Dr. Morton Nr. 8
Sir Henry, der Dritte im Bund Lebendfrische Fracht für Brighton Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königl...
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Dr. Morton Nr. 8
Sir Henry, der Dritte im Bund Lebendfrische Fracht für Brighton Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen, hatte die
Chefvisite in seiner Privatklinik in Brighton beendet.
Aber er hatte noch einen Patienten zu besuchen.
Der lag allerdings nicht in einem der ebenso komfortabel wie praktisch eingerichteten
Zimmer der Klinik, sondern etliche Meter tiefer in einem fensterlosen Raum, der wie
die ganze unterirdische Anlage durch eine großzügig bemessene Klimaanlage
versorgt wurde.
Auf dem Weg nach unten, den außer Dr. Morton nur noch William Grimsby, sein
engster Mitarbeiter, kannte, dachte Dr. Morton an das bevorstehende Treffen mit Sir
Henry, dem siebenten Earl of Saffron. Das ließ ihn lächeln. Sir Henry und er hatten
einen Bootsausflug geplant, und Dr. Morton freute sich darauf,
wie er sich lange auf nichts mehr gefreut hatte. Völlig unbeschwert und ohne alle
Vorbehalte.
Grimsby erwartete ihn unten.
„Sie wollen nach Harroghby sehen, Sir?"
„Ja. Wie geht's ihm?"
„Er erholt sich trotz allem ziemlich gut."
Dr. Morton nickte. Er hob die linke Hand, in der er mehrere Zeitungen hielt.
„Wenn er das hier gelesen hat, wird er sich nicht sehr gut fühlen."
Grimsby grinste.
„Nein, Sir. Ganz bestimmt nicht."
Sie betraten eins der kleinen Zimmer, von denen es hier unten eine ganze Reihe gab
und die auch als Gefängniszellen dienten.
Mr. Harroghby lag still auf seinem Bett. Sein Blick war an die Decke gerichtet. Er tat
so, als bemerkte er die beiden Männer gar nicht. Seine Stirn war kummervoll
gerunzelt. Er hatte beide Hände über der Decke auf seinen Leib gelegt, der nicht
mehr den gleichen Umfang hatte wie noch vor einigen Tagen; Dr. Morton hatte den
notwendigen Eingriff dazu benutzt, Mr. Harroghby auch von einem Teil seines
Bauchfetts zu befreien.
Morton nahm wortlos Platz, griff nach Harroghbys Hand und prüfte seinen Puls. Er
setzte die Untersuchung schweigend fort.
„Ich bin recht zufrieden mit Ihnen, Harroghby", sagte er beiläufig. „Irgendwelche
Beschwerden?"
„Ich will hier raus". knurrte der Patient. „Sie können mich nicht hier festhalten! Man
wird Ihnen auf die Spur kommen! Wenn meine Leute . . ."
„Auf Ihre Leute sollten Sie nicht mehr hoffen", sagte Dr. Morton. „Ich habe Ihnen ein
paar Zeitungen mitgebracht. Sie finden die Berichte meist gleich auf der ersten
Seite."
Mr. Harroghbys Hände zitterten, als er nach den Zeitungen griff. Er war jetzt
besonders blaß um die Nase, und auch seine Lippen bebten. Er wußte zwar nicht,
was in den Zeitungen stand, aber es war bestimmt etwas Entsetzliches.
Als er die ersten Fotos sah, begannen seine Hände so stark zu zittern, daß er die
Zeitung für einige Momente sinken ließ. Sein Blick traf sich mit dem des Chirurgen.
„Mein Haus?" fragte er flüsternd. „Ja, Ihr Haus."
„Oder was davon übrig ist", berichtigte Grimsby fröhlich.
„Das waren Sie!" sagte Harroghby leise, und obwohl seine Stimme völlig kraftlos war, klang sie anklagend. „Das waren wir", bestätigte Dr. Morton. Mr. Grimsby und ich." „Warum . . ." „Das können Sie sich doch denken. Ihre Leute wären unbequem geworden. Wir mußten sie ausschalten. Wir hielten es für am einfachsten und effektivsten, eine Art Bombe auf Ihr Haus zu werfen, als wir sicher waren, daß Ihre Leute sich alle dort aufhielten." „Bis auf einen", meldete sich Grimsby. Den habe ich erstechen müssen, als er vor der Klinik herumlungerte." „Man wird Sie erwischen", murmelte Harroghby fast tonlos. „Sie kommen nicht ungestraft davon! Man kann doch nicht mitten in London eine Bombe auf ein Haus werfen und Menschen umbringen." ,Nein? Aber man kann Hunderte von Menschen verkaufen, nicht wahr? 'Man kann sein Geld mit dem Elend und der Unfreiheit anderer Menschen verdienen. Sie haben seit vielen Jahren Ihre schmutzigen Hände im Menschenhandel gehabt! Sie hatten auch jetzt wieder ein Geschäft vorbereitet und mußten es verschieben, weil etwas dazwischen gekommen war. Jetzt ist es nicht nur verschoben, Mr. Harroghby. Jetzt ist es geplatzt. Und Sie werden nie wieder mit Menschen handeln." „Ebensowenig wie mit Grundstücken", sagte Grimsby trocken. Mr. Harroghby sammelte seine Kräfte. Schließlich gelang es ihm, die Zeitungsberichte zu lesen. Sie widersprachen sich teilweise. Manche berichteten von acht Leichen, andere von zehn. Auch über die Ursachen des Unglücks bestand keine Klarheit. Die Leute von Scotland Yard hatten die Reste eines Sprengsatzes gefunden. Wer ihn gelegt hatte und warum und wie: Darüber wußte man nichts, erging sich in mehr oder weniger phantasievollen Spekulationen. Der skandalverliebte Daily Mirror hatte verschiedene Leute aufgetan, die von einem Hubschrauber berichteten, der nachts und bei dichtem Nebel über die Themse geflogen war und knüpfte daran die Theorie, der Sprengsatz sei von diesem Hubschrauber abgeworfen worden. Der Daily Mirror berichtete allerdings auch, daß diese Theorie bei Scotland Yard auf wenig Gegenliebe stieß. „Übrigens: Es war tatsächlich so”, sagte Dr. Morton, als Mr. Harroghby den Mirror las. „Grimsby und ich sind mit dem Hubschrauber zum Cheyne Walk geflogen und haben den Sprengsatz über Ihrem Haus abgeworfen." „War eine verdammt heiße Kiste", murmelte Grimsby. „Ich hatte Bedenken, wie der Vogel auf den Explosionsdruck reagiert. Und dann Nebel — so dicht, daß man ihn greifen konnte." „Wären Sie doch dabei draufgegangen!" keuchte Mr. Harroghby haßerfüllt. „Und dann?" fragte Grimsby höflich. „Dann wären Sie hier unten elend krepiert, Mr. Harroghby. Niemand hätte Sie gepflegt. Und wenn Sie nicht an mangelnder Betreuung Ihrer Wunde gestorben wären, dann wären Sie verhungert oder verdurstet." „Was haben Sie vor mit mir?" fragte Harroghby nach einer Pause, an Dr. Morton gewandt. Der zuckte die Schultern. „Sie werden mir noch auf irgendeine Weise nützlich sein, Mr. Harroghby. Für die Welt da draußen sind Sie jedenfalls verloren."
„Für die Welt sind Sie tot", sagte Grimsby vergnügt. „Blättern Sie die Zeitungen ruhig
durch. Einige Blätter berichten auch von der Einäscherung des Mr. William
Harroghby im Krematorium von Brighton." Er lachte. „Spätestens morgen werden
Blätter wie der Daily Mirror herausgefunden haben, haben, daß es Ihr Haus war, das
in die Luft geflogen ist. Ich bin gespannt, was sie ihren Lesern dann Abenteuerliches
auftischen."
Dr. Morton hatte die Türklinke schon in der Hand.
„Da fällt mir noch etwas ein, Mr. Harrogbhy", sagte er. „Sie haben sich gar nicht nach
Ihrer Frau erkundigt."
Harroghby verriet nicht die Spur von Interesse.
„Sie ist tot, nehme ich an."
„Nein, sie ist nicht tot. Sie hat mir leid getan. Ich habe sie zu einem Kollegen nach
Torquay geschickt. Dort kann sie sich erholen und endlich leben — nachdem Sie sie
nicht mehr gefangenhalten."
Harroghby schwieg. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch, wie sehr es ihm mißfiel,
daß seine Frau sich derzeit in einer sehr viel angenehmeren Situation befand als er
selbst.
„Ich werde mich auch weiterhin um Ihre — Witwe kümmern", fuhr Dr. Morton fort. „Ich
werde dafür sorgen, daß sie in den Genuß des ihr zustehenden Erbes kommt. Da
sind zunächst einmal die Versicherungssumme. Auch das Haus war versichert, nicht
wahr? Zweifellos wird die Versicherung zahlen müssen."
Harroghby schwieg und schien zu versteinern.
„Aber Sie haben ja bestimmt auch noch andere Vermögenswerte, Mr. Harroghby. In
der Schweiz, vermute ich."
„Da kommt niemand ran!" zischte Harroghby. „Weder Sie noch meine Frau!"
Grimsby trat dicht ans Bett und grinste den ‚Verstorbenen` mitleidig an.
„Sie werden sich noch freuen, wenn Sie uns verraten dürfen, wo Sie Ihr
Geld untergebracht haben", sagte er kalt.
● „So, das wär's wohl", sagte Sir Henry, der siebente Earl of Saffron und rieb sich die Hände mit der Zufriedenheit eines Dockarbeiters, der seinen schweren Arbeitstag hinter sich hat und sich auf ein frisches Porter freut. „Ja, wir haben alles verstaut", stimmte Dr. Morton bei, während er sich noch einmal umsah und sich vergewisserte, daß tatsächlich alles an Bord der Drago war, was sie für ihre Fahrt entlang der englischen Südküste brauchten. „Start in einer Stunde, Glenn?" „Okay, Henry." „Was halten Sie davon, wenn wir eben noch mal nach Brighton rein fahren und einen kühlen Schluck nehmen? Die Pubs haben seit fünf Minuten geöffnet." „Den kühlen Schluck können wir auch drüben in Lannix Manor nehmen." „Ist nicht dasselbe", widersprach Sir Henry. „Außerdem fürchte ich, daß noch irgendein verdammter Anruf aus Ihrer Klinik kommt und Sie aufhält." „Also gut", sagte Dr. Morton lachend. "Setzen wir uns in den Wagen und fahren hinüber nach Brighton. Ich muß lange zurückdenken. Glaube, es ist mehr als ein Jahr her, daß ich in einem Brightoner Pub an der Theke gestanden habe." „Ganz schlecht", sagte Sir Henry mit leichtem Spott. „Sie werden den Kontakt zum Volk verlieren. Man muß ihm auf Maul und Finger schauen, sonst versteht man die Welt bald nicht mehr." Er setzte nach einer Pause hinzu: "Falls einem das heutzutage überhaupt noch gelingt."
Sie tranken jeder zwei Pints und kehrten dann zur Drago zurück, die im Bootshaus
von Lannix Manor lag; in einem Bootshaus, das durch einen Stichkanal mit dem
Meer verbunden war.
Als sie in die Auffahrt des Landsitzes einbogen, erkannte Dr. Morton Grimsby, der
vor dem Hauptportal stand. Er bremste ab und brachte den Wagen zum Stehen.
Grimsby grüßte höflich. Jetzt, da er nicht mit seinem Chef allein war, verriet sein
Benehmen nicht die geringste Spur von Vertraulichkeit.
„Gibt's noch was, Grimsby?"
„Nein, Sir, alles in Ordnung."
„Gott sei Dank!" sagte Sir Henry, der schon den Atem angehalten und sich auf eine
unliebsame Überraschung gefaßt gemacht hatte.
„Ich wollte nur fragen, ob ich mit hinüber zum Bootshaus fahren und den Wagen
anschließend zur Grarage bringen soll, Sir."
„Gute Idee, Grimsby. Steigen Sie ein." „Vielleicht kann ich Ihnen sonst noch behilflich
sein, Sir?"
„Danke, Grimsby. Wir haben die Drago schon reisefertig gemacht."
Als sie hielten und ausgestiegen waren, blieben Dr. Morton und Grimsby wie zufällig
ein paar Schritte zurück. Sie wechselten leise einige Worte. Grimsby nickte und
versicherte:
„Ich werde auf alles achten, Sir."
„Im Notfall können wir uns ja miteinander in Verbindung setzen, Grimsby."
„Selbstverständlich, Sir. Auf der abgesprochenen Frequenz. Ich werde jeweils um
zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends im Funkraum sein,
falls Sie mir etwas mitzuteilen wünschen."
„Wird kaum der Fall sein", sagte Dr.
Morton. „Wir gehen ja auf eine Vergnügungsfahrt."
Man könne nie wissen, meinte Grimsby skeptisch.
Die Drago war ein aufsehenerregendes Schiff. Ihr gut 15 Yard langer Rumpf glänzte
mattschwarz. Schon wenn sie nur halbe Fahrt machte — das waren dann etwa 30
Knoten — hob er sich halb aus dem Wasser, und der
spitze Bug ragte herausfordernd in die Luft.
Das Cockpit erinnerte an ein Flugzeug, und tatsächlich war die Drago über die
normale Ausstattung hinaus mit einer Menge Technik vollgestopft, von der Sir Henry
nicht viel verstand (und die ihn vermutlich gerade deshalb so faszinierte).
Dr. Morton erläuterte ihm, während sie ziemlich dicht unter der Küste westwärts
fuhren, einige der zusätzlichen Einrichtungen, mit denen die Drago bei jedem Wetter
zu manövrieren war, mit denen man aber auch jedes andere Fahrzeug frühzeitig und
präzis orten konnte.
„Eine Neuentwicklung auf dem Gebiet des Radars", sagte er. „Wenn Sie Einzelheiten
wissen wollen, müssen Sie sich gelegentlich mit Grimsby unterhalten. Das ist sein
Ressort. Er bleibt Ihnen bestimmt keine Antwort schuldig."
"Überhaupt ein tüchtiger Mann" sagte Sir Henry.
„Der beste, den ich mir denken kann."
„Sie nannten ihn einmal Chauffeur, Pilot und Mädchen für alles, Glenn."
„Ja", sagte der andere einsilbig.
Aber Sir Henry ließ das Thema noch nicht fallen: „Mädchen für11e bedeutet sehr viel,
nicht wahr?" — das
Dr. Morton sah ihn an, lächelte und bestätigte:
„In der Tat, Henry. Es bedeutet eine ganze Menge. Ohne Grimsby könnte ich nicht so
leben, wie ich's tue."
Sir Henry nickte. Er wußte, daß es keinen Zweck gehabt hätte, jetzt weiter in Dr.
Morton zu dringen. Er fand es überhaupt erstaunlich, wieviel Vertrauen der ihm
entgegenbrachte. So lange kannten sie sich schließlich noch nicht, und ihre eben
erst beginnende Freundschaft hatte noch keinerlei Belastungsprobe zu bestehen
gehabt.
Sir Henry war sehr stolz auf das Vertrauen, das Glenn Morton ihm gegenüber zeigte.
Er segnete den Tag, an dem er den Unfall gehabt und Dr. Morton ihn
zusammengeflickt hatte, kurz bevor es zu spät und er verblutet gewesen wäre.
„Ich bekomme Hunger, Glenn. Ist's Ihnen recht, wenn ich in die Galley steige und uns
einen Imbiß zubereite?"
Dr. Morton lachte.
„Ich habe bestimmt nichts dagegen, daß Sie den Küchendienst übernehmen,
Henry."
Nachdem der Earl of Saffron unter
Deck verschwunden war, brachte Glenn Morton die beiden je 450 PS leistenden
Benzinmotoren auf Touren. Sie röhrten. Das Vibrieren wurde ein wenig stärker,
der Bug hob sich weiter aus dem Wasser, und die Nadel des
Geschwindigkeitsmessers kletterte ziemlich rasch über die 40 und auf die 50 zu.
Henrys Kopf tauchte über dem Niedergang auf.
„Habe ich Sie erschreckt?" fragte Morton lächelnd.
„Keineswegs. Aber wenn Sie ein Wettrennen veranstalten, will ich dabei sein!"
„Kein Wettrennen. Ich nehme an, es ist mein Wohlbefinden, das mich veranlaßt hat,
ein bißchen mit der Technik zu spielen."
„Wie schnell sind wir, Glenn?"
Dr. Morton warf einen Blick auf die Instrumente.
„Knapp 60 Knoten."
Sir Henry kam herauf. Er balancierte die Stöße gut aus, die die gleichmäßigen
Wellen dem Boot versetzten und ließ sich in den zweiten Schalensitz des Cockpits
fallen.
„Wollen Sie übernehmen, Henry?"
„Nein, es ist mir zu schnell. Ich sehe lieber zu und gewöhne mich erst an den
Drachen."
Sie fuhren immer noch so dicht unter Land, daß man mit einem guten Glas jede
Einzelheit ausmachen konnte. Sir Henry stützte sich mit dem linken Ellbogen auf und
suchte die Küste ab.
„Ist das da drüben Worthing?"
„Nein, an Worthing sind wir längst vorbei. Da drüben ist schon die Landzunge von
Chichester!"
Sir Henry schwenkte das Glas und nickte bestätigend.
„Wir machen gute Fahrt, Glenn. Haben Sie sich überlegt, wo wir die Nacht
verbringen?"
„Das ist Ihr Problem, Henry. Sie haben den Törn doch geplant!”
„Legen Sie Wert drauf, daß wir einen Hafen anlaufen?"
„Nein, nein, ich habe noch keine Sehnsucht nach festem Boden."
„Gut, dann fahren wir, bis die Dunkelheit hereinbricht und werfen dann irgendwo
Anker."
„Aye, aye, Sir!" sagte Dr. Morton lächelnd. „Wir müssen nur aufpassen, daß wir uns
dazu nicht gerade die Route der Fähre von Le Havre nach Southampton aussuchen.
Überall sonst können wir unbesorgt bleiben."
Als es dunkel wurde, hatte die Drago die Route der Fähre längst gekreuzt. Sie lief
jetzt nach Südwesten, um die Isle of Wight zu umrunden. Die Lichter an der Küste
waren spärlich.
„Wie weit sind wir von der Insel entfernt?" fragte Sir Henry.
„Schätzungsweise vier Meilen." Der Earl of Saffron grinste:
„Zeit, daß wir uns über den unverzollten Whisky hermachen. — Eine Schande, daß
wir's nicht ausnutzen können. Wenn man schon außerhalb der Dreimeilenzone ist."
Die Drago machte jetzt nur wenig Fahrt. Sie pflügte durchs Wasser. Dr. Morton hatte
sich gerade entschlossen, die Motoren zu stoppen, denn der Platz, an dem sie
waren, eignete sich zum Übernachten so gut wie jeder andere, als etwas seine
Aufmerksamkeit erregte. Er nahm das starke Nachtglas und sah
hindurch.
„Was gibt's?" erkundigte Sir Henry
sich.
"Sehen Sie selbst."
„Lichter”, sagte der andere. „Ein Schiff?"
„Ja."
„Was finden Sie so sonderbar daran, Glenn? Daß es außerhalb der üblichen Route
ist? Das sind wir auch."
„Sehen Sie doch mal genau hin", forderte Dr. Morton seinen Freund auf. Der Earl
tat's.
„Ich kann nichts Verdächtiges bemerken, Glenn, hol's der Teufel!"
„Die Form", sagte Dr. Morton ruhig.
„Es ist zu dunkel. Ihre Augen sind offenbar besser als meine. Ich sehe nicht viel mehr
als das bißchen Licht, das durch die Bullaugen fällt."
Dr. Morton ging schweigend nach unten und kam gleich darauf mit einem Kasten
zurück, den er behutsam auf den Kartentisch stellte, der wind- und
spritzwassergeschützt zwischen den beiden Plätzen im Cockpit stand. Sir Henry sah
neugierig zu, wie er ihn öffnete.
„Ein Nachtsichtgerät", sagte Dr. Morton. „Sie wissen, wie so etwas funktioniert?"
Henry of Saffron nickte. Er nahm das Gerät, stellte es ein und schaute durchs Okular.
„Himmel!" sagte er überrascht. „Das ist ja ein Segelschiff! Ein Gaffelschoner, exakt
gesagt. Ein mindestens hundert Jahre alter Pott."
„Oder ein sehr geschickter Nachbau", sagte Dr. Morton. „Jedenfalls ein
Liebhaberstück."
Sir Henry schaute noch eine Weile durch das Nachtsichtgerät.
„Wirklich perfekt”, murmelte er. „Ich möchte wissen, wer damit durch den Kanal
schippert. Offenbar ein hoffnungsloser Romantiker."
„Scheint so", sagte Dr. Morton lakonisch.
Sir Henry legte das Nachtsichtgerät vorsichtig zurück in den Kasten. Dr. Morton
verschloß ihn.
„Jedenfalls können wir hier unbesorgt übernachten. Piraten sind bestimmt nicht an
Bord der Santa Luisa."
„Ach, Sie haben den Namen entziffern können, Henry?"
„Mit dem da war's eine Kleinigkeit."
Es wäre zwecklos gewesen, den Anker fallen zu lassen. Die Wassertiefe war zu
groß. Aber es war ungefährlich, die Drago mit festgestelltem Ruder treiben zu lassen.
Wenn sie sich überhaupt von der Stelle bewegte, tat sie's in engen Kreisen. Und die
Santa Luisa war weit genug entfernt.
●
Als Dr. Morton und Sir Henry ihren Törn am nächsten Morgen fortsetzten, war von
der Luisa weit und breit nichts mehr zu sehen.
„Schade", sagte Sir Henry. „Ich hätte mir den Kahn gern einmal bei Tageslicht und
aus größerer Nähe angesehen."
„Vielleicht begegnen wir ihr noch einmal", erwiderte Dr. Morton.
Er wußte nicht, wie bald das geschehen sollte.
Die Drago lief in weitem Bogen um die Isle of Wight. Sie war weit genug von der
Küste entfernt, um keinem der kleineren Sportboote zu begegnen, die hier gefahren
wurden. Und sie war wiederum dicht genug unter Land, um den dicken Pötten der
Handelsschiffahrt aus dem Weg zu gehen.
Gegen Mittag sagte Dr. Morton, der mit dem Glas Ausschau hielt, während Sir Henry
das Schiff steuerte:
„Da vorne ist was. Die Santa Luisa, wenn ich mich nicht täusche."
Die Drago kam schnell näher, und bald konnte man den Gaffelschoner mit seinen
beiden charakteristischen Masten auch ohne Glas erkennen.
„Sie ist's", stellte Sir Henry fest. „Macht überhaupt keine Fahrt. Hat kein einziges
Segel gesetzt."
Sie kamen noch näher. Dr. Morton sagte:
„Was mich irritiert, ist, daß man keinen Menschen an Bord sieht. — Oder sehen Sie
jemanden, Henry?"
Sir Henry suchte den Gaffelschoner vom Bug bis zum Heck mit den Augen ab.
„Nein", bestätigte er. „Absolut niemand zu sehen."
Sie liefen in einer Entfernung von maximal 200 Yards an der Santa Luisa vorbei.
Nichts regte sich dort.
Das Schiff schaukelte sanft auf den Wellen. Sir Henry bildete sich ein, hin und wieder
das charakteristische Knarren zu hören, wie es an Holz scheuerndes Tauwerk
verursacht.
„Seltsam", murmelte Dr. Morton. „Ob das Absicht ist?"
„Daß sich niemand sehen läßt? —Vielleicht hält die ganze Crew Siesta."
„Nein, das meine ich nicht. Fällt Ihnen nicht auf, daß nirgendwo ein
Nationalitätenzeichen zu sehen ist? Und auch sonst nichts, was auf die Herkunft
bzw. die Registrierung der Santa Luisa schließen läßt."
„Tatsächlich", sagte Sir Henry verblüfft. „Nun, die Burschen werden ziemlichen Ärger
bekommen, sobald sie den ersten Hafen anlaufen."
„Wenn sie das tun, wird die Santa Luisa vorschriftsmäßig gekennzeichnet sein",
sagte Dr. Morton. „Ich frage mich nur, was die Camouflage soll. Es ist doch albern
und inkonsequent, Nationalität und Kennzeichen zu verbergen und den Namen
stehen zu lassen. Außerdem ..."
„... fällt ein Gaffelschoner auch ohne jede Kennzeichnung auf", setzte Sir Henry fort.
„Sogar Landratten wie mir."
Dr. Morton nickte. Dann zuckte er die Achseln.
„Wie auch immer", sagte er. „Wahrscheinlich die Marotte eines Sonderlings. Kann
uns herzlich egal sein."
Sir Henry schwieg nachdenklich. Sie waren schon zwei bis drei Meilen weiter, als er
sagte:
„Oder auch nicht."
„Wie bitte?" Dr. Morton schreckte aus seinen Gedanken hoch. Mit der Santa Luisa
hatten sie sich nicht beschäftigt.
„Vielleicht ist es nicht die Schrulle eines Sonderlings", sagte Sir Henry und sah ihn
herausfordernd an. „Ich habe ein komisches Gefühl. Irgendwas stimmt da nicht. Sie
sind natürlich kein Mann, der viel auf Gefühle gibt, aber . . ."
„Warum nicht?" fragte Dr. Morton. „Ich nenne es allerdings nicht Gefühl, sondern
Instinkt. Und darauf ist oft mehr Verlaß als auf den menschlichen
Verstand."
Er drosselte die beiden starken Motoren der Drago. Der Bug senkte sich ins Wasser.
„Was haben Sie vor, Glenn?"
„Ist doch klar", sagte der grinsend. „Prüfen, was es mit Ihrem Gefühl auf sich hat."
„Sie wollen . . .?" In Sir Henrys Augen blitzte die Abenteuerlust auf. „Einverstanden?"
„Ich bin Feuer und Flamme!"
Dr. Morton wurde ernst:
„Es kann gefährlich werden, Henry." „Wer sagt das?"
„Mein Instinkt."
Sie fixierten sich einige Sekunden. „Sie sind der Käpt'n, Glenn. Sie geben die
Befehle."
Dr. Morton lächelte. Er hatte Sir Henrys Bereitschaft, sich ihm bedingungslos
unterzuordnen, schon früher bemerkt. Andere hätten sich vielleicht darüber
gewundert, vor allem, wenn sie Sir Henry zu kennen glaubten.
Dr. Morton wunderte sich nicht.
Auch Grimsby — als Beispiel — war ein Mensch, der von keinem anderen
Weisungen entgegennahm. Und auch Grimsby ordnete sich Dr. Morton
bedingungslos unter, wenn die Situation es erforderte.
„Was tun wir, Glenn?"
„Das wird sich zeigen. Vorläufig nur in der Nähe der Santa Luisa bleiben und
abwarten."
„Okay. Wir versäumen ja nichts."
„So ist es. Wir werden sie abwechselnd beobachten. Ich gehe nach unten und hole
ein anderes Glas. Es ist dreimal so
stark wie das hier. Damit können wir aus einer halbe Meile Entfernung die Fliegen
zählen, die über das Deck der Santa Luisa kriechen."
Er kam mit dem geschilderten Fernglas zurück und befestigte es an der
Backbordhalterung der Drago.
„Ein Patent von Grimsby", erklärte er beiläufig.
„Ich hatte das Gefühl, er wäre gern mitgekommen", sagte Sir Henry.
„Bestimmt", lächelte Dr. Morton. „Aber er hat an Land zu tun. Außerdem ist die Drago
für drei Personen zu
unbequem. Wir hätten umschichtig schlafen müssen."
„Nun, wenn wir die Santa Luisa verfolgen, wird ohnehin immer nur einer
zum Schlafen kommen — wenn überhaupt.
Sir Henrys Stimme verriet, wie sehr er sich auf das bevorstehende Abenteuer
konzentrierte.
Sie steuerten die Drago in weitem Bogen um die Santa Luisa herum. Sir Henry hielt
das Steuerrad und beobachtete die Instrumente. Dr. Morton gab ihm hin und wieder
knappe Anweisungen. Er beobachtete den Gaffelschoner durch das starke Glas, das
sich dank der Halterung exakt nachführen ließ.
„Sehen Sie was Glenn?"
„Ich kann auch an dieser Seite kein
Nationalitätenzeichen oder sonst etwas entdecken", murmelte Dr. Morton.
Sie waren jetzt zwischen der Lanta Luisa und der Westküste der Isle of
Wight.
„Schmuggel?" fragte Sir Henry, der lange darüber nachgedacht hatte. „Glaube ich
nicht", sagte Glenn Morton. „Schmuggel mit einem so lahmen Kasten?"
„Er braucht nicht so lahm zu sein, wie er wirkt. Auch in einen Gaffelschoner läßt sich
ein starker Motor einbauen", widersprach Sir Henry.
Dr. Morton mußte ihm recht geben.
„Und was die Auffälligkeit betrifft", fuhr der Earl fort, „so kann sie unter Umständen
die beste Tarnung sein. Wer vermutet schon, daß Schmuggler sich ausgerechnet
einen Gaffelschoner als Transportmittel aussuchen?"
„Stimmt ebenfalls", sagte Glenn Morton. „Mal angenommen, Sie hätten recht, Henry:
Dann würde die Santa Luisa also hier liegen, um Schmuggelware zu übernehmen
oder zu löschen."
„So ist es."
„Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, solange es hell ist, was meinen Sie?"
„Bestimmt nicht vor heute Nacht."
„Da!"
„Was sehen Sie, Glenn?"
„Ein Mann ist an Deck gekommen. Wenn ich mich nicht irre . . . Ja, er schaut zu uns
herüber. Aber ohne Glas. Halten Sie auf die Küste zu, Henry. Wir wollen nicht
unnötig Verdacht erregen."
Die Drago lief auf die Küste der Isle of Wight zu.
„Noch weiter?" fragte Sir Henry. „Drehen Sie nach Südosten ab. Wir laufen ein Stück
in den Kanal hinaus."
„Vielleicht sollten wir so tun, als ob wir fischten, Glenn, was denken Sie?"
Dr. Morton nickte. Er dachte nach und kam zu dem Schluß:
„Fischen wäre gut. Aber wir können etwas anderes tun, was noch besser ist, Henry.
Die Drago bietet die technischen
Möglichkeiten."
Er erklärte dem Earl of Saffron eine Besonderheit des Radargeräts, die es erlaubte,
ein einmal geortetes Objekt festzuhalten und zu beobachten.
„Wunderbar. Dann können wir getrost außer Sichtweite gehen."
„Ja. Ich denke, wir fahren nach Niton hinunter. Dort können wir die Tanks noch
einmal bis zum Rand füllen lassen. Für alle Fälle."
Sir Henry blieb am Steuer, während Dr. Morton sich um das Radargerät kümmerte.
Nach zwei Minuten nickte er zufrieden.
"Sehen Sie den Punkt hier unten links auf dem Schirm, Henry? Das ist die Santa
Luisa. Solange nur die Drago sich bewegt, geschieht nichts. Nimmt aber die Santa
Luisa Fahrt auf, ändert also ihren Standort, dann gibt das Gerät optische und
akustische Signale."
„Phantastisch", sagte Sir Henry beeindruckt, „Wissen Sie, Glenn, mein Verhältnis zur
Technik ist ein wenig gestört. Um so mehr beeindruckten mich solche
Wunderwerke." Er seufzte. „Ich werde sie nie begreifen."
Dr. Morton lachte.
„Ich auch nicht, Henry. Nicht vollständig. Ohne Gimsby könnte ich nur einen Bruchteil
der Möglichkeiten nutzen, die die Technik heutzutage bietet."
Sie machten nur mäßige Fahrt und liefen nach mehr als einer Stunde in den kleinen
Hafen von Niton ein. Auch hier erregte die Drago Aufmerksamkeit — wie überall, wo
sie sich zeigte.
„Das ist der Nachteil eines solchen Schiffs", murmelte Dr. Morton. „Aber eine vielen
Vorzüge wiegen das spielend auf."
Sie ließen die Drago betanken. Die Santa Luisa rührte sich nicht. Auch tauchte kein
anderes Fahrzeug in ihrer Nähe auf.
„Mein Magen knurrt", verkündete Sir Henry. „Dort drüben ist ein Pub, Glenn. Was
halten Sie davon? — Wir könnten nacheinander hinübergehen und etwas zu uns
nehmen."
„Wir können ebensogut gemeinsam hingehen", gab Dr. Morton zurück. „Ich glaube
nicht, daß sich in der nächsten Stunde etwas tut."
„Außerdem kann einer von uns hin und wieder einen Blick auf das Schiff und das
Radargerät werfen."
Sie aßen eine ganz annehmbare Fleischpastete und tranken ein kühles,
schäumendes Lagerbier dazu.
„Fast wie auf dem Kontinent", sagte Sir Henry. „Man mag über die Deutschen sagen,
was man will — jedenfalls verstehen sie es, Bier zu brauen. Wenn man es eine Weile
getrunken hat, kommt einem unser englischer Gerstensaft schal und abgestanden
vor. Nur das Lager ist einigermaßen trinkbar."
Dr. Morton nickte. Er war nicht sonderlich interessiert an einer Diskussion über die
verschiedenen Bierqualitäten.
„Henry, nehmen wir Mal an, die Santa Luisa wird tatsächlich zum Schmuggeln
benutzt . . ."
„Ja?"
„Welchen Grund hätten wir dann, uns um sie zu kümmern?"
„Gute Frage, Glenn. In der Tat. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.
Eigentlich habe ich gegen Schmuggel nichts Grundsätzliches einzuwenden." Er
lachte. „Es ist eine Art, sich gegen den Staat und die herrschenden Verhältnisse zu
wehren. Unter meinen Vorfahren gab es eine Menge Schmuggler. Sogar der zweite
Earl of Saffron hat sein Einkommen noch aufgebessert, indem er den französischen .
. . Na, das ist lange her. Dr. Morton sagte nachdenklich:
„Es gibt allerdings Schmuggelware, die mir unsympathisch ist."
„Versteht sich."
„Menschen", sagte Dr. Morton. „Oder Rauschgift."
Menschen oder Rauschgift", wiederholte Sir Henry nickend. Dann stutzte er und sah
Glenn Morton mit jäh erwachtem Interesse an. „Komisch, daß mir das gerade jetzt
einfällt, Glenn."
„Was?" fragte Dr. Morton ruhig.
„Vor einiger Zeit hat's ziemlichen Wirbel in London gegeben. Ist noch gar nicht lange
her. Mehrere Leute verschwanden spurlos, andere wurden tot aufgefunden. Und die
Presse munkelte von einem riesigen Rauschgiftgeschäft."
„Ja", sagte Dr. Morton. „Ich habe davon gelesen."
„Und neuerdings leben die Gerüchte wieder auf, dieser Londoner Makler -wie heißt
er doch gleich? — hätte seine Finger immer noch im Menschenhandel gehabt. Vor
Jahren hat man schon mal versucht, ihm das Handwerk zu legen. Jetzt ist er wohl
gestorben. Und wenig später ist sein Londoner Haus in die Luft gegangen. Sie
müssen davon gehört
haben, Glenn."
„William Harroghby", sagte Dr. Morton gleichmütig, aber mit einem leichten Lächeln.
„Er ist in meiner Klinik gestorben. Ich hatte ihn operiert."
„In Ihrer Klinik", stotterte Sir Henry. „Donnerwetter, dann haben Sie den Burschen
also gekannt!"
„Sie auch, Henry."
„Ich auch? Nein, ich erinnere mich nicht."
„Ich habe Harroghby in Beaury Abbey wieder getroffen, Henry. An dem
Wochenende, das ich kürzlich bei Ihnen verbrachte."
Sir Henry war völlig verwirrt.
„Das kann doch nicht wahr sein, Glenn! Entschuldigen Sie, ich zweifle natürlich nicht
an Ihrem Wort . . ."
„Vermutlich hat Ihre Mutter ihn eingeladen."
„Mama — ja, das ist möglich."
Sir Henry schüttelte den Kopf.
„An jenem Wochenende waren mindestens drei Dutzend Gäste in Beaury Abbey."
„Ja", sagte Dr. Morton lachend. „Und Sie haben das Gros sträflich vernachlässigt,
weil Sie mir fast Ihre ganze Zeit gewidmet haben."
Sir Henry wurde verlegen wie eine Jungfrau, deren erste Verliebtheit aufgekommen
ist.
„Gehen wir wieder an Bord", schlug Dr. Morton vor. Und verbleiben wir so: Sollten die
Burschen von der Santa Luisa sich mit Whiskyschmuggel oder etwas ähnlich
Harmlosen beschäftigen, dann machen wir uns davon und belästigen sie nicht.
Einverstanden?"
„Einverstanden", sagte Sir Henry und nickte. Seine Gedanken waren immer noch
beim Wochenende in Beaury Abbey. Dr. Morton hatte recht. Damals — und bis heute
— hatte er für kaum etwas Interesse entwickeln können, was nicht unmittelbar oder
mittelbar mit seinem neuen Freund zu tun hatte.
Sogar seine Amouren hatte der Earl of Saffron vernachlässigt.
● Grimsby hatte all seine Pflichten erledigt. Er saß im Funkraum unterhalb der Privatklinik und wartete ab, ob Dr. Morton sich meldete. „Vermutlich nicht", murmelte er und nahm eine der Schußwaffen zur Hand, die vor ihm auf dem Fliztuch lagen. „Was soll schon passieren bei so einer Spazierfahrt." Er wunderte sich darüber, daß Dr. Morton seine Zeit mit diesem Earl of Saffron verschwendete. Obwohl das ein ganz vernünftiger Mann zu sein schien. „Der Chef hat doch nicht etwa vor ..." Grimsby schüttelte den Kopf. Er hielt es für zu gefährlich, weitere Personen einzuweihen und glaubte deshalb nicht, daß Dr. Morton es tun würde. Wenn er allerdings daran dachte, wieviel Vertrauen Dr. Morton beispielsweise Cynthia Barrington, der schönen Krankenschwester, schenkte. . . Er hatte sich vorgenommen, die Wartezeit hier im Funkraum zu benutzen, um einige der Pistolen zu reinigen und durchzusehen. Während er seinen Gedanken über Dr. Morton, Sir Henry und Cynthia Barrington nachhing, nahm er das Magazin aus der Waffe, die er in der Hand hielt. Er vergewisserte sich, daß keine Patrone im Lauf steckte. Dann zog er den Schlitten zurück und stellte ihn mit dem Sicherungshebel fest. Er drehte den Lauf bis zum Anschlag und nahm ihn ab, samt dem Schlitten. Er zerlegte die Waffe in ihre Einzelteile. Dann starrte er die Führungsstange mit der Schließfeder an, als könne die ihm Auskunft auf seine Fragen geben. Er runzelte die Stirn. Begann, die Einzelteile der Pistole zu reinigen, ölte, was zu ölen war und setzte die Waffe schließlich wieder zusammen. Es gab ein kleines Problem. Er hatte schon längst mit Dr. Morton darüber reden wollen, war aber nicht dazu gekommen. Hatte den Problemen wohl auch nicht genug Bedeutung zugemessen. Genau gesagt, handelte es sich um eine der Krankenschwestern der Privatklinik. Eine Rotblonde. Er hatte sich mal mit ihr unterhalten, als sie Nachtdienst hatte, und seither bildete sie sich offenbar ein, er sei an ihr interessiert. Nicht an der Krankenschwester, sondern an der Frau. Nun hätte das Grimsby normalerweise nicht sonderlich berührt, und es hätte ihn ebensowenig gestört.
Das Dumme war nur, daß Schwester Shuster neugierig war und ihm nachspionierte. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm über den Weg zu laufen, wenn sie beide in der Klinik waren. Und in der vergangenen Nacht — sie hatte zufällig wieder Nachtdienst — hatte sie sich in der Nähe seines Zimmers herumgetrieben. In einem Trakt der Klinik, in dem sie eigentlich gar nichts zu suchen hatte, denn sie wohnte nicht hier wie die meisten anderen Schwestern. Nicht mehr, um genau zu sein. Sie hatte sich eine kleine Wohnung in einer Vorortsiedlung von Brighton genommen. Grimsby wußte genau Bescheid hierüber. Selbstverständlich hatte er sich ein wenig um Schwester Shusters Privatleben gekümmert, seit sie ein so auffälliges Interesse an ihm zu zeigen begann. • „Ganz schlecht", murmelte Grimsby, während er nach der nächsten Waffe griff. „Schlecht für dich, mein hübsches Kind. Ich kann's nicht leiden, wenn man mir nachstellt." Und er konnte sich's auch nicht leisten, so etwas zu tolerieren. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß Schwester Shuster sich eines Tages darüber zu wundern begann, wohin Grimsby hier in der Klinik verschwand. Sie konnte ihn — wie alle anderen — in seinem Zimmer wähnen und nach ihm sehen wollen. Und dann war er nicht da. Sie würde sich Gedanken machen und noch besser aufpassen. Und schließlich würde sie irgendwie in die Nähe des geheimen Zugangs zur ‚Unterwelt' geraten. Sie würde sich noch mehr wundern und noch neugieriger werden ... Die Frauen! Sie waren hirnlos, allesamt. Grimsby verstand nicht, wie irgendwann irgend jemand damit hatte beginnen können, sie für Menschen zu halten. Grimsby grinste über seine eigenen Vorurteile. Er übertrieb gern — aber grundsätzlich fand er's sehr vernünftig, allen weiblichen Wesen mit großem Mißtrauen zu begegnen. Auch Schwester Barrington. Und Schwester Shuster ganz besonders. Was hatte sie in der vergangenen Nacht in der Nähe seines Zimmers gesucht? Hatte sie auf ein Schäferstündchen gehofft, oder. . . Grimsby warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Zeit war vorbei. Dr. Morton würde sich nicht melden. Grimsby stand auf, legte die Waffe auf das Filztuch zurück und verließ den Funkraum. „Werd mal nach ihr sehen", murmelte er. „Sie hat jetzt keinen Dienst. Wenn sie trotzdem da ist ..." ● Auch als es dunkelte, lag die Santa Luisa noch an der gleichen Stelle. Das zeigte
das Radargerät der Drago.
„Da tut sich nichts", sagte Sir Henry.
„Enttäuscht?" fragte Dr. Morton.
„Ein bißchen schon, um ehrlich zu sein. Sie halten mich jetzt für einen
hoffnungslosen Romantiker, nicht wahr, Glenn? Die Lust am Abenteuer ..."
„Mein Jagdfieber ist so wach wie Ihres", sagte Morton lächelnd. „Ich kann mich nur
ein bißchen besser verstellen."
„Tatsache, Glenn?"
Der andere nickte.
„Das beruhigt mich", sagte Sir Henry und atmete auf. „Laufen wir jetzt aus?"
„Ja, wir nehmen Kurs auf die Santa Luisa. Der Wind steht günstig. Wenn wir uns hier von der Seeseite nähern und mit gedrosselten Motoren fahren, wird man uns erst ziemlich spät entdecken können." Die ersten Meilen brauste die Drago mit hoher Geschwindigkeit über das Wasser. Sie hob den Bug in die Luft und schien beide Elemente — Luft und Wasser — wie ein Messer zu durchschneiden.
„Jetzt", sagte Dr. Morton.
Sir Henry nahm beide Gashebel zurück. Der Bug sank ins Wasser. Die Drago
schüttelte sich unwillig, aber dann pflügte sie willig durchs Wasser.
Dr. Morton benutzte das Nachtsichtgerät. Er bekam die Santa Luisa bald ins Visier
und raunte:
„Motoren stoppen, Henry."
Sir Henry, siebenter Earl of Saffron, kam dem Befehl prompt nach. Er sah seinen
Freund gespannt an. Kam sich vor wie ein Jagdhund auf einer frischen Fährte.
„Was sehen Sie, Glenn?" fragte er schließlich, als er seine Neugier nicht mehr zu
bezähmen vermochte.
„Schauen Sie selbst, Henry."
Er räumte seinen Platz am Nachtsichtgerät. Henry brauchte eine Weile, bis er das
Gerät für seine Augen eingestellt und die Santa Luisa sicher im Visier hatte.
„Frauen?" fragte er.
„Ja."
„Was machen sie mit ihnen?"
„Sie ziehen sie aus", sagte Dr. Morton ruhig. „Wie es scheint, sind die Frauen nicht
freiwillig an Bord. Zumindest spielen sie dieses Gesellschaftsspiel nicht freiwillig mit.
Eine von ihnen hat sich vorhin, als ich durchs Gerät schaute, so heftig gewehrt, daß
man sie zusammenschlug."
„Ist doch nicht möglich!"
Glenn Morton verschwand unter Deck. Als er zurückkehrte, trug er einen Kasten in
der Hand, ähnlich dem den Nachtsichtgeräts.
„Noch so ein technisches Wunderding?" erkundigte Sir Henry sich, sah aber gleich
wieder durchs Rohr.
„Eigentlich ein alter Hut. Aber sehr wirksam. Ein hochempfindliches Richtmikrofon.
Ich stelle es auf die Santa Luisa ein. Mal hören, was dort so gesprochen wird."
Er montierte das Richtmikrofon auf die vorgesehene Halterung, schloß es an und
versuchte, es einzustellen.
„Nun?" fragte Sir Henry ungeduldig.
„Wir sind zu weit weg. Setzen Sie sich bitte wieder ans Steuer und lassen Sie die
Drago ganz langsam auf die Santa Luisa zulaufen."
„Aye, ayee."
Dr. Morton drehte unaufhörlich an den diversen Einstellknöpfen. Es rauschte immer
noch ziemlich stark, aber allmählich drang auch der eine oder andere Satzfetzen
über Verstärker und Lautsprecher an seine und Sir Henrys Ohren.
„Noch näher, Glenn? Wenn sie das Meer beobachten, könnten sie uns entdecken."
„Vielleicht. Aber es ist unwahrscheinlich. Ein schwarzes Boot in dunkler Nacht . . ."
Sie liefen noch ungefähr eine halbe Meile auf das alte Segelschiff zu.
„Stop!" sagte Dr. Morton. „Stellen Sie die Motoren jetzt ab, Henry. Ich denke, von hier
aus kann ich sie genau anpeilen."
Er brauchte nicht mehr als eine Minute dazu. Stimmengewirr drang jetzt deutlich aus
dem kleinen Lautsprecher, der zwischen den beiden Sitzen des Cockpits auf dem
Kartentisch stand.
Stimmen und Schreie!
„Das sind die Frauen", sagte Sir Henry und verzog das Gesicht. „Sie gehen offenbar
nicht sehr zart mit den Frauen
um."
„Schauen Sie mal durchs Rohr, Henry."
Sir Henry nickte und erhob sich aus seinem Schalensitz. Er richtete das
Nachtsichtgerät auf die Santa Luisa und stellte es auf die neue Entfernung ein.
„Was sehen Sie?"
„Man könnte glauben, die drehen einen Film", murmelte Sir Henry.
„Einen Film? Wie kommen Sie darauf?"
„Wollen Sie selbst sehen?"
„Ich bin mit dem verdammten Mikro beschäftigt. Erzählen Sie, Henry."
„Wenn ich mich nicht täusche, sind die Burschen kostümiert. Sie tragen Uniformen,
wie sie ungefähr Mitte des vergangenen Jahrhunderts üblich waren. Ja, einer hat
tatsächlich eine Art Marineuniform. Da, noch einer. Und die anderen . . . Sie haben
sich verkleidet
wie Piraten!"
Dr. Morton hatte immer noch Schwierigkeiten, das Mikrofon so einzustellen, daß man
nicht nur Stimmen hörte, sondern auch etwas verstand.
„Was ist mit den Frauen?"
„Ich sehe im Augenblick nur zwei. Sie sind nackt bis zur Taille. Eine hat man an den
Mast gebunden. Himmel, sie wird ausgepeitscht!"
In diesem Moment drang klar und deutlich der Schrei einer Frau aus dem
Lautsprecher. Dr. Morton hörte auf, an den Knöpfen zu drehen. Der Schrei erstarb in
einem Wimmern.
„Sehen Sie, Glenn", flüsterte Sir Henry. Er wußte, daß er nicht zu flüstern brauchte,
aber er tat's trotzdem. „Jetzt stimmen Bild und Ton überein. Sie können die Frau
deutlich erkennen, die da schreit!"
Sie wechselten die Plätze. Dr. Morton starrte durch das Nachtsichtgerät.
Die Burschen auf der Santa Luisa hatten eine junge Frau an den Mast gebunden. Er
sah ihren entblößten Rücken und eine ihrer Brüste. Man hatte ihr die Hände
zusammengebunden und sie hoch über ihrem Kopf am Mast festgezurrt. Ihr langes
blondes Haar fiel bis auf den Rücken. Sie trug einen fußlangen Rock. Nein, es war
ein Kleid, stellte Dr. Morton jetzt fest. Ein Kleid, dessen Oberteil man abgestreift
hatte, und das jetzt um ihre Hüften lag.
Die Peitsche sauste durch die Luft. Er hörte den Schrei der jungen Frau aus dem
Lautsprecher dringen und sah die blutige Strieme, die die Peitsche auf dem nackten
Rücken hinterließ. Das Nachtsichtgerät war so deutlich eingestellt, daß er sogar das
Blut erkennen konnte, das über den schmalen Rücken der Frau rann.
Wieder sauste die Peitsche durch die Luft und auf den nackten Rücken, wieder
wurde das Wimmern zu einem Schrei, der dann erneut zu einem Wimmern erstarb.
Dr. Morton zählte fünf Striemen, und die Peitsche sauste schon wieder durch die
Luft.
Männerlachen drang aus dem Lautsprecher und mischte sich mit den Schreien der
Frau.
„Das ist kein Film", sagte Dr. Morton ruhig. „Das sind Wahnsinnige, Henry."
Er drehte das Nachtsichtgerät. Entdeckte zwei andere Frauen, die gefesselt auf den
Planken lagen. Und eine vierte, die sich vergeblich gegen einen der Männer wehrte.
Er warf sie zu Boden, riß ihr die Kleider vom Leib und öffnete seine Hose.
„Hier können Sie Zeuge einer Vergewaltigung werden", sagte Dr. Morton mit kalter
Stimme und räumte seinen Platz für Sir Henry.
„Nicht zu glauben", murmelte der, als er hinter dem Nachtsichtgerät stand. „Was
machen wir jetzt, Glenn?"
Dr. Morton schwieg.
„Wir müssen etwas unternehmen, Glenn!" drängte Sir Henry. „Wir können doch nicht
zulassen ..."
„Jeder ist auf seine Weise grausam", murmelte Dr. Morton. „Aber wenn Sie der
Ansicht sind, daß wir eingreifen sollten . ."
„Sie nicht?" fragte Henry und starrte ihn verwundert an.
Glenn Morton lächelte.
„Also schön. Lassen wir uns etwas einfallen, Henry."
„Am einfachsten wäre es, über Funk zu
die Küstenwache verständigen, Glenn."
Dr. Morton schüttelte den Kopf.
„Was glauben Sie, weshalb die Santa Luisa außerhalb der Dreimeilenzone liegt?"
„Aber ..."
„Natürlich sehen die Gesetze nicht vor, daß man außerhalb der Dreimeilenzone
ungestraft Verbrechen begehen kann, Henry. Aber es ist eine verdammt
umständliche Prozedur, die Behörden in diesem Fall zum Handeln zu bringen."
„Dann sind wir also auf uns allein gestellt."
„Was Ihnen nicht unangenehm zu sein scheint", sagte Dr. Morton lächelnd.
„Nein. Wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich in diesem Fall gern selbst
Hand anlegen möchte."
„In Ordnung", sagte Glenn Morton. „Aber wir dürfen unsere Gegner nicht
unterschätzen. Erstens sind sie in der überzahl, zweitens offenbar geistesgestört und
deshalb drittens besonders gefährlich. — Wir haben nur das schnellere Schiff, was
uns im Notfall eine reelle Chance gibt, zu entkommen."
„Ich hoffe, das wird nicht nötig sein", sagte der Earl.
„Das hoffe ich auch. — Henry, ich habe unten zwei Maschinenpistolen. Können Sie
mit diesen Dingern umgehen?"
„Ja."
„Für alle Fälle. Wir sollten sie bereithalten. Ich hoffe aber, es geht ohne so
spektakuläre Mittel."
Sir Henry starrte wieder durch das Nachtsichtgerät. Dr. Morton drehte an den
Knöpfen des Richtmikrofons und stellte es neu ein. Lautes Männerlachen drang aus
dem Lautsprecher. Von den Frauen hörte man im Augenblick nichts.
„Was machen sie?" erkundigte Dr.
Morton sich.
„Sie saufen und huren", sagte der Earl. „Wirkt alles sehr stilecht."
„Die Frau am Mast?"
„Ist immer noch gefesselt. Offenbar
ohnmächtig. Pfui Teufel, ihr Rücken ist eine einzige blutende Wunde!
Wir wollen uns beeilen, Glenn." „Ohne etwas zu überstürzen", erwiderte der andere
ruhig. „Henry, haben
Sie schon einmal in einem Taucheranzug gesteckt?"
„Nein. Warum fragen Sie, Glenn?" „Dann ist das mein Part. Ich hoffe, Sie sind nicht
enttäuscht." Er grinste.
„Sie wollen zur Santa Luisa schwimmen und . . ."
„Ja. Wir können mit der Drago nicht näher ran, ohne daß sie uns entdecken. Ich
werde also in den Gummianzug schlüpfen, mir die Sauerstoffflasche auf den Rücken
binden und hinüberschwimmen."
„Während ich hierbleiben und zuschauen muß", sagte Sir Henry, nicht ohne einen Anflug von Enttäuschung zu artikulieren. „Hierbleiben und zuschauen — ja, das auch. Im Notfall — so hoffe ich — kommen Sie mir aber zu Hilfe." „Selbstverständlich", sagte Sir Henry eifrig und schon wieder ausgesöhnt. „Sagen Sie mir nur, wie ich mich zu verhalten habe, und Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen, Glenn!" ● „Schon wieder Nachtdienst, Schwester?" erkundigte Grimsby sich freundlich.
„Nein", sagte Miss Shuster. „Ich habe . . . Ich wollte nur . . ."
„Ja?"
„Ich wollte nach Hause gehen."
»Aha." Grimsby ließ sich nichts anmerken. Sie hatte wieder in der Nähe seines
Zimmers herumspioniert. Gleich, wenn sie verschwunden war, würde er feststellen,
ob sie drin gewesen war.
Er traute ihr das durchaus zu.
„Ja, dann gehe ich jetzt", sagte Miss Shuster mit leicht unsicherer Stimme.
„Wünsche einen angenehmen Abend", erwiderte Grimsby höflich.
Sie lächelte ihn kokett an:
„Und Sie, Mr. Grimsby? Werden Sie auch einen angenehmen Abend haben?"
„Das hoffe ich doch", murmelte Grimsby.
„Mit Ihrer Freundin?"
„Mit einer Flasche Gin", sagte er.
„Oh, Sie sollten nicht so viel trinken, Mr. Grimsby!"
„Ist das nicht meine Sache?" fragte er grob.
Das Lächeln erstarb. „Selbstverständlich", sagte Miss Shuster.
Dann verabschiedete sie sich endgültig.
Grimsby wartete eine Viertelstunde, ehe er die Klinik ebenfalls verließ. Er setzte sich
in den unauffälligen Austin A 60, den Wagen, den er am liebsten fuhr, wenn er etwas
vorhatte.
Der Austin war unauffällig. Es gab Tausende von seiner Art. Niemand sah ihm an,
welch leistungsfähiger und zuverlässiger Dreilitermotor unter seiner Haube steckte.
Notfalls konnte man mit dem alten Austin den schnellsten Polizeiwagen entgehen.
„Schade", murmelte Grimsby, während er in östlicher Richtung fuhr. „Bald werde ich
mich von dir trennen müssen. mein Alter. Das ist nun mal so. Hin und wieder muß ich
mir einen anderen fahrbaren Untersatz suchen, sonst falle ich schließlich doch noch
auf."
Er parkte am Rand der Siedlung, in der Miss Shusters Wohnung lag. Über dem
Pfeffer-und-Salz-Anzug trug Grimsby einen abgetragenen Regenmantel, der zwar
von Burberrys stammte, dem berühmtesten Fachgeschäft der Welt am Londoner
Haymarkt, dem jedoch niemand mehr die einstige Eleganz ansah.
Langsam schlenderte Grimsby zwischen den einzeln stehenden Wohnblocks
hindurch. Es gab nur Fußwege, die von einem Haus zum anderen führten. Die
Straße lief in einem Bogen um die Siedlung herum.
„Scheußlich", murmelte Grimsby, während er die Fassaden musterte. „Den
Architekten sollte man hängen."
Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und die Mütze ins Gesicht
gezogen. Er war die personifizierte Unauffälligkeit. Auch Leute, die ihn kannten,
wären vermutlich an ihm vorbeigelaufen, ohne auf ihn aufmerksam zu werden.
„Dort drüben wohnt sie", murmelte er lautlos. „Im zweiten Stock. Leider. Warum hat sie sich, verdammt, keine Parterrewohnung genommen? Wie soll ich denn da hinaufkommen?" Grimsby setzte seinen Spaziergang fort. In Miss Shusters Wohnung brannte Licht. Es war noch zu früh für den Besuch, den er ihr abzustatten gedachte. ● Dr. Morton überprüfte das Sauerstoffgerät noch einmal, zog die Taucherbrille über die Augen, gab seinem Freund Henry ein letztes Zeichen und ließ sich rücklings über Bord fallen. Er gewöhnte sich ans Wasser, regulierte die Sauerstoffzufuhr und schwamm mit gleichmäßigen Bewegungen auf die Santa Luisa zu. Er hatte ein tüchtiges Stück zurückzulegen und mußte darauf achten, nicht zuviel Kraft zu verbrauchen. Schließlich ging's nicht nur darum, anzukommen ... Er kontrollierte unterwegs mehrmals die Richtung und versuchte, seine Geschwindigkeit zu schätzen. Er war recht zufrieden mit sich. Erstens schwamm er wirklich ungeheuer gleichmäßig, zweitens kam er so gut wie überhaupt nicht vom Kurs ab und vermied so kraftraubende Umwege. Als er die Santa Luisa erreichte, gönnte er sich zwei Minuten Ruhe. Er hielt sich an der Ankerkette fest und lauschte. Männerlachen. Männerstimmen. Stöhnen und Keuchen, das von Männern und Frauen kam. Die typischen Beischlafgeräusche. Eine Flasche wurde über Bord geworfen und klatschte einige Yards von Morton entfernt auf. Die Orgie schien noch in vollem Gang zu sein. Dr. Morton umrundete die Santa Luisa. Leider fand er nichts außer der Ankerkette, um an Bord zu klettern. Er entledigte sich des Tauchgeräts und der Schwimmflossen, bemüht, kein verdächtiges Geräusch zu verursachen. Die Brille schob er hoch. Dann hangelte er sich an der Ankerkette empor. Als er die Ankerklüse erreichte, hielt er sich fest. Jetzt kam das schwierigste Stück. Irgendwie mußte er Halt für seine Füße finden, sich aufrichten und mit den Händen das Deck der Santa Luisa erreichen. Er registrierte am Rande, daß der Gaffelschoner — ungeachtet seiner antiquierten Bauart — offenbar über recht moderne Ausrüstung verfügte. Die Klüse beispielsweise war so gebaut, daß der Patentanker — den die Santa Luisa offenbar hatte — bis auf die Flunken eingehievt werden konnte. Dr. Morton wartete, bis sein Atem völlig ruhig und gleichmäßig ging. Er preßte einen Fuß gegen die Kette und fand mit zwei Zehen Halt. Zentimeter um Zentimeter schob er sich nach oben. Jetzt hatte der andere Fuß Platz in der Klüse. Geschafft! dachte er und richtete sich allmählich auf. Natürlich konnte er immer noch abrutschen und ins Wasser plumpsen. Aber er war austrainiert und geschickt. Seine Hände fanden einen Halt. Er zog sich hoch und konnte im nächsten Augenblick einen Teil des Decks überblicken. Unglücklicherweise war er ziemlich dicht bei der sonderbaren Gesellschaft, die hier ihren abartigen Gelüsten frönte. Wenn er sich hastig bewegte oder gar Krach machte, mußte man ihn entdecken. Hoffentlich sind sie betrunken, dachte er. Ich hoffe, sie haben schon soviel Alkohol in sich hineingeschüttet, daß sie nicht mehr allzu aufmerksam sind. Es kostete ungeheure Kraft, sich ganz auf das Deck zu ziehen. Er schaffte es und kroch unter der Reling durch. Auf allen vieren robbte er in den Schatten des Ankergeschirrs.
Er brauchte wieder einige Minuten, bevor sein Atem normal ging und sein Puls sich
beruhigt hatte. Dann richtete er sich auf. Er tastete nach der kurzläufigen
automatischen Waffe, die er in der wasserdichten Tasche an seiner linken Hüfte
mitgenommen hatte. Es war eine Llama, kleinkalibrig, aber in Dr. Mortons Hand
mindestens soviel wert wie eine größere, präzisere Waffe in der Hand eines
durchschnittlichen Schützen.
„Nehmen Sie die Flossen hoch!" sagte eine eiskalte Stimme in seinem Rücken.
Sie duldete keinen Widerspruch. Es wäre unklug gewesen, jetzt irgendeinen Trick zu
versuchen. Gehorsam hob Dr. Morton beide Hände und drehte sich dann — dazu
aufgefordert — langsam um.
„Wer sind Sie?"
Dr. Morton gab keine Antwort.
„Was wollen Sie hier? Wie sind Sie hergekommen?"
Dr. Morton schwieg.
„Los, dort hinüber!" sagte der Mann, der ihn mit einem langläufigen Colt älterer
Bauart bedrohte. Er trug ein auf der Brust offenes Hemd aus grober Leinwand. Seine
zerschlissene Hose wurde von einem Strick gehalten. Darin steckte ein gekrümmtes,
scharfgeschliffenes Messer.
Dr. Morton setzte sich in Bewegung. Der andere folgte ihm und ließ die Waffe nicht
einen Moment sinken. Keine Chance, an die Llama zu kommen oder sonst etwas zu
tun. Er konnte nur gehorchen.
Ob Henry merkt, was los ist? fragte er sich. Und wenn — ob er die Ruhe be wahrt und sich nicht zu Dummheiten hinreißen läßt?
Das Grölen der Männer auf dem Hauptdeck verstummte schlagartig, als sie Dr.
Mortons ansichtig wurden. Selbst die, die auf den Frauen lagen, unterbrachen ihre
lustvolle Tätigkeit. Binnen Sekunden erstarb jedes Geräusch.
„Wer ist das?" fragte einer barsch.
An der Art, wie der andere, der ihn in Schach hielt, sich mit der Antwort beeilte,
merkte Dr. Morton, daß der Frager der Boß an Bord war.
„Ich habe ihn drüben am Ankersprill entdeckt. Er muß sich an der Kette hoch gehangelt haben."
„Interessant", sagte der mit der barschen Stimme, stand auf und kam mit bösem
Lächeln näher.
Dr. Morton nahm das Lächeln auf und versuchte, so blöde wie möglich
dreinzuschauen.
„Sie sind hergeschwommen?" „Geschwommen!" bestätigte er und nickte eifrig.
Das Gesicht des anderen verdüsterte sich.
„Von wo aus?"
„Von wo aus?" wiederholte Morton
fragend.
„Kerl, stellen Sie sich nicht dumm!"
zischte der Mann. „Wo liegt das Schiff oder das Boot, von dem aus Sie
hergeschwommen sind?"
„Das Schiff oder das Boot?" fragte Dr.Morton verständnislos.
Der Mann holte aus und versetzte ihm einen harten Schlag ins Gesicht. Morton
spürte, wie seine Oberlippe aufplatzte und Blut über sein Kinn lief und herab tropfte.
Er versuchte, sich unauffällig umzusehen. Insgesamt zählte er acht Männer und fünf
Frauen. Die Frauen starrten ihn angstvoll an. Vielleicht begriffen sie, daß er
ihretwegen gekommen war. Aber sie wußten auch, daß er ihnen nicht helfen konnte.
Und sich selbst? Konnte er sich helfen, konnte er sich aus dieser Klemme befreien?
„Du willst also nicht reden, he? Ziehst es vor, dich dumm zu stellen, was? Wir kriegen
dich weich, Freundchen. So klein kriegen wir dich!"
Der Mann zeigte mit zwei Fingern, wie klein er seinen Gefangenen kriegen würde.
Der Abstand zwischen den beiden Fingern betrug etwa ein Inch.
Dr. Morton begann angstvoll zu stottern. Er machte das sehr geschickt. Sein
Bewacher und auch die anderen fielen prompt darauf herein.
„Nicht!" stotterte er. „Nicht schlagen! Ich sag ja alles! Alles!! Ich . . . Bitte, ich . . .
Wenn Sie wollen ..."
Dabei wich er langsam zurück. Er sah sich ängstlich nach links und rechts um,
streckte die Hände abwehrend aus und bot ein Bild des Jammers. „Mach dir nicht in
die Hose!" sagte der Barsche spöttisch. „Du willst also reden?"
„Ja, ja, ich. Das Schiff — da drüben!"
Dr. Morton streckte die linke Hand aus und zeigte nach Backbord. Unwillkürlich
wandten sich alle Köpfe, und diesen Augenblick nutzte er, drehte sich auf dem
Fußballen, war mit zwei Sprüngen in der Nähe der Reling und hechtete darüber.
Ein Schuß knallte, und er hörte die Kugel dicht an seinem Körper vorbeipfeifen. Im nächsten Augenblick knallte er aufs Wasser und tauchte weg. Oben an Bord der Santa Luisa fluchte der Boß der Gesellschaft gottserbärmlich. Er und die anderen Männer rannten zur Reling. Mortons Entdecker schoß noch zwei-, dreimal, bis der Chef unwirsch knurrte: „Zum Teufel, laß das doch! So erwischst du ihn nie!" Dr. Morton hatte unter Wasser gewendet und war sofort auf die Ankerkette zugeschwommen. Wenn die Burschen clever waren, kamen sie bald darauf, wo er die Flasche und die Schwimmflossen gelassen hatte. Er kam im Schutz des Rumpfs der Santa Luisa hoch, schnappte sich die Flasche und tauchte erneut. Es war schwierig, klappte aber: Er befestigte die Sauerstoffflasche unter Wasser auf dem Rücken und nahm das Mundstück zwischen die Zähne. Jetzt noch einmal zurück, dachte er. Ich brauche die Flossen. In diesem Augenblick flammten die Scheinwerfer auf und tauchten das Meer an der Steuerbordseite der Santa Luisa in gleißendes Licht. Als Dr. Mortons Kopf über der Wasseroberfläche auftauchte, richtete sich ein Handscheinwerfer auf ihn, jemand brüllte: „Da ist er!" Und dann peitschten mehrere Schüsse dicht an ihm vorbei, so daß er es vorzog, so schnell wie möglich wegzutauchen. Das hätte schiefgehen können, dachte er und beschloß, auf die Schwimmflossen zu verzichten, auch wenn sein Rückweg zur Drago dadurch erheblich schwieriger und langwieriger wurde. Wieder dachte er: Hoffentlich behält Henry die Nerven! Er hat die Schüsse gehört, hat wahrscheinlich sogar gesehen, daß ich über Bord gesprungen bin. Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee, mir entgegenzufahren. Wo die Drago jetzt liegt, ist sie sicher vor Entdeckung. Eine Maschinengewehrsalve prasselte. Die Kugeln pfiffen übers Wasser und ließen es dort, wo sie auftrafen, schäumen. Dr. Morton tauchte tiefer. Er schwamm ungefähr in einer Tiefe von vier bis fünf Metern. Hier war er sicher. Auch vor den nächsten Salven. Auch die Drago war sicher, wenn sie blieb, wo sie war. Und er würde sie erreichen, selbst wenn er zwei oder drei Stunden brauchte. Er hatte nicht genügend Sauerstoff für diese Zeit, aber das machte nichts. Sobald sie aufhörten, das Meer mit den Scheinwerfern abzusuchen und mit ihrem albernen Maschinengewehr durch die Gegend zu knattern, konnte er auftauchen.
Henry, der siebente Earl of Saffron, hatte tatsächlich fast alles beobachtet. Er hatte gesehen, wie Dr. Morton mit erhobenen Armen zu der Gruppe der Männer und Frauen trat und wie er wenig später über Bord gesprungen war. Er hatte die Schüsse gehört und fragte sich immer wieder bang, ob sein Freund wohl getroffen war. Mit dem Nachtsichtgerät suchte er das Meer ab. Als die
Leseprobe aus ERBER'S GRUSELKRIMI-DOPPELBAND KARRIERE ÜBER LEICHEN von Harald Howart In wenigen Minuten würde es elf Uhr sein. Er durfte nicht länger warten. Sein Blick fiel auf die nackte Frau, die neben ihm im Bett lag. Jetzt, wo die Erregung von ihm gewichen war, sah er sie ohne die Täuschung der Lust. Puder und Schminke waren über ihr Gesicht gelaufen und machten es zur Fratze. Ein gedunsener bläulicher Rand lag unter ihren Augen. Ihr Haar war verwühlt. Und selbst ihre Haut erschien schlaff und verwelkt. Das hatte er geliebt? Es hatte Augenblicke gegeben, in denen er seinen ausgeklügelten Plan schon vergessen hatte, in denen er sich wie verloren vorkam im Ansturm ihrer Leidenschaft. Jetzt aber, wo die Ernüchterung gekommen war, empfand er nur Ekel und Entsetzen vor ihr. Nicht nur, daß sie ihren Mann immer wieder betrogen hatte — der Brief, mit dem sie ihn an sich kettete, ließ ihn zum Sklaven werden. Sie erniedrigte ihn jeden Augenblick ... Er hatte es von Anfang an tun wollen. Aber erst jetzt wußte er, daß sie das Schicksal, das er ihr bereitete, wirklich verdient hatte. Er vollendete nur, wozu Pause der Mut fehlte. Sein Mord war die Tat, nach der Pause sich gesehnt haben mußte. Mit einer raschen Bewegung preßte Stefan seine Hände von vorn um ihren Hals. Wie von einem jähen Schmerz ergriffen, bäumte sich Anneroses Körper auf. Versäumen Sie nicht diesen spannenden Doppelband, den Ihr Zeitschriftenoder Bahnhofsbuchhändler für Sie bereithält. Sollte dieser Band dort bereits vergriffen sein, so schreiben Sie bitte an: ANNE ERBER VERLAG 7595 SASBACHWALDEN, POSTFACH 5
Scheinwerfer aufflammten, mußte er auf das Nachtsichtgerät verzichten. Die Bilder,
die es lieferte, waren alle hoffnungslos überbelichtet. Er griff zu dem starken
Fernglas, das sie tagsüber benutzten, aber es gelang ihm nicht, Dr. Morton ins Visier
zu bekommen.
Eine Ewigkeit schien ihm zu vergehen, bis auf der Santa Luisa die Scheinwerfer
erloschen. Jetzt nahm er wieder das Nachtsichtglas und suchte die ganze Strecke
von der Santa Luisa bis kurz vor die Drago systematisch immer wieder ab.
Als er Glenn Morton schließlich entdeckte, atmete er erleichtert auf.
Ob er ihm wenigstens jetzt entgegenfahren sollte? Glenn kam nur langsam vorwärts.
Sir Henry, kombinierte ganz richtig, daß er ohne Flossen schwamm.
Er entschied sich schließlich dafür, die Motoren der Drago nicht zu starten.
● Miss Shuster hatte sich, kaum daß sie heimgekehrt war, ausgezogen, hatte geduscht, eine weitere halbe Stunde für ihre Körperpflege benutzt, einen seidenen Hausmantel übergezogen und sich auf die Couch in ihrem Wohnzimmer gelegt, um zu lesen. Sie hatte auch das Fernsehgerät eingeschaltet und alle erreichbaren Programme durchprobiert. Nichts hatte ihr Interesse gefesselt. Nur hin und wieder sah sie jetzt von ihrer Lektüre auf und gönnte dem Moderator der Unterhaltungssendung oder einem seiner Stars einen müden Blick. Sie konnte sich aber auch auf ihr Buch nicht konzentrieren, obwohl es von einem ihrer Lieblingsschriftsteller stammte, von Graham Greene nämlich. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu William Grimsby zurück. Ich hätte es nicht tun sollen, dachte sie. Ich hätte nicht in sein Zimmer gehen sollen. Wenn er wüßte, daß ich einen Schlüssel habe! Ha, und wenn er nur eine halbe Minute früher zurückgekommen wäre . . . Sie schüttelte sich bei der Vorstellung. Auf seltsame Art fühlte sie sich zu William Grimsby hingezogen, aber gleichzeitig hatte sie auch Angst vor ihm. Ein sonderbarer Mann. Fast so geheimnisvoll und erregend wie Dr. Glenn Morton — obwohl man die beiden natürlich überhaupt nicht miteinander vergleichen konnte. Dr. Morton war unerreichbar für eine kleine Krankenschwester wie sie. William Grimsby hingegen . . . Ich bin ja verrückt! dachte Miß Shuster ärgerlich. Er macht sich nichts aus mir, und ich sollte endlich aufhören, ihm nachzulaufen. Wenn er Interesse an mir hätte, wären wir längst weiter. Ich bilde mir Geschichten ein, seit er sich damals nachts mit mir unterhalten und mir Rum zum Tee angeboten hat. Albern Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten. So wie mit mir ist er auch mit allen anderen Schwestern. Ist eben seine Art. Aber keine kann behaupten, daß sie was mit ihm gehabt hat. Miss Shuster kam plötzlich eine Idee, die sie ganz durcheinanderbrachte: Vielleicht ist William Grimsby andersrum! Vielleicht macht er sich überhaupt nichts aus Frauen. Und wenn man bedenkt, wie er zu Dr. Morton steht . . . Dr. Morton und Grimsby .. ? Sie lachte, als sie erkannte, wie lächerlich diese Vorstellung war. Versuchte, sich endgültig auf Graham Greene und die sonderbaren Erlebnisse mit der Tante zu konzentrieren. Kam aber nicht weit. Als sie zwei Seiten gelesen hatte und sich an absolut nichts erinnern konnte, gab sie's auf, legte das Buch weg, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte in die Röhre. Ein Mädchen — ungefähr in ihrem Alter und so schlank wie seinerzeit Twiggy — sang von der Sehnsucht und den Küssen vor der langen Trennung. Eine der sattsam bekannten Schnulzen. Miss Shuster seufzte. Alles wiederholte sich. Nur bei ihr nicht. In ihrem Leben konnte sich gar nichts wiederholen, weil sich nichts ereignete. So langweilig hatte sie sich ihr Dasein bestimmt nicht vorgestellt. Sie war nach Brighton und in Dr. Mortons Privatklinik gegangen, weil sie hoffte, hier nette Bekannte und eine Menge Abwechslung zu finden.
Sie hatte auch bald Anschluß an eine Clique gefunden, aber neuerdings wurde sie kaum mehr eingeladen. Vermutlich, weil sie kein Interesse daran hatte, wahllos mit jedem männlichen Wesen ins Bett zu gehen, dem der Sinn danach stand. Nein, in ihrem Leben ereignete sich nichts. Und auch William Grimsby brachte nicht die so sehnlich erhofften Abenteuer. „Es ist sicher meine Schuld", sagte Miss Shuster zu dem Mann auf dem Fernsehschirm. „Ich habe immer wieder Angst vor der eigenen Courage. Heute zum Beispiel: Warum bin ich nicht einfach in Grimsbys Zimmer geblieben und habe auf ihn gewartet? Ich hätte mich ausziehen und auf sein Bett legen können, und wenn er hereingekommen wäre, hätte ich die Überraschte gespielt und gesagt, daß ich mich im Zimmer von Maggy glaubte. Maggies Zimmer ist ja direkt nebenan. Ich hätte ein bißchen verschämt getan, aber keine Anstalten getroffen, mich wieder anzuziehen. Und William . . ." Sie verstummte und sah überrascht zur Tür, die sich langsam öffnete. Sie öffnete den Mund und wußte nicht, ob sie schreien sollte. Ganz tief preßte sie sich in die Polster der Couch. Die Tür öffnete sich Zentimeter um Zentimeter, und dann trat ein Mann ins Zimmer und lächelte sie fast verlegen an. „Guten Abend, Miss Shuster", sagte er höflich. „Mr. Grimsby! Wie kommen Sie denn hierher? Und wie sind Sie hereingekommen? Hatte ich die Tür nicht geschlossen?" „0 doch", sagte Grimsby, schloß die Zimmertür und kam näher. „Doch, Miss Shuster, Ihre Korridortür war verschlossen. Ich habe mir erlaubt, sie zu öffnen." Er war schon an der Couch und setzte sich, als sei das selbstverständlich. Miss Shuster lachte unsicher. „Ich verstehe nicht . . . Was wollen Sie denn hier, Mr. Grimsby? Und warum haben Sie nicht geklingelt?” „Tja, das ist eine gute Frage", sagte Grimsby bedächtig. „Wissen Sie, ich hielt es einfach für besser, unbemerkt hereinzukommen." „Ich verstehe nicht . . ." „Ist das so schwierig?" fragte Grimsby lächelnd. „Ich wollte nicht, daß irgendjemand von diesem Besuch erfährt. Deshalb habe ich gewartet, bis das ganze Haus zur Ruhe gekommen war. Erst dann habe ich die Haustür geöffnet, bin heraufgekommen und in Ihre Wohnung eingedrungen." „Aber warum denn?" murmelte Miss Shuster tonlos. Sie hätte nie gedacht, daß sie sich vor William Grimsby so schrecklich fürchten könnte. ● „Sie haben absolut richtig gehandelt, Henry", versicherte Dr. Morton und hielt dem anderen sein leeres Glas hin. „Geben Sie mir noch einen Schluck. Ich kann ihn vertragen." „Das glaube ich", sagte Sir Henry nickend und goß seinem Freund einen weiteren Dreistöckigen ein. Er war glücklich, Glenn Morton wieder an Bord zu haben. Und ein Hochgefühl erfüllte ihn, weil Glenn sein Verhalten nicht nur billigte, sondern wiederholt beteuert hatte, es sei die einzig richtige Entscheidung gewesen.
„Wie geht's jetzt weiter, Glenn?"
„Das hängt von den Leuten auf der Santa Luisa ab, Henry. Wir müssen warten, was
sie tun."
„Sie geben also nicht auf?”
„Jetzt?" Dr. Morton lachte. „Ich nehme an, die Frage war nicht ernstgemeint, Henry."
„Nein, natürlich nicht", sagte der andere und stimmte in Mortons Lachen ein. Er
wurde wieder ernst und sagte: „Einfach angreifen können wir natürlich auch nicht.
Die Kerle haben ein Maschinengewehr und können damit umgehen. Wir hätten keine
Chance."
„Nein, mit grober Gewalt ist denen nicht beizukommen", bestätigte Dr. Morton.
„Was machen Sie da, Glenn?"
„Ich will nur die Sauerstoffflasche anschließen, um sie zu füllen."
„Lassen Sie mich das machen. Ruhen Sie sich aus, Glenn!"
„Oh, ich bin ganz in Ordnung. Danke, Henry. Geht schon."
„Sie haben also noch keinen Plan?" „Nein. Wir könnten natürlich Grimsby zu Hilfe
rufen."
„Wie sollte er uns helfen?"
„Mit dem Hubschrauber beispielsweise", sagte Dr. Morton knapp. Er sprach in einem
Ton, der Sir Henry davon abhielt, weitere Fragen zu diesem Thema zu stellen.
Es war sonderbar. Manchmal schien Dr. Morton, den er inzwischen als seinen besten
Freund betrachtete, obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten, sich in ein
Schneckenhaus zurückzuziehen. Dann konnte man nichts anderes tun als zu warten,
bis er wieder herauskam.
„Ich denke aber, wir kommen auch allein zurecht", sagte Glenn. „Schauen Sie doch
mal nach der Santa Luisa."
Er hatte das kaum gesagt, als ein Pfeifton erklang und eine der Lampen neben dem
Radarschirm aufleuchtete.
„Sie haben den Anker gehievt", murmelte Dr. Morton. „Sie versuchen, sich im Schutz
der Nacht davonzumachen. So habe ich mir das vorgestellt."
Sir Henry blickte durch das Nachtsichtgerät.
„Sie haben aber kein einziges Segel gesetzt, Glenn.
„Das habe ich auch nicht erwartet. Die Santa Luisa ist technisch perfekt ausgerüstet.
Dazu gehört auch ein starker Motor. Passen Sie auf, Henry, der Pott läuft gut und
gern seine 25 Knoten!" „Kein Problem für die Drago!" „Nein."
„Wir können der Santa Luisa leicht folgen." Dr. Morton nickte.
„Soll ich das Steuer nehmen, Glenn?"
„Ja, Henry. Ich bin Ihnen dankbar. Lassen Sie der Santa Luisa noch etwas mehr
Vorsprung und folgen Sie ihr dann. Kontrollieren Sie ihre Position auf dem
Radarschirm."
„Aye, aye, Sir!" sagte Henry fröhlich. „Wir fahren selbstverständlich ohne
Positionslichter."
„Ebenso wie die Santa Luisa", sagte Dr. Morton und nickte.
„Sie legen sich aufs Ohr, nicht wahr?"
„Ja. In ein paar Stunden löse ich Sie ab. Wecken Sie mich bitte, wenn ich nicht von
selbst wach werde, Henry." „Geht in Ordnung, Glenn."
Sir Henry, der siebente Earl of Saffren, fühlte sich in Pfadfinderzeiten zurückversetzt.
Er rieb sich die Hände, nachdem Dr. Morton unter Deck verschwunden war.
Zu einer Spazierfahrt waren sie aufgebrochen, zu einem harmlosen Törn und jetzt
steckten sie mitten im dicksten Abenteuer, das er je erlebt hatte.
Sir Henry fand, daß er allen Grund hatte, sich glänzend zu fühlen.
Dr. Morton hatte ihm den Auszug der Halterung gezeigt, auf der das Nachtglas befestigt war. Auch eine Konstruktion des tüchtigen Grimsby. Während Sir Henry den Auszug betätigte, das Nachtsichtgerät zu sich herzog, dachte er: Wirklich ein tüchtiger Bursche. Ein technisches Genie. Ich muß ihn näher kennenlernen. Glenn sieht bestimmt nicht den subalternen Mitarbeiter in Grimsby, für den ich ihn zuerst gehalten habe. Die beiden sind ein Team. Die verbindet viel mehr miteinander, als ein Außenstehender sich träumen läßt. Er kontrollierte noch einmal Kurs und Geschwindigkeit der Drago. Sie lief etwa 22 Knoten nach Westsüdwest. Die Santa Luisa blieb im eingestellten Fadenkreuz des Radarschirms. Das bedeutete, daß sie sich mit der gleichen Geschwindigkeit und in der gleichen Richtung bewegte. Sir Henry blickte durch das Nachtsichtgerät. Er fand die Santa Luisa bald, stellte das Bild scharf und teilte seine Aufmerksamkeit jetzt gleichmäßig zwischen den Instrumenten der Drago, dem Radargerät und dem Nachtsichtgerät. Dr. Morton war bestimmt schon länger als eine Stunde unter Deck verschwunden, als Sir Henry einen überraschten Laut ausstieß.
Fenster Fortsetzung Haben Sie manchmal Angst? Barton Frisbee stand mit dem Rücken zu den Schaufensterpuppen, und plötzlich begann die Menge zu lachen und mit den Fingern zu zeigen, sie versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Barton Frisbee hatte sich immer über die Zuschauer geärgert, denn er wußte, wie grausam die Menschen sein können — stets bereit, andere zu verletzen. Und nun war er überrascht und drehte sich um, er wollte sehen, was die Leute so sehr amüsierte. Die weibliche Schaufensterpuppe war gegen die männliche gefallen, und beide lagen nun, wie schon erwähnt, auf dem nachgemachten Strand. Und das war sehr merkwürdig. Die Arme der Puppen waren so gestaltet, daß sie sich nun zu umarmen schienen. Barton Frisbee hörte das Gelächter vor dem Fenster, und die Szene war natürlich ein wenig verrückt. Er starrte auf seine Puppen, er starrte auf Vivian, seine Vivian. Sie lag in den Armen des hübschen Todd. Sehen Sie — er hatte immer solche Kosenamen für seine Modelle. Für ihn waren sie Wirklichkeit. Es waren keine Schaufensterpuppen aus Wachs. Doch nun war Vivian eine Frau geworden wie alle anderen. Ein Playgirl, ein Spielzeug für den attraktiven Mann. Die Menge hörte auf zu lachen. Ein kleines Kind, die Nase an die Scheibe gepreßt, begann zu schreien. Denn der lustige kleine Mann mit dem Buckel war vorgesprungen und hatte die Puppen auseinandergerissen, und nun tat er etwas Schreckliches mit der großen, blitzenden Schere in seinen runzeligen Händen. Immer und immer wieder stach Barton Frisbee mit der Schere in den Körper der männlichen Schaufensterpuppe. Und das Schaufenster schien zu erzittern von den Schreien einer gequälten Seele. Die Menge erstarrte — die Leute waren verschreckt. Nur eine Schaufensterpuppe, werden Sie vielleicht sagen. Nur ein Ding aus Wachs. Aber Blut rann aus der Gestalt, auf die er einstach. Vor den Augen der Zuschauer. Und noch etwas geschah. Barton Frisbee war verrückt geworden — er zerrte und riß an seiner Dekoration, er schrie. Und als er vorwärts taumelte, als er über die ausgestreckten Beine der männlichen Schaufensterpuppe, Todd, fiel, da fiel er in die Spitzen der Schere zwischen seinen Fingern — könnte man es die Hand des Schicksals nennen? Und so starb Barton Frisbee, wo er gelebt hatte. In jenem Schaufenster, in dem er sein Genie ausspielen konnte, seine ganze Kunst ... Aber ich sollte Ihnen eigentlich etwas im Fenster da drüben zeigen! Sehen Sie die große Wachsfigur dort in der Ecke? Sehen Sie, wie schön sie ist? Aschblondes Haar, wundervolle Gesichtszüge, aber schauen Sie doch in ihre Augen! Seltsame Augen ... sehen Sie diesen Ausdruck in den Augen ...? Michael Avallone
Er hatte sein Auge gerade ans Okular des Nachtsichtgeräts gebracht, als zwei
Männer etwas über die Reling der Santa Luisa warfen. Etwas, das einem großen
Sack glich.
Sir Henrys Entschluß war schnell gefaßt. Er öffnete die Tür zum Niedergang und rief:
„Glenn! Glenn, wachen Sie auf, bitte! Kommen Sie herauf!"
● Dr. Morton brauchte keine halbe Minute, um hellwach zu werden und
heraufzukommen.
„Was gibt's, Henry?" fragte er ruhig.
„Sie haben etwas über Bord geworfen. Sah aus wie ein Sack. Und wenn Sie mich
fragen, war ein menschlicher Körper darin."
„Wie weit sind wir entfernt?"
Sir Henry kontrollierte die Instrumente.
„Ungefähr zwei Meilen."
„Geben Sie Gas, Henry. Wir schauen nach."
Sir Henry hatte, als der Sack über die Reling flog, die Position der Santa Luisa sehr
genau bestimmen können. Sie suchten das in Frage kommende Gebiet gründlich ab.
Die Santa Luisa lief ihnen dabei mehr als zehn Meilen davon.
Von dem Sack fand sich jedoch nicht die geringste Spur. Auch als Dr. Morton danach
tauchte, blieb das ergebnislos.
Erschöpft kehrte er an Bord der Drago
zurück.
„Nichts", sagte er. „Wir wollen uns beeilen und zusehn, daß wir die Santa Luisa nicht
verlieren."
„Und Sie legen sich wieder aufs Ohr, Glenn", sagte Sir Henry.
● „Darf ich Ihnen etwas anbieten, Mr. Grimsby?" fragte Miss Shuster. Er lauschte dem Klang ihrer Stimme und hörte die Angst heraus. Miss Shusters Angst ließ ihn lächeln und versetzte ihn in einen leichten Rauschzustand. Vielleicht war's ganz gut, daß er einen Grund gefunden hatte, sich um sie zu kümmern. Es wäre ohnehin bald wieder soweit gewesen. Er brauchte d a s wieder einmal. So ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Noch dazu während Dr. Mortons Abwesenheit, so daß er der Notwendigkeit enthoben war, seinen Chef zu unterrichten. Und in Gefahr begab er sich bestimmt nicht. Niemand würde ihn verdächtigen. Man würde überhaupt keinen Menschen verdächtigen, der armen Miss Shuster etwas angetan zu haben. Denn niemand wußte von dem nächtlichen Besuch. „Ich habe Whisky da”, sagte Miss Shuster unsicher. „Und einen Rest Gin — glaube ich." Mr. Grimsby lächelte freundlich, schüttelte aber den Kopf. Er faltete die Hände. Miss Shuster sah erst jetzt, daß er Handschuhe trug, und das steigerte ihre Angst und ihre Verwirrung. „Sie möchten wirklich nichts?" fragte sie, und diesmal brach ihre Stimme beim letzten Wort. Ihre Lippen zitterten. Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. Gleich würde sie schreien, ob sie wollte oder nicht. Aber Grimsby merkte das, beugte sich vor, legte eine der behandschuhten Hände auf Miss Shusters Mund und sagte eindringlich-sanft: „Nicht doch, Liebste! Wir wollen keinen unnötigen Krach machen! Denken Sie an die Nachbarn! Die schlafen schon!" Ihre Augen wirkten übergroß in dem blassen Gesicht. Grüne Augen. Galant sagte Grimsby: „Die Augen bilden einen wunderbaren Kontrast zu Ihrem rotblonden Haar, Miss Shuster. Wirklich apart!" Sie schöpfte neue Hoffnung und bemühte sich, so normal wie möglich zu lächeln. Ein Mann, der so mit ihr sprach, konnte doch nichts Böses vorhaben. Sie versuchte sich einzureden, daß William Grimsby in ihre Wohnung eingedrungen sei, weil er sie begehrte. Vielleicht hatte er in der Klinik nur nicht gewagt, sich ihr zu nähern. Vielleicht war es eine besondere Art von Schüchternheit, daß er mit einem Nachschlüssel oder irgendeinem anderen Hilfsmittel ins Haus und in ihre Wohnung eingedrungen war, anstatt zu klingeln.
Grimsby beobachtete sie sehr intensiv und war sicher, jeden ihrer Gedanken zu
erraten. Er lächelte.
Seine Hand glitt von Miss Shusters Mund, glitt über ihr Kinn und den Hals. Sie
erschauerte, als die Finger sich einen Augenblick fest um ihren Hals legten.
Im nächsten Moment waren sie schon weitergewandert. Sie glitten über ihren
seidenen Hausmantel und blieben auf der linken Brust liegen.
William Grimsby sah Miss Shuster tief in die Augen. Sie errötete, hielt seinem Blick
aber stand und forderte ihn stumm auf:
Komm doch! Nimm mich, wenn du das willst! Ich werde mich nicht wehren! Ganz
bestimmt nicht!
Grimsby spürte, wie die Warze unter seiner Hand erigierte. Es war immer dasselbe.
Diese kleinen geilen hirnlosen Geschöpfe!
Einmal preßte seine Hand so fest zu, daß Miss Shuster einen kleinen schmerzlichen
Schrei ausstieß. Dann lag die Hand dicht unterhalb der Brust, und Grimsby sagte
ruhig und freundlich:
„Ihr Herz klopft, Miss Shuster! Sie haben ja Angst vor mir!"
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Nein! Nein, ich habe bestimmt keine Angst!" Ein Lachen, das eher wie ein
Schluchzen klang, kam aus ihrer Kehle. „Warum sollte ich mich denn fürchten, Mr.
Grimsby!?"
„Sie haben also keine Angst?" fragte er freundlich.
Stumm und heftig schüttelte sie den Kopf.
„Keine Angst vor William Grimsby", murmelte er. — "Vielleicht möchte ich aber, daß
Sie Angst haben, Miss Shuster."
Sie starrte ihn stumm aus großen grünen Augen an.
„Warum sagen Sie nichts? Ist das keine interessante Theorie? Nein? Daß ich mir
wünsche, Sie vor Angst zittern und beben zu sehen?"
Sie schwieg immer noch. Sie wollte alles tun und alles sagen, was er erwartete.
Aber was war's? Handelte sie richtig, wenn sie ihm jetzt zustimmte? Oder wartete er
darauf, daß sie seine Vermutung bestritt?
Die Hand bewegte sich wieder. Sie streichelte sanft über ihren Bauch. Unter anderen
Umständen hätte ihr das so gut gefallen, daß sie wie eine Katze geschnurrt hätte.
Selbst jetzt konnte sie sich dem Reiz nicht ganz entziehen und preßte ihre Schenkel
unwillkürlich fester aneinander.
Grimsby merkte das und lächelte versonnen.
„Sie haben keine Angst, nein?" fragte er leise. „Aber Sie sind scharf, nicht wahr?"
Diesmal hielt sie's für angebracht, zu nicken.
„Sie hätten also nichts dagegen, daß Grimsby Ihnen diesen Fetzen auszieht?"
„Oh, wenn Sie's wünschen, ziehe ich mich gern aus!" versicherte sie eilfertig.
Was war nur los mit ihr? Benahm sie sich nicht völlig unmöglich? Was mußte er denn
von ihr denken?
Aber sie konnte nicht anders. Nichts zu machen. Die Angst gab ihr ein, wie sie
handeln mußte. Und die Angst verlangte jetzt von ihr, daß sie sich an Mr. Grimsby
vorbeizwängte und aufstand und den seidenen Hausmantel abstreifte, so daß sie
völlig nackt vor einem fast fremden Mann stand.
Grimsby lächelte und ließ seinen Blick über Miss Shusters Körper schweifen.
Wohlgefällig! dachte sie. Er betrachtet mich wohlgefällig!
Aber das stimmte gar nicht. Sie wollte, daß es so war, doch Grimsby betrachtete sie
mit dem kühlen Interesse des Forschers für ein Versuchstier.
„Sie sind gut gewachsen", stellte er beiläufig fest. „Ihr Freund wird viel Freude an
Ihnen haben."
„Ich habe keinen Freund", erwiderte sie mechanisch und tonlos.
Grimsby grinste.
„Das weiß ich, Miss Shuster."
Sie sah ihn fragend an.
„Es ist sonderbar, daß ein hübsches Mädchen wie Sie keinen Freund hat. Ich habe
mich darüber gewundert. Erst wollte ich es nicht glauben."
„Was — bedeutet das alles, Mr. Grimsby?"
„Setzen Sie sich", sagte er.
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Miss Shuster setzte sich vorsichtig auf
den Rand der Couch, möglichst weit weg von Mr. Grimsby. Aber auch jetzt spürte sie
wieder Zweifel bei der Frage, ob das richtig war. Mußte sie sich ihm nicht viel eher an
den Hals werfen? Mußte sie nicht so nah zu ihm rücken, daß ihre Nacktheit sein
Verlangen weckte und er mögliche andere Gedanken vergaß?
Grimsby schwieg. Sein Schweigen wurde von Sekunde zu Sekunde drückender.
Miss Shuster hatte allmählich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Sie sah sich
im Zimmer um, ohne den Kopf zu bewegen. Irgendwas mußte sie doch tun können!
Davonlaufen? Mr. Grimsby die große Vase über den Kopf schlagen?
Diese Idee begann sich in Miss Shusters Kopf festzusetzen, als Grimsby immer noch
schwieg. Die Vase war etwa anderthalb Fuß lang und aus Metall. Sie war sehr
schlank und kurz über dem Fuß selbst für eine kleine Frauenhand gut zu fassen.
Außerdem war sie nur knapp drei Yards entfernt. Wenn sie aufsprang und nach der
Vase griff und sich umdrehte und zuschlug . . . Über Grimsbys Kopf . .
Ich kann ihn damit töten! dachte Miss Shuster und schüttelte sich. Ich kann ihm den
Schädel damit einschlagen. Und was dann? Ich muß die Polizei benachrichtigen.
Man wird mir Fragen stellen. Was Grimsby bei mir wollte. Wie er hereingekommen
ist. Und warum ich ihn erschlagen habe.
Was soll ich sagen?
Daß ich mich vor ihm gefürchtet habe? Daß er hier eingedrungen ist? Wird man mir
glauben?
Oh, es war schrecklich. Warum half ihr niemand? Wie konnte sie sich selbst helfen?
Warum hatte sie keine Sperrkette an der Wohnungstür? Dann wäre Grimsby gar
nicht hereingekommen.
„Sie frieren ja, Miss Shuster", sagte er freundlich.
„Ich friere?" fragte sie mechanisch zurück.
„Ihre Haut zieht sich zusammen. Ist ganz rauh. Sehen Sie?"
Grimsby rückte näher.
„Sie sind ein armes kleines Hühnchen, Miss Shuster. Sie frieren und haben Angst vor
mir und wissen überhaupt nicht, was Sie tun und wie Sie sich verhalten sollen."
Als sie ihn stumm anstarrte, fragte er herrisch:
„Stimmt das nicht? Warum sagen Sie nichts?"
„Ja, ja", flüsterte Miss Shuster.
„Warum waren Sie in meinem Zimmer?”
„Ich . . ."
„Warum?"
„Ich war nicht in Ihrem Zimmer, Mr. Grimsby!"
Dumme Lüge! Sie haßte sich dafür und wußte, noch bevor der Satz ganz
ausgesprochen war, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Einen unverzeihlichen
Fehler. Sie zuckte zusammen, als Grimsbys Hand durch die Luft sauste. Sie duckte
sich unter dem Schlag — der sie gar nicht traf.
Grimsby hatte im letzten Moment abgestoppt. Er lachte leise und spöttisch.
„Nein", sagte er. „Ich werde Sie nicht schlagen, Miss Shuster. Nicht s o! Das würde
Spuren hinterlassen. Man würde Verdacht schöpfen. Aber das wollen wir vermeiden,
nicht wahr?"
Sie war so durcheinander, daß sie nickte. Dann schrie sie erschreckt auf. Sie hatte
begriffen, was Grimsbys Worte bedeuteten. Hielt eine Hand vor den Mund. Sah ihr
Gegenüber aus aufgerissenen Augen an.
„Sie waren nicht in meinem Zimmer, Miss Shuster?"
„Doch", sagte sie hastig. „Ja, ich war drin, Mr. Grimsby!"
„Warum denn?" erkundigte er sich fast freundlich. „Was hatten Sie denn in meinem
Zimmer zu suchen, Miss Shuster?"
„Gar nichts. Ich war neugierig. Ich wollte ..."
„Ein bißchen spionieren.”
„Nein, nein! Ganz bestimmt nicht! Ich
„Nun?"
„Verstehen Sie denn nicht?" Ihre Stimme klang beschwörend. Was sie jetzt sagen
wollte, war die reine Wahrheit. Klang's deshalb so künstlich und falsch? „Ich — ich
habe mich für Sie interessiert. Als Mann. Ich bin eine Frau, Mr. Grimsby, und seit
damals, als wir zusammen Tee getrunken haben . . Erinnern Sie sich nicht? Sie
hatten Rum. In einer Taschenflasche. Sie haben mir von dem Rum angeboten, aber
ich durfte noch nicht. Ich hatte Nachtdienst. Der Rum war aus Österreich. Sie hatten
ihn mitgebracht, den Rum. Sie waren mit Dr. Morton ..."
„Ja, ich erinnere mich genau", sagte Grimsby. „Ich erinnere mich an alles."
Er schwieg und lächelte. Miss Shuster schöpfte neue Hoffnung. Als er sanft über ihre
nackte Schulter und ihre linke Brust strich, dachte sie: Ja, ja! Das ist viel besser als
das dumme Gerede! Du kannst ja mit mir machen, was du willst. Du mußt keine
Gewalt anwenden!
Da fragte Grimsby ruhig:
„Wann haben Sie gewußt, daß ich Sie umbringen werde, Miss Shuster?"
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Selbst ihre sonst so roten Lippen schienen völlig
farblos zu werden. Sie zuckten. Miss Shuster brachte kein Wort heraus. Nur einen
sonderbaren kleinen Laut, der klang, als würde etwas zerbrechen.
„Sie wissen es doch, oder?" fragte Grimsby ruhig. „Sie wissen doch, daß ich
hergekommen bin, um Sie zu töten?"
Miss Shuster schüttelte den Kopf.
„Nein? — Aber natürlich wissen Sie es!" widersprach er ruhig, eindringlich.
Miss Shuster schüttelte den Kopf heftiger. Sie konnte nichts dagegen tun. Wenn sie
bestritt, seine Absicht zu kennen, führte er sie vielleicht nicht aus ...
Grimsby zuckte die Schultern. Er runzelte die Stirn und sagte:
„Nun, jetzt wissen Sie's, Miss Shuster. Ich bringe Sie um, weil Sie mir lästig
geworden sind. Sie schnüffeln dauernd hinter mir her, und eines Tages wären Sie
auf Dinge gestoßen, die nicht für Sie bestimmt sind."
Miss Shuster hörte ein Wimmern. Es kam aus ihrer eigenen Kehle.
„Wollten Sie etwas sagen?" fragte Grimsby interessiert.
Miss Shuster schüttelte den Kopf, während sie gleichzeitig versuchte, tatsächlich
etwas zu sagen. Ihre Stimme knarrte, war kaum zu verstehen:
„Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Mr. Grimsby!" (Tatsächlich, sie brachte es fertig,
etwas so Lächerliches zu sagen. Schüttelte den Kopf darüber und versuchte es zu
erklären.) „Ich werde nie wieder in Ihr Zimmer gehen! Ich werde Sie überhaupt nicht
mehr anschauen, Mr. Grimsby! Sie können sich darauf verlassen!"
„Ich kann mich darauf verlassen, daß Sie Ihre Neugier künftig bezähmen?" fragte
Grimsby sanft.
„Ja, ja!" beteuerte Miss Shuster.
„Aber nur, wenn Sie tot sind", sagte er und lächelte milde.
Sie hatte es gewußt. Sie hatte gewußt, daß jeder Versuch zwecklos war. Aber sie
wollte es auch jetzt noch nicht wahrhaben. Sie sah Grimsby verzweifelt an und
suchte nach Worten. Als er die Hände nach ihr ausstreckte, hob sie abwehrend beide
Arme.
Warten Sie! wollte sie sagen, brachte aber kein Wort mehr heraus.
Grimsbys Hände legten sich um ihre Oberarme. Er stand auf und zog sie mit sich
hoch. Miss Shuster hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Knie knickten ihr
immer wieder ein. Warum' gab sie sich überhaupt Mühe, zu stehen?
Wenn sie sich fallen ließ und tot stellte . . . Vielleicht ließ er dann von ihr ab.
Vielleicht.
„Aber Sie müssen doch nicht weinen!" sagte Grimsby leise. „Das verdirbt den Teint,
Miss Shuster"
Er lachte wie über einen guten Witz. Er weidete sich an ihrer Angst, an ihrer
Hilflosigkeit. An der Verzweiflung. Er spürte, wie Hitzewellen seinen Körper
durchfluteten. Diese ganz bestimmte Wärme, dieses Kribbeln, das andere Männer
immer empfanden, wenn sie mit einer Frau zusammen waren, er aber nur, wenn er
im Begriff war, eine Frau zu töten.
Er drehte Miss Shuster um. Mit einer Hand hielt er ihren linken Oberarm, mit der
anderen hob er das lange rotblonde Haar, das bis auf die nackten Schultern fiel. Er
betrachtete die Stelle des Nakkens, die er treffen mußte. Es war ganz einfach, wenn
man's konnte. Der Schlag mußte nicht 'einmal besonders hart geführt werden. Das
war der große Vor- teil. So blieben keine Schlagspuren zu- rück, die die Polizei
stutzig gemacht hätten.
Jetzt, Miss Shuster!" sagte er sanft, aber mit Nachdruck.
„Nein!” wimmerte sie.
„Doch", sagte Grimsby ruhig.
„Ich will nicht sterben, Mr. Grimsby!" „Zu spät, um darüber zu reden, Miss Shuster."
„Bitte, bitte, Mr. Grimsby!"
Sie legte die Handflächen aneinander und versuchte, sich umzudrehen. Er ließ ihren
Oberarm los. Sie fiel auf die Knie. Es sah aus, als betete sie Mr. Grimsby an.
Der schüttelte den Kopf, lächelte verträumt, beugte sich über sie, hob mit der linken
Hand das lange, rotblonde Haar und schlug präzis und blitzschnell zu.
Aus Miss Shusters Kehle drang kein Laut mehr. Sie kniete immer noch vor Grimsby,
hatte die Handflächen immer noch zusammengelegt, aber als er das rotblonde Haar
losließ, fiel ihr Kopf in einem unnatürlichen Winkel zur Seite. Dann kippte ihr Körper
um.
Mit Grimsby war blitzschnell eine Verwandlung vorgegangen. Er lag mit verzerrtem
Gesicht auf dem Teppich und bearbeitete sich mit wütender Heftigkeit. Doch nach
nicht einmal zwei Minuten war er wieder völlig ruhig und beherrscht. Er stand auf,
brachte seine Kleider in Ordnung und vergewisserte sich, daß er keine Spuren
hinterlassen hatte.
Dann ging er durch Miss Shusters kleine Wohnung. Er fand eine Haushaltsleiter und
trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie unter die Deckenlampe stellte. Mit einem
isolierten Schraubenzieher sorgte er für einen Kurzschluß.
Er brauchte kein Licht, um seine Arbeit zu beenden. Mittlerweile hatte er sich jede
Einzelheit des Zimmers eingeprägt.
Er legte Miss Shusters Finger um die aus der Deckenlampe geschraubte Glühbirne.
Miss Shuster lag jetzt so, daß sie durchaus von der Leiter gestürzt sein konnte.
Vielleicht wunderten die Beamten, die man mit der Untersuchung beauftragte, sich
darüber, daß Miss Shuster nackt war. Vielleicht wunderten sie sich auch darüber,
daß keiner der Nachbarn ihren Fall gehört hatte.
Aber das spielte keine Rolle. Grimsby grinste, als er darüber nachdachte. Auch bei
den simpelsten Unfällen mit Todesfolge gab es immer einige Details, die sich nie
ganz klären ließen.
● Die Drago folgte der Santa Luisa während des Rests der Nacht und des ganzen
folgenden Tages. Sie blieb immer so weit zurück, daß man sie kaum entdecken
konnte.
Es sei denn, die Santa Luisa verfügte über die gleichen technischen Möglichkeiten
wie die Drago, und ihre Besatzung rechnete damit, verfolgt zu werden.
Sir Henry, der siebente Earl of Saffron, und sein Freund, Dr. Glenn Morton,
unterhielten sich über diese Frage.
„Ich nehme an, daß sie sich verfolgt wähnen", sagte Sir Henry. „Warum würden sie
sonst Stunde um Stunde mit voller Kraft nach Westen laufen?"
„Dafür könnte es auch andere Gründe geben, Henry. Aber ich stimme Ihnen
zu."
„Jedenfalls bleibt sie sorgfältig außerhalb der Dreimeilenzone.”
Dr. Morton nickte.
„Dem Kurs nach zu urteilen, den die Santa Luisa jetzt hält, will sie Start Point
umrunden."
„Das glaube ich auch."
Längeres Schweigen. Dann fragte Sir Henry:
„Haben wir eine Chance, sie zu packen, Glenn?"
Dr. Morton zuckte die Schultern und lächelte.
„Ich weiß es wirklich nicht, Henry. Ich weiß nur, daß ich Ihnen eine Spazierfahrt
versprochen hatte, und daß daraus allem Anschein nach nichts wird. Wenn Sie. . ."
„Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!" unterbrach der Earl ihn. „Was ist eine
langweilige Spazierfahrt gegen ein solches Abenteuer!"
„Bei diesem ‚Abenteuer' kann es um Leben und Tod gehen. Sie wissen ja, was in der
vergangenen Nacht passiert ist."
Sir Henry erwiderte seinen Blick. Der Pfadfinderausdruck war aus seinem Gesicht
verschwunden. Ernst sagte er:
„Ich weiß es. Ich bin mir völlig im klaren darüber, auf was wir uns einlassen, Glenn."
„Und?"
Sir Henry kniff die Lippen sekundenlang zusammen. Sein Blick wurde starr.
„Ich habe mir immer gewünscht, so etwas zu tun. Wenn Sie mir die Gelegenheit
geben, teilzunehmen, werden Sie's nicht zu bereuen haben."
, Okay", sagte Dr. Morton lakonisch und burschikos. „Machen wir also weiter. Und
wenn wir allein nicht mit der Santa Luisa fertigwerden, rufen wir Grimsby zu Hilfe.
Nach dem, was ich in der vergangenen Nacht an Bord gesehen habe, würde es mir
leid tun, die Burschen ungestraft davonkommen zu lassen."
Sir Henry betrachtete den Radarschirm. Er konzentrierte sich auf seine Aufgaben,
ebenso wie Dr. Morton. Es gab jetzt nichts zu besprechen. Also schwiegen sie.
Die Santa Luisa umrundete tatsächlich die Landspitze von Start Point. Dabei kam sie
der Dreimeilengrenze ziemlich nahe. Aber nur für ganz kurze Zeit.
„Wenn sie das Tempo beibehält, ist sie heute abend in der Höhe von Land's End",
sagte Dr. Morton.
„Wie steht es mit der Drago? Haben wir genug Treibstoff an Bord?"
„Nein. Ich schlage vor, wir laufen in den Hafen von Salcombe und füllen die Tanks
dort noch einmal bis zum Rand. Im Augenblick haben wir Zeit dazu. Wer weiß, wie es
später ist."
Sir Henry nickte zustimmend. Als sie die kleine Bucht von Salcombe wieder
verließen, bekamen sie die Santa Luisa nicht dort auf den Radarschirm, wo sie sie
vermuteten.
„Was bedeutet das, Glenn?"
„Daß sie uns beobachtet haben und die Gelegenheit zu nutzen versuchen." „Und
nun?"
„Volle Kraft voraus", sagte Dr. Morton grinsend. „Wo können sie hin sein, Henry?"
„Nach Süden?"
Dr. Morton nickte.
„Nach Süden. Das ist ihre einzige Chance. Wir werden sie aber bald wieder haben.”
● An diesem Abend gegen sechs Uhr saß William Grimsby nicht vergeblich im
Funkraum unterhalb der Privatklinik in Brighton. Dr. Morton meldete sich pünktlich.
Grimsby war hellwach. Er witterte das Abenteuer.
„Wie geht's, Grimsby?" fragte Dr. Morton ruhig.
„Danke, Sir. Und auf der Drago?" „Alles in Ordnung."
„Sie haben gutes Wetter, Sir?"
„Ja. Aber auch ein kleines Problem. Hören Sie zu, Grimsby." Er berichtete knapp,
jedoch mit allen notwendigen Details von der Santa Luisa, den Vorgängen an Bord
und der gegenwärtigen Situation.
„Der Sikorsky ist startklar, Sir", sagte Grimsby, als Dr. Morton schwieg. Er hatte
sofort erfaßt, weshalb der Chef sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatte.
„Vorläufig halten Sie sich bitte nur in Bereitschaft, Grimsby. Wir können uns auf
dieser Frequenz jederzeit miteinander in Verbindung setzen, ohne daß wir abgehört
werden."
„Selbstverständlich, Sir."
„Zunächst versuchen Sir Henry und ich allein, mit den Burschen von der Santa Luisa
fertigzuwerden."
„Das würde ich nicht tun, Sir', sagte Grimsby ruhig, aber bestimmt.
Dr. Morton schwieg. Er dachte über den Einwand nach.
„Zu gefährlich, meinen Sie?” „Unnötiges Risiko, Sir. Einmal das zahlenmäßige
Verhältnis, zum anderen die Bewaffnung. Außerdem rechnet man mit einem Angriff."
Sir Henry, der den zweiten Kopfhörer übergestreift hatte, nickte. Dieser Grimsby war
wirklich ein kluger, besonnener Mensch. Er war zwar eben selbst noch dafür
gewesen, den Angriff auf die Santa Luisa ohne Grimsbys Unterstützung zu wagen,
aber jetzt dachte er anders.
Dr. Morton traf seine Entscheidung.
„Wir warten ab, was die Santa Luisa macht, Grimsby. Sobald sich etwas ergibt,
melde ich mich wieder. Wie lange brauchen Sie, um mit dem Sikorsky hierzusein? —
Henry, geben Sie Mr. Grimsby bitte unsere genaue Position?"
„Gern", sagte Henry eifrig. „Notieren Sie bitte, Mr. Grimsby?"
„Jawohl, Sir."
Grimsby brauchte nur 30 Sekunden, um Flugweg und Zeit auszurechnen:
„Knapp zwei Stunden bis zu Ihrem jetzigen Standort, Sir."
Dr. Morton gab ihm noch einige Anweisungen, die die Ausrüstung des
Hubschraubers betrafen. Dann beendeten sie das Gespräch.
Sir Henry sah ihn sinnend an.
„Sie sind für alle Eventualitäten gerüstet, nicht wahr, Glenn?"
„Ja", sagte der Angesprochene ruhig. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:
„Aber das wundert Sie doch nicht, Henry. Sie haben es längst vermutet.”
„Ich habe es vermutet", bestätigte Sir Henry.
Er fühlte sich ruhig und sicher. Aber er ahnte, daß seine Vermutungen für jeden
anderen tödlich gewesen wären.
● Es war etwa zehn Uhr abends und stockfinster, als die Santa Luisa den Motor
stoppte und Anker warf. Sie befand sich rund fünf Meilen südlich von Lizard Point,
war also nicht so weit nach Westen gelangt, wie die Männer auf der Drago vermutet
hatten.
Das kam daher, daß der Ausbruchsversuch nach Süden eine Menge Zeit gekostet
hatte.
„Sie wissen, daß wir in der Nähe sind", murmelte Sir Henry. „Wenn wir näher
rangehen, werden sie auf uns schießen, vermute ich."
„Durchaus möglich."
„Sie haben uns auf dem Radarschirm wie wir sie."
„Denke ich auch."
„Eine Art Patt."
Dr. Morton schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:
„Der Angreifer ist immer im Vorteil."
„Grimsby?"
„Noch nicht. Warten wir erst ab, was sich drüben auf der Santa Luisa tut."
Vorläufig tat sich gar nichts. Auf der Santa Luisa brannten nur wenige Lichter. Doch
dann wurde es so hell, daß Henry of Saffron das Nachtsichtgerät gegen das starke
Fernglas vertauschte.
„Was gibt's?” erkundigte Dr. Morton sich. Er war mit dem Richtmikrofon beschäftigt.
„Sie haben mehrere Wachen an Deck. Jeder Mann ist schwerbewaffnet."
„Und wir sollen das sehen", sagte Morton lächelnd. „Deshalb die Festbeleuchtung."
„Man will uns von einem Angriff abhalten."
„So ist es."
„Was machen wir? Sollen wir sie ein bißchen verunsichern?"
„Nicht schlecht, Henry. Woran denken Sie?"
„Die Drago könnte mit hoher Fahrt im Vollkreis um die Santa Luisa herumlaufen.
Gerade so weit weg, daß wir außerhalb der Maschinengewehr-Reichweite bleiben."
„Prächtig. Die Burschen werden sich fragen, was das bedeuten soll."
„Und wir informieren Grimsby, der in zweieinhalb Stunden hier sein kann, wenn ich
mit meiner Schätzung richtig liege."
„Machen wir", sagte Dr. Morton. „Wollen Sie das Steuer übernehmen, Henry? Ich
setze mich mit Grimsby in Verbindung."
Nachdem Grimsby verständigt war, konzentrierte Dr. Morton sich auf die
Beobachtung der Santa Luisa. Das Richtmikrofon baute er ab. Es nutzte nichts,
solange die Drago nicht ruhig lag. Man konnte es nicht exakt genug einstellen. Aber
er brauchte die akustische Hilfe auch nicht unbedingt. Was er durch das starke
Fernglas sah, genügte.
„Völlige Konfusion", sagte sie
er fröhlich. „Sie haben gemerkt, daß wir sie umkreisen und wissen offenbar wirklich
nichts damit anzufangen. War ein glänzender Einfall, Henry."
„Danke, Glenn."
„Jetzt gehen einige der Lampen aus. Ich nehme das Nachtglas."
Er beobachtete weiter.
„Sie hieven den Anker, Henry!" „Was haben sie vor?"
„Sind nervös geworden und ziehen es vor, sich davonzumachen."
„Was ihnen aber nicht gelingen wird. — Müssen wir Grimsby nicht unterrichten?"
„Das hat noch Zeit. Wir warten, bis wir genau wissen, in welcher Richtung die Santa
Luisa zu fliehen versucht."
„Wie ist es eigentlich mit den Frauen?"
„Keine Spur von ihnen zu sehen." „Man hat sie sicher eingesperrt."
„Bestimmt."
„Was machen wir, wenn wir sie befreit haben, Glenn?"
Auf diese Frage bekam Sir Henry keine Antwort. Er wiederholte sie auch nicht.
Die Santa Luisa hatte das Ankermanöver beendet und setzte sich in Bewegung. Sie
versuchte, nach Süden zu entkommen.
„Weiter umkreisen, Henry", sagte Dr. Morton knapp. Dann setzte er sich mit Grimsby
in Verbindung. Er gab ihm die Geschwindigkeit und den Kurs der Santa Luisa an und
erläuterte ihm seinen Plan. Sir Henry hörte zu. „Und damit kein Mißverständnis
entsteht, Grimsby, Sie greifen nur ein, wenn Sir Henry oder ich Ihnen das Zeichen
dazu geben."
„Geht in Ordnung, Sir."
„Falls ich daran gehindert werde, mit Ihnen zu sprechen, gebe ich das vereinbarte
Morsezeichen."
„Verstanden, Sir."
„Nur wenn wir beide nicht in der Lage sein sollten, uns zu melden, handeln Sie nach
eigenem Gutdünken, Grimsby."
„Jawohl, Sir."
Dr. Morton bereitete sich vor. Er legte den Taucheranzug an und kontrollierte die
Sauerstoffflasche. Die Flossen lagen bereit. In den Taschen des Gummianzugs
verstaute er diesmal außer der Llama noch einige andere Sachen. Das kleine
Funkgerät zum Beispiel und ein Ersatzmagazin. Ein Messer der Art, wie Grimsby es
mit Vorliebe benutzte, steckte er in den Gürtel. Und dann hing er an eben diesen
Gürtel noch ein paar sonderbare Handschuhe.
Sir Henry, der das alles am Rande beobachtete, konnte seine Neugier nicht
bezähmen:
„Wozu dienen die Dinger, Glenn?" „Sie werden mir helfen, an Bord der Santa Luisa
zu gelangen."
„Grimsby?"
„Ja."
Sir Henry nickte zufrieden. Mr. Grimsbys Erfindungsreichtum schien wirklich
unbegrenzt.
„Hören Sie jetzt zu, Henry. Wenn die Drago gleich von vorn auf die Santa Luisa
zuläuft, steuern Sie den Gaffelschoner etwas dichter an als beim vorigen Mal.
Vielleicht werden sie dabei auf uns schießen, aber ich glaube es nicht. Wenn ich
Ihnen das Zeichen gebe, nehmen Sie das Gas völlig weg. Ich lasse mich über Bord
fallen, sobald die Geschwindigkeit es zuläßt. Im gleichen Moment geben Sie wieder
Vollgas und setzen die Umrundung der Santa Luisa fort. Vorher nehmen wir noch
einmal Verbindung zu Grimsby auf, und Sie lassen den Kontakt nach Möglichkeit
nicht mehr abreißen. Das Gerät ist auf die richtige Frequenz eingestellt. Ich werde
mich melden, sobald ich kann, aber es muß Sie nicht beunruhigen, wenn Sie nichts
von mir hören."
„Verstanden, Glenn."
„Noch Fragen?"
„Allerdings. Wo fische ich Sie wieder auf?"
„Kann ich noch nicht sagen. Ich werde jedenfalls versuchen, die Drago zwischen
mich und die Santa Luisa zu bekommen."
„Wegen des Maschinengewehrs."
„Richtig. Sobald Sie nah genug sind, zünde ich das hier." Er zog eine Leuchtpatrone
aus einer der Taschen seines Gummianzugs und ließ sie wieder verschwinden.
„Womit wollen Sie die denn zünden?" fragte Sir Henry.
„Sie paßt doch nie und nimmer in Ihre Llama!"
„Ich brauche keine Waffe dazu. Notfalls kann ich sie sogar unter Wasser zünden.
Grimsby, Sie verstehen."
„Ein Teufelskerl", sagte Sir Henry fast andächtig.
„Das Ding ist nicht sehr hell", erläuterte Dr. Morton noch. „Aber Sie sehen etwa sechs
Sekunden lang einen weißen Strich. Das dürfte genügen"
Jetzt schwiegen beide und konzentrierten sich auf den richtigen Moment für das
schwierige und gefährliche Manöver.
● An Bord der Santa Luisa herrschte Nervosität. Der Boß der Gruppe kam schon zum dritten Mal während der letzten Viertelstunde auf die Brücke, warf einen Blick über die Schulter des Mannes, der am Steuer stand und verschwand gleich über die sechs Stufen, die zu dem vor der Brücke liegenden Raum führten. Da oben kein Platz war, hatte man das Radar, das Funkgerät und alles andere, womit der Gaffelschoner zusätzlich ausgerüstet war, hier untergebracht. Es war etwas umständlich. Man brauchte immer mindestens zwei Leute, wenn man die technischen Geräte nutzen wollte: Einen, der das Ruder führte und einen, der hier unten saß und dem Rudergänger seine Erkenntnisse mitteilte. In dieser Nacht waren allerdings gleich vier der acht Männer versammelt, drei davon in dem engen Radar- und Funkraum. Die vier anderen patrouillierten an Heck und Bug, Back- und Steuerbord, bereit, jeden, der sich der Santa Luisa zu nähern versuchte, über den Haufen zu schießen. „Zum Teufel mit diesem verfluchten Boot!" knirschte der Boß. „Was soll das nur, daß sie uns dauernd umkreisen? Bilden sie sich ein, sie könnten uns damit nervös machen?" „Gelingt ihnen das etwa nicht?” fragte ein anderer gereizt. „Halt's Maul!" „Edgar hat recht", sagte ein dritter Mann besonnen. „Wir lassen uns zum Narren halten. Wir werden ständig nervöser, und irgendwann wird einer von uns durchdrehen." „Quatsch keine Opern", sagte der Boß barsch, aber nicht mit der vorherigen Lautstärke. Sein Gegenüber ließ sich auch gar nicht beeindrucken. „Fassen wir doch mal zusammen", sagte er sachlich. „Für mich stellt sich die Situation so dar: Dieses Boot verfolgt uns. Zweifellos gehört der Mann, der gestern auf der Santa Luisa war und den wir leider haben entkommen lassen" — er warf einem der anderen einen giftigen Blick zu — „zur Besatzung des Bootes. Es ist verdammt schnell, und wir können ihm nicht ausreißen. Andererseits: Was kann es
uns anhaben? Mag es uns so lange umkreisen, wie es will. Wir laufen weiter nach
Süden und kümmern uns nicht darum. Sobald wir uns der französischen Küste
nähern, ändern wir den Kurs und laufen nach Südwesten."
„Das brauchst du uns nicht vorzubeten", sagte der Boß. „Das wissen wir alle. Was
mich beunruhigt, ist die Möglichkeit, daß die Burschen uns die Behörden auf den
Hals hetzen."
Der, der vorher gesprochen hatte, lächelte geringschätzig.
„Das ziehe ich gar nicht in Betracht.” „So! Und weshalb nicht?"
»Weil die Burschen auf dem Boot dazu 24 Stunden Zeit hatten."
Die anderen schwiegen und dachten nach.
„Vielleicht haben sie Schwierigkeiten mit ihrem Funkgerät", vermutete einer.
Sie waren an Land. Sie haben getankt, nicht wahr? Und trotzdem ist außer dem Boot
weit und breit nichts zu sehen. Nein, nein, die Sorgen brauchen wir uns im Moment
nicht zu machen."
„Sieht so aus", pflichtete ihm der Mann bei, der am Steuerrad stand und zugehört
hatte. „Ich weiß zwar nicht, warum die uns die Behörden nicht auf den Hals hetzen —
aber offenbar gibt's einen Grund dafür."
„Vielleicht haben sie selbst Dreck am Stecken."
„Was wollen sie dann von uns? Warum lassen sie uns nicht in Ruhe?"
„Weil sie denken, daß hier was zu holen ist."
„Das wär 'ne Möglichkeit. Aber das einzige, was sie holen können, ist 'ne Ladung
Blei!" Der das gesagt hatte, lachte dröhnend und selbstgefällig.
Als er sich beruhigt hatte, sagte der Besonnene, der sich zuvor bemüht hatte, die
Lage zusammenzufassen:
„Unsere Situation ist doch gar nicht schlecht. Wir müssen nur Ruhe bewahren und
dürfen uns durch das alberne Umkreisen nicht verwirren lassen."
„Ach, und das ist alles!" sagte der Chef höhnisch.
„Ja, das ist alles. — Denk doch nach! Was glaubst du, wie lange deren Spritvorrat
reicht?"
Die Männer sahen sich interessiert an. Man erkannte an ihren Gesichtern, daß diese
Überlegung sie hoffnungsvoll stimmte.
„Selbst wenn sie noch einige Ersatzkanister mitgenommen haben, als sie irgendwo
bei Start Point anlegten, kommen sie nicht sehr weit. Jedenfalls nicht soweit wie die
Santa Luisa. Wir können, wenn's sein muß, bis nach Portugal kommen, ohne zu
tanken. Und notfalls haben wir immer noch die Segel."
Sie grinsten sich an.
„Worüber regen wir uns dann eigentlich auf?" fragte einer.
Ein anderer stand auf und sagte:
„Ich bin dafür, daß wir ihnen ein bißchen einheizen. Auch wenn sie sich so sorgfältig
außerhalb der Schußweite zu halten versuchen. Vielleicht lassen sie sich
einschüchtern. Oder provozieren. Zu irgendwas hinreißen ..."
Der Boß schüttelte den Kopf.
„Quatsch nicht solchen Blödsinn! Sollen wir unnötig auf uns aufmerksam machen?
Bis jetzt haben wir's nur mit dem einen verdammten Boot zu tun. Aber wenn wir in
der Gegend herumballern ..."
„Gestern hat's auch niemand gemerkt", brummte der andere.
„Gestern haben wir Glück gehabt. Wenn du aufgepaßt hättest, wäre der Bursche uns
nicht entkommen, und wir hätten vermutlich überhaupt keine Sorgen."
Der Besonnene stand auf, dehnte sich
und sagte:
„Ich geh hinaus. Mal sehen, was die anderen so beobachtet haben."
„Ich komme mit", sagte der Boß.
Zurück blieben der Mann am Ruder und der andere, der die Drago auf dem
Radargerät beobachtete.
● Dr. Morton hatte richtig gerechnet. Er brauchte nicht weit zu schwimmen. Die Santa Luisa rauschte genau auf ihn zu. Er mußte nur aufpassen, daß er im richtigen Augenblick Halt fand. Das war zunächst der heikelste Punkt. Es konnte ins Auge gehen. Eine winzige Ungeschicklichkeit — und er verfehlte nicht nur sein Ziel, sondern wurde vielleicht getötet. Es genügte, daß er vom Rumpf des Gaffelschoners unglücklich getroffen wurde. Am Kopf zum Beispiel. Er brauchte gar nicht in die Schraube zu geraten .. . Er hatte noch Zeit. Grübelte — zum wievielten Mal? — über die Besatzung der Santa Luisa nach. Was waren das für Leute? Was war ihr Geschäft? Wozu benutzten sie das Schiff, außer daß sie Orgien feierten und Frauen mißhandelten? Immerhin war die Santa Luisa, so antiquiert sie auch wirkte, ein modern ausgestattetes Schiff. Er hatte immer noch nicht herausgefunden, wo sie den Radarschirm untergebracht hatten. Das Ding war gut getarnt, und solche Details sprachen für die Umsicht und Gefährlichkeit der Bande. Dr. Morton konzentrierte sich. Jetzt ging's um Sekunden und Inches. Er hatte die beiden sonderbaren Hand- Schuhe übergestreift. Der Rumpf der Santa Luisa türmte sich plötzlich vor ihm auf, riesig und gefährlich. Er hörte das Stampfen des Motors und den bedrohlichen Lärm, den die Schraube verursachte. Er biß die Zähne zusammen. Mit dem rechten Handschuh hatte er Halt gefunden und wurde mitgerissen. Im ersten Augenblick war's, als risse man ihm den Arm aus. Aber er ertrug den Schmerz, vergewisserte sich gleich darauf, daß er keinen Schaden erlitten hatte, verschaffte sich auch mit der zweiten Hand Halt und löste gleich darauf die rechte Hand bzw. den Handschuh, in dem sie steckte, von der Bordwand der Santa Luisa, um ihn einen Fuß höher ins Holz zu schlagen. Er hatte nicht daran gezweifelt, daß die Handschuhe funktionieren würden, obwohl er noch nie zuvor dazu gekommen war, sie auszuprobieren. Er hatte Grimsby einen Baum erklettern sehen. Einen Baum im Park von Lannix Manor. Grimsby war hochgeturnt wie ein Eichhörnchen, und er hatte nur seine Hände benutzt. Jetzt hingen nur noch Dr. Mortons Füße ins Wasser. Gleich darauf rauschte es unter ihm vorbei. Der Rest war ein Kinderspiel. Morton hob vorsichtig den Kopf über den Decksrand. Glücklicherweise brannten jetzt nur noch einige Lampen. Es kam jetzt darauf an, nichts zu überstürzen und sich nicht an Deck zu schwingen, bevor er sicher war, nicht entdeckt zu werden. Einer der Wächter marschierte hin und her. Er schien zu frieren und ging deshalb schneller, als es notwendig gewesen wäre. Morton hörte ihn etwas murmeln. Es klang wie ein Fluch. Der Mann blieb stehen und wandte sich um. Dr. Morton zog den Kopf zurück. War er entdeckt? Dann blieb ihm nur eine Möglichkeit. Die Verschlüsse der Handschuhe zu lösen, sich mit beiden Füßen von der Bordwand der Santa Luisa abzustoßen, wegzutauchen und möglichst viel Platz zwischen sich und das Schiff zu bringen. Bange Sekunden. „Ach, ihr seid das", sagte der Wächter. „Hier wird man allmählich nervös und fängt an, Gespenster zu sehen. Ich hätte beinah abgedrückt." „Bist du verrückt?"
Dr. Morton erkannte die Stimme des Mannes, den er schon am vergangenen Tag als
Boß der Bande identifiziert hatte.
„Kein Grund zur Aufregung", sagte eine andere, ruhige Stimme. „Wir haben eben
noch einmal alles durchgesprochen und sind zu der Überzeugung gekommen, daß
die Gefahr so groß gar nicht ist."
„Wenn du dich da nicht täuschst", murmelte Dr. Morton tonlos.
„Du und die anderen — ihr müßt nur aufpassen, was die Kerle mit dem Boot treiben.
— Wo ist es übrigens?"
„Auf der Backbordseite", brummte der Wächter. „Wie wär's, wenn ihr uns ablösen
würdet?"
„In einer Stunde", sagte die ruhige Stimme. „Ist doch abgemacht."
Der Boß räusperte sich. Hatte offenbar das Bedürfnis, etwas zu sagen. Vermutlich
dachte er, daß er's seiner Stellung schuldig war.
„Ich will hoffen, daß ihr wirklich alle die Augen offenhaltet, Fritz! Ist zwar
unwahrscheinlich, daß noch einer wagt, herzuschwimmen und sich an Bord zu
schleichen, aber wir wollen mit allen Möglichkeiten rechnen."
Der Wächter brummte unwillig.
„Was meinst du?" fragte der Boß scharf.
„Möchte wissen, wie hier jemand raufkommen soll. Der von gestern hat sich an der
Ankerkette hochgehangelt. Die ist eingehievt. Und außerdem: Die Santa Luisa macht
weit mehr als 20 Knoten Fahrt .. ."
Wieder räusperte der Boß sich. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, mischte sich
der mit der ruhigen, besonnenen Stimme ein:
„Geht auch in erster Linie darum, daß ihr das Boot beobachtet und sofort meldet,
wenn die Burschen ihre Taktik ändern. Ich glaube auch nicht, daß hier plötzlich
jemand auftaucht."
„Trotzdem", sagte der Boß übellaunig. „Ich will, daß ihr auf alles achtet. Man hat
schon Pferde kotzen sehen. Direkt vor der Apotheke."
Dr. Morton hatte jedes Wort verstanden. Einer der Männer sprach mit leichtem
Dialekt.
Liverpool, dachte Morton. Vielleicht noch etwas weiter nördlich. — Blackpool?
Vorsichtig hob er den Kopf, als sich die Schritte entfernten. Der Wächter ging mit den
beiden anderen Männern. Er begleitete sie, bis sie achtern hinter den Aufbauten
verschwanden.
Dann kam er zurück. Er ging jetzt langsamer, blieb mehrmals stehen und kramte in
seinen Taschen.
Geh! dachte Dr. Morton. Geh noch ein Stück weiter, bevor du dir deine Zigarette
anzündest!
Tatsächlich ging der Wächter weiter. Er hatte seine MP unter den Arm geklemmt und
brummte unwillig, weil er vergeblich nach Streichhölzern suchte.
Dr. Morton löste den linken Handschuh vom Holz der Bordwand und
schob sie vorsichtig über den Decksrand. Der Handschuh fand Halt. Die zweite Hand
folgte, und Sekunden später lag Dr. Morton flach auf dem Deck. Wieder löste er die
Handschuhe behutsam und ohne einen Laut zu verursachen. Der Wächter hatte
seine Streichhölzer gefunden und riß eins ab.
Dr. Morton hatte eigentlich das Messer benutzen wollen, aber ihm blieb keine Zeit,
einen der Handschuhe auszuziehen.
Warum auch? fragte er sich. Ich kann gleich ausprobieren, wie die Dinger als Waffe
wirken.
Er war dicht hinter dem Mann mit der MP, dessen Streichholz immer noch nicht
brannte. — Wie kam er wohl zu seinem deutschen Vornamen?
„Fritz", sagte Morton leise.
Der andere drehte sich um. Von schräg oben sauste Dr. Mortons behandschuhte
Rechte auf seine Stirn und in sein Gesicht. Die vielen kleinen Haken mit den
beweglichen Spitzen verwandelten sein Gesicht in einen blutigen Brei.
Fritz riß den Mund auf, aber sein Schrei wurde erstickt. Mortons linke Hand
klammerte sich um den Hals des Mannes. Die widerwärtigen kleinen Haken drangen
ein wie in Butter.
Dr. Morton spürte, daß alle Kraft aus dem Körper wich und bremste diesen Fall.
Behutsam ließ er Fritz zu Boden gleiten.
Er sah sich um. Ein Wächter war am Bug, einer am Heck, das wußte er. Aber zu
sehen war keiner von beiden.
Jetzt zog er die Handschuhe doch aus und band sie an seinem Gürtel fest. Ebenso
die Schwimmflossen. Er zog das lange, schmale Messer mit der beidseitig
rasiermesserscharfen Klinge und huschte auf die Brücke zu. Diesmal würde ihn
niemand überraschen. Er sicherte nach allen Seiten, bevor er einen Blick durch die
offene Tür warf.
Der Mann am Steuer sah stur nach vorn.
„Ist doch klar", hörte Dr. Morton jemanden sagen, dessen Stimme ihm ebenfalls
bekannt vorkam.
Der Mann, der ihn bei seinem ersten Besuch überrascht hatte! Wo war er?
„So klar ist das nicht", sagte der Mann am Ruder.
„Hast wohl die Hosen voll?" fragte der andere spöttisch.
„Jedenfalls wär mir wohler, wenn das verdammte Boot endlich verschwunden wäre.
Was wir brauchten, wär 'ne Kanone, um's wegzuputzen. Dann hätten wir Ruhe."
„Du spinnst ja", sagte der andere.
Dr. Morton hatte nicht mit solchen Verzögerungen gerechnet, wie sie siel jetzt
ergaben. Er konnte nicht in den Brückenraum schlüpfen, solange er den Standort
des zweiten Mannes nicht einwandfrei ausgemacht hatte und sicher war, daß er
beide rechtzeitig erwischen würde.
Wenn die beiden anderen Männer zurückkamen oder auch nur einer von ihnen, oder
wenn der Wächter vom Heck oder vom Bug beschloß, ein Wort mit seinem Kumpel
zu reden ...
Dr. Morton schlich zu dem leblosen Fritz zurück und schleifte ihn zur Reling. Er sah
sich noch einmal um, bevor er ihn über Bord fallen ließ. Das Aufklatschen ging glatt
unter. Das hatte bestimmt niemand gehört.
Morton schlich zurück zur Brücke.
„Weißt du, wie lange wir jetzt schon mit voller Pulle fahren?" fragte der Steuermann
eben.
Sein Gesprächspartner antwortete nicht, gab nur ein uninteressiertes Brummen von
sich.
„Du verstehst nichts davon", sagte der Mann am Steuer. „Du bist wohl zu blöd, um zu
kapieren. Ich sag dir, der Motor ist so ausgelegt, daß du ihn rund um die Uhr mit
voller Pulle laufen lassen kannst. Mußt nur auf die Instrumente achten."
„Tu ich schon", sagte der Steuermann. „Kannst dich drauf verlassen, daß ich's tu!
Aber ich glaub nicht, daß das Ding wirklich so unverwüstlich ist. Manchmal hör ich
ganz komische Geräusche!"
„Du hörst dich furzen", sagte der andere grob. „Das ist's, was du hörst."
Dr. Morton hatte sehr konzentriert gelauscht, um zu bestimmen, woher die zweite
Stimme kam. Wenn er sich nicht ganz und gar irrte, war ihr Besitzer irgendwo links
vor dem Steuermann.
Ich muß es riskieren, dachte Morton. Im Notfall kann ich immer noch auf den zweiten schießen. Grimsby würde auch das mit dem Messer machen. Aber Grimsby ist leider nicht hier. Er öffnete die Tasche, in der die Llama steckte und vergewisserte sich, daß die kurzläufige Automatic sich leicht ziehen ließ. Noch einmal sah er sich um. Hier an Steuerbord war immer noch niemand zu sehen. Mit drei Schritten war er hinter dem Steuermann. Das Messer drang von hinten durch die Rippen und traf exakt ins Herz. Ein Gurgeln war alles, was der Mann von sich gab. „Was sagst du?" fragte der andere. Dr. Morton hatte die Stufen, die links neben dem Steuerrad nach unten führten, längst gesehen. Er zog das Messer aus dem Körper des Toten und ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Seine nächsten Handgriffe waren ebenso überlegt und zuverlässig wie der Stoß mit dem Messer. Er hielt sich nicht damit auf, den Schlüssel zu drehen und den Motor abzuschalten. Was nutzte es, wenn er den Schlüssel mitnahm? Entweder hatten die Burschen einen zweiten, oder sie schlossen die Zündung kurz. Mit einem Ruck riß Dr. Morton das ganze Bündel Drähte heraus, das unter dem Instrumentenbrett zu greifen war. Er riß noch einmal und hatte etwa ein Dutzend Drähte in der Hand. Die Maschine setzte aus, es gab noch einige knatternde Zündungen, und dann herrschte Ruhe. Sie wirkte fast unwirklich. Mehrere Sekunden vergingen, bis der Mann, der den Radarschirm beobachten sollte, verdutzt fragte: „He, was ist los? Hast du ihn abgestellt oder ist der verdammte Motor tatsächlich verreckt?" Die letzten Worte hörte Dr. Morton nicht mehr. Er war bereits wieder auf dem Steuerbord-Deck und sprang im nächsten Augenblick über die Reling. Sein Körper klatschte auf. Er ließ sich sinken, öffnete und regulierte die Sauerstoffzufuhr und nestelte die Schwimmflossen vom Gürtel los, um sie überzustreifen. Diesmal konnte er sich's nicht leisten, Stunden für die Rückkehr zur Drago zu brauchen. ● Eine halbe Minute später waren die sechs übriggebliebenen Männer alle auf der
engen Brücke. Sie redeten durcheinander, und niemand wußte, was eigentlich
passiert war.
„Er ist tot", sagte der Besonnene und richtete sich auf. „Erstochen."
„Erstochen?" fragte der Boß barsch. „Zum Teufel, wer soll ihn erstochen haben?"
„Was ist mit dem Motor?" fragte der Besonnene, anstatt sich in Vermutungen über
den Mörder des Steuermanns zu ergehen.
„Dem Motor fehlt nichts. Aber die Leitungen sind zerstört. Einfach rausgerissen. Das
dauert mindestens 'ne Stunde, bis wir das haben."
„Verdammt!" sagte der Boß wütend. Er sah sich um. „Wo ist Fritz?"
Erst jetzt merkten auch die anderen, daß Fritz fehlte.
„Er sollte an Steuerbord Wache schieben", sagte einer überflüssigerweise.
Dann ging er hinaus und sah sich um. Er konnte keine Spur von Fritz entdecken.
Auch auf sein Rufen meldete der Vermißte sich nicht.
Der Boß tauchte in der Tür auf. „Such alles ab!" befahl er.
„Ich allein?"
„Hast du Angst, unser Besucher ist noch an Bord? Der hat sich längst
davongemacht!"
Der Boß kehrte in den engen Brückenraum zurück. Er hatte sich gefaßt und befahl:
„Edgar kümmert sich um den Motor. Die anderen durchsuchen das Schiff. Für alle
Fälle. Ich übernehme das Radargerät."
Niemand widersprach. Zehn Sekunden später waren der Boß und Edgar allein. Eine
Weile herrschte Stille.
„Was hältst du davon?" fragte der Boß dann, und seine Stimme klang ziemlich
kleinlaut.
„Das weiß ich selbst nicht", knurrte Edgar. „Was für ein verdammtes Interesse haben
die Burschen an uns? Nur wegen der Weiber sind sie bestimmt nicht hinter uns her."
„Wir sollten versuchen, uns mit ihnen in Verbindung zu setzen und ihnen klarmachen,
daß wir wirklich nur zu einer Vergnügungsfahrt ausgelaufen sind. Himmel, die
verdammten Nutten sind's doch nicht wert, daß wir uns abschlachten lassen!"
Edgar schwieg. Er kniff die Lippen zusammen und dachte, daß er jetzt endlich wußte,
weshalb er den anderen nie recht gemocht hatte.
„Warum sagst du nichts, Edgar?" fragte der Boß wehleidig.
„Bildest du dir wirklich ein, die lassen sich mit so einer Versicherung abspeisen?"
fragte Edgar höhnisch. „Wenn die hier außer den Weibern noch was anderes
vermuten, werden sie selbst nachsehen wollen, ob's da ist oder nicht."
„Aber es ist doch nichts da!" jammerte der Boß.
„Das wissen wir !"
„Was sollen wir denn jetzt tun, Edgar?"
„Uns wehren", sagte der mit haßerfüllter Stimme. „Sie haben zwei von uns
umgebracht. Dafür werden sie bezahlen. Es wird mir ein Missionsfest sein, ein paar
von denen zur Hölle zu schicken!"
„Wieviel, denkst du, sind es?" „Höchstens drei oder vier. Mehr haben auf dem Boot
gar nicht Platz."
„Mit denen müßten wir fertig werden, nicht wahr, Edgar?"
Aber Edgar hatte beschlossen, die nutzlose Diskussion abzubrechen und sich auf die
Reparatur der Leitungen zu konzentrieren, damit der Motor der Santa Luisa
möglichst bald wieder lief.
„Mit denen werden wir fertig!" tröstete der ehedem so barsche und selbstsichere Boß
sich selbst.
● Dr. Morton brauchte nicht einmal die Leuchtpatrone zu benutzen. Er kreuzte den
Weg der Drago, kam kurz vorher für Sekunden an die Oberfläche und wurde —
zufällig — prompt von Sir Henry entdeckt.
Die Drago senkte ihren Bug mit leichtem Zittern ins Wasser. Sir Henry berechnete
den Punkt, an dem Dr. Morton voraussichtlich auftauchen würde und verschätzte
sich nur um wenige Yards.
Er half ihm an Bord.
„Alles glattgegangen?" sagte er und
man hörte seiner Stimme die Erleichterung an.
Dr. Morton streifte die Brille ab und grinste. Er befreite sich nach und nach von der
ganzen Ausrüstung und berichtete Sir Henry dabei vom Verlauf seiner Expedition.
„Wenn Sie zwei getötet haben, sind es noch sechs."
„Richtig."
„Ob sie jemanden an Bord haben, der den Motor wieder in Gang kriegt?"
„Das vermute ich. Aber er wird einige Zeit brauchen. Was sagt Grimsby?"
Beide streiften sich die Kopfhörer über.
„Hallo, Grimsby!"
„Sir?"
„Geben Sie mal Ihre Position durch."
Grimsby tat's. Dr. Morton sah auf die Karte zwischen den beiden Sitzen im Cockpit
der Drago.
„Das heißt, Sie tauchen in ungefähr zehn Minuten hier auf."
„Ja, Sir."
„Ausgezeichnet, Grimsby. Sie handeln wie besprochen. Und passen Sie auf!"
„Keine Angst, Sir. Für alle Fälle trage ich eine Schwimmweste." Grimsby kicherte und
schien sich ausgesprochen wohl zufühlen.
Dr. Morton wunderte sich nicht über das Kichern.. Er kannte Grimsby besser als
irgendein anderer Mensch. Drohende Gefahren steigerten Grimsbys Lebensgefühl,
machten ihn jedoch nicht leichtsinnig. Er konnte sich darauf verlassen, daß Grimsby
keinen Fehler machte. Blieben nur die Imponderabilien, mit denen man's bei jeder
derartigen Unternehmung zu tun hatte . . .
Bevor Dr. Morton sich anzog, trank er einen tüchtigen Schluck Cognac. Er grinste
Henry an. Der grinste verständnisinnig zurück.
„Soll ich Ihnen was verraten, Glenn?" „Nur zu."
„Ich hab mich seit meinen Kindertagen nicht mehr so wohlgefühlt wie jetzt."
„Dann genießen Sie's", gab Dr. Morton mit mildem Spott zurück.
Er schlüpfte in Hemd, Hose und Socken und zog die leichten Schuhe an. Die Drago
machte jetzt wieder langsame Fahrt. Sie umkreiste die Santa Luisa, jederzeit bereit,
wie ein Raubvogel auf sie zuzustoßen.
● Grimsby hatte während des Fluges ebenso intensiv darüber nachgedacht wie vorher,
seit Dr. Morton sich über Funk gemeldet hatte. Er war immer noch nicht zu einem
eindeutigen Ergebnis gekommen.
Hatte der Chef Sir Henry nun eingeweiht oder nicht? Konkreter: Wieviel wußte der
Earl? Und wie hatte Dr. Morton ihm das, was er wissen mußte verkauft?
Je länger Grimsby darüber nachdachte, desto mehr neigte er dem Schluß zu, daß
Dr. Morton seinem neuen Freund sehr viel anvertraut haben mußte.
Er wird wissen, was er tut, dachte Grimsby. Aber wir werden darüber sprechen.
Sobald diese Geschichte hier erledigt ist.
Er kontrollierte seine Instrumente und sah auf die See hinab. Noch nichts. Lange
konnte es jetzt nicht mehr dauern. Er würde die Santa Luisa bald entdecken.
Da er nicht wußte, wie die Dinge sich letztlich entwickeln und wieviel Zeit ihm bleiben
würde, streifte er die Gasmaske jetzt schon über. Wenig später entdeckte er die
Santa Luisa tatsächlich. Er benutzte das starke Glas und überzeugte sich, daß es
das gesuchte Schiff war. Ein Gaffelschoner, kein Zweifel. Dr. Morton hatte ihn genau
beschrieben.
Grimsby suchte die Umgebung des Segelschiffs ab, bis er auch die Drago
ausgemacht hatte. Das war nur mit dem Nachtsichtgerät möglich, denn im
Gegensatz zur Santa Luisa gab's auf der Drago keinerlei Licht.
Grimsby nahm noch einmal Verbindung mit Dr. Morton auf.
„Ich bin ungefähr anderthalb Meilen nördlich von unserem Objekt, Sir. Hören Sie den
Sikorsky?"
„Nein, Grimsby."
„In Ordnung. Dann hört mich auf der Santa Luisa auch niemand."
„Bestimmt nicht. — Wie sieht es in der Umgebung aus?"
„Alles ruhig, Sir.”
„Keine anderen Schiffe, Grimsby?" „Absolut nichts."
„Das ist gut.«
»Sie denken an die Masken, Sir?" „Selbstverständlich, Grimsby. Sie liegen schon
bereit."
„Verzeihen Sie, Sir."
„Keine Ursache. Alles Gute, Grimsby!"
„Danke, Sir."
„Alles Gute!" sagte auch Sir Henry.
Grimsby bedankte sich höflich.
Er zog den Sikorsky-Hubschrauber steil nach oben. Erst als er eine Höhe von mehr
als 2000 Fuß erreicht hatte, näherte er sich der Stelle, an der die Santa Luisa auf
den leichten Wellen schaukelte.
Als er ziemlich exakt über dem Gaffelschoner war, grinste er zufrieden und ging
allmählich tiefer. Er empfand großes Vergnügen, wenn er an die Überraschung der
Burschen da unten dachte, an die dummen Gesichter, die sie ziehen würden, wenn
sie merkten, was los war. Aber dann würde es zu spät sein.
Noch tausend Fuß über dem Meer war die Maschine jetzt. Theoretisch hätte man
den Krach des Rotors unten auf der Santa Luisa hören müssen. Aber Grimsby war
sicher, daß es noch eine Weile dauerte, bis man ihn entdeckte. Dafür sorgte Dr.
Morton. Er hatte ein Mikrofon zur Hand genommen und einen großen Lautsprecher
auf die Santa Luisa gerichtet. Zuerst drehte Sir Henry das Tonbandgerät unten in der
Kabine auf volle Lautstärke, und die sechs Männer auf der Santa Luisa eilten
überrascht nach Backbord, um festzustellen, was es mit der schrillen Musik auf sich
hatte.
„Jetzt sind sie übergeschnappt!" sagte der Boß, der ebenfalls aus dem Radarraum
gekommen war.
„Da steckt was hinter!" warnte einer der anderen Männer. „Irgendein Trick!"
Die Musik brach ab, aber im gleichen Augenblick dröhnte eine laute Stimme übers
Wasser, die die Besatzung der Santa Luisa aufforderte, sich zu ergeben, alle Waffen
gut sichtbar auf einen Haufen zu legen und sich achtern mit erhobenen Händen
aufzustellen.
„Die sind verrückt", murmelte der Boß wütend. Er zitterte vor Erregung. „Die kriegen
was vor'n Bug!" knirschte er.
Doch der Besonnene sagte:
„Zwecklos, daß wir das tun. Wir dürfen uns nicht provozieren lassen. Darauf zielen
die doch nur ab! Sie sind zu weit weg für unser MG."
„Dann müssen wir sie herlocken", knirschte der Boß in ohnmächtiger Wut. „Wie?"
fragte der andere ruhig.
„Sie können sich nicht entschließen, meinem Vorschlag zu folgen?" drang die
Stimme vom Boot herüber, unzweifelhaft von tiefem Spott erfüllt. „Gut. Ich gebe
Ihnen einige Sekunden zum Überlegen!"
Die schrille Musik setzte wieder ein. Zwei der Männer auf der Santa Luisa hielten
sich spontan die Ohren zu. Aber Edgar spitzte die Ohren und sah nach oben. Er
machte einen Schatten aus, der sich auf das Schiff nieder senkte. Im gleichen
Augenblick erkannte er das Knattern der Rotoren.
„Ein Hubschrauber!"
„Was ist los?” brüllte der Boß. „Was sagst du? Man versteht sein eigenes Wort nicht!"
„Da oben! Daa!"
Edgar trug keine MP. Er riß seine Pistole nach oben, eine Armeepistole ,Le Francais'
vom Kaliber neun Millimeter und schoß.
Die anderen brauchten immer noch einige Sekunden, um zu begreifen, zu mal die unablässig schrillende Musik sie irritierte.
Als einer der Männer die Maschinenpistole in Anschlag brachte und den Abzug
betätigte, machte der Hubschrauber einen Satz nach vorn. Im gleichen Moment
prallten verschiedene kleine Behälter aufs Deck der Santa Luisa. Sie zerschellten
beim Aufprall. Weißlicher Nebel wallte über alle Decks und drang auch durch die
offenen Türen in die Aufbauten und Unterdecks.
Zwei weitere Männer hatten ihre MPs hochgerissen, um auf den Hubschrauber zu
schießen. Aber sie kamen nicht mehr dazu, die Abzüge zu betätigen. Der weißliche
Nebel hüllte die Santa Luisa jetzt völlig ein. Er nahm den Männern den Atem. Sie
begannen zu würgen, ließen ihre Waffen fallen, griffen nach ihren Hälsen, rannten
kopflos hin und her, um dem weißlichen Nebel zu entgehen.
Der Besonnene wollte über Bord springen und sich schwimmend in Sicherheit
bringen. Aber bevor er die Reeling erreichte, brach er zusammen und blieb röchelnd
auf den Decksplanken liegen.
Grimsby meldete sich über Funk bei Dr. Morton und Sir Henry.
„Ich glaube, ich habe das Ziel getroffen, Sir”, sagte er bescheiden-stolz.
„Sie haben es exakt getroffen, Grimsby", bestätigte Dr. Morton. „Gratuliere."
„Danke, Sir."
„Selbst was abbekommen?"
„Nein, Sir. Die einzige Salve ist knapp an der Kanzel vorbeigegangen."
„Und die Pistolenschüsse?"
„Pistolenschüsse, Sir?" Davon habe ich nichts bemerkt."
„Okay, Grimsby. Fliegen Sie zurück, aber enttarnen Sie den Sikorsky noch nicht.
Geben Sie Nachricht, sobald Sie gelandet sind."
„Ich kann Ihnen hier nichts mehr helfen, Sir?"
„Wir werden mit dem Rest allein fertig, Grimsby. Aber möglicherweise brauchen wir
Sie . . ."
Er sprach den Rest nicht aus. Grimsby zögerte nur wenige Sekunden. Dann sagte er
mit völlig ruhiger Stimme:
„Geht in Ordnung, Sir. Ich halte mich bereit."
Sie beendeten die Unterhaltung. Glenn Morton und der Earl of Saffron sahen, wie
der Sikorsky-Hubschrauber in einem weiten Halbkreis über die Drago flog und dabei
rasch Höhe gewann. Er flog in Richtung Dartmouth und war bald in der Nacht
verschwunden.
Einzelne Fetzen der weißlichen Schwaden waren mittlerweile auf die Drago
zugetrieben, konnten Glenn Morton oder Sir Henry jedoch nichts anhaben, da beide
Gasmasken trugen. Ihre Stimmen klangen verändert, doch konnten sie sich gut
miteinander verständigen.
„Sollen wir, Glenn?" fragte Sir Henry.
Er war ungeduldig und verbarg das nicht.
„Warten wir noch einige Minuten. Die Wirkung des Zeugs hält mindestens eine
Stunde an. Aber es wird sich in Kürze verzogen haben. Dann können wir die
verdammten Masken ablegen."
„Aber wir könnten doch schon längsseits gehen!" sagte der Earl.
„Meinetwegen."
Sir Henry steuerte die Drago in die Nähe der Santa Luisa. Ein leichter Schauer lief
ihm dabei über den Rücken. War das Mittel tatsächlich zuverlässig? Oder liefen sie in
eine Falle? Prasselte gleich das Maschinengewehrfeuer und riß unschöne Löcher in
die glatte, mattschwarze Außenhaut der Drago?
Sir Henry warf Glenn Morton einen unauffälligen Seitenblick zu. Der Freund saß entspannt im zweiten Schalensitz des Cockpits, und obwohl man wegen der Maske von seinem Gesicht nichts erkennen konnte, wirkte er mit den vor der Brust gekreuzten Armen und den lang ausgestreckten Beinen so zuversichtlich, daß Sir Henry seine Bedenken spontan über Bord warf. ● Dr. Morton warf die Strickleiter, die sich schon beim ersten Versuch festhakte. Die
Drago schaukelte sanft neben dem Gaffelschoner, auf dem kein menschlicher Laut
zu hören war. Mehrere Fender sorgten dafür, daß die Rümpfe nicht aneinander
scheuerten.
„Bitte, Henry! Sie haben den Vortritt. Ich war schon zweimal hier und fühle mich fast
zu Hause.” Dr. Morton grinste unter seiner Maske.
„Ja, danke", sagte Sir Henry und kletterte hinauf. Oben sah er sich um. In seinem
Blickfeld waren drei Männer, und allesamt lagen sie reglos auf den Decksplanken.
Dr. Morton turnte ebenfalls die Strickleiter herauf.
„Wie sieht's aus?" fragte er, lupfte die Maske und prüfte die Luft. „Wir können die
albernen Dinger ablegen", verkündete er dann.
Sir Henry war zuerst noch mißtrauisch, aber im nächsten Augenblick atmete er die
frische Nachtluft tief ein. Er folgte Dr. Mortons Beispiel und warf die nicht mehr
benötigte Maske auf die Drago hinunter.
„Ihre Befehle, Käpt'n?" erkundigte er sich fröhlich.
„Wir sammeln die Kerle ein und fesseln sie. Vorsichtshalber durchsuchen wir sie
nach Waffen und nehmen ihnen alles ab, was wir finden."
Stricke und Fesseln waren rasch herbeigeschafft. Auch die restlichen drei Männer
fanden sich hinter verschiedenen Aufbauten. Als Grimsby seine ‚Päckchen'
abgeworfen und der weißliche Nebel die Santa Luisa eingehüllt hatte, mußten sie
auseinandergelaufen sein wie eine Hühnerschar, auf die ein Habicht niederstößt.
„Was machen wir mit der Leiche?"
fragte Sir Henry.
„Wo liegt sie?"
„Dort neben der Brücke."
„Lassen wir sie vorläufig liegen. Sie wird die anderen daran erinnern, daß wir nicht
spaßen.” „Und die Frauen?"
„Sind vermutlich ebenso bewußtlos wie die hier. Wir gehen später hinunter. Ich habe
alle Luken geöffnet. Im Moment ist es noch zu riskant. Der Stoff hält sich in
geschlossenen Räumen länger."
„Mit den Masken . . ." Dr. Morton winkte ab.
„Kommen Sie mit, Henry. Ich bin überzeugt, wir finden hier vorne recht interessante
Dinge."
Brücke und Radarraum waren gut durchlüftet. Dort konnten die beiden sich ohne
Gefahr aufhalten. Dr. Morton kontrollierte die Leitungen und sagte anerkennend:
„Muß ein tüchtiger Mann sein. Er hätte höchstens noch zehn Minuten gebraucht, um
meine Zerstörungen zu beseitigen."
„Schauen Sie mal, Glenn, das sieht aus wie ein Logbuch."
„Tatsächlich. Und was steht drauf?" „Fleetwood", sagte Sir Henry überrascht.
„Der richtige Schiffsname?"
„Ja. Und gleichzeitig der Heimathafen. Fleetwood liegt doch in der Nähe' von
Blackwood, nicht wahr?"
„Am Südende der Morecambe Bay", bestätigte Dr. Morton.
„Soll ich Ihnen die letzte Eintragung vorlesen, Glenn?"
„Bitte."
„Hier steht das Datum und dann: ,Die Fleetwood läuft unter Käpt'n Mushrooms
Kommando zu einer Kaperfahrt aus. Käpt'n und Besatzung sind ganz wild auf jede
Menge Spaß, und den werden sie auch haben. Hi!` — Werden Sie schlau daraus,
Glenn?"
„Ein Spaßvogel, dieser Käpt'n Mushroom", murmelte Dr. Morton. „Ich bin nur
gespannt, ob er seinen Humor nicht mittlerweile verloren hat."
„Das Logbuch ist ein Witz, wie?"
„Allerdings. Und dieser Mushroom — oder wie immer es heißt — scheint mir der Typ
des reichen Nichtsnutzes zu sein. Sie kennen die Burschen ja. Ererbtes Vermögen
und keinerlei Motivation für eine ernsthafte Tätigkeit. Ein fast krankhaftes Bedürfnis
nach Zerstreuung. Gleichgesinnte finden sich in so einem Fall immer. Die Ergebnisse
sind dann nicht selten kriminell."
Sir Henry sollte später merken, wie exakt sein Freund Mushroom analysiert hatte.
Jetzt durchsuchten sie den Radarraum und kehrten dann zu den Gefesselten zurück.
Einige begannen sich zu regen. Dr. Morton stieß einen mit dem Fuß an.
„Sie sind bei Bewußtsein", sagte er sachlich. „Wie heißen Sie?"
„Scheren Sie sich zum Teufel", knurrte der andere mühsam. Ihm war speiübel. Im
Augenblick war ihm alles sehr egal.
Dr. Mortons Blick schweifte nach rechts. Dort lag der Boß der Bande, also vermutlich
Mr. Mushroom. Auch er kam eben zu sich. Morton ging hin, packte ihn, hob ihn hoch
und lehnte ihn unsanft gegen eine der Aufbauten.
„Machen wir's kurz, Mr. Mushroom", sagte er. „Sie spucken alles aus, was uns
interessieren könnte. Ohne große Umstände. Andernfalls folgen Sie Fritz und dem
Steuermann unverzüglich nach. Ich habe genügend Zeit mit Ihnen vertrödelt. Meine
Geduld ist erschöpft."
Sir Henry schüttelte sich unwillkürlich. Glenn Morton sprach mit solcher Kälte und
Bestimmtheit, daß es keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Worte gab.
Was hatte Morton überhaupt mit den Männern vor? Konnte er sie den Hütern der
Gesetze übergeben? Brachte ihn das nicht in die Verlegenheit, eine Menge
unangenehmer Fragen beantworten zu müssen?
Nein, dachte Sir Henry. Er wird das Problem auf andere Weise lösen. Auf sehr
radikale Art vermutlich. Ich werde Zeuge sein. Er vertraut mir.
Wie, wenn das nicht so wäre?
Für Sekunden wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Er wußte:
Wenn Dr. Morton ihm nicht vertraute, mußte er ihn ebenfalls liquidieren. Ebenso, wie
er's mit den Männern tun
würde...
Sir Henry war sehr stolz und glücklich, daß er Dr. Glenn Morton seinen
Freund nennen durfte.
● Mr. Mushroom, er hieß tatsächlich so, brauchte wirklich nicht mehr als eine nachdrückliche Aufforderung, um los zu sprudeln. Er wunderte sich, er überhaupt noch lebte und zweifelte nicht daran, daß dieses Leben an einem seidenen Faden hing. Er war kein Held. Er bibberte vor Angst und zeigte sich so eifrig, Dr. Mortons Fragen zu beantworten, daß es schon peinlich war.
Zwei seiner Kameraden wandten sich denn auch voller Verachtung ab. Sie taten's so deutlich, daß Mr. Mushroom darauf aufmerksam wurde. Voller Wut und Angst und Verzweiflung dachte er: Spielt euch nur auf! Markiert nur die Helden! Wenn ihr an meiner Stelle wärt . . . Ich jedenfalls bin lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held! Dr. Morton beendete die erste Vernehmung. „Jetzt können wir unter Deck gehen, Henry", sagte er zu seinem Freund. „Schauen wir nach den Frauen." Sir Henry folgte ihm, und während sie nach den Frauen suchten, fragte er: „Was wird aus ihnen, Glenn? Sie können schließlich nichts dazu. Mushroom und seine Bande haben sie unter falschen Versprechungen an Bord gelockt. Gewiß, es sind Nutten. Aber . . ." Dr. Morton blieb stehen und sah ihn an. In seinem Gesicht rührte sich nichts. „Was können wir mit ihnen machen, Henry? Was schlagen Sie vor?" „Oh, wenn sie uns gar nicht zu Gesicht bekämen . . . Wenn wir zum Beispiel Masken trügen, aus Strümpfen oder so . . . Wir könnten sie doch irgendwo an Land setzen und . . ." Ja, gewiß", erwiderte Dr. Morton ruhig und geduldig. „Sie würden natürlich die Mäuler aufreißen und ein großes Geschrei erheben. Sie waren lange genug an Bord der Santa Luisa oder der Fleetwood, um einiges mitzubekommen. Es Würde einen ziemlichen Wirbel geben. Man Würde nach dem Schiff fahnden, würde seine Spur vielleicht bis hierher in den Kanal verfolgen." „Ja, und?" „Möglicherweise würde man trotzdem nie wieder etwas von dem Schiff finden. Aber irgendein kluges Köpfchen würde darüber stolpern, daß just zu der Zeit, da dieser Gaffelschoner verschwand, ein gewisser Earl of Saffron und ein Dr. Morton mit der Drago hier gekreuzt haben. Man würde uns nichts beweisen können, aber vielleicht käme es zu einer Untersuchung. So etwas ist immer unangenehm, Henry. Ich kann gut darauf verzichten." Sir Henry schwieg. Er dachte über Glenn Mortons Worte nach. Fand keinen schwachen Punkt an dem, was sein Freund gesagt hatte. Dr. Morton ging weiter und öffnete einige Türen. Sir Henry folgte ihm. Sie fanden die Frauen. Die armen Wesen waren völlig verschüchtert. Außerdem litten sie unter den Nachwirkungen des Gases. Zwei hatten sich übergeben. Dr. Morton und Sir Henry stellten einige Fragen. Sie bekamen kaum vernünftige Antworten. „Wir gehören nicht zu Mushrooms Bande", versicherte Sir Henry einer Blonden, die bis zur Taille nackt war und schöne, feste Brüste besaß. Ihr Rücken begann zu vernarben. Er sah ziemlich scheußlich aus. Die Blonde sah abwechselnd ihn und Dr. Morton aus großen Augen an. Dann murmelte sie: „Liz ist tot. Sie haben sie totgeschlagen. . .” „Wer ist Liz?" fragte Sir Henry. „Liz ist tot", wiederholte die Blonde und schien durch ihn hindurchzusehen. „Kommen Sie, Henry", sagte Dr. Morton leise. „Sie ist völlig verwirrt. Sie sind alle miteinander in diesem Zustand. Was Mushroom und seine Leute mit den armen Dingern gemacht haben, muß sehr hart gewesen sein. Immerhin handelt sich's nicht um Pfarrerstöchter, sondern um Huren. Und die in solche Verfassung zu bringen . ." „Diese Liz", sagte Sir Henry. „Erinnern Sie sich an den Sack, der über Bord geworfen wurde?"
Sie durchsuchten den Gaffelschoner von der Galionsfigur — einem wunderschön
geschnitzten großbrüstigen nackten Mädchen — bis zum Achterpiek, fanden aber
nichts Wesentliches.
„Kehren wir erst einmal auf die Drago zurück", sagte Dr. Morton. „Inzwischen wird
Grimsby in Brighton gelandet sein und auf unseren Bericht warten."
Grimsby meldete sich aber noch nicht. Sir Henry sah Dr. Morton beunruhigt an, doch
der schüttelte lächelnd den Kopf.
„Keine Angst. Grimsby wird noch mit dem Hubschrauber beschäftigt sein. Er ist ein
sehr gründlicher und zuverlässiger Mann."
„Sie sprachen vorhin von Enttarnen, Glenn."
„Ja“. Dr. Morton schwieg, bis er zwei Cognacschwenker fingerbreit gefüllt hatte.
Einen gab er an Sir Henry weiter. „Ja, Henry. Sie wissen jetzt eine ganze Menge
über mich. Nur ein Mensch weiß mehr."
„Grimsby."
Dr. Morton nickte.
„Warum haben Sie soviel Vertrauen zu mir, Glenn? Oder täusche ich mich?" Er
fragte mit ruhiger, leiser Stimme, aber ein kaum spürbares Vibrieren verriet seine
Spannung.
Dr. Morton erwiderte lächelnd:
„Sie haben sich bewährt, Henry. So, wie Sie sich an der Aktion gegen die Santa
Luisa — bleiben wir ruhig bei diesem Namen — von Anfang an verhalten haben,
haben Sie meine letzten Zweifel beseitigt."
Sir Henrys Stimme vibrierte jetzt stärker:
„Heißt das, Sie akzeptieren mich als —Mitarbeiter, Glenn? Als ständigen
Mitarbeiter?"
Dr. Morton sah ihn lange schweigend an. Dann sagte er knapp und sachlich: „Ja,
Henry."
Der Earl of Saffron atmete tief durch. Er versuchte nicht, das Grinsen zu
unterdrücken, das allmählich, wie ein langsam werdendes Licht, sein Gesicht
überzog.
„Danke, Glenn!"
„Trinken wir ein Glas auf unsere Partnerschaft."
Das taten sie. Als Grimsby sich meldete, griffen beide nach den Kopfhörern. Ich bin
gut zurückgekommen, Sir. Und sie?“
„Wir hatten einen vollen Erfolg, Grimsby. Allerdings haben wir hier
jetzt zehn Leute, die wir irgendwie versorgen müssen.”
„Material, Sir?" fragte Grimsby zögernd. Und setzte hinzu:
„Für den Staatsanwalt?"
Dr. Morton lacht belustigt.
„Sir Henry weiß alles, Grimsby. Besser gesagt: Er darf alles wissen. Betrachten Sie
Sir Henry als den Dritten in unserem Bund."
Eine Weile blieb er still.
„Ich verstehe, Sir", sagte Grimsby dann.
„Ich — äh — ich hoffe, wir werden uns gut verstehen, Mr. Grimsby", sagte Sir Henry
einigermaßen verlegen.
„Sicher, Sir", erwiderte Grimsby nüchtern.
Dr. Morton machte der Unterhaltung ein Ende, indem er sagte:
„Wie Sie ganz richtig sagten, Grimsby: Material. Ihr Einverständnis vorausgesetzt.
Wenn Sie fürchten, daß diese zehn Leute Ihnen zuviel Arbeit machen, finden wir eine
andere Lösung."
„Nicht doch, Sir!" sagte Grimsby. „Sie werden weitgehend selbst für sich sorgen. —
Zehn Leute, sagten Sie?"
„Sechs Männer und vier Frauen." „Die Männer sind jung und kräftig, Sir?" „Ja,
Grimsby."
„Dann können sie uns nützlich sein. Ich denke an den Ausbau der Station, Sir. Im
Hinblick auf Ihre wissenschaftlichen Vorhaben . . ."
„Sehr gut, Grimsby. Sie denken also, Sie können die Männer gebrauchen?"
„Das wird sich rasch zeigen, Sir. Was Allerdings die Frauen betrifft . . ." „Oh, da
werden wir auch eine Lösung finden.” Dr. Morton warf Sir Henry
einen Blick zu. „Vielleicht eine recht humane Lösung."
Der praktische Grimsby ging nicht auf
diese letzte Bemerkung des Chefs ein, sondern sagte:
„Ich mache mich also am besten gleich auf den Weg, Sir. Sie und Sir Henry werden
mir die Ladung sicher praktisch verpacken. Die erste Partie schaffe ich noch vor
Hellwerden. Die zweite allerdings müßte ich in der kommenden Nacht holen."
„Einverstanden, Grimsby."
Sie besprachen einige technische Details. Dann beendeten sie das Gespräch. Dr.
Morton sah seinen Freund lächelnd an:
„Sie steckten natürlich voller Fragen, Henry. Sie müssen ja vor Neugier platzen!"
„In der Tat", murmelte Sir Henry. „Ich glaube, ich habe Fragen für mindestens drei
Tage."
„So lange werden wir zwar nicht hierbleiben, aber ich denke, daß die Zeit, die uns
bleibt, ausreicht. Jetzt lassen Sie uns aber erst an Bord der Santa Luisa
zurückkehren und Grimsbys Fracht vorbereiten."
Sir Henry nickte.
„Santa Luisa", sagte er, als er hinter Dr. Morton an Bord des Gaffelschoners kletterte.
„Sie haben den Namen geändert und die Kennzeichen gelöscht..." und hätten das
Schiff wieder in
Die Fleetwood verwandelt, bevor sie Heim gekehrt wären vollendete Dr.
Morton. „In der Beziehung waren die Burschen ziemlich naiv."
„Nicht nur in der Beziehung."
„Richtig. Aber sie sind nicht nur naiv, sondern auch gefährlich."
„Sie sind Verbrecher von der übelsten Sorte."
Dr. Morton lachte kurz und trocken auf.
„Stimmt ebenfalls", sagte er. „Wir sind mindestens drei Klassen besser."
Sir Henry hatte die Erwiderung schon auf der Zunge, schluckte sie aber herunter. Er
wäre nie auf die Idee gekommen, Dr. Morton einen Verbrecher zu nennen. Sich
selbstverständlich auch nicht. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für eine Diskussion
über dieses Thema. Irgendwann würden sie schon dazu kommen. Wie sie zu jedem
der zahllosen Themen, die Sir Henry beschäftigten, irgendwann kommen würden.
Sie sortierten die ‚Fracht' für Grimsby.
Dr. Morton hatte sich dafür entschieden, zunächst fünf der Männer nach Brighton
bringen zu lassen.
„Die Frauen sind in einem miserablen Zustand", erklärte er. „Ich werde mich um sie
kümmern."
Sir Henry nickte und schwieg. Erst nachdem Grimsby den Sikorsky-Hubschrauber an
der Steuerbordseite der Santa Luisa gewassert, seine Fracht übernommen hatte und
wieder gestartet war, als Dr. Morton und er einen kleinen Imbiß nahmen, fragte er
zwischen zwei Bissen:
„Was wird aus den Frauen, Glenn?”
Dr. Morton antwortete nach einer kleinen Pause:
„Haben Sie sich je mit Hirnchirurgie befaßt, Henry? Theoretisch, meine ich." „Nein,
Glenn."
„Ist Ihnen bekannt, daß man das menschliche Hirn manipulieren kann?"
„Allerdings. Darüber wird in letzter Zeit viel berichtet."
„Ich bin ziemlich weit auf diesem Gebiet", sagte Dr. Morton sachlich. „Ich denke
daran .. ."
„Halt! Lassen Sie mich raten!" sagte Sir Henry erregt. Seine Wangen glühten: „Sie
wollen bei den vier Unglücklichen einen Eingriff vornehmen und sie hinterher laufen
lassen. Sie werden sich an nichts von dem erinnern, was hier auf dem Schiff und
anschließend passiert ist!"
„Sie werden sich nicht einmal an ihre Entführung erinnern", sagte Dr. Morton. „Aber
warum nennen Sie sie Unglückliche, Henry?" Er lächelte wie einer, der weit in die
Zukunft sieht: „Vielleicht führen meine Experimente dazu, eine besonders glückliche
Spezies Mensch zu schaffen."
ENDE
Vorschau auf DR. MORTON 9 „EIN GANGSTER KILLT DEN ANDERN" Maidens Puls ging jetzt so ruhig, als säße er an seinem Schreibtisch im neuen Hauptquartier von Scotland Yard. Sein Zimmer ging auf den Broadway hinaus, und wenn er nachdachte, betrachtete er oft das Gedränge am Eingang zur U Bahn-Station St. James's Park. Er hatte die oberen Stockwerke des Gebäudes durchsucht, ohne gestört zu werden. Allerdings auch ohne Erfolg. Einige der verschlossenen Räume hatte er — weit außerhalb der Legalität — geöffnet, dabei jedoch festgestellt, daß es sich offenbar um Lagerräume ganz und gar unverdächtiger Art handelte. Jetzt war er im zweiten Stockwerk und hielt den Schritt und den Atem an, als er Geräusche vornahm, die zwar ziemlich weit entfernt waren, ihn jedoch trotzdem warnten und zu größter Vorsicht veranlaßten. Die Geräusche verstummten. Maiden stand reglos. Er wartete darauf, daß sie sich wiederholten. Vergeblich. Hatten seine Nerven ihm einen Streich gespielt? Hatte er etwas gehört, was es überhaupt nicht gab? Maiden schüttelte den Kopf. Er hätte darauf gewettet, daß er sich nicht getäuscht hatte. Jede Wette wäre er eingegangen. Behutsam schlich er weiter. Der Holzboden gab an verschiedenen Stellen nach. Die losen Bretter hatten die Angewohnheit, zu knarren. Maiden achtete sorgsam darauf, wohin er seine Füße setzte. Er kam auf diese Weise zwar nur langsam voran, verursachte aber auch so gut wie kein Geräusch. Stimmte die Richtung noch? Bewegte er sich immer noch auf die Stelle zu, von der die längst verstummten Geräusche ausgegangen waren? Maiden hoffte das. Er redete sich selbst Mut zu. Allerdings gestand er sich auch ein, daß es in diesem Gewirr von Gängen schwierig war, sich nicht zu verirren. Mitten im Schritt verhielt er plötzlich. Er war eben im Begriff, um eine Ecke zu biegen, als er zwei Gestalten entdeckte. Sie waren keine 20 Yards entfernt, und der markante Kopf des einen löste in Maidens Hirn ein Signal aus.
Ich kenne ihn! dachte er. Ich habe ihn schon irgendwo gesehen. Nicht in natura — aber als Bild. Ich habe ihn in der Times gesehen. Oder im Daily Tele-, graph.
Es ist ...
Er kam nicht auf den Namen. Noch nicht. Aber das war im Augenblick auch
unwichtig. Jedenfalls war es ein Mann, den er absolut nicht hier zu sehen
erwartet hatte.
Was suchte er hier? Was hatte er mit der Bande von Erpressern zu tun?
Maiden schüttelte den Kopf. Vorsichtig lugte er noch einmal um die Ecke. Die
beiden Männer waren verschwunden.
Was jetzt?
Ich stehe vor einer völlig veränderten Situation, dachte Maiden — und fühlte
sich plötzlich furchtbar hilflos und unerfahren.
Superintendent Walker hätte bestimmt gewußt, was jetzt zu tun war. Für ihn
hätte die Lage nichts Beängstigendes gehabt.
Aber Maiden war jung und noch ziemlich neu in seinem Beruf. Er versuchte
vergeblich, diesen Mann, dessen Gesicht ihm bekannt war, dessen Name aber
nicht — noch nicht — einfiel — in sein Bild von der Situation einzubauen.
Egal! dachte er und zwang sich, einen Entschluß zu fassen. Ich bin viel zu weit
vorgeprescht, als daß ich jetzt einfach umkehren könnte. Wie stände ich denn
da? Ich müßte mich ja vor mir selbst schämen. Jetzt gibt's nur eins:
Feststellen, was dieser Mr.... — was dieser Mann mit der Bande zu tun hat.
Er schlich durch den wieder verlassen daliegenden Gang vorwärts. Durch
welche Tür waren die beiden verschwunden? Zwei kamen in Frage. Eine links,
die andere rechts.
Maiden versuchte es mit der Tür auf der linken Seite. Sie war verschlossen.
Bevor er sich die Mühe machte, das Schloß zu öffnen, wandte er sich nach
rechts.
Diese Tür gab sofort nach. Dahinter lag ein weiterer kurzer Gang, und dann
kam eine Treppe.
Sie führte eng und steil nach oben. Maiden zögerte. Im dritten Stockwerk hatte
er nichts Verdächtiges gefunden. Aber was bedeutete das schon?
Selbstverständlich konnte er etwas übersehen haben. Seine Durchsuchung
hatte sich gezwungenermaßen auf Stichproben beschränkt.
Maiden atmete tief durch, bevor er die Treppe erklomm. Auf halber Höhe hielt
er jäh ein. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er wußte plötzlich, wer der
Mann war, dessen Gesicht er durch die Zeitungsabbildung kannte.
Dr. Morton. Ein angesehener Zeitgenosse, fast ein berühmter Mann. Eine
Koryphäe auf seinem Gebiet. Mitglied des Königlichen Kollegiums der
Chirurgen. Ein Mann mit viel Geld außerdem und mit Freunden in der
Hochfinanz und im Adel.
Zum Teufel, dachte Maiden, was macht dieser Mann hier in einem Lagerhaus
südlich der Themse, in dem vermutlich eine üble Erpresserbande ihr
Hauptquartier hat?
Er fand keine Antwort auf die Frage.