Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild
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Humanes Geleitwort
Ich habe im Laufe meiner Trainerlaufbahn einig...
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Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild
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Humanes Geleitwort
Ich habe im Laufe meiner Trainerlaufbahn einiges an gut gemeinten Regeln gehört, die sich zwar gut anhören, die aber beim Ausprobieren nicht zum versprochenen Erfolg verhelfen. Meine Erfahrung ist: Befolgen Sie nicht immer alle Regeln, nur weil sie jeder wiederholt. Manchmal führt das Gegenteil von dem, was alle sagen, zu einem weit besseren Ergebnis. So ist es auch mit dem von Oliver Alexander Kellner in diesem Buch beschriebenen Prinzip, dass Sie mit professioneller Langsamkeit schneller zum Ziel kommen als mit Schnelligkeit. In Schule, Ausbildung und Elternhaus ist uns leider das Gegenteil eingetrichtert worden. Oliver Alexander Kellner gibt Ihnen hochwirksame Tipps, wie gezielte Langsamkeit Sie weiterbringt bei der E-Mail-Flut, beim Schreiben von Texten, beim Führen von Mitarbeitern, bei Meetings, beim Entwickeln von Ideen, bei Präsentationen und, und, und ... Außerdem erfahren Sie, dass Schnelligkeit Stress bedeutet, und Stress schadet sowohl Ihrem Organismus als auch Ihrer Gesundheit. Oliver Alexander Kellner kombiniert sofort anwendbare Grundsätze mit leicht lesbaren Geschichten und einer riesigen Prise Humor. Seine Botschaft ist obendrein, nicht alles so ernst zu nehmen. Und er hat Recht! Dieses wirklich gute Buch wird Sie garantiert weiterbringen. Matthias Pöhm Deutschlands bekanntester Schlagfertigkeits- und Rhetoriktrainer
„Tierisches“ Geleitwort
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„Tierisches“ Geleitwort
Bei einem meiner Kurse lernte ich Oliver Alexander Kellner kennen, als wir gerade dabei waren, das Manöver Speed Control, welches im Reining Pferdesport ein wesentlicher Bestandteil einer Turnierprüfung ist, zu trainieren. Dabei waren wir beide von der Tatsache fasziniert, dass man deutliche Parallelen zwischen Mensch und Tier ziehen kann, nur dass die Tiere es meist besser umzusetzen verstehen. Das Manöver ,Speed Control` leitet sich aus dem natürlichen Fluchttrieb des Pferdes in freier Wildbahn ab. Grundsätzlich bewegen sich Pferde in der Natur in sehr gelassenem Tempo vorwiegend zur Futteraufnahme fort. Bei plötzlicher Gefahr muss das Pferd jedoch imstande sein, all seine Kraft in den notwenigen Speed umzusetzen, um flüchten zu können. Dieser Speed ist für das Pferd überlebensnotwendig. Fühlt sich das Pferd wieder sicher, tritt der Zustand der vollkommenen Gelassenheit unmittelbar wieder ein. Diese natürliche Gelassenheit nach dem Speed erlaubt den Pferden, die notwendigen Energiereserven wieder aufzufüllen, um vor möglicher Bedrohung wieder flüchten zu können. Wie in der Natur verwenden wir diesen Wechsel zwischen Geschwindigkeit und Gelassenheit in unseren Prüfungen. Würden wir jedoch in unserer täglichen Arbeit das Augenmerk ausschließlich auf den Speed legen, wäre das Pferd körperlich und mental auf Dauer überfordert und würde mit einem starken Leistungsabfall reagieren. Es ist unerlässlich, die schnellen Elemente zu trainieren, aber weitaus wichtiger ist es, an den ruhigen und regenerativen Phasen zu arbeiten, um eine Leistungssteigerung zu erzielen und zu erhalten.
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„Tierisches“ Geleitwort
Dieses Buch ist eine Bereicherung in unserer schnelllebigen Zeit und regt mit Sicherheit jeden zum Nachdenken an.
Sylvia Rzepka SR Horse-Training. Mehrfacher World Open und European Open Champion in der Disziplin Reining. Sie ist die einzige Frau, die jemals die deutsche Reining Futurity gewonnen hat.
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Humanes Geleitwort __________________________________________ 5 „Tierisches“ Geleitwort _______________________________________ 7 Einleitung__________________________________________________ 11 1. Die Entdeckung der Langsamkeit als Raketenantrieb __________ 15 Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild _________________ Wettkampf oder warum die Schweden siegten ______________________ Selbstbetrug durch selektive Wahrnehmung________________________ Warum ist das klassische Zeitmanagement überholt?_________________
15 27 33 47
2. Praxisvarieté erster Akt – Bühne frei für enorme Zeitpotenziale__ 63 Schreibstil und E-Mail-(un)Kultur _______________________________ „cc“ eine der gefährlichsten Kopfzeilen ___________________________ Der Besprechungsturbolader____________________________________ Zeitspar-Rasenmähen und andere private Tempofehler _______________ Präsentationen mit langsamem Speed_____________________________
63 69 73 82 90
3. Ganzheitlich erfolgreich – vom ZeitDRUCK zum SOG _________ 99 S – vom Selbstwert und den Samurai _____________________________ 99 O – der Weg zum persönlichem „ON“ ___________________________ 108 G – wie der Glaube Berge versetzt ______________________________ 120 Inselmanagement als Survival-Werkzeug_________________________ 131 4. Denk- und Handlungswerkzeuge der Zukunft ________________ 137 Die Apfel-Methode als Pulsgerät _______________________________ 137 Oasen am Arbeitsplatz _______________________________________ 150
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Inhaltsverzeichnis
Müll im Kopf oder in der Seele? ________________________________155 Freidichten, Steinmanderl und Co._______________________________157 5. Praxisvarieté zweiter Akt – Bühne frei für enorme Zeitpotenziale________________________169 Verstärkersprache zum Unglauben_______________________________169 Führung als effektive Zeitmaschine ______________________________176 Einsicht als Weitsicht – der Obama-Effekt_________________________181 Speed Control und wahre Rendite, bitte Gas geben! _________________184 6. Humor: Zeit zum Abheben ________________________________189 Vom Überleben zum Leben – die neu(e)n Zeitgesetze________________195 Die 120-Minuten-Stunde und die Macht der Symbolik _______________201 Literatur und sonstige Bezugsquellen __________________________213
Einleitung
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Einleitung
„Im Zweifelsfall galoppieren ... „ lautete der überlieferte, militärische Befehl der berittenen Kavallerie aus historischen Zeiten. Die Firmen- und Menschenkultur hat sich seither anscheinend kaum weiterentwickelt. Hauptsache, es wird Gas gegeben. Diese äußerst fragwürdige Art des effektiven Arbeitens ist anscheinend salonfähig geworden. Das Ergebnis sind Qualitätsmängel, Kundenfrust, demotivierte Mitarbeiter, Kostenexplosionen ... und gleichermaßen ein Verlust unglaublicher Zeitpotenziale. Lieber werden später in aufwändigen Maßnahmen Nachbesserungen oder sogenannte WinBack-Aktionen für Kunden gestartet. Könnte es vielleicht sogar sein, dass die Wirtschaftskrise gar keine Wirtschaftskrise, sondern viel mehr eine Tempokrise ist? Wurden hier besonders wichtige Entscheidungen zu schnell und zu kurzsichtig getroffen? Sind einige Menschen an wichtigen Schaltstellen von ihrer eigenen Gier überholt worden? Die Körpersprache vieler Mitarbeiter und Führungskräfte spricht heute Bände. Mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt kämpfen sie sich wie ein gehetztes Tier durch den Alltag. Sie fragen sich, wie soll bei täglich 60 EMails, vier Besprechungen, sieben Projekten und 20 Telefonkontakten ein künftiges Überleben aussehen? Eine gängige Antwort darauf lautet: „Verbessern Sie Ihr Zeitmanagement!“ Was heißt hier Zeitmanagement? Zeitmanagement ist nur eine Begriffsdefinition dafür, welche Thematik gemeint ist – mehr nicht. Oder wie wollen Sie etwas derartig Gewaltiges wie die Zeit managen? Wollen Sie die Zeit umleiten, speichern oder gar anhalten? Das ist genauso unmöglich, wie mit einem Kaffeelöffel die Naturmacht der Niagara-Wasserfälle auszubremsen. Die Zeit ist nun mal im Fluss, daran lässt sich nichts managen und das ist, nebenbei bemerkt, auch gut so. So wird das hohe Frustpotenzial vieler Teilnehmer nach so manchem realitätsfremden Theorieseminar durchaus nachvollziehbar, wenn sie vom Alltag und der Praxis nach wenigen Tagen wieder eingeholt werden. O. A. Kellner, Speed Control, DOI 10.1007/978-3-8349-8974-1_1, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Einleitung
Was letztendlich wirklich funktioniert, ist eine besondere, manchmal erschreckende Konsequenz, gepaart mit der bewussten Form des Tempomanagements. Das Zauberwort dafür heißt „Speed Control“ (GeschwindigkeitsSteuerung). Gemeint ist damit die kontrollierte und bewusste Steuerung unserer persönlichen Handlungsgeschwindigkeiten. Wir brauchen durchaus das „absolut schnell“, aber haben wir den eigentlichen Motor dazu, das „professionell langsam“ vergessen? Der Begriff Speed Control ist bisher im Business völlig neu. In einem anderen Zusammenhang steht er jedoch längst für höchste Perfektion. Es handelt sich dabei um eine Manöverdisziplin in der Reitkunst exzellent ausgebildeter Westernpferde. Die besten Mensch-Pferd-Beziehungen erkennt man bis heute am konsequenten Handlungsbewusstsein und ihrer Speed Control. Was für viele neu ist: Schon Sigmund Freud, der als Begründer der Psychoanalyse bekannte Wissenschaftler, erläuterte seinerzeit das bewusste und unbewusste Handeln anhand des Mensch-Pferd-Modells. So braucht ein professioneller Reiter heute außer Atmung und Geist kaum noch Hilfen, um die Geschwindigkeit seines Pferdes sogar in der gleichen Gangart gekonnt zu steuern. Es erinnert an Magie. Zwischen beiden Partnern herrscht ein nahezu blindes Verständnis – Raum und Zeit scheinen sich aufzuheben. Im Business erleben wir eher die gegensätzliche Situation. Blindes Verständnis wird zum Blindflug und Raum und Zeit unterziehen sämtliche Nervenbahnen einer Zerreißprobe. Dieses Buch soll bewusst und trotzdem sehr unterhaltsam einen großen Teil der n a t ü r l i c h e n (Zeit-) Potenziale wieder wecken. Dieser Aspekt ist mir persönlich sehr wichtig: Es ist im Business inzwischen durchaus normal, dass wir tagtäglich nur noch rennen, aber es ist nicht natürlich! Es geht in keiner Weise darum, Geschwindigkeit zu verdammen. Ganz im Gegenteil, ich selbst schätze Handlungsgeschwindigkeit viel zu sehr. Wer im Business vorne mitspielen will, muss meiner Meinung nach Tempo auf eine besondere Art sogar lieben. Die Zukunft wird jedoch diejenigen belohnen, die zwischen Sinn- und Wahnsinn unterscheiden können.
Einleitung
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Im Folgenden werden vor allem die enormen Potenziale der professionellen Langsamkeit in der Praxis aufgezeigt. Es geht heute längst nicht mehr um Lebensqualität, sondern um Ü b e r l e b e n squalität. Damit schließt sich der Kreislauf: Wir werden durch Langsamkeit im richtigen Handlungsmomentum nicht nur deutlich schneller, sondern erhöhen damit ebenso nachweislich unsere Lebenserwartung. Das Buch ist gefüllt mit meinen persönlichen Zeiterlebnissen. Sicherlich entdecken Sie beim Lesen und Durcharbeiten dieses Buches auch umfangreiches Optimierungspotenzial für Ihren Alltag. Sie halten somit ein unterhaltsames Zeit-Survival-Buch in der Hand. Dieses steht gleichermaßen für uns alle als ein symbolisches Mahnmal, denn die Geschwindigkeitsfalle lauert tagtäglich jedem von uns auf und schließt niemanden aus. Vielleicht ist dieses Werk auch Teil Ihrer zukünftigen und persönlichen Zeitkapsel? Ebenso kann es das Tor zu einer völlig neuen Lebensdimension sein. Helfen Sie mit, schützen Sie sich selbst und andere, werden Sie künftig noch deutlich erfolgreicher in Ihrem TUN ... auf dass Sie ein echter ProLa werden – ein PROfessioneller LAngsamer! Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Erlesen, Nachdenken und beim Umsetzen
Ihr Oliver Alexander Kellner
Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild
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1. Die Entdeckung der Langsamkeit als Raketenantrieb
Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild Die Natur kennt keine nutzlosen Meetings, freilebende Tiere leiden nicht unter Burnout-Syndromen (burnout = ausgebrannt sein), und jeder Sprint hat dort auch im Nachhinein betrachtet immer einen tieferen Sinn. Inzwischen beginnen sogar wir Menschen den enormen, natürlichen Vorsprung unserer tierischen Mitbewohner auf vielen Gebieten zu begreifen. Wir analysieren die hochentwickelten Schwarmintelligenzen einer Ameisenkolonie und versuchen, diese in unsere dagegen unterentwickelten Logistikabläufe im Business zu übertragen. Ebenso führte die Beobachtung selbstreinigender Pflanzenoberflächen im Dschungel zur Entwicklung unterschiedlichster industrieller Produkte, die auf diesen sogenannten Lotus-Effekt zurückzuführen sind. Heute finden wir den Nutzen daraus „eingebaut“ in Dachziegel, Fassadenfarben, Markisen und sogar Brillengläser. Damit tragen wir diese Hightech-Natur direkt auf unserer Nase und sind dennoch meist blind für das Tempovorbild der Natur. Herzlich Willkommen zu einem Miniaturausflug in eine wegweisende Lehre der inzwischen wissenschaftlich etablierten Bionik. Diese beschäftigt sich mit der Entschlüsselung von Naturgenialität und ihrer innovativen Umsetzung in die Technik. Hier arbeiten Naturwissenschaftler, Ingenieure, Architekten, Philosophen, Designer und andere zusammen. Mein Wunsch an die Wissenschaftler bleibt, sich mit noch viel höherer Intensität dem Tempowissen der Natur ganzheitlich zu widmen. Paradox ist, dass diese dafür anscheinend nur wenig Zeit finden. Dennoch bleibt meine Hoffnung und Hochachtung gegenüber der Bionik. O. A. Kellner, Speed Control, DOI 10.1007/978-3-8349-8974-1_2, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Die Entdeckung der Langsamkeit als Raketenantrieb
Als historischer Begründer dieser Wissenschaft wird häufig Leonardo da Vinci angeführt, der beispielsweise den Vogelflug beobachtete, um diese Erkenntnisse auf seine Flugmaschinen zu übertragen. Allerdings hat sich die Bionik erst in den letzten Jahrzehnten insbesondere aufgrund neuer und verbesserter Methoden (enorme Rechnerleistungen etc.) zu einer etablierten Wissenschaftsdisziplin entwickelt.
Die Tempogenialität der Natur entdecken Bereits im Jahre 1956 hat George de Mestral nach dem Vorbild der Klettfrüchte den Klettverschluss entwickelt. Das Sonar oder Echolot wurde schon lange, bevor der Mensch es kannte, von Delfinen und Fledermäusen genutzt. Der Propeller ist Nachfahre der Flügelfrucht des Ahorns, das Strahltriebwerk ist dem Rückstoßprinzip bei Quallen und Tintenfischen nachempfunden, das Lüftungssystem kommt aus der Beobachtung eines Termitenbaus. Die neuartigen Profile von Autoreifen wurden Katzenpfoten nachempfunden, die sich bei einem Richtungswechsel verbreitern und auf diese Weise mehr Kontaktoberfläche zum Untergrund haben und vieles andere mehr. Nun nennen Sie mir doch bitte einen Grund, warum bei dieser ganzheitlichen Genialität die Natur in Bezug auf Tempo kein Vorbild sein sollte? In der Natur hetzt kein Lebewesen ohne tieferen Sinn. Geschwindigkeit hat stets Anlass, Maßnahme und konkretes Ziel. Der Gepard weiß, dass er sein enormes Tempo von 120 km pro Stunde nur etwa 400 Meter weit halten kann, danach braucht er eine Pause. Jeder Anspannung folgt somit eine Entspannung mit tiefem Know-how um das Energiemanagement von Lebewesen. Tiere wissen instinktiv, dass beispielsweise auf Langstrecken Ausdauer wichtiger ist als hektische Betriebsamkeit. Erfolgreiches Business kann hier wahrhaft noch viel lernen – wir brauchen durchaus sehr oft schnelle Einheiten, aber der alleinige Sprint macht blind und obendrein langsam.
Unsere Natur: ein magisches Tempovor- und abbild
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„Die schnellsten Entwicklungsschübe der Wirtschaft entstanden, weil wir langsam die Naturgenialität analysiert und anschließend transferiert haben. Wir können enorm Zeit sparen, indem wir Zeit richtig investieren.“ oak* *oak steht für Oliver Alexander Kellner
Die meisten Ideen raubt unsere Hektik Wenn wir wollen, können wir von den schnellsten Tieren der Welt lernen. Ob Delfin, Gepard oder Wanderfalke (übrigens das schnellste Tier der Welt, er erreicht im Sturzflug über 300 km/h) – es braucht die Bereitschaft des Beobachtens. Meiner Meinung nach tragen nahezu alle Lebewesen ihre besondere Botschaft in sich, wenn wir nur bereit sind zuzuhören. Jedes der bereits angeführten Tiere scheint mit wesentlich geringerer Gehirnmasse dennoch deutlich tempointelligenter als viele Menschen. Gerade auf Führungsebenen begegnen mir immer mehr hochintelligente Köpfe, die jedoch absolut unsinnig rennen. Dieser unwirtschaftliche „Dauer-Fluchtsprint“ kostet nicht nur Nerven und Kraft, sondern vor allem enorme Zeitpotenziale, was das vorliegende Buch anhand zahlreicher Praxisbeispiele belegen wird. Geniale Ideen brauchen im richtigen Moment Langsamkeit. Gerade wir Europäer müssen hier enorm aufpassen. Nicht die Chinesen oder andere aufstrebende Industrienationen rauben uns die meisten Ideen – es ist unsere inzwischen salonfähig gewordene Vollgasmentalität.
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Die Entdeckung der Langsamkeit als Raketenantrieb
Ob Schwarmintelligenz bei Fischen oder bei Ameisen – wir Menschen können nicht nur von deren hoch entwickelter Logistik, sondern insbesondere vom Tempomanagement noch Unglaubliches lernen. Streichen Sie an, schreiben Sie quer durch dieses Buch Ich sitze in einem Seminarraum – diesmal selbst als Teilnehmer. Es geht um das Thema „Fotografisches Lesen“. Weit mehr also als um bekannte Schnelllesemethoden. Ich bin sehr neugierig, wie diese Technik funktioniert. Lesen können, so schnell wie ich blättern kann. Mit den eigenen Augen blitzschnell die ganze Seite scannen, gerne auch mit einem Buch, das auf dem Kopf steht. Und dies mit anschließendem Detailwissen, selbst mit fachfremden Texten – so das Seminarversprechen. Das klingt nach einer Revolution. Ich möchte hier weder die eventuellen Möglichkeiten, noch die deutlichen Grenzen dieser Methode aufzeigen. Bei mir funktionierte diese „Technik“ nicht – ein fachfremdes, auf dem Kopf stehendes Buch durch schnelles Blättern zu lesen, geschweige denn fachlich genau Inhalte wiederzugeben. Schließlich kommen mir folgende Fragen in den Sinn: „Warum bist Du wirklich hier? Warum willst Du noch schneller lesen? Willst Du in Wirklichkeit vielleicht sogar langsamer lesen? Wie langsam kannst Du überhaupt noch lesen? Ist für Dich die Tiefe einzelner Worte noch zu erfassen? Wann hast Du zum letzten Mal Deinen Kindern vorgelesen? Was liest Du selbst so? Warum liest Du das, was Du liest?
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Ich entdeckte damals hinter diesen Fragen meinen eigentlichen Wunsch: die Sehnsucht nach mehr Zeit für meine verloren gegangene Freude am Lesen. Ohne Lesen, sprich Input, keine Information, keine Weiterbildung, kein Fortschritt, intellektueller Stillstand, kein Business, keine Ideen, keine Kunden.
Bremsscheiben im Buch Ich habe aus diesem Grund hier im Buch bewusst viele Kästchen, Gedankenblasen und besondere Themenparallelen eingebaut. Nicht etwa um Sie zu ärgern, sondern um den „Überflug-Lesern“ eine faire Chance zur Langsamkeit zu geben. Diese bewusst investierte Lesezeit werden Sie in Sachen Tiefe und Wissenstransfer um ein Vielfaches wieder hereinholen. Haben Sie den Mut, gerade deshalb dieses Buch als Ihr Arbeitsbuch zu nutzen. Die besten Ideen für Sie persönlich entstehen oft in Form von Assoziationen zu Ihrer persönlichen Situation. Nehmen Sie einen Kugelschreiber, einen Leuchtmarker, Ihren Lieblingsstift. Unterstreichen Sie das, was Ihnen wichtig ist. Streichen Sie durch, wo Sie anderer Meinung sind, und schreiben Sie Ihre Ideen in dieses Buch, wann und wo immer Sie wollen. So wird dieses Buch zu Ihrer persönlichen Entdeckungsreise. Ein einfaches Wort, ein Satz, eine erlebte Geschichte aus diesem Werk kann ganz spontan eine Parallele zu Ihrer Praxis auslösen – nutzen Sie diesen Impuls, halten Sie ihn unbedingt fest ... und lassen Sie diesen Gedanken dann konsequent Taten folgen.
Wirklich außergewöhnliche Mensch-Tier-Beziehungen haben einen Gleichklang, sprich ein ebenso gleichklingendes Tempogefühl als Grundlage. In der Einleitung hatte ich bereits kurz auf die große Bedeutung der Speed Control in der Reitkunst von best ausgebildeten Pferden hingewiesen. Mir ist dies insbesondere wichtig, da gerade sensible Pferde für mich mit die besten Lehrer für Menschen sind – natürlich nur für diejenigen, die bereit sind, deren Botschaft anzunehmen. Dieser Tempogleichklang kann jedoch nur „durchklingen“, wenn das Pferd den Menschen als schutzgebendes, aber konsequentes Leittier schätzen lernt. Speed Control „controlt“ damit nicht nur ihr Tempo in verschiedensten Situationen, sondern stellt sehr oft die Frage nach der wirklich konsequenten Handlung. Dieses Buch sollte bewusst kein „Pferdemanagement-Werk“ werden, dennoch möchte ich zumindest eine Begebenheit beispielhaft für die Magie oder auch Lehre aus der Pferdenatur anführen. Zuerst jedoch wieder ein „Lese-Brems-Kasten“ für Sie.
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Langsamkeit als einzigartige Stärke In der Natur gibt es eine ganze Reihe von Tierarten, die allein deshalb überleben, weil sie so langsam sind. Eine davon ist schon vom Namen her bezeichnend für seine Geschwindigkeit. Ich spreche hier über das Faultier. Es gibt Zweifingerfaultiere und Dreifingerfaultiere, wobei sich beide allein von den Vorderbeinen her unterscheiden, da die Hinterbeine alle drei Finger haben. Wahrscheinlich waren diese schon evolutionstechnisch zu langsam, ihre Unterscheidungsmerkmale auch auf die Hinterbeine zu übertragen. Diese Tiere hangeln sich in ihrer typisch hängenden Körperhaltung mit enormer Langsamkeit am Ast eines Baumes entlang. Ihre Mimik wird dabei von vielen Menschen als ein sanftes Lächeln interpretiert, was durchaus vorstellbar ist, wenn man doch so viel Zeit hat. Am Boden erreichen sie bei hoher Motivation Geschwindigkeiten, falls man dieses Wort überhaupt verwenden darf, von 250 Metern pro Stunde. Das bedeutet, dass diese Tiere mehrere Hundert Mal langsamer als beispielsweise ein Jaguar sind. Im Pelz der Faultiere wächst eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün schimmert. Damit fügen sich diese Vierbeiner in das Moos und Blattwerk nahezu unsichtbar ein. Ihre Trägheit und Schläfrigkeit schützen sie vor vielen Gefahren. Sie sind so langsam, dass ein Ozelot oder eine Anakonda sie gar nicht erst wahrnehmen. Ein Beispiel dafür, dass Faulheit bzw. Langsamkeit in der Natur überlebenswichtig sein kann. Und dies entgegengesetzt aller Regeln, die uns in der Kindheit beigebracht wurden. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, dass uns „Faulheit“ als Medizin von Ärzten verschrieben wird. Auch wenn dort andere Namen wie Auszeit bzw. Kuraufenthalt verwendet werden. Die Natur weiß es ebenso wie der Automechaniker um die Ecke – ein Motor, der ständig 220 km/h läuft, muss irgendwann defekt sein. Daraus leitet sich eines der für mich wichtigsten Businessgesetze ab. Es heißt: „Langfristig ON, bedingt OFF!“ Welche interessante Botschaft samt Erfahrung genau hinter dieser Aussage steckt, möchte ich Ihnen im Kapitel „ ... vom DRUCK zum SOG“ näherbringen.
Langsames Einzelcoaching für schnelle Erfolge Es ist Mittwoch, ein schöner Frühjahrstag. In meinem Büro auf dem Stossberg darf ich eine Führungskraft aus der Pharmaindustrie zum Einzelcoaching begrüßen. Mehrere Analysewerkzeuge im Vorfeld zeichnen folgendes Bild an Herausforderung: Peter M. (Name geändert) ist mit dem täglichen Leistungsdruck überfordert. Immer öfter bleiben wichtige Vorgänge unbearbeitet liegen. Das größte Problem ist jedoch sein dadurch geprägter Führungsstil gegenüber seinen Mitarbeitern. Einmal heißt es nach links, dann bei gleicher Aufgabenstellung nach rechts. Was gestern mündlich noch als An-
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weisung galt, kann heute schon falsch sein. Inzwischen ist nicht nur sein Chef, sondern auch er selbst mit der Gesamtsituation völlig unzufrieden. Obendrein scheint sein komplettes Team langsam auseinanderzubrechen. Interessanterweise sieht Peter M. die Probleme eher bei seinen Mitarbeitern als bei sich selbst. Diese seien wenig motiviert, arbeiteten unselbstständig und er müsse viele ihrer Arbeiten im letzten Moment übernehmen, um noch Schlimmeres verhindern zu können. Dadurch blieben wiederum seine wichtigen Arbeiten liegen. „Telefonkontakte disziplinieren“ Telefonkommunikation wird immer hektischer. Manchmal ist es kaum noch möglich, einen Satz auszusprechen, geschweige einen Gedanken nachzuschieben, schon hat der Gesprächspartner aufgelegt. Wie soll hier eine positive Beziehungsebene zum Gegenüber entstehen, wenn wir diesem deutlich signalisieren, dass er einfach nur stört?
Der ProLa-Tipp: Legen Sie ab sofort den Telefonhörer stets nach dem Kunden auf. Erleben Sie diese neue, entspannte Gesprächsatmosphäre und das Wohlwollen Ihrer Kommunikationspartner. Auch der „Erlebnisfaktor“ kommt hier nicht zu kurz. So manche Wahrheit wird hier noch unerwartet ausgesprochen, da Ihr Gegenüber davon ausgeht, dass Sie längst aufgelegt haben.
Diese Führungskraft, sicher hochintelligent, ge- oder vielleicht sogar überbildet, werde ich nun gleich erwarten. Ich bin gut vorbereitet ... oder auch nicht? Ja, meine Strategie samt Coachingunterlagen liegen bereit. Natürlich möchte ich den Tag möglichst effektiv nutzen und schnell zu echten Ergebnissen mit konkreten Handlungszielen samt Maßnahmen kommen. Und genau da ist es wieder, das Wörtchen „schnell“. Es ist eines meiner inneren Signalwörter, das heute immer öfter bei mir deutliche Fragezeichen aufwirft. Kann man einen über Jahre bzw. Jahrzehnte geprägten Führungsstil wirklich s c h n e l l ändern? Vor allem dann, wenn der Betroffene sich selbst im tiefen Inneren
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als Ursache ausschließt. Kann ich das wirklich durch meine zurechtgelegte Coachingstrategie, wenn auch mit zahlreichen psychologischen Gesprächsund Analysewerkzeugen aufgebaut, meistern? „Klar wird es auch diesmal funktionieren“, höre ich meine innere Stimme sagen. Sollten am Schluss vielleicht meine Kunden mehr Vertrauen in mich haben als ich selbst? Blödsinn! Ein guter Coach weiß, wo es lang geht ... oder diesmal vielleicht nicht ... nicht mit Sicherheit? Weg mit den Zweifeln, ich werde auch in diesem Fall schnell und ohne Umwege zu klaren Ergebnissen kommen. Alles klar soweit, wäre da nicht schon wieder das Wörtchen „schnell“ gewesen.
Intuition kämpft gegen Ratio Es ist eine halbe Stunde vor Coaching-Beginn. Geordnet liegen die Unterlagen im Raum, Getränke und Butterbrezeln sind angerichtet und ich bin bereit, meine komplette Tagesstrategie zu verwerfen. Ich sollte es doch schließlich am besten wissen, dass besonders schnell in außerordentlich wichtigen Situationen gerade über langsam funktioniert. Natürlich hätten wir zur Begrüßung langsam ein Getränk zu uns genommen und eine dieser Butterbrezeln gegessen, aber nur um dann wiederum schnell zu meinen schriftlichen Ausarbeitungen zu kommen. Ganz im Inneren spüre ich ein tiefes Verlangen, ein viel langsameres Coachinginstrument für diesen speziellen Fall zu nutzen. Ich werde heute völlig anders beginnen und zwar mit einer CoTrainerin. Ihr Name ist Lara und wir kennen und vertrauen uns bereits seit vielen Jahren. Ich weiß, dass sie mich persönlich noch nie im Stich gelassen hat. Was habe ich nicht schon alles von ihr gelernt? Bestimmt wird sie auch für Peter M. zeitnah Einsichten zutage bringen, für die er sonst Monate, vielleicht Jahre brauchen würde. Wenn wir den heutigen Tag mit ihr gemeinsam, langsam beginnen, könnten wir somit Quantensprünge an Zeit gewinnen.
Früher war Lara leicht querschlank Lara ist eine von Natur aus hochsensitive Persönlichkeit mit früheren Ansätzen zur Korpulenz, der wir jedoch gemeinsam entgegenwirken konnten. Mit ihren rund 450 Kilogramm und circa 145 Zentimeter Stockmaß ist sie dennoch eher groß gewachsen – ich spreche von einem Island-Pony. Damit ist
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Lara auch optisch näher am Pferd als am Kleinpony und dies kann sie durchaus in Form von Kraft auch umsetzen. Sigmund Freud und die Pferde Kaum einer machte das Unterbewusste so populär wie der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud. Er propagierte die Vorstellung eines unbewussten „Es“, das dem eher bewussten „Ich“ sowie dem von der Erziehung und Kultur gespeisten „Über-Ich“ gegenübersteht. Eines seiner bekanntesten Modelle ist sicher der berühmte Freud`sche Eisberg. Interessanterweise kennen jedoch die wenigsten sein übertragenes Pferd-ReiterBild. Er verglich das „Es“ mit einem Pferd und das „Ich“ mit dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll. „Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das ,Ich` den Willen des ,Es` in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre.“ Die modernen Hirnforscher erklären dieses Phänomen heute in etwas folgendermaßen: Letztlich ist es das „Es“, das Pferd, das die Richtung vorgibt. Der Reiter macht sich diese Intention des Tieres zu Eigen und glaubt triumphierend, dass das Pferd genau dorthin gegangen ist, wohin er wollte.* Der bekannte US-Neurowissenschaftler Michael Gazzanigna hat es einmal so formuliert: „Wir haben eine Deutungsmaschine im Kopf, die sich darauf spezialisiert hat, für alles eine Erklärung zu finden!“ So ist es für uns ebenso eine Leichtigkeit, die Zeitverluste durch unsinnige Rennerei einfach umzudeuten.“ Mehr dazu im Kapitel „Selbstbetrug durch selektive Wahrnehmung“.
* Natürlich handelt es sich hier um eine modellhafte Erklärung von wissenschaftlichen „Nichtreitern“. Entschuldigung, ich möchte hier alle professionellen Reiter nicht in das Licht rücken, sie könnten ihr Pferd nicht wirklich lenken ...
Dann ist es soweit. Peter M. betritt den Raum. Vereinbart war Freizeitkleidung, doch auch hier sind einige Statuselemente nicht zu übersehen. Eine Markenjeans, das Hemd von Boss, der Chronograph am Handgelenk. Mein Blick fällt dann auf die teuren Lederschuhe. Ich sehe die Schuhe, denke an Lara in ihrer Matschkoppel bei Regen und versuche, erneut aufkommende
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Zweifel in mir zu ersticken. Vermutlich werden die Schuhe anschließend ramponiert aussehen, aber was sind schon ein paar Schuhe im Vergleich zu einem echten Coachingerfolg.
Die Frage nach einer Pferdehaarallergie Ich setze heute eben alles auf eine Karte. Zu gerne hätte ich ein Foto vom Gesichtsausdruck von Peter M. gemacht, als ich ihn nach der Begrüßung fragte, ob er eine Pferdehaarallergie habe? Ich möchte Ihnen jetzt einen Zeitsprung gönnen, viele Einzelheiten des Coachings ersparen und nur einige Begebenheiten allein aus dem Zusammentreffen mit meiner Co-Trainerin Lara und Peter M. schildern. Wie erwartet war Lara von Markenjeans, Boss-Hemd und Chronograph wenig beeindruckt. Schon nach einigen Minuten der Führübung kannte Lara bereits den unentschlossenen Führungsstil von Peter M. Sie durchschaute ihn in kürzerster Zeit. Sie vermisste offensichtlich jegliche Führungskompetenz und konsequenz. Ein körperliches und stimmliches Signal von Peter M. zum Stehenbleiben könnte beim nächsten Mal als ein „vielleicht auch Weitergehen“ interpretiert werden. Wollte er nach links, waren seine Gedanken überall, aber nicht eindeutig bei „nach links“. Vielleicht hatte er gerade an eine wichtige chemische Analyse auf seinem Schreibtisch oben rechts liegend gedacht, aber egal. Das Spiel dauerte keine fünf Minuten und Lara begann, die Führung zu übernehmen. Wenn sie links wollte, ging sie eben links. Anfangs mit noch spärlichen Versuchen seitens der Führungskraft, diesen Linksweg als seinen gewollten zu interpretieren (... frei nach der Freud´schen Erklärung). Später dann selbst für Peter M. unübersehbar. Lara ging, bei Mitarbeitern würde man sagen, in „innerliche Kündigung“. Unsere Pharmaführungskraft wollte 450 Kilogramm geradeaus führen und Lara ignorierte ihn einfach und begann, gelangweilt neben ihm zu grasen. Eine vernichtende und nicht zu übersehende Niederlage für Peter M.
Die Praxisumsetzung von Liebe und Ignoranz Vor etwa 15 Jahren wurde ich in einem Gespräch mit einer Führungskraft, das plötzlich philosophisch wurde, gefragt, was meiner Meinung nach das Gegenteil von Liebe wäre? Ich antwortete seinerzeit: „Natürlich Hass.“ Mein
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Gesprächspartner meinte jedoch, dass die Ignoranz eines anderen Menschen noch schlimmer sein konnte. Und er hatte recht. Genau dieser Dialog kam mir in den Sinn, als Lara Peter M. einfach zu ignorieren begann. Natürlich war es kein Hass. So etwas wäre für ein 450-KiloPferd innerhalb von Sekunden mit einem gezielten Hufschlag erledigt. Aber es war eine nicht zu übersehende Strafe für unkonsequentes und unsinniges Handeln bzw. Führen. Modernste Feedback-Technologie Der Erfolg eines Unternehmens liegt im Faktor Mensch. Die persönliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter und Führungskräfte basiert auf einer Kultur des ehrlichen Feedbacks mit einem wahren Interesse an der Veränderung.
Der ProLa-Tipp: Das Unternehmen Condisco beispielsweise hat hier eine erfolgreiche 360-Grad-Feedback-Technologie entwickelt. Es handelt sich um eine ausgeklügelte, webbasierte Systematik, in die Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter und sogar Kunden auf Wunsch eingebunden sind. Eine Professionalität mit langjähriger Erfahrung aus Qualifizierungsprogrammen, Leadership- und Change-Management-Maßnahmen. Weitere Informationen finden Sie im Anhang des Buches.
Zusammenfassend war Peter M. in wenigen Minuten als Führungskraft aus dem realen Leben eines Pharmakonzerns an dem gescheitert, was sonst ein achtjähriges Mädchen spielend mit Lara meistert. Zum ersten Mal sah ich Betroffenheit im Gesicht des 40-Jährigen aufkeimen. Eine Art Hilflosigkeit, die im Alltag sehr gut hinter einem eleganten Anzug, dem großen Schreibtisch und seinem Vorgesetztenstatus zu verbergen ist. Erst jetzt war es Zeit für ein wirkliches Gespräch. Richtig, diese Maßnahme war sicher eine Z e i t investition, doch alles andere vorher wäre vermutlich reine Z e i tverschwendung gewesen. Professionelle Langsamkeit führte auch hier zu schnellen und guten Ergebnissen.
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Gerne möchte ich Ihnen ein Happy-End-Detail nicht vorenthalten: Nicht nur Lara ließ sich später mit Leichtigkeit von Peter M. führen, auch seine Schuhe konnten gerettet werden.
Schon nach wenigen Lebenswochen tempointelligenter als der Mensch? Das Fohlen Honeyslilyofthevalley (übersetzt: Honigs Maiglöckchen) genießt nach einem Sprint seine Pause. „Die erfolgreichsten Prinzipien der Natur sind unser Vorbild“ Wann immer ich Zeit habe, gehe ich hinaus in die Natur, schöpfe Kraft, denke nach, hole mir Inspiration ... Mehr noch: Die natürlichen Formen der Natur und ihre seit Jahrmillionen erfolgreichen Prinzipien sind mir Vorbild auch für das unternehmerische Handeln. Evolution statt Revolution! Unser Unternehmen vergleiche ich gerne mit einem Baum. Die mächtige Krone steht für den Vertrieb als große Oberfläche zu Markt und Kunden, das kräftige Wurzelwerk für die feste Verankerung durch unsere Produktionsstätten in der Technologie. Schlanke Strukturen verbinden diese beiden großen Oberflächen sicher und zuverlässig – bei uns sind das Entwicklungs- und Logistikprozesse. Und dann gibt es natürlich noch einen kräftigen Stamm: Dort sind die unterstützenden Bereiche wie Informatik, Personalarbeit, Finanzen untergebracht.
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So ist das Idealbild eines Baumes zugleich das Idealbild eines Unternehmens. Dieser perfekte Baum wurzelt immer tiefer und breiter, entwickelt ein weit verzweigtes Astwerk und stützt sich auf einen soliden Stamm. Sämtliche Prozesse und Funktionen stehen miteinander in Einklang. Und er ist natürlich anpassungsfähig, dieser Baum! Wie der Baum ein Teil des Ganzen ist, so ist das Unternehmen eingebettet in seine Umwelt. Es steht mit ihr in Wechselwirkung, ist abhängig von ihr. Dabei spielt der Nutzen eine wichtige Rolle. Was beim Baum die Früchte sind, der Schatten, den er spendet, und der Sauerstoff, den er abgibt, das sind beim Unternehmen der Gewinn, die Gehälter, die es zahlt, und die Steuern. Viele dieser Überlegungen spiegeln sich darin wider, wie wir als Unternehmen auftreten, welchen Grundsätzen wir folgen ... Diese weisen Worte stammen von einem der erfolgreichsten Schweizer Unternehmer. Sein Name: Klaus Endress, CEO der Endress+Hauser Gruppe
Wettkampf oder warum die Schweden siegten Verlassen wir nun immer mehr die „menschliche“ Tierwelt und nähern uns dem Homo Sapiens. Manchmal kommt mir eher der Begriff „HoRmo Sapiens“ in den Sinn, da zu viele rennhormongesteuert durch den Alltag jagen. Meine eigene Kindheit und Jugend war vom Ausdauersport geprägt, insbesondere dem Skilanglauf. Väterlicherseits wurde ich zu dieser Sportart auf besondere Weise konditioniert, was mich durchaus weiterführend prägen sollte. Bereits als Siebenjähriger absolvierte ich meinen ersten 25-KilometerLauf, als Neunjähriger meinen ersten Skimarathon bei einem Wettbewerb seinerzeit in Italien. So jung, das ist doch krank, mag so mancher denken. Ich sage heute, vielleicht zu früh, vielleicht zu schnell? Dennoch versuche ich rückblickend auch aus diesem Erleben heraus, die Macht der professionellen Langsamkeit etwas besser zu verstehen.
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Ein Neunjähriger bricht des Vaters Spielregeln An eine Situation dieses ersten Skimarathons kann ich mich heute noch mit einem Schmunzeln erinnern. Da es mir als noch nicht Volljähriger in Italien versagt blieb, offiziell im Startfeld mitzulaufen, schmuggelte mich mein Vater unter einem Absperrband hindurch. Dann fiel der Startschuss und rund 1.000 hormonüberladene Sportler rannten in eine Richtung. Aus der Luft betrachtet musste das Ganze einem großen Ameisenauszug geglichen haben, nur eben viel schneller. Wie bereits berichtet, eine enorme Menschenmenge rennt in eine Richtung, nur ein kleiner Neunjähriger bricht etwa 100 Meter nach dem Startfeld nach links aus. Mein Vater besorgt, aber natürlich völlig ahnungslos mir hinterher. Die vielen Fragezeichen in seinem Kopf müssen seinen Adrenalinschub vom Wettkampffieber wohl erst einmal deutlich ausgebremst haben. Was kann seinen Sohn derart geängstigt haben, dass dieser über die Schneefelder flieht? Sein Idealbild des künftigen Skirennläufers Oliver wurde vermutlich ziemlich erschüttert. Doch es war keine Angst, es war eine besondere Motivation in Form von Neugierde. Eine kleine Spitzmaus auf dem Schnee hatte damals meine volle Aufmerksamkeit geweckt und diese wollte sich einfach nicht an den Rennstreckenverlauf halten. Auch wenn ich mich nicht im Detail an den Gesichtsausdruck meines Vaters erinnern kann, entlockt mir allein der Gedanke an die skurrile Situation noch heute ein Schmunzeln. Eine etwa 15 Gramm schwere Maus, die über das Weiß flitzte, drohte hier die gesamte Rennplanung samt aufwändiger Anreise nach Italien mit zahlreichen Skitests und weiteren Trainingsvorbereitungen durcheinanderzubringen.
„Ich denke viel an die Zukunft, weil das der Ort ist, wo ich den Rest meines Lebens verbringen werde.“ Woody Allen
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Milch oder Maus – die ersten, kindlichen Zeiterfahrungen des Autors ... (Zeitungsartikel aus dem Familienarchiv). Mein Vater brachte in dieser Rennhektik sichtlich wenig Verständnis dafür auf, dass ich lieber dieser Maus neugierig auf dem Schneefeld nachrannte, als dem Teilnehmerfeld direkt zu folgen. Natürlich war ich dadurch langsamer, na und? Mein Vater hatte trotz guter Rennvorbereitung eines nicht bedacht: mir seine einzigartige Begeisterung für diesen Wettkampf zu vermitteln. Dieses kleine Wesen im Schnee zu verfolgen, war für mich wichtiger als der gesamte Wettbewerb. Langsamer
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war in diesem Fall zwar keineswegs schneller, aber dafür mit echter Spaßgarantie. Auch diesen Freudefaktor sollten wir aus ganzheitlicher Sicht auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Deshalb wird er in einem eigenen Kapitel und mit zahlreichen Praxistipps samt Nutzen zum Business nachfolgend noch erörtert. Wenn ... Ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich viel mehr Fehler machen. Ich würde entspannen. Ich würde viel verrückter sein als in diesem Leben. Ich wüsste nur sehr wenige Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehmen würde. Ich würde mehr Risiken eingehen. Ich würde mehr reisen. Ich würde mehr Berge besteigen, mehr Flüsse durchschwimmen und mehr Sonnenuntergänge beobachten. Ich würde mehr Eis und weniger Salat essen. Ich hätte mehr echte Probleme und weniger eingebildete. Sehen Sie, ich bin einer dieser Menschen, die immer vorausschauend und vernünftig leben, Stunde um Stunde, Tag für Tag. Oh ja, es gab schöne Momente, und wenn ich noch einmal leben dürfte, hätte ich mehr davon. Ich würde eigentlich nur noch welche haben. Nur schöne, einer nach dem anderen. Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich bei den ersten Frühlingsstrahlen barfuss gehen, und vor dem Spätherbst nicht damit aufhören. Ich würde vieles einfach schwänzen. Ich würde mehr Achterbahn fahren. Ich würde öfter in der Sonne liegen. Inspirierender Text, der seinerzeit mit der Abbildung eines alten Mannes veröffentlicht wurde. Eine sehr erfolgreiche Werbekampagne von Harley-Davidson.
Immerhin begleitete mich dieser Sport intensiv bis über das 18. Lebensjahr hinaus. Es folgten Trainingslager teilweise auf Gletschern, weil hier vorzeitig Schneekilometer möglich waren. Bei diesen Trainingseinheiten war hin und wieder auch die internationale Konkurrenz zu sehen. Hier trainierten nicht nur Deutsche, sondern auch Italiener, Skandinavier, Franzosen und viele andere. Ich möchte jedoch gleich vorwegnehmen, dass ich es nie zur
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wirklichen Skilanglaufelite geschafft habe und vermutlich je geschafft hätte. Um in diesem Sport ganz vorne mitlaufen zu können, gehört deutlich mehr als irgendwelche Motivationssprüche selbsternannter Gurus à la „Du-kannstalles-Schaffen, wenn Du nur willst“. Spätestens wenn dich ein 190-MeterMann mit den genetisch veranlagten Muskelpaketen eines Bären überholt, überholt dich mit ihm auch die Realität. Wir können mental sicher unvorstellbare Grenzen sprengen, aber eben nicht alle. Dennoch denke ich heute gerne an diese Zeit zurück und kann daraus wiederum viele meiner prägenden Tempoerlebnisse ableiten.
Langsame Trainingseinheiten waren schneller Trainiert wurde seinerzeit für diesen Ausdauersport schon streng nach Trainingsplan. Wir liefen oft am Limit des „sauren Bereiches“ (hohe Pulsfrequenzen außerhalb der Fettverbrennung). Gezielte Sprinteinheiten waren durchgängige Trainingspraxis. Dennoch wurden die Deutschen, wenn es darauf ankam, meist von den Skandinaviern dominiert. Angesichts der kontinuierlichen Siege der Schweden stellten wir uns die Frage: Was machen die anders? Heute würde man sofort an ein neues, noch nicht nachweisbares Dopingmittel denken. Damals war Doping zumindest in der Öffentlichkeit kein Thema. Zurück zu den Schweden, diese hatten beständig die Nase vorn. Darunter auch anfangs international noch relativ unbekannten Namen wie Torgny Mogren und Björn Daehlie, die später für erstaunliche Erfolge sorgten. Wir gingen dazu über, die Schweden beim Training zu beobachten. Da waren nur wenige Sprinteinheiten, die rannten kaum in derart hohen Pulsbereichen wie wir. Ihr Erfolgsgeheimnis war damals das sogenannte extensive Training: ein verhältnismäßig langsames Tempo, dafür aber überdimensional ausdauernd. Die Schweden liefen mit einem Lächeln auf den Lippen, sich teilweise noch unterhaltend, täglich ihre 30 bis 40 Kilometer am Stück. Und nicht nur die Deutschen wurden von den „langsamen“ Schweden damals gnadenlos beim Wettkampf überholt. Torgny Mogren gewann später unter anderem zweimal den Weltmeistertitel über 50 Kilometer Freistil. Björn Daehlie dominierte später in den 90er Jahren den Skilanglauf nach Belieben. Belege dafür sind nicht nur sechs Ge-
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samtsiege im Weltcup, sondern auch 29 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. Er wurde zum „Nordischen Skisportler des Jahrhunderts“ gewählt. Man nannte ihn „König Björn I.“ und „weltbesten Loipen-Bändiger“.
Wer zu schnell läuft, wird fett Heutzutage sind die Trainingsmethoden natürlich deutlich ausgefeilter. Extensives Training allein ist ebenfalls längst überholt. Es ist eine Balance aus Langsamkeit (Ausdauertraining) und Tempo (Sprints), die den Sieg bringt. Man könnte auch sagen – es geht um nichts anderes als um die richtige Speed Control. Es passiert dauernd – Augen auf: Heute ist es mir selbst wieder passiert. Ich stehe an der Kasse im Einkaufsmarkt und werde aufgefordert, kurz meine PIN-Nummer zur EC-Karte einzugeben. Konditioniert durch das Wort „kurz“ und die wartende Schlange hinter mir, gebe ich schnell die vierstellige Nummer ein und warte ... Nach etwa acht Sekunden und das kann in einer Warteschlange mit drängelnden Kunden bekanntlich eine halbe Ewigkeit sein, kommt folgende Meldung vom Kassierer: „Falscher PINCode.“ Natürlich ruft er es so laut, dass auch der Letzte in der Reihe mitbekommt, dass ich entweder zu doof bin, vier Zahlen richtig einzugeben, oder es mir an Liquidität mangelt. Mindestens zehn genervt dreinblickende Augenpaare werfen mir „begeisterte“ Blicke zu. Natürlich war meine PIN nicht falsch, sondern nur zu schnell für diese Tastatur ... hoffe ich zumindest. Oder waren die Zahlen vielleicht doch falsch? Ich fühle mich auch nicht besser bei dem Gedanken daran, dass bei zwei erneut falschen Eingaben die EC-Karte komplett gesperrt wird. Also jetzt noch einmal g a n z konzentriert und ganz l a n g s a m. Wieder eine gefühlte Ewigkeit später die Botschaft von der anderen Seite des Tresens: „Geht doch!“ Ich weiß nicht, ob ich mich mehr über diesen unfreundlichen „Tresen-BewacherTyp“ ärgern soll oder über mich selbst. Wieder mal hat sie mich erwischt – die verlockende und uneffektive Geschwindigkeitsfalle. Langsamer wäre wie so oft deutlich schneller gewesen und das obendrein mit viel weniger Adrenalin!
Wenn wir aktuell in den Freizeitbereich, beispielsweise den Laufsport, blicken, begegnet uns ein ähnliches Phänomen wie mir damals beim Skilanglauf. Die meisten Menschen, die heute ohne professionelle Anleitung das Laufen beginnen, rennen viel zu schnell. Sämtliche Ärzte und Trainer bestä-
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tigen heute diese Tatsache. Dies führt gerade bei Neustartern nicht nur zum sportlichen Frust, sondern insbesondere zur Verhinderung von Fettverbrennung. Man könnte etwas übertrieben sagen: „Wer zu schnell läuft, wird dabei auch noch fett.“ Als Faustformel gilt, wer im richtigen Tempo läuft, sollte sich dabei noch unterhalten können. Diese Langsamkeit bringt wiederum viel mehr sportlichen Nutzen als unstrukturierte Geschwindigkeit. Auch hier siegt primär wieder die Temporeduktion. Lauftrainer und Fachhändler empfehlen heute zudem ausnahmslos ein Pulsgerät. Es ist gerade in der Anfangsphase ein unverzichtbarer Begleiter, um ein Gefühl für die individuelle Laufgeschwindigkeit zu entwickeln. Das klingt ja soweit ganz gut, mag der ein oder andere denken, aber wie sieht es im Business aus? Wer ist dort mein Coach, wie ist die ideale Lauffrequenz, gibt es so etwas wie ein Pulsgerät für das Business? Natürlich gibt es auch hier den Coach, wenn auch unverständlicherweise bis heute deutlich weniger etabliert als im Sport. Ich möchte Ihnen jedoch insbesondere Sie selbst als „Privat-Coach“ ans Herz legen. Eine ganz spezielle Methode dazu werde ich Ihnen in Kapitel 4 als „Apfel-Methode“ empfehlen.
Selbstbetrug durch selektive Wahrnehmung Die Vollgasmentalität im Business vernebelt uns oft die Sicht für das Wesentliche. Enorme humane und zeitliche Potenziale bleiben so auf der Strecke. Intuitiv wissen wir alle, ob Mitarbeiter oder Manager: Unser Hamsterrad dreht sich viel zu schnell. Das Hamsterrad anhalten und aussteigen braucht einiges an Konsequenz, Energie und Mut, deshalb wird vieles einfach ausgeblendet! Ausblenden hat hier schon im Wortstamm begründet zwei bequeme Vorteile. Ich kann meine Verantwortung ausblenden, also meine eigene Wahrheit aufbauen, was deutlich einfacher als Handeln ist. Weiterhin kann ich auch andere als Führender mit dieser Scheinwahrheit blenden und so laufen diese brav hinterher. Es erinnert an das Bild des Rattenfängers von Hameln und selbst der ist laut Überlieferung aus der Stadt gegangen und nicht gerannt.
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Keiner ist so blind wie der, der nicht sehen will! Geschwindigkeit vernebelt oft die Sinne. Ein Beispiel: Ich freue mich über den Auftrag eines Bankinstitutes, dieses mit meiner Arbeit begleiten zu dürfen. Es geht darum, die Vertriebs- und Servicekompetenz der Mitarbeiter weiter auszubauen. Bei der Analyse fällt mir ein Schreiben der Geschäftsleitung an die Mitarbeiter unter anderem zum Weltspartag in die Hände. Die Botschaft passt sehr gut in unsere Zeit: kurz, knapp und damit sehr schnell!? Die Information lautet wortwörtlich: „... der Weltspartag wird wie gewohnt durchgezogen.“ Jetzt kann man natürlich darüber diskutieren, ob dies denn in der Eile von der Geschäftsleitung überhaupt so gesagt, geschweige denn so gemeint war. Es lassen sich Hypothesen aufstellen, dass eine Sekretärin oder ein Sekretär hier frei formuliert haben, oder, oder, oder. Dennoch enthalten diese Worte „übersetzt“ an a l l e Mitarbeiter folgende Botschaft: Kinder haben noch kein Gehalt, nehmen kein Baudarlehen auf und überhaupt haben wir Wichtigeres zu tun. Zieht diese Pflichtnummer einfach durch.
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Wer schreibt, der bleibt ... im Gedächtnis Das geschriebene Wort hat eine enorme Macht. Es rentiert sich wirklich, die Korrespondenz an Mitarbeiter und Kunden professionell langsam und damit bewusst zu wählen. Die falschen Worte zur falschen Zeit entscheidet oft für Monate über motiviertes oder demotiviertes Handeln. Bei Kunden folgt das Feedback meist noch viel direkter: Sie wechseln das Unternehmen.
Der ProLa-Tipp: Lassen Sie wichtige Anschreiben an Mitarbeiter oder Kunden nicht nur wie gewohnt vom Rechtschreibprogramm, sondern unbedingt von einem/r e h r l i c h e n Kollegen(in) gegenlesen. Diese Zeitinvestition wird Ihre Ergebnisse enorm beschleunigen. Nicht selten ergeben sich aus diesem aktiven Austausch ganz nebenbei noch begeisternde, neue Ideen.
Nachfolgend beschreibe ich nun eine Szene dieses „motivierten“ Weltspartages. Ich „durfte“ diese seinerzeit einige Meter entfernt stehend miterleben. Ein kleines Mädchen kommt voller Stolz mit seinem mühevoll über zwölf Monate Ersparten zum Mitarbeiter. Dieser entleert schnell und ohne Kommentar das süße, selbstbemalte Sparschwein. Also wenigstens das hätte er bemerken können, wenn er schon das Kind übergeht. Seine „begeisternde“ Aussage zur Siebenjährigen: „23,80 Euro, hier haste `nen Plüschbären.“ Der Glanz aus den Kinderaugen schwindet dahin.
Wieder mal zur falschen Zeit Gas gegeben! Das sind keine Verkäufer, das sind Frustbringer, Energiekiller, bestenfalls Tresenbewacher. In mir taucht natürlich die Frage auf, was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Liegt es an der Führung oder an den Mitarbeitern? Entschuldigung, es liegt für mich an beiden und in erster Linie daran, dass beide wieder mal im falschen Moment auf das Gaspedal gedrückt haben. Allein zwei Sätze seitens der Geschäftsleitung zur enormen Wichtigkeit der kleinen, aber künftigen potenziellen Kunden hätten kleine Wunder bewirken
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können. Ebenso wie zwei begeisternde Sätze vom Verkäufer zum Sparerfolg und zum schönen selbstbemalten Sparschwein. Doch beide haben sich hier jeweils bestimmt 120 Sekunden Zeit gespart, das nenne ich höchst effektive Zeit ... verschwendung. Und jetzt kommt das eigentlich Parodox. Gleichzeitig wird intern gerade eine umfangreiche Win-Back-Aktion für ehemalige Kunden geplant. Diese umfasst eine von der Marketingabteilung entwickelte Mailingaktion, eine Analyse der Rückantworten, eine Nachfassaktion durch das Telesales-Team, eine direkte Verkäuferansprache der A-Kunden, eine Controllingmaßnahme im Nachfeld u.s.w. Ist das nicht spannend? Auf diese Art und Weise wollen wir in Deutschland Zeit sparen und künftig die Nase vorn haben? Wir versuchen hier, aufwändig den Kunden zurückzugewinnen, den wir vor Jahren mit seinem selbstbemalten Sparschwein ignoriert haben. Erinnern Sie sich noch einmal an die Frage aus dem vorausgegangenen Kapitel: „Was ist das Gegenteil von Liebe?“
Kinderignoranten sind Kundenhasser! Wer Kinder als Kunden ignoriert, der kann Erwachsene als Kunden ebenso wenig authentisch wahrnehmen. Natürlich können wir jetzt in der menschlichen Psyche des Einzelnen forschen, warum Mitarbeiter und Führungskräfte sich für diesen oder jenen Kunden weniger begeistern können. Wichtig ist jedoch, dass ich mir selbst diese 120 Sekunden Zeit nehme, weil ich nur so enorme Zeit spare. Ich empfehle hier ausdrücklich allen Bankinstituten, sich nicht nur mit dem Thema Geld sparen zu befassen, sondern insbesondere mit dem g a n z h e i t l i c h e n Thema Zeit sparen. Geld sparen hat immer auch mit dem Geldinvestieren zu tun. Selbiges trifft auch auf das Thema Zeit zu. Es mag immer Zweifler geben, die denken: „Das ist doch reine Theorie, was allein zählt, ist Geschwindigkeit und Druck.“ Für den, der sehen will, zeigt die Praxis genau das Gegenteil: die enormen Potenziale der professionellen Langsamkeit. Später in einem anderen finanziellen Zusammenhang folgt dazu auch ein an konkreten Zahlen belegbares Renditebeispiel zur Kreditkartenkampagne von Mastercard Gold.
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Der Großteil an aufwändigen Win-Back-Aktionen sind unsinnige Sprint-Fehler im Vorfeld. -oak-
Das Problem bei den meisten Zeitproblemen ist die Tatsache, dass Ursache und Wirkung nicht in direktem Zusammenhang auftreten. Dieser Fakt wiederum lässt ausreichend Spielraum zur selektiven Wahrnehmung und anschließender Interpretation nach Belieben. Würde das siebenjährige Mädchen mit seinem 23,80-Euro-Sparschwein gleichzeitig einen Koffer mit seinem realen Kundenwert für das ganze Erwachsenenzeitalter von beispielsweise 500.000 Euro auf den Tisch legen, dann hätte Zeit keine Rolle gespielt. Vermutlich wäre hier sogar der Vorstand selbst zur Schalterhalle gekommen, um die Kleine zu begrüßen. Ich frage mich oft, warum tut er es nicht einfach? Klar, er kann als Leittier (... im Gegensatz zum mitarbeiterfrustrierenden Leidtier) nicht den ganzen Tag dort stehen, doch ein kleiner Impuls in einer ganzen Weltsparwoche für Kinder und Mitarbeiter heißt hier bares Geld verdienen! Das ist der ganzheitliche Vertrieb der Zukunft, so arbeiten echte ProLas, denn der symbolische 500.000-Euro-Koffer ist Realität – nur eben zeitlich versetzt. Das kurzfristige Denken kostet uns ungeahnte Potenziale. Wieder ist es das naturnahe Lernen Haben wir den Kodex der Pfadfinder aus unserer Jugend vergessen? Zeiten, in denen wir vielleicht noch deutlich näher an der Natur waren? Die Herausforderung seinerzeit: „Jeden Tag eine gute Tat.“
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Der ProLa-Tipp: „Jeden Tag eine gute Tat“ ist nicht nur etwas für Pfadfinder, sondern insbesondere etwas für „Business-Finder“. Es ist mit ein Anspruch der SOGPhilosphie, die in Kapitel 3 genauer erläutert wird. Wer mit seiner guten Tat in das Selbstwertgefühl anderer Menschen investiert, birgt enorme Potenziale. Vielleicht mehr Rendite, als er zu erhoffen gewagt hat, auch wenn diese manchmal über Umwege kommt. Was haben Sie heute diesbezüglich schon geleistet?
Die Multitasking-Lüge im Business Ich hatte die Gelegenheit, einen ehemaligen Top-Manager von Lexmark kennenzulernen, und führte mit ihm ein interessantes Gespräch. Er hatte längst das erreicht, wovon viele andere träumen. Mit 55 Jahren war er aus dem aktiven Business ausgestiegen, und jetzt begleitet er Projekte und Unternehmen nur noch nach Belieben. Und ebenso nur die, die ihm persönlich in puncto Freude und Herausforderung am Herzen liegen. Beim gemeinsamen Essen kamen wir über Umwege zu meiner Philosophie der professionellen Langsamkeit und sprachen auch über Multitasking.
Können nur Frauen zwei Dinge gleichzeitig tun? Er fühlte sich nicht nur beruflich, sondern auch privat bei diesem Thema angesprochen und schilderte eine Morgenszene beim Frühstück mit seiner Frau. So fing er an zu erzählen: Ich sitze mit meiner Frau Petra zu Hause in Frankfurt beim Frühstück. Es gehört zum Ritual, dass wir beide anschließend am Tisch noch die eine oder andere Tageszeitung lesen. Wohlgemerkt gleichzeitig. Petra zu mir: „Du Schatz, das ist interessant, das musst Du dir anhören ...“ Dann beginnt sie, frei heraus aus diesem Artikel zu zitieren. Ich darauf: „Liebling, kannst Du dir vorstellen, dass ich gerade auch einen interessanten Artikel lese?“ Petra entgegnet: „Stimmt ja, hab`ich für einen Moment vergessen ... ihr Männer könnt ja nie zwei Dinge gleichzeitig tun.“
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Der allgemeine Telefon-Wurst-Faktor „Herzlich Willkommen beim Sekretariat Schindsbüttel und Huber in München, mein Name ist Ingrid Friedmeier-Stöpke, was kann ich für Sie tun?“, leiert die Dame am Ende der Leitung ihren Spruch herunter. Unabhängig von der frustrierenden Textlänge hat sie mir soeben mitgeteilt: „Oh, Gott, noch einer, der mich aus der Arbeit reißt.“ Bei der Schilderung meines Anliegens geht es im Hintergrund zu wie auf einem Güterbahnhof und nebenbei höre ich, wie Frau Ingrid Friedmeier-Stöpke munter auf ihrer Tastatur weiterklimpert. Moment, die kann hier unmöglich etwas von mir schreiben, bisher habe ich nur nach Zuständigkeiten gefragt. Die Gute arbeitet einfach parallel an einem anderen Auftrag weiter. Stopp, in Bayern würden wir sagen: „Ja wo samma denn?“ In nur wenigen Momenten hat mir diese „Visitenkarte des Hauses“ erstens deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ihr völlig „Wurst bin“, und zweitens, dass es dem Laden anscheinend zu gut geht! Am Telefon multitaskingfähig gleichzeitig an anderen Aufträgen weiter arbeiten, können Sie sich ein für alle Mal sparen – kaum einer ist so stumpf, dass er dies nicht merkt! Durch ihre schnelle, gleichzeitige Auftragsbearbeitung eines anderen Kundendokuments hat sie mich ebenso schnell als neuen Kunden verloren. Wie schön, dass es Win-Back-Aktionen gibt, was würden wir sonst mit der ganzen freien Zeit anfangen?
Der ProLa-Tipp: Die Mitarbeiter, die Kunden wirklich begeistern können, sollten am Anfang (z. B. Telefonisten, Empfang) und am Ende des Kundenkontaktes (z. B. Monteure, Lieferanten) stehen. Leider ist in der Praxis oft das Gegenteil der Fall. Investieren Sie in diese Mitarbeiter. Bauen Sie deren Kundenbegeisterungskompetenzen am besten schon ab morgen systematisch aus. Zuerst bringen sie diesen Mitarbeitern bitte uneingeschränkte Kundenaufmerksamkeit nahe. Achtung, nicht jeder Mitarbeiter ist hier automatisch am richtigen Platz. In letzter Konsequenz könnte sogar die Entscheidung fallen, dass einzelne Personen besser in Abteilungen ohne Kundenkontakt aufgehoben sind. Obendrein sind diese vielleicht dort sogar zufriedener und damit letztendlich auch erfolgreicher.
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Wenn ich etwas wirklich Besonderes leisten will, wird nun mal meine volle Aufmerksamkeit benötigt: Höchste Qualität, enorme Kreativität, wirkungsvolle Kommunikation und vieles andere bedingen hundertprozentiges Bewusstsein. Für die meisten Menschen ist dies unbestritten, wäre da nicht die moderne Businesswelt, die anscheinend die Kompetenz namens Multitasking fordert.
Multitasking trainieren und therapieren – alles eins? Bereits unsere Kinder werden deshalb früh in dieser Fähigkeit trainiert. Immer schneller, höher, weiter und am besten alles g l e i c h z e i t i g. Dem Lehrer zuhören, gleichzeitig ins Heft schreiben, noch die rege Unterhaltung zweier Schüler neben mir ausblenden, das in der Tasche vibrierende Handy ausschalten, zwischendurch Fragen notieren, die erst am Ende des Unterrichts gestellt werden dürfen, weil ... der Lehrer sonst keine Zeit hat. Aus dem Gymnasium mit neun Jahren wird mit gleichem Unterrichtsstoffvolumen ein Gymnasium in acht Jahren gezaubert. Ein SimsalaBim statt einem SimsalaWIN für die Schüler. 1.200 Schulstunden einfach weg und das ohne entsprechende Reduzierung des Stoffvolumens. Meine Frage dazu: Reden die Verantwortlichen hier von Multitasking oder von Magie? Weder noch, es handelt sich einfach um eine Illusion – eine große Sinnestäuschung. Wir werden dadurch weder schneller noch besser. Wir werden oberflächlicher, unkreativer, unzufriedener und letztendlich langsamer. Kinder und Erwachsene ausschließlich ungebremst zu Höchstgeschwindigkeit zu trainieren und zu therapieren liegt näher beieinander, als so mancher das glauben möchte. Kinder mit Schlafstörungen, abgekauten Fingernägeln und Zwölfjährige, die wieder zu Bettnässern werden. Wollen wir das wirklich, kleine „Zappos“, deren große Stärke es ist, zwei bis drei Filme gleichzeitig zu sehen? Dabei noch den Laptop auf dem Schoss liegend im Internet surfen und zur Sicherheit zudem mit dem Handy in Reichweite noch eine SMS versenden? Wer ironisch sein möchte, könnte jetzt auf völlig neue wirtschaftliche Potenziale hinweisen, die sich dadurch im Nachhilfesektor und Gesundheitswesen auftun. Keine Tageszeitung inzwischen ohne Anzeige der „LernschnellSchülerhilfe-Übernachtschlau-Powerinstitute“. Auch ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) will natürlich therapiert werden, ganz zu schweigen von der „Dopingindustrie“ rund um Tabletten und Mittelchen für bessere
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Konzentration, weniger Erkältungen, bessere Leistung und natürlich hervorragende Noten.
„Die Wahrheit, dass Multitasking immer produktiver ist, ist eine Lüge.“ -oak-
In Ordnung, ich will Multitasking nicht komplett schwarzmalen. Ich würde hier nicht am PC sitzen und dieses Buch schreiben, wenn denken und ZehnFinger-Schreibsystem nicht parallel funktionieren könnten. Auch im Auto macht es mir Freude, beim Autofahren gleichzeitig einem Fachbuch als Hörbuch zu lauschen. Doch hier ist Multitasking jederzeit in der Qualität schlagbar. Wenn ich beispielsweise nicht mit dem Auto fahre, sondern n u r selbiges Audiobuch anhöre. Jetzt habe ich eine ganz andere Wahrnehmungstiefe, ich kann mir Notizen machen und dadurch viel mehr Nutzen aus dem Gehörten ziehen. Da fällt mir spontan der Werbeslogan eines Finanzinstitutes für seine gute Serviceorientierung ein: „ ... das ist doch nicht normal für eine Bank!“ Normal und natürlich – zwei Welten? Normal ist Aufmerksamkeitstiefe heute schon lange nicht mehr, eher die MultiKulti-Sprint-und-Hechel-Vollgasmentalität.
Der ProLa-Tipp: Wir sollten nicht so häufig nach Normalität, sondern viel öfter nach Natürlichkeit fragen. Welches Verhalten ist wirklich natürlich? Wer sich diese Frage regelmäßig bezogen auf seine Handlungen stellt, wird erschreckend nah an der Wahrheit landen und somit letztendlich enorm an Erfolgstempo aufnehmen.
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Ein weiteres Bespiel gefällig? Etwa 80 Prozent meiner Vortrags- und Seminartouren genieße ich per Bahn. Ich weiß, es gibt da ein Buch mit dem Untertitel: „Bahn fahren und trotzdem ankommen! Gut, bei der Deutschen Bahn gibt es Situationen, in denen die Geduld der Reisenden auf die Probe gestellt wird. Doch fairerweise sollten Sie beim Autofahren gleichermaßen einige Reizworte nicht vergessen: „Blitzschnell-Lkw-Ausscherer“, Umleitungen, Baustellen, „Ampel-Dauer-Rot“, den beliebten Stau und anderes mehr. Trotzdem gibt es Menschen, die sagen: „Autofahren ist für mich entspannend. Nun gut, vielleicht noch für das Bewusstsein, um Tageserlebnisse zu verarbeiten. Jedoch immer nur subjektiv entspannend – für das Unterbewusstsein belegbar in jedem Fall anspannend. Wenn ich nach einem Kongress um Mitternacht mit dem Auto zu Hause ankomme, liege ich bestimmt noch zwei Stunden wach. Bin ich um die gleiche Uhrzeit im Bett, jedoch mit der Bahn gefahren, liege ich entspannt da und kann sofort einschlafen. Allein hier habe ich schon zwei Stunden Zeit in Form von Regenerationsvorsprung gespart. Zudem kann ich im Zug in aller Ruhe arbeiten und wenn ich das nicht will, ebenso interessante Menschen mit neuen Ansichten treffen. Die blinde, selektive Speed-Wahrnehmung vergleicht im Gegensatz dazu jedoch die langsamste Regionalbahn mit dem Ferrari auf stets staufreier Strecke. Was erzählen wir noch einmal unserem Kunden, wenn er Äpfel mit Birnen vergleicht? Wir tun es dauernd, wir täuschen uns selbst – der Mensch liebt seine eigenen Illusionen. Und natürlich mag ich deswegen trotzdem gute und „intelligente“ Autos.
Zur Strafe mit der Bahn fahren? Interessant ist für mich oft die Reaktion von Kunden, wenn ich beispielsweise als Referent auf einer Tagung mit der Bahn eintreffe. Besonders natürlich, wenn ich in der Autoindustrie selbst auftrete: „Tag Herr Kellner, ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise?“ Ich: „Ja, mit der Bahn.“ Kunde: „Oh, hat es Sie auch erwischt?“ Was er damit meint, ist nicht die Intelligenz der Langsamkeit oder eine Viruserkrankung, sondern der Führerscheinentzug mangels Tempomat! Doch auch hier ändern sich gerade die ersten (Denk-)Zeiten. Vor etwa sieben Jah-
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ren stellte mir vor einer Seminarkampagne für die Daimler AG, seinerzeit noch DaimlerChrysler AG, eine Führungskraft folgende Frage: „Na, Herr Kellner, haben Sie denn auch Benzin im Blut?“ Gemeint hatte er wohl die Leidenschaft für schnelles Fahren und sportliche Autos. Dabei lehnte er sich mit einer überheblichen Machtgeste, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt, in seinem ledernen Schreibtischstuhl zurück. Ich fühlte mich damals provoziert und fragte zurück: „Entschuldigung, reicht Biodiesel auch?“ Das war wohl der Treibstoff, den er brauchte, um seinen Stuhl wieder nach vorn zu schwingen. Es war vielleicht nicht die klügste Reaktion, ebenso hätte ich hier professionell langsamer denken sollen und diplomatischer formulieren, aber da war es eben schon draußen. Schnell kann manchmal sogar den Kopf kosten, doch der Mund des Kunden blieb jetzt für einen Moment geschlossen. Etwa so, als hätte ihn die Eiszeit ergriffen. Und dann kam es, anfangs nur leicht wahrnehmbar, dann zunehmend ... ein Lächeln. Er wollte nichts anderes als einen Sparringspartner. Der Mensch war ein Spieler und ich hatte außerordentliches Glück. Heute hätte meine „Bio-Antwort“ sicher eine viel visionärere als provozierende Note. Der Fahrrad-Bahn-Mitfahrer-Nutzen Es ist enorm, wie viel Zeit und Energie in Sachen Reisezeit verpufft.
Der ProLa-Tipp: Fahren Sie mit der Bahn, wann immer es geht. Noch besser: Nutzen Sie das Fahrrad, ziehen Sie näher zu Ihren Kunden, wenn möglich. Werden Sie zum Mitfahrer bei Kollegen. Laden Sie Ihre Kunden zu sich ein, statt immer selbst anzureisen. Eine erlebnisorientierte Führung durch Ihr Unternehmen ist ein erfolgreiches und zeitsparendes Kundenbindungsinstrument.
Wer A sagt, muss nicht B sagen Natürlich erwischt sie uns alle mal und immer wieder – die Geschwindigkeitsfalle. Unsere Schnelligkeit will uns selbst überholen und ... macht uns langsam. So erging es auch einem meiner Kunden, dem Produktmanager
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eines international bekannten Unternehmens für Messgeräte. Dieser startete einen erneuten Verkaufsversuch seiner Produkte bei B. Braun. Nur um die Dimension dieses Konzerns zu verdeutlichen, einige Zahlen: Allein im Jahr 2008 erwirtschaftete B. Braun mit 35.000 Mitarbeitern in 50 Ländern einen Umsatz von 3,57 Milliarden Euro. Und genau dort sollte unser Produktmanager morgen eine Präsentation beim Einkaufsleiter haben. Natürlich reist er zu einem solchen Termin am Abend vorher an, falls er wegkommt. Sie kennen das? Bis eine Stunde vor Abreise läuft alles wie am Schnürchen und dann kommen sie ... als hätten sie ein Treffen vereinbart: kurzfristige Kundenreklamationen, wichtige Rückfragen anderer Abteilungen, Unterschriften von Dokumenten, die morgen noch unbedingt raus müssen, und der berühmte Anruf der Mutter, mit der überlebenswichtigen Frage, was sie denn am Wochenende beim Familientreffen kochen soll?
„Dank Freisprechanlage sind endlich die Hände frei, ... um nebenbei den Blackberry zu bedienen!“ Warum soll es unserem Produktmanager anders gehen? Er kommt also viel später los als geplant. Doch die Strecke lässt es zu, dass er etwas Zeit wieder hereinfährt. – Allein schon die Formulierung „Zeit reinfahren“ ergibt für mich ein unsinniges Bild. Gibt es etwa eine Zeitmaschine à la „Zurück in die Zukunft“? – Bis kurz vor dem Hotel erledigt er bei 180 Stundenkilometern noch wichtige Telefonate und trägt diese in den Blackberry, den er zwischen die Beine eingeklemmt hat, ein. Schön, dass eine Freisprechanlage inzwischen Pflicht ist. Jetzt kann man endlich nebenbei im digitalen Blackberry die Termine eintragen. Und dann passiert es. Nein, kein Unfall. Sie lesen hier keinen Krimi, das ist ein Praxisbericht: Es passiert beim Einparken. Da es den ganzen Tag um uns herum digital klingelt, kann man auch schon einmal einen Parktronik-Piepston überhören. „Das geht schon noch“, denkt unser Mann ... und es ging eben nicht mehr. Es war kein „Rumms“, mehr ein leichtes, vielleicht sogar überhörbares „Sssssst.“
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Umfrage neulich in Frankfurt: „Was halten Sie in Deutschland für das größere Problem: Unwissenheit oder Gleichgültigkeit?“ – „Weiß ich nicht, ist mir aber auch egal!“
Der Produktmanager steigt aus und betrachtet die nebenstehende Limousine. Es ist dunkel und eigentlich nichts zu sehen, vielleicht ein Hauch von Kratzer, als er mit der Taschenlampe hinleuchtet. Ganz leicht Kunststoff auf Metall. Etwas Politur und vermutlich wäre alles wie neu. Natürlich hätte er jetzt in seinem Geschwindigkeitsrausch durchstarten können, dennoch entscheidet er anders. Vielleicht war es ein guter Impuls aus der mühevollen und langsamen Erziehung seiner Eltern. Er geht ins Hotel und bittet, den Besitzer der Limousine auszurufen. Dieser wird schließlich gefunden und reagiert nachvollziehbar anfangs wenig begeistert, dass man ihn von seiner Abendgesellschaft wegholt. Als er jedoch das begrenzte Schadensausmaß sieht und der Produktmanager sich gleich mehrfach für diesen Vorfall entschuldigt, ist die Situation sichtlich entspannt. Der Verursacher gibt bereitwillig seine Kontaktdaten, falls das Tageslicht bzw. die Servicewerkstatt doch noch eine Lackierung verlange. Nach einem langen Arbeitstag kommt so unser „schneller“ Produktmanager, der dennoch rechtzeitig die Handbremse gezogen hat, zu seinem wohlverdienten Schlaf.
Präsentation oder „Herzblatt“ bei B. Braun Am nächsten Tag steht er um 10.00 Uhr im Unternehmen B. Braun in Melsungen. Er wird in den Besprechungsraum geleitet, wo er seine Präsentation abhalten wird. Noch ist er der Einzige am Ort des Geschehens. Ihm wird eine Tasse Kaffee gereicht und dann öffnet sich die Tür. Allen voran eine Führungskraft. Unserem Produktmanager wird es leicht flau in der Magen-
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gegend – es handelt sich um den Besitzer der Limousine vom Vorabend. Er kommt sich vor wie bei einer der früheren Herzblatt-Shows im Fernsehen, bei der zwei Singles zum ersten Mal ihrem vermeintlichen Traumpartner begegnen. Was wurde schon gelacht und gestaunt, als sich diese Singletrennwand bei Seite schob. Doch hier gab es keine Wand, keine Kameras und kein Fernsehpublikum. Diese „Show“ war real, und erst, als ein leichtes Lächeln im Gesicht des Gastgebers wahrnehmbar wird, fängt auch der Produktmanager sich langsam wieder. Kein Wort über den gestrigen Abend verlierend, bittet die Führungskraft darum, mit der Präsentation zu beginnen. Nach der Vorstellung übernimmt die Führungskraft das Wort: „Okay, wir machen das Geschäft.“ Ohne den Präsentierenden zu Wort kommen zu lassen, fügt er hinzu: „Und unter anderem deshalb, weil ich weiß, dass Ihnen Perfektion wichtig ist und ich Ihnen vertrauen kann!“ Dies ist wieder ein Sieg der Langsamkeit. Seit Jahren versuchte das Messgeräteunternehmen, bei B. Braun einen Deal zu bekommen und jetzt war es soweit, ein Großauftrag. Und das durch eine Geschwindigkeitsreduktion im richtigen Augenblick. Der Firmenrepräsentant bremste nach dem Vorfall mit der Autotür sein Tempo und maß der Situation die entsprechende Bedeutung zu. Dieses Verhalten hatte die Führungskraft, die sehr qualitätsorientiert ist, deutlich überzeugt. Hier ist im positiven Sinne kein Platz für selektive Wahrnehmung. Ursache und Wirkung lagen so nah beieinander, dass die Führungskraft bereit war, in die Potenziale einer künftigen Zusammenarbeit zu investieren.
„Wer A sagt, muss nicht B sagen, er kann auch erkennen, das A falsch war!“
B. Brecht
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Warum ist das klassische Zeitmanagement überholt? Das bisherige Zeitmanagement beschäftigt sich mit der Frage, wie beispielsweise Meetings effektiver zu gestalten sind. Meiner Ansicht nach ist dies ein Schritt zu spät, denn dann ist die Besprechung schon da. Dieses Zeitmanagement fragt nach der Priorität von Aufgaben. Ich sage, wieder zu spät, ein Großteil der Aufgaben muss nicht priorisiert werden, sondern „erschreckend konsequent“ e n t s o r g t werden, um zu überleben. Zeitmanagement geht meistens davon aus, dass die Menschen Zeitprobleme haben. Speed Control baut darauf auf, dass die Menschen im falschen Moment Gas geben. Speed Control weiß, dass Zeitprobleme viel früher in der tieferen persönlichen Einstellung, den damit verbundenen Glaubenssätzen und der fehlenden Konsequenz entstehen. Der beste Timeplaner der Welt kann dafür allein kaum wirklich nutzenbringende Lösungen liefern. Kein Wunder, dass oft trotz Zeitmanagementseminar, welches wirklich auch sehr gute Tipps für Arbeitsplatzorganisation, Zeit- und Zielplanung liefern kann, die meisten Menschen sich schon nach wenigen Wochen im gleichen Hamsterrad wiederfinden. Noch einmal, das bisher bekannte Zeitmanagement ist ein wirklich guter Einstieg in die Welt der bewussten und ganzheitlichen „Speed Control“. J e d e Unterstützung, woher auch immer, sollten Sie auf jeden Fall mit Begeisterung annehmen. Fragen Sie aber stets danach, ob Ihre unterbewusste Hauptsteuerzentrale das, was Sie erreichen wollen, wirklich zulässt. Das Unterbewusstsein spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. Umgeben Sie sich mit Zeit Zeit ist eine unserer bedeutendsten Währungen. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, so eine alte Wahrheit.
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Der ProLa-Tipp: Machen Sie sich das Thema Zeit bewusst. Lesen und hören Sie möglichst viele Bücher von Menschen, die sich mit Zeit professionell auseinandersetzen. James Scott, Lothar Seiwert, Inge Hofmann, um nur einige Namen zu nennen. Hängen Sie in Ihrem Büro im direkten Sichtbereich für sich selbst und Ihre Kollegen samt Mitarbeiter eine eindrucksvolle Uhr auf. Es ist sehr spannend zu erleben, wie allein diese neue Zeitpräsenz bereits über das Unterbewusstsein auf Handlungsweisen einwirkt. Sie selbst handeln noch effektiver, achten auf den richtigen Tempoeinsatz, Kollegen fassen sich kürzer und vieles mehr. Lassen Sie sich positiv inspirieren.
Das Business-Dschungelcamp ruft: „Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus!“ Einverstanden, wer sich eine dieser Dschungelcamp-Serien nur am Rande im Privatfernsehen angeschaut hat, kommt zu dem Schluss: So einen Blödsinn braucht die Welt nicht! Doch manchmal hat der Berufsalltag Ähnlichkeiten mit einem Überlebenstraining. Herzlich Willkommen im BusinessDschungelcamp mit dem Slogan: „Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus!“ Moderne Speed Control verlangt hier deutlich weniger hochtrabende Theorie, aber dafür erschreckend mehr Konsequenz und gezielt mehr professionelle Langsamkeit, um daraus wirkliches Tempo aufnehmen zu können! Wichtig erscheint es mir an dieser Stelle die Kernkompetenzen einer guten Speed Control zu beschreiben. Wenn Sie jetzt diverser einschlägiger Managementliteratur Glauben schenken oder auf so manchen selbsternannten Businessguru hören, muss diese Botschaft möglichst kompliziert sein. Am besten so kompliziert, dass Sie mindestens für ein Jahr ein ganzes Beraterteam nur zum Verständnis der Information benötigen. Meiner Meinung nach ist dies unnötig, die Natur hat es schon immer vorgelebt. Die wirklich besonderen Dinge des Lebens sind und waren in der Grundbotschaft schon immer einfach. Dass diese anscheinend einfachen Systeme dann in der praktischen Umsetzung schließlich doch mehr Kompetenz als erwartet bedeuten, bekommen viele weiterführend leider schon nicht mehr mit. Warum? Die Grundbotschaft war zu einfach, als dass sie diese für besonders wertvoll
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gehalten hätten. Und trotzdem oder gerade deswegen kommt Speed Control in der Kernkompetenz hervorragend mit drei einfachen Botschaften aus – wobei Punkt 1 natürlich der wichtigste Punkt ist und bleibt!
Keine perfekte Schrift, keine aufgeblasenen Fremdwörter – dennoch hat diese Botschaft enorme Aus-Wirkung! (Eine Skizze aus meinen SpeedControl-Aufzeichnungen)
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Speed Control – die drei wichtigsten Ausprägungen auf einen Blick Was bedeuten diese drei Kompetenzen gelebt in der Praxis? Folgendes Beispiel zeigt dies: Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Eigentlich viel zu sonnig für eine Veranstaltung im Tagungsraum. Unter meinen Teilnehmern eines konzerninternen Seminares ist auch, wie sich später herausstellt, eine alleinerziehende Mutter. Das Thema: Selbst- und Zeitmanagement. „Zeitmanagement kennen die da oben in der Führung“, so die Argumentation der Personalleitung. Also dann lieber ein Zeitmanagementseminar mit Speed-Control-Praxis als ein Speed-Control-Seminar ohne Budget-Praxis. Manchmal muss eben jeder, meine Person nicht ausgeschlossen, im Sinne der ganzheitlichen Zielerreichung einen Umweg akzeptieren. In der Ausschreibung steht somit Selbstund Zeitmanagement, da ich wenigstens das „Selbst“ noch durchsetzen konnte. Zurück zur alleinerziehenden Mutter einer Tochter von acht Jahren, die ich hier aus Datenschutzgründen nur unter dem Namen Frau S. vorstellen möchte. In einer Pause berichtet sie mir, der Verzweiflung nahe, von ihrer persönlichen Zwickmühle. Eigentlich habe sie im Unternehmen aufgrund der familiären Situation offiziell eine Halbtagsstelle, was ihr Chef jedoch erfolgreich seit über einem Jahr ignoriert. Er verstehe es durchaus zu motivieren, sei auch sonst recht umgänglich, falls er gerade nicht am „Terminjagen“ ist. Jedoch schildert sie mir äußerst betroffen, dass sie völlig am Ende ihrer Kräfte sei und auch ihre Tochter sehr oft weine, weil ihre Mama bis spät abends im Büro ist.
Guter Chef im Dauervollgas = schlechter Chef Meine Frage an die Teilnehmerin: „Haben sie darüber schon mit Ihrem Chef gesprochen?“ Diese antwortet mir: „Klar, was denken Sie, schon Hundert Mal habe ich das Thema angesprochen.“ Sie ist sichtlich verstört. Leider sind wir genau an dem Punkt, an dem irgendwelche schlauen Zeitspar-Tipps überhaupt nichts nützen. Was wir hier brauchen, ist Speed Control und zwar immer zuerst Punkt 1 – professionell langsamer.
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Sie schaut mich etwas verwundert an, als ich ihr die nächste Frage stelle: „Verstehe, Sie haben es schon des Öfteren zu Ihrem Chef gesagt. Mich interessiert, ob er es auch gehört hat?“ Ihre Augen wirken verunsichert, zweifelnd, ob es gut war, mir so viel Vertrauen zu schenken, ihr wahres Zeitproblem zu schildern. „Also bitte, wenn ich es ihm gesagt habe, muss er es doch auch gehört haben.“ Ihre Unsicherheit verschleiernd, schiebt sie damit kurzentschlossen die Ratio als Schutzschild vor. Natürlich hatte ich vor, sie gezielt aus ihren gewohnten Denkbahnen zu locken, habe jetzt aber das Gefühl, wieder etwas in ihre Sicherheit investieren zu müssen. „Sie sprechen da einen ganz wichtigen Punkt an, ich kann Sie da gut verstehen. Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte ich genau dieselbe felsenfeste Überzeugung wie Sie. Gerade wenn ich die gleiche Nachricht öfter wiederholt habe, schien es mir unmöglich, dass ein anderer diese nicht höre“, versuche ich an das vorher gewonnene Vertrauen anzuknüpfen. Anhand von erlebten Beispielen beschreibe ich ihr Realsituationen der durch übermäßigen Stress ausgelösten Synapsenblockaden im Gehirn, um neben der Intuition auch ihr Ratio-Schutzschild zu bedienen. Gerade bei stets rennenden Führungskräften begegnet mir oft dieses Phänomen, dass ein verdrängtes „Denkhormon“, wenn auch unbewusst, sonst deutlich hörbare Botschaften durchaus komplett ausblendet.
Führungskräfte unterliegen den gleichen Zeitgesetzen Es ist teilweise unglaublich, mit wie vielen Problemen, Hilferufen und Feuerlöschaktionen eine solche Führungskraft täglich überschüttet wird. Natürlich soll dies keine Ausrede für mangelnde Führungskompetenz sein, aber es hilft, die Realität besser zu verstehen. Und genau unter diesen ganzen Problemlawinen, die sie meist zudem persönlich stark betreffen, ist unsere alleinerziehende Mutter mit ihrem Problem ein relativ kleines Licht. Ein Lichtchen in einem Großfeuerwerk. Ein Lichtchen, das sich auch noch gut ignorieren lässt, denn über ein Jahr scheint für die Führungskraft die Situation, subjektiv betrachtet, auch ohne ihr Eingreifen zu funktionieren. Frei nach der Managementphilosophie „never change a running system“ (frei übersetzt:
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was läuft, lass’ laufen), ist dem Manager nicht bewusst, was er seiner Mitarbeiterin samt Tochter und dabei auch langfristig dem gesamten Unternehmen antut. Drei Papageien freikaufen – ... sollten Sie Chef sein, testen Sie mit dieser Geschichte doch einmal, ob Sie noch selbst über sich schmunzeln können. Zwei Freunde treffen sich nach längerer Zeit wieder. Fragt der eine den anderen: „Und was hast Du heute so gemacht?“ „Ich habe drei Papageien aus der Zoohandlung heraus die Freiheit erkauft“, entgegnet dieser. Etwas verlegen folgt die nächste Frage: „Was kostet denn so ein Papagei?“ Die Antwort kommt spontan: „Also der erste hat 1.000 Euro gekostet, der konnte aber auch sprechen.“ Überrascht vom stattlichen Betrag will der Freund wissen, was denn der zweite Vogel gekostet hat. „Da habe ich 2.000 Euro bezahlen müssen, doch der konnte auch lesen und schreiben.“ Natürlich folgt voller Neugier die Frage nach dem dritten Papagei. „Also der, der hat 20.000 Euro gekostet.“ Völlig schockiert will der Freund wissen, welche Fähigkeit diesen hohen Preis rechtfertigen sollte. Darauf der „Papageien-Befreier“: „Der kann eigentlich nicht viel, aber die anderen beiden haben ihn immer ,Chef` genannt!“
Der ProLa-Tipp: Ein guter Chef darf in Sachen Kompetenz ruhig die ein oder anderen f a c h l i c h e n Optimierungspotenziale aufweisen. Was eine wirklich gute Führungskraft auszeichnet, ist die ausgeprägte Sozialkompetenz – eben dass seine Mitarbeiter mit Freude und sogar auch mit etwas Stolz „Chef“ zu ihm sagen. Als Führungskraft sollten Sie mindestens einmal pro Jahr eine a n o n y m e Vorgesetztenbeurteilung durch Ihre Mitarbeiter durchführen. Wie bereits erwähnt, gibt es sehr geeignete 360-GradMethoden, die auch Kollegen und Kunden auf Wunsch anonym miteinbeziehen.
Ich versuche, Frau S. mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass besondere Situationen ebenso nach außergewöhnlichen Maßnahmen verlangen und diese natürlich auch eine gewisse Risikobereitschaft fordern. Nach ihrer Zustimmung zu einem „Chef-Experiment“ frage ich sie, ob ihre achtjährige
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Tochter gerne Bilder male? Nachdem sie bejaht hat, bitte ich sie darum, dass ihre kleine Tochter Anna ein Bild für Herrn W. (Name geändert) zeichnen solle. Ausgehend von der Annahme, dass diese Führungskraft weder gut noch böse, sondern einfach zu schnell war, soll sie hier auf Langsamkeit bzw. auf eine bewusste emotionale Vollbremsung setzen. Zurück zur Live-Situation, die sie mir später folgendermaßen beschrieb. Ihr Chef läuft bzw. rennt dienstagmorgens durch die Abteilung, um einige Aufgaben zu delegieren. Angekommen bei Frau S., bittet sie um ein persönliches Gespräch bei ihm. Seine Frage darauf: „Um was geht’s denn?“ Bisher lief alles nach Plan, genau diese Frage hatten wir im Geschwindigkeitsrausch erwartet. Schnelle Antwort, gute Antwort, darauf sind viele Führungskräfte trainiert worden. Aber Vorsicht, wir haben auch geübt: „Herr W:, das Thema ist mir persönlich zu wichtig, als dass ich es hier mit Ihnen im Stehen besprechen möchte, ich bitte Sie nur um fünf Minuten Ihrer Zeit für mich unter vier Augen? Es wäre mir wirklich sehr wichtig.“ Der erste Sieg scheint eingefahren, der Chef wirkt plötzlich langsamer, eher nachdenklich, Aufmerksamkeit und Neugierde scheinen geweckt. Volltreffer, es folgt ein Terminangebot noch am selben Nachmittag. Frau S. betritt das Chefbüro mit einer Mappe unter dem Arm. Die Führungskraft ist seit Langem wieder einmal wirklich aufnahmebereit für die Botschaft der Mitarbeiterin. Ihr Chef ist neugierig, was nun kommen wird. „Nehmen Sie doch Platz, wo drückt denn der Schuh?“, so seine Frage. Sollte hier etwa jemand ohne Worte schon erkannt haben, dass ein Schuh drücken könnte. Hier drückt nicht etwa ein Schuh, hier drückt seit einem Jahr eine Schuhfabrik, Sie sind nur stets barfuss daran vorbeigerannt ... kommt es mir bei der Situationsbeschreibung von Frau S. in den Sinn. „Wissen Sie Herr W., meine Tochter weint in letzter Zeit sehr viel und sehr oft, weil sie ihre Mama kaum zu sehen bekommt. Ich soll Ihnen von ihr dieses Bild überreichen. Meine Anna hat es extra für Sie als Dankeschön gemalt, weil ich ihr versprochen habe, dass ich mit meinen Chef darüber sprechen werde ... „ Die Reaktion von Herrn W. auf diese Botschaft war natürlich nicht planbar, aber versprach Grund zur Hoffnung. Und erstaunlicherweise, das nenne ich humane Magie, am selben Nachmittag hatte sie noch frei. Auch die nächsten Wochen senkte sich das Arbeitspensum auf ein erträgliches Maß.
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Doch schon bald häufte sich wieder die Arbeit, sodass die kleine Anna ein zweites Bild malen musste. Diese zweite Bild übergab sie jedoch ohne große Worte, aber dafür mit einem Schmunzeln von Herrn W. beantwortet: „Ich versteh` schon. Dieses Projekt heute noch, dann werde ich wieder bremsen. Ich hänge es zum anderen Bild. Liebe Grüße auch an Anna.“
Aktives Handeln lohnt sich für beide Seiten Was wäre vermutlich passiert, wenn Frau S. in ihrer Situation nicht aktiv geworden wäre? Unabhängig vom privaten Schicksal, spreche ich von innerlicher Kündigung, nachlassender Leistungsfähigkeit, Frust und Unfreundlichkeit, ausgelassen an Kollegen und Kunden, Ausfalltagen und vielem anderen mehr. Heutzutage sind Mitarbeiter sogar aus aufgestauter Wut heraus bereit, das eigene Unternehmen sowohl psychisch als auch physisch zu sabotieren, nur um sich für das ihnen widerfahrene Unrecht zu rächen. Auch ein uneffektiver Zeittauschhandel von Frau S. gegenüber der Firma wäre absehbar gewesen. Tausche Überstunden gegen Krankenschein – natürlich anschließend mit Mutter-Kind-Kur und weiteren Maßnahmen im Anschluss daran, dann verordnet durch einen Arzt. Langfristig hätte die Firma nebst einer Vertretungsregelung samt Einarbeitungszeit auf jeden Fall ein Mehrfaches an Zeit und Geld investiert. Ich halte es in diesem Falle nicht nur für fair, sondern sogar als meine Aufgabe, im Sinne des Unternehmens zu unterstützen. Auch wenn dazu so mancher ungewöhnliche Umweg, und sei es über ein emotionsgeladenes Kinderbild, nötig ist. Langsamkeit steht immer für überlegtes Handeln und niemals als Alibi-Argument für ein „Nicht-handeln“. Eines der größten Zauberworte auf dieser Erde besteht aus drei Buchstaben: T – U – N !
Die Analyse der drei Speed-Control-Punkte Anhand des vorausgegangen Beispieles, möchte ich nachfolgend die drei Speed-Control-Punkte noch einmal herausstellen. X
Punkt 1 Frau S. setzte auf professionelle Langsamkeit. Sie hat gezielt im richtigen Moment das Gesetz der Langsamkeit angewandt. Und zwar bereits, als sie sich gesagt hat: „Stopp, ich muss hier etwas tun, so kann ich nicht wei-
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terrennen.“ Sie investiert trotz persönlichem Zeitengpass Energie in die Situation, sie will und wird damit einen Ausweg finden. Dies ist ihr unbewusstes, langsames Navigationsgerät in Kopf und Bauch. X Punkt 2 „Bewusst kindlicher“ passt hier auf das Bild natürlich hervorragend. Im übertragenen Sinne sind mehr die kreative Umsetzung und kindliche Unvoreingenommenheit bzw. Begeisterungsfähigkeit gemeint. Geht nicht, gibt es für Kinder einfach nicht. Kinder haben die Fähigkeit, wie Zauberer zu denken – alles ist eben zuerst einmal möglich. Wir Erwachsenen sind meiner Meinung nach in zu vielen Denkschablonen und Gegenargumentationen verhaftet. Das schöne Bild von Anna sprach die emotionale Ebene des Chefs an. X Punkt 3 Frau S. blieb im richtigen Moment erschreckend konsequent. Und zwar genau dann, als der Chef ihre Frage schnell im Stehen abhandeln wollte. Durch die eindringliche Bitte um nur fünf Minuten Zeit unter vier Augen hatte sie schon einen enormen Aufmerksamkeitsvorsprung. Auch die neue örtliche Situation im Chefbüro unterstrich die Bedeutung der Botschaft. Durch den Wechsel im Alltagsrennen auf den Standstreifen wird dieser eben später zur Überholspur. Das zusätzliche Werkzeug der Emotionalität ist eine enorme Macht, vor allem hat es die Power, die Ratio zu umgehen. Es wäre sehr schön, wenn sich auch die vielen Verkäufer endlich zu dieser Kernkompetenz bekennen würden. Ebenso konsequent war das zweite Bild zwei Monate später, so handelt ein echter ProLa. Dieser Dreisatz bedeutete Spiel, Satz und Sieg. Natürlich auch mit etwas Risiko. Frau S. Beschreibung des Charakters ihres Chefs passte anscheinend sehr gut zur Maßnahme und der Plan ging auf. Ein anderer Chef hätte wiederum vielleicht eine andere Botschaft als dieses Bild gebraucht. Was jedoch zählt, ist der Dreisatz, der sich stets in Ausdruck und Variante ändert. Die Alternative ist für mich immer, nichts zu tun, und das ist meiner Ansicht nach k e i n e Alternative. Meistens werden dadurch Situationen und Konflikte schlimmer statt besser und eine Eskalation droht früher oder später.
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Wenn ein Punkt fehlt – der Trauergruß zum Geburtstag Sind Sie in dieser Woche noch nicht deprimiert worden? Vielleicht liegt es daran, dass Sie diese Woche nicht Geburtstag hatten und Sie noch nicht in einem bestimmten Hotel in Oberbayern nächtigten? Dieses Hotel wendet in Punkt 1 + 3 die Speed Control bei einer Kundenbindungsmaßnahme eigentlich ganz gut an, versagt aber bei Punkt 2 und verliert damit auf ganzer Linie, was zeigt, wie wichtig es ist, wirklich auf alle drei Basispunkte bewusst zu achten. Konkret – dieses erwähnte Hotel, dessen Kunden-Geburtstagsaktion später wortwörtlich aufgezeigt wird, arbeitet erst einmal vollkommen richtig, indem es auf professionelle Langsamkeit setzt. Die Geschäftsleitung investiert Zeit in jeden einzelnen Gast, indem eine Geburtstagsdatei aufgebaut wird (Punkt 1). Darin findet sich neben den Kontaktdaten, samt besonderen Wünschen des Gastes, auch sein Geburtstag. Besonders konsequent wird dies auch umgesetzt: Jeder Gast erhält auf geschmackvollem Briefpapier zum Geburtstag einen Glückwunsch nach Hause (Punkt 3). Es fehlt aber Punkt 2, der Mut zum kindlichen Denken, Mut zur Kreativität, Mut zur Begeisterung der Kunden, Mut zum anders sein. Anders ist es ja, nur erinnern die Glückwünsche eher an eine Grabrede als an einen freudigen Geburtstagsgruß. Nachfolgend wortwörtlich die Glückwünsche vom Hoteldirektor aus Oberbayern auf Briefpapier: Den Geburtstag feiert man, solange man ihn feiern kann. Wer älter wird, der staunt darüber, wie alles ging so schnell vorüber. Der Jugend unbeschwerte Zeit ward bald Vergangenheit. Und später, in den vielen Jahren hat man auch viel erfahren. Darunter manche Freud, doch auch so manches Leid. Freude und Leid, sie sind wie Brüder, kehren zu uns immer wieder. Dass wir damit fertig werden, ist des Menschen Los auf Erden. Lieber Herr Direktor seien Sie mir nicht böse, wenn Sie diese Zeilen lesen. Ich habe Ihr ansonsten schönes Hotel vorsichtshalber nicht erwähnt. Prüfen Sie bitte einfach nur Ihre Speed Control und bleiben Sie bitte allen d r e i Punkten treu. Erinnern Sie sich auch an den ProLa-Tipp, Aussendungen an
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Kunden noch einmal von einem e h r l i c h e n Mitarbeiter oder Freund gegenlesen zu lassen. Ich finde es wirklich sehr bedauerlich, denn Ihre wohlgemeinte Idee hatte so gut begonnen. Gehen Sie einfach noch einmal zumindest bezüglich der Textkomposition zurück auf den Standstreifen – es lohnt sich, Sie wissen ja ... dieser ist auch Ihre Überholspur.
Magie Mensch – lieben und lernen von Illusionen Ein Buch zu schreiben bedeutet für mich, den Leser auch eine Stück weit in die eigene Welt einzuladen. Ich habe drei Leidenschaften, die mich durch mein Leben begleiten: meine Familie, die Natur samt Verbundenheit zu Tieren und die Magie Mensch. Letztere hat für mich gleich in mehrfacher Hinsicht enorme Bedeutung. Deshalb habe ich meine Unternehmen mutiger oder vielleicht auch abbremsend SIMSALAWIN consulting und training genannt. Ich denke, gerade damals in der Anfangszeit meiner beruflichen Selbstständigkeit habe ich mir allein mit diesem Firmennamen ein dickes „Ei“ gelegt. Bei SIMSALAWIN dachten viele namhafte Unternehmen an einen Zauberer, Trickser oder gar Falschspieler, aber selten an ein besonderes oder seriöses Consulting. Ich freue mich, dass auch diese Langsamkeit beim Start sich heute wiederum in Form von gewachsenen und partnerschaftlichen Geschäftsbeziehungen und Weiterempfehlungen zeigt. Und das mit der Magie stimmt tatsächlich. Seit 1997 habe ich die Stamm-Nr. 3948, die mich seit dem Jahr 1997 als geprüftes Mitglied des Magischen Zirkels von Deutschland begleitet. „Wie, was, Zauberer in unserer Zeit, Harry Potter oder so, vielleicht schwarze Magie, wird sich der ein oder andere vielleicht fragen?“ Nichts davon trifft zu. Der Magische Zirkel von Deutschland ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich dazu berufen fühlen, die Zauberkunst zu pflegen und zu fördern. Damit ist ein altes und erfüllendes „Handwerk“ gemeint, das bekanntes Wissen samt Naturgesetzen völlig auf den Kopf stellt. Dies jedoch stets mit dem Ziel, andere Menschen dadurch zu unterhalten bzw. ihnen Freude und Staunen zu schenken. Für mich gehört insbesondere dazu, als Aufklärer tätig zu werden, wenn Scharlatane mit angeblich übersinnlichen Fähigkeiten andere Menschen buchstäblich über den Tisch ziehen. Es gibt eben auch negative Illusionen, die entlarvt werden sollten. Vielleicht ein weiterer Grund dafür, dass die Illusion des Zeitsparens durch ständige Geschwindigkeitssteigerung hier zum Buch-
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inhalt wurde. Gleichermaßen ist diese Leidenschaft in der Aussage „Magie Mensch“ zu meinem Beruf oder auch zu meiner Berufung geworden. Die enormen Potenziale, die in jedem Einzelnen von uns stecken und nur darauf warten, entfaltet zu werden, grenzen für mich an Magie. Auch ich werde immer wieder aufs Neue von „meinen“ Führungskräften und Mitarbeitern positiv überrascht.
Langsamkeit – der Schlüssel zum Erfolg auch in der Zauberkunst Wenn wir als Zauberer beispielsweise ein Kunststück entwickeln, zeichnet neben der Idee vor allem die Ausführung der herbeizuführenden Sinnestäuschung einen echten Profi aus. Und wieder liegt der Erfolg im Dreisatz des ProLa. Ein Anfänger versucht in kritischen Momenten, wenn er trickst, mit schnellen Bewegungen zu vertuschen, was der Zuschauer nicht sehen soll. Und genau dieses Verhalten macht misstrauisch. Vielleicht hat ja der Zuschauer tatsächlich nichts gesehen, aber allein die Tatsache, dass der Zauberer seine Hand in diesem Moment schneller bewegt hat, ist ausreichende Begründung dafür, dass gerade etwas passiert sein muss. Was damit schwindet, ist die Freude an der Magie, was bleibt, ist ein billiger Trick. Schnelligkeit „zieht“ immer Energie, in der Zauberkunst zieht diese die Aufmerksamkeits-Energie der Blicke an, die wir im Moment der Trickhandlung schon gar nicht brauchen können. Deshalb achtet der Profizauberer gerade an kritischen Punkten auf professionelle Langsamkeit (Punkt 1): Er betreibt nichts anderes als Speed Control. Er trainiert sogar die bewusste physische und psychische Entspannung für diesen kritischen Moment und schon entsteht der Eindruck echter Magie. Scheitern als Erfolgsfaktor Einer der größten Magier in Las Vegas war nach Siegfried und Roy und David Copperfield Lance Burton. Er hatte wohl einmal einen Zwischenrufer im Publikum, was durchaus zum Scheitern in diesem Moment führen kann. Ein ProLa zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass er langsam darüber nachdenkt und später vielleicht sogar einen Höhepunkt daraus modelliert, wie es Lance Burton tat.
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Nach einer wirklich tollen Illusionsnummer ruft er heute ins Publikum: „Gibt es noch irgendwelche Fragen?“ Eine Stimme schallt aus dem Zuschauerraum zurück: „Ja, wie funktioniert das?“ Lance Burtons Antwort: „Das darf ich Dir nicht sagen ... sonst müsste ich Dich danach töten.“ Der Zuschauer ruft zurück: „ ... dann sag`s meiner Frau!“ In der Showatmosphäre löst dieser Dialog auch bei den Frauen schallendes Gelächter aus. Dieser „Zwischenrufer“ ist so gut, dass Lance Burton ihn natürlich aktiv einbaut.
Der ProLa-Tipp: Jedes Scheitern ist für mich der Nährboden für Wachstum. In der Wirtschaftkrise sandte ich meinen Kunden einen Newsletter mit dem Titel „Die (k)Riesenchance“. Wenn alles gut läuft, entsteht die Gefahr der Trägheit und Gewohnheit. Begrenzungen, Scheitern und Fehler hingegen sind Impulse für Weiterentwicklung, wenn sie in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Fragen Sie sich nach jedem anscheinend persönlichen Scheitern, was Ihnen diese Situation vielleicht beibringen wollte? Lernen Sie von Ihrer Vergangenheit. Gab es dort nicht auch negative Vorkommnisse, die Sie jetzt mit Abstand betrachtet sogar deutlich weitergebracht haben? Dieses Gefühl des Vorwärts-Kommens sollten Sie nicht nur rückblickend, sondern gerade vorausschauend für sich nutzen. So nehmen Sie beim nächsten Scheitern, aus der Situation heraus, konstruktiv an Veränderungstempo auf.
Als Nächstes folgt Punkt 2 für den Profi – bewusst kindlicher zu denken. Diese Denkart ist uns Zauberkünstlern anscheinend in die Wiege gelegt. Ich erinnere mich da an so manchen Abend in meinem Ortszirkel Mindelheim, bei dem ein Mitglied ein neues Kinderkunststück vor uns testen wollte. Zu erleben, wie sich 40-Jährige auf einen Schlag um 35 Jahre zurückentwickeln, ist eine wahre Freude. Ohne offene Kinderaugen, Kreativität, Mut, die Dinge auf den Kopf zu stellen, geht in der Zauberkunst und übrigens auch im modernen Business eben gar nichts. Dazu gerne auch im weiteren Verlauf des Buches mehr.
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Querdenken – Querschmunzeln: „Business ist wie Schach, nur ohne Würfel! -oak-
Punkt 3 – erschreckende Konsequenz. Ein wirklicher Könner tritt erst auf, wenn er konsequent alle Schwachstellen aus einem Kunststück eliminiert hat. Und das kann teilweise Monate, manchmal sogar Jahre dauern. Jeder Zauberkünstler kann ein Lied davon singen, welche Schätze in seinen Regalen lagern, die aber nie die Reife erlangt haben, um sie in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Es ist nicht alles planbar ... Das Tolle obendrein ist .Die Magie schult im Scheitern. Trotz größter Übungskonsequenz gibt es eben Dinge, die nicht planbar sind. Ein zauberhaftes Beispiel gefällig? Zu meiner noch aktiven Zauberzeit absolvierte ich für einen karitativen Zweck einmal im Theater mit rund 200 Kindern eine Mitmach-Show. Meine Darbietung lebte davon, dass bei mir als Zauberer fast alles schieflief. Holte ich mir jedoch einen kleinen Assistenten aus dem Publikum, machte dieser die Magie möglich. Ich habe hier so manchen Knirps vor Stolz auf der Bühne wachsen sehen und genau das war mein Anliegen. Natürlich auch mit kleinen Herausforderungen. Spätestens ab dem dritten Kunststück hatten die Kleinen selbstverständlich den Dreh raus, und nach jeder Frage nach einem Assistenten oder einer Assistentin waren nahezu alle 200 Kinderfinger in der Luft. Ein lautes: „Ich, ich, ich ... „ schallte selbst durch die dicken Theaterwände. Nun gut, mein „kindlicher“ Einfall dazu, um immer wieder Abwechslung ins Programm zu bringen: „Ich brauche jetzt eine Assistentin ... „ (es folgt eine kurze Atempause mit 200 Kinderfingern in der Luft), ... die perfekt chinesisch kann!“
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Kinderfinger wieder unten – dachte ich zumindest. Erst als die ersten Erwachsenen in den hinteren Reihen schallend zu lachen begannen, wurde mir der „Ernst“ der Lage bewusst. Eine kleine Asiatin hatte von rechts die Bühne betreten und sprach mich in ihrer Muttersprache an. Als ich sie auf Deutsch fragte, ob sie mit mir auch zaubere, wenn ich nicht Chinesisch könne, antwortete sie mit einem Grinsen: „Na, klar!“ Ein aktiv zaubernder ProLa würde sich an dieser Stelle ernsthaft Gedanken darüber machen, wie er diese einmalige Situationskomik auch künftig in sein Programm überträgt, wie es auch Lance Burton getan hat. Wer meine Vorträge und Seminare kennt, weiß, dass die Magie mich bis heute begleitet. Ich nutze diese nicht nur, um den Menschen das Funkeln in den Augen zurückzugeben, sondern auch um anscheinend komplexe psychologische Prozesse nachhaltig auf einfache Art und Weise zu vermitteln. Zwei der wichtigsten Dinge, die mir die Zauberkunst im Laufe der Jahre beigebracht hat, sind das Denken ohne jegliche Begrenzung und das enorme Potenzial des konstruktiven Scheiterns.
Der aalglatte Mensch und Mitarbeiter ist out „Wie kann ein Managementcoach nur so dumm sein, öffentlich in seinem Buch von seiner Kinderzaubershow zu berichten? Das nimmt Ihnen doch völlig die Kompetenz“, höre ich schon so manchen zweifeln. „Woodway, Entschuldigung Holzweg, kann ich nur darauf antworten. Echte Persönlichkeiten haben längst die Nase voll von aalglatten, linksgescheitelten Blendern.“ Ich trage in der Freizeit gerne alte Jeans und gehe zwischendurch begeistert mit meiner Motorsäge ins Holz. Außerhalb von Seminarhotels helfe ich auch mal bei Freunden im Kuhstall. Und genau solche Arbeiten erinnern mich an meine Wurzeln. Ärgern als Treibstoff nach vorn „Wer mir schmeichelt, ist mein Dieb, wer mich kritisiert, mein Lehrer“, so eine asiatische Weisheit. Klingt vielleicht übertrieben? Mit Abstand betrachtet steckt natürlich auch darin ein Anteil an wichtiger Wahrheit.
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Der ProLa-Tipp: Achten Sie doch bei der nächsten Kritik an Ihrer Person oder Ihrer Arbeit auf Ihre persönliche Wut- oder Ärgerskala. Betrachten Sie diese doch einmal aus einem neuen Blickwinkel. Je mehr Sie sich darüber ärgern oder sich angegriffen fühlen, desto mehr sollten Sie sich fragen, ob der andere damit nicht sogar zumindest in Teilbereichen recht haben könnte? Ein äußerst spannender Denkwechsel auf den Standstreifen. Mit Ihrer neuen Erkenntnis können Sie dann ja später die anderen überholen.
Die Realität ist eben oft genau der Gegensatz zur künstlich, selektiv wahrgenommenen Scheinwelt, die sich so mancher als Schutzschild mangels Persönlichkeit aufgebaut hat. Wir alle haben unsere Licht- und Schattenseiten. Wer versucht, seine Schattenseiten zu leugnen, widerspricht der Speed Control. Die Zeit für Leugnen, Verschleiern oder Umdeuten Ihrer „Optimierungsfaktoren“ können Sie sich sparen, indem Sie diese annehmen. Erst wenn Sie auch Ihre Fehler l a n g s a m akzeptieren, haben Sie die reelle Chance, sich s c h n e l l weiterzuentwickeln. Wenn Sie sich der Illusion hingeben, dass dieser Prozess irgendwann abgeschlossen sein wird, sind Sie bereits ein „überholtes Modell“. Rey More, der Senior Vice President von Motorola, brachte es mit der folgenden Aussage, in der er einen seiner Mitarbeiter beschrieb, auf den Punkt: „Ich habe da so einen linksradikalen Typen, der für mich arbeitet. Er ist ätzend. Er sagt mir ständig, dass ich Unrecht habe. E R gleicht meine blinden Flecken aus. O h n e ihn wäre ich aufgeschmissen.“ Sich zu hinterfragen und daraus weiterzuentwickeln, ist langfristig ein Erfolgsgarant. Thomas Watson, der Gründer von IBM, formulierte dies folgendermaßen: „Wenn Sie erfolgreich sein wollen, verdoppeln Sie Ihre Misserfolgsrate.“
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2. Praxisvarieté erster Akt – Bühne frei für enorme Zeitpotenziale
Schreibstil und E-Mail-(un)Kultur Wir haben eine seltsame Art, Zeit zu sparen. Kommt Ihnen folgende Situation bekannt vor? Sie kehren nach einem Termin an Ihren Arbeitsplatz zurück und dieser ist umzingelt von kreativen Kurznachrichten, geschrieben als Hieroglyphen auf kleinen Zetteln oder gelben Post-its. „BR Mayer“ steht da auf einem dieser „Zeitspar-Post-its“. Stimmt, da hat sich einer bestimmt 20 Sekunden Schreibzeit gespart, indem er wirklich wichtige Informationen einfach zurückhält. Ihre Businesskreativität sagt Ihnen letztlich, dass BR „Bitte Rücksprache“ bedeutet. Doch Moment mal, welcher Herr Mayer? Einer von den drei hausinternen oder einer von den 17 Mayer-Kunden? Um was geht es eigentlich, wann ist denn derjenige, von dem Sie nicht einmal wissen, wer er ist, überhaupt erreichbar? Vielleicht ist es ein Kunde mit einem wichtigen Problem und eine seiner wichtigen Produktionsmaschinen steht still? Wirklich clever, hier tauscht einer im Unternehmen 20 Sekunden Schreibsparzeit gegen Ihre zweieinhalb Stunden Recherchezeit. Frei nach dem Floriansprinzip „Herr verschon mein Haus und zünde das des Nachbarn an“! Sie fangen h o c h m o t i v i e r t an, in diesen zwei kurzen Worten mögliche Schriftbilder von Kollegen und Kolleginnen herauszufiltern, und begeben sich mit dieser „Miniaturkarte“ in der Hand auf Schatzsuche – als hätten Sie nichts Besseres zu tun. Effektives Arbeiten könnte so schön sein. Frustriert finden Sie schließlich den Abkürzungshektiker und dieser ist sich keiner Schuld bewusst: „Jetzt reg’ Dich doch wegen einem kleinen Zettel nicht so auf, ich hab’ hier ganz andere Probleme!“ Selbstverständlich ist mir klar,
O. A. Kellner, Speed Control, DOI 10.1007/978-3-8349-8974-1_3, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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Praxisvarieté erster Akt – Bühne frei für enorme Zeitpotenziale
dass dieser unorganisierte Schreibtischchaot ganz andere Probleme hat. Doch Besserung ist erst in Sicht, wenn ihm jemand klarmacht, dass er selbst mit seiner mangelnden Speed Control das Problem ist!
Langsam Schreiben und dadurch Zeit sparen Manch einer mag denken: „Kommen Sie, was macht das schon aus, eine nicht lesbare Nachricht im Monat.“ Stopp, ich spreche hier von Mitarbeitern, die täglich mit dieser „Zettel-Krankheit“ konfrontiert werden und das noch von verschiedenen Seiten. Bei der Daimler AG hatten wir diesbezüglich einen besonders schweren Fall in einer Schulung ausgemacht. Der gemeinschaftliche Deal war abschließend Folgender: Alles, was nicht lesbar und bzw. oder in kleinen Zetteln ankommt, wird an diesen speziellen Kollegen postwendend zurückgegeben. Angenommen werden nur noch Blätter ab DIN A 5 in leserlicher Schrift und mit den vereinbarten Mindestinformationen. An das „gibt´s nicht“ glaube ich schon lange nicht mehr ... So manches Unternehmen würde mehr Geld mit der Installation einer Web-Cam verdienen, die über Privatfernsehen überträgt, als durch die Vermarktung ihrer Produkte oder Dienstleistungen. Vom absoluten Wahnsinn bis zur schenkelklatschenden Comedy wird hier alles geboten. Einer meiner Teilnehmer berichtete mir von einem Erlebnis der besonderen Art, am zweiten Tag seiner Diensttätigkeit als Sachbearbeiter wohlgemerkt. Sein Kollege hatte ihm zur Weiterbearbeitung folgende Kurzmitteilung auf einem kleinen Zettel hinterlassen: „Das BRK WWOG W`SEE braucht einen neuen MTW für ihre SEG“ Ist das nicht schön, wie viel Kreativpotenzial muss in diesen Menschen brach liegen? Hier die Übersetzung: „Das Bayerische Rote Kreuz Wasserwacht Ortsgruppe Weißensee braucht einen neuen Mannschaftstransportwagen für ihre Schnelleinsatzgruppe!“ Nichts für ungut an den schönen Weißensee und danke noch einmal für das wunderbare Praxisbeispiel.
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Der erste Tag muss für diesen Abkürzungsfetischisten und obendrein Schmierpragmatiker der blanke Horror gewesen sein. Hatte er doch so darauf gehofft, dass wie von vielen anderen Schulungen gewohnt, diese Maßnahme im Sande verlaufen würde. Ich hatte aber zwei persönliche Controller für diese Zielerreichung im Team. So konnte auch der „Jo-Jo-Effekt“ nach etwa sechs Wochen abgefedert werden. Und, was haben wir diesem Mitarbeiter angetan? Das Team hat ihn wettbewerbsfähig gemacht und damit auch die ganze Abteilung. Ich halte es für eine soziale Verantwortung, solche und andere Missstände im Sinne a l l e r zu optimieren. Ein Mitarbeiter und sein Team, das nicht wettbewerbsfähig ist, läuft heute mehr denn je Gefahr, entlassen zu werden, und das geht heute bekannterweise sehr schnell. Wichtig ist mir dabei, dass eine Optimierung im richtigen Kontext passiert. Der betreffende Mitarbeiter muss die Maßnahme vorher verstehen und unmissverständlich wissen, dass diese nichts mit ihm persönlich zu tun hat, sonst kreieren wir eine Mobbing-Situation. So haben ihm seine Kollegen zum „Projekt-Start“ als Dankeschön vorweg einen besonderen Kugelschreiber zum Schönschreiben geschenkt. Es geht eben auch mit einem Schmunzeln. Potenziale im eigenen Schriftbild? Seien wir doch mal ganz ehrlich. Die Abkürzer und Schnell-Unleserlich-Schreiber sind doch nicht nur um uns herum. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehören Sie selbst auch schon zu dieser gehetzten Spezies?
Der ProLa-Tipp: Kaufen Sie sich einen besonderen Füllfederhalter. Allein die Symbolkraft an Aufmerksamkeit wird schon neue Schreibpotenziale eröffnen. Ganz nebenbei profitieren Sie von einigem weiteren Füller-Nutzen. Doch dazu später mehr ...
E-Mail kommt, Aufmerksamkeit geht ... ? Natürlich höre ich immer wieder die Generalstabs-Ausrede: „Aber Herr Kellner, wir schreiben uns doch keine handschriftlichen Notizen mehr, das
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passiert doch heute alles per E-Mail.“ Ich frage mich immer, wenn wir heute a l l e s per E-Mail schreiben, wo kommen dann die vielen Zettelwüsten rund um die Schreibtische her? Trotzdem ist der E-Mail-Einwand, natürlich auf die explosionsartige digitale Entwicklung bezogen, durchaus berechtigt. Immer mehr Botschaften erreichen uns jetzt wenigstens vom Schriftbild her dechiffrierbar über die Datenleitung. Doch Lesbarkeit allein macht leider noch keine umfassende Information aus. Gerade weil es per E-Mail schnell gehen soll, wird gnadenlos gekürzt, weggelassen, und genau dadurch sind wir im Nachhinein wiederum langsamer. Urlaub von den E-Mails Eine Seminarteilnehmerin schilderte mir folgenden Vorfall: Sie kommt aus dem Urlaub an ihren Schreibtisch zurück. Erste Amtshandlung, E-Mails abrufen. 14 Tage Urlaub bedeuten rund 150 E-Mails. Dann die Katastrophe, ein Computerabsturz. Alle Nachrichten wurden gelöscht. Da sie nahezu ausschließlich mit internen Stellen korrespondiert, schickt sie daraufhin eine „Entschuldigungs-Mail“ an alle ihre Kontaktstellen im eigenen Unternehmen mit dem Hinweis auf diesen Vorfall. Sie bittet darin um erneute Zusendung der Anfragen und Wünsche der letzten 14 Tage. Erstaunliches Ergebnis: Es ging von den rund 150 E-Mails nicht eine Rückfrage ein! Im Nachhinein fragte sie sich mit einem Schmunzeln, ob man einen Computerabsturz nicht auch geplant herbeiführen könne. Das war seit Langem mal wieder ein Urlaub, von dem sie nicht schon am ersten Arbeitstag überholt wurde.
Zu diesem „schnellen“ E-Mail-Zeitalter gesellen sich munter die einst von Zetteln verbannten Abkürzungen, ebenso wie fragliche Fremdworte, unzählige englische Begriffe und ein legendäres Fachchinesisch. All diese Kommunikationsbremsen haben gleichermaßen überproportional zugenommen. Bekomme ich doch kürzlich folgende Information zum besonderen Nutzen eines neuen Produkts: „Neben einer verbesserten Usability und Nutzerführung (Attribute an Versionen) wurde auch die Komponente Process Integrated Communication (PIC) überarbeitet und auf eine beschleunigte Arbeitsteilung entlang des PLC optimiert.“
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Entschuldigung, was habe ich als Kunde jetzt davon? Ach ja, fast hätte ich das Deutsche überlesen – eine verbesserte Usability. Der Comedian Rüdiger Hoffmann hat es einmal schön in einer Übertreibung formuliert: „Mein Freund sagt, ich habe Charisma.“ Ich zu ihm: „Charisma? Wo soll ich mir das denn geholt haben?“
Die „Fremdwort-Abkürzungs-Anglizismen-Krankheit“ Wir im Business leiden alle mehr oder weniger daran, an der „FremdwortAbkürzungs-Anglizismen-Krankheit“. Meine Frau hat mir neulich erst wieder den Spiegel vorgehalten: „Du sprichst gerade so, wie Du schreibst, dass man nicht sprechen sollte.“ Aua, das tut weh. Also noch einmal zu meiner Verteidigung – ich unterliege ebenso der ein oder anderen Abkürzung oder englischen Wortübersetzung. Sorry, nur zur persönlichen Absicherung noch einmal – ein ProLa ist ein Professioneller Langsamer, der sein eigenes Handeln ebenso konstruktiv infrage stellt. Und das fand ich fast schon gut, wäre da nicht schon wieder das englische „Sorry“. Natürlich brauchen wir im Unternehmertum auch ein gewisses englisches Grundvokabular. Ebenso hätte ich natürlich Business mit Geschäft, die PINNummer mit Persönlicher-Identifikations-Nummer, das Telesales-Team mit Telefon-Verkaufs-Gruppe übersetzen können. Nachzulesen sind auch auf den vorausgegangenen Seiten Worte wie Marketing, Coaching und Win-BackAktion. Wie viele Abkürzungen und Anglizismen ein „Muss“ sind und wie viele bereits „Verdruss“ bringen, sollte letztlich jeder für sich entscheiden. Die Frage ist, ob wir noch die nötige Speed Control (... wie schön ... ein englischer Begriff ... aber bewusst gewählt) besitzen, um uns selbst hin und wieder diesbezüglich infrage zu stellen. In so manchen Präsentationen oder Fachvorträgen versteht man heute leider nur noch Bahnhof. Ich habe für mich diesbezüglich einen Kompromiss gefunden. Es sind im Beruf durchaus einige englische Begriffe erlaubt, da sie heute internationales Denken ebenso wie unterbewusst Fortschritt und Fachkompetenz vermitteln. Die Kerninhalte sollten hingegen unbedingt deutsch, einfach und nachvollziehbar gestaltet sein. Je einfacher Sie Ihre Botschaft auf den Punkt bringen, je besser Sie diese in einem einzigen Bild mit einer besonderen Emotion transportieren können, desto nachhaltiger und wirkungsvoller!
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Schnellwirksame Sprache in Präsentationen In dieser schnelllebigen Zeit heißt es immer öfter auf sich selbst aufpassen, sonst wird man plötzlich vom eigenen Tempo überholt. Natürlich brauchen wir auch englischsprachige Begriffe im Beruf, ebenso wie einige Abkürzungen. Diese sollten unsere Kommunikationsempfänger aber auch wirklich verstehen.
Der ProLa-Tipp: Wenn Sie beispielsweise in einer Präsentation mit Ihrer Rhetorik besonders wirken wollen, dann erreichen Sie das vor allem durch eine einfache und bildhafte Sprache. Folgende Spielregel: Formulieren Sie Ihre wichtigsten Punkten so, dass Sie ein Zwölfjähriger versteht, ohne dass es naiv klingt!
Was mit dem begleitenden Krankheitsbild, der übertriebenen „E-Maileritis“ gleichermaßen abgenommen hat, ist die Tiefe und Wirkung der einzelnen Botschaft. Frei nach dem Motto: „Hast Du meine E-Mail gelesen? Nein, wenn es etwas Wichtiges gewesen wäre, hättest Du mich ja angerufen!“ 70 E-Mails pro Tag, Entschuldigung, wie soll das funktionieren? Vielerorts ist der E-Mailverkehr zur defensiven Absicherungskampagne verkommen. So kann ich wenigstens über meinen Versand nachweisen, dass der Empfänger die Nachricht bekommen hat, und bin damit bei Problemen auf der sicheren Seite. Das ist Teamarbeit in deutschen Unternehmen (TEAM = Toll Ein Anderer Macht`s!). Und wenn auch erst nach Jahren ein Fehler zutage tritt, kann ich immer noch dank Datensicherung beweisen, dass ich unschuldig bin. Genau darin liegt wieder eines unserer enormen Zeitprobleme. Gerade in großen Unternehmen sind Führungskräfte und Mitarbeiter zu einem enormen Anteil ihrer produktiven Zeit ausschließlich damit beschäftigt, Sägeangriffe auf den eigenen Stuhl abzuwehren. Die Frage bei einem Fehler ist nicht, wer war es, sondern was können wir tun, dass so etwas nie wieder passiert? Vielen Firmen genügt in der Praxis die Antwort auf die erste Frage leider vollkommen.
„cc“ eine der gefährlichsten Kopfzeilen
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„cc“ eine der gefährlichsten Kopfzeilen Gemessen wird die Persönlichkeit heute offensichtlich nicht mehr an ihren Taten, sondern anhand des „cc-Status“ – der Zeile für den Empfang der Nachricht in Kopie. Frei nach dem Motto: „Je öfter ich bei wichtigen Unternehmensinformationen als Hauptempfänger oder zumindest im ,cc´ genannt werde, desto wichtiger bin ich.“ Ist es nicht spannend, dass gerade diejenigen, die sich über eine zu große Arbeitsflut beklagen, empört reagieren, wenn sie auch nur einmal im „cc“ nicht genannt werden? Sie können ja mal im größeren Unternehmen den Versuch machen und eine vermeintlich wichtige Botschaft in Kopie statt über den cc-Verteiler über den unsichtbaren bcc-Verteiler versenden. Allein die Tatsache, dass gewisse Namen hier nicht offen erwähnt sind, kann ganze Abteilungen in Alarmbereitschaft versetzten. Ist es nicht erstaunlich, mit wie viel Geschwindigkeit wir uns um Dinge kümmern, die uns nur bremsen? Die „Plings“ und Fähnchen ausschalten Wir Menschen brauchen circa zehn Minuten, um gerade bei komplexen Aufgaben ein entsprechend benötigtes Konzentrationsniveau zu erreichen. Wie soll das in der Praxis funktionieren, wenn Sie im Durchschnitt alle fünf Minuten von einem E-Mail-Info-Ton herausgerissen werden? „Pling,Sie haben Post!“ – welch eine lebenswichtige Nachricht!
Der ProLa-Tipp: Schalten Sie die Tonsignale einfach ab. Wie oft erledigen Sie Ihre Tagespost? Einmal pro Tag? Das Gleiche machen Sie künftig mit Ihren E-Mails. Wer es gar nicht lassen kann, lässt sich eben auf zwei Mal pro Tag ein. Aber bitte als Ritual zu festen Zeiten – allein dadurch nehmen Sie richtig an Tempo auf!
Zusammenfassend hat der E-Mailverkehr in Sachen Quantität erschreckende Ausmaße angenommen und leider gleichermaßen an Kommunikationsqualität verloren. Wer wirklich Wichtiges mitzuteilen hat, greift deshalb immer öfter wieder auf ein Telefonat oder ein persönliches Gespräch zurück. In
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diesem Sinne erlebt sogar der handgeschriebene Brief eine Renaissance. Der Brief, von Computerfreaks als „snail-mail“ (Schnecken-Post) verspottet, kann in vielen Fällen in puncto Aufmerksamkeit und Wirkung letztendlich deutlich schneller sein als sein digitaler Konkurrent. Ich spreche hier nicht von augenfälligen Massenmailings, sondern vom individuell gestalteten Informationsbringer. Wer noch deutlicher werden will, greift zum Füller. Überlegen Sie selbst, wann Sie einem anderen Menschen so viel wert waren, dass er Ihnen seine persönliche Handschrift widmete? Dennoch werden heute im Alltag gerade wichtige Botschaften lieber „zeitsparend“ per E-Mail verschickt, statt das persönliche Gespräch zu suchen. Die Zeitersparnis liegt dann darin, dass der Empfänger oft nur mit Teilinformationen versorgt wird und diese obendrein nur kurz überfliegt. Allein aufgrund der einseitigen Art der Kommunikation fehlt es natürlich an Rückkopplung und der Möglichkeit zu Verständnisfragen. Diese werden aus Zeitgründen gar nicht erst gestellt und ebenso gibt man sich nicht die Blöße, etwas nicht verstanden zu haben, was im Nachhinein wiederum zeitintensive Besprechungen nach sich zieht. Dechiffrierung von Smileys in E-Mails: :-) :-( :'-( :-. :-