Klaus Plake
Schule als Konstrukt der Öffentlichkeit Bilder – Strategien – Wirklichkeiten
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Klaus Plake
Schule als Konstrukt der Öffentlichkeit Bilder – Strategien – Wirklichkeiten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17263-7
Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................................ 7 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie ............................................ 19 Das Zielmodell der Organisation ................................................................ 19 Die Human-Relations-Bewegung ............................................................... 21 Klassischer und moderner Strukturfunktionalismus ................................... 22 Die Systemtheorie N. Luhmanns ................................................................ 25 Corporate Culture und Corporate Identity .................................................. 26 Neo-Institutionalismus ................................................................................ 27 Konstruktivismus ........................................................................................ 35
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Die Schule und das Konstrukt der Rationalität ..................................... 39 Schule und Organisationstheorie ................................................................ 39 Schule, Konstrukt und Öffentlichkeit ......................................................... 40 Schule als Rationalitätskonstrukt ................................................................ 45 Rationalität und Veränderung ..................................................................... 50 Schule, Dienstleistung, Rationalität ............................................................ 52 Reifikationen............................................................................................... 56 Das Konstrukt der steuerbaren Irrationalität ............................................... 60
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
Verborgene Wirklichkeiten...................................................................... 67 Wirklichkeit und Welt................................................................................. 67 Über den Sinn des Verbergens .................................................................... 70 Ungewollte Sozialisationseffekte: das Coping-Verhalten........................... 72 Der verborgene Lehrplan ............................................................................ 79 Die Kustodialfunktion................................................................................. 82 Die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion .................................................... 94 Funktionsüberschneidungen ..................................................................... 104
4 4.1 4.2 4.3
Prekäre Wirklichkeiten .......................................................................... 109 Schulische Allokation und die Funktionalität der Berechtigung............... 109 Human-Capital-Theorie versus Screening-Theorie .................................. 112 Allgemeinbildung und beruflich relevante Kompetenzen......................... 119
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Inhaltsverzeichnis
4.4 Das Prüfungswesen in China .................................................................... 121 4.5 Belegbare Leistungen: Zur Relevanz von Zertifikaten ............................. 130 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Selffulfilling Prophecy ............................................................................ 145 Verteilung und Creaming .......................................................................... 145 Creaming und genetische Alltagstheorien ................................................ 148 Creaming und Identität ............................................................................. 151 Warming up und Cooling out ................................................................... 156 Schulen ohne remunerative Macht ............................................................ 161
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Konstruktbildungen im politischen Prozess ......................................... 169 Interesse und Konstrukt ............................................................................ 169 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem ......................... 173 Distanzbegründende Maßnahmen? .......................................................... 179 Informale Differenzierung ........................................................................ 181 Deregulierung und das Konstrukt der Qualität ......................................... 189
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
Konstruktbildungen und Medien .......................................................... 201 Aufmerksamkeit als knappes Gut ............................................................. 201 Schule und lokale Öffentlichkeit............................................................... 203 Schule und Nimbus ................................................................................... 209 Nimbus und Narration............................................................................... 215 Architektur und Aura ................................................................................ 219 Symbolischer Widerspruch: Graffiti ......................................................... 224
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
Zwischen Authentizität und Inszenierung ............................................ 229 Öffentlichkeit als Nebensinn von Handlungen ......................................... 229 Exkurs: Die Bedeutung von Symbolen in der Politikvermittlung ............. 231 Symbolische Pädagogik ........................................................................... 234 Feste .......................................................................................................... 244 Charity-Aktionen ...................................................................................... 247 Projekte ..................................................................................................... 253
9 Szientifische Konstrukte ......................................................................... 259 9.1 Pädagogik und Öffentlichkeit ................................................................... 259 9.2 Das biologische Paradigma ....................................................................... 265 10 Positionen und Positionierungen ........................................................... 273 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 279
Vorwort
Wohl in keinem anderen institutionellen Bereich als dem der Erziehung und Bildung steht der Aufwand an Planung, steht der Umfang der Erlasse, Programme, Vorschriften, Maßnahmen und Verfahren in einem so krassen Gegensatz zu dem, was man über die Resultate dieses an Regeln orientierten, interaktiven Handelns weiß. Schule ist ein System von Normen und gleichzeitig eine soziale Wirklichkeit. Das Organisationsgeschehen in der Schule verbindet sich mit Vorstellungen zum Sinn einzelner Akte, zu ihrer Bedeutung in einem komplexeren Zusammenwirken und ihren Folgen für die beteiligten Personen, besonders für die Schülerinnen und Schüler, sowie für die Gesellschaft und ihre Subsysteme. Schule gilt, wie andere Organisationen auch, als Mittel zur Erreichung von Zielen. Für die Schule ist jedoch der Spielraum teleologischer Deutungen besonders groß. Fast jeder Handlung kann eine pädagogische oder therapeutische Wirkung unterstellt werden. Anders als bei Organisationen, die materielle Güter erzeugen, geht es bei den Bildungsgütern um ‚Produkteދ, die nach allgemeinem Verständnis erst dann zum Einsatz kommen, wenn die entsprechenden Organisationsprozesse, das heißt die systematische, in Zyklen eingeteilte Betreuung, Förderung und möglicherweise auch Beeinflussung von Heranwachsenden, längst zu einem Abschluss gekommen sind. Der Verdacht, dass möglicherweise die mit der organisierten Bildung verfolgten Ziele nicht erreicht werden, ist so alt wie die Schule selbst. Aus der römischen Antike ist die pessimistische Äußerung Senecas erhalten geblieben, dass nur für die Schule, nicht für das Leben gelernt werde, ein Satz, der später zu der Forderung wurde, dass eben nicht für die Schule, sondern für das Leben gelernt werden s o l l e. In der Gesellschaft der Gegenwart gibt es noch viel mehr Gründe, um die Brauchbarkeit von Kenntnissen und Kompetenzen, die sich der Heranwachsende in der Schule aneignet, infrage zu stellen. Technische und ökonomische Entwicklungen verändern in kürzester Zeit die Arbeitsmärkte; Wissen und Fertigkeiten, für die es noch einen Bedarf gab, während sie erworben wurden, haben bereits ihren Wert verloren, wenn sie im Erwerbsleben angewandt werden sollen. Wenn neue Märkte entstehen, neue Produkte entwickelt werden, wenn etablierte Unternehmen und Branchen in eine Krise geraten, so hat dies Auswirkungen auf die Bedeutung von Fächern und Schulprofilen. Schulbildung
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Vorwort
und Schulausbildung sind grundsätzlich riskant; ihre Anerkennung und Verwertbarkeit hängen von vielen nicht zu kalkulierenden Faktoren ab. Wenn mit den Prognosen über die gesellschaftliche Zukunft auch die pädagogische Planung fragwürdig ist, ergibt sich für die beteiligten Institutionen ein Glaubwürdigkeitsproblem. Trotzdem würde niemand ernsthaft auf die Idee kommen, die Institutionen des Bildungssystems für obsolet zu halten. Die radikale Schulkritik (Reimer 1971; Illich 1972) zielte im Grunde genommen nur auf eine Verbesserung der Institutionen ab. Angesichts der Herausforderungen der Zukunft gelten Investitionen in die Bildung als wichtiger denn je. Beträchtliche Summen werden von staatlicher wie von privater Seite in Bildungsprojekte investiert, deren konzeptionelle Unterschiedlichkeit, ja Widersprüchlichkeit offenkundig ist. Uneinigkeit gibt es schon in Bezug auf die basalen Parameter der Bildung. Was in der Schule vermittelt werden soll, das heißt, welche Inhalte von Bedeutung sind und welche Methoden zielführend sein könnten, ist völlig umstritten. Gleiches gilt für den Selektionsmodus der Bildung, die Frage nämlich, ob Bildungsbemühungen breit gestreut sein sollten oder ob es vorteilhafter sei, Eliten zu fördern. Das von Luhmann und Schorr (1982) diagnostizierte „Technologiedefizit“ des Erziehungshandelns kann offenbar weder durch Fortschritte der Wissenschaft noch durch akkumulierte Erfahrung abgebaut werden. Luhmann (1987) fügt hinzu, dass das Erziehungssystem ein „strukturelles Defizit“ aufweise, das durch die Unmöglichkeit planvollen, erfolgskontrollierten erzieherischen Handelns zustande komme. Die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems beruhe somit auf einem nicht einlösbaren Anspruch, nämlich etwas zu können, „das man nicht können kann“ (a.a.O, 61). Ob, wie Luhmann vermutet, der „Erfolg“ pädagogischen Handelns darin besteht, dem Zögling Möglichkeiten zur Nonkonformität zu eröffnen, oder ob die Wahl zwischen Konformität und Nonkonformität rein autopoietisch erfolgt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Luhmann bestreitet nicht, dass es erfolgreiche Erziehung gibt; diese sei jedoch evolutionär „unwahrscheinlich“. Dabei übergeht er die naheliegende Frage, ob die Herausdifferenzierung des Erziehungssystems, ja sein relativer Erfolg gegenüber anderen Subsystemen der Gesellschaft, unter der Voraussetzung eines totalen Technologiemangels nicht ebenfalls „evolutionär unwahrscheinlich“ wäre. Zumindest ebenso wichtig wie das Technologiedefizit dürfte jedoch das teleologische Defizit des Erziehungssystems sein, das in der Schwierigkeit zum Ausdruck kommt, begründbare und konsensfähige Ziele des Erziehens zu finden. Die Forderung etwa, dass sich die Schule auf die Vermittlung von Lernfähigkeit zu konzentrieren und dass das Lernen selbst ein lebenslanger Prozess zu sein habe, bietet nur scheinbar Lösungen für die inhaltliche und methodische Unbestimmtheit institutionalisierter Pädagogik. Das Konzept des lebenslangen Ler-
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nens impliziert, dass es für den Einzelnen keinen universellen pädagogischen Plan geben kann, sondern nur kurz- oder mittelfristig sich ergebende Notwendigkeiten zur Aneignung von Kenntnissen oder Fähigkeiten (Ribolits 1995). Das heißt, dass jeder seine Erziehung und Bildung, seine Ausbildung und sein Training in eigener Regie leisten muss. Dazu ist eine allgemeine Bereitschaft erforderlich, sich zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens, nämlich dann, wenn ein entsprechender Bedarf gegeben ist, einem intensiveren Studium zu unterziehen, wobei offen bleibt, um welche Art von Lernarrangements es sich handelt. Mit dem Konzept des lebenslangen Lernens wird das Leben selbst zum Lehrmeister erklärt. Die Zweiteilung zwischen Schule und Leben im Sinn eines Vorher-Nachher-Verhältnisses scheint durchbrochen. Wenn die Schule nicht auf das (Erwachsenen-)Leben vorbereiten kann, weil sich dieses – entsprechend fehlender Zukunftsparameter – der Planbarkeit entzieht, muss Schule in das Erwachsenenleben integriert werden. Die Schwierigkeit, dass angesichts der Turbulenzen individueller und kollektiver Entwicklungen Bildungskonzepte entworfen werden müssen, die sich möglicherweise als wenig tragfähig erweisen, wäre durch kurzfristiges Ad-hoc-Lernen behoben. Bildung wäre revisionsfähig; der Lernende, der feststellt, dass früher angeeignete Lerninhalte unbrauchbar geworden sind, träte in eine neue Lernphase ein. Was gelernt werden muss und auf welchem Weg, ergäbe sich aus der biografischen und der aktuellen gesellschaftlichen Situation. Allerdings stellt sich das Problem, was unter diesen Umständen aus den Schulen des Primar- und des Sekundarbereichs werden sollte. Auch mit der Möglichkeit des Korrektivs und der Ergänzung durch lebenslanges Lernen muss die Zeit des Heranwachsens ausgefüllt werden. Dass dieser Lebensabschnitt Schulzeit sein soll, steht außer Frage. Die Forderung nach lebenslangem Lernen erhöht eher die Legitimationsprobleme des Bildungssystems, als dass es sie davon entlastet. Denn was für die primäre und sekundäre Bildung übrig bleibt, kann nicht ein abstraktes Training sein, das auf die Zukunft vorbereiten soll, ohne sich mit einer Vorstellung von der Zukunft zu verbinden. Wenn Lernen ohne Sinn nicht möglich ist, so bedarf es auch der Vermittlung von Lebensentwürfen und damit einer Konkretisierung dessen, was Schülerinnen und Schüler erwartet. Das Konzept des lebenslangen Lernens dagegen verweist darauf, dass das auf das (Erwachsenen-)Leben vorbereitende Lernen nur vorläufig sein kann. Ebenso ist das Postulat, dass das ‚Lernen des Lernens ދdas übergeordnete Unterrichtsziel sein solle, keine Antwort auf die Ziel- und Methodenproblematik des Bildungssystems. Es muss sogar, was die Klientel der Schule angeht, mit einem Verlust an Vertrauen gerechnet werden. Wenn es darum geht, sich Kenntnisse nur zu Übungszwecken anzueignen, ebenso wie Kompetenzen, die bald nicht mehr gefragt sind, Einsichten, die sich aufgrund veränderter Umstände als nicht
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anwendbar erweisen, so ist für den Lernenden der Eindruck naheliegend, dass man sich auf nichts, was in der Schule vermittelt wird, verlassen kann. Es gibt also nicht nur ein „Technologiedefizit der Schule“, sondern auch ein Defizit der Ziele. Die „Unentscheidbarkeit der Richtigkeit pädagogischen Handelns“ (Corsi 2000, 272) relativiert das schulische Lernen. Es ergibt sich ein Gegensatz zwischen dem kollektiven Reflexionsstand des pädagogischen Wissens, das heißt der prinzipiellen Fragwürdigkeit von Zielen und Methoden, und den praktischen Anforderungen, die an Erziehung und Bildung gestellt werden, nämlich dass es einsichtige, rational begründbare Konzepte gibt und Inkonsistenzen pädagogischen Handelns vermieden werden. Zukunftsprognosen geben keine Ziele und Maßstäbe her, nach denen sich Erziehung und Bildung, Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb ausrichten könnten. Wenn es aber nur schnelllebige ‚Moden ދder Erziehung und Bildung gäbe, würde deren Fragwürdigkeit noch im Verlauf der zu formenden und zu fördernden Persönlichkeitsentwicklung offenkundig. Die Schule muss also den Eindruck erwecken, dass ihre Erziehungs- und Bildungsziele, ihre Methoden und Maßstäbe ‚richtigދ sind und auch auf Dauer Geltung haben, um überhaupt die Voraussetzungen für pädagogische Prozesse zu schaffen. Dieses Dilemma wird durch gesellschaftliche Konstrukte gelöst. Konstrukte konterkarieren die Vagheit von gesellschaftlichen Zukunftsprognosen und von Erwartungen, die sich auf die Resultate pädagogischen Handelns beziehen; die ganze Komplexität der Kausalverhältnisse, die den Organisationsalltag der Schule bestimmen und die eine Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen unmöglich machen, ja auch die Kopplung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich jeder längerfristigen Prognose entziehen, werden zugunsten stringenter, jedoch konstruierter Zuordnungen aufgelöst, auch wenn diese in einem ungeklärten Verhältnis zur Wirklichkeit stehen. Das heißt, dass Pädagogik auf der Grundlage einsichtiger Konstrukte, mit denen die Evidenz der Ziele und die Planbarkeit der Abläufe in den Vordergrund gerückt wird, möglich erscheint. Die Vieldeutigkeit des pädagogischen Geschehens kommt einer derartigen Zurechnung entgegen. Pädagogische Institutionen haben ein hohes Maß an Freiheit bei der Auswahl von Handlungen und Verfahren, denen eine zielbezogene Bedeutung zugewiesen werden kann; auch für das Organisationsgeschehen insgesamt gilt, dass es – wie übrigens auch in therapeutischen Einrichtungen – keine Schwierigkeiten macht, für unterschiedliche Bereiche und Funktionszusammenhänge einen Sinnzusammenhang herzustellen, der diese als direkt zielführend ausweist. Was in einer Schule eine pädagogische Bedeutung haben kann, also – tatsächlich oder vermeintlich – ‚erziehendދ, ‚bildend ދoder ‚kompetenzvermittelnd ދwirkt, was in einer psychotherapeutischen Einrichtung möglicherweise der Gesundung der Patienten dient, kann nicht auf der Grundlage
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von sachlichen und empirisch gesicherten Zuordnungen entschieden werden. Umso mehr aber bieten sich Alltagserfahrungen an, die mit pädagogischen Konstrukten nach Evidenzgesichtspunkten kontextualisiert werden können und diese mehr oder weniger schlüssig abstützen. Trotzdem gibt es empirische Widerständigkeiten, die, wenn sie nicht verdeckt oder durch erhöhten Deutungsaufwand gefügig gemacht werden, das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild infrage stellen. So können pädagogische (bzw. therapeutische) Verfahren Merkmale aufweisen, die auf materielle oder politische Interessen einzelner Gruppen schließen lassen. Derartige Beziehungen lösen, sofern sie evident werden, Skepsis bei den direkt Beteiligten und auch in der Öffentlichkeit aus. Darüber hinaus können, möglicherweise zusammen mit derart ‚fragwürdigenދ, interessengebundenen pädagogischen Konstrukten und Weltsichten, weitere Funktionen eines Geschehens deutlich werden, das primär und nach hegemonialer Deutung Unterricht, Erziehung und Bildung zu sein hat. Wenn sich derartige latente Funktionen, die nach offizieller Lesart Nebensächlichkeiten darstellen, als systemisch erweisen, verliert das pädagogische Konstrukt seine Glaubwürdigkeit. Die Organisationsleitung muss daher durch eine entsprechende Fokussierung von Aufmerksamkeit sowie durch Separation von Funktionsbereichen und durch Umdefinitionen derartige empirische Widerständigkeiten vor den Blicken der Beteiligten sowie der Öffentlichkeit schützen. Schule immunisiert sich gegenüber Zweifeln, die sich auf das Organisationsgeschehen und die zu erwartenden Wirkungen beziehen, durch die Produktion von Plausibilitäten. Pädagogische Konstrukte sind auf das gesellschaftlich Erwünschte ausgerichtet, das in Verbindung mit ‚passendenދ, jedoch unsystematisch ausgewählten Beständen des Erfahrungswissens erreichbar erscheint. Sie verbinden Vorstellungen über soziale Strukturentwicklungen mit Postulaten zur Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung; sie lassen bestimmte institutionelle Vorkehrungen und Unterrichtsmethoden als geeignet erscheinen, die kognitiven und emotionalen Eigenschaften von Schülerinnen und Schülern zu fördern und den Erfordernissen der Zukunft gerecht zu werden. Die Schule selbst leistet Überzeugungsarbeit. Mit der Alltagskommunikation der am Schulgeschehen Beteiligten werden Evidenzen geschaffen, die implizite oder explizite Behauptungen zur Kopplung von ‚Schule ދund ‚Leben( ދim Sinn des Erwachsenenlebens) zu bestätigen scheinen. An den Konstrukten von ‚Schule ދist jedoch auch die Öffentlichkeit beteiligt. Die Öffentlichkeit konstruiert selbst und ist für die Konstrukte, die vom Erziehungs- und Bildungssystem und von den Schulen hervorgebracht werden, der wichtigste Resonanzraum. Schulen sowie ihre Trägerorganisationen wirken auf die Öffentlichkeit ein. Umgekehrt gibt es Erwartungen und konzeptionelle Vorgaben, die von der Gesellschaft und vom kulturellen System ausgehen und
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die von der Schule nicht ignoriert werden können. Der öffentliche Diskurs, an dem Medienakteure, Politiker, Verbandsvertreter, Wissenschaftler und andere Akteure beteiligt sind, ist, wie Neidhardt (1994) feststellt, mit einer Validierungsfunktion verbunden. Das heißt, dass das, was in der Öffentlichkeit als gegeben angenommen wird, den Beobachtern von Öffentlichkeit als wahr gilt. Somit wird deutlich, dass sich Schulpädagogik und Schulpolitik nicht auf vage und abstrakte Leitlinien verlassen können. Die Notwendigkeit von Setzungen entsteht aus dem Vorhandensein des Bildungssystems. Das Bildungssystem produziert, wenn es zum Beispiel um Modelle der Zukunftsgesellschaft oder um logisch stringente, mit Alltagserfahrungen verwobene Zweck-Mittel-Systeme pädagogischer Einwirkung und Veränderung geht, mit Unterstützung der Öffentlichkeit Evidenzen, wobei es jedoch Unterschiede dahingehend gibt, wie weit Empirie zugelassen wird. Nichtsdestoweniger gewinnt gerade der Bildungsbegriff im Sinne einer umfassenden, über Wissen und Kompetenzen hinausgehenden Förderung der Persönlichkeitsentwicklung angesichts einer zunehmenden und schon nicht mehr neuen „Unübersichtlichkeit“ (Habermas 1985) an Bedeutung, und zwar als soziale Praxis. Die Notwendigkeit von Bildung erscheint plausibel, nicht obwohl, sondern weil gesellschaftliche Transformation zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt. Gerade angesichts der Beliebigkeit von Zukunftsszenarien ist die Rückbesinnung auf die Persönlichkeit naheliegend. In aktuellen Bildungsentwürfen ist die implizite Forderung enthalten, dass der Einzelne in der Lage sein soll, sich selbst als identisch zu erleben. Die populären Konzepte permanenten Lernens bei ungewissen Lerninhalten erzeugen Ängste, nämlich dass das biografische Selbst seine Konturen verlieren könnte, dass es also nicht gelingt, das Leben selbst zu steuern und ihm einen Sinn zu verleihen. Somit empfehlen sich Schulen als Mittel gegen Kontingenzerfahrung. Wenn Bildung als Produkt der ‚Dienstleistungsorganisation Schule ދauf Nachfrage stoßen soll, dann mit dem Versprechen, dass eine Art kognitiver Selbstformung gefördert wird, die es gestattet, nicht nur momentan, sondern auf lange Sicht und unter wechselnden Zeitumständen mit den Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen und identisch zu bleiben. Gerade die Beschleunigung des sozialen Wandels kann zum Argument für Bildung werden: Bildung soll ein Fixpunkt sein, von dem aus Orientierungen und Problemlösungen generiert werden. Das Neu- und Umlernen berührt – diesem Argument folgend – für den Gebildeten nur die Oberfläche der Persönlichkeit, während diese selbst sich so langsam und kontinuierlich verändert, dass die Gefahr der Identitätsdiffusion vermieden wird. Besonders hochselektive Schulen kommen ohne einen allgemeinen, auf die Persönlichkeitsentwicklung abzielenden Bildungsanspruch nicht aus, da ein gegenüber konkurrierenden Angeboten versprochener Zusatznutzen begründet
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werden muss, und zwar nach pädagogischen, nicht nach ökonomischen Kategorien. Die Selektivität mit ihren beruflich-wirtschaftlichen Vorteilen kann in der Außendarstellung nicht im Vordergrund stehen, da sie nur in Verbindung mit anderen Funktionen legitimierbar ist. Ebenso wenig steht eine Unterrichtstechnologie zur Verfügung, deren Überlegenheit gegen jeden Zweifel erhaben wäre. Es besteht keine Möglichkeit, für bestimmte ‚pädagogische Verfahren ދauf dem Bildungsmarkt Knappheit herzustellen und sich selbst zum Monopolisten zu machen. Erziehung und Bildung erscheinen nur dann als attraktive Angebote der Schule, wenn sich diese, dem Konzept nach, auf eine breite, ‚ganzheitlicheދ, gleichzeitig aber auch individualisierte Förderung konzentriert, deren Besonderheit nur oberflächlich beschreibbar ist und letztlich nicht in generellen Verfahrensregeln erfasst werden kann. Erfolgreiche Schulen, deren Bildungsangebote attraktiv erscheinen, betreiben einen relativ hohen Aufwand bei der Erarbeitung und Verbreitung von Bildungskonzepten, wobei aber die anzustrebenden Persönlichkeitsmerkmale, die ‚Werte ދund Normen, Einstellungen und Orientierungen so allgemein gefasst sind, dass sie sich jeder Operationalisierbarkeit entziehen. Gleichzeitig wird postuliert, dass der Weg zur Erreichung dieser Ziele einzigartig sei, also auf die vorhandenen Anlagen und Lebensumstände abgestimmt werden müsse und nur in einem besonderen Lernumfeld zum Erfolg führen könne. Dieser Strategie der Einzigartigkeit entspricht eine Fokussierung der Öffentlichkeit auf das Besondere, Ungewöhnliche und Sensationelle. Die Öffentlichkeit kommt also dem Konstrukt der Einzigartigkeit entgegen. Es gibt von Seiten der Gesellschaft, nicht zuletzt des Mediensystems, einen besonderen Bedarf an Prominenz bzw. Exzellenz, an Glamour und Genialität, sodass Schulen mit Exklusivitätsanspruch eine Leerstelle füllen. Der ‚Kultދ, der um exklusive Schulen betrieben wird, kommt somit nicht nur den Interessen der Schulleitung, der Trägerorganisationen oder ihrer Klientel entgegen, sondern entspricht auch den Funktionsweisen des Mediensystems. Schulen, die in der Lage sind, zu selektieren, und die damit Anschluss zu einflussreichen Gruppen und Kollektiven haben, können ihre Protagonisten mit dem Glanz des Besonderen ausstatten; sie können auch eher als andere positive Ereignisse generieren, deren Nachrichtenwert für Popularität und Unterstützung in der Bevölkerung sorgt. Bildungskonzepte werden im öffentlichen Diskurs sowohl faktisch als auch kontrafaktisch begründet. Die an Fakten orientierte Ableitung und Legitimation geht von den zumeist beruflichen Anforderungen der Wirtschaft aus, wobei aber auf Dauer die Unvorhersehbarkeit der technischen Entwicklung und des Arbeitsmarktes dieser Art von Realitätssinn Grenzen setzt. Der kontrafaktische Ansatz macht sich unabhängig von Prognosen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Bildung ist danach erforderlich, um einen festen Aus-
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gangspunkt zu haben, von dem aus den unübersehbaren, komplexen Herausforderungen der Zukunft begegnet werden kann. Mit Bildung verbindet sich die Erwartung, sich den künftigen gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht einfach anpassen zu müssen, sondern sie kreativ für sich zu nutzen. Bildung im Sinne der „Kultivationspädagogik“ (M.Weber), die den Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nicht aufgegeben hat oder der Selbstsozialisation durch die Peers überlässt, ist damit überraschend aktuell. Sie entspricht den Autonomieerfahrungen, die für Kollektive in mittleren und gehobenen sozialen Lagen typisch sind. Schulen mit exklusivem Anspruch stellen Bildung, nicht Lernen und Ausbildung, in den Mittelpunkt ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Die Möglichkeiten zu führen, zu gestalten, Optionen auch für die Lebensführung zu haben, werden mit Bildung, das heißt mit geistiger, ‚innerer ދFreiheit in Verbindung gebracht. Evidenzen dafür, dass Schulen mit Bildungsanspruch auch Bildung bewirken, gibt es genügend. Sie beruhen in erster Linie auf Kausalverhältnissen, die sich als Selffulfilling Prophecy beschreiben lassen: Bildung hat zur Folge, so das Konstrukt, dass diejenigen, die mit entsprechenden Fähigkeiten, Kompetenzen, Wissen, Einstellungen und Orientierungen ausgestattet sind, sich auch im Beruf besser bewähren. Wenn Arbeitgeber den Bildungsprivilegierten höhere Berufschancen zukommen lassen, dann nicht zuletzt deswegen, weil sie selbst diesem Konstrukt vertrauen. Damit haben die Absolventen von Schulen mit Bildungsanspruch tatsächlich höhere berufliche Erfolge vorzuweisen, aber nicht, weil sie aufgrund ihrer Bildung bessere Leistungen zeigten, also kreativer wären und mit Problemen besser zurechtkämen, sondern weil ihnen bessere Leistungen zugetraut und dementsprechend verantwortungsvollere Aufgaben übertragen werden. Darüber hinaus kommen Evidenzen durch Selektionseffekte zustande, die als Sozialisationseffekte ausgegeben werden. Selektion ist leicht herzustellen. Auch für Bildungsinstitutionen kommen unterschiedliche Kriterien in Betracht, sofern sie nicht grundsätzlich demokratischen Gleichheitsnormen widersprechen. Besonders komplexe Kombinationen von Kriterien, formellen wie informellen, führen zur Verwechslung von Ursache und Wirkung, oder besser, von Ursache und Nichtwirkung, weil nämlich das, was als Ergebnis pädagogischer Einwirkung und Förderung ausgegeben wird, Verhaltensweisen, Einstellungen, ‚Charakterދ, ‚Persönlichkeitދ, ‚Habitus ދusw., schon von Anfang an, und zwar aufgrund der Selektion, vorhanden war. Trotz dieser schon vorhandenen, vor allem durch schulisch-berufliche Affinitäten sich ergebenden Evidenzen werden nichtselektive Schulen benötigt, die mit ihren systemisch begründeten Misserfolgen die Erfolge selektiver Schulen zusätzlich zu bestätigen scheinen. Wenn in selektiven Schulen Erfolge konstatiert werden, so sprechen diese offenbar für deren pädagogische Wirksamkeit. Folgerichtig werden die Misserfolge der nichtselektiven Schulen, Nichterreichen
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des Schulabschlusses zum Beispiel oder Versagen bei der Bewerbung um Ausbildungsplätze sowie anschließende Arbeitslosigkeit, den vermuteten Defiziten dieser Schulen zugerechnet. Das an selektiven Schulen entwickelte und demonstrierte Konstrukt besagt für die Schulen der Unterprivilegierten, dass ihre Konzepte und Methoden ungeeignet sind, da es ihnen nicht gelingt, Schülerinnen und Schüler genügend zu motivieren und mit den erforderlichen Einstellungen, Orientierungen und Kompetenzen auszustatten. Dementsprechend werden immer wieder Initiativen gestartet, die zeigen sollen, dass es anders geht. Selbstverständlich machen derartige Arrangements nur dann einen Sinn, wenn sie mit medialer Präsenz verbunden sind. Die implizite Botschaft derartiger Initiativen lautet, dass die Bildungseinflüsse der Schule bei unterschiedlichsten Bedingungen ihre Wirkung zeigen und dass auch die Schulen der Benachteiligten erfolgreich sein können, vorausgesetzt, die richtigen Strategien, Methoden und Konzepte werden konsequent angewandt. Dabei soll eine intensive ‚Aufklärungsarbeitދ, die neben Eltern und Behördenvertretern auch die Lehrkräfte mit einschließt, unabdingbar sein. Tatsächlich produzieren derartige Aktionen, von der Öffentlichkeit vielbeachtete Theater- und Musicalprojekte zum Beispiel, in indirekter Weise Evidenzen für die Bildungskonstrukte der selektiven Schulen. Wenn selektive Schulen, Schulen mit Bildungsanspruch, erfolgreich sind, dann – entsprechend dieser Botschaft – nicht aufgrund der Selektion, sondern aufgrund ihrer modernen ‚Technologienދ, die sie früher, kompetenter und entschiedener einsetzen. Was den nichtselektiven Schulen nur in Ausnahmefällen gelingt, ist bei ihnen, so scheint es, Alltagswirklichkeit. Wenn trotzdem Erklärungsdefizite übrig bleiben, kann auf die Einzigartigkeit lokaler Bedingungen und die individuelle, auf die Persönlichkeitsentwicklung abgestimmte Mischung von Methoden und ‚Hilfen ދverwiesen werden. Im Folgenden (Kap. 1) soll zunächst die Entwicklung der Organisationsforschung soweit rekonstruiert werden, dass die aktuelle Bedeutung konstruktivistischer Sichtweisen deutlich wird. Im anschließenden Kapitel (Kap. 2) geht es um die Schwierigkeiten, die der Schule daraus erwachsen, dass sie für ein komplexes Geschehen, das sich im Zusammenhang mit Unterricht entwickelt, Rationalität im Sinn einer geplanten und effizienten, auf pädagogische Ziele ausgerichteten Tätigkeit glaubhaft machen soll. Dabei wird deutlich, dass Konstrukte zur Institution Schule eine politische Dimension haben und Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen sind. Dem entspricht, dass die hegemonialen Deutungen des Schulgeschehens, die vom Primat des Pädagogischen ausgehen, auch dann im Zentrum des öffentlichen Diskurses stehen, wenn sie nur schwer mit alltäglichen Erfahrungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Das Kapitel über „Verborgene Wirklichkeiten“ (Kap. 3) beschäftigt sich mit empirischen Hinweisen, die sich mit den verbreiteten Konstrukten nicht decken und
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andere Deutungen nahe legen. Sowohl in hochselektiven als auch in nichtselektiven Schulen ist zum Beispiel kaum zu übersehen, dass es auch um Kustodialisierung geht, dass also die Schule die Funktion hat, zu überwachen, zu betreuen, zu schützen und zu kontrollieren, das heißt, Störungen zu vermeiden, die von Schülerinnen und Schülern auf soziale Systeme ausgehen könnten, und umgekehrt Einflüsse fernzuhalten, von denen man annimmt, dass sie für die Klientel problematisch seien. Andere empirische Widerständigkeiten decken sich ebenfalls nicht mit den Konstrukten, die in der Öffentlichkeit vorherrschen, obwohl sich mögliche alternative Deutungen der Schulwirklichkeit weniger destruktiv auswirken. Derartige „prekäre Wirklichkeiten“ sind Gegenstand des anschließenden Kapitels (Kap. 4). Erhellend sind dabei auch theoretische Ansätze der Bildungsökonomie sowie Max Webers ideologiekritische Studie zum chinesischen Bildungssystem. Konstrukte können also mehr oder weniger Anhaltspunkte in der Wirklichkeit haben. Der Grund, weshalb Konstrukte im lebensweltlichen Kontext und in der Öffentlichkeit umstritten sind, besteht darin, dass sie Einfluss auf die Wirklichkeit ausüben und, was zum Beispiel das Bildungssystem angeht, die Versorgung mit Ressourcen lenken. Gerade die Bildungswirklichkeit ist plastisch und wird durch Erwartungshaltungen von außen geprägt. Ebenso wirken Erwartungen und unbewiesene Feststellungen in Institutionen, die, wie die Schule, identitätsstiftend sein sollen, auch auf die Schülerinnen und Schüler selbst ein, weil sie Vorstellungen darüber entwickeln, in welche Richtung der Prozess ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung abläuft. Die Begleiterscheinungen von Konstrukten werden am Beispiel hochselektiver und nichtselektiver Schulen in einem gesonderten Kapitel (Kap. 5) dargestellt. Der Staat ist einer der wichtigsten Bildungsanbieter. Gleichzeitig nimmt er über die Bereitstellung einer Bildungsinfrastruktur und über Bildungslizenzen Einfluss auf das Allokationssystem. Welche Gruppen und Kollektive mit Bildungsgütern und Sozialchancen versorgt werden, hängt von Entscheidungen der Legislative und der Exekutive ab. Das Bildungssystem ist Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, weil die soziale Lage von Gruppen, nicht zuletzt auch von Familien, über das Bildungssystem bestimmt wird. In einem Abschnitt (Kap. 6), der sich mit Konstruktbildungen im politischen Prozess auseinandersetzt, wird deutlich gemacht, wie sich politische Konfliktlinien in Konstrukten zur Schule und zum Bildungswesen abbilden. Dabei zeigt sich, dass informale Differenzierungen geschaffen werden, um differenzielle Ansprüche durchzusetzen, und zwar so, dass Abweichungen von universalistischen Leistungsnormen und demokratischen Grundrechten nicht in Erscheinung treten. Damit ist aber noch nicht erklärt, wie es einzelnen Schulen gelingt, Aufmerksamkeit auf sich zu richten und ein positives Image zu erzeugen. Welche
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Umstände es sind, die das Interesse von Medienakteuren auf die in Schulen betriebene Bildungsarbeit konzentrieren, wird in den folgenden Abschnitten (Kap. 7 und Kap. 8) behandelt. Vorstellungen zur Schulwirklichkeit, die in der medialen Öffentlichkeit verbreitet werden, orientieren sich an Erzählungen, Symbolen und Ritualen. Schon das äußere Erscheinungsbild ist Anhaltspunkt für Annahmen und Interpretationen, die in den Medien zu Konstrukten über die Schule zusammengefügt werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit bekommt jede Handlung eine über das unmittelbare Geschehen hinausgehende Relevanz; die Bedeutung für die Öffentlichkeit muss daher auch bei der Planung der Erziehungs- und Bildungsarbeit berücksichtigt werden. Es zeigt sich, dass die Aktivitäten der Schule, besonders die curricularen und extracurricularen Bildungsangebote, ohne die Berücksichtigung öffentlicher Wirkungen nicht mehr gedacht werden können und dass ‚symbolische Pädagogik ދauch das professionelle Handeln bestimmt. Abschließend (Kap. 9) wird herausgearbeitet, wie Entwicklungen in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, aber auch in angrenzenden Disziplinen, Einfluss auf die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Konstrukte ausüben. Die Wissenschaft steht zwar selbst im kommunikativen Austausch mit allgemeinen medialen Diskursen; sie ist aber auch eine Art ‚gatekeeperދ, die den Zugang von Konstrukten zur Öffentlichkeit regelt. Nicht alle Konstrukte zur Schulwirklichkeit haben Zugang zur Öffentlichkeit. Als Fazit (Kap. 10) ergibt sich, dass Konstrukte in eine Art ‚Probehandeln ދeinmünden und dass Richtungen des gesellschaftlichen Wandels durch Konstrukte angezeigt werden. Die Studie beschäftigt sich mit Zusammenhängen, die durch empirische Untersuchungen höchstens illustriert werden können. Im Vordergrund steht die verallgemeinernde Rekonstruktion, die mehr oder weniger stimmig sein kann. Es handelt sich also um ein ‚Konstrukt von Konstruktenދ, das ebenfalls nach dem Kriterium der Evidenz beurteilt werden muss. Der Unterschied zur politischen Praxis besteht allerdings darin, dass empirische Widerständigkeiten wahrgenommen und als solche analysiert werden können. Es werden Phänomene mit der Absicht beschrieben, dass sie in der Wirklichkeit wiedergefunden und aufgrund der Vorlage erkannt werden, und zwar im Sinn einer zusätzlichen Perspektive, die für die Wissenschaft, aber auch für das pädagogische Handeln selbst das Orientierungsspektrum erweitert. Es geht dabei nicht allein um das deutsche Bildungssystem. Vielmehr gelten die dargestellten Zusammenhänge für alle marktwirtschaftlich organisierten Industrieländer. Viele Beobachtungen beziehen sich gleichermaßen auf Schulen und Hochschulen, da die Grenze zwischen beiden Institutionen in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich verläuft und nicht überall eine grundsätzliche Bedeutung hat. Im Allgemeinen schien es nicht zielführend, Diskurse, die bei der
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Vorwort
Vielfalt der Bildungslandschaft zu stark auf Einzelerscheinungen fokussieren, zu berücksichtigen. Auch einige Themen, die zu den Standards der Bildungsdiskussion gehören, wurden nicht aufgenommen. Es ist zu hoffen, dass der für diese Studie gewählte Blickwinkel Ergebnisse hervorgebracht hat, die relevant genug sind, um diese Defizite zu kompensieren.
1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
1.1 Das Zielmodell der Organisation 1.1 Das Zielmodell der Organisation Organisationen werden traditionell als rational strukturierte und planmäßig arbeitende Gebilde zur Erreichung von Zielen bzw. Zwecken verstanden. Nach dem Rationalitätsmodell können die Aktivitäten innerhalb einer Organisation von ihrer instrumentellen Bestimmung her erklärt werden. Vorausgesetzt wird, dass diese allen Beteiligten bekannt ist. Ziele begründen die Struktur der Organisation, indem sie in Verfahren und einzelne Arbeitsschritte umgesetzt werden, für deren Erledigung wiederum Teile der Organisation, Abteilungen und Unterabteilungen zuständig sind. Die Organisation als Ganzes verfolgt ein Ziel, während die Teile dieses Ganzen dafür die Mittel zur Verfügung stellen. Organisation ist demnach ein arbeitsteiliges Gefüge, in dem alles Handeln im Rahmen der Zielverwirklichung seinen Platz hat. Der Einzelne, also das Organisationsmitglied, stellt sich in den Dienst der Organisation durch Übernahme eines Auftrages. Demgemäß ist die Tätigkeit, die für die Organisation erbracht wird, zeitlich begrenzt und macht nicht das ganze Leben des Menschen aus. Die Organisation erfasst nur Teile der Persönlichkeit: Individualität und Privatsphäre bleiben gewahrt; für die betrieblichen Abläufe und das dafür erforderliche soziale Miteinander sind sie ohne Bedeutung. Dieses Modell der Zweck-Mittel-Rationalität wurde der Organisationsforschung durch Max Weber (1972, 125 ff., 559 ff.) vorgegeben. Was er unter „Bürokratie“ versteht, deckt sich mit dem Zielmodell der Organisation. Weber bezieht sich in erster Linie auf staatliche Einrichtungen, obwohl sich nach seiner Ansicht die gleichen Strukturen auch im privatwirtschaftlichen Bereich finden lassen. Organisationen vom Typus der Bürokratie kommen nach Weber durch Satzung zustande; sie sind Ausdruck rationaler, legaler Herrschaft. Das bedeutet, dass das Ziel der Organisation von außen, also zum Beispiel durch politische Instanzen, bestimmt wird. Während das Ziel selbst nicht rational sein muss, kann die Organisation als eine Art Maschinerie aufgefasst werden, das heißt als ein Apparat, der mit höchster Effizienz die Erreichung des Zieles ermöglicht, und zwar aufgrund eines rationalen Einsatzes der Mittel. Zu dieser Rationalität tragen
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
nach Weber verschiedene Eigenarten der Organisation bei, nämlich die Fachschulung der Mitarbeiter, die Bearbeitung von Aufgaben nach Kompetenz, die Führung von Akten, mit der eine ständige Kontrolle der Vorgänge gewährleistet ist, und der Instanzenzug, der die störungsfreie Durchsetzung der Befehle sowie die Koordination der Abteilungen und der Mitarbeiter sicherstellt. Empirische Widerständigkeiten gegenüber diesem Modell ergeben sich daraus, dass die Ziele von Organisationen mehr oder weniger komplex sind. Organisationen haben üblicherweise Ziele, die nicht alle miteinander vereinbar sind. Daher ist eine Abwägung von Alternativen erforderlich, und zwar unter Unsicherheit, da die Folgen von Entscheidungen nicht vorhergesehen werden können. Es geht also in Organisationen weniger um rationales Entscheiden, als vielmehr darum, wie mit Komplexität umzugehen ist (Schwarz 2008). Dazu trägt auch bei, dass Ziele nicht allein unter dem Aspekt der bezweckten Wirkung, sondern auch der Nebenwirkungen gesehen werden müssen (Luhmann 1973). Ziele kommen zudem als lose Programmatik vor, als Bündel von lang- und kurzfristigen, von allgemeinen und speziellen Zielen, die sich nicht in eine hierarchische Ordnung bringen lassen. Bei den Organisationszielen kann es sich darüber hinaus um vage gesellschaftliche Vorgaben handeln, sodass eine Zuordnung von Mitteln, die von der Organisation bereitzustellen wären, zu diesen Zielen unmöglich ist. Ziele legen das Organisationsgeschehen nicht fest; vielmehr existieren Spielräume der Interpretation und der Operationalisierung (Büschges/Abraham 1997, 98). Abweichungen vom Rationalitätsmodell ergeben sich zudem daraus, dass Ziele Mittel für andere Ziele sind, sodass es eine Frage des Standpunktes ist, ob es sich bei Handlungsvorgaben um Ziele oder Mittel handelt. Mittel können sich zu Zielen verselbständigen, zum Beispiel dann, wenn die Erreichung der Ziele nicht überprüft werden kann und somit auf eine Überprüfung des Mitteleinsatzes ausgewichen wird. Außerdem stellt sich die Frage, was als Ziel bezeichnet werden soll, ob von anzustrebenden Zuständen und Veränderungen gegenüber dem Gegebenen ausgegangen werden sollte, wie sie in Satzungen, Weisungen, Beschlüssen usw. festgelegt sind, oder von der Handlungsorientierung und den Problemhierarchien der Mitglieder. Geht man von dem Entscheidungshandeln der Mitglieder aus, so ist organisatorische ‚Rationalität ދhäufig das Ergebnis von Machtkämpfen der Entscheidungsträger (Crozier/ Friedberg 1979, 226, Schwarz, a.a.O., 85 f.). Sowohl die Organisationsmitglieder als auch Personen oder Kollektive außerhalb der Organisation versuchen, eigene Ziele zu verfolgen bzw. die statuierten Organisationsziele in ihrem Sinn zu beeinflussen (Wolf 2005, 59ff.). Auf unterer Ebene können Organisationsmitglieder direkt in Verhandlungen mit der Organisationsumwelt eintreten, um Kooperation zu gewährleisten, was eine übergeordnete, zentrale Kontrolle entsprechend der Zielvorgaben infrage stellt, den Untergebenen jedoch ein Mini-
1.2 Die Human-Relations-Bewegung
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mum an Erfolg sichert und somit die Arbeit erleichtert (Luhmann 2006, 18f.). Die Ziele sind also nicht, wie in der älteren Organisationslehre angenommen, deckungsgleich mit den Motiven der Mitglieder. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die (statuierten) Ziele lediglich den Rahmen für vielfältige und sich laufend ändernde Strategien kollektiver Akteure und sich neu formierender Interessen und Motive der Individuen vorgeben. 1.2 Die Human-Relations-Bewegung 1.2 Die Human-Relations-Bewegung Spätestens die Human-Relations-Bewegung hat zu der Erkenntis geführt, dass sich die Mitglieder in der Organisation lebensweltlich einrichten, sich somit auch Motive und Einstellungen, die sie als Personen kennzeichnen, mit der Tätigkeit in der Organisation verbinden. Das bedeutet auch, dass zum Beispiel die Mitarbeiter eines Betriebes die Organisationsziele nur insoweit zu ihren eigenen Zielen machen, als diese in den situativen Kontext passen, der das Leben in der Organisation bestimmt. Neben der formalen, durch Satzung und Vertrag zustande kommenden Organisation stellt die Human-Relations-Bewegung die informale Ordnung des Betriebes als eigenständiges soziales System heraus. Die auf Spontaneität, Solidarität und Affekt begründete informale Ordnung kann sich mit der formalen, durch Ziele, Statuten, Regelungen, Anordnungen usw. konstituierten Ordnung partiell überschneiden, ist aber nie deckungsgleich. Die Organisationsführung, so die betriebswirtschaftliche Strategie der HumanRelations-Schule, soll daher die Persönlichkeit der Organisationsteilnehmer und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen in den Blick nehmen und nicht gegen die informale Ordnung arbeiten. Die informale Ordnung bekommt für die Unternehmensführung eine Schlüsselfunktion, und zwar nicht zuletzt in Hinblick auf die Ergebnisse der in den Betrieben geleisteten Arbeit. Eine einseitige Konzentration der Unternehmensleistung auf den Profit gilt als kontraproduktiv, da eine Rationalisierung auf Kosten von Emotionen, das heißt auf Kosten des Betriebsklimas, zu sozialen Konflikten führe, die zusätzliche Kosten verursachten. Für Elton Mayo, Fritz J. Roethlisberger und William J. Dickson, die in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf der Grundlage der mit den Hawthorne-Experimenten gewonnenen Erkenntnisse (Roethlisberger/Dickson 1939) den Paradigmenwechsel zur Human-Relations-Bewegung auslösten, sind die Unternehmensziele also nur dann zu erreichen, wenn die sozialen Bedürfnisse der Mitarbeiter zum Zuge kommen. Dazu gehören auch Gruppen, die nicht durch die Arbeitsorganisation konstituiert werden, sondern die sich auf der Grundlage von Sympathie spontan bilden. Auch heute wird die Gruppe als ein wichtiger Faktor für die Arbeitsleistung und das Betriebsergebnis angesehen. Die
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
informale Organisation hat sich zum Beispiel als einflussreich für den Informationsfluss erwiesen. Allerdings gehen neuere motivationstheoretische Ansätze nicht mehr von einem direkten Zusammenhang zwischen Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeiter aus (Vahs 2007; Bonazzi 2008). Vorgesetzte müssen „nicht nur gute Beziehungen zu den Geführten herstellen, sondern (können) auch sachorientiert führen“ (Kieser 2006, 151). Nichtsdestoweniger war die Entdeckung der informalen Gruppe ein wichtiger Schritt für die Theorieentwicklung und hat wesentlich zur kognitiven Wende in der Organisationsforschung beigetragen. 1.3 Klassischer und moderner Strukturfunktionalismus 1.3 Klassischer und moderner Strukturfunktionalismus Auch der Strukturfunktionalismus hat eine neue Sicht der Organisation eingeleitet. Im Fokus der Betrachtung stehen nicht mehr das Ziel oder der Zweck einer Organisation und die Mittel, die sie einsetzt, um diese zu erreichen. Eine Organisation ist für Parsons ein „system of co-operative relationships“ (Parsons 1964, 72). Die Kooperation umfasst sowohl solche Aktivitäten, die durch die formale Ordnung abgedeckt werden, wie auch solche, die, wie gegenseitiges Helfen zum Beispiel, dem System der „Gemeinschaft“ zuzurechnen sind. Die Organisation ist also nicht durch ein von außen gesetztes Ziel zu verstehen. Das Ziel der Organisation ist vielmehr das Überleben selbst; die Organisation ist auf Dauerhaftigkeit angelegt. Ebenso wie andere soziale Systeme grenzt sich die Organisation von ihrer Umwelt ab; die Auflösung der Grenze zwischen System und Umwelt ist gleichbedeutend mit dem Ende des Systems. In Analogie zum Leben des Organismus wird davon ausgegangen, dass Grenzziehungen zwischen System und Umwelt dadurch zustande kommen, dass ihre Teile Verflechtungen und Abhängigkeiten aufweisen, die enger und intensiver sind als die Beziehungen nach außen. Energien werden aufgebracht, um das Überleben, das heißt die Konstanz der Struktur im Unterschied zur Umgebung, zu sichern. Einzelne Teilsysteme erbringen Leistungen für andere Teilsysteme bzw. für das System insgesamt, womit aber auch die Erfordernisse eines befriedigenden sozialen Zusammenlebens gemeint sind. Das bedeutet zum Beispiel, dass im Rahmen formaler oder informaler Strukturen ein Überhandnehmen von Konflikten vermieden und ein Mindestmaß an Integration der verschiedenen Elemente und Teile sichergestellt werden muss. Die Leistungen, die Voraussetzung für die Existenz des Systems sind, werden als Funktion bezeichnet. Funktionen sind
1.3 Klassischer und moderner Strukturfunktionalismus
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„Eigenschaften oder Konsequenzen“ einer Struktur, die deren Überleben oder das Überleben anderer bewirken.1 Allerdings sind auch funktionale Alternativen möglich. Robert K. Merton weist darauf hin, dass Motive und systemische Wirkungen nicht verwechselt werden dürfen (Merton 1949; 1995). Mit der Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen macht er die multidimensionale Wirkung von Tätigkeiten deutlich, die für die Akteure nur zum Teil handlungsleitend sind, sich zum Teil aber auch deren Wissen entziehen. Manifeste Funktionen decken sich mit primären Handlungszielen. Latente Funktionen sind dagegen solche, die im Unterbewussten der Beteiligten zum Zuge kommen und über die es wenig Kommunikation gibt. Damit stellt sich bereits die Frage, weshalb einige Funktionen latent bleiben. Mertons Ausführungen lassen den Schluss zu, dass Latenz möglicherweise erforderlich ist, weil sie effizienzsteigernd wirkt, während umgekehrt die „Aufklärung“ über erwartbare Wirkungen unter Umständen kontraproduktiv ist. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass im Falle von Dienstleistungen, die eine Mitarbeit eines als Klient oder Kunde definierten Adressaten verlangen, die Existenz von weiteren ‚Nutznießern ދnicht offenbar werden darf. Wenn in einem Krankenhaus auch Forschung betrieben wird, die nicht unmittelbar der Heilung der dort hospitalisierten Patienten zugute kommt, sondern nur langfristig dazu führt, bestimmte Leiden besser behandeln zu können, das heißt ganz allgemein, die dem medizinischen Fortschritt dient, so darf diese Funktion nicht allzu sehr in den Vordergrund treten, da sonst die Patienten den Eindruck gewännen, Versuchsobjekte zu sein und ihre Mitwirkung verweigerten. Das Wissen um latente Funktionen kann somit einen desillusionierenden Effekt haben. Der Klient oder Kunde, der in der Regel davon ausgeht, dass eine Dienstleistung vollständig auf ihn selbst abgestellt ist, verlöre durch die Kenntnis übergeordneter Zusammenhänge, in denen er selbst nur noch ein Element unter vielen ist, das Vertrauen in die Institution. Ob Funktionen manifest oder latent sind, kann für die Existenz des Systems entscheidend sein. Das bedeutet, dass bereits die strukturfunktionalistische Systemtheorie die Bedeutung der Kommunikation hervorhebt, sind doch manifeste und latente Funktionen durch spezifisch verlaufende Kommunikationsströme voneinander verschieden.
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Münch 1976, 34; 127. Der Begriff der Funktion bezeichnet also in den Sozialwissenschaften in seiner allgemeinsten Fassung „den Beitrag von etwas für das Sosein von etwas anderem, ohne daß dieser Beitrag im Plan des ersteren liegen müßte und ohne daß er damit als determinierender Kausalfaktor behauptet wäre“. Siehe Messelken, Karlheinz: Begriff „Funktion“ in: Endruweit, Günter/ Trommsdorf, Gisela (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. Bd. 1. Stuttgart 1989. S . 221
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
Eine Revision des klassischen Strukturfunktionalismus Parsonsތscher Provenienz wurde von Jeffrey C. Alexander und Paul Colomy vorgenommen, bei denen das Verhältnis von Struktur und Prozess im Vordergrund steht (Alexander 1985; Alexander/Colomy 1985; Colomy 1990). Der neofunktionalistische Ansatz geht davon aus, dass menschliches Handeln sowohl vorgegebene Strukturen reproduziert als auch – einem freien Willen folgend – einzigartig und neu ist. Die Akteure wiederholen zwar das Vorhandene, indem sie sich an kulturellen Systemen, an Werten und internalisierten Normen orientieren; die Übernahme des konstitutiv Vorgefundenen im Handeln impliziert aber auch ein kreatives Moment: Indem wir uns mit Hilfe der etablierten Standards in Situationen zurechtfinden und unsere Umgebung typisieren, geschieht das, was Alexander als „invention“ bezeichnet. Typisierungen sind ungenau und verbinden sich mit eigenen Zutaten. „This means that typification, or reproduction, is a continous referent of every action, not instead of, but alongside of invention“ (Alexander 1992, 10). Reproduktion und Neuschöpfung gehören also zusammen. Der Handelnde orientiert sich an vorgegebenen Strukturen. Dazu setzt er Typisierungen ein, die bereits ein subjektives Moment beinhalten. Für Organisationen heißt das, dass sowohl ihre Produkte als auch die vorgesehenen Verfahren im Vollzug von Handlungen immer wieder zur Disposition stehen, indem sie von Konstrukten abhängig sind. Veränderungen sind somit unvermeidbar, ja machen das soziale Geschehen auch in formalisierten Zusammenhängen aus. Besonders in Organisationen, die sich in einem komplexen und dynamischen Umfeld betätigen, sind die Spielräume für Typisierungen und Konstrukte groß; die Organisationsleitung kann es sich somit gar nicht leisten, kreatives Handeln zu beschränken. Für Dienstleistungsorganisationen zum Beispiel ist es erforderlich, auf die Bedürfnisse und die Persönlichkeit des Nachfragers einzugehen, da dieser motiviert werden soll, an der Erstellung des Produktes und an der Definition gemeinsamer Ziele mitzuarbeiten. Der von Alexander entwickelte Ansatz macht deutlich, dass Funktionen und Verfahrensregeln nur teilweise eine Vorgabe für systemische Aktivitäten sind; darüber hinaus erweisen sie sich als Gegenstand des Aushandelns mit Klienten, Kollegen, Abteilungen sowie dem weiteren sozialen Umfeld der Organisation. Soziales Handeln ist also nach neofunktionalistischem Verständnis nicht eine instrumentelle Anpassung an äußere Gegebenheiten; vielmehr wird die Bedeutung subjektiver, nichtrationaler und motivationaler Aspekte betont. In methodologischer Hinsicht wird der Versuch unternommen, die funktionalistische Vorgehensweise um eine selbstreflexive, hermeneutische Dimension zu erweitern, indem Ad-hoc-Interpretationen, kontroverse theoretische Konzepte sowie persönliche Gefühle und Überzeugungen des Forschers in einem diskursiv angelegten Forschungsprozesses thematisiert wer-
1.4 Die Systemtheorie N. Luhmanns
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den. Die Methodologie des Neofunktionalismus unterscheidet sich vom klassischen Funktionalismus dadurch, dass sie ‚postpositivistisch ދangelegt ist (vgl. Turner 1998, 51 f.). 1.4 Die Systemtheorie N. Luhmanns 1.4 Die Systemtheorie N. Luhmanns Nach Luhmann bestehen Systeme nicht – wie bei Parsons – aus Handlungen, sondern aus Kommunikation (Luhmann 1984, 191 ff.) Selbstverständlich sind für Luhmann auch Organisationen soziale Systeme und somit durch Kommunikation konstituiert. Die Einheit von Systemen – zum Beispiel von Organisationen – beruht auf der Herstellung von Sinn. Sinn ist nach Luhmann sowohl für psychische als auch für soziale Systeme die einzige Möglichkeit, sich mit Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Durch die Generierung von Sinn wird Umweltkomplexität verarbeitet. Entsprechend der Definition des sozialen Systems als Kommunikation ist die Grenze zwischen System und Umwelt eine Sinngrenze. Die Herstellung von Sinn erfolgt nach Luhmann in der Weise, dass sich Organisationen Informationen über ihre (angenommene) Umwelt beschaffen. Das bedeutet, dass die Umwelt vor dem Hintergrund der Eigenarten des Systems beobachtet wird. Sinn entsteht, indem Beobachter Differenzen feststellen zwischen System und Umwelt. Damit aber ist nicht eine objektive, überprüfbare Differenz gemeint, sondern eine solche, die durch den Beobachter selbst entsteht, das heißt durch die Kategorien, nach denen er bei seinen Unterscheidungen vorgeht. In einem zweiten Schritt werden diese Beobachtungen der Umwelt interpretiert. Durch Beobachtung und Interpretation entsteht Umwelt (vgl. Bußkamp 1994, 17). Für Luhmann ist also das Bild der Umwelt nicht Abbild, sondern ein auf die Gegebenheiten des Systems ausgerichtetes Konstrukt. Mit anderen Worten ist die Art, wie mit der Umwelt verfahren wird, welche Probleme wahrgenommen, welche Informationen wichtig erscheinen, wie auf Umwelt reagiert wird, nicht von der Umwelt, sondern vom System selbst abhängig. Systeme sind für Luhmann autopoietisch. Anders als Parsons, der von einem intensiven Austauschverhältnis zwischen System und Umwelt ausging und für den die Aktivitäten innerhalb des Systems durch Anpassung an externe Gegebenheiten bestimmt waren, ist Luhmann der Ansicht, dass sich Systeme selbst regulieren und nach ihrer eigenen Logik entwickeln. Damit ist auch die Fremdwahrnehmung selbstreferentiell, das heißt sie erzeugt Bilder und Sinnkontexte gemäß den Eigenarten des Systems. Für die Wahrnehmung der Umwelt ist die Kommunikation innerhalb des Systems entscheidend; die Selbstthematisierung impliziert die Feststellung der Differenz zur Umwelt.
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
1.5 Corporate Culture und Corporate Identity 1.5 Corporate Culture und Corporate Identity Auch in der betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsforschung wurde ein Wandel vom Zweck zum Sinn, vom Maschinenmodell zum Kulturmodell, von der extrinsischen zur intrinsischen Motivation, vom homo oeconomicus zum kreativen und reflexiven Mitarbeiter vollzogen. In den Arbeiten zur Corporate Identity und zur Corporate Culture wird betont, dass sich Unternehmen durch eigene Mythen und Legenden, durch Zeremonien, Riten, Rituale und Gewohnheiten auszeichnen. „Kultur“, „Mission“ und „Vision“ bilden den Kern der Corporate Identity (Lies 2008, 57). Insbesondere erfolgreiche Unternehmen entwickeln über Wert-, Norm- und Symbolsysteme ein eigenes Selbstverständnis, das individuelle und kollektive Zielsetzungen miteinander verbindet. Es handelt sich - diesem Paradigma zufolge - um Zeichen und Interpretationen, die sich im Laufe der Unternehmensgeschichte im Rahmen eines autochtonen oder von der Betriebsleitung allenfalls geförderten Prozesses entwickeln. Durch eine – im Grunde genommen – kontingente Unternehmenskultur findet Sinnvermittlung statt; Organisationsmitglieder identifizieren sich mit der Organisation über Symbole und Bedeutungssysteme; der Betrieb, dem man selber angehört, wird als etwas Besonderes erfahren und als wertvoll erachtet (vgl. Heinen 1997, 17 ff.). Das Konzept der Corporate Identity ist vor dem Hintergrund einer realen Veränderung wirtschaftlichen Handelns entstanden. Angesichts eines komplexer gewordenen Marktes und eines verschärften Wettbewerbs wurde es auch für Traditionsunternehmen erforderlich, sich auf unterschiedlichen Teilmärkten zu engagieren, vielfältige geschäftlich-finanzielle sowie organisatorische Verbindungen einzugehen und Produkte herzustellen, die zu der gewohnten Produktpalette nicht passten. Unterschiedliche Produkte sowie verschachtelte Beteiligungen und Eigentumsverhältnisse führten bei den Beschäftigten selbst wie auch bei den Kunden zu Orientierungsproblemen und gefährdeten das mit einer Marke oder einem Firmennamen verbundene Vertrauen. Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass ein Unternehmen über ein unverwechselbares Image, ja über eine ‚Philosophie ދverfügen muss, wenn es nicht in der Wahrnehmung der Mitarbeiter und in den Augen der Öffentlichkeit seine Konturen verlieren soll. Die Entwicklung und Pflege von Corporate Identity ist eine Strategie, Orientierungspunkte zu schaffen, also Komplexität zu reduzieren und das Unternehmen entgegen der tatsächlichen, strukturell bedingten Vielfalt wieder als Einheit erscheinen zu lassen. Corporate Identity ist also zu verstehen als „die strategisch geplante und operativ eingesetzte Selbstdarstellung und Verhaltensweise eines Unternehmens nach innen und außen auf der Basis einer festgelegten Unternehmensphilosophie, einer langfristigen Unternehmenszielsetzung und eines definierten Soll-Images ...“ (Birkigt/Stadler 2002, 18). Sie ist ein vereinfachen-
1.6 Neo-Institutionalismus
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des Konstrukt, das ein Unternehmen in einem unübersichtlichen und dynamischen Marktgeschehen zu einer verlässlichen, dauerhaften, in seinen Eigenschaften begreifbaren Größe werden lässt. Was ein Unternehmen zusammenhält und in der Außenwahrnehmung unverwechselbar macht, ist – diesem Ansatz zufolge – nicht das Produkt, das durch seine objektiven Eigenschaften, zum Beispiel durch Qualität, durch Sorgfalt in der Fertigung, durch Ingenieurkunst und Erfindergeist das Bild des Unternehmens prägt. Es ist auch nicht, wie in der Pionierzeit vieler Unternehmen, die Person des Firmengründers und anderer Persönlichkeiten der Führungsspitze, die den ‚Geist ދoder den ‚Stil ދeines Unternehmens zum Ausdruck bringen. Selbstverständnis und Erscheinungsbild werden vielmehr durch Kommunikationsprozesse unter gleichberechtigten Kommunikationsteilnehmern bestimmt. Es sind also Einstellungen, Normen, Werte, Leitideen und Symbole, die Mitarbeiter selbst generiert haben, um die Einzigartigkeit des Unternehmens hervorzuheben. Darüber hinaus werden diese organisationsbezogenen Selbstbilder und wertbesetzten Überzeugungen der Mitarbeiter im Rahmen strategischer Kommunikationsprozesse beeinflusst und gestaltet. Corporate Identity ist also herstellbar; es handelt sich allerdings um einen komplizierten und langwierigen Prozess, der die schon vorhandenen Identifizierungsprozesse, Ideen usw. zusammenführt und profiliert. Dabei kann der Bezug auf die Geschichte des Unternehmens hilfreich sein (Belzer 1995). Nur eine CI-Strategie, die stimmig ist, die also „tatsächlich in den Einstellungen und im Verhalten der Mitarbeiter vorfindbar ist“, kann glaubwürdig und im Vermittlungsprozess mit der Öffentlichkeit, im „Corporate Dialogue“, Erfolg haben. (Schneider 1991, 150) 1.6 Neo-Institutionalismus 1.6 Neo-Institutionalismus Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass eine Organisation nicht als ein rational konstruierter Apparat zu verstehen ist, dessen Beschaffenheit sich mit technologischer Notwendigkeit aus den von außen gesetzten Zielen ergibt. Wie schon die Human-Relations-Bewegung deutlich gemacht hat, ist es nicht möglich, das Soziale so zu beherrschen wie die äußere Natur. Die Unterwerfung des Menschen unter ein rigides, rein sachlich orientiertes Regime ruft Gegenströmungen hervor und unterhöhlt das System. Die Organisationsführung muss also auf Emotionen und soziale Bedürfnisse eingehen, damit Organisationen überhaupt lebensfähig sind und anomische Erscheinungen vermieden werden können. Die im Strukturfunktionalismus vorgenommene Unterscheidung von latenten und manifesten Funktionen zeigt, dass es eine Dynamik des Unter-
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bewussten in der Organisation gibt. Damit ist auch die Vorstellung obsolet, dass nur ein Maximum an Transparenz realisiert werden müsste, um Organisationsteilnehmer effizient arbeiten zu lassen. Schließlich hebt die Luhmannsche Systemtheorie die Vieldeutigkeit aller Aktivitäten hervor; nicht festgefügte, dinghafte Strukturen, sondern kommunikativ gewonnener ‚Sinn ދmachen die Organisation aus. Für die Unternehmenskulturforschung schließlich bestimmen wechselseitige Verständigungsprozesse das Handeln der Organisationsmitglieder. Auch der Erfolg von Unternehmen wird weniger mit ‚harten ދund mehr mit ‚weichen ދElementen, mit Motivation und Werten, mit Identifikation und Orientierung in Verbindung gebracht: Mit der Kultur rücken Bewusstseinsphänomene und damit auch die „subjektive Interpretation der Strukturen und Prozesse“ in den Vordergrund. (vgl. Heinen/Fank 1997, 17 ff.) Der Neo-Institutionalismus stellt eine weitere Etappe dieser Theorieentwicklung dar. Zwar sind Organisationen dem Zwang ausgesetzt, für den Nachweis von Rationalität zu sorgen; das bedeutet aber nicht, dass rationales Handeln realisiert wird. Für viele Organisationen ist gar nicht nachweisbar, worin ein effizientes, zielorientiertes Handeln besteht. Dementsprechend ist auch die Frage eines rationalen Mitteleinsatzes und nutzenmaximierender Verfahren nicht zu beantworten. Ziele können auf unterschiedliche Weise verfolgt werden, ohne dass entscheidbar wäre, welche Methode am sichersten oder am schnellsten oder mit dem geringsten Aufwand zum Erfolg führt. Nach Brunsson ist rationales Entscheiden nicht nur schwierig, es löst auch nicht die Probleme von Organisationen. “Rationalistic decision making represents an obstacle to organizational action” (Brunsson 1985, 153). Reale Aktionen gehen nicht mit rationaler Entscheidungsfindung einher; wichtiger als diese sind die Orientierung und die Motivation der Mitarbeiter. Nichtsdestoweniger finden innerhalb und außerhalb der Organisation Diskurse statt, die sich an der Entscheidungsrationalität orientieren. Wenn sich Organisationen in der Öffentlichkeit legitimieren wollen, so müssen sie die Effizienz der von ihnen eingeleiteten, durchgeführten oder verantworteten Prozesse, Strategien und Maßnahmen glaubhaft machen. Schon im alltäglichen Sprachgebrauch sind Festlegungen des Verhaltens, die auf einem Plan beruhen und ein arbeitsteiliges Zusammenwirken ermöglichen, gleichbedeutend mit ‚Organisieren ދund ‚Organisationދ. Konkrete Organisationen, also zum Beispiel Industriebetriebe oder staatliche Verwaltungen, werden mit den statuierten Regeln des zweckrationalen Handelns und der damit bedingten formalen und hierarchischen Struktur identifiziert. Der Neo-Institutionalismus betont, dass formalisierte Regeln und Strukturen nicht auf der Erfahrung einer produktbezogenen Zweckmäßigkeit beruhen, sondern in der Abstimmung mit Vorstellungen, Normen und Werten der Umwelt zustande kommen. Die formale
1.6 Neo-Institutionalismus
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Rationalität beschreibt die Auseinandersetzung einzelner Teile der Organisation mit den Institutionen ihres Umfeldes. Formale Rationalität wird übernommen, ohne dass sich die Effizienz erhöht. Für Organisationen ist es lohnend, Regeln und Verfahren zur Effizienzsicherung, die in ihrem Umfeld vorherrschen, zu übernehmen, und zwar um anerkannt zu werden und Unterstützung zu bekommen. Formale Rationalität ist daher möglicherweise nicht mehr als eine Legitimierungsstrategie. „Der Tenor dieser organisationstheoretischen Richtung (K.P.: des Neo-Institutionalismus) besteht darin, die formale Struktur von Organisationen nicht im Rückgriff auf etwaige Rationalitätsgewinne oder Optimierungserfordernisse bezüglich der technischen Realisierung von Organisationszwecken zu erklären, sondern durch die Selektivität grenzüberschreitender Kontakte zwischen Organisationen und institutionalisierten Umwelten“ (Kuper 2001, 91).
Der Neo-Institutionalismus klärt also die Bedingungen, unter denen Strukturen in Organisationen entstehen und reproduziert werden. Dabei stehen kulturelle Einflüsse im Vordergrund. Welche Riten und Gebräuche, welche Glaubensvorstellungen, welche Überzeugungen in institutionellen Zusammenhängen vorherrschen, ist – von dieser Perspektive her gesehen – von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Organisationsvorgänge. “Socially constructed belief and rule systems exercise enormous control over organizations – both how they are structured and how they carry out their work” (Scott 2003, 119). Es sind also kulturelle Selbstverständlichkeiten und institutionelle Regeln, nach denen sich die Organisation – zumindest äußerlich – richten muss. Die Argumente, mit denen die Organisationsleitung ihre Methoden und Strategien rechtfertigt, sind abgestimmt auf Institutionen. Organisationen können sich den kulturell geprägten Regelsystemen, in die sie eingebunden sind, nicht entziehen und passen sich diesen in ihrer Sprache, ihrem Selbstverständnis, ihren Rechtfertigungen und ihrer Logik an. Eine bestimmte Formalstruktur der Arbeitsteilung ist zum Beispiel nicht darauf zurückzuführen, dass sie sich als optimal in Hinblick auf eine effiziente Art der Zielerreichung erwiesen hat, sondern dass sie mit zentralen institutionellen Regeln der Umgebung, ja der Öffentlichkeit übereinstimmt. „Die Aufnahme von neuen Strukturelementen in die Formalstruktur ist demnach weniger das Ergebnis von Wettbewerbsdruck und Effizienzanforderungen als vielmehr die Ausrichtung der Formalstruktur an den in den gesellschaftlichen Umwelten vorherrschenden Annahmen, Erwartungen und Regeln, wie eine moderne, effektive und effiziente Organisation gestaltet zu sein hat.“ (Schaefers 2002, 835 – 855)
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Wenn Organisationen Konzepte der Rationalität übernehmen, dann geschieht dies, weil sie – innerhalb und außerhalb der Organisation – auf Akzeptanz stoßen. Dabei kann es sich auch um modische Konzepte handeln, plausibel erscheinende, aber nicht überprüfbare Vorstellungen darüber, was getan werden muss. Organisationen, die sich nach diesem Konzept richten, sind anerkannt, das heißt sie erscheinen effizient und wichtig. Derartige ‚Rationalitätsmythen‘ stellt der Neo-Institutionalismus in den Fokus der Analyse. Rationalitätsmythen können so populär sein, dass es für Organisationen unmöglich ist, sich ihnen zu entziehen. Ebenso kommt es im Rahmen rechtlicher Abhängigkeitsverhältnisse zu Zwängen, sich der Umwelt anzupassen. Wenn zum Beispiel eine Behörde ihre formale Struktur ändert, so möglicherweise deshalb, weil ihr ein neues Organisationsschema und neue Verfahrensweisen nahegelegt oder im Rahmen rechtlicher Bestimmungen vorgeschrieben wurden. Auf diese Weise kann es zu einer fortlaufenden Homogenisierung von Organisationsstrukturen kommen, auch wenn es nicht technische Gegebenheiten sind, die Gleichheiten erzwingen. Obwohl das Überleben von Organisationen davon abhängt, dass es ihnen gelingt, sich als nützlich und effizient in Hinblick auf vorgegebene Ziele und Zwecke darzustellen sowie sich institutionellen Erwartungen anzupassen, so handelt es sich doch nicht um eine Einbahnstraße von Einflüssen, also um eine einseitige Anpassung der Organisationen an die Umwelt. Mächtige Organisationen können durchaus auch ihren Einfluss auf die Gesellschaft, insbesondere auf die Normen des guten und vernünftigen Lebens, geltend machen. Der NeoInstitutionalismus sieht Organisationen als Systeme, die in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt Selbst- und Fremdbilder entwerfen. “Automobile producers, for instance, attempt to create the standards in public opinion defining desirable cars, to influence legal standards defining satisfactory cars, to affect judicial rules defining cars adequate enough to avoid manufacturer liability, and to force agents of the collectivity to purchase only their cars.” (Meyer/Rowan 1977, 348)
Mit dieser Perspektive wird deutlich, dass auch das Rechtssystem und das politische System nicht als unabhängig gesehen werden dürfen, sondern dass sie selbst in Interdependenzen einbezogen sind und sich gegenüber Einflüssen aus verschiedenen Bereichen behaupten müssen. Gleichwohl ist es von der Organisation aus gesehen erforderlich, gute Beziehungen zu ihrer institutionellen Umwelt herzustellen, und zwar indem sie entweder diese in ihrem Sinn beeinflusst oder – und sei es auch nur zum Schein – auf deren Erwartungen eingeht und ihre Strukturen so ausrichtet, dass es zu einem positiven Respons kommt. Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Umwelt ist eine Angleichung, und zwar auch dann, wenn sie für die Organisation mit Nachteilen verbunden ist.
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Organisationen reagieren, sofern sie selbst ihre Umwelt nicht verändern können, auf externen Druck „mimetisch“. In welchem Maße die institutionalisierten Normen das Geschehen in der Organisation beeinflussen und wie sie sich auswirken, ist unterschiedlich. Meyer und Rowan stellen unterschiedliche Auswirkungen institutioneller Einflüsse auf ,technische ދAbläufe und soziale Netzwerke fest: “… institutional rules may have effects on organizational structures and their implementation in actual technical work which are very different from the effects generated by the networks of social behavior and relationships which compose and surround a given organization.” (Meyer/Rowan 1977, 341)
Der Gesamteffekt statuierter Regeln kann auch äußerst gering sein. Organisationen können nur zum Schein auf externe Erwartungen eingehen, wenn zum Beispiel die Systemintegration sehr hoch ist und partielle Umstrukturierungen nicht in Frage kommen. Formalisierte Regeln, die als effizientes Instrumentarium der Zielverwirklichung gelten, sind in der sozialen Realität von Organisationen unter Umständen nicht mehr als ein lästiges, allerdings unvermeidliches Beiwerk. Sie werden – nicht in ihren Inhalten, sondern in ihrer Existenz – akzeptiert, weil sie die Voraussetzung für die Akzeptanz der Organisation in der Öffentlichkeit bilden. Der Ausweis einer Ordnung, die das Organisationsgeschehen verständlich macht, und zwar in den Kategorien der Umwelt und ihren Rationalitäten, macht es notwendig, tatsächliches Verhalten zu verbergen oder in seiner Bedeutung herunterzuspielen. Anpassungen an externe Rationalitätsvorstellungen werden nach außen demonstriert und trotzdem umgangen. Ortmann kommt zu dem Schluss: „Organisationen müssen, um die erforderliche Unterstützung mit Ressourcen aller Art aus der Umwelt zu bekommen, ihre Legitimität nachweisen, und da Organisationen das – anders als andere soziale Systeme – nur durch Realitätsnachweise tun können, sie dazu aber den institutionell verankerten Rationalitätsmythen eben dieser Umwelt gerecht werden müssen, folgt, paradox aber doch zwingend: Sie müssen tun, was dort für rational gehalten wird, tatsächliche Effizienz hin oder her. Sie müssen den institutionalisierten Anforderungen der Gesellschaft Genüge tun und Verfahren – Regeln – anwenden, genauer: zumindest zum Schein einsetzen, also anwenden-und-unterlaufen, deren Einsatz von ihnen erwartet wird. Sie müssen ihre Modernität mittels Computertechnik, ihre Kreditwürdigkeit mittels ordnungsgemäßer Bilanzen, ihre Solidität mittels vorschriftsmäßigen Rechnungswesens und mittels gesetzlich vorgeschriebener Testate vereidigter Wirtschaftsprüfer zeigen – im Sinn von ,demonstrieren‘, nicht: ,wirklich nachweisen‘, zur Not im Sinn von ,so tun als ob‘ und ,mit den Wölfen heulen‘, im Sinn von : ,vorschützen‘...“ (Ortmann 2004, 101)
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
Dieses „Vorschützen“ gelingt umso leichter, wie sich Bereiche der Organisation erfolgreich einer zentralen Lenkung entziehen. Wenn zum Beispiel in einzelnen Abteilungen die Mitarbeiter über ein hohes Maß an Spezialwissen verfügen, das anderen nicht zugänglich ist, so scheitern Interventionen von außen unter solchen Umständen schon an der Kompetenz, also der mangelnden Abstimmung von Anordnungen mit den Anforderungen, die sich von der Sache her ergeben. Ebenso führt eine segmentäre Arbeitsteilung mit hoher Autonomie der Organisationsteile, wie sie bei personenbezogenen Dienstleistungen vorzufinden ist, zu einer rein mimetischen oder ‚semantischen ދAnpassung an aktuelle Realitätsmythen. Schon 1976 hat sich Weick (1976) in einem vielbeachteten Aufsatz mit den Auswirkungen einer „losen Kopplung“ von Organisationsbereichen und -aktivitäten auseinandergesetzt. Nach Weicks Ansicht sind Organisationen anpassungsfähiger, wenn Ereignisse in einem Bereich nicht zu Kettenreaktionen in allen Teilbereichen führen. Derartige Organisationen können sich, im Gegensatz zu Systemen mit einem hohen Grad der Integration, aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und der Autonomie ihrer Teile besser auf lokale Gegebenheiten und auf Veränderungen einstellen. Ihre geringere Spezialisierung macht sie von externen Bedingungen unabhängiger. Darüber hinaus verfügen sie, so das Argument, über mehr Antennen zur Umwelt. Sie kennen ihre Umwelt besser, weil sie über mehr Möglichkeiten verfügen, Signale der Umwelt wahrzunehmen, als dies bei einer engen Kopplung der Systemteile und der Arbeitsprozesse der Fall wäre. Im Falle der losen Kopplung kann der Veränderungsdruck von außen gewissermaßen besser abgefedert werden, da die Systeme nicht als Ganze betroffen sind. Vielmehr gelingt es einzelnen Systemteilen, sich dem institutionellen Interventionsversuchen zu entziehen oder sich oberflächlich anzupassen, ohne dass das Gesamtsystem betroffen wäre. Der Neo-Institutionalismus greift diese Argumentation auf und betont, dass Organisationen sich dem institutionellen Druck anpassen, ohne dass davon der Kernbereich der Aktivitäten berührt würde. Auf diese Strategie wird schon in der klassischen Arbeit von Meyer und Rowan (a.a.O.) hingewiesen, die als Pionierleistung des Neo-Institutionalismus angesehen werden kann. In Schulen ist zum Beispiel – ihren Ausführungen entsprechend – eine bemerkenswerte Übereinstimmung in den Organisationsmerkmalen zu beobachten, obwohl diese sich nicht als eine praktische, rational zwingende Umsetzung der Ziele ergeben. Wie also kommt die Homogenität der Schulorganisation zustande? Auf der Suche nach Erklärungen für diesen Tatbestand stießen Meyer und Rowan (ebd.) auf die institutionellen Umwelten und die dort vorherrschenden Konzeptionen über korrekte Verfahrensweisen. Gerade weil bei technologischer Diffusität nicht nachgewiesen werden kann, welche Mittel tatsächlich die effizientesten sind, kommt es für die Schulen darauf an, Legitimität sicherzustellen, und zwar durch
1.6 Neo-Institutionalismus
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eine scheinbare Übernahme von „prefabricated formulas“, die im gesellschaftlichen Kontext als rational und effizient anerkannt sind. In der Praxis wird jedoch von solchen Vorschriften Abstand genommen, weil sie zu der Alltagswirklichkeit der Organisation nicht passen. Allgemein gesprochen entkoppeln Organisationen wie die Schule ihre realen Aktivitäten von den von außen aufgezwungenen und als rational geltenden Formalstrukturen. Nichtsdestoweniger werden Rationalitätskonzepte und -mythen übernommen und oberflächlich adaptiert, und zwar auch dann, wenn diese von den Akteuren selbst als falsch angesehen werden. Rationalität ist somit ein Konstrukt, das unabhängig von den Überzeugungen der Organisationsmitglieder existiert (Tacke 2006, 94 ff.). Die Abhängigkeit der Organisation von ihrem Umfeld und der Druck der institutionellen Zwänge sind unterschiedlich. Zwar gibt es keine totalen Rückzugsmöglichkeiten in ein „institutionenfreies Terrain“ (Hasse/Krücken 1996, 98), jedoch sind Umwelterwartungen möglicherweise breite, interpretationsbedürftige Vorgaben, die unterschiedliche Formen der Aktualisierung zulassen oder durch ‚Schönreden ދund Scheinanpassungen umgangen werden können. Die Möglichkeit der Organisationen, selektierend und interpretierend Umweltvorgaben abzuarbeiten, wird von Brunsson (1989) betont. Am Beispiel einer Verwaltungsbehörde und eines kommunalen Verkehrsunternehmens weist er nach, dass Organisationen, die in einem politischen Umfeld tätig sind, auf „heuchlerische“ Weise an der Entscheidungsfindung teilnehmen, und zwar indem sie Handlungsebene und Kommunikationsebene trennen. Um die politisch motivierten Veränderungswünsche von der Handlungsebene fernzuhalten, werden Lippenbekenntnisse abgegeben, das heißt es werden Begriffs- und Deutungsschemata eingesetzt, die Reformbereitschaft signalisieren (Brunsson a.a.O.; vgl. auch Schaefers 2002). Den Organisationen gelingt es so, das zu tun, was nach ihren Vorstellungen, das heißt den Vorstellungen der Organisationsmitglieder, richtig ist, auch wenn die politischen Vorzeichen andere sind. Wenn dann noch hinzukommt, dass die von außen kommenden Erwartungen inkonsistent sind, ist es umso leichter möglich, sie durch ‚talk ދund ‚double talk ދzu neutralisieren (vgl. Japp 2000). Während formal Beschlüsse gefasst werden, denen das Organisationshandeln folgt, ist dieses tatsächlich immun gegenüber solchen Vorgaben. Entscheidungen, die das Organisationsgeschehen verändern sollen, müssen sich vielmehr an der Organisationswirklichkeit orientieren. Brunsson kann zeigen, dass das Handeln der Organisationsmitglieder nicht als Umsetzung von Beratungen und Beschlussfassungen begriffen werden kann, weil es nämlich – zeitlich gesehen – diesen nicht folgt, sondern vorangeht. Die administrative korrekte Reihenfolge wird geradezu umgekehrt: “The action provides the conditions for the decision, and talk is used to defend the implementation of the action” (Brunsson a.a.O., 101).
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
Organisationen müssen jedoch Rationalitätsnachweise erbringen, und zwar auch dann, wenn die von außen verordnete Rationalität mit der Handlungsebene, das heißt den ‚bewährten Praktikenދ, wenig zu tun hat. Derartige Zwänge zur Rationalisierung werden zum Beispiel im Umgang mit Maßnahmen des „New Public Management“ deutlich: Neue Organisationskonzepte, die an der praktischen Erfahrung vorbeigehen und bei den Beteiligten Prozesse der Entfremdung auslösen, werden durch ‚double talk ދneutralisiert. Dies ist der Fall, wenn in Organisationen, die personenbezogene Dienstleistungen anbieten, vorgeschrieben wird, jede ‚Arbeitseinheit ދeinem vorgegebenen Katalog von ‚Produkten ދzuzuordnen, diese nach Arbeitsaufwand und Schwierigkeitsgrad zu bewerten und fiktive Kosten zu errechnen. Die Quantifizierungen, die so zustande kommen, können für das institutionelle Umfeld den Eindruck einer exakten Kalkulation erwecken, sind aber für alle an den Berechnungen Beteiligten willkürlich und treffen nicht den Sinn dessen, was sich an Vorgängen ereignet hat; die Quantifizierung eines ‚Gesamtproduktes ދwird als Pflichtübung erledigt, ohne dass eine Verbindung zum tatsächlichen Prozessablauf besteht. Eine derartige Trennung zwischen institutioneller Pflichtübung und professioneller Praxis ergibt sich fast mit sachlicher Notwendigkeit, wenn zum Beispiel „die Heimunterbringung eines mißbrauchten Zweijährigen unter Einsatz von Zwangsmitteln gegen die Eltern“ unter betriebswirtschaftliche Kategorien subsumiert werden muss (Deitmer/Süberkrüb 1995, 53); Sozialarbeiter und Behördenvertreter sehen sich gezwungen, eine Aufstellung der Kosten nach fiktiven betriebswirtschaftlichen Kriterien zu erstellen, ohne dass ein realer Bezug zu den infrage stehenden Handlungs- und Sinnkontexten bestünde. Diese Tendenzen, nämlich „to emulate popular management models that lack empirical validity or sensitivity to the attributes of human service organizations“ (Hasenfeld 2000), werden durch oberflächliche Anpassung und Konstruktbildung neutralisiert. Der Neo-Institutionalismus erklärt, wie bestimmte Neuerungen, die mehr Schaden als Nutzen versprechen, in der sozialen Wirklichkeit von Organisationen verkraftet werden können. Es wird gezeigt, wie derartige ‚Innovationen ދder Form nach übernommen und routinemäßig, das heißt mit geringstem Aufwand, abgehandelt werden. Unter der Perspektive des „Als ob“ (Ortmann 2004) wird verständlich, weshalb dubiose Trainingsprogramme eingekauft werden, auch wenn sie an der betriebsinternen Kommunikation nichts ändern. Was die Öffentlichkeit beeindrucken könnte, so der skeptische Blick auf Effizienz- und Rationalitätskonstrukte, hat einen bevorzugten Platz in der Selbstdarstellung der Organisation, nicht dagegen im Alltagsgeschehen.
1.7 Konstruktivismus
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1.7 Konstruktivismus 1.7 Konstruktivismus Der Neo-Institutionalismus weist eine enge Beziehung zur konstruktivistischen Sichtweise auf, und zwar indem auf die Bedeutung von Vorstellungen, Erwartungen, Zuschreibungen und Mythen hingewiesen wird, die das Bild der Organisation prägen. In der Organisationsforschung gilt der Konstruktivismus als „Basistheorie“ mit weitreichenden Konsequenzen für das Bild der Organisation, für Annahmen über Wirkungsweisen und Interventionsmöglichkeiten und für die Forschungspraxis (Fried 2001). In der Perspektive des Neo-Institutionalismus und des Konstruktivismus sind Organisationen keine selbstevidenten sozialen Gegebenheiten. Vielmehr ist das, was als Organisation wahrgenommen wird, von Vorstellungen, Bildern und gedanklichen Schemata sowie von semantischen Vorgaben abhängig. Das aktuelle Handeln vollzieht sich, so die konstruktivistische Sichtweise, vis-à-vis den Vorstellungen, die an die Akteure herangetragen werden. In der Erkenntnistheorie hat der Konstruktivismus bereits eine lange Tradition. Ausgangspunkt ist die skeptische Einschätzung der Möglichkeit, Wirklichkeit mit Hilfe der Sinnesorgane und des Verstandes zu erkennen. Während der Realismus betont, dass eine vom erkennenden Subjekt unabhängige Wirklichkeit existiert und dass diese auch mehr oder weniger objektiv erfasst werden kann, gibt es für den Konstruktivismus keine ontologische Erkenntnis. Vielmehr wird auf die Schriften des Kognitionspsychologen Jean Piaget (1972; 1991) verwiesen, der gezeigt hat, dass Wahrnehmungen nicht nur das Ergebnis von externen Gegebenheiten, sondern auch von inneren Mustern sind, nach denen die von außen kommenden Impulse zusammengefügt und gedeutet werden. Piaget hat gezeigt, wie das Weltbild von Individuen mit Vorstellungssystemen zusammenhängt, die sich im Verlauf des Reifungsprozesses verändern. Mit den von Piaget unterschiedenen Stufen des Denkens verbindet sich die Erkenntnis, dass räumliche Vorstellungen, die Wahrnehmung von Größe materieller Objekte etwa, sowie das Verständnis von Kausalzusammenhängen entwicklungsbedingten ‚Mechanismen ދfolgen, die dem Subjekt eine jeweils zu seiner Lebenswirklichkeit passende Orientierung ermöglichen. Es geht für ihn nicht um den Nachweis, dass das Wissen von Kindern – entwicklungsbedingt – ungenau wäre. Piaget kommt vielmehr zu dem Schluss, dass das Wissen grundsätzlich kein Abbild der Welt ist, sondern ein Mittel darstellt, um erfolgreich handeln zu können. 2
2
So jedenfalls die Piaget-Interpretation, wie sie bei Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld zu finden ist. Siehe Foerster, Heinz von/Glasersfeld, Ernst von: Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. Heidelberg 1999, S. 122
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
Ebenso wie der kognitive Konstruktivismus geht auch der Radikale Konstruktivismus von der Kantތschen Erkenntnis aus, dass das Wahrnehmen dem Wahrgenommenen grundsätzlich nicht gleicht. Die Biologen Humberto R. Maturana und Francisco Varela betonen, dass es sich bei der Kognition um ein autopoietisches System handelt, das sich nach eigenen Gesetzen entwickelt und Ergebnisse produziert (Maturana/Varela 1979). Der Neurophysiologe Gerhard Roth (2004) stellt fest, dass das, was wir als Wahrnehmung bezeichnen, zustande kommt, indem das Gehirn den elektrischen Impulsen, die von den Sinnsorganen weitergeleitet werden, Bedeutungen zumisst. Dieser Vorgang selbst ist grundsätzlich von dem Objekt der Wahrnehmung verschieden. Nicht das Auge ‚siehtދ, sondern das Gehirn. Die Wahrnehmungsorgane kodieren Umwelteinflüsse – so Roth – in einer für das Nervensystem verständlichen Weise. Nichtsdestoweniger wird das, was wir wahrnehmen, für die Wirklichkeit gehalten, und zwar weil wir diese ‚Wirklichkeit ދnicht hinterfragen können, das heißt weil wir uns selbst als Beobachter nicht beobachten können und weil es uns nicht möglich ist, unsere Bilder mit einer objektiven Realität zu vergleichen. Demnach können also auch keine Aussagen gemacht werden, die über den Vorgang der Kognition hinausgehen. Wissen ist nicht Entdecken und Feststellen auf der Grundlage von Weltund Wirklichkeitserkenntnis; alles, was der Mensch erfährt, ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich in ihm selbst und auf der Grundlage der in ihm vorhandenen Gegebenheiten abspielt. „Wissen wird“, so fasst Harbach diese Erkenntnisse zusammen, „vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.“ (Harbach 2004, 4). Deswegen ist aber nicht jede Art von Wissen und Erkenntnis gleich ‚gutދ. Vielmehr ist das von Lebewesen generierte Wissen mehr oder weniger dazu geeignet, sich in einer Umwelt zu behaupten. Obwohl alles Wissen auf Konstrukten beruht, ist doch eine Unterscheidung dahingehend möglich, dass einiges sich als brauchbar erweist, anderes, weil es den Handelnden in Schwierigkeiten, möglicherweise auch in existentielle Gefahren bringt, schadet. Ernst von Glasersfeld hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Viabilität eingeführt. Damit meint er „Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen …, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen“ (Glasersfeld 1996, 43). Worauf Viabilität zurückzuführen ist, ob sie durch Zufall oder logische Operationen zustande kommt, wird nicht geklärt. Sie ist jedoch kein Indikator für Wahrheit im Sinn einer korrekten Abbildung von Wirklichkeit. Denn der Radikale Konstruktivismus legt sich in der Frage, ob es überhaupt eine solche Wirklichkeit gibt, nicht fest. Aussagen sind nur über den Prozess des Beobachtens selbst möglich, nicht über das Beobachtete. Die Frage, wo und in
1.7 Konstruktivismus
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welchem Maße die Außenwelt in die Wahrnehmung hinein,regiertދ3, kann nicht beantwortet werden. Auch ist die Intersubjektivität der Wahrnehmung kein Beleg für Objektivität, da „Menschen offenbar sehr ähnlich gebaute Wahrnehmungsapparate besitzen“ (Schmidt 1994, 12). Mit anderen Worten ist Kognition ein im Rahmen der Evolution entwickeltes Mittel, das der Organisation der Erfahrungswelt dient (Harbach 2004). Allerdings wird davon ausgegangen, dass bessere, das heißt nützlichere, passendere Konstrukte sich gegenüber weniger passenden durchsetzen (Fried 2001, 35). Bilder, die auf der Grundlage wahrnehmungsphysiologischer und kognitiver Vorgänge zustande kommen, werden solange beibehalten, wie sie sich als viabel erweisen. Wenn sich dabei jedoch der Eindruck ergibt, dass diese Bilder eine (äußere) Wirklichkeit korrekt wiedergeben, so handelt es sich, wenn man der Theorie des Radikalen Konstruktivismus folgt, um eine Täuschung. Der Sozialkonstruktivismus bezieht sich auf die Wirklichkeit der von der Kultur und der Gesellschaft vorgegebenen Institutionen und Symbolsysteme, die zwar dem individuellen Zugriff nicht verschlossen bleiben, dem Einzelnen aber als etwas Objektives begegnen. Dazu gehören auch die Sprache mit ihren impliziten Deutungen und Bewertungen sowie Sinnsysteme der verschiedensten Art. Das Subjekt verbindet „von außen kommende Reize ... mit vorhandenen kognitiven Strukturen“ sowie mit „sprachlichem und nichtsprachlichem Vor- und Weltwissen“ (Nüse et al. 1991, 2); es ist aktiv an der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit beteiligt. Zu den Gegebenheiten, auf denen soziales Handeln aufbaut, gehören Deutungssysteme, die vom Individuum im Laufe seines Entwicklungsprozesses zunehmend reflexiv verarbeitet werden. Dem Sozialkonstruktivismus geht es darum, „wie sich die gesellschaftliche Erfahrung von der sozialen Ordnung bildet“, also „um das Nachzeichnen und Sezieren der Entstehungsgeschichte oder um die Vorgeschichte sozialer Realität“ (Zimmermann 2003, 75). Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass die gedeutete Wirklichkeit in die soziale Praxis eingeht und wiederum Wirklichkeit entstehen lässt. Aktive Aneignung und Konstruktion von Welt beziehen bereits kollektive Interpretationen mit ein. Umgekehrt ist das Objekt plastisch gegenüber dem Konstrukt. Die Wirklichkeiten verschiedener Subjekte weisen Übereinstimmungen auf, aber nicht, weil der Wahrnehmungsapparat gleich ist, sondern weil es sich um gesellschaftliche, kommunikativ vermittelte Konstrukte handelt. Trotzdem kann Wirklichkeit nur in subjektiver Aneignung erfahren werden. In einer Studie des Sozialisationsprozesses stellen Berger und Luckmann (1996, 139 ff.) dar, wie 3
Vgl. dazu die Ausführungen von Werner Früh, der die Meinung vertritt, dass „Wahrnehmung keine völlig autonomen Kreationen hervorbringt.“ Siehe Früh 1994, bes. 23
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1 Vom „Zweck“ zum „Sinn“: Die Entwicklung der Organisationstheorie
sich das Kind zunächst mit seinen Bezugspersonen identifiziert und damit deren Weltsicht übernimmt. Die Vorstellungen über Institutionen, Sinnsysteme, kulturelle Formen und Sprache, die in dieser primären Phase verinnerlicht werden, sind mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit ausgestattet. Die Relativierung dieser Konstrukte erfolgt erst im Rahmen der sekundären Sozialisation, die mit dem Erwerb rollenspezifischen Wissens verbunden ist. Jedoch kann das in der sekundären Sozialisation erworbene Wissen die Selbstverständlichkeiten der primären Sozialisation nicht ganz verdrängen. Immerhin ist der Einzelne nun in der Lage, die Sichtweisen der Sozialisationsagenten auf ihre soziale Position und ihren Entstehungszusammenhang zu beziehen. Um Irritationen gering zu halten, werden permanent intersubjektive Abstimmungen, das heißt gegenseitige Vergewisserungen über die Wirklichkeit vorgenommen. Es bedarf der alltäglichen Konversation, um die subjektive Wirklichkeit zu sichern. Im Gespräch mit Menschen, die uns nahe stehen, mit „signifikanten Anderen“ also, wird in der Regel eher beiläufig auf Vorstellungen, auf Konstrukte Bezug genommen, die auf diese Weise objektiv erscheinen (Berger/Luckmann, a.a.O., 163 f.). Der Konstruktivismus hat mit seinen verschiedenen Strömungen bedeutenden Einfluss auf die „kognitive Wende“ (Scott 1995) in der Organisationstheorie gehabt. Wenn inzwischen Prozesse der Problemlösung, Informationsverarbeitung und Sinnzuweisung im Vordergrund der Organisationsanalyse stehen, dann ist dies nicht zuletzt auf den Konstruktivismus zurückzuführen. Organisationen stellen nach heutiger Erkenntnis keine objektive Wirklichkeit dar, deren Verfahrensweisen, Funktionen und Wirkungen unabhängig von den beteiligten Subjekten analysiert werden könnten. Vielmehr sind Organisationen als ein jeweils spezifisches Handeln zu verstehen, das als Ergebnis von Sichtweisen der Beteiligten zustande kommt. Organisationen sind „durch die Kombination von individuellen Handlungs- und Kognitionsprozessen in der Lage, einen eigenen, organisationsspezifischen, kollektiven Wahrnehmungs- und Interpretationsmodus zu entwickeln und kollektives Wissen zu produzieren“ (Wetzel 2001).
2 Die Schule und das Konstrukt der Rationalität
2.1 Schule und Organisationstheorie 2.1 Schule und Organisationstheorie Aus dem vorangestellten Resümee der Organisationsforschung ergeben sich für die Schulforschung folgende Postulate: 1.
2.
3.
Schule deckt sich nicht mit dem, was das Blueprint-Schema der Organisation vorgibt. Der Organisationsplan einer Schule, das heißt eine bestimmte hierarchische und arbeitsteilige Ordnung, verbunden mit Rechten und Pflichten, wie sie in Schulgesetzen, Gemeindeverordnungen, ministeriellen Erlassen usw. vorliegen, ist nur ein Entwurf, der – mit anderen konkurrierend – das darstellen soll, was sich an einem als ‚Schule ދbezeichneten sozialen Ort an Aktivitäten vollzieht. Die institutionelle Ordnung der Schule lässt die Vielfalt an Aktivitäten und sozialen Prozessen unberücksichtigt, die sich neben dem organisierten, planmäßigen und nach offizieller Deutung zweckgerichteten Geschehen entfalten. Nicht nur die juristisch-legalistische, an statuierten Normen orientierte Sichtweise stellt die Schule als zweckrationales soziales Gebilde dar, sondern auch die pädagogische. Das amtliche, an der institutionellen Ordnung orientierte Bild beschreibt – in idealisierter Form – Arbeitsprozesse, die einem oder mehreren vorgegebenen Organisationszielen zugeordnet werden; das pädagogische, professionell oder normativ-wissenschaftlich geprägte Bild erfasst Tätigkeiten und Maßnahmen unter dem Aspekt eines logisch stringenten Erziehungs- und Bildungskonzepts. Demgegenüber wird Schule von allen Beteiligten als Lebensraum erfahren, in dem unterschiedlichste soziale Bedürfnisse zur Geltung kommen. Ein an langfristigen Zielen orientiertes Handeln stellt nur eine unter zahlreichen anderen Möglichkeiten dar, auf das soziale Umfeld der Schule einzuwirken und zu reagieren. Schule kann als ein Teilsystem aufgefasst werden, das innerhalb eines größeren Systems Funktionen erfüllt. Funktionen sind beabsichtigte und unbeabsichtigte, bewusste und unbewusste Wirkungen auf andere Teilsysteme oder auf umfassendere Systeme. In modernen Gesellschaften sind Teilsysteme in komplexer Weise miteinander verbunden. Auch für die Schule gilt, dass Wirkungen, die von Teilsystemen ausgehen, vielgestaltig und zum
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4.
5.
2 Die Schule und das Konstrukt der Realität Teil indirekt sind. Für die Versorgung mit Ressourcen und den Fortbestand des Teilsystems sind glaubhaft gemachte Funktionen, nicht tatsächliche (funktionale) Wirkungen entscheidend. Schule verarbeitet Informationen über die Umwelt und entwickelt Sinn aufgrund von Regeln, die auf eigene Erfahrungen und Eigentümlichkeiten der jeweiligen Entwicklung abgestimmt sind. Zur Organisationskultur der Schule gehören Wert- und Normensysteme, Mythen und Symbole, die aufgrund von Sinnstiftung zustande kommen und mit denen sich die Organisation nach außen abgrenzt. Trotzdem kann sich die Schule externen Einflüssen nicht entziehen. Institutionelle Zwänge können zu einer – wenn auch nur mimetischen – Anpassung an die Umwelt führen. Schule ist Interaktion und Kommunikation. Was als Struktur der Schule ins Bewusstsein tritt, entsteht durch perpetuierte Formen zwischenmenschlichen Handelns. Diese soziale Wirklichkeit ist dem Begriff der Wirklichkeit gegenüber vieldeutig und plastisch. Das heißt, dass es wenig empirische Widerständigkeiten und daher ein breites Spektrum für Konstruktbildungen gibt. Veränderungen, die durch Konstrukte zustande kommen, schaffen wiederum neue Wirklichkeiten.
2.2 Schule, Konstrukt und Öffentlichkeit 2.2 Schule, Konstrukt und Öffentlichkeit In der Organisationsforschung allgemein und besonders auch in der Schulforschung sind ‚positivistische Fehlschlüsse ދweit verbreitet, die durch eine Orientierung an dem zustande kommen, was das Typische der Organisation zu sein scheint, nämlich arbeitsteilige, wiederkehrende Tätigkeiten, die zentralen Entscheidungsstellen unterworfen sind und von eigens dafür geschaffenen Kontrollorganen überwacht werden. Demgegenüber ist festzustellen, dass die normative Struktur von Schulen das aktuelle Geschehen nicht festlegt. Dieses ist vielmehr das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und kann nicht „von den Sichtweisen, Problemdefinitionen und Interessen der Organisationsmitglieder“ (Girschner 1990, 102) losgelöst werden. Entsprechend bedarf es einer Klärung im Einzelfall, „welche und wessen Definitionen von Realität und warum sich durchgesetzt haben und welche Kriterien bei der Gestaltung der Arbeitsorganisation faktisch wirksam geworden sind.“ (Girschner 1990, 102) Konstrukte, die sich auf die Schule beziehen, haben wichtige Funktionen bei dieser Auseinandersetzung. Sie sind nicht neutrale Hilfsmittel, die eine Orientierung ermöglichen, sondern bringen individuelle und kollektive Gestaltungswünsche zum Ausdruck. Die Bilder der Wirklichkeit sind durch Wünsche, kollektive Bestrebungen und Ziele ‚eingefärbtދ. Sie wirken sich auf Strukturen
2.2 Schule, Konstrukt und Öffentlichkeit
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aus, indem sie die Wirklichkeit, die sie beschreiben sollen, passend machen, oder sie rufen Abwehrmaßnahmen hervor, damit eine solche Angleichung nicht stattfindet. Wenn nämlich die am Erziehungsgeschehen Beteiligten, Lehrende und Lernende, Eltern oder Angehörige der Trägerorganisationen ein bestimmtes Konstrukt der Schule vor Augen haben, dann handeln sie anders als ohne einen solchen Bezugspunkt. Entweder sie sorgen dafür, dass die Wirklichkeit diesem Bild entspricht oder sie distanzieren sich, beurteilen das Konstrukt als falsch, übertrieben, verzerrt usw., möglicherweise auch als ‚Horrorgemäldeދ, und bemühen sich, so zu handeln, dass es nicht zu dem kommt, was das Bild beschreibt. Die Akteure des sozialen Systems Schule setzen selbst Konstrukte ein, mit denen sie die Konstrukte von anderen vergleichen, um sodann diese zu unterstützen oder möglicherweise auch abzuwehren. Konstrukte haben mit anderen Worten eine politische Funktion, indem sie die soziale Praxis nicht nur beschreiben, sondern auch bewusst formen. Ideologisch sind derartige Bilder dann, wenn Viabilität vorgetäuscht wird, zum Beispiel auf der Grundlage einer bloß internen Stimmigkeit. Ideologieverdacht ist insbesondere dann naheliegend, wenn Interessenstandpunkte sichtbar werden und die Produzenten trotz empirischer Widerständigkeiten ihre Konstrukte durchzusetzen versuchen. Konstrukte sind Orientierungsangebote, die nicht zuletzt auch mit dem Ziel ‚hergestellt ދwerden, dass es zu Anschlusshandlungen kommt. Einige Konstrukte drängen sich geradezu auf, andere sind von vornherein als ideologisch identifizierbar. Würde sich eine Schule mit durchschnittlichen oder sogar unterdurchschnittlichen Schülerleistungen als ‚Eliteschule ދbezeichnen, dann würde danach gefragt werden, welche Gruppe an einer derartigen Aufwertung interessiert ist, da das Bild mit den Erfahrungen und dem Wissen von vielen nicht übereinstimmt. Allerdings sind die Grenzen fließend. Welche Erfahrungen, welche empirischen Indikatoren müssen gegeben sein, damit ein Konstrukt akzeptiert wird? Wie gut müssen Schüler bei Leistungstests abschneiden, damit sie dem Bild einer Eliteschule entsprechen? Das Konstrukt selbst kann mehr oder weniger diffus sein, also in unterschiedlichem Maß Wirklichkeit ‚verkraftenދ. Das Verhältnis eines Konstruktes zu einer wie auch immer definierten Wirklichkeit ist grundsätzlich ungewiss. Konstrukte wirken also auf die soziale Wirklichkeit ein, ja sind Waffen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.1 Die Anerkennung eines Konstruktes 1
Wenn hier Konstrukt und Wirklichkeit getrennt werden, dann nur in dem Sinn, dass es Emanationen des Sozialen gibt, die sich dem Zugriff des Einzelnen nicht ohne weiteres fügen. Nichtsdestoweniger soll davon ausgegangen werden, dass diese Wirklichkeit aus dem (aktuellen) Handeln hervorgegangen ist. Die Wirklichkeit ist die vorfindbare und aus der Vergangenheit hervorgegangene Struktur des Handelns. Sich über diese zu verständigen und in aktuelles Handeln umzusetzen, soll Erfahrung genannt werden. Konstrukte geben vor, sich mit
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2 Die Schule und das Konstrukt der Realität
impliziert, dass sich die Akteure eines Handlungsfeldes an vermeintlichen Tatsachen ausrichten. Im Bereich des Sozialen ist die Wirklichkeit jedoch alloplastisch und konstituiert sich auf der Grundlage von Erwartungen. Um auf das Beispiel zurückzukommen: Wenn sich eine Schule, Lehrkräfte, Schulleitung, Ehemalige, die Schülerschaft, Eltern, Trägerorganisationen und Politiker, mit dem Anspruch der Eliteschule durchsetzt, wenn es also keinen nennenswerten Widerstand von Seiten des sozialen Umfeldes oder der Öffentlichkeit gibt, dann kommt es auch zu entsprechenden Folgehandlungen, zum Beispiel indem Ressourcen zwecks Eliteförderung umgelenkt werden, Arbeitgeber die Absolventen dieser Schule bevorzugen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die diese Schule besuchen wollen und damit auch die Zahl der vom Schulbesuch ausgeschlossenen Bewerber, das heißt die Exklusivität zunimmt usw. Möglicherweise haben die Produzenten solcher Konstrukte so viel Einfluss auf die Öffentlichkeit und auf Institutionen der Wirtschaft und der Politik, dass Widerspruch bezüglich der Berechtigung dieser Behauptungen folgenlos bleibt, ja mit der Zeit auch seine Plausibilität verliert. Wenn Lehrer und Schüler der zunächst durchschnittlichen Schule aufgrund des Konstrukts besser motiviert sind, wenn Sponsoren für die Schule gewonnen werden können und die Ausstattung aufgewertet wird, verlieren die empirischen Widerständigkeiten ihre Bedeutung. Es zeigt sich also, dass die soziale Realität den kommunizierten Bedeutungszuweisungen gegenüber formbar ist und Strukturen anpassungsfähiger sind, als es zunächst scheint. Die Empirie verändert sich durch Interpretation. Aus diesem Grund haben Konstrukte, die sich auf die Schule beziehen, auch eine praktische Dimension. Der Marktplatz, auf dem Konstrukte gehandelt werden, ist die Öffentlichkeit. Konstrukte brauchen, um handlungsmächtig zu sein, allgemeine Anerkennung, die durch prinzipiell uneingeschränkte Kommunikationschancen gewährleistet werden kann. Öffentlichkeit ist ein zugangsoffener Kommunikationsraum (Neidhardt 1994 ). Die Grenzenlosigkeit der Kommunikation, durch die sich Öffentlichkeit von Privatheit unterscheidet, bedeutet, dass ich das, was ich weiß, bei entsprechender Relevanz auch als Wissen bei anderen unterstellen kann (Luhmann 1979). Darüber hinaus findet, gerade weil der Kreis der Beteiligten nicht festgelegt ist, durch Öffentlichkeit eine Selektion von Themen statt. Indem Themen nach ihrer Bedeutung, nach Einstellungen, Interessen und Werten der Medienakteure sowie nach ihrem vermuteten Nachrichtenwert ausgewählt werden, schafft Öffentlichkeit die Bedingung für anschlussfähige Kommunikation. Allerdings ist, da „Öffentlichkeiten als partielle KommunikaErfahrungen zu decken. Konstrukte, die sich mit der Erfahrung decken, werden als viabel bezeichnet.
2.2 Schule, Konstrukt und Öffentlichkeit
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tionsräume nicht mehr von allen Bürgern in gleicher Weise genutzt werden, sie sich teilweise ausschließen und zueinander in Opposition treten können“, bei der gesellschaftlichen Strukturanalyse von „pluralen Öffentlichkeiten“ auszugehen (Hickethier 2003, 207). Für Habermas (1971) ist Öffentlichkeit der Ort, an dem Probleme von allgemeinem Interesse diskutiert und einer vernünftigen Lösung zugeführt werden. Dadurch, dass niemand vom Diskurs ausgeschlossen wird, werden auch partikularistische, nur den Interessen Einzelner dienende Entscheidungen verhindert. Dieses Modell einer deliberativen Demokratie deckt sich – so Habermas – aber nicht mit aktuellen Verhältnissen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Zivilgesellschaft gegen „vermachtete Interessen“ behaupten muss (Habermas 1992). Neidhardt (a.a.O.) betont in einer Funktionsbestimmung der Öffentlichkeit die Aufgabe der Validierung, das heißt der Gültigkeitsprüfung. Auch für ihn verbindet sich Öffentlichkeit mit der Chance zu vernunftmäßigen Lösungen. Voraussetzung ist für Neidhardt, ähnlich wie für Habermas, dass Öffentlichkeitsakteure bereit sind, sich dem besseren Argument zu fügen, also ihre eigene Meinung unter dem Druck der Argumente möglicherweise zu revidieren. Ein Konstrukt, das ‚veröffentlicht ދwird und auf Resonanz stößt, wird zum Thema. Eine Broschüre zum Beispiel, die das Profil einer Schule beschreibt, macht diese Darstellung der Schulwirklichkeit zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Lehrkräfte, auch solche anderer Schulen, sowie Eltern und Jugendliche unterhalten sich über die Schule, die sich so an die Öffentlichkeit wendet. Einzelheiten werden möglicherweise von den lokalen Medien aufgegriffen. Die Veröffentlichung ermöglicht somit Anschlusskommunikation. Gesprochen wird unter Umständen auch darüber, was man sonst über die Schule hört. Es wird also geprüft, ob das entworfene Bild angemessen ist. Dysfunktionale Konstrukte, die hinsichtlich ihrer „mitgelieferten Realitätsannahmen“ nicht funktionieren, „führen zu Irritationen der anderen Systeme“ (Rolke 2004, 135). Möglicherweise kommt es – in privaten Zirkeln, bei Informationsveranstaltungen oder in den lokalen Medien – zu einer Diskussion über allgemeine Kriterien der Schulqualität und über sinnvolle Bildungsziele. Die Schule (als kollektiver Akteur) erhofft sich mit ihrer Broschüre, möglichst viele von ihrer Sicht zu überzeugen, und zwar in Hinblick auf das Schulgeschehen selbst und auf weitere Beschreibungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen pädagogische Schwerpunktsetzungen gerechtfertigt werden. Darüber hinaus geht es für die Schule vielleicht darum, andere zu einem Handeln zu veranlassen, das für sie günstig ist und das sich implizit oder explizit aus dem Konstrukt ergibt, also zum Beispiel dass Eltern ihre Töchter und Söhne bei der Schule anmelden oder in ihrem Bekanntenkreis für ein günstiges Meinungsklima sorgen. Nichtsdestoweniger unterliegt das Bild, das die Schule von sich selbst
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2 Die Schule und das Konstrukt der Realität
entworfen hat, der öffentlichen Meinungsbildung. Das heißt, dass das Konstrukt möglicherweise auf Kritik stößt und dass auch andere, Medienakteure etwa und weitere gesellschaftlich relevante Personen und Gruppen wie politische Parteien, die Elternschaft oder die Schulverwaltung, Einspruch erheben und eigene Entwürfe in die öffentliche Kommunikation einbringen. Schulen, die Konstrukte generieren, werden wiederum Objekte einer Konstruktbildung durch die Öffentlichkeit. Das heißt, dass es in der Öffentlichkeit eine Meinungsbildung gibt, die sich auf Gegenstände von gesellschaftlicher Relevanz bezieht, und zwar sowohl auf der Grundlage persönlicher Kontakte als auch im Rahmen mediatisierter Diskurse. Sofern es sich um soziale Objekte handelt, haben Konstrukte bereits eine wichtige Funktion in der Beschreibung, da zum Beispiel die Schule als Institution mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung gar nicht erfasst werden kann. Die Gesellschaft ist aus Gründen der Orientierung auf Konstruktbildungen angewiesen, wobei unterschiedlichste Informationen berücksichtigt und kategorial eingeordnet werden. Was die Schule angeht, so ist wohl am ehesten die Öffentlichkeit derjenigen zu erreichen, die im weitesten Sinn als Betroffene bezeichnet werden können, die also bereits Kunden oder Klienten der Organisation sind oder die einen entsprechenden Bedarf haben, also zukünftig in den Status des Kunden oder Klienten eintreten könnten und deswegen an den Erfahrungen anderer interessiert sind. Geht es um einzelne Schulen und nicht um ‚das Bildungswesen ދinsgesamt, dann ergeben sich für diese Teilöffentlichkeiten (Franck 2004, 22) Überschneidungen mit der lokalen Öffentlichkeit, also mit dem Personenkreis derjenigen, die schon aufgrund der physischen und sozialen Nähe an dem Objekt der Konstruktbildung interessiert sind. Dagegen ist die Medienöffentlichkeit, die – von lokalen Medien abgesehen – eher allgemeine Schulangelegenheiten oder Bildungsfragen zum Thema hat, schon deswegen schwerer zu beeindrucken, weil sie nur einen Bruchteil der Informationen verarbeiten kann, die an sie herangetragen werden. Die Aufmerksamkeit der Medienakteure für ein Thema zu gewinnen, stellt vielfach bereits eine unüberwindbare Hürde dar (Esch/Wicke 2000, 17). Es ist also zu bedenken, dass die Schule durch eigene Initiativen Beiträge zu den in der Öffentlichkeit verbreiteten Konstrukten erbringen kann, dass aber ihr Einfluss angesichts der allgemeinen Konkurrenz um mediale Aufmerksamkeit begrenzt ist. Im Folgenden geht es um die Frage, welche Rolle die Schule bei der Genese von Konstrukten über Bildungseinrichtungen übernimmt und welche Konstrukte sich in der Öffentlichkeit durchsetzen. In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, wie sich das Rationalitätskonstrukt, das – wie im Neo-Institutionalismus herausgearbeitet wurde – für Organisationen allgemein verbindlich ist, auf
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Schulen auswirkt und wie Schulen selbst an der Erstellung dieses Konstruktes beteiligt sind. 2.3 Schule als Rationalitätskonstrukt 2.3 Schule als Rationalitätskonstrukt Auch für die Schule gilt die Notwendigkeit, sich als rational, das heißt als effizientes Mittel zur Erreichung von Zielen, in der Öffentlichkeit darzustellen. Obwohl die Existenz des Bildungssystems nicht infrage gestellt wird, können doch, bezogen auf einzelne Schulen und Schultypen, Ressourcenzuweisungen eingestellt oder gekürzt, ja sogar Schulen geschlossen werden, wenn sie aufgrund ihrer Zielsetzungen oder Methoden nicht allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen, wenn zum Beispiel Ziele als unsinnig und Methoden als ungeeignet erscheinen. Die Schulverwaltung hat die Aufgabe, die materiellen und personellen Voraussetzungen des Schulbetriebs, die für pädagogische Prozesse notwendig sind, sicherzustellen. Außerdem geht es um die Kontrolle von Effizienz. Die Schule muss mit der Dokumentation des Mitteleinsatzes und dem Nachweis eines ordnungsgemäßen Ablaufs von Unterricht und Prüfungen zeigen, dass sie den durch die Schulgesetze und ministeriellen Erlasse vorgegebenen Zielen nachkommt. Dass dabei ein „ehernes Gehäuse“ (M. Weber) geschaffen werden kann, dass Schulbehörden über Dienstvorschriften und Erlasse den Lehrkräften zu wenig Spielraum bieten, um auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler genügend eingehen zu können, ist ein Allgemeinplatz der Schulkritik. Die Schulbürokratie, die sich gegen alle pädagogischen Anfechtungen behauptet, folgt jedoch den gesellschaftlichen Erwartungen an die Rationalität des Schulgeschehens. Schulen gelingt die Sicherung des Ressourcenzuflusses nur „bei entsprechender gesellschaftlicher Anerkennung der Legitimität dieser Organisationen, deren formale Strukturen daher den vorherrschenden Erwartungen und Anforderungen an eine moderne und rationale Organisation entsprechen müssen“ (Schäfers 2002, 842). Nicht nur das Schulwesen mit seinen Untergliederungen, sondern auch die einzelnen Schulen müssen ihre Rationalität nachweisen, wobei selbstverständlich die Übereinstimmung mit Vorschriften der Schulbürokratie nicht ausreicht. Besonders mit dem Zuwachs von Autonomie wächst für einzelne Schulen der Druck, ihre Rationalität plausibel zu machen. Einerseits geht es darum, in der Öffentlichkeit Vertrauen dafür zu schaffen, dass anerkannte Verfahren eingehalten werden und dass der Einsatz von Ressourcen sparsam und effizient erfolgt; andererseits legitimieren sich Schulen durch die Umsetzung normativer Vorschriften und pädagogischer Zielsetzungen, wobei zusätzlich eine Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand belegt werden muss. Es
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kommt also darauf an, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, mit den gesellschaftlichen, vor allem aber den ministeriellen Zukunftsentwürfen sowie den daraus abgeleiteten Handlungsanweisungen und Maßstäben konform zu gehen und gleichzeitig im Besitz geeigneter (wissenschaftlich abgesicherter) Technologien zu sein. Schulen „müssen sich als reformwillige und -fähige Organisationen präsentieren, die imstande sind, den modernen und anerkannten Vorstellungen über eine effektive und effiziente Schulorganisation zu entsprechen“ (Schaefers a.a.O., 845). Wenn Luhmann und Schorr (1979; 1982) demgegenüber, wie bereits angesprochen, von einem „Technologiedefizit“ der Pädagogik ausgehen, dann meinen sie damit, dass Wissenschaft und Organisationshandeln auf unterschiedlichen Prämissen beruhen. Wissenschaft, Organisation und pädagogische Praxis repräsentieren unterschiedliche Systemebenen, die nach Luhmann und Schorr nicht zusammen in einen höheren Aggregationszustand gebracht werden können. Damit verbindet sich die Schlussfolgerung: „Operationen im Bereich der Wissenschaft und der Organisation des Erziehungssystems behalten im Verhältnis zum funktionstragenden Unterricht eine Art Eigenständigkeit …“ (Luhmann/Schorr 1979, 130) Das heißt auch, dass Entscheidungen, die für den Unterricht getroffen werden, sich nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben. Ebenso ist es nicht möglich, Misserfolge systematisch auf Fehlerquellen zurückzuführen. Es besteht eine Ungewissheit, „ob es am Wissensstande, an den Organisationsformen oder am eigenen Verhalten liegt, wenn Misserfolge eintreten oder ein gegebenes Leistungsniveau nicht weiter angehoben werden kann“ (Luhmann/Schorr 1979, 127). Nichtsdestoweniger müssen aber Schulen den Anspruch erheben, über eine Technologie zu verfügen, die Strukturen verbindlich macht und die das pädagogische Handeln vor Ort begründbar steuern kann. Für diese Diskrepanz und die daraus resultierende Ungewissheit müssen, so Luhmann und Schorr, „passende Legitimationsformeln“ gefunden werden (Luhmann/Schorr 1979, ebd.). Um Rationalität trotz der beschriebenen Schwierigkeiten plausibel zu machen, werden Organisationsmodelle und Handlungsempfehlungen nicht nach den Kriterien einer sachlichen, sondern vielmehr einer logischen Stringenz konstruiert. Verfahrensregeln und pädagogische Konstrukte sind demnach in erster Linie als gedankliche Idealtypen nachvollziehbar und widerspruchsfrei. Was an Maßnahmen verordnet wird, muss in Hinblick auf Voraussetzungen und Folgen, Mittel und Ziele zueinander passen, auch wenn diese Kohärenz nur auf begrifflicher Ebene zutrifft. In welchem Maße die Schulwirklichkeit den gesetzlichen, ministeriellen, behördlichen und pädagogisch-wissenschaftlichen Regelungen bzw. Empfehlungen entspricht, ist für die Erstellung von Rationalitätskonstrukten von zweitrangiger Bedeutung. Erforderlich ist in erster Linie ein gedankliches, nicht zuletzt auch begrifflich-theoretisches stimmiges Bild des Schul-
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geschehens und der damit verbundenen Zielsetzungen. Die logische Stringenz und die empirisch-alltagstheoretische Plausibilität des Konstrukts entscheiden darüber, ob die Schulwirklichkeit als eine rationale und legitime Umsetzung gesellschaftlicher Vorgaben akzeptiert wird. Derartige Konstrukte stoßen aber nur solange auf Zustimmung, wie die Praxis nicht in irgendeiner Weise auffällig ist. Im Allgemeinen tritt die Disparität von Realität und Konzept nicht ins Bewusstsein und wird auch nicht zum Thema der Öffentlichkeit, sodass bei administrativen Verordnungen auf die Empirie keine Rücksicht genommen werden muss. Anders verhält es sich, wenn es zu Vorfällen kommt, die dem Bild der rationalen Regelhaftigkeit widersprechen. Wenn das Rationalitätskonstrukt vorgibt, dass Allgemeinbildung, Erziehung und Qualifizierung durch einen in Stunden zu bemessenden Unterricht realisiert wird, also mit einem Mittel, das genau quantifiziert werden kann, dann lassen zum Beispiel Unterrichtsausfälle darauf schließen, dass die Erreichung dieses Ziels gefährdet ist. Wenn es zu Unterrichtsausfällen kommt, kann dies im öffentlichen Diskurs zu der Frage führen, ob die Erreichung des ‚Unterrichtszieles ދnoch gewährleistet sei. Auch deviantes Verhalten auf Seiten der Lehrerkräfte oder der Schülerinnen und Schüler lässt Zweifel an den in der Öffentlichkeit kursierenden Konstrukten entstehen, und zwar weil es, obwohl es ebenso zur sozialen Wirklichkeit gehört wie normkonformes Verhalten, im Rationalitätsmodell nicht vorgesehen ist. Offenkundiges deviantes Verhalten könnte weitere Abweichungen anzeigen, ja auf einen allgemeinen Zustand der Anomie schließen lassen. Das Rationalitätsmodell wäre also in diesem Fall keine hinreichende, das heißt von der Öffentlichkeit zu akzeptierende Beschreibung der Wirklichkeit. Allerdings bieten sich für Devianz noch weitere Interpretationen an. Ein unkonventionelles Verhalten von Lehrern kann zum Beispiel durchaus als eine für pädagogische Abläufe günstige, das heißt zielkonforme Eigenart angesehen werden. Ähnliches gilt für spontane Handlungen von Schülern, da sie möglicherweise als Beleg für Kritikfähigkeit, Kreativität oder Autonomie angesehen werden. Deviantes Verhalten in der Schule ist ambivalent; es lässt nach Normen und deren Gültigkeit, nach der Hierarchie von Normen und Maßstäben, also einer höheren Ebene der Sinnhaftigkeit, sowie – schließlich – nach Definitionsprozessen und Definitionsinstanzen fragen. Eine Ausnahme bildet die Ausübung von Gewalt, für die es nur einen sehr begrenzten Ermessensspielraum gibt. Spektakuläre Gewalthandlungen widersprechen dem Rationalitätsmodell und lösen Legitimitätskrisen aus. Gewalt ist eindeutig ‚negativދ, störend und nicht zum pädagogischen Geschehen passend; sie verlangt daher nach wissenschaftlicher Einordnung und technologischer Bewältigung. Dazu trägt auch bei, dass Gewalt plötzlich auftritt. Vor allem
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dramatische Ereignisse bringen die Fassade erziehungswissenschaftlicher Rationalität ins Wanken. Nicht so sehr das deviante Verhalten als solches, sondern dessen Unvorhersehbarkeit ist es, was in einer von Rationalitätsmythen ausgehenden Öffentlichkeit irritiert. Um den Rationalitätsglauben wiederherzustellen, besteht auf Seiten der Schule die Tendenz, den Ausbruch von Gewalt als Ausnahmeerscheinung zu kennzeichnen und die ‚Schuld ދso zu attribuieren, dass ‚die Gesellschaftދ, nicht aber die Schule als Verursacher erscheint. Für das Rationalitätsmodell der Schule sind aber auch die Vorgänge problematisch, die sich auf der Hinterbühne (Goffman) des Schulgeschehens ereignen. Dass Schülerinnen und Schüler Gegenstand des Klatsches unter Lehrern sind, dass sich Lehrer für das Privatleben der Schüler, für biografische Besonderheiten, für ihr Äußeres, ihre Physiognomie und ihre Figur interessieren, dass Lehrer also nicht nur professionell, sondern auch affektiv auf Schülerinnen und Schüler reagieren, bleibt sowohl diesen selbst als auch der Öffentlichkeit verborgen. Die Kommunikation unter Kollegen ist geschützt durch Kommunikationsgrenzen, und zwar besonders, sofern man sich in der Lehrerschaft in einer Weise über Schüler unterhält, die nicht dem Rationalitätsmodell entspricht. Lehrer dürfen darüber hinaus keinen vertraulichen Umgang mit Schülern pflegen, sofern dies eine unter den Lehrern gebotene Vertraulichkeit aufhöbe; die Vertraulichkeit innerhalb der Lehrerschaft hat also immer Vorrang. Ebenso sind es Ungleichbehandlungen, persönliche Rücksichtnahmen von Lehrkräften gegenüber einzelnen Schülerinnen und Schülern, die zwar an der Tagesordnung sind, die aber das Raster des vorgeschriebenen rationalen Handelns nicht vorsieht. Zur Realität des Schullebens zählt, dass Lehrer, etwa bei der Notengebung, ‚Ausnahmen ދmachen, und zwar weil Schüler einflussreiche Eltern haben oder weil sich Schüler in einer familiären Notlage befinden. Auch private Vorgänge unter den Lehrkräften, besonders solche, die auf persönliche Defizite schließen lassen, werden der Sichtbarkeit entzogen. Mangelnde wissenschaftliche oder pädagogische Qualifikation, gescheiterte Beziehungen, ebenso Stigmata wie zum Beispiel Suchtkrankheiten, Konflikte unter Lehrern, Antipathien und Mobbing, aber auch dunkle Stellen im Lebenslauf, unfreiwillige Versetzungen etwa, also Aspekte, die die Schule nicht unter dem Gesichtspunkt einer zielspezifischen Dramaturgie erscheinen lassen, gehören nicht in das Bild der Schule, weil andernfalls ihre pädagogische Rationalität infrage gestellt würde. Resümierend lässt sich feststellen, dass die Schule in der Öffentlichkeit als das erscheint, was Entwürfe, Bedeutungszuschreibungen, Bilder und Interpretationen von ihr behaupten. Das Schulgeschehen ist politischen und ökonomischen Prozessen unterworfen und vollzieht sich in einem rechtlichen Rahmen, der wiederum ein bestimmtes Verwaltungshandeln impliziert. Was somit in dieser Institution stattfindet, muss als Bildung, als Erziehung oder als Wissens-
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vermittlung rationalisiert werden. Das Rationalitätsmodell gibt den hegemonialen Code wieder; die am Schulgeschehen Beteiligten und Interessierten richten ihre Kommunikation am Rationalitätsmodell aus. Andere, möglicherweise konkurrierende Bilder und Interpretationen dürfen nicht zugelassen werden. Das offizielle Bild der Schule lässt keinen Zweifel daran, dass Schule ‚wirksam ދist, dass also die Kommunikationsangebote der Schule in vorhersagbarer Weise ihren Adressatenkreis fördernd und steuernd beeinflussen. Diese Leitvorstellung ist auch aus pragmatischen Gründen naheliegend. Das gesellschaftliche Umfeld der Schule geht, schon um planen zu können, von objektivierbaren Ergebnissen des Unterrichts und der schulischen Erziehung und Bildung aus. Dennoch ist der Kontrast zwischen den Manifestationen der Schule in der Öffentlichkeit, ihrem allen sichtbaren institutionellen Aufbau sowie der Verflechtung in planbare und sogar justiziable Abläufe, und der Flüchtigkeit dessen, was als das Ergebnis der zielgerichteten, dem Selbst- und Fremdbild der Schule entsprechenden Aktivitäten angesehen werden könnte, vorhanden und bewirkt, dass die Konstrukte, die das Schulgeschehen umgeben, zwar mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit ausgestattet werden, jedoch auch fragil sind und vielfältige Strategien zur Lenkung öffentlicher Aufmerksamkeit erforderlich machen. Die Mittel, Rationalität glaubhaft zu machen, sind ungleich verteilt. Zum Beispiel müssen Schulen, die keinen Einfluss auf die Zusammensetzung ihrer Schülerschaft haben, die darüber hinaus noch in einem Wohnquartier mit marginalisierter Bevölkerung angesiedelt sind, mit dem Vorwurf rechnen, dass sich das Schulgeschehen nicht nach rationalen Regeln vollzieht. Das Konstrukt eines rationalen Schulgeschehens deckt sich möglicherweise nur mit bestimmten Erscheinungen, die längst nicht die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler betreffen und die auch nicht annähernd den Tagesablauf in der Schule ausmachen, sondern nur situativ hervorgebracht werden können. Kontrolleure, die im Auftrage einer internen oder externen Instanz Rationalität überprüfen sollen, nehmen die Unzulänglichkeit des Rationalitätskonstrukts wahr. Das heißt aber nicht, dass das Rationalitätsmodell aufgegeben oder die Diskrepanz zur vorfindbaren und offensichtlichen Wirklichkeit skandalisiert würde. Vielmehr gibt es ein geheimes Einverständnis zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten, solche Beobachtungen auszuklammern, die sie zwingen würden, den Konstruktcharakter des Rationalitätsmodells zu thematisieren. Die Annahme, dass es gesellschaftlich akzeptierte, realistische Ziele für das Schulgeschehen gibt, dass geeignete ‚Technologien ދzur Verfügung stehen, um diese zu verwirklichen, und dass sich diese in Maßnahmen umsetzen lassen, die in herkömmlicher Weise als Unterricht bezeichnet werden, steht außer Frage. Sie bildet im Umgang mit Außenstehenden den Subtext, auf den trotz aller Widersprüchlichkeiten zurück-
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gegriffen wird. Wenn sich Schulleitung und Lehrerschaft an dieser Kommunikation beteiligen, obwohl sie den Eindruck haben, „eine Show“ zu veranstalten, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie ressourcenmindernde Konsequenzen vermeiden möchten. Hinzu kommt, dass sich das persönliche Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun, schwer abweisen lässt. Das Rationalitätskonstrukt der Schule kann daher auch dann, wenn es sich nur noch für marginale Wirklichkeiten als viabel erweist, nützlich sein, und zwar in der Verhinderung anomischer Reaktionen, also zum Beispiel eines sinntleerten Ritualismus oder der mit dem Begriff des Burn-out-Syndroms belegten Motivationsblockaden. Für diejenigen, die nicht bereit sind, die Wirklichkeit dem Konstrukt zu opfern, sind demgegenüber Orientierungsprobleme unvermeidlich, wenn sie der Situation nicht entfliehen können. Derartige Ent,täuschungen ދhaben destruktive Wirkungen nicht nur bei den Betroffenen, sondern möglicherweise auch in ihrem sozialen Umfeld, indem sie andere zur Skepsis gegenüber dem hegemonialen Code veranlassen. 2.4 Rationalität und Veränderung 2.4 Rationalität und Veränderung Da Rationalität heute ohne Wissenschaft nicht denkbar ist, Wissenschaft aber ständig neue Erkenntnisse hervorbringt, also sich wandelt, müssen Schulen mit ihren Rationalitätsnachweisen auch Veränderungen – als Gegensatz zu Stillstand – belegen. Die für das Bildungswesen zuständige Administration, mehr und mehr aber auch die einzelnen Schulen, sehen sich daher dem Zwang ausgesetzt, nicht Gegebenes zu verwalten, sondern durch Initiativen und Reformvorschläge die Umsetzung von Erkenntnisfortschritten zum Ausdruck zu bringen. Mit neuen Methoden und Unterrichtsinhalten und einem darauf abgestimmten Umbau der Organisationsstruktur kann in der Öffentlichkeit eine Legitimierung durch die Wissenschaft in Anspruch genommen werden. Da im Alltagsverständnis die Erziehungswissenschaft akkumulierbares Wissen hervorbringt, das wiederum Durchbrüche erzeugt und zu einem besseren Verständnis ‚natürlicher ދVorgänge führt, also mit einem den Naturwissenschaften vergleichbaren Erkenntnisfortschritt einhergeht, müssen alle an der Leitung von Schulen beteiligten Personen und Institutionen diesem Ablaufmodell naturwissenschaftlicher Forschung und technischer Umsetzung folgen, also dem Rechnung tragen, was – aus der jeweils spezifischen Sicht – der aktuellste Stand erziehungswissenschaftlicher Forschung zu sein scheint. Es geht also bei allen administrativen, pädagogisch methodischen und didaktischen Maßnahmen, die im Bereich der Schule durchgeführt werden, auch um den Nachweis, dass die für diese Maßnahmen Verantwortlichen den Stand
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der wissenschaftlichen Forschung rezipiert haben und damit auf der Höhe der Zeit sind. Die Verbindung zwischen Wissenschaftlichkeit und organisatorischer Umstrukturierung ist im Bereich der Schule sogar noch direkter als in anderen Institutionen, zum Beispiel in Wirtschaftsbetrieben, wo dem Wissen von Praktikern ein höheres Gewicht zukommt. Erfahrung und Intuition der professionell Handelnden haben im Bildungswesen gegenüber dem Expertentum der Wissenschaft eine geringere Bedeutung. Rationalität wird nicht unter Berufung auf Erkenntnisse aus der Praxis, sondern auf die Einsichten der Wissenschaft begründet. Es fehlt also der pädagogischen Berufsarbeit eine gegenüber der Wissenschaft in Geltung zu bringende Evidenz. Während das in der Wirtschaft erworbene Wissen sogar noch auf die Wissenschaft ausstrahlt und diese dazu zwingt, praxisnah zu sein, gilt die pädagogische Erfahrung in der Öffentlichkeit als antiquierte Grundlage des beruflichen Handelns. Dem entspricht, dass die Lehrerschaft als Berufsgruppe schon seit Beginn des Professionalisierungsprozesses die Wissenschaftlichkeit ihres Handelns geltend macht. Dem Modell einer Wechselwirkung zwischen Praxis und Theorie, zwischen Primärerfahrung und systematischer Forschung fehlt es allerdings an Akzeptanz. Lehrer werden nicht als souveräne Experten anerkannt, die in der Wissenschaft und im Berufsalltag gleichermaßen zuhause sind und sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse anwenden als auch aufgrund ihrer Erfahrungen auf die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung Einfluss nehmen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Praxis nur in unvollkommener Weise Theorie generieren kann, sodass die Wissenschaft als der Sitz der Rationalität und des Erkenntnisfortschritts gilt. Lehrer, Schulleitung und Behörden müssen, wenn es um Außenwirkungen geht, Anleihen bei den Institutionen der Wissenschaft machen, um sich Rationalität bescheinigen zu lassen, während das pädagogische Erfahrungswissen in die marginalisierten Bereiche des ‚coachingދ, also der Mentorentätigkeit sowie des informalen Gesprächs unter Kolleginnen und Kollegen abgedrängt wird. Wenn die Gesellschaft Probleme generiert, die von Schulen bewältigt werden müssen, dann sind für die Beteiligten wissenschaftliche Konzepte wenig attraktiv. Der permanente Handlungsdruck lässt die von der Wissenschaft vorgeschlagenen Modelle als zu abstrakt und zu allgemein erscheinen, um in konkreten Situationen hilfreich zu sein. Während die Öffentlichkeit, je mehr die Alltagsprobleme von Schulen in Erscheinung treten, darauf beharrt, dass Neugestaltungen auf wissenschaftlicher Grundlage vorgenommen werden müssen, erzeugt die Praxis einen direkten, unmittelbaren Handlungsdruck. Das bedeutet, dass die pädagogische Interventionspraxis nicht standardisierbar ist, die Kategorisierungen bzw. „Diagnosen“ aber auf der Grundlage standardisierten Wissens erfolgen sollen (Oevermann 2008). Gerade weil auf alltägliche Herausforderungen nur mit Ad-hoc-Lösungen reagiert werden kann, ist die Bereitschaft,
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allgemeinen, aber auch abstrakten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu folgen, begrenzt. Nichtsdestoweniger müssen, wie bereits Meyer und Rowan (1977) gezeigt haben, Konzepte übernommen werden, um Isomorphie zwischen der Schule und einer an Wissenschaftlichkeit orientierten Gesellschaft herzustellen. In allgemein-öffentlichen Diskursen sowie in der Teilöffentlichkeit der Wissenschaft werden Modelle vorgeschlagen, denen sich auch die Politik anschließt, zumal wenn diese sich innerwissenschaftlich durchgesetzt haben und logisch stringent erscheinen. Die Schule richtet, sofern unvermeidbar, Teile ihres Organisationsschemas sowie ihre offizielle Semantik an diesen Konzepten aus, ohne dass sich die tatsächlichen Handlungsstrukturen nach ihnen richten. Auch Wirtschaftsbetriebe übernehmen von Unternehmensberatungsfirmen konzeptuelle und strukturelle Neuerungen, die wissenschaftliche Dignität für sich in Anspruch nehmen, und zwar nicht deshalb, weil sie sich davon eine Effizienzsteigerung versprächen, sondern um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie sich gegenüber modernen Erkenntnissen nicht verschließen und mit der Entwicklung des Organisationswissens Schritt halten (Meyer und Rowan 1977; Hasse/Krücken 2005). Viele Neuerungen spielen sich jedoch nur an der Oberfläche ab, obwohl – wie bereits erwähnt – die Spanne zwischen dem systematischen, wissenschaftlichen Wissen und dem praktischen Erfahrungswissen im Falle der Betriebswirtschaftslehre relativ gering ist. Was das Bildungswesen betrifft, so können Schulen Szenarien entwickeln, um die Ansätze zu einer wissenschaftlich abgesicherten, administrativ empfohlenen Problemlösung der Öffentlichkeit vorzuführen, während in der Praxis des Schulgeschehens Veränderungen eher in kleinen Schritten und auf der Grundlage alltäglicher Erfahrungen vorgenommen werden. In der Öffentlichkeit bleibt so die Hoffnung erhalten, dass die gesellschaftlichen Probleme, die sich in der Schule artikulieren, mit Mitteln der Wissenschaft bewältigt werden können und sich schon auf dem Weg der Lösung befinden. 2.5 Schule, Dienstleistung, Rationalität 2.5 Schule, Dienstleistung, Rationalität Rationalitätsnachweise haben in Dienstleistungsorganisationen deswegen eine besondere Bedeutung, weil es im tertiären Sektor noch weniger als im Bereich der Produktion eine Wirklichkeit gibt, die als Leitlinie für Konstrukte in Frage kommt, die also die Spielräume der Interpretation einengt. Während das verarbeitende Gewerbe Erzeugnisse hervorbringt, die aufgrund ihrer physischen Beschaffenheit der Diskussion um Nutzen und Sinn Grenzen setzen, ist im Bereich der Dienstleistungen die Funktionalität der ‚Ware ދmehr oder weniger diffus. Die Definitionsmacht des Verbrauchers ergibt sich aus der direkten Be-
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teiligung an den Produktionsvorgängen. Besonders personenbezogene Dienstleistungen sind an denjenigen gebunden, für den sie bestimmt sind, ja kommen zum Teil erst in der Interaktion mit den Abnehmern zustande. Weil die Kunden in ein Rollenhandeln involviert sind, das Eigenschaften des Produzenten und des Konsumenten aufweist (Shand/Arnberg 1996; vgl. Schedler 2002, 84), werden sie in der Forschungsliteratur auch als „prosumers“ bezeichnet. Außerdem haben Dienstleistungen, die unter die Kategorie des „Service“ subsumiert werden können, keine die Zeit überdauernde Existenz. Vielmehr werden sie in dem Augenblick, in dem sie produziert werden, auch verbraucht (uno-actu-Prinzip). Da keine Produktion auf Vorrat erfolgt, wird der Kunde nicht mit einer fertigen Ware mit bestimmten Objekteigenschaften konfrontiert. Dienstleistungsorganisationen erstellen immaterielle ‚Güterދ, die, um als ‚Leistung ދanerkannt zu werden, einer Definition und einer Bewertung bedürfen. Sowohl die Arbeit und der damit verbundene Aufwand als auch deren Wirkung und Nutzen unterliegen der Interpretation der Beteiligten. Der Konsument dagegen, der Fertigprodukte kauft, zum Beispiel Güter des täglichen Bedarfs, hat keinen Zweifel, dass die Ware überhaupt vorhanden ist. Auch die Art, wie man das Gut verwendet und was es bewirkt, steht – die Funktionsfähigkeit vorausgesetzt – außer Zweifel. Im Gegensatz zu diesen gibt es bei den Dienstleistungsorganisationen keinen sichtbaren und abgrenzbaren Gegenstand, auf den sich solche Erwägungen richten könnten. Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit dem Kunden hat der Anbieter einer Dienstleistung sogar nur „die Bereitschaft und Fähigkeit zur Erbringung einer Leistung“ anzubieten (Kleinaltenkamp 2001, 35). Im Gegensatz zu Sachgütern kann ihr Nutzen vor dem Kauf nicht sinnlich erfahren werden.2 Auch nachdem die vereinbarten Aktionen erfolgt sind, ist die Einschätzung des Nutzens von Vermutungen über kurzfristig oder langfristig eintretende Wirkungen abhängig. Wer zum Beispiel eine Werbeagentur in Anspruch nimmt, geht davon aus, dass die zu verkaufenden Produkte dem Publikum in einer Weise nahegebracht werden, die sie attraktiv erscheinen lässt; muss er dagegen annehmen, dass die Nachfrager sich nur provoziert und beleidigt fühlen, so ist die Dienstleistung der Werbeagentur gar nicht erfolgt. Schulen sind nicht mit beliebigen anderen Dienstleistern zu vergleichen. Von rein marktwirtschaftlichen Organisationen unterscheiden sie sich dadurch, dass sie einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben. Demgemäß gibt es eine Schulpflicht, die sicherstellt, dass sich jeder im Laufe seines Lebens in einem gewissen Mindestumfang den Einflüssen und Wirkungen der Schule aussetzt. Der Begriff der Dienstleistung impliziert bereits eine Wertung, und zwar inso2
Die Schwierigkeit der Nutzenabsetzung bei Dienstleistungen im Vergleich zu Sachgütern, die ja vor dem Kauf sinnlich erfahrbar sind, bringen auch besondere Probleme bei der Werbung mit sich. Vgl. Maleri, a.a.O., 142f.
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fern, als ein Nutzen für den Adressaten bzw. den Empfänger unterstellt wird. Demgegenüber müssen Erziehung und Bildung auch dann in Anspruch genommen werden, wenn sich die Betreffenden bzw. die für sie zuständigen Erziehungsberechtigten davon keinen Nutzen versprechen. Das bedeutet, dass die rechtlichen Vorschriften, die sich auf den Schulbesuch sowie auf das Geschehen in der Schule beziehen, die Freiheiten der Adressaten einschränken. Diese werden auch unfreiwillig zu ‚Konsumentenދ. Wenn also zu Dienstleistungen Nachfrager gehören, die aufgrund ihres Bedarfs die Dienstleistung erst zustande kommen lassen, dann handelt es sich im Falle der Schule nicht notwendig um eine Dienstleistungsorganisation. Die Klientel der Schule hat unter Umständen – jedenfalls nach eigener Einschätzung – gar keinen Bedarf. Das bedeutet, dass „Schüler als vergleichsweise ‚uneinsichtige ދund ‚kritische ދKlienten gelten können“, und zwar, „weil ihre Teilnahme am Unterricht mitunter nicht auf Freiwilligkeit und Selbsteinsicht in Lernbedarfe beruht“ (Tacke 2005, 172; vgl. Vanderstraeten 2004, 66). Auch sind Lehrerinnen und Lehrer, im Gegensatz zum Personal kommerzieller Dienstleistungsorganisationen, nicht nur mit einem besonderen Berufswissen ausgestattete Experten, die ein Produkt anbieten, sondern auch Amtsinhaber, die in eine bürokratische Struktur eingebunden sind und Forderungen stellen dürfen, denen der Adressat nachkommen muss. Aufgrund der rechtlichen Rahmenbestimmungen und der Einbindung der Lehrer in ein hierarchisch-administratives Verhältnis, also wegen ihrer Weisungsgebundenheit gegenüber höheren Instanzen, bezeichnet Hurrelmann die Schule als „spezielle Dienstleistungsorganisation“ (Hurrelmann 1975, 143). Gleichwohl ist die Schule, sofern sie Bildungs- und Erziehungsorganisation sein will, auf Kooperation angewiesen. Sie erstellt „ihre Produkte nicht ... allein, sondern in Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern bzw. deren Eltern“ (Schedler 2002, 84). Sofern es sich also um Bildung und Erziehung sowie um die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen handelt, ist ‚Beziehungsarbeit ދnötig, um eine zufriedenstellende Erledigung von Aufträgen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass die Beteiligten wichtige Definitoren dessen sind, was in der Schule vor sich geht. Auch für Schulen gilt, dass die Anerkennung ihrer Angebote als ‚Güterދ, als ‚Bildungsgüterދ, in besonderer Weise mit situativen, sozialen und individuellen Bedingungen verknüpft ist. Ob es sich bei dem, was vom Personal der Organisation verantwortlich initiiert und in der Interaktion mit der Klientel vollzogen wird, um Erziehung, Qualifikation und Bildung handelt, ist nicht objektiv feststellbar, sondern ein Ergebnis von Definitionen, die die Beteiligten selbst, aber auch übergeordnete Instanzen vornehmen. Diese wiederum richten sich nach zum Teil vermuteten, zum Teil aber auch beobachteten Wirkungen. Im Allgemeinen sind die Folgen der Schule so
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komplex, dass keine sicheren Schlussfolgerungen hinsichtlich der Art und der Qualität des ‚Produkts ދmöglich sind. Schulen müssen – wie andere Dienstleistungsorganisationen – ihre Angebote, die einen breiten Interpretationsspielraum zulassen, so überzeugend definieren, dass an sie geglaubt wird. Ob sich für die Absolventen einer Schule das einstellt, was von der Organisationsleitung und anderen Garanten, etwa von Trägerorganisationen, von der Wissenschaft, vom Staat usw. in Aussicht gestellt wird, hängt in hohem Maß von Erwartungen ab. Schüler und Studierende müssen an die versprochenen Wirkungen glauben, damit diese eintreten können. Die Überzeugung, dass es sich bei der Interaktion mit einem Lehrer um „Unterricht“, nicht dagegen um „Beschäftigungstherapie“ im Sinn einer nutzlosen, nur den Vorschriften genügenden Tätigkeit handelt, ist die Voraussetzung für die Erweiterung des Wissens, den Erwerb von Kompetenzen, für Fortschritte in der Persönlichkeitsentwicklung und eine Qualifizierung in Hinblick auf gesellschaftliche, speziell auch berufliche Anforderungen. Die Qualität der Beziehung mit dem Kunden oder Klienten ist, wie Hardt (1996, 13) feststellt, für Dienstleistungen konstitutiv. Die Schule hat mit einigen Dienstleistungsorganisationen gemeinsam, dass ihr Service im Rahmen eines längerfristigen Verhältnisses zum Klienten erbracht wird. In dieser Zeit besteht für die Klienten die Chance, das Angebot kennenzulernen und aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Anbieter Vertrauen zu entwickeln. Umgekehrt ist es für die Anbieter möglich, die Adressaten der Dienstleistung, die, wie im Falle der Schule, auch Mitproduzenten sind, von der Qualität und von dem späteren Nutzen der Dienstleistung zu überzeugen. Dazu muss selbstverständlich ein Teil der Beratung, Beeinflussung oder Hilfe zugunsten der Vertrauensbildung selbst verwendet werden. Im Rahmen von Erziehung, Bildung und Sozialisation werden die Lernenden dazu veranlasst, an die Sinnhaftigkeit der Organisation und die zielführende Effizienz ihrer Strukturen und Verfahren zu glauben. Im Verhältnis zwischen professionellem Personal und Klientel kommt es somit zu einer Sozialisation ‚in eigener Sacheދ, die sich auf die für die Organisation günstigen Definitionen und Sinnkonstrukte bezieht. Mit den Begegnungen zwischen Personal und Klient werden nicht nur die im Verhältnis zum Klienten thematisierten Zielsetzungen verfolgt. Vielmehr geht es dem Personal auch darum, Überzeugungsarbeit zu leisten, also parallel zu den abgefragten Aktivitäten dafür zu sorgen, dass diese im richtigen Licht gesehen werden. Dementsprechend – also aufgrund dieser Einwirkung – haben die Absolventen einer bestimmten Schule, eines bestimmten Schultyps oder eines bestimmten Faches, sofern diese frei wählbar sind, in der Regel eine positive Einstellung zu ihrer Entscheidung; sie sind zuversichtlich, dass es sinnvoll und nützlich war, beispielsweise einer bestimmten, philologisch-geisteswissenschaftlich aus-
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gerichteten Schule den Vorzug zu geben, und zwar deswegen, weil sie gelernt haben, die Welt in einer bestimmten Weise zu sehen, als eine Welt nämlich, die entsprechende Kompetenzen ‚brauchtދ. Durch diese schulbezogene Bildungsarbeit, der Bildungsarbeit in eigener Sache, wird also mit den Bildungsinhalten und Bildungsgegenständen eine Theorie des Schulgeschehens übermittelt; Schülerinnen und Schüler werden im Verlaufe ihrer Schulzugehörigkeit dahingehend beeinflusst, dass sie die jeweiligen persönlichen und kollektiven Ziele als nützlich und sinnvoll erachten und die Schule, ‚ihre ދSchule, als das geeignete Mittel ansehen, diese Ziele zu erreichen. 2.6 Reifikationen 2.6 Reifikationen Neben der Sozialisation besteht eine weitere Strategie, den Nachfrager zur erwünschten Definition einer Tätigkeit als ‚Dienstleistung ދund als Mittel zur Erreichung von Zielen zu veranlassen, in der Reifikation, also in der Verdinglichung dessen, was zunächst nur als Begriff existiert. Aktionen und Interaktionen, die keinen genau vorhersehbaren Verlauf nehmen, die viele Variationsmöglichkeiten bieten, weisen einen breiten Interpretationsspielraum auf. Demgegenüber erscheint das Handeln nach dem hegemonialen Deutungsschema als ein von Zufälligkeiten und Emotionen unabhängiges rationales Geschehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der nach einem vorgegebenen Muster verfahren wird, verstärkt die Zuversicht des ‚Kundenދ, dass dieses sich bewährt habe, das heißt, dass entsprechende Erfahrungen bestehen, nach denen die unterstellten Effekte auch tatsächlich eintreten. Das bedeutet für die Schule, dass es Fächer und Unterrichtseinheiten gibt, die nicht nur die Vorgänge zwischen Personal und Klientel begrifflich bündeln, sondern darüber hinaus den Eindruck vermitteln, dass eine bestimmte Sache, ein abgegrenzter, in sich spezifischer Gegenstand, also ein ‚Stoff ދvorliegt, und dass diese Sache oder dieser Stoff regelmäßig und in einer mehr oder weniger gleichbleibenden Qualität produziert bzw. reproduziert werden kann. Wer als Schüler für das Fach ‚Deutsch ދoder für ‚Mathematik ދlernt, wird nicht der Ansicht sein, dass es sich bei diesen Fächern um bestimmte Konventionen handelt, Wissen und Erkenntnisse zu kategorisieren und didaktisch aufzuarbeiten, obwohl erst durch Standardisierungen, die über die inhaltlichen Bestimmungen hinausgehen, zum Beispiel durch Festlegungen der Abläufe und der Methoden, das Schulgeschehen zu etwas ‚Stofflichemދ, zum Lehr- und Unterrichtsstoff, verdichtet wird. Ähnliche Strategien der Verdinglichung sind im Versicherungsgeschäft und im Bankenwesen zu beobachten, wenn es um sogenannte ‚Produkte ދgeht, die nichts anderes sind als eine inhaltliche und prozessuale Fixierung der vom
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Anbieter zu erbringenden Dienstleistungen. Zuweilen werden, wenn es sich um verschiedene dieser als Produkte bezeichneten Dienstleistungen handelt, diese auch als ‚Paket ދvermarktet. Im Bildungswesen werden Lehr- und Unterrichtseinheiten oder Bildungs- und Ausbildungsabschnitte nicht als ‚Produkte ދangeboten. Nichtsdestoweniger kommt es zu Reifikationen, also zum Vertauschen von Begriff und Wirklichkeit. Der Begriff des ‚Moduls ދsignalisiert zum Beispiel eine Stofflichkeit, die eine Analogie zu materiellen Produkten nahelegt, zu Gütern also, die als Objekt eine Einheit bilden und als solche die Frage der Verwendbarkeit gar nicht aufkommen lassen. Je mehr ein quasi stofflicher Charakter von Dienstleistungen hervorgekehrt wird, desto mehr scheint auch die Zielerreichung eine Selbstverständlichkeit zu sein. Zur Reifikation gehört aber nicht nur, dass eine Tätigkeit durch Schematisierung konkret, ja stofflich wird. Reifikation bedeutet auch, dass ein nichtstoffliches ‚Produktދ, eben eine Tätigkeit mit sehr diffusen Konturen und einem entsprechend weiten Definitionsspielraum, so benannt wird, dass die Bezeichnung die erhoffte Wirkung vorwegnimmt. Als ‚Kunsterziehung ދgelten zum Beispiel solche Aktivitäten, die zum Verständnis und eventuell auch zur Schaffung von (bildender) Kunst befähigen. Da aber die vermutete Wirkung nicht zwischen verschiedenen Tätigkeiten diskriminiert, sodass möglicherweise sehr unterschiedliche Tätigkeiten mehr oder weniger zum Kunstverständnis beitragen, gibt es für den Begriff kein empirisches Kriterium. Im Zweifelsfall muss das als Kunsterziehung gelten, was zu einem bestimmten Zeitpunkt, mit einem bestimmten Kurs einer Klasse oder einem Jahrgang an einem bestimmten Ort angeboten und als Kunsterziehung bezeichnet wird. Mit ihrer Nomenklatur, mit ‚Kunsterziehung ދzum Beispiel, unterstellt die Schule – ebenso übrigens wie eine psychiatrische Klinik mit der Bezeichnung ‚Kunsttherapie – ދeine bestimmte Wirkung. Auch wenn ein Fach als ‚Deutsch ދbezeichnet wird, ist ja nicht oder nicht allein die gemeinsame Tätigkeit, also das Unterrichtsgeschehen gemeint, etwa die Kommunikation in deutscher Sprache, sondern es sind auch die sprachlichen Kompetenzen angesprochen, die aufgrund einer organisierten Aktivität, dem Deutschunterricht, angeblich vermittelt werden. Die „referenzfreie, unmittelbare Effekterwartung“ ist nach Meinung von Oelkers ein „zentraler Fehler traditioneller Sprache der Erziehung“ (Oelkers 1997, 22). Pädagogische (und therapeutische Einrichtungen) sind allerdings auf derartige Reifikationen angewiesen, um sich selbst als rationale Organisation, in der einzelne Teile und Prozesse einen Beitrag zur Erreichung von Zielen leisten, darstellen zu können. Anders verhält es sich in Organisationen, die Güter produzieren. Das Produkt spricht für sich selbst. Gleiches gilt für einzelne Prozesse, die zum Zustandekommen des Produktes beitragen. Schon aus der Beobachtung der Produktionsabläufe ergibt sich, dass in einem Unternehmen, das zum Beispiel Kühlschränke
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herstellt, die Abteilung, in der Bleche gestanzt werden, eine bestimmte Funktion für die Erreichung der Unternehmensziele hat, also ein notwendiges Element in einem arbeitsteiligen Ganzen ist. Um Unterricht in das rationale Konstrukt der Schule einzubauen, müssen dagegen Konkretionen geschaffen werden. Dies geschieht, indem die vermuteten Folgen und Funktionen zum kategorialen Merkmal werden. Die Schule konstruiert Funktionszuordnungen, die als Beschreibungen der Wirklichkeit ausgegeben werden, auch wenn es für diese keine empirischen Evidenzen gibt. Allerdings ist es nicht selbstverständlich, dass ein Unterrichtsgeschehen, das mit seiner Bezeichnung schon in einen virtuellen Funktionszusammenhang integriert wird, das also zur Bildung beitragen soll, in dieser Zuordnung auch Anerkennung findet. Lehrerinnen und Lehrer müssen Definitionen durchsetzen, die den formal vorgegebenen Zielen entsprechen, da erst durch eine konsensfähige Benennung der Vorgänge sowie der Beziehungen, innerhalb derer sie sich vollziehen, eine Tätigkeit zu einem ‚Produkt ދoder zu einer (Dienst-)Leistung wird. Obwohl die Begriffe, die für soziale Abläufe im Klassenraum verwendet werden, unterschwellig einen Konsens einfordern, ist der Erfolg, für offizielle Definitionen Akzeptanz zu finden, nicht gewiss. Gerüchte können aufkommen, dass in der Schule ein ‚richtiger ދKunst- oder Deutschunterricht gar nicht stattfinde, weil zum Beispiel die verwendeten Methoden veraltet oder die Lehrkräfte inkompetent seien. Die Kunsterziehung kann als sinnloser Zeitvertreib, der Deutschunterricht als bloßes Gerede abgetan werden. Damit zum Beispiel ein Unterrichtsgeschehen auch als ‚Kunsterziehung ދAkzeptanz findet, müssen alle Beteiligten die damit verbundene Behauptung weitreichender Folgen teilen. Nicht nur die Qualität des Produkts, sondern auch die rationale, arbeitsteilige Organisation der Schule darf nicht einem grundsätzlichen Zweifel ausgesetzt sein. Für die Schule könnte es schwierig werden, gegenüber einem derartigen Zweifel das Gegenteil zu beweisen, da es, anders als bei den Qualitätsmerkmalen eines materiellen Gutes, die mit entsprechenden Tests objektiviert werden können, keine Instanz gibt, die zu einer eindeutigen Prüfung von Produktmerkmalen in der Lage wäre. Daher ist es auch für die Schulleitung und für das Lehrpersonal so wichtig, sich auf die beteiligten Personen, insbesondere die Schüler und Eltern, einzustellen und dafür zu sorgen, dass ihre Emotionen und Wünsche berechenbar bleiben, eine Aufgabe, die Normann (1985, 54 ff.) als „client management“ bezeichnet. Mit der Standardisierung von Verfahren und der Wahl von Bezeichnungen, die eine bestimmte Funktionalität bereits unterstellen, kann der Verunsicherung der Klientel entgegengewirkt werden. Unterricht muss deswegen aber nicht nach einem engen Schema und nach strenger bürokratischer Routine ablaufen. Eine als pädagogischer Experte sich verstehende und darstellende Lehrkraft wird Schüler und interessierte Eltern
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durch ihre Professionalität davon überzeugen, dass ein vielgestaltiger und offener Unterricht, der Kreativität zulässt und den persönlichen Eigenheiten der Schülerinnen und Schüler genügend Spielraum gibt, sich mit einem detaillierten Konzept verbindet und dass der Erfolg nicht dem Zufall überlassen bleibt. Auch in den Zweigen der Dienstleistungsbranche, die mit sehr komplexen Problemlagen zu tun haben, können Routinen entwickelt werden, die sowohl dem Anbieter als auch dem Nachfrager Sicherheit vermitteln. Von der Werbung zum Beispiel oder von der Software-Entwicklung sowie von der Steuer- und Unternehmensberatung erwarten die Kunden einen spezifizierten Service, nicht ein vorgefertigtes ‚Produktދ. Dieser notwendigen Individualität des Falles kann Rechnung getragen werden, indem der Experte die Problemlösung den Ratsuchenden selbst überlässt und sich darauf konzentriert, die Wege dorthin überschaubar zu machen, also darauf zu achten, dass Umwege und Fehler vermieden werden, die aus persönlichen Idiosynkrasien oder einer speziellen Gruppendynamik resultieren. Die Klientel ist also in die Dienstleistung in besonderem Maß einbezogen, nämlich mit eigenen Zielsetzungen und Ideen sowie Vorschlägen zu deren Umsetzung. Bei offenen Problemstellungen erwartet der Nachfrager eine Dienstleistung, die eher einer Hilfe zur Selbstvergewisserung als einer Unterweisung und Belehrung gleichkommt. Kerst (1996, 153) verwendet für eine derartige Vorgehensweise, die weniger aus Festlegungen als vielmehr aus Eingrenzungen von Möglichkeiten besteht, den Begriff des ‚Projektsދ. Die Kritik an der bürokratischen Struktur der Schule greift also in gewisser Weise zu kurz, wenn sie der Regulierungswut von Schuladministratoren entgegenwirken will, um stattdessen pädagogische Ideen, Erkenntnisse und Konzepte zur Wirkung kommen zu lassen. Organisationen allgemein und Schulen im Besonderen müssen vielmehr den Rationalitätserwartungen ihrer Umwelt entsprechen, was nicht zuletzt durch logisch stringente Organisationsschemata und durch Standardisierung von Abläufen geschieht. Wenn auch Dienstleistungsorganisationen mit besonders vielgestaltigem Aufgabenfeld ohne ein Mindestmaß an Standardisierungen nicht auskommen, dann zeigt sich daran, dass ihre Effizienzansprüche nicht fraglos hingenommen werden und dass sie der grundsätzlichen Skepsis ihrer Umwelt durch verlässliche Verfahren zu begegnen versuchen. Auch die Schule ist darauf angewiesen, die sehr komplexen Vorgänge des Unterrichts, die von sachlichen Notwendigkeiten her wenig geformt werden, als zielgerichtete Tätigkeiten zu konkretisieren, das heißt sie zu gestalten und ihnen Namen zu geben, die Gewissheit ausstrahlen und Vertrauen schaffen. Derartige Strukturierungen dürfen mit ‚Bürokratie ދnicht verwechselt werden. Der Zwang zur Rationalität wirkt sich also für die Schule so aus, dass sie es nicht bei Mutmaßungen über Effekte belassen kann, wenn sie die Unterstützung der Allgemeinheit sicherstellen will. Sie muss vielmehr, und gerade wegen der
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Vagheit, die mit den Ergebnissen des Unterrichts und der Erziehung verbunden ist, strukturierte Organisationsformen und präzise erscheinende Verfahren entwickeln, um so ihr Potenzial für die Erreichung erwünschter Zustände glaubhaft zu machen. Eventuelle Zweifel der Eltern, der Lehrer oder der Schüler hinsichtlich der Erreichbarkeit der Ziele kommen im Konstrukt der Schule nicht vor. Schule ist damit in der Öffentlichkeit ein rationales soziales Gebilde und verfügt über ein bewährtes Instrumentarium. Weil die Mittel so selbstverständlich sind und weil die Öffentlichkeit, die Wissenschaft und die Beteiligten selbst davon ausgehen, dass die unterstellten Ziele mehr oder weniger auch erreicht werden, besteht die Tendenz, dass nach den Zielen selbst kaum noch gefragt wird. Stattdessen werden Einstellungen und Ressourcen auf die Einhaltung der Verfahrensregeln gerichtet. Da die Ziele nicht operationalisierbar sind, kann nur durch Strukturierung des alltäglichen Geschehens eine Orientierungs- und Verhaltenssicherheit für alle Beteiligten erreicht werden. 2.7 Das Konstrukt der steuerbaren Irrationalität 2.7 Das Konstrukt der steuerbaren Irrationalität Das Rationalitätskonstrukt der Schule scheint besonders mit der informalen Ordnung unter Schülerinnen und Schülern nicht vereinbar zu sein, da letztere geradezu geschaffen wird, um sich dem institutionalisierten Regelwerk, aber auch den durch die Organisation festgelegten Hierarchien, verbunden mit den Befugnissen und der Disziplinargewalt des Lehrers, zu entziehen. Wenn die Schule dem Anspruch der Umwelt gerecht werden muss, ein auf angebbare Ziele hin effizient arbeitendes Gebilde zu sein, dann stellen solche von Organisationsplänen und Ablaufschemata unabhängigen Netzwerke eine Gefährdung dar. Gerade für die Schule gilt, dass das Rationalitätskonstrukt zu Gegenaktionen provozieren muss, da es die Identität der Schülerinnen und Schüler, also der zu bewachenden und zu beeinflussenden Klientel, gefährdet. Denn während im Industriebetrieb der Einzelne insofern ‚privat ދbleiben kann, als die Unternehmensführung nur eine bestimmte, vertraglich vereinbarte Leistung von ihm fordert, ist in der Schule und in anderen Sozialisationsorganisationen die Persönlichkeit desjenigen, der für eine bestimmte Zeit in die Organisation aufgenommen wird, das zu bearbeitende Objekt. Informale Beziehungen und Gruppen im Industriebetrieb schützen das Individuum vor überzogenen Leistungsansprüchen, dienen aber im Übrigen dazu, dass soziale Bedürfnisse befriedigt werden, also Kommunikationen und Kontakte über jene Einseitigkeiten hinausgehen, die der Arbeitsprozess vorschreibt. In Organisationen mit pädagogischer und therapeutischer Zielsetzung steht das Selbst des Schülers oder des Patienten und damit auch das informale Netzwerk zur Disposition. Der institutionelle An-
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spruch, die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, was ja eine Beeinflussung impliziert, kann von den Adressaten solcher Einwirkungen auch als Angriff auf die Identität verstanden werden. Identität ermöglicht es dem Einzelnen, sich als zeitliches Kontinuum wahrzunehmen (Goffman 1967; Krappmann 1971; du Gay 2007). Das Ziel der Institution, aus Kindern und Jugendlichen Erwachsene mit bestimmten Eigenschaften zu machen, und sei es auch nur in der Weise, dass schon vorhandene positive Eigenschaften gefördert werden, unterstellt die Formbarkeit des Klienten im Kern seiner Persönlichkeit. Gerade für Heranwachsende kann Identitätsentwicklung unter den Bedingungen von Schule auch Selbstbehauptung sein. Schulleitung und Lehrkräfte sind selbstverständlich damit vertraut, dass sich ihre Klientel der Beeinflussung entzieht und ihren Widerspruch in spontanem Verhalten sowie in einer ihr eigenen Kultur mit spezifischen Symbolen, Werten und Normen zum Ausdruck bringt. Zum Selbstverständnis der Erzieher gehört es, dass es gelingt, diese Art der Selbstbehauptung nicht nur zu kennen und zu verstehen, sondern auch in ihr professionelles Methodenrepertoire einzubeziehen. Das bedeutet, dass die Schulleitung gegenüber der Öffentlichkeit den Anspruch erheben muss, die Entwicklungen in der Spontankultur der Schülerinnen und Schüler steuern zu können. Die Wirklichkeit mag jedoch durchaus andere Eindrücke nahe legen. Luhmann stellt hinsichtlich dieser ungeplanten, von den Schülerinnen und Schülern ausgehenden Einflüsse fest: „Vom Effekt her gesehen wird diese mitlaufende Sozialisation nicht selten die Erziehung überholen und das Ergebnis mehr prägen als die noch so durchgeplante pädagogische Absicht“ (Luhmann 1987, 66). Während in der Sozialisationsforschung von einer Selbstsozialisation der Peers ausgegangen wird, also von dem Tatbestand, „dass Kinder und Jugendliche sich gegenseitig selbst sozialisieren, auch ohne Beihilfe der älteren Generation“ (Zinnecker 2000, 282), muss in der Praxis das pädagogische Personal diesem Eindruck einer Selbstsozialisation oder einer sich verselbständigenden Sozialisation entgegenwirken, will es sich nicht infrage stellen. Die Lehrkräfte sind dementsprechend darum bemüht, die autonomen Formen des Handelns und deren kulturelle Objektivationen so darzustellen, dass es sich in das pädagogische Geschehen einfügt. Da die „Eigenständigkeit der Peerkultur“ (Breidenstein 2004) allgemein bekannt ist und von praktisch jedem bereits erfahren wurde, ist es für das Bild der Schule in der Öffentlichkeit besonders wichtig, eine Rationalität deutlich zu machen, die sich in formalen Vorschriften, Regeln und Verfahren ausdrückt und die gleichzeitig durch Einbeziehung von Irrationalität und spontanem Geschehen diese Ebene transzendiert. Die Botschaft muss also sein, dass zwar Heranwachsende ihre eigenen Wege gehen, dass sie sich deshalb aber nicht den Bildungs- und Instruktionskonzepten der Institution entziehen. Die Schule hält ihren Rationali-
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tätsanspruch aufrecht, indem sie vorgibt, die Irrationalität der Klientel zu integrieren. In öffentlichen Aktionen vermittelt sich daher den Eindruck, dass sie die informalen Prozesse unter Kontrolle hat, indem sie diese in ihrer Arbeit berücksichtigt und ihnen einen Platz zuweist, von dem aus weder die Aufrechterhaltung der institutionalisierten Ordnung noch die Erreichung der offiziellen Ziele in Frage gestellt, sondern vielmehr unterstützt werden. Gelingt es, die informalen Prozesse unter den Schülerinnen und Schülern so zu beeinflussen, dass sie nicht in einem offenen Widerspruch zu den Normen der Schule stehen, dann ergibt sich ein doppelter Gewinn: Die Schule muss nicht befürchten, dass ihre Definitionen und pädagogischen Konstrukte in der Öffentlichkeit in Frage gestellt werden. Vielmehr ist die Behauptung plausibel, dass die Schülerinnen und Schüler mitarbeiten, das heißt, dass auch die vom Personal nicht initiierte Gruppenbildung der Erreichung von Unterrichtszielen nützt. Darüber hinaus kann durch ein zwar eigenständiges, aber nicht widerständiges informales System der Eindruck erweckt werden, dass die Ziele der Schule zum Teil schon erreicht sind, dass also Schüler freiwillig sich so verhalten, wie es pädagogische Methoden und Konzepte vorsehen, und zwar aufgrund pädagogischer Einwirkung. Wenn die von der Schule Betreuten in ihrer privaten Geselligkeit mit den Normen der Schule – tatsächlich oder vermeintlich – in einem weiten Rahmen übereinstimmen, so scheint dies bereits für die Effektivität schulischer Maßnahmen zu sprechen. Besonders Schulen, die sich in einer Konkurrenzsituation befinden, heben daher in ihrer Außendarstellung diesen Aspekt einer selbstdisziplinierenden informalen Sozialität hervor. Für den Eindruck, den die Schule auf die Beteiligten selbst und auf die Außenwelt machen möchte, ist das Sozialverhalten von Schülerinnen und Schülern ein wichtiger Indikator. Als zuverlässiger Gradmesser pädagogischer Erfolge gilt den Beobachtern und Beurteilern auch die Peer-Kultur. Sie demonstriert mit spontan entstehenden Beziehungen, mit selbst erarbeiteten Mustern individuellen und kollektiven Handelns, dass Fremdsteuerung in Eigensteuerung übergegangen ist. Da sich diese Kultur in spontan sich bildenden Cliquen entfaltet, die wiederum netzwerkartig miteinander verbunden sind, erweckt das durch sie vermittelte Bild – mehr als das mit offiziellen Regeln übereinstimmende Schulgeschehen – den Eindruck des Authentischen. Dementsprechend haben die Interaktionen des informalen Subsystems für die Schulleitung und für das professionelle Personal der Schule sowie für die Außendarstellung eine besondere Bedeutung. Hinweise darauf, dass in der Alltagswelt der Schule die Normen und Werte sowie die soziale Ordnung des formalen Systems von den Heranwachsenden auf ihre Art übernommen und akzeptiert werden, sind für das Rationalitätskonstrukt der Schule ein wichtiger Beleg. In den Konstrukten, mit denen die Schule für sich wirbt, entziehen sich die expressiv-
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emotionalen Beziehungen von Schülerinnen und Schülern nicht den Plänen des Personals; vielmehr wird der Irrationalität Raum gegeben, um sie in ein rationales Kalkül einzubeziehen. Indem Kinder und Jugendliche – innerhalb und außerhalb der Schule – auch ihre eigenen Wege gehen, schaffen sie, so die Botschaft der Organisation, die Voraussetzungen dafür, dass pädagogische Impulse wirksam werden. In der Gruppe können zwar Spontaneität, Kreativität und Emotionalität ausgelebt werden; die von der Basis kommenden Aktionen gefährden aber nicht – so das Konstrukt – das Ziel der Organisation, selbst wenn vorübergehend Umwege beschritten werden müssen.3 Diese Einbeziehung der Irrationalität gehört besonders dann zum Konzept der Schule, wenn der Anspruch erhoben wird, nicht nur Wissen, sondern auch Bildung zu vermitteln. Sowohl autoritäre Kontrolle als auch sozialintegrative Maßnahmen unter Beteiligung von Lehrern und Schülern gehören in den Institutionen, die auf eine Persönlichkeitsveränderung bzw. eine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung abzielen, zum pädagogischen Repertoire. Schülerinnen und Schüler, die einen ungewünschten Einfluss ausüben könnten, werden, sofern sie nicht integrierbar sind, marginalisiert, kooperativ eingestellte dagegen besonders unterstützt. Der soziale Kontakt wird durch Manipulation der äußeren Ordnung des Unterrichts, das heißt der Sitzordnung, der Verteilung der Schüler in den Unterrichtsräumen und der Einteilung in Arbeitsgruppen gesteuert. Die Schule hat dazu, im Gegensatz zu anderen ‚Betrieben‘, zahlreiche Möglichkeiten, wobei in Internatsschulen die Überlagerung des informalen Systems durch das formale, ja die Kolonialisierung des informalen Systems besonders deutlich ist. Aber sogar für die Halbtagsschule steht das soziale Geschehen prinzipiell unter pädagogischem Vorzeichen, darf also, wenn es dem Zweck der 3
Informale Gruppen und ihre Bedeutung für die Schule wurden bekanntlich von der Reformpädagogik entdeckt. Die Losung „mit der Gruppe und durch die Gruppe erziehen wir“ markiert einen Paradigmenwechsel einer zuvor auf die Beziehung zwischen „Erzieher und Zögling“, also im Grunde genommen zwischen dem Privatlehrer bzw. Hofmeister und seinem Schüler, nicht aber auf eine Gruppe von Schülern hin ausgerichteten pädagogischen Modellvorstellung. Die Gruppe war auch außerhalb der Schule, im Rahmen der mit der Reformpädagogik verschwisterten Jugendbewegung, pädagogisches Zielobjekt. Um Gruppenerlebnisse zu ermöglichen, mussten von der Jugendbewegung außergewöhnliche Unternehmungen, zum Beispiel mehrtägige Reisen von Jugendlichen unter der Aufsicht junger Erwachsener, Übernachten im Zelt, Zubereitung von Mahlzeiten unter Verwendung mitgeführter Lebensmittel, sportliche Betätigungen wie Wandern und Klettern sowie Singen und Musizieren von zum Teil selbst getexteten und komponierten Liedern, das alles im Kontakt mit der ‚Naturދ, also in dünnbesiedelten Gegenden, durchgeführt werden. Von der Reformpädagogik wurden diese Impulse aufgegriffen und in die sozialen Prozesse der Schule integriert, was bedeutete, dass der Frontalunterricht durch selbstentdeckendes Lernen in der Gruppe ergänzt, die Schüler auch an der Organisation der Schule beteiligt und der Unterricht durch viele Aktivitäten erweitert und ergänzt wurde. Dabei war die Gruppe und das Gruppenerlebnis nicht Selbstzweck; vielmehr stand deren Instrumentalisierung für Bildungsziele deutlich im Vordergrund.
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Erziehung und Bildung dient, auch umgestaltet und neu organisiert werden. Je größer das Gewicht ist, das unter den Organisationszielen der Bildung beigemessen wird, desto stärker ist auch der Totalitätsanspruch der Schule. Dieses Konzept einer umfassenden pädagogischen Zuständigkeit findet in der Öffentlichkeit Akzeptanz: Erziehung und Bildung sollen die sozialen Prozesse in der Schülerschaft mit einschließen, sofern sie sich im Rahmen schulischer Veranstaltungen ereignen oder in einen direkten Zusammenhang mit pädagogischen Aktivitäten der Schule gebracht werden können. In Hochschulen dagegen, in denen der Wissenserwerb im Vordergrund steht, bleiben solche Interventionen der Organisationsleitung begrenzt, weil es ja nach eigenem Verständnis in erster Linie auf das Lernen und den Kompetenzerwerb ankommt. Es wird unterstellt, dass die Instrumentalität der durch die Schule organisierten Vorgänge auch den Studierenden bekannt ist, dass sich also deren Motivation mit den Zielen der Organisation deckt. Den Leistungsnormen zu genügen und damit bei den regelmäßig stattfindenden Prüfungen erfolgreich zu sein, liegt nach dem Selbstverständnis solcher Einrichtungen im Verantwortungsbereich des Individuums. Allerdings bilden sich informale Gruppen auch in Institutionen, die sich, anscheinend oder tatsächlich, auf Wissenserwerb und ‚Ausbildung ދkonzentrieren, und zwar deshalb, weil sie geeignet sind, Spannungen abzubauen, die im Wettbewerb um Noten und andere Leistungsnachweise entstehen. Den Konstrukten entsprechend, die wissenschaftliche, akademische Institutionen von sich selbst entwerfen, ist es aber nicht erforderlich, das expressive, spontane Verhalten in informalen Gruppen auf die Organisationsziele hin umzulenken. Schulleitung und professionelles Personal haben es in Schulen mit Ausbildungs- und Qualifizierungsaufgaben nicht nötig, Motivationen, Einstellungen, Normen und Werte ihrer Klientel zu beeinflussen. Eine positive Einstellung gegenüber dem Organisationsziel wird vielmehr vorausgesetzt. Hochschulen lösen ihre Motivationsprobleme daher allein über Mechanismen der Selektion und der (antizipierten) Allokation. Je mehr die Vermittlung von Wissen das Selbstverständnis und die Außendarstellung der Organisation ausmacht, umso mehr wird der Umgang mit Irrationalität über die Mitgliedschaftsrolle, über Selektion und Leistungsbewertung gelöst; die Organisation setzt eine Übereinstimmung mit den Organisationszielen voraus und ignoriert weitgehend die informalen Subkulturen. Damit ist gerade die auf Wissenserwerb ausgerichtete Universität oder Hochschule, die anscheinend mehr Privatheit zulässt, in ihrem Anspruch auf die Persönlichkeit total. Wer nicht über die passenden Prädispositionen verfügt, wird – im Extrem – mit dem EntwederOder der Zugehörigkeit konfrontiert. Sofern allerdings Hochschulen auch Bildungsziele verfolgen, wie dies zum Beispiel bei einigen Stiftungsuniversitäten der Fall ist, gehört die Geselligkeit zum Veranstaltungsprogramm. Für Hoch-
2.7 Das Konstrukt der steuerbaren Irrationalität
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schulen mit kultivationspädagogischen (Neben-)Zielen sind die informalen Netzwerke nicht Privatsache. Obwohl die Beziehungspflege von den Studierenden selbst organisiert wird, gibt es vorgesehene Schemata und Abläufe, sodass die gewählten ‚Sprecher ދzugleich Amtsinhaber sind, deren Handlungsrahmen formal vorgegeben ist und die in Abstimmung mit der Hochschulleitung ihre Funktionen wahrnehmen. In Hochschulen, die Bildungsansprüche geltend machen, werden Studierende dazu angehalten, Freundschaften und andere auf Sympathie gegründete Kontakte zu rationalisieren und auch außerhalb des Studienbetriebs einen Habitus der Selbstkontrolle zu zeigen, das heißt Emotionalität nur im Rahmen dafür vorgesehener Ereignisse zuzulassen, also zum Beispiel bei bestimmten Festlichkeiten oder im Zusammenhang mit den Ventilsitten akademischen Brauchtums.
3 Verborgene Wirklichkeiten
3.1 Wirklichkeit und Welt 3.1 Wirklichkeit und Welt Konstrukte, die von Teilen der Öffentlichkeit, zum Beispiel von den Medien, an die Schule herangetragen bzw. von der Schule in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, sind, wie bereits dargestellt wurde, keineswegs beliebig (vgl. Kap. 1.7). Auch ist das, was von der Schule als soziale Realität dargestellt wird, mehr als eine Inspiration. Jedoch kann die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Deutung nicht so beantwortet werden, dass der Mensch in der Lage wäre, das Objekt seiner Wahrnehmungen spiegelbildlich zu erfassen. Die hier vertretene Position besagt, dass Menschen auf Konstrukte angewiesen sind, dass Konstrukte aber mehr oder weniger viabel sein können und dass Viabilität aus der ‚Verträglichkeit ދdes Konstrukts mit der Wirklichkeit resultiert. Dementsprechend gibt es auch eine widerständige Wirklichkeit; Konstrukte, die in sich widersprüchlich sind oder sich mit Erfahrungen nicht decken, sind unglaubwürdig. Die Unverträglichkeit des Konstrukts mit der Wirklichkeit, das heißt mit partiellen gegenläufigen Erfahrungen, lässt auf die Beschaffenheit des Konstrukts schließen, das sich damit als defizitär, unnütz oder sogar als gefährlich erweist. Merkert stellt fest: „Alle produktive Deutungskraft lässt sich nur so deuten, wie sie sich deuten lässt. Eine im Glanz der Morgensonne vor mir liegende spiegelglatte Wasserfläche als Wegabkürzung zu deuten, ist zwar in der Phantasie möglich, aber ‚in der Realitätދ bewährt sie sich nicht, es sei denn, es hat in der Nacht kräftig gefroren. Wir können aufgrund unserer biologischen Konstitution nicht mit dem Kopf durch gemauerte Wände, und keinerlei Deutungsprozesse vermögen daran etwas zu ändern“ (Merkert 1992, 67).
Das Konstrukt, das keine offensichtlichen Widersprüche zu Erfahrungen aufweist, darf nicht als Abbild der Wirklichkeit missverstanden werden. Es erlaubt aber, sich erfolgreich zu orientieren, also mit einer prinzipiell nicht erkennbaren Wirklichkeit zurechtzukommen. Das heißt auch, dass es eine Sachlichkeit der objektiven Wirklichkeit gibt, die den Spielraum für Deutungen einschränkt. Die physischen Eigenschaften dessen, was Objekt menschlicher Deutungen ist, nicht
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3 Verborgene Wirklichkeiten
zur Kenntnis zu nehmen hieße, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Aufgrund des Umgangs mit der äußeren Realität ergeben sich Erfahrungen, die für sich genommen nicht ein Bild von der Welt ausmachen, die sich aber aus der Negation heraus als brauchbar erweisen: Wir wissen, was wir zu beachten haben, also was wir nicht tun dürfen, weil es mit der Wirklichkeit kollidiert. Aus diesen Widerständigkeiten der Empirie ergeben sich Deutungen, die nicht beliebig sind und sich nicht einfach aus einer Willkür heraus ergeben. Wie aber verhält es sich mit der sozialen Wirklichkeit? Die Schule entsteht durch habitualisierte, rollenmäßig und arbeitsteilig verschränkte, legitimierte und mit Bedeutung versehene Handlungsmuster. Sie stellt also eine kollektive Schöpfung dar, die dem Einzelnen verdinglicht begegnet. Die Schulwirklichkeit kann zum Beispiel nicht negiert werden, ohne dass der Betreffende nicht in seinen lebensweltlichen Beziehungen auffällig würde. Mit der Schule muss gerechnet werden; sie ist Teil des sozialen Lebens und wirkt auf das Handeln der Menschen ein, und zwar weit über den Kreis hinaus, der als Kollektiv die Schule ausmacht. Schule ist vor allem eine nichtmaterielle, nichtsdestoweniger aber in ihrer Bedeutung wichtige soziale Gegebenheit. Als Wirklichkeit ist sie widerständig in dem Sinn, dass sie beachtet werden muss, weil sie im sozialen Miteinander nicht ignoriert werden kann. Auf sie wird Bezug genommen und ihre Leistungen für andere Institutionen werden bei gesellschaftlichen Planungen berücksichtigt. Das heißt, dass das Wissen über die Schule auch Implikationen für andere soziale Gebilde hat. Wer gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen will, wird sich auch mit der Schule beschäftigen müssen. Die Schule verweist zum Beispiel auf die Institutionen der Wirtschaft, des Staates und auf die private Lebenswelt; mit diesen ist sie in einen gemeinsamen Sinnkontext eingebunden. So nimmt der Begriff ‚Ausbildung ދsowohl auf schulische als auch auf betriebliche Zusammenhänge Bezug. ‚Ausbildung ދlässt auf eine externe Verwendbarkeit institutionell erworbenen Wissens schließen. Schon der Gebrauch der Sprache bringt es also mit sich, dass Verbindungen zu anderen Institutionen hergestellt werden und unterstellt, dass die Schule einen Ort in einem gesellschaftlichen Gefüge einnimmt. Schule ist also Bestandteil einer gesellschaftlichen Wirklichkeit im Sinn eines sozialen und symbolisch-kulturellen Systems, das dem Einzelnen als reale Vorgabe begegnet. Allerdings kann diese Realität – wie bereits dargestellt – nur partiell und unter speziellen Perspektiven erfasst werden. Individuelle und kollektive Akteure, die sich auf die Schule beziehen, sind daher auf Konstrukte angewiesen. Die Konstrukte ersetzen zum Teil die Wahrnehmung. Die Sinnesorgane haben, was die Schule angeht, allenfalls bestimmte Gebäude, Dienstzimmer, Klassenräume, Personen usw. zum Objekt. Mehr noch als die Konstrukte, die sich auf eine
3.1 Wirklichkeit und Welt
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äußere Realität beziehen, erfüllen Konstrukte, die eine soziale Wirklichkeit zum Gegenstand haben, eine Orientierungsfunktion. Konstrukte zur Schulorganisation, zum Schulgeschehen und zu den Funktionen der Schule zeigen zum Beispiel an, was im Umgang mit dieser Institution beachtet werden muss. Jedoch gibt es dafür kein sichtbares Pendant und die sozialen Gegebenheiten, die damit angesprochen sind, weisen nicht nur mehr Interpretationsspielräume als physische Gegebenheiten auf, sondern sind auch flüchtig. Das Objekt selbst ist plastisch, verändert sich also mit dem Konstrukt. Trotzdem ist die soziale Wirklichkeit, ebenso wie die physische Wirklichkeit, nicht beliebig interpretierbar; es kann Konstrukte geben, die sich – wie in Merkerts Beispiel – in der Realität nicht bewähren. Wer die Schule als ‚Irrenanstalt ދoder als Gefängnis oder – metaphorisch schlicht – als ‚die Hölle ދbezeichnet, ignoriert wichtige Merkmale von Schule, womit im Handeln Nachteile entstehen können. Bestimmte Konstruktbildungen, die sich auf die Institution oder auf eine konkrete Schule als Teil der Lebenswelt beziehen, stoßen auf Widerständigkeiten, die ihre Verwendbarkeit einschränken oder sie unbrauchbar erscheinen lassen. Im Prozess der Modernisierung hat die Multifunktionalität vieler Teilsysteme, unter anderen auch der Schule, und damit die Interdependenz ihrer Prozesse mit denen anderer Systeme, sowie die Komplexität ihrer Struktur zugenommen. Dementsprechend überlagern sich Aufgabenstellungen, soziale Zuordnungen, Strukturebenen und Sinnzusammenhänge. Hinzu kommt die Vielfalt von Interessen, die jeweils mit der spezifischen Sichtweise einer Institution, einer Großgruppe oder eines kulturellen Milieus einhergeht. Eine Institution wie die Schule, auf die sich viele Interessen richten, kann daher in ihrem öffentlichen Erscheinungsbild nur vieldeutig sein. Auch an konkrete Bildungsorganisationen, an die Schule ‚vor Ortދ, werden Deutungen herangetragen, die sich überlagern und in der Summe keine klaren Konturen entstehen lassen. Darüber hinaus sind viele Funktionen der Schule latent.1 Damit ist gemeint, dass regelmäßig wiederkehrende Handlungen und Geschehensabläufe Bedeutungen haben und Wirkungen hervorrufen können, die vor der Öffentlichkeit verborgen werden oder den Beteiligten selbst nicht bewusst sind. Dieser Vieldeutigkeit und Latenz zum Trotz sind Konstrukte zur Wirklichkeit des Schulgeschehens nicht beliebig. Vielmehr kann gezeigt werden, dass es empirische Widerständigkeiten gibt, die im Allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen, ja zum Teil bewusst ignoriert werden. Zunächst soll es darum gehen, wie derart ‚blinde Flecke ދin der Sicht von Beobachtern entstehen.
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Zum Begriff der „Latenz“ siehe Kap. 1.3.
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3 Verborgene Wirklichkeiten
3.2 Über den Sinn des Verbergens 3.2 Über den Sinn des Verbergens Im Bereich der Schule gibt es Erscheinungen, die kohärent sind, obwohl sie dem Primat des Pädagogischen, der in den hegemonialen Konstrukten der Schule vorherrscht, nicht entsprechen. Umgekehrt gilt, dass der Blick auf diese empirischen Gegebenheiten die Konstrukte, die den Diskurs über das Bildungswesen beherrschen, infrage stellt. Obwohl Schulleitung und Lehrerschaft bemüht sind, derartige Erfahrungen im Umgang mit dem Schulgeschehen nicht öffentlich zu machen, drängen sie sich den Beteiligten auf. Um unerwünschte Deutungen zu verhindern, das heißt um Funktionen nicht manifest werden zu lassen, werden bei Schulfesten, an Elterntagen, bei Besuchen von Behördenvertretern oder Sponsoren, besonders aber zu solchen Terminen, zu denen sich mediale Berichterstatter angemeldet haben, Inszenierungen geschaffen, die das Unerwünschte verschleiern. Auch in Pressemitteilungen sowie in Werbebroschüren muss eine Verengung des Deutungsspielraums erfolgen, indem nur bestimmte Seiten der Schulwirklichkeit zur Sprache kommen. In Schulen wie auch in anderen Organisationen werden also Aspekte des sozialen Geschehens ausgeklammert und Wirklichkeitsbilder verhindert, die sich konträr zu den gewünschten Deutungen verhalten. Allerdings gibt es auch eine Diskretion der Öffentlichkeit und der am Schulgeschehen Beteiligten gegenüber solchen Aspekten des Schulgeschehens, die nicht Gegenstand eines allgemeinen Diskurses sein sollen. Eltern und Schulaufsicht, Kommunen und Verbände haben durchaus gemeinsame Interessen, wenn es darum geht, Vorstellungen von dem, was Schule ist und zu sein hat, zu bekräftigen und die Arbeit der Schule nicht durch gegenläufige ‚Wahrheiten ދzu behindern. Wenn es zum Beispiel darum geht, dass das Schulwesen die Aufgabe hat, bestimmte Werte und universalisierbare Normen zu vermitteln, dann sind Hinweise darauf, dass schon die Struktur der Schule diese beständig konterkariert, nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Die Veröffentlichungen von Absolventen, die zum Beispiel über ihre Erfahrungen an exklusiven Bildungseinrichtungen berichten und bemüht sind, die ‚andere Seite der Wirklichkeit ދund das ‚wahre ދSozialisationsumfeld darzustellen, haben Ausnahmecharakter.2 Bestimmte Aspekte des Schulgeschehens werden also von der Schulleitung und dem professionellen Personal, aber auch von Teilen der Öffentlichkeit, besonders von den Medien, nicht thematisiert, weil sie, wenn sie publik würden, die pädagogische Arbeit behinderten, ja möglicherweise auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einschätzung des Bildungswesens und der konkreten 2
Zum Beispiel das Buch von Benjamin Lebert über seine Erfahrungen im Internat. Siehe Lebert 1999
3.2 Über den Sinn des Verbergens
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Schule hätten. Im Allgemeinen ist alles konsens- und publikationsfähig, was Hoffnungen auf eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse zu rechtfertigen scheint. Ein grundsätzlicher pädagogischer Optimismus kennzeichnet die öffentlich kursierenden Konstrukte über die Schule. Kritik darf also nur die aktuellen Zustände, jedoch nicht langfristige und schwer änderbare Strukturen berühren. Zum Credo der Schule gehört, dass sie nicht nur der sozialen Reproduktion dient, sondern auch der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen, und dass sie Innovationen hervorbringt. Die mit dem Bildungswesen institutionalisierte Pädagogik gilt als das wichtigste Instrument einer Steuerung des gesellschaftlichen Wandels. Bei den Konstrukten, die in den Medien über die Schule und das Bildungswesen verbreitet werden, stehen auch die Möglichkeiten zur Abwendung von Gefahren im Vordergrund. Mit Begriffen wie Wissens- und Informationsgesellschaft soll gezeigt werden, dass nicht nur das gegenwärtige, sondern auch das zukünftige Zusammenleben der Menschen von der Beschaffenheit des Bildungswesens abhängt. Darüber hinaus dient Schule in der Sicht der Öffentlichkeit der Integration, der Inklusion marginalisierter Gruppen und der Toleranz gegenüber den Gewohnheiten und Überzeugungen des anderen. Die Schule ist die Institution, die gesellschaftlich erforderliches Wissen verbreitet und erwünschte Einstellungen herbeiführt, um auf diese Weise Konfliktund Notlagen zu minimieren und gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Wie noch zu zeigen sein wird, weist das, was also diesem pädagogischen Optimismus nicht entspricht, was unterdrückt und ignoriert werden soll, eine hartnäckige Widerständigkeit auf. Das verborgene Soziale ist dem ähnlich, was Freud, bezogen auf aggressive und sexuelle Impulse, als Verdrängung bezeichnete. Bestandteile dieser „Triebe“, die nicht im Bewusstsein erscheinen dürfen, erzeugen nach Freud Druck und verschaffen sich in anderer Form Geltung. Gleiches gilt für das Bildungswesen: In dem Bemühen, die Schulwirklichkeit so zu präsentieren, dass es zu den erwünschten Deutungen kommt, werden Zwänge geschaffen, Zwänge, die allerdings ein ‚Aus-der-Rolle-Fallen ދnicht ausschließen, zumal wenn es sich um ungewöhnliche Situationen handelt und die Möglichkeiten, entsprechende Arrangements vorzubereiten, gering sind. – Im Folgenden sollen die nichtöffentlichen Seiten der Schulwirklichkeit dargestellt werden, die mit der Erziehungs- bzw. der Sozialisationsfunktion verbunden sind. Dabei geht es zunächst um ungewollte – und auch uneingestandene – Sozialisationseffekte, die sich aus dem Umgang mit der formalen Organisation der Schule ergeben. Dabei wird das ‚Coping ދvon zentraler Bedeutung sein. Als ‚Coping ދsoll ein Verhalten bezeichnet werden, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, mit dem Normensystem der Schule zurechtzukommen. Obwohl verallgemeinerungsfähig, also auch auf formale Strukturen der Berufs- und Arbeitswelt anwendbar,
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kommen potenzielle Sozialisationseffekte, die mit dem Coping verbunden sind, in den Überlegungen der Schuladministration nicht vor. Hinzu kommt der verborgene Lehrplan, also Einflüsse, die auf Strukturähnlichkeiten zwischen der Schule und der Arbeitswelt beruhen und die systemisch erzeugt werden, ohne dass sie den Beteiligten bewusst sein müssen. Es wird zu zeigen sein, dass Elemente des verborgenen Lernplans – je nach Situation und Stimmungen in der Öffentlichkeit – durchaus aus ihrer Latenz hervorgeholt und, wenn auch in abgewandelter Form, in hegemoniale Konstrukte zur Schule und zum Bildungswesen eingebaut werden können. 3.3 Ungewollte Sozialisationseffekte: das Coping-Verhalten 3.3 Ungewollte Sozialisationseffekte: das Coping-Verhalten Während in der Familie persönliche, partikularistische und affektive Beziehungen im Vordergrund stehen, sind in der Schule die Aktivitäten des Kindes bewertungsrelevant, und es werden universalistische Normen in Anwendung gebracht, um vergleichende Beurteilungen durchführen zu können und Lernfortschritte zu messen. Auch wenn Benotungen zunächst noch ausgesetzt bleiben, so stehen bereits die Schulanfänger unter Beobachtung; das Personal der Schule hat die Aufgabe, Schülerinnen und Schüler auf spätere Anforderungen und damit auf das schulische und nachschulische Leistungssystem vorzubereiten. Das bedeutet auch, dass sich die Lehrerschaft selbst beobachten und ihre Emotionen zurücknehmen muss. Alle Fördermaßnahmen haben nach dem Selbstverständnis der Schule und der Profession unter dem Gesichtspunkt gleicher Rechte zu erfolgen, was dem Kind Orientierungen abverlangt, die im Gegensatz zu den in der Familie gemachten Erfahrungen stehen. Die Schule ist also insofern ein Einschnitt in das Leben des Einzelnen, als ihm Bezugspersonen begegnen, die sich nicht nach persönlichen oder anderen partikularistischen Gesichtspunkten richten und den subjektiven Bedürfnissen des Kindes nur begrenzt nachgeben dürfen, weshalb Initiativen des Kindes, nach dem Muster familiärer Strukturen Interaktionen mit der Lehrschaft einzuleiten, in ihrem Ergebnis zweifelhaft sind und der Tendenz nach zurückgewiesen werden. Das Kind wird veranlasst, mit Lehrern in der Art und Weise, wie es seiner neuen Rolle entspricht, Beziehungen zu entwickeln. Umgekehrt sollen sich Lehrkräfte nicht unprofessionell verhalten, also zum Beispiel nicht Einzelne bevorzugen oder sich zu Affektausbrüchen provozieren lassen. Das Handeln von Lehrern und Schülern wird also über die formale Ordnung der Schule koordiniert. Es wäre aber falsch zu meinen, dass sich das soziale Geschehen innerhalb und außerhalb des Unterrichts mit der formalen Ordnung der Schule erfassen ließe. Diese ist vielmehr ein Handlungsschema unter anderen, auf das in bestimmten Situationen
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zurückgegriffen wird. Nichtsdestoweniger ist die formale Ordnung hegemonial in dem Sinn, als jederzeit von den Ranghöheren auf entsprechende Begriffe und Kategorien Bezug genommen werden kann. In bestimmten Kontexten, zum Beispiel bei Fällen mit direkter Vergleichsmöglichkeit, empfiehlt es sich für Lehrer und Schüler, sich an der formalen Ordnung zu orientieren. Wenn Aspekte der Formalität ins Spiel gebracht werden, muss auch das soziale Gegenüber darauf eingehen, da mit der Formalität auch die Mitgliedschaftsrolle zur Disposition steht. Die Schule stellt eine Herausforderung dar, weil sie zum ersten Mal das Kind mit Beziehungen konfrontiert, die funktional spezifisch definiert sind. Bildungsorganisationen haben mit anderen sekundären Systemen gemeinsam, dass nach formaler Definition das Aufgabenfeld von Lehrern und Schülern, vergleichbar mit dem Vertragsverhältnis in der Berufs- und Arbeitswelt, begrenzt ist. Die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche in der Schule das Handeln in Organisationen lernen, indem sie die Strukturen der Schule begreifen und verinnerlichen, ist insofern richtig, als es unpersönliche und spezifische Regeln gibt und das Handeln nach diesen Regeln zum Selbstverständnis des Personals gehört. Allerdings wird von Schülerinnen und Schülern aber auch gelernt, Normen in Abhängigkeit von Personen und Situationen zu sehen. Die Sozialisation in der Schule bringt die Erfahrung mit sich, dass die Regeln des Unterrichts und der Schulordnung nicht ausnahmslos gelten, sondern als Richtlinien zu verstehen sind, auf die sich Lehrer und Schüler zurückziehen können. Den Umgang mit Regeln zu lernen, heißt also, zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden. Die Schülerschaft entdeckt eine im offiziellen Verständnis nicht vorkommende Wirklichkeit, die darin besteht, dass nach außen der Eindruck erweckt wird, das Geschehen im Unterricht, ja das Schulgeschehen überhaupt, laufe nach formalen Regeln ab, während tatsächlich aber dieses geregelte Verhalten nur einen kleinen Teil des Handelns ausmacht. Dass professionelle und bürokratische Normen Freiräume zulassen, ja dass sogar der normierte Bereich interpretierbar ist, gehört zu den elementaren Erfahrungen des Schullebens und wird als Erfahrungswissen von einer Schülergeneration zur nächsten weitergegeben. Die persönlichen Vorlieben und andere Eigenarten der Erzieher sind Ausgangspunkte für eine kollektive und individuelle Vorteilssuche der Schülerinnen und Schüler, indem sie den Eindruck erwecken, dass sie die Ansichten und Werthaltungen des Lehrers teilen, auf dieser Basis aber den Lehrer dazu veranlassen, die Interaktionen auf einer von ihnen bevorzugten Ebene fortzusetzen. So kann es dazu kommen, dass im Unterricht andere als die vorgesehenen Schwerpunkte behandelt werden, also Themen, für die sich die Schülerinnen und Schüler selbst mehr interessieren als für das offizielle Curriculum. Ob die
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Methoden und Themen noch mit dem übereinstimmen, was unter die inhaltlichen Kategorien des Faches subsumiert werden kann, mag fraglich erscheinen. Die faktisch vorhandenen Leerstellen im normativen Gefüge des Unterrichts machen es jedoch möglich, dass gruppendynamische Prozesse ins Spiel kommen und die fachgerechte Definition des Inhalts erst im Nachhinein – zuweilen auch nach Absprache mit den Schülern – erfolgt. Derartige kollektive Strategien werden ergänzt durch solche, die einzelne Schüler entwickeln, um Angehörige der Lehrerschaft persönlich für sich zu gewinnen. Lehrerinnen und Lehrer entwerfen Projektionen vom idealen Schüler, die wiederum die Schüler dazu veranlassen, sich in ihrem Äußeren sowie in ihrer Selbstdarstellung entsprechend zu stilisieren. Schüler generieren also Methoden, wie man Sympathie hervorruft und so instrumentalisiert, dass sie sich günstig auf Definitionsprozesse im Rahmen der Lehrer-Schüler-Interaktion auswirkt. Das Ergebnis solcher Strategien besteht darin, dass der Lehrer von Regeln abweicht und dem Schüler Vorteile zukommen lässt, und zwar indem er Begünstigungen sich selbst gegenüber beschönigt und ‚Ungerechtigkeiten – ދzum Beispiel unter Bezugnahme auf pädagogische Erwägungen – rationalisiert. Eine derartige Emotionalisierung des Unterrichtsgeschehens, verbunden mit einer strategischen Kanalisierung von Gefühlen, ist möglich, weil die Beurteilung von Schülerleistungen oder die Sanktionierung regelwidrigen Verhaltens nach professionellem Verständnis die Berücksichtigung besonderer Umstände zulässt. Auch Schulleitung, Schulordnung und Schulbürokratie müssen den Lehrkräften Spielräume der Interpretation und der Bewertung zugestehen. Wie schlechte Leistungen oder Fehlverhalten kategorisiert und ‚entschuldigt ދwerden, hängt nicht nur, aber auch vom Ermessen der Lehrkräfte ab. Bei entsprechendem Wohlwollen auf Seiten der Erzieher können selbst extreme Verstöße gegen Leistungs- oder Verhaltensmaßstäbe ohne nachteilige Folgen bleiben. Schülerinnen und Schüler lernen auf diese Weise, dass Regeln auch in formalen Kontexten nicht unumstößlich sind und dass man Freiräume für sich nutzen kann; sie erwerben Kenntnisse darüber, wie man das Lehrerurteil beeinflusst und das Unterrichtsgeschehen in eine bestimmte Richtung lenkt. Gleichzeitig erfahren sie, welche Bedeutung Konstrukten zukommt. Sie machen die Beobachtung, dass empirische Befunde, die eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit nahe legen und damit soziale Folgen auslösen, in einer situations- und kontextabhängigen Weise interpretiert werden können, das heißt dass Konstrukte die Funktion haben, Handlungsdilemmata zu lösen, die sich aus der Unvereinbarkeit der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten einerseits und den Normen und Erwartungen der Außenstehenden andererseits ergeben. Zahlreiche Handlungsabläufe in der Schule zeigen dem Lernenden, wie durch plausible Interpretationen Spielräume des Handelns geschaffen und Zwänge, die
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durch die formale Struktur und durch die Schulleitung bzw. die Schulaufsicht konstituiert werden, zu umgehen sind. So ist es zum Beispiel möglich, einen relativ eindeutigen Tatbestand, etwa das Plagiat eines Schülers bei einer schriftlichen Arbeit, in seinen Folgen zu entschärfen, wenn sich Lehrer und Schüler auf das Konstrukt des ‚nachlässigen Zitierens ދeinigen. Soziales Verhalten, das auf eine Norm bezogen ist, gleichzeitig aber Möglichkeiten auslotet, diese durch Umdeutung im Rahmen vorhandener Interpretationsspielräume für sich zu nutzen, entspricht dem Begriff des „Coping“. Schüler sehen sich in der Lebenswirklichkeit der Schule mit einer formalen Organisation konfrontiert. Was sie beobachten, ist aber nicht, dass Normen befolgt werden müssen; sie lernen vielmehr, dass die Befolgung von Normen von vielen, auch von situativen Bedingungen abhängt und im Rahmen von Definitionsprozessen umgangen werden kann. Sie machen mit anderen Worten die Erfahrung, dass Normen in Organisationen Verhandlungssache sind. Dazu trägt bei, dass es zahlreiche, zum Teil widersprüchliche und sich überschneidende Regeln gibt, dass also unterschiedliche Regeln in Anwendung gebracht werden können und dass es gar nicht möglich ist, allen Forderungen gerecht zu werden. “Student ‘coping’ strategies, or ways of adapting to the power structure of school culture, are major aspects of the informal system. Students develop strategies related to their own needs, based on their own experiences with schooling, self concept, peer-group relations, ability grouping, and other factors. School requires strategies very different from those learned at home in early socialization, although early learning is crucial to the student´s success in school …” (Ballantine 2001, 210).
Um in Organisationen zurechtzukommen, reicht die Bereitschaft zur Regelkonformität nicht aus. Schülerinnen und Schüler entwickeln ein Gespür dafür, auf welche Normen sie in sinnvoller Weise Bezug nehmen müssen, um ihre Ziele durchzusetzen, und welchen Normen sie ausweichen können. Sowohl durch Erfahrungen, die sie selbst mit Lehrkräften gemacht haben, als auch durch Erlebnisse und Beobachtungen anderer wird ihnen deutlich gemacht, dass die Wahrnehmung der Realität viele Interpretationen zulässt und dass der Vorzug, der einer bestimmten Deutung gegeben wird, sich nicht allein aus der Sache ergibt, also aus der empirischen Widerständigkeit eines Tatbestandes, sondern auf Bedürfnissen, Interessen und Emotionen beruht. Entsprechend dieser Vieldeutigkeit der Realität sind es unterschiedliche Normen, die zu einer empirischen Evidenz passen und die handlungsleitend werden können. Es gilt also für die Schülerinnen und Schüler, die Regeln hinter den Regeln zu erkennen, also zu wissen, welche Regeln in welchen Situationen wichtig sind und was man sich – jenseits und innerhalb der Regeln – erlauben kann, ohne dass es zu Sanktionen
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kommt. Darüber hinaus machen Lernende die Erfahrung, dass Regeln selbst dann nicht unumstößlich sind, wenn an ethische und moralische Verpflichtungen appelliert wird. Zum Coping-Verhalten gehört, dass das Deklamatorische der Regeln erkannt wird. Es muss also nicht alles als unvermeidlich angesehen werden, was offiziell an Maßstäben verkündet wird. Auch die Gesinnung kann möglicherweise außer Kraft gesetzt werden. Mit dem sozialen Geschehen in der Schule verbindet sich die Erkenntnis, dass das Bild, das Schulleitung und Lehrerschaft von der Schule entwerfen, nicht einer ontologischen Gegebenheit gleichkommt, sondern unter taktischen Gesichtspunkten gesehen werden muss. Für den Lehrer stellt sich das Problem, dass er das Instrument der Sanktionen nur maßvoll einsetzen darf, da dieses sonst unbrauchbar würde (Popitz 1968). Das heißt, dass Lehrkräfte ständig Fehlverhalten übersehen und damit den Eindruck des Nichtwissens erwecken müssen. Der Lehrer, der zur Pausenaufsicht eingeteilt ist, wird durch Mimik und Gestik glaubhaft machen, dass er Drogenkonsum oder Prügeleien unter Schülern nicht wahrnimmt, weil er sonst intervenieren müsste. Er wird daher den Eindruck erwecken wollen, dass er durch Gespräche abgelenkt oder in Gedanken abwesend sei. Die Schülerschaft ist an diesen Inszenierungen und Konstruktionen beteiligt. Schülerinnen und Schüler wissen, dass es um die Vermeidung von Handlungszwängen geht und dass die Schule bzw. ihr Personal wenig daran interessiert ist, ständig in das Verhalten der Schüler einzugreifen. Wird gegen diese Regeln verstoßen, sanktioniert der Lehrer mit dem entschuldigenden Hinweis, ihm bleibe (bei einem offensichtlichen Fehlverhalten) nichts anderes übrig, als so zu verfahren, wie es die Norm vorschreibt. Schüler müssen folgerichtig lernen, wie man sich zu verhalten hat, um trotz regelwidrigen Verhaltens Sanktionen zu vermeiden. Dazu gehört auch, dass die Schüler dem taktischen und bewussten Ignorieren des Lehrers nicht den Boden entziehen dürfen, indem sie dessen Unglaubwürdigkeit deutlich machen und so Reaktionen erzwingen, die sie selbst nicht wollen. Dass es für einen reibungslosen Ablauf des sozialen Geschehens erforderlich ist, sich zu verstellen, ist eine im Prozess des Heranwachsens wichtige Erfahrung, die auch für das soziale Handeln in anderen formalen Organisationen qualifiziert. Die Sanktionierung von Fehlverhalten hat, ähnlich wie die Auszeichnung besonderer Leistungen, eine öffentliche Wirkung. Die Schule, die Regeln anwendet und auf diese Weise Fehler von Schülern feststellt, muss damit rechnen, dass diese Vorkommnisse auch außerhalb der Schule bekannt werden. Welche Folgen sich damit für das Renommee der Schule ergeben, ist im Allgemeinen kaum vorhersagbar. Es kann zum Beispiel in den Medien zu einer Verurteilung der Schule kommen, weil Schulleitung und Lehrkräfte nicht in der Lage gewesen sind, dieses Verhalten zu verhindern. Für das professionelle Personal sowie für die Schulleitung kann es daher vorteilhaft sein, auf Strafen zu verzichten.
3.3 Ungewollte Sozialisationseffekte: das Coping-Verhalten
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Auch für ein regelwidriges Verhalten von Lehrern gilt, dass es möglicherweise sogar den zuständigen Behörden nicht bekannt gemacht wird, weil es – noch stärker als die ‚Entgleisungen ދvon Schülern – der Institution angelastet würde. Es besteht daher eine Tendenz, entsprechende Fälle zu verbergen. Wenn Schüler Zeugen eines Fehlverhaltens geworden sind, müssen Schulleitung und Kollegium auf die Kommunikation von Schülern Einfluss nehmen. Schüler werden ins Vertrauen gezogen; es wird ihnen Stillschweigen abverlangt oder ein verharmlosendes Konstrukt vorgeschlagen, das den skandalisierbaren Vorgang beschreiben und somit Grundlage einer offiziellen Sprachregelung sein soll. Derartige Aktionen des Verbergens machen den Schülern gleichfalls deutlich, dass in Organisationen Konstrukte selbst bei erheblicher empirischer Widerständigkeit zum Einsatz kommen, und zwar mit dem Ziel, einzelne Akteure oder auch das System insgesamt vor negativen Folgen zu bewahren. Durch Konstrukte und empirische Widerständigkeiten gewinnen Schülerinnen und Schüler Erkenntnisse darüber, was Öffentlichkeit bedeutet. Öffentlichkeit ist das, was Anlass zu – häufig auch sehr willkürlichen – Konstruktbildungen bietet. Es zeigt sich, dass es ein abgestuftes System von Publizität gibt und dass dieses regelt, wie viel und was gesagt werden darf. Das offene Geheimnis in einer Klasse, einem Jahrgang oder in einem Kurs, etwa die chronische Krankheit eines Mitschülers, sollte schon aus Gründen des Takts nicht nach außen getragen werden. Ähnlich verhält es sich mit Unzuverlässigkeiten eines Lehrers oder anderen Verhaltensauffälligkeiten, zumal wenn sie auf Umstände zurückgeführt werden können, die dieser nicht zu verantworten hat.3 Die Teilöffentlichkeit eines Kurses oder einer Klasse kann von anderen Lehrern ins Vertrauen gezogen werden mit der Bitte, diese Informationen nicht an Außen3
Die Bereitschaft zur ‚Vertuschung ދist in Schulen und Hochschulen besonders ausgeprägt, und zwar weil es sich um Systeme mit weitgehend segmentärer Differenzierung handelt und weil deswegen Unzuverlässigkeiten oder bizarre Verhaltensweisen von Kolleginnen und Kollegen keine unmittelbaren Folgen haben. Dementsprechend ist in der Kommunikationsstruktur eine systematische Rückmeldung über Fehlverhalten nicht vorgesehen. Bekannt wird das gegen Organisationsnormen oder auch gegen residuale Regeln verstoßende Verhalten der Lehrenden zunächst nur denjenigen, die dieses beobachten, also zum Beispiel der Klasse oder dem Kurs. Weitere Personenkreise werden nur von Gerüchten erreicht, die jedoch nicht objektiviert werden, weil sie nicht, wie im Falle einer funktionalen Differenzierung, zur Behinderung der eigenen Arbeit führen. Die Folgen für die Institution als Ganze sind schwer abzuschätzen und treten eher langfristig ein. Aus diesem Grund ist auch die Bereitschaft, einschlägige Gerüchte zu überprüfen, gering. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei den Beobachtern, also den ‚Zeugenދ, oft um Lernende und Studierende handelt, was aufgrund von Abhängigkeiten und Statusdifferenzen eine Verifizierung von Informationen erschwert. Absonderlich oder auch regelwidrig sich verhaltende Lehrkräfte sind daher vertraute Erscheinungen; sie gehören nicht nur zum Anekdotenrepertoire lebensgeschichtlicher Erzählungen, sondern auch zu den klassischen Topoi der Belletristik.
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stehende weiterzugeben. Gleichzeitig werden ‚Entschuldigungen ދnahegelegt, die geeignet sind, Nachforschungen zu begegnen. Zum Coping-Verhalten gehört, dass die Folgen von Kommunikation abgeschätzt und damit strategische Kommunikation erlernt wird. Sichtweisen der Wirklichkeit, die im einen Fall – in vertrauter Umgebung – angebracht erscheinen, können sich in einem anderen – besonders bei medialer Verbreitung – als fatal erweisen. Auch auf diese Weise werden Einsichten in die Funktion von Konstrukten gewonnen. Das bedeutet, dass sich im Prozess des Heranwachsens, und zwar unter dem Einfluss der Schule, ein ganz neues Verhältnis zur Wirklichkeit entwickelt. Das soziale Geschehen in der Schule mit seinen Regeln und Ausnahmen, mit seinen Täuschungen und Selbsttäuschungen, mit seinen Geheimnissen und Rechtfertigungen führt dazu, die Wirklichkeit anders als im gesellschaftlichen Rahmen der primären Sozialisation wahrzunehmen, nämlich im Kontext von Konstrukten, die wiederum in Hinblick auf Interessen und Plausibilitäten zu hinterfragen sind. Beobachtungen zum Coping-Verhalten zeigen, dass mit dem Schulalltag ein Erfahrungspotential verbunden ist, das von spezifischen Gegebenheiten und Regeln abstrahiert. Dieses Wissen ist anschlussfähig in der Weise, dass ähnliche Erfahrungen in anderen formalen Organisationen, die der Schule biografisch folgen, gemacht werden können. In offiziellen Lehrplänen sowie in anderen normativen Entwürfen zum Bildungswesen kommt diese Erfahrungswelt nicht vor, und zwar weil sie im Kontrast zu den öffentlich diskutierten Konstrukten steht. Diejenigen, die im Rahmen des Schulgeschehens direkt miteinander interagieren, lernen, mit Konstrukten umzugehen und diese in ihrer Funktionalität zu deuten. Konstrukte sind demnach unerlässlich und können auch kontrafaktisch ausfallen. Demgegenüber wird in der Öffentlichkeit das institutionelle Erziehungshandeln mit einer gewissen Einseitigkeit dargestellt und es besteht eine große Bereitwilligkeit, sich diesen Konstrukten anzuschließen. Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte kennen die andere Seite des Schullebens und entwickeln dementsprechend, wenn der Druck, sich den Konstruktionen anzuschließen, zu groß wird, eine Art ironischer Distanz, die es erlaubt, mit Rollenambiguität (Habermas 1973), ja mit kontrafaktischer Konstruktdominanz umzugehen. Coping ist nicht Teil eines Lehrplans, sondern ergibt sich nebenbei, ungeplant und ungewollt aus der Situation schulischen Lernens. Trotzdem kann von der Vermittlung einer Kompetenz ausgegangen werden, die darin besteht, mit der Vieldeutigkeit empirischer Befunde und vor allem mit der Differenz zwischen Normativität und Faktizität zurechtzukommen.
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3.4 Der verborgene Lehrplan 3.4 Der verborgene Lehrplan Schülerinnen und Schüler lernen in der Schule also nicht nur das, was im Lehrplan vorgesehen ist. Auch ist der Unterricht nicht der einzige Ort schulischen Lernens. Wenn Erwachsene danach befragt werden, was ihnen von ihrer Schulzeit am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist, so sind es in der Regel keine Vorkommnisse, die von den Lehrkräften zum Zweck der Erziehung, Bildung oder Qualifikation herbeigeführt wurden. Vielmehr handelt es sich um scheinbare Nebensächlichkeiten, Begleitumstände des Unterrichts oder des außerunterrichtlichen sozialen Miteinanders, die, weil sie ein neues Bild auf die Gesellschaft oder auf die eigene Identität vermittelten, biografisch relevant geworden sind. Die Sozialisationswirkungen der Schule ergeben sich nicht allein im Rahmen des Lehrplans, sondern auch aufgrund von curricularen und extracurricularen, als Ganzheit erlebten persönlichen Erfahrungen (Blumberg/ Blumberg 1994). Einzelne dieser Erfahrungen bleiben als Schlüsselereignisse in Erinnerung. Wann und wo Bildung im Sinn einer Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung zustande kommt, ist für Lehrerinnen und Lehrer sowie für die Schulleitung und die Schulaufsicht nicht kalkulierbar. Dagegen ergeben sich, unabhängig und jenseits vom offiziellen Lehrplan, Lernerlebnisse, die vor dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Strukturen Sinn machen. So hat bereits Bernfeld (1925) festgestellt, dass mit den in der Schule üblichen Unterrichtsmethoden die Denkmuster übernommen werden, die für die industriellkapitalistische Wirtschaftsweise konstitutiv sind. Gleichzeitig – so Bernfeld – werden bestehende repressive Verhältnisse legitimiert; es wird gelernt, dass diejenigen, die sich in Konkurrenzsituationen durchsetzen, für sich Vorteile in Anspruch nehmen dürfen und dass die weniger Erfolgreichen mit ihren Benachteiligungen zufrieden sein müssen. Es ist also davon auszugehen, dass schulische Sozialisation über die von den Lehrkräften intendierten und von der Organisationsleitung offiziell angestrebten sozialen Lernerfahrungen hinausgeht. Mit dem Begriff des „heimlichen Lehrplans“ ist alles das gemeint, „was das Leben in der Schule jenseits von Lehrplänen, Richtlinien oder Schulordnungen ausmacht und bei den Schülerinnen und Schülern ... soziale Verhaltenskonformität hervorruft“ (Zimmermann 2003, 131). Auch für Jackson (1973) geht es in der Schule weniger um die offiziellen Unterrichtsinhalte als vielmehr um das Erlernen von Regeln und Definitionen. Das verborgene Lernziel der Grundschule bestehe darin, dass Heranwachsende bereit seien, persönliche Bedürfnisse zurückzustellen und sich vorgegebenen Normen zu unterwerfen. Schüler erwerben – so Jackson – die Fähigkeit, Gefühle nicht zu zeigen und geduldig langfristige Karriereziele zu verfolgen. Belohnt
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würden innerhalb dieser Strukturen die Angepassten, nicht die Kreativen. Es gebe keine Ermutigung für Schüler, Fragen zu stellen; die Autorität des Lehrers und des Althergebrachten habe gegenüber der Neugier, dem spontanen Erproben und Erforschen Vorrang, sodass sich ein intrinsisches Interesse an akademischen und theoretischen Fragestellungen nicht entwickeln könne. Henry (1975) ist der Meinung, dass es in der Schule darauf ankomme, eine generelle Konformitätsbereitschaft zu erzeugen, wobei nicht nur repressive Techniken eingesetzt würden, sondern zunehmend auch manipulative, die auf einer psychischen Abhängigkeit des Schülers gegenüber dem Lehrer beruhten. Henry macht mit eindrucksvollen Beispielen deutlich, wie perfekt es der Schule gelingt, eine Art von Angepasstheit zu erzeugen, die später nicht nur im Beruf, sondern auch in privaten Zusammenhängen abgefragt wird. Zu der erfolgreichen Modellierung von Bedürfnissen durch die Gesellschaft, stellvertretend durch die Schule, gehört nach Henry, dass Wettbewerbsorientierung vermittelt wird, ohne dass – wenn auch in einem begrenzten, funktional erforderlichen Maß – Solidarität ganz ausgeschlossen bliebe. Schon in der Grundschule würden Kinder daran gewöhnt, ihre Mitschüler als Konkurrenten zu sehen und Leistungsschwache auszugrenzen. Auf diese Weise würden Angst vor dem Versagen und Neid auf den Erfolg von anderen zu festen Bestandteilen der kindlichen Psyche. Ebenfalls am Beispiel des amerikanischen Bildungswesens kommen Bowles und Gintis (1976, bes. 103 ff., 125 ff.) zu dem Schluss, dass auch durch ein scheinbar zugangsoffenes Bildungssystem die Klassenstruktur stabilisiert wird. Aufgrund sozialer Benachteiligungen kämen Lernende aus der Arbeiterschaft nicht zu den Erfolgen, die Angehörige der Mittelschichten für sich verbuchen könnten. Es gehöre aber zu den latenten Mechanismen der Schule, dass Schülerinnen und Schüler dazu veranlasst würden, Erfolge ebenso wie Misserfolge ihren persönlichen Eigenschaften, nicht dagegen der Chancenstruktur der Gesellschaft zu attribuieren. Das Versagen von Unterschichtkindern führe also nicht dazu, die Legitimität gesellschaftlicher Unterschiede in Zweifel zu ziehen. Die Schule erzeuge vielmehr ein individualisierendes Gesellschaftsbild, das die Privilegien des Besitzbürgertums rechtfertige, indem es sie auf persönliche Leistungen zurückführe. Gleichzeitig würden die Unterprivilegierten zu einer – im Rahmen bestehender Machtverhältnisse – erwünschten Bescheidenheit erzogen. Die Schule forme Bedürfnisse und Aspirationen entsprechend der Klassenlage. Die Reproduktion der bestehenden Verhältnisse sei das Ergebnis schulischer Erfahrungen: “the educational system tailors the self-concepts, aspirations, and social class identifications of individuals to the requirements of the division of labor” (Bowles/Gintis, a.a.O., 129). Apple (1980) macht darauf aufmerksam, dass Formen der „technischen“ Kontrolle, die in den Unternehmen der Wirtschaft anstelle eines direkten Be-
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fehls- und Abhängigkeitsverhältnisses eingeführt wurden, ihre Parallele in neuen Formen der schulischen Unterweisung und des Unterrichts haben. Ebenso, wie direkte Kontrollen im Betrieb durch persönliche Anordnungen des Vorgesetzten an den Untergebenen mehr und mehr zurückgedrängt und durch unsichtbare, in Apparaten und Verfahren verborgene Arten der Kontrolle, zum Beispiel durch intelligente Maschinen, die eine bestimmte Bedienung vorschreiben, ersetzt würden, so gebe es in der Schule zunehmend vorgefertigte Lehrmittel, die den Lehrer als denjenigen, der das Unterrichtsgeschehen lenke, in den Hintergrund treten ließen; demgegenüber regelten „Lernpakete“ den Zeitplan des Schülers, zerlegten die Themen in Lerneinheiten und Module, bestimmten die einzelnen Lernschritte und standardisierten die Bewertung. Mit der Einführung von „predesigned curricular/teaching/evaluation systems“ sei zwar eine Individualisierung des Lernens zu beobachten, indem die Lehrer-Schüler-Interaktion an Bedeutung verlöre und der Lernende viele Möglichkeiten habe, den Lernvorgang selbst zu steuern; trotzdem aber seien die dabei eingeschlagenen Wege bereits vorgegeben, sodass scheinbare Autonomiegewinne des Schülers mit einer Effizienzsteigerung der Kontrolle einhergingen. Tillmann (1994) greift die Beobachtungen Bernfelds wieder auf und betont, dass die Kommunikation in der Schule hierarchisch und erzwungen sei. Mit der Erzeugung von Konformitätsbereitschaft leiste die Schule einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren der Berufs- und Arbeitswelt, speziell des Industriebetriebs. Damit erweisen sich – so Tillmann – die institutionellen Eigenschaften der Schule als Objekte der Erfahrung, als wichtige Bestandteile des Curriculums. Nicht das, was in Schulgesetzen und Lehrplanrichtlinien vorkomme, nicht die öffentlich bekannt gemachten, sondern die geheimen und teilweise auch den Beteiligten unbewussten Lehr- und Lerninhalte, die der Legitimation der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Disziplinierung gälten, machten das gesellschaftliche Interesse an der Schule aus und garantierten ihre materielle Existenz. Unter Verweis auf strukturelle Übereinstimmungen zwischen Schulsystem und ökonomischem System kommt Tillmann zu dem Schluss, „dass in der Institution Schule eine unterschwellige, aber umso intensivere Einübung in solche Verkehrsformen erfolgt, die später das kapitalkonforme Verhalten von Lohnabhängigen in Fabriken und Büros begünstigen“ (Tillmann, a.a.O., S. 168). Die Forschungen zum heimlichen Lehrplan kommen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass es Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen innerhalb und außerhalb der Schule gebe; die Schule vermittle ein Konglomerat von Einstellungen und Orientierungen, das auf gesellschaftliche Realitäten vorbereite. Es sei also von stimmigen Erfahrungen auszugehen, die systemisch in der Schule herbeigeführt würden, und zwar – wegen ihrer politischen Brisanz – entgegen den bewussten und in der Öffentlichkeit thematisierten Konstrukten des Lehrens
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und Lernens. ‚Systemisch ދheißt, mit den Worten Luhmanns, „die Erziehung nicht über Kommunikation laufen zu lassen, sondern Situationen zu schaffen, die ein gewisses Sozialisationspotential aktualisieren“ (Luhmann 2004, 119). Mit dem Begriff des ‚verborgenen ދLehrplans soll darüber hinaus eine uneingestandene, nichtsdestoweniger gewollte Wirtschaftsabhängigkeit deutlich gemacht werden. Die Zielsetzung dieser Studien besteht darin, über verdeckte Funktionen des Bildungssystems und latente Interessen machtvoller Gruppen aufzuklären. Die Schule vermittelt demnach Lerninhalte, die von privilegierten Kreisen in Politik und Wirtschaft angestrebt und durchgesetzt, jedoch nicht öffentlich zugegeben werden. Allerdings muss man sich fragen, ob sich nicht mit der Veränderung von Machtverhältnissen, also dem auch öffentlich eingestandenen Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik, die hegemonialen Diskurse und mit ihnen die Bestandteile des Lehrplans ändern. Was die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse angeht, so ergeben sich Zweifel, ob es für die Etablierten und für die Schulen selbst überhaupt einen Grund dafür gäbe, eine Korrespondenz zwischen den Strukturen der Bildungsorganisationen und der Berufs- und Arbeitswelt nicht publik zu machen. In Zeiten einer permanenten Krise auf dem Arbeitsmarkt kann die Korrespondenz von institutionellen Merkmalen der Schule und des Betriebes sogar zu einem Argument werden, mit dem Schulen für sich werben. Dass schon in der Schule gelernt wird, wie es ‚draußen ދzugeht, unterstreicht die Verwertbarkeit des dort erworbenen Wissens und erhöht unter solchen Vorzeichen die Attraktivität der Schule. Die – tatsächliche oder vermeintliche – Korrespondenz zwischen Schule und Wirtschaft als Erfahrungsräume kann, je nach Machtverhältnissen und aktueller Stimmungslage, zur Disqualifizierung der Schule als Bildungsinstitution oder zu ihrer Aufwertung als Sozialisationsinstanz beitragen. Die Balance bleibt allerdings prekär. Wie viel Anpassung kann gesellschaftlich erwünscht sein? In welchem Maß behindert Integrationsbereitschaft die Eigeninitiative? Von welchem Punkt an leistet Loyalität der Korruption Vorschub? Das, was in der Schule ‚nebenbei ދgelernt wird, kann ihr zum Vorwurf gemacht werden, wie es mit dem Konzept des verborgenen Lehrplans unterstellt wird, oder es kann als Argument dafür dienen, dass die Schule eben doch ‚auf das Leben ދvorbereitet. 3.5 Die Kustodialfunktion der Schule 3.5 Die Kustodialfunktion der Schule Die Kustodialfunktion der Schule ist grundsätzlich latent. Sie wird so vollkommen aus allen Konstrukten zur Schule und zum Bildungswesen herausgehalten, dass sie auch in der Wissenschaft meistens übersehen wird und bis heute in der
3.5 Die Kustodialfunktion der Schule
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Theorie der Schule kaum vorkommt. Die Bedeutung der Kustodialfunktion ergibt sich in erster Linie analytisch, das heißt es müssen empirische Besonderheiten, die sich nicht den gängigen Konzepten fügen, in einen Kontext gebracht werden, der die Kustodialfunktion als naheliegendste Interpretationsmöglichkeit hervortreten lässt. Im Folgenden soll zunächst der Prozess der Schulentwicklung im Verhältnis zum gesellschaftlichen Strukturwandel dargestellt werden, um damit den entstehenden Kustodialisierungsbedarf deutlich zu machen. Im Verlaufe des Modernisierungsprozesses übernimmt die Schule die Funktionen, die von der Familie und dem Verwandtschaftssystem nur noch unzureichend erfüllt werden. Mit der Industriellen Revolution stellt sich heraus, dass die Familie nicht über das Potenzial verfügt, Erziehung als Sozialisation zu betreiben, und zwar weil die im familiären Rahmen vermittelten Kenntnisse und Erfahrungen für eine verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht ausreichen. Die Entwicklung des allgemeinen Schulwesens, also nicht die Einführung, sondern die Einlösung der Schulpflicht, ist eng damit verknüpft, dass der Staat die Unzulänglichkeiten der Familienerziehung, die sich mit der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Modernisierung der Gesellschaft abzeichnen, zu kompensieren sucht. Besondere Initiativen zur Schulentwicklung sind zu beobachten, wenn sich in der Gesellschaft Rollen und Wissensbestände entwickeln, auf die weder die Familie noch – im Rahmen der beruflichen Ausbildung und Bildung – die spezialisierten, dem Wettbewerbsdruck ausgesetzten Wirtschaftsbetriebe vorbereiten können. Während die vormodernen, segmentär differenzierten Gesellschaften den einzelnen Haushaltseinheiten zumuteten, die Funktionen der Produktion und der Reproduktion, der Erziehung und der Sozialisation, des Schutzes und der Betreuung zu erbringen, fand in komplexen Gesellschaften eine Verlagerung der Erwerbsarbeit auf außerhäusliche Einrichtungen statt. In den unteren Klassen und Schichten der Bevölkerung wurde zunächst versucht, die Kinderbetreuung mit der außerhäuslich organisierten Erwerbstätigkeit zu verknüpfen, und zwar indem in einem noch bestehenden, aber in Auflösung begriffenen Verband der erweiterten Familie Ad-hoc-Regelungen der Betreuung und der Versorgung getroffen wurden. In den bürgerlichen Schichten konzentrierten sich zunächst die Frauen auf ein Familienleben, das die Produktionsfunktion verloren hatte und daher die Aufwertung der verbleibenden Funktionen, etwa durch Psychologisierung und Pädagogisierung der familiären Beziehungen und die Kultivierung einer häuslichen ‚Intimsphäre, benötigte. Doch kam mit fortschreitender industrieller Entwicklung der Schule eine zentrale gesellschaftliche Stellung zu, da selbst in wohlhabenden Familien das Modell der elternvertretenden Gouvernanten- und Hauslehrererziehung ausgedient hatte. Die Schule wurde zu einer Institution, in deren Zuständigkeitsbereich die zuvor häuslichen Kontroll- und
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Sicherungsaufgaben fielen, und zwar bei gleichzeitiger Aufwertung ihrer Erziehungs- und Bildungsfunktion. Neben der Schule entwickelten sich, zunächst auf der Basis von Korporationen und Vereinen, später mehr und mehr in staatlicher Trägerschaft, Einrichtungen der Jugendarbeit und der ‚Wohlfahrtspflegeދ, mit dem Ziel, ‚gefährdeteދ, also nicht mehr genügend von den Eltern betreute und kontrollierte Jugendliche, zu ‚schützenދ. Dazu gehörten Heime und Arrestanstalten, die eine feste Unterbringung vorsahen und mehr oder weniger geschlossen waren; in neuerer Zeit entstanden Einrichtungen der Jugendsozialarbeit, die auf freiwilliger Beteiligung beruhen, Häuser der offenen Tür zum Beispiel oder Ferienlager für Jugendliche. Derartige Institutionen wurden schon zu Beginn der Industrialisierung für solche Jugendliche geschaffen, die weder einen Arbeitsplatz in der Fabrik gefunden hatten noch zur Schule gingen (McGrew 2008, 25). Der Funktionsverlust der Familie machte sich also auch bei der Existenzsicherung und der sozialen Kontrolle der Kinder bemerkbar. Die Frage, in welchem Umfang soziale Kontrolle und Schutz vor Gefahren für unbeaufsichtigte Kinder notwendig ist, wurde je nach historischer Lage sehr unterschiedlich beantwortet. Im Verlauf des Modernisierungsprozesses nahm der Kustodialisierungsbedarf insofern zu, als sich der ökonomisch-technische Apparat als störanfällig erwies. Das Vordringen der Schule war ein Weg, um das – tatsächliche oder vermeintliche – Defizit der Kustodialisierung aufzufangen. Der Betreuungsbedarf war zunächst so groß, dass beide, das Schulwesen und das außerschulische Bewahr-, Erziehungs- und Korrektursystem, expandierten. Da die Schule als eine die Kindheit und Jugend prägende und zeitlich ausfüllende Institution weitgehend noch fehlte, wuchs mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft vor allem die ‚Versorgung ދmit bewachenden und korrigierenden Einrichtungen. In der Gegenwart ist die Schülerrolle die Berufsrolle des Jugendlichen. Mit zunehmender Verweildauer in den Bildungseinrichtungen müssen weniger Institutionen der korrigierenden Kontrolle vorgehalten werden. Die Erkenntnis, dass Bildung für die Gesellschaft billiger ist als Strafe, konnte sich im historischen Prozess nur sehr allmählich und gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen. Mit der Etablierung außerfamiliärer Erziehungs- und Kustodialorganisationen immunisiert sich die Industriegesellschaft gegen Störungen, die auftreten, wenn Personen, die ihren rigiden Identitätsanforderungen nicht genügen, außer Kontrolle bleiben. Mit der Betreuung von Alten und Kranken, von Kindern und Jugendlichen schützt die Gesellschaft das Beschäftigungssystem und weitere institutionelle Netzwerke. Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der Schule hat zur Folge, dass sich andere Teilsysteme nicht auf sie einstellen müssen; die Arbeitsteilung zwischen Familie, Schule und Betrieb ermöglicht
3.5 Die Kustodialfunktion der Schule
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Spezialisierung und Leistungssteigerung. Wenn die Schülerrolle zur Berufsrolle wird, wenn also täglich große Zeitkontingente in der Schule verbracht werden, dann heißt das, dass Heranwachsende nicht sich selbst überlassen bleiben und dass sie durch Institutionen daran gehindert werden, sich zu schaden oder in hochkomplexen sozialen und technischen Systemen Schaden zu verursachen. Es werden also Kustodialisierungsleistungen erbracht, auch wenn es sich im allgemeinen Verständnis um pädagogische Einrichtungen handelt. So gesehen ist der Besuch der Schule wichtig, unabhängig von dem, was inhaltlich vermittelt wird. Dementsprechend sorgen moderne Gesellschaften über die Institutionen der sozialen Kontrolle dafür, dass der Aufenthalt in der Schule auch dann sichergestellt ist, wenn es keine Anhaltspunkte für die Erreichung pädagogischer Zielsetzungen gibt. Diese Funktionsausweitung des Staates und halbstaatlicher Institutionen in Richtung einer Kontrolle der Heranwachsenden hat nicht nur karitative, sondern auch autoritäre Züge. Die Schule, an die der Staat die Kustodialfunktion (Plake 1981, 237ff.; Dieterich/Tenorth 1997, 71) delegiert, macht Adoleszenz zum Zielpunkt gesellschaftspolitischer Anliegen. Indem Jugend – der Begriff kommt im Deutschen aus der Fürsorgeliteratur– der öffentlichen Obhut unterstellt wird, steht sie gleichzeitig für Maßnahmen des pädagogischen oder therapeutischen Einwirkens zur Verfügung. Voraussetzung für gesellschaftliche Interventionen ist aber zunächst die (zeitweilige) Unterbringung und Disziplinierung in dafür zuständigen Einrichtungen. Erst mit der räumlichen Konzentration entstehen neue Bedarfe nach Intervention und Steuerung. Tatsächliche oder vermeintliche Abweichungen von gesellschaftlichen Identitätsstandards treten mit der Metamorphose von der Jugend zur Schuljugend schärfer in den Blick. Heranwachsende gelten im weitesten Sinne als defizitär, worauf mit ‚Beschützen ދund ‚Bewahrenދ, aber auch mit ‚Erziehung ދund ‚Ertüchtigung ދreagiert werden kann. Allerdings findet die Kustodialisierung im gesellschaftlichen Diskurs kaum Erwähnung, sondern wird durch Erziehungs- und Bildungsziele auch thematisch überdeckt, da pädagogische Tätigkeiten auf mehr Akzeptanz stoßen als solche, die dem Schutz, der Verwahrung und der sozialen Kontrolle dienen. Als Funktionszuschreibung der Schule ergibt sich, dass sie für die Obhut von Personen zuständig ist, die – nach hegemonialen Standards – einer besonderen Betreuung bedürfen, weil sie sich andernfalls in Schwierigkeit bringen würden. In der Öffentlichkeit wird eine immer neu zu ergänzende Zahl von individuellen und kollektiven Fehlentwicklungen diskutiert, die von der Schule verhindert werden sollen. Es entsteht eine – bis heute – zunehmende Vielfalt von ‚Pädagogiken ދmit dem Ziel, diesen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Die Erreichung pädagogischer Ziele wird aber nicht überprüft, sodass es möglich ist, der Schule immer neue pädagogische Aufgaben und Programme zuzuweisen.
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3 Verborgene Wirklichkeiten
Eine derart ausufernde Erweiterung des Zielkataloges wäre nur dann sinnlos, wenn hinter den Empfehlungen, Konzepten und Maßnahmen nicht auch das Interesse an einer effizienten und ordnungsgemäßen Betreuung stehen würde. Dementsprechend verbirgt sich hinter den Diskussionen um Bildungsziele und Bildungsmittel die Frage nach Sicherheit und Verlässlichkeit als eine wichtige, aber nicht offen angesprochene Leistung der Schule. Das heißt, dass die politischen Entscheidungsträger in einem hohen Maß sensibel sind für Aspekte der Betreuung und Kontrolle, selbst wenn sie diese mit anderen Erwägungen verknüpfen, das heißt, wenn anstelle von ‚Sicherheit ދdie ‚pädagogische Verantwortung ދthematisiert und mit einer Vielzahl von Sonderdiskursen zu speziellen pädagogischen Problembereichen verbunden wird. Den Gefahren, die von der Jugend ausgehen und die auch sie selbst als Geschädigte betreffen könnten, soll also durch das Bildungssystem entgegengewirkt werden. Die Kustodialisierung durch die Schule weist damit immer den Doppelaspekt des Erziehens und Bildens einerseits, des Bewachens und Bewahrens andererseits auf: Es geht bei der institutionalisierten und organisierten Erziehung nicht zuletzt um Risiken, die von Kindern und Jugendlichen verursacht werden und denen sie zum Opfer fallen könnten. Erziehung und Schutz sind in dem Konstrukt von Schule miteinander verwoben. Die Schule betreut und reglementiert und gewährt im Zuge des Reifungsprozesses zunehmend Autonomie. Andere Einrichtungen und Teilsysteme können sich, durch das Vorhandensein eines ausgebauten Erziehungs- und Bildungssystems, von Verantwortlichkeiten entlasten, indem sie Risiken der Schule zuweisen. Wenn Gewalt unter Jugendlichen dem Mediensystem angelastet wird, ist eine Neutralisierung dieser Verantwortlichkeiten leicht möglich, und zwar mit dem Hinweis, dass derartige Fehlentwicklungen in der Schule aufgearbeitet werden müssen. Fast jedes gesellschaftliche Problem kann in ein Erziehungs- und Bildungsproblem umdefiniert werden. „Es muß“, wie Oelkers diesen Erwartungsdruck der Öffentlichkeit beschreibt, „für jedes Problem eine pädagogische Lösung geben, und diese Lösung kann semantisch jederzeit konstruiert werden“ (Oelkers 1997, 20). Die Schule selbst hat nicht die Möglichkeit, die von diversen gesellschaftlichen Kräften kommenden, pädagogisch kodierten Zumutungen abzuweisen, es sei denn mit der Begründung fehlender Kapazitäten. Dass es keine erprobten Methoden zur Beseitigung der Defizite gebe, ist jedenfalls keine hinreichende Argumentation. Ganz im Gegenteil scheint an geeigneten Pädagogiken und Therapien zur Beseitigung von Defiziten kein Mangel zu sein, da zumindest auf der begrifflich-logischen Ebene ein Zusammenhang zwischen Problem, Intervention und Problemlösung hergestellt werden kann und sich damit die Methoden über ihre scheinbare Evidenz legitimieren.
3.5 Die Kustodialfunktion der Schule
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Auch andere Organisationen, die Menschen mit gesellschaftlich definierten Defiziten aufnehmen, Alten- und Pflegeheime, Rehabilitationseinrichtungen und psychiatrische Kliniken zum Beispiel, kommen dieser Aufgabe der Betreuung, der Überwachung und des Schutzes nach. Stärker noch als in der Schule tritt bei einer Klientel mit körperlichen oder geistigen Störungen die Kustodialfunktion zutage, selbst wenn in dem Bild, das der Öffentlichkeit vermittelt wird, die Therapie, also die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes oder die Verhinderung bzw. Verlangsamung eines weiteren Kräfteabbaus, im Vordergrund steht und Aspekte der Sicherheit gar nicht hervortreten. In einigen dieser Organisationen gibt es Rollendifferenzierungen, wonach eine bestimmte Gruppe des Personals pädagogische bzw. therapeutische Aufgaben übernimmt, eine andere, nämlich die der ‚Pflegerދ, für Schutz, Überwachung und für den alltäglichen Bedarf zuständig ist.4 Auch wenn es in einer Einrichtung auffällig viele Pfleger gibt, also die Kustodialfunktion strukturell hervortritt, werden doch Vorgänge, die mit Schutz und Überwachung verbunden sind, verborgen, sodass sich dem Anschein nach alles an den Erfordernissen von Therapie und (Re-)Sozialisation ausrichtet. Nichtsdestoweniger bleibt die Kustodialfunktion in den Einrichtungen selbst spürbar. Sie kommt zum Beispiel in der eingeschränkten Autonomie der Betreuten zum Ausdruck. Das Personal hat das Recht, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen in die Handlungsfreiheit des zu schützenden Personenkreises eingegriffen wird, und haftet für Schäden. Die Ohnmacht der Betreuten hat in der Macht des Personals ihr Äquivalent. Die Betreuer sind dazu legitimiert, mögliche Gefahren, zum Beispiel die der Verletzungen von Patienten und von Personalangehörigen sowie der Selbstverletzung, durch geeignet erscheinende Mittel und Methoden abzuwehren. Das Personal muss seiner Aufsichtspflicht nachkommen und Vorfälle, mit denen die körperliche Unversehrtheit ihrer Klientel beeinträchtigt werden könnte, verhindern. Dementsprechend müssen Betreuer solche Beobachtungen, die auf Beeinträchtigungen schließen lassen, den Vorgesetzten und den zuständigen Behörden melden. Besonders im Vorschulalter ist die Schutzfunktion gesellschaftlicher Betreuungseinrichtungen offenkundig, weil für Kinder in diesem Alter die Gefahr, in einer modernen, hochgradig arbeitsteiligen und technisierten Umwelt Schaden 4
Nicht nur in Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken, Rehabilitations- und Resozialisationsorganisationen oder geriatrischen Einrichtungen, sondern auch in Schulen mit einer entsprechenden Klientel gibt es eine derartige Rollendifferenzierung. Schulen in sozialen Brennpunkten überlassen die Kustodialfunktion entweder der Polizei oder verfügen selbst in ihrem Stab über spezialisierte Kräfte, die für ‚Sicherheit ދzuständig sind. Auch exklusive Schulen, einige Internate zum Beispiel, weisen derartige Überwachungs- und Disziplinierungsaufgaben einer speziellen Gruppe von Mitarbeitern zu, den sogenannten Hausvätern und -müttern. Auf diese Weise soll es den Lehrern möglich sein, sich auf pädagogische Aufgaben zu konzentrieren.
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zu nehmen, fast jederzeit gegeben ist. Die Eltern haben eine Fürsorge- und Aufsichtspflicht, die sie zeitweilig auf andere Personen und Organisationen übertragen können. Die Gesellschaft geht also davon aus, dass für Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind, permanent eine Bezugsperson zur Verfügung stehen muss, die Schutz- und Überwachungsaufgaben übernimmt. Das heißt, dass die Übernahme der Kustodialfunktion durch eine ‚Betreuungseinrichtungދ, durch Kinderkrippe, Kindergarten, Kindertagesstätte oder Vorschule, für die meisten Eltern die Voraussetzung für eine Entlastung von der Kustodialfunktion darstellt. Aber auch bezüglich der ersten Schuljahre zeigen die öffentlich geführten Diskussionen um einheitliche Unterrichtszeiten, dass es den Eltern mit schulpflichtigen Kindern nicht zuletzt darauf ankommt, die Frage der Betreuung eindeutig zu klären, um ihr Zeitbudget rationell planen zu können. Diese unter dem Stichwort der „Time Policies“ geführte Diskussion zur Verteilung von Betreuungszeiten zwischen Kindertagesstätte bzw. Vorschule und Familie sowie die damit verbundenen Konsequenzen für die Erwerbstätigkeit der Eltern, insbesondere der Frauen, macht deutlich, dass die Kustodialfunktion eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat (Hagemann 2006; Jarausch/Allemann-Ghionda 2008).5 Dass es unabhängig von allen pädagogischen Effekten im Bildungswesen um die Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahren geht, ergibt sich bereits daraus, dass auch bei der Erkrankung von Lehrern oder kurz vor Ferienbeginn Schülerinnen und Schüler zur Schule gehen müssen, auch wenn sinnvoller Unterricht kaum möglich ist. Unabhängig von solchen Ausnahmezuständen ist das Verlassen des Schulgeländes in den meisten Schulen ein heftig diskutiertes Problem, das neben behördlichen Regelungen immer wieder neue schulinterne Verhandlungen und Abstimmungsprozesse hervorruft. Diese betreffen mögliche ‚Unfälle ދund andere Gefahren, denen vorzubeugen Aufgabe der Schule ist. Offensichtlich geht es dabei um eine Abwägung zwischen zumutbarer Selbstverantwortung und einem auch bei Jugendlichen als notwendig erachteten Schutz, das heißt um die Frage, welche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Heranwachsende nötig und welche unnötig sind. Darüber hinaus berühren die Entscheidungen, die von den Beteiligten, also der Schulleitung, den Eltern und der Schülerschaft getroffen werden, auch die Interessen 5
Kustodialisierungsaufgaben fallen nicht nur für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter an; für ältere Schülerinnen und Schüler werden allerdings diese Zusammenhänge nicht gleichermaßen sichtbar, und zwar einerseits, weil diesen zugemutet wird, in einem bestimmten, entwicklungsbedingten Umfang für sich selbst zu sorgen, andererseits, weil die Kustodialisierung – stärker, als das im Vorschul- und Grundschulalter der Fall ist – durch Bildung und Ausbildung überdeckt wird. Selbst für junge Erwachsene hört die Schule nicht auf, Schutzfunktionen zu übernehmen.
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anderer Gruppen und Instanzen, zum Beispiel die von Geschäftsleuten oder von Anwohnern, die sich von Jugendlichen gestört fühlen.6 Sieht man die Schule unter dem Aspekt der Kustodialfunktion, so ist es möglich, empirische Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen, die in den öffentlich thematisierten Konstrukten nicht vorkommen, ja sogar sinnlos erscheinen, trotzdem aber bei der Beobachtung des Schulgeschehens unübersehbar sind. Die erwähnte Bedeutung von ‚Versicherungsfragen ދim beruflichen Alltag von Lehrern verweist zum Beispiel auf das Risiko, das die Aufgabe der Überwachung und des Schutzes für die Lehrerschaft mit sich bringt. Wenn aber Kustodialisierung nicht ganz verborgen werden kann, weil es empirische Widerständigkeiten gibt, die mit den offiziellen Konstrukten nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, dann wird sie bagatellisiert, wobei sich die Semantik anbietet, dass es sich um Versicherungsvorschriften und damit um ‚bürokratische Vorschriften ދder Schulaufsichtsbehörden handle. Damit soll der Eindruck vermittelt werden, als gehe es nur um rein administrative Angelegenheiten, um Regelungen also, denen man nachkommt, um einer Pflicht zu genügen, obwohl man sie eigentlich für überflüssig hält. Tatsächlich tragen Versicherungen einen Teil des Risikos, sofern sich alle Beteiligten an die vertraglich vereinbarten Bedingungen halten. Die kustodialen Elemente der Lehrerrolle können jedoch nicht auf Versicherungen übertragen werden; die Versicherungsbestimmungen konkretisieren nur, wie die Lehrkräfte ihren Aufgaben nachkommen sollen. Obwohl Versicherungen – sofern die Bestimmungen eingehalten wurden – für Schäden aufkommen, sind Lehrer aus ihrer Verantwortlichkeit nicht entlassen. Daher hat auch die Kustodialfunktion einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Berufsalltag von Erziehern. Allein die Beachtung der Aufsichtspflicht erfordert ständige Vorsichtsmaßnahmen im Umgang mit den Schülern und gibt dem Unterrichtsgeschehen eine bestimmte, in pädagogischer Hinsicht vielleicht sogar abträgliche Form. Wenn Lehrer meinen, ‚mit einem Bein im Gefängnis zu stehenދ, so unterstreicht dies die unterschwellige Tragweite der Kustodialfunktion. Für das Personal der Schule ist es wichtiger, den kustodialen als den pädagogischen Aspekten ihrer Rolle zu entsprechen, weil Abweichungen von der kustodialen Verantwortlichkeit in höherem Maße und unmittelbarer mit Sanktionen verknüpft sind, während eine nachlässige Handhabung pädagogischer Pflichten oft folgenlos bleibt. Diese Verantwortlichkeit ist im Umgang mit Volljährigen nicht aufgehoben, wird aber bei jüngeren Schülern, denen man eher ein ‚unvernünftiges ދVerhalten zuschreibt, stärker empfunden. 6
Für derart allgemeine und diffuse Wirkungen, die von Jugendlichen ausgelöst werden, gibt es selbstverständlich keinen Versicherungsschutz. Versicherungsfragen weisen jedoch auf besonders konkrete Art darauf hin, dass für hochkomplexe und damit störanfällige Gesellschaften das Verhalten von Jugendlichen ein Problem darstellt.
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Weil die Schule ein Ort ist, an dem junge Menschen regelmäßig und damit institutionell planbar zusammenkommen, werden Schulgebäude außerhalb der Unterrichtszeiten für spontane und freiwillige Aktivitäten zur Verfügung gestellt. Damit kooperiert die Schule als räumlich und zeitlich festgelegte Institution mit der Sozialarbeit, die lokal nicht festgelegt ist und deren Zeitrahmen einen höheren Grad der Flexibilität aufweist. Beide haben die Funktion der Gefahrenabwehr, die Schule als Erziehungs- und Bildungsorganisation, die aber Kustodialfunktionen übernimmt, und die Sozialarbeit, die sich – prophylaktisch – um ‚gefährdete ދKinder und Jugendliche kümmert, die aber auch pädagogische und therapeutische Zielsetzungen hat. Besonders in Problemstadtteilen mit einer hohen Rate von Jugenddelinquenz und von jugendlichem Risikoverhalten sollen Schulen, zusammen mit sozialpädagogischen Einrichtungen, Räume der Begegnung sein, also junge Menschen an einen Ort konzentrieren, um sie damit der sozialen Kontrolle zugänglich zu machen. Mehr noch als in der Schule wird es in der Sozialarbeit als ein Gewinn angesehen, wenn es gelingt, Heranwachsende in einer gesellschaftlich kontrollierten Weise zu beschäftigen, sie also durch eine für sie interessante Tätigkeit von einem zu erwartenden Risikoverhalten abzubringen. Jedoch werden auch an die Schule Erwartungen herangetragen, Jugendliche in ihrer Freizeit an sich zu binden. In Bildungsinstitutionen läuft die Kustodialisierung als eine Tätigkeit, die der Verhinderung von Störungen und der Abwehr tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahren dient, in der Regel latent ab; sie wird nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen offenbar. In der Sozialarbeit ist die kustodiale Intention vordergründiger. Da es sich aber um Kontakte handelt, die auf der Basis von Freiwilligkeit zustande kommen, kann die Kustodialisierung den Beteiligten bewusst sein, ohne dass die Beziehung gefährdet wäre. In einigen Schulen ist die Kustodialfunktion so offensichtlich, dass sie vor den Heranwachsenden nicht verborgen werden kann. Dies gilt besonders da, wo es aufgrund fehlender Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich ist, eine kontinuierliche Kompetenzvermittlung im Rahmen von Unterrichtsprozessen zu realisieren. Die desaströse Wirkung, die sich ergeben kann, wenn die Kustodialfunktion den Schülerinnen und Schülern bewusst wird, veranlasst auch die Lehrerschaft dazu, dieses Thema nach Möglichkeit zu umgehen. Möglicherweise reichen jedoch die Konstrukte, die die Wirklichkeit des Bewahrens, des Kontrollierens und des Schutzes verbergen sollen, nicht aus. Während – dem hegemonialen Code entsprechend – Erziehung und Bildung, Kompetenzerweiterung und Qualifizierung im Vordergrund des Schulgeschehens stehen und das Selbstverständnis der Schule als Institution bestimmen, treten empirische Widerständigkeiten zutage. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Polizeibeamte
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oder private Sicherheitskräfte zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden. Gewinnt die Kustodialisierung an Plausibilität, dann verliert der Anspruch auf Erziehung und Sozialisation in gleichem Maß seine Glaubwürdigkeit. Empirische Hinweise, die auf Vorgänge der Kustodialisierung schließen lassen, sind auch persönlich unangenehm, ja degradierend. Lehrerinnen und Lehrer werden, wenn sie nicht mehr die Rolle des Erziehers und Bildungsberaters spielen können, zu Aufpassern; sie üben eine Tätigkeit aus, für die nur eine geringe Qualifikation erforderlich wäre und die dementsprechend wenig gesellschaftliches Ansehen genießt. Pädagogen, die sich selbst in einer Wächterfunktion wahrnehmen, müssen ihre Arbeit als entwürdigend empfinden, zumal wenn ihnen von den Betreuten Verachtung entgegengebracht wird. Auch für Schülerinnen und Schüler bedeutet die Kustodialisierung eine Erniedrigung. Wer kustodialisiert wird, wird nicht gebraucht; er stört und stellt eine Belastung für die Allgemeinheit dar. Kustodialisierung verspricht für Schülerinnen und Schüler keine Verbesserung der eigenen Lage, da sie keine Entwicklungsperspektive eröffnet. Lehrer müssen, wenn die Bildungskonstrukte versagen, auch mit Beleidigungen der Schüler rechnen. Alles, was in Bildungsorganisationen auf eine Kustodialisierung schließen lässt, findet daher hinter den Kulissen pädagogischer Inszenierungen statt. Kustodialisierung wird in der Schule durch Pädagogik verdeckt, ja ‚veredeltދ. Kustodialisierung darf nicht zugegeben werden, auch wenn es zu Lasten der eigenen Sicherheit geht. Um den Anspruch auf Erziehung und Bildung aufrechtzuerhalten, sieht sich das Personal unter Umständen gezwungen, Vorsichtsmaßnahmen außer Acht zu lassen. Das heißt, dass bei der Organisation von Sicherheit Schulleitung und Lehrerschaft gezwungen sind, diskret vorzugehen. Auch muss jede Art von Leerlauf, die bei den Schülern den Eindruck bloßer ‚Beschäftigungstherapie ދaufkommen ließe, vermieden werden. Denn da, wo es nur um Sicherheit und Verwahrung geht, ist das soziale Geschehen auf ein Kräftemessen zwischen Kustodialisierern und Kustodialisierten reduziert. In der Schule, die auf Sicherheit fokussiert, gäbe es auf Seiten der Betreuten keinen Grund, freiwillig den Normen und Anordnungen des Personals zu entsprechen; entscheidend für Konformität wäre nur die vom Personal ausgeübte Macht. Entsprechend werden auch, wenn die Kustodialfunktion in Erscheinung tritt, Machtfragen thematisiert. Dabei können die Machtverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern – zumindest situativ – schnell ins Gegenteil verkehrt werden. Dieser Punkt ist spätestens dann erreicht, wenn für Erziehung, Bildung und Ausbildung einerseits und für Überwachung, Sicherheit und Schutz andererseits nicht mehr identische Personen zuständig sind. Mit einer derartigen Arbeitsteilung stellen sich auch die pädagogischen Experten infrage, selbst wenn sie auf
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3 Verborgene Wirklichkeiten
diese Weise die kustodialen Anteile ihrer Berufsrolle delegieren können. Maßnahmen, die der ‚Sicherheit ދdienen sollen, die aber ohne die Rollentrennung zwischen ‚Sicherheitspersonal ދund pädagogischem Personal noch als pädagogische Aktivitäten definiert werden könnten, lassen mit vollzogener Rollentrennung keinen Deutungsspielraum mehr zu. Der Einsatz von Ordnungskräften lässt die Schule auch äußerlich solchen Organisationen ähnlicher werden, die auf die Betreuung hilfsbedürftiger oder gemeingefährlicher Personen spezialisiert sind. Sicherheitskräfte repräsentieren auf unmissverständliche Art die Kustodialfunktion; möglicherweise heben sie sogar, um dieser Zielsetzung effizient nachkommen zu können, durch Rollenattribute und demonstratives Verhalten den Sicherheitsaspekt besonders hervor. Die Differenzierung zwischen pädagogischen und kustodialen Rollen macht deutlich, dass es in der Schule nicht nur darum geht, den Reifungsprozess zu fördern und den Handlungsspielraum von Heranwachsenden zu erweitern, sondern dass im Gegenteil die Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund steht. Schülerinnen und Schüler, für die Kustodialisierung eine sich aufdrängende Deutung ihrer Schulwirklichkeit geworden ist, sehen die Funktionen des Bildungssystems nicht in der „kulturellen Teilhabe und Identität“, der „Berufsfähigkeit“ und der „Lebensplanung“ sowie der „sozialen Identität und politischen Teilhabe“ (vgl. Fend 2006, 54), sondern in der Verhinderung von Aktivitäten, die zwar gesellschaftlich unerwünscht sein mögen, trotzdem aber zum Repertoire ihrer Lebenswelt gehören. Entsprechend begegnen sie der Schule und ihren Repräsentanten mit Ressentiment oder sogar mit offenem Widerstand. Sieht man Schulen unter dem Aspekt der Kustodialfunktion, dann treten auch Wechselwirkungen zwischen dem Bildungssystem und anderen Subsystemen hervor. Wenn es richtig ist, dass – wie ausgeführt wurde – die Schule für Defizite anderer Subsysteme aufzukommen hat, dann kann auch die Unfähigkeit der Wirtschaft, für junge Menschen genügend Ausbildungsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzuhalten, für die Schule nicht ohne Folgen bleiben. Schwierigkeiten von Schulabgängern auf dem Arbeitsmarkt haben Initiativen und Maßnahmen zur Folge, die Angebote der Schule auf den Personenkreis derer auszuweiten, die beim Wettbewerb um Ausbildungsplätze leer ausgegangen sind. Dabei soll den schädlichen Auswirkungen von Misserfolgserlebnissen auf das Selbstwertgefühl entgegengewirkt und die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen weiter gefördert werden. Auch geht es in öffentlichen Diskursen um Qualifizierungsmaßnahmen, die geeignet sein sollen, Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, also um die Vermittlung von Kompetenzen für bestimmte Berufsfelder oder um beruflich relevante soziale Fähigkeiten, also zum Beispiel um das richtige Verhalten bei Vorstellungsgesprächen. Wenn allerdings den Mitteln mehr Bedeutung zukommt als dem Erfolg, wenn also die
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schulische Betreuung mehr im Vordergrund steht als die Bildungs- und Ausbildungsprogramme, dann drängt sich der Eindruck auf, dass mit diesen arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Maßnahmen vor allem eins erreicht werden soll, nämlich dass Jugendliche, die der Herkunftsfamilie entwachsen sind und die im Beschäftigungssystem keinen Platz gefunden haben, nicht sich selbst überlassen bleiben. Lange (2005, 90f.) geht sogar von einer „Arbeitsmarktregulierungsfunktion“ der Schule aus. Damit ist gemeint, dass die Schule nicht nur dem Arbeitsmarkt Arbeitskräfte zur Verfügung stellt, sondern auch – in Zeiten ökonomischer Krisen und damit einhergehender Unterbeschäftigung – mit ihren Angeboten das Arbeitskräftereservoir verknappt. Durch niedrigere oder höhere Schulverweildauer, durch frühere oder spätere Schul-, Ausbildungs- und Studienabschlüsse sowie durch Anerkennung oder Nichtanerkennung von Zertifikaten, das heißt von Ausbildungsgängen und Tätigkeiten außerhalb des Systems,7 erhöhen oder verringern Schulen die Zahl der Stellensuchenden. Ein Nebeneffekt der Arbeitsmarktregulierungsfunktion besteht darin, dass durch Bildungs- und Ausbildungsprogramme eine für Regierungsbehörden und für die politische Führung nachteilige, skandalisierungsfähige Arbeitsmarktstatistik ‚bereinigt ދund durch ein längeres Verweilen von Berufsanwärtern im Bildungssystem die Zahl der Beschäftigungslosen kleiner gehalten werden kann. Dementsprechend ist es auch möglich, dass die Schrumpfung von Arbeitsmärkten durch die Expansion des Bildungssektors verdeckt wird. Spezielle ‚Bildungsoffensiven ދin Zeiten einer schlechten Konjunkturlage können auch in der Öffentlichkeit gut begründet werden. Wenn in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst Arbeits- und Ausbildungsplätze knapp sind, verschlechtern sich besonders die Chancen derjenigen, die nur über eine wenig qualifizierte Schulbildung verfügen, weil sie durch besser Qualifizierte verdrängt werden (Geißler 2006, 281). Die Schule hat im Rahmen der Arbeitsmarktregulierungsfunktion Einfluss auf die potenzielle Arbeitslosigkeit junger Menschen, und zwar auf zweifache Weise: Zum Ersten bewirkt die Nutzung von schulischen Angeboten eine Entlastung des Arbeitsmarktes; zum Zweiten wird Arbeitslosigkeit verhindert, weil eine Höherqualifizierung den Anforderungsprofilen der Wirtschaft besser gerecht wird und somit die Einstellungschancen erhöht. Für beschäftigungssuchende Jugendliche mit wenig qualifizierenden Schulabschlüssen gilt, dass Angebote zur Höherqualifizierung von einer gesellschaftlichen Perspektive her sinnvoll sein mögen, dass aber dennoch der kustodiale Aspekt dieser Projekte vielfach kaum übersehen werden kann, zumal wenn diese 7
Gemeint sind zum Beispiel Hochschulen, die bestimmte Zertifikate als Eingangsvoraussetzungen verlangen.
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durch eine diffuse Vielfalt oder sogar durch Konzeptlosigkeit gekennzeichnet sind. Je nach Qualität kann sich die Deutung, dass es bei derartigen pädagogischen Angeboten neben der Qualifizierung auch um Arbeitsmarktregulierung und soziale Kontrolle geht, bei den Beteiligten geradezu aufdrängen. Wenn Kurse angeboten werden, die nach allen Rückmeldungen kaum eine Verbesserung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt erwarten lassen, dann liegt die Frage nahe, welche Absichten die an dem Schulgeschehen interessierten Instanzen möglicherweise über die öffentlich thematisierten Zielsetzungen hinaus verfolgen. Schülerinnen und Schüler, die keinen Ausbildungsplatz finden können, müssen zu der Einsicht kommen, dass es sich bei den Aktivitäten der Schule um einen trügerischen Ersatz für eine Position in der Berufs- und Arbeitswelt und um eine Simulation von Berufsarbeit handelt, und dass der Sinn dieser Maßnahmen darin besteht, sie in einem geregelten Umfeld unterzubringen und unter die Aufsicht einer Institution zu stellen. Damit aber ist eine engagierte Teilnahme kaum zu erwarten. Schon die Vermutung, dass sie ‚von der Straße ދgeholt werden sollen, führt dazu, dass die betroffenen Jugendlichen wenig geneigt sind, den pädagogischen Anspruch derartiger Angebote ernst zu nehmen. Die Probleme der Geringqualifizierten, nach Schulabschluss einen Arbeitsoder Ausbildungsplatz zu finden, sind den noch in der Ausbildung Befindlichen nicht unbekannt. Die Antizipation dieser Arbeitsmarktlage kann bei entsprechend schlechter Konjunkturlage bewirken, dass die Jugendlichen den Versprechen von Pädagogen, von Sozialarbeitern und Politikern nicht mehr glauben. Selbst die Behauptung, dass sich der Einsatz in der Schule lohne, dass es möglich sei, mit einem Schulabschluss zu einem Ausbildungsplatz und einem Arbeitsverhältnis zu kommen, kann angesichts schlechter Chancen von Geringqualifizierten zu einem fragwürdigen, durch Erfahrung widerlegten Konstrukt werden. Umso mehr tritt die Kustodialfunktion als Ratio des Schulgeschehens hervor. Nicht nur die Sonderprogramme, die für Schulabgänger angeboten werden, sind von einer Umdeutung bedroht; auch im Pflichtschulbereich lassen fehlende Perspektiven die Frage aufkommen, was der Sinn eines Schulbesuchs sein mag, der in die Arbeitslosigkeit mündet. 3.6 Die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion 3.6 Die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion Die Ausführungen zur Kustodialfunktion zeigen, dass es Seiten der Schulwirklichkeit gibt, die in der Öffentlichkeit nicht thematisiert werden, und dass Konstrukte diese Aspekte verbergen. Die Schule nimmt – neben der Allokation von Berufschancen, auf die noch weiter einzugehen sein wird – eine weitere latente Funktion wahr, und zwar die Allokation von Verbindungen im privaten
3.6 Die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion
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Umfeld. Diese Funktion soll als Partnerwahl- und Netzwerkfunktion bezeichnet werden. Interesse an diesbezüglichen ‚Leistungen ދdes Bildungswesens besteht weniger auf Seiten der Gesellschaft als vielmehr auf Seiten der Familien von Schülern und anderer partikularistischer Gruppen. Im Rahmen dieser Funktion geht es nicht zuletzt um ökonomische Ressourcen, die jedoch nicht im Rahmen des Beschäftigungssystems, sondern des Subsystems der gesellschaftlichen Gemeinschaft verteilt werden.8 Schulen sind für Freundschaften und Partnerschaften bedeutsam, und zwar nicht nur in Hinblick auf konkrete Verbindungen und Verhältnisse, sondern auch auf eine Art der Geselligkeit und des persönlichen Austauschs, die von Jugendlichen als Teil der Schulkultur erfahren wird. Auch intime Beziehungen gehören inzwischen zum Schulalltag; sie sind Teil des informalen Geschehens innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Allgemeine gesellschaftliche Veränderungen sowie Wandlungen des Bildungswesens selbst haben dazu beigetragen, dass Erotik und Sexualität zur Schulkultur gehören. Mit der Bildungsexpansion und dem zunehmenden Besuch weiterführender Schulen hat der Anteil älterer Jahrgänge an der Schülerschaft zugenommen. Für die meisten Jugendlichen ist die Schule der wichtigste Sozialraum; die Jugendzeit ist eine in der Schule verbrachte Zeit. Das heißt, dass sich die psychosoziale Entwicklung, die in der Adoleszenz stattfindet, im Rahmen des Schulgeschehens vollzieht. Zu Recht weist Zinnecker darauf hin, dass mit der „Scholarisierung der Jugendphase die Schule auch zum erotisch-sexuellen Kontaktraum“ (Zinnecker 2004, 509) geworden ist. Indem zunehmend Lebenszeit in der Schule verbracht wird, kann auch die Sexualität nicht mehr in den Bereich des Privaten abgedrängt werden. Während „das Schulmoratorium Jugendlicher traditionell als asexueller Raum“ (Zinnecker, a.a.O.) bestimmt war, gehören inzwischen Intimität und Partnerschaft zur Sozialität der Schule. Da sich in der Welt der Schule erotisch-sexuelle Kontakte aus der Interaktion unter den Gleichaltrigen ergeben und Zweierbeziehungen unter Jugendlichen in das Netzwerk der Clique eingebunden sind, kann davon ausgegangen werden, dass die Schule mit ihrem Norm- und Wertkontext, das heißt mit den formalen und den informalen Bestandteilen der Schulkultur, auf das private Beziehungsgefüge Einfluss nimmt, und zwar über die in der Schule verbrachte Zeit hinaus. Bildung begründet „kulturelle Ähnlichkeit“, die neben dem Beruf als wichtiges Kriterium der Partnerwahl gilt (Teckenberg 2000). Das heißt, dass „bei beiden Geschlechtern sowohl die kulturelle als auch die sozio-ökonomische Dimension für das Zustandekommen von Paarbeziehungen wichtig sind“ 8
Zur Differenzierung von Subsystemen s. Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften. München 1972; vgl. auch Lange, Elmar: Soziologie des Erziehungswesens. Stuttgart 1986, S. 62
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3 Verborgene Wirklichkeiten
(Teckenberg, a.a.O., 137). In den sozialen Kontexten, die der Schulzeit folgen, wird an früher entwickelte Muster des Lebensstils und des Geschmacks angeknüpft; spätere Partnerschaften und freundschaftliche Beziehungen setzen Gesellungsformen fort, die im Rahmen institutionalisierter Erziehung und Bildung kennengelernt wurden. Schule wirkt auf Lebensgemeinschaften und auf die private Geselligkeit ein und stiftet Lebensgemeinschaften; sie schafft Präferenzen hinsichtlich der sozialen Verkehrskreise, innerhalb derer auch langfristige persönliche Beziehungen begründet werden. Bildungshomogamie in den sozialen Verkehrskreisen ist daher auch in ‚offenenދ, demokratischen Industrieländern eine verbreitete, fast schon selbstverständliche Erscheinung; Bildungsgleichheit kann sogar unabhängig von der sozialen Herkunft als Kriterium der Partnerwahl nachgewiesen werden (Uunk 1996). Wenn das Bildungswesen auf Freundschaften und Partnerschaften, ja sogar auf Eheschließungen Einfluss nimmt und wenn die Gründung von Lebensgemeinschaften nicht nach zufälligen bzw. nach individuellen Präferenzen erfolgt, wenn vielmehr diejenigen zusammenfinden, „die sich in Bezug auf sozialstrukturell relevante Merkmale wie Herkunft, Bildung, Alter oder Konfessionen gleichen“ (Klein/Lengerer 2001, 265),9 dann unterstützt die Schule die Allokation von Einkommens- und Vermögensverhältnissen durch die Familie. Die Gleichheit positionaler Merkmale bei der Wahl von Freunden und Partnern geht mit weiteren Gleichheiten einher, nämlich mit der Homogenität der Einstellungen, der Werte und des Lebensstils. Eheliche und eheähnliche Gemeinschaften sowie freundschaftliche Kontakte basieren auf mentalen Gemeinsamkeiten, die es ermöglichen, zu übereinstimmenden Definitionen von Wirklichkeit zu kommen. Voraussetzung für die Feststellung solcher objektiv strukturellen und subjektiv einstellungsbezogenen Gleichheiten ist jedoch die Chance des Kennenlernens. Für Lebensgemeinschaften gilt der Grundsatz:. „Who does not meet, does not mate“ (Klein/Lengerer 206). Dabei aber kommt der Schule eine Schlüsselfunktion zu. Blossfeld und Timm stellen fest: „Das Bildungssystem ... fungiert im Lebenslauf als eine Institution, die weitgehend hinter den Rücken der Individuen (und deswegen zum Teil auch unbewusst) die schulischen und privaten Kontaktnetze und -möglichkeiten zeitbezogen so strukturiert, dass die Absolventen mit ähnlichen sozialen Chancen eine größere Wahrscheinlichkeit haben, sich zu treffen und später einmal zu heiraten“ (Blossfeld/Timm 1997, 443).
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In der Gesellschaft der BRD hat diese Tendenz zur Homogamie nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen (Geißler 2002, S. 139). Nur jeder 300. Mann mit Hauptschulabschluss hat eine Ehepartnerin mit Universitätsexamen.
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Diese latente Funktion der Schule, nämlich ‚hinter dem Rücken der Individuenދ auf die sozialen Verkehrskreise und die Partnerwahl Einfluss zu nehmen, wird auf verschiedene Weise wahrgenommen. Die erste Strukturierung der Kontakte findet mit der Zusammensetzung der Klientel bei der Aufnahme statt.10 Die Auswahl von Schülerinnen und Schülern vollzieht sich in selektiven Schulen nach den gleichen sozialrelevanten Merkmalen, die sich später bei der Auswahl des geeigneten Partners und bei der Zusammensetzung expressiver Verkehrskreise wiederfinden lassen.11 Die zweite Strukturierung ergibt sich mit dem Gruppenleben in der Schule selbst, und zwar durch eine an der Organisationskultur orientierte Angleichung von Einstellungs- und Verhaltensmustern, von Normen und gesellschaftlichen Orientierungen. Eine derartige Akkulturation ist umso leichter möglich, als eine Sortierung nach passenden Dispositionen schon durch die bei Schuleintritt vorgenommene Auswahl sichergestellt wird. Die Schule verstärkt mit ihren Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung, mit Bildungserlebnissen, mit Wettbewerben und Auszeichnungen, mit gemeinsamen Erfahrungen also, die innerhalb und außerhalb des Unterrichts gemacht werden, nicht zuletzt aber auch durch die Dynamik der informal sich bildenden Cliquen, dass die mit dem Screening der Eingangsprüfungen gegebene Homogenität zu weiteren schicht-, milieu- und schulspezifischen Eigenarten ausgebaut wird. Darüber hinaus ergibt sich eine dritte Strukturierung der Kontakte mit dem bevorstehenden oder vollzogenen Schulabschluss, und zwar indem dieser Berufs- und Sozialchancen eröffnet oder von ihnen ausschließt. Die Privilegierung 10
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Als nichtselektiv sollen solche Schulen bezeichnet werden, bei denen die Schulleitung und das professionelle Personal keinen Einfluss darauf haben, welche Schülerinnen und Schüler zugelassen werden. Bei einigen dieser Schulen verfügen zumindest die Eltern bzw. die Schülerinnen und Schüler über die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Einrichtungen eines Typs zu wählen, während in anderen Schulen auch solche Optionen nicht gegeben sind, sondern nur nach bürokratischen Zuteilungskriterien (zum Beispiel dem Schuleinzugsbereich) verfahren wird. Demgegenüber sind bei selektiven Schulen die Schulleitung und die Lehrerschaft berechtigt, auf der Grundlage von Bewerbungsunterlagen, persönlichen Gesprächen, Eingangstests und/oder über Schulgebühren und nach Kriterien, die – tatsächlich oder vermeintlich – eine intellektuelle, musische oder sportliche Leistungsfähigkeit erwarten lassen, sowie nach der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder Gemeinschaft, also auch einer Religionsgemeinschaft, dem familiären Hintergrund oder der Persönlichkeit, eine Auswahl vorzunehmen. In einigen selektiven Schulen sind darüber hinaus Eltern- und/oder Behördenvertreter sowie Honoratioren oder Beauftragte von Stiftungen und Trägerverbänden an dieser Auswahl beteiligt. Dabei können die Verfahren und Kriterien der Selektion in verschiedener Weise kombiniert werden. In nichtselektiven Schulen werden die Partnerwahl und der gesellige Kontakt in gleichem Maß eingeschränkt, wie durch andere Schulen eine Selektion vorgenommen wird. Das heißt, dass durch die Auswahl der anderen Einrichtungen auch in den nichtselektiven Schulen eine höhere Homogenität gegeben ist, und zwar verbunden mit einer wachsenden Heterogenität nach außen.
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bewirkt unter den Absolventen selektiver Schulen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der sozialen Nähe. Sie trägt zu einer Mythenbildung bei, die im Nachhinein auf die von der Schule gestellten Anforderungen und die Überlegenheit der vermittelten Bildung fokussiert und sich im Übrigen auch antizipatorisch – also in der Vorwegnahme der zu erwartenden Chancen – bei den älteren Schülerjahrgängen bemerkbar macht (vgl. Kap. 7.2): „Elitenausbildung ... ist nicht nur besonders ‚heiligދ, besonders erfolgreich, indem sie eine enge Bindung zwischen den Beteiligten des Ausbildungsrituals herstellt, sondern sie macht den fertigen Schüler auch zu einem Wahrzeichen dieses heiligen Bereichs“ (Collins 2004, 80). Umgekehrt kann der Ausschluss von Privilegien bei denjenigen, die eine nichtselektive Schule besuchen, ebenfalls eine Homogenisierung von Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen bewirken, indem nämlich das gemeinsame Bewusstsein der Marginalisierung und der Deprivation die Entwicklung einer Protestkultur sowie einer Kultur des Eskapismus und der Apathie fördert. Der Unterschied zu den Absolventen selektiver Schulen besteht darin, dass für die Bildungsbenachteiligten die Schulzeit nicht mit positiven Erfahrungen verbunden ist. Wenn der Schulabschluss nicht mit zertifizierten Erfolgen einhergeht, entfällt ein wichtiger Bezugspunkt für spätere gemeinsame Aktivitäten bzw. für die Entwicklung von Beziehungsnetzwerken. Die von der Schule vorgenommene Allokation zu ‚passenden ދFreunden und Partnern spielt in der Außendarstellung exklusiver Schulen eine geringe Rolle. Die systematische Einflussnahme der Schule auf Freundschaften und Partnerschaften ist ähnlich tabuisiert wie die Kustodialfunktion, da für eine demokratische Öffentlichkeit die Selektion von Beziehungsoptionen und die Konstituierung von Verkehrskreisen und Netzwerken keine legitime Funktion der Schule darstellt. Das bedeutet nicht, dass diese Funktion von der potentiellen Klientel unbeachtet bliebe. Der richtige Umgang, auch und gerade in Hinblick auf erste oder spätere langfristige Partnerschaften¸ ist für Familien, die einen hohen Status zu verteidigen haben, die möglicherweise über größere Ressourcen an „ökonomischem“ und „sozialem Kapital“ (Bourdieu 1994) verfügen und dieses in der Generationenfolge nicht geschmälert sehen möchten, ein Problem von hoher Wichtigkeit. Allgemein gesehen lässt sich feststellen, „dass die Reproduktion sozialer Strukturen von den Mustern der Partnerwahl abhängt“ (Klein 2000, 229). Je höher daher der Status der Eltern, umso größer ist die Bedeutung von institutionellen Vorkehrungen, die sich auf den Umgang der Schülerinnen und Schüler beziehen. Dementsprechend finden sich in Gesellschaften, in denen es Großgruppen gelingt, sich gegenüber anderen dauerhaft abzugrenzen, vergleichsweise intensive Bemühungen, auch die Schule in die Dynamik der sozialen Schließung einzubeziehen.
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Allerdings geschieht die Einflussnahme auf die Partnerwahl und auf soziale Netzwerke nur indirekt, nämlich durch Vergrößerung der Kontaktchancen mit geeigneten Personen, also durch Organisation von „Freundschaftsmärkten“ (Collins 2004, 73). In exklusiven Schulen hat die Pflege von Geselligkeit, insbesondere durch außerunterrichtliche Veranstaltungen, durch Feste und Feierlichkeiten aller Art, durch Einübung von Umgangsformen und durch gemeinsame Unternehmungen, zum Beispiel durch Reisen, durch sportliche Wettbewerbe mit anderen Schulen ‚auf gleichem Niveau ދsowie durch Vermittlung dessen, was innerhalb eines Milieus als ‚guter Geschmack ދgilt, also etwa durch Instrumentalunterricht, durch Museums- und Konzertbesuch und Förderung musischer Freizeitbeschäftigungen, eine große Bedeutung. Trotzdem werden diese von der Schulleitung betriebenen Aktivitäten sowohl gegenüber den Schülerinnen und Schülern als auch gegenüber der Öffentlichkeit nicht in ihrer Funktion der Strukturierung und Selektion von Kontakten und der Exklusion unerwünschter Kreise thematisiert. Bei Festen scheint es um Vergnügen und Entspannung zu gehen, bei sportlichen Aktivitäten um körperliche Ertüchtigung; musische Betätigungen werden mit ästhetischem Vergnügen oder dem Bildungswert von Kunst, Theater und klassischer Musik begründet, nicht dagegen mit der Einübung des Hochkulturschemas, der Pflege der Geselligkeit, der Förderung ‚passender ދBeziehungen und der Entwicklung von Netzwerken. Die ‚offiziellen ދZiele der Schule, nämlich Erziehung und Bildung, Wissensvermittlung und Qualifizierung definieren in der Öffentlichkeit den Sinn von Veranstaltungen, die für die Nutzer auf die Entwicklung und Pflege von Umgangsformen sowie die Anbahnung privater Beziehungen ausgerichtet sind. Auch dann, wenn ganz andere ‚Unterrichtsgegenstände ދdie Agenda bestimmen, die Entwicklung und Pflege eines gewissen Habitus zum Beispiel, wird also der Eindruck erweckt, dass ‚gute ދSchulen die vorgegebenen, offiziellen und manifesten Ziele verfolgen, aber eben nicht nur mit den Mitteln des herkömmlichen Unterrichts, sondern darüber hinaus in der Weise, dass sie mit einem breiten Spektrum von Aktivitäten das scholastische Lernen ergänzen. Dass in exklusiven Schulen Sportarten betrieben und Hobbies gepflegt werden, die zum Lebensstil der Herkunftsschichten passen, kann im Sinn ‚ganzheitlicher ދPädagogik rationalisiert werden. Ebenso naheliegend für die Freizeitkultur exklusiver Schulen sind Begründungen, die sich auf das höhere Niveau der Anforderungen beziehen. So ist zum Beispiel der Hinweis naheliegend, dass das besonders intensive Lernen und Studieren in solchen Einrichtungen durch attraktive Freizeitgestaltung kompensiert, ja ‚belohnt ދwerden müsse. Andere Wirkungen, die sich Schulleitung und Elternschaft erhoffen, nämlich die Übernahme eines Lebensstils sowie die Anbahnung von erwünschten und die Verhinderung von unerwünschten Beziehungen, kommen dagegen in der öffentlichen Kommuni-
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kation nicht vor. Selbst in der lokalen Schulöffentlichkeit bleibt es bei einer gewissen Vorsicht, wenn die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion thematisiert wird. In den publizierten Selbstdarstellungen exklusiver Schulen sind entsprechende Hinweise höchstens zwischen den Zeilen zu lesen. Nicht die soziale Schließung, die Konzentration des sozialen Miteinanders auf die erwünschten Kollektive, wohl aber die Botschaft einer ganzheitlichen Pädagogik, die Arbeit und Muße, Lernen und Feiern vereint, findet in der Öffentlichkeit Anklang. Insbesondere die Medien stehen als Resonanzraum derartiger Konstrukte zur Verfügung und geben sie als verallgemeinerte Erwartungshaltung an das Schulwesen zurück. Dabei erreichen sie auch solche Einrichtungen, denen die Voraussetzungen für ganzheitliche pädagogische Programme fehlen, das heißt die aufgrund des sozialen Hintergrundes ihrer Klientel gar nicht in der Lage sind, ganzheitlichen Unterricht zu realisieren. Exklusive Einrichtungen mit ihren auf die Bedürfnisse der Herkunftsschichten zugeschnittenen lebensweltlichen Bildungskonzepten werden so zu einem unerreichbaren Vorbild. Von diesen geht die Botschaft aus, dass andere Schulen reformiert und Missstände beseitigt werden könnten, wenn mehr ‚Aufklärungsarbeit ދgeleistet würde und die Lehrkräfte bereit wären, die richtigen pädagogischen Konzepte zu übernehmen. Die Ungleichheit der Bildungschancen, die zwischen selektiven und nichtselektiven Schulen besteht, findet öffentliche Zustimmung, wenn sie als vorübergehend gilt, das heißt wenn die privilegierten Institutionen als Modell eines allgemeinen Wandels dargestellt werden. Dagegen würden andere Funktionen, nämlich die Schließung von Gemeinschaften, die Einübung von Geselligkeitsformen und die Einführung in spezielle Netzwerke, das heißt die Vorauswahl von Freunden und Partnern mit dem Zweck, dass Schüler und Eltern unter ihresgleichen bleiben können, nicht auf allgemeine Akzeptanz stoßen. Eine Wirklichkeit, die derartige Deutungen nahelegt, muss nach Möglichkeit verborgen und durch andere Konstrukte überdeckt werden. In Ländern, in denen die Schule als Instrument der sozialen Abgrenzung keine Tradition hat, in denen zum Beispiel das Privatschulwesen nicht weit verbreitet ist, müssen sich exklusive Schulen gegenüber der Öffentlichkeit besonders diskret verhalten, was zum Beispiel in der Vermeidung von auffälligen Schuluniformen zum Ausdruck kommt. Auch dürfen Tanzveranstaltungen, selbst wenn ihnen die Bedeutung von Initiationsriten zugeschrieben wird, nicht zu einem Ereignis von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung stilisiert werden. Allerdings ist die Verfestigung quasi-ständischer Strukturen, die über die Schule herbeigeführt oder gefördert wird, ein viel zu langfristiger Prozess, als dass er allgemeine Aufmerksamkeit erregen würde. Gleichwohl richten Bildungsorganisationen, die auf der Konservierung sozialer Strukturen beharren und dementsprechend eine bestimmte Art der Geselligkeit pflegen, eine kuriose
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Aufmerksamkeit auf sich. Die schwierige Beziehung exklusiver Schulen zur Öffentlichkeit ergibt sich daraus, dass die Rationalisierung der Partnerschaft, die Unterordnung von Sympathie und ‚Liebe ދunter ein gesellschaftlich-institutionelles und familiäres Kalkül, Emotionalisierungen zur Folge haben kann. Einerseits hat Prominenz in jeder Form, gleichgültig wo sie sich präsentiert, Nachrichtenwert; andererseits verstößt eine Gruppe, die über den Schulbesuch eine soziale Schließung herbeiführt, gegen gesellschaftliche Gleichheitsnormen. Daher muss das Ziel der Öffentlichkeitsarbeit, die von solchen Schulen betrieben wird, darin bestehen, Bildung und Prominenz thematisch zu verknüpfen und die Partnerschafts- und Netzwerkfunktion auszuklammern. Der Widerstand in der Öffentlichkeit bleibt verhalten, solange Geselligkeit und Partnerschaft so kodiert werden, dass sie in die Privatsphäre fallen. Trotzdem ist für die Leitung exklusiver Bildungseinrichtungen Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit geboten, damit nicht die politische Seite der Exklusion in den Mittelpunkt gerät. Die Allokation privater Beziehungen wäre ein Politikum, falls deutlich würde, dass es bei der Steuerung der Verkehrskreise auch um ökonomische Sicherung und Besitzstandswahrung geht. Im Gegensatz zu selektiven staatlichen Schulen sind Privatschulen, die von den Eltern der Schülerinnen und Schüler (mit-)finanziert werden, unabhängiger von dem in den Medien zur Geltung kommenden Meinungsklima. Besonders in solchen Gesellschaften, in denen die Finanzierung von Privatschulen ausschließlich den Eltern obliegt, also keine Mischform von privaten und staatlichen Aufwendungen vorliegt, kann der Aspekt der Exklusion, wie er in der Pflege bestimmter Umgangsformen, der Entwicklung von Netzwerken und der Verhinderung von Verbindungen mit ‚ungeeigneten ދPartnern zum Ausdruck kommt, offener angesprochen werden. Eine Teilfinanzierung durch den Staat dagegen erfordert Rücksichtnahmen, könnte doch die Forderung erhoben werden, dass öffentliche Mittel nicht bestimmten Standesinteressen, schon gar nicht den dynastischen Interessen wohlhabender Familien zu dienen hätten. Solange Privatschulen nicht wirklich privat sind, bleibt der Vorwurf einer sozial unausgewogenen Verteilung von Ressourcen virulent. Neiddiskussionen können jedoch auch durch eine großzügige Vergabe von Stipendien neutralisiert werden. Stipendiaten, die ihre gesellschaftliche Unterprivilegierung durch besondere Leistungen kompensieren, genügen einem öffentlichen Anspruch auf Durchlässigkeit von Gruppen- und Schichtgrenzen, ohne dass die Exklusivität der Einrichtung in Frage gestellt würde. Gerade hochselektive Bildungsinstitutionen tendieren dazu, in der Öffentlichkeit die Bedeutung von Leistungsprinzipien zu betonen. Wenn gleichzeitig die für diese Schulen Verantwortlichen, Schulleiter und Lehrer, Repräsentanten des Schulträgers sowie Eltern und Sprecher von Alumnikreisen, philanthropische Interes-
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sen artikulieren, dann richten sich diese besonders auf die finanziell minderbemittelten Hochbegabten. Deren ökonomische Schlechterstellung wird zum Beleg für das Talent der übrigen; denn offensichtlich müssen die finanziell Schlechtergestellten über eine besondere Begabung verfügen, wenn ihnen die Schulgebühren erlassen werden. Mehr als die Schulgeld zahlende Mehrheit unterstützen sie den Leistungsanspruch der Schule. Warum sollten sie gefördert werden, wenn sie nicht in der Lage wären, besondere Leistungen zu erbringen? Warum sollten umgekehrt die Talentierten eine Schule besuchen, die nicht ihrem Niveau entspräche? Die Leistungen der Stipendiaten lassen also auch die Leistungen derer, die aufgrund anderer Zugangskriterien aufgenommen werden, in einem günstigen Licht erscheinen. Freiplätze, die für ‚Hochbegabte ދzur Verfügung stehen, signalisieren der Öffentlichkeit, dass in der betreffenden Schule besonders hohe Standards hinsichtlich der intellektuellen Leistungsfähigkeit gelten; gleichzeitig wird unterstellt, dass diese Standards nicht auf bestimmte Schichten und Milieus zugeschnitten sind, sondern von Begabten aus allen Teilen der Bevölkerung erreicht werden können. Für die Schulleitungen exklusiver Bildungseinrichtungen ist es nicht nur in Hinblick auf ihr öffentliches Image wichtig, dass die Partnerwahl- und Netzwerkfunktion latent bleibt; auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern kommt es darauf an, Rücksicht zu nehmen, da diese sich wohl „kaum vorschreiben lassen würden, ihre Partnerwahl auf ‚sozial adäquat ދwahrgenommene Personen zu beschränken“ (Wirth 2000, 50). Es muss daher eine doppelte Überzeugungsarbeit geleistet werden, wenn es darum geht, Wahrnehmungen und Deutungen des Schullebens, die sich auf prekäre Funktionen beziehen, gar nicht erst bewusst werden zu lassen. Nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Klientel der Heranwachsenden steht im Zentrum von Bemühungen, konsensfähige Konstrukte anzubieten und ungünstige Deutungen zu verhindern. Dies gilt vor allem bei der Aufnahme von Neulingen. Das Interesse geeigneter Kandidaten darf nicht durch ein Erscheinungsbild gefährdet werden, das auf Geselligkeitsund Partnerschaftsregulierung fokussiert. Zur Akzeptanz von Kontaktregelungen trägt bei, wenn Neulinge von älteren, sympathisch und vertrauenswürdig wirkenden Schülern betreut werden, zeigt sich doch auf diese Weise, dass man gute Freunde finden kann, selbst wenn Beziehungen organisiert zustande kommen. Die gleiche Wirkung kann von scheinbar zwanglosen Treffen ausgehen, die von der Schule für Interessierte arrangiert werden und die Gelegenheit geben sollen, auf Spontaneität und Sympathie gegründete Beziehungen anzuknüpfen. Einerseits den Eltern, andererseits aber auch der Schulleitung bieten sich damit Gelegenheiten zum Kennenlernen und zur diskreten Prüfung von Statusindika-
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toren.12 Eine versteckte Kommunikation zwischen Schulleitung und Elternschaft ist also nicht ausgeschlossen. Eine direkte Thematisierung verborgener Funktionen des Schulgeschehens würde jedoch eine Taktlosigkeit darstellen, also gegen diskrete Kommunikationsnormen verstoßen.13 12
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Schüler und Studierende können jedoch auch an exklusiven Netzwerken interessiert sein. Die Schließung von Gemeinschaften dürfte dann keine Ablehnung hervorrufen, wenn die Institution als Arrangeur von Partnerschaften nicht direkt in Erscheinung tritt. Die US-amerikanische Internet-Kontaktbörse ‚SquareDatingދ, die sich als studentische Initiative präsentiert, wirbt mit dem Slogan „Share more; date better“. Zugelassen sind ausschließlich Studierende und Absolventen einiger weniger ‚Elitehochschulen ދder Vereinigten Staaten und ausgewählter Bildungsinstitutionen des Auslands, darunter Oxford und Cambridge. Deutsche Hochschulen sind nicht vertreten. Entscheidend für die Aufnahme der Hochschulen ist unter anderen – so SquareDating – deren Alumnitradition. In der Selbstbeschreibung werden die Interessenten dazu aufgefordert, ‚meaningful connections ދherzustellen. Vgl. http://dating.thesquare.com/cgi/parse?TPL=/doc. Zugriff am 10.06.2004 Die Bedeutung der Partnerschafts- und Netzwerkfunktion wird an der Geschichte der Mädchenbildung deutlich. Da bis Anfang des 20. Jahrhunderts im Bürgertum und im Adel die Erwerbstätigkeit von Frauen noch eine Ausnahmeerscheinung war, die Rolle als Ehefrau und Mutter jedoch mit dem ‚Wesen ދder Frau assoziiert wurde, konnten die für diesen Teil der Bevölkerung bestimmten Schulen nicht die Funktion haben, den weiblichen Teil des Nachwuchses zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu befähigen. Nichtsdestoweniger war eine anspruchsvolle Schulbildung in gehobenen Schichten und Klassen von großer Wichtigkeit. Die Funktion einer scheinbar nutzlosen Bildung für ‚höhere Töchter ދbestand in der Vermittlung von Heiratschancen, ging es doch darum, dass sie als Ehefrauen nicht durch „geistige Kurzsichtigkeit“ ihre Ehemänner langweilten, sondern dass es ihnen ermöglicht würde, an deren kulturellen Interessen teilzuhaben (Kleinau 1996, 115). Allerdings sollten auch nicht die Bildungsgegenstände und Methoden der für die männlichen Jugendlichen reservierten Bildungseinrichtungen nachgeahmt werden; vielmehr kam es Politikern und Verbandsvertretern darauf an, die ‚Natur und die Bestimmung ދder Frau zu berücksichtigen. In Deutschland warf die Frauenrechtlerin Helene Lange den um das Wohl der Frauen besorgten Oberlehrern vor, dass ihr Konzept der höheren Mädchenschule männerzentriert sei und dass ihr Bildungsideal nicht das Wesen der Frau, wohl aber die Wünsche der Männer widerspiegele (Kleinau, a.a.O.). Da die Bedeutung exklusiver „Töchterschulen“ nicht in der Vermittlung von beruflich verwendbaren Kompetenzen lag, galten auch die Abschlusszeugnisse nicht als gleichwertig im Verhältnis zu denen, die von Schulen für den männlichen Nachwuchs vergeben wurden (Diederich/Tenorth, a.a.O., 55). Ebenso war die Stellung der Mädchenschulen in der hierarchisch angelegten Ordnung der weiterführenden Schulen ungesichert. Der Prozess der Institutionalisierung und Normierung sowie der Positionierung im Berechtigungssystem der Schulabschlüsse erstreckte sich bis weit in das 20. Jahrhundert. Koedukation wurde nicht nur durch die ungleichen Bildungsziele und -inhalte verhindert. Vielmehr war es auch die Sexualmoral, die eine gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen ausschloss und vor allem den Umgang der Mädchen einer ständigen Kontrolle unterwarf. Trotzdem wurden zu bestimmten Anlässen, und zwar auch auf der Ebene der von der Schule gepflegten Geselligkeit, Treffen von Schülerinnen und Schülern arrangiert. Die rituellen und zumeist turnusmäßigen Veranstaltungen konnten nur unter der strengen Aufsicht von Eltern und Lehrern stattfinden. Was also in der Volksschule problemlos war, nämlich der gemeinsame Schulbesuch von Mädchen und Jungen, blieb bei den höheren Lehranstalten ausgeschlossen. Damit zeigt sich, dass die Risiken einer ‚falschen ދVerbindung je nach dem ge-
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3.7 Funktionsüberschneidungen 3.7 Funktionsüberschneidungen Die Geselligkeits- und Netzwerkfunktion verband sich in der Vergangenheit und verbindet sich noch heute mit kustodialen Aspekten. Diskussionen, die in der Öffentlichkeit zur Gewalt an Schulen oder zum Drogenmissbrauch geführt werden, erhöhen für die Eltern die Attraktivität von Schulen, die über Möglichkeiten verfügen, entsprechende Risiken durch Selektion ihrer potenziellen Klientel auszuschalten. Verursachend für die über die Schule arrangierte Steuerung des Umgangs von Jugendlichen mag zwar die erwünschte soziale Exklusivität und – in Verbindung damit – die Einübung in Lebens- und Gesellungsformen einer sozialen Zielgruppe sowie die Integration in entsprechende Beziehungsnetzwerke sein; aber auch die körperliche Unversehrtheit ist nicht ohne Bedeutung. Eltern, die gehobenen sozialen Schichten angehören, müssen damit rechnen, dass ihr Nachwuchs in wenig selektiven Schulen, in denen Streitigkeiten unter Schülern auch mit dem Einsatz von Gewalt ausgehandelt werden, besonderen Risiken ausgesetzt ist; in selektiven Schulen dagegen scheinen diese Gefahren geringer zu sein. Die Schulleitung kann die Eltern dahingehend beruhigen, dass verhaltensauffällige Jugendliche relegiert oder gar nicht erst zugelassen werden, während umgekehrt erwünschte Verhaltens- und Einstellungsmuster bei der Auswahl eine besondere Berücksichtigung finden. Das heißt, dass Neuankömmlinge demnach in eine ‚sichere ދsoziale Umgebung kommen, wo junge Menschen mit gleichen Interessen, gleichen Werten und gleichem Lebensstil zusammenfinden und – aufgrund der Schichthomogenität – die Gefahr sozialer Konflikte geringer ist. Der Umgang von Jugendlichen in selektiven Einrichtungen, verbunden mit der Pflege einer gewissen Form der Geselligkeit, lenkt aus der Sicht der Eltern von anderen, riskanteren Kontakten ab und dient sellschaftlichen Status der Familie unterschiedlich eingeschätzt wurden. Dort, wo Geld und gesellschaftlicher Anspruch zusammenkamen, mussten dauerhafte gemischtgeschlechtliche Kontakte, die nicht der Kontrolle der Familie unterlagen, ausgeschlossen werden. Die Mädchenschulen nahmen also ihre Funktion, ‚positiv ދauf die Partnerwahl einzuwirken, in der Weise wahr, dass sie ‚unpassende ދVerbindungen verhinderten und erwünschte Verbindungen durch Arrangements gesellschaftlicher Ereignisse förderten. Darüber hinaus verbesserten sie durch Vermittlung von Kulturwissen die Heiratschancen ihrer Schülerinnen, während das Curriculum für den männlichen Nachwuchs, das zum Beispiel auch Naturwissenschaften und höhere Mathematik mit einschloss, als berufsqualifizierend galt und damit die Erwerbschancen absicherte. Die Kontrolle der Verkehrskreise durch die Schule wurde durch private Initiativen ergänzt, wobei Erziehung und Bildung – verbunden mit dem Renommee der Schule – Selektionskriterium häuslicher Geselligkeit waren. Die weiblichen Heranwachsenden wurden also in Bezug auf ihren Umgang genauestens kontrolliert. Die Bildungsinstitution verbürgte sich mit dem Ansehen, das sie in der Öffentlichkeit genoss, für den ‚einwandfreien Lebenswandel ދder Schülerinnen und erfüllte damit die Vorbedingung für eine den gesellschaftlichen Ansprüchen der Familie gerecht werdende Eheschließung.
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gleichzeitig der Vorbereitung erwachsenenadäquater Formen des Miteinanders. Das heißt, dass das Bedürfnis nach Sicherheit und nach dem ‚richtigen ދUmgang simultan bedient werden kann. Eine Jugendkultur, die sich auf dieser Basis entwickelt, wird von den Familien nicht als bedrohlich empfunden, zumal wenn die Jugendlichen von Lehrern beobachtet und diskret beeinflusst werden. Vielmehr ermöglicht die Schule, die eine solche Jugendkultur anregt und fördert, dass – nach Einschätzung der Eltern – ‚nützliche ދKontakte zustande kommen, die im Erwachsenenalter weiter entwickelt werden können oder zumindest den Stil der Geselligkeit und den Modus für die Auswahl späterer Freunde und Partner mitbestimmen. Besonders in Internatsschulen verbinden sich die Kustodialfunktion einerseits und die Partnerschafts- und Netzwerkfunktion andererseits in vielfältiger Weise. Einige exklusive Schulen sind nicht nur sozial, sondern auch räumlich eine Insel. Die ländliche Abgeschiedenheit vieler Internate verweist – allen pädagogischen Rationalisierungen zum Trotz – auf eine enge Verbindung von Kustodialisierung und Kontaktsteuerung. Schon die räumliche Trennung der Schülerinnen und Schüler von Gleichaltrigen, die nicht den erwünschten Kreisen angehören, verhindert den als problematisch angesehenen geselligen Kontakt. Die Aktivitäten von Jugendlichen können darüber hinaus viel perfekter organisiert werden, als es für Familien bei häuslicher Unterbringung ihrer Kinder möglich wäre. Dabei ist es für Internatsschulen von Vorteil, dass Kustodialisierung und Kontaktsteuerung durch pädagogische Konzepte der Ganzheitlichkeit, mit denen die Grenze zwischen Schule und Freizeit aufgehoben wird, im Verborgenen bleiben. Der besondere pädagogische Anspruch der Lebensschule ist es, der die latenten Funktionen zusätzlich überdeckt und die Absorbtion von Aufmerksamkeit bewirkt. Für die Jugendlichen selbst kann die Vermeidung riskanter Kontakte nicht motivbildend für den Besuch einer besonderen, exklusiven Schule sein. Eine bessere Bildung, die auch Freizeitaktivitäten mit einschließt, und vermehrte Berufs- und Karrierechancen sind dagegen mögliche Anreize, um sich für eine – tatsächlich oder vermeintlich – anspruchsvollere Bildungsinstitution zu entscheiden. Die etikettierten Interaktionsprozesse, Bildung und Erziehung, vor allem auch Selbstbildung, verbunden mit interessanten Erlebnissen und herausfordernden Situationen, lassen die Kustodialfunktion sowie die Partnerschafts- und Netzwerkfunktion nicht ins Bewusstsein treten. Das Bildungsversprechen exklusiver Schulen ist also für die Eltern das einzige Argument, ihren Nachwuchs dahingehend zu beeinflussen, ein in ihren Augen ‚sicheres ދund in Hinblick auf die gesellschaftlichen Ambitionen adäquates Umfeld aufsuchen. Allerdings kann der (angebliche) Primat von Bildung und Erziehung auch zur Farce werden. Wenn zum Beispiel ein Internatsschüler seit Monaten keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern gehabt hat, weil diese meinen,
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anderen beruflichen und privaten Verpflichtungen nachgehen zu müssen, wird ihm möglicherweise die Bedeutung der Kustodialfunktion schmerzhaft bewusst. Abgesehen von solchen Grenzerfahrungen bietet das Konstrukt einer pädagogischen Durchdringung des Lebens, auch des privaten Lebens, die Grundlage dafür, das Alltagsleben der Schüler mehr als in anderen Einrichtungen nach den Gesichtspunkten der Sicherheit und der Geselligkeit auszurichten und gleichzeitig Reaktionen der Abwehr und des Widerstandes, die einer derartigen Einschränkung von Autonomie folgen könnten, zu vermeiden. Da sich die Kontaktsteuerung in Internaten auch auf die unterrichtsfreien Aktivitäten erstreckt und selbst die zur freien Verfügung stehende Zeit durch zeitliche, räumliche und sachliche Bedingungen kontrolliert wird, kann die Entstehung unerwünschter Beziehungen, etwa mit Gleichaltrigen aus der lokalen Gemeinde oder der Region, verhindert werden. In vielen Internaten ist die Gemeinschaft ein emphatisch vertretener Wert, was möglicherweise auch durch die räumliche und die soziale Isolation unterstützt wird. Das bedeutet, dass sich für die Schülerschaft selbst in den Abschnitten des Tages, die jeder nach eigenem Geschmack gestalten kann, der Blick auf die Schule richtet. Schülerinnen und Schüler können so ein Gefühl der Solidarität mit anderen in gleicher sozialer Stellung erlernen. Zu den Nebeneffekten der Sozialisation in exklusiven Schulen, besonders in Internaten, gehört die Erfahrung, dass in gehobenen Positionen Arbeit und Freizeit zusammengehören, dass beide Bereiche sich ergänzen und dass Chancen im Beruf ihr Äquivalent im Bereich der Geselligkeit haben oder, mit anderen Worten, soziale Netzwerke umso fester verknüpft werden können, wenn sie sowohl die Arbeits- als auch die Privatsphäre umfassen. Exklusive Schulen schaffen Sicherheit, indem sie auf die äußeren Bedingungen des Schullebens und auf die Zusammensetzung der Schüler Einfluss nehmen. Gleichzeitig verdichten sie die Kontakte mit denjenigen, die dazugehören, und schaffen so die Voraussetzung für eine gruppen- und schichtspezifische Geselligkeit sowie, darauf aufbauend, für partnerschaftliche Kontakte und Homogamie. Mit der Wahl exklusiver Bildungseinrichtungen verschaffen sich wohlhabende Familien ein Instrument der Kontaktsteuerung, das anderen nicht zur Verfügung steht. Den Eltern kommt es darauf an, durch die mit der Schule gegebenen Gelegenheitsstrukturen Einfluss auf die soziale Zusammensetzung der Verkehrskreise von Kindern und Jugendlichen auszuüben. Die Schule hat dafür zu sorgen, dass die Heranwachsenden in erster Linie mit ihresgleichen zusammenkommen. Für das Schulmanagement ist es daher auch wichtig, Skandale zu vermeiden, die auf Lücken der sozialen Kontrolle schließen lassen. Die höchsten Kosten werden dementsprechend in exklusiven Schulen durch die
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Betreuung verursacht, nicht dagegen durch unterrichtliche oder andere gezielt pädagogische Tätigkeiten.14 Für die Eltern, deren Nachwuchs exklusive Schulen besucht, entfällt also eine intentionale und manifeste Steuerung des Umgangs, die aus ihrer Sicht erforderlich wäre, wenn diese in einem heterogenen sozialen Umfeld verkehrten. Besonders in privaten Schulen können Eltern ihren Einfluss geltend machen, dass diejenigen Personen und sozialen Kreise ausgeschlossen werden, mit denen ihr Nachwuchs keinen Umgang haben soll. Eine derartige Auswahl kommt aber nicht durch eine gezielte Diskriminierung unerwünschter Personen zustande. Ein selektiver Effekt ergibt sich bereits dann, wenn Angebote, die zum „Hochkulturschema“ (Schulze 1993) und damit zum kulturellen Repertoire der Herkunftsschicht passen, im Profil der Schule akzentuiert werden, wenn zum Beispiel klassische Musik besonders gepflegt wird. Inklusion und Exklusion können also – auch unterhalb der Bewusstseinsebene – in der Weise herbeigeführt werden, dass Familien, Großgruppen oder Schichten auf Signale reagieren, die in ihrer kulturellen Tradition vorkommen, während andere sich gewissermaßen selbst ausschließen, weil sie diese Zeichen nicht zu deuten wissen und ihnen daher keine Beachtung schenken. Dagegen geben nichtselektive Schulen den Eltern wenig Möglichkeiten, die Kontakte ihrer Töchter und Söhne zu beeinflussen. In Wohnquartieren, die durch Verarmung gekennzeichnet sind, können Eltern den problematischen Umgang ihrer Kinder nicht verhindern; vielmehr verstärkt die Schule, die ja von den Jugendlichen als Treffpunkt und Kontaktraum in Anspruch genommen wird, das Risiko, durch Freundschaften und Partnerschaften in Schwierigkeiten zu geraten. Geringe Wahlmöglichkeiten vermindern die Chance der Eltern, die Zusammensetzung der Peergroups über Gelegenheitsstrukturen zu steuern. Gäbe es zum Beispiel innerhalb eines Einzugsbereiches realistische Alternativen oder bestünde die Möglichkeit, von einem Stadtteil oder Schulbezirk in einen anderen zu wechseln, ohne den Wohnort zu verändern, so könnten Eltern darauf einwirken, mit wem ihre Kinder zusammenkommen. Fehlende Optionen in Hinblick auf den Schulbesuch bewirken auch bei den Schülern die Entwicklung eines resignativen Sozialcharakters. Für die Lehrerschaft bedeutet die Zwangsrekrutierung die Notwendigkeit der Anpassung. Evidente Erziehungserfolge sind selten, zumal nicht – wie in selektiven Schulen – die Möglichkeit besteht, Erziehungs- und Bildungserfolge durch Selektion wahrscheinlicher zu machen. 14
Unproblematisch für die Schulleitung sind kleinere Vergehen, der gelegentliche Alkoholmissbrauch zum Beispiel, das Übertreten der Hausordnung durch Zuspätkommen, die scherzhaften Attacken gegenüber Lehrern usw. Diese anekdotisch interessanten Verhaltensweisen werden von der Schulleitung heimlich toleriert, kann doch so den Außenstehenden gezeigt werden, dass es sich um ‚normale Jugendliche ދhandelt.
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Der Vorwurf des ‚Versagens ދwird in der medialen Öffentlichkeit häufiger an die Lehrkräfte nichtselektiver Schulen gerichtet. Schulen, die in sozialen Brennpunkten liegen, werden für kollektive Fehlentwicklungen in ihrem Stadtteil verantwortlich gemacht. Selektive Schulen dagegen, die sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler von vornherein ausschließen, erscheinen dagegen in einem günstigeren Licht. Die ‚Erfolge ދeiner Bildungseinrichtung sind somit nicht der Effektivität der Bildungskonzepte zuzurechnen, sondern den Einflüssen der Schulleitung, der Lehrerkräfte und möglicherweise auch der Eltern auf die Zusammensetzung der Schülerschaft.
4 Prekäre Wirklichkeiten
4.1 Schulische Allokation und die Funktionalität der Berechtigung 4.1 Schulische Allokation und die Funktionalität der Berechtigung Selbstverständlich handelt es sich auch bei dem, was hier als ‚Funktionen ދbezeichnet wird, um Konstrukte, die nicht ‚die Wirklichkeit ދwiedergeben. Trotzdem sind sie nicht beliebig. Eine Analyse der ‚verborgenen Wirklichkeitenދ zeigt, dass es im Zusammenhang mit dem Geschehen in der Schule Erscheinungen gibt, die sich dem Beobachter aufdrängen und die mit dem Bild der Schule in der Öffentlichkeit nicht übereinstimmen. Die Wirklichkeit der Schule ist komplex und kann mit gängigen Begrifflichkeiten allein nicht erfasst werden. In den Bildern und Interpretationen, die in der Öffentlichkeit Verbreitung finden, kommen bestimmte Aspekte des Schulgeschehens nicht vor. Daher liegt es nahe, diese empirischen Widerständigkeiten aufzugreifen und in ein konsistentes Erklärungsmuster einzubringen. Das heißt, dass auch Schulleitungen und Lehrer, Schulträger und Verbände, ja auch die Eltern der Schüler darauf bedacht sind, die verborgenen Wirklichkeiten, sofern sie überhaupt ins Bewusstsein treten, nicht publik werden zu lassen. Ebenso tragen die medialen Akteure mit ihren Berichten und Stellungnahmen zu dem bei, was man als das ‚offizielle ދBild der Schule bezeichnen könnte. Dabei stehen die Seiten der Schulwirklichkeit im Vordergrund, die auf das Rationalitätsmuster bezogen sind; die institutionalisierten Ziele sind der Ausgangspunkt für Beschreibungen und Deutungen der Schulwirklichkeit im öffentlichen Raum. Die empirischen Hinweise, um die es im vorliegenden Zusammenhang geht, werden durch derartige Konstrukte verdeckt; sie lösen zum Teil sogar Maßnahmen aus, die eine Thematisierung dieser Wirklichkeiten verhindern sollen. Im Folgenden geht es um Aspekte der Schulwirklichkeit, die ‚sperrig ދsind, weil sie nicht in allen Details mit dem übereinstimmen, was dem offiziellen Bild der Schule entspricht. Einerseits können diese Elemente prekärer Schulwirklichkeiten in das Bild integriert werden, das die Öffentlichkeit von der Schule hat und das die Schule wiederum von sich verbreitet; andererseits besteht die Gefahr, dass sie öffentliche Kritik erzeugen, weil sie sich mit einigen gängigen Vorstellungen, vor allem den institutionalisierten Zielen und Mitteln des Bildungswesens nicht decken. Damit ist das von dieser Wirklichkeit erzeugte Bild ambivalent. Die hegemonialen Konstrukte könnten brüchig werden, wenn
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entsprechende Motive und Elemente des Handelns zum Vorschein kämen. Bei den prekären Wirklichkeiten ist also der Kontext, die Art der Darstellung und die Deutung entscheidend. Zu den Konstrukten, die vom Rationalitätsmodell des Schulwesens abgeleitet sind, gehört die qualifizierende Allokation. Dieses Konstrukt besagt, dass die Schule eine Verteilung auf Positionen im Beschäftigungssystem oder in weiterführenden Bildungs- und Ausbildungssystemen vornimmt oder beeinflusst, und zwar auf der Grundlage von Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler in zielgerichteten interaktiven Prozessen des Erziehens und Erzogenwerdens, der Sozialmachung und Sozialwerdung, des Lehrens und Lernens, der Bildung und der Selbstbildung erwerben. Die Selektionsprozesse, die in der Schule stattfinden, werden demnach unter dem Aspekt der späteren Allokation gedeutet.1 Folgt man dem Konstrukt, so ändern sich Positionen auf der Grundlage von Fortschritten, und zwar im Rahmen der Prozesse, die von der Schule planvoll initiiert, begleitet und gefördert werden. Der Wechsel von Positionen, die der Einzelne in einer Bildungsorganisation durchläuft, soll somit den Fortgang des Ausbildungs- und Bildungsprozesses zum Ausdruck bringen.2 Allokationen innerhalb des Systems konkretisieren nach offizieller Lesart, was an Bildung, Ausbildung, Training, Therapie usw. in diesen Einrichtungen geschieht. Mit der Allokation, die während der Schulzeit abläuft, also mit der Verteilung von Schülern auf Schultypen und Schulen, auf Klassen und Kurse, auf Positionen in Leistungsgruppen sowie auf ‚anspruchsvolle ދoder weniger ‚anspruchsvolleދ Fächer, soll die Allokation nach Abschluss der Schule antizipiert werden. Die Positionszuweisungen in der Schule simulieren entsprechende Vorgänge inner1
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In der üblichen Terminologie ist mit Allokation die Einwirkung auf Positionsverteilungen außerhalb der Schule gemeint. Zwischen Prozessen der Allokation innerhalb und außerhalb des Bildungssystems ist jedoch nicht eindeutig zu unterscheiden. Werden zum Beispiel Studienplätze auf der Grundlage von Noten im Abschlusszeugnis der allgemeinbildenden Schule vorgenommen, so ginge es nach dieser Definition nicht um Allokation, da es sich um eine Verteilung innerhalb des Bildungssystems handelt. Wie aber verhält es sich, wenn die Stellen innerhalb des Beschäftigungssystems, für die die Schule ‚qualifiziertދ, Ausbildungsstellen sind? Ausbildungen werden von der Wirtschaft im Rahmen einer kaufmännischen oder gewerblichen Ausbildung oder – für den Führungsnachwuchs – als Traineeprogramme bzw. Studienprogramme an Corporate Universities angeboten. Plätze in Ausbildungsgängen innerhalb des Beschäftigungssystems können qua Definition dem Bildungssystem zugeordnet werden; damit wären entsprechende Verteilungsvorgänge begrifflich nicht als Allokation zu fassen, da sie innerhalb des Bildungssystems erfolgen. Eine konzeptionelle Zuordnung könnte aber auch danach entschieden werden, wer die Ausbildung organisiert oder finanziert bzw. rechtlich verantwortlich ist. Da die angestrebten kognitiven und emotionalen Veränderungen kaum objektiviert werden können, sind derartige Markierungen umso wichtiger; sie sollen anzeigen, wo sich Lernende auf dem Weg zu dem angestrebten Ziel, in der Regel der Abschlussprüfung und der Bescheinigung der ‚Reifeދ, gerade befinden.
4.1 Schulische Allokation und die Funktionalität der Berechtigung
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halb des Beschäftigungssystems. Auslese- und Beförderungsprozesse in beiden Bereichen verweisen aufeinander und legitimieren sich gegenseitig. Beide Systeme sind im Rahmen des Kredentialismus (vgl. Miller 1967; Collins 1979; Collins 1981; Parkin 2004) logisch und semantisch miteinander verknüpft, wobei ‚Leistung ދdie verbindende Klammer darstellt. „Das Bildungswesen schafft über das Prüfungswesen Zuordnungen zwischen den Leistungen der Schülerschaft und ihren beruflichen Laufbahnen“ (Fend, a.a.O., 50). „Offiziell gilt das Leistungsprinzip als das akzeptierte Selektionskriterium: Je höher die individuelle Leistung, desto höher sollten die erreichbaren Schulabschlüsse und desto höher sollten auch die Berufspositionen und damit letztlich die Lebenschancen sein“ (Lange 2005, 85). Positionen innerhalb des Bildungssystems und resümierende Zertifikate sollen dem Konstrukt entsprechend Grade einer Qualifizierung für die Anforderungen des Beschäftigungssystems und weiterführender Ausbildungseinrichtungen wiedergeben. Wer einen bestimmten Abschluss und/oder einen bestimmten Notendurchschnitt erreicht hat, gilt – von der Schule und den sie unterstützenden Systemen aus gesehen – als qualifiziert in dem Sinne, dass die Voraussetzungen für den weiteren Wissens- und Kompetenzerwerb geschaffen wurden. Umgekehrt wird die Auswahl von Bewerbern für Stellen im Beschäftigungssystem – formal oder konsensuell – mit Kriterien verbunden, zu denen unter anderem auch zertifizierte schulische Leistungen gehören. Zeugnisse und Noten sind also kein Selbstzweck. Vielmehr wird unterstellt, dass die Evaluationen der Schule mehr messen als nur die Fähigkeit, die im Rahmen des Unterrichts gestellten Aufgaben zu lösen. Das Leistungssystem bringt – dem Konstrukt nach – unterschiedliche Stufen einer Qualifizierung zum Ausdruck, die im weitesten Sinn berufliche Qualifizierung sein soll, also auch beruflich relevante ‚charakterliche ދEigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale umfasst. Die Zeugnisse der Schule werden also mit der Vorstellung verbunden, dass sie Aussagen über allgemeine oder spezielle Eigenschaften zulassen, die in anschließenden Verwendungen, also in anschließenden Bildungs- und Ausbildungskarrieren oder im Beruf, erforderlich sind. Um welche Anforderungen es sich genau handelt, muss nicht benannt werden. Tatsächlich ist ja auch kaum vorherzusehen, welche Aufgaben auf den Positionsinhaber im Verlaufe seiner beruflichen Tätigkeit zukommen und welche Kompetenzen dabei erforderlich sind. Die Schule greift in ihren Aussagen über Lern- und Bildungserfolge weiter aus, als es von den Noten impliziert wird, die sich ja auf messbare Ergebnisse des Unterrichts beziehen; Noten sind in ein System von Bedeutungen eingegliedert, die dem Lernen einen Sinn geben, der über das Erlernte und Abgeprüfte hinausgeht. Die Schule unterstellt, indem sie sich in das Berechtigungssystem eingliedert, eine nicht genau gekennzeichnete Qualifikation sowie
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4 Prekäre Wirklichkeiten
Effekte für eine Persönlichkeitsentwicklung, auch wenn sie diese nicht durch ein Persönlichkeitsprofil ausweist. Noten wird eine prognostische Relevanz beigemessen, obwohl sie sich auf die Vergangenheit beziehen. Versuche, Noten durch Berichtssysteme zu ersetzen, stellen eine Reaktion auf dieses Defizit einer pauschalisierenden und damit nicht prognosefähigen Beurteilung dar. Da aber Schulzeugnisse für viele Verwendungen geeignet sein sollen, sehen sich auch die Verfasser von Berichtszeugnissen genötigt, versteckte Codes einer allgemeinen Beurteilung zu verwenden und über den Berichtsteil hinaus Prognosen der Verwendbarkeit abzugeben, die angesichts der Vielfalt zukünftiger Anforderungen wenig valide sein müssen. Die Leistungsmessung durch die Schule ist somit präzise und unpräzise zugleich; Noten stellen eine detaillierte Bewertung dar, die meistens auch arithmetisch ausgedrückt wird und entsprechende Kalkulationen bei der Berechnung von Teil- und Gesamtergebnis ermöglichen. Trotzdem sollen diese Zahlen mehr sein als das, was sich nachweisen ließe, wenn man nur von den Verfahren ausginge, die sie hervorgebracht haben. Noten lösen sich von ihrer Entstehung; sie entwickeln ein Eigengewicht, das in einem diffusen Zusammenhang mit einer persönlichen Qualifikation steht. 4.2 Human-Capital-Theorie versus Screening-Theorie 4.2 Human-Capital-Theorie versus Screening-Theorie Die Vorstellung, dass Schulzeugnisse und Zeugnisnoten die Qualifikation für Stellen im Beschäftigungssystem zum Ausdruck bringen, findet in der Öffentlichkeit große Akzeptanz, sodass von einer kulturellen Selbstverständlichkeit ausgegangen werden kann. Auch die im Rahmen der Bildungsökonomie entwickelte Human-Capital-Theorie (Woodhall 1997; Brown/Lauder 2001) unterstellt eine funktionale Entsprechung zwischen den von der Schule zertifizierten Kenntnissen und den aus sachlichen Notwendigkeiten, also den betrieblichen Abläufen sich ergebenden Anforderungen. Bildung ist demnach funktional. Wenn beide Teilsysteme, Bildungs- und Wirtschaftssystem, aufeinander abgestimmt sind, können nach dieser Auffassung Störungen, beispielsweise ökonomische Wachstumshindernisse, vermieden werden. „Die zentrale These der Humankapitaltheorie behauptet ..., dass Lernen und insbesondere das Lernen in systemischen, organisierten, formalen Lernarrangements die Lernenden entlang der Dimensionen Wissen, Können, Einstellungen usw. in einer Weise verändert, die zur Folge hat, dass die Lerner in ihrem beruflichen bzw. wirtschaftsrelevanten Handeln (als Arbeitnehmer, als Konsument, als Unternehmer, als Investor) leistungsfähiger bzw. ökonomisch gesprochen produktiver werden“ (Timmermann 2005, 87).
4.2 Human-Capital-Theorie versus Screening-Theorie
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Das Wirtschaftssystem ist allerdings – so das bildungsökonomische Postulat – als gegeben anzusehen; es setzt Daten, denen sich das Bildungssystem mehr oder weniger anzupassen hat. Bildung verändert – diesem Ansatz entsprechend – nicht die Welt; sie verhilft dem Einzelnen nur dazu, sich wirtschaftsadäquat zu verhalten und damit besser in der Welt zurechtzukommen. Die Schule nimmt den Beruf vorweg; sie ist nach bildungsökonomischer Vorstellung eine Vorbereitung auf die Anforderungen, die im Betrieb gestellt werden. Mit anderen Worten wird erwartet, dass derjenige, der sich in der Schule ausgezeichnet hat, besonders produktive Leistungen im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses erbringen wird. Übertragen auf die Systemebene heißt das, dass günstige strukturelle Bedingungen des Lernens zur Produktivität der Wirtschaft beitragen, dass also Investitionen in das Schulwesen auch ökonomisch rentabel sind. Fehlt die Entwicklung des Bildungswesens, werden also die erforderlichen Qualifikationen von der Schule nicht bereitgestellt, kommt es zu Wachstumshemmnissen. Allerdings ist es nach dieser Argumentation möglich, durch Errechnung von Sollwerten derartigen krisenhaften ökonomischen Entwicklungen vorzubeugen. Über Wachstumsprognosen kann der Bildungsbedarf ermittelt und an das Bildungssystem weitergegeben werden. Entsprechend der verbreiteten Überzeugung, dass derjenige, der ‚viel weiß, auch viel kannދ, kam schon Welch (1970) in einer paradigmatischen Studie zu dem Schluss, dass in der amerikanischen Landwirtschaft diejenigen Farmer, die über eine bessere Schulbildung verfügten, ein höheres Einkommen hatten als ihre weniger gebildeten Kollegen. Es bestehe somit in der Landwirtschaft ein Bedarf an Wissen, das in Schulen erworben werden könne und, wenn es in richtiger Weise eingesetzt werde, zu mehr Produktivität, niedrigeren Kosten und höheren Umsätzen führe. Der Human-Capital-Theorie entsprechend ist es diese Kausalbeziehung zwischen Bildung und Effizienz, die den Gehaltsgruppen und Tarifbestimmungen der abhängig Beschäftigten in der Industrie zugrunde liegt. In der höheren Bezahlung von Arbeitnehmern mit qualifizierten Schulabschlüssen kommt demnach zum Ausdruck, dass diese mehr zum Output des Unternehmens beitragen; es lohnt sich also für den Arbeitgeber, solche Mitarbeiter, die über eine längere und anspruchsvollere Schulbildung verfügen, besser zu bezahlen. Allerdings ist bei dieser Annahme eine zusätzliche Prämisse erforderlich. Wenn – der Human-Capital-Theorie folgend – Arbeiter, Angestellte und Beamte mit qualifizierten Schulabschlüssen produktiver sein sollen als andere, so kann dieser Bildungsunterschied nur dann zum Tragen kommen, wenn die Beschäftigten auch die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten einzubringen, wenn sie also zum Beispiel selbständige Entscheidungen treffen und die Bedingungen ihrer Arbeit selbst gestalten können. Somit müssen über den Schulabschluss hinaus weitere Faktoren wie zum Beispiel die Betriebsorganisation, das betrieb-
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4 Prekäre Wirklichkeiten
liche Umfeld und die ‚Unternehmensphilosophie ދberücksichtigt werden, die sich auf die Nutzung von Bildungskompetenzen und möglicherweise auch den Unternehmenserfolg auswirken (Carnoy 1995). Die Humankapitaltheorie unterstellt, dass ebenso, wie einzelne Wirtschaftssubjekte mit hoher Bildung Erfolg im Beruf haben, auch Staaten, die über ein gut ausgebautes Bildungssystem verfügen, wirtschaftlich erfolgreich sind. Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene gilt Bildung als Ursache von Wohlstand. Der umgekehrte Zusammenhang, nämlich dass Nationen, die – aus welchen Gründen auch immer – reich geworden sind, sich mehr Bildungsinvestitionen leisten können als ärmere, findet demgegenüber keine Beachtung. “The logic of human capital theory depends upon a direct correlation between levels of economic development and forms of educational provision. Again, this connection is by no means clear-cut. As with all questions of correlation, the issue is to demonstrate a causal link between factors. It might be that richer societies have more developed education systems because they are richer, rather than their being richer because they have more developed education systems” (Moore 2004, 36).
Für ärmere Länder eröffnet sich – dem Ansatz der Humankapitaltheorie folgend – nur dann ein Weg aus ihrer Wirtschaftsmisere, wenn sie mehr Geld in die Bildung investieren, was faktisch eine Verschuldung bedeutet. Die Annahmen der Human-Capital-Theorie legen es nahe, darauf zu vertrauen, dass die in das Schulwesen investierten Mittel sich amortisieren und dass eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung in Gang kommt. Wenn also Kredite aufgenommen werden, so sollten diese Mittel nicht direkt in die Modernisierung der Wirtschaft, sondern vielmehr in das Bildungs- und Ausbildungssystem investiert werden.3 Allerdings sind diese Annahmen nicht unumstritten. In globaler Perspektive hat sich gezeigt, dass es nicht nur einen einzigen, nämlich den westlichen Entwicklungspfad der Modernisierung gibt und dass sich wirtschaftliches Wachstum in einzelnen Ländern sehr wohl mit indigenen Bildungstraditionen verträgt (Brown 1999; Ballantine 2001). Die stärkste Herausforderung für die Humankapitaltheorie stellt wohl die Screening-Theorie dar (Wolpin 1974, 1977; Psacharopoulos 1979; Katz/Ziderman 1980; Blaug 1995), die den Zusammenhang zwischen Kompetenzanforderungen am Arbeitsplatz und schulischer Kompe3
Auch die Weltbank hat sich die Human-Capital-Theorie zu eigen gemacht und geht davon aus, „dass über die Steigerung vor allem der technischen Qualifikationen der Menschen die Produktivität der Betriebe und damit auch das wirtschaftliche Wachstum der Gesamtgesellschaft gesteigert werden könne.“ Die Weltbank versteht es, „starken Einfluss zu nehmen auf die Diskussion und Entscheidungen über Bildungsfragen in Ländern, die auf Kredite angewiesen sind ...“ Vgl. Klausenitzer (2001)2, 242
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tenzvermittlung infrage stellt. Sie geht davon aus, dass sich Bildung in erster Linie nicht für die Wirtschaft oder einzelne Betriebe als nützlich erweist, sondern für diejenigen Individuen, die sich durch Vorlage von Zertifikaten auf dem Arbeitsmarkt Vorteile verschaffen können. Die Schule hat für ihre Klientel den Sinn, eine Anstellung zu finden, also Arbeitgebern zu signalisieren, dass man besser sei als andere und dass im Falle der Einstellung dem Betrieb besonders produktive Leistungen in Aussicht stünden. Ob demgegenüber – wie die HumanCapital-Theorie unterstellt – Bildung und Ausbildung durch die Schule tatsächlich höhere Produktivität zur Folge haben, ist nach diesem Ansatz fraglich. Nichtsdestoweniger richten sich die einstellenden Instanzen nach zertifizierten Schulabschlüssen: “Employers have learned from past experience that there is a general concordance between the attributes required at various levels of the occupational pyramid and educational attainments. In that sense, educational credentials act as surrogates for qualities which employers regard as important, predicting a certain level of job performance without, however, making any direct contribution to it. ... Screening by employers in terms of educational qualifications then creates an incentive on the part of employees to produce the ދsignal’ that maximizes the probability of being selected, namely, the possession of an educational qualification” (Blaug 1995, 48).
Die Screening-Theorie geht von der Annahme aus, dass es nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für die Arbeitgeber von Nutzen sein kann, wenn sie Schulabgänger einstellen, die sich in der Schule qualifiziert haben. Dieser besteht aber nicht in der höheren Produktivität der Betreffenden, sondern lediglich darin, dass durch die Orientierung an Zeugnissen und Titeln das Auswahlverfahren erleichtert wird. Wenn also bei Neuanstellungen, vor allem von Berufsanfängern, nach der Qualität von Schulabschlüssen entschieden wird, so deshalb, weil Eignungsprüfungen nur begrenzt möglich sind. Es geht – der ScreeningTheorie entsprechend – bei Schul- und Hochschulprüfungen zunächst darum, für das Beschäftigungssystem eine bestimmte Vorauswahl zu treffen, womit Arbeit gespart und legitimierbare Selektionskriterien geliefert werden. In späteren Screeningverfahren, die im Rahmen der Berufstätigkeit stattfinden, zum Beispiel wenn es um die Einstellung nach Ablauf der Probezeit oder um Beförderungen geht, kommen dagegen andere Kriterien zum Zuge. Dementsprechend haben häufig auch die Berufsanfänger selbst den Eindruck, dass sich nach dem Lernen und Studieren in der Schule bzw. Hochschule und mit dem Eintritt in das Arbeitsleben ganz neue Erfahrungen und Anforderungen ergeben, dass man also, um seinen Beruf auszuüben, mindestens zweimal lernen muss, nämlich einmal vor der Berufstätigkeit und zum Zweiten mit der Berufstätigkeit selbst. Blaug stellt fest: “The screening hypothesis ... explains why so many educational quali-
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fications appear to be unrelated to the type of work that students eventually take up” (Blaug, a.a.O., 49). Die Screening-Theorie steht im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen über die Schule. Dem Bild der Öffentlichkeit entsprechend ist das schulische Berechtigungssystem, das heißt der Verteilung von Berufs- und Lebenschancen entsprechend den zertifizierten Bildungserfolgen, dadurch gerechtfertigt, dass Sozialisation, Bildung und Erziehung mit einer Kompetenzerweiterung einhergehen, dass also die Schule feststellt, wer für bestimmte berufliche Karrieren geeignet ist. Wenn aber die in der Schule erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten mit den Anforderungen am Arbeitsplatz nicht übereinstimmen, dann ergibt sich die Frage nach der Funktion der Schule. Der Screening-Theorie folgend besteht der Wert der Schule, zumindest für die Beteiligten selbst, also für die Lernenden und Studierenden, nicht in der Anwendbarkeit des erworbenen und zertifizierten Wissens. Insofern trägt Bildung auch nicht zur Produktivität bei: “... the screening theory stresses that education does not augment productive capacity” (Witziers 1998, 40). Die von Schulen und Hochschulen zertifizierten Kenntnisse sind – der Theorie nach – inhaltlich beliebig. Bildung und Studium haben einen Wert, wenn es darum geht, im Leistungsvergleich mit anderen gut abzuschneiden, also bei der Suche nach beruflichen Positionen und Laufbahnen im Vorteil zu sein. Mit anderen Worten sind für Lernende und Studierende Zeugnisse und Noten entscheidend, nicht dagegen Wissen und Fähigkeiten. Schulen würden auch dann Bestand haben, wenn sie aufgrund beliebiger (!) Leistungen Noten vergäben und Rangreihen erstellten, vorausgesetzt, es würden auf der Grundlage der von ihnen zugewiesenen Rangplätze Berufspositionen vergeben. Die Siebungs- und Signaltheorie erklärt auch, wie Hradil feststellt, weshalb „bei einem Überangebot an Bildung und deswegen sinkenden Löhnen für Hochqualifizierte die Bildungsanstrengungen“ (Hradil 2004, 137) nicht zurückgehen. „Die Bildungsexpansion geht im Gegenteil gerade dann weiter“ und es entsteht „ein geradezu perverser Wettlauf“ um gute Schulabschlüsse, weil die Arbeitgeber die Bewerber ihrem formalen Bildungsgrad entsprechend in eine „Warteschlange“ (Hradil, ebd.) einreihen. Ein günstiger Platz in der Warteschlange sei nur dann zu erreichen, „wenn ein Bewerber mehr Bildung als die anderen vorweisen kann“ (Hradil, ebd.). Solange das Beschäftigungssystem bereit ist oder – wie zum Beispiel im öffentlichen Dienst – vom Staat gezwungen werden kann, Zeugnisse und Noten als „credentials“ für Berufslaufbahnen zu behandeln, ist die Schule zumindest für den Einzelnen attraktiv. Für die Betriebe ist die von der Schule vorgenommene Auswahl von Stellenbewerbern kostenlos: “Firms cannot observe individuals ތproductivity, and instead use schooling qualifications for hiring decisions and for setting
4.2 Human-Capital-Theorie versus Screening-Theorie
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individual wages” (Groot/Hartung 1995, 34). Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Unternehmen mit Bildungszertifikaten die für sie wichtigen Eigenschaften von Bewerbern zu erfassen meinen oder ob sie sich nur aus Bequemlichkeit oder aus Kostengründen bei ihren Einstellungsentscheidungen nach Zeugnissen und Noten richten. Gegen die zweite Möglichkeit spricht, dass eine Einstellung nach Bildungskriterien für die Betriebe langfristig teuer wäre, sofern nämlich die zertifizierten Erfolge im Schulsystem nicht mit Leistungen im Betrieb einhergingen. Würden Personalchefs und Betriebsleitung Personen nach schulischen Leistungskriterien einstellen, wenn sie nicht an den Prognosewert von Schulzeugnissen und Noten glaubten? Tatsächlich stellt das Screening auf der Grundlage schulischer Befähigungsnachweise in der Regel nicht das einzige Auswahlverfahren dar, sondern wird durch betriebsinterne Prüfungen, die zum Beispiel als Assessment Center durchgeführt werden, ergänzt. Das könnte bedeuten, dass im Beschäftigungssystem die für Einstellungen Verantwortlichen davon ausgehen, dass Schulzeugnisse in begrenztem Maß für Leistungsprognosen infrage kommen, dass aber weitere Prüfverfahren notwendig sind, um die Eignung oder Nützlichkeit eines Kandidaten für das Unternehmen festzustellen. Es könnte aber auch heißen, dass Personalchefs auf der Grundlage von Zeugnisnoten eine mehr oder weniger willkürliche Selektion durchführen und dass die darauf folgenden betrieblichen Prüfungen auf der Grundlage einer Stichprobe, die auch von der Menge her bewältigt werden kann, erst den eigentlichen Eignungstest darstellen. Lange geht davon aus, dass die Auswahlverfahren der Betriebe einen Ersatz für die Selektion durch die Schule darstellen: „Sofern sich, wie im Zuge der Bildungsexpansion geschehen, Nivellierungstendenzen der Leistungszertifizierung ergeben und die Jugendlichen im Beschäftigungssystem nicht mehr hinreichend differenziert erkannt werden können, führt das Beschäftigungssystem Eignungsprüfungen durch. Immer dann, wenn das Erziehungssystem seiner Selektionsfunktion nicht mehr genügend nachkommt und dem Beschäftigungssystem auf vorgegebenen Eingangsebenen zu viele Absolventen ,gleicher‘ Qualifikationshöhe anbietet, übernimmt das Beschäftigungssystem diese Selektionsfunktion und ersetzt die Ausgangsprüfungen durch Eingangsprüfungen“ (Lange 2005, 86).
Trotzdem ist für die Zulassung zu Auswahlverfahren, die das Beschäftigungssystem in eigener Regie durchführt, eine an der Rangordnung der Schule gemessene Mindestqualifikation unerlässlich, sodass die vorhergehenden Selektionsverfahren nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Außerdem generiert das Bildungssystem neue, zum Teil auch informale, auf Renommee beruhende Differenzierungen, die darauf abzielen, sich jenseits des universalistischen Rang-
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ordnungssystems auszuzeichnen und bei den Verantwortlichen des Beschäftigungssystems Beachtung zu finden (vgl. Kap. 6). Auf der Grundlage von Kriterien, wie sie zum Beispiel der Besuch einer exklusiven Schule oder das Zertifikat über eine teure Zusatzausbildung darstellen, kann ein Vorsprung bei einem Screening durch das Beschäftigungssystem erreicht werden. Um auf das Zitat von Lange zurückzukommen, so wäre die von ihm aufgestellte Regel in der Weise zu ergänzen, dass immer dann, wenn das öffentliche Erziehungssystem zu viele Absolventen ‚gleicher ދQualifikationshöhe anbietet, innerhalb der schulischen Bildungsgänge zusätzliche, zum Teil nur informal differenzierende Bildungskriterien geschaffen werden, die bei verstärkter Konkurrenz eine Beachtung in den Screeningverfahren des Beschäftigungssystems sicherstellen sollen. Das Interesse der Bildungsnachfrager für die – tatsächlich oder vermeintlich – besonders qualifizierende Schule, also zum Beispiel die renommierte Privatschule, ergibt sich unter anderem daraus, dass über die bis dahin gültigen Qualifikationsmerkmale schon zu viele verfügen. Unter dem Aspekt der Human-Capital-Theorie erbringt die Schule die Leistungen, die die Öffentlichkeit von ihr erwartet. Die durch sie vermittelte Bildung ist für die technische und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sachlich erforderlich. Der Screening-Theorie zufolge ist die Schule dagegen nur eine Art von Verteilungssystem, das von den Betrieben genutzt wird, um ihre Rekrutierungsprobleme zu vereinfachen. Darüber hinaus wird – diesem Ansatz entsprechend – das Bildungssystem von Eltern und Schülern als eine Art Dienstleistung mit dem Ziel der Verbesserung von Lebenschancen in Anspruch genommen. Für die Human-Capital-Theorie steht die Schule im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses; sie dient dem lernenden Individuum und dem gesellschaftlichen System. Das Bildungssystem muss ausgebaut werden, weil es darum geht, Kenntnisse zu vermitteln, die für das Beschäftigungssystem wichtig sind. Die Human-Capital-Theorie nützt daher auch der Schule und den sie unterstützenden Kollektiven und Organisationen. Dementsprechend weist Timmermann darauf hin, dass die These von der ökonomischen Verwertbarkeit des in der Schule erworbenen Wissens „im Sinn der pädagogischen Zunft“ sei (Timmermann, a.a.O., 87). Die ökonomische Funktionalität des Bildungswesens liegt im Interesse der in der Schule Beschäftigten, indem sie ihrer Tätigkeit eine gesellschaftlich vorrangige Bedeutung zuweist. Das Konstrukt, dass die Schule das Humankapital für die Wirtschaft bereitstelle und damit die wirtschaftliche Entwicklung fördere, kann sich auf unterschiedliche Bereiche individuellen Könnens und Wissens beziehen. Ausgehend von diesem Konstrukt muss die Frage beantwortet werden, ob die von der Bildung zu vermittelnden Kompetenzen allgemeiner Art sind und charakterliche Eigenschaften mit beinhalten oder ob es sich um ein spezifisches Wissen oder
4.3 Allgemeinbildung und beruflich relevante Kompetenzen
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um fachlich abzugrenzende Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt. Je konkreter der von der Human-Capital-Theorie unterstellte Zusammenhang definiert wird, umso mehr bestimmt das Konstrukt die Alltagswirklichkeit der Schule, zumal ja auch wirtschaftliche Veränderungen mit direkten Veränderungen der Unterrichtsmethoden und des Curriculums einhergehen müssten. Je detaillierter die Annahmen des Human-Capital-Ansatzes in Curricula und Methoden umgesetzt werden, desto fiktiver wird der Zusammenhang zwischen Qualifikation und Funktion. Qualifikationsprofile als Ziele schulischer Unterrichtung und Bildung können empirisch nicht bestimmt werden (Fend, a.a.O., 37). Wenn in der Gegenwart „Schule und Lernen“ als Mittel angesehen werden, „um bei der heranwachsenden Generation möglichst effektiv jene Qualifikationen zu erzeugen, die für ein dynamisches Wirtschaftssystem zentral sind“ (Fend, ebd.), dann gerät die Schule in Beweisnot. Schule und Öffentlichkeit müssen also darauf hinwirken, dass die Qualifizierung und Kompetenzvermittlung Bestandteile eines Mythos bleiben und das aktuelle Handeln nicht so bestimmen, dass die Entscheidungsroutinen der Schule entsprechend begründet werden müssen. Nur wenn die Produktivitätsannahme pauschal gilt, bleibt für die Selbstreferentialität des Bildungswissens genügend Raum. 4.3 Allgemeinbildung und beruflich relevante Kompetenzen 4.3 Allgemeinbildung und beruflich relevante Kompetenzen Allgemeinbildung und berufsbezogene Bildung unterscheiden sich in Hinblick auf die Art der vorgenommenen Verteilung. Allgemeinbildung qualifiziert – dem Konstrukt nach – für unterschiedliche Stellen und Laufbahnen. Steuerung auf der Grundlage von Allgemeinbildung besteht darin, dass mit dem zertifizierten Schulabschluss über das Niveau der Positionen und damit der Laufbahnen oder der möglichen Karrieren entschieden wird, nicht dagegen über die inhaltlichen, sachlichen oder beruflichen Richtungen und Schwerpunkte. Eine berufsbezogene Bildung stellt ebenfalls eine Verbindung zu dem Niveau der Positionen her, nimmt aber gleichzeitig eine Beschränkung auf bestimmte Sparten von Beschäftigungen vor. Demzufolge ist es schwer nachvollziehbar, wie auf der Grundlage einer berufsqualifizierenden Bildung ein späterer Wechsel zu anderen Sektoren der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes möglich sein soll. Auch wenn der in einer Fachdisziplin Ausgebildete in einer leitenden Funktion tätig ist, heißt das nicht, dass er über generalisierbare Kompetenzen verfügt, die ihn dazu befähigten, an anderer Stelle auf gleichem Niveau tätig zu werden. Von der Allgemeinbildung wird demgegenüber angenommen, dass sie mehr Mobilität ermögliche als die berufsbezogene Bildung und dass sie weniger
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an vorgegebenen Strukturen orientiert sei, also Schüler und Studierende in die Lage versetze, neue Herausforderungen zu meistern. Die in der Pädagogik entwickelten Kompetenzbegriffe lassen sich in unterschiedlichem Maß den Polen der ‚Allgemeinbildung ދund der ‚fachspezifischen Bildung ދzuordnen. Klieme u.a. (2001, 182) differenzieren mit Weinert (1999) zwischen: „1. Kompetenzen als allgemeine intellektuelle Fähigkeit im Sinn von Dispositionen, die eine Person befähigen, in sehr unterschiedlichen Situationen anspruchsvolle Aufgaben zu meistern. 2. Kompetenzen als funktional bestimmte, auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen bezogene kognitive Leistungsdispositionen, die sich psychologisch als Kenntnisse, Fertigkeiten, Strategien, Routinen oder auch bereichsspezifische Fähigkeiten beschreiben lassen. 3. Kompetenz im Sinn motivationaler Orientierungen, die Voraussetzung sind für die Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. 4. Handlungskompetenz als Begriff, der die ersten drei genannten Kompetenzkonzepte umschließt und sich jeweils auf die Anforderungen und Aufgaben eines bestimmten Handlungsfeldes, zum Beispiel eines Berufes, bezieht. 5. Metakompetenzen als Wissen, Strategien oder auch Motivationen, die Erwerb und Anwendung von Kompetenzen in verschiedenen Inhaltsbereichen erleichtern.“ Die Ziele der Allgemeinbildung werden in der Regel so umschrieben, dass sie Kompetenzen im Sinn der Konzepte (1), (3) und (5) umfassen, während sich der unter (2) genannte Typus auf die fachspezifische Bildung bzw. Ausbildung, also die materiale Bildung bezieht und (4) zwischen diesen Extremen anzusiedeln ist, wobei offen bleibt, inwieweit sich die so erworbenen Kompetenzen auch auf andere berufliche Tätigkeiten übertragen lassen. Klieme (ebd.) geht davon aus, dass „Schlüsselkompetenzen“ im Sinn eines allgemeinen Kompetenzbegriffs, also auch die im Rahmen einer „basalen Allgemeinbildung“ erworbenen Fähigkeiten, nur in beschränktem Maß auf unterschiedliche Anwendungsbereiche transferierbar sind. Das Konstrukt der Allgemeinbildung kann also zu Problemen der Plausibilität führen, nämlich dann, wenn die Anforderungen zu unterschiedlich und zu spezifisch sind, als dass es einsichtig wäre, wie diese mit den gleichen, von der Schule attestierten Kompetenzen bewältigt werden könnten. Dass das im Rahmen der Allgemeinbildung erworbene ‚Wissen ދdifferenzierte Sachkenntnis überflüssig macht, ist schwer vermittelbar und setzt gewagte Annahmen voraus. Während eine Qualifizierung
4.4 Das Prüfungswesen in China
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für spezifische Tätigkeitsbereiche auf der Grundlage detaillierter Kenntnisse und Fähigkeiten unmittelbar einsichtig ist, müssen, was die Allgemeinbildung betrifft, gewagte Annahmen über die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, über schulische Erziehung einerseits und Eigenschaften des Erwachsenen andererseits gemacht werden. Das Konstrukt des ‚Generalisten ދmuss erklären, weshalb dieser mehr als andere den Überblick behält, Kreativität und Führungsstärke einbringt, zukünftige Entwicklungen abschätzt, Mitarbeiter motiviert und – schließlich – weshalb spezielle Kenntnisse für ihn entbehrlich sind. Es gilt deutlich zu machen, dass es aufgrund einer besonderen Schulbildung möglich ist, bis in die Tiefen der Persönlichkeit vorzudringen, sodass Schülerinnen und Schüler im späteren Berufsleben den unterschiedlichsten Anforderungen gewachsen sind. Das Konstrukt, dass Allgemeinbildung generelle Führungskompetenzen entwickeln helfe, übt trotz aller Fragwürdigkeiten eine suggestive Wirkung aus. Dazu tragen auch kulturelle Traditionen bei, die jenseits aller empirischen Erwägungen Evidenzen schaffen. Max Weber hat am Beispiel Chinas gezeigt, wie auch willkürliche Bildungskonstrukte im Rahmen kultureller Sinn- und Deutungsschemata zur Selbstverständlichkeit werden und so den Status der Bildungsprivilegierten legitimieren. 4.4 Das Prüfungswesen in China 4.4 Das Prüfungswesen in China In der Arbeit über „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, die in den Jahren 1911 bis 1913 entstanden ist und die 1915/1916 im „Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik“ veröffentlicht wurde, hat sich Max Weber besonders mit dem „Konfuzianismus und Taoismus“ auseinandergesetzt (Weber 1915; Weber 1979). Mit seiner religionssoziologischen Untersuchung ging es Max Weber um die Fragestellung, die ihn seit der Veröffentlichung der berühmten Protestantismusstudie beschäftigte, nämlich wie religiöse und ethische Vorstellungen das Handeln der Menschen bestimmen (Plake 1987). Dass Weber damit eine Gegenposition zum Marxismus bezieht, ist insofern richtig, als er das Paradigma einer ökonomischen Determination der gesellschaftlichen Entwicklung nicht übernimmt (Löwith 1973, 19ff.). Es wäre allerdings ein Missverständnis, würde man ihm eine idealistische Position zuweisen; das Verhältnis von Basis und Überbau kann für Weber durchaus auch so beschaffen sein, dass zeitweilig die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse auf Ideen und Weltanschauungen sowie auf die politische Verfassung eines Landes Einfluss nehmen. Aus Webers Ansatz lässt sich weder ein ökonomisch-materieller noch ein geistig-kultureller Primat ableiten. Es geht ihm darum zu zeigen, welche Wechselwirkungen zwischen positionsgebundenen „materiellen“ Interessen und
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4 Prekäre Wirklichkeiten
den philosophischen bzw. religiösen Systemen, dem standortgebundenen Denken und der Moral bestehen. Sein Programm ist, um es mit einem nachweberianischen Begriff zu benennen, ‚wissenssoziologischދ. Erziehungs- und bildungssoziologische Ansätze finden sich bei Weber im gesamten Werk verstreut, hauptsächlich aber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ sowie in der Arbeit „Konfuzianismus und Taoismus“.4 In Webers Analysen kommt der Bildung eine besondere Bedeutung zu, weil sie für ihn eine soziale Formation ist, innerhalb derer Weltwissen weitergegeben und der Sinn von Erkenntnissen und Haltungen zum Ausdruck gebracht wird, weil Bildung also gewissermaßen die ‚irdische ދSeite kosmologischer Entwürfe darstellt und als Schnittstelle zwischen Symbolsystem und Sozialstruktur gesehen werden kann. Das bedeutet unter anderem, dass die Stände, Kasten und Klassen sich durch ein spezifisches Bildungsprogramm in ihrer kulturellen Eigenart reproduzieren. Mit der Bildung wird für Weber ein Habitus anerzogen, der eine innere und eine äußere Haltung umfasst. Das heißt, dass für Weber Habitus nicht nur eine Art des sich Benehmens, des Lebensstils oder der gesellschaftlichen Praxis meint, sondern auch mit einer bestimmten Reflexivität einhergeht (Turner 1999, 63; Moore, a.a.O., 76 ff.). Die so von der nachwachsenden Generation übernommenen Einstellungen, Werte, Orientierungen, Weltsichten und Lebensstile reflektieren gleichzeitig – so Weber – die ökonomische Situation und die politischen Ziele einer Großgruppe. Die ‚weltlichen ދInteressen eines Kollektivs richten sich auf die Ausgestaltung des Bildungswesens. Bildungsinhalte ‚passenދ zu den Überzeugungen einer Gruppe, zu ihrem Selbstbild, ihren Konstrukten von Macht und sozialer Ungleichheit sowie ihren Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft. In China lag die Hegemonialkultur in den Händen der Literaten, die auch als Ratgeber von Fürsten und Kaisern großes Ansehen genossen. Ob dieser Einfluss anfänglich mit der Monopolisierung funktional wichtiger naturwissenschaftlicher Kenntnisse zusammenhing, lässt Weber offen. Schon in der Zeit der Han-Dynastie (206 vor Chr. bis 220 nach Chr.) schlossen sich die Literaten zusammen und brachten zunehmend die Auslese und Beförderung der Beamten unter ihre Kontrolle. Der zu dieser Zeit sich konsolidierende chinesische Einheitsstaat stützte sich somit auf den Literatenstand, der die Bildungsinhalte festlegte und über das Prüfungswesen die Kriterien für die Inhaberschaft von Staatsämtern bestimmte. Das enge Bündnis zwischen dem Kaiser und den Literaten, das die chinesische Kultur von allen anderen historischen Weltkulturen unterschied, hat nach Webers Darstellung erst ermöglicht, dass sich ein – über lange Phasen stabiles – Gewaltmonopol entwickelte und dass sich die 4
Plake, Klaus, a.a.O., S. 240
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Zentralmacht gegen die Opposition der Stände, besonders des Kriegsadels, durchsetzen konnte (Weber 1987, 259). Das Kartell der Gebildeten steuerte nicht nur den Glauben an überirdische Mächte, sondern verlieh auch der weltlichen Ordnung ihre Legitimität. Mit ihren Mitteln der Sinnstiftung konnten die Literaten das Herrschaftssystem sowohl stabilisieren als auch – bei Bedarf – destabilisieren. Sie verstanden sich als Wächter einer Tradition, die immer wieder neu auf historische Ereignisse und politische Entscheidungen hin interpretiert werden musste. Im chinesischen Einheitsstaat wurde der Konfuzianismus, der mit seinen pragmatischen Theorien der Politik und der Lebensführung auf die Befriedung des Reiches abzielte, zur allseits herrschenden Staatsdoktrin. Wer sich durch Kenntnis der klassischen konfuzianischen Schriften sowie bei der Pflege der schönen Künste Verdienste erworben und sein Wissen und seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, galt als geeigneter Kandidat für die von den Gebildeten monopolisierte Verwaltung. Das System der staatlichen Administration selbst war von Literaten hervorgebracht und entwickelt worden, ebenso wie die Berufs- und Standesethik der Beamten. Obwohl es in den meisten Epochen der chinesischen Geschichte eine Überzahl an examinierten Amtsanwärtern gab, von denen viele keine Aussicht hatten, je ein Amt übernehmen zu können, blieb diese Standesethik unangefochten. Auch die lizenzierten Kandidaten, die selbst kein Amt hatten, rechneten sich zum Literatenstand und empfanden sich als Träger der chinesischen Kultur. Um in den Kreis der Gebildeten aufgenommen zu werden, musste sich der Aspirant durch zentral ausgeschriebene und institutionell geregelte Prüfungen qualifizieren. Das im 7. Jahrhundert n. Chr. von der Tތang-Dynastie eingerichtete und erst 1905 abgeschaffte Prüfungssystem war hierarchisch aufgebaut, wobei der Erfolg bei den höchsten Examina einen so außergewöhnlichen Status begründete, dass ganze Provinzen von dem Ruhm eines aus ihren Reihen hervorgegangen Prüflings profitierten. Das Prüfungssystem war, obwohl von den Literaten monopolisiert, dem Prinzip nach universalistisch, was den Anspruch zum Ausdruck brachte, dass der Bildungskanon ein für alle verbindliches System des Wissens, des Glaubens und der Werte darstellt. Die Zulassung zur Prüfung richtete sich also grundsätzlich nicht nach der Herkunft, auch wenn es mehr oder weniger rigide Vorschriften gab, mit denen die Söhne von weniger angesehenen Berufsgruppen ausgeschlossen wurden.5 Im 14. Jahrhundert, zur Zeit der Ming5
In der Sinologie ist es allerdings umstritten, ob die Prüfungen – von den erwähnten Ausnahmen abgesehen – für alle Talentierten offen waren. Vor der Formalisierung des Prüfungssystems durch die Tތang-Dynastie scheinen es eher die einflussreichen Clans gewesen zu sein, die in der Lage waren, ihren Kindern eine literarische Bildung zukommen zu lassen. Vgl. WeberSchäfer 1983, 204; siehe auch Zingerle 1972, 82 f.
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Dynastie, wurde die Forderung nach ‚Chancengleichheit ދerneuert und mit besonderer Heftigkeit vertreten. Gleichzeitig wurde der Zugang zu Beamtenpositionen in der Weise neu geregelt, dass nur noch Examinierte sich bewerben durften. Im Zuge dieser Entwicklung kam es dazu, dass die öffentlichen Kollegien, die sich in einem maroden Zustand befanden, wieder aufgebaut und dass für Studierende Stipendien in Form von Reisernte-Pfründen geschaffen wurden, um die finanzielle Belastung ärmerer Familien zu mildern. Darüber hinaus war die politische Führung darauf bedacht, die regionalen Unterschiede hinsichtlich der Zahl erfolgreicher Prüfungskandidaten auszugleichen: Weil der kulturell und ökonomisch führende Süden gegenüber dem militärisch wichtigen Norden mehr geeignete Kandidaten hervorbrachte, wurden Maßnahmen getroffen, um der strukturellen Benachteiligung des Nordens entgegenzuwirken. Nachdem zunächst die Prüfer bestraft wurden, die einen Kandidaten aus dem Süden des Reiches an erster Stelle platzierten, wurde schließlich eine Lösung dahingehend gefunden, dass für die Regionen spezielle Listen aufgestellt wurden, die sie mit ‚ihren ދBewerbern besetzen konnten (Weber, a.a.O., 258). Inklusions- und Exklusionsprozesse, so geht aus Webers Konfuzianismus-Studie hervor, standen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Universalistische Leistungs- und Prüfungsnormen führten zu Widerständen bei solchen Gruppen, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht über Bildungszertifikate absichern konnten. In längeren Friedensperioden konnten sich allgemeinverbindliche Leistungsnormen durchsetzen. Zu Zeiten militärischer Bedrohung dagegen wurden der Kriegerkaste Privilegien eingeräumt, was sich unter anderem auch bei der Studienplatzvergabe auswirkte. Eine andere Form der Rücknahme universalistischer Leistungsnormen bestand darin, dass für die Angehörigen wohlhabender Familien die Möglichkeit geschaffen wurde, sich einen Studienplatz in einem Kollegium zu kaufen. Periodische Abweichungen vom meritokratischen Prüfungssystem verfolgten also das Ziel, der Unzufriedenheit derer zu begegnen, die sich bereits in einer herausgehobenen gesellschaftlichen Position befanden. Schon während der Ming-Dynastie kam es zu Zugeständnissen gegenüber denjenigen Gruppen der chinesischen Gesellschaft, die sich der Gefahr ausgesetzt sahen, dass sie ihre Macht und ihren Reichtum nicht an ihre Kinder weitergeben könnten. In der Zeit der Mandschu-Herrschaft, die Weber nur noch kursorisch berücksichtigt, wurden weitere Rücknahmen des universalistischen Kredentialismus vollzogen, indem sich der Ämterkauf zu einem alternativen Allokationsmechanismus entwickelte und in manchen Epochen bis zur Hälfte der Beamtenpositionen nicht auf der
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Grundlage von Bildungsqualifikationen, sondern finanzieller Zuwendungen an den Staat eingenommen wurde.6 Schon vor der Ausdifferenzierung eines Bildungssystems in China galt die Erziehung der Einübung von persönlichen Tugenden, und zwar hauptsächlich der Tugend der Selbstbeherrschung. Die Schule zielte in China ebenfalls auf die Entwicklung charakterlicher Eigenschaften ab, die jedoch durch das Studium traditionsreicher Schriften, also durch die Aneignung von Bildungsgütern, erworben werden sollten. Weber weist darauf hin, dass die Bedeutung des Literarischen, die das Schulwesen bis in die Moderne hinein kennzeichnete, mit den Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift zusammenhängt, deren Beherrschung ja mit einem im Vergleich zur Buchstabenschrift viel höheren Aufwand verbunden ist (Weber, a.a.O., 261ff.). Nach Weber ist es gerade die Trennung der chinesischen Schrift von der gesprochenen Sprache, die der Literatur eine eigentümliche Würde und Faszination verlieh, was seiner Ansicht nach auch die Pflege der Kalligrafie erklärt. Im Zentrum des chinesischen Bildungswesens steht der literarische Ausdruck, nicht die gesprochene Rede, mithin auch die Verskunst sowie die Kenntnis der Klassiker. Eine weitere Eigentümlichkeit der chinesischen Bildungstradition ist nach Weber das Fehlen der Mathematik, die in frühen pädagogischen Schriften noch Erwähnung fand, später aber ganz zurückgedrängt wurde. Kaufmännisches Rechnen musste in den Betrieben selbst erlernt werden. Ebenso wurden Naturwissenschaften nicht unterrichtet. Vielmehr konzentrierte sich das Bildungswesen, obwohl es nicht auf religiöse Ämter vorbereitete, auf Philologie und Ästhetik. Auch Rechtskenntnisse wurden den Eleven nicht vermittelt, was deshalb so erstaunlich ist, weil die Bildung für hohe Positionen der Verwaltung ‚qualifizierteދ. Es gab also keine fachliche Vorbereitung auf spätere berufliche Aufgaben, keine Vermittlung von Wissensbeständen, die geeignet gewesen wären, administrative Verfahren effizient und rechtsverbindlich durchzuführen. Das chinesische Bildungswesen fokussierte nicht auf die Funktionen, die den späteren Mandarin erwarteten, obwohl die Diplomierten bei erfolgreichem Abschluss entsprechender Prüfungen höchste Staatsämter übernehmen konnten und zum Teil für die Verwaltung ganzer Provinzen zuständig waren. Selbst die Waffenkunst war mit der Schaffung des Einheitsstaates nicht mehr Gegenstand der Erziehung. Das ritterlich-aristokratische Element, also die Durchführung von Turnieren, die Leibeserziehung überhaupt und die Pflege kriegstechnisch relevanter Sportarten kommt in den von Weber beschriebenen Epochen der chinesischen Bildungsgeschichte nicht vor. 6
Zwischen 1764 und 1895 lag der Anteil der Beamten, die durch Ämterkauf zu ihrer Position gekommen waren, gegenüber den regulären Amtsinhabern zwischen 22,4% und 51,2 %. Vgl. Ping-ti Ho 1962, 49 f.; zitiert nach Weber-Schäfer, Peter, a.a.O., 207
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Zur besseren gesellschaftlichen Einordnung von Bildungssystemen entwickelt Max Weber, ausgehend von den ‚Zwecken ދder Erziehung, drei Idealtypen (Weber 1987): 1.
2.
3.
Charismatische Erziehung: Der Erziehungszweck besteht in der Erweckung von Charisma, das – Weber zufolge – im Grunde genommen gar nicht zu vermitteln ist, sondern nur durch besondere Prozeduren, denen junge Menschen unterzogen werden, zum Vorschein gebracht werden kann. Die Erziehung geht also von magischen Gaben und „Heldenqualitäten“ aus, die der Zögling mitbringt, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Der Pädagoge verändert nicht; er bringt nur das hervor, was schon vorhanden ist. Seine Rolle, die im Algemeinen mit der des Schamanen zusammenfällt, besteht darin, durch Askese und Mutproben diese Eigenschaften festzustellen. Die Prüfungen, denen sich der Zögling zu unterwerfen hat, können sich über einen längeren Zeitraum der Läuterung erstrecken. Ihr Abschluss wird dramatisch gestaltet. Die Entdeckung bzw. der Nachweis des Charismas verbindet sich nach Weber mehr oder weniger konkret mit der Vorstellung der Wiedergeburt, die möglicherweise rituell inszeniert wird. Der Gedanke der Seelenwanderung lässt nach Zeichen suchen, die auf ein früheres Leben schließen lassen und die sich im Charisma offenbaren. Das heißt, dass bestimmte Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale vor dem Hintergrund einer früheren Existenz eine besondere Bedeutung erhalten. Der Ritus der Wiedergeburt soll deutlich machen, dass – im weitesten Sinn – der „Geist“ eines Verstorbenen durch den Vorgang der Erziehung auf einen anderen übertragen und offenkundig gemacht wird. Fachschulung: Den Gegenpol zur charismatischen Erziehung bildet die Facherziehung oder Fachschulung, bei der es darauf ankommt, dem Zögling die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die er für seine – so Weber – „praktische Brauchbarkeit“ im Berufsleben, zum Beispiel in der öffentlichen Verwaltung, im Geschäftsleben und in technischen Berufen benötigt. Eine solche Ausbildung erfordert nach Weber (er selbst verwendet den Begriff der „Abrichtung“) keine Inspiration, keine besonderen persönlichen Eigenschaften, insbesondere keine Talente; jeder kann sich einer Fachschulung unterziehen, wenngleich der Erfolg unterschiedlich sein mag. Kultivationspädagogik: Zwischen diesen Extremen, der Erweckung des Charismas auf der einen und der Fachschulung auf der anderen Seite, sieht Weber einen Typus der Erziehung, der auf die Lebensführung und die Persönlichkeit des Zöglings abzielt. Im Mittelpunkt steht die von gesellschaftlichen Werten abgeleitete Vorstellung eines „Kulturmenschen“. Die Bildung ist dementsprechend allgemeiner Natur und richtet sich nicht
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auf bestimmte berufliche Tätigkeitsfelder. Dem Schüler sollen die Umgangsformen und Verhaltensstandards sowie die ethischen Vorstellungen seiner Schicht, seines Standes oder seiner Klasse vermittelt werden. In den Prüfungen wird festgestellt, ob der Prüfling eine als erwünscht geltende Haltung oder Gesinnung entwickelt hat. Nach Weber konzentrierte sich das chinesische Bildungssystem auf Ziele und Methoden, die dem dritten Typus, also der Kultivationspädagogik, zuzuordnen sind. Sie fokussierte auf das Idealbild eines Menschen, der für unterschiedliche Aufgaben befähigt sein sollte, und zwar auf der Grundlage eines durch das Studium klassischer Schriften und der Pflege der Künste induzierten Reifungsprozesses. Dementsprechend rekrutierte sich das chinesische Beamtentum aus Schriftgelehrten und Dichtern. Die Facherziehung galt demgegenüber als unwürdig. Nach konfuzianischer Lehre sollte der Mensch Selbstzweck sein und sich nicht zum Werkzeug degradieren lassen, indem er sich den Notwendigkeiten des Alltags anpasst. Fachliche Spezialisierung und Fachschulung, ja das Ethos der Werktätigkeit, der Verwandlung der Welt durch Arbeit, die nach Weber für den Protestantismus so kennzeichnend waren, gehörten nicht zu den Idealen der chinesischen Literatenbildung. Das Nützliche, vor allem auch das ökonomisch Nützliche, war zu gewöhnlich, als dass es sich mit dem Ansehen des Gebildeten und damit auch des vornehmen Beamten vertragen hätte (Weber-Schäfer 1983, 213). Allerdings kam die hochentwickelte chinesische Wirtschaft, man denke etwa an die großen Flussregulierungs- und Bewässerungssysteme oder die staatlichen Manufakturen, ohne Fachwissen nicht aus. Auch die Verwaltung des im Vergleich zu europäischen Verhältnissen riesigen Staatswesens bedurfte komplizierter Verfahren, die ohne Spezialkenntnisse nicht zu bewältigen waren. In den durch Weber angeregten Forschungsarbeiten zur Sozialgeschichte Chinas hat sich gezeigt (Weber-Schäfer, a.a.O., 214), dass die Beamten an ihrem Einsatzort nichtbeamtete Berater vorfanden, die sie befragen konnten, um sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Die Mandarine mit Regierungsverantwortung stellten auf eigene Rechnung Privatsekretäre ein, die über das notwendige Fachwissen verfügten. Das Problem mangelnder Kompetenz wurde also in der Weise gelöst, dass der gebildete Literat Entscheidungen von größter Reichweite traf, dass er aber bei Fragen, die einer genaueren Sachkenntnis bedurften, sich mit Fachleuten beriet oder auch Aufgaben delegierte. Wenn das von Weber beschriebene chinesische Allokationssystem die Beamten nicht nach fachlicher Eignung auswählte, dann zeigt sich daran, dass der gesellschaftliche Nutzen eines universalistischen Prüfungssystems nicht in der Funktionalität für bestimmte Tätigkeiten zu suchen ist. Im kaiserlichen China
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bestanden die Fähigkeiten, die der Anwärter für hohe und höchste Staatsämter mitbringen musste und die in Prüfungen nachzuweisen waren, in der Kunst des Schönschreibens und dem Verfassen von Gedichten. Auch in China gab es Konstrukte, die zwischen Qualifikation und Funktion eine Verbindung herstellten. Das kalligraphische Kunstwerk und die formvollendete Poesie zum Beispiel sollten bezeugen, dass ihr Schöpfer, also der Prüfling und spätere Mandarin, aufgrund kultivationspädagogischer Übungen von einer Harmonie beseelt war, die nach konfuzianischer Lehre den Herrscher und seine Beamten auszeichnen sollte, und zwar weil man glaubte, dass sie mit der Harmonie des Universums übereinstimme. Aufgabe des Gebildeten war es, den kosmischen Gleichklang aller Kräfte auch in den menschlichen Beziehungen zu realisieren. Die Kenntnis kanonisierter Schriften sollte den kaiserlichen Beamten mit jener Lebensweisheit ausstatten, von der man meinte, dass sie für Führungspositionen unerlässlich sei. Allerdings handelte es sich dabei um vage, nach heutigen Vorstellungen nicht sehr überzeugende Legitimierungen einer nach scholastischen Kriterien geregelten Ämterfolge. Dass die im Rahmen der Literatenbildung erworbenen Kompetenzen wichtiger waren als jede Art von Sachwissen, zum Beispiel auch von juristischen Kenntnissen, verweist auf die Eigenlogik des Allokationssystems, die in der chinesischen Kultur besonders deutlich hervortritt. Das Allokationssystem in China baute auf der un- oder vorbewussten Überzeugung auf, nach der die Kunst der „Weltanpassung“ (Shinohara 1976, 340ff.) durch Bildung erlernt werden kann. Die durch Bildung Qualifizierten zeichneten sich – der Staatsdoktrin des Konfuzianismus folgend – durch charakterliche Eigenschaften aus, die sie besser als andere für Führungsaufgaben in der Administration geeignet erscheinen ließen. Diese Überzeugung hatte den Status einer Selbstverständlichkeit. Sie vereinte das Herrscherhaus und die Staatsbürokratie mit breiten Schichten der Bevölkerung. Der Verwaltungsapparat war also bis in die oberste Spitze durch Bildung legitimiert. Das schloss nicht aus, dass der Volksglaube – so Weber – der kulturpädagogischen Bildung als Legitimationsgrundlage einer traditionalen Herrschaft noch charismatische Eigenschaften hinzufügte: Aus der Sicht der Ungebildeten waren es keineswegs nur Kultivationseffekte, die in den Prüfungen festgestellt wurden; man glaubte, dass sie auch dem Nachweis magischer Begabungen gelten würden, was selbstverständlich den Respekt und die Konformitätsbereitschaft noch erhöhte (Weber, a.a.O., 323). Der wichtigste gesellschaftspolitische Nutzen des chinesischen Prüfungssystems bestand jedoch darin, dass es die Möglichkeit bot, Allokationsprobleme in konsensfähiger Weise zu lösen. Generell ist festzustellen, dass alle Sozialsysteme zum Zweck ihrer Reproduktion ausscheidende Positionsinhaber durch neue ersetzen müssen. Positionen sind jedoch in unterschiedlichem Maß mit
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Macht, Prestige und ökonomischen Gratifikationen ausgestattet. Die Frage, wie Menschen auf unterschiedlich attraktive Positionen zu verteilen sind, ist also mit einem erheblichen Konfliktpotential verbunden. Eine Möglichkeit, dieses Verteilungsproblem zu lösen, besteht in der Vererbung von Positionen. Dabei ergeben sich aber offensichtliche Gefahren: Die Zuschreibung von sozialen Positionen nach askriptiven Merkmalen, zum Beispiel nach Verwandtschaftsverhältnissen, bringt die Gefahr mit sich, dass sich die gesellschaftlichen Unterschiede vertiefen, weil mit dem System der Positionsvererbung Kollektive von hoher Kohäsion entstehen, die durch Abstammung und materielle Interessen zusammengehalten werden. Außerdem ergibt sich das Problem, was mit neuen Positionen geschehen soll, für die es noch keine Präzedenzfälle der verwandtschaftlichen Nachfolge gibt. Das System der Askription ist starr gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen; die erbrechtliche Weitergabe von Berufen und Ämtern kann nur dann störungsfrei vor sich gehen, wenn die Organisation der Positionen, das heißt ihre Zahl, ihre gegenseitige Zuordnung, vor allem aber ihr hierarchisches Verhältnis so bleiben, wie sie sind, und wenn die Zahl der zuzuordnenden Personen sich nicht dramatisch verändert. Die chinesische Gesellschaft ist, was die Ämter einer sehr umfangreichen staatlichen Bürokratie angeht, nicht diesen Weg gegangen, sondern hat die Besetzung hoher Verwaltungspositionen von der Examensqualifikation abhängig gemacht. Damit sind „die Institutionen der Beamtenauslese und -anstellung ... auf dem Gebiet praktischer Staatsorganisation das am meisten beachtete ... Erbe des traditionalen Chinas ...“ (Zingerle 1972, 78). Die prinzipielle Zugangsoffenheit des Staatsdienstes wurde zwar immer wieder durch Privilegien für einflussreiche Gruppen und Kollektive eingeschränkt; nichtsdestoweniger war die Prüfung der korrekte Weg, um in eine Beamtenposition zu gelangen. Es ist beachtenswert, dass sich dieses System über viele Jahrhunderte behauptete, ohne dass es von der Kriegerkaste und von wohlhabenden Kaufleuten ganz beseitigt werden konnte, und dass sich in den okzidentalen Gesellschaften ähnliche Strukturen erst sehr viel später, nämlich mit dem Zugang bürgerlicher Gebildeter zum ‚öffentlichen Dienst ދentwickelten. Die Parallelen zwischen dem kultivationspädagogisch geprägten Bildungswesen im Wilhelminischen Kaiserreich und der klassischen konfuzianischen Bildung sind auch Max Weber aufgefallen (Weber, a.a.O., 260). Ähnlich wie im kaiserlichen China hat die Durchsetzung universalistischer Selektionsprinzipien auf der Grundlage von Schulleistungen auch in Deutschland Widerstände der privilegierten Stände hervorgerufen, die aber im 19. Jahrhundert die Entwicklung nicht mehr umkehren konnten (Titze 1998). Für China kann von einer befriedenden Wirkung des Allokationssystems ausgegangen werden, auch wenn Neid und Konkurrenz unter den Ständen und unter den Amtsanwärtern selbst keineswegs ausgeschlossen waren. Das chine-
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sische Berechtigungssystem bewährte sich insofern, als in jeder Generation – entsprechend den Prüfungsleistungen – die Positionen im Verwaltungsapparat neu verteilt wurden. Eine Gegenmacht, die der Zentralgewalt durch Pfründeninhaber entstanden wäre, konnte verhindert werden, indem der Kaiser das prinzipielle Zugriffsrecht auf die Ämter behielt, diese aber nach Maßgabe der Examensleistungen verteilte. 4.5 Belegbare Leistungen: Zur Relevanz von Zertifikaten 4.5 Belegbare Leistungen: Zur Relevanz von Zertifikaten Webers Chinastudie hat gezeigt, dass ein Allokationssystem auf unterschiedlichen Auswahlkriterien beruhen kann und dass die Beziehungen, die zwischen diesen und den funktionalen Erfordernissen des Berufs hergestellt werden, mehr oder weniger überzeugende Konstrukte sind. Dass das Allokationssystem den gesellschaftlichen Strukturen über das individuelle Leben hinaus Dauer verleiht, also die kontinuierliche Besetzung von Positionen sicherstellt, heißt also nicht, dass es eine reale Entsprechung zwischen Verteilungskriterium und beruflichen Anforderungen gibt. Das Beispiel Chinas macht vielmehr deutlich, dass selbst bei einer sehr problematischen Verbindung zwischen anerzogener Befähigung und beruflicher Tätigkeit das Allokationssystem erfolgreich arbeiten kann. Konstrukte, die in der einen Gesellschaft keinen Sinn machen würden, können in einer anderen in höchstem Maß plausibel sein und die Zuweisung auch von hochrangigen Positionen konsensfähig machen. Was die Allokation auf der Grundlage von Prüfungen und Zeugnissen angeht, so wird in der modernen Gesellschaft von einer zertifizierten Qualifizierung ausgegangen; worin diese aber besteht, das heißt um welche beruflichen Anforderungen und um welche in der Schule vermittelten Kompetenzen es sich im Einzelnen handelt, ist ein Problem, das einen weiten interpretativen Spielraum eröffnet. Allokationssysteme sind erfolgreich, wenn die Konstrukte, von denen sie ausgehen, glaubwürdig erscheinen. Im kaiserlichen China war man überzeugt, dass diejenigen, die administrative Führungspositionen innehatten, für ihre Aufgaben qualifiziert seien, sofern sie sich in der klassischen Literatur auskannten, die Kunst der Kalligraphie beherrschten und Gedichte nach vorgeschriebenen ästhetischen Kriterien verfassen konnten. Für die gesellschaftlichen Systeme der Gegenwart ergibt sich die Frage, in welchen Sinnkontext die Schule gestellt werden muss, damit man ihre Absolventen für fähig hält, den Anforderungen des Beschäftigungssystems zu entsprechen. Webers Idealtypen der Erziehung, die charismatische Erziehung, die Kultivationspädagogik und die Fachschulung, weisen auch eine historische Dimension auf, und zwar nicht nur in dem Sinn, dass die charismatische Er-
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ziehung als besonders archaisch zu gelten hat, sondern auch, dass nach seiner Ansicht die „spezialistische Fachschulung“ der modernen Gesellschaftsverfassung am meisten entspricht. Die Facherziehung – so heißt es – zielt auf die praktische „Brauchbarkeit für Verwaltungszwecke“ (Weber, a.a.O., 303) ab. Da Weber im gleichen Zusammenhang aber auch die Ausbildung von Medizinern und Ingenieuren anspricht, meint er offenbar nicht nur die für administrative Aufgaben benötigten Kenntnisse, sondern das Expertenwissen überhaupt, das in komplexer werdenden Funktionszusammenhängen, im „ehernen Gehäuse“ einer kapitalistisch verfassten Industriegesellschaft, erforderlich wird. Weber konstatiert diese Entwicklung nicht ohne kritische Distanz, was zum Beispiel in der Verwendung des Wortes „abrichten“ zum Ausdruck kommt. Trotzdem ist nach seiner Ansicht die Fachqualifikation das Einzige, was im Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung Bestand hat. Ist Webers Gesellschaftsdiagnose auch heute noch zutreffend? Weber Recht zu geben hieße, dass auch im Kontext der schulischen Allokation nur noch die Vermittlung von solchen Kenntnissen und Fähigkeiten zählen würde, die sich im Sinn von konkreten Erfordernissen des Beschäftigungssystems als brauchbar erweisen. Stattdessen sind schon die Anforderungen, die Technik und Wirtschaft an den Einzelnen stellen, nicht exakt zu bestimmen. Erst recht ist der zukünftige Bedarf an Qualifikationen, der, wenn es nur nach sachlichen Notwendigkeiten ginge, das Curriculum bestimmen müsste, nicht vorhersagbar. Dementsprechend sind die Vorstellungen von dem, was die Schule dazu beitragen kann, den gegenwärtigen oder zukünftigen Bedarf an Qualifikationen und Kompetenzen zu decken, keineswegs empirisch begründet, sondern beruhen ebenfalls auf kulturgebundenen Sinnkontexten und pragmatischen Plausibilitäten. Daher überrascht es nicht, dass sich den Prognosen Webers zum Trotz kultivationspädagogische Konstrukte durchaus behaupten konnten. Denn so wichtig die fachliche Ausrichtung in der Außendarstellung der Schule sein mag, so stellt sie keine hinreichende Legitimationsgrundlage für das Bildungswesen dar. Besonders solche Schulen, die qualifizierte Abschlüsse vergeben, nehmen für sich in Anspruch, über die Vermittlung von Fachkenntnissen hinaus erziehend und bildend zu wirken. Wenn begründet werden soll, weshalb Absolventen einer bestimmten Schule oder eines bestimmten Schultyps für Karrieren in Ausbildungs- oder Beschäftigungssystemen besonders geeignet seien, so wird nicht zuletzt auf Eigenschaften der Persönlichkeit Bezug genommen, die sich – dem Konstrukt nach – im Laufe der Schulzeit und unter dem Einfluss der Schule entwickeln und die – jenseits von Fachkenntnissen – die Gewähr dafür bieten sollen, dass der Betreffende sich bei der Bewältigung komplexer Aufgaben bewährt. Es wird also davon ausgegangen, dass in Schulen nicht nur Facherziehung, sondern auch Kultivationspädagogik stattfindet.
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Allerdings weist die Kultivationspädagogik unterschiedliche Schwerpunkte auf, die nicht alle gleichermaßen zeitgemäß sind. Im Einzelnen sind zu unterscheiden: 1.
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Kanonische Bildung: Der Lernende wird mit den Werken berühmter Persönlichkeiten der Kultur- und Geistesgeschichte vertraut gemacht. Die Kenntnis dieser klassischen Werke soll den Absolventen in die Lage versetzen, im Kreise der Gebildeten über interessenneutrale, niveauvolle Gesprächsgegenstände zu verfügen und in Bezug auf privilegierte gesellschaftliche Gruppen einen Anspruch auf Zugehörigkeit zu untermauern. Gleichzeitig erweist sich der Absolvent als zuverlässig in dem Sinn, dass er seine Loyalität gegenüber der Tradition deutlich macht. Allgemeinbildung: Die Bildung zielt auf kognitive Strukturen ab, die dadurch entwickelt werden sollen, dass in verschiedene Wissensgebiete eingeführt wird. Dabei kann enzyklopädisch oder exemplarisch vorgegangen werden. Die Allgemeinbildung soll dazu dienen, dass sich die Schüler neue Wissensgebiete schneller erschließen und Phänomene besser einordnen können. Menschenbildung und Training: Die Bildung zielt in erster Linie und direkt auf die Entwicklung und Förderung von speziellen Persönlichkeitsmerkmalen ab, und zwar von charakterlichen Eigenschaften sowie von Einstellungen und Fähigkeiten, die für die Persönlichkeit eine besondere Bedeutung haben. Die Mittel dazu können unterschiedlich sein; die Beschäftigung mit Werken der Literatur, die eine bestimmte Gesinnung zum Ausdruck bringen, gehört ebenso dazu wie die musische Erziehung und sportliche Aktivitäten. Auch verschiedene Arten des Psychotrainings, zum Beispiel gruppendynamische Übungen und Rollenspiele, können zu diesem Ziel eingesetzt werden.
Im Gegensatz zum kaiserlichen China, aber auch zum Wilhelminismus zur Zeit Max Webers, hat die Kulturpädagogik als kanonische Bildung ihren Platz im Mittelpunkt des Schulgeschehens verloren. Kultivationspädagogik wird heute ergänzend zur Fachausbildung betrieben, und zwar in erster Linie als Allgemeinbildung und Menschenbildung. Demgegenüber ist die Vermittlung von Fachkenntnissen ein unverzichtbares Ziel des Schulwesens überhaupt. Bildungspolitische und pädagogische Konzepte, nach denen das Fachwissen zugunsten von Erziehung und Bildung vernachlässigt werden könnte, kommen in der Schullandschaft nicht vor. Dass die „Fachabrichtung“, wie Max Weber sie genannt hat, schädlich sei, weil sie der Entwicklung wünschenswerter charakterlicher Eigenschaften im Weg stünde, ist keine in der Öffentlichkeit akzeptable
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Position. Nur die – kulturpädagogisch beeinflusste – Vorstellung, nach der eine frühzeitige Konfrontation mit exaktem und berufsrelevantem Wissen Probleme für die Persönlichkeitsentwicklung mit sich brächte, sofern nicht gleichzeitig eine intensive Geistes- und Charakterbildung stattfände, stößt in Teilen der Öffentlichkeit auf Zustimmung. Daher kann auch die kultivationspädagogische Förderung mehr oder weniger Thema der Schulpolitik sein. Die Bedeutung fachlicher Unterweisung bleibt aber trotzdem unangefochten. Kultivationspädagogik wird in der Öffentlichkeit damit begründet, dass sie als Allgemeinbildung und Menschenbildung gesellschaftlichen Wandel fördere sowie zur Flexibilität des Einzelnen beitrage, während eine zu starke Ausrichtung des Wissens auf berufliche Spezialisierungen nur gesellschaftliche Gegebenheiten reproduziere. Fachmenschentum wirke somit mobilitätshemmend, weil der Einzelne daran gehindert werde, Chancen wahrzunehmen, die jenseits der engen Grenzen seiner Ausbildung liegen. In gleicher Weise wird hervorgehoben, dass Kultivationspädagogik zukunftssicher sei, das heißt, dass auch bei späteren Veränderungen des Arbeitsmarktes und der beruflichen Anforderungsprofile der so Gebildete von seiner Schulzeit profitiere, indem die vermittelten Fähigkeiten in Situationen zum Zuge kämen, die so noch gar nicht absehbar seien. Dazu mag auch die verbreitete pädagogische Lehrmeinung beitragen, dass jeder Erwerbstätige gezwungen sein werde, mehrfach in seinem Berufsleben umzulernen. Mit einer solchen Prognose wird das von Weber als modern angesehene Fachmenschentum problematisch, sofern es den Horizont einschränkt und nur noch für einen speziellen Anwendungsbereich qualifiziert. Stattdessen scheint es für den Einzelnen wichtig zu sein, über Allgemeinbildung zu verfügen, um sich auf neue Strukturen, also zum Beispiel auf einen neuen Arbeitsplatz, einstellen zu können. Das Tempo der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung legt die Schlussfolgerung nahe, dass Allgemeinbildung nicht überflüssig ist, sondern angesichts einer ungewissen Zukunft zur Orientierung benötigt wird (Koch 2007, 122). Eine Ergänzung des Expertenwissens erscheint auch dadurch begründet, dass die Verwaltung des Wissens eine Herausforderung für die Persönlichkeit darstellt. Wenn Erkenntnisse, die gestern richtig waren, morgen falsch sind, wenn also neue Betrachtungsweisen an vertraut erscheinende Gegenstände herangetragen werden, dann ist es plausibel, dass Schulbildung auch solche Elemente umfasst, die direkt die Persönlichkeit und die Identität betreffen. Der Einzelne muss bereit sein, seinen durch Fachwissen geprägten Horizont zu überschreiten und neue Orientierungen zu entwickeln. Er muss als Heranwachsender die Fähigkeit haben, sich in biographischer Hinsicht, also auch dann, wenn der Lebenslauf Brüche aufweist, als Einheit zu empfinden und widersprüchliche Rollenerwartungen in seinem Handeln zu berücksichtigen. Um mit
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der Entwicklung des Beschäftigungssystems Schritt zu halten, scheint es nicht zu genügen, fachlich auf dem neuesten Stand zu sein. Vielmehr geht es darum, sich selbst neu zu definieren. Da niemand sicher sein kann, dass die fachlichen, in Prüfungen festgestellten Kenntnisse genügen, um später als Experte in dem Bereich tätig zu werden, für den man ausgebildet ist, wird in der Öffentlichkeit die Forderung erhoben, die Schule müsse auf die Entwicklung einer stabilen, aber trotzdem für unterschiedlichste Anforderungen offenen Persönlichkeit abzielen. Allgemeinbildung und ‚Menschenbildung ދseien als Ergänzung zum Fachwissen nötig, weil sie den Schülern und Schülerinnen helfen würden, belastbar zu sein und sich kreativ auf neue Entwicklungen einzustellen. Auch kommunikative Fähigkeiten, zum Beispiel andere zu überzeugen und zu motivieren, gewinnen angesichts des technischen, ökonomischen und sozialen Wandels an Bedeutung, was ebenfalls dafür spricht, kulturpädagogische Elemente in den Unterricht aufzunehmen. Außerhalb der Schule gibt es für diejenigen, die bereits berufliche Verantwortung übernommen haben, Angebote im Rahmen des Coaching, um sich gezielt und in konzentrierter Weise diese Fähigkeiten anzueignen. Erwerbstätige aller Altersgruppen, ja auch Firmen und Behörden fragen entsprechende Serviceleistungen nach. Was die Schule angeht, so werden Elemente des klassischen Bildungsprogramms mit neuen Formen des Persönlichkeitstrainings gekoppelt. Der Bildungskanon und andere Gegenstände, Inhalte und Themen der Kultivationspädagogik sind dabei nur ein Mittel, nicht Selbstzweck; im Zentrum stehen Kontaktfähigkeit, Empathiefähigkeit und Kommunikation, die sowohl indirekt, über die Auseinandersetzung mit klassischen Werken der Kunst und der Literatur, oder direkt, in gruppendynamischen Settings, entwickelt werden sollen. Das heißt jedoch nicht, dass Wissensvermittlung und Kultivationspädagogik tatsächlich zu den Ergebnissen führen, von denen die Öffentlichkeit ausgeht. Hopmann stellt zu der sogenannten „Wirkungsprämisse“ fest: „Es wird also nicht geprüft, ob die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler den in sie durch den Lehrplan gesetzten Hoffnungen entspricht, sondern nur punktuell, ob sie zu einem gegebenen Zeitpunkt zu schulischen Leistungen in der Lage sind, die im Erwartungshorizont des Lehrplanes mit angelegt waren ... Ob die außerschulischen oder später gesellschaftlichen Handlungen in irgendeiner Weise den in den schulpolitischen Leitideen oder in den Lehrplänen ausgedrückten Erwartungen entsprechen, ist fraglich ... Natürlich bringen wir aus der Schule einen Grundstock an Kenntnissen und Fertigkeiten mit, den wir späterhin in der einen oder anderen Weise verwenden. In welcher Weise, darüber sagen Lehrpläne nicht viel empirisch Überprüfbares. ... Lehrpläne taugen nicht zur Prognose oder als empirischer Maßstab gesellschaftlichen Wissens oder Handelns“ (Hopmann 1998, 177 f.).
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Nichtsdestoweniger werden derartige Wirkungen unterstellt, ja machen – als Konstrukt – die Schulwirklichkeit aus. Unter der Voraussetzung, dass diese Prozesse stattfinden, erscheint es auch berechtigt, nach Maßgabe von zertifizierter Bildung eine Verteilung auf Stellen des Beschäftigungssystems vorzunehmen. Ob jemand für eine qualifizierte Stelle geeignet ist, hängt demnach von der Schule selbst sowie von der Zeit ab, die er in ihr verbracht hat. Der Einfluss der Schule setzt – so die implizite Voraussetzung – einen Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung in Gang, der kontinuierlich und kumulativ verläuft, sodass derjenige, der länger die Schule besucht hat, in einem höheren Maß über die erwünschten Eigenschaften verfügt als andere. Mehr Jahre in der Schule zugebracht zu haben bedeutet, umfassender gebildet und damit für unterschiedliche berufliche Tätigkeiten besser gerüstet zu sein. Der kultivationspädagogische Kredentialismus setzt einen standardisierten, bei den Schülerinnen und Schülern analog verlaufenden und auch in einzelnen Zeitabschnitten vergleichbaren Prozess der Aneignung allgemeiner Persönlichkeitsmerkmale voraus, sodass nicht die Persönlichkeit selbst zur Disposition steht, sondern es genügt, die Zeit zu erfassen, über die der Bewerber für eine bestimmte Position diesem Einfluss ausgesetzt war. Diese Art eines nach Zeitabschnitten zu bemessenden Systems von Berechtigungen widerspricht der Vorstellung eines subjektiven Reifungsprozesses, nach der die Schule lediglich ein Potenzial von Anregungen bereitstellt, die jeweils individuell gedeutet und im Rahmen einer sich selbst steuernden Entwicklung genutzt werden. Gerade solche Bildungsinstitutionen, die kultivationspädagogische Zielsetzungen besonders betonen, befinden sich damit in einem Dilemma. Einerseits müssen sie bezüglich der bei ihnen erworbenen Abschlüsse Ansprüche geltend machen, die – notwendigerweise verallgemeinernd – sich auf das Niveau eines zeitlich begrenzten und standardisierten Bildungsprozesses beziehen. Andererseits distanzieren sie sich von einer mechanistischen, verallgemeinernden „objektivistischen“ Auffassung von Erziehung, nach der „Erziehungsphänomene wie objektive Gegebenheiten aufzufassen sind, die man durch Beobachtung ,von außen‘ studieren kann, ohne die Einstellungen der Individuen zu diesen Erscheinungen zu berücksichtigen“ (Lehner 1998, 54). Zu dieser subjektivistischen Auffassung von Erziehung und Bildung gehört auch, dass die Bedeutung von Bildungseffekten betont wird, die in keinem direkten Zusammenhang zum regulären Unterricht stehen. Das heißt, dass die Schule das Interesse der Öffentlichkeit auf pädagogisch relevante Ereignisse und Erlebnisse fokussiert, von denen postuliert wird, dass sie, weil sie außerhalb der Routine zustande kämen, besonders wirksam seien. Obwohl sich die beglaubigten, also in den Zeugnissen ausgewiesenen Leistungen in erster Linie auf Unterrichtsfächer und auf die Unterrichtsdauer beziehen, nehmen kultivationspädagogisch
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ambitionierte Schulen eine umfassende, das heißt auf unterschiedliche Lebenssphären bezogene Förderung für sich in Anspruch. Dass zum Beispiel Freizeitaktivitäten im Rahmen von sportlichen Wettkämpfen, Konzerten, Theateraufführungen, Clubs und ‚Arbeitsgemeinschaften ދeine allokationsbezogene Bedeutung haben, ist dabei eine implizite Voraussetzung. Schulen, die es sich leisten können, extracurriculare Angebote zu machen, um damit spezielle Erlebnisqualitäten zu produzieren, behaupten, bei der Bildung der Persönlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler erfolgreicher zu sein als andere. Die Plausibilität dieses Konstrukts wird auch von der Öffentlichkeit nachvollzogen. So gilt es als legitim, wenn Absolventen von Schulen, die einen ‚ganzheitlichen ދAnsatz verfolgen, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Je mehr – dem Konstrukt nach – Schulen mit ihren Impulsen auf einen Prozess der Bildung und Selbstbildung, das heißt auf die gesamte Persönlichkeit einwirken, und zwar nicht nur im Unterricht selbst, sondern auch außerhalb des Unterrichts, umso mehr wird von den so Gebildeten angenommen, dass sie allgemein menschliche und komplexe berufliche Herausforderungen besser bewältigen können. Ähnlich dem konfuzianischen Bildungskonzept müssen die Schulabgänger dieser Schulen in den herkömmlichen Fächern keinen höheren Wissensstand aufweisen; die Qualität der Bildungsinstitution macht sich nach diesem Konstrukt auch dort bemerkbar, wo Noten und Wissenstests nichts aussagen. Dem kultivationspädagogischen Anspruch nach verbessert die Schule die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil sie mit einer Fülle von Anregungen die charakterliche und kognitive Entwicklung sowie die reflexive und sprachliche Kompetenz fördert und Schülerinnen und Schüler – unter dem Aspekt des Beschäftigungssystems – zu besonders wertvollen Mitarbeitern macht. Kultivationspädagogik ist also – dem eigenen Verständnis nach – funktional in Hinblick auf die Anforderungen, die das Beschäftigungssystem stellt, auch wenn eine enge instrumentelle Ausrichtung abgelehnt und die ‚Selbstwerdung ދdes Individuums als Person in den Vordergrund gestellt wird. Die Objektivierung dieses Reifungsprozesses erfolgt nichtsdestoweniger nach Kriterien der Schulbesuchsdauer und der Noten. Nicht nur im kaiserlichen China, auch in den westlichen Kulturen bestehen tief verwurzelte Vorstellungen in Hinblick auf das, was Schule und Bildung bei Schülerinnen und Schülern bewirkt. Die Folgen von Erziehung und Unterricht werden nur in dem Umfang registriert, wie sie innerhalb des Spektrums liegen, das die pädagogisch-didaktische Nomenklatur der Schule, basierend auf kulturellen Überzeugungen, eröffnet. Die Kultur steuert die Wahrnehmung der Bildungswirkungen durch Theorien und Idealbilder, die den Vorgängen in der Schule einen konkreten Sinn geben. Die Selbstverständlichkeit, mit der die im Bildungswesen verwendeten Konzepte von pädagogischen Prozessen und Wirkungszusammenhängen als Beschreibungen der Wirklichkeit angesehen werden,
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zeigt, dass Konstrukte der Schule nicht von einem kulturellen Hintergrund, der Deutungsschemata nahe legt und plausibel macht, losgelöst werden können. Auch die Zielsetzungen allgemeinbildender Schulen liegen im Bereich solcher Selbstverständlichkeiten. Daher ist auch die prinzipielle Erreichbarkeit von Bildungszielen, und zwar mit den Mitteln der Schule, in der Öffentlichkeit kein Thema. Die kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf denen die Schule aufbaut, geben viel Freiraum für die Maßnahmen und Aktivitäten, die als erziehend und bildend gelten. Vor dem Hintergrund eines breiten und diffusen gesellschaftlichen Konsenses erscheint vieles, was als Mittel eingesetzt wird, evident. Pädagogische Vernunft kann eingefordert werden, solange die Erziehungs- und Bildungsprogramme den allgemeinen Konsens nicht verlassen, zumal wenn es keine Erkenntnisse und Überzeugungen gibt, die derartige Konstrukte in Frage stellen. Eine Schule veranstaltet zum Beispiel einen Langstreckenlauf, um Schülern zu zeigen, dass sie mehr leisten können, als sie zunächst angenommen haben. Die weiterreichenden Wirkungen dieser Maßnahme sollen darin bestehen, dass sich die Schüler als Erwachsene ambitionierte Ziele setzen und sich nicht von Bequemlichkeiten und falschen Erwartungen leiten lassen. Die Maßnahme des Langstreckenlaufs gilt solange als pädagogisch, wie an derartige Folgen auch geglaubt wird. Wären Evidenzen vorhanden, die den pädagogischen Nutzenerwartungen widersprächen, so gälte der Langstreckenlauf nicht als ein Mittel der Erziehung, sondern als willkürliche ‚Quälereiދ. Trotz der kulturellen Selbstverständlichkeiten, in die das pädagogische Geschehen im Allgemeinen eingebettet ist, gibt es für die kultivationspädagogisch ausgerichteten Bildungsorganisationen auch Legitimationsprobleme, da die von ihnen attestierte ‚Reife ދschwer zu belegen ist. Dementsprechend muss von der Schule, aber auch von Schulträgern und von politischen Instanzen, vermieden werden, dass sie einen ‚Beweis ދfür eine Persönlichkeitsentwicklung antreten müssen, von der die Schule behauptet, sie herbeigeführt oder gefördert zu haben. Daher dürfen auch die Qualitäten, von denen man meint, dass sie in der Schule durch Formung der Persönlichkeit bzw. Förderung der Persönlichkeitsentwicklung herbeigeführt werden könnten, in offiziellen, allgemein zugänglichen und verbreiteten Verlautbarungen nicht konkret benannt werden. Jede Erklärung zum Wert der Bildung, sofern sie über Allgemeinplätze hinausginge, würde die Beteiligten, die Eltern, die Lehrer, die Schülerinnen und Schüler, die Schulaufsichtsbehörden, ja auch die Betriebe als ‚Abnehmer ދvon ‚Bildung ދin eine schwierige Beweislage bringen. Wenn es darauf ankäme, eine Qualifizierung zu belegen, von der behauptet wird, dass sie durch kultivationspädagogische Aktivitäten erreicht wurde, gerieten gerade die Schulen mit dem höchsten Bildungsanspruch in Erklärungsnot. Das Problem, wie bei Prüfungen derartige Merkmale
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und Verhaltenseigenschaften festgestellt, beurteilt oder gewichtet werden und wie sie in abschließenden Zertifizierungen der Schule zum Ausdruck kommen sollen, und schließlich, welche dieser Eigenschaften in Bewerbungsverfahren ins Gewicht fallen, ist nicht lösbar und muss daher aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten werden. Gerade Schulen mit hohem Ansehen sind es, die kultivationspädagogische Ziele in den Vordergrund stellen. Ihre Reputation, die sich aus ihrem erzieherischen Anspruch sowie aus der sozialen Herkunft ihrer Schülerinnen und Schüler ergibt, sorgt dafür, dass ihren Wirkungsversprechen geglaubt wird. Auf der Grundlage einer solchen Reputation sind vielfach Belege für die Wirkung von Bildungskonzepten sowie ihre lebenspraktische Anwendbarkeit gar nicht erforderlich, zumal wenn Macht und Ansehen der Eltern und der Ehemaligen den empirischen Nachweis der Wirksamkeit durch Plausibilitäten ersetzen. Das Image definiert den Erwartungshorizont der Öffentlichkeit und speziell auch der Bildungsabnehmer. Schulen, die den Eindruck erwecken, dass ihre pädagogische Leistung als Ganze hervorragend ist, genießen Vertrauen. Ihren Verlautbarungen hinsichtlich des Gebrauchswerts von Bildung wird geglaubt, solange nicht das Gegenteil erwiesen ist. Um Ansehen zu erwerben, müssen allerdings die richtigen Signale ausgesandt werden. Als besonders geeignet dürfen Zeichen mit diffusen Bedeutungs,höfen ދgelten, die also Einfluss ausüben, ohne dass sich die Adressaten über die Effekte und deren Ursachen im Klaren sind. Ein Zeichensystem, das diese Ursachen erfüllt, ist der Nimbus, auf den im Kapitel 7 noch weiter einzugehen sein wird. Konstrukte, die sich auf die Effekte der Kultivationspädagogik beziehen, erscheinen unter günstigen Umständen als selbstevident. Gleichwohl bedürfen sie unterstützender publizitätswirksamer Maßnahmen, damit öffentliches Vertrauen nicht in öffentlichen Zweifel umschlägt. Dies gilt besonders dann, wenn es Wettbewerb unter Schulen gibt und Gebrauchswertversprechungen gemacht werden müssen, um am Markt zu bestehen. Wenn Allgemeinbildung einen wichtigen Teil des Angebots ausmacht, dann müssen besondere Anstrengungen unternommen werden, um ein ressourcengünstiges Klima zu erzeugen. Gerade in Konkurrrenzsituationen auf dem Bildungsmarkt kann sich eine Legitimationslücke als Folge nichtbelegbarer Ansprüche ergeben. Die Behauptung, dass die Absolventen einer bestimmten Einrichtung über erwünschte Eigenschaften wie ‚Bildungދ, ‚Persönlichkeitދ, ‚Charakter ދund ‚Kommunikationsfähigkeit ދin ungewöhnlichem Maß verfügten, hat, wenn von einzelnen Anbietern unterschiedliche Ursache-Wirkungszusammenhänge behauptet werden, Validierungsprobleme zur Folge. Pädagogische Konstrukte, etwa dass Schüler im Rahmen künstlerischer Projekte und ‚freier ދArbeitsgemeinschaften eine Kreativität entwickelten, die nicht nur für den Augenblick und in Hinblick auf spezielle
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Anforderungen zum Tragen komme, sondern auch zu schöpferischen, innovativen Leistungen im Rahmen des Berufes, etwa als Ingenieur, Wissenschaftler oder Unternehmer befähige, können ihre Selbstverständlichkeit verlieren und zum Diskussionsthema werden, wenn Wettbewerber auf dem Bildungsmarkt mit anderen Konstrukten und Profilen dagegenhalten und die Position ihres Konkurrenten zu schwächen versuchen. Wie ist eine ‚Qualifizierung durch Bildung ދnachzuweisen? Was nachgewiesen werden kann, ist die Leistungsfähigkeit von Schülern bei Testaufgaben, die konkret genug sind, um eine Vergleichbarkeit zuzulassen. Zu besonderen Legitimationsproblemen kommt es also, wenn Schulen den Anspruch erheben, dass ihre kultivationspädagogischen Beiträge Auswirkungen auf individuelle Reifungsprozesse haben und dass sie die gesamte Biografie positiv beeinflussen. Je mehr Arbeitsmärkte und attraktive Positionen umkämpft sind, umso mehr wird von Schulen (und Hochschulen) bzw. ihren Öffentlichkeitsakteuren behauptet, dass sie über Mittel zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung verfügten, und zwar obwohl tatsächlich die Möglichkeiten eines Nachweises fehlen. Auf den verschärften Wettbewerb ist es auch zurückzuführen, wenn der Kreis der Bildungsnachfrager mit dem Versprechen außergewöhnlicher Wirkungen umworben wird, wenn also von – in der Regel sehr teuren – Privatschulen (sowie von privaten Vorschulen, Kinderhorten und Tagesstätten) behauptet wird, aufgrund einer besonderen Zuwendung und innovativer Methoden Hochbegabungen zu fördern bzw. das Begabungspotential so zu entwickeln, dass spätere Spitzenleistungen in der Berufs- und Arbeitswelt zu erwarten sind. Derartige Übertreibungen führen auch andere Schulen mit kultivationspädagogischem Anspruch in eine prekäre Situation, auf die sie durch Ausgrenzung reagieren, also sich in Verbänden organisieren und ihren Konkurrenten eine randständige Position zuweisen. Nichtsdestoweniger gilt auch für die anerkannten, zum Teil über eine lange Tradition verfügenden Alternativschulen, dass ihre pädagogischen Konstrukte kaum zu belegen sind und dass sie es deshalb vorziehen, Diskussionen auf der Plausibilitätsebene zu belassen. Eine besondere Zuspitzung dieses Validierungsproblems ergibt sich daraus, dass gerade in einem okzidentalen Kontext Bildung und Reife – als das Resultat schulischer Maßnahmen – immer auch als Individuation gedacht werden. Damit aber ist eine Messung, die über Nominalskalenniveau hinausginge, gar nicht möglich. Mit dem Konstrukt, dass die Schule zur Selbstentfaltung und Selbstfindung beitrage, also einen Prozess begleite, der die schon vorhandenen Eigenschaften berücksichtigt und somit Schülerinnen und Schüler nicht gleich macht, kann eine Beurteilung nur auf den Einzelnen bezogen sein. Jede Quantifizierung, die allgemeine Standards und die Vergleichbarkeit mit anderen voraussetzt, verbietet sich von selbst. Daher kann die Zielerreichung nur abstrakt um-
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schrieben, nicht aber konkret geprüft und belegt werden. Eine Operationalisierung bezieht sich dementsprechend auf die Mittel, nicht auf die Ziele: Bewertet wird, wie der Einzelne eine Aufgabe gelöst hat, von der man annimmt, dass sie nur mit Hilfe einer bestimmten wünschenswerten Eigenschaft zu bewältigen sei. Die angestrebten Eigenschaften selbst und der Zweck-MittelZusammenhang bleiben dagegen im Dunkeln. Wenn Schulen, die einen besonders hohen Bildungsanspruch haben, ihre ‚Effizienz ދdurch Klausuren und Tests nicht nachweisen können, dann besteht möglicherweise eine Strategie der Selbstbehauptung darin, Prüfungen und Prüfungswissen, und zwar besonders, sofern sich diese auf Fachkenntnisse beziehen, abzuwerten. Sofern an der Wirksamkeit einzelner Bildungsmaßnahmen und einzelner Schulen öffentlich gezweifelt wird, kommt es unter Umständen zu dem Versuch, der Forderung nach Belegen, wie sie zum Beispiel in Konkurrenzsituationen erhoben wird, offensiv zu begegnen. Für Bildungsorganisationen, die in ihrem ‚Profil ދkultivationspädagogische Zusatzqualifikationen herausstellen, liegt ein ‚snobistischer ދUmgang mit Effizienznachweisen nahe. Gibt es keine Prüfverfahren für Bildungserfolge, so wird möglicherweise eine allgemeine, ‚kulturelle ދDifferenz zur ‚Paukschule ދoder zur ‚Lernfabrik ދoder zum ‚Massenbetrieb ދherausgearbeitet. Der ‚Massenbetrieb ދist besonders für diejenigen Einrichtungen ein naheliegendes Kontrastbild, die von der Zahl der Schülerinnen und Schüler her klein sind. Die Organisationsgröße, die unterschiedliche Ursachen haben kann, wird so zum Zeichen für Exklusivität, für besondere Leistungen und für die ‚Ganzheitlichkeit ދder Förderung. Schulgröße kann also zum Distinktionsmerkmal werden, indem große, zumeist öffentliche Einrichtungen gegen kleine, häufig private ausgespielt werden. Exklusive Schulen verweisen auf die besonderen – aber nicht messbaren – Wirkungen, die – so das Konstrukt – aufgrund ihrer kultivationspädagogischen Konzepte zu erwarten sind, und setzen sich von Institutionen ab, die andere Verfahren verwenden. Dabei wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass in anderen Schulen kurzfristige und oberflächliche Erfolge möglich seien, dass sich aber der Nutzen qualifizierter Bildungsarbeit langfristig bemerkbar mache, also in ungewöhnlichen Berufserfolgen lange nach Schulabschluss sowie der Selbstverwirklichung und Zufriedenheit im Beruf zum Ausdruck käme. Obwohl die Abwertung der ‚Fachabrichtung ދselbstverständlich noch kein Beleg dafür ist, dass die bevorzugten, auf kultivationspädagogische Ziele gerichteten Maßnahmen und Unterrichtsgegenstände den behaupteten Erfolg haben, entlastet die gegen den Massenbetrieb und gegen traditionelle Verfahren sich richtende Polemik gerade die angesehenen Institutionen von dem Druck, sich in Einzelprüfungen bewähren zu müssen. Sofern es zu durchschnittlichen oder sogar schlechten Prüfungsleistungen ihrer Schüler kommt und diese
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bekannt werden, können sie sich damit rechtfertigen, dass ‚Noten ދallein nicht das sind, worauf ihre Pädagogik in erster Linie abzielt, dass es also auch auf die Entwicklung des Charakters ankomme. Indem Schulleitung und Schulträger das Numinosum der Bildung hervorkehren, immunisieren sie sich gegen die Zweifel einer an Effizienzkriterien ausgerichteten Gesellschaft. Auch ein mittelmäßiges Abschneiden bei Prüfungsleistungen gefährdet nicht den Anspruch auf Exzellenz, wenn es andere Schwerpunkte gibt, wenn zum Beispiel einer einseitigen Intellektualisierung und ‚Verkopfung ދentgegengewirkt werden soll und eine ‚harmonische ދEntwicklung der Persönlichkeit das Ziel ist: Der Anspruch auf ‚Menschenbildung ދbleibt von Fehlleistungen, die ‚nur ދdas Lernen betreffen, unberührt. Allerdings sind solche Immunisierungsstrategien nur zum Teil erfolgreich. Dauerhaft schlechte Durchschnittsleistungen bei den quantifizierbaren Leistungen sind mit Nachteilen im Allokationsprozess verbunden und können daher auch von der Klientel nicht hingenommen werden. Die Relativierung von Prüfungswissen und Examensleistungen ist nur ein Weg, einen Eliteanspruch zu verteidigen. Eine andere Strategie besteht darin, dass Schulen versuchen, sich im Bereich abprüfbarer Leistungen hervorzutun, ohne auf den kultivationspädagogischen Anspruch zu verzichten. Der Erfolg dieser Strategie hängt allerdings von der Klientel selbst ab, die möglicherweise weder motiviert noch in der Lage ist, diesem ‚Zusatzkriterium ދzu entsprechen. Dass heute kultivationspädagogische Ziele nicht mehr isoliert verfolgt werden, sondern nur in der Verbindung mit fachlicher Bildung und Ausbildung, wurde bereits erwähnt. Es geht bei dieser Strategie jedoch darum, dass die kultivationspädagogischen Erfolge mit besonderen Leistungen bei der Vermittlung von Fachkenntnissen belegt werden sollen. Nach dieser Argumentation kann der Wert der (Allgemein-)Bildung, auch wenn er nicht messbar ist, weil sich Wirkungen nur langfristig, wenig konkret und individuell verschieden einstellen, doch dadurch erschlossen werden, dass die Schule in den Bereichen, für die Prüfungsleistungen vorliegen, einen besonderen Rang einnimmt. Das Konstrukt, mit dem sich diese Schulen der Öffentlichkeit präsentieren, bezieht sich auf die Institution als Ganze, auf die Einheit von prüfungsrelevantem Wissen und Persönlichkeitsentwicklung. Fachliche Unterweisung wird demnach ernst genommen, doch ist die Selbstverständlichkeit, mit der Schülerinnen und Schüler die Standards anderer Schulen einhalten und übertreffen, Indikator für die Wirksamkeit eines pädagogischen Gesamtkonzepts, das auch Erziehung und Bildung mit einschließt. Angesichts der Unmöglichkeit, die Effizienz dessen zu belegen, was in der Schule unter Bildung verstanden wird, kann also auch die Aufwertung objektivierbaren Wissens – im Gegensatz zur Relativierung und Abwertung – sinnvoll erscheinen. Während im einen Fall Prüfungsleistungen als belanglos hingestellt werden, weil sie über ‚wahre ދBildung nichts aussagen, wird ihnen im
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anderen Fall größte Bedeutung beigemessen, weil sie als Beleg dafür gelten, dass auch die nicht demonstrierbaren Ergebnisse des pädagogischen Programms Realität sind, das heißt, dass ein System vorhanden ist, das sowohl Fachausbildung als auch Kultivationspädagogik, die Vermittlung konkreten, berufsrelevanten Wissens und die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung umfasst, ja dass durch die Kultivationspädagogik die Fachausbildung erleichtert wird. Soweit die Notenvergabe nicht kontingentiert wird oder ein zentrales Prüfungssystem vorhanden ist, das die Einhaltung von Normen standardisiert, ist es gerade für Schulen mit Eliteanspruch naheliegend, besonders gute Noten zu vergeben und diese mit der Leistungsfähigkeit ihrer Schüler und mit überlegenen pädagogischen Konzepten zu begründen, nicht zuletzt um die Eltern nicht zu enttäuschen, die durch Schulgeld und durch andere Zuwendungen, zum Beispiel durch Spenden, die Kosten des Schulbetriebs mittragen. Ein besonderer Erwartungsdruck entsteht ja dadurch, dass der erhöhte Aufwand, der die Beteiligung der Eltern erfordert, mit der Überlegenheit pädagogischer Konzepte, einschließlich der Kultivationspädagogik, gerechtfertigt wird. Schlechte Noten würden, auch wenn sie ‚nur ދdie messbaren Leistungen der Schülerinnen und Schüler betreffen, an den Ansprüchen der Schule zweifeln lassen. Für Schulen mit Eliteanspruch ist es daher riskant, nur auf die ganzheitlichen, kultivationspädagogischen Effekte zu verweisen und sich nicht auch bei den abprüfbaren Leistungen hervorzutun, da bei mangelnden messbaren Erfolgen Schlussfolgerungen bezüglich des Wertes ganzheitlicher Bildungsversprechen angestellt werden. Die Frage, ob kultivationspädagogische Konstrukte bei denjenigen, die selbst Teil des Schulgeschehens sind, besonders bei den Schülerinnen und Schülern, Überzeugungen auslösen und nicht nur unter rein berufstaktischen Gesichtspunkten Anklang finden, ist nicht allgemein zu beantworten. Konstrukte setzen sich durch, weil es empirische Evidenzen gibt, weil sie einem gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Interesse entsprechen oder weil sie bequem sind. Bei zunehmender Konkurrenz auf dem Bildungsmarkt gewinnt die Persönlichkeitsentwicklung gegenüber rein akademischen Qualifikationen an Bedeutung, zumal auch Arbeitgeber mehr Wert auf ‚soft skills ދlegen (Moore, a.a.O., 87). Wenn unter solchen Voraussetzungen auf Schulen Druck ausgeübt wird, kultivationspädagogische Konzepte zu entwickeln, um ihre Absolventen mit entsprechenden Zusatzqualifikationen zu versorgen, dann schließt dies keineswegs aus, dass von den Beteiligten an diese Konzepte geglaubt wird. Ein solches Involviertsein ist sogar für den Erfolg von Bildungsaktivitäten besonders wichtig; das pädagogische Geschehen wird dadurch erleichtert, dass die Schüler von der Effektivität kultivationspädagogischer Maßnahmen überzeugt sind. Die Entwicklung einer begünstigenden Einstellung bei der zu beeinflussenden Schü-
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lerschaft ist daher Teil des Bildungsprogramms. Außerdem können Indikatoren produziert werden, Merkmale des Schulklimas etwa, die den kultivationspädagogischen Anspruch zu bestätigen scheinen. Es kommt also zunächst darauf an, auch bei der Klientel Vertrauen dahingehend zu schaffen, dass die pädagogischen Verfahren sinnvoll und nützlich sind. Demgegenüber würde eine rein taktische Einstellung der Schülerinnen und Schüler nicht nur den pädagogischen Aktivitäten, also der Durchführung von Erziehung und Unterricht im Weg stehen, sondern auch später, nach Schulabschluss, eine ‚sichere ދPräsentation erwünschter, das heißt für den Arbeitsmarkt günstiger Persönlichkeitsmerkmale erschweren. Es empfiehlt sich daher für das Management und für das professionelle Personal der Schule, dazu beizutragen, dass es auf Seiten der Schüler nicht zu einer nur die ökonomischen Vorteile in den Blick nehmenden Haltung gegenüber kultivationspädagogischen Zusatzangeboten kommt. Die ökonomische Rationalität darf in der Perzeption der Beteiligten nur sekundär sein. Trotzdem muss die Allokationsfunktion, im Gegensatz zur Kustodial- bzw. zur Partnerwahl- und Netzwerkfunktion, weder vor der Klientel der Schule noch vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Eine Selektion von Stellenbewerbern auf der Grundlage von Schulleistungen erscheint berechtigt, da im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass die Schule Leistungen zertifiziert, die im Beschäftigungssystem gebraucht werden. Ebenso konsensfähig erscheint es, wenn Zeugnisse, die den Lern- und Studienerfolg dokumentieren, zum Auswahlkriterium bei der Besetzung von Stellen werden. Das, was zertifiziert wird, gilt auch als tatsächlich vorhanden. Die Vorstellung, dass sich Bildung auszahle, bezieht sich auf erworbene Fähigkeiten, die der Absolvent sinnvoll verwenden kann. Die ‚lukrative ދSeite der Bildungsaktivitäten darf daher auch im Kontext des Schulgeschehens thematisiert werden; es kommt darauf an, dass die späteren Chancen als reale Folge einer durch Erziehung und Bildung herbeigeführten Überlegenheit erscheinen. Dieses Konstrukt ist auch in der weiteren Öffentlichkeit anschlussfähig: Was dem Einzelnen nützt und Vorteile bringt, wird – so das Konstrukt – von Betrieben benötigt, weil es mit Produktivitätsvorteilen verbunden ist. Individueller und gesellschaftlicher Nutzen sind demnach deckungsgleich. Die Reputation einer Schule hängt von den Chancen ab, die sie ihren Absolventen zukommen lässt. Schulen gewinnen auf diese Weise remunerative Macht;7 sie können, indem sie Einfluss auf die Verteilung von Positionen glaub-
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Unter remunerativer Macht soll die Möglichkeit der Konformitätssicherung gesehen werden, die durch die Möglichkeit entsteht, jemandem materielle Güter zukommen zu lassen oder zu entziehen. In ähnlicher Weise verwendet Etzioni den Begriff der ‚utilitarian powerދ, die er von
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haft machen, Konformität von Schülern und Eltern einfordern. Der Rang einer Bildungsinstitution ist mit der – vermeintlichen oder tatsächlichen – Vergabe von sozialen und beruflichen Chancen verknüpft. Dabei genügt es nicht, dass die Schule – aufgrund ihrer Tradition oder des Einflusses der Eltern und Ehemaligen – ihre Absolventen im Beschäftigungssystem unterbringen kann. Sie sollte nicht Begünstigungs- und Jobvermittlungsinstanz sein. Von der Schule wird vielmehr verlangt, die gesellschaftlich erwünschten und erforderlichen Kompetenzen – als Voraussetzung einer günstigen Platzierung – zu vermitteln. Daher werden auch Abschlussprüfungen, unabhängig davon, ob es sich mehr um kultivationspädagogische ‚Reifeprüfungen ދoder um Wissens- und Kompetenztests im Sinn einer ‚allgemeinen ދFachschulung handelt, im Schulgeschehen dramatisiert. Der ‚Ernst ދder Prüfung unterstützt den Anspruch auf ‚persönliche Reife ދund Tatsachenwissen, die allein eine Besserstellung auf dem Arbeitsmarkt legitimieren. Je höher der Exklusivitätsanspruch der Schule, desto aufwendiger werden daher auch die Schulabschlüsse und die vorhergehenden Prüfungen inszeniert. Die Schulen stellen mit den Abschlussprüfungen sich selbst dar; die Examina sollen zum Ausdruck bringen, inwieweit die Schule den selbstgesetzten Maßstäben genügt. – Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die der Allokation vorgelagerten Selektionsprozesse die pädagogischen Effekte von Schulen überlagern.
‚coercive power ދund von ‚normative ދpower abgrenzt. Vgl. Etzioni, Amitai: Sociologie der Organisationen. 2. Aufl. München 1969
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5.1 Verteilung und Creaming 5.1 Verteilung und Creaming Die Möglichkeit von Schulen, Erfolge bei der Erziehung, Wissensvermittlung, Bildung und Sozialisation glaubhaft zu machen, hängt von ihrem Einfluss auf die Auswahl ihrer Schülerinnen und Schüler ab. Schulen, die ihre Klientel aussuchen können, gehen nicht nach beliebigen Kriterien vor, sondern nach solchen, die eine möglichst hohe Affinität zu ihren Bildungszielen aufweisen. Selbst solche Institutionen, die für sich in Anspruch nehmen, über besonders wirksame pädagogische Mittel zu verfügen, nehmen vor allem Bewerber auf, von denen angenommen wird, dass sie am besten zum ‚Profil ދder Schule passen. Nicht die Herausforderung der größten Entfernung ist es also, die von Schulträgern, von Schulleitungen und Lehrerschaft gesucht wird. Auch wenn eine bestimmte Schule in der Öffentlichkeit den Eindruck vermittelt, dass es besonders erfolgreiche Methoden seien, die im Rahmen ihres Bildungsprogramms angewandt würden, Methoden, die möglicherweise mit klangvollen Namen verbunden sind, so ist doch das Vertrauen, das sie selbst, Schulleitung und Lehrkräfte, diesen Methoden entgegenbringen, offensichtlich gering. Vielmehr muss dafür gesorgt werden, dass der Erfolg schon durch Eingangsselektionen sichergestellt wird. Zur Erfolgssicherung durch Selektivität trägt auch der Wettbewerb unter den Schulen bei. Beobachtungen, die auf britische Schulen bezogen sind, machen einen allgemeinen Trend deutlich: “Those schools, who do select their students, either formally or informally – are more able to control their league table position and their reputation generally. Furthermore, those students who offer the best chance of GCSE success tend to be cheapest to teach, and easiest to manage. Students who threaten the reputation or performance of the school will be deselected …” (Ball 2004, 151).
Schülerinnen und Schüler werden also nicht im Kreis derjenigen gesucht, die von ihrem familiären Hintergrund her eine besonders große Distanz zur Schulkultur aufweisen und die infolgedessen einer intensiven Förderung besonders bedürftig sind. Es kommt somit gerade den Schulen mit hoher Reputation nicht darauf an, durch Förderung der Benachteiligten den Erfolg ihrer pädagogischen
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Konzepte unter Beweis zu stellen. Die Auswahlverfahren lassen vielmehr auf eine ‚Pädagogik der kurzen Wege‘ schließen; die Effizienz der Methoden wird an den Aussichtsreichsten demonstriert. Schon leichte Differenzen im Image einer Schule vergrößern oder verringern den Spielraum bei der Auswahl von Schülern. Das heißt, dass die Klientel flexibel auf Prestigeunterschiede von Schulen reagiert. Je mehr die Zahl attraktiver Positionen im Beschäftigungssystem abnimmt, desto größer ist die Bereitschaft der Familien, auch auf feine Unterschiede im Renommee der Schule, das heißt auf vermeintliche Qualitätsunterschiede zu reagieren. Der vom Arbeitsmarkt ausgeübte Druck, höherwertige Optionen zu realisieren, ermöglicht es den exklusiven Schulen, ihren Selektionsmodus zu verschärfen. Es kommt also ein Prozess in Gang, der denjenigen Organisationen, die ohnehin schon über Vorteile verfügen, weitere Vorteile verschafft. Eine Schule, die über ein wie auch immer begründetes Prestige verfügt, kann ihren Vorsprung leicht ausbauen, indem sie nur die Schülerinnen und Schüler aufnimmt, von denen die über die Aufnahme entscheidenden Instanzen und Personen glauben, dass sie ihren Ansprüchen voll und ganz entsprechen. In der idealtypischen Reduktion verfügen die Schülerinnen und Schüler solcher Bildungsinstitutionen schon bei der Aufnahme über die Eigenschaften, die zu produzieren oder zu fördern Aufgabe der Schule sein sollte. Damit könnten die Anforderungen an das Instrumentarium sogar gesenkt werden, da die Veränderungen, die das pädagogische Programm bewirken soll, geringer sind als bei anderen Schulen. Denn auch Methoden und Maßnahmen, die sich nicht von denen durchschnittlicher Schulen unterscheiden, würden zu besseren Ergebnissen führen. Geht man vom Bildungssystem insgesamt aus, so ist die Selektion von Schülern durch die Schule ein Nullsummenspiel von Gewinnern und Verlierern. Je mehr Möglichkeiten die einen haben, sich ihre Schülerinnen und Schüler auszusuchen, umso geringer sind die Chancen der anderen, eine Auswahl vorzunehmen und damit Leistungen hervorzubringen, die respektiert werden. Die Erfolge der einen, der exklusiven Schulen, sind mit anderen Worten die Misserfolge der anderen. Wenn die Absolventen nichtselektiver Schulen besondere Leistungen aufweisen, so löst dies in der Öffentlichkeit Überraschung aus. Gleichzeitig kommen Diskussionen in Gang, weil individuelle und kollektive Leistungsfähigkeit nicht übereinzustimmen scheinen, das heißt weil der Erfolgreiche mit seinen Leistungen nicht der Mehrzahl der Schulabgänger entspricht. Selbstverständlich kommen die herausragenden Examensergebnisse des Außenseiters, der sich trotz widriger Bedingungen durchgesetzt hat, seiner Schule zugute. Tendenziell werden solche Erfolge aber eher dem Individuum als der Institution zugerechnet. Auch wird in der Öffentlichkeit der Schluss gezogen, dass dieser Schüler bzw. diese Schülerin auf eine andere Schule gehört.
5.1 Verteilung und Creaming
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Das bedeutet selbstverständlich auch, dass angesehene Schulen darauf bedacht sind, sich ihre Klientel selbst auszusuchen. Je mehr schulfremde Instanzen für die Durchführung von Aufnahmeverfahren Auflagen erteilen, desto zahlreicher sind auch die Risiken, die von der Schule in Kauf genommen werden müssen. Steht eine genügend große Auswahl an Bewerbern zur Verfügung und ist die Schulleitung frei von Auflagen, dann macht es keine Schwierigkeiten, diejenigen unter den Bewerbern zu finden, die dem vorgegebenen Profil entsprechen. Auch durch zielgruppenspezifische Werbung können Schulen dafür sorgen, dass genügend ‚passendeދ, das heißt leistungsstarke und sozial homogene Bewerber vorhanden sind. Noch wirksamer sind persönliche Empfehlungen unter Eltern, weil davon auszugehen ist, dass bereits bei der Ansprache von Interessenten eine Selektion vorgenommen wird, die zielgenau ist; die ‚Mundzu-Mund-Propaganda ދvermeidet – noch mehr als die Zielgruppenwerbung – Streueffekte und berücksichtigt auch die informalen Auslesekriterien, die in der medialen Werbung nicht angesprochen werden dürfen. Die Auswahl der Schule verstärkt also eine schon zuvor unter den Kandidaten vorhandene Homogenität. Aufnahmeverfahren führen zu programmierten ‚Erfolgenދ. Was die messbaren Leistungen angeht, so gelingt es selektiven und hochselektiven Schulen schon allein durch die Rekrutierung ihrer Schülerschaft, Ergebnisse zu generieren, die im Vergleich zu anderen Schulen hervorstechen. Geht man davon aus, dass es unter den Angehörigen eines Jahrgangs Unterschiede der persönlichen Leistungsfähigkeit gibt, und zwar aufgrund von Anlagen oder familiärer Unterstützung, dann ist – bei sonst gleichen Bedingungen – das Abschneiden einzelner Schulen bei den Abschlussprüfungen eine Frage der Verteilung. Wenn einige Schulen unter einer großen Anzahl von Bewerbern auswählen können, andere vielleicht beschränkte Auswahlmöglichkeiten haben und wieder andere alle nehmen müssen, die kommen, dann steht das bessere Abschneiden der selektiven und hochselektiven Schulen von Anfang an fest, und zwar als Folge des ‚Creamingދ, das heißt der Bevorzugung von Schülern, denen eine besondere Leistungsfähigkeit zugetraut werden kann.1 Bildungsorganisationen, die im Wettbewerb um die geeigneten Kandidaten unterlegen sind, können nicht gleichermaßen erfolgreich sein, müssten sie doch über ein besonders effektives Instrumentarium verfügen, um bei einer unter1
Mit dem Begriff des ‚Creaming ދist vor allem gemeint, dass Eltern, die bildungsprivilegierten Schichten angehören, ihre Kinder zu Schulen mit höherwertigen Abschlüssen schicken. Dieser Prozess ist jedoch zweiseitig zu sehen, und zwar von Seiten der Bewerber und der aufnehmenden Institution. Nicht nur bevorzugt die Klientel – im Sinn der Selbstselektion – solche Schulen, die schon von ihresgleichen besucht werden, sondern die Schulen selbst selektieren solche Bewerber, die in ihrem Potenzial der vorhandenen Schülerschaft entsprechen. In diesem doppelten Sinn soll der Begriff auch im vorliegenden Kontext verwendet werden.
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schiedlich leistungsfähigen Schülerschaft zu gleichen Resultaten zu kommen. Dass es solche Mittel gibt, ist fraglich. Wie in anderen Wissenschaften auch, so sind in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft wissenschaftliche Erkenntnisse und daraus folgende ‚Technologien ދfrei zugänglich und werden in der jeweiligen ‚scientific community ދdiskutiert. Wenn es ein Reservoir an pädagogischen Instrumentarien gäbe, von denen die einen erfolgversprechend, die anderen weniger erfolgversprechend wären, so käme es auch im Bereich von Erziehung und Unterricht schnell dazu, dass sich die effektiveren durchsetzten. Es gibt jedoch keinen Wissensvorsprung, der die Lehrerschaft an selektiven Schulen in die Lage versetzen würde, nicht nur die neuesten, sondern auch besten Verfahren einzusetzen. Die Erziehungswissenschaft ist nicht mit der Medizin in der Weise gleichzusetzen, dass nur wenige Experten über die neuesten Forschungsergebnisse und Therapien Kenntnis hätten. Jedoch bringen selektive Schulen, schon aus Profilgründen, andere pädagogische Methoden zur Anwendung, und zwar durchaus mit dem Anspruch, dass diese ‚die besten ދseien. Wenn gleiche Verfahren nicht von anderen Schulen übernommen werden, dann nicht aufgrund von Unkenntnis, sondern weil deren Überlegenheit nicht eindeutig ist oder weil sie sich nur unter spezifischen strukturellen Voraussetzungen bewähren. Besondere Schulen wählen besondere Methoden, und zwar schon allein aus Gründen des „branding“, der Markenpflege. Schon die Nomenklatur der Pädagogiken kann von exklusiven Schulen zu Werbezwecken genutzt werden. Die Wahl der ‚richtigenދ, das heißt der scheinbar überlegenen Pädagogik ist wichtig für die Attribution von Erfolgen und für das Bild der Schule in der Öffentlichkeit. Den selektiven Schulen bietet sich, indem sie sich in ihren Methoden oder auch nur in der Begrifflichkeit der Methoden von anderen unterscheiden, die Möglichkeit, ihre bessere Bilanz nicht als Verteilungseffekt, sondern als Ergebnis der pädagogischen Konzepte bzw. professioneller Kompetenz, der Sachkunde ihres Personals also, erscheinen zu lassen. 5.2 Creaming und genetische Alltagstheorien 5.2 Creaming und genetische Alltagstheorien Wenn in selektiven Schulen betont wird, dass die Anforderungen an die Lernenden hoch seien, und wenn trotzdem die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler erfolgreich aus den Prüfungen hervorgeht, dann stellt sich bei den Beteiligten sowie in der weiteren Öffentlichkeit die Frage, wie derartige Leistungen zustande kommen. Erfolge müssen attribuiert werden, wobei verschiedene Hypothesen zur Verfügung stehen. Eine hohe Erfolgsquote bei – tatsächlich oder vermeintlich – hohen Ansprüchen kann für eine effektive
5.2 Creaming und genetische Alltagstheorien
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Pädagogik sprechen, die Kandidaten rascher voranschreiten lässt als andere Erziehungstheorien und Methoden. Darüber hinaus liegt aber auch die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um eine besonders ‚begabte ދSchülerschaft handelt. Der Glaube an verborgene, sich immer wieder durchsetzende Talente wird also durch ein – dem Konstrukt nach – hohes Anspruchsniveau unterstützt. Es erscheint plausibel, dass Kandidaten, denen es gelingt, den anscheinend strengen Maßstäben zu genügen, auch über besondere Anlagen verfügen. Zu den Botschaften selektiver Schulen gehört daher ein Eliteanspruch, der sich auch auf die genetische Ausstattung der Schülerschaft bezieht. Positive Examensresultate werden mit angeborenen Talenten erklärt. Der Rückschluss auf besondere Anlagen liegt besonders dann nahe, wenn die Schülerinnen und Schüler eine sozial homogene Auswahl darstellen. Sofern die Eingangsprüfung mit sozialen Merkmalen einhergeht, die auch außerhalb der Bildungsinstitutionen relevant sind, prägt das Image dieser Gruppe die Schule und ihre Klientel. Wenn sodann dieser Auswahl von Schülern spezielle Bildungserfolge attestiert werden, ergeben sich Rückschlüsse auf die Herkunftsschichten. Eine homogene Schülerschaft führt zu Vermutungen über die Eltern und über die Ursachen der Homogenität. Die Schülerinnen und Schüler scheinen eine Stichprobe aus einem größeren Kollektiv, nämlich dem Kollektiv der Familien darzustellen, die sich ebenfalls in Hinblick auf sozialrelevante Merkmale ähneln. Sofern der Schülerschaft bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel Intelligenz und Kreativität zugeschrieben werden und sofern sie sich darüber hinaus in ihrer sozialen Herkunft gleichen, dann ergibt sich die Vermutung, dass im gesamten Rekrutierungsbereich diese Eigenschaften häufig anzutreffen sind und dass entsprechende Anlagen von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Die Homogenität der Schülerschaft, verbunden mit einer schicht- und milieuspezifischen Homogenität der Herkunft, kann also dazu führen, dass die Mechanismen der gesellschaftlichen Privilegierung übersehen werden und im Fokus der Öffentlichkeit biologische Erklärungen dominieren. Dieser ‚genetische Rückschlussދ, der auffällig gute Bildungsergebnisse bei den Schülern exklusiver Schulen mit anlagebedingten Eigenschaften erklärt, findet Unterstützung durch weitere Hilfskonstruktionen. Haben zum Beispiel schon Eltern oder Großeltern dieselbe oder eine vergleichbare Schule besucht, so scheint das biologische Erbe immer wieder dazu zu führen, dass sich Angehörige der betreffenden Familien im Begabungswettbewerb durchsetzen. Die legitimatorische Funktion, die der Homogenität qua Selektion zukommt, kann auf diese Weise noch gesteigert werden. In der einfachen Version ist die soziale Ungleichheit gerechtfertigt, weil sich die einen in der Schule angestrengt haben, die anderen nicht. In der hintergründigeren Version ist die soziale Ungleichheit gerechtfertigt, weil es unterschiedliche Veranlagungen gibt, die durch ungleiche
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5 Selffulfilling Prophecy
Erfolge in der Schule abgebildet werden; die Ungleichheit der Bildungsabschlüsse wird zum Beleg dafür, dass es für die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in der Gesellschaft auch eine genetische Grundlage gibt. Die Undurchlässigkeit von Schicht- und Klassengrenzen ist – dieser Konstruktion nach – nicht die Folge von sozialen Exklusionsmechanismen, sondern erklärt sich durch die unterschiedliche Zusammensetzung des Genpools in Teilpopulationen. Die Botschaft lautet, dass es nicht gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Faktoren sind, die eine Reproduktion von Strukturen bewirken, sondern die Vererbung biologischer Merkmale. Auch wenn in der öffentlichen Diskussion solche Konstrukte nicht offen angesprochen werden, sind sie doch in vielfältigen Kontexten relevant und machen sich auch bei der Vergabe von Positionen im Beschäftigungssystem bemerkbar. So finden sich in der Berichterstattung der Medien, und zwar im thematischen Bezug zu exklusiven Bildungseinrichtungen, immer wieder Hinweise auf ‚Verdienste ދder Herkunftsschichten, auf Leistungen und Talente, durch die sich nicht nur die Schüler, sondern auch ihre Eltern auszeichnen. Für das mediale Publikum, für Leser und Zuschauer, ergibt sich damit die Annahme, dass Söhne und Töchter aus solchen Familien und Gruppen Erfolg haben, weil sie über entsprechende ererbte Eigenschaften verfügen. Dieses Prestige wiederum führt zu einer positiven Einschätzung von Kompetenzen. Biologistische Schlussfolgerungen, die durch Selektionsverfahren nahegelegt werden, sind bereits in gängigen Alltagstheorien angelegt und finden in der öffentlichen Berichterstattung Resonanz. Exklusive Schulen tragen dazu bei, dass sich das Bild des Genpools verbreitet, da es sich nicht um vereinzelte, sondern gruppenspezifische Ähnlichkeiten zu handeln scheint, die an den akademischen Leistungen des Nachwuchses deutlich werden. Wenn sich die Schüler einer bestimmten Schule in Bezug auf Ästhetik und Geschmack, auf kulturelle Präferenzen und intellektuelle Vorlieben, vor allem aber auf Examensleistungen ähneln, und wenn diese mit entsprechenden Eigenschaften von Familienangehörigen übereinstimmen, wenn also die Familien untereinander ebenfalls homogen sind, dann ist die Folgerung naheliegend, dass es sich um die genetisch bedingten Eigenschaften von Kollektiven handelt. Erfolge des Nachwuchses werden durch Erfolge ihrer Eltern validiert und umgekehrt. Exklusive Schulen lassen also eine Homogenität in Erscheinung treten, die zu Fehldeutungen führt. Leistungen, die mit dem sozialen und ökonomischen Status zusammenhängen, werden genetisch gedeutet. Homologe Gene, nicht soziale Faktoren wie zum Beispiel Macht und Ansehen der Eltern, führen, so scheint es, zur Ähnlichkeit zwischen den Generationen. Gesellige Kontakte, ja auch verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb einer Herkunftsgruppe, scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Je weniger offen die Gruppen sind, die
5.3 Creaming und Identität
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ihre Abkömmlinge zu hochselektiven Ausbildungs- und Bildungsinstitutionen entsenden, umso mehr finden Konstrukte anlagebedingter Ungleichheit Verbreitung. Anpassungsprozesse innerhalb der Gruppe verstärken darüber hinaus die durch die Rekrutierung bedingten Ähnlichkeiten und lassen die kollektiven Eigenheiten besonders hervortreten. Eine Selektion von Schülern, die soziale Homogenität herstellt, tritt nicht als soziale Privilegierung in Erscheinung, sondern macht dem Konstrukt genetischer Besonderheiten, ja der genetischen Privilegierung, der angeborenen Talente Platz. Denn die Schule wird nicht das Eingeständnis gelten lassen, dass sie ihre Klientel nach sozialen Merkmalen rekrutiert; vielmehr wird behauptet, dass sich die vorgenommene Auswahl an der schon vorhandenen und messbaren Leistungsfähigkeit orientiert. Demgegenüber werden soziale Merkmale, nach denen bei der Auswahl vorgegangen wird, nicht übersehen, sondern als Begleiterscheinungen angeborener Leistungsfähigkeit interpretiert. Die Ähnlichkeit des Stils, des Habitus und der ökonomischen Verhältnisse, durch die sich die Klientel auszeichnet, ist in der Öffentlichkeit nicht zu verbergen. Sie scheint aber, zumal wenn sich der Nachwuchs bei schulischen Leistungstests bewährt, auf die gemeinsame Ursache der Konstitution und der genetischen Ausstattung hinzudeuten. Dies gilt besonders dann, wenn es über Generationen hinweg den Abkömmlingen traditionsreicher Familien gelingt, Erfolge an bestimmten exklusiven Bildungseinrichtungen für sich zu verbuchen. Gerade weil die Schule exklusiv ist, gilt sie als eine strenge, neutral-sachliche Beurteilungsinstanz. Aufgrund ihrer – tatsächlich oder vermeintlich – rigiden Maßstäbe trägt sie zum Charisma, zum Glauben an schon vorhandene außergewöhnliche Eigenschaften von Absolventen und Herkunftsgruppen bei, denen damit besonders wichtige Aufgaben im gesellschaftlichen Geschehen zuerkannt werden. Für die aufnehmenden Schulen folgt daraus, dass sie auch dann den Anspruch auf Gleichbehandlung und prinzipieller Zugangsoffenheit wahren können, wenn sie offensichtlich die ‚erwünschten ދsozialen Kreise besonders berücksichtigen und nur in Ausnahmefällen ‚Begabte ދmit abweichendem sozialen Hintergrund zulassen. 5.3 Creaming und Identität 5.3 Creaming und Identität Mit der von exklusiven Schulen betriebenen Auswahl ergeben sich Prozesse einer ‚selbsterfüllenden Prophezeiung ;ދda die Aufnahmeverfahren als besonders anspruchsvoll gelten, richten sich positive Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler, die es geschafft haben, diesen Auslesekriterien gerecht zu werden. Mechanismen der Selffulfilling Prophecy hat zuerst der Soziologe R. K. Merton beschrieben; auch in die Erziehungswissenschaft hat der Begriff Eingang ge-
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funden (Wineburg/Shulman 1990; Tauber 1997; Schnepper 2003). Die bekannten Untersuchungen von Rosenthal und Jacobsen zum Beispiel haben gezeigt, dass Schüler, von denen die Lehrer annahmen, sie würden sich, obwohl bislang unauffällig, in Zukunft besonders rasch entwickeln, empirisch messbare Fortschritte in ihren Leistungen und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu verzeichnen hatten, und zwar auch dann, wenn die Erwartungshaltung der Lehrer nicht auf eigenen Beobachtungen und Urteilen beruhte, sondern von den Forschern induziert wurde (Rosenthal/Jacobsen 1974). Dies geschah in der Weise, dass in der ausgewählten Schule ein Test durchgeführt wurde, von dem die Forscher behaupteten, „Spätentwickler“ herausfinden zu können. In Wirklichkeit selektierten sie Schülerinnen und Schüler nach dem Zufallsprinzip. Die Lehrer wurden mit falschen Informationen versorgt, nämlich mit den Namen derjenigen, von denen die Versuchsleiter behaupteten, dass es sich um Spätentwickler handle. Bei späteren Intelligenztests zeigten die Werte der Schüler, die den Lehrern als Spätentwickler genannt wurden, eine deutliche Steigerung. Zur Erklärung dieses Ergebnisses wurde von Rosenthal und Jacobsen der Begriff des ‚Pygmalion-Effekts ދeingeführt. Danach entwickeln sich Schüler so, wie es die Lehrer von ihnen erwarten. Als Faktoren für das Zustandekommen des Pygmalion-Effekts werden Besonderheiten der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern geltend gemacht. Lehrer, so wird vermutet, führen bei Schülern, denen sie besonders gute Leistungen zutrauen, durch zusätzliche Beachtung, durch Lob und freundliche Ausstrahlung Erfolge herbei, ohne sich über diese Einwirkung im Klaren zu sein. Die Erwartungen der Lehrer in Bezug auf besondere Fähigkeiten der Schüler lassen ein positives ‚Klima ދentstehen; Lehrer und Schüler bringen sich engagierter in die Beziehung ein. Rosenthal und Jacobsen vermuteten außerdem, dass durch das Niveau der Aufgaben eine unterschiedliche Förderung zustande komme; höhere Ansprüche hätten zur Konsequenz, dass mehr gelernt werden könne. Schüler, die mehr gefordert würden, weil man mehr von ihnen erwarte, könnten – so ihre These – aufgrund dieses Anspruchsniveaus vorhandene Fähigkeiten besser zur Geltung bringen. Da sich die Forschungen zum Pygmalion-Effekt auf Individuen beziehen, stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse nicht auch auf Kollektive anzuwenden sind, also zum Beispiel auf Organisationseinheiten innerhalb der Schule sowie auf Schulen und Schulformen (Kohl 1972, 105 f.). Die Arbeiten zum PygmalionEffekt legen die Annahme nahe, dass die Schüler in selektiven oder hochselektiven Schulen sich für besonders leistungsfähig halten, da ja die Aufnahme bereits – so das Konstrukt – nach Kriterien der Leistungsfähigkeit erfolgt. Ebenso wird auch die Lehrerschaft von den kollektiv vorhandenen Kompetenzen ihrer Schüler überzeugt sein. Es findet somit bereits ein Prozess der Identitätszuschreibung statt, bevor die erste Unterrichtsstunde beginnt. Schüler über-
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nehmen ein ‚Labelދ, das in der Aufnahmebestätigung implizit enthalten ist. Ihr Selbstvertrauen ist höher, als dies in Schulen der Fall ist, die in der Öffentlichkeit weniger Ansehen genießen. Mit dem Schuleintritt wird das positive Selbstbild nicht nur durch die Lehrer, sondern auch durch die Gleichaltrigen gestärkt, die sich und ihre Mitschüler aufgrund ihrer Aufnahme als ‚etwas Besonderes ދsehen. Ebenso ist davon auszugehen, dass die Eltern die positive Erwartungshaltung gegenüber ihren Kindern unterstützen und sich in ihrer Grundhaltung durch die Schule, die sie für ihre Kinder ausgewählt haben, bestätigt fühlen. Die Bevorzugung gegenüber Mitbewerbern fördert bei den Schülern die Zuversicht, auch in Zukunft für ihre Aktivitäten Anerkennung zu finden. Schon die Mitgliedschaft lässt somit Vertrauen in die Institution entstehen. Vertrauen hat eine komplexitätsreduzierende Wirkung, indem Risiken, die von Personen oder sozialen Systemen ausgehen, vernachlässigt werden. „Wenn wir sagen, dass wir jemandem vertrauen oder dass jemand vertrauenswürdig ist, dann meinen wir implizit, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der er eine Handlung ausführen wird, die uns vorteilhaft oder zumindest nicht schädlich ist, hoch genug ist, sodass wir in Erwägung ziehen, uns auf eine Art Kooperation mit ihm einzulassen“ (Gambetta 2001, 211; ähnlich Luhmann 2000). Eine derartige Einschätzung ist auch in der Schule wichtig, weil das, was Schülerinnen und Schüler sowie – als ‚Mitbetroffene – ދdie Eltern von einer Schule zu erwarten haben, sich nicht in Verträgen oder in anderen rechtlichen Bestimmungen ausdrücken lässt. Gerade für die Schule gilt, dass das im Rahmen einer Schullaufbahn mögliche Geschehen unberechenbar ist. Die Diffusität der sozialen Prozesse wird nur scheinbar durch Organisations- und Ablaufschemata, durch Stellenpläne, Ressourcenverteilungen sowie durch Lehr- und Unterrichtspläne rationalisiert und planbar gemacht. Dementsprechend ist auch der Spielraum des Lehrers zur Ausgestaltung seiner Rolle größer als in den meisten anderen Berufen und bietet genügend Möglichkeiten, persönliche Eigenarten, Interessen, Stimmungen, Vorurteile, Norm- und Wertvorstellungen, Lebensstile usw. zum Ausdruck zu bringen. Außerdem hat er auch aufgrund der bipolaren Struktur von Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtsprozessen gegenüber der Schülerschaft eine hegemoniale Position. In der Perzeption der Schülerinnen und Schüler stellt sich Schule als ein vielfältiger und komplexer Erfahrungsraum dar, der wenig Orientierungshilfen bietet und sich nicht auf die kategorialen Einteilungen in Fächer, Unterrichtszeiten, Lerngruppen und Jahrgänge reduzieren lässt. Hinzu kommt, dass sie als Heranwachsende einen für sie selbst und für ihre soziale Umgebung unplanbaren kognitiven und emotionalen Entwicklungsprozess zu durchlaufen, weshalb den Personen, die ihnen auf diesem Weg begegnen, eine viel höhere affektive Bedeutung zukommt als Freunden, Kollegen und Vorgesetzten in späteren Lebensphasen. Die Schulzeit ist also durch Unwissenheit
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und Unsicherheit gekennzeichnet, sodass Vertrauen notwendig ist, um sich auf eine Kooperation mit Gleichaltrigen und Erwachsenen einzulassen. In welchem Maße die Offenlegung von pädagogisch-didaktischen Methoden und Zielen durch die Lehrkräfte erforderlich ist oder vielleicht umgekehrt den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung stört, ist umstritten. Grundsätzlich gilt, dass die Techniken und Verfahren, die Lehrkräfte einsetzen, von den Schülern verstanden werden müssen. Das heißt, dass der „Erwerb von Kompetenz eine Leistung des Subjekts selbst“ (Strobel-Eisele 2003, 225) ist. Daher werden die „erzieherischen Bemühungen“ des Lehrers „stets in enger Rückkopplung mit dem Schüler inszeniert“ (Strobel-Eisele, ebd.). Nichtsdestoweniger muss zuweilen aus allgemeinen pädagogischen Erwägungen von diesem Grundsatz abgewichen werden. Was zum Beispiel die Abfolge einzelner didaktischer Schritte angeht, so wird es der Lehrer vermeiden, den Schüler in jedem Punkt über das zu Erwartende aufzuklären, weil es nämlich darum geht, seine Aufmerksamkeit zu wecken und auch Überraschungsmomente für sich zu nutzen. Gleiches gilt für die ‚Fernziele ދvon Erziehung und Bildung, die ja nur in Annäherungen zu vermitteln sind, weil der Sinn dessen, was am Ende eines langfristigen Betreuungsverhältnisses erreicht werden soll, nicht schon am Anfang einsichtig sein kann. Auch die Beurteilung von Lernfortschritten und die Bewertung von Leistungen können nicht in allen Details dem Schüler offengelegt werden, und zwar schon allein wegen der subjektiven Spielräume der Bewertung, die zu offenbaren auch die Legitimität des Lehrers in seiner Prüfer- und Gutachterfunktion untergraben würde. Vertrauen ist aber auch von den Lehrkräften gegenüber der Schülerschaft erforderlich. Für Lehrerinnen und Lehrer ergibt sich eine den Unterrichtsprozess positiv beeinflussende Erwartungshaltung, wenn die Schule selektiv vorgeht und die Schüler so rekrutiert, dass von ihnen ein hohes Maß an Motivation und Leistungsfähigkeit zu erwarten ist. Vertrauen ist also in selektiven Schulen leichter zu erreichen. „Intern kann ein höheres Maß an Vertrauen“, so Luhmann in seiner grundlegenden Schrift, „durch selektive Prozesse der Mitgliederauswahl und im Rahmen von deren Kriterien begründet sein“ (Luhmann 2000, 122). Lehrkräfte, die von der Leistungsfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler überzeugt sind, werden seltener ein Burn-out-Syndrom entwickeln; anders als in den Schulen, die keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Schülerschaft haben, wird die Einstellung der Lehrkräfte weniger durch Abwehr oder negative Gefühle wie Angst, Misstrauen, Ärger usw. gekennzeichnet sein. Für das Personal selektiver Schulen ist die Systemumwelt, die durch neue Schüler in das System hineingetragen wird, weniger different als in solchen Schulen, die keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Schülerschaft haben. Den Schülern selektiver Schulen wurde ja bereits mit der Aufnahme Vertrauen entgegen-
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gebracht. Nicht nur ihnen selbst, sondern auch ihren späteren Betreuern hat das Auswahlverfahren signalisiert, dass die Schulleitung und das Personal sie für geeigneter halten als andere, um die von der Schule gesetzten Lern- und Bildungsziele zu erreichen. Die erfolgreichen Bewerber gehen – ebenso wie ihre Lehrer – von der Validität der Eingangsprüfungen aus und vertrauen darauf, dass auch in Zukunft ihre Fähigkeiten zuverlässig erkannt werden. Renommierte Schulen veranlassen ihre Schülerinnen und Schüler darüber hinaus zu einer positiven Einschätzung sowohl ihres eigenen Potentials als auch der institutionellen Möglichkeiten, Bildungsprozesse zu fördern. Auf diese Weise wird wiederum die Arbeit der Lehrkräfte erleichtert. Das bedeutet für die Konstrukte, die von der Gesellschaft an die Schule herangetragen werden, dass von diesen eine Wirkung ausgeht, und zwar indem empirische Widerständigkeiten ausgeglichen oder überspielt werden. Schulen, denen eine hohe Qualität nachgesagt wird und die sich in der Öffentlichkeit effektvoll präsentieren, können mehr Ressourcen mobilisieren als andere. Es ist davon auszugehen, dass Schüler und Lehrkräfte selektiver Schulen eine positive Einstellung gegenüber dem Schulgeschehen haben und dass es weniger zu Erscheinungen kommt, die das Bild der Schule beeinträchtigen. Das heißt, dass geplante und ungeplante Aktivitäten – unabhängig von den tatsächlichen Sozialisationseffekten – weniger die vorgegebenen Bildungsziele infrage stellen als in solchen Einrichtungen, in denen aufgrund von Zwangsrekrutierung oder beschränkten Selektionsmöglichkeiten wechselseitiges Misstrauen überwiegt. Die Wirklichkeit der Schule ist alloplastisch und wird durch Erwartungshaltungen im Sinn der Selffulfilling Prophecy geformt. Effekte einer ‚Selfdestroying Prophecy ދsind damit nicht ausgeschlossen. Die Konfrontation mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und öffentlich verbreiteten Bildern kann bei den Mitgliedern von Bildungseinrichtungen Aktionen auslösen, die eine ethisch-moralische oder empirische Unrichtigkeit der von außen kommenden Modellvorstellungen belegen sollen und damit auf eine Distanzierung hinauslaufen, die auch im alltäglichen Geschehen und in den Strukturen Spuren hinterlässt. Eine derartige Wirkung von Konstrukten ist nicht nur in Schulen mit Exzellenzstatus zu beobachten, sondern auch in solchen, die dem entgegengesetzten Pol der Schulwirklichkeit zugerechnet werden, Schulen also, die nicht oder wenig selektiv sind. Die Konstruktbildungen sind, gerade was Schulen mit einer marginalisierten Schülerschaft angeht, von einer gewissen Homogenität gekennzeichnet und erweisen sich in der Öffentlichkeit als besonders hartnäckig. Es kommt aber immer wieder zu Versuchen, den Nachweis zu führen, dass die Konstrukte falsch sind oder dass es sich um Zurechnungsfehler handelt, also dass es in Wahrheit in der Schule ganz anders zugeht, als es den öffentlich kursierenden Konstrukten entspricht. Negativ gefärbte Konstrukte
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5 Selffulfilling Prophecy
können Initiativen auslösen, die zeigen sollen, dass die Schule ‚besser ist als ihr Rufދ. Die Akteure, zum Beispiel die Lehrkräfte, betroffene Schüler oder von außen kommende engagierte Personen und Gruppen setzen sich zum Ziel, empirische Hinweise zu liefern, die den behaupteten Eigenschaften widersprechen, und handeln dabei so, dass eine Distanz zum Konstrukt geschaffen wird. Wie noch zu zeigen sein wird (Kap. 8.3), sind jedoch die Kräfte, die zur Widerlegung eines Konstrukts mobilisiert werden, nicht langfristig verfügbar. Der im Rahmen einer Selfdestroying Prophecy unternommene Versuch, sich gegen gesellschaftliche Zuschreibungen zur Wehr zu setzen, hat häufig nur symbolischen Charakter. Dementsprechend lässt auch die institutionelle Unterstützung dann nach, wenn die mediale Aufmerksamkeit nicht mehr gegeben ist. 5.4 Warming up und Cooling out 5.4 Warming up und Cooling out Die von Schulen, aber auch von Hochschulen betriebene Selektion hat Prozesse des ‚Warming up ދund des ‚Cooling out ދzur Folge (Clark 1960; 1974; Ulich 1991). Wer in eine Schule aufgenommen wird, die ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit genießt, erwartet, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, dass seine Begabungen gefördert werden und dass sich der Besuch dieser Schule positiv auf spätere Berufs- und Lebenschancen auswirkt. Das heißt, dass die Konstrukte, die an die Institution herangetragen werden, auch jeden Einzelnen in seiner Motivation beeinflussen. Das Image einer hochselektiven, nur den Leistungsstärksten vorbehaltenen ‚Exzellenzeinrichtung ދverschafft den so Ausgewählten eine Grundlage für ihr Selbstvertrauen und veranlasst sie zu besonderem Engagement. Was auch immer es gewesen ist, das dem Aspiranten ermöglicht hat, aufgenommen zu werden, es bewirkt eine optimistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und verstärkt das Interesse an den Lern- und Bildungsangeboten der Institution. Diese Zuversicht wächst im Verlauf der Zugehörigkeit zu der jeweiligen Einrichtung. Lernende und Studierende selektiver Bildungsinstitutionen schätzen sich selbst und ihre Mitschüler bzw. Studienkollegen als Angehörige einer Gruppe ein, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach Beendigung der Ausbildungszeit Spitzenpositionen in der Gesellschaft einnehmen wird (Parkin 1971, 63). Aus diesem Grund empfindet sich das Kollektiv gegenüber Gleichaltrigen, die keine selektiven Schulen besuchen, als anders und schließt sich als Gemeinschaft zusammen, die auf der Grundlage der von der Schule vorgegebenen Kontakte eine Kultur der Geselligkeit entwickelt. Durch Exklusion wird das Anderssein der Nichtmitglieder besonders hervorgehoben, während die Homogenität derjenigen, die in den Prozess der Inklusion einbezogen sind, betont wird.
5.4 Warming up und Cooling out
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Für den Einzelnen besteht damit die Möglichkeit, dass sich ein ohnehin positives Selbstbild bestätigt; er gehört zu einer Gruppe, weil er so ist, wie die Gruppe ihn sieht. Eine ausgeprägte Subkultur der Peers ist kennzeichnend für exklusive Schulen, weil sie die Funktion hat, prekäre Selbstbilder zu bestätigen. Das System der Schülergemeinschaft kann Selbstzweifel aufarbeiten, die aus dem von der Institution selbst sowie der sozialen Umwelt verursachten Erwartungsdruck entstehen, und auch möglichen Misserfolgserlebnissen entgegenwirken. Für Schülerinnen und Schüler ist die Gefahr, sich durch Misserfolge einschüchtern zu lassen, in selektiven Schulen größer als in anderen Bildungseinrichtungen. Denn zu dem Image dieser Institutionen gehört es, dass die Anforderungen hoch sind und dass die Mitgliedschaft riskant ist. Je mehr dieser Mythos von den Lernenden verinnerlicht wird, umso beunruhigender wirken schlechte Ergebnisse bei studienbegleitenden Prüfungen. Gerade das Konstrukt einer Elite, der nur besonders Leistungsstarke angehören können, lässt bei Misserfolgen die Frage aufkommen, ob eine so herausragende Stellung gehalten werden kann. Auch die Institution pflegt ein Klima der Auslese, und zwar unabhängig davon, wie rigoros sie bei den studienbegleitenden Prüfungen tatsächlich verfährt. Hinzu kommt ein Gesellschaftsbild, das diese Kultur ergänzt und verstärkt. Dem Konstrukt nach haben Fähigkeit und Leistung nicht nur im Bildungswesen, sondern auch in der Berufs- und Arbeitswelt absolute Geltung. Auf diese Weise werden die Privilegien derjenigen legitimiert, die sich in Spitzenpositionen befinden, wozu ja auch die Schülerinnen und Schüler exklusiver Bildungseinrichtungen gehören. Die Aufnahme in eine exklusive Schule begründet zwar für den einzelnen Schüler die Aussicht, gesetzte Ziel zu erreichen; jedoch handelt es sich nur um ein Urteil auf Zeit. Dem Begabungsurteil, das für die Aufnahme ausschlaggebend war, wird ein prognostischer Kern unterstellt, was aber eine Revision nicht ausschließt. Durch Begleitprüfungen wird, dem Anspruch der Schule nach, das Ergebnis der Aufnahmeprüfung validiert; jede zusätzliche Prüfung sichert die vorhergehenden ab. Die Schule lässt – so scheint es – Gerechtigkeit walten, weil Verbleib oder Nichtverbleib schwerwiegende Konsequenzen hat. Für Lernende und Studierende haben Zwischenprüfungen den Effekt, dass sie die Bedeutung der Institution zu Bewusstsein bringen und den Wert der Zugehörigkeit bekräftigen. Das heißt, dass auch bei einem relativ gemäßigten Selektionsmodus ein hoher Konformitätsdruck erzeugt werden kann. Eine zu hohe Selektionsquote kann den Widerstand der – in der Regel – einflussreichen Eltern mobilisieren. Aus diesem Grund sind gerade die Bildungseinrichtungen, denen von der Öffentlichkeit ein Exzellenzstatus zugeschrieben wird, hinsichtlich ihrer studienbegleitenden Prüfungen nur bedingt rigide, und zwar zumal dann, wenn es sich nicht um staatliche, sondern um private Einrichtungen handelt bzw. wenn
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der Anteil an der Eigenfinanzierung groß ist. Wenn Schüler gleichzeitig Kunden sind, die für eine Dienstleistung bezahlen, dann muss sich auch der Anbieter um ‚Kundenorientierung ދbemühen und den Wünschen der Nachfrager Rechnung tragen. Ein gemäßigter Selektionsmodus, der im Gegensatz zu den in der Öffentlichkeit vertretenen Leistungsnormen steht, wird in der Regel gar nicht bemerkt. Außerdem kann von Schulen mit Exzellenzanspruch geltend gemacht werden, dass die wichtigste Selektion, nämlich die Auswahl der Hochbegabten, schon bei der Eingangsprüfung stattgefunden hat und demgemäß die Kritik, dass tatsächlich zu milde Maßstäbe angelegt würden, nicht trifft. Zweifel an dem Anspruchsniveau von Schulen mit Exzellenzstatus, die durch gute Ergebnisse bei Zwischenprüfungen ausgelöst werden, können darüber hinaus mit Hinweisen auf die pädagogische Kompetenz der Institution und ihrer Lehrerschaft neutralisiert werden. Prüfungen, die gut ausfallen, bedeuten unter diesem Vorzeichen, dass die Schule aufgrund ihrer effizienten Verfahren und ihrer aufwendigen Betreuung zu besonderen Leistungen befähigt. Demgegenüber wären schlechte Prüfungsleistungen und rigorose Begleitselektionen für privat finanzierte Schulen nachteilig, würden sie doch die Gefahr mit sich bringen, als Beleg für pädagogisches Unvermögen zu gelten. Es ist daher nützlich, wenn die Behauptung der Auslese nicht durch Fakten, also durch zu zahlreiche Misserfolge bei Aufnahme- und Zwischenprüfungen gedeckt wird. Das ‚Warming-upދ, das durch ein vorübergehendes ‚Cooling-out ދunterbrochen wird, kann dazu führen, dass das Vertrauen des Schülers in die eigenen Kräfte nach Überwindung der Krise umso stetiger wächst. In den Gruppen der Peers wird dem Einzelnen bestätigt, dass er dazugehört, dass also der gesellschaftliche Elitestatus auch ihm persönlich zukommt. Die Clique schützt vor Frustration und Selbstzweifel, wenn nämlich aufgrund schlechter Leistungen die Frage aufkommt, ob man wirklich zu einer Gruppe gehören darf, die einen gesellschaftlichen Exzellenzstatus beansprucht. Sie hilft dem Einzelnen, zu positiven Selbstdefinitionen zurückzufinden, wenn die Gefahr besteht, dass schlechte Testergebnisse eine krisenhafte Entwicklung auslösen. Das schließt allerdings nicht aus, dass ein momentanes Versagen zu einem dauerhaften wird und dass die Gruppe eine Marginalisierung nicht verhindert, sondern sogar vorantreibt. Ausgrenzungen einzelner Gruppenmitglieder verstärken die Einschätzung, dass der verbleibende Rest über besonders wertvolle, gesellschaftlich relevante und seltene Anlagen verfügt. Das System der Gemeinschaft bestätigt durch die gelegentliche Ausgrenzung von ‚Unwürdigen ދdas Konstrukt der Auslese, das von der Institution gepflegt wird. Exklusive Schulen pflegen den Mythos einer Wertegemeinschaft, die sich gegenüber den Inkonsistenzen der Moderne behauptet und die in der sozialen Gemeinschaft von Eltern, Lehrern und Schülern ihre Entsprechung haben soll (Böhme 2000). Das bedeutet auch, dass die als
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„ontologische Heimat“ und „pädagogische Großfamilie“ konzeptualisierte Schule (Böhme, a.a.O., 90) sich von denjenigen Schülern trennen muss, die ihre Bewährungsprobe nicht bestehen. Der Snobismus, der die sozialen Zusammenschlüsse an selektiven Schulen kennzeichnet, ist gleichbedeutend mit dem Hervorkehren des Trennenden, also des herausgehobenen Status der eigenen Gruppe bzw. des sie umgebenden Kollektivs. Symbole und Verhaltensweisen sollen einen Lebensstil demonstrieren, zu dem die Schule zu berechtigen scheint. In den informalen Cliquen wird der Lebensstil der ‚Zielgruppenދ, jener Gruppen also, in die Schülerinnen und Schüler hoffen, nach bestandenem Examen integriert zu werden, nachgeahmt. Dies gelingt umso leichter, als es sich – zumindest bei einigen Schülerinnen und Schülern – auch um die Herkunftsschicht handelt. Was den Besuch der selektiven Schule lohnend macht, ist also nicht nur die Aussicht, bei der Verteilung von Positionen im Beschäftigungssystem bevorzugt zu werden, sondern auch ein Leben zu führen, das im Kreise der Familie und privater Geselligkeit bereits kennengelernt wurde. Je mehr auf die Merkmale dieser Gruppe fokussiert wird, umso stärker ist auch der Anspruch auf gesellschaftliche Zugehörigkeit. Gerade weil der künftige Status noch nicht sicher ist, wird durch Betonung von Symbolen, die das Trennende zu anderen Schulen und Kollektiven hervorheben, der Anspruch auf Mitgliedschaft demonstriert. Von den Strategien des ‚Cooling out ދund der informalen Marginalisierung sind daher besonders diejenigen betroffen, die in Hinblick auf ihren familiären Hintergrund eine Sonderposition einnehmen, deren gesellschaftlicher Status somit nicht klar ist und die daher auch bezüglich ihrer Zukunft nicht sicher sein können, dass es ihnen gelingt, von den angestrebten Zielgruppen aufgenommen zu werden. Sofern sie nicht durch schulische oder akademische Leistungen dieses Defizit zu kompensieren vermögen, müssen sie davon ausgehen, dass ihnen nicht in gleichem Maß wie anderen, die den Kriterien des Gesellschaftlichen ohne Abstriche entsprechen, Unterstützung zuteil wird. Um Ressourcen und langfristig auch das Fortbestehen zu sichern, ist es für selektive Schulen wichtig, dass eine positive Grundhaltung von Lehrern und Schülern, das heißt die Loyalität gegenüber ihren Maßstäben, Normen und Werten, auch nach außen dargestellt wird. Das ‚Warming up ދder Schülerinnen und Schüler, die Ermutigung, an die eigene Leistungsfähigkeit und an die Belohnung ihrer Leistungen zu glauben, entspricht daher auch den Interessen der Institution. Es gibt einen verordneten Optimismus, der in allen öffentlichen Veranstaltungen der Schule, bei Jahresfeiern und Festen, vor allem bei der Verleihung von Zeugnissen zum Ausdruck gebracht wird. Derselbe Optimismus kennzeichnet auch die Aktionen und Projekte, die öffentlichkeitswirksam inszeniert werden. Dieses öffentlich präsentierte positive Schulklima ist mit dem
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Konstrukt der Allokation eng verbunden. Das Renommee von Schulen geht mit impliziten Unterstellungen hinsichtlich ihrer remunerativen und allokativen Potenz einher. Der Bildungsanspruch exklusiver Bildungseinrichtungen kann, so allgemein auch die Bildungsziele formuliert werden, von den sozialen und ökonomischen Chancen ihrer Absolventen nicht getrennt werden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Zukunftsversprechen wird plausibel, dass die Schule mit der – wenn auch kritischen – Konformität der Schülerinnen und Schüler rechnen kann. Die Schülerschaft nimmt die Anregungen und Förderungen positiv auf, wenn es sich ‚lohntދ, das heißt wenn sie hoffen können, auch in ihrem späteren Erwachsenenleben, nicht zuletzt in ihrem Beruf, davon zu profitieren. Daher muss der Eindruck, den die Schule der Öffentlichkeit vermittelt, so sein, als ob ihre Schülerinnen und Schüler sicher sein könnten, gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Das Schulklima ist nach Einschätzung der Öffentlichkeit ein Indikator für die Bedeutung der Schule als „Dirigierungsstelle für Sozialchancen“ (Schelsky 1965). Eine positive Einstellung aller am Schulgeschehen Beteiligten spricht dafür, dass die Schule ihre Klientel gut versorgt, das heißt, dass ihre Dienstleistungen die Absolventen so ausstatten, dass sie für den beruflichen Wettbewerb gut gerüstet sind. Da die Qualität der ‚Bildungsgüter ދnicht gemessen werden kann, geht es darum, durch Zuversicht ihren Wert, das heißt ihre gesellschaftliche und individuelle Funktionalität glaubhaft zu machen.2 Nur solange Schulträger, Schulleitung, Lehrer, Eltern und Schüler an die Position ‚ihrer ދSchule im Berechtigungssystem glauben, besteht die Aussicht, dass diese die Ausbildungs- und Berufskarrieren ihrer Absolventen positiv beeinflussen kann. Die Gesellschaft räumt also denjenigen Chancen ein, die von sich selbst glauben, dass sie Chancen haben. Prozesse der Selffulfilling Prophecy beziehen sich daher auch auf die Schule als Institution und auf ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit. Die Bildungsorganisation, die ein Bild vermittelt, nach dem sie Schüler sorgfältig nach ihrer Leistungsfähigkeit auswählt, sie zwischenzeitlich prüft, ihnen anspruchsvolle Aufgaben stellt und sie mit berufs- und lebensrelevanten Kompetenzen ausstattet, die darüber hinaus in der Lage ist, Schüler, Lehrer und Eltern zu mobilisieren und ihre Aktivitäten öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, erfüllt diese Voraussetzungen. Erziehung, Bildung und Ausbildung können in der Öffentlichkeit dann als erfolgreich dargestellt werden, wenn die Beteiligten von ihrem Wert – nicht zuletzt auch in allokativer Hinsicht – überzeugt sind. Auf der Grundlage von ‚Wirklichkeitsentwürfenދ, verbunden mit Erfolgsbotschaften, erwirbt die exklusive Schule ihr Renommee. 2
Versuche, den Einfluss der Schule auf die kognitive Entwicklung empirisch zu bestimmen, führen zu inkonsistenten und diffusen Ergebnissen. Vgl. Weinert 2001, 13589 – 13594
5.5 Schulen ohne remunerative Macht
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5.5 Schulen ohne remunerative Macht 5.5 Schulen ohne remunerative Macht Der psychische Druck, der in selektiven Schulen bildungsbegleitend aufgebaut wird, genügt in der Regel, um abweichendes Verhalten, das in nichtselektiven Schulen an der Tagesordnung ist, zu verhindern. Konformität entsteht in exklusiven Einrichtungen über Zwischenprüfungen und antizipierte Abschlussprüfungen sowie die damit verbundenen allokativen Vorteile. Eine weitere Maßnahme zur Lösung von Devianzproblemen, über die andere Schulen nicht verfügen, besteht in der Relegation, also in dem Entfernen des Schülers aus der Schulgemeinschaft. Der Schulverweis selbst ist allerdings nur die letzte Konsequenz. Über eine vielstufige Abfolge der Verwarnungen, der Benachrichtigung der Eltern, der pädagogischen Konferenzen usw., die bereits auf einen möglichen Ausschluss Bezug nehmen, kann ein erheblicher Konformitätsdruck aufgebaut werden. Besonders in Schulen mit Förderer- und Alumni-Netzwerken ist der Schulverweis ein machtvolles Sanktionsmittel. Denn nicht nur die Schülerschaft, auch die Eltern profitieren – über die affektive Bindung hinaus – ökonomisch und sozial von den Beziehungen, die über die Schule hergestellt werden. Wenn ein Schüler die Schule aufgrund von Fehlverhalten verlassen muss, werden auch die Angehörigen bestraft, indem sie von Verkehrskreisen ausgeschlossen werden, die für sie wichtig sind. Zusammengenommen ergibt sich, dass über Inklusions- und Exklusionsentscheidungen in selektiven Schulen Konformität sichergestellt wird. Zum öffentlichen Erscheinungsbild selektiver und hochselektiver Schulen gehört die Konformität der Schülerinnen und Schüler. Dem widersprechen nicht die gelegentlichen Abweichungen, die einen informal festgelegten Rahmen nicht überschreiten und die von der Schulleitung eher gefördert als verhindert werden, weil sie der Öffentlichkeit bestätigen, dass es sich um ‚ganz normale ދJugendliche handelt, die alters- und entwicklungsbedingte Verhaltensweisen zeigen. Die mit dem Exklusivitätsanspruch verbundene Konformität beruht auf remunerativer Macht, also auf den Möglichkeiten der Institution, gesellschaftliche und materielle Vorteile zu verschaffen oder zu entziehen, während andere Ursachen, zum Beispiel die intrinsische Motivation der Lernenden und ein klassenspezifischer Habitus3, eher zweitrangig sind. Konformität im Sinne eines geordnet erscheinenden Schulgeschehens führt zur Anerkennung im gesellschaftlichen Umfeld, und zwar auch gegenüber den Methoden, die ein solches Zusammenleben der Beteiligten und ein den Lern- und Bildungszielen förderliches Verhalten im Unterricht zu ermöglichen scheinen. Jedoch sind es nicht remunerative 3
Zum Begriff des Habitus s. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt 1987, S. 277 ff.
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Machtmittel, sondern die überlegenen pädagogischen Instrumente und engagierte, gut ausgebildete Lehrkräfte, die dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Konstrukt entsprechend Konformität in selektiven Schulen hervorbringen. In den Schulen der Benachteiligten ist dagegen kaum zu vermitteln, dass es sich lohnt, Lern- und Bildungsangebote wahrzunehmen. Remunerative Macht, die über die Vermittlung von Berufschancen und andere materielle Vorteile zustande kommt, entfällt als Mittel der Konformitätssicherung. Von den Schülerinnen und Schülern nichtselektiver Schulen wird erwartet, dass sie versagen, und zwar noch bevor sie die Chance gehabt haben, sich zu bewähren. Schon der Besuch einer solchen Schule stellt aus der Sicht der Öffentlichkeit einen Misserfolg dar. Wer als Schüler einer nichtselektiven Schule bei der Stellensuche oder im späteren Arbeitsleben keinen Erfolg hat, entspricht den gesellschaftlichen Erwartungen. Nicht das Versagen, sondern der Erfolg ist erklärungsbedürftig. Wer eine nichtselektive Schule besucht, hat es nach allgemeiner Einschätzung nicht geschafft, von einer anderen Schule aufgenommen zu werden. Das heißt, dass „die Unterschiede des kulturellen Kapitals und die Wahrnehmung objektiver Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in diesem System viele Schüler mit geringen Ressourcen demotiviert“ (Collins 2004, 81). Während in selektiven Schulen, besonders in Schulen mit Exzellenzanspruch, Kooperation auf der Grundlage von Vertrauen zustande kommt, müssen nichtselektive Schulen Zwangsmaßnahmen, also in letzter Konsequenz physische Sanktionen androhen, um ein Mindestmaß an Kooperation sicherzustellen. Zwang ist jedoch „weit davon entfernt, eine brauchbare Alternative zum Vertrauen“ zu sein (Gambetta, a.a.O., 215). „Zwang, der gegen den Willen der Subjekte ausgeführt wird – gegen Menschen, die keine Selbstverpflichtung eingegangen sind, um sich davon abzuhalten, bestimmte Handlungen auszuführen, oder die die Legitimität der Durchsetzung bestimmter Rechte nicht anerkennen –, dieser Zwang stellt zwar weniger Ansprüche an unser Vertrauen in andere, kann gleichzeitig aber das Vertrauen reduzieren …“ (Gambetta, ebd.). Das heißt, dass nichtselektive Schulen auf die groben und wenig steuerbaren Sanktionen des Ordnungsrechts zurückgreifen müssen, wohingegen selektive Schulen in der Lage sind, durch Prüfungsergebnisse zu belohnen oder zu bestrafen, und zwar solange zumindest der Eindruck besteht, die von ihnen attestierten Leistungen würden sich auf dem Arbeitsmarkt und im Berufsleben ‚auszahlenދ. Lehrer in selektiven Schulen können ihre remunerative Macht dadurch stärken, dass sie den Eindruck guter Beschäftigungschancen auf der Grundlage der von ihnen vergebenen Zertifikate vermitteln. Die in Aussicht gestellten Gratifikationen für schulisches Lernen sind – unabhängig von dem Realitätsgehalt solcher Versprechungen – eine Möglichkeit der Kontrolle und der Konformitätssicherung. Schüler, die sich Chancen ausrechnen, über einen guten
5.5 Schulen ohne remunerative Macht
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Schulabschluss ihre Position im Beschäftigungssystem zu verbessern, zeigen eine größere Bereitschaft als andere, sich den Regeln des Unterrichts zu fügen. Lehrer haben also selbst ein Interesse daran, dass der Wert von Abschlüssen ihrer Schule hoch eingeschätzt wird. Sie können zu diesem Zweck Einschätzungen zum Beschäftigungssystem an die Schüler weitergeben, die, sofern solche Prognosen in ihr Fachgebiet fallen, als besonders glaubwürdig erscheinen. Auch in nichtselektiven Schulen können Informationen weitergegeben werden, die sich auf die mit dem Schulabschluss verbundenen Chancen beziehen, selbst wenn diese bescheiden sind. Wenn jedoch den Schülern wider besseren Wissens Hoffnungen gemacht wird, durch den Schulabschluss eine Stelle zu finden und möglicherweise durch gute Noten anderen Bewerbern vorgezogen zu werden, dann wird remunerative Macht erschlichen. Die Folge eines solchen Missbrauchs kann darin bestehen, dass Ehemalige im Rahmen ihrer persönlichen Verkehrskreise über die leeren Versprechungen der Lehrer aufklären, was eine vernichtende Wirkung für deren Ansehen sowie für das Vertrauen gegenüber der Schule zur Folge hat. Für nichtselektive Schulen gilt, dass wegen des Zwangs, der den Schülern und deren Familien angedroht wird, eine Kooperation nicht zu erwarten ist. In nichtselektiven Schulen gibt es, vergleichbar mit kustodialen Organisationen, mit Organisationen also, die den Schutz der Insassen und der sie umgebenden Gesellschaft zum Ziel haben, eine scharfe Trennung zwischen der Welt des Personals und der Welt der Betreuten (vgl. Goffman 1972). Beide Gruppen verständigen sich jeweils in ihrem eigenen sprachlichen Code. An nichtselektiven Schulen haben informale Zusammenschlüsse unter Schülern die Funktion, vor Repressalien des Systems zu schützen und Gegenmacht zum Personal aufzubauen, also durch geschicktes Manövrieren Anordnungen zu unterlaufen und Sanktionen zu entwickeln, die gegen die Schulleitung und die Lehrkräfte gerichtet sind. Auf der Grundlage von taktischen Erwägungen, vor allem der Vorteilssicherung, können nichtsdestoweniger Vereinbarungen mit dem Personal zustande kommen, die, wenn auch nur punktuell, das Verhalten der Schülerschaft regeln. Jedoch wird diese Zusammenarbeit nicht auf allgemeiner Ebene hergestellt, und zwar weil das Vertrauen gegenüber dem System der Schule fehlt. Die Kontakte zwischen den ‚Lagern ދerfolgen aus gegebenem Anlass, wobei die Ausgewogenheit des Austauschs genau überwacht wird. Das ‚Do ut des ދderartiger Arrangements ist ein Beleg dafür, dass an die Stelle einer allgemeinen Vertrauensbasis ein zögerndes, mit Enttäuschungserwartungen gekoppeltes Vertrauen tritt, das auf bestimmte Handlungsebenen beschränkt bleibt. Auch ‚vertrauensbildende Maßnahmen ދvon Seiten der Lehrkräfte können dieses generelle Misstrauen nicht überwinden. Denn stärker als an anderen Schulen ist den Schülerinnen und Schülern an nichtselektiven Schulen die Welt der Lehrer,
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ihr Lebensstil, ihre Alltagswirklichkeit und ihr kultureller Hintergrund fremd. Es gibt somit wenig Vorlieben, Interessen und Bewertungen, die als Anknüpfungspunkte dienen und zwischen den Lebenswelten vermitteln könnten. Die von den Lehrern repräsentierte Schule ist für die Klientel der Schulpflichtigen ein Erfahrungsraum, der mit Entfremdung und Anomie konnotiert ist und dem sie nach Möglichkeit zu entkommen suchen. Die Lehrkräfte sind jedoch auch in Schulen ohne remunerative Macht darauf angewiesen, dass von Seiten der Schüler ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft besteht. Obwohl den Schülern das Vertrauen in das System der Schule fehlt, sehen sich einzelne Angehörige der Lehrerschaft veranlasst, Vertrauen auf einer persönlichen Ebene herzustellen. Grundlage für derartige Beziehungen können zum Beispiel Freizeitinteressen, sportliche Aktivitäten oder musikalisch-ästhetische Vorlieben sein. Es besteht aber die Gefahr, dass ihre Klientel diese Art der Angleichung als Camouflage deutet und Strategien entwickelt, um die wahre Identität ihres sozialen Gegenübers zum Vorschein zu bringen. Auch kann sich für das Personal ein schwieriges, ja paradoxes Verhältnis zur Schule als Institution ergeben: Wenn Lehrer von Schülern akzeptiert sein wollen, um auf dieser Ebene erziehend und bildend tätig werden zu können, dann dürfen sie in das formale System der Schule nicht zu sehr involviert sein. Vielmehr müssen sie – zumindest symbolisch – Rollendistanz gegenüber der Schule als Institution und den formalen Elementen ihres Berufs zum Ausdruck bringen, um pädagogische Situationen herstellen zu können. Das bedeutet, dass persönliche Vertrauensverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern in solchen Einrichtungen eine Ausnahme darstellen. Die beständig wiederkehrenden Enttäuschungen, die Schülerinnen und Schüler an nichtselektiven Schulen erfahren, werden in die selbstgeschaffenen Gemeinschaften hineingetragen, wo sie für Konflikte sorgen, sodass auch Gewalthandlungen an der Tagesordnung sind. Auf der Grundlage der Ausgrenzungen kommt unter den Peers nur eine zerbrechliche Solidarität zustande, die durch Rivalitäten in Frage gestellt wird. Je hoffnungsloser die Lage der Heranwachsenden, umso mehr grenzt sich die informale Ordnung von der formalen Organisation der Schule ab und umso mehr durchdringt sie das Alltagsleben jedes einzelnen Schülers. Dass die negative Auslese, die durch das Bildungswesen hergestellt wird, auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung bedeutet, bleibt den Betroffenen nicht verborgen. Alle Versuche von Seiten der Schulleitung und der Behörden, dem allgemeinen Misstrauen und damit auch der Gewalt entgegenzuwirken, zum Beispiel durch pädagogisch ambitionierte Projekte, können vor diesem Hintergrund nur bedingt, also eher in Ausnahmefällen, erfolgreich sein.
5.5 Schulen ohne remunerative Macht
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Ob überhaupt regulärer Unterricht stattfinden kann, ist in solchen Einrichtungen, deren Klientel nicht die Möglichkeit gehabt hat, sich eine Schule auszusuchen, keine Selbstverständlichkeit. Eventuell muss sogar die bloße Anwesenheit erzwungen werden, womit die Grundlage für Motivation und Vertrauen noch mehr zerstört wird. Sachbeschädigung und ‚Umfunktionieren ދvon Räumen und Gegenständen, aber auch die sprachlich zum Ausdruck gebrachte Verweigerung von Kooperation bringen den Protest gegen die gesellschaftliche Marginalisierung zum Ausdruck. Die Schulleitung und die Lehrerschaft sind in ihren Reaktionen nicht frei. Vielmehr ist die Schule in ein institutionelles Geflecht eingebunden, das höchstens hin und wieder – unter taktischen Gesichtspunkten – ein Zurückweichen oder Nichtbeachten erlaubt, obwohl aufgrund fehlender remunerativer Machtmittel der Erfolg von Interventionen fraglich ist. „Was aus der Perspektive der Schüler als angemessenes Coping-Verhalten in schwierigen Schulsituationen verstanden wird, lässt sich aus der Sicht der zentralen Kontrollinstanzen als deviantes Verhalten von Schülern etikettieren“ (Zinnecker 2004, 503). Wenn die Antizipation des beruflichen Schicksals ein resignatives oder widerständiges Verhalten der Schülerschaft zur Folge hat, dann sind nichtselektive Schulen von ihrer Struktur her durch prekäre Machtverhältnisse gekennzeichnet. Gerade die nichtselektiven Schulen sind auf ‚intrinsische ދMotivation angewiesen. Die Beweggründe für ein den pädagogischen Zielen entsprechendes Handeln muss, wenn Repressalien vermieden werden sollen, aus dem lebensweltlichen Nutzen oder aus der Aktivität selbst sich ergeben. Da die Allokation entfällt, also Schülerinnen und Schüler nicht lernen, ‚weil es sich lohntދ, können Schulleitung und Lehrkräfte nur dann erfolgreich sein, wenn sich ein Interesse am Unterrichtsgegenstand entwickelt, und zwar unabhängig von dem Wert, der dem Gelernten im Rahmen des Kredentialismus zukommt. Von Zwangsmitteln abgesehen ist diese Art der Motivation – bei fehlender remunerativer Macht – das einzige Mittel, Schüler zur Kooperation zu veranlassen. Daher ist es für die Lehrkräfte wichtig, den Schülern den Eindruck zu vermitteln, dass sie in der Schule etwas ‚Sinnvolles ދtun. Die Schüler überhaupt zu motivieren hat Priorität, nicht aber der Unterrichtsgegenstand. Computerkenntnisse, Erste-Hilfe-Kurse, Bewerbungstrainings usw. werden angeboten, um bei fehlender Gratifikation über Noten und Zeugnisse und damit verbundenen Arbeitsmarktchancen den Eindruck zu erwecken, dass in der Schule etwas Nützliches gelernt werden kann. Auch mit diesen Mitteln ist es in der Regel nicht möglich, die Motivation der Beteiligten mehr zu wecken, als es für die Einhaltung der Regularien notwendig ist. Dazu trägt auch bei, dass der Residualcharakter der Schule manifest bleibt. In der Kommunikation unter Schülerinnen und Schülern verschiedener Schultypen werden die mit dem Abgangszeugnis vermittelten Berechtigungen
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thematisiert. Die nichtselektive Schule ist dabei Objekt einer Verachtung, die für die Schülerinnen und Schüler dieser Schulen nur dann zu ertragen ist, wenn sie sich selbst von ihnen distanzieren. Während sich in exklusiven Schulen Konformitätseffekte bereits durch die Mitgliedschaft ergeben, wird in nichtselektiven Schulen die Kooperation mit den Lehrkräften durch die Mitgliedschaft in Frage gestellt. Im einen Fall kann schon eine schlechte – weil in sich nicht stimmige oder von falschen Annahmen ausgehende – Pädagogik relativ erfolgreich sein, im anderen Fall scheitert auch eine überzeugende Pädagogik, und zwar selbst wenn sie von einer gut ausgebildeten Lehrerschaft vermittelt wird. Was also in der hochselektiven Schule schon eine Auszeichnung bedeutet, nämlich die Zugehörigkeit zu der betreffenden Institution, ist in der nichtselektiven Schule ein Stigma. So ist es zum Beispiel nicht vorstellbar, dass Schülerinnen und Schüler nichtselektiver Schulen, was ja bei anderen Schulen sehr beliebt ist, sich mit Accessoires und Kleidungsstücken ausstatten, die auf die Zugehörigkeit zu ihrer Schule verweisen. Alle Bemühungen, Schulen mit einer ‚corporate identity‘ auszustatten, um über die Mitgliedschaftsrolle die Motivation zu verbessern, haben nur in selektiven Schulen Erfolg. Die populäre Vorstellung, dass bürokratische Hemmnisse, die Abhängigkeit des Lehrers von höheren Instanzen zum Beispiel und einengende Vorschriften, zu prekären Lehrer-Schüler-Interaktionen führen, lässt die strukturellen Ursachen negativer Selektivität außer Acht. Demgemäß sind auch Versuche zur Entbürokratisierung und zur Implementierung selbstregulativer Mechanismen nur bedingt dazu tauglich, Änderungen in strukturell benachteiligten Schulen herbeizuführen. Mehr Möglichkeiten zur Selbstentfaltung für Lehrerschaft und Schulleitung heben nicht die strukturellen Zwänge auf, denen die Schulen der Benachteiligten ausgesetzt sind und die häufig zu einem Zustand der Dauerkrise führen. Auch sehr begründete Reformansätze scheitern in der Regel nach kurzer Zeit. Ebenso führen spektakuläre Personalwechsel in der Schulleitung nicht zu dauerhaften Erfolgen. Trotzdem erscheinen die ‚Missstände ދin vielen nichtselektiven Schulen virulent genug, um immer wieder neue Versuche zu starten, über eine Veränderung der ‚Betriebsstrukturen ދdie offensichtlichen Schwierigkeiten zu beheben. Die Persistenz der Probleme zeigt, dass die Ursachen an anderer Stelle zu suchen sind, also dass zum Beispiel der Mangel an dauerhaften und zukunftsweisenden Gratifikationen die Konformitäts- und Kooperationsbereitschaft der Schülerschaft in nichtselektiven Schulen einschränkt.4 4
Vergleicht man die Extreme der hochselektiven und der nichtselektiven Schulen, so treten die Folgen der Auslese für das Schulklima und die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern deutlich hervor. Jede neue Niveaudifferenzierung zwischen Schulen bzw. Schultypen schafft nicht nur einen Motivationsschub für die Spitzenreiter, sondern lässt auch alle Übrigen in ihrem Rang sowie in dem zu erwartenden, systemisch erzeugten Engagement zurückfallen. Das
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Da einige Schulen die Möglichkeit haben, sich ihre Klientel auszusuchen, andere aber nicht, können auch die Ergebnisse von Lern- und Bildungsprozessen nicht gleich sein, es sei denn, die nichtselektiven Schulen hätten aufgrund einer besonderen personellen und materiellen Ausstattung oder aufgrund überlegener methodischer und didaktischer Verfahren die Mittel zur Verfügung, die es ihnen gestatteten, auch bei ungünstigeren Ausgangsbedingungen zu vergleichbaren Zielen zu kommen. Demgegenüber ist davon auszugehen, dass ein ungünstiger Selektionsmodus mit Ressourcenknappheit einhergeht. Fehlendes Renommee hat für eine Schule auch geringere wirtschaftliche Unterstützung, zum Beispiel eine geringere Spendenbereitschaft von Sponsoren, zur Folge. Hinzu kommt, dass einige pädagogische Verfahren in prestigearmen Schulen aus strukturellen Gründen nicht angewendet werden können. Selektion und Sozialisation sind weitgehend austauschbare Prozesse; wer entsprechend selektiert, kann sich einen Teil der Sozialisation, das heißt, auf die Schule bezogen, der Erziehungs- und Bildungsbemühungen sparen, weil die erwünschten Eigenschaften ja schon vorhanden sind oder sich aufgrund von Zuschreibungsprozessen bereits dann einstellen, wenn die Auswahl und der damit verbundene Anspruch bekannt und bewusst gemacht werden. Das bedeutet eine doppelte Benachteiligung der nichtselektiven Schulen, nämlich dass sie einen weiteren Weg zurückzulegen haben und dass ihnen gleichzeitig nicht die Mittel zur Verfügung gestellt werden, um genügend Lehrkräfte zum Einsatz zu bringen und ihre Ausstattung auf einem konkurrenzfähigen Stand zu halten. In der Öffentlichkeit ist dagegen das Konstrukt vorherrschend, dass die – tatsächlichen oder vermeintlichen – Erfolge der selektiven Schulen nicht auf Exklusion und Allokation, sondern auf Erziehung und Bildung, das heißt auf eine besondere Effizienz der von ihnen eingesetzten Methoden zurückzuführen seien.
heißt, dass Exzellenzprogramme auch mit sozialen Kosten verbunden sind. Gleiches gilt für die Zulassung und Förderung sozial exklusiver Privatschulen, die ja nur deshalb Gebühren erheben können, weil in der Öffentlichkeit der Eindruck besteht, dass sie anderen Institutionen überlegen seien. Da sozialer Rang in der Summe begrenzt ist, wird das Prestige, das einer Institution und den von ihr ausgestellten Zertifikaten zuerkannt wird, anderen entzogen. Dementsprechend gewinnen oder verlieren Schulen an remunerativer Macht.
6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
6.1 Interesse und Konstrukt 6.1 Interesse und Konstrukt Die Konstrukte, die sich auf die Schule beziehen, sind Aussagen über die Wirklichkeit, die für wahr gehalten werden, weil sie plausibel erscheinen. Nichtsdestoweniger sind Konstrukte durch Interessen geprägt. Die Akteure, die ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit verbreiten, beabsichtigen auch reale Veränderungen oder sind zumindest darauf bedacht, eine als bedrohlich angesehene Veränderung zu verhindern. Gerade im politischen Prozess ist das Konstrukt nicht nur der Versuch der Beschreibung, sondern auch der Formung. Normen und Institutionen legitimieren sich durch Wirklichkeitsbeschreibungen, die bereits intentionale Elemente beinhalten, also auf die Veränderung oder Erhaltung der gegebenen Zustände bezogen sind. Vor allem im Zuge des strategischen Handelns von Kollektiven werden Konstrukte entwickelt und verbreitet, die selbst wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen sind, sodass Konflikte nicht nur auf der sozialen, sondern auch auf der ideologischen Ebene ausgetragen werden, ja beide Bereiche sich durchmischen. Der Zweck von Konstrukten, die einen sozialen Zustand beschreiben, besteht im politischen Kontext darin, Folgerungen für das Handeln hervorzubringen. Die Beschreibung und analytische Verdichtung des Ist-Zustandes im Konstrukt ist Bestandteil strategischen Handelns und wird an vermutlichen Reaktionen anderer, zum Beispiel an einer möglichen Solidarisierung von bislang Unbeteiligten oder der Schwächung von Kontrahenten ausgerichtet. Zwar sind auch – im Habermasތschen Sinn – Prozesse der rationalen Klärung möglich. Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass die am öffentlichen Diskurs Beteiligten, den Vorstellungen einer deliberativen Demokratie entsprechend, Argumente austauschen, ohne ihre positionalen Standpunkte ins Spiel zu bringen. Jedoch lassen sich Akteure – bewusst oder unbewusst – auch dann noch von ihren Interessen leiten, wenn sie selbst überzeugt sind, sich am Gemeinwohl zu orientieren. Gerade in Bezug auf die Schule sind die im Kode der Tatsachenbeschreibung vorgetragenen Konstrukte gleichzeitig Schul- und Bildungspolitik. Für kollektive Akteure wie zum Beispiel Behörden, Parteien, Kirchen, für Unternehmen und Verbände, für soziale Bewegungen der verschiedensten Art, für Elternorganisationen, Bürgervereinigungen usw. ist die Schule ein Mittel,
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
ihre kollektiven Zielvorstellungen zu verfolgen. Das Bildungswesen stellt in befriedeten, demokratischen Gesellschaften neben der Wissenschaft und den Medien die wichtigste Institution dar, um langfristig die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu beeinflussen. Das heißt, dass die Vorstellungen zur Gestaltung des Bildungswesens, die von den verschiedenen öffentlich agierenden Gruppen produziert werden, das Streben nach Positionsbehauptung und Positionsausbau zum Ausdruck bringen. Bildungspolitische Debatten zeigen, dass die öffentlich kursierenden Bilder zum Bildungswesen und zu den bildungsrelevanten gesellschaftlichen Gegebenheiten unter den Akteuren umstritten sind, und zwar wegen der politischen Implikationen, die dem Konstrukt der Wirklichkeit folgen. Die Schule ist, auch wenn sie sich als ein friedliches Mittel zur Durchsetzung von Interessen darstellt, für niemanden neutral. Deswegen geht es im Bildungssystem auch nicht oder nicht nur um die Umsetzung der besten, allen wissenschaftlichen Rationalitätskriterien entsprechenden Pädagogik. Vielmehr ist Schulpädagogik in ihren Ansätzen, Methoden und Ergebnissen deshalb so heterogen, ja widersprüchlich, weil sie politisch ist. Jede gesellschaftliche Gruppe, die das Ziel verfolgt, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu gestalten, muss Analysen, ja Konstrukte des Bildungswesens vorlegen. Dabei kommt es darauf an, den Zusammenhang zwischen Konstrukt und Politik zu kaschieren, weil nämlich nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im allgemein öffentlichen Diskurs, ja sogar in der lebensweltlichen Kommunikation Ideologiekritik betrieben wird und die Glaubwürdigkeit des Konstrukts mit der Aufdeckung des Interessenstandpunktes in Frage gestellt wird. Insofern ist es auch naheliegend, hinter einem affirmativen Duktus der Wirklichkeitsbeschreibung ein besonders vehementes politisches Interesse zu vermuten. In politischen Zusammenhängen gibt es eine gewisse Illusionsfreiheit und damit auch eine Ideologieresistenz hinsichtlich der interessengeleiteten Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, was sich auch in Diskursen zur Bildungspolitik bemerkbar macht. Die Beteiligten wissen, dass Feststellungen darüber, was Schule ‚ist ދoder ‚eigentlich istދ, den Zweck verfolgen, Definitionen von Wirklichkeit durchzusetzen und damit nicht zuletzt Bildungspolitik zu betreiben. Naheliegend ist es auch, vom Konstrukt, das von einer Bürgerbewegung, einer Partei, einem Verband oder einer Gewerkschaft eingebracht wird, auf die politische Position zu schließen. Die Akteure in einem politischen Kräftefeld beobachten sich gegenseitig und sind sich über Implikationen im Klaren: Wenn von anderen Gruppen bestimmte Schulen oder das Bildungswesen insgesamt in einer bestimmten Weise gesehen und diese Sichtweise öffentlich kommuniziert wird, dann haben sie sich darauf einzustellen; sie müssen also eine bestimmte Politik hinnehmen oder Widerstand mobilisieren, und zwar zunächst
6.1 Interesse und Konstrukt
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einmal auf ideologischer Ebene. Sowohl machtvolle als auch weniger machtvolle Gruppen sehen sich daher gezwungen, ‚Flagge ދzu zeigen, das heißt sich Respekt zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass sie nicht ignoriert oder fremdbestimmt werden. Das Konstrukt Schule ist unter diesen Umständen nicht nur das Signal für eine bestimmte Sichtweise, sondern auch für Handlungsbereitschaft. Mit einer Beschreibung eines Zustandes machen Akteure in der politischen Arena deutlich, welche Ziele ihnen wichtig sind und welche bildungspolitische Richtung sie in Zukunft einschlagen werden. Schulen eignen sich in besonderem Maß für interessengeleitete Konstruktbildungen, weil sie, wie bereits festgestellt wurde, Leistungen erstellen, die in Hinblick auf ihre Beschaffenheit selbst sowie ihre Auswirkungen vage sind.1 Schulen sind Projektionsfläche für kollektive Wünsche und Ziele, für politische Programme und Ideologien. Mehr noch als bei anderen Organisationen fehlt das ‚Materialދ, das sich zu Objektivierungen eignen und das den interessenbedingten Deutungen Grenzen setzen würde. Insofern bewegen sich auch die Schulen selbst, wenn sie nämlich als kollektive Akteure auftreten, wenn sie, das heißt Lehrkräfte, Schulleiter, Lehrerverbände und -gewerkschaften sowie Elternorganisationen und Schüler, Forderungen stellen und diese mit der intimen Kenntnis der Schulwirklichkeit begründen, auf unsicherem Terrain. Die besondere Vertrautheit mit den zur Debatte stehenden Vorgängen wird in der Öffentlichkeit nicht als Beleg der Objektivität von Bestandsaufnahmen und schulpolitischen Folgerungen akzeptiert. Vielmehr wird die Sichtweise der an der Schule direkt Beteiligten nur als eine unter anderen verstanden, das heißt als eine mögliche Interpretation eines ambivalenten Geschehens. Lehrer, aber auch Schüler und Eltern, können sich nicht darauf berufen, ‚es wirklich zu wissen;ދ ihre Konstrukte lassen sich mit anderen konfrontieren, die aufgrund der Vieldeutigkeit des Handelns in der Schule, also dessen, was von den Lehrern als Bildung oder Erziehung verstanden wird, nicht weniger plausibel erscheinen. Mit anderen Worten gibt es Erfahrungen zu den Wirkungen von Maßnahmen, die dem zuwiderlaufen, was auf politischer Ebene diskutiert und mit Evidenzen 1
Organisationen, die nicht so schwer erfassbare Produkte erstellen, die zum Beispiel konkrete Objekte wie Autos produzieren, sind keinesfalls von Konstrukten unabhängig. Das Image eines Pkw bei den Verbrauchern, seine Ästhetik und seine Nützlichkeit, aber auch die öffentlichen Auseinandersetzungen über Folgeprobleme, etwa über Umweltschäden, sind Konstrukte. Das Objekt selbst aber steht nicht zur Diskussion, da die Wirklichkeit der Konstruktbildung enge Grenzen setzt. So lassen sich allen Vermutungen über die Eigenschaften des Objektes selbst – die Beschleunigung, der Benzinverbrauch, die Ausstattung usw. – harte Fakten entgegensetzen. Erst die Einbettung des Objekts in komplexere Zusammenhänge, in ökonomische, ökologische, technische oder ästhetische Diskurse, bringt Konstrukte ins Spiel. Im Fall der Schule dagegen muss schon auf Konstrukte zurückgegriffen werden, um die erwünschten Wirkungen, gewissermaßen das Produkt der Schule, zu erfassen.
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ausgestattet wird. Die auf der Aktionsebene gesammelten Erkenntnisse sind nur bedingt geeignet, die auf politischer Ebene gehandelten Vorstellungen und Denkfiguren zu dekonstruieren. Entsprechende Diskurse werden zwar in Teilöffentlichkeiten geführt; sie haben aber keine politische Durchschlagskraft. Als Abweichungen von den in der Öffentlichkeit diskutierten und kommentierten Plausibilitäten veranlassen sie die politischen Akteure nicht dazu, ihre Ziele aufzugeben. Das, was die Praxis gegenüber der Politik erreichen kann, ist in der Regel das Zugeständnis der Zweigleisigkeit, indem nämlich die Schul- und Bildungspolitik bzw. die Schuladministration die empirischen Widerständigkeiten, die von Verantwortlichen ‚vor Ort ދbeobachtet werden, berücksichtigen, obwohl sie mit ihren amtlichen oder behördlichen Maßnahmen fortfahren, das heißt also, dass sie sich auf eine weit komplexere Wirklichkeit einstellen, als es den offiziellen Verlautbarungen entspricht. Die an der Schule interessierten Kollektive belassen es nicht bei der Produktion von Konstrukten, sondern beteiligen sich an der Schul- und Bildungspolitik, fördern Schulen im Rahmen des Sponsoring, ja treten möglicherweise auch als Schulträger in Erscheinung. Mit der Veranstaltung von Unterricht werden Menschenbilder und Weltanschauungen aus der Abstraktion herausgehoben. Bildungsorganisationen sind gesellschaftliche Räume, die zu Demonstrationszwecken genutzt werden. Da, wo das Konstrukt ein reales Pendant hat, soll der Unterricht modellhaft abbilden, was in der Gesellschaft möglich sein könnte. Dabei gehen die vermuteten und angestrebten Folgen in die Darstellung des Ist-Zustandes über. Das heißt, dass von der Schule behauptet wird, eine Art ‚Basispersönlichkeit ދzu produzieren, die nicht allen, aber der großen Mehrheit ihrer Absolventen eigen sein soll. So ausgerüstet sei es möglich, den gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen und die Gesellschaft zu realisieren, die sich die jeweilige Gruppe wünscht. Das Schulgeschehen oder – genauer – das Konstrukt des Schulgeschehens erscheint als Nukleus des jeweiligen gesellschaftlichen Anliegens, also als das Zukünftige im Heute. Es soll gezeigt werden, dass Schülerinnen und Schüler, die in dieser Erfahrungswelt aufwachsen, besser für künftige Herausforderungen der Gesellschaft gerüstet sind und dass es mit Hilfe der Schule möglich ist, wünschenswerte Veränderungen herbeizuführen, ja dass diese bereits im begrenzten Raum der Schule verwirklicht worden sind. Schulpolitik verbindet sich auch mit dem Ziel, die Machbarkeit gesellschaftlicher Reformen demonstrieren. Der planhaft-modellartige Ablauf des Unterrichts und der pädagogischen Aktivitäten überhaupt soll Beleg dafür sein, dass der allgemeinere gesellschaftliche Entwurf, zu dessen Verwirklichung die Schule eingerichtet wurde, realisiert werden kann und dass man auf einem guten Weg dazu ist.
6.2 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem
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Die Schule ist nicht nur passives Objekt von Projektionen. Sie reagiert auch auf Fremdbilder, indem sie diese bestätigt oder sich von ihnen absetzt. Selbstund Fremdbild können ineinander übergehen. Ungünstige Fremdbilder können aber auch Aktivitäten in Gang setzen, die darauf gerichtet sind, das Gegenteil von dem zu ‚beweisenދ, was mit dem Konstrukt behauptet wird, wobei sich die Schule jedoch nach den gesellschaftlichen Gruppen richten muss, die ihr nahe stehen. Die Bindungen an die Kollektive von Trägern oder Unterstützern können mehr oder weniger eng sein. Von der Schule ist also nicht zu erwarten, dass die Konstrukte, die sie von sich selbst sowie vom Schulgeschehen allgemein entwickelt und an die Öffentlichkeit weitergibt, nicht auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse spiegeln, an denen sie teilhat. Gleichwohl können Schulen in die öffentliche Auseinandersetzung eingreifen, und zwar nicht nur, indem sie sich selbst präsentieren, sondern auch, indem sie die Konstrukte der anderen beeinflussen. Die Schule als Organisation erstellt eigene Konstrukte, um sich im politischen Wechselspiel zu positionieren. Dabei muss es auch Ziel der Schule sein, ihren Handlungsspielraum nicht durch Konstrukte, die an empirischen Widerständigkeiten vorbeigehen, einengen zu lassen. – Im Folgenden soll die politische Funktion von Konstrukten zum Schulwesen in einem vereinfachten Modell der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dargestellt werden. 6.2 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem 6.2 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem Die gesellschaftlichen Ziele, die sich mit der Bildungspolitik verbinden, lassen sich – als allgemeinste Art der Kategorisierung – einteilen in solche, die auf die Erhaltung und Absicherung des Status quo gerichtet sind, und solche, die eine gesellschaftliche Veränderung bewirken sollen, und zwar zum persönlichen Nutzen, zum Nutzen einer Gruppe oder der Gesellschaft. Diejenigen, die ein konservatives Interesse vertreten, sehen sich selbst oder das Kollektiv, dem sie objektiv zugehören oder sich zugehörig fühlen, als Nutznießer der Verhältnisse und/oder der akzeptierten Normen und Werte der Gesellschaft. Von den Progressiven werden dagegen die gesellschaftlichen Zustände als unzureichend empfunden, und zwar weil ihnen selbst oder – nach ihrer Einschätzung – dem Kollektiv, dem sie sich zurechnen, Güter oder Chancen vorenthalten bleiben bzw. weil die Gesellschaft den von ihnen vertretenen Werten und Ideen nicht entspricht. Die Konservativen sind die Etablierten, die gesellschaftlich anerkannte, mit Befugnissen und Prestige ausgestattete Positionen erreicht haben, während die Progressiven – tatsächlich oder vermeintlich – von diesen Positionen ausgeschlossen sind. Ziel der Progressiven ist es daher, diese Positionen
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
abzuschaffen und durch eine andere Ordnung zu ersetzen oder die Besetzung der Positionen zu ändern. Das Bestreben der Etablierten, die gesellschaftlichen Verhältnisse so weit wie möglich zu bewahren, schließt auch die Bewahrung von Grenzen mit ein, die soziale Gruppen, Schichten, Klassen oder Milieus voneinander trennen. Während die Progressiven auf Annäherung und Integration bedacht sind, versuchen die Konservativen, die Nivellierung von gesellschaftlichen Unterschieden, gerade auch in hierarchischer Hinsicht, zu verhindern. Als Inhaber privilegierter Positionen betonen die Konservativen vor allem den Abstand zwischen sich selbst und dem Rest der Bevölkerung. Geselligkeit und andere private Kontakte sollen bevorzugt unter ihresgleichen gepflegt, der Vorsprung bei den Einkommens- und Vermögensverhältnissen gewahrt und die gemeinsame Kultur erhalten und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Ihre Herausforderer stellen diese Unterschiede infrage, indem sie entweder ihre Werte und Vorstellungen anstelle der bereits etablierten setzen wollen oder indem sie von pluralen Gesellschaftsbildern ausgehen, nach denen jede Gruppe und jedes Kollektiv gleiche Möglichkeiten haben sollte, sich selbst zu verwirklichen. Sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Ebene wird von den Progressiven die Durchlässigkeit von Grenzen und der Kontakt von Menschen und Kulturen als wertvoll erachtet, während die Konservativen die ‚Gleichmacherei ދals eine Gefahr ansehen und auf die Bewahrung der Eigenart bedacht sind. Als einer der wichtigsten Klassiker der Elitentheorie geht Vilfredo Pareto (1916; 1975) davon aus, dass die Inhaber von Herrschaftspositionen die Minderheit, die Herausforderer dagegen die Mehrheit in der Bevölkerung ausmachen. In modernen postindustriellen Gesellschaften sind diese Relationen jedoch nicht so eindeutig. Vielmehr ist festzustellen, dass viele Positionen nicht zugeordnet werden können, also nicht eindeutig Teilhabe an oder Ausschluss von der Macht implizieren, und zwar weil die Quellen der Macht vielfältig geworden sind und Macht sich nicht bereits aus der Position ergibt, sondern aus dem, wie man die Position nutzt. Hinzu kommt die Segmentierung der Macht, indem Individuen mehrere Positionen innehaben können, die sie einerseits an der Macht beteiligen, andererseits von Macht ausschließen. Herrschaft ist also nicht nur und nicht eindeutig an Positionen gebunden. Establishment und Herausforderer sind als der Kern von gesellschaftlichen Lagern zu begreifen, deren Grenzziehungen flexibel sind. Das heißt, dass die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, die zum Beispiel durch eine hochdifferenzierte, komplexe Arbeitsteilung zustande kommt, auch zu Unsicherheiten bei der Wahrnehmung eigener Interessen und zu situativen, zeitlich gebundenen Allianzen führt. Nichtsdestoweniger ist auch bei flexiblen Grenzen, wie die politischen Kräfteverhältnisse in den demokratischen Ländern zeigen, eine Teilung in Lager möglich, wobei allerdings davon auszugehen ist,
6.2 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem
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dass Zuordnungen nach objektiven Merkmalen und mentale Selbstzuordnungen nicht deckungsgleich sind. Daher sind die politischen Akteure dieser Lager bemüht, diejenigen, die positional nicht festgelegt sind, auf die eigene Seite zu ziehen. Bei entsprechend überzeugenden Argumenten, Ideologien und Emotionalisierungen kann sich somit das eine wie auch das andere Lager um den eigentlichen Kern herum vergrößern, sodass sich möglicherweise auch die Verhältnisse von Minderheiten und Mehrheiten ändern. Die Unterschiede zwischen dem konservativen und dem progressiven Denken machen sich in der Bildungspolitik auf die Weise bemerkbar, dass die Etablierten ihre Bildungsprivilegien erhalten möchten, während die Progressiven sie infrage stellen. Während die einen darauf bedacht sind, dass das Bildungssystem in seiner vorhandenen Struktur Bestand hat und sich an den Rekrutierungsströmen nichts Wesentliches ändert, verfolgen die anderen das Ziel, die Schule auch für diejenigen zu öffnen, die bislang von weiterführenden Bildungsgängen ausgeschlossen waren. Das heißt, dass es einen interessengebundenen Streit um die Dauer, die Inhalte und den Sinn von Bildung gibt. Ähnlich wie das „ökonomische Kapital“ ruft auch das „kulturelle Kapital“ (vgl. Bourdieu 1994) beständig Verteilungskämpfe hervor. In der politischen Auseinandersetzung um Bildung möchten die einen ihren Besitz vermehren oder zumindest ihren vorhandenen Besitz absichern, die anderen sind darum bemüht, sich selbst intraoder intergenerationell in den Besitz von Kapital zu bringen und/oder die vorhandenen Differenzen aufzuheben. Das konservative Kollektiv ist darauf bedacht, die vorhandene soziale Ungleichheit sowie die damit einhergehenden Kräfteverhältnisse und Organisationsformen zu erhalten, während das progressive Kollektiv diese Strukturen ändern möchte. Derartige Verteilungskämpfe sind mit dem Ausdruck ‚Wettbewerb ދnur bedingt zu erfassen, da bei ‚Wettbewerb ދdie Güter, um die es geht, keinem Zweifel unterworfen sind, während bei den Konflikten, die das kulturelle Kapital betreffen, auch umstritten ist, worin das Kapital besteht.2 Die Forderung nach mehr Gleichheit in der Bildung entspricht also einer weiteren, nämlich der nach gesellschaftlicher Gleichheit. Während die einen soziale Ungleichheit erhalten wissen möchten, setzen sich die anderen dafür ein, über das Schulsystem einen Abbau gesellschaftlicher Unterschiede zu erreichen. 2
Das kulturelle Kapital lässt ähnliche Konflikte entstehen wie das ökonomische Kapital, und sie betreffen auch dessen legitimatorische Grundlagen. Hartmut Titze weist zum Beispiel schon für das 19. Jahrhundert nach, dass wegen des vermehrten Besuchs von Gymnasien und Universitäten die bildungsbürgerlichen Schichten die Entstehung eines „akademischen Proletariats“ befürchteten und sich von „Enteignung“ bedroht sahen; das Bündnis von Besitz- und Bildungsbürgertum im wilhelminischen Deutschland ist – so Titze – zustande gekommen, weil sich beide Lager gezwungen sahen, eine mögliche Depossedierung abzuwehren. Vgl. Titze 1996, 393f.
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
In den Bildungsdiskursen, die in der Öffentlichkeit geführt werden, verbinden beide Seiten ihre Positionen mit Argumenten, die am Gemeinwohl orientiert sind, also zum Beispiel mit ökonomischen oder auch demokratietheoretischen Denkfiguren. Mehr Bildung ist – so die progressive Seite – erforderlich, um den demokratischen Anspruch auf Partizipation aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu verwirklichen und durch Nutzung von Manpower wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen.3 Außerdem habe Bildung einen intrinsischen Wert, sei ein Genuss, auf den jeder als Bürger ein Anrecht habe. Die Konservativen dagegen betonen, dass langfristige schulische Bildungsprogramme eine Distanz zu den praktischen Anforderungen der Arbeitswelt schaffen. Darüber hinaus würden sich die Unterprivilegierten durch eine Öffnung des Bildungssystems von ihrer Lebenswelt entfremden, sodass – bei ausbleibendem sozialen Aufstieg – soziale Unzufriedenheit die Folge sei. Die Konservativen gehen also davon aus, dass der Bedarf des Beschäftigungssystems ohne Veränderung der Schulorganisation gedeckt werden kann. Das Beschäftigungssystem verändere sich in einem Tempo, das nur partielle Nachsteuerungen erforderlich mache. Die Progressiven dagegen stellen die Unangepasstheit des Bildungssystems fest, und zwar in Hinblick auf die künftigen wirtschaftlichen und beruflichen Anforderungen. Darüber hinaus betonen sie das Postulat der Chancengleichheit und fordern, dass ungleichheitsgenerierende Organisationsformen der Schule reformiert werden. Der Veränderungsbedarf wird von ihnen sowohl modernisierungstheoretisch als auch demokratietheoretisch begründet. Konservative und Progressive stellen den Funktionszusammenhang von Schule und Wirtschaft in den Vordergrund: Ein Wandel des Bildungssystems ist – so der Ansatz der Progressiven – erforderlich, damit sich die Wirtschaft den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs stellen kann. Für die Konservativen lassen sich eventuell erforderliche Veränderungen in den Bildungs- und Ausbildungskapazitäten nur an den tatsächlich sich wandelnden Bedarfsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt ablesen. Korrekturen bei den Organisationsformen sind, wenn überhaupt, vorsichtig und eher in Ausnahmefällen vorzunehmen. Wie es den Konservativen um eine Beibehaltung von sozialen Distanzen geht, so ist das Ziel der Progressiven deren Angleichung. Für beide ist die Schule der Gegenstand der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. In die Konstrukte und Pläne der beiden Lager gehen die Interessen ein, die sich aus der ökonomischen Position ergeben. Wenn das Bildungssystem demokratisiert wird und mehr Unterprivilegierte zu qualifizierten Schulabschlüssen kommen, liefert das konservative Lager 3
Zu der Frage, ob Bildung mit mehr Produktivität einhergeht, siehe auch Blough, M., a.a.O., bes. S. 51
6.2 Öffnungs- und Schließungsprozesse im Bildungssystem
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Rückzugsgefechte, die den Prozess der Modernisierung aufhalten sollen, da jede Angleichung der attestierten Bildung, die durch Strukturreformen und Veränderung der Rekrutierungsströme herbeigeführt wird, die soziale Distanz zwischen Bildungsarmen und Bildungsreichen mit beeinflusst. So stellt Hurrelmann fest: „Um den sozialen Status der Herkunftsfamilie zu erhalten, müssen Jugendliche heute einen Bildungsabschluß erwerben, der in seinem Niveau über dem der Eltern liegt“ (1991, 63). Diese Notwendigkeit ergibt sich nach Hurrelmann daraus, dass zum Beispiel mittlere Abschlüsse, die früher mit gesellschaftlichem Prestige verbunden waren, nicht mehr distanzbegründend wirken, weil sie inzwischen von sehr viel mehr Schulabsolventen erreicht werden. Sofern also – was die Bildungsqualifikation angeht – die Eltern nicht überholt werden, ist sozialer Abstieg die Folge. Diejenigen, die aus einem bildungsfernen Elternhaus kommen und im Schulsystem erfolgreich sind, können zwar immer noch mit einem sozialen Aufstieg – bezogen auf den Status der Eltern – rechnen; allerdings fällt dieser Aufstieg immer bescheidener aus, während die bislang Privilegierten zunehmend Schwierigkeiten haben, ihre Töchter und Söhne in ‚adäquatenދ, dem eigenen Rang entsprechenden Positionen unterzubringen. Es versteht sich von selbst, dass der von Hurrelmann analytisch erfasste Bildungswettlauf nicht unendlich fortgesetzt werden kann, da diejenigen, die sich besser qualifizieren als ihre Eltern, in der nächsten Generation wiederum von ihren Nachkommen übertroffen werden müssten, um den Status der Familie zu halten. Geht man von einer längerfristigen Perspektive aus, so ist irgendwann der ultimative Zielpunkt erreicht, sodass auch die Leistungsstärksten keinen Abschluss erreichen können, der über dem der Eltern liegt. Damit entfiele bei sonst gleichen Bedingungen die Möglichkeit, durch immer höherwertigere Abschlüsse einem sozialen Abstieg zu entgehen. Vielmehr würden diejenigen, die bislang durch einen besonders qualifizierten Schulabschluss einer allmählichen Abwertung von Bildungszertifikaten entgegenwirken konnten, von anderen eingeholt. Das heißt auch, dass für die bislang Privilegierten eine Säule der Legitimation für die Überlegenheit ihrer Gruppe in sich zusammenbräche. Mehr Gleichheit im Bereich des Schulsystems bedeutet, dass immer größere Anteile eines Jahrgangs qualifizierte Abschlüsse erreichen. Damit verlängert sich auch im Verhältnis zur gesamten Verweildauer im Bildungssystem die von allen Schülern gemeinsam absolvierte Zeit. Der Anteil der von allen – unabhängig von ihrer Herkunft und ihren formalen Bildungserfolgen – zusammen verbrachten Jahre kann sich aber auch dadurch vergrößern, dass die Dauer des Schulbesuchs, die zur Erreichung eines höherwertigen Schulabschlusses erforderlich ist, herabgesetzt wird. Sowohl eine höhere Bildungsbeteiligung als auch eine Verkürzung der Bildungszeit wirken also in gleicher Richtung und lassen die Differenz zwischen denjenigen, denen es gelingt, die höchsten Ziele öffentlicher Bildung
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
für sich zu erreichen, und dem Rest, der andere Schulen besucht oder vorzeitig den Schulbesuch abbricht, geringer werden. Hinzu kommt eine weitere Möglichkeit, den Anteil der gemeinsam verbrachten Schulzeit zu erhöhen, nämlich durch Vorverlegung des Schuleingangsalters. Wenn alle Kinder eines Jahrgangs die gleiche Vorschule besuchen, wird es ebenfalls schwieriger, gesellschaftliche Ansprüche mit Bildungsdifferenzen zu begründen. Das grundsätzliche Problem der Privilegierten besteht also darin, dass bei einer immer kürzer werdenden Zeit differierender Schulbildung, sei es, weil sich immer mehr für längerfristige Bildungsgänge entscheiden, sei es, weil die Pflichtschule im Verhältnis zur weiterführenden Schule mehr Zeit beansprucht, lebenslange Unterschiede der sozialen Chancen und der realen sozialen Lage schwerer zu begründen sind. Alle Veränderungen im formalen Aufbau der Schule, die Exklusivität aufheben und Angehörige bildungsferner Gruppen zulassen, bedeuten also eine Umverteilung von kulturellem Kapital zugunsten der bislang Benachteiligten und, wenn kulturelles Kapital konvertierbar ist, zum Beispiel in ökonomisches, für die Privilegierten eine relative Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation.4 Wenn die Nichtprivilegierten darauf abzielen, den Aufbau des Bildungssystems so zu verändern, dass sich die Stufen und Abschlüsse annähern und auf diese Weise mehr Gleichheit realisiert wird, hat dies bei den Privilegierten Folgen für die ökonomische und soziale Transformation des kulturellen Kapitals. Strukturelle Reformen des Bildungssystems, mit denen Bildungsunterschiede abgebaut werden, stellen also gesellschaftliche Unterschiede infrage. Selbst kleinere Eingriffe können bedeutende gesellschaftliche Folgen haben, zum Beispiel, wenn bei formal nicht gleichrangigen Ausbildungsgängen eine Aufwertung der geringer qualifizierenden Abschlüsse erfolgt, indem die Bezeichnungen für die zu vergebenden Zertifikate denen angepasst werden, die im Rahmen höherqualifizierender Ausbildungsgänge vergeben werden. Darüber hinaus bewirkt die Durchlässigkeit des Schulsystems nicht nur deshalb mehr Gleichheit, weil sich auf diese Weise die Zahl der qualifizierenden Schulabschlüsse erhöht, sondern weil mit der Durchlässigkeit deutlich gemacht wird, dass die Differenz zwischen Ausbildungsgängen und Schularten nicht allzu groß ist, nicht so groß zum Beispiel, dass nicht systematisch ein Wechsel zu den höherwertigen Ausbildungsgängen stattfinden kann. Damit ergibt sich vor allem ein symbolischer Effekt: Mit der Durchlässigkeit wird die Konstruktion von qualitativen Differenzen innerhalb des Schulsystems in Frage gestellt, und auch alle weiteren Konstrukte, die sich auf die Begründung gesellschaftlicher Ungleichheit beziehen, nach denen zum Beispiel höherwertige Schulabschlüsse Ausdruck einer allgemeinen Überlegenheit der Absolventen seien, werden zu4
Zur Transformierbarkeit von kulturellem in ökonomisches Kapital s. Schwingel 2002, S. 86 ff.
6.3 Distanzbegründende Maßnahmen?
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nehmenden Zweifeln ausgesetzt. Die soziale Öffnung des Schulsystem widerspricht daher dem Ungleichheitsinteresse derer, die sich in herausgehobenen Positionen befinden. Die Reformen, die von den Herausforderern der Etablierten angestrebt werden, sind auf eine Veränderung des Bildungswesens durch den Staat ausgerichtet, und zwar in einer Weise, dass möglichst viele Heranwachsende qualifizierte Abschlüsse erwerben. Allerdings wird der sinkende Tauschwert von Zertifikaten nicht thematisiert. Nicht der Tauschwert von Bildungsabschlüssen, sondern der individuelle und gesellschaftliche Nutzen der Bildung steht für die Progressiven im Zentrum der Diskussion. Nichtsdestoweniger soll der Staat Bildungsabschlüsse lizenzieren. Reformen sollen so gestaltet sein, dass das politische System, also Regierung, Legislative und Verwaltung, seine Kontrollund Regelungsfunktionen behält. Insofern sind die Lösungsvorschläge, die von den Nichtetablierten in den Bildungsdiskurs eingebracht werden, an die Allgemeinheit gerichtet. Schule soll nicht Privatsache sein, ihre Ziele und Methoden sollen nicht der Willkür der Schulveranstalter und der Schulträger und dem bloßen Gutdünken der einstellenden Organisationen überlassen bleiben. Das Ziel bilden staatlich anerkannte Abschlüsse, die mit verbindlichen Rechten ausgestattet sind. 6.3 Distanzbegründende Maßnahmen? 6.3 Distanzbegründende Maßnahmen? Ebenso, wie die Progressiven darauf bedacht sind, über ihre parlamentarischen Vertreter eine ‚moderneދ, auf Inklusion ausgerichtete Schulpolitik in Gang zu setzen, üben die Etablierten auf Legislative und Exekutive Druck aus, dass die Reformen des Bildungssystems, wenn sie nicht zu vermeiden sind, dann doch wenigstens in ‚gemäßigter ދForm realisiert werden. Die Möglichkeiten der Etablierten, der schleichenden Entwertung ihres kulturellen Kapitals entgegenzuwirken, erscheinen – bezogen auf die formalen Strukturen und Inhalte des Bildungssystems – begrenzt. Dies wird nachvollziehbar, wenn man sich den öffentlichen Diskursen inhaltlich zuwendet. Hier sind es besonders die bildungsökonomischen und modernisierungstheoretischen Argumente, die den Privilegierten Schwierigkeiten bereiten, und zwar insbesondere deswegen, weil sie selbst ja im ökonomischen System Führungspositionen innehaben bzw. über ökonomisches Kapital verfügen. Das Establisment kann nicht gegen die Expansion und Zugangsoffenheit des Bildungssystems Stellung beziehen, sofern diese Forderung wachstumstheoretisch begründet wird. Noch weniger als die Angehörigen der anderen gesellschaftlichen Lager ist es den Privilegierten möglich, wirtschaftspolitische Erwägungen zu ignorieren, auch wenn diese auf die
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
Entwertung ihres kulturellen Kapitals hinauslaufen. Sie können sich nicht erlauben, Prinzipien wirtschaftlicher Rationalität zu missachten, und zwar auch in dem Fall nicht, dass die Politik, die auf diesen Argumenten aufbaut, die Exklusivität ihrer Gruppe gefährdet. Die Konservativen befinden sich also bildungspolitisch in einem Dilemma, weil sie die Argumente, mit denen die Bedeutung der Bildungsinvestitionen für die Verbesserung des Humankapitals hervorgehoben wird, akzeptieren müssen, obwohl sie gegen ihre ‚Standesinteressen ދgerichtet sind. Gelegentlich wird von den Bildungsprivilegierten allerdings versucht, gerade den wirtschaftlichen Nutzen bestimmter Reformmaßnahmen in Frage zu stellen, zum Beispiel mit dem Argument, dass es eine Verschwendung von öffentlichen Mitteln darstelle, wenn eine Vielzahl von Akademikern ‚produziert ދwerde, für die es keine Chance auf dem Arbeitsmarkt gebe. Derartige Vorstöße sind für das konservative Lager jedoch problematisch, wenn die Gegenseite durch angesehene Institutionen und neutrale Fachleute, möglicherweise auch durch internationale Institutionen argumentative Unterstützung erhält. Dem Druck nach Öffnung des Bildungssystems haben die Konservativen also argumentativ wenig entgegenzusetzen, zumal die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Interessen ihre Position schwächt. Besonders das Bildungsbürgertum wird durch die Reform des Schulwesens beeinträchtigt, weil Bildung ihre einzige Kapitalgrundlage ist, während diejenigen, die der Wirtschaft nahe stehen, auch noch durch andere Kapitalsorten abgesichert sind. Daher ist der Widerstand der zweiten Gruppe schwächer, während die erste viel mehr dazu neigt, auch die ideologische Konfrontation zu suchen. Beide Gruppen hoffen darauf, dass sich ihre Angehörigen aufgrund einer besseren Förderung oder höheren Begabung in einem verschärften Leistungswettbewerb durchsetzen können, auch wenn eine bestimmte Quote der ‚Durchmischungދ, also der Misserfolge bei dem eigenen Nachwuchs und der Erfolge fremder Gruppen, in Kauf genommen werden muss. Bildungs- und Besitzbürgertum gehen davon aus, dass ihre Töchter und Söhne – von Ausnahmen abgesehen – aufgrund besserer Ausgangsbedingungen im Leistungswettbewerb der Schule Erfolg haben. Für die Etablierten sind individualistische Auslesekriterien erträglich, „solange der Staat den Einfluss sozial vererbter Handicaps und Begünstigungen auf die individuelle Leistungsfähigkeit toleriert“ (Parkin,a.a.O., 35) und – so wäre hinzuzufügen – die Zone der Durchmischung nicht so groß wird, dass sie den eigenen sozialen Standort relativiert. Für die Herausforderer der Etablierten ist es leichter, in der Öffentlichkeit Akzeptanz zu finden. Ihr Anliegen, nämlich mehr und bessere Bildung, ist nicht nur für jeden Einzelnen erstrebenswert, sondern nützt auch – so zumindest die Argumentation – der Gesellschaft als ganzer. Die Reformbestrebungen er-
6.4 Informale Differenzierung
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scheinen daher auch nicht als ‚egoistisch ދoder lediglich von den Interessen einer Gruppe geleitet, die ihren Nachwuchs mit mehr kulturellem Kapital ausstatten möchte. Dementsprechend gibt es Unterstützung selbst von denjenigen, die nicht auf den Staat angewiesen sind, um ihre Kinder mit Bildungsgütern auszustatten. Den Etablierten bleibt nur die Rolle des Bedenkenträgers übrig; sie plädieren für Augenmaß und warnen vor ‚Übertreibungenދ, also vor Reformen, durch die herkömmliche Leistungsstandards missachtet würden, wobei aber der Verdacht nahe liegt, dass sie nur den eigenen Besitzstand im Auge haben. Mit ihrem wichtigsten Motiv, der Angst vor Deklassierung, können sie sich nicht an die Öffentlichkeit wenden, da es kaum verallgemeinerbare Gründe gibt, einer derartigen Entwicklung entgegenzuwirken. Es ist jedoch bei der Auseinandersetzung um Schulreform und Bildungspolitik eine besondere Dynamik zu beobachten, und zwar auf Seiten der Progressiven. Auch wenn die Forderung nach einer ‚modernen ދSchule, nach offenen, flexiblen Organisationsstrukturen, nach einem breiten Fächerkanon, nach einer sozial engagierten Lehrerschaft und sozial integrativen pädagogischen Konzepten langfristig aktuell bleibt, verringert sich der Nachdruck, mit dem dieses Anliegen auf die Agenda des öffentlichen Diskurses gesetzt wird. Eine derartige Schwächung des Reformwillens ist darauf zurückzuführen, dass für das Kollektiv der Herausforderer mit dem Erreichen jeder weiteren Stufe der Grenznutzen qualifizierter Schulabschlüsse abnimmt, und zwar weil der zu realisierende Aufstieg bescheidener ausfällt, das heißt weil die durch höhere Bildung zu erreichenden Positionen nicht mehr im gleichen Umfang mit Gratifikationen ausgestattet werden und deshalb an Attraktivität verlieren. Während das ökonomische Kapital in einer Volkswirtschaft insgesamt wachsen kann, indem nicht nur die Nominal-, sondern auch die Reallöhne steigen, kann die Gesamtmenge des kulturellen Kapitals, das ja durch das mit der Aneignung von Bildungswissen verbundene Ansehen definiert wird, nicht vergrößert werden. Nicht der persönliche, ‚intrinsische ދWert der Bildung, wohl aber ihre soziale Verwertbarkeit, das heißt ihre Konvertierbarkeit in Prestige und beruflichen Status, verringert sich mit der Zahl der Berechtigungen. Mit anderen Worten sinkt für jeden Einzelnen der Realwert von Titeln und Zeugnissen. 6.4 Informale Differenzierung 6.4 Informale Differenzierung Für diejenigen, die sich bereits in Führungspositionen befinden und für sich selbst oder für ihren Nachwuchs an einer Absicherung ihres Vorsprungs interessiert sind, eröffnen sich bei nachlassender Dynamik der Gleichheitsbestrebungen neue politische Möglichkeiten. Die wichtigste Strategie besteht darin, die
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
Ungleichheiten, die sich hinter einer formalen Gleichheit der Bildungsabläufe und -abschlüsse verbergen, zum Gegenstand eines in der Öffentlichkeit geführten Diskurses zu machen. Es geht bei dieser Strategie nicht mehr darum, die gegnerischen Reformbemühungen zu konterkarieren und auf dem Status quo zu beharren. Vielmehr wird der Abbau von Bildungsungleichheit bejaht und gleichzeitig neue Ungleichheit generiert. Letztere kommt zustande, ohne dass sie im Rahmen des formalen Aufbaus und der lizenzierten Rangunterschiede überhaupt in Erscheinung träte. Diese Art von Schul- und Bildungspolitik kann man als Strategie der informalen Differenzierung bezeichnen. Die Strategie der informalen Differenzierung beruht auf der Orientierungsfunktion formaler Organisation. Jede Festlegung der Strukturen von Organisationen, zum Beispiel von Schulen, lässt neben der verordneten Gleichheit der sozialen Abläufe immer auch eine Vielfalt von sozialen Wirklichkeiten zu, die sich mit der formalen Struktur nicht decken oder die innerhalb eines mehr oder weniger unausgesprochenen Spielraums der Interpretation liegen. Nichtsdestoweniger bewirkt die Formalisierung, dass die Organisationen, für die sie Geltung hat, als homogen erscheinen. Die formale Ordnung wirkt identifizierend, indem sie es ermöglicht, einen bestimmten Organisationstypus als Einheit zu begreifen und entsprechend ihrer formalen Ordnung zu ‚verstehenދ. Die Fixierung von Organisationsabläufen in Satzungen, Gesetzen und Verordnungen, in Arbeitsplänen und Verfahrensregelungen lenkt die Wahrnehmung sowohl von Mitgliedern als auch von Außenstehenden. Dementsprechend erscheint die Schule als das, was die formale Ordnung über sie aussagt. Auf der Grundlage des Systems von Statuten ist es möglich, eine konkrete Schule einem bestimmten Schultypus zuzuordnen. Die Bezeichnung für diesen Schultypus ist gleichzeitig die Bezeichnung für eine bestimmte Formalstruktur. Das heißt, dass die Organisation in der Perzeption vor allem das ist, was die formalen Regelungen über sie aussagen. Strukturen und Prozesse, die sich mit dem formalen System nicht decken, werden als unbedeutend wahrgenommen. Während die Strukturen und Prozesse verschiedener Organisationen, für die gleiche formale Bestimmungen gelten, als gleich wahrgenommen werden, ergibt sich Heterogenität in der Sicht der Beteiligten und der Öffentlichkeit vor allem in Hinblick auf solche Organisationen, die ein anderes formales Gerüst aufweisen, auch wenn sie sich in Hinblick auf die tatsächlichen Abläufe sehr stark ähneln. Besonders für Organisationen, die im Auftrag der Allgemeinheit Chancen verteilen, ist festzustellen, dass empirische Heterogenität innerhalb eines formalen Typs aus der Wahrnehmung und aus dem Bewusstsein verdrängt wird. Bei übereinstimmendem formalen Aufbau wird zunächst von der Gleichheit ausgegangen; nur aufgrund dieser Gleichheitserwartung kann sich Vertrauen in die Gerechtigkeit der Verteilung einstellen. Gleichheit gilt, was die Schule angeht,
6.4 Informale Differenzierung
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zum Beispiel auch für die Abschlüsse und die damit verbundenen Rechte, selbst wenn mit Hilfe der Notengebung eine Feindifferenzierung vorgenommen wird. Der Konsens der Öffentlichkeit bezüglich der Vergleichbarkeit von Organisationsleistungen und behördlicher und behördenähnlicher Zertifizierungen, die bei übereinstimmenden formalen Strukturen unterstellt wird, besteht aber nur auf Zeit, und zwar nur so lange, wie es keine besonderen Gründe dafür gibt, diese Wahrnehmung zu hinterfragen. Aufgrund äußerer – möglicherweise auch bewusst herbeigeführter – Entwicklungen können auch Differenzen von Abläufen und deren Folgen in den Vordergrund rücken, und zwar kontrastierend zu der formal verordneten Gleichheit.5 So ist es zum Beispiel möglich, die Gleichheit von Dienstleistungen, die von Behörden eines bestimmten Typs, zum Beispiel von Bauämtern, erbracht werden, in der Öffentlichkeit zu problematisieren. In der Folge kommt es möglicherweise dazu, dass die Bürger die Bearbeitung von Anträgen sowie die Planung und Durchführung öffentlicher Baumaßnahmen differenzierter wahrnehmen und dass auch in den Medien, zum Beispiel auf der Grundlage von ‚Tests ދeinzelner Behörden, Vergleiche vorgenommen werden, um die Gleichwertigkeit der ‚Produkteދ, die nicht mehr wie selbstverständlich unterstellt wird, zu überprüfen. Für viele staatliche und halbstaatliche Organisationen ist die Annahme der Gleichheit eine Voraussetzung dafür, dass sie erfolgreich arbeiten können, und zwar weil sie so tief in die Lebenssituation der Bürger eingreifen, dass die Vermutung von Ungleichheit heftigsten Widerstand mobilisieren würde. Ginge man zum Beispiel davon aus, dass Gerichte einer bestimmten Kategorie ein unterschiedliches Qualitätsniveau aufwiesen und/oder inhaltlich unterschiedliche Ergebnisse produzierten, etwa weil Gesetze systematisch anders ausgelegt würden, wäre der Glaube an die Legitimität von Urteilen beeinträchtigt. Ähnliches trifft auch für Schulen zu. Formale Gleichheit, das heißt Gleichheit im Bildungsverlauf und im Wert der Bildungsabschlüsse, erleichtert die Anerkennung von Zertifikaten. Es kann aber dieser Konsens auch aufgekündigt werden, sodass ein Schultyp, verbunden mit seiner Stellung im Berechtigungssystem (zum Beispiel in Hinblick auf eine Studienberechtigung oder die mit dem Abschluss verbundene Eingangsvoraussetzung für den öffentlichen Dienst), nur als Etikett gilt, hinter dem sich unterschiedliche Wirklichkeiten verbergen und somit alles, was die Qualifikation durch die Schule angeht, mehr oder weniger offen ist. Ein 5
Auf einen Harmonisierungseffekt durch die Auswahl von Wahrnehmungen wird von Luhmann bereits sehr früh hingewiesen. Formale Organisationen bilden nach seiner Darstellung Mitgliedschaftsrollen aus. Das Handeln einzelner Organisationsmitglieder wird im Sinn seiner Mitgliedschaftsrolle auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, während andere Wahrnehmungen und Kausalattributionen, die ebenfalls perzeptiv und logisch möglich wären, keine Beachtung erfahren. Siehe Luhmann 1972, 50 f.
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solcher systematischer Zweifel, sobald er in den Diskurs der Öffentlichkeit eingegangen ist, führt dazu, dass über die formalen Kriterien hinaus zusätzliche Merkmale gesucht werden, um die Qualität von Leistungen zu bestimmen. Bei einer Öffnung des Bildungssystems, die eine Weitergabe privilegierter Positionen gefährdet, kann es für die Etablierten von Vorteil sein, auf derartige Differenzen jenseits der formalen Gleichheit nicht nur hinzuweisen, sondern sie in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit zu bringen. Dazu ist allerdings von der Voraussetzung auszugehen, dass die Klientel die formale Möglichkeit hat, sich die Bildungsinstitution ‚ihres Vertrauens ދauszusuchen. Gäbe es diese Freiheit nicht, würde die Betonung ungleicher Dienstleistungen – wie zum Beispiel bei einigen Behörden – öffentlichen Widerstand sowie das Bestreben auslösen, die tatsächlichen oder vermeintlichen Differenzen auszugleichen. Geht man dagegen von einer marktähnlichen Situation aus, so bleibt es jedem selbst überlassen, welche Konsequenzen er aus der Diagnose qualitativer Unterschiede zieht. Für die Etablierten jedenfalls macht es Sinn, die Differenzen der von Schulen erbrachten Leistungen hervorzuheben. Wenn durch eine ‚Inflation ދder Abschlüsse und Titel das kulturelle Kapital der besitzenden Gruppen und Kollektive schrumpft, ist es hilfreich, eine neue Währung in Umlauf zu bringen, die begehrter ist als die alte. Während die neu Hinzukommenden mit altem Geld abgefunden werden, nämlich mit den Zertifikaten, die im Rahmen des formalen Systems vorgesehen sind, nehmen die Etablierten die neuen Zahlungsmittel in Empfang. Begünstigt wird diese Entwicklung durch neue informale Ordnungssysteme, zum Beispiel Rankings, die vor allem eine Funktion haben, nämlich Unterschiede des Ranges bei formal gleichen Bestimmungen und Strukturen zu markieren. Was zählt, ist nun nicht mehr allein die Höhe des Abschlusses im formalen System der Bildungshierarchie, sondern darüber hinaus die Qualität der tatsächlichen, von der formalen Struktur des Bildungswesens nicht erfassten Abläufe. Dass der – im Sinn einer formalen Hierarchie – ranghöchste Abschluss erreicht wird, mag für viele zur Selbstverständlichkeit geworden sein; trotzdem kann Exklusivität hergestellt werden, und zwar über zusätzliche Kriterien. Diese beziehen sich auf das Niveau der Bildungsaktivitäten, das wiederum – dem Konstrukt nach – durch die institutionellen Standards nicht mehr garantiert wird. Während zuvor durch die Abschlussprüfungen die Gleichheit der Qualifikation gewährleistet schien, wird jetzt das Spektrum über die offiziellen Anforderungen hinaus erweitert. Das Konstrukt der qualitativen Unterschiede hebt die Ungleichheit der Schulwirklichkeiten in ihrer Bedeutung für den Bildungsprozess hervor. Die Zertifizierten eines Schultyps gelten nicht mehr als gleich; vielmehr wird eine prinzipiell nicht abgeschlossene und weitgehend beliebige Reihe von informalen Zusatzkriterien eingeführt, die in ihrem Gewicht die formalen Abschlüsse mög-
6.4 Informale Differenzierung
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licherweise übertreffen. So weist Hartmann (2006, 447ff.) darauf hin, dass es in Deutschland bislang für die Karriere gleichgültig war, an welcher Hochschule man studiert hatte. Die Annahme einer qualitativ gleichen Ausbildung führte dazu, dass der Besuch alter und neuer, großer und kleiner Universitäten sich nicht differenzierend für den beruflichen Erfolg von Akademikern auswirkte. Die Qualität von Schulen und Universitäten wird in dem Maß zum Thema, wie sich das Bildungssystem öffnet, und zwar weil das Ungleichheitsbedürfnis privilegierter Gruppen nicht mehr befriedigt wird. Der ‚Niveauverlust ދscheint neue Differenzierungen zu erfordern, auch wenn diese auf unsicheren Kriterien beruhen. Gleichzeitig werden durch informale Differenzierung für die Etablierten neue Möglichkeiten geschaffen, ihren Status über die Bildung zu begründen. Was damit bei der Bewertung von Bildung und Bildungsabschlüssen zum Zuge kommt, ist nicht Gegenstand von institutionellen Prüfungen, sondern einer jenseits des akademischen Rahmens anzusiedelnden Evaluation. Auf diese Weise wird die Bildungshierarchie nach oben hin erweitert. Über die angesehensten Titel hinaus gibt es durch informale Differenzierung Steigerungsmöglichkeiten, sodass sich auch der intergenerationelle Bildungswettlauf um einige Stationen verlängert. Das Beschäftigungssystem kann eine derartige, über Zensuren und Abschlüsse hinausgehende ‚Bewertung von Bewertungen ދnicht ignorieren. Zusätzliche, wenn auch auf Hörensagen, Vermutungen und willkürlichen Rankings beruhende Qualitätsabstufungen der formal gleichen Abschlüsse erleichtern sogar die betriebliche Selektion, handelt es sich doch um Kriterien, die ein rascheres Screening von Bewerbern ermöglichen. Allerdings nimmt damit auch die Intransparenz der Einstellungsverfahren zu. Welches Gewicht einzelnen informalen Merkmalen der schulischen Qualifikation zugemessen wird, bedarf noch weniger einer Begründung als alle anderen Entscheidungen, die bei der Selektion von Bewerbern im Beschäftigungssystem getroffen werden. Es ist aber zu vermuten, dass die Bildungsprivilegierten doppelt profitieren, nämlich durch bessere Chancen bei den offiziellen Merkmalen und durch eine Bevorzugung bei den inoffiziellen. Diese informalen Differenzierungen decken sich nicht mit den Mechanismen der Unterscheidung, die Bourdieu (1994) in seinem klassischen Werk „La distinction. Critique sociale du jugement“ analysiert. Bourdieu geht von Schularten aus, die von ihrer rechtlichen Grundlage und dem damit verbundenen Organisationstypus einen bestimmten Platz in der offiziellen Schulhierarchie haben, und untersucht die Auswirkungen einer Zugehörigkeit zu diesen Bildungseinrichtungen in Hinblick auf den Habitus, die Allokationseffekte, den persönlichen Geschmack und politische Einstellungen. Es geht ihm also um die „durch die schulischen Klassifikationen und rangspezifischen Gliederungen
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erzeugten offiziellen Unterschiede und deren Auswirkungen“ (Bourdieu, a.a.O., 52). Jede Art der Schulbildung, so Bourdieu, schafft einen spezifischen Zugang zur Wirklichkeit, sodass in den biographischen Abschnitten, die der Schule folgen, nicht nur das erlernte Wissen zum Tragen kommt, sondern auch die zum Habitus gewordene Art der Lebensführung. Die Schule hat, und zwar sowohl aufgrund der vermittelten Bildung als auch aufgrund der Zuschreibungen von außen, eine Einfärbung der Welt zur Folge, der entsprechend die Vorstellungen vom Wissenswerten, ja vom Wertvollen überhaupt geprägt werden und sich über die gesamte Biografie bemerkbar machen. So ist es für Bourdieu zum Beispiel „die Einstellung zur Sphäre des Legitimen, erworben im Umgang mit einer besonderen Klasse von Werken, nämlich den vom Schulkanon anerkannten der Literatur und Philosophie“, die „sich in der Folge auf andere, minder legitime Produktionen wie die avantgardistische Literatur oder auf akademisch weniger renommierte Sparten wie den Film erstreckt ...“ (Bourdieu, a.a.O., 35). Dagegen stehen bei Bourdieu die formalen Klassifizierungen der Schule und ihre gesellschaftlichen Rangordnungen im Vordergrund. Es ist die Institution Schule, die über Titel und Bildungspatente hierarchisch gestufte Klassen erzeugt. Zwar kommt er zu dem Befund, dass das Bildungssystem nicht mehr auf „klar festgelegten Gliederungen“ beruhe, sondern auf „verschwommenen und verworrenen Gliederungsprinzipien“, und dass es „einen Wildwuchs an Schulzweigen und Titeln“ (Bourdieu, a.a.O., 258) gebe. Damit ist aber gemeint, dass der Staat eine Vielzahl von Ausbildungsgängen zulässt und akkreditiert, wobei hinsichtlich der Eingangsvoraussetzungen, der Länge der Bildung/Ausbildung, der Spezialisierung und der mit dem Abschluss verbundenen Berechtigungen eine Komplexität entsteht, die eine Einstufung in ein System des Höher oder Tiefer nur noch mit Einschränkungen ermöglicht. Bourdieu folgert in Übereinstimmung mit Clark, dass dieser Überkomplexität des Systems die Funktion zukomme, tatsächlich stattfindende Selektionsprozesse zu verbergen bzw. motivational verkraftbar zu machen.6 Nichtsdestoweniger folgen für Bourdieu die „feinen Unterschiede“ der Lebensführung den formalen Differenzierungen 6
Bourdieu, a.a.O., S. 258 f. Vgl. auch Bourdieu, Pierre/Champagne, Patrick: Die intern Ausgegrenzten. In: Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz, 2. Aufl. 1998, S. 527 – 534. Bourdieu geht von der Komplexität der Schulorganisation aus, die dazu führe, dass sozial Benachteiligte auf Abstellgleise des Schulsystems abgeschoben würden. Bourdieu und Champagne beziehen sich auf die „Diversifizierung der Bildungsgänge“ (S. 530); gemeint sind die formalen Strukturen des Bildungssystems, innerhalb derer die aus benachteiligten Familien stammenden Schüler ausgegrenzt, das heißt entwerteten „Bildungsgängen“ zugewiesen werden. Ähnlich argumentiert auch Clark, für den Bildungsgänge, die mit geringen Berufschancen verbunden sind, die Funktion haben, Prozesse der Desillusionierung sozial verträglich zu gestalten. Vgl. Clark 1974.
6.4 Informale Differenzierung
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des Schulsystems; Bourdieu kommt es darauf an zu zeigen, dass die Klassifikationen der Bildung sich nicht nur in solchen Kompetenzen widerspiegeln, die normalerweise der Bildung zugeschrieben werden, sondern auch in den feinsten Nuancen des Habitus. Die informalen Kriterien verhalten sich zu den formalen in der Weise, dass sie diese sowohl bestätigen als auch korrigieren. Informale Kriterien schaffen zusätzliche Differenzierungen, und zwar dann, wenn die formalen Differenzierungen, die Schulabschlüsse und Zeugnisnoten, nicht ausreichen, um Ungleichheiten des sozialen Status über Bildung zu begründen. Sofern die Etablierten im Rahmen des formalen Systems nicht genügend Distanz herstellen können, besteht die Tendenz, informale Differenzierungen zu betonen. Dies geschieht durch den Besuch einer Schule, die zwar formal gleichrangige Abschlüsse vergibt, darüber hinaus aber ein besonders hohes Niveau der Lehre und der Bildung beansprucht. Darüber hinaus gehört zum Bild dieser Schulen, dass sie hochselektiv sind, weil – dem Konstrukt nach – nur eine besondere Auswahl von Schülerinnen und Schülern ihren Leistungsstandards zu entsprechen vermag. Lehrkräfte und Elternschaft arbeiten gemeinsam an diesen Konstrukten. Die Schulen betreiben mehr Öffentlichkeitsarbeit als andere, um tatsächliche oder vermeintliche Differenzen jenseits der Struktur und der Position im formalen Bildungsaufbau geltend zu machen. Dazu kann gehören, dass die Lehrkräfte besonders motiviert und besser ausgebildet seien, dass besondere pädagogische Methoden eingesetzt würden, zu denen zum Beispiel eine persönlichere Betreuung der Schülerschaft gehöre. Das bedeutet, dass durch informale Differenzierungen rechtliche Verbindlichkeiten, also die mit dem Schulabschluss verbundenen Berechtigungen, außer Kraft gesetzt werden. Wenn aber das Berechtigungssystem durch Informalisierung seine Wirkung verliert, sind auch Verdrängungseffekte nicht ausgeschlossen. Die Neutralisierung des Berechtigungssystems durch Informalisierung hat zur Folge, dass soziale Benachteiligung durch Bildungserfolge nur noch in beschränktem Maße aufgehoben wird. Indem informale Differenzierungen auf die Agenda des öffentlichen Diskurses gesetzt werden, ist nicht mehr entscheidend, welchen Abschluss jemand erworben hat, sondern wo, also welche Schule er besucht hat.7 Die Allokation von Zugangsberechtigungen für formal gleichwertige, informal aber ungleich7
Im gleichen Zusammenhang sind auch Zusatzqualifikationen zu sehen, die in Kursen für gutes Benehmen, Rhetorik, Selbstsicherheit und Selbstbehauptung angeboten werden. So stellt zum Beispiel Moore fest: “This concern relates to an awareness of the ways in which employers are increasingly concerned with ‘soft skills’… in addition to formal qualifications … This, in turn is a consequence of the tendency … towards a devaluing of credentials in a situation of educational expansion: as more and more people acquire degrees, additional factors come into play as ways of distinguishing those with the desired social characteristics.” Siehe Moore 2004, S. 87.
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6 Konstruktbildungen im politischen Prozess
wertige Schulen folgt jedoch den schon bestehenden sozialen Differenzierungen, sodass der mit einer Öffnung des höheren Schulwesens verbundene Gleichheitseffekt wieder aufgehoben wird.8 Das Besondere bei den informalen Differenzierungen besteht darin, dass sie in hohem Maß wirksam sind, ohne einer staatlichen Absicherung zu bedürfen. Für die Etablierten haben sie den Vorteil, dass sie auf wirksame und zuverlässige Weise soziale Schließungen ermöglichen. Dies geschieht durch inoffizielle Bewertungen, die sich auf die Spitze der Schulhierarchie richten und diese gewissermaßen – jenseits einer rechtlich verbindlichen Rangskala – nach oben ausweiten und damit andere in gleichem Maß, wie eine Erweiterung erfolgt, auf niedrigere Rangplätze abdrängen. Das heißt, dass durch eine informale – auf Renommee und Öffentlichkeitsarbeit beruhende – Differenzierung die bisher erstplatzierten Schulen möglicherweise zu zweitplatzierten werden. Für den Einzelnen hat dies zur Konsequenz, dass die Erfolge, die er im Rahmen der formal gestuften Schulhierarchie aufzuweisen hat, eine Revision erfahren, und zwar weil an den Schlüsselstellen des Allokationsprozesses Selektionen auf der Grundlage informaler Differenzierungen stattfinden.9 Durch informale Zusatzdifferenzierungen auf oberster Ebene verlieren rechtlich abgesicherte Abschlüsse ihren Wert, während die so herausdifferenzierten (informal) ranghöchsten Abschlüsse für viele nicht erreichbar sind, und zwar nicht weil es an Wissen, Kompetenzen oder Begabung fehlt, sondern weil über Schul- bzw. Studiengebühren und andere Kriterien, zum Beispiel solche des Habitus, eine Schließung erfolgt (vgl. Hartmann 2005, 2006).
8 9
Daran ändert auch die scheinbar großzügige Vergabe von Stipendien wenig. Siehe dazu Kapitel 3.5. Derartige Entwicklungen müssen nicht das gesamte Schulwesen gleichermaßen betreffen. Auch wenn Exklusivität nur punktuell hergestellt wird, kann sie das Allokationssystem nachhaltig verändern. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang Schließungsprozesse im universitären Bereich, da auf diese Weise die akademische Ausbildung zu einer Art Flaschenhals für alle übrigen Bildungsprozesse wird. Wenn es gelingt, in diesem Segment des Bildungswesens informale Exklusivität herzustellen, werden die Abschlüsse allgemeinbildender Schulen noch im Nachhinein entwertet. Blossfeld und Shavit machen darauf aufmerksam, dass sich von einer Bildungsstufe zur anderen die Bildungschancen vergrößern oder, zum Beispiel wenn der obere Teil des Bildungssystems nicht gleichermaßen mitwächst, verkleinern können. Gleiches ist durch künstliche Verknappung gegeben, zum Beispiel durch eine informale Differenzierung zwischen Elitehochschulen und solchen, denen dieser Status nicht zuerkannt wird. Vgl. Blossfeld, Hans-Peter/Shavit, Yossi 1993.
6.5 Deregulierung und das Konstrukt der Qualität
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6.5 Deregulierung und das Konstrukt der Qualität 6.5 Deregulierung und das Konstrukt der Qualität Selbstverständlich erleichtert jede Art von Deregulierung des formalen Systems die informale Differenzierung. Denn Deregulierung heißt, dass Gesetzgebung und Regierung als diejenigen Instanzen, die das Schulwesen organisieren, zurücktreten und andere gesellschaftliche Kräfte an Bedeutung gewinnen. Damit wird der Staat aber nicht überflüssig. Gerade die Schichten und Kollektive, die private Bildungsinitiativen entstehen lassen, legen auf ‚staatliche Anerkennungދ ihrer Institutionen und deren Abschlüsse Wert. Die freien Bildungsträger gewinnen ihre Marktmacht erst durch Lizenzierung, also durch die Absicherung ihrer Ausbildung durch den Staat. Diese Art der Rechtssicherheit, die von der Klientel exklusiver Schulen in Anspruch genommen werden kann, bezieht sich nur auf eine Grundabsicherung von Ansprüchen. Darüber hinausgehende Forderungen an das Beschäftigungssystem werden auf der Grundlage informaler Differenzierungen reklamiert. Neben und unterhalb von Formalisierungen, die den Bildungsgang selbst, die Schulorganisation, das pädagogische Instrumentarium, den Rang der Abschlüsse und die damit verbundenen Berechtigungen (zum Beispiel den Zugang zur Universität oder zu Laufbahnen im öffentlichen Dienst) betreffen, kommt es mit der Deregulierung zu einer Fülle von Differenzierungen, von tatsächlichen oder auch nur vermuteten Schwerpunktbildungen und Niveauunterschieden, für die nicht qua Gesetz Anerkennung verlangt werden kann, für die es aber doch eine Akzeptanz bei einstellenden Organisationen gibt. Es entsteht so ein vielfältiges, durchaus nicht sachlich oder logisch stringentes System, dessen Komplexität sich den amtlichen Kategorisierungen des Höher oder Tiefer entzieht. Bildungsanbieter und Bildungsnachfrager ergänzen sich gegenseitig, indem die einen ‚Bildungsprodukte ދerstellen und Imagebildungen vornehmen, die anderen mit immer neuen, volatilen Bedarfsstrukturen zu Innovationen und Diversifikationen herausfordern. Während im Rahmen formaler Strukturen des Bildungssystems über den Wert von Zeugnissen notfalls sogar vor Gericht zu entscheiden ist, gibt es für die Bewertung informaler Zusatzkriterien keine Beschwerdeinstanz. Die auf solchen Merkmalen beruhende Bewertung eines Bildungsgangs oder eines Abschlusses ist nicht verbindlich, obwohl sie sich in Hinblick auf die sozialen Folgen als höchst wirkungsvoll erweisen kann. Das Berechtigungssystem wird außer Kraft gesetzt und macht Platz für ein Bonitätssystem, das für seine Nutznießer den Vorteil bietet, von außen undurchschaubar und damit unangreifbar zu sein. Eine unsystematische Differenzierung, wie sie sich aufgrund von informalen Gütekriterien einstellt, ist für die Etablierten umso mehr von Vorteil, als es ihnen gelingt, die beruflichen Allokationsvorgänge zu ihren Gunsten zu modi-
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fizieren, ohne schwerfällige politische Mechanismen in Gang setzen zu müssen. Erforderlich ist stattdessen, auf Personen und Gruppen, die im Beschäftigungssystem an exponierter Stelle stehen, einzuwirken, das heißt eine Sensibilität für die von ihnen selbst definierten Qualitätsunterschiede zu wecken. Selbstverständlich existiert für die Nichtprivilegierten kein vergleichbares Instrument. An wen sollten sie sich wenden? Diskrete Verbindungen sind dagegen für die Etablierten leicht herzustellen. Weil sie nicht, wie im Fall der formalen hierarchischen Differenzierung, der Politik bedürfen, kann auch eine politische Opposition nicht zum Zug kommen. Darüber hinaus bewirken die Ohnmacht und das Nichtwissen der Benachteiligten, dass informale hierarchische Differenzierungen nicht zum Politikum werden. Den Etablierten erwächst aus dem Desinteresse der Nichtetablierten für derartige Unterscheidungen, das vorwiegend auf Unkenntnis beruht, ein Vorteil. Zwischen dem Bildungskapital und dem ökonomischen Kapital besteht soziale Nähe, ja zum Teil auch eine soziale Durchmischung. Daher können Definitionen von ‚guter Bildung ދleicht transferiert werden. Die Fokussierung auf informale Differenzierungen, die von unterschiedlichen Schulwirklichkeiten abgeleitet werden, macht – vom Standpunkt der Bildungsprivilegierten aus betrachtet – eine weitere formale Differenzierung überflüssig. Wichtig ist stattdessen, Resonanz für Symbolisierungen zu finden, also zum Beispiel für distanzierende und distanzbegründende Schulrituale, die auch im Rahmen formaler Gleichheit vorgenommen werden können. Entscheidend ist, dass informale vertikale Differenzierungen so verstanden werden, dass ihnen eine sozial diskriminierende Wirkung zukommt. Mit dem Erfolg dieser Bemühungen gelingt es den Etablierten, der Gefahr, die von der Öffnung qualifizierender Schulen und der zunehmenden Bildungsbeteiligung der bisher Benachteiligten ausgeht, zu begegnen. Nicht nur durch Betonung von Ungleichheit bei formaler Gleichheit, also von Qualitätsunterschieden, die bei formal gleichrangigen Abschlüssen unterstellt werden, sondern auch durch plausible, konsistente Konstrukte, die schon vorhandene Ungleichheiten symbolisch überhöhen und ihnen eine gesellschaftlich verallgemeinernde Bedeutung verleihen, ist es möglich, Vorteile für die eigene Klientel abzusichern und auszubauen. Allerdings ist die Anerkennung der mit informalen Bildungsdifferenzierungen geschaffenen Distanzen in besonderem Maß kontextabhängig: Die Auszeichnungen, die sich auf informale Differenzierungen beziehen, also durch das Prestige der Institution begründet sind, setzen, um zu realen Vorteilen zu werden, den Konsens der Beteiligten voraus. Während der Wert der Zeugnisse und Titel, die im Rahmen der formalen Gradation erworben werden, institutionell abgesichert ist und zu einer von Personen unabhängigen Anerkennung führt, muss an die Besonderheit eines Abschlusses, der an einer ‚Eliteinstitution ދerworben wurde, von denjenigen, die über die Verteilung von
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Gratifikationen zu entscheiden haben, also den für Personaleinstellungen verantwortlichen Akteuren des Beschäftigungssystems, geglaubt werden. Die von der informalen Differenzierung ausgehende Ungleichheit im beruflichen Allokationsprozess kommt im Rahmen von Mechanismen zustande, die nur diejenigen wirklich kennen, die von ihnen profitieren. Für den Einzelnen heißt das, dass derjenige, der über einen informal hochbewerteten Abschluss verfügt, bei seinen Bewerbungen auf Insider stößt, die den Wert dieser Ausbildung zu schätzen wissen. Es genügen möglicherweise diskrete Hinweise des Kandidaten, damit die vorgesehene Gratifikation in Gang kommt. Dagegen werden Mitbewerber, die derartige Eigenschaften nicht aufweisen, schon aus Unkenntnis heraus gar nicht feststellen können, nach welchen Regeln Ungleichheit hergestellt wird, und ihr schlechteres Abschneiden bei beruflichen Allokationsprozessen auf persönliches Versagen zurückführen. Die informalen Differenzierungen schaffen also einen Code, der Statusvererbung ermöglicht, weil er formale Kriterien der Auswahl relativiert, ohne sie offiziell, also öffentlichkeitstauglich, außer Kraft zu setzen. Es mag zwar eine vage Ahnung von derartigen informalen Kriterien auch bei denjenigen vorhanden sein, die – ob aus ökonomischen, kulturellen oder sonstigen Gründen – von den erwünschten Positionen und sozialen Verkehrskreisen ausgeschlossen werden; sie kennen aber nicht die Bedeutung, die entsprechenden Signalen im betrieblichen Personalwesen und an anderen Stellen allokativer Weichenstellungen zugemessen wird, und vertrauen auf die formale hierarchische Struktur der Bildungsgänge und Abschlüsse. Daher wird auch die Rechtfertigung für Exklusion von den einstellenden und befördernden Instanzen nach Möglichkeit mit Kriterien der formal hierarchischen Gliederung des Schulwesens sowie mit entsprechenden Zusatzkriterien, also zum Beispiel mit formal gleichen, aber funktional unterschiedlichen Qualifikationen, das heißt mit dem, was angeblich im Betrieb gebraucht wird, in Verbindung gebracht. Mit anderen Worten gelingt es den Etablierten, das kulturelle Kapital vor Inflationsverlusten zu schützen, indem sie – auch bei formal gleichrangigen Abschlüssen – die von ihnen bzw. ihrem Nachwuchs absolvierten Bildungsgänge für höherrangig erklären und für dieses Konstrukt bei laufbahnrelevanten Institutionen Akzeptanz finden. Ein allgemeiner, rechtlich abgesicherter Kredentialismus wird also nicht aufgegeben; er wird nur durch eine neue Art von Kredentialismus ergänzt und überlagert, dessen Kriterien ein weiteres Spektrum aufweisen und dessen Differenzierungen zum Teil nur Insidern bekannt sind. Das Ungleichheitsbedürfnis der Etablierten, dem das Schulsystem mit seinen formal unterschiedlich qualifizierenden Bildungs- und Studiengängen nur ungenügend nachkommt, kann durch Bilder und Projektionen, die sich auf die Qualität der Schule beziehen und auf mehr oder weniger plausible Indikatoren
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fokussieren, befriedigt werden. Vor diesem Hintergrund sind Reformen für die Etablierten sogar von Vorteil, erhöhen sie doch die Zahl der Optionen und damit der Möglichkeiten, informale hierarchische Differenzierungen vorzunehmen, das heißt an formal gleichrangigen Kursen, Schulstufen, Schulen und Abschlüssen informale Qualitätsunterschiede festzumachen. Die Strategien einer konservativen Bildungsreform verbinden sich mit Appellen an die Verantwortlichkeit der Bürger. Den Familien, der Schulgemeinde, den Nachbarschaften und den Kommunen soll die Möglichkeit eingeräumt werden, mit ihrem Potential an privaten Spenden und Beiträgen bestehende Angebote zu ergänzen, ohne dass die formale Rangordnung der Bildungsgänge und -abschlüsse durch neue Festlegungen ersetzt würde. Vielmehr geht es darum, so zumindest die in der Öffentlichkeit vorherrschende Rationalisierung, die Partizipation der Eltern, der Familien, der Schulvereine und Stiftungen in das Schulsystem einzubauen und auf das ‚Branding ދder Schule und ihrer Abschlüsse Einfluss zu nehmen. Was bei anderen Institutionen, die im öffentlichen Auftrag die Verteilung von Gütern und Lebenschancen vornehmen, die zum Beispiel Gebühren einziehen oder Gebühren erlassen, als Problem erscheint, nämlich von den Betroffenen einen Beitrag zu der Ausstattung mit Organisationsmitteln zu verlangen, gilt für das Bildungswesen, und zwar in dem Maß, wie die Schule zur Privatsache und Bildung zur Dienstleistung wird, als unbedenklich. Die Eltern müssen zu Spenden und anderen Leistungen, zum Beispiel die private Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Sachmitteln, nicht überredet werden. Sie selbst erklären ihre Einsicht, finanzielle Opfer zu bringen, mit dem Hinweis, dass es um die Sicherstellung funktionaler Qualifikation, also um Leistung geht; die damit verbundene Exklusion von potentiellen Mitbewerbern erscheint demgegenüber als eine – gesellschaftspolitisch bedauerliche – Folge, die durch private und öffentliche Initiativen kompensiert werden sollte. Dass den Fördermaßnahmen für die Begabten eine Exklusion vorausgeht, bleibt im Bewusstsein der Beteiligten, der Eltern, der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler latent. Die freiwilligen Leistungen der Eltern unterstützen die informalen Differenzierungen, wird doch auf diese Weise deutlich gemacht, dass ein vertrautes Verhältnis zwischen Schule und Elternhaus besteht, dass also die Bildungsarbeit der Lehrkräfte unterstützt und in den Familien fortgesetzt wird. Aktionen der Schule, die auf die Mobilisierung der Eltern gerichtet sind, finden demgemäß auch öffentliche Resonanz. Sie sind Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Schule. Wenn Schulen auch mit privater Hilfe rechnen können, dann sind sie, so die an die Öffentlichkeit gerichtete Botschaft, besser als andere, die mit den Zuwendungen des Staates auskommen müssen. Der Rückzug des Staates aus dem Bildungswesen wird durch Diskurse über die Missstände an öffentlichen Schulen gefördert, verbindet sich doch damit das
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Postulat, der Staat solle vermehrt solche Schulen zulassen und unterstützen, die sich als Alternative zur Regelschule begreifen und die in eigener, nichtstaatlicher Regie betrieben werden. Die nachfrageorientierten Bildungsoptionen bedürfen, um akzeptiert zu werden, kontrastierende Konstrukte des Ist-Zustandes. Dazu gehört auch das Konstrukt der ‚bürokratischen ދSchule, die als Zwangsapparatur der Eigenverantwortung – nicht zuletzt auch der Eltern – keinen Raum lässt und die Vielfalt der Begabungen und Kompetenzen nivelliert. Die progressiv erscheinende Forderung, mehr Optionen zuzulassen und dem Gestaltungswillen der beteiligten Kreise mehr Raum zu geben, kann also zu einer gesellschaftlich restaurativen Einflussnahme auf das Gesamtsystem führen. Unter gesellschaftspolitischem Aspekt muss es den Etablierten darum gehen, auch im Bildungssystem ihre Interessen zu verteidigen. Sie müssen Einfluss zurückgewinnen, um die Entwertung des Bildungskapitals zu verhindern. Die Multioptionalität der Bildungsangebote und die damit verbundene Intransparenz des Bildungsmarktes sind dabei von Vorteil. Wenn im Bildungswesen staatliche Einflüsse zurückgedrängt werden, wenn es anstelle staatlich verordneter Organisationsformen zur Ausbildung einer – teils öffentlichen, teils privaten – komplexen Angebotsstruktur kommt, dann kann sich der Bürger nicht darauf verlassen, dass formal gleich qualifizierende Abschlüsse auch gleiche Chancen mit sich bringen. Vielmehr erhöht sich auf der Anbieter- wie auf der Nachfragerseite der Deutungsspielraum. Das heißt auch, dass über die Qualität von Schul- und Unterrichtsangeboten die Abnehmer, also die Klientel der Schüler und Eltern sowie die Akteure des Beschäftigungssystems, zu befinden haben und der Staat nicht mehr allein durch seine regulativen Normen das Bildungsniveau einzelner Schulen und Schultypen festlegt. Die Qualität von Bildungs- und Ausbildungsgängen bemisst sich bei einer solchen Entwicklung nicht an rechtlichen Definitionen, sondern an dem Renommee, das die am Schulgeschehen Beteiligten zu erzeugen imstande sind. Das bedeutet auch, dass der Öffentlichkeitsarbeit der Beteiligten, der Lehrkräfte und Schulleitungen, der Eltern und der Schülerschaft, eine im Vergleich zum formalen Berechtigungssystem viel größere Bedeutung zukommt. Wichtig ist, dass scheinbare oder tatsächliche ‚Qualitätsunterschiede ދpublizitätswirksam und trotzdem diskret vermittelt werden, also so, dass die Botschaft die Akteure des Beschäftigungssystems erreicht, ohne in der Öffentlichkeit Anstoß zu erregen und Diskussionen über Bildungsprivilegien im Rahmen eines multioptionalen Schulwesens zu provozieren. Auch die Einbeziehung der Produktkommunikation durch die Schule ist für die Etablierten von Vorteil, weil die Schulen der Bildungsbenachteiligten für Öffentlichkeitsarbeit keine Ressourcen zur Verfügung haben. Potente Kunden sorgen selbst dafür, dass die von ihnen bevorzugten – mehr oder weniger exklusiven – Angebote ein entsprechendes Prestige
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haben. Die Etablierten können nicht nur innerhalb eines Regelwerkes ihre Nachkommen besser fördern; sie können vielmehr über die Regeln selbst bestimmen. Qualitätsurteile nämlich, die mehrheitliche Zustimmung finden, hängen mit der Positionierung der Definitoren in einem politischen, sozialen und symbolischen Umfeld zusammen. Das Prestige der Schulen oder Schultypen ist nicht zuletzt von dem sozialen Status der Kreise abhängig, auf die ihre Angebote ausgerichtet sind und die sie nutzen. Das gemeinsame Interesse von Lehrern und Eltern besteht darin, den Wert der Institution, die sie vertreten und für die sie sich engagieren, hervorzuheben und – ausdrücklich oder implizit – andere abzuwerten. Eltern können, zusammen mit affinen Gruppen im Beschäftigungssystem, ihren Einfluss geltend machen, dass Schulabschlüsse in Berufschancen umgewandelt werden. Damit ist auch das wichtigste Erfolgskriterium der Schule erfüllt, nämlich dass sie sich ‚bewährtދ, das heißt dass ihre Absolventen in den nachschulischen Allokationsprozessen gefragt sind. Prestigedifferenzen, die zwischen verschiedenen Bildungsangeboten bestehen, scheinen aus dem Konkurrenz- und Leistungsprinzip hervorzugehen, das den Vorgängen am Markt zugrunde liegt. Ähnlich wie auf anderen Märkten bessere und schlechtere Dienstleistungen angeboten werden, so – dem Konstrukt nach – auch auf dem Bildungsmarkt. Der Kunde verschafft sich, dem Idealtypus des homo oeconomicus folgend, eine Marktübersicht und entscheidet über das beste Angebot. Einige Nachfrager legen – der Marktanalogie entsprechend – mehr Wert auf Qualität und sind daher bereit, höhere Kosten in Kauf zu nehmen. Die Frage einer Grundversorgung, auf die alle Konsumenten Anspruch haben, scheint nicht berührt zu sein, zumal wenn es um Abschlüsse geht, die formal gleichrangig sind. Wenn Bildung unter die Kategorie der Ware oder der Dienstleistung subsumiert wird, stehen die Nutzenerwägungen privater Bildungsnachfrager im Mittelpunkt, nicht dagegen die gesellschaftlichen Kosten, die durch soziale Ungleichheit verursacht werden. Bildung konstituiert soziale Ungleichheit, und zwar im Zusammenhang mit dem Prestige der Institution, an der Bildungsprozesse durchlaufen werden. Geht man nur von der Qualität einer Ware oder einer Dienstleistung aus, so scheint es sich mit der Bildung ähnlich zu verhalten wie mit anderen Waren oder Dienstleistungen, bei denen man ja auch unterstellt, dass die Entscheidungen der Verbraucher das Marktgeschehen bestimmen, dass dieses jedoch irrelevant ist für die Gesellschaftsstruktur. Daher ist der Konsument in seiner Wahl prinzipiell frei. Ob jemand mehr oder weniger Geld ausgeben will, ob er sich ein besseres Produkt leistet, ob er bereit ist, finanzielle Ressourcen einzusetzen, um dafür mehr Komfort oder Qualität zu erhalten, oder ob er es vorzieht, auf zusätzliche Ausgaben zu verzichten, betrifft ihn ganz persönlich, nicht dagegen die Gesellschaft als Ganzes, und bedarf daher keiner politischen Einflussnahme. Das bedeutet, dass der Bildungsdiskurs von
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den langfristigen sozialen Wirkungen des Schulbesuchs abgeschnitten wird, wenn es – scheinbar – nur um individuelle Qualitätsurteile, Nutzenabwägungen und ‚Kaufentscheidungen ދgeht. Die Marktmetapher hat weitgehende Folgen, sofern nicht die Besonderheiten der Bildung als ‚Dienstleistung ދbeachtet werden. Wenn Bildung als ein Objekt von Angebot und Nachfrage betrachtet wird, dann erweitert sich das Spektrum zwischen ‚guten ދund ‚schlechtenދ Dienstleistungen und – in der Folge davon – zwischen Ansehen und sozialer Verachtung, das durch die Schule generiert wird. Dementsprechend sind gesellschaftliche Fraktionierungen und dauerhafte soziale Schließungen besonders dort festzustellen, wo Bildung als Ware gilt und Nachfragern das Recht eingeräumt wird, das Bildungsgeschehen zu bestimmen. Den sozial Benachteiligten fehlen die materiellen Mittel, um das – tatsächlich oder vermeintlich – beste Angebot zu wählen. Hinzu kommt aber auch, dass der Markt intransparent ist, dass es also mit Schwierigkeiten verbunden ist, Qualitätskritierien oder das, was im Beschäftigungssystem dafür gehalten wird, zu erkennen. Ob es empirische Hinweise gibt, mit denen die postulierten Qualitätsunterschiede objektiviert werden könnten, ist ohnehin fraglich. Soziale Benachteiligung bedeutet darüber hinaus, nicht über die Informationen zu verfügen, die es gestatten, die Schule auszuwählen, die – nach informalen Differenzierungen – die besseren Chancen eröffnet. Während schon formale Differenzierungen so komplex sind, dass eine Orientierung auf dem Bildungsmarkt schwierig ist, lassen die informalen Kriterien eine zusätzliche Barriere der Unübersichtlichkeit entstehen, die nur von Bildungsprivilegierten überwunden werden kann. Informale Differenzierungen schaffen so eine diskrete Art der Exklusion, indem schon bei der Schulwahl Marginalisierungen in Gang kommen, die scheinbar von den Betroffenen selbst gewollt werden, tatsächlich aber auf mangelnde Markttransparenz bzw. auf die unterschiedliche Möglichkeit zurückzuführen sind, sich entsprechende Informationen zu verschaffen und Entscheidungen zu realisieren. Auch bezüglich der internen Differenzierung des Bildungswesens verfügen die Bildungsbenachteiligten nicht über die Informationen, die erforderlich sind, um angesichts einer zunehmenden Auswahl die Angebote mit den meisten Chancen zu wählen, selbst wenn die Mittel zur Realisierung dieses Wunsches vorhanden wären. Bills (2004, 158f.) macht dies am Beispiel der Kurswahl in der Highschool deutlich: “Much as in shopping malls, students can pick and choose between ދboutique’ courses and ދfast food’ courses, in a bewildering assortment of options and possibilities. Unfortunately, schools offer little guidance of structure for students to learn how to transform their course-taking into viable career paths. Schools come to favour those with the resources to capitalize on their excess of choice – those with the
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Unter den Umständen einer zunehmenden Deregulierung genügt die großzügige Zulassung privater Alternativen, um informale Rangunterschiede zwischen den Schulen zu begründen, das heißt um aus einem Anderssein eine Anderswertigkeit zu machen. Die folgenden Feststellungen, die sich auf Verhältnisse in den USA beziehen, sind durchaus grundsätzlicher Art und können auf andere Länder der westlichen Welt übertragen werden: “... right-wing operatives understand the partisan value of privatisation or school choice as it is labeled. Education has traditionally been an issue that helps the political left in the name of opportunity, mobility, and the promotion of democratic values, left-leaning politicians have promoted public education. If the public could be convinced that most public schools are failing, conservatives reasoned, then promises to fund public education would begin to ring hollow” (Kincheloe 2006, 2).
Es sind demnach sehr handfeste ökonomische Interessen, die in die Bildungsdebatte einfließen und die in der Öffentlichkeit nicht dargelegt, sondern hinter anderen Argumentationsfiguren verborgen werden. Wenn die Etablierten bestrebt sind, für ihre Position Unterstützung zu finden, dann dürfen sie sich nicht gegen die Inklusion der Benachteiligten im Rahmen des allgemeinen Bildungswesens aussprechen. Anders verhält es sich mit den positiven Botschaften: Der Appell an die Freiheit dagegen findet Akzeptanz. Die Forderung zum Beispiel, dass Schulen über die Zusammensetzung ihrer Schülerschaft selbst bestimmen oder dass die Eltern sich an Schulkosten selbst beteiligen dürfen, ist konsensfähig, selbst wenn es offensichtlich ist, dass auf diese Weise bestehende soziale Differenzen auf dem Bildungswege verstärkt werden. Die partielle Privatisierung des Bildungswesens macht es möglich, Allianzen jenseits der Lagergrenzen zu begründen, sofern die Entlastung des Staates, also auch des Steuerzahlers, hervorgehoben wird. Die vom Staat finanzierte höhere Schule und die Universität unterscheiden sich als Kostenfaktor nicht vom Staatstheater, von Oper, Ballett und Schauspiel, die von der Allgemeinheit getragen, aber nicht von der Allgemeinheit in Anspruch genommen werden. Ist daher eine Finanzierung über Steuern nicht ungerecht? Die empirische Ungleichheit der Nutzung kann als Argument gegen ein allgemeines öffentliches Bildungswesen in die Bildungsdebatte eingebracht werden. Kincheloes Analyse kommt zu dem Ergebnis: “... the privatization of education could be employed to subvert traditional progressive political constituencies.” (Kincheloe, a.a.O., 2). Die Position der Progressiven kann mit dem Hinweis geschwächt werden, dass die finanzielle Belastung der Nutzer im Interesse der finanziell Schlechter-
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gestellten sei. Der Affekt ärmerer Gruppen und Schichten der Bevölkerung gegen kostspielige öffentliche Einrichtungen, die sie selbst kaum in Anspruch nehmen, kann also genutzt werden, um der Forderung nach einer Zurückdrängung des Staates aus dem Bildungswesen und der Entwicklung privater Bildungsangebote Nachdruck zu verleihen. “School choice could be promoted to the poor and racially marginalized as an issue of justice and equality” (Kincheloe, ebd.) Die Nachteile der Multioptionalität für die bildungsfernen Kollektive werden dagegen leicht übersehen. Dass Zugangsbarrieren nicht abgebaut, sondern im Gegenteil errichtet werden, da ja auf die Allgemeinheit, nicht zuletzt auf die Allgemeinheit der Steuerzahler, weniger Rücksicht genommen werden muss, gehört zu den problematischen gesellschaftlichen Folgen der Multioptionalität im Bildungswesen. Mit anderen Worten stehen der Realisierung von mehr Zugangsoffenheit und Durchlässigkeit im Rahmen des formalen Systems neue Ungleichheiten gegenüber. Die Zulassung von privaten Optionen für Bildungsnachfrager kann – bei formal gleichen Rechten – soziale Barrieren zur Folge haben, die schwerer zu überwinden sind als solche, die innerhalb des öffentlichen Systems bestehen. Hinzu kommt, dass auch innerhalb des öffentlichen Bildungswesens Schranken errichtet werden, und zwar im Rahmen verborgener, die formalen Grenzziehungen nicht berührender Differenzierungen.10 Die Multioptionalität schafft Spielraum für Konstrukte, die der Absicherung von sozialer Ungleichheit dienen. Es entstehen informale Gradationssysteme für Schultypen, für Schulen und Zertifikate, die gerade deswegen eine so durchschlagende Wirkung haben, weil sie nicht justiziabel und nicht politisierbar sind. Der öffentliche Diskurs thematisiert somit nicht die Ungerechtigkeit informaler Differenzierungen. Statt10
Die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Schulsektor ist, wie sich auch schon bisher gezeigt hat, in dem Sinn künstlich, dass es viele Abstufungen und Übergangsformen gibt. So kann auch in staatlichen Schulen den Eltern, aber auch anderen Kollektiven und Institutionen ein Mitsprache- und Gestaltungsrecht eingeräumt werden, das dem der Privatschulen ähnlich ist. Auch Alternativschulen, die sich in der Absicht konstituieren, Freiräume gegenüber den Zwängen des staatlichen Schulbetriebs zu schaffen, befinden sich unter Umständen in staatlicher Trägerschaft. Darüber hinaus sind im Rahmen des staatlichen Schulwesens unterschiedliche finanzielle Beteiligungen von privater Seite möglich, und zwar über Schul- und Studiengebühren, die Beteiligung der Eltern oder der Nutzer an den Betriebskosten, die Finanzierung der für den Unterricht erforderlichen Sachmittel, die personelle Einbindung der Eltern in das Schul- und Unterrichtsgeschehen – etwa die Übernahme von Handwerkerleistungen, von Unterrichtsaufgaben (im Rahmen von Projekten) und oder von Serviceleistungen – und die private Finanzierung von (Sonder-)Lehrkräften. Umgekehrt kann der Status der Privatschule auch mit einer mehr oder weniger starken finanziellen Beteiligung des Staates einhergehen, der zum Beispiel ganz oder teilweise die Personalkosten übernimmt. Privatschulen können also mehr oder weniger ‚staatlich ދsein. Unabhängig von der Beteiligung an den Kosten kann sich der Staat in unterschiedlichem Maß ein Mitsprache- und Kontrollrecht einräumen lassen.
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dessen steht in der politischen Auseinandersetzung fast ausschließlich die Öffnung des Bildungssystems im Sinn formaler Rangdifferenzierungen zur Debatte. Auch die Bildungsbenachteiligten konzentrieren sich auf die Forderung, dass formal höherrangige Schulabschlüsse nicht nur von den Etablierten, sondern auch von Bildungsbenachteiligten erreicht werden sollen. Exklusionsprozesse bleiben verborgen, obwohl oder gerade weil sie eine Reaktion auf Inklusion darstellen. Dementsprechend führt die Durchsetzung von Durchlässigkeit im Rahmen des formalen Systems, wie sie von den Progressiven betrieben wird, nicht zum angestrebten Erfolg, und zwar weil Prestigedifferenzierungen zwischen formal gleichrangigen Schulen unberücksichtigt bleiben. Durch Komplexität und Intransparenz des Bildungssystems werden neue Schlupflöcher der Exklusion geschaffen. Auf der Grundlage von Prestigedifferenzierungen unterhalb der rechtlichen Ebene kann sich eine Verschärfung der durch Bildung verursachten Ungleichheit einstellen, die mit Hilfe der traditionellen Prüfkriterien der Ungleichheitsforschung nicht abzubilden ist. Es gibt also für die Entwicklung von Bildungssystemen einen typischen Verlauf: In der ersten Phase setzen sich diejenigen, die von Führungspositionen ausgeschlossen sind, sowie ihre politischen Vertreter und ein mit ihnen sich solidarisierender Teil der Öffentlichkeit dafür ein, dass im Rahmen des staatlichen Schulsystems bzw. des rechtlichen Ordnungsschemas, das die Rangstufen von Bildungsgängen und -abschlüssen regelt, Barrieren überwunden und qualifizierte, hochbewertete Abschlüsse verstärkt für diejenigen erreichbar werden, die aufgrund gesellschaftlicher Benachteiligung bislang davon ausgeschlossen waren. Dazu gehört, dass die vorhandenen Systeme erweitert und neue Bildungsgänge geschaffen werden, die sich jedoch in das System der bestehenden Rangdifferenzierungen einreihen. Die Etablierten leisten Widerstand gegen diese Bestrebungen, weil sie das für sie erreichbare und angesammelte kulturelle Kapital entwertet sehen, womit für sie eine Grundlage zur Legitimierung gesellschaftlicher Unterschiede entfällt. In der zweiten Phase entwickeln sich auf der Grundlage einer zunehmenden Komplexität der formalen Systeme, also der inhaltlich und hierarchisch unterschiedlichen Bildungsgänge und -abschlüsse, informale Differenzierungen. Außerdem werden private Alternativen angeboten, die sich im Aufbau und in der Wertigkeit der Abschlüsse scheinbar mit denen des öffentlichen Schulsystems decken, tatsächlich aber zu Konstrukten der Ungleichheit Anlass geben und weitere informale Differenzierungen zur Folge haben. Die formale Gradation verliert ihre Bedeutung für das Beschäftigungssystem, weil sie von anderen, komplexeren und weniger transparenten Gradationsystemen überlagert wird. Diese Entwicklungen des Bildungswesens sind mit den Kategorien der Reformdebatte kaum zu fassen: Was als Bildungsreform in der Öffentlichkeit
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erscheint, kann durchaus auch mit sozialer Exklusion einhergehen. Dementsprechend kommt es zu beruflichen Misserfolgen und persönlichen Enttäuschungen bei denjenigen, die im Rahmen der formalen Bildungshierarchie erfolgreich sind und deren Zeugnisse sich nichtsdestoweniger im Beschäftigungssystem als wenig nützlich erweisen. Prozesse der sozialen Schließung setzen bereits ein, wenn die über die formale Hierarchie der Abschlüsse sich vollziehende Öffnung noch in Gang ist. Die öffentlich geführten Bildungsdiskurse orientieren sich an der formalen Rangordnung von Schulen und Abschlüssen, während bei der Verteilung attraktiver, karriereoffener Positionen des Beschäftigungssystems längst andere, informale und nicht justiziable Differenzierungen im Mittelpunkt stehen. Obwohl zunehmend hochrangige Abschlüsse erreicht werden, und zwar auch von Absolventen bildungsferner Gruppen, werden Differenzierungen geschaffen, deren hierarchische, Ungleichheit konstituierende Bedeutung nicht direkt angesprochen wird, die aber das alte Berechtigungssystem ersetzen. Es entstehen auf diese Weise formal gleiche oder gleichberechtigte, informal aber ungleiche, nach Prestige differenzierende Bildungsgänge. Die sozialen Bildungsbarrieren, die zuvor im Rahmen der formalen Gradation wirksam waren, bestehen fort, und zwar insbesondere innerhalb der neuen Differenzierungen, indem sie dafür sorgen, dass der Zugang zu den informal hochrangigen Kursen und Abschlüssen exklusiv bleibt. Geht man mit Pareto (1975, 258ff.)11 von einer Zirkulation der Eliten aus, so wird auch diese erneute Schließung nur vorläufig sein. Neue Etappen der Schulentwicklung sind jedoch erst dann zu erwarten, wenn die Prozesse der formalen, aber faktisch immer wirkungsloser werdenden Öffnung und der sie überlagernden faktischen sozialen Schließung zu einem Ende gekommen sind. Es wäre zum Beispiel denkbar, dass die gesellschaftspolitische Bedeutung informaler Differenzierungen von der Öffentlichkeit erkannt würde und auch die legitimierenden Konstruktbildungen an Glaubwürdigkeit verlören. Damit wäre die Basis für eine politische Neuordnung des Schulsystems gegeben. Prozesse neuer Systembildungen im Bildungswesen, die den Phasen unkontrollierter und diffuser Differenzierungen folgen, hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben (Zymek 2004, 221).
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Paretos Elitentheorie gibt in vielen Punkten das Denken seiner Zeit wieder. Kritikwürdig erscheinen aus heutiger Sicht seine Überlegungen zur Bedeutung der „Residuen“, die nach seiner Meinung den Abstieg der alten Eliten auslösen. Vieles deutet aber auch in der Gegenwart darauf hin, dass sich in einzelnen Subsystemen nicht nur Funktionseliten ausbilden, sondern dass von einer, allerdings sich in ihrer Zusammensetzung ständig ändernden, „herrschenden Klasse“ ausgegangen werden muss. Vgl. Hartmann 2004, bes. 175 ff.
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7.1 Aufmerksamkeit als knappes Gut 7.1 Aufmerksamkeit als knappes Gut Die immer größer werdende Abhängigkeit von der Öffentlichkeit hat das Verhältnis zwischen Institutionen und Medien verändert. So zeigt zum Beispiel der Aufwand, der für Public Relations im Bereich der Wirtschaft betrieben wird, wie wichtig es für den Markterfolg von Unternehmen ist, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Wenn es in der postmodernen Gesellschaft nur wenig eindeutige Beziehungen zwischen Nachfrage und Angebot gibt, wenn in vielen Fällen die Nachfrage nicht das Angebot konstituiert, sondern der Bedarf bzw. die Nachfrage sogar erst von den Anbietern eines Produkts oder einer Dienstleistung geweckt werden muss, dann sind Medien notwendig, um den Markt zu erschließen, also um Gefühle und Wünsche zu wecken und zu Erwartungen zu formen. Hinzu kommt, dass Güter bzw. Dienstleistungen, die diesen Bedarf decken sollen, in ihrem Nutzen unterschiedlich definiert werden. Es muss also in der Öffentlichkeit deutlich gemacht werden, dass ein Gut in der Lage ist, einen bestimmten Bedarf zu befriedigen. Das Interesse der potentiellen Käufer muss erregt und auf das Produkt gerichtet werden, und zwar durch das Kommunizieren einer plausiblen Verbindung zwischen Angebot und Bedarf. Für das Image von Produkten ist ebenso das Bild wichtig, das die Öffentlichkeit von dem Unternehmen hat, das diese herstellt. Es kommt für die Produzenten und Anbieter darauf an, Vertrauen zu wecken, also angesichts einer durch Unsicherheit gekennzeichneten Situation eine Erwartungshaltung herzustellen, aus der heraus Kaufakte getätigt werden, auch wenn der Nutzen ungewiss ist. Publizität und ein positives Image sind wichtig für den Fortbestand von Organisationen. Reputation als „aggregierte Vertrauenswürdigkeit“ (Lies 2008, 600) entscheidet darüber, wie die Distribution von Ressourcen auf kommerzielle Organisationen erfolgt. Dabei geht es nicht nur um potentielle Kaufakte und damit verbundene Umsätze und Gewinne. Das Ansehen in der Öffentlichkeit ist für ein Unternehmen wichtig, und zwar über den Markterfolg hinaus. Die Allgemeinheit ist direkt oder indirekt an Entscheidungen über die Rahmenbedingungen, innerhalb derer eine Organisation operieren kann, beteiligt. Eine schlechte Resonanz in den Medien kann für Unternehmen, die Güter und Dienstleistungen erstellen, nicht nur die Nachfrage negativ beeinflussen,
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sondern auch zu gesetzlichen Auflagen oder zur Einstellung von Subventionen führen. Kommunikationsprozesse, die ein Unternehmen und seine Produkte betreffen, müssen daher gesteuert werden. Was im Allgemeinen als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnet wird, dient der Vermittlung von Standpunkten und Orientierungen und will „den politischen, den wirtschaftlichen und den sozialen Handlungsraum von Personen oder Organisationen im Prozess öffentlicher Meinungbildung“ (Deutsche Public Relations Gesellschaft 1988; vgl. Brauer 2005, 39) schaffen und sichern. Besonders solche Organisationen, die keinen Profit erwirtschaften, zum Beispiel staatliche und öffentlich-rechtliche Institutionen, sind von Informationen und Meinungen abhängig, die über sie im Umlauf sind. Auch für sie gilt, dass, sofern sich die Stimmung des Publikums gegen sie richtet, es zu Bestimmungen, Erlassen oder sogar zu Gesetzesänderungen kommen kann, mit denen die Fortführung ihrer Arbeit erschwert oder verhindert wird. Mit der Verschlankung des Staates, etwa im Rahmen des New Public Management, unterliegen selbst Behörden und Ämter dem permanenten Plebiszit der Öffentlichkeit; jede Dienstleistung, für die Steuern bezahlt werden, wird nicht mehr nur von übergeordneten Instanzen, sondern auch von der Öffentlichkeit und einer zunehmend selbstbewussten Klientel legitimiert. Das heißt, dass Tendenzen der Deregulierung und der Privatisierung den Druck auf staatliche und halbstaatliche Einrichtungen verstärken, die Notwendigkeit und Qualität ihrer ‚Produkteދ nachzuweisen. Schwierigkeiten ergeben sich dabei für Organisationen, deren Nutzen insofern abstrakt ist, als er sich nur durch Konstrukte der Gesellschaft und der funktionalen Interdependenz einzelner Teile erschließen lässt. Institutionen, die für sich in Anspruch nehmen, dem Gemeinwohl zu dienen, ohne dass es dafür eine direkt sichtbare und identifizierbare Wirkung gäbe, sind daher in besonderem Maß auf Öffentlichkeitsarbeit angewiesen. Sie müssen nicht nur eine Dienstleistung, sondern auch ein Konstrukt gesellschaftlicher Vorgänge anbieten und plausibel machen. Dies gilt besonders dann, wenn die angenommene Wirkung erst auf längere Sicht eintritt, wobei andere – intervenierende – Faktoren in einem unbekannten Mischungsverhältnis am Zustandekommen des ‚Produktsދ beteiligt sein können. Umso mehr sind diese Institutionen gezwungen, sich um Imagebildung zu bemühen. Die Versorgung mit personellen und materiellen Ressourcen ist für sie – in Ermangelung gesicherter Größen – von dem Bild abhängig, das die Öffentlichkeit von ihren Leistungen hat. Öffentlichkeitsarbeit kann daher auch eine legitimatorische Funktion haben; sie soll möglicherweise darlegen, dass bestimmte Personen und Institutionen mit ihren Aktivitäten der Allgemeinheit dienen. Was kommerzielle Unternehmen angeht, so geht man davon aus, dass bei Angebot und Nachfrage, bei Kauf und
7.2 Schule und lokale Öffentlichkeit
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Verkauf das persönliche ökonomische Interesse, also der Profit Vorrang hat und sich der Dienst am Gemeinwohl bestenfalls als Nebeneffekt ergibt. Bei Organisationen des öffentlichen Dienstes sowie bei öffentlich geförderten Wohlfahrtseinrichtungen haben dagegen Leistungen für die Allgemeinheit im Vordergrund zu stehen, während der Nutzen der direkt Beteiligten, zum Beispiel der Mitarbeiter, zweitrangig ist. Damit ist für den ‚öffentlichen Dienst ދund andere gemeinnützige Einrichtungen die Suche nach Aufmerksamkeit auch prekär. Es müssen nicht nur Konzepte gefunden werden, die eine eindeutige, nachvollziehbare Beziehung zwischen dem Organisationsgeschehen und den für die Allgemeinheit zu erwartenden positiven Folgen herstellen; vielmehr geht es auch darum, den Verdacht des Egoismus abzuweisen, die Vermutung nämlich, dass die Mitarbeiter in erster Linie an sich selbst, also an ihre Einkünfte und ihre Karriere dächten, und dass die auf das Gemeinwohl gerichteten Zielsetzungen eine nachgeordnete Bedeutung hätten. Gemeinnützige Organisationen gelten in dem Maße als ‚seriösދ, wie es ihnen gelingt, den Dienst an der Allgemeinheit als vorrangiges Ziel glaubhaft zu machen. Gerade dieser Anspruch muss, da die Wirkung auf das gesellschaftliche Ganze oft wenig manifest ist, durch Öffentlichkeitsarbeit vermittelt werden. 7.2 Schule und lokale Öffentlichkeit 7.2 Schule und lokale Öffentlichkeit Auch für das Schulsystem gilt, dass die durch Verfassungen und Schulgesetze vorgeschriebenen Ziele sich gänzlich der Operationalisierung entziehen und dass es keine objektivierbaren Kriterien für die Qualität von ‚Produktenދ, ja nicht einmal für deren Zustandekommen gibt und somit alle Ansätze zur Feststellung des Umfangs und der Qualität von Bildung sich nur auf ein kooperatives Tun richten können, von dem angenommen wird, dass es ‚Bildung ދermögliche oder herbeiführe. Dementsprechend haben Schulen, ebenso wie Behörden, mit der Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes die Public Relations für sich entdeckt (Vogel 2007). Bekanntheit und Akzeptanz beim Publikum werden mit knapper werdenden Ressourcen zur Überlebensstrategie. Ob sich zum Beispiel auf einem lokalen Markt eine Schule als Anbieter von Erziehung und Bildung gegenüber der ‚Konkurrenz ދdurchsetzen kann, ob es ihr gelingt, ihre Ausstattung mit Lehrmitteln zu erhalten und zu verbessern, Schulgebäude instandzuhalten, zu sanieren oder zu erweitern, Sponsorengelder einzuwerben, Stellen zu besetzen und neue Stellen zu bekommen, ob sie Kürzungen der personellen und finanziellen Mittel entgegenwirken oder gar eine Schulschließung verhindern kann, hängt nicht so sehr von pädagogischen Konzepten und von der Kompetenz ihres Personals als vielmehr von dem Bild der Schule in der Öffentlichkeit ab.
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Politiker, Parteien und Behörden können bei ihren Entscheidungen zur Entwicklung des Bildungswesens von dem Ruf einer Bildungseinrichtung nicht absehen. Wenn nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, um den Bedarf aller Schulen zufriedenstellend zu decken, sind zusätzliche, über die Funktionserfüllung hinausgehende Begründungen für die Mittelvergabe erforderlich. Auch Schulen können nicht mehr mit feststehenden, nach Gesichtspunkten der Kameralistik bestimmten Beträgen rechnen, die ihnen kosten- und bedarfsgerecht zugeteilt werden. Vielmehr wird von ihnen verlangt, dass sie ihre Leistungsfähigkeit – und sei dies nur mit Hilfe von Ersatzindikatoren – unter Beweis stellen. Zu Zeiten einer gesamtgesellschaftlichen Dominanz des Staates genügte es, dass eine Schule als ‚öffentliche Anstalt ދsich nichts zuschulden kommen ließ, also dass es ihr beispielsweise gelang, Skandale zu vermeiden; eine ‚Betriebsführungދ, die den bürokratischen Vorschriften entsprach, sicherte den Bestand und die langfristige Ausstattung mit Ressourcen. Unter neoliberalem Vorzeichen operieren Schulen dagegen auf einem Markt konkurrierender Angebote. Die politischen Entscheidungsträger machen ihre Unterstützung von dem Zuspruch abhängig, den einzelne Schulen und Schultypen bei ihrer Klientel finden; Sach- und Personalmittel werden nicht zuletzt durch den Indikator der Nachfrage bestimmt. Damit aber schließt sich der Kreis. Schulen, die mit Ressourcen gut ausgestattet sind, können besser arbeiten bzw. können die ‚Qualität ދihrer Bildungsarbeit besser glaubhaft machen. Damit erhöht sich die Nachfrage bzw. der Zuspruch durch die Öffentlichkeit. Infolgedessen sind die Schuladministration und die politischen Entscheidungsträger eher bereit, diese scheinbar erfolgreichen Schulen zu fördern, da sie offenbar die Einhaltung von Qualitätsstandards garantieren. Nicht nur für Schulen gilt, dass die Präsenz in den Medien für diejenigen, die in einer Organisation Verantwortung tragen, zu einem Grundmotiv des Handelns geworden ist. Das „imperiale Wachstum des Mediensystems“ hat dazu geführt, dass konventionelle Kompetenzen relativiert werden (Leggewie 2000) und dass die Fähigkeit zur Erzeugung und Kultivierung von Publizität sich zu einer Schlüsselqualifikation für Führungspositionen entwickelt hat. Das heißt, dass sich „für alle Akteure, die sich an eine Öffentlichkeit wenden, die Kommunikations-, Darstellungs- und Inszenierungszwänge“ erhöhen (Münch/ Schmidt 2005, 207). Wenn Akzeptanz und Unterstützung nicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden können, sondern von dem Renommee in der Öffentlichkeit abhängen, müssen Maßnahmen, Projekte, Handlungsroutinen, Auftritte, Sanktionen sowie alle anderen Aktivitäten in Hinblick auf die Mobilisierung von Ressourcen kalkuliert werden. Daher hat nicht nur für Politiker, Unternehmer und Manager, sondern auch für die Repräsentanten der Schule die Fähigkeit zur Selbstinszenierung an Bedeutung gewonnen. Sofern die Existenz-
7.2 Schule und lokale Öffentlichkeit
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sicherheit der Schule davon abhängt, wie und zu welchem Zeitpunkt in der Presse oder in anderen Medien sowie in Face-to-Face-Kontakten über sie kommuniziert wird, dann ist alles Handeln, das im Grenzbereich von Organisation und Umwelt liegt, das also öffentlich sichtbar werden könnte, nicht allein aus sich heraus, also vom ursprünglichen Handlungssinn her zu verstehen, sondern weist grundsätzlich darüber hinaus eine taktische Dimension auf. Öffentlichkeitsrelevantes Handeln ist mit der zunehmenden Mediatisierung der Kommunikation ein Handeln für die Öffentlichkeit und unter Berücksichtigung der Öffentlichkeit. Es drückt etwas aus, was über den primären Handlungssinn hinausgeht und was als Botschaft für die Öffentlichkeit gemeint ist. Schulleitungen und Lehrerschaft müssen sich in der Mediengesellschaft politisch verhalten, das heißt, sie müssen das pädagogische Geschehen so steuern und Informationen in einer Weise weitergeben, dass das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit optimiert und der Zufluss von Ressourcen sichergestellt wird. Für die Schuladministration ist „impression management“, selbst in extremen Formen, zum Teil ihrer Aufgabe geworden (Anderson 2006, 117). Aufgrund der Vielfalt medialer Angebote ist öffentliche Aufmerksamkeit ein knappes Gut (Brauer 1993, 467; Röttger 2006, 10f.). Die Fülle von Informationen, mit denen die Medien ihr Publikum versorgen, wirkt wie eine schwer zu durchdringende Sperre, sodass es besonderer Anstrengungen bedarf, wenn es darum geht, gezielte, auf Imagewirkung ausgerichtete Botschaften unterzubringen. Dies gilt besonders dann, wenn das für Werbung und Public Relations zur Verfügung stehende Budget gering ist. Organisationen wie die Schule, die durch Steuermittel sowie durch Spenden bzw. durch Gebühren finanziert werden, haben generell für Werbung oder andere Instrumente zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung nur einen beschränkten Spielraum. Wie bereits dargestellt wurde, müssen gemeinwohlorientierte Organisationen auf den Ruf der Seriosität bedacht sein. Dieser ist besonders dann gefährdet, wenn der Eindruck erweckt wird, dass es den Mitarbeitern vor allem auf ihren persönlichen Nutzen ankomme. Durch eine übertriebene Öffentlichkeitsarbeit kann der Verdacht entstehen, dass das Personal egoistisch motiviert sei, dass das Engagement also in erster Linie auf mehr und höherdotierte Stellen abziele. Die Öffentlichkeit geht bei der Schule wie bei anderen gemeinwohlorientierten Organisationen davon aus, dass die Mittel, die für Werbung eingesetzt werden, lieber für die Erreichung der institutionellen, von der Öffentlichkeit zugewiesenen Ziele zur Verfügung stehen sollten. Der Bildungsbedarf gilt als Selbstverständlichkeit, der nicht erst mit Hilfe von Marketingstrategien bewusst gemacht werden muss. Umfangreiche Werbemaßnahmen sind also problematisch, gerade wenn die Ziele der Organisation von der Allgemeinheit hoch geschätzt werden. Es sollten daher – nach öffentlicher Einschätzung – nur in
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7 Konstruktbildungen und Medien
beschränktem Maß Mittel für Imagezwecke eingesetzt werden. Wenn es darum geht, deutlich zu machen, dass die infrage stehende Bildungsinstitution wichtigen gemeinwohlorientierten Zielen dient und effizient arbeitet, dann ist doch diese Art der Öffentlichkeitsarbeit nur dann konsensfähig, wenn sie ‚en passant ދerfolgt, wenn also der Anschein erweckt wird, als ob die Schule keinen besonderen Aufwand für Werbezwecke betriebe, vielmehr nur etwas vom Alltagsleben der Institution unter dem Aspekt eines allgemeinen öffentlichen Interesses bekannt würde. Für Institutionen, die beanspruchen, dem Gemeinwohl zu dienen, obwohl die behauptete Wirkung ihrer Aktivitäten nicht nachweisbar ist, liegt es nahe, eine besondere Art von Öffentlichkeitsarbeit zu wählen, und zwar indem sie dafür sorgen, dass ‚redaktionell ދüber sie berichtet wird. Dabei haben solche Aktivitäten, die in irgendeiner Weise spektakulär sind, besondere Chancen, in den Medien berücksichtigt zu werden. Publizität ist „nur selektiv bei Vorliegen bestimmter Relevanzkriterien zu erwarten“ (Szyszka 2004, 152). Die Angewiesenheit auf erlebnisorientierte Nachfrager trifft „zunehmend auch für Institutionen zu, die sich nicht oder nur widerstrebend als Erlebnisanbieter verstehen: Kommunale Kulturreferate, Bildungsinstitutionen und politische Parteien nehmen – ob sie es wollen oder nicht – auf der Angebotsseite des Erlebnismarktes teil“.1 Schulen bieten mit besonderen Feierlichkeiten, mit künstlerischen Veranstaltungen, mit Rekorden und Auszeichnungen bei Wettbewerben, mit gemeinnützigen Aktionen und speziellen pädagogischen Projekten genügend Anlass, um zumindest auf lokaler Basis Beachtung zu finden. „Veranstaltungskommunikation“ (Vaih-Baur 2008, 589) kann sich einerseits an die Personen wenden, die zu einem PR-Event eingeladen werden; sie kann aber auch auf ein größeres Medienpublikum gerichtet sein, wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass das Ereignis in der medialen Berichterstattung berücksichtigt wird. Was die Schule betrifft, so können Informationen zu der Veranstaltung selbst mit allgemeinen Hinweisen zum Alltag der Schule, zu den pädagogischen Konzepten und zu den fachlichen Schwerpunkten verknüpft werden, und zwar mit dem Ziel, dass auch diese in die mediale Kommunikation Eingang finden. Umfang und Art der Berichterstattung sind variabel, sodass es nicht zuletzt von den Initiativen der Schulleitung und des Kollegiums abhängt, welches Bild es ist, das in der Öffentlichkeit erzeugt wird. Auch bei dieser Art der Werbung, die kostenlos ist, weil die Schule nur die Anlässe für die Berichterstattung schafft, muss der Verdacht vermieden werden, dass die Akteure eine Bekanntheit um jeden Preis ދerreichen wollen. Der Ein1
Müller-Schneider, Thomas: Grundzüge einer Theorie der Erlebnisgesellschaft. In: Siller, Peter/Pitz, Gerhard (Hg.): Politik als Inszenierung. Zur Ästhetik des Politischen im Medienzeitalter. Baden-Baden 2000, S. 31 – 38, dort S. 37
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druck, dass das, was an Informationen die Öffentlichkeit erreicht, dem Zweck der Manipulation dient und Teil einer ‚Show ދist, kann das Renommee der Schule aufs Spiel setzen. Die Öffentlichkeit geht ja davon aus, dass die Tätigkeit für sich selbst spricht; sie ignoriert, dass in einer Zeit der ‚information overloadދ jede Art von Bekanntheit und sogar das Weiterbestehen der Institution medienwirksame Aktivitäten voraussetzt. Mit anderen Worten dürfen Organisationen, die von der öffentlichen Meinung abhängig sind, und dazu gehört auch die Schule, bei ihren auf die Öffentlichkeit gerichteten Veranstaltungen nicht erkennen lassen, dass es sich um Inszenierungen handelt. Inszenierungen könnten zu dem Verdacht führen, dass das Publikum getäuscht werden soll, und zwar in Hinblick auf die ‚tatsächlichen ދVorgänge, die das Schulgeschehen ausmachen. Ungeschickte, das heißt aufdringliche und übertriebene Öffentlichkeitsarbeit könnte die Frage aufkommen lassen, ob Schulleitung und Lehrerschaft mit ihren Inszenierungen über mangelnde pädagogische Kompetenz oder organisatorische Fehlentwicklungen hinwegtäuschen wollen. Generell gesehen muss die Öffentlichkeitsarbeit gemeinwohlorientierter Organisationen dezent bleiben, auch wenn sie den Unterhaltungswert ihrer – für berichtenswert gehaltenen – Aktivitäten zu berücksichtigen hat. Besonders für öffentliche Bildungseinrichtungen gilt die Empfehlung, die in einem Handbuch der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu finden ist: „Achten Sie streng darauf, dass nur die Aktualität erzeugt sein darf. Einen handfesten Inhalt sollten Sie immer anbieten“ (Brauer, a.a.O., 153). Obwohl Bildungsorganisationen miteinander konkurrieren und der Erfolg im Wettbewerb um Anmeldungen, finanzielle und personelle Zuwendungen usw. möglicherweise über den Weiterbestand der Schule und über die Arbeitsplätze von Lehrern entscheidet, darf nicht der Eindruck entstehen, als ginge es um etwas anderes als um das langfristige Wohl der Schülerschaft. Schulleitungen dürfen sich nur in einer Weise an die Öffentlichkeit wenden, die keinen Zweifel an der Faktizität und der Wichtigkeit ihrer Dienstleistung, nämlich Erziehung und Bildung bzw. Wissens- und Kompetenzvermittlung, aufkommen lässt. Das Interesse der Medien muss auf die Leistungen der Schule, die Effizienz des Mitteleinsatzes und die Aktualität ihrer Ziele gerichtet sein. Öffentlichkeitsarbeit besteht aber auch in der Verhinderung abträglicher Informationen. Denn das Interesse der Medien richtet sich ja nicht zuletzt auf Ereignisse, die Aufsehen erregen, weil sie „ein (öffentliches) Ärgernis“ (vgl. Rimek 2004, 93) darstellen. Eine solche Skandalisierungsfähigkeit der Schule ist immer gegeben, da sie für Einstellungen und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen verantwortlich gemacht wird. Die Diskurse, die in der Öffentlichkeit zu Einstellungen und Verhaltensweisen der Heranwachsenden geführt werden, lassen die Aufgaben des Bildungswesens, die Schule als Förderer positiver und Verhinderer negativer gesellschaftlicher Entwicklungen, im Zentrum der
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7 Konstruktbildungen und Medien
Aufmerksamkeit stehen. Problemverhalten von Jugendlichen löst Sorgen aus, die auf die Zukunft der Gesellschaft projiziert werden. Obwohl die Wirkung öffentlich institutionalisierter Erziehung und Bildung nicht objektiviert werden kann, ist es der Schule nicht möglich, die Verantwortlichkeit für auffällige, „riskante“ Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen abzuweisen. Damit stehen pädagogische Einrichtungen im Zentrum des öffentlichen Interesses. Mit anderen Worten sind Berichte, die sich auf einzelne anstoßerregende Vorfälle beziehen, anschlussfähig in Hinblick auf allgemeine mediale Diskurse über die Befindlichkeiten der jungen Generation und die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens. Für die Schule ergibt sich daraus die Notwendigkeit, negative Aufmerksamkeit zu vermeiden und positive Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dazu gehört auch, dass Informationen, die zu einer negativen Nachricht werden könnten, nach Möglichkeit durch interne ‚Sprachregelungen ދunterdrückt werden. Da Schulen nicht über Mitarbeiter verfügen, die für Öffentlichkeitsarbeit speziell ausgebildet sind, ist eine Ausbreitung von schädlichen Informationen nicht dadurch zu verhindern, dass Journalisten an die zuständige Stelle innerhalb der Organisation verwiesen werden. Stattdessen gibt es gegebenenfalls Sprachregelungen für alle Mitarbeiter, ja für alle Organisationsmitglieder und für das sympathisierende Organisationsumfeld. Vorfälle, die dem Image der Schule schaden könnten, sollen entsprechend dieser Kommunikationsauflagen nur in verharmlosenden Formulierungen angesprochen werden. Im gleichen Kontext ist die Organisationsleitung bemüht, einen Handlungsverlauf zu konstruieren, der die Verantwortung für Devianz nicht der Schule zuschreibt. Wie wirksam derartige Vereinbarungen sind, hängt von jedem Einzelnen ab. Informationsbarrieren, die von Schulen errichtet werden, um sich vor einem schlechten Ruf zu schützen, sind von Außenstehenden leicht zu überwinden, zumal die Einhaltung von Sprachregelungen auf Konsens beruht, also nicht kontrolliert und schon gar nicht erzwungen werden kann. Hinzu kommt, dass Schülerinnen und Schüler für die Informationspolitik der Schulleitung schwer erreichbar sind und dass sie ihre Mitwirkung von Konditionen abhängig machen. Für Schulen gibt es somit kein Instrumentarium für ein effektives Krisenmanagement. Besser als das Verbergen problematischer Vorkommnisse ist daher die regelmäßige Versorgung von Journalisten mit positiven Informationen und die Pflege von Beziehungen zu den Medien, sodass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in eine generell positive Richtung gelenkt wird.
7.3 Schule und Nimbus
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7.3 Schule und Nimbus 7.3 Schule und Nimbus Eine Möglichkeit, auf das Bild der Schule in der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, ist die Schaffung und Pflege von Nimbus. Damit ist gemeint, dass das Ansehen einer Institution weniger auf konkreten und ‚erwiesenen ދEinzelleistungen als vielmehr auf der allgemeinen Vermutung positiver Eigenschaften beruht. Schulen gelingt es mit der Hilfe von Nimbus, Loyalitäts- und Ressourcensicherung zu betreiben, ohne Belege vorlegen zu müssen, dass die hervorragenden Leistungen, die der Nimbus unterstellt, auch tatsächlich erbracht werden. Für den Nimbus genügen Zeichen, die in einem kulturell vorbereiteten Sinnzusammenhang stehen. Zum Nimbus gehört dementsprechend ein Symbolsystem, das zwischen Zeichen und Sinn vermittelt. Nimbus ist das Ansehen, das auf dem vermuteten Wirken geheimnisvoller Kräfte beruht, Kräfte, die zuweilen zutage treten, aber nie völlig entschlüsselt werden können. Für die Schule ist Nimbus besonders dann unerlässlich, wenn sie sich nicht nur auf die Vermittlung von Fachkenntnissen konzentriert, sondern wenn die Persönlichkeitsentwicklung und – mit den Worten Max Webers – die „Erweckung des Charisma“ – im Zentrum pädagogischer Bemühungen stehen. Da derartig komplexe Wirkungen nicht empirisch nachgewiesen werden können, muss die Bildungsinstitution glaubhaft machen, dass ungewöhnliche, komplexe Mechanismen am Werk sind, die auf rational nicht ganz nachvollziehbare Weise die ‚normaleދ, standardisierte pädagogische Arbeit ergänzen und zielführend eingreifen. Nimbus setzt auf Intransparenz der Methoden. Darüber hinaus hat der Nimbus immer etwas Einzigartiges. Die außeralltäglichen Ergebnisse, die eine Schule mit Nimbus angeblich hervorbringt, kommen – dem Konstrukt nach – aufgrund einer ungewöhnlichen Mischung von Umständen, Verfahren und kulturellen Traditionen zustande, wobei die Beteiligten selbst nichts Genaues über das Wie ihres Einwirkens wissen, sondern nur, dass es sich bewährt hat. Der Nimbus einer Schule bleibt daher auch an einen Ort gebunden. Das Finden und Erwecken von „Heldenqualitäten“ (Max Weber) und die Kultivierung der Persönlichkeit sind nach dem Selbstverständnis der Schule bzw. der sie tragenden Personen als Verfahren nicht so beschreibbar, dass es möglich wäre, dieses zu kopieren und an anderer Stelle mit gleichem Erfolg zum Einsatz zu bringen. Es können daher auch nur Teilaspekte der praktizierten pädagogischen und didaktischen Methoden den Eltern oder anderen Interessierten vorgeführt werden. Die mit Nimbus ausgestattete Schule lässt nur Einblicke zu; sie stellt Bildungskonzepte im Sinn von Zielkatalogen vor, ohne ihre Methoden und deren Wirkung im Detail darzulegen. Schulen gelingt es, Nimbus aufzubauen, indem sie sich als einzigartig darstellen. Pädagogische Methoden, die Auswahl des Lehrpersonals, die Gebäude,
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7 Konstruktbildungen und Medien
die Ausstattung und die geographische Lage müssen nach dieser Auffassung als Ganzes gesehen werden; es ist – dem Nimbus folgend – ein besonderer Geist, der von Personen und Objekten ausgeht und Inspirationen hervorbringt, die andernorts unmöglich wären. Schulen können ihr Image verbessern, wenn sie herausragende Persönlichkeiten für sich in Anspruch nehmen. Bei diesen Persönlichkeiten kann es sich um Schulgründer, berühmte Absolventen sowie um Sponsoren handeln, also um ‚große Namenދ, die – dem Konstrukt nach – mit der betreffenden Einrichtung in einem Zusammenhang von Einsichten und Gesinnungen stehen. Besonders gut gelingt der Imagetransfer, wenn die Schule glaubhaft macht, dass derselbe Geist, der das prominente Individuum auszeichnet(e), auch die Schule selbst ‚durchwehtދ, das heißt wenn sich die Schule auf Ideale, Werte und Weltbilder dieser Persönlichkeiten bezieht und davon ausgehend eine Beziehung zu ihrer aktuellen pädagogischen Arbeit herstellt. Schulgründer und Paten: Zu den Schulgründern gehören Persönlichkeiten aus dem politischen Bereich, also Potentaten und andere politische Führer, die, tatsächlich oder vermeintlich, für die Einrichtung der Schule im Sinn eines politischen oder administrativen Aktes verantwortlich sind. Hinzu kommen Größen der Geistes- und Kulturgeschichte, die – einem weltanschaulichen oder pädagogischen Konzept folgend – eine Schule ins Leben gerufen haben. Während es sich bei der ersten Kategorie, wenn überhaupt, nur um einige – zumeist vage – Ideen des Gründers handelt, an die die Schule erinnern kann, sind es bei den Berühmtheiten der zweiten Kategorie durchaus auch Grundsätze und Methoden der Erziehung und der Bildung, auf die im Selbstverständnis und in der Außendarstellung, möglicherweise aber auch in den Unterrichtskonzepten, Bezug genommen wird. Im Allgemeinen gelten jedoch historische Persönlichkeiten, die den Nimbus einer Schule begründen, als Ideengeber, nicht als Praktiker des Schulalltags; sie sind Visionäre, die mit ihren fundamentalen Erkenntnissen über die Zeitläufe hinweg auch für die Gegenwart Anregungen zur Lösung pädagogischer Probleme vermitteln. Das Andenken an die Gründer gilt als Verpflichtung, weil sie – so das Konstrukt – durch historische Großtaten der heutigen Generation ein Beispiel gegeben haben. Der Nimbus des Gründers ist der Nimbus der Schule; die Schule, die – tatsächlich oder vermeintlich – in seinem Sinn wirkt, trägt daher für gewöhnlich seinen Namen. Das heißt, dass sich die Übertragung des Nimbus durch Namensgebung vollzieht. Die Schule verweist durch den Namen des Schulgründers auf ihren Auftrag, nämlich im Geiste dieser historischen Persönlichkeit zu wirken. Selbstverständlich nehmen Gründer die Bildungsorganisation nur fiktiv in die Pflicht. Der historische ‚Auftragދ, mit dem die Schule in der Öffentlichkeit von sich reden macht, soll zeigen, dass sie schon seit ihrer Gründung wichtige gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt.
7.3 Schule und Nimbus
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Zu den Gründern gehören jedoch nicht nur diejenigen, die selbst – der Legende nach – für die Einrichtung der Schule gesorgt haben, sondern auch diejenigen, die dort, wo die Schule ansässig ist, ein geistiges Erbe hinterließen. Sie kommen deswegen als Namensgeber infrage, weil sie durch ihr Wirken das kulturelle Leben eines Landes oder einer Region beeinflusst haben. Die Schule, die den Namen eines Gründungsvaters trägt, gilt als eine durch die historische Weichenstellung der betreffenden Persönlichkeit zustande gekommene institutionelle Errungenschaft. Die geistige Elternschaft des Gründers ist somit Teil eines Ganzen, einer Gesinnung oder eines Geistes, der eine Region kennzeichnet. Mit dem Namen einer historischen Figur, die im weitesten Sinne für das Schulwesen bzw. die Entstehung einer Bildungsinstitution verantwortlich war, wird ein Ortsbezug hergestellt. Allerdings sind die räumlichen Grenzen einer solchen Inanspruchnahme flexibel. Wenn ein regionaler Pate nicht zur Verfügung steht oder schon von anderen Institutionen in Anspruch genommen wird, kann sich die Schule oder der Schulträger auch ohne einen Bezug auf das engere räumliche Umfeld einen Namensgeber aussuchen, der für historische und kulturelle Großtaten steht. Da bei einer solchen willkürlichen Auswahl die Verbindung zu Figuren der Vergangenheit völlig abstrakt ist, also die Biographie des Namensgebers mit der Geschichte der Bildungsinstitution nicht im historisch-biographischen Sinn in Verbindung gebracht werden kann, ist der Profit für den Nimbus der Schule geringer. Die Vorstellung, der ,Geist ދder geschichtlichen Persönlichkeit übertrage sich auf die Schule und sei im Schulalltag wirksam, ist für solche geliehenen Patenschaften weniger plausibel als für andere Konstruktionen. Selbstverständlich können nur wenige Schulen für sich in Anspruch nehmen, dass sie ihre Existenz dem Gründungsakt eines berühmten Namensgebers verdanken. Umso mehr ist eine derartige Tradition, wo sie vorhanden ist und belegt werden kann, dazu geeignet, Exklusivität zu vermitteln. Je berühmter die Persönlichkeit und je enger der biographische Bezug ist, umso elitärer kann die Schule sein. Mit der Gründung durch eine berühmte Persönlichkeit ist es leichter, an das Fortwirken seiner Ideen zu glauben. Entsprechend wird in den so bevorzugten Schulen darauf hingewiesen, dass ‚der Geist ދdes Gründers immer noch ‚lebendig ދsei. Berühmte Absolventen: Der Nimbus kann sich auch von bedeutenden Absolventen herleiten, deren lebensgeschichtlicher Erfolg dafür spricht, dass in der Schule ungewöhnliche Kräfte am Werk sind. Berühmte Persönlichkeiten hervorgebracht zu haben ist der Nachweis für die Wirksamkeit von Methoden, Traditionen und Weltanschauungen. Schulen, die berühmte Ehemalige der Öffentlichkeit präsentieren können, profitieren von dem Glanz, der diese Persönlichkeiten umgibt. Dies ist deshalb besonders bedeutsam, weil für die exklusive Schule der überzeugendste Beweis ihrer Überlegenheit nicht in Durchschnittswerten von
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7 Konstruktbildungen und Medien
Noten und anderen Leistungsplatzierungen, sondern in ungewöhnlichen Erfolgen liegt. Der Absolvent, der aufgrund seiner Schaffenskraft und seiner Kreativität in der Öffentlichkeit bekannt ist, trägt daher in besonderer Weise zum Nimbus einer Schule bei. Der berühmte Absolvent ist nachträglicher Beleg für die Besonderheit pädagogischer Konzepte. Die Schule vertritt den Anspruch, schon zur Schulzeit des prominenten Ehemaligen Hervorragendes geleistet zu haben. Nicht der Prominente hat die Schule geprägt, sondern die Schule den Prominenten. Der Nimbus verbindet sich mit der Vorstellung, dass die betreffende Bildungsinstitution aufgrund der besonderen Atmosphäre und des hervorragenden Personals, das sich der anstaltseigenen pädagogischen Tradition verpflichtet weiß, Begabungen auf den unterschiedlichsten Gebieten zu entdecken und zu entwickeln vermag. Indem Schulleitung und Lehrkräfte die Beziehung zu den Erfolgreichen hervorheben, können sie zu einer öffentlichen Einschätzung beitragen, nach der die Schule die Leistungen ihrer ehemaligen Schülerinnen und Schüler erst ermöglicht habe. Dabei ist die Art der Leistungen, die von Absolventen erbracht wurden, nicht beschränkt auf das, was in der Schule unterrichtet wird; der Geist der Schule – so scheint es – erzeugt Genialität in einem eher unspezifischen Sinne. Die Schule kommuniziert der Öffentlichkeit, dass es ein besonderes Fluidum gebe, das alles durchwirkt, die Lehrerpersönlichkeit, den Unterricht, die außerunterrichtlichen Aktivitäten, das Gemeinschaftsleben der Schülerinnen und Schüler, und dass sich dieses Fluidum in unterschiedlichster Weise im Lebensweg der Absolventen auswirke. In diesem Kontext ist es auch plausibel, dass Erfolgsstatistiken nur von begrenztem Wert sind; der Genius entzieht sich der Programmierung. Dennoch, so die Botschaft an die Öffentlichkeit, kommen geniale Leistungen immer wieder vor, wenn auch mehr oder weniger spektakulär. Dass es ihre Absolventen im Leben zu etwas gebracht haben, spricht – so die implizite Botschaft der Schule – für ein Konzept von Bildung, das mehr beinhaltet als die Summe guter Leistungen in diversen Unterrichtsfächern. Berühmte Ehemalige stehen nicht zuletzt für die Praxistauglichkeit der Bildung, die zu vermitteln die Schule für sich in Anspruch nimmt. Nicht nur aktuelle Prominente, auch historische Persönlichkeiten unter den Absolventen begünstigen die Entstehung und Aufrechterhaltung des Nimbus. Dabei sind traditionsreiche Schulen im Vorteil. Schon allein aufgrund der Dauer ihres Bestehens finden sich unter den Ehemaligen dieser Schulen Berühmtheiten, die sich in der Vergangenheit in unterschiedlichen beruflichen Bereichen hervorgetan haben. Ihr Beitrag zum Renommee der Schule besteht darin, dass sie die Mythen, die sich mit ihrer Person verbinden, in die Geschichte der Schule einbringen (vgl. 7.4.). Darüber hinaus legen sie die Vorstellung nahe, dass die Schule, die der Prominente durchlaufen hat, aufgrund ihrer überlegenen Methoden und ihrer Organisationskultur auch bei gegenwärtigen und künftigen
7.3 Schule und Nimbus
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Schülergenerationen außergewöhnliche Leistungen hervorbringen werde. Entsprechende Erwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes können noch dadurch gestärkt werden, dass die Schule entsprechende Spezialgebiete pflegt, dass also die Schwerpunkte des Unterrichts in solchen Bereichen liegen, in denen sich der Prominente besonders qualifiziert hat. Handelt es sich zum Beispiel um einen Naturwissenschaftler und hat die Schule einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt, so scheint der Zusammenhang zwischen der Schule als Ursache und der intellektuellen Großtat als Wirkung offenkundig zu sein, und zwar auch dann, wenn diese unterrichtliche Schwerpunktsetzung viel später, also längst nach der Schulzeit des berühmten Absolventen, vorgenommen wurde. Das heißt, dass es nachträgliche Profilierungen gibt und die Schule Schwerpunkte bildet, um derartige Zusammenhänge zu konstruieren. Dieses Vorgehen kann der Öffentlichkeit gegenüber mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass die Schule dem Pfad folgt, den das berühmte Vorbild gewiesen hat. Dem Nimbus der Schule nützen derart nachträgliche Konturbildungen, und zwar weil der Eindruck erweckt wird, dass auch schon zu der Zeit, als der Prominente selbst Schüler war, auf den entsprechenden Gebieten Hervorragendes geleistet wurde. Es wird also die Vermutung gestärkt, dass die Institution, die sich auf sein Erbe beruft, immer schon auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet hat. Dass eine Überprüfung dahingehend stattfände, ob der Erfolg des Prominenten historisch korrekt erklärt wird, ist eher unwahrscheinlich; ‚Nachweise ދim Sinn einer historischen Rekonstruktion sind ohnehin ausgeschlossen. Sofern Absolventen vorhanden sind, die mit ihren Leistungen und ihrem Ruhm als Beleg für die Besonderheit der Bildung und für das ‚geistige Klima ދeiner Schule dienen könnten, kommen also auch gewagte Konstrukte infrage. Zu erwarten ist aber, dass auch eine Profilbildung, die – durch entsprechende Schwerpunktsetzungen – nachträglich erfolgt, zum Nimbus der Schule beiträgt, dass also die Einschätzung gestärkt wird, die Schule habe durch das von ihr geschaffene pädagogische Umfeld die herausragende Leistung einer historischen Berühmtheit erst ermöglicht. Das gilt besonders für Personen der Vergangenheit, die derartige Konstrukte nicht zurückweisen können. Figuren der Geschichte haben also gegenüber lebenden Berühmtheiten für die Schule durchaus Vorteile. Aber auch von prominenten Zeitgenossen, die dem Kreis der Ehemaligen angehören, kann die Schule profitieren, und zwar in der Weise, dass sie – für die Öffentlichkeit sichtbar – gesellschaftliche Verbindungen mit ihnen pflegt. Ein geeigneter Anlass dazu sind Feste und Feierstunden, zu denen sie den Prominenten einlädt. Was von der Schule aus gesehen als eine Anerkennung erscheint, die sie ihrem Absolventen zukommen lässt, ist hinsichtlich ihrer öffentlichen Wirkung eine Imageverbesserung der Institution durch ihren berühmten Gast. Insofern hat die in den Ansprachen der Schulver-
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7 Konstruktbildungen und Medien
antwortlichen verwendete Floskel, „es sei eine Ehre, den hochgeschätzten Ehemaligen in seiner früheren Schule begrüßen zu dürfen“, ihre Berechtigung. Zu den Normen der Höflichkeit gehört aber auch, dass sich der Eingeladene bei der Schulleitung bedankt und die Bedeutung seiner Schulbildung für seinen Erfolg herausstellt. Derartige Formulierungen können durchaus mehr sein als eine beliebige Floskel. Vielmehr liegt es nahe, dass der Prominente selbst ‚seinerދ Schule eine ursächliche Bedeutung für spätere Erfolge zuschreibt. Kontingenzen des Lebenslaufs werden, wie die Biographieforschung gezeigt hat, bei der Rekapitulation der eigenen Entwicklung weitgehend ignoriert. Stattdessen besteht eine Disposition, rekonstruierend den Lebensweg in notwendig aufeinander folgende Etappen aufzuteilen. Der Prominente wird in dieser Einschätzung noch durch Rituale der Ehrerbietung bestärkt, mit denen die Stationen seines Lebensweges hervorgehoben und Kontinuitäten seiner Biografie betont werden. Die Schule, die einen berühmten Ehemaligen einlädt, trägt zu biographischen Konstrukten bei, denen der Betreffende selbst erliegt, zumal wenn gerade in den Würdigungen der Schulleitung und der Lehrer darauf hingewiesen wird, dass sich das Talent des Geehrten schon frühzeitig gezeigt habe. Sponsoren: Zum Nimbus einer Schule gehören nicht zuletzt ihre Sponsoren, von denen sich einige aus dem Kreis der Ehemaligen rekrutieren, andere sich als Eltern mit der Schule verbunden fühlen und wieder andere sich aufgrund allgemeiner philanthropischer Erwägungen engagieren. Der Nimbus einer Bildungsinstitution wird durch Sponsoren gestärkt, weil diese durch außergewöhnliche Zuwendungen in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt wird. Spenden setzen nach allgemeiner Einschätzung auch die Spendenwürdigkeit der begünstigten Organisation voraus; sie können als Anerkennung für – tatsächliche oder vermeintliche – Verdienste verstanden werden. Spender unterstützen das Konstrukt, dass die geförderte Institution wichtige Beiträge zum Gemeinwohl erbringt. Gleichzeitig wird zum Ausdruck gebracht, dass sie nach dem Willen der Sponsoren, bei denen es sich ja häufig um prominente Persönlichkeiten handelt, ihr Wirken selbst dann fortsetzen sollte, wenn der Staat als Finanzgeber überfordert ist. Mit der Spende richtet sich – auch unausgesprochen – der Appell an die politisch Verantwortlichen, ihrerseits die Einrichtung zu fördern bzw. die Förderung fortzusetzen. Die betreffende Organisation, so die Botschaft an die Öffentlichkeit, wird für so wichtig gehalten, dass selbst Privatleute eingreifen, um ihr Wirken für die Allgemeinheit sicherzustellen. Die Spende signalisiert Mandatsträgern und Behördenleitern, wie unpopulär es wäre, wenn nicht auch sie mit ihren Entscheidungen zur Unterstützung der geförderten Einrichtung beitragen würden, zumal schon Bürger, die nicht in der politischen Verantwortung stehen, ihre Bedeutung erkannt haben und sich finanziell engagieren. Der Nutzen der Sponsoren geht also weit über den der materiellen Ressourcen,
7.4 Nimbus und Narration
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die sie der Organisation zukommen lassen, hinaus. Da respektable Bürger Geld spenden, kann auch der Staat seine Unterstützung nicht verweigern. Sponsoren, die eine Schule finanziell fördern, tragen zu deren Nimbus bei, da Spenden öffentliche Aufmerksamkeit konzentrieren und ein Signal setzen, dass es sich bei der geförderten Organisation um eine Einrichtung handelt, die Beachtung verdient (vgl. Kap. 8.5). 7.4 Nimbus und Narration 7.4 Nimbus und Narration Wenn eine Schule durch ihre Gründer, durch berühmte Absolventen und einflussreiche Sponsoren Ansehen genießt, dann sind das Erzählen und Erinnern wichtige Elemente der Schulkultur.2 Nimbus verbindet sich mit Narration. Mit dem Unfassbaren und Undefinierbaren, das den Nimbus ausmacht, sind viele Geschichten verknüpft, die von Geschehnissen und bedeutenden Personen handeln und die ein anschauliches Bild davon entstehen lassen, wie sich das Ungewöhnliche im Alltag konkretisiert. Viele dieser Geschichten zielen darauf ab, die Verbundenheit von Prominenten mit der Institution glaubhaft zu machen. Prominenz und institutioneller Nimbus verschmelzen zu einer Einheit, indem biographische Elemente mit Etappen der Institutionengeschichte zusammengebracht werden. Um eine besonders intensive Verbindung zwischen dem Lebensweg von Berühmtheiten und der Geschichte ‚ihrer ދSchule hervorzukehren, müssen – über die historischen Großtaten hinaus – auch deren ‚menschlicheދ Seiten gezeigt werden, die sich wiederum auf den Kontext der Institutionengeschichte beziehen. Das, was zum Beispiel prominente Ehemalige zu ihrer Zeit in der Schule erlebt haben, impliziert Aussagen über die soziale Konstellation der Schule. Beides, Biographie und Institutionengeschichte, erhellen sich gegenseitig und bilden eine Sinneinheit: Das Leben der historischen Persönlichkeit wird durch die Strukturen und historischen Besonderheiten ihrer Schule verständlich; ebenso nimmt die Schule durch das, was sie gegenüber anderen auszeichnet, nämlich durch das Leben und Erleben ihrer prominenten Schülerinnen und Schüler, Gestalt an. Durch Anekdoten und andere Erzählungen werden Konstrukte geschaffen, die Gründer, Ehemalige und Sponsoren in das Alltagsleben der Institution einbeziehen. Anekdoten stellen den gemeinschaftlichen Aspekt in den Vordergrund. Sie zeigen die Institution als ein soziales Miteinander, das Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen, Rollen und Charakteren verbindet. Dass der Promi2
Zum Folgenden siehe auch Breithaupt, Fritz: Ein Chip im Hirn des Studenten. In: Die Zeit, Nr. 18 vom 22.4.2004
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nente auch in das informale Geschehen einbezogen war, macht die Tiefe der Beziehung zwischen ihm und der Schule deutlich. – Geschichten über die berühmten Absolventen der Schule beinhalten zwei Stilelemente, nämlich die Betonung 1) der Gleichheit und 2) der Besonderheit. 1)
Hervorhebung der Gleichheit: Durch Hervorheben der Gleichheit wird gezeigt, dass der Betreffende zum System der Schule voll und ganz dazugehörte, das heißt, dass er keine Privilegien genoss, sondern dass die Schulnormen auch für ihn galten und dass er bei Normverstößen die gleiche Behandlung durch das Personal erfuhr. Der Prominente, so die Legende, war im Gemeinschaftsleben der Schule nicht Solist, sondern Mitglied des Ensembles. Sofern seine Familie bereits einen herausgehobenen Status hatte, wurde ihm doch in der Schule nichts geschenkt, weil diese – so das Konstrukt – eine Gemeinschaft von Gleichen war und ist. Da die Schule auf Gemeinschaftlichkeit aufbaut, bezog sie auch den Prominenten in das System des Gebens und Nehmens ein. Anekdoten können zeigen, dass der Prominente anderen half, dass aber auch ihm – was seine menschliche Größe noch unterstreicht – von anderen geholfen wurde. Der Gleichheitsaspekt verdeutlicht, dass die Schule mit ihrem ‚normalen ދProgramm, also durch ihr alltägliches Vorgehen, zu Höchstleistungen befähigen kann. Indem in Geschichten, die von prominenten Ehemaligen handeln, darauf verwiesen wird, dass diese zu ihrer Schulzeit gleiche Rechte und Pflichten hatten wie alle anderen, wird deutlich gemacht, wie die Schule ‚wirktދ, nämlich als Ganzes, als ‚Gemeinschaftދ, als spirituelles Ensemble und als Kultur. Der Erfolg der Schule ist also – so die implizite Botschaft, die sich mit der Narration verbindet – nicht auf etwas konkret Fassbares, zum Beispiel eine Satzung, eine Organisationsform oder ein dezidiertes pädagogisches Programm zurückzuführen, sondern auf ein geistiges Band, das alle verbindet und den Einzelnen inspiriert. Dazu gehört, dass sich jeder diesem Gemeinsamen verpflichtet weiß und dass er, auch auf der kulturell-schöpferischen Ebene, an einem Austausch beteiligt ist. Die Anekdoten, die sich um die Geschichte traditionsreicher Schulen ranken, wiederholen in unzähligen Variationen den Gedanken, dass der ‚Geist ދder Institution das Werk von vielen ist und dass nur derjenige, der sich dem Kollektiv unterwirft, zu besonderen Leistungen befähigt wird. Die schulischen Erfolge sind demnach nicht das Ergebnis von Zufällen, sondern sie setzen sich zusammen aus dem Engagement und der Inspiration derer, die zur Gemeinschaft der Schule gehören. Sie alle wirken in einem Geist, so das Konstrukt, der tradiert wird und sich in jeder Generation neu manifestiert.
7.4 Nimbus und Narration 2)
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Hervorhebung der Besonderheit: Nicht nur mit der verordneten Gleichheit, sondern auch mit der Besonderheit, die sich bei dem Prominenten – der Erzählung nach – schon in der Jugend zeigte, werden dessen spätere Erfolge der Schule attribuiert. Geschichten, in denen es zum Beispiel um besonders humorvolle und geistreiche Aussprüche eines berühmten Absolventen während seiner Schulzeit geht, sollen zeigen, dass der Betreffende schon frühzeitig auf sich und seine Begabung aufmerksam machte, aber eben im Umfeld der Institution, die ihn angeregt und gefördert hat. Geschildert werden Situationen, die für den Schulalltag typisch sind, und originelle Handlungsweisen, die der Prominente auf dieser Grundlage entwickeln konnte. Das heißt, dass in Narrationen die Einzigartigkeit des berühmten Absolventen herausgearbeitet wird, ohne die Verbundenheit mit der Institution infrage zu stellen. Erst durch dieses Eingebettetsein in die Schulgemeinschaft und in die Kultur der Schule, so das Konstrukt, wurde dem Talentierten die Möglichkeit gegeben, seinen Genius zu entwickeln.
Erzählungen über Gründer oder berühmte Absolventen verbinden nicht nur das Leben des Einzelnen mit der Geschichte der Institution; sie machen auch die Institution selbst, die Organisation von unendlich vielen sozialen Prozessen, zu einem Raum des nachvollziehbaren Erlebens. Damit wird das, was die Schule an Leistungen für den Einzelnen und für die Allgemeinheit geltend macht, so dargestellt, dass es auf der Grundlage subjektiver Vergewisserung glaubwürdig ist. Das Publikum, das sich für berühmte Persönlichkeiten interessiert, bekommt an deren Beispiel die Wirkungsweise der Institution vor Augen geführt. Der persönliche Erfolg ist daher auch der Erfolg der Institution, wird doch an den Anekdoten und anderen biographischen Erzählungen nicht nur deutlich, wie eng der Prominente in das soziale Geschehen integriert war, sondern auch, wie sich die Wirkungsweise des sozialen Gebildes im Einzelnen konkretisiert. Zu dem Bild, das die Schule der Öffentlichkeit vermittelt, gehören Geschichten, die mit biographischer Plausibilität die Lücken ausfüllen, die das Programm der Organisation, ihr pädagogisches Konzept und dessen Umsetzung in eine Struktur aufweisen. Das Leben des Prominenten zeigt, auf wie verschlungene Weise die Schule wirkt, wie sie nicht nur Unterrichtserfolge hervorbringt, sondern auch, wie sie umfassend erzieht und bildet. Wenn der Nimbus einer Schule nicht konkret fassbar ist, sondern wenn sich mit dem Besonderen auch das Diffuse, Geheimnisvolle verbindet, so ist die Biographie des prominenten Ehemaligen dazu geeignet, diese Behauptung einer unbestimmten, nichtsdestoweniger intensiven Wirkung zu bestätigen. Zu den Anekdoten über berühmte Absolventen gehört auch das ‚AhaErlebnisދ, also die stupende Wissensleistung, die paradigmatische Erkenntnis
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oder der plötzliche Durchbruch eines künstlerischen Talents, mit denen sich der Genius manifestiert. Es wird der Eindruck eines ‚dichten ދSchulklimas erzeugt, einer besonderen Atmosphäre, die es ermöglicht, Eindrücke der verschiedensten Art nutzbringend und auf subjektive Weise zusammenzufügen. Die Anekdote, die sich um das Aha-Erlebnis rankt, soll deutlich machen, dass es nur eines Anstoßes bedarf, um bei talentierten Schülern die durch die Schule vermittelten Anregungen in eine innovative Leistung zu verwandeln. Schulische Erziehung und Bildung bewirkt demnach, um es mit den Worten M. Webers auszudrücken, die „Entdeckung von Heldenqualitäten“. Selbstverständlich ist auch das Konstrukt des Aha-Erlebnisses nur als Exempel gemeint. Der Prominente ist – über den schöpferischen Akt hinaus – nicht zuletzt der disziplinierte Erfolgsmensch, der sich seinen Ruhm erarbeitet hat. Trotzdem zeichnet er sich durch eine Kreativität aus, die mehr ist als das Ergebnis von Fleiß und Begabung. Es müssen, so zeigt die Anekdote, Impulse von außen hinzukommen, um das Talent zur Entfaltung zu bringen; der persönliche Genius kann sich nur dann entfalten, wenn er auf den genius loci trifft. Beide sind nur begrenzt berechenbar. Auch das System Schule, so zeigt das Konstrukt, ist mehr als ein Rezept, das weitergegeben und an jedem beliebigen Ort zur Anwendung gebracht werden könnte. Die exklusive Schule schafft – dem Konstrukt nach – Situationen, die als Talentproben zu begreifen sind. Sie erweckt bei den Berufenen das Charisma, das in besonderen Situationen und in unvorhersehbaren Momenten zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung tritt. Geschichten über berühmte Ehemalige unterstützen das Ansehen der Schule in ganz anderer Weise, als es möglich wäre, wenn man sich nur auf traditionelle Erfolge von Schülerinnen und Schülern, zum Beispiel auf Platzierungen bei Schulwettbewerben und Leistungsprüfungen in einzelnen Fächern und Kompetenzbereichen, verließe. Denn von Leistungsmessungen könnte gesagt werden, dass sie das, was als Besonderheit festgestellt wird, bereits in Relation zu den Leistungen anderer setzen. Empirische Prüfverfahren haben eine Vorstellung des Erwartbaren zur Bedingung. Exklusive Schulen nehmen aber für sich in Anspruch, das Besondere zu fördern. Daher ist für sie die Herstellung eines interpretativen Rahmens wichtig, der den Kontext erweitert und Leistungen jenseits der herkömmlichen Standards und jenseits der Routine demonstriert. Die Anekdote, die sich um den berühmten Absolventen rankt, macht die Statistik überflüssig. Es geht um die hermeneutische Nachvollziehbarkeit dessen, was quantitativ nicht erfassbar, was also einzigartig ist. Erzählungen von spektakulären Erfolgen ersetzen die Messung der Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig wird deutlich, dass ‚Leistung ދauf Bedeutungszuweisungen beruht. Gerade herausragende Leistungen werden durch ‚weiche ދErfolgskriterien belegt. Nimbus und Tradition erzeugen Einstellungen, die das Außergewöhnliche zulassen und er-
7.5 Architektur und Aura
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wartbar machen. Das heißt auch, dass der Beobachter zu einer allgemeinen positiven Einschätzung veranlasst wird und bereit ist, diffuse Anzeichen des Talents als Begründung für seine Erwartungshaltung anzuerkennen. Es gilt, die Phantasie anzuregen und den Begebenheiten Fiktionen hinzuzufügen, die über das hinausgehen, was auf der Grundlage einer schlichten Bilanzierung objektivierbarer Leistungen gerechtfertigt wäre. 7.5 Architektur und Aura 7.5 Architektur und Aura Während ‚Nimbus ދauf eine Person oder ein soziales Gebilde bezogen ist, also zum Beispiel eine Schule, die vom professionellen und nichtprofessionellen Personal sowie den Schülerinnen und Schülern verkörpert wird, soll der Begriff der Aura für die Ausstrahlung verwendet werden, die von Objekten, also von Gebäuden oder Ausstattungsgegenständen ausgeht. Für Organisationen wie die Schule, die darauf angewiesen sind, die Öffentlichkeit zu beeindrucken, ohne ihre Leistungen exakt belegen zu können, ist die Wirkung von Räumen besonders wichtig. Allein die Gebäude überdauern die Zeit. Während bei der Lehrerschaft eine Generation der anderen folgt und die Schüler in noch schnellerem Rhythmus die Schule durchlaufen, symbolisieren Räume die Geschichte und führen Konstanz und Kontinuität vor Augen. Mit Gebäuden können nicht nur Respekt vor der Vergangenheit und Pflege der Tradition, sondern auch Gegenwartsoffenheit und Zukunftsorientierung zum Ausdruck gebracht werden. Eine ‚kühne ދArchitektur macht zum Beispiel deutlich, dass die Organisationsleitung bereit ist, künftige Entwicklungen vorwegzunehmen und sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Nicht nur für Bildungsorganisationen hat das Ambiente eine wichtige Funktion. Auch in der Wirtschaft wird davon ausgegangen, dass Fertigungsanlagen und Bürogebäude einen hohen Symbolwert haben und dass sie das Image eines Unternehmens beeinflussen, ja dass „Corporate-Architecture“ aufwendige und kostenträchtige Werbekampagnen ersetzen kann (Daldrop 2004). Dass dabei nicht auf rationaler Ebene argumentiert werden muss, dass es nicht darum geht, den Nutzen eines Produkts zu belegen, sondern Botschaften auf einer imaginativen Ebene zur Wirkung kommen zu lassen, erweist sich möglicherweise als Vorteil. Gebäude und Einrichtung beeindrucken ohne Worte; Ideen, Konzepte und ‚Philosophien ދkönnen ohne den Umweg über Verbalisierungen und Rationalisierungen kommuniziert werden. Indem derartige Einflüsse direkt auf das Unterbewusstsein zielen, entgehen sie der kognitiven Kontrolle der Adressaten. Corporate-Architecture bzw. Corporate-Design sind im öffentlichen Raum angesiedelt; beide verweisen auf Öffentlichkeit, ja stellen selbst Öffentlichkeit
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her. Sie schaffen eine Atmosphäre, die vom subjektiven Empfinden getragen wird und auf dieses zurückwirkt. Das Nutzungsverhalten eines Publikums im öffentlichen Raum, die Beliebtheit von Plätzen und Gebäuden, spiegelt die ästhetische Wirkung, die von der physischen Beschaffenheit ihrer Objekte ausgeht. Häufig sind es aber mehr als Stimmungen, die durch Bauwerke und Landschaftsarchitektur erzeugt werden. Vielmehr können die Eindrücke so intensiv sein, dass Besucher und Neulinge vom ersten Augenblick der Kontaktaufnahme an den ‚Geist ދeiner Organisation zu spüren meinen und sich selbst darauf einstimmen. Erst recht wirken Gebäude auf diejenigen, die sie als Organisationsmitglieder und Organisationsbeteiligte regelmäßig nutzen. Bauwerke, die eine Organisation beherbergen, geben Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten vor, bestimmen, welche Wege beschritten werden müssen und welche Nachbarschaften möglich sind, das heißt sie beeinflussen die sozialen Prozesse, die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten und das soziale Klima. Sie stabilisieren Herrschaftsgefüge, indem sie Positionsinhaber mit den Insignien der Macht ausstatten, indem zum Beispiel Belegschaftsmitglieder, die in der Organisationshierarchie einen oberen Platz einnehmen, auch in den höheren Stockwerken eines Bürogebäudes angesiedelt werden; oder sie sorgen für flache Hierarchien, indem auch die räumliche Abstufung vermieden und dadurch die kollegiale Kooperation gefördert wird. Besonders im Bildungswesen hat das Gebäude eine Zeichenfunktion, und zwar insofern, als es Anhaltspunkte für pädagogische Ideen und Konzepte, für Einstellungen und Werte bietet, die – tatsächlich oder vermeintlich – die Schule kennzeichnen. Daher ist es nachvollziehbar, dass Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen auf Briefköpfen und Plakaten mit einem Signet des Bauwerkes werben, in dem sie untergebracht sind. Die lange Tradition einer Bildungseinrichtung kann sich zum Beispiel in Gebäuden ausdrücken, denen man ihr Alter ansieht. Die Patina eines Schul- oder Universitätsgebäudes regt die Phantasie an; die Geschichten, die man sich über berühmte Angehörige der Bildungseinrichtung erzählt, werden so noch plastischer. Auch das von Bildungsorganisationen verbreitete oder an sie herangetragene Konstrukt, nämlich dass es ein besonderer Geist sei, der diese Organisationen vor anderen auszeichne, wird glaubwürdiger, wenn ihre Gebäude eine eindrucksvolle Architektur aufweisen. Der Begriff der ivy league, der sich zunächst ja auf die Bauwerke bezieht, in denen einige der renommiertesten und traditionsreichsten Universitäten der USA residieren, steht für deren ruhmreiche Geschichte als akademische Institutionen. Besonders der Kontrast zwischen dem Alter der Gebäude und dem gepflegten Zustand, in dem sie sich – ebenso wie die sie umgebenden Liegenschaften – befinden, führt ihren Wert oder – genauer – den Wert der Einrichtung, die sie beherbergen, vor Augen.
7.5 Architektur und Aura
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Die Architektur einer Schule ist deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil sie einen Anhaltspunkt bietet für die Bedeutung eines Abstraktums, nämlich Bildung und Erziehung. Wenn Schulen das Problem haben, dass sie ihr ‚Produkt‘ nicht vorführen können, weil es nur – wenn überhaupt – in langfristig erreichbaren Ergebnissen konkret wird, so muss es einen Ersatz geben, mit dem sie die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass sie das leisten, was von ihnen erwartet wird. Auch andere Organisationen des tertiären Sektors sind mit der Schwierigkeit konfrontiert, Vertrauen für eine Tätigkeit zu erzeugen, die größtenteils nicht sichtbar ist. Banken zum Beispiel erstellen Dienstleistungen, die, wie die Verwaltung und gewinnträchtige Vermehrung von Einlagen, sich dem Außenstehenden nicht allein durch die Wahrnehmung erschließen. Ob die Finanzdienstleistung überhaupt zustande kommt, ergibt sich erst mit der Analyse eines komplexen Sinn- und Wirkungszusammenhangs (vgl. Kap. 2.5). Daher sind Unternehmen wie Banken darauf bedacht, durch äußere Zeichen ihre potentielle Klientel zu beeindrucken. Für den Kunden muss es Indikatoren geben, die darauf schließen lassen, dass es sich bei den organisationsspezifischen Tätigkeiten auch um das handelt, was er zu kaufen beabsichtigt, also dass auch der in Aussicht gestellte Nutzen zustande kommt. Wenn die beobachtbaren Tätigkeiten als solche noch nicht das Produkt ausmachen, sondern dieses sich erst als Sinneinheit konstituiert, so ist es wichtig, Stützen anzubieten, die den Definitionsprozess der Klientel stabilisieren. Eine entsprechend große Bedeutung wird daher den Symbolen zugemessen, die das Bankgeschäft umgeben. Um potenzielle Kunden davon zu überzeugen, dass es sich um solide Dienstleistungen handelt, imponieren die Kreditinstitute nicht nur durch die gepflegte Kleidung und das sichere, aber dezente Auftreten ihrer Mitarbeiter, sondern auch durch die Architektur ihrer Bürogebäude. Ebenso hat die gediegene Inneneinrichtung den Eindruck von Erhabenheit und Würde zu vermitteln. Das ganze Ambiente soll den Eindruck erwecken, dass keine Experimente veranstaltet werden, dass das Unternehmen aber trotzdem erfolgreich ist und für seine Kunden und Anteilseigner gute Gewinne erwirtschaftet. David Riesman (1953) hat in einem ähnlichen Zusammenhang den Begriff der „demonstrativen Produktion“ geprägt. Damit ist gemeint, dass Unternehmen nicht nur mit den Produkten selbst, sondern auch mit dem Umfeld der Produktion die Öffentlichkeit zu beeindrucken versuchen. In Anlehnung an Gedankengänge von Thorstein Veblen (1899) will Riesman zeigen, dass auch das scheinbar Nebensächliche einen symbolischen Wert hat, der wiederum für die Einschätzung des Unternehmens wichtig ist und sich damit auch bezahlt macht. Wie bereits dargestellt wurde, haben Schulen und andere Organisationen, die durch Steuermittel oder durch Spenden bzw. Gebühren und Beiträge finanziert werden, für Werbung oder andere Instrumente der Öffentlichkeits-
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arbeit nur ein beschränktes Budget zur Verfügung (vgl. Kap. 7.1) Auch für Schulbauten und für die Einrichtung von Schulen gilt, dass Ressourcen nur in geringem Umfang für solche Zwecke eingesetzt werden können, die nicht direkt auf Erziehung und Bildung ausgerichtet sind, das heißt, dass sie nur in dem Maß teuer sein dürfen, wie ihre pädagogische Zweckdienlichkeit vermittelbar ist. Nichtsdestoweniger haben Gebäude eine zeichensetzende Funktion. Für Schulen wird eine helle und transparente Architektur bevorzugt, wobei – allerdings nur in separaten Bereichen – durchaus einzelne avantgardistische Elemente vorkommen dürfen. Die ‚aufgelockerte ދAnordnung von Fluren, Treppenhäusern, Pausenhöfen usw. bringt zum Ausdruck, dass es sich um eine offene Institution handelt, die sich von der Umwelt nicht abschottet und die nichts zu verbergen hat. Mit hellen Räumen wird des Weiteren verdeutlicht, dass es für den Unterricht ein klares Konzept gibt und dass Unterrichtsgegenstände in einer Weise präsentiert werden, die Wissen und Erkenntnis möglich macht. Exklusive Schulen, die in alten, historisch interessanten Gebäuden untergebracht sind, haben eine zusätzliche Anmutung. Sie repräsentieren Schwere, Solidität und Distanz. Ihre Gediegenheit kommt sowohl in einem ästhetisch bedeutsamen Baustil als auch in teuren Materialen zum Ausdruck. Vielfach wird schon an der Architektur deutlich, dass für die Errichtung dieser Bauwerke in früheren Zeiten erhebliche Mittel aufgewendet wurden. Hinzu kommt eine exklusive, teure Lage der Grundstücke, die möglicherweise durch die lange Geschichte der Institution noch eine erhebliche Wertsteigerung erfahren haben. Jedoch soll auch in solchen Schulen nach außen Transparenz signalisiert werden. Dies geschieht, indem die Bausubstanz durch Entkernung, durch Schaffung größerer und hellerer Innenräume sowie durch An- und Erweiterungsbauten der Symbolik moderner Schularchitektur angepasst wird, ohne die Aura der historischen Gebäude zu beseitigen. Die Schule, so wird gezeigt, öffnet sich, wahrt aber trotzdem ihre Eigenart. Die Verbindung des Neuen mit dem Alten soll deutlich machen, dass sich die Schule nicht einfach dem ‚Zeitgeist ދüberlässt, sondern auch Einflüsse abwehrt, dass sie somit, wie im Alter der Gebäude zum Ausdruck kommt, Traditionen bewahrt. Schulen mit der Patina der Geschichte sind nicht einfach ‚offenދ. Sie gewähren nicht allem und jedem Zutritt. Enge Zugänge und weitläufige, übersichtliche Anlagen gestatten es, Kontrolle auszuüben. Schulen, die Wert auf ihre Tradition und ihre Exklusivität legen, verwalten – wie auch an der Bausubstanz vorgeführt wird – ein historisches Erbe, aber eben nicht nur in Hinblick auf Gebäude und Ausstattung, sondern – so der naheliegende Analogieschluss – auch bezüglich der Unterrichtsinhalte und Methoden sowie aller weiteren pädagogisch relevanten Maßnahmen, der Rituale, der Feste, der Umgangsformen und der Ziele. Die schlichte Rationalität der Wissenschaft, wie sie in der Transparenz des Innenausbaus und in den klaren, schlichten
7.5 Architektur und Aura
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Formen der Einrichtung zum Ausdruck kommt, wird symbolisch ergänzt durch historische Bauten, deren Erhaltung und Pflege den Respekt vor dem Hergebrachten demonstrieren. Die pädagogischen Ambitionen dieser Schulen sind – so scheint es – höher gesteckt, als dies bei den Schulen des Mainstream der Fall ist, deren moderne Sachlichkeit, das heißt die Sparsamkeit des Mitteleinsatzes und die Funktionalität der Formen, für eine nüchterne wissenschaftliche Orientierung und den Vorrang einer messbaren und vergleichbaren Effizienz sprechen. Auch Schulen, die sich mit der Aura des Altehrwürdigen umgeben, kommen also ohne moderne Elemente nicht aus. Würde das Ambiente nur die Vergangenheit repräsentieren, so wäre die Wirkung kontraproduktiv. Die Patina der Tradition, die an vielen exklusiven Schulen so geschätzt wird, bedarf zukunftsweisender Attribute, und zwar zumindest bei der Ausstattung mit Lernmitteln sowie bei der Einrichtung von Laboren und Übungsräumen. Im Übrigen bedürfen die Zeugnisse der Geschichte der besonderen Pflege, um nicht den Eindruck zu erwecken, ungewollt und schicksalhaft zu sein. Die unverfälschte Vergangenheit, Gebäude, die nicht den Erfordernissen der Gegenwart angepasst sind, und Einrichtungen, die komplett aus einer anderen Epoche stammen, würden zu dem Schluss führen, dass die Zeit über die Schule hinweggegangen sei. Das Alte darf nicht einfach alt sein; es hat in dem Sinn neu zu erscheinen, dass es einen gepflegten und den modernen Anforderungen entsprechenden Eindruck macht und nicht nur museal wirkt. Objekte der Vergangenheit, die möglicherweise zu den Sammlungsbeständen der Schule gehören, werden daher als Accessoires, nicht als Gegenstände des täglichen Gebrauchs präsentiert. Da auch die Schule, die den Anspruch erhebt, dem ‚kulturellen Erbe ދverpflichtet zu sein, sich der Zukunft stellen muss, kann es nur um eine Mischung von Alt und Neu gehen. Allerdings gibt es nationale Unterschiede des Traditionsbewusstseins. Das Auratische der Bildung wird in Ländern mit ungebrochenen historischen Traditionen mehr geschätzt als in solchen, deren Geschichte durch Epochen der Gewaltherrschaft unterbrochen wurde. In Ländern mit struktureller Kontinuität ist das Ansehen der Schule stärker mit ihrem Alter verknüpft. Wenn die Bausubstanz zum Nimbus der Schule beiträgt, indem die Gebäude darauf schließen lassen, dass die Institution, die sie beherbergen, schon in früheren Zeiten wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllt hat, dann muss auch die Vergangenheit makellos sein. In Gesellschaften, die Zusammenbrüche und disruptive Wandlungen, also zum Beispiel Zeiten faschistischer, kommunistischer oder kolonialer Herrschaft durchlebt haben, kann der Geist der Vergangenheit, der von der Schule beschworen wird, auch diskreditierend sein. Nichtsdestoweniger wird Aura als ein Mittel zur Kreation von Wertschätzung benötigt. Aus diesem Grund kann ein Ausweg für die Traditionspflege in der Weise gesucht
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werden, dass sie bewusst selektiv vorgeht, das heißt, dass sie von belastenden Figuren und Epochen der Geschichte abstrahiert. Dazu werden allzu konkrete historische Spuren beseitigt. Patina verbindet sich unter diesen Vorzeichen der ‚Vergangenheitsbewältigung ދmit Minimalismus. Die Gebäude sind alt, aber trotzdem schlicht; man hat sie vom historischen Ballast befreit, ohne das Alter selbst zu verbergen. Was für die Gegenwart und Zukunft erhalten bleibt, ist das, was die Schule selbst als ‚das Wesentliche ދpräsentiert. Die Schule ist also bestrebt, durch eine höhere Abstraktionsebene das historische Erbe zu nutzen, ohne dass ihr Image durch den Makel der Mittäterschaft beeinträchtigt würde. Die Aura, die eine traditionsreiche Einrichtung umgibt, entzieht sich – ebenso wie der Nimbus – der Objektivierung. Zu beiden, Nimbus und Aura, gehört, dass ihre Wirkung in der Regel unreflektiert bleibt. Trotzdem wird der Eindruck, den die Aura erzeugt, von Multiplikatoren, also zum Beispiel von der Klientel selbst, aber auch von Journalisten, Politikern und anderen Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, die mit der Institution zu tun haben, an die Öffentlichkeit weitergegeben, und zwar nicht als deren Darstellung und Analyse, sondern als Vermutung über wünschenswerte Ergebnisse pädagogisch definierter Tätigkeiten. Die Beeindruckten äußern sich nicht über Gebäude und Gartenanlagen, sondern über das pädagogische Geschehen. Auf diese Weise entsteht ein zirkulärer Prozess: Das Bild der Öffentlichkeit sorgt für Erwartungshaltungen, mit denen der Einzelne wiederum der Institution begegnet. Wenn die Erwartungen bereits in eine bestimmte Richtung gelenkt sind, werden von Besuchern Zeichen gesucht, die bestätigen, was sie schon zu wissen meinen. Insofern wirkt die Aura nicht voraussetzungslos. Sie kann aber von der Institution bewusst gepflegt werden und damit eine schon vorhandene Bereitschaft, sich von der Ästhetik eines Ortes beeinflussen zu lassen, verstärken. 7.6 Symbolischer Widerspruch: Graffiti 7.6 Symbolischer Widerspruch: Graffiti Botschaften, die von den Verantwortlichen einer Schule an die Öffentlichkeit gesandt werden, stoßen auch auf Widerspruch, und zwar nicht zuletzt bei denjenigen, auf die sich die pädagogische Arbeit richtet. Nur an den Adressaten kann belegt werden, dass die Schule produktiv ist. Daher ist die Zielgruppe der Schülerinnen und Schüler auch in der Lage, effektvoll das infrage zu stellen, was von der Schulleitung und den Lehrkräften an Erfolgsnachweisen der Öffentlichkeit vermittelt werden soll. Ebenso wie Schulbehörden und Schulträger, wie Schulleitung und Kollegium darum bemüht sind, durch Gebäude, Räume, Anlagen und Objekte, aber auch durch Aktionen und Projekte, durch Feiern und Rituale die Öffentlichkeit zu beeindrucken, so können Schülerinnen und Schüler
7.6 Symbolischer Widerspruch: Graffiti
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durch ihre Aktivitäten – bewusst oder unbewusst – diesen Eindruck widerlegen. Graffiti haben zum Beispiel die Funktion, einen Anspruch nicht gelten zu lassen, den die Schule und andere gesellschaftliche Mächte, die von der Schule verkörpert werden, erheben. Die Bedeutung, die mit architektonischen Formen und Stilelementen verbunden ist, kann für die Benutzer eine Provokation darstellen, wenn diese mit dem Inhalt der Botschaft nicht einverstanden sind. Die Schule repräsentiert, gerade auch in Wohnquartieren mit marginalisierter Bevölkerung, einen gesellschaftlichen Machtanspruch. Mit der Verfremdung von Zeichen wird dieser Machtanspruch relativiert. Nicht nur durch den Inhalt, also die Mitteilung selbst, sondern schon durch das Vorhandensein dieser Symbole artikuliert sich Widerstand. Wände und Mauern können als Wandzeitung genutzt, Kunstwerke so übermalt werden, dass sie ihre Aura der Hochkultur verlieren. Dass überhaupt an den baulichen Anlagen Veränderungen vorgenommen werden, die nicht pädagogisch initiiert sind, relativiert die implizite Behauptung, mit der die Schule an die Öffentlichkeit tritt, nämlich dass sie die Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung von Einstellungen in einer prognostizierbaren Weise beeinflusst. Ein Schulgebäude ohne Beschädigungen würde den Eindruck erwecken, dass die Schule als Institution intakt wäre, ja dass die Benutzer sie akzeptieren. Übermalungen verändern den optischen Eindruck, der von Gebäuden und Objekten ausgeht, und zwar so, dass zu der ursprünglichen Botschaft, wie sie von Schulträgern in Zusammenarbeit mit Architekten konzipiert wurde, eine zweite hinzukommt, nämlich die, dass den gesellschaftlichen und institutionellen Zielen Widerstand entgegengesetzt wird. Dass die Schule in die Lebenswelt von Schülern vordringt, dass pädagogische Arbeit keine Privatsphäre kennt, ja dass vielmehr die Persönlichkeit der Schüler ihr Terrain ist, muss in dem Maß zum Protest führen, in dem sich Schule und Leben unterscheiden. Sofern die Schule eine Welt repräsentiert, in der die Schüler nicht leben und auch als Erwachsene nicht leben werden, so wird diese Diskrepanz auch zum Ausdruck gebracht. Wenn die implizite Botschaft der Schule darin besteht, dass sie der nachwachsenden Generation durch Bildung ein besseres Leben ermöglicht, was tatsächlich aber nur für wenige zutrifft, dann tritt Widerspruch zutage, und zwar im Gestus, in der Sprache und in symbolhaften Zeichen, die Protest und Provokation zum Ausdruck bringen und so den Unwillen deutlich machen, den verordneten Optimismus zur Schau zu tragen. Gleichzeitig wird durch Übermalen und Umfunktionieren von Gebäuden und Anlagen eine Angleichung an die Lebenswelt vorgenommen, also an das, was die Schule im räumlichen, sozialen und symbolischen Sinn umgibt. Es genügt daher für die Nutzer nicht, im Unterricht passiven Widerstand zu leisten, zumal die Unterrichtserfahrung ja nicht nach außen dringt. Die von Gebäuden ausgehende stille Behauptung, dass
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‚innerhalb der Mauernދ, innerhalb eines umgrenzten Schulbezirks das getan werde, was die Mehrheitsgesellschaft von der Schule erwartet, wird durch äußerlich sichtbare Zeichen in Zweifel gezogen. Das Gemeinsame dieser Zeichen ist, dass sie das Latente, ja das Verbotene repräsentieren. Diejenigen, die sich so artikulieren, fügen sich nicht den Normen, arbeiten im Dunkeln und werden mit illegalen Mitteln aktiv. Graffiti sind also nur das Symbol einer allgemeinen Bereitschaft, sich der als fremd empfundenen Schule, die in einem Wohnquartier verortet ist, ohne in der Lebenswelt seiner Bewohner beheimatet zu sein, die darüber hinaus Versprechungen macht, ohne sie halten zu können, zu widersetzen. Es ist also die Opposition gegen die Hegemonialkultur und ihre Legitimierungsstrategien, die an den Graffiti sichtbar wird. Umgekehrt geht es bei den vielfältigen Aktionen zur Sanierung und Restaurierung, die von der Schulleitung, den Schulämtern und anderen Behörden organisiert werden, nicht nur um Ästhetik, sondern auch um symbolische Dominanz. Der ordentliche Zustand der Gebäude soll zeigen, dass die Schule ihren gesellschaftlichen Bestimmungen entspricht, also nicht durch unkontrollierbare Mächte zweckentfremdet wird. Denn das, was imposant und erhaben aussehen soll, verliert schon durch relativ kleine Eingriffe seine Wirksamkeit. Der in den Wohnquartieren, in denen das Bildungssystem keine selbstverständliche Akzeptanz findet, geführte ‚symbolische ދKrieg um das Aussehen von Schulgebäuden und -einrichtungen, das ständige Hin und Her zwischen ‚Vandalismus ދund behördlichen Säuberungsaktionen, ist nicht so banal, wie es zunächst den Anschein hat. Kommuniziert wird, dass die Durchsetzung der Hegemonialkultur auf Widerstand stößt, dass aber umgekehrt, wie in Strafmaßnahmen gegen derartige Aktivitäten zum Ausdruck kommt, die gesellschaftlichen Mächte nicht einfach ein Terrain aufgeben, sondern immer wieder neu ansetzen, um die etablierte Ordnung wiederherzustellen. Eingriffe in das von Architekten beabsichtigte und geplante Erscheinungsbild von Schulen, Zweckentfremdung von Objekten und Übermalungen, die von der nachbarschaftlichen Öffentlichkeit wahrgenommen und – darüber hinaus – über mediale Berichterstattung auch einem größeren Publikum kommuniziert werden, machen deutlich, dass Schulen der sozialen Kontrolle entgleiten. Schulgebäude, die durch Graffiti symbolisch überformt werden, haben eine Aura des Bedrohlichen. Die Graffiti-Kultur mit ihren tags ist von Uneingeweihten im Detail nicht zu entschlüsseln; der Besucher muss daher davon ausgehen, dass er selbst Signale missachtet, also zum Beispiel sich nicht an Hoheitszeichen hält, die ein Territorium abgrenzen, und dass er deshalb mit Sanktionen zu rechnen hat. Die Botschaften an Wänden und Gerätschaften vermitteln den Eindruck, dass bekannte gesellschaftliche Konventionen außer Kraft gesetzt sind und dass man sich selbst auf neue, fremde Regeln einstellen muss. Kommen Sach-
7.6 Symbolischer Widerspruch: Graffiti
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beschädigungen hinzu, so verstärkt sich für denjenigen, der nicht Insider ist, der diese Kultur also nicht kennt und zu deuten vermag, das Gefühl des Ausgeliefertseins, weil sich offenbar die Instanzen der sozialen Kontrolle von diesem Ort bereits zurückgezogen haben. Wer sich in einem solchen Territorium aufhält, kann sich nicht mehr auf die Rechte verlassen, die ihm aufgrund eines sozialen Status zustehen. Dementsprechend sind auch die Lehrkräfte in den Schulen der Benachteiligten wenig präsent; ihre Möglichkeiten, sich selbst und andere zu schützen, sind offensichtlich begrenzt, zumal sie ja schon der Sachbeschädigung wenig entgegenzusetzen haben. Schulen in marginalisierten Wohngegenden, die ihre Schülerinnen und Schüler kaum mit Chancen für den Arbeitsmarkt ausstatten können, erwecken, ebenso wie exklusive Schulen, eine Vorstellung von Kräften, die auf nicht genau zu benennende Weise das Schulgeschehen bestimmen. Die Besucher und die über die Medien teilnehmende Öffentlichkeit verlassen sich auf Mutmaßungen, bei denen der von Gebäuden und Einrichtungen vermittelte Eindruck ein wichtiger Anhaltspunkt ist. Wenn sich die Öffentlichkeit von der Schule ein Bild macht, dann geht sie zunächst von dem Gebäude aus, in dem die Bildungsinstitution ihren Sitz hat. Die Schule ist ‚die Schuleދ, das heißt ein bestimmtes Gebäude, das so benannt ist. Der Zustand von Objekten führt zu Schlussfolgerungen bezüglich der Einstellungen der Nutzer und der Wirkungen der Institution Schule, wobei Analogien überwiegen, die in ihrer Vagheit gerade die Basis des Auratischen sind. Sowohl das gepflegte Ambiente in den Schulen der Etablierten wie auch das ungepflegte, mit den Zeichen der Rebellion versehene Ambiente in den Schulen der Marginalisierten gibt zu weitreichenden Spekulationen Anlass. Das heißt, es wird von ästhetischen Eindrücken auf pädagogische Prozesse, ja auf langfristig sich einstellende, erst nach der Beendigung der Schulzeit zum Tragen kommende Persönlichkeitsentwicklungen geschlossen. Auch wenn eine vollkommene Steuerung allen Konzepten von Erziehung und Bildung zuwiderläuft, verbindet sich die Beschaffenheit der baulichen Substanz mit Vermutungen zur Effizienz des pädagogischen Geschehens. Sachbeschädigungen, die an exponierter Stelle vorgenommen werden, können pädagogische Konstrukte zerstören. Angesichts der Vagheit dessen, was die Schule an Belegen für pädagogische Erfolge vorzuweisen hat, führt auch ein brandbeschädigter oder mit Graffiti besprühter Müllcontainer zum Verdikt. Gelegentliche Besuche aus der Welt der Bürgerlichen versetzen die Verantwortlichen vor Ort in Unruhe; haben Verwaltungsbeamte, Politiker und andere Repräsentanten staatlicher Macht ihren Besuch angekündigt, so müssen die Spuren des symbolischen
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Protests, so kryptisch sie auch sein mögen, beseitigt werden. Schon der Widerstand als solcher, nicht Ursache oder Zielrichtung, ist ein Politikum.3 Die politische Funktion der Graffiti kommt gerade dann zum Tragen, wenn in den Medien Gebäude und Plätze im Zustand der symbolischen Zweckentfremdung vorgeführt und so zum öffentlichen Ärgernis erklärt werden. Dabei eignen sich Schulgebäude in besonderer Weise für eine Skandalisierung; bei der Schule handelt es sich um eine Institution, die – mit welcher Modifikation subjektiver Auslegung und Neuschöpfung auch immer – für die Vermittlung von Werten und Normen zuständig ist. Schon das Vorhandensein von Graffiti deutet darauf hin, dass sie diesem zentralen gesellschaftlichen Erfordernis nicht entspricht. Die mit Graffiti versehene Schule steht im Rampenlicht, weil mit ihrer Zweckentfremdung auch die in der medialen Öffentlichkeit häufig thematisierte ‚Vermittlung von Werten ދund die damit verbundene Erzeugung von Gesinnungen infrage gestellt werden. Selbstverständlich folgt das journalistische Interesse nicht dem Ziel, dem symbolischen Protest gegen die Hegemonialkultur der Schule eine Plattform zu schaffen. Ganz im Gegenteil geht es den Medienakteuren darum, den Zustand einer scheinbaren Verwahrlosung zu demonstrieren. Das Medieninteresse folgt der Gefahr; berichtet wird das, was Schaden verursacht und deshalb Interventionen erfordert (Burkart 2002, 279 ff.). Der Handlungsbedarf – so die mediale Aussage – besteht darin, dass sich gesellschaftliche Räume der sozialen Kontrolle entziehen. Zumindest in diesem Punkt ist die Symbolik der Graffiti von der Öffentlichkeit nachvollziehbar, auch wenn die Zeichen selbst nicht verstanden werden. Was das Publikum erreicht, ist die Botschaft, dass die Schule ohnmächtig ist. Gleichzeitig verweisen die GraffitiSymbole auf andere Kontexte, auf graffitibesprühte Objekte in anderen, möglicherweise benachbarten städtischen Zonen, in denen es gleichermaßen die gesellschaftlichen Ordnungsmächte schwer haben, sich durchzusetzen. Auf diese Weise kann in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass sich wachsende Areale dem Einfluss der gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere der Staatsmacht, entziehen. 3
Symbolische Auseinandersetzungen finden öffentlich statt, ja werden durch öffentliche Aufmerksamkeit verschärft. In den Medien wird auf das Sprayen hingewiesen und Empörung artikuliert, wobei – gerade im Sinn der Verursacher – die Beschädigung staatlichen Eigentums zum Anlass der Skandalisierung genommen wird. Tatsächlich haben Graffiti nur eine öffentliche, keine private Funktion. Sie werden nicht als Mittel der künstlerischen Ausgestaltung des persönlichen Wohnumfeldes genutzt. Graffiti als reine Form kommen auch in der Welt der Kunst vor, jedoch nur als Ausnahmeerscheinung; generell bereitet die Aufnahme der Graffiti in den Kanon der Gegenwartskunst Schwierigkeiten, und zwar weil für die autochtonen Produzenten die Ästhetik der Zeichen nur ein Mittel ist. Wenn es um Ästhetik selbst ginge, gehörten Graffiti auch in den Bereich des Privaten. Die Urheber produzieren im öffentlichen Raum, weil es ihnen um eine Botschaft geht, mit der sie möglichst viele erreichen wollen.
8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
8.1 Öffentlichkeit als Nebensinn von Handlungen 8.1 Öffentlichkeit als Nebensinn von Handlungen Ebenso, wie in Stadtteilen mit sozialen Problemlagen das äußere Erscheinungsbild der Schule die negativen Eindrücke bezüglich ihrer Wirkungsweise verstärkt, können Schulen mit selektivem Aufnahmemodus, die also in der Lage sind, unter ihren Bewerbern auszuwählen, durch Gebäude, Anlagen und Objekte, durch gepflegte Rasenflächen zum Beispiel, die Öffentlichkeit positiv beeinflussen und damit zur Versorgung mit Ressourcen beitragen. Exklusive Schulen lassen ihre Aura für sich wirken. Kommt es zu ‚Störungenދ, etwa zu einer von der Schülerschaft vorgenommenen Umgestaltung schuleigener Kunstwerke, so handelt es sich um Ausnahmen; derartige Aktionen werden – auch von der Lehrerschaft und von der Schulleitung – als scherzhafte Handlungen verstanden, die den Rahmen der institutionellen Ordnung und der ihr zugrunde liegenden Loyalität nicht überschreiten, ja diese bestätigen, weil sie sich routinemäßig zu bestimmten Anlässen ereignen. Die Wirkung exklusiver Schulen auf die Öffentlichkeit kommt besonders dann zustande, wenn sich die Aura des Besonderen wie von selbst zu ergeben scheint, wenn also offensichtlich keine Manipulationen vorgenommen werden, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen und damit Vorteile zu erreichen. Die Schulleitung und die Lehrkräfte selektiver Bildungseinrichtungen müssen bei allen Aktivitäten, die sie vornehmen, um die Schule in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen, diskret vorgehen. Die Aura besteht dann, wenn sie – dem Anschein nach – nicht gewollt ist; sie stellt sich ein, wenn der Zustand von Gebäuden, Plätzen und Accessoires für sich spricht und auf ein erfolgreiches pädagogisches Wirken schließen lässt. So unterschiedlich die Strategien auch sein mögen, für alle Schulen gilt, dass die Öffentlichkeitswirkung eine existenzielle Bedeutung gewonnen hat. Unter dem Vorzeichen knapper Ressourcen müssen in Schulen, mehr noch als in anderen Organisationen, bei allen Aktivitäten von Organisationsmitgliedern die Auswirkungen auf das öffentliche Erscheinungsbild bedacht werden. Dem sozialen Geschehen in der Organisation, besonders aber dem Handeln von Mitgliedern, die innerhalb und außerhalb der Systemgrenzen Repräsentationsfunktionen wahrnehmen, fügt sich auf diese Weise ein Nebensinn hinzu. Alles, was dem Zugriff der Öffentlichkeit, speziell der Medien, nicht entzogen ist, unterliegt
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dem Kalkül möglicher Konsequenzen. Das heißt auch, dass der Zweck einer Handlung nicht mehr verfolgt werden kann, ohne die möglichen Auswirkungen auf das öffentliche Erscheinungsbild zu prüfen. Selbst sinnvolle und nützliche Aktionen finden in der Schule nicht statt, wenn sie von einem größeren Publikum falsch verstanden werden könnten. Das auf Erziehung und Bildung gerichtete Handeln ist damit nicht mehr ‚nur ދpädagogisch; es wird vielmehr von Überlegungen beeinflusst, die auf die mediale Berichterstattung und das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit bezogen sind. Elemente, die in Hinblick auf den ursprünglichen Handlungssinn überflüssig oder sogar schädlich erscheinen, müssen unter Umständen in pädagogische Abläufe integriert bzw. als Umwege in Kauf genommen werden. Sogar ganze Handlungsketten und auf Dauer gestellte Geschehensabläufe, Projekte zum Beispiel, haben möglicherweise nur die Funktion, auf die Organisation und das Wirken ihrer Akteure aufmerksam zu machen. Aktionen von Personen oder Kollektiven, die stattfinden, damit über sie berichtet wird, bezeichnet Kepplinger (1992) als „instrumentelle Inszenierungen“. Für diejenigen, die an der Planung und Durchführung solcher ‚Ereignisse ދbeteiligt sind, wäre es möglicherweise schädlich, wenn sie zugeben würden, dass das Ziel ihres Handelns primär in der Publizität besteht. Daher werden andere Ziele und Motive kommuniziert. So kann zum Beispiel das auf Medienwirksamkeit ausgerichtete Geschehen als besonders aktuell dargestellt werden; etwas als das Neueste auszugeben heißt, dass es gute Gründe gibt, die Öffentlichkeit zu informieren. Eine andere Möglichkeit, ein inszeniertes Geschehen zu rechtfertigen, besteht darin, dieses als paradigmatisch für die Organisationswirklichkeit hinzustellen. Wer also etwas über die Organisation erfahren will, muss, so die implizite Botschaft, an diesem Ereignis teilnehmen oder sich zumindest darüber informieren. Dabei ist es besonders naheliegend, dieses herausgehobene, beispielhafte Geschehen in periodischen Abständen wiederkehren zu lassen. Die Organisation schafft also Ereignisse, die nicht für ihre Klientel, sondern für die Allgemeinheit bestimmt sind, und hebt sie als typisch hervor. In besonderen Fällen ist es sogar möglich, das öffentlichkeitswirksame Ereignis mit dem Hinweis zu verbinden, dass es sich um eine symbolische Aktion handelt, womit also die Inszenierung zugegeben wird. Dieser Weg kann beschritten werden, wenn für die Ziele, für die sich die Veranstalter einsetzen, in der Öffentlichkeit ein hohes Maß an Akzeptanz zu finden ist. Viele ‚nongovernmental organizations ދladen zu Aktionen ein, die offensichtlich inszeniert sind, wobei die Inszenierung als ein politisches Lehrstück verstanden wird, als ein öffentlichkeitswirksames didaktisches Mittel, das in verdichteter ‚theatralischerދ Form auf einen Missstand aufmerksam machen soll. Auch Schulen verfolgen zuweilen diese Strategie, um zum Beispiel durch eine spektakuläre Aktion eine
8.2 Exkurs: Die Bedeutung von Symbolen in der Politikvermittlung
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finanzielle Unterversorgung zu verdeutlichen. Ereignisse, die nur in Hinblick auf ihre Publikationsfolgen stattfinden (Boorstin 1964; Kepplinger 1992), sind das Extrem einer Beeinflussung des Organisationsgeschehens durch die Medien.1 Im Einzelnen dürfte es schwierig sein, zwischen einem Handeln, das die Wirkung auf die Öffentlichkeit berücksichtigt, und der rein instrumentellen Inszenierung zu unterscheiden. Möglicherweise bleibt der Handlungszusammenhang auch dann erhalten, wenn die Akteure der Wirkung auf die Öffentlichkeit besondere Bedeutung zumessen. So können Teile eines komplexeren Vorgangs auf der Hinterbühne der Organisation stattfinden, während andere, von denen eine günstige Resonanz in der Öffentlichkeit erwartet wird, in die Außendarstellung verlagert werden. Wenn zum Beispiel eine Schule gezwungen ist, mit einer anderen Schule am gleichen Ort zusammenzuarbeiten, dann werden Personalentscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen, wobei der Kreis der Informierten klein bleibt, während gemeinsame Unterrichtsveranstaltungen, die geeignet sind, die Vorteile der Kooperation deutlich zu machen, öffentlichkeitswirksam präsentiert werden. Im Folgenden soll auf die Ergebnisse von Forschungen hingewiesen werden, die im Bereich der Politik durchgeführt wurden und die gleichfalls das Verhältnis zwischen Realität und Realitätsvermittlung, zwischen Ereignis und medialer Berichterstattung zum Gegenstand haben. 8.2 Exkurs: Die Bedeutung von Symbolen in der Politikvermittlung 8.2 Exkurs: Die Bedeutung von Symbolen in der Politikvermittlung Nicht nur im Bildungswesen, auch in der Politik decken sich die Funktionsabläufe öffentlichkeitswirksamer Darstellungen nicht mit der Realität, die sie abbilden sollen. In der Politikvermittlung, also in der Darstellung und Erklärung politischer Vorgänge, hat sich eine Symbolsphäre entwickelt, die vor allem auf die Beschaffung von Akzeptanz ausgerichtet ist. Dabei steht eine Deutung 1
Nichtsdestoweniger sind derartige instrumentelle Inszenierungen für die Schule prekär. Organisationen wie Greenpeace, die mit spektakulären instrumentellen Inszenierungen auf sich und ihre Ziele aufmerksam machen, sind mit Bildungsorganisationen nicht zu vergleichen, weil ihr Ziel in der Aufklärungsarbeit besteht. Mit ihrem symbolischen Eingreifen in die Routineabläufe von ökonomischen und technischen Prozessen wollen sie über deren Kehrseite aufklären, nämlich über öffentlich nicht kommunizierte negative Folgen. Dies geschieht, indem durch die Intervention die attackierten Organisationen ihr ‚wahres Gesicht ދzeigen. Das heißt, dass das Ziel ihrer Aktivitäten in dieser allgemeinen Bewusstwerdung, also in einer bestimmten Wirkung auf die öffentliche Meinung besteht. Die Öffentlichkeit ist, im Gegensatz zu Bildungsorganisationen, der Adressat ihrer Aktivitäten. Schulen müssen dagegen deutlich machen, dass es sich um eine Ausnahme-, ja um eine ‚Notދsitutation handelt und dass sie nicht die Schülerschaft für ihre Zwecke instrumentalisiert.
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komplexer Vorgänge im Vordergrund, die sich – auf Kosten der Sachgerechtigkeit – vor allem auf die Weckung von Emotionen konzentriert. Eine detaillierte Beschreibung realer Verhältnisse und eine darauf aufbauende Analyse von Entscheidungsmöglichkeiten werden vermieden, weil sie – so zumindest die Meinung der Politikberater und Medienakteure – den Bürger überfordern würden. Symbolische Politik als eine „Politik der Zeichen, der Worte, Gesten und Bilder“ (Jessen 2006, 3) ist also nicht auf Argumente ausgerichtet, die für oder gegen eine Entscheidung sprechen, sondern hat die Erzeugung von „general support“ (Sarcinelli 1987, 65 f.) zum Ziel. Das heißt, dass es darum geht, unabhängig von einzelnen Maßnahmen und möglicherweise auch im Vorweg konkreter Planungen Vertrauen zu schaffen, um so den Spielraum der Entscheidungsträger zu erweitern. Politiker werden in dem Maß von Effizienznachweisen unabhängig, wie es ihnen gelingt, auf der symbolischen Ebene, das heißt als Deuter und Darsteller von Politik, zu überzeugen. Edelman (1976) weist darauf hin, dass politisches Handeln ohne symbolische „Verdichtungen“ nicht auskommt. Damit ist ein Sprachgebrauch gemeint, der – von Metaphern ausgehend – Zusammenhänge konstruiert und ein Geschehen, das sich der unmittelbaren Erfahrung entzieht, auf eine griffige Formel bringt. Durch sogenannte Verdichtungssymbole werden – so Edelman – die Programme und Strategien der Parteien den Bürgern emotional zugänglich gemacht (Edelman, a.a.O., 5). Mit Hilfe der Verdichtungssymbole werden, wie Edelman ausführt, Ereignisse und Vorgänge verständlich, und zwar nicht deswegen, weil sie sich mit den Erfahrungen der Rezipienten decken, sondern weil sie auf der Symbolebene ein nachvollziehbares Ganzes bilden. Edelman hebt jedoch auch hervor, dass durch die Wahl eines symbolischen Rahmens Vorgänge und Entscheidungen der Kontrolle entzogen werden. Wo Verdichtungssymbole im Spiel seien, unterbleibe die dauernde Überprüfung an der erfahrbaren Wirklichkeit. Symbolische Politik schaffe durch starke Bilder und plausible Deutungen, die in ihren Prämissen nicht hinterfragt würden, Unterstützung für Politiker und Parteien. Das heißt, dass – dieser Einschätzung folgend – eine rationale Abwägung von Vor- und Nachteilen gar nicht stattfindet. Somit können auch Kontroversen auf der symbolischen Ebene ausgetragen werden, und zwar ‚um der Symbole willenދ, das heißt ohne Konsequenzen für die Praxis. Bevor aber symbolische Politik zum Zug kommt, geht es zunächst darum, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Wenn Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, dann stellt sich die Frage, wie individuelle und kollektive Akteure in der Öffentlichkeit Resonanz finden können. Unter welchen Umständen wird über ihre Konzepte, Pläne und Maßnahmen in den Medien berichtet? Welche Selektionsentscheidungen werden in den Medien vorgenommen? In der kommunikationswissenschaftlichen Forschung haben sich neben
8.2 Exkurs: Die Bedeutung von Symbolen in der Politikvermittlung
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den subjektiven Wirkungsabsichten von Journalisten und den kommerziellen Interessen der Medienunternehmer bestimmte Nachrichtenfaktoren als wichtig für die Veröffentlichung von Meldungen erwiesen (Donsbach 2001, 10); im Rahmen der Nachrichtenwert-Theorie werden Eigenschaften von Meldungen herausgearbeitet, von denen man weiß, dass sie das Auswahlverhalten von Journalisten beeinflussen. Unter anderen haben sich räumliche und kulturelle Nähe, die Beteiligung von Prominenz an den gemeldeten Ereignissen, ein bereits eingetretener Schaden oder eine Gefahr, aber auch eine möglicher Nutzen, sowie die als Personalisierung bezeichnete Beziehung eines Ereignisses zu identifizierbaren Individuen als Merkmale von Meldungen erwiesen, die für die Publikation ausgewählt werden ( Staab 1990; Staab 1998; Pürer 2003, 128). Meyer (2000) vermutet, dass sich Politiker bzw. ihre PR-Berater die empirisch bestätigten Erkenntnisse über Nachrichtenfaktoren zunutze machen, um Medienakteure und Öffentlichkeit in ihrem Sinn zu beeinflussen. Politisches Handeln werde, sofern es nach außen sichtbar sei, so arrangiert, dass es den Verwertungsinteressen der Medien entspreche. Politische Ereignisse würden inszeniert, um nachrichtenfähig und damit öffentlichkeitswirksam zu sein; die ‚wirkliche ދPolitik, wichtige Absprachen und Entscheidungen zum Beispiel, seien demgegenüber der Sichtbarkeit entzogen. Da sich – so Meyer – in der Nachrichtenforschung gezeigt habe, dass besonders über Aktionen berichtet werde, an denen bekannte Persönlichkeiten beteiligt seien, so bedeute dies für die Parteistrategen, dass bei Wahlkämpfen vor allem die politische Prominenz ins Rennen geschickt werde und dass Personen und nicht Programme im Vordergrund stünden. Ebenso gibt es nach Meyer eine Instrumentalisierung des Faktors Nähe, indem nämlich Politiker den Eindruck zu erwecken suchten, dass sie sich der Sorgen und Nöte der Bürger annähmen, was praktisch bedeute, dass sie bei ihren Auftritten bevorzugt lebensweltliche Erfahrungen ins Spiel brächten. Als wirksam habe es sich darüber hinaus erwiesen, Gefahren zu beschwören. Außerdem setzten Politiker die Mittel der Unterhaltungsdramaturgie ein, um durch effektvolle Gestik, Mimik und Körpersprache das Interesse des Publikums zu finden. „Die theatralische Öffentlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf beiden Seiten, im politischen System selbst und im Mediensystem immer mehr und in zunehmend perfektionierter Form der zentralen Elemente des theatralischen Diskurses bedient. Inszenierung, Korporalität, Performance und Publikumsbezogenheit machen sich als Strukturmerkmale der Politikvermittlung, der politischen Akteure und der medialen Diskurse über Politik in dominanter Weise geltend“ (Meyer 1998, 127).
Journalisten beteiligen sich – Meyer zufolge – an diesen Strategien, selbst wenn sie die Absichten der politischen Akteure durchschauen. Auch sie seien auf
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Ereignisse angewiesen, die sich für die Berichterstattung eignen. Die Praxisrelevanz allein genüge also nicht. Für die Medienakteure sei es wichtig, dass passende Themen gefunden und diese gut aufbereitet würden. Der Verkaufswert der Nachricht stehe im Vordergrund, nicht die Authentizität der Ereignisse und Personen. Das heißt, dass auch über „Pseudo-Ereignisse“ (Boorstin 1964; Kepplinger 1989), bei denen es sich deutlich erkennbar um Inszenierungen handelt, berichtet wird, sofern sie kommerziellen Verwertungsinteressen entsprechen. Eine positive Sichtweise symbolischer Politik ergibt sich dann, wenn von den Strukturgegebenheiten der Öffentlichkeit im Medienzeitalter ausgegangen wird. Das politische Geschehen ist in demokratischen Gesellschaften durch einen hohen Wettbewerbsdruck unter den politischen Akteuren gekennzeichnet. Angesichts der Vielfalt der Faktoren, die das Handeln bestimmen, und der Komplexität von Sachverhalten können die Vor- und Nachteile von Programmen und Entscheidungen nur in begrenztem Umfang der Öffentlichkeit vermittelt werden. Inszenierungen und symbolische Politik ergeben sich, wie bereits angemerkt, aus der Notwendigkeit, Aufmerksamkeit zu erregen, Orientierungen zu vermitteln und Leistungen bewertbar zu machen, auch wenn die dazu erforderlichen Informationen fehlen. Für eine positive Einschätzung eines Kandidaten kommt das politische Handeln selbst nur teilweise infrage, und zwar deshalb, weil es vielfach nicht abbildbar bzw. nicht vermittelbar ist. Wenn tatsächlich in zunehmendem Maß die Politikdarstellung gegenüber der Politik selbst in den Vordergrund rückt, wenn Inszenierungen und symbolische Verdichtungen die politische Auseinandersetzung beherrschen, dann geht es darum, eine Basis zu finden, auf der eine Evaluation durch die Öffentlichkeit stattfinden kann. 8.3 Symbolische Pädagogik 8.3 Symbolische Pädagogik Nicht nur staatliche, politische und ökonomische Organisationen sind in deregulierten, liberalen Gesellschaften davon abhängig, in der Öffentlichkeit bekannt zu sein und Vertrauen zu genießen. Vielmehr gilt auch für andere institutionelle Bereiche, zum Beispiel für Schulen und Hochschulen, die folgende Feststellung: „Die Aufmerksamkeit und die Akzeptanz, die das Publikum und auch die Mitglieder spezifischen Organisationen zukommen lassen und sie damit gegenüber anderen hervorheben, die Profilierung von Organisationen gegenüber anderen Organisationen, ja sogar die Motivation und Integration von Mitgliedern bzw. Mitarbeitern vollzieht sich in öffentlich exponierten Organisationen in steigendem Maße über medial vermittelte Kommunikation“ (Eisenegger/Imhof 2004, 246)
8.3 Symbolische Pädagogik
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Das bedeutet, dass Organisationen, die einen staatlichen Auftrag wahrnehmen, auch dann, wenn ihr Aufgaben- und Kompetenzbereich politisch und rechtlich vorgegeben sind, sich trotzdem den „Interpretationslogiken der Massenkommunikation und den Modezyklen der Medienprodukte“ (Eisenegger/Imhof, a.a.O., 247) anpassen müssen. Es genügt nicht, dass Schulen – in der Hoffnung auf gebührende Berichterstattung – ihre pädagogische Arbeit dokumentieren. „Journalismus operiert … als autonomer Beobachter von Weltgeschehen … Journalistische Kommunikation ist..eigensinnig …“ (Görke 2002, 73). In den Schulen müssen Schauplätze, Gegenstände und Ereignisse gefunden werden, die es ermöglichen, ‚Leistungen ދsichtbar zu machen, selbst wenn die Beziehung des Vorführbaren und Vorgeführten zum alltäglichen pädagogischen Geschehen bestenfalls indirekt ist. Besonders mit der Zunahme des Wettbewerbs unter den Schulen, und zwar auch und gerade innerhalb der Schularten, erhöht sich für Schulleitungen und Schulträger der Druck, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und pädagogische ‚Produktion ދmediengerecht erfahrbar zu machen. Die Darstellung von Effizienz im schulischen Geschehen muss von eindrucksvollen pädagogischen Handlungen ausgehen. Dabei kann es nur um ein aktuelles Handeln gehen, obwohl das, was Schulen für sich in Anspruch nehmen und was als oberstes Ziel angesehen wird, nämlich die Vermittlung von Erziehung und Bildung, erst in langfristigen Prozessen erreicht werden kann und nach Beendigung der Schulzeit zur Geltung kommt. Für die Darstellung von pädagogischen Erfolgen heißt das, dass sie an Schülern demonstriert werden müssen. Es geht darum, in der Öffentlichkeit am Beispiel des Gegenwartsgeschehens die Konkurrenzfähigkeit der Schule zu belegen. Schulträger, Schulleitungen und Lehrkräfte sowie Elternvereine und die Schülerschaft werben daher mit Informationstagen oder Tagen der offenen Tür, mit Jubiläen und jahreszeitlichen Festen, mit pädagogischen Projekten, Dokumentationen, Leseund Debattierwettbewerben, mit Feiern zur Begrüßung und zur Verabschiedung von Schülern, mit sportlichen Wettkämpfen, mit Konzerten und anderen künstlerischen Aktionen, mit Austauschprogrammen und Erlebnisreisen. Alle diese Ereignisse sind inszeniert. Ihre Funktion besteht darin, in verdichteter Form das zu zeigen, was an Tätigkeiten und Prozessen in der Schule stattfindet. Sie sollen plausibel machen, dass es Erfolge gibt und dass die Aktivitäten der Schule zu diesen Erfolgen führen. Es geht darum, auf Konstruktbildungen der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, indem mit dem Vorgeführten Rückschlüsse auf vorhandene Potenziale nahegelegt werden. Das heißt auch, dass das pädagogische Geschehen, das im Rahmen solcher Veranstaltungen präsentiert wird, eine symbolische Funktion hat. Denn in den wenigen Szenarien, die der Öffentlichkeit dargeboten werden, soll sich das gesamte Schulgeschehen
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widerspiegeln. Mit mehr oder weniger eindrucksvollen Handlungssequenzen soll das zum Ausdruck kommen, was die Schule an allgemeinen und besonderen Wirkungen für sich in Anspruch nimmt. Es wird also eine Dramaturgie entwickelt, die stringent ist, auch wenn sie sich auf höchst heterogene Interaktionsverläufe bezieht. Was für die pädagogischen Aktivitäten der Schule ganz allgemein geltend gemacht wird, soll in Initiativen, die sich vom Alltag der Schule unterscheiden, sinnhaft dargestellt werden. Sowohl bei der Vorführung des Schulalltags als auch bei besonderen Aktionen, mit denen sich die Schule an die Öffentlichkeit wendet, handelt es sich um symbolische Pädagogik, die – wie symbolische Politik – von Inszenierungen lebt. Das heißt, dass das pädagogische Geschehen in der Schule so geplant und durchgeführt wird, dass es – nach Einschätzung der Beteiligten – einen möglichst günstigen Einfluss auf gesellschaftliche Konstruktbildungen hat. Ähnlich wie symbolische Politik verweist symbolische Pädagogik auf diffuse Zusammenhänge, zum Beispiel zwischen schulischen Vorgängen und Lebenserfolg, zwischen Einstellungen von Heranwachsenden und Erfordernissen des Beschäftigungssystems, zwischen Bildungswissen und Professionswissen, zwischen sozialem Habitus und Kompetenz. Ebenso, wie es im Rahmen der symbolischen Politik darauf ankommt, „Rationalität emotional zu transportieren“ (Meyer/Schicha/Brosda 2001, 44), und zwar mit Hilfe der „ästhetisch kalkulierten Darstellung“ (ebd.), beruht symbolische Pädagogik auf Emotionen und geht daher mit eindrucksvollen Aktionen einher. Die Kontexte zwischen verschiedenen pädagogisch relevanten Handlungsfeldern erschließen sich somit nicht auf der Basis von sachlichen Erwägungen und logischen Schlussfolgerungen; sie sind vielmehr ‚gefühltދ. Die symbolhaften Aktionen müssen geeignet sein, Emotionen wie Spannung, Trauer, Rührung, Mitleid, Stolz und Freude zu erregen. Die Schule braucht für Zwecke der symbolischen Pädagogik die feierlichen Momente und die spektakulären Aktionen. Nur ausgewählte Handlungen haben Erlebniswert und können mit Emotionen verbunden werden. Wie symbolische Politik ist symbolische Pädagogik auf Eindrucksmanipulation ausgerichtet. Das Schulgeschehen, das – dem Konstrukt nach – ein rationales Geschehen mit operationalisierbaren Zielen ist, braucht emotionsträchtige Handlungen, um pädagogische Wirkungen glaubhaft zu machen. Da Effizienznachweise ohnehin nicht möglich sind, muss sich die Schule auf Emotionen verlassen, die mit Hilfe symbolischer Pädagogik erzeugt werden. Die im Rahmen der symbolischen Pädagogik verwendeten Zeichen können vieldeutig sein, weil die intendierten Schlussfolgerungen dem Beobachter überlassen bleiben. Der Auftritt eines Schülers bei einer Konzertveranstaltung der Schule ist möglicherweise beeindruckend und löst Emotionen aus. Gleichzeitig stellt sich die Vermutung ein, dass aus dem Betreffenden ‚etwas Großes ދwerden
8.3 Symbolische Pädagogik
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könnte. Es kommt aber nicht darauf an, diesen potenziellen Zusammenhang in der Inszenierung selbst zu thematisieren. Symbolische Pädagogik schafft den Rahmen dafür, dass den Versprechungen der Institution geglaubt wird; sie dient also, wie auch symbolische Politik, der Loyalitätssicherung, dem „general support“. Das heißt, dass mit vieldeutigen Symbolen die unterschiedlichen Bedürfnisse, also zum Beispiel Wünsche und Pläne der Eltern und der Öffentlichkeit, bedient werden. Gerade wenn man davon ausgeht, dass die Zielvorstellungen der beteiligten Personen und Gruppen, eine erfolgreiche Karriere, ein erstrebenswertes Leben, der Dienst an der Gemeinschaft usw., sehr unterschiedlich sind, dass deren Erreichung aber einem konkreten, von der Schule eingesetzten Instrumentarium zugeschrieben werden soll, müssen Symbole vieldeutig, gleichzeitig aber eindringlich und suggestiv sein. Der Phantasie des Publikums bleibt es überlassen, das Gesehene und Berichtete zu einem Bild zusammenzusetzen. Dabei wird die Auswahl der Handlungen und Prozesse, die einem Publikum vorgeführt werden, nach der Logik der Zeichen bestimmt.2 Symbolträchtige Handlungen, die im schulischen Rahmen vollzogen werden, sichern die Unter2
Zum Alltag der Schule gehört immer schon das ‚Als obދ. Auch der Unterricht, der sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzieht, ist dadurch gekennzeichnet, dass Lehrer Protagonistenrollen in einem pädagogischen Geschehen übernehmen, das nach Gesichtspunkten der Wirkung vorgeplant und strukturiert ist. Das professionelle Personal wendet sich an einen Adressatenkreis und initiiert und steuert soziale Prozesse in einer Weise, die sich von anderen Handlungszusammenhängen unterscheiden, jedoch an diese anknüpfen. Das Unterrichtsgespräch muss nach didaktischen oder bildungstheoretischen Aspekten gestaltet werden. Das bedeutet nicht notwendigerweise eine detaillierte Festlegung von Interaktionssequenzen, wohl aber, dass lebensweltliche und pädagogische Kommunikation miteinander verknüpft werden. Das Miniaturdrama einer Unterrichtsstunde lässt weiten Spielraum zur Improvisation. Trotzdem sollen die Schüler zu Ergebnissen geführt werden, die an übergeordneten Zielen ausgerichtet sind und sich nicht aus einer ungeplanten Interaktion ergeben. Auch die öfter in pädagogischen Programmen hochgelobte Spontaneität hat sich in eine Struktur einzufügen. So gesehen besteht der Unterricht aus Inszenierungen, selbst wenn das Ausmaß, zu dem Schülerinnen und Schüler auf die Ausgestaltung ihrer Rollen Einfluss haben, sehr unterschiedlich sein kann. Der Lehrer ist Regisseur und Protagonist eines Stückes, das er selbst – möglicherweise auch nach Vorlagen – geplant hat. Dazu gehört, dass er sich in einer Weise verhält, die sich von seinen Aktivitäten außerhalb pädagogischer Situationen stark unterscheidet. Er richtet zum Beispiel Fragen an die Schüler, die er selbst am besten beantworten könnte, zeigt sich neugierig, auch wenn für ihn der Gegenstand der angeblichen Neugierde banal ist, er erscheint – aus pädagogischen Gründen – erfreut, enttäuscht, entrüstet oder verärgert, obwohl ihn das Verhalten des Schülers nur unter professioneller Perspektive interessiert. Das Personal der Schule spielt eine Rolle in einem Geschehen, bei dem die Schülerinnen und Schüler Akteure und Publikum zugleich sind. Das Handeln vor Publikum hat immer Stilisierungen und Inszenierungen zur Folge, ja kann auch dramaturgisch festgeschrieben werden oder sogar gänzlich in Routine erstarren. Symbolische Pädagogik, die eine größere Öffentlichkeit voraussetzt, unterscheidet sich vom Alltagsgeschehen in der Schule dadurch, dass diese Ebene der geplanten, ‚inszenierten ދInteraktion weiter verdichtet und unter dem Gesichtspunkt der Imagewerbung strukturiert wird.
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stützung der unmittelbar Beteiligten und des weiteren gesellschaftlichen Umfeldes, weil niemand in Hinblick auf die tatsächlichen Wirkungen pädagogischer Einflussnahmen enttäuscht werden muss. Eine Spezifizierung der Bildungsziele und ihre Operationalisierung in Methoden und Maßnahmen, die über vage Konstrukte hinausginge, würde die Unterstützung für die Schulleitung und die Lehrerschaft nicht auf die allgemeine Basis stellen, die erreicht wird, wenn man von paradigmatischen, damit aber auch vieldeutigen Handlungen und Aktionen ausgeht. Schulen sind also darauf angewiesen, Eltern, Experten, journalistischen Multiplikatoren und anderen ‚Gästen ދeinen Einblick in das ‚Schulleben ދzu verschaffen, um auf sich aufmerksam zu machen und um auf ihr Image und ihre öffentliche Reputation einzuwirken. Die Aktionen, mit denen die Schule Öffentlichkeitsarbeit betreibt, müssen so gestaltet, das heißt in Szene gesetzt sein, dass sie eher andeuten als zeigen, eher eine Stimmung erzeugen, als zu einer genaueren Prüfung herausfordern, eher das Gemeinwohl als die persönlichen Interessen in den Vordergrund stellen. Es kommt darauf an, deutlich zu machen, wie die Tätigkeiten und Prozesse in der Schule den Erwartungen, Interessen und Werthaltungen der Allgemeinheit dienlich sein können, ohne diese genauer zu definieren. Im Mittelpunkt stehen daher eindrucksvolle Bilder. Die Inszenierungen, mit denen sich die Schule darstellt, erzählen Geschichten; sie handeln von Erfolgen, ohne dass deutlich würde, welche Maßstäbe und Ziele für diese Erfolge verbindlich sind. Schulen schaffen Ereignisse wegen ihrer Wirkungen bei der Schülerschaft und den Eltern, aber auch wegen der Medien und der erhofften und zu erwartenden Publikationsfolgen. Dabei wird der ursprüngliche Anlass, ein hypothetischer ‚natürlicher ދHandlungsablauf, durch dramaturgisch effektvolle, das heißt öffentlichkeitswirksame Szenarien überformt. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und zu einer positiven Meinungsbildung beizutragen sind primäre Ziele solcher Aktionen. Sie sollen sowohl die Handlungsroutinen selbst als auch deren Bedeutung idealtypisch darstellen. Was im Rahmen der symbolischen Pädagogik geschieht, muss stimmig sein, das heißt, dass spontane, ‚abweichendeދ, die Rahmenhandlung transzendierende Aktionen unterbleiben, weil sie die Schlussfolgerungen auf das Ganze in Frage stellen würden. Wenn einzelne Akteure – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – aus der Rolle fallen, so kann dies fatale Konsequenzen für das Ansehen der Schule haben. Weil Öffentlichkeit für die Lehrkräfte und die Schulleitung ein erhöhtes Risiko mit sich bringt, kommt es auf perfekte Inszenierungen an. Es muss, nicht zuletzt durch Auswahl geeigneter Protagonisten, dafür gesorgt werden, dass das Programm reibungslos abläuft. Daher ist es auch erforderlich, die möglicherweise nicht nach Plan verlaufenden Ereignisse zu ‚überspielenދ, zum Beispiel indem die Aufmerksamkeit der Gäste abgelenkt und auf
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andere, ins Bild passende Aktionen konzentriert wird. Die Vorführung selbst sollte aus einer lückenlosen Folge von Ereignissen bestehen, also so ablaufen, wie sie dem Publikum zuvor angekündigt wurde. Das Ansehen der Schule wird danach bemessen, in welchem Maß es gelingt, dass alles nach Plan abläuft. Daher muss an den Tagen, an denen die Öffentlichkeit zu Gast ist, ein Programm angeboten werden, das nur zu vorgesehenen Zeitpunkten unterbrochen werden darf. Das ästhetische Urteil des Publikums bezieht sich auf eine perfekte Vorführung: „The show must go on.“ Das Gelingen einer Veranstaltung, also der positive Eindruck, der mit einer Inszenierung und den Leistungen der Mitspieler erzielt wird, setzt einen störungsfreien Ablauf voraus. Erst auf dieser Basis kann das Vertrauen dafür geschaffen werden, dass das pädagogische Handeln im Unterrichtsalltag planvoll und erfolgreich ist. Schulen dürfen sich also nicht damit begnügen, der Öffentlichkeitsarbeit nur einen Rahmen vorzugeben; vielmehr müssen sie ihre Aktionen detailliert vorbereiten. Schulleitung und Lehrerschaft erarbeiten Drehbücher, die sich nach der Dramaturgie des Theaters richten und auf theatralische Effekte abzielen. Das bedeutet, dass Veranstaltungen nicht nur geplant, sondern auch – zumindest in Teilen – eingeübt werden. Denn das Authentische ist nicht so perfekt, dass es sich zur Vorführung eignen würde. Abläufe, die nicht gespielt werden, die sich also im Kontext eines normalen Unterrichtsalltags ereignen, sind mit Risiken verbunden, die sich die Schule in solchen Augenblicken, in denen sie im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit steht, nicht leisten kann. Dabei muss der Eindruck eines Geschehens erweckt werden, das zwar aus Gründen öffentlicher Vorführung perfektioniert wurde, nichtsdestoweniger aber auf Alltagshandeln beruht. In der Öffentlichkeitsarbeit der Schule darf das Motiv des „impression management“ nicht so vorrangig erscheinen, dass an der Authentizität des Vorgeführten gezweifelt werden muss. Wann und an welchen Stellen auch immer die Normalität in die Inszenierung eingebaut wird: Es kann nicht darauf verzichtet werden, die Normalität zumindest darzustellen. Die Paradoxie besteht also darin, in der Inszenierung, in einem geplanten, eingeübten Geschehen, das – sinnbildlich oder tatsächlich – auf einer ‚Bühne ދstattfindet, den Alltag wiederzugeben. Es muss der Eindruck des Authentischen hergestellt werden, auch wenn für die Schule, die sich der Öffentlichkeit präsentiert, die Kopie des Authentischen den höchsten Inszenierungsaufwand erfordert. Öffentlichkeit beeinflusst den Arbeitsalltag der Schule mit ihren sensiblen Interaktionsprozessen zwischen Lehrern und Schülern, und zwar in einem Maß, dass ein authentisches Geschehen, ein Geschehen also, das Normalität repräsentiert, tatsächlich gar nicht möglich ist; vielmehr werden die im Unterricht stattfindenden sozialen Prozesse unvermeidlich verändert. Da bei der Anwesenheit von Publikum auch Missstände oder nur die latenten, für die Öffent-
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lichkeit nicht bestimmten Funktionen der Schule in Erscheinung treten könnten, dürfen Journalisten und andere Multiplikatoren sowie die Kontrolleure der Schulbehörde nicht sich selbst überlassen bleiben; ihre Kontaktaufnahme mit den Akteuren vor Ort bedarf sorgfältiger Planung. Selbstverständlich wissen auch die Repräsentanten der Öffentlichkeit, dass ihnen nur eine Simulation des Authentischen vorgeführt wird. Trotzdem geben sich die externen Beobachter den Anschein, an einem authentischen Geschehen teilzunehmen. Wenn zum Beispiel ‚Gäste ދeiner Schulklasse den Akteuren eines Unterrichtsgeschehens vorgestellt werden, so erfolgt von den Gästen in der Regel die Aufforderung, dass man ‚sich nicht stören lassen ދmöge. Alle Beteiligten wirken an einer kollektiven Illusion mit, nämlich dass die Vorführung mit der unverfälschten, das heißt nicht auf Außenwirkung ausgerichteten Wirklichkeit identisch ist. Was die Beobachter zu sehen bekommen, sind jedoch Abläufe, die mit dem Alltag nur partiell übereinstimmen und allenfalls dann, wenn die eingeübten dramatischen Miniaturen nicht gelingen, eine Ahnung von der Wirklichkeit der Organisation aufkommen lassen. Schulleiter und Lehrer sind mehr oder weniger öffentlichkeitserfahren. Einige Repräsentanten der Schule, zumal wenn es um exklusive Bildungseinrichtungen geht, sind sogar Virtuosen der Öffentlichkeitsarbeit, die sich auf die Rolle des „Sprechers“ spezialisiert haben und diese professionell wahrnehmen, um „den Erwartungen der Medien genügen zu können und damit ihre Publizitätschancen zu erhöhen“ (Neidhardt 1994, 15). Bei anderen, besonders bei Schülerinnen und Schülern, handelt es sich um kurzfristig Angelernte oder auch um völlig naive Mitspieler. Während die einen bei ihren öffentlichen Auftritten über eine derartige Routine verfügen, dass sie spielerisch mit ihrer Rolle umzugehen und nach Belieben bestimmte Aspekte hervorzukehren vermögen, sind andere gezwungen, sich bei ihren dramatischen Aktionen auf Einstudierungen oder auf spontane Eingebungen zu verlassen. Dabei erweisen sich gerade die Schnittstellen zwischen dramaturgisch kalkulierten, in Szene gesetzten Auftritten einerseits und den ‚Einspielungen ދdes Spontanen andererseits als problematisch, und zwar deshalb, weil sie das Geschehen als Inszenierung offenbaren können. Grundsätzlich soll ja die Repräsentation des Authentischen beispielhaften Charakter haben; es soll vorgeführt werden, wie es in der Schule zugeht, wenn die Öffentlichkeit nicht anwesend ist. Diese Demonstrationen scheinbar unverfälschter Wirklichkeit sind nicht selbsterklärend. Öffentlichkeitserfahrene Mitglieder des Kollegiums ergänzen und interpretieren die Vorführungen, die Normalität darstellen sollen. Fällt jedoch jemand aus der Rolle, so kann die Vermutung aufkommen, dass es im Schulalltag gänzlich anders zugeht. Die Entlarvung der Inszenierung als ‚Show ދschafft Peinlichkeiten, die sich auch dann
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einstellen, wenn allen Anwesenden, selbst den Gästen, die grundsätzliche Differenz des Vorgeführten zur Alltagswirklichkeit bewusst ist. Es kann also passieren, dass die Vorführungen des Alltags anders ausfallen als erwartet, und, wenn etwa einer der Beteiligten sich nicht an seine Rolle hält, authentischer werden als beabsichtigt. Nicht alle Angehörigen der Schule lassen sich in die Aktionen der symbolischen Pädagogik einbeziehen. Schüler, die – aus welchen Gründen auch immer – der Schule gegenüber negativ eingestellt sind, verweigern möglicherweise ihre Mitwirkung, und zwar gerade dann, wenn es wichtig sein könnte. Weil es bei pädagogischen Inszenierungen auf jeden Einzelnen ankommt, ist das unprogrammatische Verhalten besonders effektvoll. Wer also aus der Rolle fallen will, findet im Rahmen der symbolischen Pädagogik die geeignete Bühne. Die Show setzt, um im Sinn der erwünschten Konstruktbildung erfolgreich zu sein, das Engagement jedes Mitwirkenden voraus. Dazu gehören zum Beispiel auch Mimik und Körpersprache. Wenn jemand – vielleicht nur in Nuancen – Desinteresse zeigt, gefährdet er bereits den beabsichtigten Gesamteindruck. Unangepasste, also dem Konzept nicht entsprechende Handlungen, die, wenn sie im pädagogischen Alltagshandeln vorkämen, keine ernsthafte Störung darstellen würden, weil sie unter pädagogische Kategorien subsumiert werden könnten, also zum Beispiel die demonstrative Unaufmerksamkeit von Schülern, haben im Rahmen der symbolischen Pädagogik möglicherweise fatale Wirkungen (Wellendorf 1975, S. 149 ff.). Schulen können auf die Darstellung des Unterrichtsalltags nicht verzichten, obwohl der Unterricht unspektakulär ist und sich deshalb – im Gegensatz zu Wettkämpfen, Ausstellungen, Preisverleihungen, Konzerten usw. – nur begrenzt für die Präsentation in der Öffentlichkeit eignet. Wenn ein Lehrer eine Schulstunde vorführt, so kann er nicht unbedingt so verfahren, wie er es unter rein pädagogisch-professionellen Gesichtspunkten für nützlich halten würde. Die – tatsächliche oder vermeintliche – pädagogische Effektivität verliert gegenüber der Darstellung den Vorrang. Wie auch für das politische Handeln, sofern es in der Öffentlichkeit stattfindet, gelten für die Vorführstunde die Regeln des Theaters. Pädagogisches Handeln wird, sofern Dritte anwesend sind, zu einer schauspielerischen Darbietung. Diese muss sich, wenn sie optimiert werden soll, in ihren Themen, im Einsatz sprachlicher Mittel sowie im Aufbau des Geschehens an dem orientieren, was sich im Theater und in den Medien als erfolgreich erwiesen hat. Wenn ein über die Medien erreichbares disperses Publikum oder die Versammlungsöffentlichkeit der ‚Gäste ދangesprochen werden soll, dann haben die bisherigen Adressaten, Schülerinnen und Schüler, mit ihren Ansprüchen gegenüber dem Publizitätsinteresse der Institution zurückzutreten. Das heißt, dass Gäste die Kommunikationsstruktur verändern, und zwar in der Weise, dass für den Lehrer ein doppeltes ‚role-taking ދerforderlich wird, nämlich einmal in
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8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler und zum Zweiten in Hinblick auf das Publikum. Dementsprechend suchen die Lehrkräfte ihre Ansprechpartner unter den Schülern nicht mehr nach pädagogischen Gesichtspunkten aus, sondern unter dem Vorführaspekt. Ebenso beziehen die Lernenden ihr Handeln nicht nur auf den Lehrer, sondern auch auf das Publikum. Schülerfragen, die vielleicht sonst unbefangen gestellt würden, müssen zum Beispiel unterbleiben, weil sie Unkenntnis offenbaren könnten. Es ist möglich, dass die vorgeführte Unterrichtsstunde zu einer ‚Talkshow ދeigener Art wird, die sich zwar von Talkshows in den elektronischen Medien schon allein thematisch unterscheidet, jedoch mit ihnen gemeinsam hat, dass ein kommunikatives Geschehen gezeigt wird, das authentisch zu sein scheint, tatsächlich aber dramaturgischen Regeln folgt. Für Lehrer und Schüler ist die Öffentlichkeit das gemeinsame Gegenüber, was auch die Verteilung von Loyalität verändert. Wenn sich die Schule gegenüber Fremden darstellen muss, die positiv oder negativ reagieren könnten, also auch eine potentielle Bedrohung darstellen, so solidarisieren sich die Schülerinnen und Schüler, von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, mit dem Personal, und zwar nicht nur in der Situation selbst, sondern auch antizipatorisch, das heißt bei der Vorbereitung derartiger Ereignisse. Dementsprechend kommt es zum Beispiel regelmäßig bei Lehrproben und anderen Vorführstunden dazu, dass Lehrer bzw. Lehramtskandidaten und Schüler zuvor Unterrichtsinhalte und Unterrichtsabläufe absprechen, um den Erwartungen Dritter zu genügen. Die Lernenden machen sich also die Interessen des pädagogischen Personals zu eigen und sichern ihnen schon im Vorweg Konformität zu. Dabei rücken die bislang Abhängigen zu Partnern auf, die wichtige Rollen in einem Drama übernehmen, das sie gemeinsam mit den Lehrkräften aufführen. Und auch die Lehrerinnen und Lehrer handeln bei der Vorbereitung einer solchen Performance nicht als Pädagogen, sondern als Sachwalter institutioneller Interessen, die darin bestehen, die Schule gegenüber der Öffentlichkeit gut zu präsentieren. Sie werden zu Mitwirkenden eines Schauspiels, sind Regisseure und Protagonisten zugleich. Derartige Inszenierungen sind schon deshalb tabuisiert, weil es der Schule darauf ankommt, ein authentisches pädagogisches Geschehen gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen, auch wenn sie, gerade weil es sich um eine Aufführung handelt, einen solchen Anspruch nicht erheben kann. Daher müssen die Fäden, mit denen die Schauspieler bewegt werden, unsichtbar bleiben, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei den Gästen um Behördenvertreter, um Angehörige von Trägerorganisationen und Fördervereinen, um lokale Honoratioren, um Medienakteure oder einfach um eine interessierte Öffentlichkeit handelt. Ebenso ist im Vorfeld gegenüber den beteiligten Schülerinnen und Schülern die Inszenierung ein delikates Thema, wird doch damit zugegeben, dass die Institution die Öffentlichkeit täuscht, indem sie den Eindruck erweckt, als seien diese
8.3 Symbolische Pädagogik
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Vorgänge spontan, also ‚aus dem Leben gegriffen ދund nicht aus Imagegründen in Gang gesetzt und dramaturgisch bearbeitet. Insofern ist es nicht möglich, dass Unterricht einstudiert wird, als ob es sich um ein beliebiges Theaterstück handle. Wie jede Art von Vertraulichkeit hat das Verbergen, das als Verbergen erkennbar wird, gegenüber denjenigen, die daran mitwirken, soziale Abhängigkeiten zur Folge. In gewisser Weise verrät sich die Schulleitung in dem Bemühen, bestimmte Wirklichkeitsbereiche nicht sichtbar werden zu lassen, indem auch der Schülerschaft der Unterschied zwischen Schein und Sein offenbart werden muss. Sie muss benennen und begründen, was gezeigt werden soll und was, wenn es bekannt würde, das Bild der Schule beeinträchtigen könnte. Es kommt zu Geheimnissen, die die Schulleitung und das professionelle Personal mit der Klientel teilen. Lehrer werden in eine Situation gebracht, in der sie zugeben müssen, dass die Mühen der Vorbereitung nicht dem Unterricht, sondern einer Farce gelten. Selbstverständlich bedeutet es einen Gesichtsverlust, wenn Schulleitung und Lehrerschaft zugestehen müssen, dass der Öffentlichkeit aus Imagegründen Unterricht ‚vorgespielt ދwird. Die formell vorgesehene Hierarchie wird also durchbrochen, während informell die Macht der weisungsabhängigen Organisationsmitglieder zunimmt. Die Schulleitung ist möglicherweise gezwungen, an anderer Stelle und zu anderen Zeiten gegenüber den Forderungen und Bedürfnissen der ‚Mitwisser ދZugeständnisse zu machen. Die interaktiven Prozesse, die der Erreichung der vorgegebenen Ziele dienen sollen, verlieren einen Teil ihrer Berechenbarkeit, während Schülerinnen und Schüler die von der Schule zu erwartenden Gratifikationen auf einer neuen Grundlage kalkulieren. Das ist auch der Grund, weshalb in Schulen, in denen es keine Gratifikationen zu verteilen gibt, derartige Inszenierungen nicht möglich sind. Nichtselektiven Schulen fehlt es an remunerativer Macht, das heißt sie können ihren Schülern keine ökonomischen Erfolge für Wohlverhalten versprechen. Aus diesem Grund entfallen differenzierte Absprachen zwischen Lehrern und Schülern zur Vorbereitung und Durchführung öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen. Der Versuch, bildungsbezogene Aktivitäten zu inszenieren, um das Bild der Schule in der Öffentlichkeit positiv zu beeinflussen, würde unterlaufen, und zwar gerade um eine derartige Wirkung nicht zustande kommen zu lassen. Günstige Berichte über das Schulgeschehen gibt es daher nur in Hinblick auf solche Institutionen, die ohnehin schon privilegiert sind.3 Auch kann in den Schulen von 3
Wenn zuweilen auch solche Schulen, deren Klientel aus benachteiligten Teilen der Bevölkerung kommt, mit spektakulären Aktionen, zum Beispiel der Einstudierung eines Musicals, auf sich aufmerksam machen, dann wird dies in der Öffentlichkeit besonders vermerkt. Dass derartige Unternehmungen überhaupt stattfinden können, dass es also den Beteiligten, insbesondere den Lehrern gelingt, Engagement zu mobilisieren, macht das Ungewöhnliche solcher Aktionen aus.
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8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
Marginalisierten der Wechsel zwischen den Ebenen des Scheins und des Seins, die Tabuisierung von tatsächlichen gegenüber angeblichen Intentionen, ja generell der flexible Umgang mit Authentizität nicht vorausgesetzt werden, da die Vertrautheit mit speziellen Beziehungs- und Sprachcodes fehlt. Darüber hinaus ist symbolische Pädagogik davon abhängig, dass das Ressentiment gegenüber der Schule auf Außenseiter beschränkt bleibt, nicht jedoch die Grundstimmung unter den Schülerinnen und Schülern ausmacht, und zwar weil ohne die Solidarität unter den Akteuren erfolgreiche, in sich stimmige Präsentationen nicht zustande kommen können. Wenn Schulen keinen Einfluss auf die Auswahl ihrer Schüler haben und wenn ihrerseits die Schüler sich ihre Schule nicht aussuchen können, dann fehlt im Allgemeinen dieser Konsens zwischen Lehrern und Schülern. Einige Präsentationsformen, die im Rahmen symbolischer Pädagogik immer wieder vorkommen, sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Jedes dieser inszenierten Geschehnisse verbindet sich, trotz einer bewussten Vieldeutigkeit der Zeichen, mit bestimmten Botschaften, die für die Konstruktbildung der Öffentlichkeit wichtig sind. Dabei ist allerdings die Schule nicht nur selbst handelnd, sondern auch Objekt des Handelns anderer. Für die Schule ist eine Öffentlichkeit wichtig, die bereit ist, die von ihr ausgehenden Impulse der Selbstrepräsentation aufzunehmen und zu verarbeiten. Symbolische Pädagogik setzt die Konstruktbereitschaft der Öffentlichkeit voraus. Die Öffentlichkeit bzw. einzelne Akteure wie Journalisten, Verbandsvertreter, Sponsoren, Elternvereine, Politiker usw. sind aber auch darauf angewiesen, dass die Schule etwas anbietet, woran sich das Konstrukt entwickeln kann, dass sie also Profil zeigt. Die von der Schule ausgehende Öffentlichkeitsarbeit, die das Organisationsgeschehen ständig begleitet, und die Konstruktbildungen der Öffentlichkeit, die von Berichten und Analysen oder auch nur vom Hörensagen ihren Ausgangspunkt nehmen, ergänzen sich gegenseitig. 8.4 Feste 8.4 Feste Ebenso wie alle anderen Organisationen, die Feste und Besuchsprogramme für die Öffentlichkeit veranstalten, präsentieren sich Schulen im Rahmen besonderer, der Alltagsroutine enthobener Veranstaltungen, die das Miteinander zwischen Organisationsmitgliedern und sozialem Umfeld in den Vordergrund stellen. Als Grund genügt vielfach schon die Geselligkeit als solche, wobei allerdings der Jahrestag der Schulgründung, die Auszeichnung für besondere Leistungen und Verdienste, die Aufnahme eines neuen Jahrgangs oder die Verabschiedung von Absolventen als Anknüpfungspunkt oder Anlass gewählt wer-
8.4 Feste
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den können. Mit Festen feiern Organisationen sich selbst und nehmen auf sich selbst Bezug. Das heißt auch, dass sich Schulen auf diese Weise in der Öffentlichkeit zum Thema machen. Feste bieten somit für die Organisation die Möglichkeit, sich auf der Agenda der Öffentlichkeit zu platzieren. Besonders deutlich ist die selbstreferenzielle Ausrichtung von Festen, wenn es sich um Jubiläen handelt. Im Vordergrund steht eine Jahreszahl und ein damit verbundener Zeitabschnitt, der gleichzeitig eine Epoche in der Geschichte der Institution markieren soll. Die Tradition ist der Ausweis dafür, dass sich die Organisation bewährt hat. Für Organisationen wie Schulen, die einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben, symbolisieren Feste die Tradition und damit den langjährigen Dienst an der Gesellschaft. Von daher ist es auch naheliegend, zu besonderen Jahrestagen Leistungen vorzuweisen und öffentlich Bilanz zu ziehen. Ebenfalls für Feste eignen sich Schulabschlüsse, weil nämlich das Motiv des Erfolgsnachweises und das Motiv der Verabschiedung miteinander verknüpft werden können. Feste setzen ein Engagement voraus, das mit behördlicher Macht nicht eingefordert werden kann. Sie erfordern ein konzentriertes Zusammenwirken der Beteiligten, auch wenn Gastgeber und Gäste nach dem Modus der Geselligkeit zusammenkommen. Zur Geselligkeit stellt Georg Simmel fest: „im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der Träger der Reize, den der lebendige Wechselaustausch der Rede als solcher entfaltet. Alle die Formen, mit denen dieser Tausch sich verwirklicht ... alle diese Formen gesprächhafter Wechselwirkung, sonst im Dienste unzähliger Inhalte und Zwecke des menschlichen Verkehrs, haben hier ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt im Reize des Beziehungsspiels, das sie, bindend und lösend, siegend und unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften;...Damit dieses Spiel sein Genügen an der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein Eigengewicht bekommen: sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie nicht mehr gesellig ...“ (Simmel 2001, 187 f.)
Die Abwesenheit von Zwecken, also das Beisammensein, das seinen Wert in sich hat, somit auch das Spielerische, ja die Gesellschaft als Spiel, machen nach Simmel den Kern der Geselligkeit aus. Aus diesem Grund, nämlich um die Geselligkeit nicht zu stören, dürfen Leistungen der Schule bei geselligen Anlässen nicht so dargestellt werden, dass die Mühen und die nervlichen Belastungen, die dem Erfolg vorangingen, deutlich würden. Zur Geselligkeit gehört Oberflächlichkeit im Sinn einer Wahrung von Formen. Dagegen muss das, was den Alltag ausmacht, also zum Beispiel Arbeit und Routine, Konflikt, Misserfolg usw., ausgeklammert werden. Das Fest darf den Rahmen des Spielerischen nicht überschreiten. Wenn Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Festes ausgezeichnet werden, dann muss die vollbrachte Leistung im Mittelpunkt stehen,
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8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
während die erforderliche Arbeit höchstens nebenbei Erwähnung finden darf. Zur Festkultur passt die Präsentation von Leistungen, nicht von Anstrengungen. Daher ist es angebracht, Wissen und Können nicht allzu ernsthaft, sondern vielmehr ‚locker ދdarzubieten, weil sie so der erwünschten Stimmung entsprechen. Feste sind besonders dazu geeignet, die Exklusivität einer Schule zu demonstrieren. Dazu gehört auch ein Habitus, der Formen respektiert, ja diese in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Verkehrs stellt, ohne sich ihnen zu unterwerfen. Es muss eine Souveränität im Umgang mit Regeln gezeigt werden, die an der Autonomie der Mitspieler keinen Zweifel lässt. Rollendistanz ist erwünscht, jedoch nur als feine Nuance, sodass sie die Überlegenheit der Etablierten signalisiert und die Differenz zu den naiven, eifrig um Konformität bemühten Parvenüs deutlich machen. Wer Rollendistanz, und wenn auch nur mit den Mitteln der Ironie, zum Ausdruck bringt, zeigt, dass er wirklich dazugehört, dass er also das beherrscht, was andere sich mühsam angeeignet haben. Mit der Kultur einer lockeren, spielerischen Geselligkeit demonstrieren exklusive Schulen ihr kulturelles Kapital. Schülerinnen und Schüler halten Formen ein, ohne förmlich zu sein. Mit anderen Worten: Sie zeigen, dass der Form auch eine Haltung entspricht, ein Habitus, der eine Mischung aus ererbtem sozialen Kapital und internalisierten Werten darstellt. Der Habitus bringt auf diese Weise nicht nur den Status der Eltern zum Ausdruck, sondern auch die pädagogischen Erfolge der Institution, die sich im Rahmen eines Festes der Öffentlichkeit präsentiert. Bourdieu, der das Habitus-Konzept in die Soziologie eingeführt hat, betont, dass die mit diesem Begriff gemeinte Dispositions- und Ausdrucksstruktur sozial verankert ist, dass sie aber vom Subjekt verändert und biographischen Erfahrungen angepasst werden kann (Bourdieu, a.a.O., 171 ff., 648 ff.). Damit ist ausgesagt, dass die Herkunft und die pädagogische Intervention den Habitus ausmachen (Böhnisch 1996, 58 f.). Schulfeiern unterstützen als aktuelle Praxis die erzeugten habituellen Eigenschaften; mit dem Einfluss der Schule auf Lebensstil und Mentalität, auf Gewohnheiten und Dispositionen verfeinert und konkretisiert sich für Schülerinnen und Schüler ihr kulturelles Erbe. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Klientel der Schule – Heranwachsende und Familienangehörige – in Auftreten und Geschmack, in Einstellungen und Verhaltensmustern, in Sprache und Körpersprache den Habitus ihrer gesellschaftlichen Kreise zum Ausdruck bringt, rechtfertigt ihren gesellschaftlichen Anspruch. Für Lernende und Studierende bietet die Festkultur die Gelegenheit, ihre ‚Reife ދin den Bereichen unter Beweis zu stellen, die vordergründig mit ‚Bildungދ, latent aber mit der Einübung eines schicht- und milieuspezifischen Habitus zu tun haben. Kompetenzen in den Bereichen des Lebensstils, des Geschmacks, der Umgangsformen und der Geselligkeit haben an Aktualität ständig hinzugewonnen. Wenn in der Berufs- und Arbeitswelt nicht mehr spezifische, auf einen be-
8.5 Charity-Aktionen
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stimmten Arbeitsplatz oder eine Funktion bezogene Kenntnisse erforderlich sind, wenn die Persönlichkeit des Mitarbeiters, und zwar auch unter den Aspekten, die vormals als privat gegolten haben, gefragt ist, dann gewinnt der Beitrag der Schule zur Genese des Habitus an Bedeutung.4 Allerdings dürfen die auf diesem Gebiet erreichten oder vermuteten Wirkungen – im Gegensatz zu den fächerspezifischen Lehr- und Lernleistungen – nicht offen angesprochen werden. Gerade deswegen sind gesellige Ereignisse wichtig, bieten sie doch die Gelegenheit, den Habitus und arbeitsmarkttaugliche Persönlichkeitsmerkmale zu zeigen, ohne sie zu thematisieren. Wenn Schülerinnen und Schüler bei Festlichkeiten ihren Habitus demonstrieren, dann profitieren sie auch in Hinblick auf die Allokationsfunktion der Schule. Die Schule, besonders Schüler und Elternschaft, werden der Öffentlichkeit als eine elitäre Gemeinschaft vorgestellt, sodass jeder, der zu dieser Elite gehören möchte, auf den Namen der Schule zu achten hat. Gleichzeitig wird stillschweigend unterstellt, dass die Schule an der Pflege und Entwicklung des Habitus beteiligt gewesen sei, und zwar durch Vermittlung von Bildungsgütern, besonders aus dem Bereich von Wissenschaft und Kunst. Schulfeste sind eine Plattform zur Demonstration curricularer und extracurricularer Kompetenzen. Für die Eltern und für die Öffentlichkeit können die Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bereich von Stil und Form das fächerspezifische Wissen an Bedeutung durchaus übertreffen. Dementsprechend stehen bei Festen die Schülerinnen und Schüler selbst und nicht die Lehrkräfte im Vordergrund. Sie zeigen sich in der Öffentlichkeit als autonome Akteure, möglicherweise auch als selbstsichere und gewandte Gastgeber, die ihre Fortschritte auf dem Weg zum Erwachsenwerden gerade dann unter Beweis stellen, wenn es nicht um Noten und Zeugnisse geht. 8.5 Charity-Aktionen 8.5 Charity-Aktionen Als Charity-Aktionen sollen Veranstaltungen gelten, die mit dem Zweck durchgeführt werden, Geld oder Sachspenden zu sammeln bzw. Sponsoren und Helfer öffentlich zu ehren. Mit der Verschlankung des Staates im Rahmen des New Public Management und der Privatisierung vormals öffentlicher Tätigkeitsfelder hat sich die Zelebrierung von Altruismus als Bestandteil der Alltagskultur entwickelt; im Kontext institutionalisierter, regelmäßig stattfindender Ereignisse 4
So stellt Fend bereits zu Beginn der 80er Jahre fest, dass 1. allgemeine Einstellungen und Qualifikationen wie Mobilität, Flexibilität und Lernbereitschaft, 2. überfachliche Qualifikationen im Sinn allgemeiner Arbeitstugenden (Verlässlichkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit) und 3. überfachliche Orientierungen, vor allem die Akzeptanz der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, wichtiger werden als das „konkrete Arbeitsvermögen“. Vgl. Fend 1981, 24; ähnlich auch Lange 2005, 78
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wird Gemeinsinn und damit auch die Bereitschaft, für gemeinnützige Zwecke zu spenden, zunehmend vor Publikum demonstriert. „Social Marketing … scheint … zu einer zentralen Handlungsmaxime von um die Aufmerksamkeit und Gunst von Konsumenten und wohltätigen Spendern buhlenden Organisationen geworden zu sein“ (Baringhorst 2006, 248). Von dieser Erwartung, soziale Verantwortung zu zeigen, sind auch kollektive Akteure nicht befreit. Bildungsorganisationen, die sich nicht mehr als Instrumente zur Durchsetzung staatlicher Hoheitsansprüche verstehen, sondern als Dienstleistungsorganisationen, die untereinander im Wettbewerb stehen, machen in der Öffentlichkeit ihr Engagement für das Gemeinwohl deutlich. Dazu gehört, dass Schulleitungen und Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern und Förderer für die Angelegenheiten ihrer Schule oder für andere, finanziell schlechter gestellte Schulen sowie für weitere gemeinnützige Anliegen Sammlungen durchführen. Schulen können durch ein freiwilliges Engagement Aufmerksamkeit auf sich lenken. Bei der Erforschung der bereits erwähnten Nachrichtenfaktoren hat sich gezeigt, dass Informationen dann zur veröffentlichten Nachricht werden, wenn sie auf einen möglichen Schaden hinweisen (Galtung/Ruge 1965, Schulz 1990, Burkart 2002). Mit der Mobilisierung von Spenden wird auf Gefahren hingewiesen, werden mögliche negative Entwicklungen für das Gemeinwesen deutlich gemacht; gleichzeitig wird hervorgehoben, dass die Krise abzuwenden ist und dass man sich – dank der Unterstützung durch die Sponsoren – auf dem besten Weg dorthin befindet. Die Berichterstattung über die Spende ist also die schlechte und die gute Nachricht in einem. Wenn zum Beispiel Jugendliche Geld für einen sozialen Zweck sammeln, etwa für die Anlage von Brunnen in Ländern, die unter Dürre leiden, dann sind Probleme benannt, mit denen sich die Gesellschaft auseinandersetzen muss. Mit der Spendenaktion, die eine Schule – oft entsprechend ihrer speziellen unterrichtlichen Schwerpunktsetzungen – veranstaltet, ist die Gefahr, die ein durch Spenden finanziertes Eingreifen signalisiert, also zum Beispiel die Erderwärmung, nicht mehr ganz so bedrohlich. Denn schließlich kann jeder, der sich engagieren möchte, mit seiner Spende dazu beitragen, dass das aktuelle oder noch zu erwartende Übel verringert wird. Kommerzielle Unternehmen, die Verbrauchsgüter auf dem Markt anbieten, verbinden mit altruistischen Aktivitäten die Funktion der Werbung. Strategien, die darauf ausgerichtet sind, einer Marke ein soziales Image zu verschaffen, werden in Fachkreisen als „responsible marketing“, als „social marketing“ oder auch als „corporate citizenship“ bezeichnet. Wenn es darauf ankommt, dem Verbraucher mit dem Kauf eines Produkts ein gutes Gewissen zu verschaffen, so empfiehlt es sich, nicht nur auf den Gebrauchswert einer Ware zu setzen. Wird ein Teil des Erlöses für gemeinnützige Zwecke, etwa den Schutz des Regenwaldes, zur Verfügung gestellt, dann gibt das Unternehmen dem Käufer das
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Gefühl, dass nicht nur er selbst aus dem Kauf einer Ware Nutzen zieht, sondern dass auch andere profitieren. Für Produzenten und Konsumenten ist die Sozialverträglichkeit von Gütern und Dienstleistungen wichtiger geworden; Unternehmen, die diese Art von Verantwortlichkeit ignorieren, können schnell zum Opfer eines Verbraucherboykotts werden. Darüber hinaus gewinnt responsible marketing an Bedeutung, weil mit Hilfe dieser Strategie ein sozialer ‚Mehrwertދ geschaffen wird, was besonders für solche Organisationen wichtig ist, deren Güter sich wenig abheben von dem, was die Konkurrenz produziert, die sich also mehr als andere dem Zwang zur Profilierung und Imagebildung ausgesetzt sehen (Röttger 2006, 12). Das Unternehmen, das Kunden zu einer Spende veranlasst, wertet seine Reputation auf, was wiederum zu höheren Umsätzen führt. Auch Schulen können, ebenso wie kommerzielle Organisationen, responsible marketing betreiben, indem sie sich als Beschaffer von Geld und Sachleistungen zur Verfügung stellen. Dabei kommen als Nutznießer unterschiedlichste Einrichtungen und Kollektive infrage. Neben ortsansässigen sozialen Einrichtungen sind es auch und gerade solche Objekte, die eine geografische und kulturelle Distanz aufweisen. Die Spendentätigkeit der Schule dient nicht nur – wie bei kommerziellen Unternehmen – der Sympathiewerbung; vielmehr weisen Benefiz-Veranstaltungen auch einen Bedeutungszusammenhang zum Bildungsanspruch der Schule auf. Soziales Engagement zu zeigen, und dazu gehört auch, sich für Menschen einzusetzen, die nicht einmal mit dem Lebensnotwendigen versorgt sind, entspricht einer Erwartung der Öffentlichkeit gegenüber der jungen Generation. Charity-Aktionen sind somit ein Nachweis erfolgreicher Bildungsarbeit. Das heißt, dass für Schulen Hilfsprogramme, die von ihnen initiiert werden, sei es für Notleidende vor Ort oder für Krisenregionen auf der ganzen Welt, von Nutzen sind, weil auf sehr sinnfällige Weise Bildungseffekte deutlich werden. Wenn sich die von ihnen pädagogisch betreuten Schülerinnen und Schüler für humanitäre Ziele einsetzen, dann kann demonstriert werden, dass die curricularen und extracurricularen Aktivitäten der Schule ‚den Charakter prägenދ. Während in der Produktwerbung das Engagement für das Gemeinwohl immer fragwürdig bleibt (Schlichting/Röttger 2006), weil die Öffentlichkeit weiß, dass es prinzipiell doch um eine Umsatzsteigerung für das beworbene Gut geht, hat die Offenheit, der Idealismus und die Authentizität der jungen Menschen, die sich im Namen ihrer Schule für Charity-Programme einsetzen, einen ganz anderen Symbolwert. Den Schülerinnen und Schülern wird geglaubt, dass es ihnen nicht um persönliche Vorteile geht und dass sich in ihrer Biografie ein – für die Allgemeinheit erfreulicher – Entwicklungsprozess vollzogen hat. Wenn es sich dabei um Hilfe für Menschen in fremden, vielleicht auch exotischen Regionen handelt, dann brin-
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gen Charity-Aktionen nicht nur Altruismus und soziale Verantwortung, sondern zusätzlich auch Weltoffenheit und kulturelle Kompetenz zum Ausdruck. Besonders bei Schülerinnen und Schülern hochselektiver Bildungsinstitutionen ist allerdings zu beobachten, dass sie für Objekte im Nahbereich der Schule aktiv werden. Dazu gehören zum Beispiel lokale Einrichtungen für behinderte und alte Menschen oder Organisationen wie die Feuerwehr und der Katastrophenschutz, für die Spenden gesammelt oder Arbeitsleistungen erbracht werden. Das Eintreten für die sozialen Belange vor Ort hat für diese Schulen den Vorteil, dass sie Nachbarschaftsorientierung zum Ausdruck bringen: Man zeigt vor der Öffentlichkeit, dass man sich nicht isolieren möchte, ja dass man sich als Teil eines größeren Ganzen versteht. Mit der Herstellung von Gegenständen, die auf Basaren zugunsten örtlicher Einrichtungen verkauft werden, mit dem Auftritt des Schulchores oder des Schulorchesters bei den Jubiläen lokaler Institutionen, mit der Übernahme von ‚Diensten ދim Umfeld der Schule soll gezeigt werden, dass Lehrer, Schüler und Eltern die Bedeutung des Gemeinwesens, zu dem sie gehören, anerkennen und sich mit den Betroffenen, denen die Hilfeleistungen zugute kommen, solidarisch fühlen. Die Schule gliedert sich in einen gesellschaftlichen Mikrokosmos ein und weist mit ihren Aktionen darauf hin, dass sie ein aktives Mitglied dieser ‚Gemeinschaft ދsein möchte. Schüler und Lehrer integrieren sich symbolisch in eine Nachbarschaft, auch wenn die Kontakte im Allgemeinen, also außerhalb bestimmter Anlässe, selten sind. Die künftige Elite – so die Botschaft an die Öffentlichkeit – zeigt sich nicht nur mit breiten Bevölkerungsschichten verbunden, sondern respektiert darüber hinaus die regionale Kultur, das Brauchtum und deren Träger, also die örtliche Honoratiorenschaft. Sie beteiligt sich mit künstlerischen, musikalischen und sportlichen Beiträgen am Gemeinschaftsleben und beeindruckt die ortsansässige Bevölkerung mit dem Habitus von Freundlichkeit und Offenheit. Die Schule macht deutlich, dass es ein Verhältnis des gegenseitigen Respekts gibt und dass sich auch die künftigen Führungskader mit den Lokalgrößen sowie der einfachen Bevölkerung verbunden fühlen. Mit den Mitteln der symbolischen Pädagogik wird also der Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass soziales Engagement, Verantwortung für das Gemeinwesen, ja für die Nöte eines jeden zu den Charaktermerkmalen gehört, auf deren Förderung die Bildungsarbeit der Schule besonders abzielt. Gleichzeitig ist aber die soziale Distanz von Angehörigen exklusiver Schulen zu der ortsansässigen Bevölkerung groß genug, um diese Hilfsaktionen überhaupt als etwas Besonderes, eben als altruistische Aktion, in Erscheinung treten zu lassen. Würden andere, weniger selektive Schulen derartige Kontakte pflegen und Schülerinnen und Schüler sich an Gemeinschaftsaufgaben vor Ort beteiligen, dann handelte es sich um ein zivilgesellschaftliches Engagement, das, weil es unter Jugendlichen
8.5 Charity-Aktionen
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zur Alltagspraxis gehört, nicht zur Reputation der Schule beitrüge. Würden die Jugendlichen zu der Gemeinschaft, für die sie sich einsetzen, ohnehin schon dazugehören, dann könnte die Schule nicht für sich in Anspruch nehmen, bildend zu wirken. Sofern in den außerschulischen Kontakten, in der Lebenswelt der Schulangehörigen, Solidarität eingefordert würde, bedürfte es dazu keiner besonderen Impulse durch Schulleitung und Lehrerschaft. Das bedeutet, dass erst durch die soziale Differenz sich die Aktivitäten der Schüler für Inszenierungen im Rahmen der symbolischen Pädagogik eignen. Denn es ist nicht das ,Do ut des‘, das innerhalb einer Gruppe eingefordert werden kann. Nur unter dem Vorzeichen der Exklusivität verdient der Einsatz für die lokale Gemeinschaft Beachtung. Die Charity-Aktionen, die von einer elitären Minderheit veranstaltet werden, sollen deutlich machen, dass es keinen Standesdünkel gibt, dass man sich vielmehr der gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist und dass diese wichtiger ist als alle hierarchischen Unterschiede. Solidarität stellt also auf abstrakt-begrifflicher Ebene eine Einheit her, die sozial nicht vorhanden ist, sondern nur in Ausnahmesituationen oder zu besonderen Anlässen zustande kommt. Wenn Lehrerschaft und Schulleitung auf Unterstützungsleistungen ihrer Klientel im sozialen Nahraum Wert legen, dann soll damit gezeigt werden, dass ihre pädagogischen Ziele zu praktischen Resultaten führen. Das Engagement für kommunale Angelegenheiten ist nicht zuletzt ein Versprechen der Absolventen, nach Beendigung der Schule – vielleicht auch im größeren Maßstab – unabhängig vom Eigennutz für gesellschaftliche Aufgaben da zu sein. Die künftigen Führungskader denken – so der auf diese Weise vermittelte Eindruck – nicht nur an sich; die Orientierung am gesellschaftlichen Ganzen, die zunächst in der freiwilligen Übernahme kleinerer Aufgaben, also als Ad-hoc-Altruismus zum Ausdruck kommt, wird, so die naheliegende Schlussfolgerung, auch später Bestand haben und sich bei größeren Projekten bemerkbar machen, ja das berufliche und gesellschaftliche Handeln generell auszeichnen. Die Öffentlichkeit wird davon überzeugt, dass Privilegierte durch Benefiz-Aktionen zum Wohl aller wirken, dass sie es also verstehen, ihren persönlichen Nutzen mit dem der Allgemeinheit zu verbinden. Zur Spendenkultur gehört in exklusiven Schulen die auch in der Öffentlichkeit kommunizierte Argumentationsfigur des ‚Zurückgebensދ, nach der es die Dankesschuld sei, die dazu veranlasse, anderen zu helfen. ‚Zurückgeben ދbedeutet in diesem Sinnkontext, dass diejenigen Unterstützung finden, die vom Schicksal weniger bevorzugt sind. Die Gruppe der Privilegierten zeigt – diesem Konstrukt entsprechend – soziale Verantwortung: Das, was sie von der Gesellschaft bekommt, gibt sie an die Gesellschaft zurück. Damit wirkt sie auch einem Gerechtigkeitsdefizit entgegen: Dass eine Minderheit ihrem Nachwuchs aufgrund privater Einkommens- und Vermögensverhältnisse die Inanspruchnahme
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von – tatsächlich oder vermeintlich – besonders qualifizierten Bildungsinstitutionen ermöglicht, könnte Widerstände in der Öffentlichkeit hervorrufen, zumal wenn der Staat als Zuschuss- und Lizenzgeber in Anspruch genommen wird. Mit Charity-Aktionen entlasten Eltern den Staat; ebenso engagieren sich ihre Nachkommen, die Schülerinnen und Schüler, für gemeinnützige Projekte. Schüler und Eltern – so die Botschaft an die Öffentlichkeit – sind sich ihrer privilegierten Stellung bewusst und tragen – auf freiwilliger Basis – zum Ausgleich von Lasten bei. In allen Kulturen ist, wie Mauss (1990) feststellt, die „Gabe“ eine Art symbolischer Gegenleistung, mit der man sich für empfangene Dienste „revanchiert“ und mit der das Konstrukt eines gerechten Austauschs, des Gebens und Nehmens zwischen Gruppen, aufrechterhalten wird. Exklusive Schulen wirken mit ihrem Engagement für sozial Schwächere dem Neid entgegen, der sich angesichts der Privilegien ihrer Klientel ergeben könnte. Der Imageeffekt von Charity-Aktionen wird durch Prominente noch erhöht. Neben Schülerinnen und Schülern sind Prominente, die sich als Mitwirkende oder Spender zur Verfügung stellen, von besonderem Wert für das Bild der Schule in der Öffentlichkeit. Prominenz hat sich als ein wichtiger Nachrichtenfaktor erwiesen: Zur Verbreitung von Informationen trägt besonders bei, wenn bereits bekannte Persönlichkeiten mit einem Vorkommnis in Verbindung gebracht werden können (vgl. Kap. 8.2). Das heißt, dass das gleiche Ereignis, das vielleicht sonst von den Medien ignoriert würde, zu einer wichtigen Meldung wird, wenn bedeutende Zeitgenossen daran beteiligt sind. Daher ist es attraktiv, herausragende Persönlichkeiten als Sammler, als Laudatoren und als Sponsoren zu gewinnen. Exklusive Schulen können Prominente leicht aus den sozialen Netzwerken, in die sie integriert sind, rekrutieren. Möglicherweise gehören auch die Eltern der Schüler oder erfolgreiche Absolventen zur Prominenz. In den Schulen der sozial Benachteiligten dagegen gibt es keine Aktionen, bei denen Eltern oder Schüler als Sponsoren in Erscheinung treten könnten. Dementsprechend stehen diese Schulen auch nicht im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Die Schulen der Marginalisierten kommen höchstens als Objekte von Benefiz-Veranstaltungen infrage und finden in den Medien nicht unter dem Vorzeichen des Erfolges, sondern des Misserfolges, der Not und möglicher Gefahren Beachtung. Als Empfänger von gemeinnützigen Zuwendungen können diese Institutionen nicht in gleichem Maß mit der Stärkung ihrer Reputation rechnen, wie das bei den Schulen der Spender der Fall ist. Auch wenn mit der Übergabe von Geld oder Sachmitteln die Förderungswürdigkeit hervorgehoben wird, so ist doch die von den Privilegierten für die Unterprivilegierten durchgeführte Charity-Aktion mit dem Eingeständnis verbunden, dass die begünstigte Schule hilfsbedürftig ist und dass die staatlichen Zuteilungsapparaturen ihre Prioritäten anders setzen. Alltagstheoretisch stehen für diesen Objektstatus Er-
8.6 Projekte
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klärungen zur Verfügung, die interessengeleitet und damit ideologisch sind: Andere Eltern und andere Schüler erscheinen aktiver, engagierter und verantwortungsbewusster als die der Empfängerschulen. Selbst wenn jeder weiß, dass deren Ressourcen bzw. die ihrer Klientel nicht ausreichen, um Geld oder Sachmittel, sei es für die Schule selbst, sei es für andere gemeinnützige Zwecke zur Verfügung zu stellen, steht in der Öffentlichkeit das Konstrukt im Vordergrund, dass Eltern und Schüler durch ein höheres Maß an Lethargie gekennzeichnet sind und dass sie mehr an sich selbst, nicht an ihre Verpflichtungen gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen denken; die Schulen bleiben isoliert, weil es ihnen nicht einmal gelingt, das Interesse der Beteiligten an den eigenen Schulangelegenheiten wachzurufen. 8.6 Projekte 8.6 Projekte Als ‚Projekte ދsollen im Kontext des Schulgeschehens längerfristige gemeinsame Aktivitäten von Schülern, Lehrern und/oder Experten bezeichnet werden, die auf ein während dieser Zeitspanne zu erreichendes pädagogisches und praktisches Ergebnis gerichtet sind. Projekte finden innerhalb und außerhalb des regulären Unterrichts statt. Sie können in pädagogischer Hinsicht auf die Lernziele eines Faches, auf fächerübergreifende Kompetenzen oder auf allgemeine Bildungsziele bezogen sein. Zu Projekten gehört, dass Schülerinnen und Schüler an der Entwicklung der Aufgabenstellung, der Organisation ihrer Tätigkeiten und der Realisierung des Ziels verantwortlich mitarbeiten. Das bedeutet, dass auch die Initiative zu einem Projekt nicht notwendig von dem für den Unterricht verantwortlichen professionellen Personal kommen muss. Mit Projekten sollen also nicht nur Aktionen im Rahmen des Projektunterrichts gemeint sein, sondern auch andere Formen einer ergebnisorientierten, befristeten Kooperation, die von einer Schule initiiert oder getragen wird, an der sich die Angehörigen einer Schule beteiligen und die ganz oder teilweise auf dem Gelände bzw. in den Räumen einer Schule stattfindet. Als Projekt kann zum Beispiel die Planung und Einstudierung eines Bühnenstücks, die Organisation von Partnerschaften mit Schulen im Ausland, die geplante und mit Vorleistungen verbundene Aufnahme in eine internationale Organisation, die Anlage eines Schulgartens oder die Renaturierung einer Landschaft gelten. Wenn zu den bereits dargestellten Nachrichtenfaktoren auch der tatsächliche bzw. der mögliche Nutzen oder Erfolg gehören, dann können Projekte, und zwar mehr als der Regelunterricht, zu Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden. Projekte eignen sich für die Demonstration pädagogischer Effizienz vor allem dadurch, dass über die bei den einzelnen Teilnehmern ver-
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8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
muteten, aber nicht belegbaren Veränderungen hinaus ein für alle sichtbares Ergebnis in den Vordergrund gestellt wird. Die Rechtfertigung des gemeinsamen Tuns besteht zwar in einem pädagogischen Effekt, also in der Beeinflussung des Entwicklungsprozesses von Heranwachsenden; die Motivation der beteiligten Schülerinnen und Schüler dagegen geht von dem aus, was durch die Kooperation direkt erreicht werden soll. Das gemeinsame Vorhaben ist also auf eine Praxis ausgerichtet, die nicht nur eine pädagogische Wirkung, sondern auch einen unmittelbaren Nutzen hat. Schülerinnen und Schüler beteiligen sich an einem Projekt nicht deswegen, weil sie etwas lernen wollen; vielmehr haben sie Interesse an einer Sache, das heißt an den mit dem Projekt verbundenen Zweckmäßigkeiten. Auch Noten stehen für die Motivation nicht im Vordergrund, was sich ja darin zeigt, dass auch solche Projekte attraktiv sein können, für die keine Benotung erfolgt. Entscheidend für die Mitarbeit an einem Projekt ist, dass zusammen mit anderen eine Leistung erbracht wird, die ihre Bedeutung in der Lebenswelt hat, also nicht nur ‚akademisch ދsinnvoll erscheint. Für die mediale Berichterstattung sind abstrakte Ergebnisse pädagogischer Interaktion wenig attraktiv. Im Gegensatz dazu stehen Resultate des Schulgeschehens, die der alltäglichen Erfahrung zugänglich sind. Eben aus diesem Grund sind lebensnahe Aktivitäten – Projekte – mehr als der übliche Unterricht dazu geeignet, sowohl die Aufmerksamkeit der Schulangehörigen als auch der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Projekte können mit den Kategorien der Alltagswirklichkeit erfasst werden, sind also nicht nur mit der Logik eines Faches zu begreifen, also zum Beispiel dem Erreichen bestimmter Lernfortschritte nach Maßgabe didaktischer Erwägungen. Während die Ziele, die im Rahmen des Regelunterrichts gesetzt werden, der Systematik einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer Fachdidaktik folgen, führt die Projektmethode zur Produktion eines bündigen ‚Werkstücksދ, dessen Sinn auch von einem pädagogisch unkundigen Publikum nachvollzogen werden kann. Projekte haben aufgrund ihrer begrenzten Dauer ein mehr oder weniger dramatisches Ende, das in der Vollendung eines Produktes – möglicherweise auch in einem Fehlschlag – besteht. Das Produkt unterscheidet sich qualitativ von allem, was in vorherigen Phasen erreicht wurde, und zwar weil es erst nach Beendigung der Projektarbeit genutzt werden kann. Der Zeitpunkt der Fertigstellung ist also deutlich markiert; erst in dem fertigen Produkt kommen alle Absichten, alle Bestrebungen, kommen Wissen und Können zum Ausdruck. Projekte sind, im Gegensatz zum Unterricht in einzelnen Fächern, zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen, weil das Produkt ‚fertig ދist. Das Produkt ‚funktioniertދ, das heißt die selbst konstruierte Maschine läuft, der renaturierte Bach folgt dem vorgesehenen Wasserlauf, das Theaterstück wurde erfolgreich aufgeführt und für die Ausstellung im Rahmen eines historischen Projekts sind
8.6 Projekte
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alle vorgesehenen Exponate beisammen, wenn die Projektarbeit erfolgreich war. Für den Fachunterricht dagegen gibt es nur willkürlich gezogene zeitliche Grenzen, sodass nie ein endgültiges Ziel erreicht wird. Der Wert eines Projektes hängt also nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, ein Ergebnis zu erzielen, das in instrumenteller oder künstlerischer Hinsicht überzeugt. Ob sich ein Projekt gelohnt hat, lässt sich erst mit dem Ergebnis entscheiden. Projekte haben von der Anlage her einen Verlauf, der einem Höhepunkt zutreibt. Von daher sind Projekte auf Publizität angelegt. Die Öffentlichkeit ist interessiert, weil der Anspruch erhoben wird, dass aus der konzentrierten Zusammenarbeit etwas Besonderes hervorgeht. Gerade zu diesem Zeitpunkt, nämlich dem der Fertigstellung, wird die Öffentlichkeit zur Bestätigung des Erfolges hinzugezogen. Das Publikum wird Zeuge des Ungewöhnlichen. Projekte produzieren somit Ereignisse und passen zur Handlungsorientierung der „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992). Mit Hilfe von Projekten ist es möglich, die Mediennutzer mit eindrucksvollen Bildern, Geschichten und Statements zu versorgen, gleichzeitig aber unterschwellig Botschaften über pädagogische Vorgänge, Absichten und Wirkungen zu vermitteln. Projekte eignen sich als Ausdrucksformen symbolischer Pädagogik, weil sie pädagogische Prozesse konzentrieren und sinnfällig zum Ausdruck bringen. Daher gehören zu den Projektbeschreibungen, die an die Öffentlichkeit weitergegeben werden, auch Informationen über die geopferte Freizeit der Beteiligten, ihr Engagement und die im Zuge der Projektarbeit zu bewältigenden ‚produktiven ދKrisen. Hintergrundstories zu einzelnen Abschnitten der Kooperation, zu persönlichen Ereignissen und Schwierigkeiten sind geeignet, den ‚Geist ދder Organisation, die Besonderheiten ihrer Pädagogik und ihre pädagogische Effizienz zum Ausdruck zu bringen.5 Wenn Schülerinnen und Schüler Verantwortung übernehmen und initiativ werden, wenn sie etwas leisten und mit ihren Talenten beachtet werden möchten, ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit leicht zu erreichen. Selbstverständlich werden solche Initiativen mehr von den Schülerinnen und Schülern exklusiver und selektiver Schulen erwartet. Das heißt aber nicht, dass ein positives Engagement in anderen Schulen, zum Beispiel den Schulen in ärmeren Wohngegenden, von der Öffentlichkeit ignoriert würde. Ganz im Gegenteil: Projekte, die von Schülerinnen und Schülern getragen werden, von denen man weiß, dass sie aus ‚sozial schwachen‘ Verhältnissen kommen, führen zu starker Beachtung. Sie 5
Geschichten zu finden, die den ‚Geist ދeines Betriebes anschaulich wiedergeben, und diese in der Öffentlichkeit zu verbreiten, gehört zu den wichtigsten Strategien der Öffentlichkeitsarbeit. Dazu gehören auch die Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen die ‚Helden ދdes Unternehmens konfrontiert werden, und die besonderen Fähigkeiten, die sie in die Lage versetzen, alle Herausforderungen zu meistern. Vgl. Fog/Budtz/Yakaboylu 2005, 62 ff.
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8 Zwischen Authentizität und Inszenierung
finden die Aufmerksamkeit der Medienakteure, weil sie ungewöhnlich, ja sensationell sind, den Erwartungen der Öffentlichkeit widersprechen und darüber hinaus eine positive Valenz aufweisen. Das Musical, das von Schülerinnen und Schülern – zusammen mit dem Lehrpersonal und eigens engagierten Musik- und Tanzpädagogen – in der Schule eines ärmeren Stadtteils einstudiert wird, gilt als ein berichtenswertes Ereignis, weil es zeigt, dass auch diese Jugendlichen bereit sind, sich zu disziplinieren und sich planvoll für die Erreichung eines gemeinsamen Ziels einzusetzen. Allerdings wird es den Schulen der Benachteiligten nicht in gleichem Maß möglich sein, ein gelungenes Projekt für sich zu reklamieren. Es sind – dem Konstrukt nach – nicht die Schülerinnen und Schüler selbst, die eine Idee gehabt haben, und es sind nicht die Eltern, die das Vorhaben unterstützen und ihre Freizeit opfern. Dementsprechend ist es auch nicht die Eigeninitiative der Jugendlichen, die in den Vordergrund gestellt wird, sondern eher die Motivation, mit der sie den Anregungen von Lehrern oder Außenstehenden folgen. Das heißt, dass sich die Berichterstattung auf charismatische Erwachsene konzentriert, auf Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sowie sozial engagierte Künstler und andere Persönlichkeiten, die sich – tatsächlich oder vermeintlich – über das professionell übliche Maß hinaus für Benachteiligte einsetzen. Auch Behörden und Nonprofit-Organisationen haben in den Geschichten und Bildern, die in der Öffentlichkeit zu den Projekten von Marginalisierten kursieren, einen vergleichsweise hohen Anteil. Die unterschiedliche Attribuierung von Leistungen und Verdiensten zeigt, dass nicht nur in Hinblick auf Charity-Aktionen, sondern auch bezüglich pädagogisch motivierter Projekte die exklusive Schule in der Öffentlichkeit eher als (kollektives) Subjekt wahrgenommen wird, die Schule von sozial Benachteiligten dagegen mehr als Objekt. Das bedeutet, dass die einen – dem Anschein nach – selbst aktiv werden, während die anderen erst aktiviert werden müssen. Entsprechend gibt es kontrastierende Bilder von ‚Jugendދ. In der positiven Version ist Jugend aktiv und kreativ; in der negativen Version ist Jugend passiv und konsumorientiert. Exklusive und selektive Schulen können – so scheint es – aktiv die Zukunft gestalten, während in den Schulen der Benachteiligten – im positiven oder im negativen Sinn – ‚etwas passiert ދoder ‚etwas los istދ. Die exklusive Schule sorgt für öffentliche Aufmerksamkeit, indem sie mit geplanten Ereignissen im Gespräch bleibt. (Hochschulen haben sogar Presseabteilungen, die sich auf diese Aufgabe konzentrieren und dabei ihr professionelles Instrumentarium zur Anwendung bringen.) Bei den Schulen der Benachteiligten sind öffentlichkeitswirksame, mediengerecht gestaltete Ereignisse eher die Ausnahme. Die Beteiligung an Projekten, ob von der Schule oder von anderen Personen und Gruppen initiiert, ist vor dem Hintergrund eines negativen Bildes von Jugendlichen eine Besonderheit, die für kurze Zeit Publizität erlangt. Die Schul-
8.6 Projekte
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leitung und die Lehrkräfte der nichtselektiven Schulen müssen in der Regel froh sein, wenn sie nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Es sind vor allem die ungewollten, ‚genuinenދ, nicht die inszenierten und mediatisierten Ereignisse, durch die diese Schulen in den Fokus medialer Berichterstattung gelangen. Selbst wenn Medienakteure bemüht sind, nicht zu verallgemeinern, entsprechen doch ihre an die Öffentlichkeit getragenen Informationen den schon vorhandenen Stereotypen: Der journalistische Hinweis, das Negativbild gelte keineswegs für alle Jugendlichen, lässt eine salvatorische Absicht erkennen, wird doch auf diese Weise legitimiert, dass umso intensiver über ‚besorgniserregende ދErscheinungen informiert werden kann. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Berichterstattung über Schulen je nach sozialer Zusammensetzung der Schüler deutliche Differenzen aufweist. Positiv bewertete Veranstaltungen finden häufiger in Schulen mit wohlhabender Elternschaft statt. In der medialen Darstellung sind Projekte in diesen Schulen auf die Initiative der Schüler zurückzuführen; handelt es sich dagegen um Schüler mit einem problematischen familiären Hintergrund, so wird in der Berichterstattung davon ausgegangen, dass es sich um Impulse von Erwachsenen handelt, denen es gelingt, die Schülerklientel aus ihrer Passivität ‚herauszureißen ދund in die Projektarbeit ‚einzubindenދ. Auf der einen Seite – so scheint es – drängen junge Talente in die Öffentlichkeit, auf der anderen Seite werden Jugendliche angesprochen und zum Mitmachen bewegt. Aktionen und Projekte in der Schule der Privilegierten sollen zeigen, was ‚in den Jugendlichen stecktދ, Projekte in einem Problemstadtteil dagegen halten Jugendliche in erster Linie von etwas ab, nämlich von den Gefahren, denen sie – tatsächlich oder vermeintlich – sonst ausgesetzt wären. Über die einen wird unter dem Vorzeichen der Konsonanz berichtet, da ja immer – bei entsprechend erfolgreichen Eltern und hervorragender pädagogischer Betreuung – etwas Besonderes zu erwarten ist; bei den anderen ist es die – in diesem Fall positive – Überraschung, die zu einer Meldung veranlasst. Wird also über Schülerinnen und Schüler in sozialen Brennpunkten berichtet, so macht sich das Negativkonzept von Jugend auch dann noch bemerkbar, wenn der Tenor der Meldung wohlwollend und optimistisch ist.
9 Szientifische Konstrukte
9.1 Pädagogik und Öffentlichkeit 9.1 Pädagogik und Öffentlichkeit Im Folgenden soll davon ausgegangen werden, dass die Pädagogik als eine für institutionalisierte Erziehung und Bildung zuständige Wissenschaft seit ihrer Entstehung eine Kontrollfunktion für Beschreibungen und Bewertungen, die sich auf die Schule beziehen, wahrnimmt. Wie auch immer das Selbstverständnis dieser Wissenschaft sein mag, so wird sie doch in einer differenzierten, rational orientierten Gesellschaft für Fragen der Erziehung und Bildung in Anspruch genommen. Das heißt, dass andere Institutionen, Organisationen, Kollektive und Individuen mit ihren Stellungnahmen zu Bildungsfragen keine Resonanz finden, wenn sie nicht die aktuellen Strömungen der Pädagogik und die Meinung ihrer Experten berücksichtigen. Erziehungs- und Bildungswissenschaftler haben entscheidenden Einfluss an der öffentlichen Meinungsbildung, wenn die Schule im Fokus der Öffentlichkeit steht. Argumentationen, die in medial geführten Bildungsdiskursen vorgebracht werden, müssen sich mit den Ansichten anerkannter Experten decken, um nicht mit dem Hinweis auf mangelnde Wissenschaftlichkeit ausgehebelt zu werden. Dass die Pädagogik erfolgreich ihre Zuständigkeit für Bildungsinstitutionen reklamieren kann, ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man an machtvolle Konkurrenten der Vergangenheit, zum Beispiel an die Theologie und die Philosophie denkt. Jedoch wird der Einfluss der Erziehungs- und Bildungswissenschaft auf die öffentliche Meinungsbildung durch die Unterschiedlichkeit der theoretischen und methodischen Ansätze sowie die Widersprüchlichkeit vieler Erkenntnisse eingeschränkt. So könnte man sich fragen, ob eine eigenständige Wirkung der Pädagogik als Wissenschaft überhaupt möglich ist. Aus der Binnenansicht des Faches mag es sich so darstellen, als ob die Differenzen in der Methodologie und in der Theoriebildung zu groß wären, als dass erziehungswissenschaftliche Impulse, Standpunkte und Forschungsergebnisse eine bestimmte Richtung vorgeben könnten. Allerdings werden bei einer solchen Selbstwahrnehmung viele Gemeinsamkeiten übersehen: Dass auch die Pädagogik bzw. die Bildungs- und Erziehungswissenschaft eine Konsensbildung zulässt, die mehr oder weniger die gesamte ScientificCommunity einschließt, zeigt sich schon in dem, was bei der Beschreibung der
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wissenschaftlichen Vergangenheit als ‚überholt ދgilt. Das heißt, dass es bei der diskursiven Aneignung der Klassiker Übereinstimmungen im Verständnis des Zeitgemäßen gibt. Derartige konsensorientierte Rezeptionsprozesse, die sich auf alle Teilgebiete, Theorieansätze und akademischen Schulen auswirken, richten sich – in Analogie zur Geschichte der Naturwissenschaften – auf die Identifikation von Erkenntnisfortschritten. Ob es eine Kumulation von empirischen Befunden und theoretischen Erkenntnissen, die neue Sichtweisen und Problemlösungen erzwingen, im Rahmen der Geistes- und Sozialwissenschaften geben kann, mag fraglich erscheinen. Nichtsdestoweniger sind in der Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, die Erziehungs- und Bildungswissenschaftler vornehmen, Gemeinsamkeiten zu erkennen. Ein derartiger schul- und richtungsübergreifender Konsens betrifft zum Beispiel die Entaktualisierung von Erkenntnissen. Denn mit der Entscheidung über das, was als ‚überholt ދzu gelten hat, wird ja auch festgestellt, was zeitgemäß ist oder sein könnte. Die auf Konvergenz zustrebenden Kräfte in der Wissenschaft zeigen mit anderen Worten ihre Wirksamkeit in der Festlegung einer Agenda. Die in den Sozial- und Geisteswissenschaften, nicht zuletzt auch in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft erkennbaren Selektionsprozesse, mit denen die Aufmerksamkeit auf eine Liste aktueller Themen gerichtet wird, sind von der öffentlichen Meinung nicht unbeeinflusst, und zwar allein deswegen, weil die so in Gang gesetzten Forschungen mit der Art des Denkens, mit den Methoden der Erkenntnisgewinnung, vor allem aber mit ihren Begrifflichkeiten die Öffentlichkeit nicht ausschließen. Das heißt, dass die allgemeinen öffentliche Diskurse einerseits und die wissenschaftlichen andererseits nicht so trennscharf sind, dass es nicht zu Kongruenzbereichen käme. So ist immer wieder zu beobachten, dass Paradigmen der Sozial- und Geisteswissenschaften mit Anschauungen, Problemstellungen und -lösungen im kulturellen Bereich, ja auch mit Eigentümlichkeiten des Lebensstils und der Ästhetik Übereinstimmungen aufweisen, obwohl diese nicht von der Sache selbst bestimmt sind, sondern eher eine bestimmte, für die Zeit typische Stimmung beschreiben, weshalb ja auch in einem übergreifenden Sinn gelegentlich von ‚Moden ދgesprochen wird. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften handelt es sich in den ‚Kulturwissenschaften ދnicht um einen weitgehend autonomen, durch die innere Dynamik des Paradigmen- und des Erkenntnisfortschritts vorangetriebenen Prozess, sondern um eine Entwicklung, die im Dialog steht mit allgemein öffentlichen, zum Teil auch politischen Diskursen.1 1
Bekanntlich wird von Thomas Kuhn eine chronologisch lineare, auf Stufen der Wissensgewinnung und der Erkenntnis beruhende Entwicklung für die Wissenschaft allgemein infrage gestellt. Kuhn geht aber von der Fachöffentlichkeit, der Scientific-Community aus, die neuen Paradigmen zum Durchbruch verhilft. Demgegenüber ist für die Erziehungs- und Bildungswis-
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Auch für die Entwicklung des Schulwesens gilt, dass sie nicht allein von wissenschaftlichen Erkenntnissen vorangetrieben wird, sondern auch vom öffentlichen Diskurs. Die Bildungs- und Erziehungswissenschaft nimmt an diesem Diskurs teil. „Man versteht die Pädagogik falsch oder sehr puristisch, wenn man die komplexen und irritierenden Schleifen zwischen Wissenschaft, Berufsfeld und Öffentlichkeit vernachlässigt“ (Oelkers 1997, 20). Das heißt allerdings auch, dass die öffentliche Meinung in Fragen der Bildungsorganisation in einer Gesellschaft, die sich auf wissenschaftliche Rationalität beruft, von der Pädagogik wichtige Impulse erhält. Mit der Vorgabe aktueller Themen sowie damit verbundener Sinnkontexte und Bewertungsaspekte wird die Wissenschaft zum Stichwortgeber. Die Wissenschaft hat sogar insofern Priorität, als sie allgemeine Strömungen des Bewertens bündelt und in den Kontext ihrer Wissensgenerierung stellt. Damit kommt der Erziehungs- und Bildungswissenschaft noch keine Definitionshoheit zu; aber mit der Durchmusterung der von außen kommenden Einflüsse und ihrer Bearbeitung, das heißt ihrer Anpassung an akademische Strukturen des Denkens, bekommen die in informalen, lebensweltlichen Netzwerken oder in den Medien sowie im politischen Teilsystem diskutierten Ansichten zu pädagogischen Fragen eine Dignität, die sie für Entscheidungen auf struktureller Ebene tauglich machen. Das heißt für die Bildungs- und Erziehungswissenschaften, dass sie, gerade weil sie für den öffentlichen Diskurs ‚zugangsoffen ދsind, diesen mit ihren Maßstäben, ja auch mit ihren ‚Wahrheitskriterien ދbeeinflussen kann. – Dementsprechend ist auch die Feststellung Leschinskys zu pessimistisch: „Das Schulsystem unterliegt nicht ausschließlich und nicht einmal vordringlich pädagogischen Impulsen, sondern hat seine eigene Dynamik und ist als Teil der modernen Gesellschaft in deren Entwicklungstendenzen einbezogen. Das größere Eigengewicht, das das Schulsystem im historischen Prozeß seiner zunehmenden Ausdehnung fortlaufend erhalten hat, ist nicht mit der Eröffnung größerer pädagogischer Freiheitsspielräume oder der Möglichkeit rationaler Selbststeuerung gleichzusetzen. Die Erziehungswissenschaft oder genauer noch: die Schulpädagogik, ist aus diesem Prozeß nicht wegzudenken, aber sie ist offenbar nicht in der Lage, ihrerseits dem System in einem umfassenden Sinn Richtung zu geben. Vielmehr werden der Disziplin die Aufgaben weitgehend durch das System und seine Entwicklung vorgegeben; für ihre Lösung kann sie dann mehr oder minder erfolgreiche Ansätze anbieten“ (Leschinsky 1996, 11).
Die Pädagogik nimmt die Funktion als Stichwortgeber und Reflektionsinstanz, soweit es sich um einschlägige Themen und Problemstellungen handelt, auch auf senschaften zu konstatieren, dass Diskurse aufgrund ihrer Transparenz eine höhere Kongruenz mit allgemeinen zeitgeschichtlichen Strömungen aufweisen. Vgl. Kuhn 1973
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der Entscheidungsebene, das heißt in einem politischen Umfeld wahr. Damit wird die Schulentwicklung, die lange unter dem Primat der Politik stand, in dem Sinn verwissenschaftlicht, dass im öffentlichen Diskurs die Sprache, also sowohl die verwendeten Begrifflichkeiten als auch die Argumentationsfiguren, den Einfluss der Bildungswissenschaft widerspiegelt. Folgt man der Geschichte der Pädagogik als akademischer Disziplin und der Geschichte der Schule als Institution, so ist festzustellen, dass es enge Verbindungslinien zwischen beiden gibt. Die Pädagogik als Wissenschaft ist eine Instanz zur Dauerreflexion im Dienste einer sich von den traditionellen Erziehungsmächten emanzipierenden Schule. Die Frage, was Schule ist und sein kann, reicht zurück in die Traditionen des vorwissenschaftlichen Denkens. Die Entstehung von Schulen kann als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Differenzierung begriffen werden; Funktionen, die zuvor in einem unspezialisierten sozialen Kontext standen, werden aus diesem – ganz oder teilweise – herausgelöst und institutionalisiert, um eine zweckdienlichere Gestaltung von Erziehungs- und Bildungsprozessen zu ermöglichen. Mit der gesellschaftlichen Organisation des Erziehungswesens wird auch das Denken über Erziehung spezialisiert und professionalisiert. Es ist daher kein Zufall, dass mit der Entstehung der Pflichtschule auch die Pädagogik als Wissenschaft bzw. als akademische Disziplin entstand. Damit wandeln sich die Aufgaben, die an das Erziehungswesen gerichtet werden. Ansprüche der Gesellschaft entstehen mit neuen Institutionen, auch wenn diese zunächst zur Sicherstellung ‚alter Funktionen ދeingerichtet werden. Gleichzeitig verselbständigen sich die Institutionen, definieren ihre Systembeiträge neu und knüpfen, im Rahmen komplexer werdender Strukturen, neue Allianzen. Die Schule übernahm Leistungen, die in der segmentären Gesellschaft noch von der Familie erledigt wurden, nämlich Kustodialisierung, Sozialisation und soziale Platzierung sowie die Vermittlung lebensnotwendiger Kenntnisse und Fertigkeiten. Mit einer zunehmend tiefer gestaffelten Stratifikation und der Verflechtung der Familie in arbeitsteilige Zusammenhänge konnten die nötigen Kompetenzerweiterungen nicht mehr im verwandtschaftlichen Kontext erfolgen. Der Grad der Arbeitsteilung machte es zum Beispiel unmöglich, sich berufliche Spezialkenntnisse im familiären oder familienähnlichen Kontext als Training im Beruf, also durch Anschauung und Nachahmung, anzueignen. Gleichzeitig erwuchsen der Schule mit der Entflechtung verwandtschaftlicher Großgebilde zusätzliche Funktionen im Bereich der Kustodialisierung, für die der Staat eine sichere Grundlage bot. Mit der Aufklärung wurde die Schule als Instrument des gesellschaftlichen Wandels konzipiert. Condorcet entwarf den Plan zu einem Schulwesen, das dem gesellschaftlichen Wandel vorangehen und damit eine Rationalisierung ge-
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sellschaftlicher Prozesse bewirken sollte. Von daher lag es nahe, den Sinn von Pädagogik so zu begreifen, dass standespolitische Forderungen und Zwänge transzendiert werden. Mit der Französischen Revolution gewann der Gedanke einer allseitigen Bildung, die jeden befähigen sollte, selbstverantwortlich zu handeln und am gesellschaftlichen Zusammenleben teilzuhaben, an Bedeutung. Die Aufklärung wollte die Bildung zum Zentrum der gesellschaftlichen Rationalisierung machen; die Geschichte, die ungeplant und unbeherrschbar über Menschen hereinbricht und sowohl Herrscher als auch Beherrschte zu Opfern werden lässt, sollte durch ein nationales Schulwesen, das die Menschheitsentwicklung vorwegnimmt, der Kontrolle durch die Vernunft unterstellt werden. Selbstverständlich musste es für eine Schule, von der angenommen wurde, dass sie zu derartigen Leistungen in der Lage sei, auch eine Theorie als Mittel zur systematischen Sichtung und Zusammenführung von Erkenntnissen geben. Ein institutionalisiertes allgemeines Bildungswesen führte folgerichtig zur Institutionalisierung der Erziehungswissenschaft. Nicht mit der Reflexion über Erziehung und Bildung, sondern mit der Reflexion der Reflexion und deren Kanonisierung als akademische Disziplin sollte ein gesellschaftlicher Wendepunkt erreicht werden, von der aus auch die Schulentwicklung sich nach Maßgabe ‚wissenschaftlichen Fortschritts ދvollziehen konnte. Beide, Schule und Pädagogik, verdanken also ihre Entstehung dem gleichen, auf den Ideen der Aufklärung gegründeten Rationalisierungsanspruch. Diesem Umstand ihrer Geburt zufolge ist die Pädagogik auch der gesellschaftlichen Modernisierung verschrieben, selbst wenn die Vorstellung, dass grundlegende gesellschaftliche Mängel mit Hilfe eines durch die Pädagogik rational konzipierten und gelenkten Schulwesens zu beheben seien, heute einer nüchterneren Betrachtung gewichen ist. Die Erziehungs- und Bildungswissenschaft hat heute unter den Akteuren, die sich im Kräftefeld politischer Entscheidungsfindung bemerkbar machen, eine prominente Position. Dass „das System“ für die Pädagogik Aufgaben bereithält, heißt auch, dass soziale Bewegungen, Gruppierungen und Parteien an Wissen und Erkenntnissen, an Stellungnahmen und Meinungen in der ‚zuständigen ދErziehungs- und Bildungswissenschaft nicht vorbeikommen. Gruppen und Kollektive, die am bildungspolitischen Diskurs teilnehmen, müssen, um ernst genommen zu werden, sich auf die Wissenschaft berufen, die nicht nur über reflexives Potenzial verfügt, sondern auch den Anspruch erhebt, zur Verallgemeinerung von Standpunkten und Interessen beizutragen. Wenn, wie Leschinsky (a.a.O.) feststellt, der Schulpädagogik die Aufgabe übertragen wird, für die Gesellschaft Problemlösungen zu erarbeiten, dann ist sie als „Gatekeeper“ in die Politikberatung involviert. Sie identifiziert sich mit den Institutionen der Erziehung und „operiert so gesehen im Rahmen einer Selbstbeschreibung dieses
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Systems“ (Kurz 2003, 183).Um zur politischen Entscheidungsebene durchzudringen, muss die Pforte der institutionalisierten Erziehungs- und Bildungswissenschaft passiert werden. Auch wenn diese mit ihren Erkenntnissen die Schulentwicklungsdebatte nicht monopolisieren kann, so ist sie doch nicht nur eine wichtige, sondern eine besondere Instanz, auf die Bezug genommen wird, wenn Problemlagen auftauchen. Dabei kommt die Wissenschaft besonders dann zum Zug, wenn sich kollektive Akteure gegenseitig paralysieren. Die Befragung der Wissenschaft ist also kein Ritual, das absolviert wird, um anschließend mit interessen- und machtgesteuerten Auseinandersetzungen fortzufahren; die Pädagogik ist vielmehr in intensiver Weise in den öffentlichen Diskurs involviert und nimmt als Akteur Beobachtungs- und Kontrollfunktionen wahr. Darüber hinaus hat die Pädagogik Forschungszweige entwickelt, deren Funktion darin besteht, ein Screening einzelner Nachbarwissenschaften vorzunehmen. Auf diese Weise werden die Ergebnisse anderer Disziplinen fortlaufend adaptiert und mit eigenen Erkenntnissen und Denkmustern verbunden. Die Entwicklung der Pädagogik ist durch Eingliederung der ‚Bindestrich- und Genetivdisziplinen ދgekennzeichnet, die im Rahmen dieser Wissenschaft in einer Weise firmieren, dass sie als besondere Formen pädagogischen Vorgehens gelten. Dazu trägt bei, dass die akademische Pädagogik im Rahmen ihrer Grundlagenforschung Befunde generiert, mit denen sie sich selbst in die akademische und forschungspraktische Auseinandersetzung einbringt. Wenn also in anderen Fachgebieten Erkenntnisse vorliegen, zu denen die Erziehungswissenschaft Stellung beziehen muss, so geschieht dies unter Rückgriff auf eigene Kompetenzen und Positionen. Die hier vertretene zentrale These besteht darin, dass die Öffentlichkeit bei ihren Konstruktbildungen zur Schule sich an der Erziehungsund Bildungswissenschaft orientiert, die ihrerseits gesellschaftliche Strömungen und Erkenntnisse aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen adaptiert. Die Pädagogik bestimmt ihre Möglichkeiten und Grenzen, ihr Vorgehen und ihre Ziele und damit auch das, was als Fortschritt zu gelten hat, in Abstimmung mit Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften. Als Beispiel soll im Folgenden die Biologie in ihrer Bedeutung für die Bildungswissenschaft, insbesondere für die Schulforschung, dargestellt werden. Die Analyse des biologischen ‚Paradigmasދ soll deutlich machen, wie die Pädagogik auf das Konstrukt der Schule öffentlich Einfluss nimmt und im Kontext zeitspezifischer Strömungen sowie unter Rückgriff auf Diskurse in benachbarten Disziplinen Vorstellungen von der Schule entwickelt, die von Öffentlichkeitsakteuren nicht ignoriert werden können.
9.2 Das biologische Paradigma
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9.2 Das biologische Paradigma 9.2 Das biologische Paradigma Selbstverständlich sind es nicht die Nachbardisziplinen als solche, sondern ausgewählte Bereiche, die für die Pädagogik relevant sind. Besonders in Hinblick auf die anthropologischen Grundlagen ist es für die Erziehungs- und Bildungswissenschaft erforderlich, die naturwissenschaftlichen Befunde zu sichten und demgemäß die Möglichkeiten des Erziehungshandelns festzulegen. Sofern sich die Pädagogik an bestimmten, für sie verwertbaren, das heißt praxisrelevanten Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung ausrichtet, die in der Biologie sowie in der medizinischen und psychologischen Grundlagenforschung gewonnen werden und die sie in übergreifenden Konzepten zur natürlichen Verfasstheit des Menschen zusammenfasst, soll im Folgenden der Begriff des ‚biologischen Paradigmas ދverwendet werden. In den 90er Jahren hat die Neurobiologie eine rasante Entwicklung durchlaufen, was in den USA bereits dazu geführt hat, von einer „decade of the brain“ (vgl. Becker 2002, 707) zu sprechen. Ausgangspunkt dieser Forschungen waren Erkenntnisse, die sich auf die Entstehung neuronaler Netzwerke bezogen. Damit wurden die bis dahin geltenden Annahmen über das Zustandekommen von Lernleistungen revisionsbedürftig. Die Neurobiologie hat das Wissen um die Struktur und Arbeitsweise des menschlichen Gehirns, seine Entwicklung und seine Alterung, die Beteiligung körpereigener Botenstoffe an kognitiven und emotionalen Vorgängen und die Entstehung von Hirnstörungen und Hirnerkrankungen entscheidend vermehrt. Dazu trugen nicht zuletzt die bildgebenden Verfahren bei, mit deren Hilfe physiologische Prozesse im Gehirn sichtbar gemacht werden konnten. Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften sind in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden, haben sie doch Konsequenzen für die Vorstellungen, die der Mensch von sich selbst entwickelt. Insbesondere die Regierung der USA verband mit den Fortschritten der Neurologie die Hoffnung, durch eine intensivere Nutzung menschlicher Ressourcen internationalen Herausforderungen besser begegnen zu können. Außerdem ging es den Vereinigten Staaten darum, durch die Förderung bildungsbenachteiligter Kinder soziale Spannungen abzubauen. Der Pädagogik wurde von Behörden und Sponsoren eine Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften nahegelegt und diese zur Bedingung für die Vergabe von Forschungsmitteln gemacht (Becker, a.a.O., 707 f.). Mit der „Fokussierung auf das lernende Subjekt“ (Hinz 2005, 539) ist in aktuellen Strömungen der Pädagogik eine Orientierung an den Paradigmen der Neurowissenschaften deutlich erkennbar. Von großer Bedeutung für die Bildungs- und Erziehungswissenschaft erwies sich die von Neurobiologen betonte
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Feststellung, dass das Gehirn ein geschlossenes System sei, das äußere Einflüsse nicht übersetze, sondern sich nach seinen eigenen Strukturen entwickle. Wenn also zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis ein nicht zu überbrückender Unterschied besteht, wenn mit dem physiologischen Vorgang der Erkenntnis keine Annäherung an die äußere Welt zu erwarten ist, dann kann es sich bei dem Vorgang der Erkenntnis nur um pragmatische Problemlösungen handeln, die das Nervensystem aus sich selbst heraus produziert. Auf der Grundlage dieser neurobiologischen Konzeption des SubjektObjekt-Verhältnisses gewinnt in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft eine ‚subjektorientierte ދDidaktik an Einfluss, die zwar das soziale Gegenüber als Voraussetzung für das Lernen nicht ganz abschreibt, nichtsdestoweniger aber die Intelligenzentwicklung als einen autopoietischen Prozess begreift, der prinzipiell von der Umwelt nicht durch Inhalte, sondern durch Potenziale der Anregung gesteuert wird. Die subjektorientierte Didaktik, die auch auf geisteswissenschaftliche Traditionen, insbesondere die des Idealismus verweisen kann, erfährt eine neurowissenschaftliche Ausrichtung in der Weise, dass zwar nicht von einer Autonomie des Subjekts, wohl aber von einer Einmaligkeit des Lernens ausgegangen wird. Bildung erfordert somit – entgegen der herkömmlichen Unterrichtspraxis – die Zurücknahme des Lehrers. Das bedeutet gleichzeitig, dass der Konstruktion von Lehrarrangements in der sozialen Situation des Klassenverbandes Grenzen gesetzt sind. Bildungsarbeit heißt, durch pädagogische Arrangements den Schülerinnen und Schülern eine Umwelt zu schaffen, die sie als Herausforderung zum Lernen begreifen. Auf diese Weise entstehen Aufgaben, denen sich das Subjekt zu stellen hat. Es sollte also – dem biologischen Paradigma zufolge – nicht um Anforderungen gehen, die eine Lerngruppe gemeinsam betreffen und für die sie kollektive Strategien der Problemlösung erarbeitet. Vielmehr sollte der Einzelne die Möglichkeit haben, entsprechend seiner neuronalen Entwicklung individuelle Strategien zu generieren. Mit anderen Worten ist weder das Lernen selbst noch der Anlass des Lernens sowie die Erarbeitung von Problemlösungen als sozialer Prozess zu begreifen. Lernen vollzieht sich aufgrund von Bedeutungszuweisungen des Subjekts oder, biologisch ausgedrückt, aufgrund von Bewertungen, die das limbische System in der Abstimmung mit gespeicherten Emotionen vornimmt; das limbische System ist mithin für die Definition von Lernsituationen verantwortlich, indem es die Aufmerksamkeit lenkt und die Lernbereitschaft durch Verkopplung mit entsprechenden Systemen der Großhirnrinde aktiviert (Roth 2004, 498 ff.). Das heißt auch, dass das Gehirn aufgrund dieser sich selbst steuernden Prozesse Bedeutungen entwickelt, mit denen die Umgebung konnotiert wird. Der Organismus setzt sich selbst Lernaufgaben, und zwar auf der Grundlage subjektiver Sinnvorgaben. Die Aktivitäten des Lehrers können nicht auf be-
9.2 Das biologische Paradigma
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stimmte Lerninhalte ausgerichtet sein, sondern nur auf die Erhöhung der synaptischen Dichte, was sich für jeden Schüler mit anderen Voraussetzungen verbindet. Gemeinsamkeiten lassen sich allenfalls in der Weise benennen, dass für die Subjekte in der Klasse das gleiche Ziel gilt, nämlich Gehirnleistungen zu verbessern und damit die kognitive Entwicklung zu fördern. Das heißt gleichzeitig, dass kollektive Lösungswege vermieden werden müssen, selbst wenn es die Schülerinnen und Schüler selbst sind, die diese erarbeiten. Denken und Handeln dürfen nicht standardisiert werden, weil so das Interesse des Lernenden geschwächt würde. Nur wenn sich für das Subjekt Lernschritte ergeben, die gemessen an seiner Lernbiografie Vorteile bringen, kann es zu weiteren, selbstinduzierten Lernhandlungen kommen. „Ein Lerninteresse entsteht demnach offensichtlich immer nur dann, wenn der Zuwachs an Wissen, Erkenntnissen oder Handlungskompetenzen eine Verbesserung der individuellen Situation in Aussicht stellt, also die Lernergebnisse ein lebensbezogenes Anwendungsfeld finden“ (Hinz 2005, 239). Indem das Subjekt feststellt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen Kompetenzen und praktischer Aufgabenstellung, kommt es zu produktivem oder expansivem Lernen. Im Mittelpunkt der pädagogischen Überlegungen steht für die neurowissenschaftliche Pädagogik die Entwicklung des Gehirns als Organ des menschlichen Körpers. Für Eltern und Erzieher kommt es darauf an, die Vorgänge zu erkennen, die für die Bildung von Nervenzellen und deren synaptische Verschaltung verantwortlich sind. Die „genetische Ausstattung“ – so führt Gerhard Roth aus – ist für den „groben Schaltplan des Gehirns und die grundlegenden Antwortbereitschaften der Nervenzellen“ sowie für die „prinzipiellen Eigenschaften der Hirnfunktionen“ zuständig (Roth, a.a.O., 509). Die Umwelt dagegen kann ein Anregungspotential bereitstellen, das die Entwicklung von „zellulären informationsübertragenden Strukturen des Gehirns“ fördert (Roth, a.a.O., 512). Parallel zu den Lern- und Erfahrungsprozessen, die von der Umwelt ermöglicht oder auch verhindert werden, entsteht ein komplexes neuronales Netzwerk. Die biologische Anlage jedoch wirkt steuernd und selektierend auf die spätere Entwicklung ein. Wenn vorgeburtliche Einflüsse den Hormonhaushalt wie zum Beispiel die Dopamin- oder die Serotoninausschüttung beeinflussen, dann sind es diese Vorgaben, die spätere individuelle Lernprozesse zustande kommen lassen. Die Bedeutung genetischer Dispositionen, die im Rahmen des biologischen Paradigmas hervorgehoben wird, ist als Argument dafür zu sehen, dass das Lernen nicht im Gleichklang mit anderen, nämlich als eine Vermittlung von Lehrstoffen an eine Gruppe, stattfinden darf. „Wissen kann nicht übertragen werden; es muss im Gehirn eines jeden einzelnen neu geschaffen werden“ (Roth, a.a.O., 497), und zwar, so ließe sich ergänzen, auf der Grundlage der schon vorhandenen konstitutionellen Eigenschaften.
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Schule ist damit ein Ort, an dem viele individuelle Lern- und Entwicklungsvorgänge stattfinden. Demgegenüber ist das Konzept des Lernens in der Gruppe fragwürdig. Es geht auch nicht darum, die Gruppe zu aktivieren, damit diese sich selbst regulierend Ziele setzt und Ergebnisse erarbeitet. Die Kooperation in Kursen, im Klassenverband oder in anderen sozialen Formationen erhält einen anderen Stellenwert. Die Gruppe hat lediglich die Funktion, durch ihr Anregungs- und Unterstützungspotenzial das Individuum zu fördern. Die Bildungspolitik muss – dem biologischen Paradigma folgend – aufhören, sich auf die Gruppe, auf Teamfähigkeit und auf soziales Lernen zu fokussieren. Jeder lernt grundsätzlich für sich allein, autopoietisch und selbstreferentiell, nach persönlichen, genetisch vorprogrammierten, kognitiv- individuellen Reifungsprozessen. Lösungsmuster kann jeder nur für sich selbst erarbeiten. Die Gruppe hat als Instrument des Lernens nur eine begrenzte Bedeutung. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass das soziale Umfeld unerlässlich sei, um in der gesellschaftlichen Widerspiegelung des Ichs eine Identität entwickeln zu können, dass also „die intra- und interindividuell variierende, aktive und selektive Wahrnehmung, Imitation und Teilnahme an ausgewählten interaktionalen Kontexten maßgeblich zur eigenen Entwicklung beitragen“ (Voland/Voland 2002, 696), gilt Sozialisation in erster Linie als „Selbstsozialisation“. Der Schüler ist – dem biologischen Paradigma zufolge – eigenmotiviert und lernt nur das, worauf er bereits eingestellt ist (Voland/Voland, ebd.). Die Lernschritte, die erforderlich sind, um synaptische Dichte zu erzeugen, werden nicht kollektiv vollzogen. Die Schule als soziales System kann demgemäß auch eine Gefährdung darstellen, und zwar dann, wenn es in Gruppensituationen zu einer Unterforderung kommt. Die Gruppe ist ein Hindernis für Lernfortschritte, wenn sie nicht als anregend empfunden wird. Ziel der Unterrichtsplanung ist ein Höchstmaß an Individualisierung. Es müssen hinsichtlich der Motivation und der Intelligenz solche Anforderungen gestellt werden, die dem jeweiligen Entwicklungsstand des Individuums entsprechen. Die optimale Unterrichtssituation ist dann gegeben, wenn durch sie spielerisches und individuelles Lernen ermöglicht wird. Von den Schulbehörden muss unter der Voraussetzung des biologischen Paradigmas die Möglichkeit gegeben werden, dass Schülerinnen und Schüler die für ihre Anlagen und für ihre individuelle Lerngeschichte passende Schule finden, und zwar durch Selektion, Beratung und Kooptation. Lehrerschaft und Schulleitung sollten unter den Bewerbungen diejenigen aussuchen dürfen, die zu einer Schule passen. Auch Exzellenzschulen sind wichtig, und zwar nicht, damit sich die Schüler gegenseitig fördern, sondern damit sie sich nicht behindern. Das Bildungssystem muss selektiv sein, aber nicht auf der Grundlage erbrachter, sondern zu erwartender Leistungen. Es geht nicht um die Sammlung von Meriten, die auf der Grundlage von allgemein verbindlichen Maßstäben ver-
9.2 Das biologische Paradigma
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geben werden. Vielmehr kommt es darauf an, individuelle Lernprozesse, deren Wertigkeit – anstelle von scholastisch-akademischen Standards – an ungewöhnlichen Erfolgen im späteren Berufsleben zu bemessen ist, genügend zu fördern. Die Schule ist ein gemeinsamer Lernort, nicht der Ort gemeinsamen Lernens. Denn Lernen ist nach diesem Verständnis ein Prozess, der am besten durch persönliche Zuwendung eines professionellen Lernorganisators und Lernberaters gefördert wird. Da eine derartige optimale Lernumgebung ressourcenintensiv und teuer ist, kann die Regelschule nicht die optimale Bildungsinstitution sein. Sinnvoll sind jedoch Profilbildungen der Schulen, weil sie die Orientierung erleichtern (Roth, a.a.O., 506). Die Bildungspolitik muss auf ein Schulsystem abzielen, das viele Wahlmöglichkeiten eröffnet, also nicht auf die Vermittlung eines kanonisierten Wissens ausgerichtet ist, sondern die Kreativität jedes Einzelnen in den Vordergrund stellt. Innerhalb einzelner Schulen sind starke Unterschiede hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu vermeiden, weil sie eine Unterforderung oder, für die Minderbegabten, eine angsterzeugende Überforderung zur Folge hätten.2 Wenn – dem biologischen Paradigma folgend – die Schule nicht auf das gemeinschaftliche Lernen abzielt, sondern Schülerinnen und Schüler so fördert, dass ihren genetischen und frühkindlichen Dispositionen am besten entsprochen wird, dann fügt sich diese Vorstellung in das Bild einer marktförmigen Gesellschaft. Der Einzelne steht im Fokus einer liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik und einer von genetischen Dispositionen ausgehenden Bildungs- und Erziehungswissenschaft. Kinder und Jugendliche erscheinen unter diesem Aspekt als lernende Individuen, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln und auch mit Hilfe kompensatorischer Lernprogramme nicht zum gleichen Ziel gebracht werden können. Die Schule muss respektieren, dass konstitutionelle Faktoren für die Entwicklung des Schülers eine maßgebliche Bedeutung haben; es macht daher keinen Sinn, durch intensive Betreuung von lernschwachen Schülern den Vorsprung der anderen ausgleichen zu wollen. Auch das durch die Schule ermöglichte Lernen in der Gruppe hat keinen eigenen pädagogischen Wert. Die ideale Bildungsorganisation ist das individuelle Lernen, das von einem erwachsenen Betreuer angeregt und gefördert wird. Dem biologischen Paradigma entsprechend sollte der Unterricht daher soweit 2
Die neurologische Forschung betont, dass sich das Neugierverhalten von Säugetieren nur in „entspannten Feldern“ entwickle und dass daher in der Schule angstfreie Situationen hergestellt werden müssten. Bei der Organisation von Erziehung und Unterricht komme es darauf an, Lernsituationen zu schaffen, in denen es weder zu einer niedrigen noch zu einer hohen, sondern einer mittleren Adrenalinausschüttung komme. Ein leichter, anregender Stress fördere das Neugierverhalten und begünstige das Zustandekommen von Lernerfolgen, weshalb Unterforderung ebenso wie Überforderung abzulehnen sei. Vgl. Sachser (2004), 484
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wie möglich individualisiert werden. Wo aber die Möglichkeiten der Individualisierung nicht ausreichen, und dies ist wohl nicht zuletzt eine ökonomische Frage, sollte dafür gesorgt werden, dass sich leistungshomogene Gruppen bilden, damit es nicht zu einer Behinderung der besseren durch die schlechteren Schüler kommt. Das lernende Subjekt sollte also unter seinesgleichen sein. Der Exzellente könnte seine Motivation verlieren, wenn ihm nicht Anregungen geboten würden, die seinen Anlagen und den bereits erfolgten Lernfortschritten entsprächen; ebenso könnte er andere vor Leistungsanforderungen stellen, denen sie nicht gewachsen wären und somit dazu beitragen, dass sich deren Motivation erst gar nicht entwickeln würde. Demnach geht es in der Bildungspolitik auch um Fitness, um die Förderung derjenigen, die in der Lage sind, sich durchzusetzen und den Anforderungen des Marktes zu entsprechen, die also in diesem Sinn ‚angepasst ދsind. Indem die Schule – und zwar in den verschiedensten Bereichen – die Lernfähigkeit verbessert, ja die Gehirne leistungsfähiger macht, schafft sie ein Potenzial, das der Gesellschaft in unspezifischer Weise zur Verfügung steht, von dem aber angenommen werden kann, dass es die Konkurrenzfähigkeit insgesamt, also auch auf globaler Ebene verbessert. Durch optimale Bedingungen des Lernens, so das biologische Paradigma, erbringt die Gesellschaft die Voraussetzungen dafür, dass auf unterschiedlichsten Gebieten Höchstleistungen zustande kommen. Das biologische Paradigma der Pädagogik führt somit zu Schlussfolgerungen, die der Individualität und der Eigeninitiative einen breiteren Spielraum ermöglichen. Da die Selbstreferenzialität des Subjekts nicht durch systemische Überlegungen und Theoriebildungen, nicht durch die Dialektik von Subjekt und Objekt eingeholt werden kann, muss den standardisierenden Vorgaben des Staates misstraut werden. Bildungspolitik und Bildungswissenschaft sollten sich nicht in besonderer Weise um die Unangepassten kümmern. Die Gesellschaft profitiert am meisten, wenn sie jedem ein Maximum an Entfaltungsspielraum bietet. Unter ideologiekritischem Aspekt ergibt sich eine Kongruenz zwischen Pädagogik und Wirtschaftsliberalismus, kommt es doch in beiden Doktrinen darauf an, politische Interventionen, die über die Schaffung von Rahmenbedingungen hinausgehen, zu verhindern. Bezogen auf das Bildungswesen heißt das, dass nicht nur die Schülerinnen oder Schüler, sondern auch die Schulen als autonom anzuerkennen sind. Demgegenüber ist ein Ausgleich der Kräfte und Begabungen durch gemeinsame Lehrpläne und eine formalisierte Didaktik abzulehnen. Ebenso, wie dem Staat eine Verschlankung empfohlen wird, die Politik eher auf die Kräfte der Zivilgesellschaft setzen, erst recht sich aber aus dem ökonomischen Geschehen heraushalten soll, führt das biologische Paradigma der Pädagogik zu der Schlussfolgerung, dass die Schule entbürokratisiert werden muss, dass also staatliche Interventionen mehr Schaden
9.2 Das biologische Paradigma
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als Nutzen verursachen. Das Konzept des ‚lean government ދgilt also auch für Bildungssysteme; es steht für die Selbstbeschränkung der Schulaufsicht und den Verzicht auf Vorschriften und Erlasse durch Behörden. Die Schule ist mit dem Marktgeschehen vergleichbar: Die Talentierten setzen sich von selbst durch, sofern sie nicht durch den Staat und seine Beamten daran gehindert werden. Wenn der Lehrer die Autopoiesis des Schülers respektieren will, dann gelingt ihm dies am besten, wenn er nicht ‚Klassen ދunterrichtet, sondern wenn er den Schülerinnen und Schülern hilft, ihre Lernorganisation zu verbessern. Die finanziell und personell gut versorgten, hochselektiven Schulen werden so zum Leitbild. Lernvoraussetzungen, die dem Ressourcenbedarf des sich selbst organisierenden Lernens am besten entsprechen, können beispielhaft in Privatschulen verwirklicht werden. Nichtselektive Schulen, die mit knapp bemessenen Budgets auskommen müssen, geraten ins Abseits einer zwar kostengünstigen, jedoch als veraltet geltenden Didaktik. Wer sich aufgrund fehlender Mittel die hochbewerteten Ressourcen nicht verschaffen kann, muss sich mit den Standardleistungen eines staatlichen Versorgungssystems zufrieden geben, von dem jedoch keine konkurrenzfähigen Ergebnisse zu erwarten sind. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schulen werden zur negativen Bezugsgruppe für die selektiven, vor allem die hochselektiven Einrichtungen, von denen die Öffentlichkeit annimmt, dass dort die Talentiertesten entsprechend ihrer Begabung individuell betreut werden. Damit setzt die Pädagogik mit Hilfe ihres theoretischen Inventars gesellschaftspolitische Vorstellungen um, die vor allem im ökonomischen Bereich Bedeutung haben. Als selbstverständlich gilt im öffentlichen Diskurs die Autopoiesis des Wirtschaftsbürgers; mit dem biologischen Paradigma wird dieser die Autopoiesis des lernenden Subjekts hinzugesellt. Der Isomorphismus zwischen empfohlener und zum Teil auch realisierter Struktur des Bildungswesens einerseits und der Struktur des Wirtschaftssystems andererseits ist nur auf den ersten Blick zufällig.3 Das biologische Paradigma verschafft durch seine individualisierenden Konsequenzen auch einen Zugang zu den vorherrschenden Doktrinen der Wirtschaftspolitik und verschafft so den – auch in der Öffentlichkeit diskutierten – Konstrukten zur Schule eine doppelte Plausibilität.
3
Zum Begriff der Isomorphie siehe auch DiMaggio/Powell 1991 sowie Schaefers 2002
10 Positionen und Positionierungen
Wenn Begriffe wie Erziehung, Kompetenzvermittlung und Bildung keine objektivierbare Wirklichkeit bezeichnen, dann ist auch das, was wir ‚Schuleދ nennen, eine Frage von Konstrukten. Die sozialen Prozesse, die wir – wie zum Beispiel den Unterricht – als zielgerichtet begreifen, und die Wirkungen, die sich bei den beteiligten Adressaten, den Schülerinnen und Schülern sowie in den gesellschaftlichen Subsystemen, zum Beispiel der Wirtschaft, als Folge von Bildung einstellen, bestehen in unserer Vorstellung als Teil gedanklicher Bilder, die auf der Grundlage kollektiver Bedeutungszuweisungen zustande kommen. Gleiches gilt auch für andere Institutionen, die jedoch über weniger Spielraum für Konstrukte verfügen, weil die von der Empirie ausgehenden Signale stärker und konsistenter sind. Mit der permanenten Erarbeitung von Definitionen über das, was in der Schule stattfindet, vor allem auch über ihren individuellen und gesellschaftlichen Nutzen, vollzieht sich sowohl eine Selbstpositionierung der Schule als auch eine von außen vorgenommene Positionszuweisung. Damit ist der Theorieansatz, wonach ein gesellschaftliches ‚Gesamtsystem ދdem Bildungswesen und seinen Teilbereichen sowie einzelnen Organisationen Aufgaben zuweist, korrekturbedürftig. Es ist davon auszugehen, dass – über eine politischadministrative Steuerung hinaus – ein Austesten von Funktionen über Konstrukte stattfindet. Damit soll Folgendes gesagt sein: Die Schule stellt sich als etwas dar; sie entwirft ein Bild, mit dem sie sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Das gesellschaftliche Umfeld der Schule sowie spezialisierte Institutionen und Gruppen generieren ihrerseits Vorstellungen von dem, was das Bildungswesen im Allgemeinen und was einzelne Schulen im Besonderen ausmacht. Derartige Konstrukte werden in der Öffentlichkeit miteinander kontrastiert und auf Plausibilitäten geprüft. Konstrukte setzen sich durch, wenn sie eindringlich sind, wenn sie konsistent sind, wenn sie mit anderen Konstrukten und Doktrinen in Übereinstimmung gebracht werden können und wenn sie den Interessen von sozialen Kollektiven entsprechen. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass Bilder von Institutionen Wege erkunden, wie sich einzelne Einheiten des sozialen Systems positionieren können. Konstrukte, die eine Organisation von sich selbst entwirft, testen die Unterstützung von außen; Konstrukte, die an die Organisation herangetragen werden, prüfen deren Widerstand. Damit ergeben sich Konsequenzen im Funk-
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10 Positionen und Positionierungen
tionssystem der Gesellschaft. Subsystemen, Institutionen und Organisationen werden Aufgaben in einem funktionsdifferenzierten Kontext zugewiesen. Sie können sich aber auch von übertragenen Aufgaben distanzieren, und zwar indem sie Konstrukte entwerfen, nach denen ihre Position in einem arbeitsteiligen Ganzen anders definiert wird. Über Konstrukte findet ein Erproben von Möglichkeiten statt. Konstrukte stellen also Fragen: Wie wäre es, wenn Aufgaben anders begriffen oder wenn, möglicherweise auch ergänzend zu den bestehenden Zuweisungen, neue Aufgaben gesucht würden? Wie ließe sich eine derartige Neubestimmung in einen weiteren gesellschaftlichen Rahmen einfügen? Mit Konstrukten kann der Eindruck erweckt werden, als wäre dieser Wandel – ganz oder teilweise – schon vollzogen, ohne jedoch die Möglichkeit des Rückzugs auszuschließen. Wenn die Widerstände zu groß sind, können neue Umdeutungen vorgenommen werden, die es erlauben, alte Positionen wieder einzunehmen. Besonders Bildungsinstitutionen, die keine Güter im Sinn von materiellen Objekten erzeugen, lassen Konstrukte und damit auch soziale Verortungen ‚auf Probe ދzu. Wie nah oder wie entfernt zum Beispiel Bildungsorganisationen in ihrem Verhältnis zum Beschäftigungssystem zu lokalisieren sind, ist davon abhängig, wie diese sich selbst sehen und wie sie von anderen wahrgenommen werden. Die in der Schule institutionalisierten Prozesse erfahren eine Deutung, die das Verhältnis zur Wirtschaft markieren. Die Akteure, die sich als verantwortlich für die Schule begreifen, beschreiben ja nicht nur das intentionale Handeln, sondern unterstellen auch Wirkungen; das Handeln selbst, die damit verbundenen Absichten und die kurz- und langfristigen Konsequenzen stellen in den Konstrukten eine Einheit dar. Damit kann die Schule selbst bestimmen, ob sie zum Beispiel gegenüber den Arbeitgebern den Eindruck erwecken will, dass die von ihr vermittelten Kenntnisse von unmittelbarer Relevanz für berufliche Tätigkeiten seien, sodass sich eine Deckung mit den Anforderungsprofilen der Wirtschaft ergebe; sie kann aber auch den Anspruch erheben, andere Fähigkeiten, zum Beispiel Selbständigkeit, Innovationsfähigkeit oder Kreativität, die eine größere Distanz zu konkreten Anforderungen signalisieren, zu vermitteln oder zu fördern. Die Schule positioniert sich entsprechend den Reaktionen auf ihre Konstrukte. Aber auch andere Teilsysteme, Institutionen und Kollektive drängen die Schule über Konstrukte in eine gesellschaftliche Position, wobei sich diese solchen Versuchen widersetzen kann. Es ist also davon auszugehen, dass die Akteure der Schule auf Zuschreibungen der Öffentlichkeit und des Organisationsumfeldes reagieren, also ein Prozess des Aushandelns zu der Frage stattfindet, was als legitim und erforderlich und was als illegitim, dubios oder überflüssig anzusehen ist. Das heißt aber nicht, dass es einen beliebigen Spielraum für Selbstpositionierungen oder Positionszuweisungen gebe. Wenn Konstrukte,
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die schulbezogene Akteure entwerfen, zu sehr von der Wirklichkeit entfernt sind, werden sie ‚unpraktischދ, das heißt, sie lassen eine Diskrepanz zwischen Sagen und Tun erkennen, die nicht nur die Organisationsmitglieder in Schwierigkeiten bringt, weil sie über keine Handlungsorientierung mehr verfügen, sondern auch zu allgemeiner Kritik herausfordert. Kleinere Diskrepanzen dagegen können mit Nachsteuerungen, mit der konkretisierenden Unterfütterung des Behaupteten sowie mit beeindruckenden Symbolen überbrückt werden. Der Strukturfunktionalismus geht wie selbstverständlich davon aus, dass mit dem Wegfall funktionaler Leistungen für andere Teilsysteme oder für das System insgesamt das Fortbestehen eines Elements oder Sektors nicht mehr gewährleistet ist. Strukturen erhalten sich nach Parsons (1951) und werden stabilisiert, weil sie andere erhalten und stabilisieren; Segmente und Strukturen sterben ab, wenn sie für das System nicht benötigt werden. Wenn Elemente und Teilsysteme sich behaupten können, obwohl sie ihre frühere Funktion nicht mehr erfüllen, dann deshalb, weil sie auf andere Weise Leistungen für die Systemstabilität erbringen. Das heißt, dass auch im klassischen Strukturfunktionalismus für einzelne Systemteile funktionale Neubestimmungen, also neue Positionierungen möglich sind, und zwar über funktionale Äquivalente. Was ein funktionales Äquivalent ist, entscheidet sich ex post. Letztlich ist es die Theorie, die erkennen lässt, weshalb sich ein Systemelement behaupten konnte oder nicht. Demgegenüber hat die Analyse des Schulwesens gezeigt, dass einzelne Schulverbände oder auch die Schulen selbst als kollektive Akteure verstanden werden können, die sich mit anderen Teilsystemen, zum Beispiel der Wirtschaft, in einem permanenten Kommunikationsprozess befinden. Im Mittelpunkt stehen dabei Konstrukte über Strukturen und Positionen. Welche Funktionen erbracht werden, wie Funktionen verändert werden können, welche Veränderungen sich damit im Verhältnis zu anderen Teilsystemen oder zum System generell ergeben, ist Gegenstand diskursiver Prozesse, die – wenngleich nicht in der Semantik der Systemtheorie – in der Öffentlichkeit geführt werden. Nicht das System erprobt, welche Veränderungen, Innovationen oder auch Anpassungen vorzunehmen sind, sondern die Handelnden selbst, und zwar auf der Ebene der Kommunikation. Das heißt auch, dass diese Prozesse bewusst ablaufen, während die Systemtheorie ja eine Logik der Systeme unterstellt, die jenseits der personalen Systeme, also der Menschen selbst, zur Wirkung kommt. Ein alternativer Ansatzpunkt bestünde also in der Annahme, dass Funktionen, Funktionen der Schule zum Beispiel, von den Akteuren definiert werden, die in einen Handlungsprozess involviert sind und sich unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Notwendigkeiten und mögliche Wirkungen – also über Konstrukte – verständigen.
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Diese kollektiven Akteure testen mit Konstrukten die Akzeptanz ‚ihresދ Systems, ihrer Organisation oder ihrer Institution, das heißt die Einpassung in ein gesellschaftliches Umfeld, und erkunden die Richtung notwendiger Veränderungen. Dabei können von anderen gesellschaftlichen Struktureinheiten und der an ihnen orientierten Akteure Korrekturen vorgeschlagen werden. ‚Was wäre wennދ, das ist die Frage, die bei dem diskursiven Austausch über Konstrukte im Vordergrund steht. Dabei wird von den Beteiligten der Eindruck erweckt, als ob dieses ‚Wenn ދbereits Realität wäre. Es geht also darum, bei der Systemumwelt Anpassungsprozesse einzuleiten, die sich aus der gewünschten Positionierung ergeben. Nicht nur Schulen, sondern auch andere Teilsysteme, vor allem solche, die keine materiell objektivierbaren Güter produzieren, verändern sich, indem sie sich zunächst fiktiv neu definieren. Insofern haben auch Konstrukte ihre Berechtigung: Bevor mit hohem Aufwand die Strukturen transformiert werden, können Konstrukte diese Wirklichkeit vorwegnehmen, selbst wenn sich dabei zunächst Ungereimtheiten ergeben. Stoßen die Konstrukte auf öffentliche Akzeptanz, werden von den Beteiligten systemische Entscheidungen getroffen, die die Struktur mit dem Konstrukt in Einklang bringen. Mit dem Begriff der Selffulfilling Prophecy (vgl. Kap. 5.3) wird dieser Prozess, nämlich dass die Wirklichkeit dem Konstrukt angepasst wird, beschrieben. Was Konstrukte angeht, die über die Positionierung von Institutionen und Organisationen entscheiden, so handelt es sich allerdings eher um ‚Sich-selbsterfüllende-Behauptungenދ, also um Aussagen über angeblich schon existierende Zustände, nicht um Entwicklungen, die angeblich in der Zukunft stattfinden. Nichtsdestoweniger besteht die Chance, dass sich die Gesellschaft bzw. das unmittelbare Umfeld angesichts komplexer, vielfältig zu beschreibender und auszudeutender gesellschaftlicher Verhältnisse nach den Behauptungen formt, die das Konstrukt beinhaltet. Die Konstrukte, sofern sie akzeptiert, das heißt ‚geglaubt ދwerden, lösen Reaktionen aus; die Adressaten meinen, sich auf die imaginierten, aber als real vorgestellten Zustände einstellen zu müssen. Konstrukte üben eine Wirkung aus, die auf die Einholung durch die Realität gerichtet ist; sie nehmen eine Wirklichkeit vorweg, indem die Konstrukteure behaupten, dass ein bestimmter Zustand schon vorhanden sei. Die Behauptung eines IstZustandes kann bewirken, dass Widerstände neutralisiert werden. Bestrebungen, einen Zustand herbeizuführen, werden durch Tatsachenbehauptungen unterstützt, weil sich Handlungsbeteiligte auf einen Zustand einstellen, der noch gar nicht vorhanden ist. Damit können neue Positionierungen vorgenommen oder alte verteidigt werden. Über Konstrukte ergeben sich, indem Ressourcen erschlossen werden, neue Verbindungen und neue Formen der Kooperation, ja möglicherweise auch eine Stabilisierung von Teilsystemen und Elementen auf einer neuen Ebene.
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Konstrukte, die ‚kreditiert ދwerden, weil sie suggestiv sind oder weil sie mit Beobachtungen übereinzustimmen scheinen, lassen soziale Realitäten entstehen. Schulen können sich selbst als Eliteschulen definieren und versuchen, dieses Konstrukt in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Das bedeutet auch, dass durch Inszenierungen und andere Akte der symbolischen Pädagogik möglicherweise der Eindruck erweckt wird, die Schule verfüge über besondere Methoden, die sie in die Lage versetzten, bei einer entsprechend ausgewählten Schülerschaft Effekte zu erzielen, von denen die Gesellschaft in besonderer Weise profitiere. Derartige Tatsachenbehauptungen haben, sofern sie Resonanz in der Öffentlichkeit finden, soziale Konsequenzen, die dieses Konstrukt stützen, nämlich zum Beispiel indem diese Schulen – vom Staat oder auch von privaten Gruppen und Institutionen – mehr gefördert werden als andere oder indem sich besonders engagierte Lehrer für diese Schulen interessieren. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Absolventen solcher Schulen bei der Vergabe von Studienplätzen oder Berufspositionen auf eine positiv verzerrte Wahrnehmung ihrer Leistungen stoßen und eine entsprechende Bevorzugung erfahren. Mit der Institutionalisierung von Alumni-Netzwerken schließt sich sodann der Funktionszusammenhang; die Ehemaligen stützen das Konstrukt der Eliteschule, indem sie auf den Allokationsprozess der Absolventen Einfluss nehmen und damit den im Konstrukt behaupteten, aber kausal anders attribuierten Kontext stabilisieren, also empirische Evidenzen schaffen, die – sekundär – die Selbstdefinition bestätigen. Auch wenn die besondere pädagogische Effizienz nicht belegt werden kann, treten doch soziale Verhältnisse ein, die diese Behauptung zu stützen scheinen. Die ‚Bewährung ދder Abgänger kommt zwar anders zustande; nichtsdestoweniger passt die angenommene Besonderheit von Bildung und Ausbildung, von Förderung und Kompetenzerweiterung ins Bild. Konstrukte können sich in der Öffentlichkeit dermaßen festsetzen, dass sie auch in Bezug auf gegenläufige Erscheinungen und Prozesse weitgehend immun sind. Der vermeintliche Elitestatus kann zum Beispiel dazu führen, dass Schüler und Lehrer Distinktionsstrategien betreiben, die Spitzenleistungen eher zuwiderlaufen. Außerdem kann gerade in Schulen, die für sich einen Exzellenzanspruch erheben, die pädagogische Funktion durch andere Funktionen, zum Beispiel die Kustodialfunktion oder die Partnerschafts- und Netzwerkfunktion, überlagert werden, weil das Konstrukt der Elite die Schule für soziale Kreise attraktiv macht, die nicht nur an der Bildung ihres Nachwuchses, sondern auch an Überwachung, an Versorgung, an Netzwerken und passenden Partnerschaften und informellen Verkehrskreisen interessiert sind. Das Konstrukt der pädagogischen Effizienz muss daher durch einen besonders hohen Aufwand verteidigt werden, selbst wenn man eine latente Bereitschaft der Öffentlichkeit, der Selbstdefinition zu folgen, unterstellt. Der besondere Aufwand, der im Bereich der symbolischen
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Pädagogik in solchen Einrichtungen betrieben wird, ist so zu erklären, dass die Kreditierung des Konstrukts, das heißt das Vertrauen in vorhandene pädagogische Aktivposten, nicht gefährdet werden darf. Aufgrund der Emergenz des vorhandenen Beziehungsgefüges, von eingespielten Austauschprozessen also, ist es in einem gesellschaftlichen System einfacher, wenn sich einzelne Sektoren oder Handlungseinheiten an dem schon Vorhandenen ausrichten und nicht versuchen, die Welt für sich neu zu schaffen. Sie werden jedoch nicht – wie in der klassischen Systemtheorie angenommen – in Richtung eines Gleichgewichts bewegt. Vielmehr verändern sich Systemteile in einem dynamischen Verhältnis mit anderen Systemteilen und -elementen sowie dem System als Ganzem. Dabei sind Konflikte unvermeidlich. Gleichgewichte sind nur relativ und passager; es kommt für die Systemteile darauf an, Reibungsverluste zu vermeiden und Ressourcen zu mobilisieren. Konstrukte signalisieren, welche institutionellen Neuregelungen sich als passend erweisen könnten. Insofern ist auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Konstrukten für das soziale Handeln von großer Bedeutung, wird doch darüber aufgeklärt, in welche Richtung sich der soziale Wandel bewegen könnte. Konstrukte machen nicht zuletzt für die Zukunft deutlich, wie sich Organisationen positionieren möchten. Im Aushandeln von Konstrukten, das heißt in der Auseinandersetzung mit Gegenentwürfen, werden soziale Kräfte deutlich, die ihrerseits auf Veränderungen der Gesellschaft Einfluss nehmen. Wer also Konstrukte des Bildungswesens und einzelner Schulen analysiert, und zwar Konstrukte, die in der Semantik der Tatsachenbehauptung formuliert sind, wird feststellen, wohin einzelne Institutionen bzw. die an ihrem Kontext orientierten Akteure oder die mit ihnen verbündeten gesellschaftlichen Kräfte im Verhältnis zu anderen individuellen und kollektiven Akteuren sich bewegen wollen. Konstrukte sind – eine derartig paradoxe Formulierung möge am Schluss dieser Arbeit erlaubt sein – ‚soziale Tatsachenދ. Sie können nicht abgeschafft werden und es gibt auch keine gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse, die Konstrukte überflüssig machten. Konstrukte haben die Funktion einer vorläufigen Positionsbehauptung sowie der Neupositionierung ‚auf Probeދ. Nichtsdestoweniger kann die Viabilität einzelner Konstrukte in Frage gestellt werden, und zwar insofern sie den Handlungsspielraum einengen und gesellschaftlichen Problemlösungen im Weg stehen. Konstrukte, die sich auf das Bildungswesen beziehen, zeigen in ihrer Vielfalt, wie wenig das Schulgeschehen festgelegt ist und wie zahlreich die Verbindungslinien sind, die die Schule mit anderen Teilen der Gesellschaft verbindet. Die Aufklärung über den Konstruktcharakter von Tatsachenbehauptungen, ja über die Funktionen von Konstrukten, kann dazu beitragen, angebliche Sachzwänge aufzulösen und Freiheitsspielräume zu nutzen.
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