Andreas Klee (Hrsg.) Politische Kommunikation im städtischen Raum am Beispiel Graffiti
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Politisc...
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Andreas Klee (Hrsg.) Politische Kommunikation im städtischen Raum am Beispiel Graffiti
Andreas Klee (Hrsg.)
Politische Kommunikation im städtischen Raum am Beispiel Graffiti
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich | Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16276-8
Inhalt
Andreas Klee Einleitung ............................................................................................................ 7 Dirk Lange Politik im Alltag. Überlegungen zu Grundbegriffen der Politischen Bildungs- und Politischen Kulturforschung ..................................................... 9 Lothar Probst und Philip Mehrtens Wohnort und jugendliches Partizipationsverhalten: Eine Betrachtung aus der Perspektive der Wahl- und Parteienforschung............................................................................................ 25 Stefan Luft Politik und Kommunikation. Akteure, Wege, Trends................................... 46 Michael Windzio Warum begehen Jugendliche Graffiti-Delikte? Kriminologische und stadtsoziologische Perspektiven. .............................................................. 67 Janna Volland Wie politisch sind American Graffitis? Eine exemplarische ........................ 91 Bestandsaufnahme Andreas Klee Graffiti als Medium des Politischen?!........................................................... 109 Die Autoren .................................................................................................... 120
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Einleitung
Andreas Klee
Sind die unzähligen Sprüche und Schriftzüge auf Häuserwänden, Haltestellen, Parkbänken, etc. nur Zufallsprodukte und unsystematische Mitteilungen oder wohnt ihnen eine weiterreichende Bedeutung inne? Sind Graffitis leere Parolen und Sprüche oder ernstzunehmende Projektionen sozialer, politischer und geographischer Phänomene des urbanen Lebens? Der hier vorliegende Sammelband stellt Graffitis als Sprache an den Wänden in das Zentrum einer interdisziplinär angelegten wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die ehedem ausschließlich als „Schmierereien“ und „Kritzeleien“ wahrgenommenen Redebeiträge werden dabei als spezifische Kommunikationsform des städtischen Raumes ernst genommen und zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Die Beiträge dieses Bandes fokussieren dabei allerdings nicht nur die konkrete Seite des Phänomens Graffiti, sondern entfalten ebenso einen theoretischen Rahmen zur eingängigen und weiterführenden Betrachtung. Der Aufsatz von Dirk Lange beleuchtet dabei zunächst das Verhältnis von Politik und Alltag im Allgemeinen und liefert dadurch einen wichtigen Beitrag um die Bezugnahme von konkreten alltagsweltlichen Phänomenen wie zum Beispiel Graffiti und dem abstrakten Begriff des Politischen zu gewährleisten. Der Aufsatz von Lothar Probst und Philip Mehrtens greift ebenfalls einen zentralen Aspekt einer möglichen sozialwissenschaftlichen Analyse von Graffiti auf. Durch den Aufsatz „Wohnort und jugendliches Partizipationsverhalten: Eine Betrachtung aus der Perspektive der Wahl- und Parteienforschung“ liefern sie einen wichtigen Beitrag zur Bewertung des Zusammenhangs zwischen den vorherrschenden sozialräumlichen Bedingungen und der Auswahl von GraffitiTatorten. Gerade im Hinblick auf politisch motivierte Wort-, Symbol- oder Parolen-Graffiti ist dies von besonderem Interesse. Analog zu der durch Probst und Mehrtens getroffenen Feststellung, dass sich das Wahlverhalten in Großstädten durch soziale Segregationsprozesse ausdifferenziert, lässt sich nämlich auch eine 7
Heterogenität der Graffiti-Lage im Stadtraum erkennen. Die Frage nach einer möglichen Bedingtheit dieser beiden Feststellungen verspricht eine tiefer gehende Erkenntnis beider Aspekte. Der nachfolgende Aufsatz von Stefan Luft widmet sich dem eigentlichen fachlichen Kern dieses Sammelbandes. Luft skizziert dabei zunächst die Bedeutung politischer Kommunikation für ein demokratisch strukturiertes Gemeinwesen. Dabei identifiziert er Medien als zentrale Akteure für die politische Kommunikation. Rechtliche Rahmenbedingungen sichern ihre Funktionsfähigkeit und postulieren die staatliche Aufgabe, sie zu sichern. Technische und ökonomische Entwicklungen haben die Medienlandschaft und die Wege politischer Kommunikation nachhaltig verändert. Auf diese Strukturveränderungen reagierten wichtige Akteure, indem sie ihre Öffentlichkeitsarbeit professionalisierten. Zu den wesentlichen Methoden Politik zu vermitteln, gehört auch die Inszenierung. Mit seinem Beitrag „Politik und Kommunikation“ liefert Stefan Luft eine dringend notwendige begriffliche Präzisierung und schafft dadurch einen Ansatzpunkt zur Bewertung von Graffiti als Medium der politischen Kommunikation. Michael Windzio bringt mit seinem Beitrag „Warum begehen Jugendliche Graffiti-Delikte?“ eine empirische Perspektive in den vorliegenden Sammelband ein. Seine Betrachtung des Phänomens Graffiti unter kriminologischen und stadtsoziologischen Aspekten liefert entscheidende Hinweise über individuelle und kontextuelle Determinanten der Motivation von Graffiti-Akteuren. Seine Argumentationen stützt Windzio dabei auf eine im Frühjahr 2005 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) in Zusammenarbeit mit mehreren deutschen Städten und Gemeinden durchgeführte Schülerbefragung. Dabei wurden 14301 Schüler der Jahrgangsstufe 9 unter anderem zu den inhaltlichen Schwerpunkten Medienkonsum, Viktimisierung, selbstberichtete Delinquenz, elterliches Erziehungsverhalten sowie Einstellungen zur Schule und zum Schulabsentismus befragt. Der Sammelband wird abgeschlossen durch die beiden Aufsätze von Andreas Klee und Janna Volland, die beide eine erste theoretische Annäherung an die engere Bezugnahme von Politik und Graffiti unternehmen. Während Klee die Graffiti-Form der Wort-, Symbol- und Parolen-Graffiti im Hinblick auf ihre Relevanz für politische Kommunikation beleucht, widmet sich Janna Volland der Analyse von American-Graffiti im Kontext politikwissenschaftlicher Theoriebildung. Der vorliegende Sammelband entwickelt Konturen eines bislang unbearbeiteten Forschungsfeld. Die einzelnen Beiträge helfen nachfolgende Arbeiten im Kontext von Graffiti und Politikwissenschaft Leerstellen zu identifizieren und entsprechende Fragestellungen zu entwickeln. Ein erster Schritt ist gemacht, weitere müssen folgen. 8
Politik im Alltag. Überlegungen zu Grundbegriffen der Politischen Bildungs- und Politischen Kulturforschung
Dirk Lange
Das Verhältnis von Politik und Alltag kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Es ist davon abhängig, welches Alltags- und Politikverständnis jeweils zu Grunde gelegt wird. Der Alltagsbegriff hat im Wesentlichen drei Bedeutungen. Erstens bezeichnet er das routinierte Alltagsdenken und -handeln, dessen logische und rationale Regeln es zu entschlüsseln gilt. Zweitens meint der Alltag den Ort des menschlichen Austauschs mit der Natur, anderen Menschen und der Gesellschaft. Er erfasst das Wechselverhältnis von subjektiver Erfahrung und objektiver Struktur. Drittens bezeichnet der Alltag eine soziale Praxis, durch die die gesellschaftlichen Bedingungen und die soziale Wirklichkeit erzeugt werden. Der Alltag ist in den 1980er Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Kritik an Gesellschaftstheorien geworden ist, welche die Sozialwelt als strukturell determiniert betrachtet haben. Stattdessen soll durch die Alltagskonzepte der Austauschprozess zwischen aktivem, interaktivem und reaktivem Handeln von Menschen und der von ihnen vorgefundenen Wirklichkeit konzeptionell erfasst werden. Der Alltag stellt eine Verbindungsstelle dar, an der Wirklichkeit durch permanente soziale Praxis wahrgenommen, erfahren, bedeutet, konstruiert und verändert wird. Um den Schlüssel zur Kompatibilität von Alltag und Politik zu finden, werden im Folgenden diejenigen Tendenzen innerhalb der Politikwissenschaft untersucht, welche die strikte Dichotomie von privater und öffentlicher Sphäre - und damit die Ausgrenzung des Alltags aus dem Politischen - in Frage stellen. Die dabei zu erkennenden Reformulierungen des Politischen lassen sich in zwei Hauptrichtungen differenzieren und als Erweiterungen beziehungsweise Modifi-
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kationen des Politikbegriffs kenntlich machen. Abschließend soll ein Politikverständnis formuliert werden, das die politische Dimension des Alltags erfasst.1 1
Der Wandel des Politikverständnisses
Bei einem Blick in die traditionelle Politikwissenschaft ist zunächst fraglich, ob überhaupt von einer politischen Relevanz des Alltags gesprochen werden kann. Etymologisch betrachtet, begründet sich das Politisch durch den Ausschluss des Alltags. Die an den Alltagsbegriff geknüpften Konnotationen verweisen in den Bereich des ‘oikos’ (den privaten Haushalt) und damit in das Nichtpolitische. In der griechischen Wortbedeutung entsteht der ‘politikon’ (das die Öffentlichkeit Betreffende) erst aus der dichotomischen Gegenüberstellung zur Privatsphäre (vgl. Alemann 1994a: 136). Trotz des Strukturwandels, den die Öffentlichkeitskategorie im Laufe der Begriffsgeschichte vollzogen hat, blieb der Ausschluss der Privatsphäre ein Fundament des Politischen (vgl. Holland-Cunz 1994). Daraus resultiert ein Politikverständnis, das den Ort des Politischen eng an die Regelung der öffentlichen Belange knüpft. Der Staat, seine Institutionen und das damit verbundene Handeln sind in dieser Tradition der politikwissenschaftliche Untersuchungsgegenstand ‘par excellence’. Die Suche nach der politischen Bedeutsamkeit des Alltags verweist auf diejenigen politikwissenschaftlichen Ansätze, die das Politische vom Staat gelöst haben. Klaus von Beyme begreift diese Veränderungen als Teil eines in den sechziger Jahren einsetzenden Paradigmenwechsels, den er durch die Differenzen zwischen dem politischen Denken der Moderne und der Postmoderne charakterisiert sieht. Der Wandel lässt sich festmachen
an der Abkehr von der Suche nach Makrotheorien hin zu fragmentiertem Denken, an der Betonung der Interdisziplinarität, ian der Radikalisierung des Pluralitätsbegriffs und an der Aufwertung des Kulturellen gegenüber dem Primat der Politik oder der Ökonomie (vgl. von Beyme 1991: 12-24 u. 187-200).
1 Der Beitrag basiert auf Kapiteln des Buches: Dirk Lange (2003): Politische Alltagsgeschichte. Ein interdisziplinäres Forschungskonzept im Spannungsfeld von Politik- und Geschichtswissenschaft. Leipzig: Universitätsverlag.
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Diese Neuorientierungen sind „keineswegs das Ende von Politik überhaupt, sondern nur die Verabschiedung dieses traditionellen Typus von Politik sowie der Übergang zu einer anderen Politik, zu einer Politik, die sich nicht mehr primär als Einheitsgarant, sondern als Vielheitsgarant versteht” (Welsch 1988: 59). Die Globalebene staatlicher Politik habe gegenüber den Vermittlungsprozessen zwischen politischer Mikro- und Makroebene an Bedeutung verloren. In dieser Konzeption ist „Politisches […] schon im alltäglichen Umgang virulent “ (ebd.: 60) und muss von dort aus in seiner konstitutiven Bedeutung für makropolitische Prozesse und Strukturen entziffert werden. Diese Denkweisen stellen die Dominanz politikwissenschaftlicher Metatheorien grundlegend in Frage und steigern das Interesse an der politischen Dimension von Mikroprozessen. Die Kategorie des Alltags gewinnt dadurch für die Politikwissenschaft an Bedeutung. Da aber die politikwissenschaftliche Relevanz vom jeweils zugrunde gelegten Politikbegriff abhängig ist, soll im Folgenden derjenige Politikbegriff herausgearbeitet werden, für den die Alltagsorientierung ein notwendiges Pendant ist. Bei den Bemühungen, als politikfern geltende Bereiche dem Politikbegriff zu subsumieren, lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden. Die eine führt zu einer Erweiterung des Politikbegriffs, die andere zu seiner Modifikation. 2
Erweiterungen des Politikbegriffs
Als Erweiterungen des Politikbegriffs können diejenigen Ansätze angesehen werden, die versuchen, konventionelle Grenzen des Politischen aufzuweichen. Kritisiert wird dabei sowohl die Privatheit-Öffentlichkeit-Dichotomie als auch die Trennung von Staat und Gesellschaft. Beide Modelle werden nicht in ihrem Grundsatz hinterfragt. Im Zentrum der Kritik stehen die Ein- und Ausschlusskriterien dessen, was als politisch definiert wird. Beispielhaft für die Kritik der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre ist die Auseinandersetzung der australischen Politiktheoretikerin Carole Pateman mit den frühneuzeitlichen Vertragstheorien. Unter dem Titel „The Sexual Contract“ (Pateman 1988) zeigt Pateman auf, dass die Vertragstheorien der Moderne den eigentlichen Grundvertrag zwischen den Menschen, den sie zu erklären beanspruchen, nur zur Hälfte erfasst haben. In den Theorien der klassischen Vertragstheoretiker (Hobbes, Locke, Rousseau) sei durch deren Konzentration auf die zwischenmenschlichen Regelungen in der öffentlichen Sphäre die zweite Hälfte des Grundvertrages, der Geschlechtervertrag, unberücksichtigt geblieben. In der durch den Geschlechtervertrag geprägten Privatsphäre sei die Delegitimierung des paternalistischen Rechtssystems unterlassen worden. „Das ur11
sprüngliche patriarchale Recht“ (Dies. 1994: 75) behielt für den Ehevertrag seine Geltung. Pateman arbeitet heraus, dass die Konstruktion des Gesellschaftsvertrags den Gesellschaftsbegriff auf die öffentliche Sphäre reduziert und dadurch die gesellschaftlichen Beziehungen der Privatsphäre naturalisiert hat. Indem nur der öffentliche Bereich der Gesellschaft als politisch relevant begriffen werde, vernachlässige letztlich auch die Politikwissenschaft ihre Aufgabe, Fragen nach der Genese und den politischen Auswirkungen dieser Sphärentrennung zu stellen (vgl. ebd.: 82). Mit dem Verweis auf den Geschlechtervertrag problematisiert Pateman die der Politikwissenschaft zugrunde liegenden Dichotomien (privat/öffentlich und natürlich/gesellschaftlich). Die ‘privaten’ Geschlechterbeziehungen sollten demnach, wie andere soziale und politische Konstellationen (z.B. Aufstieg des Bürgertums, Klassenverhältnis), als Konfliktlagen begriffen werden, die sich in staatlichen und politischen Institutionen verfestigt haben. Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnis müssten Staatstheorien „die staats- und politikstrukturierende Bedeutung von Geschlecht sowie die Geschlechterverhältnisse gestaltende Kraft von Staat und Politik“ (Kreisky 1995: 87) einbeziehen. Als politisch relevant kann dann nicht mehr nur der öffentliche Bereich betrachtet werden, sondern gerade die Tatsache der Existenz eines öffentlichen Bereichs, der dem privaten und alltäglichen gegenübergestellt ist, wird zum Politikum. Dadurch ist die Konzentration der Politikwissenschaft auf die Öffentlichkeit und die Ausschließung des Alltags aus dem Politikbegriff delegitimiert. Bei den klassischen Vertragstheoretikern (mit Ausnahme von Hobbes) hat die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre jedoch eine zweite Bedeutung. Trotz ihrer patriarchalen Fundierung stellt die Privatsphäre in der Konzeption Lockes einen Schutzraum vor den Allmachtsansprüchen des Staates dar. Dieser positive Konnex der Privatheit-Öffentlichkeit-Dichotomie geht für Pateman verloren, weil sie diese untrennbar mit der Frau-Mann-Dichotomie verbunden sieht. Pateman lässt außer Acht, dass unter anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und bei unterstellter Gleichheit der Geschlechter, Frauen und Männer sich gleichermaßen zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre hin und her bewegen könnten. Das würde bedeuten, dass erst die Abschaffung des patriarchal strukturierten Geschlechtervertrags den mit dem Gesellschaftsvertrag verbundenen Emanzipationsvorstellungen zum Durchbruch verhelfen könnte. Aber auch in diesem Fall müssten die durch den Geschlechtervertrag geregelten ‘privaten’ Beziehungen zwischen Männern und Frauen nicht mehr als dem Politischen äußerlich betrachtet werden. Eine weitere Eingrenzung des Politikbegriffs resultiert aus einem in der Tradition Hegels stehenden Staatsverständnis. In Hegels Konzept der ‘bürgerlichen Gesellschaft’ sind Staat und Gesellschaft getrennt, der ‘Bürger’ wird als 12
zweigeteilt vorgestellt (vgl. Hegel 1974: 472 ff.). Als ‘citoyen’ bewegt er sich im Bereich des politisch-administrativen Systems, als ‘bourgeois’, hingegen lebt er im ökonomischen, gesellschaftlichen System, dem Bereich der Nicht-Politik. Hegel hat mit dieser Konzeption das Problem der Vermittlung zwischen Einzelwillen und Allgemeinwohl gelöst. Während die widerstrebenden Interessen der Privatmenschen in der Gesellschaft aufeinander stoßen, werden sie gleichzeitig im politischen System integriert. Daraus resultiert ein Politikverständnis, welches das Zentrum des Politischen im Staat verortet. Antonio Gramsci hat mit seinem Konzept der Zivilgesellschaft die strikte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft überwunden. Er betrachtet den ‘bürgerlichen Staat’ als konsensual organisiert. Der Staat basiere letztlich auf einer ‘kulturellen Hegemonie’, die in der Zivilgesellschaft durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Praktiken hergestellt werde (vgl. Gramsci 1991). Diesem Modell liegt ein dezentralisierter Staatsbegriff zu Grunde, der die Beziehungshaltigkeit zwischen politischer und Zivilgesellschaft umfasst. Ein anderes Konzept der Zivilgesellschaft entwickelte Jürgen Habermas (1961). Er konzipiert mit der Zivilgesellschaft eine dritte Sphäre im Hegelschen Modell, da er gesellschaftliche Aspekte der Kommunikation, Öffentlichkeit oder Solidarität weder staatlich noch ökonomisch (vgl. Habermas 1992: 364; Schmalz-Bruns 1995: 257ff.) vermittelt sieht. In der Zivilgesellschaft bilden demnach kommunikative Öffentlichkeiten ein sensorisches System aus, dass zwar keine originär politische Funktion besitzt, jedoch durch die Wahrnehmung und Rationalisierung von gesellschaftlichen Stimmungs- und Problemlagen den allgemeinen Regelungsbedarf einer Gesellschaft beeinflusst. Diese deliberative Form demokratischer Beteiligung lässt sich konzeptionell nicht mehr durch den Staat im engeren Sinn einfangen. In einem weiteren Sinne muss er auch die politikrelevanten Aspekte des Alltags umfassen. In der historischen Entwicklung wurde die Spaltung des Bürgers in ‘citoyen’ und ‘bourgeois’ durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess in Frage gestellt. Im Rahmen der Regulation wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen entstanden neben den rein hoheitlichen Aufgaben des Staates weitere Politikfelder. Durch bildungs-, familien- und sozialpolitische Maßnahmen griff der Staat in Lebensbereiche ein, die bislang als politikfern galten. Durch Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik reglementiert er Problemfelder, die bislang der Marktfähigkeit interessengeleiteter Bürger anvertraut waren. So hat der Staat seine Aufgabenbereiche über die klassischen Politikfelder hinaus erweitert und Bereiche der Gesellschaft politisiert. Angesichts der erfahrbaren sozialen Ungleichheiten, die durch die ökonomische, nichtpolitische Sphäre bewirkt wurden, stellt sich die Gestaltungspotenz des Staates gleichzeitig in Frage. Regelsetzende Veränderungen wurden immer 13
stärker im gesellschaftlichen Sektor hervorgerufen, so dass der Staat an Entscheidungs- und Steuerungskompetenz einbüßte. In den Staatstheorien drückte sich dieser Wandel einerseits in der Popularität von Ansätzen aus, die staatliche Handlungsmöglichkeiten den gesellschaftlichen Bedingungen unterordneten, (vgl. Esser 1995: 736f.) andererseits wurde eine erweiterte und entinstitutionalisierte Sicht von der Rolle des Staates entworfen (vgl. Eley 1994: 19). In einem erweiterten Staatsverständnis wird davon ausgegangen, dass die beschriebene Entwicklung nicht mit einem Autonomieverlust politischen Handelns gleichgesetzt werden kann. Denn das Potenzial zur Generierung und Implementierung allgemeiner Verbindlichkeiten verschiebt sich lediglich in ein „subpolitisches System“ (Beck 1986: 305), weshalb der Ort der Politik ‘unscharf’ geworden sei. Aus demokratietheoretischer Perspektive entsteht durch diese Entwicklung das Problem, dass die im gesellschaftlichen System entstandene ‘Subpolitik’ den parlamentarischen Kontroll- und Legitimationsansprüchen entzogen ist. Die Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen kann nicht mehr durch die traditionellen Institutionen des Staates gewährleistet werden. Stattdessen stehen die neuen Formen der Politik unter einem Rechtfertigungsdruck gegenüber außerparlamentarischen Initiativen und sozialen Bewegungen. Dadurch tritt einem tendenziell entmachteten Staat eine wachsende Politisierung der Gesellschaft gegenüber, die Staatsfunktionen übernimmt (vgl. ebd.: 300-374). Durch das Modell der Entgrenzung des Staates ist es gelungen, einige Aporien eines um den Staat zentrierten Politikbegriffs aufzulösen. Letztendlich wird durch den „Kampf um die Grenze zwischen dem politischen und nichtpolitischen Bereich“ (Hennies 1973: 61) die konzeptionelle Trennung des Bürgerbegriffs in ‘citoyen’ und ‘bourgeois’ aber nicht obsolet. Gewissermaßen wird eine weitere Figur hinzugefügt. Als Zwitterfigur entsteht eine Art ‘bouryen’, der sich zwar in der gesellschaftlichen Sphäre bewegt, aber politische Veränderungspotenziale in sich trägt. Implizit wird dadurch ein staatsbezogener Politikbegriff reproduziert, da die Verknüpfung des Politischen mit dem Staatshandeln nicht aufgehoben, sondern das Staatsverständnis erweitert wird. Der Alltag bleibt in dieser Konzeption zunächst von Politik betroffen. Er ist Objekt des politischen Gestaltungswillens eines erweiterten Staates. Jedoch bilden sich in Gestalt von Medienöffentlichkeiten, Bürgerinitiativen und Protestbewegungen „Zwischenformen wechselseitiger Kontrolle, die den parlamentarischen Zentralismus meiden und doch vergleichbare Rechtfertigungszwänge schaffen” (Beck 1986: 368). Zur Erfassung dieser erweiterten politischen Institutionen der Zivilgesellschaft wird es für die Politikwissenschaft wichtiger, die Wahrnehmungen und Deutungen der ‘neuen’ Politiken zu untersuchen. Die In-
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terdependenzen zwischen erweitertem Staatshandeln und Alltagserfahrungen gewinnen an Gewicht (vgl. Schmalz-Bruns 1995). Die Frage, wie sich Politik im Alltag auswirkt und welche Erfahrungen mit Politik den Entstehungsprozess von neuen sozialen Bewegungen befördern oder behindern, kann nicht hinreichend aus der Logik sich reproduzierender Systemstrukturen beschrieben werden. Sie erfordert den unvoreingenommenen Blick alltagsorientierter Ansätze, der sich dem Neuen aus der Innenperspektive zu nähern sucht und somit einen Zugang zu den subjektiven Erfahrungen liefert, die zur Organisation in Basisinitiativen animiert haben. Die durch die Alltagskategorie erfassten Verarbeitungsprozesse von politischer Wirklichkeit bekommen vor dem Hintergrund eines erweiterten und entinstitutionalisierten Staatsverständnisses eine größere politische Bedeutung. 3
Modifikation des Politikbegriffs
Neben den erörterten Grenzverschiebungen zwischen dem Politischen und dem Nicht-Politischen hat der Politikbegriff einige grundlegende Neuerungen erfahren. Zur Veranschaulichung dieser Positionen, die auf die politische Relevanz des Alltags verweisen, werden im Folgenden das kulturalistische Politikverständnis und die politische Bedeutung des horizontalen Machtbegriffs herangezogen. Beispiele liefern die feministische Theorie und die Foucaultsche Machttheorie. Abschließend und zusammenfassend wird auf die Problematik eingegangen, die ein polyzentrisches Politikverständnis mit sich bringt. Der Einfluss der feministischen Theorie auf die Politikwissenschaft wurde am Beispiel der Privatheit-Öffentlichkeit-Dichotomie bereits diskutiert. Die feministischen Ansätze haben aber nicht nur die Grenzen des Politikbegriffs erweitert, sondern auch zu seiner grundlegenden Modifikation beigetragen. Dabei lässt sich zwischen dem liberalen und dem radikalen Feminismus differenzieren (vgl. Benhabib/Nicholson 1987: 555f.). Im Unterschied zum liberalen Feminismus, bei dem die Begrenzung des Politischen auf die öffentliche Sphäre nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, sondern die Grenzen nur erweitert und flexibler gedeutet werden, kritisiert der radikale Feminismus die generelle Begrenzung eines staatszentrierten Politikbegriffs. Seine Vertreterinnen sehen die in der Privatsphäre erfahrene Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen nicht mehr als ein gesellschaftliches Defizit, das durch die Teilhabe der Frauen an der bislang verschlossen gebliebenen öffentlichen Sphäre behoben werden könnte. Das im Privaten verortete Ungleichheitsverhältnis zwischen Männern und Frauen wird nun selbst als ein politisches Verhältnis begriffen, das in direktem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen steht. Die alltägliche 15
Praxis, die sich auf die Erhaltung, Gestaltung, Veränderung oder Abschaffung dieser Verhältnisse bezieht, gilt hierbei als politisches Handeln. Entscheidend für das Politikverständnis der radikalen Frauenbewegung ist nicht mehr die Zentrierung um ein – wie auch immer erweitertes – politisches System, sondern „der Bezug des Handelns auf eine gesamtgesellschaftliche Herrschaftsstruktur […] und die Intention, über den ‘privaten’ Konflikt des Augenblicks hinaus auf eine gesamtgesellschaftlich wirksame Neuregelung hinzuwirken” (Greven 1994a: 288). Es stellt sich die Frage nach den politischen Alltagspraktiken, die es ermöglichen, dass der „Ausschluß von Frauen aus Recht und Politik als ‘vernünftig’“ (List 1993: 162) unterstellt werden kann. Es geht um die politischen Prozesse, Strukturen und Inhalte im Alltag: Alltagspolitik. Im Verlaufe der historischen Entwicklung des Gender-Begriffs hat sich die feministische Theorie durch die theoretische Trennung von biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gender) – an der das kulturalistische Politikverständnis beispielhaft dargestellt werden soll – das Medium geschaffen, um die politische Anthropologie nach der „die bestehenden Geschlechtsrollen und -identitäten mit dem Hinweis auf die biologische Verschiedenheit der Geschlechter” (Maihofer 1994: 173) gerechtfertigt wurden, zu problematisieren. Die jeweiligen Zuschreibungen, die an das biologische Geschlecht geknüpft werden, gelten somit als veränderbar und werden durch den Gender-Begriff zur politischen Verhandlungsmasse. Ein kulturalistisches Politikverständnis kreist um die Frage, wie die für das soziale Zusammenleben doch relativ irrelevanten biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern ihre enorme soziale Bedeutung gewinnen können (vgl. Feministische Studien 1993). Politikwissenschaftlich besonders relevant ist dabei nicht mehr nur die Wirkung von Geschlecht als gesellschaftlicher Strukturkategorie, sondern die Frage, wie sich welche Arten von Asymmetrien über die Bezugnahme auf das Geschlecht alltäglich herstellen. Der prozessualisierte Geschlechtsbegriff des ‘doing gender’ verweist darauf, dass „die ‘Strukturen’ der Persönlichkeit und der Gesellschaft” in den Praktiken von Menschen bestehen, „die sich in ihrem Alltagsleben kontinuierlich zu Frauen und Männern machen und machen lassen” (Hirschauer 1993: 56). Wodurch werden sie stabilisiert und wie sind sie veränderbar? Diese politikrelevanten Fragen sind mit einem staatszentrierten Politikbegriff nicht mehr zu beantworten. Zur Untersuchung der Habitualisierung und Typisierung der sozialen Geschlechtercharaktere ist die Politikwissenschaft in den Bereich der Kultur verwiesen. Kultur, verstanden „als die Erzeugung, Interpretation, und Infragestellung von Bedeutung” (Eley 1994: 21), bekommt dadurch eine politische Dimension, die im Alltag entschlüsselt werden kann. Im Rahmen des radikalen Konstruktivismus wird auch das biologische Geschlecht als sprachlich und kulturell präformiert betrachtet. Die Konstruktions16
hypothese wird dabei insofern ausgedehnt, als die Sex-Gender-Dichotomie in einem erweiterten Gender-Begriff aufgehoben wird. Der scheinbar natürliche Unterschied zwischen Frau und Mann wird als eine „bestimmte kulturelle Konfiguration der Geschlechtsidentität“ begriffen, welche „die Stelle des ‘Wirklichen’ eingenommen [hat] und durch diese geglückte Selbstnaturalisierung ihre Hegemonie festigen und ausdehnen“ (Butler 1991: 60) konnte. Gender bezeichnet dann sowohl die diskursive Konstruktion einer Geschlechterstruktur als auch die kulturelle Zuschreibung von Geschlechtsidentitäten. Eine politikwissenschaftliche Genderanalyse interessiert sich demnach für „das Soziale, das Politische, kurzum das Gewordensein von Frau bzw. Mann“ (Rosenberger 1999: 61). Das kulturanthropologisch beeinflusste Politikverständnis erschließt einen neuen politikwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. Mit den alltäglichen Prozessen der Sinngebung und Bedeutungszuschreibung werden Phänomene erfasst, die bislang als ahistorische natürliche Konstanten der politischen Wirklichkeit unterstellt worden sind. Im Alltag werden die scheinbaren politischkulturellen Selbstverständlichkeiten konstruiert. Im Alltag können sie auch denaturalisiert und verändert werden. Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Alltagspolitik leistete Michel Foucault durch die Konzeption eines horizontalen Machtverständnisses. Die klassische Politikwissenschaft begreift Macht als einen Besitz von Rechten, die entweder nach einem Vertragsmodell an den Staat übertragen oder gewaltsam angeeignet werden. Diese vertikale Dimension bestimmt auch Max Webers Machtdefinition, die für die moderne Politikwissenschaft grundlegend geworden ist. Weber bestimmt Macht als „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht “ (Weber 1976: 28). Die ‘Chance’ bleibt dabei als eine Ressource unterstellt, die zwischen Macht und Ohnmacht unterscheidet. Der Machtbesitz erlaubt es dem politischen Souverän, mittels zentral gelenkter Institutionen zu regieren, Herrschaft auszuüben und somit allgemein verbindliche Regelungen und Entscheidungen durchzusetzen. Dieses Verständnis von Macht erfordert die politikwissenschaftliche Konzentration auf Staat und Regierung und vernachlässigt die Perspektive des Alltags. Foucault hingegen ist davon überzeugt, dass die traditionellen Machtkonzeptionen ihre Aussagekraft für die in modernen Gesellschaften herrschenden Mechanismen der sozialen Integration einbüßen. Foucault ‘verflüssigt’ das vertikale Machtverständnis, indem er die horizontalen Dimensionen in den Mittelpunkt seiner „Mikrophysik der Macht” (Foucault 1976) stellt. Er versteht Macht als die „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren” (Ders. 1977: 113; vgl. ebd.: 126.)
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Der Staat entspricht in Foucaults Verständnis einem System von Kräfteverhältnissen, die sich in ihm verdichtet haben. Er ist dann keinesfalls mehr als Souverän der Macht vorstellbar. Denn für Foucault kommt die Macht „von unten, d.h. sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt“ (Ebd.: 115). Er benennt als Ausgangspunkt der Macht weder Strukturen noch Personen. Die Macht befindet sich bei ihm nicht mehr in den Kerninstitutionen des Staates, sondern funktioniert „außerhalb, unterhalb und neben den Staatsapparaten, auf einer viel kleineren und alltäglicheren Ebene” (Zit. n. Eley 1994: 20). Dadurch wird die traditionelle Aufteilung zwischen politischer Macht (in der öffentlichen Sphäre) und sozialer Macht (in der privaten Sphäre) obsolet. Beide sind letztlich in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Diskursen verankert. Die Chance zur politischen Einflussnahme ist damit nicht mehr von den öffentlichen Institutionen abhängig. Diese sind selbst ein Reflex auf die machtgeladenen Handlungen und Beziehungen des Alltags und auf die unausgesprochenen Annahmen, die diesen prägen. Wenn politische Macht als ein „kulturelles Konstrukt” (ebd.) angesehen werden muss, dann wird die alltägliche Erzeugung, Interpretation und Infragestellung von Bedeutung zu einem politikrelevanten Untersuchungsobjekt. Das polyzentrische Politikverständnis dezentriert das Politische vom Staat. Es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass zur Generierung und Implementierung von allgemeiner Verbindlichkeit eine zentrale Instanz benötigt wird. Stattdessen finde eine Vernetzung von Subpolitiken statt, die nicht mehr hierarchisch auf ein Zentrum zulaufen (vgl. Scharpf 1991). Michael Th. Greven schlägt vor, die dem staatszentrierten Politikbegriff zugrunde liegende Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft in dem Begriff der „politischen Gesellschaft” (Greven 1990) aufzuheben. Mit diesem Begriff bezeichnete Jürgen Habermas schon 1961 die Auslagerung politischer Funktionen in die Gesellschaft. Während Habermas in dieser Tendenz jedoch eine „Entpolitisierung der Massen bei fortschreitender Politisierung der Gesellschaft “ (Habermas 1961: 34) erkannte, betont Greven an der Politisierung der Gesellschaft die Chance zur Politisierung der Massen. Mit der ‘politischen Gesellschaft’ sollen die neu ins Blickfeld gerückten Problemfelder der Meso- und Mikroebene erfasst werden. Unter Berücksichtigung der in einer politischen Gesellschaft neu entstehenden Partizipationsmöglichkeit wandeln sich bei Greven die demokratischen Legitimationsdefizite in neue Legitimationspotenziale. Der Begriff der ‘politischen Gesellschaft’ sei durch zweierlei Entwicklungstendenzen gerechtfertigt. Neben einer „Politisierung ‘von unten’ durch gesellschaftliche Praxis” seien die modernen Gesellschaften durch eine 18
„Politisierung durch staatliches Handeln ‘von oben’” (Greven 1994a: 290) gekennzeichnet. Darunter versteht er die theoretische Möglichkeit, dass durch die Ausbreitung staatlicher Regelungstechniken in modernen Gesellschaften alle Bereiche politisch werden können. Vor dem potenziellen Zugriff durch staatliche Regelung sei in der politischen Gesellschaft „kein gesellschaftliches Verhältnis, keine soziale Sphäre, keine Institution und keine der zentralen sozialen Prozesse der gesellschaftlichen Reproduktion” (ebd.) geschützt. Greven unterscheidet sein Verständnis der politischen Gesellschaft von Begriffsbestimmungen, die versuchen „einen bestimmten Bereich menschlichen Handelns und die in diesem Bereich ausgeführten Funktionen abzugrenzen gegen andere Bereiche, insbesondere in der deutschen Tradition dann gegen den Staat und das Private“ (Greven 1999: 16). Demnach kann der Politisierungsgrad einer Gesellschaft nicht als Indikator für die Unterscheidung zwischen demokratischen und totalitären Systemen herangezogen werden. Wird aber politisches Handeln außerhalb der Institutionen und Organisationen verortet, dann zeigt sich gerade, dass totalitäre Systeme eben keinen Raum für Alltagspolitiken lassen, sondern sogar versuchen, diese zu behindern. Die Politisierung ‘von oben’ lässt sich offenbar nicht von der ‘von unten’ ablösen. Das verweist auf ein Demokratieverständnis, das die in der repräsentativen Demokratie angelegten Partizipationsstränge zwischen ‘oben’ und ‘unten’ pluralisiert und dabei eine Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche anstrebt. „In politischen Gesellschaften könnten politisch aktive Menschen nicht nur ihre gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse beeinflussen, sondern sie tun es unentwegt und sowieso.“ (Ebd.: 17). Demokratie kann dabei nicht mehr rein formal, als institutionalisierter Prozess, sondern muss folglich auch substanziell bestimmt werden, als „eine Lebensform und politische Existenzweise“ (ebd.: 225). In Grevens politischer Gesellschaft „sind [wir] alle Politiker und Politikerinnen“ (Greven 1994b: 243) und durch unser Handeln und Unterlassen an der Herstellung von politischer Wirklichkeit beteiligt: „Keine strukturellen Entwicklungen bestimmen unsere Zukunft, sondern die komplizierten, gewissermaßen zusammengesetzten Resultate der gesellschaftlichen und politischen Praxis der Vielfalt politischer Kräfte und Gruppen, die heute unseren Alltag bestimmen“ (ebd.: 252). Dadurch ändert sich die Untersuchungsperspektive von demokratischen Prozessen. An Bedeutung gewinnt die Sicht der Regierten. In ihr können die Formen und Inhalte von Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen als soziale Teilhabe am demokratisch-politischen Prozess untersucht werden. Ein polyzentrisches Politikverständnis betrachtet allerdings nicht notwendigerweise jedes Handeln als politisch, sondern begreift politisches Handeln als einen Teilbereich des sozialen Handelns. Es wird davon ausgegangen, dass die 19
Formen und Verfahren, mit denen allgemein verbindliche Regelungen in der Gesellschaft hergestellt werden, potenziell in allen Bereichen auffindbar sind. Die durch die politische Gesellschaft bezeichnete politische Sphäre ist kein erweiterter Staat, sondern „erfaßt alle im einzelnen nur empirisch zu ermittelnden Akteure, Institutionen, Prozesse und Aktivitäten, über und durch die in der Gesellschaft verbindliche Regelungen […] zustande kommen“ (Greven 1999: 91). In diesem modifizierten Politikverständnis ist der Alltag also vollends zu einer für die Politikwissenschaft relevanten Kategorie geworden. Er lässt sich sowohl als ein Handlungsraum beschreiben, auf den die Politisierung ‘von oben’ einwirkt, als auch als einer, in dem sich die Politisierung ‘von unten’ entfaltet. 4
Fazit
Der Politikbegriff lässt sich nur unzureichend durch die starren Dichotomien von Öffentlichkeit versus Privatheit oder Staat versus Gesellschaft bestimmen und muss auch diejenigen Mikroprozesse umfassen, die im Rahmen informeller Strukturen an der Konstitution von politischer Wirklichkeit beteiligt sind. Dabei müssen alltägliche Phänomene in ihren politischen Auswirkungen ebenso berücksichtigt werden wie das Einwirken politischer Phänomene auf den Alltag. Politik und Alltag ist deshalb nicht als ein Gegensatzpaar, sondern als ein gegenseitiges Bedingungsgeflecht zu verstehen. Es interessieren die Politik auf der Ebene des Alltags: Die Strukturen, Inhalte und Prozesse von Alltagspolitik. Die diskutierten Erweiterungen und Modifikationen des Politikbegriffs verweisen auf die Notwendigkeit, den Politikbegriff aus seiner Zentrierung um den Staat oder ein abgrenzbares politisches System zu befreien. Indem die Politikwissenschaft Politik als ein soziales Handeln begriff, das sich vorrangig auf die „Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes“, insbesondere zwecks „Neuverteilung oder Zuweisung von Regierungsgewalten“ (Weber 1976: 29) orientierte, schloss sie Bereiche der sozialen Wirklichkeit aus ihrem Horizont aus, die inzwischen als politisch relevant betrachtet werden müssen. Als ‘Politik von unten’, ‘Schattenpolitik’, ‘Subpolitik’ und ‘Mikropolitik’ ist „das Neue in der Politik“ (Leggewie 1994) auf die Tagesordnung der Politikwissenschaft gerückt und lässt sich nicht mehr ohne weiteres in den peripheren Sphären der Disziplin verbergen. Um ihnen ihre Randständigkeit zu nehmen, sollen sie in den politikwissenschaftlichen ‘mainstream’ integriert werden. Die Schwierigkeiten der deutschen Politikwissenschaft, einen normativen Nenner für ihr Politikverständnis zu finden, haben zu dem breit akzeptierten Kompromiss geführt, der den Untersuchungsgegenstand der Disziplin formaldeskriptiv definiert. Politik wird darin, analog der englischen Wortbedeutungen 20
von ‘polity’, ‘politics’, ‘policy’, in drei Dimensionen, die politischen Strukturen, politischen Prozesse und politischen Inhalte, unterteilt (vgl. Rohe 1992: 195 ff.). Diese Definition ermöglicht die Integration der oben erörterten Erweiterungen und Modifikationen des Politikbegriffs.
Denn Policy meint nicht nur die inhaltlichen Handlungsprogramme und ziele, die von den staatlichen Exekutivorganen zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten diskutiert und durch Entscheidungen verbindlich gemacht werden. Als Policies müssen auch diejenigen Inhalte betrachtet werden, die, ausgelöst durch Entscheidungen und Planungen eines ‘erweiterten Staates’, gesellschaftlich verbindliche Regelungen zur Folge haben. Einbezogen werden müssen schließlich auch die latenten Inhalte, die aufgrund kultureller Interpretationsroutinen leicht als anthropologische Konstanten der politischen Wirklichkeit wahrgenommen werden. Ihre Bedeutung für die Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen wird oft erst bewusst, wenn sie durch das Aufbrechen eingeübter Deutungsmuster auf der Mikroebene hinterfragt, politisiert und mit alternativen Inhalten konfrontiert werden. Als Politics müssen auch die über die Partizipations- und Willensbildungsmöglichkeiten einer formaldemokratisch organisierten Gesellschaft hinausgehenden Prozesse betrachtet werden, durch die versucht wird, verschiedene konkurrierende politische Inhalte gesamtgesellschaftlich durchzusetzen. Gemeint sind damit jene sozialen Interaktionsformen, in denen entweder die eigenen Interessen mittels Macht und Herrschaft gegen andere durchgesetzt oder konfliktive policies durch Herstellung von Kompromiss oder Konsens durchsetzungsfähig gemacht werden sollen. Dieses Verständnis schließt diejenigen informellen Praktiken auf der Alltagsebene ein, die den Herstellungsprozess von allgemein verbindlichen Regelungen initialisieren, ermöglichen, befördern und be- oder verhindern. Polity steht drittens für die Rahmenbedingungen, in denen politische Inhalte durch politische Prozesse zu allgemeinverbindlichen Regelungen gemacht werden können. Neben den formellen Institutionen, Verfassungs- und Rechtsnormen, die politisches Handeln regulieren, sind hier auch die informellen Strukturen von Bedeutung, die sich in der politischen Kultur einer Gesellschaft widerspiegeln. Auf der Alltagsebene bezeichnet polity die strukturelle Determination politischen Handelns, die sich aus den subjektiven Grundannahmen über die politische Verfassung einer Gesellschaft ergibt. 21
Durch diese definitorische Erweiterung ist Politik nicht mehr als ein räumlich abgrenzbares Gebiet in der Gesellschaft zu verstehen, sondern als ein „dreifaches Prinzip“, in dem „fast alles […] politisch relevant werden [kann], wenn es mit einem der drei Prinzipien verbunden werden kann“ (Alemann 1994b: 300). Demgemäß gibt es kein ausschließlich politisches oder unpolitisches Handeln, sondern „nur ein Handeln, in dem der politische Aspekt mehr oder weniger dominiert und mehr oder weniger mit anderen Aspekten verknüpft ist und auf diese einwirkt oder selbst von diesen begrenzt oder geöffnet wird“ (Münch 1982: 23). Dieses Politikverständnis wird einer gesellschaftlichen Entwicklung gerecht, in der das Herstellungsmonopol auf allgemein verbindliche Regelungen und Entscheidungen nicht mehr allein im Staat verortet werden kann. In dem entwickelten integrativen Politikverständnis gehen die pluralisierten politischen Partizipationsformen ebenso auf, wie die politikrelevanten horizontalen Machtaspekte und die Modifikationen eines kulturalistischen Politikverständnisses. Gleichzeitig schließt diese Definition staatsbezogenes Handeln nicht aus, sondern begreift es als politisches Handeln in einem anderen Aggregatszustand. Literatur Alemann, Ulrich v. (1994a): Schattenpolitik. Streifzüge in die Grauzonen der Politik. In: Leggewie (1994a), S. 135-144. Alemann, Ulrich v. (1994b): Politikbegriffe. In: Nohlen 1994, S. 297-301. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Beck. Benhabib, Seyla/Nicholson, Linda (1987): Politische Philosophie und die Frauenfrage. In: Fetscher/Münkler 1987, S. 513-562. Beyme, Klaus v. (1991): Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eley, Geoff (1994): Wie denken wir über Politik? Alltagsgeschichte und die Kategorie des Politischen. In: Berliner Geschichtswerkstatt 1994, S. 17-36. Esser, Josef (1995): Staatstheorie. In: Nohlen (1995), S. 733-743. Feministische Studien (1993), Jg. 11, H. 2. Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin: Merve. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte, Hamburg: Argument Verlag. Greven, Michael Th. (1990): Die politische Gesellschaft als Gegenstand der Politikwissenschaft. In: Ethik und Sozialwissenschaften 2 (1990), S, 223-228 u. S. 255-261.
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Wohnort und jugendliches Partizipationsverhalten: Eine Betrachtung aus der Perspektive der Wahl- und Parteienforschung
Lothar Probst und Philip Mehrtens
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Einleitung
Die Untersuchung des Einflusses von sozialstrukturellen Gegebenheiten auf das Wahlverhalten hat in der Wahlforschung eine lange Tradition. Etliche wegweisende Veröffentlichungen konnten nachweisen, dass sozialstrukturelle Merkmale, wie z.B. das soziale und wohnortspezifische Umfeld, in dem ein Wähler lebt, einen entscheidenden Effekt auf die Wahlentscheidung haben und somit Erklärungskraft entfalten (Lipset/Rokkan 1967; Lazarsfeld et al. 1968; Bürklin/Klein 1998; Schoen 2005). So unterscheidet sich das Wahlverhalten in Großstädten nicht nur von dem in ländlichen Regionen, sondern auch innerhalb der Städte selbst führen soziale Segregationsprozesse zu einer Differenzierung des Wahlverhaltens. Vor diesem Hintergrund haben die Erkenntnisse und Befunde der stadtsoziologischen Forschung zunehmend Eingang in politikwissenschaftliche Forschungsansätze gefunden, die sich mit dem Wahlverhalten beschäftigen. Prozesse der sozialen Segregation von städtischen Räumen können mit einer Vielzahl von Parametern erfasst werden. So entscheiden Bildung, berufliche Stellung, sozialer Status und Einkommen nicht selten über die räumliche Verteilung von soziodemographischen Gruppen innerhalb einer Stadt. Neben diesen klassischen Parametern sind in den letzten 25 Jahren aufgrund von Zuwanderung und hoher Dauerarbeitslosigkeit weitere Gesichtspunkte in die stadtsoziologische Forschung eingeflossen, weil im Zuge dieser Entwicklung neue randständige Armutsgruppen entstanden sind, die sich auf bestimmte Wohnquartiere konzentrieren. Die Polarisierung in „arme“ und „reiche“ Stadtviertel fand ihren Niederschlag unter anderem in der These von den „Dual-cities“. Stadtsoziologen wie Hartmut Häußermann und Walter Siebel sprachen sogar von der dreigeteilten 25
Stadt, wobei sie zwischen der „international wettbewerbsfähigen Stadt“, der „normalen Arbeits-, Versorgungs- und Wohnstadt“ sowie der „marginalisierten Stadt der Randgruppen“ unterscheiden (Häußermann/Siebel 1987: 138f.). In den Fokus der stadtsoziologischen Forschung sind in den vergangenen Jahren des Weiteren Parameter gerückt, die sich auf die Alters- bzw. Generationszugehörigkeit, das Geschlecht und die ethnische Herkunft beziehen, weil solche horizontalen Ungleichheitsdimensionen Auswirkungen auf die subjektiven Lebensorientierungen haben. Entlang solcher Dimensionen entwickelten sich Lebensstilgruppierungen, die sich in ihrem Habitus, ihrem Kommunikationsverhalten sowie ihren Verständigungscodes deutlich voneinander unterscheiden und Ausdruck neuer Formen der sozialen und kulturellen Segregation sind. Vor diesem Hintergrund wird unter anderem die Entstehung bestimmter Jugendkulturen und Szenen als Teil der Segregationsprozesse im städtischen Raum begriffen. Gerade bei Jugendlichen hängen die kulturellen und sozialen Kommunikationsmuster und -formen nicht selten davon ab, in welchen Stadtteilen und Wohnquartieren sie sich bewegen. Auch die Jugendforschung hat festgestellt, dass sich wohnortspezifische Faktoren auf die Herausbildung von Opportunitätsstrukturen, die für die Alltagspraxis und Sozialisation von Jugendlichen eine wichtige Rolle spielen, auswirken (Honneth et al. 1979). Allerdings hat man später von der These Abstand genommen, dass die Sozialisation von Jugendlichen in erster Linie sozialstrukturellen Linien folgt. Vielmehr sei es „zu einer Entkoppelung von Sozialstruktur und Jugendkultur gekommen“ (Otte 2007: 164). Angesichts des Einflusses der Massenmedien sowie der Kulturindustrie auf jugendliche Lebensstile könne man vielmehr davon ausgehen, dass „fluide Mitgliedschaften“ in Gruppen und „individuelle[s] Stilbasteln“ (vgl. Otte 2007: 165) dominant geworden seien. In neueren Forschungen wird wiederum stärker ein Zusammenhang zwischen „sozialstrukturell verankerten“ und „kulturell“ überformten Identitäts- und Kommunikationsmustern in Jugendszenen postuliert (vgl. Otte 2007: 165). Ein Problem für die Untersuchung jugendlichen Partizipationsverhaltens liegt darin, dass die verschiedenen Forschungsansätze aus der Wahl- und Parteienforschung, der Stadtsoziologie und der Jugendkulturforschung nur selten zusammengeführt werden. Die Studie der Bertelsmann Stiftung zur „Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland“ (2005) geht zwar explizit auf die Mitwirkung von Kinder- und Jugendlichen in Kommunen ein, ohne dabei allerdings die o.a. Forschungsansätze einzubeziehen. Unter den untersuchten Einflussfaktoren auf die Partizipationsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen befinden sich unter anderem auch die Wohnortgröße (gemessen an der Einwohnerzahl) sowie das soziale Umfeld (Vereinsmitgliedschaften und Freundeskreise), aber die Auswirkung von Segregationsprozessen in Großstädten, wie sie in der Stadtso26
ziologie thematisiert werden, gehen nicht in die Untersuchung des Partizipationsverhaltens ein. Auch der folgende Beitrag kann diese Zusammenführung nicht leisten, da für Bremen stadtteilspezifische Untersuchungen aus allen drei Forschungsbereichen, auf die er sich hätte stützen können, nicht vorliegen. Insofern wird in den nachfolgenden Ausführungen am Beispiel des Wahlverhaltens lediglich dargestellt, wie sich aus politikwissenschaftlicher Sicht die o.a. Segregationsprozesse auswirken. Dazu werden zunächst die großen politischen und sozioökonomischen Entwicklungslinien in der Stadt Bremen knapp skizziert, bevor dann eine detaillierte Beschreibung und Charakterisierung des Wahlverhaltens in vier typischen Bremer Ortsteilen anhand von sozialstrukturellen Indikatoren folgt. Dabei sind im Hinblick auf die Untersuchung des jugendlichen Wahlverhaltens weitere Einschränkungen einzuräumen. Ein Dilemma besteht darin, dass die Daten der Repräsentativen Wahlstatistik des Statistischen Landesamtes Bremen (vgl. Statistisches Landesamt Bremen 2007: 27), auf die sich der Beitrag unter anderem bezieht, nur für die Stadt Bremen insgesamt dargestellt werden, so dass es nicht möglich war, den Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und Alter für einzelne Stadtviertel bzw. Ortsteile zu verifizieren. Deshalb können zum Teil nur Vermutungen über diesen Zusammenhang angestellt werden. 2
Politische und sozioökonomische Entwicklung in der Stadt Bremen
2.1 Politische Entwicklung und Wahlverhalten in Bremen Bremen ist als zehntgrößte Stadt Deutschlands (gemessen an der Einwohnerzahl) durch ein großstädtisch-urbanes und industrielles Milieu auf der einen und ein traditionsbewusstes hanseatisches Milieu auf der anderen Seite gekennzeichnet. Diese soziokulturellen Rahmenbedingungen prägen die politischen Möglichkeiten und Wahlchancen der Parteien entscheidend, wie sich an einem knappen Überblick über das Wahlverhaltens in den letzten Jahrzehnten verdeutlichen lässt. Seit den 1980er Jahren geht die Wahlbeteiligung bei den Bürgerschaftswahlen im Wahlbereich Bremen kontinuierlich zurück: von über 80 Prozent (1983) auf deutlich unter 60 Prozent bei der letzten Wahl 2007. Davor lag sie, außer bei der Bürgerschaftswahl 1947, konstant über 80 Prozent oder nur knapp darunter (Statistisches Landesamt Bremen 2008: 36f.). Obwohl die sinkende Wahlbeteiligung sich in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem negativ auf die Wahlergebnisse der SPD ausgewirkt hat, konnte die sozialdemokratische Partei bei der Bürgerschaftswahl 2007 erneut, wie bei jeder Wahl seit der Wiederkonstituie27
rung des Bundeslandes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Der hohe Wählerzuspruch ermöglichte es der SPD stets, die Regierungsverantwortung als Führungspartei zu übernehmen. Meistens regierte sie in einer Koalition mit anderen Parteien, aber über zwei Jahrzehnte auch alleine mit absoluter Mehrheit. Aufgrund dieser hegemonialen Stellung der SPD im Bremer Parteiensystem kann man sie nach Gerd Mielkes Typologie des „neuen Regionalismus“ als eine „Staatspartei“ begreifen, an der bei der Regierungsbildung kein Weg vorbeiführt und die im Laufe der Jahrzehnte auch jene Wählergruppen an sich binden konnte, die ihr traditionell nicht besonders nahe stehen (Mielke 2001: 84). Tabelle 1: Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1999, 2003 und 2007 im Wahlbereich Bremen in Prozent Jahr
WahlSPD CDU B’90/D FDP Linksbeteiliie Grüpartei gung nen 2007 58,59 37,09 25,76 17,36 5,44 8,73 2003 62,85 43,33 29,38 13,54 3,93 1,78 1999 61,97 42,72 37,69 9,14 2,13 3,13 Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse
DVU 2,24 1,37 2,48
Die Dominanz der SPD in Bremen sollte jedoch nicht über gravierende Veränderungen des Wahlverhaltens und der Parteipräferenzen hinwegtäuschen. Teilweise gab es erheblich Verschiebungen der politischen Gewichte. Einigen Parteien ist es gelungen, sich neu im Bremer Parteiensystem zu etablieren, andere verschwanden oder konnten nur einmalige Achtungserfolge erzielen. Die CDU war in Bremen nie so stark wie in vielen anderen Bundesländern, nicht zuletzt, weil ihre klassischen Wählerschichten (u.a. Katholiken und Landwirte) in Bremen unterrepräsentiert sind. In den 1950er Jahren fiel sie sogar einmal unter einen Stimmenanteil von 10 Prozent, und bei den Bürgerschaftswahlen 2003 und 2007 hat sie die 30-Prozentmarke – teilweise deutlich – verfehlt. Sie kann deshalb nicht die Rolle der zweiten großen Volkspartei, die in allen Gesellschaftsschichten verwurzelt ist, ausfüllen. Die FDP war bis in die 1980er Jahre eine etablierte Partei, die zum Teil mit zweistelligen Ergebnissen sicher in die Bürgerschaft einzog und in den Senaten von Wilhelm Kaisen (erster Bremer Bürgermeister von 1945-1965) regelmäßig in der Regierung vertreten war. Nach der Bürgerschaftswahl 1995 drohte die FDP jedoch fast in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Sie scheiterte dreimal hintereinander an der 5-Prozent-Hürde. Erst bei der Bürgerschaftswahl 2007 gelang ihr wieder der Einzug ins Parlament in Fraktionsstärke. 28
Der Niedergang der FDP vollzog sich fast parallel zum Aufstieg der Grünen. Sie konnten 1979 (damals zunächst noch als Bremer Grüne Liste) erstmals in ein Landesparlament einziehen und haben, ausgenommen die Wahl von 1999, ihren Stimmenanteil kontinuierlich steigern können – bei der Bürgerschaftswahl 2007 auf ca. 17 Prozent. Einen großen Stimmenzuwachs konnte auch die PDS seit dem Zusammenschluss mit der WSAG zur Linkspartei verbuchen. Während sie als PDS in Bremen zwischen 1995 und 2003 praktisch keine Rolle spielte, erhielt die Partei DIE LINKE bei der Bürgerschaftswahl 2007 in der Stadt Bremen ca. 8,7 Prozent der Stimmen. Rechtsextreme Parteien spielten in den vergangenen Legislaturperioden in der Stadt Bremen nur 1991 eine Rolle, als es der DVU gelang, in Fraktionsstärke in die Bremische Bürgerschaft einzuziehen. Aufgrund des Bremer Wahlrechts mit einer getrennten 5-Prozent-Sperrklausel für die beiden Wahlgebiete Bremen und Bremerhaven vermochte es jedoch die DVU, bei jeder Bürgerschaftswahl seit 1987 über Bremerhaven mindestens einen Vertreter in die Bürgerschaft zu entsenden (mit Ausnahme der Wahl von 1995). Die Entwicklungen und Umbrüche in der Bremer Parteienlandschaft treten noch stärker hervor, wenn man ausschließlich das Wahlverhalten der jüngeren Wähler betrachtet. Die Jungwähler unter 25 Jahren nehmen zu einem deutlich geringeren Anteil an den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft teil als ältere Bürger. Ihre Wahlbeteiligung von deutlich unter 50 Prozent liegt fast zehn Prozent unter der Gesamtwahlbeteiligung (s. Tabelle 2). Der Trend zur Abnahme der Wahlbeteiligung unter Jugendlichen kann auch deutschlandweit konstatiert werden (Hurrelmann 2006: 46f.). Als Motive für die Nichtwahl führten Bremer Jugendliche in einer Untersuchung der Universität Bremen unter anderem an, keine Zeit gehabt zu haben, sich von den Kandidaten nicht angesprochen gefühlt zu haben und nicht genügend informiert worden zu seien (Probst/Pötschke 2007: 38). Tabelle 2: Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1995, 2003 und 2007 im Wahlbereich Bremen in Prozent (nur 18 bis 24-jährige) Jahr
WahlSPD CDU B’90/D FDP Linksbeteiliie Grüpartei gung nen 2007 58,59 37,09 25,76 17,36 5,44 8,73 2003 62,85 43,33 29,38 13,54 3,93 1,78 1999 61,97 42,72 37,69 9,14 2,13 3,13 Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse
DVU 2,24 1,37 2,48
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Wie ein Vergleich der Tabellen 1 und 2 zeigt, weicht das Wahlverhalten der Jugendlichen nicht nur in Bezug auf die Wahlbeteiligung, sondern auch hinsichtlich der Parteipräferenzen von den Ergebnissen aller Wähler in zwei Punkten ab: die Grünen erhalten deutlich mehr Stimmanteile und die CDU deutlich weniger. Ansonsten weisen die Ergebnisse ungefähr in die gleiche Richtung. Diese Tendenzen treten in ihren Grundzügen auch bei noch jüngeren (zukünftigen) Wählern auf, wie eine Auswertung der Juniorwahl 2007, die in verschiedenen Bremer Schulen durchgeführt wurde, gezeigt hat. Allerdings lag bei der Juniorwahl die Wahlbeteiligung mit ca. 57 Prozent in etwa auf dem Niveau aller Wähler und deutlich über dem der tatsächlichen Jungwähler. Die Parteipräferenzen der Juniorwahlteilnehmer verschoben sich zu Gunsten von SPD und Linkspartei und zu Ungunsten von Grünen, CDU und FDP im Vergleich zur Repräsentativen Wahlstatistik der unter 25-jährigen (Mehrtens 2007: 27f.). Um Ursachen und Erklärungen für das Wahlverhalten und die Parteipräferenzen der Bremer Bürger zu ermitteln, soll im Folgenden kurz der sozioökonomische Kontext betrachtet werden. 2.2 Sozioökonomische Entwicklung in Bremen Lange Zeit waren die maritime Wirtschaft mit den Häfen und großen Werften sowie weitere industrielle Sektoren Stützpfeiler der Bremer Wirtschaft, die Wohlstand und Arbeitsplätze in der Hansestadt garantierten. Seit Ende der 1970er Jahre begannen diese Stützpfeiler zu erodieren. Die Ölkrise von 1973, eine schlechte Wirtschaftslage und starke internationale Konkurrenz verursachten einen Niedergang der bis dahin tragenden Wirtschaftssektoren, insbesondere der Werftindustrie. Die Folgen dieses Strukturwandels konnten bis heute nicht vollständig durch die Ansiedlung neuer beschäftigungsintensiver Unternehmen sowie von Dienstleistungsbetrieben und Hochtechnologiefirmen kompensiert werden. Klassische Arbeiterviertel wie Walle und Gröpelingen sowie Großwohnsiedlungen wie Tenever gerieten dadurch nach und nach in einen Abwärtsstrudel, der sich vor allem in einer Zunahme von Arbeitslosigkeit und einer Abnahme der Wohn- und Lebensqualität äußerte. Der Armutsentwicklung in den einen Wohnquartieren stand eine überproportionale Wohlstandsentfaltung in anderen gegenüber. Je nach Beschaffenheit der in einem Wohngebiet vorherrschenden Bevölkerungs- und Einkommensstruktur konnten bestimmte Viertel vom Strukturwandel profitieren, während andere besonders stark darunter litten. So stellte Farwick 1996 fest, dass es in Bremen „zu einer Abkoppelung der Armutsgebiete von der Armutsentwicklung in der Gesamtstadt und somit zu einer verstärkten räumlichen Trennung zwischen armen und nicht armen Bevölke30
rungsgruppen“ gekommen sei (Farwick 1996: 34). Allerdings hat die räumliche und soziale Segregation erst in den letzten 15 Jahren deutliche Spuren in den verschiedenen Bremer Stadtteilen und Wohnquartieren hinterlassen. Untersuchungen der Arbeitnehmerkammer und des Gesundheitsamtes in Bremen (Arbeitnehmerkammer 2008; Tempel 2006) konnten nachweisen, dass in bestimmten Stadtteilen eine Akkumulation von Armutsmerkmalen vorzufinden ist. Sie reicht von eklatanten Einkommens- und Bildungsunterschieden bis zu Unterschieden in der Kindersterblichkeitsquote. Die aktuelle sozioökonomische Lage in Bremen lässt sich vor diesem Hintergrund als extrem polarisiert bezeichnen. Am Beispiel von vier charakteristischen Stadteiltypen, die sich in Bezug auf das soziale und städtebauliche Umfeld sowie das Wahlverhalten ihrer Bewohner relativ trennscharf voneinander abgrenzen lassen, soll im Folgenden diese Polarisierung verdeutlicht werden: das traditionelle Arbeiterviertel, das bürgerliche Quartier, das innenstadtnahe Wohngebiet und die Großwohnsiedlung. 3
Wahlverhalten in vier typischen Bremer Stadtteilen
3.1 Gröpelingen – Ein traditionelles Arbeiterviertel Der Ortsteil Gröpelingen im Bremer Westen ist ein traditionelles Arbeiterviertel. Im Süden von Gröpelingen erstreckt sich ein Großteil der Industrie- und Handelshafenanlagen Bremens. Hier war bis zu ihrem Konkurs 1983 der Standort der Werft AG-Weser. Entsprechend waren der Ortsteil und seine Bewohner von der maritimen Wirtschaft geprägt. Der Niedergang der Werftindustrie schlug sich in einer schnell anwachsenden hohen Arbeitslosigkeit nieder. Gegenwärtig ist mehr als ein Viertel der Bewohner beschäftigungslos. Gröpelingen hat damit eine fast doppelt so hohe Arbeitslosenquote wie die Stadt Bremen insgesamt und die zweithöchste aller Ortsteile überhaupt. Der hohe Anteil arbeitsloser Menschen findet seinen Niederschlag auch in der Quote der Hilfebedürftigen nach Sozialgesetzbuch II (SGB II). Die Bezieher von Arbeitslosengeld II machen mehr als ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung Gröpelingens aus. Nur der Ortsteil Tenever hat noch mehr „Hartz IVEmpfänger“. Entsprechend niedrig ist auch das mittlere Einkommen. In Gröpelingen betrug es im Jahr 2001 lediglich 19.300 EUR. Im Durchschnitt liegt es in Bremen um mehr als 5.000 EUR darüber. Doch nicht nur die ökonomischen Kennzahlen Gröpelingens weisen Extremwerte auf, auch der Anteil von Schülern an Gymnasien in der Sekundarstufe II im Schuljahr 2007/08 ist mit deutlich unter 20 Prozent der mit Abstand nied31
rigste in ganz Bremen. Dies mag auch an dem hohen Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegen. Im Jahr 2007 traf dies auf fast 40 Prozent der Bürger Gröpelingens zu. Mit ca. 40 Prozent ist der Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung etwa genauso hoch wie der Migrantenanteil. Die Bebauungs- und Wohnungsstruktur in Gröpelingen ist vor allem auf Einpersonenhaushalte ausgerichtet. Sie machten 2007 fast die Hälfte aller Privathaushalte aus. Die durchschnittliche Wohnfläche betrug nur etwas mehr als 60 m². Zusammenfassend kann man Gröpelingen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, dem hohen Migrantenanteil und dem geringen Einkommensniveau als einen Ortsteil mit vielen Problemen charakterisieren, der zu den Verlierern des Strukturwandels gehört und davon bedroht ist, den Anschluss zu verlieren. Aus einem ehemaligen Arbeiterviertel ist ein Arbeitslosenviertel geworden. In Tabelle 3 werden die Kennzahlen zu den sozialstrukturellen Indikatoren für Gröpelingen und die Ergebnisse der letzten drei Bürgerschaftswahlen noch einmal zusammengefasst. Tabelle 3: Merkmale Gröpelingens Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1999, 2003 und 2007 im Ortsteil Gröpelingen in Prozent Jahr WahlSPD CDU B’90/D FDP LinksDVU beteiliie Grüpartei gung nen 2007 45,72 51,37 16,21 8,97 4,02 9,94 3,42 2003 49,37 55,58 22,40 7,25 2,83 2,12 2,68 1999 52,34 58,02 27,19 4,10 1,29 2,7 4,27 Sozialstruktureller Indikator
Anteil der Arbeitslosen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zuzüglich Arbeitslose (in Prozent) Mittleres Einkommen (Median) der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Durchschnittliches Einkommen der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR)
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Kennwert Gröpelingen
Relativer Wert zur Stadt Bremen in Prozent
27,5
180,92
19.300
78,46
21.500
64,37
Anteil der Hilfebedürftigen (SGB II) an der 35,3 205,23 Bevölkerung unter 65 Jahren 2007 (in Prozent) Anteil der Schüler/innen an Gymnasien (Sek. II) an der Bevölkerung im Alter von 16 bis 17,9 43,13 unter 19 Jahren insgesamt 2007/08 (in Prozent) Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung 42,3 80,88 2007 (in Prozent) Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung 2007 (in 38,9 144,07 Prozent) Durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung 63,6 82,81 2007 (in m²) Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Pri48,9 96,45 vathaushalten 2007 (in Prozent) Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse und Bremer Ortsteilatlas Der sozialstrukturelle Kontext färbt stark auf das Wahlverhalten der Gröpelinger Bürger ab. Bei der Bürgerschaftswahl 2007 war deutlich weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten bereit, sich am Wahlgang zu beteiligen, während bei den beiden Wahlen davor noch ca. die Hälfte der Gröpelinger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Eine solch niedrige Wahlbereitschaft hat dabei keinesfalls Tradition. Noch in den 1970er Jahren lag die Beteiligung an den Bürgerschaftswahlen in Arbeitervierteln und Großsiedlungen klar über der in den bürgerlichen Gebieten und nahm erst in den späten 1980er Jahren stetig und deutlich ab (Tempel 2006: 43). Die Parteipräferenzen der Gröpelinger Wähler entsprechen dabei noch heute buchstäblich dem Klischee von einem klassischen Arbeiterviertel. Bei den letzten drei Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft errang die SPD durchweg und teilweise mit großem Abstand die absolute Mehrheit der Stimmen. Die verbliebenen kleineren Stücke des Stimmenkuchens verteilen sich vor allem auf CDU, Grüne und Linkspartei. Die CDU konnte sich in Gröpelingen im Gegensatz zur SPD nie richtig etablieren. Sie hat bei den letzten drei Wahlen mit niedrigen Zustimmungswerten zwischen 15 und 30 Prozent und hohen Stimmenverlusten von Wahl zu Wahl zu kämpfen. Mit den Grünen und der Linkspartei erwuchsen ihr besonders bei der letzten Bürgerschaftswahl 2007 starke Konkurrenten, die fast neun bzw. zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Andere Parteien sind von der 5-Prozent-Hürde bei den letzten drei Bürgerschaftswahlen deutlich entfernt gewesen und spielen praktisch keine Rolle. Im Vergleich mit 33
dem Bremer Gesamtwahlergebnis treten in Gröpelingen besonders die sehr guten Ergebnisse der SPD, das überdurchschnittliche Abschneiden der Linkspartei sowie die unterdurchschnittliche Stimmabgabe für CDU, Grünen und FDP hervor. 3.2 Oberneuland – Ein bürgerliches Quartier Oberneuland ist ein gut situierter bürgerlicher Ortsteil, der von der Innenstadt relativ weit entfernt im Bremer Nordosten liegt und vor allem als Wohnstandort genutzt wird. Die Bebauung des dörflich geprägten Villenstadtteils ist mit einer großstädtischen Wohnsiedlung kaum zu vergleichen. Der Wohlstand der Bevölkerung spiegelt sich auch in den sozialstrukturellen Kennwerten wider; so liegt die Arbeitslosigkeit bei 6,5 Prozent, und das mittlere Einkommen betrug im Jahr 2001 39.000 EUR im Jahr – der höchste Wert aller Ortsteile Bremens. Das durchschnittliche Einkommen lag sogar bei 79.200 EUR pro Jahr. Der Anteil der Bezieher von Sozialleistungen nach dem SGB II ist entsprechend niedrig. Er betrug 2007 weniger als vier Prozent. Das ist weniger als ein Zehntel des Wertes von Tenever und immer noch weniger als ein Viertel des Bremer Durchschnittwertes. In Oberneuland gibt es nicht nur materiellen Wohlstand. Auch das Bildungsniveau ist überdurchschnittlich. Drei Viertel der Bevölkerung im Alter von 16 bis 18 Jahren besuchen die Sekundarstufe II eines Gymnasiums, ein auf die gesamte Stadt betrachtet sehr hoher Wert. Mit großen Integrationsproblemen werden die Bewohner Oberneulands normalerweise nicht konfrontiert. Nur etwas mehr als 15 Prozent der Bevölkerung in Oberneuland haben einen Migrationshintergrund. In Bremen sind es durchschnittlich über 40 Prozent. Dagegen ist der Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder mit fast 60 Prozent überdurchschnittlich hoch. Tabelle 4: Merkmale Oberneuland Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1999, 2003 und 2007 im Ortsteil Gröpelingen in Prozent Jahr WahlSPD CDU B’90/D FDP LinksDVU beteiliie Grüpartei gung nen 2007 45,72 51,37 16,21 8,97 4,02 9,94 3,42 2003 49,37 55,58 22,40 7,25 2,83 2,12 2,68 1999 52,34 58,02 27,19 4,10 1,29 2,7 4,27
34
Sozialstruktureller Indikator
Kennwert Gröpelingen
Relativer Wert zur Stadt Bremen in Prozent
Anteil der Arbeitslosen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zuzüglich Arbeits- 27,5 180,92 lose (in Prozent) Mittleres Einkommen (Median) der Lohn- und 19.300 78,46 Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Durchschnittliches Einkommen der Lohn- und 21.500 64,37 Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Anteil der Hilfebedürftigen (SGB II) an der 35,3 205,23 Bevölkerung unter 65 Jahren 2007 (in Prozent) Anteil der Schüler/innen an Gymnasien (Sek. 17,9 43,13 II) an der Bevölkerung im Alter von 16 bis unter 19 Jahren insgesamt 2007/08 (in Prozent) Anteil der evangelischen und katholischen 42,3 80,88 Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung 2007 (in Prozent) Anteil der Bevölkerung mit Migrationshin38,9 144,07 tergrund an der Gesamtbevölkerung 2007 (in Prozent) Durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung 63,6 82,81 2007 (in m²) Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Pri48,9 96,45 vathaushalten 2007 (in Prozent) Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse und Bremer Ortsteilatlas Das äußere Erscheinungsbild Oberneulands, das durch freistehende Einfamilienhäuser geprägt ist, findet in den statistischen Zahlen seine Entsprechung. Der Anteil der Einpersonenhaushalte beträgt nur ca. ein Drittel, während er in Bremen durchschnittlich die Hälfte aller Haushalte ausmacht. Entsprechend groß ist mit 120 m² die durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung. Es ist der höchste Wert in ganz Bremen. Man kann vor diesem Hintergrund Oberneuland als eines der teuersten und exklusivsten Bremer Wohngebiete bezeichnen. Nirgendwo in der Stadt ist das mittlere Einkommen höher und sind die Wohnungen größer. Die Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl 2007 war in Oberneuland sehr hoch. Sie lag mit einem Wert um 75 Prozent mehr als zehn Prozentpunkte 35
über dem Bremer Durchschnitt. Allerdings ging sie auch hier im Laufe der Jahre von Wahl zu Wahl leicht zurück. Bei der Parteipräferenz ergibt sich in Oberneuland praktisch ein vollständig konträres Bild zu Gröpelingen. Die Oberneuländer Wähler stimmten bei den letzten drei Bürgerschaftswahlen durchweg mit absoluter Mehrheit für die CDU. 1999 konnte sie sich sogar fast eine Zweidrittelmehrheit sichern. Eine solche Stimmenverteilung ist in Bremen sehr untypisch. Vor allem aufgrund des urbanen Umfeldes und des geringen Katholikenanteils präsentiert sich die CDU in Bremen traditionell schwächer als in anderen Bundesländern. Dieser Zusammenhang gilt im Ortsteil Oberneuland offensichtlich nicht. Der dominierenden CDU folgt mit weitem Abstand die SPD, die eigentlich die stärkste Partei in Bremen ist. Ihre Stimmenanteile lagen in den letzten Jahren bei etwas über 20 Prozent. An dritter Stelle in der Wählergunst liegen die Grünen. Sie kamen 2007 auf knapp über 11 Prozent der Stimmen und konnten sich damit knapp vor der FDP mit 10 Prozent behaupten. Doch während die Grünen in Oberneuland – verglichen mit ihrem sehr gutem Wahlergebnis in ganz Bremen – stark unterdurchschnittlich abschneiden, konnten die Liberalen 2007 in Oberneuland einen fast doppelt so hohen Stimmanteil erzielen wie im Durchschnitt. Die Linkspartei und alle anderen politischen Gruppierungen können nur unbedeutende Stimmenanteile vorweisen. Insgesamt entspricht das Wahlverhalten in Oberneuland den Erwartungen an ein wohlhabendes bürgerliches Quartier. Die CDU ist mit Abstand die stärkste Partei; die FDP ist ebenfalls vergleichsweise gut vertreten, während die SPD, die Grünen und Linkspartei nur eine Nebenrolle spielen. 3.3 Steintor – Ein innenstadtnahes Wohngebiet Der Ortsteil Steintor liegt in der östlichen Vorstadt Bremens und grenzt direkt an die Innenstadt. Da ein Großteil der alten Bausubstanz erhalten geblieben ist, wird dieses Viertel durch eine dichte Bebauung und teilweise schmale Straßen geprägt. Die zentrale und verkehrsgünstige Lage sowie eine Vielzahl an SzeneLokalen, kulturellen Angeboten und kleinen Läden machen das Steintor zu einer attraktiven Wohngegend, die insbesondere ein alternatives Milieu und jüngere Leute anzieht. Dementsprechend gestaltet sich das städtebauliche Umfeld. Weit mehr als zwei Drittel der Privathaushalte sind Einpersonenhaushalte (Stichjahr 2007) – ein Wert, der mehr als 20 Prozentpunkte über dem Bremer Durchschnitt liegt. Die mittlere Wohnfläche je Wohnung ist mit ca. 65 m² nur halb so groß wie die in Oberneuland und auch deutlich kleiner als in Bremen insgesamt. Bei den so36
zioökonomischen Indikatoren bestehen dagegen weniger gravierende Unterschiede zur gesamten Stadt. Die Arbeitslosenquote im Steintor entspricht mit ca. 15 Prozent ziemlich genau der in Bremen insgesamt. Auch das Medianeinkommen nähert sich mit 21.600 EUR im Jahr 2001 dem mittleren Einkommen in Bremen (24.600 EUR) von unten an. Obwohl das mittlere Einkommen im Steintorviertel geringer ist als in Bremen insgesamt, ist der Anteil der Hilfebedürftigen nach SGB II an der Bevölkerung unter 65 Jahren kleiner als im Bremer Durchschnitt. So macht der Anteil der Hartz IV-Empfänger im Steintor ca. 13 Prozent aus, während er in der Stadt Bremen bei ca. 17 Prozent liegt. Etwas mehr als die Hälfte der 16- bis 18-jährigen Bewohner im Steintor besucht die Sekundarstufe II eines Gymnasiums. Das sind 10 Prozentpunkte mehr als im Landesdurchschnitt, aber deutlich weniger als in Oberneuland oder anderen bürgerlichen Vierteln. Während das Bildungsniveau im Steintor damit relativ hoch ist, bleibt der Anteil der Mitglieder in der evangelischen und katholischen Kirche hinter dem landesweiten Durchschnitt zurück. Nur wenig mehr als 40 Prozent der Bewohner des Steintors sind Mitglieder einer christlichen Konfession. Überraschend gering ist der Anteil der Bürger mit Migrationshintergrund im Steintor. Er liegt knapp unter 20 Prozent und ist damit nur unbedeutend höher als in Oberneuland. Die ansonsten eher unübliche Kombination aus geringem Ausländeranteil und einer geringen Zahl von Kirchenmitgliedern ist wahrscheinlich auf die starke Präsenz der alternativen Szene im Steintor zurückzuführen. Das Steintor präsentiert sich als ein säkulares und gebildetes Viertel mit einer unterdurchschnittlichen Ausländer- und Hartz IV-Empfängerquote. Seine sozialstrukturellen Merkmale verdichten sich somit zu dem Bild eines alternativ geprägten und kulturell ausdifferenzierten Wohn- und Einkaufsviertels. Ziemlich genau zwei Drittel der Wahlberechtigten im Steintor haben bei den letzten drei Bürgerschaftswahlen ihre Stimme abgegeben. Im Gegensatz zu allen anderen hier untersuchten Ortsteilen und Bremen insgesamt, kann im Steintor ein leichter Anstieg der Wahlbereitschaft konstatiert werden. In den Parteipräferenzen äußert sich zugleich die dominierende grün-alternative und linke Lebenseinstellung der Bewohner des Viertels. Seit der Bürgerschaftswahl 2007 sind die Grünen die mit großem Abstand stärkste politische Kraft. Sie konnten sich über 40 Prozent der Wählerstimmen sichern und verweisen die SPD mit fast doppelt so vielen Stimmen klar auf den zweiten Platz. Dabei ist es ihnen gelungen, den schon im Jahr 1999 hohen Stimmanteil für eine grüne Partei von 30 Prozent noch einmal deutlich zu steigern. Die SPD war 1999 mit ebenfalls 30 Prozent der Stimmen noch in einer ähnlichen Ausgangslage, musste jedoch bis 2007 erhebliche Einbußen hinnehmen.
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Tabelle 5: Merkmale Steintor Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1999, 2003 und 2007 im Ortsteil Steintor in Prozent Jahr WahlSPD CDU B’90/D FDP LinksDVU beteiliie Grüpartei gung nen 2007 67,18 23,73 11,23 41,52 3,49 17,11 0,79 2003 66,80 36,20 12,42 38,40 2,53 6,32 0,56 1999 65,12 31,37 20,49 29,06 1,74 14,2 1,01 Sozialstruktureller Indikator
Kennwert Steintor
Relativer Wert zur Stadt Bremen in Prozent
Anteil der Arbeitslosen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zuzüglich Arbeits- 15,5 101,97 lose (in Prozent) Mittleres Einkommen (Median) der Lohn- und 21.600 87,8 Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Durchschnittliches Einkommen der Lohn- und 27.500 82,34 Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Anteil der Hilfebedürftigen (SGB II) an der 13,2 76,74 Bevölkerung unter 65 Jahren 2007 (in Prozent) Anteil der Schüler/innen an Gymnasien (Sek. 52,0 125,3 II) an der Bevölkerung im Alter von 16 bis unter 19 Jahren insgesamt 2007/08 (in Prozent) Anteil der evangelischen und katholischen 43,2 82,6 Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung 2007 (in Prozent) Anteil der Bevölkerung mit Migrationshin19,9 73,7 tergrund an der Gesamtbevölkerung 2007 (in Prozent) Durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung 65,3 85,03 2007 (in m²) Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Pri70,9 139,84 vathaushalten 2007 (in Prozent) Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse und Bremer Ortsteilatlas
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Die vormaligen SPD-Stimmen könnten zu einem Teil an die Linkspartei geflossen sein. Diese erreichte bereits 1999 (noch als PDS) ein zweistelliges Ergebnis, büßte 2003 aber sehr viele Stimmen ein, um anschließend – als Partei DIE LINKE – bei der Wahl 2007 mit mehr als 17 Prozent ihr bestes Ergebnis zu erzielen. Auf Platz vier folgte abgeschlagen die CDU. Sie erreichte 2007 knapp über 10 Prozent der Stimmen. Genau wie die SPD musste sie seit 1999 hohe Verluste hinnehmen. Ihr Wahlergebnis halbierte sich seitdem. Die Anteile der FDP und anderer Parteien sind im Steintor unbedeutend. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der alternative Lebensstil der Menschen im Steintor sich in außergewöhnlichen Wahlergebnissen widerspiegelt. Die Grünen sind die weitaus stärkste Partei, die mit der SPD, der Linkspartei oder der CDU als „Juniorpartner“ problemlos eine Regierung bilden könnten. Es versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst, dass der Stadtteilbürgermeister (offiziell in Bremen „Ortsamtsleiter“) ein Grüner ist. 3.4 Tenever – Eine Großwohnsiedlung Die Großwohnsiedlung Tenever liegt am östlichen Rand von Bremen. Sie besteht aus großen Wohnblocks, von denen die meisten in den 1970er Jahren gebaut wurden. Man rechnete damals mit einem massiven Bevölkerungsanstieg und einer prosperierenden maritimen Wirtschaft. Durch Großwohnsiedlungen wie Tenever oder die Neue Vahr sollte in Bremen, generalstabsmäßig geplant, der nötige Wohnraum geschaffen werden. Allerdings verlief die wirtschaftliche und demographische Entwicklung anders als vorhergesagt, und viele der Wohneinheiten standen zeitweise leer. Mittlerweile wurden einige Wohnblocks saniert oder abgerissen. Es gibt viele Sozialwohnungen, und die Bevölkerungszahl ist in den letzten fünf Jahren um ca. 10 Prozent geschrumpft. Durch diesen Abwanderungsprozess bleiben meist die alten und besonders unterprivilegierten Bevölkerungsschichten in teilweise prekären Lebensverhältnissen zurück. Es besteht die Gefahr, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt werden und sich eine isolierte Subkultur ohne Perspektiven entwickelt. Dass es solche Tendenzen gibt, zeigen die sozialstrukturellen Kennwerte. Bei dem Anteil der Hilfebedürftigen nach SGB II steht Tenever in Bremen an erster Stelle. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren ist auf soziale Transfers angewiesen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Arbeitslosenquote. Sie lag im Jahr 2007 deutlich über 25 Prozent und damit ähnlich hoch wie in Gröpelingen. Entsprechend gering fällt das mittlere Jahreseinkommen aus. Es war 2001 mit 20.900 EUR unterdurchschnittlich, lag aber dennoch knapp über dem von Gröpelingen oder der Bahnhofsvorstadt. 39
Der Anteil der Bevölkerung zwischen 16 und 18 Jahren, der auf die Sekundarstufe II geht, betrug im Schuljahr 2007/08 in etwa ein Viertel. Dieser Wert ist sehr gering und wird nur von wenigen Ortsteilen in Bremen unterboten. Eine Begründung für diese geringe Gymnasialquote können Integrationsschwierigkeiten und Sprachprobleme sein. Fast zwei Drittel der Bewohner Tenevers haben eine Biografie mit Migrationshintergrund. Diese sehr hohe Zahl ist in Bremen einmalig. Sie verdeutlicht noch einmal die räumliche Segregation und verstärkt die Probleme, die durch Arbeitslosigkeit und ein geringes Einkommensniveau ohnehin bestehen. Der Anteil an evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern ist erwartungsgemäß unterdurchschnittlich, liegt aber mit ca. 45 Prozent noch über dem des Steintors und Gröpelingens. Auffällig ist auch der geringe Anteil an Einpersonenhaushalten, der nicht nur unter dem Bremer Durchschnitt liegt, sondern sogar noch mit ca. einem Drittel unter dem Wert aus Oberneuland. Dementsprechend ist die durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung mit 75 m² genau im Mittelfeld Bremens und größer als im Steintor oder in Gröpelingen. Die Probleme in Tenever sind jedoch nicht zu übersehen. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit und der sehr hohe Migrantenanteil wirken sich auf die Lebensbedingungen aus und lassen eine Reintegration in die Mehrheitsgesellschaft auf kurze Sicht schwierig erscheinen. Tabelle 6: Merkmale Tenever Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen 1999, 2003 und 2007 im Ortsteil Steintor in Prozent Jahr WahlSPD CDU B’90/D FDP LinksDVU beteiliie Grüpartei gung nen 2007 67,18 23,73 11,23 41,52 3,49 17,11 0,79 2003 66,80 36,20 12,42 38,40 2,53 6,32 0,56 1999 65,12 31,37 20,49 29,06 1,74 14,2 1,01 Sozialstruktureller Indikator
Anteil der Arbeitslosen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zuzüglich Arbeitslose (in Prozent) Mittleres Einkommen (Median) der Lohn- und
40
Kennwert Steintor
Relativer Wert zur Stadt Bremen in Prozent
15,5
101,97
21.600
87,8
Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Durchschnittliches Einkommen der Lohn- und 27.500 82,34 Einkommensteuerpflichtigen 2001 (in EUR) Anteil der Hilfebedürftigen (SGB II) an der 13,2 76,74 Bevölkerung unter 65 Jahren 2007 (in Prozent) Anteil der Schüler/innen an Gymnasien (Sek. II) an der Bevölkerung im Alter von 16 bis 52,0 125,3 unter 19 Jahren insgesamt 2007/08 (in Prozent) Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung 43,2 82,6 2007 (in Prozent) Anteil der Bevölkerung mit Migrationshin19,9 73,7 tergrund an der Gesamtbevölkerung 2007 (in Prozent) Durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung 65,3 85,03 2007 (in m²) Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Pri70,9 139,84 vathaushalten 2007 (in Prozent) Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, endgültige Ergebnisse und Bremer Ortsteilatlas Dass sich viele Menschen in Tenever von der Bremer Gesellschaft ausgeschlossen fühlen, schlägt sich auch in der Wahlbeteiligung nieder. Mit ca. 40 Prozent trat im Jahr 2007 deutlich weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten an die Wahlurne. Eine derart geringe Wahlbereitschaft ist in Bremen einmalig. Bei den Bürgerschaftswahlen 1999 und 2003 nahmen immerhin noch fast 50 Prozent der Wahlberechtigten an der Wahl teil. Die Mehrheit der Wähler neigt den beiden Volksparteien SPD und CDU zu. Die SPD konnte bei den letzten drei Bürgerschaftswahlen immer über 40 Prozent erreichen. Die CDU war 1999 mit 45 Prozent sogar die stärkste Partei, verlor aber 2003 deutlich und stand 2007, nach erneuten Verlusten, nur noch bei 30 Prozent. Den Grünen und der Linkspartei ist es im Laufe der letzten Wahlen gelungen, ihren Stimmenanteil kräftig auszubauen. Beide lagen 1999 noch weit unter der 5-Prozent-Hürde, übersprangen diese jedoch 2007 mit jeweils ca. 8 Prozent deutlich. Die FDP spielt in Tenever bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft keine große Rolle. Sie wird in der Wählergunst sogar regelmäßig von der rechtsextremen DVU überflügelt. Dieser gelang es, 2007 die 5-Prozent-Hürde zu nehmen, nachdem sie 1999 und 2003 noch daran gescheitert war. Offensichtlich ist die Neigung zu rechtsextremen Parteien in Tenever höher, als in den anderen 41
untersuchten Quartieren. Dabei rekrutiert sich aber ein Teil der DVU-Wähler anscheinend aus frustrierten Protestwählern, die durch die Wahl einer rechtsextremen Partei eine geeignete Möglichkeit sehen, gegen das politische Establishment zu protestieren. Alles in allem dominieren die beiden großen Volksparteien die Wahlen in Tenever. Kleinere, auch rechtsextreme Parteien können nur vereinzelte Ausrufezeichen setzen. Von größerer politischer Relevanz ist die Tatsache, dass die „Partei der Nichtwähler“ bei der letzten Bürgerschaftswahl eine absolute Mehrheit hatte. 4
Schluss
Die SPD nimmt in der Stadt Bremen seit der Rekonstituierung des Bundeslandes nach dem Zweiten Weltkrieg de facto die Rolle einer „Staatspartei“ ein. Sie hat bisher jede Regierung angeführt und war immer die stärkste politische Kraft in der Bremischen Bürgerschaft. Diese Dominanz kann nicht zuletzt auf die Gegebenheiten eines Stadtstaates mit industrieller und urbaner Sozialstruktur zurückgeführt werden. Doch obwohl die SPD bisher ihre führende Rolle behaupten konnte, weisen die Wahlergebnisse der letzten Jahre auf bedeutende Veränderungen im Wahlverhalten hin. Zu konstatieren ist ein stetiger Rückgang der Wahlbeteiligung, der sich vor allem negativ auf die Wahlergebnisse der SPD ausgewirkt hat. Die Sozialdemokraten sind von ihren absoluten Mehrheiten, die sie noch in den 1970er und 1980er Jahren erzielen konnten, heute weit entfernt. Mit den Grünen und der LINKEN haben sich darüber hinaus neue Parteien etablieren können, die in den letzten Jahren bemerkenswerte Stimmanteile gewinnen konnten. Unter den jüngeren Wählergenerationen ist einerseits ein stärkerer Trend zu Parteien des grün-alternativen und linken Spektrums erkennbar, andererseits liegt aber die Wahlbeteiligung um ca. 10 Prozent unter der Wahlbeteiligungsquote der Gesamtbevölkerung. Allerdings ermöglicht die Betrachtung des aggregierten Wahlverhaltens für Bremen insgesamt nur eine grobe und allgemeine Einschätzung. Ein sehr viel differenziertes Bild ergibt sich, wenn man das Wahlverhalten „lokal“ aufschlüsselt, indem man charakteristische Ortsteile im Detail analysiert. Dabei stellt sich heraus, dass das Wahlverhalten in Bremen je nach Wohnviertel aufgrund höchst unterschiedlicher sozialstruktureller und städtebaulicher Gegebenheiten sehr verschieden ausfällt. Im traditionellen Arbeiterviertel Gröpelingen ist die Welt der SPD noch in Ordnung. Sie erhielt bei den letzten drei Bürgerschaftswahlen immer eine absolute Mehrheit, und allen anderen Parteien kam nur eine Statistenrolle zu. Im bürgerlichen Oberneuland dagegen scheint für die Bremer SPD 42
eine verkehrte Welt zu existieren. Während sie konstant um die 20 Prozent Zustimmung erhält, könnte die CDU hier bequem alleine regieren. Sie erreichte bei den letzten Wahlen stets mehr als die Hälfte aller Stimmen und erhielt 1999 sogar fast zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Im innenstadtnahen alternativen Szene-Viertel Steintor ist die Situation wiederum eine komplett andere. Hier gelingt es den Grünen, der SPD den Rang als dominierende Partei streitig zu machen. Sie konnten im Laufe der Zeit immer größere Stimmenzugewinne verbuchen. 2007 waren sie mit 40 Prozent die mit Abstand stärkste Partei und distanzierten die SPD, die nur etwa die Hälfte des grünen Stimmanteils erreichen konnte. In der Großwohnsiedlung Tenever mit einem sehr hohen Migrantenanteil und hoher Arbeitslosigkeit zeigt die Mehrheit der Wahlberechtigten keine große Bereitschaft, an Wahlen teilzunehmen. Dort ist die Wahlbeteiligung von knapp 50 Prozent in den letzten Jahren auf ca. 40 Prozent geschrumpft. Diejenigen, die bei der letzten Bürgerschaftswahl überhaupt noch ihre Stimme abgaben, wählten vor allem die beiden großen Volksparteien SPD und CDU. Allerdings ist es in jüngster Zeit kleineren Parteien, wie den Grünen und der Linkspartei, aber auch der rechtsextremen DVU gelungen, Stimmenanteile hinzuzugewinnen. Das unterschiedliche Wahlverhalten in den vier näher beschriebenen Wohnvierteln zeigt, dass die konstatierten Segregationsprozesse erheblichen Einfluss auf die politische Partizipation haben. Inwieweit die Segregationsprozesse sich insbesondere auf das Wahl- und Partizipationsverhalten von Jugendlichen in den verschiedenen Wohnvierteln auswirken, konnte im Rahmen dieses Beitrages nicht untersucht werden. Die Tatsache, dass der Anteil der Schüler, die eine höhere Schule besuchen, in den untersuchten Stadtteilen sehr unterschiedlich ist, lässt aber vermuten, dass sich dies auch im Wahlverhalten von Jugendlichen niederschlägt. In anderen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass bereits wahlfähige Schüler verschiedener Schulformen sich in ihrem Wahlverhalten deutlich voneinander unterscheiden. Ein weiterer Effekt kann im Hinblick auf den unterschiedlichen Anteil von Migranten in den einzelnen Wohnvierteln unterstellt werden. Je höher der Anteil von Migranten ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung, weil zum einen ein Teil der Migranten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht wählen darf und zum anderen der wahlberechtigte Teil eine sehr niedrige Wahlbeteiligungsneigung aufweist. Dieser Befund dürfte erst recht auf Jugendliche zutreffen. In jüngeren Alterskohorten liegt der Migrantenanteil deutlich über dem älterer Kohorten, so dass in Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Migranten die Wahlbeteiligung von Jugendlichen relational gesehen deutlich unter dem Niveau solcher Wohnviertel liegen dürfte, in denen der Migrantenanteil niedrig ist.
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Welchen Einfluss die Segregationsprozesse jenseits des Wahlverhaltens auf die Herausbildung anderer divergenter Formen von Partizipation in den unterschiedlichen Wohnvierteln haben, war nicht Gegenstand dieses Beitrages, sollte aber eine wichtige Aufgabe für die weitere Forschung sein. Literatur Arbeitnehmerkammer Bremen (2008) (Hrsg.): Armutsbericht 2008 – Jugendliche zwischen Beruf und Schule. URL: http://www.arbeitnehmerkammer.de/cms/upload/Downloads/Armutsbericht/r_armutsbericht2008.pdf (Zugriff am 10.2.2009). Bertelsmann Stiftung (2005) (Hrsg.): Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. o. O.: Bertelsmann. Bürklin, Wilhelm/Klein, Markus 1998: Wahlen und Wählerverhalten. Eine Einführung. 2. Auflage. Opladen: Leske+Budrich. Honneth, Axel/Linder, Rolf/Paris, Rainer (1979) (Hrsg.): Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen (mit Beiträgen von John Clarke et al.). Frankfurt/M.: Syndikat. Farwick, Andreas (1996): Die Dynamik von Armutsgebieten – Prozesse und Mechanismen der räumlichen Konzentration von Armut in benachteiligten Gebieten. In: Stadtforschung und Statistik, Heft 1, S. 23-35. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (1987): Neue Urbanität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hurrelmann, Klaus/Albert, Mathias/Quenzel, Gudrun/Langness, Anja (2006): Eine pragmatische Generation unter Druck. Einführung in die Shell Jugendstudie 2006. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 31-48. Lazarsfeld, Paul /Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1968): The People’s Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign. New York/London: Columbia University Press. Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein (1967): Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. An Introduction. In: Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives. New York: Free Press, S. 1-64. Mehrtens, Philip (2007): Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens von Bremer Schülern bei der Bürgerschaftswahl 2007. URL: http://www.awapp.uni-bremen.de/wpcontent/uploads/documents/Wahlverhalten_Jugend_Bremen_2007.pdf (Zugriff am 27.01.2009). Mielke, Gerd (2001): Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan. In: Eith, Ulrich/Mielke, Gerd (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 77-95.
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Otte, Gunnar (2007): Jugendkulturen zwischen Klassenästhetik und freier Geschmackswahl - das Beispiel der Leipziger Clubszene. In: Udo Göttlich, Renate Müller, Stefanie Rhein und Marc Calmbach (Hrsg.): Arbeit, Politik und Religion in Jugendkulturen. Engagement und Vergnügen. Weinheim/München: Juventa., S. 161-177. Probst, Lothar/Pötschke, Manuela (2007): Eine Studie zur Wahlbereitschaft von Jugendlichen. Ergebnisse aus der Begleitforschung zur Juniorwahl 2007 in Bremen. Berlin: Kumulus e.V. Schoen, Harald (2005): Soziologische Ansätze in der empirischen Wahlforschung. In: Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 135-185. Statistisches Landesamt Bremen (2008): Statistisches Jahrbuch 2008. Bremen: Statistisches Landesamt. URL: http://www.statistik.bremen.de/sixcms/media.php/13/Jahrb08.pdf (Zugriff am 27.01.2009). Tempel, Günter (2006): Die Auswirkungen sozialer Polarisierung. Zur Entwicklung der Lebenserwartung und Sterblichkeit in ausgewählten Bremer Wohngebieten. Bremen: Gesundheitsamt Bremen.
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Politik und Kommunikation. Akteure, Wege, Trends.
Stefan Luft
Im folgenden Beitrag wird zunächst die Bedeutung politischer Kommunikation für ein demokratisch strukturiertes Gemeinwesen skizziert. Medien sind zentrale Akteure für die politische Kommunikation. Rechtliche Rahmenbedingungen sichern ihre Funktionsfähigkeit und postulieren die staatliche Aufgabe, sie zu sichern. Technische und ökonomische Entwicklungen haben die Medienlandschaft und die Wege politischer Kommunikation nachhaltig verändert. Auf diese Strukturveränderungen reagieren wichtige Akteure, indem sie ihre Öffentlichkeitsarbeit professionalisierten. Zu den wesentlichen Methoden, Politik zu vermitteln, gehört auch die Inszenierung. 1
Einleitung
„Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt.“ (BVerfGE 97: 350 (369)). Transparenz und Öffentlichkeit gehören zu den zentralen Ansprüchen, denen demokratische Politik in möglichst hohem Maße genügen sollte. Politische Kommunikation ist somit ein integraler Bestandteil von Politik. Kann für Wissenschaft festgestellt werden, sie strebe nach Wahrheit und nicht nach Zustimmung, so muss von demokratischer Politik gesagt werden, dass sie in grundlegender Weise zustimmungsbedürftig ist. Sie ist damit auch öffentlich begründungspflichtig (Sarcinelli 2005: 54). Politik ist aus verfassungsrechtlicher Sicht prinzipiell ein öffentlicher Vorgang. Öffentlichkeit wird in unterschiedlicher Weise hergestellt: Durch öffentliche Beratungen (parlamentarischer) Gremien, durch Veröffentlichungen von Protokollen, durch das verbriefte Recht, Auskunftsrechte und Akteneinsichtsrechte gegenüber der staatlichen Verwaltung auszuüben (wie sie im Informationsfrei46
heitsgesetz fixiert wurden, vgl. Deutscher Bundestag 2009) sowie durch die öffentliche Rechtfertigung von Entscheidungen (Kriele 2003: 235 f.). „Demokratische Konventionalregeln“ rechtfertigen allerdings auch den partiellen Ausschluss von Öffentlichkeit im Prozess der Entscheidungsfindung. Nach dem Grundsatz „soviel Transparenz wie möglich, soviel Vertraulichkeit wie nötig“ (ebd.) muss dieses Spannungsverhältnis zum Schutz demokratischer Institutionen und zur Aufrechterhaltung von Entscheidungsfähigkeit respektiert werden (Sarcinelli 2005: 65 ff.). In der grundsätzlichen Forderung nach Öffentlichkeit unterscheidet sich Politik auch von privater Wirtschaft: Akteure kandidieren hier nicht öffentlich, werden nicht in allgemeiner und geheimer Wahl gewählt. Sie entscheiden meist, ohne auf die allgemeine Öffentlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Ob sie sich behaupten, hängt von der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Produkte in der Konkurrenz auf dem jeweiligen Markt ab. Politische Kommunikation gewinnt in der ausdifferenzierten Mediengesellschaft, wie sie sich in den vergangenen etwa 15 Jahren entwickelt hat, zunehmend an Bedeutung. Die Relevanz der Medien für die Legitimation politischen Handelns nimmt zu. Gleichzeitig haben sich neue Formen und Wege der Kommunikation entwickelt wie das Internet oder lobbyistische Öffentlichkeitsarbeit. Politik soll kollektiv verbindliche Entscheidungen herbeiführen. Dazu muss Zustimmung organisiert werden. Vor dem Hintergrund der Enthierarchisierung hängen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wesentlich mit Kommunikationsfähigkeit zusammen (Sarcinelli 2005: 64): Kommunikation gegenüber Medien (mit möglichst hoher Thematisierungskompetenz), die wiederum auf die politischen Akteure zurückwirkt, aber auch Binnenkommunikation innerhalb des politischen Systems. Öffentlichkeit ist als Arena, als zugangsoffenes Kommunikationsforum, beschrieben worden. In der Mitte der Arena können verschiedenste Sprecher auftreten, die die Zustimmung des Publikums suchen (Eilders 2008: 32): Politiker, Politikvermittler, Journalisten, Experten, Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Akteure, Verbände, auch Akteure aus dem Publikum. Sprecherbeiträge werden gesammelt, verarbeitet und vermittelt. Die Sprecher sprechen meist gleichzeitig und stehen untereinander in Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Sie sorgen damit für ein „Grundrauschen“ politischer Kommunikation in der Arena. Nicht alle gesellschaftlichen Interessen sind gleichermaßen organisationsfähig. Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeit in der Öffentlichkeit ist ein Machtfaktor. Um Zugang zur Arena (und damit zur „Öffentlichkeit“) zu erhalten müssen Barrieren überwunden werden – die wirtschaftliche Basis muss ebenso vorhanden sein wie bestimmte kulturelle Fertigkeiten. Die Ausstattung der Ak47
teure mit relevanten Ressourcen ist dabei sehr unterschiedlich: Finanzen, Fachpersonal, Mobilisierungsfähigkeit, Kompetenzen gehören dazu. Beim Zugang zu dieser Arena gibt es auch innerhalb kollektiver Akteure privilegierte Gruppen: In den Medien das „Kommentariat“ etwa, jene oligopolartige Meinungsführergruppe, die sich an herausgehobener Stelle ihres Mediums täglich oder zumindest regelmäßig äußern kann (Eilders 2008: 31). 2
Medien als Akteure
Medien sind zentrale Akteure im politischen System. Ihre Existenz gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit politischer Kommunikation in modernen Gesellschaften, unabhängig davon, ob diese demokratisch, autoritär oder totalitär verfasst sind und welche Autonomie sie den Medien gewähren. Für Medien als kollektiver Akteur gelten rechtliche und (sich wandelnde) ökonomischen Rahmenbedingungen. Rundfunk, so das Bundesverfassungsgericht, ist „Medium“ und „Faktor“ des „verfassungsrechtlich geschützten Prozesses freier Meinungsbildung“ (BVerfGE E57, 320). Medien sind Verstärker, Vermittler, Kontrolleure, sie stellen Öffentlichkeit her. Sie wirken weiter als Gatekeeper an der politischen Meinungs- und Willensbildung wesentlich mit: Medien folgen „eigenen Filtermechanismen und Strategien zur Selektion von Themen“ (Waldherr 2008: 174). Sie entscheiden, über welche Themen mit welcher Priorität und in welcher Aufmachung berichtet wird. Sie entscheiden aber auch, wie Ereignisse, Entwicklungen zu deuten, zu bewerten sind. Medien wählen nicht nur aus Angeboten aus, sie setzen auch eigene Themen: Dabei kann festgestellt werden: Starke Medien betreiben ausgeprägtes Agenda-Setting, schwache Medien hingegen räumen den Agenda-BuildingBemühungen politischer Akteure weiteren Spielraum ein. Medien haben einen großen Einfluss darauf, welche Themen zu lösungsbedürftigen Problemen werden und welche nicht und natürlich auch auf die Rangfolge dieser Themen. Das hat sowohl mit der Publikationshäufigkeit als auch mit der Aufmachung und den Konnotationen zu tun, die beigegeben werden. Politische Akteure konkurrieren um die Aufmerksamkeit von Medien. Medien wiederum konkurrieren um die Aufmerksamkeit beim Bürger als Konsumenten, die sie an werbetreibende Unternehmen vermarkten (Kabalak/Priddat/Rhomberg 2008: 61). Sie stehen in hartem Konkurrenzkampf um Auflagen und Einschaltquoten.
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Mediennutzung
Niklas Luhmann (2004: 9) hat festgestellt: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“. Das gilt natürlich auch für das politische Geschehen, das von den wenigsten unmittelbar wahrgenommen wird. Die durchschnittliche Mediennutzung in Deutschland ist stark angestiegen. Noch nie haben die Deutschen so viel Zeit mit Medien verbracht (Daten 2007, van Eimeren /Ridder 2005). Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre war in Westdeutschland nahezu eine Vollversorgung der Haushalte mit Fernseh- und Radiogeräten erreicht. Technischer Wandel – die Aufhebung der Frequenzknappheit durch Satelliten und Kabel, Deregulierung und Marktöffnung ermöglichten auch die Ökonomisierung der elektronischen Massenmedien. Das öffentlich-rechtliche Monopol galt auch durch die Transnationalisierung der Medienwelten als nicht mehr zeitgemäß. Mit der Privatisierung der elektronischen Medien gewann die „Unterhaltungshaltungsindustrie“ an Attraktivität für potentielle Investoren. Seit 1984 gibt es private Fernseh- und Rundfunkanbieter. Mit dem steigenden Angebot hat auch die Nutzung elektronischer Medien stark zugenommen, wohingegen die Nutzung von Tageszeitungen kontinuierlich zurückging und nur bei den ab 60jährigen dazu gewonnen hat. Bei allen anderen Altersgruppen haben die Tageszeitungen verloren: nur noch 27 Prozent der 14-19Jährigen lesen noch täglich Zeitung (van Eimeren/Ridder 2005: 495). Insgesamt hat sich die Mediennutzung der Bundesbürger ab 14 Jahren von 1980 bis 2005 nahezu verdoppelt: Von 346 auf 600 Minuten täglich. Von den 600 Minuten entfallen auf
Hörfunk 221 Minuten Fernsehen 220 Minuten Internet 44 Minuten,
hinzukommen für die
Tageszeitung 28 Minuten Bücher 25 Minuten (höchster Wert seit 1979) Zeitschriften 12 Minuten MP3/CD/MC 45 Minuten Video/DVD 5 Minuten (ebd.: 495 ff.)
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Besonders stark im Kommen ist weiterhin das Internet. So hat sich die Zahl der Bundesbürger, die das Internet nutzen, innerhalb von zwölf Jahren – zwischen 1997 und 2008 – mehr als verzehnfacht: von 4,1 auf 42,7 Millionen (Daten 2008: 84). Die durchschnittliche Nutzungsdauer hat sich innerhalb dieses Zeitraums von zwei auf 58 Minuten täglich ausgedehnt. Die demografische Struktur weist dabei zwei Charakteristika auf: Bei den Männern nutzen 72,4 Prozent, bei den Frauen lediglich 59,6 Prozent das Internet. Bei den Jugendlichen und Heranwachsenden liegt der Anteil bei über 90 Prozent (14-19 Jahre: 97, 2 Prozent; 2029 Jahre: 94,8 Prozent). Bei den 50 bis 59-Jährigen liegt der Anteil nur noch bei 65,7 Prozent, bei den über 60-Jährigen sinkt er gar auf 26,4 Prozent (ebd.). Beim Internet entfällt die Filterfunktion von Journalisten/Medien weitgehend, was Vor- und Nachteile mit sich bringt: Themen gelangen ungefiltert in die Öffentlichkeit, es mangelt allerdings an professioneller Dienstleistung zur Auswahl von Informationen. Gleichzeitig nehmen die Suchmaschinen (und deren Programmierer) die Rolle von Gatekeepern ein (Stern 2008: 175 f.). Grundsätzlich kommt dem Internet (auch durch das „Web 2.0“) eine demokratisierende Funktion zu: Angesichts relativ niedriger Zugangsschwellen können Laien eine wesentlich stärkere Rolle als in anderen Medien (Printmedien, Hörfunk und TV) übernehmen (Meckel 2008). Durch die interaktiven, auf Partizipation ausgerichteten Elemente des Web 2.0 ist dort die traditionelle Einteilung in professionelle Produzenten einerseits und Konsumenten andererseits aufgehoben: Milliarden von Teilnehmern haben die Möglichkeit, selbst Themen zu setzen, Angebote zu gestalten und daran mitzuwirken (Weblogs). Damit wird auch ressourcenschwachen Akteuren massenhaft der Zugang zur Arena ermöglicht – ob der Ruf ungehört verhallt oder nicht hängt allerdings davon ab, ob es gelingt, Anschlusskommunikation zu erzeugen. Durch die Netzwerkstrukturen erweist sich Kommunikation im globalen Internet als weniger steuerbar denn je, was totalitäre und autoritäre Regime ebenso wie demokratische Politiker und Wirtschaftsunternehmen zu spüren bekommen (ebd.: 17f.). So gewinnt das Internet – trotz digitaler Spaltung – nicht nur in amerikanischen Wahlkämpfen zusehends an Bedeutung. Der Mikro-BloggingDienst „Twitter“ hat inzwischen auch die deutsche Politik erreicht (Deutscher Bundestag 2009a). Durch seine dynamische Entwicklung ist das Internet zu einer Konkurrenz der traditionellen Medien auf dem Werbemarkt geworden. Damit geraten die Printmedien zunehmend unter Druck, der wiederum von der Finanz- und Wirtschaftskrise weiter verstärkt wird. Die Folge ist unter anderem eine reduzierte publizistische Vielfalt (Rückgang selbstständiger redaktioneller Einheiten, Zunahme des Einflusses von Nachrichtenagenturen).
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Rechtliche Rahmensetzungen
Dazu gehören in Deutschland neben internationalen Rechtsquellen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention das Grundgesetz (GG), die Landesverfassungen, die Landesmediengesetze und die Pressegesetze der Länder. Dabei geht es im GG nicht nur um das Recht auf Meinungsfreiheit als Jedermannsrecht oder um das Zensurverbot, d.h. das Verbot eines staatlichen Kontrollverfahrens im Vorfeld, sondern auch ein Abwehrrecht gegenüber politischer oder wirtschaftlicher Macht. So heißt es in Art. 5, Abs. 1 S. 2 GG: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“ Die hieraus erwachsende Verpflichtung, die Rundfunkfreiheit rechtlich auszugestalten, fand ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Gesetzgebung zur Pressekonzentration und den entsprechenden Institutionen wie der KEK (Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich). Staatsfreiheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung von Medienfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang der 1980er Jahre im Zusammenhang mit der Entstehung des dualen Systems darauf Wert gelegt, dass die elektronischen Medien auch nach dem Fall des öffentlich-rechtlichen Monopols nicht dem freien Spiel der Marktkräfte alleine überlassen werden dürfen. Dazu schätzte es die Bedeutung der elektronischen Massenmedien zu hoch ein – hinsichtlich „Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft“, wie es im Zweiten Gebührenurteil vom September 2007 heißt (BVerfGE 2007). Das Gericht sah deshalb den Gesetzgeber in der Verantwortung, eine „Konzentration von Meinungsmacht“ in der Hand einzelner finanzkräftiger Meinungsträger, die über Sendefrequenzen verfügen, vorzubeugen. Deshalb musste für die Zulassung privater Anbieter ein rechtstaatliches Verfahren gesichert und entsprechende Institutionen (wie die Landesmedienanstalten) geschaffen werden. Der Staat steht also in der Gewährleistungspflicht von Rundfunkfreiheit. Die Landespressegesetze sprechen der Presse eine „öffentliche Aufgabe“ (Pressegesetz Bremen §3) zu. Die Presse erfüllt diese Aufgabe, in dem sie im gesellschaftlichen Raum unabhängig agiert, d.h. ohne Auftrag, ohne organisatorische oder inhaltliche Steuerung durch Parlament, Regierung und Verwaltung, wodurch sie die freie Meinungsbildung in Gang hält. Aus der öffentlichen Aufgabe resultiert das Recht auf ungehinderten Zugang zu Informationen, die daraus resultierende Verpflichtung öffentlicher Stellen, Auskunft zu geben, wurde bereits erwähnt.
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Ökonomisch-technische Rahmensetzungen
Was die ökonomischen Rahmenbedingungen betrifft, ist zwischen öffentlichrechtlich organisierten Anstalten und privatwirtschaftlichen Medienunternehmen zu unterscheiden. Was die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten angeht, sind zwei Feststellungen zu treffen: Erstens: Der medienpolitisch motivierte Umgang mit der Erhöhung der Rundfunkgebühr ist durch das Zweite Gebühren-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September 2007 erneut zurückgewiesen worden. „Die Festsetzung der Rundfunkgebühr muss frei von medienpolitischen Zwecksetzungen erfolgen“, heißt es wörtlich. Zweitens: Die finanziellen Ressourcen der einzelnen Rundfunkanstalten haben sich stark auseinander entwickelt. Eine wesentliche Ursache ist in dem Versuch politischer Akteure zu sehen, auf die staatsfern organisierten öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten medienpolitischen Druck auszuüben. So war zeitgleich zum Angriff auf den Finanzausgleich zwischen den Ländern 1995 auch die Finanzverteilung zwischen den Anstalten der ARD sowie die ARDStruktur in Gänze in Frage gestellt worden. Das Ergebnis jedenfalls war: 1999 beschlossen die Ministerpräsidenten, den Finanzausgleich innerhalb der ARD bis 2005 auf weniger als die Hälfte zu reduzieren. Die Konsequenzen dieser Entscheidung bekamen vor allem der Saarländische Rundfunk und Radio Bremen zu spüren. Radio Bremen erhielt nicht einmal den von der zuständigen „Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs“ zuerkannten Anteil an Rundfunkgebühren. Es verlor rund ein Drittel seiner Einnahmen und war damit von einer bedarfsgerechten Finanzierung weiter denn je entfernt. Die Konsequenzen: Massiver Stellenabbau (von 700 auf 400), statt vier nur noch zwei eigenständige Radioprogramme, weniger Beiträge für das Gemeinschaftsprogramm der ARD, Ausschöpfung aller Effizienzreserven. Effizienz-Reserven zu heben ist sinnvoll und nötig (zumal wenn es gebührenfinanzierte Anstalten geht), allerdings ist natürlich die Frage berechtigt, ob diese Effizienzreserven nicht irgendwann erschöpft sind und ob nicht Personalabbau irgendwann auch zu einem Verlust an Programmqualität führen muss – auf die die öffentlich-rechtlichen Sender in besonderer Weise verpflichtet sind. Im 16. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten heißt es daher: „Der gegenwärtige Finanzausgleich kann die Lebens- und Funktionsfähigkeit der kleinen Anstalten allein nicht sicherstellen. Die Ausweitung der Kooperation mit anderen ARD-Anstalten durch entlastende Programmübernahmen stößt zunehmend an Grenzen. Auch den kleinen Anstalten muss die eigenverantwortliche Gestaltung eines ‚identitätswahrenden Programms’ möglich bleiben“ (KEF 2008: 200). 52
Grundsätzlich ist das Gebührenerhebungssystem bereits im Ansatz falsch angelegt, weil es am Wohnortprinzip ansetzt und nicht am anerkannten Bedarf. Im Länderfinanzausgleich besteht ein vergleichbares Problem ja auch für die Stadtstaaten. Mit der Zulassung privater Anbieter wurde das Regime der Ökonomie weiter ausgeweitet. Elektronische Medien – in erster Linie das Fernsehen – müssen unter den Bedingungen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs das Ziel verfolgen, möglichst zahlreiche konsumbereite und kaufkräftige Zuschauergruppen an den Sender zu binden (Kamps: 203 ff.). Für Medienunternehmen, für internationale Finanzinvestoren ist die Programmqualität nur insofern von Interesse, als sie kurzfristig zur Rendite beiträgt. Renditeziele, und in Zeiten von Digitalisierung „crossmediale Verwertungsprozesse“ stehen im Zentrum des Interesses (Kiefer 2004). Innere Rationalisierung, die die Kostenfaktoren Personal und Programmaufwendungen zu reduzieren sucht, steht dann vorne an. Eine Untersuchung des Hans-Bredow-Instituts 2008 belegte, dass die Eingriffe in die ökonomischen Ressourcen von Medien durch Budgetumschichtungen und einseitige Belastungen der Haushalte zumindest indirekte Auswirkungen auf die politische Funktion von Medien ausüben. „In allen untersuchten Fällen sind die journalistischen Redaktionen nur als Kostenträger und Manövriermasse relevant, die unangetastet bleibt, solange die Kostenrechnung stimmt, und die radikal verkleinert wird, wenn Werterhalt oder – steigerung nur durch Kostenreduktion möglich erscheinen“ (Gert/Trappel 2008: 542). Mit der Digitalisierung der Verbreitungswege (rund 40 Prozent der Haushalte verfügen inzwischen über digitales Fernsehen) kann zusätzliche Wertschöpfung erzielt werden. Veränderungen in der Produktion, der Verbreitung und dem Umgang mit Medien sind die Konsequenz (van Eimeren/Ridder 2005: 491). Das gilt für neue Inhalte und Angebotsformen wie sie das explodierende Programmangebot ebenso dokumentiert wie die vielseitigen Angebote des Internets (Video, TV- und Hörfunkempfang, interaktive Möglichkeiten). Mittlerweile ist die strikte Einteilung in Massen- und Individualmedien durch die technische Konvergenz der Endgeräte (wie der Fernsehempfang über Handy) nicht mehr haltbar. Die Zahl der in Deutschland durchschnittlich empfangbaren Fernsehkanäle ist von 1990 bis 2005 von 8 auf 40 (!) angestiegen. Insgesamt sind heute mehr als 800 Programme oder Teledienste über Digitalfernsehen zu empfangen (ALM Jahrbuch 2008: 41). Sowohl im Fernsehen als auch im Hörfunk stellen Vollprogramme inzwischen die Ausnahme dar. Durch starke Diversifizierung und Fragmentierung nimmt die Zahl der Programme zu – Spartenprogramme ebenso
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wie Formate der Programme, die zunehmend zielgruppenspezifisch ausgerichtet werden und wie Telenovelas und Gerichtsshows leicht konsumierbar sind. 6
Strukturveränderungen im Journalismus
Der größte Teil der rund 48.000 hauptberuflichen Journalisten in Deutschland arbeitet nach wie vor bei Zeitungen (rund 17.000), rund 15.000 bei Hörfunk und Fernsehen, von denen mehr als zwei Drittel bei öffentlich-rechtlichen Sendern beschäftigt sind (hierzu und dem Folgenden: Weischenberg/Malik/Scholl 2006). Hier sind auch erhebliche Einkommensunterschiede festzustellen: Journalisten bei ARD und ZDF verdienen rund 2.800 Euro netto monatlich, bei privaten Sendern und Produktionsfirmen hingegen nur rund 1.550 Euro. Die wirtschaftliche Krise der Jahre 2001 folgende hat insbesondere bei den Printmedien zu Reduzierungen des Personals geführt: durch Entlassungen, aber auch durch Outsourcing, um auf diese Weise die Bindung durch Tarifverträge umgehen zu können. Ein Teil der davon Betroffenen dürfte bei Online-Medien oder bei privaten Rundfunkanbietern Beschäftigung gefunden haben. Der Frauenanteil im deutschen Journalismus ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig angestiegen. Lag er Ende der 1970er Jahre noch bei 20, so lag er 2005 bei 37 Prozent, bei den freien Mitarbeitern bei 45 Prozent. In Führungspositionen sind Frauen auch im Journalismus weiterhin unterrepräsentiert, bei den Berufsanfängern liegt ihr Anteil mittlerweile bei 50,3 Prozent. Journalisten unterscheiden sich vom Durchschnitt der Bevölkerung hinsichtlich des formalen Bildungsgrades, hinsichtlich sozialer Zusammensetzung und politischer Präferenzen:
Knapp 70% der Journalistinnen und Journalisten verfügen über ein abgeschlossenes Studium. Rund zwei Drittel der Väter waren Angestellte oder Beamte, nur 8,6 % der Journalisten – also eine kleine Minderheit – sind Kinder von Arbeitern.
Die Parteipräferenzen sehen 2005 wie folgt aus: 54
35,5 % neigen nach eigenen Angaben den Grünen zu; 26 % der SPD, 8,7 % CDU/CSU und 6,3 % der FDP 0,8 der PDS. 19,6 % gaben an, keiner Partei zuzuneigen.
Mit den technischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit (Stichwort: Digitalisierung) hat sich nicht nur das Angebot diversifiziert, auch die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung hat sich erheblich beschleunigt – wobei das Internet die wichtigste Rolle spielt: Informationen können heute sowohl von regierungsamtlichen wie von Medienkommunikatoren in kürzester Zeit verbreitet und einem großen Adressatenkreis bzw. Publikum zugänglich gemacht werden. Diese Beschleunigung wirkt sich natürlich auf die Arbeitsbedingungen von Pressestellen und Journalisten aus: der Druck, rasch etwas anzubieten, zu verlautbaren, wächst ebenso, wie der Druck, dies journalistisch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit den technischen Umbrüchen und Rationalisierungen seit den 1970er Jahren wandelte sich das Arbeitsfeld von Journalisten stark: Mit dem Wegfall der „Setzer“ müssen Journalisten heute die Seiten i.d.R. selbständig am Bildschirm gestalten. Auf diese Weise stieg der durchschnittliche Zeitaufwand für technische und organisatorische Aufgaben deutlich an. In der Studie „Journalismus in Deutschland 2005“ gaben nur knapp die Hälfte der Journalisten an, mit der ihnen täglich zur Verfügung stehenden Zeit für Recherche von weniger als zwei Stunden zufrieden zu sein (Weischenberg/Malik/Scholl 2006: 354 f.). 7
Politiker als Akteure
Der Grünen-Politiker Fritz Kuhn (2002: 97) hat seine Ohnmachtsempfindungen im politischen Betrieb einmal wie folgt beschrieben: „Man sitzt auf einem Baumstamm, der in einem Hochwasser oder gar in einem reißenden Fluss treibt, und stellt sich die Frage: Kannst Du den steuern? Die Frage nach der Öffentlichkeitssteuerung führt zunächst einmal zur Erkenntnis: Man kann vieles eben nicht steuern, man ist allen möglichen Zufälligkeiten, Strömungen und Widrigkeiten des Flusses ausgesetzt. Aber zu sagen, man hätte selbst keinen Einfluss darauf, ob man durchkommt oder herunterfällt, wäre auch ignorant. Eine falsche Bewegung und man liegt im Wasser. Es gibt ein paar stabilisierende Bewegungen, die man gemeinhin als Steuerung ausgibt, wenn man durchgekommen ist.“ Diese Aussage zeigt deutlich, welchen Impact die mediale Dynamik auf die politisch Handelnden ausübt. Dass sie selber diese Dynamik antreiben, gehört allerdings auch ins Bild. Politiker sind einerseits handelnde Subjekte und andererseits Objekte der Berichterstattung. Sie konsumieren Medien, die ihre Tätigkeit betreffen, anders als die Mehrheit der Bevölkerung und sie sind anderen Medienwirkungen ausgesetzt. Sie sind, wie Hans Mathias Kepplinger (2007) es bezeichnet, „reziproken Effekten“ ausgesetzt. Sie werden durch Medienspiegel erheblich höheren Me55
diendosierungen ausgesetzt. Insbesondere in Krisen- und Konfliktsituationen sind diese oft die zentrale Quelle für die Information über die vermuteten Reaktionen der Bevölkerung. Und schließlich kommunizieren Politiker in diesen Situationen i.d.R. mit Personen, die ähnlichen Effekten ausgesetzt sind. Daher sind Entscheidungsträger nicht selten Opfer einer dreifachen Täuschung (Kepplinger 2000: 145 f.):
Medien stellen die Verteilung der Bevölkerungsmeinungen maßstabsgerecht dar die Mehrheit konsumiert ähnlich hohe Mediendosen mit ähnlichem Interesse wie sie selbst und die Bevölkerung reagiert tatsächlich so stark wie vermutet (so genannte indirekte reziproke Effekte).
Zu den Folgen gehören: irrationale Entscheidungen, Unterwerfung unter einen vermeintlichen Volkswillen sowie die beschriebenen Ohnmachtsgefühle. 8
Beziehungsgefüge Politikvermittler/Politiker/Journalisten
Öffentlichkeitsarbeiter und Politiker instrumentalisieren Journalisten: Das Mittel ist zum einen die „Ware“ Information aber auch die Gewährung oder Verweigerung von Nähe. Bei der Information geht es um „gesteuerte Exklusivität“ – bestimmte Informationen, gar Indiskretionen, gibt es dann eben nicht auf der Pressekonferenz für alle, sondern exklusiv für einen bestimmten Journalisten/eine bestimmte Journalistin: Er hat einen Aufmacher (oder zumindest eine interessante Geschichte) und festigt damit seine Rolle in der Redaktion und dient seinem Medium. Die Quelle wiederum kann sicher sein, dass die Information so veröffentlicht wird, wie das beabsichtigt war: Geschäft und Gegengeschäft. Wer sich als Journalist an diese ungeschriebenen Spielregeln nicht hält, wird entsprechend kurz gehalten. Politiker, Politikvermittler einerseits und Journalisten andererseits bewegen sich zwischen Nähe und Distanz. Dabei wird Nähe auch instrumentell eingesetzt, Politiker wollen Journalisten die Nähe zur Macht vermitteln. Wer darf in der Kanzlermaschine mitfliegen? Kontraproduktive Nähe – aus der normativen Perspektive – entsteht auch dann, wenn Journalisten über viele Jahre oder gar Jahrzehnte über Parteien berichten, denen sie womöglich noch selbst angehören (Mertes 2003: 59). Hier hat das Militär mit handverlesenen „embedded journalists“ im zweiten Irak-Feldzug von der politischen Front gelernt.
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Politische Öffentlichkeitsarbeit geht es stets – auch in der routinemäßigen Arbeit, wie dem Verfassen von Pressemitteilungen oder der Ankündigung öffentlichkeitsrelevanter Termine, – nicht nur um die Vermittlung bestimmter Sachinformationen, sondern auch um die Vermittlung damit verbundener Interpretationen, die die politische Berichterstattung beeinflussen sollen. Dass kann bis hin zu Manipulationen führen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit dem zweiten Irak-Krieg britischen Spindoctors vorgeworfen wurden – in diesem Zusammengang machte das Verb „to sex up“ (für aufbauschen, aufmöbeln von Sachverhalten) die Runde (ebd.: 54). Dazu gehören auch die Dethematisierung, die Verhinderung inopportuner Publizität, sowie das Abwehren kritischer Fragen. Der Erfolg von Pressesprechern und Öffentlichkeitsarbeitern wird auch daran gemessen, was am nächsten Tag oder am nächsten Montag nicht in den Magazinen steht. Empirische Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Chancen, diese Ziele zu erreichen, nicht als sehr groß einzuschätzen sind (Tenscher 2003: 274). Öffentlichkeitsarbeiter müssen in erster Linie über „kommunikative Kompetenz“ verfügen. Sie müssen sowohl in externe Öffentlichkeiten (Medien, Verbände) hineinwirken als auch in interne Öffentlichkeiten (Fraktionen, Parteien). In beiden Fällen kommt es darauf an, in den jeweiligen Handlungssystemen Netzwerke aufzubauen. In Netzwerken kommt es zu einem Geben und Nehmen: Es bestehen Austauschbeziehungen – wie im Handlungssystem aus Politik, PR und Journalismus: Was wird ausgetauscht? Informationen gegen Publizität. Dieser Austausch kann auch in die Gegenrichtung verlaufen: Journalisten vermitteln Politikern machtdienliche Informationen. So berichtet Michael Mertes (2003: 54 f.), dass Helmut Kohl bzw. sein „Spindoctor“ Eduard Ackermann, zwei Mal von Journalisten die entscheidenden Hinweise auf Putschpläne von CDU-Politikern erhielten: nämlich 1978, als der Korrespondent der Kölnischen Rundschau in einem Hintergrundkreis von entsprechenden Plänen Kurt Biedenkopfs erfahren hatte und Ackermann davon umgehend unterrichtete und 1989, als ein Journalist von den Plänen Heiner Geißlers und Lothar Späths bei einem Skatspiel mit einem von beiden erfuhr und dies dem Kanzleramt meldete. An Hand dieser Beziehungsstrukturen zeigt sich, dass Journalisten längst nicht immer kritische und unabhängige Beobachter darstellen – nicht selten begeben sie sich teilweise aus Bequemlichkeit und Opportunismus in die Rolle des Komplizen. Seit einigen Jahren ist häufiger die Rede von so genannten „spin doctors“, wie sie in politischen Systemen in Großbritannien und den USA eine Rolle spielen. Der ehemalige Staatssekretär und hessische Regierungssprecher Klaus-Peter Schmidt-Deguelle (2002) hat sich als Medienberater von Bundesfinanzminister Hans Eichel um ein solches Image bemüht (Marx 2008: 125ff.). Im fragmentier57
ten politischen System der Bundesrepublik Deutschland können sich allerdings Politikvermittlungsexperten im Sinne von spin doctors mit einem umfassenden Einfluss im politisch-administrativen System nicht etablieren (ebd. 213 ff.). Eduard Ackermann hatte noch am ehesten für Helmut Kohl eine vergleichbar bedeutende Rolle gespielt. Die Heranziehung privater Dienstleistungen zur Unterstützung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit hat im Übrigen nicht mit der Regierung Schröder/Fischer begonnen. Der Bremer Kaufmann Ludwig Roselius, Gründer von Kaffee HAG, hatte dem Auswärtigen Amt zu Beginn des Ersten Weltkriegs vorgeschlagen, ein Hilfskomitee für nationale Propaganda-Zwecke zu gründen, in dem „Herren aus der Wirtschaft“ mitarbeiten sollten (Kunczik 2006: 39). Er entwickelte dafür eine Aufgabenliste der Auslandspropaganda. Er selbst gründete im September 1914 in Rumänien ein Korrespondenzbüro, das rumänische Zeitungen mit Informationen versorgte. In Bulgarien, so berichtet Michael Kunczik, kaufte Roselius die gesamte Druckerschwärze des Landes auf und gab sie nur an Zeitungen ab, die deutschfreundlich schrieben oder sich dazu verpflichteten. 9
Lobbyismus und politische Kommunikation
Lobbying kann unmittelbar, in direkter persönlicher Kommunikation oder mittelbar, indirekt, auch verdeckt, über Dritte und Medien erfolgen. „Persönliche Kommunikation“ (vor allem das persönliche Gespräch) wird von Lobbyisten als wichtigstes Medium der Interessenvermittlung angesehen (Wehrmann 2007: 46) Dazu gehören „parlamentarische Abende“, zu denen Verbände oder Unternehmen Abgeordnete und deren Mitarbeiter einladen, ebenso wie Arbeitstreffen mit Entscheidern oder deren Mitarbeitern. Schriftliche Stellungnahmen und Gutachten gehören ebenfalls zu diesen direkten Formen des Lobbying. Lobbyisten sind hier Informationsdienstler – sie geben Informationen an politisch Handelnde und deren Berater weiter, sie nehmen aber auch ebenso Informationen auf und dienen auf diese Weise als „Frühwarnsysteme“ für ihre Verbände. Dies gewinnt in einer komplexer werdenden politischen Welt – insbesondere auf europäischer Ebene - zunehmend an Bedeutung. Wurde Lobbying bislang vorwiegend als nicht-öffentliche Form politischer Einflussnahme betrachtet, so nimmt indirektes Lobbying seit einigen Jahren verstärkt Medien und Öffentlichkeit in den Blick. Hier werden strategische, mittel- und langfristige Ziele verfolgt: Angesichts des Bedeutungsgewinns der Medien im politischen Prozess sollen die eigenen politischen Themen und Positionen im medialen Diskurs platziert und damit einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden. Gegenstand ist dabei in erster Linie die „Reformkommunikation“ – 58
die Vermittlung der Einsicht, dass Reformen des Wohlfahrtsstaates (gemeint sind Abbau sozialstaatlicher Leistungen, Senkung von Steuern und Abgaben und die Notwendigkeit von Deregulierung) unverzichtbar seien, um Deutschland „zukunftsfähig“ zu machen. Um diese mittel- und langfristigen Strategien umzusetzen, werden neben klassischen Mitteln der Public Relations neue Formen der Beeinflussung der öffentlichen Meinung eingesetzt. Hier ist in erster Linie die Schaffung indirekt gesteuerter Initiativen zu nennen. Um eine möglichst hohe Glaubwürdigkeit und damit möglichst große Durchsetzungsfähigkeit in den Medien zu erzielen, müssen sie als unabhängige „Bürgerinitiativen“ firmieren, die Geldgeber müssen im Hintergrund bleiben (Nuernbergk 2009). Tatsächlich sind sie aber professionell betriebene Vorfeldorganisationen der Industrie: die „Dritte Kolonne des Kapitals“. Rudolf Speth und Thomas Leif (2006) sowie Christian Nuernbergk (2009) haben dies am Beispiel der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) präzise gezeigt. Sie wurde vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall ins Leben gerufen und wird von ihm jährlich mit rund zehn Millionen Euro finanziert. Mit Hilfe dieser Ressourcen werden – betreut von Agenturen – Kampagnen und Internet-Auftritte entwickelt, Anzeigen geschaltet. Es wird professionelle Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Den zunehmend unter Druck stehenden Journalisten, denen immer weniger Zeit für eigenständige Recherche zur Verfügung steht (Weischenberg/Malik/Scholl 2006), werden von „PR-Journalisten“ mediengerecht aufbereitete – natürlich interessengeleitete – vorproduzierte Beiträge und Interviews zur Verfügung gestellt. Die Effizienz dieser Maßnahmen wird durch „Medienpartnerschaften“ flankiert, bei denen etwa „Exklusivbeiträge“ vermittelt oder Veranstaltungen mit prominenter Besetzung organisiert werden, die die Bindung der Konsumenten an das Medium befördern. Hier wird der Kostendruck, dem sich zahlreiche Verlage und Redaktionen ausgesetzt sehen, gezielt genutzt. „Für die Chefredakteure und Verlage … sind Medienpartnerschaften besonders interessant, weil dadurch Redaktionskosten externalisiert werden können …“ (Leif/Speth 2006: 309, vgl. Thunert 2003). Um die vorgebliche Unabhängigkeit von verdeckt im Hintergrund bleibenden Geldgebern erreichen zu können, werden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Multiplikatoren eingesetzt und als „Botschafter“ oder „Beiräte“ installiert: ehemalige Minister, Bundestagsabgeordnete, Wissenschaftler etc. Begehrt sind dabei jene, die der SPD oder Bündnis 90/Die Grünen angehören, weil sie besonders geeignet sind, die Überparteilichkeit der Initiativen glaubhaft machen zu können. Diese Organisationen mit ihren Netzwerken sind als „advokatorische Think Tanks“ bezeichnet worden, „die ihre Aufgabe nicht primär in der wissenschaftlichen Analyse, sondern verstärkt in der politischen Anwaltschaft 59
für bestimmte Themen, sachpolitische Lösungsansätze oder für die von ihnen vertretenen wissenschaftlich-weltanschaulichen Paradigmen (soziale Marktwirtschaft, Nachhaltigkeit usw.) sehen.“ (Thunert 2003: 31). Zur Medienstrategie dieses öffentlichen Lobbyismus gehört es auch, Studien, Gutachten „Rankings“ in Auftrag zu geben, „Wettbewerbe“ zu organisieren und die Resultate professionell zu vermarkten (Leif/Speth 2006: 310; Nuernbergk 2009: 177ff.). Um den Charakter einer Bürgerinitiative zu unterstreichen und Medienresonanz zu erreichen wird auch an Aktionsformen sozialer Bewegungen angeknüpft – es werden Protestevents inszeniert (ebd.: 174f.). Studien zeigen, dass die Medienstrategie dieser neuen Art des Lobbying aufgeht: Themen werden induziert, ihre Behandlung durch ein dem Medienalltag angepasstes Dienstleistungsangebot erfolgreich beeinflusst und gesteuert. Doch nicht nur die erhebliche Resonanz ist entscheidend. Vor allem gelingt es in den allermeisten Fällen, als neutrale Initiative zu erscheinen. Auftraggeber und Organisatoren bleiben den Medienkonsumenten verborgen (ebd.: 178ff.). Hier werden auch Defizite in den Medien und in der professionellen Aufgabenwahrnehmung von Journalisten deutlich erkennbar. Sie sind für die Funktionsfähigkeit eines politischen Systems von erheblicher Relevanz. 10 Zivilgesellschaftliche Organisationen Nicht-erwerbsbezogene, zivilgesellschaftliche Akteure verfügen nicht über die Ressourcen klassischer Verbände. Sie sind meist weder mitgliederstark noch finanzkräftig. Sie vertreten häufig „schwache“ Interessen, die keine oder nur geringe Artikulationsfähigkeit haben: Umweltschutzinteressen oder Menschenrechte politischer Gefangener. Gegner sind häufig Wirtschaft und Staat (Frantz/Martens 2006). Dennoch bleibt das Bild von „David gegen Goliath“ ein Mythos: Die Kampagnenfähigkeit und die Thematisierungskompetenz kann sehr ausgeprägt sein. Das hat nicht zuletzt die Auseinandersetzung zwischen dem ÖlMulti Shell und der Umweltorganisation Greenpeace um die Ölverlade- und Lagereinrichtung Brent Spar 1995 deutlich gemacht (Klaus 2009). Die beschränkten Kapazitäten werden zumindest in Teilen durch eine mobilisierbare Anhängerschaft und eine in zahlreichen Medien ausgeprägte Sensibilität und Aufnahmebereitschaft kompensiert. Zumal haben sich speziell Umweltverbände zu einer starken Gegenmacht zu Wirtschaftsinteressen entwickelt – mitgliederstark und in Politiknetzwerken ihren Gegenspielern zumindest nicht mehr systematisch unterlegen. Dies ist auch Resultat einer ausgeprägten Tendenz zur Professionalisierung (Frantz/Martens 2006: 62 ff.), die ihren Ausdruck findet in festen Mitarbeiterstä60
ben, der Dominanz von Berufsfunktionären und der Entwicklung hierarchischer Strukturen (ebd.: 124ff.). Hinzu kommen Marketing-Strategien, die darauf abzielen, die jeweilige Organisation als eigene Marke auf dem NGO-Markt zu etablieren. Diese Entwicklungen steigern die Durchsetzungsfähigkeit dieser Organisationen. Sie werden zu anerkannten Akteuren im politischen Prozess. Dementsprechend professionalisiert sich auch die Interessenvertretung gegenüber der Politik. Auch sie können auf „advokatorische Think Tanks“ zurückgreifen – wie im Falle der Umweltorganisationen auf zahlreiche, ihnen nahe stehende, ökologisch ausgerichtete Forschungsinstitute (Roose 2006: 276ff.). Wissenschaftliche Expertise und das Vertrauen, das sie in der Bevölkerung genießen, bilden die wichtigsten Ressourcen des Lobbying zivilgesellschaftlicher Organisationen. 11 Politikvermittlung und Unterhaltung: Inszenierung Inszenierungsstrategien gehören zum politischen Leben. Das gilt für die antiken Stadtstaaten, in denen Reden durchaus Eventcharakter zukam, für römische Beerdigungsrituale (Linke 2006: 34) ebenso wie für Kaiserin Constanze, die Mutter des Staufer-Kaisers Friedrichs II, die 1194 die Geburt ihres Sohnes öffentlich auf dem Marktplatz von Jesi zur Schau stellte (Prantl 2002) und es gilt natürlich für Diktaturen, die in pseudo-religiösen Inszenierungen Legitimation zu erlangen versuchen. Auch beim demokratischen Staatsbürger gibt es einen Unterhaltungsbedarf – sonst hätte, darauf hat Heribert Prantl zu Recht hingewiesen, – Karl Heinz Bohrers Zeitschrift „Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ und nicht Springers Bild-Zeitung eine tägliche Auflage von 4,7 Millionen Exemplaren. Lars Rosumek (2007: 48ff.) hat darauf hingewiesen, wie intensiv Konrad Adenauer und seine Mitarbeiter moderne Instrumente von Öffentlichkeitsarbeit nutzten: „Homestories“, „Ereignismanagement“ „Personalisierungsstrategien“, „negative campaigning“. Mit der Zulassung privat-wirtschaftlich organisierter elektronischer Medien haben sich der Kampf um Aufmerksamkeit und der Visualisierungszwang deutlich verschärft. Ein wichtiges Instrument der politischen PR ist dabei stets das Schaffen und Nutzen von Pseudo-Ereignissen, so genannten „Events“. Politische Akteure nutzen es zur Steuerung der Medienberichterstattung, zur Sicherung der Medienpräsenz, zur Beeinflussung von Selbst- und Fremdbildern, der „Images“. Pseudo-Ereignisse sind Ereignisse, die eigens zum Zweck der Berichterstattung herbeigeführt wurden und die ohne die über sie berichtenden Massenmedien nicht stattfinden würden. Dazu gehören: routinemäßige Inszenierungen wie Pressekonferenzen, Pressegespräche oder Einladungen zu abendlichen Pressetreff61
punkten ebenso wie spektakuläre Inszenierungen wie Kundgebungen oder Demonstrationen und ungewöhnliche Ereignisse wie fallschirmspringende Spitzenpolitiker oder Transparente auf Kühltürmen hissende Greenpeace-Aktivisten. Die massenmediale Aufbereitung, Darstellung und Verpackung von Politik wird zur Aufrechterhaltung und zur Vortäuschung politischer Steuerungsfähigkeit immer wichtiger. „Die starke Expansion und Beschleunigung des medialen Nachrichtenflusses übt Druck auf die Regierenden in allen westlichen Industriestaaten aus, ihre Darstellungspolitik an die vielfältigen medialen Plattformen mit ihren unterschiedlichen Zielgruppen anzupassen“ (Marx 2008: 237). Politikvermittler müssen an der Profil-Bildung ihrer Vorgesetzten mitwirken. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass dieses „Profil“ nicht aufgesetzt wirkt, sondern authentisch ist. Der beste Öffentlichkeitsarbeiter kann kein politisches Profil maßschneidern, das der jeweiligen Persönlichkeit nicht entspricht. Auch in anderer Hinsicht sind politischen Regisseuren Grenzen gesetzt: Inhalte, die Substanz, können (und dürfen) durch Darstellung nicht marginalisiert oder gar vollständig ausgeblendet werden. „Die Differenz zwischen thematischen Inszenierungen, die die Eigenlogik der Politik noch angemessen erkennen lassen, und leeren Inszenierungen, bei denen das Politische nicht als ein Anlass für die Inszenierung medialer Unterhaltsamkeit ist, erweist sich für die demokratiepolitische Bewertung medialer Politikvermittlung als das entscheidende Kriterium.“ (Meyer 2001: 32 f.) Schließlich: Auch Amtsträger im demokratischen Staat verkörpern Autorität. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten durchaus, dass sie sich der Würde des jeweiligen Amtes bewusst sind. Show, Intimität stehen dazu in vielen Fällen im Gegensatz. Dann wirkt Inszenierung dysfunktional. Die sommerliche Inszenierung am Pool 2001 unter der Überschrift: Scharping „Total verliebt auf Mallorca“ ist sicher das bekannteste Beispiel für eine eklatante Fehlleistung von PRBeratern und eine ebenso eklatante Fehleinschätzung des betreffenden Politikers. 12 Schluss Die Bündelung und Artikulation gesellschaftlicher Interessen ist von zentraler Bedeutung für das Funktionieren pluralistischer Demokratien. Ziel ist es, diese Interessen im politischen Prozess möglichst umfassend zur Geltung zu bringen. Die Vertretung dieser Interessen gegenüber Parteien, Staat und Medien wird in Form politischer Kommunikation wahrgenommen. Sie findet ihren Ausdruck in Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyismus. „Politiksteuerung im Sinn von Steuerungsfähigkeit und Steuerbarkeit der Politik“ sei, so Manfred G. Schmidt, in der Bundesrepublik Deutschland „ein besonders schwieriges Unterfangen“, was er 62
auf die hohe Zahl an Vetospielern und Mitspielern in einzelnen politischen Konstellationen zurückführt (Schmidt 2002: 23; Hervorhebung im Original). Unter bestimmten Bedingungen haben Medien auch „Vetomacht“, bleibt Politikern nichts anderes übrig, als sich der Macht der Medien zu beugen. Das gilt nicht nur bei offensichtlichen Fehlleistungen. Die Steuerungsfähigkeit der Politik hat mit der Ausdifferenzierung des Mediensystems abgenommen. Im legitimen Wettbewerb um Macht konkurrieren kollektive und individuelle Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft um die Aufmerksamkeit der Medien. Dazu muss sie sich auch der Inszenierung bedienen. Sie wird aber nur dann ihre Ziele erreichen, wenn sie die Grenzen dieser Form von Darstellungspolitik beachtet. „Vertrauen in die längerfristige Leistungsfähigkeit des politischen Systems“ und damit „Legitimität“ als „grundsätzliche Überzeugung, dem System gehorsam zu schulden“ (Blatter: 2007: 273) setzt ein hohes Maß an Chancengleichheit im Zugang zur Arena voraus. Hier muss ein kompetenter Journalismus seinen Beitrag zur notwendigen Transparenz leisten. Eine wichtige Rolle spielen auch Initiativen, wie Transparency International oder LobbyControl. Sie versammeln den notwendigen Sachverstand, um prägnant Kritik üben zu können. Politische Steuerung in modernen Staaten ist ein komplexes Geschehen. Gerade deswegen müssen die Bürger Verantwortlichkeiten erkennen und Mitwirkungs- und Artikulationsmöglichkeiten nutzen können. Literatur ALM Jahrbuch 2007 (2008): Landesmedienanstalten und privater Rundfunk in Deutschland. Berlin: Vistas. Blatter, Joachim (2007): Demokratie und Legitimation. In: Benz, Arthur et al. (Hrsg.) Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden: VS Verlag, S. 271-284. BVerfG, 1 BvR 2270/05. URL: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20070911_1bvr227005.html (Zugriff am 11.9.2007). Daten zur Mediensituation in Deutschland 2007 (= Media Perspektiven Basisdaten 2007). Daten zur Mediensituation in Deutschland 200 (= Media Perspektiven Basisdaten 2008). Deutscher Bundestag (2009): Drs. 16/11851: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Silke Stokar … und der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen vom 6. Februar 2009: Bilanz des Informationsfreiheitsgesetzes des Bundes für das Jahr 2008. Deutscher Bundestag (2009a): Wissenschaftliche Dienste – Aktueller Begriff: Twister. Nr. 29/09 vom 26. März 2009.
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Warum begehen Jugendliche Graffiti-Delikte? Kriminologische und stadtsoziologische Perspektiven.
Michael Windzio
1
Einleitung
Möglicherweise hängt es mit thematischen Konjunkturen und medialen Aufmerksamkeiten zusammen, dass niedrigschwellige Delikte wie das Sprühen von Graffiti in der kriminologischen Forschung eher wenig Beachtung finden. Immerhin verursachen Graffiti teilweise erhebliche Sachschäden. Weitere Externalitäten von Graffiti-Delikten bestehen in den monetär kaum quantifizierbaren Transaktionskosten der Geschädigten. Sie müssen Anwälte konsultieren und Schadensreparaturen in die Wege leiten. Außerdem werden Ermittlungsbehörden aktiv, die in einschlägigen Fällen bei den Tatverdächtigen kostenintensive Hausdurchsuchungen durchführen. Obwohl durch Graffiti verursachte Schäden erheblich sind und für die jugendlichen Täter gravierende Folgen haben können, wird dieses Thema in der kriminologischen Forschung eher am Rande behandelt. Es ist anzunehmen, dass Graffiti-Delikte stark durch expressive, erlebnisorientierte Motive geleitet sind und dass die Täter andere Ursachenprofile aufweisen als Täter klassischer Eigentums- und Gewaltdelikte. Allerdings ist in der empirischen Kriminologie bisher wenig über Prädiktoren von Graffiti-Delikten bekannt. Warum also neigen manche Jugendliche zu diesen Handlungen, andere hingegen nicht? Dieser Frage soll im Folgenden auf Basis einer empirischen Analyse von Daten einer großen Schülerbefragung nachgegangen werden. Im folgenden Abschnitt 2 wird zunächst erörtert, was Graffiti eigentlich sind, wo dessen historische Ursprünge liegen und worin die ökonomischen und juristischen Konsequenzen von Graffiti-Delikten bestehen. Anschließend werden im Abschnitt 3 theoretische Ansätze zur Erklärung von Graffiti-Delikten diskutiert. Sodann werden Hypothesen über individuelle und kontextuelle Determi67
nanten des Graffiti-Sprühens formuliert. Schließlich werden diese Hypothesen anhand von Daten einer großen Schülerbefragung empirisch gestestet. 2
Was sind Graffiti?
Der Begriff Graffiti (Einzahl Graffito) leitet sich etymologisch vom altgriechischen Wort graphein ab. Im italienischen Sprachgebrauch entstand aus dem Wort sgraffiare (kratzen, das Gekratze) der Begriff Sgraffiti bzw. Graffiti (Boese 2003). Bereits in Pompeji fanden sich erste Spuren von Graffiti. Texte, Bilder und Zeichen wurden hier in Wände geritzt oder gekratzt (Rheinberg/Manig 2003: 222). Um 1850 wurde der Begriff von Archäologen und Altertumsforschern übernommen. Sie bezeichneten damit inoffizielle, zumeist in Wände gekratzte Botschaften. Allerdings verlor die altertümliche technische Ausführung durch Kratzen oder Schaben für die Definition des Gegenstands zunehmend an Bedeutung. Heute steht der inoffizielle bis illegale Charakter von Botschaften im Vordergrund, die auf öffentlich wahrnehmbaren Wänden angebracht werden. Als eine Ausdrucksform der suburbanen Jugendkultur des HipHop entstanden moderne Graffiti Ende der 1960er Jahre in New York (Boese 2003: 6). New Yorker Teenager schrieben ihre Namen auf Wände der Nachbarschaft und verwendeten dabei Pseudonyme anstelle ihrer richtigen Namen. Als „tag“ wird dabei die stilisierte Unterschrift oder das Logo bezeichnet, also eine Signatur, die jedem Graffititäter eindeutig zuzuordnen ist (Lachmann 1988: 236). Im Jahre 1968 wurde in Manhattan erstmals ein tag mit dem Namen „Julio 204“ öffentlich auffällig. Durch einen im Sommer 1971 in der New York Times (NYT, 21.7.1971) veröffentlichten Artikel über „Taki 183“, der sich selbst in der Tradition von Julio 204 sah, kam es in den USA zu einer schlagartigen Ausbreitung des Graffiti-Writings (Seidel 2005: 5). Allerdings sollte Taki 183 nicht vorschnell als Erfinder des modernen „Taggings“ betrachtet werden, sondern eher als eine Art „Geburtshelfer“: „Obwohl es Graffiti schon ewig gibt, gilt seit 1971 ein griechischstämmiger Pizzabote namens Demetraki fälschlicherweise als der Erfinder, da er auf seinen Pizzafahrten durch New York sein Pseudonym TAKI183 mit einem Filzstift an Wände der Stadt schrieb. Weil zur selben Zeit ein Redakteur der New York Times dringend eine Geschichte suchte, gab er TAKI183 ein Gesicht und machte ihn zum ersten Posterboy des Graffiti. Er inspirierte damit Hunderte von Nachahmern und betätigte sich so als Geburtshelfer des Tagging“ (Kohlhöfer 2007).
In Deutschland entwickelte sich die Graffiti-Szene Anfang der 1980er Jahre durch Filme wie „Wild Style“ von Charlie Ahearns und durch die Veröffentli68
chung des Bildbands „Subway Art“ von Martha Cooper und Henry Chalfant (Boese 2003: 6). 3
Rechtlicher Hintergrund und wirtschaftliche Schäden
Das illegale Anbringen von Graffiti gilt juristisch als Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 1 StGB (Bayer et al. 2006: 5). Diese Form der Sachbeschädigung kann mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder mit einer Geldstrafe geahndet werden, wobei auch der Versuch der Sachbeschädigung strafbar ist. Im Jahr 2005 wurde der Paragraph um den nachfolgenden Passus ergänzt: „Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“.
Krüger (2009: 57) weißt allerdings darauf hin, dass insbesondere die Formulierung „nicht nur unerheblich“ bei strafrechtlichen Entscheidungen Probleme aufwirft und es fraglich ist, ob durch die Novelle im Jahr 2005 tatsächlich mehr Tatverdächtige zur Verurteilung gebracht werden können. Überdies sollte bedacht werden, dass der überwiegende Teil der Täter zwischen 12 und 21 Jahre alt ist und die Strafverfolgung entweder gar nicht oder nur nach den im Jugendgerichtsgesetz festgelegten Besonderheiten aktiv werden kann (ebd.: 61). Dabei sind die durch Graffiti-Delikte entstehenden Sachschäden durchaus erheblich. Nach Angaben der „Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages“ aus dem Jahr 2005 belaufen sich diese Schäden auf ca. 500 Millionen Euro jährlich, wobei 50 Millionen Euro allein auf die Stadt Berlin entfallen. Neben dem hohen wirtschaftlichen Verlust, der für die Eigentümer der besprühten Flächen entsteht, müssen sich Vermieter mit Mietminderungsansprüchen oder Wohnungsleerstand auseinandersetzen. Zahlreiche illegal angebrachte Graffiti vermindern zudem die Qualität eines Wohnviertels oder werden als Hinweis auf einen möglichen sozialen Abstieg einer Wohngegend interpretiert (Lüdemann 2006; Krüger 2009: 51). In einer Erhebung in der Stadt Halle zeigte sich, dass an illegalen Orten angebrachte Graffiti von der Bevölkerung so gut wie nie akzeptiert werden, sogar dann nicht, wenn der ästhetische Wert als hoch eingeschätzt wird (Goecke/Heise 2006; Krüger/Preller 2006). Warum begehen Jugendliche Delikte, die keinen materiellen Nutzen versprechen, obwohl sie damit Anderen Schaden und sich selbst dem Risiko der Strafverfolgung aussetzen? In den folgenden Abschnitten werden einige theoretische Ansätze diskutiert, die für eine Erklärung von Graffiti-Delikten fruchtbar gemacht werden können.
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Ursachen von Graffiti-Delikten: Kriminologische und stadtsoziologische Theorien
Auffällig ist, dass schwere Delikte, bei denen es zu gerichtlichen Verhandlungen kommt, überwiegend im Gruppenkontext begangen werden. Aber auch die eher „alltägliche“ Jugendgewalt, die in Dunkelfeldstudien festgestellt wird, ist überaus stark von der sozialen Einbettung in delinquente Freundesnetzwerke beeinflusst (Warr 2001: 187; Windzio/Baier 2007). Die Peergruppe besitzt für Jugendliche wichtige soziale und psychische Funktionen. Nicht zufällig ist die Graffiti-Szene in ein breites Spektrum (sub-)kultureller Praktiken und Erlebnisformen eingebettet (Schnoor 2009: 24f.). Diese Subkultur lässt sich durchaus dahingehend verstehen, dass sie für die Peergruppe in idealtypischer Weise eine identitätsstiftende Funktion erfüllt. Theorien des differenziellen Lernens wurden in Anlehnung an allgemeine Lern- und Verhaltenstheorien erstmals im Jahr 1939 von Edwin Hardin Sutherland formuliert und stellen Ansätze zur Erklärung abweichenden Verhaltens auf mikrosoziologischer Ebene dar (Dollinger/Raithel 2006: 44). „Criminal behavior is learned in interaction with other persons in a process of communication. […] A Person becomes delinquent because of an excess of definitions favorable to violation of law over definitions unfavorable to violation of law“ (Warr 2001: 183). Wenngleich uns die Aussage, kriminelles Verhalten sei erlernt, aus heutiger Sicht eher banal erscheint, musste Sutherland seine Auffassung gegenüber den seinerzeit noch dominanten Theorien über biologisch-genetische Ursachen behaupten. Eine theoretische Synthese aus der Theorie differenziellen Lernens und der sozialen Lerntheorie Banduras (Bandura/Walters 1963) legte schließlich Akers (2001) vor. Dabei handelt es sich um eine kognitive Lerntheorie, die er selbst als „soft behaviorism“ bezeichnet: „The groups with which one is in differential association provide the major social contexts in which all the mechanisms of social learning operate. They not only expose one to definitions, they also present one with models to imitate and differential reinforcement […] for criminal or conforming behaviour“ (Akers 2001: 194). Zwar weist auch Akers auf das Problem der Fremd- und Selbstselektion in die delinquenten Gruppen hin, geht aber davon aus, dass es letztlich doch die Gruppen sind, die Rahmenbedingungen liefern, in denen sich häufig erste Gelegenheiten zu kriminellen Handlungen ergeben (Akers 2001: 200). Nach den Theorien des differenziellen Lernens kann das illegale Sprühen von Graffiti als eine niedrigschwellige Form der Delinquenz, als gelerntes Verhalten, verstanden werden, wobei eine positive Bewertung des Verhaltens durch den Sprüher im Vordergrund steht. Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation zufolge überwiegen positive Aspekte des Graffiti-Sprühens die negati70
ven Folgen sowie die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen. Beispielhaft für die positive Bewertung im Sinne der Sutherlandschen Theorie kann der von den Sprühern bezeichnete „Fame“ angeführt werden, was bedeutet, dass die Akteure den Erwerb von „Fame“ (Ruhm/Anerkennung) innerhalb ihrer eigenen Subkultur anstreben (Lachmann 1988: 236; Bayer et al. 2006: 5), indem sie bspw. unter hohem Risiko große, komplexere „pieces“ auf gut sichtbaren Flächen anbringen. Nach der Selbstkontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990) lassen sich Unterschiede in der individuellen Delinquenzbereitschaft durch höhere oder geringere Ausprägungen der Affektkontrolle erklären. Personen mit geringer Selbstkontrolle sind eher körperlich als mental orientiert, temperamentvoll, unsensibel, risikosuchend und impulsiv. Sie vermeiden sowohl eine verbale Erklärung ihres Verhaltens als auch längerfristige Planungen (Gottfredson/Hirschi 1990: 90). Ursachen einer geringen Selbstkontrolle sind hauptsächlich defizitäre Erziehungspraktiken wie ein unzureichendes Erkennen und unangemessenes, inkonsistentes Sanktionieren kindlichen Verhaltens durch die Eltern (Gottfredson und Hirschi 1990: 99). Signalisieren nahe stehende Bezugspersonen hingegen konsistent die Missbilligung von Verhaltensweisen, erlernt das Kind auch die längerfristigen Folgen seiner Handlungen zu berücksichtigen. Erratische, inkonsistente und übertrieben harte Sanktionen können dagegen die Bindung an die Bezugspersonen zerstören. Die Sanktion löst dann ein „stigmatisierendes Schamgefühl“ (Braithwaite 1989) aus und das Kind wird zunehmend unempfänglicher für die Verhaltenserwartungen der Eltern. Es läuft dabei Gefahr, abweichendes Verhalten als soziale Rolle zu stabilisieren. Der Zusammenhang von geringer Selbstkontrolle und Delinquenz wurde in zahlreichen empirischen Studien bekräftigt (Burton et al. 1998; Ribeaud/Eisner 2006). Neben den individuellen Faktoren und den unmittelbaren Beziehungen der Akteure werden auch sozialräumliche Faktoren als Ursachen von Delinquenz diskutiert. Der Ansatz der „zerbrochenen Fenster“ wurde Anfang der 1980er Jahre von James W. Wilson und George L. Kelling (1996) formuliert und beschreibt die Entstehung und Ausbreitung von Kriminalität im öffentlichen Raum. Ausgangspunkt des Konzepts ist eine öffentlich wahrnehmbare Schwächung der informellen sozialen Kontrolle. Die zerbrochenen Fenster („broken windows“) dienen dabei als Indikator geringen sozialen Kontrollpotenzials und werden von potenziellen Tätern als geringe Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung und Sanktionierung normwidrigen Verhaltens interpretiert. Nach Wilson und Kelling (1996) sind „ (…) Unordnung und Kriminalität einer Gemeinde (‚community’) normalerweise unentwirrbar miteinander verknüpft – in einer Art ursächlicher Abfolge. Sozialpsychologen und Polizeibeamte stimmen darin überein, daß ein zerbrochenes Fens-
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ter in einem Gebäude, das nicht repariert wird, die Zerstörung der restlichen Fenster des Gebäudes innerhalb kürzester Zeit nach sich zieht“ (Wilson/Kelling 1996: 124).
In typischer Weise wird informelle soziale Kontrolle durch die „neighbo(u)rhood watch“ Organisationen in den USA und Großbritannien geleistet, die zudem eng mit formellen Kontrollorganen wie Polizei und kommunalen Behörden kooperieren. Der in der Unordnung angelegte Keim der Kriminalität entsteht dadurch, dass sich Personen angesichts öffentlicher Unordnung gefährdet fühlen, sich seltener im öffentlichen Raum aufhalten und sich in die Privatsphäre zurückziehen. Dadurch treten die Bewohner einschlägigen Vorkommnissen wie öffentliches Herumhängen, Trinken, Drogenkonsum und Prostitution nicht mehr entschieden entgegen. Abfall bleibt auf der Straße liegen, Graffiti werden nicht von den Wänden entfernt. Dieser Zustand signalisiert Bewohnern wie Fremden, dass die Umgebung weitgehend unkontrolliert ist und Eindringlinge jeden erdenklichen Unfug und Schaden anrichten können. Wie bei den „zerbrochenen Fenstern“ setzt nun eine Logik der Abwärtsspirale ein, indem potenzielle Täter im Stadtteil eine geringe Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit annehmen und dadurch weniger von Straftaten abgeschreckt werden. Somit resultiert die Aktivität der Täter dadurch, dass sie die sozialräumliche Gelegenheitsstruktur als günstig wahrnehmen. Im Rahmen dieses Ansatzes ist davon auszugehen, dass eine effiziente Eindämmung von Graffiti durch konsequente und schnelle Erneuerung verwahrloster Häuser und Wände erreicht werden kann. Die Frage ist allerdings, ob sich ambitionierte, nach „Fame“ strebende Graffititäter mit Flächen in den sich im Verfallsprozess befindlichen Nachbarschaften zufrieden geben, oder ob nicht gerade exponierte Orte in gentrifizierten Wohngegenden einen hohen Anreiz liefern. Harding, Kunze und Oestreich (2009: 33f.) zeigten anhand einer Analyse von Hauswänden jedoch, dass zwar die Öffentlichkeitswirksamkeit der Fläche durchaus die Graffitianzahl erhöht, der „Verfolgungsdruck“, also z.B. eine 24-Stunden Kneipe im Gebäude, die Anzahl der komplexeren „pieces“ aber deutlich reduziert. Einen dem Modell zerbrochener Fenster sehr ähnlichen, jedoch weniger prominenten Ansatz entwickelten Shaw und McKay (1969) in der Tradition der Sozialökologie. Sie versuchten die Entstehung abweichenden Verhaltens in Stadtvierteln durch eine Wechselwirkung von Individuum und Gemeinschaft zu erklären. Sie folgerten aus ihren empirischen Befunden, die Ursachen der Kriminalität lägen „ … in cultural traditions that inhered in neighborhoods and were assimilated by those who moved into the area“ (Warr 2001: 183). Im Gegensatz zum Ansatz der zerbrochenen Fenster wirkt sichtbarer Verfall nicht nur dadurch, dass er Gelegenheitsstrukturen z.B. für Graffiti-Delikte eröffnet, sondern die Bewohner gewissermaßen „sozialisiert“. Aber welche kulturellen Traditionen,
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welche Eigenschaften des Stadtviertels wirken sozialisierend? Wie bereits erwähnt, variiert die Delinquenzrate mit dem Grad der sozialen Organisation. In einem Stadtteil ist die Delinquenz umso geringer, je verbreiteter, stärker und inklusiver die Organisationen und Institutionen und je strukturierter die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren sind. Die drei wesentlichen Dimensionen sozialer Organisation sind erstens die Fähigkeit der erwachsenen Bewohner eines Stadtteils zur Beobachtung und Kontrolle Jugendlicher, zweitens die Häufigkeit und Dichte lokaler sozialer Freundschaftsnetzwerke, sowie drittens die Teilhabe an lokalen formalen und freiwilligen Organisationen (Sampson/Groves 1989: 778f.). Als Weiterführung dieser Perspektive entwickelten Sampson, Raudenbush und Earls (1997) das Konzept der „kollektiven Wirksamkeit“ (collective efficacy), welches die spezifische Kapazität einer Nachbarschaft zur Aktivierung der informellen sozialen Kontrolle bezeichnet. Im Prinzip handelt es sich um eine Übertragung des psychologischen Konzepts der Selbstwirksamkeit auf Nachbarschaften: „Just as individuals vary in their capacity for efficacious action, so too do neighborhoods vary in their capacity to achieve common goals“ (Sampson/Raudenbush/Earls 1997: 919). Das Konzept erscheint zeitgemäß, weil es nicht mehr so sehr die dichten Freundschaftsnetzwerke als Ursache des Zusammenhaltes in Nachbarschaften betont. Heutzutage sind starke Netzwerkbindungen unter Nachbarn nicht mehr die Regel und werden zunehmend von schwachen Bindungen abgelöst (Granovetter 1973). Vor diesem Hintergrund wird nun der von den Bewohnern geteilte Glaube an die kollektive Fähigkeit zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele wichtig (Morenoff/Sampson/Raudenbush 2001: 520). In mehren empirischen Analysen erwies sich auf der Nachbarschaftsebene die kollektive Wirksamkeit als guter Prädiktor für die Prävention von Gewaltdelikten (Sampson/Raudenbush/Earls 1997: 923; Morenoff/Sampson/Raudenbush 2001: 544). Wenn der Glaube an die kollektive Wirksamkeit tatsächlich die Bereitschaft zur Intervention erhöht, ist davon auszugehen, dass in Stadtvierteln mit hoher kollektiver Wirksamkeit weniger Graffiti angebracht werden. 5
Hypothesen
Welche Hypothesen lassen sich aus den dargestellten Theorien entwickeln? Zunächst ist zu erwarten, dass delinquente Freunde die Neigung zu GraffitiDelikten erhöhen, insbesondere wenn die Anzahl dieser Freunde hoch ist, weil von ihnen keine normenkonforme soziale Kontrolle zu erwarten ist, bzw. abweichendes Verhalten in subkulturellen Peernetzwerken positiv sanktioniert wird. 73
Auch eine geringe Selbstkontrolle müsste die Neigung zu Graffiti-Delikten erhöhen. Jedoch setzt der Akt des Anbringens eines großen „pieces“ oder „tags“ durchaus eine gewisse Planung voraus, weshalb die Selbstkontroll-Subdimension des „Temperaments“, die sich sehr gut zur Vorhersage von Gewaltdelikten eignet (Windzio/Baier 2007), für die Erklärung von Graffiti-Delikten weniger in Frage kommt. Als Indikator für die Neigung zu spannungsreichen alltagsästhetischen Episoden (Schulze 1992) dient dagegen die Selbstkontroll-Subdimension der „Risikosuche“ (vgl. tab. A3 Anhang), von der ein deutlicher Effekt auf die Bereitschaft zu Graffiti-Delikten zu erwarten ist. Der Grad des Monitoring durch die Eltern, also das kontinuierliche Beobachten und Steuern, bzw. das adäquate Sanktionieren der Kinder müsste sich der Theorie der informellen sozialen Kontrolle zufolge negativ auf das Risiko von Graffiti-Delikten auswirken. Sozialräumliche Faktoren wirken sich entweder durch die in einem Stadtteil dargebotenen Gelegenheitsstrukturen aus, oder aber vermittelt durch die „kollektive Sozialisation“ der Bewohner. Nach der Theorie der sozialen Desorganisation erhöht sich die Delinquenz in einem Stadtteil mit steigender Armut, zunehmenden Anteilen von gering Gebildeten und Migranten (Sampson/Raudenbush/Earls 1997). Übertragen wir dies auf Graffiti-Delikte, würde dies bedeuten, dass die Jugendlichen in Umwelten aufwachsen, in denen eine defizitäre informelle soziale Kontrolle die Täterrisiken erhöht. An dieser Stelle ist anzumerken, dass eine rein täterbezogene Analyse Merkmale der Akteure in den Fokus stellt, die in ihrer Schule oder Nachbarschaft sozialisiert werden, dabei aber keine Aussage über die Gelegenheitsstrukturen zulässt. Verwendet wird in der folgenden empirischen Analyse, mit anderen Worten, allein die empirische Information, in welchem Stadtteil die Jugendlichen leben. Die Information über Tatorte, die Gelegenheitsstrukturen widerspiegeln, ist in den verwendeten Daten nicht enthalten. Allerdings lässt sich die Information generieren, ob sich aus der Sicht einer befragten jugendlichen Person in ihrer Nachbarschaft oder ihrer Schule eine andere (gleichaltrige) Person befindet, die Graffiti-Delikte begangen hat und deren Taten die befragte Person beeinflussen könnten. Nach der differenziellen Lerntheorie wäre von dieser Art der „sozialen Ansteckung“ ein positiver, d.h. die Deliktneigung erhöhender Effekt zu erwarten.
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6
Daten und Methoden
Im Frühjahr 2005 führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) in Zusammenarbeit mit mehreren deutschen Städten und Gemeinden Schülerbefragungen durch. Für die Datenerhebung wurde in jedem Sampling Point die Grundgesamtheit im ersten Schritt nach den Schultypen stratifiziert. Innerhalb einer Schicht wurde anschließend eine Zufallsstichprobe von Schulklassen gezogen. Inhaltliche Schwerpunkte der Befragungen waren unter anderem Medienkonsum, Viktimisierung, selbstberichtete Delinquenz, elterliches Erziehungsverhalten sowie Einstellungen zur Schule und zum Schulabsentismus. Befragt wurden alle regulär beschulten Jungen und Mädchen der 9. Jahrgangsstufe in neun Städten und zwei Landkreisen.1 Tabelle 1: Beschreibung des Samples, 9. Jahrgangsstufe, nach Erhebungsregion Anteil arbeits los oder Sozialhilfe
N
Anteil in Privatschule
Anteil Jungen
Mittleres Alter (Jahre)
Anteil Migrationshintergrund
Dortmund
2352
2.8 %
15.13
29.5 %
15.2%
Kassel (VE)
1659
10.4 %
15.14
32.4 %
14.0%
München
2846
10.5 %
15.25
30.4 %
7.4%
Oldenburg (VE) LK Peine (VE)
1364
7.0 %
14.99
13.8 %
11.4%
1164
--
15.07
13.9 %
11.6%
SchwäbischGmünd (VE)
740
5.8 %
48.3 % 50.0 % 49.8 % 48.8 % 49.3 % 50.5 %
14.99
29.6 %
7.2%
1 Je nach Sampling Point wurden entweder Zufallsstichproben von Schulklassen gezogen oder Vollerhebungen durchgeführt. Die Befragungsorte waren: die Städte Dortmund, Kassel, München, Oldenburg sowie Stuttgart, die Kleinstädte Schwäbisch-Gmünd und Lehrte sowie die Landkreise Peine und Soltau-Fallingbostel. Folglich ist das Sample einerseits keine Zufallsstichprobe der gesamten Schülerschaft der 9. Jahrgangsstufe im Bundesgebiet. Andererseits deckt es aber ein breites Spektrum an unterschiedlichen Regionen und sozioökonomischen Kontexten ab (vgl. Tabelle 1). In Ostdeutschland wurde im Land Thüringen eine Zufallsstichprobe von Klassen der 9. Jahrgangsstufe gezogen.
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LK SoltauFallingbostel (VE) Stuttgart
1510
1.7 %
2231
14.9 %
48.4 %
15.06
13.3 %
52.8 15.08 36.6 % % Lehrte (VE) 435 -51.3 15.07 20.2 % % insgesamt 14301 7.3 % 49.8 15.11 26.4 % % Cramer’s V / F 0.193 0.029 20.7 0.194 (df=8) *** n.s. *** *** ** p < .01, *** p < .001; LK = Landkreis, VE = Vollerhebung Quelle: KfN Schülerbefragung 2005
10.1% 8.8% 11.7% 10.8% 0.091* **
Tabelle 2: Ethnische Herkunft nach Erhebungsregion und Deprivation (N=14285) JuOstgosl. DeurusTüreutsch / sisch kei 1 ) ropa Alban. Dortmund 70.5 4.7 5.6 11.2 2.3 % % % % % Kassel (VE) 67.7 7.9 5.9 9.3 2.1 % % % % % München 69.7 2.3 4.3 10.2 6.3 % % % % % 86.2 5.1 2.0 3.4 0.1 Oldenburg (VE) % % % % % 86.2 3.8 2.5 4.8 1.2 LK Peine (VE) % % % % % Schwäbisch70.4 9.2 4.6 8.8 2.2 Gmünd (VE) % % % % % LK Soltau- 86.8 6.5 1.9 3.2 0.5 Fallingbostel (VE) % % % % % Stuttgart 63.5 3.8 3.6 12.7 6.4 % % % % % Lehrte (VE) 79.8 5.7 2.3 8.3 0.5 76
ASüd- rab./ AneuNodere ropa rdafr. 1.4 2.8 1.6 % % % 1.3 4.3 1.6 % % % 2.3 2.6 2.3 % % % 0.1 1.5 1.5 % % % 0.2 0.9 0.4 % % % 2.3 1.8 0.8 % % % 0.1 0.4 0.5 % % % 5.6 1.9 2.4 % % % 1.1 1.1 1.1
% % insgesamt 73.7 4.9 % % Geringe Bildung 15.1 8.4 % % Eltern 2) arbeitslos oder 8.1 24.4 Sozialhilfe % % 1) enthält auch Befragte, bei denen Hauptschule Quelle: KfN Schülerbefragung 2005
% % % % % % 3.9 8.7 3.2 1.9 2.2 1.6 % % % % % % 7.8 67.4 32.1 54.5 31.0 18.4 % % % % % % 9.1 19.9 14.1 11.5 28.0 17.2 % % % % % % nur ein Elternteil deutsch ist, 2) maximal
Tabelle 1 zeigt Fallzahlen und grundlegende Verteilungen dieser Stichprobe, während in Tabelle 2 die Anteile der ethnischen Gruppen über die Befragungsorte sowie über die beiden Kategorien sozialer Benachteiligung (geringe Bildung der Eltern und Arbeitslosigkeit /Sozialhilfebezug der Eltern) dargestellt sind. Grundsätzlich sollte bei Analysen selbstberichteter Delinquenz beachtet werden, dass Effekte der sozialen Erwünschtheit oder des Misstrauens gegenüber dem Interviewer das Antwortverhalten beeinflussen können. Allerdings ist der Charakter der Verzerrung ambivalent, da sowohl falsch negative als auch falsch positive Antworten auftreten. In einer jüngeren Untersuchung zur Reliabilität der Angaben über selbstberichtete Delinquenz wurde festgestellt, dass bei Befragungen im Klassenkontext, bei denen Schülerinnen und Schüler die Fragebögen selbst ausfüllen, ehrlichere Angaben gemacht werden als in persönlichen Interviews, die in der Wohnung der Befragten durchgeführt werden (Köllisch/Oberwittler 2004: 719). In vielen Fällen konnten im Nachhinein inkorrekt und inkonsistent ausgefüllte Fragebögen identifiziert und ausgeschlossen werden. Nach einem Eingangsstimulus (vgl. Windzio/Baier 2007) lautete die Frage nach selbst begangenen Graffiti-Delikten folgendermaßen: Hast Du schon mal … … ... an eine unerlaubte Stelle Grafitties gesprüht? (Nein/Ja). Wenn Du „ja“ angekreuzt hast: Wie oft hast Du das in den letzten 12 Monaten getan? ____ mal. Tabelle 3: Mittelwerte und Standardabweichungen der untersuchten Variablen (N=11015). Graffititäter (1=ja) Mädchen (1=ja)
mean 0.07 0.51
SD 0.25 0.50
min 0.00 0.00
max 1.00 1.00 77
Alter 15.06 0.73 SK: Impulsivität 3.12 0.90 SK: Risikosuche 2.86 1.25 SK: Temperament 2.99 1.08 elterliches Monitoring (aktuell) 3.17 0.57 geringe Bildung Eltern (1=ja) 0.19 0.39 nie Gewalt durch Eltern in Kindheit oder Jugend erlebt 0.52 0.50 Delinq. Freunde: 1 (Ref.: keine) 0.13 0.34 Delinq. Freunde: 2 (Ref.: keine) 0.29 0.46 Delinq. Freunde: 3 (Ref.: keine) 0.23 0.42 Delinq. Freunde: 4 (Ref.: keine) 0.13 0.34 Häufigkeit Konsum Ego-Shooter/ Kampfspiele (min.1, max. 5) 2.72 1.57 IHR/RS/REG (Ref.: HS) 0.35 0.48 IGS (Ref.: HS) 0.09 0.29 GYMN (Ref.: HS) 0.32 0.47 Private Schule (Ref.: HS) 0.06 0.23 beide Eltern deutsch (Ref.: Migrant) 0.71 0.46 ein Elternteil deutsch (Ref.: Migrant) 0.09 0.28 Schulebene % Migranten in Schule 22.53 20.66 % gering Gebildeter in Schule 18.88 17.24 % ohne eigenes Zimmer in Schule 12.35 13.31 % arbeitslos in Schule 10.32 9.29 Desorganisation auf Schulebene (zWerte) -0.04 0.59 Anteil Täter unter den Alteri in Schule 0.40 0.49 Stadtteilebene (PLZ) % Migranten im Stadtteil 24.01 16.95 % gering Gebildeter im Stadtteil 19.30 11.16 % ohne eigenes Zimmer im Stadtteil 13.42 10.33 % arbeitslos im Stadtteil 11.29 6.09 Anteil Täter unter den Alteri im Stadtteil 0.91 0.28 Quelle: KFN Schülerbefragung 2005, eigene Berechnungen
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13.00 1.00 1.00 1.00 1.00 0.00
19.00 6.00 6.00 6.00 4.00 1.00
0.00 0.00 0.00 0.00 0.00
1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
1.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00 0.00
5.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
0.00 0.00 0.00 0.00
94.12 85.71 84.21 53.85
-1.46 0.00
2.26 1.00
0.00 0.00 0.00 0.00
75.93 58.93 53.33 35.29
0.00
1.00
Tabelle A1 im Anhang zeigt Items, die das elterliche Erziehungsverhalten messen, dem das Kind vor dem Alter von zwölf Jahren ausgesetzt war. Bildet man aus diesen Items eine Mittelwertskala, erhält man allerdings eine sehr linksschiefe Verteilung, da die große Mehrheit der Jugendlichen in der Kindheit keine Gewalt erlebt hat. Darum wurde eine Dummyvariable gebildet, mit dem Wert 1, wenn die Schülerin oder der Schüler niemals Gewalt durch die Eltern erlebt hat. Die drei Indikatoren der Subdimensionen der Selbstkontrolle (Grasmick et al. 1993: 8) sind Mittelwertskalen, die aus den in Tabellen A2 bis A4 im Anhang dargestellten Items gebildet wurden. In der folgenden Analyse basiert die Messung der Selbstkontrolle auf fünf Items der Subdimension „Temperament“, fünf Items der „Impulsivität“ sowie auf vier Items der Subdimension „Risikosuche“ (vgl. Tabellen A2 bis A4, Anhang). Schließlich wurde eine Dummyvariable gebildet mit dem Wert 1 für Befragte mit der jeweiligen Anzahl von delinquenten Freunden und dem Wert 0, wenn diese Anzahl delinquenter Freunde nicht vorlag. Hierbei ist zu bemerken, dass unter „delinquenten Freunden“ alle jene subsumiert werden, die in irgendeiner Weise delinquente Handlungen begangen haben, unabhängig von der Art des Deliktes. Tabelle 3 zeigt Mittelwerte, Standardabweichungen sowie die minimalen und maximalen Ausprägungen der verwendeten Variablen. Zu sehen ist beispielsweise, dass im Durchschnitt 7% der befragten Schülerinnen und Schüler im Jahr vor der Befragung mindestens ein Graffiti-Delikt begangen haben, der Anteil der Mädchen in der gesamten Befragung bei 51% liegt und dass das mittlere Alter der Befragten 15,06 Jahre beträgt. Bei den Variablen der Schulebene ergibt sich ein mittlerer Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, deren Eltern also beide zugewandert sind. In mindestens einer Schulklasse finden wir einen Migrantenanteil von 0, in mindestens einer Schulklasse einen Anteil von 94,1%. 40% der befragten Schülerinnen und Schüler sind in der Schule oder Klasse mindestens einem anderen Schüler ausgesetzt, der im letzten Jahr Graffiti-Delikte begangen hat. Im Stadtteil beträgt der Anteil mit potenziellem Kontakt zu mindestens einer anderen Person unter den Gleichaltrigen, die Graffiti angebracht hat, sogar 91%. In Tabelle 4 sind insgesamt drei unterschiedliche Regressionsmodelle dargestellt. Das erste Modell ist eine binäre logistische Regression (LOGITModell), bei der die abhängige Variable den Wert 1 annimmt, wenn die befragte Person im Jahr vor der Befragung mindestens ein Graffiti-Delikt begangen hat, andernfalls den Wert 0. Die Koeffizienten sind als Odds Ratios dargestellt, also als Veränderungen der Chancen [P/(1-P)] um den jeweiligen Faktor, wenn sich die unabhängige Variable x um eine Einheit erhöht. Werte größer als 1 bedeuten einen positiven Effekt und erhöhen die Chancen, im letzten Jahr mindestens ein 79
Delikt begangen zu haben, Werte kleiner als 1 sind ein negativer Effekt und reduzieren folglich die Chancen. Das zweite Modell ist eine negative Binomialregression (NB), in der die Effekte auf die Inzidenz, d.h. die Häufigkeit von Graffiti-Delikten, geschätzt werden. Die Koeffizienten stellen den Faktor dar, um den sich die Inzidenzrate des Deliktes verändert, wenn sich die unabhängige Variable x um eine Einheit erhöht. Werte größer als 1 bedeuten demnach wieder einen positiven Effekt und erhöhen die Inzidenzrate der im letzten Jahr begangenen Delikte, Werte kleiner als 1 sind negative Effekte und reduzieren folglich die Inzidenzrate. Allerdings haben wir in Tabelle 3 gesehen, dass nur 7% der Jugendlichen überhaupt zu den Tätern gehören und der Großteil der Jugendlichen im letzten Jahr kein Delikt begangen hat. Aufgrund der daraus resultierenden extremen Verteilung der Inzidenzen und der deutlichen Überrepräsentation der Null, also der Nichttäter, passt die theoretische negative Binomialverteilung nicht gut zu den empirischen Daten. Vielmehr muss das Regressionsmodell berücksichtigen, dass zwei latente Gruppen vorliegen, nämlich Täter und Nichttäter. In der ersten Spalte des dritten Modells, das eine „zero inflated negative binomial regression“ (ZINB) darstellt, sind darum die auf einer binären logistischen Regression basierenden Odds Ratios dargestellt, die zu der latenten Gruppe der Nichttäter zugehören. In der zweiten Spalte sind die Effekte auf die Inzidenzrate innerhalb der latenten Gruppe der Täter angegeben (Hilbe 2007: 174). Somit führt das dritte Modell basierend auf einer gemeinsamen Likelihoodfunktion die ersten beiden Modelle zu einem gemeinsamen Modell zusammen und bildet die geschätzten Effekte in der differenziertesten Weise ab.2 7
Ergebnisse
Die binäre logistische Regression (LOGIT) zeigt keinen signifikanten Effekt des Geschlechts auf die Chancen, im letzten Jahr ein Graffiti-Delikt begangen zu haben, während die Variable „Mädchen“ die Inzidenzrate in der negativen Binomialregression (NB) deutlich reduziert, nämlich um den Faktor 0,528. Das ZINB-Modell zeigt hingegen, dass Mädchen geringere Chancen haben, der Gruppe der Nichttäter anzugehören, aber weniger Graffiti-Delikte begehen, wenn sie zu den Tätern gehören. Interessant ist, dass die unterschiedlichen Dimensionen einer geringen Selbstkontrolle nur in einer Dimension wirken, nämlich in Form der „Risikosuche“. Im ZINB-Modell reduziert eine hohe Neigung zur Risikosuche die Chance 2 Die Vuong-Statistik mit einem z-Wert von 7.86, p