Achim Hiltrop präsentiert
Folge 6: Schreckliche Stunden in Soho "London Bridge, Endstation!" Masahiro Nakamura, Sonderb...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 6: Schreckliche Stunden in Soho "London Bridge, Endstation!" Masahiro Nakamura, Sonderbotschafter des Kaisers von Japan, schlug die Augen auf. Er war in der Tat eingeschlafen. Die Reise war lang gewesen. Der Franzose, der ihm gegenüber in dem Zugabteil gesessen und unentwegt in einem Buch namens 'Le Tour du monde en quatre-vingts jours' gelesen hatte, war bereits aufgestanden und hatte begonnen, seinen sperrigen Koffer aus dem Gepäckfach zu wuchten. Der Schaffner öffnete kurz die Tür des Abteils. "Endstation", wiederholte er fröhlich, "alles aussteigen." Nakamura nickte. Sobald der französische Passagier ihm Platz gemacht hatte, stand auch der japanische Diplomat auf, um seinen Hut, seinen Spazierstock und seine Reisetasche an sich zu nehmen und sich auf dem Gang des Erste-Klasse-Waggons mit den anderen Reisenden zu versammeln. Der Zug wurde allmählich langsamer. Ein schrilles Pfeifsignal und das Quietschen der Bremsen malträtierten die Ohren der Fahrgäste. In dem Gedränge erhaschte Nakamura aus den Fenstern einen ersten kleinen Blick auf London. Schmucklose rote Backsteinbauten drängten sich dicht an dicht neben riesigen Gebäuden, deren Fassaden üppig verziert waren. Dann fuhr der Zug in die Bahnhofshalle ein, und vor dem Fenster wurde es dunkel. Schnaufend kam die Lokomotive zum Stehen. Endlich wurden die Türen entriegelt, und der Strom der Passagiere, die von Dover aus in die Hauptstadt des britischen Weltreiches gekommen waren, ergoß sich auf den Bahnsteig. Der Japaner beeilte sich, um nicht von dem Pulk der Reisenden niedergetrampelt zu werden. Auf dem Bahnsteig reckte er den Hals, um die beiden Gentlemen zu entdecken, die ihn erwarten sollten. Nach kurzem Suchen hatte er sie entdeckt: zwei Männer in schlichten dunklen Anzügen und leichten Sommermänteln. Der jüngere von den beiden war hager und gutaussehend und trug einen Zylinder. Der ältere der Männer war kleiner. Ein buschiger Schauzbart war das markanteste Merkmal in seinem Gesicht, und auf dem Kopf hatte er einen runden Bowler-Hut. Nakamuras Gesicht hellte sich auf. Er reiste nicht gerne allein und freute sich bereits seit Tagen auf das Wiedersehen mit seinem alten Freund. * "Nun?", fragte Archibald Moore, "welcher von ihnen ist es, Colin?" Colin kniff die Augen zusammen und machte einen langen Hals, um über die Köpfe der Reisenden hinwegblicken zu können. Der Zug war offenbar recht voll gewesen. Dem babylonischen Stimmengewirr nach zu urteilen, das auf dem Bahnsteig herrschte, handelte es sich bei den Passagieren zum Großteil um Kontinentaleuropäer, die mit der Fähre von Calais gekommen waren. "Nun, ich nehme an, daß es einfach sein wird, ihn zu erkennen, Archibald", antwortete er, "es gibt ja nicht so besonders viele japanische Reisende hier. Da ist er schon!"
Colin Mirth Er zeigte auf einen kleinen, dunkelhaarigen Mann, der einen hellen Sommeranzug, eine Brille mit dicken runden Gläsern und einen modischen Strohhut trug. Zwischen den vielen Europäern, die ihn alle um Haupteslänge überragten, wirkte er ein wenig verloren. Dann jedoch trafen sich ihre Blicke, und der Japaner nahm zielstrebig Kurs auf Colin und Archibald. "Nakamura-san", Colin verneigte sich, "o-hisashiburi desu ne. O-genki desu ka?" "Hai, genki desu", erwiderte Nakamura und verbeugte sich tief. "Colin-san wa?" "Mir geht es auch gut, danke der Nachfrage", lenkte Colin das Gespräch wieder in seine Muttersprache. "Ich darf Ihnen meinen Kollegen von Scotland Yard vorstellen: Sergeant Moore." Moore unterdrückte den Impuls, die rechte Hand auszustrecken; Colin hatte ihn vor Ankunft seines japanischen Gastes über die dortigen Gepflogenheiten grob instruiert. "Guten Tag, Sir", sagte er höflich und deutete eine Verbeugung an. "Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Moore-san", entgegnete Nakamura. "Hatten Sie eine angenehme Reise, Nakamura-san?", erkundigte sich Colin. "Sehr gut, danke", sagte der Japaner. "Aber ich bin nun ein wenig hungrig und durstig." Colin und Archibald wechselten einen Blick. "Red Lion?", fragte Colin. "Red Lion", erwiderte Archibald grinsend. "Lassen Sie uns in den Pub gehen, Nakamura-san", schlug Colin vor, "da bekommen Sie etwas zu essen und zu trinken." "In den Pub?", fragte der Japaner verblüfft. "Aber es ist doch noch hellichter Tag!" "Eben drum", gab Archibald zurück, "nachts gibt's dort nichts." * Sie überquerten die Themse zu Fuß und fuhren mit der Untergrundbahn bis zur Haltestelle Westminster Bridge. Von hier war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Stammlokal der beiden Polizisten, dem Red Lion. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, war der Pub gut besucht, und so dauerte es eine Weile, bis sie ihren Imbiß bekamen. Hungrig machte sich Nakamura über den Teller mit Würstchen und Kartoffelpüree her, den ihm Colin bestellt hatte. Archibald hatte sich eine Portion Quiche bestellt, während sich Colin mit einem dick belegten Gurkensandwich begnügte. "Was gibt es denn Neues aus Japan zu berichten, Nakamura-san?", erkundigte Colin sich höflich. Er selbst hatte vor zehn Jahren für den Secret Service in der britischen Botschaft in Edo, das 1868 in Tokyo umbenannt worden war, gearbeitet. An die prunkvollen Krönungsfeierlichkeiten des Kaisers Mutsuhito dachte er mit gemischten Gefühlen zurück, da er bei diesem Anlaß in seiner Eigenschaft als Geisterjäger hatte tätig werden müssen. Der japanische Diplomat ließ den letzten Rest Püree in seinem Mund verschwinden und tupfte sich die Lippen mit einem fleckigen Taschentuch ab. "Es sind unruhige Zeiten, Colin-san. Die neue Ordnung bedeutet für uns Samurai große Veränderungen, und nicht alle sind damit glücklich." "Sie sind Samurai?", fragte Archibald neugierig. "Ja, so ist es. Überrascht Sie das, Moore-san?" Archibald schaufelte eine Gabelvoll Eierkuchen in sich hinein und sprach mit vollem Mund weiter. "Ich kannte Samurai bislang nur von Bildern. Ich wußte nicht, daß Sie auch in normaler Straßenkleidung herumlaufen."
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Colin Mirth Nakamura lächelte dünn. "Was für Sie eine normale Straßenkleidung darstellt, Mooresan, ist für Menschen wie mich eine Revolution. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat unser Tenno uns unsere traditionelle Haartracht und unsere traditionelle Kleidung verboten. Wir wurden angewiesen, westliche Kleidung zu tragen, und seit Kurzem ist es uns sogar untersagt, Schwerter zu tragen." "Das sind in der Tat einschneidende Reformen", konstatierte Colin. "Mit der Abschaffung des Feudalsystems entfiel unsere bisherige Einnahmequelle, und so arbeiten viele von uns heute in der Politik oder in der Wirtschaft", fuhr Nakamura fort, "aber es gibt auch Konservative wie Saigo Takamori, die das Rad der Zeit gerne zurückdrehen möchten. Im Moment gibt es schwere Ausschreitungen zwischen den kaisertreuen Truppen und dem Satsuma-Clan. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll..." Er schüttelte traurig den Kopf. "Und Sie, Nakamura-san?" Archibald schob seinen leeren Teller beiseite. "Was tun Sie in Europa?" "Ich arbeite für den diplomatischen Dienst. Ich bin sozusagen Forscher", antwortete der Japaner lächelnd. "So? Was erforschen Sie denn, wenn ich fragen darf?" "Europa natürlich", Nakamura lachte meckernd, "unser Land hat noch viele Reformen vor sich, bis es mit den europäischen Nationen mithalten kann. Daher sammeln wir Informationen über alles, was dem Tenno dabei helfen kann. Medizin, Schulwesen, Recht, Forschung, Technik..." Colin sah nachdenklich in sein Bierglas. "Ich finde es schade, daß Japan sich darauf beschränkt, fremde Systeme zu kopieren, statt etwas eigenständiges zu entwickeln." "Das dauert zu lange", widersprach Nakamura, "der Tenno will Ergebnisse sehen, und zwar schnell." "Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mache Ihnen keinen Vorwurf", beschwichtigte Colin ihn, "aber seien Sie um Himmels Willen auf der Hut, sonst übernehmen Sie am Ende auch noch die Fehler, die sich bei uns eingeschlichen haben." Nakamura zuckte gleichgültig mit den Schultern. "'Für den Krieger gilt, daß er die den jeweiligen Zwecken angemessenen Waffen bereithält', sagt Musashi Miyamoto. Ich tue das, was der Tenno von mir verlangt. Und damit komme ich zu dem zweiten, weitaus wichtigeren Teil meines Besuches in London." Colin hob fragend die Augenbrauen. "Noch wichtiger, sagten Sie?" "Noch weitaus wichtiger", bekräftigte Nakamura. Er senkte die Stimme, als er weitersprach. "In meiner Reisetasche befindet sich eine kostbare, von Meisterhand geschnitzte Maske für das Noh-Theater. Es handelt sich um ein Geschenk von Saigo Takamori an den Tenno." "Eine Noh-Maske?", fragte Archibald verständnislos. "Das Noh ist eine japanische Form des Theaters, bei dem alle Schauspieler stilisierte hölzerne Masken tragen", erklärte Colin ihm. "Aber sagen Sie, Nakamura-san, ist dieser Saigo-san nicht der Anführer der Rebellen, von denen Sie vorhin sprachen?" Der Japaner nickte. "So ist es. Bevor es zum Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen dem Satsuma-Clan und den kaisertreuen Truppen kam, hatte Saigo-san dem Kaiser aber diese Maske geschenkt. Wir ahnten natürlich gleich, daß dieses Geschenk einen – wie sagt man bei Ihnen? – einen Pferdefuß hat." "Einen Pferdefuß welcher Art?", fragte Colin interessiert. "In der Maske wohnt ein Dämon", flüsterte Nakamura, "ein sogenannter Ruye, der mit seinem schaurigen Heulen den Tenno sterbenskrank machen soll." Colin vergrub das Gesicht in den Händen. "Oh nein", stöhnte er, "nicht schon wieder." Archibald trank sein Bier aus. "Ist Ihr Ruye so etwas wie die Banshees in unseren englischen Märchen?" Seite 3
Colin Mirth "Er sieht anders aus, aber er bezweckt das Gleiche." Nakamura nickte ernst und legte Colin die Hand auf den Arm. "Das Geschenk einfach zu vernichten oder weiter zu verschenken, bringt Unglück. Sie haben uns schon einmal geholfen, Colin-san, und wir bitten Sie wieder um Ihre Hilfe. Neutralisieren Sie den Dämon, bitte." Colin stützte den Kopf auf die Fäuste. "Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen? Nach meiner letzten Begegnung mit einem Ihrer Dämonen hatte ich drei Wochen Kopfschmerzen, Nakamura-san." "Ich bitte Sie, Colin-san, ich verlange nichts." Colin seufzte. Er konnte sich in etwa ausmalen, was Kaiser Mutsuhito mit Nakamurasan machen würde, falls der Diplomat unverrichteter Dinge nach Japan zurückkehren sollte – oder besser gesagt, was Nakamura-san sich in diesem Fall selbst würde antun müssen. Er verdrängte die Vision, wie sein Freund rituellen Selbstmord beging, und nickte ernst. "Einverstanden, Nakamura-san, ich werde sehen, was ich tun kann. Darf ich die Maske mal sehen?" "Selbstverständlich." Nakamura sprang auf und holte seine Reisetasche unter seinem Stuhl hervor. Verdutzt bemerkte er, daß der Verschluß der Tasche geöffnet war. Stirnrunzelnd griff er hinein – und erstarrte. "Stimmt etwas nicht?", fragte Archibald besorgt. "Sie ist weg! Die Maske ist weg!" Hektisch begann Nakamura, den Inhalt seiner Reisetasche auf dem Tisch auszubreiten. * "Es war ungefähr so groß", sagte Nakamura und zeigte mit den Händen die ungefähre Größe der Maske an, "eine hölzerne Maske mit Hörnern. Sie war in ein rotes Seidentuch eingewickelt." "Bedaure, Sir", sagte die Dame am Fundsachen-Schalter des Bahnhofs, "aber so ein Objekt ist bei uns nicht abgegeben worden." Colin zückte seine Visitenkarte. "Falls ihnen jemand ein Fundstück bringen sollte, auf das die Beschreibung zutrifft, lassen Sie es uns bitte wissen, Madam." "Selbstverständlich, Sir. Der Nächste bitte!" "Ich verstehe das nicht", stammelte Nakamura ratlos. Ich hätte schwören können, daß ich die Tasche verschlossen hatte. Yabai..." Archibald dachte angestrengt nach. "Ja, ich glaube auch, daß die Tasche geschlossen war, als wir in den Pub gingen. Aber wenn Sie die Maske nicht unterwegs verloren haben, heißt das zwangsläufig, daß jemand das gute Stück im Pub aus der Tasche genommen hat." "Aber wer?", fragte Nakamura entsetzt. Colin zuckte mit den Schultern. "Ein Dieb, würde ich vermuten." "Ein Dieb", echote Nakamura, "aber das ist ja furchtbar!" "Wieso?", fragte Archibald, "nun sind Sie die Maske los, und das Problem hat sich von selbst erledigt, Nakamura-san." "Ganz so einfach ist es nicht", widersprach der Japaner, "wer das Siegel bricht, mit dem die Umhüllung der Maske verschlossen ist, befreit damit den Dämon. Können Sie sich ausmalen, welchen Schaden ein freigelassener Ruye in einer Stadt wie London anrichten könnte?" "Äh... nein." "Ich kann Ihnen versprechen, Ihre Königin wird nicht darüber amüsiert sein", sagte Nakamura vorsichtig.
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Colin Mirth "Dann ist die Sache klar", fand Colin, "wir finden den Dieb, wir holen die Maske zurück und neutralisieren den Dämon. Einverstanden?" Archibald seufzte. "Es ist Wochenende, Colin. Ich habe sowieso nichts vor. Also, gehen wir." * "In diesem Pub verkehren keine Ganoven, Sergeant." Edward Philips, der Barkeeper des Red Lion, schüttelte energisch den Kopf. "Unser Publikum besteht hauptsächlich aus Politikern und anderen hohen Würdenträgern." "Wobei das eine nicht unbedingt das andere ausschließt", brummte Archibald Moore vielsagend. "Hören Sie, Gentlemen", sagte Philips in einem versöhnlicherem Tonfall, "Sie beide sind doch Stammkunden. Sie wissen, was ich meine. Unser Haus liegt direkt neben dem Parlament. Viele der Leute, die Sie hier jeden Tag sehen, arbeiten in den Regierungsgebäuden und Behörden in dieser Straße. Wenn Sie auf der Suche nach einem Dieb sind, Sergeant Mirth, dann suchen Sie ihn bitte woanders." Colin kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Denken Sie nach, Eddie. Wer saß heute am späten Nachmittag am Tisch neben uns?" "Da war ein Herr mit einer besonders großen Nase am Nachbartisch", bemerkte Nakamura, "an den erinnere ich mich." Philips verzog das Gesicht. "Jemand, den Sie kennen?", erkundigte sich Colin prompt. "Stimmt. Jetzt, wo Sie es sagen, Sir... heute war ein Gentleman hier, den ich eigentlich nicht so gerne in unserem Hause sehe. Man erzählt sich, er sei vorbestraft. Er soll früher mal ein berüchtigter Taschendieb gewesen sein..." In Archibalds Gehirn klickten zwei Puzzleteilchen ineinander. "Jesus! Sie meinen doch nicht etwa Robert 'Die Spürnase' Jameson? Der war hier?" Der Barkeeper nickte grimmig und machte sich daran, einem anderen Gast ein Bier zu zapfen. "Jameson war vor rund acht Jahren eine große Nummer in der Szene. Es hieß, er habe die schnellsten Hände von London. Die Polizei hat ihn zwar geschnappt, aber von der Beute fehlte jede Spur. Nach ein paar Jahren hinter Gittern haben sie ihn laufen lassen", erklärte Archibald seinen Begleitern. Colin winkte Philips erneut heran. "Wo finden wir diesen Mister Jameson?" Der Barkeeper zuckte mit den Achseln. "Keine Ahnung, Sergeant. Aber wenn Sie mit Ihrer Vermutung recht haben, ist er mit seiner Beute vielleicht schon auf dem Weg zu seinem Hehler." Nakamuras Hände spielten nervös mit seinem schwarzen Spazierstock. "Dieser Mister Jameson muß gehört haben, wie ich davon sprach, daß in meiner Tasche ein kostbares Geschenk für den Kaiser steckte. Moshiwake arimasen!" "Machen Sie sich keine Vorwürfe, Nakamura-san", beruhigte ihn Archibald. "Ich war damals noch Constable im Raubdezernat, und obwohl ich Mister Jameson nie persönlich begegnet bin, habe ich damals viel über ihn gelernt. Es gibt nur eine kleine Anzahl Hehler in der Szene, und nicht jeder Dieb arbeitet mit jedem Hehler zusammen. Ich glaube mich zu erinnern, daß Jameson Verbindungen zu Higgins, Merriweather und Rourke gehabt haben soll." "Das engt den Kreis der möglichen Verdächtigen natürlich enorm ein", sagte Colin. "Mehr als Sie vielleicht denken", nickte Archibald, "weil Merriweather im Moment noch in Newgate einsitzt und Higgins vor zwei Jahren gestorben ist."
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Colin Mirth "Dann sollten wir diesem Mister Rourke unbedingt einen Besuch abstatten", schlug Nakamura vor, "ikimashouka?". * Archibald Moore wußte, daß Michael Rourke seine Geschäfte aus dem Hinterzimmer seines Pfandhauses in der Dean Street betrieb. Vom Red Lion aus war es nur eine kurze Fahrt mit einer Droschke über Whitehall, den Trafalgar Square und durch die Regent Street bis zum Piccadilly Circus. Dann hielt der Kutscher plötzlich unvermittelt an. "Guter Mann, so fahren Sie doch zu! Wir sind noch längst nicht da", herrschte Archibald den Fahrer an. Der Kutscher drehte sich ungerührt zu ihm um. "Schauen Sie mal nach vorne, Sir, was dort oben für ein Trubel herrscht. Da komme ich mit der Kutsche nicht durch. Wenn Sie in die Dean Street wollen, müssen Sie den Rest des Weges wohl oder übel zu Fuß zurück legen, Gentlemen. Tut mir aufrichtig leid, Sir." Colins Blick folgte den ausgestreckten Zeigefinger des Kutschers. Der Mann hatte recht; überall auf den Straßen wimmelte es von amüsierlustigen Londonern, die zwischen den vielen Restaurants, Pubs, Spielhallen und Wettbüros von Soho herumschwärmten. Lärmende Musik aus Tanzlokalen dröhnte bis hinaus auf die Gassen und übertönte dabei die Straßenkünstler, die dort für ihren Lebensunterhalt musizierten. Verkäufer mit Bauchläden priesen lauthals ihre Waren an. Freudenmädchen und Aufreißer buhlten um die Aufmerksamkeit der spendierfreudigen Kundschaft. Es fiel Colin schwer zu glauben, daß nur wenige Schritte von hier entfernt namhafte Rechtsanwälte und Ärzte ihre Praxen unterhielten. Er selbst wohnte gar nicht so weit entfernt. Nach Anbruch der Dämmerung verwandelte sich dieses Viertel offenbar in ein Tollhaus. "Lassen Sie es gut sein, Archie", Colin klopfte seinem Kollegen auf die Schulter, "wir laufen die letzten paar Yards." Archibald entlohnte den Kutscher, und die drei Männer stürzten sich in das turbulente Nachtleben. "Hier ist ja einiges los", bemerkte Nakamura und glotzte im Vorbeigehen einigen grell geschminkten jungen Mädchen hinterher. "Das erinnert mich an die Ginza in Tokyo." "Wir sind aber nicht in Tokyo, sondern in London", erinnerte ihn Colin, "und hier könnte es gefährlich werden." Nakamura pochte mit seinem Spazierstock auf das Kopfsteinpflaster. "Ich weiß mich zu verteidigen, Colin-san. Richtig gefährlich wird es erst, wenn jemand unbedacht den Dämon entfesselt." "Das lassen Sie getrost meine Sorge sein", brummte Colin. Wenn es hart auf hart kam, konnte er immer noch auf Abduls Hilfe vertrauen. Bislang hatte er Nakamura gegenüber noch nicht erwähnt, daß ihm nun ein orientalischer Flaschengeist zu Diensten war. "Das ist ja vielleicht ein empörendes Gedränge hier", schnaufte Archibald. Dann hellte sich seine Miene auf, und er zeigte auf eine finster Seitenstraße. "Folgen Sie mir, ich kenne eine Abkürzung!" * "Ich kann mir nicht helfen, Archibald, aber für mich sieht das eher wie eine Sackgasse aus", sagte Colin mißbilligend.
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Colin Mirth Archibald kratzte sich am Kopf und sah ratlos die dunklen Backsteinmauern hoch, die sie von drei Seiten umgaben. Es war finster hier, und es stank nach Urin und Unrat. "In der Tat. Wir befinden uns offenbar in irgendeinem schmutzigen Hinterhof. Tut mir aufrichtig leid, wir sind offenbar zu früh abgebogen", entschuldigte er sich. "Lassen Sie uns zurückgehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren", drängte Nakamura. "Wohin so eilig, Gentlemen?" Colin, Archibald und Kanamura drehten sich um. Die Gasse, die zurück zur Lexington Street führte, war plötzlich von fünf Fremden blockiert, welche die drei Männer angriffslustig musterten. Der Anführer der Truppe war dem Aussehen und der Kleidung nach ein Seemann, und ein ziemlich großer und kräftiger Vertreter seiner Gattung dazu. "Wenn Sie so freundlich wären, uns passieren zu lassen", sagte Colin höflich, "wir sind in Eile und möchten Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen." "Habt Ihr gehört, Männer? Seine Lordschaft sind in Eile!" Der Seemann lachte grölend, und seine Kameraden stimmten in sein Gelächter ein. "Keine Bange, Euer Hochwohlgeboren. Für eine bescheidene Summe sind wir gerne bereit, Euch sofort Eures Wegs gehen zu lassen. Leert Eure Taschen aus!" "Chotto matte kudasai", Nakamura trat einen Schritt vor, "wollen Sie damit sagen, daß Sie uns ausrauben wollen?" "Nun hört Euch diesen Wicht an", donnerte der Seemann. Er beugte sich zu Nakamura herab und zog ein großes Klappmesser aus dem Hosenbund. "Natürlich wollen wir Euch ausrauben, du Zwerg!" "Musashi sagt: 'Nötig ist die unbeirrbare Entschlossenheit, den Gegner zu überwältigen'", dozierte Nakamura ungerührt. Ehe der Seemann begriffen hatte, wovon der Japaner sprach, hatte Nakamura den Knauf seines Spazierstocks mit einem leisen Klicken um neunzig Grad gedreht. Als er dann in einer fließenden Bewegung den Knauf in die Höhe zog, kam eine sechzig Zentimeter lange Klinge zum Vorschein, welche zuvor im Inneren des Spazierstocks verborgen gewesen war. Der gellende Schmerzensschrei des Seemanns übertönte das dumpfe Geräusch, mit dem seine Faust, die noch immer sein Messer umklammert hielt, auf der Erde aufprallte. Nakamuras Klinge war durch Fleisch, Sehnen und Knochen hindurchgeglitten wie durch Butter. Der Seemann ging fluchend zu Boden und preßte seinen Armstumpf unter die linke Achselhöhle, um die Blutung zu stillen. "Ich rate Ihnen, zu gehen", sagte Nakamura ruhig, "so lange Sie noch alle ihre Gliedmaßen haben." Die vier Männer suchten hastig das Weite und zerrten ihren verwundeten Kameraden hinter sich her. Als sie verschwunden waren, säuberte Nakamura sein Schwert an einem Taschentuch. Archibald war sprachlos. "Sagen Sie mal, sind Sie wahnsinnig?", keuchte er. "Sie können doch nicht mitten in London einfach mit einem Schwert um sich schlagen und Leute verstümmeln! Wir leben im neunzehnten Jahrhundert!" "Es ist nicht weise, einen Samurai zu provozieren", sagte Nakamura und ließ die Klinge wieder in seinem Spazierstock verschwinden. "Daß uns der Kaiser verboten hat, unsere Schwerter offen zu tragen, bedeutet nicht, daß wir auch unsere Ehre verbergen müssen. Der Gentleman hatte mich herausgefordert, und ich habe unser beider Gesicht gewahrt." "Sie haben—", Colin verstummte. "Wollen wir nun zu Mister Rourke?", fragte der Japaner ruhig und wandte sich zum Gehen. "Wer ist eigentlich dieser Musashi, von dem er dauernd redet?", flüsterte Archibald Colin zu. Seite 7
Colin Mirth "Ein legendärer Samurai des siebzehnten Jahrhunderts", erklärte Colin seinem Kollegen, "dessen Lehren über die Schwertkunst geradezu philosophischen Charakter haben." "Ach so", seufzte Archibald. "Ich hatte schon Angst, daß hier noch einer von der Sorte unterwegs ist." * "Quo Vadis", las Archibald vor, als sie an einem Restaurant vorübergingen, "Dean Street 28... ah, dort. Der Laden scheint aber schon geschlossen zu sein." Colin spähte in das abgedunkelte Pfandhaus. Im Schaufenster des kleinen Geschäfts stand ein Sammelsurium von mehr oder weniger wertvollen Habseligkeiten, welche von ihren früheren Besitzern versetzt und nicht wieder eingelöst worden waren. Colin zweifelte keinen Moment daran, daß sich zwischen den dort feilgebotenen Wertgegenständen auch Diebesgut befand, welches von Leuten wie Robert Jameson an Michael Rourke verhökert worden war. Nakamura kniff die Augen zusammen. "Dort hinten brennt aber noch Licht." Archibald und Colin strengten ihre Augen an. "Tatsächlich", murmelte Colin. "Also, wie gehen wir vor?" "Es gibt einen Hintereingang." Archibald zückte seinen Revolver. "Ich gehe vor. Sie beide bleiben hier und passen auf, daß niemand durch die Vordertür flüchtet." "Sumimasen, Moore-san, aber ich denke, es ist besser, wenn Colin-san dort hineingeht und Sie und ich hier warten", gab Nakamura zu bedenken. Archibald runzelte die Stirn. "Warum das denn?" "Wenn die ehrenwerten Herren Jameson und Rourke sich in dem Laden befinden und so unvorsichtig sein sollten, die Maske auszupacken, ist Colin-san der Einzige von uns, der in der Lage ist, den Dämon zu bändigen", gab Nakamura zu bedenken. "Nun, bislang ist noch nichts davon zu sehen, daß hier ein Dämon wüten würde", sagte Archibald gleichgültig, "und darum ist eigentlich egal—" Im nächsten Moment gellte ein schrilles Kreischen, das in ein ohrenbetäubendes Heulen überging, durch die Nacht. Gleichzeitig schien im Inneren des Pfandhauses eine Sonne zu explodieren. Blendend helles Licht ließ Colin, Archibald und Nakamura reflexartig die Augen schließen. Dann blies eine enorme Druckwelle das Schaufenster aus dem Rahmen, und eine Wolke aus Glassplittern regnete auf die drei Männer herab. Überall in der Straße ließ der schrille Lärm, der noch immer die Trommelfelle malträtierte, Fensterscheiben zerspringen. Das Inferno dauerte nur eine halbe Minute, doch Colin kam es noch viel länger vor. Benommen, halb erblindet und mit einem schmerzhaften Rauschen im Ohr rappelte er sich wieder auf. Bestürzt stellte er fest, daß er aus rund einem Dutzend Schnittwunden blutete, wo Splitter der Schaufensterscheibe sich wie Schrapnellfetzen in sein Gesicht und seine Kleidung gebohrt hatte. Er sah sich um und stellte fest, daß es Nakamura und Archibald nicht viel besser ging als ihm selbst. "Ich glaube, daß wir uns jetzt nicht mehr anschleichen müssen", stellte Colin fest. Er mußte laut sprechen, um sich selbst hören zu können. Insgeheim hoffte er, daß sein Gehör bei der Explosion keinen dauerhaften Schaden genommen hatte. Inzwischen hatte sich eine Menschentraube vor dem Pfandhaus gebildet. Hilfsbereite Menschen halfen Nakamura und Archibald wieder auf die Beine. "Was ist denn passiert?", fragte jemand aufgeregt. "Eine Bombe! Eine Bombe!", riefen andere. "Nein, eine Gasexplosion", widersprach ein anderer Passant.
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Colin Mirth "Wenn es das nur wäre", knurrte Nakamura. "Es sieht mehr so aus, daß der Ruye entfesselt wurde." "Scotland Yard", rief Archibald der Menge zu und hob seine Dienstmarke in die Höhe, "wir ermitteln hier! Bitte halten Sie Abstand und betreten Sie den Tatort nicht!" Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß seine Kameraden von einigen Schnittwunden abgesehen unversehrt waren, stieg Colin über das zerborstene Schaufenster in das Pfandhaus ein. Das grelle weiße Licht von vorhin war verschwunden, und es war wieder stockdunkel in dem Geschäft. Unter den Sohlen seiner Schuhe knirschten Splitter. Die Druckwelle, die durch den Laden gefegt war, hatte alle losen Gegenstände gegen die Wände geschmettert. Archibald folgte ihm auf dem Fuße. "Schauen Sie mal", rief er. Von der Tür, die zum Hinterzimmer führte, waren nur noch Fragmente übrig. "Dort muß das Zentrum der Explosion gewesen sein." "Es war keine Explosion", widersprach Nakamura, "zumindest keine herkömmliche." Colin betrat das kleine Büro, das sich im hinteren Teil des Geschäftes befand. Hier sah es in der Tat aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. Ein Tisch und zwei Stühle waren zu Kleinholz gemacht worden. Leichenteile von mindestens zwei Männern lagen wild verstreut im Raum herum. Die komplette Rückwand des Hauses war verschwunden, so daß man auf einen unbeleuchteten Hinterhof hinausblicken konnte. "Sehen Sie! Dort!" Nakamura zeigte aufgeregt auf den tiefen Krater im Fußboden, in dessen Mittelpunkt eine kunstvoll geschnitzte und liebevoll bemalte Noh-Maske lag. Jameson und Rourke hatten die Beute ausgepackt und damit ihr Todesurteil unterschrieben. "Nein, dort!" Colin lief eine Gänsehaut über den Rücken. Dort draußen hatte er eine Bewegung gesehen. Ein Untier mit schneeweißem Fell, groß wie ein Bär, doch mit dem gehörnten Kopf eines Widders, huschte über den Hinterhof und verschwand kreischend in der Dunkelheit. "'Das Wild ist auf'", bemerkte Colin säuerlich. * "Er ist auf dem Haus dort drüben", rief Nakamura atemlos und deutete auf ein dreistöckiges Gebäude einige hundert Yards weiter weg. Colin und Archibald rannten hinter dem Japaner her die Dean Street hinab. Archibald schnaufte inzwischen wie eine Dampflokomotive. Colin hatte auf der Jagd nach dem Dämon seinen Zylinder verloren, war aber zu besorgt, um sich Gedanken über den Hut zu machen. Es stand weitaus mehr auf dem Spiel als ein Teil seiner Wochenendgarderobe. Er wagte nicht sich auszumalen, was ein Monster wie der Ruye in einer Großstadt wie London anrichten konnte. "Wir brauchen Verstärkung", keuchte Archibald, "und zwar schnell." "Was sollen wir den Kollegen denn sagen?", schnaubte Colin, "daß wir einen jahrhundertealten japanischen Dämon jagen, der in der Lage ist, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen? Die liefern uns gleich in Bedlam ein, Archie!" Archibald blieb, von Seitenstichen geplagt, stehen. "Aber so kommen wir nicht weiter", protestierte er, "wir können nicht auf der Straße hinter ihm herlaufen. So erwischen wir ihn nie!" "Ganz recht, wir müssen auf die Dächer", stimmte Colin ihm zu. "Abdul und ich erledigen das. Sie und Nakamura-san behalten den Ruye im Auge!" Mit diesen Worten lief Colin zielstrebig auf den Eingang eines nahegelegenen Etablissements von zweifelhaftem Ruf zu.
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Colin Mirth "Ho! Vorsicht", rief der Aufreißer, der vor der Tür um Kunden geworben hatte und nur knapp Colin ausweichen konnte, als dieser an ihm vorbeistürmte. "So eilig hat es heute noch keiner gehabt", grinste er Archibald frech an. * Sie erreichten Soho Square und befanden sich gleich wieder in einer dichten Menschentraube, in der sie kaum vorwärts kamen. "Dort oben irgendwo", zischte Nakamura und spähte angestrengt in den dunkler werdenden Abendhimmel. "Ich sehe ihn", antwortete Archibald halblaut. "Das Haus auf der linken Seite, zwischen den Schornsteinen." Der Japaner nickte. "Jetzt sehe ich ihn auch. Er ist sicherlich sehr verwirrt. Er weiß nicht, wo er ist." Archibald ballte ohnmächtig die Fäuste. "Was denken Sie, was er tun wird?" "Was er tun wird, wenn er bemerkt, daß er verfolgt wird? Das weiß ich nicht, Mooresan", der Japaner schüttelte den Kopf. "Aber wenn es uns nicht gelingt, ihn aufzuhalten, wird er seinen eigentlichen Befehl ausführen und den Tenno töten." Archibald stutzte. "Entschuldigen Sie bitte, Nakamura-san, aber residiert Ihr Kaiser nicht in Japan?" "So ist es, Moore-san", erwiderte Nakamura grimmig, "und der Ruye wird eine Spur der Verwüstung von hier bis Tokyo hinterlassen, bis er den Tenno gefunden und getötet hat. Erst dann ist der Bann gebrochen." * Colin stieß die Tür auf, die auf das Dach des Nachtclubs führte. Die Anwesenheit vieler leichtbekleideter Schönheiten in dem Gebäude sowie die neunundneunzig Stufen, die er in aller Eile zurückgelegt hatte, hatten ihn beträchtlich ins Schwitzen gebracht. Er erlaubte sich eine kurze Verschnaufpause. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er allein war, knöpfte er seinen Kragen auf. Er zog die kleine Glasphiole, die er an einer silbernen Kette um den Hals trug hervor, entkorkte sie und sah ungeduldig zu, wie sich der leuchtend blaue Nebel, der aus ihr hervorstieg, zu einer menschlichen Gestalt verdichtete. "Ihr wünscht, Efendi?" Abdul verbeugte sich. "Guten Abend, Abdul. Wir sind auf der Jagd nach einem todbringenden Dämon, der versehentlich in London auf freien Fuß gesetzt wurde." Abdul schnalzte mißbilligend mit der Zunge. "Wer war denn so dumm, wenn ich fragen darf?" "Ich erkläre es dir später", sagte Colin schnell. Wir müssen in diese Richtung, komm mit!" Colin und der Flaschengeist huschten beinahe lautlos über die Dächer der dicht beieinander stehenden Häuser. Ein regelrechter Wald von Schornsteinen bot ihnen ausreichend Deckung. Gleiches galt jedoch auch für den Ruye, und so bemerkte Colin das Monster erst, als er um eine niedrige Mauer herumkroch und dem Wesen plötzlich in die Augen sah. Der Dämon erschrak fast so sehr wie Colin. Das Wesen bäumte sich zu seiner vollen Größe von fast drei Metern auf. Mit seinem schneeweißen Fell und den mächtigen Tatzen sah es fast wie ein Eisbär aus, wenn da nicht der häßliche Zigenkopf mit den gebogenen Hörnern und die rotglühenden Augen gewesen wären, dachte Colin. Seite 10
Colin Mirth Der Ruye holte tief Luft und bereitete sich offenbar wieder darauf vor, sein mörderisches Geheul anzustimmen. Colin erkannte in diesem Moment, daß er einen entscheidenden Fehler gemacht hatte – wenn er in diesem Moment eine der Zauberformeln des Euridicus anwendete, um den Dämon zu bannen, würde dies auch unweigerlich das Ende von Abdul bedeuten. Es gab nur einen Ausweg... "Abdul, er gehört Dir!", rief Colin. "Danke, Efendi." Abdul rauschte heran und ließ die Fingerknöchel knacken wie ein Pianist. "Und laß ihn auf gar keinen Fall schreien!" Abdul sprang und packte den Ruye an der Gurgel, just als dieser seinen schrillen Schrei ausstieß. Der Aufeinanderprall der beiden übernatürlichen Wesen war dermaßen heftig, daß der Ruye mehrere Yards nach hinten geworfen wurde. Er taumelte benommen auf das niedrige Sims zu, welches das Flachdach umgab. "Abdul!" "Efendi!" Mit einem erstickten Gurgeln stürzte der Ruye in die Tiefe und zog Abdul, der noch immer den Hals des Monsters umklammert hielt, hinter sich her. * "Das glaube ich jetzt nicht", japste Archibald Moore. Er traute seinen Augen kaum. Auf dem Dach des Hauses am Soho Square, welches er und der Samurai beobachtet hatten, hatte offenbar ein Kampf stattgefunden. Was nun geschah, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen: wie in Zeitlupe sah er zwei riesige Gestalten, die einander wie Ringer umklammerten, über die Brüstung taumeln und unaufhaltsam auf den Soho Square zufallen. "Chikusho!" Nakamuras Hand krampfte sich um den Knauf seines Spazierstocks. "Wir müssen etwas tun", beschloß Archibald geistesgegenwärtig. Er zog seinen Revolver und schoß zweimal in die Luft. Die Menschen, die im Park auf dem Soho Square flanierten, zuckten entsetzt zusammen und drehte sich überrascht zu ihm um. "Scotland Yard!", brüllte Archibald, "machen Sie den Platz frei! Sie da! Machen Sie, daß Sie wegkommen!" Leider hatte seine Warnung nicht den gewünschten Effekt. Zwar beschleunigten einige der Passanten ihre Schritte, doch noch immer befanden sich ziemlich viele Leute exakt an der Stelle, auf den Abdul und der Ruye zurasten. "Weg! Weg da!", schrie Nakamura aufgeregt. "Schauen Sie nach oben, verdammt!", rief Archibald. Ein Schrei ging durch die Menge. Zu spät hatte jemand entdeckt, welches Unheil sich über den Köpfen der Menschen zusammenbraute. Ein Straßenmädchen und ihr Freier blieben wie angewurzelt stehen, den Blick auf die beiden herabstürzenden Wesen gerichtet. Das Fell des einen leuchtete schneeweiß, die Haut des anderen strahlte von innen heraus blau. Einen Herzschlag später prallten der Dämon und der Flaschengeist ungebremst auf dem Rasen der kleinen Parkanlage auf und begruben das Freudenmädchen, ihren Gönner und ein halbes Dutzend anderer Passanten knirschend unter sich. Abdul ließ im Moment des Aufschlags den Hals des Dämons los, und ein Tritt, den ihm der Ruye versetzte, ließ den Flaschengeist unkontrolliert durch die Luft segeln. Blutüberströmt kam der Dämon wieder auf die Beine. Benommen blickte er sich um. In der allgemeinen Panik, die der Aufprall der beiden Wesen in der Menschenmenge ausgelöst hatte, arbeiteten sich Archibald und Nakamura in Richtung des Ruye vor. Seite 11
Colin Mirth Archibald hielt seinen Revolver im Anschlag, und der Japaner hatte wieder seine Klinge gezückt. Der Dämon erblickte die beiden Männer und erkannte, daß sie ihn bedrohen wollten. Er füllte seine Lungen mit Luft und öffnete sein breites Maul. "Lassen Sie ihn nicht schreien", rief Nakamura, "sonst sind wir verloren!" "Das habe ich nicht vor", erwiderte Archibald. Er zielte genau auf die Augen des Monsters und drückte ab. Die Kugel pfiff durch die Luft und durchschlug den rechten Augapfel des Dämons. Blut und Gallerte besudelten das Fell weiter, und der Ruye bäumte sich gequält auf. "Was machen Sie denn?", fragte der Japaner entsetzt, "jetzt schreit er doch erst recht!" Im nächsten Moment stieß der Dämon einen gellenden Urschrei aus, der Archibald durch Mark und Bein ging. Die Vibrationen waren so stark, daß er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er ließ die Waffe fallen und preßte sich die Hände auf die Ohren – vergeblich, der Lärm war einfach zu laut. Archibald glaubte, sein Kopf müßte platzen. Im nächsten Augenblick erreichte die Kakophonie ihren vorläufigen Höhepunkt, als an allen Gebäuden rings um den Soho Square die Fensterscheiben zerbarsten. Die Splitter, die auf die Menschen herabregneten, taten ihr Übriges, um die entstandene Massenpanik weiter anzuheizen. "Yamete!" Unbeeindruckt sprang Nakamura vor, und mit einem gezielten Hieb seines Schwertes schlitzte er den Kehlkopf des Dämons auf. Eine pulsierende Blutfontäne spritzte Knorpelfragmente in das Gesicht des Japaners. Das unheilvolle Heulen des Monsters verstummte in einem gurgelnden Geräusch, doch eine Pranke des Ruye schnellte reflexartig vor und riß den Schwertarm des Samurai am Ellenbogen ab. Ehe aber ein zweiter Prankenhieb auch Nakamuras Kopf von seinen Schultern fegen konnte, war jedoch Abdul zur Stelle. Er sammelte den Verletzten auf und stieg mit ihm wie eine leuchtend blaue Silvesterrakete senkrecht in den Himmel. Abdul setzte Nakamura auf dem Dach ab, auf dem er Colin zurückgelassen hatte. Doch entgegen seinen Erwartungen war Colin nicht mehr da. "Gehen Sie in das Haus hinein", wies der Flaschengeist den Japaner an, "dort werden Sie bestimmt jemanden finden, der Ihre Wunde versorgen kann. Ich kann nicht bei Ihnen bleiben; ich muß meinen Efendi finden!" * Soho Square war inzwischen menschenleer, wenn man von den zerschmetterten Überresten der Unglücklichen absah, welche in dem Krater lagen, den der Ruye bei seinem Sturz hinterlassen hatte. Archibald lud mit zitternden Fingern seinen Revolver nach. Es war wie verhext; ganz gleich, wieviel Blei er in den Torso dieser Bestie pumpte, sie schien die Kugeln nach einigen Augenblicken zu absorbieren. Selbst das Auge, welches er dem Dämon ausgeschossen zu haben glaubte, hatte sich nach wenigen Minuten regeneriert. Und die klaffende Wunde am Hals des Monsters schien ebenfalls zusehends zu verheilen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Ruye wieder einen seiner zerstörerischen Schreie ausstoßen konnte. Archibald ließ die Trommel des Revolvers einschnappen und richtete die Waffe entschlossen auf den Ruye. Diese sechs Patronen waren seinen letzten. Nur sechs Schuß standen noch zwischen ihm und seinem vorzeitigen Ende. Wenn es ihm nicht gelang, den Dämon aufzuhalten, war ihre letzte Chance, die Welt von einem Alptraum zu befreien, unwiderruflich vertan. Er schluckte trocken und drückte ab. Seite 12
Colin Mirth "Eins", zählte er laut, als die Kugel zwischen den Augen des Dämons einschlug und ein schartiges Loch in seine Stirn riß. Der Ruye kam unaufhaltsam näher. "Zwei." Die nächste Kugel traf das Monster an der Stelle, wo Archibald sein Herz vermutete. Der Dämon grunzte schmerzerfüllt, näherte sich ihm aber trotzdem bedrohlich. Archibald atmete tief durch und drückte erneut ab. "Drei." Das Geschoß traf die empfindliche Nasenspitze des Ungeheuers und verwandelte sie in eine zerfetzte, bluttriefende Masse. "Vier." Die vierte Kugel verschwand im weit aufgerissenen Maul des Ruye, ohne daß Archibald irgendeine Wirkung hätte erkennen können. Einen kurzen Moment lang überlegte er, ob es nicht klüger wäre, sich mit der letzten Kugel selbst das Leben zu nehmen, um nicht von dem wütenden Dämon bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen zu werden. Dann aber verwarf es diesen feigen Gedanken. Als Polizist war es seine verdammte Pflicht, dieses Monstrum bis zu letzten Kugel und unter Einsatz seines eigenen Lebens zu bekämpfen. Bei dieser Erkenntnis durchflutete ihn eine unwirkliche Ruhe. "Fünf." Der Dämon war jetzt über ihm und holte mit seiner enormen Tatze aus. Archibalds Finger krümmten sich um den Abzug. Er schloß die Augen und drückte ab. Doch der Prankenhieb, der ihm das Leben kosten würde, blieb aus. Blinzelnd öffnete Archibald die Augen. Der Ruye war in einer mörderischen Umklammerung mit Abdul gefangen, der von seiner tollkühnen Rettungsaktion in letzter Sekunde wieder zurückgekehrt war. Bei genauerem Hinsehen stellte Archibald jedoch fest, daß es eigentlich eher Abdul war, der gefangen war. Hatte sich der Flaschengeist etwa mit diesem Gegner übernommen? In ohnmächtiger Wut ballte Archibald die Fäuste. Er hatte keine Waffe; nichts konnte er diesem Dämon entgegensetzen. Plötzlich vernahm er Colins Stimme. "Abdul!" "Efendi", rief Abdul erleichtert. Colin kam atemlos herbeigerannt. Als der Dämon und der Flaschengeist vom Dach gestürzt waren, war er fluchend in das nächstbeste Treppenhaus hinabgesprungen. Rund hundert Stufen und einige Dutzend Rempeleien später hatte er Soho Square endlich erreicht. Schwer atmend blieb er vor dem Ruye stehen, der Abdul halb unter sich begraben hatte. "Zurück in die Flasche!", befahl er. "Aber Efendi..." "Sofort!", schrie Colin. Abdul verzog mißmutig sein Gesicht. "Wie Ihr wünscht, Efendi." Unter den verdutzten Blicken des Dämons wurde der Flaschengeist wieder zu einer körperlosen blauen Wolke, die sich blitzschnell wieder in der kleinen Glasflasche in Colins Hand sammelte. Colin verkorkte die Phiole und steckte sie wieder ein. Sein Freund war in Sicherheit. "Nun zu uns", sagte er und näherte sich furchtlos dem Dämon, der ihn mit glühenden Augen musterte. Mit Entsetzen stellte Colin fest, daß auf dem Rasen der abgetrennte Arm von Nakamura-san und sein Schwert lagen. In einiger Entfernung kam Archibald Moore gerade wieder auf die Beine. "Ich hasse deinesgleichen", knurrte Colin, "einer von deiner Sorte hat mir schon einmal einen wunderschönen Tag verdorben."
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Colin Mirth Der Dämon gab ein unwirsches Grunzen von sich und senkte den gehörnten Kopf wie ein angriffslustiger Stier. Colin hob beschwörend die Hände und atmete tief ein. "Eodum rahaan", sagte er langsam, "eodum rahaan miszil nahaemeb, devupota yazraain takoris galaemeb. Eodum rahaan galgalex tewikur. Mismix cheotem pogorot ymitur." Einige Yards über dem Dämon gähnte plötzlich eine kreisrunde Öffnung im Abendhimmel, aus der fauchend Flammen züngelten. Der Ruye sah überrascht auf, doch ehe er wußte, wie ihm geschah, wurde er bereits emporgerissen. Wild um sich schlagend, verschwand er in der Öffnung, und nach einer grellen Stichflamme, welche den Rasen des Parks versengte, verschwand auch die mysteriöse Pforte so schnell, wie sie gekommen war. Colin lief zu Archibald und überzeugte sich davon, daß dieser keine schweren Blessuren davongetragen hatte. "Mir geht es gut", versicherte Archibald seinem Kollegen. "Aber was aus unserem Freund Nakamura geworden ist, weiß ich nicht. Ich glaube, Abdul hat ihn in Sicherheit gebracht." "Das will ich schwer hoffen." Colin bückte sich, um das blutverschmierte Schwert des Samurai aufzuheben. "Sagen Sie, war das wieder einer von Ihren Zaubersprüchen?", fragte Archibald neugierig. Colin lächelte müde. "Der Zwölfte Zauber des Euridicus, was sonst?" Archibald stemmte die Fäuste in die Hüften und ließ den Blick über die Verwüstungen schweifen, welche ihre Schlacht mit dem Dämon hinterlassen hatte. "Haben Sie eine ungefähre Idee, wie wir das dem Inspector erklären sollen?" * "Eine Gasexplosion", murmelte Inspector William Pryce ungläubig, nachdem er den Bericht gelesen hatte. Archibald Moore und Colin Mirth saßen ruhig auf den Besucherstühlen im Büro ihres Vorgesetzten. "Die Stadtwerke haben gar keine Leckagen im Soho Square gemeldet", sagte Pryce kopfschüttelnd. Colin zuckte mit den Schultern. "Die vielen zerborstenen Fenster sprechen eine eindeutige Sprache. Es kann sich nur um eine Gasexplosion gehandelt haben, genau wie zuvor in dem Pfandhaus in der Dean Street." "Zwei Gasexplosionen an einem Abend in Soho?", fragte Pryce skeptisch. "Na, Gentlemen, da ist doch etwas faul!" "Es könnte natürlich sein, daß das Gaswerk da etwas zu vertuschen versucht", sagte Archibald lächelnd, "wie Sie schon ganz richtig sagten, Sir: zwei Gasexplosionen an einem Abend! Da werden sicherlich die Versicherungsgesellschaften neugierig, denken Sie nicht?" "Hmm", machte Pryce und verschränkte die Hände auf der Schreibtischplatte. "Da haben Sie natürlich recht, Sergeant. Es geht dort gewiß um eine Menge Geld. Aber ich dachte eigentlich an etwas Anderes; es mehren sich die Berichte, daß in unserer Stadt, und insbesondere in Soho, das organisierte Verbrechen an Bedeutung gewinnt. Ich persönlich würde den Ursprung dieser Vorgänge eher in diesem Millieu vermuten." "Eine Bombe?", fragte Colin unsicher. "Möglich", sagte Pryce unschlüssig, "ein Kleinkrieg zwischen zwei Opiumbanden vielleicht. Falls dabei irgendwie Opiumdämpfe freigesetzt wurden, könnte das auch die zum Teil wirren und widersprüchlichen Zeugenaussagen erklären, die von Seite 14
Colin Mirth schneeweißen und leuchten blauen Monstern sprechen, welche sich auf dem Soho Square geprügelt haben." Pryce stutzte kurz, als ihm dabei ein furchtbarer Gedanke kam. "Oder war das etwa eines von Ihren paranormalen Phänomenen, Sergeant Mirth?" "Ich weiß nicht, wovon Sie reden", antwortete Colin mit unschuldiger Miene. "Wir waren lediglich in der Gegend, um einem japanischen Freund von mir bei der Wiederbeschaffung eines gestohlenen Kunstgegenstandes zu helfen. Jemand hatte das kostbare Stück in das Pfandhaus gebracht, und—" "Schon gut, schon gut", winkte Pryce ab. "Wo befindet sich Ihr Freund jetzt, wenn ich fragen darf?" Colin seufzte. "Noch im Krankenhaus, Sir. Er hat bei der Explosion im Pfandhaus einen Arm verloren, und ziemlich viel Blut obendrein. Ich fürchte, wir müssen noch eine Weile warten, bis wir seine Aussage zu Protokoll nehmen können." "Verhören? Einen Diplomaten?" Pryce lachte heiser. "Lassen Sie den Mann bloß in Ruhe. Wenn sein Botschafter hört, was dem Sonderbeauftragten des japanischen Kaisers hier bei uns widerfahren ist, können wir von Glück reden, wenn Sie und ich unsere Dienstmarken behalten dürfen." "Wir waren Nakamura-san dabei behilflich, ein gestohlenes Kunstwerk aus dem Privatbesitz des Tenno wiederzufinden", korrigierte Colin ihn, "ich würde eigentlich eher erwarten, daß sich dieser Umstand positiv in unseren Personalakten niederschlägt." Pryce kratzte sich am Kinn. "Möglich", sagte er ausweichend. "Jedenfalls wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie diesen Vorfall mit der nötigen Diskretion behandeln könnten." "Das steht außer Frage, Sir", grinste Colin, "machen Sie sich da mal gar keine Sorgen." Demnächst: "Der Golem in der Greenfield Road"
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