Satans Ritter von Timothy Stahl
Gabriel ist sein Name und Unschuld seine Maske. Denn im Körper des Knaben steckt das B...
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Satans Ritter von Timothy Stahl
Gabriel ist sein Name und Unschuld seine Maske. Denn im Körper des Knaben steckt das Böse selbst: Gabriel ist die Inkarnation des Leibhaftigen. Aus dem Verborgenen zieht er seine Fäden, spinnt Intrigen und bereitet die Menschheit für die Herrschaft der Hölle vor. Sein Vasall soll dabei ein Wesen sein, dessen Volk seit Jahrtausenden schon über die Menschen herrscht: Landru, einst der Mächtigste der Vampire. In einer Kultstätte, deren Mysterium gewaltiger ist, als die Menschen es sich träumen lassen, soll er zum Ritter des Bösen geschlagen werden – in Stonehenge!
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Durch Liliths Schuld wurden fast alle Schläfer getötet. Nur Anum und Landru existieren noch. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes, der Alten Rasse, in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf zwei außergewöhnliche Wesen: die Halbvampirin Lilith, die dort Erinnerungen an ihr früheres Leben sucht, und die Zeitdiebin Beth, Liliths ehemalige Freundin, die einen Weg zurück in die Zukunft finden wollte, denn in Uruk besteht ein Korridor durch die Zeiten. In ihm erfüllte sich Beth’ Schicksal, als ihr Körper sich im Zeitstrom auflöste und nur ihr Geist übrig blieb. In der Gegenwart empfängt Lilith beim Betreten des Zeitkorridors einen flehendlichen Hilferuf von Beth. Anum, dessen Geist in den Korridor eingedrungen ist, droht sie zu vernichten. Lilith rettet Beth’ Seele, indem sie sie in sich aufnimmt – und damit ihre verlorene Identität mit der von Beth auffüllt! Sie verläßt den Zeitkorridor und schließt das Tor, noch bevor Anum ihn verlassen kann. Dann stößt sie auf dessen Körper, der im Vorraum zurückgeblieben ist, und nimmt ihn mit sich nach Jerusalem. In der Zwischenzeit durchlebt die Werwölfin Nona ein »zweites Leben«: In einer möglichen Zukunft zeigt Chiyoda, ihr weiser Mentor, ihr eine Welt, die von Anum beherrscht wird – und das nur, weil sich die Mächte gegen ihn nicht rechtzeitig verbündet haben. Damit definiert er Nonas Aufgabe: Landru und Lilith gegen Anum zu einen, um diese verhängnisvolle Zukunft abzuwenden. Doch Lilith ist Anum bereits verfallen, obwohl dieser in todesähnlichem Schlaf liegt, da sein Geist vor Schließen des Korridors nicht zurück in den Körper fahren konnte. Nur der Lilienkelch hält noch die Verbindung zum Zeitentunnel.
Nun fallen der Kelch und Anum in die Hände einer entarteten Vampirsippe, während Lilith fliehen kann. Remigius, der Führer der Sippe, konnte als ehemaliger Illuminat den Vampirkeim unterdrücken, als Landru ihn einst damit infizierte. Er schwor sich, alles Böse von Jerusalem abzuwenden. Auch Landru, der im Auftrag des Satans (der in der Gestalt des Knaben Gabriel wiedergeboren wurde) hierher reiste, befindet sich seit Tagen in der Gewalt der entarteten Sippe. Jetzt erforscht Remigius den Lilienkelch, auf dessen Grund er ein Bewußtsein spürt. Zu spät erkennt er, daß es Anums Geist ist, der endlich zurück in den Körper fahren kann. In das folgende Gemetzel greift auch Lilith ein, und es gelingt ihr, Landru zu pfählen! Ihr Erzfeind, einst der Mächtigste der Vampire, ist endlich tot!
Prolog Das neben dem Feuer kauernde Wesen spie unaufhörlich mit gurgelnder Stimme ein Wort aus, das klang wie: »Durst …!« Benji Hosteen schauderte. Flüchtig streifte sein Blick den leeren Kokon, dem die Brut entschlüpft war. Der geringste Luftzug verfing sich darin wie in vertrocknetem Spinngewebe und verursachte unheimlich knisternde Geräusche. Erst ein paar Tage war das Grauen alt. Trotzdem erschien diese kurze Spanne dem Inuit-Jungen wie eine Ewigkeit. »Du mußt aufbrechen«, mahnte ihn Manilaaq, der Schamane. »Es braucht Nahrung. Und wenn wir sie ihm nicht bald geben …«, er stockte kurz, »… dann wird es sich von uns holen, was es hier auf Erden braucht!«
Auf Erden … Benji Hosteen wurde beinahe schmerzhaft bewußt, daß Manilaaq und er immer noch der festen Überzeugung waren, zu wissen, worum es sich bei diesem absonderlichen und gefährlichen Geschöpf handelte, das vor ihren Augen dem schwarz durchbluteten, schleimigen Kokon entschlüpft war. Die uralten Legenden sprachen von einem Weltenschöpfer namens Tattu, der am ehesten mit dem im Alten Testament der Juden beschriebenen Gott verglichen werden konnte: Es handelte sich um kein gütiges und verzeihendes, sondern um ein stets forderndes, mitunter zürnendes und Ungläubige strafendes Machtwesen, das den unwirtlichen Lebensraum der Inuit dereinst wie ein düstergraues Gemälde gestaltet hatte. Tattu … Benji tastete nach der Narbe, die der finstere Gott an seinem Hals hinterlassen hatte, dort wo seine Zähne eingedrungen waren und er
sich am Blut des Jungen gelabt hatte. Auch Manilaaq hatte das Überwesen gesäugt, bevor es eine hohe Zahl von Nachkommen geboren hatte und von den frevlerischen Fremden getötet worden war.* Zwölf kokonartige »Eier« hatte Tattu gelegt, und nur ein einziges war durch Benjis Einsatz dem Vernichtungsfeldzug der Fremden entgangen … Erneut schweifte der Blick des Jungen zu der leeren Hülle, in der Tattus Sproß zur Welt gekommen und die nach dem Schlüpfen verdorrt und abgestorben war, als wäre eine Nabelschnur durchtrennt worden. Nackt und verletzlich hatte sich die Kreatur auf dem Boden der im Wald versteckten Hütte gewälzt und war nur zögerlich zur Ruhe gekommen. Perfekt ausmodellierte, rubinrote Augen hatten die beiden Inuit, den Alten und den Jungen, gemustert. Geschlechtsorgane waren auch jetzt noch nicht erkennbar. So gesehen hätte es sowohl Mann als auch Frau sein können – oder nichts von beidem. Doch seine Züge waren männlich hart, fast grausam, obwohl sie anfänglich noch keinen sehr ausgereiften, keinen sehr »fertigen« Eindruck gemacht hatten. Binnen weniger Stunden nach Verlassen des Kokons hatte sich dies geändert, hatte sich der bleiche Körper weiterentwickelt. Er war gewachsen. Man hatte ihm förmlich dabei zusehen können, wie er größer und vollkommener wurde. Doch nun … … schien Stillstand eingetreten zu sein. Schien die Glut im Blick des Geschöpfs noch fiebriger, noch verlangender zu glosen als zuvor! Manilaaq hat recht, dachte Benji. Es ist von derselben Art wie Tattu. Nein – es ist Tattu … Die Fremden mochten glauben, daß sie den Weltenschöpfer umgebracht hatten. Aber der Weltenschöpfer war unsterblich. Er hatte Vor*siehe VAMPIRA T07: »Der Tod im Eis«
sorge getroffen für den Fall, daß ihm sein Körper geraubt würde … Seit Benji den Kokon geborgen und zur Hütte gebracht hatten, kümmerten er und Manilaaq sich um die Brut. Und nun war sie aus dem Kokon hervorgekrochen und war hungrig. Nach einem kurzen Wortwechsel verließ Benji die Hütte. Als er ins Freie trat, war ihm, als lockere sich der eiserne Ring, der sich zuvor um seinen Brustkorb gepreßt hatte. Echte Erleichterung verspürte er indes nicht. Die Hütte war schneegekrönt wie die mächtigen Bäume und der Boden ringsum. Eine Straße gab es in weitem Umkreis nicht, nicht einmal einen Pfad, der unter der weißen Kruste erkennbar gewesen wäre. Ein eisiger Nordwind fauchte. Ein paar Meilen entfernt, dort, wo der Wald aufhörte, lag Nuiqtak, das Dorf der Toten. Ja, nicht nur Tattu, auch der größte Teil seiner Brut und die Ältesten des Dorfes waren getötet worden. Hingerichtet, dachte Benji Hosteen. Zwei Fremde waren gekommen, Mann und Frau. Sie hatten die Hütten durchkämmt und ein blutiges Massaker angerichtet. Jeder von Tattu erwählte Eingeborene, der das Mal getragen hatte, war von der schwarzhaarigen jungen Frau umgebracht worden, während sich der ältere und noch um ein Vielfaches erbarmungsloser wirkende Mann um die Kokons gekümmert hatte. Eine Weile hatte Benji das Morden aus sicherer Deckung heraus beobachtet, ehe er sich zurückgezogen und einen der wertvollen Kokons in den Wald hinaus getragen hatte. Ohne ein einziges Mal innezuhalten, ohne sich ein einziges Mal nach Verfolgern umzusehen, war er zu seiner Hütte marschiert, wo er Tattus Kind (oder Wiedergeburt) sorgsam verstaut hatte. Danach war er ein weites Wegstück zurückgegangen und hatte seine Spur im Schnee mit einem Zweig verwischt. Manilaaq hatte ihn trotzdem gefunden. Aber gegen Manilaaq war nichts einzuwenden.
Die Mörder, so hatte der Schamane ihm berichtet, waren nach getanem Werk wieder verschwunden. Es schien sich um mächtige Widersacher Tattus vielleicht schon seit Urzeiten zu handeln. Vergleichbar übernatürliche Wesen wie er, die des Fliegens und anderer Wunderdinge fähig, jedoch der anderen Seite zugehörig waren! Mörder … Ein wenig wunderte sich Benji selbst darüber, daß er die Fremden als Mörder betrachtete, es Tattu aber verzieh, was dieser seit seiner Ankunft getan hatte, um bei Kräften zu bleiben. Sein Elixier war Menschenblut gewesen. Und er hatte es sich ausgiebig von den Bewohnern des Dorfes genommen, bevor er damit begann, sich aus sich selbst zu reproduzieren. Benji schloß kurz die Augen und ließ die Kälte gegen die dünnen Häute seiner Lider fauchen. Für einen kurzen Moment glaubte er Manilaaq zu hören, der ihm von drinnen etwas nachrief. Dann verwischte dieser Eindruck. Benji öffnete die Augen wieder und stapfte durch die fahle Morgendämmerung weg von der Hütte, in Richtung Nuiqtaks. Die meisten Bewohner des Dorfes lebten noch. Einen davon mußte er bewegen, ihm zu folgen. Einen Schwachen, Wehrlosen. Geschlecht und Alter waren dabei völlig unerheblich – nur nahrhaft mußte dessen Blut sein. Über alles weitere machte sich Benji keine Gedanken. Jedenfalls noch nicht.
* Etwa zur gleichen Zeit jagte ein Trapper namens Parker Beauchamp in seinem Schneemobil auf Arctic Village zu, das als von Menschenhand erschaffenes Bollwerk aus dem ewigen Eis emporragte. Der Sprit wurde allmählich knapp, denn Beauchamp war seit sechsunddreißig Stunden pausenlos unterwegs. Er wollte soviel Distanz wie möglich zwischen sich und das Schlachtfeld bringen, das er nie wie-
der in seinem Leben betreten würde. Nicht, wenn es nach ihm ging. Vor das flirrende Grau des Schnees, den sein Gefährt aufwirbelte, während es sich wie ein Projektil durch die erstarrte Landschaft pflügte, schob sich immer wieder das spukhafte Gesicht einer Frau. Einer Frau, die Parker Beauchamp nicht vergessen konnte – obwohl sie kein Mensch war. Obwohl sie ihm mit ihrem letzten Gruß zu verstehen gegeben hatte, daß es keine gemeinsame Zukunft für sie beide geben konnte. »Lilith«, rann es aus dem Spalt zwischen seinen wie mit Rauhreif überzogenen Lippen. »Lilith Eden …« Ihr Name war Verheißung gewesen. Das Paradies auf Erden hatte sie ihn genießen lassen – eine gemeinsame Nacht lang, die nie wieder eine Wiederholung finden würde. Nie wieder. Beauchamp hatte die Arktis oft als »Land der verpaßten Chancen« bezeichnet – lange bevor ihm die Frau mit dem anmutigen Gesicht, den jadegrünen Augen und der unglaublichen Figur begegnet war. Aber seit der Begegnung wußte er selbst erst, wie wahr dieser Ausspruch tatsächlich war. Vielleicht hätte ein Wiedersehen mit dieser Frau alles zerstört, was ihre Vereinigung so einzigartig gemacht hatte. Trotzdem hätte Parker Beauchamp seinen linken Arm dafür gegeben. Er dachte völlig irrational. Vielleicht würde er in Arctic Village zur Ruhe kommen. Vielleicht würde er dort sogar ein Mädchen finden, das in der Lage war, dieses schon an Besessenheit grenzende Begehren zu ersticken, mit dem er dieser einzigartigen Frau nachtrauerte. In ein, zwei Stunden würde – mußte! – er dort sein. Länger reichte der Sprit nicht, und ein paar untrügliche Signale der Natur kündigten eine baldige, dramatische Wetterverschlechterung an.
Da! Es fing schon an! Böen griffen nach dem Vehikel, gegen dessen Karosserie der Fahrtwind die inzwischen leeren Treibstoffkanister schlagen ließ. Sturmböen, die keine waren … Parker Beauchamps Augen hinter der Brille, die ihnen gegen Schneeblindheit schützen sollte, erfaßten die wahre Ursache erst relativ spät. Die Stunden monotoner Fahrt hatten sein Wahrnehmungsvermögen abstumpfen lassen. Es war ein Helikopter, der sich ihm von hinten genähert hatte und nun so nah über ihm schwebte, daß es den Anschein hatte, Beauchamp brauchte nur noch den Arm auszustrecken, um die eisverkrusteten Kufen zu berühren. Der Trapper bremste sein eigenes Fahrzeug so abrupt, daß er den überhitzten Motor abwürgte und beinahe aus dem Sattel gehoben wurde. Regungslos wartete er danach, bis der Kopter in geringer Entfernung gelandet war und das Knattern der Rotorblätter ins Leerlaufgeräusch wechselte. Das Cockpit öffnete sich, und zwei Männer rannten in geduckter Haltung auf Beauchamp zu. Sie trugen keine Uniform, aber Waffen in den Fäusten, und der Trapper wußte sofort, daß es Staatsbeamte waren. Harte, narbige Gesichter starrten ihm entgegen. Ihre Augen waren hinter verspiegelten Sonnenbrillen versteckt. »Keine falsche Bewegung!« Parker Beauchamp nahm die Situation wie durch eine Watteschicht wahr. Dennoch begriff er vage, warum sie hinter ihm her waren. Und wie die möglichen Folgen für ihn aussehen würden. »Was wollt ihr von mir?« »Sie kommen aus Nuiqtak?« Er schwieg. »Sie sind verhaftet.« Er wurde über seine Rechte aufgeklärt. »Was seid ihr beide für Clowns?« schnarrte Beauchamp. »Cops?
FBI? Ich habe niemanden umgebracht …« Das war gelogen. Einen hatte er umgebracht – zumindest hoffte er es: den Kerl in Liliths Begleitung. Den Fanatiker, der dem eierlegenden Ungeheuer in Nuiqtak das Genick gebrochen hatte – und dem Verhalten nach selbst ein Monster gewesen sein mußte. Lilith hatte Parker Beauchamp den Namen dieses Mannes, der ihr Feind war und mit dem sie nur ein Notbündnis vereint hatte, verraten: Landru. Ein seltsamer Name. Aber nicht der Name, sondern die Ausstrahlung dieses Killers, sein Charisma hatte den jagderprobten Trapper zeitweilig in ein zitterndes Nervenbündel verwandelt. Um ein Haar hätte er ihn mit seinem Gewehr verfehlt, als Lilith von ihm attackiert wurde. Um ein Haar … Er schüttelte die müßigen Gedanken ab, die wie träge Gespenster durch sein Hirn spukten. »Das wissen wir.« Ihr wißt gar nichts, reagierte er auf die Äußerung eines der Burschen, die ihn hier gestellt hatten. »Warum seid ihr dann hinter mir her wie der Teufel hinter der armen Seele?« fragte er. »Weil Sie uns vielleicht verraten können, wer das Blutbad in Nuiqtak angerichtet hat. Wie es dazu kam und wohin der Täter verschwunden ist.« Um Beauchamps Lippen spielte unvermittelt ein bizarres Lächeln. Er zog die Brille ab, mit der er sich selbst gegen die grelle Lichtflut der endlosen Schneelandschaft schützte, und sagte, ohne auch nur eine Sekunde über die möglichen Konsequenzen nachzudenken: »Vampire. Vampire haben das getan!« Zu seiner Verblüffung erklärten sie ihn nicht für verrückt, sondern nickten einhellig. Der eine fischte ein Paar Handschellen aus seiner Jackentasche, machte einen Schritt auf den Trapper zu und schloß eine Klammer um Beauchamps, die andere um sein eigenes Hand-
gelenk. Der Trapper leistete keinen Widerstand. »Vampire«, sagte der Mann nachdenklich und fügte emotionslos hinzu: »Wie in Icy Cape …« Parker Beauchamp erkundigte sich nicht, was damit gemeint war, aber er dachte unwillkürlich an Lilith Eden – und an die Brut, die sie Seite an Seite mit ihrem unheimlichen Begleiter ausgemerzt hatte. Nicht Lilith, sondern ein bluttrinkender Homunkulus hatte die Bewohner von Nuiqtak auf dem Gewissen – und auch die Besatzung der Forschungsstation Icy Cape …? Beauchamp kannte die Station nur dem Namen nach. Sie lag eine Tagesreise von Nuiqtak entfernt. Aber in Nuiqtak gab es bald nur noch Gräber. Niemand würde je wieder dort leben wollen. Nicht nach dem, was passiert war … »Kommen Sie. Wir müssen uns unterhalten – aber nicht hier.« Parker Beauchamps stieg von seinem Schneemobil. Nein, dachte er. Nicht hier. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, diese unwirtliche Landschaft nicht länger ertragen zu können. Vielleicht waren Gegenden wie diese wirklich nicht für Menschen bestimmt, sondern für Geschöpfe, die dafür geboren wurden, einen immerwährenden Kampf zu führen. Fressen und gefressen werden … Seit kurzer Zeit wußte Parker Beauchamp, daß die Menschen nicht alleine über diesen Planeten herrschten. Daß es noch andere Geschöpfe mit Verstand gab. Die stärker waren. Noch unberechenbarer und noch gnadenloser. Beauchamp wußte nicht, ob sie sich selbst Vampire nannten. Aber was er sicher wußte, war, daß die Masken, in denen sie sich seit grauer Vorzeit unter den ahnungslosen Menschen bewegten, perfekt waren. Absolut perfekt. »Ja«, murmelte er im Lärm des startenden Helikopters unhörbar für seine Begleiter. »Laßt uns reden. Hört euch an, was ich gesehen
habe. Falls ihr es glaubt. Und wenn ihr andere davon überzeugen könnt, haben wir vielleicht noch eine winzige Chance, die Welt wachzurütteln!« Und falls nicht … Parker Beauchamps seufzte. Das Schneemobil verschwand unter ihm hinter einem Vorhang, der aussah, als bestünde er aus aufgewirbeltem Zucker. Der Trapper wußte nicht, wohin seine Reise ging – und wo sie enden würde. Aber er hatte das untrügliche Gefühl, daß er die längste Zeit in einer Welt ohne Grenzen, in einer Welt ohne Zäune gelebt hatte. Sein nächster Aufenthaltsort würde Wände haben, hohe Mauern. Und Gitter. Und die einzige künftige Konstante würde vielleicht die Sehnsucht sein, das Heimweh nach einer atemberaubenden Frau, die sich vor seinen Augen in eine Fledermaus verwandelt hatte. Beauchamp nahm sich vor, im Verhör alles über sie zu verraten. Vielleicht würden die Leute, die ihn gefunden hatten, auch sie finden. Er selbst war dazu nicht in der Lage.
* »Hey, bleib stehen! Hab keine Angst! Komm her, mein Junge …« Verdammt! dachte Benji. Er hatte zu spät bemerkt, daß es im Dorf von Fremden nur so wimmelte. Am Rand der Behausungen standen zwei große Militärhubschrauber, und überall streiften Soldaten zwischen den Hütten umher. Leichen wurden nach draußen getragen und nebeneinander auf einem freien Platz abgelegt. Hunde jaulten, als hätten sie seit Tagen weder Auslauf noch Futter gehabt. Futter … Benji rief sich den Grund in Erinnerung, warum er nach Nuiqtak zurückgekehrt war. Die Hütte im Wald war nicht sein wahres Zuhause, lediglich ein Unterschlupf, in dem sein Vater bei ausgedehnteren Streifzügen übernachtet hatte.
Vater ist tot, dachte Benji. Und Mutter ebenfalls. Ihr Verlust bereitete ihm keinen Kummer. Er trauerte einzig um Tattu, dessen unerwarteter Tod ihn eine Zeitlang völlig aus der Bahn geworfen hatte. »Du kommst aus dem Wald«, fuhr der Soldat fort, der Benji offenbar schon eine ganze Weile vor Erreichen der ersten Häuser beobachtet hatte. »Wie ist dein Name?« Während er sprach, gestikulierte er mit einem Zettel in der behandschuhten Faust. »Benji Hosteen. Ich war – die Schlingen überprüfen.« »Wie lange warst du fort?« »Zwei Tage.«. »Zwei volle Tage auf der Jagd? Allein? Ein Junge deines Alters?« Der Mann wirkte ungläubig. Aber er sah nett aus, machte einen freundlichen Eindruck. Offenbar überdeckte seine Erleichterung, daß Benji nicht hatte mitansehen müssen, wie die Ältesten des Dorfes hingeschlachtet worden waren, sein Mißtrauen. Er hob die Hand und las, was auf dem Zettel stand. »Hosteen … Deine Eltern haben dich als vermißt gemeldet. Du stehst hier neben den Namen derer, die bereits identifiziert wurden …« Er preßte die Lippen zusammen. »Die Namen der – Toten?« fragte Benji. »Komm …«, wich der Soldat aus. Er streckte Benji den Arm entgegen und wollte den Jungen zu einem der Hubschrauber führen, deren Anblick Benjis Herz schneller schlagen ließ. Geschützläufe und Raketenabschußvorrichtungen machten ihm unvermittelt klar, was er unterschwellig schon die ganze Zeit gefühlt hatte: Er war im Krieg. Mitten im Krieg. Und er stand auf der anderen Seite. Denn Tattus letzter Sproß mußte beschützt werden, koste es, was es wolle. Ihm durfte nichts geschehen. Der Geist des Zwittergotts wohnte darin … »Wohin bringst du mich?« Benji fühlte die gewaltige Bürde, die auf ihm lastete und die die Zähne Tattus in ihn gepflanzt hatten. Er war auserwählt, und was in seinem Blut kreiste, erinnerte ihn un-
ablässig daran. Er selbst merkte gar nicht, daß seine Gedanken längst die Gedanken dessen waren, was dem Kokon entschlüpft war. (Mein Wille sei dein Wille …)
* Nicht Tattu, nicht dem Schöpfer dieser oder anderer Welten sollte Benji Hosteen dienen, sondern einem Monstrum aus dem Reagenzglas, das in der Lage war, sich selbst in beinahe beliebiger Zahl zu vermehren. Einst in Heraks Genlabor gezüchtet, hatte es helfen sollen, den Verlust des Lilienkelchs zu verschmerzen.* Denn das Vampiroberhaupt von Sydney hatte eine Möglichkeit schaffen wollen, vampirischen Nachwuchs ohne den magischen Kelch zu zeugen. Aber er selbst hatte das Gelingen seines Traums nicht mehr auskosten können. Er war nur noch Asche. Hier draußen jedoch, in der eisigen Einöde der Arktis existierte noch immer sein Vermächtnis. Wenn es dem hier heranwachsenden Genvampir gelang, unbehelligt zu bleiben und – sobald er genügende Reife erlangt hatte – seinerseits neue Nachkommen zu zeugen, würde er nicht mehr zu stoppen sein. Von nichts. Und von niemandem. »Ich bringe dich zu deinen Eltern«, sagte der Soldat. »Sie dürfen nicht länger glauben, daß du –« »Nein, warten Sie!« »Was ist?« Der Soldat wandte sich ihm wieder ganz zu und ließ den Arm sinken. »Mein Bruder …« »Du hast einen Bruder?« »Ja. Er liegt verletzt in der Hütte im Wald. Ich kam, um Hilfe zu *siehe VAMPIRA T01 und T02
holen. Wir müssen uns beeilen …« »Von einem weiteren vermißten Kind steht hier nichts.« Benji drehte sich um und stapfte durch den kniehohen Schnee in Richtung Wald. »Bleib stehen!« »Nein – kommen Sie! Sie sind kräftig. Sie können ihn tragen. Er braucht Hilfe!« »Junge, sei vernünftig … Was fehlt ihm überhaupt?« »Nichts Schlimmes. Er hat sich den Fuß verknackst. Vielleicht auch gebrochen. Jedenfalls kann er allein nicht mehr laufen.« Benji vergoß ein paar Tränen und dachte dabei an Tattu. »Lassen Sie uns meinen Bruder holen – bitte!« »Ich werde mit meinem Vorgesetzten reden. Ich darf mich nicht einfach entfernen. Außerdem lauert dort draußen womöglich noch –« Er kniff seine mit weißer Fettcreme bestrichenen Lippen zusammen und ließ unausgesprochen, was ihm noch auf der Zunge lag. Benji setzte sich in Bewegung. So schnell der Schnee es überhaupt erlaubte, hetzte er auf die Bäume zu. Der Soldat hinter ihm fluchte entnervt. Benji hörte, wie er einem Kameraden zurief, er solle den Hosteens Bescheid geben, daß ihre beiden Söhne gefunden und gesund seien. Als der Inuit-Junge über seine Schulter schaute, sah er, daß der Mann, mit dem er gesprochen hatte, ihm auf den Fersen war. Und obwohl dieser weder schwach noch wehrlos wirkte, weckte der Keim in Benji plötzlich große Zuversicht, daß das Neugeborene mit ihm zurechtkommen würde. Wenn nicht, würde alle Mühe vergebens gewesen und auch Tattus zweiter Versuch, auf dieser Welt Fuß zu fassen, gescheitert sein …
* Benji braucht lange, dachte Manilaaq. Wahrscheinlich zu lange … Der Blick des Schamanen hatte sich in die Rubinaugen des neuge-
borenen Gottes gesenkt und dort verankert. Manilaaq war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft wieder aus dem Sog dieser Abgründe zu lösen. Seit Benji gegangen war, schwieg der Mund des Neugeborenen. Manilaaq fror, aber auch fiebrige Hitze kroch in Schüben durch seinen runzligen alten Körper. Aufhören. Bitte – hör – auf. Trink meinetwegen aus mir, wenn dich so dürstet – aber laß etwas übrig. Ich bin dein Diener und lebendig wertvoller als tot. Schone mich, bis der Junge kommt. Kehrt er allein zurück, erwähle ihn … Manilaaq wußte nicht, ob sein stummes Flehen Gehör fand. Das Neugeborene hatte inzwischen die Größe eines fünf- oder sechsjährigen Kindes erlangt, und seine zarte Haut war noch bleicher als die der Inuit. Bislang sproß kein Haar auf seinem Körper. Der Schamane wußte nicht, ob sich daran etwas ändern würde, wenn es größer und älter wurde. Er wußte nicht einmal, ob er selbst es noch erleben würde, wie der Gott der Legende zur vollen Größe und Macht gedieh. Plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Wunsch, aufzustehen. Er tat es, machte zwei wankende Schritte und setzte sich dann erschöpft neben die kleine Gestalt, deren bloße Nähe ihn schon die ganze Zeit aus jedem inneren Gleichgewicht warf, auf den Bretterboden. Mit bebenden Lippen fragte er: »Kannst du mich verstehen? Ich weiß nicht, ob du unserer Sprache bereits mächtig bist …« Ein Lächeln erschien auf den Zügen des Neugeborenen. Sein Atem ging schneller, und sein Lächeln fraß sich in Manilaaqs Seele … nein, es fraß die Seele des Schamanen. Der Alte stöhnte. Er wollte sich wieder erheben und zurückweichen, aber der kindhafte Gott streckte einen seiner zuvor noch angewinkelten Arm vor und berührte Manilaaq mit der kleinen, totenkalten Hand.
»Durst …«, brach es erneut dumpf gurgelnd aus seiner Kehle. Die Stimme des Gottes war häßlich. Selbst für Manilaaq klang sie furchterregend. Und unerbittlich. Der Schamane bog den Kopf weit in den Nacken und lehnte sich zurück, bis sein Hals ganz nah am Gesicht des Neugeborenen war. Die vernarbten Vampirmale traten fast plastisch auf Manilaaqs Haut hervor. Der sich nähernde Mund des Gottes hatte schon geschlossen unsagbar obszön gewirkt. Nun öffnete er sich. Manilaaqs Atem stockte in Erwartung des Schmerzes. Er schloß die Augen. Im selben Moment wurde die Tür der Hütte aufgerissen. »Warte!« drang Benjis Stimme in Manilaaqs seltsam trunkenen Verstand und – so hoffte der Schamane inbrünstig – auch ins Bewußtsein des dunklen, hungrigen, gierenden Gottes direkt bei ihm. »Ich habe dir frischere Nahrung mitgebracht, großer Tattu, aber du mußt helfen, sonst ist alles verloren …!«
* Sergeant Hank Powell blickte auf den Eingang der Hütte, in die der Junge verschwunden war. Hütte war eigentlich zuviel gesagt; es handelte sich um einen besseren Unterschlupf, ziemlich nachlässig gebaut und mit Tannenästen vor der Außenwelt verborgen. Eine typische Übernachtungsmöglichkeit für ausgedehntere Jagden. Aber seit drei Sekunden fühlte sich Powell selbst wie ein belauertes Wild. Versteckte Augen schienen ihn zu taxieren, nein, schlimmer noch, schienen wie Röntgenstrahlen bis in sein Innerstes zu blicken und seinen Seelengrund auszuloten. Aus einem Reflex heraus nahm er die während des Marsches umgehängte MPi von der Schulter. Die Handschuhe behinderten ihn
nur. Er zog sie aus. Kein Laut drang aus der Behausung, die einen knappen Steinwurf entfernt lag. Auch die Stille der Landschaft war überwältigend. Powell hatte Benji auf halber Strecke eingeholt und sich breitschlagen lassen, das Bürschchen auch noch den Rest des Weges zu begleiten, um dessen Bruder nach Nuiqtak zu bringen. Benji hatte darauf bestanden, zunächst allein hineinzugehen, damit sich sein Bruder nicht vor Powell erschreckte. Soweit, so gut. Wenn da nicht dieser Anflug von … Beklemmung gewesen wäre, die Powell zu schaffen machte, seit der Junge aus seinem Blickfeld verschwunden war. Nervös sah er sich um, drehte sich dabei langsam um die eigene Achse. Nichts. Da war niemand, nicht einmal ein Tier. Aber vielleicht … Die Bilder der toten Alten und auch die Bilder der noch nicht identifizierten, mit schwarzem Blut verkrusteten Gebilde, die außerdem entdeckt worden waren, saßen tief in Powell. Jemand hatte den alten Männern das Genick gebrochen, vielleicht mit bloßer Hand – eine ungewöhnliche Todesart. Und vom Täter fehlte noch – fast – jede Spur. Fast. Denn in Icy Cape, der unweit gelegenen Forschungsstation, war es, wie man hörte, zu noch dramatischeren Todesfällen gekommen … Powell war nur ein kleines Rädchen im Armeegetriebe und wußte vermutlich nicht, was sein Vorgesetzter wußte. Dennoch schien zwischenzeitlich klar, daß dies kein normaler Einsatz war. Daß es hier um Dinge ging, die den normalen Menschenverstand überforderten. »Benji? Mir ist kalt, und es wird bald dunkel. Komm raus! Sag deinem Bruder, er soll sich …« Seine Stimme brach. Sie verlief sich einfach wie eine Welle an einem endlos langen Strand.
Powell krümmte sich. Etwas in ihm krümmte sich, als wollte es sich ducken und dem Blick einer fremden Person entziehen … Sekundenlang hielt er in dieser Starre, in der selbst seine Lungen gelähmt schienen, aus. Schließlich holte er Luft wie ein Ertrinkender und sprengte den unsichtbaren Panzer, der sich um ihn gelegt hatte. Powell bückte sich, legte die MPi in den Schnee und übte noch zusätzlichen Druck auf die Waffe aus, um sie wie in einem nachgiebigen Teig verschwinden zu lassen. Anschließend schaufelte er mit den Händen Schnee darüber. Mit wenigen Schritten erreichte er einen Baum und schnitt mit dem Messer einen weit verästelten Tannenzweig ab. Dann ging er etwa zweihundert Yards zurück in Richtung Nuiqtak und begann seine und Benjis Fußstapfen zu verwischen. Im Rückwärtslaufen näherte er sich dabei wieder der getarnten Hütte. Er wußte nicht, warum er tat, was er tat. Er dachte nicht darüber nach. Eigentlich dachte er überhaupt nicht mehr. Hinter ihm öffnete sich die Tür, und Powell trat, immer noch in gebeugter Haltung, in den kleinen, halbdunklen Raum. Das Feuer in der Mitte war erloschen. Niemand kümmerte sich darum. Benji und ein alter Mann, der unmöglich sein Bruder sein konnte, waren da. Aber sie waren nicht allein. Powells Verstand setzte offenbar nur aus einer bösartigen Laune heraus wieder ein – der Laune jener Gestalt, die ihn jetzt zu sich winkte. »Durst …« Powell ließ den Zweig fallen, den er immer noch in der Hand gehalten hatte. Langsam ging er auf das Kind zu, das ihn wahrhaftig und sehr dringend brauchte …
*
Der ersten Fütterung waren die einsamsten und absonderlichsten Tage gefolgt, die Benji je durchlebt hatte. Er wußte nicht, wie Manilaaq oder Hank es empfanden, er selbst jedenfalls litt unter der Situation, auch wenn eine Stimme in ihm ihn beständig beruhigte, alles sei gut, alles verlaufe im Sinne des weisen Tattu. Noch in der Nacht, nachdem Benji den Soldaten Hank Powell in den Wald gelockt und dem Neugeborenen zur Stärkung gebracht hatte, hatten Suchkommandos die ganze Gegend durchkämmt. Zweifellos forschten sie nach dem Verbleib ihres Kameraden, mit Sicherheit aber auch nach Benji. Mittlerweile hatten sie sicherlich herausgefunden, daß die Hosteens nur ein Kind besaßen. Für Hank Powell war diese Information zu spät gekommen. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß ihm ein unschuldig dreinblickender kleiner Junge zum Schicksal werden würde? Manilaaq und Benji hatten mehrere Suchpatrouillen beobachtet, die zu Fuß und aus der Luft die Gegend durchkämmten. Dem Versteck waren sie mehrfach bedenklich nahe gekommen, im Grunde hatten sie es gar nicht übersehen können – und dennoch war es geschehen. Selbst mitgeführte Spürhunde hatten die Witterung im entscheidenden Moment verloren und einen weiten Bogen um die Hütte geschlagen. Für Benji bestand kein Zweifel, wer die Entdeckung verhindert hatte. Es gab kaum Essensvorräte in der Hütte, und eine Zeitlang hatten sie extremen Hunger gelitten, weil es zu gefährlich gewesen wäre, das Dorf erneut aufzusuchen, solange die Armee alles in höchster Alarmbereitschaft abschottete. Die drei Menschen im Dunstkreis des Neugeborenen hatten Schnee geschmolzen und literweise getrunken, um Zeit zu gewinnen. Ein paarmal hatten auch kleinere Tiere zutraulich am Türholz gescharrt, angezogen von einem unhörbaren Lockruf, der aber offenbar nicht weiter als fünfzig Schritte über die Grenze der Hütte hinausreichte. Als Benji, Manilaaq und Hank, an dem das Geborene dreimal am
Tag wie ein Egel hing und schmatzte, trotz aller Tricks immer schwächer wurden (besonders Hank), waren sie von ihrem schmarotzenden Mitbewohner ohne Vorwarnung in einen künstlichen Dämmerzustand versetzt worden. Seither lebten sie ein Leben auf Sparflamme. Alle Körperfunktionen waren durch die Suggestion des Genvampirs auf ein absolutes Minimum abgesenkt worden. Die meiste Zeit des Tages schliefen die Drei. Und immer wenn Benji die Augen aufschlug, konnte er die Veränderungen sehen, die mit ihm und den anderen geschehen waren. Während das Trio immer hinfälliger wurde, blühte »Tattus Sproß« immer mehr auf. Und lernte sprechen. Anfangs hörte es sich fürchterlich an und erinnerte Benji an die erste Zeit, als alles, was seiner Kehle entflohen war, wie »Durst!« geklungen hatte. Doch das Wesen arbeitete hart an sich. Bald beherrschte es die geschliffene Rede, wodurch sich seine Fremdartigkeit aber fast noch erhöhte. Auch im Äußeren schien es seine Reife erlangt zu haben. Es war wunderschön geworden, und irgendwann verblüffte es Benji, der gerade im Dämmerzustand dahin driftete, mit der Bitte, ihm einen Namen zu geben. Ohne nachdenken zu müssen, hatte Benji erwidert: »Proteus. Ich taufe dich auf den Namen dessen, von dem ich heute Nacht geträumt habe.« »Proteus …« An diesem Tag hatte der Unersättliche Hank über die Maßen traktiert. So sehr, daß das Herz des Soldaten es nicht länger verkraftet hatte. Tot war er zu Boden gesunken, und Proteus hatte sich – immer noch dürstend – Manilaaq zugewandt. Nicht ohne Benji aufzutragen, Hank zu zerteilen. Jedes noch so magere Fleisch war wertvoll und unter gestoßenem Eis aufbewahrt lange haltbar.
Spätestens da war Benji klar geworden, daß auch seine Zeit kommen würde. Daß nach Manilaaq die Reihe an ihm sein würde. Es hatte ihm Angst bereitet – und wiederum nicht. In der Hütte war das Unwirkliche längst wirklicher und greifbarer geworden als die Normalität außerhalb. Irgendwann – etwa ein Jahr nach Tattus Tod – rüttelte Proteus Benji eines nachts wach und eröffnete ihm, daß auch Manilaaq seine Existenz ausgehaucht habe und er mit ihm verfahren solle wie mit Hank. Benji gehorchte, verwehrte seinem Tun aber den Einlaß in sein bewußtes Denken. Lange schon vermochte er nicht mehr zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Sich selbst im Ungewissen zu wiegen war besser, als dem Wahnsinn zu verfallen. Doch nicht nur, um ihn über Manilaaqs Ableben zu unterrichten, hatte Proteus ihn geweckt. Er eröffnete ihm auch: »Es ist soweit. Ich fühle, daß ich die Vollkommenheit erreicht habe.« »Die … Vollkommenheit?« echote Benji verständnislos. »Ich bin jetzt in der Lage, meine eigene Brut zu zeugen, zu gebären und ihre Pflegschaft zu übernehmen. Ein weiteres Jahr, und wir sind so viele, daß wir niemanden mehr zu fürchten brauchen!« Rubinrote Augen lasen in Benji, der Proteus’ Worte keine Sekunde in Zweifel zog. Proteus. Benji hätte nicht zu sagen vermocht, wie ein Traum ihm einen Namen hatte soufflieren können, den er nie zuvor gehört hatte. Auf sein Schweigen hin hatte der Zwitter dem Jungen erklärt: »Ich spüre einen Heißhunger, der mit der Entstehung des Lebens in mir zu tun hat. Von nun an werde ich in kürzeren Intervallen Nahrung zu mir nehmen müssen. – Dir ist klar, was das bedeutet?« »Ich werde nicht so lange durchhalten wie meine Vorgänger«, sagte Benji fast emotionslos. »Richtig. Aber das ist kein Problem. Sobald ich meine Nachkom-
menschaft geboren habe, werde ich selbst für sie auf Nahrungssuche gehen. Die Situation draußen hat sich beruhigt. Die Wogen haben sich geglättet. Ich werde reiche Beute machen. Ein ganzes Dorf voller Fürsorger wartet auf meine Kinder.« Benji begriff, was passieren würde. Er nickte und ließ sich von seinem Herrn in die Arme nehmen. »Ich bin bereit«, sagte er. »Etwas von dir wird in mir und meiner Brut weiterleben«, sagte Proteus. »Ewig.« Benji brauchte solchen Trost nicht. Benji hatte schon lange nicht mehr gelebt. Aber alles kam anders, als Proteus es angekündigt und versprochen hatte. Denn am nächsten Tag, lange bevor sich das erste Kind in seinem Leib entwickeln konnte, klopfte es an die Tür der Hütte. Proteus schrak ebenso zusammen wie Benji. Vielleicht noch ärger. Das Klopfen konnte unmöglich von einem Tier stammen, dafür war es zu … taktvoll. Proteus huschte zur Tür und zog sie auf. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte ein Junge von anderem Kaliber als Benji. Ein Junge, dessen Blick die Glut in Proteus’ Augen mit grauer Asche überzog und gefrieren ließ. Und Benji traute seinen Ohren nicht, als der Gott neben ihm auf die Knie sank und winselte: »Nein, Herr – natürlich nicht. Womit auch immer ich Euch dienen kann, ich werde es tun …«
* Gegenwart … … und Zwischenspiel Wie eine Insel aus purem Gold lag die Altstadt da, umspült von den erstarrten Wogen eines schwarzen Ozeans. Noch jetzt in der Nacht
warf die gewaltige Kuppel des Felsendoms ihren Glanz über den alten Teil der heiligen Stadt, das Licht des Mondes reflektierend, und es schien, als hielten die trutzigen Mauern um das Gassenlabyrinth den goldenen Schimmer zurück wie die Klippen um eine Bucht, so daß er die neuen Bezirke Jerusalems nicht erreichen konnte. Ein ebenso zauberhaftes wie bezauberndes Bild … Dennoch fröstelte Lilith Eden. Nicht aus Ehrfurcht oder Ergriffenheit, sondern klammer Furcht wegen, die nicht von ihr wich, so sehr Lilith sich auch mühte, ihr endlich ledig zu werden. Vergebens, denn sie konnte sich nicht von dem einen Gedanken lösen, der wie ein nie verstummen wollendes Echo durch ihren Kopf wisperte. Ich kann nicht glauben, daß er tot ist. Schaudernd schlang Lilith die Arme um sich, senkte den Blick, kniff die Lider so fest zu, bis es schmerzte. Nicht mehr daran denken, hämmerte sie sich ein. NICHT MEHR DARAN DENKEN! Denn ich habe ihm selbst den Todesstoß versetzt! Endlich, nach allem was er mir – und so vielen anderen – angetan hat … Aber – konnte eine Kreatur von seiner Macht je tot sein? Konnte er wirklich sterben? Lilith ächzte wie in einem Alptraum, ohne die Augen zu öffnen. Ich habe ihn umgebracht! Landru ist tot. Tot! TOT! Ein Schrei, leise nur und wimmernd wie der eines verängstigten Kindes, erschreckte Lilith. Zwei, drei Sekunden verstrichen in Atemlosigkeit, dann erst entspannte sie sich, als sie die Stimme erkannte – als ihre eigene … »Was ist nur mit mir los?« fragte sie sich leise. Sie ließ den Kopf vornüber sinken, berührte das Glas des Fensters. Erst jetzt fiel ihr auf, daß ihre Stirn wie von Fieber erhitzt war. Die Kühle der Nacht, die von draußen gegen das Fenster drängte, tat gut, und Lilith merk-
te, wie auch ihr brodelndes Denken sich darunter beruhigte. Schon im nächsten Moment aber schreckte sie von neuem auf! Jemand hatte sie berührt, eine Hand, kälter noch als die Nacht … Seufzend entließ Lilith den aufgestauten Atem und ergab sich den starken Armen dessen, der lautlos aus dem Dunkel der Suite hinter sie getreten war. Augenblicklich fühlte sie sich geborgen, in Sicherheit vor allem, was in der Welt draußen ihrer harren mochte. Ihre Gedanken flossen in ruhigere Bahnen, als habe jemand die Weichen ihres Denkens mit unsichtbarer Hand neu gestellt. »Woran denkst du?« flüsterte Anums Stimme dunkel an ihrem Ohr. Sein Atem strich über ihren Hals und bescherte Lilith ein neuerliches Frösteln, angenehm diesmal, wunderbar und herrlich. Sie genoß nur und schwieg. »An ihn, nicht wahr?« fragte er. Sie nickte sacht. »Landru ist Vergangenheit«, sagte Anum, genau den Triumph in seiner Stimme, den Lilith in sich so vermißte. »Vergiß ihn. So wie ich schon vergessen habe, daß ich je einen Bruder dieses Namens hatte.« »Nun, da er tot ist, fürchte ich ihn fast mehr als zu seinen Lebzeiten«, drang es leise und beinahe gegen ihren Willen über Liliths Lippen. Landru, der einstige Hüter des Lilienkelches, war das Damoklesschwert über ihrem Leben gewesen. Von ihrer Geburt an hatte er Lilith Eden bedroht, und selbst diese Geburt hatte er schon zu verhindern getrachtet. Er hatte ihren Vater ermordet und noch im Tode gequält, indem er Sean Lancasters Kopf am Leben ließ und gleichsam als Trophäe mit sich führte, und er hatte Beth MacKinsey, Liliths Freundin und Lebensgefährtin, für seine perfiden Zwecke mißbraucht. Er hatte Lilith mit seinem Haß verfolgt, hatte sie belogen und betrogen, ihr Leben gestohlen –
– und jetzt endlich den Preis für all dies zahlen müssen: seine Unsterblichkeit! Lilith hatte Landru gepfählt! Seine Asche lag begraben in den Ruinen des alten Jerusalems. Niemand würde je auch nur auf seine Überreste stoßen.* Warum aber kann ich mich nicht darüber freuen? ging es Lilith wieder durch den Sinn. Warum verspüre ich weder Triumph noch Genugtuung? Hätte ich nicht jeden nur denkbaren Grund, Landrus Tod mit einem Freudenfest zu feiern? Sie erhielt eine Antwort auf ihre Fragen. Eine Stimme, in ihr und doch fremd, flüsterte: Weil du dich mit seinem Tod deiner Nemesis beraubt hast! Landrus Haß und die Verfolgung durch ihn waren deine Gründe, alles zu rechtfertigen, was du getan hast. Tod und Gewalt, die du über andere brachtest, schienen dir entschuldbar, weil es Landru gab – weil er Schlimmeres tat als du. Aber diese Entschuldigung zählt fortan nicht mehr. Denn Landru ist nicht mehr … »Das mußt du nicht«, flüsterte es an Liliths Ohr. »Sieh in die Zukunft.« Seine Hand löste sich von ihr und wies hinaus in die Nacht. »Sieh unsere Zukunft.« »Oh, Anum«, hauchte Lilith, und sein Name kam ihr zart wie ein Kuß von den Lippen, »ich wünschte, ich könnte deine Zuversicht teilen – daß alles gut wird.« Darauf blieb er ihr eine Erwiderung schuldig … Stumm trat er zurück, ohne Lilith loszulassen. Sanft zog er sie mit sich, führte sie durch die weitläufige Suite bis hin zu dem prächtigen Bett, das sie teilten, seit sie jene unterirdische Kirche verlassen hatten, wo die Vampirsippe Jerusalems gehaust hatte und Landru zu Tode gekommen war. Das Bett wie die ganze Suite war eines Königpaares würdig, und wie ein solches wurden Lilith und ihr faszinierender Begleiter im American Colony Hotel, einem altehrwürdigen Palast aus dem vori*siehe VAMPIRA T43: »Tod eines Mächtigen«
gen Jahrhundert, auch behandelt. Das Personal las ihnen alle Wünsche von Augen und Lippen ab, und selbst die absonderlichsten wurden ihnen erfüllt. Nach ihrer Liquidität indes fragte niemand … »Landru war die letzte Hürde auf meinem Weg in die Zukunft«, sagte Anum, derweil er Lilith auf den nackten Boden drängte. »Du hast dieses Hindernis für mich beiseite geräumt, und dafür möchte ich diesen Weg mit dir an meiner Seite beschreiten.« »Wo wird er uns hinführen, dein Weg?« wollte Lilith wissen und erschauerte unter seinen kühlen Küssen, die ihre Haut dort berührten, wo der Symbiont sie nicht bedeckte. Bereitwillig zog sich das wandelbare Kleidungsstück noch weiter zurück, schrumpfte, bis es nurmehr als schmaler Gürtel um Liliths Hüften lag. »Unser Weg«, verbesserte Anum, nicht innehaltend, jeden Zoll ihrer Haut mit seinem Atem und seinen Lippen zu berühren, »wird uns in eine Zeit führen, da ein großer Plan sich letztlich doch noch erfüllen wird. Obwohl Landru, dieser Kretin, ihn schon verdorben hatte.« Anums Gesicht tauchte in Liliths Schoß, seine Zunge (selbst sie schien ihr muskulös wie sein ganzer Leib) berührte sanft ihre Scham, kostete sie, wurde dann verlangender, ungestümer. Ein großer Plan … Lilith fragte nicht weiter danach, nicht jetzt. Jetzt war anderes wichtiger – und hundertfach schöner, als alles andere sein konnte! Zumal Anum ihr auf diese Frage, wohl auch nicht geantwortet hätte. Andere Fragen indes hatte er ihr beantwortet, im Rausch ihrer Nächte, und manche hatte sie nicht einmal aussprechen müssen. So wußte sie, daß Anum Landrus Bruder gewesen war, und wie er hatte auch Anum dereinst den Gral der Alten Rasse, den Lilienkelch, verwaltet, als erster sogar in einer langen Reihen von Hütern, die ihm noch folgen sollten. Deren zwanzig sollten den Kelch von Sippe zu Sippe tragen, ein jeder von ihnen tausend Jahre lang. Und dann – Landrus Weigerung jedoch, das Amt des Hüters der Bestimmung
gemäß zu übergeben, hatte allem einen anderen Verlauf gegeben … Anum hatte Lilith von der Zeit berichtet, da er und seine neunzehn Geschwister über einen Teil der Welt geherrscht hatten und von den Menschen die Hohen genannt worden waren. So verklärt hatte er von dieser Epoche gesprochen, daß es ganz so schien, als wünsche er sie sich zurück. Und zugleich war da etwas in seinem Ton gewesen, das Lilith fast davon überzeugte, sein Wunsch könnte Wirklichkeit werden … Wie noch jedes Mal an diesem Punkt ihrer Erinnerungen stockte Lilith an dieser Stelle. Mußte sie sich mit diesem Wissen über Anum nicht gegen ihn stellen? Müßte sie ihn nicht hassen und bekämpfen wie Landru? Schließlich war Anum nicht allein von Landrus Art – sondern auch und vor allem vom gleichen Blute! Aber – und auch dies war so jedes Mal – es genügte seine bloße Nähe, um alle Gedanken an Auflehnung zu ersticken. Wie könnte sie ihm je, ganz gleich in welcher Hinsicht, widerstehen? Ihm, diesem – Lilith stöhnte auf, als er mit Macht in sie drang. Sein Griff um ihre Hüften verstärkte sich ruckartig, nicht vor ungezügeltem Verlangen, sondern grob und brutal und mit der Absicht, ihr wehzutun. Lilith schrie erstickt und sah erschrocken zu Anum auf, der zwischen ihren Schenkeln kniete, reglos und kalt wie eine Statue aus schwarzem Stein. Einzig in seinen Augen glosten glutrote Punkte wie ferne Feuer. Im nächsten Moment war er wieder der alte, und Lilith vergaß, was sie gerade erlebt hatte: seine wahre Natur. Anum begann sein Becken von neuem zu bewegen, sanft und doch kraftvoll. Lilith gab sich ihm hin, als habe es die unliebsame Unterbrechung nicht gegeben. Ihre Gedanken aber irrten erneut ab, einige Zeit zurück und an einen entfernt gelegenen Ort – Uruk. Dort, am Korridor der Zeit,
hatte sie Anum – nicht wissend, wer er war – gefunden, besinnungslos, wie tot fast. Augenblicklich war sie seiner Faszination erlegen, ohne daß er etwas dazu getan hätte. Es war, als habe er sie – verzaubert, durch nichts anderes als seine Gegenwart.* Lilith hatte nicht anders gekonnt, als ihn mitzunehmen. Auf beschwerlichen Wegen war sie mit ihm nach Jerusalem gereist. Und fast mußte sie Landru dankbar sein: Denn letztlich erst durch die Konfrontation mit ihm war Anums Bewußtsein, bis dahin gefangen im Lilienkelch, in seinen Körper zurückgekehrt, und endlich konnte er Liliths Zuneigung erwidern. Und wie er dies tat! Er erlegte sich keine Zurückhaltung auf. Laut schrie er seine Lust heraus, als er sich in Lilith ergoß. Es war überwältigend, seinen Samen in sich zu fühlen. Um so absurder erschien es Lilith, daß Anums Sperma so taub und wertlos sein sollte wie das der Kelchkinder. Ein erregender Gedanke ergriff Besitz von ihr: Was, wenn sie mit Anum Kinder zeugen würde? Eine ganze Horde von wahrhaftigen, unvergleichlichen Kindern, keine Farce wie die Kuckuckskinder in der Hermetischen Stadt Mayab … Unsere Kinder! Dunkle Prinzen und Prinzessinnen, die einst erben werden, was er und ich aufbauen … Sie schauderte. Ihre Träume zerplatzten wie Seifenblasen einer giftigen Lauge. Dennoch: Das Feuer in ihr war noch nicht gelöscht … Kaum war er neben sie in die Laken gesunken, glitt sie schon über ihn und sorgte dafür, daß seine Männlichkeit nicht erschlaffte. »Wahrlich, du kannst nur ein Geschenk unserer Mutter sein«, hörte sie ihn flüstern, ohne zu verstehen, was er damit meinte. »Nur sie *siehe VAMPIRA T40: »Beth«
kann dich an meine Seite geführt haben, auf daß ich mit dir die Hohe Zeit begründe.« »Wovon sprichst du da?« fragte Lilith, als sie in den Sattel seiner Lenden stieg. Anum sah lächelnd zu ihr auf. »Die Welt will ich dir zu Füßen legen«, antwortete er rätselhaft. Zunächst aber bescherte er ihr den Himmel auf Erden. Nicht zum letzten Mal in dieser Nacht … … und hoffentlich noch in unzähligen Nächten, die da kommen und uns gehören mögen, dachte Lilith Eden voll Wonne. Noch einen anderen Gedanken formte ihr Verstand, bevor die Ekstase ihn hinwegfegte: Kann es sein, daß du – auf deine Art – den verwaisten Platz eingenommen hast, den Landru bisher ausfüllte? Daß ich dich unbewußt als meine neue Nemesis, als den Ersatz für das Verlorene erkoren habe …?
* Irgendwann vor Morgengrauen erwachte sie. Das Gefühl in ihrem Bauch war ihr völlig unbekannt, und für einen Moment, eine Sekunde hielt sie es tatsächlich für möglich, daß die Verschmelzung mit Anum etwas in ihr … hinterlassen hatte. Närrin! rief sie sich zur Räson. Die Finsternis in den unterirdischen Gefilden des alten Jerusalem floh vor ihren Blicken. Anum lag neben ihr auf dem Rücken. Er war nackt, kalt und klassisch schön wie eine Figur aus glänzendem Porzellan. Er strahlte mehr Sinnlichkeit aus als jeder andere Mensch, dem Lilith sich hingegeben hatte. Er ist kein Mensch, erinnerte sie sich. Aber eine Erklärung für die Anziehungskraft, der sie erlegen war, fand sie nicht. Sie lauschte in sich. Außer Anum gab es noch mehr, was ihr nicht geheuer war.
In Uruk war Beth’ Seele in ihr aufgegangen, und jeder bisherige Versuch, damit zurechtzukommen, das Konzentrat einer anderen Person in sich zu tragen, fremdes Wissen wie eigenes Wissen abrufen zu können, war gescheitert. Nun bin ich vollends zum Monstrum geworden, dachte Lilith. Fühle ich mich ihm –, ihr Blick hielt an Anum fest, – etwa deshalb so zugetan? Auch er liegt zweifellos jenseits aller Norm … Gequält schöpfte sie Atem, richtete sich halb auf und stützte sich auf ihren Ellbogen ab. Während ihres kurzen Schlafes hatte der Symbiont ein Catsuit geformt, das allein den Kopf, die Hände und Füße aussparte. Der zarte Stoff des Mimikrykleides war kaum fühlbar. Sein Federgewicht ließ Lilith darüber hinwegsehen, daß auch dies nur eine weitere Monstrosität war, die ihr Leben begleitete: ein mimikryfähiges Stückchen von der Haut der Ur-Lilith, das sich in extremen Gefahrensituationen in einen Panzer von undurchdringlicher Härte verwandeln konnte. Früher, das hatte sie aus der EWIGEN CHRONIK erfahren, war der Symbiont sogar eine fürchterlicher Waffe gewesen – eine Waffe gegen Vampire. Wie hätte er wohl Anum in Liliths unmittelbarer Nähe akzeptiert und toleriert, wenn er immer noch diese Waffe gewesen wäre? Sie lächelte versonnen. Dann erstarrte sie. Anums Augen waren geschlossen, und dennoch fühlte sie Blicke auf sich, fühlte sie sich … beobachtet! Ohne ihre Haltung zu verändern, erhöhte sie ihre Wachsamkeit, lauschte nicht mehr in sich, sondern in ihre Umgebung. Nicht weit von diesem unterirdischen Flecken lag die versunkenen Kirche, die längst von der Oberwelt vergessen war – und in der Landru gestorben war. Wo ihm Lilith einen armlangen Eichenpflock in die Brust gestoßen hatte. Der Keil hatte Landrus Schicksal besiegelt. Aber Landru war im
Tode nicht zu Asche zerfallen wie die Kinder des Kelchs. Hier war deutlich geworden, wie drastisch er sich wirklich von ihnen unterschieden hatte. Er war von Geburt an von schwarzem Geblüt gewesen, hatte nicht erst aus einem Menschenkind bei der Kelchtaufe geformt werden müssen. Anum schien Landru aufgrund der Art, wie er gestorben war, noch zusätzlich zu verachten. Er war hingegangen und hatte den Leichnam seines Bruders mit Hütermagie in Brand gesetzt und so doch noch eingeäschert. Offenbar wollte er jedes Risiko ausschließen. »Es ist gut, daß er so gestorben ist«, hatte er nur gemeint. »Der Tod, den ich ihn hätte erleiden lassen, wäre weniger schnell vonstatten gegangen.« »Das klingt, als hättest du ihn abgrundtief gehaßt«, hatte Lilith gesagt. »Nein«, hatte er erwidert. »Es war kein Haß. Es war … Enttäuschung. Wenn du unseren Traum kennen würdest – wenn du bereits alles über die Hohe Zeit und ihre Struktur wüßtest, würdest du mich verstehen. Aber du wirst es erleben. Worte sind schal, mit ihnen kann ich dir nicht beschreiben, was dich – uns – erwartet. Zwanzig sollten über diese Welt herrschen, nun sind es zwei. Aber zwei, die stark und entschlossen sind wie zwanzig …« »Du und ich?« »Ich und du«, hatte Anum bestätigt. Anum … In seiner Anwesenheit sah Lilith sich fast außerstande, klare Gedanken zu fassen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war noch nicht gewichen. War Landru wirklich vernichtet? In diesem Augenblick zweifelte Lilith daran. In diesem Augenblick hätte sie geschworen, ihm gleich Auge in Auge gegenüberzustehen und begreifen zu müssen, daß er sie getäuscht hatte – wieder einmal.
Wie Phönix aus der Asche wird er mir gegenübertreten … Langsam erhob sie sich und gab sich Mühe, den Anschein zu erwecken, dies ohne besonderen Anlaß zu tun. Sie machte ein paar Schritte, als müßte sie sich die Beine vertreten. Unter ihren nackten Fußsohlen knirschten Sand und kleine Steine. Absichtlich entfernte sie sich von der Stelle, aus der sie sich beobachtete fühlte – und wechselte übergangslos in die Metamorphose. Ein menschliches Auge mußte beim Versuch scheitern, der blitzschnellen Drehung und dem anschließenden, rasenden Flug der großen Fledermaus zu folgen. Liliths veränderte Gestalt jagte wie ein Projektil durch den halb verschütteten Durchgang, der zum Kirchenschiff führte. Zu dem Ort, an dem Landru sein langes, reiches Leben ausgehaucht hatte. Dann befand sie sich in dem kurzen, stollenartigen Gang und prallte mit einer Person zusammen, die – daran gab es in derselben Sekunde schon keinerlei Zweifel mehr – nicht Landru war. Eine Person, die Lilith kannte! Sie schaffte es ihm letzten Moment, das animalische, auf erbarmungslosen Kampf ausgerichtete Programm in sich zu stoppen. Das kleine Mädchen mit dem schwarzlockigen Haar und den reinsten, den unschuldsvollsten Augen, in die Lilith je geblickt hatte, schrie erstickt auf, als es von der Wucht des Zusammenstoßes umgerissen wurde. Auch Lilith ging zu Boden und begrub dabei das jüdische Mädchen unter sich, das seine Eltern an die Vampire von Jerusalem verloren hatte.* Aus den Augenwinkeln heraus sah sie noch die zweite Gestalt wie ein bleiches Gespenst nahen. Dann löschte ein Hieb, als solle ihr der Schädel gespaltet werden, jede Wahrnehmung aus. Was für ein Aberwitz, waren ihre letzten zusammenhängenden Ge*siehe VAMPIRA T43: »Tod eines Mächtigen«
danken. Dir so bald zu folgen, Landru …
* Bereits das bloße Heben der Lider schien das fragile, knöcherne Gefüge ihres Kopfes endgültig auseinanderbrechen zu lassen. Ihres menschlichen Kopfes, denn in der Bewußtlosigkeit hatte Lilith die Metamorphose natürlich nicht aufrechterhalten können. Stöhnend wollte sie die Augen wieder schließen. Da sah sie Anum. Sah und fühlte ihn! Er kniete direkt neben ihr und tupfte mit einem Stoffetzen Blutreste von ihrem Gesicht. Hinter ihm standen Hand in Hand zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Im Gesicht des Knaben waren die Farben und Linien der Angst gemalt, während seine Schwester fast gleichgültig wirkte. Rahel und David Chaim, rann es schwerfällig durch Liliths Hirn. Und mit einer Stimme, die von Heiserkeit verfremdet war, fragte sie: »Was ist passiert, Anum?« Er deutete hinter sich. »Sie sind dir passiert … Offenbar wollten sie sich anschleichen, aber du hast sie rechtzeitig gehört. Da hat dir dieser Junge mit einem Stein fast den Schädel zertrümmert.« Verhaltener Zorn schwang in seiner Stimme mit. Dabei erweckte der letzte Hüter den Anschein, als verstünde er sich selbst nicht, daß er den Jungen so lange am Leben gelassen hatte. Rahel, das hatte sich bereits im Vorfeld von Landrus Tod gezeigt, gehörte zu den Ausnahmeerscheinungen unter den Menschen: Sie sprach nicht auf vampirische Hypnose, auf deren Magie zur Willensbeugung an. Ihr Bruder nicht. Ihr Bruder, das erkannte Lilith auf den zweiten Blick, stand völlig in Anums Bann. Seine Augen verrieten es. Augen, in denen – anders als bei Rahel – Furcht schwelte. Eine dumpfe Ah-
nung, das Schicksal der Eltern teilen zu müssen. Sehr, sehr bald … »Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden«, murmelte Lilith. »Dann hörte ich ein Geräusch, aber –« »Willst du sie umbringen, oder soll ich es dir abnehmen? Ich wollte dir nicht vorgreifen.« Zwei Sätze, die klarer zum Ausdruck brachten, wie groß, wie unüberbrückbar eigentlich die Kluft zwischen ihm und ihr war, und dennoch … … dennoch genügte auch diese Erkenntnis nicht, den heilsamen Schock auf Lilith auszuüben, auf den sie die ganze Zeit wartete. Sie begann leicht zu zittern. Während ihrer Reise nach Uruk und auch noch bei Betreten des neu aktivierten Zeitkorridors war sie Anum überaus ähnlich gewesen, weil im yukatekischen Urwald eine geheimnisvolle, alle Moral erstickende Welle über sie hereingebrochen war. Bis heute wußte sie nicht genau, worum es sich dabei gehandelt hatte. Ein Indianer, der vorgegeben hatte, sie zu kennen, hatte diese Kraft auf sie abgeladen. Lilith hatte versucht, ihn zu töten, doch er hatte sich ihr auf unerklärliche Weise im letzten Moment entzogen. Dann aber, im Korridor der Zeit, war die irrende Seele Beth MacKinseys nach einer unvorstellbaren Odyssee durch die Jahrhunderte in sie eingefahren und hatte Liliths Gespür für Moral wieder zurechtgerückt. Beth existierte nicht mehr, nur noch ihr Wissen, der Schatz ihrer Erfahrungen hatte überlebt – als wäre es Liliths ureigener Besitz. Beth, alte Freundin …, dachte sie erschüttert. Ich wünschte, ich könnte dich umarmen. Die EWIGE CHRONIK hatte ihr nur Auskunft über ihr Leben bis zum damaligen Aufbruch zum Anfang der Zeit gegeben, wo sie ihre Bestimmung erfüllen und die Ur-Lilith aus ihrem Stasiskerker befreien sollte. Aber Beth – das was von Beth nun in ihr war – hatte ihr sehr viel mehr über sich selbst und über ihre Denk- und Handlungs-
weise vermittelt als diese Schrift aus Blut und Seelen. Genug, um zu wissen, daß sie sich hier und jetzt, in Anums Beisein, falsch benahm. Daß das nicht sie war – nicht die Lilith, die beinahe zwei Jahre an der Seite ihrer Freundin Beth einen einsamen Krieg gegen die Vampire dieser Welt geführt hatte! Sie versuchte sich von den qualvollen Selbstzweifeln und der Lähmung, die davon ausging, freizumachen. Anums immer noch fragenden, immer noch abwartenden Blick fest erwidernd, sagte sie: »Sie werden nicht sterben – warum auch? Es sind Kinder.« »Das werden sie nicht bleiben«, versetzte Anum erstaunt. Landru, erinnerte sich Lilith, hatte einen eigenen Kodex besessen, was Kinder anging. Sie waren für ihn stets tabu gewesen – den genauen Grund kannte sie nicht. Seltsam, dachte sie, hätte ich je geglaubt, einmal etwas Gutes über Landru sagen zu können? »Egal – es ist nicht nötig, und ich will es nicht.« Anum schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich verstehe dich nicht. Wir können sie teilen. Du den Jungen und ich das Mädchen. Wir brauchen Kraft. Wir müssen uns stärken, und dann …« »Du verstehst nicht«, blieb sie unbeirrt. »Zunächst müssen wir hier verschwinden. Ich habe keine Lust, auch nur eine Stunde länger als nötig in diesen Katakomben zuzubringen. Die Kinder werden uns in das Haus ihrer Eltern führen. Ihre Eltern sind tot. Wir können dort bleiben, bis wir weiterziehen.« »Wir könnten in die nobelste Herberge ziehen«, erwiderte Anum mit aller Schärfe. »Wozu in ein erbärmliches Haus, in dem es nach Tod und Armut riecht?« Lilith zögerte kurz. Selbst in seiner kaum bezähmbaren Wut und Herrschsucht strömte Anum soviel … Faszination aus, daß sie an ihrem Verstand zu zweifeln begann. »Weil ich es so will.«
Anum schwieg kurz und richtete seine Blicke auf die Geschwister. Dann zuckte er die Schultern. »Gut, wenn du meinst … Für den Moment lassen wir sie am Leben.« Lilith fröstelte kurz. Und als sie sich zu viert in Bewegung setzten, um den unterirdischen Gefilden der heiligen alten Stadt zu entrinnen, überkam es sie wieder: Dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Lilith stockte kurz. Auf Rahel oder David konnte ihr Instinkt nicht mehr ansprechen. Auf wen aber dann? »Was ist?« fragte Anum. »Nichts«, sagte sie und strebte weiter mit ihm und den Kindern nach oben. Fremde Augen folgten ihr bis zum Haus der Chaims …
* I put a spell on you Because you’re mine. Screamin’ Jay Hawkins Tage zuvor, England, nahe eines sagenumwobenen Ortes Highgate Hall … Der Name war kaum mehr als Tünche, die Wahrheit verharmlosend und kaschierend. Was sich wirklich darunter verbarg, existierte offiziell nicht. Es war die Hölle auf Erden. Für jene zumindest, die dort zu leben gezwungen waren, aus dem einen oder anderen Grund. Allen anderen – all jenen also, die jenseits seiner Mauern leben durften – war Highgate Hall indes ein Segen. Weil er sie vor der Hölle bewahrte …
Simon Ludlow zählte nicht zu dieser priviligierten Mehrheit. Er mußte in Highgate Hall leben. Irgendwann einmal allerdings (es schien ihm eine Ewigkeit her oder wenigstens in einem anderen Leben geschehen zu sein) hatte er aus freien Stücken eingewilligt, sich hinter den trutzigen Mauern und dem hohen Tor, nach dem Highgate Hall einst benannt worden war, einschließen zu lassen. Inzwischen aber sah Simon Ludlow seinen damaligen Entschluß nicht mehr als freiwillig gefaßt an – vielmehr war er seinerzeit einem Dämon auf den Leim gekrochen … … jenem Dämon, der sich in knisternden Scheinen, in klingender Münze, in fetten schwarzen Zahlen auf Bankkonten verbarg – dem Dämon namens Geld. Heute verfluchte Simon Ludlow den Wohlstand, den ihm seine Einwilligung, nach Highgate Hall zu gehen, eingebracht hatte. Und er verabscheute sich für seine Schwäche damals, der Versuchung erlegen zu sein. Denn was nützte alles Geld dieser Welt an einem Ort der Verdammnis, wie Highgate Hall einer war? Und gab es überhaupt eine Summe, die hoch genug war, um das Seelenheil eines Menschen dagegen aufzurechnen? Simon Ludlow stöhnte wie vor quälendem Schmerz. Er hatte sich verkauft, ohne Zweifel – sich, seine Seele … sein ganzes Ich! Er hatte es Highgate Hall zum Fraße vorgeworfen, und die Aussicht, daß er es wiedererlangen würde, wenn er diesen Ort nach Ablauf seines Vertrages dereinst verlassen durfte, stand schlecht. Highgate Hall gab nichts von dem, was einmal hinter seinen Mauern eingesperrt war, je wirklich wieder frei. Denn allein zu diesem Zweck existierte Highgate Hall … Bevor Simon Ludlow erstmals seinen Fuß durch das hohe Tor und in die finsteren Hallen dahinter gesetzt hatte, war er tatsächlich dem Irrglauben erlegen, er würde die Herrschaft über Highgate Hall antreten.
»Verrückt muß ich gewesen sein. Wahnsinniger noch als –« Ein ebenso hohes wie hohles Kichern entrang sich seinem Halse, als er sich seiner damaligen Naivität entsann. Der Laut zupfte und zerrte wie mit nadelspitzen Knochenfingern an etwas, das tief in seinem Innersten steckte, und weckte es – schaudernmachendes Entsetzen … Denn Laute wie dieses Kichern sollten doch eher jene von sich geben, die in Highgate Hall buchstäblich weggesperrt waren – nicht aber er, dessen Aufgabe es war, dafür Sorge zu tragen, daß diese anderen weggesperrt blieben. Damit die Welt jenseits von Highgate Hall vor ihnen sicher war … Dr. Simon Ludlow nahm die Wanderung durch sein geräumiges Arbeitszimmer wieder auf, nachdem er eine ganze Weile an einem der deckenhohen Bogenfenster gestanden und in den nachtdunklen Park hinausgeblickt hatte, ohne dort zu entdecken, was er zu sehen erwartete (fürchtete …) – wie in so vielen Nächten zuvor. Früher oder später, dachte er bitter, wird sie kommen – von ihm! Galliges Lachen, alles andere denn belustigt, brannte ihm flüchtig auf den Lippen. Nachdem sie gekommen ist – mit ihm … Mit müden Schritten, die an einen Greis gemahnten, nicht aber an einen Enddreißiger, ging Ludlow in Richtung seines wuchtigen Schreibtisches, für den jeder Antiquitätenhändler von gutem Ruf ein kleines Vermögen gezahlt hätte; Simon Ludlow hätte ein größeres darum gegeben, würde er nie mehr dahinter Platz nehmen müssen … Mehr als dutzendfach begleitete er sich selbst, als er mit hängenden Schultern wie unter unsichtbarer Last dahinschlurfte – die Wände des Raumes, dessen Decke im Dunkel verschwand, waren zum größten Teil verspiegelt. Ludlow selbst hatte die Spiegel anbringen lassen; nicht, um das ohnedies schon saalartig große Zimmer optisch noch zu erweitern, sondern einzig um seines Bedürfnisses nach Gesellschaft willen. Die Reflektionen seines eigenen Bildes suggerierten
ihm wenigstens, nicht ganz so allein zu sein, wie er es in Highgate Hall tatsächlich war: einer unter vielen zwar, aber doch so einsam, als sei er der einzige Mensch auf dieser Welt. Und wirklich schien es ihm, von Tag zu Tag mehr sogar, als sei dies eben so: Simon Ludlow kam sich vor wie der einzige Mensch in dieser Welt namens Highgate Hall! Die anderen, die sie mit ihm bevölkerten – nun, sie würden nicht hier sein, wären sie Menschen wie die allermeisten anderen … außerhalb von Highgate Hall. Die Gesellschaft seiner Spiegelbilder diente Simon Ludlow darüber hinaus noch quasi als Entschuldigung für eine weitere Eigenart, die er im Laufe seines Hierseins entwickelt hatte: Selbstgespräche. Die gläsernen Abbilder seiner selbst sah er gleichsam als Zuhörerschaft an, vor deren Reihen er dozierte und philosophierte – oder schlicht sein Leid beklagte. »Ja, ich dachte, ich könnte Highgate Hall regieren«, nahm Ludlow den zuvor gesponnenen Faden wieder auf. »Statt dessen aber wurde ich zum Sklaven seiner Insassen. Sie beherrschen mich, und ich kann ihnen nicht entrinnen.« Er hob den Finger wie ein Lehrer vor seiner Klasse. »Oh, eines Tages werde ich gehen dürfen, zurück in die Welt, aus der ich einst gekommen bin. Aber diese Welt wird mich nicht wiedererkennen. Denn Highgate Hall hat einen anderen Menschen aus mir gemacht –«, Ludlow hielt kurz inne, blickte dann in imaginäre Fernen, als könne er dort die Welt draußen und sein Leben damals sehen wie etwas, das sich von ihm entfernte wie ein in Richtung des Horizonts entschwindender Zug, »einen Menschen, der möglicherweise nicht mehr imstande sein wird, in dieser anderen Welt zu leben. Denn das ist die Aufgabe Highgate Halls: jene, die hier sind, ihrem früheren Leben zu entfremden, auf daß sie es nie mehr führen können … Und Highgate Hall kennt dabei keinen Unterschied zwischen denen, die nur eine Zeitlang hier sind, und jenen, die bis an ihr Ende hierbleiben müssen.« Daß er von Highgate Hall wie von einem wirklichen Wesen
sprach, fiel Simon Ludlow schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf. So vieles, was ihm draußen absonderlich erschienen wäre, kam ihm hier selbstverständlich und normal vor. Er wandte sich wieder in Richtung der Fensterwand, und die Schar seiner Spiegelbilder machte die Kehrtwendung synchron und in gespenstischer Lautlosigkeit mit. »Ich fühle mich mehr als Gefangener als jene, die hier tatsächlich gefangen sind«, fuhr er dann fort. »Ich sollte mich als ihr Wächter fühlen, denn der bin ich doch eigentlich – aber ich kann es längst nicht mehr. Sie sind es, die mich hier festhalten … Sie sind der Fluch, der mich an Highgate Hall fesselt und –« Simon Ludlow unterbrach sich abrupt, als sein Blick abermals durch das Fenster hinaus in den Park schweifte. Mondschein bestrich die gepflegten Anlagen mit vagem Silberglanz, und zwischen den starren Schatten sorgfältig gestutzter Hecken und Sträucher war einer, der durch die Nacht tanzte wie eine Elfe, berauscht oder gar trunken vom milchigen Himmelslicht. »Sie gibt sich nicht einmal mehr Mühe, heimlich zurückzukommen …« Ludlows Schultern sanken noch tiefer. Sein wehes Seufzen malte sich sekundenlang als nebliger Fleck auf der Scheibe ab. Er löste den Blick von der schlanken Gestalt, die dort unten beschwingt über den Rasen lief, und hielt Ausschau nach weiteren Schatten, die durch die Nacht eilen mußten. Erfolglos. »Die Hunde«, flüsterte er, so leise, als wolle er nicht, daß seine Spiegelbilder ihn hörten. »Ich frage mich immer wieder, warum die Hunde nicht auf sie reagieren. Was tut sie mit ihnen, diese –«, ein kurzes Lächeln glitt über sein Gesicht, als habe er die Antwort auf seine Frage gefunden, »– Hexe!« Die Frau entschwand aus seinem Blickfeld, als sie den toten Winkel unterhalb des Fensters erreichte. »Manchmal hätte ich nicht übel Lust, ihr den Hals umzudrehen –«,
knirschte Ludlow. Tief unter ihm wurde das Portal des Westflügels geöffnet, die Kante rieb hörbar über den steinernen Boden der Eingangshalle. »– oder besser noch: ihm!« Die Tür fiel laut ins Schloß, das Geräusch pflanzte sich wie ferner Donner durch das Gemäuer fort. »Ich wünschte, ich könnte sie hassen –«, hauchte Ludlow. Hallende Schritte näherten sich über den Gang draußen seinem Arbeitszimmer. »– würde ich sie nur nicht so abgöttisch lieben.« Die Tür glitt auf, ließ einen gruftkalten Luftzug herein. Simon Ludlow drehte sich um, breitete die Arme aus. »Miranda, mein Liebes«, empfing er seine untreue Gattin in herzenswarmem Ton, aber solcherart lächelnd, als grinse da fleischgewordener Wahnsinn, der sich nur tarnte mit der Harmlosigkeit eines Simon Ludlow.
* Highgate Hall … Für die meisten war dieser Ort die Hölle auf Erden. Für einen allerdings war er – »Das Paradies«, flüsterte Derek Logan rauh, derweil er aus einem Fenster des gewaltigen Torhauses blickte, »kann nicht besser sein …« Die schlanke Gestalt huschte durchs Mondlicht in Richtung der Hauptgebäude, drehte sich noch einmal um, winkte Logan zu und entschwand schließlich seinen Blicken. »… nicht für mich jedenfalls«, ergänzte er, die Augen nicht von der Stelle wendend, wo seine ganz persönliche Versuchung just verschwunden war. Tief sog er die Luft ein, genoß den Duft, den Lust und Leiden-
schaft darin hinterlassen hatten, und hielt den Atem an, um auch den allerletzten Rest dessen, was sie getrieben hatten, noch zu genießen. Dann öffnete er das Fenster und ließ die Nacht den kaltgewordenen Schweiß auf seiner Haut trocknen. »Miranda, du Hexe«, grinste er, nicht ahnend, daß in dieser Sekunde nicht weit entfernt ein anderer dasselbe Wort im gleichen Zusammenhang benutzte – wenn auch mit anderer Bedeutung … Miranda Ludlow, jung, begehrenswert und gelangweilt, war das Sahnehäubchen auf Derek Logans ganz persönlichem Kuchen, der da Highgate Hall hieß. Draußen wäre er einer von den Bösen gewesen. Völlig zurecht, das bestritt Derek Logan nicht im Geringsten! Er hatte gemordet, aufs Hinterhältigste intrigiert und überhaupt so ziemlich alles auf dem Kerbholz, wofür einen das Gesetz mit mehrmals Lebenslänglich strafte – wenn man es nicht im Namen des Gesetzes tat … Derek Logan hatte all dies ausschließlich im offiziellen Auftrag Ihrer Majestät getan (tatsächlich freilich wußte die gute Liz wohl kaum, was da in ihrem Namen weltweit getrieben wurde). Seine »Versetzung« nach Highgate Hall war eine Folge davon gewesen, daß sein Gesicht nicht länger als »unverbraucht« gelten konnte. Der Feind kannte es – gut genug, um es im Falle eines Falles wiederzuerkennen, und das wiederum konnte »die gute Sache« gefährden. Also hatten die Chefs ihren »besten Mann« aus dem Außendienst abgezogen und in den Innendienst abgeschoben. Derek Logan hatte nichts dagegen – nicht, seit er Miranda Ludlow kannte … Und er genoß dieses neue Leben. Es gefiel ihm, zu den Guten zu gehören. In Highgate Hall war er sogar noch mehr als nur einer von den Guten, hier war er der Beste. Das war nach Derek Logans Meinung die treffendste Bezeichnung für seine Rolle in Highgate Hall. Tatsächlich war er der König dieser kleinen Welt. Er hatte das Sagen, er bestimmte die Regeln, er besaß die Schlüssel. Er war
wunschlos glücklich in Highgate Hall! Ein unerwartet frostiger Windstoß fuhr durch das Fenster und ließ Derek Logan unweigerlich frösteln. »Oh, das höre ich gar nicht gern.« »Was –?« Logan wirbelte herum. In der Bewegung federte er in die Knie und wich zur Seite, weg vom Fenster, gegen dessen helles Rechteck er ein prächtiges Ziel abgab. Reflexe, die ihm in jahrelangem Training und ebensolcher Praxis in Fleisch und Blut übergegangen waren, nahmen seinem Bewußtsein das Handeln ab. Sekundenbruchteile, die über Leben und Tod entscheiden und zum eigenen Vorteil genutzt werden konnten, ließen sich auf diese Weise gutmachen. Aus geschmälten Augen durchforstete Logan das Dunkel seines Schlafzimmers. Er fror, nicht aus Unsicherheit oder Angst, sondern schlicht der Kälte wegen, die ihm mit einem Mal von arktischer Qualität schien – und er wußte sehr wohl, wie kalt es dort war … »Zeig dich, Bastard!« knirschte er. »He, keine Beleidigungen!« kam es protestierend zurück, wie aus dem Nichts. Derek Logan wechselte geräuschlos die Position. Blind streckte er den rechten Arm zur Seite. Seine Finger berührten kühles Metall. Eine rasche Bewegung, dann spürte er das beruhigende Gewicht einer Pistole in seiner Hand. Entlang der Fensterfront (und nicht nur dort) lag eine Reihe von Schußwaffen parat. Nicht etwa, weil es in Highgate Hall solcher Art der Verteidigung zwingend bedurfte (dafür gab es hier andere Maßnahmen), sondern aus alter Gewohnheit. Die Pistolenmündung vollzog die Wanderung von Logans Blicken nach. Das Ziel erkennen und feuern wäre eins gewesen – hätte er sein Ziel nur erkannt! Aber das Zimmer lag unverändert vor ihm, und in den wenigen Schatten rührte sich nichts, zeichnete sich keine noch so geringe Auffälligkeit ab. Träumte er? Einen Moment lang war Derek Logan überzeugt, daß
es nicht anders sein konnte – er mußte am Fenster eingenickt sein, versunken in die Erinnerung an das, was er mit Miranda Ludlow (und sie mit ihm) angestellt hatte … … aber das war Unsinn! Er fror in dieser Scheißkälte! Er fühlte die Schwere und die Kühle der Waffe in seiner Hand! Und er hörte diese verdammte Stimme – »Leg das Ding ruhig weg«, sagte sie jetzt, gänzlich ungerührt, im lockersten Plauderton. »Würde nur wahnsinnig Krach machen, wenn es losginge.« Ein amüsiertes Kichern folgte. »Wahnsinnig Krach machen – schönes Wortspiel, nicht? Ich meine, paßt doch irgendwie hierher an diesen … gastlichen Ort, oder?« In der nächsten Sekunde machte die Pistole wahnsinnig Krach! Höllenlärm! Derek Logan hatte abgedrückt, in die Richtung gehalten, aus der er glaubte, daß die Stimme kam – – und während der Nachhall des Schusses noch in seinen Ohren dröhnte, brüllte ihm jemand scheint’s direkt gegen das Trommelfell, das unangenehme Klingeln mühelos übertönend: »Hab’ ich es nicht gesagt?« Logan fuhr herum, die Waffe schwang mit herum – und wurde ihm noch in der Bewegung aus den Fingern gepflückt … »Verdammt, wer bist du?« zischte Derek Logan – und fluchte noch mehr, als sein blitzschnell geführter Fausthieb ins Leere ging. Vom eigenen Schwung getrieben, stürzte er vornüber. Eine Ausweichbewegung des jungen Kerls hatte er nicht registriert. Er war einfach – weg gewesen! Nur einen Schritt entfernt zwar, aber weit genug, daß Logans Schlag ins Leere gegangen war. Jetzt trat der fremde Bursche einen weiteren Schritt zurück und sah, tadelnd den Kopf schüttelnd, auf Derek Logan hinab. »Laß die Mätzchen«, sagte er milde und ergänzte dann so streng, daß Logan tatsächlich jedes weitere Angriffsmanöver sein ließ: »Wir haben zu reden!«
Derek Logan, noch immer nackt und jetzt wieder mit schweißnasser Haut, richtete sich vorsichtig auf, den anderen nicht aus den Augen lassend. Er schätzte ihn altersmäßig auf achtzehn Jahre, knapp darunter oder darüber vielleicht. In seinen Zügen indes verbarg sich auf eigenartige Weise etwas, das älter schien als alles, was Derek Logan je gesehen hatte … Die schlanke Gestalt des jungen Mannes verriet Kraft, die sich jedoch nicht in übermäßig ausgeprägter Muskulatur äußerte. Sehnig zeichneten sich die Konturen seines Körpers unter der hautengen Kleidung ab. Woher er gekommen und wie es ihm möglich war, seine Standort zu wechseln, ohne sich sichtbar zu bewegen, interessierte Logan beinahe mehr als der Grund seines Hierseins. Deshalb fragte er zunächst: »Was soll das? Wie machst du –«, er suchte nach dem passenden Wort, fand es nicht und endete schlicht mit: »– das?« Wie ein Raubtier in Lauerstellung rückte Logan etwas von dem anderen ab. Der Fremde zuckte leichthin die Schultern und lächelte. »Jeder hat so seine Eigenheiten.« »Was willst du?« fragte Logan. »Reden. Verhandeln. Ein Geschäft machen.« »Welcher Art sollte ein Geschäft sein, das wir beide miteinander eingehen könnten?« hakte Derek Logan mißtrauisch nach. »Oh, ganz einfach«, erklärte der andere. »Es gibt etwas, das du für mich tun kannst – und ich kann alles für dich tun.« »Ich verstehe nicht …« Meckerndes Gelächter erfüllte den Raum. Es brach sich an den Wänden auf unmögliche Weise zu hundertfachem Echo und ging auf Derek Logan nieder wie Hagel. Unwillkürlich duckte er sich darunter, und als ihm seine Reaktion bewußt wurde, maß er den Fremden mit anderem Blick. Auch sein Tonfall veränderte sich, Ehrfurcht und echte Furcht stahlen sich hinein, als er noch einmal fragte: »Verdammt, wer bist
du?« Und nach kurzem Zögern präzisierte er: »Oder vielmehr – was bist du?« »Ich sehe, du beginnst zu begreifen«, lobte der andere. »Das ist keine Antwort.« »Gemach, gemach«, sagte der Fremde mit beschwichtigender Geste. »Belassen wir es vorerst dabei, daß du mich Gabriel nennen kannst, einverstanden?« »Ganz und gar nicht!« protestierte Derek Logan ungehalten. Seine Angst verdrängte er, wie schon so oft und in tausend verschiedenen Situationen, in denen andere allein vor Angst gestorben wären. »Ich will wissen, was das hier für ein Spielchen werden soll!« »Das hängt ganz von dir ab«, erwiderte Gabriel. »Es könnte ein für beide Seiten vergnügliches Spielchen werden, wenn du mich als deine –«, er schien einen Moment lang zu überlegen, »– sagen wir mal … Wunschfee ansiehst. Wenn nicht, dann wird unser Spielchen nur für mich amüsant.« »Was redest du da für ‘ne Kacke, du Pinscher?« fuhr Logan den anderen an – – mit dem augenblicklich eine erschreckende Wandlung vorging! »Na gut, wie du willst!« Die Worte kamen grollend wie aus tierischer Kehle aus seinem eben noch so sinnlichen Mund, der plötzlich zum Maul wurde. Stinkender Brodem wehte Logan entgegen. Das Gesicht seines Gegenübers verzerrte sich zu einer grauenhaften Grimasse, wie normales Mienenspiel sie nicht erschaffen konnte. Und die ganze Gestalt schien zu wachsen, ohne dabei wirklich an Größe zu gewinnen. Es war, als trete nur die Kraft, die Logan schon zuvor in diesem Körper vermutet hatte, an die Oberfläche. Trotzdem geriet Derek Logan nicht in Panik; fast ungerührt hielt er dem furchtbaren Anblick stand – oder sein Entsetzen zumindest erstaunlich gut im Zaume … »Ich hab’ schon häßlichere Kreaturen als dich gesehen«, sagte er
kalt. »Spuck’s endlich aus, was du willst – oder verpiß dich!« Die Kreatur nahm den Schädel zurück, stieß ihn ruckartig wieder vor – und spuckte tatsächlich aus! Eiterfarbener Schleim klatschte zielgenau vor Logans nackten Zehen zu Boden und fraß sich ätzend und stinkend durch Teppich und Parkett. Derek Logan rührte sich nicht. Gabriel legte wieder die Maske der Harmlosigkeit an. »Du bist nicht leicht zu beeindrucken«, befand er, und echte Anerkennung schwang in seiner Stimme mit. »Also?« fragte Logan knapp. Gabriel nickte. »In Ordnung. Hör zu, ich habe dir folgenden Handel vorzuschlagen …« Dann legte er Derek Logan in knappen Worten dar, was er von ihm zu tun verlangte. »… und im Gegenzug bin ich bereit, dir einen Gefallen zu erweisen. Mehr noch: einen Herzenswunsch zu erfüllen. Nun, was meinst du dazu?« Derek Logan schwieg. Er wandte sich um, ging ein paar Schritte, blieb am Fenster stehen, blickte hinaus in die Nacht. Als könne sein Blick Dunkelheit und Ferne überwinden, sah er alles, was Highgate Hall war und bedeutete – für ihn. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich um und schaute zu Gabriel. »Ich weiß noch immer nicht, wer oder was du bist«, sagte er. »Aber selbst wenn ich an deine Macht glauben würde – es gibt nichts, das du für mich tun könntest.« Gabriel lachte trocken auf. »Das kann nicht sein! Jeder Mensch hat Wünsche – irgend etwas, das er haben möchte, aus eigener Kraft aber nicht erringen kann.« »Dann siehst du dich der berühmten Ausnahme von der Regel gegenüber«, sagte Logan. »Ich bin wunschlos glücklich!« Der Jüngling wies zum Fenster hin, und Logan wußte, daß er mit
seiner Geste ganz Highgate Hall meinte. »An einem Ort wie diesem? Wunschlos glücklich als normaler Mensch? Unmöglich!« Derek Logan hob die Schultern. »So ist es aber. Vielleicht war ich ja an zu vielen anderen Orten dieser Welt zu oft unglücklich, so daß mir Highgate Hall wie mein ganz persönliches Paradies erscheint.« Sein Ton gewann etwas Lauerndes, als er fortfuhr: »Wenn es aber so ist, wie du sagst – wenn dir tatsächlich nichts unmöglich ist … weshalb solltest du dich dann meiner Hilfe bedienen müssen?« »Aus Gründen, die für dich nicht von Belang sind. Dich hätte nur zu interessieren, was ich für dich tun könnte – aber wer nicht will …« Gabriel ließ den Rest unausgesprochen. Als sei sein Interesse an Derek Logan so rasch erloschen, als habe man es schlicht ausgeschaltet, wandte der junge Mann sich zum Fenster um und sah hinaus. Sein Blick aber reichte sichtlich weiter, als die Gegebenheiten es zuließen. Logan konnte förmlich spüren, daß der andere mehr sah, als er selbst zu sehen imstande war. Und darüber hinaus schien dieser Gabriel mit all seinen anderen Sinnen in die Nacht hinauszutasten, zu lauschen und zu fühlen. »Ich werde jemanden finden, der sich meinem Angebot gegenüber dankbarer zeigen wird als du«, erklärte er schließlich. Er trat einen Schritt auf Derek Logan zu, der automatisch eine angespannte Haltung annahm. »Keine Sorge. Ich werde dir nichts tun.« Gabriel grinste abfällig. »Ich bin nicht der Typ, der sich gerne die Finger schmutzig macht.« »Das klingt nach einer Drohung«, befand Logan, und diesmal vermochte er sein Unbehagen nicht gänzlich zu verbergen. Der unheimliche Jüngling lachte auf. »Als ob ich es nötig hätte zu drohen. Du unterschätzt mich …« Dann verschwand er. Weit weniger heimlich, als er aufgetaucht war. Effektvoll, beeindruckend. Angstmachend. Wo er eben noch gestanden hatte, füllte sich das Vakuum, das sein Abgang hinterließ, fauchend mit Luft.
ZZZUUUWWW!
* Simon Ludlow nahm seine zierliche Frau so sanft in die Arme, als fürchte er, sie könne unter jeder kräftigeren Berührung zerbrechen – – und automatisch fiel ihm Derek Logan ein, der nichts und niemanden sanft oder zärtlich berühren konnte. Was er auch tat, war von seiner Kraft geprägt, und auch Miranda packte er zweifelsohne hart an – dieser Dreckskerl! Ist es das, was sie Nacht für Nacht zu ihm treibt? fragte er sich selbstquälerisch. Will sie so genommen werden, wie nur Männer vom Schlage eines Derek Logans Frauen nehmen? Er schluckte, ohne den bitteren Geschmack aus seinem Mund vertreiben zu können. Miranda lehnte sich gegen ihn, nicht anschmiegsam, sondern müde, beinahe erschöpft, als habe sie ihre Kraft anderswo gelassen. Bei ihm! durchzuckte es Simon Ludlow. Wie ich ihn verabscheue … Er grub sein Gesicht in Mirandas nachtschwarzes Haar, roch vage den Duft ihres Shampoos – und deutlich seinen Geruch: herb wie Moschus, wie von einem brünftigen Tier. Abknallen sollte man ihn, dachte Ludlow bitter, wie einen räudigen Köter! Wäre ich bloß Manns genug, es zu tun! Ich gäbe alles – »Simon?« Er hob erschrocken den Kopf, und ein Dutzend anderer Simon Ludlows tat es ihm gleich. Geisterhafte Bewegung schien durch den Raum zu gehen. »Was ist?« fragte er rauh. »Du sagtest etwas«, antwortete Miranda. »So undeutlich, daß ich dich nicht verstanden habe.« »Schon gut«, erwiderte er, »es war nicht wichtig.«
Ich muß aufpassen, dachte er, sich fest darauf konzentrierend, seine Gedanken nicht laut auszusprechen. In Mirandas Gegenwart mußte er von seiner Angewohnheit des Selbstgespräches lassen. Er wollte ihr nicht verraten, daß er über ihre nächtlichen »Ausflüge« zu Derek Logan Bescheid wußte, weil er fürchtete, sie ganz und gar an diesen Bastard zu verlieren, wenn er ihr deswegen eine Szene machte. Und das durfte nicht geschehen. Niemals! Denn Miranda war der letzte Halt, den er in Highgate Hall hatte. Wenn sie ihn fallenließ, würde er tief stürzen – und dort landen, wo sich die Insassen (Patienten! verbesserte sich der Mediziner in Gedanken) Highgate Halls schon befanden: in den Schründen des Wahnsinns … »Du solltest zu Bett gehen«, drang Mirandas Stimme an sein Ohr, und die Sorge darin schien echt. »Du wirkst müde – nein, das ist nicht wahr: Du siehst furchtbar aus, Simon.« Er löste sich behutsam von ihr, drehte sich um und fand in seinen Spiegeln ihre Worte bestätigt. Er sah aus wie ein greisenhaftes Abbild seines früheren Selbst! Keine Spur war mehr zu entdecken von dem jungenhaften Doktor der Psychiatrie, der vor Jahresfrist voller Enthusiasmus die leitende Funktion in Highgate Hall übernommen hatte, voller Tatendrang und willens, die Welt zu verbessern oder gar zu retten – diese kleine Welt hier, die sich hinter dem hohen Tor vor der Realität draußen versteckte. Simon Ludlow seufzte schwer. Er war gescheitert. An jedem einzelnen Ziel, das er sich gesteckt hatte. Highgate Hall hatte ihn besiegt. Und der enthusiastische, energiegeladene Doktor, der er einmal gewesen war, lag längst – zerrissen und geschlagen – eingesperrt in den Zellen und Zimmern inmitten all der bedauernswerten Menschen, denen zu helfen er nach Highgate Hall gekommen war. Simon Ludlow hatte sich überschätzt. Oder einen Ort wie Highga-
te Hall unterschätzt. Was er einmal gewesen war, was ihn ausgemacht hatte – all das hatte er an Highgate Hall verloren. Und jetzt wollte ihm diese Hölle auch noch nehmen, was ihm als letztes geblieben war. »Miranda …« »Ja?« Abermals schrak Simon Ludlow wie aus dem Schlaf hoch. Wieder hatte er nicht gemerkt, daß er laut ausgesprochen hatte, was er lediglich hatte denken wollen. Er versuchte ein Lächeln aufzusetzen, kontrollierte es in den Spiegeln und mußte sich eingestehen, daß er mehr als ein klägliches Verziehen der Lippen nicht zustande brachte. Die Geste mußte Miranda eher erschrecken denn beruhigen – und so war es auch. Seine Frau rückte unwillkürlich ein kleines Stück von ihm ab, als er sich ihr endlich zuwandte. »Es geht mir gut«, log er. »Bin nur ein wenig abgespannt vielleicht …« Miranda senkte den Blick. »Wir hätten nicht nach Highgate Hall kommen dürfen. Niemals.« Er ging zu ihr, berührte sie, aber sie entzog sich seiner Umarmung. »Was redest du da?« fragte er. Es gelang ihm, sein Erstaunen einigermaßen echt klingen zu lassen. »Es war richtig, diese Stelle anzunehmen. Ein solches Angebot bekommt man nur einmal im Leben. Und wenn wir Highgate Hall verlassen, können wir uns zur Ruhe setzen, Miranda! Davon haben wir doch geträumt, oder? Du hattest dich doch so darauf gefreut –« Sie sah ihn nicht direkt an. Über die Spiegel allerdings erreichte sein Blick den ihren. Sie wich ihm aus, aber er fand ihre Augen immer wieder. Bis sie schließlich die Lider schloß und den Kopf senkte. »Mir scheint, als würde die Zeit nicht vergehen und das Ende unserer Zeit hier nie kommen. Ich ertrage es nicht –« Rasch trat er zu ihr. Sein Finger versiegelte ihre Lippen.
»Pst«, machte er. »Sag so was nicht. Es wird alles gut –« »Sieh dich doch nur an, Simon!« wurde Miranda laut. »Glaubst du ernsthaft, du würdest je wieder die Kraft finden, irgendeinen Traum zu verwirklichen? Du hast sie doch längst schon begraben, unsere Träume!« »Das ist nicht wahr.« »Du betrügst dich selbst.« »Und –« Er biß sich hastig auf die Zunge. Und du? hatte er fragen wollen. Betrügst du mich nicht? Aber das durfte er ihr nicht sagen, niemals! Alles wäre vorbei, sein Leben des letzten Sinns beraubt! Er lächelte tapfer. Seine Augen brannten. Ein stacheliger Kloß verschloß ihm den Hals. »Was, Simon?« forderte Miranda ihn zum Weiterreden auf. »Was wolltest du sagen?« »Nichts«, brachte er erstickt hervor, »schon gut.« Er strich ihr übers Haar. »Vielleicht solltest du schon zu Bett gehen, mein Liebes, hm? Ich komme dann nach.« Er wies hinter sich zum Schreibtisch. »Ich habe noch zu arbeiten, aber es dauert nicht lange.« Ohne eine Erwiderung ihrerseits abzuwarten, ging er und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, wo er sich in eine Akte vertiefte, die er wahllos aus einem Stapel zog. Er wollte nicht länger mit Miranda sprechen – weil er wußte, daß jene Dinge zur Sprache kommen würden, die unausgesprochen bleiben mußten, wenn sie auch nur noch ein Wort miteinander wechselten. Miranda stand reglos da und sah zu ihm herüber. Aber sie sagte nichts. Als hege sie dieselben Befürchtungen wie er. Dann, endlich, ging sie. Als die Tür hinter ihr ins Schloß klappte, stieß Simon Ludlow aufstöhnend die Akte von sich und vergrub das Gesicht in beiden Händen, um sein Schluchzen zu dämpfen. »Könnte ich nur etwas tun«, flüsterte er. »Wäre ich nur ein Mann, der um sein Liebstes kämpfen kann! Aber ich bin nichts weiter als –«
Ein eisiger Wind fauchte durch das Zimmer. Simon Ludlow schauderte, ohne aufzusehen. Das tat er erst, als er die Stimme hörte. »– ein Mann, dem geholfen werden kann!« »Aber –?« setzte Ludlow an. Er schluckte heftig, zitterte, blinzelte in rascher Folge, als könne er das Bild vertreiben, das doch nur Illusion sein konnte. Niemand, kein Fremder durfte und konnte Highgate Hall betreten – und doch war einer hier! Denn die Gestalt dieses sonderbaren jungen Mannes blieb bestehen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Und –« »– und wie komme ich hier herein«, fiel ihm Gabriel ins Wort. »Ja, ja, ich weiß. Immer dieselben Fragen. Ermüdend ist das.« Ludlows Hand tastete unter die Schreibtischkante nach einem verborgenen Knopf. »Ich werde –« »Das sollten Sie nicht tun«, meinte Gabriel, und tatsächlich erstarrte Ludlow. »Reden Sie endlich!« verlangte er dann, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Genau deshalb bin ich ja hier«, erklärte der junge Mann. »Wir haben zu reden, Sie und ich.« »Worüber?« Wie auf einem Nebengleis seines Denkens wunderte sich Ludlow darüber, daß er die Anwesenheit und Unverfrorenheit des Fremden einfach hinnahm. »Übers Geschäft.« Nur Minuten später reichten die beiden so ungleichen Männer einander die Hand. Sie hatten etwas gefunden, was sie füreinander tun konnten. Ihr Händedruck war mehr als eine bloße Geste. Kräfte flossen in dieser Sekunde, wurden verschoben, teilten sich … Dinge geschahen, für die es auf Erden keine Erklärung gab. Und Dr. Simon Ludlow war in diesem Moment voll und ganz der Überzeugung, aus diesem Geschäft den größeren Nutzen zu ziehen. Weil kein Preis den wirklichen Wert dessen aufwiegen konnte, was
er gerade gewonnen hatte – zurückgewonnen hatte … … sein Leben.
* »O mein Gott – Simon!« Miranda Ludlow jauchzte förmlich. »Was ist nur in dich gefahren? So kenne ich dich ja gar nicht …!« Schweiß lief ihm in schmalen Bächen über Gesicht, Rücken und Brust und tropfte auf Mirandas nackte Haut hinab, während er sein Becken kräftig gegen das ihre stieß, wieder und wieder. Fast erwartete er, daß sein Schweiß auf ihrem Leib verdampfen würde, so heiß schien ihm seine Frau. »Gut so?« schnaufte er, ohne innezuhalten. »Ist es das, was dir gefällt, he?« »Simon, du …«, das bewußte Wort ging in einem Stöhnen Mirandas unter, »… wie der Teufel!« »Das will ich hoffen«, gab er zurück. Er ließ von ihr ab. »Los, dreh dich um.« Sie gehorchte und reckte ihm ihre knackige Kehrseite entgegen. Ludlows Finger gruben sich so hart in ihre Hinterbacken, das sie abermals aufstöhnte. Derb zog er sie zu sich heran und drang erneut in sie. Seine Kraft schien ihm selbst unerschöpflich. Er war überzeugt, daß er bis zum Morgengrauen so hätte weitermachen können. Hätte es da nicht etwas gegeben, daß er noch vor Tagesanbruch erledigen wollte. Nein, verbesserte er sich im stillen, nicht etwas, sondern jemanden, den er erledigen wollte … Miranda bebte in seinem Griff wie unter Fieberschauern. Simon Ludlow hielt nicht länger an sich, ließ sich gehen, ließ es kommen. Er biß die Zähne zusammen, um den Schrei nicht über seine Lippen zu lassen. Es tat fast weh. Ihm war, als ströme Lava aus
seinem Glied, heiß wie die Hölle selbst in ihren feurigsten Klüften. Wortlos erhob er sich dann und kleidete sich an. »Simon?« fragte Miranda erschöpft. »Was tust du? Bitte, laß mich jetzt nicht allein …« »Tut mir leid«, log Simon Ludlow. Er bedauerte es nicht, daß er seine Frau so zurückließ. Warum auch? Sie würde fortan immer für ihn da sein, auf ihn warten, ganz gleich, was er auch tat. Anschmiegsam wie ein Kätzchen und gehorsam wie ein wohlerzogenes Hündchen würde Miranda ab jetzt sein, das hatte ihm sein »Partner« zugesichert. Und sie war es! Aber … hatte das noch mit Liebe zu tun? ging es Ludlow durch den Sinn, und er spürte einen Schmerz im Herzen, als habe man ihm eine Nadel hineingestoßen! Aber der Schmerz verging, gefror in der Kälte seiner Brust, und in seinem Kopf wurde Platz für andere Gedanken. Wichtigere Gedanken. Er hatte Miranda nur deshalb im Schlafzimmer aufgesucht, weil er sich davon überzeugen wollte, daß er nicht betrogen worden war, was ihren versprochenen Sinneswandel anbetraf. Nun, diesen Teil des Paktes jedenfalls hatte der andere eingehalten. Jetzt konnte Simon Ludlow den größeren, den bedeutsameren Part in Angriff nehmen … »Simon, wohin gehst du?« Mirandas Stimme klang kläglich wie die eines verletzten Kindes. Ludlow war sich nicht mehr ganz sicher, ob er seine Frau nie würde hassen können … Schweigend verließ er den Raum. Draußen auf dem Korridor nahm er auf, was er zuvor dort deponiert hatte. Gabriel hatte es ihm in die Hand gedrückt. Schwer lag die Pistole in Simon Ludlows Hand. Spielerisch visierte er im Dämmer der Notbeleuchtung über den aufgeschraubten
Schalldämpfer die altehrwürdigen Porträtgemälde an, die sich beiderseits an den Wänden des Flures aneinander reihten. Bislang hatten sie die Gesichter von Männern gezeigt, die Simon Ludlow nicht kannte. Heute Nacht sah er in den reich verzierten Rahmen nur ein Gesicht. Eines, das er kannte und haßte. »Peng! Peng! Peng!« Ludlow gab einen imaginären Schuß nach dem anderen ab, und jeder saß in seiner Phantasie im Ziel – – genau zwischen Derek Logans Augen. Ludlow ließ die Waffe sinken, grinste und ging. Um zu tun, was ein Mann tun mußte. Und wozu er endlich die Kraft und den Mut gefunden – oder vielmehr: bekommen hatte.
* Derek Logan schloß gewissenhaft die Tür hinter sich und aktivierte den elektronischen Sicherungscode, indem er eine Plastikkarte durch den Schlitz einer entsprechenden Vorrichtung zog. Die Karte war an einem metallenen Kettchen befestigt, und das wiederum streifte sich Logan über den Kopf, damit es wie gewohnt um seinen Hals hing. Einen sichereren Platz gab es nicht für das unscheinbare, aber hochgradig brisante Stück Plastik. Denn wer es ihm abnehmen wollte, würde dieses Ziel nur über Derek Logans Leiche erreichen – und am Versuch, ihn töten zu wollen, waren schon die gerissensten Killer dieser Welt gescheitert … Logan ließ das Kärtchen an der Kette im Hemdausschnitt verschwinden und stieg dann aus dem Kellerraum die Treppe hinauf ins Torhaus, das sein Zuhause geworden war, seit er seinen Dienst in Highgate Hall angetreten hatte. Das Torhaus hieß so, weil es
praktisch das gewaltige Portal in der Mauer um Highgate Hall umrahmte. Im Grunde genommen handelte es sich dabei um zwei Türme, die links und rechts des Tores aufragten und oben durch einen befestigten Wehrgang verbunden waren. Die Zimmer innerhalb dieser Türme lagen übereinander und waren durch Wendeltreppen erreichbar, die von einem ins andere führten. Unter dem Torhaus befand sich das Herz von Highgate Hall. Ein vergleichsweise winziger Raum nur, der jedoch von größter Bedeutung war für die gesamte Einrichtung. Und einzig Derek Logan besaß den Schlüssel dazu – zur Tür des Raumes und für all das, was dahinter versteckt lag. Er war der Herr über Highgate Hall, Torwächter und Schlüsselmeister in Personalunion. Und mithin wichtiger als alle anderen hier – wichtiger beispielsweise auch als Dr. Simon Ludlow. Derek Logan lachte gehässig, als er an Ludlow dachte. Sie hatten beide zur gleichen Zeit ihre Jobs in Highgate Hall angetreten (zusammen mit einem knappen Dutzend weiterer Mitarbeiter; die Belegschaft wurde nach Vertragsablauf stets komplett ausgetauscht). Aber Ludlow hatte das vergangene Jahr im Gegensatz zu Logan beinahe das Genick gebrochen – na, zumindest hatte es Ludlow als Mann gebrochen. Der arme Kerl war nur noch ein Schatten seiner selbst, und nicht einmal Miranda vermochte ihn mehr aufzurichten … … was Derek Logan in Gedanken durchaus zweideutig meinte. Er grinste über sein gelungenes Wortspiel. Als er die Tür passierte, die hinaus in die Parkanlage führte (und durch die Miranda zu kommen und zu gehen pflegte, wenn sie erst einmal gekommen war … Logan grinste erneut), sah er kurz auf seine Armbanduhr. Es war noch nicht an der Zeit für seinen nächsten Rundgang; aber wenn er ihn jetzt schon antrat, würde seine anschließende Ruhephase länger sein – und die konnte er brauchen! Miranda war unersättlich und zehrte buchstäblich an seinen Kräften. Außerdem –
»Was war da noch?« Logan blieb stehen, rieb sich die Stirn, überlegte angestrengt. Irgend etwas Ungewöhnliches war heute Nacht doch noch gewesen – nur was? Ihm war, als habe man ihm die Erinnerung buchstäblich aus dem Schädel gesaugt, einfach so – – ZZZUUUWWW! Derek Logan schauderte, ohne mehr zu wissen, weswegen … Als er wieder zu sich fand, bewegte er sich bereits über taufeuchten Rasen, der ihm die Schuhe näßte. Nirgends waren die Nächte stiller als auf Highgate Hall. Die Natur selbst schien den Atem anzuhalten jenseits der trutzigen Mauern, die sich als weiter Ring um das Anwesen zogen. Nur wenn man den Hauptgebäuden nahekam, wurde die Stille gestört; erst kaum wahrnehmbar, dann immer lauter, und schließlich war es, als laufe man geradewegs auf die Hölle zu, wo verdammte Seelen im Fegefeuer wimmerten. Gespenstisch war der Chor, der durch die Nacht sang, und auch nur ansatzweise ängstliche Gemüter hätten kehrtgemacht, noch bevor sie auf Steinwurfweite an die Bruchsteinbauten herangekommen wären. Derek Logan kannte solche Furcht nicht. Zum einen hatte er schon Schlimmeres gehört und gesehen, zum anderen war er nach mittlerweile einem Jahr auf Highgate Hall beinahe schon taub für das Geheule dieser armen Irren … Patienten, Mr. Logan! hätte Simon Ludlow ihn ob dieser Bezeichnung gemaßregelt und: Diese Menschen sind unsere Patienten, Mr. Logan, und wir sind hier, um ihnen zu helfen. Nun, er, Logan, war ganz gewiß nicht hier, um diesem armseligen Haufen zu helfen. Sein Job bestand darin, dafür zu sorgen, daß sie Highgate Hall nicht verließen – sie nicht, und auch jene nicht, die hier waren, »um ihnen zu helfen«. Wie geronnene Schatten ragten die Gebäude vor Derek Logan in
die Nacht auf. Kälte schien von ihnen auszuströmen, als bestünden sie aus schwarzem Eis. »Ich entdecke hier noch eine poetische Ader in mir«, sagte Logan zu sich selbst. Er blieb stehen und ließ den Blick wandern. Nichts regte sich zwischen den verschiedenen und unterschiedlich großen Bauten. Natürlich nicht. Es hatte sich ein ganzes Jahr lang nichts geregt, wenn er nachts seine Patrouillen lief. Das machte den Job ja so angenehm. Derek Logan absolvierte seine Rundgänge nicht nach einem bestimmten System. Er entschied intuitiv, welches der Gebäude er als erstes betrat. Diesmal entschied er sich für den Westflügel. Darin waren keine Patienten untergebracht, nur eine Reihe von Untersuchungszimmern – und die Räume, die Simon Ludlow und seine hübsche Miranda bewohnten. Logan liebte es, am Schlafzimmer der Ludlows vorbeizugehen, ohne sich Mühe zu geben, besonders leise zu sein. Manchmal ging er vor der Tür auch auf und ab, bis er hörte, wie Simon Ludlow dahinter aus dem Schlaf schreckte. Ja, danach stand ihm auch heute der Sinn! »Simon«, flüsterte Logan rauh, während er schon auf das Portal zuging, »es ist Zeit für Alpträume – und hier kommt dein schlimmster!« Er lachte heiser. Seine rechte Hand umfaßte den schmiedeisernen Türgriff, und seine linke suchte in der Hosentasche nach dem passenden Schlüssel – – als die Tür aufgezogen wurde! Die Gestalt hinter der Schwelle erkannte Derek Logan erst im Licht des Mündungsfeuers. Der Schuß selbst war nicht mehr als ein halblautes »Plopp«. »Ludlow?« Sein Staunen war größer als der Schmerz, der sich glühend in seine Brust fraß.
Simon Ludlows regloses Gesicht verschwand für Derek Logan in schwarzem Nebel. Wie auch der Rest der Welt … Ludlow steckte die Pistole in den Hosenbund und beugte sich zu Logan hinab. Er riß ihm das Hemd vor der Brust auseinander, teilte damit den größer werdenden Blutfleck darauf und riß ihm das Kettchen vom Hals. Die daran befestigte Plastikkarte säuberte er gewissenhaft an Logans Kleidung, dann lief er los. Simon Ludlow hatte alles bekommen, was ihm versprochen worden war. Jetzt war es an der Zeit, sein Versprechen einzulösen.
* Milton Banks tat, was er die allermeiste Zeit über tat: Er hing Erinnerungen nach. Erinnerungen, die nicht seine eigenen waren. Nicht mehr. Seit sie sie ihm genommen hatten … Er saß in seinem behaglich mit Stilmöbeln eingerichteten Zimmer und blätterte in Alben, die Fotos enthielten, wie sie in keinem Familienalbum der Welt zu finden waren. Er las zum x-ten Male Kopien von Polizeiberichten und Zeugenaussagen und alter Zeitungsausschnitte. Allesamt hatten sie ein- und dasselbe Thema. Ein grausiges, widerwärtiges, eines, vor dem auch Milton Banks ekelte – – obschon er selbst dieses Thema war. Milton Banks. Der Serienmörder. »Der Killer, der seine Opfer zum Fressen gern hat«, wie ein Boulevardblatt damals geschmacklos getitelt hatte – wenn auch nicht ganz unzutreffend. Denn Milton Banks hatte Teile der von ihm Ermordeten gegessen – nicht roh, sondern nach Rezepten aus aller Welt zubereitet, die er nach seinen Bedürfnissen geringfügig abgeändert hatte, indem er
beispielsweise für sein Irish Stew nicht Lammschulter verwendet hatte, sondern – Schnell, aber nicht hastig erhob sich Milton Banks aus seinem bequemen Ohrensessel, ging ins angegliederte Badezimmer und übergab sich in die Toilettenschüssel. Sorgfältig spülte er dann am Waschbecken seinen Mund aus und tupfte sich die Lippen trocken. Dabei betrachtete er sich im Spiegel (aus bruchfestem Glas) darüber, und er tat es, als schaue er in ein fremdes Gesicht. Tatsächlich war ihm Milton Banks fremd – jener Milton Banks zumindest, von dem in diesen Berichten und Artikeln die Rede war und dessen übel zugerichtete Opfer die Schwarzweißfotos zeigten; während er mit dem heutigen Milton Banks nie recht vertraut geworden war … So gesehen, resümierte Banks, bin ich ein Niemand, ein Neutrum – nicht mehr der, der ich war, und nicht der, der ich heute sein sollte. Weder Fleisch noch Fisch … Fisch …, dachte er und entsann sich ungewollt eines Rezeptes für Forellenmousse mit roter Butter, bei dem er – Milton Banks beugte sich zur Seite und spie abermals ins Klosett. Er hatte sich an das Rezept nicht wirklich erinnert, nicht in dem Sinne jedenfalls, daß er sich des betreffenden Vorfalls erinnerte … aber eine Zeitung hatte sich seinerzeit nicht entblödet, Milton Banks spezielle Rezepte zu veröffentlichen, freilich versehen mit dem Hinweis Bitte nicht nachkochen … Er besaß diese Erinnerungen nicht mehr. Er wußte nicht mehr, wie es gewesen war, jener Milton Banks gewesen zu sein. Aber sie hatten ihn nicht im unklaren darüber gelassen, daß er dieser Milton Banks gewesen war. Sie – diese weißbekittelte Hydra, deren Gesichter regelmäßig wechselten. Dr. Ludlow war nur das aktuelle, andere würden ihm folgen. Sie hatten ihm all diese Unterlagen besorgt und so lange in seinem
Zimmer gelassen, bis er nicht anders konnte, als darin zu blättern. Anfangs hatte er weder glauben können noch wollen, daß er für all diese unsäglichen Schandtaten verantwortlich zeichnete. Dafür hatten sie schon vor langem gesorgt … Milton Banks hatte nie erfahren (und vielleicht hätte er es auch nicht verstanden), wie sie es getan hatten – aber irgendwie hatten sie die Kontakte zwischen seinem Bewußtsein und seinen Erinnerungen unterbrochen, die Verbindungen in seine Vergangenheit gekappt. Drogen, vermutete Banks, und eine besonders perfide Art der Gehirnwäsche … Sicher konnte er sich dessen nicht sein. Es war auch nicht wirklich von Bedeutung. Wie auch immer – mit den Zeugnissen der Vergangenheit führten sie ihm vor Augen, wer und was er einmal gewesen war. Es war ihre Art, ihn zu bestrafen. Trotzdem sie ihn in gewissem Sinne geheilt hatten, ließen sie seine Genesung nicht zu. Er sollte nicht wirklich vergessen, daß er einmal ein – Monster gewesen war. Endloses Leid wollten sie ihm damit zufügen. Freilich ohne es zuzugeben. All seine entsprechenden Bemerkungen ignorierten sie. Dabei waren sie so leicht zu durchschauen. Ihre Methode war primitiv und ungemein wirkungsvoll zugleich … Milton Banks wiederholte die Prozedur des Mundausspülens und Lippenabwischens. Dann stützte er sich schwer auf die Umrandung des Waschbeckens und fixierte abermals sein Spiegelbild, so lange und konzentriert, bis ihm die Augen tränten. Das Bild verschwamm. Wich anderen, die wiederum wechselten. Milton Banks sah die Gesichter derer, die sein Schicksal teilten: gefangen wie er und ihres früheren Lebens beraubt. Mochte diese Vergangenheit auch noch so unwert gewesen sein – sie einem Menschen zu nehmen kam dem gleich, als würde man ihm ein Stück seines Herzens aus dem Leibe schneiden. Die Wunde verheilte nie, schmerzte ewig – und am schlimmsten war, daß man nicht mehr wußte, weshalb man solcherart verletzt worden war.
Er und eine Handvoll weiterer Männer durften sich als eine Art Elite unter den Insassen von Highgate Hall ansehen. Sie genossen Privilegien allen anderen gegenüber, waren gewissermaßen ErsteKlasse-Reisende in diesem Zug, der kreuz und quer durch das Land des Wahnsinns fuhr, ohne es je zu verlassen. Sie durften in angenehmen Zimmern residieren und Kontakt untereinander pflegen, wie Gentlemen in den vornehmen Clubs. Aber auch das war nur eine weitere Art, sie zu strafen – denn geteiltes Leid war in ihren Fällen nicht halbes Leid, sondern potenziertes! Im Grunde ließ sich ihr gemeinsames Schicksal auf einen recht simplen Nenner bringen: Sie waren kaum mehr als Versuchskaninchen, die gut gefüttert wurden … Manchmal wünschte sich Milton Banks, einer von den vielen anderen Patienten zu sein. Wie sie in einer engen Zelle dahinzuvegetieren, nicht wissend, wer und wo sie weshalb waren. Einfach nur zu sein. Ein solches Dasein schien ihm erträglicher als eine Existenz ohne Wurzeln, wie er sie zu führen gezwungen war … Er schrak aus einen trübsinnigen Überlegungen auf, als ein frostiger Hauch ihn streifte. Hatte er ein Fenster geöffnet? War draußen Sturm aufgekommen? Milton Banks verließ das geräumige Badezimmer – und blieb im Türrahmen stehen, als verwehre ihm eine gläserne Wand jeden weiteren Schritt! Er hatte Besuch. Das war an sich kein wirklich bemerkenswertes Vorkommnis. Sie sahen unregelmäßig nach ihm, und manchmal suchte auch ein Leidensgenosse seine Gesellschaft, selbst zu solch später Stunde. Zeit war die bedeutungsloseste aller Erfindungen – jedenfalls für Highgate Hall … Diesen jungen Mann, der da im Sessel Platz genommen hatte, kannte Milton Banks allerdings nicht. Ein Neuer unter ihnen konnte er nicht sein. Sie wechselten stets
gleichzeitig, und die momentane Riege schien Banks noch nicht lange genug hier, als daß es schon Zeit für ihre Ablösung gewesen wäre. Andererseits – es waren ihre Regeln, und vielleicht hatten sie sie geändert … »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?« fragte Banks, obwohl er deutlich sah, was der Jüngling tat: Er las in den Unterlagen. Der andere gab sich den Anschein, als erschrecke er darüber, so plötzlich angesprochen zu werden – und er tat es so überzeugend, daß Milton Banks lächeln mußte. Der junge Mann ließ seine Lektüre sinken, schob ein paar Fotos auf dem kleinen Tisch hin und her und meinte dann: »Muß ja ein furchtbarer Kerl gewesen sein, dieser Milton Banks.« Milton Banks nickte im Näherkommen. »Ja, das war er wohl.« Er konnte sich nicht angewöhnen, von jenem Milton Banks in der ersten Person zu sprechen. »Gefällt mir, der Mann«, sagte der Besucher anerkennend. »Wie bitte?« »Ein richtiger … Satansbraten.« Der junge Mann ließ makellos weiße Zahnreihen blitzen. »Was soll das alles?« fragte Milton Banks unbehaglich. »Sie können ihrer Rede nach kaum jemand vom Personal sein –« Oder doch? unterbrach er sich im Stillen. War dies nur ein neuer Trick von ihnen, mit dem sie ihn quälen wollten? »Nein, bestimmt nicht«, wehrte der Fremde ab. Er stellte sich als Gabriel vor. Milton Banks nannte seinen Namen. »Das weiß ich doch«, lächelte der Jüngling. »Wäre ich sonst hier?« »Was wollen Sie von mir?« Gabriel tat, als müsse er überlegen. Dann schnippte er mit den Fingern, als habe ihn ein Geistesblitz ereilt. »Wie wär’s damit – ich erfülle Ihren sehnlichsten Wunsch!« »Was sollte das für ein Wunsch sein?« Milton Banks hätte ad hoc
tatsächlich keinen solchen benennen können. Gabriel griff blind nach einer der Berichtskopien und hielt sie Banks hin. »Ich mache aus Ihnen«, sagte er ernsthaft, »wieder den Mann, der Sie einmal waren – den wahren Milton Banks!« Einen Moment lang stand Banks starr wie zu Stein geworden. Dann – lachte er. »Nichts für ungut, junger Freund«, sagte er dann, »aber Sie sollten jetzt besser in Ihre Zelle zurückkehren. Es ist schon spät, und wie Sie sicher wissen, pflegt man in Highgate Hall sehr zeitig zu frühstücken –« »Zur Hölle mit dem Frühstück!« rief Gabriel. »Wenn Sie einwilligen, dann sind wir zum Frühstück schon nicht mehr hier.« Milton Banks ließ sich seinem jungen Besucher gegenüber nieder und lehnte sich behaglich zurück. Das Bürschlein amüsierte ihn, und er war nicht in der Situation, in der er Kurzweil ausschlagen konnte, wie absurd sie auch sein mochte. Er senkte seine Stimme auf verschwörerische Lautstärke: »In Ordnung, mein Freund. Wir brechen also aus. Wie soll die Aktion ablaufen?« »Mir scheint, Sie bringen nicht den nötigen Ernst auf.« »Ich bin ganz Ohr«, beteuerte Banks. Gabriel erklärte, wie er sich den weiteren Verlauf dieser Nacht vorstellte. Und Milton Banks schwieg noch eine ganze Weile, nachdem sein Gegenüber geendet hatte. Er glaubte diesem Jungen … und konnte zugleich nicht fassen, daß er es tat! Andererseits – was hatte er zu verlieren? Im schlimmsten Fall würde er ein bißchen Spaß haben … »Ich bin einverstanden«, erklärte Milton Banks und streckte Gabriel die Hand hin. Und der Teufel schlug ein.
* Simon Ludlow erreichte das Torhaus und versuchte die Hintertür zum Park zu öffnen. Abgesperrt. Natürlich. Derek Logan war ein Sicherheitsfanatiker. Gewesen … Kein Problem. Ludlow zog die Pistole, visierte die Stelle des Türrahmens neben dem Schloß an und drückte ab, einmal, zweimal. Der Schalldämpfer sorgte dafür, daß niemand durch die Schüsse gestört wurde. Holz splitterte. Ein Fußtritt ließ die Tür aufschwingen. Mühelos fand Ludlow den Weg in den Keller. Er war oft genug zu Besuch im Torhaus gewesen, schließlich hatte es sich bei Derek Logan um einen Kollegen – wenn auch nur im weiteren Sinne – gehandelt. Obwohl sie nie einen Hehl daraus gemacht hatten, daß sie einander nicht sonderlich sympathisch waren (schon damals nicht, als Ludlow noch nicht gewußt hatte, daß Logan ein Verhältnis mit Miranda unterhielt), hatten sie doch miteinander auskommen müssen und sich beide zumindest bemüht. Das »Herz von Highgate Hall« kannte Simon Ludlow ebenfalls. Bei seinem Dienstantritt hatte man ihm sämtliche Einrichtungen der Anstalt gezeigt und ihn im Rahmen dieser Führung auch grob in der Bedienung der Sicherheitsmaschinerie unterwiesen – für den unwahrscheinlichen Fall, daß Derek Logan aus irgendeinem Grund einmal ausfallen sollte. Logan war seinerzeit dabeigewesen, und sein Lachen klang Ludlow noch heute im Ohr … Mittels der Plastikkarte öffnete er die Tür zu dem kleinen Kellerraum, dann stand er vor Batterien blinkender Lichter und Reihen unscheinbarer Schalter. Kaum zu glauben, was für ein Apparat von hier aus zu bedienen war: hochempfindliche Lichtschranken, komplizierte Schaltschlösser, Selbstschußanlagen und dergleichen mehr.
Die meisten Hochsicherheitsgefängnisse dieser Welt waren vermutlich weniger ausgeklügelt geschützt; was unter anderem daran liegen mochte, daß Highgate Hall nicht nur gegen Ausbrecher gesichert war, sondern auch gegen Einbrecher … Immerhin existierte diese Anstalt offiziell nicht, und niemand sollte durch zufälliges Hereinstolpern oder schlichte Neugierde etwas an diesem Status ändern. Die Art und Weise, in der Menschen hier kurzerhand weggeschlossen wurden, würde zumindest in der westlichen Welt für Aufregung sorgen, und England müßte mit ärgsten Sanktionen in vielerlei Hinsicht rechnen. Selbsternannte Weltverbesserer und -retter würden Amok laufen – und blind sein für den wahren Nutzen Highgate Halls, von dem Simon Ludlow nach wie vor überzeugt war, auch wenn er just dabei war, eben dieser Überzeugung zuwider zu handeln. Aber darin bestand nun einmal sein Teil des Abkommens mit – diesem Jungen … Ludlow weigerte sich, auch nur daran zu denken, was sich hinter dessen Maske wirklich verbergen mochte. Die Wahrheit konnte nur absurd sein! Dennoch konnte er nicht anders, als sich an den Pakt zu halten. Nicht mehr, seit er seinen Nutzen daraus gezogen hatte … Ohne die Codekarte zu benutzen, hätte Simon Ludlow wahllos auf die Schalter und Knöpfe einhämmern können, ohne daß etwas passiert wäre. Erst das Signal, das die Karte zeitverzögert auslöste, erlaubte ihm die Bedienung. Via Satellit bestand eine Verbindung zu einem entfernten Ort, der womöglich noch geheimer war als Highgate Hall. Sie bestand zu dem Zweck, um den Leuten dort zu melden, wenn das Sicherheitssystem der Anstalt ausfiel. Es gab aber die Möglichkeit, den Kontakt zu unterbrechen, ohne Alarm in der geheimen Zentrale – von der Ludlow (und auch Logan) nicht wußte, wo genau sie sich befand und wer dort saß – auszulösen; wenn etwa Wartungsarbeiten an der Maschinerie vorgenommen werden mußten.
Ludlow wußte, wie man die Verbindung kappte. Und er tat es. Eine Digitalanzeige verriet ihm, daß er den richtigen Knopf gedrückt hatte. Es dauerte kaum fünf Sekunden, dann klingelte ein Funktelefon, das in einer Wandhalterung hing. Ludlow nahm ab. Eine anonyme Stimme meldete sich: »Routineabfrage. Sie haben den Sicherheitskontakt unterbrochen. Alles in Ordnung bei Ihnen?« Der Sprecher klang nicht wirklich interessiert. »Ja, Ludlow hier. Dr. Simon Ludlow. Ich bin der Leiter –« »Ich weiß, wer Sie sind.« Ludlow grinste kopfschüttelnd. Der Mann am anderen Ende war eindeutig fehlbesetzt. Buchstäblich jeder konnte sich hier als Dr. Simon Ludlow melden. »Fein, fein«, sagte er. »Mr. Logan glaubt eine Fehlfunktion im System festgestellt zu haben –« »Ich kann hier bei mir keine entsprechende Anzeige ablesen«, kam es zurück. Mißtrauisch? »Ich sagte ja, Mr. Logan glaubt es«, beeilte sich Ludlow zu beschwichtigen. »Sie kennen ihn ja«, wagte er einen Schuß ins Blaue, »er will immer auf Nummer Sicher gehen, nicht?« »Ja, so ist der alte Logan. Grüßen Sie ihn von mir.« Klick. Der andere hatte aufgelegt. Ludlow atmete auf. »Wie wahr, wie wahr …« Simon Ludlow ruckte herum – und erstarrte! Derek Logan stand in der Tür und ließ ihn in das schwarze Auge einer Pistolenmündung blicken! Mühsam hielt sich Logan am Türrahmen aufrecht. Sein halbnackter Oberkörper war blutüberströmt. Aber sein hartes Grinsen erweckte den Eindruck, als spüre er keinen Schmerz. »Was soll das werden, Ludlow?« Logans Waffenhand ruckte vor wie der Kopf einer zuschnappenden Schlange.
»Und Finger weg von der Knarre! Macht häßliche Löcher …« Wie zufällig strich er über seine Brust und verzog geringfügig das Gesicht. »Schon gut, Logan, beruhigen Sie sich.« Ludlow hob ganz vorsichtig die Hände auf Brusthöhe. »Sie können sich bestimmt denken, weshalb ich das –«, mit dem Kinn wies er auf Logans Schußwunde, »– getan habe, nicht wahr?« »Miranda?« Ludlow nickte. Logan grinste. »Sie ist gut, verdammt gut. Und Sie verdient den Besten –« »Und der Beste ist Simon!« Ein Schuß krachte. Noch einer. Ein dritter. Derek Logan zuckte krampfhaft. Bäumte sich auf. Stürzte. Starb. Als er zu Boden fiel, sah Simon Ludlow seine Frau. Miranda stand zwei Schritte jenseits der Türschwelle, reglos, eine Pistole in der Hand, die sie aus Logans Arsenal geholt haben mußte. »I-ich …«, setzte sie stockend an, »ich konnte d-doch nicht z-zulassen, daß er d-dich …« Ihr treuherziger Blick hing an Ludlow, hündische Ergebenheit signalisierend. »Schon gut«, nickte er und wandte sich wieder den Schaltern und Leuchtanzeigen zu. Er drückte Knöpfe, legte Hebel um. Die Schranken um Highgate Hall fielen. Und die Hölle konnte losbrechen!
* Milton Banks wußte nicht, wie es anging; er konnte sich nicht einmal ansatzweise daran erinnern, wie Gabriel es angestellt haben mochte – – aber er hatte rückgängig gemacht, was sie ihm angetan hatten!
Der Jüngling hatte die Kontakte zu seinem früheren Ego neugeknüpft, und von Sekunde an war er jenes neuen Milton Banks’, der er nie mit Leib und Seele gewesen war, vollends ledig. Das alte Leben hatte Milton Banks wieder! Und zu seiner Überraschung konnte er feststellen, daß er offensichtlich nicht der einzige gewesen war, dem der teuflische Bursche seine Aufwartung und sein Angebot gemacht hatte – Banks’ Schicksalsgefährten war dasselbe widerfahren; auch sie hatten jene unechten Identitäten, die ihnen in Highgate Hall zwangsweise übergezogen worden waren, abgestreift wie alte Häute und waren wieder sie selbst. Aber nicht nur sie hatten sich verändert – Highgate Hall selbst hatte sich gewandelt … … war nahezu buchstäblich zur Hölle auf Erden geworden! Es schien, als habe die Verdammnis ihre Pforten geöffnet, um nach Highgate Hall zu entlassen, was in ihr schmachtete. Heulen herrschte, Chaos regierte. Denn keine Tür in Highgate Hall war mehr verschlossen. Die Truppen aus den Klüften des Irrsinns marschierten auf, und wer ihnen im Wege stand, büßte es mit seinem Leben. Nun, da das Unvorhersehbare, das eigentlich Unmögliche eingetreten war, rächte es sich, daß die Verantwortlichen mit der geringstmöglichen Zahl von Wach- und Pflegepersonal hatten auskommen wollen und sich statt dessen auf modernste Technik verlassen hatten. Das System hatte versagt. Wahnsinn triumphierte. Milton Banks und seine Genossen formierten das Heer, wie der Pakt es verlangte. Sie zogen hin zum hohen Tor, das Freiheit verhieß. Hinaus aus Highgate Hall.
*
»Lieber Gott, was habe ich getan?« Simon Ludlow sank wimmernd in die Knie, derweil ein scheint’s endloser Strom menschlicher Leiber auf ihn zukroch. Miranda ließ sich neben ihm nieder, strich ihm schweigend das Haar, sah ihn hingebungsvoll an. Ludlow nahm es kaum wahr. Die geliehene Kraft, die in ihm gewesen war – sie war verflogen, aufgebraucht von dem, was er damit getan hatte. Er war wieder der Simon Ludlow, der er vor seiner Begegnung mit Gabriel gewesen war – jener Simon Ludlow, den Highgate Hall gebrochen hatte, der an diesem Leben schon verzweifelt war. Und der jetzt die Verzweiflung aus Highgate Hall hinausließ! »Banks!« rief er, als die entsetzliche Prozession ihm schon nahe war. »Helfen Sie mir, bitte! Wir müssen –« Milton Banks blieb vor ihm stehen, sah verächtlich auf ihn herab. »Ihnen helfen, Dr. Ludlow? So wie sie uns geholfen haben?« Er wies hinter sich. »Banks«, stieß Simon Ludlow entgeistert hervor, »wie reden Sie? Was –?« »Das Leben hat uns wieder, Dr. Ludlow. Ein Ereignis, das ich mit einem Festmahl feiern sollte –« Er griff in die Innentasche seines altmodischen Jacketts und zog ein blitzendes Skalpell hervor. »Mir geht ein provenzialisches Rezept für Herz nicht aus dem Sinn. Leider kam ich nie dazu, es auszuprobieren …« Lächelnd holte Milton Banks mit der Klinge aus. Sie zeichnete einen silbernen Blitz in die Nacht, der Simon Ludlow in die Brust schlug. Miranda starrte fassungslos auf den Leichnam ihres Mannes. Die Worte Milton Banks’ erreichten nur ihr Ohr, nicht aber ihr Bewußtsein. »Wer weiß? Vielleicht habe ich großen Hunger …« Miranda Ludlow starb mit seligem Lächeln. Weil sie Simon folgen
durfte …
* Gabriel beobachtete aus der Ferne. Und er war zufrieden. Die Dinge liefen ganz in seinem Sinne. Fast zu einfach klappte alles. Er hatte seine Überredungskünste kaum bemühen müssen. Milton Banks und die anderen hatten sich nur allzu bereitwillig auf den Handel mit ihm eingelassen. Beinahe bedauerte der Inkarnierte es, ihre Talente so verschwenden zu müssen, wie sein Plan es verlangte. Was hätten sie nicht noch alles in seinem Namen bewirken können! Wieviel Böses könnten sie säen … Oh, es lag ihm nicht in erster Linie daran, daß sie hingingen und mordeten. Lieber noch sah er den Schmerz, den ihre Taten in die Herzen der Hinterbliebenen pflanzten. Weil Wut und Haß daraus erblühten und die Seelen vergifteten. Nun, nicht einmal er konnte alles haben … Gabriel wandte sich ab, als die gespenstische Formation aus dem Tor der Anstalt zog und die Richtung einschlug, in der seine Generäle sie befahlen. Er selbst entschwand in eben diese Richtung, wenn auch auf ganz anderem Wege. Er wurde schon erwartet an dem sagenumwobenen Orte, der dort in der Ferne lag. Und dessen tiefe Wahrheit doch kein Mensch noch kannte.
* Salisbury Plains
Die Sonne kroch im Osten über den Horizont. Frühnebel trübte ihr Licht und erstickte die Schatten der fernen Steine. Morgan McDermott sah dennoch in ihre Richtung. Weil er es jeden Morgen tat. Es war ihm im Laufe der Jahre zu einem Ritual geworden. Sicher ganz anders als jene Rituale, die den Sagen nach in grauer Vorzeit drüben bei den Steinen zelebriert worden waren. Aber auf seine Art vielleicht wirkungsvoller. Morgan McDermott jedenfalls hatte sich in all den Jahren nicht ein einziges Mal über eine Mißernte beklagen können. Seine Saaten gediehen gut, der Boden im Umfeld der Steine war fruchtbar. Daß manche erzählten, das rühre wohl vom einst geflossenen Blute her, wollte McDermott nicht hören. »Aberglaube«, knirschte er und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Auch dort trieb der Aberglaube finsterste Blüten. Highgate Hall … Morgan McDermott wußte nicht mehr als den Namen des Anwesens, das sich dort im Westen hinter den Nebeln verbarg. Aber er kannte die absonderlichen Geschichten, die sich wie wilder Efeu darum rankten. Spuken sollte es dort, erzählten die einen; daß hinter den hohen Mauern abscheuliche Experimente im Namen der Wissenschaft getrieben wurden, die anderen. McDermott selbst gab sich der Überzeugung hin, daß Highgate Hall schlicht leerstand. Irgendein spleeniger Adliger mochte der Eigentümer sein, und es gefiel ihm wohl, das Anwesen in Schuß zu halten, ohne es zu bewohnen. Mit dieser Erklärung ließ sich leben. Und das leise Heulen, das er selbst schon manches Mal des Nachts von dort drüben gehört hatte? Der Wind … Morgan McDermott war kein Freund komplizierter Denk- und Le-
bensart. Er war ein Verfechter des Einfachen, des Bodenständigen. So lebte er, und in diesem Sinne führte er seine Familie. Ihr Gehöft inmitten der Salisbury Plains warf keine Reichtümer ab, aber genug, um davon zu leben. Mehr brauchte er nicht. Mehr brauchte eigentlich niemand … McDermott beschloß seine morgendliche Philosophie mit einem zufriedenen Grunzen, dann machte er kehrt, um ins Haus zurückzugehen. Er mußte seine Frau Selma wecken, dann die Kinder, und der Tag konnte seinen gewohnten Lauf nehmen. So war es immer – – nur heute nicht. Und nie mehr danach. Die Stimme erreichte ihn auf halbem Wege zum Wohnhaus. »Mister?« McDermott erschrak zwar, drehte sich aber ohne sonderliche Eile um. Hast war seine Sache nicht. Und auch Entsetzen hatte er nie gekannt. Heute Morgen lernte er es kennen. Es sprang ihn an, wühlte sich wie mit scharfen Krallen in sein Innerstes. Höhlte ihn gleichsam aus, bis er nichts mehr in sich spürte, das noch zu einer Regung fähig gewesen wäre. Am Rande des Hofes reihte sich eine absonderliche Formation. Männer, Frauen. Jeden Alters. Bis auf eine Handvoll, die vor ihnen Stellung bezogen hatte, einheitlich gekleidet in weiße – Nachthemden …? Der Mann, der Morgan McDermott angesprochen hatte, kam näher. Er lächelte leutselig, machte einen jovialen Eindruck, wirkte so ungezwungen, als sei es die normalste Sache der Welt, daß eine Hundertschaft (oder mehr? Eher viel mehr!) in Klinikgewändern vor einem einsam gelegenen Bauernhof aufmarschierte. Unwillkürlich irrte Morgan McDermotts Blick kurz ab in jene Richtung, wo er Highgate Hall jenseits der Nebel wußte … Der andere blieb drei, vier Schritte vor ihm stehen. McDermott sah, daß die Schöße des Jacketts seines Gegenübers durchnäßt waren …
»Mister«, setzte Milton Banks von neuem an. Er wies bestimmend auf die große Scheune am Südrand des Gehöftes. »Meine Leute werden hier Quartier beziehen, bis sie gerufen werden.« »Ihre Leute?« echote Morgan McDermott. »Sie werden – was? Ich fürchte, ich verstehe ni-« »Fürchtet Euch nicht«, lächelte Milton Banks. Er gab über seine Schulter hinweg ein Zeichen. Die Menge setzte sich in Bewegung. »Herr im Himmel, wie viele sind das?« stöhnte McDermott. »Dreihundertfünfzig.« »Und was –?« Milton Banks winkte ab. »Kümmern Sie sich nicht darum. Muß Sie alles nicht interessieren.« Er hielt inne, als sei ihm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen. Seine Hände verschwanden in den Jackettaschen, kamen blutig wieder zum Vorschein und hielten je ein – »Großer Gott!« schrie Morgan McDermott auf. Sein eigenes Herz schlug ihm im Halse. »Fast hätte ich es vergessen«, sagte Milton Banks. Lächelnd wies er zum Wohnhaus hin. »Ob die Dame des Hauses wohl etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn ich kurz ihren Herd benützen würde?«
* Unter den Menschen gibt es viel mehr Kopien als Originale. Pablo Picasso Stunden zuvor, an einem sagenumwobenen Ort …
Die Nacht spannte sich wie ein bleierner Gürtel über der endlos scheinenden Hochebene. Jeder Atemzug war ein Sieg über das Gewicht, das auf den Körper des Mannes drückte, der den Kromlech betreten hatte, den äußersten der beiden konzentrischen Kreise. Der zweite Ring, in dem sich hufeisenförmige Steinsetzungen erhoben, öffnete sich vor dem Besucher. Mehr noch als das Sicht- und Greifbare prägte Immaterielles den Ort, den Landru bei seiner letzten Konfrontation mit Gabriel als Treffpunkt genannt bekommen hatte, drüben in der grünen Hölle Mesoamerikas, als die Stadt, die der Lilienkelch nach einer verbotenen Bluttaufe hatte entstehen lassen, untergegangen war. Eine Maya-Stadt, die zuvor fünfhundert Jahre abgeschottet von der Außenwelt überdauert hatte, beherrscht und regiert von ebenso alten Vampiren …* Fünfhundert Jahre … Ein Drittel meines Lebens nach dem Wiedererwachen im Dunklen Dom. Die Gedanken rannen zäh in der Blutschwärze durch Landrus Hirn. Fast ebenso bleiern, fast ebenso kalt wie der grenzenlose Himmel über seinem Kopf. »Komm bei Nacht – wage es nicht, das Monument im Glanz der Sonne zu betreten«, hatte der Teufel ihm aufgetragen und hinzugefügt: »Ich spaße nicht! Richte dich danach, sonst …« »Sonst?« »… storniere ich unseren Vertrag. Mit aller Konsequenz«, hatte Gabriel gesagt. »Und die wäre?« »Du würdest wieder als erinnerungsloser Krüppel durch die Welt irren …« Es war keine leere Drohung gewesen. Gabriel hatte längst bewiesen, über welche Machtfülle und Möglichkeiten er verfügte. Und auch wenn Landru bezweifelte, daß es dem Teufel wirklich egal *siehe VAMPIRA T31-36
war, ob er seinen vampirischen Verbündeten als Trumpf-As im Ärmel behielt oder verlor, wollte er dessen Zorn nicht vorsätzlich provozieren. Er war Gabriel für den Rückerhalt seines Gedächtnisses einen Gefallen schuldig, den dieser jederzeit einfordern konnte, über dessen Charakter der Leibhaftige ihn allerdings völlig im dunkeln gelassen hatte. Was will er von mir? fragte sich Landru nicht zum ersten Mal. Wie lauten seine Pläne? Gabriel braute ein Süppchen, in dem Vampire nur bedingt eine Rolle spielten – soviel schien zwischenzeitlich klar. Dennoch beschäftigte er sich mit vielem, worin Vampire verwickelt waren. Und Halbvampire, lenkte Landru seine Überlegungen auf eines der Motive, die ihn dazu gedrängt hatten, die Chance, Gabriel wiederzusehen, so schnell wie möglich wahrzunehmen und unverzüglich den Treffpunkt aufzusuchen. Langsam, als laste echte Bürde auf seinen Schultern, drehte er sich um seine eigene Achse. Die Nacht existierte für ihn nicht als die schwarze Tünche, die eines Menschen Blick getrübt hätte. Landru sah in der Finsternis fast wie bei Tage. Und er sah – – uralte Steine … Fühlte – – uralte Macht … Roch – – satanische Fäule. »Wo bist du?« rief Landru halblaut in die Schatten hinein, die sich wie ein jenseitiger Hauch um eine Anlage schmiegten, die die Phantasie der Menschen seit jeher beflügelt und für die abenteuerlichsten Spekulationen bemüht hatte. Stonehenge. Schon in vorchristlicher Zeit hatten sich hier, in der kahlen Ebene von Salisbury, in der Nähe des Flusses Avon, die aus Sandsteinfind-
lingen gefertigten Trilithen und Monolithen erhoben. Damals mußten sie um ein Vielfaches imposant ausgesehen haben, da noch nicht von Wind und Wetter oder Menschenhand reduziert. Inzwischen aber, nachdem sich über Generationen Bauern der Umgebung an ihnen bedient und Gesteinsbrocken zum Bau ihrer Häuser und Ställe weggekarrt hatten, war nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Faszinosums spürbar. Nichtsdestotrotz war auch das Stonehenge der Gegenwart zum touristischen Wallfahrtsort erster Güte avanciert. In der warmen Jahreszeit rollte bei schönem Wetter Bus um Bus heran und spie seine Besucherströme aus. Das Gelände war weiträumig umzäunt, riesige Parkflächen bereitgestellt, die die sommers rapsgelben Felder der Umgebung mit ihrem Teerschwarz unterbrachen. Vielleicht hatte Gabriel all der Menschen wegen darauf bestanden, daß Landru sich nächtens hier einfinden sollte. Wenn dies aber der Grund gewesen sein sollte, blieb immer noch rätselhaft, warum der Teufel überhaupt Stonehenge als Treffpunkt gewählt hatte – nicht irgendeinen weniger frequentierten und damit sichereren Ort … »Zeig dich mir, wenn du hier bist! Ich verbringe hier keine Minute des Wartens!« Ein seltsames Geräusch peitschte durch die Nacht. Zugleich kam es Landru vor, als beschränke sich der Ton, der an eine berstende Stahlsaite erinnerte, ausschließlich auf den Kern des Kromlechs, den er in diesem Moment betreten hatte. Als hätte das Betreten des inneren Steinkreises das Geräusch erst ausgelöst. »So in Eile?« fragte eine Stimme, die Landru selbst aus einem tausendköpfigen Chor herausgehört hätte. Sie schien aus Richtung der fünf Trilithen zu kommen, die sich – von seiner jetzigen Position aus gesehen – nach Nordosten staffelten. Fünf Denkmäler aus jeweils drei Steinen waren es insgesamt, die erhalten geblieben waren. Die Wissenschaft, die sich mit Sinn und Zweck dieser Anlage aus-
einandergesetzt hatte, war zu sehr gegensätzlichen Resultaten gekommen: Stonehenge mochte von seinen Baumeistern zur Sonnenbeobachtung und Sonnenverehrung errichtet worden sein. Aus der Anordnung der Steine glaubte man einen differenzierten Kalender zur Errechnung der Saat- und Erntezeiten herauslesen zu können. Aber zweifellos hatte Stonehenge auch mit vorzeitlichem Totenkult zu tun. Es gab Hügelgräber im unmittelbaren Umfeld, deren genaue Zahl Landru nicht kannte. Sie interessierte ihn auch nicht. Fakt war jedoch, daß dieses Monument Menschen angezogen hatte. Manche mochten tatsächlich nur gekommen sein, um hier zu sterben. Religion und Aberglaube hatten mindestens so viele Menschen auf dem Gewissen wie das Volk der Vampire … Landru wischte die Gedanken, die ihn im Kern des Kromlechs beschlichen, entschlossen beiseite. »Ich höre, aber ich sehe dich nicht«, sagte er und trat einen Schritt auf die Phalanx der Trilithen zu. Dort bildete sich urplötzlich Schwärze, die auch seine Augen nicht zu durchdringen vermochten. Finstere, wogende Nebel, die Kontur annahmen, als wären es Ausgeburten einer kranken Seele. Schließlich ballten sie sich zusammen und formten … … Ihn! Gabriel. Der Teufel, der kein Kind mehr war, lachte, wie nur das Böse selbst lachen kann. »Hier bin ich!« »Und hier bin ich!« Landrus Mimik verriet nicht, daß ihn der Auftritt des Knaben, der optisch zum feinsinnigen Jüngling gereift war, beeindruckt hatte. »Wir müssen reden!« »Tun wir das nicht bereits?« »Nein, wir plaudern. Was ich verlange und weshalb ich gekommen bin, sind konkrete Auskünfte. Danach werde ich entscheiden, ob ich mich weiterhin an unseren Pakt gebunden fühle oder nicht.« Gabriel trat näher.
Die Schwärze, aus der er getreten war, zog sich implosionsartig in ihn zurück. Er trug moderne, weite Kleidung, die trotzdem seine Muskulatur betonte. Die Inkarnation Satans war nicht mehr so schlaksig, wie Landru sie in Erinnerung hatte, sondern auf eine Art und Weise athletisch, die Geschmeidigkeit und Eleganz, nicht aber rohe Kraft betonte. »Denkst du wirklich, du hättest die Möglichkeit auszusteigen? Meine Verträge kann nicht einmal ich selbst brechen …« »Nein? Aber genau damit hast du mir doch gedroht.« »Drohen gehört zum Geschäft.« Gabriel stand jetzt so nah, daß Landru ihn atmen hören konnte. Warum er gerade dies so erstaunlich fand, hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. »Ich bin also in deiner Hand.« »Mit Leib und Seele«, erwiderte Gabriel betont. »Warum? Welchen Nutzen erhoffst du dir noch von mir, jetzt, nachdem Lilith Eden tot ist?« »Wer sagt, daß sie tot ist?« »Ich ging davon aus, daß –« Gabriel schüttelte in gespielter Nachsicht den Kopf. Sein schwarzes, wellig auf die Schultern fallendes, in der Mitte streng gescheiteltes Haar flog so störrisch hin und her, als wohne ihm ein eigenes Leben inne, das noch rätselhafter war als das seines Besitzers. »Dir mangelt es nicht nur an Wissen, sondern auch an Weitblick – und Geduld. Aber vielleicht mag ich gerade diesen Zug an dir.« Landrus Mundwinkel sanken nach unten, als hätten sich unsichtbare Gewichte darin verhakt. »Mayab ist untergegangen – und Lilith ist immer noch am Leben? Sie ist nicht darin umgekommen?« »Wäre das nicht Vergeudung gewesen?« »Das kommt wohl stark auf den Betrachter und seine Motive an.« »Du lernst dazu«, fand Gabriel, und sein Ton suggerierte Zufriedenheit. »Es reicht!« Landrus Stimme klirrte. Das Wissen, daß die Gestalt,
wie er sie vor sich sah, nur Maske war, daß sich in Wahrheit etwas absolut Unmenschliches, Un-Vampirisches darunter verbarg, machte es leichter, die kaltschnäuzige Arroganz zu ertragen, die ihm entgegenschlug. »Ich habe dir gesagt, warum ich nach Stonehenge kam! Antworten! Ich erwarte Erklärungen!« »Was Lilith angeht?« »Und was die Zukunft angeht. Meine Zukunft.« »Sie kann nicht losgelöst von ihrer betrachtet werden.« »Was heißt das?« »Ich brauche dich und sie.« »Wofür?« fuhr Landru auf. Gabriels Mund öffnete sich, als wollte er tatsächlich darauf antworten. Doch letztlich dröhnte wiederum nur unverbindliches Gelächter hervor – schauriger klingend als noch Minuten zuvor. Der Leibhaftige machte eine ausholende Geste. »Warst du jemals zuvor an diesem Ort?« »Er hat mich nie interessiert.« Landru versuchte den abfälligen Ton Gabriels zu imitieren. »Steine …« »Irrtümer liegen in deiner Natur«, konterte Gabriel. »Aber vielleicht hast du dich noch nie so katastrophal verschätzt wie in diesem Fall.« »Eine Kultstätte«, blieb Landru ablehnend. »Es ist nicht mehr als eine Stätte, wie es sie auf dieser und den benachbarten Inseln zu Dutzenden gibt. Avebury … Windmill … Silbury … Diese Welt ist voll von prähistorischen Überbleibseln.« Der Ausdruck auf Gabriels Gesicht hatte gewechselt. Ein flüchtiger Blick genügte Landru, um zu begreifen, daß es vorbei war: Das Abtasten hatte ein Ende gefunden. Die nächsten Worte aus dem Mund des höllischen Gesandten bestätigten das: »Lilith lebt. Ich habe mich auch ihrer Dienste versichert und dafür gesorgt, daß sie sich entschied, nach Uruk zu reisen.«
»Heißt das, du hast auch mit ihr einen Pakt geschlossen? Sie hat ihre alte Persönlichkeit zurückerlangt?« Landru schmälte die Augen zu Schlitzen. »Dienten Mayab und die Farce, in die wir Lilith verstrickten, letztlich nur dazu, sie in die ausweglose Lage zu manövrieren, in der sie alles akzeptierte?« Gabriel ging nur auf die beiden ersten Fragen ein. »Ja, wir wurden uns einig – aber sie erhielt nicht zurück, was sie jenseits der Schwelle verlor.« »Warum nicht?« »Weil man einen Gegner nicht unnötig aufbauen sollte«, lächelte Gabriel. »Bei mir hast du es getan«, warf Landru ein. »Sind wir Gegner?« »Zwei wie du und ich können niemals Freunde sein.« »Das ist auch nicht erforderlich. Denn es gibt Grauzonen zwischen Freund und Feind, meinst du nicht auch?« Landru schwieg vielsagend. Schließlich fragte er: »Du fürchtest Lilith Eden mehr als mich?« »Ich fürchte niemanden. Aber ich habe Respekt vor solchen, denen gelingt, was ihr gelungen ist.« »Was genau meinst du damit?« Gabriel wischte mit der Hand durch die Luft. Für einen flüchtigen Moment schienen die Steine in fahles Licht getaucht und über hauchdünne »Nabelschnüre« mit ihm verbunden zu sein. Dieses Licht war von der Farbe des Mondes, der in dieser Nacht noch nicht aufgegangen war. Der Mond … »Was wurde aus Nona?« erkundigte sich Landru, als Gabriel auf die vorausgegangene Frage nicht antwortete. »Ist sie wohlbehalten aus Mayab entkommen – und wo hält sie sich zur Zeit auf?« »Wie kommst du darauf, ihr Schicksal könnte mich interessieren?« »Es interessiert mich.« »Auch du hast den Wolf in dir, ich weiß. Aber in unvergleichlich
anderer Form als deine Gefährtin.« Landru erinnerte sich, daß Nona in jüngster Zeit verstärkt darum gebeten hatte, sie bei den Nachforschungen über die Herkunft ihres Werwolffluchs zu unterstützen. Von der mit Mayab untergegangenen EWIGEN CHRONIK hatte sie sich Aufschlüsse erhofft. Aber die Gelegenheit, Lilith die entsprechende Passage vorlesen zu lassen, hatte sich nicht mehr ergeben. Doch nun erweckte Gabriel den Anschein, als wüßte er etwas zu diesem Thema zu sagen. »Du weißt über Vampire Bescheid – kennst du auch das Geheimnis der Werwölfe?« »Geheimnis?« »Ihre Wurzeln.« »Um dich darüber mit mir zu unterhalten, bist du nicht gekommen.« »Wer sagt das?« »Ich.« »Du scheinst mich für deine Marionette zu halten. Du irrst, wenn du das glaubst.« »Darum geht es nicht.« »Sondern?« »Du magst aus freien Stücken gekommen sein – aber ich hätte ohnehin nach dir gerufen, und du bist mir zu Gehorsam verpflichtet, bis die Schuld, in der du stehst, abgetragen ist.« Landru überwand die Distanz, die ihn noch von Gabriel trennte. »Du siehst so harmlos aus. Als könntest du kein Wässerchen trüben. Dabei verkörperst du alles, was die Hölle selbst ausmacht.« »Und du? Was verkörperst du? Erinnere dich an deine Wurzeln. Wer dich gezeugt hat.« »Lilith. Adams erste Frau.« Gabriel nickte. »Mit Adam, der der erste Mensch auf Erden war. Seine erste mit Verstand gesegnete Schöpfung. Aber die Kraft, die
ich verkörpere, gab es schon, als es dich und die anderen geheimen Kinder der Lilith noch nicht gab. Das Urböse existiert sein Anbeginn der Zeit, und nichts anderes als dieses Urböse ›überredete‹ eure Mutter damals, Gott zu betrügen.« »Ist die Dimension, aus der du stammst, nicht später entstanden? Sagtest du nicht, sie sei aus dem gefallenen Erzengel Luzifer hervorgegangen? Du bist Luzifers Inkarnation – das, was sich von ihm auf dieser Seite etablieren konnte …« »Das habe ich dir verraten?« Landru erwiderte Gabriels ausdruckslosen Blick. »In Paris. Als du mir meine Erinnerung zurückgabst, floß auch Wissen auf mich über. Wissen um diese Dinge. Und sag nicht, du hättest es mir ungewollt vermittelt. Bei dir geschieht nichts ohne Vorsatz.« Gabriel lächelte mysteriös. »Das Urböse«, sagte er schließlich, »existierte schon vor Luzifers Entartung und Fall. Es war die Triebfeder, die Saat, die auch in ihm aufging und ihn zu seinen Taten verleitete. Nicht nur unter Menschen, auch unter Engeln gibt es empfängliche und unempfängliche Naturen für die Saat, die so alt wie der Kosmos ist.« »Ich bin nicht gekommen«, sagte Landru abfällig, »um einen Kurs in Metaphysik für Anfänger zu belegen. Ich will wissen, was aus Lilith Eden geworden ist. Und wie der Gefallen lautet, zu dem ich mich verpflichtet habe. Ich werde nicht gehen, bevor ich es weiß – oder bevor das Band zwischen uns zerrissen ist.« Gabriel seufzte. »Warum diese Streitlust? Du wirst beides erfahren. Hier und heute.« Landru blinzelte ungläubig. »Dann fang an!« drängte er. »Lilith Eden«, begann Gabriel, »ist auf dem Weg von Uruk nach Jerusalem, wo sie in Kürze eintreffen wird.« Kopfschüttelnd sagte Landru: »Sie lebt also wirklich. Du hast sie entkommen lassen. Warum?«
»Damit ihr beide, du und sie, mir helfen könnt.« »Helfen wobei?« »Bevor du das erfährst, müssen erst die Dinge in Bewegung gebracht und in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Landru muß nach Jerusalem reisen und seinen Bruder Anum töten!« Landru schloß kurz die Augen. Entsetzt (konnte einer wie er noch über irgend etwas entsetzt sein?) sah er, daß seine Lider Gabriels Gestalt nicht auszusperren vermochten. Der Jüngling aus der Hölle blieb weiter präsent – in einer Weise, wie Landru es noch nie erlebt hatte … Aber nicht einer seiner Gegner der Vergangenheit war schließlich ein Messias des Bösen gewesen. Landru hatte das Gefühl, innerlich, am pochenden Herzen, von einem stromführenden Kabel berührt zu werden. Messias … Dieses Wort begleitete ihn seit Jahrhunderten, wenngleich er den Messias, der in Jerusalem ans Kreuz geschlagen worden war, nie kennengelernt hatte. Messias – Jerusalem – Was für einen Kreis schlossen seine Gedanken gerade, ohne den Verstand daran teilhaben zu lassen? Die Vampirin Salena hatte vor langen Zeiten von einem Messias der Vampire geträumt. Und er selbst hatte diesen Traum irgendwann in sich aufleben lassen, nachdem der Lilienkelch verloren schien für immer. Der dunkle Gral der Urmutter würde nie mehr ein Menschen- in ein Vampirleben umwandeln. Die Alte Rasse stand vor ihrem völligen Aussterben! Und ich? dachte Landru. Die Vorstellung, dereinst als letzter Sproß dieser besonderen Spezies einsam durch die Welt zu ziehen, machte ihn nicht minder frösteln als der Anblick des Teufels hinter seinen Lidern.
»Anum und Lilith ziehen nach Jerusalem?« Er öffnete die Augen. Erträglicher wurden sein Aufenthaltsort und der immense Druck, der davon ausging, dadurch nicht. »Mit welchen Absichten? Versucht Lilith meinen Bruder zu –« »– töten?« Gabriel verneinte, ohne eine Geste zu bemühen. Es war sein Tonfall, der Landrus Verdacht widerlegte. »Ich fürchte, sie ist dem Hohen Mann – verfallen …« Landru riß die Augen auf. Um seine Beherrschung war es vollends geschehen. Seine Hände schossen vor und schlossen sich um die Arme des Teufels. Stoisch erwiderte Gabriel den Blick des ungläubigen Hüters, der ihn anfauchte: »Warum lügst du? Ich müßte ein kompletter Narr sein, würde ich –« »Es ist wahr«, blieb Gabriel unerschütterlich bei seiner Behauptung. »Dieses Resultat war auch für mich nicht vorhersehbar. Im Gegenteil, ich dachte, Lilith würde uns dieses Problem vom Halse schaffen …« Landru löste seinen Griff. Fassungslos stand er vor dem klassisch schönen Jüngling, an dem nur noch die Augen an das einstige Kind erinnerten, das von einer Nonne geboren worden war.* Augen, die in der Lage schienen, an jeden noch so fernen Punkt der Welt zu blicken und sich nicht einmal von der Krümmung der Horizonte irritieren zu lassen. »Wie konnte es dazu kommen?« Gabriel erklärte es ihm mit knappen Worten – so, als wäre er persönlich dabei gewesen, als Lilith den Zeitkorridor zum Verlöschen gebracht und den entarteten Lilienkelch an sich gerissen hatte. Danach herrschte eine unbestimmbare Weile Schweigen, ehe Landru, wie zu sich selbst, flüsterte: »Anum las in der EWIGEN CHRONIK von dem Tunnel durch die Zeiten. Aus dieser Schrift erfuhr er auch von Lilith Eden und dem Plan unserer Mutter. Vielleicht weiß er inzwischen sogar, was am Anfang der Zeit geschah. *siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
Daß ich unsere Mutter für den Verrat strafte, den sie an ihren Kindern beging. Und daß ich dennoch ihre Versöhnung mit Gott nicht verhindern konnte. Daß ich die Seuche mit in die Gegenwart brachte – den Tod für jedes Kelchkind. Gottes Zorn wurde vom Kelch auf mich und alle Oberhäupter, die je ihr Blut zur Taufe ihrer Sippen gaben, übertragen. Danach alterten die Vampire um die Jahre, um die sie ihre Leiber betrogen hatten … Beim Dom und meinen Brüdern – was habe ich getan …?« Er zuckte zusammen. Die Scham über seine Entgleisung traf ihn fast härter als die Behauptung, die Gabriel über Anum und Lilith aufgestellt hatte. »Du meinst also, sie hätten sich verbündet?« brach es aus Landru hervor. »Aber – das wäre, als hätte sie sich mit mir eingelassen … unfaßbar!« Er zitterte. Er haßte die Schwäche, die er hier zur Schau stellte – und fragte sich zugleich, ob Gabriel irgend etwas dazu beisteuerte, daß er sich so erbärmlich vorkam. »Offenbar«, erwiderte die Inkarnation Luzifers, »hat Anum etwas, das du nicht hast. Mit Logik hat das nichts zu tun.« »Du meinst, Anum erwidert Liliths Gefühle?« »So sieht es aus.« »Aber sie sind Feinde – Erzfeinde von Geburt und Bestimmung …« »Irgend etwas ist stärker als dieses Wissen«, sagte Gabriel mit der Weisheit eines Wesens, das die Summe von vielen Wiedergeburten beinhaltete. »Obwohl das Böse, das Hidden Moon auf sie abwälzte, kaum noch Macht über sie besitzt …« Er erklärte Landru, wie und warum er Lilith nach ihrem Entrinnen aus Mayab mit dem Arapaho-Vampir konfrontiert hatte. »Was bezweckst du mit all diesen Intrigen und Schachzügen?« »Den Sieg. Die Herrschaft. Und die ungestörte Ernte«, gab Gabriel zur Antwort.
»Willst du die Menschen versklaven oder töten?« fragte Landru. »Ich verstehe mich und die Beweggründe meiner Art, aber dein Streben bleibt mir fremd. Erkläre es mir!« »Wozu? Dein Wissen und Nichtwissen könnten nicht perfekter ausbalanciert sein. Es wäre töricht, dieses Gleichgewicht zu gefährden. Und jetzt folge mir!« »Wohin?« »Nach Stonehenge.« »Wir sind in Stonehenge.« »Das«, sagte Gabriel, »ist ein verständlicher Irrtum deinerseits. Komm jetzt …« Er schritt auf die Trilithen-Phalanx zu, aus der er gekommen war. Und verschwand darin. Landru folgte zögernd. Etwa an der Stelle, an der Gabriel seinen Blicken entrückt war, glaubte er ein Prickeln zu spüren, das seinen Körper wie in schwache Elektrizität hüllte. Dann – – stand er im wahren Stonehenge … … und in des Teufels hiesigem Heim.
* Nicht nur die Lichtverhältnisse, alles hatte sich verändert. »Wo sind wir?« fragte Landru. Es war, als hätte er einen Zeitsprung vollzogen. Einen Sprung weit zurück in jene Vergangenheit, in der der Kromlech vielleicht gerade erst vollendet worden war. Denn so mußte die uralte Kultstätte unmittelbar nach ihrer Entstehung und in ihrer Blütezeit ausgesehen haben: Die Steine waren noch nicht der Erosion und anderen Einflüssen zum Opfer gefallen, noch nicht vom Zahn der Zeit zernagt, sondern erhoben sich wie einstmals um die Stelle, an der Landru sich beinahe ehrfürchtig um die eigene Achse drehte.
»Was soll dieses Truggebilde?« Noch während er sprach, merkte er, daß noch weit mehr nicht stimmte, als er zunächst vermutet hatte. Der Kromlech präsentierte sich nicht nur wie neu … … er besaß auch keine Umgebung, keinen echten Himmel mehr! Landru erstarrte in seiner Bewegung. »Wo sind wir?« »Dort, wo uns nichts und niemand stören kann.« »Und das wäre …?« »Ich werde es dir zu gegebener Zeit erklären.« Gabriel beorderte Landru mit einem Wink zu sich. »Zuvor aber sollst du erfahren, was ich als Preis dafür verlange, daß du wieder sein darfst, wer du immer warst.« »Endlich!« seufzte Landru. »Nenn mir den Preis! Nenn mir deine Forderung!« Gabriel lachte fürchterlich. Für einen Moment schien hinter seinen vergleichsweise harmlosen Zügen das wahre Gesicht hervorzuschimmern. Seine Füße verloren den Kontakt zum Boden. Er schwebte auf Landru zu und hielt plötzlich ein gewaltiges Schwert in beiden Händen, das er in einer kaum nachvollziehbaren schnellen Bewegung schwang – – und auf Landru herabsausen ließ, als wollte er ihn damit in zwei Hälften spalten! Landru war weder zur Gegenwehr noch zu einem klaren Gedanken fähig, so rasend ging alles vonstatten. Ein Mensch hätte das Schwert nicht mehr zu stoppen vermocht. Gabriel bereitete es keine Mühe, das Blatt der Klinge auf dem Weg nach unten zu drehen und es im Moment des Kontaktes mit Landrus Körper so abzubremsen, daß der Hüter nur noch ein leichtes Klopfen fühlte, das von Gabriels salbungsvollen Worten begleitet wurde: »Hiermit schlage ich dich zu meinem Ersten Ritter!« Erst glaubte Landru an einen makabren Scherz. An einen launigen
Einfall des Teufels. Doch das Schwert erlosch, und Gabriel kehrte wieder auf den Boden zurück, den auch Landrus Füße berührten. Dort bekräftigte er mit geballten Fäusten und leuchtenden Augen: »Du stehst nun in meinen Diensten. Solltest du mich je hintergehen, wird das Schwert dich finden und dein Herz durchbohren. Es kennt nun deine Witterung; du kannst ihm nicht entkommen.« »Wie lautet mein Auftrag?« fragte Landru, fröstelnd und immer noch benommen von dem Akt, dessen Bedeutung einzuschätzen ihm schwerfiel. »Eigentlich«, sagte Gabriel mit sardonischem Grinsen, »sind es sogar zwei Aufträge. Aber für den einen habe ich Entlastung besorgt. Es ist auch der unwichtigere von beiden …« Wieder bedeutete er Landru mit einer knappen Geste, ihm zu folgen. Gemeinsam passierten sie den innersten Kreis und gelangten in die Zone zwischen den beiden Ringen. Dort, wo der äußere Kreis verlief, schien auch das Ende dieser Welt zu liegen. Dahinter existierte keine Landschaft, nichts, was auch nur einen Hauch von Vertrautheit besaß. Wo sind wir? Sag endlich, wo du mich hingelockt hast! wollte Landru fordern. Da traf sein Blick auf das, was Gabriel ihm mit kalter Arroganz – oder war es einfach eine dunkle Abart menschlichen Stolzes? – präsentierte. Eine Skulptur, dachte Landru. Eine lebensgroße Statue … Die Konturen des Kunstwerks waren unter einem verhüllenden Tuch, farblos und in seiner Struktur an widernatürlich dichtes Spinnengeweb erinnernd, nur zu erahnen. Das Gebilde hatte Landrus Größe, und genau das machte ihn ärgerlich. »Was ist das?« verlangte er ungehalten zu wissen. Erst der lächerliche Ritterschlag, und nun noch eine Art Denkmal, mit dem Gabriel ihn in seinem gewöhnungsbedürftigen Humor verhöhnen wollte? Oder steckte etwas völlig anderes dahinter?
»Ich werde deine Erinnerung auffrischen …« Gabriel gab sich unbeeindruckt vom harschen Ton des Vampirs. Er glitt neben Landru und hob seine gespreizte Hand. Die Fingerkuppen preßte er halbmondförmig gegen den Schädelknochen des Kelchhüters, Daumen und Zeigefinger befanden sich etwa in Augenhöhe, und über diese Verbindung zog er wie mit einem Magneten Bilder aus Landrus Gedächtnis in dessen Bewußtsein. Nuiqtak … Der aus Heraks Laboratorien entwichene Klon … Landru konnte sich selbst dabei zusehen, wie er die Nachkommenschaft des Homunkulus mit seinen bloßen Händen vernichtete. Und wie sich Lilith Eden zur selben Zeit der Dorfältesten annahm, in deren Blut der Genvampir seinen Keim gesät hatte. Lilith brach den Verseuchten die Hälse. Auch der zweigeschlechtliche Vampir aus der Retorte, der in der Lage war, sich selbst zu reproduzieren, wurde ausgemerzt. Nichts aus den wahnsinnigen Experimenten Heraks sollte nach Landrus Willen überdauern … Etwas überdauerte dennoch, mischten sich fremde Gedanken zwischen die fast vergessenen Bilder aus dem Gestern. Die Erinnerungen flohen. Landru wankte und schüttelte Gabriels Berührung ab. »Was überdauerte?« »Das hier.« Der Gesandte Luzifers ergriff einen Zipfel des dünnen Tuchs und befreite das Verborgene von seiner Verschleierung. Landru stöhnte auf. Er blickte in ein Antlitz, das aussah wie sein eigenes – und in Augen, die nicht minder verwirrt waren als die seinen. Lebende Augen, nicht die einer Statue! »Wer ist das?« fragte der Mund des anderen, jener verdorbene Mund, in dem Landru sich ebenfalls wiedererkannte. »Und wieso sieht er aus wie – ich …?«
*
Landru glaubte die aufgerissenen Augen noch zu erblicken, als sein Ebenbild längst wieder verschwunden war. Gabriel hatte einfach mit den Fingern geschnippt – und der Fleck, an dem der Doppelgänger gestanden hatte, war verlassen. »Ich frage mich«, ergriff Landru schließlich das Wort, »wen du mit diesen Taschenspielertricks beeindrucken willst – und warum. Hattest du mir nicht Antworten versprochen?« »Ich bin immer noch dabei«, hielt Gabriel dagegen. »Ich sprach von zwei Aufträgen – und daß ich für einen Unterstützung hätte. Der Landru, den du gerade gesehen hast, war keine Sinnestäuschung. Er war aus Fleisch und Blut. Niemand wird einen Unterschied zwischen dir und ihm erkennen. Außerdem …« »Außerdem?« rann es mechanisch aus Landrus Mund. Verdaut hatte er Gabriels Eröffnung noch nicht. »… glaubt er selbst, der einzige und wahre Landru zu sein.« »Wie kann das sein?« »Hieltest du es für möglich, daß ich immer noch eine Kopie deiner Erinnerungen besitze? Eine Kopie, die ich jedem lebenden Wesen einpflanzen kann?« »Nichts ist unmöglich. Die Frage ist nur, würde es Sinn machen? Und wenn ja, welchen?« »Klug bemerkt. Der Sinn ist, daß ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Proteus wird –« »Proteus?« unterbrach Landru. »Der Name deines Doubles. Er wurde von zwei Inuit aufgezogen. Ich holte ihn zu mir, als er das Stadium erreichte, seine eigene Brut zeugen zu können.« »Er ist … ein Genvampir?« durchzuckte die Erkenntnis Landru. »So ist es.« »Wir haben damals also einen Kokon übersehen.« Landru schüttelte den Kopf, als handele es sich um ein unverzeihliches Versagen.
»Und übersehen habt ihr auch das Potential, das in den genetischen Schöpfungen Heraks steckte«, ergänzte Gabriel. »Was meinst du?« »Du bist ein weitgereister Mann und kennst sicher die Bedeutung des Namens Proteus.« »In der griechischen Mythologie war Proteus ein Meergott, der sich in viele Gestalten verwandeln –« Landru stockte. »Man muß es sich auf der Zunge zergehen lassen«, lächelte Gabriel, »was für ein Meisterstück Heraks Genie gelang, als er Magie und Gentechnik miteinander verwob, um diese Kreuzung aus menschlichen und vampirischen Genen entstehen zu lassen!« Landru hatte das Bild des in der Arktis getöteten Genvampirs noch deutlich vor Augen. Er war abgrundhäßlich gewesen – ein Monster wie aus schlimmsten Alpträumen entsprungen. Und trotzdem sprach auch Gabriel davon wie von einem Geniestreich? »Ich habe sein wahres Potential sofort erkannt«, unterstrich Luzifers Inkarnation noch einmal. »Du und Lilith, ihr habt dem Geschöpf keine Zeit gelassen, sich selbst zu finden und die ganze Bandbreite seiner Möglichkeiten zu entdecken.« »Was heißt das?« »Die Manipulation der Zellen, aus denen die Neue Vampirrasse hervorging, hat zu einem Defekt geführt, einer bleibenden Instabilität des Zellverbunds«, erklärte Gabriel. »Du meinst, die Züchtungen seien über kurz oder lang ohnehin nicht lebensfähig gewesen?« »Im Gegenteil! Sie hätten die Länder der Welt in einem unaufhaltsamen Siegeszug überrollt!« »Was hätte sie so unbesiegbar gemacht?« fragte Landru, obwohl er die Antwort schon ahnte. »Ein Talent, das Heraks Wissenschaftler gar nicht vorgesehen hatten: die Gabe der Verwandlung. Die Gabe, beliebige Gestalt anzunehmen – so wie Proteus jetzt deine Züge trägt und eine Kopie dei-
ner Erinnerungen.« Landru atmete in tiefen Zügen ein und aus. Er ist wirklich der Teufel, dachte er. Niemand sonst könnte solche Pläne schmieden und sie auch noch in die Tat umsetzen … Schließlich sagte er: »Was hat dieses Double für einen Auftrag? Und warum muß es selbst glauben, es sei ich?« »Der Gegner würde einen Betrug durchschauen, der nicht in jeder Hinsicht perfekt wäre. Proteus ist jetzt schon in Jerusalem. Er wird Anum gegenübertreten – als Landru. Und entweder gelingt es ihm, deinen Bruder zu vernichten, oder …« »Er hat keine Chance! Bist du wirklich so naiv zu glauben, er könnte es mit einem Hüter aufnehmen?« »… oder er wird selbst vernichtet werden. Ein Ergebnis wird so gut wie das andere sein«, fuhr Gabriel unbeirrt fort. »So oder so haben wir einen Sieg errungen, denn selbst wenn Anum überlebt, wird er die Jagd nach dir aufgeben. Und nur darauf kommt es an. Ich schütze dich, weißt du das überhaupt zu würdigen?« »Du tust nichts ohne Eigennutz«, zischte Landru. Die Ausführungen des Teufels hatten ihn stärker aufgewühlt, als er es zugeben wollte. Ein Doppelgänger von ihm war unterwegs nach Jerusalem, nein, war bereits in der heiligen Stadt! Dort würde er Anum angreifen und – Es war unvorstellbar, daß ein solcher Betrug gelingen könnte … »Nun zu dir«, unterbrach Gabriel seinen Gedankenflug, »und deiner Aufgabe.« Er stellte sich vor Landru und legte eine Hand auf dessen Brust, als wollte er die Ernsthaftigkeit seiner nächsten Worte unterstreichen. »Du wirst aufbrechen, um meine Jünger zu finden und um mich zu scharen. Es ist an der Zeit, daß sie erfahren: Ihr Vater ist zurückgekehrt – die Schmach von London ist überwunden! Der Moment der Rache und der finalen Schlacht ist nah! Merke dir die Bot-
schaft gut, die du ihnen überbringen mußt: Euer Vater ruft euch zu sich, Kinder! Euer Vater erwartet euch!« »Wer sind deine ›Kinder‹?« »Sie selbst nennen sich Archonten. Ihre Namen sind Zoe, Natan, Loth …« Gabriel zählte zwölf Namen auf. »Wann hast du diese Kinder … gezeugt?« fragte Landru erschüttert. Ganz neue, erschreckende Perspektiven taten sich auf. »Gezeugt ist der falsche Begriff. Ich habe sie gerettet, vor dem bereits sicheren Tod. Arme Kinderlein, deren Lebenslicht viel zu früh erlosch … Damals, in dem Jahr, als du zweimal existiert hast.« So schnell, daß Landru nicht ausweichen konnte, preßte Gabriel erneut seine Finger gegen die Stirn des Vampirs. Wie ein sengender Blitz zuckte etwas durch sein Hirn und erhellte eine Szene, eine Erinnerung, die zwar auch schon vor diesem Moment vorhanden gewesen war, von Landru aber noch nicht in den rechten Zusammenhang hatte gebracht werden können. Ein Zimmer in einer Herberge. Nona und ein Diener namens Philippe umstehen mich. Ich vermag keinen Finger zu rühren. Nona drückt mir den Lilienkelch in die Hand, aber auch er kann mir nicht helfen. Perpignan. Dies ist Perpignan, Nonas Geburtsstadt. Hier ist es über mich gekommen. Eine Lähmung … ein Fieber … völlige Ohnmacht … * Die Szene verschwamm. »Du erinnerst dich?« fragte Gabriel. »Ich erinnere mich«, antwortete Landru mit belegter Stimme. »Damals warst du für einen Monat doppelt auf der Welt präsent: als reines Bewußtsein, das in den Körper des Vampirs Racoon versetzt wurde – und als Landru, der in Nonas Begleitung nach Perpignan reiste, um die Ursache für den mysteriösen Diebstahl von Kindsleichen zu ergründen.« Landru kniff die Lippen zusammen. »Was hast du Nona damals angetan? Sie war viele Tage fort, und als sie in die Herberge zurückkehr*siehe VAMPIRA T38: »Das Gift des Bösen«
te, erinnerte sie sich nicht mehr daran, was in dieser Zeit geschah!« »Inzwischen weiß sie es wieder.« Landru zuckte leicht zusammen. »Hast du die Kindsleichen gestohlen? Kam Nona dahinter und –« »Aus diesen Kindern reiften meine Kinder«, verzichtete Gabriel auf eine genauere Erklärung. »1635 …«, murmelte Landru. »Die Archonten leben seit mehr als dreieinhalb Jahrhunderten und warten auf deine Rückkehr …?« Gabriel gab einen raunzenden Ton von sich, dann sagte er: »Leben wäre zuviel gesagt.« »Ist das mein Auftrag: sie zu suchen? Der Gefallen, den ich dir schulde? Das glaube ich nicht! Du könntest es selbst tun!« »Du begreifst mein Wesen nicht und auch nicht meine Natur. Ich kann fast alles selbst tun. Aber manches müssen andere tun, um ihm Wert zu verleihen. Ich schließe Verträge, ich pfände Seelen. Seelen haben Gewicht und Wert. Allein darum geht es. Die Saat zu säen. So viele Seelen wie möglich durch Abkommen miteinander zu vernetzen …« »Also stimmt es – dies ist meine Aufgabe?« Noch immer konnte Landru nicht glauben, daß Gabriel ihn zu reinen Botendiensten benutzte. Er hatte befürchtet, schreckliche Taten, die sogar seinen Horizont überstiegen, vollbringen zu müssen. »Es ist deine Pflicht«, bestätigte ihm Gabriel. »Erfülle sie, und bei unserem Wiedersehen wirst du wieder frei in deiner Entscheidung sein – ob es dir von Vorteil sein wird, sei dahingestellt …« Gabriels Hand wies in den Kern des Kromlechs, in die Gasse zwischen den Trilithen. »Geh!« Landru gehorchte fast unbewußt. Ein paar Schritte … … und er stand wieder zwischen Ruinen. Zwischen uralten, verwitterten Steinen, die den Betrachter über die Dimension und Bedeutung hinwegtäuschten, die dieser Ort offenbar auch noch in der Gegenwart besaß. Für die finstere Macht jenseits der Schwelle, jenseits des Tores …
Epilog Tief in den Ruinen Jerusalems Letzte Gedanken eines Mächtigen Der Tod erst öffnet mir die Augen und alle Sinne für die Wahrheit! Eben noch habe ich gekämpft wie um mein eigenes Leben – und nun plötzlich sehe ich die Sinnlosigkeit dieses Kampfes: Denn ein eigenes Leben nenne ich nicht mein eigen. Nicht mehr, seit jener Knabe mich aus dem eiskalten Land fortholte. Was mich getrieben und bewegt hat seitdem, gehört nicht mir. Dieses andere Leben und jeder einzelne Gedanke sind nur geliehen; ich durfte sie nur benutzen, nicht aber besitzen. Die Zornesgewalt, mit der ich gegen Anum vorging – sie war nur aufgesetzt, schlicht falsch. Der Haß auf Lilith Eden – er ist nicht der meine, nur geborgt, aber nicht wirklich empfunden. Er rührt nichts an in meinem Inneren. Nur Kälte herrscht dort, wie eine wehe Erinnerung an das Land, in dem ich mein Leben einst begann. Ich bin nicht der, für den sie mich halten. Und ich bin nicht der, für den ich mich hielt. Mein Name ist Proteus, das weiß ich nun, doch wahre Existenz findet ein Ende, kaum daß sie recht begonnen hat. Der Pflock in Lilith Edens Hand hat mir das Herz aufgespießt! Ich breite die Arme aus, um den Tod willkommen zu heißen. Er wird mich von diesem falschen Leben befreien. Der Schmerz, der ihn begleitet – ich ignoriere sein Feuer, gestatte ihm, alles niederzubrennen, was in mir ist. Zurück bleibt eine Lüge, die jene täuscht, die glauben, gesiegt zu haben. Über einen, den sie Landru nannten … Ich lache noch aus dem Jenseitigen zu ihnen hin. Als sei ein Mäch-
tiger so leicht zu töten! Die Narren aber leben weiter, so leicht zu täuschen und zu blenden von des Teufels Tun und Treiben. ENDE
Die Geisel Leserstory von Klaus Giesert Der Geruch ist das Schlimmste, das kann ich dir sagen. Dieser unangenehm würzige Geruch nach Schimmelpilzen. Darunter auch noch etwas anderes: der stechende, ammoniakartige Gestank nach Katzenurin. Doch nur noch ganz schwach; das Gewölbe, in dem ich mich befinde, hat wohl schon länger keine lebende Katze mehr gesehen … Unter uns gesagt – nichts ist, wie es zu sein scheint. Nichts ist so, wie es in deinen Augen aussieht. Glaub mir das … Nimm beispielsweise mich – und die Situation, in der ich mich wiedergefunden habe. Ich bin ein Gefangener. Eingeschlossen. Eingekerkert … Ich befinde mich in einem schäbigen dunklen, feuchten Keller. Zwischen der stets verriegelten Stahltür am anderen Ende des Gewölbes und meiner Bettstatt, das aus einem knarrenden Eisengestell und einer klammen Matratze besteht, durchsiebt ein festes Gitter aus fingerdicken Metallstäben die kalte Luft. Die Fenster auf meiner Seite des Kellers sind zugemauert. Wie gesagt: Ich bin ein Gefangener. Offiziell jedenfalls … Mindestens einmal alle vierundzwanzig Stunden bekomme ich »Besuch«. Dann schaut wieder dieser kleine alte Mann, dieser Sterbliche vorbei. Es beginnt stets mit seinen ungleichmäßigen, schlurfenden Schritten, mit denen er sich von der anderen Seite der Stahltür her humpelnd nähert – leise, zarte Laute, hinuntergedämpft bis auf einen Hauch von einem Geräusch … Du würdest es wohl nicht einmal hören können. Dann klimpern die Schlüssel an dem Bund, das er immer mit sich
führt, bis er den passenden gefunden hat und ihn mit zittrigen, gichtgeplagten Fingern in das Schloß schiebt. Anschließend drückt er mit einiger Anstrengung die schwere Türe auf, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob die schabenden und knarrenden Geräusche, die dabei entstehen, von den Scharnieren stammen oder von seinen alten Knochen und Gelenken. Dann schlurft er näher an das Gitter heran, wobei er sich aber niemals näher heranwagt als bis auf zwei Meter … Ich konnte von der ersten Begegnung an seine Angst riechen. Ein abstoßender, penetranter Gestank ist die Angst – fast noch stechender und unangenehmer als der Duft, den Schimmel und Katzenurin verbreiten. Ja, vom ersten Augenblick an wußte ich, daß er eine Scheißangst vor mir empfindet. Daß er sich Mühe geben muß, jedesmal aufs Neue, daß er die Kontrolle über seinen lädierten Schließmuskel und seine kranke Blase behält … Daß er nicht der Angst erlaubt, sich auf seinem fleckigen, faltigen Gesicht auszubreiten … oder in seiner Hose … Doch er kann die Furcht vor mir versteckt halten, wo er will – ich rieche sie dennoch und weiß, wie es in ihm aussieht … Tapferer alter Mann … Ein bißchen bewunderte ich ihn ja anfangs auch. Es nötigte mir Respekt ab, wie er mich überrascht hat, als ich hier unten in diesem Gewölbe aus meinem tiefen Tagesschlaf erwachte. Wie er schaffte, mich hierher zu bringen, während ich paralysiert war von der Kraft des Sonnenlichts … Raffinierter alter Mann. So gebrechlich und doch so mutig … So dachte ich zunächst. Mittlerweile weiß ich, daß ihm nur die Angst diese tollkühne Tat diktiert hat … die Angst um sein erbärmliches altes Leben, an dem er sich mit seinen gichtigen Fingern festkrallt. Die Angst vor dem großen Mysterium Tod, diesem unbekannten Land, in das die Sterblichen so ungern reisen … Daß ihm der Tod freilich bereits den Arm reicht, um ihn zu stüt-
zen auf dem Weg hinüber zur anderen Seite – auch das kann ich an ihm riechen. Zusammen mit dem Gestank der Angst und den zahlreichen Aromen, welche die Luft in diesem Keller mit sich trägt, ergibt das ein Sammelsurium von Düften – wie von einer Jauchegrube im Hochsommer … Ich sagte wohl bereits: Das Schlimmste ist der Geruch … »Ich weiß, was du bist.« Das waren die ersten Worte, die er an mich richtete. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, auch wenn es bereits eine ganze Weile her sein muß. Ich erinnere mich an sein Gesicht dabei – wie er gelächelt hat. Kein freundliches Lächeln. Bei diesen Worten schien er sogar für einen Moment seine Scheiß-Angst zu vergessen. Stattdessen: Überheblichkeit. Häme. Das Bewußtsein, Herr der Lage zu sein. Armer kleiner Mensch … »Ich weiß, was du bist.« – Als hätten diese Worte eine Macht, eine Magie, die mich dazu verdammte, mich auf dem feuchten Kellerboden vor ihm zu winden und ihn um die Gnade anzuwinseln, mich wieder aus diesem Gefängnis zu entlassen. Doch ich blickte ihn nur an in diesem Moment und verriet ihm nicht, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen. Erst wollte ich hören, was er überhaupt von mir wollte, was diese »Entführung« – oder wie immer man das, was er mit mir angestellt hatte, auch nennen mochte – bewirken sollte … »Ich weiß, was du bist«, wiederholte er und setzte hinterher: »Und ich will, daß du mich zu einem von deinesgleichen machst – dann lasse ich dich gehen. Vorher nicht.« Sprach’s und wartete auf meine Antwort. Oh, armer kleiner Mensch! Eine ganze Zeit geschah gar nichts. Dann jedoch konnte ich mein Gelächter nicht länger zurückhalten, und mir schien es, als würde unter dem brüllenden Lachen das marode Mauerwerk erzittern. Der Wechsel in seinem Gesichtsausdruck erheiterte mich nur noch
mehr – wie dieses überhebliche, siegessichere Lächeln aus seinem Antlitz gewischt wurde und etwas Neuem, Unsicheren und auch ein klein wenig Geschockten Platz machte. Auf jeden Fall sah er ziemlich dämlich aus … Wütend wandte er sich ab, humpelte ungelenk, aber hastig zur Stahltür zurück und knallte nach sich die Tür lautstark ins Schloß. Hinter meinem Gelächter konnte ich noch hören, wie er erstaunlich schnell vom Kellergewölbe fortlief – ein Feldherr, der der Stätte seiner schmachvollen Niederlage den Rücken kehrt und sich zur Flucht wendet, bevor der Gegner ihn noch zusätzlich in den Hintern treten kann … Seitdem kommt er jeden Tag einmal bei mir vorbei. Öffnet die schwere Tür, tritt zu mir herein und bleibt in sicherer Entfernung vor dem Gitter stehen, die Arme hinter dem Rücken gekreuzt. Dann steht er da und schaut zu mir herein in meine »Zelle«, die er wohl speziell für mich hat einrichten lassen. In diesem Augenblicken, in denen er vor mir steht, mit dem dicken Eisengitter zwischen uns, vergißt er für kurze Zeit seine Angst – und haßt mich … Er empfindet nur noch abgrundtiefen Haß gegen mich – ich kann es riechen. Dann geht dieser scharfe, aggressive Gestank von ihm aus, der Haß ist … Auch in seinen Augen kann ich es lesen. Und an seinem alten, ausgemergelten Leib sehe ich, wie er für diese kurze Zeit wiedererstarkt. Haß kann eine unglaubliche Energiequelle sein, weißt du? … Wir stehen uns dann gegenüber, jeder auf seiner Seite des Gitters, und schauen uns in die Augen. Für ein paar Minuten blicken wir uns gegenseitig in die Seele und schweigen. Bis er – jedesmal aufs Neue, als dächte er, ich würde irgendwann doch noch seinem Wunsch nachgeben müssen – endlich den Mund aufmacht und mich fragt: »Hast du es dir überlegt?« Nein, könnte ich zu ihm sagen, ich brauche darüber nicht nachzu-
denken … Ich könnte ihm auch sagen, daß es bei weitem nicht so einfach ist, einer der unseren zu werden, wie er es sich offensichtlich vorstellt … Auch könnte ich ihn fragen, ob er meint, alle Schattenseiten unseres Daseins zu kennen und bedacht zu haben … Doch ich sage nichts dergleichen. Ich will nicht mit ihm reden, als stünde vor mir jemand gleichen Ranges, mit dem ich tatsächlich ein Gespräch anfangen wollte. Diese Ehre – nein, diese Ehre erweise ich ihm nicht … Ich blicke ihn manchmal traurig an und sage: »Wieder um einige Zeit gealtert, alter Mann?« Und wenn ich das Frösteln sehe, das ihn bei diesen Worten befällt, fahre ich fort: »Und dabei ist die Zeit so kostbar für dich, nicht wahr?« Manchmal sage ich auch: »Du trägst bereits den Geruch deines Todes an dir. Er strömt aus deinen Kleidern und aus deinen Körperöffnungen, aus jeder Pore deines sterbenden Leibes.« Und lächelnd setze ich hinzu: »Und er ist heute noch ein kleines bißchen stärker als gestern.« Das Ende ist jedesmal dasselbe: Seine Miene verfinstert sich, und er wendet sich von mir ab und eilt, so schnell es sein verfallener Körper zuläßt, aus dem Gewölbe … Er könnte mich vernichten vor Haß und Wut, das weiß ich. Und mit jedem Tag, mit jedem Mal, wo ich ihn erniedrige, wächst der Wunsch in ihm weiter, meiner Existenz ein gewaltsames Ende zu bereiten. Doch gleichzeitig weiß ich, daß er es niemals tun würde – selbst wenn er wüßte, wie er es anstellen kann. Weil ich seine letzte Hoffnung bin. Der letzte Rettungsanker, mit dem er glaubt, sich zurück zum Ufer des Lebens ziehen zu können … Doch ich werde ihm nicht sagen, daß auch der »Segen« meines Daseins keine Medizin ist gegen die Krankheiten, die seinen alten Leib bereits so weit verwüstet haben. Daß auch das ewige Leben eines
Untoten nicht hilft gegen den Schaden, den die Tumore in seinen Innereien angerichtet haben. Der Krebs wuchert in seinen Organen wie der Schimmelpilz hier in den Ecken dieses verdammten Kellerverlieses. Nur darum will er einer der unsrigen werden – weil die Schulmedizin, die ganzen Operationen und Bestrahlungen, die Medikamente, Naturheilkunde und wer weiß, was er noch alles ausprobiert haben mag, um diesem langsam voranschleichenden Tod ein Bein zu stellen – weil dies alles bereits versagt hat! Weil wir seine letzte Hoffnung sind! Armer alter Mensch … Ich werde ihm nicht nachgeben, werde ihm nicht die Ehre erweisen, einer der unseren zu werden – nicht, nachdem er mich hier in diesem schimmeligen Loch eingekerkert und versucht hat, es von mir zu erpressen! … Du magst denken: Wenn du diesem verblendeten alten Mann nicht nachgibst, läßt er dich niemals frei – und wenn er erst einmal tot und begraben ist, kannst du in diesem Verlies verfaulen bis zum jüngsten Tag. Genau das denkt vermutlich auch er – gerade damit will er mich ja erpressen. Doch ich sage Dir eines: Mit dem Versuch, mich hier festzuhalten, hat er mich gedemütigt, wie noch kein Sterblicher vor ihm mich beleidigt hat! Das Mauerwerk hat genug Ritzen und Risse, um mich hundertmal von hier fortkommen zu lassen! Und mal ehrlich: Glaubst du auch nur einen einzigen Augenblick daran, daß mich dieser alberne Käfig aufhalten wird? Oder die Stahltür? Glaubst Du das wahrhaftig? Nichts ist, wie es zu sein scheint – erinnere dich, ich habe es dir bereits gesagt! Nein, ich werde hier die Zeit verstreichen lassen – denn Zeit spielt für ein Wesen, das so alt ist wie ich, keine wesentliche Rolle – und mitansehen, wie er jeden Tag seinem Tode näherkommt. Das ist
meine Rache für die Schmach, die er mir angetan hat! Für seine Überheblichkeit! An jenem Tag, an dem er nur noch Stunden von seinem Tod entfernt ist, werde ich vor seinen Augen diese Stahlgitter durchbrechen und ihn vernichten. Und seine Erkenntnis, daß alles eine Farce war, daß ich ihm nicht in den Tod folgen werde, wird mein letzter Triumph über ihn sein. Wie ich wissen kann, wann dieser Tag gekommen ist? Du kannst es Dir schon denken, nicht wahr? Ich werde es riechen …! © Klaus Giesert, Greifswalder Straße 190, 10405 Berlin ENDE
STONEHENGE und andere Steinkreise STONEHENGE – ein Name, der niemandem unbekannt sein dürfte und der bei jedermann ein und dasselbe Bild hervorruft: riesige Basaltblöcke, zu Kreisen angeordnet, im wörtlichen Sinne steinerne Zeugen der Vergangenheit. Wer aber tatsächlich Gelegenheit findet, Stonehenge aufzusuchen, der wird heute eher enttäuscht sein – denn viel ist nicht übriggeblieben von dieser nach wie vor rätselhaften Kultstätte. Der faszinierenden Wirkung der Mythen und Märchen, die sich um Stonehenge ranken, tut dies freilich keinen Abbruch. Wir VAMPIRA-»Macher« sahen uns davon sogar so stark inspiriert, daß wir kurzerhand noch ein paar weitere Geheimnisse in das bestehende Netz aus Fakten und Fiktionen hineingewoben haben – nachzulesen im vorliegenden und den beiden folgenden Romanen. Was uns indes nicht davon abhalten soll, euch einen Auszug dessen zu präsentieren, was andere über Stonehenge herausgefunden haben wollen. Stonehenge, inmitten der Weite von Salisbury Plain errichtet, gilt als Europas bedeutsamstes Heiligtum der Bronzezeit. Seine Anfänge liegen im 3. Jahrtausend v. Chr. am Ende des Neolithikums. Damals entstand in Stonehenge eine hölzerne Konstruktion, quasi ein Vorläufer des späteren steinernen Monuments. Fertiggestellt dürfte die Anlage um 1500 v. Chr. gewesen sein. 2100 v. Chr. entstand der innere Ring aus 60 kleineren, unbehauenen Steinen aus Blaubasalt. Nachweislich stammen sie vom etwa 300 Kilometer entfernten Prescelly Mountain (Wales). Der äußere Ring wurde im folgenden Jahrhundert errichtet. Bei einem Durchmesser von 30 Metern bestand er aus ebenso vielen paarweise angeordneten und mit Decksteinen verbundenen Pfeilern, von denen heute noch etwa die Hälfte steht. Von den Decksteinen befin-
den sich noch sechs in ihrer Originallage. Diese Oberschwellen oder Kappsteine sind der Kreisbahn entsprechend als Kreissegment behauen und haben an ihrer Unterseite herausgeschlagene Nuten, die genau auf die Zapfen der Monolithen passen. Wenig später dürfte dann auch das große Hufeisen mit seinen fünf Trilithen entstanden sein. Drei davon tragen noch heute ihre Kappsteine. Gesäumt war das Hufeisen ursprünglich von 19 Monolithen. In einer letzten Bauphase um 1500 v. Chr. wurden die Blaubasaltsteine umgesetzt und in die heute sichtbare Form gebracht. Damals kam auch der heute als Altarstein bezeichnete Monolith in die Mitte. Früher hielt man Stonehenge für einen Tempel, in dem keltische Druiden Menschenopfer darbrachten. Gemutmaßt wurde auch, daß die Steine Erdenergien freisetzen, so wie Akupunkturnadeln im menschlichen Körper. Andere wieder brachten sie mit Fruchtbarkeitsriten und einer Anbetung der Erdmutter in Verbindung. Der Astronom Sir Norman Lockyer schlug erst in unserem Jahrhundert eine weitere Hypothese vor, die noch heute als wahrscheinlichste angesehen wird: Stonehenge ist demzufolge eine Art Kalender, mit dem die alten Priester je nach Jahreszeit die Positionen von Sonne, Mond und Planeten bestimmen konnten. Durch die Lücken zwischen den Trilithen wurden Sonnen- und Mondaufgänge exakt festgelegt, während die Aubrey Holes – eine Reihe aus 56 Gruben – eine genaue Berechnung von Mondfinsternissen ermöglichte. Gerade diese Verquickung von zeremonieller Stätte mit astronomischem Kalender belegt, daß die Kenntnis der Jahreszeiten und des Zeitverlaufes eng mit der Religion verbunden war. Lockyer fand heraus, daß die Sonne zur sommerlichen Sonnenwende genau über der Hauptachse von Stonehenge aufgeht. Daher wurden hier traditionell Mittsommerrituale abgehalten. Zur Wintersonnenwende geht die Sonne auf der gegenüberliegenden Seite unter. Der große Megalithenkomplex bei Avebury in Wiltshire war einst noch eindrucksvoller als Stonehenge. Sein ältester Teil, das »Heilig-
tum«, stammt etwa aus derselben Zeit (3000 v. Chr.). Umgeben von mächtigen Kalkhügeln, stand hier einstmals der größte aller bekannten Steinkreise: ein Hauptring aus 90 Steinblöcken, jeder etwa fünf Tonnen schwer, und zwei kleinere Kreise mit je 30 Steinen. Eine Allee aus aufrecht stehenden Steinen verband Avebury mit dem nahegelegenen Tempel von Overton Hill. Im Mittelalter verschwanden viele Steine als Baumaterial oder wurden vergraben, um heidnische Rituale zu unterbinden. Die Zerstörung wurde fortgesetzt bis ins 19. Jahrhundert. Silbury Hill liegt südlich von Avebury. Dieser größte Grabhügel Englands entstand um 2500 v. Chr., hat einen Umfang von 183 Metern und ist 55 Meter hoch. Angeblich lag hier König Sil begraben, örtlichen Legenden nach zusammen mit einem Goldschatz und einem goldenen Pferd. Bei Ausgrabungen vor einigen Jahren fand man jedoch nichts von all dem. Eine Reihe von Begriffen, die mit Stonehenge im speziellen und Steinkreisen im allgemeinen Verwendung finden, sind zwar geläufig, ihre Bedeutung aber ist nicht immer bekannt. Nachfolgend werden die wichtigsten kurz erklärt. Das Wort Megalith stammt aus dem Griechischen und bedeutet großer Stein (mega heißt groß, lilthos Stein). Darunter versteht man für gewöhnlich einen stehenden Stein aus der Jungsteinzeit. Ein Trilith besteht aus zwei aufrechten Steinen, die oben durch einen waagrechten Steinbalken miteinander verbunden sind. Menhir bedeutet wörtlich Hünenstein und ist die bretonische Bezeichnung für stehender Stein. Als einen Dolmen (Hünengrab), ebenfalls ein bretonischer Ausdruck, bezeichnet man einen prähistorischen Steintisch, der aus stehenden Steinen errichtet ist, auf denen ein Megalith liegt, wodurch eine primitive Kammer entsteht, die nicht vor der Witterung geschützt ist. Steinkreise und Megalithen wurden nicht nur in Europa gefunden.
Es gibt Steinringe in Nordafrika ebenso wie stehende Steine in Nordamerika, die man lange Zeit nicht als solche erkannt hatte. Noch unerwarteter sind andere Fundorte: So wurden bearbeitete Megalithen in Indien entdeckt, nagakallu genannt, und Kreise aus phallusartigen Steinen in Mexiko. Dolmen fand man in der Nähe der tibetischen Grenze, einen Steinkreis beim Jangtse-Fluß in China, und Megalithen in Japan. Timothy Stahl (Quellen: »Rätselhafte Vergangenheit«, Moewig 1993; »Knaurs Kulturführer: Großbritannien und Irland«, Droemer Knaur 1983; »Kultstätten der Menschheit«, Heyne 1998)
Die Zusammenkunft von Adrian Doyle Schon seit vorchristlicher Zeit ist Stonehenge ein Ort der Mythen und Legenden und auch in der Gegenwart ein Wallfahrtsort für Menschen, deren Glaube im Übersinnlichen verwurzelt ist. Während Landru unterwegs ist, um die Archonten, eine verschollene Loge des Satans, zu finden und zu einem geheimen Ort zu führen, sammeln sich beim monumentalen Steinkreis von Stonehenge andere Scharen, die in Satans Diensten stehen: entflohene Schwerverbrecher aus einer nahegelegenen psychiatrischen Anstalt. Doch keiner von denen, die sich bei der uralten Kultstätte einfinden, vermag zu ahnen, welchen Plan er hier erfüllen soll. Der Preis, für den ihre Seelen gepfändet wurden, ist schrecklicher als der Tod …