PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
erscheint als Organ der „Stiftung zur Förderung der Begründungswissenschaft METAPHYSIK“, Sitz Würzburg – Justitiar und Mitherausgeber: RA Wolf Malo (FA f. Steuerrecht), Würzburg – in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für Metaphysik, Tokio, Centre International pour Étude Comparée de Philosophie et d’Esthétique“. Wissenschaftlicher Beirat: Eric Blondel (Paris), Dieter Harmening (Würzburg), Tomonubu Imamichi (Tokio), Paul Janssen (Köln), Marco Olivetti (Rom), Franz Träger (Augsburg), Dietmar Willoweit (Würzburg), Josef Zumr (Prag).
Umschlaggestaltung: Bernard Vandemeulebroecke The paper on which this book is printed meets the requirements of "ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence". ISBN-13: 978-90-420-2345-1 © Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2007 Printed in The Netherlands
Satz: Dora Steigerwald, Würzburg
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger† Herausgegeben von Wiebke Schrader – Georges Goedert – Martina Scherbel
Band 33 – 2007
Amsterdam – New York, NY 2007
Die Intention des Jahrbuches PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
eröffnet Forschern, welche die Arbeit philosophischer Begründung und Rechtfertigung des Denkens auf sich nehmen, eine Publikationsmöglichkeit. Das Jahrbuch versteht sich nicht als Schulorgan einer philosophischen Lehrmeinung, sondern sieht seine Aufgabe darin, an der Intensivierung des wissenschaftlichen Philosophierens mitzuarbeiten.
Inhalt
Martina Scherbel (Würzburg) Erinnern, bewahren, fortsetzen. In memoriam Rudolph Berlinger ......................................................... 11
I Vom Streben nach Wahrheit Rainer Schäfer (Heidelberg) Wahrheit aus der Evidenz des Ich bei Descartes .......... 19 Christian Fernandes (Würzburg) Willensfreiheit und Determinismus. Zum anthropologischen Ansatz Ernst Tugendhats ....... 51 Edgar Früchtel (München) Ars et artes. Überlegungen zur antiken Metaphysik des Schönen .................................................................. 81 Theo Meyer (Würzburg) Subjektivität und Wesensschau. Zur visionären Gestaltung im Expressionismus .......... 107
II Zwischen Skepsis und Gewißheit Jürgen Große (Berlin) Lebenswert, Lustbilanz, Weltprozeß. Notizen zu Eduard von Hartmann (1842-1906) ............................. 141
Edith Düsing (Köln) Grundprobleme des Nihilismus: Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption ..... 177 Rainer Noske (Bonn) Das fünfte Evangelium. Zu Nietzsches Also sprach Zarathustra .............................................. 227 Kurt Mager (Bochum) Philosophische Perspektiven und Probleme im postmodernen Denken ............................................ 247
III Auf der Suche nach Weisheit Dagmar Fenner (Basel) Weisheit – ein antiquierter Begriff in der Philosophie? Zur Möglichkeit und Notwendigkeit der gegenwärtigen Weisheits-Renaissance ....................... 269 Leonhard G. Richter (Würzburg) „Unser Chamäleon“. Die Weltchiffre des Menschen bei Pico della Mirandola und Albrecht Dürer .............. 305 Dieter Harmening (Würzburg) Ein Schatz aus Königsberg. Hieroglyphische Bilder göttlicher Weisheit ........................................... 393
IV Buchbesprechungen Edith Düsing: Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, Wilhelm Fink Verlag: München 2006, 601 S. (Theo Meyer).......……………..464 Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens, Reclam: Stuttgart 2005, 520 S. (Theo Meyer)..…….473
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Redaktionsnotiz Mitarbeiterliste Redaktion Inhalt der 32 Bände
1907 – 1997
Rudolph Berlinger zu seinem 100. Geburtstag in dankbarer Erinnerung
Wiebke Schrader, am 26. Oktober 2007
ERINNERN, BEWAHREN, FORTSETZEN In memoriam Rudolph Berlinger Noli foras ire, in teipsum redi; in interiore homine habitat veritas; (Augustinus, De vera rel. 39,72)1
Am 26. Oktober begehen wir den 100. Geburtstag von Rudolph Berlinger. Am 7. Juli 2007 jährte sich zum zehnten Mal sein Todestag. So treffen in diesem Jahr gleich zwei Ereignisse aufeinander, die wir als willkommenen Anlaß nehmen, uns auf sein geistiges Vermächtnis und insbesondere auf das Anliegen zurückzubesinnen, das er mit dem Projekt der „Perspektiven der Philosophie“ einst verband. Wie der Name „Perspektiven der Philosophie“ schon sagt, gründet der Plan eines philosophischen Jahrbuchs in der Einsicht, daß sich die Perspektivität menschlichen Erkennens aus der Spannung von Prinzip und Faktum ergibt, in der sich der Mensch als endliches Subjekt von Welt vorfindet. Dieser Perspektivenhaftigkeit, in der sich die eine endliche Wahrheit unendlich bricht, versucht Rudolph Berlinger in seinem spekulativen Philosophieren gerecht zu werden. Ihr soll auch das Jahrbuch Rechnung tragen. Mit dem neuen Titel „Perspektiven der Philosophie“, die als Nachfolgeorgan der „Philosophischen Perspektiven“ unter der federführenden Leitung von Rudolph Berlinger und Wiebke Schrader wie unter der Mitwirkung von Eugen Fink und Fritz Kaulbach 1975 zum ersten Mal erscheinen, gewinnt die ursprüngliche Zielsetzung so ihre eigentliche Kontur. Bis heute versteht sich das Jahrbuch als ein Organ, in dem unterschiedliche Ansätze zu Wort kommen, die bewegt von der einen endlichen Wahrheit, die Mühe philosophischer Begrün-
12 dung auf sich nehmen. Die unterschiedlichen Perspektiven der einen Philosophie sollen sich gegenseitig befruchten und bereichern. In der lateinischen Bedeutung „perspicere“ – mit dem Blick durchdringen, deutlich sehen – verweist der Titel „Perspektive“ als Durchblick und „spekulative Durchsicht“2 auf die traditionelle Bildsprache des Sehens und des Lichts für die Erkenntnis der Wahrheit. Wie Nikolaus von Kues in De visione Dei mit dem Bild der Perspektive die Unvollkommenheit menschlichen Erkennens gegen den allsehenden Blick Gottes absetzt,3 so akzentuiert Rudolph Berlinger die Endlichkeit unser Erkenntnis, ohne den Anspruch auf begründendes Denken und wahres Wissen aufzugeben, obgleich er die theologischen Voraussetzungen des Cusaners nicht mehr teilen kann. Die Achse, um die sich sein umkreisendes Denken von Anfang an bewegt, ist die morphopoietische Seinsverfassung des Menschen.4 Im Anschluß an das cusanische Homo-creatorMotiv5 und in Analogie zu Gottes allsehendem Blick, der im Blicken zugleich schafft,6 wird der Mensch in der Durchdringung des Weltseins aufgrund seiner weltgestaltenden Kraft für Berlinger zum Weltsubjekt. Man kann „den Menschen nicht in den Blick nehmen, ohne alles Seiende mitzunehmen“7 – „im inneren Menschen wohnt Wahrheit“. Dies ist das Zentrum von dem alle Perspektiven ausgehen und auf das alle auch wieder zulaufen. Im Sinne einer offenen philosophischen Anthropologie bedeutet Perspektive Öffnung für die metaphysischen Fragen nach Gott, dem Sein und der Welt. Öffnung aber auch für die Kontinuität des Philosophierens, das sich, ohne anachronistisch zu werden, als ein Gespräch über die Zeiten hinweg versteht. Nur auf dem Rücken unserer Vorgänger gewinnen wir den Überblick, der nötig ist, um gestaltend an der Zukunft der Philosophie mitzuwirken.
13 Wie die unterschiedlichen philosophischen Zugänge von der einen endlichen Wahrheit gehalten sind, so ist das Gespräch über die Zeiten hinweg nur möglich, weil Wahrheit zeitüberdauernd ist: „Weltwahrheit greift durch alle Aeonen, durch jedwedes Weltalter hindurch, darum nennen wir sie aevitern, – aeviternitas – das Zeitalter. So allein kann gesagt werden, daß Weltwahrheit immer alt und immer neu ist – tam antiqua et tam nova – sie bleibt sich getreu. Dennoch bleibt sie zwar von der Negativität des Nichts betroffen, keineswegs aber von ihr durchgriffen. Deshalb kann sie von keinem Nicht zersetzt werden.“8 Wie ernst Rudolph Berlinger die Perspektivität der Philosophie nahm, zeigte sich sowohl in seiner ungebremsten Begeisterung für neue, originäre Denkansätze, die er sich bis ins hohe Alter bewahrte, als auch darin, daß er die gegenseitige Befruchtung philosophischer Sichtweisen nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht ermöglichte. So erinnern wir uns in diesen Tagen voll Dankbarkeit an seinen unermüdlichen Einsatz für all seine Schüler, die er stets ermunterte, getrost dem eigenen Denken zu vertrauen und den zwar mühsameren, jedoch lohnenden Weg der Philosophie zu gehen. Diesen Weg ebnete er uns in der Sache, erschloß manch einem völlig neue Sinnräume und verhalf, wo er nur konnte, vielen auch zu wirklichen Perspektiven in Forschung und Wissenschaft. Unnachahmlich als Individuum in Gestalt seiner Person und wegweisend in der Durchdringung des Weltproblems eröffnete er uns Perspektiven für die Zukunft einer Philosophie, deren Auftrag begründenden Denkens wir in dankbarer Erinnerung an seine Leidenschaft des Geistes gerne annehmen. Lebendig steht er uns heute in seiner unvergleichlichen Individualgestalt vor Augen, dem Vorurteil fahlgrauer Theorie in der Virtuosität seines Denkens ebenso trotzend wie in der herzerfrischenden Verschränkung von Sinnlichkeit und Geist, die er in seinem ganzen Wesen verkörperte. Noch klingt das Lachen seiner sokratischen Ironie in unserem Ohr, einer Ironie, die in ihren
14 Feinabstufungen das Wissen um die krisenhaften Abgründe des Lebens freilich nicht verleugnen konnte, und wohl gerade deshalb die Menschen auch in ihren Schwächen auffing. Rudolph Berlinger, ein „Weisheitsnarr“, wie er sich selbst gerne nannte, war vom vernünftigen Feuer des Logos beseelt. Sein philosophischer Funke sprang auf viele über und lebt heute in seinen Schülern fort. Martina Scherbel Anmerkungen 1 Zur Interpretation dieses augustinischen Imperativs „Gehe nicht nach außen, gehe in Dich selbst zurück, im inneren Menschen wohnt Wahrheit“ vgl. Rudolph Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt/Main: Klostermann 1962, S. 145 ff. Vgl. ders., Im inneren Menschen wohnt Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug um und durch den Dom von Siena. In: Perspektiven der Philosophie, Bd. 16 (1990), S. 13-32, bes. S. 25 ff. 2 Diese Formulierung entstammt einer undatierten Aufzeichnung aus dem Nachlaß Rudolph Berlingers, die in die Gründungszeit des Jahrbuchs fällt. 3 Vgl. Nikolaus von Kues, De visione Dei. In: Philosophisch-theologische Schriften, Studien- und Jubiläumsausgabe, lat.-dt., hrsg. u. eingef. v. Leo Gabriel, übers. v. D. u. W. Dupré, Bd. 3 , Wien: Herder 1967, S. 93-219, c. VIII, S. 126 f. 4 Vgl. die ausführliche Darstellung des philosophischen Werks Rudolph Berlingers im Spiegel der Zeitgeschichte: Wiebke Schrader, Die morphopoietische Metaphysik Rudolph Berlingers. Porträtskizze eines Philosophierens. In: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo, Vol. 27/28 (2002/2003), S. 13-58. Es handelt sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrages Porträtskizze eines Philosophierens. Zur morphopoietischen Metaphysik Rudolph Berlingers. In: Weite des Herzens, Weite des Lebens. Festschrift f. Odilo Lechner OSB zum 25jährigen Abtsjubiläum, hrsg. v. M. Langer u. A. Bilgri, Regensburg: Pustet 1989, S. 371-419. Vgl. auch die beiden, unter dem Titel Zum Geleit I u. II erschienenen Beiträge (in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 13 u. 14 (1987/88), S. XI-XXXIX u. S. IXLIX). 5 Vgl. Rudolph Berlinger, Philosophie der Kunst. Zum Homo-creatorMotiv des Nikolaus von Kues. In: Perspektiven der Philosophie, Bd. 20 (1994), S. 13-30, bes. S. 23 ff. Vgl. auch Wiebke Schrader, Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur „homo-homo-homo“-Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus. In: a.a.O., Bd. 28 (2002), S. 127-168.
15 Vgl. in De visione Dei (wie Anm. 3), z.B. c. VIII, S. 124; c. XII, S. 144 u.ö. 7 Das Zitat ist der oben (wie Anm. 2) genannten Aufzeichnung entnommen. 8 Rudolph Berlinger, Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen, Würzburg/Amsterdam: Rodopi 1988, S. 369 f. 9 Zur Formulierung „Individuum in Gestalt der Person“ vgl. Berlinger (wie Anm. 8), S. 170 f. Durch die Selbstgestaltung erlangt das Individuum Mensch für Berlinger die „Unzerstörbarkeit seiner Seinsnatur in Gestalt der Person“ (ebd., S. 170). Es gegenwärtigt sich in seinem Prinzipcharakter als Weltsubjekt durch Gedanke, Tat und Wort und wird so zu einer geschichtlichen Gestalt, die über den Tod hinaus existiert. 6
I Vom Streben nach Wahrheit
Rainer Schäfer WAHRHEIT AUS DER EVIDENZ DES ICH BEI DESCARTES
In dieser Untersuchung wird Descartes’ Hervorhebung der Rolle der Subjektivität in der Begründung von Wahrheit und Erkenntnis verteidigt. Die Subjektivität generiert einerseits durch eine von ihr hergestellte Erkenntnisordnung und Wissensökonomie Einsicht in neue Wahrheiten und andererseits folgt aus dem wissenden und unbezweifelbaren Selbstverhältnis des endlichen Subjekts die Evidenz als Wahrheitskriterium. Dadurch gelingt es Descartes den notwendigen Zusammenhang von Wahrheitsgeltung und Verifikation in den kognitiven Leistungen des Subjekts zu plausibilisieren. Neuartig ist die hier vertretene These, dass sich das Wahrheitskonzept der Evidenz gegen den Vorwurf des Psychologismus verteidigen lässt.
Das Wahrheitskriterium besteht für Descartes in der Klarheit und Deutlichkeit einer Erkenntnis, d.h. in deren Evidenz. Evidenz tritt bei Descartes in zwei verschiedenen Formen auf: Die eine Evidenzform erweist sich im Rahmen der konkreten Erkenntnisproblematik auf einer die metaphysischen Bestimmungen der Ersten Philosophie bereits voraussetzenden Ebene. Dies ist jene Evidenz, wie sie sich im Kontext einer auf Steuerung der Erkenntnis ausgerichteten Regulierung und Ökonomie der geistigen Vollzüge einstellt. Diese Formen der Evidenz finden sich insbesondere in den fragmentarischen Regulæ und auf Wesentliches komprimiert weitergeführt im 2. Teil des Discours. Neben diesem Modell gibt es eine andere Form der Evidenz auf der fundamentaleren Ebene der Ersten Philosophie, wo die Evidenz aus dem Prinzip, d.h. aus der Subjektivität heraus allererst gerechtfertigt werden muss und nicht wie auf der Ebene der Geistesökonomie bereits vorausgesetzt werden darf. Die letztere Ebe-
20 ne der Wahrheits- und Evidenzrechtfertigung führt Descartes besonders im 4. Teil des Discours und in den Meditationes aus. Diese beiden Evidenzformen sollen im Folgenden untersucht werden. Neuartig ist die Unterfütterung der weithin anerkannten These, dass Wahrheit bei Descartes Evidenz ist, durch die noch nicht berücksichtigte Tatsache, dass Descartes die Evidenz und das Wahrheitskriterium unmittelbar aus dem cogito, ergo sum bzw. aus dem ego sum, ego existo selbst herleitet. Dies verdeutlicht, dass das allgemeine Wahrheitskriterium aus dem originären Selbsterlebnis der Subjektivität gewonnen wird und das Sich-Wissen des Ich gleichfalls ein paradigmatischer und konstitutiver Fall von Evidenz ist. Die These von der Wahrheit als Evidenz, die paradigmatisch aus dem cogito gewonnen wird, ist durch Kritik und Vergleich alternativer Wahrheitstheorien zu erhärten; obzwar sie durch Kants These von der Unmöglichkeit eines allgemeinen Wahrheitskriteriums erschüttert wird.
I. Evidenz als Geistökonomie im Kontext konkreter Epistemologie Im 2. Teil des Discours findet sich ein erster Zugang zur Evidenzproblematik, der die Evidenz im Rahmen einer subjektiv-logischen Geistesökonomie darstellt. Mit der Evidenz als Problem eines technisch regulierten Erkenntnisprozesses ist allerdings die metaphysische Fundierungsebene der Evidenz als ursprünglichem Erlebnis der Wahrheit durch das cogito noch nicht erreicht. Die Evidenz als Problem regulierbarer Erkenntnisökonomie gibt jedoch einen ersten Vorblick auf die radikale Versubjektivierung der Wahrheitsproblematik bei Descartes. Im 2. Teil des Discours ist die Evidenz als Klarheit und Deutlichkeit die erste von vier Methodenvorschriften für die Wissenschaft bzw. Erkenntnis, und hier kommt in besonderer Weise die Unbezweifelbarkeit der Evidenz zur Geltung: „Die erste Vorschrift besagte, niemals irgendeine Sache als wahr zu
21 akzeptieren, die ich nicht evidentermaßen als solche erkenne; dies bedeutet, sorgfältig Übereilung und Voreingenommenheit zu vermeiden und in meinen Urteilen nicht mehr zu umfassen als das, was sich so klar und so deutlich meinem Geist vorstellt, dass ich keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln.“1 Aus diesem Kontext der Evidenz sind im 2. Teil des Discours auch die hierauf folgenden weiteren drei methodischtechnischen Erkenntnisregeln zu verstehen: Die 2. Regel besagt, dass ein zu untersuchendes Problem in möglichst viele Teile zerlegt werden soll. Dies ist als die Regel der Analyse anzusehen; bei dieser werden komplexe Sachverhalte auf ihre einfacheren Teile zurückgeführt. Dies dient insofern der Evidenz, als einfachere Teile klarer und deutlicher zu erkennen sind als komplexe. Die 3. Regel legt fest, dass die Gedanken in eine hierarchische Ordnung zu bringen sind, die vom Einfachen ausgeht und zum Komplexeren aufsteigt. Dies ist als Regel der Deduktion zu bezeichnen. Auch diese Regel dient der Klarheit und Deutlichkeit, denn ein zuvor analysierter Zusammenhang wird nun durch die zusammenführende Deduktion bewährt (verifiziert) und abgesichert. Wenn Descartes sagt, dass er zu größerem Erkenntnisgewinn gelangt, „indem ich selbst dort Ordnung unterstellte, wo nicht natürlicherweise das eine dem anderen vorausgeht“2, dann bildet dies eine radikale Versubjektivierung der Erkenntnis. Die Klarheit und Deutlichkeit der hierarchisierten Gedankenfolge ist für das Subjekt, nicht primär für das zu erkennende Objekt, von zentraler Bedeutung. Descartes strebt mit dieser Regel offensichtlich eine Ökonomie der Erkenntnisse an. Die subjektive Ansetzung einer Erkenntnisökonomie führt zu technisch-pragmatischen Erfolgen der Gegenstandsbeherrschung für das Ich.3 In dieser Hinsicht wird für Descartes sogar die Angemessenheit der Bestimmungsordnung an das Objekt zweitrangig und damit in diesem spezifischen Kontext offensichtlich auch die Erkenntniswahrheit, sofern sie dem Gegenstand entsprechen soll. Die 4. Regel fordert, dass die Aufzählung der Teile und Elemen-
22 te des Erkenntnisgegenstandes vollständig sein muss. Diese Regel ist auf die Regeln 2 und 3 zu beziehen: Die Analyse und die Deduktion erfordern Vollständigkeit der zu untersuchenden Elemente. Damit dient auch die 4. Regel mittels der Vollständigkeit der Evidenz von Klarheit und Deutlichkeit. Wenn man den Zusammenhang der vier methodischen Erkenntnisregeln deutet, dann wird die Evidenz (1) durch Analyse (2) erreicht, die wiederum durch Deduktion (3) abgesichert wird, Analyse und Deduktion erlangen ihre Sicherheit durch die Vollständigkeit (4) ihrer Elemente.4 Dieses Verfahren bildet das Gerüst für den Gehalt der von Descartes konzipierten Logik. Und es handelt sich dabei offensichtlich um eine Logik, die die Gewinnung von neuen Erkenntnissen durch regulierende Techniken und Steuerungen des Geistes ermöglichen soll, d.h. es geht um eine Erkenntnislogik und eine pragmatische Geistesökonomik. Diese Logik als Ökonomie des Geistes führt das Programm der Fragment gebliebenen Regulæ auf eine einfache Struktur reduziert fort.5 II. Evidenz auf prinzipientheoretischer Ebene – Klarheit und Deutlichkeit Evidenz ist auf der fundamentaleren Ebene der metaphysischen Rechtfertigung der Ersten Philosophie nach Descartes das Wahrheitskriterium für alle Erkenntnisse.6 Die Evidenz bildet dabei eine spezifische Vollzugsart von insbesondere intuitiven Erkenntnissen und besteht in der Klarheit und Deutlichkeit (perceptio clara et distincta), mit der sich ein Gedanke dem Ich präsentiert. Dabei ist allerdings grundlegend, dass sich primär das Ich selbst als Klarheit und Deutlichkeit gegeben ist. Die Evidenz ist also ein Moment der Subjektivität selbst und in gewisser Hinsicht mit ihr identisch, da sie einerseits eine spezifische Gegebenheitsweise der Subjektivität ist, andererseits aber gleichermaßen auch eine Vollzugsweise der Subjektivität. In dieser Vollzugsweise erkennt sich das Subjekt selbst.
23 Klarheit und Deutlichkeit bestehen darin, dass das Ich genötigt ist, einen Gedanken auf nur eine Weise vollziehen zu können, da jeder andersgeartete Vollzug einen Widerspruch in sich enthielte.7 So z.B. wenn das Ich denken müsste, dass es denkt, aber ebenso von sich verneinen sollte, dass es existiert, während es denkt. Ein solcher Gedankeninhalt könnte dem Ich unmöglich präsent sein. Ein Gedanke, der klar und deutlich ist, zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er widerspruchsfrei ist, sondern auch dadurch, dass er für das Ich unleugbar gegenwärtig ist.8 Descartes formuliert daher die Wahrheitsregel, nach der die Wahrheit in der klaren und deutlichen Evidenz besteht: „Ich bin sicher, dass ich ein denkendes Ding bin; weiß ich also nicht auch, was dazu gehört, damit ich einer Sache sicher bin? Es ist doch in jener ersten Erkenntnis nichts anderes enthalten als eine klare und deutliche Auffassung dessen, was ich behaupte. Diese würde offenbar nicht genügen, mich der Wahrheit eines Gegenstands zu versichern, wenn jemals etwas, das ich so klar und deutlich perzipiere, falsch sein könnte. Somit darf ich als allgemeine Regel festsetzen, dass alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich perzipiere.“9 Descartes unterscheidet offensichtlich nicht zwischen der Geltung einer Wahrheit und der Verifikation, d.h. der Art und Weise, wie wir eine solche Wahrheit bewähren.10 Zunächst kann man gegen Descartes daher anscheinend argumentieren, dass er Verifikation und Wahrheitsgeltung unzulässig miteinander vermengt. Dagegen soll hier die Position von Descartes dahingehend verteidigt werden, dass er mit seinem Wahrheitskriterium die im Rahmen einer subjektivitätstheoretisch fundierten Wahrheitskonzeption notwendige Zusammengehörigkeit von Verifikation und Wahrheitsgeltung konsequent plausibilisiert. Diese Zusammengehörigkeit von Wahrheitsgeltung und Verifikation wird durch die Subjektivität als Prinzip einerseits begründet und andererseits hergestellt, d.h. konkret vollzogen und erlebt.11 Das Wahrheitskriterium der Klarheit und Deutlichkeit als Evidenz soll also zum Ausdruck bringen, dass für das Subjekt eine Wahrheit immer nur dann gelten kann, wenn es sie auch bewährt, d.h.
24 verifiziert. Diese Verifikation geschieht für die Subjektivität vermittels der Evidenz von Klarheit und Deutlichkeit. Damit ist nicht gesagt, dass es zwischen Verifikation und Wahrheitsgeltung keinen Unterschied gebe; der Unterschied darf in der Tat nicht nivelliert werden, aber mit Descartes ist der enge Zusammenhang beider zu bestimmen. Klarheit und Deutlichkeit bilden die Evidenz, und diese besteht nach Descartes in einer Gewissheit bzw. in einem Grad der Überzeugtheit und Sicherheit, der bestimmten Erkenntnissen zu eigen ist. Die Sicherheit, dass ein Gedanke so und nicht anders gedacht werden muss, bildet damit das Wahrheitskriterium. Die Sicherheit besteht wiederum darin, dass es nicht möglich ist, einen solchen Gedanken oder eine solche Erkenntnis zu bezweifeln. Die Unmöglichkeit für das Subjekt, an einem Gedanken zu zweifeln, verbürgt also seine Gewissheit. Die Wahrheit wird von Descartes als Gewissheit bestimmt.12 Der Zweifel hat daher nicht nur im Rahmen der 1. Meditatio die Aufgabe, zur ersten Gewissheit hinzuführen, sondern der Zweifel, genauer die methodische Elimination des Zweifels, spielt auch für die Sicherheit bei der Erkenntnis von Wahrheit eine zentrale und konstitutive Rolle. Dasjenige, was wahr ist, muss auch unzweifelhaft gewiss sein. Wahrheit bewährt sich also in der Unzweifelhaftigkeit und in der Resistenz gegen die Skepsis. Dasjenige, was unwahr ist, das kann nicht gewiss sein. An Unwahrem kann gezweifelt werden, und es verfällt in seinem Geltungsanspruch dem skeptischen Zweifel und der Epoché. Dieses Verfahren der Bewährung einer zu prüfenden Erkenntnis hat bereits die 1. Meditatio durchgeführt. Hier deutet sich auch – was Descartes allerdings nicht selbst ausführt – der Grund an, weshalb es verschiedene Grade der Evidenz geben kann: Die Subjektivität, die ein Evidenzerlebnis vollzieht, hat unterschiedliche Grade der Überzeugungsgewissheit, und diese drücken sich in verschiedenen Graden von Klarheit und Deutlichkeit aus.
25 III. Die Begründung von Wahrheit im cogito-Erlebnis Die Wahrheit als Evidenz gewinnt Descartes am Anfang der 3. Meditatio in einer phänomenal-deskriptiven Untersuchung der cogito-Erkenntnis; womit er den nichtdeduktiven, analytischen Charakter der Ersten Philosophie konsequent aufrechterhält. Im Rahmen der Sicherheit des Erkenntniserlebnisses des Selbstbewusstseins gewinnt Descartes durch eine analysierende Beschreibung des Vollzugscharakters des Selbstbewusstseins aus diesem das Wahrheitskriterium der Evidenz. Daran zeigt sich, dass die Sicherheit, die Evidenz nicht einfach dinglich vorliegt, sondern ein notwendiges Moment der Icherkenntnis ausmacht. Die Evidenz als Wahrheitskriterium ist daher keine unbewiesene Voraussetzung im Gedankengang von Descartes, sondern ein positiv-faktischer Befund, der sich bei der genaueren Untersuchung dessen findet, was im Selbstbewusstseinserlebnis des Ich vorliegt, nämlich Unbezweifelbarkeit. Zunächst konstatiert Descartes lediglich, dass im Selbstbewusstseinsvollzug des cogito Klarheit und Deutlichkeit als – wie Husserl wohl sagen würde – Aktcharaktere mitenthalten sind. Anschließend folgert Descartes universalisierend, dass allgemein jeder klare und deutliche Erkenntnisvollzug wahr sein müsse, sofern er dem Vollzug des Selbstbewusstseins im ego cogito, ergo sum gleich ist; woran dessen paradigmatische Rolle für die Wahrheit insgesamt deutlich wird. Diese Vorgehensweise, immanent aus der Gegebenheit des Selbstbewusstseins das Wahrheitskriterium abzuleiten, kristallisiert sich insbesondere dann heraus, wenn Descartes bereits in der 2. Meditatio – also nicht erst in der 3. Meditatio – die Wahrheit im Anschluss an die Unbezweifelbarkeit des cogito in dieser Weise einführt: „Nachdem ich so alles genug und übergenug erwogen habe, muss ich schließlich festhalten, dass der Satz ‚Ich bin, Ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei.“13 So fundiert Descartes die Wahrheit in der Subjektivität bzw.
26 im Selbstverhältnis des Geistes. Wahrheit besteht nicht an sich, sondern nur in der Subjektivität und auch nur für diese. Und diesen Gedanken der Verbindung von Subjektivität und Wahrheit konzipiert Descartes schon im 4. Teil des Discours, indem hier durch eine deskriptive Analyse des cogito-Gedankens die allgemeine und grundlegend metaphysische Bestimmung der Wahrheit als Evidenz bzw. Gewissheit folgt; denn unmittelbar nach der Explikation des cogito führt er dort aus: „Darauf erwog ich im Allgemeinen, was für eine Behauptung erforderlich ist, damit sie wahr und gewiss ist, denn, weil ich soeben eine solche gefunden habe, von der ich wusste, dass sie es ist, meinte ich auch wissen zu müssen, worin diese Gewissheit besteht. Da ich bemerkt hatte, dass es in dem Satz: ‚Ich denke, also bin ich‘, nichts anderes gibt, was mich versicherte, die Wahrheit zu sagen, als dass ich sehr klar sehe, dass man, um zu denken, sein muss, schloss ich, ich könne als allgemeine Regel annehmen, dass die Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, alle wahr sind, dass aber nur eine gewisse Schwierigkeit darin besteht, richtig zu merken, welche Dinge diejenigen sind, die wir deutlich begreifen.“14
IV. Kritische Diskussion der egologischen Wahrheitsbegründung und Vergleich mit anderen Wahrheitstheorien An dieser Stelle sind allerdings einige hier offenkundig werdende Probleme der Wahrheitstheorie von Descartes zu diskutieren: Die Frage, ob die Universalisierung der Evidenz als Klarheit und Deutlichkeit des cogito-Vollzugs zur allgemeinen Wahrheitsregel berechtigt ist und welche Gründe man für sie ins Feld führen kann, stellt eines der schwerwiegenden Probleme der Wahrheitstheorie von Descartes dar. Ein weiteres Problem besteht darin, in welchem Verhältnis die Evidenzwahrheit zur Adäquationswahrheit und zur Kohärenzwahrheit steht. Descartes kennt nämlich neben der Evidenz-
27 wahrheit auch noch die Wahrheitsformen der Adäquation und der Kohärenz. Die drei Theorien der Wahrheit: Evidenz, Adäquation und Kohärenz, stehen nach Descartes nicht in einem Konkurrenzverhältnis, in welchem sie einander ausschließen, sondern in einem spezifischen Fundierungsverhältnis, das aus Descartes’ verschiedenen Äußerungen und Andeutungen zu rekonstruieren ist. Überdies muss die Frage gestellt werden, ob Descartes mit der Evidenz als Wahrheitskriterium nicht nur ein psychologisches Wahrheitskriterium aufstellt, das lediglich über eine bestimmte psychische Einfärbung unserer Erlebnisse Auskunft gibt, aber nichts über den inhaltlichen Wahrheitsstatus von objektivierbaren Erkenntnissen aussagt. Ein weiteres wichtiges Problem resultiert daraus, dass ein allgemeines, hinreichendes Wahrheitskriterium – so wie es Kant einleuchtend dargelegt hat – ein Widerspruch in sich ist, da die Wahrheit einer Erkenntnis immer vom spezifisch erkannten Inhalt abhängt und es also gar kein allgemeingültiges, inhaltliches und hinreichendes Kriterium für Wahrheit geben kann, weil der Inhalt der Erkenntnisse jeweils ein anderer ist. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass es nicht allgemeine, notwendige Wahrheitskriterien gibt; solch ein Kriterium besteht z.B. in der Widerspruchsfreiheit von Erkenntnissen. Aber diese Wahrheitskriterien sind nur formell und können über Wahrheit oder Unwahrheit einer Erkenntnis nicht inhaltlich entscheiden. Mit diesen Kriterien sind also nur notwendige, aber noch keine hinreichenden Wahrheitskriterien gewonnen.15 Im folgenden sollen diese vier Problemfelder – 1. die Möglichkeit der Universalisierung, 2. das Verhältnis der verschiedenen Wahrheitstheorien und Wahrheitstypen (Evidenz, Adäquation, Kohärenz) zueinander, 3. der Psychologismusvorwurf und 4. das Problem der Selbstwidersprüchlichkeit eines allgemeinen, hinreichenden Wahrheitskriteriums – im Rahmen der von Descartes für sein fundierendes Wahrheitskriterium der Evidenz selbst beigebrachten Argumente beleuchtet werden.
28 Descartes analysiert und beschreibt am Anfang der 3. Meditatio lediglich die Implikationen, die in der bewussten Vorstellung vom Ich als einem denkenden Wesen enthalten sind. Descartes gewinnt demzufolge das Wahrheitskriterium immanent aus dem gesicherten, ersten Prinzip der Philosophie, nämlich aus dem Ego sum, ego existo bzw. aus dem cogito, ergo sum. Immanent wird aus dem Wissen um die Existenz des Selbstbewusstseins das Wahrheitskriterium abgeleitet. Dieses Vorgehen entspricht dem Methodenideal Descartes’, aus der ersten, einfachsten Erkenntnis weitere darauf aufbauende Erkenntnisse auszugliedern.16 So setzt er in der 3. Meditatio die Untersuchung der 2. Meditatio, was das existierende Ego ist und worin sein Wesen besteht, konsequent fort. Wurde dort festgestellt, dass das Ich bloß ein rein denkendes Wesen/Ding ist und dass darin sein unbezweifelbarer Charakter besteht, so wird jetzt, am Anfang der 3. Meditatio, dieser Unbezweifelbarkeitscharakter des denkend existierenden Ego inhaltlich näher bestimmt, nämlich als erfüllte und sich selbst durchsichtige Selbstbeziehung. Die Unbezweifelbarkeit kommt in der Evidenz des ersten Prinzips zum Ausdruck, und die Evidenz besteht in der Klarheit und Deutlichkeit, durch welche das Ich sich selbst gegeben ist. Wenn Descartes dieses Wahrheitsmoment des ersten Prinzips dann verallgemeinert, so folgt er auch damit seinem Methodenideal, von den einfachsten unmittelbaren Wahrheiten des Ich stufenweise zu vermittelteren aufzusteigen und diese analytisch auszugliedern. Die Universalisierung ist also nicht eine Folge methodischer Naivität, sondern fundierte Weiterführung der Subjektivität als Prinzip. Für die Universalisierung der Klarheit und Deutlichkeit als Wahrheitsregel verfolgt Descartes ein analogisierendes Verfahren: Alles, was so klar und deutlich ist wie das „Ich bin, Ich existiere“, hat als wahr zu gelten. Die Universalisierung besteht also in der Herausstellung eines analogen Charakteristikums wahrer Erkenntnisse.17 In dem Wissensakt des Ich um sich ist zugleich die Art und
29 Weise mitgegeben, in der dieser Akt dem Ich gegeben ist bzw. vor das Bewusstsein tritt. Die Art und Weise, wie das Ich sich seiner als eines denkenden Wesens bewusst wird, ist die Klarheit und Deutlichkeit. Sofern Descartes das Wahrheitskriterium ausschließlich immanent aus dem Ego sum bzw. dem cogito herleitet, wird auch deutlich, dass es nicht in der Abhängigkeit eines andersgearteten Wahrheitsgaranten – gemeint ist: Gott – gebildet wird. Das Wahrheitskriterium ist zunächst, nach der Konzeption der 3. Meditatio, von der Gotteserkenntnis unabhängig. Hieran manifestiert sich die Selbstbegründung der Wahrheit im Ich als der endlichen Denksubstanz. Auf Gott als Wahrheitsgaranten muss sich allererst syllogistische und gedächtnisbedingte Erkenntnis berufen; nicht jedoch die immediate Selbsterkenntnis. Zugleich zeigt sich, dass Descartes Wahrheit primär nicht als Adäquation von Denken und Gegenstand konzipiert. Vielmehr ist Wahrheit eine denkimmanente Eigenschaft des unzweifelhaften Offenbarseins eines noematischen Gehalts, der nur auf eine einzige Weise denkbar ist. Damit zeigen sich Nähen, aber auch charakteristische Unterschiede von Descartes’ Wahrheitsbegriff zu dem antiken, insbesondere zu demjenigen Platons. Platon konzipiert Wahrheit als a-letheia, d.h. als Entborgenheit und Unverborgenheit. Dass Wahrheit Unverborgenheit ist, betont Heidegger in seiner Interpretation und Weiterführung Platons.18 Neuartig und völlig anders gegenüber Platon ist allerdings, dass Descartes die Unverborgenheit nicht in einer Lichtung des Seienden begründet, sondern in den Erkenntnisleistungen des endlichen Subjekts. Wahrheit ist nicht ein subjektloses Geschehen. Das Merkmal der Klarheit und Deutlichkeit kennt allerdings auch schon Platon. Nach diesem zeichnet sich die episteme gegenüber der doxa gerade durch Klarheit und Deutlichkeit, aber auch durch Unveränderlichkeit aus; dabei ist der Grad der Deutlichkeit durch den zu erkennenden Seinsbereich verursacht. Das heißt das Sinnlichwahrnehmbare ist von ontologisch niedrigerem Rang als die Ideen und daher auch undeutlicher zu erkennen. Erkenntnistheo-
30 retisch gilt nach Platon: Je höher die ontologische Dignität, desto deutlicher die Erkenntnis. Bei Descartes gilt dagegen: Je unmittelbarer etwas dem Subjekt zugänglich ist, desto klarer und deutlicher ist es. Für Descartes ist Wahrheit als das unmittelbare Offenbarsein eines Sachverhalts nicht das Resultat einer Übereinstimmung, weil die Relata der Übereinstimmung jeweils auch schon für sich wahr, d.h. offenbar sein müssen, damit überhaupt ihre Übereinstimmung verifiziert werden kann. Daher kann die Adäquation nicht die fundamentalste Form der Wahrheit sein.19 Wahrheit lässt sich nach Descartes – wie auch schon nach den antiken, pyrrhonischen Skeptikern – nicht definieren, da jede Definition der Wahrheit deshalb zirkulär sein muss, weil es, um Wahrheit definieren zu können, einer wahren Definition bedarf, und auch die Teile der Definition, Definiendum und Definiens, müssen bereits wahr sein. Die Wahrheit lässt sich daher nach Descartes überhaupt nicht definieren, weil in jeder Wahrheitsdefinition eine petitio principii vollzogen wird, sofern nämlich die Definition der Wahrheit selbst auch wahr sein soll. Eine Definition der Wahrheit würde auch von dem Subjekt, das sie erkennen soll, verlangen, dass es ihr zustimmen kann; diesen Akt der Zustimmung zu einer Definition kann das Subjekt aber nur dann vollziehen, wenn es bereits weiß, was Wahrheit ist. Daher kann auch die Kohärenz, als in sich schlüssiger Zusammenhang mehrerer Aussagen, denen verschiedene Subjekte zustimmen, nicht die fundamentalste Form der Wahrheit sein, da Zustimmung bereits das Wissen um Wahrheit voraussetzt. Durch geschichtliche Tradierung und die Weitergabe von Erkenntnissen von Generation zu Generation, bzw. auch innerhalb einer Generation, kann Wahrheit daher auch nicht erklärt werden, da dann fraglich bleibt, wie es zu einer allerersten Wahrheitserkenntnis kam. Descartes schließt deshalb eine empirische Erkenntnis von Wahrheit aus, welche durch die Vermittlung verschiedener historischer Generationen zustande kommt.20 Also ist die Wahrheit für Descartes ein unmittelbar selbster-
31 klärender Begriff, der einfach sein muss, weil er sich als selbsterklärender Begriff nicht auf fundierende Elemente zurückführen lässt. Selbsterklärung eines Begriffs ist hier gleichbedeutend mit dessen Nichtrückführbarkeit und Einfachheit. Die Wahrheit ist daher eine intuitive Gegebenheit und eine angeborene Idee, die dem natürlichen Licht unmittelbar entborgen ist. – Bereits Anselm von Canterbury vertrat die These, dass die Wahrheit ungeworden ist und daher weder Anfang noch Ende hat.21 Diese Ungewordenheit wurde in der scholastischen Tradition auch dadurch vertreten, dass dort Wahrheit als eine Transzendentalie bestimmt wird. Bei Anselm ist letztlich Gott selbst die Wahrheit. – Nach Descartes wird die Wahrheit als Adäquation durch die Wahrheit als offenbare Evidenz überhaupt erst begründet. Descartes leugnet also die Adäquationswahrheit mit seiner Konzeption der Evidenzwahrheit nicht einfach ab.22 Die Evidenzwahrheit fundiert hier die Adäquationswahrheit insofern, als die Adäquationswahrheit eine Relation zwischen Dingen und Gedanken/Erkenntnissen/Ideen impliziert, die als Relation bereits zwei Voraussetzungen hat: einerseits die Existenz einer von den Erkenntnissen und Gedanken unabhängigen Welt der Dinge und andererseits getrennt von den Dingen die geistimmanenten Gedanken bzw. Ideen. Descartes versucht aber gerade, diese Voraussetzungen und unbewiesenen Prämissen – „Es gibt eine Welt der Dinge und davon getrennt unsere Ideen von dieser, und wir haben die Fähigkeit, beides aufeinander zu beziehen“ – vorgängig zu beweisen; und auch dieser Beweis erhebt bereits einen Anspruch auf Wahrheit. Wenn er die Adäquation in der Evidenzleistung des Subjekts begründet, geht Descartes auf eine fundamentalere Ebene der Begründung von Wahrheit zurück, als dies zuvor Thomas von Aquin erreichte. Der Beweis besteht darin, dass zunächst gezeigt werden muss, dass überhaupt eine geistunabhängige Welt von Dingen extern existiert, wobei dieser Beweis aus dem Selbstbewusstsein heraus erfolgen und Wahrheit beanspruchen soll. Das Erklärungsmodell der Wahrheit darf daher nicht bereits die Relation auf geistexterne Entitä-
32 ten unhinterfragt voraussetzen. Diesem Problem einer Rechtfertigung der Adäquationsrelation wird die Konzeption der Wahrheit als Evidenz gerecht. Während die Adäquationstheorie der Wahrheit hingegen nur – wie Kant sagt – eine „Namenserklärung“ von Wahrheit liefern kann, sind die Elemente, aus denen diese Namenserklärung besteht – im Sinne Descartes’ –, auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihren Wahrheitscharakter zu hinterfragen. Diese Hinterfragung zeigt, dass Wahrheit ein „transzendenter und selbsterklärender Begriff ist“23. Descartes wendet sich also mit seiner Evidenztheorie der Wahrheit explizit gegen die Adäquationstheorie der Wahrheit als fundamentalste Begründung von Wahrheit, schließt sie damit aber nicht aus. Er richtet sich damit auch gegen Herbert von Cherbury (1582/83-1648).24 Herbert von Cherbury steht dem Cambridger Platonismus nahe und vertritt in seinem Werk De veritate (1624) als Regel bzw. als Grundvoraussetzung für die Möglichkeit von Wahrheit die Übereinstimmung. Damit führte er die Adäquationstheorie der Wahrheit, wie sie von Thomas von Aquin konzipiert wurde, mit platonischen und neuplatonischen Einflüssen weiter. Wahrheit ist danach die Übereinstimmung eines Seienden mit sich selbst. Diese Selbstübereinstimmung wird dadurch erreicht, dass das existierende Ding mit der Idee, die der göttliche Intellekt von ihm hat, übereinstimmt. Diese Seinswahrheit ist, aufgrund der Fundierung im göttlichen Intellekt, ewig und unveränderlich.25 Herbert von Cherbury versucht mit dieser Konzeption, die dogmatische Metaphysik vor ihrem drohenden Untergang durch den sich verbreitenden Skeptizismus zu retten.26 Gegen die von Herbert von Cherbury entworfene Seinswahrheit wendet sich Descartes mit der Konzeption, dass Wahrheit in ihrer fundamentalsten Form das Offenbarsein des natürlichen Lichts für den Geist bildet. Zugleich besteht nach Descartes in der Evidenz auch das Fundament für die Wahrheit als Kohärenz. Kohärenz meint hier nicht nur einseitig den durchgängigen Zusammenhang der Erkenntnisse mit den Gegenständen, auch nicht lediglich die Ver-
33 bindung vieler verschiedener inhaltlicher Erkenntnisse zu einem Erkenntnisganzen, sondern überdies den zusammenstimmenden Zusammenhang verschiedener wahrheitsfähiger Subjekte in ihren Erkenntnissen untereinander. Da alle Vernunftsubjekte zumindest der Möglichkeit nach über das natürliche Licht und das Offenbarsein von dessen Grundbestimmungen verfügen, ist es möglich, dass die verschiedenen Vernunftsubjekte miteinander eine zusammenstimmende und zusammenhängende Erkenntnissphäre ausbilden.27 Die Kohärenzwahrheit ist also in der fundamentaleren Evidenzwahrheit zu begründen und braucht daher nicht verworfen zu werden. Die Kohärenztheorie der Wahrheit ist für Descartes besonders im Rahmen der 6. Meditatio von zentraler Bedeutung.28 Die Abgrenzung von Traum und Wachzustand bezüglich der wirklichen Erkennbarkeit der materiellen Welt erfolgt nämlich vor allem vermittels des Kriteriums der zusammengehörenden Kohärenz aller einzelnen Erfahrungen. Daran wird dann auch die Form der wirklichen Erfahrung deutlich: Wissenschaftlich nachprüfbare Erfahrung stellt sich als kohärenter Zusammenhang von Bewusstseinsvollzügen dar. Lediglich der Anspruch, die Kohärenztheorie sei die fundamentalste Wahrheitstheorie, ist demnach zu verwerfen. Nach Descartes spricht gegen die Kohärenz als die fundamentalste Form von Wahrheit, dass, ausgehend von der allgemeinen Zustimmung zu Erkenntnissen durch verschiedene Subjekte, nicht wirklich eine Erkenntnis in ihrer Wahrheit gesichert ist.29 Denn in den verschiedenen Subjekten ist das natürliche Licht verschieden ausgeprägt, wenn es auch in allen gleichermaßen angelegt ist, und daher kommen bei den unterschiedlichen Subjekten unterschiedliche Formen des Für-wahr-Haltens vor. Häufig wird einer Erkenntnis von vielen Subjekten zugestimmt, die nicht wahr ist, und häufig wird einer wahren Erkenntnis die Zustimmung von vielen Subjekten verweigert. Hinzu kann kommen, dass es Dinge geben kann, die unser natürliches Licht noch nicht erkannt hat, die dennoch wahr sind, aber noch nicht für uns wahr
34 sind, die also bloß in potentieller Weise wahr sind. Nach einer konsequenten Kohärenztheorie der Wahrheit müssten derartige potentielle Wahrheiten als unwahr gelten, da ihnen kein Vernunftsubjekt zugestimmt hat und sie für uns auch nicht in Korrelation mit anderen Wahrheiten stehen. Dies ist aber offensichtlich unrichtig. Daher ist die Kohärenztheorie von der Evidenztheorie abhängig und kann als ein Anzeichen für die mögliche Wahrheit von Erkenntnissen nur eine der Evidenzwahrheit nachgeordnete Geltung haben. die Kohärenztheorie hat zu viele Ungewissheiten, um auf der grundlegendsten Ebene der Ersten Philosophie Geltung beanspruchen zu können. Nur die Wahrheit als Evidenz entspricht nach Descartes den Anforderungen der völligen Unzweifelhaftigkeit. Wie die Adäquationswahrheit ist auch die Kohärenzwahrheit (6. Meditatio) der Vernunftordnung nach von der Evidenzwahrheit (2. und 3. Meditatio) zu begründen. Indem wir uns dem dritten Problemfeld von Wahrheit als Evidenz zuwenden, gerät in den Blick, dass Descartes mit der nichtexternalistischen, relationslosen Konzeption von Evidenzwahrheit als Klarheit und Deutlichkeit in der Perzeption, im Gedanken ein bloß psychologisches Wahrheitskriterium aufzustellen scheint.
V. Klärung und Verdeutlichung von Klarheit und Deutlichkeit Im ersten Teil der Principia präzisiert Descartes, was unter Klarheit und Deutlichkeit, den Merkmalen der Evidenz, zu verstehen ist: „Klar (clara) nenne ich die Erkenntnis, welche dem aufmerkenden Geist gegenwärtig und offenkundig ist, wie man das klar gesehen nennt, was dem schauenden Auge gegenwärtig ist und dasselbe hinreichend kräftig und offenkundig erregt. Deutlich (distincta) nenne ich aber die Erkenntnis, welche, bei Voraussetzung der Stufe der Klarheit, von allen übrigen so getrennt und unterschieden ist, dass sie gar keine anderen als klare Merkmale in sich enthält.“30
35 Offensichtlich kann es also Klarheit ohne Deutlichkeit, aber nicht Deutlichkeit ohne Klarheit geben. Die Deutlichkeit setzt die Klarheit voraus. Es gibt eine erkenntnisstrukturierende Stufenfolge von der Klarheit zur Deutlichkeit. Die Klarheit bezieht sich auf ein gegebenes Merkmal und dessen Gegenwärtigkeit für den aufmerksamen Geist. Es handelt sich bei klaren Erkenntnissen also um Operationen des Geistes; dies sind solche Vollzüge, derer sich der Geist einerseits nach dem noematischen Inhalt und andererseits nach der noetischen Form gewiss ist, d.h. dass der Geist es ist, der diesen Inhalt vollzieht. Der Geist ist sich damit hinsichtlich der noetischen und hinsichtlich der noematischen Seite eines Bewusstseinsgehaltes im Klaren und also ist der Geist sich bei klaren Gedanken auch seiner selbst bewusst. Dabei besteht die Klarheit in der Gegenwärtigkeit des Gegenstands, wobei Gegenstand hier in einem so weitgehenden Sinn gemeint ist, dass auch das Subjekt selbst zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden kann. Je unmittelbarer ein Gegenstand dem Geist präsent ist, desto klarer ist er. Daraus folgt, dass etwas unklarer ist, je vermittelter es ist und je mehr Zwischenbegriffe dem Geist mitpräsent sein müssen, um diesen Gegenstand zu erfassen.31 Bezüglich der Klarheit vertritt Descartes also einen „Präsentismus“ des Gegenstands. Die Deutlichkeit bezieht sich, im Unterschied zu der einfachen Unmittelbarkeit der Klarheit, auf einen ganzen Zusammenhang von verschiedenen, einzelnen Merkmalen, die zunächst für sich jeweils klar erkannt sein müssen, damit ihr Zusammenhang oder auch ihr jeweiliger Unterschied dem Geist deutlich erscheinen kann. Deutlichkeit kommt dadurch zustande, dass der Zusammenhang verschiedener Merkmale in einem Bedeutungsganzen von anderen Bedeutungen abgehoben bzw. isoliert thematisch wird und so besteht Deutlichkeit in der Differenzierung, im Offenlegen von Unterschieden, Koordinationen, Zusammenhängen und Abhängigkeiten von verschiedenen Aspekten von Gedankengehalten. Die Deutlichkeit stellt sich also erst aufgrund eines komplexeren Abgrenzungsverfahrens ein und ist somit ei-
36 ne höherstufig vermittelte Form des Wissens. Die Klarheit ist dagegen immediat, sie stellt sich bei der geistigen Erfassung eines einzelnen Merkmals eines Erkenntnisgegenstandes ein. Dabei ist wichtig, dass sowohl die Klarheit als auch die Deutlichkeit geistige Merkmale von objektiven Ideen sind und nicht gegenständliche Eigenschaften. Es handelt sich bei diesem Evidenzbewusstsein jeweils um Arten und Weisen, wie der Geist Dinge in ihrer Ideenstruktur sachlich erfasst. Nur im objektbezogenen Geist können Klarheit und Deutlichkeit sein, nicht in den Dingen. Eine sichere Erkenntnis, die auch gesetzmäßig als eine Leistung des Geistes beurteilt werden kann, erfordert, dass sie klar und zugleich deutlich ist; die bloße immediate Klarheit eines einzelnen Merkmals reicht dazu nicht aus, vielmehr gehört auch die verdeutlichende Differenzierung gegenüber anderen Merkmalen (Elementen/Momenten) zu einer gesicherten Erkenntnis. „Sehr viele Menschen erfassen in ihrem ganzen Leben überhaupt nichts so richtig, dass sie ein sicheres Urteil darüber fällen könnten. Denn zu einer Erkenntnis (perceptio), auf die ein sicheres und unzweifelhaftes Urteil gestützt werden kann, gehört nicht bloß Klarheit, sondern auch Deutlichkeit.“32 Dies gilt letztlich auch für das „Ich denke, also bin ich“: Die bloß klare Erkenntnis des Denkens als der immediat gegebenen Eigenschaft des Ich reicht noch nicht zur vollgültigen Erkenntnis des Ich als Prinzip aus; vielmehr gehört zu einer solchen Erkenntnis überdies die Erkenntnis der Existenz und des Zusammenhangs beider Bestimmungen, was der Verdeutlichung der Erkenntnis des Selbstbewusstseins dient; hinzu kommen weitere Verdeutlichungen: Das Ich ist eine Substanz mit Attribut, und das Denken wird gegen die Ausdehnung als körperliche Eigenschaft abgegrenzt und verwirklicht sich in spezifischen Modi. Klarheit und Deutlichkeit bilden erst zusammen das Wahrheitskriterium; ein geistiger Vollzug kann erst wahr sein, wenn er einerseits die einzelnen Merkmale klar gegenwärtig hat, und andererseits, wenn er differenziert Merkmalskomplexionen gegeneinander abhebt. Wahrheit ist somit nach Descartes nicht ein unmittelbar willkürliches, bloß individuell psychisches Erlebnis,
37 sondern die geordnete und in sich gegliederte Zusammenkunft von unmittelbaren und mittelbaren bewussten Wissensvollzügen des reinen Geistes in begrifflicher Differenzierung. Wodurch bereits ein naiver Psychologismus bezüglich des Wahrheitskriteriums bei Descartes auszuschließen ist. Gegen das Wahrheitskriterium der Klarheit und Deutlichkeit lässt sich, oberflächlich besehen, einwenden, dass es doch offensichtlich falsch ist, dass alle gewissen Einsichten des Ich zugleich wahr sein sollen; gibt es doch genügend Fälle von Gewissheit, in denen das Ich sich im Irrtum befindet, und dieser Irrtum liegt gerade im Ich selbst, also in der Subjektivität begründet – dies wendet Descartes in seinem meditativ-monologischen Stil der Meditationes selbst gegen das Wahrheitskriterium der Evidenz ein.33 Dagegen wäre allerdings mit Descartes zu argumentieren, dass die Gewissheit, also die Evidenz im Ichvollzug keineswegs bloß eine individuell-psychologische Quelle hat. Und dieses Argument lässt sich vierfach begründen: a) Klare und deutliche Einsicht hat den Prüfstein des Zweifels zu überwinden, d.h. der gedachte Gehalt wird nicht auf die als fragwürdig erkannte Existenz der Welt bezogen, sondern nur auf die dem Bewusstsein immanenten Vollzüge selbst. Klar und deutlich sind nicht die außerhalb des Bewusstseins existierenden Dinge, sondern das Bewusstsein dieser Dinge. Dies ist aber kein Psychologismus, sondern die methodische Vermeidung der Schwierigkeit, Wahrheit der Relation zu einer bezweifelbaren Entität, der Welt und den in ihr enthaltenen Dingen, zuschreiben zu müssen. b) Zugleich stellt sich die Evidenz sachgebunden-objektiv ein und nicht willkürlich-subjektiv. Das phänomenologische Motto Husserls – „zu den Sachen selbst“ – vorwegnehmend, formuliert Descartes nämlich in der 3. Meditatio: „Wende ich mich dann aber den Dingen selbst zu, die ich ganz klar zu perzipieren glaube, dann werde ich jedesmal ganz von ihnen überzeugt, so dass ich unwillkürlich in die Worte ausbreche: Täusche mich, wer es vermag! Das wird er doch niemals zuwege bringen, dass ich
38 nichts bin, solange ich denke, ich sei etwas; oder dass es zu irgendeiner Zeit wahr wäre, dass ich nie gewesen, da ich doch nun wahrhaftig bin; oder auch, dass zwei und drei zusammen mehr oder weniger ergeben als fünf und dergleichen, denn darin erkenne ich einen offenbaren Widerspruch.“34 Hier wird deutlich, dass sich das Bewusstsein intentional auf seine noematischen Gegenstände richtet und sich von ihnen leiten lässt, was wiederum impliziert, dass das Bewusstsein in seiner Intentionalität primär nicht ein fingierendes, produzierendes oder konstruierendes ist. Das Bewusstsein verändert also den noematischen Gegenstand nicht dadurch, dass es sich auf ihn richtet. c) Das Zitat macht deutlich, dass Klarheit und Deutlichkeit auf der Denknotwendigkeit beruhen, also dasjenige klar und deutlich einzusehen ist, in welchem kein Widerspruch vorliegt, oder, genauer gesagt, dasjenige ist als prinzipiell falsch oder als Täuschung von der Wahrheit als Evidenz auszuschließen, was in sich einen Widerspruch enthält. Einschränkend ist jedoch gegen Descartes zu sagen: Die Widerspruchsfreiheit ist nur ein notwendiges Kriterium für die mögliche Wahrheit einer Erkenntnis, aber noch nicht gleichermaßen auch hinreichendes Wahrheitskriterium. Nicht jede Erkenntnis ist wahr, bloß weil sie widerspruchsfrei ist. d) Über die Forderung bloßer Widerspruchsfreiheit evidenter Gedanken geht Descartes präzisierend hinaus, wenn er die Denknotwendigkeit völlig klarer und deutlicher Ideen als absolute Unkorrigierbarkeit bestimmt. Alle Gedanken, die in irgendeiner Form korrigierbar oder veränderbar sind, dürfen nicht als evident im strengen Sinn gelten. Das Merkmal der Unkorrigierbarkeit ist definitiv für die Evidenz. Hypothetisch lässt sich sogar konstruieren: Gäbe es evidente Gedanken, die falsch wären, dann hätten wir keine Möglichkeit, sie zu korrigieren: „Aber in dem, was so nicht dargelegt werden kann, nämlich in unseren im höchsten Grade klaren und exakten Urteilen, die wenn sie falsch wären, durch keine klaren und nicht mit Hilfe irgendeiner anderen natürlichen Fähigkeit richtig gestellt werden könnten, be-
39 haupte ich unbedingt, dass wir uns nicht täuschen können.“35 An Evidenzen zu denken und sie nicht für wahr zu halten, ist unmöglich, sofern eine Evidenz gedacht ist, wird sie auch für wahr gehalten.36 Die unmittelbare Verbindung von evidenter Klarheit und Deutlichkeit mit dem Für-wahr-Halten ist der Grund, weshalb Evidenzen unbezweifelbar sind. Ein Zweifel setzt nämlich voraus, dass es möglich ist, zu denken, dass sich ein Sachverhalt nicht so verhält, wie es scheint; derartige gedankliche Umfingierungen sind bei Evidenzen aber unmöglich. Daraus folgt: Alles, was umfingierbar ist, ist keine wirkliche Evidenz. Allerdings zeigt sich in den Beispielen, die Descartes im obigen Zitat aus der 3. Meditatio anführt, dass die Evidenz insbesondere im Selbstbewusstsein vollzogen wird und in solchen fundamentalen Wahrheiten, die im ego cogito impliziert sind. Descartes nennt als Beispiele: 1. Ich muss etwas sein, wenn Ich ein Bewusstsein davon habe, etwas zu sein. Darin ist die fundamentale Wahrheit impliziert, dass das Nichts keine Eigenschaften haben kann, dass also, sofern Ich die Eigenschaft habe, einen Gedanken zu vollziehen, Ich auch etwas sein muss. Aus dem Nichts kann nichts entstehen; und wenn also eine erkennbare Eigenschaft existiert, dann muss wahrheitsgemäß-evident auch etwas anderes existieren, von dem diese Eigenschaft abhängt. 2. Wenn Ich zum Zeitpunkt x existiere, dann ist es ausgeschlossen, dass Ich nie (zu keinem Zeitpunkt) existiert habe. Daran zeigt sich die Evidenz der Existenz zu einem bestimmten Zeitpunkt im Erlebnisverlauf; und zugleich wird klar, dass Descartes die erste Gewissheit ego cogito, ergo sum auch temporal meint: Solange Ich denke, bin Ich. 3. Descartes führt die mathematische Evidenz 2 + 3 = 5 an. Darin liegt jedoch eine Schwierigkeit, denn er hatte zuvor in der 1. Meditatio auch die mathematischen Evidenzen angesichts des Täuscherdämons als möglicherweise täuschungsanfällig dargestellt. Nun ist auf diesem Argumentationsniveau, am Anfang der 3. Meditatio, der positive Gottesbeweis noch nicht geführt und
40 damit auch der Täuscherdämon noch nicht vollständig widerlegt. Daher dürfte sich Descartes seinem eigenen Vorgehen gemäß hier noch nicht auf mathematische Evidenzen berufen. Erst wenn er entweder gezeigt hätte, dass die mathematischen Wahrheiten unmittelbar aus dem ego cogito folgen oder aber, wenn er bereits den Täuscherdämon ausgeräumt hätte, dann hätte er sich auf diese Art der Wahrheiten als Beispiele für Evidenzerlebnisse berufen können. Was allerdings an den Beispielen des Selbstbewusstseins wie auch an dem mathematischen Beispiel deutlich wird, ist, dass Descartes als Evidenzbewusstsein das unmittelbare Erlebnis von Widerspruchsfreiheit im sachorientierten reinen Denken konzipiert. Das Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch formuliert Descartes an dieser Stelle zwar nicht explizit, aber es ist sinnvoll seinen Gedanken dahingehend zu rekonstruieren, dass im Vollzug des ego als dem ersten Prinzip zugleich die Wahrheit mitenthalten ist, dass etwas nicht in derselben Hinsicht die Eigenschaften a und non-a haben kann, da es sonst Eigenschaften hätte, die sind und auch nicht sind. Im Ichvollzug ist aber gerade die Gewissheit enthalten, dass das Ich die Eigenschaft des Denkens hat und deswegen auch existiert. Ein Widerspruch läge dann vor, wenn dem Ich in derselben Hinsicht Denken und Nichtdenken zugesprochen werden könnte. Dies ist jedoch denkunmöglich, denn wenn sich das Ich das Denken absprechen würde, dann müsste es dies denkend vollziehen, was ein Selbstwiderspruch und daher nicht denkmöglich ist. Aus dieser Notwendigkeit des Ich, sich selbst nur widerspruchsfrei vollziehen zu können, ist abzuleiten, dass das Ich auch alle anderen Gedanken nur widerspruchsfrei vollziehen kann; sonst würde es im Vollzug eines Gedankens seiner eigenen Natur zuwiderhandeln. Das Evidenzbewusstsein der Klarheit und Deutlichkeit weist also nach Descartes drei Charakteristika auf: a) die Evidenz hat dem Zweifel standzuhalten, b) Evidenz ergibt sich objektivsachgebunden im Bewusstseinsvollzug des Gegenstands selbst und c) zumindest notwendige Bedingung für die Evidenz ist die unmittelbar einzusehende Widerspruchsfreiheit, mit dieser ist
41 die Unkorrigierbarkeit und die Unmöglichkeit der Andersheit eines strikten Evidenzerlebnisses verbunden. Die Unkorrigierbarkeit bedeutet, dass der Gedanke zu jeder Zeit und unter allen Umständen wahr ist. In der prinzipiellen Unkorrigierbarkeit ist daher die strenge Allgemeingültigkeit enthalten, denn was zu jeder Zeit und für alle Fälle des Habens eines Gedankens gleichermaßen und unveränderlich gilt, ist allgemeingültig. Der Gegenstand der Erkenntnis ist also dann evident, d.h. klar und deutlich, wenn er einerseits präsent und andererseits in sich gegliedert und unterschieden ist. Beides, Präsentation und Gliederung, leistet nur das Denken. Daher kann es nur im Denken Evidenz geben. Der Psychologismusvorwurf gegen das Evidenzkriterium der Wahrheit ist zu relativieren: Evidenz im strikten Sinn ist kein individual-psychologisches Erlebnis, sondern eines der reinen, nichtsinnlichen und daher eigentlich auch nicht menschlichen, bloßen Denksubstanz, des cogito. Die Evidenz ist strikt allgemeingültig und sachorientiert; sie wird nicht willkürlich von der Ichsubstanz produziert, sondern von ihr nur vollzogen. Allerdings ist dem Psychologismusvorwurf insofern zuzustimmen, als Evidenz nur im Denken der Subjektivität vollzogen werden kann. Dies hätte Descartes wohl nicht als Kritik an seiner Theorie der Wahrheit als Gewissheit gewertet, sondern eher als eine zutreffende Beschreibung des Wahrheitsvollzugs: Wo, wenn nicht im Denken des Subjekts, kann Wahrheit erkannt werden? Das Denken des Subjekts ist conditio sine qua non für die Geltung und die Instantiierung von Wahrheit. Wahrheit liegt nicht anonym vor, sondern wird denkend erlebt. Wichtig ist, dass das Evidenzkriterium der Wahrheit unabhängig von der Gotteserkenntnis im cogito-Akt des Selbstbewusstseins enthalten ist. Descartes sagt dazu ausdrücklich, dass die Evidenz, wie das cogito, gegenüber dem hypothetisch konzipierten Täuscherdämon immun ist und dass zugleich, bei dem jetzigen Argumentationsstand am Anfang der 3. Meditatio, noch nicht einmal feststeht, „ob es überhaupt einen Gott gibt“37.
42 Die Wasbestimmung des cogito und das darin implizierte Wahrheitskriterium der Evidenz werden hier unabhängig von Gott entwickelt. Allerdings ist für Decartes’ weiteren Denkweg die Untersuchung des Wesens Gottes notwendig, um letzte Sicherheit über den Status unserer Erkenntnisse zu gewinnen. Der hyperbolische Zweifel, dass es einen Täuscherdämon geben könnte, der mich immer in den Momenten der Evidenz täuschen will, muss ausgeräumt werden, wenn das Wissen zur umfassend gewissen Sicherheit gelangen soll. Daher ist für Descartes in einem Prozess der Rückversicherung von Wahrheit das Wesen Gottes zu untersuchen und die Gottesfrage ist das Ergebnis der erkenntnistheoretischen Frage nach gesichertem Wissen. Descartes differenziert verschiedene Grade der Evidenz. Diese ergeben sich zunächst daraus, dass ein komplexerer Begriff mehr oder weniger deutlich sein kann. Diese Unterscheidung mannigfaltiger Evidenzgrade zeigt sich nach Descartes insbesondere daran, dass die mathematischen Gewissheiten nicht so evident wie die metaphysischen sind, wobei es auch bezüglich der metaphysischen Gewissheiten noch graduelle Unterschiede gibt. Daran dass dem rational-metaphysischen Ich und Gott die größte Evidenz auch gegenüber den anderen logischen, ontologischen und ewigen Wahrheiten zukommt,38 wird deutlich, dass Descartes bezüglich der angeborenen Ideen verschiedene, gestufte Evidenzgrade unterscheidet. – Eine solche Stufung konzipiert später auch Husserl, wenn er zwischen apodiktischer, adäquater und apodiktisch-adäquater Evidenz unterscheidet.39 – Aus der Gradualität der Evidenz folgt allerdings auch bezüglich der ersten Gewissheit ein entscheidendes Problem. Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Evidenz graduell jeweils unterschiedlich sein kann und Evidenz zur approximativen Aufgabe wird, dann könnte es auch sein, dass es keine letztgültige, unsteigerbare Evidenz gibt. Hierdurch würde auch die Evidenz des cogito fraglich. Ist es möglich, auch diese noch zu steigern, oder gar durch eine andere Evidenz zu überbieten? Durch die Konzeption der Evidenz als einer unendlich approximativen Aufgabe
43 wird der abschließende Charakter einer Letztbegründung aufgehoben. Descartes’ Konzeption verteidigend, ist folgendermaßen zu argumentieren: Bezüglich der Evidenz der Existenz, d.h. des Daßseins des denkenden Selbstbewusstseins, kann es gar keine Grade geben: Die Existenzevidenz des cogito besteht, oder sie besteht nicht. Verschiedene Grade können höchstens hinsichtlich des Wissens um die genauere Bestimmung der Essenz, d.h. der Wasbestimmtheit des Selbstbewusstseins bestehen, nämlich dann, wenn genauer zu ermitteln ist, was die einzelnen modi cogitandi sind, wie sie gegeneinander abzugrenzen sind, wie sie in einen Wechselbezug zueinander treten können und worauf sie sich jeweils beziehen. Diese Untersuchungen lassen Relativitätsgrade zu, aber die Gewissheit der bloßen Existenz hat keine Relativitätsgrade. Die Existenzevidenz lässt sich nicht graduiert denken, da Existenz eine einfache, primitive Idee ist. Wenn sie vorliegt, dann liegt sie grundsätzlich immer vollständig und in sämtlichen Aspekten klar und deutlich vor. Das Ich existiert nicht mehr oder weniger. Diese Argumentation gibt Descartes allerdings nicht selbst. Descartes selbst argumentiert vielmehr an einigen Stellen seinem eigenen Gewissheitsstreben im cogito entgegengesetzt auch sehr relativistisch: Der geschaffene endliche Verstand könne keine adäquate Erkenntnis vollziehen.40 Die adäquate Erkenntnis liegt dann vor, wenn dieselben Eigenschaften vollständig, d.h. prinzipiell unvermehrbar, sowohl in der Sache, als auch in der Erkenntnis der Sache vorliegen. Für dieses Verständnis von adäquaten Erkenntnissen steht offensichtlich die Adäquationstheorie der Wahrheit im Hintergrund. – Eine adäquate Erkenntnis aller Dinge kommt nur Gott zu. Bei dem geschaffenen Intellekt kann es zwar sein, dass er von einer einzelnen Sache eine adäquate Erkenntnis besitzt, aber er ist nicht in der Lage, diese in ihrer Endgültigkeit auch einzusehen. Der endliche Intellekt ist also höchstens in der Lage, die adäquate Erkenntnis geradehin und ohne Reflexion des Status’ dieser Erkenntnis zu vollzie-
44 hen; daher handelt es sich eigentlich dann doch nicht um eine adäquate Erkenntnis. Es könnte immer noch sein, dass der allmächtige Gott in die Sache verborgene Eigenschaften so eingebracht hat, dass der endliche Intellekt sie nicht erkennen kann; daher würde eine adäquate Erkenntnis des endlichen Intellekts einer Verähnlichung mit Gott gleichkommen; die prinzipiell aber nicht möglich ist. Um wirklich adäquat zu erkennen und dies auch zu wissen und nicht nur geradehin zu vollziehen, bedarf es einer Erkenntniskraft, wie sie nur Gott besitzt. Diese kann der erschaffene, endliche Intellekt nicht leisten, also kann er auch keine adäquate Erkenntnis mit letzter Evidenz erreichen. Um eine adäquate Erkenntnis vollziehen zu können, bedarf der endlich-geschaffene Verstand der offenbarenden Beihilfe Gottes. Es ist offensichtlich, dass Descartes mit dieser relativistischen Argumentation das strenge Programm einer Letztbegründung des Wissens aufgibt, wie er es in der 2. Meditatio konzipiert, wo die Selbsterkenntnis des Ich unabhängig von Gott vollzogen wird. Dies ist ein Widerspruch, den Descartes allerdings selbst nicht gesehen und daher auch nicht behoben hat. Eine Vermeidung des Widerspruchs könnte versuchen, sich des Arguments zu bedienen, dass es nur für das reine cogito absolute, unkorrigierbare Evidenzen gibt, nicht aber für den empirischen Menschen, der immer auch durch seine sinnliche Eigenschaften das reine Denken trübt.
Resümee Wie diese Untersuchung der cartesischen Evidenztheorie gezeigt hat, gibt es befriedigende Argumente gegen die Kritik, dass es sich bei der Evidenz nur um ein psychologisches Wahrheitskriterium handelt; dem ist nämlich insofern sogar zuzustimmen, als nur das geistige Erleben des Subjekts Wahrheit mit einer Sachintention vollziehen kann, allerdings ist dies kein individuell-privates Wahrheitserleben, weil es um das rein intelligible, phäno-
45 menale, durch Skepsisresistenz bewährte Evidenzwissen eines metaphysischen Ich geht. Auch die Universalisierung des Wahrheitskriteriums auf alle klaren und deutlichen Vollzüge lässt sich, ausgehend vom cogito-Erlebnis, rechtfertigen; ebenso das Fundierungsverhältnis der Evidenz gegenüber der Wahrheit als Adäquation und Kohärenz. Ein unüberwindbares Problem stellt jedoch der kantische Einwand dar, dass das Wahrheitskriterium der Klarheit und Deutlichkeit nur ein formales Kriterium ist, das keinen Informationswert über die inhaltlichen Aspekte eines wahren Urteils haben kann, da allererst durch den Inhalt eines Urteils entscheidbar wird, ob es wahr oder falsch ist und weil über diesen Inhalt nicht allgemein und rein aus dem Subjekt zu entscheiden ist. Daher ist das Wahrheitskriterium der Evidenz von Descartes zwar nicht zu verwerfen, aber es ist in seiner Gültigkeit auf genau nur solche Urteile zu begrenzen, die zum Inhalt bloß das reine und somit formale Subjekt selbst haben; denn bei diesen Urteilen liegt kein aus anderen, jeweils spezifischen Quellen stammender Inhalt vor; sondern das Ich selbst, wie es sich gegeben ist. Anmerkungen 1 Discours, 2. Teil; AT VI, 18/39. Im Folgenden werden die Werke von Descartes zitiert nach der Ausgabe: Œuvres de Descartes. Edition C. Adam et P. Tannery, 11 volumes, Paris 1897-1913; Neuaufl.: 1964-1967 (zitiert als AT, mit entsprechender Bandangabe in römischen Ziffern). Als Übersetzungen wurden herangezogen: Descartes, Discours de la Méthode/Bericht über die Methode, hrsg. v. H. Ostwald, Stuttgart 2001; Descartes, Meditationes de Prima Philosophia/Meditationen über die Erste Philosophie, hrsg. v. G. Schmidt, Stuttgart 2001; für die Einwände und Erwiderungen zu den Meditationes: Descartes, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hrsg. v. A. Buchenau, Hamburg 1972; Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, hrsg. v. A. Buchenau, Hamburg 1961; Descartes, Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, hrsg. v. H. Springmeyer, L. Gäbe, H.G. Zekl, Hamburg 1993; Descartes, La recherche de la vérité par la lumière naturelle/Die Suche nach Wahrheit durch das natürliche Licht, hrsg. v. G. Schmidt, Würzburg 1989; Descartes, Gespräch mit Burman, hrsg. v. H.W. Arndt, Hamburg 1982; Descartes, Briefe, hrsg. v. M. Ben-
46 se, Köln 1949. Es wird bei den Stellennachweisen immer zuerst die AT-Ausgabe zitiert und nach dem Schrägstrich die Seitenangaben dieser Ausgaben; bei den Principia wird nur der jeweilige § und die AT-Stelle angegeben. 2 Vgl. Discours, 2. Teil; AT VI, 18 f./39. 3 J.-P. Sartre, Die cartesianische Freiheit. In: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Reinbek 2000, S. 122-144, bes. S. 129, hebt insbesondere an dieser dritten Regel aus dem Discours hervor, dass Descartes hier eine radikale Freiheit der Erkenntnis und die schöpferische Kraft des Urteilens konzipiert. 4 Vgl. Discours, 2. Teil; AT VI, 18 f./39 f.; vgl. zu dem Zusammenhang der 4 Regeln auch die Anm. von H. Oswald, in: R. Descartes, Discours de la Méthode, Franz./Deutsch, hrsg. v. H. Oswald, Stuttgart 2001, S. 159 f. Zur Entstehung des Discours vgl. W. Kamlah, Der Anfang der Vernunft bei Descartes – autobiographisch und historisch. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 43 (1961), S. 70-84. Kamlah betont zu Recht, dass Descartes mit der autobiographischen Anlage des Discours das Ziel verfolgt, sich selbst als „exemplarischen“ Fall für die richtige wissenschaftliche Methode der Erkenntnisausrichtung darzustellen. Im Gegensatz zu Kamlah ist allerdings zu deuten, dass dies keine Unbescheidenheit, „Stilisierung“ und „egozentrische Selbstbefangenheit“ (a.a.O., S. 84) von Descartes ist. Descartes will vielmehr zeigen, dass eine durchschnittliche Intelligenz, wie die seinige – wie er mit Bescheidenheitsgestus von sich selbst sagt –, die größten wissenschaftlichen Fortschritte erreichen kann, wenn sie sich der richtigen Methode bedient. 5 Descartes selbst bezeichnet die vier Regeln als „Vorschriften, aus denen die Logik besteht“; Discours, 2. Teil; AT VI, 18/39. Diese vier Regeln des Discours sind zum Teil Übernahmen, zum Teil auch vereinfachende Zusammenfassungen der Erkenntnisregeln aus dem fragmentarischen Frühwerk Regulæ. Die 1. Regel aus dem Discours hat Entsprechungen zu Regula III aus den Regulæ; AT X, 366; die 2. und 3. Regel aus dem Discours komprimieren Elemente aus Regula V, VI, VII, VIII, X, XII, XIII, XIV aus den Regulæ; AT X, 369, 379 f., 381 ff., 387 ff., 392 ff., 418, 430 ff., 438 ff.; die 4. Regel aus dem Discours korreliert mit Motiven aus Regula VII, XI, XIII der Regulæ; AT X, 387 ff., 407 ff., 430 ff. Damit erweist sich aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht, dass Descartes im Rahmen des Discours seine frühere Erkenntnistheorie bzw. Erkenntnislogik der Regulæ nicht einfach aufgibt, sondern sie vielmehr in seinem reifen Ansatz, der auch die Ebene der metaphysischen Rechtfertigung der Erkenntnis miteinbezieht, integriert. Im Rahmen der Regulæ war Descartes allerdings noch nicht auf die Problematik einer fundamentalen Absicherung der Erkenntnisse auf metaphysischer Ebene eingegangen, wie er dies seit dem Discours leistet. 6 Vgl. zu diesem Thema auch: C. Link, Subjektivität und Wahrheit. Die Grundlegung der neuzeitlichen Metaphysik durch Descartes, Stuttgart 1978. 7 Auf die Unmöglichkeit eines „offenbaren Widerspruchs“ bei einem klaren und deutlichen Gedanken verweist Descartes in der 3. Med.; AT VII, 36/103. Durch einen Widerspruch wird ein Gedanke unmöglich, und er ist da-
47 her gar nicht konsistent zu denken, weshalb es klare und deutliche Gedanken, die falsch sind, gar nicht geben kann; ein widersprüchlich falscher Gedanke ist per se nicht klar und deutlich, sondern unklar und konfus. 8 Diesen Aspekt verdeutlicht E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg/München 1987, S. 173, sehr gut, wenn er bezüglich der Evidenz rein intelligibler, klarer und deutlicher Gedanken ausführt: „Der Gegenstand der Vorstellung reduziert sich auf das Noematische. Das Intelligible ist genau das, was sich vollständig auf Noemata reduziert und bei dem alle Beziehungen mit der Intelligenz sich auf diejenigen beschränken, die vom Licht gestiftet werden. In der Intelligibilität der Vorstellungen verschwindet die Unterscheidung zwischen mir und dem Gegenstand – zwischen Innen und Außen. Die klare und deutliche Idee des Descartes zeigt sich als wahr und als dem Denken vollständig immanent: Sie ist vollständig gegenwärtig – ohne irgendetwas Heimliches; selbst ihre Neuheit ist ohne Geheimnis.“ Vgl. zum Thema auch W. Röd, Gewissheit und Wahrheit bei Descartes. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 16 (1962), S. 342-362. 9 3. Med.; AT VII, 35/99 f. 10 Den Unterschied zwischen Verifikation, Wahrheitsgeltung und Wahrheitskriterium hat besonders deutlich herausgearbeitet: R. Carnap, Wahrheit und Bewährung (1936). In: Wahrheitstheorien, hrsg. v. G. Skirbekk, Frankfurt a.M. 1977, S. 89-95. 11 Dass die Wahrheit gerade bezüglich ihrer objektiven Geltung nicht von der Subjektivität trennbar ist, unterstrich bereits zu Recht M. Gerten, Wahrheit und Methode bei Descartes. Eine systematische Einführung in die cartesische Philosophie, Hamburg 2001, S. 131 ff. 12 Dass für Descartes Wahrheit Gewissheit ist, betont bereits M. Heidegger, Nietzsche. Bd. II, Pfullingen 1989, S. 149 ff. Die Gewissheit darf allerdings nicht mit der Deduktion gleichgesetzt werden. Die Deduktion setzt die Evidenz (insbesondere die einfacher Wahrheiten) voraus, denn was deduktiv mittels mehrerer diskursiver Erkenntnisschritte im Rahmen einer Ableitung als abhängig voneinander bewiesen wird, wie es für die Deduktion definitiv ist, muss zunächst in seinen einfachen Elementen evident, bzw. klar und deutlich sein. Es ist daher falsch, wenn W. Schulz, Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart, Stuttgart 1994, S. 115, sagt: „Neben die Evidenz tritt als zweite Grundbestimmung die Deduktion. Die Deduktion ist gleichursprünglich mit der Evidenz. Deduktion ist die Ableitung vom Evidenten her, wobei der Gedanke leitend ist, dass alle Erkenntnis einen Ordnungszusammenhang bildet.“ Der Widerspruch der Deutung von Schulz zeigt sich auch daran, dass Deduktion und Evidenz nicht gleichermaßen „gleichursprünglich“ sein können und die Deduktion auch eine „Ableitung vom Evidenten her“ ist; bei letzterem ist die Evidenz der Deduktion vorgängig und kann nicht mit ihr „gleichursprünglich“ sein. M. Gerten, Wahrheit und Methode. Eine systematische Einführung in die cartesische Philosophie, Hamburg 2001, vgl. bes. S. 134, 136, 140 ff., deutet ein Übergewicht der Intuition und nivelliert damit die spezifischen
48 Aufgaben der Deduktion, als einer aufzählenden Schlussfolgerung, da nach Gerten nicht nur die einfachen Wahrheiten und angeborenen Ideen intuiert werden, sondern auch jedes einzelne Glied in einer Deduktionsreihe ebenso wie der jeweilige Übergang von einem Deduktionsglied zum nächsten; diese Deutung hebt eigentlich die Deduktion als gesonderte Erkenntnisform auf. 13 2. Med.; AT VII, 25/79. 14 Discours, 4. Teil; AT VI, 33/65 f. 15 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 82 ff. Nach Kant ist daher auch Thomas von Aquins Definition der Wahrheit als Adäquation von Erkenntnis im Intellekt und Gegenstand nicht falsch, aber sie ist inhaltlich unbestimmt und formal; sie kann somit nur als notwendiges, aber nicht als hinreichendes Wahrheitskriterium gelten, denn worin Erkenntnis und Gegenstand übereinstimmen, bedarf jeweils der spezifischen inhaltlichen Überprüfung. 16 Vgl. Discours, 2. Teil; AT VI, 18/39; wie gesehen, ist die stufenweise Ableitung komplexerer Erkenntnisse aus einfacheren Wahrheiten in diesem Werk die zweite methodische Vorschrift für die Wissenschaften. Sicherlich richtig ist auch die Deutung von H. Heimsoeth, Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz, Gießen 1912-14, S. 120, Anm. 1; dieser deutet die Universalisierung der aus dem „Ich denke“ gewonnenen partikulären Klarheit und Deutlichkeit zu einem allgemeinen Wahrheitskriterium als das Verhältnis von einzelnem und allgemeinem Begriff; das Allgemeine ist als Voraussetzung im Einzelnen implizit enthalten und wird in der philosophischen Analyse gefunden (vgl. AT IX, 206 ff.): Das allgemeine Wahrheitskriterium Klarheit und Deutlichkeit wird in dem partikulären Erlebnis von Klarheit und Deutlichkeit, in dem „Ich denke“, gefunden. 17 Dass die Universalisierung des Wahrheitskriteriums der Klarheit und Deutlichkeit in einer Analogie besteht, erwähnt auch bereits W. Risse, Zur Vorgeschichte der cartesischen Methodenlehre. In: Archiv für Begriffsgeschichte 45 (1963), S. 290. 18 Zur Wahrheitskonzeption bei Platon vgl. Politeia 508d-509b, zum Kriterium der Deutlichkeit vgl. a.a.O. 511e. Vgl. zu diesem Thema bes. M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, 3. Aufl., Bern 1975. 19 Vgl. hierzu und zum folgenden: Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./173 f. 20 Vgl. Med., 5. Resp. gegen Gassendi; AT VII, 364/335. 21 Vgl. Anselm von Canterbury, Monologion, Kap. 18, Stuttgart-BadCannstatt 1964, S. 88 ff.; vgl. hieran sachlich anschließend ders., De veritate, Kap. 1, Hamburg 2001, S. 8 ff. 22 Dass es für Descartes auch eine Adäquationswahrheit gibt, wird deutlich im Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./174; vgl. auch Brief an Gibieuf vom 19. Januar 1642; AT III, 474 f./252. 23 Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./173. 24 Vgl. zu Descartes’ Verhältnis zu Herbert von Cherbury, De veritate: Brief an Mersenne vom 27. August 1639; AT II, 570/169 u. Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./173 f.
49 Vgl. Herbert von Cherbury, De veritate, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. G. Gawlick, Stuttgart–Bad Cannstatt 1966 ff., Bd. I, S. 8. Vgl. hierzu auch W. Röd (Artikel), Herbert von Cherbury. In: Geschichte der Philosophie, Bd. VII, hrsg. v. W. Röd, München 1999, S. 195-198. Wie auch Röd (a.a.O.) ausführt, konzipierte Herbert von Cherbury neben dieser 1. Seins- oder Übereinstimmungswahrheit auch noch 2. eine phänomenale Wahrheit, die in der Übereinstimmung von Erscheinung und Ding besteht, 3. eine Begriffswahrheit, die in der Übereinstimmung unserer angeborenen Dispositionen besteht, 4. eine Verstandeswahrheit, die dann vorliegt, wenn die anderen Wahrheitsarten miteinander in Einklang stehen und unser Intellekt die richtigen Allgemeinbegriffe bildet. Descartes las allerdings nur den Anfang des Werkes von Herbert von Cherbury und nicht bis zum Ende, da dieser nach Descartes’ Einschätzung Religion und Philosophie in unzulässiger Weise miteinander vermischte (vgl. Brief an Mersenne vom 27. August 1639; AT II, 570/169). 26 Zu dieser Einschätzung gelangt: G. Gawlick, Die Funktion des Skeptizismus in der frühen Neuzeit. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 49 (1967), S. 86-97, bes. S. 90. 27 Vgl. Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./174. 28 Vgl. 6. Med.; AT VII, 89 f./213. 29 Vgl. Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639; AT II, 597 f./174. 30 Principia, 1. Teil, § 45; AT VIII/1, 22. 31 Darauf weist bereits hin: K. Fischer, Descartes’ Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 1912, S. 308. 32 Principia, 1. Teil, § 45; AT VIII/1, 22. 33 Vgl. 3. Med.; AT VII, 35 f./101 f. 34 3. Med.; AT VII, 36/103. 35 Med., 2. Resp. gegen Mersenne; AT VII, 143 f./130. 36 Vgl. Med. , 2. Resp. gegen Mersenne; AT VII, 145 f./132. 37 3. Med.; AT VII, 36/103. 38 Vgl. Brief an Mersenne vom 15. April 1630; AT I, 144/48 f. Vgl. auch Brief an Mersenne vom 6. Mai 1630; AT I, 147 ff./52, wo Descartes verschiedene Grade der Ewigkeit und verschieden große mathematische Unendlichkeiten differenziert. Aus mathematischer Sicht ist dies allerdings inkorrekt, da es nur verschieden große Mächtigkeiten der Unendlichkeit geben kann, aber Unendlichkeiten selbst sind nicht verschieden groß. 39 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen. (Husserliana Bd. I) §§ 5 ff., §§ 24 ff.; vgl. auch ders., Formale und transzendentale Logik. (Husserliana Bd. XVII) §§ 82-91, §§ 101-107; vgl. zum Thema E. Ströker, Husserls Evidenzprinzip. Sinn und Grenzen einer methodischen Norm der Phänomenologie als Wissenschaft. In: dies., Phänomenologische Studien, Frankfurt a.M. 1987, S. 1-34; vgl. auch die klaren und differenzierten Ausführungen von D. Lohmar, Edmund Husserls ‚Formale und transzendentale Logik‘, Darmstadt 2000, S. 151 ff., 194 ff.; der die Evidenzwahrheit bei Husserl als regulative Idee deutet, die prinzipiell wohl immer weiter steigerbar ist und daher nicht zu einem letztgültigen Abschluss geführt werden kann. Lohmar hebt 25
50 auch hervor, dass Husserl die Auffassung kritisiert, Evidenz sei lediglich ein subjektiv-psychologisches Gefühl, sie stellt sich vielmehr sachgemäß und in Orientierung am Objekt ein. Für Husserl besteht die Evidenz in der sich selbstgebenden Anschaulichkeit einer Sache im Bewusstsein. Dies ist offensichtlich ein cartesischer Gedanke. Zum Thema vgl. auch kritisch E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 13-106 und bes. instruktiv S. Taguchi, Das Problem des ‚Ur-Ich‘ bei Edmund Husserl – Die Frage nach der selbstverständlichen ‚Nähe‘ des Selbst, Dordrecht 2006; der zu Recht verdeutlicht, dass die Evidenz des Ich nicht deshalb zunächst und zumeist von uns übersehen wird, weil sie uns so fern ist, sondern ganz im Gegenteil ist es die Nähe und Selbstverständlichkeit, die uns das Ich zuweilen übersehen lässt. 40 Vgl. Med., 4., Resp. gegen Arnauld; AT VII, 220/200; dass das Ich nur approximativ sein Wissen vermehren kann, sagt Descartes 3. Med.; AT VII, 47/125; dass in allem Erkennen des Menschen auch Dunkelheiten mitenthalten sind, sagt Descartes sogar ausdrücklich auch bezogen auf die Prinzipien im Brief an W. Cavendish vom März oder April 1648; AT V, 136 f./414 f.
Christian Fernandes WILLENSFREIHEIT UND DETERMINISMUS Zum anthropologischen Ansatz Ernst Tugendhats1
Tugendhats Versuch, die Möglichkeit einer freien Handlung des Menschen in einer als deterministisch angenommenen Natur aufzuzeigen, war von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Denn ein kausaler Naturmechanismus lässt per definitionem zu jedem Zeitpunkt nur ein einziges reales Ereignis zu, dessen Ursache Natur und nicht der freie Mensch ist. Unter dieser Voraussetzung kann die gefühlte und im Moralurteil vorausgesetzte Wahlfreiheit des Menschen, hier und jetzt A und nicht-A tun zu können, nur noch als, wenn auch unvermeidlicher, moralischer Schein, der trügt, in den Blick treten. Tugendhat spürt diese Konsequenz und gerät in den nihilistischen Sog eines Denkens, das aus „intellektueller Redlichkeit“ nicht mehr an seine Verantwortlichkeit glauben kann. Ich zeichne diesen für das Individuum ‚Mensch‘ verheerenden psychologischen Prozess in groben Zügen nach. Erst in einer Prinzipienreflexion, so meine These gegen Tugendhats Ansatz: „Anthropologie statt Metaphysik“, werden die Einschränkungen einer wesenhaft nichtkausalen Natur als Möglichkeitsbedingung der Freiheit des Menschen, der im Text dieser Welt allein die auf endliche Weise sich selbst erwirkende Ur-Sache ‚Grund‘ ist, evident.
Das „Phänomen der Willensfreiheit“ „Das wirkliche Problem der Willensfreiheit“ (AM, 57) stellt sich für Tugendhat im Zusammenhang mit der Frage: „Wie ist es zu verstehen, daß wir einander für unsere Handlungen verantwortlich machen können und daß wir einander und auch uns selbst Vorwürfe machen können?“ (Ebd.) „Wie sieht Willensfreiheit aus, wenn es möglich sein soll, eine Person zur Verantwortung zu ziehen?“ (IP, 8) Seine Antwort lautet: Bei der Willensfreiheit, die den Men-
52 schen als verantwortliches Subjekt von „anderen Tieren“ (AM, 58) unterscheidet, handelt es sich um ein „reflexive[s] Wollen“ (AM, 59), ein „wollendes Sichverhalten zum eigenen Wollen“ (AM, 61), einen „voluntativen Selbstbezug“ (IP, 10). Das „Phänomen des Verantwortlichgemachtwerdenkönnens“ (IP, 9) setzt nach Tugendhat die Fähigkeit zur „Suspension der Befriedigung der unmittelbaren Wünsche“ (IP, 8) voraus. Das „Phänomen der Willensfreiheit“ ist für ihn also identisch mit dem Phänomen dieser Suspension, welche wiederum „Rationalität und Zeitbewusstsein“ voraussetzt, d.i. das „Vermögen, nach Gründen zu handeln“, und „Zukunftsbezug“. (IP, 10) Auf dieses Phänomen der Suspension, die zwei „ ‚Ich‘-Spielräume“ (AM, 61) öffnet, bezieht sich nach Tugendhat also auch das Phänomen des Verantwortlichmachens: „[D]ie Fähigkeit zur Suspension und das Verantwortlichmachen [...] sind Korrelate.“ (IP, 9) Der erste „Ich“-Spielraum, der sich durch die Suspension öffnet, ist ein „Spielraum des Überlegens“ (AM, 60), der „zweite Spielraum besteht darin, dass ich an einem Ziel stärker oder schwächer festhalten kann“; „beide Spielräume sind auch Spielräume für Verantwortlichkeiten und Vorwürfe“. (AM, 61) „Entsprechend wird mir, wenn man mich verantwortlich macht, vorgehalten: ‚Du hättest besser abwägen können, du hättest an deinem Ziel stärker festhalten können; es lag an dir.‘ “ (AM, 65)
Das Ich als quantifizierbare Größe Ziehen wir sogleich die Konsequenz aus Tugendhats Ansatz: Unsere Willensfreiheit, unsere Verantwortlichkeit und unsere Individualität sind prinzipiell quantifizierbare Größen. Denn je größer das ist, was Tugendhat „Ich“-Spielräume nennt – gemeint sind Klugheit und Disziplin, denn obgleich Tugendhat verbal zwischen „prudentiellen und moralischen Werten“ (AM, 63) unterscheidet, ist im Rahmen seiner Theorie ein unbedingt notwendiges Gut sachlich undenkbar, was er übrigens in seinem
53 „Nachtrag“ konzediert, wenn er vom moralischen Gut als „eine[r] bestimmte[n] Auffassung des eigenen prudentiellen Gutes“ (AM, 82) spricht, was eine fiktionalistische Moral des „Als-ob“ impliziert –, desto größer bin auch ich, desto mehr Ich bin ich. Ohne Disziplin und Rationalität wäre der Mensch nur ein weiteres und nicht schon „ein anderes Tier“, getrieben von anschaulichen Motiven aus der unmittelbaren Gegenwart. Je klüger der Mensch ist, d.h. je ausgebildeter seine „Rationalität“ ist, desto mehr Handlungsoptionen stellen sich ihm dar. Tugendhat spricht deshalb auch von „Ichstärke“ (AM, 61). Diese hängt ab vom Grad meiner Klugheit und Diszipliniertheit. Wie klug und diszipliniert ich bin – und dies berücksichtigt Tugendhat nicht –, hängt nach seinem Modell aber wiederum ab von meinen natürlichen Dispositionen und der Erziehung, die ich genossen habe. Nach Tugendhat hängen also meine „Ich“-Spielräume und damit mein ganzes Ich, meine Willensfreiheit und Verantwortlichkeit von Natur und Gesellschaft ab, obgleich er diese letzten Konsequenzen aus seiner Theorie nicht selbst zieht. Denn daraus folgt auch, dass letztlich nicht ich selbst es bin, der entscheidet, will und handelt, sondern ein Fremdes und Anonymes, nämlich Natur und Gesellschaft, deren Produkt meine „Ich“Spielräume sind.
Die „absurde Idee“ vom metaphysischen Ich Aber setzt Tugendhats Begriff eines „Ich“-Spielraumes nicht ein Ich voraus, das in diesen Räumen spielt, diese Räume frei und verantwortlich vergrößert und verkleinert und auch dann noch existiert, wenn diese Räume auf die Größe eines Punktes minimiert sind? Was gibt den Ausschlag für den Vorzug der einen Handlungsoption vor der anderen, wenn nicht ein bestimmt wollendes Ich? Nach Tugendhats Theorie des menschlichen Selbst ist jedenfalls „die Idee absurd, daß es ein erster Beweger ist.“ (AM, 66) Denn die Alternative zum Determinismus wäre, „daß
54 ich das Wollen aus dem Nichts herauszaubere, und diese Vorstellung ist ebenso grotesk wie unbegründet, auch wenn es ernsthafte Philosophen gegeben hat, die sie vertreten haben.“ (AM, 57) Tugendhat ist nicht bereit, über die „phänomenologische Basis [...], nämlich dass ich als abwägen und sich anspannen Könnender verantwortlich gemacht werden kann“ (AM, 66), hinauszugehen. Der bestimmte Grund dafür, dass ich die eine Handlungsoption der anderen vorziehe, und die bestimmte Stärke meines Festhaltens an dem Handlungsziel hängen nach Tugendhat also nicht von einem metaphysischen Ich ab. Wovon aber dann? Wer oder was determiniert nach Tugendhat die bestimmte Qualität des Willens des Ichs? Und ganz nebenbei: Geht Tugendhat nicht doch über die „phänomenologische Basis“ hinaus, wenn er vom Phänomen des Verantwortlichmachens auf die philosophische Legitimität von Verantwortlichkeit überhaupt schließt und darauf, dass der Mensch in Wahrheit „verantwortlich gemacht werden kann“?
„Warumstop“ und Freiheit zum Guten Die Stärke von Tugendhats Essay liegt in der Beschreibung des Phänomens der Verantwortlichkeit als „ ‚Warumstop‘: anstelle des Kausalflusses der Motive werde ich verantwortlich gemacht“ (AM, 69). „Dieser Stop in der Warumfrage erscheint merkwürdig genug, so daß wir darauf gefaßt sein müssen, daß es sich um einen Schein handelt, aber er ist das, was sowohl in der Zuweisung von Verantwortung als auch in der Selbsterfahrung impliziert ist.“ (AM, 65) Im Unterschied zu Hume und Schopenhauer, die die Unveränderlichkeit des Charakters als Voraussetzung für Verantwortlichkeit postulieren, interpretiert Tugendhat das Phänomen der Verantwortlichkeit als „das Bewußtsein, anders zu können“ (AM, 69). Dies sei „immer ein Bewußtsein, besser zu können,
55 und es ist ein ‚ich kann‘ in dem Sinn, daß es von mir abhängt, ob ich es besser mache oder nicht.“ (Ebd.) „Wenn der Charakter ein Verhalten notwendig bestimmt, besteht gerade keine Freiheit, sondern Zwanghaftigkeit.“ (AM, 71) „Wir fordern voneinander und von uns selbst durchaus auch, uns auf eine Weise zu verhalten, die im Gegensatz zu unserem bisherigen Charakter steht.“ (Ebd.) Nach Tugendhat setzt also Verantwortlichkeit eine Freiheit zum Guten voraus, nämlich dass ich mich selbst oder zumindest mein Verhalten verbessern kann.
Wer oder was determiniert den Willen? Kommen wir aber wieder auf die obige Frage zurück. Wer oder was determiniert nach Tugendhat den Willen und damit die Handlung des Ich? Wir haben gesehen, das Ich selbst muss dies leisten können, ansonsten wäre das Phänomen der Verantwortung, das Tugendhat zufolge unsere Fähigkeit impliziert, uns besser verhalten oder gar wesenhaft verbessern zu können, nichts als ein täuschender Schein. Nach dieser Überlegung muss überraschen, wie Tugendhat fortfährt: „[I]ch habe in den Kausalfluß eingegriffen oder hätte in ihn eingreifen können, indem ich die unmittelbaren Motive auf ein Ziel hin suspendierte oder suspendieren konnte. Andererseits liegt es nahe, diese Suspension nun ihrerseits als kausal bedingt anzusehen. [...] Warum soll die Art, wie ich zwischen den Gründen abwäge, also welches Gewicht ich dem gebe, was ich für gut halte im Gegensatz zu meinen unmittelbaren Motiven, nicht bestimmt sein, und ebenso die Ichstärke, die mir im Festhalten an einem Ziel zur Verfügung steht?“ (AM, 69 f.) Tugendhat fragt hier also nach der kausalen Bedingtheit, und das heißt in diesem Kontext: nach dem Grund der Bestimmtheit des Willens eines Ichs. Tugendhat fragt an dieser Stelle zwar nicht explizit nach dem letzten Bestimmungsgrund, der
56 letzten „kausalen Bedingung“ dieses Willens. Aber es ist klar, dass für die Willensfreiheit alles darauf ankommt, dass es diesen letzten Grund gibt und dass das Ich selbst und nicht ein Fremdes dieser letzte Grund ist. Denn gibt es keinen letzten Grund des Wollens, dann ist die Frage nach der Willensfreiheit absurd, ist er aber ein Fremdes, dann hängt es letztlich nicht von dem sogenannten Ich ab, ob es sich besser verhält oder sich gar als ein Besseres selbst erschafft, sondern eben von diesem Fremden, als dessen Produkt das bestimmte Ich sodann zu betrachten wäre. Wie könnte dann aber noch von der Willensfreiheit eines verantwortlichen Ichs die Rede sein? Wie könnte das Phänomen der Verantwortung dann noch etwas anderes als ein trügender Schein sein? Ein Laplace’scher Dämon könnte jede sogenannte Entscheidung eines sogenannten Ichs vorherwissen, weil es keine wahrhaft freie Entscheidung eines echten Ichs mehr wäre. Jedes sogenannte Ichverhalten wäre durch ein Nichtich vollständig determiniert. Ein verantwortliches und willensfreies Ich wäre dann, wie Nietzsche sagt, nichts als eine Fehlinterpretation der Wirklichkeit und unter die „psychologische[n] Irrtümer“ zu zählen, die lediglich aufgrund einer beliebigen und zufällig gerade vor„herrschenden moralischen Denkungsart“ „nicht als Krankheiten gedeutet werden.“2 Ist nun nach Tugendhat das menschliche Ich der Grund dessen, was es im Alltag immer schon seinen Willen nennt, oder nicht? – In seinem Nachtrag stellt sich Tugendhat schließlich doch die Frage, „ob es so sei, daß das Wollen ein letztes, infolgedessen irgendwie unbedingtes wäre, und das wäre die Willensfreiheit, die man dann nur noch so erläutern könnte: ‚und ob ich es wollte, hing nur von mir ab‘.“ (AM, 75; Herv. C. F.) Er bejaht und behauptet, dass, was ich will, „letztlich einfach von mir [abhängt].“ (AM, 76) Und mit welchem Rechtsgrund meint Tugendhat, das behaupten zu dürfen? „[D]enn ich bin es ja, der in dem Spielraum zwischen den entgegengesetzten Motiven (Gründen) steht, und es hängt letztlich nur von mir, d.h. meinem Wollen, ab, ob ich den Ermunterungen und Vorhaltungen folge
57 und mich stärker auf das Ziel ausrichte oder der anderen Seite nachgebe, bzw. anderen Gründen den Vorzug gebe“. (Ebd.) Ein prüfender Blick auf Tugendhats Vorstellung von diesem in Räumen der Klugheit und der Disziplin spielenden Ich mit vorgeblich freiem Willen bestätigt unsere Vermutung, dass diese Begründung seine Behauptungen nicht stützen kann.
Das Ich als „Knoten im Bindfaden“ Tugendhat veranschaulicht seine Vorstellung vom Ich durch „einen Bindfaden [...] in dem ein Knoten angebracht ist. Der Bindfaden steht für das Fließen der Kausalität. Durch den Knoten, der für das Ichverhalten in den zwei Spielräumen steht, ist die Kausalität tatsächlich unterbrochen und durch meine Tätigkeit ersetzt, und doch besteht auch der Knoten nur aus Bindfaden.“ (AM, 69) Seine „These ist, daß der Kausalzusammenhang so verstanden werden muß, daß er durch das Ichgeschehen hindurchläuft.“ (AM, 70) Der Bindfaden symbolisiert für Tugendhat also eine Kausalreihe. Es ist vielleicht nicht ganz klar, ob der Knoten im Bindfaden, der das Ichgeschehen darstellen soll, aus dem selben oder aus einem anderen Bindfaden besteht. Würde es sich um einen zweiten Bindfaden handeln, dann lägen zwei gleichartige Kausalreihen vor, die sich kausal nicht berühren. Um dann noch das Phänomen „Ich handle“ erklären zu können, müsste man, wie einst Leibniz, eine „prästabilierte Harmonie“ dieser abgetrennten Reihen annehmen. Spätestens diese Konsequenz macht uns klar, dass Tugendhat den Knoten als Knoten in dem selben Bindfaden gemeint haben muss. Wenn es sich aber um ein und denselben Bindfaden handelt, dann sind Ichgeschehen und Nichtichgeschehen nur zwei aufeinanderfolgende Phasen in ein und derselben Kausalreihe. Wie soll dann aber „die Kausalreihe tatsächlich unterbrochen und durch meine Tätigkeit ersetzt“ sein? Unterbrochen wäre die Kausalreihe doch nur, wenn der
58 Bindfaden zerschnitten wäre. Wenn es sich hingegen um ein und denselben Bindfaden handelt, der das Ich- und Nichtichgeschehen darstellt, dann ist die im Phänomen der Verantwortung implizierte Unterscheidung von Ichgeschehen und Nichtichgeschehen ein fiktives Zerschneiden des in Wirklichkeit stets noch ganzen Bindfadens. Ein Nichtich wäre nach diesem Modell causa des Ichgeschehens als Effekt. Verantwortung, die den causasui-Charakter, die Selbstursächlichkeit des Ichgeschehens impliziert, wäre eine Zuschreibung, die über den wahren Sachverhalt hinwegtäuscht. Tugendhats Theorie transzendiert also die Implikationen des zuvor beschriebenen Verantwortungsphänomens und rechtfertigt sie nicht. Sein Begriff vom verantwortlichen Ich gerät ihm zum bloßen, wenn auch unvermeidlichen, Schein. Aber die Unvermeidlichkeit einer Selbsttäuschung ändert nichts an ihrer Falschheit. Es scheint so, als hätte Tugendhat diese beunruhigenden Konsequenzen aus seiner Theorie geahnt, wenn er schreibt: „Man kann zwar nicht beweisen, dass das Ichgeschehen kausal bestimmt ist, aber es scheint auch keinen Grund zu geben, die Art, wie das Ichgeschehen abläuft, als nicht in sich kausal bestimmt anzusehen.“ (AM, 69) Da er die Idee „eine[r] andere[n] Art von Kausalität“ (AM, 66), wonach der Mensch „ein Prärogativ“ zukomme, „das sonst nur Gott zugeschrieben wird, ein erster Beweger zu sein“ (ebd.), für absurd hält, können wir davon ausgehen, dass Tugendhat hier mit „in sich kausal bestimmt“ meint, das Ichgeschehen sei nichts als ein Glied in der einen, ununterbrochenen Kausalreihe von Nichtich- und Ichgeschehen und kein vom Nichtichgeschehen wahrhaft unterschiedener Vorgang auf einem zweiten Bindfaden, was zudem die oben erwähnte unerwünschte Konsequenz zur Folge hätte, eine „prästabilierte Harmonie“ annehmen zu müssen. Dann gibt es aber sehr wohl einen „Grund“, das Ichgeschehen nicht mit Tugendhat als derart kausal anzusehen. Denn wenn das Ichgeschehen nicht wirklich und wahrhaftig vom Nichtichgeschehen geschieden ist, dann beruht der im Phäno-
59 men der Verantwortung implizierte „ ‚Warumstop‘ “ (AM, 67) sozusagen auf moralischem Schein. Die Aufforderung, Verantwortung zu unterstellen, wäre Verführung zur Unwahrheit. Der Warumstop impliziert eine Trennung von Ich- und Nichtichgeschehen, die in ontologischer Wahrheit gar nicht existierte. Dabei versichert Tugendhat uns: „Wir haben aber allen Grund, am Phänomen des ‚es liegt an mir‘ und an dem von ihm implizierten ‚Warumstop‘ festzuhalten.“ (Ebd.) Handelt es sich hier aber wirklich um einen Grund von philosophischer Legitimität oder nicht vielleicht eher um einen pragmatischen Grund, der zur Rechtfertigung gewisser Zwecke nur postuliert wird, die grundloserweise selbst nicht mehr hinterfragt werden?
Eine gelehrsame petitio principii Wie der Titel der Essays, Willensfreiheit und Determinismus, andeutet, verfolgt Tugendhat das Ziel, das Phänomen der Verantwortlichkeit des Menschen mit der deterministischen Arbeitshypothese der Wissenschaften kompatibel zu machen. Als Fortschritt in der Phänomenbeschreibung gegenüber Hume und Schopenhauer ist anzuerkennen, dass Tugendhat nicht bereit ist, dafür den viel zu teueren Preis der Annahme eines vorgegebenen unveränderlichen Individualcharakters zu zahlen. Denn das Phänomen der Verantwortung verlangt nach Tugendhat die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zum Besseren zu verändern. Eine Freiheit zum Guten, die der Charakterdeterminismus Humes und Schopenhauers gerade ausschließt. Nun haben wir aber oben gesehen, dass Tugendhats Theorie von den „Ich“-Spielräumen zusammen mit seiner Ablehnung eines metaphysischen Ichs als ersten Bewegers impliziert, dass nicht das Ich selbst sondern ein anonymes Fremdes, Natur und Gesellschaft, ein Nichtich der letzte Grund dieser Veränderung zum Guten sein muss. Der Kompatibilismus Tugendhats ver-
60 fehlt also das Phänomen der Verantwortung und muss es in letzter Konsequenz seines Determinismus notwendig für falsch halten. Sein Konzept der Willensfreiheit reicht einfach nicht hin, um ein verantwortliches Ich zu denken. Jetzt verfehlt Tugendhat aber auch noch den Determinismus, wenn er schreibt: „Der recht verstandene Kompatibilismus macht keine Aussage über das Determiniertsein, ihm zufolge impliziert Willensfreiheit weder Determinismus noch Indeterminismus. Man muß also, um es in der Metapher vom Knoten im Bindfaden zu formulieren, die Möglichkeit offen lassen, daß das Geschehen innerhalb des Knotens, wenn man es überhaupt in einer objektiven Sprache formulieren kann, sich nicht auf Kausalzusammenhänge reduzieren läßt. Für die Struktur der Willensfreiheit hängt davon nichts ab.“ (AM, 71 f.) Was geschieht hier? Im ersten Satz sagt Tugendhat, er behaupte gar nicht die Wahrheit des Determinismus. Im zweiten Satz behauptet er die Möglichkeit des Indeterminismus bezüglich des Ichgeschehens. Und damit meint Tugendhat nicht die Möglichkeit der Kausalität eines absoluten Ichs als ersten Bewegers, denn dieser Gedanke ist ihm nichts als eine „absurde Idee“ und der gescheiterte Versuch des „Inkompatibilismus [...] der Sprache der Innenansicht [sc. den Implikationen des Phänomens der Verantwortung, C. F.] ein objektives Fundament zu geben, das keinen Sinn ergibt.“ (AM, 72) Also meint Tugendhat mit Indeterminismus den Zufall. Er konzediert die Möglichkeit, dass das Ichgeschehen nichtkausal, rein zufällig, vonstatten geht. „[D]as einzige, was man sich in der objektiven Welt als Alternative zum Kausalzusammenhang vorstellen kann, [ist] der Zufall. Was den Inkompatibilismus so uneinsichtig macht, ist, dass er innerhalb der objektiven Welt etwas postuliert, was außerhalb dieser Alternative – entweder Kausalzusammenhang oder Zufall steht.“ (AM, 72) Worin besteht demgegenüber der Vorteil einer kompatibilistischen Betrachtung à la Tugendhat? Dem eigenen Anspruch nach müsste er darin bestehen, die Einwände des Deterministen gegen die Willensfreiheit als Grund der Verantwort-
61 lichkeit des Menschen einsichtig (und nicht „uneinsichtig“ wie die Inkompatibilisten) zurückzuweisen und den recht verstanden Determinismus mit dem Begriff eines verantwortlichen Ichs zu vereinbaren. Bevor wir prüfen, ob Tugendhats Theorie diesen Anspruch erfüllt, müssen wir aber Folgendes feststellen: Wenn die Zufälligkeit des Ichgeschehens stets möglich bleibt, dann ist gleichzeitig damit die Möglichkeit eingeräumt, dass nicht das Ich selbst der verantwortliche Urheber seiner Taten, seines Wollens und seines Charakters ist, sondern nichts oder das Nichts. Denn etwas, das aus Zufall geschieht, hat keinen Grund. Verantwortlich für etwas kann aber nur der Grund für dieses Etwas sein. Kein Grund, kein verantwortliches Subjekt. Mit dieser Möglichkeit muss also leben können, wer Tugendhats Theorie als Wahrheit anerkennt. Aber Tugendhat geht es ja nicht darum, einen (möglichen) Indeterminismus mit Willensfreiheit kompatibel zu machen, was unmöglich wäre, sondern um die Vereinbarkeit eines (möglichen) Determinismus mit Willensfreiheit. „Der recht verstandene Determinismus führt nicht dazu zu bezweifeln, daß die Person in einem Spielraum stand und also wirklich anders (besser) hätte handeln können.“ (AM, 73) Diese These begründet Tugendhat mit dem Satz: „Der Kausalzusammenhang bestimmt die Handlung nicht unmittelbar anstelle der Person, hier ergab sich der ‚Warumstop‘, die Verantwortung liegt bei dem Ichgeschehen, das lediglich seinerseits kausal fundiert ist bzw. sein kann.“ (Ebd.) Aus unseren obigen Erwägungen folgt, dass Tugendhat mit dem „seinerseits kausal fundiert sein“ könnenden Ichgeschehen weder eine andere Art von Kausalität nach dem Muster eines ersten Bewegers meint, noch auf eine wesenhaft vom Nichtichgeschehen getrennte gleichartige Kausalreihe anspielt. Unter diesen Voraussetzungen ist es schlicht falsch, wenn Tugendhat sagt, der eine, ununterbrochene Kausalzusammenhang, den ein Laplace’scher Dämon vorherwissen könnte, würde die Handlung „nicht unmittelbar“ bestimmen. Denn im Rahmen der de-
62 terministischen Theorie des Bindfadenmodells musste sich die vom Phänomen der Verantwortung implizierte wesenhafte Trennung von Ichgeschehen und Nichtichgeschehen in letzter Konsequenz als Täuschung herausstellen. Das Ichgeschehen ist nach Tugendhats Theorie – so fest verschlungen der Knoten im Bindfaden auch sein mag – nichts anderes als ein Glied in dem einen universalen Kausalzusammenhang eines Nichtichs. Demnach sind Existenz und Größe der „Ich“-Spielräume vom Nichtich restlos determiniert. Ein metaphysisches Ich, das unabhängig von der Kausalreihe existiert, lehnt Tugendhat ab. Also bleibt die fatalistische These des Deterministen: „Wenn überhaupt, dann kann es nicht das Ich selbst sondern nur ein Fremdes besser machen!“, von Tugendhats Überlegungen unberührt. Wenn Tugendhat trotzdem über Determinismus und Indeterminismus behauptet: „[f]ür die Struktur der Willensfreiheit hängt davon nichts ab“ (AM, 72), dann einzig und allein aus dem psychologischen Motiv heraus, dass ihm der „Tatbestand der Willensfreiheit“ (IP, 17), wie er sich im „Phänomen des Vorwurfs“ (AM, 72) findet, zu einem unbezweifelbaren Faktum geworden ist. Deswegen hat Tugendhat seine „Ich“-Spielraum-Theorie auch nicht weiter hinterfragt. Hätte er dies getan, dann wäre er notwendigerweise auf unser Ergebnis gekommen, dass ein mechanistischer Determinismus und die Ablehnung einer metaphysischen Ichstruktur den Gedanken der Verantwortlichkeit des Menschen verunmöglichen, weil er in der nichtichlichen Kausalreihe vollends aufgeht und so nicht mehr selbst Grund seiner selbst bzw. seiner Taten sein kann. Wenn Tugendhat aber eigentlich die Unbezweifelbarkeit der Verantwortlichkeit bereits vorausgesetzt hat, obgleich er einmal schreibt, „[d]ieser Stop in der Warumfrage erscheint merkwürdig genug, so daß wir darauf gefaßt sein müssen, daß es sich um einen Schein handelt“ (AM, 65), dann ist sein ganzes Projekt des Aufweises einer Kompatibilität von Willensfreiheit und (möglichem) Determinismus nichts als eine gelehrsame petitio principii. Und wenn Tugendhat, der mit seinen Essays doch ursprüng-
63 lich angetreten ist, um für die Kompatibilität von Willensfreiheit und Determinismus zu argumentieren, nach all dem schließlich in seinem Nachtrag schreibt, „insofern es [sc. wie ich mich ausrichte] nur noch von mir abhängt, ist es indeterminiert“, kommt man scheinbar nicht mehr umhin zu glauben, er halte seine Leser zum Besten. Aber es ist zu bedenken, dass es die vorreflexive Wirklichkeit des Prinzips ist, die ein reines Tatsachendenken in diese Widersprüche zwingt.
„Anthropologie statt Metaphysik“ heißt: Tatsachendenken statt Prinzipienreflexion Die Frage nach dem Wie der Kompatibilität einer als Faktum angesetzten Willensfreiheit mit Determinismus lässt auf ein vorreflexives Denken schließen. Dass Tugendhat meint, Fakten als philosophische Rechtsgründe für eine ontologische These über die Wirklichkeit der Freiheit und Personalität des „anderen Tiere[s]“ (AM, 58) Mensch heranziehen zu dürfen, zeigen in aller Deutlichkeit zwei Stellen aus dem Nachtrag. „[D]aß die Person (jeweils ich) sich anstrengen bzw. selbst entscheiden muß, ist nicht zu umgehen, weil Sichentscheiden (außer wenn das Wort metaphorisch verwendet wird) ein ‚ich entscheide‘ ist und Sichanstrengen ein ‚ich strenge mich an‘. Diese Verben haben, ihrem Sinn nach, Personalpronomina (oder -nomina) als Subjekte, und diese verweisen immer auf die Verwendung von ‚ich‘ bei der Person selbst. Das heißt dann aber, daß jeweils ich den Ausschlag dafür gebe, für welches ich mich entscheide, bzw. ob ich mich mehr auf A hin anstrenge oder eher dem B nachgebe (bzw. mich für B entscheide), und das schließt aus, daß dies noch seinerseits von irgendetwas anderem abhängt.“ (AM, 77) Warum also ist es nach Tugendhat philosophisch wahr, dass der Mensch vor frei zu wählenden Alternativen steht? Weil er faktisch so spricht, als ob er frei wäre.
64 Die zweite Stelle lautet: „Eine Person kann aus der Perspektive der verschiedenen Stufen des Gutseins von anderen dafür verantwortlich gemacht werden, daß sie sich nicht so verhält, wie sie sollte, ohne daß sie selbst motiviert ist, sich auf das Gut dieser Stufe zu beziehen“ (AM, 8; Herv. C. F.). In Klammern fügt Tugendhat hinzu: „so z.B. im Strafrecht“ (ebd.). Das „kann“ bedeutet hier nicht nur ein mögliches faktisches Verantwortlichgemachtwerden sondern die philosophische Legitimität von Verantwortlichkeit, aufgrund eines faktischen Sollens. Die letzte, von Tugendhat selbst hier nicht mehr gezogene, logische Konsequenz aus dieser auf Fakten basierenden Argumentation lautet: Die Einsicht des Individuums in die Vernünftigkeit und Wahrheit eines Guts, Sollens und juristischen Urteils ist irrelevant. Denn die pure Faktizität des faktischen Sollens wird von Tugendhat zum Legitimationsgrund dieses Faktums aufgespreizt. Damit ist ab ovo jeder vernünftige Maßstab für Recht und Moral preisgegeben. Paradoxerweise wird also in Tugendhats Theorie von Ich und Verantwortung kein Wert mehr auf die Antwort des Individuums gelegt. Dieses Szenario des Schreckens hat bereits Franz Kafka in seinen Romanen durchgespielt: „[M]an muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.“3 Dem ist zu entgegnen: Der Mensch unterscheidet sich im Denken immer schon von sich selbst. Aber solange er sich in seinen faktischen Unterscheidungen von sich nicht als das Prinzip der Unterscheidung erinnert, kann er seine Freiheit, so sehr er sich auch anstrengt, nicht begreifen. Er bleibt sich selbst solange fremd und begreift sich solange nur als Faktum unter Fakten, bis er kraft seines reflexiven Seins auf sich als Prinzip von Faktizität reflektiert. Wenn sich der denkende Mensch in seiner Unterscheidung von sich als den wahrhaft seienden Grund der Möglichkeit der faktischen Unterscheidungen erkennt, kann das Bewusstsein der Freiheit erlangt werden, weil dann evident wird, dass die Freiheit des Ich zur Wahl der geistigen Individualgestalt durch die
65 Einschränkungen von Natur und Geschichte in ihrer Möglichkeit bedingt und nicht bedroht ist. Deshalb wird die Verantwortlichkeit des Subjektes auch allein in der Reflexion auf seinen vorgängig immer schon seienden reflexiven Grundcharakter verstehbar. Der Übergang von Tugendhats Frage, wie ich faktisch moralisch urteile, will und handle, zur Frage, w a r u m ich überhaupt etwas erkenne, so dass ich legitim moralisch urteilen, wollen und handeln darf, führt gelingendenfalls zur Erkenntnis, wer ich bin, warum ich selbst es bin, der denkt, will und handelt, und kein anonymes Fremdes, und warum ich was denken, wollen und tun soll und kann. Dadurch wird dann auch ersichtlich werden, wie mein faktisches Dasein „kompatibel“ mit Freiheit ist, weil erkannt wird, warum einschränkende Faktizität notwendige Bedingung (nicht Grund!) von Freiheit ist. Am „Faktum der reinen [praktischen] Vernunft“4 kann man, mit Nietzsche, prinzipiell zweifeln, weil der Zweifel ohne moralische Voraussetzung auskommt. Am „Faktum der spekulativen Vernunft“, daran nämlich, dass ich etwas erkenne, das ist, kann ich prinzipiell nicht mehr zweifeln, weil der Zweifel zumindest die Erkenntnis des Seins seiner selbst voraussetzt.5 Also muss die Moral, um prinzipiell unbezweifelbar sein und gelten zu können, aus der spekulativen Vernunft (nicht im kantischen Sinne!) begründet werden. Dann aber wird die spekulative Einsicht des Individuums in den Grund des moralischen Sollens nicht mehr gleichgültig sein, wie noch in der kafkaesken Vorstellung Tugendhats, sondern zur ersten Pflicht erhoben werden. Die Aussage, das verantwortliche Subjekt Mensch unterscheide sich von „anderen Tieren“ (AM, 58) durch ein „reflexive[s] Wollen“ (AM, 59) bzw. ein „wollendes Sichverhalten zum eigenen Wollen“ (AM, 61), macht gerade deutlich, dass Tugendhat das Wesen des Menschen noch nicht als Subjektivität denkt. Er spricht zwar von einer „Reflexion auf das Ich“ (AM, 183), aber die „Besonderheit des menschlichen Bewußtseins“ besteht nach Tugendhat nur darin, „daß es aufgrund seiner
66 sprachlichen Struktur auf einzelne Gegenstände bezogen ist und deswegen auch auf sich als einzelnes Wesen, als Ich: es bezieht sich auf sich als einer oder eine unter allen anderen. Darin gründet das Bewußtsein der Einsamkeit“ (ebd.). Als wen erkenne ich mich also, wenn ich auf mich reflektiere, wer bin ich also nach Tugendhat? Ein Gegenstand unter Gegenständen, der sich zu allem Überfluss seiner „Einsamkeit“, seiner „Geringfügigkeit“ und seiner „objektive[n] eigene[n] Unwichtigkeit“ (ebd.) auch noch bewusst ist. Kann, wer so von sich denkt, von Anderen anders denken? Tugendhats Reflexionsbegriff ist unzulänglich, da er nicht die dem Menschen in dieser Welt allein eignende Potenz der Reflexion auf seine Reflexivität erfasst. Tugendhats „Reflexion“ ist keine Reflexion sondern bloße Scheidung von Subjekt und Objekt, in welcher der Möglichkeitsgrund von wissender Bezugnahme überhaupt als vollkommenes Rätsel übrigbleiben muss, was aber nicht weiter stört, solange man sich die Frage danach, mit der doch ein philosophisches Denken allererst beginnt, schenken zu können meint. Tugendhat würde vielleicht erwidern, er beschreibe nur die Wirklichkeit, wie sie ist. Aber seine Beschreibung der „Wirklichkeit“ schweigt, was die fundamentale Wirklichkeit angeht, wenn sie sie nicht gar theoretisch verunmöglicht: die Wirklichkeit nämlich, dass der Mensch sich überhaupt wissend auf Wirklichkeit beziehen kann. Denn warum kann ich überhaupt etwas wissen? Wissen von etwas wäre unmöglich, wenn ich nur Gegenstand unter Gegenständen wäre. Die „sprachliche Struktur“ hilft hier jedenfalls auch nicht weiter, denn Sprache ist Medium und einschränkende Bedingung der Erkenntnis und nicht Grund der Möglichkeit von Erkenntnis. Um mich mit Sprache wissend auf etwas beziehen zu können, muss ich zuvor schon so beschaffen sein, dass ich mich überhaupt wissend auf etwas beziehen kann. Denken ist kein Scheiden sondern ein Unterscheiden, ein Beziehen des Geschiedenen aufeinander. Ansonsten wäre nämlich nicht einmal Tugendhats Theorem von der wesenhaften „Einsamkeit“ des Menschen möglich, der doch we-
67 senhaft nicht einsam ist, sondern, wie in der Selbstreflexion erhellt, in dialogischer Gemeinschaft steht mit sich als dem vollwertigen „Andere[n] seiner selbst“6 und deswegen auch mit allen anderen gleichwertigen Seelen, die in anderen Leibern leben und zu anderen Zeiten da waren. Das menschliche Ich unterscheidet sich durch seinen reflexiven Grundcharakter wesenhaft von allen anderen Gegenständen. Wer darauf nicht reflektiert, dem kann, zumindest solange er am Schreibtisch sitzt, der Mensch leicht zum „anderen Tier“ geraten. Aber für das Selbstverständnis unserer Würde als Menschen ist es unverzichtbar zu sehen, dass das „wollende Sichverhalten zum eigenen Wollen“, von dem Tugendhat spricht, einseitig fundiert ist im wissenden Sichverhalten zum eigenen Wissen. Das „reflexive Wollen“ hat seinen ontologischen Grund der Möglichkeit in der im freien Akt reflexiven Wissens augenblicksweise einholbaren reflexiven Wissbarkeit, in der Subjektivität als vorgängige Geistwirklichkeit des Subjektes Mensch. Dann freilich ist „Rationalität“ nicht mehr instrumentell und anzusehen als ein „Vermögen, nach Gründen zu handeln“ (IP, 10), was bei Tugendhat nichts als die Klugheit des Menschen qua „fitness“ im „struggle for life“ meinen kann, oder als „Spielraum“ für ein theoretisch verunmöglichtes Ich, sondern Vernunft ist dann zu erkennen als das ontologische Fundament unserer Verantwortlichkeit und unserer vorbegrifflichen Ahnung davon im moralischen Phänomen. Der Mensch als Vernunftwesen ist jedenfalls nicht ein „anderes Tier“ sondern etwas ganz anderes als ein Tier. Die Meinung, um nicht in Weltanschauung zu degenerieren, müsse Philosophie sich bescheiden und erschöpfen im „Differenzieren“ von faktisch vorkommenden Sichtweisen auf z.B. den Gegenstand Mensch, führt in der Durchführung selbst zur unerwünschten Folge. Der z.B. gerade aktuellen juristischen Sichtweise auf den Menschen als ein Wesen, das frei und deshalb von sich her ist, was es ist, steht z.B. schroff gegenüber eine gerade aktuelle naturalistische oder soziologistische Sicht-
68 weise7 auf den Menschen als ein Wesen, das ab alio ist, was es ist. Will man auf Legitimität nicht verzichten, wird man sagen, diese Sichtweisen bestehen mit Recht. Auf die Frage: „Mit welchem Recht?“, wird man dann aber nur noch antworten können: „Weil sie halt faktisch bestehen!“ Worin liegt dann aber noch der Unterschied zur Weltanschauung? Das Postulat und die Zumutung, die sich in dem Wörtchen „halt“ ausdrücken, spiegeln nur die Haltlosigkeit eines Denkens wider, das sich durch ein unbewusst selbsterteiltes Reflexions- und Metaphysikverbot, durch einen „Warumstop“ instinktiv vor der Scham seiner Selbsterkenntnis zu schützen sucht. Tugendhats Versuch, Freiheit und Natur kompatibel zu machen, zeigt nur, dass Freiheit und Natur, wie er sie sieht, prinzipiell nicht kompatibel sein können. Die Naturhaftigkeit und Sozialität des Menschen ins System der Freiheit als einschränkende Bedingung ihrer Möglichkeit mit Grund und nicht als Postulat zu integrieren, setzt freilich einen ganz anderen, nämlich reflexiven, Blick des Menschen auf sich voraus, in dem dann evident wird, dass Natur und Gesellschaft nicht letztinstanzliche Produzenten des Menschen sind, sondern – bildlich gesprochen – sich zum geistigen Ich verhalten wie Klima und Boden zum Samen, der allein Ursache des Baumes ist. Tugendhats Motto „Anthropologie statt Metaphysik“ aber bedeutet, alle Prinzipienreflexion durch Tatsachendenken ersetzen zu wollen. Tugendhat schwankt hin und her zwischen dem offenen Eingeständnis und der dogmatischen Leugnung der Unzulänglichkeit seiner Wie-Frage, ohne sich die Warum-Frage je ernsthaft zu stellen, weil es für ihn eine ausgemachte Sache ist, dass man die Warum-Frage nicht vernünftig beantworten kann. Daher nimmt es nicht Wunder, sondern erscheint sogar als konsequent, wenn Tugendhat offen lässt, ob das alltägliche Selbst- und Weltverständnis des Menschen, wie es sich im Phänomen der Verantwortlichkeit kundtut, auf dem ja Tugendhats eigene Argumentation für die Freiheit fußt, nicht vielleicht auf bloßem „Schein“ (AM, 65) beruht. Weil wir einen Grund ohnehin nicht erkennen könnten, bleibt für Tugendhat möglich, dass es keinen gibt.
69 Vom funktionalistischen Ich zur Moraltheologie Tugendhats Offenbarungseid, was die Sachrelevanz seiner Überlegungen angeht, folgt im „Nachtrag“: „Wenn man nun fragt ‚Konnte er wirklich anders?‘ [...] so gibt es darauf, gemäß meinen Ausführungen [...] keine eindeutige Antwort“ (AM, 77 f.). Diese Deutlichkeit bedarf keines Kommentars. „Man muß nur vermeiden, diesen Tatbestand, daß mein Wille, das Sichanstrengen und Entscheiden, ein letztes ist, so umzudeuten, als ob es ein Ich gäbe, das als letzte unbedingte Ursache die Entscheidung hervorbrächte“ (AM, 78). „Das ‚ich kann‘ hat natürlich nur einen formalen Sinn.“ (AM, 79) Das Ich und seine Willensfreiheit haben nach Tugendhat also nur „einen formalen Sinn“. Und was heißt hier „formal“? „Ich (nicht das Ich) stehe zwischen vorgegebenen Wünschen und Werten, und wenn man konventionell vorgegeben Gutes hinterfragt [...], kann das nur den Sinn haben, ob sie ‚wirklich gut‘ sind, nicht ob sie ‚meine eigenen‘ sind.“ (Ebd.) Dass das „ich kann“ nur formalen Sinn hat, bedeutet also, dass das Ich nichts Eigenes, kein Eigentum, hat und deshalb nur noch die Funktion erfüllen kann, fremde Zwecke zu verrichten. Folglich ist nach Tugendhat ein „Wunsch“ oder „Wert“ genau dann „wirklich gut“, wenn er diesen fremden Zwecken störungsfrei dienlich ist. Die fremden Zwecke selbst freilich können vom entsubstantialisierten funktionalistischen Ich anhand von nichts Eigenem mehr beurteilt oder „hinterfragt“ werden und fallen mithin der Beliebigkeit anheim. Dass im Phänomen der Verantwortung trotzdem vorausgesetzt ist, das formale Ich habe eigene Zwecke – Gegenstand des alltäglichen Moralurteils ist ja nicht irgendein Störfaktor sondern das verantwortliche Subjekt –, muss dann als „Weltknoten“, „unerklärlich“, „unmittelbar gegeben“ und „Wunder kat& ejoxhn“8 erscheinen. Vielleicht hat Tugendhat an diesen „Weltknoten“ im Sinne Schopenhauers gedacht, als er das Ich mit einem „Knoten im Bindfaden“ verglich. Wer hingegen den Menschen nicht derart funktional und völlig
70 enteignet, sondern substantial denkt, wer „sich ‚das Ich‘ nach der Analogie eines Schöpfergottes vorstellt“ (AM, 79), wer den Menschen mit Pico della Mirandola als arbitrarius honorariusque plastes et fictor sui ipsius zu begreifen versucht, der ist Tugendhat zufolge Anhänger einer „absurden Idee“ (vgl. AM, 66). Tugendhat scheint von seinem eigenen Argument, die philosophische Legitimität der menschlichen Verantwortung mit dem Faktum des Verantwortlichmachens zu begründen und das „ich kann“ als Leerformel anzusehen, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, seine Einflussnahme auf den in sich geschlossenen kausalen Mechanismus der Außenwelt erklären zu müssen, wenig überzeugt zu sein: „ ‚Ich möchte mich eigentlich ernst nehmen, aber wenn ich es nicht tue, ist es auch egal.‘ “ (AM, 83) Ein Mensch, der sich in seiner Vorstellung von sich substantial enteignet und nur noch als Funktionär fremder Interessen ansieht, wird kaum mehr von seiner Verantwortlichkeit überzeugt sein. Deshalb fragt Tugendhat: „Was kann ihn motivieren, sich selbst – sein Leben – ernst zu nehmen?“ (Ebd.) Seine Antwort fällt moraltheologisch aus: „Ich meine, wir stoßen hier auf ein Motiv, warum wir uns wünschen, wir würden vor einer absoluten Person stehen, wie es der jüdisch-christliche Gott war.“ „Wer [...] das Bewußtsein hat, vor Gott zu stehen, ihm Rechenschaft schuldig zu sein, für den scheint der Ernst des Lebens unausweichlich“ (ebd.). Weil Tugendhat das menschliche Individuum im Rahmen seiner Theorie nicht mehr substantial verstehen kann, können Freiheit und Verantwortlichkeit in letzter Konsequenz nur noch postuliert werden. Das Postulat der Freiheit und Verantwortlichkeit kommt aber, wie schon bei Kant, an dessen „Sollenfolglich-Können“9 Tugendhats Argument für die Freiheit stark erinnert, anscheinend nicht ohne das Postulat eines moraltheologisch verstandenen Gottes aus. Und warum nicht? Weil sich das enteignete Ich in seinem formalistischen Selbstmissverständnis so sehr von sich entfremdet hat, dass es sich in der vermeintlichen Selbsterkenntnis nicht mehr als den Anderen seiner selbst
71 zu erkennen vermag, mithin von seiner Verantwortlichkeit nicht mehr überzeugt ist und sein Leben – wie auch das Leben der Mitmenschen – nicht mehr ernst nehmen kann, wenn es sich nicht vor der Strafgerechtigkeit eines eifersüchtigen Gottes fürchtet. Denn ohne einen strafenden Gott, der ohnehin nur die Legalität niemals aber die Moralität des Menschen als Person bewirken könnte, würde das formale Ich, das seine Verantwortlichkeit nur postulieren, nur glauben aber nicht wissen kann, seine moralische Lebensweise „für ganz eitel anzusehen und dadurch sie ermatten zu lassen Gefahr laufen.“10 Dem Einwand, diese moraltheologische Sicht sei infantil, begegnet Tugendhat mit der Gegenfrage: „[B]leiben Menschen in dieser Hinsicht nicht wesentlich infantil, sind sie überhaupt in der Lage, sich von diesem kindlichen Aspekt von Verantwortlichsein ohne Verlust zu lösen?“ (AM, 83) Die selbstverordnete ewige Infantilität erscheint freilich nur noch erträglich, wenn man sich darauf versteift, dass die „Idee absurd“ ist, der Mensch könne prinzipiell erwachsen werden. Aber dieser „philosophische Selbstmord“ ist für ein Grund suchendes und – in endlicher Weise – prinzipiell in sich finden könnendes Denken keineswegs schicksalhaft notwendig. Der „Stop in der Warumfrage“ (AM, 65) im moralischen Phänomen bezieht sich in Wahrheit nämlich auf die alltäglichen und einzelwissenschaftlichen Wies, ja, auf Tugendhats Bindfadenmodell, und sollte zum Anlass für die Beendigung des metaphysischen Warumstops werden.11
Ironische Epoché und „Lebens-Ernst“ O God, I could be bounded in a nutshell and count myself a king of infinite space – were it not that I have bad dreams.12
Wir haben die Problematik in Tugendhats Ansatz aufzuzeigen versucht, indem wir zu seinen Prämissen vorgedrungen sind und
72 aus ihnen letzte Schlussfolgerungen gezogen haben. Dabei mussten wir mit Tugendhat oftmals weiter gehen als Tugendhat selbst. Man kann sich schließlich fragen, warum er nicht selbst die oftmals naheliegenden letzten Konsequenzen aus seinen eigenen Thesen zieht. „Ich möchte mich eigentlich ernst nehmen, aber wenn ich es nicht tue, ist es auch egal.“ Anscheinend nimmt er sich und sein Denken einfach nicht ernst genug. Und warum nimmt er sich nicht ernst? Weil er das Ich funktionalistisch deutet und im formalen „ich kann“ (vgl. AM, 79) nicht mehr dem Anderen seiner selbst, sondern nur noch einem anonymen Fremden begegnet. Zur Kultivierung des Gefühls der Verantwortlichkeit für sich selbst und zur Beobachtung von Pflichten gegen sich selbst ist es aber unerlässlich, durch gegründetes Wissen von sich den Zweifel an der Wirklichkeit des verantwortlichen Ichs überwunden zu haben. Das funktionale Verständnis des Ichs führt in eine Sackgasse, vor der zwar auch der moraltheologische deus ex machina nicht bewahren kann, aber dies nicht deswegen, weil wir, wie Tugendhat meint, der sich hier Nietzsches „intellektueller Redlichkeit“13 anschließt, „Gott ermordet [haben] und mit ihm den Ernst des Lebens“ (AM, 203), sondern einzig und allein aus dem Grunde, weil die funktionalistische Enteignung des Individuums vom denkenden Individuum selbst vorgenommen wird und deshalb auch nur von ihm überwunden werden kann. „Soll vielleicht ein Gott wenden, was wir uns mit dem Versuch der freiwilligen Selbstzerstörung der Vernunft eingetragen haben?“14 Ein postulierter und daher eben ungewisser Gott als Garant für die Wirklichkeit von Verantwortung stillt die Sehnsucht des Wahrheitsgewissens nicht, die allein im reflexiven Wissen des Menschen von sich und nie im Glauben an Postulate für den Augenblick der Erkenntnis ans Ziel gelangt. „[M]ein Bedürfnis, eine positive Beziehung zu den Frustrationen zu gewinnen“ (AM, 201), ist Tugendhats erklärtes Bedürfnis, dass er als dieses Individuum hier und jetzt seine Bestimmung erfüllen und wirklich frei und verantwortlich handeln kann. Dies aber ist nichts anderes als die Sehnsucht nach dem
73 ontologischen Grund eines sinnvollen Lebens, die solange unbefriedigt bleiben muss, bis ihm der (endliche) ontologische Grundcharakter des Menschen reflex geworden ist. Dann aber werden die Ursachen der „Frustrationen“ des Menschen als Stoff der Freiheit zur Hervorbringung „seiner geschichtlichen Seinsgestalt“15 erkennbar. Allerdings drängt sich nun auch die Frage auf, warum Tugendhat überhaupt Texte schreibt und veröffentlicht, wenn er sich selbst doch gar nicht ernst nimmt. Mit irgendetwas muss es ihm also doch ernst sein. Aber womit? Eben mit der These, das Leben sei nicht ernst zu nehmen. Und warum ist es ihm wenigstens mit dieser These ernst? Weil die Haltung der „Indifferenz der freischwebenden Intelligenz“16 gegenüber der im bösen Gewissen sich bekundenden gegenteiligen Wahrheit gerechtfertigt sein will. Die zum sprachanalytischen und naturwissenschaftlichen Instrument depravierte Vernunft muss herhalten, um den unangenehmen Einspruch des Wahrheitsgewissens zurückzuweisen. In der selbst- und weltironischen Epoché als „Spiel-Einstellung gegenüber allem praktischen Lebens-‚Ernst‘ “17 verliert sich das personale Individuum in die transzendentalistische Utopie seiner selbst und predigt so nolens volens dem postmodernen „anything goes“ das Wort, weil es das orientierende Maß der Wahrheit, welches nicht ohne eine ontologisch fundierte Metaphysik zu haben ist, gar nicht mehr finden zu wollen meint. Einen Höhepunkt dieses zynischen Experiments der Selbstvernichtung und -zerstörung personalen Denkens stellen Heideggers Ansichten zur Kunst dar: „Gerade in der großen Kunst, und von ihr allein ist hier die Rede, bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes.“18 Und: „Zum ‚Publikum‘ [...] hat es nur den Bezug, daß es dieses zerstört. Und an dieser Zerstörungskraft mißt sich die Größe eines Kunstwerks.“19 Besonders deutlich tritt Tugendhats psychologisches Motiv dafür, zu beweisen, dass das Leben prinzipiell nicht ernst ge-
74 nommen werden kann, in seinem Essay über Unsere Angst vor dem Tod (AM, 159-175) hervor. Unsere Angst vor dem Tod ist nach Tugendhat im Wesentlichen „nur das Ergebnis einer biologischen Notwendigkeit“ (AM, 175): „[E]ine Population von Wesen, die ein Bewußtsein von ihrer Zukunft haben, würde aussterben, wenn die Individuen im allgemeinen nicht stets weiterleben wollten. Sie müssen also, um überleben zu können, mit dem Bedürfnis, stets weiterleben zu wollen, ausgestattet sein.“ (AM, 163) Ohne diese „biologische Hypothese“ (AM, 175) müssten wir nach Tugendhat „die Angst davor, daß das eigene Leben in nichts übergeht, eher komisch finden.“ (AM, 174 f.) Tugendhats darwinistische Erklärung der Angst vermag jedoch nicht, die Angst „zum Schweigen zu bringen“: „das gelingt nicht, mir jedenfalls nicht. Diese Angst läßt sich nicht intellektuell wegargumentieren.“ (AM, 175) Es gibt für Tugendhat demnach nur eine einzige Chance, sich von der Angst vor dem Tod zu befreien und damit „die Verluste und Frustrationen des Lebens überhaupt integrieren“ (AM, 173) zu können, nämlich die „Überwindung der Angst, die sich in der Selbstrelativierung ergibt. Das ist nicht mehr ein Argument, sondern ein wirklicher Schritt, eine Umwendung“ (AM, 175; Herv. C. F.). „Was ich die seitliche Relativierung nannte, bedeutet, daß ich mich nicht selbst als letzten Bezugspunkt von allem ansehe, was mir wichtig erscheint. Relativ zur Welt bin ich unwichtig, und ich kann es selbst so sehen. Wenn es mir also gelingt, meinen Maßstab von Wichtigkeit von mir selbst auf anderes zu verlegen, tritt die Angst davor, daß ich aufhöre, zurück. [...] Man hat sich in den eigenen Mittelpunkt gestellt, und in diesem zeigt sich einem (kann sich einem zeigen), daß man nur ein Mittelpunkt unter vielen ist, und man wird sich seiner Geringfügigkeit bewußt.“ (AM, 174) Nur wenn ich mich selbst nicht mehr ernst nehme, aber wenn ich das tue – und dies berücksichtigt Tugendhat nicht –, kann ich auch nichts anderes mehr ernst nehmen, ist es mir nach Tugendhat möglich, die Angst vor dem Tod zu besiegen. Das per-
75 sonale Individuum, das Tugendhat ohnehin schon als enteigneten Funktionär fremder Interessen vorstellt, muss sich selbst relativieren, sich selbst für unwichtig und ein Fremdes für wichtig erachten, um angesichts des Todes, der es doch nur mit seiner eigenen unüberprüften Theorie von der Substanzlosigkeit seiner selbst konfrontiert, nicht zu verzweifeln. Hierin liegt der tiefe Ernst von Tugendhats These vom Unernst des Lebens, die scheinbar existentielle Notwendigkeit der selbstironischen Epoché: „Der Tod ist am selbstverständlichsten, wenn man schon vorher möglichst tot ist.“20 Aber dieser Rettungsversuch, Werthaftigkeit von sich auf anderes, auf im Daseinskampf Überlebendes zu verlegen, muss scheitern, weil, wer sich selbst nicht ernst nimmt, auch nichts anderes und niemand Anderen ernst nehmen kann. Die Selbstironie als Vernichtungs-Programm ist notwendig verknüpft mit der zerstörerischen Ironie gegenüber dem Du und der Welt. Und weil ein sich selbst noch unbekanntes Ich weder die Wirklichkeit des Du, die sich ihm erst in der Reflexion auf sich als den Anderen seiner selbst erschließt, noch der Welt notwendig weiß, können Du und Welt es über das imaginierte Nichts seiner selbst auch nicht hinwegtrösten. So führt der Formalismus in den Nihilismus, gegen den allein das Wahrheitsgewissen in der Todesangst noch revoltiert und damit die letzte Chance zur Umkehr andeutet. Wenn es erlaubt ist, in diesem Zusammenhang auf einen gemeinhin als Kinderbuch geltenden Text hinzuweisen, dann würde ich Michael Endes Momo empfehlen. Dort sagt „Meister Hora“: „Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.“21 Und ein anonymer „Zeit-Dieb“ zu Gigi durchs Telefon: „ ‚Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm dich selbst nicht so ernst. Es kommt wirklich nicht auf dich an. So betrachtet, kannst du doch sehr schön weitermachen wie bisher!‘ ‚Ja‘, flüsterte Gigi und starrte vor sich hin, ‚so betrachtet …‘ Dann klickte es im Hörer und auch Gigi hängte ein. Er fiel vorn-
76 über auf die Platte seines großen Schreibtisches und verbarg das Gesicht in seinen Armen. Ein lautloses Schluchzen schüttelte ihn. Von diesem Tag an hatte Gigi alle Selbstachtung verloren.“22 Da Tugendhat meint, im philosophischen Umgang mit der Sinnfrage den Anspruch auf „Wahrheit“ als „eine unnötige Beweislast“ (AM, 186) aufgeben zu können, ist seine „mystische“ Antwort auch nur „eine mögliche“ (AM, 185): „[D]as buddhistische Mitgefühl [ist] ein Verhalten sui generis, das [...] sich nur mystisch verstehen läßt als eine Haltung, die sich in der Selbstrelativierung ergibt.“ (Ebd.) Es fragt sich nur, wie Tugendhats „Mystiker“, der „sich den Wesen dieser Welt [...] selbstlos zuwendet“ (AM, 188), zu einer Beziehung überhaupt noch fähig sein soll, nachdem er sich selbst entwirklicht hat. Etwas, das – zumindest in seiner Vorstellung von sich – nicht mehr existiert, kann notwendig auch nicht mehr in eine Beziehung des „Mitgefühls“ zu etwas anderem treten. „Selbstlose Zuwendung“ ist ein Oxymoron. Wer sich wie Tugendhat auf Nietzsches „intellektuelle Redlichkeit“ beruft und gleichzeitig die „mystische Selbstrelativierung“ propagiert, der muss sich auch Nietzsches Diagnose des „EuropäerBuddhismus“ Schopenhauers gefallen lassen: „Nihilismus“23.
Ein fruchtbarerer Ansatz Es kann, um zum Abschluss wieder auf die Freiheit zurückzukommen, der recht verstandene Begriff der Entscheidung unmöglich das Merkmal enthalten: „Ist durch ein Fremdes erzwungen“. Der Grund hierfür ist aber nicht, wie Tugendhat meint, das linguistische Faktum, dass das Verb „entscheiden“ „Personalpronomina (oder -nomina) als Subjekte“ (AM, 77) hat, sondern die Sache „Entscheidung“ ist so, dass von ihr nur als von der Entscheidung eines selbstbestimmungsfähigen Ichs sinnvoll etwas ausgesagt werden kann. Wenn ein Fremdes und nicht das
77 Ich selbst der erste und letzte Bestimmungsgrund seiner Entscheidung wäre, dann könnte nur dieses Fremde wahrhaft aussagen: „Ich will“ und „Ich handle“, und dann wäre nicht das Ich ontologisches Subjekt der Entscheidung und Handlung sondern eben dieses Fremde. Tatsache des moralischen Bewusstseins und Voraussetzung des moralischen Urteils ist jedenfalls, dass wir uns diesen Begriff der Freiheit zuschreiben. Im Alltag glauben wir, selbst entscheiden zu können. Der Ich-Begriff in diesem strengen Sinne ist innerhalb eines moralischen Zweckzusammenhanges, in dem es um metaphysisch letzte Urheberschaft geht, unausweichlich und es genügt hier nicht, die Rede vom Ich als zu pragmatischen Zwecken nützliche Fiktion anzusehen, wenn man dem Phänomen der Verantwortung auf den Grund kommen will. Ein fruchtbarerer Ansatz als derjenige Tugendhats wäre es jedenfalls, Freiheit nicht immer nur mit Hilfe des „Verabscheuungsvermögens“24, im Kontext der Suche nach einem verurteilbaren Sündenbock, dem man philosophisch legitim moralische Vorwürfe machen kann, und als Möglichkeitsbedingung von Schuld zu thematisieren, sondern im Rahmen einer umfassenden metaphysischen Theorie von der Würde des Menschen Freiheit als den letzten metaphysischen Grund und Zweck seines Daseins zu denken. Tugendhats eigentliches Problem besteht nicht in den theoretischen „Schwierigkeiten [...] daß die Sprache der Innenansicht des Handelns in die objektive der Kausalität nicht übersetzbar scheint“ (AM, 72), sondern in seinem Begriff vom Menschen in der Natur, den er unbegründet (d.h. nicht letztbegründet) voraussetzt: „[W]as soll es bei einem Menschen heißen, daß er ein erster Beweger sei? Vom Menschen im ganzen, diesem psychophysischen Wesen, kann man es gewiß nicht sagen.“ (AM, 66; Herv. C. F.) Und: „Alles, was man hier sagen kann, ist, daß es, da wir Naturwesen sind, doch sehr merkwürdig wäre, wenn dieses Phänomen [des ‚ich kann‘] an sich nicht physiologisch beschreibbar sein sollte. Herumzuspekulieren über etwas, das man heute nicht weiß, erscheint mir sinnlos.“ (AM, 78; Herv. C. F.)
78 Wenn dies bedeutet, dass Tugendhat der Meinung ist, der Freiheit irgendwann einmal in der intentio recta der Einzelwissenschaften habhaft werden zu können, dann fällt er sogar noch hinter Kants Kritizismus zurück. Im Rahmen dieser naturalistischen Anthropologie freilich kann der geschichtlich-absolute Akt menschlicher Freiheit nicht gedacht werden und muss als „absurde Idee“ erscheinen, wenn man sich von der vorreflexiven Aufdringlichkeit des metaphysischen Problems der Freiheit im Phänomen der Verantwortung nicht sogar verführen lässt, einen prinzipiellen Makel der theoretischen Vernunft anzunehmen, was Tugendhats Rede von den „Schwierigkeiten“ nahe legt und den Absurdismus zementieren würde, anstatt zu prüfen, ob man die Frage nach der Freiheit nicht vielleicht falsch, nämlich im Problembereich einer kausalistisch missverstandenen Natur, gestellt hat. Im Grunde wollte Tugendhat, wie bspw. auch schon Camus25, die Befreiung von der Gewissenspein erreichen, wenn er am Ende seiner Ausführungen über die Willensfreiheit schreibt: „Sie reicht wohl oft nicht so weit, wie man glaubt, und das kann einen dazu führen, mit dem grausamen Instrument der Vorwürfe und Selbstvorwürfe nicht zu leichtfertig umzugehen.“ (AM, 73) Aber nicht die Selbsteinschränkung einer Freiheit, die zuvor als, wenn auch ausgezeichneter, Gegenstand unter Gegenständen, als „Ichgeschehen, das lediglich seinerseits kausal fundiert sein soll“26 (IP, 17; Herv. C. F.), missverstanden wurde, sondern das wahrhaft metaphysische Verständnis der Freiheit und ihrer sie ermöglichenden einschränkenden Bedingungen (Natur und Geschichte) führt den Menschen zur Dankbarkeit für das Gewissen als Erinnerung seiner Würde und bereitet aller (Selbst-) Verdammung ein Ende, indem es den faktischen Irrtum und das faktische Böse mit der Langmut des Bewusstseins zu dulden erlaubt, in der im Prinzip besten Welt zu leben.
79 Anmerkungen 1 Jüngst sind zwei inhaltlich einander entsprechende Essays von Ernst Tugendhat mit dem Titel Willensfreiheit und Determinismus erschienen, nämlich in: Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik (AM), München 2007, S. 57-73, und in: Information Philosophie (IP), Ausgabe 1 (2007), S. 7-17. Ich beziehe mich hauptsächlich auf jenen Essay; da die Essays jedoch bisweilen im Wortlaut voneinander abweichen, zitiere ich immer dann auch diesen, wenn er eine die Problematik von Tugendhats Ansatz prägnanter zum Ausdruck bringende Formulierung enthält. Zudem ziehe ich einen Text Tugendhats hinzu mit dem Titel Nachtrag 2006: Über den Ausdruck ‚ich hätte auch anders können‘ und über die Rede von ‚Verantwortlichkeit‘, in: AM, S. 74-84. Die Version aus AM ist gleichzeitig erschienen in: S. Tröger (Hrsg.), Wie frei ist unser Wille?, Heidelberg 2007, S. 9-29. 2 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister, Erster Band, Stuttgart 91993, S. 114. 3 Franz Kafka, Der Prozeß, Frankfurt/M. 1983, S. 188. 4 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 57. 5 Vgl. Leonhard G. Richter, Heuristische Skepsis, in: Persp. d. Phil., Bd. 20 (1994), S. 61-79. 6 Rudolph Berlinger, Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften, Bd. 1, Amsterdam 1975, S. 102. 7 Es gibt durchaus viele seriöse Natur- und Gesellschaftswissenschaftler, die ihre Grenzen nicht überschreiten und sich im Rahmen des mit ihren Methoden Möglichen mit großem Erfolg bewegen. Freilich wird die Diskussion in den Feuilletons von den anderen beherrscht. 8 Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, zweite Auflage, in: ders., Kleinere Schriften, Zürich 21999, S. 152. 9 Vgl. z.B. Kritik der praktischen Vernunft, A 54; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 46 und Anm. A 54. 10 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A 413. 11 Vgl. Wiebke Schrader, Die Auflösung der Warumfrage, Amsterdam 21975, S. 16 ff. 12 William Shakespeare, Hamlet, München 62004, S. 104. (= Zweiter Akt, 2. Szene, Z. 253 ff.) 13 Vgl. AM, 122 f. Anm.: „Pascal hat umgekehrt argumentiert [...] Aus der Perspektive der intellektuellen Redlichkeit muß man sich hingegen sagen: wenn weder p noch nicht-p theoretisch begründet sind, aber die eine Möglichkeit meinem Wunsch (oder Bedürfnis) entspricht, würde der Grund, daß ich für diese optiere, ausschließlich mein Wunsch sein: ich würde mein Weltbild von meinen Wunschvorstellungen bestimmen lassen, und deswegen muß ich für die andere Meinung optieren.“ Tugendhats „Option“ ist aber nicht wirklich „intellektuell redlicher“, weil sie als bloßes oppositum zu Pascal im irrationalen Paradigma eines postulierten
80 Wählenmüssens ohne Sachkriterium verharrt. Er „optiert“ hier eigentlich dafür, auf die Versuchung der „zerstörende[n] und wunderbare[n] Wette des Absurden“ (Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, übers. Vincent von Wroblewsky, Reinbek b. Hamburg 52003, S. 71) einzugehen. 14 Wiebke Schrader, Das Vernunftopfer des Herzens oder Pascals „ordre du coeur“, in: Persp. d. Phil., Bd. 27 (2001), S. 11-49, S. 43. 15 Wiebke Schrader, Die Dringlichkeit der Frage nach dem Individuum, in: Persp. d. Phil., Bd. 8 (1982), S. 29-100, S. 33. 16 Rudolph Berlinger, Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften, Bd. 2, S. 237. 17 Edmund Husserl, Ms. A V 7, S. 24. 18 Martin Heidegger, GA 5, S. 26. 19 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung, postum erschienen in: Heidegger Studies, Bd. 5 (1989), S. 5-22, S. 8. 20 Michel de Montaigne, Essais, übers. Arthur Franz, Köln 2005, S. 65. Die „Grundbefindlichkeit“ dieses „Daseins“ kann dann konsequenterweise nur noch die Lebens-„Müdigkeit“ (ebd., S. 70) sein. 21 Michael Ende, Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman, Stuttgart 2005, S. 177. 22 Ebd., S. 195. 23 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Stuttgart 111991, S. 244. 24 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 101. 25 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, a.a.O., S. 90: „Das Absurde [...] gibt der Gewissenspein ihre Überflüssigkeit zurück.“ 26 In der Version aus AM steht hier die relativierende Formulierung: „kausal fundiert ist bzw. sein kann“ (AM, 73; Herv. C. F.).
Edgar Früchtel ARS ET ARTES Überlegungen zur antiken Metaphysik des Schönen
Das Gottesgeschenk der Künste, bei Homer zur Erstellung schöner Werke und guter Gedanken bestimmt, wird zur dichterischen Fähigkeit, die Menschen richtiges Verhalten zu lehren. Innerhalb der beiden platonischen Welten bleibt Kunst auf Mimesis beschränkt, da sie im Materiellen wirkt. Aristoteles versteht Kunst als eine an die Gesetze des Kosmos gebundene schöpferische Kraft, die durch Harmonie auf das Schöne zielt. Da Kunst im Menschen Affekte erzeugen kann, die aufgrund ihres Ursprungs Katharsis bewirken, kann sie auch therapeutisch angewendet werden oder führt durch Sehnsucht nach dem Göttlichen zur Schönheit des Geistes. Wie Natur im Vielgebilde Einen Gott nur offenbart so im weiten Kunstgefilde Webt ein Sinn der ew’gen Art; Dieses ist der Sinn der Wahrheit, Der sich nur mit Schönem schmückt Und getrost der höchsten Klarheit Hellsten Tags entgegenblickt. (Goethe)1
1. Die Künste als Gottesgeschenk Wer die Kathedrale von Chartres betritt, ist sogleich von der Fülle der Bilderwelt überwältigt. Staunend schreitet er zunächst zwischen den sog. Monatsbildern und den sieben weiblichen Figuren der Künste auf seinem Weg zum Altar vorbei.2 Die Kathedrale ist das zum Bild gewordene „Itinerarium mentis in Deum“3 wie dies Bonaventura vom menschlichen Pilgerweg aussagt, der
82 durch die irdische Arbeitswelt zum Ursprung in Gott führt. Die sieben artes sind in dieser Deutung die Voraussetzung für jegliche Gotteserkenntnis, denn sie führen den Menschen zu Gott zurück und künden den Weg, wie dies Bonaventura in seiner Schrift De reductione artium ad theologiam darlegt. Das Programm der sieben Künste bleibt eine lange Tradition und dürfte in Chartres auf die Hochzeit der Philologie mit Merkur des Martianus Capella (4. Jh.)4 zurückgehen. Dort wird teilweise in Versen erzählt, daß die sieben Künste der Braut ihre Gaben mitbringen. Diese Geschenke sind zunächst Grammatik, Dialektik und Rhetorik, also das später sogenannte Trivium, das die richtige Sprache und ihre Anwendung in den Diskussionen vermittelt. Dem folgt sodann das Quadrivium, nämlich Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Diese vier Künste interpretieren auf je eigene Weise die berühmte Stelle Sophia (Weisheit) Salomonis 11, 20, nach der Gott die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat.5 In ihrer mathematischen Grundstruktur sind diese Künste eine Nachahmung und ein Versuch des Nachvollzugs der Gedanken Gottes, hat doch Gott nach Amseln von Canterbury (1037-1109) sogar die himmlischen Engelschöre nach dem numerus perfectus6 eingerichtet, der allein die echte Harmonie ergibt. In Chartres ist man sich bei all diesen symbolischen Darstellungen durchaus der Prägung durch die Tradition bewußt, insofern man die eigene Position mit dem Dasein von Zwergen auf den Schultern von Riesen vergleicht.7 Sind mit den Riesen zunächst „nur“ die Lehrer mittelalterlicher Scholastik gemeint, so kann eine derartige Deutung der Künste jedoch sehr viel weiter zurückverfolgt werden. Auf den Gedanken der Künste als Gottesgeschenk stößt man bereits bei Homer. Die Griechen verstanden unter téxnh zunächst Geschicklichkeit und Können ganz allgemein, ähnlich wie auch wir in einem weit gefaßten Begriffsfeld der Kunst auch von Heilkunst, Handwerkskunst usw. sprechen. Alle diese Fähigkeiten wurden als Göttergeschenke angesehen. „Und wie ein kundiger Mann Gold um Silber herumgießt, einer den Hephaistos in allfacher Kunst
83 belehrt hat und Athene, und er vollendet anmutige Werke“, heißt es bei Homer8 und an einer anderen Stelle wird gesagt, daß Athene den Menschen „gegeben hat, daß sie sich auf gar schöne Werke verstehen wie auch auf treffliche Gedanken“9. Ein homerisches Hapaxlegomenon für die Geschicklichkeit eines Zimmermanns, die dieser erst auf Anweisung Athenes erlangt, lautet sofíh,10 was später nur Weisheit bedeutet. Dies zeigt die Weite des Begriffsfeldes der „Künste“, das eben nicht nur das Wissen der Handwerkskünste umfaßt. Die Griechen besaßen für das, was wir Kunst nennen, keinen eigenen Begriff. Das im menschlichen Dasein Notwendige, Kunst und Kultur einer Gemeinschaft erst ermöglichende Wissen stammt nach griechischer Ansicht von Gottheiten. Deshalb rufen die Dichter die Musen herbei oder sie verkünden das, was diese sie gelehrt haben.11 Dichtung ist göttlich inspiriert, deshalb ist es ein Vorzug, Dichter zu sein und zu den Weisen, den sofoí, zu gehören. „Weise ist, wer auf Grund seiner Natur vieles weiß, die aber, die [nur] gelernt haben, krächzen heftig wie Raben mit hurtiger Zunge gegen des Zeus göttlichen Vogel“. Dieser Vers Pindars12 zeigt die Besonderheit des Dichters, der von Zeus inspiriert aus sich heraus vieles weiß und auf dieses Charisma stolz ist. Diejenigen, die nur gelernt haben, können nur „krächzen“ wie Raben, während der Dichter seine Weisheit dem Adler, dem göttlichen Vogel des Zeus, verdankt.13 Epicharm (ca. 550-460), ein älterer Zeitgenosse Pindars (ca. 518-446), der der altdorischen Komödie literarischen Rang verliehen hat, deutet die unabdingbare Voraussetzung des Denkens für alle Menschen als Belehrung durch die göttliche Vernunft. In den ihm vielleicht nur zugeschriebenen Versen heißt es: „Unentbehrlich ist dem Menschen Berechnung und Zahl; durch Zahl und Berechnung leben wir; denn das ist es, was die Sterblichen am Leben erhält.“14 Der griechische Begriff logismów ist dabei nicht nur „Berechnung“, sondern auch „vernünftige Überlegung“, die in der Verwendung von Zahl und Rechenkunst nach pythagorischer Lehre Prinzip des Daseins ist. Deshalb kann Epicharm an anderer Stelle sagen:
84 „Die Vernunft (der Logos) lenkt die Menschen nach Gebühr und erhält sie immerdar. Der Mensch hat seine Fähigkeit zu Rechnen (seinen Logismos), es gibt aber auch eine göttliche Vernunft. Doch die Vernunft des Menschen ist aus der göttlichen entstanden und sie bringt einem jeglichen die Mittel zum Leben und zur Nahrung. Doch die göttliche Vernunft begleitet alle Künste. Denn sie allein belehrt die Menschen darüber, was zu tun förderlich ist. Denn kein Mensch hat irgendeine Kunst erfunden, vielmehr tat dies stets der Gott.“15 Epicharm stellt alle Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit als Gottesgeschenk dar und sieht in diesen Fertigkeiten zugleich einen Umgang mit dem Logismos, der zahlenmäßigen Berechenbarkeit. Darin liegt auch ein Moment der Prüfbarkeit der jeweiligen (kunstlerischen) Fertigkeit wie der kritischen Analyse des menschlichen Könnens. Damit war, wie Gombrich formuliert „das Entstehen einer kritischen Haltung“16 verbunden, die zusammen mit dem agonalen Prinzip zu einer geschichtlichen Entwicklung wird. Diese Besonderheit griechischen Denkens führt aus der Starrheit einer einmal festgelegten Tradition, wie sie die ägyptische Kunst über Jahrhunderte bewahrt, in eine vom Wettbewerb gestaltete Situation. Nur dadurch konnte sich Kunst als Ausdruck menschlicher Freiheit entwickeln.
2. Göttliche und menschliche Kunst bei Platon Die durch Logos und Logismos ermöglichte Freiheit ist zugleich ein Analogon zur göttlichen vernunftverfaßten Struktur, aus der die Gesetze des Kosmos wie der menschlichen Gemeinschaft, wenn auch durch die Belehrung Gottes vermittelt, ihre Bestandsgarantie haben. Die Verwandtschaft von Göttlichem und Menschlichem fand in der Kunst ihren schönsten Ausdruck. Fast alle Kunstwerke werden – wie dies in den antiken Kulturen selbstverständlich war – für kultische Zwecke geschaffen, um Götter und Herrscher zu feiern. Dabei spielt das Moment der
85 Magie eine nicht unbedeutende Rolle. Versuchte man doch mit den Mitteln der Kunst die Götter günstig zu stimmen und hoffte so z.B. auf Sieg oder gute Ernten. Dazu kommt, wie Gombrich17 formuliert „jener Schritt in den Bereich der Phantasie, den wir mit einem irreführenden Ausdruck ‚Idealisierung‘ nennen“, der dazu führt, daß die Künstler „ein Traumbild makelloser Vollkommenheit“18 von fast überirdischer Schönheit in ihren Werken zu schaffen versuchen. So bestätigt der Maler Parrhasios in den Memorabilien des Xenophon19 dem Sokrates, daß Maler bei der Darstellung schöner Körper aus vielen Menschen das, was an jedem Menschen das Schönste ist, zusammenfassen. Maler und Bildhauer müssen daher besonders auf Gesichtsausdruck, Haltung und Bewegung achten und so das Geistige der Menschen ausdrücken. Deshalb fordert Sokrates zum Abschluß dieser Dialoge, daß Bildhauer ihre „Bildwerke entsprechend der Verfassung der Seele darstellen“20. Von der Kunst wird die Abbildung des Sichtbaren gefordert. Wenngleich dafür die Begriffe e†kasía und mimeîsyai und deren Ableitungen verwendet werden, liegt bei Xenophon noch keine „fertige Mimesistheorie“ vor.21 Die Wörter mimeîsyai und später dann mímhsiw bedeuten so viel wie: „Präsentation auf einer anderen Ebene, die gelegentlich den Charakter des Nachahmens, gelegentlich den des Darstellens annimmt“22. Bei Xenophon ist das mimeîsyai auf das Sichtbare bezogen, das der Künstler in seinem Kunstwerk darstellt. Je genauer er dies vermag, um so besser lassen die Werke der Kunst das Wesen des Abgebildeten erkennen. Insofern entspricht die Deutung der Kunst dem wohl schon vor dem 4. Jh. formulierten Schlagwort „= téxnh mimeîtai t|n fúsin“23 (die Kunst ahmt die Natur nach). Platon begnügt sich mit dieser Deutung der Kunst nicht. Er baut das künstlerische Schaffen in seinen Weltentwurf ein. Dabei geht er von einer grundsätzlichen Unterscheidung der Welt des Ewigen und damit des Sich-stets-Gleichen der Ideen und der Welt des Werdens und damit des Sich-stets-Ändernden aus. Der
86 platonische Weltengestalter hat als Bedingung der Möglichkeit seines Tuns den Kosmos der Ideen vor sich. Wie aber wird nun etwas gestaltet? Fragt man nach der Ursache des Werdenden, heißt es „daß das Etwas-Werdende zu etwas wird, auf das es wie durch einen Vorblick bezogen ist. So wird als Ursache des Etwas-Werdens der Demiurg und sein Vorblick bestimmend. Von seinem Vorblick hängt es ab, ob das, was so wird, schön oder nicht schön ist, ob es bestandhaft oder vergänglich ist.“24 Die Welt, „ist das Schönste von allem Gewordenen“, aber eben „notwendig ein Abbild“.25 Als Abbild der Ewigkeit gedeutet, konnte diese Welt nicht ewig sein, und daher schuf – so Platon im Timaios – der Demiurg „mit der Ordnung des Weltalls ein nach bestimmten Maßen fortschreitendes Abbild, […] dem wir den Namen Zeit gegeben haben.“26 Die Natur, in der wir leben, ist daher zeitbedingt und so eine Mischung von „Selbigkeit und Andersheit“ und zugleich eine solche von „Vernunft und Notwendigkeit.“27 In dieser hier nur verkürzt wiedergegebenen Weltendeutung ist die Realität, die uns umgibt, wenn auch auf den Ursprung in der Ideenwelt bezogen, ihrem Sein nach von zweitrangiger Natur. In der Welt des Werdens entwickelt die menschliche Kultur „Künste“, deren Sorge auf das Wohlbefinden von Körper und Seele gerichtet ist. Die von Platon im Gorgias28 behandelten Probleme solcher „echten Künste“, wie Medizin, Gymnastik, Rechtspflege, Gesetzgebung und dann die der „Schmeichelkünste“, wie Schlemmerküche, Putzkunst, Rhetorik und Sophistik müssen wir hier übergehen. Wie gehen zunächst von der im Dialog Sophistes getroffenen Unterscheidung der göttlichen und der menschlichen Kunst aus. Beide Künste bringen sowohl Dinge wie auch deren Abbilder hervor. Die göttliche Kunst erzeugt alle Dinge, aber auch deren Abbilder, wie etwa Traumbilder. Die menschliche Kunst bringt materielle Zusammenfügungen hervor, wie etwa die Baukunst, durch die Kunst der Maler erzeugte Abbilder, denn die Malerei verfertigt „menschliche Träume für Wachende“29. Da nach platonischer Sicht die Welt des Werdens gleichsam eine Abschattung der ei-
87 gentlich seienden Welt der Ideen ist, wird damit die Malerei eine Kunst, die die Schattenbilder nachahmt. Wir haben also eine herarchische Struktur: Gott schafft die Ideen als „Wesensbildner“30, der Handwerker schafft Dinge als „Werkbildner“31, der Maler aber ist nur „Nachbildner“ der Werdewelt. Dabei ist der Handwerker der wahren Welt der Ideen näher als der Maler. Denn „weitab von der Wahrheit steht also die Kunst der Nachahmung“32. Die von Platon so formulierte Abständigkeit der Kunst von der Wahrheit ist der Grund dafür, daß Kunst nach Platon Seiendes nicht in den Blick nehmen kann, denn die Einbindung in die Werdewelt des nur Abgebildeten läßt das eigentlich Schöne unerkannt. In dem in seiner Echtheit umstrittenen platonischen Dialog Hippias stellt Sokrates die Frage nach dem Schönen an sich: „was ist das Schöne selbst, das als Bedingung dafür angesehen werden muß, daß alles, was man als schön bezeichnet, auch wirklich schön sei?“33 Aus dem Vergleich von materiegebundenen Schönheiten – dem schönen Mädchen des Hippias stellt Sokrates die schöne Stute an die Seite – kann diese Frage nicht beantwortet werden. Im platonischen System ist dies nur durch einen Aufstieg im „Erotischen vom einzelnen Äußeren über das Leibliche im allgemeinen durch die Stufen des Geistigen … [möglich], bis man schließlich in die höchste Höhe des Erotischen eingeweiht wird, in die Schau der ‚Idee des Schönen an sich‘ “34. Was das Schöne an sich ist, kann nicht durch Kunst hier und jetzt erfahren werden, sondern nur durch die Schau der Idee des Schönen, die zugleich als Urgrund aller Ideen, das Gute und Seiende ist. Der Ideenkosmos ist aber nicht nur für die Werdewelt das Urbild nach dem der Demiurg das schöpferische Werk vollbringt, er stellt vielmehr die verpflichtende Norm dar, „daß es so gemacht werden soll. Daraus folgert Plato sowohl die Einzigartigkeit des realen Kosmos als auch seine Vollständigkeit hinsichtlich des idealen Modells“35. Alles „Mögliche“ sei schon da, weshalb der alte Plato ein Verbot von Neuerungen fordert, da diese
88 der „unwandelbaren Haltbarkeit“36 des durch die Schicksalsgöttinnen festgelegten Alls entgegenstünden. Um solche Neuerungen besonders bei Gesetzen als schädlich zu bewerten, beruft sich Platon auf die „alte Weisheit der Ägypter“, die seit den Berichten eines Herodot in großem Ansehen stand.37 Bestätigt sieht Platon die Trefflichkeit des Wissens der Alten durch die Erzählungen über die Vorzeit, weil die Menschen damals „in unmittelbarer Obhut der Götter“ standen, wie man glaubte.38 Aus diesen Traditionen heraus lassen die Ägypter eben nur in den „festgesetzten Gesängen und Reigentänzen“ den Göttern huldigen.39 Diese Einstellung vor allem der Musik gegenüber übernimmt Platon. Er lehnt es daher ab, wenn Dichter, „den Rhythmus und die Tonweisen auseinanderreißen, indem sie einerseits bloße Worte in Versmaße bringen, andererseits Melodie und Rhythmus ohne Worte zu Gehör bringen, indem sie sich auf das bloße Zitherspiel oder Flötenspiel beschränken“40. Die Tradition verlangt das Zusammenspiel von Wort und Musik. Dies muß erhalten bleiben. Denn schon der angesehene Musiklehrer Damon, den Platon zitiert, komme zur Erkenntnis, daß man „nirgends an den Gesetzen der Musik rütteln kann, ohne an die wichtigsten politischen Gesetze zu rühren.“41 Die Gesetze der Musik sind deshalb unantastbar, weil sie von den Göttern gegeben wurden, um den Menschen „Ordnung“ und Erziehung zu schenken: „Die Götter aber erbarmten sich des von Natur mit Mühsal beladenen Geschlechtes der Menschen und bestimmten für sie zur Erholung von ihrer Drangsal den bei den Festen geschehenden Wechselverkehr mit den Göttern und gaben ihnen zu Festgenossen die Musen und den Musenführer Apoll und den Dionysos, damit sie sich wieder erholten, auch von den geistigen Anregungen, die aus Festen durch die Anwesenheit der Götter kommen.“42 Werden diese Göttergeschenke richtig genutzt, entsteht die „richtige“ Ordnung des Staates, deren Darstellung dann „die Nachbildung des schönsten und besten Lebens ist, und gerade dies erklären wir tatsächlich für die einzig wahre Tragödie.“43 Die gesamte Kritik Platons an der Kunst ist von der Überzeu-
89 gung geprägt, Kunst verführe ähnlich wie die Rhetorik der Sophisten die Menschen durch Illusion und Täuschung.44 Dennoch spricht Platon der bildenden Kunst, wenn sie gelingt, „Richtigkeit“ zu.45 Dieser Gedanke führt zur Frage, welche Kriterien erfüllt sein müssen, wenn von „Richtigkeit“ der Kunst gesprochen werden kann, eine Frage, die direkt auf das Problem eines Kanons zielt. Bei Platon erhebt Sokrates von allen „Künsten“ die Baukunst zu einer höheren Stufe „weil sie sich des Richtmaßes bedient“46 und daher genauer arbeitet. Kanon ist ein aus dem Semitischen stammendes Lehnwort für Richtmaß, das Polyklet zwischen 430 und 400 in seiner später so betitelten Schrift für seine Proportionenlehre verwendet haben soll.47 Galen schreibt dazu: „Schönheit des Körpers besteht nach Ansicht aller Ärzte und Philosophen im richtigen Verhältnis der Glieder.“48 Mit dieser Proportionenlehre beginnt die Mathematisierung der Kunst, die sich über fast zwei Jahrtausende an der Frage des rechten Maßes für Mensch und Welt abarbeiten sollte.49 Damit setzt Kunst ein bestimmtes Wissen voraus, das der Künstler zu beherrschen hat, damit „richtige Kunst“ geschaffen werden kann.
3. Zur Teleologie von Kunst und Natur bei Aristoteles Hatte Platon die Kunst als Nachahmung negativ bewertet und in seiner Seinshierarchie der Kosmoi deshalb erst „an dritter Stelle vom eigentlichen Sein stehend“ bezeichnet,50 so bestimmt Aristoteles die Techne aus dem doppelten Begriffshorizont, von Wissen und Werden. Das Wissen, das die Entstehung von Kunst erst ermöglicht, ist nicht nur die Kenntnis von Mitteln und die Fähigkeit, diese anzuwenden, sondern auch ein Wissen dessen, warum diese angewendet werden sollen.51 Techne verfolgt ein Ziel, sie wird angewandt, um etwas zu gestalten oder hervorzubringen. Dies hat sie mit der Natur gemeinsam, wie Aristoteles sagt: „Allgemein gesprochen vollendet Techne teils das, was die
90 Natur nicht fertigbringen kann, teils ahmt sie [die Natur] nach. Wenn nun das, was gemäß der Techne wegen ihres Zieles geschieht, so ist es offenbar, daß auch das, was der Natur gemäß geschieht, wegen einer Zielsetzung eintritt.“52 Aristoteles sieht also in der gemeinsamen teleologischen Struktur die Gemeinsamkeit von Kunst und Natur. Beide Bereiche bilden die Welt des Menschen, die als fusiká und poioúmena von den Griechen unterschieden werden.53 „Techne bedeutet für Aristoteles jene besondere Poiesis, die das von ihr Geschaffene in Hinblick auf einen Grund hervorbringt.“54 Mit Recht verweist Grassi darauf, daß nach griechischem Verständnis jegliche Poiesis den Übergang aus dem Nichtsein zu etwas Seiendem bedeutet und zitiert55 Aristoteles: „Alle Hervorbringungen gehen entweder von einer Techne oder von einem Vermögen oder von einem Denken aus.“56 Doch ist jegliches Hervorbringen in dieser Sicht an Gesetze gebunden, die die zyklische Struktur des Kosmos prägen.57 Deshalb kann Techne nicht aus einem absoluten Nichts schaffen, denn auch für das Gestalten der Techne gilt, daß „nicht nur aus Nichtseiendem im akzidentellen Sinne etwas werden kann, sondern alles wird aus Seiendem, nämlich aus solchem, was der Möglichkeit nach ist, der Wirklichkeit nach aber nicht ist.“58 Der Produzierende ist damit „in die kosmische Grundstruktur zurückgebunden … so ist auch sie ‚Kunst‘ noch für den Kosmos ‚gerettet‘, ihm funktional inkorporiert“59. Insofern kann menschliche Kunst Natur nur nachahmen und nicht selbst Seiendes produzieren. Wie dies zu verstehen ist, erklärt eine Stelle in der Poetik. Dort heißt es: „Da nun diejenigen, die nachahmen, handelnde Menschen nachahmen und solche notwendigerweise entweder edlen oder gemeinen Charakter haben (denn unter diese beiden Kategorien fallen so ziemlich alle Charaktere, denn alle Menschen unterscheiden sich im Charakter durch Tüchtigkeit und Schlechtigkeit), so werden [von den Dichtern] entweder Menschen nachgeahmt, die besser sind als es bei uns vorkommt oder schlechter oder aber solche wie wir selbst sind. So verfahren
91 auch die Maler. Polygnotos hat edlere, Pauson häßlichere, Dionysios aber ähnliche gemalt.“60 Der Künstler ist dabei nicht an die Realität gebunden, er hat als „nachahmender Künstler“ die Freiheit, die Gegebenheiten zu zeigen, „wie sie waren oder wie sie sind, oder so wie man erzählt, daß sie seien, oder schließlich so, wie sie sein sollten.“61 Diese künstlerische Freiheit begründet Aristoteles mit der platonischen Position, daß es „Ideen nur für natürliche Dinge gibt.“62 Deshalb „befreit [Aristoteles] den Mimesisbegriff aus seiner ontologischen Fundierung, jedenfalls im poetologischen Zusammenhang.“63 Der Mimesis „wohnt eine schöpferische Kraft inne, die über ein bloß nachahmendes Verhalten hinausgeht, indem sie menschliche Verhaltensweisen nicht nur realistisch abschildern, sondern idealisieren und parodieren kann, und zwar orientiert an der Kategorie der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit.“64 Dies bestätigt ein bei Jamblich erhaltenes Fragment aus dem Protreptikos des Aristoteles. Dort heißt es: „Es geschieht nun auch das, was durch die Natur geschieht, um eines Zweckes willen, und zwar ist dieser Zweck stets besser als derjenige, den die Kunst verfolgt. Denn nicht die Natur ahmt die Kunst nach, sondern diese die Natur, und ihre Aufgabe ist es, die Natur zu unterstützen, und zu ergänzen, was diese an Lücken gelassen hat.“65 Die nachahmenden Künste mögen sich in ihren Mitteln, ihrem Stoff und in der Art ihrer Darstellungsmöglichkeiten unterscheiden,66 ihren Ursprung verdanken sie nach Aristoteles67 zwei Ursachen, nämlich einmal dem dem Menschengeschlecht innewohnenden Nachahmungstrieb und zum zweiten der Freude an den Produkten der Nachahmung. Weil aber ebenso Rhythmus und Harmonie unserer Natur entspricht, so haben „von Anfang an die besonders Begabten allmählich die Gestaltungskunst hervorgebracht.“68 Musik und Tanz gehören daher zu den Künsten, von denen Aristoteles sagt, daß sie, die Nachahmung durch Rhythmus, Wort und Melodie bewerkstelligen.“69 Dabei ist Rhythmus „von Platon und Aristoteles als Ordnung der Be-
92 wegung bestimmt“70 und als künstlerische Bewegungsordnung dann in der Nachahmung einer Handlung, also in der Kunst gegeben, wenn er als „Ordnung der Bewegung in bezug auf das Sinngebende als die ursprüngliche Form der mímhsiw têw prájevw, der Kunst angesehen“71 wird. Ein Kunstwerk bedarf also der angemessenen Proportion seiner Teile, damit durch solche harmonische Zuordnung der Zusammenfügung der richtige Rhythmus entsteht: „Weil aber das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem zusammengesetzten Ding nicht nur darin besteht, daß die Teile wohlgeordnet sind, sondern daß das Ganze eine bestimmte, nicht zufällige Größe besitzt – denn das Schöne besteht in Größe und Ordnung –“72 muß ein Kunstwerk dementsprechend gestaltet sein. Mit Recht verweist Grassi auf eine Stelle in Aristoteles’ Metaphysik, wo es heißt: „Die wichtigsten Aspekte des Schönen sind Ordnung, Symmetrie und Abgrenzung, die besonders die mathematischen Wissenschaften aufweisen.“73 Kunst und mathematische Wissenschaften sind deshalb Ausdruck des Schönen, weil sie – modern ausgedrückt – Interpretationshorizonte der aristotelischen Welt sind. Kosmos ist daher in seiner ursprünglichen Bedeutung Schönheit und richtige Ordnung, was als Grundstruktur der Welt auf Vernunft beruht: „Wenn also jemand erklärte, daß Vernunft (nous) wie in den lebenden Wesen, so auch in der Natur die Ursache aller Schönheit (kosmos) und aller Ordnung (taxis) sei, dann würde er gegen die Früheren wie ein Nüchterner gegen sinnlos Redende erscheinen.“74 Das Streben nach Erkenntnis dieser Ursachen führt in die Theologie, insofern sie das ursprüngliche Sein und damit die Gottheit untersucht. Nach Aristoteles ist es der erste Gott, der als Bewegungsprinzip, als der den Himmel umschließende Aion, selbst unbewegt, die ewige Bewegung hervorbringt und als Ziel allen Strebens und Denkens im Selbstdenken seine Glückseligkeit findet. Dieser Gott hat für die verschiedenen Planetenbewegungen eine Vielzahl weiterer Götter unter sich. Der erste Beweger des Alls ist dabei der „wissenschaftliche“ Substitut des Ari-
93 stoteles für den „mythischen“ Demiurgen der platonischen Welterklärung.75
4. Göttliche Mania, medizinische Heilung und religiöse Katharsis Die Götter sind es, die nach hellenischer Überzeugung mit den Künsten zu ehren sind. Für sie fanden nicht nur die Gottesdienste der Tragödien, die Wettkämpfe zu Olympia statt, sondern auch Prozessionen aller Art, bei denen Kunstwerke mitgetragen oder gezeigt wurden. Künstler standen also nicht nur beim Bau von Tempeln im Dienste der Götter, sondern auch die Dichtung betreibt in den erzählten Mythen geradezu „narrative Theologie“. Die griechische Tragödie steht deshalb im Zentrum dieser Theologie, weil sie durch Beispiele göttlichen Einwirkens auf das menschliche Schicksal, die in Handlungen demonstriert werden, versucht, seelische Teilnahme an fremden Glück und Unglück zu erzeugen. Die so hervorgerufenen Affekte sollen durch Leiden Lernen ermöglichen. Daß zumindest bei der späteren Tragödie die medizinische Lehre von den Affekten eine Rolle spielt, konnte Flashar durch schlagende Belegstellen erweisen. Religiöse Katharsis und medizinische Heilung von psychischen Leiden können nach antiker Deutung durch Erzeugung von Affekten bewirkt werden. Weil das Ansehen eines Theaterstückes “don} im Zuschauer hervorrufen kann, ist es möglich dies therapeutisch zu nutzen: „die Medizin nimmt die Dichtung für die Heilung einer Krankheit zu Hilfe, in der Poetik bedient sich Aristoteles einer medizinischen Anschauung, um die Wirkform der Dichtung zu verdeutlichen.“76 Fragt man, woher die Dichter diese Kraft zur Erzeugung von Affekten beim Publikum haben, so findet sich die Antwort bereits bei Platon. Im Dialog Ion, auf den Aristoteles anspielt, vergleicht Sokrates die Wirkung guter Dichtung mit der eines
94 Magnetsteines. Dieser ziehe nämlich nicht nur eiserne Ringe an, sondern bewirke eine solche Anziehungskraft auch bei den vom Magnetstein angezogenen Ringen. Daher sei eine gute Rede über Homer keine eigentliche Kunst,77 sondern verdanke sich der göttlichen Kraft, die aus dieser Dichtung auf den Interpreten überspringt. „Ebenso erfüllt die Muse selbst zunächst die Dichter mit göttlicher Begeisterung und indem durch diese Begeisterten wieder andere in Begeisterung versetzt werden, bildet sich eine Kette. Denn alle guten epischen Dichter geben ihre schönen Dichtungen nicht als Werke überlegter Kunst von sich, sondern tun dies in einem Zustand der Begeisterung und Verzückung.“78 Die Dichter rufen die Musen an und eine Muse macht den Dichter zum ¡nyeow, also zu einem, der von Gott erfüllt ist, aus dem Gott spricht und der deshalb im Zuhörer Affekte auslösen kann. Aristoteles nimmt diesen Gedanken auf und sieht die Dichtung als Geschenk der Göttergaben. Dichtung sei ¡nyeon, eine Gabe an ausgewählte, gottbegeisterte Menschen.79 In den Problemata, einer Schrift, die freilich nicht von Aristoteles selbst stammt,80 wird für die Fähigkeit, ein solches göttliches Geschenk aufnehmen zu können, eine Erklärung gegeben, die aus medizinischen Quellen schöpft. Dort heißt es: „[Alle diejenigen,] die allzuviel warme Galle besitzen, sind geneigt, in Verzückung zu geraten, oder sie sind von Natur besonders talentiert … Viele aber werden auch, weil diese Wärme nahe dem Sitz des Verstandes ist, von krankhaften Anfällen der Raserei (manikoîw) und der Verzückung (\nyousiastikoîw) ergriffen; so entstehen die Sibyllen (Síbullai), die Wahrsager (Bákidew) und alle Gottbegeisterten (¡nyeoi), soweit sie nicht durch Krankheit, sondern durch ihr physisches Temperament (fusik_ krásei) so geworden sind.“81 Diese nicht einfach zu interpretierende und umstrittene Stelle soll in unserem Zusammenhang nur insofern herangezogen werden, als sie für die Entstehung von Dichtung von Belang ist. In der Übersetzung sind Bákidew als Wahrsager82 und ¡nyeoi als Gottbegeisterte wiedergegeben. Bei diesen zwei Gruppen wie
95 auch bei den Sibyllen handelt es sich um Ekstatiker, also um Menschen, die Trancezustände haben und im Zustande des Außer-sich-Seins Aussagen machen. In ähnlicher Weise verfahren die Mantiker. Manía und Mantik gehen auf die selbe etymologische Wurzel MAN zurück, wovon manyánv (ich lerne), ménow (Mut, Sinn) und auch mémnhmai (ich erinnere) und die damit verwandten Wörter abzuleiten sind.83 „Es gibt in vielen Kulturen auch anerkannte Formen des ‚Wahnsinns‘, der Ekstase oder medialen Versunkenheit, die aus dem Außerordentlichen neue Botschaften vermitteln, oft mit dem Anspruch direkten Zugangs zum Göttlichen.“84 In der Ekstase seien daher manche Dichter besser, urteilt der Verfasser der Problemata und wenn die übermäßige Wärme auf ein Mittelmaß abgeschwächt sei, dann seien sie zwar Melancholiker aber „besonnener und weniger exzentrisch, in vieler Hinsicht anderen überlegen, sei es durch geistige Bildung, sei es durch künstlerische Begabung, sei es durch staatsmännische Fähigkeit.“85 Mit dieser Erklärung durch die physiologisch gedeuteten Ursachen manischer Zustände greifen die Problemata auf Platon zurück. Im Dialog Phaidros unterscheidet Platon menschlichen Wahnsinn, der von Krankheiten kommt, vom „göttlichen“ Wahnsinn. „Von diesem göttlichen Wahnsinn“ sagt dort Sokrates „unterscheiden wir nach vier Göttern vier Arten, wobei wir die Begeisterung des Sehers (mantik| … \pípnoian) dem Apollon zuschreiben, die des Weihepriesters (telestik}n) dem Dionysos, die des Dichters (poihtik}n) den Musen, die des Verliebtseins (\rvtik|n manían) Aphrodite und Eros.“86 Die Problemata bringen nun an Stelle dieser mythischen Begründung der Mania eine naturwissenschaftliche und zugleich eine auf Freiheit basierende Erklärung der Kunst. Der Künstler unterscheidet sich vom Kranken dadurch, daß er besonnener umzugehen weiß mit seinen ekstatischen Erlebnissen. „Der göttliche Wahn wird zu einer Erregbarkeit der Seele gemacht und damit die Größe des geistigen Menschen an das Maß seiner Erlebnisund insbesondere seiner Leidensfähigkeit geknüpft.“87 Somit
96 wird die Deutung von Melancholie, die sich die Problemata zur Aufgabe gemacht haben,88 in aristotelischer Tradition89 beim gesunden Mittelmaß der Wärme von Galle auf die Entscheidung des Einzelnen zurückgeführt. Der Einzelne ist eben „Ursprung und Prinzip seiner Entscheidungen.“90 Diese Auslegung wird in der hellenistischen Medizin nicht weiter verfolgt, vielmehr behandelt man die Melancholie als Krankheit.91
5. Vom Naturschönen zur Schönheit des Geistes Der Mittelplatonismus nimmt die platonische Unterscheidung von Idee und materieller Welt auf, wie sie bei Albinus zu finden ist, wodurch die Werke der Kunst nur als Abbilder gewertet werden. Erst Plotin entwickelt in seiner Frühschrift (Ennead. I, 6) eine neue Sicht des Schönen, die freilich auf der Unterscheidung der beiden platonischen Welten beruht. Mag diese Schrift auch, wie Harder annimmt, noch gnostisch beeinflußt sein,92 so geht doch der Gedankengang von der Schönheit dieser Welt, also von der Schönheit des Kosmos, und der Werke der guten Menschen aus. Doch muß die Erfahrung der Schönheit unserer Welt auf ihre geistige Substanz „hinaufgeführt“ werden ins Licht,93 was man nur durch den Blick in das Innere erreichen kann. Dieser Blick führt zu einer inneren Läuterung. Deshalb heißt es: „So muß die Seele das Gesicht daran gewöhnen, daß es zuerst die schönen Tätigkeiten sieht und dann die schönen Werke, nicht die, welche die Künste schaffen, sondern die, welche Männer, die man gut nennt, hervorbringen. Und dann blicke auf die Seele derer, die diese schönen Werke tun. Wie kannst du eine gute Seele erschauen, die eine solche Schönheit hat? Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an; und wenn du siehst, daß du nicht schön bist, mach es wie der Bildhauer, der von einer Skulptur, die schön werden soll, an einer Stelle etwas fortmeißelt, an einer anderen etwas glättet, bis er das schöne Antlitz an der Skulptur
97 vollendet hat“94. Wie bei Platon ist die Schönheit, die die Künste hervorbringen zwar nur Abglanz des eigentlichen Schönen,95 das nur im Geistigen zu finden ist, aber die „Werke der guten Männer“ sind gleichsam der Ansporn, die materielle Welt auf Spuren der Geistigkeit zu durchmustern und so zur geistigen Schönheit durch den Rückzug in den Bereich „der Schönheit der Seele“ zu gelangen. Diese Schönheit ist derjenigen in der Natur weit überlegen, weil sie ihre Schönheit von der absoluten, der geistigen Schönheit bekommen hat, während die Schönheit der Natur nur eine vermittelte ist und deshalb nur einen Abklatsch des Schönen darstellt.96 Den Horizont dieser plotinischen Wertungen im Bereich des Schönen bildet die platonische Sicht des Schönen und die Lehre der Anamnesis. Die Seele hat ja in ihrer Präexistenz die Idee des Schönen erblickt und besitzt daher ein deutlicheres Bild des Schönen in sich im Vergleich zu dem, was die Natur vermitteln kann. Die Sehnsucht, diese geistige Schönheit wieder zu sehen, bringt die Seele auf den Weg des Transzendierens, der über das Geistige hinaus bis in die absolute Einheit des plotinischen Hen führt, des Urgrunds allen Seins.97 Damit nimmt Plotin augustinische Gedanken, wenn auch im griechischen, also apersonalen Horizont, vorweg.98 Da aber der Kosmos in griechisch-platonischer Sicht das schönste aller Lebewesen ist, bleibt auch für Plotin diese Welt Ausgangspunkt für die Hinwendung zum Selbst der Seele. Denn die Freude am Schönen in dieser Welt steht am Beginn des Aufstiegs zum Göttlichen. Plotin versucht den Grund für diese Bewegung der Seele zu erklären und fragt deshalb, was „den Blick des Beschauers [der Natur] erregt und was das ist, das beim Betrachten Freude auslöst.“ Als Antwort findet er, daß es die Symmetrie der Teile, also die harmonische Zuordnung der Teile eines Artefaktes zum Ganzen und das Moment der richtigen Färbung sind und greift somit auf stoische Tradition zurück.99 Wenngleich Plotin für die „nachahmenden Künste“ keine Ideen in der oberen Welt annimmt, so ist er andererseits davon über-
98 zeugt, daß künstlerische Schöpfungskraft göttlichen Ursprungs ist, wenn sie von der allgemeinen Symmetrie ausgeht: „Wenn aber etwa eine künstlerische Fähigkeit, ausgehend von der Symmetrie der einzelnen Lebewesen, die Symmetrien von Lebewesen überhaupt zum Gegenstand der Betrachtung machen würde, so wäre dies Vermögen ein Teil jener Kraft, welche auch dort oben die Symmetrie aller Dinge im Geistigen betrachtet und anschaut.“100 Die Symmetrie als Ziel der Künste ist sozusagen das geistige Band, das aus der Welt der Ideen, echtes Künstlertum auch in der Welt der Materie ermöglicht. Dieser Gedanke bildet in der mittelalterlichen Weltsicht die Grundlage der artes liberales, deren Aufgabe es ist, die Schöpfung, die der Schöpfer insgesamt „mit Maß, Zahl und Gewicht“ geordnet hat,101 zu loben und zu preisen, wie dies die Figuren der Kathedrale von Chartres symbolisch darstellen, die wir eingangs erwähnt haben. Metaphorisch ist damit die Anteilnahme der Künstler am Absoluten ausgedrückt. Denn „hat der einzelne Künstler in seinem Schaffen nicht ontologischen Anteil an der ars absoluta, so ist sein gestalthervorbringendes Tun ästhetisch kriterienlos. Sein Kunstgebilde bleibt ohne Maß, Ordnung und Begrenzung, weil er durch seine ontologische Beziehungslosigkeit aus seinem Schaffen den seienden Logos der Schönheit eliminiert.“102 Anmerkungen 1 Ursprünglich zum Jahresfest 1817 dem edlen Künstler-Verein zu Berlin gewidmet, dann aufgenommen in Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 8. Kapitel. 2 Vgl. zum folgenden u.a. auch Hans-Joachim Fischer, Wie kommt man in eine Kathedrale; in: Scheidewege, Nr. 45, (2004/2005), S. 278-299. 3 Vgl. Bonaventura (1217-1274), Itinerarium mentis in Deum, De reductione artium ad theologiam, hrsg. v. J. Kaup, München 1961. 4 Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, libri novem, hrsg. v. J. Willis, Leipzig 1983. 5 Zur Interpretation vgl. Mensura. Maß, Zahl und Zahlensymbolik im Mittelalter, hrsg. v. A. Zimmermann (Miscellanea Mediaevalia; 16/1 u. 2), Berlin/New York 1983 u. 1984.
99 Anselm v. Canterbury, Cur Deus homo, XVI. Johannes von Salisbury, Metal. 3, 4; in: Patrologiae cursus completus Series Latina, Bd. 199, Sp. 900: „Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantium humeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur megnitudine gigantea“. Zur Interpretation vgl. Walter Haug, Zwerge auf den Schultern der Riesen, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. v. R. Herzog u. R. Kosselleck, (Poetik und Hermeneutik; 12), München 1987, S. 167 ff.; ferner M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Darmstadt 19882, Bd. 2, S. 440. 8 Homer, Od. VI, 232 f. (Übers. Schadewaldt). 9 Ebd., VII, 110 f. Vgl. Homer, Il. XV, 410 von der Zimmermannskunst beim Schiffsbau. 10 Il. XV, 412. 11 Ilias und Odyssee beginnen bekanntlich mit dem Anruf der Göttin bzw. der Muse als der zuständigen „Vermittlungsinstanz“ dichterischen Wissens. In Ilias II 484 wird ausdrücklich alles Wissen auf die Eingebung durch die Musen zurückgeführt: „Sagt mir nun Musen … Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles / Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts“ (Übers. Schadewaldt). Hesiod wiederum erzählt davon, daß „die beredten Töchter des großen Zeus“ ihm „göttlichen Sang einhauchten, damit“ er „Künftiges und Vergangenes rühme“ (Theog. 31/32). In Werke und Tage sagt Hesiod: „will ich doch den Sinn des die Ägis schwingenden Zeus auch so verkünden, da mich die Musen lehrten, mein Lied ohne Begrenzung zu singen.“ (660/661) 12 Pindar, Olym. II, 94/5 f. 13 Der göttliche Vogel des Zeus, der Adler, ist des Gottes schneller Bote: Il. VIII, 247 u.ö.; Pindar bittet Zeus an anderer Stelle, er möge „die Regel des Liedes ehren, das für den olympischen Sieger“ verfaßt wird (Olym. VII, 90). Dies zeigt das „enge“ Verhältnis des Dichters zum höchsten Gott. 14 Epicharmos Frg. 57, Fragmente der Vorsokratiker (= FVS), hrsg. v. H. Diels u. W. Kranz, 3 Bde., 61951 f., Bd. I, 206. 15 Ebd., Frg. 57. 16 E.H. Gombrich, Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984, S. 215. 17 E.H. Gombrich, Kunst und Kritik, Stuttgart 1987, S. 16. 18 Ebd. Dieses Schönheitsideal prägte die Kunst über Jahrhunderte, zumal immer mehr Kunstwerke bekannt wurden. 1755 veröffentlicht dazu Winkelmann seine Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst und begründet damit die moderne Klassik. 19 Xenophon, Mem. III 10, 3. 20 Zur Textgestaltung und Interpretation dieser Xenophonstelle vgl. F. Preißhofen, Sokrates im Gespräch mit Parrhasios und Kleiton; in: Studia Platonica. Festschrift für Hermann Gundert, hrsg. von Döring und Kullmann, Amsterdam 1974, S. 21 ff. 6 7
100 Preißhofen (wie Anm. 20), S. 31. Hellmuth Flashar, Die klassizistische Theorie der Mimesis; in: ders., Eidola, Amsterdam 1989, S. 202. Friedrich Kittler (Musik und Mathematik, Band 1, Hellas, Teil 1: Aphrodite, München 2006) erzählt in seinem Kapitel Mimesis (S. 126-154) in munterem Plauderton von Götter- und Heroenhochzeiten und Menschenliebespaaren, die es den Göttern gleichtaten. Die Mimesistheorie ist für ihn das Ergebnis „soziologischer Klimmzüge“ (S. 127, Anm. 2). 23 Zitiert nach Flashar (wie Anm. 22), S. 203: Ps. Hippokrates, de victu I, 11-24. 24 H.G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos Timaios; in: SHAW PH (1974), 2. Abt., S. 9). 25 Tim. 29a 5-29b 1. 26 Tim. 37d 4-d 7. 27 Tim. 46d 4-47e 6. 28 Gorgias 464b ff. 29 Sophistes 267c 7. Vielleicht spielt Platon mit dieser Stelle auf Euripides, Alkestis v. 348 ff. an. „Bevor Alkestis stirbt, spricht ihr trauernder Gatte Admetos von der Statue, die er machen lassen wird: Jedoch dein Bild von kund’ger Meisterhand bereitet, will auf meine Lagerstätte ich mir legen es zu umarmen und mit meinen Händen es liebkosend, mit deinem süßen Namen zärtlich es zu nennen. Als ob in meinen Armen mein geliebtes Weib mir läge, wenn’s auch nicht so ist. Gewiß ein Wahn nur doch die schwere Last auf meiner Seele mir erleichtern sollt’es. Was Admetos sucht, ist kein Zauber, nicht einmal ein Versprechen, nur ein Traum für die, die wachen;“ vgl. E.H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart/Zürich 19862, S. 151. 30 Gott wird futourgów genannt, wörtlich „einer der die Natur, das Wesen einer Sache, hervorbringt.“ Daß an dieser Stelle (Pol. 596b 10) der Demiurg die Ideen erzeugt und sie nicht vorfindet, darf nicht überinterpretiert werden, wenngleich aus diesem Bild der spätere Topos „von den Ideen im Geiste Gottes“ mit veranlaßt sein könnte. 31 Dhmiourgów ist hier (597d 9) Handwerksmeister, der Werke verfertigt, also „Werkbildner“ (Schleiermacher). 32 598b 6: Pórrv ƒra pou toû ˙lhyoûw = mimhtik} \sti … Zur Interpretation der gesamten Stelle Politeia (396b) vergleiche G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Paderborn/München/Zürich 1989, S. 390 ff. Reale betont dabei besonders Platons Aussage über die Güte Gottes. Vgl. zum Problem u.a. E. Grassi, Die Theorie des Schönen, Köln 1962, S. 105115. 33 Hippias I, 288a 8, Übersetzung nach Apelt. 34 Vgl. Gauss, Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platons, Bern 1958, Bd. II, S. 107. Symposion 210e 2; vgl. G. Reale (wie Anm. 32), 21 22
101 S. 165 f. Das Schauen ist dabei höchste Erkenntnis vgl. Chr. Schefer, Platons unsagbare Erfahrung: Ein anderer Zugang zu Platon, (SBA; 27), Basel 2001, S. 116 u.ö. 35 H. Blumenberg, Nachahmung der Natur; in: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 70. 36 Legg. 960c. 37 Vgl. besonders Herodot, lib. II u. III, 1-16; ferner J. Assmann, Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, München 2000. 38 Vgl. Platon, Krat. 398, Politikos 271 u.ö. 39 Vgl. legg. 799a ff. Ferner W. Theiler, Die bewahrenden Kräfte im Gesetzesstaat Platos; in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, S. 253 ff. 40 Platon, legg. 669d 5 ff. 41 Platon, Pol. 424c 5; vgl. auch FVS, Damon B 10. Damon war von Platon hochgeschätzt, er war Musiklehrer des Perikles und auch dessen politischer Ratgeber. Er sah in der Musik eine Möglichkeit, Seelenregungen zu erzeugen und baute auf seiner Musiktheorie eine Pädagogik auf. Wie groß seine Wirkung war, zeigt neben seinen häufigen Erwähnungen ein auf einem Hibeh-Papyrus (Nr. 13) erhaltenes Fragment eines Anonymus, das sich kritisch mit Damon auseinandersetzt. Vgl. Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie der Antike, Band 2/1, Sophistik. Sokrates. Sokratik. Mathematik. Medizin, hrsg. von George B. Kerfeld und H. Flashar, Basel 1998, S. 104. 42 Platon, legg. 653c 9 ff. 43 Ebd., 817b 4 f., vgl. E. Grassi (wie Anm. 32), S. 113. 44 Vgl. W. Welsch, Das Zeichen des Spiegels. Platons philosophische Kritik der Kunst und Leonardo da Vincis künstlerische Überholung der Philosophie; in PhJ 90 (1983), 2. Hbb., S. 230 ff. 45 Platon, Krat. 430d. 46 Platon, Phil. 56b 4 ff. 47 Zum folgenden vgl. H. Oppel, KANVN; in: Philologus, Suppl. XXX, Heft 4: Platon S. 19 ff.; Polyklet, S. 14 ff. Ferner H. Ohme, Kanon; in: RAC XX, S. 2 ff. Vgl. Gombrich, Kunst und Kritik (wie Anm. 17), S. 202. 48 Galen, de plac. Hipp. et Plat. 449 (446 Müller; Corpus Medicorum Graecorum 5, 4, 1, 2, 308, Sonntagbauer). 49 Im Mittelalter wird auf die Proportionenlehre des Vitruvius, arch. III, 1 oft zurückgegriffen, wo das Maß des menschlichen Körpers als „Grundmaß für Tempel“ etc. angenommen wird. Dürer zitiert diese Stelle in den Entwürfen zum Lehrbuch der Malerei Nr. 3: „Von der Gliedmoß der Menschen“, vgl. A. Dürer, Schriften und Briefe, hrsg. v. E. Ullmann u. E. Pradel, Leipzig 1973, S. 157. Sebastian Brant verfaßt in der Einleitung zu den Werken Vergils 1502 ein Distichon: Doctior Eupompus sine arithmo posse negavit Picturam quemque perficere ingenuam“, zitiert nach F. Anzelewsky, Dürer-Studien. Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke, Berlin 1983, S. 98. Ausgangspunkt für solche
102 Überlegungen sind Ficinos Interpretationen von Alberti und Cusanus. – Vgl. Anzelewsky, S. 90 f. Zu Dürer vgl. sein Dresdner Skizzenbuch. Dürers Studien entspringen einerseits seiner Suche nach dem Geheimnis der Schönheit, andererseits aber auch den Problemen, die ihn als Lehrer und Erzieher beschäftigten. Vgl. Grombrich, Kunst und Illusion (wie Anm. 29), S. 185 f. 50 Platon, Pol. 599a 2; vgl. Blumenberg (wie Anm. 35), S. 65. 51 K. Bartels, Der Begriff Techne bei Aristoteles; in: Synusia, Festgabe für Wolfgang Schadewaldt, hrsg. v. H. Flashar u. K. Gaiser, Pfullingen 1965, S. 275 f. 52 Arist. Phys. B 8, 199a 15; vgl. Silvio Vietta, Die vollendete Spekulation führt zur Natur zurück. Natur und Ästhetik, Leipzig 1995, S. 15. Kunst wird dort aristotelisch eingeordnet in die Gesamtstruktur der Welt, in deren sich selbst steuernden Prozeß Aristoteles die Naturordnung sieht. 53 Zur Unterscheidung der Bereiche vgl. M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962, S. 53 ff. 54 Grassi (wie Anm. 32), S. 120. 55 Ebd., S. 122. 56 Arist. Meta. 19032a 28 f. 57 Arist. Meteo. 346b 16-347a 6, vgl. Blumenberg (wie Anm. 35), S. 71. 58 Arist., Met. 1069b 17. 59 Blumenberg (wie Anm. 35), S. 71. 60 Arist., Poet. 1448a 1-a 6; vgl. W. Braungart, Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung, Stuttgart 1989, S. 64. 61 Arist., Poet. 1460b 10. 62 Arist., Meta. 1070a 18. 63 Flashar (wie Anm. 22), S. 204. 64 Ebd., S. 205. 65 Arist., Prot. Frg. 11 Ross = Jamblich, Prot. 9, 49 Pis (= 80, 5 f. d. Plac.). Das Verhältnis von Kunst zur Natur wird nirgendwo „so wie hier zusammenhängend abgeleitet“. W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923, S. 75. Jaeger interpretiert: „nicht die Natur zeigt nach Aristoteles, ‚Ansätze‘, die der Mechanik an Kunst nahekommen, sondern umgekehrt ist alle Kunst lediglich ein Versuch des Menschengeistes, mit der schöpferischen, organischen Natur zu wetteifern, freilich in einem anderen Medium, dem des technischen Konstruierens, wo von einem télow im höchsten, organischen Sinne niemals die Rede ist“, S. 70, Anm. 2. „Unter Berufung auf den Sophisten Antiphon illustriert Aristoteles den Unterschied von Naturgegenständen zu Artefakten an einem Gedankenexperiment: Man grabe ein hölzernes Bettgestell ein und stelle sich vor, beim Verfaulen treibe es einen Schößling hervor. Aus ihm entstünde nicht, was Kinder beim Eingraben von Pflaumenkernen erwarten, ein ‚Bettenbaum‘ oder ein neues Bett, sondern lediglich Holz (Phys. II, 1, 193a l12-14)“, zitiert nach O. Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 110. 66 Arist., Poet. 1448a 24 f. 67 Ebd., 1448b 4.
103 Ebd., 1448b 20. Ebd., 1447a 22. 70 Plat., legg. 664e. 71 Grassi (wie Anm. 32), S. 130. 72 Arist., Poet. 1450b 34. 73 Grassi (wie Anm. 32), S. 141 mit Verweis auf Arist., Met. 1078a 36. Vgl. R. Berlinger, Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften, Bd. II, Amsterdam/Hildesheim 1980, S. 44 ff. 74 Met. 984b 15, Übersetzung nach Bonitz. Diese auf Vernunft aufgebaute Grundstruktur ist teleologisch auf die letzte Ursache, auf den ersten unbewegten Beweger als das o˚ ¡neka angelegt. Vgl. Charles Kahn, The Place of the Prime Mover in Aristotle’s Teleology; in: Allan Gotthelf (ed.), Aristotle on Nature and Living Things, Pittsburgh and Bristol 1985, S. 183-205. 75 Ch. Kahn (wie Anm. 74), S. 196; „Der Topos eines prôton kinoûn ist eine Notwendigkeit, ein notwendiges Erfordernis, des zugrundegelegten Begriffs. Unter dem Blickwinkel zu erklärender Bewegung gedacht, bleibt daher auch „der Gott“ (` yeów) der Metaphysikschrift des Aristoteles (Met. XII, 7), was er als der Topos der „Physik“ gewesen war: eine aus begrifflicher Notwendigkeit zu machende Annahme, eine postulierte [urseiende] ˙rx}. W. Schrader, Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen; in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 11 (1985), S. 167. 76 H. Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung der griechischen Poetik, in: ders., Eidola. Ausgewählte Schriften, Amsterdam 1989, S. 110-145. Zitat S. 131. Vgl. auch ders., Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie; in: Eidola, S. 147-169. 77 Platon, Ion 533d 1. 78 Ebd., 533e 4 ff. 79 Arist., Rhet. 1408b 19. 80 Vgl. Flashar (wie Anm. 76), S. 136 ff. 81 Problemata 954a 33 zitiert nach Klibansky, Panofsky, Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt v. Ch. Buschendorf, Frankfurt 1990, S. 67 f. 82 Bakiden von Bacchos abgeleitet, könnte nach W. Burkert (Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1977, S. 253 f.) ein semitisches Lehnwort sein mit der Bedeutung „Weinen“, „wobei die Griechinnen, die Dionysos suchen, den Frauen Israels, die „den Tammuz beweinen“ entsprechen würden.“ (S. 254). 83 Mantik, die „Seherkunst“ mit deren Hilfe Orakel verkündet werden, „kommt von Mantis, was so viel bedeutet wie „Verkünden göttlichen Willens“. Vgl. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 234. 84 W. Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998, S. 196. 85 Problemata 954b 1 f. 86 Platon, Phaidr. 265b 1 f. 68 69
104 Klibansky et al. (wie Anm. 81), S. 92. Problemata 953a. Zur Interpretation allgemein von Melancholie vgl. u.a. László F. Földényi, Melancholie. Erweiterte Neuausgabe aus dem Ungarischen von N. Tahy u. G. Bergfleeth, (Batterien; 35), Berlin 1988. 89 Arist., Eth. Nik. III, 1-3, 1110b 6 f. Vgl. Arist., Nik. Ethik übers. und komm. v. F. Dirlmeier, Darmstadt 1991, S. 324 f. 90 Arbogast Schmitt, Individualität in der Antike; in: Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich, hrsg. v. D. Korsch u. J. Dierken, Tübingen 2004, S. 17. 91 So steht etwa Alexander von Tralles ganz in dieser Tradition, wenn er verschiedene Formen der Krankheit Melancholie unterscheidet und die Arten der Therapie nach den Symptomen differenziert: „Manche halten sich für eine Nachtigall und beweinen den Verlust des Itys (vgl. Aisch., Agam. 1144). Andere wähnen den Himmel zu tragen gleichwie Atlas“: Alexander Trall, Werke, hrsg. v. Puschmann, Wien 1878, B 1, S. 605 = I, 17. 92 Vgl. Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Hamburg 19562, Bd. 1b, S. 366. 93 Vgl. Jesaja 60, 1. 94 Ennead. I, 6, 9, 2, Übersetzung nach Harder. 95 Ennead. II, 9, 12, 18. 96 Ennead. V, 8, 2, 41 f. 97 Ennead. III, 8, 9, 38. 98 Vgl. Augustinus, De vera relig. 39, 72. 99 Ennead. I, 6, 1, 18. Harder gibt im Kommentar SVF III, l278 (= Stoicorum veterum fragmenta, hrsg. v. J. v. Armin, 3 Bde. 1903-05) und Cic., Tusc. 4, 31 als Quelle an. Zur Frage nach dem Schönen vgl. Platon, Hipp. mai. 297 f. Dieser Ansatz führt zur christlichen Lehre von der sunanákrasiw von dem harmonischen Einvernehmen als äußeren Zusammenhang der gesamten Schöpfung. Vgl. Greg. Nyss., or. cat. VI, p. 31; vgl. R. Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006, S. 205 f. 100 Ennead. V, 9, 11, 6. Die plotinische Kunstinterpretation wirkt über Jahrhunderte bis in die Neuzeit, da sie in der Renaissance u.a. besonders von Ficino aufgenommen wurde. Ficino betont – ganz plotinisch – das geistige Prinzip in Natur und Kunst, erkennt es in Harmonie und Symmetrie und führt es auf die veritas zurück: „Haec autem lex omnium artium cum sit omnino incommutabilis, mens vero humana, cui talem legem videre concessum est, mutabilitatem pati possit erroris, satis apparet supra mentem nostram esse legem quae veritas dicitur“. Marsilius Ficinus, Platonica Theologia XII, V = II, p. 176 (Marcel). Selbst die „Schönheit der Engel“ ist das „einheitliche Licht der Weisheit“ und das „einfache Licht der Einheit“ ist die unendliche Schönheit (infinita pulchritudo). Vgl. ders., De amore, Orat. VI, XVIII, S. 296 (Blum). Vgl. W. Beierwaltes, Plotins Erbe; in: Mus. Helv. 45 (1988), S. 86 f. 101 Vgl. oben Anm. 5; daß die irdische Welt nach Zahl und Maß geordnet ist, ist ein weit verbreiteter Topos. Für Horaz (vgl. Sat. I, 1, 106) wird dieser 87 88
105 Topos ethisch gedeutet. Der Topos „basiert auf der uralten Auffassung, die sich einerseits bei Anaximander und vor allem Heraklit und den Pythagoreern und andererseits im Alten Testament findet, fußend auf noch älterer Tradition des Erkenntniswertes von Maß und Zahl schon im alten Babylon“; G. Wolf, Est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere rebus; in: Mensura, Maß und Zahl (wie Anm. 5), S. 476. 102 R. Berlinger (wie Anm. 73), S. 39; vgl. ders., Das Werk der Freiheit. Zur Philosophie von Geschichte, Kunst und Technik, Frankfurt 1959, S. 71; und vgl. auch ders., Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen (Elementa; 48), Würzburg/Amsterdam 1988, S. 297.
Theo Meyer SUBJEKTIVITÄT UND WESENSSCHAU Zur visionären Gestaltung im Expressionismus
Gegenstand der Analyse ist die im Expressionismus erfolgende visionäre Sicht der Welt, vor allem in Literatur und Malerei. Die Loslösung von der Abbildung der empirischen Realität zugunsten der Gestaltung visionärer Wirklichkeiten, d.h. die Preisgabe der Eindruckskunst zugunsten der Ausdruckskunst, ist ein Axion sowohl der expressionistischen Programmschriften als auch der künstlerischen Praxis in Dichtung, Literatur und Malerei. Dabei sind die konstitutiven Faktoren das kreative Subjekt und die Wesensschau, die schöpferische Freiheit des Ich und das Erfassen der hinter der Erscheinungswelt liegenden tieferen Essenzen der Dinge. Die Palette der Perspektiven reicht von utopischen Erneuerungsideen bis zu apokalyptischen Untergangsvisionen. Einen Höhepunkt erreichen die Visionen in den weltumspannenden Simultanvisionen. Für Gertrud
„Aus Vision wird mündig: Dichter. […] Es gibt nur eine: die von der Erneuerung des Menschen.“1 Diese Sentenzen aus Georg Kaisers programmatischem Aufsatz Vision und Figur von 1918 beleuchten schlaglichtartig das Telos des messianischen Expressionismus: die Idee des neuen Menschen. Sie ist ein Schlüssel- und Leitmotiv des literarischen Expressionismus – sofern er als engagierter, utopischer Expressionismus eine fundamentale Erneuerung, ja Verwandlung des Menschen, der Gesellschaft, der Welt anstrebt und nicht als apokalyptischer Expressionismus den Untergang der Menschheit prophezeit. Es ist der idealistische Versuch, den Menschen von Grund auf zu ändern, die Wirklichkeit zugunsten der Idee zu überwinden, die empirische Person in ein visionäres Subjekt zu verwandeln, in
108 einem Aufbruchsenthusiasmus, der mit großem Pathos, im genus grande, im hohen Stil, den ‚Geist‘ (eine expressionistische Lieblingsvokabel), den schöpferischen Geist, zum wahren Wesen des Menschen erklärt und ihn als das eigentliche Agens der Geschichte begreift, in dieser Hinsicht die Philosophie des deutschen Idealismus nicht verleugnend, unbeschadet der Tatsache, daß es sich bei den programmatischen Texten der Expressionisten nicht um philosophische Abhandlungen mit analytischer Stringenz, sondern um literarische Essays, Manifeste, Aufrufe mit appellativem Duktus handelt. Ernst Bloch vertritt im Geist der Utopie, diesem ingeniösen expressionistischen Manifest, in Abgrenzung gegen den „wissenschaftlichen Sozialismus“, demzufolge „nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein das Bewußtsein bestimmt“, eine idealistische Gegenposition: So weithin das Äußere auch wichtig und zu besorgen ist, so legt es doch nur nahe, es erschafft nicht, denn die Menschen und nicht die Dinge, nicht ihr mächtiger Ablauf, außer uns und fälschlich über uns gedreht, verfassen die Geschichte.2
Bloch konstatiert, daß bei Marx „dem neuen Menschen, dem Sprung, der Kraft der Liebe und des Lichts, dem Sittlichen selber hier noch nicht die wünschenswerte Selbständigkeit in der endgültigen sozialen Ordnung zugewiesen ist“3. Daß nicht das Sein das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein das Sein, nicht die Wirklichkeit den Geist, sondern der Geist die Wirklichkeit präge, das ist Grundüberzeugung der expressionistischen Programmatiker. Und dort, wo dies nicht als Faktum behauptet wird, wird es als Postulat verkündet. Man ist der Überzeugung, daß im Menschen, im Geist des Menschen, noch ungenutzte Möglichkeiten angelegt sind, daß es nach einem Wort von Ernst Block einen „utopischen Überschuß in diesem unseren Dasein“ gibt.4 Unter diesen Auspizien gewinnt die Vision bzw. das Visionäre zentrale Bedeutung. Es ist ein Topos der expressionistischen Kunstauffassung, daß die Nachahmung der empirischen, äuße-
109 ren Realität aufgegeben wird zugunsten der geistigen, inneren Wirklichkeit. So schreibt Herwarth Walden, 1910 Begründer des Sturm, der wichtigsten expressionistischen Kunstzeitschrift, in seiner Abhandlung Einblick in die Kunst (1917): Die neue Bewegung in den bildenden Künsten unterscheidet sich grundsätzlich dadurch von der Kunst der letzten Jahrhunderte, daß sie davon absteht, Abbildungen statt Bilder zu geben. […] Die Kunst und die Tatsache sind zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben. […] Der Künstler schafft nicht den Eindruck von außen, er schafft den Ausdruck von innen.5
Dies ist expressionistisches Gemeingut, fast ein Klischee der expressionistischen Programmatik. So schreibt Elisabeth Janstein in ihren Aufzeichnungen Die Kurve (1920): „dieses Äußere, das lächerlich ist und quält – das Innere, das zur Notwendigkeit heranwächst“6. „So fühlen die Künstler, die den Ausdruck, die Expression, statt des Eindrucks, der Impression, geben.“7 Zwei Elemente sind konstitutiv für das expressionistische Gestalten: der a-mimetische Impetus und der aktive Geist. Walten erklärt: „Und Nachahmung kann nie Kunst sein. […] Kunst ist Gestaltung des geistigen Erlebnisses. […] Kunst ist Geburt, nicht Wiedergeburt“8. „Kunst ist Gabe und nicht Wiedergabe.“9 Damit verbunden ist die programmatische Forderung nach geistiger Umformung der Realität bzw. nach Hervorbringung einer neuen Wirklichkeit. Nicht nur die naturalistische Tatsachenreproduktion, sondern auch die impressionistische Stimmungskunst soll überwunden werden. „Und die Gebildeten insgesamt sollten sich endlich entschließen, aus der Passivität der Bildung zur Aktivität des Bildes aufzuschauen.“10 Das geistige Sehen – es ist vorgeprägt in Goethes „Augen des Geistes“. Für Goethe ist das sinnliche Sehen immer schon ein geistiges Schauen. In den sinnlich wahrgenommenen Gegenständen ist eine sinnbildliche Bedeutung gegenwärtig, ja, in diesem geistigen Schauen ist eine schöpferische Kraft wirksam. „Schaut mit den Augen des Geistes hinan! in euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf, über die Sterne des Lebens trägt.“11 Nicht ohne Grund beruft sich Hermann Bahr, seines Zeichens literarischer
110 Großkritiker jener Zeit, Naturalismus-Kritiker und Fürsprecher zuerst des Impressionismus und dann des Expressionismus, in der Schrift Expressionismus (1918) auf Goethes Synthesis von sinnlichem und geistigem Schauen.12 Nun ist allerdings der Unterschied zwischen Goethes geistigem Schauen und den expressionistischen Visionen nicht zu übersehen. Rimbaud, einer der bedeutenden Vorläufer des literarischen Expressionismus, schreibt in Une saison en Enfer: „Je m’habituai à l’hallucination simple: je voyais très franchement une mosquée à la place d’une usine“13. Die halluzinative Verwandlung der Realität in ein imaginäres Sujet war Goethes Sache noch nicht. Aber sein geistiges Schauen schafft spezifische Voraussetzungen der Modernität.14 Ähnlich verhält es sich mit dem Impressionismus. In seiner Schrift Die Überwindung des Naturalismus (1891) schreibt Hermann Bahr, damals noch Vorreiter der impressionistischen Innerlichkeit: Die Neugierde der Lesenden und die Neigung der Schreibenden kehren sich von draußen wieder nach innen, vom Bilde des rings um uns zur Beichte des tief in uns, von dem rendu de choses visibles nach den intérieurs d’âmes – (das Wort gehört Stendhal).15
Die Wendung nach innen verbindet ‚Impressionismus‘ und ‚Expressionismus‘ stärker, als es die auf strikter Trennung beharrenden expressionistischen Programmatiker wahrhaben wollen. Freilich, der a-mimetische Grundzug des Expressionismus hat in der Tat innovatorischen Charakter. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt die Vision bzw. das Visionäre zentrale Bedeutung. Dabei verliert der Begriff Vision seine traditionelle Begriffsschärfe. Die Vision, die visio, wird in schwankendem Wortgebrauch generell als Schauen, als Schau, d.h. als inneres Schauen des Geistes, der Seele verwendet. Nicht das reale Sehen, das Anschauen der äußeren Welt, sondern das innere Sehen, das Erschauen einer imaginären Bilderwelt des Inneren, wird zum existentiellen und ästhetischen Leitprinzip. Hermann Bahr verteidigt in seinem Expressionismus-Gespräch (1916) die Vision gegen den gesunden Menschenverstand:
111 Visionen läßt nun einmal unsere „Bildung“ nicht zu, sie gehören ins finstere Mittelalter. Ich erlebe das in dem typischen Gespräch über Expressionismus immer wieder. Dieses typische Gespräch geht so: Jemand sagt mir: „Ich hatte mich, weiß Gott, allmählich schon an alles gewöhnt, ich ließ mir alles gefallen, ich war auf alles gefaßt, aber Picasso, nein, das ist mir denn doch zu arg!“16
Ein echter Dialog kommt nicht zustande: Er will mir nie glauben, daß wir auch sehen können, wenn es draußen nichts zu sehen gibt, daß wir auch mit geschlossenen Augen sehen können, daß wir „Gesichte haben“ können, Erscheinungen, Empfindungen der Augen ohne Reiz von außen.17
Die Vision manifestiert sich nicht nur in der Literatur, der Dichtung, sondern auch in Malerei und Musik. Herwarth Walden: Der Maler malt, was er schaut mit seinen innersten Sinnen, die Expression seines Wesens, alles Vergängliche ist ihm nur Gleichnis, er spielt Leben, jeder Eindruck von außen wird ihm Ausdruck von innen. Er ist der Träger und der Getragene seiner Visionen, seiner inneren Gesichte. Kann er dafür, daß Gesichter anders aussehen. Klang denn die Neunte Symphonie Beethoven aus der schönsten Landschaft entgegen?18
Der expressionistische Maler malt keine Gesichter, keine realistischen oder impressionistischen Porträts, sondern Gesichte, traumhafte, visionäre, ja halluzinative Bilder. Dies erfolgt vielfach in eruptiven, explosiven Expressionen, die auf eine Deformation der ‚normalen‘ raumzeitlichen, kausalen Wirklichkeit hinauslaufen und neue Realitäten sichtbar machen oder hervorbringen. Die empirischen Ordnungsgefüge lösen sich auf in einem Chaos irritierender Bildfetzen. Die Auflösung der kompakten Realität in einem Wirbel dynamisierter Realitätsrelikte wird zum Stilprinzip. Ludwig Meidner, expressionistischer Avantgardist, schreibt in seiner Anleitung zum Malen von Großstadtbildern (1914): Eine Straße besteht nicht aus Tonwerten, sondern ist ein Bombardement von zischenden Fensterreihen, sausenden Lichtkegeln zwischen Fuhrwerken aller Art und tausend hüpfenden Kugeln, Menschenfetzen, Reklameschildern und dröhnenden, gestaltlosen Farbmassen.19
Dies ist nun keine imaginäre, sondern eine sehr konkrete Bilderwelt, freilich nicht in naturalistischer Abbildung, sondern in ex-
112 pressionistischer Deformation der Wirklichkeit. Aber in dieser an den futuristischen Dynamismus erinnernden Darstellung geht es „um Leben in seiner Fülle: Raum, Hell und Dunkel, Schwere und Leichtigkeit und Bewegung der Dinge – kurz: um eine tiefere Durchdringung der Wirklichkeit“20. Damit ist ein zentraler Impetus des expressionistischen Verfahrens ins Blickfeld gerückt: die Wesensschau. Man will das hinter der Welt der Erscheinungen liegende tiefere Wesen der Dinge aufdecken. So möchte man beispielsweise nicht mehr die glitzernde, schillernde Oberfläche eines Flusses, sondern die dem ‚normalen‘ Blick verborgenen chaotischen Vorgänge in der Tiefe des Flusses erfassen.21 Der Expressionismus, speziell der literarische Expressionismus, wendet sich gegen Psychologie und Empirie und postuliert eine von der Erfahrung unabhängige Wesensschau. Von zeitgeschichtlicher Bedeutung ist Husserls Phänomenologie, die losgelöst von psychologischen, historischen und positivistischen Fakten die Essenzen, die Wesensgesetze der Dinge erfassen will.22 Wie stark der Einfluß Husserls auf die zeitgenössischen Intellektuellen war, zeigt eine ironische Bemerkung Kurt Hillers: „aber wenn man, wie die meisten Versfüger heute, sogar Husserl kennt, dann ist es schmierig, seinen Gedichten die Physiognomie des reinen Toren zu geben“23. Die Differenz zwischen Erscheinung und Wesen ist ein expressionistisches Zentralthema. Am eindringlichsten hat dies Kasimir Edschmid, einer der Wortführer des literarischen Expressionismus, zum Ausdruck gebracht. In seinem vehementen Manifest Über den dichterischen Expressionismus (1917), in dem er sowohl die naturalistische Milieuschilderung als auch die impressionistische Stimmungskunst konsequent ablehnt, plädiert er für die expressionistischen Visionäre: Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos. Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte.24
113 Und weiter heißt es: So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabriken, Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es ihre Vision.25
Die Vision zielt auf das „eigentlichste Wesen“ der Dinge, „bis das Haus aufsteht, das befreit ist von dem dumpfen Zwang der falschen Wirklichkeit.“26 Die expressionistische Wesensschau will nicht nur das Allgemeine, das Typische eines Sujets gestalten, nicht ein Haus, sondern das Haus, sie will darüber hinaus die vom äußeren Schein verdeckte innere, geistig-seelische, moralische, menschliche Qualität des Sujets zutage fördern. Edschmid über den expressionistischen Visionär: „Er sieht das Menschliche in den Huren, das Göttliche in den Fabriken. Er wirkt die einzelne Erscheinung in das Große ein, das sie Welt ausmacht.“27 Nun, die Prostituierte ist ein gängiges Motiv der expressionistischen Literatur und Malerei, so etwa in den ‚menschlichen‘ von Mitleidsethos geprägten Dirnen-Motiven in Gedichten Franz Werfels.28 Hingegen die Fabriken „göttlich“ zu finden, dürfte den in der industriellen Revolution unter schwersten sozialen und arbeitstechnischen Bedingungen lebenden Arbeitern kaum eingefallen sein. Aber das haben auch die Expressionisten in der Regel anders gesehen. So kennzeichnet Paul Zech, der Dichter des Schwarzen Reviers (1913), in einem Gedicht wie Fabrikstraße Tags (1911), einem Sonett, die Trostlosigkeit der Fabrik: Keine Zuchthauszelle klemmt so in Eis das Denken wie dies Gehn zwischen Mauern, die nur sich besehn Trägst du Purpur oder Büßerhemd –: immer drückt mit riesigem Gewicht Gottes Bannfluch: uhrenlose Schicht.29
Man sieht, wie extrem unterschiedlich, ja gegensätzlich ein Sujet im Expressionismus behandelt werden kann, bei Edschmid die hyperpathetische Idealisierung der Fabrik, bei Zech ihre realistische, depressive Beobachtung.30
114 Die Vision als Wesensschau führt vor die Frage nach dem Subjekt der Vision. Es ist das Subjekt, das sie Wesensschau entfaltet, gemäß dem Grundsatz, daß in der Kunst der Expressionisten das Subjekt seine inneren Probleme zum Ausdruck bringt. Das kreative Ich wird in den höchsten Rang erhoben. So erklärt Paul Hatvani in seinem in der Aktion veröffentlichten Aufsatz Versuch über den Expressionismus (1917): „Im Expressionismus überflutet das Ich die Welt. So gibt es auch kein Außen mehr: der Expressionist verwirklicht die Kunst auf eine bisher unerwartete Weise.“31 Edschmid hebt in seinem hochpathetischen Manifest die großen, weltumspannenden, ekstatischen Gefühle des schöpferischen Ich hervor. Otto Flake verkündet in seinem Aufsatz Souveränität (1919) die absolute Autonomie des Subjekts: […] Milieu hin, Thema her, das Ich setze man einmal souverän zum Maß; das was real heißt, die Umwelt, die Tatsachen außer mir, existiert in meinem Hirn nur, soweit ich es anerkenne […] Die Kunst, statt illusionistisch, sei wertend, diktatorisch. […] Das Ich als der Trichter, in den die Welt stürzt, das ist die Lösung, das letzte Stadium der Kunstmöglichkeit.32
Es verwundert kaum, daß Flake einen autistisch anmutenden Roman mit dem Titel Die Stadt des Hirns (1919) geschrieben hat, in dem die Realität als Produkt des Gehirns erscheint. Das schaffende, weltgestaltende Subjekt ist ein Zentralthema des Expressionismus. Seinen stärksten Ausdruck hat es in Ernst Blochs Schrift Geist der Utopie von 1918 gefunden. Bloch konzentriert sich auf die „expressionistischen Ichgestaltungen, Ichprojektionen“33. Er insistiert auf der Spannung von „Zeitwille“ und „Geniewille“34. Die Selbstbehauptung des Menschen gegenüber einer desolaten Epoche ist sein Anliegen. Angesichts des Weltkriegs appelliert er an die geistig-moralische Selbsterneuerung des Menschen: Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.35
115 Bloch, getragen vom idealistischen Glauben, daß der Mensch aus seelischer Tiefe und geistiger Energie die Welt neu gestalten könne und müsse, setzt die Freiheit gegen den Determinismus an. Er ist der Auffassung, „daß letzthin doch nur die Menschen ihr Schicksal bestimmen, so fremd und eigengesetzlich es ihnen auch zu nahen scheint“36. Das Subjekt ist allerdings ein existentiellen Grenzsituationen ausgesetztes Subjekt, aber eben doch ein Subjekt, das die reale Welt durch schöpferische Akte überwindet: Laut und rücksichtslos hebt sich der Schrei des Beethovenschen Subjekts heraus, dem nichts in dem scheinbaren Leben Genüge tut, das noch über dem höchsten Niveau jeder weltlich realen Umschließung steht, das gleich dem Genius der Musik selber nirgends in der Welt vorgebildet ist oder empfangen wird.37
In einer seit dem Geniebegriff des Sturm und Drang und der produktiven Einbildungskraft der deutschen Frühromantiker nicht mehr dagewesenen Weise wird von den Expressionisten das schöpferische Subjekt glorifiziert. Dabei erfolgt noch eine extreme Zuspitzung, indem die Idee des Schaffens einer neuen Wirklichkeit, ja einer neuen anthropologischen Realität zum Thema werden kann. Hier ist der Einfluß von Nietzsches Idee des Schaffens unübersehbar. Ihm ging es bereits nicht mehr nur um das Entdecken, sondern um das Schaffen von Sachverhalten. Hatte Friedrich Schlegel noch in der Rede über die Mythologie (1800) die mythologische Aufdeckung verborgener Sinnzusammenhänge der Welt gefordert, so will Nietzsche einen ‚Sinn‘ überhaupt erst schaffen, so vor allem im „Übermenschen“. Die Schaffensidee, vom Sturm und Drang bis zu Nietzsche eine geistige Triebfeder der Dichter und Denker, ist das dominante Agens der expressionistischen Generation. Dabei ist das Schaffen (wiederum im Sinne Nietzsches) auf die Kunst bezogen. Erst im Produzieren von Kunstwerken, von Formen, erfüllt sich der Sinn des Schaffens. Dieses ästhetische Konzept hat seinen paradigmatischen Ausdruck in dem von Wassily Kandinsky und Franz Marc 1912 veröffentlichten Blauen Reiter gefunden. Dort erklärt August Macke im Essay Die Masken: „Schaffen von
116 Formen heisst: leben.“38 In den Formen werden die großen Ideen festgehalten, gewissermaßen bewältigt: „Unfassbare Ideen äussern sich in fassbaren Formen.“39 Demgegenüber erklärt Kandinsky im Vorwort zur 2. Auflage (1914), „dass die Formfrage in der Kunst eine sekundäre ist, dass die Kunstfrage vorzüglich eine Inhaltsfrage ist“. Nun hat sich kaum ein anderer Expressionist so intensiv mit Formfragen beschäftigt wie Kandinsky, vor allem in seinem Buch Das Geistige in der Kunst (1912). Im Essay Über die Formfrage(1912) stellt Kandinsky fest: „nicht die Form (Materie) im allgemeinen ist das wichtigste, sondern der Inhalt (Geist).“40 Damit will Kandinsky nicht den Kunstfaktor abbauen, sondern das sich verselbständigende Spiel der Formen in Frage stellen. Die „Form“ muß vielmehr Ausdruck der „Seele“, des „Geistes“, eines „inneren Klanges“ sein, und dann übt sie auch eine seelische Wirkung aus.41 In ähnlicher Weise sieht dies Franz Marc. Im Aufsatz Die „Wilden“ Deutschlands im Blauen Reiter verdeutlicht er, „dass es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, dass die Erneuerung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens ist“42. Das echte Kunstwerk erwächst nur aus der Innerlichkeit, einer ‚mystischen‘ Innerlichkeit. Im Beitrag Geistige Güter engagiert sich Marc, mit Bezug auf Cézanne und den „alten Mystiker Greco“, für „eine neue Epoche der Malerei. Beide fühlten im Weltbilde die mystisch-innerliche Konstruktion, die das grosse Problem der heutigen Generation ist“43. Wenn somit die Form Ausdruck eines Inhalts sein soll, so führt doch erst das schöpferische Arrangement der Formelemente in einer spirituellen Konstruktion zu wahrer Kunst. Arnold Schönberg verweist im Essay Das Verhältnis zum Text im Blauen Reiter auf Kandinsky und Kokoschka, die „Bilder malen, denen der stoffliche äussere Gegenstand kaum mehr ist, als ein Anlass, in Farben und Formen zu phantasieren und sich so auszudrücken, wie sich bisher nur der Musiker ausdrückte“44. Deutlich zeichnet sich die Tendenz zum freikombinatorischen Spiel mit den Formelementen ab. Und so spricht denn auch L. Sabanejew im Beitrag Prometheus von
117 Skrjabin im Hinblick auf „manche Neuerer in der Malerei“ von einer „Annäherung der Malerei zum reinen Farbenspiel“45. Es ist die Loslösung von der Empirie zugunsten der Abstraktion. Walden apodiktisch: „Das Schaffen liegt vor der Erfahrung.“46 Immer wieder zeigt sich in der Programmatik der Expressionisten die Tendenz, die Synthesis von Subjektivität und Wesensschau zu behaupten. Edschmid deutet das Neu-‚Schaffen‘ der „Welt“ durch das Subjekt als ‚Aufsuchen‘ der „Welt“ in ihrem „eigentlichsten Kern“47. Es ist der Versuch, die eigenen extremen Perspektiven, die ‚subjektiven‘ Deformationen der Wirklichkeit gleichsam ‚objektiv‘ zu legitimieren, indem man sie als die Essenzen hinter der vordergründigen Erscheinungswelt deutet. Diese Synthese wird mit Verve als ästhetisches Axiom vertreten. Theodor Däubler, Verfasser des monumentalen Versepos Das Nordlicht, schreibt in seiner programmatischen Schrift Der neue Standpunkt (1916): Die Dinge, die wir schöpfen, sollen ichbegabt sein: nicht für unsern Standpunkt perspektivisch entfaltet, sondern aus sich selbst hervorkristallisiert. Der Mittelpunkt der Welt ist in jedem Ich; sogar im ichberechtigten Werk.48
Mit der Deutung der extremen Ichbezogenheit als Erfassung der Essenz der Dinge verschafft man sich kraft autoritativer Selbstkompetenz die ästhetische Lizenz der eigenen Verfahrensweisen. Im Prinzip ist es ein Blankoscheck für die individuellen ‚abnormen‘ Produktionen, freilich auch eine ästhetische Befreiung von aller normativen Poetik zugunsten des freikombinatorischen Spiels mit den Realitätsrelikten. Die Vision kann allerdings zur Voraussetzung einer universellen Welterfassung werden, indem sie das empirisch Getrennte neu zusammenfügt. Während die konkrete Beobachtung die Dinge immer nur als Einzelphänomene wahrnimmt, vermag die Vision ganz neuartige Verbindungen zwischen den real weit auseinanderliegenden Dingen herzustellen, in einer Art schöpferischer Synthese. In seinem Prosatext Alexanderzüge mittels Wallungen (1923), dessen Thema die Erlebnissteigerung durch
118 „Hyperämie“, Blutandrang, ist, spricht Gottfried Benn vom „Schwelltyp mit der Simultan-Vision“49. In ihr läßt der „Halluzinatorische mit dem schiefen Blick“50 assoziativ die disparatesten Dinge Revue passieren. In Benns Gedicht Meer- und Wandersagen (1925) erfolgt die Absage an die „Einzeldinge“ („keine Einzeldinge ragen / in den Südseetraum“) zugunsten der auf Totalität zielenden „Vision“: irdische Gestaltung tragisch Sukzession, komm, o Glücksentfaltung, sammelnde Vision.51
Hier nun kommt der „Vision“ nicht nur eine synthetisierende Wirkung zu, sondern sie hebt darüber hinaus die Benn belastende Subjekt-Objekt-Spaltung auf: irdische Gestaltung tragisch Sukzession, ach, schon schließt die Spaltung stürmische Vision.52
Gegen die „tragisch Sukzession“, die Abfolge von Einzelheiten, setzt Benn die „sammelnde Vision“, die Simultaneität der Dinge, ihr zeitloses Zugleich. Er negiert die „Einzelheiten“ zugunsten der „Totalisation“, wie im Gedicht Einzelheiten (1925).53 An diesem Prinzip hat auch der spätere Benn, in der von ihm so apostrophierten „Phase II des expressionistischen Stils“ festgehalten.54 Hat der frühere Benn die Vision als eruptives Stimulans und regressives Erlebnis der Seinseinheit erfahren, so wird die Vision später eher zum kreativen, elegischen Fernblick. Im Roman des Phänotyp (1944) trägt ein Abschnitt die Überschrift Summarisches Überblicken. Dort heißt es: Schon summarisches Überblicken, Überblättern schafft manchmal einen leichten Rausch. Venusse, Ariadnen, Galatheen erheben sich von ihren Pfühlen, unter Bögen, sammeln Früchte, verschleiern ihre Trauer […] Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen. Der körperliche Blick reicht nur über den Platz […] aber die Trauer reicht weiter […] das Imaginäre […]55
119 Im Textstück Blicke konstatiert Benn: „Die jenseitigen Dinge sind einem viel näher als die nahen“; ein „Genie“ sei kein „Beobachter“: Dafür hat es jene Blicke, jene Anfälle von Blicken auf Himmel und Sommertage ferner Zeiten, kommender Geschlechter, anderer Daseinsempfinder –, Anfälle schleierloser Blicke z.B. auf Sommerliches, Hohes, etwas Üppiges: heiße Städte, alles sehr ähnlich, derselbe As-DurWalzer von Chopin und doch sehr anders. Etwas Unstillbares ist dabei, etwas, das das Herz zerreißt. Neue ferne Wogen, kaum erkennbare Verwandlungen, Spätheiten – und unerfüllbar alles.56
In den Gedichten Benns erfolgt immer wieder die abrupte Aufeinanderfolge extrem disparater Motive, wie im Gedicht Überblickt man die Jahre – (1944): Überblickt man die Jahre von Ur bis El Alamein, wo lag denn nun das Wahre, Kabbala, der Schwarze Stein –57
Von Ur bis El Alamein – hier ist die Simultan-Vision auf engsten Sprachraum komprimiert. In einer lyrischen Abbreviatur wird die Menschheitsgeschichte vergegenwärtigt, von Ur in Chaldäa, der babylonischen Hauptstadt im 3. vorchristlichen Jahrtausend, nach dem 1. Buch Mose die Heimat Abrahams, bis zu den mörderischen Panzerschlachten bei El Alamein in Nordafrika 1942. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen bleibt eine antwortlose Frage, gemäß der Bennschen Auffassung, daß die Geschichte kein Telos habe, sondern ein sinnloser Kreislauf des Absurden sei. Benn ist ein Meister der summarischen Formeln. „Charon oder die Hermen / oder der Daimlerflug“ lautet der Anfangsvers des Gedichts Die Dänin (1924).58 Im Montagestil wird kurzgespannt ein Bogen geschlagen von antiker Mythologie bis zur modernen Technik. Die Visionen stellen sich nicht einfach ein, sondern entfalten sich im Schaffensprozeß. Das Schaffen wird zum existentiellen Problem. Im Geist der Utopie erklärt Ernst Bloch apodiktisch: „Ich selbst bin aber, um zu schaffen.“59 „[…] und erst recht kämpft der Schöpferische aus tiefstem Bewußtsein seiner bauen-
120 den Kräfte gegen die allzu technische oder ressentimentelle Zersetzung an“60. Die Vision muß formschöpferisch gestaltet werden. Carl Einstein, der übrigens bereits in expressionistischer Zeit zentrale Aspekte der späteren Kunsttheoreme Benns vorweggenommen hat, schreibt in Zu Vathek (1910), einer Würdigung des gleichnamigen Romans von William Beckford von 1781, die „artistische Imagination“61 sei die Voraussetzung der Werkgestaltung. Für ihn ist das Kunstwerk ein realitätstranszendentes Gebilde. Die Kunst schalte die Realität aus. Dies sei „ästhetischer Platonismus“62. Das Formprinzip ist ein Integrationselement der Vision. Nicht ohne Grund nennt Georg Kaiser seinen erwähnten Aufsatz Vision und Figur. Die Vision fordert ihre ästhetische Transformation. Die den Dichter bedrängende „Vision“ darf sich nicht im „Schrei“ zersprengen, sondern es ist wichtig, „daß nicht formlos ausfließt, was nur in Formung mitgeteilt wird!“ „[…] das Heißflüssige muß in Form starr werden!“63 In diesem Sinne hat Kaiser die abstrakte Idee des neuen Menschen im dramatischen Vorgang seines Stückes Die Bürger von Calais (1913) dargestellt. Die visionäre Idee wird durch den Geist gebändigt und ästhetisch sinnfällig gemacht. Immer wieder berufen sich die expressionistischen Visionäre auf den ‚Geist‘. Nach Edschmid erwächst das Kunstwerk aus dem „Ansturm des Geistes“ und der „brausenden Wolke des Gefühls“64. Im Unterschied zu den Surrealisten, die die écriture automatique, die automatischen Diktate des Unbewußten, proklamieren, ist für die Expressionisten der ‚Geist‘ das Agens des künstlerischen Schaffens. Während die Surrealisten ihre Texte und Bilder als Traumdiktate, im Sinne der Freudschen Theorie, ausgeben, verstehen sich die expressionistischen Visionäre als geistige Existenzen. Zwar heißt es auch beim expressionistischen Benn: „ich trage sie im Traum, die Welt“65 und „das Absolute ist der Traum“66, aber das „Ich“, „außehalb des Logos“67, ist in aller Ekstatik doch ein geistig schaffendes Ich, wie Benn am Beispiel van Goghs zeigt. Von der „Vision“ geht eine weltumspannende Suggestion aus. Benn steht im Banne der „Vision“; „[…] könnte
121 ich Sie bannen in die Vision des einzigen, durch die ganze Geschichte der Menschheit immer wieder nur einzig kosmisch-repräsentativen Ich, könnte ich Sie bannen in die Vision seiner großen schmerzlichen und tiefen Glücke […]“68. In der Vision gelangen nicht nur dionysische Ekstasen und apollinische Fernsichten zum Durchbruch, sondern sie kann auch die letale Bedrohung vergegenwärtigen, wie im Gedicht Vision des Mannes (1927): „der Häupter eines/ ist mehr als todeswund“69. Die Vision ist die Wahrnehmung der Welt von einem bestimmten Blickpunkt aus. Vision und Perspektive sind komplementär. Dies betrifft vor allem das moderne Subjekt, das sich verabsolutierende Ich. Nietzsches Wort, es gebe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten70, nur Perspektiven, hat historische Wirkung gezeitigt. Freilich, die Expressionisten haben in der Regel zwar die Perspektive verabsolutiert, aber sie haben die Wahrheit nicht verneint, vielmehr soll in der Perspektive, der Vision, Wahrheit ans Licht kommen, unbeschadet der Bennschen Auffassung, daß seit Nietzsche die „Wahrheit“ zugunsten der „Perspective“, des „Perspectivismus“ abgebaut sei.71 Perspektive und Vision richten sich auf das Urbild, das Urphänomen, das den Erscheinungen zugrunde liegende Gesetz bzw. die aller Erfahrung voraus liegende Idee. In seinem im Sturm veröffentlichten Aufsatz Lebt! (1923) schreibt Kurt Liebmann: Wir stellen nicht das persönliche Erlebnis heraus. Wir gestalten hart, ehern, krystallen das Urbild. Wir gestalten. Im Anfang war der Rhythmus, der Tanz. Wir sind Gefäße, Bildner der Vision, die ist, die sich nicht entwickelt. Es gibt keine moderne Kunst. Es gibt nur Kunst. […] Wir erleben Ur-worte. Ur-worte schließen Ur-Erlebnisse in sich.72
Es erfolgt die Absage an das individuelle Erlebnis, an die Psychologie des Individuums zugunsten archetypischer Erfahrungen, Urerfahrungen des Menschen. In der Kunst geht es um die „Sichtbarmachung des Urbilds“, das als „reine Kunst“, „als Idee der Schönheit, der Form unvergänglich“ ist.73 Unübersehbar ist der Einfluß der Platonischen Ideenlehre. Benn schreibt später im Ptolemäer (1947):
122 Ich hatte gelesen, von Plato stamme die Idee der sogenannten Anamnesis, nämlich die Idee, daß alles in uns Erinnerung sei, daß unser Leben nicht das war, was wir sahen und trieben, sondern das, was in uns lag und dem wir bestimmt waren, es in Bildern und Gedanken aufsteigen zu lassen und ihm einen Ausdruck zu verleihen. […] Eine Lehre vom Urerlebnis […] Solche Zustände von Anamnesis erlebte ich öfter […] ja, ich konnte sie gelegentlich in mir herbeiführen […]74
Im Essay Provoziertes Leben (1943) bezeichnet Benn mit Bezug auf Platon „endogene Bilder“ als die „letzte uns gebliebene Erfahrbarkeit des Glücks“75. Im Expressionismus-Essay von 1933 deutet er in der Rückschau den Expressionismus als „Weg nach innen“ „zu den Schöpfungsschichten, zu den Urbildern, zu den Mythen“76. Platons Forderung, sich dem Urbild, dem „eigentlichen Urbild der Wahrheit“, dem in der Seele waltenden „Idealbild“, der Idea, dem Eidos als dem „wahrhaft Seienden“ zuzuwenden,77 seine Auffassung, daß das „Suchen und Lernen“ „durchweg Wiedererinnerung“ sei,78 daß das „Urbild“ die „eigentliche Ewigkeit“79 sei – diese historisch so wirksamen Axiome verfehlen auch im Expressionismus ihre Wirkung nicht.80 So zählt Ernst Bloch die „Platonische Philosophie“ neben Homer, Altem Textament, Gotik und Kant zu den „Erfassungen des Absoluten“81. Georg Kaiser, Protagonist des expressionistischen Dramas, feiert den Denkspieler Platon, dessen schöpferische, auf „Kontrastierung“ beruhende Dialoge ein „Denk-Spiel“ inszenieren, in dem aus „karger Schau-Lust“ „glückvolle Denk-Lust“ wird.82 Ganz anders sah das Salvador Dali. In seinem Essay Ehre dem Gegenstand! (1936) bezeichnet er Platon als die „ursprüngliche Kameliendame des mediterranen Denkens“, die das „erste große, offizielle Freudenhaus der Ästhetik“ eröffnet habe.83 Dali seinerseits strebt voraussetzungslose Bilder an. Im Essay Die Eroberung des Irrationalen (1935) propagiert er die „paranoisch-kritische Aktivität“, „Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität“, „wirklich unbekannte Bilder“, die alle Bildrelikte und Bildungsrequisiten hinter sich lassen, selbst den surrealistischen Traum durch den schöpferischen Wahn ersetzend. Diese „schöpferische Kraft“ soll die „passive ästhetische
123 Einstellung gegenüber irrationalen Phänomenen“ durch eine „aktive Haltung“ ablösen. Diese „paranoisch-kritische Aktivität“ „verschiebt auf greifbare Weise die Welt des Wahns selbst auf die Ebene der Wirklichkeit“84. Demgegenüber basieren die expressionistischen Bilder, selbst in ihren ekstatischen Gebärden, auf geistigen Prinzipien. Dominant sind die Erneuerungsvisionen, die Vision des „neuen Menschen“, freilich auch apokalyptische Visionen, Untergangsszenerien. Dies hat seinen markantesten Ausdruck in Georg Kaisers Läuterungsdrama Die Bürger von Calais (1913) gefunden. Dort opfert sich der Protagonist für die Gemeinschaft, wählt den Freitod, um in sechs vom Tode bedrohten Mitbürgern eine echte Opfergesinnung zu erzeugen, denn nur durch diese Opferbereitschaft kann die Stadt vor der Vernichtung bewahrt werden. Es ist ein Selbstopfer um der Gemeinschaft willen, und eben dies ist das den „neuen Menschen“ prägende, ihn konstituierende Ethos. So sagt denn der blinde Vater des Protagonisten, in visionärer Schau: Ich komme aus dieser Nacht – und gehe in keine Nacht mehr. Meine Augen sind offen – ich schließe sie nicht mehr. Meine blinden Augen sind gut, um es nicht mehr zu verlieren: – ich habe den neuen Menschen gesehen – in dieser Nacht ist er geboren! (3. Akt)85
Mit dem Topos des blinden Sehers verdeutlicht Kaiser, daß der Blick nach innen, die Vision, stärker, bedeutsamer ist als der Blick nach außen, die Beobachtung. Aus der Autorperspektive ist der neue Mensch eine Zukunftsvision. Im Aufsatz Der kommende Mensch (1922) schreibt Kaiser: Der Mensch ist auf dem Weg! […] Der Mensch dieser Zeit muß sich entschließen: sich als Übergang für kommende Menschheit zu sehen. […] Worauf gründet sich das Wissen vom möglichen Menschen? Ich sage das Wort: Dichtung. […] ich erinnere an Platon, der sein Ideenwerk in von Menschen gesprochenen Dialogen Gestalt werden läßt! – an Nietzsche, der die scharf plastische Figur Zarathustra gesprächig macht! – an Jesus als Mensch!86
Der „neue Mensch“ des Expressionismus ist freilich nicht zu verwechseln mit Nietzsches „Übermensch“. Während der
124 „Übermensch“, die Utopie des „Übermenschen“, sich in elitärer Einsamkeit gegen die (verachtete) Menge abgrenzt, ist der „neue Mensch“ vom Ethos der Gemeinschaft, der Brüderlichkeit getragen. Es gibt allerdings auch die individuelle Existenzproblematik des ‚neuen Menschen‘, wie in Ernst Barlachs Drama Der arme Vetter (1918), in dem der Protagonist in den Freitod geht, um sich dem niederziehenden Leben zu entziehen; das ist für ihn die ‚Auferstehung‘. Das Auferstehungsmotiv kann in das Untergangsmotiv umschlagen. In Georg Kaisers Stück Von morgens bis mitternachts (1912) scheitert der Aufbruch zum neuen Menschen an der harten Realität. Der aus Beruf und Familie um seiner Selbstverwirklichung ausbrechende Kassierer erklärt in einem langen Monolog auf „verschneitem Feld“: „Ich bin auf dem Marsche – Umkehr findet nicht statt.“ Aber er hat eine Erscheinung, den Tod als Gerippe, und das deutet auf sein Ende hin. „Ich glaube sogar, du steckst in mir drin.“87 Nach allen scheiternden Erneuerungsversuchen endet der Protagonist mit einem Pistolenschuß im Selbstmord: Kassierer ist mit ausgebreiteten Armen gegen das aufgenähte Kreuz des Vorhangs gesunken. Sein Ächzen hüstelt wie ein Ecce – sein Hauchen surrt wie ein Homo. Schutzmann: „Es ist ein Kurzschluß in der Leitung.“88
Mit dem Ecce-homo-Motiv (Johannes-Evangelium 19,5) stirbt der Protagonist im Zeichen der Passion Christi, freilich ohne die Aussicht auf Auferstehung. Diese nihilistische Tendenz verstärkt sich noch in Kaisers zweiteiligem Schauspiel Gas (entstanden 1917-1919), dessen Thema der Untergang der Menschheit ist. Nachdem alle Bemühungen um Friedenserhaltung und die Erneuerungsutopien gescheitert sind, kommt es zwischen den verfeindeten Mächten zur Selbstvernichtung der Menschheit durch Gas. Das Stück endet in einer apokalyptischen Vision: Gelbfigur hemmt – starr irr – schreit ins Telephon. Meldung von Wirkung von Beschießung: – – – – kehrt die Geschütze gegen euch und vernichtet euch – – – – die Toten drängen aus den Gruben – – – – jüngster Tag – – – – dies irae – – solvet – – in favil – – – – Er zerschießt
125 den Rest in den Mund. / In der dunstgrauen Ferne sausen die Garben von Feuerbällen gegeneinander – deutlich in Selbstvernichtung.89
Kaiser hat in diesem kollektivistischen Drama mit typisierten Figuren mit dem Giftgas-Motiv auch ein Stück Zeitgeschichte verarbeitet, nämlich den im Ersten Weltkrieg an der Westfront erfolgenden Einsatz von Giftgas. Aber zentraler ist die apokalyptische Vision einer drohenden Selbstvernichtung der Menschheit. Vergegenwärtigt man sich die mögliche Entwicklung vom Gaseinsatz zum alles vernichtenden Atomkrieg, zur Auslöschung der Menschheit durch atomare, biologische und chemische Kampfmittel (ABC-Kampfmittel), ist Kaisers Drama von überraschender Aktualität. Apokalyptische Visionen gibt es im Expressionismus in Fülle. In der Lyrik ist Georg Heym ein charakteristisches Beispiel. In den Gedichtbänden Der ewige Tag (1911) und Umbra vitae (Nachgelassene Gedichte 1912) hat der schon im Januar 1912 auf der Havel im Eis eingebrochene und ertrunkene Dichter in einer Vielzahl von Visionen Katastrophen dargestellt. Das Gedicht Der Krieg vom September 1911 wirkt wie eine visionäre Vorwegnahme des wenige Jahre später ausbrechenden Ersten Weltkriegs: Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.90
Das Gedicht endet mit einer biblischen Allusion, mit einem Hinweis auf Sodom und Gomorrha. In der Bibel läßt Jahwe Schwefel und Feuer herabregnen, um Sodom und Gomorrha wegen ihrer Sittenlosigkeit zu zerstören (Mose 1,19). Bei Heym heißt es vom Krieg: Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr, Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.91
Mit der Wendung Gomorrh spielt deutlich ein antizivilisatorischer, kulturkritischer Aspekt in das dämonologische Gedicht hinein. Die Dämonisierung zeigt sich auch in einem Gedicht wie Die Dämonen der Städte. Apokalyptische Bilder können auch in grotesker Form präsentiert werden, wie in Jakob van Hoddis’ Gedicht Weltende (1911):
126 Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.92
Stark ausgeprägt ist bei Lyrikern wie Heym und Trakl der Andrang innerer, visionärer Bilder. So fühlt sich Trakl in einer Lebenssituation „bedrängt“ von einem „infernalischen Chaos von Rhythmen und Bildern“ (Brief an Buschbeck vom Juli 1910).93 Und in einem Brief vom Januar 1913 schreibt er: „Ich bin wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch mich durchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten.“94 Das Untergangsmotiv beherrscht auch seine Lyrik, Gedichte wie Menschheit („Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt“)95 und Grodek („Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“)96. In beiden Gedichten erfolgt durch die Einfügung biblischer Motive eine Mythisierung des realen Geschehens ins Zeitlose menschlicher Grundsituationen. Die Darstellungen menschlicher Abgründe, dämonischer Motive und verzweifelter Lebenslagen sind immer wieder Sujets des visionären Expressionismus. Ein charakteristisches Beispiel bieten die Hexen-Darstellungen Ernst Barlachs. In Zeichnungen, Plastiken und Prosa hat er in einer Mischung aus visionärer Sicht und realistischer Prägnanz Hexen dargestellt, in einer Fülle von Arbeiten, die in ihrer Gesamtheit ein groteskes Pandämonium ergeben.97 Das Visionäre findet seinen unmittelbarsten Ausdruck in der Malerei, eben aufgrund der visuellen Evidenz. Im Grunde eignet allen expressionistischen Bildern ein Zug ins Visionäre, schon allein wegen der mit Röntgenblick betriebenen Wesensschau, die alle realen Gegenständlichkeiten ins Irreale verschiebt. Darüber hinaus gibt es die eigentlichen Visionen, Malweisen, die realitätstranszendente Bilderwelten gestalten. Aus der Vielzahl visionärer Bilder seien einige charakteristische Beispiele angeführt. In seinem Bild Mörder, Hoffnung der Frauen (1912), einer Illustration zu seinem gleichnamigen Einakter von 1910, zeigt Oskar Kokoschka in aggresiver Zuspitzung eine drastische Tötungsszene im orgiastischen Geschlechter-
127 kampf, die Essenz der Auseinandersetzung demonstrierend.98 Max Beckmann präsentiert in seiner Lithographie Die Nacht (1919) in eruptiven, sich überstürzenden Deformationen die animalische Brutalität von Vergewaltigung, Folterung und Mord.99 Ludwig Meidner führt in seinen dynamischen, ekstatischen Bildern Apokalyptische Vision (1912), Apokalyptische Landschaft (1913), Apokalyptische Stadt (1913) eine zerberstende Welt vor, in einem explosiven, alles zerbrechenden Wirbel.100 Demgegenüber ist sein Titelbild zu Gottfried Benns lyrischem Flugblatt Söhne (1913) die chaotische Revolte eines aus Niederungen sich pathetisch aufreckenden Ekstatikers.101 In Meidners ekstatischem Bild Revolution (1913) steht ein verwundeter Revolutionär mit Fahnenstange kämpferisch vor zerbrechenden Häusern und inmitten eines Menschengewühls. Hier wird die Vision zum Appell, zum Aufruf. Von lyrischer Sanftheit ist dagegen ein visionäres Bild wie Marc Chagalls Ich und das Dorf (1911), eine Farbkomposition, in der Realitätselemente (Kuh, Bauer, Häuser, Selbstbildnis) wie im Traum neu arrangiert sind, in suggestiver Verbundenheit. Die Vision eines Visionärs ist Emil Noldes Holzschnitt Prophet (1912). Vergleicht man ihn mit Noldes Selbstbildnis (1911), so sind zwar gewisse Ähnlichkeiten erkennbar, aber der Prophet ist nicht mehr die empirische Person, sondern eine eher ‚dämonische‘ Existenz.102 In der Vision glaubt der Expressionist das Leben selbst zu fassen. Kokoschka versucht in seinem Vortrag Von der Natur der Gesichte (1912), Wesen und Wirkung der Visionen klarzumachen: Das Bewußtsein der Gesichte ist kein Zustand, in welchem man die Dinge erkennt oder einsieht, sondern ein Stand desselben, an dem es sich selbst erlebt. […] ein Erguß der Seele in die Gesichte; der Seele, welche nun beginnt die Gesichte leibhaftig zu formen. […] Das Bewußtsein der Gesichte […] das Leben selber ist. Sein Wesen ist ein Strömenlassen und Gesichtesein […]103
Das wahre Leben manifestiert sich in den Visionen. Däubler versteht im Aufsatz Expressionismus (1916) in realitätstranszendierendem Pathos den Menschen als metaphysisches Wesen:
128 Unsre Heimat ist oben. Wir leben hier unsre Sternenabkunft. Auch die großen Werke. Sie sind sogar noch entschiedner sternheimatlich. […] Wir alle sind Menschen geworden, um geistig geschaute Kuben emporzurecken zu den Gestirnen.104
Eine starke Affinität zeigt die expressionistische Erneuerungsvision zur Mystik, zur mystischen Innerlichkeit. So setzt Ernst Bloch den „bloßen Bildern des Draußen“ das „Bewußtsein von der mystischen Seelenintensität an sich selbst“ entgegen.105 Lothar Schreyer, Expressionist, Mitarbeiter am Sturm, schreibt in seinem Buch Deutsche Mystik (1925): Die Durchringung des Intellekts von der Intuition ist eine besondere schöpferische Arbeit der Mystiker. […] Darum sind die überlieferten Reden und Aussprüche der Mystiker unerhörte künstlerische Ereignisse. […] Der Sinn der Mystik ist diese Wiedergeburt des Menschen aus sich selbst.106
Franz Marc erklärt im Hinblick auf die neuen „Wilden“: „Die Mystik erwachte in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst.“107 Es zeigt sich bei den Expressionisten eine eigentümliche Verbindung von Mystik, dem Streben nach Auflösung der Subjekt-Objekt-Spaltung, in einer archaischen Einheit des Seins, und der Konstruktion, einem rigorosen Formbewußtsein. Ein eklatantes Beispiel bietet Lothar Schreyer. Im Aufsatz Expressionistische Dichtung (1918/19) heißt es: Von der äußeren Welt haben wir uns wieder zur inneren Welt gefunden. […] Das Geistesleben ist […] das Leben der Visionen. Neben das äußere Leben der natürlichen Erfahrung tritt ein Erleben intuitiver Erkenntnis. […] Wir haben keine Weltanschauung mehr. Wir schauen die Welt nicht an. Wir schauen. […] Das Gedicht der deutschen Gegenwart, das Wortkunstwerk […] bildet uns ein in den Kosmos. […] Die Grundsätze, die unsere Gegenwart, unsere Kunst, gestalten, sind Organisation und Rhythmus.108
Mit dem Begriff „Wortkunstwerk“ deutet Schreyer auf den experimentellen Aspekt expressionistischen Dichtens hin, ein im ‚Sturm‘-Kreis stark ausgeprägter Trend, der seinen dichterischen Niederschlag vor allem in den Sprachreduktionen eines August Stramm findet.109 Schreyer geht in seinem Text ausführlich ein auf das Einzelwort und die Wortreihen, auf die Aufgabe des Me-
129 trums zugunsten des Rhythmus, auf die Ablösung der „Vergleiche“ durch die „Gesichte“110, die Auflösung der traditionellen Regel-Ästhetik durch das intuitive und zugleich rationale Sprachexperiment. Es ist die Verkettung von Intuition und Experiment im Zeichen einer integrativen Erfahrung des Kosmos. Hier wird, fast noch im Sinne des Jugendstils, einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Kosmos das Wort geredet. Weltverhältnis und Stilverhalten der expressionistischen Künstler sind von generellen Strukturzwängen und individuellen Ausformungen geprägt. Wilhelm Worringer hat in seinem stiltypologischen Denkmodell Abstraktion und Einfühlung (1908) in dieser Dichotomie grundlegende Formen künstlerischer Produktivität gekennzeichnet. Die „Einfühlung“ erwächst aus einem sympathetischen Verhältnis des Menschen zur Umwelt; sie beruht auf der organischen Einheit von Mensch und Natur; ihre Werke sind von harmonischer Ausgeglichenheit, wie z.B. in den Bauwerken der griechischen Klassik. Die „Abstraktion“ entsteht aus einem dissonantischen Verhältnis des Menschen zur Umwelt; sie beruht auf der Entfremdung von Mensch und Natur; ihre Werke sind anorganische Konstruktionen, wie z.B. in der Gotik, in den gotischen Kathedralen. Mit der Kategorie der „Abstraktion“ hat Worringer wesentliche Aspekte der dann bald einsetzenden expressionistischen Programmatik und künstlerischen Praxis vorweggenommen. Wenn Worringer den „Abstraktionsdrang“ die „Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt“, „eine ungeheure geistige Raumscheu“ nennt und in diesem „Angstgefühl“ die „Wurzel des künstlerischen Schaffens“ sieht,111 so entspricht dies im wesentlichen expressionistischen Vorstellungen. So schreibt Beckmann mit Bezug auf das Formen der „abstrakten Oberfläche des Bildes“: „auf diese Weise schütze ich mich vor der Unendlichkeit des Raumes. / Dieser unendliche Raum, dessen Vordergrund man immer wieder mit etwas Gerümpel anfüllen muß, damit man seine schaurige Tiefe nicht so sieht … dieses grenzenlose Verlassensein in der Ewigkeit.“112 In ähnlichem
130 Sinne erfährt de Chirico die „entdeckte schreckliche Leere“ des Raumes.113 Und Benn bewältigt durch das expressive „Wort“ das „Dunkel, ungeheuer, / im leeren Raum um Welt und Ich“114. Die Raumangst ist bereits die Erfahrung Nietzsches, der angesichts des Ozeans konstatiert, „dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit“115. Nun ist bei ‚Abstraktion‘ und ‚Einfühlung‘ zu beachten, daß es sich bei dieser Gegenüberstellung um idealtypische Formen handelt und daß in concreto viele Überschneidungen und Übergänge vorliegen. Gegen die Dissonanzen der Realität setzen die progressiven Expressionisten die Erneuerungsidee. So schreibt Friedrich Markus Huebner in der Schrift Europas neue Kunst und Dichtung (1920): Der Expressionismus verhält sich gegenüber der Natur feindselig. Er aberkennt ihre Übermacht; er zweifelt an ihrer „Wahrheit“. […] Der Expressionismus glaubt an das All-mögliche. Er ist die Weltanschauung der Utopie. Er setzt den Menschen wieder in die Mitte der Schöpfung, damit er nach seinem Wunsch und Willen die Leere mit Linie, Farbe, Geräusch, mit Pflanze, Tier, Gott, mit dem Raume, mit der Zeit und mit dem eigenen Ich bevölkere.116
Das „Problem der individuellen Freiheit“ wird nicht gelöst durch systematisierendes Grübeln, sondern durch „schöpferisches Handeln“117. Die bisherigen Überlegungen zur expressionistischen Vision zeigen eine spezifische Typologie: die reale Vision (die das hinter den Erscheinungen liegende bzw. das in ihnen verborgene ‚Wesen‘ aufdeckt), die regressive Vision (die Vergegenwärtigung des Urtümlichen, Archaischen, des Urbildes, die Anamnesis), die utopische Vision (die Verkündigung des zukünftigen neuen Menschen), die apokalyptische Vision (die Untergangsund Endzeitvisionen). Von besonderer Bedeutung ist die Entgrenzung der empirischen Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die Simultan-Vision. Damit sind nur Schwerpunkte akzentuiert. Zwischen den Formen gibt es fließende Übergänge. Auch können sich die Visionen sowohl auf das Individuum als auch auf das Kollektiv beziehen. Bei alledem sind verschiedene Grade
131 der expressionistischen Gestaltung zu unterscheiden, von relativer Gegenständlichkeit bis zu abstrakter Gegenstandslosigkeit. So unterscheidet Oswald Herzog zwischen materiellem und abstraktem Expressionismus: Dem materiellen Expressionismus dient noch das Objekt als Gestaltung. Er abstrahiert das Wesen eines Gegenstandes durch Ausscheiden alles Unwesentlichen zur Reinheit und Größe. […] Der abstrakte Expressionismus ist das Gestalten des Geschehens – des Lebens an sich; es ist Gestaltung in Gegenwart. Der Künstler hat bei seiner Intuition keine Vorstellung von Gegenständen. Leben fordert nur Gestaltung.118
Der expressionistische Visionär will, wie Emil Nolde schreibt, „das Tiefstliegende fassen“. „Ich male und zeichne und suche einiges vom Urwesen festzuhalten. […] Alles Ur- und Urwesenhafte immer wieder fesselte meine Sinne. Das große tosende Meer ist noch im Urzustand […]“119. Die Bilder sollen „voller Leben, ein Rausch, ein Tanz“ sein. „Sie gehören nicht zu der Kunst, welche gemächlich im Lehnstuhl genossen werden kann, sie verlangen, daß der Beschauer im Rausch mitspringt.“120 Im Bild erfolgt die ekstatische Einfühlung in die elementare Natur. Indem die Dinge in ihrer elementaren Dynamik dargestellt werden, wird das Ursprüngliche des Lebens erfaßt. Hier ist die Vision keine Abstraktion, sondern die intensivste sinnliche Wahrnehmung. Freilich, das Mimesis-Prinzip ist aufgegeben. Ernst Ludwig Kirchner beharrt auf der ästhetischen Eigenständigkeit des Bildes: Es ist deshalb nicht richtig, meine Bilder mit dem Maßstab der naturgetreuen Richtigkeit zu beurteilen, denn sie sind keine Abbildungen bestimmter Dinge oder Wesen, sondern selbständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als die als Schlüssel zum Verständnis notwendig sind. Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht Abbildungen.121
Die Dinge in ihrem wahren Wesen erfassen, das ist auch das Anliegen Franz Marcs, aber für ihn hat die Kunst eine über die sinnliche Wahrnehmung hinausreichende metaphysische Bedeutung: Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen be-
132 freien. Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder erscheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir sehen. […] Es gibt keine soziologische und psychologische Deutung der Kunst. Ihre Wirkung ist durchaus metaphysisch.122
Anmerkungen 1 Georg Kaiser, Vision und Figur, S. 664 u. 666, in: G.K., Stücke, Erzählungen, Aufsätze, Gedichte, hrsg. v. Walther Huder, Köln/Berlin 1966, S. 664-666. 2 Ernst Bloch, Geist der Utopie. Unveränderter Nachdruck der bearbeiteten Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Frankfurt/M. 1973 (1964), S. 303. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 247. 5 Herwarth Walden, Einblick in Kunst. Expressionismus, Futurismus, Kubismus. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1917, Nendeln/Liechtenstein 1973, S. 36. 6 Elisabeth Janstein, Die Kurve. Aufzeichnungen. Nachdruck der Ausgabe Wien 1920, Nendeln/Liechtenstein 1973, S. 65. 7 Walden (wie Anm. 5), S. 37. 8 Ebd., S. 68. 9 Ebd., S. 97. 10 Ebd., S. 69. 11 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 575, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 7. 12 Vgl. Hermann Bahr, Expressionismus. 2. Aufl. München 1918, bes. S. 63 f. 13 Artur Rimbaud, Une saison en Enfer, S. 234, in: A. R., Œuvres complètes, Éditions Gallimard, 1963, S. 217-244. 14 Den stärksten Ausdruck findet das kreative geistige Sehen bei Goethe in der Symbolik von Faust II. Goethe, für den in der sinnlichen Wahrnehmung immer schon ein geistiges Sehen wirksam ist, gestaltet in den Symbolen von Faust II in potenzierter Form die ursprüngliche Einheit von Erscheinung und Idee. Zum Goetheschen Symbolbegriff vgl. Maximen und Reflexionen, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 470. 15 Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 49, in: H. B., Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, ausgewählt, eingeleitet u. erläutert von Gotthart Wunberg, Stuttgart 1968, S. 33102. 16 Hermann Bahr, Expressionismus-Gespräch, S. 193 f., in: Paul Pörtner (Hrsg.), Literatur-Revolution 1910-1925. Dokumente, Manifeste, Program-
133 me. 2 Bände. Band 1: Zur Ästhetik und Poetik. Band 2: Zur Begriffsbestimmung der Ismen, Darmstadt/Neuwied/Berlin 1960/61, Bd. 2, S. 193-195. 17 Ebd., S. 195. 18 Herwarth Walden, Vorrede zum „Ersten Deutschen Herbstsalon“ 1913, S. 158, in: wie Anm. 16, S. 157-159. 19 Ludwig Meidner, Anleitung zum Malen von Großstadtbildern, S. 165, in: wie Anm. 16, S. 164-169. 20 Ebd., S. 166. 21 Die expressionistischen Maler pochen auf den Röntgenblick des Visionärs. 22 Zur phänomenologischen Reduktion und die Formen der Wesenserfassung vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hrsg. u. eingeleitet von Paul Janssen, Hamburg 1986. 23 Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile. Eine Zeit- und Streitschrift. Bd. I u. II. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913, Nendeln/Liechtenstein 1973, Bd. I, S. 134. 24 Kasimir Edschmid, Über den dichterischen Expressionismus, S. 52, in: Tribüne der Kunst und Zeit. Eine Schriftensammlung, hrsg. v. K. E., Berlin 1919, S. 39-78. 25 Ebd., S. 54. 26 Ebd., S. 55. 27 Ebd., S. 54. 28 Vgl. etwa Franz Werfels Gedicht Eine alte Vorstadtdirne (Franz Werfel, Wir sind. Neue Gedichte. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913, Nendeln/Liechtenstein 1973, S. 45. 29 Zitat nach: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien u. Bibliographien neu hrsg. von Kurt Pinthus, Hamburg 1959 (zuerst 1920), S. 55. 30 Aber auch der Realist Paul Zech huldigt zugleich dem expressionistischen Erneuerungsgedanken, dem Entwurf einer „neuen Welt“, so in dem mit religiösen Metaphern angereicherten Gedicht-Zyklus Die neue Bergpredigt (1910), in: Menschheitsdämmerung (wie Anm. 29), S. 230-233. 31 Paul Hatvani, Versuch über den Expressionismus, S. 214, in: wie Anm. 16, S. 214-219. 32 Otto Flake, Souveränität, S. 449 ff., in: wie Anm. 16, S. 449-451. 33 Ernst Bloch, Geist der Utopie (wie Anm. 2), S. 44. 34 Ebd., S. 59. 35 Ebd., S. 291. 36 Ebd., S. 275. 37 Ebd., S. 87. 38 August Macke, Die Masken, S. 22, in: Der Blaue Reiter. Herausgeber: Kandinsky – Franz Marc. Zweite Auflage, München 1914, S. 21-26. 39 Ebd., S. 21. 40 Kandinsky, Über die Formfrage, S. 78, in: wie Anm. 38, S. 74-102. Wiederabdruck in: Kandinsky, Essays über Kunst und Künstler, hrsg. von Max Bill, Bern 1955 (1963), S. 17-47.
134 Ebd. Franz Marc, Die „Wilden“ Deutschlands, S. 6 f., in: wie Anm. 38, S. 5 ff. 43 Franz Marc, Geistige Güter, S. 3, in: wie Anm. 38, S. l-4. 44 Arnold Schönberg, Das Verhältnis zum Text, S. 33, in: wie Anm. 38, S. 27-33. 45 L. Sabanejew, Prometheus von Skrjabin, S. 58, in: wie Anm. 38, S. 5768. 46 Herwarth Walden, Einblick in Kunst (wie Anm. 5), S. 97. 47 Kasimir Edschmid, Über den dichterischen Expressionismus (wie Anm. 24), S. 56 f. 48 Theodor Däubler, Der neue Standpunkt. Nachdruck der Ausgabe Dresden-Hellerau 1916, Nendeln/Liechtenstein 1973, S. 180. 49 Gottfried Benn, Alexanderzüge mittels Wallungen, S. 138 in: G. B., Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Bd. I-VII/2, hrsg. von Gerhard Schuster u. Holger Hof, Stuttgart 1986-2003, Zitation in SW III, S. 134-138. 50 Ebd. 51 Benn, SW I, S. 62. 52 Benn, SW I, S. 63. 53 Benn, SW I, S. 98. 54 Benn, SW V, S. 170 (Doppelleben, 1950). 55 Benn, SW IV, S. 405 f. 56 Benn, SW IV, S. 399. 57 Benn, SW II, S. 129. 58 Benn, SW I, S. 99. 59 Ernst Bloch, Geist der Utopie (wie Anm. 2), S. 210. 60 Ebd., S. 211. 61 Carl Einstein, Zu Vathek, S. 39, in: C. E., Gesammelte Werke, hrsg. v. Ernst Nef, Wiesbaden 1962, S. 39-42. 62 Ebd., S. 42. 63 Georg Kaiser, Vision und Figur, S. 666, in: wie Anm. 1. 64 Kasimir Edschmid, Über den dichterischen Expressionismus, S. 67, in: wie Anm. 24. 65 Benn, SW III, S. 81 (Diesterweg, 1917). 66 Benn, SW III, S. 113 (Der Garten von Arles, 1920). 67 Ebd., S. 114. 68 Ebd., S. 113. 69 Benn, SW I, S. 123. 70 „Es giebt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen: und folglich giebt es vielerlei ‚Wahrheiten‘, und folglich giebt es keine Wahrheit.“ (Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 11, S. 498 – Fragment). 41 42
135 Brief an F.W. Oelze vom 27.1.1933 (Gottfried Benn, Briefe an F.W. Oelze 1932-1945, hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder, Wiesbaden/München 1977, S. 27). 72 Kurt Liebmann, Lebt!, S. 359 f., in: wie Anm. 16, S. 357-361. 73 Ebd., S. 360. 74 Benn, SW V, S. 40. 75 Benn, SW IV, S. 320. 76 Benn, SW IV, S. 83. 77 Platon, Der Staat, 6. Buch, S. 226, 484 St., in: Platon, Sämtliche Dialoge, hrsg. v. Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988 (Bd. V). 78 Platon, Menon, Kapitel XV, S. 39, 81 St., in: wie Anm. 77 (Bd. II). 79 Platon, Timaios, S. 56, 38 St., in: wie Anm. 77 (Bd. VI). 80 Aber das expressionistische Urbild ist nicht identisch mit dem Platonischen Eidos. So rekurriert Benns „Urgesicht“ auf das Urtümliche, Archaische; es steht der Archetypen-Lehre C.G. Jungs näher als der Ideen-Lehre Platons. „Urgesicht: Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich!“ (Epilog und Lyrisches Ich, SW III, S. 133). Hier ist das Urbild keine abstrakte Idee, sondern ein aus visueller und verbaler Assoziation gespeister Impetus. Das Wort kann ein Stimulans des „Urgesichts“ sein: „Du siehst ihnen in die Seele / nach Vor- und Urgesicht“ (Worte, SW I, S. 282). Im „Urgesicht“ lösen sich die zeitlichen, geographischen und thematischen Disparitäten in einem zeitlosen Zugleich auf, wie im Essay Urgesicht; in dem Berlin und Babylon assoziativ verbunden sind. 81 Ernst Bloch, Geist der Utopie (wie Anm. 2), S. 64. 82 Georg Kaiser, Das Drama Platons (1917), in: wie Anm. 1, S. 661-662. 83 Salvador Dali, Ehre dem Gegenstand!, S. 50, in: S. D., Die Eroberung des Irrationalen. Essays, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1973, S. 50-54. 84 Salvador Dali, Die Eroberung des Irrationalen, S. 13-16, in: wie Anm. 83, S. 9-23. 85 Georg Kaiser, Die Bürger von Calais. Mit einer Einführung hrsg. v. Walter Urbanek, Bamberg/Wiesbaden 1963, S. 78. 86 Georg Kaiser, Der kommende Mensch, S. 679-681, in: wie Anm. 1, S. 679-683. 87 Georg Kaiser, Von morgens bis mitternachts. Stück in zwei Teilen, in: wie Anm. 1, Zitate: S. 68-71. 88 Ebd., S. 106. Das Ecce-homo-Motiv, ein Sujet der bildenden Kunst (u.a. bei Dürer, Tizian, Rembrandt), ist auch in der Moderne gegenwärtig, so in Lovis Corinths anrührendem Ecce Homo (Christus zwischen Pilatus und Büttel), gemalt 1925, kurz vor seinem Tode. 89 Georg Kaiser, Gas. Schauspiel in fünf Akten, in: wie Anm. 1, S. 254. 90 Georg Heym, Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hrsg. v. Karl Ludwig Schneider, Bd. I: Lyrik, Hamburg/München 1964, S. 346. 91 Ebd., S. 347. 92 Jakob van Hoddis, Weltende, in: Menschheitsdämmerung (wie Anm. 29), S. 39. 71
136 Georg Trakl, Werke. Entwürfe. Briefe, hrsg. v. Hans-Georg Kemper u. Frank Rainer Max, Stuttgart 1995 (1984), S. 221. 94 Ebd., S. 228. 95 Ebd., S. 27. 96 Ebd., S. 112. 97 Dazu Susanne Augat, Ernst Barlach und das Hexenwesen, hrsg. v. Andrea Rudolph u. Volker Probst, Penzlin u. Güstrow 1998. 98 Drama und Federzeichnung bilden einen visionären Wirbel und zugleich psychologische Realistik von animalischer Aggressivität, ein unerhörtes provokatives Szenario. 99 Mit ihren detaillierten schockdramatischen Effekten ist Die Nacht ein Alptraum menschlicher Grausamkeit. Beckmann strebt das Sichtbarmachen des Wirklichen als das Erfassen des Unsichtbaren an. „Wenn man das Unsichtbare begreifen will, muß man so tief wie möglich ins Sichtbare eindringen. – Mein Ziel ist immer, das Unsichtbare sichtbar zu machen durch die Wirklichkeit. […] mein Wille, dieses schaurige, zuckende Monstrum von Vitalität zu packen und glasklar in scharfe Linien und Flächen einzusperren, niederzudrücken, zu erwürgen.“ (Zitat nach: Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 108 f.) 100 Meidners Bilder sind in ihrem ungestümen Pinselstrich Ausdruck ekstatischer Vibrationen, einer visionären Dynamisierung der Wirklichkeit, mit dem Antrieb, die Dinge in ihrem wahren Wesen zu erfassen. 101 An dieser Gestalt hat Benn Kritik geübt. Im Brief an den Verleger Alfred Richard Meyer, Herausgeber Lyrischer Flugblätter, vom 4.9.1913 schreibt er hinsichtlich des Manuskripts der Söhne: „Hier ist der Schund. Taugt nichts. Gibt eine Pleite. Meidners Bild ist mir unklar. Was macht die Hand oben in den Wolken?“ (Zitat nach: Gottfried Benn. Der Dichter über sein Werk, hrsg. v. Edgar Lohner, München 1976 [1969], S. 12.) 102 Vgl. Expressionisten. Sammlung Buchheim. Ausstellung Köln 1981, Katalog Nr. 198 u. 200. 103 Oskar Kokoschka, Von der Natur der Gesichte, S. 206-208, in: Theorie des Expressionismus, hrsg. v. Otto F. Best, Stuttgart 1982 (1976), S. 206210. 104 Theodor Däubler, Der neue Standpunkt (wie Anm. 48), S. 181 u. 189. 105 Ernst Bloch, Geist der Utopie (wie Anm. 2), S. 246. 106 Deutsche Mystik. Eingeleitet u. ausgewählt von Lothar Schreyer, Berlin (1925), S. 11. Bei alledem muß man freilich im Blick halten, daß der Begriff des Mystischen bei den modernen Literaten jener Jahre vage und vieldeutig bleibt, wie überhaupt, besonders auch in den Programmschriften und Manifesten, die Schlüsselbegriffe vielfach bloße Leitworte sind. Literarische Essays sind keine philosophischen Analysen. So kann man auch in expressionistischer ‚Mystik‘ nicht die für die traditionelle Mystik charakteristische klare Unterscheidung und Zuordnung von visio, speculatio und unio erwarten (dazu F.W. Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit, Tübingen 1947, S. 12-14). 93
137 Franz Marc, Die „Wilden“ Deutschlands (wie Anm. 42), S. 7. Lothar Schreyer, Expressionistische Dichtung, S. 170 ff., in: Theorie des Expressionismus (wie Anm. 103), S. 170-181. 109 Um das Experimentelle und den Kunstfaktor insbesondere der Lyrik hervorzuheben, benutzt man gerne den sachlicheren Begriff Wortkunst. Vgl. dazu Arno Holz, Die befreite deutsche Wortkunst (1918/19 u. 1921), Wiederabdruck in: Theorie des Naturalismus, hrsg. v. Theo Meyer, Neuausgabe Stuttgart 1997 (1973, 1977), S. 176-178. 110 Wie Anm. 108, S. 174. 111 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1964 (Neuausgabe 1959), S. 49. 112 Zitat nach: Walter Hess, Dokumente (wie Anm. 99), S. 109. 113 Zitat nach: Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 1965 (1954), S. 206. 114 Benn, Ein Wort (1941), SW I, S. 198. 115 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: wie Anm. 70, Bd. 3, S. 480, Zf. 124. 116 Friedrich Markus Huebner, Europas neue Kunst und Dichtung. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1920, Nendeln/Liechtenstein 1973, S. 83 f. 117 Ebd., S. 84. 118 Oswald Herzog, Der abstrakte Expressionismus, S. 107, in: wie Anm. 103, S. 106-108. 119 Wie Anm. 99, S. 45. 120 Ebd., S. 46. 121 Wie Anm. 99, S. 47. 122 Wie Anm. 99, S. 79. 107 108
II Zwischen Skepsis und Gewißheit
Jürgen Große LEBENSWERT, LUSTBILANZ, WELTPROZESS Notizen zu Eduard von Hartmann (1842-1906)
Der Essay bietet eine Re-Lektüre des deutschen Philosophen Eduard von Hartmann (1842-1906). Das Hauptinteresse liegt auf der Verbindung von vitalistischer Metaphysik, Eudämonologie und Kulturdekadenzlehre. Sein Mut zur Paradoxie, eines der entscheidenden Merkmale für das Größenmaß eines Denkers, war außerordentlich. … Was andere sich kaum zuflüstern, wird von Hartmann niedergeschrieben, gedruckt und der Gesamtheit mitgeteilt. Leopold Ziegler
Vorblick: Ein Vergessener Die Prominenz mancher Philosophen gründet sich weniger auf das, was sie zu sagen meinten, als vielmehr auf das, was sich darin ausdrückte. Als epochen- oder milieutypischen Gestalten billigt ihnen auch die Nachwelt, ob aufrichtig dankbar oder nur gönnerhaft, Schlüsselfunktion für Größeres, von ihnen selbst vielleicht nicht Gesehenes zu. Eduard von Hartmann ist ein typisches Beispiel dafür. Jahrzehntelang als ein – oder der? – Starphilosoph des zweiten deutschen Kaiserreichs gefeiert, verschwand mit diesem sein Ruhm fast schlagartig. Von Hartmanns ‚konkreter Monismus‘ hat keine Schule begründet, und nur wenige seiner Anhänger haben einen Platz in der philosophischen Szene auch des 20. Jahrhunderts gefunden (A. Drews). Die originellen begrifflichen und gedanklichen Prägungen v. Hartmanns, das ‚Unbewußte‘ und die Axiologie, sind von anderen Denkern, in anderen Fragekontexten fortgesetzt worden: S. Freuds und M. Schelers Werke bestimmen, trotz höheren
142 Schwierigkeitsgrades, heute das philosophische und populäre Verständnis dieser Themen. Als Einzelfigur wie als Vertreter einer philosophischen Strömung, des Vitalismus, fehlt v. Hartmanns Name in den meisten philosophischen Nachschlagewerken der Gegenwart. Eine eventuelle Bekanntheit als Person verdankt v. Hartmann am ehesten noch dem Spott, den Nietzsche wie der zeitgenössische Materialismus über seine „Philosophie des Unbewußten“ (1869) ausgegossen haben. Die Schopenhauer-Literatur wiederum führt v. Hartmann als blassen Epigonen unter selbstgeschaffenem Originalitätsdruck, dessen skurrile Denkerzeugnisse aber von heute noch unbekannteren Konkurrenten wie P. Mainländer oder J. Bahnsen überboten seien.1 Fern und fremd wirkt auch der Stil seiner philosophischen Existenz. Eduard v. Hartmann ist ein Publikumsschriftsteller außerhalb der universitätsphilosophischen Zunft, jedoch mit Systemehrgeiz. Seine zahlreichen Werke sind Muster begrifflicher und argumentativer Strenge; der gedankliche Gehalt erschließt sich oft am ehesten über die peniblen Proportionierungen und Symmetrien in der Gliederung. Der Außenseiterstatus v. Hartmanns betrifft nicht das Verhältnis zur zeitgenössischen Naturwissenschaft, mit der er als Autodidakt wie durch Privatunterricht früh vertraut wurde, auch in langwährendem persönlichen Umgang mit Medizinern und Forschern. Seine philosophische Popularität realisierte sich dagegen fast ausschließlich über das auflagenstark gedruckte Werk und zahlreiche Stellungnahmen in der hauptstädtischen Presse: Eduard v. Hartmann ist einer der wenigen Philosophen, die Berlin hervorgebracht hat und die dort auch blieben. Grund für die Ortsbindung und das hauptsächlich schriftstellerische Wirken ist ein Knieleiden gewesen, das in den 1860ern die ursprünglich geplante Militärlaufbahn abrupt beendete und v. Hartmann, nach kurzen Versuchen als Maler und Musiker, auf seinen „wahren Beruf“, „und zwar in der Gestalt des freien philosophischen Denkens“ (GSA, 30),2 hinlenkte. Ein Großteil des v. Hartmannschen Werkes wurde unter starkem körperlichen Schmerz vom Ruhebett aus geschrieben. Unfrag-
143 lich ist dieses Werk ‚originell‘ – doch beruht diese Originalität nicht auf dem Entscheid fürs Einseitige, Extreme, sondern auf der Gewagtheit seiner Synthesen. Im folgenden seien drei davon herausgehoben, die sowohl einen Zusammenhang in v. Hartmanns Gesamtwerk bilden als auch eine aktuelle Bewußtseinslage ausdrücken.
Vitalistische Metaphysik Die Philosophie des Unbewußten, v. Hartmanns frühes Hauptwerk, aber auch die meisten der 60 nachfolgenden Buchveröffentlichungen wollen „speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode“ geben. Metaphysische Ambitionen sehen sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur mit den Fortbildungen des Kritizismus, sondern vor allem mit dem weltanschaulichen Erfolg der Naturwissenschaften konfrontiert. Deren ‚positive Resultate‘ erzeugen einen Legitimierungsdruck, unter den v. Hartmann sein Philosophieren von Anbeginn ganz freiwillig stellt. Der Weg zum ‚Absoluten‘ muß seinen Ausgang von einzelwissenschaftlich erschlossenen, aber transzendenter Deutung bedürftigen Phänomenen nehmen. Der Lebensbegriff ist seit den 1850ern einer der Kandidaten für solche ‚induktive Metaphysik‘ gewesen – zuerst in einer biologisch, dann in einer psychologisch inspirierten Variante. Typisch für den Vitalismus,3 der seine philosophischen Höhepunkte ein halbes Jahrhundert später bei H. Driesch und H. Bergson erreichen wird, ist die Synthese verschiedener Bedeutungsebenen von ‚Leben‘. Sie reichen von Eigenschaften der Zellorganisation bis zur Teleologie des kosmischen Ganzen (‚All-‘ oder ‚Gesamtleben‘ genannt). In seinem philosophischen Bildungsgang werden dem Autodidakten v. Hartmann diese verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zu ‚Leben‘ vertraut. Fast gleichzeitig lernt er, durch den Umgang mit gelehrten Freunden des Elternhauses wie durch eigene Lektüre, Schopenhauers Willensmetaphysik und eine „grosse Masse
144 naturwissenschaftlicher und psychologischer“ Literatur kennen (GSA, 37). Sein Leben lang bleibt v. Hartmann in Kontakt mit der Forschung, insbesondere der Physiologie und Psychologie. Bereits während seiner Militärzeit auf der Festung Spandau entsteht eine Studie Die Geistesthätigkeit des Empfindens (1859), worin sich die Grundüberlegung der Philosophie des Unbewußten abzeichnet: Die Hypothese eines besonderen Empfindungsvermögens sei ein Irrtum, vielmehr handele es sich beim Empfinden um ein „combinirtes Resultat aus Begehren und Denken (oder Vorstellen)“ (31). Mit anderen als ‚eklektisch‘ geschmähten Geistern wie C. Bernard oder E. Dühring reiht v. Hartmann sich in die vitalistische Bewegung ein, die mit dem ‚Leben‘ einem ausschließlich naturwissenschaftlichen Monismus die Stirn zu bieten sucht. ‚Leben‘ soll, als Metapher für Organisiertheit und immanente Sinnerzeugung, für jenes ontologische Kontinuum stehen können, das man zeitgenössisch im physiologischen Materialismus und in der spekulativen Tradition durch ‚die große Kette der Wesen‘ (A.C. Lovejoy) postuliert sah. Dieser Vitalismus ist nicht zu verwechseln mit einer ‚Philosophie des Lebens‘, die um 1800 unterm Schlachtruf ‚Ganzheit‘ und ‚Ichheit‘ unmittelbar praktische, kulturtherapeutische Ambitionen verfolgte. Zwar bestehen diese im Vitalismus ebenfalls. Sie werden jedoch indirekt, auf dem langen Weg durch die naturwissenschaftliche Transformation der Welt- und Selbstdeutung des Menschen verfolgt. In der Regel steht bei den philosophischen Vitalisten ein naturwissenschaftliches Studium am Anfang der Denkbiographie. Der Vitalismus nähert sich dem Leben primär aus ‚theoretischer Einstellung‘, es handelt sich für ihn um ein beobachtbares und analysierbares Phänomen, das erst in seiner Erforschung den Überstieg ins Metaphysische, v. Hartmann: ‚Absolute‘ eines Weltkontinuums, zu fordern scheint. Die kulturell vermittelten Formen stehen am Ende der Philosophie des Unbewußten als auch – thematisch – am Ende des v. Hartmannschen Lebenswerks (Religionsphilosophie 1881/82, Ästhetik 1886/87).
145 Das bedeutet keine Nach- oder Unterordnung. Vielmehr drückt sich in diesem stufenweisen Vorgehen v. Hartmanns Zuversicht aus, die Natur als Wesen der entwickeltsten – bewußten – Formen des Lebens durch dessen Einbettung in die Natur als Seinsbereich deuten zu können. Wie andere ‚wissenschaftliche Weltanschauungen‘, die im 19. Jahrhundert entstehen, sieht v. Hartmann die Wissensformen selbst in einem evolutionären Übergang untereinander als auch zu weltanschaulichen Orientierungsbedürfnissen stehen. Das Leben, das seine eigene Evolution erforscht, verändert sich dadurch aber selbst. In seiner Bewußtwerdung verwirklicht es eine thanatologische Tendenz. Vollständiges Wissen – v. Hartmann spricht vom Sieg ‚des Logischen‘ – wäre der Tod. Es handelt sich um einen Gedankengang, den v. Hartmann nacheinander auf allen Feldern der Metaphysik, der metaphysica generalis wie der metaphysica specialis, ausformuliert. Die Teleologie des Lebens ist Bewußtwerdung, Stillstand in der Erkenntnis. Deshalb aber ist auch nicht ‚Leben‘, sondern ‚das Unbewußte‘ zum Zentralbegriff bzw. zur Zentraldifferenz seines frühen Hauptwerks geworden. Der Binarismus von ‚bewußt‘ und ‚unbewußt‘ kennzeichnet die evolutionäre Tendenz des Lebens von den unteren Stufen des Organischen bis zur Staatlichkeit der Menschengesellschaft. Diese Tendenz wird für v. Hartmann manifest in dem Drang des Unbewußten, Bewußtsein zu werden. Sie bildet das Wesen eines Weltprozesses, der zugleich Erlösungsprozeß des Lebens von sich selbst sein soll. Mit der Anknüpfung an den zeitgenössischen Evolutionismus geht v. Hartmann über die romantische Metaphysik des Unbewußten hinaus, wie sie ihm z.B. mit C.G. Carus’ Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846) vorlag. Hier wie in Schopenhauers Aspektdualismus von Wille und Vorstellung erscheinen leibliche und seelische Funktionen jeweils als sichtbare Leistungen eines unbewußten Grundes, der unter ihnen verborgen bleibt. Von Hartmann fügt dem physiologischen Unbewußten (Reflexe, organisches Wachstum, Triebe) und dem psychologi-
146 schen Unbewußten (Empfindungen unterhalb der Bewußtseinsschwelle, Vorstellungen ohne psychovitale Stabilität) das ‚absolute‘ (metaphysische) Unbewußte hinzu. Dieses bilde Seinsgrund und Bewegungsprinzip der sichtbaren Wirklichkeit. Demgemäß fällt die Dreiteilung seines Hauptwerks aus: „A. Die Erscheinung des Unbewussten in der Leiblichkeit“ – „B. Das Unbewusste im menschlichen Geiste“ – „C. Metaphysik des Unbewussten“. Handelt es sich bei C. um einen Überbau, einen philosophischen Parasiten verallgemeinerter einzelwissenschaftlicher Theoreme? Das Unbewußte nimmt die traditionell onto-theologisch bestimmte Rolle eines Weltschöpfers wahr. Sein Wille, Welt werden zu lassen, ist ‚blind‘ und steht an deren Anfang. Von Hartmann nennt die Weltschöpfung auch un- oder alogisch. Die Weltwirklichkeit selbst, der Bereich der Schopenhauerschen ‚Vorstellung‘, ist dagegen vollkommen ‚logisch‘ erschließbar. Der dynamische Charakter dieser Wirklichkeit besteht darin, daß aus Wille Vorstellung, aus Unbewußtem Bewußtes, aus primitiv organisierten Formen des Lebens die höheren, stärker individualisierten werden. In ihnen findet v. Hartmann den heuristischen Ausgangspunkt, um über das physiologische und psychologische Unbewußte auf ein absolutes zu kommen. Die Erfahrung im und am individuellen Lebendigen zeigt nämlich: Alles Leben unterliegt der Teleologie des Glücklichseins. Dies sei das ‚Wesen des Willens‘, wenngleich illusionär und verwerflich im Einzelnen. Dennoch ist ihm alles (bewußte) Erkennen dienstbar. Wäre es das nicht, würde es „Die Unvernunft des Wollens und das Elend des Daseins“ (so der Titel von Kapitel XII der Philosophie des Unbewußten) erkennen. Die Annahme eines absoluten Unbewußten als Bewegungsgrund der Welt wird durch die – für v. Hartmann logisch-empirisch errechenbare – pessimistische ‚Lustbilance des Lebens‘ notwendig. Das bewußte Leben ist Werkzeug (Mittel) eines Unbewußten, das ontologisch darin seine Selbstaufhebung anstrebt, als ‚Bewußtsein‘ nämlich. Von den entwickelten Formen der Evolution her wird das Evolutions-
147 ganze erkennbar, eine Rückwendung schließt den Prozeß: Solche Denkmuster sind heute aus der Evolutionären Erkenntnistheorie vertraut. Die Form des v. Hartmannschen Systems spiegelt jedoch die Genealogie seiner Aussagen, nämlich aus regressiver Analyse der komplexesten und am meisten individuierten Lebensformen, nicht wider. Darin drückt sich ein tiefergelegenes Problem induktiv angeleiteter Spekulation aus. Die metaphysische Brisanz der Bewußtheit/Unbewußtheit-Differenz und die Rückung gegenüber Schopenhauers Willensmetaphysik liegt in v. Hartmanns Ehrgeiz, die Verbindung der verschiedenen Perspektiven auf ‚Leben‘ selbst zu theoretisieren.4 Das konnte Schopenhauers elitäre Epistemologie nicht wollen, derzufolge ja die Totalität der Willenshaftigkeit von Welt nur in privilegierten Augenblicken der Erkenntnis zu durchbrechen war. Künstler, Heiliger, Philosoph waren für Schopenhauer Daseinstypen, in denen sich auf unterschiedliche Weise der „Wille gewendet“ habe5 bzw. die Erkenntnis von der Knechtschaft des Lebenswillens freimachen konnte. Für einen Philosophen im Gefolge der positivistischen Naturwissenschaft mußte dagegen selbst noch das Erkennen der Vitalwirklichkeit in diese integrierbar sein. Dafür bot sich v. Hartmann zum einen Schellings frühe Identitätsphilosophie mit ihren Parallelreihen des Idealen und Realen,6 zum anderen die Schellingsche Spätphilosophie von „Mythologie und Offenbarung“ an. Ihr entnimmt er die Lösung des Theodizeeproblems durch Zuordnung des Was und des Daß der Welt als Leistungen je von Vorstellen und Wollen. Die Welt verdankt einem unvernünftigen Akt ihr Entstehen, einem ‚Unlogischen‘ – der ‚Wille‘ kann per definitionem nichts anderes sein; alle Vernunft erstreckt sich dagegen auf das Was der Schöpfung, in v. Hartmanns Terminologie ‚das Logische‘ (vgl. PhU, 627 f.)7. Die Verbindung von Naturphilosophie und -wissenschaft schließlich soll die Abbildung dieser Dichotomie aufs Evolutionsprinzip leisten. Dann verhalten sich Schopenhauers „Wille und Vorstellung“ nurmehr komparativ zueinander als unbewußter und bewußter Pol eines Geschehens, das in ontologi-
148 scher Immanenz stattfindet. „Die Ewigkeit des Wollens bedingt die Unendlichkeit des Processes, und zwar nach vorwärts und rückwärts.“ (PhU, 771)
Pessimistische Eudämonologie Die „Philosophie des Unbewußten“ wurde von Kritikern und Schülern als ‚teleologischer Panpneumatismus‘, ‚Realidealismus‘, ‚Panpsychismus‘ oder ‚spiritualistischer Neovitalismus‘ bezeichnet, v. Hartmann selbst nannte sein System ‚konkreten Monismus‘. Letzteres versteht sich besonders aus der ontologischen und methodologischen Orientierung an der individuellen Lebenseinheit. Für ihre Eingliederung in ein monistisch gefaßtes Kontinuum des Lebens war eine konsequent eudämonistische Interpretation von Moral- und Wertproblemen naheliegend: Alle Spielarten von transzendenzgegründeten bzw. sollensethischen Morallehren unterliegen einem Dualismus-Verdacht. Besonders an der Unsterblichkeitsfrage und am Kantischen Begriff der Glückswürdigkeit hat v. Hartmann eine selbstbetrügerische Eudämonologie in ihren Asylen aufzustöbern gesucht.8 Die Glücksteleologie der individuellen Lebenseinheit führt zugleich auf den pessimistischen Weltbefund. Auch hier steht wieder der – nunmehr metaphysisch überbaute – naturwissenschaftliche Anspruch monistischer Erklärung im Hintergrund. Ist die eine Wirklichkeit ein irrationales Vitalkontinuum, so findet sich das Erkennen in einer Dienstbarkeit oder gar ontologischen Nichtigkeit, aus der es sich erst herausarbeiten muß. Soll dies nicht durch Behauptung von Ausnahmesituationen geschehen (wie bei Schopenhauer), so muß die Schwachheit oder Nichtigkeit des Erkennenden selbst als Vitalfaktum interpretiert werden. Das geschieht in einer metaphysischen Erzählung von der Befreiung des Erkennens aus dem Willensdienst. Gerade dadurch wird aber die ‚negative Lustbilance‘ der Welt sichtbar. Als Vitalfaktum wäre sie kaum erträglich. Doch bedeutet gerade die
149 Stärkung der Erkenntnis als Eigenmacht eine Schwächung des vitalteleologischen Prinzips. Die Philosophie des Unbewußten endet mit dem Bild eines Seelen- und Kulturzustands, worin alle ehemaligen (unbewußten) Willensleistungen jenseits glücksteleologischer Anteilnahme von aufgeklärten Pessimisten vollbracht werden. Dieses Bild dürfte in vielem, trotz bizarrer Formulierungen, unverändert eine Bewußtseinslage treffen, worin ‚Glück‘ ein selbstverständliches Kulturziel darstellt. Von Hartmann postuliert das Ideal subjektiv interesseloser Arbeit an diesem (kollektiven) Glück, das in seiner dann offenbar werdenden Vergeblichkeit zügig zur Selbsterlösung des Willens führe. Schon in einer rein eudämonologischen Bestandsaufnahme werde ja deutlich, daß die „Culturfortschritte und ihre Beförderungsmittel um so grössere und schmerzlichere Opfer an Glückseligkeit erfordern“ (Pessimismus, 76). Ein knappes Jahrhundert später hat man von ‚Betrieb‘, ‚Industrie‘, ‚Institutionen‘ gesprochen, um eine zwecklose Bewegung zu kennzeichnen, deren Unsinn nur im Rückbezug auf irregeleiteten individuellen Glücksanspruch zu begreifen sei. Diese Relation ist in v. Hartmanns Sicht aber nicht aufrechtzuerhalten. Im Selbsterlösungsprozeß des Lebens, der eine Selbstvernichtung des Willens in seiner Bewußtwerdung (‚Vergeistigung‘) bedeutet, wird und muß der Optimismus des Einzelnen mit Pessimismus hinsichtlich des Ganzen Hand in Hand gehen. Wie jedoch gewinnt v. Hartmann überhaupt den pessimistischen Totalbefund – jene vielfach mit Gelächter aufgenommene „negative Lustbilance des Universums“? In einer kleinen populären Schrift hat v. Hartmann seinen „metaphysischen Pessimismus“ gegen allerlei Arten von „Stimmungspessimismus“ abzugrenzen gesucht: „Entrüstungspietismus, quietistischen Pessimismus“ u.a.m. (vgl. Pessimismus, 86 ff.). Die „speculative Wahrheit“, daß „die Lustbilance der Welt negativ sei“, soll als „inductive Wahrheit“ zugänglich sein (67). Der Pessimismus wird „wissenschaftlich begründbar“, wenn eine „reinliche Sonderung des subjectiven Gefühls von der
150 objectiven wissenschaftlichen Beobachtung auf diesem Gebiet“ möglich sei (70). Ein „Denken auf höherer Stufe“ könne genau dies leisten, und zwar das Denken des Philosophen, der „in Verbindung mit der Energie des Willens im Stande ist, Stimmungen zu bekämpfen“ (71). Von Hartmann wendet sich gegen Schopenhauers vorschnelle metaphysische Abwertung der Lust als nur scheinbarer, da negativ auf nachlassende Unlust bezogen (vgl. PhU, 638 ff.). Die Lustempfindungen als solche trügen nicht. Erst ein Nachrechnen ergibt aber das wahre – dauerhafte – eudämonologische Resultat. Erfahrung und Empfindung sind für v. Hartmann, wie im naturwissenschaftlichen Positivismus seiner Zeit überhaupt, formalisierbar und atomisierbar in kleinste Einheiten. Ihre Verrechnung unabhängig von stimmungshaften und lebenszeitlichen Antizipationen und Retentionen erbringt das Resultat eines „nothwendigen Unlustüberschusses“, der „sogar über die Grenzen der gegebenen Welt hinausreicht“. Da nämlich „jedes denkbare Individual-Leben so lange es Thätigkeit sein soll, auf dem Willen und seinen psychologischen Gesetzen beruhen muss“, wird es „eine negative Lustbilance haben“ (Pessimismus, 82). Bei v. Hartmann ist der ‚Wille‘ selbst auf die Ebene objektiv beobachtbarer Gegenständlichkeit distanziert. Unabhängig von seinen temporären Erfüllungen bedeutet er ein positives Faktum ständigen Mangels – denn wollen heißt begehren, was fehlt. Da v. Hartmann den Schopenhauerschen Willen mit der Teleologie des Lebendigen gleichgesetzt hat, muß sich ihm ‚Pessimismus‘ als gleichermaßen ‚wissenschaftlicher‘ wie ‚spekulativer‘ Befund ergeben. Die bei Schopenhauer und anderen Voluntaristen wirksame gnostische Idee, wonach der Wille in seiner Tendenz auf individuelle Erfüllung bei Vernichtung aller Welt umher per se schlecht sein müsse, will v. Hartmann nicht gelten lassen. Es gibt keine willenstranszendente Sphäre des Ethischen. Jegliche Wirklichkeit ist Prozeß der Bewußtwerdung des Unbewußten. Im Willen ist dies allen individuellen Lebenseinheiten erschlossen bzw. spürbar. Selbsterhaltung geht graduell in Glücksstreben über. Die Frage nach
151 dem Guten, zwecks einer moralischen Selbstbestimmung des Willens, in der endlosen Verzweigung eines ‚open-question‘Tests (G.E. Moore), stellt sich innerhalb eines solchen metaphysischen Entwurfs nicht. Dessen Simplizität lenkt den Blick um so stärker auf die innerweltlichen Lustbilanzen. Bei dem Nachweis, daß sie allemal negativ ausfallen, geht v. Hartmann äußerst akribisch vor. In der Philosophie des Unbewußten durchmustert er alle Lebensgebiete, Emotionen und Strebungen, selbst den Traum.9 Die Argumentation bewegt sich zweigleisig, gemäß ihrem doppelten, spekulativ-induktiven Anspruch. Zum einen quantifiziert v. Hartmann sämtliche positiven Empfindungen nach Wahrscheinlichkeitsaspekten, wobei die Lustbilanz statistisch negativ ausfallen müsse. Zum anderen verrechnet er den psycho-physischen Erregungsaufwand selbst zugunsten der Unlust (PhU, 644). Hierin ist er Schopenhauers Quietismus nahe, auch in der Überzeugung, „dass mit Ausnahme der physischsinnlichen, der ästhetischen und der wissenschaftlichen Genüsse kaum ein Glück zu gewahren ist, welches nicht auf der Befreiung von einer vorangegangenen Unlust beruhte“ (646). Doch sei der hierfür erforderliche „Nullpunct der Empfindung“ (647) nicht dauerhaft zu erreichen, der ‚Coefficient‘ von Lust und Unlust erreicht nicht die Eins (646). Für die Verrechnungen bzw. ‚Bilancen‘ muß v. Hartmann eine Laborsituation unterstellen, worin man aus gleichbleibender Beobachterdistanz zu seinen Empfindungen Stellung nehmen könne. Diese sind zu behandeln, als ob sie sich in einem qualitativ einheitlichen Raum realisierten. Vergleichbare Homogenisierungen muß der Utilitarismus seitdem bis in die Gegenwart leisten.10 Die metaphysische Brisanz solcher ÄquivalenzSetzungen ergibt sich an dem Punkt, wo die systemkonstitutiven Differenzen wie Dasein und Sosein des Lebens, Mittel und Zweck, Sein und Wert selbst in ein quantifizierbares Verhältnis gebracht werden sollen. Das ist bei v. Hartmann – ebenso wie bei seinen Zeitgenossen E. Dühring, F. Nietzsche, P. Mainländer – in der Frage nach dem ‚Werth des Lebens‘ beschlossen. Wäre
152 sein Nicht-Sein da nicht wünschenswert? Erst an diesem Punkt bricht in v. Hartmanns System die moralphilosophische Dimension auf. Eine mögliche Selbstvernichtung, die auch heute einen Brennpunkt der Eudämonologien des Vitalen bildet,11 wird mit scharfen Worten abgewiesen: Sie sei eine insuffiziente Lösung angesichts der Erlösungsbedürftigkeit eines kollektiven Ganzen. Für dessen Zusammenhalt bzw. Organizität kann v. Hartmann nur hypothetisch-spekulativ einstehen, angesichts des Falls nämlich, daß „das Interesse für die Entwickelung des Ganzen im Herzen Wurzel fasst und der Einzelne sich als Glied des Ganzen fühlt, als ein Glied, welches eine mehr oder minder werthvolle, nie aber ganz nutzlose Stelle im Processe des Ganzen ausfüllt. Dann wird es um der Ausfüllung dieser Stelle willen erforderlich, sich an das Leben, welches man vom Standpuncte des Ich aus nicht nur als unnützes Gut, sondern als wahre Qual fortwarf, mit wahrer Opferfreudigkeit hinzugeben, weil der Selbstmord eines noch leistungsfähigen Individuums nicht nur dem Ganzen keinen Schmerz erspart, sondern ihm sogar die Qual vermehrt, indem er dieselbe durch die zeitraubende Nothwendigkeit verlängert, für das amputirte Glied erst einen Ersatz zu schaffen. Dann ergiebt sich ferner die selbstverständliche Forderung, das aus Selbstverläugnung um des Ganzen willen bewahrte Leben in einer nicht mehr dem individuellen Behagen, sondern dem Wohle des Ganzen dienenden Weise zu erfüllen, was nicht durch passive Receptivität, nicht durch träge Ruhe und scheues Verkriechen vor den Berührungen mit dem Kampf des Daseins, sondern durch active Production, durch rastloses Schaffen, durch selbstverläugnendes Hineinstürzen in den Strudel des Lebens und Theilnahme an der gemeinsamen volkswirthschaftlichen und geistigen Culturarbeit zu leisten ist.“ (719 f.) Die moralphilosophische Relevanz des metaphysischen Pessimismus ergibt sich anhand der Frage, wie das Verhältnis von individueller und kollektiver Eudämonologie zu denken sei. Im Glücksstreben als äußerster Zuspitzung des Selbsterhaltungsprinzips ist alles individuierte Seiende einander homogen ge-
153 setzt. Zwar liegt im bloßen Wollen-Müssen schon eine Qual, doch wird sie erst spürbar in den innerweltlichen Verstrickungen mit anderen Willenssubjekten. Deren Zusammenhang besteht vor allem in der sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen Kooperation bei der Bereitstellung von eudämonistisch benötigten Mitteln. Deren Anwendung führt zur Einsicht in und Erlösung von der quälenden Willensnatur, in faktisch gewordenem Pessimismus. Wer sich von der gemeinsamen Kulturarbeit ausschließt, ist Egoist und verzögert seine eigene wie die kollektive Erlösung. Die Figur des ‚Egoisten‘ oder ‚Individual-Eudämonikers‘ spielt in v. Hartmanns kulturphilosophischen Überlegungen zum Pessimismus eine argumentationsstrategisch unentbehrliche Rolle. Vom individuellen Glücksverlangen gelange man nämlich direkt zur pessimistischen Lebensbilanz. Sie entspreche weithin dem Daseinsgefühl der gegenwärtigen europäischen ‚Culturvölker‘. Für das deutsche müssen auch nach dem heroisch-zuversichtlichen Aufschwung der Reichseinigung Schopenhauer und Stirner die konsequentesten Denker bleiben – nämlich eines unverarbeiteten Pessimismus wie des Egoismus überhaupt. Die ethische Verwertbarkeit des Pessimismus ist für v. Hartmann mit der Distanzierbarkeit des Wollens, ja des gesamten Begierde- und Triebgeschehens gegeben; die Läuterung des individuellen Egoismus vollzieht sich als geschichtliche Erfahrung, daß individuelles Glück immer im unverarbeiteten, faktischen Pessimismus ende. Der Prozeß als solcher ist unumkehrbar, lediglich seine Semantik ist zu verändern: Optimist im Kleinen, Pessimist fürs Ganze sein. Zunächst hatte v. Hartmanns Abdriften vom pessimistischen Hauptstrom des 19. Jahrhunderts Schwierigkeit, als solches wahrgenommen zu werden: Die Regel seien leider Verwechselungen zwischen dem „Schopenhauer’schen Standpunct der Verneinung des Willens zum Leben und dem meinigen der Bejahung desselben. Ihre Anknüpfung findet diese Verwechselung darin, dass ich die Ausrottung des Geschlechtstriebes, beziehungsweise den Selbstmord als die allein folgerichtige Conse-
154 quenz des Egoismus oder Individual-Eudämonismus aufzeige, und dass die betreffenden Gegner gar nicht begreifen können, wie dieser ihnen allein geläufige Standpunkt des Individual-Eudämonismus als ein schlechthin berechtigungsloser, nothwendig zu überwindender von mir hingestellt wird.“ (GSA, 40) Der konsequenteste Vertreter des Individual-Eudämonismus ist aber Stirner, mit dessen Gedankengang v. Hartmanns Pessimismus ebenfalls nicht selten verwechselt wurde. Das betraf vor allem den Reduktionismus gegenüber den ‚Culturillusionen‘, die sich gegenüber dem selbstsüchtigen, ‚universellen Instinct des Egoismus‘ wie die Mittel zum Zweck zu verhalten schienen und dabei Selbstzweckcharakter prätendierten. Wäre durch dessen Abweis nicht der Vernunft wie den Sinnen zu direktem Ausdruck zu verhelfen? Von Hartmann beschreibt Stirners Problemarrangement als das eines „universellen Instinctes, des Egoismus“, „der sich zu den speciellen Instincten gleichsam wie ein passe-partoutBillet zu Tagesbilleten verhält, von dem viele Specialinstincte nur Ausflüsse in besonderen Fällen sind, und mit dem man daher auch ganz allein ziemlich gut auskommt“ (PhU, 717). Im Unterschied zu Hegelianismus, Psychoanalyse, Simmelscher Lebensphilosophie zielt der Argumentationsgang nicht darauf, daß das Allgemeine des ‚universellen Instinctes‘ nie anders denn als spezielles Wunschziel, Kulturprojekt o.ä. zur Realität kommen könne. Vielmehr setzt v. Hartmann alles auf die Selbstexplikationsfähigkeit dieses Egoismus: Er könne zwar nicht sein, ohne sich über sich zu täuschen, doch finde er in der Enttäuschung sein Ziel. Die Einsicht in den Un-Sinn des Eudämonismus käme einem Entzug von dessen Seinsbasis gleich – dem Selbstmord. Diese Einsicht fehlte Stirner aber gerade, sie wäre „das sicherste Heilmittel gegen die Grossthuerei mit dem Standpuncte des Ich; wer die überwiegende Unlust, die jedes Individuum mit oder ohne Wissen im Leben erdulden muss, einmal verstanden hat, wird bald den Standpunct des sich selbsterhalten- und geniessen-wollenden, mit einem Worte des seine Existenz bejahenden Ich verachten und verschmähen“ (717). Es sei „der Gipfel der Selbst-
155 täuschung in diesem Salviren des lieben Ich aus der Unbehaglichkeit des Daseins etwas anderes als die crasseste Selbstsucht, als einen höchst verfeinerten Epikureismus zu sehen, der nur durch instinctwidrige Lebensanschauung eine instinctwidrige Richtung genommen hat.“ (718 f.) Diese Selbsttäuschung setzt sich auch noch in die Ausbruchsversuche aus dem individuellen Egoismus, nämlich epikureische Verfeinerung und Asketismus, fort. Beides sei kluge Berechnung ohne ethischen Wert (719). Warum sollte man aber in Gemeinschaft tun, was für sich genommen als sinnlos erkannt ist? In der Mitarbeit am kollektiveudämonistischen Projekt des ‚Culturfortschritts‘ werden Illusionen, ohne die es aus kosmologischen Gründen (s.u.) nicht geht, beherrschbar. Als soziale Fiktionen aufrechterhalten, entlasten sie den Einzelnen von Hoffnungen, die sonst in den unbeherrschbaren, weil unbegriffenen Pessimismus umschlagen würden. Ohnehin ist die Mühsal und Seriosität des zivilisatorischen Fortschrittsprojekts bzw. des Menschheitsglücks das beste Palliativ gegen die individuelle Verfallenheit an den Glücksglauben. Die – metaphysisch-spekulativ erneuerte – Erinnerung daran, daß man seit der Weltschöpfung durchs Wollen des ‚Unbewußten‘ schon je in einem Prozeß stünde, der gegenwärtig im wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Kultureudämonismus gipfele, kann als einzige zuverlässig vom Selbstvernichtungswunsch des frustrierten Egoismus abhalten. Der metaphysische Pessimismus vollendet sich ethisch in einer kosmologischen Rahmenerzählung – einer Geschichtsphilosophie.
Universalgeschichtliche Dekadenzerzählung Pessimistische Stimmungen bilden für v. Hartmann eine zeitgeschichtliche Erfahrung, die ihre Deutung in einer metaphysischen Rahmenerzählung vom Glücksstreben aller Kreatur finden soll. Eine „Philosophie der Geschichte“ hatte v. Hartmann als Abschluß seines Lebenswerkes geplant.12 Dazu kam es nicht
156 mehr. Doch lassen sich deren prospektive Grundzüge leicht aus v. Hartmanns moral- und religionsphilosophischen Schriften und natürlich aus der Philosophie des Unbewußten selbst herauslesen. Diese läuft in allen Varianten auf eine Selbsterlösung des unbewußten Wollens im philosophisch gewordenen Pessimismus hinaus. Dies ist auch der Punkt, in dem sich theoretische und praktische Philosophie v. Hartmanns verbinden können, denn erst die menschheitsgeschichtlich vollständige Erfahrung des Pessimismus kann ihn zum aktiven Verhalten wenden. Als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft hatten sich Philosophien der Geschichte im 18./19. Jahrhundert allgemein etabliert. Die Eigenart des v. Hartmannschen Entwurfs liegt in der Verschränkung von spekulativer Heilsgeschichte und naturwissenschaftlichem Evolutionsdenken. Dafür steht der Topos vom „Weltprozeß“, in dem zwischen „Natur und Geschichte“ kein Unterschied sei (PhU, 743). Der „Weltprozeß“ bildet ein ontologisch homogenes, evolutionäres Kontinuum, er ist zugleich Erlösungsprozeß. Die menschheitsgeschichtliche Erfahrung der negativen Weltlustbilanz ist in ein kosmisches Geschehen eingesenkt, das von den Einzellern bis zum Bismarckstaat führt. Die enge Bindung an den naturwissenschaftlichen Monismus liegt in v. Hartmanns Axiom von der anfangs- und endlosen Kontinuität des ‚Wollens‘ (PhU, 771). Natur und Geschichte, Leib und Seele sowie ihre Erlösung sind in diesem teleologischen Monismus aufgehoben als Aspekte derselben Sache. Als Religionsphilosoph behauptet v. Hartmann „die Selbsterlösung (Autosoterie) des ganzen Menschen als Einheit des geistlichen und natürlichen Menschen vermittelst der immanenten Gnade“ (GdR, VIII).13 Die künftige Menschheitsreligion wächst aus dem Verständnis der prozeßimmanenten Tendenz, sie „muß eine autosoterische, konkretmonistische Immanenzreligion des absoluten Geistes sein, die ebenso frei von religiös bedeutungslosen Dogmen wie von zufälligen Geschichtstatsachen sein wird“ (XI). Soweit sich Vitalwirklichkeit denken läßt, gilt für sie die immanente Erlösungstendenz vom Unbewußten zum Bewußten.
157 „Der menschliche Erlösungsprozeß bleibt mikrokosmische Abspiegelung des absoluten Erlösungsprozesses; letzterer ist aber ein Erlösungsprozeß von der inner- und außerweltlichen Unseligkeit“, schreibt v. Hartmann an seinen Schüler A. Drews.14 Die Formalstruktur des ‚Weltprocesses‘ ist, wie in allen monistischen Evolutionismen, durch rein komparative Evidenzen bestimmt: Instinktzersetzung, Reflexion (vgl. Pessimismus, 78), zunehmende Empfindlichkeit im Erleben („die Sensibilität des Nervensystems, und die Capacität und Bildung des Geistes“ – vgl. PhU, 733) bei wachsender Enttäuschung und Erwartungsschwund.15 Diesen formalen Aufbau seiner Geschichtsphilosophie kann v. Hartmann dem Begriffsarsenal von spekulativem Idealismus ebenso wie der spätromantischen Philosophie Schopenhauers und Carus’ entnehmen; benötigt werden immer nur zwei Begriffe, die untereinander in ein Verhältnis der Steigerung zu setzen sind. Den Inhalt des Weltprozesses bildet der „fortdauernde Kampf des Logischen mit dem Unlogischen, der mit der Besiegung des letzteren endet“ (PhU, 743). Die Weltgeschichte ist der Austragungsort dieses Kampfes im Bewußtsein der Menschheit. Hier erst zeigt sich der „Zweck des Unbewussten“: „Steigerung des Bewusstseins bis zu einer Allgemeingültigkeit des pessimistischen Bewusstseins der Menschheit“ (733). Geschichte ist Desillusionierungsgeschehen, die Weltalter der Illusion bilden seine großen Zäsuren. Drei lassen sich unterscheiden: „Erstes Stadium: Das Glück wird als ein auf der jetzigen Entwickelungsstufe der Welt erreichtes, als dem heutigen Individuum im irdischen Leben erreichbares gedacht … Zweites Stadium: Das Glück wird als ein dem Individuum in einem transcendenten Leben nach dem Tode erreichbares gedacht … Drittes Stadium: Das Glück wird als in der Zukunft des Weltprocesses liegend gedacht. … Die Wahrheit vom ersten Stadium der Illusion war die Verzweiflung am gegenwärtigen Diesseits, die Wahrheit vom zweiten Stadium der Illusion war die Verzweiflung auch am Jenseits, die Wahrheit vom dritten Stadium der Illusion war
158 die absolute Resignation auf das positive Glück.“ (632 ff.) Der Verbrauch der eudämonistischen Illusionen führt zu einer Versittlichung des Weltgeschehens. Die „Wahrnehmung, dass das Leid im Verlauf der Menschheitsentwicklung seinen Zweck immer mehr und immer besser erfüllt“, gehört zu den „subjectiven Vorbedingungen für die ethische Verwerthung des Leides“, die „im Anfang der Geschichte am wenigsten gegeben waren“. Realgeschichtlich belegbar sei, daß „die objective Gestalt, in der das Leid die Menschheit bedrängt, in einer beständigen Umwandlung begriffen ist, so dass es mehr und mehr zu sittlicher Verwerthung brauchbar wird“ (Pessimismus, 138). Doch gleichzeitig ist das gegenwärtige, das dritte Stadium der Illusion auch das Zeitalter des ausgerufenen und erkämpften Volkswohlstands. Dieses Kulturziel markiert jenen aufs Individualwohl zielenden, „zersetzenden Reflexionsprozess bei fortschreitender Cultur“, der „nothwendig in die Massen dringen“ und schließlich „die Menschheit ergreifen muss“ (78). Anders als bei seinem philosophischen Konkurrenten P. Mainländer, der seinen Pessimismus in den Dienst der sozialistischen Idee stellen wollte, um durch Erfüllung materieller Wohlfahrtsziele die Massen schneller zur Einsicht in den Unwert des Daseins zu führen,16 nimmt sich v. Hartmanns Arrangement dieser Problematik fast harmonistisch aus. Eine posthistorische Situation stelle sich ein, in der immer mehr Menschen durch Fortfall von Zukunftshoffnungen auf die philosophische Reflexion über den Wert des Daseins gelenkt würden (vgl. Pessimismus, 77). Sozialstaat und ‚Vergeistigung‘ der Kulturziele sind für v. Hartmann welthistorische Tendenz, seit es Leben gibt. Die Planungen des guten Lebens geschehen mit immer mehr rechnerischem Verstand und fressen so imaginierbare Zukunft auf. „Somit muss alle Annäherung an das Ideal des besten auf Erden erreichbaren Lebens die Frage nach dem absoluten Werth dieses Lebens nur zu einer immer brennenderen machen, da sowohl die je länger je mehr wachsende Durchschauung der illusorischen Beschaffenheit der allermeisten positiven Lust wie die immer deutlicher und deutli-
159 cher sich aufdrängende Einsicht in die Unentrinnbarkeit des in der eigenen Brust wie ein seine Gestalt ewig wechselnder Kobold lauernden Elends zu diesem Erfolge zusammenwirken.“ (PhU, 732) Glücksziele sind dann nurmehr negativ formulierbar. Das höchste erreichbare Glück wäre Schmerzlosigkeit. „Aber auch die Schmerzlosigkeit erreicht die greise Menschheit nicht, denn sie ist ja kein reiner Geist, sie ist schwächlich und gebrechlich, und muss trotzdem arbeiten, um zu leben, und weiß doch nicht, wozu sie lebt; denn sie hat ja die Täuschungen des Lebens hinter sich, und hofft und erwartet nichts mehr vom Leben.“ (735) Man muß mithin Arbeits-, also Unlust-Vorleistungen für ein Leben erbringen, dessen Eigenwert zunehmend in Frage steht. Der Menschheit wird so ihr Dasein als Faktum, also auch disponibles, thematisch. Das Leben bedarf der Begründung, der Antwort auf die Frage ‚Wozu?‘. Seine nihilistische Tendenz ist unübersehbar und bildet die vitalontologische Wahrheit des Pessimismus. Mögliche Konsequenzen wären ein Umschlag in aktiven Nihilismus bis zur Selbstvernichtung oder eine – mehr oder minder quietistische – Hoffnung auf einbrechende Fremdvitalität, ‚barbarische‘, junge Völker o.ä. Beides ist bei v. Hartmann ausgeschlossen. Sein Weltgeschichtsbild ist antizyklisch, kennt nicht die historische Dynamik aus Aufgang durch Untergang, durch zeitlich versetzte Lebensrhythmen. Was von P. Mainländer bis E.M. Cioran17 für stetige Dynamik der Weltgeschichte sorgt, das ist bei exklusiv ‚westlicher‘ Perspektive nicht zu erwarten. In den wissenschaftlich-technisch dirigierten, vom ‚Logischen‘ überwältigen Zivilisationen erfüllt sich das Schicksal der Welt. Darin ist v. Hartmann dem aktuellen Krisenbewußtsein des Westens fern und doch wieder nicht. Der Philosoph des Unbewußten formuliert schlicht die Innensicht einer technisch-wissenschaftlich-wirtschaftlich armierten Fortschrittsgeschichte, die sich als homogenes Entwicklungskontinuum verstehen muß und ein Apriori-Wissen um ihre Unbegrenzbarkeit behauptet. Brüche bzw. Abbrüche erscheinen dann als rein außenverursachte Zwischenfälle. Wie heutige Modernetheoretiker
160 sieht auch v. Hartmann in dem politökonomischen Kulturziel unbegrenzten Wachstums ein Faktum, das der Rest der Welt nachvollziehen werde (vgl. PhU, 733); das Konfliktpotential ergibt sich also erst an der Schwelle zum posthistorischen Zustand weltweiter Absättigung der Verbrauchsziele und -möglichkeiten. Dabei erkennt v. Hartmann durchaus an, daß namentlich der technologische Fortschritt die Glückshoffnung enttäuschen muß, da die Zahl der Unzufriedenen mit ihm wächst. Auch die Zerstörung der natürlichen Umwelt bzw. des nicht-menschlichen Lebens auf der Erde ist als Konsequenz wissenschaftlich-technischer Weltvernutzung absehbar (vgl. PhU, 383 ff.). In v. Hartmanns Dekadenzerzählung bildet die Möglichkeit, das eigene Dasein vorzeitig zu beenden, den dramatischen Punkt. Verantwortlich dafür ist einerseits der Binarismus seines Kategoriengefüges (Wollen/Erkennen, Unbewußtes/Bewußtes etc.), zum anderen das ‚naturwissenschaftlich‘ geschulte quantifizierende Denken, worin solche Binaritäten einander verrechenbar werden. Die Selbsttötung, die eudämonologisch den „Werth des Lebens“ selbst abschätzt (vgl. PhU, 732), ist in ihrer Formalstruktur ja mit dem philosophischen Pessimismus identisch, in dem das bewußte Erkennen sich gegen das instinktive, unbewußte Wollen wenden kann. Das Selbstmordthema taucht in allen geschichtsphilosophischen Überlegungen v. Hartmanns auf; zuweilen wird aus erlösungsspekulativen Gründen ein Suizid direkt abgewiesen, öfter aber scheint v. Hartmann in der nunmehr von weltimmanenten Glückszielen bestimmten Moderne selbst eine suizidale Tendenz am Werk zu finden, die sein Erlösungsvertrauen bestärkt. Sie liegt in der Notwendigkeit, arbeitend ein (natürliches) Subsistenzminimum zu gewährleisten, auf dem sich die unbegrenzte Expansion der Konsumsphäre verwirklichen könne (vgl. PhU, 735). In die Nähe solcher Fragen war auch der historische Materialismus mit seinem Projekt einer ‚eigentlichen‘ Geschichte nach Abschluß der menschlichen Vorgeschichte gekommen, für deren Freiheiten ein Minimum an notwendiger Arbeit zu leisten sei. Verglichen mit dem histori-
161 schen Materialismus einerseits, mit den radikaleren Überlegungen etwa E. Dührings, P. Mainländers, F. Nietzsches zum ‚Werth des Lebens‘ als verfügbarem Faktum andererseits, zeigt sich ein grundlegendes Problem des geschichtsphilosophischen Herangehens: Um gewisse Tendenzen als ‚objektives Geschehen‘ konstatieren zu können, muß der Geschichtsphilosoph diesem gegenüber ein ontologisches Exil behaupten oder seinen Einsichten epiphänomenalen Status zubilligen. Beide Möglichkeiten hat v. Hartmann wahrgenommen, auch hier wieder in bemerkenswerter argumentativer und topologischer Parallele zum historischen Materialismus.18 Nicht nur „nähern wir uns seit dem letzten Jahrhundert jenem idealen Zustande, wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit Bewusstsein macht, aber doch nur sehr von Weitem und in hervorragenden Köpfen.“ (PhU, 333) Was in diesen Köpfen geleistet wird, sei nichts anderes als ein systematisiertes „pessimistisches Mitleid mit sich selbst und allem Lebenden und die Sehnsucht nach dem Frieden des Nichtseins“, worin eine „historische Mission“ erfüllt werde (752). Die Frage – nicht nur an v. Hartmanns Tendenzprognosen – ist nun, wie sich beide Perspektiven zueinander verhalten. Die liberalistische wie die sozialistische Evolutionsutopie sahen hier ein zunehmend in die eigenen Hände genommenes Geschehen vor, die Selbsterfüllung des in weltgeschichtlicher Absicht Prophezeiten. Von Hartmann ist für die Problematik von philosophischen Rückkoppelungen des Prognostizierten in den geschichtlichen Gegenstandsbereich empfindlicher; er wählt einen Quietismus traditionellen Typs. „Die Vorsehung sorgt schon dafür, dass die Anticipationen des stillen Denkers den Gang der Geschichte nicht etwa dadurch verwirren, dass sie vorzeitig zu viele Anhänger gewinnen. Der nur scheinbar verwandte heutige politische und sociale Pessimismus gewisser in jugendlicher Gährung oder alternder Zersetzung befindlicher Reiche ist ein zur Ueberwindung bestimmtes Product vorübergehender Constellationen; er wird und muss in politischen und socialen Optimismus umschlagen, und hat nichts zu thun mit meinem metaphysischen Pessimismus“ (721).
162 Das größere spekulative Problem stellt sich aber für den geschichtlichen Gegenstandsbereich selbst. Wäre nicht, wie in der liberalen Kulturillusion ja verhießen, ein unendlicher Fortschritt denkbar (wenn auch bei immer geringerem Lustgewinn!), der darin doch ein genaues Analogon des kosmischen Gesamtgeschehens, des menschheitsübersteigenden Weltprozesses bieten würde? Erzwingt die bloß komparativ-graduelle Absetzung des Bewußten vom Unbewußten das nicht auch systemlogisch? Immerhin bedeutet für v. Hartmann die „Ewigkeit des Wollens“ die Unendlichkeit des Weltprozesses, „und zwar nach vorwärts und rückwärts“ (771). Soweit die neuzeitliche Fortschrittsgeschichte also einem entfesselten Wollen entspringt – der ‚Willensstellung’, wie v. Hartmanns Zeitgenosse Yorck v. Wartenburg sagte19 –, wäre sie zumindest potentiell unendlich. Die endlose Kontinuität oder gar Expansion des illusionsbedürftigen Weltprozesses wäre für v. Hartmanns Selbsterlösungsidee eine fatale Konsequenz. Aus zwei Gründen muß er sie nicht ziehen: zum einen angesichts der begrenzten planetarischen Realisationschancen des Eudämonismus,20 zum anderen wegen der Abkünftigkeit des Wollens selbst. Anders als für Schopenhauer, ja geradezu in Umkehrung von dessen Begründungshierarchie, ist für v. Hartmann das Unbewußte das bewegende Prinzip, das den Weltwillen und mit ihm die Weltgeschichte als den Weg seiner Selbsterlösung gewählt hat (vgl. PhU 746-749). Diese Hypothese ist spekulativ, da ja nur die ‚logische‘ – kausaliter geschlossene – Weltwirklichkeit dem Denken zugänglich sein soll.21 Erlösungszwang und -chance leitet v. Hartmann im Anschluß an Schelling aus der inneren Erfahrung des Wollens selbst her: Es zeige stets eine Dezentriertheit an. „Es gäbe überhaupt keinen Process, wenn nicht irgend etwas wäre, was nicht sein sollte, oder wenigstens auf eine Weise wäre, wie es nicht sein sollte.“ (756) Somit meint v. Hartmann auch auf die Lösung einer unendlichen – infinitesimalen – Annäherung an den Nullzustand des Willens verzichten zu können. Die innerweltlich erfahrbare Intentionalität der Bewegung ist der Beweis, daß das Ziel des
163 Weltprozesses nicht in unendlicher Ferne liegen könne, „denn wenn das Ziel in unendlicher Zeitferne läge, so würde eine noch so lange endliche Dauer des Processes dem Ziele, das immer noch unendlich fern bliebe, um nichts näher gekommen sein; der Process würde also kein Mittel mehr sein, das Ziel zu erreichen, mithin würde er zweck- und ziellos sein“ (746 f.). Die Weltgeschichte endet mit der völligen Vergeistigung des Lebens, dem Sieg des Bewußtseins, ‚des Logischen’ – wer oder was aber das Subjekt dieser Geschichte sei, ist nicht absehbar. „Ob die Menschheit einer so hohen Steigerung des Bewusstseins fähig sein wird, oder ob eine höhere Thiergattung auf Erden entstehen wird, welche, die Arbeit der Menschheit fortsetzend, das Ziel erreicht, oder ob unsere Erde überhaupt nur ein verfehlter Anlauf zu jenem Ziele ist und dasselbe erst später auf einem anderen Gestirn unter günstigeren Bedingungen erreicht werden wird, ist schwer zu sagen. So viel ist gewiss, wo auch der Process zum Austrag kommen mag, das Ziel des Processes und die kämpfenden Momente werden in dieser Welt immer dieselben sein. Schopenhauer nimmt keinen Anstand, den Menschen der Aufgabe gewachsen zu erklären, aber er ist nur deshalb so entschieden, weil er die Aufgabe individuell fasst, während wir sie universell fassen müssen“ (747). Man denke an die unzähligen ‚Welten‘ Fontenelles oder moralisch-intelligenten Wesen Kants! „Wie dem auch sei, von der uns bekannten Welt sind wir einmal die Erstlinge des Geistes und müssen redlich kämpfen; gelingt der Sieg nicht, so ist es nicht unsere Schuld; wären wir aber fähig zum Siege, und würden wir nur aus Trägheit verfehlen, ihn zu erringen, so würden wir, d.h. das Weltwesen, welches auch wir ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des Daseins tragen müssen. Darum rüstig vorwärts im Weltprocess als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Process allein ist es, der zur Erlösung führen kann!“ (ebd.) Namentlich dieser Aufruf hat v. Hartmann viel Spott zugezogen – von dem noch wenig bekannten Verfasser der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung über die neukantianische Universi-
164 tätsphilosophie bis hin zum entstehenden Marxismus. Doch nicht immer leitet v. Hartmann die Aufgabe des Tages so forsch aus spekulativer Höhe ab. Der Großteil seiner sozial-, kulturund geschichtsphilosophischen Texte illustriert das metaphysische Arrangement mit zeitgenössischen Beobachtungen und Reflexionen. Hierin dürfte sein jahrzehntelanger Publikumserfolg begründet gewesen sein – der mit dem Weltkrieg schlagartig endete.22 Von Hartmann gibt den evolutionistischen Fortschrittsoptimismus formal getreulich wieder – erzählt ihn aber als eine Dekadenzgeschichte. Ihr Paradigma ist die unendliche Verbesserungsfähigkeit der materiellen und ideellen Mittel zur eudämonistischen Befriedigung, sprich: der wissenschaftlich-technische Fortschritt, assistiert von sozialstaatlichen Verteilungsgrundsätzen. Die steigende Unzufriedenheit großer Menschenmassen sieht v. Hartmann nicht als politisch besorgter Konservativer, sondern als zuversichtlicher Prophet baldiger Erlösung. Der ‚vollkommene Staat‘, das weltgeschichtliche Nahziel, ist der Staat der Unzufriedenen, der Enttäuschten, damit aber auch der – potentiell – metaphysisch Einsichtsvollen. „Der einzige positive Nutzen des Wachsthumes der Wohlhabenheit ist der, dass er Kräfte, die vorher im Kampfe mit der Noth gebunden waren, frei macht für die Geistesarbeit, und dass er dadurch den Weltprocess beschleunigt. Dieser Erfolg kommt aber nur dem Process als solchem, keineswegs den im Process befindlichen Individuen oder Nationen zu gute, welche doch bei Vermehrung ihres Nationalreichthums für sich zu arbeiten wähnen.“ (730) Alle „Weltfortschritte“, die z.T. schon unter staatlicher Leitung erzeugt werden, sind nach der „Analogie des Einzelnen zu denken“ (731). Bereits ein Stillstand werde als Rückschritt, also Einbuße empfunden. „Wer in eine bessere Lebenslage kommt, wird bei dem Uebergang vom Schlechteren zum Besseren allerdings Lust empfinden; aber erstaunlich schnell verschwindet diese Lust, die neuen besseren Umstände werden als etwas sich von selbst Verstehendes hingenommen“ (ebd.). Beispielhaft sind die Bequemlichkeiten des Reisens und
165 der Telegraphie. Fazit: „Es hat sich mit den vermehrten Mitteln nichts weiter vermehrt, als die Wünsche und Bedürfnisse, und in Folge davon die Unzufriedenheit. Und sollte sogar die Menschheit jemals dazu gelangen, die ansteckenden Krankheiten durch Prophylaxis und Nosophthorie, die erblichen durch rationellere Menschenzüchtung“, durch Nahrungsmittelgewinn „aus unorganischen Stoffen in chemischen Fabriken“ und „die Vermehrung ohne Beschränkung des Fortpflanzungstriebes nach Maassgabe der auf Erden verfügbaren Nahrungsmittel willkürlich zu regeln – so würden dennoch alle diese Fortschritte nichts Positives bieten“, dafür „die Frage um so brennender in’s Bewusstsein treten lassen, was denn nun mit diesem Leben anzufangen, mit welchem Inhalt von absolutem inneren Werthe es zu erfüllen sei, – was für die Ertragung der aus den ersten Elementarbetrachtungen folgenden Last des Lebens entschädige?“ (731 f.) Daß sich von Fortschritt nur auf den quantifizierbaren Gebieten industrieller und logisch-intellektueller Leistungen sprechen lasse, ist eine Grundannahme des Prozeßdenkens, worin Historismus und Positivismus, Ranke und Comte übereinkommen. Mittel werden verbessert, was jedoch nur binnenkulturell zu verfolgen ist; dieser Prozeß ist immanent unendlich, wie v. Hartmann sagen würde. Zugleich ist es eine fortschreitende Geschichte falscher Versprechungen, da aller materiale Sinn von Kulturtätigkeit aus bloßer Summation von Einzelanstrengungen hervorgeht. Bemerkenswerterweise kooperieren die Menschen erst dann, wenn es um die kollektive Selbsterlösung geht. Als deren Bedingung nennt v. Hartmann eine solche Verbesserung der Kommunikationsmittel, daß die „Erdbevölkerung“ „einen gleichzeitigen gemeinsamen Entschluss“ fassen könne, „das Wollen aufzuheben“ (vgl. PhU, 753). Auch das hat in und außerhalb der zeitgenössischen Philosophieszene Kopfschütteln erregt. Doch sind in v. Hartmanns Arrangement von Sein und Erlösung durchaus konsequent die Beobachtungen weitergedacht, wonach der ‚Weltprozess‘ kontinuierliche Steigerung
166 der Individuation und individuellen Empfindlichkeit bedeute, die endlich – zunächst den Einzelnen – klarwerden läßt: „die realen Lustempfindungen aus hoffnungsvollem Vorgenuss fallen fort“ zugunsten einer „Sorge in Betreff der zukünftigen Leiden“ (Pessimismus, 77). Die Einigung der Menschheit wird sich im Zeichen solcher Einsichten vollziehen: „Selbst wenn der Pessimismus für den heutigen Zustand der Welt noch keine Wahrheit wäre, so würde er es in immer wachsendem Maasse für eine zukünftige Weltlage werden“ (75). Die Kooperation der Menschheit in der Kulturarbeit bezieht sich nur auf deren formale Seite: Geschichte ist „positiv ausgedrückt, die Organisation der Arbeit im weitesten Sinne“ (PhU, 346 f.). Die pessimistische Tendenz der Weltgeschichte wendet sich aus der Diachronie in eine synchrone Vernetzung, sobald sie enden soll. Aus den isolierten Individuen des „Naturzustandes“ werden nach den Epochen von persönlicher und Kapitalherrschaft endlich „freie Association (Schultze-Delitzsch’sche Vereine, Schulbildung, Arbeiterbildungsvereine)“ (350 f.). Auf einer posthistorischen Stufe des Weltprozesses kann der ‚Werth des Daseins‘ erwogen werden: „So würde, wie der politische Endzustand die äußere, formelle, der sociale Endzustand dem Menschen die materielle Möglichkeit gewähren, nunmehr endlich seine positive, eigentliche Aufgabe zu erfüllen, zu deren Erfüllung die inneren Bedingungen nothwendig in der zuvor betrachteten geistigen oder intellectuellen Entwicklung gesucht werden müssen.“ (352) Als morale par provision empfiehlt v. Hartmann einen Wechsel der Semantik,23 ein kräftiges Mittun im Weltprozeß bei verändertem Bewußtsein. Das „Princip der practischen Philosophie besteht darin, die Zwecke des Unbewussten zu Zwecken seines Bewusstseins zu machen, was sich unmittelbar aus den beiden Prämissen ergiebt, dass erstens das Bewusstsein das Ziel der Welterlösung vom Elend des Wollens zu seinem Ziel gemacht hat, und dass es zweitens die Ueberzeugung von der Allweisheit des Unbewussten hat, in Folge deren es alle vom Unbewussten aufgewendeten Mittel als die möglichst zweckmäßigen
167 anerkennt … Da die Selbstsucht, der Urquell alles Bösen, welche theoretisch bereits durch Anerkennung des Monismus als nichtig constatirt ist, practisch durch nichts anderes wirksamer gebrochen werden kann, als durch die Erkenntniss von der illusorischen Beschaffenheit alles Strebens nach positiver Glückseligkeit, so ist die geforderte volle Hingabe der Persönlichkeit an das Ganze auf diesem Standpunct leichter möglich als auf irgend einem anderen“ (PhU, 748). In solchen und verwandten Gedankengängen fühlt man sich an den Fiktionalismus eines H. Vaihinger erinnert, an einen ins Absurde getriebenen Transzendentalismus, der unmittelbar moralpragmatische Realität werden will.24 Von Hartmann konnte gewiß sein, daß er damit nicht ins Leere dachte und schrieb. Die Epiphänomenalisierung des eigenen Bewußtseins war nicht nur im naturalistischen Evolutionsdenken des Liberalismus, sondern bald auch im geschichtsphilosophischen Optimismus der sozialistischen und Arbeiterbewegungen eine weltanschaulich verbreitete Volte (Tendenzen verstärken, um ihren ‚Umschlag‘ herbeizuführen etc.). Versuch einer Würdigung Wer von E. v. Hartmanns Werk spricht, spricht früher oder später auch von dessen Eklektizismus. Der Philosoph selbst sah darin ein Symptom ausschließlich der ‚Professorenphilosophie‘, die durch außerphilosophische – professionelle – Zwänge zu einer „forcierten Systemmacherei“, einer „ameisenartigen Geschäftigkeit behufs Ausprobirung aller möglichen Permutationen und Combinationen der von Anderen gedachten Gedanken“ getrieben werde (GSA, 35). Die gewagten Verbindungen, die v. Hartmann selbst etwa Schopenhauer – Hegel – Schelling eingehen ließ, schlagen sich schon in manchen Werktiteln nieder.25 Doch liegt das Originelle und Bedenkenswerte nicht hierin, sondern in den Syntheseversuchen zwischen Wissensformen und Erfahrungsinhalten. Von Hartmann wollte sich nicht auf die akade-
168 mischen Sicherheiten von Historismus und Formalreflexion des Vernunftvermögens zurückziehen, sondern zugleich durch und gegen das naturwissenschaftlich-monistische Weltbild und seine kulturphilosophischen Implikate denken. Darin unterscheidet er sich auch von den anderen Schopenhauer-Schülern der 1840er Jahrgänge wie P. Mainländer (*1841), F. Nietzsche (*1844) und P. Deussen (*1845). Für v. Hartmanns jüngeren Zeitgenossen M. Scheler war der Philosoph des Unbewußten denn auch die einzige Persönlichkeit, „deren geistige Spannweite alle philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht“26 habe. Die Syntheseversuche v. Hartmanns betreffen zum einen verschiedene Wissensformen untereinander – philosophisches, fachwissenschaftliches und alltäglich-umgangssprachliches Vokabular gehen in seinen Schriften, flankiert von einer Unzahl praktisch-philosophischer Zeitungsaufsätze, ungewöhnliche Verbindungen ein. Die Abbildung etwa von Schopenhauers und Schellings spekulativem Begriffsinstrumentarium auf Einzelwissenschaftsprobleme und alltägliche Erfahrungen, die Unmittelbarkeit dieser Applikationen und der vertrauliche Ton gegenüber dem Absoluten, den v. Hartmann besonders mit seinem philosophischen Vorbild Schelling teilt, haben selbst Schüler und Freunde irritiert, zuweilen amüsiert. Ziegler spricht von der „herzhaften Natürlichkeit mit der Hartmann abstrakte Probleme behandelt“27. Zum anderen hat v. Hartmann etablierte Erklärungs- und Deutungsmuster mit heterogenen Inhalten gefüllt. Er hat die Syntax der positivistischen Fortschrittserzählung bei gänzlich veränderter Semantik beibehalten – indem er sie in ungerührtem Ton als Dekadenzhistorie vortrug. Dergleichen ist aus der konservativ-revolutionären Kulturdiagnostik des 20. Jahrhunderts geläufig. Man denke etwa an die Essayistik E. Jüngers. Den „großen Schulen des Fortschritts“, so Der Arbeiter (1932),
169 fehlte die Beziehung zu den „Urkräften“, und „ihre Dynamik ist auf den zeitlichen Ablauf der Bewegung begründet“ (JSW VIII, 50)28. Während „die historischen Mächte sich erschöpfen, und zwar selbst dort, wo sie Imperien bilden, wächst im Weltmaßstab die dynamische Potenz“ „durch unerhörte Verfeinerung der Rohstoffe und Verzahnung des technischen Apparats“ (387). Das zeige wesentliche Kategorien liberalen Wissenschafts- und Fortschrittsvertrauens als Teil einer „totalen Mobilmachung“, so daß sich „mit guten Gründen belegen“ lasse, „daß der Fortschritt kein Fortschritt ist, aber wichtiger als diese Feststellung ist vielleicht die Frage, ob seine eigentliche Bedeutung nicht eine geheimere und andersartige ist, die sich der scheinbar so übersichtlichen Maske der Vernunft als eines ausgezeichneten Verstecks bedient“ (JSW VII, 122). M.a.W.: Modern prozeßzeitliche Seins- und Sinnkategorien lassen sich aus ihren zivilisationsgeschichtlichen Deutungsmustern lösen. Eine Sinn-Änderung der westlichen Zivilisationsgeschichte ist seit dem Jahrhundert, das die Gegenwart von den v. Hartmannschen Prognosen trennt, freilich erkennbar: Die dort geschilderten Umweltzerstörungen, biogenetischen Eingriffe, Vervollkommnungen und Reduktionen der psychophysischen Natur, kurz: die Heraufkunft natürlicher und kultureller Hybriden sind sichtbares Faktum, der evolutionistische Kulturoptimismus seinerseits dagegen ein fremdartig klingender Dialekt geworden. Philosophen, die heute beides aufeinander zu beziehen suchen, befleißigen sich – auch sprachlich-stilistisch – meist vorauseilender Selbstrelativierung: Kaum ein philosophischer Anwalt des Fortschritts, der sich nicht reflexive Gebrochenheit, ja gar ein Vermögen der Selbstironie attestieren würde. Bei v. Hartmann ist diese als unfreiwillige empfunden worden (Nietzsche: „der unbewußte Parodist“). So gehört die Philosophie des Unbewußten offensichtlich zu jenen Werken, die ihren Wert als Symptome von nicht- oder transphilosophischen Problemlagen haben. Die Kühnheit und Redlichkeit solcher Denker bewährt sich dann gerade in ihren Paradoxien und dem Opfer unfreiwilli-
170 ger Komik. Solche Komik besteht z.B. darin, kulturell zweifellos wirksame Motive stracks in einen philosophischen Dialekt überführen zu wollen. Die Versuche v. Hartmanns, den ‚absoluten Werth des Lebens‘ zu wägen, standen seinerzeit nicht allein (E. Dühring!); heute finden sich ähnliche Gedankengänge in utilitaristisch und selbst in kantianisch inspirierter ‚Bioethik‘ bzw. ‚Biopolitik‘. Mit dem utilitaristischen Versuch etwa, den Freitod ‚rationalen Motiven‘ zugänglich zu machen, wobei dann Homogenisierungen des einen verzweifelten Augenblicks mit ‚dem‘ Leben als Kette solcher Augenblicke zu leisten sind, berührt sich v. Hartmanns Argumentation zur negativen Weltlustbilanz und der – ontologischen und ethischen – Plausibilität der Weltvernichtung durch Selbsterkenntnis. In beiden Fällen wird Dasein gegen Sosein, ‚das Leben‘ (zoé) gegen einen bestimmten bíos verrechnet. Für diesen metaphysisch überbauten Naturalismus wurde die Schopenhauersche Überlegung vorbildlich, wonach das Leben, von aller Bewegung befreit, in sich einen Wert haben müßte, wenn diese Bewegung (Wollen, Streben, Empfinden) nicht bloßer Unlust-Report und -Ausgleich sein sollte; ein Wert freilich, der sich nicht entdecken lasse.29 Aktuell bleiben E. v. Hartmanns geschichtsphilosophische Gedankengänge, in denen Kulturdiagnostik und -prognose unlösbar verschlungen sind. Auch hier ist der Wert wieder ein symptomatischer; man findet die implizite Geschichtserzählung des (westlichen) metaphysischen Individualitätsprinzips, das sich als quasi-natürliches Agens durch alle Stufen der Bewußtheit identisch glaubt.30 Die Verbindung von unbekümmerter Sorge ums metaphysische und leibseelische Selbst gipfelt bei v. Hartmann redlicherweise in Pessimismus – wie bei allen Eudämonologen, die eine gesteigerte Empfindungsfähigkeit zum Ziel ansonsten selbstloser Kulturarbeit ernennen. Die Fragestellungen v. Hartmanns weisen gleichermaßen in den Umkreis von Pessimismus und Nihilismus. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat letzterer philosophisch ersteren verdrängt bzw., von Nietzsche bis E. Jünger, auf den Status eines Indikators herabge-
171 stuft. Doch ist Pessimismus die stärker als Nihilismus verbreitete Bewußtseinstatsache in den westlichen Gesellschaften. Von Hartmann schildert die wissenschaftlich-technisch geprägte Zivilisation noch im stabilen Zustand – mit einem Anachronismus könnte man sagen, daß hier die Grenze des Wachstums weder innerlich noch äußerlich sich abzeichnete. Statt der Beschleunigungs- findet man eine Ermattungsapokalypse. Die durch v. Hartmann unterstellte Weise kulturellen Seins vertraut ganz auf ihre innere Teleologie, die Immanenz ihrer Entwicklungen. Europa und die Welt, Arm und Reich sind zum selben Ziel unterwegs (vgl. PhU, 733), das dann freilich dem Selbstwert-Glauben dieses Fortschrittsoptimismus die ethische wie die ontische Basis entziehen soll. Von Hartmann ist weit davon entfernt, sich kulturkonservativ über die Fadheit der eudämonistischen Daseinsziele zu mokieren. Er ist ja philosophischer Monist, sieht also die menschliche Welt tief eingebettet in kosmisches Geschehen, dem sie kontinuierlich entwächst. Gerade darin aber könnte der verborgene Nihilismus dieses Denkens und seiner Daseinsgründe liegen. Er zeigt sich besonders mit Blick auf das Themenfeld der ‚Biophilosophie‘. Ihr Evolutionismus prägt das heutige wie bereits v. Hartmanns Weltbild. Die „Grenzen des Lebendigen“ werden immer weiter nach oben und nach unten hinausgeschoben,31 theoretisch in die anorganische, praktisch in die automatenhaft technisierte Welt. In v. Hartmanns Vitalismus ist die Spannung zwischen den individual-organismischen Grenzen des Lebendigen einerseits, einem davon abgelösten Verständnis von ‚Leben‘ als Bewegung, Wachstum, Fortschritt andererseits in einer todesphilosophischen Synthese verfugt: Das Unbewußte als Weltprinzip trägt nicht nur den Keim, sondern auch den Trieb zur Vernichtung in sich. Die strukturellen Gründe dieser thanatologischen Pointe liegen bei v. Hartmann nicht immer auf der Hand, ebensowenig wie die Tendenz der modernen ‚Biophilosophie‘, das organismische Leben in seinem Daseinswert kulturellen, modern also: wissenschaftlich-technischwirtschaftlichen Kriterien zu unterwerfen. Zeitgenössische Bio-
172 philosophie wie v. Hartmannscher Panvitalismus reden von ‚Leben‘ in äquivoker Weise, sie kommen gerade dadurch jeweils dicht an die Frage nach dem ‚absoluten Werth des Lebens‘ heran und scheuen doch die prekären Konsequenzen einer Suizidalität des Lebens selbst. Diese liegt in seiner Ansetzung als Höchstwert, als Eigenqualität, die sich freilich nur verschleiert, im quantitativen Wachstumsbegriff, und im Pessimismus als Konsequenz aus einem transzendenzfreien Eudämonismus manifestiert. Mit großer Unbefangenheit hat v. Hartmann aber in seiner Lehre von der negativen Weltlustbilanz diese, im über sich selbst verfügenden Leben angelegte Möglichkeit durchgespielt, Dasein und Sosein, Lebensfaktum und Lebenswert gegeneinander zu verrechnen. Die Nähe des Absurden hat v. Hartmann darin mehr als einmal gestreift, doch blieben Stil des Lebens und des Schreibens davon unberührt: Die stille Gelehrtenexistenz, als die der Philosoph des Unbewußten sich autobiographisch schon früh stilisierte, die durchaus professorale, oft sogar pedantische Form kontrastierte merkwürdig mit dem bedenklichen Gehalt. So blieb v. Hartmann im Gedächtnis der Nachwelt keine tragische, sondern bestenfalls eine tragikomische Figur. Um sein Werk ließ und läßt sich kein sekundärliterarischer Großbetrieb errichten wie um dasjenige Nietzsches oder Kants, sein Leben ist auch nicht reich an Schnurren für eine heiter-besinnliche Brevierliteratur. Das Burleske, unfreiwillig Komische hat man allein in seinem Werk gefunden und hätte es doch auch im Bedenklichen von dessen Entstehungskontext suchen können. Anmerkungen 1 Eine entsprechend aufsteigende Folge bietet Ludger Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein, Ende der Angst, Frankfurt/M. 2003, S. 233 ff. Aufrichtig von der denkerischen und diagnostischen Originalität v. Hartmanns überzeugt ist Richard Reschika, Philosophische Abenteurer. Elf Profile von der Renaissance bis zur Gegenwart, Tübingen 2001, S. 105 ff. 2 Eduard von Hartmann, Gesammelte Studien und Aufsätze gemeinverständlichen Inhalts, Leipzig o. J. (zit. als „GSA“).
173 Nicht zu verwechseln mit dem naturwissenschaftlichen ‚Vitalismus‘ des 18. Jahrhunderts (J.F. Blumenbach)! Die manchmal anzutreffende Etikettierung v. Hartmanns als „Neovitalisten“ (z.B. durch Camilla Warnke) hat eher im wissenschaftshistorischen Kontext ihr Recht, in dem die „Philosophie des Unbewußten“ natürlich auch, aber nicht hauptsächlich steht. 4 Der Preis dieser Integration ist unübersehbar eine Konfusion verschiedener Bedeutungen von ‚Bewußtsein‘, namentlich der psychologischen und der intellektuellen eines ‚Habens‘ von ‚Bewußtseinsinhalten‘. Damit verlagert sich die spekulative Überbeanspruchung von ‚Leben‘ auf ‚Bewußtsein‘, das ebenso äquivok fungieren muß. Einer der ersten v. Hartmann-Interpreten bemerkt dazu kritisch: „Das Bewußtsein ist weder seelisch, noch geistig, noch idealisch“, es sei „daher unnötig, ihm als ergänzenden Begriff das Unbewußte beizugeben, damit ihm zuteil würde, was man dem Bewußtsein aberkannt hat – ohne triftige Gründe“. Die Ableitung des Bewußten aus dem Unbewußten in v. Hartmanns System sei mißlungen, weil das eine als Erscheinung dem anderen als dem Wesen gegenübergestellt sei. (Leopold Ziegler, Das Weltbild Hartmanns. Eine Beurteilung, Leipzig 1910, S. 120, 118). 5 Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, fünf Bände, Leipzig 1979, I, S. 558. 6 Der darin beschlossene Aspektdualismus bezeichnet eine Argumentationsfigur, die bis in v. Hartmanns Spätwerk wirkt und – im Gegensatz zur traditionellen Was-Daß-Differenz – den spekulativ-wissenschaftlichen Doppelanspruch des (Neo)Vitalismus überhaupt ausdrückt. In der „Kategorienlehre“ (drei Bände, Leipzig 1923) heißt es: „Was die Naturwissenschaft als objektiv reale Welt behandelt und untersucht, eben das betrachtet die Metaphysik als vieleinige Tätigkeit des absoluten Tätigkeitssubjekts“ (a.a.O., I, S. 67). 7 Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten, 4. unveränderte Auflage, Berlin 1872 (zit. als „PhU“). 8 Der Haupteinwand gegen alle transzendent angeleiteten Eudämonismen, insbesondere aber Kants ‚Glückswürdigkeit‘, lautet, daß damit „psychologisch etwas Unmögliches gefordert“ sei (Eduard von Hartmann, Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, Berlin 1880 (zit. als „Pessismismus“), S. 13). 9 „Was den Traum betrifft, so treten mit ihm alle Plackereien des wahren Lebens auch in den Schlafzustand hinüber, nur das Einzige nicht, was den Gebildeten einigermaassen mit dem Leben aussöhnen kann: wissenschaftlicher und Kunstgenuß.“ (PhU, 689). 10 Vgl. als zwei Textproben dazu: Jeremias Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Gesetzgebung und der Moral und Rainer Brandt, Einige Vorzüge einer bestimmten Form des Regelutilitarismus, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, Frankfurt/M. 1975, S. 35-58 und S. 133-162. 11 Vgl. als Querschnitt den Reader von Anton Leist (Hrsg.), Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Frankfurt/M. 1990. 3
174 Vgl. Otto Braun, Eduard von Hartmann, Stuttgart 1909, S. 25. Eduard von Hartmann, Grundriss der Religionsphilosophie, Bad Sachsa 1909 (zit. als „GdR“). 14 Arthur Drews/Eduard von Hartmann, Philosophischer Briefwechsel 1888-1906, hrsg. von Rudolf Mutter und Eckhart Pilick, Rohrbach 1995, S. 320. 15 Es werden Kulturgüter geschaffen, die niemand mehr genießen wird – „die greise Menschheit wird keinen Erben haben, dem sie ihre aufgehäuften Reichthümer dann noch hinterlassen kann“ (PhU, 734). 16 Vgl. Philipp Mainländer, Die Philosophie der Erlösung, Berlin 1876: „Die Bewegung der ganzen Menschheit“ ist „von einem niederen Standpunkte aus betrachtet, die Bewegung nach dem idealen Staate, vom höchsten dagegen aufgefaßt: die Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod, da ein Stillstand im idealen Staate nicht möglich ist.“ (S. 227) Die „sociale Frage“ sei „nichts Anderes, als eine Bildungsfrage“, denn „in ihr handelt es sich lediglich darum, alle Menschen auf diejenige Erkenntnißhöhe zu bringen, auf welcher allein das Leben richtig beurtheilt werden kann.“ Die Hindernisse dafür seien zuletzt ökonomische (S. 295). „Im Wohlleben liegt kein Glück und keine Befriedigung; folglich ist es auch kein Unglück, dem Wohlleben entsagen zu müssen. Aber es ist ein großes Unglück, ein Glück in das Wohlleben zu setzen und nicht erfahren zu können, daß kein Glück darin liegt.“ (S. 308). 17 „Wenn die Nationen zur gleichen Zeit apathisch würden, gäbe es keine Konflikte mehr, keine Kriege, keine Imperien. Doch will es das Unglück, daß es junge Völker gibt, und überhaupt Junge – unübersteigbares Hindernis für den Traum der Menschenfreunde: zustande zu bringen, daß alle Menschen den gleichen Grad von Ermattung oder Schlappheit erreichen“ (Emile M. Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein, Frankfurt/M. 1979, S. 101). 18 „Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene freie Tat. … Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen. … Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, 43 Bände, Berlin 1956 ff., XX, S. 260). Zum Topos der zwangsökonomischen „Vorgeschichte“ der Menschheit vgl. Werke XIII, S. 9. 19 Vgl. Paul Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment, hrsg. von Iring Fetscher, Hamburg 1991, S. 36 zur „modernen Bewußtseinsstellung“, worin das „Subjekt selbst eine ontische Bestimmtheit“ geworden (S. 118) sei. 20 „Der vergrösserte Nahrungsertrag der Erde, die vergrösserte Bequemlichkeit und der vergrösserte Luxus in Verbindung stellen den vergrösserten Nationalreichthum resp. Erdenreichthum dar; auch dieser letztere kann also nicht als ein Wachsthum an positivem Glück aufgefasst werden; zu einem Theile bewirkt er nichts als eine Vermehrung der Bevölkerung und damit des Elendes, zum anderen Theile beruht seine Hochschätzung auf der durch den 12 13
175 instinctiven Erwerbstrieb geschaffenen Illusion, zum dritten Theile ist sein Erfolg eine Verminderung der Unlust und eine Annäherung an den Nullpunct der Empfindung, der niemals zu erreichen ist.“ (PhU, 729 f.). 21 Ein Punkt, den vor allem Philipp Mainländer monieren wird in seiner strikt „immanenten Philosophie“ – vgl. ders., Philosophie der Erlösung, I, S. 3; II, S. 524. 22 Untergründig und langfristig wirkte v. Hartmanns ‚konkreter Monismus‘ in den Freireligiösen Gemeinden fort, die ja ihrerseits aus der Verschmelzung des spiritualistischen Deutschkatholizismus mit den rationalistischen „Lichtfreunden“ hervorgegangen waren. Vgl. hierzu in Kürze die Einleitung von Rudolf Mutter und Eckhart Pilick zu: HD, I – III. 23 Den klassischen Anwendungsfall hierfür gibt das Verhältnis zur positiv überlieferten, also christlichen Religion. Nach v. Hartmann kann man ihr Anhänger bleiben, wenn man auf den Eudämonismus in konkreten Erlösungsversprechen verzichtet hat. Mehr noch: Der metaphysische Pessimismus bringe erst den reinen Gehalt des religiös-sittlichen Bedürfnisses zur Geltung (vgl. Pessimismus, 127), so daß gilt: „Jede Kirche leistet für den objektiven Heilsprozeß um so mehr, je besser sie die Menschen zu der höchsten Stufe des religiösen Bewußtseins vorbereitet, die eine Kirche überflüssig macht.“ (GdR, 100). 24 Vgl. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Nietzsche und Kant, Berlin 1911. Das Werk entstand bereits 1876-78, vor Vaihingers Erblindung. 25 Vgl. Eduard v. Hartmann, Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, Berlin 1869. 26 Max Scheler, Eduard von Hartmann, in: Philipp Witkop (Hrsg.), Deutsches Leben der Gegenwart, Berlin 1922, S. 151 f. 27 Vgl. Ziegler, Das Weltbild Hartmanns, S. 104. 28 Ernst Jünger, Sämtliche Werke, 18 Bände, Stuttgart 1978-1998 (zit. als „JSW“). 29 Vgl. Schopenhauer, Sämtliche Werke IV, S. 339: „Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Dasein besteht, einen positiven Wert und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Dasein an sich selbst müßte uns erfüllen und befriedigen.“ 30 Von Hartmanns ‚Panpsychismus‘ – scharf kritisiert durch Ziegler, Weltbild, S. 118, als phänomenologische Auslegung einer ihrerseits psychologisierenden Bewußtseinsdeutung. 31 Vgl. Gerhard Vollmer, Biophilosophie, Stuttgart 1995, S. 71 ff., S. 77 ff.
Edith Düsing GRUNDPROBLEME DES NIHILISMUS: Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption Jacobi schließt in seinen Vorwurf an Fichte (von 1799), Fichtes Idealismus sei Nihilismus, den Vorwurf des Atheismus und des Egoismus mit ein. Im Entweder/Oder von Jacobis Aufforderung, es gelte entweder Gott oder das Ich zu wählen, zeigt sich eine Argumentationsfigur, die bei Nietzsche wiederkehrt. Es geht um die eine absolute Wahl: Gott oder das Nichts! Nietzsche eröffnet die zu ‚Jacobi gegen Fichte‘ analoge Alternative: Gott und das im Glauben an einen guten, gerechten Gott ewig geborgene konzentrische Ich oder Leugnung/Verlust/‚Tod‘ Gottes und ein dezentriertes, aus der Mitte des Kosmos verstoßenes Selbst, das seinen unbedingten Wert im Weltall verloren hat. Das was bei Nietzsche der ‚Tod Gottes‘ und die aus ihm entspringende Heimatlosigkeit bzw. der Sinnlosigkeitsaffekt ist, dem entspricht bei Heidegger die „Seinsverlassenheit“ des Menschen. So wie für Nietzsche der ‚Tod Gottes‘ es ist, der den Nihilismus auf den Plan ruft, so ist es analog für Heidegger der ‚Seinsentzug‘, der die nihilistische Befindlichkeit des Menschen erwirkt. ‚Gott ist tot‘ ist für Heidegger das Ende der abendländischen Metaphysik, von dem sein Denken den Ausgang nimmt.
I. Jacobis Fichte-Kritik als Einstimmung in Nietzsches Problemlandschaft I.1. Jacobis Provokation F.H. Jacobis Nihilismus-Vorwurf lautet, daß Fichtes sich selbst setzendes Ich statt Gottes sich selbst anbete und für ein solches substantielles Ich alles außer dem Ich Nichts sei! „Lieber Fichte“, ich schelte den „Idealismus“ „Nihilismus“!1 Die freie
178 selbstbewußte Subjektivität, das reine oder absolute Ich ist für Fichte ursprüngliche Tat, erste Thesis des Philosophierens, schlechthinniger Neuanfang, das Setzen von etwas, das, als rein geistige lebendige Aktivität, zuvor nicht war. Das Ich als höchstes Axiom ist kein gegebenes Seiendes, keine Cartesische res cogitans, sondern unablässig schöpferisches Tun, Tathandlung als freies Hervorbringen seiner selbst und aller Seinsbestimmungen durch die unbewußt schaffende Einbildungskraft. Das absolute Ich bedeutet für Fichte vordisjunktiv theoretische und praktische Spontaneität, göttlich-unendliche und menschlichendliche Noesis und Poiesis. Objektsein ist für Fichte also bloße Negation, Widerständigkeit bzw. graduelles Aufgehobensein von – der Möglichkeit nach – unbegrenzter Tätigkeit des Ich.2 Das Ich ist Deduktionsgrund für Wahrheit, Recht, Sittlichkeit und Religion. Jacobi aber fordert die absolute Wahl zwischen dem sich selbst setzenden Ich und Gott. Er erklärt: Der Mensch „verliert sich selbst“, „so bald er widerstrebt sich in Gott als seinem Urheber … zu finden“; will er sich „in sich allein begründen“, so löst sich ihm dann Alles „allmählig auf in sein eigenes Nichts“. „Eine solche Wahl aber hat der Mensch, diese einzige: das Nichts oder einen Gott. Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott“.3 In seinen furiosen Vorwurf im Jahre 1799, Fichtes Idealismus sei Nihilismus, schließt Jacobi systematisch den Vorwurf des Atheismus und des Egoismus ein, ohne Fichte persönlich einen Atheisten oder Egoisten zu schelten. Hat die Welt der Erscheinungen, so erklärt Jacobi, keine „tiefer liegende Bedeutung“ und „nichts außer ihr zu offenbaren“, nämlich als Gleichnis Gottes, so wird sie zu etwas, das meinen Geist zerrüttet, mein Herz mir herausreißt. Deshalb lautet Jacobis Losung, mit Anklängen an den Gottesbegriff des Nikolaus Cusanus: „nicht: Ich; sondern, Mehr als Ich! Besser als Ich! – ein ganz Anderer“! Jacobi fordert auf zu einem willentlichen Sprung in den Glauben an den persönlichen Gott. Wohl dem Menschen, rühmt er, der beständig die Gegenwart des lebendigen Gottes empfindet. Wer aber nicht
179 nur religiös unmusikalisch ist, sondern als intellektuell Freigeistiger „die heilige und hohe Einfalt dieses Glaubens antastet“, ist für Jacobi ein gefährlicher Widersacher der Humanität, die für ihn in Gott allein wohl- und letztbegründet ist. Denn er „beraubt und verwüstet“ die Menschheit. Unsere „wahre Geisteshöhe“, erklärt er, ist nämlich unsere „Gottesahndung; Ahndung dessen, Der Du Ist“! Die Vernunftgemäßheit dieser „Ahndung“ liegt für Jacobi in der – Descartes’ egologischem Gottesbeweis nahe kommenden – Gewißheit des Ich, in ihm selbst nicht die „Vollkommenheit des Lebens“, nicht die „Fülle des Guten und des Wahren“ zu besitzen.4 So führt nach F.H. Jacobis Atheismusund Nihilismus-Vorwurf, an Fichte gerichtet, der Versuch radikaler Selbstbegründung des Ich durch sich zu dessen Selbstauflösung ins Nichts sowie zur Auflösung aller Realität außer dem Ich. In der Konsequenz dieses Idealismus müsse das Ich Gott annihilieren, um sich an dessen Stelle setzen zu können. Fichtes umfassende Antwort auf Jacobis Nihilismus-, Atheismus- und Egoismus-Vorwurf ist Fichtes gesamtes Spätwerk. Das Geistesdrama ist bewegend, daß der vom Atheismusstreit verwundete Denker Fichte nicht verbittert, sondern in äußerster Denkbemühung den Weg von seiner aufklärerischen Position des Idealismus der Freiheit gleichsam bis zum Beginn des Mittelalters zurückwandert. Denn für seine Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Absolutem lenkt Fichte Schritt um Schritt von seinem ersten Entwurf absoluter Freiheit des denkenden und handelnden Ich über Descartes’ egologischen Gottesbeweis bis hin zu einer Augustinischen Position zurück.5 Ich nenne diesen gewaltigen Umbruch in Fichtes Denken seine ‚Augustinische Wende‘; in dieser Wende zeigt sich, nachdem in Fichtes Frühphase das Kantische Gottespostulat nur das letzte Horizontbewußtsein des Ich ausmacht, wie statt des Ich schließlich Gott es ist, der alles Sein fundiert und erfüllt, und daß Gott von dem so entmächtigten Ich als sein eigener letzter Grund anerkannt wird. Ebenso radikal wie der frühe Fichte das sich selbst setzende Ich verkündet, so lehrt der spätere Fichte das sich selbst
180 depotenzierende Ich. Grundzüge dieses Denkweges seien nun ganz knapp umrissen.
I. 2. Fichtes ‚Augustinische Wende‘ Das alles begründende, seiner selbst bewußte Ich kennt Gott und Gottes Dasein, so lehrt der frühe Fichte, bestenfalls als äußersten Horizont für seine ureigene absolute Selbstgewißheit und für seine autonomen Weltentwürfe. Deshalb kann von einem eindeutigen Primat des Ich vor dem Absoluten gesprochen werden (1792-1799). In der mittleren Phase erweist Fichte – ähnlich wie Descartes in seiner dritten Meditation – ein im ego cogito selbst verankertes Wissen um ein korrelatives Verhältnis des sich selbst als endlich und unvollkommen begreifenden Ich zu dem ihm als unendlich und vollkommen einleuchtenden Gott (1800/01). In der Spätphase Fichtes aber wird das Ich aus seiner ursprünglichen Begründungsfunktion enthoben (1804-1813). Die um 1801 noch methodisch konkurrierende Gleichrangigkeit von Ich und Absolutem, je archimedischer Punkt zu sein, wird von Fichte nun entschlossen und energisch in einen Primat des Absoluten, des absoluten Einen Seins oder Gottes vor dem Ich überführt. Wie kommt es zu dieser grundstürzenden Wende? Den maßgeblichen Anstoß dazu entfachte wohl offenbar der Atheismusstreit in der von Jacobi ihm verliehenen Stoßrichtung, daß eine unbedingte Wahl zwischen Gott und (sich selbst konstituierendem) Ich zu treffen sei. Die im System der Sittenlehre von 1798 und in den Vorlesungen zu Platner bei Fichte schon latent spürbaren mystisch-neuplatonischen Gedanken über das Absolute wandeln sich in der Zeit ab 1800 von einer untergeordneten Nebenlinie zur Hauptlinie in Fichtes Denkweg. Für Fichte gehörte in seiner Kant nahen Frühphase die Erzeugung der Gottesidee nur zu den praktisch notwendigen Bedingungen des sich in sich vollendenden selbstbewußten Ich. Von Die Bestimmung des Menschen (1800) an, der ersten impliziten
181 Antwort auf Jacobi nach dem Atheismus-Streit, wird von Fichte das sich selbst setzende Ich als erstes Prinzip der Philosophie entthront. Meine wahren Gedanken sind, so heißt es hier mit Malebranche-Anklang, die in Gott gedachten. Nicht allein das Wollenkönnen des Guten, auch das Erkennenkönnen des Wahren gründet für Fichte in der Beziehung des Ich zum Absoluten. Noch im Rahmen der Postulatenlehre als Inhalt eines vernünftigen Glaubens, tastet Fichte sich 1800 schon in die atmosphärische Nähe zu einer Augustinischen Illuminationslehre vor, wenn er erklärt: „Es ist sein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in diesem Lichte uns erscheint, erblicken“ und: Gottes Realität sei der geistigen Schau des Ich in „hellerer Klarheit“ gegenwärtig als das Bewußtsein seiner selbst (SW II: 303, 305).6 Diese bei Fichte neu aufgebrochene Gedankenlinie, die – aus einer bloß subjektiv-praktisch gültigen Metaphysik im Sinne Kants sich lösend – auf eine Metaphysik des Absoluten hinausweist, in der das Ich durch intelligible Schau alles Wahre in Gott findet, ja sich als Ich in Gott gründet, hat Fichte in seiner Spätphilosophie weiter ausgezogen. Die frühere, Kant nahe Einschränkung, der Zugang zu metaphysischen Aussagen stehe allein dem praktischen Glauben, und zwar in Gestalt von Postulaten offen, die das höchste inner- und überweltliche Gut suchen,7 wird fortan von Fichte weithin fallengelassen. Erschüttert von Jacobis schroffem Atheismus-, Egoismus-, Nihilismus-Vorwurf, daß Fichtes absolutes Ich, statt Gottes, eigentlich sich selbst anbete und für ein solches Ich alles außer dem Ich Nichts sei, bestimmt Fichte das autonome theoretische Ich im zweiten Buch in der Bestimmung des Menschen als bloßen „Traum von einem Traume“ (SW II, 245), mithin als von sich her ohne Realität. Fichte nimmt nun, Jacobi aufnehmend und auf Kierkegaards Begriff Angst vorausweisend, an, daß autarke Selbstbegründungsversuche des Ich zum Scheitern verurteilt sind. Denn das Ich, bleibt es ohne wesentlichen Bezug zum Absoluten, ist in sich selbst grundlos und im autonomen Sichselbst-Setzen innerer Leerheit und ontologischer Nichtigkeit an-
182 heimgegeben. Wahrheit finde das Ich allein durch sein denkendes In-Gott-Sein und Freiheit im Einstimmigsein mit Gottes Willen. Es geht Fichte um freie Selbsthingabe des Ich, um das Transzendieren eigenen Wissens, Wünschens und Hoffens im Angesicht der in positiven Begriffen nicht aussagbaren erhabenen Majestät Gottes. An die frühere Stelle originären Sichverstehens des Ich aus dem Urgrunde seiner schöpferischen Freiheit tritt nun das freiwillige Sichbilden des Ich zum Bilde Gottes.8 – Fichte hat vom Jahre 1800 an eine argumentativ nicht leicht zu erringende, hochkomplexe Einheit von neuzeitlicher Autonomie und christlich-neuplatonischer Theonomie gesucht, die ideengeschichtlich für Kierkegaards Konzeption seiner Stadienlehre wiederum hochbedeutsam wurde.9 In atmosphärischer Aufnahme Jacobischer Kritik im Geiste des Descartes, zugleich aber in eigenständiger Argumentation nimmt Fichte in seiner Lehre vom Ich als Bild des Absoluten10 jenen egologischen Gotteserweis 1804-06 implizit in seine späte Konzeption des Ich auf. In der Anweisung zum seligen Leben führt Fichte die Selbsterfassung des Ich als eines endlichen zur korrelativen Gegenüber-Setzung Gottes weiter, dessen derivatives Dasein schließlich das Ich selbst sei (SW V: 442 ff., 472, 535 f.). Nicht mehr das Ich setzt schlechthin sich selbst in seiner Freiheit und weiß sich als sich setzend, sondern es findet sich als ein von Gott gesetztes, dessen höchste Bestimmung es ist, sein Gesetztsein als Bild Gottes anzuerkennen und als allein seliges Leben zu realisieren. Indem Fichte transzendental-kritisch neu die Grenzen der Vernunft absteckt, kommt er zur negativ-theologischen These des Scheiterns der Reflexion an der Unbegreiflichkeit des Absoluten, darin wieder Kants drei Kritiken nahe. Den erkenntniskritischen Rahmen sprengt er jedoch durch die Erweiterung, daß das Ich, seine Endlichkeit im korrelativen Gegenüber zur Unendlichkeit Gottes anerkennend,11 den Überstieg über sich und eine übervernünftige Einsicht in das Sein des Absoluten erringt. Das Selbstbewußtsein des Daseins ist also das Bewußtsein seiner als Bild des Absoluten. Solches Anerkennen
183 des Bildes Gottes in der eigenen Person schließt für Fichte die Anerkennung des Erscheinens Gottes in anderen Ichwesen mit ein. Das Selbstbewußtsein des sich erfassenden Ich vertieft sich zum Bewußtsein seiner selbst – und anderer Iche – als solchen Bildes des Absoluten. Fichtes pointierte, dichte These, daß das göttliche Sein selbst in seinem Bilde anerkannt wird (SW V, 444; vgl. 472, 535 f.), bezeugt die auf M. Buber vorausweisende Idee des dialogischen Sinnzusammenhangs zwischen der Anerkennung des daseienden Gottes als des ursprünglichen Du und der Anerkennung des Menschen in seinem göttlichen Ursprung. Der späte Fichte kennt eine mystische Gottinnigkeit,12 in der das Selbst in der Gottesliebe sich verliert. Etwas ewig Gültiges selbst zu sein und aus sich zu entbergen vermag nur das Gott liebende Ich. Wie für Augustinus gilt für den späten Fichte: Allein die letztlich theonome göttliche Liebe kennt die Wahrheit und die Ewigkeit. Fichtes Einsenken des Liebesmotivs in die Fundamente des Seins in der Anweisung zum seligen Leben (von 1806) hat im Sinne der sich schenkenden Agape-Liebe Johanneischen, im Sinne des Platonischen Eros, der des Vollkommenen, auch des ganz Anderen zum Zwecke der Ergänzung seiner selbst bedarf, Spinozanischen Hintergrund: Amor Dei intellectualis. Der späte Fichte vertritt im Hinblick auf die radikale Zentralstellung des Absoluten – vergleichbar darin mit Plotin oder Luther – eine Ontologie, der gemäß alles Andere, außer dem höchsten Seienden, bloß in defizienter Weise existiert. Eine Illustration solcher paradigmatisch zu verstehenden Ontologie findet sich in einem Sonnett in Fichtes markanter Aufforderung: „Durchschaue, was dies Sterben überlebet“! Antwort: das „göttliche Leben“ allein; deshalb kommt es darauf an, das Absolute in unserer „Ichform“ zu verlebendigen (SW XI, 348). Dieser ethisch-religiöse Imperativ kann als eine existentiale Dynamisierung von Kants Postulat der Seelenunsterblichkeit gelesen werden. Fichtes frühe Konzeption einer idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins als Genesis der Freiheit des absolut selbständigen Ich wandelt sich in der Anweisung zum seligen Le-
184 ben zu einer gestuften Einkehr der Seele in sich, die im vertieften Erfassen ihrer selbst das göttliche Sein als allbegründenden Grund schließlich auch ihrer selbst entdeckt. Die immanent verinnerlichende Bewegung der Einkehr des Sittlichen in sich selbst wird für den Religiösen die transzendierende Bewegung der Einkehrung und Selbstfindung in Gott.
I. 3. Fichte – Jacobi – Nietzsche Jacobi provoziert die absolute Wahl, – die Fichte sich offenkundig auf seine Weise zu eigen macht, – zwischen dem sich selbst setzenden idealistischen Ich und Gott. Seine Philosophie führe, so verteidigt Fichte seine spätere gewandelte Position durch gewisse neoplatonisierende und der Mystik nahen Thesen, zu dem Gott bejahenden, Hybris und Atheismus-Verdacht aber zurückweisenden Resultat: „kein Mensch kann Gott werden …; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott“ (SW V, 518). Die schroffen Anklagen im Sendschreiben von ‚Jacobi an Fichte‘, insonderheit den Atheismus-Vorwurf zurückweisend, erklärt Fichte in der Wissenschaftslehre (1804): Das einzige absolut selbständige „Eine, in sich selber aufgehende Sein“ wollen wir Gott nennen, die „einige wahrhafte Existenz“ des Menschen ist das Anschauen Gottes (SW X, 146). Das eigentlich Absolute kann nicht, – so beschwört er den Ernst und die Konsequenz seiner Gotteslehre, – „in das tote Sein“, sondern muß in Gott als das „lebendige Licht“ gesetzt werden. Die Annahme, ein Wesen, sei es Gott oder Mensch, sei bloße Substanz, erläutert er mit kritischem Blick auf Spinoza: „Substanz = Sein ohne Leben“. Wenn man bloß annimmt, daß – so repliziert Fichte Jacobis Atheismusvorwurf und verteidigt seine Idee einer Synthesis von Gott und moralischer Weltordnung – zur Menge endlicher Wesen „noch Eins mehr … hinzukommt“, so gleicht dies Wesen einem „toten Gott“, der – so steigert er vor Nietzsches Parole vom ‚Tode Gottes‘ die Emphase – „tot innerlich in der Wurzel“ ist (SW X, 147;
185 vgl. SW XI, 390-394). Deshalb sucht Fichte ernst das „eigentlich Absolute“, den platonisch-christlichen „lebendigen Gott in seiner Lebendigkeit“, der für ihn Anfangsgrund und Ziel personalen und interpersonalen Seins ist (SW V, 454). Für die Verlebendigung des Substanzbegriffs hätte Fichte sich gut auf Leibniz’ monadologische Neudefinition der Substanz als „un être, capable d’action“ berufen können. – Zur überaus fraglichen Berechtigung von Jacobis furiosem Vorwurf, – hier geht es um des Vergleichs mit Nietzsche willen um den intentionalen Gehalt der Anklage, – sei nur vermerkt: Jacobi verwechselt in seiner Fichte-Kritik reines oder absolutes Ich,13 das in seiner Bedeutung für Fichte vordisjunktiv weder spezifisch bloß theoretisch noch praktisch, weder spezifisch nur menschlich-endlich noch rein nur göttlich-unendlich ist, mit dem empirischen Ich. Der Nihilismus-Vorwurf ‚Jacobi contra Fichte‘ ist im Gewicht vollen Ernstes eine polemische und ineins öffentliche Provokation einer Person gegen eine andere, also eine Art Fremdanalyse. Dagegen ist Nietzsches Bestimmung des Nihilismus zwar zugleich substantielle Zeitkritik, vor allem aber eine radikale Selbstanalyse, ein Akt, wie er sagt, höchster „Selbstbesinnung“ z.B. auf die Menschheits-Kultur als „glitzerndes Phantom“ und auf ein Ich, das wie auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängt. Statt der Fremdanklage dominiert (in der Melodie: ‚Nietzsche contra Nietzsche‘) bei Nietzsche eine beträchtliche Bestürzung des Ich über seine von ihm entdeckte eigene Verächtlichkeit. Die Höllenfahrt des sich selbst Erkennens führt zur Selbstanklage in melancholischer Reaktion auf Taten des Ich: „Gott ist tot!“ – Und wir haben ihn getötet: „Wir erwachen als Mörder“! (KSA 3, 480 f.)14 Nietzsche tituliert sich als ersten „vollkommenen Nihilisten“ Europas (KSA 13, 189). Hochgradig ambivalent rühmt er zugleich sich dessen und klagt sich dessen an, er sei: 1) Nihilist, ein ‚Tagebuch des Nihilisten‘ führend, 2) Gottesmörder, der ein düsteres Requiem aeternam, eine Totenmesse auf Gott anstimmt (KSA 3, 481 f.), 3) der Egois-
186 mus-Entlarver, der altruistische Handlungen radikal bezweifelt. Im schroffen Entweder/Oder: entweder Gott oder das Ich im Sturz in Nihilismus wählen! zeigt sich eine parallele Argumentationsfigur bei Jacobi und Nietzsche. Bei beiden gibt es die eine absolute Wahl: Gott oder das Nichts! Denn Nietzsche verknüpft in der berühmten Parabel vom ‚tollen Menschen‘, – der am hellichten Tage eine Laterne anzündet und ruft: „Ich suche Gott“!, – den Tod des gespenstisch von Menschenhand ermordeten Gottes in atemberaubender Konsequenz mit einer kosmischen Katastrophe. Das Universum, von der Platonischen Sonne des Guten oder vom christlichen guten Schöpfergott losgelöst, implodiert oder explodiert. Der Mensch erleidet einen grundstürzenden Orientierungsverlust, ein richtungsloses Fallen, er weiß nicht mehr, woher er kommt, wohin er geht, wer er ist. Der visionäre ‚tolle Mensch‘ ruft eine Frage als die Diagnose aus: „irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?!“ Folgelast ist ein geistseelischer Kältetod: Wahrheitsverlust und Erkalten personaler Liebe (KSA 3, 481 f.). Nietzsche eröffnet somit die zu ‚Jacobi gegen Fichte‘ analoge Alternative eines ‚tertium non datur‘: Gott und das im Sprung in den Glauben an den persönlichen Gott (: die Sonne des Guten) ewig geborgene konzentrische Ich einerseits, oder Leugnung/ Verlust/ ‚Tod‘ Gottes und ein dezentriertes, aus der Mitte des Kosmos verstoßenes Selbst, das seinen unbedingten Wert im All verloren hat, andererseits. Eine weitere Parallelstruktur, ja Einstimmigkeit von Jacobis und Nietzsches Nihilismus-Konzept ist außer dem leidenschaftlichen Pathos des Entweder/Oder in einer Nietzsche eigenen ‚Magie des Extrems‘ die dimensionale dreifache Entfaltung: a) Nihilismus betrifft das Seiende im ganzen, das hinfällig, der Sinn des Seins fraglich wird, im Sinne der alten griechischen Urfrage: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?! Nietzsche wendet aber ins Skeptizistische den spätmittelalterlichen Gedanken einer annihilatio der christlich-Augustinischen creatio ex nihilo. Zur Illustration der ontologischen Bedeutung von Nihilismus
187 verwendet Nietzsche gern kosmologische Metaphern, wie vor ihm Pascal, Kant und Jean Paul zur Verbildlichung von Kleinheit gegen die unendliche Größe; b) Nihilismus heißt, insofern er in negativer Absicht das höchste Seiende betrifft, das summum ens, das ens realissimum et perfectissimum (Thomas von Aquin), id quod maius et melius cogitari non potest (Anselm von Canterbury), Atheismus; c) Nihilismus heißt, insofern er das z!on lógon ¡xvn, das vernunftbegabte Lebewesen Mensch betrifft, Egoismus. – Charakteristische wohldurchdachte Abwandlungen des Atheismus, Skeptizismus, Egoismus seiner freigeistigen Vorläufer nimmt Nietzsche vor: a) er diagnostiziert kritisch den Nihilismus als die Folgelast aus dem ‚Tode Gottes‘; b) er ruft keinen vulgären Atheismus aus, sondern eine negative bzw. Anti-Theodizee und die in Europa heraufziehende Gottesfinsternis als eine Katastrophe, die zu überwinden sei; c) er beklagt hypermoralistisch den Menschen als das grausamste Tier, als den gegen andere seines gleichen und sich großen Selbsttierquäler.15
II. Nietzsches Aitiologie, Diagnose und Prognose des europäischen Nihilismus II. 1. Synopse zum ‚Nihilismus‘ bei Nietzsche Der Nihilismus als künftiges Schicksal Europas steht für Nietzsche in Zusammenhang mit der nachhaltigen Erschütterung des kosmischen Selbstgefühls des Menschen, der durch von ihm selbst entwickelte wissenschaftliche Theorien aus der Mitte des Seins verstoßen wird, das heißt, der sich selbst aus dem Zentrum wirft und auf eine exzentrische Bahn gerät. Der Schlüsselsatz der Erfahrung grundstürzender Seinsverlassenheit lautet: ‚Gott ist tot‘! Nietzsche bestimmt den Nihilismus als Folge des ‚Todes Gottes‘. Für ihn gilt der Verlust des Vollkommenen, Ewigen, Göttlichen und im Gefolge dessen der Verlust aller Werte, Ziele
188 und Ideale als irreversibel und endgültig. Dieser Verlust ist aus seiner Sicht nur dezisionistisch überwindbar durch einen starken, aus sich selbst heraus wertschöpferischen Willen. Wer ‚das Große‘, mithin den Sinn des Seins, schöpferische Qualität ebenso wie Leidensbefähigung und Seelengröße, nicht mehr in Gott findet, erklärt Nietzsche, der findet es gar nicht mehr, er muß es leugnen oder selbst schaffen (vgl. KSA 10, 32). Im lethargischen Dahinleben bekundet sich der von Nietzsche charakterisierte passive, im selbst Schaffen oder in einer neuen Selbst-Wert-Setzung der aktive Nihilismus. Der Nihilismuskomplex ist bei Nietzsche vieldimensional, insofern er in ihm Zukünftiges prophezeit, bestehende Verhältnisse brandmarkt und glühend seine eigene Zukunftsvision inszeniert. Nietzsche argumentiert in zuweilen durcheinander laufenden Gedankenlinien als Diagnostiker, als säkularer Prophet, als Kulturkritiker, als Sinnvakuumstherapeut und biopsychischer Stratege. Besonders eingehend reflektiert er, seit seinen Gesprächen mit Lou Salomé über den ‚Kampf um Gott‘, religionspsychologische Phänomene, die als psychische Konsequenzen des ‚Todes Gottes‘ einleuchten. In deren Umkreis erörtert er Phänomene der Desorientierung, der Lähmung, der Willens- und Persönlichkeitsschwächung im Vakuum eines postmetaphysischen Geistes. Nach dem ‚Tode‘ des vormals geglaubten, guten, erbarmungsvollen, gerechten, und allweisen Gottes ist die Herausforderungsfrage, ob der Mensch entweder dem Nichts verfällt oder wie Phönix aus der Asche neu ersteht als ein selbstmächtiger homo faber – oder ob er wieder an den alten biblischen Schöpfergott glauben will. Nietzsche hat seinen diagnostischheuristisch vorzüglich eingesetzten Nihilismusgedanken leider aber auch seiner (Bio-)Philosophie der Zukunft dienstbar gemacht.
189 II. 2. Nihilismus als Sturz aus der Mitte in Orientierungslosigkeit Ein bedrohliches Zeitalter sieht Nietzsche heraufziehen, da die Menschheit nach dem Verlust des Glaubens an eine göttliche Schöpfungs- oder eine sittliche Weltordnung im Sinne Fichtes einem „Trümmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwürfe“ gleiche (KSA 1, 386), die ihren Bildner nicht kennen und die am Mangel zielklarer Orientierung zugrunde gehen. Indem der Mensch seine Aufgabe und Stellung im Kosmos nicht mehr weiß, fällt er aus dem „Mittelpunkte“, hat keinen gewissen Standort des Zuhauseseins mehr, weiß nicht, wer er ist, woher er kommt, wohin er geht. „Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‚Kind Gottes‘ …) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“ (KSA 5, 404)16 Der letzte unbedingte Wert des einzelnen Menschen, bislang begründet durch seine Gottesebenbildlichkeit, wird, wie Nietzsche im Gestus des Seufzers suggeriert, radikal in Frage gestellt durch Darwins Abstammungshypothese über des Menschen animalische Herkunft.17 Dann ist der Mensch wegen seines nun unbestimmten Wesens als Gattung und Individuum – es gibt kein eidos Mensch mehr (KSA 2, 24 f.) und die alte imago Dei entfällt – in grenzenlose Fraglichkeit und Gleichnislosigkeit geworfen; er steht überall im Weltall nur noch sich selbst als Zufallsprodukt anonymer Natur gegenüber. Nietzsche formuliert hier seine in der Freigeisterei entwickelte Hypothese vom blinden Spiel des Werdens, die Kant mit kritischem Hinblick auf die französischen Materialisten, an die Nietzsche wieder anknüpft, als Annahme universaler Physiokratie bestimmt hat (AA III, 311 ff.).
190 In einem intensiven „Gleichnis“ zeigt sich bei Nietzsche das Verlieren des Kantischen Sittengesetzes und mit ihm ein Verlieren des Postulats von der Seelenunsterblichkeit. „Jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstraßen in sich trägt, der weiß auch, wie unregelmäßig alle Milchstraßen sind; sie führen bis ins Chaos und Labyrinth des Daseins hinein.“ (KSA 3, 552) Der bestirnte Himmel über mir ist bei Nietzsche nicht mehr wie bei Kant in der Kritik der praktischen Vernunft (AA V, 161 f.) als Inbild des Erhabenen Symbolträger des moralischen Gesetzes in mir, so daß die Existenz des spectator caeli, der über sich den bestirnten Himmel und in sich das Sittengesetz erblickt, mit dem Licht ‚wahrer Unendlichkeit‘ umleuchtet wird, die das Moralgesetz eröffnet. Beide Dimensionen des Unendlichen, die quantitative äußere und die qualitative innere Unendlichkeit, die im Denken mit dem Bewußtsein meiner Existenz verknüpft sind, enthalten für Kant das fascinosum und das tremendum in sich, das Über-sich-Hinausgehobenwerden der Seele und ihr Niedergeworfenwerden im Bewußtsein der eigenen Unwichtigkeit im unermeßlichen Weltall und der eigenen Unzulänglichkeit dem sittlich Vollkommenes fordernden Imperativ gegenüber.18 Nietzsche hätte sich aber einstimmig finden können mit der negativ theologischen Bestimmung, daß für Kant nicht allein Gott, auch die Seele ihrem Wesen nach unergründlich ist (AA V, 133). Die „Bewunderung und Ehrfurcht“ angesichts des bestirnten Himmels trägt für Kant noch das Signum theologischer Astronomie. Kants zwei Erhabenheiten „in mir“ und „über mir“ aber geraten bei Nietzsche unter den Verdacht der Hinterweltlerei. Für Nietzsche ist das Gegenüber von Ich und All, das hier astrokosmologisch vorgestellt wird, das Sich-Korrespondieren eines labyrinthischen Spiegelkabinetts ohne den befreienden Ariadnefaden, der aus ihm herausführt. Wolfram Groddeck deutet das Gleichnis Nietzsches als parodistische Inversion von Kants Wort über die Ehrfurcht vor dem bestirnten Himmel über mir und
191 dem moralischen Gesetz in mir. Nietzsches Umkehrung macht Innen und Außen austauschbar; der suggerierte ‚Himmel in mir‘ verwandelt sich in einen fatalen Abgrund.19 Für Nietzsche waltet die Angst im Innersten der Phantasie, die für ihn nicht mehr wie für Fichte schöpferisch-konstruktives Zentralvermögen der Vernunft ist, das mutvoll Wahrheit erzeugt und den Sinn: moralische Weltordnung annimmt. Nietzsche nimmt von Kant nur das Vernichtetwerden des Ich als eines „thierischen Geschöpfs“ auf (AA V, 162), das er als die „Selbstverkleinerung“ des Menschen bestimmt (KSA 5, 404).
II. 3. ‚Tod Gottes‘ als Ursachenbestimmung für das Zeitalter des Nihilismus Nietzsches eigentlicher neuer Gedanke enthält für Löwith des näheren ein „Gedanken-System“, an dessen Anfang der Tod Gottes, in dessen Mitte der aus ihm hervorgehende Nihilismus und an dessen Ende die Selbstüberwindung des Nihilismus zur Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen stehe. Dem entspreche die erste Rede des Zarathustra von den drei Verwandlungen: Das Du sollst des biblischen Glaubens verwandle sich zum freigewordenen Geist des Ich will; in der „Wüste seiner Freiheit“ zum Nichts geschehe die letzte und schwerste Verwandlung vom Ich will zum Ich bin eines ewig wiederkehrenden und darin sich bejahenden Daseins.20 Die ‚ewige Wiederkehr‘ ist von Nietzsche dezidiert als Ersatz für die Hoffnung auf Seelenunsterblichkeit entworfen worden. Als moralische Maxime (KSA 3, 570) bedeutet sie die nachdrückliche Selbstermunterung, stets nur das zu wollen und zu tun, was ich ganz genauso unendlich oft wieder wollen und tun könnte! Der ‚Tod Gottes‘ ist die pathetische Formel vom Niedergang des christlichen Glaubens, die zugleich Nietzsches persönliche Erschütterung sinngerecht widerspiegelt. In Entwürfen zum Nihilismus skizziert Nietzsche, wie für ihn ein ‚Sterben‘ Gottes
192 gleichbedeutend ist mit einer Aushöhlung der Glaubwürdigkeit seiner wesentlichen, in der christlichen Tradition formulierten Eigenschaften. „Das Christentum an seiner Moral zu Grunde gehend. ‚Gott ist die Wahrheit‘, ‚Gott ist die Liebe‘, ‚der gerechte Gott‘ – Das größte Ereignis – ‚Gott ist tot‘ – dumpf gefühlt“ (KSA 12, 129). Nietzsche erhebt solches dumpfe Fühlen zu rücksichtsloser Bewußtseinsklarheit. Die Negation21 – hochdramatisch: Der Tod Gottes – steht in Zusammenhang damit, daß mit dem bisher geglaubten, erbarmungsvollen, guten christlichen Vatergott ein unmoralischer Welturheber unvereinbar ist, dessen durchgreifende Realität Nietzsche (wohl mehr noch als Gottes Nichtsein) glaubt befürchten zu müssen. Wenn Gott nicht die Wahrheit oder nicht die Liebe oder nicht gerecht ist, dann gibt es diesen ehemals als Gott Geglaubten, Geliebten und Anerkannten nicht, dann existiert er – auf Grund furchtbarer neuer Entdeckungen ‚nicht mehr‘, – das heißt, der vormals als so lebendig erfahrene Gott ist ‚tot‘, er ist wie für einen um ihn Weinenden, dem er unvergeßlich bleibt, ‚gestorben‘, ohne wieder aufzuerstehen. Der ‚Gottestod‘ impliziert für Nietzsche eine Art melancholischer Horizontverdüsterung, in der Menschen entweder depressiv nichts mehr glauben, hoffen, lieben und wollen können, oder, als Alternative zu solcher passiven Trauer, destruktive Energien freisetzen. R. Gasser macht auf das Phänomen aufmerksam, wie treffend Nietzsche tiefenpsychologisch mit der melancholischen Reaktion des Menschen auf den ‚Tod Gottes‘ und nicht bloß mit einer zeitweiligen Trauer rechne und verheerende Folgewirkungen aufweist, die er aus dem ‚Tode Gottes‘ auf uns zukommen sieht,22 daß nämlich der Mensch in bisher nie gekanntem Ausmaße sich selbst fragwürdig wird und als Verstörter eine ‚Logik von Schrecken‘ inszeniert (vgl. KSA 3, 573 f.). Hierzu stimmt die ‚Depression‘ Zarathustras, die ihn überfällt, als er des abgründlichsten Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen inne wird, die mit dem bedrückenden Gottesnamen circulus vitiosus Deus charakterisiert wird (KSA 5, 75). Umso intensiver
193 sucht Nietzsche nach einer Weltkonzeption, die geeignet ist, alles Dasein postmetaphysisch und als die neue errungene Unschuld des Werdens zu rechtfertigen: „das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick“ oder unabwertbar sein, „was auf Eins hinausläuft“ (KSA 13, 34). Das Rechtfertigungsmotiv, das Nietzsche öfters intoniert, gemahnt noch an Luthers Ernst in der Suche des gnädigen Gottes. Zur vielschichtigen Semantik in Nietzsches Rede vom Gottestode können hier nur einige knappe Hinweise erfolgen.23 Nietzsche gilt als der entschiedenste Propagandist des Atheismus. Aber schon Karl Barth betont in seiner Kirchlichen Dogmatik24 Nietzsches Selbstdeutung, daß sein eigentliches Interesse nicht an Argumenten hing zur Bestreitung des Daseins Gottes, wohl aber zur Bestreitung einer moralischen Weltordnung und der Möglichkeit eines reinen guten Willens. Die von Nietzsche erlittene schlimme Verwechselbarkeit von Gott und Teufel, die für Luther zur schwersten Glaubensanfechtung gehörte, wird für Nietzsche durch seinen neuen darwinianischen Blick in die grausam-zynische Methode der Natur: höheres Leben durch millionenfaches Sterben von Schwächerem zu erkaufen, zu einem permanenten Denkzustand. An der Theodizee-Frage ist Nietzsche denkerisch und persönlich zerbrochen; sie kann man wohl gar nicht lösen; es kommt aber, so E. Jünger, auf das Niveau an, auf dem einer an ihr scheitert. So lautet eine kryptische Eintragung Nietzsches: „Die Widerlegung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt“ (KSA 11, 624, vgl. 92). Unglücklich verliebt ist Nietzsche, wie I. Kant, in die Metaphysik als in eine ungetreue Geliebte, die nicht hält, was sie einstmals verspricht. Das Zentrum der Metaphysik aber macht – wie von Platon bis Kant und Hegel – die Gottesfrage aus, so daß es zentral der Abschiedsschmerz vom dahinsiechenden Gott ist, als dessen Totenwächter Nietzsche sich fühlt. In Genealogie der Moral stellt Nietzsche die Frage: Was hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Antwort: Auf Grund der Wahrhaftigkeit, die das christliche Gewissen hervor-
194 brachte, verbiete sich jede „Lüge im Glauben an Gott“; folglich könne die Natur nicht mehr so angesehen werden, als ob sie ein Beweis für Gottes Güte sei, die Weltgeschichte nicht mehr „interpretiert“ werden zu Ehren einer göttlichen Vernunft und können individuelle Erlebnisse nicht mehr so ausgelegt werden, „wie sie fromme Menschen … ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele ausgedacht und geschickt sei“ (KSA 5, 409). Nietzsches direkte Zurückführung aber von Dysteleologie und sinnlosem Leid auf Gott bedeutet dessen Dämonisierung. Nietzsches ureigene Gretchen-Frage par excellence lautet: Trägt die christliche Sicht, – so fragt er zweifelnd –, wonach das Heidentum Gott als finster waltende Moira in einem anonymen Reich des Unberechenbaren bloß „verkannt“ hat? Hinter dieser Frage, von welcher Art das Fatum sei, steckt Nietzsches ernste Theodizeefrage. Zugestehend, daß im Reich der Zufälle und der „großen kosmischen Dummheit“ im Spielraum, der unendliche Zeit währt, „Würfe“ vorkommen, die ihrem Anschein nach der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit jeden Grades ähnlich sehen, beharrt Nietzsche doch auf seiner Skepsis gegen die Annahme, es gebe den guten Gott, der auf wunderbaren Wegen –, die nur unserem Verstand dunkel sind, – zuletzt, wie er mit Anklang an Paulus (Römer 8, 18) formuliert, alles ‚herrlich hinaus führe‘ (KSA 3, 120 ff.).25 Die Grundthese von P. Bayles Dictionnaire, daß Gottes Güte und Allmacht unvereinbar seien mit den Übeln der Welt, die Leibniz zum Abfassen seiner Theodizee veranlaßte, kehrt bei Nietzsche wieder (vgl. KSA 3, 599 ff.). Die Leibnizsche Lösung gerät unter den Verdacht illusionärer Wunschwelten: Eine vernunftvolle Welt, die „unserem anbetenden Triebe“ gemäß ist, die sich in unseren Erlebnissen zu beweisen scheint, als providentielle Leitung jedes persönlichen Lebenslaufs und der Weltgeschichte, nennt Nietzsche die christliche Anschauung, aus der wir herkommen, die jedoch durch ein Wachstum an Mißtrauen und Wahrhaftigkeit zur unerlaubten Deutung geworden sei. Wie im Paukenwirbel heißt es in einem Nachlaßnotat:
195 „der Widersinn im Gottesbegriff: wir leugnen ‚Gott‘ in Gott“, so spricht „der praktische Nihilist“! (KSA 13, 210 f.) Die Fundierungsordnung von Selbstaufhebung Gottes und praktischem Nihilismus fällt in die Augen. Nicht so sehr die Existenz Gottes scheint Nietzsche fraglich, sondern vorrangig seine Güte; das Herumschikanieren mit absurden Folgerungen aus der Prämisse, er sei gütig, mitleidsvoll bis an die surrealistische Grenze: Suizid, – gleichsam die Selbstaufhebung des causa-sui-Seins Gottes –,26 und zwar aus ohnmächtigem Erbarmen für seine unrettbar unglückselige Kreatur, liefert dafür starke Indizien. „ ‚Gott ist todt‘; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben‘ “ (KSA 4, 115). Die Güte-Hypothese führt Nietzsche ad absurdum. Indessen steigert er sich in den Verdacht, Gott sei ein erbarmungsloser Tyrann, dem ‚Teufel‘ der biblisch-christlichen Lehre ähnlicher als dessen Gegensatz. Auf ein grauenvolles Geheimnis, über das freimütig offen zu sprechen ein Tabu bräche, deutet Zarathustra in seinem Gespräch mit dem Papste hin: Gott sei „tot“; dem Papst, der Gott besonders geliebt habe und umso mehr an seinem Tode leiden müsse, ruft Zarathustra kühn zu: „Laß ihn fahren, er ist dahin“! Nietzsche steigert seine Skepsis bis zum bitteren Mutmaßen, das Zarathustra bekräftigt: ‚Du weißt …, wer er war …‘ (KSA 4, 323). Nietzsches Zarathustra stellt uns vor das schwere Dilemma eines Entweder/Oder, daß Gott: A) Entweder das liebende Mitleid in Person und ohnmächtig ist, seiner Liebe durchgreifende Auswirkung zu sichern; B) Oder Gott ist der tyrannische, böswillige Willkür-Herrscher, ein harter, rachsüchtiger „Zornschnauber“; in dem Falle ist seine Haupteigenschaft – in Radikalisierung des spätmittelalterlichen und Cartesianischen Willkür-Gottes – summa potestas, aber ohne Liebe, Güte, Gerechtigkeit, auch ohne Weisheit; Gott ist „ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm“27, so heißt es hier polemisch. Im Nachlaß von 1887 fixiert Nietzsche den Gottesbegriff auf die Macht-Hypothese: „Entfernen wir“ die höchste Güte und höchste Weisheit
196 aus den Gottesprädikaten! Das ist ein „Gott als das Jenseits … von ‚Gut und Böse‘ “! (KSA 12: 507 f., 581) Dies bedeutet für Nietzsche eine Purifizierung des Gottesbegriffs in Richtung auf Realitätssinn und intellektuelle Redlichkeit. Für Nietzsche gilt es, wehen Herzens ein „absurdes Vertrauen“ auf eine Leitung der Dinge sub specie boni abzulegen (KSA 12, 457). – Man möge sich davor hüten, bei Nietzsche monokausale Erklärungen finden zu wollen. In einer Art negativen Dialektik, die zuerst Jaspers hervorhob, erprobt er widerstreitende Erklärungsmodelle und hält die Entscheidung für das eine oder andere absichtlich in der Schwebe. So zieht Nietzsche in der einen Hypothesenreihe radikal das Verständnis Gottes als grausame summa potestas durch, in der anderen Hypothesenreihe aber die Linie einer philosophischen Theologie der Ohnmacht eines vielleicht gütigen Gottes bis ins äußerste Extrem einer Verabsolutierung des patripassianischen Gedankens,28 Gott selbst sei – auf Grund seines trinitarischen Einsseins, wegen seiner völligen Identität mit Christus – aus Mitleid gestorben – dies jedoch nicht, wie im christlichen Bekenntnis: nur für eine kurze Zeitspanne von drei Tagen, dann sei er vom Tode wieder auferstanden, sondern ganz und gar unwiederbringlich.
II. 4. Nihilismus als Nichts-mehr-tief-und-innerlich-wollenKönnen: als ‚Wille zum Nichts‘ – Verdüsterung des Horizonts oder neue humane Selbstwertsetzung? Etymologisch und ideengeschichtlich stammt das Wort „Nihilismus“ ab von „annihilatio“, dem Kunstwort der hochmittelalterlichen Scholastik. In einem kühnen Gedankenexperiment wird in diesem Wort die Möglichkeit einer Vernichtung aller Geschöpfe gedacht, eine „destructio rei in nihil“ als ein Rückgängigmachen des ursprünglichen göttlichen Schöpfungswortes. Auch dieser Sinn liegt implizit im Nihilismus-Begriff Nietzsches, die Richtungs-Umkehr der Schöpfung: statt vom Nichts ins Dasein Geru-
197 fensein, aus dem Dasein ins Nichts zu fallen und Fallen zu machen, – der Übergang vom passiven zum aktiven Nihilismus. „Der Nihilism ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das ‚Umsonst!‘, und nicht nur der Glaube, daß Alles wert ist, zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zu Grunde … Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtung durch die Hand.“ (KSA 13, 60) Nietzsches Nihilismusbegriff ruft die Vorstellung auf, daß das, was durch göttliche Schöpfung ins Dasein gerufen ward, vom Dasein ins Nichtsein zurückstürzt. Das volle Ja zum Seindürfen der Wesen im Sinne von Augustinus’ Wort, in dem die Liebe sich wesenhaft ausspricht: „volo, ut sis!“ weicht dem Fluch des Nichtgewolltseins und nichts mehr Wollenkönnens; so wie jeder Selbstmord für Freud ein verhinderter Mord ist. Nicht mehr, wie bei Fichte, ist die Welt das „Materiale unsrer Pflicht“, sondern – im Horizont Freuds gesagt – das Materiale unseres Lebens- oder aber Todestriebs, der vom Chaos umwittert ist. Die Problemkreise um ‚Pessimismus‘, ‚Nirvana‘, ‚Nichts‘ und ‚Nichtsein‘, die Nietzsche seit seiner Studienzeit vertraut sind, treten von 1880 an deutlicher in Zusammenhang und bilden als Teilaspekte den eigens von ihm entworfenen NihilismusKomplex.29 Gut zwanzig Jahre vor den bedeutsamen Entwürfen zur „Geschichte des europäischen Nihilismus“ notiert er sich aus einer Bonner Vorlesung von C. Schaarschmidt zur Geschichte der Philosophie die Kennzeichnung des Buddhismus als pantheistischen Nihilismus. Angeregt von Schopenhauer nähert Nietzsche ein weltflüchtiges Christentums dem Buddhismus an und identifiziert beide in seiner späten Zeit mit Schopenhauers Moral-Ideal. In Nachlaß-Fragmenten taucht im Sommer 1880 der Terminus „die Nihilisten“ zum ersten Mal bei Nietzsche auf, und zwar im Kontext von Befürwortern einer Revolution, des näheren der russischen, in Abhebung von Luthers Anliegen der Reformation. „Alle die extrem Aktiven wollen die Welt in Stücke gehen lassen, wenn sie ihren Willen als unmöglich erkennen (Wotan)“ (KSA 9, 125). Der Aphorismus in der Mor-
198 genröte: Die Weltvernichter (KSA 3, 224) zielt auf das „abscheuliche Gefühl“ giftigen Neides ab, daß, wenn jemandem sein eigenes Werk mißlingt, er deshalb niemandem mehr Gutes vergönnt, ja alles zu Nichts machen will. Nietzsches Sicht auf Anfang und Metamorphosen des europäischen Nihilismus geht von einer historischen Entwertung der bisherigen Werte aus, zentral von der Entwertung des Christentums als Dogma bis zum Christentum als Moral. Dieser Entwertung hält Nietzsche seine eigene neue Wertsetzung durch den Übermenschen im Horizont der Idee der ewigen Wiederkunft entgegen. Diese Idee ist seine neue Sinnverbürgungsinstanz und die dogmenfreie Religion der Religionen (KSA 11, 488). – Der Nihilismus wird aufgefächert in unvollständigen oder vollkommenen, in passiven oder aktiven. Der passive Nihilismus, unter den Nietzsche vielfältige Niedergangsphänomene subsumiert, bekundet sich im Vorfeld als Willenslähmung, -erschöpfung und -schwäche oder auch als die höchst sonderbare Lust von freien Ichwesen daran, Funktion sein zu wollen.30 Der aktive Nihilismus hingegen entfaltet, zum Beispiel in revolutionären Umtrieben, eine u.U. gewalttätige Kraft der Zerstörung oder auch ein „blindes Wüten“, die für Nietzsche aber kein Beweis von wahrer Stärke im Sinne von schöpferischer Kraft ist (KSA 12: 350 f., 216 f.).31 Eine starke Kultur beruht für Nietzsche nämlich auf einer „Synthesis der Werte und Ziele“, die sich wiederum auflöst, wenn einzelne Werte den Krieg gegeneinander entfachen (KSA 12, 351). Die Heraufkunft des Nihilismus steht für Nietzsche schmerzlich bevor als Selbstbewußtwerdung des Menschen über seine eigne Sinnverarmung, als eine krisenreiche „allertiefste Selbstbesinnung“, von der es fraglich sei, ob er sich jemals davon werde erholen können. Nihilismus bedeutet das Gefühl totaler Sinnlosigkeit, weil alle überzeugungsmächtigen Ziele abhanden gekommen sind. Wird aber der Kreis der überlebten und fallengelassenen Werte, so verbildlicht er, immer voller, so kommt dem Menschen „die Leere und Armut an Werten“ immer mehr
199 „zum Gefühl“ (KSA 13, 56 f.). Nihilist würde der Philosoph sein, der „hinter allen Idealen des Menschen das Nichts findet“, die Lebenslüge oder „das Nichtswürdige, das Absurde, … alle Art Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens“ (KSA 14, 428). Was bedeutet Nihilismus? – „Daß die obersten Werte sich entwerten.“ Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ‚Warum‘ und ‚Wozu?‘ (KSA 12, 350) Das Sichentwerten der höchsten Dinge entspricht der Selbstaufhebungsfigur negativer Dialektik, die Nietzsche öfter verwendet, hinter der die freigeistige Kardinaltugend intellektuelle Redlichkeit steht, derzufolge alles Erhabene auf seinen fragwürdigen dunklen Untergrund durchschaut wird. Nietzsche bedenkt, daß eine abgelegte oder überwundene einstmalige Vorstellung – individuell persönlich wie kulturell geistesgeschichtlich – nicht einfach vernichtet oder vergessen, sondern bloß zurückgedrängt oder subordiniert wird. „Es gibt im Geistigen keine Vernichtung“ (KSA 12, 312). Deshalb erhebt sich für Nietzsche eine Art Vakuum- und Umkehr-Effekt auf die folgende Weise. Schopenhauers Pessimismus entzündet sich z.B. an Leibnizens Vorstellung, diese Welt sei gemäß der lex optimi des weisen, gütigen Schöpfergottes die beste aller möglichen Welten; Schopenhauer münzt sie ebenso radikal um in die „schlechteste“ Welt, die Nietzsche, als Schopenhauer-Schüler, dann einem unmoralischen Künstlergott Jenseits von Gut und Böse als Urheber zuschreibt. Der gesamte Idealismus der bisherigen Menschheit, zürnt Nietzsche vehement, ist dabei, in Nihilismus umzuschlagen, nämlich in den Glauben an die „absolute Wertlosigkeit, das heißt Sinnlosigkeit“, nachdem man zuvor an eine göttliche Fürsorge glaubte. Das Innewerden einer „tierischen Herkunft“ der alten Ideale – das ist Nietzsches eigener Denkweg! – liegt der Verkehrung von Idealismus in Nihilismus zugrunde (KSA 12, 313). Sein Darwinschock ist das heuristische Schema32 solcher Nichtigung des Idealen; dessen animalische Vorstufen beschwören die schwere Desillusionierung herauf.
200 Die Nihilismus-Thematik bereitet sich im Frühjahr bis Herbst 1881 vor, zu derselben Zeit, in der Nietzsche das Motiv vom ‚Tode Gottes‘ erstmalig intoniert.33 Sinngenetisch sind Nihilismus- und ‚Tod-Gottes‘-Komplex dicht miteinander verwoben, und zwar durch die Frage Nietzsches nach den tiefgreifenden Umwandlungen, die konsequent aus den freigeistigen Lehren folgen, daß 1) „kein Gott für uns sorgt“, 2) es „kein ewiges Sittengesetz gibt (atheistisch-unmoralische Menschheit)“, unser Leben vorbeigeht, und niemand uns zur Verantwortung zieht, 3) daß „wir Tiere sind“ (KSA 9, 461). Das heißt der hier bloß implizit angedachte Nihilismus als europäisches Geistesdrama erhebt sich: 1) religionsphilosophisch durch die – im englischen und französischen Freidenkertum vorbereitete – Lehre von der Gottesferne, das ist der Deismus oder Atheismus, 2) ethisch durch Verneinen der Geltung spezifisch der strengen Pflichten-Ethik, die ein im Gewissen sich bekundendes, göttliches Gesetz lehrt, 3) naturphilosophisch durch den Darwinismus. Sollte Darwin Recht haben, so sind es „erhabene Irrtümer“, durch die der Mensch sich über das Tier erhoben hat (KSA 8, 411). Die traditionelle metaphysische Natur- und MenschenErklärung, – so lautet Nietzsches nuancenreicher Blick zurück nicht im Zorn, eher mit wehmütigem Dank, – entspricht dem besten Selbstwertgefühl des Menschen. Naturalistische Erklärungen des Ich aber empören unser Herz; doch beweisen die besten Selbstempfindungen nichts für das Empfundene. Unter Leittiteln wie: „Zur Geschichte der modernen Verdüsterung“ oder: „Der europäische Nihilismus“ finden sich im Nachlaß Entwürfe zum Nihilismusproblem. In einer Synopse wird das ‚Gott-ist-tot‘-Motiv als Ursache für viele Arten Pessimismus, für die Sucht zu verzweifeltem Andersseinwollen, zum Nein, Nichtstun, zu Rausch- und Vergessensbedürfnis enthüllt. „Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?“ Es sei ein Irrtum anzunehmen, er beruhe auf „sozialen Notständen“, auf Korruption, seelischer, leiblicher oder intellektueller Not; denn solches alles ruft nicht eine
201 radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Hoffen und von mutbeseeltem Handeln hervor (KSA 12, 125 f.). Bedenklich sei eine merkwürdige Empfänglichkeit des Menschen für diverse Arten der Selbstbetäubung, um über die ungeheuere Leere, über ein Elendgefühl, das von innen her rührt, und über das „im Innersten“ nicht Wissen, „wohinaus?“ hinwegzukommen. An Versuchen, über die innere Leere hinwegzukommen, listet er Rauschmittel auf: z.B. Anbetung eines Menschen, besinnungsloses Arbeiten in einer Funktion, der wollüstige Genuß an der „ewigen Leere aller Dinge“, eine Mystik des Glaubens an das Nichts (Buddhismus), Narkosen wegen des Ekels an sich selbst, irgend ein dummer kleiner Fanatismus, Erkrankung durch Unmäßigkeit, ja Ausschweifung, die das Vergnügen tötet. Willensschwäche ist für Nietzsche, da sie die Selbstverkleinerung des Menschen beschleunigt, das alarmierende Resultat. Nietzsche sucht gegen den seelischen Verfall und die Schwächung der Persönlichkeit, bedingt durch die für Nietzsche irreversible „Auflösung des letzten Trostes“ in der Religion, ein neues Zentrum, das den väterlich-mütterlich guten Gott ersetzen soll. Gegen den Sinnlosigkeitsaffekt, das ist „gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft!“ (KSA 10, 660 ff.), die jedem Lebensdetail Ewigkeitsodem einhauchen soll. Die geistesgeschichtliche Frage nach dem Woher des Nihilismus sucht Nietzsche unter Hauptaspekte gegliedert, zu erklären. Der erste ist für Nietzsche: „Der Untergang des Christentums“, bedingt durch eine Wahrhaftigkeit, die sich schließlich gegen den christlichen Gott wendet. Mit einem prägnanten Satz, der die Geschichte der abendländischen Metaphysik umgreift, nämlich die Lehre von Gott als ens realissimum et perfectissimum, von dessen Abglanz und Lichtes-Überfülle alles andere Seiende graduell, je nach seiner besonderen Nähe oder Ferne von seinem Ursprung, ebenso Wahrheit und Güte empfängt, sucht er das Unheimliche des Nihilismus zu enträtseln: Es ereignet sich als gesamteuropäisches Schicksal der „Rückschlag von ‚Gott ist die
202 Wahrheit‘ in den fanatischen Glauben ‚Alles ist falsch‘: Nihilismus der Tat. Zweitens wird als Sinnlosigkeits-Impuls „Skepsis an der Moral“ benannt, die deren Geltung und deren Realisierbarkeit betrifft, – als dritter Aspekt „die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft“ (KAS 12: 126 f., 130). Damit meint er die Selbstentwertung des Ich Kraft der Annahme rückhaltlosen Tiergewordenseins des Menschen.
III. Heideggers Nihilismus-Entwurf im Rückgang auf Nietzsches ‚Tod Gottes‘ und ‚Nihilismus‘ III. 1. Heidegger über Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘ und das Nicht-mehr-Haben der ‚Wahrheit‘ Das was bei Nietzsche der ‚Tod Gottes‘ und die aus ihm entspringende Heimatlosigkeit bzw. der Sinnlosigkeitsaffekt ist, dem entspricht bei Heidegger die „Seinsverlassenheit“ des Menschen. So wie für Nietzsche der ‚Tod Gottes‘ es ist, der den Nihilismus auf den Plan ruft, so ist es analog für Heidegger der ‚Seinsentzug‘, der die nihilistische Befindlichkeit des Menschen herbeiführt. Für Heidegger ist in seiner ebenso überschriebenen Abhandlung der Versuch, „Nietzsches Wort: ‚Gott ist tot‘ “ zu deuten, gleichbedeutend mit der Aufgabe, darzulegen, was er unter Nihilismus versteht. Im Sinne Nietzsches sucht Heidegger der Verwechslung der Folgen des Nihilismus mit seinem Wesen auf den Grund zu gehen, sie zu vermeiden und beide klar voneinander abzuheben. So ist das Wort ‚Gott ist tot‘ für Heidegger nicht bloß als „die Formel des Unglaubens“ zu fassen und der Nihilismus, wegen der Entwertung der obersten Werte, nicht bloß als „Untergang des Abendlandes“ (auf O. Spengler anspielend), Aufstand der Massen (mit Ortega y Gasset-Anklang), Pessimismus „durchgängiger Verunglückung“, gesellschaftliche Entfremdung (K. Marx-Zitation), schicksalhafte Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen oder als neue Herrschaft der Technik; – oder, in oberflächlicherer Stellungnahme zum Nihilismus-
203 Phänomen, als „Mißvergnügen an der Weltlage“, ein schwächliches „Lauern auf die Rückkehr des Bisherigen“, eine halb eingestandene Verzweiflung oder blanke moralische Entrüstung. Das alles sind Formen des „unvollständigen Nihilismus“, den Nietzsche durchschaut hat und in dem wir, wie Heidegger bekräftigt, „mitten drin“ stehen. Vielmehr stehe in dem Wort: ‚Gott ist tot‘ der Name Gott, wesentlich gedacht – und das macht Heideggers ent-theologisierende Nietzsche-Deutung aus, welche die atheistische wie die originär christologische Sinndimension der Gottestod-Rede verschweigt,34 – für die übersinnliche Welt der Ideale, die ihre wirksame, „erweckende“(!), Leben spendende Kraft verloren hat. Wegen solcher Wirkungslosigkeit sei für Nietzsche die abendländische metaphysische Philosophie, von ihm verstanden als Platonismus, so erklärt Heidegger lakonisch und suggestiv, „zu Ende“. Und dieses Zu-Ende-Sein macht für Heidegger den Nihilismus als „Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes“ aus, deren entfalteter Tiefgang „Weltkatastrophen“ zur Folge haben kann.35 Heidegger zitiert aus der Rede des ‚tollen Menschen‘ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (Aph. 125): ‚Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?‘ Nietzsches Wort: ‚Gott ist tot‘ heiße, daß dieses Nichts sich in unheimlicher Weise ausbreite. Das Nichts bedeute, so deutet Heidegger, Gottes vergessen, die „Abwesenheit einer übersinnlichen, verbindlichen Welt“ (Holzwege 200). Gleichwohl mit Nietzsches ‚tollem Menschen‘ sympathisierend, „der Gott sucht, indem er nach Gott schreit“, in dessen Gestalt vielleicht „ein Denkender wirklich de profundis“ gerufen hat, anstatt weiter die Vernunft zu verherrlichen und der sich abhebt von öffentlich Herumstehenden, die (aus Angst vor dem Denken) das „Geschwätz“ pflegen statt dem „vorenthaltenen Geheimnis des Seins“ nachzusinnen, sucht Heidegger in der Denkgemeinschaft mit Nietzsche die anhaltende „Selbstverblendung gegenüber dem eigentlichen Nihilismus“ zu überwinden. Durch Übergehen der Achtsamkeit auf das „Nächstliegende“, so knüpft Heidegger eindrücklich an den Gottesmord des ‚tollen
204 Menschen‘ an, der bewußtlos begangen, aber hernach betroffen eingestanden wurde, „vollziehen wir ständig … jenes Töten am Sein des Seienden“! (Holzwege 244 ff.) Eingedenk der Mitverschuldung des Seinsentzugs kommt Nietzsches ‚toller Mensch‘ für Heidegger dem Seinsgeheimnis nahe. Heidegger hat dem Passus in der Götzen-Dämmerung: „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ (KSA 6, 80 f.), eine herausragende Stellung in Nietzsches Philosophie beigemessen.36 Dieser Abschnitt bekunde nämlich eindrücklich, „wie hier für einen großen Augenblick der ganze denkerische Bereich in eine neue und einmalige Helle zusammenschießt“; es soll hier, so erklärt Heidegger, die Geschichte dargestellt werden, in deren Verlauf das von Platon als das „wahrhaft Seiende angesetzte Übersinnliche nicht nur aus dem oberen Rang in den unteren versetzt wurde, sondern ins Unwirkliche und Nichtige versank“. Das bedeutet für Heidegger, daß Nietzsche den vormaligen Vorrang des Übersinnlichen als des Ideals schwer erschüttert hat (N 1, 234 ff., 187). Dabei gilt Nietzsche die Philosophie Platons als präexistentes Christentum, das Christentum aber wiederum als „Platonismus für’s ‚Volk‘ “ (KSA 5, 12). Die Umkehr des Primats der geistigen vor der sinnlichen Welt zeigt Nietzsche in sechs eskalierenden Stadien auf: 1) Die wahre Welt gilt als erreichbar für den Frommen, Tugendhaften; dieser lebt in ihr, ja „er ist sie“, denn Kardinaltugenden gelten als ein Weg zur Unsterblichkeit; daß die tugendreiche Seele in der Wahrheit, ja selbst Wahrheit „ist“, spielt auf Platons Anamnesislehre an; 2) die wahre Welt ist für jetzt zwar unerreichbar, aber sie ist dem Tugendhaften, Frommen, dem ‚Sünder, der Buße tut‘, versprochen; dies deutet hin auf den christlich umgestalteten Platonismus; 3) die wahre Welt ist unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber doch noch gedacht als ein Trost, als eine Verpflichtung, als ein Imperativ, – das ist diejenige Gestalt, die das Christentum als Platonismus in der Kantischen Philosophie angenommen hat: das Übersinnliche, nämlich Gottes Dasein und die unsterbliche Seele sind Postulate der praktischen
205 Vernunft; 4) die wahre Welt ist „unerreichbar? Jedenfalls unerreicht“ im Sinne von Kants Erkenntniseinschränkung; infolgedessen kann die wahre Welt für Nietzsche weder mehr tröstend, noch erlösend, noch verpflichtend sein. Die Folge ist: „Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus“, so versinnbildlicht er den historischen Wechsel von Kant zu Comte mit dem Verrat Petri an Jesus im Morgengrauen. Kants Philosophie, wie Nietzsche sie durch F.A. Lange kennenlernte, hat sich reduziert auf die theoretische Unerkennbarkeit des Übersinnlichen; 5) die ‚wahre Welt‘ ist nur noch eine reine Idee, die zu Nichts mehr nütze ist; als eine solche überflüssig gewordene aber sei sie abzuschaffen. „Heller Tag; … Rückkehr“ – so heißt es in Verneigung vor der französischen Aufklärung – des bon sens und der Heiterkeit; zur „Schamröte Platos“, – so inszeniert er die geistesgeschichtliche Linie, – verüben die ‚freien Geister‘ „Teufelslärm“; 6) die wahre Welt haben wir – für Nietzsche offenbar ein voluntaristischer Akt! – abgeschafft; welche Welt aber bleibt uns, die scheinbare? „Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (KSA 6, 80 f.) Übrig bleibt so zum Schluß allein die sinnliche Welt, die aber der Positivismus vereinnahmt hat, mit dem es nach Nietzsche sich auseinanderzusetzen gilt, bevor er die Welt erobert. Religionspsychologisch sieht Nietzsche, wie in der von ihm entfalteten skeptischen Konsequenz jede schöne „Phantasmagorie eines ‚anderen‘, eines ‚besseren‘ Lebens“ weithin und endgültig abgetan werden muß (KSA 6, 78). Heidegger übernimmt bedingungslos die Überzeugung Nietzsches, daß wir – im Unterschied zu allen Früheren „die Wahrheit nicht haben“ (KSA 9, 52) und dessen neue geschichtsphilosophische Konstruktion des unabwendbaren Zerfalls übersinnlicher Werte gemäß Nietzsches Motto: „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“.37 Nietzsches Deutung der metaphysischen Tradition als Geschichte des längsten Irrtums findet ihr Pendant in Heideggers abweisender Stellung zur gesamten Überlieferung, die eines Neubeginns im Denken an das Sein bedürfe,
206 das sich dem Menschen entzogen hat. So erklärt er in Vom Ereignis: „Verstoßen“ aus der Wahrheit des Seins, „taumelnd in der Seinsverlassenheit“, wissen wir wenig vom „Wesen des Selbst“. „Da-sein“ ereignet sich im „Zwischen des Seyns als Abgrund“, „Grund-los, abgründig“ (GA 65, 321, 509), – worin der Abgrund in Nietzsches Dithyrambus Zwischen Raubvögeln (KSA 6, 389) anklingen mag. Nietzsches Prognose vom existentiellen Vakuum und der Labilisierung der Psyche im Zeitalter des Nihilismus findet bei Heidegger ihr nachhaltiges Echo. Drei Jahre vor Beginn der Nietzsche-Vorlesungen hat Heidegger in seiner Rektoratsrede von 1933 Nietzsches Wort: ‚Gott ist tot‘ als „Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden“ ausgelegt; und eben diese gelte es zu bedenken. Die Gottesfrage sei jedoch auf die andere Frage nach der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem zurückzuführen. Heidegger gesteht zwar zu, daß Nietzsches Wort vom ‚Tode Gottes‘ zunächst den christlichen Gott der biblischen Offenbarung meint, doch zielt für ihn das Wort v.a. auf die Feststellung des Zerfalls der Verbindlichkeit einer übersinnlichen Welt. ‚Gott ist tot‘ bedeutet nach Heidegger das nicht mehr Lebendigsein einer metaphysischen Welt der Ideen, Ideale, Werte und deshalb des höchsten, alles Seiende Begründenden: Gott, also das Ende der abendländischen Metaphysik, von dem Heideggers Denken seinen Ausgang nimmt.
III. 2. Dasein als Geworfensein in die Unheimlichkeit oder das Nichts der Angst vor dem Tode Die Grundansicht des christlichen Abendlandes war, daß der Amor Dei – im Sinne eines genitivus objectivus et subjectivus – von der Angst auf dem Grunde des Daseins zu befreien vermag. Denn vollkommene göttliche Liebe als letzter Seinsgrund vertreibt die Angst. Diese Annahme wird von Heidegger, wie vor ihm von Nietzsche, illusionslos aufgegeben. Für Heidegger ist
207 Angst, fundiert in der Sorge, die Grundbefindlichkeit des Menschen, Angst durchstimmt sein In-der-Welt-Sein. Die Angst des Daseins gilt Heidegger als unabwendbar (SuZ 187 ff., 265 f.);38 sie soll in einer Art tragischem Heroismus durch „Mut zur Angst vor dem Tode“ ausgehalten werden; in ihm liegt Bejahung der Seinsart des Verfallens (GA 20, 436). Er hat jede mögliche Annahme des Ewigen verworfen.39 In der Angst aber soll die Verfaßtheit des Seienden im ganzen sich offenbaren. „Die Angst ist nichts anderes als die schlechthinnige Erfahrung des Seins im Sinne des In-der-Welt-seins.“ Angst ist das Sichfinden des Selbst in der „Unheimlichkeit“, im schlechthinnigen Un-zu-Hause (GA 20, 402 f.), in der – wie Heidegger später gern mit Nietzsche sagt – „wesenhaften Heimatlosigkeit“ (HB 89, vgl. ebd. 84 ff.). Solches Un-zu-Hause jedes Ichwesens ist für Heidegger das „ursprünglichere“ Phänomen im Vergleich mit dem durchschnittlichen „beruhigt-vertrauten“ In-der-WeltSein (vgl. SuZ 188 f.). In der Angst findet das Dasein sich für Heidegger als solus ipse, das wesenhaft nicht – wie von Aristoteles bis zu Descartes und Hegel – denkend und im Denken Gott ähnlich, sondern wesenhaft Sein zum Tode hin ist, gemäß der These: vom cogito ergo sum zum moribundus sum. Das Ich ist in die Welt „geworfen“ als in eine „leere Erbarmungslosigkeit“ (SuZ 343). Solches Los- und Leersein an Erbarmen ist ein christliches Theologoumenon in defizientem Modus, das an Nietzsches Wort vom „Irren wie durch ein unendliches Nichts“ nach dem ‚Tode Gottes‘ gemahnt. Zu solcher Preisgegebenheit stimmt der Verlust sowohl der göttlichen als auch der tragfähigen mitmenschlichen Ich-Du-Beziehung, die in Heideggers Konzeption angelegt ist.40 In der Befindlichkeit der Angst liegt für Heidegger zum einen das Verhängnisvolle einer unabwerfbaren dunklen Last, zum andern die Chance ausgezeichneten Verstehens und Auf-sich-Nehmens der eigenen Seinslage. Diese ist nicht wie bei Pascal ein Ausgespanntsein des Selbst zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen bzw. zwischen Gott und Nichts,
208 sondern zwischen einem zweifachen ‚Nichts‘, das bedeutet, das Dasein ist hineingehalten ins Nichts und selbst durchherrscht von Nichtigkeit; und diese Selbstdurchsichtigkeit vor dem Hintergrund universaler Nichtigkeit und Todverfallenheit gilt es auszuhalten. Es gilt, anstatt die Flucht anzutreten vor der „Unheimlichkeit“, sich inmitten seiner Nichtigkeit zu ergreifen und zu eigen zu sein. Die „Entfremdung“ hingegen liegt in ständigem Sich-„Losreißen“ vom eigensten Seinkönnen, im „Vortäuschen“ eines Eigentlichen oder im unverhohlenen Sich-„Hineinreißen“-Lassen in das Man. Solche Entfremdung verschließt dem Dasein sein ureigenes Sein, das heißt – Nietzsches pantragischer Sicht der Tragödie auf das ‚Unheilbare‘ im Menschenlos vergleichbar, – seine Eigentlichkeit und originäre Möglichkeit als eine solche „echten Scheiterns“! (SuZ 178) Bis hin zu Vom Ereignis (von 1936-38) hält sich eine Linie heroisch-tragischer Grundstimmung durch. Die „wahrhaft Untergehenden“ – so betont er ähnlich wie Nietzsche, der in steter Distanz zum ‚Optimismus‘ (entsprechend Schopenhauers Kritik) nach dem über sich hinaus schaffenden, den passiven Nihilismus überwindenden Willen sucht – kennen keine „trübe ‚Resignation‘, die nicht mehr will“, ebenso keinen „lärmenden ‚Optimismus‘, der … sich dagegen sperrt, über sich hinaus zu wollen und erst in der Verwandlung sich selbst zu gewinnen.“ So fordert Heidegger mit Assonanz an Zarathustras Verwandlungen dazu auf, in der „Sammlung auf das Fragwürdigste“, auf das „Ereignis“, den „äußersten Ingrimm der Seinsverlassenheit“ zu bestehen (GA 65, 397). Allerdings sucht Heidegger nach seiner ‚Kehre‘ in Vom Ereignis auch dem ‚ganz anderen Anfang‘ entgegenzudenken. Die elende Geschichte des Seinsentzugs soll durch eine neue Seinserfahrung überwindbar werden. Das „Ereignis“ und das „Geviert“ signalisieren seine späte neue Öffnung in Richtung zum „Himmel“ und zum „Göttlichen“.41 Das von Heidegger bedachte, Nietzsche nahe „Entschwinden alles Heilsamen im Seienden“, wodurch alles Dasein im „Unheimischen“ stehenbleibt und jedes „Wohnen“ inmitten des Seienden wie
209 „vernichtet scheint“, denkt er im Horizont eines neuen „Leuchtens des Gottheitlichen“ (N 2, 394 f.). Der späte Heidegger sucht die tragische Grundgestimmtheit zu überwinden, die besagt: ‚Unheilvoll ist des Menschen Los‘. Er nähert sich dabei aber nicht wie der ganz späte Hölderlin der Christusgestalt oder dem christlichen Gott an,42 da von Heidegger im Sprachstil negativer Theologie der „letzte Gott“ als „der ganz Andere gegen die Gewesenen“ aufgerufen und letztlich „gegen den christlichen“ Gott (GA 65, 403) entworfen wird. Und darin findet er sich einstimmig mit Nietzsches Rede vom Tod des christlichen Gottes. III. 3. Nihilismus als „letzte Ziellosigkeit“ (Nietzsche),43 da „alle Ziele weg sind“ (Heidegger), und als Aufstand des entfesselten Ich in den ‚Willen zur Macht‘ Für Heidegger bedeutet der Nihilismus, wie ihn Nietzsche dachte, „daß alle Ziele weg sind“, und zwar „die in sich wachsenden“ und den Menschen „verwandelnden Ziele“, die seinem Dasein einen Sinn verleihen. Der Nihilismus ist für Heidegger nicht allein moralisch oder anti-idealistisch als Verlust des Idealismus oder religionsphilosophisch als Gottesverlust zu begreifen, sondern als die „Wesensfolge der Seinsverlassenheit“ (GA 65, 138 f.). So bekundet sich der Nihilismus für Heidegger beispielsweise durch eine „lärmende ‚Erlebnis‘-Trunkenboldigkeit“, ein organisiertes Augenschließen vor der Ziellosigkeit des Menschen und das einsatzbereite Ausweichen vor jeder Ziel setzenden Entscheidung, die das Selbst läutert. Sinnberaubt existieren, unbewußt verzweifelt sein Vakuum erleiden und Angst vor dem Leben wie vor dem Tode sind dicht miteinander verwoben. „Die Angst vor dem Seyn war noch nie so groß wie heute“. Ein Indiz ist für Heidegger, wie er kulturkritisch zu verstehen gibt, die Vergnügungsindustrie als „riesenhafte Veranstaltung zur Überschreiung dieser Angst.“ (Ebd.) Der Angst erregende Entzug des Seins, der schicksalhaft verhängt ist, und die ihm
210 entsprechende Seinsvergessenheit, die autonom oder auch heteronom von Menschen vollbracht wird, dürften bei Heidegger in ihrer inneren Fundierungsordnung ähnlich geheimnisvoll zueinander stehen wie Zarathustras Schwindel erregender (unglaubwürdiger Willkür-) Gott zum Gottesmord des häßlichsten Menschen bei Nietzsche, der allerdings durch seine Gewalttat die Gottesverlassenheit als unwiderrufliche besiegelt, um den Zeugen seiner Häßlichkeit auszulöschen. Heidegger erklärt kategorisch einseitig, was Nietzsche zu Lebzeiten veröffentlicht habe, bleibe „immer Vordergrund“ im Vergleich mit seinen Nachlaß-Aufzeichnungen zum Willen zur Macht, die seine eigentliche Philosophie ausmachen (N 1, 15 ff.). Auf Heideggers Nietzsche-Vorlesungen zurückgehend, die er in den Jahren 1936-1940 gehalten hat, wird auch von seinen Nachfahren gern Nietzsches Zarathustra in Ergänzung durch Nietzsches späte unveröffentlichte Reflexionen, v.a. durch die Kompilation zum unvollendet gebliebenen Werk unter dem von Nietzsche nicht autorisierten Titel: Der Wille zur Macht, zur Grundlage einer seinsgeschichtlichen Gesamtdeutung Nietzsches erhoben.44 Darin stellt für Heidegger Hegel die sinngemäße Vollendung der gesamten abendländischen und neuzeitlichen Metaphysik als solcher dar, Nietzsche aber stelle sowohl die Vollendung der Metaphysik von Platon bis Hegel als auch ineins deren schlechthinniges Ende dar. Den philosophischen Weg, der von Hegel zu Nietzsche hinführt, faßt Heidegger als eine Umkehr im Wesen der Subjektivität: In Hegels Metaphysik gelangt für ihn die spekulativ-dialektisch verstandene rationalitas (Vernunft) zu ihrer höchsten Geltung, in Nietzsches „Metaphysik“ wird, im „wesensgeschichtlichen“ und abweichenden Pendant zu Hegel, die „animalitas (Tierheit) zum Leitfaden“. Die letzte metaphysische Wesensmöglichkeit, in welcher die unbedingte Subjektivität des Willens zur Macht sich entfaltet, ist für Heidegger Nietzsches ‚Übermensch‘, der, paradox, die äußerste rationalitas durch Ermächtigung der animalitas zur „brutalitas der bestialitas“ ausmacht, – wie es mit wohl kaum unpoliti-
211 schem Anklang an Nietzsches ‚blonde Bestie‘ heißt. Am Ende der Metaphysik stehe der Satz: „Homo est brutum bestiale“. Der ‚Übermensch‘ ist für Heidegger die Gestalt des unbedingt sich wollenden Willens und der eigenmächtigen Selbstprägung; die „brutalitas“ zeichnet er in die Selbstvollendung der „rationalitas“ ein und ersetzt Technik durch die nun ebenso willkommen geheißene Tierheit (vgl. N 2, 200 f.).45 Die dramatische Sinngenese der ‚Tierheit‘ des Menschen in Nietzsches Denkweg von 1866-1882 bleibt Heidegger verborgen. Das von Nietzsche heraufbeschworene und von Heidegger willkommen geheißene Ende der Metaphysik soll in Nietzsches Denken des näheren ihre gegensinnige Umkehrung sein, und zwar im Hinblick auf die Rangordnung im Verhältnis von sinnlicher und übersinnlicher Welt, die Nietzsche zugunsten der sinnlichen, zuungunsten der übersinnlichen Welt umgekehrt hat. Der Entzug des Seins und der geschichtliche Verfall der Seinsfrage, bedingt vom Bemächtigungswillen der Subjektivität, die – gemäß Heideggers geschichtsphilosophischem Konstrukt – schon von Platons Anfängen an alles Seiende und die Wahrheit unter das Joch der Idee, seit Descartes unter das denkende Ich zwingt, erreicht in Nietzsche ihre äußerste, unüberbietbare Möglichkeit. Der Wille zur Macht, durch Nietzsche als letzten Metaphysiker, wie Heidegger ihn sieht, entlarvt, enthüllt den verborgenen, nihilistischen Grundzug im Wesen neuzeitlicher Subjektivität, die das Seiende im Ganzen zu beherrschen trachtet, so daß ihr deshalb das Sein verborgen bleiben muß. Tod Gottes, ewige Wiederkehr des Gleichen und Aufstand des Subjekts in den Willen zur Macht sind für Heidegger die wechselseitig sich explizierenden Grundworte als Schlüsselbegriffe, die jedoch für Nietzsches Philosophie nicht allein so bezeichnend sind, wie das für Heideggers Kritik und Verabschiedung der Metaphysik-Tradition der Fall ist. Diese Verabschiedung knüpft sachlich unmittelbar und affirmativ an Nietzsches Werte-Skeptizismus und dessen Überzeugung an,46 daß wir die Wahrheit nicht haben und die übersinnliche Welt Platons und
212 des Christentums zur ‚Fabel‘ wurde. Die Verabschiedung der Metaphysik vollbringt der frühe Heidegger zugunsten seiner eigenen existentialen Ontologie in Sein und Zeit, die, Feuerbachisch, menschliche Existenz auslegt im unüberschreitbaren Horizont radikaler Diesseitigkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit. In Sein und Zeit postuliert Heidegger die Nichtentscheidung jedes wahren Philosophen über ein mögliches oder wirkliches „Sein des Daseins zu Gott“ (vgl. SuZ 48 ff.). In Vom Ereignis lautet eine ähnlich verhaltene These, die in der Gottesfrage zwischen Kantischem Kritizismus, aber ohne Postulate, und einem Feuerbach nahekommenden Diesseitigkeitskonzept in der Mitte schwebt: „Das seynsgeschichtliche Denken steht außerhalb jeder Theologie und kennt aber auch keinen Atheismus im Sinne einer ‚Weltanschauung‘ “ (GA 65, 439). Demgemäß sucht er später auch Nietzsche streng ontologisch-seinsgeschichtlich so zu deuten, daß er dabei weder positiv noch negativ über ein mögliches Sein zu Gott entscheidet, schränkt aber gleichwohl die Textgrundlage seiner Nietzsche-Deutung auf die späte, dezidiert atheistisch sich zeigende Zeit des Denkers ein. Selbstverständlich habe Nietzsche, erklärt Heidegger, keinen ordinären freidenkerischen Atheismus gepredigt, sich selbst aber sehr wohl bewußt als Wendepunkt, Krisis und Anlaß für eine höchste Entscheidung in der Problemgeschichte des neuzeitlichen Atheismus verstanden.47 Für Heidegger gehört die gesamte christlichmetaphysische Tradition48 selbst von Anfang an in die Geschichte der Seinsvergessenheit hinein, in der es mit dem Sein nichts ist bzw. alles Seiende nihil, also nichts ist, weil das Sein sich verbirgt. Das heißt, das Christentum selbst ist mit seiner metaphysischen Gottes- und Seelenlehre für ihn nur eine Ausformung des im sich entziehenden Sein entzündeten Nihilismus.49 Seit der Zeit seiner Nietzsche-Vorlesungen akzentuiert Heidegger, als suche er einen neuen Ausweg aus dem Nihilismus, seinen in der ‚Kehre‘ angebahnten „anderen Anfang“, in dem – in Aufnahme des von Hölderlin erwarteten neuen Göttertages und Nietzsches Rede des Gott suchenden ‚tollen Men-
213 schen‘, mit der Heidegger immer einmal wieder befaßt gewesen ist,50 – ein kommendes neues Seinsverständnis und ein kommendes neues Gottesverständnis ersehnt wird.
III. 4. Nietzsches Verlustbilanz: kein Sinn unverbrüchlich in Heideggerschen Strahlenbrechungen Objektiv ist der Nihilismus für Nietzsche die „zu Ende gedachte Logik unserer großen Werte und Ideale“, die sich für ihn durch ihr kritisches Zu-Ende-Denken als unhaltbar erweisen. Wir sind ‚Enttäuschte‘, so definiert er sich als Philosophen der Zukunft, denen die Augen aufgingen über das Wünschbarste der Menschen und blicken mit „spöttischem Ingrimm“ auf das erhoffte Ideale (KSA 13: 60, 190). Nihilist ist, wer von der Welt, wie sie ist, „urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht.“ Der Sinnlosigkeits-Affekt oder das Pathos des ‚Umsonst‘ ist das Nihilisten-Pathos, – als Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten. Den praktischen Nihilismus bestimmt Nietzsche in der spätesten Zeit gern psychophysiologisch als „Instinkt der Selbstzerstörung“ oder als verzweifelten „Willen ins Nichts“ (KSA 12, 215 ff.). Als Umwerter der Werte hält Nietzsche solchen nihilistischen Typen ihre mangelnde Kraft zum „Schaffen von Fiktionen“ vor (KSA 12, 366). Er unterscheidet nämlich aus der Perspektive von Décadence oder Vitalität zwei Arten von Fiktionen, solche, die der Schwäche oder die der Stärke entspringen, analog auch eine „psychologische Gottbildung“ aus erbärmlicher Winkelenge oder aus einem „gottbildenden Instinkt“ entspringend, der das Leben beflügelt (KSA 13: 305 ff., 525). Nietzsche betreibt religionspsychologische Analysen des existentiellen Vakuums der Psyche,51 die im Schatten der Gottesfinsternis vegetiert, selbst wenn die Psyche nicht individuell-persönlich wie der Philosoph selbst gläubig gewesen und im Laufe des Lebens die Gottesnähe als Seelenmitte verloren hat. Der Ni-
214 hilismus als psychologischer Zustand kann Abschattungen des Gottesverlustes, etwa im Verlust eines teleologischen Weltbegriffs, wie ihn Kant in der Kritik der Urteilskraft paradigmatisch entworfen hat,52 oder eines Harmoniemodells des Zwischenmenschlichen zum mehr oder weniger bewußten Leidensinhalt haben. Nihilismus ist die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens, also über den Verlust der Teleologie. Der Mensch ist „nicht mehr Mitarbeiter, geschweige denn Mittelpunkt des Werdens“. So tritt der Nihilismus ein, wenn wir vergeblich einen Sinn in allem Geschehen in uns und außer uns, in unserer Biographie, in der Natur oder Geschichte, gesucht haben, so daß der Sucher schließlich seinen Mut verliert. „Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des ‚Umsonst‘, die Unsicherheit, … sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen“. Jener verlorene Sinn kann die Erfüllung eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen durch Gottes Weltenlenkung – Leibniz’ Reich der Gnaden als beste mögliche Welt, Kants Gottespostulat, Fichtes moralische Weltordnung – gewesen sein, rein human die „Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen“ (KSA 13, 46 f.). Im tiefsten Seelengrunde hat der Mensch den Glauben an seinen eignen unverlierbaren Wert als Adressat göttlicher Liebe verloren bzw. hat sich dieses Glaubens aus bitter-herber Denkredlichkeit, wie Nietzsche, entschlagen. Das markante Zeichen der modernen Zeit ist für Nietzsche, daß der Mensch in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt hat, er, der über viele Jahrhunderte hin sich als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins empfunden und darum gemüht hat, sich als verwandt mit der wertvolleren Seite allen Seins zu beweisen, – wie es alle Metaphysiker tun, die an der Würde des Menschen festhalten wollen. Der ‚vollkommene‘ Nihilismus bildet für Nietzsche zugleich „logisch und psychologisch“ – die logische Dimension erinnert an Hegels Dialektik,53 die psychologische an Nietzsches Tiefen-
215 analyse – die Prämisse für eine dann erst mögliche kulturell-historische Gegenbewegung (KSA 13, 190). Konkret soll zum Beispiel der passive, asiatisch inspirierte Nihilismus als „Sehnsucht ins Nichts“ (KSA 12, 126) überwunden werden in Richtung eines dionysisch sprühenden Jasagens. Lebe so, wie du wünschen kannst, immer wieder zu leben, das ist die Aufgabe. Denn: „Es gilt die Ewigkeit!“ (KSA 9, 504 f.) erklärt er voll Pathos, das sich aus dem verabschiedeten Religiösen speist, in dem es um Himmel oder Hölle ging. Gegen die pessimistische (Schopenhauerische), welt- und willenverneinendste, eine Art Nirwana-Sucht, ruft er die weltbejahendste Denkweise auf (KSA 5, 74 f.), gegen den Instinkt der Selbstzerstörung und -untergrabung, ja Todestrieb, die vitale Selbstbehütung des Ich. Die Sehnsucht ins Nichts will Nietzsche herumdrehen in Richtung eines dionysischen Jasagens, Genießens und Gutheißens des Lebens. Für den Umwerter der Werte Nietzsche, der zum Sinn der Erde den Übermenschen erklärt, heißt die außer-metaphysische „Ziellosigkeit“ nichts anderes als daß „der große Mensch fehlt, dessen Anblick schon das Dasein rechtfertigt“ (KSA 11, 103). An die Stelle von Metaphysik und christlicher Religion will Nietzsche „die ewige Wiederkunftslehre“ als Mittel zur Selektion einer höheren Menschenart einsetzen (KSA 12, 342 f.). Nietzsches sonderbare Redeweise, daß die obersten Werte selbst „sich entwerten“ (KSA 12, 350 f.), paßt zur Idee der Selbstaufhebung aller großen ‚Dinge‘, zuhöchst Gottes und der Moral, und deutet real auf einen schleichenden geistesgeschichtlichen Verfallsprozeß hin, den er prägnant auf den Begriff bringt und dabei als Umwerter der Werte in die Umbruchslage des Verfalls aktiv einsteigt. In einer autobiographisch gefärbten Eintragung spricht Nietzsche von der Krankheit auslösenden „Zeit, in die wir geworfen(!) sind, – die Zeit eines großen immer schlimmeren Verfallens“, vom hier unbewußt waltenden Nivellierungstrieb der Mittelmäßigen gegen höhere Menschen und vom melancholischen „Abgrund des letzten Neinsagens“ (KSW 11, 12 f.), der zu überwinden sei. Nietzsche sucht, dies wie Platon
216 wieder der Wirksamkeit des Idealen zutrauend, eine philosophische Therapie des Nihilismus.
III. 5. Aus Heideggers Nachlaß: Ewige Wiederkehr als ‚nunc stans‘, Umwertung der Werte als „Lebensinwendigkeit“ „Der alte Gott ist tot – und das übersinnlich Seiende hat seine Macht verloren“, ( wo es aber noch gilt, da verneint es das Leben,) so notiert sich Heidegger 1936/37. In dem „und“ liegt seine – im Vergleich zu Nietzsches autochthoner Gewichtung des Gottesproblems – überstarke Ineinssetzung von Gottestod und Verbindlichkeitsverlust der idealen Welt. „Nihilismus als Niedergesang“ (statt Niedergang) des Lebens, heißt es köstlich dort, wo Heidegger auf Nietzsches Überwindung des Nihilismus durch dessen Steigerung ins Extrem abhebt; das der Aufwertung harrende Sinnliche ist gleichsam als dionysischer Gesang freizusetzen (NLN 12 f.).54 Die gnostizistische Frage, „warum ewig weltfremd“ bleiben, beantwortet er mit Nietzsches weltbejahender ewiger Wiederkehr in ihrer ethischen, politischen, religiösen Dimension. Denn die ewige Wiederkehr ruht als „ethisches ‚Schwergewicht‘ “ auf jeder Tat, die gewollt und bejaht wird als unendlich oft ebenso wiederholbare. Sie impliziert als „Wille zur Macht Selbstverewigung“ des Handelnden, ja einen Willen, der sich selbst „ewig wollen kann“. So nimmt die ewige Wiederkehr nach dem ‚Tode Gottes‘ und nach dem Verlust der Auferstehungshoffnung den nun leer gewordenen Platz ein als „Ersatz für den Unsterblichkeitsglauben“, wendet sich nach Heidegger „gegen Hinterwelt, aber auch gegen bloßes Nichts, und gegen das Nur sich gehen lassen“; und sie gilt als „Stachel“, das Leben des Menschen höher zu treiben, nicht in Richtung eines anderen Lebens, sondern um „ ‚Ewigkeit‘ diesem Leben“ aufzudrücken. Dabei liegt das Ziel nicht außerhalb der Welt, sondern im Leben selbst, das jedoch „im Ganzen ziel-los“ bleibt! Beachtlich er-
217 scheint Heideggers atmosphärisch teleologie-freundliche Rückfrage an Nietzsche, ob nicht mit seiner Vorgabe der ewigen Wiederkehr des Gleichen als schlechthinniger „Ziel-losigkeit das Menschsein als Ziel-setzendes“ „unmöglich“ wird, mithin der Mensch, der essentiell als „der Zielsetzer“ bestimmt ist, weil er sinnorientiert leben will (NLN 15 f.). Die ewige Wiederkehr versteht Heidegger auf eine symbolische Weise ontologisch, und zwar Plotinisch als ein Hineinragen des Ewigen in die Erlebniszeit des Daseins, als „das nunc stans als fluens“. Hierin liegt ein Überglänztwerden des Augenblicks mit quasi göttlichem Glanze, wie ihm Nietzsche in seinem Liebeslied an die Ewigkeit im Dithyrambus Ruhm und Ewigkeit Ausdruck verlieh (KSA 6, 405; KSA 4, 286 ff.). Vor Nietzsches Paradoxa schreckt Heidegger nicht zurück, spitzt sie vielmehr zu, indem er für die ewige Wiederkehr als „Sichringeln im Kreisen“ Nietzsches provozierenden Begriff des circulus vitiosus Deus aufnimmt, in dem Fatales eingeschlossen ist, nämlich: „das Sinn-lose, das heißt Ideal-lose – ewig – also ohne absolutes Finale – ins Nichts“. Geschichtlich notwendig ist dann das Bejahen des Widerstreits als wesentlichen Sinns des Seins, ein heilsames Vergessenkönnen und das Eingeständnis perspektivischer Vieldeutigkeit der ‚Welt‘. Heidegger spricht die ewige Wiederkehr – mit religiöser Reminiszenz – auch als „Erlösung“ vom pánta ]eî an. Das Fehlen der idealen Welt heißt: es gibt „keine Schlußziele, kein absolutes Ideal“, nur Heraklitisch Streit, Leid und Lust im Horizont des Dionysos. Nietzsches vollbrachte Umwertung der Werte bedeutet für Heidegger „das tiefste Innestehen im Leben selbst“ gewinnen durch ein Sichüberholen und „Überwachsen“. So integriert Heidegger Nietzsches Charakteristik des Willens zur Macht als Sich-selbst-Übertreffen mit dessen späten biologisierenden Metaphern. Ohne Replik bleiben Exzerpte Heideggers zur biologistischsozialdarwinianischen Umwertung der Werte, es sei in „göttlicher Denkweise“ das Furchtbarste aufzurichten: „incipit tragoedia“, das Heidegger, wie Nietzsche selbst, mit Verweis auf die
218 griechische Tragödie zu legitimieren sucht. Demzufolge sind Gut und Böse gemäß Heideggers Notat im Sinne seines Vorgängers „gleichursprünglich“ zu rechtfertigen aus der Kraft des Lebens; die Vorstellung der ewigen Wiederkehr fungiert als „Stachel“ zu den „höchsten Entschlüssen“ und als Hammer in der Hand des mächtigsten Menschen, – wobei die Philosophie, so kommentiert Heidegger sein Nietzsche-Exzerpt, als der „höchste, geistigste Wille zur Macht“ auftritt. Dabei gedenken „die Mächtigsten“ nicht dieser Lehre, sondern sind von ihr daseinsmäßig „durchstimmt“. Es geht zum Zweck der (vitalen) Überwindung des Nihilismus um ein (bedenkliches) „Aussieben“ der Schwachen, ein Sammeln der Starken. Das „Recht zu diesem Entwurf“ liegt nach Heideggers Nietzsche-Sicht im neuen dionysischen Glück höchsten Schaffens, das die „tiefste Bedingung der Lebenssteigerung“ als den höchsten Wert setzt (NLN 15, 17-21). Welches ist der „Grundcharakter“ des Seins, des „Seins des Werdenden“?, so fragt Heidegger im Sinn von Nietzsches Heraklitismus, aber ohne den Logos. – Es ist da „Ohne Seinsfrage. / Ohne Da-seins-Gründung“! Daher rührt die kritische Nuance in Richtung Nietzsches: der Nihilismus bleibt „metaphysisch vordergründlich“, trotz Umkehrung, trotz „Herausdrehung“ aus ihm. Es kommt alles an auf ‚Stärke‘ und eine dionysische ‚Fülle‘, die für Nietzsche das neutestamentliche Pleroma ersetzen, ja überbieten soll. Heidegger nennt solche neu zu erringende Stärke und Fülle „Lebensinwendigkeit“: Hier klingt ein Augustinisches Innerlichkeitsethos an inmitten des Nietzscheschen biologisch-vitalistischen Kontexts. Heidegger stimmt mit seinem Vorausdenker überein, daß die metaphysische Horizontlinie zugunsten reiner Innerweltlichkeit ausradiert ist: Kein Sinn mehr ist „unverbrüchlich“ gegeben, das Dasein ist völlig ins „Fragwürdige gerückt“, indem, so lautet Heideggers Fazit lakonisch prägnant, darin Nietzsche getreu sich verstehend, der „Nihilismus da ist“ (NLN 22 f.).55 – Gerungen hat Nietzsche v.a. mit den Schatten des christlichen Gottes, mit der Gottesverges-
219 senheit und Gottesverlassenheit, als deren Folge er eine tiefste Krisis der Werturteile und eine moralische Logik von Schrecken vorausahnte. Von Nietzsches nuancenreich prognostiziertem Nihilismus als eines orientierungslosen Stürzens des Ich ins Nichts nimmt Heideggers Denkweg seinen Ausgang, vom Geworfensein des Daseins in die Welt als in eine leere Erbarmungslosigkeit, bis er mit Hölderlins Patmoshymne die neue Sicht anstimmt: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Anmerkungen Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, hrsg. von F. Roth und F. Köppen, Darmstadt 1968, Bd. 3: „Jacobi an Fichte“ (zuerst 1799), S. 9-57, bes. S. 44, 49, vgl. S. 21 ff. auch für das Folgende. – Zum Nihilismus in problemgeschichtlicher Hinsicht vgl. Otto Pöggeler: ‚Nihilist‘ und ‚Nihilismus‘ in Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 19 (1975), S. 197-210; W. Goerdt/ W. Müller-Lauter, ‚Nihilismus‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter etc., Bd. 6, Sp. 846-854; C. Strube, ‚Nihilismus‘ in: TRE, Berlin/New York 1994, Bd. XXIV, Teil 3/4, S. 524-535. 2 Vgl. dazu Heinz Heimsoeth: Fichte, München 1923. 3 Siehe vorvorige Anm. zu F.H. Jacobi. – Die Frage liegt nahe, ob der Nihilismus-Vorwurf einer um Fichtes und dessen Hörer Seelenheil besorgten Freundesseele entspringt oder ob Jacobi, – mit C.G. Jung ausgedrückt, – seinen eigenen Schatten auf Fichte projiziert bzw. anti-idealistische Ressentiments entfesselt. Faszinierend zu sehen ist, wie Fichte seinen Denkweg, in der Annahme, Jacobis Vorwurf sei lauterer Ernst, fortan religionsphilosophisch in die Richtung eines Augustinischen Primats Gottes oder des Absoluten vor dem Ich transfiguriert. 4 Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 49, 35 ff., 54; vgl. Jacobi, Werke, Bd. 2, S. 285. Zu Jacobi s. Günther Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F.H. Jacobis, Bonn 1969, bes. S. 32-49, S. 131-154. – Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hrsg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1959, S. 72-84; bes. S. 82: „Qua enim ratione intelligerem [...] me non esse omnino perfectum, si nulla idea entis perfectionis in me esset, ex cuius comparatione defectus meos agnoscerem?“ So geht der Begriff Gottes als unendlicher Substanz wegen seines höheren Realitätsgehaltes dem Begriff des endlichen Ich von sich selbst voraus (priorem esse). – Zum egologischen Gottesbeweis bei Descartes (bzw. „kausalen“ Beweis aus dem ego) vgl. Martial Gueroult, Descartes selon l’ordre des raisons. I: L’ame et Dieu, Paris 1953, S. 154-285. 5 Vgl. dazu E. Düsing, Gott als Horizont oder Grund des Ich.? Von Kants praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins, in: 1
220 Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Kant-Forschungen, Bd. 15, hrsg. von Norbert Fischer, Hamburg 2004, S. 433-491. 6 Fichtes Werke werden zitiert nach der von I.H. Fichte besorgten Gesamtausgabe (1834-1846): SW. 7 Vgl. dazu Klaus Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 5-42. 8 Zu Fichte vgl. Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J.G. Fichtes, StuttgartBad Cannstatt 1972; E. Düsing, Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie, in: Philosophisch-literarische Streitsachen, Bd. 3: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799-1812), hrsg. von W. Jaeschke, Hamburg 1994, S. 98-128. 9 Vgl. E. Düsing, Krisen der Selbstgewißheit in Kierkegaards Konzeption der Existenz-Stadien. In: Kategorien der Existenz. Wolfgang Janke zum 60. Geburtstag, hrsg. von K. Held u.a., Würzburg 1993, S. 213-240. 10 Zu Fichtes Bildbegriff s. Julius Drechsler, Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart 1955; Xavier Tilliette, La théorie de l’image chez Fichte, in: Archives de Philosophie 25 (1962), S. 541-554; Wolfgang Janke, Das empirische Bild des Ich – zu Fichtes Bestimmung des Menschen, in: Philosophische Perspektiven 1 (1969), S. 229-246. 11 Beachtliche Ähnlichkeit zeigt diese Fichtesche Argumentationsfigur wiederum zu Descartes’ egologischem Gottesbeweis in der dritten Meditation, der u.a. im Bewußtsein der Korrelativität von Unendlichem und Endlichem verankert ist, ja im Wissen, daß der Begriff Gottes als unendlicher Substanz aufgrund seines höheren Realitätsgehaltes dem Begriff des endlichen Ich von sich vorausgeht (priorem esse). Descartes, Meditationes de prima philosophia (s. Anm. 4), S. 82 f. – Bei Fichte siehe das argumentative Pendant SW V, S. 439-442. 12 Daß Fichte an die Tradition religiöser Mystik anknüpft, wird in der Fichte-Forschung durchweg bejaht. Vgl. dazu W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 301-307. Emanuel Hirsch (Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914, S. 48, 119 f., 127 ff.) grenzt Fichtes Mystik-Tendenz gegen eine schwärmerische, in unsagbaren Erlebnissen schwelgende Mystik ab und gegen eine rein kontemplative, wo der Mensch in andächtiger Betrachtung passiv in die Gottheit versinkt. Dagegen intendiere Fichte das Bewußtsein der Gottesnähe und der Einheit mit Gott als ein solches, das ein aktives sittliches Leben begleitet. – Die prinzipielle Vereinbarkeit von Transzendentalphilosophie und Mystik bei Fichte betont Franz Bader, Transzendentalphilosophische Überlegungen zur ‚negatio negationis‘ und zur mystischen Einigung, in: Grundfragen christlicher Mystik, hrsg. von Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 13 Vgl. dazu Wolfgang Müller-Lauter, Der Idealismus als Nihilismus der Erkenntnis, in: Theologia Viatorum XIII, 1975/76. Jahrbuch der Kirchlichen
221 Hochschule Berlin, S. 133-153. Müller-Lauter weist zu Recht darauf hin, daß Jacobis Fichte-Kritik die Funktionen von Fichtes absolutem Ich als Leistungen des konkreten Ich mißdeutet. 14 Nietzsches Schriften werden zitiert als KSA, Kritische Studienausgabe des Gesamtwerks von Nietzsche in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967-1977. 15 Zur ‚Tod-Gottes‘- und Nihilismus-Problematik sei der Hinweis erlaubt auf Edith Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München 2006, S. 351-521; und E. Düsing, Wie das Ich zur ‚Fabel‘ ward – Nietzsches Kritik des idealistischen Subjektbegriffs, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 29 (2003), S. 229-282. 16 Volker Gerhard bestreitet im Hinblick auf die Kosmologie zu Recht die Zwangsläufigkeit des Geratens auf eine schiefe Bahn und in Nihilismus, die Nietzsche mit Kopernikus suggeriert. (Die Kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche, in: J. Albertz, Herausgeber, Kant und Nietzsche – Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?, Wiesbaden 1988, S. 173 ff.) Er verkennt aber, daß – wie in der Parabel vom ‚tollen Menschen‘ – Kosmologie metaphorisch eingesetzt ist, um auf die Pointe rückhaltlosen Tierwerdens des Menschen abzuzielen. Mit Darwin stürzt der Mensch nach Nietzsche in seine animalitas hinein ab, in eine drohende Nichtigkeit, ja Würdelosigkeit. 17 Prognostiziert hat Sigmund Freud wie Nietzsche den Ausbruch einer globalen unbewußten Melancholie nach ‚Gottes Tod‘ durch Kränkung des vormals im Mittelpunktgefühl des Alls Daseienden. Freud hat in beachtlicher Analogie hierzu drei „große Kränkungen“ des menschlichen Eigendünkels hervorgehoben, verursacht durch drei Bürgen des Realitätsprinzips, nämlich Astronomie, Biologie und Psychologie: Die erste Kränkung geschah, als die Menschheit erfuhr, „daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist“; die zweite, „als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte“, ihn auf die Abstammung vom Tierreich verwies. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber erfährt die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung, die „dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause“ (Gesammelte Werke XI, 294 f). Eine Entschädigung für den verletzten Narzißmus des Menschen kann es für Freud am Ende der religiösen Illusion, wie er sie aufzudecken sucht, nicht mehr geben (GW XIV, 108 f.). 18 Vgl. dazu Heinz Heimsoeth, Astronomisches und Theologisches in Kants Weltverständnis, in: ders., Studien zur Philosophie Immanuel Kants II, Bonn 1970, S. 94 f., 107 f.; und Artikel „Spectator caeli“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Sp. 1350-1355. 19 W. Groddeck, ‚Oh Himmel über mir‘. Zur kosmischen Wendung in Nietzsches Poetologie, in: Nietzsche-Studien, Bd. 18 (1989), S. 490-508. – Kant erklärt im „Beschluß“ der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Gemüt damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. … Das erste
222 fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große … Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert … unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart“ (AA V, 161 f.). Vgl. Nietzsches Kant-Exzerpt KSA 12, 269. 20 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, S. 246 f. 21 In Exzerpten aus Dostojewskis Dämonen spricht Nietzsche einmal urteilslogisch von der ‚Negation‘ Gottes anstatt ontologisch vom ‚Tod‘ Gottes und von der absoluten Veränderung, die mit dieser Negation eintritt (KSA 13, 143 ff.). 22 Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997, S. 498501. 23 Siehe dazu: E. Düsing, Nietzsches Denkweg (wie oben Anm. 15), S. 400-495. 24 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Zürich 1959, Band III/2, S. 284 f. 25 Zur Schlüsselbedeutung der Theodizeefrage für Nietzsche vgl. E. Düsing, Nietzsches Denkweg (wie oben Anm. 15), S. 196 f., 424-495. 26 Ähnlich spricht er einmal vom „Selbstmord der Moral“ als deren eigene letzte Forderung (KSA 9, 640), statt, wie sonst öfter, von der Selbstaufhebung aller großen Dinge, z.B. der Moral (Morgenröte, Vorrede KSA 3, 16 f.). 27 KSA 4, 110. – Die Stoßrichtung der Polemik ist die Idee des Willkürgottes, der sogar mathematische Wahrheit als (un)gültig setzt. Wenn wir aber den Zweck des Daseins nicht kennen, so ist die „scheinbare Dummheit des Weltenganges“ vielleicht wiederum nur eine „perspektivische“ Sicht und widerlegt nicht, so erwägt Nietzsche überraschend traditionalistisch, die – von Leibniz in der Theodizee durchdachte – Möglichkeit eines „ungeheuren Geistes“, der über komplizierte Wege seinen Plan durchführt, also „mit vielen krummen Linien“ (KSA 11, 634). 28 Hans Urs von Balthasar (Theodramatik Bd. IV: Das Endspiel, Einsiedeln 1994, S. 191-222, bes. 193 f.) weist Vorprägungen patripassianischer Ideen der alten christlichen Kirche zum Leiden von Gottvater im Judentum auf. In späten rabbinischen Schriften tritt nämlich – im Vergleich zu den schon im Alten Testament vorfindlichen Hinweisen auf Jahwes „Reue“, „Betrübnis“, „Liebe“ und „Zorn“ – die Schmerzenskundgabe Gottes noch bei weitem stärker und expressiver hervor. Vor einem solchen religionsgeschichtlichen Hintergrund dürfe das in den Evangelien bezeugte Weinen Jesu über Jerusalem ebenso wenig wie die Bekundung seiner Gottverlassenheit auf Jesu menschliche Natur eingeschränkt werden, da dem biblischen Gott selbst Leidensbefähigung zukomme.
223 Vgl. dazu und zum folgenden Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992, S. 237259. 30 Vgl. zu solchen personalen Selbstaufhebungen die ironisch-humorvollen Sentenzen: KSA 3: S. 474 ff., 579-583. 31 Vgl. dazu Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, bes. S. 333 ff. 32 Zu den nihilistischen Implikationen neuester Naturwissenschaft vgl. E. Düsing, Nietzsches Denkweg (s. oben Anm. 15) S. 199-395. 33 A. Camus (Nietzsche et le nihilisme, in: ders., L’homme révolté, Paris 1951, S. 88-91) sucht Nietzsches Denken in sein Konzept des Menschen in der Revolte einzufügen. Für Camus nimmt mit Nietzsche der Nihilismus geradezu prophetische Züge an, da Nietzsche den von ihm entdeckten und charakterisierten Nihilismus bis in die letzten Konsequenzen vorantreibt. In Nietzsches klärender Reflexion nehme ‚die Revolte‘ ihren Ausgang vom ‚Dieu est mort‘. Dabei sei Nietzsches Atheismus ebenso radikal wie konstruktiv, nämlich jedem Glauben entsagend, gleichwohl den Glauben an das Leben entwerfend. Für Camus hat aber nicht Nietzsche ein eigenes Projekt, Gott zu töten, formiert, sondern er hat jenen „Tod“ Gottes schon in der „Seele“ seiner Zeit vorgefunden. 34 Zum dreifachen Sinn der Rede vom ‚Todes Gottes‘ in Nietzsches Werk und Nachlaß, nämlich 1. heidnisch (den Heidegger erwähnt, vgl. Holzwege, S. 197 f.), 2. antichristlich und 3. christologisch, sogar patripassianisch, vgl. E. Düsing, Nietzsches Denkweg (s. oben Anm. 15), S. 459-495, bes. S. 461465 (notae), S. 471 f., 482-485. 35 Holzwege, S. 200-208, HB, S. 87 f. – Heidegger wird zitiert nach der Gesamtausgabe (GA), Frankfurt a.M. 1979 f. und in Einzelwerken gemäß den Siglen: SuZ: Sein und Zeit, 12. Auflage, Tübingen 1972; N 1/2: Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961; Holzwege, Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘, in: ders., Holzwege, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1972, S. 193-247; WM: Was ist Metaphysik?, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1949; HB: Über den ‚Humanismus‘, in: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ‚Humanismus‘, 2. Aufl., Bern 1954, S. 53-119. 36 Daß der Begriff der Fabel bei Nietzsche mit D.F. Strauß’ Entmythologisierung des Lebens Jesu konnotiert ist, Nietzsche sich mit Strauß geistig duelliert hat, der das historische Korrelat des Glaubens an Jesu Gottheit und Auferstehung und damit den christlichen trinitarischen Gott obsolet gemacht hat, vernachlässigt Heidegger ganz. 37 S. dazu K. Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, 2. Aufl., Göttingen 1960, S. 72-105, bes. S. 72 ff. 86-93. 38 Zur Heidegger-Deutung s. Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 3. Aufl., Pfullingen 1990; zur Angstthematik vgl. Edith Düsing, Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger, in: Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag, hrsg. von K. Hammacher, Amsterdam/Atlanta 2001, S. 21-60. 29
224 Walter Schulz erklärt, Heidegger habe bereits in Sein und Zeit alle ewigen Wahrheiten geleugnet und den Raum der Geschichte als den einzig sinngemäßen Ort für das schlechthin zeitliche Dasein befunden (Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, hrsg. von O. Pöggeler, Köln/Berlin 1970, S. 130). 40 S. dazu den Heidegger-Teil bei Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965; die Überwindung von Heideggers Existential der Angst in dem der Liebe sieht Adriaan T. Peperzak, To The Other. An Introduction to the Philosophy of Emmanuel Levinas, West Lafayette, Indiana 1993. 41 Im „Ereignis“ sind für den späten Heidegger Heiliges und Mensch aufeinander bezogen vorgestellt, und zwar, wie Hans-Jürgen Gawoll nachweist, mit Sinnbezügen auf Rudolf Ottos Religionsphänomenologie (Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 1917). Über eine psychologische Deutung des Religiösen hinaus bedeuten für Heidegger, so Gawoll, Schrecken und Entsetzen heuristische Affekte und Spezifikationen der Erfahrung des Heiligen im Tremendum und Numinosum. Der Unverfügbarkeit des Sichereignens von Sein entspricht ein oszillierendes Übergehen zwischen Schrecken und Scheu, dem das Innewerden von Nichts und Sein korreliert (Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 252 f.). 42 Vgl. dazu Klaus Düsing, „Christus und die antiken Götter in der Mythologie des späten Hölderlin“, in: Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum. Xavier Tilliette zum 85. Geburtstag, hrsg. von St. Dietzsch u.a., Berlin 2006, S. 177-190. 43 Vgl. zur Philosophie als Tragödie ohne Telos Menschliches, Allzumenschliches Aph. 33, 34, KSA 2, S. 53 f. 44 Die Herausgeber der historisch-kritischen Nietzsche-Ausgabe bestreiten überhaupt das Vorhandensein eines unvollendeten „Werkes“. Dessen Existenz hat zuerst Elisabeth Förster-Nietzsche suggeriert und unter dem besagten Titel: Der Wille zur Macht kompiliert. – Vgl. Mazzino Montinari, Textkritik und Wille zur Macht, in: ders., Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 92-119; M. Montinari, Der späte Nietzsche (1885-1889), in: ders., Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, aus dem Ital. übers. von R. Müller-Buck, Berlin/New York 1991, S. 117-124. 45 In Holzwege (S. 233 f.) bestimmt Heidegger, Nietzsche ontologisierend, dessen Begriff vom „Willen zur Macht“, der im Übermenschen kristalliert, als die klassische essentia, die „ewige Wiederkehr“ als die traditionelle existentia. – Das hyperdiffizile Ineinanderverwobensein von variierender Nietzsche-Zueignung und Heideggers Selbstdeutung in den Stadien seines Denkens zeigt erhellend W. Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in: NietzscheStudien, Bd. 10/11 (1981/82), S. 132-177. – Zu den Phasen von Heideggers 39
225 Nietzsche-Aneignung vgl. Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers (wie Anm. 38), S. 104-142. 46 Heidegger erklärt humorvoll und differenzierend, daß die Betonung der Werte und des Werthaften, die im Philosophieren nach Nietzsche populär geworden sind, zum „positivistischen Ersatz für das Metaphysische“ dient. Die „Wesensherkunft des Wertes aus dem Sein“ aber bliebe dabei durchweg dunkel (Holzwege, S. 209 ff.). 47 Holzwege S. 202 f.; mit Anspielung auf Nietzsches späteste Selbststilisierung in Ecce Homo, vgl. KSA 6, 318. 48 Vgl. dazu neuerdings: Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, hrsg. von Norbert Fischer und FriedrichWilhelm von Herrmann, Hamburg 2007. 49 Zum thematisch viel bedachten Nihilismusproblem s. Heidegger, Nietzsche. Der europäische Nihilismus. (II. Trimester 1940), Gesamtausgabe, II. Abt. Vorlesungen, Bd. 48, hrsg. von P. Jaeger, Frankfurt a.M. 1986; Heidegger, Metaphysik und Nihilismus. 1. Die Überwindung der Metaphysik (1938/39). 2. Das Wesen des Nihilismus (1946-1948); Gesamtausgabe, III. Abt. Bd. 67, hrsg. von H.-J. Friedrich, Frankfurt a.M. 1999. 50 Vgl. Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, 2. Aufl., Göttingen 1960, S. 87 ff. 51 Nietzsche sah tiefenpsychologisch Phänomene sinnverarmten Daseins im zwanzigsten Jahrhundert voraus, die Viktor Frankl im Begriff der „noogenen“ (im Unterschied zur Freudschen psychogenen) Neurose erfaßt und „logotherapeutisch“ behandelt hat. Vgl. V. Frankl, Logotherapie und Existenzanalyse, Weinheim/Basel 2002. 52 Vgl. dazu Klaus Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, KantStudien Erg.-Heft 96, 2. Aufl., Bonn 1986. 53 Zu Hegels Nihilismuskritik, die hier ausgeblendet bleiben muß, vgl. orientierend Otto Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion, in: Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts, hrsg. von D. Arendt, Darmstadt 1974, S. 307-349. – Zu Hegels Dialektik s. grundlegend Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik, 3. Aufl., Bonn 1995. 54 Aus dem Nachlaß: Zu Martin Heideggers Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, in: Heidegger und Nietzsche. Heidegger Jahrbuch 2, hrsg. von Alfred Denker etc., Freiburg/München 2005, S. 11-24. – Diese Notizen Heideggers finden sich im Nachlaß zu den Nietzsche-Vorlesungen 1936/37 gehörend. – Sigle: NLN. 55 Heidegger selbst sucht und sieht die Überwindung des von Nietzsche klar diagnostizierten Nihilismus „durch Erschütterung aus dem anderen Anfang“. Das für sich ziel- und sinnlose Dasein gründet darin, im Rückgang in den ersten Anfang bzw. in die Seins- und Wahrheitsfrage, „Da-sein als Wesungsstätte des Seins als Ereignis“ zu werden (NLN 12 f.). Dazu gehört für
226 Heidegger aber das Fragen in den Nietzscheschen „Ab-grund als eigentliche Grundfrage“; es „muß der Schritt in den innersten Grund des Nihilismus getan werden“, z.B. im Lichtwerfen darauf, auf welche brennenden Fragen Nietzsches „ewige Wiederkehr“ die Antwort darstellt (vgl. NLN 14 f.).
Rainer Noske DAS FÜNFTE EVANGELIUM Zu Nietzsches Also sprach Zarathustra1 Die vordergründige Lektüre des Zarathustra ruft kaum etwas anderes hervor, als Gefallen an Ermahnungen zu finden – und an Poesie, die herausgelöste Seiten, wie das Nachtlied, bieten. Der vorliegende Aufsatz enthält Betrachtungen zum „Grundton“ des Buches, zur Wiederholung einschlägiger, anderen Werken abgeschauter „Motive“, schließlich zum Versuch sprachlicher Erneuerung, wie er an vielen Stellen deutlich wird. Ist die „Frohe Botschaft“ damit angemessen zu verkünden? Die Frage, ob die Dichtung sprachlich gelungen sei, als „Lobgesang“, als nachträgliche, wehmütige „Lobpreisung“, als Panegyrikos, wird beleuchtet. Abschließend bietet der Aufsatz Überlegungen zur „Grundaussage“ des Zarathustra – die, so der Eindruck, hinter dem Bemühen um die treffende Form verschwindet.
1. Auslegungen Worin der philosophische Gehalt des Zarathustra eigentlich bestehe, ist in der Literatur umstritten – sogar, ob ein solcher sich überhaupt finde. Das Buch sei nicht aphoristisch, wie die meisten Bücher Nietzsches, sondern vielmehr durch seine Anklänge an Luthers Bibeldeutsch, „evangelienartig“. Sein Grundton sei entweder der des Pathos – oder ein ironischer: da in christlichem Tonfall eine antichristliche Botschaft („Gott ist tot“) transportiert werde. Die „Reden“ Zarathustras seien oftmals reiner Federkrieg, doch weniger gegen die Lehren und Theorien von Kirche, Staat, Dichtung und Wissenschaft gerichtet, als vielmehr scharfe, herablassende Kritik an jenen Personen, die Träger dieser Lehren und Theorien sind; diese Personen würden dabei typisiert und die so gezeichneten Menschentypen zu Objekten der Zu- oder Abneigung, des Hasses oder der Liebe gemacht.
228 Verkündet Zarathustra, als „Gottesbote“, eine „Frohe Botschaft“, etwa von der „Wiederkunft des ewig Gleichen“ – oder vom Tod Gottes, vom Übermenschen2, vom Willen zur Macht? Konkurriert Nietzsches „fünftes“ Evangelium mit den Evangelien? Entlehnt Nietzsche ihnen gewisse Inhalte? (Weshalb beispielsweise versteht sich Zarathustra auf Menschenfischerei?3) Die Interpreten richten ihren Blick auch auf Nietzsches Beschäftigung mit religiösen Texten und Alltagsmeinungen, durch die jene Kompositions- und Sprachformen vorgebildet wurden, die im Zarathustra wiederkehren. Und sie suchen nach philosophischen Botschaften. 2. Vorbilder, Fabel Offensichtlich ist die Verwendung von Motiven des Jugendstils im Zarathustra: Seiltänzer, Adler, Löwe, auf Waldlichtungen und Wiesen tanzende Mädchen, die Taubenschar über dem Haupt einer Figur. Dazu kommen Symbole des Hinübergehens (der Überwindung): Regenbögen, Boote, Brücken, das Überschreiten von Bergkämmen. Auf diese Weise ist eine Aneinanderreihung von Stimmungsbildern und Meinungsäußerungen entstanden. Es ist schwierig, die literarische Form, in die sie gebracht werden, zu bestimmen. Jedenfalls liegt keine Erzählung, kein Roman, kein Gedicht, allenfalls ein Lehrvortrag vor: „Für ein Drama besitzt der Zarathustra zu wenig Handlung und Geschehen, ist er zu sehr ein Werk der Thesen und der Lehre, erinnernd an ein antikes Lehrgedicht“4. Eine Erörterung, in welchem Sinne der Zarathustra ein „Sprachkunstwerk“ ist, hat bislang in der Literatur jedenfalls nicht stattgefunden. Ist er ein „Sprachkunstwerk“, weil es sich um (a) ein ästhetisch ansprechendes Objekt, (b) ein idealtypisches Exemplar einer Gattung, oder (c) den Ausdruck einer ästhetischen Idee handelt? Vorerst bleiben dies allesamt nur Verdeutlichungen, sozusagen Gebrauchsregeln für die Anwendung des Wortes „Sprachkunstwerk“. Da dieser Ausdruck keinen eindeutigen Inhalt hat, sind die Aussa-
229 gen (a) – (c) somit weder wahr noch falsch (es handelt sich allenfalls um intensionale Definitionen). – Es finden sich in der Literatur überwiegend abschätzige Urteile zur Gesamtstruktur des Zarathustra: „So sollte der Zarathustra als Ganzes genommen wohl eine Art ‚Gesamtkunstwerk‘ im Sinne Richard Wagners sein, in dem die verschiedenen Gattungen der Poesie vereinigt wären. Dies zu erreichen, ist Nietzsche nicht gelungen, denn dem Zarathustra fehlt eine organische, geschlossene Kompositionsform.“5 Zarathustra, der „Weise aus dem Morgenlande“, wie er in der Dichtung genannt wird,6 ist als 30jähriger ins Gebirge gegangen, hält sich dann zehn Jahre dort auf. Schließlich ergreift ihn der Wunsch, die Botschaft vom Übermenschen zu verkünden. Dazu begibt er sich unter Menschen, auf den Marktplatz in die Stadt am Rande der Wälder. Dort haben sich Menschen versammelt, um der Artistik eines Seiltänzers zuzuschauen. Der aber stürzt ab und stirbt. Zarathustra findet kein Gehör. Er verläßt den Ort. (Vorrede – erzählte Zeit: ein Tag und eine Nacht) Im ersten Teil findet Zarathustra Gefährten („Jünger“), nachdem sich zuvor nur Tiere zu ihm gesellt haben (ein Adler, eine Schlange – Stolz und Klugheit verkörpernd). Zarathustra hält Reden in der Stadt „Die bunte Kuh“. Er verkündet einige seiner Gedanken, zum Beispiel über Freundschaft, seine Kritik an der Moral (genauer am Mitleid). Dann nimmt er Abschied von seinen Gefährten, auch weil er will, daß sie über seine Worte nachdenken, und kehrt ins Gebirge zurück. Der zweite Teil zeigt Zarathustra als Lehrer auf den „glückseligen Inseln“. Er trifft Bettler, Krüppel und unter anderem einen Wahrsager, der behauptet, daß alles Leben leer und vergeblich sei. Hier ist Zarathustras Hauptthema der „Wille zur Macht“. Er lehrt seine Zuhörer, daß sie sich nicht mit Unvergänglichem, Unbeschreiblichem (Gott), sondern dem Werdenden wie auch Vergehenden befassen und ihm einen Sinn geben sollen. Bis hierhin zeigt das Buch Zarathustras öffentliches Auftreten – obgleich bereits viele Selbstgespräche („Selbstgesänge“) neben den Reden stehen. Einen Einschnitt markiert
230 „Die stillste Stunde“, der Schlußteil des zweiten Teiles des Zarathustra.7 Der dritte Teil (Zeitraum des ersten, zweiten und dritten Teiles: unbestimmt, mehrere Jahre) bringt den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Dieser Gedanke soll bejaht werden („amor fati“). Vor der Verkündung dieses Gedankenpaares fährt Zarathustra mit dem Schiff von einer der glückseligen Inseln wieder aufs Festland. Seine Rückkehr in das Gebirge führt ihn durch mehrere Städte, wo er nochmals zur Menge (statt nur zu seinen Jüngern) spricht. Doch ist, wie gesagt, die Zeit seines öffentlichen Auftretens vorbei; es sind nur noch Nebenbemerkungen, die Zarathustra anderen gegenüber macht. Die Lehre von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ scheint die mächtigste, die herausforderndste aller bisher geäußerten Ansichten zu sein. Zarathustra faßt seine Gedanken zusammen, als Inschriften auf Gesetzestafeln („Von alten und neuen Tafeln“).8 Er akzeptiert, daß nicht nur die guten Seiten des Menschen, sondern auch schlechte wiederkehren werden. Der letzte, vierte Teil (Zeit: Vormittag bis zum folgenden Tagesanbruch) zeigt die Hauptfigur als Greis. Zarathustra versammelt „höhere Menschen“ um sich und feiert mit ihnen in seiner Gebirgshöhle ein Fest, einen Tanzabend – ein „Abendmahl“. Er hält eine Ansprache vor den Versammelten. Als Zarathustra das Höhlenfest kurz verläßt, beten die anderen einen Esel an: das Abendmahl ist zum Narren- und Eselsfest geworden.9 „Die Eselsfest-Inszenierung erweist sich […] als Zweitauflage des Tanzes ums Goldene Kalb und die Litanei als neutestamentliche Parodie; der letzte Papst [einer der Teilnehmer am Höhlenfest, R. N.] gibt mit dem Hinweis: ‚Lieber Gott also anbeten, in dieser Gestalt, als in gar keiner Gestalt!‘ […] ausdrücklich eine ideologische Legitimation“, wie Renate Reschke10 feststellt. Zarathustras letzte Aufgabe ist die Einsicht in sein vorläufiges Scheitern als Lehrer. Er braucht andere Gefährten. Mit neuer Hoffnung und Sehnsucht erfüllt, steht er am nächsten Morgen wieder vor seiner Gebirgshöhle (wie in der Eingangsszene der Dichtung), seiner Zukunft, der Ankunft des „großen Mittags“, erwartungsvoll entgegensehend.11
231 3. Das Deutsch der Luther-Bibel im Zarathustra „[I]m Stile der Verkündigung“ spreche Nietzsche im Zarathustra.12 Das sprachlich Eigentümliche, Besondere des Buches ist oft hervorgehoben worden – worin genau besteht es eigentlich? Hierzu werden in der Literatur wenige, allgemeine Bemerkungen gemacht. Eine Deutung im Sinne einer „Eulogik“ und einer Freisetzung „eulogischer Energien“ bietet Peter Sloterdijk an: „Nietzsche gibt zu verstehen, daß der Begriff ‚Evangelium‘ als solcher bisher nur mit falschen Beispielen aufgefüllt war […] Die alte Evangelien-Vierheit ist in seiner Sicht nichts anderes als ein Handbuch für das Schlechtreden der Welt […], verfaßt und ausgelegt von der machtsüchtigen Kaste par excellence des metaphysischen Weltalters, den Priester-Theologen, den Advokaten des Nichts“13. Stimmt man dem zu, so wären die sprachlichen Übernahmen aus den Evangelien im Zarathustra, als einem „Kontrastevangelium“14, vor allem als Stilmittel der Ironie zu begreifen. – Die Sprache des Buches ist vielmals gekennzeichnet worden, doch wiederum in einiger Vagheit: Man könne „in seiner halb singenden, halb schreienden, bald bedächtigen, bald stürmischen, oft hohen, bisweilen platten Sprache umhertaumeln“15. Ich möchte in diesem und den beiden folgenden Abschnitten einige Merkmale benennen – und eine sprachliche Eigentümlichkeit später interpretieren. In sein „fünftes Evangelium“16 hat Nietzsche, wie bekannt, verschiedene Ausdrücke und Satzformen der Luther-Bibel übernommen. Dies soll anhand des Markus-Evangeliums noch einmal belegt werden. Dazu führe ich aus diesem Evangelium einige Ausdrücke, Sätze und Satzanfänge an, welche sich so oder so ähnlich in allen EvangelienTexten der Luther-Bibel finden: „Und es begab sich zu der selbigen Zeit, daß […]“; „Und da geschah eine Stimme vom Himmel […]“; „Am abend aber da die Sonne untergegangen war […]“; „Und des morgens fur Tage [stund er auff], und gieng hinaus“; „Und es begab sich, da er wandelte […]“; „Wahrlich, ich sage euch“; „Wer Ohren hat zu hören, der höre“; „Und siehe, da kam
232 […]“; „Aber also soll es unter euch nicht sein“; „Und des andern Tages, da […]“.17 Sehr häufig auch: „Und er sprach [also] zu ihnen, […]“ und vorangestelltes oder in den Satz eingebautes „siehe!“. Die letzten beiden Eigenheiten finden sich im Zarathustra allenthalben.18 Neben der wortwörtlichen Übernahme19 findet sich öfters eine mit geringer Abwandlung des Wortlautes oder der grammatischen Struktur: „da wunderte er sich, und sagte […]“; „Seht mir doch […]“ (Vom neuen Götzen); „Um jene Zeit nun […] geschah es, daß […]“ (Von großen Ereignissen); „Um die gleiche Zeit, als […], lief das Gerücht umher, daß […]“ (ebd.); „So laßt mich denn euch die Wahrheit sagen!“ (Vom Krieg und Kriegsvolke); „Und damals geschah es auch […], daß […]“ (Von den drei Bösen); „Am Abende aber des zweiten Tages tat er seine Ohren wieder auf […]“ (Vom Gesicht und Rätsel 1); „also daß es mich erbarmte“20 (Vom Gesicht und Rätsel 2); „siehe, da verwandelte sich mit einem Male […]“ (Der Wahrsager). – Warum hat Nietzsche gerade diese Ausdrücke in seinen Zarathustra übernommen – und sie in seinem Buch mehrfach wiederholt? Warum also, zum Beispiel, die übermäßige Verwendung von sich begeben und geschehen (aber kaum einmal sich zutragen, sich ereignen, vorgehen, vorfallen, passieren)? Haben diese Ausdrücke im Zarathustra jene Bedeutung, die sie in der Luther-Bibel haben? Bezeichnet also sich begeben ein Geschehen, das mehrere Folgen hat – sozusagen Ausgangspunkt einer neuen Geschichte sein kann (während vorfallen und sich zutragen besagen, daß etwas plötzlich und unvermutet aufgetaucht ist)?
4. Der Wortschatz im Zarathustra Nietzsches Worte, „ich bilde mir ein, mit diesem Zarathustra die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun“21, erscheinen vermessen. Es ist fraglich, ob durch „Kraft, Ge-
233 schmeidigkeit und Wohllaut“22 allein ein Sprachkunstwerk entsteht. Nietzsche belebte im Zarathustra alte Wörter wieder und schuf einige neue: Er verwendet das Adjektiv zu Grind, grindig (Von der verkleinernden Tugend 3), zum Adverb „umsonst“ bildet er das Adjektiv umsonstige (Die Begrüßung), zu „neugierig“ altgierig (Von den drei Bösen 1), außerdem ungewöhnliche Adjektive, zum Beispiel stotzig (Von den Gelehrten). Ebenso gebraucht er alte Verbformen, etwas ward erfunden, „Zarathustra aber sahe das Volk an“ (Vorrede 4), „daß ihr […] rechtfertiget!“ (Vom bleichen Verbrecher), „damit du erfahrest, wie […]“ (Vom Freunde), „wohin du beißest“ (Von den Taranteln); ebenso ungewöhnliche Adverbien, darob, alsda, daselbst, fürderhin; und Nebensatzeinleitungen, wie wofern oder dieweil; seltene Fügungen schließlich, z.B. zu Schiff gehen (Von großen Ereignissen) oder zu Schiff steigen (Der Wanderer). Er gebraucht Verben wie görgeln,23 bildet neue, wie mutwillen (Auf dem Ölberge), bösern (als Gegensatz zu „bessern“ – Vom Vorübergehen), jemanden bemitseufzen (Auf dem Ölberge), und neue Hauptwörter, wie Langgeohrte, Kurzgeäugte, Überheiße (Vom neuen Götzen). Oft verläßt sich Nietzsche aber auf die Wirkung herkömmlicher rhetorischer Mittel.24 So auf die Personifikation: ein Baum horcht auf (Von den Fliegen des Marktes), „Neugierde und Schrecken werden müde“ (Vorrede 7), die Wahrheit „schreit überlaut“ (Von alten und neuen Weiblein), die „wilde Weisheit […] läuft närrisch durch die harte Wüste“ (Das Kind mit dem Spiegel), „das Leben […] hielt sich […] die zierlichen Ohren zu“ (Das andere Tanzlied 2), usw.; desgleichen auf das Hyperbaton: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes“ (Von den drei Verwandlungen), „Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen“ (Auf den glückseligen Inseln), und vor allem auf den Parallelismus. In dieser Anhäufung rhetorischer Mittel finden auch mehrfach figurae etymologicae Platz: so hält Zarathustra keine Rede, sondern „redet“ sie (Von der verkleinernden Tugend 1), man kann im Zarathu-
234 stra den „Versucher versuchen“ (Von den drei Verwandlungen), „wählerisch wählen“ (Von Kind und Ehe), „ein Gelächter lachen“ (Von den Taranteln), einen „Kampf kämpfen“ (Von den Taranteln), „in südlichere Süden […] fort[]schweben“ (Von der Menschen-Klugkeit), das „Verachten verachten“ (Vom Vorübergehen), usw.25; ebenfalls Oxymera, so die „röchelnde Todesstille“ (Der Wahrsager), oder daß „es ohne Stimme zu mir [sprach]“ (Die stillste Stunde). – Zu den sprachlichen Neuerungen und dem Gebrauch von Stilfiguren und deren Bedeutung im Zarathustra finden sich in der Literatur wiederum nur wenige, allgemeine Bemerkungen.
5. Eine gelungene Dichtung? Hier soll kein Gesamturteil zur sprachlichen Bedeutung des Zarathustra gefällt werden.26 Doch offensichtlich bröckelt der Sprachbau des Zarathustra. Er enthält falsche Zitate und Ausdrucksfehler. Dafür einige Beispiele. Es heißt: „Das aber glauben alle Dichter – daß wer im Grase oder an einsamen Gehängen liegend die Ohren spitze, etwas von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel und Erde sind“. Und: „Ach, es gibt so viele Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich nur die Dichter etwas haben träumen lassen!“ (Von den Dichtern) Bei Shakespeare aber: „There are more things in heaven and earth, Horatio,/ Than are dreamt of in our philosophy“27. In der Übersetzung A.W. Schlegels: „Es giebt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden,/ Als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio“. Die Konstruktionen sind mitunter sonderbar: „Tausend Pfade gibt es, die nie noch gegangen sind“ (Von der schenkenden Tugend 2); „Aber der Mensch nur ist sich schwer zu tragen!“ (Vom Geist der Schwere 2). „Einst“ wird falsch gebraucht (statt „dereinst“)28, ebenso „seit“ (Von den Priestern). Die „Bildlichkeit“ entpuppt sich hier und da als Mißgriff29: „gleich einem Abendrot um die Erde“ (Vom freien Tode), „der volle Mond […] eine run-
235 de Glut“ (Vom Gesicht und Rätsel 2); „zur frühen Stunde, da […] die Rosse warm durch graue Gassen wiehern“ (Auf dem Ölberge); „[…] einer Wolke gleich fiel es über ihn her, einer Wolke von Pfeilen gleich […] Aber siehe, hier war es eine Wolke der Liebe […]“ (Das Zeichen). Stellenweise werden Wörter, wie „Welt“ oder „Grund“ oder „Weg“, als bloßer Klingklang gebraucht: „während die Tiere draußen in der Welt herumschweiften, daß sie neue Nahrung heimbrächten“. Die Verbindungen vieler Textteile wirken willkürlich oder mißglückt. Ein Beispiel: Zarathustra läuft abends um die Stadt „Die bunte Kuh“ herum und stößt auf einen „Jüngling“, der „an einem Baum gelehnt saß und müden Blickes in das Tal schaute“ (Hervorh. R. N.). Zarathustra spricht ihn mit drei Sätzen an – und „[d]a erhob sich der Jüngling bestürzt und sagte: ich höre Zarathustra und eben dachte ich an ihn“ (Hervorh. R. N. – Vom Baum am Berge). An Zarathustra zu denken – ermüdet? Zudem können (a) Geschmacklosigkeiten und (b) Albernheiten und neckische Bemerkungen den Leser verwundern. Ad (a): „ ‚Unter drei Augen gesprochen‘, sagte erheitert der alte Papst (denn er war auf einem Auge blind) […]“ (Außer Dienst). Ad (b): „Als er (sc. Zarathustra) aber um sich spähete und nach den Tröstern seiner Einsamkeit suchte: siehe, da waren es Kühe, welche auf einer Anhöhe bei einander standen; deren Nähe und Geruch hatten sein Herz erwärmt“ (Der freiwillige Bettler). Beim bunten Abend in seiner Höhle sagt Zarathustra zu seinen Gästen: „Auch seid ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren.“30 (Die Begrüßung) Auf den „alten und neuen Tafeln“ lautet eine von Zarathustras neuen Verhaltensregeln: „Ich liebe die Tapferen: aber es ist nicht genug, Haudegen zu sein, – man muß auch wissen Hau-Schau-Wen!“ (Von alten und neuen Tafeln 21) Eine „Offenbarung“ des Zarathustra lautet: „Das Beste gehört den meinen und mir; und gibt man’s uns nicht, so nehmen wir’s: die beste Nahrung31, den reinsten Himmel, die stärksten Gedanken, die schönsten Fraun!“ (Das Abendmahl)
236 6. Leitlinien dieser Dichtung Die sprachliche Natur des Zarathustra erschöpft sich jedoch nicht in der Übernahme von Eigentümlichkeiten des LutherDeutschen und im übertriebenen Einsatz stilistischer Mittel. Es scheint, daß der Sprachstil noch durch etwas anderes gesteuert wird;32 daß die deutsche Poesie des Zarathustra aus etwas anderem erwachsen ist.33 Merkmale dieser Sprache sind: (1) Beschränkung auf Worte, die wahrnehmbare Handlungen beschreiben; (2) Beschränkung auf Wörter, die in der Sprachgeschichte aus eigener Quelle entsprungen sind; (3) Das strenge Stilprinzip der „Brevitas“. Letzteres zu beachten, gelingt Nietzsche in seinen anderen Schriften nicht immer, er gebraucht dann Anführungszeichen oder drei Punkte. Die Poesie des Zarathustra erlaubt dies nicht. Hier muß die Formulierung fertiggebracht, die grammatische Fügung beendet werden. Ad 1) Zarathustra spricht die Sprache des sinnlich-anschaulichen Seh- und Tastraums – beispielsweise erfaßt oder erkennt Zarathustra keine Wahrheit, er, der „der Dinge Grund schaun [will] und Hintergrund“ (Der Wanderer), „sieht“ oder „erblickt“ sie (z.B. Vorrede 9). Ad 2) Zum anderen sagt Zarathustra den Fremdwörtern ab – es findet dadurch im Zarathustra eine, wenn man so will, Versprachlichung statt: der „Parasit“ ist der Schmarotzer, der „Prophet“ der Verkündiger, der „Eremit“ der Einsiedler, der „Tyrann“ der Bändiger, „Asketen“ sind Büßer, Laue (Von den berühmten Weisen), „Dignitäten“ Achtbarkeiten (Von den Gelehrten), „Perfiditäten“ Falschheiten, „Regenten“ Länderhüter (Vom Geist der Schwere), das „Labyrinth“ ist ein Irr-Schlund (Vom Gesicht und Rätsel – Von der Wissenschaft: Irr-Schlünde).34 Ad 3) Brevitas. „[I]n […] Sprüchen schreib[en]“ (Vom Lesen und Schreiben), ist der Arbeit des Bildhauers vergleichbar, nur meißelt der Sprachbildner an einer lebendigen Brust: am Gedächtnisreservoir einer Sprachgemeinschaft. Die Brevitas bedarf (a) der „Zusammenziehung“ als auch (b) des Wohlklangs. Ad (a) Das Deutsche bietet, um die Gesamtheit der unter ein Ab-
237 straktum fallenden Konkreta zu bezeichnen, die Lösung an, das Partizip Präsens zu substantivieren und ihm das Zahlwort „alle“ voranzustellen: „Zarathustra liebte es, allem Schlafenden ins Gesicht zu sehen“ (Vorrede 8 – Von den Mitleidigen: „alles Leidende“; Auf den glückseligen Inseln: „Alles Fühlende“). Ein Beispiel für (b): Nietzsche ersetzt helle Vokale (i, e) durch dunkle (o, u) oder, wo zwei dunkle aufeinanderfolgen, ein u durch ein o, was die Klangfarbe ändert. Hierfür ist fast der gesamte Text ein Beispiel. Man vergleiche den allerersten Absatz auf der ersten Seite des Zarathustra (60 Wörter): das Deutsche erreicht diese Vokalfülle durch das Imperfekt seiner starken Verben – Nietzsche verwendet es häufig: Verließ, ging, genoß, stand auf, trat vor […] hin, sprach.35 Vielleicht ist der Zarathustra eine Dichtung, hinter welcher der Antrieb steckt, die bisherige, die vorgegebene Begrifflichkeit (also eine „Wiederkehr“ der Begriffsbildung, die uns bei ihren Ergebnissen, eben den Begriffen, stets fragen läßt: „Was ist x?“) durch eine überreiche Bilder- und Gleichniswelt zu umgehen, deren Mosaiksteine spruchreif aneinandergefügt werden.
7. Philosophische Gedanken? Viele der im Zarathustra enthaltenen Ratschläge zur Lebensführung können den Leser erstaunen. Weshalb geht man „in die Wüste“ und leidet „mit Raubtieren Durst“? Auskunft ebenda: „mancher […] wollte nur nicht mit schmutzigen Kameltreibern um die Zisterne sitzen“ (Vom Gesindel). Solche Mitteilungen stehen für sich – auch wenn ein Interpret hier – germanistisch korrekt – zwischen dem Autor Friedrich Nietzsche, dem (auktorialen) Erzähler und seiner Hauptfigur Zarathustra (personaler Perspektive) unterscheiden will – und einer der letzten beiden Erzählstandpunkte als mit öden Gedanken behaftet gekennzeichnet werden sollte. Wenden wir uns den Grundgedanken des Zarathustra zu und
238 versuchen wir, ihren Gehalt zu entdecken. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft sei die „Grundconception“ des Buches36: „Jedenfalls aber ist die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘ die ‚Grundkonception‘ des Zarathustra […]. Sie ist die Botschaft, mit Hilfe derer Nietzsche den Nihilismus überwinden und den ‚Übermenschen‘ zur Selbstgesetzgebung ermuntern will. Der Paradoxalität solcher Aufforderung zur Selbstgesetzgebung ist Nietzsche sich bewußt“, schreibt Ottmann (Ottmann, S. 51).37 Denn könnte es eine Selbstgesetzgebung geben ohne Kenntnis der Bedingungen, denen sie unterliegt? Eine solche Kenntnis aber würde den Ablauf dessen, was wiederkehrt, verändern. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr „würde sich offensichtlich selber aufheben“, gibt Stegmaier zu bedenken: „Denn wenn alles ewig wiederkehrt, kann man nicht wissen, daß es ewig wiederkehrt, denn mit diesem Wissen hätte sich ja schon etwas verändert“ (Stegmaier, S. 217/18). Nietzsches Formulierung läßt sich wegen ihrer Unbestimmtheit kaum auf den Punkt bringen. Was ist unter „allem“ zu verstehen? Gedanken? Das Gedankengebäude der Relativitätstheorie als Besitz des Urmenschen, lange verschollen, dann wieder gedacht, erfaßt, verstanden? Gegenstände, materielle, immaterielle? Die heutige Anzahl der Menschen nur eine Wiederholung? Alle Wünsche schon einmal gehegt? Den, in der U-Bahn nicht wieder angepöbelt zu werden? – Das wäre seltsam. Vielleicht ist das „wiederkehren“ nur so zu verstehen: als die Wiederkehr einer Möglichkeit – wie einer, die durch eine Spielsituation während eines Schachspieles eröffnet wird? Eine physikalische oder erkenntnistheoretische Deutung des Diktums erscheint, wie gesagt, kaum möglich. Bliebe eine moralische. Vielleicht ist es als moralische Forderung zu verstehen, die jeder an sein Handeln stellen soll: Handle so, als ob Du damit rechnen müßtest, daß diese Situation, in der Du nun xy tust, in ihrer Konstellation wiederkehrt und Du erneut vor sie gestellt wirst: willst Du xy dann wieder tun? Eine solche Interpretation diskutiert Bernd Magnus (A Bridge too far. Ascetiscism and Eternal Recurrence, S. 285-321). Eine physikalische Deutung des Grund-
239 gedankens hält auch er für eine sich selbst aufhebende Auffassung: „Der Begriff der Wiederkehr identischer, datierbarer Ereignisse, genauer der Begriff wiederkehrender, datierbarer identischer Zeiten ist ein […] Oxymoron […]“ (Magnus, S. 299 – Übersetzung, auch des folgenden Zitats, R. N.). Die (oben angesprochene) „moralphilosophische“ Deutung hält er ebenfalls für problematisch: „Denn dann wäre jemand dazu aufgefordert, sich so zu verhalten, wie er sich schon unendliche Male bei früheren Wiederkehren verhalten hat […]. Damit erforderte die Annahme, daß die Wiederkehr wahr ist, ein Verhalten, als ob dieser Moment, in dem man lebt, zugleich der ist, in dem man eine unendliche Anzahl von vorhergehenden Wiederkehren gelebt hat“ (ebd.). Vielleicht wäre hier eine Unterscheidung nötig. Der Wiederkunftsgedanke soll wohl nur für Handlungen gelten, die moralisch bedeutsam sind; also zum Beispiel beim Niederschreiben eines Textes keine Rolle spielen (vgl. Magnus’ Beispiel, S. 300). Will man etwas erreichen (einen Zweck durchsetzen), so sind dafür gewisse Mittel nötig. „Zweck“ und „Mittel“ aber gelten nicht von einer Gesamtsituation, sondern nur von einzelnen Gegenständen in einer solchen: denn wäre die Gesamtsituation ein Mittel, so müßte, bei der Unendlichkeit der bereits verflossenen Zeit, jeder erreichbare Zweck schon längst erreicht worden sein. Ist die (wiederkehrende) Situation also einem Schachspiel ähnlich? Der gleiche Zustand (Stellung der Figuren) erlaubte, zur Erreichung desselben Zweckes (Gewinn des Spieles), verschiedene Mittel (Bewegung verschiedener Figuren)?38
8. Stellt Zarathustra Lehrsätze im Wortlaut auf? Ein Interpretationsvorschlag Zarathustra wird jeweils eingefügt in eine Situation, z.B. des Gesprächs, der Wanderung, des Abwartens. Nacheinander wird wahrgenommen, was ihn umgibt. Dies machen verschiedene sprachliche Mittel kenntlich, z.B. die Nachstellung des Beiwor-
240 tes: „Mein Herz, auf dem mein Sommer brennt, der kurze, heiße, schwermütige, überselige […]“ (Vom Gesindel). Konjunktionen oder Adverbien, die etwas abwägen oder einräumen oder Gründe angeben („obwohl, weil, deshalb“, u.a.) fehlen – sie werden durch bloß anknüpfendes „und“ ersetzt. Ausdrücke, die zur Wiedergabe logischer Beziehungen dienen, werden, wo sie überhaupt einmal auftauchen, bildlich gebraucht: „mein Heute widerlegt mein Gestern“ (Vom Baum am Berge; Herv. R. N.) In der älteren Forschungsliteratur sind schon einige Male Beispiele für die besonderen Sprachformen im Zarathustra gegeben worden – allerdings ohne Interpretation der Befunde. Im Folgenden soll eine Besonderheit herausgestellt und interpretiert werden. Nietzsche deutscht Fremdwörter, obwohl diese fest eingebürgert waren, ein, z.B. wird der „Regent“ durch den Länderhüter ersetzt (s. oben): offensichtlich will Nietzsche, daß die gedankliche Verbindung mit einer Person, die andere behütet, vorgenommen wird. Der „Tyrann“ wird zum Bändiger (s. oben): zu jemandem, der eine (erlaubte, erwünschte) (Tier-)Dressur vornimmt. Zarathustra, als jemand, der das „Herrenrecht, Namen zu geben“, genießt (Genealogie der Moral I, 2; Von der großen Sehnsucht), nimmt hier (positive) Neubewertungen vor. Er geht dabei so weit, gängige Begriffe (die sonst der „Tatsachen“-Beschreibung der Wissenschaften dienen) auf ihre – vermeintliche – Grundbedeutung zurückzuführen, z.B. zusammengesetzte Nomina: „Oh Wille, Wende aller Not, du meine Notwendigkeit!“ (Von alten und neuen Tafeln 30); „Dies Suchen nach meinem Heim […] war meine Heimsuchung“ (Der Schatten), u.a.39 – Zarathustra akzeptiert offensichtlich die begrifflichen Vorgaben der – philosophischen, moralischen, alltagssprachlichen – Sprachtradition nicht mehr. Mit welchem Recht geschieht dies? Zarathustra „sieht“ oder „erblickt“ Wahrheiten (s. oben): besitzt er eine intellektuelle Anschauung?40 Oder liegt nur in dichterischer, expressiver Kraft eine befriedigende Erkenntnis?
241 9. Fazit Die Interpretationsliteratur versäumt es, den philosophischen Gehalt des Zarathustra zu bestimmen. Die „Argumente“ des Zarathustra scheinen nur im Äußern von Wünschen, Hoffnungen, Verballhornungen, Liebeserklärungen oder Ablehnung („Was liegt an …!“; „Und hüte dich vor …!“ usw.) zu bestehen. Eine greifbare eigene Sichtweise (der Hauptfigur) wird nicht deutlich. Nimmt man die Adjektive „groß, hoch, tief, rein“ und ihre Steigerungsformen weg, so bleiben für eine solche, gar für eine „Lehre“, kaum Bausteine übrig. Ein Autor spricht davon, daß der „zwiespältige […] Charakter als antichristliche Heiligenlegende und als philosophische Illustration der in den Aphorismenbüchern aufblitzenden Gedanken“41 eine Interpretation des Buches erschwert. Aber Gedanken, die nur aufblitzen, können wohl kein Gegenstand philosophischen Nachdenkens sein. Bliebe die „antichristliche Heiligenlegende“. Aber handelt es sich um eine solche? Kann durch bloßes Deklamieren und Überraschenwollen eine entstehen? Anmerkungen 1 Aus der Fülle der Interpretationsliteratur sei folgender Titel herausgegriffen, der insofern hervorsticht, als er den gesamten Textbestand des Zarathustra betrachtet: Volker Gerhardt (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Akademie Verlag (Reihe Klassiker auslegen, Bd. 14), Berlin 2000, XII+408 S. Dieser von Volker Gerhardt herausgegebene Sammelband enthält neben einem kurzen „Vorwort“ (IX-XI) des Herausgebers dreizehn Beiträge (von zwölf Autoren – Volker Gerhardt ist mit zwei Arbeiten vertreten), zwei davon in englischer Sprache (Alexander Nehamas, Bernd Magnus). Zwei Beiträge sind bereits früher veröffentlicht worden (Jörg Salaquarda, Werner Stegmaier), die anderen elf sind Erstdrucke. Das Buch verstehe sich, so der Herausgeber im Vorwort, als „Hilfsmittel für die philosophische Lektüre des Textes“ (X) und beschäftige sich vornehmlich mit „de[n] großen Themen“ des Zarathustra: „Übermensch, Wille zur Macht, Umwertung und ewige Wiederkunft“ (XI). 2 Der Ausdruck „Übermensch“ war lange vor dem Zarathustra in der Literatur benutzt worden – der bekannteste Fall:
242 „Geist. Du flehst eratmend mich zu schauen. Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn; Mich neigt dein mächtig Seelenflehn, Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?“ J.W. von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, V. 486-490. 3 Zarathustra, Vorrede 7; Das Honigopfer; passim. – Marcus I 17, Matthäus IV 19. 4 Henning Ottmann, Kompositionsprobleme von Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, in: Volker Gerhardt (Hrsg.), [wie Anm. 1], S. 47-67; S. 63. „Die ‚Handlung‘ bleibt ereignisarm und blaß; sie umrahmt vor allem Gespräche, Lehren und Gedichte“, wie auch Werner Stegmaier feststellt, ders., Anti-Lehren, S. 191-224; S. 194. 5 Vgl. Siegfried Vitens, Die Sprachkunst Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra, Walter Dorn, Bremen 1951, S. 66. 6 Die Begrüßung – es sind Worte des beim „Abendmahl“ in Zarathustras Höhle anwesenden Königs. 7 Eine solche Zweiteilung des Zarathustra – öffentliches Auftreten als Lehrer, Rückzug in die Privatheit und Einsamkeit – sieht auch Alexander Nehamas (ders., For whom the Sun shines, S. 165-190; S. 171), doch glaubt er, der Einschnitt liege im Kapitel Der Wahrsager, „wo er (sc. Zarathustra) zum ersten Mal eine Version des Gedankens der ewigen Wiederkehr hört, angeboten als Grund dafür, nichts in Angriff zu nehmen, weil ‚Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“ (S. 171; Übersetzung R. N.). 8 Man möchte in der von Beatrix Himmelmann gegebenen Zusammenfassung der Handlung (Zarathustras Weg, S. 17-45) solche Aussagen missen: „Unterdessen hat Zarathustra viel Zeit, und da niemand ihm etwas erzählt, erzählt er sich selbst etwas“ (S. 38). 9 Inhalt und Sprache des vierten Teiles sind anders als Inhalt und Sprache der ersten drei. Kurz und knapp bemerkt Ottmann zum „Separatum des Teils IV“ (S. 63): „Der Ton ist […] fast schon karnevalistisch, possenhaft, burlesk“ (S. 62). 10 Dies., Die andere Perspektive. Ein Gott, der zu tanzen verstünde. Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im Zarathustra, S. 257-284; S. 272. 11 So unklar die Zukunft und die Erwartungen der Hauptfigur sind, so ratlos sind manche Autoren. Josef Simon schreibt: „Für Nietzsches Zarathustra gilt [das] platonische Ideal der Einigkeit im allgemeinen Selben offensichtlich nicht. Zarathustra kehrt am Ende aus der Zuwendung zu den Menschen wieder in seine Einsamkeit zurück. Als ‚öffentlicher‘ Lehrer ist er gescheitert“ (ders., Ein Text wie Nietzsches Zarathustra, S. 225-256; S. 244). Was hat denn der Privatmann Zarathustra gelernt? 12 Himmelmann (wie Anm. 8), S. 17. 13 Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes ‚Evangelium‘, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001, S. 31. 14 Peter Sloterdijk (wie Anm. 13), S. 32.
243 Martin Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Neske, Stuttgart 1994, S. 97-122; S. 97. 16 Brief Nietzsches an den Verleger Ernst Schmeitzner vom 13. Februar 1883; KGB III 1, S. 327. Wie das Briefdatum zeigt, hat Nietzsche das vom ersten Teil des Zarathustra gesagt. In einer Nachlaßnotiz aus den Jahren 1886/87 spricht Nietzsche allerdings vom „Zarathustra-Evangelium“ (Nachgelassene Fragmente, 6/4; Bd. 12, S. 234). 17 Markus I 9; I 11; I 32; I 35; II 23; III 28; IV 9; V 22; X 43; XI 12. 18 Jedoch spricht Jesus zu seinen Jüngern, Zarathustra „zu seinem Herzen“. 19 Wer Ohren hat [zu hören], der höre“ (Vom Gesicht und Rätsel 1; Von den Abtrünnigen 2; Von alten und neuen Tafeln 16), Markus IV 9; „Et dicebat: ‚Qui habet aures audiendi, audiat!“. Matthäus XI 15: „Qui habet aures, audiat“. – „Und siehe, es fand sich, daß […]“ (Von der Seligkeit wider Willen); „Und siehe, dabei kam er […]“ (Vom Vorübergehen). 20 Markus I 41: „Und es jammerte Ihesum“. 21 Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar 1884, KGB III 1, S. 478. 22 Ebd. 23 Von alten und neuen Tafeln 15. Es wird häufiger ohne Umlaut geschrieben (gorgeln) und ist eine Nebenform zu „gurgeln“, letzteres eine Bildung zum Hauptwort „Gurgel“, und hat die Bedeutung „jemanden würgen, jemandem an die Gurgel gehen“. 24 Eine Auflistung dieser Mittel findet sich bei Hans Weichelt, Zarathustra-Kommentar, Leipzig, 2., neubearbeitete Auflage 1922, S. 263-288. 25 Vgl. Siegfried Vitens (wie Anm. 5), S. 77. 26 Nietzsches Rede vom Einsatz „neue[r] […] Kunstmittel“ im Zarathustra (Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 4) erscheint in formaler wie inhaltlicher Hinsicht überzogen. Die inhaltliche Flaute, welche in Worten sichtbar wird wie diesen, daß es Zarathustra wie jemandem ergehe, der „über schwere Dinge nachdenkt“, oder daß er wie einer handle, der „von fernen Dingen träumt“ (Der Blutegel), und anderem, ist an mehreren Stellen offensichtlich. Einige Betrachtungen – „sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt […] sich jeder Ring“ (Von den Tugendhaften); „Und Zarathustra lief und lief und fand niemanden mehr und war allein und fand immer wieder sich […] und dachte an gute Dinge, – stundenlang“ (Mittags) – versprechen große Ereignisse, und beschreiben solche: „Um jene Zeit nun […] geschah es, daß ein Schiff an der Insel Anker warf […] und seine Mannschaft ging ans Land, um Kaninchen zu schießen“ (Von großen Ereignissen). 27 Shakespeare, Hamlet I 5. 28 Zum Beispiel Von der schenkenden Tugend 2. 29 Ecce Homo, Also sprach Zarathustra 6: „diese Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“. 30 Und weiter: „Ihr selber seid die nicht, welchen mein Erbgut und Name zugehört.“ (ebd.) 31 Zarathustra ist, was für mitteilenswert gehalten wird, Fleischesser: „Brot? Entgegnete Zarathustra und lachte dazu. […] Aber der Mensch lebt 15
244 nicht vom Brot allein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer, deren ich zwei habe.“ Dazu das Kochrezept: „– die soll man geschwinde schlachten und würzig, mit Salbei, zubereiten: so liebe ich’s.“ (Das Abendmahl) Vgl. Der Genesende: „Zu seinen Füßen aber waren zwei Lämmer gebreitet, welche der Adler mit Mühe ihren Hirten abgeraubt hatte.“ Vgl.: „Alles in diesem Buch ist mit Bedeutung schwer beladen“ (Volker Gerhardt, Die Erfindung eines Weisen, S. 1-15; S. 2). 32 Was Nietzsche allgemein zum „Stil“ sagt, ist wenig klar, vgl. Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 4: „Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen, mitzuteilen – das ist der Sinn jedes Stils. […] Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mitteilt, der […].“ 33 Sprachlich verdiente der Zarathustra eine gründliche Interpretation. Von den „stilistischen Strategien Nietzsches“ spricht Vivetta Vivarelli (dies., Umkehr und Wiederkehr. Zarathustra in seinen Bildern, S. 323-350; S. 325). Diese ließen sich, so Vivarelli, „letztendlich auf das Umkehrspiel zurückführen: […] die Tiefe, die sich mit Oberflächlichkeit, die Weisheit, die sich mit Tollheit, die Wärme, die sich mit Kälte, das Leiden, das sich mit guter Laune umgibt“ (ebd., Herv. R. N.): das ist wenig erhellend. 34 Es finden sich im Zarathustra die Fremdwörter „Chaos“, „Genie“ und „Tyrann“. 35 Um einen dunklen Vokal zu erhalten, beläßt Nietzsche es an einigen Stellen bei falschem Wortgebrauch: „Trat nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug?/ ‚O Zarathustra – sprach das Kind zu mir – schaue dich an im Spiegel!“ (Das Kind mit dem Spiegel) „Trug“ ist durch hielt zu ersetzen. 36 So Nietzsche in Ecce Homo, Zarathustra 1; 6, S. 335. 37 Wenn man sich der Paradoxalität einer Forderung bewußt ist, sollte man sie dann noch stellen? Jörg Salaquarda schreibt, daß Nietzsche in seinen Werken „nur knapp und beiläufig an[deute], was er mit der Formel ‚Ewige Wiederkunft (oder Wiederkehr) des Gleichen‘ eigentlich meinte, und das Ergebnis ist eher enttäuschend: die seit der Antike bekannte Auffassung, daß der Weltlauf sich in identischen Zyklen wiederhole“ (ders., Die Grundconception des Zarathustra, S. 69-92; S. 75). 38 Der Wiederkunftsgedanke wird in der Literatur nie auf eine Art und Weise gedeutet, die einsichtig wäre. So wird auch nicht klar, worin die „enge Wechselverschränkung […] der beiden Lehren vom Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ liegen soll, von der Ernst Behler spricht (ders., „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“ Eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, S. 351-385; S. 381). Was die Lehre vom Übermenschen betrifft, so scheint Annemarie Pieper (Zarathustra als Verkünder des Übermenschen, S. 94-122) allen Ernstes eine evolutionsbiologische Deutung anbieten zu wollen (ebd., S. 95 f.). 39 Dabei gerät das Wortspiel manchmal allerdings zum reinen Klangspiel mit sehr dürftigem Inhalt: „eine[] listige[] lauernde[] Kreuzspinne […] lehrt: ‚unter Kreuzen ist gut spinnen!‘ “ (Von den Abtrünnigen 2).
245 Vgl. etwa: Zarathustras „Auge durchbohrte wie mit Pfeilen ihre (sc. der Jünger) Gedanken und Hintergedanken“ (Von der Erlösung). „Zarathustra […] durchbohrte mit seinen Blicken die Gedanken und Hintergedanken des alten Papstes“ (Ausser Dienst). Bei der Begrüßung der in seiner Höhle versammelten Gäste heißt es: „Zarathustra […] las ihre Seelen ab […]“ (Die Begrüßung). 41 So der Herausgeber des zitierten Sammelbandes, Volker Gerhardt, S. 13. 40
Kurt Mager PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN UND PROBLEME IM POSTMODERNEN DENKEN In der philosophischen Tradition nehmen geschichtsphilosophische Gesichtspunkte wie die Wahrnehmung von Geschichte, der Begriff von Wissen und Vernunft, das sich daraus ergebende Folgeproblem von Einheit und Vielheit und die Rolle und Funktion des Subjektes eine grundlegende Bedeutung ein. In der Postmoderne erfahren diese Aspekte in ihrem philosophischen Stellenwert eine deutliche Profilveränderung. Diese Veränderung, die auf ein „entdifferenzierendes Denken“ innerhalb der Postmoderne zurückzuführen ist, wird kritisch überprüft.
I. Moderne und Postmoderne Nach Walther Ch. Zimmerli1 läßt sich die Entwicklung des abendländischen Logos als der in der Abfolge immer besser gelingende Versuch beschreiben, „die chaotische Vielheit der Erscheinungen durch Operationen mit Allgemeinbegriffen, Ideen und Theorien zu strukturieren“2. So gesehen sei die Meisterung der Welt eine Meisterung durch die Einheit der Allgemeinbegriffe. Die Entdeckung dieser vereinheitlichenden strukturierenden Funktion der Ideen stellt die Entwicklung des wissenschaftlich rationalen Denkens dar, das sich in mehr oder weniger kontinuierlichem Ablauf bis in die Zeit der Moderne, ja bis in die Gegenwart hinein verfolgen läßt. Die Moderne nun ist als jene Zeit zu verstehen, in der sich durch Planung und Kontrolle die Bändigung der inneren und äußeren Natur vollzieht. Der Aufschwung der Wissenschaft, der Fortschritt der Technik kennzeichnet diese Moderne: „In der Moderne macht der Mensch sich und die Natur zu einem Gegenstand der Beherrschung.“3 Typisch ist für die Moderne die
248 Orientierung an praktischen effizienten Lösungen und eine darauf ausgerichtete Wissenschaft, „die auf der Basis feststehender Prämissen logisch deduktiv vorgeht“4. Charakteristisch ist die Geltung des Autonomiegedankens für das Individuum. In der Gesellschaft der Moderne dominiert ein Denken, welches den Unterschied von Schein und Wirklichkeit voraussetzt. Van Reijen meint, daß der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne am besten erfaßt wird, wenn wir beide aus der Perspektive von Kontinuität und Diskontinuität betrachten: „Aus der Optik der Moderne steht die Kontinuität der historischen und persönlichen, der wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklung an erster Stelle. Wissenschaftliche und philosophische Analysen, Entwicklungen von Wissen und dessen Anwendung, (Selbst-)Kontrolle, der Umgang mit Kriterien und die Schaffung von Grundlagen setzen ein kontinuierliches Universum und eine notwendige (wesentliche) Beziehung zwischen Theorie und Praxis, bzw. natürlicher Wirklichkeit, voraus.“5 Nach van Reijen präsentiert sich aus der Perspektive der Moderne die Postmoderne als solche nicht als etwas grundsätzlich Neues, sondern als überspitzte Form der Selbstkritik. Aus postmoderner Sicht steht die Diskontinuität im Zentrum des Interesses. Sie ist theoretisch wie praktisch der Bruch mit der Vergangenheit. Die Selbstvergewaltigung des Menschen soll deutlich werden. Negative Phänomene unserer Kultur können nicht mehr in einen beschönigenden historischen Optimismus eingebracht werden. Eine völlige Neuorientierung ist notwendig: Die klassischen Unterscheidungen von Seinsgrund, Erkenntnisgrund, Wesen, Schein, von Wissenschaft, Philosophie und Kunst, von Vernunft und dem „Anderen“ entfallen. Darin wird die notwendige Möglichkeit gesehen, sich zwar nicht ganz aus dem Bann der Vernunft zu begeben, aber doch die damit verbundenen Konsequenzen zu relativieren. Erstarrte Auffassungen über Raum und Zeit, persönliche Identität, Macht und Ohnmacht werden aufgegeben. In der Postmoderne ist eine präzise Trennung von Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr möglich. Kunst, Wissenschaft, Phi-
249 losophie wie alltägliche Praxis besitzen sowohl einen fiktiven wie einen wirklichen Charakter, „nämlich eine nicht näher rational zu bestimmende Pluralität, die keinen eindeutigen monopolistischen Anspruch auf die Vernunft und die Richtigkeit mehr zuläßt“6. Der Unterschied von Moderne und Postmoderne ist demnach auch bestimmt durch die Differenz von Einheit und Vielheit, „sei es nun die Einheit der Vernunft oder die Einheit, die das moderne Wissen durch Rückgriff auf große Meta-Erzählungen zustande brachte“7. Es sind dies nach Lyotard die Aufklärung als Emanzipation der Menschheit, die Teleologie des Geistes für den Idealismus, die Hermeneutik des Sinnes für den Historismus, für den Kapitalismus die Beglückung aller Menschen durch Reichtum und schließlich der Marxismus als Befreiung der Menschheit zur Autonomie. Die gegenwärtige Situation macht aber diese Einheitsbande hinfällig. Totalität wird obsolet, die Teile des Ganzen werden freigesetzt.8
II. Fortschritt und Geschichte Während die Moderne streng zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet „und dies wiederum deutlich vom Fiktiven absetzt“, ist die moderne Zeitachse in der Postmoderne „ein offener Raum“.9 Die Moderne zieht in der Geschichte eine klare Linie von Vergangenheit, Gegenwart zur Zukunft, was eine unabdingbare Voraussetzung der Identitätsbildung von Menschen und Institutionen bedeutet. Gegenwärtige Handlungen und Projekte werden zumeist als eine Fortsetzung des Vergangenen verstanden. Im Verstande der Postmoderne aber wird die Vergangenheit beliebig, ja es ist sogar möglich, „daß auch eine fiktive Vergangenheit die gleiche Aufgabe erfüllen kann, wie eine solche, die im Rahmen des als historisch gesicherten geltenden Wissens liegt“10. Ein Beispiel für den postmodernen Umgang mit der Geschichte zeigt Marco Bormann11 am Verhal-
250 ten der englischen Stadt York gegenüber Richard III. Richard III., König von England, war ein Regent wie andere auch. Shakespeare machte ihn in dem gleichnamigen Drama aber zum blutrünstigen Mörder. In Wahrheit wurde Richard III. von Heinrich VII., einem Ahnherrn Elisabeths I., beseitigt. Eine entsprechende Abwertung Richards bedeutete zu Shakespeares Zeiten eine Aufwertung des damaligen Königshauses. Das Ergebnis der Fiktion Shakespeares ist postmodern: Das Standbild Richards III. in der Kathedrale in York wurde als einziges der dort befindlichen Königsstandbilder beseitigt. Man schämte sich wohl in York, einen so üblen Herrscher hervorgebracht zu haben, auch wenn die Übel nur der Fiktion von Shakespeare entstammen. Der Gedanke des Fortschritts, der kennzeichnend für das Denken der Moderne war, wird nun für die Zerstörung verantwortlich gemacht. Zerstörung bedeutet die Zerstörung des Sozialen durch Technik. Fortschritt führt zur Zerstörung und Verwandlung des Individuums in einen „außengeleiteten Phänotyp gesellschaftlicher Erfordernisse und Funktionen“12. Fortschritt bewirkt die Zerstörung der wirklichen Geschichte durch eine Vorstellung von Geschichte, die als zielgerichteter Prozeß der Befreiung verstanden wird. Er ist „Zerstörung des Humanen durch das Leistungs- und Effizienzprinzip“13. Der Begriff des Fortschritts wird mit dem der Machbarkeit, der Herstellbarkeit identifiziert. Er zeigt der Postmoderne die Verkehrung des Versprechens der Aufkärung nach Befreiung ins technologisch Machbare. Es ist die „Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses“14. Die Mittel, von der zwecksetzenden Vernunft als Instrumente verstanden, haben sich jener gegenüber verselbständigt und leiten menschliches Handeln unabhängig von der Vernunft (Globalisierung, Technologie). Die Postmoderne kämpft um die Selbstverwirklichung der Individuen, um Emanzipation vom Determinismus der Vergangenheit, bemüht sich aber nicht um die Änderung der gegenwärtigen Verhältnisse. Die „Utopien der Veränderung der Verhältnisse“, die großen Erzählungen der Verhältnisse sind „erloschen“15 und
251 deshalb „besitzt kein politisches und soziales Ereignis […] noch genügend Kraft, um uns zu bewegen“16. Nach Wolfgang Welsch bildete den geschichtlichen Anstoß der Postmoderne die Erfahrung der Unterdrückungsbestände, die sich aus einseitigen Absolutheitsansprüchen ergaben. Pluralität sei ein geschichtliches Gut. Und dies entspreche einer geschichtlichen Einsicht. Die Postmoderne bedrohe nicht die demokratische Tradition der Moderne, sondern sie entwickele eine „grunddemokratische Vision“17, da in ihr Pluralität grundsätzlich anerkannt und gelebt werde.
III. Depotenzierung von Vernunft und Wissenschaft Wie schon erwähnt, wendet sich die postmoderne Kritik gegen eine totalisierende Grundsatzvernunft im Sinne von Kant und Hegel, sie verwahrt sich gegen deren Einheit. Aus postmoderner Sicht war der Klassizismus metaphysisch. Er fragte nach dem Grund der Vernunft. Die Vernunft aber kann nicht ohne Zirkel vorausgesetzt werden. Das Vermögen, neue Regeln zu formulieren, enthüllt sich in dem Maß, als dafür ein Bedürfnis entwickelt wird. Postmoderne Vernunft wird nun pragmatisch, technizistisch, sie wird gleichsam in Rationalität aufgelöst. Nach Lyotard hat der Zweifel an der Vernunft seinen Ursprung im Niedergang der Metaphysik. Die Krise des wissenschaftlichen Wissens entstand für Lyotard „aus der inneren Erosion des Prinzips der Legitimität des Wissens“18, insbesondere nach dem Scheitern der Letzt- und Gesamtbegründungsversuche im spekulativen Idealismus. Lyotard spricht von der Delegitimierung des rationalistischen und wissenschaftlichen Wissens: Das postmoderne Wissen ist gekennzeichnet durch „Dissenz“, „Diskursverweigerung“ und Diskursalternativen. Die radikale Pluralität, die Heterogenität und Inkommensurabilität der einzelnen Diskursarten ist nicht aufhebbar. Diese Diskurse stehen unter je verschiedenen lokalen und sozialen Bedingungen. Diskursarten sind z.B.
252 Wissen, Rechtfertigung, Lehren, Erschüttern. Lyotard unterscheidet verschiedene Sprachspiele wie Erzählen, Versprechen, Befehlen usw. Die Sprachspiele haben ihre Regeln nicht in sich selbst. Sie konstituieren sich vertraglich zwischen den Spielern. Sprache ist dabei weniger auf Konsens und Wahrheit ausgerichtet, sondern mehr auf das Kämpfen und Gewinnen. „Wissenschaft [...] kann die anderen Sprachspiele nicht legitimieren“19 und kann sich auch selbst nicht legitimieren.20 „Vernunft, Rationalität, Sprache werden einerseits in postindustrielle Zweckbindungen, andrerseits in miteinander inkommensurablen (theoretisch unvereinbare) Paradigmen verortet.“21 Nur über Inkommensurabilität, „über das Interesse am Dissenz besteht“ in der Postmoderne „Konsens“.22 Eine jede Diskursart hat ihre eigenen Regeln und ihr eigenes Recht. Eine Aufhebung der Differenz durch ein Globalkonzept ist nicht möglich. Sie bedeutete Terror. „Wissenschaftliches Wissen ist nicht das ganze Wissen“, es hatte zwar immer ein Übergewicht, war „immer im Wettstreit und Konflikt mit einer anderen Art des Wissens, die wir vereinfachend narrativ nennen“23. In der Postmoderne entwickelt sich mit anderen Worten eine Entdifferenzierung des Denkens. „Während die moderne Philosophie sowohl nach innen [...] wie nach außen [...] nicht nur mit Differenzierungen arbeitet, sondern immer neue Differenzierungen“ aufbaut, „bemüht sich die Postmoderne vor allem um ein Aufheben und Verschieben dieser Differenzierungen“.24 So verschiebt sich der Anspruch der Legitimität von Wahrheit zu der von Effizienz, Performativität und Konsens. Wahrheit braucht sich in der sozialen Welt nur in ihrer Funktionalität und Performativität auszuweisen. In der Postmoderne sind die Dualismen der Moderne nicht mehr enthalten. „Welt und Denken“ gelten gleichrangig „wie die Relate eines Begründungsverhältnisses“.25 Damit ist der Wegfall einer zentralen Unterscheidung verbunden, nämlich die des Unterschiedes zwischen einem philosophischen und einem alltäglichen Diskurs. Lyotard drückt dies in der Darstellung des modernen Beweisens so aus: „Es ist nicht so,
253 daß ich etwas beweisen kann, weil die Realität so ist, wie ich es sage, sondern solange ich beweisen kann, ist es erlaubt zu denken, daß die Realität so ist, wie ich es sage.“26 Es entwickelt sich eine Pragmatik des narrativen Wissens und der Alltagserkenntnis. „Das Wissen im allgemeinen reduziert sich nicht auf die Wissenschaft, nicht einmal auf die Erkenntnis.“27 Vielmehr gehören „Machen-Können“ (savoir-faire), „Leben-Können“ (savoir-vivre), „Hören-Können“28 (savoir-écouter) unverzichtbar zum Alltagswissen. Sie folgen nicht einem denotativen repräsentativen Modell wissenschaftlicher Wahrheitserkenntnis, sondern einem performativen Sprachspielmodell. „Die Erzählung ist die Form dieses Wissens par excellence.“29 Die Pragmatik des narrativen Wissens unterscheidet sich nicht nur vom herkömmlichen Sprachspiel der Wissenschaft, sondern scheint mit diesem geradezu unvereinbar. Wiedergabe und Wiederholung wissenschaftlicher Aussagen andrerseits vermittelt diesen selbst keine Gültigkeit. Sie sind immer von der Möglichkeit der Falsifikation bedroht. Die Vernunft zerteilt sich demnach in eine theoretische und in eine praktische, die Sprachspiele erleiden eine Zerstreuung, sodaß sich sogar „das soziale Subjekt selbst aufzulösen“30 scheint. „Wissen wird kaleidoskopisch.“31 Die wissenschaftliche Forschung erfährt in ihrer sozialen Einbettung und in ihrer Grundlagenproblematik keine zureichende Rechtfertigung durch Performativität, Effizienz und bloße Instrumentalität. Hier werden die Spielregeln von Macht, Recht und Gerechtigkeit und sozioökonomische Gesichtspunkte in der Gesellschaft neue Akzente setzen
IV. Der Diskurs als Problem Durch die partizipatorische-emanzipatorische Erweiterung des Vernunftbegriffes selbst ergibt sich füreinander eine zwanglose Einheit vieler gleichsam lokalisierter Vernunftdiskurse „in ei-
254 nem Zusammenspiel pluraler Rationalitäten“32 bei wechselseitiger Durchlässigkeit der Diskurse. Lyotard rechtfertigt das vorherrschende Modell postmodernen Wissens mit „Legitimierung durch die Paralogie, durch parataktisch assoziierte kleine Erzählungen“33. Was in einem Wissenszusammenhang als Paralogie oder Paradoxon galt, kann in einem anderen System durchaus Überzeugungskraft haben und Zustimmung finden. Aber im Unterschied zur Innovation ist Paralogie grundlegender. Sie ist Bedingung zur Hervorbringung des Wissens und neuer Ideen selbst. Paralogie darf auch als ein Zustand betrachtet werden, der dadurch permanent gegeben ist, daß immer jemand auftauchen kann, der die bestehende Ordnung eines Wissensparadigmas stört. Es gibt immer eine Macht, die Erklärungsfähigkeiten destabilisiert „und neue Normen des Begreifens manifestiert“34. Die skeptische Destruktion der Vernunft und des Subjektes hat gewissermaßen eine skeptische Rückkehr zum common sense zur Folge. Durch skeptische Destruktion soll sich „so etwas wie eine neue gleichsam demokratisierte Einheit der Vernunftpluralitäten im Innern des erweiterten Vernunftbegriffs selbst ergeben“35. In einer zwanglosen Diskurseinheit der pluralen lokalen Vernunftspiele wird die postrationalistische Fassung einer sowohl ästhetischen als auch psychischen und sozialen Einheit einer nicht totalisierenden Vernunft gesehen. Dies entspricht in etwa der postmodernen Fassung der Habermas’schen Idee des herrschaftsfreien Diskurses.36 Lyotard wendet sich allerdings ganz entschieden gegen den bei Habermas vorausgesetzten Konsens als Endstufe dessen, was im Zusammenspiel von Sender, Empfänger und Referenten als Diskurs vorgestellt wird: „[...] man kann sich also für die Gültigkeit des postmodernen wissenschaftlichen Diskurses weder auf die Dialektik des Geistes noch auf die Emanzipation der Menschheit berufen.“37 Die kleine Erzählung bleibt die Form par excellence der imaginativen Erfindungen. Auch das Prinzip des Konsens genüge nicht als Geltungskriterium. Die erzielte Über-
255 einstimmung erkennender Intelligenzen und der freien Willen bei Habermas beruhe auf der Gültigkeit der Emanzipationserzählung. Noch schärfer formuliert Lyotard: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, man könne Metapräskriptionen bestimmen, die all diesen Sprachspielen gemein wären“38, die zu einem gewissen Zeitpunkt von einer Gruppe von Wissenschaftlern zu einem Konsens geführt werden können. Der Verfall der Legitimationserzählungen sei, gleich ob traditionell oder modern, mit der Aufgabe dieser Überzeugung verbunden. Es sei deshalb weder möglich noch ratsam, das Problem der Legitimierung von Wissen im Sinne des Habermas’schen Diskurses als Dialog der Argumentationen zu regeln. „Man setzt damit in der Tat zweierlei voraus. Erstens, daß alle Sprecher über Regeln oder über die für alle Sprachspiele universell gültigen Metapräskriptionen einig werden können, obwohl diese selbstverständlich heteromorph sind und heterogenen pragmatischen Regeln zugehören. Die zweite Voraussetzung ist, daß die Finalität des Dialoges der Konsens ist. Wir haben aber mit der Analyse der wissenschaftlichen Pragmatik gezeigt, daß der Konsens nur ein Zustand der Diskussionen und nicht ihr Ziel ist. Dieses ist vielmehr die Paralogie.“39
V. Das Subjekt der Postmoderne Klaus-Jürgen Bruder sieht das Subjekt im postmodernen Diskurs als radikal in Frage gestellt. Es besteht der grundsätzliche Zweifel, ob das Subjekt als eine vorgegebene festgefügte Entität aufgefaßt werden kann. Es ist nicht der souveräne Akteur und Verursacher seiner Handlungen in einem einheitlichen, reflexiven, steuernden und kontrollierenden Bewußtsein, das sein Zentrum wäre. Diesem wird nach Bruder eher die Vorstellung einer dezentrierten und entgrenzten Subjektivität entgegengehalten. Die Handlungen des Subjektes werden nicht als konsequente Folge seiner Wahrnehmung äußerer Umstände und vorgegebener Not-
256 wendigkeiten in bezug auf die Umwelt verstanden. Dabei wird nicht der Status der Person als einer frei handelnden oder als eines rechtsfähigen Subjektes, sondern „die behauptete ontologische Grundlage“40 dieses Status in Frage gestellt. „Die Vorstellung vom Subjekt als eines selbstbestimmten in seinen Handlungen freien Akteurs gelenkt durch ein souveränes integrales Bewußtsein ist keine Illusion, sondern eine metaphysische ,Fiktion‘ Sie liegt als mehr oder weniger integraler Bestandteil unseres Rechtssystems, vielen unserer Annahmen über uns selbst und über ,den Menschen‘ zugrunde.“41 In gewisser Weise wird auch hier die Romantik im postmodernen Diskurs wiederentdeckt. Sie ist als der Einspruch gegen die Reduzierung auf Funktionalität und Nützlichkeit des Subjektes zu verstehen. Sie will die Kunst und Souveränität des Subjektes zur Grenzüberschreitung gewinnen. Mit der Wiederentdeckung der Romantik wird Ekstase und Selbstauflösung angestrebt. Foucault42 spricht gar vom Verschwinden des Menschen. Es ist der Mensch der Moderne, der verschwinden soll. Dieser Mensch sei gekennzeichnet durch übergeordnete Vernünftigkeit und ihm untergeordnete Sinnlichkeit. Er kann die dieser Struktur innewohnende Zwanghaftigkeit nicht verdecken, die nach Foucault im Anschluß an Kant als die Doppelung von Untertanenhaftigkeit und Freiheit verstanden wird. Dieses Subjekt besteht aus zwei Ichen. Aus einem, das angeschaut wird, und aus einem, das anschaut. „Die Struktur der Selbstbeziehung ist darum die Beziehung eines sich zum Objekt machenden Subjekts.“43 Aus der Sicht von Bruder konstituiert sie nicht Selbstverantwortlichkeit, sondern Selbstunterwerfung. Im Zusammenhang mit der Analyse der Sprachspiele meint Lyotard: „In dieser Zerstreuung von Sprachspielen scheint sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen. Das soziale Band ist sprachlich, aber es ist nicht aus einer einzigen Faser gemacht. Es ist ein Gewebe, in dem sich zumindest zwei Arten, in Wahrheit eine unbestimmte Zahl von Sprachspielen kreuzen, die unter-
257 schiedlichen Regeln gehorchen.“44 Nach Lyotard gibt es weder die rationale Einheit eines Subjektes, noch, wie schon erwähnt, eine einheitliche eindimensionale Weltanschauung, sondern eine „Vielheit der Verantwortlichkeiten“45, deren wechselseitige Unabhängigkeit oder gar Unverträglichkeit. Dieser Sachverhalt verpflichte zur „Geschmeidigkeit, Toleranz und Wendigkeit“46. Das postmoderne Denken löst das Selbst vielmehr in die sozialen Beziehungen, in die Sichtweise der anderen auf.47 Die Suche nach dem wahren Selbst war aber auch eine Suche nach den wahren echten Bedingungen. „Encounter“ der ursprüngliche Begriff der Selbsterfahrung betonte die Begegnung mit anderen. „Die dabei entstehenden Gefühle wurden als „Äußerungen des wahren Selbst“ verstanden, sie sind der „Indikator als Nähe zum Selbst“48. „Gefühle werden in den Rang von Erkenntnismitteln erhoben“49. Nach Baudrillard ist aber Selbsterfahrung „mit dem Universum der Psychologie und der bürgerlichen Subjektivität lächerlich geworden“50. Die Position des Subjektes sei schlichtweg nicht mehr haltbar. Niemand sei mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen: „Wir erleben die letzten Zuckungen dieser Subjektivität.“51
VI. Kritik a) Methode Im Postmodernismus herrscht die Meinung vor, jedes System von Regeln bestehe von vornherein schon aus Zwang und Totalitarismus, „Herrschaft sei in die Logik und in systematische Verfahren apriori eingebaut“52. Bei Lyotard sollen „eine allgemeine Narratik sowie Paralogie und Pluralität […] offenbar die Rechtfertigung des Wissens leisten“53. Methodologie wird durch Heuristik der Vielfalt ersetzt. Mit Recht bemerkt Lenk, daß man hinsichtlich der Methodologie aus der Not der Rechtfertigungsdiskurse die Tugend des Dis-
258 kussionsverzichts mache. Der Verweis auf Paralogie und Pluralität ersetzt nämlich keine methodologische Rechtfertigung, kann Legitimierung trotz verbaler Beschwörung nicht leisten. Das Narrative allein, der Spruch, daß nur Dissonanzen verbinden, haben keine systematische Kraft, können nicht grundlegend für eine Methodologie sein. Die Grundannahmen der Inkommensurabilität, Pluralität und Paralogie seien zweifelsfrei wissenschaftlich anregend und interessant, mögen auch kulturelle soziale Einsichten erbringen, sie können aber nicht das Fundament für eine Gültigkeitsbewertung von Theorie abgeben. „Der Mythos von den kleinen Erzählwiesen vermag jedenfalls weder der Methodendiskussion der Wissenschaften noch den Ansätzen seriöser Wissenschaftstheoretiker gerecht zu werden.“54
b) Vernunft Unter Berufung auf Albrecht Wellmer55 meint Lenk, daß diese „prinzipielle Einheitslosigkeit keine auch noch so minimale flexible Einheit“56 erzeuge. Auf eine gewisse kriterial zu sichernde Einheit müßte sich aber auch die postmoderne Variante einer nicht totalen Vernunft stützen. Es kann hier weder ein hermeneutischer Anarchismus noch ein Objektivismus oder gar ein totaler Irrationalismus als Ausweg dienen. Wie sehen aber solche Vernunftkonzepte aus? Nach Lenk reicht auch der Hinweis auf die Habermas’sche kommunikative Rationalität mit ihren Elementen einer konsensustheoretischen Wahrheitstheorie und dem Appell an das Modell des herrschaftsfreien Dialogs oder Apels Orientierung an der utopisch fernen Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft nicht aus. Lenk fragt, ob die emanzipatorische Idee der allseitigen Partizipation an sich „schon das inhaltliche Merkmal oder der formale verfahrensmäßige Garant der Vernünftigkeit sein“57 könne. Das bloße „Zusammenspiel pluralistischer Rationalitäten“58 nämlich „ohne die Möglichkeit eines alles umgreifenden Meta-
259 diskurses“59 gewährleistet nicht die „nötige minimale Vernunfteinheit der inhaltlich-kriterialen zukunftsweisenden Konzeption“60. Rationale Akzeptierbarkeit ist abhängig von Wertsetzungen und -anerkennungen, „also von Rationalität, die über bloß formale Folgerichtigkeit hinausgehen und von jeglicher spezifischen wissenschaftlichen Rationalität bereits vorausgesetzt werden“61 muß. Vernunft stelle sich nämlich nicht als „biologische oder kulturelle Entität“62 naturgemäß schon im Gespräch ein, sie beruhe vielmehr auf der normativ zumutend vorausgesetzten Anerkennung von Normen oder Repräsentativität. Diese Normen werden entworfen und sind nicht gegeben, sie sind auch in der faktischen Gesprächssituation oder in einer „transzendentallinguistischen Konstitution“63 oder in formalen Dialogregeln zu begründen. Nach Lenk begründet Kommunikativität noch nicht Repräsentativität. Das Diskursmodell greift deshalb zu kurz, es bleibt formal und soziologisch. Die Reduktion auf äußerliche Dialogregeln ist ebenso unangemessen, wie das bloße Nebeneinanderstellen pluraler Rationalitäten bei Durchlässigkeit der Diskurse: Dissenz und Pluralität allein verbinden eben nicht. „Die konsensuelle Überschätzung des Dissenzprinzips ist der philosophische Urfehler der Postmoderne.“64 Als heuristische Perspektive, als unhintergehbarer Lebenshintergrund ist sie nach wie vor philosophisch und pragmatisch sinnvoll. „Wir leben aber nicht ontologisch schizophren in unterschiedlichen Universen.“65 Auch „Mikro- und Gelegenheitsvernünfte sind idealerweise auf eine Einheit zu beziehen.“66 Das Vernünftige ist als Eigenwert im Bereich der Vernunftwesen jedem Partner zuzuerkennen „also in der kantischen Idee der Repräsentativität“67. Diese Idee ist keine Sache der kognitiven Erkenntnis, sondern die einer normativen Repräsentativitätsforderung. Vorzeitiges Aufgeben von Vernunft als notwendiger Instanz oder der Versuch, „aus der Not der ständigen Unvollendetheit gar eine Scheintugend oder Suchverweigerung, oder eine
260 Unmöglichkeitsthese zu machen, entspräche einer pseudophilosophischen Vogel-Strauß-Politik“68. In diesem Sinne meint auch Herbert Schnädelbach: „Einheit der Vernunft – das ist wie ,Einheit der Welt‘: grundsätzliche Zugänglichkeit auch ihrer entlegenen Territorien, prinzipielle Verständlichkeit des in ihr Geschehenden, Gelebten und Gesagten.“69 Die Alternative zu Hegels Singular sei nicht der Pluralismus als Alternative, sondern das, was Pluralität ermöglicht, nämlich die kommunikative Einheit der Vernunft. Nur durch diese Einheit wäre die Vielheit der Stimmen überhaupt vernehmbar. Dieses Vernunftkonzept sei in einer Theorie der Rationalität systematisch zu entwickeln „und in einer Anthropologie der Vernunft abzusichern, die uns auf der Grundlage humanwissenschaftlichen Wissens zeigt, was es bedeutet, daß wir endliche, zugleich natürliche und geschichtliche, und im übrigen vernunftbegabte Wesen sind“70.
c) Einheit-Vielheit Lyotard bemerkte, daß bei Kant71 nur eine transzendentale Illusion hoffen konnte, die verschiedenen Sprachspiele zu einer wirklichen Einheit zu tolerieren. Für diese Illusion sei der Preis des Terrors zu zahlen gewesen. Zum Schluß seines berühmten Textes Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? meint er, daß wir das Ausmaß des Terrors des Ganzen im 20. Jahrhundert erfahren haben, daß die Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit teuer bezahlt wurde. Das „Raunen“, diesen „Terror ein weiteres Mal zu beginnen“, sei zu hören. „Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Widerstreite, retten wir die Ehre des Namens.“72 Mit dieser schroffen Ablehnung der Einheit zugunsten der Vielheit ist noch einmal programmatisch das Selbstverständnis der Postmoderne bei Lyotard zum Ausdruck gebracht. Allerdings wird für den nüchternen Verstand „auf der näch-
261 sten Reflexionsebene“73 dieser beschworene Pluralismus schon wieder problematisch. Es trifft nach Zimmerli zwar zu, „daß die Pluralität der Wertsysteme, Begriffe und Theorien ebenso wie die Kulturphänomene und der Interpretationen der Welt sich uns als Kennzeichen der Gegenwart anbieten“74. Jedoch schon der Versuch, dies auf den Begriff zu bringen, „zwingt unsere Gedanken in die Reflexion und auf das Denken selbst“75. Das Denken verfährt auf dieser Stufe selbst schon wieder einheitsstiftend. Nach Zimmerli wäre es aber ein Kurzschluß zu meinen, es handle sich hier um eine Preisgabe der Einheit zugunsten der Pluralität. Es ist jedoch nicht die Einheit schlechthin, die verlassen wurde, sondern nur die Einheit des Rationalitätstyps, die in der postmodernen Situation preisgegeben worden ist. Einheit wird vielmehr die sich zur Einheit zusammenschließende und sie durchdringende Technologie. Die Zuordnung von Einheit und Vielheit auf der einen und Idee und Erscheinungswelt auf der anderen Seite haben sich nur vertauscht. „Idee gehört nun zur Vielheit ebenso, wie Erscheinung zur Einheit gehört.“76 Nach Zimmerli stehen wir damit am Ende des Logozentrismus. Er bezeichnet es als das antiplatonische Experiment des postmodernen Denkens. Rainer Rotermundt77 sieht Posthistorismus und Postmoderne dadurch gekennzeichnet, daß sie der Unterscheidung von Vernunft und Verstand und damit der Möglichkeit, den Widerspruch zu denken, verlustig gegangen sind. Damit schwindet jede Logik aus der Geschichte. Der Nihilismus im philosophischen wie im Alltagsverstande triumphiert: „Wenn und insofern die Vernunft als den Verstand überschreitender Ort des ,Denkens des Denkens‘ schwindet, hat man es konsequenterweise nur noch mit dem Trümmerfeld gleichgültiger ‚Tatsachen‘ zu tun, mit dem Immergleichen, mit dem Ende aller qualitativen historischen Bewegung.“78 Wolfgang Welsch behauptet, jede Frage nach dem Ganzen an sich sei schon totalitär. Jeder Ganzheitsoption wäre ihre Spezifität und Partikularität schnell nachzuweisen.79 Somit bedeutet der
262 Versuch, eine Partikularität zum Ganzen „aufzuspreizen“, notwendigerweise den Terror gegenüber dem von ihr Ausgeschlossenen: „Terror ist der einzig effiziente Weg zum Ganzen.“80 Mit der Behauptung, jedem Ganzen seine Partikularität nachweisen zu können, ist jedoch unterstellt, daß jedes Ganze als ein Bestimmtes vorauszusetzen sei, womit es sich unmittelbar als das Gegenteil seiner selbst erweise. Die Frage nach dem Ganzen wäre aber nur dann erledigt, wenn nicht doch über die Bestimmtheit hinaus gedacht werden könnte. Nach Rotermundt kommt es bei Welsch deshalb zu jener Theorie, weil er die Verbannung des Widerspruchs „unausgesprochen zugrundelegt“81. Er setze damit fatalerweise die eindimensionale Linie der Aufklärung fort, „der sich das verdankt, was er auf gar keinen Fall will und aus der sich befreit zu haben er beansprucht“82. Allerdings bekämpft Welsch selbst einen diffusen Pluralismus nach dem Motto „anything goes“. Postmoderne sei zwar „diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster, vordringlich, ja dominant und obligat werden“83. So ist auch bei Welsch Vielheit an Einheit geknüpft, was nämlich völlig different wäre, „könnte nicht einmal zusammenstoßen“84. Um dieser Schwäche abzuhelfen entwirft er das Konzept der transversalen Vernunft. Diese Konzeption von Vernunft soll weder das Maß wirklicher Differenz ignorieren, noch Kommunikationsansprüche unnötig preisgeben, sondern sowohl die Grenzen der verschiedenen Rationalitätsformen aufzeigen und wahren, als auch Übergänge und Auseinandersetzungen zwischen ihnen ermöglichen und vollziehen. Damit und darin erneuert sie aber nach Rotermundt die klassische Funktion von Vernunft gegenüber den Funktionen des Verstandes. Diese transversale Vernunft ist auf Totalität bezogen, aber allein im Modus der Verbindungen und Übergänge. Nach Welsch geht es dabei um einen „Vernunfttyp, der mit Differenz und Identität umzugehen vermag, ohne sich von vorneherein auf eine der beiden Seiten geschlagen zu haben“85.
263 Rotermundt widerspricht hier zu Recht: Denkt sich nämlich der Verstand irgendwelche Übergänge aus, „dann bleiben sie den Differenzen äußerlich und regredieren folgerichtig zum moralischen Appell“86. So sei Welschs Hinwendung zum Subjekt kein Zufall. Haben wir es dagegen mit einem wirklichen Übergehen von Einem ins Andere zu tun, „sind die Momente also einander substanziell vermittelt, so entsteht unversehens, was postmodern nicht sein darf: ein ,Ganzes‘ “87. Welsch spricht aus der Sicht Rotermundts beide Positionen aus, ohne den Widerspruch zu thematisieren. Einerseits: „Ganzheit, Totalität ist nicht darstellbar, kann nicht positiv gesetzt werden, Ganzheit muß offen bleiben.“88 Auf der anderen Seite spricht Welsch von einem wohlbestimmten Ganzen89: „Die Postmoderne beleuchtet nicht nur eine Enklave, sondern die Grundstruktur der Welt“90. Rotermundt meint mit Recht, daß Vernunft da keine Chance hat, wo sie ohne Metaphysik auskommen will. Sie kommt aber nur dort ohne Metaphysik aus, „wo sie nicht das leistet, was sie leisten soll und zu leisten beansprucht“91. Nach Rotermundt ist es notwendig „den Begriff der Metaphysik aus seiner christlich inspirierten Jenseitigkeit und aus der Heideggerschen Gefangenschaft zu befreien“92. Er empfiehlt eine neue Auseinandersetzung mit Hegel, die endlich einmal dessen Kantkritik ernstnähme, statt Kant als das letzte Wort der Philosophie zu behandeln. Rotermundt fordert, Hegels Anspruch zu erneuern, daß die Aufklärung selbst einer spekulativen Aufklärung bedürfe gegen „die herrschende Metaphysik der Nichtmetaphysik“, gegen die „Verabsolutierung des Verstandes“.93
VII. Schluß Ich habe versucht, die postmoderne Vorstellung von Geschichte, von dem Subjekt, von Vernunft und Wissenschaft, sowie die Problematik von Einheit und Vielheit, wie sie sich aus der Sicht
264 der Postmoderne darstellen, kritisch auszubreiten. Die zukünftige Bedeutung und Relevanz postmodernen Denkens überhaupt ist für uns heute noch nicht abzusehen. Aus der Sicht der alten Utopien ist die Postmoderne gewiß ein Abschied von der Utopie. Es wäre aber falsch zu sagen, daß in der Postmoderne keine Utopie mehr vertreten wäre, die alten Utopien werden nur korrigiert und überboten mit der „Vision“94 einer verabsolutierten Vielheit und Endlichkeit.95 Anmerkungen Walther Ch. Zimmerli, Das antiplatonische Experiment. Bemerkungen zur technologischen Postmoderne. In: Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, hrsg. v ders., München: Fink 1991, S. 13-35. 2 Ebd., S. 20. 3 Martin J. Jandl, Kritische Psychologie und Postmoderne, Frankfurt/ Main, New York 1: Campus 1999, S. 33. 4 Willem van Reijen, Das unrettbare Ich. In: Die Frage nach dem Subjekt, hrsg. v. M. Frank, G. Ranlet, W. v. Reijen, Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 374. 5 Ebd., S. 398. 6 Ebd., S. 399. 7 Walther Ch. Zimmerli (wie Anm.1), S. 18. 8 Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 5. Aufl., Berlin: Akad.-Verlag 1997, S. 32. 9 Marco Bormann, Der Einbruch der Postmoderne in das moderne Denken und deren metaphysische Implikationen, Aachen 2002, S. 87. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Klaus-Jürgen Bruder, Subjektivität und Postmoderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 98. 13 Ebd. (Bruder verweist hier auf: Vom Weiterlesen der Moderne, Bielefeld 1986, S. 14 f.) 14 Ebd. 15 Ebd., S. 133. 16 Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin: Merve 1990, S. 7-29; vgl. auch Bruder (wie Anm. 12), S. 133. 17 Wolfgang Welsch (wie Anm. 8), S. 182. 18 Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien: Böhlau 1986, S. 116. 19 Ebd., S. 119. 20 Vgl. ebd. 1
265 Hans Lenk, Postmodernismus, Postindustrialismus, Postszientismus. In: (wie Anm.1), S. 153-198, hier: S. 179. 22 Lyotard, Das Grabmal des Intellektuellen, Graz/Wien: Böhlau 1985, S. 77. 23 Lyotard, Das postmoderne Wissen (wie Anm. 18), S. 32. 24 Bormann (wie Anm. 9), S. 87. 25 Ebd., S. 88. 26 Lyotard, Das postmoderne Wissen (wie Anm. 18), S. 78. 27 Ebd., S. 63. 28 Ebd., S. 64. 29 Ebd., S. 67. 30 Lenk (wie Anm. 21), S. 181. 31 Ebd. 32 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 109. 33 Lenk (wie Anm. 21), S. 183. 34 Walter Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg: Junius 1988, S. 31. 35 Lenk (wie Anm. 21), S. 192. 36 Lenk (wie Anm. 21), S. 193. 37 Lyotard, Das postmoderne Wissen (wie Anm. 18), S. 175. 38 Ebd., S. 188. 39 Ebd., S. 189-190. 40 Bruder (wie Anm. 12), S. 83. 41 Ebd. 42 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971, S. 412, 462. 43 Bruder (wie Anm. 12), S. 108 f. zitiert hier Scheer, Der Mensch-Metapher: In: Vom Weiterlesen der Moderne, Bielefeld 1986, S. 56. 44 Lyotard (wie Anm. 18), S. 119. 45 Lyotard (wie Anm. 22), S. 18. 46 Ebd. 47 Vgl. Bruder (wie Anm. 12), S. 139. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 140. 50 Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München: Matthes & Seitz 1985, S. 140. 51 Ebd. 52 Lenk (wie Anm. 21), S. 185. 53 Lenk (wie Anm. 21), S. 184. 54 Lenk (wie Anm. 21), S. 185. 55 Wellmer (wie Anm. 32). 56 Lenk (wie Anm. 21), S. 193. 57 Ebd. 58 Ebd. 21
266 Ebd., S. 194. Lenk zitiert hier Wellmer (wie Anm. 32). Ebd., S. 194. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 195. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 195 f. 69 Herbert Schnädelbach, Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000, S. 84. 70 Ebd. 71 Zur Problematik dieser Kantauffassung bei Lyotard vgl. Herta NaglDocekal, Das heimliche Subjekt Lyotards. In: (wie Anm. 4), S. 230 ff. 72 Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hrsg. von Wolfgang Welsch Weinheim: VCA 1988, S. 203. 73 Zimmerli (wie Anm. 1), S. 19. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 21. 77 Rainer Rotermundt, Jedes Ende ist ein Anfang, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1994, S. 130 ff. 78 Ebd., S. 133. 79 Welsch (wie Anm. 8), S. 62. 80 Ebd. 81 Rotermundt (wie Anm. 77), S. 138. 82 Ebd. 83 Welsch (wie Anm. 8), S. 5. 84 Ebd., S. 256. 85 Ebd., S. 307. 86 Rotermundt (wie Anm. 77), S. 140. 87 Ebd., S. 141. 88 Welsch (wie Anm. 8), S. 126. 89 Rotermundt (wie Anm. 77), S. 141. 90 Welsch (wie Anm. 8), S. 177. 91 Rotermundt (wie Anm. 77), S. 141. 92 Ebd., S. 142. 93 Ebd. 94 Welsch (wie Anm. 8), S. 184. 95 Vgl. ebd., S.183 f. 59 60
III Auf der Suche nach Weisheit
Dagmar Fenner WEISHEIT – EIN ANTIQUIERTER BEGRIFF IN DER PHILOSOPHIE? Zur Möglichkeit und Notwendigkeit der gegenwärtigen Weisheits-Renaissance
Angesichts der unter der Führungsrolle der natur- und sozialtechnologisch relevanten Wissenschaften vollzogenen extremen Spezialisierung und Ausdifferenzierung des Wissenssystems in immer engere Disziplinen mit spezialistischem Fachwissen scheint das Bemühen um „Weisheit“, das in der Bezeichnung unserer Arbeitsbereiche steckt, gänzlich obsolet geworden zu sein. Zunächst soll die Verdrängung der Weisheitsliebe bzw. -suche anhand einiger historisch-kultureller Etappen der veränderten Bedingungen der Wissensinstitutionen und Gesellschaftsstrukturen nachgezeichnet werden (1). Danach wird das neuzeitliche Wissenschaftsideal mit dem antiken Weisheitsideal kontrastiert, und die Philosophie in diesem Spannungsfeld geortet (2). Schließlich wird mit Blick auf die aktuelle Weisheitsrenaissance in verschiedenen Wissenschaften ein integrativer Ansatz eines gegenwartsfähigen Weisheitskonzeptes entworfen (3).
Obgleich Philosophie vom etymologischen Ursprung her „Liebe zur Weisheit“ meint – zusammengesetzt aus griechisch philia („Freundschaft“) und sophia („Weisheit“) als „Liebe zur Weisheit“ – versteht kaum ein heutiger Philosoph seine Tätigkeit noch als Weisheitsstreben. Vielmehr war der Weisheitsbegriff seit der frühen Neuzeit aus dem philosophischen Diskurs verbannt. Auch wo noch von Weisheit gesprochen wird, etwa bei Descartes oder Kant, spielt der Begriff im philosophischen System keine zentrale Rolle mehr. Zu faszinieren vermag die Philosophie als Weisheitsliebe heute offenbar nur noch durch die Personifikation der „Weisheit“ in einer fiktiven Mädchengestalt der
270 wissbegierigen „Sophie“!1 Inmitten unserer hochentwickelten westlichen Industriegesellschaften scheint das Bemühen um Weisheit obsolet geworden zu sein, indem die Führungsrolle der natur- und sozialtechnologisch relevanten Wissenschaften einerseits eine extreme Spezialisierung und Ausdifferenzierung des Wissenssystems in immer engere Disziplinen mit spezialistischem Fachwissen zeitigte und damit den Einblick in tieferliegende Zusammenhänge erschwert, andererseits den Anspruch auf lückenlose rationale Kontrolle und bürokratische Ordnung sämtlicher Lebensbereiche erhebt. Hat aber nicht gerade unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation mit der Dominanz der Leistungskriterien Effizienz und Optimierung und der Konzentration auf das augenblicklich Nützliche und Verkäufliche infolge der dadurch implizierten Orientierungs- oder Legitimationskrise eine „Rückkehr zur Weisheit“ nötig, wie sie da und dort ausgerufen wird?2 Hängt nicht der sowohl seitens einer breiteren Öffentlichkeit wie unter Philosophen selbst zunehmend monierte „Wirklichkeits- und Wirkverlust heutiger abendländischer Philosophie“ eng „mit der Verdrängung der Weisheitsliebe bzw. Weisheitssuche zusammen“,3 so dass die Rückbesinnung auf die Weisheitskomponente in der Bezeichnung unseres Arbeitsbereiches intensiviert werden müsste? Wie sind die Möglichkeiten einer Weisheitsrenaissance im gänzlich veränderten gesellschaftlich-kulturellen Kontext der Moderne einzuschätzen, die sich anlässlich diverser Tagungen und Kolloquien seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ankündigt?
1. Historische Rückblende Um zu prüfen, aus welchem Grund und ob zu Recht der Begriff „Weisheit“ aus der abendländischen Philosophie und aus dem heutigen Sprachgebrauch überhaupt fast vollständig verbannt wurde, müssen wir in einem ersten Schritt auf den griechischen Weisheitsbegriff zurückgreifen, wie er an der Geburtsstätte der
271 Philosophie gebraucht wurde. Vorliegender Beitrag setzt sich also zunächst zum Ziel, einige historische Etappen der veränderten Bedingungen der Wissensinstitutionen und Gesellschaftsstrukturen zu vergegenwärtigen, in denen das Weisheits-Sprachspiel eingebettet ist.
1.1 Weisheit an der Nahtstelle von Mythos und Logos Griechisch sophia meinte ursprünglich „jede Art von Wissen, Bildung, Tüchtigkeit oder Geschicklichkeit“, die „über die unmittelbare Lebenspraxis hinausgeht“,4 also „tiefreichende oder hintergründige Einsichten“5. Bereits in der griechischen Antike lastete infolgedessen auf dem nach Weisheit Strebenden ein erheblicher Legitimationsdruck, weil nur die Beschäftigung mit Politik oder Krieg als eines freien Mannes für würdig galt, wohingegen philosophische Bildung als „Luxus“ beargwöhnt wurde.6 Davon zeugt die bekannte Anekdote von der thrakischen Magd, die den vorsokratischen Philosophen Thales ausgelacht haben soll, weil er beim Studium der Sterne am Himmel ein vor ihm liegendes Wasserloch übersah und hineinstürzte. Der Sterngucker Thales ignorierte die unmittelbar vor seinen Füssen liegende Realität allerdings zugunsten einer höheren, nur der Abstraktion zugänglichen, die Einblick erlaubt in allgemeine, grundlegende Zusammenhänge. So will es nämlich eine andere Anekdote, dass er aufgrund seiner hervorragenden astrologisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisse eine reiche Olivenernte voraussehen und frühzeitig alle Ölpressen aufkaufen konnte, um sie – zur Demonstration der Weisheit, nicht um seines Vorteils willen – bei der Ernte teuer zu vermieten. „Darum nennt man auch Anaxagoras, Thales usw. weise, aber nicht klug, da man sieht, wie sie das für sie selbst Zuträgliche nicht erkannt, dagegen Ausserordentliches, Erstaunliches, Schwieriges und Göttliches gewusst haben, freilich Unnützes“, affirmiert Aristoteles.7
272 Grundsätzlich gilt dabei zu beachten, dass der Ort des Weisheits-Sprachspiels gar nicht notwendig die Philosophie sein muss, da die großen Weisen sowohl vor der Ausbildung der Philosophie als auch in wenig differenzierten Gesellschaften fremder Kulturen sich weder aus Philosophen noch Wissenschaftlern rekrutieren, sondern wie etwa die berühmten „sieben Weisen“ aus Schiedsrichtern oder Ratgebern, die kraft ihres umfassenden Wissens gesellschaftliche Ordnung und Einheit zu stiften vermögen.8 Solche nicht-philosophische Weisheit findet ihren Niederschlag entweder in enthusiastischen Weisheitsoffenbarungen von erleuchteten Schamanen, Propheten oder Dichtern oder aber in den auf langer, bewährter Lebenserfahrung basierenden Spruch- und Erzählsammlungen.9 Letztere manifestieren sich häufig in Kurzformeln wie etwa „Erkenne den passenden Augenblick!“, „Die Meisten sind schlecht!“ oder „Maß ist das Beste!“ Im griechischen Kulturraum des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts an der Übergangsstelle vom „Mythos zum Logos“ werden jedoch solche vorphilosophischen Weisheitsformeln ihres mythisch-theologischen Hintergrundes beraubt und damit gleichsam ortlos: Nachdem die traditionellen, mythischen oder religiösen Weisheitslehren an Glaubwürdigkeit verloren haben und sich in der neuen Lebensform der griechischen Polis anstelle des mythisch-autoritären ein rationales, selbständiges diskursives Denken, ein in den öffentlichen Diskussionen über gemeinsame Angelegenheiten systematisch zu begründendes und argumentativ zu verteidigendes Wissen durchsetzte, sind solche Leerformeln allenfalls „sophistisch“ missbrauchbar. Insbesondere Platon und Aristoteles pochen darauf, „dass in einer solchen Situation, in der die gesellschaftliche und politische Praxis arbeitsteilig in Form von methodisch lehr- und lernbaren geistigen ‚Künsten‘ […] und handwerklichen Techniken und Produktions- und Organisationsverfahren besorgt wird, Philosophie nötig wird als das neue Organ des Sich- und AnderenRechenschaft-Gebens (des logon didonai).“10 Die europäische Philosophie entwickelt sich also von allem Anfang an aus der
273 Spannung zu vor- und außerphilosophischen Weisheitsvorstellungen, aus der Spannung zwischen Mythos und Wissenschaft, so dass die attische Philosophie als „die ‚Aufhebung‘ und das vernünftige Zusichkommen der älteren Weisheitslehren“11 bezeichnet werden kann. Immanuel Kant, dem die noch zu seiner Zeit verbreitete Vorstellung ein Dorn im Auge war, Weisheit ließe sich ohne Arbeit im Selbstdenken und begründendes Argumentieren mit andern von einem „Höheren“ orakelhaft einflößen, bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt.“12 1.2 Weisheit in klassischer Antike und Hellenismus Philosophie verbündet sich also bereits an ihrem Ursprung mit der methodisch vorgehenden, begründungsorientierten Wissenschaft, um die Weisheitssuche vor Spekulationen und Schwärmereien zu schützen, die als bloße „Meinungen“ (doxa) nicht wahrheitsfähig sind. Während Platon die Wissenschaften lediglich als „Vorspiel“ zum Aufschwung der Seele zur intuitiven Einsicht in die ewigen allgemeinen Ideen würdigt,13 ist nach Aristoteles „Weisheit die Wissenschaft und das geistige Erfassen dessen […], was seiner Natur nach am ehrwürdigsten ist“14. Wolfgang Welschs plakative These, in der Philosophie der Antike hätte sich „der Begriff der Weisheit von einem theoretischen zu einem praktischen Ideal“ gewandelt,15 fordert an dieser Stelle unsere Aufmerksamkeit heraus: Hinsichtlich des platonischen Weisheitsmodells lässt sich schwerlich eine Trennung von theoretischem und praktischem Weisheitsideal vornehmen, da Weisheit als „Tugend“ oder das „funktionale Optimum“ des vernünftigen Seelenteils gilt, welcher Harmonie in der menschlichen Seele herzustellen hat. Nach dem erfolgreichen „Aufstieg“ zu den Ideen soll der Philosoph mit einer solchen vernunftgeleiteten Seele wieder hinabsteigen und in Platons Modell eines Idealstaates die höchstmögliche Tätigkeit der Staatskunst als Mitglied
274 des Herrscherstandes übernehmen. Denn nur er verfügt über das nötige Orientierungswissen zur richtigen Einrichtung und Lenkung des Staates.16 Laut Welsch hat aber Platons Schüler Aristoteles die Weisheit derart beschnitten, auf den theoretischen Bereich eingeschränkt und der politischen Betätigung entgegengesetzt, dass er fraglichen „Umschlag“ zu einem praktischen Weisheitsideal provoziert hätte. Überraschenderweise attestiert Aristoteles, wie vor ihm schon der (platonische) Sokrates,17 Weisheit den Handwerkern und Künstlern, sofern sie ihre Kunst (techne) vortrefflich beherrschen, so dass Weisheit als „Vollkommenheit der Kunst“ zu begreifen wäre.18 Wo der platonische Weise Ordnung im Staat und den menschlichen Lebensverhältnissen schafft, scheint er sich bei Aristoteles auf ein spezielles handwerkliches Fachwissen zu konzentrieren. Allerdings bildet diese Meisterschaft im Kunsthandwerk als eine nicht-philosophische Weisheit nur die unterste Stufe eines komparativen Weisheitskonzeptes, wie es Aristoteles in der Metaphysik projektiert. Eigentliche, philosophische Weisheit erlangt man nämlich erst dank der Meisterschaft in den Wissenschaften, wobei den sich mit den allgemeinen, abstrakten Prinzipien um ihrer selbst willen befassenden Wissenschaften wiederum ein höherer Weisheitsgrad zukommt als den wesentlich ungenaueren, sich mit konkreten begrenzten Wirklichkeitsausschnitten befassenden Wissenschaften.19 Die als höchste Weisheit ausgezeichnete, um ihrer selbst willen verfolgte theoria („Betrachtung“) der metaphysischen Ordnung und ersten Prinzipien muss aber keineswegs einflusslos bezüglich der menschlichen Praxis bleiben, denn als Wissenschaft, die „in jedem Einzelnen das Gute und überhaupt das Beste in der gesamten Natur“ erkennt,20 gewinnt sie für unser Dasein an Bedeutung. So legt sie – tautologischerweise – als „das Beste“ des Menschen die rein theoretische Vernunfttätigkeit, die um Weisheit bemühte „theoretische Lebensform“ an den Tag,21 wodurch freilich das ethisch-politische Leben abgewertet und der zweckfreien sophia vor der handlungsleitenden phronesis („Klug-
275 heit“) der Vorzug gegeben wird. Allerdings stellt Aristoteles der platonischen Synthese von Philosophie und Politik in den Philosophenkönigen „nicht etwa ihre Entzweiung entgegen, die strenge Trennung von politischer und theoretischer Existenz“, wie Otfried Höffe klarstellt, weil für den auf das Zusammenleben mit seinesgleichen angewiesenen Menschen die höchste Weisheit „als zwar dominantes, aber doch als nur relativ und nicht absolut vorzugswürdiges Ziel“ fungieren kann.22 Für den im Unterschied zur rein betrachtenden Existenz der Götter als „Mensch unter Menschen“23 Lebenden stellt Weisheit vielmehr eine Art „immanente Transzendenz“ dar,24 ein permanentes Überschreiten der irdisch-menschlichen Dinge kraft seiner Logos-Natur. Obgleich Aristoteles infolge seiner Trennung der theoretischen von der praktischen Philosophie die Weisheit als wertvollste Wissenschaft und Verstandestugend dem Theoriebereich zuschlägt, erweist sich damit Welschs Darstellung als überspitzt: „Der Aristotelische Strukturwandel – die Partialisierung der Weisheit und die Etablierung der phronesis als Komplementärinstanz – bahnt einer Umpolung den Weg, die bei den Epikureern und Stoikern schließlich vollzogen wird und bis in unsere Tage hinein wirksam ist.“25 Grundsätzlich gilt gegen seine Strukturwandel-These mit Pierre Hadot festzuhalten, dass das scheinbar theoretische Weisheitsideal eines vollkommenen Wissens von den allgemeinen Ideen oder den universellen kosmischen Prinzipien und Zwecken bei Platon und Aristoteles wie in der Antike insgesamt eine veränderte Grundhaltung oder Seinsweise des Menschen impliziert. Denn „dieses Wissen, wie wir bei Platon und Aristoteles gesehen haben, [besteht] nicht [nur] im Besitz von Informationen über die Wirklichkeit, sondern ist ebenfalls eine Lebensweise, die der höchsten Tätigkeit, die der Mensch ausüben kann, entspricht und eng mit der Vortrefflichkeit, mit der Tugend der Seele verbunden ist.“26 Die Lebensform des philosophischen Weisen hebt sich dabei insofern von einer populären Lebenskunst ab, als dieses theoretische Wissen methodisch-wissenschaftlich fundiert sein muss und seinen Sinn
276 nicht in einer pragmatisch-klugen, auf unmittelbaren Nutzen abzielenden Bewältigung konkreter alltäglicher Geschäfte erschöpft, wie die Thales-Anekdoten illustrieren. Zutreffen mag vor diesem Hintergrund Welschs auch von Bien bekräftigtes Postulat, unserem heutigen (außerphilosophischen) Weisheitsverständnis entspreche weit eher als die sophia die aristotelische Lebensklugheit (phronesis), die für das situationsadäquate Handeln unter der Bedingung einer tugendhaften Grundausrichtung sorgenden Urteilskraft,27 wohingegen selbst der hellenistische Weise notwendig über vertiefte allgemeine systematische Kenntnisse in den drei philosophischen Teildisziplinen der Logik, Physik und Ethik verfügen musste: Auch im Rahmen der hellenistischen Schulen der Stoiker, Skeptiker und Epikureer war der theoretische philosophische Diskurs für das Einüben in eine ausgewählte Lebensform grundsätzlich unverzichtbar, weil er erstens die spezifische Lebenswahl rechtfertigt und zweitens als privilegiertes erzieherisch-therapeutisches Mittel zur Einwirkung auf sich selbst oder andere fungiert: So muss man beispielsweise bei der existentiellen Entscheidung den Platz des Menschen in der Welt erforschen, wie wir es beim Stoizismus oder Epikureismus gesehen haben, und so eine „Physik“ […] ausarbeiten, zugleich die Beziehungen des Menschen zu seinesgleichen definieren und auf diese Weise eine „Ethik“ entwerfen, schließlich die Regeln des in der Physik und der Ethik benutzten Argumentierens selbst definieren und so auch eine „Logik“ und eine Erkenntnistheorie schaffen.28
Im Kontrast zum aristotelischen Ideal selbstzweckhaften Erkennens wurden zugegebenermaßen die sich im Hellenismus herausbildenden Teildisziplinen Logik (Sprach- und Erkenntnistheorie) und Physik (Metaphysik und Psychologie) um der Ethik (Handlungs- und Gesellschaftstheorie) willen betrieben,29 innerhalb welcher dem Einüben durch regelmäßige Praxis unter Anleitung und Aufsicht immer mehr Raum gegeben wurde, während man gleichzeitig die sich aus der Philosophie emanzipierenden Wissenschaften wie Mathematik oder Mechanik be-
277 argwöhnte.30 Obgleich der philosophische Weise statt durch Prinzipienwissen primär durch den Seelenzustand innerer Ruhe (apatheia), Ausgeglichenheit und Unerschütterlichkeit (ataraxia) charakterisiert wird, basiert diese Haltung auf therapeutisch-praktischer Verankerung theoretischer Einsichten in eine vernünftige, wohlgeordnete Weltordnung (Stoa), die Struktur der natürlichen menschlichen Bedürfnisse und die Sinnlosigkeit von Todes- und Gottesfurcht im atomistischen Weltbild (Epikur) oder die generelle Nichteinlösbarkeit menschlicher Wahrheitsansprüche (Skepsis) in einer Persönlichkeit. Trotz einer Akzentverschiebung von der aristotelischen Weisheit mit Schwergewicht auf der theoretischen Lebensform zu den hellenistischen therapeutischen Programmen bleibt Weisheit auch als Figur praktischer Vorbildlichkeit an allgemeine theoretische Erkenntnisse bezüglich der Götter, der Welt und der Natur des Menschen gekoppelt. 1.3 Weisheit in Mittelalter und früher Neuzeit An den Weisheitsbegriff des Mittelalters können wir heute schwerlich anknüpfen, weil Weisheit als „Wissenschaft von göttlichen Dingen“ aus der Philosophie und den Wissenschaften verbannt und dem Bereich des Glaubens zugeschlagen wurde.31 Philosophie wurde nicht mehr als praktische Lebensweise toleriert, da die antiken Tugenden als lasterhaft entlarvt wurden und vollständig der religiösen Frömmigkeitspraxis zu weichen hatten. Sie wurde auf den theoretischen Bereich, auf das methodische Kommentieren der Aristoteles-Übersetzungen eingeschränkt und zur Magd der Theologie degradiert.32 Während die sapientia (Weisheit) in der Philosophie und Theologie des Mittelalters, wenngleich mit stark religiösen Konnotationen, durchgängig große Wertschätzung erfuhr, wird sie in der Philosophie der Neuzeit zusehends marginalisiert: „Auch wo von Weisheit noch gesprochen wird, wie z.B. bei Descartes und Kant, bleibt der Begriff, gemessen an der sonst ausgearbeiteten Fülle dieser
278 Philosophien, verhältnismäßig unbestimmt. Zumindest wirkt der Begriff wie eine nicht notwendige traditionelle Übernahme.“33 Ungeachtet eines radikalisierten Dualismus’ von theoretischer und praktischer Philosophie scheint Kant die philosophische Weisheit einheitlich als eine Art kritisch reflektiertes „Grenzwissen“34 vom Ganzen und Ersten der menschlichen (Lebens-)Welt zu begreifen, seien es nun die Ideen „Welt“, „Seele“ und „Gott“ der Kritik der reinen oder die Postulate „Freiheit“, „Unsterblichkeit“ und „Gott“ der praktischen Vernunft, ohne die weder Einheit gedacht noch Ordnung hergestellt werden könnte. Indem sich aus diesen formalen Ideen nichts Gegenständliches ableiten lässt, steht prinzipiell der Weg offen für konkrete inhaltliche, aus Erfahrung gewonnene oder historisch-kulturell vermittelte Weisheit, sofern sie nur mit der Weisheit aus Vernunft qua Grenzwissen vereinbar ist. Denn die Philosophie „bezieht alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrung verstattet.“35 Im Rahmen seines Primats der praktischen Vernunft scheint Kant gleichwohl den Vernunftideen der Totalität aller Bedingungen im Reich der Sittlichkeit höheren Tribut zu zollen als denjenigen im Reich der Natur, indem er Weisheit als Lehre vom „höchsten Gut“, d.h. von der Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit zu redefinieren vorschlägt: „Diese Idee praktisch –, d.i. für die Maxime unseres vernünftigen Verhaltens, hinreichend zu bestimmen, ist die Weisheitslehre, und diese wiederum, als Wissenschaft, ist Philosophie.“36 Selbst das in den hellenistischen Schulen großgeschriebene Moment des Einübens der wichtigsten Erkenntnisse bezüglich der philosophischen Kernfragen „Was kann ich wissen?“ (Metaphysik), „Was soll ich tun?“ (Ethik), „Was darf ich hoffen?“ (Religion) und „Was ist der Mensch?“ (Anthropologie) wird wiederbelebt, wenn er postuliert: „Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph.“37 Merkwürdigerweise wurde Kant jedoch bereits zu Lebzeiten nicht als „Weisheitslehrer“ rezipiert, sondern mit einseiti-
279 ger Fokussierung auf seine einschneidenden theoretisch-systematischen Neuerungen der „Kopernikanischen Wende“ oder des „Kategorischen Imperativs“. Verfolgt man die neuzeitliche Tradition einer grundsätzlich wissenschaftsakzentuierten Philosophie weiter, erweist sich Kant, indem er eine auf Einheit im Unbedingten zielende Weisheit mit Wissenschaft und das theoretische Wissen mit praktischer Anleitung zu amalgamieren sucht, als letzte Ausnahme.
2. Die neuzeitliche Spannung zwischen Weisheit und Wissenschaft Die Weiterentwicklung der bereits in Kants Augen vorbildhaften, sich vollständig von der Philosophie abgekoppelten Mathematik und Naturwissenschaften38 und ihr durchschlagender Erfolg zeitigen eine Angleichung der Philosophie an deren spezifisches Wissenschaftsverständnis und einen gänzlichen Verzicht auf das Weisheitsideal, wodurch das ursprüngliche philosophische Selbstverständnis als Weisheitsstreben ins Wanken gerät. In einem zweiten Schritt gilt es daher, die konkreten Differenzen zwischen dem neuzeitlichen Wissenschaftsideal und dem antiken Weisheitsideal herauszuarbeiten.
2.1 Das neuzeitliche Wissenschaftsideal (1) Nachdem sich eine wissenschaftliche Disziplin um die andere aus der Philosophie verabschiedet hat, differenziert sich die Wissenschaft in ein immer feineres System von wissenschaftlichen Fächern aus, die über einen immer kleineren Wirklichkeitsausschnitt immer exaktere Aussagen zu machen vermögen. Die ursprüngliche Einheit der Wissenschaften in der Philosophie als der „Königin der Wissenschaften“ macht aber nicht nur einer durchgängigen Atomisierung der Fächer Platz, sondern aus den
280 Grenzen der Disziplinen drohen zunehmend Erkenntnisgrenzen zu werden, indem die meisten Einzelwissenschaftler das Ausblendungsprinzip adaptieren und als Spezialisten gerne generalisieren, d.h. die Gesetzmäßigkeit ihres Forschungs- und Wirklichkeitsfeldes auf alle anderen Bereiche übertragen. Somit wird zwar das Wissen vermehrt, ohne dabei aber zur Ganzheit des Wissens und zur Weisheit beizutragen, weil Sinn und Zusammenhang fehlen, wodurch zugleich der ursprüngliche Bildungsauftrag der Philosophie als Formung einer inellektuell-sittlichen Gestalt des Menschen verabschiedet wird.39 (2) Einher mit der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften geht ihre Entpersönlichung und Versachlichung, weil man nur nach dem Vorbild der messenden und objektivierenden Naturwissenschaften auf „den sicheren Gang einer Wissenschaft“40 zu kommen wähnt. Obgleich sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegengründung gegen die aufstrebenden empirisch-analytischen Naturwissenschaften („sciencies“) die Geisteswissenschaften zusammenschließen, um sich dem Menschen mit seinen Lebensordnungen und seinen Medien der Selbst- und Weltdeutung anzunehmen, geraten ihre eigenen kritisch-hermeneutischen bzw. historisch-philologischen Methoden immer wieder unter Rechtfertigungszwang im Vergleich zum positivistischen Exaktheitsideal der „sciencies“ – zumal ihnen bereits die Sammeletikette „humanities“ den Wissenschaftscharakter abzusprechen scheint. Anlässlich des sogenannten Positivismusstreits in der deutschen Soziologie der 60er Jahre zwischen der Frankfurter Schule und Vertretern einer neoliberalen Gesellschaftsphilosophie zeigt sich in aller Schärfe, dass der von Karl Popper aus der Praxis der Naturwissenschaften gewonnene Maßstab wissenschaftlicher Erkenntnis, das Falsifikationskriterium, alle nicht-falsifizierbaren, d.h. nicht-objektivierbaren und damit nicht empirisch überprüfbaren Theorien mitsamt den verstehend-hermeneutischen Methoden für wissenschaftlich irrelevant erklärt.41
281 (3) Auch wenn die Wissenschaften „ihrer ursprünglichen Idee nach und auf die Gesellschaft bezogen nicht nur wissenserweiternde, sondern auch das Leben der Gesellschaft orientierende Institutionen sind“42, wird infolge der Dominanz der „positiven“ (Natur-)Wissenschaften mit ihrer sich ausschließlich auf Tatsachen beziehenden Objekt- oder Zweckrationalität sukzessive das Orientierungswissen aus den Wissenschaften ausgegrenzt. Während Max Weber mit seinem „Wertfreiheitspostulat“ entgegen verbreiteter Annahmen keineswegs die notwendig jeder wissenschaftlichen Untersuchung zugrundeliegenden vorwissenschaftlich-lebensweltlichen Motive verleugnet, sondern lediglich auf die strikte Trennung des Problembereichs von Werten und Zielen und demjenigen empirischer Tatsachenwissenschaft pocht, führt er aber misslicherweise solche Zwecksetzungen ausschließlich auf irrationale, historisch-religiöse Quellen zurück und negiert damit die Möglichkeit diskursiver, rationaler Gewinnung von Bewertungsmaßstäben.43 Die einseitige Konzentration auf ein von jeder lebensweltichen, individuellen oder kollektiven Wertorientierung scheinbar abgelöstes theoretisches Wissen impliziert die irreversible Entkoppelung von (Lebens-)Orientierung und Wissen/Wissenschaft, von ethisch-praktischer Gestaltung des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens und wissenschaftlich-theoretischem Wissen: „Wissenschaft und Technik bringen die moderne wissenschaftlich-technische Welt hervor, nicht jedoch ein Lebenswissen und eine Technik des Lebens, die damit auch zurechtkommen könnte.“44 (4) Indem sich die Naturwissenschaften mit der rein mechanistisch-instrumentalistischen neuzeitlichen Technik kurzschließen und das theoretische Wissen sich mit dem technischen Können paart,45 wird Wissen immer mehr als Bemächtigung und Beherrschung aufgefasst und führt Forschung immer mehr zur Verdinglichung ihrer Gegenstände zum Zweck des Verfügenkönnens. „In dem Maße, in dem die Wissenschaft zunehmend nur noch Verfügungswissen (über Natur und Gesellschaft) und kein Orientierungswissen (in Natur und Gesellschaft) mehr pro-
282 duziert, gerät die gesellschaftliche Welt in Gefahr, sich selbst nicht mehr anders als Maschine zu begreifen.“46 Je mehr auch die nicht-technischen Geistes- und Sozialwissenschaften „verwissenschaftlicht“, d.h. nach Popper zu praktisch-technischen Problemlösungsversuchen umgemünzt werden, verdrängt die instrumentelle oder Zweck-Mittel-Rationalität die kommunikative, moralisch-praktische Vernunft, die allein Zweck und Richtung des wissenschaftlich-technischen „Fortschritts“ bestimmen und messen kann.
2.2 Das antike Weisheitsideal Im Gegensatz zur Spezialisierung (1), Versachlichung (2) und Ausgrenzung des moralisch-praktischen Orientierungs- (3) zugunsten des technischen Verfügungswissens (4) in der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften wäre das antike Weisheitsideal durch folgende Hauptmerkmale zu charakterisieren: (1) Weisheit zielt elementar auf das Ganze, sowohl im Bereich der Theorie auf einen reflektierten Zusammenhang von allgemeinen und ersten Prinzipien oder Ideen als auch in praktischer Hinsicht auf einen dauerhaften Habitus, eine feste Lebensform. Im Gegensatz zum Partikularismus neuzeitlicher Wissenschaften, deren Wahrheitsanspruch nur einen Ausschnitt der faktischen Welt betrifft, ist das totalitätszentrierte Wissen der Weisheit nicht nur umfassender, sondern auch tiefer in dem Sinne, dass es die einzelnen Erkenntnisse auf das menschliche Leben insgesamt, auf die Ideen von Gott oder der Natur fokussiert. Dem Weisheitsstreben ist also nur da Erfolg beschieden, wo es gelingt, von einem einzelnen Gegenstand oder Problem Distanz zu gewinnen und einen allgemeineren Horizont zu eröffnen, der die unmittelbar in der faktischen Lebenswelt verankerten Problemstellungen erweitert zu den Fragen nach den letzten Dingen. (2) Sich vom unpersönlichen, objektivierbaren und falsifizierbaren Tatsachenwissen der (empirischen) Wissenschaften
283 abgrenzend, ist Weisheit eher Formation als Information.47 Das theoretische Wissen des Weisen, auch wenn es selbstzweckhaft erworben wurde, ist eng verknüpft mit einer Arbeit an der eigenen Realitätswahrnehmung, an seinen Beziehungen zu den Mitmenschen und an sich selbst, seiner eigenen seelischen Verfassung. Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden, und dies verlangt sie, daß jeder nach seinem eigenen Grundsatz lebe, daß das Leben nicht zur Rede im Widerspruch stehe oder gar zu sich selbst […]. Das ist die wichtigste Aufgabe der Weisheit und ihr sicherstes Merkmal, daß Handlungen mit Worten harmonieren, daß jeder überall sich selbst treu und immer derselbe bleibe.48
Während Weisheit einerseits, wo das Ideengerüst als Bedingung intuitiver Erkenntnis entfällt, Erfahrung und Übung voraussetzt, hat sie sich andererseits in Situationen zu beweisen, nicht bei pragmatisch-technischen Problemlösungen unmittelbar-alltäglicher Geschäfte zum Zwecke kurzfristiger Erfolge zwar, sondern im langfristigen Gelingen bei der Realisation individueller oder sozialer Lebensziele. (3/4) Weisheit stellt geradezu eine Inkarnation des in den ausdifferenzierten wissenschaftlichen Disziplinen marginalisierten Orientierungswissens dar, wobei das genuin philosophische Orientierungswissen kein in der Alltagswelt vorfindbares historisch-kulturelles Lebensweltwissen sein kann, sondern in Willi Oelmüllers Worten „ein in Reflexionsprozessen der Vernunft durch Synthesen des jeweiligen außerwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Wissens entwickeltes und diskutiertes Wissen.“49 Philosophisches Orientierungswissen, sich sowohl über lebensweltlichen Erfahrungen wie wissenschaftlichen Erkenntnissen erhebend, orientiert nicht über das, „was der Fall ist, sondern über das, was für das Denken, Handeln und Leiden der Menschen bedeutsam, ja verbindlich ist.“50 Obgleich es gemäß dem auf Aristoteles zurückgehenden Diktum Thomas von Aquins Sache des Weisen ist, Ordnung zu stiften („sapientis est ordinare“),51 sind rationale, administrative oder technische Regelsysteme solange unzulänglich, als die kohärente Ordnung ei-
284 nen Sinn oder Zweck vermissen lässt, der nur mittels einer Reflexion auf das gute menschliche Leben in den menschlichen Erfahrungshorizonten „Gott“, „Natur“ und „Kultur“ zu finden ist.52 Weisheit ist also trotz aller lebenspraktischer Relevanz wesentlich kontemplativ und reflektierend-reflexiv konturiert statt aktionistisch und pragmatisch-technisch.
2.3 Philosophie zwischen Wissenschafts- und Weisheitsideal Konfrontiert mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsideal wollte die Philosophie, die von Aristoteles bis Hegel geradezu mit Wissenschaft identifiziert wurde, ihren Wissenschaftsstatus keineswegs einbüßen. Wenn sich aber die Philosophie selbst als ein disziplinäres Fach der Geisteswissenschaften im System der Wissenschaften zu definieren und zu behaupten hat, „das wie andere Wissenschaften durch Arbeit am Forschungsprozess gekennzeichnet ist, da nimmt man in der Regel Abschied von alten Weisheitsdefinitionen“53, lautet Oelmüllers untrügliche Diagnose. Denn (1) empfiehlt sich infolge der innerphilosophischen Erosionserscheinungen heute auch der Philosoph „als Spezialist für Vorsokratiker etwa oder für Prädikatenlogik 2. Stufe, jedenfalls nicht mehr für Philosophie.54 (2) Die unübersehbare Entpersönlichung und Versachlichung des Wissens in der Philosophie war bereits Friedrich Nietzsche ein Dorn im Auge, weil ein solches die Philosophie auf Philologie reduziere und die Philosophen nicht zu großen Persönlichkeiten, sondern zu „wandelnden Encyclopädien“ bzw. mechanisch Eier legenden „erschöpften Hennen“ heranzüchte.55 Zweifellos wird vom akademischen Philosophen an gegenwärtigen philosophischen Instituten weder eine besondere Lebensführung noch Charakterbildung verlangt. (3/4) Angesichts der Disaggregation der philosophischen Disziplin in lauter Bindestrich-Philosophien, die sich durch den Anschluss an einzelwissenschaftliche Fächer zu profilieren suchen sowie eine Sprachphilosophie, die sich im Unterschied zu den ri-
285 valisierenden Wissenschaften nicht mit der Wirklichkeit beschäftigt, sondern mit der Art, wie man über die Wirklichkeit spricht, erschallt da und dort der Appell zu einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ (Manfred Riedel). Wo nämlich die Philosophie sich als Wissenschaftstheorie, sprachanalytische Technik oder reine Begriffsgeschichte gestaltet, kapituliert sie vor der den „humanities“ überantworteten Aufgabe, „Methoden der Ermittlung theoretischen Wissens mit Methoden praktischer Sinnorientierung des handelnden Menschen in seiner Geschichte in einen widerspruchsfreien Begriffs- und Handlungszusammenhang zu bringen.“56 Auch wenn die Philosophie allerdings um der Orientierung willen praktisch wird in Form Angewandter Ethiken, droht man oft der zweifachen Gefahr zu erliegen, entweder zu resignieren vor der widersprüchlichen Fülle unkoordinierter ethischer Theorien oder aber sich als Spezialist für einen bestimmten Lebensbereich – also etwa als Wirtschaftsethiker oder Ökologieethiker – in paternalistischer Manier so zu gebärden, dass man, statt zu orientieren, den Betroffenen und Experten die Entscheidungsfreiheit einfach abnimmt.57 Betreffs der philosophischen Weisheit muss man infolge dieser Entwicklung der akademischen Philosophie insgesamt laut Günther Bien jedenfalls „schon froh sein, wenn ihr Erwerb durch ein Studium der Philosophie und die forschende und lehrende Beschäftigung mit ihr wenigstens nicht verhindert wird“!58 Wenn in jüngster Zeit vermehrt die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf die „Philosophie als Weisheit“ in philosophischen Diskussionsrunden zur Debatte steht, lässt sich dies als „Krisenphänomen“ der akademischen Philosophie als solcher interpretieren, das „die Fälligkeit eines neuen Selbstverständnisses“ der philosophischen Disziplin signalisiert.59 Anstöße zu einer solchen Selbstreflexion und Rückbesinnung kommen zum einen von den häufig aus dem „akademischen Getto“ ausbrechenden „philosophischen Praktiker“, die sich anstelle interner Problemlösungen wieder den realen Problemen der Menschen zuwenden und nach sokratischem Vorbild das Medium der Mündlichkeit
286 für die Philosophie wiedergewinnen wollen. Zwischen Skylla und Charybdis der Resignation und des Paternalismus soll Angewandte Ethik als philosophische Beratung im Gespräch darauf hinarbeiten, „eine gemeinsame reflektierende Urteilskraft zu bilden, um mit ihr Problemlösungen zu entwickeln“60. Solche Beratungspraxis, bei der philosophisches, wissenschaftliches und lebenspraktisches problemrelevantes Wissen aller Gesprächspartner geprüft und erweitert wird, soll alle Beteiligten ein Stück näher zu einer oft als Leitidee philosophischer Praxis fungierenden „Weisheit“ führen und damit eine „Philosophie als Lebensform“ reetablieren.61 Feministische Philosophinnen zum andern attackieren das mit Bacon angebrochene männliche Zeitalter der neuzeitlichen Wissenschaften, weil an die Stelle einer weisheitstypischen passiv-kontemplativen und respektvollen Einstellung gegenüber dem Forschungsgegenstand ein rücksichtsloses, aggressives Macht- und Überlegenheitsstreben getreten sei.62 Zur Korrektur einer einseitigen instrumentellen Rationalitätsentwicklung in den abendländischen Wissenschaften macht man auf eine von Frauen getragene Weisheitstradition des Altertums aufmerksam, in der Liebe zur Weisheit einen affektiven und empfindsamen Zugang zum Gegenstand des Wissens meinte.63 Neben diesen beiden innerphilosophischen Appellen zur Rehabilitierung philosophischer Weisheit lassen sich auch externe Anreize in unserer Gegenwartskultur erkennen: Nachdem man in der Öffentlichkeit den philosophischen Diagnostikern der „Posthistoire“, einer selbstläufig gewordenen Moderne, in der angeblich jeder Orientierungsbedarf immer schon gestillt sei, zu Recht wenig Glauben schenkte, erhofft sich die vox populi von der Philosophie weiterhin eine allgemeine Orientierungskompetenz in persönlichen und gesellschaftlichen Fragen. Denn immer mehr Menschen leiden unter dem zunehmenden Erfahrungsverlust und der Entfremdung des Menschen in einer technisierten Produktions- und Konsumgesellschaft sowie der Ohnmacht gegenüber sich scheinbar autonom und zum Nachteil menschlicher
287 Lebensqualität entwickelnder normfreier Subsysteme von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Es verbreiten sich die unangenehmen Erkenntnisse, dass die Probleme moderner Industrienationen im Bereich Umwelt, Energie und Technologiefolgen keine additiven Lösungen nach dem Motto „wenn jeder nur das Seine tut, wird das Ganze schon gelingen“ erlauben, und dass auch eine Addition der Expertenmeinungen sämtlicher Spezialisten keine allgemeine Orientierung zu leisten vermag. Da die Einzelwissenschaftler ihr Spezialistentum mit Blindheit für das Ganze bezahlen, zieht man Philosophen als traditionelle Weisheitsliebhaber und „Spezialisten fürs Allgemeine“ hinein in öffentliche Diskussionsrunden und institutionalisierte Ethikkommissionen. Indirekter Motivationsgrund einer Weisheitsrenaissance ist darüber hinaus die eskalierende Zufluchtnahme der Orientierungslosen bei paraphilosophischen Weisheitsanbietern des New Age oder zu Importen außereuropäischer Weisheitstraditionen. Weil dabei analog zur Unterwerfung der mittelalterlichen scientia unter eine mystisch-religiös überhöhte sapientia die wissenschaftliche Rationalität unterwandert und das gesellschaftliche Problembewusstsein reduziert wird, sehen sich die Philosophen zur Reaktivierung der verschütteten Weisheitspotentiale ihrer eigenen Tradition genötigt. Soll die Philosophie entsprechend dem kantischen Programm mit wissenschaftlichen Rationalitätsstandards und philosophischem Grenzwissen wilde Weisheitsspekulationen eindämmen, hat sie offenkundig die Entwicklung eines neuen Weisheitskonzeptes zu lancieren.
3. Annäherung an ein gegenwartsfähiges Weisheitskonzept Betreffs der expliziten Weisheitstheorien der Gegenwart überrascht zunächst eine unter Philosophen verbreitete Theorierenitenz, indem man da und dort zum Schluss gelangt, dass Weisheit nicht via Wissen und Wissenschaft erworben werden könne, ja dass „Weisheit als solche nicht zu fassen sei“64. Eine Rückkehr
288 zur Weisheit erscheint vielen nur noch möglich kraft einer Reduktion des forschen Wissensstrebens, die Raum schafft für das am Anfang der Philosophie stehende Staunen und ein selbstvergessenes Sein nach Vorbild des spielenden Kindes: „Wenn Philosophie wieder im ursprünglichen Sinne ‚Liebe zur Weisheit‘ werden soll, dann kann sie dies nur, wenn sie schlichter wird und erneut das Staunen über die Welt und über den Menschen lernt.“65 Man rückt die „Liebe zur Weisheit“ in die Nähe der „Liebe zur Kunst“ und einer ästhetischen Haltung gegenüber der Welt aufgrund der für Weisheit kennzeichnenden Merkmale „Spiel, Distanz zur Welt der Praxis und des alltäglichen Zuhandenen, Nichtobjektivierbarkeit“.66 Auch wenn der Weise nicht notwendig ein „Seher, Prophet, Guru oder dergleichen sein müsse“, betont man „das antiinstitutionelle, antisystematische und darin letztlich unwissenschaftliche, je die Wissenschaften transzendierende Moment“ einer „vom Wissen der Wissenschaften wie vom Logos der Philosophie unterschiedene[n] Weisheit“.67 Entsprechend siedelt Welsch die Philosophie zwischen Weisheit und Wissenschaft an, die schlechterdings nicht kompatibel scheinen.68 Wenn aber Wissenschaft in einem weiten Sinne laut Welsch jedes Wissen umgreift, das „argumentativ verfasst und methodisch strukturiert“ ist,69 wäre eine Exterritorialisierung der Weisheit aus den Wissenschaften nur legitim unter Zurückweisung der aristotelischen methodischen Direktive, den Exaktheitsgrad einer wissenschaftlichen Untersuchung dem erforschten Gegenstandsbereich anzupassen.70 Philosophie als reaktiviertes Streben nach Weisheit braucht das wissenschaftliche Parkett also keineswegs zugunsten eines abgehobenen esoterischen Prophetismus zu verlassen, solange sie methodisch entwickelt und diskursiv-argumentativ nachvollziehbar bleibt, obgleich sie das begrenzte Wissen der Einzelwissenschaften auf das Ganze hin transzendiert und damit notwendig an naturwissenschaftlicher Exaktheit einbüßt zugunsten einer „anderen Genauigkeit der Geisteswissenschaften“71. In den letzten Jahren hat auch in der Psychologie und den Er-
289 ziehungswissenschaften die Erforschung von Weisheit eingesetzt, begünstigt einerseits durch die „kognitive Wende“ in der Psychologie, welche eine Blickerweiterung von einer rein instrumentell betrachteten Intelligenz zu komplexeren und kreativeren Wissensformen initiierte. Zum anderen begann man im Rahmen der Entwicklungspsychologie nach der Konzentration auf die Kindheit auch der Entwicklung im späteren Erwachsenenalter zunehmend Beachtung zu schenken, wobei sich Weisheit als eines der wenigen positiven Entwicklungsziele dieses Lebensabschnittes entpuppte.72 Unter Miteinbezug theoretischer und empirischer Forschungsergebnisse sowohl aus der Wissenspsychologie wie aus der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne hat insbesondere die Berliner Forschergruppe um Paul B. Baltes vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ein elaboriertes „psychologisches Weisheitsparadigma“ mit fünf Beurteilungskriterien für weisheitsbezogene Leistungen vorgelegt. Weisheit wird in diesem Zusammenhang definiert als „Expertise (im Sinne von Expertentum) im Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens, wie z.B. Fragen der Lebensplanung, Lebensgestaltung“, als „höchstes Wissen und höchste Urteilsfähigkeit in der fundamentalen Pragmatik des Lebens“,73 und die Kriterien lauten entsprechend: „Faktenwissen in grundlegenden Fragen des Lebens“ und „Strategiewissen in grundlegenden Fragen des Lebens“, „Leifespan-Kontextualismus“, „Wert-Relativismus“ und „Erkennen von und Umgehen mit Ungewissheiten“.74 Da sich dieses psychologische Weisheitsparadigma, dessen einzelne Aspekte und Kriterien wir noch erläutern werden, um die „menschlichen Lebensprobleme“ und die „Pragmatik menschlichen Lebens“ zentriert, leistet es einer Privatisierung und Pragmatisierung des Weisheitsphänomens Vorschub, die zwar auch in impliziten Weisheitstheorien dokumentiert sind, meines Erachtens aber unbedingt vermieden werden sollten. Ein philosophisches Weisheitskonzept hätte sich von anderen, an empirischen Befunden orientierten Konzepten gerade dadurch zu unterscheiden, dass es als ein normatives Konzept selbst Maß-
290 stäbe setzt und den allgemeinen Tendenzen zum SubjektivPrivaten und einem dem Positiven verhafteten PragmatischTechnischen einen Riegel vorschiebt. Ich plädiere daher für eine weite, an die antike Weisheitsvorstellung angelehnte Weisheitsdefinition als ein generelles, die unmittelbare Lebenspraxis transzendierendes Orientierungswissen, das eine reiche Lebenserfahrung und gemeinsame wissenschaftliche Erkenntnisse auf das Ganze menschlichen Lebens und menschlicher Lebenswelt reflektiert und synthetisiert und sich in einer sittlichen Grundhaltung und reifen Denkungsart manifestiert. Unter Berücksichtigung der neueren philosophischen, psychologischen und pädagogischen Weisheitsreflexionen soll abschließend versucht werden, entlang der anhand der oben in Opposition zu einer einseitigen Wissenschaftsentwicklung herauskristallisierten Weisheitsmerkmale ein solches normatives Weisheitskonzept zu spezifizieren: 3.1 Ganzheit des Wissens: interdisziplinäre Zusammenarbeit Eine weisheitstypische Ganzheit des Wissens, genauer die Komplexität gegenwärtiger Lebenssituationen oder Weltprobleme setzt zunächst elementar eine distanzierte Grundstellung zur Welt und zu sich selbst voraus als Basis für Erfahrungsoffenheit und die „Fähigkeit zur unverzerrten Realitätswahrnehmung“75. Da die für Weisheit erforderliche Breite und Tiefe des Wissens heute schwerlich ausschließlich mittels direkter Erfahrungen erreicht werden kann, müssen diese notwendig ergänzt werden durch passive und indirekte Informationsaufnahme über wissenschaftliche Forschungsberichte, Internet oder Massenmedien, wobei sich zur Vermeidung bezugsloser Kenntnisakkumulationen beide Wissensquellen das Gleichgewicht halten sollten. Totalität und Einheit des Wissens sind grundsätzlich nicht mehr dank letzter metaphysischer Prinzipien zu erlangen, sondern allein anhand transzendentaler Ideen wie „Natur“, „Kultur“, „Technik“ oder „Transzendenz“ (Gott) mit regulativer Funktion
291 für Forschung und Erfahrung. Insofern schließt Philosophie als Weisheitslehre in Kants Worten „den wissenschaftlichen Zirkel und durch sie erhalten sodann erst die Wissenschaft Ordnung und Zusammenhalt.“76 Nachdem heute ein Philosoph kaum mehr wie noch etwa Leibniz als Universalgelehrter aufzutreten und souverän das einzelwissenschaftliche Wissen zu überblicken vermag, ist die für philosophische Weisheit charakteristische Bezugnahme auf die Ganzheit des Wissens letztlich nur noch im interdisziplinären Diskurs realisierbar. Weisheitsorientierte Philosophie könnte sich mithin als wissenschaftliche Integrationsdisziplin profilieren, wenn ihre Vertreter dank geistiger Offenheit und möglichst umfassender Informiertheit die einzelwissenschaftlichen Forschungsperspektiven im Lichte solcher allgemeiner Vernunftideen kritisch gegeneinander abwägen und zu einem Gesamtbild integrieren.77 Das erforderliche Faktenwissen betrifft einerseits, wie die Psychologen Baltes/Staudinger richtig herausstellen, die „grundlegenden Fragen des Lebens“, d.h. sowohl generelle Einsichten in die Conditio Humana wie „die menschliche Natur, den zwischenmenschlichen Umgang, gesellschaftliche Normen“ als auch „spezifischeres Wissen über bestimmte Lebensereignisse und deren mögliche Konstellationen und Dynamik“.78 Dabei gilt: Ein breites Wissen weiß etwas von der Vielzahl der Kräfte, die in jedem konkreten Vorgang und in jeder konkreten Situation zusammenwirken. Es ist das Wissen um die Komplexität der Wirklichkeit, nicht einfach als allgemeine Wahrheit, sondern als ein spezifisches Wissen vor den sich stellenden konkreten Aufgaben. Je tiefer andererseits die Einsicht in menschliche, gesellschaftliche und physikalische Prozesse ist, desto grundlegender und allgemeiner sind die Zusammenhänge und desto einfacher und ökonomischer die Erklärungs- und Wirkungsprinzipien, die wir in ihnen sehen.79
Der Weise verfügt somit über ein Wissen und Denken, „das Personen oder Ereignisse nicht isoliert sieht, sondern ihre vielfachen thematischen (z.B. Familie, Beruf, Freizeit, Freunde usw.) und lebenszeitlichen Bezüge (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) berücksichtigt.“80 Weisheit, die auf diese Weise die Kom-
292 plexität und die Kontextbezogenheit von Personen und Sachverhalten in Rechnung stellt, wäre in meinen Augen gar nicht primär als Faktenwissen zu deklarieren – obwohl sie ein solches zweifelsohne voraussetzt –, sondern als prozedurales Wissen, als „Breite und Tiefe in der Problembearbeitung“81. Das durch aktive Erfahrung und passive Informationsaufnahme gespiesene Faktenwissen bildet nämlich lediglich einen beschränkten oder aber reichen kognitiven Bezugsrahmen für das Interpretieren und Deuten zukünftiger Erfahrungen bzw. Ereignisse. Ein solcher kognitiver Bezugsrahmen macht zusammen mit den prozeduralen kognitiven Fähigkeiten, den Problemgehalt von Sachverhalten aufzufassen, den begrifflichen Verarbeitungsfähigkeiten sowie den erworbenen Argumentationsstrategien das Erkenntnispotential eines Menschen aus, weshalb mit Weisheit leicht „die Vorstellung eines gewissen Lebensalters verbunden“ wird.82 Die gegenwärtige Weisheitsrenaissance in verschiedenen Wissenschaften müsste, weil der Weise sich offenkundig durch ein außerordentliches Erkenntnispotential auszeichnet, in meinen Augen unbedingt mit den neu aufkeimenden wissenschaftlichen Ansätzen zur Denkschulung und den verschiedenen Denkstilen koordiniert werden. Gerade ein normatives philosophisches Weisheitsmodell sollte die im Humanbereich immer deutlicher hervortretenden Mängel im Denken infolge einer einseitigen Rationalitätsentwicklung auszugleichen trachten, weil insbesondere biologische und historisch-gesellschaftliche Phänomene und Probleme unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein ganzheitliches, synthetisches Denken erfordern: Wie Untersuchungen an Split-Brain-Patienten dokumentieren, ist die kognitive Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge, korrelative oder analoge Beziehungen sowie tiefer liegende Prinzipien zu erfassen, wesentlich in der rechten Hirnhemisphäre lokalisiert, wohingegen die linke Hirnhälfte auf das logisch-mathematische analytische Denken und sequenzielle gedankliche Feinarbeit spezialisiert ist.83 Ein solches traditionell für Weisheit charakteristisches, auf
293 Komplexität und Ganzheit abzielendes synthetisches Denken wird gegenwärtig verschiedentlich als Form „kritischen Denkens“ untersucht und dem Bereich der Humanwissenschaften zugeschlagen: „Offensichtlich besteht ein besonders großer Bedarf nach Schulung des Denkens hinsichtlich der Dinge des Humanbereichs“84, in welchem wir es nicht wie in den Naturwissenschaften mit intersubjektiv überprüfbaren Beobachtungsdaten und monologischen, d.h. innerhalb eines bestimmten Bezugssystems nach klaren Regeln und Kriterien lösbaren Problemen zu tun haben, sondern mit ganz unterschiedlichen und oft vage gebrauchten Begriffen und einer kaum mehr zu überblickenden Vielfalt von Faktoren, Bezugssystemen und unterschiedlichen Standpunkten.85 Hermann Astleitner definiert das kritische Denken, das lange Zeit fälschlicherweise auf weitgehend logisches Denken bzw. Vorgehen reduziert wurde, als „Teilfunktion der Intelligenz […], die vor allem in der Prüfung von komplexen Sachverhalten und in daraus resultierender persönlicher Urteilsbildung besteht.“86 Weil kritisches Denken ein reich vernetztes Kontextwissen voraussetzt und höchst komplex sei, so dass es von den ihre Informationen auf der Basis rein logischer Regeln und mathematischer Formeln verarbeitenden Computer niemals geleistet werden kann, dürfe es als genuin menschliche Qualifikation gelten.87 Statt den Schulunterricht am Erwerb von Faktenwissen oder Grundkenntnissen auszurichten, die eine hohe Vergessensquote aufweisen, erklärt man vermehrt die Förderung der Denkfähigkeit zum Hauptziel der Erziehung, wobei Philosophen wie Mattew Lipmann oder Richard W. Paul die Philosophie als ideales Feld solcher Denkschulung betrachten.88 Konkret soll zum einen das kritische Prüfen von problemrelevanten Informationen und Eindrücken hinsichtlich Stringenz und Widerspruchsfreiheit sowie von impliziten oder expliziten Hintergrundannahmen trainiert, das Identifizieren von wesentlichen Kern- oder Hauptideen und das Strukturieren umfangreicher Informationen oder komplexer Beziehungsgefüge (ev. mit graphischen Mitteln) erprobt werden. Zum anderen wird der (Philosophie-)Student
294 dazu angeleitet, im Vertrauen auf die eigene Kreativität des Denkens die multi-logischen Probleme insbesondere des Humanbereichs unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten (ev. mittels Brainstorming), die Perspektiven und Denkkategorien gegeneinander abzuwägen, Wissensaspekte miteinander zu vernetzen durch Bedingung-Folge-Verhältnisse oder Analogien und schließlich Hypothesen oder Ideen zu generieren, die versuchsweise in andere Kontexte versetzt werden können. Ziel ist ein reifes, komplexes Denken, das Lebenssituationen oder gesellschaftliche Probleme automatisch hinsichtlich vieler Dimensionen und Kategorien verarbeitet und der Vielschichtigkeit und Veränderbarkeit menschlicher Erfahrung und Lebens mit der Bereitschaft Rechnung trägt, unzureichend durchdachte Probleme offenzulegen und alternative Standpunkte ernstzunehmen.
3.2 Bildung der Persönlichkeit: formale Basisqualifikationen Auch heute noch ist man sich weitgehend darüber einig, dass Weisheit keine rein epistemische Qualifikation sei, sondern sich im Handeln zeigen müsse. Dem Weisen wäre daher mit Rainer Piepmeier „Wahrhaftigkeit“ zu attestieren, weil „man das, was man theoretisch und philosophisch als richtig und wahr erkannt hat und bekennt, auch als Person lebt.“89 Zu einer weisen Lebenshaltung gehört nach Baltes/Staudinger das Erkennen und Akzeptieren der Ungewissheiten im menschlichen Leben, weil „die Zukunft nicht völlig vorhersehbar und weder die Vergangenheit noch die Gegenwart umfassend bekannt und erklärbar sind“, wobei gleichzeitig effektive Strategien und Interpretationsheuristiken verfügbar sein sollen.90 Obschon sich die weise Haltung im Umgang mit Ungewissheiten besonders deutlich manifestieren mag, müsste sie wohl in sämtlichen Lebenssituationen dank reicher Welt- und Selbsterfahrung und geübter kognitiver Fähigkeiten hervorleuchten. Weisheit lässt sich nämlich mit Piepmeier als „nichtpropositionales Wissen“ begreifen: Wäh-
295 rend „propositionales Wissen“ ein Wissen davon bezeichnet, „dass etwas der Fall ist oder nicht der Fall ist und dass der so identifizierbare Inhalt dieses Wissens in Form von Aussagen erscheinen und ohne Wissensverlust mitgeteilt werden kann“, gehört die Weisheit dem Typ der Dispositionen an. Dispositionen „lassen sich nicht objektivieren“, „realisieren sich in Situationen“ und werden „nie in einer Aussage so mitteilbar, wie es beim propositionalen Wissen möglich und gefordert ist“.91 Wenngleich Weisheit wie gesehen propositionales Faktenwissen voraussetzt, ist sie somit „untrennbar an einen bestimmten, nicht auswechselbaren Träger gebunden“92, der durch langes, geduldiges Üben die charakterlich verfestigte Kompetenz erworben hat, die konkreten Einzelsituationen hinsichtlich aller verfügbarer Gesichtspunkte und Wertmaßstäbe zu beurteilen und angemessene Handlungsziele festzulegen. „Der Weise besitzt die Gabe der discretio: der Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen; er vermag den Dingen ihren richtigen Rang zuzuerkennen, und er hängt sein Herz nicht an läppische Dinge.“93 Diese Gabe verleiht ihm die gelassene Haltung des „Über-denDingen-Stehens“, die „Ruhe der Seele, tranquillitas animae“,94 wie man in Hommage an die hellenistischen Weisheitslehren da und dort in etwas gemäßigteren Termini formuliert: „Bescheidener und diesseitiger wird man erwarten, dass sich die Grundhaltungen des weisen Menschen in seiner Befindlichkeit auswirken und einen Seelenzustand der Ausgeglichenheit, des Gleichgewichts und der inneren Ruhe erzeugen.“95 Fern der antiken philosophischen Lebensgemeinschaften, in welchen man sich mittels „dialogischer Übungen“, „Meditationen“ als geistiger Übungen über Texte, regelmäßiger Selbstprüfungen und des „Griffbereit-Machens“ von wichtigen Lebensprinzipien eine solche weisheitliche Lebensorientierung erwarb, müsste man in der gegenwärtigen akademischen Lehre wenigstens das Gewicht verlagern von der Vermittlung philosophiehistorischen Wissens auf die Persönlichkeitsbildung. Statt allgemein anerkannte Forschungsergebnisse oder Textinterpretationsmethoden zu lehren,
296 müssten weisheitsspezifische menschliche Fähigkeiten anhand neuer Unterrichtsformen gefördert werden.96 Ich nenne hier nur die formalen Basisqualifikationen Dialogkompetenz, Metareflexions- und Selbstreflexionskompetenz sowie die differenzierende Situations- und Lebensanalysekompetenz.97 Um sich solche Kompetenzen und das dispositionelle Wissen der Weisheit aneignen zu können, müssten die Studierenden selbst aktiver werden beispielsweise in transdisziplinären, aktualitätsbezogenen und problemorientierten Projekten, in „Sokratischen Gesprächen“ nach Leonard Nelson/Gustav Heckmann oder freien Podiumsdiskussionen, in denen man schauspielerisch die Gedanken von Kant, Schopenhauer oder Nietzsche zu verkörpern sucht.
3.3 Reflexives Orientierungswissen: gemeinsamer praktischer Diskurs Inwiefern der heutige Weise inmitten eines grassierenden Traditionsverlusts und Wertzerfalls noch orientieren können soll, scheint problematisch, nachdem er nicht mehr als Philosophenkönig einer geschlossenen Gesellschaft irgendwelche Orientierungsmaßstäbe aufoktroyieren kann. Unumstritten ist allein das dem Weisen im individualethischen Bereich attestierte „Strategiewissen in grundlegenden Fragen des Lebens“, d.h. nach Baltes/Staudinger „Heuristiken der Definition, Strukturierung und Gewichtung von Lebenszielen, Lebenskonflikten und -entscheidungen“ sowie „Prozesse der Sinngebung, Lebensdeutung und des Ratgebens“.98 Bereits bei der Bestimmung und Gewichtung von individuellen Lebenszielen und den in ihnen verkörperten Werten ist man jedoch notwendig verwiesen auf die Sprach- und Handlungsgemeinschaft, in welcher der Mensch sein Leben gestaltet. „Eine so verstandene weise Lebensgestaltung ist nur dann erreichbar, wenn sie auch im Einklang mit den Realitäten ihres Trägers und der Welt, insbesondere der Gesellschaft ist“, stellt Hans Aebli klar und präsumiert: „Zielsetzungen oder Wer-
297 te sind dann essentiell, wenn sie mit zentralen Größen des Weltbildes oder der Kosmologie eines Menschen oder einer Kultur zusammenhängen.“99 Während Aebli das Orientierungswissen des Weisen an Werte eines kulturellen Weltbildes zurückbindet, betrachten Baltes/Staudinger gerade den „Wert-Relativismus“, „das Anerkennen der Relativität von individuellen und gesellschaftlichen Werthaltungen“ als wesentliches Charaktermerkmal des Weisen.100 Da Politiker, Sozialplaner und die Öffentlichkeit neue normative Leitvorstellungen für das „gute menschliche Leben“ und die Entwicklung der Gesellschaft im technologischen Zeitalter fordern, sich aber sowohl ein konservativer Traditionalismus als auch ein naiver moralischer Realismus verbietet, scheint mir der Weise seinen Beitrag zur Orientierung einzelner oder der Gesellschaft primär dank seiner vielfach gewürdigten Fähigkeit des Beratens101 leisten zu können. Anstelle eines monologischen Ratgebens „von oben“, bei dem man wie die Idealisten, Materialisten oder Evolutionisten alles auf ein Totalitätsprinzip zurückführt, ist allerdings der Weg „von unten“ über ein gemeinsames Sich-Beraten gefragt.102 Handlungsorientierungen bzw. handlungsleitende Werte oder Ziele lassen sich heute nur noch reflexiv aus der Perspektive des bewussten menschlichen Lebens gewinnen und in der gemeinsamen Auseinandersetzung über das wissenschaftliche und das in der Lebenswelt vorgefundene Lebenswissen mit seinen verschiedenen Erfahrungen bzw. Vorstellungen vom „guten Leben“ und entsprechenden Wertprioritäten. Aufgrund seines Überblicks über traditionelle Orientierungsmodelle und wesentlicher interpersonaler Kompetenzen wie sozialer und emotionaler Intelligenz, aus denen seine besonderen konsiliatorischen Fähigkeiten des Verstehens, Einfühlens und Urteilens hervorgehen, könnte der philosophische Weise im erforderlichen praktischen Diskurs die Rolle eines Moderators übernehmen. Weisheit gilt zu Recht als „Schlüsselbegriff für (Philosophische) Beratung“103 und hat nach Luckmann/Keppler „in dieser gemeinschaftlichen Artikulationspraxis eine – und vielleicht ihre wichtigste – ihrer gesellschaftlich festgemachten
298 Stellen. Denn die Vermittlung sozialer Orientierung und moralischer Werte vollzieht sich hier […] weniger in belehrender, von autoritativem Gestus beherrschter Kommunikation als vielmehr im wechselseitigen Austausch unterschiedlicher Erfahrungen und Einschätzungen.“104 Weisheit als Orientierungswissen realisiert sich also in alltäglichen oder institutionalisierten (philosophischen) Beratungsgesprächen, in denen sich alle Beteiligten um diskursive, rationale Bewertungsmaßstäbe und daraus folgende Handlungsziele bemühen. Da niemals alle Argumente und Gesichtspunkte bezüglich komplexer Lebens- und Wirklichkeitsbereiche ausgeleuchtet sein dürften, erweist sich solches Wissen grundsätzlich als unabgeschlossen und revidierbar. Bedingung einer Weisheits-Renaissance wäre nach all diesen Erörterungen offenkundig der Abschied vom reduktionistischen Schulbegriff der Philosophie, d.h. vom Verständnis der Philosophie als einem toten System philosophischer Erkenntnisse, zugunsten einer Philosophie als Weisheitslehre, d.h. als Reflexion auf die letzten Gründe unseres Denkens und Handelns, insbesondere auf die Bestimmung des Menschen. Ich hoffe, mit diesem Grundraster für ein gegenwartsfähiges Weisheitskonzept nicht nur Anregungen für eine vielversprechende Forschungsperspektive gegeben zu haben, sondern zugleich für eine Transformation des Philosophiestudiums, das entsprechend den Erfordernissen der Lebenswelt vermehrt die Denkschulung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und anwendungsbezogene Beratungskompetenz ins Zentrum stellen sollte. Anmerkungen 1 Bezeichnend sei für die verlegene Lage der Philosophie gerade dies, so Fellmann, „dass es einer fiktiven Mädchengestalt mit Namen ‚Sophie‘ bedurfte, deren Welt viele philosophisch interessierte Leser fasziniert, um die Weisheitsliebe zu neuem Leben zu erwecken.“ (Ferdinand Fellmann, Orientierung Philosophie. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 7) Gemeint ist natürlich Jostein Gaarders „Roman über die Geschichte der Philosophie“ Sofies Welt, München/Wien 1993.
299 So lautet die emphatische Forderung von Milan Machovec, Rückkehr zur Weisheit. Philosophie angesichts des Abgrundes, Stuttgart 1988. 3 Hans Waldenfels, Thesen zur Weisheit, in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit, Paderborn/München u.a. 1989, S. 9. 4 Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie, in: ders. und Ekkehard Martens (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 40. 5 Vgl. Christoph Horn, Antike Lebenskunst, München 1998, S. 19. 6 Vgl. Schnädelbach (s. oben Anm. 4) S. 41. 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik, München 1991, 1141b 4-7. Aristoteles liest denn auch Thales’ Kauf der Ölpressen als Beweis dafür, „dass es leicht ist für die Philosophen, reich zu werden, wenn sie nur wollten, dass es aber eben nicht das ist, womit sie sich ernstlich beschäftigen“ (ders., Politik, Stuttgart 1993, 1259a, 17 f.). 8 Solon beispielsweise, der bekannteste unter den sieben Weisen, war Politiker und Gesetzgeber. Vgl. dazu Willi Oelmüller, ‚Der kritische Weg ist allein noch offen‘, in: ders. (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 169. 9 Vgl. Raimar Zons, Die Weisheit der Alten und die Weisheit der Kinder, in: ebd., S. 79. 10 Günther Bien, Über den Begriff der Weisheit in der antiken Philosophie, in: Helmut Holzhey und Jean-Pierre Leyvras (Hrsg.), Philosophie und Weisheit, Bern/Stuttgart 1988, S. 42. 11 Ebd. 12 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe in 12 Bänden, Frankfurt a.M. 1974, Bd. 7, A 292. 13 Vgl. Platon, Politeia, in: Karlheinz Hülser (Hrsg.), Sämtliche Werke in 10 Bänden, Frankfurt a.M./Leipzig 1991, Bd. 5, 531d. Der Weisheitskandidat hat sich vornehmlich in den Wissenschaftsdisziplinen der Mathematik, Astronomie und Musikwissenschaft zu qualifizieren. 14 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141b 2 f. 15 Wolfgang Welsch, Philosophie zwischen Weisheit und Wissenschaft, in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Wissenschaft, Paderborn/München u. a. 1988, S. 117. 16 Vgl. zur Definition der Weisheit als Tugend der „Philosophenkönige“ Platon, Politeia, 428b-429a und 480a; zur Aufgabe der philosophischen Weisen im Staat ebd., 519c-520d. 17 Sokrates bezeichnet die Handwerker in Platons Apologie (Bd. 1, 22d) als „weise“. 18 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141a 12. 19 „Ferner halten wir den in jeder Wissenschaft für weiser, der genauer ist und der besser die Ursachen zu lehren versteht. Und wir sind der Meinung, dass die Wissenschaft, die um ihrer selbst willen und des Wissens wegen erstrebt wird, eher Weisheit sei als die, die ihrer Resultate wegen gewählt wird.“ (ders., Metaphysik, Stuttgart 1992, 982a 13-16) 2
300 Ebd., 982b 5. Vgl. ders., Nikomachische Ethik, 1177a 17- b 14. 22 Otfried Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 234. „Wer sich dem theoretischen Leben verschreibt, führt eine partiell überpolitische, aber keine außerpolitische Existenz“, resümiert Höffe (ebd.). 23 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1178b 7. 24 Vgl. Höffe (s. oben Anm. 22), S. 234. 25 Welsch (s. oben Anm. 15), S. 117. 26 Pierre Hadot, Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt a.M. 1999, S. 256. 27 Vgl. zur Mittelstellung der aristotelischen phronesis zwischen moralisch indifferentem Scharfsinn und moralischer Urteilskraft Höffe (s. oben Anm. 22), S. 203, zu den onomasiologischen Überlegungen Bien (s. oben Anm. 10), S. 45 f. im Einklang mit Welsch (wie oben Anm. 15), S. 117. 28 Hadot (s. oben Anm. 26), S. 204. 29 „Leer ist die Rede jenes Philosophen, durch die kein menschliches Leiden geheilt wird“, soll Epikur gesagt haben (Porphyrius ad Marc. 31 F. 221, in: Epikur, Von der Überwindung der Angst, Münster Westfalen 1981, S. 155). 30 Vgl. Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, Stuttgart 1995, 12. Buch, Ep. 88, 37. 31 Vgl. mit Bezug auf Thomas von Aquin, Bonaventura und Duns Scotus etwa Carl-Friedrich Geyer, Philosophie im Spannungsfeld von Weisheit und Wissenschaft, in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 57. 32 Vgl. dazu Hadot (s. oben Anm. 26), S. 291-299. 33 Rainer Piepmeier, Ein Freund der Weisheit oder so etwas Ähnliches, in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. Anm. 3), S. 122. 34 Vgl. dazu Honnefelder: „Der Philosophie wird bewußt, daß sie Weisheit nur in Form des Grenzwissens, Theorie des Transzendenten nur im Modus einer Theorie des Transzendentalen, kritische Reflexion, nicht aber Lebenslehre sein kann.“ (Ludger Honnefelder, Weisheit durch den Weg der Wissenschaften, in: Oelmüller [Hrsg.], Philosophie und Weisheit [s. oben Anm. 3], S. 76 f.) 35 Immanuel Kant, Krtitik der reinen Vernunft, Bd. 4, A 850/B 878. 36 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 7, A 195. 37 Ders., Logik, Bd. 6, A 24. 38 Vgl. ebd., Bd. 3, B X-XVI. 39 Von den Wissenschaften lässt sich also mit Hartmut von Hentig sagen: „zu einer Ganzheit des Wissens tragen sie nicht bei, sondern nur zu seiner Vermehrung. Und die allein ergibt keine Bildung“ (Polyphem oder Argos?, in: Jürgen Kocka [Hrsg.], Interdisziplinarität: Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt a.M. 1987, S. 152). 40 Kant, Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3, B XIV. 41 Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung, 9. Auflage, Tübingen 1989, insbes. S. 39 ff. 20 21
301 Mittelstraß, Philosophie als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität, Frankfurt/Main 1982, S. 7. 43 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, insbes. S. 499 f. und S. 603. 44 Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 1385), Frankfurt/Main 1998, S. 307. 45 Vgl. zu dieser Entwicklung der Wissenschaften im Verhältnis zur Technik Dagmar de Sauvage, Krise der Philosophie im Zeitalter wissenschaftlich-technischer Rationalität, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 54-67. 46 Mittelstraß (s. oben Anm. 42), S. 16. 47 Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, S. 9. 48 Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, Stuttgart 1993, 2. Buch, Ep 20,1. 49 Willi Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen für unser Erkennen, Handeln und Erleiden, in: ders. (Hrsg.), Philosophie und Wissenschaft (s. oben Anm. 15), S. 87. Oelmüller erläutert weiter: „So ist z.B. das von Platon, Epikur und der Stoa entwickelte und diskutierte philosophische Orientierungswissen undenkbar ohne die zu ihrer Zeit lebensweltlich vorgegeben und umstrittenen außerwissenschaftlichen Vorstellungen von Mythos, Techne und Polis, undenkbar jedoch auch ohne das damals vorgegebene und wissenschaftliche Wissen über Menschen und Kosmos.“ 50 Ebd. 51 Vgl. Hermann Krings gleichnamigen Aufsatz Sapientis est ordinare in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 161165. 52 Vgl. zu diesen Horizonten Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen (s. oben Anm. 49), S. 89 ff. 53 Vorwort in ders., Philosophie als Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 8. 54 Mittelstraß (s. oben Anm. 42), S. 28. 55 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München 1988, Bd. 1, S. 274 und S. 301. 56 Hans Michael Baumgartner, Humanities und Sciences, in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Wissenschaft, (s. Anm. 15), S. 34. 57 Vgl. dazu Urs Thurnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, Hamburg 2000, S. 26 f. Thurnherr zeichnet folgendes apokalyptische Bild vom Stand gegenwärtiger Ethik: „Die Ethiker haben vornehmlich mit sich selbst zu tun: Ihre Auseinandersetzungen und Dispute zeichnen das Bild großer Uneinigkeit, zum Teil auch unversöhnlicher Zerstrittenheit und sind geprägt von trotzigem Autismus und argwöhnischem Futterneid.“ (Ders., Vernetzte Ethik. Zur Moral und Ethik von Lebensformen, Freiburg/München 2001, S. 15.) 58 Günther Bien, Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Weisheit, in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 52. 42
302 Vgl. Carl-Friedrich Geyer, Philosophie im Spannungsfeld von Weisheit und Wissenschaft, in: ebd., S. 55. 60 Thurnherr (s. oben Anm. 57), S. 29. 61 Vgl. Eckart Ruschmann, Philosophische Beratung, Stuttgart/Berlin/ Köln 1999, S. 306. 62 Vgl. dazu etwa Carola Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, 3. Auflage, München 2001, S. 14-20 und S. 308-313. 63 Vgl. die Vortragsreihe von Dr. Sabine Bauer, „Die Siegel der Sophia. Zum Begriff des Weiblichen im Altertum“ im WS 2003/2004 an der Universität Wien sowie ihre gleichnamige Dissertation, Wien 1998. Bauer verweist vornehmlich auf die weisen Frauen um Sokrates: Diotima und Aspasia sowie die Leiterin einer hellenistischen Philosophenschule: Hypatia von Alexandria. 64 Hansjürgen Staudinger, Auf der Suche nach der Weisheit, in: Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (s. oben Anm. 3), S. 146. 65 Ebd. 66 Piepmeier (s. oben Anm. 33), S. 127. 67 Geyer (s. oben Anm. 31), S. 61. 68 „Der Aufstieg der Weisheit ist das Ideal, die Angleichung an die Wissenschaft die Gefahr der Philosophie.“ (Welsch [s. oben Anm. 15], S. 116.) 69 Ebd. 70 „Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b 12 f.). 71 „Philosophie ist aber auch nicht weniger genau als die exakten Wissenschaften. Sie hat nur, entsprechend ihrem andersartigen Gegenstand, auch ein andersartiges Maß von Genauigkeit“, erläutert Borsche: Während die Wissenschaften auf der Suche nach größerer Genauigkeit genötigt sind, ihr Gebiet immer mehr einzuschränken, gewinnt die philosophische Erörterung gerade dadurch an Genauigkeit, dass sie ein Phänomen in seinem komplexen Kontext aufleuchten lässt (vgl. Tilman Borsche, Was etwas ist, München 1990, S. 27). 72 Vgl. dazu Ruschmann (s. oben Anm. 61), S. 307. 73 Ursula M. Staudinger und Paul B. Baltes, Weisheit als Gegenstand psychologischer Forschung, in: Psychologische Rundschau, 1996 (47), S. 57-77, S. 59. 74 Vgl. ebd., S. 61. 75 Bien, Einige Bemerkungen (s. oben Anm. 58), S. 53. 76 Kant, Einleitung zur Logik, A 29. 77 Vgl. dazu de Sauvage (s. oben Anm. 45), Kapitel 8.3 „Sokratik und Interdisziplinarität“, S. 167-173. 78 Baltes/Staudinger (s. oben Anm. 73), S. 61. 79 Hans Aebli, Weisheit: Auch ein Ordnen des Tuns?, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1989 (35), S. 605-620, S. 611. 80 Baltes/Staudinger (s. oben Anm. 73), S. 61. 59
303 Ebd. (in Frageform formuliert). Bien, Einige Bemerkungen (s. oben Anm. 58), S. 50. Vgl. auch Ruschmann (s. oben Anm. 61), S. 307. 83 Vgl. de Sauvage (s. oben Anm. 45), S. 131 ff. 84 Gottfried Petri, Schulung des Kritischen Denkens. Der Forschungsstand im Überblick und neue Entwicklungsansätze, Graz 1998, S. 2. 85 „Angesichts der großen Komplexität und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse ist hier ein fehlerfreies Denken schwer möglich. Man muss sich daher mit einem ‚Näherungsdenken‘ begnügen, das auf unvollständigen und teilweise ungesicherten Voraussetzungen aufbaut. Auch besteht oft nicht die Möglichkeit, die Schlussfolgerungen durch verlässliche Beobachtungen zu überprüfen.“ (Ebd., S. 5 f.) 86 Hermann Astleitner, Kritisches Denken. Basisqualifikationen für Lehrer und Ausbilder, Innsbruck/Wien 1998, S. 9. 87 Vgl. ebd., S. 36. 88 Vgl. M. Lipman/A.M. Sharp/F.S. Oscanyan, Philosophy in the classroom, Temple University Press 1980 oder R.W. Paul, Ethics without indoctrination, Educational Leadership 1988 (45), S. 10-19. 89 Rainer Piepmeier (s. oben Anm. 33), S. 123. 90 Vgl. Baltes/Staudinger (s. oben Anm. 73), S. 62 (5. Merkmal des Weisheitsparadigmas). 91 Piepmeier (s. oben Anm. 33), S. 131 f. 92 Ebd. 93 Bien, Einige Bemerkungen (s. oben Anm. 58), S. 51. 94 Ebd. 95 Aebli (s. oben Anm. 79), S. 601. 96 Dieses aus dem Lot geratene Verhältnis von Wissen und Bildung monierte Prof. Christoph Hubig in seinem vom SWR 2 ausgestrahlten Beitrag „Zur Aktualität des humanistischen Bildungsbegriffs“. 97 Vgl. dazu Verfasserin, Gibt es philosophische Schlüsselqualifikationen?, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 4/2005, S. 426339. 98 Baltes/Staudinger (s. oben Anm. 73), S. 61. 99 Aebli (s. oben Anm. 79), S. 611 und S. 609. 100 Vgl. Baltes/Staudinger (s. oben Anm. 73), S. 62. 101 Vgl. etwa Bien, Einige Bemerkungen (s. oben Anm. 58), S. 52, Ruschmann (s. oben Anm. 61), S. 307 sowie Baltes/Staudinger (soeben zitierte Stelle). 102 Vgl. zu diesen beiden möglichen Wegen, zu philosophischem Orientierungswissen zu gelangen, Willi Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen (s. oben Anm. 49), S. 88. 103 Vgl. Ruschmann (s. oben Anm. 61), S. 307. 81 82
304 Thomas Luckmann/Angela Keppler, Lebensweisheiten im Gespräch, in: Rolf Kühn/Hilarion Petzold (Hrsg.), Psychotherapie und Philosophie, Paderborn 1992, S. 213. 104
Leonhard G. Richter UNSER CHAMÄLEON Die Weltchiffre des Menschen bei Pico della Mirandola und Albrecht Dürer Meine Untersuchung geht der Frage nach: Was verbindet philosophisch in der Sache die Oratio (1496) des Pico della Mirandola mit dem Kupferstich (1514/B74) von Albrecht Dürer. Dabei leitet mich die Annahme, dass Pico und Dürer ihre Gemeinsamkeit hinter Decknamen und Chiffren (z.B. Chamäleon) verstecken. Indem ich ein Pico’sches Verfahren zur Erkenntnisgewinnung auf die Inschrift „MELENCOLIA § I“ anwende, komme ich zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Dürer dem philosophischen Ansatz des Mirandolaners mehr verpflichtet ist, als man bislang nachzuweisen vermochte.
Chamäleon als Deckname für den neuen Menschen Das Chamäleon1 hat einen schlechten Ruf. Seit der Antike reißt die Verleumdung nicht ab. Als Metapher für Heuchelei, Opportunismus und Charakterlosigkeit eines Menschen ist es sprichwörtlich bis zum heutigen Tage. Dennoch gibt es auch eine wenig bekannte Tradition, die das Chamäleon als Chiffre für das Höchste verwendet, dessen sich der Mensch zu rühmen vermag; so fragt zum Beispiel Pico della Mirandola, nachdem er seinen neuen Ansatz zur Würde des Menschen vorgestellt hat, rhetorisch: „Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern? Oder wer sollte überhaupt etwas anderes mehr bewundern?“2 Hat man sich eigentlich je die Frage gestellt, woher Pico das Chamäleon nimmt? Oder wie er überhaupt dazu kommt, ausgerechnet ein solch übelbeleumundetes Tier für den „plastes et fictor sui ipsius (Bildner und Schöpfer seiner selbst)“3 heranzuziehen, zumal an einer Stelle seiner Oratio, die man als den Drehund Angelpunkt der Rede betrachten kann?
306 Wer eine Antwort erhalten will, muss etwas abseits des bekannten Weges suchen. Pico spricht ja von „unserem Chamäleon“! Diese emphatische Bezeichnung findet sich lediglich im Schrifttum der Alchemie, wo das Große Werk, der „lapis philosophorum“ oder „Stein der Weisen“, unter zahllosen Decknamen von Tieren und Scheusalen versteckt wird; einer davon ist das „Chamäleon“4, wobei stets das Possessivpronomen „unser“ kennzeichnend ist. Ob Pico della Mirandola insgeheim auch ein Alchemist war, ist historisch bislang nicht belegt, aber dass er die einschlägigen Texte kannte, die als Handschriften damals kursierten, ist mehr als wahrscheinlich, wenn man die Spannweite seiner Literaturstudien und die Wertschätzung des Corpus Hermeticum, der mystischen Kabbala und nicht zuletzt der Magie berücksichtigt. An einer Stelle im Kommentar spricht Pico vom „Gold der Alchemisten, das von der Kunst als Nachahmung des wahren und natürlichen Goldes hergestellt wird.“5 Hatte Pico vielleicht gar gehofft, den „lapis philosophorum“, den „Stein der Philosophen“ (nicht der Alchemisten) spekulativ endlich gefunden zu haben, als er kurz darauf seine Oratio schrieb? Darf man vermuten, dass er etwa bei sich dachte: Wie das Gold unter den Metallen so wäre der Mensch unter den vernünftigen Wesen ausgezeichnet? Und so wie das irdische Gold nur ein Abbild des überirdischen Goldes darstellte, so wäre der faktische Mensch gleichsam nur ein Schatten seiner „Seins-Natur“? Und so wie die Alchemie eigentlich den „Stein“ suchte, der alle irdischen Stoffe verwandelt und unzerstörbar macht, so suche der faktische Mensch den wahren Menschen als seine eigene geistige und darum unzerstörbare „Seinsgestalt“6, die sich das Individuum aus Freiheit zur Selbstgestaltung allererst erwirbt? Warum also wählte Pico gerade das „Chamäleon“? In der Alchemie hat dieser Deckname eine gewisse Plausibilität, insofern die Farbe eines Stoffes von essentieller Bedeutung ist; aber in der Philosophie provoziert er Missverständnisse. Oder dachte Pico auch daran, dass das natürliche Chamäleon die Farben ja nur wechselt, um sich vor seinen Feinden zu verbergen? Es passt
307 sich perfekt seiner Umgebung an, so dass es unscheinbar bleibt für jeden, der nicht weiß, was er eigentlich sucht. Pico scheint dies einkalkuliert zu haben, wenn er in seiner Oratio den Menschen als „unser Chamäleon“ rühmt, um auf den verborgenen Menschen zu zielen, der ganz offensichtlich nicht der ist, wie er faktisch vorkommt, sondern jener, welcher der „Stein der Philosophen“ – seiner Seinsnatur nach – an sich selbst schon immer ist, aufgrund dessen er überhaupt als „plastes et fictor sui ipsius (Bildner und Schöpfer seiner selbst)“ sich selbst zu einem geistigen Individuum, zu einem „himmlischen Menschen“7 hervorgestalten (effingere) kann.
Picos neue Erkenntnis wechselt die Farbe Die Chiffre Chamäleon hat man rasch missverstanden,8 wenn man die spekulativ alchemistische Bedeutung überhört, mehr aber noch, wenn man die ontologische Unterscheidung Picos ignoriert, die den Menschen einerseits als „Weltprinzip“9 und andererseits als „Faktum“10 der kreatürlichen Schöpfung ansetzt. Die Form der mythischen Erzählung erlaubt es Pico, mehrdeutig zu formulieren, um das Neue seiner Erkenntnis zu verschleiern. Wer nichts der katholischen Lehre11 Anstößiges entdecken wollte, hätte großen Interpretationsspielraum. Brenzlich wird es erst, sobald man die Behauptungen über den Menschen als Folgerungen aus Prämissen erkennt, die im christlichen Denkhorizont tabu gewesen waren. Dazu gehörte: Der Mensch ist in jeder Hinsicht ein Geschöpf Gottes; die Einzelseele eines jeden Menschen ist von Gott geschaffen. Der freie Wille des Menschen bezieht sich allein auf das sittliche Handeln und nicht auf eine schöpferische Selbstgestaltung der Einzelseele! Kurzum, der Mensch war seinem paradiesischen Urstand nach ein Ebenbild Gottes12, aber frevelhaft wäre es gewesen, dem Menschen eine „Gleichheit zu Gott“13, zu attestieren und ihn mit dem Wesen Gottes14 gleichzusetzen.
308 In der frühen Neuzeit setzte ein Umdenken ein. Bereits Nikolaus von Kues wagte vorsichtig, an dem Tabu zu rühren, indem er dem Menschen in einem ausgezeichneten Bereich das Creare15 zubilligte, das vorher Gott allein vorbehalten war. Pico greift das Homo-creator-Motiv des Cusaners16 auf, freilich chamäleonartig verdeckt, indem er die Imago-dei-Aussage der Genesis durch den Psalm 81,6: „Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle“17 auslegt, weswegen ich auch seine wiederholte Rede von dem Menschen als dem „neuen Sprössling“ und dem „neuen Sohn“18 streng ontologisch und metaphysisch interpretiere. Die stillschweigende Hauptprämisse der Oratio wäre demnach, dass der Mensch ursprünglich gleichen Wesens mit Gott ist; also: ursprünglich ein Sohn Gottes, der es nicht erst nachträglich – durch Gnade19 – wird, kein Adoptiv-Sohn, den man an Sohnes Statt annimmt. Dass damit mehr als nur ein Tabu gebrochen wurde, zeigt sich, indem Pico zugleich an der traditionellen Prämisse festhält, dass der Mensch auch ein Geschöpf Gottes sei. Aber unter welcher Rücksicht? Als Faktum, das sein Prinzip außerhalb der Schöpfung hat. Die metaphysische Konsequenz ist, dass der Mensch seine Wesens- oder Seinsnatur (Prinzip) nicht und unter keinen Umständen – auch nicht durch einen Sündenfall – verlieren20 kann. Wegen des Prinzips ist der Mensch kein Geschöpf, als Faktum aber eine Kreatur in „Startposition“ und darum den Engeln überlegen, die Kreaturen sind und die allenfalls die Wahlfreiheit hatten, ihr bestimmtes SoSein zu bestätigen oder zu verwerfen21, aber denen apriori keine Gestaltungsfreiheit ihrer selbst zugedacht war. Pico betont förmlich den Prinzipiencharakter des Menschen, indem er staccatoartig vom „neuen Spross“ und vom „neuen Sohn“22 in einem Satz, sozusagen in einem Atemzug spricht, um das altbekannte Vater-Sohn-Verhältnis ontologisch zu radikalisieren. Pico hütet sich wohlweislich, es wörtlich auszudrücken; daher verwendet er die gebräuchlichen Vokabeln (facere, creare). Aber weil er es später im Heptaplus sinngemäß wiederholt und formelhaft zuspitzt: „er hat den Menschen gemacht nach
309 Gottes Ebenbild, nicht den irdischen Menschen, sondern den himmlischen […] Wenn wir also nach dem Bilde Gottes sind, so sind wir auch Söhne, wenn Söhne, dann auch Erben, Erben Gottes, Miterben Christi. […] Die also im Geiste leben, diese sind Söhne Gottes, diese Christi Brüder, diese bestimmt als Erben der Ewigkeit“23, muss man Picos Rede vom Gemachtsein des Menschen einen gegensätzlichen Sinn unterstellen. Aus dem ontologisch gedachten Vater-Sohn-Erbe-Verhältnis, das Pico formuliert, indem er den Anfang der Genesis auf Christus bezieht: „Dass er Prinzip ist, in welchem Gott Himmel und Erde gemacht hat; dies aber ist Christus“24, folgt, dass der Mensch ebenbürtig mit Christus zum Weltprinzip geadelt wird. Ist Christus Sohn Gottes und der Mensch der „neue Sohn“, so ist es nicht abwegig zu sagen, Christus sei der ältere und der Mensch eben der jüngere Sohn, so dass beide gleichberechtigt das Erbe des Vaters antreten. Wie gesagt, Pico vermeidet solche Schlüsse. Denn hätte er es so formuliert, wären vermutlich selbst Wohlmeinende und Gönner erschreckt von ihm abgerückt. Aber man wird um diese Konsequenzen nicht herumkommen, falls man an der Unterscheidung „Prinzip und Faktum“ sowohl für den Menschen als auch für Christus, der ja für Pico selbstverständlich in dieser Welt erschienen ist, festhalten will! Wenn also wegen der Wesensgleichheit mit dem Vater beide die Schöpfung insgesamt erben, wie ist dann die Teilung des Erbes zu verstehen? Christus und Mensch teilen sich die eine Schöpfung, freilich nicht quantitativ, sondern qualitativ. Jeder bekommt die ganze Welt ohne Abstrich: Der eine mit freiem Willen, der andere mit dem freien Willen, auf den er aus eben dieser Freiheit verzichtet, um als Wille des Vaters25 die Schöpfung in ihrem Sein zu erhalten. Denn nur wenn das Erbe ganz an den Sohn übergeht, kann das Vater-Sohn-Verhältnis für den Menschen systematische Relevanz haben. Wer das Erbe antritt, muss es erhalten. Das Sein aber kann nicht geteilt werden! Es sei denn, man unterscheidet weiter zwischen Sein und Schöpfertum. Sobald eine Welt geschaffen worden ist, gehört ja zur We-
310 senseigenschaft Gottes das Schöpfertum – so wie zum gezeugten Sohn die Zeugungskraft des Vaters. Also bleibt für die Teilung des Erbes nur das Sein und das Schöpfertum. Das Sein, und damit das Erhalten, geht an den Älteren, weil das Sein dem Schaffen26 vorausgeht; die Freiheit, eine Welt hervorzubringen indes an den Jüngeren. Sowenig der absolute Schöpfergott verdoppelt werden kann, ebenso wenig die Schöpfung einer Welt, weil sonst der Schöpfer vom Vergleich der Welten betroffen würde. Schöpferisch zu schaffen, also dennoch eine Welt hervorzubringen – kann dann nur heißen: „Welt“ in der Welt (Schöpfung) gestalten. Denn das Prinzip der Schöpfung kann nicht erschöpft werden; mit der Schöpfung ist das Prinzip Schöpfertum27 nicht am Ende. Da also keine Welt neben oder außerhalb der Welt möglich ist, sonst wäre diese Welt kein Uni-Versum, bleibt denkbar die weltimmanente Differenzierung von Welt und damit unendlich viele mögliche Weltgestalten, worin sich die eine Welt je neu in einer Gestalt kombiniert. Dieser Gedanke einer universalen Kombinatorik erfordert den Schritt vom Prinzip zum Faktum, das ein Individuum realisiert, indem es die Dimension vom Faktum zum Prinzip wechselt. Mit Blick auf das Prinzip Welt-Schöpfertum muss darum das faktische Individuum auch in seiner Startposition – seinem Prinzip entsprechend – ausgestattet werden. Wird Maß genommen am göttlichen Schöpfertum, so steht Weltschöpfung unter dem Zeichen der Freiheit hinsichtlich des Schöpfers, aber hinsichtlich des Geschaffenen unter dem Zeichen der Kontingenz. Gott hat nicht notwendig eine Welt schaffen müssen. Da diese absolute Freiheit nur einmal vergeben werden kann, mit dem Individuum in der Welt indes die Vielheit von Individuen impliziert ist, geht die Freiheit des Schöpfertums so auf das Individuum Mensch in der Welt über, dass ein faktisches Individuum, das auf das Weltprinzip hin bestimmt ist, also dem Weltprinzip entsprechend ausgestattet28 ist, sich als Zentrum einer neuen Weltgestalt frei zu bestimmen vermag. Worauf also bezieht sich die Formulierung „damit du wie ein Bildner
311 und Schöpfer (plastes et fictor) deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbildest (effingas), die du bevorzugst“?29 Auf das Individuum selbst! Um Picos Lob auf den „Chamäleon-Menschen“ also nicht misszuverstehen, muss man sich im klaren sein, dass ein natürliches Individuum Mensch hier und jetzt damit nicht gemeint sein kann, insofern es sein geistiges Individuum-Sein als eine identische und sich wissende Person durch eine Weltgestalt erst erwerben soll. Solange man die Einzelseele des Menschen als ein fertiges Werkstück Gottes denkt, das in der Welt – mittels des freien Willens, sich für Gut oder Böse zu entscheiden – auf seine Tauglichkeit (Tugendhaftigkeit) für die Ewigkeit geprüft wird, so lange sind Freiheit und Schöpfertum unvereinbar. Daher zielen Picos Formulierungen unterschwellig auf eine Neubestimmung der Einzelseele, die ihre Seins-Identität erst substanziiert, indem sie prinzipienunterfangen eine Weltgestalt unter endlichen Bedingungen hervorbringt; und die Prüfung ihrer Tauglichkeit (Tugend) erwiese sich in der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Prinzip und Faktum. Solange einem Einzelnen sein Prinzip verborgen bleibt, fehlt diese Übereinstimmung. Es hat sein Allgemeines als anonyme Macht sozusagen in seinem Rücken. Insofern die „Welt“ sowohl den Geist als auch die Natur, Sichtbares und Unsichtbares umfasst, lässt sich für den Menschen als Prinzip von Welt folgern, dass Selbsterkenntnis zugleich Welterkenntnis30 ist, indem Weltgestaltung zur Selbstgestaltung wird. Hat diese sich gestaltete Einzelseele den Decknamen „Chamäleon“, nicht der faktische Mensch hier und jetzt, so bewundert Pico den Menschen als ein durch sich selbst vollendbares Wesen, das aufgrund der erworbenen Seinsidentität alles wählen kann, ohne sich an eine Gestalt zu verlieren, die alle anderen Gestalten ausschließt. Bevor sich die Einzelseele in Selbstgestaltung erkennend vollendet, ist ihr Chamäleoncharakter ganz dem Prinzip zuzuschreiben; denn die Weltoptionen sind unendlich mannigfaltig. Sobald es sich aber in seinem Prinzip mittels ei-
312 ner Weltgestalt als eine unzerstörbare geistige Identität erfasst hat, dreht sich das Verhältnis von allgemeinem Weltprinzip und Individuum um: „Und wenn er [der Mensch/das geistige Individuum, L. R.] unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen. Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern?“31 Sich eine Weltgestalt zu schaffen, „ein Individuum in Gestalt einer Person“32 zu werden, ist jedoch im Spannungsfeld von Prinzip und Faktum für die „Menschwerdung des Menschen“ als eines werdenden Individuums ein Weg, eine Entwicklung, ein schwieriger und riskanter Reifungsprozess, der auch fehlschlagen kann: „Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten“ – was jedoch nicht heißt, endgültig verloren zu sein, denn Pico setzt hinzu: „du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“33 An dieses ontologische Netz zu erinnern, hätte Pico nicht nötig, falls das Scheitern nicht der Normalfall wäre. Für ein Wesen, das seine Identität aus dem Ursprung aller Weltgestaltung zu bilden hat, ist keine Startposition in „dieser Welt“ – unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Materie – so begünstigt, dass ein Individuum Mensch ohne Fehlgriff und Irrtum seine Identität mit der Welt und seinesgleichen in Einklang zu bringen vermöchte. Es bleibt jedem Nachdenkenden überlassen, die Wiedergeburtsklausel auf die Zeit des irdischen Daseins zu beziehen oder auch auf eine Zeit danach, die dann freilich – zeitlich verstanden – wieder eine Zeit davor wäre. Denkt man vom Prinzip her, so ist die Zeit in der Ewigkeit aufgehoben, so dass man das Verhältnis von Prinzip und Faktum auch sozusagen simultan betrachten kann; ein Davor und Danach spielen dann keine Rolle. Ein jüngerer Zeitgenosse von Pico della Mirandola, der aus dem Norden stammende Albrecht Dürer, hat dieses Dimensionenverhältnis anschaulich gemacht. Seine Holzschnittfolge der Apokalypse von 1498, mit
313 der er in Europa schlagartig berühmt geworden ist, zeigt durchgehend Verhältnisse von Ereignissen, die sich in den Dimensionen von Geschichte und dem entsprechenden zeitüberlegenen Prinzip simultan ereignen. Es dürfte kein Zufall sein, dass Dürers Apokalypse nicht mit dem „Jüngsten Gericht“ endet, sondern mit der Einlochung des Satans.34 Obwohl die Selbst- und Weltgestaltung dem Individuum Mensch aus Freiheit eigenverantwortlich überlassen bleiben muss, hätte man bei einer „Sache, die den Glauben übersteigt“35 vielleicht doch erwartet, dass sich Pico, der behauptet, „hier eine neue Philosophie vorstellen“ zu wollen,36 auch über das Was oder Wie der Selbstgestaltung der individuellen Einzelseele begrifflich ausführlicher äußert. Stattdessen versucht er nachzuweisen, dass sein Gedanke so gar nicht neu sei, indem er sämtliche namhaften Religions- und Weisheitslehren des Orients und Okzidents durchdekliniert oder seine Jugend rechtfertigt37 oder sich zu Methoden der Wahrheitsfindung (z.B. Kabbala, Magie und auch Alchemie38) bekennt, die bislang nicht zum Kanon seriösen Philosophierens gehörten. Fast möchte man geneigt sein zu vermuten, er habe, kaum dass er die entscheidenden Formulierungen geschrieben, sie entweder vergessen oder absichtlich ignoriert, um nicht „das Heilige den Hunden vorzuwerfen und Perlen auszustreuen unter die Schweine“39. Außer Anspielungen für Wissende, oder nach Geheimwissen Suchende, geht die Oratio über Empfehlungen, nach Wissen und Wahrheit zu streben und einen asketischen Lebenswandel in Kontemplation zu üben, nicht sonderlich hinaus. Dies hat wohl mit dazu beigetragen, die wahre Natur des „unser Chamäleon“ zu verkennen, das sich allem Zugriff durch Farbwechsel entzieht. So ist es nicht verwunderlich, dass die Oratio nach der posthumen Veröffentlichung (1496) entschärft rezipiert wurde, zum Beispiel von Bovillus im Liber de sapiente (1510), wo Picos Neuheit von der Selbstgestaltung durch die Spiegelmetaphorik40 ihren schöpferischen Sinn (aktive Selbstgestaltung) verliert. Man kann zwar sehr wohl begründen, dass Bovillus „als Sachwalter des cusani-
314 schen homo-creator-Motivs und seiner Pico’schen Aneignung und Fortbestimmung“41 auftritt, aber was das menschliche Individuum, den Einzelmenschen, angeht, so meine ich, würdigt Bovillus ihn in der Gestalt des „sapiens“ letztlich nur zum allgemeinen Medium der Welt- und Naturspiegelung empor, aktiv im Aufnehmen („universi speculum/Auge des Universums“), passiv hinsichtlich kultureller Neuschöpfungen42, eine Linse des Weltprinzips, ein schönes Exemplar der allgemeinen Vernunft der Natur, deren Kind43 der Mensch ist, mehr ein Finder als ein Erfinder seiner selbst! Auch Erasmus von Rotterdam hat sich von Picos Oratio beeindrucken lassen,44 allerdings bleibt er weit hinter Bovillus zurück, was die spekulative Explikation betrifft; dafür stellt er dem Individuum ein christliches Tugendprogramm bereit, das die Seele reinigen und heilen soll, ohne dass Erasmus sie als „plastes et fictor“ ernstgenommen hätte. Um so erstaunlicher muss es anmuten, dass der Gedanke von der Selbstgestaltung des Individuums dennoch Wurzeln geschlagen hat. Ich will dies an Albrecht Dürer zeigen, der ein Maler und Philosoph45 in Personalunion war und der sich selbst gleichsam als „plastes et fictor“ durch sein Werk thematisierte. Der Kupferstich „MELENCOLIA § I“ (1514, Abb. 1) mit der Werkbezeichnung „B 74“46 wird schon lange als Kandidat betrachtet, der die Hauptmotive der Renaissancephilosophie darstelle. Peter-Klaus Schuster nennt das Bild daher „Dürers Denkbild“47, und er sieht in ihm die Summe humanistischen Denkens gebündelt. Ich halte diese pointierte Charakterisierung zwar für sehr geglückt, aber aus anderen Gründen als Schuster. Man hat diesen Kupferstich mit dem Gedankengut vieler namhafter Philosophen in Verbindung gebracht, beispielsweise mit Pico della Mirandola und Carolus Bovillus48, auch mit Nikolaus von Kues49 und vor allem mit Marsilio Ficino wie mit Agrippa von Nettesheim50, ohne dass sich eine Meinung hätte überzeugend durchsetzen können.
315 Meleoncolia § I oder noch ein Cameleon Die Inschrift „MELENCOLIA § I“, welche in klassischer Capitalis den Flügeln des fabelhaften Mischwesens aus Hundekopf und Schlangenschwanz förmlich aufgebrannt zu sein scheint, hat seit jeher zu zahlreichen sehr kontroversen Deutungen Anlass gegeben51, vor allem deshalb, weil das letzte Zeichen „I“ mehrdeutig ist und die gesamte Inschrift in ein Zwielicht taucht. Ohne dieses Zeichen bliebe zwar noch genug Rätselhaftes am Kupferstich übrig, aber man hätte durch diesen Titulus52 zumindest ein zweifelsfreies Thema: Melancholie. Soweit ich die Literatur überschaue, hat man der Orthographie der Inschrift keinen bedeutungstragenden Sinn unterstellt, da man offenkundig annimmt, dass der Meister es selbst nicht so genau nahm.53 Falls nun aber Dürer, insbesondere hier, absichtlich ein „E“54 gestochen haben sollte, wo er nach latein-humanistischen Gepflogenheiten ein „A“ hätte schreiben müssen, wird nicht nur das letzte Zeichen „I“ schillernd, sondern auch der manifeste Wortsinn „MELENCOLIA“ als „Melancholie“ und damit das vermeintliche Bildthema des gesamten Kupferstichs. Gewiss, solange man keine stichfesten Indizien hat, sollte man sich auch keine unnötigen Schwierigkeiten aufhalsen. Wer Indizien sucht, muss zuvor Anlass zu Argwohn gehabt haben. Was könnte einen also dazu bringen, Verdacht zu schöpfen? Die schlichte Antwort lautet: Genau dieses die Inschrift tragende Fabelwesen! Es handelt sich ja um eine Chimäre, um ein hässliches, missratenes Tier, ein Monster, dessen Gestalt sich an keine Regel und Proportion hält, so dass man seine Identität – auch im Reich der überlieferten Monster – nicht eindeutig zu bestimmen wüsste. Man lasse sich nicht von der relativ geringen Größe im Vergleich zu der erwachsenen geflügelten Figur täuschen: Ein Monster zeichnet sich keineswegs durch eine immense Größe aus, sondern durch Vielfalt ohne identifizierbare Ganzheit. Es ist weder Hund (Kopf) noch Schlange (Schwanz), weder Fledermaus (Flügel) noch Drache (Gestalt). Seine Gestalt ist zusam-
316 mengeschustert aus einem absurden Vielerlei, das sich noch mehr Merkmale einverleiben könnte, ohne an bestimmbarer Identität zu gewinnen; es bleibt darum in jeder Gestalt vieldeutig. Warum also auch nicht sein Name „MELENCOLIA § I“? Eindeutig ist allein die Zuschreibung dieser Inschrift! Sie kann nur den Träger selbst meinen, so als wäre in die Flügelhaut sein wahrer Wesensname eingebrannt, Flügel, die keine echten Fledermausflügel sein können, aufgespannt wie ein zum Gerben präparierter Tierbalg eines Luchs (gesprenkeltes Fell), so groß, dass die übrigen Glieder der (Un-)Gestalt lächerlich klein erscheinen. Erschreckend ist seine Erscheinung (aufgesperrtes Maul mit dem Gebiss eines Raubtiers), bizarr sein Flug (Flügel quer zur Flugrichtung), maßlos alles in allem die Gestalt, maßloser noch dadurch, dass Zeichen des Maßes ihr anhaften, Schriftzeichen, geordnet zu einem Wort, das Eindeutigkeit suggeriert, ohne Eindeutigkeit zu haben, weil es von der Norm abweicht und einen Zusatz mit sich führt, der, innerhalb der Flügelumgrenzung, zusammen mit dem Wort keinen Sinn ergibt. Als Kennzeichnung der Fabelgestalt jedoch ergibt die Inschrift sehr wohl einen Sinn, wenn auch vorläufig den: Nicht eindeutig bestimmbar zu sein! Was etwas von der „Art“ ist, dass es sich der Bestimmung entzieht, was es ist, kann alles Mögliche sein, indem es sowohl zu diesem als auch zu jenem wird, sobald man es zu fassen versucht. Wie im Falle des mythischen Proteus erhascht man eine Gestalt, in welcher Proteus nicht mehr ist, es sei denn, man kennt seine wahre Identität.55 Bei längerem Betrachten des Kupferstichs wird man zugeben müssen, dass die stupende Realistik des Dargestellten einen gleichsam auffordert, es mit den Dingen sehr genau zu nehmen. Legt man das als Arbeitsthese zugrunde, heißt dies, Dürer habe das Bild so sorgfältig komponiert, wie er es auch – fehlerlos56 – gestochen hat. Arbeitet man mit dieser These, so soll man auch das Flügelmonster und seine Inschrift genau studieren und dann folgt daraus, dass dem ersten Eindruck überhaupt nicht zu trauen ist. Wenn aber die Inschrift den Träger identifiziert, Gestalt und
317 Inschrift zusammen die wahre Identität des Fabelwesens trotzdem nicht zeigen, dann scheint es sich um eine Maske zu handeln, die etwas verbirgt; dann ist die Inschrift eine Chiffre, eine verschlüsselte Aussage, die es zu entschlüsseln gilt. Mit welchem Verfahren aber rückt man dem Geheimnis auf den Leib? Die Kunst der Verschlüsselung von Botschaften war damals hoch im Kurs. Johannes Trithemius57, der berühmte Abt von Sponheim und später in Würzburg, entwickelte den „Cäsar-Code“ zu polyalphabetischer Verschlüsselung58 weiter. Auch Dürer war in Sachen „Verrätselung“ tätig gewesen; bekanntestes Beispiel ist das Hieroglyphenbild59 (Mysterium/Geheimbild) Kaiser Maximilians. Angesichts dieses Bildes darf man zumindest vermuten, dass der Kupferstich gleichfalls und zumal die Inschrift, die aus Schriftzeichen besteht, verschlüsselt sei und dass sich Dürer vielleicht einer Art „Steganographie“ bedient habe oder, um die Inschrift näher an Pico zu rücken, einer kabbalistischen Form der Buchstabenumstellung. Schließlich führt Pico eine solche Operation durch, eine „alphabetariae revolutio“, im Schlusskapitel des Heptaplus („In principio“)60, wo er mittels dieses Verfahrens aus dem hebräischen Wort „bereshit“, mit dem die Genesis beginnt, eine weitere neue Erkenntnis gewinnt. Schaut man sich das Verfahren Picos näher an, so wird man hinsichtlich der Inschrift des Kupferstichs sofort einwenden, dass eine Buchstabenvertauschung beliebig werden muss, wenn das Verfahren keine Möglichkeit bietet, zu prüfen, ob Dürer es selbst hier auch praktiziert hat. Das Ergebnis müsste auf eine Instanz referieren, die es unabhängig von der Methode beglaubigt. In allen Fällen, wo etwas gesucht (entschlüsselt) werden soll, ohne dass man zuvor weiß, was es ist, muss man sich doch fragen: Wie und woran erkenne ich, dass das Gefundene (und finden wird man immer etwas!) auch tatsächlich das Gesuchte (das von Dürer Gemeinte) ist? Wenn ein Schlüssel in ein Schloss passt und die Türe sich öffnet, weiß man, dass es der richtige Schlüssel war. Aber hat man den Schlüssel, will sagen: Gibt es wenigstens Indizien? – Ein damals oft praktiziertes mechanisch
318 angewendetes Entschlüsselungsverfahren nach dem „Cäsar-Code“61 scheidet aus, weil das letzte Zeichen der Inschrift nach dem „§“ sowohl ein Buchstabe als auch eine Zahl sein kann, abgesehen von dem §-Zeichen selbst, das vielleicht auch einen Buchstaben62 versteckt und außerdem eine besondere Funktion haben könnte. Was nun? Zum Glück gibt es tatsächlich Hinweise, eine Entscheidung herbeizuführen. Dazu gehört unter anderem und zu allererst das „magische Quadrat“ (Abb. 1 und meine Rekonstruktion in Abb. 9). Jedem aufmerksamen Betrachter fällt sehr rasch auf, dass die Zahl 34 eine wichtige Rolle spielt. Erst wenn man sich genauer mit der Anordnung der Zahlen befasst, sieht man, dass die Zahl 17 (Abb. 9)63 nicht minder wichtig ist. Sie hat auch maßtechnische Relevanz, insofern als die Schenkelöffnung des Zirkels im Kupferstich 17 „Trümlein“ zählt. Dürer nennt die kleinste Maßeinheit in seinen späteren theoretischen Schriften ein „Trümlein“64, das ziemlich genau unserem Millimeter entspricht. Dass die Schenkelöffnung nicht zufällig 17 mm misst, ersieht man daraus, dass sie mit dem Radius des Kugelkreises übereinstimmt (Abb. 2; das eingeschriebene Quadrat hat 24x24; denselben Betrag „trennt“ der Sägerücken von der oberen Kante des Richtscheits ab). Die Summe der Zahlen des magischen Quadrates ist 136 (8 x 17). Falls die Inschrift etwas mit dem magischen Quadrat zu tun haben sollte, müsste sich eine signifikante Gemeinsamkeit zeigen. Ein Buchstabe des Wortes „MELENCOL - I - A“ und das letzte Zeichen „I“ der Inschrift sind mit 9 Ziffern des magischen Quadrates identisch. Während die Zahlen von 2 bis 9 arabische Ziffern darstellen, sind die übrigen (1 und 10 bis 16) mit der römischen Ziffer I gebildet. Solange man von einem Zahlenquadrat ausgeht, fällt es nicht auf, dass die Zahl für die Elf eigentlich eine römische Zwei (II) darstellt. Ohne den Kontext Zahlenquadrat wäre es eindeutig eine Zwei oder der doppelte Buchstabe „ii“. Streng genommen, gilt für das magische Quadrat dasselbe wie für die Inschrift.
319 Wenn die Zahl 17, doppelt bestätigt, für das magische Quadrat und für den Kupferstich überhaupt eine Schlüsselzahl ist, dann könnte sie dies auch für die Inschrift sein. Insofern man Zahlen nur mit Zahlen vergleichen und überprüfen kann, muss man die Inschrift in eine Zahl umwandeln. Dafür kommt zu allererst das lateinischen Alphabet in seiner natürlichen Reihenfolge von A 1 bis Z 24 in Frage. Demnach hat das Wort „MELENCOLIA“ (12+5+11+5+13+3+14+11+9+1) die Summe: 84, zusammen mit dem letzten Zeichen als römische Zahl Eins: die Summe 85 (5x17). Falls das §-Zeichen nur die Aufgabe haben sollte, Wort und Zusatz zu trennen, wäre die Inschrift also eine Zahl (85), die durch 17 teilbar ist, mit dem magischen Quadrat (136) und dem Zirkel (17 mm) und dem Kreis für die Kugel (Durchmesser 34 mm) vergleichbar. Die Übereinstimmung löst noch keineswegs unser Problem, aber sie beantwortet eindeutig zwei wichtige Fragen, nämlich warum Dürer an der vierten Stelle des Wortes ein E schreibt und außerdem warum das letzte Zeichen eine Zahl sein kann, – freilich nur solange, wie man mittels der natürlichen Zählordnung des Alphabetes die linke Seite der Inschrift bis zum §-Zeichen als Wort und die rechte Seite als Zahl liest. Sobald man jedoch dieses §-Zeichen mit in die Rechnung aufnimmt, muss man die Zahlen den Zeichen anders zuordnen. Die gewöhnliche Reihenfolge des Alphabets scheidet aus, weil darin dieses §-Zeichen keine Stelle hat. Also bleibt nur (ich sehe keine andere Möglichkeit!), es (§) mit den Buchstaben (MELENCOLIA) und dem letzten Zeichen des Zusatzes (I) gleichberechtigt zu behandeln. Hat die Reihenfolge des Alphabets zuerst die Zählfolge der natürlichen Zahlen ins Spiel gebracht, so dreht sich das Verhältnis um, so dass die Inschrift nun schlicht durchgezählt wird. Und weil wir gewohnt sind, von links nach rechts zu lesen, beginnt es mit M und der Zahl 1, und endet mit dem letzten Zeichen „I“ und der Zahl 12, so dass der Zahlenwert der römisch gedeuteten Buchstaben-Ziffer „I“ aufgehoben ist. Die Summe von 1 bis 12 indes beträgt 78 (6x13), also keine Entsprechung zur Zahl 17.
320 Die Inschrift betont zwei Seiten: ein Wort (MELENCOLIA) und einen Zusatz (I), und zwar „ausdrücklich“, sonst hätte Dürer auf das §-Zeichen verzichten können. Dass viele Interpreten das §-Zeichen als bloßen Zierschnörkel verstehen, zeigen die Zitationen, indem sie ihn weglassen: „MELENCOLIA I“65. Damit geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich die Möglichkeit, dem §-Zeichen verschiedene Funktionen zuzuordnen, z.B. die Aufgabe, zwei Seiten zu unterscheiden, die sich gegenseitig kontrollieren wie die Schalen einer Waage oder die Seiten der allgemeinen Formel „1 = 1“. Will man wissen, was X ist, so sagt es die gegenüberliegende Seite des Ist-Gleich-Zeichens (=). An der Inschrift veranschaulicht, hieße das: „MELENCOLIA =(§) I“ oder „55 =(§)12“. Den Zahlenwerten nach ist die Gleichung nicht richtig. Aber ist deswegen der Ansatz falsch? Hielte man an der Formel fest, so müsste man jetzt umformen, bis die rechte der linken Seite entspricht. Dies könnte durch eine Buchstabenpermutation geschehen, die dazu führt, dass sich die rechte Seite (rechts vom §-Zeichen) Buchstaben aus dem Vorrat der linken Seite holt. Als rechnete man mit verschiedenen Brüchen, sucht man den gemeinsamen Nenner, und der ist 17, aber jetzt nicht als Zahl, sondern als Zahlenreihe, welche man – analog zur obigen 12-Reihe – der ganzen Inschrift zuordnet, indem man die Inschrift darunter schreibt und dabei das Wort MELENCOLIA entsprechend66 trennt (Abb. 10), so dass den Buchstaben/Zeichen wie auch den Trennungen als Leerstellen jeweils eine Zahl der Reihe zukommt. Das Ergebnis dieses Schritts ist: „… … MELE … NCO … LI … A § I“. Da die Formel mit dem §-Zeichen in Kraft bleiben soll und die rechte Seite lediglich ein einziges Zeichen hat, kann man nur die linke Seite permutieren. Noch ist nichts geschehen, das die Gleichungsformel aktiviert. Aber wenn man die Positionszahlen der Buchstaben auf der linken Seite addiert, dann wird die Gleichung: „… … 3+4+5+6 … + 8+9+10 … +12+13 … +15 § 17“ dadurch richtig, dass man auf der anderen Seite etwas hinzufügt: „85 = 5x17“. Will man auf der Zeichenebene nach diesem Exempel verfahren, so müs-
321 sen der linken Seite Leerstellen entzogen werden, um sie der rechten zu geben, oder das §-Zeichen rückt entsprechend vor, als würde man den Eichungspunkt an einer einarmigen Waage verschieben. Die Vorstellung der „Waage“ hat eine Entsprechung im Bild (B74), sinnigerweise in der Mitte zwischen Inschrift und magischem Quadrat! Nimmt man das als Modell, so folgt als 2. Schritt, dass man auf der linken Seite die signifikanten Buchstaben „C, O, A“ in der begriffslogischen Reihenfolge von rechts nach links bewegt, indem man sie nach vorne jeweils auf die erste Leerstelle unmittelbar vor ihrer Zeichenfolge setzt, und zwar so, dass der letzte Buchstabe ALLE Buchstabenfolgen vor ihm, der vorletzte nicht alle, also, EINIGE Buchstaben vor ihm und der letzte EINE Buchstabenfolge vor ihm überspringt,67 so dass das Resultat – von links nach rechts gelesen: „CAMELEON … … … LI … … § I“ lautet. Und jetzt kann man in einem 3. Arbeitsschritt die Gleichung stimmig machen, indem man das §-Zeichen auf die Position 9 vorrückt: „CAMELEON § … … LI … … … I“ und anschließend sowohl „LI“ als auch „I“ um zwei Stellen nach links bewegt: „CAMELEON§LI … … … I … …“; in Zahlen ausgedrückt: „1+2+3+4+5+6+7+8 =(§) 10+11 … … … + 15 … …“, oder: 36 = 36! Die Gleichung ist ausgewogen, das §-Zeichen als „=“ in der Mitte von acht Stellen rechts und links. Zur Ausgewogenheit gehören allerdings die Leerstellen, die virtuellen Gewichte, die in der Zeichenebene nicht erscheinen, so dass folgt: 36 (Wort/CAMELEON) + 36 (Zusatz LI und Zusatz I) =(§) 72 (Leerstellen: 12+13+14+16+17)! – Da aber auf der rechten Seite noch eine Verschiebung möglich ist, ohne die Gleichung zu zerstören, und dabei zugleich auf eine andere Bedeutung verweist, muss auch diese Möglichkeit berücksichtigt werden. Es rückt das isolierte Zeichen „I“ nach links auf Platz 13 und „LI“ um eine Position nach rechts, so dass gilt: „CAMELEON§… LII … … … …“, oder 36 =(§) 11+12+13. Oder: „CAMELEON§LI … … … I … …“ = „CAMELEON§… LII … … … …“ (153 = 153).
322 Inwieweit kann man dieses Ergebnis ernst nehmen? Das hängt davon ab, ob man die Gleichung auch auf der Bedeutungsebene zu verifizieren vermag. Formal fordert die Gleichung, dass die Bedeutung der linken Seite auch der rechten Seite entsprechen muss. Deutlicher: Dass das „Cameleon“ der linken Seite gleich den Zeichen der rechten Seite ist! Noch deutlicher: Dass auf der rechten Seite das CAMELEON auftaucht. Dieses rechte Cameleon darf selbstverständlich nicht der Inschrift oder dem Kupferstich entnommen werden, sonst verhielte man sich wie ein Astronom, der aufgrund einer Hypothese die Existenz eines neuen Planeten behauptet, wo man bislang keinen gesehen hat, und für seine Behauptung keinen empirischen Beweis liefert. Um zu sehen, was mit den Zeichen der rechten Seite gemeint sein könnte, ist es ratsam, noch einmal die Ausgangsgleichung zu betrachten: „MELENCOLIA =(§) I“. Ein Wort (Melencolia) wird mit einem doppeldeutigen Zeichen (I) gleichgesetzt, so dass man nicht wissen kann, was das Wort der linken Seite bedeutet, solange die Bedeutung des Zeichens (I) der rechten Seite offen bleibt. Ist das „I“ der lateinische Buchstabe „i“? Und zwar an sich als isolierter Buchstabe oder „in der Bedeutung des Imperativs des lateinischen ‚ire‘ (gehen), also: ‚… geh weg!‘?“68 Oder die römische Zahl „I“? Und zwar in der doppelten Bedeutung von „eins“ als reiner Zahl und dem unbestimmten Artikel „ein“, den man verwendet, wenn man beispielsweise sagt: „ein“ Chamäleon, „eine Melencolia“ – im Unterschied zu mehreren. – Welche der Möglichkeiten zutrifft, entscheidet ein Text, der vom Kupferstich faktisch verschieden sein muss, falls man nicht bild-immanent argumentieren will. Das Problem ist altbekannt; unbekannt ist lediglich, dass man stillschweigend oder unwissend von einer Gleichung ausgegangen ist: Melencolia = Text (der nicht von Dürer stammt). Man hat meines Wissens bislang noch keinen Text gefunden, der die Zeichenfolge „Melencolia I“ buchstäblich enthält, sondern man hat Texte durch Deutung zugeordnet.69 Mir ist lediglich wichtig, zu betonen, dass man zur Deutung der rechten Seite der Inschrift einen Text gesucht hat.
323 Und jetzt frage man sich: Hätte man den Text vielleicht gefunden, wenn man von den zwei Gleichungen: „CAMELEON§LI … … … I … …“ = „CAMELEON§… LII … … … …“ ausgegangen wäre, indem man die jeweils rechte Seite einer Teilgleichung, mit Hilfe der Zeichen, als Anweisung interpretiert, den Text zu finden? Ist also die rechte Seite eine Stellenangabe – z.B. wie: 1. M. 1, 1? (Sprich: Erstes Buch Moses, erstes Kapitel, Vers eins.) Oder was dasselbe besagt: G I (Sprich: Genesis, 1. Kapitel)? – Falls man dieser Vermutung nachgehen wollte, wäre vorab zu klären, was die Zeichen an sich bedeuten. Denn wenn es zwei oder drei Zahlen oder drei Buchstaben sind, so braucht man nicht zu suchen. Wenn man dagegen von einem Buchstaben und einer Zahl ausgeht, sieht die Sache anders aus; dann darf man den Buchstaben als Abkürzung für ein Wort oder einen Namen verstehen, der zusammen mit der Zahl den Ort bestimmt, wo man das Wort Cameleon der rechten Seite der Gleichung im Text auch findet. Zwei Möglichkeiten sind zu entscheiden: a) „LI … … … I … …“ und b) „… LII … … … …“; oder: a) „Zahl und Buchstabe“, b) „Buchstabe und Zahl“. Ist „LI“ eine Zahl und „I“ ein Buchstabe, so ist es die römische 51 und der lateinische Buchstabe I (i). Ist das „L“ ein Buchstabe, so ist „II“ eine Zahl. Und weil diese identisch ist mit jener, die im magischen Quadrat des Kupferstichs die Bedeutung von Elf hat, ist sie hier nicht die römische „II“ (Zahenwert 2), sondern die gemeinte Elf (II = 11). Zu a) Wenn LI die römische Zahl 51 (3x17) bedeutet, kann man den Buchstaben I als Abkürzung für einen Namen verstehen und entsprechend – z.B. als „IOANNIS“ ausschreiben. Der Kupferstich ist im Jahr 1514 gestochen worden! Einundfünfzig Jahre davor, 1463, datiert man die Geburt von Johannes Pico della Mirandola. Seine Oratio erschien postum 1496 in einer ersten Werkausgabe (Bolognia Hector).70 Diese Ausgabe hat eine Paginierung, welche die Bogen und Blätter durchbuchstabiert, und zwar auf den Recto-Seiten vom ersten bis zum dritten Blatt des Bogens, während die restlichen Blätter (recto) durch die Folge adressiert sind.71
324 Folgende Informationen sind für unsere Stellensuche interessant: 1. Der Satzspiegel von 40 Zeilen; und 2. das „plastes & fictor“ in der letzten Zeile des Satzspiegels oberhalb von „QQ ii“ (außerhalb des Satzspiegels). Angenommen, es liegt hier eine Zuordnung vor, die Dürer bei seiner Lektüre des Textes gedanklich gemacht haben könnte, so wäre es konsequent – mit Blick auf den Kupferstich –, „QQ ii“ (Buchstaben) als eine Zahl zu lesen, weil „QQ“ für Bogen und „ii“ für Blatt steht (sprich: QQBogen, zweites Blatt), das heißt: „ii“ bedeutet den Zahlenwert „2“. Man kann aber „QQ“ nach der natürlichen Reihenfolge des Alphabets in den Zahlenwert von „16 + 16“ übersetzen und beide Werte addieren: 32 (QQ) + 2 (ii) = 34 oder 2x17! – Und jetzt wird’s spannend: Zählt man nämlich die Zeilen des Satzspiegels von QQ ii recto und verso durch, beginnend mit „ORATIO IOANNIS …“, so stößt man in der Zeile 51 von Blatt QQ ii verso auf das Wort „chameleonta“ (das erste „e“ ist ein Sonderbuchstabe, zusammengezogen aus a und e. Um die Buchstaben nachzählen zu können, zitiere ich die ersten 8 Wörter der 51. Textzeile buchstabengetreu, also ohne die Abbreviaturen aufzulösen: „oia costitutus oibus atestabit. Quis huc nostru chameleonta“!72 Vom Zeilenbeginn „oia“ bis einschließlich „huc“ sind es 34 Buchstaben! Und: „ nostru chameleonta“? 17 Buchstaben! Ist diese Häufung von Übereinstimmungen purer Zufall? Vorausgesetzt, die Sache hat Methode, wird man sich doch überzeugen wollen, ob das Satzspiegel-Zeilen-Argument, so möchte ich es ad hoc nennen, sich auch an einem anderen Text überprüfen lässt. Falls es zum gleichen Resultat führte, dann darf man sich seiner Sache wohl sicher sein; denn bei dem Chamäleon („Camelon“) handelt es sich um ein äußerst seltenes Wort, so dass es statistisch betrachtet geradezu mit der Grenze des Unwahrscheinlichen zusammenfällt, es entdeckt zu haben. Selbstverständlich wird nicht irgendein beliebiger Text herangezogen, sondern jener Text, auf den die zweite Möglichkeit – möglicherweise – abzielt, nämlich b) „… LII … … … …“; oder: „Buchstabe und Zahl“.
325 War zuvor „LI“ eine Zahl und „I“ ein Buchstabe, so muss jetzt das „L“ ein Buchstabe und die „II“ eine Zahl in der Bedeutung der Elf (wegen der Typenidentität von Inschrift und magischen Quadrat) sein. Was aber bedeutet L und Elf? Ein Name und eine Zeile? Ein Autor, ein Buchtitel? Oder was sonst noch? Im Falle a) ist ja bekannt, dass Picos Oratio vom „Chamäleon“ spricht; die Identifizierung von I und IOANNES liegt sofort auf der Hand, falls man einmal die Originalausgabe gesehen hat, und dann assoziiert man natürlich die Zahl 51 mit der Datierung des Kupferstichs und folglich eine Jahreszahl mit einer anderen. Und dann schaut man halt mal nach, ob sich noch ein Merkmal findet, das mit 51 korreliert, und staunt, dass dem so ist, und mag es nicht glauben. Nun aber liegt der Fall b) ja etwas anders. Der Autor und der Text sind unbekannt, da L ins Uferlose weist, sofern es die Abkürzung eines Namens für den Autor oder den Hauptbegriff eines Buchtitels meinen sollte. Bedeutete L soviel wie „liber“ (lat. Buch), wäre man erst recht verlegen, eine Textsuche überhaupt zu starten. Und auch was die Autoren betrifft, so hätte man ein immenses Pensum abzuarbeiten, von Livius bis Lullus, von Lukas bis Lukian oder Leonardo da Vinci, von all den möglichen Vornamen ganz zu schweigen. Die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen! So kann die Suche nicht gemeint sein. Sondern man muss unterstellen, dass sich das Lösungswort „CAMELEON“ an eine Person richtet, die Bekanntes zu kombinieren weiß und die bei diesem Wort sich fragt, wo und in welchem Zusammenhang mit Melancholie oder mit einem dritten Verbindungsglied X, nach der Logik eines Kettenschlusses, vom Chamäleon überhaupt die Rede ist. Man hätte sofort verstanden, dass man zwei Textstellen braucht, eine doppelte Bestätigung, um sicher zu sein, dass man keinem Irrtum aufsitzt. Da kann es sich nicht um zweit- und drittklassige Texte von zweit- und drittklassigen Autoren handeln, sondern da kommen nur sozusagen kanonische Texte und Autoren in Frage, die – neudeutsch – Kultcharakter haben. Und ich deutete es ja bereits an: das Chamäleon, ob als alchemisti-
326 scher Deckname73 oder als moralische Metapher74 oder (zoologisch) als Kriechtier75, macht auch in den Texten, wo es beschrieben oder verschrieen oder wo von ihm erzählt oder geraunt wird, seinem legendären und zweifelhaften Ruf alle Ehre. Ein belesener Humanist, zumal ein kabbalistischer Humanist wie Reuchlin, um einen Namen zu nennen, wäre sicherlich nicht verlegen gewesen, außer den antiken Klassikern (worunter man damals auch die Kirchenväter rechnete), zu allererst an das Buch der Bücher zu denken. Es hat in allen brennenden Fragen jener Zeit ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Um nicht allzu weitschweifig zu werden: Ohne den Text der Genesis als Hintergrund wäre die Oratio des Pico gar nicht zu verstehen. Seine stärksten Argumente und Gewissheiten schöpfte er aus dieser Quelle. Die Bibel war – und nicht allein für ihn – der Referenztext schlechthin, dann folgten erst Platon, Aristoteles, Hermes Trismegistos etc. etc. Jede neue Wahrheit musste mit der alten Wahrheit dieses Buches abgeglichen werden, wollte sie das Licht der Öffentlichkeit nicht scheuen. Dazu brauchte man die Methoden der Kabbala oder die von den Vätern schon eingeübte Methode des vierfachen Schriftsinns. Jede Methode der Exegese wäre Pico recht gewesen, wenn sie seine neue Erkenntnis im Lichte des Alten hätte beglaubigen helfen. Und noch eines, ehe ich auf den Punkt komme, Dürer rühmt in seiner Underweysung der messung76 zwar die antiken Schriften, aber an einer Stelle, wo er einen tieferen Sinn, eine für ihn wichtige Wahrheit, mitteilt, die oberflächlich überhaupt nichts mit dem Gegenstand des Buches zu tun hat, vielmehr umgekehrt, worin sich der eigentliche Sinn seines Buches und aller Geometrie und Konstruktion zentriert, da zitiert der Meisterstecher, Künstler und Philosoph nicht einen Platon oder Pico, noch beruft er sich gar auf sich selbst, sondern er zitiert aus der Bibel, indem er verschiedene Schriftworte zu einer Aussage77 zusammensetzt. Man wird also bei Dürer stets an diesen Grundtext denken müssen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass man unser „Chamäleon“ dort auch findet, nicht irgendwo in selten entlegenen Winkeln, sondern
327 durchaus in einem Teil des Kanons, der für das Alte Testament als sehr wichtig erachtet wurde, nämlich im dritten Buch Moses, genannt auch Levitikus, im 11. Kapitel78, meines Wissens der einzige Beleg für dieses Wort in der Vulgata überhaupt. Der Buchstaben L, auf die Biblia sacra bezogen, bedeutet also entweder Leviticus (AT) oder Lucas (NT). Denn es gibt auch eine evidente Sinnbrücke79 von Lukas 11 zu dem 11. Kapitel des Levitikus, aber es ist fraglich, ob genau dieses Kapitel wirklich gemeint ist, weil dort das Wort Cameleon nicht steht, – es sei denn, dass Levitikus 11 das Cameleon als Chiffre ausweist für etwas, das man bei Lukas dann unter einem anderen Namen suchen soll. Wenn also „L II“ dem „CAMELEON“ gleich sein soll, und zwar in der Weise, es so zu finden, wie im ersten Fall, dann muss der Text nach dem „Satzspiegel-Zeilen-Kriterium“ geprüft werden, sonst wäre auch der Aufwand einer formalen Entschlüsselung durch eine Permutation nicht gerechtfertigt. Es wäre ja gerade so, als wollte man ohne diese Umständlichkeit behaupten: Schau hin, Dürers Fabelwesen mit der Inschrift „MELENCOLIA § I“ ist eigentlich ein „Chamäleon“. Selbst wenn es stimmte, sträubten sich einem die Haare; denn zu sehr weicht die Gestalt des Fabelwesens von den zeitgenössischen Darstellungen eines Chamäleons ab, zu eindeutig drängt sich einem die Inschrift auf, die nichts mit einem Chamäleon oder auch nur mit einer Eigenschaft desselben zu tun hat, nämlich: beliebig die Farbe zu wechseln. Dass ein „Farbwechsel“ in einer Schwarzweiß-Graphik zumal – eben als Wechsel – an ein und demselben schlechterdings nicht dargestellt werden kann, ist selbstevident. Und hätte Dürer ein Chamäleon dargestellt, nach der Textvorlage des Plinius, worauf sich augenscheinlich der Holzschnitt im Esop80 des Sebastian Brant (1501) bezieht, so wäre ein geflügeltes Chamäleon ohnehin nicht akzeptiert worden, es sei denn, Dürer hätte es ihm buchstäblich in die Flügel geschrieben. Und dann wären wir auf einem Niveau angelangt, wo Eindeutigkeit allenfalls Elementarschüler beeindruckt und vielleicht bildungs-
328 beflissene Humanisten gerade noch geistreich unterhält, indem sie in das polyvalente Verweisungsgeflecht von Allegorien und Textzitaten eintauchen, um das Rätsel um des Rätsels willen zu lösen, was dieses Inschriftwesen mit den übrigen Geflügelten des Kupferstiches literarisch verbindet. Es wäre das Wichtigste verspielt gewesen, ohne dass sich an der künstlerischen Qualität des Stiches etwas geändert hättet. Nicht viel anders verhielte es sich, wenn Dürer lediglich die Inschrift geändert hätte, dahingehend: dass wir – statt „MELENCOLIA § I“ – nun „CAMELEON § LI I“ oder „L II“ oder „I HEIL OSTERLAMB“81 lesen. Was im Medium von Sichtbarkeit Farbwechsel heißt, das entspricht in der Metaphorik der Metamorphose, dem Gestaltwandel. Das faktisch Gegebene darauf hin zu überschreiten, dass man es als durch einen Gestaltwandel erzeugt wahrnimmt, ist bereits ein wichtiger Schritt, um sich Dürers Bildkonzept zu nähern und darin den Pico’schen Gedanken zu ahnen. Bibel ist nicht gleich Bibel. Wer in die Zeit des frühen Buchdrucks zurückgeht, sieht das sofort. Solange man nur an dem Inhalt eines Textes interessiert ist, mag es egal sein, welche Bibel man zur Hand nimmt. Im Falle aber, wo ein Text mehr sagen soll, als er eigentlich sagt, muss dieses „Mehr“ die Text-Gestaltung übernehmen, z.B. der Satzspiegel, Zeilenzählung, bestimmte Worte in unverdächtigen Zeilen etc. – Wenn eine Bibel für das Satzspiegel-Zeilen-Kriterium überhaupt in Frage kommt, dann ist es jene Bibel, aus der Dürer auch den Text für seine Apokalypse (1498) genommen hat. Und das war der Druck seines Taufpaten Anton Koberger, nach dessen Namen sie heute genannt und zitiert wird: „Anton Koberger Montag nach Invocavit“82 (17. Februar) Nürnberg 1483, kurz: Koberger-Bibel. Levitikus, Kapitel 11, ist auf dem Blatt LVII recto rechte Spalte und verso linke und rechte Spalte83 abgedruckt (Abb. 11a/b). In Zeile 18 von Blatt LVII verso linke Spalte findet sich unser gesuchtes Wort „cameleon“! – Diese Informationen sind wichtig, um die anschließende Prüfung durchführen zu können. Angesichts der oben verzeichneten Zeilenangaben scheint sich
329 der Text und der Fundort in der Zeile 18 (Bl. 57v) dem Satzspiegel-Zeilen-Kriterium zu entziehen. Und hätte ich nicht diese Prüfungsanordnung eingeführt, dann hätte man sich mit dem Hinweis zufrieden geben müssen, dass immerhin die Gleichung „CAMELEON“ § L II“ durch das Wort „cameleon“ (linke Seite von §) und L (= Leviten oder Leviticus, rechte Seite von §) und II (= 11 oder Kapitel 11) erfüllt sei. Und ich wüsste nicht, was man dagegen einzuwenden hätte. Das ist ein voller Erfolg unter formaler Rücksicht. Aber nun stützte sich die erste Gleichung, wo der Text und das darin enthaltene Wort als bekannt vorausgesetzt war, eben auf die Zeilenzählung des Satzspiegels! Was in dem einen Fall gilt, darf hier nicht entkräftet werden. Also zähle man noch einmal, und zwar von Beginn an, von Zeile 1 mit „Das .XI. Capitel. wel“ bis zur 18. Zeile von Blatt LVII verso linke Spalte, wo zu lesen steht: „geschlecht. Das hermlen vnd cameleon. vnd dy“: 50 Zeilen (Blatt LVII recto rechte Spalte) + 18 Zeilen (Blatt LVII verso linke Spalte) = 68 (4x17)! In der Oratio (1496) steht das Wort in der Zeile 51 (3x17). Die Zahl 17 verhilft somit zur dritten Übereinstimmung mit der Gleichung. Mehr dürfte eigentlich nicht zu erwarten sein, hätte ich nicht auch den Verdacht geäußert, dass sich Dürer einer Art Steganographie bedient habe, um seine Inschrift zu verschlüsseln. Wenn nun aber die „Grundidee der Steganographie ist, dass nur derjenige, der weiß, dass etwas versteckt ist und weiß, wo er suchen muss, etwas findet“84, dann wird man sich mit der formalen Bestätigung, dass das „cameleon“ gefunden wurde, nicht zufrieden geben, dann wird man auch inhaltlich noch mehr erwarten von diesem Text, der nun unter dem Verdacht steht, steganographisch verschlüsselt zu sein, zu dem jedoch „cameleon“ ein oder der Schlüssel sein müsste. „Der Leviten“ (Kolumne) / „Das .XI. CAPITEL. wel“ erwähnt das „Cameleon“85 unter den unreinen Tieren! Liest man aufmerksam den gesamten Haupttext, so fällt auf, dass sich das Wort „unrein“ durch eine penetrante Häufung hervortut. Zählt man durch, so taucht es 22 mal auf! Zwei mal elf! Im 11. Kapi-
330 tel! Und nicht nur das: 11 mal vor dem „cameleon“ und 11 mal danach! Spätestens jetzt hat der Verdacht einen Anhalt. Gleichgültig ob der Textstand zufällig so ist, wie er nun einmal gesetzt worden ist, – derjenige, der auf diesen Text mittels des Wortes „cameleon“ hinführt, hat eine versteckte Absicht und nutzt diese Symmetrie, dem Text eine Botschaft einzuschreiben, ohne auch nur an ihm irgend etwas zu verändern. Genau das ist Steganographie! Dürer hatte keinen Einfluss auf die Satzgestaltung dieses Textes. 1483 war er 12 Jahre alt. Aber der Verleger Anton Koberger war sein Taufpate. Und Dürer hat später für eigene Werke die Druckerei genutzt. Ist es da auszuschließen, dass vielleicht schon der Knabe in Geheimnisse eingeweiht worden ist, auf die er später zurückgreift? Das Szenario86 könnte man noch engmaschiger ausgestalten. Ich will es bei einer Andeutung belassen, – nicht um eine Wahrscheinlichkeit zu einer historischen Tatsache zu stempeln, sondern um mit einer realistischen Möglichkeit auszuschließen, dass man eine Verbindung von Geheimwissenschaft und Dürer verneint, nur weil man sie sich mangels historischer Fakten realistischerweise nicht vorzustellen vermag. Drucker und Maler standen mit einem halben Fuß schon praktisch in der Grauzone einer Geheimwissenschaft.87 Zu dem angedeuteten Szenario gehört noch, dass Dürer mit Gianfrancesco Pico della Mirandola, dem Neffen des Giovanni Pico, befreundet88 war. Nicht auszuschließen, dass Dürer durch Gian und/oder Pirckheimer an den Text der Oratio auf ganz besondere Weise herangeführt worden war. Nicht auszuschließen, dass Dürer im Falle seiner Verschlüsselung des Kupferstichs den LevitikusText so zu verstehen begann wie Pico in seinem Heptaplus den hebräischen Text der Genesis, und dass Dürer sich durch den Bibeltext in seiner philosophischen Auffassung mit Pico bestätigt fand. Schaut man sich den Text unter der Rücksicht einer Geheimbotschaft an, so lässt es sich nicht vermeiden, mit Schlüsselwörtern und Zahlen zu argumentieren. Für das Levitikus-Kapitel 11 sind es die Wörter „unreyn“, „cameleon“ und „heylig“ und die
331 Zahlen 11 und 17.89 Wegen der Übereinstimmungen gilt es jetzt zu überprüfen, ob ein Akrostichon90 vorliegt. Um den Text91 verstehen zu können, unterscheide ich drei Sinnabschnitte: 1. „dern vnreynen“ „teylt (ein) yn“/(die) „sind/ (und) wer“ „werden sölt“/ (und der) „mayliget (=befleckt) (durch) vn (=kein)“„ding / (Ins) vnreyn“ „yntruckt wirt“ (die) „füssen (=Füße oder Spur) (des) todten“ (=des Sterblichen)/ „der do“ „wand(elt)/ (Denn=) wan “ „alle wer(en)“ (vom) „geschlecht (des) cameleon / / 2. Dy“/ „alle … tod“ „ten (=sterblich/gestorben) war(en)“/ „werde(n) darnach“ „auff(erstehen) yegklich“ (zu) „disem/ der“ „vnreyn vnd“ „alle(s) (und) der“ „essen vntz (=uns)“ „tregt/ / 3. (Ja,) vnreyn“ „der (einer ich auch) bin (e)s“/ „der ich“ „byn eym“(ebenso ein) „ich // wan (obwohl)“ „auch lebendi(g)“/ (gehöre ich in die) „vunderschidung (des) vnreynen“. Meine Lesart lautet nun: »1. Von den Unreinen teilt ein: in die, die sind, und wer werden soll, und welcher durch kein Ding beschmutzt (wird). Ins Unreine wird die Spur des Sterblichen gedrückt, der hier wandelt. Denn (man sagt,) wir wären alle vom Geschlecht des Cameleon. – 2. Alle Sterblichen und die gestorben sind, werden darnach auferweckt, und zwar alle ohne Ausnahme – zu diesem, der alle Unreinen (trägt) und uns Essen (= Nahrung gibt, oder alchemistisch: die Feuerstellen) trägt! – 3. Ja, ich bin auch unrein, der ich ihm ein Ich bin (obwohl ich unter Rücksicht des Ich ihm gleich bin); und obwohl ich auch ein Lebendiges bin, gehöre ich in die Unterscheidung der Unreinen.« Diesen Text darf man ohne Abstriche der Pico’schen kabbalistischen Auslegung der Genesis an die Seite stellen, mehr noch, er klärt ganz eindeutig den Zusammenhang von Christus und Mensch, wie ihn Pico in der Oratio bestimmt, und zwar als „Chamäleon“, ohne dass der Name „Christus“ genannt wird. Dürer dagegen nennt ihn, und zwar in einem eigenen Text, der sachlich eng mit dem Kupferstich und dessen Inschrift verbunden ist und der insofern mit dem Levitikus-Text zu tun hat, als Dürer die Lösung, wie sein Text im Text wirklich zu lesen sei,
332 dort ebenfalls in einem Akrostichon versteckt hat. Es handelt sich um das Blatt K verso (Abb. 12) aus der underweysung (1525).92
Dürers ALLCRISTHEILWORT Dass diese Seite eine verschlüsselte Botschaft enthält, dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Es ist zuerst wieder die Zahl 17, an der man sich orientiert. Sie ist als Einteilung in der Graphik vermerkt, und man erhält sie, wenn man die Textzeilen – wie an einem Torbogen entlang – liest. Zuerst liest man den Text, wie er dasteht, dann geht man zur Graphik, von welcher der Text handelt, dann geht man von der Graphik zum Text zurück, aber nun, ihn gleichsam einkreisend, am linken Rand hoch und am rechten Rand hinunter.93 Ich unterscheide zwei Hauptabschnitte, einmal von 1 bis 17, so dann von 18 bis 34: I. a) „sen“ „oberen“ „dingen“ „len“; b) „machen“ „wie“ „e“; c) „aber“ „setzen“ „en“ „puncten“ „darein“; d) „want“ „den“ „sech“ „rumb“. II. a): „da“ „ge“ „stell“ „dich“; b): „oder“ „zeylen“ „all“ „parrlini“; c): „schrift “ „du“ „punkte“ „geteylt: d): „kleiner“ „tey(l)“ „andere“ „die“ „aufgeris/(sen)“. Im Klartext: I. a) „Sieh auf die oberen Dinglein; b) mache es wie bei e“; c) „aber setze en Punkte darein; d) dreh die ganze Sache rum.“ II. a): „da (ge-)stell dich; b): oder zähle alle Parallelen durch; c): die Schrift teilst du wieder durch Punkte; d): den kleineren Teil anders als den, der unten aufgerissen ist.“ Ehe man diesen Anweisungen folgen kann, muss man den Text in der Graphik genau studieren. Es sind neun Zeilen mit 63 Buchstaben und 5 Punkten (anstatt der Punkte setze ich jeweils einen Bindestrich); die Schrift wird von oben nach unten kleiner: 1. Zeile: „DAS - W - “; 2. Zeile: „GOTES“; 3. Zeile: „BLEIBT“; 4. Zeile: „EWIGLICH“; 5. Zeile: „DIS - WORT“; 6. Zeile: „IST - CRISTVS“; 7. Zeile: „ALLER - CRIST“; 8. Zeile: „GLAVBIGEN“; 9. Zeile: „HEIL“. – Über dem „ - W -“,
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351 durch einen Strich vom Text getrennt, ein Omega und neben diesem, außerhalb der Graphik eine Minuskel „a“. Ohne „Omega“ und „a“ enthält der Text also 68 (= 4x17) Zeichen (Buchstaben und Punkte), die zu berücksichtigen sind. Wie sind nun diese Anweisungen des kryptischen Textes zu verstehen: I. a) „Sieh auf die oberen Dinglein“. Wenn damit die Sonderbuchstaben „a“ und „O“mega (Off. Joh. 1,8) gemeint sind, so heißt das, alles von seinem Omega, von seinem Ende her zu sehen. Im Text ist dieses Ende das „HEIL“; – b) „mache es wie bei ‚e‘ “. Die Zeilenabstände und die Buchstabengrößen der Graphik werden durch 17 durchnummerierte Strahlen eingeteilt; c) „aber setze ‚en‘ Punkte darein“. Da sich dies nicht auf eine Neukonstruktion beziehen kann, ist die Bedeutung: Lies zuerst nur die Zeilen von e bis n. Aber „n“ als Buchstabe kommt im Strahlenkranz nicht vor. Also muss man sich auf die Zahlen beziehen, die man mit Hilfe der natürlichen Ordnung des Alphabets, von e bis n, das heißt von 5 bis 13 liest; und das wären 9 Linien, die den Text der Graphik von Zeile 5 bis 13 unterteilen. Da aber auf der 5. Punktlinie das „BLEIBT“ steht, muss der Punkt 4, die obere Begrenzung der Schrift, mitgezählt werden. Das „EWIGLICH“ steht zwischen 5 und 7, „DIS - WORT“ zwischen 8 und 9; „IST - CRISTVS“ zwischen 10 und 11 und „ALLER - CRIST“ zwischen 12 und 13. Die Addition dieser Zahlen (4+5+6+7+8+9+10+11+12+13) ergibt wieder eine durch 17 teilbare Zahl (85=5x17). Aus d) „dreh die ganze Sache rum“, folgt dann: „CRIST - ALLER CRISTVS - IST WORT - DIS EWIGLICH BLEIBT“ (also: „Christ, jeder Christus, ist Wort/Fleisch geworden, dies ewiglich bleibt“). – Was man aber jetzt schon sieht, ist, dass durch die Anordnung der Wörter den Punkten zwischen den Wörtern die Funktion zufällt, die Interpunktionszeichen haben, was die Punkte vorher noch nicht hatten. II. a): „da (ge-)stell dich“, in Sinne: Stell dich auf diese Seite; mach dir diese Bedeutung zu eigen! Damit es dich auch überzeugt, geh folgenden Weg; b) „oder zähle all Parallelen durch“, will sagen: Dann berücksichtige noch einmal das Ganze, den
352 ganzen Text. – c) „die Schrift teilst du wieder durch Punkte“. Spätestens jetzt muss einem auffallen, dass die Punkte den TeilText sinnvoll gliedern. Was aber taten sie vorher? Verführe man streng nach dieser Logik, so folgte doch: „DAS - W - GOTES BLEIBT EWIGLICH DIS - WORT IST - CRISTVS ALLER - CRISTGLAVBIGEN HEIL“. Nur wer sich über die Punkte hinwegsetzt, wähnt sich, Vertrautes zu lesen. Entweder ist dieser Text Unsinn, oder er hat die vertraute Bedeutung verloren. Hält man sich an die Punkte, dann darf das „W“ nicht zu „Wort“ ergänzt werden. Wer „W“ laut ausspricht, hört „Weh“ (=Schmerz)! Und der Text gliederte sich wie folgt: „Das Weh Gottes bleibt ewiglich dies (nämlich immer dasselbe, unveränderlich, andauernd). Wort ist: Christus aller, Christgläubigen Heil.“ Im Klartext: Wenn Gott als Christus in der Welt erschienen ist, dann ist dieses Erscheinen ein Missverhältnis Gottes zu sich selbst, weil er als Schöpfer die Gestalt eines seiner Geschöpfe angenommen hat, dann ist er als Christus ewig in der Welt. Und wenn ein Wort ein Wort ist, dann meint dies: es gilt. Dann ist Christus für alle der Christus – für die Christgläubigen wie für Andersgläubige und auch für Ungläubige. Kurzum, es gibt kein Heil für wenige oder Auserwählte, sei es durch Glaube, Gnade oder Werk. Das Heil lässt sich nicht teilen, weil sich Gott und seine Welt nicht teilen lassen, ohne den Schöpfer durch sein Geschöpf zu beleidigen. Wie aber kann dann noch von Heil gesprochen werden? Heil setzt Unheil voraus. Krankes muss geheilt werden. Solange jedoch die Welt so ist, wie sie ist, bleibt Unheiliges mit Heiligem vermischt. Wer dieses Problem lösen will, kann nicht „glauben“, dass Christus nur einmal erschienen ist, ohne das Heil für alle und alles zu sein. Also muss man das „- W - Gotes“ völlig anders verstehen. Deswegen: d) „den kleineren Teil anders als den, der unten aufgerissen“. Dieser kleinere Teil bezieht auf die Schriftgröße und somit auf die Zeilen 7 bis 9: 7. „ALLER - CRIST“; 8. „GLAVBIGEN“; 9. „HEIL“. Was kann daran geteilt und gepunktet werden?
353 Das Wort „CRIST“/„GLAVBIGEN“ ist schon quasi durch den Zeilenumbruch geteilt, und da das „HEIL“ zu teilen, gegen die Bedeutung spricht, – denn alles kommt ja auf das Heil an – sind eigentlich nur das „GLAVB/IGEN“ und das „ALL/ER“ noch einmal zu teilen, ohne dass der „GLAVB“ und das „ALL“ (das Ganze) darunter leidet. Und das „IGEN“ müsste sich dann einen Partner suchen, der auch einer Ergänzung harrt. Der einzige Kandidat, der dafür in Frage kommt, ist das einsame „- W -“ der ersten Zeile, also: „- WIGEN“ (= wiegen). Gibt das nicht einen Sinn: „DAS WIGEN GOTES BLEIBT EWIGLICH“? – Wer dächte nicht sofort an das Schriftwort aus Weisheit 11, 20, das Dürer so fleißig zitiert?94 Wenn also das Wiegen, die Waage selbst das Modell der Neukombination sein sollte, so wären die ersten vier oberen Zeilen das Muster für die übrigen. Die Waage hätte ihre Mitte in der 5. Zeile, ihr müssten auch mehr Buchstaben zufallen. Zunächst achte man auf die ersten vier Zeilen: 1. DAS WIGEN, 2. GOTES, 3. BLEIBT, 4. EWIGLICH. Die Buchstaben reihen zeilenweise: 8–5–6–8. Schon der Blick auf diese Kombination, wollte man sie als Zahl schreiben, deutet wieder auf einen Zusammenhang mit der 17 hin. Dieselbe Anordnung 8–5–6–8 muss dann auch für die restlichen Zeilen unterhalb der Mitte gefordert werden. Der Mitte, 5. Zeile, bleiben somit 9 Buchstaben (= 63 Buchstaben insgesamt). Daraus folgt, dass sich die restlichen Wörter so verteilen, dass jede Zeile nicht mehr Buchstaben erhält, als die Waage-Symmetrie vorsieht. Und weil nicht mehr getrennt werden kann, ohne sinnlose Teilstücke zu erhalten, die wegen der Begrenzung nicht sinnvoll aneinander neu ergänzt werden können, ist eine beliebige Kombination ausgeschlossen. Denn eines wollte Dürer sicherlich nicht: eine unkontrollierbare Kombinatorik freisetzen. Den fünf Punkten muss darum eine neue Aufgabe übertragen werden, das heisst, auch sie müssen, am Waage-Modell ausgerichtet, entsprechend verteilt werden. Neuer Text: 1. Zeile: „DAS WIGEN“; 2. Zeile: „GOTES“; 3. Zeile: „BLEIBT“; 4. Zeile: „EWIGLICH-“; 5. Zeile: „- ER -
354 CRISTVS“; 6. Zeile: „IST - GLAVB“; 7. Zeile: „DIS - ALL“; 8. Zeile: „CRIST“; 9. Zeile: „HEILWORT“. – Bis auf die 2. Zeile haben überall Veränderungen stattgefunden. Die fünf Punkte gruppieren sich sinnvoll! Eine beeindruckende Symmetrie: „DAS WIGEN / GOTES / BLEIBT / EWIGLICH- / - ER CRISTVS / IST - GLAVB / DIS - ALL / CRIST / HEILWORT“. Liest man diesen Text mit Hilfe der fünf Punkte, so gliedern sie die 11 Wörter zwar zu fünf Einheiten: Das Wiegen Gottes bleibt ewiglich. – Er, Christus ist. Glaub dies – Allchristheilwort (nach der Wortbildung Allheilmittel, im Sinne von allchristlichstes Wort des Heils). Aber sie verbinden diese Einheiten noch unvollständig. Wo die ersten beiden Punkte aufeinander treffen, ist eine Zäsur. Ein Satz ist zu Ende und vollständig: Etwas, eine Tätigkeit, das Wiegen, bleibt, und weil von dem Absoluten die Rede ist „ewiglich“, im Unterschied zu „zeitlich“, vorübergehend. Punkt. Die zweite Einheit „er“ dagegen ist unvollständig, falls man es nicht auf die dritte Einheit bezieht, in welcher vom Subjekt (Christus) das Sein (ist) ausgesagt (Affirmation, im Unterschied zur Negation) wird. So kann der rechte Punkt von „- ER -“ nur Christus meinen, und der Punkt ist dann eine Pause, ein Gedankenstrich, um die Affirmation des wirklichen Seins Christi zu betonen. Dieser Christus „IST“, im Unterschied zu einem nur „geglaubten“. Der Punkt zwischen „ER CRISTVS“ fungiert als Pause, in welcher man sich also gleichsam fragt: Wer ist wirklich? Christus! „CRISTVS IST“, das ist die Kernaussage. Indem dieser Satz sachlich (Implikation Gott) mit dem ersten vermittelt ist, übernimmt der zweite Satz eine begründende Funktion, warum das Wiegen Gottes ewiglich bleibt, weil Christus. Aber auch – was das Gewicht dieses Wiegens ist. „Er“ ist ja jetzt die Mitte dieser austarierten Waage, und er, Christus, ist so am Wiegen beteiligt, dass er die Waage immer ausgleicht, sobald sie das Gleichgewicht verliert. „ER“ ist die Mitte, Christus das Gewicht, das den Schwerpunkt besetzt, er ist das Gewicht und der Knecht, aber vor allem der Meister, der auf das „Zünglein“ – zugunsten des Kaufmanns – schaut, wie ihn
355 Adam Kraft in der Nürnberger Stadtwaage (1497) darstellt, während sich der Kaufmann verhält wie der Narr, Nr. 43, aus dem Narrenschiff von Sebastian Brant (Abb. 17), ohne zu wissen, wie verloren er wäre, falls ein Meister des Wiegens nicht im Hintergrund wäre. Bleibt Christus so in der Mitte, dass er rechts wie links des Eichungspunktes, worin eine Waage die Gleichheit der Seiten garantiert, auf- und nachwiegen kann – zugunsten des Gewogenen, dann verändert sich der Sinn der Zeilen-Waage nicht, wenn man es auch anders lesen will, zum Beispiel von unten nach oben. Denn die drei „Punkte“ wiegen bloß förmlich das Satzgefüge aus und halten die wechselseitige Bestimmung der einen wie der anderen Seite durch reflexive Pausen im Gleichgewicht. Deshalb ist nun der vierte „Punkt“ wieder eine Zäsur, ein Gedankenstrich, der den vorausgehenden dreigliedrigen Satz „ER - CRISTVS / IST“ von dem nachfolgenden vollständigen Satz „- GLAVB / DIS -“ formal trennt. Der Imperativ von „glauben“ richtet sich an einen Leser oder Hörer. Es erfordert eine Ergänzung, ein Was man glauben soll, also „dies“, was vorher geschrieben steht. Unter dieser Rücksicht ist das „DIS“ rückbezüglich. Zugleich aber gewinnt es durch den fünften Punkt, der das letzte Wort „ALLCRISTHEILWORT“ vom „DIS“ absetzt, den Hintersinn: Glaub dies und nicht das andere. Und indem man noch einmal sich fragt: Was? weist das „DIS“ auf „ALLCRISTHEILWORT“, das den Inhalt des Glaubens enthält. Die gedankliche Pause zwischen „DIS - ALL“ wird zu einer gedanklichen begründenden Konjunktion: Warum soll ich dies glauben? Weil es das allchristlichste Wort des Heils ist. Der Superlativ will sagen: Dieses Wort ist die wahre Lehre, weil es unübertrefflich mit der Grundwahrheit des christlichen Glaubens übereinstimmt. Es ist eigentlich das, was wir glauben, wenn wir, recht verstanden, an und den Christus glauben. So gesehen, lotet die neue Lesart den im Buch gesetzten Text (Kv, 1525) in seiner ganzen philosophischen Tiefe aus. Das war es, was die Florentiner Neuplatonisten wollten. Nicht eine Übereinstimmung mit den Dogmen der Kirche, sondern eine Übereinstimmung von
356 Glauben und Wissen in einer Ebene, worin der Glaube (Inhalt) ein Wissen (Form) ist und das Wissen (Inhalt) ein Glaube (Form) sein darf, weil man „ein-gesehen“ hat, warum es so sein muss, falls Gott der Schöpfer dieser Welt ist. Was Dürer unter „Glauben“ verstand, sagt wohl am besten jenes oft zitierte Diktum: „welcher aber durch die Geometria sein Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben, denn da ist man gefangen, und ist billig ein solicher als von Gott begabt für ein Meister in solchem zu halten, und derselben Ursachen ihrer Beweisung sind mit Begierden zu hören, und noch fröhlicher ihre Werk zu sehen.“95 In der gärenden Umbruchszeit der Reformation von 1525 hat Dürer auf Blatt K verso sein eigenes „Bekenntnis“ festgeschrieben: „DAS WIGEN / GOTES / BLEIBT / EWIGLICH - /- ER - CRISTVS / IST GLAVB / DIS - (weil es das) ALL/CRIST/HEILWORT (ist).“ Oder von unten nach oben: „HEILWORT / CRIST / ALL - DIS / GLAVB - IST / CRISTVS - ER - - EWIGLICH / BLEIBT / GOTES / WIGEN DAS“ … Was? Und jetzt kann man den Schritt über die Linie tun und: „Omega“ sagen, also: „Das HEILWORT / CRISTus/ ist ALLes - DIS / GLAVB! - IST / CRISTVS - ER - - EWIGLICH / BLEIBT / GOTES / WIGEN DAS Omega“ (= dann bleibt er als das Omega ewiglich das Wiegen Gottes); und neben dem Omega steht das kleine „a“, also der kleine Anfang, der zeitliche Anfang, die Wende, und die Waage, welche sich wie ein Stundenglas verhält, wird umgewendet, und Er kehrt zurück ins WORT, das Fleisch geworden ist. Wer dieses „Wort“ glaubt, „glaubt“ nicht ein Wort unter Wörtern oder irgend ein erbauliches Schriftwort, sondern er glaubt so, wie ein Kranker an den Arzt glaubt, der sich durch seine Heilerfolge als ein Heiler beglaubigt hat. Falls mein Indizienbeweis schlüssig ist, darf man mit Grund behaupten, dass Dürer seinem „HEILWORT“ die allerhöchste Wirk- und Heilkraft attestiert. Denn wer das Wiegen Gottes erwägt, indem er die Gesetzmäßigkeit in allen Ordnungen dieser Welt erforscht,
357 und wer erwägt, was es für den Menschen bedeutet, falls dem Christus als Menschensohn ewiges Sein zukommt, der stützt seinen Glauben auf das Fundament eines Wissens, zu dem man nur gelangt, wenn man der Vernunft traut (glaubt). Denn wer wiegt, der gleicht aus! Kein Wissen vermag sich als Werk zu halten, das von der Waage oder dem Maß abweicht. Er „glaubt“ an die Welt! Dass dies ein anderer Glaube ist, als ihn die Kirche verkündigt und von ihren Christgläubigen verlangt, liegt auf der Hand. Um Theologie der Fakultäten und Gelehrten geht es dabei überhaupt nicht, allenfalls könnte man an das „Wundertätige Wort“96 von Johannes Reuchlin (1494) denken. Wer also in die Werke des höchsten Baumeisters („summus pater architectus deus, optimus opifex“, Oratio, S. 6) sein Vertrauen setzt, der zählt, misst und wiegt in allem, was er tut. Auch in der Auslegung der Heiligen Texte, die das doch selbst zum Teil sagen, zum Beispiel das oft missverstandene Wort Mattäus 25, 29: „Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.“97 Legt man dieses Wort auf die Waage, so braucht man nur zu fragen: Was? Wer hat was, dass ihm gegeben wird? Und für dieses Was setze man „Mangel“! So kommt die Waage ins Gleichgewicht: „Wer Mangel hat, dem wird gegeben, und er wird genug haben; wer aber keinen Mangel hat, dem wird auch nur genommen, was er über das volle Maß hinaus hat.“ Das Wiegen und die Waage sind ein Grundsatz Dürers, der für alle erdenklichen Bereiche gilt, gleichsam die Welt-Formel für alles, sei es im Sinnlichen oder im Übersinnlichen, ohne dass alles über einen Kamm geschert wird. Denn das Wiegen ist dynamisch zu verstehen als ein Nach-Wiegen und Ausgleichen, sonst wäre ein homo creator als plastes et fictor sui ipisus undenkbar. Jetzt wird man vielleicht besser verstehen, warum dieser Meisterstecher zeit seines Lebens sich akribisch um das Maß bemühte. Weil nun der Satzspiegel und die Graphik von Blatt Kv der underweysung (1525) aus demselben Maßgrund (Abb. 12) ab-
358 geleitet sind, aus welchem auch der Kupferstich „B74“ konstruiert ist, bezieht sich der Text von Blatt Kv in recto wie in verso, will sagen: nach dem buchstäblichen wie auch nach dem permutierten Wortlaut, ganz ohne Zweifel auf die Inschrift „MELENCOLIA § I“ und folglich auf Pico und auf Levitikus, Kapitel 11. Denn das „Auge“ der Graphik ist passgenau das rechte Auge der zirkelhaltenden Figur (Abb. 13) in B74, so dass die Mitte „DIS WORT“ (1525) buchstäblich das Wort „MELENCOLIA“ der Inschrift (1514) überschreibt und auslegt.98 – Wenn aber in recto gesagt wird: „DIS - WORT - MELENCOLIA - IST CRISTVS“, und die Verso-Version an die alte Stelle „DIS WORT“ das „ER - CRISTVS“ setzt, der nicht mehr „MELENCOLIA“ überschreibt, sondern nun das „CAMELEON“, also: „ER - CRISTVS - CAMELEON“ – , dann fragt man sich, wer oder welcher Christus da eigentlich gemeint sei? Kann es dann noch der IESVS sein, der sich als OSTERLAMM99 geopfert hat? Das „osterlam“100 muss also das letzte Glied in der Argumentationskette sein, und eine Kette ist im „åletzen Glied“ die Mitte! Das sonderbare Christusmonogramm „CAO“ löst gleichsam seinen letzten Buchstaben ein (C = Christus, A = Adam/Mensch und O = Osterlamm/Opfer). Es liegt in der Logik einer solchen Unterstellung, dass einem Text des Alten ein Text aus dem Neuen Testament gegenübersteht, um das eine durch das andere zu beglaubigen.101 In diesem Sinne würde Lukas 11 mit Levitikus 11 korrespondieren, weil sich die Thematik des Unreinen aus dem Levitikus wiederholt; im Vergleich aber mit diesem verschärft Lukas 11 die Unterscheidung von „rein“ und „unrein“, ohne sie zu überwinden, sprich: auszuwiegen, auszugleichen. Bei Lukas 22 (2x11) verhält es sich anders. Hier identifiziert sich Jesus mit dem Osterlamm102! Und wenn im Subtext des Levitikus eine Identität103 von Cameleon und Cristus vorliegt, dann müsste Lukas 22 (= anderes „L II “ oder 2x11 und L für Lukas, siehe oben) der Text (Abb. 14) sein, der eine Geheimbotschaft, jetzt im Sinne von „All/christ/heilwort“, enthält und da-
359 rum für eine Beweisführung anstehen könnte, worin „osterlam“ das Schlüsselwort wäre. Die Prüfung durch das Satzspiegel-Zeilen-Kriterium ergibt eine erstaunliche Symmetrie104; der kryptische Text zeigt sich, wenn man wie im Falle des Levitikus verfährt,105 aber dann zusätzlich die Zeilen im Bogen liest – nach dem Vorbild des Dürer-Textes (Kv), also von unten nach oben (linke Seite) und von oben nach unten (rechte Seite); das führt zu folgender Reihung: „dz - sen - tet - dir - m. - in - osterlam wir - osterlam - vergan - wann - reych“. Mit der robusten Logik von gesprochener Sprache (nach dem Modell: „Maus satt, Mehl bitter“ = wenn die Maus satt ist, dann schmeckt ihr das Mehl bitter) formuliere ich den Klartext: „Das Sehen täte dir M. In Osterlamm wir / Osterlamm vergeht, wenn wir reich sind.“ – Oder noch deutlicher: „Das hatte bereits M. für dich gesehen: In dem Osterlamm sind wir alle das Osterlamm. (Osterlamm) vergeht, wenn wir reich sind.“ Wer ist mit „M“ gemeint? Setzt man für M den Namen „Moses“ und denkt an das Levitikuskapitel, so ist die Sache eindeutig. Wegen der bedeutsamen Differenz 153106, gilt die Gleichung: „Osterlam § Cameleon“. – Sodann steht das „wir“ zwischen zwei „osterlam“! Also: Im Osterlamm sind auch wir ein Osterlamm. Das heißt, M ist auch die Abkürzung für „Mensch“. Wenn Osterlamm „Opfer für“ bedeutet, so spricht diese Gleichung von einem wechselseitigen Opfer und Leiden des Menschen (Mensch eines jeden Einzelmenschen) für den Menschen (Jesus). Dieses Leiden wird vergehen oder der Vergangenheit angehören, wenn wir „reich“ sind. Das bezieht sich entweder auf die „Auserwählten“, wenn deren Zahl vollständig ist, oder auf Pico und unser Cameleon, sofern wir (der Mensch) alle Formen der Selbstgestaltung bis zur Vollendung durchlaufen haben, um uns in der Welt so bewegen zu können wie der auferstandene Christus107, ohne noch an der Materie eine Schranke zu haben. Ob Dürer bei dem Ausdruck „wir“ (wegen der Jünger) die „Auserwählten“ (welche?) im Sinn hatte oder nicht, ist eine ent-
360 scheidende Frage. Denn es gibt ja die verzweifelte Notiz im Niederländischen Tagebuch, wo er aus der Apokalypse zitiert: „erbeitet (erarbeitet oder erwartet?) die vollkommen Zahl der unschuldigen Erschlagenen“108. Schwankte Dürer? Neigte er einmal mehr der Philosophie und dann wieder der Theologie zu? War er zwischen 1520 und 1525 sich seiner Sache doch nicht mehr so ganz sicher wie 1514? – Eine Antwort können die zwei Tafeln der Vier Apostel (Abb. 15 „Johannes/Petrus; Abb. 16 „Markus/Paulus“, 1526) und jene Texte geben, die Dürer ihnen hinzufügte hat. Des Gewichtes wegen109 zitiere ich diese Texte vollständig:110 (In der oberen Zeile: „Alle weltlichen regenten in disen ferlichen zeitten Nemen billich acht, das sie nit fur das gottlich wort menschliche verfuerung annemen Dann Gott wil nit zu seinem wort gethon, noch dannen genomen haben Darauf horent diese trefflich vier mener Petrum Johannem Paulum vnd Marcum Ire warnun“)111. I.) Unterhalb der Figur des Johannes ein Schriftwort aus dem 2. Petrusbrief: „Es waren aber auch falsche prophetten vnter dem volck, Wie auch vnter euch sein werden falsche lerer, die neben einfuren werden verderbliche seckten Vnnd / verleucken den herren der sie erkaufft hat Vnnd werden vber sich furen ein schnel verdamnus Vnd vile werden nachuolgenn Irem verderben, Durch / welche wird der weg der warhait verlestert werden, Vnd durch geitz mit erdichten wortten, werden sie an euch hantieren, Vber welche das vrtail von / lannger here nit saumig ist Vnnd ir verdamnus schlefft nicht.“112 II.) Unterhalb der Figur des Petrus ein Schriftwort aus dem 1. Johannesbrief: „Ir lieben, glaubt nicht einem yetlichen geist Sonndern prüffen die geister, ob sie von gott sind Denn es sind vil falscher propheten ausgegangen in die / wellt Daran erkennet den geist gottis, Ein yetlicher geist, der da bekennet, das Jhesus Christus ist komen in das flaisch, der ist von gott Vnnd ein / yetlicher geist, der da nicht bekennett das Jhesus Christus ist kome(n) in das flaisch, der ist nicht von gott, Vnnd das ist der geist
361 des widerchristis, von / welchem ir habt gehoret, das er kompt, Vnnd ist yetzt schon in der wellt.“113 III.) Unterhalb der Figur des Markus ein Schriftwort aus dem 2. Paulusbrief: „Das soltu aber wissen, das zu den letzten zeitten werden grewliche zeittung eintretten Denn es werden mennnschen sein die von sich selbsz halten, Geitzig, stoltz, / Hoffertig, Lesterer, den Eltern vngehorsam, vndanckpar, vngeistlich, vnfreunntlich Storrig, schender, vnkeusch, vnguttig, wild verrether, freueller, auff- / geplasen, die mer lieben die wollust den(n) gott, die da haben das geperde eines gotseligen wanndels Aber seine krafft verleucken sie Vnnd von solchen wende / dich, Auss denselben sind die, die heuser durchlauffen, vnd furen die weiblin gefangen, die mit sunden beladen sind, vnd faren mit mancherlei lusten / Lernnen ymer dar, vnd kunden nymer Zur erkentnus der warhait komen“114. IV.) Unterhalb der Figur des Paulus ein Schriftwort aus dem Markusevangelium: „Vnnd er leret sie vnd sprach zu Inen habt acht auff die schrifftgelertten, Die gehen gern In lanngen kleidern. Vnnd lassen sie gern grüssen auff / dem marckt, Vnnd sitzen gern obenan in den schulen vnd vber tisch, Sie fressen der wittwen heuser, vnnd wenden langs gepet fur / Dieselben werden dester mer verdambnus emphahen.“115 In diesen Texten, wenn man ihnen eine Geheimschrift (oder steganographisch verschlüsselte Botschaft) unterstellt, sind etliche Schikanen eingebaut, um es Vorwitzigen nicht allzu leicht zu machen. Über drei Schritte116 komme ich zu folgender Lesart: „Vnnd verleucken (in Frage stellen) durch welche von lanng (h)er (sind). Nicht Ir (habt recht), (sondern) die wellt (und) ein yetlicher, von welchem (eine) wellt (geschaffen worden ist). // Das stoltz hoffertig Auffgeplasen(e), wende (um)117. Dich luste (zu) Lernnen, (was) komen (wird, von) dem (der schon da war) vnnd auff fur (der aufgefahren ist). Dieselben emphahen Alle es (es alle).“ – Im Klartext: „Und zunächst einmal alles in Frage stellen, und zwar durch welche, die lange vorher gewesen sind (z.B. Moses, Trismegistos, Platon etc.). Nicht Ihr (z.B. die
362 wörtlich verstandenen Schriftworte der Evangelisten und Apostel) habt recht, sondern die Welt und ein jeder, von welchem eine Welt (eine Weltgestalt) erschaffen worden ist. – // – Das stolz-hoffärtig Aufgeblasene, wende um. Dich wandle Lust an, zu lernen, was kommen wird, von dem, der auffuhr (gen Himmel. Also Christus). Dieselben empfangen es alle.“ Falls man diesen dechiffrierten Text gelten lässt, hängt das Verständnis von vier Fragen ab, die zusammenwirken: 1. Warum trennt Dürer die Apostel in zwei Gruppen? – 2. Welche Aufgabe hat der Text in der linken Bildtafel? – 3. Was bedeuten die vier offiziellen Schriftworte (Texte recto, der für jedermann lesbar) unter den Bildtafeln in ihrer Verschränkung (kreuzweise Anordnung der Schriftworte unter den Apostelfiguren)? Und 4. Welches Gewicht fällt dem Text verso (meiner Entschlüsselung) zu?118 – Zu 1.) Warum trennt Dürer die Gruppe „Johannes/Petrus“ und „Markus/Paulus“? – Johannes zeigt Petrus ein Schriftwort (aufgeschlagenes Buch mit lesbarem Text119 für den Betrachter); Petrus schaut, gleichsam nicht recht verstehen könnend, auf das ihm quer hingehaltene Blatt, als sollte er den Text, auf den ihn Johannes hinweist, gegen die Leserichtung lesen. Worauf Johannes in der Buchseite den Finger legt, kann der Betrachter nicht sehen; und was der Betrachter lesen kann, das scheint gerade nicht Gegenstand der Lektüre der beiden zu sein. Petrus hält einen goldenen Schlüssel (Schlüsselbart) darüber. Will Johannes ein Schriftwort dem Petrus neu erklären? Jedenfalls achten sie nicht auf den Betrachter. Und wo über die Bedeutung eines Schriftworts nachgedacht wird, fließt noch kein Blut! – Anders verhält es sich gegenüber. Markus hält in der rechten Faust eine Schriftrolle, sein Evangelium; Paulus ein geschlossenes Buch (seine Briefe) und ein Schwert. Links: geöffnetes Buch, Schlüssel, Finger, um die Seite offen zu halten; rechts: geschlossene Schriftrolle, geschlossenes Buch, Fäuste, Schwert. – Markus schaut zu Paulus; Paulus fixiert mit einem Auge den Betrachter! Markus und Paulus sind sich einig: Es
363 gibt nichts mehr zu „deuteln“; in ihren Schriften steht es. Wer es wörtlich glaubt, wird gerettet, und wer nicht, der wird verdammt120 werden. Am Schwert des Paulus klebt Blut! Man hat das Schwert als Attribut eben dieses Apostels interpretiert, weil er durch das Schwert den Märtyrertod starb. Im Bildkontext der beiden Tafeln aber sagt das etwas völlig anderes. Dürer formuliert einen sich ausschließenden Gegensatz, um auf die blutigen Konsequenzen aufmerksam zu machen, die eine absolute Schriftauslegung in der Realität nach sich ziehen. Die Farben unterstreichen das. Während die linke Tafel in Rot, Grün und Gold gehalten ist, düstert die rechte grell und fahl in starken Kontrasten von Braun- und Blautönen. Während die Linken friedlich über ihrer Lektüre meditieren, sind die Rechten zum Kampf entschlossen. Der leichenfarbige, gallige Teint des Evangelisten Markus, sein konspirativer Blick zu Paulus und doch zugleich an ihm vorbei auf ein verschwiegenes Ziel gerichtet, der knochige Schädel des spätberufen Apostels im harten Profil und dem Einen Auge, starren Blicks den Betrachter durchbohrend, verheißen nichts Gutes für jene, die noch zweifeln, die unentschlossen sind. Indem Markus mit beiden Augen zu Paulus blickt, bündelt sich die geistige Kraft beider auf dieses Eine Auge des Paulus, das den Betrachter ohne jede Zweideutigkeit nötigt, sich zu entscheiden – für oder wider. Tertium non datur! Zu 2.) Wo Dürers Herz schlägt, kann man jetzt nicht mehr übersehen. Johannes ist besonnen und geistig präsent. Petrus ist irritiert. Obwohl er einen Schlüssel hat, scheint er den Schlüssel (die Bibel, die Vulgata des Hieronymus, und weil deutsch: die Koberger-Bibel) zur wahren Textauslegung vergessen zu haben, die nicht absolut auf Eindeutigkeit verpflichtet, sondern die lediglich eine Ausgewogenheit herbeiführt, um zu versöhnen, so dass alle sich im Schriftwort erkennen können. Der Text, den man da im Bild lesen kann (auch der Betrachter muss den Kopf wenden!), spielt auf den Johannes-Prolog an. Aber er ist montiert aus diesem! Wer beide Texte121 vergleicht, muss die Absicht des Malers erkennen, vorausgesetzt, er ist vertraut mit den
364 Gepflogenheiten eines Pico della Mirandola, eines Johannes Reuchlin oder eines Trithemius und Agrippa von Nettesheim. Wenn nicht, dann halte man sich an die Texte unter den Bildtafeln. Dürer hatte diese Tafeln dem Rat von Nürnberg vermacht. Viele der Ratsherren waren humanistisch gebildet; und einige werden sich vielleicht bemüht haben, die Texte unter den Tafeln mit den Figuren in Verbindung zu bringen. Zu 3.) Diese vier Schriftworte sind zunächst ja so direkt an den Betrachter gerichtet, dass man sie als einen Wink mit dem Zaunpfahl hätte verstehen müssen. Sie warnen vor den falschen Propheten, Schriftauslegern, Heuchlern und Menschenschindern; sie scheinen aktuell-politisch auf die gärende Diskussion um den rechten Glauben in den 20iger Jahren des 16. Jh. in Nürnberg gemünzt zu sein. Soll das die Botschaft sein? Will Dürer vor den Folgen einer Entwicklung warnen, deren Richtung noch nicht entschieden ist? Vielleicht auch. Jedenfalls wird erst einmal gedroht – mit Schriftworten, dergestalt, wie man Kinder einzuschüchtern versucht, die nicht folgen wollen! Man stelle sich vor, diese Schriftworte aus dem Munde eines Kanzelpredigers zu hören, der „diese trefflich vier mener Petrum Johannem Paulum vnd Marcum“ im Rücken weiß! Von diesen aufpeitschenden Predigern gab es einige, die sich wechselseitig dieser Zitate bedienten, und nicht nur in Nürnberg, prominenteste Figur war natürlich Luther. – Was haben die Bilder damit eigentlich zu schaffen? Solange man die Tafeln für sich betrachtet und die Texte quasi als Verstärker der Bilder liest, ohne sie zu den Personen und Szenen der Tafeln in Beziehung zu setzen, wird man beide Teile missverstehen. Wenn Dürer etwas im Bild sagt und dazu außerdem noch einen Text hinzufügt, dann darf man davon ausgehen, dass Bild und Text, Text und Bild eine Einheit (Waage) bilden sollen. Weder erläutert das Bild den Text noch umgekehrt, sondern sie verhalten sich wie Auge und Ohr, den zwei Organen, mit deren Hilfe wir vergleichen, inwieweit Wort und Handlung einander entsprechen oder nicht. Dabei ist entscheidend, dass die Einheit auch selbstbezüglich verstanden wird,
365 dass die Tafeln und die Texte eben nicht nur zwei unterschiedlich gestimmte Fanfaren sind, die ihre eine vermeintlich protestantische Botschaft gebündelt hinaus schmettern – in nur eine einzige Richtung, dem Betrachter entgegen, sondern dass es sich vielmehr um ein Gespräch handelt, in welches – so sonderbar es ist – die beteiligten so genannten „Apostel“ involviert sind. Oder darf man es nicht wagen, sich einmal probeweise vorzustellen, dass an „diese(n) trefflich vier mener(n) Petrum Johannem Paulum vnd Marcum“ irgend ein Makel sein sollte? Selbstverständlich sind die Namen austauschbar, ohne dass sich das Programm ändert, denn so monumental die Figuren auch wirken, sie sind in Szene gesetzt! Der Betrachter tritt zu einer Gruppe von Menschen, die sich in einer aktuellen, aber keineswegs tagespolitischen Dialogsituation befinden, Menschen, die allgemein anerkannte Autoritäten sind und die als Vor-Bilder im Guten wie im Bösen wirken und gewirkt haben. – Treten wir also einmal wie zufällig hinzu und verfolgen ein Gespräch, zu dem wir persönlich nicht eingeladen wurden, aber das sich für jedermann offen hält, dergestalt, als träfen wir diese vier prominenten Männer auf dem Markt, wo jeder stehen bleiben und zuhören oder sich einmischen darf, ohne abgewiesen zu werden: Johannes hat Petrus ein Schriftwort neu gedeutet. Petrus antwortet ihm darauf, besorgt und verunsichert. Er hält im entgegen, was das Schriftwort unter der Figur des Johannes sagt (2. Petrusbrief 2, 1-3)122. Johannes antwortet auf diese Unsicherheit des alten Mannes, begütigend, als wollte er ihn beruhigen, dass es überhaupt keinen Grund gebe, sich vor einer neuen Lehre etc. zu schützen, indem er ihm ein einfaches Kriterium nennt, die Geister zu prüfen (1. Johannesbrief 4, 1-3)123. Und diejenigen, die nicht von Gott sind, sind Antichristen; sie können nicht anders als Christus nicht anerkennen. – Wer dabei die neuen Gedanken der Oratio im Hinterkopf hat, kann zustimmen, denn die Antichristen – wer sind sie eigentlich? Doch jene entarteten Geister, die sich selbst noch nicht erkannt haben; sie sind noch nicht auf dem Weg, ein Cameleon zu werden. Entweder sind sie und bleiben, was sie
366 sind, oder sie gehören in die Klasse jener, die werden wollen. Diejenigen, die bleiben wollen, was sie sind, mögen wie Menschen aussehen, in Wahrheit aber sind sie – ihrer geistigen Gestalt nach – „Steine“, „Pflanzen“ oder „Tiere“.124 Und ist Christus der Mensch, in dem sich jeder Mensch als Mensch erkennt, so sind diejenigen, die ihn nicht „bekennen“ von ihrer Selbsterkenntnis weit entfernt. Wer aber will das von außen schon entscheiden? – Und nun Markus und Paulus. Sie stehen abseits, getrennt von den mit sich und ihrer Schriftauslegung befassten Kollegen. Sie diskutieren nicht mehr, sie haben sich längst geeinigt. Paulus weiß es ganz besonders genau, was die Zeichen der Endzeit sind und von welcher aller verkommensten Art die Brut der letzten Menschen sein wird. Als der Spezialist in Sachen „menschliche Laster“ findet er kein Ende, die Untugenden der Menschen anzuprangern. Er hatte es Markus gerade unmissverständlich zu verstehen gegeben (2. Brief an Timotheus 3, 17)125. Und Markus seinerseits pflichtete ihm bei, indem er noch ergänzend eines oben aufsetzte und gegen die Intellektuellen überhaupt herzog (Markus 12, 38-40)126, als ob Verstand und Wissenschaft von vornherein des Teufels wären. Die beiden „Moralapostel“ bilden eine Fraktion der Falken, würde man heute sagen. – Vom Bild zum Text und vom Text zurück zum Bild ist eine Bewegung, die in einer lebendigen Szene aufgeht, so dass das Bild den Endzustand eines Dialogs darstellt. Links kann der Disput weitergehen, rechts ist er zu Ende. Die linke Tafel enthält nämlich noch einen Text, und der richtet sich direkt-indirekt an den Betrachter. Er fordert ihn freundlich auf, seinen Kopf zu wenden und zu lesen. Wer so den Kopf neigt, der erst hört jenen Fünften, den Künstler, der den gesamten Verlauf der Diskussion von Anfang an mitverfolgt hat und der dem neu Hinzutretenden (den Betrachter) seinen Kommentar, seine Meinung mitteilt. Er hat sie den Dialogsequenzen eingeschrieben, indem er den Schreiber anwies, die Zeilen so einzurichten, dass ein Suchender finden kann, vorausgesetzt, man hat sich von der Politprominenz in Glaubens- und Heilsfragen nicht den Schneid ab-
367 kaufen lassen und von vornherein darauf verzichtet, sich mit Herz und Verstand ein eigenes Urteil zu bilden. Zu 4.) Denn alles hat – zumindest – zwei Seiten! Wie das Blatt eines Buches. Recto ist immer rechts, blättert man um, ist Verso links. Von Links kann es weitergehen, sonst blättert man zurück. Entspricht diese Analogie der Anordnung der Tafeln, dann kann die rechte Tafel keinen Fortschritt bedeuten. Es sei denn, man geht ganz an den Anfang zurück, dort, wo ein Buch mit den Anfangsgründen beginnt. Und genau davon handelt ja der Text127 des Buches in den Händen des Johannes, von dem Anfangsgrund aller Dinge. Und was sich daraus ergibt, ist darin eingefaltet, und die nachfolgenden Blätter entfalten das Eingefaltete. Man wird dem zustimmen, wenn man nun den Subtext jeweils als Kommentar zu den Dialogsequenzen liest: In den Dialog Petrus/Johannes mischt sich eine dritte Stimme: „Und zunächst einmal alles in Frage stellen, und zwar durch welche, die lange vorher gewesen sind.“ – Für Johannes ist das ein alter Hut. Genau darauf wollte er Petrus aufmerksam machen. Aber auch zu seiner Antwort antwortet die dritte Stimme und meint beide, Petrus und Johannes: „Nicht Ihr habt recht, sondern die Welt und ein jeder, von welchem eine Welt (eine Weltgestalt) erschaffen worden ist.“ – Stimmt das denn nicht mit dem Pico’schen Gedanken vom „plastes et fictor sui ipsius“ überein?! Schaut man die Verso-Seite jenes Blattes aufmerksam an, die sich wie zufällig dem Betrachter zum Lesen anbietet, die Johannes aber dem Petrus gar nicht gedeutet hat, bedeutet das, dass die Aussage des Johannes von dem Antichrist nicht ganz korrekt sein kann. Denn wenn man das „Anti“ nicht zeitlich und vorläufig deutet, schreibt man einen Dualismus von schlechthin Gut und Böse fest, der die Waage außer Kraft setzt. – Was die rechte Tafel anlangt, so kann sich der Kommentator nicht in ein laufendes Gespräch einklinken, das beendet worden ist und keine Frage mehr offen lässt; er kann sich nur noch an den Betrachter wenden, ihn gleichsam bittend, sich die Haltung des Paulus nicht so unbesehen zu eigen zu machen: „Das stolz-hoffärtig
368 Aufgeblasene, wende um.“ Denn die Menschen waren schon zu allen Zeiten so gewesen. Wenn dieser Moralapostel recht hätte, wäre zu jeder Zeit Endzeit. Jede Endzeit ist aber kein Ende, sondern eine Wendezeit. Ist das Maß voll, wird es sich von selbst wenden, ohne dass man in das „WIGEN GOTES“ einzugreifen braucht, als kennte man die Gewichte, wonach der Schöpfer dieser Welt zu wiegen pflegt. Und er empfiehlt dem Betrachter: „Dich wandle Lust an, zu lernen, was kommen wird, von dem, der auffuhr (gen Himmel. Also Christus).“ Aber was wird denn dann kommen? Keine Apokalypse, sondern für jeden, der zum Geschlecht des Cameleon gehört, seine Verwandlung (siehe Lev. 11/ Krypto-Text); dieser auferstandene und aufgefahrene Christus war der Erste. Wer das erkennt, kann sich nur freuen, auch wenn das empfohlene Lernen (Selbst- und Weltgestaltung) Mühe macht. – Und mit einem Seitenhieb auf Markus, der sich da hinter Paulus förmlich verschanzt, setzt er hinzu: „Dieselben empfangen es alle.“ Was und wer? Ein Sein dessen, zu dem sie sich geistig gestaltet haben; ihre in und aus Welt hervor gestaltete Einzelseele, ihre Individualität „empfängt“ Sein: eine unzerstörbare Identität, welche dann erst die Voraussetzung ist, jede Weltgestalt von Welten in der Welt annehmen zu können – wie der auferstandene Christus, der kam und ging, ohne dass ihm Raum, Zeit oder Materie noch im Wege stehen konnten (Lukas 24, 36-43)128, oder wie „unser Chamäleon“. Da dieser Weg dorthin ein Werk der Freiheit sein soll, darf nicht gedroht und verdammt werden, sondern ein jeder Wissende sei ermuntert, unermüdlich zu lehren und zu lieben – so besonnen, wie es der mit allen schönen Farben gezierte Johannes der linken Tafel andeutet, und so geduldig und liebend besorgt, wie jene geflügelte Figur, die im Kupferstich B74 zu Füßen des geflügelten Kindes hockt und wartet, bis das schreibende Kind für die nächste Lektion bereit ist, während sie inzwischen das Fabeltier mit der Inschrift „MELENCOLIA § I“ nicht aus dem Blick lässt, für das der Künstler eine Lösung vorgesehen hat, die der Betrachter empfangen wird, wenn ihn die Lust anwandelt, zu ler-
369 nen, von dem, der dieses Kunstwerk gemacht hat. – Ist Christus als Chamäleon identisch mit Osterlamm, so ist er der wahre Stein der Weisen. Wer diesen Stein findet, hat sich selbst erfunden und wird so unzerstörbar wie Christus werden, der auferstanden und gen Himmel aufgefahren ist. Ein solches Chamäleon braucht sich um sein Sein oder Seelenheil keine Sorgen mehr zu machen (und Dürer scheint große Sorge um sein Seelenheil gehabt zu haben, falls man seine dichterischen Versuche129 vor 1514 ernst nimmt). Die Vier Apostel (1526) bestätigen also, dass Dürer – trotz Luther130 – bei seiner philosophischen Erkenntnis des Kupferstichs von 1514 geblieben ist. Der kryptische Levitikus spricht vom Menschen wie von Christus; beide gehören zum „Geschlecht des Chamäleon“131, und der kryptische Lukas identifiziert jeden Menschen mit Christus, dem Osterlamm! – Was dies philosophisch impliziert, fegt jeden Hauch von Erbaulichkeit weg. „Glauben“ im Sinne von „ungeprüft für wahr halten“ braucht man das nicht. Denn eine Selbsterkenntnis, die ihren Grund sieht und nicht in einen Abgrund schaut, hat ein Selbst-Vertrauen erlangt, das deshalb trägt, weil sein Grund (Prinzip) auch jene Zweifel gründet und unterfängt, die Menschen in die tiefste Verzweiflung stürzen, welche sich des Welt-Grundes in Selbsterkenntnis noch nicht gewiss werden konnten. Was daher die Verbindung von Melancholie und Chamäleon betrifft, so wäre an einen Text zu erinnern, der Dürer auf die Idee gebracht haben könnte, den bei Pico zum Tier entarteten Menschen mit der Melancholie (als der spirituellen Verzweiflung einer Menschenseele) zu amalgamieren. Er stammt aus Plinius, den Dürer zu lesen empfohlen hatte: „Demokrit erzählt auch, dass … Melancholiker aber geheilt werden, wenn der Saft der Pflanze Helenia aus der Haut eines Chamäleons getrunken wird“132. Unter dieser Rücksicht nimmt die Inschrift „MELENCOLIA § I“ den Sinn einer Anrufung an, so dass als nächsten zu fragen wäre, wie sich diese alte Inschrift und der geflügelte Träger derselben zu der neuen Geheimschrift als „Chamä-
370 leon und Christus, Adam/Mensch und Osterlamm“ einerseits und zu den anderen zwei Flügelgestalten (Erwachsene und Kind) und allem anderen andererseits verhält. – Nach dem bisher Ausgeführten dürfte es schwer fallen, den Kupferstich „B74“ nur recto zu lesen und zu interpretieren. Er hat ebenso auch eine verso-Seite! Welcher Seite man die eigentliche Bildbotschaft entnehmen will, hat Dürer dem Betrachter überlassen, indem er in Rätseln und Gleichnissen spricht, die locken und einladen, aber niemanden nötigen, zu suchen und zu fragen. Wem es genügt, „sich der geradezu unwahrscheinlichen Dichte und Vollendung des Stichwerks hin(zugeben)“133, wird auch auf seine Kosten kommen. Zu den Abbildungen: (Für sämtliche Rekonstruktionen zeichne ich, Leonhard G. Richter, verantwortlich; die technische Realisation ermöglichte Carola Thieme, der ich sehr zu Dank verpflichtet bin. Sie hat mitgedacht und Wege gefunden, meine Vorschläge computertechnisch umzusetzen.) Abb. 01: Kupferstich B74, Inv.Nr. D75 (2. Ex.) der Dr.-OttoSchäferstiftung, 97422 Schweinfurt, Judithstraße 26. Abb. 02: Maßangaben (Zirkel, Kugel, Richtscheit), welche die Rekonstruktion der Schlüsselfigur ermöglichen. Abb. 03: Schlüsselfigur des 16-Sterns mit Details aus dem Kupferstich sowie einer Rekonstruktion der Schlüsselfigur für den Polyeder. Abb. 04: Konstruktionsposition mit Konstruktionsanweisung für das Format. Zirkeleinheit ist der Zirkel des Kupferstichs. Dürer hat mit diesem einen Maß sowohl die Schlüsselfigur als auch das Format des Kupferstichs konstruiert. Abb. 05: Zweite Position (bunt) über der Konstruktionsposition (Bild). Abb. 06: Dritte oder Endposition (bunt) über Konstruktionsposition (Bild).
371 Abb. 07: Dritte oder Endposition (bunt) über Konstruktionsposition (Bild), Detail. Abb. 08: Endpostion (Bild) mit den 25 Quadraten der Schlüsselfigur (orange) und den proportional vergrößerten Zahlen des magischen Quadrates. Zuordnung der Farben richtet sich nach den Farben der vier Quadrate, die den Kreis der Schlüsselfigur regelmäßig teilen. Abb. 09: Magisches Quadrat des Kupferstichs B74 – zusammengesetzt aus der vierfachen Lesart des Zahlenquadrates 1 bis 16. Abb. 10: Dritte oder Endposition (bunt) über Konstruktionsposition (Bild), Detail, Inschrift. Abb. 11a: Koberger-Bibel, GW4303, UB-Würzburg I.t.f. 326, Blatt 57 recto, Levitikus 11. Abb. 11b: Koberger-Bibel, GW4303, UB-Würzburg I.t.f. 326, Blatt 57 verso, Levitikus 11. Abb. 12: Aus meiner noch unveröffentlichten Rekonstruktionsreihe die Bildtafel 33, mit zweimal eingepassten Seiten von Kv der underweysung (1525) in der Schlüsselfigur, als anschauliche Demonstration dafür, dass Dürer den Satzspiegel und sämtliche Figuren nach dieser ausgerichtet hat. Abb. 13: Dritte oder Endposition (Bild/Detail) mit eingepasster Graphik von Kv aus der underweysung. Abb. 14: Koberger-Bibel, GW4303, UB-Würzburg I.t.f. 326, Blatt 507 verso, Lukas 22. Abb. 15: Vier Apostel, linke Tafel: Johannes und Petrus (1526). Abb. 16: Vier Apostel, rechte Tafel: Markus und Paulus (1526). Abb. 17: Der Narr mit der Waage, Holzschnitt (vermutlich Dürer); vgl. dazu die Nr. 43, „verachtu(n)g ewiger freyt“ aus: Sebastian Brant, Das Narrenschiff (1494), hrsg. v. Manfred Lemmer, 3. erw. Auflage, Tübingen 1986, S. 105.
372 Anmerkungen 1 Manfred Bambeck, Zur Geschichte vom Farbe wechselnden Chamäleon; in Fabula, Bd. 25, Berlin 1984, S. 66-75. 2 Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Lat./Deut. Reclam, Stuttgart 1997, S. 11; „Quis hunc nostrum Chamaeleonta non admiretur? aut omnino quis aliud quicquam admiretur magis?“ S. 10. 3 Pico, Oratio, S. 8/9. Ich weiche hier von Gerd von der Gönna ab, der „Former und Bildner“ übersetzt. 4 Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 355. 5 G. Pico della Mirandola, Kommentar zu einem Lied der Liebe. Ital./ Deut., Meiner, Hamburg, S. 173. – Vgl. auch Karl Hoheisel, Christus und der philosophische Stein, in: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1986, S. 61-84. – Hoheisel recherchiert die bereits in der Antike bestehende Verbindung von Metallen, Sternen und zugeordneten Göttern und den Schritt zum Menschen: „Dabei bleiben die mythischen Bilder immer weniger nur Chiffren für den Wandlungsvorgang der Stoffe in der Retorte. Vielmehr wird der mythisierte Transmutationsvorgang nach und nach selbst zu einem Zeichen für etwas anderes, für den Menschen und dessen eigene verborgene Goldnatur.“ S. 69. – Daher spricht Hoheisel auch von „spekulativer Alchemie“ vor allem mit Blick auf das „Buch der heiligen Dreifaltigkeit“ des Franziskaners Ulmannus aus den Jahren 1415-1419. Vgl. auch Wilhelm Ganzenmüller, in: Archiv für Kulturgeschichte 29 (1939), S. 93-146. Vgl. insbesondere C.G. Jung, der – von der tiefenpsychologischen Deutung abgesehen – in: Psychologie und Alchemie, Sonderausgabe, Düsseldorf 2006, den Terminus „Lapis-Christus-Parallele“ S. 395-491 prägte und die einschlägigen alchemistischen Texte ausführlich zitiert. – Vgl. auch Michael Horchler, Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters, Baden-Baden 2005, S. 134-146. – Mit Bezug auf Dürer ist vielleicht von Interesse, dass der Wundarzt und Barbiermeister Hans Folz (1435-1513), der seit 1459 Bürger von Nürnberg war, sich literarisch mit der Alchemie auseinandersetzte; er verfasste ein Gedicht (1479/1493) „Der Stein der Weisen“ (abgedruckt in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 86. Bd. [1967], S. 99-119, hrsg. und vorgestellt v. Hanns Fischer, Tübingen). 6 So interpretiere ich Picos Formulierung „il proprio particulare intelletto“, vgl. Kommentar, S. 226. 7 G. Pico della Mirandola, Opera omnia (ND) Bd. 1, Hildesheim 1969, Heptaplus S. 59: „homo coelestus“. 8 Zwei Missverständnisse seien als Beispiele genannt, die sich als Zitate freilich nicht auf Picos Oratio beziehen: a) der Mensch als virtuoser Schauspieler von Lebensrollen, Sitten und Gebräuchen wie z.B. Alkibiades: „Es war nämlich, wie man sagt, dies eine seiner vielen Gaben und Künste, die Menschen zu gewinnen, dass er sich ihnen anzugleichen, ihren Neigungen und Lebensformen anzupassen vermochte, indem er sich rascher wandelte als
373 ein Chamäleon; nur dass, so sagt man, dieses Tier eine einzige Farbe, die weiße, nicht anzunehmen imstande ist, wohingegen es für Alkibiades gleicherweise im Guten wie im Bösen nichts gab, was er nicht nachahmen und mitmachen konnte, sondern in Sparta war er ein großer Turner, einfach und ernsthaft, in Jonien üppig, vergnügt und leichtfertig, in Thrakien ein scharfer Zecher und Reiter, und wenn er mit dem Satrapen Tissaphernes umging, stellte er durch seinen verschwenderischen Prunk die persische Großartigkeit in Schatten …“ – Plutarch, Die großen Griechen und Römer 2. Übers. K. Ziegler, München 1979, S. 371; zitiert aus Fabula 1984, S. 74 f.; – b) eine menschliche Fertigkeit wie z.B. Schreibstil: „ ‚Mir kommt gerade der Stil Battista Albertis in den Sinn, der wie ein besseres Chamäleon immer die Farbe annimmt, die der Gegenstand besitzt, über welchen er schreibt‘, schrieb Cristoforo Landino, ein dem Florentiner Humanistenkreis zugehöriger Philosoph und Politiker“; zitiert aus der Einleitung zu Leon Battista Alberti, Momus. Lat./Deut., übers. von Michaela Boenke, München 1993, S. XV. 9 Oratio S. 8/9: „in mundi positum meditullio/in den Mittelpunkt der Welt“. Der Kreismetaphorik des Florentiner Neuplatonismus nach ist der Mittelpunkt das Prinzip des Kreises; deshalb ist dieser Mittelpunkt nicht ein Punkt in dieser Welt. Das In-der-Mitte-Stehen, um sich besser umsehen zu können, ist abgeleitet, nicht ursprünglich. 10 Gemeint ist der „nascens homo“, der Mensch, der geboren wird, vgl. Oratio S. 8/9 oder eben der irdische Mensch, der „homo terrenus“, vgl. Pico, Heptaplus, S. 59. 11 Heinrich Reinhard, Freiheit zu Gott, Weinheim 1989. 12 1. Mose 1, 27: „und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde/et creavit Deus hominem ad imaginem suam“, Vulgata, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1969. 13 Vgl. Dürer „ein geleichheit zw got“ 1512, in: Dürers Schriftlicher Nachlaß, hrsg. v. H. Rupprich, Bd. 2, Berlin 1966, S. 109. 14 Vgl. Th. v. Aquin, Summa theologica I. quest. 90-102; Deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 7, München 1941. 15 N. v. Kues. Philosophisch-theologische Schriften. Hrsg. v. Leo Gabriel, Bd. 3, Wien 1967, De beryllo, Kap. 6: „Nam sicut Deus creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium/ Denn wie Gott Schöpfer der realen Dinge und der natürlichen Formen (ist), so der Mensch (der Schöpfer) der rationalen Dinge und künstlichen Formen“; und in Kap. 7: „O domine […] posuisti in libertate mea, ut sim, si voluero mei ipsius. Hinc nisi sim mei ipsius tu non es meus. Necessitares enim libertatem, cum tu non possis esse meus nisi et ego sim mei ipsius et quia hoc posuisti in libertate mea, non me necessitas, sed expectas, et ego eligam mei ipsius esse/ O Herr […] du hast in meine Freiheit gelegt, dass ich sei, wenn ich es nur wollte. Gehöre ich nicht mir selbst, bist du nicht mein. Denn du ernötigst die Freiheit, da du nicht mein sein kannst, wenn auch ich nicht mir selbst sei (gehöre); und weil du es in meine Freiheit gelegt hast, nötigst du mich nicht, sondern erwartest, dass ich mir selbst zu sein wähle“,
374 S. 120 f. – (Ich habe versucht, so nahe wie möglich am Text zu übersetzen; denn obwohl Gabriel ziemlich genau übersetzt, kommen, wie ich meine, einige deutsche Ausdrücke vor, die der Interpretation vorgreifen). Will man einen Unterschied zwischen dem Cusaner und dem Mirandolaner machen, so wäre es die Wahlfreiheit eines vorgegebenen Eigenseins, das von Gott geschaffen ist und sozusagen nachträglich bestätigt oder verworfen wird, im Unterschied zur Gestaltungsfreiheit, die dieses Eigene und Individuelle erst schöpferisch aus dem allgemeinen Grund heraus bestimmt. Das Creare des Cusaners, so meine ich, bezieht sich noch auf das Allgemeine, wodurch sich die Einzelseele gerade nicht von ihresgleichen unterscheidet. – Zum systematischen und problemgeschichtlichen Zusammengang insgesamt vgl. Wiebke Schrader, Die Dringlichkeit der Frage nach dem Individuum; in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 8 (1982), S. 29-100; sowie anschließend Rudolph Berlinger, Das Individuum in der Gestalt der Person, S. 101 ff. 16 Vgl. Schrader 1982, S. 62 ff. 17 „Dii estis et filii excelsi omnes“ Oratio, S. 12. 18 Oratio, S. 7. 19 Paulus, Epheser 2, 8: „Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt“, Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980, S. 1317. Und Galater 4, 5: „damit wir die Sohnschaft erlangen.“ S. 1312. 20 Schon in der Genesis heißt es: „et ait ecce Adam factus est quasi unus ex nobis/ und er sagte, siehe Adam ist geworden gleichsam einer von uns“, Vulgata, 1. Moses 3, 22. 21 „Supremi spiritus aut ab initio aut paulo mox id fuerunt, quod sunt futuri in perpetuas aeternitates./Die höchsten Geister sind entweder von Beginn an oder wenig später das gewesen, was sie in alle Ewigkeit sein werden.“ Oratio, S. 8/9. 22 „Verum nec erat archetypis, unde novam subolem effingeret, nec in thesauris, quod novo filio hereditarium largiretur/ Doch gab es unter den Urbildern keines, wonach er den neuen Sprössling hätte hervorgestalten können, auch fand sich in den Schatzkammern nichts, das er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können“, Oratio, S. 6/7. 23 „[…] hominem facit ad dei imaginem non terrenum hominem, sed coelestem. […] Si igitur sumus ad imaginem Dei, sumus & filij. si filij & haeredes sumus, heredes Dei, coheredes Christi. […] Qui igitur spiritu vivunt, hi sunt filij Dei, hi Christi fratres, hi destinati aeternae hereditati […]“; Heptaplus, S. 59. 24 „Quod est principium, in quo fecit Deus coelum & terram, hoc autem est Christus.“ Heptaplus, S. 22. 25 „Vater, Dein Wille geschehe!“; vgl. Math. 26, 39; Mark. 14, 36; Luk. 22, 42 f.; und sinngemäß Joh.18, 1. 26 Entsprechend Aristoteles, De partibus animalium, 640a 18: „das Sein geht dem Werden und der Entstehung voran“, zitiert nach E. Dönt, Aristoteles, Kleine naturwissenschaftliche Schriften, Reclam Stuttgart 1997, Einleitung, S. 34.
375 Vgl. „Und da sie [die Weisheit] eine ist, kann sie alles, und in sich bleibend, erneuert sie alles [macht sie alles neu, erschafft Neues]: „et cum sit una omnia potest, et permanens in se omnia innovat“, Vulgata, Liber Sapientiae 7, 27). – Zum metaphysischen Begriff „Prinzip“ vgl. auch R. Berlinger, Vom Anfang des Philosophierens. Traktate, Frankfurt a.M 1965: „Das principium dagegen entlässt das principatum nicht.“ S. 10; und derselbe, Philosophisches Denken, Einübungen, Amsterdam 1992: „Es (das Prinzip) wird als die durchlaufende Einheit einer Sache genommen, worin eine Sache gründet und wodurch sie entspringt. […] z.B. […] worin es denn gründe, dass […] das Leben eine generierende Bedeutung habe, dass es dieses Seiende […] von seinem Anfang bis zu seinem Ende als ein und dasselbe Identische durchträgt. Damit ist die lateinische Definition begründet: principium in se manet – das Prinzip bleibt in sich – et innovat omina – und erneuert und erhält alles.“ S. 210; und vorher: „Ich sage das mit der Hilfe der Metapher Leben, die ich in den Griff zu bekommen versuche, wenn von der Indifferenz der Freiheit des Geistes die Rede ist, und die Freiheit selber als Substanz oder als Leben des Geistes sich gibt. Der springende Punkt dieser Erläuterung aber war, dass das Leben als eine in sich kreisende, sich selbst erneuernde, regenerierende Bewegung gefasst wurde. Dass das Leben des Geistes nur als actio immanens gefasst werden kann, ist wohl einleuchtend. Was ist eine actio immanens? Actio immanens ab agente procedit – geht vom Handelnden aus – et cum effectu suo – und bleibt in ihrer Wirkung – in ipso agente – im Handelnden selbst.“ S. 191 f. – Vgl. dazu J. Donat, Ontologia, Innsbruck 1928, De causis § 409, S. 196 f. 28 Oratio S. 8/9: „Nascenti homini omnifaria semina et omnigenae vitae germina indidit pater./Dem Menschen hat bei seiner Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben.“ 29 „[…] ut tui ipsius quasi arbitrarius honariusque plastes et fictor in quam malueris tu te formam effingas.“ Oratio, ebd. 30 „Qui enim se cognoscit, in se omni cognoscit/ Denn wer sich selbst erkennt, erkennt alles in sich“ Oratio, S. 32/33; vgl. die Picorezeption bei Carolus Bovillus: „cui […] totius mundi filio“ (dem als Sohn des Weltganzen), Liber de sapiente, Cap. xxvi, abgedruckt in: E. Cassirer, Individuum und Kosmos, Darmstadt 1977, S. 355. Außerdem zum Geistbegriff des Bovillus’, in: Philosophie der Renaissance, Renaissance und frühe Neuzeit, hrsg. v. Stephan Otto, Reclam, Stuttgart 2005, S. 288-305. 31 „Et si nulla creaturam sorte contentus in unitatis centrum suae se receperit, unus cum deo spiritus factus in solitaria patris caligine, qui est super omnia constitutus, omnibus antestabit.“ Oratio S. 10/11. 32 Vgl. R. Berlinger, Die Weltnatur des Menschen, Amsterdam 1988, S. 171. 33 „Poteris in inferiora, quae sunt bruta, degenerare, poteris in superiora, quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari.“ Oratio, S. 9. 34 Vgl. die hochinteressante Interpretation von Alexander Perrig, Albrecht Dürer oder Die Heimlichkeit der deutschen Ketzerei, Weinheim 1987, S. 22 f. 27
376 „Res supra fidem“, Oratio, S. 4. „novam affere velle philosophiam“, Oratio, S. 56. 37 Zum Beispiel Oratio, S. 41-57. 38 Hier unter Namen von Magie und Magiern genannt, aber Namen, die auch bei den Alchemisten Autorität hatten, z.B. „Hostanes“ (= Ostanes) oder Roger Bacon, vgl. Oratio S. 60 ff., außerdem Anspielungen, die die Sache meinen: „und (die Magie) holt die in den abgelegenen Weltwinkeln und im Schoße der Natur sowie in Gottes geheimen Kammern verborgenen Wunder hervor, als wäre sie selbst deren Schöpfer“, Oratio, S. 65. 39 „[…] dare sanctum canibus et porcos spagere margaritas“, S. 66. 40 Vgl. Bovillus, Liber de sapiente, Cap. XXVI: „homo, ut sit universorum speculum. Ea siquidem Hominis est, que et speculi natura.“ Cassirer, S. 353, dt. Text von S. Otto, S. 296: „der Mensch, damit er der Spiegel des Universums sein kann. Denn die Natur des Menschen ist ebenso beschaffen wie die des Spiegels.“ 41 W. Schrader 1982 (wie Anm. 15), S. 72. 42 Vgl. Liber de sapiente, Cap. VIII: „Sapiens Nature munera studioso Homine compensat, seipsum insuper acquisivit seque posidet ac suus manet. / Der Weise bringt die Gaben der Natur durch den Menschen der Bildung (Kultur) hervor, er entdeckt sich selbst, er beherrscht sich (meistert sich) und bleibt bei sich selbst.“ 43 Vgl. Liber de sapiente, Cap. V; dazu W. Schrader 1982 (wie Anm. 15), S. 71-99. 44 Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis christiani/Handbüchlein eines christlichen Streiters (1503), übers. v. Werner Weizig, Darmstadt 1990: „Der Seele nach sind wir aber sogar der Gottheit fähig, so daß wir uns selbst über die Engel erheben und mit Gott eins werden dürfen. […] Diese zwei untereinander so verschiedenen Naturen [Seele und Körper, L. R.] hatte jener oberste Schöpfer in glücklicher Eintracht verbunden, doch die Schlange, der Feind des Friedens, hat sie auseinandergerissen, in unselige Zwietracht, so daß sie sich weder ohne größte Qual voneinander trennen noch ohne fortwährenden Kampf gemeinsam leben können“ S. 109. 45 „[…] weil ein im Anfang 1500 gedichtetes Celtis-Epigramm den Künstler Dürer ausdrücklich als Mitarbeiter, ja als Mitwisser und künstlerischen Mitdenker der Philosophia [gemeint ist der Holzschnitt zu Celtis’ Quatro libri amorum von 1502, L. R.] anruft: ‚Des operam, nostram depinges Philosophiam/Cogita que faciet cuncta sub orbe tibi.‘ (Bitte, zeichne unsere Philosophia,/ die dir alles Wissen der Welt bekannt machen wird.) [Übersetzung Wuttke] […] Unsere Philosophie hatte Celtis im Epigramm geschrieben! Die Betonung ist unübersehbar. Celtis machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für den jungen ‚Kollegen‘. Sicherlich war er – auch als Patriot – froh, daß er endlich einen deutschen Maler, nein: einen deutschen Philosophen-Maler gefunden hatte, den zu loben und zu erheben sich lohnte.“ Ernst Rebel, Albrecht Dürer, Maler und Humanist, München 1996, S. 132 f. 35 36
377 „B“ = Bartschs Werkverzeichnis von 1808. Ich beziehe mich auf die zwei Originale der Dr.-Otto-Schäfer-Stiftung in Schweinfurt; Inv.Nr. D75 I/II. 47 Peter-Klaus Schuster, Melencolia I. Dürers Denkbild, 2 Bde., Berlin 1991. 48 Insbesondere Schuster (1991), der die Oratio und den Liber de sapiente als Schlüsseltexte seiner Interpretation heranzieht. 49 Josef Anton Endres, Albrecht Dürer und Nikolaus von Cusa, Deutung der Dürerschen Melancholie, in: Die christliche Kunst 9, München (1912/13), S. 33 ff. – Vgl. auch Fedja Anzelewsky, Dürer-Studien, Berlin 1983, Dürers Stellung im Geistesleben seiner Zeit, S. 179-216. 50 Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie, Frankfurt 1990; sowie Tobias Leuker, Dürer als ikonographischer Neuerer, Freiburg 2002. 51 Ich brauche hier keine einzelnen Quellen zu nennen, da nahezu jede Monographie zu diesem Meisterstich diese Frage behandelt. Für einen Kurzüberblick verweise ich auf den Forschungsbericht bei Peter-Klaus Schuster 1991. Vgl. auch Tobias Leuker, der in seinem Buch Dürer als ikonographischer Neuerer (wie Anm. 50) wieder die imperativische Lesart (Melancholie, weiche!) favorisiert, „die im 19. Jahrhundert von Choulant ins Feld geführt und seitdem von verschiedenen Forschern […] vertreten wurde, ohne sich jedoch jemals wirklich behaupten zu können. […] (es) ist […] aber überhaupt nicht angebracht, die Figur als Verkörperung der Schwarzgalligkeit zu werten. Die Worte ‚Weiche, Melancholie!‘ sollen denn auch nicht etwa die geflügelte Allegorie aus dem Bild vertreiben, sondern allein jene peinigende Abstumpfung, die sie an der Entfaltung ihrer Geistesgaben hindert.“ S. 44 f. 52 Vgl. Schuster 1991 (wie Anm. 47), S. 15 f. 53 Über die verschiedenen Schreibweisen bei Dürer, siehe Schuster 1991, Bd. 2, S. 415, Anm. 9. 54 Die Studie von R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie (wie Anm. 50), scheint wenig Wert auf die Schreibweise zu legen, da sie zum einen aus der Dichtung Belege, z.B. für „Dame Merencolye“ (S. 324 ff.), findet, die vor Dürer datieren, zum anderen auf ein Augsburger Kalenderblatt von ca. 1480 (Abb. 88-91, siehe dazu S. 425 u. 427) verweisen kann, wo die vier Temperamente in Holzschnitten und Versen dargestellt sind. Unter dem Holzschnitt zum vierten Temperament steht da: „Melencolicus. Vnser complexion ist von erden reych/ Daru(m)b sey wir schwärmütigkeyt gleich“. Dargestellt sind zwei Figuren: ein junger Bursch, eingeschlafen oder untätig brütend auf einer Bank sitzend, den Kopf in seinen verschränkten Armen versenkt, die – wie auf einer Tischplatte – auf einem überdimensional großen Buch liegen, das der Studiosus auf den Oberschenkeln ruhen hat, während daneben sich eine Frau aus dem Stuhl erhebt, um ihre Arbeit am Spinnrocken zu vernachlässigen. – Interessant ist nun, dass Schuster (1991 [wie Anm. 47]) eine Abbildung der „Melancholie, Holzschnitt aus dem ersten deutschen Kalenderdruck, Augsburg 1494“ (Abb. 15) zitiert, die den selben 46
378 Holzschnitt von 1480 (Klibansky/Panofsky/Saxl) verwendet, dessen Text jedoch orthographische Veränderungen aufweist: „Melancolicus. Vnser complexion ist von erden reych/ Daru(m)b seind wir schwärmütigkeyt gleych“. Abgesehen davon, dass Schuster das Kalenderblatt 1480 nicht kannte: „Die von Dürer gewählte orthographische Form ‚MELENCOLIA‘ ist anscheinend weder früher noch zeitgenössisch belegt und findet sich vereinzelt nur noch in Abhängigkeit von seinem Kupferstich.“ (Schuster 1991, S. 16), muss man aus dem Vergleich der beiden Augsburger Texte schliessen, dass der Drucker 1494 zweifellos den Text von 1480 als fehlerhaft betrachtet und daher „Melencolicus“ zu „Melancolicus“ korrigiert hat, dass man, falls ich vorsichtig verallgemeinern darf, das lateinische Wort an der vierten Stelle korrekt mit „a“ und nicht mit „e“ zu schreiben pflegte. Und mag es um die Lateinkenntnisse Dürers leidlich bestellt gewesen sein, so hätte er sich gewiss nicht wegen einer unüblichen Schreibweise den Sticheleien seines Humanistenfreundes Pirckheimer ausgesetzt, wenn er damit nicht eine besondere Absicht verfolgt hätte. Wegen der Wertschätzung dieses Stiches, die Dürer zeitlebens aufrecht erhalten hat, indem er ihn noch in den 20iger Jahren verschenkte, scheint mir kein anderer Schluss möglich, als dass Dürer mit seiner abweichenden Orthographie die Absicht verfolgte, auf eine Spur aufmerksam zu machen, die freilich nur derjenige aufnehmen konnte oder sollte, der mit Geheimtexten vertraut war und damit umzugehen verstand. 55 Vgl. Homer, Odyssee 4, 384 ff. vor allem 415 f: „Er wird dann alles zu werden versuchen, was hier auf dem Erdreich erscheint.“ (Übersetz. v. A. Weiher) Artemis München 1990, S. 105. Menelaos hätte Proteus ohne Hilfe der Göttin nicht identifizieren können. – Wenn Pico in seiner Oratio unmittelbar an den Passus von: „Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern? Oder wer sollte überhaupt etwas anderes mehr bewundern?“ an einen weiteren der Verwandlung Fähigen erinnert: „Quem non immerito Asclepius Atheniensis versipellis huius et se ipsam transformantis naturae argumento per Proteum in mysteriis significari dixit. / Asklepios von Athen hat unter Hinweis auf seine wechselnde und sich selbst verwandelnde Natur nicht ohne Recht von ihm gesagt, der Mensch werde durch die Gestalt des Proteus in den Mysterien symbolisch dargestellt.“ (S. 10/11) –, dann meint er – für das Chamäleon wie für Proteus – zugleich die Unerkennbarkeit dieser Verwandlungskünstler, solange man ihre wahre Identität nicht kennt. Pico sagt also mit seiner neuen Erkenntnis vom plastes et fictor sui ipsius auch, dass bislang die wahre Wesensnatur des Menschen noch allgemein nicht bekannt geworden sei, obwohl die besten Philosophen und Theologen von Okzident und Orient verdeckt davon gesprochen haben. 56 Am magischen Quadrat hat man nachträgliche Korrekturen wahrgenommen, z.B. die 5 über einer 6 oder eine verkehrte 9, die in späteren Abzügen korrekt im Feld steht. Ich meine aber, es handelt sich nicht um ein Versehen, sondern um eine gezielte Manipulation des Kupferstechers. Es liegt darin eine Aussage, die bei der Entschlüsselung des magischen Quadrates hilfreich sein wird.
379 Trithemius, ein Freund W. Pirckheimers, schrieb zwischen 1500 und 1507, seine Steganographia (= Geheimschrift), die u.a. ein ausgeklügeltes Verfahren ist, Texte zu chiffrieren. Das Werk blieb unvollendet. Dass Exzerpte unter den humanistischen Freunden zirkulierten, wird man annehmen dürfen. Die Steganographia „ist in Teilen und auf den ersten Blick eine Anleitung zum Verfassen von Geheimschriften, doch finden sich im Fragment gebliebenen dritten Teil auch Spekulationen über magische Beziehungen zwischen Buchstaben, Zahlen, Zeichen und den Geheimnamen kosmischer Intelligenzen, wie sie in der Engelsmagie angerufen werden.“ Michael Kuper, J. Trithemius. Der schwarze Abt, Berlin 1998, S. 61 f. 58 Vgl. Albrecht Beutelspacher, Geheimsprachen, Geschichte und Techniken, München 1997, S. 29. 59 Vgl. Thomas Ulrich Schaerte, Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. München, Berlin 2001, S. 187: „Elemente eines längeren Satzgefüges werden in – wenn auch nur vermeintlich – echte Hieroglyphen umgemünzt.“ 60 Pico, Heptaplus, S. 61: „Et totam si ordine consequenti orationem texamus erit huiusmodi. Pater in filio, et per filium principium et finem, sive quietem creavit, caput, ignem et fundamentum magni hominis, foedere bono: Haec tota oratio ex prima illius dictionis resolutione et compositione dissultat …/ Und wenn wir die ganze Rede, dieser Ordnung folgend, zusammenfügen, wird es diese Weise sein: Der Vater, im Sohn und durch den Sohn Anfang und Ende sowie Ruhe, schuf den Kopf, das Feuer und das Fundament des großen Menschen in gutem Übereinkommen; diese ganze Rede entsteht aus der Auflösung und Zusammensetzung dieses ersten Wortes.“ – Vgl. dazu Alexander Thumfart, Die Perspektive und die Zeichen, Hermetische Verschlüsselungen bei Giovanni Pico della Mirandola, München 1996, S. 47-52. 61 Beutelspacher 1997 (wie Anm. 58), S. 18: „Dem Cäsar-Code liegt eine radikale Entscheidung zugrunde: Die Klartextzeichen und die Geheimzeichen sind dieselben, für beide werden die Buchstaben benutzt.“ 62 Vgl. L. R., Dürers Weltethik, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 24 (1998), S. 39. 63 Was das magische Quadrat des Kupferstichs betrifft, so habe ich mich anfangs auf die Literatur verlassen, z.B. Heinz Haber, Das mathematische Kabinett, in: Bild der Wissenschaft (1964), H. 1, S. 73-75, wo 86 Kombinationen von jeweils vier Zahlen zu 34 aufgelistet werden (S. 74). Das Zustandekommen des m.Q. wird veranschaulicht durch Umbesetzung der Grundposition von 1 bis 16 (S. 75). Die Mathematikerin Elisabeth Pfeiffer wiederholt in ihrer Untersuchung – „Zahlen und Zahlenverhältnisse im magischen Quadrat Dürers“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 58. Band, Nürnberg 1971, S. 168-207 – diese Umbesetzung auf einem anspruchsvolleren Niveau (S. 176), ohne einen entscheidenden Schritt über Haber hinauszutun. Auch sonst wird man nichts Neues finden, obwohl jeweils von der Grundposition oder der „natürlichen Anordnung der Zahlen im 16Quadrat“ (= von 1 links oben bis 16 rechts unten) ausgeht. Man hat übersehen, dass Dürer, aufgrund seiner Vertrautheit im Arbeiten mit seitenver57
380 kehrten Verhältnissen, höchstwahrscheinlich diese Grundposition nach den vier Ecken jeweils neu formierte, so dass sein magisches Quadrat zusammengesetzt ist aus eben diesen vier Grundlesarten (Abb. 9). Mir ist nicht bekannt, dass meine Version bereits als Forschungsergebnis veröffentlich sei. Interessant daran ist, dass die vier Viererpaare jeweils so zueinander stehen, dass die diagonalen Zahlen die Summe 17 ergeben: (grün) 5+12, 9+8; (blau) 3+14, 2+15; (rot) 10+7, 6+11; (gelb) 16+1, 4+13; dass die genannten Zahlenpaare die Summe 17 haben, war allerdings seit langem bekannt (Pfeiffer zitiert Macht [1889], S. 170). – Meine Version (vierfache Lesart, Zusammensetzung) zugrunde legend, habe ich den vier Quadraten der geometrischen Schlüsselfigur Farben und den diagonalen Ecken der einzelnen Quadrate die jeweiligen Zahlen zugeordnet. Die Entschlüsselung der Inschrift ist die Voraussetzung, diesen Zahlen, wodurch die Schlüsselfigur (Abb. 3) mit den Zahlen des magischen Quadrates und deren Anordnung verzahnt ist, auch Buchstaben zuzuordnen. Durch ein weiteres Verfahren werden die Zahlen des magischen Quadrates auf den Kupferstich in seiner Endposition (Abb. 6) projiziert (Abb. 8); die in diesen Feldern stehenden Dinge und Konstellationen können mittels der Zahl interpretiert werden. Zur Überprüfung, dass diese Zuordnung von Dürer gemeint ist, sind fünf Zahlen besonders geeignet. Die 7 steht im Feld des Schlüsselbundes, der sieben Schlüssel hat; die 5 steht in einer Fläche des Polyeder mit fünf Ecken. Jetzt folgen drei Zahlen, die eine anspruchsvollere Denkoperation erfordern, man muss nun von den Dingen ausgehen, z.B.: Was hat der Zirkel mit der Zahl 6 und der Zahl 10 zu tun? Was die Zahl 3 mit der Waage? Was die Zahl 2 mit den Zahlen überhaupt? Und dementsprechend lassen sich auch die übrigen Beziehungen von Zahl und Bildfeld ermitteln. Da hier umfangreichere Ausführungen erforderlich wären, beschränke ich mich lediglich auf die Zahl 6. Zirkel und 6 haben ein gemeinsames Merkmal. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, eine bestimmte Strecke, die man in den Zirkel nimmt, an einem Kreisumfang regelmäßig abzutragen und zum Ausgangspunkt zurückzukehren, und das ist der Radius, womit man den Kreis konstruiert hat. Sinnigerweise steht die Zahl 6 nicht nur im Zirkelfeld, sondern auch im Zentrum der 25 Quadrate, die sich aus der Schlüsselfigur ableiten, deren Kreisradius das 10 fache des dargestellten Zirkels ist, der noch in das Feld 10 reicht (Abb. 8). 64 Vgl. Rupprich 1966 (wie Anm. 13), S. 159, 248, 440. 65 Zum Beispiel Schuster 1991 (wie Anm. 47) schon in seinem Buchtitel und dann durchgehend; weitere Beispiele wären Legion! Schuster gibt eine simple Erklärung in einer Anmerkung: „Vergleichbare Ziervirgeln zwischen Worten oder Buchstaben begegnen 1516 auf Dürers Bücherzeichen für Hieronymus Ebner (B. app. 45; Knappe, Abb. 336) und auf dem Holzschnitt der Kreuzigung (B. 76; Knappe, Abb. 334), ferner auf dem Bildnis des Kardinals von Brandenburg von 1519 (B. 102; Kanppe, Abb. 93).“ Anm. 7, Bd. 2, S. 415. 66 Bei der anstehenden Permutation wird eigentlich nur mit elf Zeichen auf zunächst 17 Plätzen operiert, weil das Zeichen „§“ lediglich die stille
381 Funktion hat, Wort und Zusatz zu unterscheiden. Wollte man diese Inschrift mit ihren elf Zeichen beliebig permutieren, das heißt, die Zeichen in der vorliegenden Anordnung so verändern, dass rechnerisch sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft sind, so wäre das Resultat eine schier unüberschaubare Kolonne von Kombinationen, unter denen die meisten keinen Sinn ergeben. Indem ich die Inschrift mit der Grundzahl 17 des magischen Quadrates lese, wird das Verfahren sofort übersichtlich, wobei ich ein Ergebnis vorwegnehme, zu dem ich im Text hier aus Platzgründen nichts ausführe, denn ich trenne die Inschrift nach einer Vorgabe der „Schlüsselfigur“ zu diesem Kupferstich (Abb. 3); die Konstruktionsposition (Abb. 4) wird im fixierten Mittelpunkt nach rechts in das blaue Quadrat der Schlüsselfigur gekippt (Abb. 5) und anschließend im Hebelpunkt des Polyeders senkrecht aufgerichtet zu der Endposition (Abb. 6 und 7); in dieser Position geht die Halbierende des 16Sterns durch die gedachte Lotrechte im Eichungspunkt der Waage, so dass die optimalste Verteilung der Quadrate (Abb. 8) erreicht wird. Für die Inschrift hat der Vergleich von Konstruktionsposition (Abb. 4) und Endposition (Abb. 10 / Detail) großen Aufschluss: die Buchstaben C und O der Konstruktionsposition werden von Quadratseiten der Schlüsselfigur geschnitten, das A durch eine Verbindungslinie des Feinnetzes markiert. Die linke Formatkante der Endposition trennt am N das MELE in der Konstruktionsposition sozusagen ab. Die signifikanten Buchstaben ACO werden nun bewegt. ACO sind signifikant, weil sie für A(lpha)-C(hristus)-O(mega) stehen, was auch durch A(dam)-C(hristus)-O(sterlamm) expliziert werden kann. 67 Addiert man die Positionswerte der zu bewegenden Buchstaben, erhält man die Summe 34 (A/15 + O/10 + C/ 9 = 2x17)! Das A beginnt und überspringt: „… IL … OCN … ELEM… …“. Es besetzt die Leerstelle 2 vor dem M. Das O hat vor sich: „CN … ELEMA …“, also besetzt es den Platz 7, andernfalls würde es sich verhalten wie A. Das C hat jetzt vor sich: „NOELEMA …“ und kann darum nur noch über eine Buchstabenfolge auf die letzte verbleibende Leerstelle springen, auf die erste Position vor dem A. 68 Hartmut Böhme, Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt a.M. 1993, S. 8. 69 „Klibansky/Panofsky/Saxl lassen ihre Untersuchungen in der These zusammenlaufen, daß kein Kunstwerk so sehr Agrippa nahesteht wie die ‚Melencolia‘. […] Hierbei hängt alles an der Evidenz inhaltlicher Entsprechungen zwischen Agrippa und der ‚Melencolia‘. Von diesen ist die wichtigste, daß die ‚I‘ im Stich die I. Stufe = melencolia imaginationis meint.“ Böhme 1993 (wie Anm. 68), S. 54. 70 Diese Ausgabe ist im Internet unter „Pico-Editio-princeps“ verfügbar; und auf sie beziehe ich die folgenden Angaben. 71 So beginnt die Oratio mit Blatt QQ ii recto und endet mit Blatt RR iii recto (in der Mitte der letzten Zeile des Satzspiegels: „FINIS“). Das sind also siebeneinhalb Blätter oder 15 Seiten. Der Satzspiegel zählt 40 Zeilen, die der Text durchgängig einhält, – bis auf zwei Ausnahmen, nämlich QQ ii recto und RR ii verso (!), die eine Leerzeile berücksichtigen. Die erste Zeile von
382 QQ ii recto ist in Capitalis gesetzt: „ORATIO IOANNIS PICI MIRAN.CONCORDIAE COMITIS“; dann folgt eine Leerzeile. Der Haupttext beginnt mit Zeile 3, wobei links ein Feld für die Initiale „L“ ausgespart ist. Ab Zeile 8 sind die Textzeilen durchgängig besetzt. Die rechte Marginalie auf der Höhe der Zeilen 8 und 9 lautet: „Hominis di/gnitas“. In der letzten und 40. Zeile liest man: „plastes & fictor“; darunter „QQ ii“! – Die Verso-Seite zu „QQ ii“ führt die Marginalien links vom Text, der den Satzspiegel von 40 Zeilen erfüllt. 72 „[…] omnia constitutus, omnibus antestabit. / Quis hunc nostrum Chamaeleonta“, Oratio 1997, S. 10. Ich übersetze: „(über) alles gesetzt. allen voranstehen wird. / Wer dieses unser Chamäleon (Akk.)“. 73 Ich habe im Zuge meiner Recherche nach dem Decknamen Chamäleon Hans-Werner Schütt angeschrieben, mir im Dickicht der alchemistischen Literatur Winke zu geben, und möchte an dieser Stelle noch einmal ein Dankeschön sagen. 74 Siehe Anm. 1. – Die Stellen, die Bameck zitiert, sind eine Fundgrube, aber für die hier anstehende Suche irrelevant, weil er Pico nicht berücksichtigt und jene Stelle übergeht oder auch nicht kennt, die noch eine wichtige Rolle spielen wird. Interessant jedoch war für mich der Zusammenhang von Chamäleon und dem „Typus der Verstellungskunst des Teufels“, a.a.O, S. 69; und auch der Hinweis auf Remigius von Auxerre, der das Chamäleon zu einer „Figura“ erklärte „derer, die über die gesamte Palette der Laster verfügten“, ebd. S. 72. 75 Vgl. Plinius, Naturalis historia, Venedig 1472, Bd. 8; oder Artemis& Winkler Bd. 8, 2. Aufl. 2007, S. 92 ff. 76 Albrecht Dürer, underweysung der messung, Nürnberg 1525, Widmung an Pircheimer: „In was eren vnd wirden aber dise künst bey den Kriechen vnd Römern gewest ist/zeygen die alten bücher gnugsam an/“ Blatt A recto. 77 Dürer 1525, Blatt K verso: „DAS - W - / GOTES / BLEIBT / EWIGLICH / DIS - WORT / IST - CRISTVS / ALLER - CRIST / GLAVBIGEN / HEIL“. Der Dürer-Text scheint aus folgenden Schriftworten montiert (ich zitiere nach der Einheitsübersetzung, Hervorhebungen L. R: Jesaia 40, 8: „das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“; 1. Petrusbrief 1, 25: „doch das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist“; 1. Petrus 2, 24: „durch seine Wunden seid ihr geheilt. – Vgl. L. R. Omega-Zeit. Endzeit oder letzte Chance? Persp. Bd. 25 (1999), S. 67 f. (Ich muss einen Fehler korrigieren, der mir damals unterlaufen ist; die Stelle „Lukas 1, 57 gehört in den Zusammenhang mit dem Gleichnis vom Feigenbaum (S. 72 ff.) und korrespondiert mit Luk. 1, 36, so dass sich die Zahl 1632 auf S. 68 nicht mehr halten lässt. Ich versuche nachfolgend die Argumentation besser zu begründen, als es mir nach dem Kenntnisstand von 1999 möglich war. Außerdem hatte ich damals versäumt, darauf hinzuweisen, dass bei Lukas zwar nicht von einer Omega-Zeit die Rede ist, wohl aber – dem Sinne nach – von einer Endzeit (vgl. Luk. 17, 26 ff.). Ich meinte aus
383 nachvollziehbaren Gründen im Abschnitt „Die Warnung“ (S. 77) darauf verzichten zu können. 78 Levitikus 11, 30 (Einheitsübersetzung, Freiburg 1980, S. 104). 79 Vgl. Lev. 11, 43 bis 47: „Macht euch nicht selbst abscheulich […] Denn ich bin der Herr, euer Gott. Erweist euch als heilig, weil ich heilig bin. […] Ihr sollt daher heilig sein, weil ich heilig bin. Das ist das Gesetz über das Vieh, die Vögel, alle Lebewesen, die sich im Wasser bewegen, alle Lebewesen, die auf dem Boden kriechen. So soll man das Unreine und das Reine unterscheiden, die Tiere, die man essen darf, und jene die man nicht essen darf.“ (Einheitsübersetzung, Freiburg 1980, S. 104) – Die Entsprechung bei Lukas ist vielschichtig. Ich beziehe mich zunächst nur auf das Handgreiflichste, nämlich auf Luk. 11, 14 bis 26. – Worum geht es im Levitikus also hauptsächlich? Keineswegs um bloß äußere Vorschriften, welche Tiere man essen oder nicht essen oder nicht berühren darf, das ist nur der Anlass, sondern um die geistige Unterscheidung von Reinem und Unreinem im Hinblick auf das Heil-Werden der Seele und die Gleichheit der Heiligkeit von Mensch und Gott; und bei Lukas um die Dämonen oder unreinen Geister. Beide Texte erläutern sich gegenseitig, freilich in einer Sinnebene, welche dem Niveau des Pico’schen Heptaplus entspräche. Wollte man solche Bezüge als unseriös ablehnen, ignorierte man das Selbstverständnis, mit dem ein Pico oder Dürer die Bibel auslegten und für ihre Ideen fruchtbar machten. 80 Vgl. Esopi appologi sive mythologi: cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastiani Brant. Basel: Jacob <Wolff> von Pfortzheim., 1501, „ De Chameleonte“ J iij. 81 Vgl. L. R. Dürers Weltethik 1998 (wie Anm. 62), S. 39, und L. R., Omega-Zeit 1999 (wie Anm. 77), S. 65. 82 Es ist eine deutsche Übersetzung der Vulgata vor Luther. – GW 4303 – Ich bedanke mich bei den Mitarbeitern der Sonderabteilung der Würzburger Universitätsbibliothek für die freundliche Hilfe und die Erlaubnis, Abbildungen aus dem Exemplar UB Würzburg I.t.f. 326 zu veröffentlichen. 83 Vgl. Abb. 11a/b, Koberger-Bibel, UB Würzburg. I.t.f. 326-Bd. 1, Blatt 057r/v. – Ohne den Kolumnentitel mitzuzählen, sind 50 Zeilen pro Spalte vorgesehen. (Ich habe eine Leiste eingefügt, um das Zählen zu erleichtern; leider ist sie etwas verzogen.) Dem Haupttext vorangestellt, ist eine 4 Zeilen umfassende Inhaltsangabe, die mit „Das .XI. Capitel. wel“ beginnt. Dann folgen zwei Leerzeilen (5 und 6). Mit Zeile 7 läuft der Haupttext ohne einen einzigen Absatz durch: 44 Textzeilen Blatt LVII recto rechte Spalte, 50 Textzeilen Blatt LVII verso linke Spalte und 15 Textzeilen Blatt LVII verso rechte Spalte. Zusammen: Inhaltsangabe 4 Zeilen + 2 Leerzeilen + Haupttext 109 = 115 Zeilen (5x23). 84 Beutelspacher 1997 (wie Anm. 58), S. 15. 85 Warum Luther mit dem „Cameleon“ der Vulgata nichts anfangen kann und statt dessen „Maulworff“ übersetzt (Biblia, Wittemberg, 1534, Bd. 1, 3. Mose, Blatt LXIXr, Faksimile Taschen-Verlag, Köln o.J.), entzieht sich meiner Kenntnis. Oder wußte er um einen tieferen Zusammenhang, den er unterdrückt?
384 Zur Arbeitsmethode „Szenario“ vgl. Dieter Kühn, Der Parzival, Frankfurt a.M. 1986, S. 70: „In einem Szenario wird zukünftiges Geschehen entworfen; diese Darstellungsmethode wende ich an zur Beschreibung von Vergangenheit. Das Szenario hat – gegenüber dem historischen Roman – den Vorteil: es schließt Reflexion ein. Was berichtet, was probierend erzählt wird, kann jederzeit durchbrochen und erörtert werden.“ 87 Zu seiner Zeit kamen einige Berufe mehr oder weniger mit Alchemie in Berührung, so Apotheker, die nach alchemistischen Rezepten medizinische Drogen mixten, Drucker (Tintenherstellung, Metallurgie etc), aber auch Maler, die Farbpigmente zu eigenen Farben anrührten. Dürer hat selbst experimentiert und seine Farbrezepturen geheim gehalten. Er war nicht nur stolz auf die Qualität, sondern insbesondere auf die Haltbarkeit seiner Farben. In einem Brief an Heller spricht er von einem Zeitraum von 500 Jahren. Vgl. Albrecht Dürer, Schriften und Briefe, hrsg. v. E. Ullmann, Textbearbeitung E. Pradel, Reclam Verlag Leipzig 1993, S. 93; sowie zum Problem der Farben vgl. G. Goldberg, B. Heimberg, M. Schawe: Albrecht Dürer. Die Gemälde der Alten Pinakothek, München 1998, Von apothekken und colores, S. 8188. Zur Anregung zitiere ich nur diesen Passus: „Über die Rolle der Alchemisten besteht bislang noch Unklarheit, obgleich bereits vor Dürer in dem Gedicht des Heinrich von Mügeln die Verbindung von Alchemie und Farbenproduktion erwähnt wird.“ S. 81. Für den geistesgeschichtlichen Hintergrund speziell bezogen auf Dürer siehe eingehender G.F. Hartlaub, Kunst und Magie, Hamburg/Zürich 1991. 88 Vgl. die Einleitung von Eckhard Keßler zu „Gianfrancesco Pico della Mirandola, Über die Vorstellung, De imaginatione, München 1997, S. 12: „Zu seinen vielen Freunden in Nordeuropa zählten Beatus Rhenanus, Conrad Celtis, Albrecht Dürer, Jacques Lefevre d’Etaples, Conrad Peutinger, Willibald Pirckheimer und Johannes Reuchlin.“ 89 Unterscheidet man nach Blatt recto und verso, so ergibt sich Folgendes (vgl. Abb.): A) „unrein“, a: (Zr) 16+18+22+32 (= 88); b: (Zv) 52+54+57+ 60+61+63+64 (= 411); und c: (Zv mit dem Wort Camelon) = 68; und d: (Zv) 70+71+76+81+83+86+87+93+95 (= 742); und e: (Zv, rS) 102+113; (= 215); B) „heilig“: 103+104+108+109 (= 424). – 11 „unrein“ vor und 11 „unrein“ nach dem Cameleon, wobei 2 „unrein“ mit 4 „heilig“ vermischt sind. – Addiert man alles, so scheint die Summe 1948 (88+411+68+742+215+424; oder 4x487) eine Zahl zu sein, die unmittelbar mit den Zahlen 11 oder 17 nichts zu tun hat; es sei denn, man bildet die Quersumme: 1+9+4+8 = 22! Oder man stellt eine Rechnung auf, die einerseits der Symmetrie von „11 – cameleon – 11“ entspricht und die andererseits das Ungleichgewicht berücksichtigt, das durch die Zahlen auf der rechten Seite entsteht. Dabei spielt die Verklammerung der letzten 2 „unrein“ mit den 4 „rein“ eine Rolle. – Zunächst 11 vor dem Cameleon: 88 + 411= 499; und 11 nach dem Cameleon: 742 + 215 = 957. – Jetzt zieht man von dem letzten Betrag das „heilig“ mit 424 ab: 957424 = 533. Setzt man beide in die Symmetriegleichung ein: „499 – Cameleon – 533“, so sieht man sofort, dass die Differenz zwischen linker und rechter 86
385 Seite 34 (2x17) ist. Wenn man nun den Betrag 68 des „cameleon“ entsprechend aufteilt, weil es doch in der Mitte zwischen den zwei Elfergruppen steht, so muss man der linken Seite 3x17 und der rechten Seite 1x17 geben, um die „Waage“ auszugleichen: „499 + 51 = 533 + 17“; oder: „550 = 550“ (2x5x5x11)! – 90 Akrostikon nach der Dudendefinition „a): hintereinander zu lesende Anfangsbuchstaben, -silben od. -wörter der Verszeilen, Strophen, Abschnitte oder Kapitel, die ein Wort, einen Namen od. einen Satz ergeben“, Bd. 5, Mannheim 2001, S. 42. – Vgl. auch die immer noch informative Untersuchung zum gesamten Themenkomplex: Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Berlin 1925, Leipzig 1985, Buchstabenvertauschung und Notarikon, S. 136 ff. und Nomina sacra, S. 145 f., und Krostichis S. 146 ff. – Und wenn man eine Quelle studieren will, die zeitlich nahe an Dürer heranreicht, dann greife man zu Agrippa von Nettesheim, Occulta philosophia, deut./ Die magischen Werke, Fourier Verlag Wiesbaden, 4. Aufl. 1997; dort im 3. Buch, Kapitel 11: Von den göttlichen Namen und ihrer Macht und Kraft, S. 375 ff. 91 Ich gebe nur die Zeilen an, in denen das Wort „vnreyn“ oder „heylig“ vorkommt, indem ich den Zeilenanfang und den letzten Teil der Zeile zitiere; z.B. die Zeile 16 vom Blatt LVII recto (= Z16r); vollständig: „dern. daz eßt nit. vnd acht syn vnder den vnreyne(n)“, also; Z16r: „dern … vnreynen“. Ich nehme die Zeile 18v mit dem „cameleon“ mit auf, was anschließend erklärlich wird: Z16r: „dern … vnreynen“; Z18r: „teylt … yn“; Z22r: „sind … wer“; Z32r: „werden … sölt“; Z52v: „mayliget … vn“; Z54v: „ding … vnreyn“; Z57v: „yntruckt … wirt“; Z60v: „füssen … todten“; Z61v: „der … do“, Z63v: „wand … wan“; Z64v: „alle … wer“; Z68v: „geschlecht … cameleon … dy“; Z70v: „alle … tod“; Z71v: „ten … war“; Z76v: „werde … darnach“; Z81v: „auff … yegklich“; Z83v: „disem … der“; Z86v: „vnreyn … vnd“; Z87v: „alle … Der“; Z93v: „essen … vntz“; Z95v: „tregt … vnreyn“; rechte Spalte (rSp.) verso, hier kommt jetzt noch das „heylig“, 4x dazu): rSp. Z102v: „der … bins“; rSp. Z103v: „der …(heylig) … ich“; rSp. Z104v: „byn (heylig) … eym“; rSp. Z108v: „ich … (heylig) wan“; rSp. Z109v: „auch …(heylig) … lebendi“; rSp. Z113v: „vunderschidung … vnreynen“. – Jetzt lösche ich die Aussparungen und ergänze vorsichtig einige Wörter wie bei einem schadhaften Text (in Klammern). Dass es von diesen Eingriffen abhängt, welcher Text schließlich sichtbar wird, ist mir bewusst. Dass es aber ohne sie nicht geht, wird man billig zugeben, falls man das gesamte Verfahren nicht von vornherein ablehnt. 92 Siehe die Abb. 12; oder das Faksimile, das im Verlag Dr. Alfons Uhl, Nördlingen 1983 (und folgenden Auflagen) erschienen ist. – Der Satzspiegel und die Graphik der Buchseite Kv ist eindeutig aus der Schlüsselfigur des Kupferstichs B74 gezogen worden (Abb. 12/Bildtafel 33). Nebenbei bemerkt: Liest man K nicht nur als Bezeichnung des Bogens, sondern als Zahl (nach der natürlichen Reihenfolge des Alphabets), so wäre „K“ gleich „10“, und die folgende Seite darum „11“.
386 Und dieser Text lautet: 1. „sen“; 2. „oberen“; 3. „dingen“; 4. „len“; 5. „machen“; 6. „wie“; 7. „e“; 8. „aber“; 9. „setzen“; 10. „en“; 11. „puncten“; 12. „darein“; 13. „want“; 14. „den“; 15. „dein“; 16. „sech“; 17 „rumb“. – Jetzt wechselt es in die oberste Zeile und hinüber, ich zähle fortlaufend weiter von oben nach unten: 18. „da“; 19. „ge“; 20. „stell“; 21. „dich“; 22. „oder“; 23. „zeylen“; 24. „all“; 25. „parrlini“; 26. „schrift“; 27. „du“; 28. „punkte“; 29. „geteylt“; 30. „kleiner“; 31. „tey“; 32. „andere“; 33. „die“; 34. „aufgeris“. Und um auch diesen „Text“ lesbar zu machen, greife ich kontrolliert grammatisch in den Lautstand ein; außerdem unterscheide ich jeweils vier syntaktische Einheiten: I. a) 1 bis 4; b) 5 bis 7; c) 8 bis 12; d) 13 bis 17; II. a) 18 bis 21; b) 22 bis 26; c) 27 bis 30; d) 31 bis 34. – Ich lösche anschließend die Ziffern. 94 Vgl. Rupprich 1966 (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 7; 1512/13 zum Beispiel aus Entwurf Nr. 2: „Vnd will aws mas, tzal vnd gewicht mein fürnemen anfohen. Wer achtung dorawf hat, der würtz hernoch also finden.“ S. 104. 95 Um die Skepsis Dürers mit zu hören, zitiere ich das vorausgehende: „dann die Lügen ist in unsrer Erkenntnüs, und steckt die Finsternis so hart in uns, dass auch unser Nachtappen fehlt, welcher aber durch die Geometria sein Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben, denn da ist man gefangen, und ist billig ein solicher als von Gott begabt für ein Meister in solchem zu halten, und derselben Ursachen ihrer Beweisung sind mit Begierden zu hören, und noch fröhlicher ihre Werk zu sehen.“ (Reclam Leipzig 1993, S. 195) 96 Johannes Reuchlin, De verbo mirifico, Das Wundertätige Wort, Sämtliche Werke Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 97 Dem Zitat geht das „Gleichnis vom anvertrauten Geld“ voraus. Die Arithmetik dieses Gleichnisses folgt stillschweigend der Waage: Der mit fünf Talenten bringt weitere fünf. Der mit zwei wieder zwei. Aber die Konsequenz dieses Kapitels 25 in Vers 30 will ich nicht übergehen, um anzudeuten, wogegen sich Dürer in Wahrheit absetzt: „Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äusserste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.“ – Wollte man hier „nachwiegen“, so müsste man sagen: Nicht der Herr wirft den Diener in die Finsternis, sondern er beliess ihn in dessen eigener Finsternis. Denn aus Furcht hat dieser Nichtsnutz nicht gewogen. Sonst hätte er in die andere Waagschale dasselbe hineinlegen müssen, wie das, was er bekommen hat. Er hatte Furcht vor dem Herrn, er vertraute nicht auf das Wissen der Vernunft. Und solange bleibt er in der Finsternis, bis er er gelernt hat: was es heisst zu wiegen. 98 Vgl. L. R., Omega-Zeit 1999 (wie Anm. 77), S. 77 ff. 99 Das „Osterlamm“ ist das erste Schlüsselwort, das man aus der Inschrift „MELENCOLIA § I“ ziehen kann, wenn man sie rückwärts liest und in drei Teile zerlegt „I § AIL OCNELEM“ und anschließend das I als Jesus, das §Zeichen als H und das Ocnelem als Osterlamm deutet. Vgl. L. R., Dürers Weltethik 1998 (wie Anm. 62), S. 39 f. und L. R., Omega-Zeit 1999 (wie Anm. 77), S. 68 ff. 93
387 Vgl. Koberger-Bibel 1483, Ballt 507v, 50 Zeilen pro Satzspiegel, rechte Spalte, Zeile: 8, 10, 17, 21, 24, 26; Lukas Kapitel 22 (2x11)! – Vgl. L. R., Dürers Weltethik 1998, S. 39 f. und L. R., Omega-Zeit 1999, S. 68 ff. – Mir war damals der Text und Wortlaut der Koberger-Bibel nicht bekannt. So versuchte ich auf anderen Wegen meine Vermutung zu verifizieren. Erst mit dem Text aus den Vier Aposteln (1526) nahm ich eine Spur auf. Nach meinem bislang erreichten Kenntnisstand muss ich zwar einiges korrigieren, sehe mich aber in meiner anfänglichen Grundannahme rundum bestätigt; abgesehen davon, dass ich das Hauptgewicht zunehmend auf einen schlüssigen Beweisgang lege, den ich mittels geometrischer Rekonstruktion demonstrieren und mittels gematrischer Entschlüsselung des magischen Quadrates führen kann. 101 So steht Jesaia 40, 8: „das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“ der 1. Petrusbrief 1, 25 gegenüber: „doch das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist“. 102 Auch hier liegt eine Entsprechung zu Levitikus vor, und zwar Kap. 22, 17 ff., wo es um die „Tauglichkeit der Opfertiere“ geht; wichtig Vers 19: „muss, damit ihr Annahme findet, ein fehlerloses, männliches Tier von den Rindern, Schafen oder Ziegen darbringen.“ Einheitsübersetzung S. 118. Und Lukas 22, 19: „Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ S. 1189. Es ist exakt der Vers, bis zu dem der Text in der Koberger-Bibel berücksichtigt wird. 103 Auf einem Blatt, einer Vorstudie zum Kupferstich B74, von 1514, London British Museum, hat Dürer quer zur angedeuteten Waage, das ein geflügeltes Kind am Ring hält, folgende Notiz quer zur Zeichnung, man muss das Blatt drehen, links unter einander die Worte: „schlüssell, peudell“ und rechts davon „gwalt, reichtum“. Diese vier Wörter sind durch eine Omegaförmige Linie verbunden, in deren Mitte das Wort „bedeut“ steht. Dreht man das Blatt so, dass dieses „bedeut“ oben ist, so erkennt man die vier Wortpaare wie jeweils in eine Waagschale gelegt. Also: Schlüssel bedeutet Gewalt. Beutel bedeutet Reichtum. Oder: Schlüssel = Gewalt, Beutel = Reichtum. Durch die Skizze der Waage, die im Lot ist, versteht man nun die Gleichsetzung, was nicht mehr eine triviale sein kann, zumal zu dieser Skizze Buchstaben und eine Zahl gehören: Links von „peudell“ steht quer dazu „jj“, davon rechts zwei durchgestrichene Striche „II“, darunter die Zahl „60“ quer zu „bedeut“. – Ich nehme diese Skizze als „Formel“, um Begriffe gleichzusetzen wie „cameleon = Cristus = osterlam“ u.ä. – 104 Koberger-Bibel 1483, Blatt 507v, rechte Spalte (Abb. 14). Im Satzspiegel von 50 Zeilen beginnt sich ab Zeile 8 das Wort „osterlam“ sechsmal zu häufen bis Zeile 26. also: Z8, Z10, Z17, Z21, Z24, Z26. – Zweimal steht das „osterlam“ rechts am Zeilenende: Z08 und Z17 (Abb. 14), in den anderen vier Zeilen in Progression: einmal mehr rechts von der Mitte (Z10), dann links von der Mitte (Z21); in Zeile 24 in der Mitte, und zwar so, dass von Zeilenanfang bis r von „oster“ es 19 Buchstaben und von l „lam“ bis Zeilen100
388 ende „wan“ ebenfalls 19 Buchstaben sind: „sen mit euch ditz oster/lam ee den ich leyde wan“! Und Zeile 26 steht es links von der Mitte als das zweite Wort rechts von „dz“. – Die zwei „osterlam“ rechts aussen nehmen eine Sonderstellung ein, denn zwischen ihnen sind 8 Zeilen (von Z9 bis Z16), unterhalb von „osterlam“ (Z17) wiederum 8 Zeilen; mit dieser 8. Zeile (Z26) endet der Text, in dem das Schlüsselwort „osterlam“ vorkommt. Das heißt, dass hier eine „Waage“ vorgestellt werden muss, deren Mitte „osterlam“ (Z17) ist und deren Extreme (wenn man den Text wendet wie das Studienblatt 1514, London) die Zeile 8 („osterlam“ Zeilenende) und Zeile 26 („osterlam“ zweites Wort nach dem Anfang „dz“) sind. Also. >8 - „osterlam“ - 8< (oder: 8 o 8, oder 8 § 8 oder 8 = 8)! Diese „Waage“ ist als Waage geeicht, und insofern im Gleichgewicht, aber was in den Waagschalen ist, so ist sie unausgeglichen. Und das zeigen die Zahlen, wenn man die Zeilennummern jeweils addiert. Beeindruckend aber wird es erst, wenn man den Levitikus-Text gleichsam darüber legt, so dass die Zahlen für die Zeilen fortgezählt werden. Levitikus 11 endet mit Zeile 115. Dem entspricht also Lucas Z15. Lucas Z8 ist als 108. – Ist Zeile 17/117 die Mitte der Waage, so zählt sie zunächst nicht mit. Also: Links (oder vertikal oberhalb) davon Z108 und Z110, rechts davon Z121, Z124 und Z126. Links die Summe 108+110 = 218 und rechts die Summe 121+124+126 = 371. Das bedeutet: 218 ≠ 371. Die rechte Seite wiegt schwerer als die linke Seite. Die Differenz beträgt exakt 153 (= 371-218). 153 ist 9x17. Diese Zahl hat hohen symbolischen Wert, denn in der Heiligen Schrift im 21. oder letzten Kapitel des Johannes-Evangelium offenbart sich der auferstandene Christus seinen Jüngern am See von Tiberias. Der hier relevante 11. Vers lautet: „Da ging Simon Petrus und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es viele waren, zerriss das Netz nicht.“ (Einheitsüb. S. 1224 f.) – Vers 13 macht die Beziehung zu Lucas 22 evident: „Jesus trat heran, nahm das Brot und gab ihnen, ebenso den Fisch. 14 / Dies war schon das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern offenbarte, seit er von den Toten auferstanden war.“ – Als Hypothese formuliert: die Zahl 153 wäre die Erkennungszahl! – Auf die Lukas-Waage gelegt, folgt, dass 153 von 371 abgezogen und der linken Seite gegeben werden muss, um die Waage „gotes“ auszugleichen. Das „osterlam“ in der Mitte (Z117) hat zu wenig, um es leisten. Es fehlen 36. Und diese Zahl ist die Summe unserer Gleichung: „CAMELEON§LI … … … I … …“; in Zahlen ausgedrückt: „1+2+3+4+5+6+7+8 =(§) 10+11 … … … + 15 … …“, oder: 36 = 36“ und „CAMELEON§LI … … … I … …“ = „CAMELEON§… LII … … … …“ (153 = 153), weil die unsichtbaren Zahlengewichte mitgezählt werden (siehe oben). Das bedeutet, dass das Cameleon (Mensch) einspringen muss, um den Ausgleich mit der 117 (= 153) zu erreichen. Und genau dies sagt der kryptische Text: „in“ (Z108 Anfang) … „osterlam“ (Z108 Ende) … „wir“ (Z110 Ende) … „osterlam“ (Z117 Ende). Das „wir“ ist nun die Mitte, und mit „wir“ ist Jesus und seine Jünger, also die Einzelmenschen gemeint. 105 Blatt 507v, rechte Spalte, ich zähle die Zeilen von oben nach unten durch und zitiere jeweils Anfang und Ende der Zeilen, in denen das Schlüs-
389 selwort „osterlam“ vorkommt: Z8: „in … osterlam“; Z10: „m. … wir“; Z17: „dir … osterlam“; Z21: „tet … vergan“; Z24: „sen … wan(n)“; Z26: „dz … reych“. – Oder: „in … osterlam; m. … wir; dir … osterlam; tet (= würde tun, hatte getan) … vergan (vergehen, aufhören, enden, wird vergangen sein); sen (sehen, das Sehen) … wan (wenn); dz (das) … reych (reich, das Reich, reich sein, Reichtum, voll sein, alles haben). – 106 Siehe vorletzte Anmerkung. 107 Vgl. Lukas 24, 36-43 und Johannes 21, 1-14. 108 AD. Schriften und Briefe, Reclam-Leipzig 1993, S. 57. 109 In meinem Beitrag Omega-Zeit 1999 (wie Anm. 77), S. 63-80, habe ich den Text, der in der linken Tafel gemalt ist, bereits als eine verschlüsselte Botschaft erkannt und analysiert; vgl S. 69 f. – Damals war mir allerdings nicht klar, dass es sich zugleich um einen Wink handelt, wie die Schriftworte zu den Tafeln darunter gelesen werden sollen. 110 Vgl. dazu insbesondere G. Goldberg, B. Heimberg, M. Schawe, AD, Die Gemälde der Alten Pinakothek, Katalog, München 1998, S. 480 und 486 sowie S. 504 f. und vor allem S. 521 ff. mit der ausführlichen Darstellung der Bilder und Inschriften im Rahmen des erreichten Forschungsstandes. 111 Ich lasse jene Zeilen aus, die keine Bibelzitate sind! Dass ich trotzdem den ersten Passus, der mit „Alle“ beginnt, berücksichtige, rührt daher, dass ich mich nach den Zahlen richte, die noch ein Wort mit zugeordneter Zahl fordern, um die Summe von 1 bis 33 = 561 oder 11x51 (3x17) zu erreichen! – Die Wortteile von Zeilenanfang und -ende habe ich fett hervorgehoben, damit man bereits beim ersten Lesen darauf achten kann. 112 2. Petrusbrief, 2, 1-3. 113 1. Johannesbrief 4, 1-3. 114 2. Paulusbrief an Timotheus 3, 1-7. 115 Markus 12, 38-40. 116 1. Schritt: „Alle …“/(I.) „Es … Vnnd / verleucken … Durch / welche … von / lannger … nicht.“/ (II.) „Ir … die / wellt … ein / yetlicher … von / welchem … wellt.“ (III.) „Das … stoltz, / Hoffertig … auff- / geplasen,… wende / dich,… lusten / Lernnen … komen“/ (IV.) „Vnnd … auff / dem … fur / Dieselben … emphahen.“ – 2. Schritt: »33. „Alle …“; 1. „Es; 2. Vnnd; 3. verleucken; 4. Durch; 5. welche; 6. von; 7. lannger; 8. nicht; 9. Ir; 10. die; 11. wellt; 12. ein; 13. yetlicher; 14. von; 15. welchem; 16. wellt; 17. Das; 18. stoltz; 19. Hoffertig; 20. auff-; 21. geplasen; 22. wende; 23. dich; 24. lusten; 25. Lernnen; 26. komen; 27. Vnnd; 28. auff; 29. dem; 30. fur; 31. Dieselben; 32. emphahen.“« – 3. Schritt: »2+3+4+5+6+7 = vnnd verleucken durch welche von lannger / 8+9 = nicht Ir. / 10+11+12+13+14+15+16 = die wellt ein yetlicher von welchem wellt. // 17+18+19+20+21 = Das stoltz Hoffertig auff geplasen,/ +22 = wende // 23+24+25 = dich lusten Lernnen / 26+29 = komen dem / 27+28+30 = Vnnd auff fur // 31+32+33+1 = Dieselben emphahen Alle es.« (561 = 3x11x17)!
390 So wie das Blatt eines Buches, oder wie ein Stundenglas, dessen unteres „Aufgeblasene“ (= Glas) randvoll ist. Wenn es weitergehen soll, die Zeit z.B., dann muss man dieses Glas umwenden. Siehe das Stundenglas in B74. 118 Man wird hoffentlich Verständnis haben, dass ich im Rahmen dieses Beitrags nur soweit auf dieses komplizierte Gewebe von Bezügen eingehe, als es hilfreich erscheinen mag, die Frage zu beantworten, ob Dürer die philosophische Linie von 1514 bis in sein letztes grosses Werk (1526) durchgehalten hat oder ob er durch die Reformation völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Im Zusammenhang der Chamäleon-Problematik wäre ein Ja unter methodischer Rücksicht eine Bestätigung der hier vorgelegten Beweisführung. 119 Vgl. L. R., Omega-Zeit 1999 (wie Anm. 77), S. 69 f. und dort die Bildtafel 4. 120 Vgl. Markus 16, 16: „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“ 121 Koberger-Bibel 1483, Blatt 510v. (Nebenbei: 510=30x17). 122 Zum Textvergleich zitiere ich hier und im Folgenden aus der Einheitsübersetzung 1980: „1/Es gab aber auch falsche Propheten; so wird es auch bei euch falsche Lehrer geben. Sie werden verderbliche Irrlehren verbreiten und den Herrscher, der sie freigekauft hat, verleugnen; doch dadurch werden sie sich selbst bald ins Verderben stürzen. 2/Bei ihren Ausschweifungen werden sie viele Anhänger finden, und ihretwegen wird der Weg der Wahrheit in Verruf kommen. 3/In ihrer Habgier werden sie euch mit verlogenen Worten zu kaufen versuchen; aber das Gericht über sie bereitet sich schon seit langem vor, und das Verderben, das ihnen droht, schläft nicht.“ S. 1377. 123 „1/Liebe Brüder, traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgezogen. 2/Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch gekommen, ist aus Gott. 3/Und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Das ist der Geist des Antichrists, über den ihr gehört habt, daß er kommt. Jetzt ist er schon in der Welt.“ S. 1383. 124 Oratio, S. 11: „Denn siehst du einen Menschen, der seinem Bauche frönend auf der Erde kriecht, so is es nur ein Strauch, kein Mensch, was du siehst […] nur ein Tier, kein Mensch, was du siehst“. 125 „1/Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. 2/Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, ungehorsam gegen die Eltern, undankbar, ohne Ehrfurcht, 3/lieblos unversöhnlich, unbeherrscht, rücksichtslos, roh, 4/heimtückisch, verwegen, hochmütig, mehr dem Vergnügen als Gott zugewandt. 5/Den Schein der Frömmigkeit werden sie wahren, doch die Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen. Wende dich von diesen Menschen ab. 6/Zu ihnen gehören die Leute, die sich in die Häuser einschleichen und dort gewisse Frauen auf ihre Seite ziehen, die von Sünden beherrscht und von Begierden aller Art umgetrieben werden, 7/Frauen, die immer lernen und die doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen können.“ S. 1346. 117
391 „38/Er lehrte sie und sagte: Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, 39/und sie wollen in der Synagoge die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. 40/Sie bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Aber um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet.“ S. 1146. 127 Vgl. L. R. 1999 (wie Anm. 77), S. 69 f. und dort die Bildtafel 4. 128 „36/Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! 37/Sie erschraken und hatten große Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen. 38/Da sagte er zu ihnen: Was seid ihr so bestürzt? Warum laßt ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen? 39/Seht meine Hände und meine Füße: Ich bin es selbst. Faßt mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht. 40/Bei diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße. 41/Sie staunten, konnten es aber vor Freude immer noch nicht glauben. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier? 42/Sie gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch; er nahm es und aß es vor ihren Augen.“ S. 1193. 129 Vgl. Rupprich 1956 (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 128 ff. 130 Vgl. Rupprich 1956 (wie Anm. 13), Bd. 1, Brief Nr. 32, Dürer an Spalatin, 1520: „[…] der mir aws grossen engsten gehollfen hat“. Dieser Passus wird gerne zitiert, als hätte die neue Lehre des Reformators den Künstler Dürer aus Nöten um sein Seelenheil geholfen. Im Lichte der hier geführten Argumentation wäre es aber auch denkbar, dass Dürer aus Luthers Schriften, für die er sich anfangs so sehr interessierte, eigene „Verso-Texte“ zog, die Luther als einen, wenn man das so sagen darf, „Eingeweihten“ auswiesen. Was hätte Dürer wohl gedacht, wenn er in Luthers Bibelbersetzung (3. Mose 11, 1534, Blatt LXIX r) das „cameleon“ gar nicht mehr gefunden hätte? Nebenbei bemerkt, die Texte zu den Tafeln sind eine Lutherübersetzung! Wer meiner Interpretation zustimmt, kann sich denken, was dann Dürers Haltung gegenüber Luther war. Vielleicht erklärt sich daher, warum es aus dieser Zeit keine Äußerungen Dürers mehr zu dem Fall Luther gibt. 131 Siehe oben: „der ich byn eym (ihm ein) ich“. 132 „Idem (Democritus) … narrat … melancholicos autem sanari, si ex corio chamaeleonis sucus herbae Heleniae bibatur“ Nat. His. XXVIII, 1988, (Kapitel XXIX) S. 84. – Fettgedrucktes von mir, um die Anspielung auf Christus im Zusammenhang mit den präparierten Flügeln der Inschrift des Kupferstichs hervorzuheben. Die zitierte Stelle wird man in Dürers schriftlichen Nachlass nicht finden. Sie gehört in das Gedankenszenario, das ausschließt, dass man die realistische Möglichkeit verneint: Dürer habe ersten Plinius nicht gelesen, zweitens wenn gelesen, dann naiv rezipiert. Es mag nicht ohne Würze sein, dass, wo Plinius das Chamäleon ausführlich beschreibt, es ausgerechnet ein LI. Kapitel ist (Buch 8). – Zu Dürer und Plinius vgl. Rupprich 1966 (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 100, 102, 110. 126
392 „ Allein die Sanduhr an der Wand ist für sich ein unbegreifliches Meisterwerk. Wie hier mit geradezu mikroskopischer Genauigkeit das gebuckelte Glas, hinter dem der Sandstrahl herunterrinnt, in seiner Stofflichkeit geschildert wird, das ist von (un-)übertrefflicher Meisterschaft.“ Franz Winzinger, Albrecht Dürer, rororo Bildmonographien, Hamburg 1971, S. 104 f. 133
Dieter Harmening EIN SCHATZ AUS KÖNIGSBERG Hieroglyphische Bilder göttlicher Weisheit Im Juni 2005 wurde aus den verschütteten Kellern des verschwundenen Schlosses von Königsberg (Kaliningrad) von russischen Archäologen eine silberne Schatulle mit Medaillen, Plaketten und einem Fingerring geborgen. Die „rätselhaften“ Bilder, Zeichen und Worte, die die Gegenstände tragen, leiteten den Berichterstatter der ‚dpa‘ in einer Pressemitteilung auf den Gedanken von Requisiten „satanischer Rituale“ sprechen zu können. Die hier vorgelegte Analyse der Bilder und Zeichenmotive kann den „Hort“ jedoch einem „Gold- und Rosenkreuzer“ als Vorbesitzer zuordnen. Auf diesem Geheimbund des 18. Jahrhunderts verweisen die neuplatonisch-hermetisch-gnostischen Züge der Sammlung, wie sie in der Geheimgesellschaft thematisiert worden sind, insbesondere auch die astrologischen und alchemistischen Motive. Als Rosenkreuzer, der zugleich Verbindungen zum Preußenschloß in Königsberg besaß, kommt als Besitzer der Medaillenkollektion allein Friedrich Wilhelm II. in Betracht, Nachfolger Friedrich des Großen auf dem preußischen Thron (1786-97).
Am 16. Juni 2005 ging folgende Meldung durch den Äther: Rätselhafter Kultschatz im Kaliningrader Schloss gefunden [...] Russische Archäologen haben in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, in den verschütteten Kellern des Ordensschlosses einen rätselhaften Schatz geborgen. Bei Ausgrabungsarbeiten nahe dem Nordflügel fanden sie eine mehrere hundert Jahre alte Silberschatulle, deren Inhalt offenbar satanischen Ritualen diente (Abb. 2a-b). Die elf Amulette und filigran verarbeiteten Medaillen aus Gold, Silber, Kupfer und Zinn zeigen unter anderem Pentagramme und Darstellungen des Teufels außerdem unbekannte, an Engel erinnernde Gestalten und Abbildungen kultischer Handlungen. Besonders geheimnisvoll wirken die verschlüssel-
394 ten Inschriften in mehreren Sprachen, auch die etwa handtellergroße Schatulle selbst ist mit seltsamen Kreuzsymbolen und formelhaften Umschriften verziert. Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel [...] Nach der Restaurierung sollen die Gerätschaften des unbekannten Teufelsanbeters im Kunstgeschichtlichen Museum ausgestellt werden. Der Schatz umfaßt zehn Medaillen, zum Teil mit gleichen Bildmotiven, sowie einen Fingerring, der innen an der Schatulle befestigt war. Das Gefäß mit seinem Inhalt befand sich ehedem im Boden der Schloßkirche, mit dem es, als die Kellergewölbe in diesem Teil der Preußenburg in den 70er Jahren zerstört wurden, in die Keller des Schlosses stürzte. Der den Fund umgebende Bauschutt läßt die Ausgräber vermuten, die Sammlung habe sich ursprünglich in der Basis einer Säule der Kirche befunden, sei dort „versteckt“ worden. Daß die Fundstücke aus den Sammlungen der Museen des Schlosses stammen könnten, wird von den Archäologen vor Ort ausgeschlossen; dazu fehlten ihnen die üblichen Signaturen.
Der Fund Es liegt in der Natur vergleichbarer Bilder und Texte, wie sie der Königsberger Fund bezeugt, mißverstanden zu werden. Was hier vorliegt, hat auf den ersten Blick änigmatischen Charakter; was es zeigt, ist nicht das, was man sehen kann. Mittel zur Chiffrierung von Informationen sind seit der Antike zur Verdunkelung von Klartexten im Gebrauch. Sie dienten aber auch dazu, heiliges Wissen in Dunkelheit zu hüllen; denn das Heilige darf nicht profan gemacht, nur verrätselt darf es weitergereicht werden: „Es haben“, schreibt ein Autor des 18. Jahrhunderts, „die geheiligten Erz Väter und ersten Besitzer der göttlichen Weißheit, die hierdurch erlangte Erkänntnis natürl. und übernatürlicher Wissenschaften aus gerechter Furcht,
395 daß solche hohe Geheimnisse nicht unter die unwürdige ausgestreuet werden möchten, auf keine bessere Art, als durch die hieroglyphische zu verbergen gewußt, zu dem Ende sind alle Heiligthümer, Natur-Wunder und Revelationes, so sie von der höchsten Weißheit ererbt haben, so wohl per traditionem, als auch ad memoriam perpetuam mit solchen hieroglyphischen Bildern und Figuren, auf ihre berufene Söhne und auserwählte Nachkommenschaften gebracht worden.“1 Die „hieroglyphischen Bilder und Figuren“ finden sich in Zeugnissen der Offenbarungsliteratur und mythologisch-allegorisierenden Bildkunst, in den nicht weniger als heilig und offenbart erachteten Zeugnissen der Astrologie, Magie und Alchemie. Weithin antiker mediterraner und orientalischer Herkunft verpflichtet, finden sie in spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Zeugnissen besondere Beachtung. Ihre phantastischen Bilder und dunklen Texte beschreiben den Zusammenhang und die Konsequenzen eines kosmologischen Modells der Antike, näherhin des neuplatonischen, in dem alles in einer Hierarchie der Schöpfung von einem obersten göttlichen Prinzip seinen Ausgang nimmt und in dem alles, je nach seinem Stellenwert zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, mehr oder weniger am Göttlichen teilhat. Den Zusammenhang des Ganzen garantieren Götter, Dämonen und Engel, die als Mittelwesen die göttlichen Kräfte von oben nach unten leiten und von unten die Gebete und Bitten dem Oberen nahebringen. Auf vielfältige Weise ist dieses Weltmodell wirksam gewesen. Die Beschäftigung mit ihm zur Zeit der Renaisssance hat einerseits an die Schwelle des modernen, kausal determinierten Weltbildes geführt, andererseits hat es die pansophischen Spekulationen der Neuzeit begründet, wie sie etwa das Rosenkreuzertum kennzeichneten. Hier erscheinen schließlich die zahlreichen Götter, Dämonen und Engel wieder, wie sie die neuplatonische Kosmologie aus den antiken Religionen als Schöpfungspotenzen in ihr System eingefügt hatte. Schon ein erster Blick auf die Königsberger Fundstücke leitet
396 auf diese Zusammenhänge. Zuerst die auf ihnen verzeichneten Namen (soweit vor der Restaurierung schon zu identifizieren): ADONAY, SADDAY, AGATHON, HAGIEL, HANIEL, ASMODEL, RACIEL. Sie sollen, hier zusammengefaßt, einleitend kurz besprochen werden.2 ADONAI ist frühjüdischer Ersatz für den tabuisierten Gottesnamen ‚Jahwe‘3 und bedeutet ‚Der Herr‘, ‚Der König‘, ‚Der Allherr‘4. Den zauberischen Gebrauch des Namens bezeugen schon die griechischen Zauberpapyri5, Inschriften und Amulette. Auch später bleibt der Gottesname von magischer Relevanz.6 Sprachlich mit ‚Adonai‘ verwandt ist der Engelname ‚Adonael‘. Er erscheint häufig auf Amuletten.7 Auch SADDAY ist Gottesname. Er bedeutet ‚Der allmächtige Gott‘ und findet sich ebenfalls in zauberischen Texten und Zusammenhängen, oft mit ‚Adonai‘ verbunden.8 AGATHON, griech. ‚tò agathón‘, ‚das Gute‘, steht in der Wortverbindung ‚agathòs daímôn‘ für eine Segensgottheit, bei den (Neu)Platonikern für einen persönlichen Schutzgeist.9 In der Hermetik und der antiken Magie erscheint ‚Agathos Daimon‘ auch als ‚Nous‘10 und unterrichtet Hermes.11 Gottes- und Dämonennamen bezeugt die Königsberger Kollektion auch auf einem Medaillon, das Katharina von Medici zugeordnet wird: HAGIEL, HANIEL, ASMODEL. HAGIEL gehört in der neuplatonischen und dann auch in der späteren Astrologie zu den kosmischen ‚Intelligenzen‘, d.h. jenen Wesenheiten, die im Aufbau der Welt als Dämonen oder Engel die Sterne leiten. Mit Bezug auf Agrippa v. Nettesheim12 schreibt Will-Erich Peuckert: „Obgleich der höchste Schöpfer und die erste Ursache alles regiert und ordnet, so überläßt er doch die Sorge der Ausführung verschiedenen Dienern, sowohl guttätigen als unglückstiftenden, welche Johannes in der Offenbarung wohlwollende und schädliche Engel nennt ... [sic] Was aber Gott durch die Engel, wie durch Diener, ausführt, das tut er auch durch die Himmel und Gestirne, die gleichsam die Werkzeuge sind [...] Oder er schreibt: Die Philosophen nahmen an, daß die Himmel und Gestirne göttlicher Natur und lebendige
397 Geschöpfe seien, mit vernünftigen Seelen, die an dem göttlichen Geiste teilnehmen. Sie glaubten ferner, daß ihnen gewisse besondere Wesen vorstehen, andere aber untergeordnet seien, gleichsam als Regenten und Diener, die sie Intelligenzen und Dämonen nannten.“13 ‚Hagiel‘ wird die ‚Intelligenz‘ des Planeten Venus genannt. Sie verleiht diesem seine besondere Kraft und seinen spezifischen Einfluß. HANIEL (ANAEL) ist ebenfalls Name eines Engels sowie der Intelligenz oder auch des ‚Regenten‘ der Venus.14 Er erscheint in jüdischen und christlichen Zaubertexten des Mittelalters und der Neuzeit, insbesondere auch in solchen, die dem Schatzheben dienen.15 ASMODEL (ASMODAIOS, ASMODEUS, ASMODAI, ASMODI) heißt ein ‚böser Dämon‘16, in der späteren rabbinischen Literatur der ‚König der Dämonen‘ überhaupt.17 Nur erst partiell sind die Zeichen, Buchstaben und Namen einer Medaille zu entschlüsseln, deren Rückseite Buchstabengruppen in aramäischer Quadratschrift trägt (Abb. 3) und deren vordere Seite eine Art Weltenbaum zeigt, der mit planetarischen Siegeln und Charakteren18 aus dem unteren Bereich mit der Anrufung „Aue Raciel“ und den Namen „och“ und „ech“19 in den oberen mit den alles überragenden Majuskeln DEVS aufsteigt (Abb. 4). Auch die Schatulle, in der die Königsberger Kollektion verwahrt wurde, trägt als Inschrift unter ihrem Boden die gleichen Zeichen und Worte,20 wenngleich, durch das waagerechte Oval ihrer Form bedingt, in anderer Anordnung (Abb. 5). Vom Engel RAC[Z,S]IEL weiß die kabbalistische Überlieferung zu berichten, daß er dem aus dem Paradies vertriebenen Adam den Sefär Raziel (Buch des Engels Raziel, auch: Adamsbuch) übergeben habe (Abb. 6).21 Sein Name heiße: ‚Geheimnis Gottes‘ oder ‚Wissen der Göttlichkeit‘. In der heutigen Form des Textes handelt es sich um eine Sammlung mystischer Traktate über die Gottesnamen sowie um ein Verzeichnis von Amuletten.22 Das Buch habe Adam helfen sollen, „die Stufen der oberen Welt zu ergründen, alle sieben Wohnstätten [der Planeten]
398 zu durchstreifen ... [sic] alle Planeten zu umkreisen und ihren Gang zu beobachten ... [sic] Er wußte die Namen jedes einzelnen Himmels zu nennen ... [sic] und erfuhr die Namen der Dienstengel, zu welcher Tageszeit jeder waltet, und wie sie auf die Wünsche der Menschen hören, die sich ihnen in Reinheit zuwenden“ (Abb. 7).23 Mit ‚Och‘ ist im Arbatel, einem Zauberbuch des 16. Jahrhunderts, 24ein Planetengeist, also eine ‚Intelligenz‘, angesprochen. Er „verwaltet solarische Sachen“, d.h. es sind ihm die zur Sonne25 gehörenden Dinge untertan: „Er verlängert das Leben auf 600 Jahre bei guter Gesundheit, verleiht die höchste Weisheit, gibt und macht zu Freunden die vortrefflichsten Geister, lehrt die Arzneikunde vollkommen, verwandelt Alles in reines Gold und Edelsteine, gibt Geld und Goldes genug, und den er seines Charakters würdigt, der wird von den Königen und Fürsten der Welt hoch geehrt und werth gehalten.“26 Zusammenhang gewinnen die hier angesprochenen Züge jenseitiger Wesenheiten sowie ihre astrologisch-magische Bedeutung und Funktion vor dem Hintergrund der Tradition des schon genannten kosmologischen Modells der Antike, des neuplatonischen ‚Stufenkosmos‘. Ohne dessen Kenntnis bliebe das Ganze der Königsberger Sammlung unverständlich und abstrus.
Exkurs: Der Stufenkosmos Ein mit dem Seelenleben des Menschen verbundener Grundsatz zauberischen Denkens27 geht davon aus, daß ähnliche Dinge und Verhältnisse Wirkungen aufeinander ausüben: Wie die Affekte eines Menschen ähnliche bei einem anderen bewirken können (‚Lachen steckt an‘), so stellt man sich auch die Dinge der äußeren Welt nach Verhältnissen der Ähnlichkeit ‚sympathisch‘ (‚anziehend‘) oder ‚antipathisch‘ (‚abstoßend‘) aufeinander einwirkend vor. Zauberisches Handeln, das in dieser Vorstellung gründet, ist dann bildhaftes Handeln, in dem die Manipulation von Zeichen und Sachen etwas diesen Ähnliches bewirken soll (Gold
399 und Gelbsucht, Rot und Feuer, Fließen und Vergehen). Wo die Vorstellung einer wechselseitigen Wirkung von Ähnlichkeiten zum systematischen Prinzip des kosmischen Zusammenhanges gemacht wird, entsteht ein Weltbild nach strukturalen Gesichtspunkten, in dem die Dinge nach morphologischen Aspekten geordnet und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Die neuplatonische, theologisch-naturphilosophische Spekulation hat ein solches kosmologisches System sympathetischer Strukturen entwickelt. Diesem Modell zufolge sind alle Elemente des Kosmos in verschiedenen ‚Reihen‘ (griech. seirá ‚Seil‘, ‚Kette‘) geordnet, in denen von ‚oben‘, dem Bereich des Göttlichen, bis ‚unten‘, dem Bereich des Irdischen, die göttlichen Urbilder und Kräfte wirken (Abb. 8). Für das Verständnis der abendländischen Magietheorie ist die Kenntnis dieses Zusammenhanges unerläßlich. Proklos (ca. 410-484) hat ihn beschrieben: Der Schöpfer aller beseelten Wesen, selbst schon aus einem obersten Prinzip hervorgegangen, sei der Demiurg. Die beiden Endglieder in der Kette der beseelten Wesen bildeten einerseits die Götter, andererseits die sterblichen Menschen und Tiere auf Erden. Da es aber ganz unmöglich sei anzunehmen, daß der Schöpfer sofort und unmittelbar nach dem Göttlichen, der höchsten Stufe der beseelten Wesen, das Sterbliche, die tiefste Stufe, geschaffen habe, müsse man notwendigerweise Mittelglieder annehmen. Diese Zwischenwesen bildeten je eine Dreiheit; denn man unterschiede Engel, Dämonen und Heroen (Halbgötter). Die drei Arten hingen mit den übergeordneten Göttern zusammen, und um jeden Gott gäbe es eine ihm eigentümliche Anzahl von Engeln, Dämonen und Heroen, die dieser Gott führte, dessen Natur und Wesenheit sich wiederum in den ihm folgenden Mittelwesen spiegelte. Daher gäbe es so viele Arten von Engeln, Dämonen und Heroen als es Arten von Göttern gäbe. Die Dämonen ließen sich in verschiedene Klassen einteilen: Die einer ersten Klasse verbänden die präexistenten Seelen mit
400 ihren Sternen; die einer zweiten leiteten den Abstieg der Seelen in die Leiber und dann wieder den Aufstieg zum Göttlichen; die einer dritten vollzögen die Verbindung zwischen den Göttern und der sichtbaren Natur; eine vierte Klasse verliehe den verschiedenen Geschöpfen auf Erden Leben und Vernunft; eine fünfte wäre für das rein Körperliche der Geschöpfe zuständig; eine sechste schließlich bewahrte und behütete die unbelebte Materie und sorgte dafür, daß das hier schon matte Bild der göttlichen Ideen noch erhalten bliebe. Auf diese Weise seien sie auch Hüter und Bewahrer der alles miteinander verbindenden Sympathie. Wer nun Kenntnis hat vom Wesen der Götter, Engel, Dämonen und Heroen, wer weiß, welche Tiere, Pflanzen, Steine etc. ihnen sympathisch sind, wer endlich ihren Namen und die ihnen angehörenden Zeichen (‚Siegel‘, ‚Charaktere‘) kennt, der kann sie alle in seine Dienste zwingen.28 Magische Wirksamkeit zu entfalten, heißt im Sinne dieses Modells, sich der göttlichen Einflüsse und Kräfte zu bedienen, die in den verschiedenen Elementen des Kosmos gegenwärtig sind und deren Natur dem Zweck entspricht, den man verfolgt. Venus etwa und die ihr zugehörigen Reihenelemente werden für alles die Liebe Betreffende in Anspruch genommen oder Mars für Zwecke des Streites, Krieges, Todes u.ä. Unbestrittene Autorität der Lehre vom Zusammenhang des ‚Oberen‘ und des ‚Unteren‘ ist Hermes Trismegistos, ‚Der Dreimalgrößte Hermes‘, ein mythischer Weiser Ägyptens und fiktiver Autor verschiedener Schriften (Corpus Hermeticum29), insbesondere der Tabula smaragdina30 – ein dunkler Text, der aus einem Grab in Ägypten und aus den Händen eines Toten geborgen worden sein soll und dessen Spuren, wie sich zeigen wird, bis in die Zeichenwelt und Satzfragmente des Königsberger Fundes reichen. Zurück zum Fund: Geheimnisvoll-dunkel und somit schon auf den ersten Blick von hermetisch-magischer Relevanz muten die beiden Seiten der Medaille an, auf denen menschliche und
401 tierische Gestalten sowie mensch-tierische Mischwesen und zahlreiche kryptografische Zeichen zu sehen sind (Abb. 9 u. 10). Es ist der Talisman der Katharina v. Medici (1519-1589; Abb. 11)31. Er soll, der französischen Königin aus ihrer Kinderlosigkeit zu helfen, nach dem Entwurf des königlichen Leibarztes, Jean Fernel (1485-1558), angefertigt worden sein oder als „ein Erinnerungsmoment“ an die drei Schwangerschaften der Königin, die nach Befolgung der ärztlichen Ratschläge Fernels32 erfolgten, gedient haben. Es gibt nur wenige Nachbildungen (mit Varianten) von der Medaille. Sie wird als der „kostbarste Talisman“ beschrieben, „den wir besitzen“33. Auf der Vorderseite der Medaille ist rechts, thronend, mit dem Lilienzepter in der rechten Hand, Iuppiter abgebildet. Zwischen seinen Beinen hockt der Adler des Ganymedes. Die Szene erinnert an den antiken Mythos von Ganymed, der als schönster unter den Sterblichen von einem Adler oder auch von Zeus auf den Olymp entführt wurde, wo er in ewiger Jugend die Götter erfreute, Geliebter des Göttervaters wurde und diesem als Mundschenk diente. Die erotischen und homoerotischen Züge der Erzählung treten besonders in der antiken Lyrik hervor. Römische und dann vor allem christliche Autoren kritisieren das Verhältnis von Zeus und Ganymedes heftig. Die Geschichte galt ihnen als „Beispiel sexueller Ausschweifung“34. Iuppiter gegenüber steht Venus mit einem Spiegel in der linken und mit einem abwärts gerichteten Pfeil in der rechten Hand. Als astrologisches Motiv stellt es die Konjunktion von Venus und Iuppiter dar.35 Auch die Rückseite der Medaille dient der Darstellung des Venerischen. In der Mitte sieht man die vogelköpfige Venus. Agrippa v. Nettesheim beschreibt die Gestalt: „Von den Operationen der Venus machten sie [die Alten] zur Erlangung von Huld und Wohlwollen in der Stunde der Venus, wenn sie in den Fischen aufstieg, ein Bild, das eine Frau mit einem Vogelkopf und Adlerfüßen darstellte, die einen Pfeil in der Hand hielt.“36 Die Engel- bzw. Dämonennamen verweisen ebenfalls auf die Göttin der Liebe: HAGIEL ist, wie oben erklärt, die ‚Intelligenz
402 der Venus‘, und auch HANIEL bezieht sich auf die Sphäre der Venus in der himmlischen Welt37. Die uns ungeläufige Ikonographie der Venus kennt schon der Picatrix, ein arabisches, 1256 ins Lateinische übersetztes Zauberbuch aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Es hat Agrippa v. Nettesheim in zahlreichen Fällen als Quelle gedient. Dort heißt es: „Man graviert für Venus [...] das Bild einer Frau mit einem Apfel in der rechten und einem Kamme, ähnlich einer Tafel, in der linken Hand [...] Das Bild hat den Leib eines Menschen mit dem Gesicht eines Vogels und den Füßen eines Adlers. Dieses Bild macht seinen Träger bei allen Leuten beliebt“38. Ganz unten, zu Füßen der Göttin wird ASMODEL genannt,39 der König der Dämonen und der wollüstigen Lüsternheit.40 Als zentrales Motiv erscheint Iuppiter auf einer Medaille, wie sie die Abbildung 12 zeigt: Der Gott sitzt mit erhobenen und gefalteten Händen auf einem Thron, der von vier geflügelten Gestalten, Viktorien41, auf den Schultern getragen wird. Agrippa v. Nettesheim sowie der Picatrix geben auch zu diesem Motiv Auskunft: „Noch ein anderes Jupitersbild“, bemerkt Agrippa, „machten sie [...] und zwar die Gestalt eines nackten, gekrönten Mannes, der mit erhobenen und gefalteten Händen wie ein Bittender auf einem vierfüßigen Stuhle saß, welcher von vier geflügelten Knaben getragen wurde. Dieses Bild soll zu noch größerem Glück, Reichtum und Ansehen verhelfen, Wohlwollen und guten Erfolg verschaffen und von den Feinden befreien“42. Im Picatrix heißt es dazu: „Man graviert für ihn [Iuppiter] das Bild eines Mannes mit einer Krone auf dem Haupte, auf einem Throne mit vier Füßen, deren jeder auf dem Nacken eines stehenden Mannes steht, die Männer haben Flügel, und er hat betend die Hand erhoben [...] Die Wirkung dieses Siegelringes für seinen Träger ist, daß er sein Ansehen und seinen Wohlstand vermehrt, ihn Reichtum erwerben läßt und ihn in einen wohlgeordneten Zustand versetzt, ihm viele Kinder beschert und sie behütet und ihre Zahl vermehrt und alle Angelegenheiten so erledigt, wie es am besten ist, und daß er für seinen Träger alle
403 nützlichen Werke, die er unternimmt, zustande kommen läßt und die List seiner Feinde abwehrt, sowie daß durch ihn der Träger Erfolg hat, wenn er sich einer Sache hingibt, und vor Anschlägen seines Feindes sicher ist.“43 Der Fingerring (Abb. 13) trägt am äußeren und inneren Reif verschiedene Zeichen sowie auf der Platte ein komplexes Zeichengebilde. Die Unterseite der Ringplatte trägt, auf den Fotografien nicht abgebildet, die Namen: ADAM auf der einen sowie EVA auf der anderen Seite der Reifanheftung. Auf dem äußeren, stark korridierten Reif sind, in zwei Gruppen, nurmehr einzelne Buchstaben und Worte zu erkennen: QVI VOCATI s E[STIS] (‚Die ihr berufen seid‘; Abb. 14) und Q[V]I [...] DIXIT (‚Der [...] gesagt hat‘; Abb. 15). Der innere Ringreif zeigt eine ‚Armillarsphäre‘44 mit dem Himmelsband des Tierkreises (Abb. 16). Als Attribut erscheint sie in der Hand des Hermes Trismegistos45 (Abb. 17). Die Ringplatte (Abb. 13) ist kreisförmig und zeigt ein inneres und äußeres Kreisfeld. Das Innere läßt auf der linken und rechten Seite jeweils einen geneigten Zweig und unten drei bogenförmige Felder mit aufgesetzten Kreuzen erkennen. Im äußeren Ringfeld erscheint oben ein ‚Reichsapfel‘. Darunter befindet sich das Bild zweier Eideshände. Im unteren Bogenbereich läßt sich von zwei Textzeilen lesen: O DEVS CREATOR OMNES CRE [...] (‚O Gott Schöpfer, alle [Geschöpfe?] [...]‘). Das kann auf den Anfang eines Textes verweisen, der dem Bild des Hermes Trismegistos im Fußbodenmosaik der Kathedrale von Siena beigegeben ist (Abb. 18): DEUS OMNIUM CREATOR (‚Gott Allschöpfer‘).46 Auch anderes der Ringplatte hat Bezüge zur hermetischen Tradition, näherhin zur Tabula smaragdina. So erinnern bestimmte Motive sowie der zweizonige Bildaufbau an ein Emblem, das als Verbildlichung der Tabula angesehen wurde (Abb. 19).47 Mit diesem verbindet das Königsberger Bild der Ringplatte die Zweizonigkeit, das Motiv des Reichsapfels sowie insbesondere die beiden Eideshände am gleichen Ort des Bildaufbaus. Am Königsberger Ring ist allerdings nicht erkennbar, was diese beeiden. Ein Kommen-
404 tar in den Geheimen Figuren der Rosenkreuzer48 zu Abb. 19 erklärt, die Beeidigung versichere den gemeinsamen Ursprung der Metalle, also deren Möglichkeit, ineinander verwandelt werden zu können.49 Die unteren Bogenfelder (Schilde?) mit aufgesetzten Kreuzen mögen auf die alchemistische Dreiheit von Mercurius (Quecksilber) – Sulphur (Schwefel) – Sal (Salz) verweisen,50 im gezeigten Emblem wiedergegeben durch drei Wappenschilde mit Adler, Löwe und Stern.51 Der Reichsapfel bezeichnet die Einheit von Himmel, Erde und den vier Elementen, wie wiederum der genannte Kommentar bezeugt: „Himmel und Erd, vier Element,/ Feur, Luft, Wasser darinnen seindt“52.
Der Stein der Weisen Eine Schlüsselrolle zum Verständnis der Sammlung besitzt die Medaille, auf der zwei Männer gezeigt werden, die mit erhobenen Schwertern auf einen thronenden König eindringen. Sie ist in drei, in Einzelheiten der umrahmenden Zeichen von einander abweichenden Exemplaren vorhanden (Abb. 20a-b). Die Schwertkämpfer tragen den Flügelhelm des Merkur. Rechts befindet sich als merkuriales Attribut der Heroldsstab mit zwei sich ringelnden Schlangen. Links von der Gruppe erscheint eine komplexe Zeichenkombination. Die Szene stellt einen Königsmord dar. Ein solches Motiv ist von der alchemistischen Bildüberlieferung häufig bezeugt und wird u.a. als ‚Mortificatio‘ (Abb. 21) bezeichnet.53 Mord und mörderische Zerstückelungsszenen gehören zum Grundbestand des alchemistischen Bilderschatzes. Sie gründen im Mythos von Tod und Wiedergeburt, Sterben und Auferstehen, und allegorisieren die Reduktion der Stoffe auf die Ursubstanz, aus der alles hervorgeht, und den ‚Stein der Weisen‘, der alles verwandelt.54 Auf das Verwandlungsmotiv deutet auch der Schlangenstab des Merkur: „Dies sind die beiden Schlangen, welche um den Heroldsstab des Mercurius festgemacht sind, vermittels derer er
405 seine große Macht erweiset und sich verändert in was für Gestalten er will“55. Eine solche Definition macht für den ‚Stein‘ mehr als seinen Charakter deutlich, Grundsubstanz eines chemischen bzw. metallurgischen Prozesses zu sein. Sie legt den Gedanken vom ‚Geist‘ nahe, ‚der weht, wo er will‘ und erinnert an Bedeutungslehren, die dem Stofflichen immer auch ein Geistiges zu entfalten suchen: Die Rede vom ‚Stein der Weisen‘ hat doppelte Bedeutung, eine, die auf das Stoffliche, und eine, die auf das Geistige geht: (1) Als „ein Mittel“, wie Agrippa v. Nettesheim ihn beschreibt, „zur Benützung aller natürlichen und übernatürlicher Kräfte“56 gilt er als alchemistisch wirksames Agens, das im Labor hergestellt werden kann. Dabei werden zumeist vier, gelegentlich und in Analogie zu den sieben Tagen der biblischen Schöpfungswoche, sieben Prozeßphasen durchlaufen: Durch Fäulnis und Verwesung wird eine Ausgangssubstanz in ihre Grundbestandteile zerlegt. Durch Erhitzung werden diese wieder zusammengefügt. Zwei weitere Stufen des Prozesses heißen ‚Gelbung‘ und ‚Rötung‘ des Retorteninhalts mit dem Gewinn eines rötlichen Pulvers, das die gelungene Herstellung des ‚Steins‘ anzeigt. Das Verfahren folgt dem Prinzip von Trennung und Vereinigung (‚solve et coagula‘), von Analyse und Synthese. (2) Die Kenntnis und der Besitz des ‚Steins‘ ist in mystischer Weise Folge der Teilhabe des Adepten an Geheimnissen, die Gott dem weisen, wahrhaft gläubigen, sittlich hochstehenden Menschen gewährt. Die Suche des ‚Steins‘ konnte so als eine Nachfolge Christi betrachtet werden. Wie dieser den sündigen Menschen, so erlöst der Alchemist die ‚unreifen‘ und ‚kranken‘ Metalle und führt sie zu ihrer vollkommenen Form. Die Suche nach dem ‚Stein der Weisen‘ führt also in zwei Richtungen und ihre Bedeutung ist ambivalent. Einerseits gilt sie der Vervollkommnung des Adepten, dem Streben nach Naturund Gotteserkenntnis. Andererseits sucht der Alchemist im Labor nach der Methode, den ‚Stein‘ zu erzeugen. Im Bild vorgestellt, erscheint der Alchemist unter diesem Doppelaspekt im Laboratorium als Arbeiter, im Oratorium als Beter (Abb. 22).
406 Alchemie ist Technologie und Ideologie von Anfang an und schon an ihrem ersten Ort, den Tempelwerkstätten Ägyptens.57 Hier entsteht im 1. Jh. n. Chr. die Alchemie als ein Wissens- und Techniksystem einer hellenistisch gebildeten Priesterschaft. Nur diese war im Besitz des Wissens, in dem die Alchemie gründet: Babylonische Astrologie und ägyptische Mythologie, aristotelische und stoische Theorie der Materie, Vorstellungen der Gnosis, aber auch in Verfahren praktischen Laborierens. Ziel der ägyptischen Tempel-Alchemie war es, Gold herzustellen. Denn der Besitz und der Erwerb natürlichen Goldes reichte nicht aus, den Bedarf der Tempelwerkstätten zu decken. Schon an ihrem Anfang war Alchemie eine Goldmacherkunst. Die frühen Schriften der Alchemie sind in griechischer Sprache verfaßt, oft sagenhaften Autoren zugeschrieben: Pseudo-Demokrit, Bolos von Mendes, Zosimos, Agathodaimon und insbesondere eben auch Hermes Trismegistos, auf den die Königsberger Sammlung Bezug nimmt. In diesen Schriften erscheinen die chemischen Vorgänge allegorisiert und zum Mythos der Verwandlung des Stoffes gekehrt, zu einem Bericht von Zeugung und Leben, von Tod und Auferstehung oder Wiedergeburt. Den Metaphern zugrunde liegt die Vorstellung von der Einheit der Schöpfung, die den Gedanken der Verwandelbarkeit der Dinge ineinander begründet. Im 8. und 9. Jahrhundert wird die spätantike Alchemie bzw. ihr Lehrsystem, von arabischen Autoren rezipiert und weiter entwickelt und gelangte seit dem 12. Jahrhundert, ins Lateinische übersetzt, aus der arabischen Welt ins Abendland und ist hier mit christlichem Gedankengut verbunden worden. Doch es wollte nicht gelingen, das ersehnte Gold im Labor zu erzeugen. Daß man nur golden Schimmerndes zustande brachte, wußten schon die ägyptischen Tempel-Alchemisten und damit, daß ihre Goldmacherkunst trügerisch war. Man mußte weiterlaborieren, mischen und legieren, schmelzen und scheiden – eine nie aufhörende Mühe, seit damals bis in die neueste Zeit hinein. Und die Laborversuche kosteten viel Geld.
Abb. 1: Schloßkirche Königsberg – Foto: Kraus-Kopf, Königsberg, Postkarte Königsberg (2007)
Abb. 2a: Der Königsberger Fund, Ansicht A – Foto: Igor Sarembo, Königsberg; ‚Der Spiegel‘: 66AS7317.
Abb. 2b: Der Königsberger Fund, Ansicht B – (wie Abb. 2a) 66AS7321.
Abb. 3: Kabbalistische Buchstabengruppen in aramäischer Quadratschrift (wie Abb. 2a) 66AS7271.
Abb. 4: Der Zusammenhang der planetarischen Welt, des Oberen und des Unteren – (wie Abb. 2a) 66AS7272.
Abb. 5: Unter dem Boden der Schatulle, die den Fund enthielt. Wie Abbildung 4, um 90° in die Waagerechte gedreht – (wie Abb. 2a) 66AS7306.
Abb. 6: Der Engel Raciel überreicht den ‚Sefär Raciel‘ – Flora Macallan, Engel, o.O.u.J., 57.
Abb. 7: Alchemistische Planetenzeichen – Basilius Valentinus, bei: H.-E. Fierz-David, Die Entwicklungsgeschichte der Chemie, Zürich 21952, Schrifttafel III (Ausschnitt).
Abb. 8: Die ‚Weltseele‘ verknüpft alles miteinander – Frontispiz zu Robert Fludd, Utriusque cosmi historia 1, Oppenheim 1617, bei: A. Roob, Das hermetische Museum. Alchemie und Mystik, Köln u.a. 1996, 503.
Abb. 9: Vorderseite: Die astrologische Konjunktion von Venus und Iuppiter (wie Abb. 2a) 66AS7287.
Abb. 10: Rückseite: Venus. Zu ihren Füßen steht: ASMODEL, der Name des ‚Dämons der wollüstigen Lüsternheit‘ – (wie Abb. 2a) 66AS7286.
Abb. 11: Die Medaille der Katharina von Medici, Königin von Frankreich, Dr. Grange, Paris, Medical 1912.
Abb. 12: Iuppiter von Viktorien auf die Schultern gehoben – (wie Abb. 2a) 66AS7249.
Abb. 13: Der Fingerring des Fundes (Ringplatte) – (wie Abb. 2a) 66AS7296.
Abb. 14: Auf dem äußeren Reif steht: QVI VOCATI E[STIS] (vgl. 1 Kor 1,9 u.ö.) – (wie Abb. 2a) 66AS7302.
Abb. 15: Auf dem äußeren Reif: Q[V]I [...] DIXIT – (wie Abb. 2a) 66AS7304.
Abb. 16: Im inneren Reif: Die ‚Armillarsphäre‘, das Schema der Himmelsbahnen. Durch das kreisrunde Loch war der Ring an der Schatulle (Abb. 5) festgemacht – (wie Abb. 2a) 66AS7229.
Abb. 17: Die ‚Armillarsphäre‘ ist Attribut des Hermes Trismegistos – Michael Maier, Symbola aureae mensae, Frankfurt 1617, bei: St. Klossowski de Rola, The Golden Game. Alchemical Engravings of the Seventeenth Century, New York 1988, Abb. 81.
Abb. 18: Giovanni di Stefano, 1488: Hermes Trismegistos im Fußbodenmosaik des Domes von Siena: DEUS OMNIUM CREATOR – B. Santi, Der Marmorfußboden von Siena, Florenz 1982, Abb. 1.
Abb. 19: Die ‚Tabula Smaragdina‘ des Hermes Trismegistos im Rätselbild: „Wahrhaftig ohne Lügen gewiß, und auf das allerwahrhaftigste, dies, so Unten, ist gleich dem Obern, und dies, so Oben, ist gleich dem Untern, damit man kann erlangen und verrichten Wunderdinge eines einigen Dinges [...]“ – Anonymus, Geheime Figuren der Rosenkreuzer, aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert, Heft 1-2, Altona 1785 u. 1788, ND in einem Bd., Berlin 1919, 8.
Abb. 20a: Aus dem alchemistischen Bilderschatz: Die Tötung des Königs (Morticatio) – (wie Abb. 2a) 66AS7266.
Abb. 20b: Variante zu Abb. 20a – (wie Abb. 2a) 66AS7245.
Abb. 21: „Diesen König tödten zu handt / Zehn Jüngling auß dem Bawernstandt“ – Stoltzius von Stoltzenberg, Chymisches Lustgärtlein, 1624, ND Darmstadt 1987, LXXXVIII. Figur.
Abb. 22: Unter dem Doppelaspekt des ‚Ora et Labora‘ erscheint der Alchemist im Laboratorium als Arbeiter, im Oratorium als Beter – Heinrich Khunrath, Amphitheatrum sapientiae aeternae, 1612, bei: H. Borggrefe, V. Lüpkes, H. Ottomeyer (Hrsg.), Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa, Eurasburg 1997, Abb. 380.
Abb. 23: „Der nach Urtheil und Recht gestraffte Goldmacher [...] kame [...] zu seinem Unglück endlich an den Königlichen Preußischen Hoff“ – Flugblatt, 1709: UB München, W 4 Jus 166 # 10.
Abb. 24: Friedrich Wilhelm II. v. Preußen – Eduard Vehses Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes, des Adels und der Diplomatie vom großen Kurfürsten bis zum Tode Kaiser Wilhelms I. Fortgesetzt von Vehse redivivus 2, Stuttgart 1901, 23.
Abb. 25: Hans Rudolf v. Bischoffwerder (1741-1803) – (wie Abb. 24) 44.
Abb. 26: Johann Christoph v. Wöllner (1732-1800) – (wie Abb. 24) 48.
Abb. 27: Herzog Friedrich August v. Braunschweig-Oels (1740-1805) – (wie Abb. 24) 53.
Abb. 28: Friedrich Wilhelm II. als Kronprinz in der Ordenstracht der Rosenkreuzer – M. Schmidtke, Königsberg in Preußen. Personen und Ereignisse 1255-1945 im Bild, Husum 1997, Abb. 259.
Abb. 29: Das Hexagramm gehört auch zu den „Symbolischen oder Losungswörtern [der Gold- und Rosenkreuzer] um sich damit zu erkennen zu geben“, B. Beyer, Das Lehrsystem des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer, Leipzig/Berlin 1925, ND 1978, o.S.
Abb. 30: Das Hexagramm des Königsberger Fundes ist nicht nur Symbol der Vereinigung des Oberen mit dem Unteren, es ist als solches auch Losungszeichen der Gold- und Rosenkreuzer – (wie Abb. 2a) 66AS7293.
Abb. 31: Auch das Pentagramm (Drudenfuß) ist als Symbol des Lichtes rosenkreuzerisch-freimaurerisches Grundzeichen – (wie Abb. 2a) 66AS7291.
Abb. 32: Zur Aufnahme in den Orden der Gold- und Rosenkreuzer bekam der Kronprinz ein Amulett geschenkt, das er fortan am Halsband trug. Allerdings erwies sich das ‚Band‘ bei einer Inaugenscheinnahme in Königsberg als ein geochtener Draht, den niemand gern am Halse trüge – (wie Abb. 2a) 66AS7270.
440 Zahlreiche Goldmacher meldeten sich in nachmittelalterlicher Zeit bei Hofe, um den immerzu klammen Barockfürsten das Gold zum Leben und Repräsentieren zu beschaffen, wobei die hoffnungsvollen Anwärter auf unermeßliche Reichtümer fast den Rest ihres Vermögens in fruchtlose Versuche investierten und verloren und dafür die ‚betrügerischen‘ Goldmacher und Alchemisten am Galgen erhängten, allen zur Warnung mit goldenem Flitter beklebt und bekleidet (Abb. 23). Zumeist glaubten die höfischen Goldmacher wohl an ihre Kunst und wohl auch nicht weniger ausgeprägt als ihre Auftraggeber. Immer meinten sie, nur wenige Schritte vom Ziel entfernt zu sein, kurz vor der Entdeckung des ultimativen Kniffs. Mancher Gold-Alchemist versuchte in seinen Tiegeln, das Gold sich selbst ausbrüten zu lassen, mußte allerdings zum Start dieses Prozesses erst einmal reelles Gold in seine Gefäße einbringen. Wurde so etwas entdeckt, lag der Betrugsverdacht nahe. Grundsätzlich jedoch blieb die Möglichkeit, Gold im Labor zu produzieren, unbezweifelt. Wo in Preußen der falsche Graf aus Italien und Goldmacher Cajetan aufgehenkt wurde, versuchte sich nicht viel später selbst Friedrich der Große als Goldmacher58 und betrat dann noch im selben Jahrhundert der vielleicht berühmteste Adept die Bühne: Kronprinz und nachmaliger König von Preußen, Nachfolger Friedrichs des Großen auf dem Thron: Friedrich Wilhelm II. Die Beharrlichkeit der Alchemistensuche war philosophisch legitimiert. Sie gründete in der aristotelischen Elementenlehre, der zufolge alle Dinge aus einer ihrer Art gemäßen Mischung der 4 Elemente (uneigentlich: Feuer, Wasser, Luft, Erde) bestünden und die Elemente ihrerseits durch Wechsel ihrer Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) ineinander verwandelbar seien.59 Die Alchemisten konnten sich bei ihren Transmutationsversuchen auf diese Lehre stützen. Damit war zugleich die astrologische Erklärung der Metallqualitäten (z.B.: Merkur / Quecksilber, Sonne / Gold) um Momente der aristotelischen Naturphilosophie erweitert. Dieser zufolge sind allerdings die vier Elemente nicht
441 etwas nicht mehr hintergehbares Primäres, sondern gründen in einer formlosen ‚Urmaterie‘, ohne jegliche Eigenschaft (‚Materia prima‘) sowie in je zweien der vier Qualitäten. Den Gedanken einer eigenschaftslosen ‚Urmaterie‘ erweiterten die Alchemisten dann allerdings entschieden durch Anfügung der Vermutung, man könne die Urmaterie im Labor herstellen und aus ihr prinzipiell alle Dinge, insbesondere das ersehnte Gold hervorgehen lassen.
Gold- und Rosenkreuzer Erst mit der Entwicklung der empirischen Chemie im 18. Jahrhundert geriet die Alchemie ins wissenschaftliche Abseits. Doch blieben ihre „hieroglyphischen Bilder“ und dunklen Texte der Deutung in esoterischen Zirkeln erhalten. In Deutschland war es besonders der Geheimbund der freimaurerischen ‚Gold- und Rosenkreuzer‘, der in seinen Betrachtungen und Ritualen die alchemistischen Symboltraditionen aufgegriffen hatte und alchemistisch laborierte. Einzelne Motive der Königsberger Sammlung verweisen auf Vorstellungswelten und Bildtraditionen dieses Bundes und machen die Annahme der Herkunft der Kollektion aus dessen Milieu geradezu zwingend: Die hermetischen Züge, die Thematisierung alchemistischer Goldmachergedanken sowie die Erörterung des ‚Steins der Weisen‘ muß auf einen ‚Gold- und Rosenkreuzer‘ als Besitzer leiten, der die Sammlung auch in der Königsberger Schloßkirche hätte niederlegen können. Infrage kommt wohl allein Friedrich Wilhelm II. v. Preußen (Abb. 24). Als ‚Rosenkreuzer‘ bezeichnen sich Mitglieder historisch nicht immer unmittelbar miteinander verbundener Geheimgesellschaften vom 17. Jahrhundert an bis in die Gegenwart.60 Ihre Lehre gründet in hermetischen, neuplatonischen, gnostischen und kabbalistischen Überlieferungen, wie sie während der Renaissance wieder zugänglich gemacht und von christlicher Gei-
442 stigkeit umgeformt worden sind, ihre Organisation entspricht der freimaurerischen Logenstruktur. Den Namen ihres Bundes leiten sie von dem fingierten Christian Rosenkreuz als Gründungsvater ihres Ordens her, darüber hinaus sehen sie ihren Bund im Zusammenhang mit dem geistlichen Ritterorden der Templer oder suchen seine Ursprünge noch in biblisch-mosaischer Zeit. Doch ist bislang nicht einmal eine direkt-kontinuierliche Herkunft des Gold- und Rosenkreuzerbundes vom Bund der älteren Rosenkreuzer zu erweisen.61 Über Christian ‚Rosencreutz‘ (sic) schreibt 1742 Zedlers Universallexikon62: „Er soll ein Fränckischer von Adel, und seiner Profeßion nach ein Mönch gewesen seyn. Die Rosencreutzer geben vor, er sey 1378, oder wie andere wollen, 1388 oder 1383, und nach einiger Meynung 1387 in Deutschland gebohren. Er soll sich sehr auf die mystische Gottesgelahrtheit geleget, und im 16[.] Jahre seines Alters eine sonderbahre Erleuchtung des heiligen Geistes überkommen haben. Hierauf sey er als ein Pilgrim ins gelobte Land, ingleichen nach Arabien und Egypten kommen, und daselbst von den Orientalischen Weisen in den geheimen Wissenschafften unterrichtet worden. Endlich aber sey er mit vielen Schätzen, und insonderheit dem grosen Geheimnise des Steins der Weisen wieder zu Hause angelanget, und habe die bekannte Gesellschafft gestifftet. Er soll 1484 gestorben, und also über hundert Jahr alt worden seyn.“ Die Gestalt ist eine Erfindung des Tübinger Theologen Johann Valentin Andreae, und aus dessen Freundeskreis stammen auch jene Schriften, auf die sich die Lehre der ‚Rosenkreuzer‘ zurückführen läßt: Die Allgemeine und General Reformation, der gantzen weiten Welt. Beneben der Fama Fraternitatis, Deß Löblichen Ordens des Rosencreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben etc. (Kassel 1614), die Confession oder Bekandnuß der Societet und Brüderschafft R. C. An die Gelehrten Europae (Kassel 1615) und die Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459 (Straßburg 1616). Der Name ‚Rosenkreuz‘ bezieht sich auf das Wappen Martin
443 Luthers, von dem sich auch das Wappen Andreaes ableiten läßt:63 In beiden findet sich die Vereinigung von Kreuz und Rose. Die Schriften sind geprägt von Vorbehalten gegen die starre Orthodoxie der lutherischen Amtskirche und dem Streben nach Reform der christlichen Gesellschaft im Sinne eines überkonfessionellen Humanismus sowie der Absicht auf Erneuerung der schulischen und universitären Bildungspraxis. Als philosophische Basis ihrer Lehre und als Instument ihrer bildungspolitischen Absichten dienten ihnen hermetisch-neuplatonische Gedanken, wie sie der Florentiner Platonismus entdeckt hatte, die aber auch schon über die Brücke arabischer Rezeption griechischer Philosophie in mittelalterlicher Zeit in Europa wieder bekannt geworden waren und die in zahlreichen Verästelungen astrologischer, magischer und alchemistischer Literatur und Bildkunst bis in die Gegenwart transportiert worden sind, ihren besonderen Einfluß aber gerade im 18. Jahrhundert entfalteten, mitten in der Aufklärung und wohl in gewollter Opposition zu dieser. Dem ‚älteren Rosenkreuzertum‘, das u.a. infolge des 30jährigen Krieges zum Erliegen kam, folgte ein ‚mittleres‘ mit dem Arzt Robert Fludd (1574-1637) in England und sodann in Deutschland der Orden der ‚Gold- und Rosenkreuzer‘. Er wurzelte in der französichen Freimaurerei, konnte sich aber auch auf eine Schrift des schlesischen Predigers Samuel Richter (Sincerus Renatus) stützen, der schon 1710 (31741) im Anhang seiner alchemistischen Schrift über Die Wahrhaffte und vollkommene Bereitung Des Philosophischen Steins Statuten einer ‚Brüderschafft des Gülden und Rosen-Creutzes‘ veröffentlicht hatte.64 Zahlreich und längst nicht völlig entflochten sind die Verbindungen zwischen den verschiedenen Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts, schon längst nicht hinsichtlich ihrer lokalen und regionalen Spielarten. So kann, was Karl R.H. Frick, ausgewiesener Kenner der Szene, über die Freimaurer des 18. Jahrhunderts ausführt, auch für die Gold- und Rosenkreuzer der Zeit, und für diese vielleicht mit noch größerem Recht, gelten:
444 Lessing, der sich 1771 aus einer gewissen Neugier in den Freimaurerbund aufnehmen ließ, hat in seinen Freimaurergesprächen „Ernst und Falk“ die Situation der Freimaurerei seiner Zeit treffend zu bezeichnen gewußt: „Der eine will Gold machen, der andere will Geister beschwören, der dritte will die Tempelherren wieder herstellen“. Er nennt die Brüder Freimaurer zwar „Träumer“, bescheinigt ihnen aber ein „Streben nach Wirklichkeit“. Goldmachen, Geister beschwören und Tempelritter zu sein, war ein Wunsch vieler Freimaurer im Zeitalter der Aufklärung. Sie unterschieden sich hierdurch in keiner Weise von den Mitgliedern anderer, meist in freimaurerähnlichen Logen organisierten Geheimgesellschaften. Die geistige Situation in den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 18. Jahrhunderts eignete sich besonders für eine Renaissance alchemistischer und okkultistischer Spekulationen […] Vom Zeitgeist beeinflußt, bestand auch bei zahlreichen Intellektuellen, darunter Theologen, Ärzten und Naturwissenschaftlern, das Bedürfnis, nach dem Stein der Weisen oder wenigstens nach einem Lebenselixier, nach einer Verbindung mit dem Verborgenen, dem Okkulten, zu suchen. Scharlatane und Gaukler benutzten gelegentlich die Gläubigkeit dieser Menschen. Aber auch ehrlich und aufrecht von der Kunst des Goldmachens und der Geisterbeschwörung Überzeugte prägten den Charakter ihrer Epoche. Berühmte Männer haben Alchemie betrieben, sich mit der Theosophie und Pansophie rosenkreuzerischer Überlieferung, mit magischen und spirituellen Praktiken beschäftigt. Ihre Biographen nahmen hiervon meistens keine Kenntnis, wohl aus „Schamgefühl“ und wegen der schwerlich zum offiziellen Charakterbild ihres „Heroen“ passende Tätigkeit. Die vielleicht häufig unbewußte und verdrängte Sehnsucht nach Erforschung des Irrationalen, nach dem Wissen um das Verborgene in der Natur hat viele Geister – wenn auch meistens nur für eine kurze Zeitspanne ihres Lebens – gebannt.65
Einerseits mag das Engagement der geistigen Elite ihrer Zeit in der romantischen Vorstellung gründen, Ritter eines Ordens mit ‚uralter‘ Tradition zu sein, andererseits wurde der ‚uralten‘ Tradition ein ‚uraltes‘, geheimes, geoffenbartes, göttliches Wissen parallelisiert, aus dunklen Quellen geschöpft und einer Erklärung, die der Orden versprach, bedürftig. Wo die Aberglaubenspolemik der Aufklärung Amulette, Zaubertexte etc. in der Hand der Leute verhöhnte, ersparte sie den gleichen Zeugnissen im Gebrauch der elitären Welt ihrer Zeit zumeist die Kritik, nannte sie kaum einmal. Der Geheimorden der Gold- und Rosenkreuzer war weithin eine deutsche Erscheinung.66 Seine Blütezeit erlebte er zwischen
445 1756 und 1787 in Norddeutschland, insbesondere in Preußen, näherhin in Berlin (Loge ‚Zu den drei Weltkugeln‘, 1740). Zwar sind die Organisation, die Ziele, auch die Wirkungen der Berliner Loge nicht insgesamt bekannt; doch ist deren Absicht auf politische Einflußnahme schon den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. Insbesondere sollte auf den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm II. Einfluß genommen werden. Eine Kampagne zu diesem Zweck nahm Ausgang von der Berliner Ordenselite, dem nachmaligen Generalleutnant und Minister Hans Rudolf v. Bischoffwerder (1741-1803; Abb. 25), dem nachmaligen Staatsministers Johann Christoph v. Wöllner (1732-1800; Abb. 26) sowie dem Herzog Friedrich August von Braunschweig-Oels (1740-1805; Abb. 27). Zwar sind somit die Versuche, politischen Einfluß zu nehmen, personalisierbar, gründen letztlich aber doch in den spezifischen Absichten des Ordens selbst,67 näherhin in dessen Absicht auf Weltverbesserung. Die Aufnahmekriterien des Bundes sowie die beschworenen Pflichten der Ordensbrüder, wie sie etwa das Instruktionsbuch Von obristbrüderlicher Wahl (1777) beschreibt, lassen daran keinen Zweifel.68 Sie zielen auf bedingungslosen Gehorsam gegenüber den ansonsten unsichtbaren Ordensoberen, die Pflicht jedes ordensrelevante Geheimnis zu offenbaren und den Bundesbruder zu bespitzeln. Die Spitze dieses Systems stellten die Oberen dar, die unbekannt und unfehlbar waren, denen absoluter Gehorsam entgegengebracht werden mußte und deren Stellung nicht angezweifelt werden konnte noch durfte. Diese Männer waren von so „hoher Macht und Gewalt; zu erhaben, als daß sie von den Bbrn. der untersten Stufen erkannt, oder ihre wahre eigenthümliche Größe beurtheilet werden könnte“ […] Diesen Obern nicht gehorchen zu wollen, sei eine Schande. „An ‚Ihnen‘ ist es also zu ‚befehlen‘, und an uns ist es zu ‚gehorchen‘ “. Gewarnt wurde vor jedem Schatten des Mißtrauens gegen diese erhabenen Oberen […] Der bloße Versuch, den Obern irgendwelche Geheimnisse vorenthalten zu wollen, war nicht nur sträflich, sondern auch unnütz, denn die Obern waren allwissend, ihnen konnte nichts entdeckt werden, was sie nicht vorher schon wußten, gleichwohl war der einzelne Bruder zu einer Anzeige alles eigenen Wissens verpflichtet, er war genötigt, etwaige Pflichtverletzungen anderer Brüder umgehend und vollständig den Oberen mitzuteilen. Das einer solchen Herr-
446 schaftsausübung notwendige Spitzel- und Denuntiationswesen war also fest institutionalisiert. Die totale Öffentlichkeit, in der die Mitglieder für die Oberen standen, korrespondierte so der totalen Geheimhaltung, mit der sich die Oberen gegenüber den Mitgliedern umgaben. Der einzelne Bruder sollte willenloses Werkzeug in der Hand der gottähnlichen Ordensoberen sein, die oben erwähnte „Abtödtung der Eigenheit“ war also nicht nur mystisch-asketischer Natur, sondern ebenfalls ein Herrschaftsinstrument des Ordens, als dessen Eigentum sich der Bruder bekennen mußte.69
Wenn die Berliner Gold- und Rosenkreuzer versuchten, den preußischen Kronprinzen zu keilen, so lag das also nicht nur an den unbestreitbaren politischen Karrieremotiven der Ordenselite dort, sondern ganz entschieden auch im Interesse des Ordens selbst. Die Methoden zu diesem Zweck waren nicht immer geradezu sauber. Das war aber nichts Ungewöhnliches im Orden und in dessen Umkreis. Hier sei nur auf Cagliostro hingewiesen, der im kurländischen Mitau, nicht weit von Königsberg entfernt, als spanischer Graf und Oberst auftrat, sich als Freimaurer ausgab und seine Blendwerke und Betrügereien vorführte. Die kurländische Gräfin Elisa von der Recke, ehedem glühende und intime Anhängerin des geistreichen Zauber- und Wundertäters, hat sich dann, von ihrer Jüngerinschaft geheilt, publizistisch mit dem Betrüger auseinandergesetzt. Ihre Schrift zeigt allerdings nicht nur Lug und Trug auf, sondern läßt auch die naive Gläubigkeit der Zeit an Geister, Spuk und alles Jenseitige erkennen, ohne die die Betrügereien gar nicht möglich gewesen wären. Ein, allerdings polemisch gesinnter, Zeitgenosse aus Königsberg, stellt zudem auch die Gräfin als eine Frau vor, die allen Manifestationen des Jenseitigen zugetan sei und „die so sehnlich Geister zu sehen wünschte, daß sie dazu die Nächte auf den Kirchhöfen verschwärmte“70. Auch den preußischen Kronprinzen führte man hinters Licht. Der preußische König Die Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. (1786-1797) wird nicht günstig beurteilt. Stichworte hierzu wären: Zweite (1793)
447 und Dritte (1795) Teilung Polens sowie die dadurch bedingten Spannungen zwischen Preußen und Österreich. Insbesondere, und in dem hier erörterten Zusammenhang wichtig ist es, die Beendigung der friderizianisch-rationalistischen Aufklärung durch das Religions- und das Zensuredikt (9.7.1788) seines Justizministers, Ministers des Geistlichen Departements und Bundesbruders Johann Christoph v. Wöllners hervorzuheben. Es sollte Preußen gegen die ‚zügellose Freiheit‘ der Aufklärung positionieren und reichte immerhin so weit, 1794 auch Immanuel Kant zu maßregeln. Kritik, eher moralisierend-pamphletistischer Art, fanden dazu die „wenig disziplinierte Persönlichkeit“ Friedrich Wilhelms, seine Mätressenwirtschaft („vielfach der rohesten und ausschweifendsten Sinnlichkeit“71) und eben auch seine spiritistischen Neigungen. Friedrich Wilhelm war, wie viele hochmögende Zeitgenossen, von der Aufklärung wenig gehindert, von der Wirklichkeit einer jenseitigen Geisterwelt überzeugt, die sich um ihre noch lebende Verwandtschaft kümmerte, und von der diese Auskünfte und Hilfen zu erlangen suchte. Das spiritistische Repertoire des Ordens der ‚Gold- und Rosenkreuzer‘ mußte politisch ambitionierte Mitglieder nahezu zwingend darauf leiten, damit Einfluß auf entsprechend gelagerte Gemüter unter der Obrigkeit nehmen zu können, wie es dann dem Orden in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch gelang. Es war im Bayerischen Erbfolgekrieg. Auf dem Rückzug des preußischen Heeres machte der Kronprinz Friedrich Wilhelm mit seinen Truppen im Herbst 1778 in Schatzlar Quartier. Dort kam es zu einem merkwürdigen Ereignis, das Hans-Joachim Neumann als „eine Art Damaskuserlebnis Friedrich Wilhelms auf seinem Weg in den Orden“ bezeichnet hat.72 Seine Darstellung folgt der Skizze, die 1930 Paul Schwarz in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins vorgelegt hat: Am 14. September 1778 trat das preußische Heer den Rückmarsch aus Böhmen an, nicht besiegt, aber ohne Kriegsruhm. König Friedrich hatte eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld nicht gesucht; auch sein Gegner nicht, der von gedeckter Stellung aus sich auf das Beobachten beschränkt
448 hatte. Der Bayerische Erbfolgekrieg wurde nunmehr in diplomatischen Verhandlungen zum Austrag gebracht […] Während der drei Wochen im Lager ging mit dem Prinzen eine auffallende Veränderung vor sich. Am 25. September trat er in sein 35. Lebensjahr. Es war, als ob er ein anderer Mensch geworden, als ob er zu einem neuen Leben geboren wäre. Der sonst überaus lebenslustige, lebensfrohe Mann wurde ernst, in sich gekehrt, schwermütig. Ihn mag, wie jeden braven Preußen, der Mißmut über den Ausgang des Feldzuges niedergedrückt haben; seine Gedanken mögen häufig bei der fernen Geliebten geweilt haben, bei Wilhelmine Enke, die ihrer Niederkunft entgegensah; aber die Hauptursache seiner Wesensveränderung war die Erweckung religiöser Gefühle. Mitglieder des Rosenkreuzerordens, höhere Offiziere, hatten diese Gefühle in ihm geweckt, hatten ihn zu strenger Sittlichkeit gemahnt, hatten ihm den Weg zu Gott gewiesen und ihm dessen merkliche Gnade verheißen. Das hatte auf ihn gewirkt, er war in sich gegangen, hatte sich entschlossen, den Weg zum wahren Gottesgnadentum zu beschreiten. Merklicher Zeichen des Höchsten durfte er, wie ihm versichert wurde, gewärtig sein. Und ein solches Gnadenzeichen, eine Berufung zu den Auserwählten Gottes, ward ihm zuteil. Im Dämmerschein des Abends saß der Prinz in seinem Zelt, von der Welt abgekehrt, in sich versunken. Da fährt er erschreckt zusammen. Er hatte gefühlt, daß sich eine Hand sanft auf seine Schulter gelegt hat. Das Gnadenzeichen des Höchsten! Dann vernimmt er das leise gesprochene Wort: Jesus! Also der Heiland selbst ist da und gibt ihm das Zeichen des Herrn, das ihm die Aufnahme in den Kreis der Erwählten verheißt. Hätte er sich umgesehen, so würde er den Herzog Friedrich August von Braunschweig73 erblickt haben. Aber umdrehen darf er sich nicht. Das dürfen die Gläubigen nicht, wenn sie solche merklichen Zeichen an sich verspüren.74
So begleitet, schritt die Vorbereitungszeit auf den Ordensstand rasch voran. Auf den Namen Ormesus Magnus gewissermaßen neugetauft, wurde der Prinz von Preußen am 8. August 1781 in den geheimen Bund aufgenommen (Abb. 28). Allein drei Ordensbrüder waren Zeugen der feierlichen Handlung: Herzog Friedrich August v. Braunschweig, der Darsteller des Erlösers, mit Ordensnamen Rufus, Oberst v. Bischoffwerder, genannt Farferus, sowie Johann Christoph v. Wöllner, der spätere preußische Staatsminister und Chef des Departements der geistlichen Angelegenheiten, Heliconus und auch Chrysophiron mit Ordensnamen. Heliconus hielt die Einführungsrede. „Nach einer längeren gebetförmigen Einleitung“, so weiter Paul Schwartz,
449 führte er dem Prinzen zu Gemüte, daß er heute in einen Orden eintrete, der sich die Ehre des Schöpfers und das wahre Glück der Mitmenschen zum Ziele setze und deshalb mit besonderen Gnadenbezeigungen bedacht werde. Die höchsten Vorsteher des Ordens seien sehr gute, von Gott für den Prinzen auserwählte Freunde, die, längst von aller Sünde entfernt, das Ebenbild Gottes wiedererlangt haben. Darum haben sie Licht im Verstande, Heiligkeit im Willen, Körper ohne Gebrechen. Alle Wunderkräfte der Propheten und der Apostel seien in ihren Händen. Der Redner erinnert den Prinzen an den wunderbaren Vorgang im Lager bei Schatzlar, wodurch er berufen worden sei. Er könne die Bestimmung eines der höchsten Vorsteher des Ordens, eines heiligen und kraftvollen Mannes, zu seinem Führer als ein Zeichen ansehen, daß ihn der Orden schätze, hoch und wert halte. Ein solcher mächtiger Geleitsmann (gemeint war Bischoffwerder), der von dieser Stunde an dem König herzlich liebe, der Beschützer seiner Seele sei, täglich kraftvoll für ihn bete, täglich ihn kraftvoll segne, werde sein Werk nicht unvollendet lassen. Der Prinz wird zur Folgsamkeit gegen diesen seinen Führer ermahnt, denn dessen Rat werde allemal der Rat Gottes sein. Gott nämlich würdige stets den Orden seiner näheren Offenbarung und handele unmittelbar durch den Orden zum Besten seiner Mitglieder. Zum Schluß wird auf die Wichtigkeit dieses Bündnisses mit Gott und auf die Bedeutung des hochheiligen Ordenseides hingewiesen, durch den die Gelübde der Taufe erneuert werden. Wie der Orden nie sein Wort breche, so erwarte er, daß ein Mitglied die bei der Aufnahme eidlich angelobten Zusagen nicht breche. Keine Macht auf Erden könne diesen Eid, diesen mit Gott geschlossenen Bund lösen, der eine wichtigere Alliance sei, als alle Reiche der Erde bieten können.75
Dann leistete Friedrich Wilhelm II. den Aufnahmeeid und bekam die Instruktion zur ersten Klasse des „preiswürdigen Ordens vom goldenen Rosenkreuz“ überreicht. Beyer schreibt in seinem Lehrsystem, daß als Ausweis der „juniores“, wie er die Angehörigen der ersten Klasse auch nennt, ein „Brustzeichen“ gelte,76 das ein Hexagramm zeige und das aus einer Mischung von Anteilen aller Metalle bestehe. Sie bedeute das Chaos; also jenen stofflichen Urzustand, aus dem der rosenkreuzerische Alchemist das edelste Metall, das Gold, hervorgehen lassen will (Abb. 29). Die Hexagramm-Plakette des Königsberger Fundes darf als ein solches „Brustzeichen“ angesehen werden. Sie ergäbe damit einen letzten Hinweis auf einen Gold- und Rosenkreuzer als Vorbesitzer der Kollektion (Abb. 30). Auch das Pentagramm (Abb. 31) ist Symbol der Rosenkreuzer: Als fünfzackiger
450 Stern, aus dessen Winkeln Strahlen hervorbrechen, ist er der ‚Flammende Stern‘, ein Symbol des Lichtes.77 Zuletzt erhielt, wie zur Besiegelung des Bundes, der Kronprinz ein Amulett geschenkt, das er von nun an an einem roten Band auf der Brust trug.78 Die Fotografien der Königsberger Sammlung zeigen in Abb. 32 ein Amulett am Band, und es läge nahe, dieses mit dem genannten gleichzusetzen, wenn sich das ‚Band‘ bei einer Inaugenscheinnahme79 nicht als ein geflochtener Draht erwiesen hätte, den niemand gern am Hals trüge. Doch schon zur Zeit der Aufnahme Friedrich Wilhelms in den Orden der Gold- und Rosenkreuzer war der Geheimbund im Niedergang begriffen, ein Jahr nach der Thronbesteigung des Prinzen „wurden alle ‚offiziellen‘ Aktivitäten des Ordens eingestellt und in der Mitte der neunziger Jahre war er von der Bildfläche verschwunden“. Entscheidend dafür waren die Mißerfolge beim Goldmachen. 1787 wurde im Orden ein Experiment vorbereitet, das der mystischen Vervollkommnung der Adepten dienen sollte. Der später als Professor an der Artellerieschule in Berlin und seit 1810 an der Universität dort tätige erste Lehrstuhlinhaber für Chemie, Martin Heinrich Klapproth (1743-1817), selbst Ordensmitglied, riet jedoch davon ab und wies nach, daß das Experiment das ganze Haus, in dem es veranstaltet würde, in die Luft sprengen müsse. Herzog Friedrich August v. Braunschweig-Oels, in dessen Palast die Versuchsanordnung aufgebaut war, wurde nun überzeugt, daß er es bei den Experimentatoren „mit unreellen Leuten zu thun habe, ließ das Laboratorium niederreissen und den Zirkel auflösen“. „Der Umstand, daß von den großen Versprechungen kein einziges in Erfüllung ging, machte schließlich auch die gläubigsten Jünger“ des mystischen Bundes „stutzig“. Seit „1784 hatte sich auch von Wöllner immer mehr aus der Logenarbeit zurück(gezogen)“. „Er hatte auf Ungeahntes gehofft, auf geheime Weisheit, übernatürliche Kräfte, die sich ihm auf den höheren Stufen des Ordens offenbaren sollten: die Offenbarungen blieben aus.“80 In einer ähnlichen Situation der Enttäuschung mag sich auch der König von Preußen befunden haben.
451 Für andere ging die Suche, auch nach Aufgabe aller Hoffnungen auf alchemistische Goldmacherkünste, weiter. Sie nahmen Mittel zur Hilfe, von denen man gerne glaubt, sie wären, als eine Art ‚magischer Volksbücher‘, nurmehr für literarisch eher anspruchslose Gemüter erzeugt: Zauberbücher und Höllenzwänge sollten nun helfen, Schätze zu heben, die tief unter der Erde liegen, von Drachen und schwarzen Hunden bewacht, in Höhlen zu blinkenden Haufen getürmt. Der betrügerische Magier Johann Georg Schrepfer, von dem Bischoffwerder Zauberapparate geerbt hatte, hat alte Zauberbücher sorgfältig studiert und in sein Handexemplar des Dr Johann Faustens Miracul-, Kunst- und Wunderbuch zahlreiche Bemerkungen und Notizen eingetragen.81 Daß man Zutrauen zu diesen und anderen Texten der Zauberbuchliteratur fassen konnte, wird an Zügen gelegen haben, die diese mit der gelehrten Magieliteratur gemeinsam hat, kommt sie doch schließlich auch von dieser her und gründet so, wenn auch verballhornt und verhunzt, mit dieser in der spekulativen Kosmologie neuplatonisch-hermetischer Provenienz; und man begegnete zahlreichen jenseitigen Gewährsleuten und Helfern wieder, die man schon kannte, insbesondere den vertrauten Gottes-, Dämonen- und Engelnamen.
Bewertung und Zuordnung Hinsichtlich des Zeitraumes, in dem die Sammlung zustandekam, kann als terminus post quem der Tod Katharinas v. Medici, der französischen Königin, gelten (5.1.1589). Vor diesem hätte man kaum den persönlich-intimen ‚Talisman der Katharina v. Medici‘ nachbilden können. Die Amulett- und Medaillensammlung der Art, wie sie vorliegt, wäre somit vor dem Hintergrund einschlägiger Geistesbeschäftigungen der folgenden Zeit zu besprechen. Für diese Zeit verweisen die neuplatonisch-hermetischen Züge der Sammlung auf rosenkreuzerisches Milieu. Gestützt wird eine solche Zuordnung der Sammlung zudem
452 durch die Hexagrammplakette (Abb. 30). Die Zuweisung an den Orden macht als terminus ad quem für die Aufgabe der Sammlung bzw. ihrer Niederlegung die Zeit der Einstellung gold- und rosenkreuzerischer Aktivitäten naheliegend. Diese Vorgänge sind für das Jahr 1787 bezeugt, als aufgrund der erfolglosen Goldmacherversuche sich der Bund auflöste. Als Gold- und Rosenkreuzer der Zeit, der zugleich Verbindungen zur Preußenburg besaß, kommt als Besitzer des Hortes, wie bemerkt, allein Friedrich Wilhelm II. in Betracht. Schon die Motivik der Sammlung selbst hat Bezug auf einen Kronprinzen und späteren König, wenn man sie vor dem Hintergrund der klassischen Texte Agrippas v. Nettesheim interpretiert: Ein künftiger König sollte sich wohl die Wirkungen erhoffen, die der Amulettgebrauch der Sammlung verhieß: Freundschaft zu den trefflichsten Geistern zu stiften und höchste Weisheit zu erlangen, zu Ansehen und Erfolg zu verhelfen, Feinde abzuwehren und vor deren Anschlägen sicher zu machen, Ehre bei Fürsten und Königen zu erlangen. Und schließlich, für einen König und Kriegsherren noch wichtiger: Reichtümer zu gewinnen und Gold und Edelsteine anhäufen zu können. Auch die Iuppiter-Medaille verweist auf königliche Hoffnungen: Von Viktorien, Siegesgöttinnen, auf die Schultern gehoben zu werden. Sehr privaten Interessen mag der ‚Talisman der Katharina v. Medici‘ gedient haben. Er ist ein Liebesamulett. Darauf verweist nicht nur die Gestalt der Venus auf der Vorder- und Rückseite der Medaille, sondern auch das Motiv ‚Iuppiter und Ganymed‘. Die Nennung der Venusgeister Haniel und Hagiel stützt diese Bedeutung; aufs stärkste schließlich die Anrufung des Dämons der Lüsternheit schlechthin: Asmodel. Der Wunsch nach Kindersegen, wie er für den Gebrauch des Amuletts durch Katharina galt, ist nicht unmittelbar zum Ausdruck gebracht. So wie die Medaille konzipiert ist, soll sie sexuelles Verlangen bewirken. Die erst in jüngster Zeit von Wilhelm Bringmann zurückgewiesene82, seit dem 18. Jahrhundert bis auf unsere Tage reichende
453 Wahrnehmung einer potenten Libido des Königs würde den Besitz der Medaille, gewissermaßen als astrologisch-magisches Aphrodisiakum, erklären können. Liebeslust und Goldgewinn scheinen, insgesamt betrachtet, die thematischen Schwerpunkte der Sammlung auszumachen. Doch würde eine solche Reduktion den wesentlichen Aspekt der Sammlung übersehen, unter einem Doppelaspekt zu stehen, wie er sich bei Erörterung der Bedeutung des Motivs vom ‚Stein der Weisen‘ zeigte. Denn der Gewinn des ‚Steins der Weisen‘ ist nicht nur Bedingung erfolgreicher Goldmacherei; er wird auch als Garantie der Auserwähltheit des Adepten vor Gott – das meint das QVI VOCATI ESTIS – empfunden; er bezeugt nicht nur die Läuterung des Adepten an Geist und Herz, sondern dessen Gottesebenbildlichkeit. Auf diesen Doppelaspekt, der der Rede vom Gold des Alchemisten innewohnt, läßt sich beziehen, was Friedrich Ohly über den sympathetischen Zusammenhang des Oben und Unten, von Makrokosmos und Mikrokosmos, von Welt und Mensch im Sinne traditioneller Bedeutungslehren formuliert: „Die Sonne im Kosmos und das Gold in der Erde korrespondieren mit dem Herzen im Menschen“83. Damit stellt sich die Frage nach dem Vorgewicht und der Wertschätzung der Sammlung seitens ihres Besitzers. Gilt sie allein als Zeugnis astrologisch-medizinisch und alchemistisch‚naturwissenschaftlich‘ legitimierter Erfolgserwartungen im Bereich des Realen? Oder implizierte ihr Gebrauch nicht auch den allegorischen Gehalt der Dinge, ihre spirituelle Bedeutung? Von einer solchen Frage geleitet, wird man die Niederlegung der Schatulle mit ihren Einzelstücken im Boden der Schloßkirche von Königsberg nicht als ein „Verstecken“ verstehen, sondern als eine ‚Deponia pia‘ beschreiben wollen, ein Begriff, mit dem ein sakrales Abtun von Devotionsgegenständen bezeichnet ist, deren frömmigkeitsrelevanter Gebrauch sich erledigt hat. So motiviert, erweist die Niederlegung die Gegenstände primär als Requisiten eines Frömmigkeitslebens, bezeugt zugleich aber auch die Suspendierung der Ordenspflichten, die v. Wöllner dem
454 Prinzen vor Augen gestellt hatte; die dann aber einem König bedrohlich erscheinen mußten. Die ‚Deponia pia‘ in der Schloßkirche von Königsberg erscheint nicht nur als ein Zeichen der Frömmigkeit, sondern auch als eines königlicher Autonomie. Anmerkungen B. Beyer, Das Lehrsystem des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer (= Hiram-Edition 8), Leipzig/Berlin 1925, S. 211. 2 Vgl. A.M. Pachinger, Ein Talisman der Katharina von Medicis. In: Mitteilungen der Bayerischen Numismatischen Gesellschaft 32/33 (1914/15) S. 52-72. 3 G. Dalman, Der Gottesname Adonaj und seine Geschichte, Berlin 1889. – E. Peterson, Engel- und Dämonennamen. Nomina barbara. In: Rheinisches Museum für Philologie NF 75 (1926), S. 396 f. 4 Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (RGG) 1, 3. Aufl., ed. H. Frhr. v. Campenhausen u.a., Tübingen 1986, S. 98; Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike (DNP) 1, Stuttgart 1996, S. 120. 5 D. Harmening, Wörterbuch des Aberglaubens (WdA), Stuttgart 2005, S. 471-473. 6 A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter 2, Freiburg/Brsg. 1909, S. 497 u.ö. – Ein Beispiel mag den Gebrauch dieses Namens, vermehrt um weitere, ähnlich wirksame, deutlich machen. Es handelt sich um einen Diebsbann: „Bete: Satan du verfluchter Teufel hast du gehört die Macht Adonay unsers großen Gottes, so mußt du durch die Macht Adonay unsers großen Gottes, so mußt du durch die Gewalt Jehova alsobald den Dieb oder Diebin in diesem N.N. gestohlen, zwingen und peinigen, daß er es wieder bringen muß in mein N.N. Haus, Immanuel hat dir zu befehlen, Sada treibe dich samt dem Dieb oder Diebin in mein Haus, Ischiros zwinge dich, Agios Imperator Dominus Gott Alphaet Omega schicke seine himmlische Gewalt, Cherubim und Seraphim diese gewaltige Himmels-Fürsten St. Michael, St. Gabriel, St. Sephael [= Raphael], St. Uriel, der durchsichtige und durchdringende Medator sey Mittler zwischen dir und uns, hiermit beschwöre ich dich Dieb oder Diebin, daß du gehorsam bist und solltest gleich gehorsam seyn, wie der Blitz gehorsam dem allmächtigen Gott; darzu verhelfe mir Gott Vater, Sohn und heiliger Geist“, Ps.-Albertus Magnus, Bewährte und approbirte sympathetische und natürliche egyptische Geheimnisse für Menschen und Vieh, 2. Teil, Braband (um 1834), S. 19, bei A. Spamer, Romanusbüchlein. Historisch-philologischer Kommentar zu einem deutschen Zauberbuch. Aus seinem Nachlaß bearbeitet von J. Nickel, Berlin 1958, S. 250. – ‚Adonai‘ zur Beschriftung von Zauberrequisiten nennt G.C. Horst, Zauber-Bibliothek von Zauberei, Theurgie und Mantik, Zauberern, Hexen, und Gespenstern, und 1
455 Geistererscheinungen. Zur Beförderung einer rein-geschichtlichen, von Aberglauben und Unglauben freien Beurtheilung dieser Gegenstände, 1. Teil, Mainz 1821, S. 123-128. 7 Peterson, Engel- und Dämonennamen (wie Anm. 3), S. 394. 8 So etwa in einer Beschwörung bei Petrus v. Abano, Heptameron, bei Agrippa v. Nettesheim, Opera 1-2, Lyon 1600[?], ND 1970, 1, S. 570; dt.: Heinrich Cornelius Agrippa’s von Nettesheim Magische Werke sammt den geheimnißvollen Schriften des Petrus von Abano, Pictorius von Villingen, Gerhard von Cremona, Abt Tritheim von Spanheim, dem Buche Arbatel [...] in’s Deutsche übersetzt 1-5, Berlin 1916, S. 125: „Kommet bei dem Namen Adonai, Zebaoth, Adonai, Amioram; kommet, es gebietet euch Adonai, Sadai, dessen Macht keine Kreatur entfliehen kann: erscheinet freundlich vor diesem Kreise, sonst harret eurer schwere Strafen in dem ewigen Feuer. Kommet also im Namen Adonai, Zebaoth, Adonai Amioram; kommt! Eilt! Was säumt ihr? Euch befiehlt Adonai Sadai, der König der Könige, El, Aty, Titeip, Azia, Hyn, Minosel, Achadan, Vay, Vaa, Ey, Haa, Eye, Exe, a El, El, a Hy, Hau, Hau, Hau, Va, Va, Va, Va“. Vgl. die ‚Zauberrolle‘ bei I. Hampp, Sigilla Salomonis. Eine Zauberrolle aus dem 17. Jahrhundert. In: Zauberei und Frömmigkeit (= Volksleben 13 ) Tübingen 1966, S. 110-115. 9 Zu vergleichen wären: Platon, Apologia 31 c4, 32 a3; 40 a4 c3. Agathos Daimon erscheint in der antiken Ikonographie als Schlange. Vgl.: DNP (wie Anm. 4) 3, 1997, S. 264; auch: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2, Basel 1972, S. 1-4. 10 Griech.: ‚Geist‘, auch ‚Gott als Prinzip aller Wirklichkeit‘. Vgl. DNP (wie Anm. 4) 3, 1997, S. 205. 11 DNP (wie Anm. 4) 1, 1996, S. 242. 12 Heinrich C. Agrippa v. Nettesheim, De occulta philosophia, ed. K.A. Nowotny, Graz 1967, dt. Magische Werke (wie Anm. 8). 13 W.-E. Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur weißen und schwarzen Magie, 21956, S. 147; vgl. A.M. Pachinger, Eine Liebesamulettmedaille aus dem XVII. Jahrhundert. In: Internationale Sammler-Zeitung 10 (1918), Nr.14. 14 Haniel erscheint als latein. Version des griech. Anael. Zur Funktion des Planetenengels: J. Heeg, Hermetica, 1911, S. 19, Z. 12; Peterson, Engel- und Dämonennamen (wie Anm. 3), S. 395 f.; A. Jacobi, Anaël. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, Berlin 1927, ND 1987, S. 384 f. 15 R. Stübe, Jüdisch-Babylonische Zaubertexte, Halle 1895, S. 19-27: Textproben aus Inschriften der ‚Berliner Zauberschalen‘, u.a.: „Und im Namen des Gabriel und Michael und Raphael und im Namen des ‘Aniel, welche stehen hinter den Rädern der Sonne und im Namen des Zukiel und Perakiel und Berakiel und ‘Arkiel, die Dienste thun vor dem erhabenen Thron Gottes, deren Herrschaft auf der Erde und deren Macht an der Himmelsveste ist. Sie mögen entfernen und vernichten und verscheuchen und verbannen alles was böse ist aus [dem Körper des] Abba bar Barkita und aus den 248 Gliedern […]“ (S. 27). 16 Tob 3,8. 17 L. Blau, Das jüdische Zauberwesen, Budapest 1898, ND 1987, S. 121; vgl. RGG (wie Anm. 4) 1, 31986, S. 121.
456 Ähnliche Zeichen finden sich in der von I. Hampp publizierten ‚Zauberrolle‘ des 17. Jahrhunderts: Sigilla (wie Anm. 8), S. 101-133. 19 Das Zeichen, dem hier „och“ und „ech“ eingeschrieben sind, erscheint in ähnlicher Form im Arbatel bei: Agrippa, Magische Werke 5 (wie Anm. 8), S. 114 als „Charakter“ des „Och“. 20 Hinsichtlich des Zeichengebrauchs sei zum Vergleich auch hingewiesen auf Charaktere, wie sie das Werk des Paracelsus bezeugt, bei: G.C. Horst, Zauber-Bibliothek (wie Anm. 6) T. 1 (1821): S. 143-145, 155, 170-174; T. 3 (1822): S. 94-144; T. 4 (1823): S. 142-161. – Ähnliches bietet das Chymisch und Alchemistische Oraculum, Ulm 1783. – Vgl. weiterhin E. Bischoff, Die Kabbalah. Einführung in die jüdische Mystik und Geheimwissenschaft, Leipzig 1917, S. 177. 21 Bischoff, Kabbalah (wie Anm. 20). 22 Ebd., S. 58-60. 23 Ebd., S. 141; vgl. auch S. 189. – Peuckert, Pansophie (wie Anm. 13), S. 100 f. 24 Abgedruckt im 4. Buch der Occulta philosophia des Agrippa v. Nettesheim, dt. ‚Magische Werke‘ (wie Anm. 8), 5, 1916. 25 Horst, Zauber-Bibliothek (wie Anm. 6), 1. Teil, S. 119; vgl. A.M. Pachinger, Eine Glücksamulett-Medaille aus dem XVII. Jahrhundert. In: Antiquitäten-Rundschau 15 (1917), Nr. 13, S. 110. – Zu „Och“ als Regenten der Sonnendinge vgl. Peuckert, Pansophie (wie Anm. 13), S. 335. 26 Arbatel bei: Agrippa, Magische Werke (wie Anm. 8) 5, 1916, S. 114, vgl. S. 110. 27 Folgendes nach D. Harmening, Sturz der Engel, Sündenfall und Frauenzauber. In: Perspektiven der Philosophie 28 (2002), S. 105-108. 28 Th. Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber 2,2, Leipzig 1924; bearb. von R. Merkelbach, Amsterdam 1990, S. 19 ff., 223. 29 Corpus Hermeticum, ed. u. übers. R. van der Broek u. G. Quispel, 1991. 30 Erstmals um 750/800 n.Chr. bezeugt, ed. J. Ruska, Heidelberg 1926, S. 2 f.: „Quod est superius est sicut quod est inferius, et quod est inferius, est sicut quod est superius“, zu deutsch: „Das Obere ist wie das Untere, und das Untere ist wie das Obere“. In Berlin erschien 1778 (!) anonym eine Übersetzung der Smaragdtafel mit dem Titel: A.B.C. vom Stein der Weisen. – Vgl. M. Bachmann u. Th. Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, Basel 1999, S. 40 f. 31 Pachinger, Talisman (wie Anm. 2). – Ders., Ergänzungen. In: Mitteilungen der Bayerischen Numismatischen Gesellschaft XXXII/XXXIII (19141915), S. 25-27. – E. Defrance, Catherine de Medicis ses astrologues et ses magiciens-envoûteurs, 1911, S. 186-188. – J. Marquès-Revière, Amulettes, talismans et pentacles dans les traditions orientales et occidentales, Paris 1938, S. 347-351. 32 Zu Jean Fernel vgl. Pachinger, Talisman (wie Anm. 2), S. 25-27. 33 Pachinger, Talisman (wie Anm. 2) führt S. 56 A. Tancrède, Un Talis18
457 man de Catharine de Medicis, 1885, an und nennt die Medaille „den kostbarsten Talisman, den wir besitzen“. 34 DNP (wie Anm. 4) 4, 1998, S. 781 f. 35 Agrippa v. Nettesheim, De occulta philosophia (wie Anm. 8), S. 723. 36 Zit. Agrippa, Werke (wie Anm. 8), S. 315. 37 Vgl. A.M. Pachinger, Eine Liebes-Amulettmedaille, in: Blätter für Münzfreunde 13 (1912/15), Sp. 5528-5531. 38 „Picatrix“. Das Ziel des Weisen von Pseudo-Magrîtî. Translated into German from the Arabic by H. Ritter and M. Plessner (= Studies of the Warburg Institute 27), London 1962, S. 121; vgl. WdA (wie Anm. 5), S. 338 f. 39 Vgl. Enzyklopädie des Märchens 1, Berlin 1977 ND 1999, S. 880-882. 40 Pachinger, Glücksamulett (Fortsetzung), S. 110. – Vgl. H. Biedermann, Lexikon der magischen Künste, Wiesbaden 21998, S. 131: „Der eigentliche Dämon der Hurerei und der Fürst jeder Unfläterei“. 41 Antike Triumphdarstellungen zeigen Iuppiter von Viktorien begleitet: DNP (wie Anm. 4) 6, 1999, S. 82. 42 Agrippa v. Nettesheim (wie Anm. 8), S. 315. 43 Picatrix (wie Anm. 38), S. 128 f. 44 Astronomisches Gerät zur Darstellung, dann auch Instrument zur Bestimmung von Gestirnspositionen im Verhältnis zu verschiedenen Himmelskreisen. Den Gebrauch einer Armillarsphäre (lat.-griech. Armilla ‚Armband‘) zeigt Amerigo Vespucci bei Bestimmung des südlichen Kreuzes in einem Kupferstich von Philipp Galle nach Jan van der Straet, 1580; Abb. bei: H. Borggrefe, V. Lüpkes u. H. Ottomeyer (Hrsg.), Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa, Eurasburg 1997, S. 385 45 Michael Maier, Symbola aureae mensae, Frankfurt a.M. 1617, ND Graz 1972, S. 5. – Daniel Stolcius von Stolcenberg, Viridarium chymicum figuris cupro incisis adornatum etc. Frankfurt 1624, Figur XVI; dt.: Daniel Stoltzius de Stoltzenberg, Chymisches Lustgärtlein / Mit schönen in Kupffer geschnittenen Figuren gezieret etc., übers. Daniel Meißnern von Commenthaw, Frankfurt 1624; ND Darmstadt 1987. – Vgl. ein Gemälde der Zeit um 1740 aus der Innsbrucker Hofapotheke im pharmaziehistorischen Museum der Universität Basel, Abb. bei: E. Lindner, Die königliche Kunst im Bild. Beiträge zur Ikonographie der Freimaurerei, Graz 1976, S. 23: Mit der rechten Hand hebt Hermes eine Sphäre empor, in der linken hält er ein Schriftband: QVOD EST SVPERIVS EST SICVT INFERIVS. 46 Vgl. E. Ploss, H. Roosen-Runge, H. Schipperges, H. Bunz (Hrsg.), Alchimia. Ideologie und Technologie, München 1970, S. 102. 47 Vgl. M. Bachmann u. Th. Hofmeier, Geheimnisse (wie Anm. 30), S. 22-41. 48 Anonymus, Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert. 1. Heft. Aus einem alten Mscpt. [Manuscriptum] zum erstenmal ans Licht gestellt, 1-2, Altona 1785 u. 1788, ND Berlin 1919. 49 18: „Den rechten Grund und wahren Bscheid / Die zwo Händ bzeugen mit ein’m Eid / Aus welcher Grundwurzel kommen her / Alle Metall und anders mehr“.
458 Bachmann u. Hofmeier, Geheimnisse (wie Anm. 30), S. 77. Ebd., S. 37. 52 Geheime Figuren (wie Anm. 48), S. 18: „Auslegung und Erklärung der Tabula Smaragdina Hermedis“. 53 Von Stoltzenberg, Lustgärtlein (wie Anm. 45). Stolcenberg, Viridarium (wie Anm. 45) Figur LXXXVIII. Im Speculum veritatis (Codex Vaticanus latinus 7286, 17. Jh., fol. 8,9) tötet Merkur den König mit dem Schwert in seiner Rechten; in seiner Linken hält er den Schlangenstab.; Abb. bei: St. Klossowski de Rola, Alchimie. Florilège de l’art secret, Paris 1973, 21974, Abb. 16. 54 Vgl. u.a. F. Maack (Hrsg.), Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz Anno 1459 (= Geheime Wissenschaften 1), Berlin 1913, XXIII– XXXVI. – G.F. Hartlaub, Der Stein der Weisen. Wesen und Bildwelt der Alchemie, München 1959. 55 Nicolas Flamel, Livre des figures hiéroglyphiques, dt.: Chymische Werke. Hamburg 1681. Zum Verwandlungsmotiv des Merkur vgl. H.-E. Fierz-David, Die Entwicklungsgeschichte der Chemie, Zürich 21952, S. 68 f. 56 Zit.: Agrippa v. Nettesheim (wie Anm. 8). 57 Vgl. WdA (wie Anm. 5), S. 30-32. 58 „Selbst Preußens großer König Friedrich II. war nicht ganz frei“ von alchemistischen Hoffnungen: „Im Jahre 1751 erschien eine Frau van Pfuel mit zwei schönen Töchtern in Potsdam und machte so, indem sie den Reigen der fahrenden Adepten schloß, das alte Wort derselben wahr, daß die Goldmacherei eine wahre Frauenarbeit sei. Die Operationen dieser schönen Damen kosteten dem erlauchten Könige zehn Tausend Thaler, ohne daß er dafür die Seele des Goldes erlangte“, J.S. Ersch u. J.G. Gruber (Hrsg.), Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1. Section 73, Leipzig 1861, S. 285. 59 Vgl. E. Darmstaedter, Die Alchemie des Geber, Berlin 1979, S. VI f. 60 G. Krüger, Die Rosenkreuzer. Ein Überblick, Berlin 1932. – W.-E. Peuckert, Die Rosenkreutzer, Jena 1928. – H. Möller, Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung V,1 (1979). – W. Kühlmann, Rosenkreutzer. In: Theologische Realenzyklopädie 29, hrsg. G. Müller u.a., Berlin/New York 1998, S. 407-413. – K.R.H. Frick, Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1973. 61 Möller, Rosenkreuzer (wie Anm. 60), S. 153-202. 62 32, Leipzig u. Halle 1742, S. 901. 63 Zu Luthers Wappen vgl. A. Roob, Das hermetische Museum. Alchemie u. Mystik, Köln u.a. 1996, S. 691. 64 Samuel Richter (Sincerus Renatus), Die Wahrhaffte und vollkommene Bereitung Des Philosophischen Steins / Der Brüderschafft aus dem Orden Des Gülden- und Rosen-Creutzes [...] Dabey angehänget die Gesetz oder Re50 51
459 geln / welche Denen Filiis Doctrinae zum Besten publiciret, Breslau 1714, ND [Rotterdam 1983]. 65 Frick, Die Erleuchteten (wie Anm. 60), S. 214. 66 H.-J. Neumann, Friedrich Wilhem II. Preußen unter den Rosenkreuzern, Berlin 1997, S. 93 f. 67 Auch andere Rosenkreuzer traten auf, um mit der Stimme betrügerischer Geisterseher auf den König zu wirken, teils mit politischen Absichten, teils mit handfest-privaten Zielsetzungen, vgl. P. Schwartz, Der Geisterspuk um Friedrich Wilhelm II. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 47 (1930), H. 2, S. 45-60. 68 Von obristbrüderlicher Wahl, Macht und Gewalt bestätigter Eingang zur ersten Classe des preißwürdigsten Ordens vom Goldenen Rosen-Creutze nach der letzten Haupt- und Reformations-Convention errichtet zum guten Gebrauch aller würdigen Brüder [...] erlassen im Jahr des Herrn 1777, Wien/ Regensburg, Berlin bey den hohen O. [= Ordens] Obern, 1788. 69 Möller, Gold- und Rosenkreuzer (wie Anm. 60), S. 160-163. 70 Johann August Starck, Auch Etwas wider das Etwas der Frau von der Recke über des Oberhofpredigers Starcks Verteidigungsschrift, Leipzig 1788, S. 88. Starck bezieht sich auf: Charl. Elise Constantia von der Recke, Etwas über des Hrn. Oberhofprediger Stark Vertheidigungsschrift, Berlin 1788. – Vgl. J. Kalka, Phantome der Aufklärung. Von Geistern, Schwindlern und dem Perpetuum Mobile, Berlin 2006. – Chr. Träger (Hrsg.), Elisa von der Recke. Tagebücher und Selbstzeugnisse, Leipzig 1984; vgl: Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin 1787, ND Berlin 1988 (= Berliner Handpresse, Reihe Werkdruck, 1988). – Hinsichtlich der faulen Zaubereien Cagliostros faßt R. Feldes zusammen: Cagliostro bezeichnete sich „als Schüler St. Germains und reiste wie dieser von Hof zu Hof und nutzte die Sehnsucht der Rokokogesellschaft nach übersinnlichen Wundern, nach spielerischen Manifestationen einer anderen Welt für sich aus. Er führte alchemistische Kunststücke vor. Geisterbeschwörungen, Wunderheilungen und das Vorhersagen von Lotteriezahlen gehörten zu seinem Repertoire. Zumeist war er auf der Flucht, weil die Fürsten, enttäuscht über das allzu Menschliche seiner Tricks, ihn verfolgten“, R. Feldes (Hrsg.), Der wahrhaftige feurige Drache, Bonn 1979, S. 216 f. 71 Schwarz, Geisterspuk (wie Anm. 67), S. 57. 72 Neumann, Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 66), S. 149. 73 Es ist der Bruder des regierenden Herzogs Karl Ferdinand II. v. Braunschweig, nach dem Besitz des Fürstentums Oels Herzog von BraunschweigOels betitelt. 74 Schwartz, Geisterspuk (wie Anm. 67), S. 45 f.; bei W. Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786-1797) Frankfurt/Main 2001, S. 107, ist das Ereignis im Lager von Schatzlar auf den Abend, bzw. die Nacht des 21.9.1778 datiert.
460 Schwartz, ebd. Beyer, Lehrsystem (wie Anm. 1), S. 10. 77 J. Boucher, La Symbolique Maçonnique, Paris 21997, S. 230-236. – H. Speck, Der flammende Stern. In: Mecklenburgisches Logenblatt 19 (1881), Nr. 3, S. 17-20. – [Fr. A.] Barkow, Über den flammenden Stern. In: Zirkelcorrespondenz unter den Johannis-Logenmeistern der Grossen Landesloge der Freimaurer von Deutschland 6 (1877), S. 167-173. – G.A. Schiffmann, Wie kommt der flammende Stern in die Freimaurerei?. In: Latomia. Neue Zeitschrift für Freimaurerei 2 (1879), Nr. 24, S. 185 f. 78 Bringmann, Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 74), S. 107. 79 Untersuchungs- und Gesprächsmöglichkeiten in Königsberg (19.-20.6. 2007) wurden vermittelt durch das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘. Dr. habil. Wladimir Iwanowitsch Kulakov von der Russischen Akademie der Wissenschaften Moskau hat die Grabungen kommentiert (russ.) und mir seine Analysen freundlich mittels einer CD zugänglich gemacht. Eine Beschreibung des ‚Hortfundes‘ von Königsberg nach archäologischen sowie nach ethnologisch-philosophischen Kriterien ist von Herrn Kulakow und dem Verfasser als gemeinsame eigenständige Publikation in russischer und deutscher Sprache geplant. 80 Bringmann, Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 74), S. 109 mit Bezug auf: D. Kemper, Obskurantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph von Wöllners Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Französischen Revolution. In: Von „Obscuranten“ und „Endämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Chr. Weiß u. W. Albrecht, St. Ingbert 1997, S. 195, 202, sowie L. Abafi-Aigner, Die neuen Rosenkreuzer. In: Latonia. Neue Zeitschrift für Freimaurerei (1900), Nr. 8, S. 9, 68. 81 Mit Schrepfers Apparaten soll Bischoffwerder Friedrich Wilhelm II. die Geister Julius Caesars, Marc Aurels, des Großen Kurfürsten und Leibnizens erscheinen gelassen haben, so: A. Marx, Die Gold- und Rosenkreuzer, Diss. Berlin (o.J.; Tag der Promotion: 24.7.1929), S. 35. – Fr. Förster, Preußen und Deutschland im Zeitalter der französischen Revolution 1789-1802, o.J., S. 39 f., berichtet über die Bekanntschaft Schrepfers und Bischoffwerders und stellt die technischen Aspekte der zauberischen Illusionskunst vor: „Das Kunststück bestand darin: durch einander gegenüber gestellte Hohlspiegel (Metallspiegel) das Bild einer lebenden Person, oder das Bildniß einer abgeschiedenen auf einen mit Milchflor bespannten Rahmen (oder auch auf eine Rauchsäule) zu reflectieren. Die Zuschauer saßen in einem dunklen Zimmer, so daß sie den Milchflor und die anderen Täuschungszurüstungen nicht bemerkten. Schrepfer nahm, gedrängt von seinen Gläubigen, welche Aufschluß über seine Magie und mehr noch von seinen Gläubigern, welche Bezahlung seiner Schulden verlangten, ein trauriges Ende. Er lud (1774) die wiß- und geldbegierigsten seiner Bedränger zu einem Spaziergange in das Rosenthal, einem Lustwalde bei Leipzig, ein. Hier unter einer tausendjährigen Eiche kündigte er der Gesellschaft an, daß er sich sofort vor ihren sichtli75 76
461 chen Augen in jenes verborgene Reich begeben werde, von wannen er, wenn auch nur als Geist, den Einen Weisheit, den Anderen Gold mitbringen werde. Hierauf zog er ein Pistol, jagde sich eine Kugeel durch den Kopf und – ward nicht mehr gesehen.“ 82 Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 74), S. 133: „Völlig daneben trifft mithin der als Zeitzeuge viel zitierte Massenbach mit seiner Beschreibung, der König ‚habe die größte Ähnlichkeit mit einem asiatischen Fürsten (gehabt), der sich in das Innere seines Serails zurückgezogen hat und mit seinen Sklaven und Sklavinnen lebt, die Regierungsgeschäfte aber seinen Vezieren überläßt. Die Ringmauer, welche jetzt zwölf Fuß hoch um den neuen Garten in Potsdam gezogen wird, erinnert an die Mauern des Serails; kein fremdes Auge sollte sehen, was in dem Bezirke vorgeht‘. Solche Pamphlete sind gewissermaßen noch verständlich, weil es den Sitten der Zeit entsprach, einem politischen Gegner durch Anschuldigungen gegen seinen Charakter und sein Privatleben zu schwächen. Es offenbart aber mehr über bestimmte Historiker, als über den Alltag des Königs Friedrich Wilhelm II., wenn auch in anspruchsvollen Werken ohne jeden Beleg immer wieder von ‚seinen vulgären, entnervenden Ausschweifungen‘ die Rede ist. Mit seriöser Geschichtsschreibung hat das nichts zu tun. Es ist Sensationsmache im Stil des Boulevardjournalismus unserer Tage […] Angesichts der sexuellen Gewohnheiten anderer Monarchen am Ende des 18. Jahrhunderts ist es historisch unkorrekt, von einem ‚sittenlosen Lebenswandel‘ Friedrich Wilhelms II. während seiner Regierung zu sprechen“: Nachweise der Binnenzitate bei Bringmann a.a.O. 83 F. Ohly, Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit, aus dem Nachlaß ed. U. Ruhrberg u. D. Peil, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 13; vgl. WdA (wie Anm. 5), S. 132.
IV Buchbesprechungen
EDITH DÜSING: NIETZSCHES DENKWEG Theologie – Darwinismus – Nihilismus München: Wilhelm Fink Verlag 2006, 601 S.*
In ihrem Opus magnum hat Edith Düsing den „Denkweg“ Nietzsches, die Philosophie Nietzsches, nachgezeichnet, unter dem Vorzeichen der für sie zentralen Themenfelder „Theologie“, „Darwinismus“ und „Nihilismus“. Es wird eine Entwicklung Nietzsches von frühen christlichen Motiven über die Hinwendung zu einer biologistischen Evolutionstheorie bis zur nihilistischen Krise der traditionellen Wertsysteme dargestellt. Dies geschieht in einer Fülle, ja Überfülle akribischer Phänomenbeschreibungen, deren heuristisches Prinzip die Einflußphilologie ist. Das beherrschende Interesse der Verfasserin gilt den vielfältigen, ja vielfach labyrinthischen Einflüssen, denen Nietzsche ausgesetzt war und die er, affirmativ oder kritisch, verarbeitet hat. Am Beispiel der Auseinandersetzung Nietzsches mit D.F. Strauß und des ihrer Auffassung nach dominanten DarwinEinflusses auf Nietzsche hat die Verfasserin dies in aller Ausführlichkeit dargelegt. Die versierte Kennerin der Philosophie des 19. Jahrhunderts leuchtet die diversen Relationen der relevanten Denker, Denkmotive und Denksysteme in bezug auf Nietzsche aus, sowohl in großangelegten Synthesen als auch in mikroanalytischen Befunden. So ergibt sich eine breitbasierte, perspektivenreiche Darstellung, die ein komplexes Beziehungs-
* Benutzte Nietzsche-Ausgabe: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli u. Mattino Montinari, München 1980 – Zitatangabe: Sigle KSA mit arabischer Band- u. Seitenzahl u. Werktitel.
466 geflecht, Grundthesen, Entwicklungstendenzen und Verzweigungen im Denken Nietzsches, beschreibt, in einem thematischen Komplex, in dem sich philosophische, theologische und biologische Aspekte ständig überlagern. Es ist ein Anliegen der Verfasserin, Nietzsche als homo religiosus herauszustellen, und zwar als einen im Grunde religiösen Denker christlicher Observanz, der trotz aller Krisen und antichristlichen Denkmotive und -affekte im Grunde seines Wesens das genuin ‚Christliche‘ nicht abzustreifen vermag. Dies hat manche Nietzsche-Forscher zu einer offenen oder heimlichen Christianisierung Nietzsches verführt. In diesem Zusammenhang stellt sich die entscheidende Frage, ob der von Nietzsche wiederholt mit Verve herausgestellte Antagonismus von dionysischer und christlicher Weltauffassung, von dionysischem und christlichem Lebensgefühl nur ein historisch und psychologisch relatives Problem ist, indem die Antichristlichkeit eine Christlichkeit ex negativo wäre, oder ob es sich um einen fundamentalen, anthropologisch-existentiellen Widerstreit handelt, ein Problem, das eine Herausforderung an den Leser ist, der sich mit einem tua res agitur konfrontiert sieht. Nietzsche: „Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘: da habt ihr den Gegensatz.“ (KSA 13,266 – Fragment; vgl. 6,374 – Ecce homo). Dieser Antagonismus ist ein Axiom der Nietzscheschen Weltauffassung. Daran ändern auch die von Nietzsche mit „Der Gekreuzigte“ unterschiebenen späten Wahnsinnszettel nichts. Sie sind nicht Ausdruck einer christlichen Verinnerlichung Nietzsches. Sie zeigen vielmehr, daß Dionysos nicht nur der Dionysos triumphans ist, sondern auch der leidende Dionysos, der Dionysos dolens, sein kann. Die Verfasserin neigt zur Entschärfung dieser Problematik, wenn sie den „dionysischen Menschen“ als Utopie abtut (S. 39). Hier ist im Blickfeld zu halten, daß Nietzsche seine „Experimental-Philosophie“ als „ein dionysisches Jasagen zur Welt“ bezeichnet (KSA 13,492 – Fragment) und sich selbst den „letzten Jünger des Philosophen Dionysos“ nennt (KSA 6,160 – Götzen-Dämmerung), wie denn auch die Formel „Dionysos philosophos“
467 hervorgekehrt wird (KSA 13,613). Der spätere Nietzsche verquickt das ‚Dionysische‘ mit dem Geist. Dionysos ist nicht mehr nur der triebhafte Urwille, sondern auch der wissende Geist. Da liegt die Vermenschlichung nahe. In Ecce homo wird Zarathustra, dieser „mit sich allein“ redende „Geist“, als ein „Dionysos“ bezeichnet (KSA 6,345). In Jenseits von Gut und Böse ist freilich die Rede vom „Gott Dionysos“, aber Nietzsche verkündet die „Neuigkeit“, „dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren“ (KSA 5,238). Der dionysische Gott – das ist eine bedeutungsvolle Metapher des schöpferischen Lebens, das Nietzsche den tradierten Wertsystemen entgegensetzt. Von zentraler Bedeutung in dieser Nietzsche-Auslegung ist der biologische Aspekt, der Entwicklungsgedanke, der Darwinismus. In der kontroversen Forschungsdiskussion, in der Nietzsche als Darwinist und Anti-Darwinist erscheint, schlägt sich die Verfasserin vehement auf die Seite der Darwinisten. Nietzsches „Darwinismus“ ist im Grunde das Zentralthema des Buches. In immer neuen Varianten wird dieses Thema durchgespielt. So sieht die Verfasserin im Zarathustra einen engen thematischen Zusammenhang von „Ende der christlichen Religion“, „darwinistischer Biologie“ und „Selektions-Zweckmäßigkeit für die Gattung Mensch“ (S. 304). Dies ist eine höchst problematische These. Es ist hinzuweisen auf das im Zarathustra entfaltete triadische Schema „Affe“-„Mensch“-„Übermensch“ (KSA 4,14). Läßt sich die Relation Affe-Mensch noch aus der Abstammungslehre erklären und ist Nietzsche in dieser Hinsicht in der Tat der Evolutionstheorie verpflichtet, so läßt er in der Relation Mensch-Übermensch den Biologismus weit hinter sich. Hier ist der „Übermensch“ nicht eine bloße biologische Züchtung, sondern eine spirituelle Konstruktion, ein potentielles Produkt geistiger Schaffensakte. Es ist ein überfallartiges Erleuchtungserlebnis: „Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.“ (KSA 4,18) Relevant ist hier der allerdings kompli-
468 zierte Lebensbegriff Nietzsches. Er faßt da „Leben“ nicht als den bloßen Bios, sondern Zarathustra spricht das „Leben“ im monologischen Zwiegespräch elegisch als eine änigmatische, rätselhafte, tiefgründige Macht an: „In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und in’s Unergründliche schien ich mir da zu sinken.“ (KSA 4,140 – Das Tanzlied) Daß der Entwicklungsgedanke im Denken Nietzsches eine zentrale Rolle spielt, soll nicht bestritten werden. Aber ob man ihn darwinistisch definieren darf, ist mehr als fraglich. Zahlreich sind die kritischen, vielfach ironischen und polemischen Äußerungen Nietzsches gegen Darwin, den „neuen Messias“ (KSA 1,212 – David Strauss), gegen den „Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom ‚Kampf um’s Dasein‘ “ – dem Nietzsche den „Willen zur Macht“ als den „Willen des Lebens“ entgegensetzt (KSA 3,585 f. – Die fröhliche Wissenschaft), gegen seine Vereinnahmung als Darwinist („gelehrtes Hornvieh“ habe ihn „des Darwinismus verdächtigt“ [KSA 6,300 – Ecce homo]). Nun könnte man gemäß dem hermeneutischen Prinzip, daß man einen Autor besser verstehen kann, als er sich selber verstand, im Hinblick auf den Darwinismus Nietzsche gegen den Strich lesen – sofern die Sache selbst das hergibt. Das aber ist fragwürdig. Im Gedicht An die deutschen Esel heißt es: „Darwin neben Goethe setzen / Heißt: die Majestät verletzen – / majestatem Genii!“ (11,317 – Fragment). Hier wird in aller Klarheit deutlich, daß Nietzsches Entwicklungsideen nur vor dem Hintergrund des Schöpfungsprinzips, d.h. der ingeniösen Produktivität der Schaffenden, der großen Denker und Künstler, voll verstehbar sind. In Darwin sieht Nietzsche den Verkünder eines mechanischen Biologismus, in Goethe den Prototyp der schöpferischen Existenz. Im Textstück Anti-Darwin konstatiert Nietzsche: „Darwin hat den Geist vergessen“ (KSA 6,121 – Götzen-Dämmerung), während er Goethe als „europäisches Ereigniss“ preist (KSA 6,151 – Götzen-Dämmerung). Sein Protest gegen den Darwinismus ist ein Plädoyer für das spontane schöpferische Durchbrechen mechanischer biologischer Determinationen. Dies entspricht einer Jas-
469 perschen Definition des schöpferischen Prozesses: „Im Schaffen entsteht etwas qualitativ Neues, nicht in Kontinuität, sondern durch einen Sprung.“ (Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 4Berlin 1954, 11919, S. 136). Dieses Problem stellt sich im Hinblick auf den „Nihilismus“ bzw. dessen Bewältigung. Der „Nihilismus“, ein Zentralthema der Nietzsche-Forschung, ist auch in der vorliegenden Arbeit ein großes Thema. Die Verfasserin legt, vor allem mit Blick auf Nietzsches Gott-ist-tot-Philosophie, eine breite, detaillierte Untersuchung des Phänomens vor, indem sie ihr profundes philosophiehistorisches Wissen einbringt (vgl. vor allem die Hegel-Interpretation). Die souveräne Art, mit der die mannigfaltigen Exkurse, alle die Einflüsse, die Einblendungen und Interferenzen dem Text integriert werden, ist eine spezifische Leistung der Verfasserin. Dennoch sieht sich der kritische Rezensent mit zwei Problemen konfrontiert: 1) Ist der Nihilismus ein historisches oder ein anthropologisches Problem? 2) Wie steht es um das Verhältnis von Nihilismus und Kunst? Im Hinblick auf die Ursache des Nihilismus folgt die Verfasserin im Prinzip dem seit Heidegger und Jaspers in der Nietzsche-Forschung und -interpretation vorherrschenden Grundsatz, daß Nietzsches Nihilismus eine Konsequenz der christlich-platonischen Weltauslegung sei, eine Deutung, die durch Selbstaussagen Nietzsches gestützt wird. Zugleich zeigt die Verfasserin, wie im Denken des 19. Jahrhunderts das Gott-ist-tot-Motiv in spezifischer Form antizipiert wird (s. bes. Hegel). Dabei macht die Verfasserin Nietzsches Weltsicht, so seine „Konzeption des freien Geistes“, im wesentlichen von speziellen Einflüssen abhängig. So meint sie mit Bezug auf Darwin und Strauß: „Womöglich wäre Nietzsche ohne diese spezifischen Herausforderungen ein braver, gewiß der bedeutendste aller Neukantianer geworden.“ (S. 353) Hier steckt im Scherz die ernstgemeinte historisierende Relativierung der Anschauungen Nietzsches. Hinsichtlich des Nihilismus reicht das historisierende Vergleichen nicht aus, denn zum einen nimmt der Nihilismus bei Nietzsche
470 eine extreme Zuspitzung an, die nicht mehr nur aus historischen Prämissen erklärt werden kann, und zum andern erscheint er als eine anthropologische Urerfahrung jenseits aller historischen Kausalitäten. Der „Nihilismus“, „dieser unheimlichste aller Gäste“, wird von Nietzsche definiert als die „radikale Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit“ (KSA 12,125 – Fragment). Der „ ‚Nihilismus‘ “ ist „das durchbohrende Gefühl des ‚Nichts‘ “ (KSA 13,89 – Fragment). Das Gott-ist-tot-Motiv wirft die Frage auf, ob Gott an sich oder nur für uns tot ist, ob er als bloße Fiktion in seiner Nicht-Existenz verstanden wird oder im Grunde nur ein Problem des herrschenden Kulturbewußtseins ist. Zugespitzt: Ist er ein ontologisches oder ein psychologisches Problem? Im Gefolge der in der Nietzsche-Deutung dominierenden Idee, der Tod Gottes sei vorrangig ein Problem der neuzeitlichen antimetaphysischen Subjektivität, ist es ein Anliegen der Verfasserin, Nietzsche letztlich trotz aller subversiven Kritik am Gottesbegriff in den Gottesbezug einzubinden. So erklärt sie apodiktisch: „Die Redewendung vom Tode Gottes ist bei Nietzsche keine atheistische Propaganda-Parole, kein kategorisches Urteil über die Nichtexistenz Gottes“, sondern Ausdruck einer „angestauten Eruption“, eine „heuristisch-diagnostische“ „Standorterklärung“ (S. 473). Der „Tod Gottes“, von der Verfasserin mit der Bezeichnung „Redewendung“ fast salopp ein wenig bagatellisiert, ist eine anthropologische Grenzfrage, ein Problem der conditio humana. Daß die Verfasserin, in Anlehnung an die theologische Nietzsche-Interpretation Eugen Bisers, im „tollen Menschen“ der Fröhlichen Wissenschaft, der den Tod bzw. die Tötung Gottes ein „ungeheures Ereigniss“ von noch unabsehbarer geschichtlicher Tragweite nennt (KSA 3,481), einen Gottsucher sieht (vgl. S. 480 ff.), ist problematisch. Die Verfasserin versucht, dies mit formaldialektischen Argumentationen und fundierten Exkursen zu verifizieren. Aber in der Gottesfrage bleiben ihre Deutungen trotz aller geistigen Intensität unscharf, dehnbar. Dem Entweder-Oder weicht sie aus. Im übrigen wird der Tod Gottes von Nietzsche nicht nur als Verlust, als Katastro-
471 phe, sondern auch, ja vor allem als Befreiung, als die wesentliche Voraussetzung der schöpferischen Freiheit des Menschen empfunden und begrüßt. Der Tod Gottes ist „die grosse Befreiung (…) damit erst erlösen wir die Welt“ (KSA 6,97 – GötzenDämmerung). Nietzsche fühlt sich vom ‚Tod Gottes‘ „wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung (…) das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offnes Meer‘.“ (KSA 3,574 – Die fröhliche Wissenschaft) Schließlich stellt sich die Frage nach der Kunst. Sie spielt in dieser Untersuchung eine eher marginale Rolle. Aber angesichts der überragenden Bedeutung der Kunst im Denken Nietzsches hätte man sie ins Zentrum der Interpretation rücken sollen. Die Korrelation von Nihilismus und Kunst, die Überwindung des Nihilismus durch die Kunst, das Schaffen als Gegenkraft zum Nichts, dies hätte man einer weitgespannten Analyse unterziehen sollen. Die von Nietzsche vollzogene Umkehrung des Verhältnisses von Kunst und Erkenntnis, die Kunst nicht mehr als Organ der Wahrheit, sondern als die höchste Ausdrucksform des Lebens hätte man eingehender untersuchen sollen. Nietzsches „Denkweg“ wird ja in wachsendem Maße weniger von kognitiven als vielmehr von kreativen Kategorien geprägt. Nicht das Erkennen, sondern das Hervorbringen von Sachverhalten ist der eigentliche Impetus des Dichter-Denkers Nietzsche. Deshalb sind auch Begriffe wie das „Schaffen“ und der „Schaffende“ Schlüsselwörter Nietzsches. Hervorzuheben ist Nietzsches Monologie, das ästhetische Prinzip der „monologischen Kunst“ (KSA 3,616 – Die fröhliche Wissenschaft, Zf. 367) als einer reinen Ausdruckskunst, „das Von-selber-Ertönen der tiefsten Einsamkeit“ (KSA 3,208 – Morgenröthe). Die Verfasserin neigt in ihrer Grundtendenz eher zu einem dialogischen, kommunikativen Nietzsche, während der ichbezogene, monologische Nietzsche eher im Hintergrund bleibt. Damit verknüpft ist die Frage, ob die existentiellen Dissonanzen unaufhebbar sind oder sich entspannen lassen.
472 Diese materialreiche, differenzierte Studie ist bestrebt, ihr Sujet in assoziativen Gedankenketten motivisch einzukreisen und auszuloten. Man vermißt allerdings den stringenten ‚roten Faden‘ der Ausführungen, eine konzentrierte Straffung der Erörterungen unter klarer Akzentuierung der sachlichen Schwerpunkte. Auch hat der Rezensent gewisse Schwierigkeiten, die innovatorischen Essenzen des Werkes auszumachen. Dafür wird man jedoch entschädigt durch eine Vielzahl minutiöser Einzelanalysen, in denen die wechselseitige Erhellung theologischer, philosophischer und biologischer Denkmotive sinnfällig wird. Obschon sich Nietzsches „Denkweg“ nicht allein von diesem Motivkomplex her erschließen läßt, sondern auch von dichterischen, literarischen und ästhetischen Problemen geprägt ist, ergeben sich aus diesen Wechselwirkungen interessante Perspektiven. Nietzsches „Denkweg“, den man auch als ‚Schaffensweg‘ bezeichnen könnte, ist eine via dolorosa mit vielfältigen geistigen und schöpferischen Brechungen. In dieser Hinsicht werden viele von der Nietzsche-Forschung erörterten Probleme vertieft. In diesen Einzelbeobachtungen möchte man die Stärke der Studie sehen. Diese Detailanalysen fügen sich allerdings zu einem Gesamtbild zusammen, zu einem weitgespannten Bild der geistigen Situation der Zeit mit ihren spezifischen Einflüssen auf Nietzsche. Unbeschadet der erörterten kritischen Vorbehalte kann man ein positives Fazit ziehen. Edith Düsing bietet ein komplexes Porträt der geistigen Existenz Nietzsches in ihren individuellen Antrieben und historischen Voraussetzungen, in einer glänzend geschriebenen Darstellung. Theo Meyer (Würzburg)
DIETER HARMENING: WÖRTERBUCH DES ABERGLAUBENS Stuttgart: Reclam 2005, 520 S.
Geistige Intensität, enzyklopädisches Wissen und enorme Sammelleidenschaft – dies sind die Merkmale eines Wörterbuchs, das sein Sujet mit höchster Akribie ausleuchtet. Mit einem sehr extensiven Aberglaubensbegriff, der historisch von der Antike bis zur frühen Neuzeit reicht und systematisch nahezu die gesamten Strömungen der abendländischen Geistesgeschichte, der europäischen Tradition, umfaßt. Der Verfasser präsentiert einen immensen Themen- und Motivkreis. Philosophisch-theologische Begriffe, magisch-kultische Vorstellungen und alltäglich-praktische Wahrnehmungen und Verhaltensweisen sind ebenso vertreten wie naturwissenschaftliche bzw. naturphilosophische Termini. Zugleich tauchen neben den Sachbegriffen immer wieder Personennamen, hauptsächlich Philosophen und Theologen, auf – sofern sie Phänomene des Aberglaubens tangieren oder vertreten. Die über tausend Lemmata werden inhaltlich und vor allem auch quellenkritisch exakt analysiert. Da Harmening seinen Aberglaubensbegriff extrem weit ausdehnt, geraten auch die vielfach als ‚realistisch‘ angesehenen Sachverhalte in einen verschwebenden Bezug, sodaß sich die sogenannte Wirklichkeit als instabil erweist bzw. in spezifischen Aspekten von der Wahrnehmungsform Aberglaube mitgeprägt sein kann. In diesem kulturhistorischen Pandämonium, in dem der „Aberglaube“ nicht nur „Magie“, „Mantik“ und „Zauber“ (S. 9, 11), sondern auch unmittelbare Wahrnehmung von Realien mitumfaßt, bleibt buchstäblich kein Stein auf dem anderen. Es zeigt sich, daß der Aberglaube nicht nur negativ besetzt ist als Wahn, sondern als eine die Wirklichkeit mitkonstituierende Wahrnehmungs- und Denk-
474 form auch eine positive Bedeutung hat. Damit könnte man allerdings die zugespitzte Frage aufwerfen: Welche Erkenntnis ist frei von Aberglauben? In einer zu weit gespannten Bedeutung könnte der Begriff „Aberglaube“ überstrapaziert werden. Es ist die Intention des Werkes, den Aberglauben als historisches Phänomen ins Blickfeld zu rücken. Im Unterschied zur bisherigen Forschung, die den „Aberglauben“ primär als geschichtsloses Phänomen, gewissermaßen als anthropologische Konstante auffaßt, analysiert und definiert Harmening den Aberglauben und die mit ihm zusammenhängenden Begriffe, Symbole, Bilder in ihrer historischen Entwicklung, mit all ihren komplizierten Verzweigungen und Querverbindungen. Er untersucht den Rezeptionsprozeß des Aberglaubens seit der Antike. So zeigt er beispielsweise, wie die naturgeschichtliche Enzyklopädie Naturalis historia von Plinius d.Ä. eine eminente historische Wirkung ausgeübt hat, von der Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance (S. 344). Hervorzuheben ist der außerordentlich hohe Informationswert der einzelnen Lemmata. So wird auf wenigen Seiten das Merkwort „Dämonologie“ in seiner sachlichen Komplexität und historischen Entwicklung in perfekten Abbreviaturen dargestellt, die im Grunde einer Abhandlung gleichkommen (S. 101-106). Ähnlich verhält es sich mit einem Lemma wie „Hexe“, bei dem in präziser Abbreviatur eine Entwicklung von christlicher Dämonologie bis zur Kritik des Hexenwahns nachgezeichnet wird (S. 205-209). Daß sich an das Schlüsselwort „Hexe“ in additiver Reihung die Nebenbezeichnungen von „Hexen-Einmaleins“ bis „Hexenwaage“ anschließen (S. 209-213), steckt die ganze assoziative Bedeutungsbreite der Zentralvokabel ab. Wie detailliert, wie akribisch der Autor vorgeht, zeigt auch ein umfangreicher Artikel wie „Astrologie“, der in seinen diversen Bedeutungsvarianten von der Antike über das Mittelalter bis zur Renaissance, ja zur Klassik und zur Gegenwart gekennzeichnet wird (S. 47-52). Zu Recht verweist der Autor auf den Brief Goethes an Schiller vom 8.12.1798, in dem es heißt: „Der astrologische Aberglaube ruht auf dem dunkeln Ge-
475 fühl eines ungeheuren Weltganzen.“ Aufschlußreich ist allerdings Schillers Antwortbrief vom 11.12.1798, in dem er eine gewisse kritische Reserve gegenüber der Astrologie zum Ausdruck bringt, wenn er schreibt, es habe wohl ein „böser Genius“ über ihm gewaltet, daß er im Wallenstein „das astrologische Motiv nie recht ernsthaft anfassen wollte“. Im Wallenstein appelliert Illo an die Eigeninitiative, das freie Handeln des auf die „Sternstunde“, die „himmlischen Gestirne“, die „Schicksalsmächte“ vertrauenden Wallenstein: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“ (Wallensteins Lager, II, 6). Die beiden Olympier haben eine unterschiedliche Einstellung zum „Aberglauben“. Schiller enthusiastisch in der frühen Schrift Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen: „Izt nehmen die Künste einen kühneren ungehinderten Schwung, izt gewinnen die Wissenschaften ein reines geläutertes Licht, Naturgeschichte und Physik stürzen den Aberglauben“ (NA 20,55). In der Schrift Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? werden „richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle“ als neues Lebensgefühl gepriesen: „der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht“ (NA 20,97 f.). In der Schrift Vom Erhabenen wird die Epoche der „Herrschaft“ des „Aberglaubens“ als ein „Reich des Schreckens und der Furcht“ geächtet (NA 20,188). Spricht Schiller in diesen Abhandlungen ein Verdikt über den Aberglauben aus, aus dem Geiste der Aufklärung1, so verhält sich Goethe in dieser Frage moderater, ambivalenter. So sieht er im Aberglauben ein schöpferisches Element: „Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deswegen schadet’s dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein.“ (Maximen und Reflexionen, HA 12,494) Shakespeare spiele mit „Wahn und Aberglauben“, mit „außerirdischen Wesen“, „tragischen Gespenstern“, zum Zwecke der Reinigung der Dichtung – ohne „das Absurde vergöttern zu müssen“ und auf die „Vernunft“ zu verzichten (Calderons „Tochter der Luft“, HA 12,305). Motive des Aberglaubens wer-
476 den als Metaphern menschlicher Gefühlsregungen verstanden. Darüber hinaus kann der Aberglaube Wahrheiten zutage fördern. Goethe zitiert Justus Möser: Der „Aberglaube“ drücke „gewissen Wahrheiten“ ein „Zeichen“ (in der Volkssprache „Wahrzeichen“) auf (Justus Möser, HA 12,320 f.). So kann der Aberglaube in der Sicht Goethes kreative und kognitive Funktionen ausüben. „Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen“ (Wilhelm Meisters Wanderjahre HA 8,292). Goethe äußert aber auch (entschiedene) Kritik am Aberglauben: „der Glaube hat die Künste wieder hervorgehoben, der Aberglaube hingegen ist Herr über sie geworden und hat sie abermals zugrunde gerichtet“ (Italienische Reise, HA 11,106). Dies führt vor die Frage nach dem Verhältnis von Aberglauben und Glauben. Beide Begriffe exakt zu definieren ist kaum möglich, da sich zum einen eine grenzscharfe Trennung nicht vornehmen läßt und spezifische Mischungsverhältnisse vorliegen und zum andern beide Kategorien sich nicht zeitlos-normativ, sondern nur konkret-historisch erfassen lassen.2 Es kommt hinzu, daß beide Phänomene nicht am Maßstab der Logik zu messen sind. „Aberglaube ist nicht als Ausdruck einer (…) Vorstufe des Logischen, sondern als Ausdruck einer habituellen Geistigkeit zu begreifen“ (so Harmening im Vorwort des Wörterbuchs, S. 12). Es ist die Frage, ob diese Bestimmung nicht auch auf den Glauben zutrifft. Nicht zu übersehen ist zudem der soziologische Aspekt. Inwieweit kann ein ‚Aberglaube‘ durch offizielle Deklarationen und eine entsprechend disponierte Bevölkerungsmehrheit zum ‚Glauben‘ erklärt werden, und, vice versa, inwieweit kann ein ‚Glaube‘ durch massive politische Eingriffe, aber auch durch eine Psychologie der Enthüllung zum ‚Aberglauben‘ abgewertet werden? Das tertium comparationis von Glaube und Aberglaube ist das Für-wahr-Halten eines Sachverhalts, eines Geschehens, einer Idee. Beide Phänomene können nicht mit dem Anspruch absoluten Wissens auftreten. Aber auch das Verhältnis vom Glaube und Wissen ist ein Spezialproblem. Der Aberglaube in seinen extremen Zuspitzungen ist ein
477 Glaubensfanatismus. So sind Hexenwahn und Rassenwahn pathologische Entartungen eines sich auf einen ‚Glauben‘ berufenden ‚Aberglaubens‘. Hier könnte man den historischen Bogen schlagen von der spätmittelalterlichen zur neuzeitlichen Dämonologie. Schon diese wenigen Andeutungen zeigen die Komplexität und Schwierigkeit der Glaube-Aberglaube-Relation. Schließlich stellt sich die Frage nach der Relevanz des Aberglaubens in der neueren Geschichte, ja aktuellen Gegenwart. Die Forschung darf sich nicht auf die historische Retrospektive beschränken, sondern ist aufgefordert, auch die neueren, zeitgenössischen Formen des ‚Aberglaubens‘ zu untersuchen. Dabei geht es nicht nur um die usuellen, täglichen Redensarten des ‚kleinen Aberglaubens‘3, sondern auch und vor allem um bestimmte anthropologische, politische, ideologische Weltbilder. In seiner zeitkritischen Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931) bezeichnet Karl Jaspers „Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie“ als die „heute verbreitetsten Verschleierungen des Menschen“4. Sie sind „selbst der Ausdruck eines Glaubens“5; man könnte hinzufügen eines Aberglaubens. Die Gefährlichkeit solchen ‚Glaubens‘ bzw. ‚Aberglaubens‘ zeigt sich besonders in den kriminellen, tödlichen Konsequenzen der NS-Rassentheorie. Eine weitere Pervertierung eines politischen ‚Glaubens‘ zeigt sich in der Verunstaltung des Marxismus im stalinistischen Terror. Hier steht auch der Begriff „Dämonologie“ an, von Harmening im Wörterbuch bis zur frühen Neuzeit in seinen vielfältigen Varianten detailliert kodifiziert (S. 101-106). Goethe zeigt sich besorgt über die von einzelnen Menschen ausgehende suggestive, gewaltsame Wirkung des „Dämonischen“. Das „Dämonische“ „bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht“ (Dichtung und Wahrheit, HA 10,177). Aber Goethe nennt auch „dieses unaussprechliche Welt- und Lebensrätsel“ das „Dämonische“ (so Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 466, 28.2.1831). Das Dämonische erscheint als Schicksalsmacht. Dabei verweist Goethe auf den historischen Wandel. So sagt er über das „Dämonische“:
478 „auch wählt es sich gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren“ (ebd, S. 492, 30.3.1831). Hat das „Dämonische“ bei Goethe noch die Aura des Numinosen, so degeneriert es im 20. Jahrhundert zu einem nihilistischen Irrationalismus. In seiner Schrift Der philosophische Glaube (1948) charakterisiert Karl Jaspers „die Dämonologie, die Menschenvergötterung, den Nihilismus“ als „drei Beispiele des philosophischen Unglaubens“, d.h. des Verlustes der Transzendenz.6 Nach Hinweisen auf die Geschichte der Dämonologie von mythischer Urerfahrung über den „Einbau des Dämonischen“ in den „Gottesgedanken“ und die „mythische Unterordnung der Dämonen als Engel, Boten und Mittler der Gottheit und des Teufels“ bis zur „Dämonologie“ als Unwirklichkeit und „Täuschung“ „in unserer heutigen Welt“ zieht Jaspers das Fazit: „Dämonen gibt es nicht.“7 Im Hinblick auf eine Phänomenologie des neuzeitlichen, aktuellen ‚Aberglaubens‘ könnte Harmenings Wörterbuch des Aberglaubens eine quellenkritische Basis sein, in der die historischen Voraussetzungen ‚moderner‘ Idolatrien deutlicher als bisher erkennbar würden. Harmenings generelle, durch viele Einzelanalysen verifizierte Definition des „Aberglaubens“ als „jenes Glaubens, der hinter u. in den Dingen verborgen, rational nicht begründbare, anonyme o. personifizierte Kräfte vermutet“ (S. 21), wäre eine tragfähige Grundlage der Analyse der ‚Ideale‘, mit denen fanatische Glaubenskämpfer sich ideologisch, politisch oder religiös drapieren. Insofern ist Harmenings Wörterbuch des Aberglaubens nicht nur von historischem, sondern darüber hinaus von aktuellem Interesse. Theo Meyer (Würzburg)
479 Anmerkungen 1 Zu den verwickelten (integrativen und antithetischen) Beziehungen zwischen Aberglaube und Aufklärung vgl. Hermann Bausinger, Aufklärung und Aberglaube (1961/1963), in: Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens, hrsg. von Dietz-Rüdiger Moser, Darmstadt 1992, S. 269-290. 2 Zu den komplizierten Beziehungen (Interferenzen und Antithesen) zwischen Aberglaube und Glaube vgl. Peter Assion, Literatur zwischen Glaube und Aberglaube. Das mittelalterliche Fachschrifttum zu Magie und Mantik (1979/1990), in: Glaube im Abseits, S. 169-196. 3 Dazu Lutz Röhrich, Formen und Erscheinungsweisen des Aberglaubens in der Gegenwart (1977), in: Glaube im Abseits, S. 133-168. 4 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931), Berlin 1947, S. 142. 5 Ebd., S. 144. 6 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1951 (1948), S. 91. 7 Ebd., S. 93.
Ausgaben und Siglen Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, München 1982 – Zitatangabe: Sigle HA mit arabischer Band- u. Seitenzahl. Schillers Werke. Nationalausgabe, hrsg. von Julius Petersen u.a., Weimar 1943 ff. – Zitatangabe: Sigle NA mit arabister Band- u. Seitenzahl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Ernst Beutler, München 1976 (1948). Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. von Emil Staiger, Frankfurt/M. 1977, (1966).
Redaktionsnotiz
Mitarbeiterliste 2007 Prof. Dr. Edith Düsing, Am Galgenberg 10, D-57271 Hilchenbach Prof. Dr. Dagmar Fenner, Philosophisches Seminar der Universität Basel, Nadelberg 6-8, CH-4054 Basel Christian Fernandes, Otto-Hahn-Str. 43, D-97218 Gerbrunn Prof. Dr. Edgar Früchtel, Mauerkircher Straße 84, D-81925 München PD Dr. phil. habil. Jürgen Große, Fischerinsel 2/20.10, D-10179 Berlin Prof. Dr. Dieter Harmening, Ludwigstr. 9, D-97291 Thüngersheim Dr. Kurt Mager M.A., Schinkelstr. 9,D-44801 Bochum Prof. Dr. Theo Meyer, Hessenstr. 72, D-97078 Würzburg Dr. Rainer Noske, Rüngsdorfer Straße 22, D-53173 Bonn PD Dr. phil. habil. Leonhard Richter, Scharoldstraße 16, D-97080 Würzburg PD Dr. phil. habil. Rainer Schäfer, Philosophisches Seminar der Universität Heidelberg, Schulgasse 6, D-69117 Heidelberg Dr. Martina Scherbel M.A., Roßbergweg o. Nr., D-97082 Würzburg
Redaktion:
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger † (Würzburg); Herausgegeben von Wiebke Schrader (Würzburg); Georges Goedert (Luxemburg) und Martina Scherbel (Würzburg)
Redaktion: Prof. Dr. Wiebke Schrader, Würzburg Mitglieder der Redaktion: Dr. Martina Scherbel M.A. (verantwortlich); Dr. Dorothea Grund M.A., Erika Müller (techn. Koordination)
Anschrift der Redaktion: Prof. Dr. Wiebke Schrader Frankenstraße 33/35, D-97249 Eisingen Tel. ++49(0)9306 1209 Fax ++49(0)9306 983760 e-mail:
[email protected] oder Institut für Philosophie der Universität Würzburg Lehrstuhl II Residenzplatz 2, D-97070 Würzburg
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PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger † (Würzburg); herausgegeben von Wiebke Schrader (Würzburg); Georges Goedert (Luxemburg) und Martina Scherbel (Würzburg). Das „Neue Jahrbuch“ nimmt die Intentionen des ehemaligen Jahrbuchs „Philosophische Perspektiven“ (1969 – 1973) auf.
Band 1 enthält Beiträge zum Thema „Vernunft in Wissen, Beschreiben und Handeln“ (Rudolph Berlinger, Friedrich Kaulbach, Fred Kersten, Hans Lenk, Hermann Lübbe, Wiebke Schrader); sowie Abhandlungen zum Ödipus-Problem bei Nietzsche (Eric Blondel); zu Spiel und Feier (Eugen Fink); zur phänomenologischen Ästhetik, Teil I (Gerhard Funke); zum Buddhismus (Masako Odagawa) und zu Solons Staatselegie (Ernst Siegmann). In diesem Band werden zum ersten Mal die Reden zum Tode Edmund Husserls (Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Jan Patoãka) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Würdigung der Philosophen Wolfgang Cramer (Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda) und Aron Gurwitsch (Fred Kersten) schließt diese Rubrik ab. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1975 Band 2 mit Beiträgen zum Thema „Ende oder Zukunft der Metaphysik“ (Franco Chiereghin, Wilhelm Ettelt, Jacques d’Hondt, Dieter Lang, Martin Oesch, Josef Stallmach, Xavier Tilliette); sowie Abhandlungen zur phänomenologischen Ästhetik, Teil II (Gerhard Funke); zur Rechtsphilosophie Hegels (Klaus Hartmann); zur klassischen Ästhetik (Walter Hirsch); zur Struktur geschichtsphilosophischer Aussagen (Paul Janssen); zum Bildnis des Sokrates (Thuri Lorenz); zu Comte und d’Eichthal (Magda Felice-Oschwald) und zum Drama des bürgerlichen Humanismus (Jean Servier). Dem Andenken an Heinz Heimsoeth (Wolfgang Janke) und Eugen Fink (Gerhard Schmidt) gelten zwei Beiträge. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1976 Band 3 mit Beiträgen zum Thema „Zur systematischen und praktischen Philosophie“ (Rudolph Berlinger, Roderick M. Chisholm, Gerhard Frey, Friedrich Kaulbach, Manfred Riedel, Julius Jakob Schaaf, Wiebke Schrader) und Abhandlungen zur Problemgeschichte der Neuzeit: Aristoteles’ Lehre vom Guten (Franz Brentano); Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche (Jean Granier); Vollendeter Humanismus (Wolfgang Janke); Schopenhauers „Kritik der Kantischen Philosophie“ (Johann-Heinrich Königshausen); Montesquieu und die „gesellschaftliche Funktion“ der Religion (Hugo Laitenberger); Das Prinzip der phänomenologischen Intelligibilität bei Aron Gurwitsch (Guiseppina Moneta); Das principium identitatis indiscernibilium des Leibniz (Hans Radermacher); Die psychoanalytische Kritik Freuds am Philosophieren (Alfred Schöpf); Das Land der Wahrheit ist eine Insel (Wilhelm Teichner). Dem Andenken von Jan Patoãka ist ein Beitrag von Ludwig Landgrebe gewidmet. – Buchanzeigen und Rezensionen. Hildesheim 1977
Band 4 enthält den ersten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Friedrich Kambartel, Yvon Belaval, Rudolph Berlinger, Josef Derbolav, Gerhard Funke, Erich Heintel, Ulrich Hoyer, Friedrich Kambartel, Stephan Körner, Hans Lenk, Klaus Mainzer, Jürgen Mittelstraß, Manfred Riedel, Wiebke Schrader und Oswald Schwemmer. Außerdem folgende Abhandlungen: Der Ansatz einer Dialektik der Natur bei Marx (Mihailo Djuriã); Die Beherrschung der Wirtschaft durch schöpferisches Denken (Eugen Fink); Mystische Erfahrung und Sprache (Alois M. Haas); Der metaphysische Sinn topologischer Ausdrücke bei Augustin (Shinro Kato); Anthropologie als Grundwissenschaft (Erich Christian Schröder); Der Gott des Monadenalls. Gedanken zum Gottesproblem in der Spätphilosophie Husserls (Stephan Strasser); Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie. Eine Erinnerung an die Grundintention des Gesamtwerkes von Wilhelm Dilthey (Carl Ulmer); Das Vorurteil des Hierarchismus (Jörg Willer). – Buchanzeigen von Enrico Berti, Wilhelm Ettelt, Georges Goedert, Helmut Kuhn, Yoitiro Kumada, Wilhelm Teichner und Alfred Schöpf. Hildesheim 1978 Band 5 enthält den zweiten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Ralf Dreier, Volker Gerhardt, Joachim Kopper, Norbert Herold, Wolfgang Ritzel, Helmut Schelsky und Wiebke Schrader. Außerdem folgende Abhandlungen: Die Frage nach dem Ende der Geschichte (Mihailo Djuriã); Das transzendentale Ich als Seiendes in der Welt (Robert Welsh Jordan); Axel Hägerström. Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Dieter Lang); Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Axel Hägerström); Transzendentale Fundamente der Moral in der Person (Wolfgang Marx); Anthropologie – Pro und Contra (Julius Jakob Schaaf); Gebildete Sinne – Bedingung glückenden Daseins (Hubertus Tellenbach); Der Satz vom Grund als transzendentales Prinzip der Seinserschließung (Beda Thum); Das empirische Denken Carl Braigs (1853-1923) (Franz Träger). – Buchanzeigen und Rezensionen von G.A. Rauche und Dieter Wyss. Hildesheim 1979 Band 6 enthält Beiträge zum Thema „Aneignung und Vermittlung“: Zum „künftigen Denken“ aus der Ferne (Yoshiaki Yamashita); Die Struktur des ästhetischen Bewußtseins bei K.W.F. Solger. Die Bedeutung der dialektischen Ironie (Kiyokazu Nishimura). Außerdem „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Conditionalität. Ein Problem der spekulativen Grammatik (Rudolph Berlinger); „Wohin?“, „Wozu?“: Ein Kulturproblem. Wahrheit und Leben bei Hume und Nietzsche (Eric Blondel); Die Abhängigkeit der Methoden von den Zielen der Wissenschaft. Überlegungen zum Problem der „Letztbegründung“ (Matthias Gatzemaier); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Die Idee der Humanität. Zur Geschichte und Problematik der Menschenrechte (Walter Hirsch); Ist der Marxismus ein Existenzialismus? Eine Umkehrung (Wolfgang Janke); Das perspektivische Wirklichkeitsprinzip in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ (Friedrich Kaulbach); Alexander Pfänder: Welche Probleme stellt die heutige Zeit der Philosophie? Zwei Rundfunkvorträge aus dem Jahre 1927 (Eberhard AvéLallement); Die Erprobung der Mitte. Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse II) (Wiebke Schrader); Extralinguistische Prozessualität und Verbalsemantik (Klaus Trost); Die Aufnahme der Philosophie Spinozas im Denken Schillers (Winfried Weier). – Buchanzeigen und Rezensionen. „Zur Erinnerung an Willi Lautemann“ (Ein Gedenken der Schüler). Hildesheim 1980 Band 7 enthält Beiträge unter dem Titel „Friedrich Nietzsche: Interpretation und Kritik“: Nietzsches Erschließung der europäischen Moralistik (Hans Peter Balmer); Nietzsches arkadische Landschaft (Rudolph Berlinger); ‚Götzen Aushorchen‘: Versuch einer Genealogie der Genealo-
gie (Eric Blondel); Zum Begriff der Macht bei Friedrich Nietzsche (Volker Gerhardt); Zur Notwendigkeit des Bösen in Nietzsches Projekt vom Übermenschlichen (Georges Goedert); Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen (Friedrich Kaulbach); Fichte und Nietzsche (Oswaldo Market); Die metaphysische Rescendenz im Denken Nietzsches (KarlHeinz Volkmann-Schluck). „Vermischte Abhandlungen“: Konkretisierte Existenzstrukturen in Sartres Tragödie „Die schmutzigen Hände“ (Margot Fleischer); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Phänomenologie der Zeit nach Husserl (Klaus Held); Theorie der Leiblichkeit. Eine Skizze (Shinro Kato); Lavelles philosophische Selbstbezeugung (eingel. v. Karl Albert – übers. v. Konrad Jacobs); Das Recht der spekulativen Erkenntnis (Gerhart Schmidt); Die Erprobung der Mitte. Eine Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse III) (Wiebke Schrader); Denkt die Wissenschaft nicht? (Josef Stallmach); Die absolute Idee als begreifendes Anschauen. Bemerkungen zu Hegels Begriff der spekulativen Idee (Günter Wohlfart). „Buchbesprechungen und Diskussionsbeiträge“: Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum (Edgar Früchtel); Eugen Fink: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung (Paul Janssen); Heinrich Beck. Kulturphilosophie der Technik. Perspektiven zu Technik – Menschheit – Zukunft (Günther Pöltner). Hildesheim 1981 Band 8 enthält Beiträge unter dem Titel „Individuum und Daseinsbedingung“: Bildnisse griechischer Philosophen – Die Kyniker (Thuri Lorenz); Die Dringlichkeit der Frage nach dem Individuum (Wiebke Schrader); Das Individuum in Gestalt der Person (Rudolph Berlinger); Das Problem des Menschen und der Natur bei Dogen (Kogaku Arifuku); Philosophische Aspekte von Wagners »Tristan und Isolde« (Margot Fleischer); Das Individuum in der japanischen Ästhetik (Kazuyoshi Fujita); Gerechtigkeit in der Gesellschaft und die Freiheitsrechte des Individuums (Fritz-Peter Hager); Das Individuum in der Philosophie John Lockes (Norbert Herold); Herrschaft und Nähe (Pierre Pénisson); Der Prozess im Subjekt – Das Subjekt im Prozess (Wiebrecht Ries); Relationstheoretische Analyse des gesellschaftlichen Seins (Julius Schaaf); unter dem Titel „Philosophie und Praxis der Erziehung“: Erziehungsnormen und das geltende Recht (Heinrich Kanz); Die taxonomischen Stufen als Bildungsproblem (Wolfgang von der Weppen). „Vermischte Abhandlungen“: Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 1. Teil (Gerhard Funke); Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen (Kurt Ruh); L’existence injustifiée. Überlegungen zu Jean-Paul Sartres Roman La Nausée (Dieter Lang). Unter dem Titel „In Memoriam“: Ansprache zur Bestattung von Karl Ulmer (Rudolph Berlinger); Philosophieren im Zeitalter der metaphysischen Reszendenz. Zum Tode von Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Wolfgang Janke). „Buchanzeigen und Diskussionen“: Dieter Lang. Wertung und Erkenntnis (Thomas Mautner) sowie eine Notiz zur Gesamtausgabe der Schriften Karl Bühlers. Amsterdam 1982 Band 9 enthält Beiträge unter dem Titel „Zur frühen Heidegger-Kritik“: Grenzen und bleibende Bedeutung von Heideggers „Sein und Zeit“ (Hansgeorg Hoppe); Das Sein Heideggers als Beziehung (Julius Schaaf); Kritik und Rezeption von „Sein und Zeit“ in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen (Claudius Strube); Kant und das Problem der Sprache bei Heidegger (Günter Wohlfart); „Philosophie der Erziehung“: Bildungsphilosophisch-theoretische Ansätze der Erziehungswissenschaft (Josef Derbolav); Bildung im technischen Zeitalter (Walter Hirsch); Herr der Welt. Mit J.A. Comenius unterwegs zu einer Pädagogik der Rationalität und Intersubjektivität (Klaus Schaller). „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Phänomene (Rudolph Berlinger); Das Mathematische als Daseinsbedingung (Wilhelm Ettelt); Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 2. Teil (Gerhard Funke); Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises. Anselm und Parmenides (Klaus Held); Zweifel und Überzeugung. Peirces Kritik an
der Cartesischen Zweifelsargumentation (Jochem Hennigfeld); Das Wahrheitsproblem des Aristoteles. Zum Ansatz der Problematik (Johann-Heinrich Königshausen); Sittliche Einsicht und Normenethik. Das Aristotelische Grundlegungsproblem (Jürgen-Eckardt Pleines); Fichtes Wissenschaftslehre in der zeitgenössischen Kritik (Martin Oesch). „Nachruf“: Nachruf auf Alois Dempf (Rainer Specht). „Zur Diskussion“: Zur Erneuerung der Frage nach der „Ersten Wissenschaft“ (Wiebke Schrader); Zum Gegenstandsbereich der Hermeneutik (Hans Köchler); Anaximander – eine Studie (Christian Többicke). „Rezensionen“: Hans-Dieter Voigtländer: Der Philosoph und die Vielen (C. Joachim Classen); James P. Lowry: The Logical Principles of Proclus’ Stoicheiosis Theologike as Systematic Ground of the Cosmos (Edgar Früchtel); W. Helleman-Elgersma: Soul Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus (Edgar Früchtel). Buchanzeige: J.-E. Pleines. Praktische Wissenschaft. Erziehungswissenschaftliche Kategorien im Lichte sozialphilosophischer Kritik (Jürgen-Eckardt Pleines); Josef Derbolav. Abriß europäischer Ethik. Die Frage nach dem Guten und ihr Gestaltwandel (Lothar Wigger). Amsterdam – Würzburg 1983 Band 10 enthält unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen (Klaus Hartmann); Hegel on International Law (Michael H. Mitias); Praktische Philosophie als Philosophie des Politischen (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Über Bildung und ihr Maß (Theodor Ballauff); Die pädagogischen Schriften Ernst Blochs (Ernst Hojer); Der Schulbegriff in Hegels Gymnasialreden (Lothar Wigger); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Philosophie und Religion bei Louis Lavelle (Karl Albert); Transzendentalphilosophie und Psychologie. Zum Begriff der „Phänomenologischen Psychologie“ bei Husserl (Gerhard Arlt); Vom Sprachgrund der Welt. Ein Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Portrait im Gegenlicht – G.W.F. Hegel (Johann Ludwig Döderlein); Zur Motivation des Handelns bei Homer (Hartmut Erbse); Aristoteles’ Zenon-Kritik (Karen Gloy); Wie ist Monadologie möglich? (Klaus Erich Kaehler); Apriorität des Denkens bei Kant (Johann-Heinrich Königshausen); Raphael und das antike Rom. Bemerkungen zu seinem Brief an Leo X (Thuri Lorenz); Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1-3 und eine deutsche Predigtsammlung (Kurt Ruh); Aristoteles’ „Erste Wissenschaft“ als Relationstheorie betrachtet (Julius Schaaf); Wie kommt der Gott in das Denken? Ein Problemaufriß (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Rezensionen und Buchanzeigen“: Dieter Wyss. Zwischen Logos und Antilogos. Untersuchungen zur Vermittlung von Hermeneutik und Naturwissenschaft (Lothar Eley); Platonismus und Christentum. Festschrift für Heinrich Dörrie (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1984 Band 11 enthält unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Von der Sinnlichkeit des Geistes. Eine morphopoietische Reflexion zur Sprache (Rudolph Berlinger); Phänomenologie des Gewissens im Zusammenhang von „Sein und Zeit“ (Heinrich Hüni); Sprachverlorenheit und Winke der Götter (Wolfgang Janke); Zeit und Zeitlichkeit. Zeit als Realisierungsbedingung der Erkenntnis und die Zeitlichkeit des Erkennens (Paul Janssen); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. I. Teil (Bernulf Kanitscheider); Sartres Begriff der menschlichen Freiheit. Übersetzt von Gerhart Schmidt (Guy Planty-Bonjour); Selbstnegation und Vermittlung (Julius Schaaf); Fragen philosophischer Propädeutik (Leonhard G. Richter); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? I. Teil (Wiebke Schrader); Der Naturbegriff in John Lockes „Essay“ (Rainer Specht); Geschichte und ihre Zeit. Erörterung einer offenen philosophischen Frage (Elisabeth Ströker); Die Verantwortung der Philosophie als Wissenschaft oder die Verwechslung des Einfältigen mit dem Einfachen (Karl Ulmer †); unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen. II. Teil (Klaus Hartmann); Die Idee bei Platon und Kant und das Staatsideal (Walter Hirsch); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Platons Ideen zur
Kulturkritik und zur Neubegründung der Kultur und Bildung (Fritz-Peter Hager); Giovanni Gentile: Pädagogik zwischen Idealismus und Faschismus (Ernst Hojer); Das Problem der Normenbegründung und die Pädagogik (Herbert Zdarzil); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Einige Bemerkungen zu Fritz-Peter Hagers Platonforschung (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1985 Band 12 enthält unter dem Titel „Griechische Philosophie im Manichäismus. Zum Problem von Gnostik und Mystik“: Denkformen hellenischer Philosophie im Manichäismus (Alexander Böhlig); Syzygos und Eikon. Manis himmlischer Doppelgänger vor dem Hintergrund der platonischen Urbild-Abbild-Theorie (Wolfgang Fauth); Weltflucht und Weltentfremdung. Zur Interpretation von Plotin II,9,13 (33,13) (Edgar Früchtel); Gnostik, Urform christlicher Mystik (Carl-A. Keller); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Metaphysik der Weltgestaltung. Das morphopoietische Problem (Rudolph Berlinger); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. II. Teil (Bernulf Kanitscheider); Vorüberlegungen zur Bedeutung der aristotelischen Problemformel „tò ºn " ªn“ – zu Met. G 2,1003 b 6-10 (Johann-Heinrich Königshausen); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? II. Teil (Wiebke Schrader); Bemerkungen zu G.W.F. Hegels Interpretation von Aristoteles’ „De anima“ III 4-5 und ‚Metaphysica‘ XII 7 u. 9 (Horst Seidl); unter dem Titel: „Philosophie der Erziehung“: Humanität als Prinzip des Staates bei Wilhelm von Humboldt (Clemens Menze); Die Wissenschaft als Orientierungspunkt der Universitätsreform (Hermann Röhrs); unter dem Titel: „Diskussionsteil“: Moralisches Sollen, Autonomie und gutes Leben. Zur neueren Ethik-Diskussion (Hans Krämer); unter dem Titel: „Buchbesprechungen“: Christoph von Wolzogen: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps (Jürgen-Eckardt Pleines); Rudolf Löbl: Die Relation in der Philosophie der Stoiker (Julius Schaaf); und unter dem Titel „Nachruf“: Homo absconditus. Zum Gedenken an Helmuth Plessner (Elisabeth Ströker). Amsterdam – Würzburg 1986 Band 13 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: War am Anfang der Mythos? Auseinandersetzung mit Schellings Rezeption des Johanneischen Logos-Begriffes (Albert Franz); Einige Bemerkungen zu Zeit und Zeitlichkeit in der Platonica Theologia des Marsilius Ficinus (Edgar Früchtel); Über den erkenntnistheoretischen Horizont des Freiheitsbegriffs bei Henri Bergson (Georges Goedert); Monismus und das Problem des Dualismus in der metaphysischen Deutung des Bösen bei Platon und Plotin (Fritz-Peter Hager); Existenziale Ontologie. Ein Problemaufriß (Wolfgang Janke); Freiheit und Wissen. Von der Relevanz eines handlungsirrelevanten philosophischen Wissens für Politik und Pädagogik (Paul Janssen); Die Ursprungsfrage der Ersten Wissenschaft bei Aristoteles und deren „sicherstes Prinzip“ (Johann-Heinrich Königshausen); Tradition und Kritik. Zur Geschichtsphilosophie von Herder und Spengler (Kurt Mager); Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts (Kurt Ruh); Schole als Grundbegriff der Philosophie des Aristoteles (Julius Jakob Schaaf); Nihil veritate antiquius (Gerhart Schmidt); Die Wissensform des Unbewußten im 19. Jahrhundert (Alfred Schöpf); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? III. Teil (Wiebke Schrader); Forschen und Helfen als Normenkonflikt in der Medizin. Möglichkeiten und Grenzen einer ethischen Lösung (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Beiträge zur Klassischen Philologie“: Maledicta, contumeliae, tum iracundiae … indignae philosophia (C. Joachim Classen); Zwei Fragen zur Geschichtsbetrachtung des Thukydides (Hartmut Erbse); Platons ‚undemokratische‘ Gespräche (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Beiträge zur Archäologie“: Ein Bildnis des Platon in Basel (Ernst Berger); Agora (Thuri Lorenz); Theseus und Hekale (Erika Simon); unter dem Titel „Vermischte Beiträge“: Tschernobyl, Zukünfte und Orientierung (Wolf Häfele); Zur philosophischen Implikation der Predigt
(Odilo Lechner); Die Wissenschaft von dem Lebendigen. Gedanken zu der Frage nach dem „Inneren der Natur“ (Thure von Uexküll). Amsterdam – Würzburg 1987 Band 14 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben dem Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: Ist das Lachen philosophisch? Bruchstücke einer Metaphysik des Lachens (Eric Blondel); Zur Frage der Prädestination in Manichäismus und Christentum (Alexander Böhlig); Ob das ächte Schöne erkannt werden könne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz’ ästhetischer Theorie (Peter Böhm); Heideggers Kehren (Walter Bröcker); Homo conscius sui (Gerhard Funke); Ähnlichkeit – falscher Schein – Unähnlichkeit von Platon zu Pseudo-Dionysios Areopagites (Maurice de Gandillac); Grundsätzliches der platonischen skéciw von guter Rede und guter Schrift im Phaidros (Johann-Heinrich Königshausen); Über philosophische Ethik. Probleme angelsächsischer und skandinavischer Positionen (Dieter Lang); Neues über das Systemprogramm? Johann Erich von Berger und Friedrich von Schlegel als dessen Urheber? (Martin Oesch); Europa und sein Erbe. Skizze zu einer Geschichtsphilosophie (Jan Patoãka †); Krugs Begriff einer philosophischen Propädeutik. Überlegungen zu einem Sachproblem (Leonhard G. Richter); Friedrich Nietzsche und Theodor Trajanov: Das Hohelied (Pessen na pesnite) (Heinrich Stammler); Auf dem Weg zu Fichtes Urparadoxie. Eine Überlegung zum Beginn der Wissenschaftslehre 1794 (Franz Träger); Die Problematik des Einen und Vielen in der geschichtlichen Entwicklung des buddhistischen Denkens (Alfonso Verdu); Existenz zwischen Unbedingtheit und Endlichkeit. Die Grundfrage des neuzeitlichen Autonomiegedankens im Problemhorizont der klassischen Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Beiträge zum Recht“: Zur Philosophie des Zivilprozeßrechts, insbesondere zum Prinzip der Fairness (Walther J. Habscheid); Das Versprechen – problemgeschichtliche Aspekte eines rechtsphänomenologischen Paradigmas (Dietmar und Hildegard Willoweit); unter dem Titel „Beiträge zur Slawistik“: Literatur und Religion zu Dostojewskijs Erzählkunst (Wilhelm Lettenbauer †); Entfremdung und Verfremdung in der russischen Literatur und Literaturtheorie (Klaus Trost); Zu Herkunft und Gebrauch der grammatischen Termini Odusevlennyj und Neodusevlennyj im Russischen (Eckhard Weiher); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen (Hans Krämer). Amsterdam – Würzburg 1988 Band 15 enthält unter dem Titel „Beiträge zur Systematik der Philosophie“: Der Mensch als Philosoph und Arzt (Rudolph Berlinger); Sapphos Ode an Aphrodite (Georg Siegmann); Die Architektur der Sprachspiele – zum Konstruktionsprinzip von Wittgensteins Spätphilosophie (HeinzGerd Schmitz); Der Wahrheitscharakter der Metaphysik in Kants Kritik der Urteilskraft (Ingeborg Schüßler); Poiesis und Praxis in der Gliederung der Fundamentalontologie M. Heideggers (Jacques Taminiaux); Problematik des Einen und des Vielen: die Madhaymika-Schule (Alfonso Verdu); unter dem Titel „Kultur und Politik“: Über die Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen bei H. Arendt und E. Weil (Patrice Canivez); Metapolis und Apolitie. Defizite der Wahrnehmung des Politischen in der Kritischen Theorie und bei Jürgen Habermas (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Beiträge zur Pädagogik“: Richard Hönigswalds Beitrag zur Kritik der pädagogischen Vernunft (Erwin Hufnagel); Glück versus Moral (Wolfgang Ritzel); unter dem Titel „Beiträge zur Diskussion“: Die Philosophie Nietzsches in China (Jie Li); Philosophie in Schweden (Dieter Lang); unter dem Titel „Nachruf“: Philosophie von der Sprache her. Zum Gedenken an Bruno Liebrucks (Josef Simon). Amsterdam – Würzburg 1989
Band 16 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil I) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Systematische Philosophie“: Im Menschen wohnt Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug um und durch den Dom von Siena (Mit Bildern) (Rudolph Berlinger); Bemerkungen zur Metaphysik in Gnosis und Philosophie (Alexander Böhlig); Materie – Möglichkeit – Wirklichkeit. Überlegungen zum hypostasierenden Charakter des Denkens Schellings anhand seines „Begriffes einer eigentlichen Geisterwelt“ (Albert Franz); Das Werdenkönnen der Welt und die absolute Wirklichkeit Gottes (Rudolf Haubst); Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons (Hans Krämer); Die Konsequenz von Erkenntnis. Eine metaphysische Marginalie zum Wahrheitsproblem (Leonhard G. Richter); Humanität und Transzendenz (Gerhart Schmidt); Die Bedeutung der Ethik bei Adam Smith (Alfred Schöpf); Die Selbstgewissheit der Alltagssprache. Gedanken zum 100. Geburtstag von Ludwig Wittgenstein und Hans Lipps (Wolfgang von der Weppen); Gerechtigkeit oder Fair Play? Über Schwierigkeiten, mit Idealen zurechtzukommen (Franz Wiedmann); unter dem Titel „Philosophie und Geschichte“: Einige Bemerkungen zum Bild des Seelenwagenlenkers (Edgar Früchtel); Grundfragen einer Philosophie der Geschichte (Kurt Mager); unter dem Titel „Philosophie und Naturwissenschaften“: Atomism, the Theory of Acquaintance, and the Hegelian Dialectic (Katharina Dulckeit); Risiko, Unsicherheit, Undeutlichkeit. Eine Arbeit am Begriff (Wolf Häfele); Goethes Farbenlehre in ophthalmologischer Sicht (Fritz Hollwich); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken in den Anfängen menschlichen Geistes (Erster Teil) (Gerd Pohlenz); Steigt die Lebenserwartung? (Norbert Rietbrock); unter dem Titel „Nachtrag“: Bibliographie Rudolph Berlinger, Nachtrag zu AGORA I und II = Perspektiven der Philosophie, Bde. 13 (1987) und 14 (1988). Amsterdam 1990 Band 17 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil II) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Psychologie – Ontologie – Metaphysik. Zur Tragweite des deskriptiv-phänomenologischen Verfahrens bei Franz Brentano (Wilhelm Baumgartner); Energie – Kreativität – Gott. Anmerkungen zur Metaphysik Alfred North Whiteheads (Peter Böhm); Zeitlichkeit und Ewigkeit. Schellings Theorie der Zeit (Jochem Hennigfeld); Zukunft und Aufgabe der Weltwissenschaft Metaphysik (Tomonobu Imamichi); Hölderlins Zeichen (Wolfgang Janke); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken. Die vorsokratische Bewegung des Denkens. Heraklit (Fortsetzung) (Gerd Pohlenz); Das Einteilungsproblem in Hegels Wissenschaft der Logik (Leonhard G. Richter); Grundpositionen der Neuzeit im Gegensatz zu ihrem metaphysischen Fragehorizont (Winfried Weier); Von der Unumgänglichkeit des Nicht-Anderen für alle Arten des Anderen (Richard Wisser); unter dem Titel „Ethik“: Henri Bergson oder die beiden Quellen der Gerechtigkeit (Georges Goedert); Der „Skeptizismus“ des platonischen Sokrates und der problematische Charakter des Wissens in Rousseaus Kulturkritik (FritzPeter Hager); Georg Henrik von Wright über die Verschiedenheit des Guten und den begrifflichen Rahmen moralischer Urteile (Dieter Lang); Husserls Gedanken zur praktischen Vernunft in Auseinandersetzung mit Kant (Peter Prechtl); Wissenschaftsethik in philosophiegeschichtlicher Sicht (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Anthropologie“: Die Anfälligkeit des Prinzipiellen. Existenzphilosophie und philosophische Anthropologie vor und nach 1933 (Hermann Braun); Mit Jan Patoãka über Philosophie und die Philosophen (Josef Zumr); unter dem Titel „Archäologie“: Tanz und Komos beim Brygosmaler (mit Abbildungen) (Thuri Lorenz); unter dem Titel „Edith Stein“: Philosophin und Heilige. Zu einer Bronzestatue Edith Steins (Odilo Lechner); Ein Husserl-Brief (Faksimile, Transkription) mit einer Anmerkung (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Zeitläufte“: Signal und Chance. Die Krisis des Autoritätsbewußtseins. Eine Rede (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Bibliographie Wiebke Schrader“: Philosophische Publikationen Wiebke Schraders. Amsterdam 1991
Band 18 Zu Ehren von Tomonobu Imamichi. Enthält: Philosophische Geisteshaltung, Memorabilien für Tomonobu Imamichi 19.11.1992 (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Das Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie am Beispiel des „Peri Hermaneias“ von Aristoteles (Pierre Aubenque); Différences culturelles et visé d’universalité en philosophie (Venant Cauchy); Geschichte der abendländischen Mystik. Eine Veröffentlichung von Kurt Ruh (Alois Haas); Über den Sinn des Schattens in der Metaphysik (Noriko Hashimoto); Die ontologische Differenz. Grundriß einer Metaphysik der Erfahrung (Vittorio Mathieu); Abwesenheit als Weise der Gegenwart: Vom „Wir“ zur gesellschaftlichen „dritten“ Person (Marco Olivetti); Der Weltweisheit fünfter Teil. Zum Metaphysikbegriff Christian Wolffs (Leonhard G. Richter); Sur un autoportrait de Rembrandt (Paul Ricoeur); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? [1. Teil] (Wiebke Schrader); Hannah Arendt’s Deconstruction of Metaphysics (Jacques Taminiaux); Rudolph Berlingers Metaphysik. – Erste Phase (Jiro Watanabe); Die philosophische Sicht der Dinge (Franz Wiedmann); Ladislav Klímas Revolte gegen die Absurdität der Welt (Josef Zumr); unter dem Titel „Ethik“: Grundlegungsfragen ärztlicher Ethik (Rudolph Berlinger); Le retour de l’éthique (Peter Kemp); „Das Recht, ein Mensch zu sein“ oder Forderungen der Bedingungen ethischen Handelns (Ioanna Kuçuradi); unter dem Titel „Recht“: Locke’s Almost Random Talk of Man: The Double Use of Words in the Natural Law Justification of Slavery (Robert Bernasconi); unter dem Titel „In Memoriam“: Zum Tode von Wilhelm Krampf (Ulrich Weiß); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die Dihairesen in Platons Sophistes (Peter Kolb); Parallelen zwischen Platons Sophistes und Aristoteles’ Met. G? (Johann-Heinrich Königshausen); Ein Rückblick (Edgar Früchtel); unter dem Titel „Bibliographien“: Philosophische Publikationen Tomonobu Imamichis; Philosophische Publikationen Rudolph Berlingers. Amsterdam 1992 Band 19 enthält unter dem Titel „Systematik“: Warum ist Denken überhaupt möglich? Zur Seinswissenschaft der Logik. Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Das Wesen der Frage und das Problem der Wahrheit im Horizont von Dialektik und Hermeneutik (Franco Chiereghin); Überlegungen zum Augustinischen Memoria-Begriff im Anschluß an einen Beitrag von R. Enskat (Dorothea Günther); Deskription und transzendentale Weltsicht. Zum Problem der Einleitung in die transzendentale Phänomenologie mittels der Deskription einer natürlichen Erfahrungswelt (Paul Janssen); Specimina humana (Wolfgang Ritzel); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? (II) (Wiebke Schrader); Die transzendentale Reduktion als die Leistung eines unbeteiligten Zuschauers (Martina Scherbel); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Zur philosophischen Mystik Meister Eckharts (Karl Albert); Leonardo Bruni Aretinos Studienprogramm: „De studiis et litteris liber“ (August Buck); Augenblick des Geistes. Heideggers Vorlesung „Die Grundfrage der Philosophie“ von 1933 (Andreas Großmann); Fürwahrhalten der Vernunft? Glauben und Wissen; Aspekte einer Sachfrage mit Blick auf Kant und Anselm von Canterbury (Lutz Herrschaft); Über den natürlichen Vorrang des Ortes vor jeder Art Raum bei Aristoteles (Heinrich Hüni); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Ingeborg Schüßler); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Ist der Dekonstruktivismus ein Interpretationismus? (Hans Lenk); Wann verfällt die deutsche Sprache endgültig? Einige Anmerkungen zu Fragen der Sprachskepsis, der Sprachkritik und der Sprachnormen (Norbert Richard Wolf); unter dem Titel „In Memoriam“: Klaus Hartmann zum Gedächtnis (Klaus Brinkmann); Grenzüberschreitungen der Vernunft. Zum Tode von Friedrich Kaulbach (Friedrich Kambartel); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Albrecht Dürers Cherubinischer Hymnus: „Die vier Apostel“ (Egil A. Wyller). Amsterdam 1993
Band 20 enthält unter dem Titel „Systematik“: Philosophie der Kunst. Zum Homo-Creator-Motiv des Nikolaus von Kues (Rudolph Berlinger); Transzendentale Begründung der Existenz? Überlegungen zum Problemansatz Heinrich Barths (Dorothea Grund); Das Leib-Seele-Problem in der Philosophie Donald Davidsons (Marion Heinz); Heuristische Skepsis (Leonhard G. Richter); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Teil I) (Emil Angehrn); Ontotheologie? Hegel gegen Derrida – oder Repristination des Logos (Uwe Jochum); Das Gesetz der Freiheit. Zu Kants Theorie ethischer Verbindlichkeit (Georg Römpp); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Teil I) – Fortsetzung (Ingeborg Schüßler); Die Dialektik des Einen und Vielen. Hegels Logik von 1804/05 im Vergleich zu Platons ‚Parmenides‘; unter dem Titel „Phänomenologie“: Jan Patoãka: Der Philosoph als Gewissen seines Volkes (Walter Biemel); Konstanten und Wandlungen der Philosophie Patoãkas (Jaroslav Kohout); Die Selbstbesinnung Europas (Übersetzung von Josef Zumr) (Jan Patoãka †); Deskription oder Postulat? Zur Intersubjektivitätstheorie in der V. Cartesianischen Meditation Edmund Husserls (Martina Scherbel); unter dem Titel „Nietzsche kontrovers“: Nietzsches Selbstsucht in Ecce homo (Eric Blondel); Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs (Georges Goedert); Musils Nietzsche-Rezeption (Klaus Mackowiak); Italienische Interpretationen zum Übermenschen Nietzsches. Von D’Annunzio bis heute – im Horizont der Differenz (Giorgio Penzo); Ontologische Fragen zum Spätwerk Nietzsches (Gerhart Schmidt); unter dem Titel „Brief“: Martin Heidegger schreibt an Jean-Paul Sartre (Hugo Ott). Amsterdam 1994 Band 21 enthält unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Fortsetzung) Teil 2 (Emil Angehrn); Die platonisch-akademische Prinzipienlehre in der hellenistischen Philosophie (Hans Krämer); Vom Gewinn des Wirklichkeitsverlustes (Erwin Sonderegger); Kosmos als Klangfigur. Platons Naturvision im „Timaios“ (Egil A. Wyller); unter dem Titel „Ethik“: Mónon tò kalòn ˙gayón – Oder von der Gleichgültigkeit des Wertvollen in der Stoischen Ethik (Maximilian Forschner); Über den vermeintlichen Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik (Walter Hirsch); Man rechne nicht mit Herakles. Aristoteles über soziale und politische Freundschaft (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Realismusproblem (Peter Prechtl); Das Nichts und die Kunst. Schritte vom Nihilismus zum Neoidealismus in der Denkbewegung Gottfried Benns (Winfried Weier); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die aufgegebene Tradition. Kritische Reflexionen zum Bildungsauftrag der Universität (Winfried Böhm); Das Multiversum der Kulturen. Einstellungen der zeitgenössischen europäisch-westlichen Philosophie zu den Philosophien anderer Kulturen (Heinz Kimmerle); „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“: Ein Fragment Friedrich Schlegels? (Martin Oesch); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Innere Probleme dualer Weltbetrachtung. Besprechung von Hans Michael Baumgartner: Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Philosophie über sich selbst. Bonn/Berlin 1991 (Bernd Burkhardt); Wolfgang Janke. Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes. Berlin/New York 1993 (Marco Ivaldo); Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam 1995 Band 22 enthält unter dem Titel „Fink und Heidegger“: Heraklit – Eine Herausforderung. In freundschaftlichem Gedenken an Eugen Fink (Rudolph Berlinger); Die Auseinandersetzung Fink – Heidegger: Das Denken des letzten Ursprungs (Ronald Bruzina); Nietzsche bei Heidegger und Fink (Hans Ebeling); Finks politisches Vermächtnis. Vortrag Freiburg 1995 (Walter Biemel); Die Heimat Welt. Zur Deutung der Denkspur Martin Heideggers in Eugen Finks Frühwerk (Guy van Kerckhoven); Eugen Finks Phänomenologie des Todes (Gerhart Schmidt); unter dem
Titel „Fichte“: Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 (Marco Ivaldo); „Das Wissen ist an sich die absolute Existenz“. Der oberste Grundsatz in Fichtes 4. Vortrag der Wissenschaftslehre. Erlangen im Sommer 1805 (Wolfgang Janke); Fichte und die Metaphysik des deutschen Idealismus (Manuel Jiménez-Redondo); Offene Intersubjektivität – nach Johann Gottlieb Fichte (Dominik Schmidig); unter dem Titel „Vermischtes“: Die Idee der Einheit in Platons Timaios (Hans Krämer); Kant oder Berkely? Zum aktuellen Streit um den korrekten Realismus (Wilhelm Lütterfelds); unter dem Titel „In memoriam“: Nachruf auf Alexander Böhlig (Christoph Markschies). Amsterdam 1996 Band 23 enthält als Vorwort: „Die ausgestandene Endlichkeit“ (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Philosophie“: Innerer und äußerer Mensch – eine tragende Unterscheidung der mittelalterlichen Seelenlehre (Alois M. Haas); Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger (Ingeborg Schüßler); Husserl und Descartes (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Nachtrag zur Verabschiedung der philosophischen Anthropologie – am Beispiel Schelers (Paul Janssen); Gibt es eine Gebung des Unendlichen? (Natalie Depraz); Eugen Finks Begriffsbildung einer absoluten Wissenschaft in der VI. Cartesianischen Meditation (Martina Scherbel); Rudolf Stammlers Abhandlung „Recht und Willkür“ und ihre Konsequenzen für den Rechtsbegriff (Dietmar Willoweit); Antworten und Verantworten. Eine dialogische Studie (Georges Goedert); Konstruieren und Konstruktivismus (Wilhelm Ettelt); Das Bild des Menschen in der Kommunikationswelt von morgen (Bernulf Kanitscheider); Selbst oder Von-Selbst-So? Konjekturen zu einer daoistischen Quelle des Zen (Günter Wohlfart); unter dem Titel „Sprache“: Das Problem des Monologs (Theo Meyer); „Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding“. Beobachtungen zu Zeit und Zeiterleben in Sprache und Literatur (Norbert Richard Wolf); Das magische Wort (Dieter Harmening); „Gesundheit des Moments“ oder Winckelmann und Faust (Hans-Jürgen Schings); unter dem Titel „Kunst“: Bildnisse griechischer Philosophen – ihre Funktion und Interpretabilität (Thuri Lorenz); ‚...in cuius facie deitatis imago splendet‘ Die Prägung des Physionomischen in der gotischen Skulptur Frankreichs (Wilhelm Schlink). Amsterdam 1997 Band 24 enthält unter dem Titel „Metaphysik“: Dürers Weltethik. Eine philosophische Deutung der „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Einige Bemerkungen zum Platonismus in den sogenannten Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar: Darstellung und Kritik (Hubert Benz); Denken – Erkennen – Metaphysik nach Thomas von Aquin (Dominik Schmidig); Das methodologische Problem der Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Existenzphilosophie“: Philosophie in theologischer Absicht – Zur Instrumentalisierung der Philosophie bei Heinrich Barth (Dorothea Grund); Die universalgeschichtliche Einheitsidee bei Karl Jaspers (Georges Goedert); Die Einleitung zu „Sein und Zeit“ und die Frage nach der phänomenologischen Methode: Versuch einer Erklärung (Michael Baur); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Zur wissenschaftsgeschichtlichen Priorität in der Urheberschaft der Sprechakttheorie (Klaus Trost); Zeichenrede. Überlegungen zu Fundierung und Reichweite von Nietzsches skeptischem Perspektivismus (Heinz-Gerd Schmitz); Repräsentation und Realität (Peter Prechtl); unter dem Titel „Ethik“: Zu Jonas’ Problem einer genauen Grenzlinie zwischen Leben und Tod (Reinhard Platzek); Responsibility for Responsibility (Marco M. Olivetti); unter dem Titel „Ein philosophisches Reisebild“: Am wilden Strom. Das Fremde und das Eigene (Dieter Harmening); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Jan Patoãka – Ästhetik, Phänomenologie, Pädagogik, Geschichts- und Politiktheorie hrsg. v. Matthias Gatzemeier (Christian Rabanus); unter dem Titel „Bibliographie“: Rudolph Berlinger: Philosophische Publikationen. Amsterdam/Atlanta 1998
Band 25 enthält unter dem Titel „Metaphysik und Zeit“: Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Erster Teil] (Wiebke Schrader); Erinnerung, Zeit und Geschichte: Augustin und die Anfänge der mittelalterlichen Philosophie (Johann Kreuzer); V-Zeit. Endzeit oder letzte Chance? Metaphysische Reflexionen zu Dürers „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Hat die phänomenale Objektwelt in den Qualia einen metaphysischen Aspekt? (Gerd Pohlenz); unter dem Titel „Platon und seine Spuren“: Über die philosophische Mystik des Dionysius Areopagita (Karl Albert); Platonisches Denken als Modell christlicher Dogmenentfaltung in den ersten Jahrhunderten (Edgar Früchtel); Platons „Theologie“: Der Gott, die Götter und das Gute (Markus Enders); Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Gesellschaft und Ethik“: Die demokratische Gleichheit und das Ressentiment (Georges Goedert); Artistik und Engagement. Zur Ästhetik des modernen Gedichts (Theo Meyer); Ethik und Wirklichkeit bei Aristoteles (Gilbert Romeyer-Dherbey); Bioethik und bioethics (Johannes Gottfried Mayer); Contextual Bioethics (Christoph Rehmann-Sutter); Psychosomatik und der metaphysische Aspekt des Todes. Eine ärztliche Standortbestimmung (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Herbert Kessler: Philosophie als Lebenskunst. Academia-Verlag Sankt Augustin 1998 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam/Atlanta 1999 Band 26 enthält unter dem Titel „Maßstäbe ethischen Handelns“: Zur ethischen Bewertung des Mitleids (Georges Goedert); Lust und Tugend bzw. Lust und Gut-Sein. Zur ethischen Relevanz des Begriffs der =don} im Denken Platon (Hubert Benz); Die deutsche Wertphilosophie – eine zu Unrecht vergessene Tradition? (Christoph Horn); Handelnd wissen oder wissend handeln? Die handlungstheoretische Diskussion im Neokonfuzianismus des 16. Jh.s und seine Bedeutung für die Neuausrichtung des Konfuzianismus (Michael Leibold); Wozu dient der Nihilismus? Gedanken zur Paradoxstruktur des Nihilismus bei Nietzsche (Oliver Dier); Utopie und Apokalypse. Unter besonderer Berücksichtigung des literarischen Expressionismus (Theo Meyer); unter dem Titel „Aspekte kommunikativer Systeme“:„Necessarius fuit usus scripturae“. Thomas von Aquin über Schriftlichkeit und Schreiben (Detlef Thiel); Bewußtsein als Umwelt der Kommunikation. Anmerkungen zum Grundansatz Luhmanns (Sigbert Gebert); unter dem Titel „Wirkungshorizonte metaphysischen Denkens“: Voraussetzungs- und Bestimmungslosigkeit. Bemerkungen zum Problem des Anfangs in Hegels Wissenschaft der Logik (Chong-Fuk Lau); Zum Platonbild Lavelles (Karl Albert); Mystische Geometrie und Hermetismus in der Renaissance: Ficinus und Cusanus (Stéphane Toussaint); Das Problem des „peccatum originale“. Zu Herkunft und Wirkung der augustinischen Erbsündenlehre (Edgar Früchtel); Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Zweiter Teil] (Wiebke Schrader). Amsterdam/Atlanta 2000 Band 27 enthält unter dem Titel „Schöpferischer Geist und Sprachreflexion“: Das Vernunftopfer des Herzens oder Pascals „ordre du cœur“ (Wiebke Schrader); Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia (Salvatore Lavecchia); Auf dem Weg zur Prozeßmetaphysik: Die Funktion der Monaden in Giordano Brunos Philosophie (Paul Richard Blum); Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie in Idiota de Mente (Hubert Benz); Zeichen und Symbole. Überlegungen im Ausgang von der Hegelschen Semiotik (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Nietzsche und die Sinnfrage“: Wie das ‚Ich‘ zur Fabel ward – Nietzsches Destruktion des idealistischen Subjektbegriffs (Edith Düsing); Nietzsches Antichrist als Überwindung der moralischen Weltordnung (Georges Goedert); Nietzsche und Goethe. Goethes Wirkung auf Nietzsches Lebens-, Kunst- und Kulturbegriff (Theo Meyer); unter dem Titel „Geschichte und Ethik“: Ahistorische Kontinuität und Geschichte. Zum geschichtsphilosophischen Ansatz von Jacob Burckhardt (Kurt Mager); Das Subjekt der praktischen Vernunft (Peter Prechtl); Ärztliche Sterbehilfe zum
Nutzen der Gesellschaft? Eine Überlegung zum Einfluß Adolf Josts auf Binding und Hoche (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Seinserfahrung und Kulturkritik“: Karl Albert zum 80. Geburtstag. Der Verlust des Seins im technologischen Zeitalter (Elenore Jain); Dekreation und Bedeutungsreduktion. Zur ontologisch-metaphysischen Epochéproblematik bei Simone Weil (Rolf Kühn); „Pense pour être“. Zu Lavelles Deutung des Cartesischen Cogito (Rolf Schönberger); Der Schwan von Pesaro. Vom Absoluten und vom Tragischen in der Musik Rossinis (Claus Artur Scheier). Amsterdam/New York 2001 Band 28 enthält unter dem Titel „Anfangsgründe: Wege und Abwege“: Sokrates und die Götterbilder. Zur Erkenntnis der höchsten Ideen in Platons Symposion (215 ab) (Eveline Krummen); Das Gute im Horizont der Seinsfrage: Zur Bedeutungsmannigfaltigkeit des Guten bei Aristoteles (Jorge Uscatescu Barrón); Theorie als Erkenntnis des Göttlichen. Platonische yevría und christliche curiositas (Edgar Früchtel); Sturz der Engel, Sündenfall und Frauenzauber (Dieter Harmening); Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur „homo-homo-homo“-Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus (Wiebke Schrader); Die transzendentale Subjektivität – eine „spekulative Niete“? Eugen Finks Interpretation des transzendentalen Scheins (Martina Scherbel); unter dem Titel „Verstehenshorizonte und Wertewandel“: Die Menschheit zum Scheusal machen. Zu Kants Auffassung der Todesstrafe (Heinz-Gerd Schmitz); Vom Absurden zur Humanität. Albert Camus’ Weg in die Revolte (Georges Goedert); Nietzsche-Rezeption bei Thomas Mann und Gottfried Benn (Theo Meyer); Ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen? Friedrich Nietzsche und Hans-Georg Gadamer über das „Rätsel der Wertsetzung“ (Mirko Wischke); unter dem Titel „Zwischen den Kulturen“: Taiji: ein transzendentaler Begriff der konfuzianischen Philosophie? (Michael Leibold); Rückzug und Freiheit im Zhuangzi. Ansätze zu einer komparativen Ethik (Mathias Obert). Amsterdam/New York 2002 Band 29 enthält unter dem Titel „Sinn und Perspektive“: Glückseligkeit – Eudämonie. Philosophiegeschichtliche Perspektiven (Wolfgang Janke); Das Übel des Todes und das Interesse am Weiterleben. Eine Antwort auf das epikureische Paradox (Achim Lohmar); Ontologische Kapriolen zwischen Sein, Nichts und Sinn (Paul Janssen); unter dem Titel „Wissen und Hoffnung“: Wissen und Universalität. Zur Struktur der scientia universalis in der Frühen Neuzeit (Thomas Leinkauf); Pansophischer Universalismus und pädagogischer Mechanismus. Comenius und die Überwindung der Hoffnung durch Erziehung (Andreas Lischewski); De apice litteraturae. Schrift und Buch bei Nikolaus von Kues (Detlef Thiel); Hoffnung und Jenseitserwartung in der griechisch-christlichen Deutung des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Die philosophische Religion (Karl Albert); unter dem Titel „Erkenntnis und Chance“: Das Ende der Geschichte bei Francis Fukuyama. Zur Problematik seines philosophischen Ansatzes (Kurt Mager); Die ‚Tod-Gottes‘-Problematik bei Nietzsche und Hegel (Edith Düsing); Das Problem des Spiels bei Nietzsche (Theo Meyer); Herakleitos. Zeugnis eines ursprünglichen Denkens (JürgenEckardt Pleines); Der Geist der Hellenen. Eine Problemskizze zur griechischen Sklavenfrage am Leitfaden des ersten Buches der Politik des Aristoteles (Wiebke Schrader); Der Reiter von Albrecht Dürer. Eine philosophische Betrachtung (Leonhard G. Richter). Amsterdam/New York 2003
Band 30 enthält unter dem Titel „Sein und Wirklichkeit“: Die innermonadische Zeitlichkeit in der Monadologie (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Überlegungen zum Metaphysik-Begriff Kants (Murray Miles); Sein-Können, Tat, Existenz: Aspekte von Schellings Hegel-Kritik in der Weltalter-Philosophie (Thomas Leinkauf); Die Heisenbergsche Unschärferelation im Kontext philosophischer Gedankengänge (Damir Barbariç); unter dem Titel „Seinswert und Seinsmangel“: Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung (Jorge Uscatescu Barrón); Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen (Bernd Irlenborn); „Für die Wenigen – Für die Seltenen“. Heideggers Zeitdiagnose, Technikkritik und der „andere Anfang“; unter dem Titel „Person und Gemeinschaft: Personalität und Sprache bei Homer (Thomas Berres); Subjekt und Person als Ermöglichung von Weltzuwendung in Wissenschaft und Technik. Einige Bemerkungen zu diesem Problemfeld (Edgar Früchtel); Leo Tolstois Darlegung des Evangelium und seine theologisch-philosophische Ethik (Nikolay Milkov); Der ‚permanente Staatencongress‘ – die internationalen Beziehungen im rechtsphilosophischen Denken Kants (Heinz-Gerd Schmitz); Die Institutionen der Freiheit und die Sprache der Politik. Über mögliche Reaktualisierungspotentiale von Hegels Rechtsphilosophie (Mirko Wischke). Amsterdam/New York 2004 Band 31 enthält unter dem Titel „Von der Sinnlichkeit der Vernunft“: Sentimentalität. Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung (Andreas Dorschel); Die Mystifikation ästhetischer Erfahrung (Achim Lohmar); Philosophie als „scientia affectiva“? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit (Peter Nickl); „In dieser Skepsis kann niemand leben“. Über Nüchternheit und Enthusiasmus in der Philosophie (Paola-Ludovika Coriando); unter dem Titel „Über den schöpferischen Willen“: Kreative Subjektivität bei Nietzsche (Theo Meyer); Subjekt und Geschichte bei Arthur Schopenhauer und Theodor Lessing (Kurt Mager); Einige Überlegungen zum Schicksalsbegriff in der Antike (Edgar Früchtel); Tugend zwischen Sittlichkeit und Moral (Jürgen-Eckardt Pleines); unter dem Titel „Zur wahren Schau“: Zur Geschichte der Entgegensetzung des Guten und des Schlechten (Jorge Uscatescu Barrón); Platonische Dialektik: Der Weg und das Ziel (Thomas Alexander Szlezák); Die `moívsiw ye! in Platons Philosophie (Salvatore Lavecchia); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Erwin Schadel (Hrsg.): Johann Amos Comenius – Vordenker eines kreativen Friedens (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 24), Frankfurt/Main u.a. 2005, 610 S. (Andreas Lischewski). Amsterdam/New York 2005 Band 32 enthält unter dem Titel „Erschließung von Sinnräumen“: Langeweile. Zur Metaphysik einer Stimmung (Jürgen Große); Welt, Sinn, Gefühle und „das“ Nichts. Blinde Flecken der Systemtheorie (Sigbert Gebert); Onto-Semiotik. Zur Grundlegung der Zeichentheorie bei Saussure und Heidegger (Heinz-Gerd Schmitz); Das Bild als Werkzeug (Vítûzslav Horák); unter dem Titel „Fluchtpunkte der Freiheit“: Ist die „negative Freiheit“ ein Irrtum? Berlins Konzept „negativer Freiheit“ im Kontrast zu Taylors Gegenentwurf „positiver Freiheit“ (Dagmar Fenner); Moderne Hirnforschung oder das vermeintliche Ende des freien Willens (Reinhard Platzek); Wissen als Verrat an der Freiheit der Existenz? Zum Problem der Subjektivität bei Karl Jaspers (Kurt Mager); Dankbarkeit als Dialogizität (Georges Goedert); Über die Erziehung zum Patriotismus. Geschichtlicher Streifzug zu einem aktuellen Thema (Andreas Lischewski); unter dem Titel „Perspektiven des Sinngrundes“: Inneres Auge und göttliche Schau. Reflexionen zum antiken Horizont des Begriffs „Vision“ (Edgar Früchtel); Ein Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zum Selbstverständnis des Nikolaus von Kues in seiner Spätschrift De apice theoriae (Helke Pank-
nin-Schappert);Vom Wesen des Menschseins. Überlegungen zur politischen Ästhetik bei Karl Philipp Moritz (Peter Böhm); All-Wesen und Unendlichkeit: Chinesische und europäische Landschaftsmalerei im Vergleich (Harald Holz); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Reinhard Hiltscher: Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem systematischen Problem der Philosophie (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Band 71), Hildesheim/Zürich/New York 2006 (Christoph Glimpel). Amsterdam/New York 2006
ELEMENTA Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte Herausgegeben von Rudolph Berlinger † und Wiebke Schrader Band 1: Sold out Schrader, Wiebke: Die Auflösung der Warumfrage. 2. unveränderte Auflage. Amsterdam 1975. 60 pp. Band 2: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band I, 2. korrigierte Aufl. Amsterdam/Hildesheim 1982. 240 pp. Band 3: Euro 33,Scheler, Max: Logik I. Mit einem Nachwort von Jörg Willer. Amsterdam 1975. 295 pp. Band 4: Sold out Farandos, Georgios D.: Kosmos und Logos nach Philon von Alexandria. Amsterdam 1976. III, 319 pp. Band 5: Euro 24,Sauer, Friedrich Otto: Physikalische Begriffsbildung und mathematisches Denken. Das philosophische Problem. Amsterdam 1977. 217 pp. Band 6: Euro 24,Königshausen, Johann-Heinrich: Kants Theorie des Denkens. Amsterdam 1977. II, 207 pp. Band 7: Euro 24,Schrader, Wiebke: Das Experiment der Autonomie. Studien zu einer Comte- und Marx-Kritik. Amsterdam 1977. III, 196 pp. Band 8: Euro 24,Schrader, Wiebke: Die Selbstkritik der Theorie. Philosophische Untersuchungen zur ersten innermarxistischen Grundlagendiskussion. Amsterdam 1978. 177 pp.
Band 9: Euro 24,Neumann, Thomas. Gewissheit und Skepsis. Untersuchungen zur Philosophie Johannes Volkelts. Amsterdam 1978. VII, 175 pp. Band 10: Euro 24,Bailey, George W.S.: Privacy and the Mental. Amsterdam 1979. 175 pp. Band 11: Euro 27,Djuriã, Mihailo: Mythos, Wissenschaft, Ideologie. Ein Problemaufriß. Amsterdam 1979. 219 pp. Band 12: Sold out Ettelt, Wilhelm: Die Erkenntniskritik des Positivismus und die Möglichkeit der Metaphysik. Amsterdam 1979. 171 pp. Band 13: Sold out Lowry, James M.P.: The Logical Principles of Proclus’ STOIXEIVSIS YEOLOGIKH as Systematic Ground of the Cosmos. Amsterdam 1980. XIV, 118 pp. Band 14: Sold out Berlinger, R.: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band II. Amsterdam/Hildesheim 1980. X, 240 pp. Band 15: Euro 53,Helleman-Elgersma, W.: Soul-Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus. Amsterdam/Hildesheim 1980. 485 pp. Band 16: Euro 18,Polakow, Avron: Tense and Performance. An Essay on the Uses of Tensed and Tenseless Language. Amsterdam 1981. 153 pp. Band 17: Euro 17,Lang, Dieter: Wertung und Erkenntnis. Untersuchungen zu Axel Hägerströms Moraltheorie. Amsterdam 1981. 113 pp. Band 18: Euro 18,Kang, Yung-Kye: Prinzip und Methode in der Philosophie Wonhyos. Amsterdam/Hildesheim 1981. 143 pp. Band 19: Euro 24,Oesch, Martin: Das Handlungsproblem. Ein systemgeschichtlicher Beitrag zur ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Amsterdam/Hildesheim 1981. 203 pp. Band 20: Euro 36,Echeverria, Edward J.: Criticism and Commitment. Major Themes in Contemporary ‘Post-critical’ Philosophy. Amsterdam/Hildesheim 1981. 274 pp.
Band 21: Sold out Thomas Hobbes: His View of Man. Proceedings of the Hobbes Symposium at the International School of Philosophy in the Netherlands (Leusden, september 1979). Edited by J.G. van der Bend. Amsterdam 1982. 155 pp. Band 22: Euro 18,Träger, Franz: Herbarts Realistisches Denken. Ein Aufriß. Amsterdam/Würzburg 1982. X, 139 pp. Band 23: Euro 24,Takeda, Sueo: Die subjektive Wahrheit und die Ausnahme-Existenz. Ein Problem zwischen Philosophie und Theologie. Amsterdam/Würzburg 1982. 190 pp. Band 24: Euro 21,Mager, Kurt: Philosophie als Funktion. Studien zu Diltheys Schrift „Das Wesen der Philosophie“. Amsterdam/Würzburg 1982. 179 pp. Band 25: Sold out Heinz, Marion: Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstitution der Existenz und die Grundlegung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers. Amsterdam/Würzburg 1982. 225 pp. Band 26: Sold out Punter, David: Blake, Hegel and Dialectic. Amsterdam/Würzburg 1982. 268 pp. Band 27: Sold out McAlister, Linda: The Development of Franz Brentano’s Ethics. Amsterdam/Würzburg 1982. 171 pp. Band 28: Euro 36,Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft. Amsterdam/Würzburg 1983. 275 pp. Band 29: Euro 30,Shusterman, Richard: The Object of Literary Criticism. Amsterdam/Würzburg 1984. 237 pp. Band 30: Sold out Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Von der Wahrheit der Dichtung. Interpretationen: Plato; Aristoteles; Shakespeare; Schiller; Novalis; Wagner; Nietzsche; Kafka. Hrsg. von Wolfgang Janke und Raymund Weyers. Amsterdam/Würzburg 1984. 206 pp. Band 31: Sold out Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Amsterdam/Würzburg 1984. 195 pp.
Band 32: Euro 18,Weppen, Wolfgang von der: Die existentielle Situation und die Rede. Untersuchungen zu Logik und Sprache in der existentiellen Hermeneutik von Hans Lipps. Amsterdam/Würzburg 1984. 146 pp. Band 33: Euro 24,Wolzogen, Christoph von: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps. Ein Beitrag zur Geschichte der Theorien der Relation. Amsterdam/Würzburg 1984. 182 pp. Band 34: Euro 30,Mitias, Michael H.: Moral Foundation of the State in Hegel’s “Philosophy of Right”: Anatomy of an Argument. Amsterdam/Würzburg 1984. 197 pp. Band 35: Sold out Seidl, Horst: Beiträge zu Aristoteles’ Erkenntnislehre und Metaphysik. Amsterdam/Würzburg 1984. 214 pp. Band 36: Euro 18,Richter, Leonhard G.: Hegels begreifende Naturbetrachtung als Versöhnung der Spekulation mit der Erfahrung. Amsterdam/Würzburg 1985. 127 pp. Band 37: Euro 21,Löbl, Rudolf: Die Relation in der Philosophie der Stoiker. Amsterdam/Würzburg 1986. 150 pp. Band 38: Euro 42,Dempf, Alois: Metaphysik. Versuch einer problemgeschichtlichen Synthese. In Zusammenarbeit mit Christa Dempf-Dulckeit. Amsterdam/Würzburg 1986. 332 pp. Band 39: Sold out Classen, Carl Joachim: Ansätze. Beiträge zum Verständnis der frühgriechischen Philosophie. Amsterdam 1986. 288 pp Band 40: Euro 15,Middendorf, Heinrich: Phänomenologie der Hoffnung. Amsterdam/Würzburg 1985. 99 pp. Band 41: Euro 47,Glouberman, M.: Descartes: The Probable and the Certain. Amsterdam/Würzburg 1986. 374 pp. Band 42: Euro 18,Creativity in Art, Religion, and Culture. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam/Würzburg 1985. 134 pp. Band 43: Euro 24,Böhm, Peter: Theodor Lessings Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung von Welt. Ein kritischer Beitrag zur Aporetik der Lebensphilosophie. Amsterdam/Würzburg 1986. 127 pp.
Band 44: Euro 51,Weier, Winfried: Phänomene und Bilder des Menschseins. Grundlegung einer dimensionalen Anthropologie. Amsterdam 1986. 337 pp. Band 45: Euro 30,Text, Literature, and Aesthetics in Honor of Monroe C. Beardsley. Edited by Lars Aagaard-Mogensen & Luk De Vos. Amsterdam 1986. 229 pp. Band 46: Sold out Hager, Fritz-Peter: Gott und das Böse im antiken Platonismus. Amsterdam/Würzburg 1987. 165 pp. Band 47: Sold out Hartmann, Klaus: Studies in Foundational Philosophy. Amsterdam/Würzburg 1988. 434 pp. Band 48: Broschiert Euro 22,Gebunden Euro 89,Berlinger, Rudolph: Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen. Amsterdam/Würzburg 1988. 398 pp. Band 49: Sold out Goedert, Georges: Nietzsche der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids. Amsterdam/Würzburg 1988. 168 pp. Band 50: Euro 36,Aesthetic Quality and Aesthetic Experience. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam 1988. 176 pp. Band 51: Euro 28,Mitias, Michael H.: What Makes an Experience Aesthetic? Amsterdam/Würzburg 1988. 154 pp. Band 52: Euro 16,Platzek, Reinhard: Zum Problem der Zeit und Zeitbestimmtheit im musikalischen Tempo. Amsterdam/Würzburg 1989. 94 pp. Band 53: Euro 36,Bourgeois, Patrick L. / Schalow, Frank: Traces of Understanding: A Profile of Heidegger’s and Ricoeur’s Hermeneutics. Amsterdam/Atlanta, GA 1990. VI, 186 pp. Band 54: Euro 45,Meyer, Thomas Ludolf: Das Problem eines höchsten Grundsatzes der Philosophie bei Jacob Sigismund Beck. Amsterdam/Atlanta, GA 1991. 257 pp. Band 55: Euro 45,Richter, Leonhard G.: Propädeutik der Philosophie. Amsterdam/ Atlanta, GA 1991. 312 pp.
Band 56: Euro 53,Franz, Albert: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W.J. Schellings. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 372 pp. Band 57: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophisches Denken. Einübungen. Hrsg. von Franz Träger in Zusammenarbeit mit Dorothea Günther. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 252 pp. (ISBN: 90-5183-4089-X) Band 58: Euro 24,Günther, Dorothea: Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones. Amsterdam/Atlanta, GA 1993. 96 pp. (ISBN 90-5183-453-5) Band 59: Euro 53,Gnosis und Philosophie: Miscellanea. Mit einem Vorwort von Alexander Böhlig. Hrsg. von R. Berlinger und W. Schrader. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 269 pp. (ISBN: 90-5183-406-3) Band 60: Euro 118,Girard, Louis: L’Argument ontologique chez Saint Anselme et chez Hegel. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 666 pp. Bound. (ISBN: 905183-620-1) Band 61: Euro 33,Stratmann, Nicole: Leiden – im Lichte einer existenzialontologischen Kategorialanalyse. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 175 pp. (ISBN: 90-5183-619-8) Band 62: Euro 42,Kunst und Ontologie: Für Roman Ingarden zum 100. Geburtstag. Hrsg. von W∏odzimierz Galewicz, Elisabeth Ströker, W∏adys∏aw Strozewski. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 235 pp. (ISBN: 90-5183479-9) Band 63: Euro 130,Wyller, Egil A.: Henologische Perspektiven I/I–II. Platon – Johannes – Cusanus. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 599 pp. Bound (ISBN: 90-5183-849-2) Band 64: Euro 45,El Mossadeq, Ismail: Kritik der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Phänomenologie in der Alternative zwischen Husserl und Heidegger. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 281 pp. (ISBN: 90-5183-858-1) Band 65: Euro 24,Seidl, Horst: Beiträge zu Aristoteles’ Naturphilosophie. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. XVI, 151 pp. (ISBN: 90-5183-854-9)
Band 66: Euro 27,Vergote, Antoine: In Search of a Philosophical Anthropologie. A Compilation of Essays. Leuven/Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 287 pp. (ISBN: 90-420-0014-7) Band 67: Euro 42,Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Das Multiversum der Kulturen. Beiträge zu einer Vorlesung im Fach ‚Interkulturelle Philosophie‘ an der Erasmus Universität Rotterdam. Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 239 pp. (ISBN: 90-420-0108-9) Band 68: Euro 65,Eugen Fink. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle 23–30 juillet 1994. Organisé et édité par Natalie Depraz et Marc Richir. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 367 pp. (ISBN: 90-420-0243-3) Band 69: Euro 30,Henologische Perspektiven II zu Ehren Egil A. Wyllers. Internationales Henologie-Symposium an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften in Oslo. Hrsg. v. Tore Frost. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 143 pp. (ISBN: 90-420-0357-X) Band 70: Euro 83,Lischewski, Andreas: Person und Bildung. Überlegungen im Grenzgebiet von philosophischer Anthropologie und Bildungstheorie im Anschluß an Paul Ludwig Landsberg. Dettelbach/Amsterdam 1998. 656 pp. (ISBN: 90-420-0612-9) Band 71: Euro 47,Schalow, Frank: Language and Deed. Rediscovering Politics through Heidegger’s Encounter with German Idealism. Amsterdam/Atlanta, GA 1998. XVIII, 235 pp. (ISBN: 90-420-0412-2) Band 72: Euro 47,John Duns Scotus (1265/6–1308). Renewal of Philosophy. Acts of the Third Symposium Organized by the Dutch Society for Medieval Philosophy Medium Aevum. Ed. by E.P. Bos. Amsterdam/Atlanta GA 1998. XIV, 237 pp. (ISBN: 90-420-0081-3) Band 73: Euro 45,Grund, Dorothea: Erscheinung und Existenz. Die Bedeutung der Erscheinung für die Ansatzproblematik der transzendental begründeten Existenzphilosophie Heinrich Barths. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 237 pp. (ISBN: 90-420-0646-3) Band 74: Euro 45,Architecture and Civilization. Ed. by Michael H. Mitias. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. IX, 208 pp. incl. 28 illustrations. (ISBN: 90420-0786-9)
Band 75: Euro 42,Scherbel, Martina: Phänomenologie als absolute Wissenschaft. Die systembildende Funktion des Zuschauers in Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 223 pp. (ISBN: 90-420-0538-6) Band 76: Euro 55,Transzendenz und Existenz: Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Manfred Baum und Klaus Hammacher. Amsterdam/Atlanta, GA 2001. X, 280 pp. (ISBN: 90-420-1246-3) Band 77: Euro 63,Park, In-Choel: Die Wissenschaft von der Lebenswelt. Zur Methodik von Husserls später Phänomenologie. Amsterdam/New York, NY 2001, XIV, 335 pp. (ISBN: 90-420-1457-1) Band 78: Euro 70,Jeng, Jyh-Jong: Natur und Freiheit. Eine Untersuchung zu Kants Theorie der Urteilskraft. Amsterdam/New York, NY 2004, IX, 337 pp. (ISBN: 90-420-1059-2) Band 79: Euro 44,Heidegger und die Logik. Hrsg. v. Alfred Denker und Holger Zaborowski. Amsterdam/New York, NY 2006, 221 pp. (ISBN: 10: 90-4202063-6)
THOMAS-MANN-STUDIEN „W as war das Leben? Man wusste es nicht!“ Thomas Mann und die Wissenschaften vom Menschen. Die Davoser Literaturtage 2006 Herausgegeben von Thomas Sprecher 2007. Etwa 280 Seiten Ln etwa e 59.ISBN 978-3-465-03553-4 Thomas-Mann-Studien Band 39
Vom weltläufigen Erzählen 50 Jahre Thomas-Mann-Archiv. Symposion Zürich 2006 Herausgegeben von Manfred Papst und Thomas Sprecher 2007. Etwa 196 Seiten Ln etwa e 49.ISBN 978-3-465-03548-0 Thomas-Mann-Studien Band 38
Vom Nachruhm Beiträge zur Lübecker Festwoche aus Anlass des 50. Todesjahres von Thomas Mann Herausgegeben von Ruprecht Wimmer und Hans Wißkirchen 2007. 278 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Ln e 49.ISBN 978-3-465-03541-1 Thomas-Mann-Studien Band 37
THOMAS MANN Briefe an Jonas Lesser und Siegfried Trebitsch 1939–1954 Herausgegeben von Franz Zeder 2006. 234 Seiten. Ln e 59.ISBN 978-3-465-03500-8 Thomas-Mann-Studien Band 36 Im Geiste der Genauigkeit Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich 1956–2006 Herausgegeben von Thomas Sprecher 2006. 576 Seiten mit 76 z.T. vierfarbigen Abbildungen Ln e 74.ISBN 978-3-465-03498-8 Thomas-Mann-Studien Band 35
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[email protected] VITTORIO KLOSTERMANN
An International Review of Philosophy and the Human Sciences EDITOR: DR ULLRICH HAASE
Volume 38, No.1, January 2007 Nietzsche and Phenomenology Articles Nietzsche – Thought and the Truth of History, by Georg Picht 5ãkn and iustitia, or: between Heidegger and Nietzsche, by Ullrich Haase Heidegger’s Will to Power, by Babette Babich Incorporation and Individuation: On Nietzsche’s Use of Phenomenology for Life, by Keith Ansell-Pearson I Owe You: Nietzsche, Mauss, by Rafael Winkler The JBSP publishes papers on phenomenology and existential philosophy as well as contributions from other fields of philosophy. Papers from workers in the Humanities and human sciences interested in the philosophy of their subject will be welcome. All papers and books for review to be sent to the Editor: Dr Ullrich Haase, Department of Politics and Philosophy, The Manchester Metropolitan University, Manchester M15 6LL, England. Subscription and advertisement enquiries to be sent to the publishers: Jackson Publishing and Distribution, 3 Gibsons Road, Heaton Moor, Stockport, Cheshire, SK4 4JX, England.
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Praktische Philosophie in Fichtes Spätwerk Beiträge zum Fünften Internationalen Fichte-Kongreß »Johann Gottlieb Fichte. Das Spätwerk (1810–1814) und das Lebenswerk« in München vom 14. bis 21. Oktober 2003 Teil II Herausgegeben von Günter Zöller und Hans Georg von Manz Amsterdam/New York, NY, 2006 XI-224 pp. (Fichte-Studien 29) Paper € 48 / US$ 65 ISBN: 9789042020955 Vols 1–5 ISBN: 9789042020450 Jakub KLOC-KONKOLOWICZ: »Jeder wird Gott« – Zur Erfüllung des Gesetzes und zum Status des handelnden Ich Claus DIERKSMEIER: Über die Wirtschaftstheorie in Fichtes Rechtslehre von 1812 Bernhard JAKL: Recht und Zwang in Fichtes Rechtslehre von 1812 Bärbel FRISCHMANN: Fichte über den Rechtsstaat als Sozialstaat Christian STADLER: Dimensionen und Wandlungen des Fichteschen Rechtsbegriffes im Vergleich Jena – Berlin C. Jeffery KINLAW: Law, Morality and Bildung in the 1812 Rechtslehre Claude PICHÉ: L’instauration d’un ordre juridique juste d’après Fichte (1812–1813) Gaetano RAMETTA: Das Problem der Souveränität in Fichtes Staatslehre Carla De PASCALE: Fichte und die Verfassung des Vernunftreichs Roberta PICARDI: »Sittliche Natur« und Geschichte beim frühen und späten Fichte Takao SUGITA: Das Nationale in Fichtes Spätwerk Makoto TAKADA: Zur Umwandlung der Staatslehre des späten Fichte Nele SCHNEIDEREIT: Der Diskurs der Moderne in J. G. Fichtes Staatslehre Virginia LÓPEZ-DOMÍNGUEZ: Die Staatslehre von 1813 oder der Kampf der Aufklärung gegen den politischen Irrationalismus der Romantiker zur Verteidigung einer christlich-revolutionären Sozialutopie Giovanni COGLIANDRO: »Der Begriff sey Grund der Welt« – Die Sittenlehre 1812 und die letzten Darstellungen der Wissenschaftslehre Max MARCUZZI: La ligne morale Björn PECINA: Die affektive Vermittlung. Deutungs- und affekttheoretische Dimensionen der späten Religionsphilosophie Fichtes Wolfdietrich SCHMIED-KOWARZIK: Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums. Zur Religionsphilosophie im Spätwerk Fichtes Wilhelm G. JACOBS: Der Gottesbegriff in den »Thatsachen des Bewußtseyns« von 1810/11 als Übergang zur Wissenschaftslehre in specie
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Freiheit und Prädetermination unter dem Auspiz der prästabilierten Harmonie Leibniz und Fichte in der Perspektive
Amsterdam/New York, NY, 2006 VI-425 pp. (Fichte-StudienSupplementa 21) Paper € 86 / US$ 112 ISBN: 9789042020979
Katja V. Taver
Dieses Werk stellt das Denken zweier Geistesgrößen, Leibnizens und Fichtes sich gegenüber und vergleicht es. Fichte sieht in Leibniz einen Vorläufer und erwähnt ihn mit liebevoller Bewunderung. Fichtes Wissenschaftslehre von 1801/02 wird Leibnizens “Monadologie” aufgreifen und Leibnizens Gedanken einer prästabilierten Harmonie. Beide Philosophen verstehen sich als Freiheitsapostel, wobei bei Leibniz Gott eine genaue Notion jedes Individuums hat, die Freiheit ein mentaler Akt ist, bei Fichte jedes Individuum ein je bestimmtes Soll hat, das es, Freiheit verwirklichend, im Leben zu erfüllen gilt. Fichte erkennt in Leibniz einen Vorläufer der eigenen Transzendentalphilosophie. Ein Unterschied zwischen den beiden Denkern besteht darin, dass Leibniz stets die Individualität im Auge hat, wo Fichte vom reinen Vernunftwesen ausgeht, dessen individuelle Pathologien ihn nicht interessieren. Beide Philosophen supponieren, dass die Welt ein Ende habe, Leibniz, auf dass das Weltgericht stattfinden könne, Fichte, auf dass in einer neuen Welt nur noch die sittlichen Individuen wiedergeboren werden. Der vorliegende Text versucht auch, den Bogen zu schlagen von der philosophischen Tradition des Abendlandes, und insbesondere von Leibniz, Kant und Fichte zu einer Gotteslehre auf Grund der modernen Physik. Die hochenergetische Urmaße wird gefasst als psychophysische Energeia, die sich – im Leibnizschen Sinne Wissen, Macht und Wollen – aus dem Nichts kontrahiert hat und nun ins All explodiert. In der Kontraktion aus dem ursprünglich Verwobenen hat das Absolute sich vom Nichts, das Gute sich vom Bösen geschieden, entsteht das Übel als privatio boni.
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Fichtes Spätwerk im Vergleich Beiträge zum Fünften Internationalen Fichte-Kongre »Johann Gottlieb Fichte. Das Spätwerk (1810-1814) und das Lebenswerk« in München vom 14. bis 21 Oktober 2003. Teil III Edited by Zöller, Günter und Hans Georg von Manz (Hrsg.) Amsterdam/New York, NY, 2006 XI-242 pp. (Fichte-Studien 30) Paper € 50 / US$ 63 ISBN-10: 9042021144 ISBN-13: 9789042021143 Vol. 1 to 5 ISBN-10: 9042020458 ISBN-13: 9789042020450
Jürgen STOLZENBERG: Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794 Ulrich SCHLÖSSER: Worum geht es in der späteren Wissenschaftslehre und inwiefern unterscheiden sich die verschiedenen Darstellungen von ihr dem Ansatz nach? Enrico GIORGIO: Der Begriff »absolutes Wissen« in der WL-1801/02 aus der Perspektive der Spätlehre Faustino FABBIANELLI: Ist die späte Wissenschaftslehre ein »Aktualer Idealismus«? Ein spekulativer Vergleich zwischen Fichtes und Gentiles Denken Vadim V. MURSKIY: Fichtes Spätwerk in Bezug auf das Problem der Einheit und der Veränderung seiner Lehre Johannes BRACHTENDORF: Substanz, Subjekt, Sein – die Spinoza-Rezeption der frühen und der späten Wissenschaftslehre Birgit SANDKAULEN: Spinoza zur Einführung. Fichtes Wissenschaftslehre von 1812 Ewa NOWAK-JUCHACZ: Philosophie als vox pacis. J. G. Fichtes Pragmatik als Gegenstück des regulativen Friedensideals I. Kants Vladimir ALEKSEEVIC ABASCHNIK: Die ersten Fichteaner über die Schwierigkeiten des Verständnisses der Wissenschaftslehre Marina PUSCHKAREWA: Fichte und Schelling. Das Problem des »Trägers des Wissens« Robert MARSZALEK: Fichtes Religionstheorie im Licht der Schellingschen Gedanken zur Mythologie Salvatore PATRIARCA: Gesetz und Selbstbestimmung des Absoluten. Ein Vergleich zwischen der späten Philosophie Fichtes und der mittleren Philosophie Schellings Paul ZICHE: Systemgrundriß und blitzartige Einsichten. Zum Verhältnis von Propädeutik und systematischer Philosophie bei Fichte und Schelling Giacomo RINALDI: Method and Speculation in Fichte’s Later Philosophy Angelica NUZZO: Fichte’s 1812 Transcendental Logic – Between Kant and Hegel Diogo FERRER: Hegels Fichte-Kritik und die späte Wissenschaftslehre Rolf AHLERS: Der späte Fichte und Hegel über das Absolute und Systematizität Matteo Vincenzo D’ALFONSO: Schopenhauer als Schüler Fichtes Xabier Insausti UGARRIZA: José Manzanas Rezeption des späten Fichte Ibon Uribarri ZENEKORTA: Manzana zwischen Kant und Fichte. Das Absolute als entscheidende Frage Hiroshi KIMURA: Fichte und Tekirei Edo – Bild und Feld
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Science in Culture Piotr Jaroszyn´ ski
This book tries to uncover science’s discoverer and explain why the conception of science has been changing during the centuries, and why science can be beneficial and dangerous for humanity. Far from being hermetic, this research can be interesting for all who want to understand deeper what really conditions the place of science in culture.
Amsterdam/New York, NY, 2007 XXI-314 pp. (Value Inquiry Book Series 185) Paper € 68 / US$ 88 ISBN-10: 9042021365 ISBN-13: 9789042021365
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Selected Writings on Ethics and Politics Translated by Paul Rusnock and Rolf George Bernard Bolzano
Celebrated today for his groundbreaking work in logic and the foundations of mathematics, Bernard Bolzano (17811848) was best known in his own time as a leader of the reform movement in his homeland (Bohemia, then part of the Austrian Empire). As professor of religious science at the Charles University in Prague from 1805 to 1819, Bolzano was a highly visible public intellectual, a courageous and determined critic of abuses in Church and State. Based in large part on a carefully argued utilitarian practical philosophy, he developed a non-violent program for the reform of the authoritarian institutions of the Empire, which he himself set in motion through his teaching and other activities. Rarely has a philosopher had such a great impact on the political culture of his homeland. This volume contains a substantial collection of Bolzano’s writings on ethics and politics, translated into English for the first time. It includes a complete translation of the treatise On the Best State, his principal writings on ethics, an essay on the contemporary situation in Ireland, and a selection of his Exhortations, dealing with such topics as enlightenment, civil disobedience, the status of women, anti-Semitism and Czech-German relations in Bohemia. It will be of particular interest to students of central European philosophy and history, and more generally to philosophers and historians of ideas.
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