DAS BUCH Eine dunkle Macht herrscht über die Menschen und die Magie der Insel Bhealfa. Während die reichen Bürger sich ...
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DAS BUCH Eine dunkle Macht herrscht über die Menschen und die Magie der Insel Bhealfa. Während die reichen Bürger sich teure Schutz- und Vergnügungszauber leisten, steht dem einfachen Volk nur billige Magie zur Verfügung, die die Menschen blenden soll und sie heimlich ausspioniert. Allein in Valdarr, der Hauptstadt der Insel, regt sich der Widerstand. Zur selben Zeit zieht der Qalochier Reeth Caldason durch die Lande, einer der letzten Angehörigen eines kriegerischen Stammes, welcher von den Machthabern nahezu ausgerottet wurde. Caldason ist ein Wanderer zwischen den Welten, einsam und stets auf der Suche nach Rache für sein Volk. Im Kampf gilt er als unbesiegbar, doch ein geheimnisvoller Zauber beschert ihm immer wieder seltsame Anfälle. Auf der Suche nach Heilung begegnet er dem jungen, noch unerfahrenen Zauberergehilfen Kutch, der ihm von einem magischen Geheimbund in Valdarr erzählt. Gemeinsam mit dem zwielichtigen Politiker Karr machen sich die ungleichen Gefährten auf den Weg. Abenteuerliche Kämpfe, ein gewagter Plan und die Sehnsucht nach Freiheit schweißen sie zusammen. Und sie sind nicht die Einzigen, die das Schicksal in die Hauptstadt Bhealfas führt... »Dieser Autor versteht sein Handwerk: interessante Figuren, eine Geschichte voller Magie, Action und Romantik.« Starburst DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen für Kinder und Erwachsene widmete. Seit dem internationalen BestsellerErfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Der Autor lebt mit seiner Frau in den West Midlands.
STAN NICHOLLS
DER MAGISCHE BUND Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE 01/14047 Titel der Originalausgabe QUICKSILVER RISING Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe 07/2004 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2003 by S. J. Nicholls Die Originalausgabe erschien bei HarperCollins Pubiishers Ltd. Copyright © 2004 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2004 http://www.heyne.de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz-. Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Bercker, Kevelaer ISBN 3-453-87906-6
Es war ein Ort voll billiger Magie. Ein Schwärm winziger Sphinxe sammelte sich und flatterte direkt über ihren Kopf hinweg. Schnappende Kiefer, peitschende Flügel, zuckende Schwänze. Sie waren nicht sehr überzeugend. Die Farben stimmten nicht, und aus der Nähe betrachtet waren sie halb durchsichtig. Serrah wedelte gereizt mit der Hand, die durch die Erscheinungen hindurch fuhr, als wären sie morgendliche Nebelschwaden. Die Sphinxe zerfielen zu zahllosen winzigen Flocken, die wie glühender Rost durch die Luft
trieben. Die Spitzen der ausgebreiteten Flügel lösten sich als Letztes auf und verpufften regelrecht. »Sollen wir uns etwa die ganze Nacht hier versteckt halten, Krdacris?«, zischte Phosian. Er kauerte neben ihr, doch in der Gasse war es zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. Seine Kleidung war, wie die ihre, eintönig schwarz. Eine Seidenmaske bedeckte Nase und Mund. Wo Haut herausschaute, war sie mit Asche beschmiert. Die Schwert5 klingen waren mit Fett und Ruß bestrichen, um das verräterische Funkeln zu dämpfen. Serrah sträubte sich innerlich gegen die Vertraulichkeit seines Tons und die Missachtung ihres Ranges. Doch sie musste Zugeständnisse an seine vornehme Herkunft machen, und so flüsterte sie nur: »Geduld.« Phosian seufzte. Serrah brauchte kein Licht, um sich den aufgeblasenen Ausdruck seines unreifen Gesichts vorstellen zu können. Im Augenblick regte sich nicht viel. Die Straße war eine Kloake, gesäumt von Baracken, die sich trostlos und windschief aneinander reihten. Das Pflaster glänzte silbrig im Schein des Halbmondes. Es wimmelte vor Fliegen, und es stank. Hin und wieder lief oder kroch oder flog oder schwebte ein billiger Zauber vorbei, verblasste und verschwand. Das Haus, das sie beobachteten, war größer als die anderen und stand etwas abseits. Zwei Wächter waren davor zu sehen, und an den Seiten und hinter dem Haus waren weitere Wachen postiert. Nicht zum ersten Mal fragte Serrah sich, ob ihre kleine Truppe ausreichte. »Reichen unsere Kräfte dafür aus?«, fragte Phosian und zeigte damit, dass auch er seine Zweifel hegte. Serrah überlegte, ob er wohl ihre Gedanken gelesen haben könnte. Doch diese Art von Magie gab es nur im Märchen. Und wenn sie existierte, dann war sie derart selten, dass nicht einmal seine Verwandten sie sich leisten konnten. »Die Stärke in der Zahl ist nicht alles«, sagte sie. »Ich würde jederzeit einen einzigen kampferprobten Mann einem ganzen Regiment von Wehrpflichtigen vorziehen.« 6 »Wie würdest du denn die da drinnen nennen? Sind es erfahrene Kämpfer oder grüne Jungs?« Der Sarkasmus war unüberhörbar. »Es sind gewissenlose Schweine«, erwiderte Serrah. Sie kochte immer noch, weil sie Phosian am Hals hatte. »Ich aber habe eine Truppe, der ich vertrauen kann.« Mit einer Ausnahme, dachte sie bei sich. »Wir haben Wochen gebraucht, um bis zu diesem Punkt zu kommen. Das dürfen wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen«, fügte sie mit klirrend harter Stimme hinzu. Seine stumme Verachtung war beinahe körperlich spürbar. Wenn man wusste, wohin man schauen musste, und wenn man sich anstrengte, konnte man einige andere Mitglieder ihrer Gruppe erkennen, die sich verschwommen und grau von der Schwärze abhoben. Alle waren in Position. »Es wird Zeit«, entschied sie. »Du weißt, was du zu tun hast. Bleib in meiner Nähe.« Er grunzte herablassend. Sie hatte ein kurzes Stück Schnur dabei, dessen Ende sie mit Daumen und Zeigefinger zwirbelte, als drehte sie eine Münze herum. Plötzlich glühte die Spitze kirschrot. Das Licht war weniger auffällig als eine offene Flamme, und es produzierte keine Hitze. Ein sehr einfacher Zauber. Nichts weiter als ein glühender Strick, aber unverwechselbar für diejenigen, die das Zeichen kannten. Serrah gab rasch ihr Signal, dann löschte sie die Glut. Sie warteten. Der vorderste Wächter, ein Koloss mit rasiertem Kopf, stand müßig herum und starrte zum Nachthimmel hinauf. Das Breitschwert hatte er vor seinen 7 Füßen in den Boden gestoßen, mit der Hand strich er abwesend über den Griff. Weiter hinten machte ein schmächtigerer Gefährte wenig begeistert einen Rundgang. Ein Geräusch durchbrach die Stille. Ein hohes Summen, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag; dann war es wieder still. In der Brust des großen Mannes steckte ein zitternder Pfeil. Er starrte ihn benommen an. Das Geräusch wiederholte sich, und sein Kamerad sackte in sich zusammen. Ein weiterer Pfeil traf den Riesen. Mit ausgebreiteten Armen stürzte er schwer zu Boden. »Los jetzt«, befahl Serrah. Sie stürzte aus den Schatten hervor und rannte zum Haus. Phosian folgte ihr, und sein dürrer Körper bildete einen auffallenden Kontrast zu ihrer athletischen Figur. Als sie den Hauseingang erreicht hatten, tauchten aus der Dunkelheit zwei weitere Mitglieder ihrer Truppe auf und gesellten sich zu ihnen. Wie Phosian waren auch sie mit Äxten bewaffnet. Die Doppeltür bestand aus Eiche und war mit Eisenbändern verstärkt. Auf Serrahs Zeichen hin fingen sie an zu hacken, und beinahe im selben Augenblick setzten auch die anderen aus ihrer Gruppe an der Rückseite des Hauses ihre Äxte ein. Serrah blickte forschend die Straße hinunter. Sie fühlte sich ungeschützt, denn die Agenten des Reichs waren in diesem Viertel nicht sonderlich beliebt, und sie musste damit rechnen, dass Einheimische angerannt kamen und
handgreifliche Einwände erhoben. Noch mehr aber machte sie sich Sorgen über das, was sie drinnen erwarten mochte. Die Tür gab nach. 8 Vor ihnen lag ein schwach beleuchteter Gang, am Ende war eine zweite Tür. Rechts zweigte ein Flur ab. Serrah winkte einem aus ihrer Gruppe, dort Wache zu halten. Dann ging sie mit Phosian und dem vierten Mitglied ihrer Abteilung vorsichtig und mit erhobenen Waffen weiter. Etwas kam aus dem Seitengang herbei. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Es schlich und hatte einen pechschwarzen Pelz, große Reißzähne, Krallen und ausgesprochen schlechte Laune. Die harten, gelben Augen musterten hochmütig die Eindringlinge. Das Wesen knurrte und fauchte leise. Die Barbkatze reichte Serrah bis zur Hüfte. Hätte sie sich auf die Hinterpfoten gestellt, dann hätte sie Serrah die Pfoten auf die Schultern legen und ihr die Kehle herausreißen können. Sie blieben reglos stehen und sahen eine zweite Katze in den Gang tappen. Sie war ebenso groß und ebenso angriffslustig wie die erste. Die Ohren zuckten nervös, die große rosafarbene Zunge hing ein wenig aus dem Maul. Serrah war sich hinsichtlich dieser Geschöpfe nicht sicher. Doch sie ging das Risiko ein und machte einen vorsichtigen Schritt. »Pass auf ...«, warnte einer aus ihrer Truppe. Sie achtete nicht weiter darauf und näherte sich der vorderen Katze. Die Katze sprang. Serrah reagierte sofort. Sie ging blitzschnell in die Hocke und brachte gleichzeitig mit beiden Händen das Schwert nach oben. Zähneknirschend ließ sie die Klinge einen Halbkreis beschreiben. Das ansprin9 gende Tier wurde getroffen und in der Mitte zerteilt. Doch es war nicht aus Fleisch und Blut. Die getrennten Hälften der Barbkatze schwebten noch einen Moment in der Luft, dann stoben goldene Funken auseinander, und sie war verschwunden. Serrah richtete sich schnaufend wieder auf. »Wachzauber«, erklärte sie überflüssigerweise. Und gut gemacht, dachte sie. Kostspielige Magie. Die zweite Barbkatze drehte sich um und trottete in ihre Nische zurück. Die Gefährten ignorierten sie und machten sich bereit. »Lass uns losschlagen«, drängte Phosian gereizt. Serrah starrte ihn an, dann trat sie zu, und die Tür flog auf. Auf den ersten Blick schien der Raum leer zu sein. Er war groß und hatte eine hohe Decke, die Fenster waren verhängt. Kerzen und Fackeln spendeten Licht, einige hohe Kohlenpfannen standen herum. Kisten und Fässer waren an den Wänden aufgestapelt, verschlissene Polster und schäbige Möbelstücke waren willkürlich verteilt. Abgenagte Hühnerknochen, leere Weinflaschen, Krusten von altbackenem Brot und weiterer Abfall lagen auf dem Boden herum. An einer Wand stand eine unregelmäßige Reihe von Bänken. Auf ihnen waren Steingutflaschen, Schaugläser, Flakons, Krüge, Mörser und Stößel gelagert. Auch aufgeschlitzte Rupfensäcke lagen dort, aus denen getrocknete Pflanzen quollen, und aus zwei oder drei Kesseln stiegen weißliche Schwaden auf. Auf einem Tisch am Ende der Bankreihe lag etwas. Serrah kannte es nur zu gut: Haufen von kristallinem, gelbweißem Pulver. Der bloße Anblick jagte ihr einen eisigen Schauder durch den Körper. 10 Während die anderen sich noch orientierten, wurde Phosian übermütig. »Ruhig«, ermahnte sie ihn. »Schon wieder eine Verzögerung«, knurrte er. »Was sind wir denn? Bittsteller?« »Wir müssen sicher sein.« »Zum Teufel damit«, spie er ihr voller Verachtung entgegen. Dann drängte er sich an ihr vorbei und sprang in den Raum. »Phosian!«, rief sie entsetzt. Er hörte nicht auf sie. Mitten im Raum schwenkte er die Axt und rief: »Kommt raus, ihr räudigen Hunde! Stell euch uns!« »Idiot!«, hauchte Serrah. »Bleibt hier«, fuhr sie die Kameraden an und folgte ihm. »Widerlicher Auswurf!«, tobte Phosian und plusterte sich in unreifer Tollkühnheit auf. »Feiglinge! Zeigt euch!« »Phosian!« Sie näherte sich ihm vorsichtig, hatte jedoch Mühe, ihre Verärgerung zurückzuhalten. »Wenn ich einen Befehl gebe, dann gehorchst du!« »Meine Leute geben die Befehle, Ardacris. Vergiss das nicht.« »Deine Verwandtschaft ist mir egal. Wenn ich das Kommando habe, dann bist du einfach nur ...« Irgendetwas, das sich um sich selbst drehte und zwei glänzende böse Schneiden hatte, flog an ihr vorbei. Das Wurfbeil traf Phosian mitten ins Herz. Er schrie auf und taumelte zurück. Seine eigene Axt entglitt seinen Fingern und fiel klirrend auf die Bodenfliesen. Blut spritzte aus der Wunde, er verdrehte die Augen ins Weiße und ging zu Boden. Serrah keuchte.
11 Dann überschlugen sich die Ereignisse. Hinter den Fässern und Kisten und aus einem nicht einsehbaren Winkel tauchten Gestalten auf. Hinter ihr ertönte ein scharfes, knirschendes Geräusch. Sie fuhr herum. Eine zweite, innere Tür, schwer und ebenfalls mit Metall verstärkt, kam wie ein Fallgatter herunter und knallte auf den Boden. Jetzt war Serrah abgeschnitten von ihren Kameraden, die auf der anderen Seite sofort gegen die Tür zu hämmern begannen. Sie drehte sich um und stellte sich den Angreifern. Es waren fünf. Drahtige tätowierte Männer mit beinharten Gesichtern. Vernarbt, mit Zahnstümpfen im Mund und mit Augen wie Feuerstein. Männer, die im Handwerk der Gewalt geübt waren. Sie formierten sich wie ein Hufeisen und wollten sie von vorn und von der Seite aus in die Zange nehmen. Doch das Durcheinander im Raum führte dazu, dass die Hufnägel ungleichmäßig verteilt waren. Zwei Banditen hielten sich rechts, ein dritter dicht dahinter. Der vierte war links von ihr, und der letzte, direkt vor ihr, musste der Anführer sein. Er war bulliger, sah gemeiner aus, und sein höhnisches Grinsen war noch gehässiger als das der anderen. Einen Herzschlag lang bewegte sich keiner, und es herrschte Schweigen. Es schien, als musterte der Anführer sie gründlich. Endlich knurrte er: »Schmetterling.« Was immer sie erwartet hatte, es war nicht dies. Sie wusste keine Antwort. »Ein glänzender Schmetterling«, fügte er hinzu und starrte sie mit verhangenen Augen an. »Ein schwarzer seidener Schmetterling.« 12 Serrah verstand. Die Männer hatten ihre eigene Ware probiert. Sie waren berauscht, unberechenbar. Ramp. Ihr Blick wanderte zu dem Haufen weißen Pulvers, und sie spürte wieder die Kälte in sich aufsteigen. »Ramp ist verboten. Das müsstet ihr doch wissen.« Er verzog keine Miene. »Irgendwie muss man ja seinen Lebensunterhalt verdienen.« Sie betrachtete Phosian, der in einer roten Lache lag. »Ein schöner Lebensunterhalt.« Das Hämmern draußen wurde lauter. Jetzt waren auch aus anderen Teilen des Gebäudes Kampfgeräusche zu hören. Die Ablenkung reichte aus, damit Serrah unbemerkt die freie Hand unter die Falten ihres Hemds schieben konnte. »Ich kenne dich«, sagte der Anführer, der sie erneut in Augenschein nahm. »Trotz der Maske. Du bist bei uns bekannt.« Und offensichtlich nicht sonderlich beliebt. »Gut«, erwiderte sie trocken. Sie stieß mit dem Schwert gegen den Tisch. »Das Ramp ist illegal. Aufgrund der Vollzugsgewalt, die mir von der Regierung von Gath Tampoor verliehen wurde ...« Die Männer begannen schallend zu lachen. »Spar dir deine Puste zum Sterben«, knirschte der Anführer. »Na gut«, stimmte sie zu und schenkte ihnen ein Lächeln. »Dann wollen wir es hinter uns bringen.« Die Angreifer bewegten sich. Sie war schneller. Sie zog die Hand heraus und warf, was sie unterm Hemd gefunden hatte, zu den dicht gedrängten Banditen auf der rechten Seite. Zwanzig Wurfsterne mit scharfen Schneiden flogen in ihre Richtung. 13 Drei waren echt. Der Zauber war so gut, dass Serrah selbst nicht wusste, welche es waren. Auch ihre Opfer wussten es nicht. Verwirrt duckten sie sich und taumelten umher, um sich vor den fliegenden Sternen abzuschirmen. Die meisten zerplatzten harmlos beim Aufprall und regneten als silberne Blüten über ihre Körper und den Abfall in der Umgebung. Die rasiermesserscharfe Realität war eine ganz andere Sache. Ein echter Wurfstern spaltete die Kehle des mittleren Banditen. Blut spritzte, und er ging zu Boden. Der Kumpan rechts neben ihm, der einige Illusionen abgewehrt hatte, wurde in die Wange getroffen. Der Dritte, der auf der linken Seite vorstieß, bekam einen Stuckregen ab, als der letzte echte Stern über ihm in die Wand fuhr. Der blutige Kampf hatte begonnen. Serrahs Zauber waren damit verbraucht. Jetzt mussten die Klingen sprechen. Der Anführer brüllte Befehle, und der Mann zu Serrahs Linken kam näher. Sie zog rasch ein Messer, um neben dem Schwert eine zweite Waffe parat zu haben. Der Bandit fuchtelte mit dem Krummsäbel herum und tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie blockte mit erhobenem Messer ab. Der Aufprall sandte eine heftige Erschütterung durch ihren Körper; gleichzeitig führte sie mit dem Schwert einen flachen, bogenförmigen Streich und zielte auf den Rumpf des Gegners. Er konnte mit knapper Not abwehren und ging zum Gegenangriff über. Serrah parierte und wich einen Schritt zurück. 14 Ihr blieb wenig Zeit, und die Chancen standen schlecht für sie. Dennoch griff sie energisch an. Mit beiden Klingen gleichzeitig fechtend, gelang es ihr, ihm den Krummsäbel zu entwinden. Sie setzte mit dem Messer nach und fügte ihm eine Wunde im Schwertarm zu. Heulend und fluchend zog er sich zurück, als das Blut aus der Wunde spritzte. Serrah setzte nach, während er, immer noch die Wunde umfassend, sie auf Abstand zu halten versuchte. Sie fegte seine Abwehr hinweg und stieß ihm die Klinge tief in die Brust. Kreischend versperrte er dem brüllenden Anführer den Weg.
Sechs Schritt entfernt sprang ein anderer Gesetzloser auf ein schäbiges Sofa. An den Stuckbrocken in seinem Haar konnte sie erkennen, dass es der Mann war, den ihr Wurfstern knapp verfehlt hatte. Serrah schlug nach seinem Kopf. Er duckte sich und griff an. Sie hieb auf seine Verteidigung los und wollte ihn erledigen, ehe der Nächste kam. Einige Atemzüge lang waren sie einander ebenbürtig, und es herrschte ein Patt. Dann, mehr durch Glück als gezielt, traf die Spitze ihrer Klinge sein Kinn. Die Hand ans Gesicht gepresst, stolperte er rückwärts und prallte gegen den Tisch. Das Ramp flog auf, und weißes Pulver wirbelte wie ein Schneesturm durch die Luft. Serrah presste den Handrücken vor den Mund und hielt den Atem an. Der Anführer schrie wütend auf. Schemenhaft sah sie den Banditen, den sie verwundet hatte. Der Wurfstern steckte seitlich in seiner Wange. Er verkroch sich in eine Ecke und kippte dabei die Kisten um. Der Lärm, den ihre Männer draußen machten, wurde lauter. 15 Serrahs Verschnaufpause währte nicht lange. Der Strolch mit dem stark blutenden Kinn löste sich aus dem Gewirr und griff zusammen mit dem Anführer erneut an. Serrah wehrte den Anführer mit einer energischen Parade ab und konzentrierte sich auf den Mann mit dem verletzten Kinn. Er hieb wild auf sie ein, doch sie lenkte den Schlag ab; seine Klinge beschrieb einen weiten Bogen, und da fand ihr vorschießendes Schwert die Lücke und traf seinen Bauch. Er stürzte tot zu Boden. Mit der vom Ramp beflügelten Wut griff der Anführer ein weiteres Mal an. Serrah wich zurück. Auf all dem Unrat konnte sie nicht sicher stehen. Einen Augenblick später prallten sie zusammen. Metall klirrte, als sie hackend und hauend aufeinander losgingen. Schließlich durchbrach sie seine Abwehr und versetzte ihm einen heftigen Tritt in den Bauch. Er krümmte sich und riss den Mund auf. Doch er besaß genug Geistesgegenwart, um seine Klinge hochzuhalten und ihr Nachsetzen zu stören. Serrah zog sich zurück. Sie sah, dass ihr Gegner mit der aufgeschlitzten Wange die Kisten beinahe weggeräumt und den Umriss einer Falltür freigelegt hatte. Jetzt war ihr klar, warum die Banditen es sich erlauben konnten, sich so lange hier aufzuhalten. Der Sekundenbruchteil, in dem ihre Aufmerksamkeit abirrte, wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden. Der tobende Anführer hob ein Tongefäß und schleuderte den Inhalt in ihre Richtung. Sie sprang zur Seite und entging gerade eben dem Schwall der Flüssigkeit. Das Gift spritzte auf Kisten, Stoff und Abfall; es brodelte und schmorte, und beißender Rauch stieg auf. 16 Ein paar Spritzer Vitriol trafen ihre Hand und ihre Seite. Es stach, als würde sie von brennenden Nadeln durchbohrt. Sie biss die Zähne zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken, und bewegte sich weiter. Der Gesetzlose folgte ihr, lauerte auf seine Gelegenheit und schleuderte Hindernisse zur Seite, die ihm im Weg waren. Ihr Rückzug führte sie in die Nähe des Banditen, der mit den Kisten beschäftigt war. Blut tröpfelte von dem Wurfstern in seiner Wange. Er hatte sich hingekniet, zerrte an einem rostigen Metallring und hatte die Falltür ungefähr um eine Armeslänge hochgezogen. Serrah ergriff die Gelegenheit und schlug ihm den Kopf ab. Der Tote kippte um, die Falltür knallte zu. Sie keuchte. Ihre Muskeln schmerzten, und der Schweiß rann ihr über den Rücken. Doch es gab keine Atempause. Der Anführer holte sie ein und entfesselte rasend einen wahren Wirbelsturm von Hieben. Serrah kämpfte verbissen, mit gerunzelter Stirn und mit Blasen an den Händen. Einmal musste sie zur Seite springen, als sie auf dem falschen Fuß stand und er nach ihrer Achillessehne schlug. Ihr Konterschlag verfehlte ihn, traf eine hohe Kohlenpfanne und kippte sie um. Glühende Kohlestücke hüpften in alle Richtungen davon. Herumliegende Lumpen und einige Möbelstücke fingen Feuer. Ein Dutzend kleine Brände brachen aus. Sie kämpften weiter. Serrah stolperte über den hingestreckten Phosian und wäre beinahe gestürzt. Ein Schwertstreich, der sie enthaupten sollte, verfehlte sie nur knapp und zerfetzte ihren Kragen. 17 Ein schmorendes Sofa begann zu brennen. Das Feuer sprang auf ein Fass über und von dort aus zum Rest des Stapels. Die Flammen erfassten einen Fenstervorhang und rasten zur Decke empor. Dünner schwarzer Rauch erfüllte den Raum. Serrah war dankbar für ihre Gesichtsmaske, auch wenn dieser Schutz nicht verhindern konnte, dass ihre Augen brannten. Jetzt kam es nur noch auf Durchhaltevermögen und Nervenstärke an. Das Duell artete zu einer reinen Prügelei aus. Eine Reihe von Explosionen erschütterte den Raum, als die Töpfe und Krüge auf den brennenden Bänken in die Luft flogen. Die Kämpfenden duckten sich, um den umherfliegenden Scherben auszuweichen. Dann drang eine Axtschneide durch die Tür. Die jüngsten Ereignisse hatten den Banditen offenbar aus dem Tritt gebracht. Serrah setzte nach. Sie führte das Messer nach vorn, wich seiner nachlässigen Verteidigung aus und traf seine Brust. Er schrie auf, presste die Hand auf den klaffenden Schnitt und zog sich zurück. Dabei prallte er gegen einen umgekippten Stuhl und stürzte. Auf dem Boden liegend, versuchte er sie abzuwehren. Sie schlug ihm das Schwert aus der Hand; es sprang, Stahl auf Stein, klirrend davon. Er sah sie aus schmerzerfüllten Augen an und erkannte den Schmerz in den ihren.
»Schmetterling?«, flüsterte er. »Dieser Schmetterling hat einen Stachel«, erklärte Serrah und trieb ihm die Klinge in den Leib. Atemlos richtete sie sich auf und sah sich blinzelnd im Raum um. Das Feuer hatte sich rundherum ausgebreitet, und die Hitze war unerträglich. Von all dem Rauch tat ihr der Hals weh. 18 Wieder drang ein Axthieb durch die Tür, ein zweiter folgte. Holz splitterte, Metall gab nach, und ihre Gruppe brach durch. Mit erhobenen Waffen und aufgerissenen Augen blieben sie stehen und starrten. Serrah fing sich. »Meldung!«, verlangte sie heiser. Der Erste riss sich vom Anblick des Gemetzels los. »Äh ... das Nest ist ausgeräuchert.« Er blickte zu Phosian. »Keine ... keine weiteren Verluste.« »Gut. Und jetzt raus hier. Tempo.« Er nickte in Phosians Richtung. »Und was ist mit...?« »Nehmt ihn mit. Los!« Sie legten die angewinkelten Arme vor die Gesichter, um sich vor der Hitze zu schützen, und rannten los, um ihren Kameraden zu bergen. Dann scheuchte Serrah sie hinaus und bildete die Nachhut. Im Flur hatte sich bereits der Rauch gesammelt, und sie husteten und würgten, als sie wieder an der frischen Luft waren. Draußen warteten schon die anderen Gefährten. Sie legten Phosian ab. Serrah fühlte seinen Puls. Die Mitglieder ihrer Gruppe wechselten besorgte Blicke. Schließlich schüttelte sie den Kopf; im Grunde war es ihr längst klar gewesen. Sie sah die Gesichter ihrer Mannschaft und wusste, was die Männer dachten. »Ich mag es nicht, jemanden zu verlieren«, erklärte sie. »Nicht mal, wenn es ein eigenwilliger Trottel ist. Aber unsere Arbeit ist mit Gefahren verbunden, und wie man sieht, verläuft sie zuweilen tödlich. Es wird keine Disziplinlosigkeiten mehr geben. Die Mission ist erst erledigt, wenn wir wieder zu Hause sind.« »Von allen Leuten ausgerechnet ihn zu verlieren«, murmelte jemand. 19 Nach Serrahs Ansicht war der Verlust Phosians jedem anderen gestählten Mitglied in ihrer Mannschaft vorzuziehen, auch wenn sein Tod erheblich mehr Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Sie konzentrierte sich auf die Dinge, die im Augenblick wichtig waren. »Hier wird es bald vor Anwohnern wimmeln, die gewiss nicht erfreut sein werden, uns zu sehen. Haltet die Augen offen. Und wenn wir auf Widerstand stoßen, keine Gnade.« Niemand wagte es, ihren Anweisungen zu widersprechen. Sie teilte Leute ein, die Phosians Leichnam tragen sollten, dann lief sie los. Hinter ihnen leckten die Flammen bereits am Dach der Ramp-Manufaktur. Pechschwarzer Rauch und fliegende Funken drangen aus den Fenstern. Vorsichtig zogen sie durch die Straßen und hielten sich im Schatten. Unterwegs legten sie die äußeren Schichten der Kleidung ab, knüllten Masken und Hemden zusammen und warfen sie in Büsche und schwach beleuchtete Gassen. Dann wischten sie sich die Asche aus dem Gesicht. Auch Serrah nahm die Maske ab und schüttelte ein Gewirr von blondem Haar heraus. Sie spuckte sich in die Hände und rieb sie gegeneinander. Inzwischen spürte sie die ersten Nachwirkungen - die Schmerzen der Kampfwunden und der Verätzungen durch die Säure machten sich bemerkbar. Auch das, was mit Phosian geschehen war, setzte ihr zu. Sie holte tief und gleichmäßig Luft und unterdrückte ein Zittern. Hinter sich hörte sie Geräusche, ein Gewirr leiser Rufe. Serrah trieb ihre Leute an und überlegte, ob sie sich trennen sollten. Doch sie erreichten ohne Zwischenfall ein Stück Ödland, wo nichts zu sehen war 20 außer einem fehlgeleiteten Zauber. Von Bäumen geschützt, standen ihre Pferde bereit. Zwei Männer wickelten Phosian in einen Mantel und legten den Toten über den Sattel. Als sie die Straße erreichten, näherte sich eine berittene Gruppe, doch sie kam nicht aus der Richtung, in der das gestürmte Gebäude lag. Die Reiter waren zu nahe und zu zahlreich, um ihnen zu entgehen. Serrah und ihre Gefährten zügelten die Pferde und tasteten nach den Schwertern. Doch als die Reiter nahe genug waren, konnte man im schwachen Licht ihre auffälligen roten Uniformen erkennen. »Die haben uns gerade noch gefehlt«, knurrte einer aus Serrahs Truppe. Die anrückende Abteilung, dreißig oder vierzig Reiter, war drei- oder viermal stärker als Serrahs Truppe, doch man konnte nur raten, wie viele von ihnen Chimären waren. Die Paladin-Clans verfügten über die allerfeinste Magie. In guter Ordnung trafen sie ein; ihre militärische Präzision bildete einen auffallenden Gegensatz zu Serrahs eher nachlässig gekleideter Truppe. Der Paladin-Hauptmann hielt seine Abteilung an. Der ziegenbärtige Mann mit dem harten Gesicht verschwendete keine Zeit auf Höflichkeiten. »Serrah Ardacris?« Sie nickte. »Eskorte für Chand Phosian.« Serrah schwieg, und niemand sonst wagte zu sprechen. »Wir wollen Chand Phosian abholen«, wiederholte der Paladin betont langsam, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind. »Wo ist er?«
21 »Wir kommen gerade von einer Mission zurück«, erklärte Serrah ihm. »Wahrscheinlich treffen gleich Verfolger hier ein. Lasst uns verschwinden und ...« »Wo ist der Sohn des gewählten Prinzipals?« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Was ist geschehen?«, fügte er scharf hinzu. Widerstrebend winkte sie ihren Männern, Phosians Pferd nach vorn zu führen. Als der Hauptmann sah, welche Last es trag, lief sein Gesicht rot an. Er stieg ab und trat zu dem Pferd; die anderen sahen schweigend zu. Er zog den Mantel weg und legte Phosians bleiches Gesicht frei. »Im Kampf gefallen«, erklärte Serrah. Der Hauptmann schaute zu ihr auf. »Du warst sehr fahrlässig.« »Auf jeder Mission gibt es Verluste. Das weißt du so gut wie ich.« »Manche Verluste sind unverzeihlich.« »Ach, nun hör schon auf. Es war doch nur ...« Er wischte die Einwände mit einer Handbewegung beiseite. »Spare es dir, Ardacris. Du kommst mit uns.« 22 Vor den Imperien und vor der Geschichte war die Traumzeit. Die Energien der Erde waren schon damals bekannt und wurden beherrscht, und die Gründer beschlossen, die Wege der Kraft zu kennzeichnen. Gelehrte mutmaßten, damals in diesem goldenen Zeitalter sei die ganze Welt ausgeschmückt worden. Sie stellten sich vor, ein alles umspannendes, vielfarbiges Netz von Kraftlinien sei über Ebenen und Täler und Wälder und Weiden gelegt worden, auf dass der Geist des Landes und dessen Verbundenheit mit dem Himmel nachgezeichnet werde. Nachdem die Gründer vor vielen Zeitaltern von der Bühne abgetreten waren, geriet das Netz in Vergessenheit, auch wenn es nach wie vor die Magie speiste. Doch an manchen Stellen, sei es aus Achtung oder Furcht, wurde das Althergebrachte noch verehrt, wenngleich nicht ganz und gar verstanden. Einer dieser Orte war ein entlegenes Dorf, nicht weit von Bhealfas unwirtlicher Ostküste entfernt. Eine 23 indigofarbene Linie, so breit wie eine Männerfaust, lief mitten auf der Hauptstraße entlang und markierte den Fluss der Kraft. Die meisten Menschen bemühten sich, nicht darauf zu treten. Der Fremde aber, der bei Sonnenaufgang zu Fuß kam, scherte sich anscheinend nicht darum. Seine Erscheinung ließ die wenigen Bürger, die zu dieser Stunde unterwegs waren, die Köpfe drehen. Er war größer als der Durchschnitt und muskulös und bewegte sich entspannt und selbstbewusst. An Waffen hatte er zwei Schwerter, eines davon wie üblich in der Scheide, das zweite auf dem Rücken verzurrt. Er war sauber rasiert, obwohl die Mode eher bärtig war, und die Farbe seiner Augen entsprach dem langen, pechschwarzen Pferdeschwanz. Er hatte ein hübsches und markantes, vom Wetter gegerbtes Gesicht, dessen Ausdruck allerdings eher melancholisch zu nennen war. Die Kleidung war überwiegend schlicht und schwarz. Unbeeindruckt von den neugierigen Blicken und seines Weges gewiss, schritt er durchs Dorf. Die Sonne war schon ein Stück am Himmel emporgestiegen, als er die Siedlung am nördlichen Ende verließ, wo die Straße nur noch als kurvenreicher Weg weiterlief. Er entschied sich für einen Pfad auf der linken Seite, der rauer und stärker überwachsen war. Die indigofarbene Linie zog sich ein Stück in die Landschaft hinein und lief irgendwo aus. Endlich erreichte er ein Haus, das halb versteckt unter wild wuchernden Bäumen stand. Es war weitläufig und verfallen. Er ging zur Tür und klopfte. Ein zweites, lauteres Klopfen war nötig, ehe er eine Antwort erhielt. 24 Ein übernächtigter Bursche, der mit dem jungen Tag oder aber mit seiner Männlichkeit noch nicht ganz im Reinen war, öffnete die Tür. Er blinzelte, als er den Fremden sah. »Ja?« »Ich suche Grentor Domex.« Die Stimme klang freundlich und doch befehlsgewohnt. Der Junge starrte ihn an. »Und wer sucht ihn?« »Niemand, der dir etwas tun will. Ich bin kein Beamter und kein Spion, sondern einfach nur jemand, der den Zauberer konsultieren will.« »Ich bin nicht der Magier Domex«, gestand der Bursche. Der Fremde betrachtete ihn von oben bis unten, das pickelige Gesicht und den zarten Flaum auf dem Kinn. Sein ernster Gesichtsausdruck wurde ein wenig gelöster, und er lächelte leicht. »Ich will nicht beleidigend sein, mein Freund, aber das habe ich mir schon denken können. Ist dies denn wenigstens das Haus des Magiers?« Der Junge zögerte kurz, ehe er antwortete. »Ja, das ist es.« »Kann ich ihn sehen?« Der Bursche überlegte, dann nickte er und trat zur Seite. Die Tür führte direkt in einen großen, düsteren Raum, in dem die üblichen Gerüche des Zaubererhandwerks schwebten. Als der Fremde eingetreten war und seine Augen sich der Umgebung angepasst hatten, sah er vor sich etwas aufragen. Er blinzelte und erkannte es als menschliche Gestalt, die im Halbdunkel stand. Sie trat vor, bis sie von einem Strahl Tageslicht erfasst wurde, und zeigte sich. 25 Ein kampferprobter Krieger, das Schwert ausgerichtet, bereit zum Angriff.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung fuhr die Hand des Fremden hinter seinen Kragen, zog ein kurzes Messer hervor und warf es. Die Klinge durchbohrte die Stirn des Kriegers, dann flog sie weiter und blieb in einem Holzbalken stecken. Der Krieger schmolz zu einem gelben Nebel zusammen, der rasch verschwand. Ein Geruch von Schwefel überlagerte die anderen schweren Düfte im Raum. Der Junge bemerkte, dass sein Mund offen stand. Eilig schloss er ihn. »Nur gut, dass Ihr Recht behalten habt«, sagte er verzagt. »Womit habe ich Recht behalten?«, fragte der Fremde zurück. »Dass es ein Zauber war.« »Ich wusste es nicht.« »Aber ...« »Wenn er echt gewesen wäre, dann hätte er eine Bedrohung dargestellt. Da er ein Zauber war, spielt es keine Rolle. So oder so ist die Sache erledigt. Hör zu, ich sagte dir doch, dass du keine Angst haben musst. Es besteht wirklich keine Notwendigkeit für solche lächerlichen Listen.« »Oh, das hatte nichts mit mir zu tun. Es war ein Schutzzauber des Magiers.« Der Fremde war zu dem Balken getreten und zog sein Messer wieder heraus. »Es war?« »Ja.« Der Bursche seufzte schwer, und sein argloses Gesicht war mit einem Mal von Kummer gezeichnet. »Ihr kommt wohl besser mit.« Er führte den Besucher in eine viel kleinere Nebenkammer. Dort gab es wenig außer einem Tisch, auf 26 dem eine mit einer schäbigen Decke verhüllte Gestalt lag. Ehrerbietig zog der Junge die Decke fort und entblößte das Haupt und die Schultern eines älteren, weißhaarigen Mannes. »So viel zu den Schutzmaßnahmen«, bemerkte der Fremde. Der Junge verzog gequält das Gesicht, hielt aber den Mund. Am Hals des Mannes waren Abschürfungen von einem Strick zu erkennen. Der Fremde deutete darauf. »Erhängt«, erklärte der Bursche. »Von Paladinen.« Die Augen des Fremden bekamen einen harten Glanz. »Warum?« »Der Magier hatte keine Lizenz. Das ist jetzt anscheinend ein Schwerverbrechen.« »Das war es schon immer. Man redet nur nicht offen darüber.« Er betrachtete noch einmal den Toten. »Ich kann keine Ähnlichkeit erkennen, daher nehme ich an, dass du nicht sein Sohn bist.« »Nein, sein Lehrling.« »Wie nennst du dich?« »Kutch Pirathon.« »Nun, dann sei gegrüßt, Kutch, selbst wenn ich in Zeiten großer Sorge zu dir komme. Ich bin Reeth Caldason.« Die Miene des Burschen verriet, dass er den Namen kannte. Mit großen Augen starrte er den Fremden an. »Der Reeth Caldason?« »Keine Sorge«, gab Caldason trocken zurück. »Ich bin nicht gefährlich.« »Da habe ich aber ganz andere Dinge gehört.« »Du solltest nicht alles glauben, was du hörst.« »Seid Ihr wirklich Reeth Caldason?« 27 »Warum sollte ich lügen?« »Und warum solltet Ihr es wagen zu lügen, wenn Ihr es nicht seid ... Das ist wahr.« Kutch betrachtete ihn voller Neugier. »Ich bin noch nie einem Qalochier begegnet. Ich glaube nicht mal, dass ich bisher überhaupt einen gesehen habe.« »Das können heutzutage sowieso nur noch wenige von sich behaupten«, antwortete Caldason eisig und abweisend. Er bewegte sich zur Tür. »Nun gut, es tut mir Leid, dass du diesen Verlust erlitten hast, aber ...« »Wartet.« Kutch schaffte es, gleichzeitig schüchtern und eifrig zu wirken. »Vielleicht kann ich Euch helfen.« »Wie denn?« »Das kommt darauf an, warum Ihr meinen Meister sprechen wolltet.« »Nun, es ging nicht um einen Liebestrank oder Gift für einen Feind.« »Nein, das kann ich mir denken. So etwas könntet Ihr überall bekommen.« »Ich will damit nur sagen, dass meine Bedürfnisse möglicherweise die Fähigkeiten eines ... eines Lehrlings übersteigen.« »Wie wollt Ihr das wissen, wenn Ihr es mir nicht verratet?« Caldason schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber lieber nicht.« Wieder wandte er sich zum Gehen. Kutch fing ihn im größeren Raum ein weiteres Mal ab. »Ihr müsst wissen, dass ich gewisse Fertigkeiten besitze. Der Magier hat mich viele Dinge gelehrt. Ich stehe seit meiner Kindheit bei ihm in Ausbildung.« »Das kann noch nicht sehr lange sein.« Kutch überhörte den Seitenhieb. »Was habt Ihr schon zu verlieren?« 28 »Meine Zeit.« »Würden ein paar Minuten mehr denn wirklich so viel ausmachen?«
»Und vielleicht verliere ich auch meine Geduld.« Trotz des freundlichen Anscheins war der drohende Unterton in Caldasons Stimme nicht zu überhören. Als wäre man in einem Milchpudding unversehens auf eine Glasscherbe gestoßen. Sie hatten die Vordertür erreicht. »So lasst es mich Euch doch wenigstens vorführen«, stammelte Kutch. »Lasst mich Euch zeigen, was ich kann. Und wir könnten frühstücken. Ihr werdet doch sicher hungrig und durstig sein.« Caldason betrachtete den Burschen. »Du bist hartnäckig, das muss ich dir lassen.« Er seufzte müde. »Also gut. Ich werde mit dir etwas Brot teilen - falls du welches übrig hast.« »Reichlich. Und wir haben Geflügel, Käse und Fisch, und ich glaube, auch ...« Der Qalochier hob die Hand, um Kutchs Redefluss zu unterbrechen. »Ich werde allerdings nicht lange bleiben. Ich muss noch andere Zauberer aufsuchen.« »Nun, dann seid Ihr hier richtig. Ich kann Euch Namen nennen. Nicht, dass Ihr sie aufsuchen wollen werdet, nachdem ich Euch gezeigt habe, was ich zu tun vermag ...« »Schon gut«, knurrte Caldason. »Es ist schon gut«, sagte er noch einmal etwas freundlicher. »Wollt Ihr jetzt die Magie sehen?«, fragte Kutch kleinlaut. »Lass uns erst essen.« 29 Caldasons Bemerkung über das Brot war wörtlich gemeint. Mehr als Brot und etwas Wasser nahm er nicht zu sich. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, das Rückgrat gerade wie ein Ladestock, die Schwerter neben sich abgelegt. Geschickt zerteilte er den Brotlaib mit einem scharfen Messer und schob sich mit flacher Klinge kleine Stückchen in den Mund. Anscheinend hatte der Kummer Kutchs Appetit keinen Abbruch getan, denn er langte nicht eben unbescheiden zu. Er saß Caldason gegenüber, den Rücken an die Wand gelehnt und die Beine ausgestreckt, und aß aus einer Holzschale, die er sich auf den Schoß gestellt hatte. Ein Fensterladen war geöffnet, Staubflocken schwebten in den Lichtbalken. Caldason sah sich in dem Raum um, der voller Bücher war. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke; manche der Bücher hatten alte Einbände, andere zerfielen fast. Eine schlichte, kräftige Bank, ein paar Stühle und ein von Motten zerfressener Vorhang am einzigen Fleck, wo kein Bücherregal stand, vervollständigten die Einrichtung. Kutch legte den Löffel beiseite und schluckte. »Ich habe viele Geschichten über Euch gehört.« »Ich auch.« Schweigen. »Und?«, fragte Kutch schließlich. »Was, und?« »Sind sie wahr?« Caldason trank einen Schluck aus seiner Tasse. »Warum bist du überhaupt hier?« »Ihr habt das Thema gewechselt«, protestierte Kutch. »Nein, das will ich wirklich wissen.« 30 Der Bursche sah sich übertölpelt, doch er fügte sich. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Vater starb, als ich noch klein war. Meine Mutter hatte Mühe, mich und meinen älteren Bruder durchzubringen. Er ging schließlich zum Militär, und ich wurde an Meister Domex verkauft. Seitdem habe ich meine Mutter und meinen Bruder nicht wieder gesehen.« »Warum hat Domex dich ausgewählt?« »Er sagte immer, er habe von Anfang an mein Potenzial erkannt.« Kutch zuckte unsicher mit den Achseln. »Die Zauberer kennen sich mit so etwas aus. Aber er war ein guter Herr.« »Wie kam er denn zu Tode?« »Ich vermute, es war ein Spitzel. Wir sehen hier gewöhnlich nicht viele Paladine oder Milizionäre. Auf einmal aber wimmelte es im Dorf von ihnen. Sie wussten genau, wo sie suchen mussten.« »Doch dir haben sie nichts getan?« Kutch lief rot an und ließ den Kopf hängen. »Ich ... ich habe mich versteckt.« Caldason schwieg eine Weile. »Gegen die Paladine kommt man nicht so leicht an«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang unerwartet mitfühlend. »Du brauchst dich nicht zu schämen, Kutch, und du solltest keine Schuldgefühle haben.« »Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen. Ich weiß nur, dass ich nicht für ihn da war.« Caldason hatte den Eindruck, dass die Augen des Jungen feucht wurden. »Aber was hättest du schon tun können? Gegen die Paladine kämpfen? Dann wärst auch du gestorben. Magie gegen sie einsetzen? Sie haben bessere.« »Ich komme mir vor wie ein Feigling.« 31 »Rückzug ist ein Zeichen von Klugheit, nicht von Feigheit. Es bedeutet, dass du überleben und an einem anderen Tag noch einmal kämpfen kannst. Warum hatte dein Meister eigentlich keine Lizenz?« Kutch schniefte und fuhr sich mit einer Hand über den Schopf, um das aufsässige blonde Haar zu glätten. »Er hielt nichts davon. Der Meister war ein Ketzer, wenn es ums System ging, und bei den meisten anderen Dingen
auch. Die Schweine hätten ihn sowieso nicht akzeptiert. Er war viel zu unabhängig in seinem Denken.« »Was du sagst, klingt mir ziemlich umstürzlerisch.« »Ich glaube nicht, dass Euch das sonderlich stört.« Wieder spielte ein seltenes, feines Lächeln um Caldasons Lippen. »Und was willst du jetzt tun?« »Ich weiß nicht. Ich war immer bei meinem Meister. Wir haben an verschiedenen Orten gelebt, aber wir waren immer zusammen. Ich fürchte, hier kann ich nicht bleiben. Die Paladine sind zwar fort, aber was mache ich, wenn sie zurückkommen und ihr Werk vollenden wollen?« »Es ist sicher klug, wenn du fortgehst. Hast du schon eine Ahnung, wohin du willst?« »An einen anderen Ort. An einen Ort, wo ... wo ich wirklich frei bin.« Caldason lachte humorlos. »Ihr macht Euch über mich lustig.« »Nein. Man macht sich über uns beide lustig.« »Wollt Ihr damit sagen, dass man nirgendwo wirklich frei ist?« »Ich habe den größten Teil von Bhealfa gesehen, außerdem einen Teil von Gath Tampoor und Rintarah und noch einige ihrer Protektorate, doch ich habe nir32 gendwo wahre Freiheit gefunden. Nur den Anschein, als gäbe es sie. Überall, wo ich hinkam, war unter dem Seidenhandschuh eine Eisenfaust verborgen.« Kutch war beeindruckt. Seine Munterkeit kehrte zurück. »Habt Ihr wirklich all diese Orte gesehen? Die Imperien? Beide Reiche?« »Ich bin weit gereist.« »Macht Ihr Euch keine Sorgen, erkannt zu werden?« »Ich versuche, keine unnötigen Risiken einzugehen.« »Ihr wart da draußen unterwegs und habt Paladine gejagt, nicht wahr?« Der Junge sprach im Verschwörerton, es fehlte nur noch das vertrauliche Zwinkern. Caldason ignorierte die Bemerkung und stand geschmeidig auf. »Die Zeit vergeht schnell. Wolltest du mir nicht deine Magie zeigen?« Auch Kutch stand auf, und wieder fühlte er sich zurückgewiesen. »Oben«, erklärte er und nahm einen bleiernen Kerzenhalter, um den Weg zu beleuchten. Die schmale, gewundene Stiege knarzte bei jedem Schritt, und die Decke war so niedrig, dass Caldason den Kopf einziehen musste. Auch hier war die Wand mit eingelassenen, gut gefüllten Bücherregalen verkleidet. Im oberen Stockwerk gab es eine weitere geräumige Kammer, das Gegenstück zu der im unteren Stockwerk, und ein Zimmer, das zweifellos die Werkstatt eines Zauberers war. Alles Zubehör des Magierhandwerks war vorhanden, dazu noch viele weitere Bücher und Pergamentrollen. Der Geruch der Tränke, Salben, Lösungen und des Weihrauchs war hier noch stärker als unten. Auf einer Bank lagen vier Objekte, jedes ungefähr von der Größe eines Hummerkorbes, die unter schwar33 zen Felldecken verborgen waren. Kutch ging hinüber und gestattete sich eine gewisse Theatralik. »Zu Eurer Unterhaltung«, erklärte er, »werde ich Euch die Wunder der Geheimkünste vorführen.« Mit großartiger Geste deckte er das erste Objekt auf. Es war eine große, dickbauchige Glasflasche mit einem riesigen Korken im Hals. Caldason beugte sich vor, um den Inhalt zu betrachten. Er sah maßstabgetreue Bäume, Büsche und Felsen. Einige Granitplatten waren aufgestellt, um eine kleine Höhle nachzubilden. Irgendetwas hatte dort drinnen geschlafen; jetzt erwachte es und öffnete geschlitzte grüngelbe Augen. Ein Miniaturdrache torkelte ins Licht. Er krümmte den Rücken und streckte die Flügel, hob den Kopf und riss das Maul auf. Das Brüllen des Geschöpfs wurde von dem dicken Glas gedämpft. Dann spuckte es eine orangefarbene Flamme und schwarzen Rauch. Kutch wählte den richtigen Moment, um mit der Vorstellung fortzufahren, und zog das Tuch vom nächsten Glas. In diesem Krug war eine Prärieszene nachgestellt. Die Grasnarbe erstreckte sich bis zum Rand eines geschickt arrangierten Waldes. Im Vordergrund stampfte ein strahlend weißes Einhorn im Gras; es stieg und stieß mit dem spiraligen Hörn zum Himmel hinauf. Im dritten Krug war eine Harpye zu sehen. Ihr Lebensraum war eine winklige, trüb beleuchtete Höhle. Sie hing mit dem Kopf nach unten wie eine Fledermaus; ledrige Schwingen flappten, wütende rote Augen starrten. Sie war kaum größer als Caldasons Daumen. Der vierte Krug war mit Wasser gefüllt und barg einen rosafarbenen Korallenpalast. Eine hinreißende Meerjungfrau schwamm mit wedelndem silber34 nem Schwanz und frei wehendem Haar langsam um die Türmchen. Aus dem sinnlichen Mund stiegen Perlenschnüre kleiner Luftblasen auf. Kutch strahlte stolz. »Gebt es zu, Ihr seid beeindruckt. Wisst Ihr, wie viel ein Homunkulus dieser Art auf dem offenen Markt kosten würde?« »Hast du sie gemacht?« »Also ... nein. Aber ich habe dabei geholfen.«
»Ich gebe gern zu, dass sie gut gemacht sind. Aber -versteh mich nicht falsch - es sind keine Originale.« »Nein«, räumte Kutch ein. Sein Lächeln wirkte ein wenig verkrampft. »Das habe ich auch nie behauptet.« Seine Antwort klang sogar etwas gereizt. »Ich meine ja auch nicht die Homunkuli, sondern das, was ich mit ihnen tun werde ...« Er überlegte, dann deutete er auf den Drachen. »Mit dem da.« Er holte zwei flache, polierte Steine aus einem überfüllten Regal. Sie waren rotbraun und gerade von der richtigen Größe, dass er sie bequem in den Händen halten konnte. »Ihr werdet jetzt eine Transformation sehen. Mit Hilfe der Zauberkraft werde ich diesem Drachen eine andere Gestalt geben. Das erfordert große Konzentration, also verhaltet Euch bitte ruhig.« Caldason zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Kutch hielt die Steine an die gegenüberliegenden Seiten des Kruges, sodass die Flächen zueinander wiesen. Dann schloss er die Augen und rezitierte eine Anrufung, die, wie Caldason glaubte, in der älteren Sprache verfasst war. Der Drache beobachtete ihn. Lichtfunken erschienen auf den Steinflächen. Sie wuchsen, verbanden sich, breiteten sich aus und be35 gannen zu pulsieren. Der Drachenhomunkulus fletschte die Zähne, und sein gegabelter Schwanz peitschte. Kutch plapperte weiter, murmelte unverständliche Worte, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Ein leichter Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. Das Strahlen, das von den glühenden Steinen ausging, wurde stärker. Dann gab es eine Art Ausbruch. Beide Steine sandten winzige leuchtende, langsam vorrückende Energiefäden aus, die sich in der Mitte trafen und ein glühendes, quer durch den Krug laufendes Hochseil bildeten. Es flackerte und knisterte. Der Drache schnappte und baute sich kampfbereit auf. Eine Sekunde später wuchsen zwei Ausläufer aus dem fließenden Energiestrom. Sie forschten am Boden der Flasche, suchten den hoppelnden Drachen und fanden ihn. Zwei knisternde Ströme knüpften sich an das widerwillige Zauberwesen. Sie zogen den stärkeren Strom, der zwischen den Steinen verlief, herunter. Er bog sich zur Form eines U und verband sich ebenfalls mit dem Dachen. Die gesamte von den Steinen erzeugte Energie lief nun durch das Geschöpf und hüllte es ein. »Jetzt kommt es!«, rief Kutch mit bebenden Lippen. »Die Transformation!« Es folgte eine gedämpfte Explosion. Der Behälter wurde heftig durchgeschüttelt, und die Innenseite war schlagartig mit zähflüssigem grünem Schaum bedeckt, in den sich Stücke von Schuppen und Knochen mischten. »Oooh!«, schrie Kutch erschrocken. Er ließ die Steine fallen. »Die sind heiß!« Er hüpfte herum, blies sich kräftig auf die Hände und wedelte mit ihnen. 36 »Du musst vielleicht noch etwas an deiner Kunst arbeiten«, meinte Caldason taktvoll. »Das verstehe ich nicht.« Er blies sich immer noch auf die Hände und verzog schmerzvoll das Gesicht. »Ich versuche es bei einem anderen.« »Spar dir die Mühe. Ich halte sowieso nicht viel von Magie.« Kutch fand diese Sichtweise ziemlich schockierend. »Nein?«, fragte er, und seine Pein war vergessen. »Aber was ist mit den Segnungen, die sie Euch bringen kann?« »Sagen wir mal, dass ich bisher noch nie viel davon gesehen habe.« »Ihr meint, Ihr könnt es Euch nicht leisten«, folgerte Kutch altklug. »So könnte man es ausdrücken.« Der Bursche wurde wieder ernst. »Ich verstehe wirklich nicht, was hier schief gelaufen ist.« Er betrachtete die Flaschen und flehte: »Lasst es mich noch einmal versuchen.« »Nicht, wenn es nach mir geht.« »Wenn Ihr mir nur noch diese Gelegenheit geben könntet, dann würde ich gewiss ...« »Nein. Es wird höchste Zeit, dass ich aufbreche. Ich muss weiter.« Kutch kam es so vor, als hätte Caldasons Stimme geradezu verzweifelt geklungen. Sein Besucher wirkte angespannt, vielleicht hatte er etwas zu verbergen. Kutch wollte noch etwas sagen, doch Caldason hatte das Arbeitszimmer bereits verlassen. Er eilte die Treppe hinunter. »So hört doch, es tut mir wirklich Leid, dass es nicht ganz so funktioniert hat, wie ich dachte«, ent37 schuldigte er sich, als sie das Erdgeschoss erreicht hatten. »Aber es ist doch wirklich nicht nötig ...« »Es hat nichts mit deiner Magie zu tun. Ich muss ...« Er schwankte, als würde er gleich stürzen. Kutch erschrak, doch Caldason hatte etwas an sich, das ihn daran hinderte, die Hand helfend auszustrecken. »Was ist los?« »Nichts.« Caldason fing sich wieder und richtete sich auf. »Alles in Ordnung.« »Lasst mich einen Heiltrank für Euch bereiten.« »Nein.« Sein Atem ging schwer. Er wiegte den Kopf in den Händen. »Was fehlt Euch denn?« »Nur eine Prise ... Realität.« »Das verstehe ich nicht.« Caldason gab keine Erklärung, sondern taumelte zu den Schwertern, die er am Boden liegen gelassen hatte. Er
schien der Bewusstlosigkeit nahe, als er sie aufhob. »Gibt es hier einen sicheren Raum?«, fragte er. »Einen sicheren Raum?« »Irgendeinen Raum mit einem Schloss. Und mit festen Wänden.« »Warum ...« »Gibt es einen?«, fauchte Caldason. Der Junge zuckte zusammen und dachte angestrengt nach. »Nun ja, nichts außer ...« »Was?« »Außer dem alten Dämonenloch.« »Ihr habt eins? Hier?« »Ja. Mein Meister hat es manchmal benutzt.« »Bring mich hin. Auf der Stelle!« Kutch bekam es mit der Angst. Er führte den Gast zur Kellertür, und Caldason ging, immer noch die 38 Schwerter haltend, unsicher die feuchte Treppe hinunter. Das Dämonenloch war ein kleines Verlies ganz am Ende des Kellers. Es war aus festem Stein gebaut und hatte eine stabile Tür, in die ein vergittertes Fenster eingelassen war. Drinnen waren starke Eisenringe im Boden befestigt, und die zugehörigen Ketten und Fesseln waren ebenfalls vorhanden. Caldason hob ein Schwert. »Bitte nicht«, flehte Kutch. »Es gibt doch keinen Grund, mich dort einzusperren. Ich werde niemandem etwas über Euch verraten.« »Nicht du wirst eingesperrt, sondern ich.« »Was?« Caldason hielt Kutch die in den Scheiden steckenden Schwerter hin. »Nimm sie! Und die hier auch.« Mehrere Messer folgten. »Versteck sie.« Er streckte eine Hand aus und stützte sich auf der Schulter des Jungen ab, während er sich die Stiefel auszog. Ein Gürtel mit Metallschnallen folgte. Seine Bewegungen wurden fahrig. Er schwitzte, und sein Atem ging schwer. »Was ist denn los?«, fragte Kutch. »Kommt jemand? Müssen wir uns verstecken?« »Wir müssen einander vertrauen. Und jetzt hör zu. Du darfst mich unter keinen Umständen hier herauslassen, bis ... nun ja, du wirst es schon sehen. Aber solange du Zweifel hast, lass mich drin.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Mach einfach, was ich dir sage. Bitte.« Kutch konnte nur benommen nicken. »Sind das die Schlüssel für die Fesseln?« Caldason deutete zu einem Schlüsselbund, der am Rahmen der Zellentür an einem Haken hing. 39 »Ja.« »Dann kette mich an.« »Ihr wollt wirklich angekettet werden?« »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Beeil dich!« Mit zitternden Händen fesselte Kutch Caldasons Fuß- und Handgelenke. »Was ich auch sage oder tue«, wiederholte Caldason, »öffne auf keinen Fall die Tür. Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist. Und jetzt verschwinde. Und halte dich fern.« Verwirrt zog Kutch sich von der Zelle zurück. Er schloss die wuchtige Tür und sperrte ab. Dann stellte er sich außen vors Gitter und beobachtete staunend, was sich drinnen abspielte. 40 In seinem Volk glaubte man, Ehre habe etwas zu bedeuten. Bis der Verrat auf tausend Pferden geritten kam. Die Angreifer nutzten den Schutz einer mondlosen Nacht, und sie hatten kein anderes Ziel als das Morden. Sie wurden von dürftigen Zäunen und offenen Toren willkommen geheißen. Die dünn besetzte Wache wurde überrascht. Der Alarm wurde zu spät gegeben. Sie machten sich ans Morden und genossen ihr Tun. Doch seine Leute waren vor allem Krieger, und sie stellten sich den Verrätern. Unendlich viele galt es vom Pferd zu holen und niederzumachen, und immer noch ließ die Flut der Angreifer nicht nach. Es bestand keine Hoffnung auf einen Sieg. Doch es war besser, mit dem Schwert in der Hand zu sterben. Er hatte seinen Anteil am Töten. Vergebens versuchte er, in all dem Durcheinander die Verteidigung zu organisieren. Wo immer er konnte, beschützte er die Schwachen. In der Verwirrung, inmitten von Rennen, Kreischen, Schreien und Brennen und Sterben, sah er eine Frau 41 und ihr Kind vor einem Angreifer kauern. Sie flehte, und das Kleine weinte und drückte sich die geballten Fäuste vor die Augen. Er hackte sich den Weg zu ihnen frei und streckte denjenigen nieder, der ihr Mörder hatte werden wollen. Die Frau fasste den Jungen an der Hand, und sie flohen. Dann musste er ohnmächtig zusehen, wie ein weiterer Reiter herbeistürmte, sie mit dem Speer durchbohrte und niedertrampelte. Tote und Verwundete lagen überall, die meisten von seinem eigenen Volk. Er lief und stolperte und rannte über
sie hinweg, während er sich duckte und Hiebe austeilte. Die Woge der Angreifer schien endlos. Er blickte zum Haupthaus. Das Zentrum der Gemeinschaft und des Lagers diente in kriegerischen Zeiten als Zuflucht. Einige wehrlose Einwohner, vor allem die Jungen, Alten und Kranken, waren hastig dorthin getrieben worden. Wahrscheinlich waren auch seine engsten Anverwandten darunter. Jetzt wollte er bei ihnen sein und dem Ende entgegensehen. Das Strohdach des großen Rundhauses brannte schon, ehe er sich den Weg zur Tür freigekämpft hatte. Als er ankam, mit Blut verkrustet und keuchend, stand das ganze Gebäude in Flammen. Opfer der Feuersbrunst, taumelnde Feuerbälle, tasteten sich kreischend aus dem brennenden Gebäude. Rings um den Eingang lagen die Beweise für eines von vielen Massakern inmitten des allumfassenden Gemetzels. Die Leichen von Angehörigen, Kameraden und Geschwistern, mit denen er durch sein Blut verbunden war. Verzweifelt dachte er an Flucht, um sich vielleicht mit anderen Überlebenden zu vereinen und dem Feind mit einem Gegenangriff beizukommen. 42 Eine Gruppe Angreifer wickelte Seile um die Zaunpfähle des Lagers und legte sie unter lautem Krachen um. Dutzende verschreckter Pferde galoppierten aus der Koppel und vergrößerten das Durcheinander. Ihre Panik lenkte von seiner eigenen Flucht ab. Er rannte zu einer Gruppe von Hütten, von denen einige bereits brannten, und huschte zwischen ihnen hindurch. Sein Ziel war der Außenzaun, das Weideland dahinter und schließlich der Wald. Er schaffte es nicht. Ein Trupp der auffällig gekleideten Angreifer erschien und schnitt ihm den Weg ab. Weitere versperrten den Ausgang. Er griff sie an und kämpfte mit der Wut der Verzweiflung. Zwei streckte er sofort nieder, einem zerfetzte er die Kehle, und dem anderen durchbohrte er das Herz. Dann war er inmitten der feindlichen Klingen. Er erlitt viele Verletzungen, doch er teilte auch großzügig aus. Ein weiterer Gegner fiel mit eingedrückter Brust und noch einer mit aufgeschlitztem Bauch. Seine tollkühne Wut brachte ein kleines Wunder zuwege. Alle bis auf zwei seiner Gegner wurden ausgeschaltet, und von diesen zweien wurde einer verwundet. Doch er hatte zu viele und zu schwere Verletzungen davongetragen, und seine Hoffnung auf Flucht schwand dahin. Vom Blutverlust geschwächt, brach er fast zusammen, alles verschwamm ihm vor den Augen, ein Schlag auf die Schultern zwang ihn auf die Knie. Das Schwert glitt ihm aus den tauben Fingern. In der Nähe glaubte er flüchtig die Gestalt eines alten Mannes zu sehen, der in schwarzen Rauch gehüllt an der Tür einer Hütte stand. Sein Blick glitt nach oben zum Antlitz seines Mörders. Ein Ozean der Zeit erstreckte sich zwischen ihnen. 43 Dann spürte er, wie sein geschundener Leib von eisigem Stahl durchbohrt wurde. Kaltes Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er kam zu sich, verkrampfte sich, rang mit aufgerissenen Augen um Atem. Arme und Beine wurden festgehalten; instinktiv zerrte er an den Ketten, die ihn hielten. »Immer mit der Ruhe.« Caldason betrachtete blinzelnd den neben ihm knienden Burschen. »Ich glaube, es ist jetzt vorbei«, erklärte Kutch ihm. Caldason setzte sich unter Schmerzen auf und sah sich um. Sie befanden sich in dem beengten Dämonenloch. Der harte, unebene Steinboden war unbequem und nass. »Wie lange?«, knirschte er, nachdem er sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen gewischt hatte. »Es ging den ganzen Tag.« Kutch stellte den Eimer zur Seite. »Jetzt ist es spät am Abend.« »Habe ich irgendwelche Schäden angerichtet?« »Ihr habt nur Euch selbst verletzt.« Kutch betrachtete das geschundene Gesicht und die zerkratzten Arme des Qalochiers, das zerzauste Haar und die dunklen Ringe unter den immer noch recht wild dreinschauenden Augen. »Ihr seht schrecklich aus.« »Habe ich gesprochen?« »Ihr habt nicht viel getan, außer zu sprechen, auch wenn delirieren das bessere Wort wäre. Aber es war keine Sprache, die ich kannte. Ihr braucht keine Angst zu haben, ich könnte Geheimnisse verraten.« 44 »Ich habe kaum welche, aber trotzdem danke, Kutch.« »Ich habe noch nie jemanden wie Euch gesehen, Reeth. Es sei denn, sie waren vom Ramp berauscht oder von Dämonen besessen.« »Beides beschreibt nicht meine Lage.« »Nein, das war etwas anderes. Wolltet Ihr deshalb mit meinem Meister sprechen?« »Unter anderem.« »Unter anderem? Ihr hättet beinahe die Eisenringe aus dem Boden gerissen! Ihr hattet Schaum vor dem Mund, um Himmels willen! Und Ihr habt noch andere Schwierigkeiten?« »Sagen wir mal, es gibt Faktoren, die alles noch komplizierter machen.« Kutch musste einsehen, dass er nichts weiter aus Caldason herausbekommen würde. »Wie ich hörte, seid Ihr ein verwegener Kämpfer«, sagte er. »Liegt das an ... an diesen Anfällen?« Es war nicht ganz das passende Wort.
»Manchmal. Du hast gesehen, dass ich es nicht kontrollieren kann.« »Wie habt Ihr denn ...« »Kutch, mir tut alles weh, ich bin durchnässt, und ich könnte etwas zu essen und zu trinken gebrauchen.« Er hielt ihm die gefesselten Handgelenke hin. »Lass mich hier raus.« Kutch beäugte ihn misstrauisch. »Der Anfall ist vorbei, es besteht keine Gefahr mehr. Ich bekomme vor dem Ausbruch immer einige Warnungen. Wenn es noch einmal passiert, kehre ich hierher zurück.« Der Junge zögerte noch immer. 45 »Es ist ja nicht so, als befände ich mich in einem Zustand ständiger Umnachtung«, beharrte Caldason. »Ich bin doch kein Melyobar.« Trotz seiner Besorgnis musste Kutch lächeln, als er nach den Schlüsseln langte. Der Königshof des souveränen Staates Bhealfa war seit nahezu zwanzig Jahren nicht mehr zum Stillstand gekommen. Als er die Regentschaft - wenngleich technisch gesehen noch nicht den Thron selbst - übernommen hatte, war Prinz Melyobar achtzehn Jahre alt gewesen. Angesichts der ungewöhnlichen verfassungsmäßigen Lage, in der er sich befand - da sein Vater, der König, weder tot noch richtiggehend am Leben war - bestanden Zweifel hinsichtlich der Frage, ob die Herrschaft des Prinzen legitim sei. Die Klärung dieser Frage nahm eine lange Zeit in Anspruch. Melyobar lenkte sich ab, indem er Seher und Propheten konsultierte, von denen er etwas über seine kommende Regentschaft zu erfahren suchte. In dieser Zeit lernte er die wahre Natur des Todes kennen. Niemand weiß, welcher der vielen Mystiker, die er empfing, ihm als Erster die Idee eingab. Das Ergebnis war jedenfalls, dass der Tod für Melyobar die Gestalt eines greifbaren Wesens annahm. Eine belebte Gestalt sei es, die den Menschen gleich auf der Welt umher wandle und das Vergessen bringe. Noch schlimmer - der Tod sei ein Wesen, das insbesondere Melyobar selbst auflauere. Unterstützt vom Rat einiger anpassungsfähiger Wahrsager, überlegte sich der Prinz, dass man dem 46 Tod, wenn er umherging wie ein Mensch, auch entkommen könnte. Er wollte dem Tod entfliehen und ihn damit überlisten. So befahl Melyobar, ungeachtet der hohen Kosten, die Konstruktion einer beweglichen Behausung in Angriff zu nehmen. Sie war kleiner als der derzeitige Palast, doch ebenso üppig eingerichtet. Sie enthielt hunderte von Gemächern, sogar einen Ballsaal und einen Raum, der den Sitzungen mit seiner Marionettenregierung, dem Ältestenrat, vorbehalten war. Der neue Hof ähnelte einem Schiff ohne Segel, dessen Bug und Heck quadratisch ausliefen. Die Kraft, die es bewegte, war eine sündhaft teure Magie. Von handverlesenen Zauberern gelenkt, schwebte der Palast etwa in Höhe eines Mannes, der die Arme ausstreckte, lautlos über dem Boden. Die Geschwindigkeit, mit der er sich bewegte, entsprach der eines langsam galoppierenden Pferdes, doch das Tempo konnte in gewissen Grenzen geregelt werden. Zwei kleinere Fahrzeuge ähnlicher Bauart wurden mitgeführt und sollten dem Prinzen gegebenenfalls zur Flucht dienen. Dutzende von Höflingen hatten ein Vermögen für eigene Fahrzeuge ähnlicher Bauart ausgegeben und wetteiferten miteinander, was die Größe und die schmückende Ausstattung anging. Die Leibwache des Prinzen, Abgeordnete der Zauberer-Elite, Gelehrte, Gesetzeskundige und Diener waren in weiteren Landschiffen untergebracht. Die niedrigeren Ränge und die einfachen Gefolgsleute genossen keinerlei magische Hilfe. Sie waren auf Wagen angewiesen, gezogen von Pferdegespannen, die unter Lebensgefahr während der Fahrt ausgewechselt wur47 den. Alles hing von einem komplexen logistischen System ab, und die Verwalter, die es überwachten, belegten noch zusätzliche Fahrzeuge. Der große Geleitzug bewegte sich kreuz und quer durch ganz Bhealfa auf einer Route, die den Tod verwirren sollte. Zuweilen hatte dies zur Folge, dass erntereife Felder platt gewalzt und angeschwollene Flüsse an Furten überwunden werden mussten, manchmal wurde sogar ein Dorf zerstört, wenn man ihm nicht ausweichen konnte. Das Wichtigste war, um jeden Preis in Bewegung zu bleiben. An diesem Abend fuhr die Flottille durch eine relativ dünn besiedelte Gegend des Reichs. Sie strahlte im Licht der pendelnden Laternen und der flackernden Fackeln, und sie kam alles andere als leise daher. Polternde Hufe, quietschende Räder, Musik und Späher, die einander mit lauten Rufen vor Kollisionen warnten, kündigten das Kommen der Karawane an. Am Rande des Gefolges tauchte eine Kutsche auf und passte sich der Marschgeschwindigkeit an. Sie wurde von einer Vorausabteilung empfangen, welche die Papiere des Besuchers überprüfte. Dann eskortierte man die Kutsche zum Geleitzug, was schon unter normalen Bedingungen ein gefährliches Unterfangen war. Nach erstaunlich wenigen Erschütterungen erreichten sie den schwebenden Palast. Die Tür der Kutsche wurde geöffnet, und ein elegant gekleideter Passagier erklomm die Sprossen einer kurzen Leiter. Diener halfen ihm an Bord, und ein uniformiertes Begrüßungskomitee salutierte.
Der Besucher wurde in einen Vorraum geführt und einer oberflächlichen, aber dennoch unwürdigen Untersuchung unterzogen. Dabei ging es allerdings nicht 48 um Waffen, sondern eher darum, ob er auch der sei, für den er sich ausgab, und nicht etwa jenes Wesen, dem man mit so viel Aufwand zu entkommen versuchte. Mit der Obsession des Prinzen vertraut, ließ der Mann die Prozedur ohne Murren über sich ergehen. Endlich geleitete man ihn in ein verschwenderisch ausgestattetes Audienzzimmer. »Der imperiale Gesandte von Gath Tampoor«, verkündete ein Lakai, der sich gleich darauf diskret zurückzog. Der einzige andere Anwesende saß an einem kostbaren Schreibtisch und studierte ein Pergament, das mithilfe zweier silberner Kerzenleuchter flach gehalten wurde. Anscheinend hatte er die Ankunft seines Besuchers noch nicht bemerkt. Der Gesandte wusste seine Ungeduld zu beherrschen und beschränkte sich auf ein verhaltenes Hüsteln. Prinz Melyobar richtete sich auf und betrachtete den Besucher. Er wirkte verunsichert oder gar verwirrt und brauchte einen Moment, bis er den Diplomaten erkannte. »Ah, Talgorian.« »Euer Hoheit.* Der Gesandte neigte höflich den Kopf. Sie waren etwa im gleichen Alter, doch der Mann aus Gath Tampoor hatte sich erheblich besser gehalten. Er war schlank und durchtrainiert, der Prinz dagegen war von stämmigem Wuchs und hatte ein teigiges Gesicht. Talgorian trug einen sauber gestutzten Bart, Melyobars rundliches Gesicht war entgegen der vorherrschenden Mode glatt rasiert und das Haar fast durchgehend weiß. Der Gesandte zeigte wenigstens äußerlich die Gelassenheit eines Diplomaten, während Melyobar eher unruhig wirkte. 49 »Welchem Umstand habe ich Euren Besuch ...« Der Prinz ließ den Satz unvollendet, er war in Gedanken ganz woanders. »Unser regelmäßiges Treffen, Hoheit«, erinnerte Talgorian ihn so nachdrücklich, wie es das Protokoll eben zuließ. »Oh, natürlich.« »Und auch die Entsendung zusätzlicher Truppen sollte besprochen werden.« Er sprach betont langsam, ungefähr in der Art und Weise, wie sich ein Bauer einer störrischen Kuh nähert. »Ich meine hier bhealfanische Truppen. Für den neuen Feldzug gegen Rintarah, Hoheit, und gegen dessen aufsässige Anhänger.« Der Prinz schien ihn nicht zu verstehen. »Zu welchem Zweck denn?« »Wie ich schon dargelegt habe, mein Lord, geht es darum, Eure Souveränität und die Sicherheit des Reiches zu gewährleisten.« Wie schon so oft, hatte der Gesandte auch dieses Mal Mühe, die Contenance zu wahren. »Es wäre doch nicht gut, wenn Rintarah die Oberhand behielte, nicht wahr?« »Nein, das wäre nicht gut.« »Wir brauchen Eure gnädigste Zustimmung, um weitere Soldaten aus Bhealfas Reihen zur Unterstützung in dieser Sache abzuordnen.« Er schob eine Hand in die Jacke und zog ein zusammengerolltes, mit rotem Band verschnürtes Dokument hervor. »Ich will Euch nicht weiter belästigen und nur um Eure Unterschrift bitten, Hoheit. Die Einzelheiten könnt Ihr getrost mir überlassen.« »Ich "soll etwas unterschreiben?« »Alles ist in strikter Übereinstimmung mit dem Abkommen zwischen Eurer und meiner Regierung«, er50 klärte Talgorian behutsam. »Eine unbedeutende Formalität, mehr nicht.« Schweigen kehrte ein, während der Prinz seinen Gedanken nachhing. Schließlich sagte er: »Ihr dürft Euch nähern.« Der Gesandte trat vor und entrollte das Papier. Er legte es auf den Schreibtisch und sah zu, wie Melyobar zitternd seine Unterschrift darunter setzte. Als der Sandstreuer sein Werk getan hatte, tauchte der Prinz seinen Siegelring ins heiße Wachs und drückte ihn unbeholfen aufs Dokument. Nach dieser Prozedur riss Talgorian dem Herrscher den Erlass förmlich aus den Händen. »Vielen Dank, Hoheit«, schmeichelte er gewandt. Er war erleichtert, dass der Prinz keine Einwände gegen das Gesuch erhoben hatte. Es wäre ermüdend gewesen, ihn abermals darauf hinzuweisen, wo die wahre Macht lag. »Rintarah, sagt Ihr?« Melyobars Frage klang, als hätte er noch nie von dem rivalisierenden Reich gehört. Talgorian verkniff sich eine entnervte Antwort. »Ja, Euer Hoheit«, erwiderte er, während er das Dokument sorgfältig zusammenrollte. »Eine große Bedrohung für uns alle. Eure Truppen werden helfen, sie unter Kontrolle zu halten. Ganz zu schweigen von den Kriegsherren im Norden. Wir müssen uns auch gegen sie verteidigen.« Es klang, als spräche er mit einem Kleinkind. »Kriegsherren hat es schon immer gegeben. Sie kommen und gehen. Was gehen uns die Barbarenländer an?« Das war fast schon eine intelligente Bemerkung. Talgorian war beeindruckt. »Das ist wahr, Hoheit. Dieser Neue, über den wir Berichte bekommen ha51 ben, hat allerdings für eine gewisse Unruhe gesorgt. Zerreiss ist sein Name.« »Ich habe noch nie von ihm gehört.« »Höchstens, als ich ihn bei unserem letzten Treffen erwähnte«, murmelte der Gesandte.
»Was?« »Ich sagte, ich habe wohl vergessen, ihn Euch gegenüber zu erwähnen. Ich bitte um Verzeihung.« »Was ist so Besonderes an ihm?« »Nur die Tatsache, dass er innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne einige beeindruckende Eroberungen vorzuweisen hat. Es ist immer gut, solche Entwicklungen im Auge zu behalten. Wir wollen doch nicht, dass Rintarah mit diesen Wilden ein Bündnis schließt und in unserer Region einen ungebührlichen Einfluss gewinnt.« »Wenn ihnen das gelingt, werden sie sogar besser dastehen als Gath Tampoor«, sagte Melyobar geradeheraus. »Was wissen wir denn über diesen ...« »Zerreiss, Hoheit.« »Was wissen wir über ihn?« »Im Augenblick noch sehr wenig. Eigentlich ist er sogar recht geheimnisvoll.« Zum ersten Mal während der ganzen Unterhaltung wirkten die Augen des Prinzen lebendig. »Vielleicht ... vielleicht ist er es«, flüsterte er. Talgorian war verwirrt. »Hoheit?« »Er. Er! Der Sensenmann. Derjenige, der uns das Leben nehmen will.« Seine Stimme klang, als läge er bereits im Grab. »Der Tod.« Der Gesandte hätte es sich gleich denken können. »Aber natürlich. Ein raffinierter Kerl.« Es klang schwach, und er wusste es. 52 Melyobar schien die mangelnde Begeisterung des Gesandten hinsichtlich dieser Idee nicht zu bemerken und erwärmte sich regelrecht für das Thema. »Ja, er könnte es sein. Ihr wisst ja, er ist ein Gestaltwandler.« »Ja, wirklich.« »Und wo könnte er besser Leben nehmen als im Barbarenland?« »Umso mehr ein Grund, angemessene Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.« Talgorian versuchte, die Unterhaltung in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. »Deshalb wird die Abordnung Eurer Truppen auch einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität leisten.« Der Prinz ignorierte die Plattitüden. Er nickte in Richtung der Papiere auf seinem Schreibtisch und fuhr in verschwörerischem Ton fort. »Darf ich Euch etwas anvertrauen?« »Aber selbstverständlich.« Der Gesandte legte sich einen Ausdruck verletzten Stolzes zu, da man ihn einer Indiskretion für fähig hielt. »Dies hier ist geheim«, erklärte Melyobar ihm. Er legte die Hand auf die krakelig beschriebenen Blätter, beugte sich vor und sprach zischelnd weiter. »Das ist ein Teil meines Plans, den Tod zu töten.« So ungewöhnlich es für einen Diplomaten auch war, Talgorian sah sich außerstande, eine angemessene Antwort zu geben. Er wurde aus der peinlichen Lage erlöst. Ein kalter Windstoß, der irgendwie in die Gemächer eingedrungen war, ließ einen Vorhang rascheln. Mehrere Kerzen spuckten. Der Prinz schauderte und zog seinen Hermelinumhang enger um sich. Unstet irrte sein Blick im Zimmer umher. 53 »Es ist sicher das Beste, einen solchen Plan geheim zu halten«, antwortete Talgorian, um Melyobars Paranoia zu hätscheln. »Damit habt Ihr wohl Recht.« Der Prinz drehte die Papiere rasch um und beschwerte sie mit einem Tintenfass, das die Insignien des Königs trug. Angst zeichnete sein Gesicht. »Es gibt nur noch eine weitere Angelegenheit, die ich mit Euch besprechen möchte, Hoheit«, ergriff der Gesandte das Wort. »Es ist eine Angelegenheit von einer gewissen Wichtigkeit.« Der Prinz bemerkte Talgorians ernste Miene. »Worum geht es?« »Eure königliche Hoheit, habt Ihr schon einmal von einem Mann namens Reeth Caldason gehört?« 54 Die Stadt lag in einem weiten Tal zwischen niedrigen schwarzen Hügeln. Ein silbriger Fluss schlängelte sich hindurch. Türme und hohe Dächer waren im Zentrum zu sehen, Villen, Herrensitze und Wohnhäuser in den Außenbezirken. Hütten, Baracken und Schuppen standen am Hügel und bildeten eine unsaubere Korona. Den vorbeiziehenden Vögeln zeigte sich von droben alles, was man über den Fluss der Kraft wissen musste. Nicht, dass alles, was oben vorbeizog, tatsächlich ein Vogel war. In Merakasa, der Hauptstadt von Gath Tampoor und dem Zentrum des Reichs, wurde es niemals völlig dunkel. Wenn der Abend kam, wurden mit Wachs und Öl Lichter entzündet, deren Schein immer wieder von Ausbrüchen magischer Energien überdeckt wurde. So entstand ein ewiger, weicher Schimmer. Doch dieser Schimmer war ungleichmäßig; in den Armenvierteln gab es nur wenige Ausbrüche, während es um die Anwesen der Reichen herum prachtvoll strahlte. 55 Die Straßen wimmelten vor Menschen. Fliegende Händler und Krämer drängten sich neben Künstlern und Wandergesellen. Kaufleute führten Maultiere, die mit Tuchballen und Säcken voll Gewürzen beladen waren. Wagen voller Handelsgüter und Berittene teilten sich die Wege. Straßenhändler verkauften Früchte und Brot von
primitiven Ständen, und zerlumpte Jungen beäugten die Waren und lauerten darauf, etwas stehlen zu können. Große Gespanne folgten dem Strom der Menschen. Und der Nichtmenschen. Auch Nachgemachtes wanderte durch die Straßen, tappte oder huschte darüber oder schwebte über ihnen. Bei manchen handelte es sich um phantastische, mythische, groteske Geschöpfe, die dazu gemacht waren, zu unterhalten oder einzuschüchtern. Andere waren vom Alltäglichen kaum zu unterscheiden, da sie Haustiere oder käufliche Dirnen nachahmten. Manche waren ganz und gar überzeugend, andere hingegen weniger. Eine Frage des Preises. Hin und wieder löste sich ein Zauber, der abgelaufen war oder aufgehoben wurde, in stummem Feuerwerk auf. Ebenso regelmäßig tauchten neue Erscheinungen auf und entwickelten sich aus strahlenden Ausbrüchen mitten in der Luft. Der Vorrat war unerschöpflich. Lizenzierte Magieverkäufer bearbeiteten die Menge und verkauften Sprüche und Tränke, während ihre Leibwächter die Kundschaft im Auge behielten. Das Gedränge toste um die Mauern des Palastes, der von der Stadt Merakasa genährt wurde. Dicke hohe Wälle umgaben eine Stadt in der Stadt, weitläufig und vielfältig. Im Gegensatz zu den städtischen 56 Straßen waren die Wege im Innern jedoch verlassen, und irgendwie war drinnen auch der Lärm der Außenwelt nur noch gedämpft zu hören. Die innersten Palastgebäude waren prächtig und wiesen den magischen Glanz auf, der von großem Reichtum zeugte. Weiter außen liegende Zweckbauten waren dagegen sachlicher gehalten. Ein besonders freudloses Beispiel stand abseits von allen anderen. Das Gebäude war gedrungen und fensterlos. Es hatte mit der Staatssicherheit und der Erhaltung der Ordnung zu tun und war daher sehr groß. Doch alles, was es der Welt zeigte, waren zwei bescheidene Stockwerke. Nur die Unglücklichen, die hineingeschleppt wurden, erfuhren, dass es sich unterirdisch ausdehnte, denn dort gab es weitere Ebenen, Keller und Verliese. In den tiefsten Geschossen waren die Zellen für die Gefangenen untergebracht. Es war ein Bienenstock voller gemauerter Gänge, in die glatte, gesicherte Türen eingelassen waren. Hinter einer solchen Tür, am Ende eines abgelegenen Ganges, befand sich eine Zelle, die aussah wie alle anderen. Das einzige Mobiliar bestand aus einem harten Bett und einem Holzeimer. Ein minderwertiger Zauber spendete schwaches Licht. Auf der Pritsche saß eine Frau. Sie hatte nichts zu essen und zu trinken bekommen. Stiefel, Gürtel und alles, womit man sich Schaden zufügen konnte, war ihr weggenommen worden. Eine graubraune körperlange Kutte hatte die übliche Kleidung ersetzt. Die Frau verabscheute beengte Räume mit einer Inbrunst, die an blanken Hass grenzte, und dies verstärkte ihre Qualen noch. 57 Die Frau war pausenlos verhört worden. Ihre Antworten hatten nicht den Erwartungen entsprochen, doch man hatte ihr bisher nichts angetan. Sie fragte sich allerdings, wie lange dies so bleiben werde. Sie war erschöpft und verwirrt, und der anfängliche Zorn über die gemeine Behandlung und die Ungerechtigkeit hatte sich in stummen, grimmigen Groll verwandelt. Inzwischen war sie seit einigen Stunden allein. So kam es ihr jedenfalls vor - die unveränderliche Umgebung machte es schwer, die Zeit zu schätzen. Sie dachte, es könne Abend sein, doch sie hätte es nicht beschwören mögen. Sie hatte sich bereits an die Stille gewöhnt. Umso heftiger erschrak sie, als diese durchbrochen wurde. In der Ferne knallten Türen. Rufe wurden laut, dann hallende Schritte. Die Geräusche näherten sich. Eine Art Prozession war in ihren Gang eingebogen. Sie hörte gedämpfte Stimmen und Stiefel, die über Stein schlurften. Vor ihrer Zelle blieben die Leute stehen. Nach einer kurzen Pause wurde der Schlüssel herumgedreht, dann ging die Tür krachend auf. Sie spannte sich. Jemand stand im Rahmen, umgeben vom stärkeren Licht draußen, das im Grunde aber immer noch dürftig war. Es war eine große, fast bis zum Skelett abgemagerte Gestalt mit eingesunkenen Schultern. Der Besucher tat einen Schritt in die Zelle. Wer sonst noch draußen auf dem Gang stand, hielt sich zurück. Der Mann war kahlköpfig und hatte ein kantiges Gesicht, das an einen Geier erinnerte. Die himmel58 blauen Augen blickten aufmerksam, der Mund hatte schmale Lippen. Man konnte sein Alter kaum schätzen, doch er war vermutlich um die sechzig Jahre alt. Er trug die auf diskrete Weise luxuriöse Kleidung eines hochrangigen Staatsdieners. Sie erkannte ihn sofort, und vielleicht war ihr die Überraschung anzusehen. Nun trat er ganz in die Zelle und schloss hinter sich die Tür. Seine Eskorte blieb draußen. Er war die Sorte Mann, die keinen Schritt ohne Eskorte machte. Begegnet waren sie sich noch nie. Soldaten von ihrem Dienstgrad bekamen nicht viele Berühmtheiten zu Gesicht, es sei denn, man zeichnete sich auf besondere Weise aus, oder man ließ sich üble Dinge zuschulden kommen. Sie hatte diesen Mann allerdings mehrmals aus der Ferne gesehen und kannte ihn auch von Bildern und einigen Statuen. So absurd es war, sie dachte daran, aufzustehen und eine Geste der Unterwürfigkeit zu machen. Doch er begann zu sprechen, bevor sie sich rühren konnte. »Hauptmann Ardacris.« Er lächelte. Sie starrte ihn an und nickte, obwohl es eine Begrüßung und keine Frage gewesen war.
»Wisst Ihr, wer ich bin?«, fragte er. »Ja«, sagte sie zurückhaltend. Dann fasste sie sich. »Ja, Sir. Ihr seid Kommissar Laffon vom Rat für Innere Sicherheit, Sir.« »Gut.« Das Lächeln blieb unverändert. Er deutete zum Bett. »Darf ich?« Sie nickte und machte ihm Platz. Laffon hockte sich hin. Er betrachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Serrah, Ihr braucht meine Hilfe.« 59 »Wirklich?« »Seid Ihr denn anderer Meinung? Ich kann Euch helfen, diese Angelegenheit zu klären und zu den Akten zu legen.« Er gab sich freundlich und gönnerhaft. »Ja ... ja, natürlich. Aber was kann ich schon tun, abgesehen davon, die Wahrheit zu sagen?« »Vielleicht gibt es noch etwas mehr als das.« Seine Gegenwart unterstrich, wie ernst ihre Situation war, und sie fühlte sich ein wenig eingeschüchtert. »Was soll ich denn für Euch tun?« »Erklärt mir, was passiert ist. Was mit dem Sohn des gewählten Prinzipals geschehen ist.« »Ich habe die Geschichte schon so viele Male erzählt, Kommissar. Warum sollte ich ...« »Seid so freundlich. Ihr könnt es ruhig etwas straffen.« Serrah holte Luft. »Meine Einheit war auf eine Bande von Ramp-Händlern angesetzt. Wir haben ihr Versteck fast einen Monat lang beobachtet. Letzte Nacht sind wir dort eingedrungen.« Es kam ihr vor, als wäre es schon viel länger her. »Phosian hat sich wie ein junger Hitzkopf aufgeführt. Er hat unsere Linien verlassen, und sie haben ihn getötet. Ich könnte noch hinzufügen, dass es nicht das erste Mal war, dass er Befehle missachtet hat, Sir. Er hatte so etwas schon öfter getan.« Laffon überdachte ihre Worte. Dann sagte er: »Nein, so ist es nicht gewesen.« Sie begriff überhaupt nichts mehr. »Sir?« »Das ist nicht die offizielle Version.« »Die offizielle Version? Ich dachte, es gebe nur eine Version. Die Wahrheit.« 60 »Nicht für die Öffentlichkeit«, berichtigte der Kommissar sie nachsichtig. »Vielleicht wollt Ihr mir dann sagen, wie es geschehen ist, Sir?« Ihr Zorn war wieder da. »Phosian ist als Held gestorben.« Eisbrocken klirrten in ihrer Magengrube. »Ach, wirklich?« Mehr fiel ihr nicht dazu ein. Spott hatte es werden sollen, doch es klang schwach. »Allerdings, Hauptmann. Außerdem wird es heißen, dass er wegen unfähiger Vorgesetzter tapfer sein Leben hingab.« »Bei allem Respekt, Sir, so war es nicht.« »Der Rat hat freilich genau dies beschlossen.« Nach wie vor gab er sich freundlich. »Meine Einheit ... meine Leute werden bestätigen, was ich gesagt habe. Fragt sie doch.« »Ah ja, die ergebene Truppe. Nichts als Achtung für Euch. Ich fürchte, sie werden alle sagen, dass Euer Verhalten nicht den geltenden Maßstäben gerecht wurde.« Sie wollte nicht glauben, dass ihre Leute freiwillig solche Aussagen machen würden. »Das entspricht nicht der Wahrheit, Kommissar. Alles wird verdreht, und nur, weil Phosian von so vornehmer Herkunft ist.« »Ich weiß, wie schwierig dies für Euch ist. Ihr könnt es Euch allerdings viel leichter machen. Gesteht einfach, was geschehen ist...« »Ich soll gestehen, was Ihr mir erzählt habt, Sir?« »Gesteht es, und ich verspreche, dass ich mein Möglichstes tun werde, um ein nachsichtiges Urteil für Euch zu erwirken.« »Ihr fordert mich auf zu lügen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich schuldig bekennen soll.« 61 »Ich bitte Euch, nicht den Feinden des Reichs in die Hände zu spielen.« »Wie bitte?« »Rintarah und deren Spießgesellen hier, den Aufständischen. Es würde nur ihre Sache stärken, wenn sie herausbekämen, dass der Abkömmling unseres Herrscherhauses ... nicht unbedingt vollkommen war.« Serrah lachte freudlos. »Das, Sir, ist - wenn Ihr mir den Ausdruck verzeihen wollt - der reinste Schwachsinn. Phosian war ein verdorbener, rücksichtsloser Junge. Jeder rintarahnische Spion, der sein Geld wert ist, weiß das ohnehin schon. Phosian kam in den Sinn, den Milizionär zu spielen, und aufgrund seiner Abstammung hat man ihn trotz meiner Einwände in eine Eliteeinheit gesteckt. Und jetzt soll ich für seine Dummheit büßen.« »Ihr solltet Euch lieber vorsehen, so über Eure Herrscher zu sprechen, Hauptmann.« Entdeckte sie da nicht einen dunklen Fleck auf seiner Rüstung des Wohlwollens? Ein kleines Schwellen des Truthahnhalses? »Ich war immer loyal«, sagte sie und brachte vor, was sie für ihren letzten Trumpf hielt. »Dann demonstriert Eure Loyalität, indem Ihr tut, was ich Euch sage.« »Spielt es überhaupt noch eine Rolle, was ich sage? Ich kann Euch doch sowieso nicht daran hindern, jede
beliebige Version zu verbreiten. Was soll dieses Spielchen noch, Sir?« Er ignorierte ihre Aufsässigkeit. »Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die Aussage muss von Euch selbst kommen. Wenn Ihr Euer Versagen öffentlich einräumt, dann wird es keine Zweifel geben, keine 62 Lücken mehr, die von den Dissidenten und Unruhestiftern mit Gerüchten gefüllt werden. Und soweit Phosians Familie betroffen ist, so ist auch deren Ehre gerettet.« »Dann verlange ich ein öffentliches Verfahren. Ich will von meinesgleichen gerichtet werden.« »Das kommt nicht infrage.« »Als Bürgerin von Gath Tampoor habe ich gewisse Rechte.« »Ihr habt nur so viele Rechte, wie wir Euch zugestehen.« Laffons Ton wurde zusehends schärfer. »Wenn es um die Staatssicherheit geht, dann waschen wir unsere schmutzige Wäsche gewiss nicht in der Öffentlichkeit. Das dürfte Euch bekannt sein.« »Wenn ich dieser ... dieser Erklärung zustimme, was passiert dann hinterher mit mir?« »Wie ich schon sagte, werde ich meinen Einfluss nutzen, um dafür zu sorgen, dass Eure Bestrafung milde ausfällt.« Er hielt ihrem Blick stand. »Das ist ein Versprechen.« Serrah konnte nicht umhin, sich zu überlegen, wie bequem es für diese Leute wäre, wenn sie nach dem Geständnis einfach verschwände. Keine Gefahr, dass sie es sich wieder anders überlegte. Keine losen Fäden. Sie sah Laffon an und zweifelte zum ersten Mal in ihrem Leben am Wort eines Vorgesetzten. Es war eine erschreckende Vorstellung, die sie schwindeln ließ. »Und wenn ich mich weigere?« »Für diesen Fall kann ich keinerlei Versprechen abgeben.« Ich bin so oder so verloren, dachte sie. »Ich verdiene es nicht, auf diese Weise behandelt zu werden, Kommissar.« 63 »Niemand hat behauptet, die Welt sei gerecht. Wir müssen alle Opfer bringen zum Wohl des größeren Ganzen.« Wessen größeres Ganzes mag das wohl sein?, fragte sie sich. Er bedrängte sie weiter. »Werdet Ihr nun gestehen? Ja?« »Ich ... ich kann nicht.« Laffon seufzte, schwieg einen Augenblick. Schließlich sagte er: »Überlegt Euch Folgendes. Vielleicht ist meine Wahrheit ja wirklich die Wahrheit?« Serrah hob den gesenkten Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Er kniff die Augen zusammen. »Eure Tochter - heißt sie nicht Eithne?« »Was ist mit ihr? Was hat sie damit zu tun?« »Ich glaube, sie wurde gerade fünfzehn, als es geschehen ist, oder?« »Warum erwähnt Ihr das?« Der Verlauf des Gesprächs behagte ihr gar nicht. Sie wollte nicht darüber nachdenken. »Wie tragisch«, murmelte er kopfschüttelnd. »So eine Verschwendung.« »Das hat doch nichts zu tun mit...« »Überlegt doch einmal, Serrah. Eure Tochter. Das Ramp. Ist es denn nicht möglich, dass ...« »Nein.« »... angesichts der Umstände, unter denen Eithne starb, kann man doch verstehen, dass Ihr, als Ihr die Drogen dort habt liegen sehen und die Händler vor Euch standen ...« »Nein.« »... dass Eure Urteilsfähigkeit gelitten hat? Dass 64 Ihr, was ja nur zu verständlich ist, rein gefühlsmäßig reagiert habt und ...« »Nein! Ich verstehe etwas von meinem Beruf. Ich arbeite mit Fakten, nicht mit Gefühlen.« »Wirklich? Die Art und Weise, wie Ihr Euch jetzt benehmt, passt aber nicht dazu.« Das hatte gesessen. Mit großer Willensanstrengung beruhigte sie sich wieder. »Meine Tochter hat mit alledem nichts zu tun. Ich bin letzte Nacht nicht das erste Mal gegen Ramp-Händler vorgegangen. Ich hasse sie, in der Tat, aber das hat die Art und Weise, wie ich meine Arbeit ausübe, nie beeinflusst. Es geht überhaupt nicht um mich. Es geht darum, dass Ihr ein Opfer braucht.« »Ich glaube, Ihr erfasst immer noch nicht die Tragweite dieser Angelegenheit, Ardacris.« Inzwischen war jegliches Mitgefühl verschwunden. »Was Ihr habt geschehen lassen, hat Nachwirkungen, die bis zur Imperatorin selbst reichen.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Serrah zynisch. »Es reicht«, entschied Laffon. »Wir werden kein weiteres Wort mehr darüber verlieren.« Er wühlte in den Taschen herum und zog ein zusammengefaltetes Pergament hervor. Mit einem wütenden Ruck schüttelte er es auf. »Ihr könnt den ersten Schritt zu Eurer Rehabilitation machen, indem Ihr dies hier unterzeichnet.« Er hielt ihr das Geständnis hin. Jetzt fügte sich in Serrahs Kopf alles zusammen. Sie gab jede Hoffnung auf, Gerechtigkeit zu finden. Allein die Tatsache, dass dieser Papierfetzen nicht unterzeichnet wurde, hielt sie am Leben. Ihre einzige Chance war, sich zu sperren.
65 »Nun?«, drängte Laffon. »Nein«, sagte sie. »Ihr weigert Euch?« »In der Tat.« »Überlegt Euch genau, was Ihr tut. Denn was als Nächstens geschieht, wird Euch nicht gefallen.« Sie schüttelte den Kopf. Laffon sah ihre Entschlossenheit und stand auf. »Ihr werdet bedauern, den harten Weg gewählt zu haben. Ich lasse Euch dieses Dokument hier, falls Ihr Eure Meinung ändern wollt.« Er ließ das Papier aufs Bett fallen. Ein kleines rötliches röhrenförmiges Objekt ließ er daneben fallen. Ein Unterschriftszauber, nutzlos für alles andere. Wahrscheinlich gerade stark genug, um ihre Unterschrift aufs Papier zu bringen. »Den werde ich nicht brauchen«, sagte sie. Er war schon im Begriff zu gehen, hielt aber noch einmal inne. »Vergesst nicht, dass Ihr Euch dies selbst zugefügt habt.« Drei Männer traten ein, als Laffon die Zelle verließ. Sie kamen so schnell, dass Serrah überrascht wurde. Sie waren kräftige Kerle mit ernsten Gesichtern. Jeder hatte ein kurzes, dickes Seilstück in der Hand, dessen Ende verknotet war. Serrah richtete sich auf. Ohne Vorwarnung schwang der Vordere den Seilknüppel gegen sie. Er knallte schwer auf ihre Schulter. Sie schrie auf und kippte zurück. Er drang weiter auf sie ein und schlug noch einmal zu. Der Schlag traf sie unter der Kehle. Sie kroch von ihm weg, trat wild aus und erwischte sein Scheinbein. Fluchend wich er zurück und behinderte die anderen beiden. Serrah rollte von der Liege herunter, landete schwer auf dem Boden und schnappte sich den Eimer. Sie 66 unterdrückte die Schmerzen, stand auf und schwang den Eimer. Er streifte die Schläfe des zweiten Mannes, der gerade angriff, und schlug ihn bewusstlos. Doch der Erste hatte sich schon wieder erholt. Er versetzte ihr einen kräftigen Schlag in die Magengrube, und sie krümmte sich. Der Dritte kam dem Ersten zu Hilfe, und zusammen versetzten sie ihr eine Reihe von Schlägen. Serrah wollte sie mit dem Eimer abwehren, den sie zugleich als Schild und als Waffe gebrauchte. Ein stechender Schmerz in den Knöcheln brach ihren Griff, und der Eimer flog davon. Der Mann, den sie niedergestreckt hatte, war wieder auf den Beinen und mischte sich in die Prügelei ein. Sie schützte ihren Kopf mit den Händen und zog sich zurück. Nach ein oder zwei Schritten hatte sie jedoch die Grenzen ihrer engen Zelle erreicht. Sie war in dem schmalen Raum zwischen Bett und Wand gefangen. Auch die Angreifer waren beengt und mussten sich abwechseln, um sie zu erreichen. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, immer wieder auf Arme, Beine und den Rumpf einzuschlagen. Serrah tauchte halb weg und sprang aufs Bett, doch das machte es den Angreifern nur leichter. Sie setzten ihr erbittert nach, als wollten sie Korn dreschen. Sie sprachen kein Wort, sondern gingen konzentriert ihrer Aufgabe nach. Serrah kauerte sich zusammen und beschränkte sich darauf, es irgendwie durchzustehen. Als sie schon glaubte, es werde weitergehen, bis sie tot war, hörten die Männer auf. Sie empfand nur noch Schmerzen. Jeder Zoll ihres Körpers brannte. Von den Schlägen klingelte es ihr in den Ohren, und sie konnte nicht mehr klar sehen. Sie 67 war blutig, verschwitzt und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Keuchend ließ sie sich auf den Rücken fallen. Einer ihrer Gegner beugte sich über sie. Er beugte sich herunter und packte den Rand ihrer Gefängniskutte. Mit einem heftigen Ruck zog er den Stoff bis über die Hüfte hoch. Die Männer lachten, johlten und gaben anzügliche Kommentare ab. Dann sagten sie ihr unumwunden und grob, was passieren würde, wenn sie noch einmal kommen mussten. Schließlich warf ihr jemand das Geständnis hin. Sie gingen und knallten die Tür hinter sich zu. Serrah hustete schwach, sie spürte einen stechenden Schmerz in den Rippen. Blut rann aus der Nase und dem Mundwinkel. Schon das bloße Nachdenken war eine Qual, vom Sich bewegen ganz zu schweigen. Eine unendlich lange Zeit blieb sie im Ozean der Schmerzen untergetaucht. Nach einer Weile gewann die Natur die Oberhand, und sie fiel trotz der Verletzungen in einen erschöpften Schlummer. Jetzt konnten die Albträume über sie herfallen. Höhnische Gesichter und prügelnde Keulen. Der Kerker schrumpfte, um ihr mit dicken Wänden das Mark aus den Knochen zu quetschen. Ihre Tochter wurde von einem pechschwarzen Strudel verschlungen, die Fingerspitzen erreichten Serrah gerade noch, bevor sie verschwand. Träume von Feuer und Leiden und Verlust. Erschrocken wachte sie auf. Das Blut war auf Gesicht und Armen verkrustet, schon zeichneten sich die Prellungen ab. Alles tat ihr weh, und ihr war übel. 68 Es kam ihr vor, als wäre das Licht in ihrer Zelle noch schwächer geworden. Die Stille war bedrückend. Dann meldete sich ein undefinierbares und dennoch vertrautes Gefühl: ihr sechster Sinn, der sie warnte, wenn jemand
sich leise von hinten näherte. Das Kribbeln, das ihr über die Wirbelsäule lief, verriet ihr, dass sie nicht allein war. Mühsam richtete sie sich auf, bis sie saß, und blinzelte im Zwielicht. Tatsächlich, es war noch jemand anders in der Zelle. An der Tür stand jemand. Reglos. Das Gesicht war nicht zu erkennen. »Wer ist da?«, rief Serrah. Ihre Stimme brach beinahe und klang heiser. Keine Antwort, der Eindringling zeigte sich nicht. »Zeige dich!« Immer noch nichts. Serrah fürchtete, ihre Folterer seien zurückgekommen und führten Schlimmeres im Schilde sie spielten mit ihr, um Serrahs Angst und ihre eigene Freude daran zu steigern. Doch es folgte kein Angriff, und so machte sie nach einer Weile Anstalten, sich unter Schmerzen aufzurappeln. Endlich gewann sie die Schlacht und konnte aufrecht stehen. Als sie sich bewegte, schlurfte sie wie eine gichtige Alte. Erst dicht vor der Gestalt bemerkte sie, dass der Eindringling mit dem Rücken zu ihr stand. Es war eine Frau, die einen dunklen, körperlangen und eng umgelegten Mantel trug. Hinter dem hochgeklappten Kragen schaute ein wenig blondes Haar hervor. Wieder sprach Serrah die Besucherin an. »Wer bist du?« Sie flüsterte jetzt beinahe. Die Gestalt drehte sich um. 69 Serrah sackte der Boden unter den Füßen weg. Der Schreck erfasste sie wie eine Flutwelle, alle Schmerzen waren vergessen. Sie konnte nicht sprechen, sie konnte sich nicht bewegen. Was sie sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Die Erscheinung streckte eine Hand aus und berührte sie leicht am Arm. Die zärtliche Berührung war warm und unverkennbar. Real. Keinerlei Bedrohung lag darin. Serrah rang mit sich und wollte etwas sagen, doch ihr fielen keine Worte ein. Sie betrachtete die langen gelockten Haare der Frau, die haselnuss-braunen Augen, die leicht rundlichen Gesichtszüge mit dem Babyspeck. Die Besucherin lächelte. »Mutter«, sagte sie. 70 Eithne?«, flüsterte Serrah. Ihre tote Tochter grinste sie an. Serrah neigte nicht zu Ohnmachtsanfällen. Jetzt wäre sie beinahe umgekippt. »Eithne?«, sagte sie noch einmal. »Ja. Hab keine Angst.« »Aber ... aber wie? Du bist doch ...« »Ich bin lebendiger denn je, Mutter.« Die tiefen Augenhöhlen, die bleiche Haut, die leeren Gesichtszüge, alles war verschwunden. Sie war, wie sie immer gewesen war, vor ihrem Verfall und vor den letzten Tagen. Ihre Augen strahlten. »Ich bin zu dir zurückgekommen.« Serrah bemerkte, dass ihr Arm immer noch gehalten wurde. Sie spürte, wie sich die Finger des Mädchens in ihre Haut drückten. Wie konnte dies ein Gespenst sein, ein Zauber, der sie nur täuschen sollte? »Bist du es wirklich?«, fragte sie. »Ich bin es, Mutter.« Serrah hätte es so gern geglaubt. Sie machte einen Schritt und wollte ihre Tochter umarmen. 71 »Nein«, wehrte Eithne ab. Sie ließ Serrah los und wich zurück. »Es wäre im Augenblick zu schmerzvoll, ich bin ... empfindlich. Ich habe nur ...« Das Lächeln veränderte sich nicht. »Ich bin empfindlich. Genau wie du.« Serrah blieb mit ausgestreckten Armen stehen. Sie war wie benommen, weil sie ihr Kind nicht in die Arme nehmen durfte. Einen Moment lang war ihr Kontakt zur Realität ebenso flüchtig wie der zu ihrem Kind. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie. »Du musst nur verstehen, dass ich hier bin. Sie haben mich zurückgeholt.« »Wer denn? Und wie?« »Die Zauberer vom imperialen Hof, stell dir vor. Du hast ja keine Ahnung, über welche Magie man dort verfügt. Eine wundervolle Magie.« »Du sagst, du hast Schmerzen?« »Nur eine kleine Unpässlichkeit. Das geht vorbei. Meine Rückkehr ... das war wie ein Aufwachen, so einfach ist das.« Serrah hatte noch nie davon gehört. »Aber sie können doch nicht...« »Sie können es. Sie haben es getan.« »Warum?« »Für dich. Für uns.« »Warum sollten sich so hoch gestellte Persönlichkeiten mit uns beschäftigen?« »Weil du dich in diese Situation gebracht hast. Sie zeigen dir einen Ausweg.« »Ich muss blind sein, denn ich sehe ihn nicht.« »Dann betrachte mich doch als eine Art Belohnung.« 72 »Wofür?« »Für etwas, das du noch nicht getan hast.«
Serrah war inzwischen sicher, worauf es hinauslief, hakte aber dennoch nach. »Was erwarten sie denn von mir?« »Du musst tun, was sie dir sagen, Mutter. Du musst gestehen.« »Eithne«, erwiderte Serrah. Es kam ihr seltsam vor, nach so langer Zeit den Namen wieder auszusprechen. »Ich habe nichts zu gestehen. Ich habe nichts Falsches getan.« »Spielt das denn eine Rolle?« »Ja.« »Aber spielt es auch eine Rolle, wenn ich wieder mit dir zusammen sein kann? Ich hätte mein ganzes Leben noch vor mir.« »Es gäbe kein gemeinsames Leben, wenn ich gestehe. Man würde mich einsperren oder noch Schlimmeres tun.« »Sie haben versprochen, Gnade walten zu lassen.« »Und das glaubst du ihnen?« »Die Tatsache, dass ich hier bin, beweist doch, dass sie ihre Seite des Handels einhalten wollen.« »Und wenn ich nicht gestehe?« Eithnes Gesicht war besorgt. »Das wäre schlecht für mich.« »Was meinst du damit?« »Der Spruch, mit dem sie mich erweckt haben, verfällt mit der Zeit. Sie müssten einen weiteren sprechen, der meinen Zustand dauerhaft macht. Und bald ...« »Wie bald?« »Einige Stunden.« 73 Sie wieder zu haben und sie wieder zu verlieren. Serrah standen die Tränen in den Augen. »Das bieten sie mir im Austausch für mein Geständnis an?« »Ja. Sie lassen mich wieder leben.« »Es auf diese Weise zu tun ist ... das ist mehr als grausam.« »Nein, Mutter! Es ist ein Wunder. Siehst du das denn nicht? Sie haben mir gesagt, dass du im schlimmsten Fall eine kurze Zeit im Gefängnis oder einem Erziehungslager verbringen musst. Danach können wir wieder zusammen sein.« Irgendwo in Serrahs Kopf entstand die Frage, wieso sie so schnell bereit gewesen war, sich auf ein Gespräch mit einer Toten einzulassen. Mit ihrem toten Kind. Wenn das kein Irrsinn war, dann war es zumindest eine gute Annäherung. »Eithne, ich ...« »Ich verzeihe dir.« »Du verzeihst mir?« »Dafür, dass du ... dass du nicht für mich da warst. Als ich krank war.« Es war umso schmerzlicher, weil es so beiläufig gesagt wurde. Die Schuld stach Serrah wie ein Messer in die Rippen. Tränen quollen ihr aus den Augen. »Es ... es tut mir wirklich Leid. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe mich so sehr bemüht...« Eithne brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Ich sagte doch, dass ich dir verzeihe. Aber ich . glaube nicht, dass ich es noch einmal könnte, wenn du das hier nicht unterzeichnest. Unterschreibe das Geständnis, Mutter.« Serrah war entsetzt, als sie den gebieterischen Ton hörte, mit dem ihre Tochter sprach. Es passte nicht zu ihrem Charakter. Selbst in ihren letzten schrecklichen 74 Wochen war Eithne eher heimlichtuerisch als fordernd gewesen. Ob sich ihre Persönlichkeit auf irgendeine Weise verändert hatte? Vielleicht durch die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt? Oder weil der Rat es so bestimmt hatte? »Ich muss mich sammeln, Eithne. Ich muss über das nachdenken, was du sagst.« »Was gibt es da nachzudenken? Meine Zeit läuft ab, Mama. Du warst schon immer so wankelmütig.« »Das ist nicht wahr.« »Dann tu es einfach. Oder soll ich wieder dem Tod zum Opfer fallen?« Irgendetwas störte Serrah. Etwas, das sie mit ihren Gedanken noch nicht klar fassen konnte. Dann begriff sie es. »Wenn eine solche Wiederbelebung wirklich möglich ist«, fragte sie, »wieso tut man es dann nicht einfach mit Phosian? Ich meine, das konnten sie ja offensichtlich nicht. Sonst wäre ich nicht hier.« »Darüber weiß ich nichts«, antwortete Eithne nach einer Pause. Sie fühlte sich offenbar angegriffen. »Ich denke, es hat vielleicht damit zu tun, auf welche Weise jemand gestorben ist«, fügte sie hinzu. »Eine tödliche Wunde, eine Überdosis Ramp - wo ist da der Unterschied? Tot ist tot, oder nicht?« »Ich kenne mich mit Magie nicht aus. Es ist mir auch egal, wie sie es gemacht haben.« Serrah versuchte es mit einem Schuss ins Blaue. »Was meinst du eigentlich, was Rohan dazu sagen würde?« »Was?« »Rohan. Er hätte doch bestimmt eine Meinung dazu, oder?« Eithne war offensichtlich verblüfft, doch sie versuchte es zu verbergen. »Ich weiß nicht...« 75 »Du erinnerst dich doch an Rohan?« »Natürlich! Aber was hat das mit dieser Sache hier zu tun?«
Serrahs Herz sank. Doch sie musste es durchstehen. »Ich glaube, seine Meinung ist von Bedeutung, oder etwa nicht? Sei so gut.« Ihre Tochter seufzte. »Ich glaube ... ich glaube, er würde wohl sagen, dass du dich dumm benimmst, wenn du so störrisch bist, und du solltest lieber tun, was für uns beide das Beste ist.« »Ich dagegen hätte erwartet, dass du sagst: Sei nicht dumm, Mutter - ein Hund kann nicht sprechen. Und Rohan war eine Hündin, kein Rüde.« Böse sah sie das Geschöpf an, das sich für ihr Kind ausgab. »Du bist verwirrt.« »Das glaube ich nicht.« »Du zweifelst an mir, weil ich mich nicht mehr an einen Hund erinnere?« »An ein Tier, mit dem du während deiner ganzen Kindheit unzertrennlich warst. Oder besser, Eithne war es. Ich weiß nicht, was du bist, aber du bist nicht meine Tochter.« »Das ist doch lächerlich. Die Schläge haben dir geschadet. Du siehst die Dinge nicht mehr klar.« »Du meinst, ich soll sie nicht klar sehen.« »Schau mich an. Ich bin deine Tochter. Wie kannst du mich so verleugnen, Mutter?« »Nenne mich nicht so. Alles, was ich sehe, ist ein Schwindel.« »Unterzeichne das Geständnis. Rette uns beide.« Serrah glaubte nicht mehr an die Illusion. »Du bist nicht, was du zu sein vorgibst«, zischte sie. 76 Das Mädchen sah den Gesichtsausdruck und wich zurück. Serrah bemerkte, dass die Tür ein wenig offen stand. Sie bewegten sich im selben Augenblick. Trotz ihrer Schmerzen war Serrah schneller. Sie packte die Betrügerin an den Armen, sie rangen miteinander. Serrah bekam eine Hand frei, holte aus und versetzte dem Mädchen eine heftige Ohrfeige. Ihre Hand kribbelte wie von Nadelstichen. »Du dummes Miststück!«, heulte die Betrügerin. Ihre Stimme hatte sich verändert, sie klang jetzt tiefer. Von der jüngsten Entwicklung völlig überrumpelt, ließ Serrah sie los. Es war, als hätte ein summender Schwärm goldener Bienen das Gesicht des Mädchens bedeckt. Jetzt zerstreuten sich die unzähligen flimmernden Einzelteile, flogen in alle Richtungen davon und lösten sich auf. Ein Teilzauber, der das Gesicht des Trägers überdecken und in diesem Fall das Antlitz eines toten Kindes nachbilden sollte. Komplizierte Magie, die ein kleines Vermögen kostete. Als das Flimmern verschwand, stand Serrah vor einer Fremden. Eine einfache Frau, kein Mädchen, die ganz anders aussah als ihre Tochter. Nur der Körperbau war ähnlich, und sie schien sich zu fürchten. Serrah ging auf sie los, bekam jedoch einen Schlag in den Bauch, der ihr den Atem raubte und die Schmerzen der früheren Misshandlungen wiedererweckte. Keuchend sank sie auf die Knie. Die Frau verschwand blitzschnell durch die Tür und knallte sie hinter sich zu. Serrah rappelte sich auf und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Sie tobte 77 und fluchte, bis ihre Hände blutig waren und ihre Stimme versagte. Irgendwann war die Leidenschaft verbraucht. Sie war zu Boden gesunken und dort liegen geblieben. Die Tür war von ihren Schlägen mit Blut verschmiert. Später zog sie die Knie an die Brust und wiegte sich leicht hin und her, bekümmert über den Täuschungsversuch ihrer Vorgesetzten. Körperliche Gewalt konnte sie noch ertragen, doch diese Tricks waren unerträglich. Eine Weile starrte sie auf den Querbalken des Türrahmens. Er stand ein Stück hervor, wie ein schmales Regal. Wenn sie ihre Kutte in Streifen riss und die Streifen zusammenband, hatte sie ein Seil, das sie um den Balken legen konnte. Dann musste sie nur noch eine Schlinge knüpfen, sich hochziehen, den Kopf hineinstecken und loslassen. Der Balken war nicht hoch genug, als dass sie sich den Hals brechen könnte. Sie würde also langsam ersticken, doch das war ihrem derzeitigen Zustand immer noch vorzuziehen. Ihre Benommenheit wurde von Geräuschen draußen vor der Zelle unterbrochen. Sie kamen wieder zu ihr. Serrah war halb aufgestanden, als die Tür aufgestoßen wurde. Im Rahmen stand einer der Männer, die sie geschlagen und bedroht hatten. Serrah wich zurück bis zum Bett. Der Mann machte zwei unsichere Schritte in ihre Richtung. Dann blieb er stehen, schwankte und stürzte vorwärts zu Boden. Zwischen seinen Schulterblättern ragte ein Dolch hervor. 78 Draußen waren noch weitere Leute. Serrah starrte sie blinzelnd und verwirrt an, als sie in die Zelle eindrangen. Die Gesichter schienen leer, und sie nahm an, es handle sich abermals um Zauber, um sie hinters Licht zu führen, doch dann erkannte sie mit groben Stichen genähte Stoffmasken. »Wer seid ihr?«, fragte sie die Eindringlinge. »Freunde«, erwiderte einer von ihnen kurz angebunden. »Komm schon! Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Ihr kam der Gedanke, es könne ihre eigene Einheit sein. Doch bald wurde ihr klar, dass dem nicht so war. »Wohin wollen wir ...« »Raus hier.« Er fasste ihren Arm, und sie zuckte zusammen, als sie auf den Gang gezogen wurde. Es waren vier. Einer ging voraus, einer sicherte hinten, die anderen beiden blieben dicht bei ihr. Sie liefen durch einen langen Flur mit niedriger Decke. Er war schlecht beleuchtet, und die Männer, die vorne und hinten gingen,
behalfen sich mit kleinen Leuchtzaubern. Wieder fragte sie: »Wer seid ihr?« »Wir müssen noch ein Stück laufen, ehe wir hier herauskommen«, erklärte ihr einer der Begleiter. »Und wahrscheinlich werden wir auf Widerstand stoßen. Also bleib bei uns und bewege dich.« »Gebt mir eine Waffe«, bat sie. »Du bist nicht in der Verfassung zum Kämpfen.« »Ich muss mich verteidigen können, wenn es nötig ist. Ihr wollt mich doch hier herausholen, oder?« Nach kurzem Zögern reichte er ihr ein Messer mit langer Klinge. Das kalte, schwere Gewicht beruhigte sie auf der Stelle. 79 »Gebrauche es nur, wenn es nicht anders geht«, warnte er sie. »Wir sind hier, um das Kämpfen zu erledigen.« Sie schüttelte die Hände ab, die sie stützten, und ging ohne Hilfe weiter. Die Männer sagten nichts mehr, hielten sich aber in ihrer Nähe. Vor Schmerzen humpelnd, hatte Serrah Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Sie erreichten zwei Tote, die quer im Gang lagen -einer war ein Gefängniswärter, der Zweite trug die rote Tunika eines Paladins. Das bedeutete, dass es einen ziemlichen Ärger geben würde. Falls der Ärger überhaupt noch steigerungsfähig war. Sie stiegen über die Toten und näherten sich vorsichtig einer Ecke. Dahinter lag ein weiterer Gang, der dem ersten sehr ähnlich, aber kürzer war. Drei weitere maskierte Retter trieben sich am Ende herum. Sie eilten zu den dreien, und Serrah krümmte sich nach den hastigen Bewegungen vor Schmerzen. Als Nächstes führten sie sie zu einer Wendeltreppe, wo die Eindringlinge sich kurz und flüsternd berieten. Dann stiegen sie mit gezückten Waffen hinauf, Serrah in der Mitte der Gruppe. Nach fünf oder sechs Umdrehungen hatten sie das nächste Stockwerk erreicht. Dies war ein Kreuzungs, punkt, an dem aus sämtlichen Himmelsrichtungen Gänge zusammenliefen. Alle waren verlassen. Die Gruppe stieg weiter aufwärts. Im Stockwerk darüber, wo es nur einen einzigen Gang gab, endete die Treppe. Es war kaum mehr als ein Tunnel. Flüsternd und gestenreich erklärte derjenige, der ihr Anführer zu sein schien, dass die nächste Treppe am anderen Ende sei. Er zog den Zeigefinger 80 quer über seine Kehle und gab ihnen damit zu verstehen, dass dieses Wegstück besonders gefährlich sei. Als sie liefen, erkannte Serrah auch den Grund. Von ihrem Gang zweigten zahlreiche andere ab, doch alle in seltsamen Winkeln, was bedeutete, dass sie die Mündungen teils erst einsehen konnten, wenn sie schon auf gleicher Höhe waren. An zweien kamen sie ohne Schwierigkeiten vorbei. Als sie die Treppe schon sehen konnten, stießen sie auf einen weiteren Toten, der in einer roten Lache lag. Er war einer der ihren, der zweifellos als Wache zurückgeblieben war. Seine Maske war bis zum Haaransatz hochgezogen und sein Körper hatte zahlreiche Wunden. Sie sahen sich nervös um. Serrah packte das Messer fester und lauschte angespannt. Zwanzig oder dreißig Schritt vor ihnen zweigten zwei weitere Gänge ab, einer links und einer rechts und einander fast gegenüber. Unter Serrahs Gefährten wurden eilige Handzeichen gewechselt, dann schwärmten sie vorsichtig aus und rückten langsam vor. Zwei ihrer bisher unbekannten Retter blieben bei ihr, ohne sie zu berühren zwar, aber doch sehr nahe. Ungefähr auf halbem Weg winkte der Späher, und sie blieben stehen. Er kniete sich hin und hob einen kleinen Stein auf, den er vor sich auf den Boden warf. Der Stein landete klickend mitten im Gang. Das Echo verhallte. Nichts geschah. Sie entschieden sich für die einfachste Taktik überhaupt: Sie wollten alle zusammen zur Treppe rennen. Die Gruppe machte sich fertig, und Serrahs Begleiter schienen bereit, sie im Notfall einfach mitzuschleppen. Die Fingerspitzen ruhten griffbereit auf ihren Armen. 81 Der Anführer gab das Zeichen, und sie rannten los. Nach einem Dutzend schneller Schritte kam die Katastrophe. Bewaffnete Männer strömten aus den Gangmündungen. Es waren überwiegend Wärter und Milizionäre, dazu ein paar Paladine. Serrah schätzte ihre Zahl auf über ein Dutzend, also mindestens anderthalb mal so viele Kämpfer wie auf ihrer Seite. Aus dem Spurt der Retter wurde unverhofft ein Angriff. Sie hatten keine andere Wahl. Die vordersten Kämpfer beider Gruppen trafen aufeinander, Schreie waren zu hören, und Stahl klirrte. Serrah ließ sich widerstandslos durch das Chaos bugsieren. Als sich einzelne, unterscheidbare Zweikämpfe herauskristallisiert hatten, schüttelte sie die Hände ihrer Begleiter ab, die zwar in ihrer Nähe blieben, aber ihre Aufmerksamkeit dem näher rückenden Handgemenge zuwandten. Wer ihre geheimnisvollen Retter auch waren, sie kämpften wie besessen. Die Welle kam, und Serrah sah sich inmitten der Prügelei. Einige lange Augenblicke, so unglaublich es war, beteiligten sich alle mit Ausnahme ihrer selbst am Kampf. Sie schien abgeschirmt in einer Art Kokon zu stecken,
während zu beiden Seiten Duelle stattfanden. In ihrem geschundenen Körper pochte es. Sie fühlte sich ausgelaugt und verwirrt. Doch sie war voller Wut. Erbitterter Zorn und Hass auf ihre Verfolger fegte jeden anderen Gedanken beiseite. Sie musste töten. Der Kampf hatte ihre Leibwächter von ihr getrennt. Als sie angriff, hörte sie einen von ihnen rufen. Sie ignorierte den Ruf und stürzte sich ins Schlachtgetümmel. 82 Eine Klinge zischte knapp über ihrem Kopf vorbei, als sie sich duckte. Eine weitere verfehlte um Haaresbreite ihre Rippen. Das Ausweichen und Ducken war anstrengend. Es spielte keine Rolle. Sie suchte sich ein Ziel aus. Ein untersetzter Milizionär, der mit einem Retter kämpfte und fast die Oberhand gewonnen hatte. Serrah hatte keine Zeit für Ehre oder Anstand. Sie stieß ihm das Messer in den Rücken, und als er zu Boden ging, nahm sie sein Schwert. Der Gegner ihres Opfers wandte sich ab und griff den nächsten Feind an. Einer der maskierten Retter brach direkt vor ihr zusammen, seine Brust war durchlöchert. Sie sprang über den Toten hinweg und stellte sich einem Wärter entgegen, der mit einem Degen focht. Sie konnte seinen Hieb mit dem Messer abwehren und stach ihm das Schwert in den Bauch. In der Nähe verlor einer seiner Kameraden auf den feuchten Steinfliesen das Gleichgewicht und stürzte schwer. Ein maskierter Retter durchbohrte ihn und stieß ihm mit beiden Händen das Breitschwert ins Herz. Inmitten der Gewalttätigkeiten hielt Serrah inne und sah sich nach neuen Gegnern um. Der Gegner fand sie. Ein Paladin, der sich mit fließender Eleganz bewegte, griff sie an. Er war einen Kopf größer als Serrah und kräftig gebaut. Genau wie sie selbst kämpfte er mit Schwert und Messer. Die legendäre Kampfkraft und ihre Wildheit machte die Paladine zu Gegnern, die man schon unter günstigen Umständen tunlichst meiden sollte. Doch unter ungünstigen Bedingungen und da Serrah von Blutdurst getrieben war, gab es in ihrem Denken keinen Raum für Vorsicht. 83 Die Schwerter prallten gegeneinander. Der kräftige Schlag des Paladins jagte einen stechenden Schmerz durch Serrahs verkrampfte Armmuskeln. Sie schlug mit dem Messer nach ihm und zwang ihn, einen Schritt zurückzuweichen. Er schlug blitzschnell zurück und setzte zu einem von oben nach unten geführten Hieb an, der ihren Leib bis zur Hüfte hätte spalten können. Sie wehrte sich mit einer Kombination von Stichen und Schlägen, die ihn vorübergehend beschäftigt hielten. Mit blitzschnellen Manövern und aufeinander knirschenden Klingen gingen sie erbittert aufeinander los. Es schien, als wäre seine Verteidigung undurchdringlich. Doch dann, als neben ihrem Willen auch das Glück ihre Hand führte, drang Serrah durch. Er versuchte, einen seitlichen Angriff abzuwehren, doch ihr Hieb war zu stark, und sein Schwert zerbrach. Der Paladin hob sein Messer. Sie wich aus und trieb ihm ihren Stahl tief in den Bauch. Er sank auf die Knie und riss Mund und Augen auf. Serrah zog das Schwert zurück und versetzte ihm von der Seite einen Schlag gegen den Hals. Blut spritzte, der Paladin kippte um. Schwer atmend wich sie zurück und sah sich um. Das Kampfgetümmel ließ nach, ihre Verbündeten hatten die letzten Feinde niedergestreckt. Überall im , Gang lagen Tote. Zwei davon gehörten zu ihren Rettern. Einige weitere hatten leichte Verletzungen erlitten. Ein paar starrten sie an, doch niemand sagte etwas. Rasch wurden heilende Salben auf die Wunden gerieben, kleine Glasampullen wurden aufgebrochen und den Verletzten unter die Nasen gehalten, damit 84 sie die heilenden Dämpfe einatmen konnten. Dann kam das Signal zum Weitergehen. Dieses Mal bot ihr niemand mehr an, sie zu stützen. Ihre dezimierte Truppe erreichte die Treppe und stieg hinauf. Vier Stockwerke überwanden sie ohne Zwischenfälle, von den aufgescheuchten Ratten einmal abgesehen. Doch sie konnten die Verfolger hinter sich hören und liefen schneller. Die Anstrengung brachte Serrahs Körper an seine Grenzen. Sie fühlte sich, als strömte Lava durch ihre Adern. Endlich erreichten sie einen breiten und hohen Durchgang. Sie hatten die ebene Erde erreicht, hier war der Ausgang. Eine Handvoll maskierter Männer bewachte ihn. Leichen von Milizionären und Paladinen lagen an den Seiten herum. Die Wachen beäugten Serrah, doch niemand fragte nach den fehlenden Kameraden. »Wie sieht es aus?«, wollte der Anführer von Serrahs Gruppe wissen. »Unser Glück geht langsam zur Neige«, erwiderte einer der Wächter. »Wir müssen uns in Bewegung setzen.« Der Anführer nickte und bugsierte Serrah durch die Tür. Draußen war Nacht, ein leichter Regen fiel. Er deutete zur mächtigen Wand vor ihnen. Drei dicke Seile hingen dort. »Kannst du da raufklettern?«, fragte er. »Ja.« Er streckte eine Hand aus. »Deine Waffen.« Serrah packte die Klingen fester und schüttelte den Kopf. »Wie willst du sonst hochklettern?« Widerstrebend händigte sie ihm das Schwert und das Messer aus. Mit einem Mal fühlte sie sich nackt. Er reichte die Waffen an seine Leute weiter.
85 »Wer seid ihr?«, fragte sie noch einmal. »Es ist nicht der richtige Augenblick. Wir erklären es dir, wenn wir von hier geflohen sind.« Er deutete auf einen seiner Männer. »Er wird dich begleiten. Wir anderen folgen dicht hinter euch. Bleibt nur immer in Bewegung und haltet auf keinen Fall an.« Er fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf und ließ die anderen antreten. »Los jetzt!«, rief er. Serrah und ihr Aufpasser rannten durch die Tür. Die kalte Nachtluft traf sie wie ein Schlag, und sie schnaufte erschrocken. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Der Boden war weich wie ein Schwamm. Hinter sich hörte sie die anderen rennen. Jemand stieß einen Ruf aus. Sie drehte den Kopf herum. Ein großer Trupp Bewaffneter, darunter viele Paladine, stürmte hinter der Ecke des Gebäudes hervor und nahm die Verfolgung auf. Die Angreifer brüllten siegesgewiss. »Bleibt in Bewegung!«, ermahnte der Anführer sie noch einmal. Serrah prallte gegen die Mauer und packte ein herabhängendes Seil. Ihr Begleiter folgte ihrem Beispiel. Sie zogen sich hoch, doch an den nassen Wänden rutschten ihre Füße immer wieder ab. Es gab eine ohrenbetäubende Explosion. Lichtblitze waren zu sehen, hell wie der Tag. Sie blickte nach un-, ten. Irgendjemand verschoss magische Munition. Die Geschosse explodierten in großen grünen, roten und goldenen Wolken und spuckten ihre Täuschungen aus. Groteske Untiere und Dutzende von Nachbildungen ihrer Retter entstanden aus dem Nichts, um die Feinde zu verwirren. 86 »Nicht hinsehen!«, warnte ihr Gefährte sie. Sie begriff und wandte den Blick ab. Einen Moment später wurden sie in ein unerträglich grelles Licht getaucht, das die Wand heller beleuchtete als das volle Sonnenlicht. Dann flackerte das Licht und erstarb. Ein optischer Zauber. Ein Lichteffekt, der die Gegner blenden sollte. Sie fragte sich, welche Seite ihn eingesetzt hatte. Schreie und andere Kampfgeräusche drangen zu ihnen herauf. Sie kletterten weiter. Die Wand schien unendlich hoch. Als sie etwa zwei Drittel des Aufstiegs geschafft hatte, wurden Serrahs Arme taub, und ihre Kräfte ließen nach. Ihr Begleiter, der auf gleicher Höhe war, trieb sie weiter. Irgendetwas zischte durch die Luft und ließ ihn verstummen. Ein Pfeil steckte zitternd in seinem Rücken. Serrah wollte den Arm ausstrecken, doch er stürzte. Ihr Blick folgte dem Fall, sie sah ihn unten aufschlagen. Inmitten der Täuschungen und Blendzauber kämpften die Männer unter ihr auf dem Boden. Einige ihrer Retter hatten es bis zu den Seilen geschafft und zogen sich hoch. Sie kletterte weiter, weil sie fürchten musste, der nächste Pfeil könne ihr gelten. Endlich erreichte sie einen breiten Sims oben auf der Mauer. Sie rang schwer nach Atem, als sie sich schließlich hochziehen konnte. Dann kletterte sie zur anderen Seite und blickte nach unten. Auch außen an der Mauer hingen drei Seile. Sie waren an Mauerzinnen festgebunden. In der Seitenstraße direkt unter ihr war ein Heuwagen mit prallen Säcken abgestellt. Zwei maskierte Männer blickten zu ihr hoch und winkten heftig. Hinter ihr knallte und knisterte es. Irgendwo auf dem Gelände des Palasts wallte eine purpurfarbene 87 Wolke hoch. Sie nahm die Gestalt eines riesigen roten Drachen an, hoch wie ein Tempelturm, der mit blitzenden grünen Augen und zuckendem Stachelschwanz seine Feinde suchte. Es war ein Zauber, doch das Feuer, das er ausstieß, war mehr als real. Sie sah, wie mehrere Männer von den Flammen eingehüllt wurden. Die anderen, die schon an den Seilen hochkletterten, setzten trotz der überall einschlagenden Pfeile ihre Flucht fort. Serrah stieg über den Sims und ließ sich auf die Straße hinab. Sie konnte nur noch an Flucht denken und daran, wie widerwärtig sie es fand, auf Gedeih und Verderb jemand anders ausgeliefert zu sein. In diesem Augenblick schwor sie sich, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Als sie zur Hälfte hinabgeklettert war, ließ sie das Seil los und sprang hinunter. Sie landete schwer, aber unverletzt auf den aufgestapelten Säcken. Einer der wartenden Männer wollte sie am Arm fassen, doch sie wich aus und sprang vom Wagen herunter. Dann rannte sie los. Die Männer riefen ihr etwas nach. Serrah unterdrückte die Schmerzen und rannte schneller. Vielleicht versuchten sie ihr zu folgen, doch davon sah sie nichts mehr. Bald war sie im Gewirr der geschäftigen Straßen verschwunden. Barfuss, mit zerfetzter Kleidung voller Blutflecken, das nasse Haar auf der Stirn klebend, humpelte sie durch Straßen, in denen niemand starrte. 88 Die ganze Nacht prasselte der Regen auf Bhealfas Osten herab, doch der folgende Tag versprach sonnig und freundlich zu werden. Kutch Pirathon saß an einem angeschwollenen Bach und warf müßig Kieselsteine ins rauschende Wasser. Er wurde allmählich unruhig. Zum hundertsten Mal blickte er zur baufälligen Steinhütte, die weiter oben am kahlen Hügel stand. Die schlecht eingepasste Tür blieb jedoch verschlossen wie sie war. Er seufzte und fuhr fort, den Wasserlauf zu bombardieren. Sonst gab es ohnehin nicht viel zu tun. Der Hügel hatte nichts weiter zu bieten außer tropfnassen Büschen, ein paar vertrockneten Bäumen und vielen Steinen. Seine einzige Gesellschaft bestand aus einem Schwärm kreisender Krähen. Dabei hätte er sich durchaus sinnvoll
beschäftigen können. Eigentlich wäre er sogar dazu verpflichtet gewesen. Er sollte sich den geistigen Übungen widmen, die notwendig waren, um in der Zauberkunst Fortschritte zu machen. Er sollte seine Zeit damit verbringen, seinen 89 Willen zu stählen, die Kraftströme des Lebens zu erkennen und zu kanalisieren. Doch diese Techniken hatte ihn sein Meister gelehrt, und er konnte es einfach nicht über sich bringen, an den alten Mann zu denken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er Domex im Stich gelassen hatte und dass der Meister noch am Leben sein könnte, wenn der Schüler nicht so verzagt gewesen wäre. Er hatte seine Pflichten vernachlässigt, und dieses Bewusstsein weckte seine Schuldgefühle. Doch im Augenblick wollte er nicht weiter darüber nachdenken. Seine Melancholie hätte sich noch verstärkt, wäre nicht in diesem Moment die Tür der Hütte knarrend geöffnet worden. Er blickte hinauf und sah Caldason herauskommen. Kutch warf einen letzten Stein ins Wasser, stand auf und klopfte sich die Hose ab. Er sah, wie der Qalochier ein paar Abschiedsworte an den alten Einsiedler richtete, den er konsultiert hatte. Dann kam er den unebenen Weg zu ihm herab. Sie kannten sich noch nicht lange, doch Kutch wusste bereits, dass Caldason kein Mann war, der von sich aus viel preisgab. Aus seinem Gesichtsausdruck war gewöhnlich kaum etwas herauszulesen, und dieser Augenblick bildete keine Ausnahme. »Was ist los?«, fragte Kutch. »Nichts.« »Oh.« »Aber du konntest ja nicht wissen, dass er mir nicht zu helfen vermag. Ich bin dir jedenfalls dankbar, dass du mich hergebracht hast.« Sie stiegen den Hügel hinab. Kutch wusste immer noch nicht genau, wo Caldasons Problem nun eigentlich lag, von den so genann90 ten Anfällen mal abgesehen. So stocherte er aufs Geratewohl herum. »Hat er ... äh ... hat er etwas über Euren ... Euren Zustand gesagt?« »Gesagt hat er eigentlich überhaupt nichts. Er hat seine Fragen auf eine Schiefertafel geschrieben.« »Ach so, natürlich.« »War er schon immer stumm?« »Nein. Als er noch ein Knabe war, hat sein Vater ihm die Zunge herausgeschnitten, damit er aufhörte, ständig über die Geheimnisse der Zauberkunst zu reden. So hat man es damals eben gemacht.« »Die Welt ist doch voller Freuden«, bemerkte Caldason zynisch. »Sein Vater hatte durch die Hand seines eigenen Vaters das gleiche Schicksal erlitten. Das Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und das war der Preis. In manchen Zweigen der Zauberkunst hielt man das bis vor gar nicht so langer Zeit noch für völlig normal.« »Ich dachte, die Zauberer seien ohnehin zur Geheimhaltung verpflichtet.« »Das ist wahr. Aber ich bin nicht sicher, wie zuverlässig einige der lizenzierten Zauberer sind.« Kutch deutete mit dem Daumen zur Hütte. »Dem da kann man allerdings vertrauen.« »Warum ist er dann trotzdem verstümmelt worden?« »Das war eine zusätzliche Absicherung. Einige ältere Zauberer dachten, es sei eine gute Sache, und die Tradition solle wieder belebt werden. Vielleicht haben sie damit gar nicht so Unrecht. Es scheint ja zu funktionieren.« »Hättest du demnach keine Einwände gehabt, wenn dein Meister es mit dir getan hätte?« 91 »Naja ...« Sie gingen schweigend weiter. Nach einigen Minuten unternahm Kutch den nächsten Vorstoß. »Ihr scheint aber nicht besonders enttäuscht zu sein. Darüber, dass er Euch nicht helfen konnte, meine ich.-« »Ich habe gelernt, nicht enttäuscht zu sein.« »Es gibt noch andere Seher, die ich empfehlen kann.« »Vielleicht sind die Zauberer in der Provinz nicht das, was ich brauche.« »Viele von ihnen sind so gut wie jeder andere, den Ihr finden könnt«, erwiderte Kutch beleidigt. »Sie ziehen einfach nur die Einsamkeit des Landes vor. Da werden sie auch nicht so oft von den Behörden belästigt.« »Wie Domex? Schon gut, das war ein gemeiner Seitenhieb. Es tut mir Leid. Aber Tatsache ist, dass man in den Städten viel eher zu Geld und Ansehen kommen kann, und das scheint die Besten der Zunft anzulocken. Vielleicht kann ich dort den richtigen Zauberer finden. Falls es überhaupt noch welche gibt, bei denen ich es noch nicht versucht habe.« »Ach, nun kommt schon, Reeth, es muss doch tausende von Zauberern geben.« »Ich suche länger, als dir bewusst ist.« Kutch rechnete nicht damit, eine weitere Erklärung zu bekommen, und er sollte Recht behalten. Wieder schwiegen sie. Sie erreichten den Fuß des Hügels und schlugen den Weg zum Haus ein. Eine sanfte Brise rauschte in den Bäumen. Die Stille wurde nur durch einen fernen Vogelruf unterbrochen.
92 »Wie weit bist du denn eigentlich in der Magie fortgeschritten?«, fragte Caldason nach einer Weile. Nach der gescheiterten Vorführung mit den Homunkuli am Vortag hätte Kutch angenommen, dass sein Gefährte sich die Antwort selbst geben konnte. Doch dies war eben Caldasons Art, das Thema zu wechseln oder aber höflich zu sein. Wie auch immer, Kutch ging darauf ein. »Ich bin auf der vierten Stufe, kurz vor der fünften.« »Das klingt beeindruckend. Wie viele gibt es denn?« »Zweiundsechzig.« »Ach so.« »Aber vergesst nicht«, fügte Kutch rasch hinzu, »dass alles über der dreiundzwanzigsten als ziemlich esoterisch betrachtet wird.« »Ich glaube, ich muss die höchste nur mögliche Ebene in Anspruch nehmen.« Es war nicht zu erkennen, was Caldason wirklich dachte. Man konnte nicht sehen, ob er es ernst meinte oder ob es einer seiner seltenen Versuche war, humorvoll zu reagieren. »Es mag ja sein, dass ich mit den praktischen Studien etwas hinterher bin«, räumte Kutch ein, »aber ich verstehe wenigstens etwas von der okkulten Philosophie. Was auch immer Euch so zusetzt, es gibt gewiss ein magisches Heilmittel. Man muss es eben nur finden.« »Da bin ich aber nicht so sicher.« »Lasst mich Euch etwas über eines der Grundprinzipien des Handwerks erzählen.« »Vorsicht, du willst doch nicht deine Zunge verlieren.« »Ich werde nichts Wichtiges verraten. Wir lernen, dass die Magie Energie ist. Eine Energie, die nicht 93 zerstört werden kann. Sie kann nur in etwas anderes verwandelt werden.« »Das habe ich auch schon gehört.-« »Dann wisst Ihr auch, dass die Zaubersprüche, was Qualität und Dauerhaftigkeit angeht, große Unterschiede aufweisen.« »Aber sicher. Das entscheidet über ihren Preis.« »Ich rede jetzt nicht über den Wert in barer Münze. Ich meine ihre Stärke. Es gibt beispielsweise keinen Grund, warum nicht ein Gebäude ein Zauber sein und doch ewig halten sollte. Doch es wäre unglaublich teuer, diesen Zauber zu erschaffen und aufrechtzuerhalten.« Er deutete auf einen Felsbrocken neben dem Weg. »Dieser Stein könnte ein Zauber sein. Es wäre nur ein sehr einfacher Zauber. Aber das wäre den Leuten egal. Welchen Sinn hätte das?« »Worauf willst du hinaus?« »Ich nehme an, dass das, was mit Euch nicht stimmt, im Grunde magischer Natur ist.« Caldason ließ sich nicht anmerken, ob Kutch richtig lag, und so sprach der Bursche weiter. »Wenn Ihr unter einer Art von Zauberbann steht, dann sollte es möglich sein, die Energie von bösartig positiv in wohltuend negativ zu verwandeln. Auf die gleiche Weise, wie der Stein ein Nicht-Stein werden und das Gebäude zerfallen und wieder im Energiestrom aufgehen könnte. So sieht es jedenfalls in der Theorie aus.« Caldason dachte nach. »Du hast es besser ausgedrückt als die meisten Magier, mit denen ich gesprochen habe, Kutch. Doch warum war keiner von ihnen in der Lage, es auch zu tun?« Kutchs Wangen röteten sich infolge des Kompliments. Er fasste die Worte des Qalochiers zudem als 94 stilles Eingeständnis auf, dass dessen Problem tatsächlich magischer Natur war. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Zauberbann, falls es überhaupt einer ist, besonders mächtig. Oder er ist ein Produkt eines besonders esoterischen Zweigs des Handwerks. Ihr müsst wissen, dass es viele verschiedene Disziplinen gibt.« »Etwas, das so selten ist, dass die meisten Zauberer es überhaupt nicht kennen?« »Das könnte sein. Vielleicht ist es auch nur eine Frage des Gleichgewichts.« »Eine Frage des Gleichgewichts?« »Auch das ist ein Grundprinzip der Magie. Das Zauberhandwerk hat ebenso wie die mundane Welt, wie wir sie nennen, ihre Regeln. Wenn Ihr einen Stein fallen lasst, dann fällt er auf den Boden. Er gehorcht den Gesetzen der Welt. Ein Zauberspruch, der wie ein Stein aussieht, fällt vielleicht nach oben oder er fliegt, oder er verwandelt sich in etwas anderes. Doch er folgt dabei stets den Regeln, und eine dieser Regeln wird bestimmt von der Art des Zauberbanns, die ihn beherrscht.« »Ich verstehe nicht, was das mit dem Gleichgewicht zu tun haben soll.« »Mein Meister hätte gesagt, dass ein echter Stein fällt, weil zwischen unseren Erwartungen und der Erfahrung ein Gleichgewicht besteht. Wir erwarten, den Stein fallen zu sehen. Steine fallen immer herunter. Also fällt der Stein herunter. In der Magie besteht ein Gleichgewicht zwischen der Realität und dem Nicht-Realen. Es muss eine Symmetrie geben, damit der Zauber wirken kann. Auf ganz ähnliche Weise, wie das militärische und magische Gleichgewicht zwi95 sehen Rintarah und Gath Tampoor die beiden Reiche daran hindert, den jeweils anderen zu unterwerfen.« »Ich glaube, so weit kann ich das verstehen«, meinte Caldason. »Aber was hat das jetzt mit mir zu tun?« »Vielleicht seid Ihr zwischen dem Realen und dem Nicht-Realen gefangen wie in einer Schraubzwinge.«
»Wie Bhealfa.« Kutch lächelte. »Ja. Oder es könnte auch sein, dass das Gleichgewicht zerstört ist, sodass Ihr nicht erlöst werden könnt.« »Keine dieser Vorstellungen ist mir besonders angenehm.« Caldason mochte nur ungern von einem Jüngeren lernen, doch er war höflich genug, sich nichts anmerken zu lassen. »Seltsam nur, dass ein bescheidener Anwärter des vierten Grades ...« »Ich bin fast beim fünften.« »... also einer, der fast beim fünften ist, es mir auf einmal erklären kann.« »Ich habe Euch nichts gesagt, was Ihr nicht auch selbst hättet herausfinden können. Ihr sucht die Lösung in der Magie, Reeth, doch Ihr zeigt nur wenig Wissbegier für ihr Wirken.« »Ich betrachte die Magie als böse Kraft.« »Sie ist die Grundlage unserer Kultur.« »Die Grundlage der deinen, aber nicht der meinen. Es ist keine qalochische Kunst. Für dich ist die Magie eine nützliche und gute Sache. Für mich ist sie betrügerisch und verderblich. Sie stärkt das Unrecht.« Diese Behauptung erschien Kutch wie die reine Blasphemie. »Mein Meister sagte immer, die Magie kenne so wenig eine Moral wie das Wetter. Erst die Menschen, die sie anwenden, entscheiden darüber, ob es eine helle oder dunkle Magie wird, wie es eben 96 ihren jeweiligen Wünschen entspricht. Ihr solltet Euch mit den Leuten auseinander setzen.« Caldasons Antwort klang nicht mehr ganz so streng. »Ich muss zugeben, dass Weisheit darin liegt. Aber ohne die Magie gäbe es auch nicht die Versuchung.« »Ich habe die Absicht, meine Kräfte nur für das Gute zu verwenden.« »Daran zweifle ich nicht. Und wenn du über dieses Thema sprichst, zeigst du mehr Leidenschaft und Einsicht als bei allen anderen Dingen. Dann bist du kein halbes Kind mehr und redest eher wie ein Mann.« Die Wangen des Burschen färbten sich rot und gaben Caldason Recht. »Ich kann erkennen, dass die Magie deine Berufung ist«, fuhr Caldason fort. »Doch wer mag schon sagen, welche Verlockungen die Zukunft bringen mag?« Kutch versuchte, auf das Thema zurückzukommen, das er für wichtiger hielt. »Sagt mir, was mit Euch los ist. Ich weiß ja, dass ich nicht fortgeschritten genug bin, um Euch zu helfen, doch ich könnte Euch vielleicht dabei unterstützen, jemanden zu finden, der sich damit auskennt.« »Das, woran ich leide, ist geeignet... die Menschen zu erschrecken.« »Mich kann es nicht schrecken, und zusammen könnten wir ...« »Nein. Ich binde mich nicht. Ich brauche keine Gefährten. Und überhaupt, ich muss weiterziehen, und das weißt du auch.« Kutch war enttäuscht, doch er wusste, dass es sinnlos war, dem Mann zu widersprechen. »Ihr wollt doch 97 hoffentlich nicht vor der Beerdigung meines Meisters aufbrechen?« »Ich habe dir versprochen, bis dahin zu warten. Aber wir sollten uns beeilen, denn ich will heute noch diese Gegend verlassen.« Sie liefen weiter und sprachen nur noch wenig. Zwanzig Minuten später erreichten sie ein Waldstück. Sie umgingen es und kamen auf ihrer Wanderung durch bestellte Felder, die zum Dorf gehörten. Ein paar Bauern kümmerten sich um die keimenden Feldfrüchte. Keiner von ihnen grüßte sie, doch die beiden Wanderer hatten das deutliche Gefühl, genau beobachtet zu werden. Hinter den Wiesen kam das Dorf selbst in Sicht, behaglich in die Mulde eines flachen Tals geschmiegt. Selbst aus der Ferne war die indigoblaue Kraftlinie, die sich durch die Siedlung zog, deutlich zu sehen. Doch das Dorf war nicht ihr Ziel. Als sich der Weg gabelte, folgten sie der Küstenstraße. Ein kurzer Aufstieg brachte sie bis zum Rand der Klippe. Dahinter und tief unter ihnen erstreckte sich der weite, ruhige, glänzende Ozean. Auf dem Grasstreifen, der oben auf der Klippe gewachsen war, stand ein Scheiterhaufen, und darauf lag der Leichnam des Sehers Domex. Der Tote war in die prächtigen Gewänder seines Standes gekleidet, die Hände waren über der Brust gefaltet. Rings um ihn waren die Gerätschaften seines Berufs aufgehäuft. Ein Zauberbuch, Tagebücher und Schriftrollen, Beutel mit Kräutern und ein Zepter zählten zu den persönlichen Besitztümern, die ihn in die nächste Welt begleiten sollten. Der ganze Scheiterhaufen war von einer strahlenden, durchsichtigen Halbkugel umgeben. Sie schim98 merte in allen Regenbogenfarben wie eine Mischung aus Öl und Wasser. Kutchs erste Tat bestand darin, die Schutzhülle zu beseitigen. Er nahm einen kleinen, flachen Runenstein aus der Gürteltasche und näherte sich dem Scheiterhaufen. Fast unhörbar murmelte er einen Zauberspruch und drückte den Stein gegen die Blase. Der magische Schild löste sich geräuschlos auf. Dann sah er sich um. Die Klippe war verlassen, ebenso die kleineren Hügel in der Nähe. »Keine Trauernden«, sagte er, und seine Stimme klang belegt. »Ich hatte gehofft, einige Leute anzutreffen, weil er doch so viel für die Menschen hier getan hat.«
»Ich denke, sie haben angesichts der Umstände seines Todes zu große Angst«, erwiderte Caldason. »Richte nicht zu hart über sie.« Kutch nickte. Er suchte noch einmal in seiner Gürteltasche und zog ein Stück Pergament hervor. Seine Hände zitterten leicht, als er es entfaltete. »Es gibt da einige Worte, die jetzt gesprochen werden müssen«, erklärte er. »Aber natürlich.« Mit schwankender, leiser Stimme trug der Zauberlehrling den Grabgesang in der alten Sprache vor. Als er an einer bestimmten Stelle hängen blieb und ihm die Tränen in die Augen schössen - er war wirklich noch ein ganz junger Bursche -, legte Caldason ihm eine Hand auf die bebende Schulter. Kutch fing sich wieder und fuhr etwas ruhiger fort. Caldason konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch der Rhythmus und die Atmosphäre übermittelten ihm die tiefe Trauer der Worte. Sein Blick wan99 derte zum Horizont, zu den fliegenden Wolken und den fernen Seevögeln. Endlich war der Grabgesang vorbei. Kutch knüllte das Blatt zusammen und warf es auf den Scheiterhaufen. Nach einer, wie er meinte, angemessenen Pause fragte Caldason: »Und wie zünden wir den Haufen jetzt an?« »Das muss ich tun«, schniefte Kutch. »Das Feuer muss mit Hilfe der Zauberkraft entfacht werden.« Er sah den Qalochier mit schüchternem, schiefem Grinsen an. »Ich bin deshalb ziemlich nervös.« »Es wird schon klappen.« »Ja.« Kutch räusperte sich umständlich und richtete sich auf. Caldason zog sich einen Schritt zurück, um ihm Platz zu lassen. Der Zauberlehrling hub mit einem sonoren Gesang an, der von einer Reihe komplizierter Gesten begleitet wurde. Er starrte mit gerunzelter Stirn den Stapel scharf an. Zuerst waren seine Worte und die Bewegungen unsicher, dann nahm sein Selbstvertrauen sichtlich zu und seine Stimme wurde lauter. Auf einen Schlag waren der Holzstapel und der Tote in blendend helles weißes Licht getaucht. Flammen brachen hervor und loderten mit unnatürlicher, magischer Energie. Der Scheiterhaufen brannte lichterloh. »Gut gemacht«, sagte Caldason. Sie blieben eine Weile nebeneinander stehen und sahen zu, wie das Feuer sein Werk tat. Dann zupfte Caldason sachte an Kutchs Arm. Der Bursche drehte sich um und blickte in die Richtung, in die Reeth deutete. 100 Auf der benachbarten Hügelkuppe stand eine einsame Gestalt und starrte zu ihnen herüber. Die Entfernung war zu groß, um Einzelheiten zu erkennen, doch man konnte sehen, dass es ein älterer, vornehmer Mann war. Das maßgeschneiderte weiße Gewand war von einer Qualität, die hochrangigen Würdenträgern vorbehalten war. Der Wind ließ den dreiviertellangen Umhang flattern. Die Haltung des Mannes war aufrecht und stolz, sein Ausdruck war düster. »Hast du eine Ahnung, wer das ist?«, fragte Caldason. Kutch kniff die Augen zusammen und betrachtete den Fremden. »Nein. Ich glaube nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Vielleicht jemand, der Domex etwas schuldig war.« »Es scheint, dein Meister ist doch nicht ganz und gar vergessen.« Sie beobachteten die Gestalt eine Weile, dann richteten sie die Aufmerksamkeit wieder auf die Flammen, deren Hitze in ihren Gesichtern brannte. Als Caldason sich etwas später wieder umsah, war der Fremde verschwunden. Das Feuer toste und knackte und spuckte dicken schwarzen Rauch aus. Dieser Anblick schien Kutchs Erinnerungen zu wecken. »Wisst Ihr, wenn mein Meister überlebt hätte, dann hätte er Euch vielleicht wirklich helfen können.« »Mag sein.« »Ich werde mir meine Feigheit niemals verzeihen, Reeth.« »Ich dachte, wir wären zu dem Schluss gekommen, dass man dir keinen Vorwurf machen kann«, erwiderte Caldason entschieden. »Gegen seine Mörder 101 hättest du nichts ausrichten können, nun bekomm das doch endlich mal in deinen Schädel.« »Ich versuche es, aber es ist nicht leicht. Ich muss immer denken, wenn ich doch nur ...« Caldason brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Das reicht. Trübe diesen Augenblick nicht mit Schuldgefühlen. Sie sind sinnlos, glaube mir.« »Trotzdem denke ich, dass er etwas für Euch hätte tun können. Er war ein großer Mann, Reeth.« »Ich habe so das Gefühl, dass ich eine Art von Hilfe brauche, die ich tatsächlich niemals finden werde.« »Wer ist denn jetzt der Zweifler?« Danach schwiegen sie, jeder in seinen Gedanken verloren. Die Hitze ließ Ascheflocken über dem Scheiterhaufen tanzen. Orangefarbene Funken zuckten im Rauch. »Phönix«, flüsterte Kutch halb träumend. »Wie war das?« »Phönix«, wiederholte er, als hätte er eine Art Erscheinung. »Ich verstehe nicht...«
»Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?« »Was, zum Teufel, redest du da, Kutch?« »Der Bund natürlich. Versteht Ihr nicht? Wenn Euch überhaupt jemand helfen kann, dann der Bund.« »Der Bund ist ein Märchen. Eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern erzählen, um sie einzuschüchtern.« »Mein Meister war anderer Ansicht.« »Er hat sich geirrt. Diese Leute existieren nicht.« Es knackte und krachte laut, während die Flammen Holz und Knochen verzehrten. »O doch, sie existieren, Reeth«, beharrte Kutch mit glänzenden Augen. »Und ich werde es Euch beweisen.« 102 Sie sahen einen Vogel niedrig und schnell mit hektisch flatternden Schwingen vorbeifliegen. Er hatte die Gestalt und die Größe eines Raben, war jedoch von anderer Farbe - ein poliertes Silber, das in den Augen schmerzte. Nach einem Augenblick war er schon wieder zwischen den Bäumen und den Hügeln in Richtung des Dorfes verschwunden. Caldason und der Junge taten die Erscheinung als unwichtig ab. Kutch nahm den Faden wieder auf, als sie liefen. »Mein Meister hatte in dieser Hinsicht eine ganz klare Meinung«, beharrte er. »Er sagte, den Bund gebe es wirklich, und ich habe es ihm geglaubt.« »Er hat tatsächlich existiert«, räumte Caldason ein, »aber er wurde unterdrückt. Es ist schon lange her.« »O ja, man hat versucht, ihn auszulöschen. Doch einige sind entkommen, und der Bund ist wieder gewachsen.« »Also, mir ist noch nie ein Mitglied begegnet.« »Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt.« 103 »Ich will nicht mit dir streiten, Kutch. Wenn Domex dir gesagt hat, dass es sie noch gibt, dann soll es mir recht sein. Aber warum glaubst du, ein Haufen nicht lizenzierter Zauberer könne mir helfen?« »Weil sie erheblich mehr sind als das. Es heißt, ihre Art der Magie gehe bis auf die Gründer zurück.« Caldason schenkte sich eine Antwort. Sein Schweigen mochte nachdenklich sein oder vielleicht auch ungläubig. Kutch wusste es nicht zu deuten. Weit hinter ihnen stieg eine weiße Rauchsäule vom Scheiterhaufen auf der Klippe auf. Kutch sah sich noch einmal um. Er ließ die Schultern hängen und verzog vor Kummer und Schmerz das Gesicht. »Was weißt du denn über ihren Anführer?«, fragte Caldason, doch vielleicht sprach er auch nur, um den Jungen abzulenken. »Phönix?« Kutch richtete sich ein wenig auf. »Wahrscheinlich nicht mehr als das, was auch Ihr gehört habt. Ihr wisst schon - dass er oder sie jemand mit großer Erfahrung in der Zauberkunst sei, dass er nicht gefangen und nicht getötet werden könne.« »Aber wie ist das möglich?«, fragte Caldason. In seinen Augen schimmerte echte Neugier. »Ist das nicht völlig egal? Wichtig ist doch nur, dass der Bund Eure größte Gelegenheit darstellen könnte, überhaupt Hilfe zu finden. Sie haben nicht nur die Magie, Reeth. Sie sind Patrioten, und sie wenden sich gegen Gath Tampoor. Das bedeutet, dass sie den Paladinen wie ein Stachel im Fleisch stecken, und damit seid Ihr natürliche Verbündete, würde ich meinen.« Caldasons Gesichtsausdruck wurde wieder hart. »Du weißt, was ich von Verbündeten halte. Außerdem 104 bin ich kein Patriot. Jedenfalls nicht, soweit Bhealfa betroffen ist.« Der Boden wurde wieder eben. Sie waren jetzt in Sichtweite der ersten Gebäude des Dorfs. »Ihr solltet sie jedenfalls zu finden versuchen«, schlug Kutch vor. »Wo denn?« »In Valdarr.« »Weißt du auch, wo genau in Valdarr ich suchen müsste?« »Nein ... nein, das weiß ich nicht. Aber das ist die größte Stadt. Es scheint doch nur vernünftig, dass der Bund dort ist, oder? Wir könnten ...« »Es gibt kein wir, und du vermutest nur, dass man sie dort finden kann. Wenn ich den Bund suche, dann werde ich allein gehen.« »Warum kann ich denn nicht mitkommen?«, flehte der Bursche. »Ich habe es dir doch schon erklärt. Ich reise allein.« »Ich würde Euch gewiss nicht im Weg sein, und ich kann für mich selbst sorgen.« »Nein. Die Menschen in meiner Nähe sterben ziemlich schnell.« »Ich weiß ja, dass es gefährlich ist, weil Ihr ein Gesetzloser seid und so weiter und außerdem auch noch Qalochier, aber ...« »Die Leute sterben nicht unbedingt so, wie du dir es jetzt vorstellst. Es gibt andere Tode außer dem gewaltsamen.« Kutch begriff es nicht. Doch sie hatten mittlerweile den Rand der Siedlung erreicht, und ihre Unterhaltung brach ab. »Hier entlang führt ein kürzerer Weg 105 zum Haus«, sagte er elend. Er führte Caldason in eine Seitenstraße.
Die Straße verengte sich zu einer bloßen Gasse, die im Schatten überhängender höherer Stockwerke der Gebäude lag. Sie wurde schmaler, schlängelte sich durchs Dorf, kreuzte andere schmale Wege, die alle verlassen waren. Schließlich erreichten sie eine abschüssige gepflasterte Straße. Auf der rechten Seite standen Ställe, auf der linken primitive Hütten. Zwanzig oder dreißig Schritt vor ihnen lief jemand mit raschen Schritten in die gleiche Richtung wie sie. »Das ist er«, flüsterte Kutch. »Der Mann, der bei der Bestattung war.« Caldason betrachtete die Gestalt und nickte. »Er geht ein gewisses Risiko ein.« »Wieso das?« »Er ist nicht mehr jung, und dem Schnitt seiner Kleider nach zu urteilen besitzt er Geld. Doch er hat keine Leibwächter.« »Er ist geschützt. Er hat einen Verteidigungsschild. Sogar von guter Qualität.« »Verdammt will ich sein, wenn ich ihn sehen kann, Kutch.« »Man muss wissen, wie man schauen muss. Kommt schon, lasst uns mit ihm reden.« Reeth hielt ihn am Arm fest. »Warum?« »Wollt Ihr nicht wissen, wer er ist?« »Nicht unbedingt. Wenn jemand so aussieht, als könnte er eine Bedrohung darstellen oder als könnte er mir helfen, dann werde ich neugierig. Für den da gilt wohl keines von beidem.« »Er war abgesehen von uns beiden der Einzige, der zur Beerdigung meines Meisters gekommen ist.« Kutch 106 machte sich mit einem Ruck frei. »Ich möchte wissen, warum.« Reeth zuckte mit den Achseln. »Na schön. Aber vergiss nicht, dass ich mich nicht lange aufhalten will.« Sie beschleunigten ihre Schritte. Kutch hatte Recht. Als sie näher kamen, konnte Caldason eine Hülle aus flimmernder Luft erkennen, vielleicht eine Handspanne dick, die den Körper des Fremden umgab. Sie schimmerte wie von großer Hitze. Der Mann hörte ihre Schritte, blieb stehen und drehte sich um. Der fragende Ausdruck des edlen, von grauen Haaren eingerahmten Gesichts wich Beunruhigung. Kutch hob beschwichtigend die Hände. »Wir wollen Euch nichts tun.« Der Fremde zog sich unsicher ein oder zwei Schritte zurück und starrte sie schweigend an. Reeth sah sich um. »Hier stimmt was nicht.« »Was denn?«, fragte Kutch. »Was ist los?« »Man muss schon wissen, wie man schauen muss«, erwiderte Caldason trocken. Etwas schob sich in ihr Sichtfeld, ein Gewirr von funkelndem Silber. Der falsche Vogel, den sie zuvor gesehen hatten, flatterte gemächlich herunter. Die Zeit schien stillzustehen, als er auf dem ausgestreckten Arm des Fremden landete. Strahlendes Gefieder sträubte sich. Die lebhaften roten Augen des Geschöpfs richteten sich auf ihn. »Verrat!«, kreischte der Vogel. Dann hob er die Schwingen, als wollte er wieder wegfliegen. Doch er implodierte und zog sich zu 107 einer winzigen, vibrierenden Kugel zusammen, die hell strahlte und dann verging. Der Fremde kniff die Augen zusammen und kam zu dem Schluss, dass die beiden vor ihm der Anlass der Warnung waren. Er machte Anstalten fortzulaufen. »Nein!«, rief Kutch immer noch wie benommen. »Wir wollen Euch doch nichts tun!« Caldason hatte nicht auf den Zauber und den Fremden geachtet. Er musterte die Türen und Ställe. Mit hartem Gesicht und hartem Starren zog er langsam sein Schwert. Endlich bemerkte auch Kutch, was Caldason sah. Er brachte gerade noch ein verblüfftes »Was ...« heraus, ehe es ihm dämmerte. Aus den schäbigen Stallungen und den im Schatten liegenden Winkeln tauchten Männer auf. Es war ein gutes halbes Dutzend, und wenn es noch irgendeinen Zweifel an ihrer Absicht gab, dann wurde er von den Klingen in ihren Händen zerstreut. Alle bis auf einen hatten einen Gesichtsausdruck, den Caldason schon viele Male gesehen hatte. Sie hatten Raubtiergesichter. Straßenpiraten. Männer, die gegen Lohn oder einfach aus Vergnügen töteten. Die Ausnahme war ein unbewaffneter Mann, dessen Gewänder weit weniger kriegerisch aussahen. Im Gegensatz zu den anderen trug er einen Mantel und führte einen mit Gold beschlagenen Stab, der zu kurz war, um eine Waffe zu sein. Die Räuber schwärmten aus und machten Anstalten, ihre drei Opfer zu umzingeln. Der Mann, dem Kutch und Reeth gefolgt waren, schien zu Sinnen zu kommen, war aber offenbar immer noch misstrauisch, ob er den beiden trauen konnte. Er blickte unent108 schlössen zwischen ihnen und den anrückenden Angreifern hin und her. Ohne die Gegner aus den Augen zu lassen, griff Caldason über die Schulter nach hinten und zog langsam sein zweites Schwert. Als er es in der Hand hielt, blitzte ein grelles weißes Licht auf.
Es dauerte nicht länger als eine Sekunde, doch es blendete sie alle. Noch während die Flecken vor seinen Augen tanzten, erkannte Caldason den Ursprung. Der unpassend gekleidete Räuber hatte den geschmückten Stab erhoben und zielte damit auf den älteren Fremden. Kutch schrie etwas Unverständliches. Reeth konnte sehen, dass der Fremde jetzt völlig ohne Schutz war. Sein magischer Schild war verschwunden, die schimmernde Blase fort. Ein Auflösungszauber. Caldason konnte nur hoffen, dass sie über nichts Schlimmeres verfügten. Einer der Angreifer auf der rechten Seite kam ihm mit erhobenem Schwert entgegen. Auf der linken Seite folgte ein Bandit seinem Beispiel. Die anderen blieben stehen, wo sie waren. Caldason versetzte Kutch einen heftigen Stoß und schleuderte ihn dem Fremden entgegen. Der Junge schrie, stolperte und prallte fast gegen den älteren Mann. »Bleib da«, fauchte Caldason, als hätte er einem Hund einen Befehl gegeben. Die Zange der Angreifer begann sich zu schließen. Caldason blieb reglos stehen, unverrückbar wie ein Fels. Kutch sah mit vor Angst geröteten Wangen zu und konnte nicht glauben, dass Caldason die Au109 gen geschlossen hatte und, völlig unangemessen, sogar heiter wirkte. Doch dieser Ausdruck hielt sich nur eine Sekunde, bevor der Kampf begann. Ein Schwert in jeder Hand haltend, wehrte er beide Angreifer zugleich ab, blockierte ihre Vorstöße gewandt auf der linken und der rechten Seite. Dann drehte er sich einmal und noch einmal herum, bis er sie vor sich hatte. Sie griffen sofort an. Vier Klingen durchschnitten die Luft. Stahl prallte wütend auf Stahl, als die drei Männer ihren eleganten Tanz begannen, der so alt war wie das Böse selbst und der nur mit dem Tod enden konnte. Zuerst schien es Kutch so, als wollte Reeth die Angreifer lediglich in Schach halten. Doch bald schon sah er seinen Irrtum ein. Caldason verfolgte eine ganz bestimmte Strategie. Sie griffen ihn zwar mit gleicher Heftigkeit an, doch er reagierte unterschiedlich. Den Mann auf der rechten Seite hielt er nur von sich ab. Den auf der linken bekämpfte er offen. Als sie ihn gemeinsam angriffen, blitzten seine Klingen von links nach rechts, von der Defensive zur Offensive, von weich zu hart. Als es dann geschah, kam es schnell und brutal. Ohne Vorwarnung schlug Caldason nach dem Mann, den er müde gekämpft hatte. Für die Zuschauer sah es aus, als hätte er lediglich rasch die Klinge quer über die Brust des Räubers gezogen. Doch es war ein tiefer Schnitt, der einen Blutschwall nach sich zog. Das Opfer gab einen Laut von sich, halb ein Schrei und halb schmerzerfülltes Stöhnen, und ließ das Schwert fallen. Der Angreifer schwankte und stürzte geschlagen zu Boden. 110 Es war das einzige Geräusch, das die Kämpfer bisher überhaupt von sich gegeben hatten. Kutch staunte, wie eigenartig dieser Kampf verlief. Kein Wortwechsel, keine gebrüllten Herausforderungen und keine gemurmelten Drohungen. Nur Stille, abgesehen vom angestrengten Grunzen der Männer und dem klirrenden Stahl. Es schien so, als nähmen die Räuber ihren Beruf sehr ernst und wären bei der Arbeit nicht zu Gesprächen aufgelegt. Jetzt kam Bewegung in den Kampf. Als Caldason seinen zweiten Gegner anging, mischte sich ein weiterer Räuber in den Kampf ein. Kutch hatte unterdessen ganz eigene Probleme. Zwei Banditen kamen auf ihn und den Fremden zu. Der Letzte der Bande, der mit seinem Magie verzehrenden Stab eher ein Zauberer als ein Kämpfer war, hielt sich zurück. Kutch und der Fremde rückten instinktiv näher zusammen. »Die haben es auf mich abgesehen«, zischelte der alte Mann. Es waren die ersten Worte, die er überhaupt sprach, und sie ließen den Jungen auffahren. Doch Kutch hatte keine Zeit zu antworten. Ihre Angreifer waren nur noch eine Schwertlänge entfernt und rückten näher. Der Fremde warf den Mantel zurück und zog zwei Dolche aus dem Gürtel. Allerdings sah er nicht gerade wie der geborene Kämpfer aus, und die Angreifer hatten die größere Reichweite und waren in der Überzahl. Die Räuber lächelten. Kutch bekam einen Schweißausbruch, doch er schob jeden anderen Gedanken beiseite und konzentrierte sich allein auf die Zauberkunst. Caldason hatte gerade einen kräftigen Schlag ausgeführt, als der dritte Angreifer sich einmischte. Der 111 Neuankömmling, ein massiger Kerl mit Vollbart, schwang eine Zweihandaxt. Caldason wich dem Hieb aus, tauchte darunter hinweg und konterte mit einem ausholenden Schlag, der den Axtkämpfer in Stücke geschnitten hätte, wäre dieser nicht hastig zurückgetaumelt. Beim Rückzug stolperte er fast über den Leichnam des Komplizen, den Reeth bereits getötet hatte. Der zweite Gegner des Qalochiers war geschickter. Er führte einen Säbel, griff schnell und gewandt an und tänzelte wie eine Barbkatze. Reeth wich dem Hieb aus und teilte einige Schläge aus. Dann mischte sich der Axtkämpfer wieder ins Geplänkel ein, und der Angegriffene musste sich erneut gegen zwei Gegner wehren. Kutch und der Fremde beobachteten ihre anrückenden Gegner und machten sich auf den Angriff gefasst. Der kam ganz plötzlich, als einer der Ganoven vorsprang und den alten Mann anging. Mit überraschender Beweglichkeit wich der Fremde dem Angriff aus und konnte mit seinen Messern dem Feind sogar eine Verletzung zufügen, die den Räuber veranlasste, sich vorerst zurückzuziehen. Doch sein Kumpan, ein widerwärtiger schlaksiger Kerl, stieß vor und griff nun Kutch an. Der Junge wich zurück und hatte große Mühe,
die Anrufung, die er halblaut murmelte, nicht völlig zu ruinieren. Der Fremde packte Kutchs Handgelenk und zog ihn näher an sich heran. Dabei zeigte er den vorrückenden Gaunern die Dolche, als könnte er damit etwas gegen die Schwerter ausrichten, und zog sich zusammen mit Kutch weiter zurück. Drei Schritte machten sie, dann standen sie mit dem Rücken an einer groben Ziegelmauer. Sie press112 ten sich dagegen, und der Fremde hielt in einem vergeblichen Versuch, tapfer zu wirken, die Messer vor sich. Neben ihm murmelte Kutch seine Anrufung und machte mit zitternden Händen kleine Bewegungen. Die Banditen weideten sich an der Angst ihrer Opfer. Abrupt entstand ein Schwärm kleiner Lichter, die wie leuchtende Sandkörnchen um Kutch und den Fremden wirbelten. Ebenso plötzlich verschwanden sie wieder, und ein dunstiger Schein lag um den Mann und den Burschen. Das höhnische Grinsen der Banditen gefror, und sie runzelten die Stirn. Vorsichtig geworden, hielten sie sich zurück. Caldason ging unterdessen nach dem Prinzip vor, den größten Gegner zuerst zu erledigen. Er wehrte den schwächeren seiner beiden Angreifer vorerst nur ab und konzentrierte sich darauf, den kräftigen Mann mit der Streitaxt zu besiegen. Unablässig deckte er ihn mit wuchtigen Schlägen ein. Mehrere Schläge wurden abgewehrt und glitten an der Schneide der Axt oder am dicken Holzgriff ab. Andere pfiffen dicht am Kopf des Ganoven vorbei. Dann sah Caldason seine Chance. Der Schlag, der durchbrach, war wild. Er zertrümmerte dem Axtkämpfer den Schädel und fällte ihn auf der Stelle. Noch während der Angreifer zu Boden sank, drang sein Gefährte vor und brannte offensichtlich darauf, Rache zu nehmen. Caldason fuhr herum und stellte sich ihm. Es gab einen heftigen, wilden Schlagabtausch, der ein jähes Ende fand, als Caldason das Schwert des Gegners zwischen seine beiden Klingen nahm. Der Räuber wollte sich befreien und bleckte vor Anstrengung die Zähne. Seine Muskeln spannten 113 sich, doch Reeth hielt ihn fest wie mit einer Schraubzwinge. Dann zog er die Schwertgriffe herum und verdrehte dem Mann das Handgelenk. Ein schmerzhafter Ruck, und dem Gegner war die Klinge entwunden. Sie überschlug sich in der Luft und fiel klirrend aufs Pflaster. Der Räuber stand nun mit leeren Händen und wehrlos da und sperrte vor Schreck den Mund auf. Er sollte nicht lange so stehen bleiben. Reeths Schwerter bewegten sich geschwind. Zwei Schläge, einer rechts und einer links, schlitzten die Brust des Angreifers auf. Einen Moment lang blieb er noch verblüfft stehen, während auf seiner schmierigen Hemdbrust ein rotes Kreuz aufblühte. Als er zusammenbrach, wandte Caldason sich sofort von ihm ab. Reeth sah Kutch und den älteren Fremden von einer schimmernden Hülle umgeben, die schließlich flackerte und zusammenbrach. Die beiden noch lebenden Banditen drangen mit gezückten Waffen auf sie ein. Doch jetzt teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen der vermeintlich leichten Beute sowie Caldason und dem, was dieser mit ihren Kameraden getan hatte. Rasch überwand Reeth die Distanz zwischen ihnen. Die Banditen wandten sich ihm zu und vergaßen ihre ursprünglichen Opfer. Klirrend prallten die Klingen gegeneinander, Caldason parierte den scharfen Stahl und zahlte es ihnen Schlag um Schlag mit gleicher Münze heim. Einige unendliche Sekunden lang schien im Spiel der zuckenden Schwerter keiner die Oberhand zu behalten. Dann erkannte Caldason eine Lücke in der Verteidigung eines Angreifers. Immer wenn der Mann auf der rechten Seite einen Streich 224 führte, ließ er einen Herzschlag lang seine Deckung außer Acht. Reeth wich einem Stich aus, schlug nach dem Mann auf der linken Seite und ließ ihn zurückweichen. Eine rasche Drehung zum Gegner auf der rechten Seite, und er konnte mit der Klinge zustoßen. Sie drang durch die Rippen tief in die Eingeweide. Die Schwertspitze brach am Rücken des Räubers wieder hervor. Das Blut spritzte bis zu Kutch und dem Fremden, der sich hinter ihm duckte, und bewies eindringlich, dass der Schutzschild wirkungslos war. Der alte Mann strich sich mit dem Handballen über die Augen, um das Blut abzuwischen. Kutch war erschüttert, verlegen und voller Angst. Er schämte sich, dass seine Magie derart nutzlos war. Seine Konzentration litt unter dieser Einsicht, und seine Geisteskräfte erlahmten. Der Schild zerfiel zu dunstigen Flocken. Caldason zog die Klinge heraus und ließ den toten Gegner zu Boden sinken. Der letzte Räuber griff den Qalochier brüllend an und schlug mit dem Schwert um sich wie mit einer Machete. Reeth wich zur Seite aus und ließ den überstürzten Angriff ins Leere laufen, doch er konnte dem Hieb nicht vollständig entgehen. Die Schwertspitze riss ihm den linken Arm vom Handgelenk bis zur Beuge auf. Das Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen, und sein zerfetzter Ärmel färbte sich rot. Kutch schnaufte vernehmlich. Doch die Wunde störte Reeth nicht. Er rempelte den Mann von der Seite an und stieß fest genug gegen seine Schulter, um den nächsten Schlag abzulenken. Dann setzte er mit seinem zweiten Schwert nach und schlug gnadenlos zu. Die Abwehr des Banditen ließ 115
auf der Stelle nach. Ein Stiefeltritt von Reeth in den Unterleib des Mannes brachte sie endgültig zum Zusammenbruch, und der Bandit war vorübergehend wehrlos. Reeth nutzte den freien Raum und stieß mit der Klinge zu. Sie bohrte sich durchs Fleisch bis ins Herz des Opfers. Leblos stürzte der Bandit zu Boden. Caldason wandte sich vom Gemetzel ab und blickte zu Kutch und dem Fremden. Ihre Gesichter waren aschgrau. Einige Augenblicke vergingen in betäubtem Schweigen, das Kutch schließlich brach. »Reeth!«, rief er und deutete in Richtung der Ställe. Sie hatten den letzten Räuber vergessen. Denjenigen, den sie für einen Zauberer gehalten hatten. Er stand ein Stück die Straße hinunter im Halbschatten und war nahe genug, dass sie sein ängstliches Gesicht erkennen konnten. Aus einem Ende des Zauberstabs, den er in der Hand hielt, quoll ein dicker Strom von gelbem Rauch. Statt sich aufzulösen, wurde der Rauch zum Besitzer des Stabes gezogen und legte sich um dessen Körper. Dicke Stränge des Rauchs schlängelten sich von den Füßen bis zur Hüfte um ihn herum und breiteten sich rasch auch auf der Brust aus. Caldason entriss dem Fremden einen Dolch, fuhr herum und warf ihn nach dem Zauberer. Noch während das Messer flog, hatte der gelbe Rauch das Ziel fast vollständig eingehüllt. Als die letzten Rauchschwaden den Kopf des Zauberers bedeckten, verfestigte sich der Umhang aus Rauch schlagartig und wurde durchsichtig. Die fliegende Klinge traf den magischen Schild und prallte wirkungslos ab. 116 Der Zauberer drehte sich sofort um und rannte los. Mit dem gestohlenen Schild sah er aus, als wäre er von einer dünnen Schicht aus glänzendem, geschmeidigem Eis umgeben. Gerade so, wie die Hülle vom vorherigen Besitzer getragen worden war. »Lasst ihn gehen«, drängte der Fremde. Caldason hatte im Grunde nicht übel Lust, die Verfolgung aufzunehmen, doch er sah ein, dass es sinnlos war. Kutch hatte es unterdessen noch nicht einmal geschafft, sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Sie sahen dem fliehenden Überlebenden nach, der mit schlenkernden Armen und wallendem Umgang fortrannte. Fünfzig Schritt weiter, und er fand eine Ecke, hinter der er verschwinden konnte. Die drei starrten einander an. »Euer Arm ...«, sagte Kutch. Caldason betrachtete den blutenden Arm. Er riss sich ein Stück Stoff aus dem Hemd und presste es, anscheinend ohne große Besorgnis, auf die Wunde. »Das ist weiter nichts.« Der Fremde ergriff mit heiserer Stimme das Wort. »Danke. Ich danke Euch beiden.« Kutch war niedergeschlagen. »Ich habe doch kaum etwas getan«, meinte er seufzend. »So viel zu meinen Fähigkeiten in der Zauberkunst.« »Du hast es wenigstens versucht«, beruhigte Caldason ihn. »Und das allein zählt.« Der Junge nickte, offenbar nicht recht überzeugt, und wandte sich an den Fremden. »Wer seid Ihr denn nun? Warum habt Ihr die Bestattung meines Meisters besucht? Wer waren diese ...« »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, unterbrach Caldason. »Wenn wir noch lange hier herumstehen, haben 117 wir die Stadtwache am Hals.« Er heftete den Blick auf den Fremden. »Und das, so glaube ich, ist etwas, das Ihr sicher gern vermeiden würdet.« »Dein Freund hat Recht«, bestätigte der alte Mann an Kutch gerichtet. »Ich will alles erklären, doch es ist wirklich das Beste, nicht unter diesen Begleitumständen aufgegriffen zu werden.« Galdason beugte sich über den nächsten Toten und wischte die besudelten Klingen am Wams des Mannes ab. Dann richtete er sich auf und steckte die Waffen in die Scheiden. »Also los«, befahl er und packte den Arm des Fremden. Eilig ließen sie den Weg und die herumliegenden Leichen hinter sich zurück. 118 Soweit sie es sagen konnten, blieb ihre Ankunft in Domex' heruntergekommenem Haus unbemerkt. Kutch fischte einen großen eisernen Schlüssel aus den Falten seines Hemds und stocherte damit im Schloss herum. Als die rostigen Riegel aufgesperrt waren, öffnete Caldason die Tür ganz unzeremoniell mit einem Tritt. Er schob Kutch und den Fremden hinein und legte die Riegel wieder vor. »Fenster!«, befahl er. Kutch eilte und zog die Läden vor. Er war bleich und zitterte. Der Fremde schien gelassener. Er betrachtete Reeth genau, die Lippen schmal zusammengepresst und wissenden Blicks. Doch er hielt den Mund. Caldason schob ihn nicht eben sanft in Richtung des Hauptraums. Nachdem das Tageslicht bis auf winzige Ritzen in den Vorhängen ausgesperrt war, herrschte im Zimmer eine düstere, bedrückende Atmosphäre. Kutch zündete eine Lampe an. Er schützte die Kerze mit der hohlen Hand, ging zum Kamin und zündete auch die 119 Kerzen in zwei schweren bleiernen Kerzenhaltern auf dem Kaminsims an. Schatten spielten auf den Rücken der zerlesenen Bücher in den Wandregalen. »Jetzt setz dich«, sagte Caldason.
»Ihr kommandiert mich immer noch herum wie einen Hund«, klagte Kutch, aber er tat wie ihm geheißen. Der Qalochier betrachtete den alten Mann. »Ihr auch.« Er gab dem Mann einen Stoß ins Kreuz und dirigierte ihn zu einem schweren Polstersessel. Der Fremde ließ sich seufzend hineinfallen. Staubflocken tanzten im Sonnenlicht. Selbst aus der Nähe war das Alter des Mannes schwer zu schätzen. Er war gewiss über die Blüte seines Lebens hinaus, doch eher im Herbst als im Winter des Lebens. Es war der verhärmte Gesichtsausdruck, der ihn älter wirken ließ. Sorgenfalten durchfurchten das bartlose Antlitz. Das silberne Haar, womöglich eine Spur zu lang gewachsen für sein Alter, verlieh ihm etwas Ehrwürdiges. Er war gekleidet wie ein reicher Mann. Als er nun sprach, klang seine Stimme entspannter und beinahe einnehmend. »Ich bin Euch beiden zu Dank verpflichtet und schulde Euch eine Erklärung.« »Mir seid Ihr überhaupt nichts schuldig«, erwiderte Caldason unwirsch. »Es ist mir ziemlich egal, wer Ihr seid und welche Probleme Ihr vielleicht habt.« »Aber Ihr habt Euer Leben für mich riskiert.« »Mir blieb nichts anderes übrig.« Der Fremde fasste ihn scharf ins Auge. »Ich glaube, das ist noch nicht die ganze Wahrheit«, bemerkte er leise. »Ihr könnt denken, was Ihr wollt. Ich denke mir, dass Ihr mich in Eure Schwierigkeiten hineingezogen 120 habt und wahrscheinlich noch weitere im Anmarsch sind. Ich sollte am besten sofort verschwinden, statt auch nur einen Augenblick länger hier zu verweilen.« »Ich stimme Euch zu, dass es klug wäre zu gehen. Doch es wird eine Weile dauern, bis die Kunde vom Versagen dieser Männer ihre Herren erreicht. Ich glaube nicht, dass in diesem Augenblick noch weitere Banden gegen mich eingesetzt sind. Auf jeden Fall entspräche dies nicht der Art und Weise, wie sie vorgehen.« »Sie?« »Unsere Herrscher.« »Die Regierung?«, warf Kutch mit aufgerissenen Augen ein. Der Fremde nickte. »Wer seid Ihr denn?«, fragte der Junge. »Mein Name ist Dulian Karr.« Kutch fuhr auf. »Der Patrizier Karr?« »Du bist gut auf dem Laufenden.« »Von Euch hat doch jeder schon einmal gehört.« »Was macht ein Mitglied des Ältestenrats an einem Ort wie diesem?«, fragte Caldason. Er stand am Fenster und beobachtete den Pfad draußen, den Vorhang in der Faust zusammengerafft. Jetzt ließ er den Stoff zurückfallen. Wieder musterte Karr ihn. »Ihr seid mir gegenüber im Vorteil. Ihr wisst nun meinen Namen, doch ...« »Er ist Reeth Caldason«, warf Kutch ein und fügte wissend hinzu: »Der Gesetzlose.« Wenn der Patrizier erschrak, dann ließ er es sich nicht anmerken. Caldason ergriff als Erster wieder das Wort. »Du hast nur durch Zufall etwas über mich erfahren kön121 nen, Junge. Ich wäre dir dankbar, wenn du es für dich behalten könntest.« Die Worte bohrten sich wie ein Pfeil in Kutchs Brust. Er errötete unter Caldasons kaltem Blick und hub zu einer Entschuldigung an, die er mitten im Satz verzagt abbrach. Ein gespanntes Schweigen senkte sich über den Raum. »Und du musst Kutch Pirathon sein«, warf Dulian Karr ein, der Mitleid mit dem Jungen hatte. Sie starrten ihn an. »Woher wisst Ihr das?«, stammelte Kutch. »Grentor Domex war einer meiner ältesten Freunde. Er hat oft von dir gesprochen. Als ich herkam, hatte ich noch keine Ahnung, dass er tot ist.« »Also gut.« Caldason hob die Handflächen, als wollte er sich ergeben. »Ich sehe ein, dass wir es wohl nicht vermeiden können, die Geschichte Eures Lebens anzuhören. Aber fasst Euch bitte kurz.« Der gerade noch gescholtene Zauberlehrling fühlte sich ein wenig besser, als er hörte, wie Reeth schlagartig zu einem unbefangenen Tonfall wechselte, ein für das quecksilbrige Wesen des Mannes offenbar typischer Stimmungsumschwung. »Warum wolltet Ihr denn meinen Meister überhaupt aufsuchen?« »Und warum habt Ihr keine Leibwächter?«, ergänzte Caldason. »Ich hatte eine ganze Phalanx Leibwächter, als ich aufgebrochen bin. Gute Männer, jeder Einzelne von ihnen. Meine Feinde haben ihre Reihen ausgedünnt, bis nur noch ich übrig war. Deshalb waren die Angreifer vorhin auch nur mit einem Aufhebungszauber ausgerüstet.« »Trotzdem seid Ihr hergekommen.« 122 »Und trotzdem habt Ihr mich verteidigt. Ich nehme an, wir hatten ähnliche Gründe. Mir blieb keine andere Wahl.« Caldason schwieg. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Kante des staubigen Tischs. »Und was die Frage angeht, warum ich hergekommen bin ... vor vielen Jahren schloss sich eine Gruppe von Gleichgesinnten, zu denen auch Grentor und ich zählten, zusammen, um ein gemeinsames Anliegen zu vertreten.
Unser Ziel war es, in Bhealfa die staatliche Souveränität wieder herzustellen. Wir wollten echte Freiheit genießen und nicht nur deren Anschein, und wir wollten die Unterdrücker vertreiben.« »Schöne Worte.« Es war unmöglich zu erkennen, ob Caldasons Bemerkung zynisch gemeint war. Karr ging darüber hinweg. »Wir waren wohl jung und idealistisch, aber das machte das Objekt unseres Zorns nicht weniger real. Zu gegebener Zeit wählte jeder den Weg, der ihm am besten geeignet schien, sein Ziel zu erreichen. Ich entschied mich für die Politik und versuchte, unsere Freiheit durch das gesprochene Wort zu erringen.« Er lächelte humorlos. »Andere gingen zum Militär oder versuchten sich als Händler oder gar als Banditen, und einige sind auf diesem Weg auch gefallen. Dein Meister, Kutch, ist geblieben, was er schon immer war: ein Einzelgänger. Wie heißt es noch? Ein viereckiger Pflock in einem runden Loch. Aber verdammt will ich sein, wenn ich zu sagen weiß, wer von uns mehr erreicht hat.« Seine Augen blickten nachdenklich in weite Fernen. Dann nahm er sich zusammen und sprach weiter. »Ich bin hergekommen, weil es Neuigkeiten über die Fortschritte ... über die Fortschritte eines Plans gibt. Ein 123 Plan, den Domex über die Jahre mit ersonnen und ausgeführt hat.« »Musstet Ihr denn wirklich persönlich kommen?« »Es gibt nicht viele andere, denen ich meinen Bericht hätte anvertrauen können. Und ich wollte ihn persönlich aufsuchen, weil wir uns so lange nicht gesehen hatten.« »Wie sieht der Plan denn aus?« »Verzeiht mir, aber das ist ein Geheimnis, das ich nicht mit Euch teilen kann.« »Warum erwähnt Ihr es dann überhaupt?« »Ihr habt mir das Leben gerettet, und dadurch habt Ihr ein gewisses Maß an Vertrauen verdient.« Caldason zuckte geringschätzig mit den Achseln. Kutch hatte den Wortwechsel schweigend mitverfolgt. Caldason bemerkte erst jetzt, wie niedergeschlagen der Bursche wirkte. »Was ist denn los?« »Ich höre gerade etwas über eine Seite meines Meisters, deren Vorhandensein ich nie geahnt hätte. Ich meine, ich wusste ja, dass er den Staat nicht geliebt hat. Jetzt stellt sich heraus, dass er an einer großen Sache beteiligt war. An einer wichtigen Sache. Aber ... aber ich wusste es nicht. Er hat mir nie davon erzählt.« »Es geschah zu deinem eigenen Schutz«, erklärte Karr. »Das Prinzip lautet, dass dich nicht gefährden kann, was du nicht weißt. Domex hatte sich einem selbstlosen Ziel verschrieben. Deshalb haben sie ihn umgebracht, welchen Vorwand sie auch vorschieben mögen. Zweifle nur ja nicht daran. Du kannst stolz auf ihn sein, Kutch.« Der Junge schluckte den Kloß in der Kehle herunter und nickte. »Sind die Pläne, die Ihr erwähnt 124 habt, der Grund dafür, dass die Regierung Euch töten will?« »Mag sein. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, sie wüssten nichts. Es gibt Informanten und Spione in den Reihen der Dissidenten.« »Dieser Kundschafter-Zauber in der Gestalt eines Vogels - wurde er geschickt, um Euch vor dem Angriff zu warnen?« »Ja, er wurde von Verbündeten in Valdarr geschickt. Ich wünschte nur, er hätte sich früher gezeigt. In meinem Kreis gibt es Verräter, die mir unlängst sehr nahe gekommen sind. Ich denke allerdings, dieser letzte Anschlag auf mein Leben ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ich ganz allgemein ein Stachel im Fleisch der Machthaber bin. Es käme ihnen sehr gelegen, wenn ich durch die Hand angeblicher Straßenräuber den Tod fände.« »Haben sie es denn schon einmal versucht?« »Sogar mehrmals.« Karrs Stimme klang beinahe so, als wäre er auch noch stolz darauf. Caldason unterbrach ihn. »Warum sollten sie so großen Wert darauf legen, einen aus den eigenen Reihen umzubringen?« Der Patrizier sah ihn mit schmalen Augen an. »Was meint Ihr damit?« »In meinen Augen seid Ihr ein Teil der Regierung oder kommt dem zumindest sehr nahe. Ihr spielt deren Spiel.« Karr lachte halb zynisch und halb amüsiert. »Ihr habt ein recht voreingenommenes Bild von der Regierung. Die Politik ist eben meine Art, den Staat herauszufordern. Ich behaupte nicht, viel bewirken zu können, und im günstigsten Fall werden meine An125 sichten gerade eben toleriert. Und doch ist es nun mal das, was ich tun kann.« »Wie viel Brot bringt das in hungrige Mäuler? Wann hilft es einem Schwachen, den Starken zu besiegen?« »Ihr habt schon Recht, die Politik ist ein Ränkespiel. Ich habe mich mein ganzes Leben in dieser schwarzen Kunst geübt. Man arrangiert sich, man verschließt die Augen, man schmeichelt denen, die uns unterdrücken.« »Das ist ein selten ehrliches Wort von einem Mann Eures Standes. Aber warum gebt Ihr Euch dann überhaupt damit ab?« »Weil ich der Ansicht war, dass die Regierung den Interessen der Bürger dienen solle. Ich dachte, das System könne die Ausschweifungen unserer Kolonialherren einschränken und vielleicht sogar ihre Macht brechen. Sie haben mich für diesen Glauben zur Rechenschaft gezogen.« »Davon habe ich gehört. Man hat Euch naiv, militant, aufsässig und radikal genannt...«
»Und Euch nennt man erbarmungslos.« »Es kommt eben immer darauf an, wer der Sprecher ist.« »Genau.« Kutch schaltete sich wieder ein. »Wenn es darum geht, denen Widerstand zu leisten, die das Volk schinden, ist es dann nicht gut, ein Radikaler zu sein?« Karr lächelte. »Gut gesprochen.« »Das hat mein Meister immer gesagt«, räumte der Junge ein wenig verlegen ein. »Dann muss man es dir anrechnen, dass du ihn ehrst, indem du seinen Gedanken aussprichst.« 126 Caldason drehte sich zu Karr um. »Ist dieser große Plan, den Ihr Euch da ausgedacht habt, auf irgendeine Weise auch ein politischer Schachzug?« »Die Politik ... ja, sie ist ein Teil davon.« »Was sind die anderen Teile?« »Protest kann mehr als eine Form annehmen.« »Das klingt ja beinahe, als hätte es mit dem Widerstand zu tun.« Karr hielt seinem prüfenden Blick stand. »Ich gehöre der Opposition an. Andere sind im Widerstand.« »Es ist bekannt, dass die Gruppen sich zusammengetan haben.« »Wie ich schon sagte, schmähen unsere Herrscher all jene, die sich gegen sie stellen. Sie wollen die Menschen glauben machen, alle Gegner der Regierung seien Terroristen.« »Heißt das, Ihr haltet die Widerständler für Terroristen?« »Aber nein. Und Ihr?« »Nein.« Er blickte zu Kutch und fügte sarkastisch hinzu: »Aber andererseits bin ich ja auch ein Gesetzloser, das dürft Ihr nicht vergessen.« »Was wollt Ihr damit sagen, Caldason?« »Jeder Plan, der etwas verändern soll, muss den Widerstand einschließen, wenn er Aussicht auf Erfolg haben will.« »Ich sage es noch einmal: Die Opposition hat viele Gesichter. Es gibt friedliebende Zeitgenossen und sogar Priester, die mit dem Regime nicht einverstanden sind, die aber dennoch mit Revolutionären, Agitatoren, Staatsfeinden und ähnlichen Leuten keine gemeinsame Sache machen wollen. Selbst die Bruderschaft der Gerechten Klinge ist wieder zum Leben 127 erwacht. Wusstet Ihr, dass sie sich neu organisiert hat?« »Das ist mir zu Ohren gekommen.« »Wer ist das?«, wollte Kutch wissen. »Ein alter Kriegerorden«, erklärte Karr. »Er wurde von Patrioten gegründet. Zu ihm zählen einige der besten Schwertkämpfer des Landes. Sie haben geholfen, eine Tradition fortzuführen, die wegen ihrer Tapferkeit früher allenthalben Achtung genoss. Oft sind sie in Zeiten aufgetaucht, in denen die Unabhängigkeit des Landes bedroht war.« »Und sie haben sich als ohnmächtig erwiesen, wenn Bhealfas derzeitiger Zustand ein Urteil erlauben soll«, bemerkte Caldason. »Vielleicht hätten sie mehr erreicht, wenn sie eine größere Unterstützung von uns erfahren hätten«, gab Karr schnippisch zurück. »Aber wenigstens tun sie etwas.« »Wenn Ihr glaubt, ein Haufen Idealisten mit altmodischen Vorstellungen von Ritterlichkeit habe viel zu Eurer Sache beizusteuern, dann mag es wohl so sein.« »Man kann unterschiedlicher Meinung sein, aber es ist nicht alles schwarz und weiß, wie Ihr zu glauben scheint. Ich und die wenigen Politiker, die so denken wie ich, brauchen alle Verbündeten, die wir nur gewinnen können. Wir sind wie Flöhe auf dem Rücken eines Ochsen.« »Das beschreibt die Größe Eures Vorhabens recht gut.« »Selbst ein Ochse kann durch genügend Flohstiche niedergestreckt werden.« . »Das träumt Ihr nur.« 128 Karr schnaufte vernehmlich. »Ihr scheint ja nicht gerade erpicht darauf zu sein, die bestehenden Machtverhältnisse zu ändern. Wenn ich mir ansehe, was die Qalochier erduldet haben, überrascht mich dies doch ein wenig.« Reeth fuhr auf, als er an das Land seiner Geburt erinnert wurde. »Euer Volk musste Massaker und gewaltsame Säuberungen hinnehmen«, fuhr Karr fort, »und wer von Euren Leuten in der Verbannung überlebte, sieht sich mit schlimmen Vorurteilen konfrontiert. Wenn überhaupt jemand Grund hat, das Regime zu hassen, dann sind es die Qalochier.« Kutch wusste, wie empfindlich Caldason reagieren konnte, wenn es um das Schicksal seines Volkes ging, und rechnete mit einer heftigen Reaktion. Er sollte nicht enttäuscht werden. »Das traurige Schicksal der Qalochier ist bekannt«, sagte Caldason mit mühsam beherrschter Stimme. »Doch wie ich sehe, schwingt kaum jemand für uns die Keule. Warum sollten wir nun Euch unterstützen?« »Weil es auch Euer Kampf ist. Und einige von uns haben sich tatsächlich zur Not der Qaloch geäußert. Darunter
auch ich.« »Viel genützt hat es ja wohl nicht.« »Ich kann Euren Zynismus verstehen, doch ...« »Wirklich?« Unvermittelt brach Caldasons Leidenschaft durch. »Hat man Euch schon einmal wegen Eurer Abstammung bespuckt? Wurden Eure Siedlungen niedergebrannt und die Frauen geschändet? Hat man Euch schon einmal wegen Eurer Ahnen so behandelt, als wäre Euer Leben weniger wert als eine Hand voll Dreck?« 129 »Wegen meiner Vorfahren ... nein.« »Nein, so etwas ist Euch nicht geschehen. Zugegeben, Euer Leben ist in Gefahr, aber im Gegensatz zu mir könnt Ihr Euch frei entscheiden. Ihr könntet Eure Agitation einstellen und dem Staat keinen Grund mehr geben, Euch zu verfolgen.« »Das würden meine Prinzipien nicht erlauben«, erwiderte Karr pikiert. »Ich respektiere Euch als Mann, der sich für seine Ziele in Gefahr bringt. Für mich aber gibt es keine Wahl. Meine Herkunft lässt es nicht zu. Und wenn es um Vorurteile und Heuchelei geht, stehen sich die beiden Reiche einander in nichts nach. Dieses Land befindet sich nun gerade unter dem Joch des einen Reiches, und früher war es das andere. Die Welt ist nun einmal, wie sie ist.« »In diesem Punkt stimmen wir nicht überein. Ich bin der Ansicht, dass man etwas verändern kann.« »Ob Gath Tampoor oder Rintarah, das macht doch keinen Unterschied.« »Ich rede nicht davon, ein herrschendes Reich durch das andere zu ersetzen oder die derzeitige Herrschaft abzumildern. Es könnte noch einen ganz anderen Weg geben.« »Eine kühne Hoffnung, Patrizier.« »Mag sein. Doch es hat sich schon zu lange nichts mehr bewegt. Alles ist festgefahren. Eine doppelgesichtige Justiz, die sich angesichts der Verbrechen der Bürger von Gath Tampoor blind stellt; Bhealfas Jugend wird ins Militär gepresst, um für das Reich Stellvertreterkriege zu führen; ferne Herrscher, die nichts mit dem Volk gemein haben; erpresserische Steuern ...« 130 »Das wissen wir doch alles«, unterbrach Caldason ihn. »Wir sind hier nicht auf einer Wahlversammlung.« Karr schien ein wenig gekränkt. »Ich sage ja nur, dass es nicht mehr lange so weitergehen wird.« »Warum denn nicht? Die Reiche sind stärker denn je. Selbst wenn wir fähig wären, eines zu besiegen, würde das zweite die Leere füllen.« »Das verhielt sich in der Vergangenheit so. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Es gibt Anzeichen, dass die Rivalität ihre Macht zersetzt.« Kutch mochte es nicht recht glauben. »Macht Ihr Scherze?« »Es ist mir völlig ernst damit. Rintarah und Gath Tampoor leiden unter dem Druck, sich gegenseitig überbieten zu müssen. Beide schränken die Rechte der Bürger und Untertanen ein und pressen aus den Kolonien heraus, was sie nur bekommen können. Was ihre Stärke angeht ... nun, ein Ast mag kräftig scheinen, bis der Blitz einschlägt, und das Eis ist kurz vor dem Tauwetter am stärksten.« »Zu behaupten, die Reiche verlören ihre Macht, ist eine Sache«, wandte Caldason ein. »Doch es zu beweisen, ist eine ganz andere.« »Ich kann mich nur auf meinen Instinkt und auf alltägliche Erfahrungen berufen. Es liegt Brutalität in der Luft. Könnt Ihr es nicht spüren?« »Ihr meint, mehr als sonst?« »Ich kann Euch den Spott nicht übel nehmen. Aber seht Euch doch um. Die Unordnung nimmt allenthalben zu, und in den äußeren Bezirken herrscht die reinste Anarchie. Das könnten wir zu unserem Vorteil nutzen.« 131 »Offenbar wollt Ihr Euren Gegnern einen Schlag versetzen, doch Ihr habt mir nicht verraten, wie Ihr dies zuwege bringen wollt. Und da wundert Ihr Euch, dass ich Zweifel habe?« »Nein. Aber vielleicht denkt Ihr anders, wenn Ihr mehr erfahren habt.« »Ich glaube nicht, dass wir dazu lange genug in Verbindung bleiben werden, Karr.« Der Patrizier beäugte ihn nachdenklich. »Vielleicht doch. Ich habe ... Euch einen Vorschlag zu machen.« Er studierte Caldasons misstrauischen Gesichtsausdruck. »Falls Ihr mich anhören wollt.« Reeth überlegte, dann nickte er knapp. »Ich muss nach Valdarr zurück«, erklärte Karr. »Ich habe keinen Schutz, weder magischen noch menschlichen. Wenn Ihr nun ...« »Nein.« »Ihr sagtet doch, Ihr wolltet zuhören.« »Ich habe genug gehört. Ich bin kein Kindermädchen. Ich schließe mich niemandem an und trete in kein Bündnis ein. Wenn Ihr Schutz braucht, kann Kutch Euch einen Schutzzauber verkaufen.« Ob er es nun richtig verstand oder nicht, der Bursche fasste diese Bemerkung als Kritik an seinen Bemühungen während des Überfalls auf. Der Kommentar verletzte ihn, und das war ihm auch anzusehen. Doch die beiden Männer bemerkten es nicht. »Ich will Euch nicht auf irgendetwas verpflichten«, erklärte Karr. »Ich bitte Euch nur, mich wohlbehalten
hinzubringen. Danach geht jeder seiner Wege.« Caldason schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch sowieso nach Valdarr, Reeth«, unterbrach Kutch. 132 »Das habe ich nicht gesagt.« »Es klang aber ganz danach.« Caldason schwieg sich aus. Kutch, dem nach dem Tadel beinahe alles egal war, antwortete an Caldasons statt. »Reeth wollte den Bund suchen. Allerdings ist er wohl nicht sicher, ob er überhaupt existiert.« »Der Bund?«, meinte Karr. »Aber natürlich existiert er.« »Seht Ihr?«, meinte Kutch schadenfroh. »Ich hab's Euch doch gesagt.« »Was habt Ihr denn mit denen zu schaffen, Caldason?«, wollte Karr wissen. Der Qalochier runzelte die Stirn und machte ein finsteres Gesicht. »Das ist eine persönliche Angelegenheit.« »Aber natürlich. Das ist Euer gutes Recht. Falls es Euch jedoch um Magie gehen sollte und falls Ihr nicht mit den offiziell bestallten Zauberern arbeiten wollt oder könnt, dann gibt es nichts Besseres als den Bund. Ich muss allerdings einräumen, dass der Umgang mit ihm gewisse Gefahren mit sich bringt.« »Jeder Umgang mit der Magie hat seine Gefahren.« »Wohl wahr. Sie ist ein Teil des gesellschaftlichen Leims, der diese ungerechte Kultur zusammenhält. Unter der neuen Ordnung, die ich entstehen sehen möchte, wäre alles viel gerechter verteilt.« »Ich würde die Magie gleich ganz und gar abschaffen.« Karr erschrak sichtlich. »Wirklich? Und da nennt man mich einen Radikalen.« Er hätte noch mehr zu diesem Thema gesagt, doch Caldasons Gesichtsausdruck belehrte ihn eines Besseren. So beschränkte er 133 sich darauf, ein Angebot zu unterbreiten. »Ich kann Euch den Kontakt mit dem Bund ermöglichen. Dazu braucht man Beziehungen, wie ich sie habe. Ohne Hilfe habt Ihr kaum eine Chance, glaubt mir. Also, wie wäre es mit einem Handel? Ich führe Euch zum Bund, und Ihr begleitet mich nach Valdarr.« »Und ich komme mit!«, unterbrach Kutch. »Ich muss doch irgendwo hin. Hier kann ich nicht bleiben.« Karr ergriff die Gelegenheit. »Wenigstens um des Jungen willen, Caldason, wenn Euch schon alles andere einerlei ist.« Der Qalochier sah zwischen den beiden hin und her. »Ich werde von den Behörden gesucht«, erklärte er schließlich. »Das hat Folgen für jeden, der mit mir reist.« »Ich bin bereit, dieses Wagnis einzugehen.« »Sobald wir die Stadt erreichen, ist Kutch auf sich selbst gestellt. Ich brauchte eine Zusicherung, dass er nicht vor die Hunde geht.« »Ich kümmere mich darum, dass er gut untergebracht wird. Darauf gebe ich Euch mein Wort.« »Dann wollen wir eines klarstellen. Wenn ich Euch beide nach Valdarr gebracht habe, endet meine Verpflichtung, und wir trennen uns.« »Dann seid Ihr einverstanden?« Caldason seufzte. »Es sieht wohl so aus. Aber missversteht das nicht in der Weise, als unterstützte ich Euer Anliegen oder Eure Pläne oder was immer Ihr ausbrütet. Ich tue es für den Burschen hier.« Kutch strahlte. »Großartig.« »Freu dich nicht zu früh, wir sind noch nicht da.« »Danke, Caldason«, meinte Karr. 134 »Spart Euch den Dank. Vielleicht werdet Ihr es am Ende noch bereuen. Wie ich schon sagte ...« Er warf einen Blick zu Kutch. »Die Leute in meiner Nähe sterben schnell.« »Das gilt aber offenbar auch für Eure Feinde.« Kutch fiel etwas ein, das er die ganze Zeit verdrängt hatte. Er sprang auf. »Bei den Göttern, Reeth, ich hab's ganz vergessen! Euer Arm!« Auch Karr erinnerte sich jetzt. »Ja, Eure Verletzung. Wir sitzen hier herum und reden und ...« »Immer mit der Ruhe.« Caldason wehrte sie mit einer Geste ab. »Nun regt Euch meinetwegen nicht so auf.« Ohne besondere Eile rollte er den Ärmel seiner Weste hoch und dann den blutbefleckten Hemdsärmel darunter. Sein Arm war von verkrustetem Blut bedeckt. Er spuckte sich in die hohle Hand und wischte das Blut ab. Die Haut darunter war unverletzt. Es gab keine Wunde. »Ich sagte doch, dass es weiter nichts war.« Kutch starrte das heile Fleisch an. »Aber ...« »Manchmal sehen die Dinge in der Hitze des Kampfes ein wenig anders aus, als sie es sind«, erklärte Caldason ihm. »Ich hätte schwören können, dass Ihr einen Schwertstreich abbekommen habt«, wandte Karr verwirrt ein. »Vielleicht war es eine optische Täuschung. Es ist aber egal.« Er rollte den Ärmel wieder herunter. Seine Bewegungen hatten etwas Endgültiges, und das Thema war damit erledigt. Karr und der Zauberlehrling wechselten einen Blick. Keiner von ihnen hatte Lust, dem Mann zu widersprechen. »Dann macht Euch reisefertig«, sagte Caldason. »Wir brechen auf.«
135 Serrah Ardacris war alles egal. Es störte sie nicht, dass die gestohlenen Stiefel die falsche Größe hatten und ihre Füße schmerzten. Oder dass die Kleidung, die sie von Wäscheleinen gestohlen und von Müllhaufen stibitzt hatte, nicht zusammenpasste und schlecht saß. Sie interessierte sich nur am Rande dafür, dass sie seit zwei Tagen Abfall gegessen, Regenwasser getrunken und unruhig in Toreinfahrten geschlafen hatte. Serrah hatte sich natürlich nicht in die Nähe ihrer Behausung gewagt und auch mit niemandem, den sie kannte, Kontakt aufgenommen. Sie wusste, wie der Rat für Innere Sicherheit arbeitete, was im Bereich seiner Möglichkeiten lag und über welche Mittel er verfügte. Deshalb blieb sie in ständiger Bewegung. Sie war schmutzig und erschöpft, und die Wunden, die sie von den Schlägen davongetragen hatte, heilten schlecht. Mehr humpelnd als laufend irrte sie durch Merakasas wimmelnde Straßen. 137 Ihr Kopf schien wie mit Watte gefüllt, und irgendwo tanzten ferne Sterne. Sie fühlte sich benommen und körperlos, als beobachtete sie sich selbst aus großer Ferne. Dabei blieb sie vorsichtig und ging den Streifen und Paladinen aus dem Weg. Doch auf eine perverse Weise hoffte sie zugleich, man werde sie aufgreifen, damit endlich alles zu Ende sei. Ihr eigener Zustand war ihr zwar weitgehend einerlei, doch es gab zwei echte Ängste, die ständig an ihr nagten. Eine war, dass sie um eine Ecke kommen und Eithne vor sich stehen sehen könnte oder dass jemand sich für sie ausgab. Zweimal hatte sie es schon beinahe geglaubt, und ihr Magen hatte einen Übelkeit erregenden Satz gemacht, bevor sie den Irrtum erkannt hatte. Das Wissen, dass ihre Tochter im Grab lag, nützte ihr überhaupt nichts. Serrahs zweite Sorge betraf die Spürzauber. Der Gedanke an Bluthundgeister und schnüffelnde Gespenster riss sie hin und wieder aus der Benommenheit und jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie fragte sich, ob ihre früheren Herren sie so dringend erwischen wollten, um derart hohe Unkosten für gerechtfertigt zu halten. Während sie durch die Stadt streifte, kam und ging ihr Denkvermögen wie Ebbe und Flut. Bei Ebbe musste sie gegen den Drang ankämpfen, laut zu schreien oder den Kopf gegen eine Mauer zu schlagen, einfach um herauszufinden, ob es überhaupt irgendjemand bemerkte. Um sich zu bestätigen, dass sie existierte. In klaren Momenten grübelte sie über die Identität ihrer Retter und deren Beweggründe wie ein Hund, der einen abgenagten Knochen bearbeitet. 138 Sie wanderte aus einem wohlhabenden Bezirk heraus und gelangte in ein ärmeres Viertel. Nach Bürgern, die in feiner Kleidung umherstolzierten, sah sie nun Bettler mit ausgestreckten Händen. Nach den geschmückten Kutschen sah sie Schweine auf der Straße wühlen. Überraschend klein war die Distanz zwischen dem eindrucksvollen, hinreißenden Zauber des Reichtums und dem fragwürdigen, zwielichtigen Bann der Mittellosigkeit. Hier kauften sich die Armen preiswerten Zauber bei Straßenhändlern. Schäbige Ware, hereingeschmuggelt von ausländischen Manufakturen, in denen Kinder unter entsetzlichen Bedingungen und ohne fachkundige magische Aufsicht schuften mussten. Auch Fälscher hatten ihre Stände aufgebaut. Wenn die Menschen nicht wählerisch sein konnten, setzten sie eben auf Nachahmungen. Manchmal funktionierten die nachgemachten Zauber tatsächlich. Manchmal enttäuschten und verletzten sie die Menschen, und gelegentlich waren sie sogar tödlich. Es gab auch Schwarzhändler, die keine Lizenz besaßen. Die Strafen für ihr illegales Tun waren hoch. Zum Schutz beschäftigten sie Helfer, die Schmiere standen. Einige bezahlten auch Raufbolde, die für Ablenkung sorgen sollten, sobald sich die Gesetzeshüter blicken ließen. Die meisten schützten sich mit echten magischen Verteidigungen - Blendzauber, kreischende Todesfeen, Täuschungsbomben und so weiter. Serrah hätte ein Gespenst sein können, das in dem Gestank, der aus den Gossen stieg, durch die elende Menge schlich. Doch selbst hier, wo das Abnormale alltäglich war, wichen viele vor ihrer Wildheit zurück. 139 Sie bemerkte es nicht. Inzwischen hatte sich ein Gedanke herauskristallisiert, der schon eine ganze Weile durch den Nebel in ihrem Kopf getrieben war, und sie wusste, was sie brauchte. Eine Waffe. Seltsam, dass sie diesen Mangel nicht schon längst gespürt hatte. Zwei Tage waren vergangen, seit ihre Retter sie aufgefordert hatten, vor dem Klettergang an der Wand der Festung die Waffe abzugeben, und erst jetzt bemerkte sie, was ihr fehlte. Eine kleine, leise Stimme, die beinahe wie die Stimme der Vernunft klang, drängte sie, diesen Mangel zu beheben. Sie sah sich um, sah sich ernsthaft um, und betrachtete die Menschen ihrer Umgebung. Natürlich trug fast jeder mindestens eine Waffe. Serrah hatte keinen Zweifel, dass sie trotz ihrer Verletzungen jedem von ihnen nehmen konnte, was sie haben wollte. Dann sah sie ihn. Milizionäre patrouillierten immer zu zweit, und ganz besonders in einem Ghettobezirk. Der Uniformierte dort verließ gerade seinen Gefährten. Vielleicht wollte er sich nur zu einer Wache in der Nähe begeben oder irgendwelche Angelegenheiten besorgen, die mit seinem Dienst nichts zu tun hatten. Er war der Größere und eindeutig der Stärkere der beiden. Deshalb entschied sie sich für ihn. Es war die gleiche Art von
Widersprüchlichkeit, die Menschen, welche große Höhen fürchten, dazu veranlasst, sich an hohen Plätzen bis an die Kante vorzuwagen. In ihrer körperlichen Verfassung hätte Serrah einen Zivilisten auswählen sollen. Doch sie brannte darauf, gegen die Staatsmacht zu kämpfen. 140 Alte Instinkte übernahmen die Regie, ein Vermächtnis ihrer Erfahrung und ihrer Ausbildung. Sie bewegte sich wie ein Raubtier und schlich hinter ihm her. Wohin er auch ging, er hatte ein bestimmtes Ziel. Er lief schnell, drängte sich durch die Menge und zwang alle, die ihm in den Weg kamen, zur Seite zu treten. Er gab sich selbstherrlich wie der Hahn im Hühnerhof und zog Blicke auf sich, die von Ehrerbietung und Verachtung zugleich sprachen. Serrah folgte ihm in einiger Entfernung und achtete darauf, dass stets genug Leute zwischen ihm und ihr blieben, ohne jedoch seinen breiten Rücken aus den Augen zu verlieren. Der Milizionär bog in ruhigere Straßen ab. Serrah beschattete ihn, während er durch die gewundenen Straßen lief, die menschenleer, aber voller Abfall waren. Als er eine völlig verlassene Gasse betrat, beschleunigte sie ihre Schritte und schloss zu ihm auf. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen. »Halt!«, rief sie schließlich. Es war das erste laute Wort, das sie seit der Flucht gesprochen hatte. Der knirschende Klang ihrer Stimme überraschte sie selbst. Die Hand ans Schwert gelegt, drehte er sich um. Serrah starrte die Klinge an wie eine verhungernde Frau ein Stück Fleisch. »Nun?«, erwiderte er. Sie hob den Blick. »Ich will...« Ihre Stimme schwankte, versagte. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie sah ihn nur an. Auch er musterte sie. Die flackernden Augen mit den dunklen Ringen darunter, das aschgraue Gesicht, 141 das schmierige, verfilzte Haar. Die Prellungen und die Schürfwunden und der Dreck, und darunter das, was sie gewesen war oder noch sein konnte, eine recht hübsche Frau. Er entspannte sich, da er sie für ungefährlich hielt. »Was willst du?«, fragte er sie. Serrah konzentrierte sich auf ihren Plan. »Ihr habt etwas, das ich haben will«, erklärte sie und kam näher. Er rümpfte die Nase, als er ihren ungewaschenen Körper roch, und wedelte sich mit der Hand frische Luft zu. »Und du hast etwas, das ich nicht haben will.« Dann glaubte er sie zu verstehen. Ein anzügliches Grinsen spaltete den Vollbart und entblößte Zähne, die die Farbe von Lehm hatten. »Oh«, grunzte er wissend. »Du stehst auf Uniformen, was? Oder lockt dich meine Börse?« Er klopfte auf eine Schwellung in der Seite seiner Tunika. »Haltet Ihr mich für eine Hure?«, flüsterte sie. Echter Zorn stieg in ihr auf. »Dich würde ich um keinen Preis nehmen!« Sein Gelächter war grob und hässlich. Er wühlte in einer Tasche herum. »Hier. Und jetzt mach, dass du weiterkommst, Schlampe, und du kannst von Glück reden, dass dir nichts weiter geschieht.« Er warf ihr ein paar kleine Münzen zu. Sie blieben vor Serrahs Füßen unbeachtet im Dreck liegen. Sie starrte ihn an, und ihr Gesicht färbte sich vor Wut dunkelrot. »Eine Hure?«, wiederholte sie fast unhörbar. »Und eine ziemlich miese dazu. Warum verschwindest du nicht einfach und ...« Irgendetwas in ihrem 142 Auftreten hatte sein Misstrauen erregt. Er sah sie aus der Nähe an. »Kenne ich dich nicht?« Es war durchaus möglich. Vielleicht waren sie sich einmal in Uniform begegnet, in jener Zeit, die sie jetzt als ihr früheres Leben betrachtete. Doch sie wusste, dass er etwas anderes meinte, und schenkte sich die Antwort. Stirnrunzelnd langte er in die Tunika, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er zog einen flachen, quadratischen Gegenstand heraus, der bequem in seine Hand passte. Das Ding ähnelte einem einfachen Handspiegel. Sie erkannte es sofort und ballte die Hände zu Fäusten. Der Zauber wurde durch Licht aktiviert. Serrah wusste, dass die spiegelnde Seite einen Moment lang leer werden und sich dann milchig trüben würde. Danach wurden die Informationen angezeigt, die zur Verfügung standen. Sie konnte sich ausmalen, was herauskommen würde. Der Milizionär sah auf die Scheibe, und sein Gesichtsausdruck bestätigte Serrahs Vermutung. Sein Gesicht wurde hart. Er starrte sie kalt an und wollte etwas sagen. Sie versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine. In rascher Folge wechselten sich Überraschung, Schreck und Schmerz in seinem Gesicht ab. Er stieß einen gequälten Schrei aus und krümmte sich. Der Zauber glitt aus seiner Hand. Der erste Tritt setzte Serrahs Wut frei. Ihre chaotischen Gedanken, ihre verwirrten Gefühle, die auf ihr lastende Angst, alles brach heraus und fand ein Ziel. Sie fiel über ihn her. 143 Wie eine Verrückte schlug sie nach seinem Kiefer und traf hart genug, dass ihre Fäuste schmerzten. Sie versetzte ihm Schläge auf die Brust und in den Magen, sie trat hart nach seinen Schienbeinen und Fußgelenken. Es hatte nicht viel mit dem zu tun, was man sie gelehrt und was sie im Kampf gelernt hatte. Es war ein Überfall; es brach aus ihr heraus, und es war völlig unbeherrscht.
Zuerst tat ihr betäubtes Opfer nicht viel mehr, als die Schläge hinzunehmen. Dann überwand der Milizionär seine Benommenheit, und ein Kampf entbrannte, der zum größten Teil darin bestand, dass er versuchte, sein Schwert zu ziehen. Er schirmte sich mit erhobenem Arm ab und bekam die Klinge halb aus der Scheide. Sie packte sein Handgelenk mit einer Kraft, die ihr geschwächtes Äußeres Lügen strafte. Nach kurzem Handgemenge entstand ein Patt. Serrah durchbrach den Stillstand und stieß mit dem Kopf fest nach seiner Stirn. Der Aufprall sandte auch durch ihre Stirn einen stechenden Schmerz, doch sie war nicht so schwer getroffen wie er. Er schrie auf, taumelte zurück und ließ das Schwert los. Sie packte die Waffe, als sie aus der Scheide fuhr, benutzte den schweren Handschutz wie einen Schlagring und traf damit mehrmals seinen Kopf. Er ging bewusstlos zu Boden. Sie atmete schwer und zitterte. Als sie sich über den Bewusstlosen beugte, rieten ihre Instinkte ihr, ihn zu töten. Sie setzte die Klinge an seine Kehle, dann zögerte sie. Die kleine innere Stimme war wieder zu hören. Was sie auch sein mochte, Serrah war keine Mörderin. Jedenfalls nicht kaltblütig. So weit 144 war sie noch nicht heruntergekommen. Sie ließ das Schwert sinken. Der stöhnende Milizionär hatte auch einen Dolch dabei, den sie ebenfalls an sich nahm. Sie stahl ihm die Degenscheide und den Gürtel und schlang sich beides um die Hüfte. Sie musste den Gurt viel enger stellen, um den geringeren Hüftumfang auszugleichen. Nachdem sie für den Bruchteil einer Sekunde gezögert hatte, schnitt sie auch die Riemen seiner Börse durch. Als sie sich den Geldbeutel in die Tasche schob, musste sie daran denken, wie weit ihre ethischen Maßstäbe in so kurzer Zeit gesunken waren. Irgendwie kam ihr dies auch komisch vor, und sie hätte beinahe gelacht. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie je wieder hätte aufhören können. So holte sie nur tief Luft und atmete langsam durch, um sich zu beruhigen. Der Lachanfall ging vorbei. Als sie sich entfernte, trat sie auf etwas. Es war der Zauber, den er fallen gelassen hatte. Das Ding lag mit der Vorderseite nach unten im Straßendreck. Sie kniete nieder und hob es auf, und als sie es umdrehte, sah sie, was sie erwartet hatte. Das kristallklare dreidimensionale Bild schwebte ein Stückchen über der Oberfläche. Serrahs Kopf und Schultern waren zu sehen, ihr Gesicht war von links im Profil abgebildet. Das Abbild wurde langsam in eine Frontalansicht ihres Gesichts überblendet. Dann kam ihr rechtes Profil und danach wieder das linke. Es war mehr als nur ähnlich. Es war eine Miniaturversion ihrer selbst, die sich langsam drehte, um sie von allen Seiten möglichst gut darzustellen. 145 Unter dem Abbild stand in roten Buchstaben: FLÜCHTIG und darunter die Lügen: MORD und LANDESVERRAT. Sie erinnerte sich, wann die Aufnahmen entstanden waren. Es war bei ihrem Dienstantritt beim Rat für Innere Sicherheit gewesen. Die neuen Rekruten mussten sich den beamteten Magiern vorstellen, die einen Zauber sprachen und das Bild für die Unterlagen der Streitkräfte festhielten. Dieser Vorgang lief für gewöhnlich schnell und geschäftsmäßig ab, und die Beamten gaben sich humorlos und sachlich. Die Rekruten störte es nicht, denn sie waren berauscht vom Glücksgefühl, in die Eliteeinheit aufgenommen worden zu sein. Sie staunte, als ihr bewusst wurde, dass dies erst wenige Jahre zurücklag. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Serrah starrte wie gebannt auf ihr Abbild. Es war, als betrachtete sie eine Fremde. Eine robuste, lebhafte junge Frau, die eine großartige Zukunft vor sich hatte. Eine, die dazugehörte und die von den vielfältigen Möglichkeiten im riesigen Reich profitieren konnte. Eine Frau, die noch nichts vom aufziehenden Sturm wusste. Mord. Verrat. Mit einiger Verspätung wurde ihr bewusst, was der Fahndungszauber wirklich zu bedeuten hatte. Wie groß war denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie soeben auf den einen Milizionär gestoßen war, der zufällig ihr Bild bei sich hatte? Nein, dieser Zauber war offensichtlich an alle Ordnungshüter ausgegeben worden, und das bedeutete, dass hunderte oder sogar tausende davon in Umlauf waren und sie als gesuchte Person beschrieben. Die Behörden taten dies keines146 falls bei jedem gesuchten Verbrecher. Es war viel zu teuer. Landesverrat. Sie nahm das Ding und schlug es gegen die Pflastersteine. Kleine hellblaue Funken stoben auf, das Bild flackerte, wurde trüb und erlosch. Serrah schlug das Ding weiter auf den Boden, bis es Risse bekam. Plötzlich zerfiel der Zauber zu sandartigem, rotem Staub. Ein schwaches Leuchten schimmerte ein paar Sekunden lang über den Körnchen, dann erstarb es. Es war eine sinnlose Geste der Zerstörung, doch Serrah fühlte sich danach ein wenig besser. Sie richtete sich auf und rieb sich abwesend die staubige Hand an der Hose ab. Sie hinterließ kirschrote Streifen auf dem billigen Stoff. Die Kämpfernatur erwachte wieder in ihr, die Sinne schärften sich. Sie musste verschwinden. Auf einmal erklang ein entsetzliches Geräusch, ein rhythmisches Heulen, laut und schrill. Hinter ihr in der Gasse wurde es hell. Serrah fuhr herum. »Verdammt!«, fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hatte den Alarmzauber des Milizionärs vergessen, hatte nicht nach seinem Medaillon geschaut! Jetzt hatte er es eingeschaltet, oder, falls der Zauber
kostspielig genug war, hatte es sich sogar von selbst eingeschaltet. Der Mann lag noch flach auf dem Rücken, Blut tröpfelte aus seiner Nase und dem Mundwinkel, doch er begann sich langsam zu regen. Kein Wunder, das ohrenbetäubende Heulen des Alarms hatte ihn wohl geweckt. Von einem Punkt auf seiner Brust stach ein stark gebündelter Lichtstrahl in den Himmel. Sie blickte hoch und sah, dass sich der Strahl weit oben 147 zu einer Scheibe erweiterte. Darin nahm ein Wolfskopf Gestalt an, das allseits bekannte Zeichen für einen Notfall. Bald würde man es in der halben Stadt sehen können, und dann würde es in diesem Viertel vor Milizionären, Paladinen, Regierungsagenten, Wachtrupps von Bürgern und weiß Gott was noch allem nur so wimmeln. Serrah floh und bewegte sich schneller, als es ihre schmerzenden Glieder eigentlich erlauben wollten. Von der Gasse zur Nebenstraße, aus der Nebenstraße zurück auf die belebten Hauptstraßen. In ihrer Eile machte sie keinen Unterschied zwischen Realität und Illusion. Ob Fleisch und Blut oder bloße Erscheinung, sie drängte sich rücksichtslos durch die Menge, und es war ihr egal, dass es sich nicht gehörte, die Zauber anderer Menschen zu beschädigen. Die empörten Besitzer riefen ihr Flüche hinterher und schüttelten die Fäuste, aber niemand verfolgte sie. Sie sah zu gefährlich aus. Nach einer Weile lief sie langsamer und kam allmählich wieder zu Atem. Außerdem bewegte sie sich nun unauffälliger, benutzte wieder Nebenstraßen und ging im Zickzack. Doch sie war von größerer Entschlossenheit erfüllt als irgendwann sonst in den vergangenen zwei Tagen. Eine Art Plan hatte in ihrem Kopf Gestalt angenommen. Nachdem der Fluss sich durch die Eingeweide der Stadt geschlängelt hatte, öffnete er den Mund und nahm einen Bissen aus dem Meer. Die so entstandene Wasserfläche war Merakasas Hafen. Serrah brauchte etwas mehr als zwei Stunden, um in diese Gegend zu gelangen. 148 Ein Gewirr von Masten, das die Dächer überragte, verriet ihr, dass der Hafen nicht mehr weit entfernt war. Einige Masten bewegten sich und glitten gemächlich mit flatternden Wimpeln vorbei. Noch höher kreisten Möwen kreischend in Schwärmen und stießen hier und dort herab. Es dämmerte schon, doch die Straßen waren noch voller Matrosen und Händler. Schauerleute schleppten Säcke und Fässer, Passagiere kamen und gingen, Handkarren, Pferde und Wagen zogen vorbei. Auf den Decks beluden und entluden Hafenarbeiter alle Arten von Fracht. Vieh, das in Schlingen an Ladebäumen hing, blökte vor Angst. Geflügel schlug mit den Schwingen gegen die Stäbe winziger Käfige, die zu zwanzig aufeinander gestapelt waren. Fischer weideten den Fang aus. In der Luft hing ein Gestank, bei dem Serrah sich am liebsten sofort übergeben hätte. Sie achtete darauf, den Zollbeamten, den Hafenwächtern und den gelegentlich in der Menge auftauchenden Paladinen aus dem Weg zu gehen. Mit hochgestelltem Kragen und gesenktem Kopf marschierte sie zielstrebig an der Reihe der Schiffe entlang und wog bei jedem von ihnen das Für und Wider ab. So gut wie alle Liegeplätze waren belegt, und nicht alle Schiffe waren Handelskreuzer oder gehörten der Marine. Auch private Jachten und Klipper hatten festgemacht. Ihre Segel trugen die Wappen der herrschenden Familien oder mächtiger Gilden. Um den Reichtum der Besitzer zur Schau zu stellen, waren einige Abzeichen sogar mit Zaubern versehen. Die Abbildungen wellten sich, glänzten und wechselten langsam die Farbe. Allenthalben tanz149 ten und wanden sich Löwen, Einhörner, Adler und Schlangen. Auf ähnliche Weise waren auch viele Galionsfiguren der Schiffe animiert. Eine davon, eine altmodische hübsche Jungfrau, wackelte mit üppigen Brüsten, auf denen unglaublich große rote Brustwarzen saßen. Als Serrah vorbeikam, zwinkerte ihr die Figur einladend zu. Serrah glaubte das Schiff als Frachter von der Diamantinsel zu erkennen. Auf jeden Fall war sein Schmuck recht vulgär. Endlich erreichte sie einen Dreimaster, ein Handelsschiff von stattlicher Größe. Je größer, je besser, denn dies bedeutete, dass das Schiff zu einem weit entfernten Ort fuhr und groß genug war, dass sie sich an Bord verstecken konnte. Und es war fast bereit zum Auslaufen. Die letzten Teile Ladegut standen auf dem Kai und warteten darauf, verstaut zu werden. Im Bug waren einige Matrosen, die ihr den Rücken zuwandten, in ein Gespräch vertieft. Serrah ergriff die Gelegenheit. Sie schnappte sich eine Kiste, hob sie auf die Schulter und verbarg so ihr Gesicht vor den schwatzenden Matrosen. Vorgebeugt stieg sie rasch das Fallreep hinauf. Sie rechnete schon mit einem herausfordernden Ruf oder mit Schritten, die sie verfolgten, doch nichts geschah. An Bord setzte sie die Kiste ab und sah sich um. Vor ihr war der Laderaum. Die Luke war bereits geschlossen und verriegelt. Sie ging nach achtern, hielt sich versteckt und blieb der Reling fern. Mittschiffs fand sie einen weiteren Laderaum, dessen Luke noch offen stand. Sie kroch bis zum Rand und starrte in den Abgrund. Eine große, dunkle Höhle tat sich auf; unter sich konnte sie gerade eben einen kleinen Berg 150 gefüllter Säcke liegen sehen. Bewegungen sah oder hörte sie dort unten keine. Es gab auch kein Seil und keinen Flaschenzug, an dem sie hätte nach unten klettern können.
Also sprang sie. Der tiefe Sturz nahm ihr den Atem, und sie hätte beinahe vor Schmerzen aufgeschrien. Wenigstens waren die Säcke weder mit Kohle noch mit Roheisen gefüllt. Sie rutschte von dem Stapel herunter und erreichte, abermals vor Schmerz zusammenzuckend, den Boden. Ihre Gelenke taten immer noch weh. Blinzelnd stand sie im Halbdunkel und versuchte sich zu orientieren. Das einzige Licht, abgesehen von der Ladeluke, war in Richtung Heck zu erkennen: Ein Loch mit den Umrissen einer Tür zeichnete sich dort undeutlich ab. Den neu erworbenen Dolch gezückt, hielt sie darauf zu. Die Dunkelheit und das aufgestapelte Frachtgut behinderten sie. Doch schließlich erreichte sie mit angestoßenen Schienbeinen und Ellenbogen den Eingang. Er führte zu einem weiteren Frachtraum, kleiner zwar, aber vermutlich immer noch groß genug, um einen Unterschlupf darin zu bauen. Auch hier fiel ein wenig Licht durch die halb geöffnete Luke herein, die derjenigen ähnelte, durch welche sie eingedrungen war. Am anderen Ende dieses Frachtraums gab es drei Holztüren. Sie wich dem schwachen Lichtbalken aus und ging darauf zu. Es brauchte eine gewisse Anstrengung, die erste Tür zu öffnen, doch dieser und auch die anderen beiden Räume enthielten nichts als Gerumpel. Sie überlegte kurz. Dann versteckte sie sich widerwillig, weil ihr die Vorstellung nicht gefiel, dass es nur einen Aus151 gang gab und dass sie eingesperrt sein würde, im rechten Raum. Sie ließ die Tür einen Spalt offen stehen, damit sie etwas Licht hatte. Der Raum hatte die Größe einer Kabine, war aber hauptsächlich mit Kisten und Ballen voll gestopft. Sie räumte das Frachtgut um und hielt hin und wieder inne, um zu lauschen, ob jemand käme. Nach einer Weile hatte sie hinten im Raum einen Fleck frei geräumt, der gerade groß genug war für sie, und eine Kiste stand bereit, um den Eingang zu verschließen, wenn sie in ihrer Höhle war. Sie glaubte, das Versteck könne einer flüchtigen Inspektion standhalten. Eine gründliche Suche war hingegen eine andere Sache. Sie erschrak, als sie ein lautes Krachen hörte. Das schwache Licht erlosch. Oben wurde die Luke verriegelt. Sie konnte hören, wie im ganzen Schiff die Luken mit lautem Hallen geschlossen wurden. Serrah tastete sich durch die Dunkelheit und kroch in ihr Versteck. Sie zog die Kiste hinter sich in die Lücke, ließ aber einen kleinen Spalt als Guckloch offen. Nicht, dass sie überhaupt etwas sehen konnte. So gut es ging, richtete sie sich auf den groben Rupfensäcken ein und vergewisserte sich, dass Schwert und Messer in Reichweite lagen. Die Dunkelheit schien ihr Gehör zu schärfen. Sie hörte den Rumpf krachen und Ratten huschen. In der Ferne vernahm sie auch gerufene Befehle und rennende Männer. Als sie sich etwas entspannt hatte, dachte sie über ihre Lage nach. Ein Gedanke, der schon länger an ihr nagte, betraf ihre alten Dienstherren vom Rat für Innere Sicherheit. Eigentlich hätten die Häfen beobachtet werden 152 müssen. Serrah konnte kaum glauben, dass man eine so nahe liegende Vorsichtsmaßnahme einfach vergessen hatte. Dennoch war sie ohne Probleme durchgekommen. Sie hoffte, dass es reines Glück gewesen war und nicht irgendeine komplizierte List. Die letztere Annahme führte nämlich geradewegs in den Verfolgungswahn. Sie zwang sich, über andere Dinge nachzudenken - etwa, wohin die Reise ging und woher sie Essen und Trinken bekommen sollte. Sie spürte, wie das Schiff den Anker lichtete und dann beim Ablegen noch einmal gegen die Hafenmole prallte. Von den Tauen befreit, wiegte sich das Schiff leicht auf den Wellen. Kleine Stücke ungesicherter Ladung rutschen auf dem Boden des Laderaums hin und her. Nach einer Weile hörten die Bewegungen auf, und das Schiff nahm Fahrt auf. Ihrem Gefühl nach war etwa eine Stunde vergangen, als sie neue Geräusche hörte. Erschrocken richtete sie sich auf und tastete nach den Klingen. Durch das Guckloch sah sie gedämpftes Licht. Zwei Matrosen kamen, einer von ihnen trug eine abgeblendete Laterne. Suchte man schon nach ihr? Würde jemand bemerken, dass die Tür des Lagerraums offen stand? Falls die Antwort ja lautete, dann war sie zum Kampf entschlossen. Sie packte die Griffe der Klingen fester. Ihre Handflächen schwitzten. Das ungute Gefühl, sich in einem Raum mit nur einem Ausgang zu verstecken, fiel ihr wieder ein. Sie begann ihre Entscheidung zu bereuen. Doch die Matrosen suchten nicht nach ihr. Sie bemerkten auch die offene Tür nicht und gaben sich keine Mühe, besonders leise zu sein. Einer setzte sich 153 auf eine Kiste, der zweite rollte ein Fass heran und hockte sich vor seinen Gefährten. Sie zogen Maiskolbenpfeifen hervor und stopften sie mit Grobschnitt. Als Serrah klar wurde, dass die Männer frei hatten oder sich vor der Arbeit drückten, entspannte sie sich ein wenig. Die Matrosen ließen einen Flachmann hin und her gehen, während sie rauchten und plauderten. Serrah bemühte sich, die Unterhaltung zu belauschen, doch sie bekam nur einige Bruchstücke mit. »... den Göttern sei Dank, dass wir nach Osten und nicht nach Norden fahren«, sagte einer. Was sein Gefährte erwiderte, konnte sie nicht verstehen. »Nicht, wenn man meinem Bruder glauben kann«, fuhr der Erste fort. »... eine Art von ... fegt alles weg, was ihm
in die Quere kommt.« Wieder konnte sie die Antwort des zweiten Mannes nicht verstehen, doch der Tonfall klang skeptisch. »... viele in Barbarengebieten, gewiss«, bemerkte derjenige, den sie besser verstehen konnte. »Aber keiner davon ...« Es war frustrierend. Wahrscheinlich hatte er den Kopf herumgedreht. Serrah presste das Ohr an den Spalt. »... anders, denk an meine Worte.« Das ergab keinen Sinn. Dann hörte sie ein einzelnes Wort. »... Zerreiss ...« Sie hatte den Namen schon einmal gehört, sie erinnerte sich nur nicht mehr, wo und wann. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie nach Osten fuhren. Das war immerhin schon etwas. Vom Rest des Gesprächs hörte sie zu wenig, um sich einen Reim darauf zu machen, doch sie lauschte weiter. 154 Mehrmals fiel noch der Name, als das Gespräch fortgesetzt wurde. Zerreiss. Wo hatte sie den Namen nur gehört? Serrah haderte mit ihrem Erinnerungsvermögen, doch dann wurde sie von der Erschöpfung übermannt. Sie stürzte in den Abgrund des Schlafs, der so tief und still war wie ein Grab. 155 Der Morgen dämmerte. Die ersten Sonnenstrahlen stachen durch das grüne Dach des Waldes, und die Bäume standen wie Gespenster im sich auflösenden Nebel. Silberner Tau verdampfte in der Wärme, und die Vögel stimmten den Morgengesang an. Ein Tag wie jeder andere begann. Wo der Wald endete, erstreckte sich Weideland. Bauernhäuser standen in einem Flickenteppich von Wiesen, Hütten kauerten hübsch auf sanften Hügeln. Kühe warteten darauf, gemolken zu werden, die Wiesen waren mit leise blökenden Schafen besprenkelt. Abrupt hörte der Vogelgesang auf. Das Vieh verstummte. Selbst das Summen der Insekten brach ab. So plötzlich senkte sich das Schweigen herab und so drückend war es, dass die Menschen aus den Häusern traten. Frauen wischten sich stirnrunzelnd die Hände an den mit Mehl bestäubten Schürzen ab, Kinder klammerten sich an ihre Rockschöße. Männer beschirmten mit flacher Hand die Stirn und sahen sich um. Auf den Feldern richteten sich die Arbeiter auf, 157 das Sonnenlicht funkelte auf den gekrümmten Schneiden ihrer Sicheln. Alle wollten wissen, was die unnatürliche Stille hervorgerufen hatte. Sehr leise war ein Geräusch zu hören. Es schien aus der Tiefe des Waldes zu kommen, vielleicht von der Gegend jenseits des Waldes. Die Bauern und ihre Angehörigen wechselten erstaunte, unsichere Blicke. Als der Lärm näher kam, wurde klar, dass es nicht nur ein einziges Geräusch war, sondern ein Gemisch vieler verschiedener Geräusche. Und angesichts der Ferne, aus der es zu kommen schien, musste es sehr laut sein. Dann spürten sie ein schwaches, stärker werdendes Zittern unter den Füßen. Vogelschwärme stiegen aus den Baumwipfeln auf und flohen vor dem, was sich da näherte. Voller Angst sammelten die Frauen ihre Kinder ein und schoben sie nach drinnen. Die Männer bewaffneten sich mit Mistgabeln und Äxten. Alle starrten die Krümmung des Waldrandes an, denn jetzt waren sie sicher, dass die Quelle der Geräusche sich aus dieser Richtung näherte. Hinter den Bäumen waren sogar schon Bewegungen zu erkennen. Um die Ecke des Waldes kam ein bunter Tross von Reitern, Fuhrwerken, Kutschen und viel größeren Dingen, die von Staubwolken eingehüllt waren. Die verständigeren und weltgewandteren Dorfbewohner errieten, was vor sich ging, doch es war zu spät. Ein einzelner Reiter bildete die Vorhut. Er zügelte das Pferd, dem der Schaum vor dem Maul stand, und sah sich um. Die Menschen, die ihn beobachteten, waren viel zu erschrocken, um ihn auf sich aufmerk158 sam zu machen. Es hätte ohnehin nichts geändert. Der Kundschafter, denn genau das musste er sein, nahm keinerlei Notiz von ihnen. Nachdem er einen Moment verharrt und den weiteren Kurs festgelegt hatte, trieb er sein Pferd wieder an und ritt quer über die Felder davon. Das verstörte Vieh floh vor ihm. Jetzt begannen die Zuschauer zu rufen und hektisch die Arme zu schwenken, doch ihre Schreie verloren sich im Getöse. Mehrere Dutzend Kavalleristen mit glänzenden Brustharnischen und aufgerichteten Standarten ritten herbei, eine seltene Prachtentfaltung für diese ländliche Provinz. Sie folgten dem Fährtenleser, und nach ihnen kam eine mindestens hundert Köpfe starke Truppe von Paladinen in strenger Formation. Und dann brach das Chaos mit voller Macht über das Dorf herein. Ein unordentlicher Haufen Reiter preschte vorbei; viele trugen Uniformen unterschiedlichster Machart, und ihre Zahl war unmöglich zu schätzen. Imperiale Gardisten ritten neben Wachleuten und Milizionären. Gerichtsdiener ritten neben gewöhnlichen Heeresabteilungen. Es gab Händler, Handelsvertreter, Landstreicher und Glücksritter im Überfluss; dazu wandernde Musikanten, Gildenbeamte, reiterlose Pferde, Wagenladungen voller freizügiger Dirnen. Flaggen, Lanzen und Banner wurden über dem Gedränge geschwenkt. Im Zug bewegten sich die Kutschen von Kaufleuten, Einspänner, Equipagen und die Fuhrwerke von Zauberern; auch gab es fahrbare Käfige mit exotischen, brüllenden Tieren, die von Ochsengespannen gezogen wurden. Der Lärm war unbeschreiblich.
159 Die Erde bebte, und tausend Gerüche von bratendem Fleisch bis zu Stallmist stiegen in die Luft. Felder wurden niedergelegt und niedergetrampelt und die Feldfrüchte zu Matsch zerdrückt. Vieh ging durch, Zäune wurden zerfetzt, Heuhaufen in alle Winde verstreut. Doch der Zorn der Bauern wich Ehrfurcht und Angst, als sie sahen, was als Nächstes auftauchte. Es waren Dutzende wundervoller schwebender Herrensitze und Schlösschen, die wie große Schiffe durch das Meer der Menschen pflügten. Prächtige Bauwerke aus Marmor, Granit, Holz und Buntglas mit wundervoll dekorierten Fassaden und verwinkelten Türmchen. Doch trotz ihrer Größe und Pracht wurden sie überstrahlt von dem Gebäude, das sie umringten. Wie eine fette Schnecke auf einer Ameisenstraße gemahnte es inmitten der anderen gar an ein Gebirge. Der riesige schwebende Palast, eine außerordentliche, wundervolle Anlage aus rosafarbenem, weißem, blauem und schwarzem Stein, besaß Wehrgänge mit Mauerzinnen, filigranes Streb werk, Burgfriede und Balkone. Die zahlreichen Türme, in die Schießscharten geschnitten waren, reckten sich so hoch, dass die Bauersleute sich die Hälse verrenken mussten, um die Spitzen zu sehen. Phantastische Zauber flogen kreuz und quer über dem gewaltigen Palast und nahmen die Gestalt von geflügelten Menschen und Pferden an. Es gab Drachen, Schlangen und Marienkäfer in der Größe von Schafböcken. Schulen von riesigen, lebhaft gefärbten Fischen schwammen und schwebten rings um die Türme. Andere Zauber zeigten das königliche Wap160 pen und die Embleme des Herrscherhauses. Auf schimmerndem Untergrund aus Gold wurden die Bilder mit Feuer gezeichnet. Die weniger prächtigen Paläste walzten über einsame Bäume und Gehölze hinweg. Sie zerdrückten Hecken und demolierten Scheunen. Bauern rannten um ihr nacktes Leben, als ein fliegendes Schloss eine Ecke eines Bauernhauses abriss und das ganze Haus einstürzen ließ. Die Burg hatte einen prahlerischen Wachturm, dessen Glocke beim Zusammenprall geschlagen wurde. Die Überlebenden unter den Bauersleuten konnten nur niederkauern und tatenlos das Zerstörungswerk beobachten. Die Bewohner der schwebenden Gebäude blickten auf all dies mit kaum verhohlener Langeweile herab. Als wäre es für sie etwas Alltägliches, die Heime der Menschen zu zerstören. Und genau so war es natürlich auch. Am Fenster einer hoch oben in Melyobars fliegendem Palast gelegenen Kammer stand ein ganz bestimmter Beobachter, der mit unbewegtem Gesicht nach draußen sah. »Wie lange will er uns noch warten lassen?«, ließ sich eine ungeduldige Stimme hinter ihm vernehmen. Andar Talgorian, der Imperiale Gesandte von Gath Tampoor, knallte die Fensterflügel zu und wandte sich zu dem Fragenden um. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran, der die Führerschaft über die Paladine durch Erbschaft errungen hatte, war bereits über die mittleren Jahre hinaus, und sein sauber geschnittenes Haar und der Bart trugen einen silbernen Schimmer. Doch seine Statur war 161 immer noch beeindruckend, das Vermächtnis eines Soldatenlebens, und die Augen blickten scharf und klug, nachdem er beinahe ebenso lang Erfahrung im Ränkeschmieden gesammelt hatte. Er trug die Clanuniform - rote Tunika, schwarze Hose, kniehohe lederne Reitstiefel -, als wäre sie ihm auf den Leib gegossen worden. Eng und elegant, ohne eine Falte. Die Stiefel glänzten fast so hell wie die Ehrenzeichen und die Litzen. »Es stört mich eben, zu dieser Stunde hierher kommen zu müssen«, beklagte sich Talgorian. »Das ist nichts Ungewöhnliches für einen Soldaten«, schnaubte Bastorran. »Eine Schande, dass Euch die Disziplin fehlt, die den echten Soldaten auszeichnet.« Ein kleiner Seitenhieb, eine kleine Gehässigkeit in einem endlosen Geplänkel zwischen zwei Männern, deren Macht ebenbürtig war, die jedoch ganz unterschiedliche Ziele verfolgten, wenn sie um die Aufmerksamkeit des Prinzen buhlten. Talgorian schluckte den Köder nicht und schwieg. Knapp unter der geschmückten Decke des verschwenderischen Vorzimmers hing ein Lauschzauber. Er hatte die Gestalt eines großen Ohrs aus Messing angenommen. Es gab keinerlei Zweifel über seinen Zweck, und es war auch keinerlei Heimlichkeit beabsichtigt. Unter dem Hemd trug Talgorian ein Medaillon, das einen Sperrzauber enthielt, der den Lauschzauber ausschalten konnte. Er war sicher, dass Bastorran etwas Ähnliches besaß. Besucher durften eigentlich keine magischen Vorrichtungen mit in den Palast bringen, doch es war nicht zu befürchten, dass Männer ihres Ranges kontrolliert wurden. 162 »Ich finde die Zeitverschwendung einfach unerträglich«, fügte Bastorran hinzu. »Es gibt wichtige Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.« »Etwa die verstärkten Aktivitäten des Widerstandes?« Das hatte gesessen. Der Paladin starrte ihn finster an. »Wir nennen ihn eigentlich nicht so. Das klingt, als wären die Leute bloß über irgendetwas bekümmert. Ich nenne sie lieber Abweichler, Unruhestifter, Taugenichtse ...« »Wie Ihr sie auch nennt, sie sind aktiver als früher. In beiden Reichen und ebenso in den Kolonien. Nicht zuletzt auch hier in Bhealfa.«
»Die Clans haben alles im Griff. Wir haben Informanten in die Reihen der Aufständischen eingeschleust, und es geschieht kaum etwas, von dem wir nichts wissen.« »Alle Parteien haben wohl ihre Spione.« »Aber keine sind so hoch positioniert wie meine.« Talgorian hielt das für übertrieben, denn hätte es der Wahrheit entsprochen, dann wäre das Problem längst von den Paladinen erledigt worden. Er zog es vor, wieder aufs Thema zurückzukommen. »Nun, unsere Quellen sagen uns jedenfalls, dass die Rebellen mehr Angriffe und kriminelle Akte begehen als je zuvor. Das muss uns alle mit Sorge erfüllen.« »Es wäre keine große Sorge mehr, wenn man uns allein die Bekämpfung überließe.« »Ihr wisst genau, dass dies politisch nicht durchsetzbar ist.« »>Nicht durchsetzbar