Bilder der Liebe
Sandra Field
Romana 1180 – 20-1/97
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL
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Bilder der Liebe
Sandra Field
Romana 1180 – 20-1/97
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL
Marcia Barnes stand im Wohnzimmer ihres Apartments und blickte hinaus auf den Rideau Kanal. Einige beherzte Radfahrer fuhren trotz des Regens den Uferweg entlang. Die Szenerie wirkte beschaulich: An den Bäumen zeigten sich die ersten Blät ter, in den Beeten standen blühende Tulpen in schnurgeraden Reihen, und die Häuser sahen gut gepflegt aus. Kurz, alles war nett und ordentlich. Nicht so bei ihr. Marcia verzog das Gesicht. Seit der Sitzung nachmittags im Institut, in dem sie als Immunologin arbeitete, quälten sie Befürchtungen. Bei der Besprechung hatte der Direktor darauf hingewiesen, dass Budgetkürzungen notwendig seien, die zu, Personaleinsparungen führen könnten. Marcia arbeitete zwar schon seit sieben Jahren im Institut, aber das war keine Garantie für einen gesicherten Job. Solange sie sich erinnern konnte, war die Arbeit ihr Lebensinhalt. Ohne die wäre sie verloren. Um sich zu beruhigen, atmete Marcia tief durch. Wenigstens habe ich Lucys und Troys Einladung zum Abendessen ausgeschlagen, dachte sie. Schlimm genug, dass sie zugestimmt hatte, die beiden in der Galerie zu treffen, in der die Ausstellung ihres Freundes Quentin Ramsey eröffnet wurde. Der Name ließ sie an Tweedjacketts und Pfeifen denken. An einen vornehmen englischen Akzent. Und Landschaftsbilder aus dem vorigen Jahrhundert - mit Wolken wie Wattebällchen und gelassen wirkenden braunen Kühen ... Marcia fühlte sich ganz und gar nicht •gelassen. Dabei glaubte jeder, sie habe stets alles unter Kontrolle. Nun aber hatte sie das Gefühl, ihre geordnete Welt würde wie ein Kartenhaus einstürzen. Sie ging in die Küche und suchte die Einladung zur Vernissa-ge heraus. Diese fand in einer der exklusivsten Galeriei; statt, was Marcia allerdings egal war. Sie wollte sich nicht umziehen und ausgehen. Und sie wollte Quentin Ramsey nicht kennenlernen, für dessen Ausstellung mit dem Titel „Vielschichtige Persönlichkeiten" überall begeistert Werbung gemacht wurde. Außerdem mochte sie ihre Schwester Lucy und ihren Schwager Troy nicht sehen, die am Vortag in .Ottawa eingetroffen waren. Am liebsten hätte Marcia die Wanne mit heißem Wasser und duftendem Badeschaum gefüllt, sanfte Musik gehört und die Welt draußen vergessen. Wie sonst sollte man einen derartig anstrengenden Tag beenden? Marcia seufzte. Nein, das ging nicht. Lucy hatte sich schon gewundert, warum sie nicht mit ihr und Troy zu Abend essen wollte. Die beiden lebten eigentlich in Vancouver, waren aber mitsamt ihrem Baby für zwei Monate nach Ottawa gekommen, da Troy am Krankenhaus Kurse in Kinderheilkunde abhielt. Wenn ich nicht in der Galerie erscheine, glaubt Lucy, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sei, dachte Märcia. Aber das stimmt nicht, sagte sie sich heftig und rieb sich die Stirn. Es bestand nur die Möglichkeit, dass sie den Job verlieren würde. Sie hatte sich verändert und verstand sich selbst nicht mehr - und sie hatte keine Lust, ihre Schwester zu treffen. Lucy war groß und schön, und die ungebändigten roten Lok-.ken umrahmten ihr Gesicht. Sie hatte eine üppige Figur, und sie konnte herzlich und unbeschwert lachen. Ja, sie war so ganz anders als ihre ältere Schwester Marcia. Beneide ich Lucy und will sie deshalb nicht sehen? fragte Marcia sich. Was war nur mit ihr los? Die alte Standuhr, die ihrem Großvater gehört hatte, schlug die halbe Stunde. O nein, ich komme zu spät, dachte Marcia. Aber dann würde sie nur die Reden am Beginn der Ausstellungseröffnung verpassen ... Und Lucy und Troy inmitten einer Menge fremder Menschen treffen, so dass ein vertrauliches Gespräch unmöglich sein würde. Das war ihr eigentlich ganz recht.
Marcia ging ins Schlafzimmer und musterte den Inhalt des Kleiderschranks. Da Lucy meist intuitiv genau erfasste, wie ihre Schwester sich fühlte, wollte Marcia zumindest nach außen hin kühl und kompetent erscheinen. So wie sie sich bisher auch gefühlt hatte: als sachliche, beherrschte Frau, die ihr Leben meisterte. Rasch zog sie sich aus, duschte kurz und zog dann ein elegantes marineblaues Kostüm an. Dazu eine seidig glänzende marineblaue Nylonstrumpfhose, italienische Pumps und dezenten Goldschmuck. Anschließend legte Marcia Make-up auf, bürstete sich das schimmernde dunkle Haar, das zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten war, und überprüfte ihr Aussehen in dem hohen Wandspiegel. Sie sah, wie sie fand, jünger als dreiunddreißig aus. Aber wen kümmerte das schon? Rasch setzte sie die Brille auf, obwohl sie die Kontaktlinsen hätte tragen können. Aber hinter der Brille konnte sie sich sozusagen verstecken. Und das Gefühl brauchte sie jetzt, so kurz vor dem Treffen mit Lucy. Schließlich nahm Marcia Regenmantel und Schirm und verließ das Apartment. Mit dem Lift fuhr sie in die Tiefgarage. Ich begebe mich direkt zur Galerie, lerne den berühmten Quentin Ramsey kennen und lobe jede seiner vielschichtigen Persönlich keiten, nahm Marcia sich vor. Dann wollte sie Lucy und Troy für Sonntag zum Abendessen einladen, zusammen mit ihrer Mutter und der jüngsten Schwester Catherine. Damit wäre die Pflicht getan, und sie, Marcia, konnte wieder nach Hause fahren. „Vielschichtige Persönlichkeiten", was ist das bloß für ein alberner Titel für eine Gemäldeausstellung, dachte sie missmutig, als sie aus der Parklücke zurücksetzte. Viel zu intellektuell. Reine Effekthascherei. Aber sie musste Quentin Ramsey ja nicht mögen, nur weil er Lucys und Troys Freund war. Kritisch überprüfte Quentin sein Aussehen, bevor er sich zur Galerie aufmachte. In dem teuren Anzug, den er ohnehin nur etwa ein halbes dutzendmal im Jahr tragen wollte, sah er wie auf einem Reklamefoto aus: Der erfolgreiche und weltgewandte Maler Quentin Ramsey bei der Eröffnung seiner - sicher von Erfolg gekrönten Ausstellung „vielschichtige Persönlichkeiten". Wie war er nur auf diesen albernen Titel gekommen? Quentin kämmte sich das dunkle lockige Haar zurück, das ihm sofort widerspenstig in die Stirn fiel. Wenigstens weigert sich mein Haar, das zu tun, was man von ihm erwartet, dachte er. Seine Laune besserte sich. Er ging nicht gern zu den Vernissagen seiner Ausstellungen, aber es musste sein. Dass andere Menschen seine Bilder betrachteten und darauf reagierten, war durchaus in seinem Sinn. Aber er ertrug es nicht, wenn sogenannte Experten seine Werke mit nichtssagenden Etiketten wie „Dekonstruktivismus" und „postmodernem Abstraktionismus" versahen und ihnen damit jede Eigenart raubten. Wenigstens müssen sich die Kunstkritiker diesmal einige neue Begriffe einfallen lassen, dachte Quentin und lächelte schadenfroh. Es war höchste Zeit, dass er sie mal ein bisschen vor den Kopf stieß. Seine neuesten Bilder waren nämlich ganz anders als seine bisherigen Werke. Plötzlich merkte er, wie hungrig er war. Da für ein Abendessen keine Zeit mehr blieb, plünderte er den gesamten Vorrat an Erdnüssen und Salzbrezeln aus der Minibar. Quentin freute sich schon darauf, Lucy und Troy wiederzusehen. Deren Einladung zum Dinner hatte er leider ablehnen müssen, da er früh in den Galerie erwartet wurde. Aber wenn es nach ihm ging, würde er den Abend bei ihnen in der Wohnung beschließen. Er würde die Krawatte abnehmen und die Schuhe ausziehen, die ihn jetzt schon drückten, und ein, zwei Bier trinken. Und Lucys und Troys kleinen Sohn Chris bewundern. Quentin wusste besser als viele andere, wie viel das Baby ihnen bedeutete. So bald wie möglich würde er Ottawa wieder verlassen. Er fand die Stadt zu ordentlich und hübsch. Ihm jedoch gefiel die Natur besser. Wälder, sprudelndes
Wasser und Berge liebte er. Kein Hotelzimmer - egal wie luxuriös. Was ich wirklich brauche, ist eine Pause vom Malen und statt dessen Zeit, mal wieder ein Haus zu bauen, überlegte Quentin. Stämme zu zersägen, den würzigen Duft des Holzes einzuatmen - danach sehnte er sich. Das war nichts Neues. Auf seinen Reisen durch die ganze Welt hatte Quentin sich schon immer zwischen Phasen intensiver künstlerischer Arbeit der befriedigenden Tätigkeit des Häuserbauens gewidmet. Neu war allerdings, dass er diesmal ein Haus für sich bauen wollte. Seine eigenen vier Wände. Er schaute auf die Uhr und stöhnte. Schon so spät! Rasch nahm er den Mantel, fuhr mit dem Lift nach unten und rief ein Taxi. Während Quentin durch die regennassen Straßen fuhr, dachte er erneut an sein zukünftiges Haus. Er wollte sesshaft werden, das war ihm klar. Bisher war er sozusagen ein Vagabund gewesen schon von dem Moment an, als er mit drei Jahren dem Milchwagen nachgelaufen war und unbedingt mitgenommen werden wollte: Aber nun sehnte er sich nach einem Zuhause. Quentin war sechsunddreißig. Und er wollte nicht nur ein Zuhause, sondern eine Frau, die es mit ihm teilte. Aber es musste die richtige Frau sein. Nachdenklich betrachtete er die Tulpenbeete entlang der Straße, die ordentlichen Reihen farblich aufeinander abgestimmter Blüten, die er ausgesprochen langweilig fand. Mit ungefähr elf Jahren* war er zu der Überzeugung gekommen, er würde seine Traumfrau sofort erkennen. Das lag wohl daran, dass seine Eltern eine ungewöhnlich gute Ehe geführt hatten. Und sie hatten ihm oft und gern erzählt, wie sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt und sofort gewusst hatten, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Mit fünfundzwanzig hatte Quentin Helen geheiratet, obwohl Sie nicht seine Traumfrau gewesen war. Den Fehler hatte er schon sechs Wochen später bereut, aber trotzdem versucht, das Beste aus der Ehe zu machen. Als Helen ihn schließlich wegen eines Bankdirektors verließ, der doppelt so alt war wie sie, hatte Quentin nur erleichtert geseufzt und sich geschworen, nicht noch einmal die falsche Frau zu heiraten. Da er nicht eitel war, überraschte es ihn immer wieder, dass sich die Frauen in Scharen um ihn drängten. Schöne Frauen, verführerische Frauen und interessante Frauen - aber sie hatten ihn alle kaltgelassen. Wenn er aber nun seine Traumfrau nie finden würde? War er ein Narr, an dem romantischen Ideal von damals festzuhalten? War es verrückt, überhaupt ans Sesshaftwerden zu denken? Bisher hatte er gehen können, wohin er wollte und bleiben, solange es ihm gefiel. Wenn er heiratete, wäre es aus damit. Die ideale Frau ... gab es die überhaupt? Das Taxi hielt vor der Galerie. Ich bin einsam, wurde es Quentin plötzlich bewusst. Er hatte Erfolg, er war frei - und einsam. „Das macht zehn Dollar fünfundsiebzig", sagte der Taxifahrer. Quentin kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er bezahlte, stieg aus und eilte zur Galerie. So frei, wie ich glaube, bin ich gar nicht, sagte er sich. Denn er wäre lieber durch die regennassen Straßen gegangen als zur Eröffnung seiner Ausstellung. Die Galeriebesitzerin Emily Harrington-Smythe, eine Frau in den Fünfzigern, begrüßte Quentin und führte ihn kurz durch die Ausstellungsräume. Die Bilder waren ideal platziert und kamen bestens zur Geltung. Trotzdem hatte er das unangenehme Gefühl, sich gleich in aller Öffentlichkeit ausziehen zu müssen. Emily gab ihm einen Katalog und berichtete, welche prominenten Gäste zur Eröffnung erscheinen würden. Nicht übel für mich einfachen Jungen aus einem kleinen Dorf in New Brunswick, dachte Quentin und versuchte, sich die Namen zu merken. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Er wappnete sich, um die nächsten Stunden zu überstehen,
ohne die guten Manieren zu vergessen, die ihm seine Mutter mit so viel Mühe beigebracht hatte. Eine Dreiviertelstunde später herrschte reges Gedränge in der Galerie. Elf Gemälde waren bereits verkauft worden: Quentin war äußerst höflich zu dem einen Ehrengast - einem Minister - gewesen, der nichts von der Malerei nach neunzehnhundert hielt und dieser Meinung wortreich Ausdruck verlieh. „Quentin", hörte er eine Frau sagen und wandte sich um. „Lucy, wie schön, dich zu sehen." Er umarmte sie freudestrahlend. „Warst das wirklich du eben? So höflich?" fragte sie schalkhaft. „So kenne ich dich ja gar nicht." „Ich habe heute meine allerbesten Manieren aus der Versenkung geholt. Du siehst umwerfend aus, Lucy." Sie trug ein tief ausgeschnittenes violettes Kleid, das ihre schimmernden roten Locken und ihre wohlgeformte Figur bestens zur Geltung brachte. „Ich dachte mir, dass das Kleid dir gefallen würde", sagte Lucy selbstzufrieden. „Troy hat es für mich ausgesucht." Troy, ein großer, attraktiver, blonder Mahn, klopfte Quentin freundschaftlich auf die Schulter. „Schön, dich zu treffen. Wenn das hier vorbei ist, kommst du mit zu uns und erzählst uns alle Neuigkeiten. Okay?" „Abgemacht", erwiderte Quentin. „Vorausgesetzt, du hast Bier im Haus." „Heute nachmittag habe ich zwei Sechserpackungen besorgt." Emily näherte sich mit einem Mann, der nach einem weiteren Ehrengast aussah. Quentin zog die Brauen hoch. „Die Pflicht ruft. Ich unterhalte mich später mit euch." Der prominente Gast - ebenfalls ein Minister - stellte einige scharfsinnige Fragen und lauschte Quentins Antworten mit echtem Interesse. Dann musste dieser sich um eine reiche Witwe kümmern, die nichts von Kunst verstand, danach um einen Au tohändler, der sich einbildete, viel von Malerei zu verstehen, und seine Theorien dem Künstler aufdrängte. Endlich wurde Quentin den selbsternannten Kunstexperten los, besorgte sich ein Glas Wein und trank einen Schluck. Nicht übel, dachte er und hoffte, dass er bald wieder Lust verspüren würde, sich in den Trubel zu stürzen. In diesem Moment wurde die Eingangstur aufgestoßen. Geistesabwesend beobachtete Quentin die Frau, die eintrat, Sie schloss den Regenschirm, schüttelte ihn aus und straffte sich. Ihr dunkles Haar schimmerte im Licht. Meine Güte, dachte Quentin, es ist passiert. Ausgerechnet bei einer Vernissage. Das war sie: Die Frau, auf die er sein ganzes Leben lang gewartet hatte. Er stellte das Glas ab und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Einige Leute, die ihn anzusprechen versuchten, beachtete er einfach nicht. Er hatte nur Augen für die Unbekannte. Sie ist überhaupt nicht mein Typ, dachte Quentin wie benommen. Das strenggeschnittene Kostüm gefiel ihm gar nicht. Und erst die schreckliche Brille! Was, um Himmels willen, passierte mit ihm? Die Frau drehte sich um, nahm die Brille ab und putzte die beschlagenen Gläser mit einem Taschentuch. Gelassen sah sie sich um. Sie ist vielleicht nicht mein Typ, aber sie ist absolut hinreißend, dachte Quentin. Rasch ging er zu der Unbekannten. „Ich glaube nicht, dass wir uns kennen, oder?" fragte er und fühlte sich unbeholfen wie ein Jüngling. Sie war nur ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß und zierlich. Ihre veilchenblauen Augen wurden von dichten dunklen Wimpern umrahmt. Das Gesicht war fein geschnitten, das Make-up makellos. Schließlich blickte Quentin auf ihre Lippen, die weich aussahen und wie zum Küssen geschaffen waren. Sein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen. Verwundert fragte die Unbekannte: „Sind Sie der Galerist? Ich dachte..."
„Nein, ich bin der Maler." Fast feindselig sah sie ihn an. „Quentin Ramsey?" „Ja. Und wer sind Sie?" „Sie begrüßen doch sicher nicht jeden Gast an der Tür, oder?" erwiderte sie. „Nein, Sie sind die erste." „Und welchem Umstand verdanke ich diese Ehre?" fragte Marcia kühl. „Reden Sie doch nicht wie eine Romanheldin aus dem vorigen Jahrhundert. Das passt nicht zu Ihnen", meinte Quentin. Mit dem vornehmen britischen Akzent war es wohl nichts, dachte Marcia. Und auch nichts mit entsprechend vornehmen Manieren. „Wie wollen Sie beurteilen, was zu mir passt, Mr. Ramsey?" fragte sie. „Sind Sie möglichen Kunden gegenüber immer so unhöflich?" Quentin runzelte die Stirn, denn er versuchte, eine flüchtige Erinnerung festzuhalten. „Irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen", meinte er. „Eine sehr originelle Bemerkung", meinte Marcia ironisch. „Aber Sie irren sich. Ich bin Ihnen noch nie begegnet." Denn sonst würde ich mich an Sie erinnern, fügte sie im stillen hinzu. Allein schon wegen seiner unglaublich blauen Augen.... „Wie heißen Sie?" fragte Quentin. Sie atmete tief durch. Das Bild, das sie sich von Quentin Ramsey gemacht hatte, war absolut falsch gewesen. Vor ihr stand kein kultivierter Engländer, der gefällige Landschaftsbilder malte, sondern ein rauer Individualist, der aussah, als würde er sich mit einer Motorsäge in der Hand wohler fühlen als mit einem Pinsel zwischen den Fingern. Endlich antwortete sie: „Ich bin Dr. Marcia Barnes." „Was?" fragte Quentin entgeistert. „Sie sind Lucys Schwester?" Er sah so geschockt aus, als hätte Marcia ihm gerade ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet. Wütend erwiderte sie: „Lucy und ich sind völlig verschieden." „Und ob. Aber jetzt weiß ich, warum ich dachte, ich hätte Sie schon einmal gesehen: Bei Lucy im Wohnzimmer steht ein Foto von Ihnen." Quentin war völlig durcheinander - und vor allem enttäuscht. „Sie sind die Immunologin." „Ja genau." Er funkelte Marcia an. „Warum haben Sie sich nicht die Mühe gemacht, Lucy zu besuchen, seit das Baby da ist?" „Aber das habe ich doch! Vorigen November." „Na klar, Dr. Barnes. Sie haben es geschafft, auf dem Weg zu einer medizinischen Tagung gerade mal zwei Stunden bei Lucy vorbeizukommen. Nennen Sie das einen Besuch?" „Das geht Sie wirklich nichts ..." „Wenn Ihnen eine Tagung wichtiger ist als Ihre Angehörigen, dann steht es schlecht um Sie. Lucy hat mir von Ihnen erzählt. Ich würde Sie als ,Workaholic' bezeichnen." Plötzlich tauchte Emily Harrington-Smythe neben ihnen auf und fragte betont charmant: „Quentin, darf ich Sie kurz entführen? Mr. Brace möchte Ihnen noch ein, zwei Fragen stellen, bevor er das größte Ihrer Bilder kauft." Sie lächelte Marcia höflich an. „Sie entschuldigen uns?" „Mit dem größten Vergnügen", erwiderte Marcia betont. Quentin wollte das letzte Wort behalten. „Ihre Schwester und Ihren Schwager finden Sie nebenan", teilte er ihr mit. „Falls Sie Zeit für die beiden erübrigen können." Wütend sah Marcia ihm nach, als er sich wieder ins Gedränge begab. Sein Haar ist im Nacken etwas zu lang, stellte sie fest. Wenigstens war sie jetzt nicht mehr dem forschenden Blick seiner blauen Augen ausgesetzt ... Was bildete Quentin Ramsey sich eigentlich ein, sie, Marcia, wenige Minuten nach dem Kennenlernen zu kritisieren? Sie holte sich ein Glas Wein. Lucy musste sich bei Quentin über den Besuch damals beklagt haben, der tatsächlich sehr kurz gewesen war.
Nun lag Marcia noch weniger daran, Lucy zu treffen. Marcia ging durch den Ausstellungsraum Und betrachtete aufmerksam die Gemälde. Es waren abstrakte Bilder, und doch drückten sie Gefühle aus. Plötzlich wurde Marcia sich klar darüber, dass sie sich nicht erst seit heute verwirrt und innerlich leer fühlte. Die Gefahr, den Job zu verlieren, hatte diese Empfindungen nur verstärkt. Schließlich stand sie vor einem Bild mit dem Titel „Komposition Nummer acht", dessen farbige Spiralen sie wie reißende Strudel förmlich in die Tiefe zu ziehen schienen. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Mit einemmal wurde es Marcia bewusst, dass sie niemals die Gefühle empfunden hatte, die das Bild symbolisierte: Entzücken, Leidenschaft und Lebensfreude. Und nun war es dafür vielleicht zu spät. Ich kann hier nicht weinen, dachte Marcia bestürzt. Nicht in einem Räum voller fremder Menschen. Ich weine doch niemals, ermahnte sie sich. „Stimmt etwas nicht?" Diese Stimme hätte Marcia überall wiedererkannt. Mühsam antwortete sie: „Lassen Sie mich in Ruhe, Mr. Ramsey." Tränen schimmerten in ihren Augen. Das ging Quentin zu Herzen. „Es tut mir leid, dass ich eben unhöflich zu Ihnen war", sagte er ausdruckslos. „Sie hatten recht. Die Beziehung zwischen Ihnen und Lucy geht mich nichts an." Orange, Gelb, ein Aufleuchten von Scharlachrot - die Farben des Gemäldes flimmerten Marcia vor den Augen und schienen zu flackern wie züngelnde Flammen, die sie verbrennen würden, wenn sie ihnen zu nahe kam. Quentin umfasste ihren Arm, führte sie in einen kleinen, leeren Raum und schloss die Tür. „So, jetzt können Sie nach Herzenslust weinen", meinte Quentin. „Niemand sieht Sie hier." Doch, Sie, Mr. Ramsey, dachte Marcia. „Ich weine gar nicht", behauptete sie. „Ich weine niemals." . „Ach so, dann sind Sie wahrscheinlich gegen Farben allergisch. Ihre Augen tränen nämlich. Hier, bitte." Er hielt ihr ein blütenweißes Taschentuch hin. „Sie wirken nicht wie ein Mann, der sich etwas aus weißen Taschentüchern macht", sagte Marcia unüberlegt. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Quentin sie. „Und wie wirke ich?" Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. „Wie eine Schaufensterpuppe. Sie müssten eigentlich Jeans und ein Sweatshirt tragen, nicht einen teuren Anzug und eine Designer-Krawatte." „Der Anzug hat mich ein kleines Vermögen gekostet", informierte Quentin Marcia kühl. „Und Ihnen tut es um jeden einzelnen Cent dafür leid, stimmt's?" erwiderte sie unbedacht. Er lachte schallend. „Wie wahr." Marcia sah ihn erstaunt an. „Der Anzug sitzt wie angegossen", meinte sie ausweichend. „Ich wollte nicht unhöflich sein." Das stimmte tatsächlich. Und gerade deshalb wirkte Quentin überwältigend männlich und beeindruckend athletisch. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß und muskulös. Sein dunkles lockiges Haar war dicht und schimmerte. Und seine Bilder strahlten eine mitreißende Lebenskraft aus, die Marcia nie empfunden hatte. Plötzlich war sie äußerst beunruhigt, wusste aber nicht, worüber. Fast fürchtete sie sich. Aber wovor? „Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte", sagte Marcia unvermittelt. „Meine Bilder wahrscheinlich auch", bemerkte Quentin scharfsinnig. Darüber wollte sie nicht sprechen. Sie nahm einen kleinen Spiegel und ein
Papiertaschentuch aus der Handtasche und tupfte sich die Wangen trocken. „Wir sollten wieder nach nebenan gehen. Man vermisst Sie sicher schon", meinte Marcia sachlich. So leicht ließ Quentin sie nicht davonkommen. „Warum hat ausgerechnet dieses bestimmte Bild Sie zu Tränen gerührt?" fragte er. Weil es all das symbolisiert, was ich mein ganzes Leben lang verpasst habe - und was ich jetzt bitter bereue, antwortete Marcia im stillen. Laut sagte sie, bemüht gelassen: „Da Sie mit Lucy über mich gesprochen haben, müssten Sie doch wissen, dass ich ein sehr zurückhaltender Mensch bin. Meine Reaktion auf Ihr Bild geht nur mich etwas an." Lucy hatte ihm nicht viel über Marcia erzählt. Dennoch hatte Quentin den Eindruck gewonnen, dass Lucy ihre Schwester zwar liebte, sich ihr aber nicht nahe fühlte. Offensichtlich war Marcia eine Frau, die in ihrer Arbeit aufging und Gefühle nicht an sich herabließ. Und das sollte die Frau sein, von der er seit Jahren träumte? Sein Gefühl sagte ihm ganz deutlich, dass sie es wäre. Aber vielleicht irrte er sich? Quentin hatte schon einmal den Fehler gemacht, nicht auf seine innere Stimme zu hören. Damals, als sie ihn gewarnt hatte, Helen zu heiraten. Machte er jetzt wieder einen Fehler? Hielt er Marcia nur deshalb für seine Traumfrau, weil er endlich seiner Traumfrau begegnen wollte? Weil er sich nämlich einsam fühlte? „Warum sehen Sie mich so an?" fragte Marcia gereizt. Quentin riss sich zusammen. „So wie Lucy Sie beschrieben hat, sind Sie keine Frau, die wegen eines abstrakten Bilds zu weinen anfängt." Marcia war wütend. War es deshalb, weil Lucy mit Quentin über sie geredet hatte, oder weil er sie, Marcia, so gut durchschaute? Sie wusste es nicht. „Ach ja? Und was ..." Es klopfte an der Tür. Erleichtert meinte Marcia: „Ihr Publikum wartet auf Sie, Mr. Ramsey." „Bitte, nennen Sie mich doch Quentin. Gehen Sie nachher noch zu Lucy und Troy, wenn die Vernissage vorbei ist?" „Nein, sicher nicht." Die Tür wurde geöffnet, und Emily Harrington-Smythe schaute herein. „Quentin? Ich brauche Sie dringend hier draußen." „Ich komme sofort." Er streckte die Hand aus und nahm Marcia die Brille weg. „Sie haben wunderschöne Augen. Vor wem verstecken Sie sich eigentlich?" „Vor aufdringlichen Menschen wie Ihnen. Geben Sie mir die Brille zurück!" Quentins Augen glitzerten. „Nur, wenn Sie mir versprechen, morgen mit mir essen zu gehen." „Ich bin mir sicher, fast jede Frau hier wäre begeistert, Ihre Einladung anzunehmen, Mr. Ramsey, aber ich zähle nicht dazu." „Auch nicht, wenn ich mir Jeans anziehe?" Sein Lächeln war fast unwiderstehlich. Es kostete Marcia einige Willenskraft, nicht ebenfalls zu lächeln. „Meine Brille, bitte!" „Lucy gibt mir sicher Ihre Telefonnummer." „Mein Telefon zeigt die Nummer desjenigen an, der mich anruft. Und wenn ich glaube, dass Sie es sind, hebe ich einfach nicht ab", warnte sie ihn. „Es braucht mehr als moderne Technik, um mich abzuschrecken, Dr. Barnes. Ich will nämlich unbedingt wissen, warum mein Bild Sie zum Weinen gebracht hat." Quentin reichte ihr endlich die Brille und küsste Marcia auf die Nasenspitze. „Wir sehen uns noch." Er ging hinaus, hakte Emily unter und sagte eindringlich: „Das Bild .Komposition Nummer acht' ist unverkäuflich. Hängen Sie bitte eine entsprechende Notiz daneben." „Das kann ich nicht", erwiderte sie sachlich. „Schließlich steht es im Katalog."
„Dann schreiben Sie, es sei schon verkauft. Ich kaufe es." „Was ist denn in Sie gefahren, Quentin? So seltsam haben Sie sich bei einer Vernissage noch nie aufgeführt. Sie können nicht Ihr eigenes Bild kaufen. Außerdem hat Mr. Sorensen ein Auge • darauf geworfen, und er ist in unserer Stadt sehr einflussreich." „Tut mir leid für Mr. Sorensen, aber er bekommt es nicht. Ich will es." „Aber..." „Tun Sie, was ich Ihnen sage, Emily", meinte Quentin und lächelte freundlich. „Wenn Sie nächstes Jahr wieder eine Ausstellung mit meinen Bildern organisieren wollen." „Na schön", erwiderte .Emily gekränkt. „Aber ich verlange die volle Provision von Ihnen." „So gut wie sich die anderen Bilder verkaufen, kann ich mir das leisten", meinte er. „Ist der Herr dort drüben der letzte Ehrengast? Dann werde ich mal wieder meine Show abziehen."
2. KAPITEL Marcia blieb in dem leeren Raum und versuchte, ihren Ärger über Quentins Unverfrorenheit zu unterdrücken. Allerdings war sie zugleich amüsiert wegen seiner Hartnäckigkeit. Mr. Quentin Ramsey war es nicht gewöhnt, abgewiesen zu werden. Darauf hätte Marcia gewettet. Mit der Ablehnung war es ihr allerdings völlig ernst gewesen. Sie hatte genug Probleme, auch ohne sich mit einem Mann zu treffen, der ihr Fragen stellte, die sie nicht beantworten wollte. Und der ihr mit seinen unglaublich blauen Augen bis auf den Grund der Seele zu schauen schien. Außerdem war Quentin - wie Marcia sich widerstrebend eingestand - umwerfend sexy. Er war zwar nicht im üblichen Sinn gut aussehend, aber sein markantes Gesicht verriet Charakter und Lebenserfahrung. Seine Hände wirkten zugleich kräftig und sensibel, sein Körper war fest und durchtrainiert. Sie hatte viel bemerkt in den wenigen Minuten. Zuviel für ihren Seelenfrieden. Ihr Gefühl sagte ihr, sie solle unverzüglich die Galerie verlassen. Doch wenn ich das tue, bekommen Lucy und Troy einen Anfall, dachte Marcia. Sie straffte die Schultern und ging in den Ausstellungsraum zurück. Quentin sprach mit einem Mann in einem grauen Nadelstreifenanzug und wirkte höflich und aufmerksam. In diesem Moment wandte er sich um und zwinkerte ihr zu. Marcia hob das Kinn und ging rasch in den Nebenraum. Dort standen Lucy und Troy und betrachteten ein kleines Bild. Er hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, und Lucy schmiegte sich liebevoll an ihren Mann. Wieder stiegen Marcia Tränen in die Augen. Bisher hatte sie Ehe und seelische Bindungen gemieden. Warum fühlte sie sich, angesichts des Glücks ihrer Schwester, plötzlich wie eine Versagerin? Mühsam riss sie sich zusammen. Immerhin war sie für ihre Selbstbeherrschung bekannt. „Hallo, Lucy. Guten Abend, Troy." Lucy wirbelte herum. „Marcia! Ich freu' mich ja so, dich zu sehen." Sie küsste sie auf die eine Wange, Troy auf die andere. Dann trat Lucy einen Schritt zurück und betrachtete Marcia aufmerksam. „Du siehst müde aus", bemerkte sie. „Ist alles in Ordnung?" „Mir geht es ausgezeichnet. Ich hatte nur außergewöhnlich viel zu tun. Was hältst du von der Ausstellung?" „Dort drüben hängen vier Seidendrucke, die ich am liebsten sofort mitnehmen würde. Und die realistischen Bilder finde ich brillant. Sie weichen völlig von Quentins üblichem Stil ab." Lucy wies auf das kleine Bild. „Dieses hier ist bezaubernd." Fast fotografisch genau hatte Quentin drei kleine Mädchen gemalt, die über eine Wiese mit buhten Blumen liefen. Das Bild wirkte jedoch keineswegs kitschig und sentimental. „Die sehen ja aus wie wir", meinte Marcia spontan. „Du, Catherine und ich? Stimmt - zwei dunkelhaarige Mädchen und ein Rotschopf." Lucy lachte. „Vielleicht hat Quentin bei mir das Kinderfoto von uns drei Schwestern gesehen " „Würdest du das Bild gern haben, Schatz?" fragte Troy und betrachtete seine Frau zärtlich. „Ich hätte es gern", verkündete Marcia, ohne zu überlegen. Lucy blickte sie nachdenklich an, und Troy zog die Augenbrauen hoch. Entsetzt über sich, sägte Marcia rasch: „Nein, das meinte ich nicht ernst. Nimm du es, Lucy." „Hast du Quentin schon kennengelernt?" erkundigte sich ihre Schwester. „Ja, aber ich habe nur ganz kurz mit ihm gesprochen. Bitte, Lucy, vergiss, dass ich gesagt habe, ich wolle das Bild. Kauf es ihr, Troy." „Nein, liebe Schwägerin, ich kaufe es für dich", entgegnete Troy. „Zum letzten
Geburtstag habe ich dir nichts geschenkt." „Wir schenken uns doch nie etwas Teures", protestierte Marcia. „Dann ist das die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ich bin gleich wieder da." Und zum drittenmal an diesem Abend spürte Marcia Tränen in den Augen. Lucy stellte sich vor sie, um sie gegen die Blicke der anderen Besucher abzuschirmen. „Du bist heute gar nicht wie sonst", bemerkte Lucy. „Was stimmt denn nicht?" „Nichts, Alles. Ich weiß nicht." „Iß morgen mit mir zu Mittag." „Das geht nicht. Ich muss arbeiten." „Zum Kuckuck mit deiner Arbeit, Marcia." „Für Sonntag möchte ich Mom und Catherine zum Abendessen einladen. Kannst du mit Troy ebenfalls kommen?" „Liebend gern", erwiderte Lucy prompt. „Also um sechs Uhr. Ach, ich wünschte, Troy würde mir das Bild nicht kaufen." „Unsinn, Marcia. Schade, dass wir es nicht gleich mitnehmen können. Es paßt wundervoll in dein Schlafzimmer." Ein Bild von Quentin Ramsey in ihrem Schlafzimmer? Unter gar keinen Umständen, dachte Marcia und sah, wie Emily Harrington-Smythe mit Troy an der Seite auf sie zukam. „Eine exzellente Wahl", lobte Emily und klebte die kleine rote Marke, die das Bild als verkauft auswies, an die Wand. „Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag, Marcia", sagte Troy und lächelte. Das Bild gehörte jetzt also ihr, ob sie es wollte oder nicht. Marcia stellte sieh auf die Zehenspitzen und küsste ihren Schwager aufs Kinn. „Danke; Troy, das ist wirklich lieb von dir." „Und nun suchen wir Quentin und erzählen ihm, was wir getan haben", schlug er vor. Bestürzt erwiderte Marcia: „Nein, jetzt muss ich wirklich gehen. Ich sehe euch beide ja am Sonntag." Sie lächelte flüchtig und eilte aus dem Raum. Quentin stand lachend am anderen Ende der Galerie, umringt von drei äußerst attraktiven Frauen. Marcia zog sich den Mantel an, nahm den Schirm und lief nach draußen in den Regen. Am nächsten Morgen rief Marcia ihre Mutter an. Dr. Evelyn Barries war Gerichtsmedizinerin, eine gelassene und freundliche Frau sowie eine ausgezeichnete Golfspielerin. Am Telefon klang sie diesmal ungewöhnlich aufgekratzt. „Ein Familienessen?" fragte sie. „Sonntag abend? Moment, ich hole rasch meinen Terminkalender ... Hör mal, Marcia, könnte ich jemand mitbringen?" „Ja natürlich, Mom. Deine Freundin Lilian?" „Nein, die nicht..." antwortete Mrs. Barnes. „Einen Mann." Marcias Mutter mangelte es nicht an Verehrern, aber sie hatte diese nie mit ihren Töchtern zusammengebracht. „Du tust ja so geheimnisvoll, Mom", bemerkte Marcia. „Wie heißt er denn?" „Henry Woods. Er ist Börsenmakler. Ich ... also, ich hätte gern, dass ihr ihn kennenlernt." Marcia versuchte, sich ihre Neugier nicht anmerken zu lassen. „Okay, Mom. Um sechs Uhr abends also?" „Fein. Wir sehen euch dann." Obwohl Evelyn sich normalerweise immer nach den letzten Neuigkeiten erkundigte, hängte sie diesmal ohne ein weiteres Wort den Hörer auf. Marcia legte ebenfalls auf. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, ihre Mutter wäre verliebt. Aber ihre kühle, sachliche Mutter verliebt? Unvorstellbar. Jedenfalls wird meine Party sicher nicht langweilig, dachte Marcia.
Kurz bevor Sonntag abend die Gäste kamen, überprüfte Marcia ihr Make-up. Sie hatte ausnahmsweise ihre eleganten, aber langweiligen Sachen im Kleiderschrank gelassen und auch die Brille nicht aufgesetzt. Vielmehr trug Marcia eine enge schwarze Hose und einen langen schwarzen Pullover, dazu hochhackige Pumps. Schließlich ist es, trotz des unbekannten Mr. Woods, nur ein Familientreffen, dachte Marcia trotzig, frischte den leuchtendroten Lippenstift auf und befestigte große goldene Ohrringe an den Ohrläppchen. Kurz darauf klingelte es, und sie öffnete. Lucy reichte ihr das Baby, um sich den Mantel auszuziehen, und sagte: „Wir haben Quentin mitgebracht. Das macht dir doch nichts aus, oder, Marcia? Die Cocktailparty, zu der er heute eingeladen war, wurde nämlich abgesagt." Christopher Stephen Donovan, wie das Baby mit vollem Namen hieß, griff nach Marcias glitzernden Ohrringen und sabberte ihr auf den Pullover. Marcia ging beiseite, damit ihre Gäste eintreten konnten. Quentins Augen waren noch blauer, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte ... „Nein, einer mehr macht gar nichts", versicherte Marcia. Lucy hängte den Mantel auf und tupfte Marcias Pullover mit einem Papiertuch ab. „Chris zahnt mal wieder", erklärte sie. „So, ich nehme dir das Baby ab." Der Kleine hatte allerdings die Ärmchen um Marcias Nacken geschlungen und den Kopf an ihre Schulter gepresst. Das Baby duftete nach Puder und fühlte sich weich und warm an. Ach du meine Güte, gleich weine ich wieder, dachte Marcia und drückte Chris fester an sich. Dabei hatte sie bisher niemals Kinder gewollt, nicht eine Sekunde lang in dreiunddreißig Jahren. Quentin hatte inzwischen seinen Mantel aufgehängt und sich das Haar glattgestrichen. Nicht, weil er besonders ordentlich aussehen wollte, sondern um Zeit zu gewinnen und sich zusammenzureißen. Denn als er Marcia erblickt hatte, war ihm zumute gewesen, als hätte ein Blitz ihn getroffen. Er hätte sie am liebsten umarmt und bis zur Besinnungslosigkeit geküsst. Aber sie hielt das Baby im Arm, und unwillkürlich stellte sich Quentin vor, es wäre sein und Marcias Kind. Du bist verrückt, sagte sich Quentin. Sie hatte noch nicht einmal seine Einladung zum Essen angenommen, und er dachte schon an Vaterfreuden. „Die sind für Sie, Marcia", sagte er und hielt ihr einen üppigen Strauß aus orangefarbenen, rosa, dunkelroten und violetten Blumen hin. Sie schaute Quentin an und konnte plötzlich den Blick nicht mehr abwenden. „Danke", sagte sie atemlos. „Lucy gibt Ihnen eine Vase." „Ich habe meinen Anzug im Hotel gelassen", fügte Quentin hinzu. Er trug eine graue Cordhose und einen dunkelblauen Pullover und sah umwerfend attraktiv aus. „Ja, das ist mir nicht entgangen", erwiderte Marcia. Quentin gab Lucy den Blumenstrauß und ging zu Marcia. „Der Kleine wird Ihnen noch die Haare ausreißen. Lass los, Chris." Sie spürte Quentins Finger auf dem Nacken und seinen warmen Atem auf der Haut. Ein erregendes Prickeln überlief Marcia. Steif stand sie da, während Chris, protestierend brabbelte und noch fester zupackte. Sie zuckte zusammen. „Vorsicht, Chris ... so, lass schon los. Na bitte." Ganz sanft hatte Quentin die Finger des Babys aus dem Haar gelöst. Als er ihr das Kind abnahm, streifte sein Arm ihre Brust. Hitze durchflutete Marcia, was Quentin sicher nicht verborgen blieb. Ich werde nicht rot, ermahnte sie sich und sagte: „Ich muss mich kurz ums Essen kümmern. Bin gleich wieder da." Lucy folgte Marcia in die Küche. „Kommt Mom auch?" fragte Lucy. „Ja. Sie bringt einen Freund mit", erklärte Marcia und berichtete ihrer Schwester kurz den Inhalt des Telefongesprächs. Noch bevor sie damit fertig war, erschien
Catherine in der Küche, und Marcia musste den Bericht wiederholen. Catherine war zierlich und dunkelhaarig wie Marcia, elegant wie ihre Mutter, ebenfalls Medizinerin und arbeitete in der Krebsforschung. „Ich habe drei Wochen lang Urlaub", jubelte Catherine. „Und da ich nächste Woche auf Lydias Hunde auf passe, werde ich viel Bewegung an frischer Luft bekommen. Etwas mehr Sonne könntest du auch brauchen, Marcia. Du bist blass." „Zufällig hat es die letzten vier Tage ständig geregnet", erwiderte Marcia trocken. „Oder ist dir das entgangen? Würdest du den Krabbendip und die Cracker herumreichen, Catherine? Troy kann sich um die Drinks kümmern." Lucy hatte inzwischen den Blumenstrauß in Marcias größte Vase gesteckt. „Wo soll ich ihn hinstellen?" Plötzlich tauchte Quentin an der Küchentür auf. „Ich stelle ihn auf den Tisch", verkündete er. Marcia hatte ein hübsches Seidenblumengesteck dort platziert, das genau zu ihrem Porzellan passte. Er stellte das Gesteck beiseite und setzte stattdessen seinen kunterbunten Strauß mitten auf den Tisch. Quentin war wirklich unausstehlich: Er traf Entscheidungen, ohne sie zu fragen, und benahm sich, als gehörte die Wohnung ihm. Als er in die Küche zurückkam, bemerkte Marcia eisig; „Das einzige, was Ihrem Strauß noch fehlt, ist ein Blumenkohl." „Vielleicht habe ich nächstes Mal mehr Glück und erstehe einen." „Nächstes Mal? Sie sehen nicht aus wie jemand, dem das Leben in der Stadt gefällt, Quentin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie es lange in Ottawa aushalten" „Stimmt, aber ich bleibe ganz in der Nähe", erwiderte er. „Ein Freund von mir besitzt ein Landhaus in den Gatineau Hügeln, und da er verreist ist, verbringe ich einige Tage dort. Sie und ich wollen ja noch zusammen zum Essen gehen, Marcia. Oder haben Sie das schon vergessen?" „Sie sind sehr selbstsicher, Mr. Ramsey." „Selbstvertrauen bringt Erfolg, Dr. Barnes." „Bisher hat es Ihnen vielleicht dazu verholfen", erwiderte Marcia zuckersüß. „Schlagen Sie mir vor, die Taktik zu ändern?" „Nein, sondern das Projekt fallenzulassen." „Das möchte ich nicht. Sie sind eine interessante Herausforderung." Marcia funkelte Quentin an. „Sie beleidigen mich." Er kam näher zu ihr und sagte leise: „Es hat Ihnen gefallen, als ich Sie vorhin zufällig berührte." Marcia presste die Lippen zusammen und dachte an Eisberge, Gletscher und Whisky mit Eiswürfeln, um nicht rot zu werden. „Na und?" erwiderte sie schließlich. „Deswegen sinke ich Ihnen noch lange nicht zu Füßen." Quentin machte das Gespräch nun richtig Spaß. „as wäre ja auch ein ziemlich verrücktes Benehmen. Jedenfalls ist mir noch nie eine Frau vor die Füße gesunken, O je, bin ich als Mann deshalb ein Versager? Ach Troy, für mich ein Bier bitte." Hatte Troy etwa den Wortwechsel gehört? Entsetzt sagte Marcia steif: „Entschuldigt mich. Oh, es klingelt. Das wird Mom sein." Evelyn Barnes sah sehr attraktiv aus. Sie trug ein rosa Kleid, und ihr graues Haar umrahmte locker ihr Gesicht. Ihre bisherigen Verehrer - soweit Marcia sie kennengelernt hatte - waren groß, gut aussehend und selbstsicher gewesen. Henry Woods hingegen war ziemlich klein, rundlich und kahl, aber er hatte warm blickende braune Augen. Sie mochte ihn auf Anhieb. Während Troy die Drinks herumreichte, legte sie noch ein Gedeck für Quentin auf, und zwar so, dass der Blumenstrauß ihn vor ihr verbergen würde. Zweieinhalb Stunden später füllte Marcia die Kaffeefilter in der Küche. Das Abendessen war ein Erfolg gewesen. Quentin und Henry hatten sich als witzig und unterhaltsam erwiesen. Catherine war nicht so reserviert wie sonst gewesen, und
wenn die Unterhaltung zu erlahmen drohte, hatte das Baby für Gesprächsstoff gesorgt. Marcia hatte den Kontakt zu Quentin auf das Nötigste beschränkt. Wenn es nach ihr ging, konnte er gar nicht schnell genug in die Gatineau-Hügel übersiedeln. Als sie die Sahne aus dem Kühlschrank nahm, stellte Marcia fest, dass nicht mehr genug da war und sie vergessen hatte, neue zu besorgen. Rasch ging sie ins Wohnzimmer, wo Troy und Quentin gerade das Schachbrett aufbauten und Evelyn ihrem Enkelsohn die Flasche gab. „Ich muss kurz ins Geschäft an der Ecke", sagte Marcia. „Es ist nicht mehr genug Sahne da." Quentin stand auf. „Ich begleite Sie. Nach dem hervorragenden Essen brauche ich unbedingt etwas Bewegung." Da es unhöflich gewesen wäre, ihn abzuweisen, nahm Marcia das Portemonnaie, zog sich Mantel und Stiefel an und verließ mit Quentin die Wohnung. Er trug einen Trenchcoat und sah wie ein besonders verwegener Agent aus. „Gehen wir doch die Treppe hinunter", schlug Quentin vor. „Ich hätte keine zweite Portion Schokoladenmousse essen sollen, aber sie schmeckte hervorragend." „Sie bestand nur aus Schokolade, Butter und Schlagsahne", erklärte Marcia unschuldig. „Und sechs Eiern." „Haben Sie als Medizinerin kein schlechtes Gewissen, wenn Sie eine so verlockende Cholesterinbombe fabrizieren?" „Mousse ist Catherines Lieblingsdessert, obwohl meine Schwester eine Gesundheitsfanatikerin ist. Übrigens, der Artikel, von dem Catherine uns erzählte, war sehr interessant, oder?" Quentin hatte sich allerdings nicht in den strömenden Regen gewagt, um über Catherine zu reden. Er spannte den Schirm auf, hielt ihn über sich und Marcia und hakte sie unter. „So", sagte er. „Endlich allein." Sein Gesicht war ihrem ganz nah, sein Blick wirkte forschend. Kühl erwiderte Marcia: „In einer Großstadt wie Ottawa ist man nie wirklich allein." „Keine Haarspalterei, Marcia. Unter diesem Regenschirm befinden sich nur zwei Menschen. Machen Sie doch wenigstens einmal keine Ausflüchte." „Gut, wir beide sind also allein. Na und?" „Warum haben Sie in der Galerie beim Anblick meines Gemäldes geweint?" fragte Quentin nachdrücklich. „Quentin, ich habe Gäste, die auf den Kaffee warten. Beeilen Sie sich doch." „Sie sind intelligent, dazu kompetent, kochen hervorragend -und haben Angst vor Ihren Gefühlen. Das ist eine interessante Kombination, Marcia." Sie wandte sich Quentin zu. „Möchten Sie die Wahrheit wissen? Ohne Ausflüchte? Sie vergeuden Ihre Zeit mit mir. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. Falls ich vor Gefühlen Angst habe, dann mit gutem Grund. Als intelligente Frau, wie Sie sagen, kann ich das beurteilen. Aber ich erzähle meine Lebensgeschichte nicht jedem Mann, dem ich zufällig begegne." Ihm gefiel es nicht, als flüchtige Bekanntschaft abgetan zu werden. Er wollte für Marcia jemand Besonderes sein und sie aus ihrem kühlen Gleichmut aufrütteln. Mit der freien Hand streichelte er ihr glattes Haar. „In den Sachen sehen Sie sehr sexy aus", meinte Quentin rau. Marcia wurde rot. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie als ungebetener Gast kommen, hätte ich etwas anderes angezogen", erwiderte sie scharf und hätte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen. „Möchten Sie nicht, dass ich Ihr wahres Ich sehe?" fragte er. „Ich weiß nicht, was mein wahres Ich ist", rief Marcia entnervt. „Und jetzt los, Quentin, es regnet in Strömen." „Vielleicht bringe ja ich Sie dazu, die Wahrheit zu erkennen", meinte Quentin. Er umfasste ihr Kinn und küsste sie auf den Mund. Ihre Lippen waren weich und
verführerisch, und für eine Weile verlor Quentin alles Zeitgefühl. Als Marcia ihn schließlich wegschob, war es wie ein Schock für ihn. „Sie dürfen mich nicht küssen, als wären wir ein Liebespaar in einem Hollywoodfilm", sagte sie stockend. „Sie kennen mich doch kaum. Außerdem haben Sie jetzt Lippenstift auf dem Mund." Nun klang sie nicht mehr kühl und gelassen, denn sie hatte unwillkürlich den Kuss kurz erwidert. Quentin zog ein Taschentuch heraus und reichte es ihr. „Wischen Sie mir bitte die Farbe ab?" „Deshalb haben Sie immer ein sauberes Taschentuch dabei. Das hätte ich mir denken können", erwiderte sie schnippisch und rieb ihm unnötig heftig über die Lippen. Plötzlich wurde Quentin wütend. „Ich will Ihnen mal eins sagen: Mein Vater war Holzfäller in einem kleinen Ort in New Brunswick und meine Mutter arbeitete als Putzfrau. Für sie war ein weißes Taschentuch das Zeichen eines Gentleman. Als ich mit zwölf Jahren einen kleinen Kunstpreis gewann, schenkte sie mir drei Dutzend weiße Taschentücher. Ich bin vielleicht kein Gentleman geworden, aber ich liebte und schätzte meine Mutter. Deshalb habe ich immer ein weißes Taschentuch einge steckt." Marcia stand still da. Wasser tropfte vom Schirm, und ihr wurden allmählich die Füße kalt. „Die dumme Bemerkung tut mir leid", entschuldigte sie sich. Das klang - wie Quentin fand - aufrichtig. „Okay. Aber Sie gehen mir wirklich unter die Haut, Marcia." „Das beruht auf Gegenseitigkeit", erwiderte sie heftig und wischte ihm die letzte Spur Lippenstift ab. Quentins Nase war leicht schief, seine Augenbrauen und Wimpern waren so dunkel wie sein Haar. Und sein Mund …Sie erschauerte, aber nicht vor Kälte. Marcia war noch nie in ihrem Leben so geküsst worden. Kurz, intensiv und verwirrend. Sie hakte sich bei Quentin unter und ging mit ihm weiter. Nach einer Weile sagte er: „Essen Sie morgen mit mir zu Abend." „Ich kann nicht." „Dann am Dienstag." „Sind Sie dann nicht schon aufs Land gezogen?" „Na und? Ich habe ein Auto. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde." „Dort ist das Geschäft. Ich brauche nur eine Minute", sagte Marcia atemlos und flüchtete sich förmlich in den Laden. Noch ein Kuss, und ich wäre Quentin tatsächlich zu Füßen gesunken, dachte sie kritisch. Sie nahm einen Becher Sahne aus dem Regal und ging zur Kasse. Aber nur, weil ihre Hormone plötzlich verrückt spielten, brauchte sie, Marcia Barnes, noch lange nicht mit Quentin auszugehen. Es war vielmehr ein Grund, sich von ihm fernzuhalten. Sie hatte genug Probleme, auch ohne sich mit ihm einzulassen. Draußen stand Quentin wartend unter einer Laterne. Er bringt mich tatsächlich dazu, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, wurde es Marcia bewusst, und sie war darüber nicht sehr glücklich. Denn davor hatte sie bisher immer die Augen zu schließen versucht. Nein, sie wollte auf keinen Fall mit ihm ausgehen. Aber wie sollte sie ihm das klarmachen? Während sie sich noch den Kopf darüber zerbrach, kam Quentin ihr zuvor. „Wenn Sie zuviel zu tun haben, um während der Woche mit mir auszugehen, warte ich gern bis zum Wochenende." Marcia biss sich auf die Lippe und machte sich auf den Rückweg. „Quentin, ich möchte Sie nicht mehr treffen. Tut mir leid, wenn das schroff klingt, aber so ist es nun einmal." „Warum wollen Sie nicht?" „Eben darum", antwortete sie. „Okay?"
„Nein, verdammt noch mal, es ist nicht okay. Ich weiß, dass Sie sich zu mir hingezogen fühlen. Und ich wette, Sie verlieren Ihre Gelassenheit sonst nicht so wie bei mir. Mein Gemälde hat Sie zum Weinen gebracht. Ihr Körper reagiert unwillkürlich, wenn ich Sie berühre. Und je mehr ich von Ihnen sehe, desto überzeugter bin ich, dass Lucy nicht die geringste Ahnung hat, wie Sie wirklich sind." Er atmete tief durch. „Außerdem wollten Sie unbedingt mein Bild von den drei kleinen Mädchen haben." „Wenn ich ein bestimmtes Bild haben möchte, heißt das noch lange nicht, dass ich mit dem Maler ausgehen muss", entgegnete Marcia wütend. „Sie sind kein Dummkopf, Quentin, und die Botschaft ist einfach. Warum kapieren Sie sie nicht?" „Weil ich nicht will", erwiderte er angespannt. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, bekam er plötzlich Angst. Wenn er sich vorgestellt hatte, seine Traumfrau zu finden, hatte er sich immer ausgemalt, sie wäre ebenso begeistert, ihn zu entdecken wie umgekehrt. Aber Marcia wirkte überhaupt nicht begeistert. „Warum bedrängen Sie mich so?" fragte sie aufgebracht. „Das verstehe ich nicht." „Wenn ich es Ihnen zu erklären versuche, lachen Sie mich wahrscheinlich aus." „Dann lassen Sie es doch einfach gut sein, Quentin." „Das kann ich nicht." Wieder atmete er tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Da ich vorhabe, Troy und Lucy öfter zu besuchen, werden Sie und ich uns zwangsläufig wieder begegnen. Außer, Sie meiden Ihre Schwester und Ihren Schwager in den nächsten zwei Monaten." „Das nicht, aber wenn ich sie besuche, werde ich mich absichern, dass Sie dann nicht auch eingeladen sind", sagte Marcia ärgerlich. „Ich bin Ihnen also nicht gleichgültig, denn sonst wäre es Ihnen egal, mich zu treffen." „Ich mag es nicht, ständig belästigt zu werden." Quentin ging langsamer. „Das ist ein hässliches Wort." „Dann hören Sie doch einfach auf, mich zu bedrängen." Widerspenstig hob sie das Kinn. Verzweifelt sagte Quentin: „Marcia, ich habe noch nie eine Frau angefleht, Zeit mit mir zu verbringen. Bisher hatte ich das nicht nötig. Wenn ich mich jetzt ungeschickt anstelle, liegt es an mangelnder Übung. Trotzdem bitte ich Sie inständig, mir eine Chance zu geben. Sie bedeuten mir sehr viel, auch wenn ich mir das selbst nicht erklären kann. Aber das Gefühl ist echt." Erleichtert sah Marcia, dass sie vor dem Haus angekommen waren. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um Quentin anzuschauen. Er wirkte so verzweifelt, dass sie in ihrem Entschluss fast wankend geworden wäre. „Es hat keinen Sinn. Bitte, glauben Sie mir, Quentin." Marcia versuchte zu lächeln. „Es tut mir leid." Das war das einzig Vernünftige, wie sie genau wusste. Eine Beziehung mit Quentin würde nicht oberflächlich sein. Besser, sie zu beenden, bevor sie richtig begonnen hatte. Aber warum verspüre ich dasselbe bittere Bedauern wie beim Anblick seines Gemäldes? fragte Marcia sich. Ein Gefühl, als hätte sie mutwillig etwas Schönes zerstört? Sie eilte nach drinnen und die Treppe hinauf. Die nächsten zwei Stunden waren für Marcia eine Tortour. Aber schließlich standen Evelyn und Henry auf, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Quentin erhob sich und dehnte die verspannten Schultern. Troy hatte ihn beim Schach geschlagen, weil er mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Ich hätte meine Gelassenheit bewahren sollen, sagte sich Quentin. Alles leicht und oberfläch lich lassen sollen. Statt dessen hatte er Marcia geküsst, bevor sie dazu bereit gewesen
war, und sie so bestürmt, als wäre es seine Absicht gewesen, sie zu überrumpeln. Für einen Mann, der kein Dummkopf war, wie sie gesagt hatte, hatte er alles gründlich verdorben. Und er hatte keine Ahnung, was er beim nächsten Mal unternehmen sollte, um es wiedergutzumachen. Das hieß, laut Marcia würde es ja kein nächstes Mal geben ... Quentin verließ als letzter die Wohnung. Marcia wich vor ihm förmlich zurück, und ihm fiel auf, dass sie müde und erschöpft wirkte. Mitgefühl erfüllte ihn. Und die Furcht, Marcia tatsächlich nie mehr wiederzusehen. Rau sagte er: „Wenn Sie es sich anders überlegen, lassen Sie es mich wissen. Lucy und Troy können Ihnen sagen, wo Sie mich finden." „Ja ... ja, natürlich", erwiderte sie und schloss die Tür. Marcia kann es kaum erwarten, mich loszuwerden, dachte Quentin. Er ging zum Lift, wo die anderen auf ihn warteten, und plauderte über Belangloses mit ihnen, bis Troy ihn am Hotel absetzte. Dort ging er in die Bar und bestellte sich einen Rum.
3. KAPITEL
Am folgenden Sonntag aß Marcia mit Lucy in einem Bistro zu Mittag. Nachdem sie bestellt hatten, sagte Lucy unverblümt: „Du siehst nicht gerade toll aus, Marcia." Marcia wusste es und kannte auch den Grund dafür; Aber sie wollte nicht über Quentin sprechen, deshalb nahm sie zu einer Halbwahrheit Zuflucht. „Vorigen Dienstag wurde ich zum Direktor zitiert, der mir mitteilte, wegen der Budgetkürzungen müssten die Angestellten, die erst seit wenigen Jahren im Institut sind, eine Woche unbezahlten Urlaub nehmen. Sobald wie möglich. Deshalb habe ich seit Freitag Ferien." Lucy kam ohne Umschweife zum Kernpunkt. „Und wie wirken sich die Sparmaßnahmen auf deine Forschung aus?" „Die Medikamente, die ich teste, werden nicht mehr gekauft, weil sie zu kostspielig geworden sind. Also könnte die Arbeit von drei Monaten den Bach runtergehen." Frustriert verzog Marcia das Gesicht. „Das macht mich noch verrückt." „Wie sicher ist dir dein Job?" fragte Lucy geradeheraus. Marcia drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern. „Ich könnte ihn verlieren", sagte sie mit verräterisch zitternder Stimme. „Ach Marcia, das tut mir leid." Lucy streckte ihr die Hand hin. Marcia biss sich auf die Lippe. „Es ist verrückt, sich deswegen so sehr den Kopf zu zerbrechen, aber ich liebe nun mal meine Arbeit." Sie trank einen große« Schluck Wein. „In zwei oder drei Wochen erfahre ich Genaueres." „Dein ganzes Leben dreht sich um deine Forschungen, stimmt's?" bemerkte Lucy sanft. „Hör auf, oder ich fange gleich zu heulen an." Marcia lächelte schwach. „Weinen kann durchaus das Richtige sein." „Nicht in einem Restaurant." „Da hast du recht." Lucy bestrich eine Scheibe Weißbrot mit Butter. „Was hast du denn jetzt vor?" „Ich bin mir noch nicht sicher." Um nichts in der Welt hätte Marcia ihrer Schwester gestanden, dass die Aussicht auf sieben arbeitsfreie Tage sie in Panik versetzte. „Fahr doch in das Landhaus von Quentins Freund in den Gatineau-Hügeln", schlug Lucy vor. „Sei nicht albern", erwiderte Marcia scharf. Schon die Erwähnung von Quentins Namen machte sie nervös. „Es wäre aber ideal für dich. Quentin ist ohnehin nicht dort. Er ist nach New York geflogen, weil jemand in einer Galerie eins seiner Bilder mutwillig zerstört hat und er den Schaden begutachten muss. Erst am Freitag oder Samstag kommt Quentin zurück. Hat er mir jedenfalls gesagt." Dann könnte ich aus meinem Apartment und der Stadt flüchten, dachte Marcia. Trotzdem meinte sie: „Ich war noch nie eine große Naturliebhaberin." „Gestern war ich mit Troy und dem Baby dort draußen. Es ist herrlich. Das Haus liegt an einem See, umgeben von Wäldern, und es ist richtig luxuriös." „Ich müsste aber vorher Quentin fragen, ob es ihm recht ist Lucy. Und das kann ich ja nicht, da er in New York ist." „Keine Sorge, ich übernehme die Verantwortung. Quentin hoffte nämlich, ich und Chris würden bis zu seiner Rückkehr im Haus bleiben. Aber Troy hat mittags und zwei Nachmittage in der Woche frei, und ich möchte soviel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Quentin hätte sicher nichts dagegen, wenn du im Landhaus wohnst und nach dem Rechten siehst." Marcia wusste, warum ihre Schwester nicht einmal eine Woche ohne ihren Mann auskommen wollte. Lucys und Troys erstes Kind war im Alter von sieben Monaten
gestorben, und diese Tragödie hatte ihre Ehe in eine schwere Krise gestürzt. Ein ganzes Jahr lang hatten die beiden getrennt gelebt. Jetzt, da sie wieder zusammen waren, wollte Lucy nicht auf die Gesellschaft ihres Mannes verzichten. Außerdem fühlte sie sich weniger besorgt, wenn sie Troy - der ja Kinderarzt war - jederzeit erreichen konnte, falls Chris etwas fehlte. „Chris ist wirklich ein kleiner Schatz", meinte Marcia unvermittelt. Tränen schimmerten plötzlich in Lucys graublauen Augen. „Ja, das ist er. Wir haben Glück. Und jetzt ist der Kleine älter als sieben Monate, also mache ich mir nicht mehr so viele Sorgen." Sie nahm sich noch eine Scheibe Brot. „Möchtest du eigentlich jemals Kinder haben, Marcia?" „Was soll die Frage?" Das klang betont beiläufig. „Du sahst so süß aus, als du Chris im Arm gehalten hast." „Meiner Meinung nach gehört zur Mutterschaft mehr, als mit einem Baby im Arm süß auszusehen", erwiderte Marcia. „Wie gefällt es Troy, Kurse abzuhalten?" „Gut. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet." „Das werde ich auch nicht. Weil ich nämlich die Antwort nicht weiß." Lucy betrachtete Marcia nachdenklich. „Du hast dich mit Quentin nicht gut verstanden, oder?" Finster blickte Marcia drein. „Hast du mich zum Essen eingeladen, um mich einem Verhör zu unterziehen?" „Genau." Lucy lächelte entwaffnend. In dem Moment erschien die Kellnerin und servierte das Essen. „Wünschen Sie sonst noch etwas?" fragte sie. „Nein danke", antwortete Marcia und begann zu essen. Über Quentin wollte sie sich nicht unterhalten. Obwohl sie ihn erst zweimal getroffen hatte, dachte sie ständig an ihn. Wenn sie am Computer arbeitete, sah Sie Quentins Gesicht vor sich, und wenn sie durchs Institut ging, stellte sie sich vor, er wäre an ihrer Seite. Noch schlimmer erging es ihr zu Hause, wo nichts sie ablenkte. Marcia hatte seit Tagen nicht gut geschlafen. Und wenn sie schlief, träumte sie von Quentin. Manchmal waren es erotische Träume. Erhitzt und erregt wachte sie dann auf, erfüllt von brennender Sehnsucht. Und hin und wieder wachte sie mit wild klopfendem Herzen und feuchten Händen aus Alpträumen auf. Es waren immer dieselben: Sie ertrank im Meer, wurde immer weiter hinuntergezogen, Und wenn sie dann durch das wirbelnde Wasser Quentins Gesicht über sich sah und ihm bedeutete, er solle sie retten, unternahm er nichts. Sein dunkles Haar umrahmte wie Seetang sein Gesicht, und sein Lächeln wirkte spöttisch ... „Ich möchte wirklich nicht über Quentin reden, Lucy", sagte Marcia endlich kurz angebunden. Lucy, die sonst oft sehr impulsiv war, aß schweigend weiter. Marcia stocherte in ihrem Salat herum. „Wie fandest du Moms Freund Henry?" fragte sie. „Er ist wirklich sehr nett. Glaubst du, Mom will ihn heiraten?" „Unsere Mutter noch mal heiraten? Nein", antwortete Marcia überzeugt. „Sie fühlt sich sicher manchmal einsam, da Troy und ich so weit weg leben und du und Catherine äußerst beschäftigt seid." „Wir sind Workaholics, wolltest du wohl sagen", meinte Marcia trocken. Mit dem Wort hatte Quentin sie beschrieben. „Ja, das lag mir auf der Zunge, aber ich wollte nicht unhöflich sein." Lucy lachte. „Ach Marcia, ich finde es herrlich, Zwei Monate hier in Ottawa zu bleiben. Ich liebe Vancouver und natürlich meinen Mann und meinen Sohn, aber manchmal vermisse ich Mom, dich und Catherine sehr." Nun hätte Marcia ebenfalls sagen können, dass ihr Lucy fehle. Aber stimmte das?
War es ihr, Marcia, nicht lieber, ihre Schwester nicht zu sehen, die sie mit ihrer unbefangenen Art, Gefühle zu zeigen, immer wieder aus dem inneren Gleichgewicht brachte? „Familienbande sind etwas ganz Besonderes", bemerkte Marcia ausweichend. „Stimmt. Übrigens, ich hätte gedacht, du würdest dich mit Quentin bestens verstehen, wenn ihr euch kennenlernt." „Hör auf, Lucy." „Seltsam, als wir ihn gestern trafen, sah er genauso elend aus wie du. Und er wollte ebensowenig über dich reden wie du über ihn." „Dann solltest du den Wink mit dem Zaunpfahl kapieren und endlich das Thema wechseln." „Er war ein so wunderbarer Freund, als ich damals während meiner Trennung von Troy auf Shag Island lebte", redete Lucy unbeirrt weiter. „Wie der Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte." Marcia konnte sich Quentin nicht als ihren Bruder vorstellen. Deshalb sagte sie ausdruckslos: „Er ist mir zu energiegeladen, irgendwie zu überwältigend. Tut mir leid, wenn ich dir damit deine Träume zerstöre, ihn eines Tags als Schwager zu bekommen, aber so ist es nun mal. Können wir uns jetzt, bitte, über etwas anderes unterhalten? Oder jemand anders?" Lucy seufzte. „Troy behauptet immer, ich sei unverbesserlich romantisch. Okay, okay - ich hör ja schon auf. Trotzdem gebe ich dir den Schlüssel für das Landhaus und eine Wegbeschreibung. Nimm übrigens Vorräte mit. Quentin ist kein vorbildlicher Hausmann. Und wenn du Freitag früh von dort abfährst, besteht keine Gefahr, dass du ihm in die Arme läufst. Schade ..." Marcia funkelte ihre Schwester an, deshalb fügte diese schnell hinzu: „Möchtest du nächsten Samstag mit mir und Troy ins Kino und danach zum Essen gehen? Catherine hat versprochen, auf Chris aufzupassen." Lucy lächelte verlegen. „Ich fühle mich noch immer nicht wohl dabei, Chris in der Obhut eines Babysitters zu lassen, der keine medizinische Ausbildung hat. Albern von mir, oder?" „Ich finde es verständlich", erwiderte Marcia und füllte die Gläser nach. „Welchen Film würdest du dir denn gern ansehen?" Während Lucy über die Vorzüge verschiedener neuer Filme sprach, erinnerte sich Marcia unwillkürlich an das Jahr, in dem Lucy und Troy getrennt gewesen waren. Beide waren damals äußerst unglücklich - ein Zeichen dafür, wie tief ihre Liebe trotz allem ging. Marcia hatte das verstanden. Aber sie hatte ihrer Schwester nicht helfen können, und das war für sie eine ganz neue Erfahrung gewesen. Sonst meisterte sie nämlich alle Schwierigkeiten. Vielleicht ist mir damals zum erstenmal bewusst geworden, •wie langweilig mein Leben eigentlich ist, dachte Marcia nun. Seitdem fühlte sie sich zunehmend verwirrt und ziellos, was für sie völlig ungewohnt und beunruhigend war. Und deshalb durfte sie sich auf keinen Fall mit Quentin einlassen, der sie jetzt schon aus dem Konzept brachte - nach nur zwei Begegnungen. Marcia widmete sich wieder Lucy, und sie unterhielten sich über alles mögliche außer Männer und Familienbande. Und als Marcia zu ihrem Auto ging, hielt sie den Schlüssel zu dem Landhaus und eine flüchtig auf die Rechnung skizzierte Wegbeschreibung in der Hand. Warum auch nicht? Wenn ich die nächste Woche allein in meinem Apartment verbringe, fange ich womöglich an, mit meinen Topfpflanzen zu reden, dachte Marcia. Einige Tage an einem See, mit vielen Büchern und ohne eine Menschenseele würden ihr sicher guttun. Aber sie würde schon Donnerstag abends wieder nach Ottawa fahren, um ganz sicherzugehen, dass sie Quentin nicht begegnete. Montag morgen belud Marcia ihr kleines graues Auto mit Vorräten, Kleidern, Büchern
und einem tragbaren Fernseher. Danach fuhr sie los und summte dabei fröhlich vor sich hin. Wann hatte sie das letzte Mal etwas so Spontanes getan? Jedenfalls war es zu lange her. Wenn sie sonst Ferien machte, plante sie alles sorgfältig im voraus. Marcia hatte sich vorgenommen, alle Romane zu lesen, die sie im letzten Jahr gekauft und aus Zeitmangel ungeöffnet ins Bücherregal gestellt hatte. Außerdem wollte sie einige neue italienische Rezepte ausprobieren und sich diejenigen Sendungen im Fernsehen anschauen, die sie sonst immer verpasste, weil sie meist Überstunden im Institut machte. Kurz gesagt, sie würde eine herrliche Zeit verleben. Beim Versuch, Lucys Wegbeschreibung zu folgen, verfuhr Marcia sich zweimal. Kein Wunder, denn Lucy besaß nicht viel Orientierungssinn. Aber endlich gabelte sich die Straße, wie beschrieben, und die rechte Abzweigung endete nach dreihundert Metern tatsächlich an einem Tor mit dem Schild „Richardson" - Das war der Name von Quentins Freund, dem das Landhaus gehörte. Nachdem Marcia das Tor geöffnet hatte, hindurchgefahren war und es hinter sich wieder geschlossen hatte, fuhr sie einen holprigen Weg unter Buchen und Ahornbäumen entlang, an deren Zweigen sich die ersten Blätter zeigten. Schließlich gelangte sie auf eine Lichtung und bremste. Zwischen den Bäumen schimmerte der See, und der Boden war wie mit einem weißen Teppich aus Buschwindröschen bedeckt. Das Landhaus war beeindruckend. Es war aus Zedernholz gebaut, mit Holzschindeln gedeckt und passte perfekt zur Umge bung. Marcia lächelte freudestrahlend, fuhr vor und hielt an. Als sie ausstieg, bemerkte sie zuerst die Stille, die nur vom leisen Plätschern der Wellen und Vogelgezwitscher durchbrochen wurde. Die Hausfront, die zum See wies, war fast ganz aus Glas zwischen massiven Balken gefertigt, und in ihr spiegelten sich die Bäume und der Himmel. Wie im Traum ging Marcia zur Haustür schloss auf und ging hinein. Entsetzt stöhnte sie, auf. Was hatte Lucy gesagt? Quentin sei kein vorbildlicher Hausmann? Das war die Untertreibung des Jahres. Hemden und Pullover hingen über Sesseln. Bücher, Zeitungen und schmutziges Geschirr türmten sich auf den Tischen und sogar dem Boden, und in der Ecke mit dem meisten Licht standen eine Staffelei und Malutensilien. Marcia rümpfte die Nase. Es roch nach Terpentin und Leinöl - und etwas anderem, Unangenehmeren. Der Geruch drang aus der Küche. Marcia riss sich zusammen; stieg über einten Stapel Zeitschriften und entdeckte auf dem Küchentisch die Reste von Quentins letzter Mahlzeit: einen gemischten Salat mit Sardellen, die den strengen Geruch ausströmten und einige Fliegen angelockt hat. Quentin war ein großartiger Künstler- und ein Chaot So wie es hier aussieht, komme ich heute nicht dazu, meine Romane zu lesen, dachte Marcia. In einem derartigen Durcheinander hielt sie es nicht aus. Zuerst holte sie ihr Gepäck aus dem Auto und zog sich Shorts und ein T-Shirt an. Dann machte sie sich an die Arbeit. Als erstes warf sie die Essensreste weg und öffnete sämtliche Fenster. Der Inhalt des Kühlschranks verriet Marcia, dass Quentin ausländisches Bier, Schweizerkäse und Steak mochte. Im Regal entdeckte sie einige Bücher, die sie ebenfalls lesen wollte. Quentins Sachen waren ziemlich abgetragen. Auf der hinteren Veranda fand sie Jeans und ein Hemd, die völlig mit Lehm bespritzt waren. Sie steckte sie in die Waschmaschine im Keller. Nun musste sie nur noch die Teppiche saugen und den Boden fegen, und die untere Etage wäre fertig. Überrascht stellte Marcia fest, dass es schon Nachmittag war. Rasch machte sie sich Tee und ein Sandwich und setzte sich damit aufs Sofa. Interessiert sah sie sich um. Im unteren Stockwerk gab es nur einen großen Raum
mit der Küchenregion an einem Ende. Dicke Balken trugen die Decke. Die Sonne malte Kringel auf die polierten Holzdielen, und von jedem Fenster bot sich der Ausblick auf Bäume, den See und den Himmel. Jetzt erst, nachdem Marcia aufgeräumt hatte, kam die Atmosphäre des Hauses richtig zur Geltung: eine behagliche Atmosphäre, in der man sich wohl fühlte. Über dem Kamin hing eins von Quentins abstrakten Bildern. Seine sanften Blauund Grüntöne spiegelten die Farben von draußen wider und holten sozusagen die Natur nach drinnen. Ich räume nicht nur deshalb auf, weil mir Unordnung zuwider ist, überlegte Marcia und biss in ihr Sandwich. Nein, sie machte es deshalb, um möglichst viele Spuren von Quentins Anwesenheit zu verwischen. Seine Sachen zu falten, das von ihm benutzte Geschirr zu spülen und die Hosentaschen zu durchsuchen, bevor sie die Jeans in die Waschmaschine steckte, waren ihr wie ein Einbruch in seine Privatsphäre erschienen. Marcia wusste nun viel mehr über Quentin als noch drei Stunden vorher. Mehr, als ihr lieb war. Das einzige, was sie nicht angerührt hatte, waren seine Malsachen. Die waren ihr wie ein Tabu vorkommen. Sie hatte auch vermieden, das Bild auf der Staffelei genauer zu betrachten: ineinander verschlungene Kreise, die trotzdem einen Eindruck von Unverbundenheit vermittelten. Das Bild war beunruhigend. Darüber, dass es womöglich Quentins Gefühle für sie, Marcia, ausdrückte, wollte sie keinesfalls nachdenken. Sie machte sich wieder an die Arbeit und war eine halbe Stunde später fertig. Zufrieden schaute Marcia sich um. Alles wirkte ordentlich und frisch. Energisch ging sie nach oben. Vor der Tür zu Quentins Schlafzimmer zögerte sie jedoch kurz und betrat es dann nur widerstrebend. Als erstes fiel ihr das ungemachte Bett auf. Der Mund wurde ihr bei dem Anblick seltsam trocken, und sie ließ rasch einen Blick durchs Zimmer gleiten. Der Raum war schön proportioniert und hatte eine schräge Decke mit Dachfenstern sowie Nischen, in denen Sitzkissen lagen. Die Wände zwischen den Balken waren weiß gestrichen. Das Bild über dem Bett brachte Marcia unwillkürlich zum Lächeln. Es zeigte einen kleinen Jungen, der angelnd an einem Fluss saß. Die Szene strahlte Frieden aus, ähnlich wie das Bild mit den drei kleinen Mädchen, das Troy ihr zum Geburtstag ge schenkt hatte. An der gegenüberliegenden Wand hing allerdings ein Gemälde, das Marcia wie ein Schlag aus dem Hinterhalt traf, denn es drückte tiefe Verzweiflung aus. Und es erinnerte sie an den gequälten Ausdruck auf Quentins Gesicht, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Es ist aber das einzig Richtige gewesen, Quentin abzuweisen, sagte Marcia sich. Hastig ging sie zum Bett und zog die Bettwäsche ab. Einen Pyjama entdeckte sie nicht. Vielleicht schlief Quentin nackt? Hör auf, Marcia, ermahnte sie sich. Sie hatte seit ihrer Ankunft unablässig an Quentin gedacht. Aber wie er schlief - und mit wem - ging sie überhaupt nichts an. Schließlich hatte sie ihn abgewiesen. Und wenn es mir zuviel wird, hier ständig an ihn erinnert zu werden, kann ich sofort nach Hause fahren, dachte Marcia, während sie frische Laken und Bezüge aus dem Schrank holte. Aber das wollte sie nicht. Denn wenn sie sich jetzt ins Auto setzte und nach Ottawa zurückfuhr, hätte Quentin gewöhnen. Indem sie mit ihrer Flucht zugab, dass er ihr alles andere als gleichgültig war. Wenn ich mit Aufräumen fertig bin, denke ich einfach nicht länger an ihn, sagte Marcia sich. Seine Bilder konnte sie ja für die Dauer ihres Aufenthalts unter dem Bett verstecken. Sie wollte auch deswegen nicht in ihr Apartment zurück, weil sie dringend Urlaub von ihren Sorgen brauchte: ihrem Job und ihrer Familie. Vielleicht fand sie dann heraus, was mit ihr eigentlich los war. Warum sie Lucy zugleich liebte und beneidete.
Warum sie die ganze Zeit arbeitete. Und warum ein Mann mit unglaublich blauen Augen sie in ihren Träumen heimsuchte. Vor dem Abendessen machte Marcia einen Spaziergang und entdeckte dabei am Seeufer eine überdachte Terrasse mit einer Hängematte, die an den Streben befestigt war. Eine ganze Stunde lang machte sie es sich darin bequem, ein offenes Buch im Schoß, das sie allerdings nicht las. Das leise Plätschern der Wellen versetzte sie in eine so friedliche Stimmung, wie sie sie sonst nicht empfand. Nicht empfinden wollte. Schließlich ging Marcia ins Haus zurück, legte eine CD auf, kochte grüne Nudeln mit Muschelsoße und bereitete als Dessert einen Obstsalat zu. Die Sonne ging hinter den Bäumen unter und warf lange Schatten auf das Gras. Die Vögel zwitscherten nicht mehr. Es war völlig still. Marcia erschauerte vor Unbehagen. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen, und sie hatte nicht daran gedacht, ein Stück die Straße entlangzufahren, um festzustellen, wo die nächsten Nachbarn wohnten. Sie ging in die Küche und versi cherte sich, dass die Hintertür versperrt war. Daraufhin zog sie die Jalousien herunter und verriegelte alle Fenster im unteren Stockwerk. Anschließend spülte sie und trocknete ab. Danach legte sie eine andere CD auf und griff sich einen ihrer Romane. Es war ein gutgeschriebenes Buch, das sie dennoch nicht zu fesseln vermochte. Sie klappte es zu, ging in die Küche und machte Karamelbonbons. Wieder spülte Marcia das benutzte Geschirr und wünschte sich, sie hätte nicht schon so gründlich aufgeräumt, denn dann hätte sie sich jetzt noch beschäftigen können. Draußen war es dunkel. Um sich zu beweisen, dass sie vor der Finsternis keine Angst hatte, ging Marcia vor die Tür. Der Himmel war mit Sternen übersät, und Marcia fühlte sich unsagbar einsam. Jeder fühlt sich gelegentlich so, sagte Marcia sich gereizt und ging wieder nach drinnen. Dort nahm sie sich ein anderes Buch und zwang sich, bis halb elf zu lesen. Anschließend duschte sie, zog sich den Pyjama an und begab sich ins Schlafzimmer. Ohne zu überlegen, nahm sie das abstrakte Bild von der Wand, wickelte es in ihren anderen Pyjama und versteckte es hinter dem Schreibtisch. Dann stellte sie sich aufs Bett und öffnete das eine Dachfenster einen Spaltbreit, denn es war warm, im Zimmer, und mit Regen war nicht zu rechnen. Schließlich legte Marcia sich hin und knipste die Lampe aus. Vor zwei Nächten hatte Quentin noch in demselben Bett gelegen. Aber ich denke nicht an Quentin, sondern schlafe jetzt, sagte Marcia sich streng. Und tatsächlich schlief sie ziemlich schnell ein. Marcia wachte in völliger Dunkelheit auf und rieb sich die Augen. Sie zog sich die Decke bis ans Kinn, denn ihr war kalt. Der Wecker zeigte an, dass es zehn vor eins war. Plötzlich hörte Marcia ein Geräusch und richtete sich kerzengerade auf. Vor dem Haus wurde eine Autotür zugeschlagen. War draußen ein Einbrecher? Jemand, der das Haus verwüsten wollte? Oder ein Mörder? Eins war sicher: Sie würde nicht bleiben, um es herauszufinden. Ganz leise öffnete Marcia das Dachfenster, so weit es ging, umklammerte den Fensterrahmen und sprang hoch. Sie landete bäuchlings auf dem Rahmen. Dann schlängelte sie sich durch das Fenster, lag reglos auf dem Dach und lauschte angestrengt. Im unteren Stockwerk wurde das Licht angeknipst, Lichtstreifen schimmerten auf dem Rasen. Marcia schloss die Augen und verstand plötzlich, warum Strauße bei Gefahr den Kopf in den Sand steckten. Im nächsten Moment verkrampfte sie sich unwillkürlich, als jemand das Schlafzimmer betrat. Licht fiel herein, und sie fühlte sich auf dem Dach wie auf dem Präsentierteller. Marcia hielt den Atem an. Erleichtert
hörte sie, wie die Schritte sich wieder entfernten und auf der Treppe erklangen. Jetzt war es ganz still. Marcia stemmte die Zehen gegen das Dach, um nicht abzurutschen, und fragte sich, wie lange sie sich würde halten können. Irgendwo unten wurde ihr Name gerufen. „Marcia? Wo, zum Kuckuck, stecken Sie? Ich bin's, Quentin. Sie brauchen keine Angst zu haben. Marcia!" Quentin war hier. Kein Einbrecher. Marcia atmete auf und lockerte unwillkürlich den Griff am Fensterrahmen, woraufhin sie abzurutschen drohte. Mit einem Schrei klammerte sie sich wieder fest. Sie hörte, wie jemand zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufeilte. Gleich darauf knarrte der Holzfußboden im Schlafzimmer. „Marcia? Wo sind..." Plötzlich erschien Quentin am Dachfenster. „Um Himmels willen, Sie haben mich fast zu Tode erschreckt", sagte er und blickte ihr in die Augen. „Ich Sie?" fragte Marcia heiser. „Was glauben Sie, was Sie mit mir gemacht haben?" „Wieso sind Sie da draußen auf dem Dach?" Quentin sah so stark, verlässlich und vertraut aus, dass, Marcia vor Erleichterung fast übermütig wurde. „Warum wohl? Um die Sterne zu bewundern und Eulen zu beobachten? Nein, ich verstecke mich vor einem Eindringling, der mich kurz zuvor in meinem Schlafzimmer überfallen wollte." „Das ist nicht Ihr Schlafzimmer, Marcia, sondern meins." „Seien sie doch nicht so pingelig", erwiderte sie gereizt. Quentin verspürte nun keine beklemmende Angst mehr, sondern überschwängliche Freude. Marcia war da. Warum, wusste er nicht, und es war ihm auch egal. Hauptsache, dass sie bei ihm war. Ihre Augen wirkten so dunkel wie der Nachthimmel, und das Haar umrahmte ihr feingeschnittenes Gesicht. Am liebsten hätte er sie geküsst. „Sie sind so schön wie die Königin der Nacht", sagte er. „Ich würde Ihnen gern ein Ständchen bringen nach alter Minnesängerart." Marcia taten inzwischen die Arme weh. Aber sie schien ihr übliches, vernünftiges Ich zurückgelassen zu haben, als sie aufs Dach kletterte, denn sie antwortete: „Ich habe noch nie ein Ständchen bekommen, während ich auf einem Dach hing." Quentin verspürte Eifersucht. „Und bei welcher Gelegenheit hat man Ihnen ein Ständchen gebracht, Marcia?" Sie lachte. „Bei einer Fahrt auf einem ziemlich schmutzigen Kanal in Venedig. Der Gondoliere hat für das Vergnügen einen hohen Preis gefordert. Nicht besonders romantisch, oder?" „Ich mache das sicher besser", meinte Quentin. „Sind denn die Männer in Ottawa solche Waschlappen, dass sie sofort die Flucht ergreifen, wenn Sie sie von oben herab ansehen?" „Alle Männer sind nicht besser als Ratten", behauptete Marcia heftig. „Und auf wie vielen Exemplaren beruht diese Schlussfolgerung?" erkundigte sich Quentin und stellte sich unwillkürlich vor, wie Männer von Marcias Haustür weg bis ins Zentrum von Ottawa Schlange standen. „Quentin, ich möchte mein bisheriges Liebesleben nicht diskutieren, während ich mich fünf Meter über dem Erdboden mit letzter Kraft an einen Fensterrahmen klammere." „Das klingt vernünftig. Hier, halten Sie sich fest." Er hielt ihr die Hand hin. „Gemeinsam schaffen wir Sie sicher ins Zimmer zurück." Sie umklammerte sein Handgelenk und versuchte, sich wieder durch das Fenster zu schieben. Die Schindeln schürfte» ihren Knöchel auf, und sie stieß schmerzhaft mit dem Ellbogen gegen den Fensterrahmen. Dann glitt sie irgendwie durch die Öffnung und Quentin in die Arme. Er stolperte rückwärts, und sie landeten, eng umschlungen, auf dem Bett.
4. KAPITEL
Marcia lag unter Quentin. Durch sein dünnes Hemd konnte sie die Wärme seiner Haut spüren, und seine Schulter drückte gegen ihre Brust. Seine Schenkel pressten ihre Beine gegen die Matratze. Er war schwer, aber nicht so unangenehm schwer, dass Marcia ihn hätte wegschieben wollen. Er stützte sich auf den Ellbogen. „Alles in Ordnung mit Ihnen?" fragte Quentin besorgt. Feine Fältchen zeigten sich in den Augenwinkeln, und das Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Nur gut; dass ich mich nicht bewegen kann, sonst würde ich dich umarmen und an mich ziehen, damit du mich küsst, Quentin, dachte Marcia sehnsüchtig und erschrocken zugleich. Wahrscheinlich konnte man ihr die Gefühle ansehen, denn Quentin bemerkte rau: „Wenn mir heute morgen jemand gesagt hätte, dass ich abends mit dir im Bett liege, Marcia, hätte ich ihn für verrückt erklärt." „Wir liegen nicht im ..." „O doch, das tun wir." Er betrachtete ihre festen, runden Brüste. „Das sollten wir ausnutzen, findest du nicht auch?" Daraufhin senkte er den Kopf, um sie zu küssen, und sie protestierte nicht. Wie hypnotisiert schloss sie die Augen und spürte Quentins warme Lippen auf ihren. Sanft und zugleich aufreizend sinnlich küsste er sie, ließ danach den Mund Über ihre Wange gleiten und strich ihr durchs Haar. Marcia war sich Quentins Körper überdeutlich bewusst. Schüchtern berührte sie seih Gesicht und schob die Finger in sein dichtes lockiges Haar. Quentin seufzte erfreut. Sein Nacken fühlte sich kräftig an, ebenso seine breiten muskulösen Schultern. Hitze und fast schmerzliche Sehnsucht durchfluteten Marcia. Dass Quentin sie begehrte, spürte sie ganz deutlich. Unwillkürlich stöhnte sie verlangend. „Marcia", flüsterte er zärtlich und küsste sie wieder, diesmal leidenschaftlich. Sie hatte das Gefühl zu versinken. Rasch wandte sie den Kopf ab. „Nein, Quentin. Wir dürfen das nicht." Heißes, ungezügeltes Verlangen durchzuckte ihn. Erneut wollte er sie küssen, aber sie stieß ihn weg. Sie wirkte erschrocken und sah ihn flehend an. Ihm war es, als erwache er aus einem Traum. „Habe ich dir weh getan?" erkundigte sich Quentin rau. „Das wollte ich nicht." „Nein, das hast du nicht. Aber wir müssen aufhören." Er strich ihr das Haar zurück. Seine Finger zitterten leicht. „Warum?" fragte er. „In meinem ganzen Leben hat sich noch nichts so gut und richtig gefühlt, wie hier mit dir zu liegen." Marcia sah ihn groß an. „Wie kannst du das sagen? Wir kennen uns doch kaum." „Mir kommt es vor, als hätte ich dich schon immer gekannt." Jeden anderen Mann hätte Marcia ausgelacht, aber intuitiv wusste sie, dass Quentin das völlig ernst meinte. „Eins muss ich dir lassen", meinte sie anerkennend. „Deine Methode ist einzigartig." Leicht verärgert blickte er sie an. „Du glaubst wohl, ich will dich mit schönen Worten betören, damit du mit mir schläfst?" „Ja, so sieht es für mich aus. Aber wenn das erst die Generalprobe sein sollte, dann muss die Premiere einfach unglaublich werden", erwiderte sie kühn. „Das wird sie, glaub mir", erwiderte er und ließ die Hand zu ihrer Brust gleiten. Marcia erschauerte vor Verlangen, und ihre Brustspitzen richteten sich auf. Ungeduldig fügte Quentin hinzu: „Lass uns miteinander schlafen, Marcia. Jetzt. So lernen wir uns vielleicht am besten kennen. Auf die üblichen gesellschaftlichen Spielregeln können wir doch verzichten, weil wir wissen, worauf es wirklich ankommt."
Er umspielte eine Brustknospe mit den Fingern und bemerkte, wie sich Marcias Augen vor Verlangen verdunkelten. „Darauf, dass wir vereint sind, kommt es an", fügte Quentin leidenschaftlich hinzu. „Dass wir einander Freude schenken. Uns lie ben. Das andere können wir später nachholen, dazu haben wir dann noch viel Zeit. Aber jetzt begehre ich dich so sehr, dass ich nicht mehr klar denken kann." Sie spürte, dass sein Herz wie rasend pochte. Da er völlig aufrichtig seine Gefühle gestand, musste auch sie aufrichtig sein. „Ich habe zuviel Angst, Quentin", erwiderte Marcia ernst. „Ich würde dir doch niemals weh tun." „Nein, ich habe Angst vor meinen Gefühlen. So wie jetzt habe ich mich noch nie aufgeführt." Quentin hob ihre Hand an die Lippen und küsste jeden Finger. „Wie führst du dich sonst nicht auf? Zeig es mir." Seine Lippen fühlten sich warm auf ihrer Haut an, und Marcia gab allen Widerstand und alle Zurückhaltung auf. Langsam und verführerisch ließ sie die Hüften kreisen und presste sich an Quentin. Dann küsste sie ihn so leidenschaftlich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Er drehte sich auf den Rücken und wollte sie auf sich ziehen. Dabei stieß ihr Knöchel gegen sein Bein, und sie zuckte vor Schmerz zusammen. „Was ist los?" Quentin setzte sich auf, die Arme noch immer um sie gelegt. „Dein Knöchel blutet ja, Marcia." „Das muss auf dem Dach passiert sein", meinte sie. „Wahrscheinlich habe ich mich an der scharfen Kante einer Schindel verletzt." Eigentlich wollte sie gar nicht über Schindeln reden. Nein, sie wollte sich ganz ihrem Verlangen hingeben, wollte, dass aus der vernünftigen, beherrschten Marcia, die sie bisher gewesen war, eine spontane, sinnliche wurde. Sie streckte die Hände nach Quentin aus. Er bemerkte es nicht, sondern stand auf. „Bleib liegen, ich bin gleich wieder da." Marcia ließ die Hände sinken. Sie hätte ohnehin nicht aufstehen können, denn ihre Knie fühlten sich schwach an. Durch das offene Dachfenster strömte kühle Luft herein und strich ihr über die Haut. Quentin kam mit einer Schüssel Wasser, einem Handtuch und dem Erste-HilfeKasten zurück. „Hoffentlich, hast du dir keine Splitter eingezogen." Marcia betrachtete ihren Knöchel. „Das glaube ich nicht. Mach nicht so ein Aufhebens darum, Quentin, es ist nur ein Kratzer." „Ich weiß, du bist Ärztin, aber lass mich das machen, ja?" „Okay", sagte Marcia so nachgiebig, dass Lucy sicher erstaunt gewesen wäre, hätte sie es gehört. Quentin schob das Handtuch unter Marcias Bein und wusch behutsam die Kratzer aus. Ihr Knöchel war so schmal, dass er ihn mit einer Hand hätte umfassen können, und die Haut so zart, dass sich darunter die Adern auf dem Spann abzeichneten. Quentin fiel es schwer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Nachdem er die Wunde gereinigt hatte, strich er desinfizierende Salbe darauf und klebte ein Pflaster darüber. Unwillkürlich streichelte er sanft Marcias Fußrücken. Obwohl sie einen langärmeligen Pyjama trug, sah sie bezaubernd verführerisch aus, denn das seidige Material schmiegte sich an ihre Figur .und betonte mehr, als es verbarg. „Die Prognose ist gut. Die Patientin wird überleben", sagte Quentin betont forsch. Marcia lachte allerdings nicht über den Scherz. In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen. Rasch legte Quentin ihr die Hand aufs Knie. „Habe ich dir etwa weh getan?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin es nur nicht gewöhnt, dass sich jemand so fürsorglich um mich kümmert." „Du lässt ja auch nicht zu, dass man sich um dich kümmert."
Trotzig hob sie das Kinn. Diese Geste kannte er inzwischen. „Ich bin nun mal gern unabhängig", sagte Marcia. „Wie wahr." „Daran ist doch nichts Schlechtes. Ich treffe gern meine eigenen Entscheidungen und verdiene mein eigenes Geld und ..." „Marcia, um zwei Uhr morgens wollen wir doch nicht über Unabhängigkeit diskutieren. Leg dich hin. Ich hole dir noch eine Decke. Du siehst so aus, als wäre dir kalt." „Aber das ist dein Schlafzimmer", protestierte sie zaghaft. „Ich schlafe heute nacht im Gästezimmer." Er nahm eine flauschige Decke aus dem Schrank. Marcia saß mitten auf dem Bett, das Laken bis zum Kinn hochgezogen, und ihre Augen wirkten unnatürlich groß. Quentin hatte keine Ahnung, was sie gerade dachte. Er war ein Narr, ihr noch eine Decke zu geben, wenn es doch angenehmere Methoden gab, sie warmzuhalten ... Allerdings warnte ihn eine innere Stimme, sein Glück nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, indem er zu schnell vorging. Dass Marcia hier bei ihm war, grenzte schon an ein Wunder. Dräng sie nicht, ermahnte Quentin sich. Morgen früh würde sie noch immer da sein. Sie war es wert, dass man auf sie wartete. Hatte er nicht schon sein ganzes Leben lang auf sie gewartet? Dann kam es doch auf einige Stunden oder Tage mehr auch nicht an. „Leg dich jetzt hin", schlug er ihr vor. „Du siehst völlig erledigt aus." Heißt das, dass er mich nicht mehr begehrt? fragte Marcia sich. Folgsam legte sie sich hin, und Quentin deckte sie zu. „Gute Nacht", flüsterte sie. Flüchtig küsste er sie auf die Wange. „Schlaf gut", sagte er leise, knipste das Licht aus und ging hinaus. Allein im Dunkeln fragte Marcia sich, was in sie gefahren war. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Beinahe hätte sie mit einem Mann geschlafen, den sie nicht einmal richtig kannte. Und der ihr unbestimmte Ängste einflößte. Ich hätte ihm fast die Sachen vom Körper gerissen, ich, Marcia Barnes, dachte sie ungläubig. Was war nur mit ihr los? Sie musste möglichst bald abreisen, bevor sie etwas tat, was sie später bereuen würde. Sie kuschelte sich unter die Decke und beschloss, am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück abzufahren. Während sie noch überlegte, dass sie dann die Vorräte im Kühlschrank nicht vergessen durfte, schlief sie ein. Marcia wachte auf. Draußen zwitscherte ein Rotkehlchen hingebungsvoll. Der Himmel war strahlend blau - und es war schon halb elf. An sich hatte sie früh aufstehen und abfahren wollen, bevor Quentin aufwachte ... Sie reckte sich und spürte einige schmerzende Stellen, Folgen ihres nächtlichen Dachausflugs und der abrupten Rückkehr ins Schlafzimmer. Mit Quentin im Haus habe ich mich sicher, ja sogar geborgen gefühlt, stellte sie fest. Wie konnte ein und derselbe Mann ihr zugleich ein Gefühl der Sicherheit und der Bedrohung geben? Das ergab doch keinen Sinn ... Eigentlich will ich nicht unbedingt abreisen, dachte Marcia. Es war so schön hier. Gestern hatte sie sich tatsächlich eine Stunde lang in der Hängematte auf der Terrasse entspannt, was für sie einen Rekord darstellte. Sie wollte nicht die restliche Woche einsam in ihrem Apartment verbringen. Warum war Quentin nicht in New York geblieben? Dann wäre ihr auch die Erkenntnis erspart geblieben, dass sie keineswegs so kühl und beherrscht war, wie sie immer geglaubt hatte. Als Marcia sich daran erinnerte, wie verführerisch sie sich verhalten und wie hingebungsvoll sie Quentin geküsst hatte, errötete sie beschämt. Wie hatte sie nur so hemmungslos sein können? Das passte überhaupt nicht zu ihr. Je eher sie nach Ottawa zurückkehrte und diese überraschend
zum Vorschein gekommene Seite ihres Charakters vergaß, desto besser. Marcia stand auf. Sie zog ein langärmeliges Hemd an, um die blauen Flecken auf den Armen zu verbergen, und eine lange Hose, die das Pflaster am Knöchel verdeckte. Dann setzte Marcia die Brille auf, packte ihren Koffer und ging anschließend ins Bad. Zehn Minuten später ging sie nach unten, perfekt geschminkt und frisiert. Den Koffer nahm sie mit. Quentin war nirgendwo zu sehen. Rasch öffnete Marcia den Kühlschrank, nahm ihre Vorräte heraus und verstaute sie in der Kühltasche. Danach packte sie die restlichen Lebensmittel, die sie mitgebracht hatte, in Plastiktüten. Als sie gerade ihre Bücher einsammelte, bemerkte sie eine Bewegung zwischen den Bäumen vor dem Fenster. Marcia richtete sich auf. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Quentin war offensichtlich schwimmen gewesen. Nun kam er aufs Haus zu, nur mit einer Badehose bekleidet, das Handtuch über der Schulter. Licht und Schatten malten Muster auf seinen athletischen Körper. Quentin sieht umwerfend aus: muskulös, schlank und breitschultrig - ausgesprochen männlich, dachte Marcia unwillig. Und er blickte so glücklich drein wie ein sorgloser Junge. Nur gut, dass sie abreiste. Quentin Ramsey würde ihr sonst große Probleme bereiten. Er kam herein und lächelte sie strahlend an. „Schenkst du mir bitte eine Tasse Kaffee ein? Das Wasser ist eiskalt und ..." Aus zusammengekniffenen Augen musterte er ihr Gepäck. „Was, zum Kuckuck, hast du vor?" Wassertropfen liefen ihm über die Brust. Marcia wandte mühsam den Blick ab und sagte betont sachlich: „Ich reise ab." „Warum denn?" „Ganz einfach: weil du früher als erwartet aus New York zurückgekommen bist." Quentin rieb sich mit dem Handtuch die Brust trocken. „Ich habe es dort nicht ausgehalten", erklärte er. „Es ist schmutzig, stickig, und es gibt zu viele Menschen. Deshalb erledigte ich, was in der .Galerie zu tun war, und bin nachts gleich zurückgeflogen. Aber nun erklär du mal, warum du nicht bleiben kannst." Marcia musste sich beherrschen, um nicht aufzubrausen. „Das sagte ich doch schon: weil du jetzt hier bist." „Was ist denn an mir so schrecklich?" Dass du mich zu unglaublichem Benehmen veranlasst, antwortete sie im stillen. Laut sagte sie jedoch so betont und langsam, als würde sie mit einem kleinen Kind reden: „Ich bin nur hergekommen, weil es hieß, du seist bis Freitag verreist. Da du vorzeitig zurückgekehrt bist, fahre ich ab." „Heute ist Dienstag. Warum bist du eigentlich nicht im Institut?" erkundigte Quentin sich. „Budgetkürzungen", erwiderte sie kurz angebunden. „Unbezahlter Zwangsurlaub." „Ein Hoch auf die Regierung. Das Beste, was sie für mich dieses Jahr getan hat. Gefällt dir das Haus nicht, Marcia?" „Es ist bezaubernd." „Aber der See und der Wald sagen dir nicht zu?" „Quentin, hör mit diesem Spielchen auf. Wir beide wissen ganz genau, was letzte Nacht hätte passieren können. Ich ..." „Was wäre, wenn es passiert wäre?" unterbrach er Marcia. „Wäre das so schrecklich gewesen?" „Ja sicher. Ich halte nichts von flüchtigen Affären." „Ich auch nicht", erwiderte er leise. Marcia wurde rot. Sie atmete tief durch und sagte aufgebracht: „Genau deshalb müsstest du mich jetzt eigentlich vor die Tür setzen." „Meine Gefühle für dich sind alles andere als flüchtig oder oberflächlich", gestand Quentin. „Hast du das noch nicht bemerkt?"
„Ich habe nur bemerkt, dass andere Frauen nur allzu bereit wären, sich mit dir einzulassen", erklärte sie unzusammenhängend. „Du meine Güte, das klingt ja, als hätte ich einen ganzen Harem", meinte Quentin amüsiert. „Ich habe doch selbst gesehen, wie diese Frauen bei der Vernissage dich belagert haben. Und du hast sie nicht gerade entmutigt", warf sie ihm vor. „Eifersüchtig, Marcia?" „Natürlich nicht!" „Das glaube ich dir nicht." „Unterstellst du mir, dass ich lüge?" fragte Marcia heftig. „Nein, sondern dass du dir etwas vormachst. Und was mich betrifft: erstens bin ich kein Don Juan. Zweitens bedeutest du mir sehr viel, auch wenn ich mir das selbst nicht genau erklären kann. Drittens: Wenn wir letzte Nacht miteinander geschlafen hätten, hätte ich mein Bestes getan, um dir Freude zu bereiten und dir das Gefühl zu geben, begehrenswert zu sein. Weil ich so..." „Hör auf, Quentin!" unterbrach Marcia ihn heiser und hielt sich die Ohren zu. „Ich kenne dich doch kaum. Wieso sollte ich mit dir schlafen?" Sie ließ die Hände sinken. ,;Weil du es möchtest. Oder sehe ich das falsch?" In allen Einzelheiten erinnerte sie sich daran, wie sie ihn geküsst hatte, und brach zu ihrem Entsetzen in Tränen aus. Sie setzte sich aufs Sofa, barg das Gesicht in den Händen und weinte. Erschrocken ließ Quentin das Handtuch fallen und kniete sich vor sie. Nachdem er ihr die Brille abgenommen hatte, zog er ihren Kopf an seine Schulter. Marcia wurde von Schluchzern förmlich geschüttelt. „Ich weine sonst nie", erklärte sie mühsam. „Niemals. Ich hasse es, zu weinen." „Niemals" schien Marcias Lieblingswort zu sein. Quentin flüsterte ihr Trostworte ins Ohr und fragte sich, ob er jemals Ähnliches für eine andere Frau empfunden hatte. Nein, denn das hätte er nicht vergessen. Marcias Haar duftete wundervoll. Ihre Schultern fühlten sich fast zerbrechlich an. Das erregte und erschreckte ihn zugleich, denn er empfand den Wunsch, Marcia zu beschützen. Lust kannte er ja. Aber Zärtlichkeit? Liebe? Eine Frau zu lieben würde sein Leben grundlegend verändern - vor allem, wenn die betreffende Frau nicht geliebt, werden wollte. War Marcia die richtige Frau für ihn? Wie sollte er das beantworten? Die Antwort hing, wie ihm zum erstenmal klar wurde, von zwei Menschen ab. Da ihm diese Gedanken nicht benagten, sagte Quentin: „Weißt du was, Marcia? Ich habe ausnahmsweise kein Taschentuch eingesteckt." Marcia fühlte sich elend und erschöpft. Sie atmete mühsam tief durch und sagte: „Ich habe ein Papiertuch in der Tasche." Quentins Schulter war nass von ihren Tränen. Marcia richtete sich auf, wobei sie vermied, ihn anzusehen, und putzte sich die Nase. „Ich hasse es, wenn Frauen weinen. Nur ein hinterhältiger Trick, um bei einer Auseinandersetzung Siegerin zu bleiben." „Wer sagt denn, dass du gewonnen hast?" fragte Quentin. Sie funkelte ihn an. Ihre Nasenspitze und ihre Lider waren gerötet, an ihren Wimpern hing eine Träne, und plötzlich empfand er noch mehr Zärtlichkeit für Marcia. „Quentin, ich fahre ab." „Nur über meine Leiche, Marcia." Lächelnd erwiderte sie: „Ich mag mich ja so rapide verändern, dass ich mich kaum noch wiedererkenne, aber ich glaube nicht, dass ich zur Mörderin werde." „Gut." Quentin lächelte sie an und setzte sich neben sie. „Du bleibst also hier." „Ach ja? Das glaubst du vielleicht." Was für eine kindische Antwort, einer
erwachsenen Frau mit akademischen Titeln völlig unwürdig, dachte sie ironisch. „Die Richardsons, denen das Haus gehört, sind für einen Monat verreist. Inzwischen passe ich auf das Haus auf", erklärte Quentin. „Ich darf einladen, wen ich will. Und ich will dich." „Ach, du passt aufs Haus auf? Ein schöner Aufpasser bist du. Als ich herkam, sah es hier wie in einem Schweinestall aus." Marcia rieb sich die nassen Wangen mit dem Handrücken ab und setzte die Brille wieder auf. „Und als ich gestern nacht hier reinkam, dachte ich zuerst, ich sei im falschen Haus", gab Quentin kleinlaut zu. „Weißt du, wenn ich male, kann ich mich um nichts anderes kümmern. Deshalb sah es hier so schlimm aus. Ansonsten bin ich ziemlich zivi lisiert." Das war das letzte Wort, mit dem sie Quentin beschrieben hätte. „Ich verstehe nicht, warum du unbedingt möchtest, dass ich bleibe." „Das sage ich dir, wenn du mir verrätst, warum du geweint hast." „Nein, das geht dich nichts an." „Du hast dein ganzes Leben lang alles für dich behalten", bemerkte Quentin schonungslos. „Und es hat dich nicht gerade glücklich gemacht, stimmt's?" „Ich mag es aber nicht, wenn du mit Lucy über mich sprichst", erwiderte Marcia widerspenstig. „Was immer du mir sagst, bleibt unter uns beiden", versicherte er ihr. Das glaubte Marcia ihm. „Na gut", sagte sie endlich. „ Aber du zuerst." Quentin hätte nicht gedacht, dass sie so rasch nachgeben würde. Er überlegte kurz, ehe er erklärte: „Als ich gestern nacht herkam und vor dem Haus ein fremdes Auto entdeckte und dazu das aufgeräumte Wohnzimmer, wusste ich zuerst nicht, was los war. Dann sah ich eins deiner Bücher mit deinem Namen darin. Ich war nicht einfach glücklich, Marcia. Das ist ein viel zu schwaches Wort für mein Gefühl. Überschäumende Freude. Ja, das war es, was ich fühlte. Und nun erklär mir mal meine Reaktion, wenn du kannst." Er strich sich durch das feuchte Haar. „Ich suchte dich im ganzen Haus. Als ich dich nicht fand, machte ich mir schreckliche Sorgen. Aber als ich dich dann auf dem Dach entdeckte, wollte ich dich nie wieder gehen lassen." Quentin stand auf und ging rastlos hin und her. „Du bedeutest mir unendlich viel. Das habe ich dir schon mal gesagt. Letzte Nacht hat es sich bestätigt." Nachdenklich betrachtete er das Bild auf der Staffelei. „Schau dir das an: Das drückt die Gefühle aus, die ich empfinde, seit du mir erklärt hast, du wolltest mich nie mehr wiedersehen. Bleib, Marcia. Bitte." Sie hatte also richtig vermutet, dass dieses Bild mit ihr zu tun hatte. „Du kommst ja wirklich direkt zur Sache", meinte Marcia leise. „Ich mache mir nichts aus all dem üblichen Drumherum und Getue, das andere für nötig halten." Da ihr darauf keine Antwort einfiel, verschränkte Marcia nervös die Finger. Quentin trocknete sich den Nacken ab, denn ihm liefen noch immer Wassertropfen aus dem Haar. „Ich möchte, dass du bleibst. Auch in deinem Interesse, nicht nur in meinem", erklärte er schließlich. Langsam stand Marcia auf und verschanzte sich hinter dem Sofa. Quentin hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Nun war sie an der Reihe. „Ich habe mein Leben und meine Gefühle bisher immer unter Kontrolle gehabt", begann Marcia stockend. „Aber in letzter Zeit ... ach, ich weiß nicht, was da mit mir passiert. Und das liegt nicht nur an dir. Normalerweise weine ich wirklich nie. Und dreimal hintereinander war mir allein in der blöden Galerie zum Heulen zumute." Sie umklammerte die Sofalehne. „Ich hasse das - über mich zu sprechen, meine ich." Quentin unterdrückte den Impuls, Marcia in die Arme zu nehmen, und
versicherte ihr leise: „Du machst das ganz ausgezeichnet." „Sex", sagte sie plötzlich heftig. „Deswegen habe ich geweint." Er verkrampfte sich unwillkürlich. „Wie meinst du das?" Sie schluckte mühsam. „Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke, wie ich mich vergangene Nacht benommen habe. Aber wahrscheinlich war ich nach der ausgestandenen Angst nicht ganz bei Verstand und habe mich deshalb so unnormal verhalten." „Glaubst du wirklich, was du da sagst?" fragte er scharf. „Ich bin nicht so sinnlich wie Lucy", erwiderte Marcia verzweifelt. Behutsam tastete sich Quentin sozusagen an den Kernpunkt heran. „Natürlich bist du das nicht. Du bist so sinnlich wie Marcia." „Aber du hättest doch sicher lieber, ich wäre wie Lucy." Quentin zögerte kurz. Er erinnerte sich, wie Marcia in der Galerie ausgesehen hatte: mit dem strenggeschnittenen Kostüm, perfekt geschminkt und frisiert, und mit der Brille, hinter der sie sich vor der Welt versteckte. So wie jetzt auch wieder. Da war er enttäuscht gewesen, auch daran erinnerte er sich genau. Plötzlich wurde Marcia blass. „Du bist in Lucy verliebt", warf sie ihm unvermittelt vor." „Um Himmels willen, Marcia, ich ..." „Das musst du sein. Du warst viel mit ihr zusammen, als sie von Troy getrennt lebte. Sie ist so schön und liebevoll und zeigt ihre Gefühle immer ganz offen. Nur ein Holzklotz würde sich nicht in sie verlieben." „Marcia", unterbrach er sie streng, „ich war noch nie in Lucy verliebt." „Sie hat eine tolle Figur", meinte Marcia klagend. „Ich kann mir gut vorstellen, wie du ... Was hast du gerade gesagt?" „Dass ich nie auch nur eine Sekunde lang in Lucy verliebt war", erklärte Quentin. „Als sie damals auf Shag Island auftauchte, so einsam und verloren wie eine ausgesetztes Kätzchen, da war sie für mich wie die Schwester, die ich nie gehabt habe. Und ich war überglücklich, als sie sich mit Troy versöhnte. Seitdem sind die beiden meine besten Freunde." „Oh", sagte Marcia nur. „Lucy ist tatsächlich schön", fügte Quentin hinzu und fragte sich, ob er sich damit alles verdarb. „Aber ich empfinde nur freundschaftliche Gefühle für sie. Ich wollte nie mit ihr schlafen. Mit dir allerdings schon." „Aber..." Er setzte sich auf eine Sessellehne und lächelte Marcia an. „Du ziehst dich so züchtig an wie eine Klosterschülerin, und trotzdem bin ich vor Verlangen nach dir fast verrückt. Ich wage nicht daran zu denken, was passiert, wenn ich dich in Shorts sehe." Leise sagte Marcia: „Ich habe Lucy seit Jahren beneidet, wie mir allmählich klar wird. Sie war immer in jemand verliebt, sie tat, was sie wollte, selbst wenn wir anderen nicht damit einverstanden waren. Außerdem ist sie die einzige von uns drei Töchtern, die nicht Medizin studiert hat, wie es die Familientradition vorschreibt. Sie ist mir immer so frei vorgekommen." „Lucy ist einer der glücklichen Menschen, die schon früh wissen, was sie wollen und genug Selbstvertrauen haben, ihr Ziel anzustreben. Bei dir hat das nur etwas länger gedauert", erklärte Quentin eindringlich. „Du hast in der vergangenen Nacht nichts getan, wofür du dich schämen müsstest, Marcia. Du hast nur bisher dein wahres, leidenschaftliches Ich verdrängt, und jetzt hat es sich sozusagen Bahn gebrochen." „Ich bin aber nicht in dich verliebt", rief Marcia heftig. Das hörte er nicht gern. „Es ist zu früh, um über Liebe zu reden", erwiderte er schroff. „Aber du wolltest doch mit mir schlafen. Das hast du jedenfalls behauptet." Sie umklammerte die Sofalehne so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden.
Marcia erinnerte Quentin an ein in die Enge getriebenes Tier, das jeden angriff, der sich ihm näherte. „Wenn du einige Tage hierbleibst, schwöre ich, dich nicht anzurühren", versicherte er ihr. Nun entspannte Marcia sich sichtlich. „Nicht mal, wenn ich Shorts trage?" fragte sie und lächelte. „Nicht mal dann", bekräftigte er. „Also, bleibst du hier?" „Ja .... ich glaube schon", sagte Marcia. Plötzlich fühlte sich Quentin so erschöpft, als wäre er quer über den ganzen See geschwommen und wieder zurück. „Na schön. Pack du wieder aus, während ich Frühstück mache, okay?" „Wir sollten aber die Zimmer tauschen, Quentin." Er zog die Brauen hoch. „Lieber nicht. Dann kannst du notfalls immer noch vor mir über das Dach flüchten. Ich gehe jetzt rauf und ziehe mich an. Es dauert nicht lange." Marcia stellte die Vorräte in den Kühlschrank und in die Regale zurück und fragte sich, ob sie völlig verrückt geworden war, weil sie zugestimmt hatte, bei Quentin zu bleiben.
5. KAPITEL
Zwei Tage später überlegte Marcia noch immer, ob ihr Entschluss richtig gewesen sei. Quentin hielt sich an sein Versprechen, sie nicht anzurühren, Hatte sie nur geträumt, er hätte gesagt, dass er sie begehre? Am Vortag hatte sie Shorts getragen, und er hatte ihren Beinen, die sie für ziemlich wohlgeformt hielt, nicht mal einen flüchtigen Blick gegönnt. Quentin ließ ihr viel Freiraum. Zweimal pro Tag schwamm er im See, dessen Wasser so kalt war, dass Marcia allein beim Gedanken daran fröstelte. Außerdem ging Quentin oft im Wald spazieren. Das Malen schien er fürs erste aufgegeben zu haben, aber er zeichnete viel. Sie unterhielten sich so höflich wie flüchtige Bekannte, was Marcia unerklärlich frustrierte. Dass er eine Allergie gegen Krabben hatte, war das Wichtigste, das sie über ihn erfuhr. Es war fast, als wäre der richtige Quentin verschwunden und an seine Stelle ein freundlicher, rücksichtsvoller und zurückhaltender Fremder getreten. Marcia lag viel in der Hängematte auf der Terrasse und las, fragte, sich allerdings häufig dabei, was Quentin wohl gerade unternahm. Wenn er sich im Haus aufhielt, schlenderte sie meist ziellos am See entlang und fühlte sich beklagenswert gereizt, wogegen sie allerdings nichts tun konnte. Sie versuchte, sich mit Hausarbeiten abzulenken, ging früh ins Bett und stand morgens spät auf. Nichts half. Jeden Moment des Tages war Marcia sich Quentins schmerzlich bewusst. Und das machte sie wütend. Donnerstag nachmittag saß Quentin am Tisch über einige Zeichnungen gebeugt. Um ihn nicht zu stören, ging sie an den See. In einer kleinen Bucht setzte Marcia sich, auf einen Felsen und blickte mürrisch aufs Wasser. Schon vier freie Tage lagen hinter ihr, und bisher hatte sie nur geschafft, das Institut nicht zu vermissen. Denn sie war damit beschäftigt, gewesen Quentin zu vermissen. Aber wie konnte man jemand vermissen, der im selben Haus lebte? Plötzlich sah sie eine Bisamratte, die zwischen den Felsen hindurch zum schilfbestandenen Ufer schwamm. Marcia saß ganz still da und beobachtete fasziniert, wie das Tier an frischen Schösslingen zu nagen begann. Da erschien eine zweite Bisamratte und näherte sich demselben Schilfbüschel. Das erste Tier stürzte sich wütend auf den Rivalen, dann verschwanden beide Tiere aus ihrem Blickfeld. Lächelnd stand Marcia auf und eilte zum Haus zurück. Quentin saß noch immer am Tisch. „Rate mal, was ich gesehen habe. Zwei Bisamratten." „Ach ja?" erwiderte Quentin, ohne aufzublicken. Sie blieb vor ihm stehen. „Quentin, ich rede mit dir." „Einen Moment, bitte." Plötzlich verlor sie die Geduld. Und die Beherrschung. „Ich weiß gar nicht, warum du so sehr darauf bestanden hast, dass ich hierbleibe", brauste Marcia auf. „Du schenkst mir weniger Aufmerksamkeit als den Steaks, die du grillst. Und das, obwohl ich dir angeblich viel bedeute. Wie würdest du dich eigentlich verhalten, wenn ich dir gleichgültig wäre?" Er schob den Stuhl zurück. „Was, zum Kuckuck, ist denn plötzlich in dich gefahren?" „Ich hasse es, wie ein Möbelstück behandelt zu werden." „Das war so abgemacht", erwiderte Quentin wütend. „Ich sollte dich nicht berühren." „Aber wir haben nicht ausgemacht, dass du mich völlig ignorierst", hielt Marcia ihm vor. „Immer, wenn ich dich sehe, räumst du gerade auf."
„Wenn du nicht so schlampig wärst, müsste ich das nicht." „Weißt du, was dein Problem ist, Marcia? Du weißt nicht, was das Wort Ferien bedeutet." Damit traf er genau ihren wunden Punkt. „Ich wünschte, du wärst nicht von New York zurückgekommen", sagte sie bissig. „Das wünsche ich mir auch." Ihre Wut verflog genauso schnell, wie sie aufgeflammt war. „Ist das wahr?" fragte Marcia beklommen. Quentin schob die Hände in die Hosentaschen. „Nein." Sie versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Schmollend meinte sie: „Ausgerechnet du musst mir etwas über Ferien sagen. Ständig zeichnest du." Stirnrunzelnd betrachtete sie die Blätter auf dem Tisch genauer. „Das sieht ja wie der Bauplan für das Haus hier aus." „Genau das ist es auch", erwiderte er ungeduldig. „Wenn du so ein Haus möchtest, warum bittest du den Baumeister nicht einfach um eine Kopie des Plans?" „Ich war der Baumeister." Marcia blickte ihn überrascht an. „Du hast dieses Haus hier gebaut?" „Hat Lucy dir das nicht erzählt?" „Nein." Sie schaute sich um und betrachtete die Umgebung mit ganz anderen Augen. „Hast du es auch entworfen?" Als er nickte, fügte sie ehrlich hinzu: „Es ist ein wunderschönes Haus. Wo hast du gelernt, Häuser zu entwerfen und zu bauen?" Marcia sah wirklich interessiert aus. Quentin schob die Hände tiefer in die Taschen und erklärte: „Von meinem Vater. Ich habe zu malen angefangen, sobald ich alt genug war, einen Stift festzuhalten. Es war Dad klar, dass ich einmal Künstler werden würde T vor allem, nachdem ich Porträts unserer sieben Hühner auf die Küchenwand gemalt hatte, als ich fünf Jahre alt war." Quentin lachte. „Dad hat mich nie entmutigt, aber er glaubte, nicht, dass ich mir mit Malerei meinen Lebensunterhalt verdienen könnte, Deshalb bestand er darauf, dass ich von ihm alles über die Zimmermannsarbeit lernte, was er selbst wusste. Damit ich etwas Solides hatte." Quentin lächelte versonnen. Dass er seinen Vater geliebt hatte, sah man ihm an. Marcias Vater war gestorben/als sie erst fünf Jahre alt gewesen war, und sie hatte lange gebraucht, um den Verlust zu überwinden. „Hat dein Vater auch Häuser gebaut?" erkundigte sie s i c h . „Nein, nur Schuppen und Baracken im Holzfällerlager. Aber als sich eine Familie im Dorf ein Holzhaus bauen ließ, verliebte ich mich förmlich in diese Bauweise. Die freiliegenden Balken und Streben und diese offenen, großzügigen Räume faszinieren mich." „Quentin, das ist das erste richtige Gespräch in drei Tagen", bemerkte Marcia, Er lächelte. „Ja. Ich musste mich von dir fernhalten, weil ich sonst mein Versprechen gebrochen hätte." „Ich dachte schon, du begehrst mich nicht mehr." Freudlos lachte er. „O doch, das tue ich." Bevor sie der Mut verließ, sagte sie rasch: „Der Grund, warum ich nicht viel von Männern halte, liegt darin, dass die beiden Männer, mit denen ich eine Beziehung hatte, mich belogen haben. In wichtigen Dingen. Und dann sagtest du mir, wieviel ich dir bedeute, und wie sexy und begehrenswert ich sei. Sicher, wir machten aus, dass du mich in Ruhe läßt, aber ich dachte, das Ganze sei nur Süßholzraspelei gewesen, um mich ins Bett zu bekommen." Sie atmete tief durch. „Anders ausgedrückt: ich glaubte, auch du hättest mich belogen." Quentin kniff die Augen zusammen. „Meinst du das ernst?" „Natürlich. Da ich nicht gern über mich rede, würde ich dir nicht zum Spaß etwas über mich und meine Gefühle erzählen."
Es gab nur eine Methode, um Marcia zu überzeugen, wie ehrlich er es mit ihr meinte. Rasch ging er zu ihr und umarmte sie. Er küsste sie zärtlich und verlangend. Einige Augenblicke später ließen sie sich los und blickten einander so erstaunt an, als würden sie sich zum erstenmal sehen. Quentin atmete schwer, und Marcia fühlte sich schwach. „Lass uns ins Dorf fahren und Eis essen", schlug er rau vor. „Wenn wir hierbleiben, werfe ich dich nämlich über meine Schulter und schleppe dich ins Bett." „Ich mag aber nur Vanilleeis", flüsterte Marcia. „Du bist wählerisch, stimmte?" „Sehr wählerisch", bestätigte sie und lächelte ihn an. Sein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen, denn ihr Lächeln verriet ihre wahren Gefühle. „Marcia", begann Quentin. „Ich ... verdammt, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich verspreche dir, dass ich dich niemals anlügen werde." Sie schluckte mühsam, denn ihr war klar, dass sie einen entscheidenden Schritt wagte. „Ich glaube dir", erwiderte sie ernst. „Du schenkst mir dein Vertrauen? Das ist ein wunderbares Geschenk." Quentin lächelte strahlend und fügte hinzu: „Wenn es im Dorfladen kein Vanilleeis gibt, fahren wir so lange herum, bis wir welches auftreiben. Also, auf geht's." Hand in Hand gingen sie nach draußen. „Wir können meinen Wagen nehmen", meinte Marcia. Quentin warf ihrem verbeulten grauen Auto «einen schrägen Blick zu. „Ich dachte immer, Mediziner verdienen viel Geld." „Autos sind mir nicht wichtig", erklärte Marcia. . „Und wofür gibst du dein Geld aus?" erkundigte sich Quentin beiläufig und stieg in seinen gelben Sportwagen. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und bewunderte die vielen Anzeigen auf dem Armaturenbrett und die Lederpolster. „Ach, für das Übliche.“, antwortete Marcia ausweichend. „Essen, Kleider, die Hypothek für die Eigentumswohnung. Warum willst du das wissen?" „Geld bedeutet in unserer Gesellschaft viel, deshalb interessiert es mich, wofür Leute es ausgeben." Sie suchte in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille. „Vor fünf Jahren reiste ich nach Indien", erzählte Marcia leise. „Seitdem unterstütze ich ein Krankenhaus nahe Delhi." Quentin umfasste den Schalthebel fester. „Und seit ich vor vier Jahren in Peru war, unterstütze ich ein Waisenhaus dort. Je besser ich dich kennenlerne, desto mehr fällt mir auf, dass du der Welt nur eine glatte, undurchdringliche Fassade präsentierst und in Wirklichkeit ganz anders bist. Erzähl mir mehr von dem Krankenhaus." Zögernd beschrieb Marcia die Augenklinik und die Abteilung medizinischer Vorbeugung, die ihre beiden Lieblingsprojekte waren. Nachdem sie fertig war, meinte Quentin sachlich: „Du bist ein guter Mensch, Marcia." Das machte sie verlegen. „Du doch auch", erwiderte sie. „Dann können wir ja einen Ramsey-Barnes-Fan-Club gründen." Quentin lächelte sie an und startete den Wagen. „Und nun zu etwas ganz anderem: Erzähl mir von den beiden Männern, die du vorhin erwähnt hast." „Muss ich wirklich?" Sie verzog das Gesicht. „Ja. Lass dir ruhig Zeit. Ich möchte alle scheußlichen Einzelheiten wissen. Fang mit dem ersten an. Name, Alter und Beruf?" „Dafür bekomme ich aber eine doppelte Portion Eis", sagte Marcia schalkhaft. „Okay, ich fange ja schon an. Paul Epson. Medizinstudent im dritten Jahr. Einundzwanzig. Ich war damals achtzehn und zum erstenmal von zu Hause fort. Wir verliebten uns, und ein halbes Jahr lang glaubte ich, dass der Himmel voller Geigen hinge, wie es so schön heißt."
Sie seufzte. „Dann hatte Paul nicht mehr so viel Zeit für mich, aber das machte mir zuerst nichts aus. Immerhin stand er vor seiner Abschlussprüfung und hatte viel Stress. Die Seifenblase platzte allerdings, als ich Paul mit einer anderen Frau sah, mit der er eindeutig ein intimes Verhältnis hatte. Er hatte sich in die andere Frau verliebt und er hatte versäumt, mir das zu sagen." Quentin stieß einen groben Fluch aus. „So ein Mistkerl", fügte er gemäßigter hinzu. „Schuft, Schurke, Feigling, Soll ich weitermachen?" Marcia lächelte erfreut. „Nein danke. Ich war wie am Boden zerstört. Die Prüfungen absolvierte ich wie in Trance, danach bekam ich Grippe, die ich einfach nicht loswurde. Es war schrecklich" „Was sagten denn deine Mutter und Lucy dazu?" „Sie wussten es nicht. Mora hätte nicht gutgeheißen, dass ich mit Paul schlief, und Lucy war zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt." Marcia räusperte sich. „Die Erfahrung mit Paul hatte mich fürs erste entmutigt. Außerdem war ich ent schlossen, einen guten Abschluss zu machen und mich zu spezialisieren, deshalb war ich schließlich schon fünfundzwanzig, als ich den nächsten traf." „Fast schon eine alte Frau", spöttelte Quentin liebevoll. „Er hieß Lester, war einunddreißig Jahre alt und Nierenspezialist. Er lebte in Toronto und sah gut aus, war aber zurückhaltend, beinahe schüchtern. Wir mochten uns, und wenn ich nach Toronto kam, trafen wir uns. Schließlich erzählte Lester mir, er sei verheiratet, könne sich aber nicht scheiden lassen, da seine Frau geisteskrank sei und in einem Sanatorium lebe. Ich bewunderte Lester, weil er zu ihr hielt. Einige Wochen später wurden wir ein Liebespaar." Marcia schwieg kurz, ehe sie heftig hinzufügte: „Das passte mir, Quentin. Eine diskrete Affäre ohne Verpflichtungen. Ich ging so in meiner Arbeit auf, dass ich ohnehin keine tiefe Beziehung wollte, die mich abgelenkt hätte. So ging es vier Jahre lang. Dann fuhr ich überraschend zu einer medizinischen Tagung, an der Lester auch teilnahm. Und weißt du was? Er war dort mit seiner Frau, die nicht verrückter ist als ich. Allerdings ist sie sehr reich, deshalb wollte er sich nicht scheiden lassen." Quentin verdammte auch Lester. Marcia zog die Nase kraus. „Danke für dein Mitgefühl. Aber eigentlich geschah es mir recht. Lester war verheiratet, und ich hätte mich mit ihm nicht einlassen sollen. Nur fragte ich mich, wie er mich solange hatte hinters Licht führen können." Sie seufzte. „Ich kam zu dem Schluss, dass ich vielleicht eine gute Wissenschaftlerin sei, aber bei Männern nicht das richtige Gespür hatte." Nun verstand Quentin, warum Marcia ihn zunächst auf Abstand gehalten hatte. „Beide Beziehungen sind dir sehr nahegegangen?" fragte er mitfühlend. „Ja. Ich vertraue nicht leicht jemand, aber wenn, dann bedingungslos." „Wie kann ich dich überzeugen, dass ich anders als Paul und Lester bin?" meinte Quentin zögernd und bremste. „Dort ist der Laden. Vielleicht verhilft mir ja ein Schokoladeneis zu klarerem Denken. Moment mal, was ist denn da los?" Eine junge Frau kniete an der Treppe zum Geschäft neben einem kleinen Jungen, der vor Schmerzen schrie. Kaum hatte Quentin den Wagen angehalten, sprang Marcia heraus und eilte zu dem Kleinen. „Ich bin Ärztin", sagte sie und kniete sich ebenfalls hin. „Was ist denn passiert?" „Er ist die Treppe runtergefallen", antwortete die Mutter verzweifelt. Marcia lächelte den Jungen beruhigend an und tastete behutsam den Knöchel ab. „Er hat ihn sich verstaucht, so wie es sich anfühlt." Sie blickte sich um. „Quentin, könntest du im Laden um einen Eisbeutel bitten? Schon gut, Kleiner, eine kalte Kom presse lindert die Schmerzen ein bisschen. Wie heißt du?" „Jason", antwortete die Mutter an seiner Stelle. „Er ist vor mir aus dem Geschäft gelaufen, und bevor ich ihn festhalten konnte, ist er schon gestürzt."
Quentin kam zurück und reichte Marcia ein Plastiksäckchen mit Eiswürfeln. Sie legte es um den geschwollenen Knöchel des Jungen. „So, Jason, das hilft. Du musst nur ein bisschen Geduld haben, bevor es wirkt. Bleib die nächsten Tage ganz still liegen." Beruhigend lächelte sie seine Mutter an. „Ich glaube wirklich nicht, dass er sich etwas gebrochen hat. Sind Sie mit dem Auto hier?" ,;Ja, es steht gleich da drüben." „Ich trage den Kleinen", bot Quentin an. Jason, der ungefähr vier Jahre alt war, hatte zu weinen aufgehört. „Mein Lolli ist ganz dreckig", klagte er. Sein Eislutscher lag auf dem Boden. „Ich hole dir einen anderen, während mein Freund Quentin dich zum Auto trägt", sagte Marcia. Sie sah, wie Quentin den Kleinen sanft auf die Arme nahm, und wandte sich um. Worum ich Lucy ganz besonders beneide, ist das Baby, wurde es Marcia plötzlich klar. Kein Wunder, dass sie ihrer Schwester ausgewichen war. Die unangenehme Wahrheit bestand darin, dass sie, Marcia, sich seit Jahren vorgemacht hatte, keine Kinder zu wollen. Ob Quentin Kinder wollte? Sie eilte in das Geschäft und ging zur Gefriertruhe. Du bist ein bisschen voreilig, Marcia, tadelte sie sich. Noch versetzte sie der Gedanke, mit Quentin zu schlafen, in Angst und Schrecken, und trotzdem dachte sie schon an Kinder? Als sie wieder nach draußen kam, saß Jason auf der Rückbank im Auto. Der Junge nahm den Eislutscher mit einem schwachen Lächeln an, und seine Mutter bedankte sich überschwänglich bei Marcia. Diese winkte ihnen nach, als sie abfuhren. „Du kannst gut mit Kindern umgehen", meinte Quentin nachdenklich. „Jetzt haben wir uns wirklich unser Eis verdient, Quentin" „Ich hätte gern welche. Irgendwann. Und du?" Er betrachtete sie und fügte hinzu: „Du siehst bezaubernd aus, wenn du rot wirst. Und wenn dir ausnahmsweise die Worte fehlen." „Ein Wunder, dass dich keine deiner bisherigen Freundinnen erwürgt hat", erwiderte Marcia schnippisch. „Es gab gar nicht so viele. Mit fünfundzwanzig habe ich geheiratet, und zwei Jahre später war ich schon wieder von Helen geschieden. Sie brannte mit einem Bankdirektor durch, der doppelt so alt war wie sie und dreimal soviel verdiente wie ich. Mit einem Künstler zu leben sei nur in der Vorstellung romantisch, erklärte sie mir." Dass sie auf eine Frau eifersüchtig war, die sie nicht einmal kannte, fand Marcia lächerlich. „Sie hat dich verletzt", stellte sie fest. „Wir haben uns gegenseitig verletzt", verbesserte er sie. „Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen. Die sagte mir, schon während ich mit Helen nach der Trauung durch die Kirche ging, dass ich die falsche Frau geheiratet hätte. Weil ich zu ungeduldig war, auf die Richtige zu warten." Er fuhr sich durchs Haar. „So, jetzt besorgen wir uns das Eis." Eigentlich hatte Quentin noch mehr sagen wollen, dessen war sich Marcia sicher. Sie ging voraus in das Geschäft, in dem es von Dosensuppen angefangen bis zu Gartengeräten alles zu kaufen gab. Vor der Tiefkühltruhe blieb sie stehen. Quentin folgte Marcia und legte ihr von hinten die Arme um die Taille. „Wir haben Glück", stellte er fest. „Es gibt tatsächlich Vanille- und Schokoladeneis." Marcia lehnte sieh an ihn und genoss das Gefühl, seinen warmen festen Körper zu spüren. Quentin schmiegte die Wange an ihr Haar. „Habe ich dir heute schon gesagt, dass du eine wunderbare Frau bist?" „In diesem Moment bin ich eine absolut glückliche Frau", gestand Marcia ihm ehrlich.
Er umfasste sie fester. „Du bist atemberaubend." Sanft küsste er sie auf den Nacken. Der Duft ihrer zarten Haut berauschte Quentin förmlich. „Am liebsten würde ich dich gleich hier auf der Tiefkühltruhe lieben." „Ja, das spüre ich ganz deutlich", erwiderte Marcia aufreizend und sah sich rasch um, ob jemand sie beobachtete. Da das nicht der Fall war, bewegte sie verführerisch die Hüften. „Hör auf", bat Quentin rau. „Du hast damit angefangen", erklärte sie. „Am besten kaufen wir eine Vierliterpackung Eiscreme, um uns abzukühlen", meinte er und ließ Marcia los. Sie wandte sich zu ihm um, und ihre Augen strahlten. „Ich mag dich so viel lieber, als wenn du schweigsam und undurchschaubar bist." „Und woran, glaubst du, hat das gelegen? Und meinst du etwa, ich wäre zum Vergnügen so oft im eiskalten See geschwommen?" fragte er, und sie wurde wieder rot. „Kann ich Ihnen behilflich sein?" fragte der Ladenbesitzer. „Zwei Tüten Eis, einmal Vanille, einmal Schokolade, jeweils zwei Kugeln bitte", sagte Marcia rasch. Quentin bezahlte, danach gingen sie hinaus ans Flussufer und setzten sich auf eine Bank. Noch nie hat mir ein Eis so gut geschmeckt, dachte Marcia, wie bezaubert von dem frischen Grün der Erlenblätter und der Spiegelung des blauen Himmels im Wasser zwischen den moosigen Felsen. Alles wirkte wie neu erschaffen. Ob Quentin die Welt immer so sah? Und könnte sie die Welt öfter so sehen, wenn sie sich nur die Zeit dafür nahm? Nachdem sie das Eis gegessen hatten, ging Quentin noch einmal ins Geschäft und kam mit einer riesigen Wassermelone zurück. „Ich liebe Melonen", erklärte er. „Wir könnten einen Wettbewerb veranstalten, wer die Kerne am weitesten spuckt." „Und was ist der Gewinn?" „Der Verlierer muss tun, was der Gewinner sagt." „Ich will aber auf keinen Fall im See schwimmen." Er wischte Marcia einen Klecks Eiscreme von den Lippen. „Daran hatte ich auch gar nicht gedacht", sagte Quentin bedeutungsvoll. Daraufhin beugte er sich vor und küsste sie auf den Mund. Marcias Herz schlug schneller. „Der Wettbewerb könnte gefährlich enden", meinte sie zaghaft. „Für den Gewinner und den Verlierer." „Lass uns nach Hause fahren", bat Quentin unvermittelt. Nach Hause. Diese beiden einfachen Worte gingen ihr plötzlich zu Herzen. „Wo bist du eigentlich zu Hause, Quentin?" fragte sie. „Lebst du noch immer in New Brunswick?" Zu Hause ist da, wo du bist, dachte er. „Nein, seit Jahren habe ich kein richtiges Zuhause mehr", erwiderte er. „Ich bin durch die ganze Welt gereist - Asien, Afrika, Südamerika. Fast jeden Sommer fahre ich nach Shag Island und miete mir dort eine Blockhütte. Allmählich überlege ich, ob ich mir nicht selbst ein Haus bauen soll. Irgendwo an der Westküste." Und ich lebe in Ottawa, mehr als dreitausend Kilometer von der Westküste entfernt, dachte Marcia traurig. Höflich erwiderte sie: „Das wird sicher herrlich für dich. Gehen wir?" Zehn Minuten später schloss sie die Eingangstür auf und ging ins Haus. „Was du tust, ist so greifbar, Quentin", bemerkte Marcia unwillkürlich. „Du kannst deine Werke immer wieder berühren und betrachten, sogar darin leben. Ich hingegen sitze vor Computern und Messgeräten. Außerdem verfasse ich Abhandlungen, die nur von anderen Immunologen gelesen werden. Natürlich weiß ich, dass die Ergebnisse meiner Forschungen irgendwann Menschen helfen. Aber es ist alles so indirekt." Sie
seufzte; „Warum sage ich das eigentlich? Ich liebe meine Arbeit. Sie ist alles, was meinem Leben ..." Marcia verstummte, als in der Küche das Telefon klingelte. Überrascht zog Quentin die Brauen hoch und ging hin. „Hallo ... ach, Lucy, wie geht's? ... Nein, ich bin früher als geplant aus New York zurückgekommen ... Ja, sie ist noch hier. Willst du sie sprechen?" Er hielt Marcia den Hörer hin. Nun weiß Lucy, dass ich mit Quentin seit Tagen hier zusammen bin, dachte Marcia. Das behagte ihr gar nicht. „Hallo, Lucy", sagte Marcia kühl. „Ich möchte dich nicht lange aufhalten, sondern wollte mich nur vergewissern, 'ob du dort draußen allein okay bist. Dass Quentin schon zurück ist, habe ich nicht geahnt. Finde ich aber toll. Er ist ein ganz besonderer Mann, stimmt's?" „Nein, hier hat es überhaupt nicht geregnet", erwiderte Marcia betont. „Wie, ist das Wetter in der Stadt?" „Schon gut, ich verstehe", meinte Lucy schmollend. „Übrigens, Catherine hat mich uni die Telefonhummer des Landhauses gebeten. Wahrscheinlich ruft sie dich demnächst auch an. Wann kömmst du denn nach Ottawa zurück?" „Das weiß ich nicht." „Bleib ruhig noch übers Wochenende. Troy und ich können am Samstag auch allein ins Kino gehen. Freut mich, dass du eine schöne Zeit verlebst, Marcia. Bis bald." Marcia legte den Hörer auf. Wenn es nach ihrer Schwester ginge, würden sie, Marcia, und Quentin in Windeseile heiraten. Während sie noch nachdenklich dastand, klingelte das Telefon schon wieder. .Mit einem seltsam unbehaglichen Gefühl hob Marcia ab. „Hallo?" „Hier Catherine. Ich brauche Hilfe. Lucy sagte mir, dass du die ganze Woche frei hast. Könntest du herkommen und an meiner Stelle bis Sonntag auf Lydias Hunde aufpassen?" Catherine verschwendete selten Zeit auf nichtige Höflichkeiten und bat fast nie um einen Gefallen. „Was ist denn los?" Marcia versuchte, Zeit zu gewinnen. „Ich habe ein Flugticket nach New York plus drei Theaterkarten und einen Hotelaufenthalt geschenkt bekommen. Ich kann aber nur fahren, wenn jemand auf die Hunde aufpasst." „Wann müsste ich denn kommen?" erkundigte Marcia sich. „Heute abend." Also müsste sie sofort abfahren. Und Quentin zurücklassen. Das wäre ohnehin das vernünftigste. Von Minute zu Minute verstrickte sich Marcia tiefer in ihre Gefühle, und eine Atempause würde ihr nicht schaden. „Okay", sagte Marcia. „Ich springe gern für dich ein." „Du bist ein Schatz", bedankte Catherine sich herzlich. „Mom hat meinen Zweitschlüssel. Du kannst ihn bei ihr abholen. Ich lasse dir Notizen da, was du mit den Hunden zu tun hast. Der große heißt Tansy. Sie ist absolut hirnlos - wahrscheinlich völlig überzüchtet. Aber Artie ist wirklich klug. Danke, Marcia. Ich bin am Sonntag ungefähr um vier Uhr nachmittags wieder in Ottawa." „Viel Vergnügen", wünschte Marcia ihrer Schwester, aber die hatte schon aufgelegt. Langsam hängte auch Marcia den Hörer ein. „Was ist denn los?" fragte Quentin misstrauisch. „Catherine hat mich gebeten, bis Sonntag bei ihr zu wohnen und auf die Hunde einer Freundin aufzupassen. Ich muss sofort weg." Quentin hatte sich schon etwas Ähnliches gedacht. Er unterdrückte seinen Zorn und sagte: „Dafür kann man doch Leute engagieren." „Aber nicht so kurzfristig. Außerdem bittet Catherine mich fast nie um einen Gefallen."
„Ich will nicht, dass du wegfährst." „Ich halte es für eine gute Idee, abzureisen", meinte Marcia sächlich. „Wir brauchen beide Zeit, um unsere Gefühle zu ..." „Sprich für dich selbst", unterbrach Quentin sie. „Okay. Ich möchte eine Zeitlang allein sein. Ich fühle mich von dir überrumpelt. Zu vieles ist zu schnell passiert. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken." „Du hast dein ganzes Leben lang gedacht, statt zu fühlen, Marcia. Das letzte, was du jetzt brauchst, ist Nachdenken." „Mach mir keine Vorschriften", erwiderte sie aufgebracht. Sie sah aus, als würde sie ihm am liebsten das Telefon an den Kopf werfen. Quentin schluckte mühsam und sagte beschwichtigend: „Ich weiß, ich fange es falsch an. Können wir noch mal von vorn beginnen? Darf ich dich begleiten? Und dir mit den Hunden helfen?" „Nein danke", antwortete Marcia. „Ich will wirklich eine Weile allein sein." „Das klingt ganz nach der alten Marcia. Nicht nach der wirklichen." „Hör auf, mich ständig wie ein Psychiater zu analysieren." Quentin achtete nicht darauf. „Du läufst nicht nur vor mir, sondern auch vor dir selbst und deinen Gefühlen davon." „Wir sind völlig gegensätzlich", erwiderte Marcia heftig. „Ich bin ordentlich, du bist schlampig. Ich bin Wissenschaftlerin, du bist ein Künstler. Ich komme aus der Stadt, du stammst vom Land. Ich mag Pasta, du hast lieber Steak. Verstehst du denn nicht, Quentin? Wir sind zu unterschiedlich." „Ach ja? Wie wäre es mit dieser Aufzählung: Du unterstützt finanziell ein Krankenhaus in Indien, ich unterstütze ein Waisenhaus in Peru. Ich liebe meine Arbeit, du liebst deine. Ich möchte mit dir schlafen, und du möchtest mit mir schlafen. Wir sind gar nicht so unterschiedlich. Nicht in den Bereichen, auf die es wirklich ankommt." „Ich möchte ja gar nicht wegfahren ..." „Du lässt dich nicht gern anlügen", unterbrach er sie. „Also lüg jetzt nicht mich an." Er weiß doch auf alles eine Antwort, dachte Marcia wütend und sagte: „Sobald ich meine Sachen gepackt habe, fahre ich nach Ottawa. Schade, dass wir soviel streiten." „Wundert dich das? Du lebst sonst allein, ich auch. Wir treffen gewöhnlich unsere Entscheidungen, ohne andere zu berücksichtigen. Das ist einer der Gründe, warum wir soviel streiten -und noch etwas, was wir gemeinsam haben", erwiderte Quentin und lächelte triumphierend. „Und ein weiterer Grund, warum wir uns nicht mehr sehen sollten", fügte Marcia unüberlegt hinzu und erschrak. „Glaub bloß nicht, dass du mich so einfach los wirst wie mein Bild im Schlafzimmer, das du versteckt hast. Ich kämpfe nämlich nicht nur für mein Glück, sondern auch für deins." „Niemand hat dich darum gebeten, Quentin." „Allmählich verspüre ich Mitgefühl für Paul und Lester", erwiderte Quentin schroff. „Die beiden hatten es sicher nicht leicht mit dir. Mach doch, was du willst, Marcia. Ich gehe jetzt jedenfalls Holz hacken." Wenigstens bin ich zu wütend, um zu weinen, dachte Marcia. Sie eilte nach oben und packte in Rekordzeit ihren Koffer. Anschließend nahm sie das Bild aus dem Versteck, hängte es auf und streckte ihm die Zunge heraus - eine kindische Geste, die ihr viel Befriedigung verschaffte. Dann trug Marcia das Gepäck nach draußen und verstaute es im Kofferraum. Hinter dem Haus ertönte das regelmäßige dumpfe Geräusch von Stahl auf Holz. Ich sollte mich von Quentin verabschieden, sagte Marcia sich. Das wollte sie aber nicht.
Rasch stieg sie ins Auto.
6. KAPITEL
Die Zündung klickte, sonst tat sich nichts. Marcia probierte es noch mal. Nichts. „Du blödes Ding musst mich ausgerechnet jetzt im Stich lassen", schimpfte sie. „Was soll ich jetzt machen?" „Probleme, Marcia?" fragte Quentin ausdruckslos. „Das Auto springt nicht an", erklärte sie, ohne ihn anzuschauen. „Vielleicht solltest du aussteigen und ihm einen Tritt geben." „Damit würde ich zwar meine Wut abreagieren, aber das Auto bricht wahrscheinlich völlig zusammen." „Na ja, dann sieht es so aus, als müsste ich dich in die Stadt fahren", meinte Quentin. Nun blickte sie doch hoch. Holzspäne hingen an Quentins T-Shirt, das seine muskulöse Brust umspannte. Seine Hände und die Jeans waren schmutzig, seine Augen funkelten. Marcia sagte mürrisch: „Du hast Späne im Haar." „Ich brauche eben eine Frau, die sich um mich kümmert." „Du meinst eine, die deine Socken stopft und deine Hemden bügelt? Dann bist du im falschen Jahrhundert geboren." „Nein, eine, die in kalten Nächten mein Bett wärmt", erwiderte er. „Ich schaffe schon mal dein Gepäck in mein Auto. Okay?" Was blieb ihr anderes übrig, als nachzugeben? Sie nahm die Kühltasche vom Rücksitz, kurbelte das Seitenfenster hoch und stieg aus. Nachdem Quentin sich saubere Jeans und ein Hemd angezogen hatte, ging es los. Einige Kilometer fuhren sie schweigend, bis Marcia steif sagte: „Danke, dass du mich in die Stadt bringst. Ich weiß das zu schätzen." „Das solltest du auch. Schließlich handle ich gegen meine Interessen." Marcia hatte sich inzwischen beruhigt. Kurz legte sie Quentin die Hand aufs Knie. „Tut mir leid, dass ich so bissig war. An sich verliere ich nicht dauernd die Beherrschung. Aber ehrlich, Quentin, mir geht das alles zu schnell, und ich brauche Zeit für mich allein." „Darf ich dich am Wochenende anrufen?" „Ja. Warum nicht." Unterdrückt heftig bat Quentin: „Schließ mich nicht aus. Das macht mir angst." „Ich wünschte nur, du würdest mich nicht so bedrängen." „Und was ist mit dir?" fragte er. „Du hältst dich für reserviert und zurückhaltend, aber ich würde meinen letzten Dollar darauf wetten, dass du dich vor deinen eigenen intensiven Gefühlen fürchtest." Darauf wusste Marcia keine Antwort, deshalb schwieg sie, bis sie Quentin erklären musste, wie er zum Haus ihrer Mutter gelangte. Dort parkte er hinter einem schwarzen Mercedes und verkündete kurz angebunden, dass er draußen warten würde. Marcia eilte zur Tür und klingelte. Als niemand öffnete, klingelte sie noch einmal ungeduldig. Gerade wollte sie zum drittenmal läuten, da erschien ihre Mutter und öffnete. „Marcia", rief sie erstaunt. „Was willst du denn hier? Ach ja, Catherines Schlüssel. Das hatte ich ganz vergessen." Sie blickte nervös hinter sich. „Wo habe ich ihn nur? Komm doch rein." Evelyn trug einen Morgenmantel aus bestickter Seide, ihre Wangen waren gerötet und die Einladung hatte nicht sehr begeistert geklungen. „Tut mir leid, dich zu stören, Mom", entschuldigte Marcia sich. „Ich hätte anrufen sollen. Machst du dich gerade fertig, um auszugehen?" Evelyn errötete stärker. „Nein, eigentlich nicht", antwortete sie und wich dem Blick ihrer Tochter aus.
„Stimmt irgend etwas nicht?" fragte Marcia scharf. Rasch trat Evelyn einen Schritt zurück. „Nein, alles in Ordnung. Ich wollte nur ... also, wo habe ich den Schlüssel hingelegt? Er muss doch hier irgendwo sein." Normalerweise war Evelyn ruhig und gelassen. Verwundert über das seltsame Verhalten ihrer Mutter wartete Marcia im Flur. Von da aus konnte sie ins Wohnzimmer sehen. Auf dem Tisch stand ein herrlicher Tulpenstrauß, und über einem Sessel hing ein Jackett. Henry ist hier, dachte sie benommen. Deshalb ist Mom so durcheinander. Henry ist oben. In ihrem Bett. Nun wollte Marcia nur noch weg. Endlich kam Evelyn zurück. „Die Schlüssel waren in der Küche", erklärte sie und reichte Marcia den Bund. „Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen. Du willst sicher so schnell wie möglich zu Catherines Haus." Das war ein ziemlich deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl. Und Marcia wollte wirklich nicht länger bleiben. „Danke. Pass auf dich auf", verabschiedete sie sich und eilte nach draußen. Quentin wartete natürlich noch auf sie. Marcia setzte eine ausdruckslose Miene auf und stieg ins Auto. „Fahr diese Straße Weiter geradeaus bis zur zweiten Ampel und bieg dann links ab", erklärte sie und befestigte umständlich den Sicherheitsgurt. „Stimmt etwas nicht?" fragte Quentin. „Du bist nicht lange geblieben." „Meine Mutter machte sich gerade zum Ausgehen fertig", log Marcia, denn die Wahrheit konnte sie ihm unmöglich sagen. Meine Mutter war gerade mit ihrem Liebhaber im Bett: Wie würde das klingen? Wie prüde ich doch bin, tadelte Marcia sich. Quentin würde sicher sagen, ihre eigenen erotischen Wünsche verursachten ihr Unbehagen, nicht die ihrer Mutter. Aber das stimmte nicht. Marcia sehnte sich nur danach, allein zu sein. Gefühle laugten einen aus. Leidenschaft, Glück, Zorn, Eifer sucht, Schock ... das alles hatte sie in wenigen Tagen erlebt und brauchte nun eine Atempause, in der sie an niemand denken musste. Weder an ihre Mutter, noch Henry, Lucy oder Quentin. „An der nächsten Kreuzung wieder links", sagte Marcia. Catherine wohnte in einem hübschen Haus in einer ruhigen Straße. Als Marcia den Gartenweg entlangging, erklang Gebell im Haus. Sie öffnete die Tür. Ein großer Hund jagte auf Marcia zu, sprang an ihr hoch und versuchte, ihr das Gesicht abzulecken. „Sitz", befahl Marcia streng. Der Hund legte ihr die Pfoten auf die Schultern. „Du musst Tansy sein", meinte sie, ließ den Koffer los und schob den Hund weg. Tansy nahm den Griff zwischen die Zähne und versuchte, wild knurrend, den Koffer in die Küche zu zerren. „Bist du ganz sicher, dass ich nicht bleiben und dir helfen soll?" erkundigte Quentin sich. Marcia schaute sich um. Er stand da, ihre Kühltasche und ihre Jacke in der Hand, und wirkte verlässlich und stark. Ich werde dich vermissen, Quentin, dachte Marcia unglücklich. „Ich habe eine bessere Idee", erwiderte sie. „Nimm doch Tansy mit ins Landhaus und ..." Der Koffer stieß gegen den kleinen Tisch im Flur. Marcia fing gerade noch die herunterfallende Vase auf, der Tisch kippte um, und Tansy flüchtete sich winselnd unter den Küchentisch. Artie, ein Scotchterrier, knurrte missmutig. „Genau das wollte ich auch sagen, Artie", meinte Marcia und stellte die Vase ab. Artie wedelte mit dem Schwanz, kam zu Marcia und beschnupperte ihre Hand. Quentin ging in die Küche, und Tansy wollte sich auf ihn stürzen und nach seinen Knö cheln schnappen. „Stop", befahl er ruhig. Gereizt sah Marcia, dass Tansy tatsächlich stehenblieb und Quentin hingerissen betrachtete.
„Du kannst mit Frauen gut umgehen", bemerkte Marcia ironisch. „Dann frage ich mich, warum es bei dir nicht funktioniert." Er zog einen Zettel aus der Tasche und notierte darauf Catherines Telefonnummer. Ob Quentin mich wohl bald anruft? überlegte Marcia. Im Flur schlug die Standuhr. Marcia war überrascht, wie spät es schon war. „Ich sollte dich eigentlich zum Abendessen einladen", meinte sie. „Vor allem, weil du mich in die Stadt gefahren hast." „Aber du tust es nicht", fügte Quentin hinzu und schlug zu Marcias und seiner eigenen Überraschung mit der Faust heftig gegen die Wand. Artie jaulte erschrocken auf, und Tansy flüchtete sich erneut unter den Tisch. Wütend rief Quentin: „Ich dränge dich zu sehr, Marcia, ich weiß. Aber wenn ich dich jetzt hier allein lasse, habe ich Angst, ich sehe dich nie wieder. Das ist die reine, ungeschminkte Wahrheit. Geh am Samstag mit mir essen." „Quentin, ich möchte dich am Wochenende nicht sehen", entgegnete sie bemüht ruhig. „Ich brauche eine Atempause, eine kurze Unterbrechung - nenn es, wie du willst." „Am Montag musst du wieder ins Institut. Und wir beide wissen, was das bedeutet." Das Institut kam ihr wie eine ferne, unbedeutende Welt vor. „Am folgenden Wochenende vielleicht", sagte Marcia. „Vielleicht, vielleicht. Ist das alles, worauf du dich festlegst?" Nun brauste sie auch auf. „Ja." „Schön. Wenn ich dann noch im Land bin, rufe ich dich an. Falls nicht, schicke ich dir eine Postkarte. Aus Peru. Oder Australien. Oder vom Nordpol." Er zog sie an sich, küsste sie heftig und eilte hinaus. Die Tür fiel krachend zu. Tansy hob den Kopf und heulte wie ein Wolf. "Ich werde nicht weinen", schwor sich Marcia. Und mit übermenschlicher Anstrengung schaffte sie es. Quentin würde doch nicht wirklich nach Peru reisen, oder? An dem Abend trank Marcia viele Tassen Kräutertee und dachte nach. Um neun Uhr war ihr klar, dass ihre Mutter sich so seltsam verhalten hatte, weil sie ihrer ältesten Tochter nicht die Wahrheit über Henry gestehen wollte. Kein Wunder, wenn ich jahrelang den Eindruck vermittelt habe, dass mir die Arbeit wichtiger wäre als meine Familie, gestand Marcia sich ein. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, wählte sie die Telefonnummer ihrer Mutter. „Evelyn Barnes." „Mom, ich bin's, Marcia." Sie befeuchtete sich nervös die Lippen. „Wie geht es dir?" Dann fügte sie schnell hinzu: „Nein, ich rufe nicht an, um dich das zu fragen. Ich möchte dir vielmehr sagen ... mir ist inzwischen klargeworden, dass Henry heute nachmittag bei dir war, und ich ..." „Ich hätte es dir nicht verschweigen sollen", unterbrach ihre Mutter sie. „Aber ich konnte es irgendwie nicht." „Mom, ich habe doch nichts dagegen, ehrlich nicht. Ich freue mich, dass du glücklich bist." Lange schwieg ihre Mutter, ehe sie zögernd erwiderte: „Also, Marcia ... das ist lieb von dir." „Henry ist ein ausgesprochen netter Mann. Ich freue mich wirklich für dich, Mom. Tut mir leid, dass ich dich all die Jahre so auf Abstand gehalten habe. So sehr, dass du mir von eurer Freundschaft nicht einfach unbefangen erzählen konntest." Evelyn lachte leise. „Weißt du, ich hätte nie gedacht, mich in meinem Alter noch zu verlieben. An manchen Tagen fühle ich mich wie ein Teenager, Marcia. Es ist herrlich." Wieder zögerte sie und fragte dann: „Du hättest nichts dagegen, wenn Henry und ich uns verloben?" „Überhaupt nicht", versicherte Marcia ihrer Mutter. „Ich wäre begeistert. Wir
geben eine tolle Party, um Henry in die Familie aufzunehmen." „O Marcia, ich bin ja so froh, dass du angerufen hast." Evelyn schluckte -mühsam. „Hier sitze ich nun und weine vor Freude. Ich hatte Angst, du würdest meine Beziehung zu Henry nicht gutheißen. Wir möchten heiraten, und zwar, bevor Lucy und Troy nach Vancouver zurückkehren. Was hältst du davon? Ich wollte ja ganz im stillen heiraten, aber Henry sagt, er sei so stolz auf mich, dass er all unsere Verwandten und Freunde bei der Hochzeit dabeihaben will." ..Henry hat völlig recht", stimmte Marcia zu. "Ich helfe dir gern beim Planen der Feier." „Ich lass' dich den Termin wissen, sobald Henry und ich uns darauf geeinigt haben. Marcia, meine Liebe, vielen, vielen Dank." Marcia räusperte sich. „Bestell Henry schöne Grüße von mir. Ich hab dich lieb, Mom." „Ich dich auch, Schatz. Danke. Gute Nacht." Jetzt weine ich ja doch noch, dachte Marcia und putzte sich die Nase. Sich zu verändern war harte Arbeit. Aber es lohnte sich. Am Freitag war Marcia viel mit den Hunden unterwegs und dachte dabei intensiv nach. Die Spaziergänge waren nicht ungefährlich, da Tansy überhaupt nicht auf den Verkehr achtete und zudem jeden Menschen, jede Katze und jeden Hund, dem sie begegnete, unbedingt begrüßen wollte. Sie gingen viermal spazieren, weil Marcia hoffte, Tansy zu ermüden, aber deren Energie schien unerschöpflich zu sein. Schließlich waren es Marcia und Artie, die erledigt waren. Morgens hatte sie ihre Werkstatt angerufen und gebeten, das Auto abzuschleppen und zu reparieren. Nachmittags ging Marcia einkaufen. Ihre Kleidung war streng, konservativ und langweilig. Höchste Zeit, das zu ändern. In einer Boutique kaufte sie sich ein himbeerfarbenes Kleid, in einer anderen eine weiße Seidenbluse und DesignerJeans, dazu einen mexikanischen silberbeschlagenen Gürtel und Türkisschmuck. Danach verbrachte Marcia eine Dreiviertelstunde in einem Wäschegeschäft und gab viel Geld aus. Unter anderem für himbeerfarbene Dessous. Mit Paketen beladen, kam sie nach Hause und rief Lucy an, um ihr zu sagen, dass sie in der Stadt war und Samstagabends auf Chris aufpassen könne. „Komm doch schon zum Essen", schlug Lucy vor. „Samstags lassen wir uns meistens etwas bringen. Wie geht es denn Quentin?" „Gut, nehme ich an." „Du nimmst es an?" Lucy seufzte. „Wenn ich gewusst hätte, dass Catherine dich in die Stadt zurücklockt, hätte ich ihr deine Telefonnummer nicht gegeben. Weißt du was? Ich frage Mom, ob sie und Henry nicht auf Chris aufpassen. Dann können du und Quentin mit ins Kino gehen." „Nein", wehrte Marcia ab. „Marcia, eines Tags wirst du aufwachen und feststellen, dass das Leben an dir vorbeigegangen ist", warnte Lucy eindringlich. „Bedauern ist ein kalter Bettgenosse, wie ich gemerkt habe, als Troy und ich getrennt lebten. Also, bis morgen." Lucy knallte den Hörer auf die Gabel. Quentin hatte die Tür zugeknallt, Lucy knallte den Hörer auf. Es wäre nett^ wenn andere Leute sich nicht so sicher wären, was das beste für mich ist, dachte Marcia. Aber wenn Lucy Quentin ins Kino einladen wollte, bedeutete das immerhin, dass er nicht nach Peru gereist war. Noch nicht, jedenfalls. Marcia brühte sich eine Kanne Kräutertee auf und setzte sich auf die kleine Terrasse in die Sonne. Artie ließ sich zu ihren Füßen nieder, und Tansy raste im Garten herum, bevor sie sich endlich auch hinlegte. Marcia verdrängte den Gedanken an das Gespräch mit Lucy und dachte statt
dessen an den kleinen Jungen, dem sie geholfen hatte, daran, wie lange es her war, dass sie über eine Blumenwiese geschlendert war und an das Krankenhaus in Indien, das sie zwar finanziell unterstützte, für das sie sich aber gefühlsmäßig nicht einsetzen musste. Sie dachte an alles mögliche, nur nicht an Quentin. Nachts hatte sie wieder den Alptraum, in dem sie in den Strudeln eines tiefblauen Meers versank. Sie wachte mit wild klopfendem Herz auf. Ich habe schreckliche Angst vor Quentin und all dem, was er repräsentiert, wurde Marcia bewusst. Wenn sie sich ihm hingab, würde sie sich selbst verlieren. Aber Quentin behauptete, sie würde sich dann selbst finden. Konnte das stimmen? Wenn sie mit ihm schlief, wäre bestimmt nichts mehr wie vorher. Was würde geschehen, wenn er jetzt hier bei ihr wäre? Ein Prickeln überlief sie, und ihre Phantasie gaukelte ihr ungewohnte Bilder vor. Gereizt stand Marcia auf, ging in die Küche, machte sich ein Sandwich und sah sich einen völlig albernen Film im Fernsehen an. Morgens um sieben wachte sie auf dem Sofa mit steifem Nacken auf. Der Fernseher lief noch. Sie schaltete ihn aus. Männer sind schrecklich, dachte sie erbost. Vor allem Quentin mit seinen selbstgebauten Häusern, den Bildern, die geheimste Gefühle zeigten - und der sie geküsst hatte, ohne an die Folgen zu denken. Quentin wusste, was er wollte. Nämlich sie, Marcia. Daraus hatte er nie ein Geheimnis gemacht. Allerdings hatte, er sie nicht angerufen, seit sie bei Catherine war. Tansy winselte jämmerlich an der Hintertür, und Artie bellte. Vorsichtig bewegte Marcia den Kopf hin und her, um die verspannten Nackenmuskeln zu lockern. Später wollte sie sich ein neues Auto kaufen. Ein Psychiater hätte das einen klassischen Fall von Ersatzhandlung genannt. Marcia presste die Lippen zusammen, ging zur Hintertür und wappnete sich gegen Tansys übermütige Begrüßung. Marcia kaufte sich tatsächlich ein neues leuchtendrotes Auto. Es war zwar nicht größer, aber viel auffälliger als ihr alter Wagen. Nachdem sie das Auto in Catherines Auffahrt geparkt hatte, ging sie einige Male darum herum, berührte die glänzenden Seiten und spiegelte sich in den blanken Chromteilen. Danach ging Marcia mit den Hunden spazieren. Am späten Nachmittag fuhr sie zu Lucy und Troy. Sie hatte das himbeerfarbene Kleid angezogen, obwohl es nicht das Richtige fürs Babysitten war. Das Kleid symbolisierte jedoch etwas, was Marcia noch nicht in Worte zu fassen bereit war. „Toll!" rief Lucy, als sie die Tür öffnete. „Du siehst umwerfend aus, Marcia. Komm doch rein. Sicher bist du die bestangezogene Babysitterin in ganz Ottawa. Übrigens haben wir Pizza bestellt. Hoffentlich bist du hungrig." Nachdem sie gegessen hatten, fütterte Lucy das Baby. Chris schob sich immer wieder die Finger in den Mund und wimmerte. „Er bekommt schon wieder einen Zahn", erklärte Lucy bedrückt, als Troy den Kleinen aus dem Kinderstuhl hob. „Bist du sicher, dass wir ins Kino gehen sollten, Schatz? Ich lasse Chris in dem Zustand nicht gern allein." „Natürlich geht ihr", antwortete Marcia. „Schließlich bin ich Ärztin." . „Das vergesse ich manchmal. Dein Job hat doch nichts mit zahnenden Babys und überbesorgten Müttern zu tun", bemerkte Lucy. „Schreib mir die Telefonnummer des Kinos auf, dann kann ich euch notfalls verständigen, falls Chris sich nicht beruhigt", schlug Marcia vor. Lucy biss sich auf die Lippe und sah unglücklich aus. Troy sagte unnachgiebig: „Hol deine Jacke, Lucy, oder wir kommen zu spät." Er reichte Marcia das Baby. „Im Medizinschrank ist eine Lotion für sein Zahnfleisch. Danke fürs Aufpassen." Kurz darauf waren sie weg. Chris begann zu jammern. Marcia ging mit ihm ins Bad und rieb sein Zahnfleisch behutsam mit dem Mittel ein. Er schob sich die Faust in
den Mund. Marcia schaltete sanfte Musik ein und ging mit dem Baby im Wohnzimmer hin und her. Eine halbe Stunde später ließ Chris den Kopf sinken. Der Kleine war schon erstaunlich schwer, und ihr taten die Arme weh. Sie trug ihn zu seinem Zimmer und wollte ihn gerade ins Bett legen, als an die Tür geklopft wurde. Marcia zuckte zusam men. Chris öffnete die Augen und begann zu weinen. Verärgert ging sie zur Tür und blickte durch die Spion. Draußen stand Quentin. Marcias Herz schien einen Schlag lang auszusetzen. Sie hielt Chris wie ein Schutzschild vor sich und öffnete. Völlig entgeistert sah Quentin sie an, dann strahlte er. „Lucy hat dich also auch eingeladen. Wie schön!" Er hielt eine Flasche Wein in der Hand, trug eine braune, abgewetzte Lederjacke und ausgebleichte Jeans. Er sah umwerfend attraktiv aus. Marcia trat beiseite, um ihn hereinzulassen. „Du wusstest nicht, dass ich auch komme, oder?" fragte Quentin. „Wo ist denn Lucy?" „Mit Troy ins Kino gegangen. Wenn meine liebe Schwester nach Hause kommt, drehe ich ihr den Hals um ... Schon gut, Chris, alles in Ordnung." Quentin schloss die Tür. „Es gibt also kein Dinner für drei um halb acht?" „Es gibt überhaupt kein Dinner. Wir haben Pizza bestellt und schon alles gegessen." „Na, macht nichts", meinte Quentin gut gelaunt. „Wenigstens habe ich eine Flasche Wein mitgebracht. Sehr guten, wenn ich das bemerken darf. Damit verwöhne ich dich jetzt." „Babysitter dürfen sich keinen Schwips antrinken, Quentin." Er zog die Brauen hoch. „Du siehst bezaubernd aus, Marcia. Rot steht dir wirklich gut. Was ist denn mit Chris los?" „Er zahnt. Er war fast eingeschlafen, als du angeklopft hast." „Quentin zog die Jacke aus, unter der er ein Jeanshemd trug. „Gib mir den Kleinen. Er hat dein Kleid vollgesabbert. Ist es neu?" „Ja. Seit gestern habe ich ein kleines Vermögen ausgeben", erwiderte Marcia trotzig. Quentin nahm ihr das Baby ab. „Hu, er ist ja ganz nass. Na los, Dr. Barnes. Dafür sind Sie zuständig." „Mir ist gar nicht aufgefallen, dass er eine neue Windel braucht", sagte sie nervös. „Wie können ihn im Schlafzimmer neu wickeln." Quentin beobachtete, wie Marcia mit der Salbe und dem Puder herumhantierte und sich mit den Verschlüssen der Windel abplagte. „Das hast du seit der Ausbildung sicher nicht mehr gemacht", bemerkte er. „Schenk mir ein Glas Wein ein, Quentin", erwiderte sie schroff. „Es wird sicher ein langer Abend." Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, brannte nur noch die Stehlampe. Zwei Gläser Wein und ein Thunfischsandwich standen auf dem Couchtisch. Ein Thunfischsandwich passt genausowenig zu einer Verführungsszene wie ein schreiendes Baby, dachte Marcia. Nicht, dass Quentin einen Versuch machte, sie zu verführen. Chris steckte den Daumen in den Mund und hörte zu jammern auf. Marcia trug ihn hin und her, bis ihr die Arme weh taten, dann setzte sie sich - mit gebührendem Sicherheitsabstand zu Quentin - aufs Sofa. Nachdem er das Sandwich gegessen hatte, nahm er ihr das Baby ab. „Keine Angst, ich beiße dich nicht, Marcia. Trink deinen Wein und erzähl mir alles über das Vermögen, das du ausgegeben hast." Der Wein war ein schwerer Burgunder. Marcia trank einen Schluck und sagte: „Ich habe mir etwas zum Anziehen und ein Auto gekauft, und nichts davon ist
marineblau, braun oder grau." Quentin lachte schallend. „Du machst keine halben Sachen, stimmt's?" Unter dem Kleid trug sie die roten Dessous. „Nein", sagte Marcia fest. „Das finde ich ermutigend. Aber, aber, nicht weinen, Chris, es ist alles in Ordnung." Chris wimmerte und lutschte wieder heftig am Daumen. Quentin setzte sich bequemer hin und lächelte Marcia an. „Du sitzt so weit weg, dass ich beinahe schreien muss, um mich verständlich zu machen. Rutsch doch etwas näher." Argwöhnisch sah sie ihn an und trank noch einen Schluck Wein. Sie sieht in dem roten Kleid wunderschön aus, dachte Quentin und sagte betont beiläufig: „Ich bin fast verrückt vor Verlangen nach dir, Marcia. Aber ein zahnendes Baby ist besser als jede Anstandsdame. Daran hat Lucy sicher nicht gedacht, als sie uns hierherlockte. Du bist also völlig sicher vor mir und meinen Verführungskünsten. Schade." Marcia funkelte ihn an. „Ich fühle mich überhaupt nicht sicher, wenn du in meiner Nähe bist." „Nur weiter so, das höre ich gern." „Ich bin froh, dass du nicht nach Peru gefahren bist", sagte sie rasch. „Ich auch. Jetzt." Marcia fühlte sich eigenartig, als sie Quentin betrachtete. Zärtlich hielt er das Baby im Arm, das seinen Kopf vertrauensvoll an seine Brust geschmiegt hatte. Marcia konnte sich nur zu gut vorstellen, dass sie und Quentin ein ganz normales Ehepaar wären, das einen ruhigen Samstag abend zu Hause mit dem Baby verbrachte. Plötzlich verspürte sie eine seltsam schmerzliche Sehnsucht. „Meine Mutter will wieder heiraten", berichtete Marcia unvermittelt. „Und zwar Henry." „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?" fragte Quentin leise. „Du hast wirklich ein Talent, unbeantwortbare Fragen zu stellen. Mochtest du Henry?" „Sehr. Mein linker Arm braucht ein Gegengewicht zu Chris. Komm her zu mir." Marcia trank noch einen großen Schluck, dann rückte sie näher zu Quentin. „Es ist nicht sehr romantisch, eine Frau in die Arme zu locken, indem man sie ein Gegengewicht nennt", meinte sie. „In den Arm. Einzahl", verbesserte Quentin sie. Sanft streichelte er ihr die Schulter. „Entspann dich, Marcia. Ich möchte dir eine Geschichte erzählen." Sie streifte die Pumps ab, zog die Füße aufs Sofa und schmiegte den Kopf an Quentins Schulter. Er umfasste Marcia unbewusst fester. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich auf deine Geschichte konzentrieren kann", meinte sie leise. „Marcia ..." sagte er und küsste sie. Verwunderung und bittersüßes Verlangen durchfluteten sie, während sie den Kuss hingebungsvoll erwiderte. So fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn man ertrinkt, dachte Quentin und wünschte das Baby dahin, wo der Pfeffer wuchs. Oder wenigstes in sein Bettchen. Marcia duftete so gut, ihr Haar streichelte seine Wange und schien all seine Sinne zu reizen. Sie strich ihm mit den Fingerspitzen über den Nacken und schob sie dann in sein Haar. Quentin verlor alles Zeitgefühl. Chris wimmerte leise, dann lutschte er wieder laut an seinem Daumen. Marcia flüsterte an Quentins Lippen: „Babysitter sollten eigentlich auch nicht auf der Couch schmusen, Du wolltest mir doch eine Geschichte erzählen." „Ja, das wollte ich." „Warum bin ich deine Traumfrau?" fragte sie unvermittelt. „Das verstehe ich nicht." „Genau darum geht es in meiner Geschichte", sagte Quentin, schloss die Augen und presste Marcia an sich. „Es war einmal", begann er, „ein kleiner Junge namens
Quentin im Dorf Holton. Er hatte keine Geschwister, aber das machte ihm nicht viel aus, denn es gab ja die Wälder und Felder, wo er spielen und die Tiere beobachten konnte. Und sie zeichnen, denn er wusste von klein an, dass er einmal ein Maler werden würde. Vielleicht vermisste er auch deshalb keine Geschwister, weil er ja seine Eltern hatte. Auf sie konnte er sich felsenfest verlassen, und schon als kleiner Junge fühlte er, dass sie sich liebten wie die wilden Schwäne, die nur einmal im Leben heiraten und dann immer zusammenbleiben." Ein schmerzliches Gefühl durchzuckte Marcia. Sie hatte ihren Vater verloren, als sie erst fünf Jahre alt war. „Und weiter?" drängte sie sanft. Ohne es zu merken, wechselte Quentin zur ersten Person. „Ich wusste schon immer, dass meine Eltern etwas Besonderes waren, nämlich zwei Menschen, die einander leidenschaftlich liebten. Je älter ich werde, desto ungewöhnlicher kommt es mir vor, dass ein Ehepaar diese Liebe in guten wie in schlechten Zeiten aufrechterhält. Lucy und Troy haben es auch geschafft, allerdings unter enormen Schwierigkeiten. Deshalb schätze ich sie so sehr." Er blickte auf Marcia, die sich vertrauensvoll an ihn schmiegte. „Mit ungefähr elf Jahren war ich mir zum erstenmal absolut sicher, eines Tages die richtige Frau zu treffen, diejenige, die so zu mir passte wie meine Mutter zu meinem Vater. Und als du in die Galerie kamst, wusste ich sofort, du bist diejenige - die Frau, auf die ich fast mein ganzes Leben lang gewartet habe." Quentin räusperte sich. „Ende der Geschichte. Oder sollte ich sagen, der Anfang?" Marcia richtete sich kerzengerade auf. „Heißt das, du hast dich in mich verliebt?" „Ja, das heißt es wohl. Obwohl das Wort so abgegriffen ist, dass ich es nicht gern sage. Zwischen uns besteht eine Bindung Marcia. Wir sind wie füreinander geschaffen. Ach, zum Kuckuck, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich bin Maler, nicht Dichter." Er überlegte einen Moment lang. „Du bist einfach mein Ideal. Die Frau, von der ich insgeheim immer geträumt habe." „Das meinst du wirklich ernst, was du da gesagt hast, oder?" fragte Marcia aufgewühlt. „O ja." Er streichelte sie. Sie sah so argwöhnisch aus wie ein Reh, das Gefahr wittert. „Ich habe gegen mein Gefühl angekämpft", erklärte Quentin. „Weil ich dachte, du wärst nicht mein Typ. Selbstbeherrschung und Zurückhaltung habe ich noch nie für bewunderungswürdig gehalten. Und Lucy hat dich damals auf Shag Island nicht sehr schmeichelhaft beschrieben." Er zögerte. „Damals mag die Beschreibung ja gestimmt haben ... aber jetzt sicher nicht mehr. Glaube ich." Plötzlich hatte Quentin genug vom Reden. Er ließ die Hand über Marcias Hals gleiten und weiter zu ihren Brüsten, dann zu ihrem flachen Bauch und schließlich zu ihrem Oberschenkel.
7. KAPITEL
Quentin hörte, wie Marcia tief einatmete, und sah, wie ihre Augen groß wurden. Aber sie sagte kein Wort. „Rot ist die Farbe der Leidenschaft", meinte er leise. „Das wusstest du doch, oder?" „Es geht hier nicht um Leidenschaft", entgegnete sie. „Wir beide haben nur längere Zeit keine Partner gehabt, das ist alles." „Jetzt machst du dir etwas vor." Sie gab Quentin insgeheim recht. „Willst du wirklich behaupten, dass ich die Frau bin, mit der du dein ganzes Leben verbringen möchtest?" hakte Marcia nach. .„Ja, genau das", bestätigte er. „Aber wir haben uns doch erst vor zwei Wochen kennengelernt, Quentin." „Dann verbring mehr Zeit mit mir, damit wir uns besser kennenlernen." Marcia nahm ihr Weinglas und leerte es mit einem Schluck. „Warum hast du mir das alles nicht vorher gesagt?" fragte sie. „Weil du es nicht hören wolltest", erwiderte er. „O nein, sondern weil ich geglaubt hätte, du belügst mich nur wieder", entgegnete sie scharf. „Widersprich mir nicht dauernd. Du bist wirklich die aufreizendste und sturste Frau, die ich kenne. Frag mich jetzt nicht, warum ich mich in dich verliebt habe, denn ich habe nicht die geringste Ahnung. Und ich dulde nicht, dass du mir vorwirfst, ich hätte dich jemals angelogen." Chris hob den Kopf und sah Quentin erstaunt an. „Hallo, Kleiner", sagte Quentin ruhiger. „Du störst, weißt du das?" ' Chris lächelte ihn strahlend an und gluckste. Hilflos sagte Marcia: „Ich habe mich schon wieder aus der Ruhe bringen lassen." „Wenn man an sexueller Frustration leidet, verliert man schnell die Gelassenheit", erklärte Quentin. Plötzlich lachte sie. „Du solltest es dir notieren und rot anstreichen, dass ich dir tatsächlich zustimme, Quentin. Hiermit verkünde ich, in deiner Gegenwart - unter anderem - sexuelle Frustration zu empfinden." „Und was noch?" fragte er, ehrlich interessiert. „Wut, Panik, Sehnsucht, Glücksgefühle, Trübsal, Eifersucht." „Du hast Reserviertheit vergessen." „O je, das habe ich wirklich", gestand sie kleinlaut. Chris streckte die Hand nach Marcia aus und lächelte, wobei er drei winzige Zähne zeigte. Sie nahm das Baby in den Arm und blies ihm sanft auf den Nacken. Chris gluckste wieder. In einem seltsamen Ton sagte Quentin: „Wenn ich dich so sehe, male ich mir aus, Chris wäre unser Kind. Kannst du dir vorstellen, die Mutter meiner Kinder zu sein, Marcia?" Aufrichtig antwortete sie: „Wenn ich allein mit dir bin, denke ich fast ausschließlich an Sex. Aber wenn ich dich mit Chris im Arm sehe, spüre ich eine seltsam schmerzliche Sehnsucht." Sie verzog das Gesicht. „Das muss das verrückteste Gespräch sein, das ich jemals geführt habe. Ich habe noch nie mit einem Mann wirklich zusammengelebt, Quentin. Mit ihm den Alltag geteilt, meine ich. Wer spült das Geschirr, wer macht das Waschbecken sauber? Ich wette, wir beide würden uns gegenseitig innerhalb eines Monats in den Wahnsinn treiben." „Das lässt sich leicht herausfinden. Zieh zu mir ins Landhaus", erwiderte Quentin prompt. Verblüfft sah Marcia ihn an. „Weißt du, was noch verrückter ist als das Gespräch? Dass ich tatsächlich ernsthaft überlege, dein Angebot anzunehmen." „Du musst nur ja sagen. Ein ganz einfaches Wort." Quentins Lächeln ließ Marcias Herz schneller schlagen. Mit zittriger Stimme sagte
sie: „Wir sollten Chris ein Fläschchen geben und ihn ins Bett bringen. Lucy ist uns sicher nicht dankbar, wenn wir ihn die halbe Nacht wach halten." „Wechsle nicht das Thema. Sag einfach ja." „Hältst du ihn, während ich das Fläschchen warm mache?" bat Marcia, stand auf und fügte hinzu: „Ich verspreche dir, dass ich dir die Antwort Ende nächster Woche gebe. Bitte dräng mich nicht, Quentin." Im sanften Licht wirkte sie so zart und feminin, dass heißes Verlangen Quentin erfüllte. Aber das musste er verbergen, um Marcia nicht abzuschrecken. Er durfte sie nicht drängen, auch wenn