell und ich betraten eine winzige Diele m i t g l ä n z e n d e m Fliesenboden. » K o m m e n Sie mit.« W i r folgten Finney vorbei an einer billig eingerichteten W o h n und Esszimmerkombination in eine kleine K ü c h e im hinteren Teil des Hauses. E i n Tisch und S t ü h l e aus Kiefernholzimitat nahmen die Mitte des Raums ein. Ein halb geleerter Joghurtbecher
und eine Schüssel M ü s l i standen auf einem Platzdeckchen, aus beiden ragten Löffel. »Ich war gerade beim Mittagsessen.« »Lassen Sie sich von uns nicht aufhalten«, sagte Slidell. Finney setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Ich setzte mich i h m g e g e n ü b e r . Slidell blieb stehen. Verhörtaktik: Größenvorteil. Finney trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Nervös? Verärgert, weil Slidell ihn ausgetrickst hatte, indem er stehen geblieben war? Slidell verschränkte die Arme und sagte nichts. Verhörtaktik: Schweigen. Finney legte sich seine Serviette ü b e r ein Knie. N a h m einen Löffel zur Hand. Legte ihn wieder weg. Ich schaute mich um. Die K ü c h e war makellos. Ein M ö r s e r samt Stößel aus Stein stand auf einer Anrichte neben einer K r ä u terschale, die von langen N e o n r ö h r e n m i t Licht versorgt wurde. Über dem S p ü l b e c k e n hing eine fein geschnitzte Darstellung einer nackten, g e h ö r n t e n Gestalt m i t einem Hirsch auf der einen und einem Stier auf der anderen Seite. Eine Schlange m i t W i d derkopf wand sich um einen A r m . Finney folgte meinem Blick. »Das ist Cernunnos, der keltische Vater der Tiere.« »Erzählen Sie uns mehr davon.« Slidells Stimme war eisig. » C e r n u n n o s ist der Begleiter der Mutter Erde.« »Aha.« »Er ist das Wesen des m ä n n l i c h e n Aspekts des Gleichgewichts der Natur. In dieser Darstellung ist der Gott umgeben von einem Hirschen, einem Stier und einer Schlange, die Symbole der Fruchtbarkeit, der Macht und der M ä n n l i c h k e i t . « » M a c h e n solche Sachen Sie an?« Finney drehte den Blick zu Slidell. » W i e bitte?« »Sex. M a c h t . « Finney fing an, sich die Wange zu kratzen. »Was soll das heißen?«
»Sie leben alleine, Asa?« Verhörtaktik: Themenwechsel. »Ja.« »Hübsches Haus.« Finney sagte nichts. »Muss einiges gekostet haben, so eine Hütte.« »Ich habe mein eigenes Geschäft.« Finneys Fingernägel h i n terließen tiefrote Spuren zwischen den Kratern. »Ich entwerfe Videospiele. Manage Websites.« »Ich habe gehört, Sie haben selbst so ein Klasseding.« »Sind Sie deswegen hier?« »Das müssen Sie mir sagen.« Finneys Nasenlöcher verengten und weiteten sich wieder. »Diese ewige ignorante Engstirnigkeit.« Slidell neigte den Kopf. »Hören Sie, das ist kein Geheimnis. Ich bin W i c c a n e r . « »Wiccaner?« Voller Geringschätzung. » W i e Hexer und Teufelsanbeter?« » W i r betrachten uns als Hexer, ja. Aber w i r sind keine Satanisten.« »Was für eine Erleichterung.« » W i c c a ist eine neuheidnische Religion, deren Wurzeln Jahrhunderte hinter das Christentum z u r ü c k r e i c h e n . W i r beten einen Gott und eine Göttin an. W i r feiern die acht Sabbate des Jahres und die Vollmond-Esbats. W i r leben nach einem strikten M o r a l kodex.« »Gehört zu diesem Kodex auch M o r d ? « Finney zog die Brauen zusammen. » W i c c a beinhaltet spezifische rituelle Formen, die Verwendung von Z a u b e r s p r ü c h e n , Herbalismus und Wahrsagerei. Wiccaner benutzen die Hexerei ausschließlich, um Gutes zu b e w i r k e n . « Slidell machte eines seiner nicht interpretierbaren Geräusche. » W i e viele A n h ä n g e r von Minderheitsglaubenssystemen werden wir Wiccaner b e s t ä n d i g drangsaliert. Beleidigungen und k ö r p e r l i c h e Misshandlungen, A n s c h l ä g e mit Schusswaffen, sogar
Lynchmorde. Geht es Ihnen darum, Detective? N o c h mehr Schikanen?« »Ich stelle hier die Fragen.« Slidell Stimme war reinstes Eis. »Was wissen Sie ü b e r einen Keller an der Greenleaf Avenue?« »Absolut nichts.« Ich suchte bei Finney nach Hinweisen auf ausweichendes Verhalten. Sah aber nur V e r ä r g e r u n g . » M i t Kesseln und toten H ü h n e r n . « » W i c c a n e r opfern keine Tiere.« » U n d menschlichen Schädeln.« »Niemals.« »Was ist mit einem Kerl namens T - B i r d C u e r v o ? « Finney k n i f f fast unmerklich die Augen zusammen. »Er gehört nicht zu uns.« »Das habe ich nicht gefragt.« »Den Namen habe ich vielleicht schon mal gehört.« »In welchem Z u s a m m e n h a n g ? « » C u e r v o ist ein santero. Ein Heiler.« »Tanzen Sie beide zusammen im M o n d l i c h t ? « Finneys K i n n ging leicht nach oben. »Santeria und Wicca sind zwei völlig verschiedene Dinge.« »Beantworten Sie die Frage.« »Ich kenne den Mann nicht.« War da wieder ein leichtes Kräuseln der unteren Lider zu sehen? »Sie w ü r d e n mich doch nicht anlügen, oder, Asa?« »Ich muss m i r Ihre U n v e r s c h ä m t h e i t e n nicht gefallen lassen. Ich kenne meine Rechte. Dettner versus Landon. Ein Bezirksgericht i n Virginia entschied, dass Wicca eine offiziell anerkannte Religion ist, der alle gesetzlichen Wohltaten zustehen. Bestätigt neunzehnsechsundachtzig vom Bundesberufungsgericht. Daran müssen Sie sich g e w ö h n e n , Detective. W i r sind legal und w i r bestehen auf unseren R e c h t e n . « In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Die Anruferken-
nung zeigte Katys Nummer. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer und schloss die T ü r hinter mir. »Hey, Katy.« » M o m . Ich w e i ß , was du jetzt sagen wirst. Dass ich dich immer versetze. U n d ja, wahrscheinlich bin ich schon viel zu oft abgesprungen. Aber ich wurde zu diesem wahnsinnigen Picknick eingeladen, und wenn du nichts dagegen hast, w ü r d e ich sehr gerne hingehen.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Dann fiel es mir wieder ein. Samstag. Einkaufsbummel. »Kein Problem.« Ich redete leise, damit die beiden anderen nicht m i t h ö r e n konnten. »Wo bist du?« »Geh nur und amüsier dich.« Durch die T ü r h ö r t e ich den Tonfall zweier Stimmen, Slidells klang barsch, Finneys beleidigt. »Bist du sicher?« Oja. »Absolut.« W ä h r e n d wir redeten, überflog ich die Titel der B ü c h e r in einem Wandregal: An den Rand des Kreises: Ein wiccanisches Initiationsritual; Lebendiges Wicca; Der virtuelle Heide; Heidnische Pfade; Irdische Körper, magische Seelen: Zeitgenössische Heiden und die Suche nach Gemeinschaft; Lebendige Hexenkunst: Ein zeitgenössischer amerikanischer Coven; Das Buch der magischen Talismane; Ein Alphabet der Zaubersprüche. Z w e i B ü c h e r auf einem unteren Regalbrett erregten meine Aufmerksamkeit: Die satanische Bibel und Die satanische Hexe, beide von A n t o n LaVey. W i e passten diese beiden zum Rest? »Charlie meinte, du wärst an diesem Abend ganz klasse gewesen.« »Mhm.« M e i n Blick wanderte ü b e r die Statue einer Göttin mit erhobenen Armen, eine steinerne Schüssel mit Kristallen, eine Mais-
hülsenpuppe. Als ich ein leises Klimpern hörte, schaute ich nach oben. Ein winziges Windspiel baumelte an einem Haken, der in das oberste Brett des Regals geschraubt war. Die Muschelschalen hingen an Fäden, die an einem rosafarbenen Keramikvogel befestigt waren. Katy sagte etwas, das mein H i r n nicht registrierte. Ich starrte gebannt einen Gegenstand an, der hinter den klimpernden Schalen kaum zu sehen war. »Tschüss, meine S ü ß e . U n d viel Spaß.« Ich steckte das Handy in die Tasche, zog einen Stuhl zum R e gal, stieg hinauf und g r i f f in das oberste Regalfach.
19 Kaum atmend, ging ich in Gedanken eine Checkliste durch. Der Unterkiefer hatte weder Schneide- noch E c k z ä h n e . Die Weisheitszähne waren nur zum Teil durchgebrochen. Sämtliche Z ä h n e zeigten nur minimale Abnutzung. Der Knochen war solide und teebraun verfärbt. Jedes Detail passte zu dem unterkieferlosen Schädel aus der Greenleaf. In der K ü c h e erklärte Finney eben die Entstehung eines Scripts für ein Videospiel. Slidell sah aus, als hätte er ungeklärtes Abwasser verschluckt. Beide drehten sich um, als sie die T ü r h ö r t e n . Wortlos legte ich den Unterkiefer auf den Tisch und klatschte LaVeys B ü c h e r daneben. Finney schaute mich an, und R ö t e stieg i h m vom Kragen hoch. » H a b e n Sie einen Durchsuchungsbeschluss für mein Haus?« »Das alles war auf Ihrem B ü c h e r r e g a l deutlich einsehbar«, sagte ich.
»Sie haben uns hereingebeten«, blaffte Slidell. » W i r brauchen keinen Durchsuchungsbeschluss.« »Sind das Ihre B ü c h e r ? « , fragte Slidell. »Ich b e m ü h e mich, auch andere Blickwinkel zu verstehen.« »Sicher doch.« »Ich werde noch eine vollständige Untersuchung anstellen«, sagte ich. »Aber ich bin mir sicher, dass dieser Unterkiefer zu dem Schädel aus T - B i r d Cuervos Keller gehört.« Finney senkte den Blick, doch ich sah das Unterlid zittern. »Also, Arschloch, wollen Sie mir jetzt erklären, warum dieser Unterkiefer in Ihrer H ü t t e ist, obwohl Sie doch Cuervo oder sein kleines Gruselkabinett an der Greenleaf nicht k e n n e n ? « Finney schaute hoch und kreuzte Slidells Blick. »Wissen Sie, was ich glaube?« Slidell wartete die Antwort auf seine Frage gar nicht erst ab. »Ich glaube, dass Sie und Ihre K u m pels bei einem Ihrer Spinnerrituale ein M ä d c h e n umgebracht haben und seinen Schädel und seine Beinknochen aufgehoben haben, um eure kranken Spielchen damit zu treiben.« »Was? N e i n ! « Slidell ging zum Tisch und beugte sich zu Finneys O h r h i nunter, als wollte er i h m etwas Vertrauliches mitteilen. » D u bist dran, Arschloch.« » N e i n ! « H o c h und quengelnd, eher der Schrei eines Teenagerm ä d c h e n s als der eines erwachsenen Mannes. »Ich w i l l einen A n walt.« Slidell riss Finney in die H ö h e , drehte i h n um und legte i h m Handschellen an. »Keine Sorge. In dieser Stadt gibt's mehr A n wälte als Alligatoren in den Everglades.« »Das ist N ö t i g u n g . « Slidell las Finney seine Rechte vor. A u f der Fahrt in die Stadt saß Finney mit gesenktem Kopf, h ä n genden Schultern und hinter dem R ü c k e n gefesselten H ä n d e n da.
Slidell rief Rinaldi an, berichtete i h m von dem Unterkiefer und Finneys Verhaftung. Rinaldi berichtete, dass seine Ermittlungen gute Ergebnisse brachten. Ich bat Slidell, mich auf dem Weg zur Zentrale bei meinem Auto abzusetzen. Vor Cuervos Laden bot sich uns ein unerfreulicher Anblick. Allison Stallings stand davor und d r ü c k t e das Gesicht an die Scheibe, ihre digitale N i k o n in einer Hand. » N a , wenn die nicht grade noch gefehlt hat.« Slidell d r ü c k t e die T ü r mit der Schulter auf, wuchtete sich aus dem Auto und ging ü b e r die Straße. Ich ließ mein Fenster herunter. Finney hob den K o p f und schaute interessiert zu. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun?« » R e c h e r c h i e r e n . « Grinsend hielt Stallings ihre Kamera auf Slidell und d r ü c k t e auf den Auslöser. Slidell versuchte, ihr die Kamera w e g z u r e i ß e n . Stallings hob sie, schoss ein Foto des Taurus und steckte sie dann in ihren R u c k sack. » B l e i b e n Sie b l o ß von meinem Auto und meinem Gefangenen w e g « , brüllte Slidell. »Fahren wir«, rief ich, obwohl ich wusste, dass es bereits zu spät war. Stallings lief schnurstracks auf den Taurus zu, b ü c k t e sich und spähte in den Fond. Slidell stürmte, das Gesicht kirschrot, hinter ihr her. Bevor ich reagieren konnte, beugte sich Finney zu meinem offenen Fenster und rief: »Ich bin Asa Finney. Ich habe nichts Unrechtes getan. Lassen Sie die Öffentlichkeit das wissen. Das ist religiöse Verfolgung.« Ich d r ü c k t e auf den Knopf. Finney rief weiter, w ä h r e n d das Fenster sich schloss. »Ich bin ein Opfer von Polizeibrutalität.« Schwer atmend warf Slidell sein Gewicht auf den Fahrersitz und knallte die T ü r zu. »Schnauze.«
Finney verstummte. Slidell riss den Ganghebel z u r ü c k . W i r schossen nach hinten. Er riss ihn nach vorne und raste mit Regenwasser aufspritzenden Reifen v o m Parkplatz. W ä h r e n d Slidell Finney offiziell in Untersuchungshaft nahm, ging ich ins M C M E , um festzustellen, ob der Unterkiefer tatsächlich zum Schädel aus dem Kessel g e h ö r t e . R ö n t g e n a u f n a h m e n . B i o logisches Profil. Erhaltungszustand. Gelenkverbindungen. M a ß e . Fordisc-3.0-Bewertung. Alles passte. Danach zog ich den zweiten linken Backenzahn aus dem U n terkiefer und steckte ihn in eine T ü t e . Falls erforderlich, konnte zwischen S c h ä d e l und Unterkiefer auch noch ein DNS-Vergleich angestellt werden. Doch das war unnötig, a u ß e r um die A n w ä l t e zufriedenzustellen. Ich hatte keinen Zweifel, dass der Schädel und der Unterkiefer von derselben jungen Schwarzen stammten. Zwei Fragen blieben allerdings. Wer war sie? W i e konnte ein Teil von ihr in diesem Kessel und ein anderer in Finneys Haus landen? Als ich in die Polizeizentrale kam, saß Finney in dem V e r h ö r zimmer, das Kenneth Roseboro am Tag davor so genossen hatte. Der Beschuldigte hatte seinen i h m gesetzlich zustehenden A n r u f getätigt. Slidell und ich a ß e n Sandwiches von Subway, w ä h r e n d w i r auf den Rechtsbeistand warteten. Der Anwalt erschien, als ich eben den letzten Bissen Truthahn und Cheddar verdrückte. U n d mich beinahe daran verschluckt hätte. Charlie H u n t sah noch besser aus als am Donnerstagabend. Ein Zweireiher aus Merinowolle und g l ä n z e n d e Oxford-Schuhe hatten nun die Stelle von Jeans und Slippers eingenommen. Heute trug er eine Aktentasche. U n d Socken. Charlie stellte sich zuerst Slidell vor, dann mir. W i r gaben uns schnell die Hand.
Slidell las die Anklage vor, illegaler Besitz von menschlichen Ü b e r r e s t e n . Er beschrieb die Beweislage und erklärte die Verbindung zwischen Finney und Cuervos Keller. Obendrein e r w ä h n t e er noch die M ö g l i c h k e i t einer Verbindung mit Jimmy Klapec. » A u s g e h e n d wovon?«, fragte Charlie. »Einer Vorliebe für die Schriften von Anton LaVey.« »Ich w ä r e gern zehn Minuten m i t meinem Mandanten allein.« »Der Kerl ist ein Spinner«, gab Slidell zu bedenken. »Das ist SpongeBob auch«, antwortete Charlie. »Das macht ihn noch nicht zum Mörder.« Gemeinsam gingen w i r zu V e r h ö r r a u m drei. »Ich habe nichts dagegen, wenn Sie zusehen.« Charlie schaute uns beiden in die Augen. »Aber keine M i k r o s . « Slidell zuckte die Achseln. Charlie betrat den Raum. Slidell und ich stellten uns vor den Spionglasspiegel. Finney sprang auf. Die M ä n n e r gaben sich die Hand und setzten sich. Finney redete und gestikulierte heftig. Charlie nickte viel und machte sich Notizen. Acht Minuten, nachdem Charlie den Raum betreten hatte, kam er wieder zu uns. » M e i n Mandant hat Informationen, die er Ihnen mitteilen will.« W i e schon zuvor schaute Charlie uns beide an. M i r gefiel das. »Dann kommt er also zur Vernunft?« »Als Gegenleistung verlangt er I m m u n i t ä t für alle Aussagen, die er macht.« »Dieses Arschloch hat vielleicht ein M ä d c h e n umgebracht.« »Er schwört, dass er keinem Menschen etwas getan hat.« »Das tun sie doch alle.« »Glauben Sie ihm?«, fragte ich. Charlie schaute mich lange an. »Ja«, sagte er. »Ich glaube ihm.« » W i e kam er an den Unterkiefer dieses Mädchens?«, fragte Slidell.
»Er ist bereit, das zu erklären.« » W i e sieht seine Beziehung zu Cuervo aus?« »Er behauptet, sie hätten sich nie getroffen.« »Aha. U n d ich werde zum K ö n i g des guten Geschmacks gewählt.« »Den Titel kann man nur erben«, sagte ich. Slidell warf mir einen fragenden Blick zu. »In einer Monarchie gibt es keine W a h l e n . « Charlie strich sich mit der Hand ü b e r den M u n d . » H a - h a . Sehr w i t z i g . « Slidell wandte sich wieder Charlie zu. » W e n n Ihr Knabe den M u n d aufmacht, lassen w i r i h m den U n terkiefer durchgehen, aber nur den Unterkiefer. Wenn er wahrheitsgemäß aussagt, kriegt er Immunität in Bezug auf den Besitz menschlicher Überreste. Wenn ich den Verdacht habe, dass er lügt, wenn ich herausfinde, dass er irgendjemandem auch nur ein H ä r c h e n g e k r ü m m t hat, dann ist der Deal geplatzt.« »Einverstanden.« » W i r machen es mit Audio und Video.« »Gut«, sagte Charlie. Zu dritt marschierten w i r ins V e r h ö r z i m m e r . Charlie setzte sich neben Finney. Slidell und ich setzten uns ihnen g e g e n ü b e r . Slidell sagte Finney, dass das Verhör aufgenommen werde. Finney schaute seinen Anwalt an. Charlie nickte und sagte i h m , er solle beginnen. »Die Highschool war die reinste H ö l l e für mich. M e i n einziger Freund war ein M ä d c h e n namens Donna Scott. Eine E i n z e l g ä n gerin, wie ich. Eine A u ß e n s e i t e r i n . Donna und ich kamen zusammen, weil uns nichts anderes ü b r i g blieb, weil w i r von den anderen ausgegrenzt wurden und wegen unseres gemeinsamen Interesses an Videospielen. W i r verbrachten beide sehr viel Zeit online.« »Lebt diese Donna Scott in Charlotte?« »Ihre Familie zog im Sommer vor unserem Abschlussjahr nach L . A . Zu der Zeit kam sie m i t dem Plan daher.« Finney schaute auf
seine H ä n d e hinunter. » D o n n a hatte die Idee von dem Videospiel GraveGrab. Ist ein ziemlich miserables Spiel, aber sie mochte es, und deshalb spielten w i r es. Im Grunde genommen geht's darum, dass man auf einem Friedhof herumläuft und i n Gräbern buddelt und dabei versucht, nicht von Zombies getötet zu w e r d e n . « » W i e sah Donnas Plan aus?«, fragte ich. »Dass w i r etwas aus einem Grab stehlen. Ich dachte nicht, dass w i r es tatsächlich durchziehen w ü r d e n , aber ich konnte mir gut vorstellen, dass ein Ausflug auf einen Friedhof eine Sause sein w ü r d e . « Finney atmete tief ein und stieß die Luft durch die Nase wieder aus. » D o n n a stand auf die Gothic-Szene. Ich nicht, aber ich war gern m i t ihr zusammen.« » H a b e n Sie den Plan ausgeführt?« Finney nickte. » D o n n a war ganz aufregt wegen des Umzugs, wusste aber, dass ich deswegen deprimiert war. Sie meinte, w i r sollten aufteilen, was immer w i r stehlen w ü r d e n ; sie w ü r d e die eine Hälfte behalten und ich die andere. Sie wissen schon, der alte Trick, wenn Leute eine Nachricht schreiben oder eine Karte zeichnen und dann in zwei Hälften reißen. Wenn man sich später wiedertrifft, fügt man die zwei Hälften zusammen. Donna meinte, so w ü r d e n w i r spirituell in Verbindung bleiben.« »Was für ein Friedhof?«, fragte Slidell. » E l m w o o d Cemetery.« »Wann?« »Vor sieben Jahren. Im August.« »Erzählen Sie.« » D o n n a hatte Elmwood ausgesucht, weil da angeblich irgendein alter Westernstar begraben liegen soll.« » R a n d o l p h Scott?«, vermutete ich. »Ja. Da sie auch Scott h i e ß , fand sie es cool, sich was von i h m zu besorgen.« Randolph Scott war männlich, w e i ß und zum Zeitpunkt seines Todes neunundachtzig Jahre alt. Das passte nicht zu meinem Profil einer jungen Schwarzen.
»Hatten Sie Erfolg?«, fragte ich. » N e i n . W i r trafen uns für eine Mitternachtsvorstellung der Rocky Horror Picture Show und gingen dann zum Elmwood. Das Tor war offen. Donna hatte eine Taschenlampe dabei, ich eine Brechstange.« Finneys Blick wanderte zu seinem Anwalt. Charlie nickte. » W i r suchten nach Scotts Grab, konnten es aber nicht finden. S c h l i e ß l i c h stolperten w i r ü b e r eine oberirdische Gruft, in einer ganz anderen Abteilung, wo es nicht so viele g r o ß e , p r ä c h t i g e Grabsteine gab. Sah aus wie ein D i n g , wo man uns nicht entdecken w ü r d e . Die Angeln waren verrostet. Ich musste mit der Brechstange nur ein paar Mal kräftig d r ü c k e n . « »War irgendwo ein Name eingraviert?«, fragte ich. »Ich kann mich nicht erinnern. Es war dunkel. A u f jeden Fall gingen w i r hinein, stemmten einen Sarg auf, schnappten uns einen S c h ä d e l und einen Unterkiefer und ein paar andere Knochen und machten uns aus dem Staub. Um ehrlich zu sein, mir war die ganze Sache inzwischen ziemlich unheimlich, ich wollte einfach nur weg. Donna meinte, ich sei ein Weichei. Sie war total begeistert.« » N u r damit ich das richtig verstehe. Sie behaupten, Sie hätten den Unterkiefer behalten und Donna den R e s t ? « Finney nickte als A n t w o r t auf Slidells Frage. » W i e kam Cuervo an die Knochen?« »Das w e i ß ich nicht.« » H a b e n Sie Adresse und Telefonnummer dieser D o n n a ? « » N e i n . Ihre Familie zog bald danach um. Sie sagte, sie w ü r d e mal schreiben oder anrufen, hat es aber nie getan.« »Sie haben Sie nie wiedergesehen oder mit ihr geredet?« Finney schüttelte betrübt den Kopf. »Wer ist ihr Vater?« »Birch. Birch Alexander Scott.« Slidell notierte sich den Namen. Unterstrich ihn zweimal. »Sonst noch was?«
»Nein.« Schweigen füllte den winzigen Raum. Finney durchbrach es. » S e h e n Sie. Ich war ein verwirrter Junge. Vor vier Jahren entdeckte ich dann Wicca. Z u m ersten Mal werde ich akzeptiert. Die Leute m ö g e n mich, so wie ich bin. Ich bin jetzt ein anderer.« »Klar doch«, sagte Slidell. »Sie sind der verdammte Erzbischof von Canterbury.« » W i c c a ist eine erdorientierte Religion, die einer Göttin und einem Gott huldigt.« »Spielt Luzifer auch mit?« »Weil wir einem Glaubenssystem a n h ä n g e n , das sich von der traditionellen j u d ä o - c h r i s t l i c h e n Theologie unterscheidet, glauben die Unwissenden, wir w ü r d e n auch Satan anbeten. Dass, wenn Gott die Summe alles Guten ist, es auch ein entsprechend negatives Wesen geben muss, das die V e r k ö r p e r u n g des B ö s e n ist. Satan. W i r Wiccaner glauben das nicht.« »Sie sagen also, es gibt keinen Teufel?« Finney z ö g e r t e kurz und w ä h l t e seine Worte sorgfältig. » W i c c a n e r glauben, dass die gesamte Natur aus Gegensätzen besteht und dass diese Polarität Teil jedes Menschen ist. Gut und Böse sind im Unterbewusstsein des Menschen eingeschlossen. W i r glauben, dass es die Fähigkeit ist, sich ü b e r destruktive Triebe zu erheben, negative Energie in positive Gedanken und Handlungen umzuleiten, die normale Menschen von Vergewaltigern und M a s s e n m ö r d e r n und anderen Soziopathen unterscheidet.« »Benutzen Sie Zauberei, u m dieses Erheben zu erreichen?« »Im Wicca-Kult wird Zauberei als religiöse Praktik betrachtet.« »Gehört zu dieser religiösen Praktik auch das Zerschnippeln von Leichen?« »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Wiccaner praktizieren keine destruktive oder grausame Magie. W i r tun niemandem weh. Warum stellen Sie mir eine solche Frage?« Slidell beschrieb Jimmy Klapecs Leiche. »Glauben Sie, dass ich diesen Jungen umgebracht habe?«
Slidell durchbohrte Finney m i t seinem Blick. »Ich habe m i t siebzehn ein Grab ausgeraubt. Ich wurde einmal verhaftet, weil ich mich in der Öffentlichkeit erleichterte. Zwei blöde Streiche. Das ist alles.« Slidells Blick blieb unverändert. Finney schaute von Slidell zu Charlie und zu mir. »Sie müssen mir glauben.« » U m ehrlich zu sein, Junge, ich glaube Ihnen kein W o r t . « » Ü b e r p r ü f e n Sie es.« Finney war den T r ä n e n nahe. »Finden Sie Donna. Reden Sie mit ihr.« »Da k ö n n e n Sie Gift drauf n e h m e n . «
20 W i r hatten Glück. Genauer gesagt, Finney hatte es. Da der angebliche Grabraub nach 1999 stattgefunden hatte, war der Vorfall im C M P D - C o m p u t e r verzeichnet. M i t dem Jahr des Vorfalls und Elmwood als Suchmerkmale hatten w i r den Bericht innerhalb weniger Minuten auf dem Bildschirm. In der Nacht des 3. August drang/en ein unbekannter V e r d ä c h tiger/unbekannte Verdächtige unberechtigt in die Gruft 109 im Elmwood Cemetery ein. Der ermittelnde Beamte sprach mit M r . Allen Burkhead, dem Friedhofsverwalter. M r . Burkhead gab an, dass er bei seiner Ankunft auf dem Friedhof u m 7 U h r 20 am 4. August festgestellt habe, dass die Gruft 109 aufgebrochen worden war. M r . Burkhead glaubte nicht, dass die Gruft bereits beschädigt war, als er am 3. August um 18 U h r seine Arbeitsstätte verließ. Im Inneren der Gruft öffnete/n der Verdächtige/die Verdächtigen einen Sarg und schändete/n die Überreste von Susan Clover Redmon, indem sie den Schädel entfernten. Der Medical Examiner wurde benachrichtigt, weigerte sich aber, den Friedhof zu besuchen oder die Ü b e r r e s t e zu untersuchen, um festzustellen,
ob auch noch andere Knochen aus dem Sarg entfernt worden waren. Zurzeit des Vorfalls war der Friedhof geschlossen, und es gibt keine Zeugen. Eine Überprüfung der Unterlagen ergab, dass Marshall J. Redmon (verstorben) der Käufer der Gruft war. Ein A n g e h ö r i g e r der Familie Redmon, Thomas Lawrence Redmon, konnte in Springfield, Ohio, ausfindig gemacht werden. Thomas Redmon wurde informiert und w i r d ü b e r die Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten. Ich beantrage, dass dieser Fall für weitere Ermittlungen offengehalten wird. Ich überflog den Rest der Informationen: Ermittelnder Beamter: Wade J. Hewlett. Adresse des Vorfalls: 600 E. 4th St. Geschädigte: Elmwood Cemetery; Marshall J. Redmon. Diebesgut: Menschlicher Schädel und Unterkiefer. Slidell fand heraus, dass Hewlett jetzt in der Eastway Division Dienst tat. Er rief an und wurde weitervermittelt. Sekunden später war Hewlett am Apparat. Slidell schaltete auf M i t h ö r e n . »Ja, an den Einbruch im Elmwood kann ich mich noch gut erinnern. Blieb mir irgendwie im Gedächtnis, weil es der einzige Grabraub war, den ich je hatte. Der Fall führte n i r g e n d w o h i n . « »Was sagt Ihnen Ihr B a u c h ? « » W a h r s c h e i n l i c h Jugendliche. Ich bekam in dieser Woche auch noch einen Mordfall, Vandalismus hatte also nicht gerade oberste Priorität. W i r hatten keine Spuren, nichts, dem w i r nachgehen konnten. Die ö r t l i c h e n Redmons waren alle tot oder weggezogen. Dem einzigen Verwandten, den w i r außerhalb des Staates aufspüren konnten, war die Sache scheißegal. U n d so beschloss ich schließlich, einfach abzuwarten und zu sehen, ob der Schädel wieder auftaucht.« »Ist er?« »Nein.« Ich mischte mich dazwischen. » W a r u m l i e ß sich der Medical Examiner nicht blicken?« »Er fragte mich nach meiner Meinung. Ich sagte ihm, dass
nichts anderes in der Gruft oder im Sarg so aussah, als w ä r e es durcheinandergebracht worden. Er sagte, er werde sich mit dem F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n in Ohio in Verbindung setzen.« »Und?« » T h o m a s Redmon sagte, versiegeln Sie die Gruft und rufen Sie an, wenn Sie den Schädel finden.« »Ein echter Menschenfreund«, sagte Slidell. » R e d m o n war noch nie in Charlotte, kannte diesen Zweig der Familie gar nicht, hatte keine Ahnung, wer alles i n dieser Gruft lag.« » H a b e n Sie die Friedhofsunterlagen zu Susan Redmon ü b e r prüft?«, fragte ich. »Ja. Da war nicht viel. N u r der Name, die Grabparzelle und das Bestattungsdatum. Anscheinend war ihr Sarg der letzte, der reinkam.« »Wann war das?« »Neunzehnsiebenundsechzig.« » W i e viele andere liegen da drin?« »Insgesamt vier.« »Keiner der anderen Särge wurde geschändet?« »Sah nicht so aus. Aber da drin war nichts mehr in gutem Z u stand.« Slidell dankte Hewlett und legte auf. Einige Sekunden lang ließ er die Hand auf dem H ö r e r liegen. Dann wandte er sich mir zu. »Was glauben Sie?« »Ich glaube, dass Finney i n Bezug auf Cuervo lügt. Vielleicht auch in Bezug auf Klapec.« » W i e war's mit einer Gruftbesichtigung?« Elmwood ist nicht die älteste Begräbnisstätte in Charlotte. Das ist Settier. A u f dem Settiers Graveyard, der an der Fifth z w i schen Poplar und Church liegt, wimmelt es von Helden des U n abhängigkeitskriegs, Unterzeichnern der U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä -
rung von Mecklenburg und der wohlhabenden, politischen Vorkriegselite. Elmwood ist relativ neu auf der ö r d i c h e n Friedhofsszene. Eröffnet wurde er 1853, und die erste Beerdigung fand zwei Jahre später statt, angeblich das Kind eines W i l l i a m Beatty. Die Buchführung war zu der Zeit alles andere als detailliert. Anfangs gingen die Geschäfte in Elmwood schlecht. Die Verkäufe stiegen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wegen des Bevölkerungszuwachses nach der G r ü n d u n g von Textilfabriken. Die letzte Parzelle wurde 1947 verkauft. Ausgehend von seiner u r s p r ü n g l i c h e n Konzeption, sowohl den Schnellen wie den Toten zu dienen, ist E l m w o o d immer noch beliebt bei Joggern und S p a z i e r g ä n g e r n . Aber seine vier Hektar bieten mehr als nur Azaleen und Schatten. Die Anlage verewigt sowohl in Grabstätten- wie in Landschaftsgestaltung die sich verä n d e r n d e n Einstellungen von Amerikas Neuem S ü d e n . Wie Gallien war auch der ursprüngliche Friedhof omnis divisa est in partes tres, Elmwood für W e i ß e , Pinewood für Schwarze und Potters Field für diejenigen, denen das Geld für eine eigene Parzelle fehlte. N a t ü r l i c h nur für W e i ß e . Keine Straßen verbanden Elmwood und Pinewood, und letzterer konnte ü b e r den Haupteingang des ersteren nicht erreicht werden. Die Sixth Street für die W e i ß e n , die N i n t h Street für die Schwarzen. Irgendwann in den D r e i ß i g e r n wurde ein Zaun errichtet, um sicherzustellen, dass sich die rassisch verschiedenen Leichen und ihre Besucher nie vermischten. Jawoll, Sir. Nicht nur, dass die Schwarzen an extra für sie vorgesehenen Orten arbeiten, essen, einkaufen und im Bus fahren mussten, ihre Toten mussten auch in verbarrikadierter Erde Hegen. Der Zaun blieb bestehen, auch Jahre nach Abschaffung der Diskriminierung beim Verkauf von Friedhofsparzellen in Charlotte. Erst 1969, nach einer öffentlichen Kampagne unter F ü h rung von Fred Alexander, Charlottes erstem schwarzem Stadtrat, wurde der alte Maschendraht niedergerissen.
Heute kommen alle zusammen in dieselbe Erde. Bevor w i r die Zentrale v e r l i e ß e n , r i e f Slidell die N u m m e r an, die Hewlett i h m für Thomas Redmon gegeben hatte. Erstaunlicherweise nahm der Mann ab. » M a c h e n Sie nur«, sagte Redmon. »Aber wenn möglich, tun Sie alles vor Ort.« Redmon wollte nicht unbedingt die Geister der Toten wecken. Slidell r i e f auch die N u m m e r an, die für Allen Burkhead angegeben war. Burkhead war noch immer der Verwalter von E l m wood und bereit, uns zu treffen. Hewlett. Redmon. Burkhead. Drei von drei. Jetzt ging es w i r k lich vorwärts. Burkhead war ein großer, w e i ß h a a r i g e r Mann, der auftrat wie ein F ü n f - S t e r n e - G e n e r a l . Er wartete bereits mit einer Brechstange in der einen Hand und einem Regenschirm in der andern, als wir am Tor an der Sixth Street vorführen. Es regnete wieder, ein leichtes, aber stetiges Nieseln. Schwere, grau-schwarze Wolken sahen aus, als w ü r d e n sie sich bei der nächsten Gelegenheit entladen wollen. Slidell gab Burkhead die wichtigsten Informationen, dann g i n gen w i r durch das Tor. Der Regen trommelte einen sanften Rhythmus auf das Schild meiner Kappe und den Rucksack, den ich auf einer Schulter trug. Manche Leute betrachten Schweigen als eine Leere, die gefüllt werden muss. Burkhead war einer von ihnen. Vielleicht war er aber auch einfach nur stolz auf sein kleines K ö n i g r e i c h . Unterwegs bedachte er uns mit E r l ä u t e r u n g e n , die w i r kein einziges Mal unterbrachen. » E l m w o o d ist eine kulturelle E n z y k l o p ä d i e . Charlottes Ä r m s t e und Reichste liegen hier, Veteranen der Konföderierten direkt neben afrikanischen Sklaven.« N i c h t in diesem Teil, dachte ich beim Anblick der vom N e o klassizismus inspirierten Obelisken, der m ä c h t i g e n , oberirdischen Sarkophage, der t e m p e l ä h n l i c h e n Familiengruften, der sorgfältig behauenen Granit- und M a r m o r b l ö c k e .
Im Gehen deutete Burkhead mit seiner Brechstange hierhin und dorthin, wie ein Fremdenführer, der in der Nekropolis von Theben Pharaonen identifiziert. »Edward D i l w o r t h Latta, Bauunternehmer. S.S. M c N i n c h , ehemaliger B ü r g e r m e i s t e r . « M ä c h t i g e H a r t h ö l z e r vereinigten sich ü b e r uns zu einem Blätterdach, das Laub g l ä n z e n d , die S t ä m m e dunkel vor Feuchtigkeit. Zypressen, Buchsbaum und b l ü h e n d e Sträucher bildeten eine nasse, weite Ebene. Grabsteine erstreckten sich bis zum Horizont, grau und düster im beharrlichen Regen. W i r kamen an einem Denkmal für Feuerwehrleute vorbei, einer kleinen, steinernen B l o c k h ü t t e , einem Kriegerdenkmal der Konföderierten. Ich sah die üblichen Grabsymbole: L ä m m e r und Engel für Kinder, b l ü hende Rosen für junge Erwachsene, das orthodoxe Kreuz für Griechen, Zirkel und W i n k e l m a ß für Freimaurer. Zwischendurch blieb Burkhead an einem Grabstein stehen, in den die Darstellung eines Elefanten e i n g e m e i ß e l t war. Feierlich las er uns die Inschrift laut vor: »>Errichtet von den Mitgliedern des John Robinson's Circus im Andenken an John King, getötet in Charlotte, N o r t h Carohna, am zweiundzwanzigsten September achtzehnachtzig von dem Elefanten Chief. M ö g e seine Seele in Frieden ruhen.«< »Und?«, brummte Slidell. »O ja. Das Vieh d r ü c k t e den armen Mann gegen einen E i senbahnwaggon. Der Unfall war damals eine ziemliche Sensation.« M e i n Blick wanderte zur Marmorstatue einer Frau einige G r ä ber entfernt. Angezogen vom Schmerz in ihrer Haltung ging ich darauf zu. Die Frau kniete, eine Hand stützte ihr Gesicht, die andere hing, einen Rosenstrauch haltend, schlaff herab. Die Detailarbeit in Kleidung und Haaren war herausragend. Ich las die Inschrift. Mary Norcott London war 1919 gestorben. Sie war vierundzwanzig. Das Denkmal war von ihrem Ehemann, Edwin Thomas Cansler, errichtet worden.
Ich dachte an den Schädel in meinem Labor. G e h ö r t e er w i r k lich Susan Clover Redmon? Mary war Edwins Frau gewesen. Sie war so j u n g gestorben. Was für ein Mensch war Susan gewesen? Was für ein U n g l ü c k hatte ihr Leben derart verkürzt? Ihr G l ü c k beendet oder ihr Leid, ihre Hoffnungen oder Ängste? Hatten trauernde Eltern Susans Sarg voller Liebe ihrem Grab übergeben? Dachten sie an ein M ä d c h e n , das M a l b ü c h e r mit Buntstiften ausfüllte, das mit seinem brandneuen Schulranzen in den Bus stieg? Hatten sie geweint, voller Kummer darüber, dass das Versprechen ihrer Zukunft nie in Erfüllung gehen w ü r d e ? Oder war es ein Ehemann gewesen, der ihren Tod betrauert hatte? Geschwister? Slidells Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hey, Doc. Kommen Sie?« Ich holte die anderen wieder ein. Weiter im Osten ging die leicht krummlinige Anlage des Friedhofs in ein rechtwinkliges Gitternetz aus G r ä b e r n über. Es regnete jetzt heftiger. Ich hatte mein triefendes Sweatshirt gegen eine M C M E - W i n d j a c k e getauscht. Schlechte Entscheidung. Das d ü n n e N y l o n hielt mich weder warm noch trocken. S c h l i e ß l i c h kamen w i r in einen Bereich mit nur wenigen kunstvollen Grabsteinen. Die B ä u m e waren noch immer alt und stattlich, aber die Anordnung wirkte natürlicher, weniger starr. Ich vermutete, dass w i r die Grenze überschritten hatten, die früher von dem Maschendrahtzaun gesichert worden war. Burkhead setzte seine F ü h r u n g fort. » T h o m a s H . Lomax, A . M . E . , Bischof von Z i o n ; Caesar Blake, kaiserlicher Potentat des Uralten Ä g y p t i s c h - A r a b i s c h e n Ordens und Führer der Schwarzen Freimaurer in den Neunzehn-Zwanzigern.« Das herausragendste Grabmal dieses Teils war ein kleiner, frontgiebeliger Bau aus gelben und roten Ziegeln. Erhabene Z i e gel bildeten r a u t e n f ö r m i g e Muster an den S e i t e n w ä n d e n und der
R ü c k w a n d und ü b e r der einfachen H o l z t ü r den Schriftzug SMITH. »W.W. Smith, Charlottes erster schwarzer Architekt«, sagte Burkhead. »Ich finde es passend, dass M r . Smiths Grab seinen markanten Stil der Ziegelverarbeitung reflektiert.« » W i e viele Gerippe haben Sie hier?«, fragte Slidell. » U n g e f ä h r fünfzigtausend.« Burkheads Ton gab dem W o r t »missbilligend« eine ganz neue Bedeutung. »Wäre eine klasse Kulisse für einen von diesen Zombie-Filmen.« Burkhead straffte seine bereits sehr kantigen Schultern und deutete mit der Brechstange. » D e r Vandalismus fand dort d r ü b e n statt.« Burkhead führte uns zu einem kleinen B e t o n w ü r f e l inmitten eines halben Dutzends Gräber, deren Steine alle Redmon als mittleren oder letzten Namen trugen. Der Name k r ö n t e auch den Eingang zu der Gruft. Burkhead gab mir die Brechstange, schloss den Schirm und lehnte ihn an die Gruft. Dann zog er einen Schlüssel hervor und steckte ihn in ein Vorhängeschloss etwa auf S c h u l t e r h ö h e an der rechten Seite der T ü r . M i r fiel auf, dass das Schloss glänzender und weniger verrostet wirkte als die ins Holz eingelassenen N ä g e l und Scharnierbänder. Neben dem Schloss waren tiefe Furchen im T ü r s t o c k zu erkennen. Nachdem er den B ü g e l gelöst hatte, steckte Burkhead Schloss samt Schlüssel in die Tasche und stieß die T ü r m i t einer Hand auf. M i t leichtem Rostgeriesel und einem hollywoodreifen Quietschen schwang sie nach innen. Gleichzeitig holten w i r drei unsere Taschenlampen heraus und schalteten sie ein. Burkhead ging als erster hinein. Ich folgte. Slidell bildete die Nachhut. Der Geruch war schwer und organisch, nach Erde, alten Z i e -
geln, verfaultem Holz und verrottetem Gewebe. Nach Motten und Rattenpisse und Feuchtigkeit und Moder. Nach Slidells Pastrami-Atem. Die Gruft war so eng, dass w i r Ellbogen an Ellbogen stehen mussten. Unsere Taschenlampen beleuchteten aus den W ä n d e n ragende Simse direkt vor uns und links der T ü r . A u f jedem stand ein schlichter Holzsarg. Schlecht, wenn man die Ä o n e n ü b e r s t e h e n w i l l . Gut für einen schnellen Sprint von Staub zu Staub. Jeder Sarg sah aus, als w ä r e er in ein Mahlwerk geraten. Wortlos faltete Burkhead ein fotokopiertes Dokument auf und trat zu den Simsen g e g e n ü b e r der T ü r . Schatten huschten ü b e r die W ä n d e , als sein Blick hin und her sprang zwischen dem Papier in seiner Hand und zuerst dem oberen, dann dem unteren Sarg. Ich wusste, was er tat. Die Toten bleiben nicht immer, wo sie sind. Ich leitete einmal eine Exhumierung, bei der Opa drei Parzellen entfernt von der lag, in der er eigentlich hätte begraben sein sollen. Bei einer anderen lag der Verstorbene in einer Parzelle, die zwei Stapel von drei Toten enthielt. Anstatt unten links, wie es in den Unterlagen verzeichnet war, befand sich unser Sarg in der Mitte des rechten Stapels. Die wichtigste Regel des Exhumierens: Versichere dich, dass du den Richtigen hast. Da ich wusste, wie ungenau alte Friedhofsunterlagen oft waren, nahm ich an, dass Burkhead Fotos oder kurze Beschreibungen m i t erkennbaren Details verglich. Sargstil, dekorative Metallbeschläge, Form der Griffe. Bei dem offensichtlichen Alter der Särge bezweifelte ich, dass er das Glück haben w ü r d e , Herstellermarken oder Seriennummern zu finden. Nachdem Burkhead sich sicher war, meldete er sich wieder zu Wort: »Diese Verstorbenen sind Mary Eleanor Price Redmon und Jonathan Revelation Redmon. Jonathan starb 1937, Mary 1948.« Dann ging er zur Seitenwand und wiederholte die Prozedur. W i e zuvor brauchte er mehrere Minuten.
» D e r Verstorbene oben ist William Boston Redmon, begraben am 19. Februar 1959.« Burkhead hielt die freie Hand ü b e r den Sarg. »Das ist der Sarg, der vor sieben Jahren g e s c h ä n d e t wurde. Susan Clover Redmon wurde am 24. A p r i l 1967 bestattet.« W i e ihre Verwandten hatte auch Susan die Reise ins Jenseits in einer Holzkiste angetreten. Oberteil und S e i t e n w ä n d e waren eingesackt, und der Großteil des Metalls lag auf einer Sperrholzplatte, die man zwischen Sarg und Sims geschoben hatte. A u f der linken Seite des Deckels zeigte sich ein l ä n g e r e r Riss. Jemand hatte kleine Holzstreifen d a r ü b e r g e n a g e l t . » M r . Redmon weigerte sich, einen neuen Sarg zu kaufen. W i r haben versucht, den Deckel zu reparieren.« Burkhead wandte sich an mich. »Werden Sie die Verstorbene hier drinnen untersuchen?« » A u f M r . Redmons Wunsch hin. Aber es kann sein, dass ich Proben für eine abschließende Ü b e r p r ü f u n g in mein Institut m i t nehmen muss.« » W i e Sie wollen. Leider ist der Sargschlüssel im Lauf der Jahre unauffindbar g e w o r d e n . « Burkhead trat nun an ein Ende des Simses und bedeutete Sli— dell, sich ans andere Ende zu stellen. »Vorsichtig, Detective. Die Ü b e r r e s t e haben kein allzu großes Gewicht mehr.« Zusammen hoben die M ä n n e r die Sperrholzplatte vom Sims und stellten sie auf den Boden. Der nun freistehende Sarg füllte die kleine Kammer so aus, dass wir drei gezwungen waren, uns an die W ä n d e zu d r ü c k e n . O b w o h l ich kaum Platz hatte, mich zu bewegen, öffnete ich meinen Rucksack und zog einen batteriebetriebenen Scheinwerfer, ein Vergrößerungsglas, ein Fallformular, einen Stift und einen Schraubenzieher heraus. Burkhead schaute mir aus dem Schatten der östlichen Ecke zu. Slidell stand an der T ü r und hielt sich sein Taschentuch vor den M u n d .
Ich setzte mir einen Mundschutz auf, kauerte mich seitlich hin und fing an zu stemmen. Die N ä g e l lösten sich problemlos.
21 Südstaatler halten keine Totenwache. W i r versammeln uns zu einer letzten Betrachtung. M i r leuchtet das ein. Parfümiert, ohne Blut, aber m i t Wachs in den Gefäßen w i r d eine Leiche sich nicht wieder aufsetzen und strecken. Aber sie ist hergerichtet für eine letzte Inaugenscheinnahme. Um diesen letzten Blick vor der Ewigkeit zu erleichtern, sind die Sargdeckel zweigeteilt wie Pferdestalltüren. Finney und sein M ä d c h e n hatten sich diese Besonderheit zunutze gemacht und nur die obere Hälfte aufgestemmt. Für ein nächtliches S c h n ä p p c h e n war das ganz praktisch. Aber ich brauchte Zugang zum gesamten Skelett. Aufgrund des Vandalismus und des natürlichen Verfalls war Susans Sargdeckel auf der ganzen Länge eingesackt. Die Erfahrung sagte mir, dass ich ihn Stück für Stück w ü r d e abnehmen müssen. Nachdem ich Burkheads Reparaturstreifen gelöst hatte, kratzte ich mit dem Schraubenzieher den Rost weg, der die Deckelkanten versiegelte. Dann machte ich mich, wie Finney, m i t der Brechstange ans Werk. Burkhead und Slidell halfen mir und legten verfaulendes Holz und rostiges Metall auf den wenigen freien Stellen auf dem Boden ab. Ein Geruch stieg auf, eine Mischung aus Schimmel und F ä u l nis. Ich spürte ein Kribbeln auf der Haut, meine Nackenhaare stellten sich auf. Eine Stunde später war der Sarg offen. Die Überreste lagen unter einem Häuflein samtener Sargauskleidung, die ü b e r und ü b e r mit einer w e i ß e n , flechtenartigen Substanz bedeckt war.
Nachdem ich Fotos geschossen hatte, zog ich Handschuhe an, weil mir Hewletts Aussage, aus dem Sarg sei nichts entfernt worden außer dem Schädel, nicht ganz geheuer war. Wenn das stimmte, woher stammten dann die Oberschenkelknochen, die ich in dem Kessel gefunden hatte? Ich behielt diese Ü b e r l e g u n g e n für mich. Es dauerte nur Minuten, die Samtauskleidung, die den Oberk ö r p e r bedeckte, zu entwirren und zu entfernen. Slidell und Burkhead schauten zu und machten hin und wieder eine Bemerkung. Susan Redmon war, wie es aussah, in einem blauen Seidenkleid begraben worden. Das ausgebleichte Tuch u m h ü l l t e ihren Brustkorb und die Armknochen wie vertrocknetes Papier. Haare klebten an dem Kissen, auf dem ihr K o p f geruht hatte, die Augenklappe eines Bestatters und drei S c h n e i d e z ä h n e lagen zwischen den langen, schwarzen Strähnen. So weit zum Kissen. Kein Kopf. Kein Unterkiefer. Ich schaute Slidell an. Er zeigte mir den hochgereckten Daumen. Ich steckte erst eine Haarprobe, dann die drei S c h n e i d e z ä h n e in Plastiktüten. »Das sind Z ä h n e ? « , fragte Slidell. Ich nickte. »Haben Sie zahnärztliche U n t e r l a g e n ? « , fragte Burkhead. » N e i n . Aber ich kann versuchen, sie in die entsprechenden Z a h n h ö h l e n einzupassen und sie mit den B a c k e n z ä h n e n zu vergleichen, die in Unterkiefer und Schädel noch vorhanden sind.« Danach setzte ich meine Untersuchung fort. Susans Kleid war am Oberteil aufgerissen. Durch den Riss konnte ich einen eingesunkenen Brustkorb erkennen, der auf den Brustwirbeln lag. Drei Halswirbel lagen verstreut auf dem Spitzenkragen des Kleids, vier andere zwischen der fleckigen Sargauskleidung und dem Rand des Kissens. . Behutsam hob ich den Bezugsstoff an, bis auch der untere Teil des Körpers bloßlag.
Die Handgelenksenden der Ellen und Speichen ragten aus den Ä r m e l n . Handknochen lagen verstreut auf den Falten des Kleids und neben der rechten Seite des Brustkorbs. Das Kleid war k n ö c h e l l a n g , der Stoff schmiegte sich an die Beinknochen. Die F u ß g e l e n k s e n d e n von Schien- und Wadenbein ragten aus dem Saum, die F u ß k n o c h e n darunter lagen in a n n ä h e r n d korrekter anatomischer Anordnung da. »Alles ist braun wie der Greenleaf-Schädel«, sagte Slidell. »Ja«, erwiderte ich. Das Skelett hatte die Farbe starken Tees angenommen. »Was sind das für w e l c h e ? « Slidell deutete auf die verstreuten Handknochen. » H a n d w u r z e l - , Mittelhand- und Fingerknochen, die nicht mehr an O r t und Stelle liegen. Wahrscheinlich ist sie mit auf der Brust oder dem Bauch ü b e r e i n a n d e r g e l e g t e n H ä n d e n begraben worden.« W ä h r e n d ich das verrottende Gewebe aufschnitt und anhob, stellte ich mir vor, wie Donna, randvoll mit Adrenalin, in die u n tere Hälfte des Sargs gegriffen, blindlings herumgetastet, etwas gepackt und herausgerissen hatte. » U b e r e i n a n d e r g e l e g t e H ä n d e sind eine Standardpose. Entweder auf dem Bauch oder der Brust. O f t gibt man den Verstorbenen auch noch etwas in die H ä n d e , das ihnen zu Lebzeiten teuer war.« Burkhead redete nur um des Redens willen. Weder Slidell noch ich h ö r t e n zu. W i r konzentrierten uns auf die spröde Seide, die Susans Beine bedeckte. N o c h zwei Schnitte mit der Schere, dann konnte ich die Ü b e r reste von Susans Kleid öffnen. Zwischen Becken und Knien lag nur eine einsame K n i e scheibe. »Hewlett hat also Mist gebaut«, sagte Slidell. »Beide Oberschenkelknochen sind v e r s c h w u n d e n . « Die Erleichterung in meiner Stimme war u n ü b e r h ö r b a r .
»Dieses Arschloch Finney drehe ich durch den Wolf. U n d seine perverse Freundin. Sind w i r hier fertig?« » N e i n , w i r sind hier noch nicht fertig«, blaffte ich. » U n d was kommt jetzt noch?« Slidell war in Gedanken bereits bei der Suche nach Donna Scott. »Jetzt suche ich nach Ü b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen diesem Skelett und dem S c h ä d e l und den Beinknochen, die w i r in dem Kessel gefunden haben.« »Muss mal telefonieren.« Slidell drehte sich um und verließ die Gruft. Sekunden später drang seine Stimme von d r a u ß e n herein. Ich klappte das Oberteil am Riss z u r ü c k , nahm das rechte Schlüsselbein zur Hand, bürstete es ab und untersuchte die innere Seite. Die Wachstumskappe war zum Teil verschmolzen, was auf eine junge Erwachsene hindeutete, die zum Todeszeitpunkt m i n destens sechzehn Jahre alt war. Ich nahm nun das linke Schlüsselbein und untersuchte es ebenfalls. Derselbe Zustand. Ich füllte eben mein Fallformular aus, als Slidell z u r ü c k k a m . »Ich habe Rinaldi angerufen wegen einer Anfrage, die ich ans L A P D gestellt habe, bevor w i r hierhergefahren sind. Ü b e r Donna Scott und ihren Daddy Birch.« »Ich dachte, Rinaldi befragt Stricher in N o D a . « »Die H ü h n e r h a b i c h t e sind abgetaucht. Er ist in der Zentrale und w i l l später noch mal hin, wenn sie nach Einbruch der D u n kelheit wieder auftauchen.« Ich setzte meine Untersuchung fort, indem ich die rechte H ü f t seite herausnahm und betrachtete. Die Form war typisch weiblich. Die Schambeinfuge hatte markante horizontale Grate und Furchen, und ein schlanker Knochenkamm war im Prozess der Verschmelzung mit dem oberen Rand der Hüftpfanne. Ich schrieb die Feststellungen ins Formular und nahm dann die linke Beckenseite zur Hand. Leichenwachs, eine k r ü m e l i g e , seifenartige Substanz, haftete an den R ä n d e r n und der Innenfläche
der Schambeinfuge. Nach zehn Minuten Putzen zeigten sich Merkmale, die identisch waren mit denen der rechten Hälfte. Weitere Notizen. Ich untersuchte eben die Rippenenden, als Slidells Handy die Stille zerriss. Er zog das Gerät von der Hüfte und lief nach drauß e n . W i e schon zuvor konnte ich nicht verstehen, was er sagte, aber seine Stimme drang durch die offene T ü r . Slidells zweites Gespräch war l ä n g e r als das erste. Ich legte eben einen W i r b e l an seinen Platz z u r ü c k , als er wieder in die Gruft kam. »Das L A P D hat sich bei Rinaldi gemeldet.« »Das ging schnell«, sagte ich. »Sind Computer nicht was Tolles?« Burkhead war völlig bewegungslos. Ich merkte, dass er zuhörte. »Birch Alexander Scott kaufte im Februar zweitausendeins ein Haus in Long Beach und zog im Sommer dieses Jahres mit seiner Frau Annabelle und seinen T ö c h t e r Donna und Tracy dort ein.« »Das passt zu Finneys Geschichte«, sagte ich. »Es lief allerdings nicht gerade so, wie der Mann sich das vorgestellt hatte. Z w e i Jahre nach dem U m z u g starb er an einem massiven Herzinfarkt. Die Frau lebt immer noch in dem Haus.« »Was ist mit Donna?« »Klingt so v e r r ü c k t wie eh und je. Schrieb sich zweitausendzwei an der University of Southern California in die School of Cinematic Arts ein.« Slidell sprach den Kurs für Filmkunst mit viel H o h n in der Stimme aus. »Ging zweitausendvier wieder ab, um Herb Rosenberg, Alter siebenundvierzig, zu heiraten. Schon mal was von i h m gehört?« Ich schüttelte den Kopf. »Der Kerl ist irgendein superwichtiger, freischaffender Produzent. Die Ehe hielt zwei Jahre. Donna Scott-Rosenberg lebt jetzt in Santa Monica. Seit Juli arbeitet sie als Rechercheurin für eine TV-Serie.«
»Hat Rinaldi eine Telefonnummer b e k o m m e n ? « »Klar.« Slidell wedelte mit seinem Handy und verschwand wieder nach d r a u ß e n . »Wer ist Donna Scott?«, fragte Burkhead. »Sie war m ö g l i c h e r w e i s e an dem Vandalismus beteiligt.« Ich nahm mir die R ö h r e n k n o c h e n einen nach dem anderen vor und bestimmte ihr Alter. Als Hals und Schultern schon vor Schmerz kreischten, setzte ich mich schließlich auf die Hacken. Schlüsselbeine. Beckenknochen. Rippen. R ö h r e n k n o c h e n . Jeder Indikator deutete auf einen Todeszeitpunkt im Alter von fünfzehn bis siebzehn Jahren hin. Alter. Geschlecht. Robustheit. Erhaltungszustand. Verfärbung. Cuervos Kessel hatte Teile des Skeletts einer jungen Schwarzen enthalten, die genau in dieser Zeitspanne gestorben war. Einer Schwarzen, der jetzt Kopf, Unterkiefer und Oberschenkelknochen fehlten. Susan Redmon passte perfekt zu dem M ä d c h e n in dem Kessel. Es war bereits Nacht, als Slidell und ich E l m w o o d v e r l i e ß e n . Dicke Wolken v e r h ü l l t e n M o n d und Sterne und verwandelten B ä u m e und Grabsteine in dunkle Scherenschnitte vor einem kaum weniger dunklen Hintergrund. N o c h immer fiel ein kalter Regen, und Legionen von Fröschen wetteiferten stimmlich mit Armeen von Heuschrecken. Vielleicht waren es auch Grillen. Was auch immer. Der L ä r m war beeindruckend. Burkhead ü b e r n a h m die Verantwortung für die Sicherung der Überreste und die Versiegelung der Gruft. Ich versprach, Finneys Unterkiefer sowie den Schädel und die Oberschenkelknochen aus dem Kessel z u r ü c k z u g e b e n , sobald ich meinen Chef ü b e r zeugt hatte, dass es tatsächlich Susan Redmons fehlende Teile waren. Er versprach, alles zu tun, u m Cousin Thomas zu überzeugen, Geld für einen neuen Sarg h e r a u s z u r ü c k e n .
Slidell war unruhig und m ü r r i s c h . O b w o h l er mehrere Nachrichten hinterlassen hatte, hatte Donna Scott-Rosenberg ihn noch nicht z u r ü c k g e r u f e n . Slidell rief noch einmal Rinaldi an, als ich eben meinen Sicherheitsgurt einrasten l i e ß . Ich schaute auf die Uhr. Viertel nach neun. Es war ein sehr langer Tag gewesen. Seit dem Truthahn-und-Cheddar-Sandwich auf dem Revier hatte ich nichts mehr gegessen. Ich lehnte mich z u r ü c k , schloss die Augen und massierte mir die Schläfen. »Die Schlampe hat's anscheinend nicht nötig zurückzurufen. Ich lasse ihr noch Zeit bis morgen früh, dann mache ich Druck. W i r sollten uns auf Klapec konzentrieren. Irgendwas Neues bei dir?« Rinaldi sagte etwas. W i e Slidell reagierte, nahm ich an, dass er wieder in N o D a war. »Ach ja? Ist der Kerl glaubwürdig?« Wieder sagte Rinaldi etwas. » U n d er w i l l reden?« Slidell hörte zu. »Dann sehen w i r uns um zehn.« Slidell klappte das Handy zu. Eine Weile fuhren w i r schweigend. Dann: »Sollen w i r es für heute gut sein lassen, Doc?« »Was hatte Rinaldi zu berichten?«, murmelte ich. »Sein H ü h n e r h a b i c h t ist bereit, ü b e r diesen Rick-Nelson-Stecher zu quatschen.« Slidell hielt kurz inne. »Wissen Sie, was mir an Nelson gefiel? Seine Haare. Der Kerl hatte Haare wie ein Shetlandpony.« »Was erzählt der J u n g e ? « Ich brachte Slidell wieder zum Thema zurück. »Beschreibt den Kerl als durchschnittlich in Größe und Statur, konservativer Kleidungsstil, nicht ü b e r m ä ß i g gesprächig. Sagte, er hätte diesen Ricky-Boy immer bedient, bis der ihn g r ü n und blau prügelte.«
Ich öffnete die Augen. »Der Mann war gewalttätig?« »Der Junge behauptet, das Arschloch hätte ihn so richtig fertiggemacht.« »Wann war das?« »Im Juni. Als er sich weigerte, ihn weiter zu bedienen, ü b e r nahm Klapec.« »Sonst noch was?« »Er sagt, er hat Informationen, aber nicht umsonst. Mal ganz was Neues. Rinaldi trifft sich mit ihm um zehn.« »Wo?« »Irgend 'ne mexikanische Kaschemme an der N o r t h Davidson. Ich werd vorbeifahren, i h m selbst noch ein paar Verkaufsargumente liefern. Soll ich Sie zu Ihrem Auto z u r ü c k b r i n g e n ? « In diesem Augenblick knurrte mein Magen. »Nein«, sagte ich. »Sie sollten mir eine Enchilada spendieren.« An der Ecke 35th und N o r t h Davidson gelegen, ist Cabo Fish Taco ein bisschen zu l u x u r i ö s für den Begriff Kaschemme. Es ist eher ein Laden, wo sich Surfer aus Baja mit Künstlern aus A l b u querque treffen. Slidell parkte vor dem alten Landmark Building, das jetzt die Center of the Earth Gallery beherbergt. Im Fenster hing ein Stillleben, das ein Wasserglas mit einen Eigelb auf dem Boden und den beiden Hälften eines Plastikostereis auf dem Rand zeigte. Als Slidell das G e m ä l d e beim Aussteigen sah, schnaubte er nur und schüttelte den Kopf. Er wollte eben etwas dazu bemerken, als er Rinaldi von der Stelle aus, wo die 35th an den Gleisen endet, auf uns zukommen sah. Slidell pfiff laut. Rinaldi hob den Kopf. Er lächelte. Glaube ich. Sicher bin ich mir nicht. In diesem Augenblick geriet die Wirklichkeit aus der Bahn. Rinaldis Hand wanderte in die H ö h e . Ein Schuss knallte.
Rinaldis A r m erstarrte, halb abgewinkelt. Sein K ö r p e r richtete sich auf. Zu sehr. E i n zweiter Schuss krachte. Rinaldi wirbelte zur Seite, wie von einer Kette gerissen. » R u n t e r ! « Slidell schubste mich grob auf den B ü r g e r s t e i g . Meine Knie krachten auf Beton. M e i n Bauch. Meine Brust. Ein dritter Schuss war zu hören. Ein Fahrzeug raste auf der Davidson nach S ü d e n . M i t h ä m m e r n d e m Herzen schaute ich hoch, ohne den K o p f zu heben. M i t gezogener Waffe rannte Slidell den Block hinunter. Rinaldi lag bewegungslos da, die langen, d ü r r e n G l i e d m a ß e n unnatürlich verdreht.
22 Ich rappelte mich auf und rannte die 35th hoch. In der Ferne heulten Sirenen. Die eben noch verlassenen B ü r gersteige füllten sich mit Schaulustigen. Vor mir bildete sich um Rinaldi herum ein Kreis. Durch Beinpaare hindurch sah ich seine bewegungslose Gestalt und eine dunkle Tentakel, die von unterhalb seiner Brust zur Bordsteinkante quoll. Gaffer beiseite schiebend, bahnte ich mir einen Weg. Slidell kniete vor i h m , das Gesicht fleckig, beide H ä n d e auf die Brust seines Partners gepresst. M e i n Herz schlug bis zum Hals. Rinaldis Lider waren blau, sein Gesicht leichenblass. Regendurchtränkte Haare und Hemd. Blut kroch ü b e r den Bürgersteig und tropfte von der Bordsteinkante. Viel zu viel Blut. » Z u r ü c k ! « , schrie Slidell, die Stimme zitternd vor W u t . »Gebt dem Mann doch ein bisschen Luft!« Der Kreis weitete sich und zog sich sofort wieder zusammen. Handys klickten, es wurden Fotos vom Blutbad geschossen.
Das entfernte Jaulen wurde lauter. Immer mehr Sirenen kamen dazu. Ich wusste, dass Slidell den Code für »Beamter angeschossen« durchgegeben hatte. Einsatzwagen aus der ganzen Stadt reagierten auf den Notruf. »Lassen Sie mich das machen«, sagte ich und kniete mich neben Slidell. » K ü m m e r n Sie sich um die M e n g e . « Slidell riss den K o p f zu mir herum. Er atmete schwer. »Ja.« Ich schob meine H ä n d e unter Slidells auf Rinaldis Brust. In Slidells A r m spürte ich ein Zittern. »Fest! Sie müssen fest drücken.« Eine Ader pochte mitten auf Slidells Stirn. Feuchtigkeit schimmerte auf seinen Haaren. Ich konnte nicht sprechen, nickte nur. Slidell schoss in die H ö h e und machte einen Satz auf die Gaffer zu, seine Sohlen glitten auf dem Regen und dem Schmierfilm von Rinaldis Blut aus. » Z u r ü c k , verdammt noch mal!« Slidells erhobene Handflächen zeigten eine grässlich tiefrote Färbung. Ich senkte den Blick, alle Gedanken nur auf ein Ziel gerichtet. Blutung stoppen! » M a c h t mir endlich Platz! Sofort!«, bellte Slidell. Blutung stoppen! Zu viel. M e i n Gott, einen solchen Blutverlust konnte niemand überleben. Blutung stoppen! Sekunden vergingen. Der Regen war jetzt ein langsames, stetiges Nieseln. Ganz in der N ä h e verstummte eine Sirene. Eine zweite. Eine dritte. Lichter blinkten und verwandelten die Straße in einen blitzenden T ü m p e l aus R o t und Blau. Blutung stoppen! T ü r e n öffneten sich. Wurden zugeschlagen. Schritte polterten. Stimmen schrien. Blutung stoppen!
Als ich um mich herum Bewegung spürte, hob ich den Kopf, ohne die H ä n d e von Rinaldis Brust zu nehmen. Inzwischen drängten Uniformierte die Schaulustigen z u r ü c k . M e i n Blick kehrte zu meinen H ä n d e n z u r ü c k , die jetzt g l ä n zend und dunkel waren. Blutung stoppen! F ü ß e tauchten neben mir auf, ein Paar in Stiefeln, das andere in New-Balance-Laufschuhen. Schlammig. Feucht. Stiefel kauerte sich hin und redete m i t mir. Ich verstand ihn kaum durch das Mantra, das meine Gedanken kontrollierte. Blutung stoppen! Stiefel legte seine H ä n d e ü b e r meine auf das bluttriefende Hemd. Ich schaute i h m in die Augen. Sie waren blau, das W e i ß war von roten Ä d e r c h e n durchzogen. Stiefel nickte. Ich erhob mich mit weichen Knien und trat ein wenig zurück. Ich kannte die Routine. L A K . Luftwege. Atmung. Kreislauf. B e t ä u b t schaute ich zu, wie die Sanitäter die einzelnen Schritte durchführten, seine Luftröhre kontrollierten, i h m eine Sauerstoffmaske aufsetzten, den Puls an seiner Halsschlagader m a ß e n . Dann schnallten sie Rinaldi auf eine Trage, hoben ihn in den Wagen und knallten die T ü r e n zu. Ich sah zu, wie der Krankenwagen durch die Charlotter Nacht davonraste. Slidell und ich ü b e r l i e ß e n den Tatort anderen und fuhren direkt ins Krankenhaus. Unterwegs passierten w i r Dutzende von Streifenwagen, die Richtung N o D a rasten. Dutzende andere versperrten die Straße. Die Stadt vibrierte vor Sirenen und blinkenden Lichtern. Im Warteraum der Notaufnahme stand bereits ein halbes D u t zend Polizisten. Slidell registrierte sie kaum, bellte nur seinen N a men und verlangte Rinaldis Arzt.
Eine Empfangsdame führte uns zu Toiletten, damit wir uns das Blut von H ä n d e n und A r m e n waschen konnten. Vielleicht war es auch eine Krankenschwester. Oder eine Sanitäterin. Als w i r zur ü c k k a m e n , bat sie uns, Platz zu nehmen und zu warten. Slidell fing an zu toben. Ich führte ihn am A r m zu einer Reihe miteinander verbundener Metallsitze. Seine Muskeln waren so angespannt, dass sie sich hart wie Baumwurzeln anfühlten. Alle spürten, welcher Stimmung Slidell war, und l i e ß e n uns deshalb in Frieden. Jeder Polizist verstand eine solche Reaktion. Ihre Anwesenheit g e n ü g t e schon. Slidell und ich h e ß e n uns in die Sitze fallen und begannen unsere Wache, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Immer wieder h ö r t e ich die Schüsse, sah Rinaldis gespenstisches Gesicht vor mir. Das Blut. Zu viel Blut. Slidell sprang alle paar Minuten auf und verschwand nach d r a u ß e n . Wenn er z u r ü c k k a m , umwaberte ihn Zigarettenrauch wie Regengeruch einen H u n d . Ich beneidete ihn fast um die Ablenkung. M i t der Zeit kamen immer mehr Polizisten. Detectives in Z i vilkleidung standen mit Uniformierten in Gruppen zusammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und angespannten Gesichtern. S c h l i e ß l i c h erschien ein grimmig dreinschauender Arzt mit blutverschmierter Chirurgenkutte. Ein Fleck auf einem A r m sah aus wie der Umriss von Neuseeland. Woran man in einer solchen Situation nicht alles denkt. Slidell und ich standen auf, voller Angst und voller Hoffnung. A u f dem Namensschild des Arztes stand Meloy. Meloy sagte uns, dass Rinaldi zwei Schüsse i n die Brust und einen in den Unterbauch abbekommen habe. Eine Wunde war ein glatter Durchschuss. Z w e i Kugeln steckten noch in seinem Körper. »Ist er bei Bewusstsein?«, fragte Slidell, sein Gesicht eine steinerne Maske der Entschlossenheit.
»Er ist noch immer im O P « , sagte Meloy. » W i r d er es schaffen?« »Mr. Rinaldi hat viel Blut verloren. Die G e w e b e z e r s t ö r u n g ist großflächig.« Slidell zwang sich zu einem neutralen Tonfall. »Das ist keine Antwort.« Meloy führte uns i n einen Personalaufenthaltsraum und sagte uns, w i r k ö n n t e n bleiben, solange w i r wollen. » W a n n kommt er vom Tisch runter?«, fragte Slidell. »Das kann man u n m ö g l i c h sagen.« Meloy versprach noch, uns auf dem Laufenden zu halten, und ging wieder davon. Rinaldi starb um 23 U h r 43. Slidell h ö r t e m i t versteinertem Gesicht zu, als Meloy uns die Nachricht überbrachte. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Irgendeine Polizistin brachte mich nach Hause. Ich hätte mich bedanken sollen, tat es aber nicht. W i e Slidell war auch ich zu verstört für Höflichkeiten. Später fand ich ihren Namen heraus und schickte ihr eine Karte. Ich glaube, sie verstand das. Im Bett weinte ich dann, bis ich nicht mehr weinen konnte. Danach fiel ich in einen traumlosen Schlaf. A m Sonntagmorgen wachte ich auf und spürte, dass etwas nicht stimmte, wusste aber nicht so recht, was. Als es mir wieder einfiel, weinte ich noch einmal. Die Schlagzeilen des Observer waren riesig, so wie man sie sonst nur für einen Kriegsausbruch oder einen Friedensschluss verwendet. Fette, fünf Zentimeter hohe Buchstaben: P O L I Z E I B E A M T E R ERSCHOSSEN! Die Berichterstattung in Radio und Fernsehen war ä h n l i c h schrill, die Formulierungen im H ö c h s t m a ß spekulativ: Bandenmord. Attentat. M o r d aus dem fahrenden Auto heraus. M o r d wie eine Hinrichtung.
Auch Asa Finney blieb nicht verschont. Er wurde beschrieben als selbst ernannter Hexer, der wegen des Besitzes des Schädels aus dem Greenleaf-Kessel in Haft saß, und als jemand, der im Zusammenhang mit dem satanistischen M o r d an Jimmy Klapec befragt werde. Allison Stallings' Foto von Finney erschien auf der Titelseite des Observer, i m Internet und hinter ernst dreinblickenden R e portern in Fernsehnachrichten. Uberall wurde mehr als deutlich darauf hingewiesen, dass Rinaldi sowohl den Greenleaf- wie den Klapec-Fall bearbeitet hatte. Nach meinem f r ü h m o r g e n d l i c h e n M e d i e n ü b e r b l i c k war ich verzweifelt. U n d von da an ging es mit dem Tag nur noch bergab. Katy rief gegen zehn an und sagte, dass es ihr leid tue wegen Rinaldi. Ich dankte ihr und fragte sie nach dem Picknick. Sie meinte, es hätte so viel Spaß gemacht wie ein Furunkel am H i n tern. U n d jetzt schickte man sie in irgendein H i n t e r w ä l d l e r k a f f in Buncombe County, damit sie dort Dokumente sortierte und beschriftete. Ich sagte ihr, dass ihre augenblickliche Negativhaltung einem ziemlich auf die Nerven gehen k ö n n e . Oder etwas ähnlich Unkluges. Sie meinte, ich sei doch die Negative und dass ich alles an ihr kritisiere. Was zum Beispiel? Ihren Musikgeschmack. Ich stritt es ab. Sie verlangte von mir, eine einzige Gruppe zu nennen, die sie mochte. Ich konnte es nicht. So legten w i r auf, beide beleidigt und w ü t e n d . Boyce Lingo war bereits mittags auf Sendung, wetterte gegen Dekadenz und Korruption und verlangte, dass die Welt sich nach seinem engstirnigen Bild neu forme. W i e zuvor schon forderte er seine W ä h l e r auf, aktiv gegen das Böse vorzugehen und von ihren Gewählten zu verlangen, dass sie dasselbe täten. Boyce stellte Asa Finney als Beispiel dar für alles, was falsch sei in der heutigen Gesellschaft. Zu meinem Entsetzen bezeichnete er Finney als S a t a n s j ü n g e r und deutete eine Verbindung zum M o r d an Rinaldi an. Eine Google-Recherche ü b e r Alison Stallings ergab s c h l i e ß -
lich, dass sie Geschichten über wahre Verbrechen schrieb, bis jetzt aber nur eine einzige Veröffentlichung aufzuweisen hatte, eine billig produzierte, am Massenmarkt orientierte E n t h ü l l u n g s g e schichte ü b e r einen M o r d in Columbus, Georgia. Das Buch war nicht einmal bei Amazon aufgelistet. A u ß e r d e m hatte sie als Fotografin Bilder an den Columbus Ledger-Inquirer verkauft und einen g r o ß e n Treffer bei der Associated Press gelandet. M e i n Gott. Die Frau schnüffelte herum, weil sie Ideen für neue B ü c h e r brauchte. Gegen drei kontrollierte ich meine E-Mails. Eine Nachricht vom O C M E in Chapel H i l l . Sie enthielt drei Punkte. Der Chef sei sehr besorgt wegen meines Wutausbruchs am Freitagvormittag. Ich müsse mich jedes Kontakts mit den Medien enthalten. Ich w ü r d e gleich am Dienstagmorgen von i h m h ö r e n . Ryan rief nicht an. Charlie rief nicht an. Birdie kotzte auf den Badvorleger. Zwischen E-Mails und Anrufen und Kotze und T r ä n e n putzte ich. Aber nicht nach dem M o t t o , einmal kurz saugen und w i schen. Ich machte mich wie eine Rasende ü b e r mein H ä u s c h e n her, schrubbte die Fliesenfugen im Bad mit einer Zahnbürste, scheuerte den Herd, wechselte die Filter der Klimaanlage, taute den Gefrierschrank ab, warf fast den ganzen Inhalt meines M e d i zinschränkchens weg. Die k ö r p e r l i c h e Anstrengung half mir. Bis ich damit aufhörte. U m sechs stand ich in meiner funkelnden Küche, und wieder war der Kummer kurz davor, mir meine Fassung zu rauben. Birdie hatte sich auf den Kühlschrank geflüchtet. »Das reicht nicht, Bird.« Der Kater betrachtete mich a r g w ö h n i s c h , offensichtlich war i h m der Staubsauger noch deutlich in Erinnerung. »Ich sollte was tun, um mich auf andere Gedanken zu b r i n gen.«
Keine A n t w o r t aus den luftigen H ö h e n des kalten Kastens. »Chinesisch«, sagte ich. »Ich bestell mir was Chinesisches.« Bird legte seine Vorderpfoten übereinander und das K i n n darauf. »Ich w e i ß , was du denkst«, sagte ich. » M a n kann nicht dauernd zu Hause sitzen und aus kleinen, w e i ß e n Kartons essen.« Bird zeigte weder Zustimmung noch Widerspruch. » D u hast recht. Ich gehe ins Baoding und bestelle alle meine Lieblingsgerichte.« Genau das tat ich auch. U n d damit war der Tag e n d g ü l t i g im Eimer. O b w o h l Essen im Restaurant zu meinen Lieblingsbeschäftigungen g e h ö r t , habe ich dabei immer gern Gesellschaft. Wenn ich alleine bin, esse ich mit Birdie und vor dem Fernseher. Aber das Baoding ist eine Wochenendtradition im Südosten von Charlotte. An einem Sonntagabend sehe ich dort immer Gesichter, die ich kenne. Dieser Abend war keine Ausnahme. N u r leider waren es keine Gesichter, die ich, nun ja, sehen wollte. Martinis sind eine Spezialität des Baoding, vor allem für die, die auf etwas zum Mitnehmen warten. N i c h t sehr chinesisch, aber na jaAls ich eintrat, saß Pete an der Bar und redete mit einer Frau rechts von i h m . Beide tranken, wie ich annahm, Apfelmartinis. Ich wollte eben kehrtmachen. Zu spät. »Tempe. Hey. Hier drüben.« Pete sprang von seinem Hocker und fing mich ab, bevor ich fliehen konnte. » D u musst Summer k e n n e n l e r n e n . « »Das ist kein guter —« M i t einem Strahlen im Gesicht zerrte Pete mich durchs Res-
taurant. Summer hatte sich umgedreht und schaute jetzt in unsere Richtung. Es war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Summer war hyperblond, mit B r ü s t e n wie Wasserbälle und viel zu wenig Bluse, um sie unterzubringen. Als Pete uns einander vorstellte, legte sie i h m besitzergreifend die Hand auf den A r m . Ich gratulierte ihnen zu ihrer Verlobung. Summer dankte mir. Kühl. Pete strahlte weiter, ohne etwas von dem Temperatursturz m i t zubekommen. Ich fragte, wie sie mit den Heiratsplänen v o r a n k ä m e n . Summer zuckte die Achseln, spießte mit einem Plastikstäbchen eine Olive auf. Z u m G l ü c k kam in diesem Augenblick ihre Bestellung. Summer sprang von ihrem Hocker wie ein Schachtelteufelchen. Sie schnappte sich die T ü t e , murmelte »Hat mich gefreut« und eilte, einen Fahne von Fleur-de-irgendwas hinter sich herziehend, zur T ü r . »Sie ist nervös«, sagte Pete. »Offensichtlich«, sagte ich. »Alles okay mit dir?«, fragte Pete. » D u siehst m ü d e aus.« »Gestern wurde Rinaldi erschossen.« Petes Brauen machten diese verwirrende Sache, die sie immer machen. »Eddie Rinaldi. Slidells Partner.« »Dieser Polizistenmord, der jetzt durch die Medien geht?« Ich nickte. »Du kanntest Rinaldi schon lange?« »Ja.« »Du warst dabei?« »Ja.« »Scheiße, Tempe, das tut mir wirklich leid.« »Danke.« »Du kommst damit zurecht?«
»Ja.« Ich schaffte nur einsilbige Antworten. Pete nahm meine Hand. »Ich rufe dich an.« Ich nickte und zwang mich zu einem Grinsen, weil ich Angst hatte, dass Reden den Schmerz, der in meiner Brust noch immer spürbar war, wieder hochkochen lassen w ü r d e . »Das ist meine Tempe. Lässt sich durch nichts u n t e r k r i e g e n . « Pete küsste mich auf die Wange. Dann war er verschwunden. Ich stützte mich auf die Lehne von Summers leerem Hocker und schloss die Augen. Hinter mir summten Gespräche. Fröhliche Gäste, die die Gesellschaft anderer genossen. Meine Nase registrierte Sesamöl, Knoblauch und Sojasauce, G e r ü c h e aus einer g l ü c k l i c h e n Zeit, als Pete, Katy und ich Sonntagabende im Baoding verbracht hatten. Die letzten Tage waren einfach ü b e r w ä l t i g e n d gewesen. R i naldi. Katy. Der Chef. Boyce Lingo. Takeela Freeman. Jimmy Klapec. Susan Redmon. Jetzt Pete und Summer. Ich spürte ein Zittern in der Brust. Atmete einmal tief durch. » D u wartest auf was zum M i t n e h m e n ? « Die Stimme war direkt neben meinem Ohr. Ich öffnete die Augen. Charlie H u n t beugte sich ü b e r mich, sein Gesicht dicht an meinem. »Darf ich dir ein Perrier ausgeben?« Was ich jetzt tat, werde ich mein Leben lang bedauern. » D u darfst mir einen Martini ausgeben«, sagte ich.
23 An den Rest dieser Nacht kann ich mich nicht erinnern und auch vom folgenden Montag w e i ß ich kaum noch etwas. M i t Charlie streiten. Auto fahren. Sachen in einen Einkaufswagen werfen. M i t einem Korkenzieher kämpfen. Ansonsten waren sechsu n d d r e i ß i g Stunden meines Lebens verschwunden.
Am Dienstagmorgen wachte ich alleine in meinem Bett auf. O b w o h l die Sonne eben erst ü b e r den Horizont gestiegen war, sah ich bereits, dass es ein klarer Tag werden w ü r d e . W i n d raschelte in den M a g n o l i e n b l ä t t e r n vor meinem Fenster und drehte einige um, so dass die blassen Unterseiten neben dem Dunkelg r ü n der anderen zu sehen waren. Die Jeans, die ich am Sonntag getragen hatte, lag in einem Haufen an der Sockelleiste. Das T-Shirt und die U n t e r w ä s c h e hingen an einer Stuhllehne. Ich trug ein Sweatshirt. Birdie betrachtete mich unter der Kommode hervor. Unten plärrte der Fernseher. Ich setzte mich auf und stellte vorsichtig die F ü ß e auf den B o den. M e i n M u n d fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Okay. N i c h t einmal so schlimm. Ich stand auf. Blut schoss in die geweiteten Gefäße meines Gehirns. Meine Augäpfel pochten. Ich legte mich wieder hin. Das Kissen roch nach Burberry und Sex. O Gott. In diesem Zustand konnte ich mich nicht vor meine Studenten stellen. Ich taumelte zu meinem Laptop und schickte eine E - M a i l an mein Labor und meine Unterrichtsassistentin Alex, in der ich sie bat, den Knochenbestimmungstest zu ü b e r w a c h e n und die Studenten dann nach Hause zu schicken. Als ich die Augen wieder öffnete, war der Kater verschwunden und der Wecker zeigte acht. Ich zwang mich in eine aufrechte Position und schleppte mich unter die Dusche. Danach zitterten meine H ä n d e beim K ä m m e n und beim Z ä h n e p u t z e n . Unten zeigte der Kinokanal Gesprengte Ketten. Ich fand die Fernbedienung und schaltete aus, als Steve McQueen eben ü b e r einen Stacheldrahtzaun sprang.
Die K ü c h e erzählte die Geschichte in grellsten Bildern. Im Waschbecken lagen die Ü b e r r e s t e einer gefrorenen Pizza und die T ü t e n und Stiele von mehreren Dove Bars. A u f der Anrichte standen zwei leere Weinflaschen. Eine dritte stand halb leer neben einem einzelnen Glas auf dem Tisch. Ich aß eine Schüssel Cornflakes und spülte zwei Aspirin mit Kaffee hinunter. Danach kotzte ich. O b w o h l ich meine Z ä h n e noch einmal putzte, schmeckte mein M u n d grässlich. Ich kippte ein volles Glas Wasser hinunter. Versuchte es mit Schmerztabletten. Nichts half, wie erwartet. Ich wusste, dass nur Zeit und mein Stoffwechsel mir Linderung verschaffen w ü r d e n . Ich z e r d r ü c k t e eben die Pizzaschachtel, als mein H i r n langsam wieder zu arbeiten anfing. Heute war Dienstag. Seit Sonntag hatte ich mit niemandem mehr gesprochen. Montag war zwar ein Feiertag gewesen, aber man hatte mich sicher vermisst. Ich warf den Pappkarton in den M ü l l und lief zum Telefon. Ich hob ab und lauschte einer toten Leitung. Ich folgte dem Kabel bis zur Wand. Der Stecker steckte brav in der Dose. Ich fing an, die Nebenanschlüsse zu überprüfen. Das Schnurlose im Schlafzimmer lag unter meiner weggeworfenen Jeans. Es war auf Sprechen geschaltet, so dass der Rest der Anlage blockiert war. Hatte ich es blockiert? Oder Charlie? W i e lange war die Anlage schon a u ß e r Dienst? Ich schaltetet das Schnurlose aus und dann wieder ein. Ich h ö r t e das Freizeichen. Ich schaltete wieder aus. Wo war mein Handy? V o m Festnetz aus w ä h l t e ich die N u m mer. Nichts. Nach ausgedehnter Suche fand ich das Handy ganz hinten in einer Schublade im Arbeitszimmer. Es war abgeschaltet.
Unwahrscheinlich, dass Charlie das getan hatte, dachte ich und fragte mich, welche alkoholisierte Laune mich dazu getrieben hatte. Ich steckte eben das Handy in die Ladestation, als der Hausapparat klingelte. » W o zum Teufel haben Sie denn gesteckt?« Slidells Ton stach wie ein Messer in meinen Schädel. »Gestern war Feiertag«, sagte ich ausweichend. » N a , dann Entschuldigung, dass M ö r d e r sich nicht freinehmen.« M i r war zu übel, als dass mir eine schlagfertige Antwort eingefallen wäre. »Haben Sie Fortschritte gemacht bei der Jagd nach Rinaldis M ö r d e r ? « Slidell strafte mich mit einigen Sekunden Schweigen. Die H i n tergrundgeräusche deuteten an, dass er sich auf dem Revier befand. » M a n hat mich von den Ermittlungen ausgeschlossen. Anscheinend bin ich p e r s ö n l i c h zu stark beteiligt, um objektiv sein zu k ö n n e n . « Slidell schnaubte. »Persönlich beteiligt. Die reden, als ging's hier um verdammte F i r m e n g e w i n n e . « Es war vermutlich eine gute Entscheidung. Ich behielt den Gedanken für mich. »Aber mein Bauch sagt mir, dass das alles miteinander zu tun hat. Wenn ich nur Klapec und den Greenleaf-Keller bearbeite, dann schnappe ich vielleicht auch den S c h e i ß k e r l , der Rinaldi auf dem Gewissen hat.« Slidell hielt inne. R ä u s p e r t e sich. »Ich habe mit Isabella Cortez gesprochen.« » M i t w e m ? « Der Name sagte mir nichts. »Takeela Freeman? Die O m a ? « »Ach ja. Was haben Sie erfahren?« » N i c h t s . Aber ich habe auch mit Donna Scott-Rosenberg gesprochen. Die Dame erzählte eine fesselnde Geschichte. Schiebt das D i n g auf dem Friedhof allein Finney in die Schuhe.«
» W i e überraschend. Was sagt sie zu Susan Redmons Ü b e r r e s ten?« »Sie sagt, als sie mit ihrer Familie nach Kalifornien umzog, fand sie es zu riskant, die Knochen einzupacken. Wollte nicht, dass ihr Vater sie fand. Wollte sie aber auch nicht im Haus lassen. Also gab sie sie einem ihrer Gothic-Kumpels, einem Jungen namens M a nuel Escriva.« Ich schwitzte, und wieder regte sich Ü b e l k e i t . »Escriva war nicht schwer zu finden. Er sitzt gerade wegen Drogenbesitz mit Verkaufsabsicht. Bin gleich gestern ins Zentralgefängnis gefahren.« In einer Hinsicht sind Slidell und ich uns sehr ähnlich. Auch wenn wir ü b e r Rinaldis Tod zutiefst bestürzt waren, w ü r d e n w i r beide es nie zulassen, dass andere unseren Schmerz sahen. Skinny hatte allerdings weitergemacht, w ä h r e n d ich zusammengebrochen war. Ich hatte die Ermittlungen einfach sausen lassen, und zum ersten M a l in meinem Leben konnte ich meine akademischen Pflichten nicht erfüllen. Scham brannte auf meinem bereits erhitzten Gesicht. » D e r Kerl ist ein arrogantes, kleines Arschloch. Ich musste zwar ein bisschen schachern, aber Escriva gab schließlich zu, dass er die Knochen für fünfzig Dollar verkauft hat.« »An wen?« »An einen Zauberdoktor aus seiner Nachbarschaft.« » C u e r v o « , vermutete ich. »An genau den.« »Bis auf den u n r e c h t m ä ß i g e n Besitz von menschlichen Ü b e r resten ist T - B i r d also aus dem Schneider.« »Ich bin mir da nicht so sicher. Escriva meinte, Cuervo w ü r d e einige üble Sachen treiben.« »Soll heißen?« »Diese Frage habe ich i h m auch gestellt. Escriva grinst mich so frech an, dass ich i h m am liebsten den K o p f abgerissen hätte. Dann verlangt er etwas, das ich mit dem Gefängnisdirektor u n m ö g l i c h
arrangieren kann. Die G e m ü t e r erhitzen sich ein wenig. Als ich eben gehen w i l l , ruft er mich z u r ü c k . Ich drehe mich um. Er grinst immer noch, macht aber jetzt irgendein Voodoo-Symbol mit den H ä n d e n . U n d sagt: >Hüte dich vor dem D ä m o n , Bulle.«< »Sie wollen damit sagen, dass Escriva Cuervo der Teufelsanbetung beschuldigte?« »So habe ich das verstanden.« » H a b e n Sie Escriva gefragt, wo Cuervo sein könnte?« »Er behauptet, seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu haben.« » H a b e n Sie ihn nach Asa Finney gefragt?« »Er schwört, ihn nicht zu kennen.« »Was machen Sie jetzt?« Ich h ö r t e Bewegung, dann klang Slidells Stimme plötzlich gedämpft, als w ü r d e er den H ö r e r mit einer Hand abschirmen. »Ich gehe Rinaldis Notizen durch.« »Sie haben die noch?« Es überraschte mich, dass das Team, das den M o r d untersuchte, die Unterlagen nicht konfisziert hatte. »Ich habe sie gestern Vormittag fotokopiert.« Slidells Worte wurden wieder klarer, als er die Lippen von der Sprechmuschel löste. »Eine Fahrt nach Raleigh hat mich den Rest des Tages gekostet.« Wahrscheinlich eine Ausrede. Auch ich hätte mir diese Notizen gestern nicht anschauen k ö n n e n . »Ich brauche von Ihnen die hundertprozentige Bestätigung, dass Susan Redmon tatsächlich unser Greenleaf-Opfer ist. W ä r e echt S c h e i ß e , wenn dieser Schädel nicht zu dem Zeug im Sarg gehört.« Ich schluckte einen bitteren Geschmack im M u n d hinunter. Wenn ich es schon nicht in den Seminarraum schaffte, konnte ich wenigstens das tun. »Ich fahre jetzt gleich ins Institut. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.« Slidell brummte oder rülpste.
Nachdem ich aufgelegt hatte, spritzte ich mir Wasser ins Gesicht und h ö r t e dann die Nachrichten auf meinem Handy ab. Eine von Katy. Eine von Charlie. Drei von Slidell. Eine von Jennifer Roberts, einer Kollegin am U N C C . Alle sagten so ziemlich dasselbe. R u f mich an. Ich versuchte es bei Katy, landete aber auf ihrem Anrufbeantworter. Z u früh? Oder war sie bereits zur Arbeit gegangen? Oder gar nicht mehr in Charlotte, weil sie bereits ins Buncombe County gefahren war? Ich h i n t e r l i e ß ihr so ziemlich dieselbe Nachricht, die sie mir hinterlassen hatte. Slidell w ü r d e ich bald sehen. Ein Gespräch mit Charlie w ü r d e einige V o r ü b e r l e g u n g e n erfordern. U n d Jennifer Roberts anzurufen, w ü r d e mich im U N C C auffliegen lassen. Sie musste eben warten. Bevor ich das Haus verließ, versuchte ich es noch mit einer Schüssel H ü h n e r s u p p e mit Nudeln. Auch die kam wieder hoch. Nachdem ich mir zum dritten M a l die Z ä h n e geputzt hatte, schnappte ich mir Schlüssel und Handtasche und ging zur T ü r hinaus. U n d w ä r e beinahe ü b e r eine g r o ß e T ü t e von Dean & DeLuca Delicatessen gestolpert, die auf der Schwelle stand. Ein Zettel war mit einer B ü r o k l a m m e r an einem Tragegriff befestigt. Tempe, Ich w e i ß , dass D u eine schwere Zeit durchmachst. Tut mir leid, falls ich D i c h beleidigt habe, aber ich war um Deine Sicherheit besorgt. Bitte n i m m das als eine ernst gemeinte Entschuldigung an. U n d bitte, iss. Iss. R u f mich an, wenn Du D i c h wieder in der Lage fühlst, das Telefon einzuschalten. Charlie
Ich war entsetzt. Großer Gott. Was hatte Charlie zu verhindern versucht? Ich stellte das Essen auf die K ü c h e n t h e k e , schnappte m i r ein Diet Coke und machte mich wieder auf den Weg. Die Bewegungen des Autos. Die Abgase. Das Cola. Fast w ä r e mir schon wieder schlecht geworden. Okay. Ich w ü r d e leiden, bis mein K ö r p e r zur N o r m a l i t ä t zur ü c k k e h r t e . Ich w ü r d e den Preis bezahlen. Das Gute daran war, dass der endgültige Absturz erst zu Hause passiert war. Ich hatte niemanden verletzt. Ich hatte nichts B l ö deres getan, als mit einer alten Flamme aus der Highschool eine N u m m e r zu schieben. Leider sollte sich diese letzte Annahme als falsch erweisen. Erinnern Sie sich noch an meine Bemerkung ü b e r Montage im Leichenschauhaus? Für Dienstage nach einem langen Wochenende kann man das ruhig verdoppeln. Alle drei Pathologen waren anwesend, und die Tafel zeigte acht neue Leichen. Da Rinaldi nicht dabei war, nahm ich an, dass Larabee, Siu oder Hartigan gestern hereingekommen waren, um die Autopsie vorzunehmen. Unter den gegebenen U m s t ä n d e n tippte ich auf meinen Chef. Wieder plagte mich das schlechte Gewissen. W ä h r e n d ich in einem Fest des Selbstmitleids Gehirnzellen zerstörte, hatten andere ihre Arbeit getan. Ich ging direkt in den K ü h l r a u m und holte den Schädel und die Beinknochen aus Cuervos Kessel und Finneys Unterkiefer aus ihren F ä c h e r n . Da beide A u t o p s i e r ä u m e besetzt waren, breitete ich eine Plastikplane auf meinem Schreibtisch aus, legte die Uberreste darauf und dazu noch die Z ä h n e , die ich Susan Redmons Sarg entnommen hatte. Nach zwei Stunden war ich fertig. Jeder Zahn passte. Jedes Detail in Bezug auf Alter, Abstammung und Erhaltungszustand sagte: Ubereinstimmung. Die M a ß e , die ich i n der Gruft genom-
men hatte, waren vereinbar mit denen des Schädels. Fordisc 3.0 war derselben Meinung. Falls nötig, konnte ich noch einen D N S Abgleich anstellen lassen, aber ich war überzeugt, dass Schädel, Unterkiefer und die Ü b e r r e s t e im Sarg von derselben Person stammten. H i n und wieder sah ich Hawkins oder Mrs. Flowers oder einen der Pathologen an meiner offenen T ü r vorbeieilen. Larabee blieb einmal stehen, schaute mich komisch an und ging weiter. Keiner traute sich in mein B ü r o . Ich schrieb eben meinen Bericht ü b e r Susan Redmon, als Mrs. Flowers anrief, um das Telefonat a n z u k ü n d i g e n , vor dem mir graute. Dr. Larke Tyrell, Chef des Leichenbeschauersystems von N o r t h Carolina, wollte mich aus Chapel H i l l sprechen. »Könnten Sie vielleicht sagen, dass ich nicht da bin?«, fragte ich. »Könnte ich.« Knapp. » M i r geht es heute nicht besonders gut.« »Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus.« »Könnten Sie vielleicht andeuten, dass ich schon früh gegangen bin?« »Könnte sein, dass Sie das tun.« Ich war dankbar und fragte sie deshalb nicht, was sie meinte. Danach widmete ich mich wieder dem Redmon-Bericht, doch es brachte nichts. Ich konnte mich nicht genug konzentrieren, um aus einzelnen W ö r t e r n bedeutungsvolle Sätze zu basteln. Ich musste mich auf Konkreteres b e s c h r ä n k e n . A u f Visuelles. Weil mir nichts Besseres einfiel, ging ich wieder i n den K ü h l raum und holte Jimmy Klapecs Wirbel und das v e r s t ü m m e l t e Gewebe, das ich seiner Brust und dem Unterbauch entnommen hatte, heraus und legte beides neben Susan Redmons Knochen auf den Schreibtisch. Dann zog ich das Schulfoto von Susan R e d m o n und die Aufnahmen von Jimmy Klapec und T - B i r d Cuervo aus der Schublade und legte sie dazu. Ich starrte eben die traurige, kleine Sammlung an und hoffte
auf irgendeine Erleuchtung, als Larabee ohne Anzuklopfen in mein B ü r o kam. Er ging zum Schreibtisch und beugte sich ü b e r mich. »Sie sehen furchtbar aus.« »Ich glaube, ich habe eine Erkältung.« Larabee betrachtete mein Gesicht. »Vielleicht haben Sie was Falsches gegessen.« »Vielleicht«, sagte ich. Larabee kannte meine Vorgeschichte. Wusste, dass ich log. Dass ich das schlechte Gewissen und den Selbstekel verbergen wollte. Ich hielt den Blick gesenkt. Larabee blieb, wie er war, die H ä n d e auf dem Tisch, den Oberk ö r p e r leicht ü b e r mich gebeugt. Er konnte das sehr gut. »Was ist das alles?« Ich erzählte i h m von Susan Redmon. Larabee nahm das Glas zur Hand und studierte die beiden H a u t s t ü c k e von Jimmy Klapecs Leiche. »Slidell ist überzeugt, dass das alles irgendwie zusammengehört.« Ich bewegte die Hand ü b e r den Schreibtisch. »Finden Sie heraus, wie, sagte er, und w i r finden Rinaldis Mörder.« »Sie sind nicht überzeugt?« »Er bearbeitete diese Fälle.« » R i n a l d i war Polizist.« W i r wussten beide, was er meinte. Verärgerte Drogenbarone. R a c h s ü c h t i g e Knackis. Unzufriedene Opfer. Die meisten stellen sich nur vor, wie sie vermeintlich offene Rechnungen begleichen k ö n n t e n . Einige wenige Gefährliche setzen es tatsächlich in die Tat um. Larabee stellte das Glasgefäß weg und nahm das Foto von TBird Cuervo zu Hand. »Wer ist der Kerl?« » T h o m a s Cuervo, ein ekuadorianischer santero, der das Haus an der Greenleaf von Kenneth Roseboro gemietet hatte. Nannte sich T - B i r d . «
»Das Haus m i t den Kesseln und den Knochen im Keller?« Ich nickte. »Das Problem ist, Cuervo ist verschwunden. Entweder w e i ß keiner, wo er ist, oder niemand w i l l es uns sagen.« Larabee betrachtete das Foto sehr lange. Dann: »Ich w e i ß genau, wo er ist.«
24 Larabee führte mich durch den K ü h l r a u m in den Tiefkühler und dort zu einer Rollbahre an der hinteren Wand. Er zog den R e i ß verschluss des schwarzen Sacks auf und zeigte mir eine eisige L e i che. »Darf ich Ihnen den Unbekannten N r . 358-08 vorstellen?« Ich betrachtete das Gesicht. Es war zwar bleich, verzerrt und mit A b s c h ü r f u n g e n übersät, aber es g e h ö r t e eindeutig T - B i r d Cuervo. » W i e lange liegt er schon hier?« Larabee schaute auf das Etikett. » S i e b e n u n d z w a n z i g s t e r A u gust.« Damit war Cuervo in Bezug auf Klapec und Rinaldi eindeutig aus dem Schneider. » W a r u m wusste ich nichts davon, dass seine Leiche bei uns ist?« »Er kam an dem Tag, als Sie nach Montreal fuhren. Der Fall erforderte kein Anthropologie-Gutachten. Als Sie z u r ü c k k a m e n , hatte ich ihn schon auf Eis gelegt.« U n d ich hatte keinen Grund gehabt, in die T i e f k ü h l u n g zu gehen. »Der arme Kerl hat sich m i t einem Lynx angelegt. Knapp s ü d lich der Bland Street Station.« Larabee meinte die neue Schmalspurstrecke von CATS, dem Charlotte Area Transit System, dem Verkehrsverbund des G r o ß raums Charlotte. Ich w e i ß , neben Panthers, Panthern, und Bobcats,
Rotluchsen, ist der Lynx, der Luchs, ein bisschen viel Fauna, aber städtische Verkehrplaner sind nicht gerade für ihre Feinsinnigkeit bekannt. » C u e r v o wurde von einem Z u g angefahren?« » B e i n e und Becken wurden z e r t r ü m m e r t . Er hatte keine Papiere bei sich, und kein Mensch suchte je nach i h m . « » H a b e n Sie die F i n g e r a b d r ü c k e durchlaufen lassen?« Meine Z ä h n e klapperten noch nicht, aber sie dachten daran. »Können vor Lachen. Der Kerl wurde ü b e r fünfzehn Meter mitgeschleift. Handflächen und Finger waren nur noch rohes Fleisch.« » W i e ist es passiert?« »Der Lokomotivführer glaubte, auf den Gleisen etwas zu sehen, zog die Notbremse und betätigte das Signalhorn, konnte aber nicht stoppen. Anscheinend braucht ein Zug, der achtzig Kilometer pro Stunde fährt, ü b e r zweihundert Meter bis zum kompletten Halt.« »Autsch.« Es überraschte mich, dass Cuervo nicht schlimmer aussah. »Die Schranken waren geschlossen, alle Licht- und akustischen Signale aktiviert, bevor der Z u g in den Bahnhof einfuhr. U n d a u ß e r d e m tutete der Lokführer.« »Wurde der Fahrer untersucht?« Es wunderte mich, dass ich ü b e r diesen Unfall nichts g e h ö r t hatte. »Keine Drogen, kein Alkohol.« » C u e r v o lebte, als der Z u g ihn traf?« »Eindeutig.« » U n d Sie hatten keinen Grund zu zweifeln, dass sein Tod ein Unfall war?« » N e i n . U n d sein Alkoholpegel war 0,8. Ist der Kerl legal?« » C u e r v o hatte die amerikanische und die ekuadorianische Staatsbürgerschaft.« »Irgendwelche A n g e h ö r i g e n hier?« »Offensichtlich nicht. Er wohnte alleine an der Greenleaf und hatte einen Laden m i t dem Namen La Botánica Buena Salud i n
einer N e b e n s t r a ß e des South Boulevard. Die Einwanderungsbeh ö r d e hat keine Hauptadresse von ihm, weder hier noch in Ekuador.« » M a c h t es schwierig, Verwandte zu finden.« Larabee zog den R e i ß v e r s c h l u s s des Leichensacks wieder zu, und wir traten auf den Korridor. Z u r ü c k in meinem B ü r o rief ich Slidell an. »Das gibt's doch nicht.« Ich konnte i h m nicht widersprechen. D r e i ß i g Sekunden lang h ö r t e ich von Slidells Ende nur Telefonklingeln. » H e u t e Vormittag habe ich mir die Straße ein wenig genauer angesehen, die zu der Stelle führt, wo Klapec gefunden wurde. Sie kommen nie drauf, was sich in diesem W a l d s t ü c k versteckt.« » W a r u m sagen Sie es mir dann nicht?« O b w o h l die T i e f k ü h lung mein Z i t t e r n gelindert und den Magen beruhigt hatte, schwitzte ich noch immer, und mein K o p f fing an zu pochen. Ich war nicht in Stimmung für ein Ratespiel. »Ein Camp. Ich rede jetzt nicht von Camp Sonne zwischen den Pinien, Sie wissen schon, Kanufahren und Wandern und >KumbayaVince, Junge, der Teufel k ü m m e r t sich um dich. Du hast eine gefrorene, kopflose Leiche, die du loswerden musst, und der alte Luzifer liefert dir die perfekte Tarnung. «< Wieder war es, als w ä r e ein Schalter umgelegt worden. Ganz unvermittelt klang Gunther wieder ruhig und selbstsicher, fast amüsiert. »Sie haben Klapecs K o p f erst heute Abend in Evans' K ü h l t r u h e gelegt, um die Schlinge um seinen Hals noch fester zu ziehen.« Gunther klickte m i t den Z ä h n e n und legte den K o p f schief. »Vergessen Sie die Säge nicht. War doch ein nettes Extra.« »Sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben Evans mit Ihrer eigenen Waffe erschossen.« »Bitte. Seien Sie doch nicht blöd. Jeder Bulle hat eine Knarre in Reserve. Nachdem Slidell seine A c h t u n d d r e i ß i g e r für Evans benutzte, kam er hierher und erschoss Sie. Die Kugeln werden ü b e r e i n s t i m m e n . U n d dann, da er ja von der alten Schule ist, r i c h tete er sich mit seiner eigenen Waffe.« »Kein Mensch w i r d ein derart absurdes Szenario glauben. Die Detectives vom Morddezernat wissen, dass Sie in der Stadt sind
und Zugang zu einem w e i ß e n Durango haben. Die haben Sie innerhalb weniger S t u n d e n . « Gunthers Gesicht verkrampfte sich, die Augen wurden hart und fingen an zu zucken. »Ich w e i ß , was Sie hier probieren, Lady. Sie denken, Sie k ö n n e n Zeit schinden. Sie denken, Sie sind schlau. Aber bei mir funktioniert das nicht.« Gunther nahm die A c h t u n d d r e i ß i g e r in die linke Hand und zog Slidells Glock aus dem Hosenbund. Das Klink-Klink des Schlittens hallte o h r e n b e t ä u b e n d durch die Diele. Ohne auf den Schmerz in meinem Handgelenk zu achten, schwang ich mich um den Endpfosten herum und legte mich ü b e r Slidell, so weit die Handschellen es erlaubten. Ich h ö r t e w ü t e n d e Schritte, dann packte eine Hand meine Haare und riss mir den K o p f hoch. In meinem Nacken knackten Wirbel. Ohne meine Haare loszulassen, stieß Gunther mir einen Ellbogen ins Gesicht. M e i n K o p f prallte ans Geländer. Der Raum verengte und weitete sich wieder. Ich spürte, wie mir W ä r m e aus der Nase tropfte. » N e i n ! « , schrie ich und versuchte, auf alle viere zu kommen. Durch ein Gewirr von Haaren sah ich, wie Gunther sich ü b e r Slidell beugte. Ich streckte die Hand aus, T r ä n e n liefen mir ü b e r die Wangen. Gunther d r ü c k t e die Glock an Slidells Schläfe. Der Augenblick erstarrte zu einem t ö d l i c h e n Schnappschuss. Ich konnte den Anblick von Slidells Tod nicht ertragen und k n i f f die Augen zusammen. Dann explodierte die Welt.
38 Nachdem er a b g e d r ü c k t hatte, legte Ryan die Waffe auf den Kaminsims, schloss die Handschellen auf, kontrollierte Slidells Puls und w ä h l t e 911. V o n überall in Charlotte rasten Streifenwagen mit heulenden Sirenen heran. Zwei Krankenwagen ebenfalls und später der Transporter der Leichenhalle. Um 22 U h r 47 wurde Vince Gunther für tot erklärt. Slidell und ich wurden ins Carolinas Medical Center transportiert, obwohl w i r beide laut protestierten. Ich hatte nur eine ger i n g f ü g i g e G e h i r n e r s c h ü t t e r u n g , Slidell allerdings eine schwere, und seine S c h ä d e l h a u t musste mit mehreren Stichen g e n ä h t werden. Unsere Aussagen machten w i r v o m Krankenhausbett aus. Ryan blieb im Annex, um Fragen zu beantworten. Die Details erfuhr ich tags darauf am späten Vormittag. Als Ryan zum Annex z u r ü c k g e k e h r t war, hatte er die A u ß e n beleuchtung brennen sehen. Er schlich sich zum Haus, sah meine Handtasche auf dem Gras liegen, w o h i n Gunther sie geworfen hatte, nachdem er die Schlüssel herausgeholt hatte. Da er Probleme ahnte, benutzte er seinen eigenen Schlüssel, trat leise ein, sah, was in der Diele los war und tötete Gunther m i t einem einzigen Schuss in den Kopf. Z u m Glück hatte Ryans Kugel Gunther seitwärts geworfen, und seine Todeszuckungen hatten nicht dazu geführt, dass sich sein Finger u m den Abzug schloss. Im B ü r o des Medical Examiner trat nun langsam Gunthers wahre Identität zutage. Fingerabdrücke zeigten, dass er ein sieb e n u n d z w a n z i g j ä h r i g e r B e t r ü g e r mir mehreren Falschnamen war. Unter seinem richtigen Namen, Vern Ziegler, hatte er eine W o h nung am Harris Boulevard gemietet und Vorlesungen am U N C C besucht. M ä n n l i c h e Prostitution war nur eine von mehreren E i n nahmequellen gewesen. Charlie H u n t besuchte mich früh am nächsten Morgen. Er hielt meine Hand und sah ernsthaft besorgt aus.
Katy rief an. Sie ordnete noch immer Dokumente im B u n combe County, w ü r d e aber übers Wochenende nach Charlotte z u r ü c k k e h r e n . Sie fand das Projekt, was für eine Ü b e r r a s c h u n g , langweilig. Der Vorteil daran war allerdings, dass sie sich ein weiterführendes Studium überlegte, vielleicht Jura. Pete rief ebenfalls an. Er war erleichtert, als er hörte, dass ich keine bleibenden S c h ä d e n davontragen w ü r d e , und freute sich ü b e r Katys Studienpläne. W ä h r e n d w i r redeten, war Summer u n terwegs und suchte Geschirr aus. Um zehn U h r wurde ich entlassen. Slidell musste l ä n g e r bleiben, was ihn ärgerte. Bevor ich das Krankenhaus verließ, besuchte ich ihn zusammen m i t Ryan. Er hatte bereits m i t A n g e h ö r i g e n der Rinaldi-Sondereinheit gesprochen. Ryan war ernst und still. Zusammen setzten w i r das Puzzle zusammen. Meine wilde Vermutung war von Anfang an richtig gewesen. Evans war ein heimlicher Schwuler, der N o D a durchstreifte, eine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, um seine Identität zu verschleiern. Normalerweise suchte er sich Gunther aus. Eines Abends entdeckte er Klapec und bekam Lust auf frisches Fleisch. Da er m i t seinen Diensten zufrieden war, wechselte er den Lieferanten. Gunther war stinksauer und stellte Klapec, seinen früheren Freund, zur Rede. Klapec beharrte auf seinem Recht auf freie G e w e r b e a u s ü b u n g , es kam zu einem Handgemenge, und G u n ther tötete ihn. Ich erinnerte mich an Gunthers Worte im Gang. »Für einen Kerl, der stolz darauf war, immer jeden Aspekt zu bedenken, hatte er sich zu wenige Gedanken ü b e r einen Ausweg gemacht. Er wollte nicht, dass die Leiche gefunden wurde, aber er hatte keine Ahnung, was er damit tun sollte.« Um Zeit zu schinden, stopfte Gunther Klapec in die K ü h l t r u h e von Pinders G r o ß m u t t e r . Als er von Cuervos Altar und den Kesseln las, hielt er sein Problem für gelöst. Da er nichts ü b e r Santería, Wicca oder Teufelsanbetung wusste, beschloss er, dem M o r d einen satanistischen Anstrich zu geben. Nachdem er die Symbole in
Klapecs Fleisch geritzt hatte, legte er die noch gefrorene Leiche am Lake Wylie ab. »Gunther wusste u m die Gefahr, dass Pinder oder einer seiner H ü h n e r h a b i c h t k o l l e g e n ihn mit Klapec in Verbindung bringen konnte, deshalb fing er an, Rinaldi mit falschen Informationen zu füttern«, sagte Slidell. »Glauben Sie, Gunther wusste, dass Evans Lingos rechte Hand war?«, fragte ich. » D e r Kerl war nicht dumm, hatte aber eindeutig ein paar Schrauben locker«, sagte Slidell. »In seiner Wohnung wurde Tegretol gefunden. Unmengen davon.« »Das ist ein Medikament gegen bipolare S t ö r u n g . « Ryan. Slidell verdrehte die Augen. » W i e gesagt, der Kerl hatte einen Knall.« Ich ü b e r l e g t e , entschied mich dann aber gegen den Versuch, Slidell zu erklären, was manische Depression bedeutete. »Er hatte aufgehört, seine Tabletten zu n e h m e n ? « , vermutete ich. »Schlau, was? Der Doc meinte, er war vermutlich in einer akuten manischen Phase, wie man das nennt.« Da Slidell kein g r o ß e s Interesse an Gunthers Geisteszustand hatte, wechselte er wieder zu Evans. »Vielleicht erfuhr Gunther Evans' Namen von Rinaldi. Oder er sah i h n zusammen mit Lingo i m Fernsehen.« »Lingos Tiraden passten perfekt zu Gunthers T ä u s c h u n g s m a növer«, sagte ich. » U n d machten aus Asa Finney den perfekten S ü n d e n b o c k für Klapec«, fügte Ryan hinzu. »Aber der größte Irrsinn ist doch folgender«, sagte Slidell. »Gunther kannte Finney überhaupt nicht und wusste nicht, dass er von Klapecs Vater erschossen worden war. Wenn er das g e h ö r t hätte, hätte er sich gar nicht erst die M ü h e gemacht, Evans den M o r d a n z u h ä n g e n , a u ß e r er wollte ihn sowieso fertigmachen.« Slidell schüttelte den Kopf.
»Bei Finney lag ich völlig falsch. Der Kerl wollte einfach ein paar Kröten verdienen und ansonsten in Frieden gelassen werden. Sein Geld kam von Dr.Games.com und anderen Sites, mit denen er Anzeigen zu Spielern schaufelte. U n d der Ford Focus, der in der N ä h e des Hexencamps gesehen wurde, g e h ö r t e dem Cousin eines N a c h b a r n . « »Fand die Spurensicherung irgendwas in Omas K ü h l t r u h e oder Keller?« » G e n u g Blut für eine Transfusion. Der DNS-Abgleich w i r d zeigen, dass es von Klapec stammt.« »Ich vermute, ein bisschen was davon k ö n n t e von S e ñ o r Schlange stammen«, sagte Ryan. »Hat Gunther mir die Mokassinschlange auf die Schwelle gelegt?« Slidell nickte. » W a h r s c h e i n l i c h gedacht als weitere satanistische Irreführung. Oder vielleicht dachte Gunther auch, er k ö n n t e Sie damit von dem Fall abbringen.« Ich schaute ihn nur an. »Ja, j a « , sagte Slidell. »Vielleicht war der Kerl doch nicht so schlau.« » W a r u m kam Evans gestern Abend eigentlich früher nach Hause?«, fragte ich. »Seine Vermieterin rief ihn an. Hab doch gesagt, dass die alte Schachtel Probleme macht.« » W a r u m stellte Evans sein Auto oben an der S t r a ß e ab und fuhr nicht einfach in die Einfahrt?« »Wahrscheinlich befürchtete er, dass der Durchsuchungsbeschluss sein Fahrzeug m i t einschloss. Offensichtlich überraschte er Gunther, als er sich vom Golfplatz her auf das G r u n d s t ü c k schlich.« »Der dort war, um die Säge und Klapecs K o p f in der Garage zu platzieren.« Slidell nickte wieder. »Als Gunther erfuhr, dass wir Pinder befragt hatten, fand er es
an der Zeit, die Ware aus Omas Keller zu schaffen. Nachdem er Evans umgebracht hatte, sah er uns beide dort in der Garage. Die Sache geriet a u ß e r Kontrolle, und Gunther konnte nicht mehr klar denken. Erst zu dem Zeitpunkt kam i h m dieser Mord-Selbstmord-Plan.« Weitere Details kamen im Verlauf des Tages heraus. M i t sechs Jahren war Pinder bei einem Unfall m i t dem Kopf gegen eine Stoßstange geprallt. Die Verletzung führte dazu, dass sie gewisse Informationen nicht mehr korrekt einordnen konnte. Zeit war ein Bereich, der ihr Schwierigkeiten bereitete. Pinder hatte sich bei den Daten geirrt, den Tag, als Gunther aus dem Gefängnis kam, m i t dem Tag verwechselt, bevor er verhaftet wurde. Wie sich zeigte, hatte Gunther/Ziegler einige Vorstrafen. M i t einer langen Liste von Falschnamen inszenierte er im Lauf der Jahre eine ganze Reihe von B e t r ü g e r e i e n , meistens indem er ältere oder behinderte Frauen ausnahm. Auch ging er Todesanzeigen durch und lieferte den Hinterbliebenen dann P ä c k c h e n , die nur gegen Barzahlung ausgehändigt wurden. Er verhökerte S ü ß i g keiten, Kerzen und Popcorn für vorgeschobene Wohltätigkeitsaktionen. Verkaufte Lotterielose mit »Gewinngarantie« und gefälschte Wettscheine. Alles Kleingaunereien. Nichts Gewalttätiges. Sein jungenhaft gutes Aussehen hatte i h m dabei mit Sicherheit gute Dienste geleistet. Erst als er im August seine Medikamente absetzte, zeigte er erste A u s b r ü c h e gewalttätigen Verhaltens. Ü b e r Nacht war das Wetter kalt und regnerisch geworden. Für den Rest des Tages und den nächsten verkrochen Ryan und ich uns im Annex. Ryan war niedergeschlagen und still. Ich b e d r ä n g t e ihn nicht. Jemanden zu e r s c h i e ß e n , ist für einen Polizisten nie einfach. Katy kam am Samstagvormittag zu Besuch. Von den Cheeky Girls hatte sie noch nie g e h ö r t . W i r alle lachten. Sie redete wieder ü b e r ein Jurastudium. Es war gut. Allison Stallings rief kurz nach Mittag an. Ich nahm nicht ab,
h ö r t e aber die Nachricht mit, die sie mir h i n t e r l i e ß . Sie hatte beschlossen, ü b e r einen Serienmord in Raleigh zu schreiben, entschuldigte sich, falls ihre L ü g e nur Schwierigkeiten bereitet haben sollte, und versprach, die Sache mit Tyrell zu bereinigen. Slidell kam gegen vier vorbei. Bei i h m war eine sehr g r o ß e Frau, die a n n ä h e r n d so viel wiegen musste wie er. Sie hatte karamellfarbene Haut und schwarze Haare, die sie zu einem dicken Z o p f geflochten hatte. An ihrer Haltung und ihrem Auftreten erkannte ich, dass sie ebenfalls Polizistin war. Bevor Slidell etwas sagen konnte, streckte die Frau die Hand aus. »Theresa Madrid. Die brillante, neue Partnerin dieses a u ß e r ordentlich glücklichen Detectives.« Madrids G r i f f hätte Kokosnüsse knacken k ö n n e n . »Der Chef denkt, ich müsste meine kulturelle Sensibilität schärfen«, sagte Slidell aus einem Mundwinkel heraus. Madrid klopfte Slidell auf den R ü c k e n . »Der arme Skinny hat das außerordentliche Glück, eine Doppel-L gezogen zu haben.« Anscheinend machten Ryan und ich verständnislose Gesichter. »Lesbische Latina.« »Sie ist M e x i k a n e r i n . « Slidells Lippen kräuselten sich. » D o m i n i k a n e r i n . Skinny glaubt, jeder, der Spanisch spricht, muss Mexikaner sein.« »Erstaunlich«, sagte Slidell. »Dass all diese unglaublich reichen und unterschiedlichen Kulturen immer dieselben Frauenschläger-Hemden und denselben Plastikjesus-Gartenkitsch hervorbringen.« Madrids Lachen kam tief aus ihrem Bauch. » N i c h t so erstaunlich wie der Schnurrbart deiner Freundin.« Slidell fügte noch ein weiteres Puzzlestück hinzu. Es kam von Rinaldis Sohn Tony. Dessen j ü n g s t e s K i n d hatte das Cohen-Syndrom. Rinaldi hatte alles, was er besaß, für die Behandlung seines Enkels und seine Ausbildung in Spezialschulen ausgegeben. U n d für das, was sonst noch anfiel. Als sie gegangen waren, fanden Ryan und ich ü b e r e i n s t i m -
mend, dass Slidell und Madrid gut miteinander auskommen w ü r den. Ryan kochte. Hühnerfrikassee mit Pilzen und Artischocken. Ich arbeitete an einer Vorlesung. Es hatte so viele Tote gegeben. Cuervo. Klapec. Rinaldi. F i n ney. Evans. Gunther. Wie der arme, kleine Anson Tyler war T - B i r d Cuervo zwar eines gewaltsamen Todes gestorben, aber als Folge eines Unfalls. Ein Mann alleine im Dunkeln auf einem Eisenbahngleis. V i e l leicht betrunken. Vielleicht naiv g e g e n ü b e r der Hochgeschwindigkeitstechnik, die diese Stadt erst vor Kurzem erreicht hatte. Cuervo war ein harmloser santero gewesen. Abgesehen vom Verkauf von einigen T ü t e n Marihuana hatte er nichts Illegales getan, vielleicht den Weg geebnet für A u ß e n s e i t e r , die wegen sprachlicher und kultureller Unterschiede ausgegrenzt wurden. Jimmy Klapec war von einem ignoranten und intoleranten Vater auf die Straße getrieben worden. W i e Eddie Rinaldi und Glenn Evans war er gestorben, weil ein Mann seine Medikamente nicht mehr genommen und den Bezug zur R e a l i t ä t verloren hatte. Vince Gunthers/Vern Zieglers Leben endete . . . warum? Weil sein eigenes H i r n ihn i m Stich gelassen hatte? Weil er von Natur aus böse war? Weder Ryan noch ich hatten auf diese Fragen eine Antwort. U n d Finneys Tod war der bestürzendste von allen. »Klapec senior erschoss Finney, weil sein schlechtes Gewissen ihn quälte«, sagte Ryan. »Nein«, sagte ich. »Er war von Angst getrieben.« »Das verstehe ich nicht.« »Die Amerikaner sind eine Nation voller Angst g e w o r d e n . « »Angst wovor?« »Ein S c h i e ß w ü t i g e r , der in einer Schulkantine A m o k läuft. Ein gekidnapptes Flugzeug, das in einen Wolkenkratzer fliegt. Eine Bombe in einem Z u g oder einem Mietwagen. Eine Postlieferung
mit Anthrax darin. Die Macht zu töten existiert da d r a u ß e n für jeden, der bereit ist, sie zu benutzen. Dazu braucht man nicht mehr als Zugang zum Internet oder einen freundlichen Waffenladen.« Ryan ließ mich weiterreden. » W i r haben Angst vor Terroristen, H e c k e n s c h ü t z e n , Epidemien. U n d das Schlimmste ist, w i r haben den Glauben an die Fähigkeit des Staates verloren, uns zu schützen. W i r fühlen uns machtlos, und das erzeugt eine beständige Angst, bringt uns dazu, Dinge zu fürchten, die w i r nicht verstehen.« »Wie Wicca.« » W i c c a , Santería, Voodoo, Satanismus. Sie sind exotisch, unbekannt. W i r werfen alle zusammen in einen T o p f und reduzieren sie auf Klischees und vernageln aus Furcht unsere T ü r e n . « » F i n n e y war ein Hexer. Lingos Tiraden bedienten sich genau dieser Angst.« »Das und die Tatsache, dass die Leute auch aus anderen G r ü n den das Vertrauen in das System verloren haben. Klapec war ein trauriges Beispiel. Die Ü b e r z e u g u n g wird immer stärker, dass zu oft die Schuldigen d a v o n k o m m e n . « »Das O.J.-Syndrom.« Ich nickte. »Ein Holzkopf wie Lingo bringt die Öffentlichkeit zum S c h ä u m e n , und irgendein vermeindich wachsamer B ü r g e r ernennt sich selbst zu Richter und H e n k e r . « » U n d ein Unschuldiger stirbt. Immerhin dürfte Finneys Tod das Ende von Lingos Karriere b e d e u t e n . « » W i e ironisch«, sagte ich. »Der Hexer und der santero waren harmlos. Der Collegejunge und der Assistent des Commissioners führten ein dunkles Doppelleben.« »Nichts ist je so, wie es scheint.« Birdie und ich schliefen oben. Ryan schlief auf der Couch.
39 Am Sonntag stand ich früh auf und fuhr Ryan zum CharlotteDouglas International. Vor dem Terminal umarmten w i r uns. Verabschiedeten uns. Sprachen nicht von der Zukunft. Um elf zog ich einen dunkelblauen Blazer und eine graue Hose an. Allen Burkhead wartete am Eingang des Elmwood Cemetery auf mich. Er hatte einen Schlüssel in der Hand. Ich trug eine schwarze Leinentasche. Der neue Sarg stand bereits an seinem Platz in der Gruft. Schimmernde Bronze, eine stattliche Wiege für einen sehr langen Schlaf. Burkhead schloss den Sarg auf. Ich holte Susan Redmons S c h ä del aus der Tasche und legte ihn behutsam ans obere Ende des Skeletts. Dann platzierte ich die Beinknochen. Zuletzt steckte ich einen kleinen Plastiksack unter das w e i ß e Samtkissen. Der P r ä z i pitin-Test hatte gezeigt, dass das Gehirn menschlich war. V i e l leicht war es Susans, vielleicht nicht. Ich glaubte nicht, dass sie etwas dagegen hätte, die Ewigkeit mit einer anderen unbehausten Seele zu verbringen. Als w i r dann zwischen den Grabsteinen hindurch z u r ü c k g i n gen, erzählte mir Burkhead, dass er ein wenig i n den Archiven recherchiert hatte. Susan Redmon war im Kindbett gestorben. Das K i n d überlebte, ein gesunder Junge. Was mit i h m passiert sei, fragte ich. Keine Ahnung, sagte Burkhead. Ich empfand Traurigkeit. Dann Hoffnung. Im Sterben hatte Susan einem anderen Wesen das Leben geschenkt. M e i n nächster Stopp war das Carolinas Medical Center. N i c h t die Notaufnahme, sondern die Entbindungsstation. Diesmal war meine T ü t e pink, und darin befanden sich ein großer, flauschiger Bär und drei winzige Strampelhöschen. Das Baby hatte eine Haut wie Milchkaffee, ein runzliges Ge-
sieht und wirre Haare wie D o n King. Takeela hat das M ä d c h e n Isabella nach ihrer G r o ß m u t t e r mütterlicherseits getauft. Takeela blieb k ü h l und distanziert. D o c h als sie ihre Tochter anschaute, wusste ich, warum sie angerufen und mein Angebot angenommen hatte. Als sie ihr kleines M ä d c h e n sah, hatte sie beschlossen, sich Hilfe zu holen. Um Isabella eine Chance zu geben. A u f der Fahrt nach Hause dachte ich ü b e r Tod und Geburt nach. Manche Dinge enden und andere beginnen. Susan Redmon war gestorben, hatte aber einen Sohn, der lebte. Rinaldi war nicht mehr, aber Slidell stand am Anfang einer neuen Partnerschaft. Cuervo war tot, aber Takeela hatte ein Baby. Die Sache mit Pete schien endgültig abgeschlossen. W ü r d e ich mich auf einen Neuanfang einlassen? M i t Charlie? M i t Ryan? M i t jemand Neuem? Konnten Ryan und ich noch einmal ganz von vorne anfangen? Konnte Amerika einen neuen Anfang finden? Konnten w i r zur ü c k k e h r e n zu einer Zeit, als w i r uns alle sicher fühlten? Beschützt? Als w i r uns unserer Werte und Ziele noch sicher waren? Als w i r tolerant waren g e g e n ü b e r B r ä u c h e n und Glaubenssystemen, die w i r nicht verstanden? Charlie? Ryan? Ein M ä r c h e n p r i n z ? Wie w ü r d e meine Schwester Harry es formulieren? Man w e i ß nie, welcher H u n d zum Jagen taugt.